Ulrike Hormel · Albert Scherr (Hrsg.) Diskriminierung
Ulrike Hormel Albert Scherr (Hrsg.)
Diskriminierung Grundlagen...
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Ulrike Hormel · Albert Scherr (Hrsg.) Diskriminierung
Ulrike Hormel Albert Scherr (Hrsg.)
Diskriminierung Grundlagen und Forschungsergebnisse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16657-5
Inhalt
Ulrike Hormel und Albert Scherr Einleitung: Diskriminierung als gesellschaftliches Phänomen ............................7 Heiner Bielefeldt Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip .................................. 21 Albert Scherr Diskriminierung und soziale Ungleichheiten. Erfordernisse und Perspektiven einer ungleichheitsanalytischen Fundierung von Diskriminierungsforschung und Antidiskriminierungsstrategien ..................... 35 Mechtild Gomolla Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem .......... 61 Elisabeth Holzleithner Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs................................ 95 Manuela Boatcă Diskriminierung in der longue durée. Globale Muster und lokale Strategien ................................................................................................ 115 Thomas Hinz und Katrin Auspurg Geschlechtsbezogene Diskriminierung bei der Entlohnung............................. 135 Maja. S. Maier Bekennen, Bezeichnen, Normalisieren: Paradoxien sexualitätsbezogener Diskriminierungsforschung............................................................................... 151 Ulrike Hormel Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem ...................................................... 173 Christian Imdorf Die Diskriminierung ‚ausländischer‘ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl .................................................................................. 197
Dietrich Oberwittler und Tim Lukas Schichtbezogene und ethnisierende Diskriminierung im Prozess der strafrechtlichen Sozialkontrolle .................................................................. 221 Ute Koch Soziale Konstruktion und Diskriminierung von Sinti und Roma .................... 255 Ernst von Kardorff Zur Diskriminierung psychisch kranker Menschen ......................................... 279 Jan Weisser Behinderung als Fall von Diskriminierung – Diskriminierung als Fall von Behinderung ................................................................................... 307 Thomas Lemke Genetische Diskriminierung: Empirische Befunde und konzeptionelle Probleme ................................................................................... 323 Samira Baig Diversity-Management zur Überwindung von Diskriminierung? ................... 345 Autorinnen und Autoren .................................................................................... 361
Einleitung: Diskriminierung als gesellschaftliches Phänomen Ulrike Hormel und Albert Scherr
Was unter Diskriminierung zu verstehen ist, scheint keiner weiteren Erläuterung zu bedürfen: Als Diskriminierungen gelten gewöhnlich Äußerungen und Handlungen, die sich in herabsetzender oder benachteiligender Absicht gegen Angehörige bestimmter sozialer Gruppen richten. Auch kann ein breiter Konsens darüber angenommen werden, dass Diskriminierungen im Sinne von Benachteiligungen und Bevorzugungen, die nicht auf Unterschieden der individuellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft beruhen, abzulehnen und zu überwinden sind. Denn sie widersprechen grundlegenden Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen, die im Selbstverständnis moderner Gesellschaften verankert sind. Entsprechend kommt eine im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführte Umfrage zu dem Ergebnis, dass eine „andere (und zwar benachteiligende oder schlechtere) Behandlung von Menschen auf Grund der Rasse oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung“ (Marsh/Sahin-Dikmen 2003: 5) in allen Ländern der EU von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird.1 Damit übereinstimmend wird in einer auf Deutschland bezogenen Studie des Sinus-Instituts (Sinus Sociovision 2008: 90) zwar die Einschätzung formuliert, dass Diskriminierung in allen sozialen Milieus „grundsätzlich als ungerecht und verwerÀich aufgefasst [wird], weil sie unserem kulturellen Wertesystem, das auf Chancengleichheit, sozialer Fairness und Solidarität gründet, widerspricht“. Dieser Befund lasse jedoch keineswegs den Schluss zu, dass alle gesellschaftlich bedeutsamen Formen von Diskriminierung als ernstzunehmendes Problem gelten und abgelehnt werden. Festzustellen sei vielmehr, dass das „Thema Diskriminierung Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird auch hier eine Formulierung verwendet, welche die Existenz von ‚Rassen‘ als unterscheidbaren sozialen Gruppen nahe legt. Hierauf bezogene Problematisierungen, die darauf hinweisen, dass die Annahme der Existenz von Rassen selbst Bestandteil rassistischer Ideologie ist, sind inzwischen vielfach formuliert worden und werden auch in neueren auf den Diskriminierungsschutz bezogenen amtlichen Dokumenten aufgegriffen. In der fachwissenschaftlichen Diskussion ist eine vergleichbare Problematisierung auch für die Kategorien „Ethnizität“ und „Geschlecht“ eingefordert worden; dies hat aber bislang nicht dazu geführt, dass eine entsprechende begriffskritische Sensibilität in der wissenschaftlichen, politischen und medialen Diskussion konsensuell etabliert wäre.
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und die Gleichbehandlung bzw. die Förderung benachteiligter Gruppen in unserer Gesellschaft […] der Mehrheit der Deutschen nicht wirklich auf den Nägeln“ brenne: „Die Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema und die Betroffenheit in der Bevölkerung sind eher gering.“ Die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz genannten Merkmale seien „neben vielen anderen zwar spontan abrufbar“. Dagegen sei das Interesse, „die entsprechenden Gruppen zu schützen“, für einen Großteil der Befragten „aber nur in Bezug auf Behinderte und (teilweise) Frauen und Ältere ein echtes Anliegen“ (ebd. 8 f.). In der Auswertung der erhobenen Daten konstatiert die Studie u. a. „in nahezu allen Milieus starke, emotional getragene Vorbehalte gegenüber Ausländern und Migranten“ (ebd.: 57) sowie in „vielen Milieus […] tief verwurzelte Barrieren und entsprechend virulente Vorurteile – bis hin zu Ekel- und Hassgefühlen – gegenüber sexuellen Orientierungen, die vom Mainstream abweichen“ (ebd.: 84). Damit liegen Hinweise auf erhebliche Diskrepanzen vor zwischen einerseits politischen, rechtlichen und medialen Diskursen, welche die Unvereinbarkeit von Diskriminierungen mit dem Selbstverständnis einer modernen, auf menschenrechtlichen Werten beruhenden Gesellschaft betonen, und andererseits der Verbreitung von Mentalitäten, die eine erhebliche Akzeptanz bestimmter Ausprägungen von Diskriminierung beinhalten. Gegenwärtige Auseinandersetzungen mit Diskriminierung schließen an eine weit zurückreichende und in sich widersprüchliche Geschichte von Auseinandersetzungen über gesellschaftlich zu überwindende, oder aber als legitim zu betrachtende Formen der Ungleichbehandlung an: Die Überzeugung, dass tradierte Unterscheidungen ungleicher und ungleichwertiger sozialer Gruppen, die den Grundsatz der Gleichheit aller Individuen in Frage stellen oder relativieren, im Modernisierungsprozess ihre Grundlage verlieren, kann zweifellos zu den einÀussreichen großen Erzählungen der westlichen Moderne gerechnet werden. Bereits die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die französische ‚Erklärung der Bürger- und Menschenrechte‘ von 1789 enthalten mit dem Grundsatz der Freiheit und Gleichheit aller Menschen ein implizites Diskriminierungsverbot. Dieses wird in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 dann – in Reaktion auf die umfassende Außerkraftsetzung der Menschenrechte durch Nationalsozialismus und Holocaust, aber auch auf Grundlage des Wissens um unterschiedliche Formen der Einschränkung, Verletzung und Missachtung von Menschenrechten, nicht zuletzt durch Sklaverei und Rassismus – explizit formuliert: „Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes
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oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.“ (AEDM, Artikel 2)2
Dieser Antidiskriminierungsgrundsatz war in Deutschland, anders als etwa in den USA und Großbritannien, bis vor wenigen Jahren jedoch kein bedeutsamer Bezugspunkt politischer Auseinandersetzungen und juristischer Diskurse. Auch in den Sozialwissenschaften wurde Diskriminierung nur als nachrangige Kategorie im Kontext der Ungleichheitsforschung, der Frauen- und Geschlechterforschung sowie der Migrationsforschung thematisch – jedoch weitgehend ohne eine explizite und eigenständige Bezugnahme auf den menschenrechtlichen und sozialwissenschaftlichen Antidiskriminierungsdiskurs, wie er sich v. a. in den USA und England entwickelt hat (vgl. Hormel/Scherr 2004). In Folge der Verankerung des Antidiskriminierungsgrundsatzes in den einschlägigen EU-Richtlinien und der daran anschließenden bundesdeutschen Gesetzgebung sowie der Entwicklung unterschiedlicher Programme und Kampagnen – so etwa verschiedener Antirassismuskampagnen und der von der Bundesregierung unterstützten Unternehmensinitiative ‚Vielfalt als Chance‘ – hat sich dies zwischenzeitlich geändert. Von Diskriminierung ist in politischen Kontexten und in den Medien inzwischen in vielfältiger Weise die Rede. Allerdings ist dabei nach wie vor ein Verständnis von Diskriminierung einÀussreich, das Diskriminierungen mit offenkundigen Benachteiligungen auf der Grundlage von Vorurteilen und individuellen Handlungen gleichsetzt. Demgegenüber wurde und wird in sozialwissenschaftlichen Analysen mit Begriffen wie strukturelle, organisationale, institutionelle, mittelbare, indirekte und statistische Diskriminierung3 immer wieder darauf verwiesen, dass Diskriminierungen nicht zureichend durch den Verweis auf individuelle Meinungen und Einstellungen und auch nicht durch sozialpsychologisch zu erklärende Gruppenprozesse erklärt werden können.4 Dieser Einsicht wird inzwischen auch in der Gesetzgebung Rechnung getragen: Als Von Interesse ist diese Formulierung nicht nur als historisches Dokument, sondern nicht zuletzt deshalb, weil sie auch andere Merkmale als die neueren Richtlinien benennt sowie die Liste der potentiell diskriminierungsrelevanten Merkmale als exemplarische ausweist und damit offen hält; s. dazu die Hinweise in den Beiträgen von Bielefeld, Holzleithner und Scherr in diesem Band. 3 Auf diese Begriffe und die ihnen zu Grunde liegenden Theorien wird in den folgenden Beiträgen näher eingegangen; auf eine Erläuterung kann deshalb an dieser Stelle verzichtet werden. 4 Ansätze einer genuin sozialwissenschaftlichen Perspektive, die sich gegen Vorurteilstheorien abgrenzt, ¿ nden sich bereits in der Race-Relations-Forschung seit den 1950er Jahren, so bei Herbert Blumer (1954 und 1961). Einen wichtigen Beitrag zur neueren Diskriminierungsdiskussion haben Joe R. Feagin und Clairece Booher Feagin (1986) vorgelegt. Einen Überblick zur Entwicklung der US-amerikanischen Diskriminierungsforschung ¿ndet sich bei Gomolla/Radtke (2009: 35 ff.) sowie im Beitrag von Gomolla in diesem Band. 2
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Diskriminierung gelten in den einschlägigen EU-Richtlinien und im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz auch Benachteiligungen, die durch „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ (AGG, § 3) zustande kommen. Die Antirassismusrichtlinie der EU sieht entsprechend vor, dass Formen „mittelbarer“, d. h. nicht auf die Unterscheidung und Ungleichbehandlung von Gruppen zurückführbarer Diskriminierung, „mit allen Mitteln, einschließlich statistischer Beweise, festzustellen [sind]“ (EU-Richtlinie 2000/43/EG, § 15). Damit hat eine sozialwissenschaftliche Sichtweise von Diskriminierung auch im juristischen Kontext an Relevanz gewonnen. Zudem wurde durch die EU eine Institution geschaffen, deren Auftrag die Erhebung, Analyse und Verbreitung von Daten über Formen von Diskriminierung umfasst: 1997 wurde das European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) gegründet und 2008 in die European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) überführt.5 Die „Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen“ ist in Deutschland im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (§ 27, Abs. 3) auch als Aufgabe der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (s. www.antidiskriminierungsstelle.de) festgelegt. Als diesbezüglich bedeutsame Institution ist weiter das ‚Deutsche Institut für Menschenrechte‘ zu erwähnen (s. www.institut-fuermenschenrechte.de). Analysen und Skandalisierungen der Situation diskriminierter Gruppen erfolgen zudem auch durch Nicht-Regierungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen. Insofern kann mit guten Gründen argumentiert werden, dass sich im Hinblick auf die politische und rechtliche Anerkennung der Notwendigkeit, Diskriminierungen zu erforschen und Maßnahmen zu ihrer Überwindung zu ergreifen, eine bedeutsame Entwicklung vollzogen hat. Zugleich aber ist festzustellen, dass es durchaus strittig ist, welche Formen von Diskriminierung nach wie vor bestehen, was ihre Ursachen sind sowie auf welche gesellschaftlichen (politischen, rechtlichen, ökonomischen, organisatorischen, pädagogischen usw.) Erfordernisse der Anspruch verweist, Diskriminierungen zu überwinden. Folglich besteht ein Bedarf an sozialwissenschaftlicher Forschung, die sich theoretisch und empirisch differenziert mit den Ursachen, Formen und Folgen von Diskriminierung auseinandersetzt. Dass es etwa keineswegs genügt, Diskriminierungsbereitschaft, Diskriminierungswahrnehmungen und Diskriminierungserfahrungen durch Umfragen zu erheben, um zu tragfähigen Einschätzungen des Ausmaßes von Diskriminierungen zu gelangen, wird in einer aktuellen Studie deutlich: In der Erhebung „Diskriminierung in der EU im Jahr 2009“ (Europäische Kommission 2009: 12 ff.) wird u. a. festgestellt, dass ca. 60 % der EU-Bürger annehmen, dass „Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft“ weit verbreitet sind. Diese Erhebung kommt
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s. http://fra.europa.eu/fraWebsite/home/home_en.htm
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jedoch auch zu dem Ergebnis, dass die diesbezüglich erheblichen Unterschiede zwischen den Ländern – das Spektrum reicht von ca. 80 % der Bevölkerung in den Niederlanden, Frankreich, Ungarn und Schweden, die der Annahme verbreiteter Diskriminierung zustimmen, bis zu nur ca. 30 % in Litauen, Polen und Lettland – keineswegs das tatsächliche Ausmaß von Diskriminierungen abbildet und auch nicht mit dem Ausmaß der von Minderheitenangehörigen subjektiv erlebten Diskriminierung korrespondiert (ebd.: 66 ff.). Eine eigenständige sozialwissenschaftliche Diskriminierungsforschung, die an Hochschulen institutionalisiert ist und systematisch auf Theorien und Forschungsergebnisse der angelsächsischen Sozialwissenschaften Bezug nimmt, hat sich im deutschen Sprachraum zwischenzeitlich zwar durchaus entwickelt; dies bislang jedoch erst in der Form heterogener Ansätze und einzelner Studien. Hierfür war zum einen die Anknüpfung an strukturtheoretisch angelegte Rassismustheorien ein wichtiger Ausgangspunkt, die seit Ende der 1980er Jahre beginnt (vgl. etwa Kalpaka/Räthzel 1986), in der sozialwissenschaftlichen Fachdiskussion jedoch nur begrenzt aufgegriffen wurde. Zum anderen setzt dann die Veröffentlichung der Untersuchung ‚Institutionelle Diskriminierung‘ von Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke im Jahr 2002 einen wichtigen Impuls in Richtung auf eine organisationssoziologisch angelegte Auseinandersetzung mit Diskriminierung. Inzwischen liegen, wie in den Beiträgen zu diesem Band deutlich wird, in der Soziologie und der Erziehungswissenschaft eine Reihe von theoretischen Beiträgen und empirischen Studien zu unterschiedlichen Aspekten von Diskriminierung vor. Zudem wird in der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion über ‚Intersektionalität‘ (vgl. etwa Klinger/Knapp/Sauer 2007) auf Theoreme und Ergebnisse der Diskriminierungsforschung Bezug genommen. Eine Gemeinsamkeit sozialwissenschaftlicher Diskriminierungsforschung kann darin gesehen werden, dass sie sich – im Unterschied zur älteren sozialpsychologischen Vorurteilsforschung – nicht auf eine handlungstheoretische oder gruppenbezogene Analyse diskriminierender Einstellungen und Handlungen beschränkt, sondern auch gesellschaftsstrukturelle (ökonomische, politische, rechtliche), kulturelle (Diskurse und Ideologien), institutionelle sowie organisatorische Bedingungen und Formen von Diskriminierung in den Blick nimmt. Akzentuiert wird damit, dass Diskriminierungen nicht zureichend individuell zurechenbar sind und insofern auch nur begrenzt als justiziable Tatbestände gefasst werden können. In einer sozialwissenschaftlichen Perspektive werden als Diskriminierungen folglich Unterscheidungen sozialer Gruppen in den Blick genommen, die mit Annahmen über spezi¿sche Eigenschaften der ‚Angehörigen‘ der so unterschiedenen Gruppen einhergehen sowie mit sozialen und/oder ökonomischen und/oder politischen und/oder rechtlichen Benachteiligungen verschränkt sind. Bedeutsam werden vor diesem Hintergrund u. a. Fragen nach
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Ulrike Hormel und Albert Scherr den sozialen Prozessen, in denen diskriminierende Unterscheidungen hervorgebracht werden sowie den sozialen Bedingungen, unter denen diese plausibel erscheinen; dem historischen und systematischen Zusammenhang von Positionierungen in gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen mit Diskursen, Ideologien und Semantiken, die jeweilige Gruppenkonstruktionen veranlassen und ihnen Plausibilität verleihen – z. B. als Begründung und Legitimation von Privilegierungen und Benachteiligungen; den Strukturen, Prozessen und Praktiken, mit denen Diskriminierungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen bzw. Teilbereichen hervorgebracht und reproduziert, oder aber in Frage gestellt und aufgebrochen werden; der Verwendung diskriminierender Praktiken und Klassi¿ kationen in Organisationen sowie dem Verhältnis von Diskriminierungen in Organisationen zu gesellschaftlich einÀussreichen Wissensbeständen und ökonomischen, politischen und rechtlichen Strukturen, die zur Reproduktion sozialer Ungleichheitsverhältnisse beitragen.
Für sozialwissenschaftliche Diskriminierungsforschung ist damit eine eigenständige, in der Vorurteils- sowie der Ungleichheitsforschung nicht umfassend aufgehobene Perspektive charakteristisch, die gegenwärtig in verschiedenen Themenfeldern an Bedeutung gewinnt und mit unterschiedlichen theoretischen Akzentuierungen und empirischen Forschungskonzepten ausbuchstabiert wird. Eine weitere Gemeinsamkeit sozialwissenschaftlicher Diskriminierungsforschung kann darin gesehen werden, dass diese mit einer normativ voraussetzungsvollen Bestimmung ihres Gegenstandes operiert und – mehr oder weniger direkt – auf die ethische, politische und rechtliche Skandalisierung von Diskriminierungen bezogen ist. Dies unterscheidet sie aber nicht von anderen Forschungsbereichen, wie etwa der Armuts- und Ungleichheitsforschung, die auf empirisch wirksame Moralvorstellungen Bezug nehmen und daran interessiert sind, für die Überwindung der als problematisch geltenden Sachverhalte relevantes Wissen beizutragen. Eine ergänzende, auch für einen Teil der folgenden Beiträge bedeutsame Perspektive – ist im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung – darin zu sehen, nach den historischen und gesellschaftsstrukturellen Bedingungen zu fragen, die eine politische, rechtliche oder moralische Thematisierung bestimmter sozialer Ungleichheits- und Machtrelationen als Diskriminierungen ermöglichen und veranlassen. Die so grob skizzierte Situation einer sich abzeichnenden Konturierung sozialwissenschaftlich ausgerichteter Diskriminierungsforschung war für uns Anlass, einen Sammelband herauszugeben, in dem die wissenschaftliche, politische, rechtliche und pädagogische Bedeutung, aber auch theoretische und empi-
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rische Desiderate sozialwissenschaftlicher Diskriminierungsforschung deutlich werden sollen. Dazu haben wir AutorInnen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten und theoretischen Orientierungen zu Beiträgen eingeladen. Die vorliegende Veröffentlichung kann gleichwohl nicht den Anspruch erheben, den erreichten Stand der Forschung systematisch und umfassend abzubilden, sondern beabsichtigt, einen instruktiven Einblick in den einschlägigen wissenschaftlichen Diskurs zu geben. Zu den Beiträgen Heiner Bielefeldt stellt in seinem Beitrag den Stellenwert des Diskriminierungsverbotes als Strukturprinzip der Menschenrechte heraus, das grundlegend mit dem normativen Universalismus der Menschenrechte verknüpft ist. Am Beispiel der Kritik an unterschiedlichen Formen der historischen Begrenzung des Gleichheitsanspruchs wird aufgezeigt, dass die Weiterentwicklung des Diskriminierungsschutzes nicht zuletzt durch Proteste und Kämpfe um Gleichberechtigung im Kontext sozialer Bewegungen bewirkt wurde, die den Widerspruch zwischen dem normativen Universalismus der Menschenrechte und seinen faktischen partikularen Einschränkungen zum Bezugspunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen gemacht haben. Insofern der Universalitätsanspruch der Menschenrechte mit der Nennung von konkreten Merkmalen, an die jeweilige Diskriminierungsverbote anschließen, immer schon eine Einschränkung erfährt, sind die in den einschlägigen Menschenrechtsdokumenten genannten Merkmalskataloge als notwendig erweiterbar und offen für gesellschaftliche Lern- und Aushandlungsprozesse zu verstehen, die auf ein erweitertes Diskriminierungsverständnis zielen. Der Beitrag von Albert Scherr zielt auf eine gesellschaftstheoretische Fundierung des Verhältnisses von sozioökonomischen Ungleichheiten und Formen von Diskriminierung. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass sich soziologische Ungleichheitsforschung und Sozialpolitik einerseits, Diskriminierungsforschung und Antidiskriminierungspolitik andererseits als relativ unabhängige Diskurse entwickelt haben. Es ist jedoch diskussionsbedürftig, ob es sich hierbei um auf jeweilige sozio-historische Entstehungsbedingungen zurückführbare und prinzipiell überwindbare Unterschiede der Problemstellungen handelt, oder aber um eine aus systematischen Gründen sinnvolle und analytisch begründbare Differenzierung. Aufgezeigt wird, dass sozioökonomische Ungleichheiten und Diskriminierungen auf der Grundlage von Gruppenkonstruktionen zu unterscheidende, nicht aufeinander reduzierbare, aber vielfältig miteinander verknüpfte Formen sozialer Privilegierung und Benachteiligung darstellen, für die jeweils zu konkretisieren ist, in welchen sozialen Kontexten diskriminieren-
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de Unterscheidungen wie verwendet werden und Relevanz erlangen und welche privilegierenden oder benachteiligenden Effekte damit einhergehen. Mechtild Gomolla diskutiert in ihrem Beitrag die theoretische Tragfähigkeit und das empirische Analysepotential des Konzepts ‚Institutionelle Diskriminierung‘. In Auseinandersetzung mit Theorien des institutionellen Rassismus und der institutionellen Diskriminierung, die in den USA und Großbritannien entwickelt wurden, werden zentrale Probleme der Forschung und Theoriebildung, die dieser Erklärungsperspektive folgen, dargestellt. Am Beispiel schulischer Diskriminierungen wird ein grundlagentheoretisch fundiertes Modell institutioneller Diskriminierung vorgeschlagen und dessen Analysepotential anhand zweier empirischer Studien verdeutlicht. Aufgezeigt wird, dass Praktiken der Diskriminierung in Schulen nicht allein auf individuelle Einstellungsmuster und soziale Interaktionen zurückzuführen sind, sondern dass organisatorische Festlegungen und Rahmenbedingungen des professionellen Handelns bei der Konstruktion sozialer Unterschiede, an die Diskriminierungen anknüpfen können, eine zentrale Rolle spielen. Elisabeth Holzleithner diskutiert in ihrem Beitrag die Bedeutung des Konzepts ‚Mehrfachdiskriminierung‘ für den Antidiskriminierungsschutz und die damit verknüpften Problematiken. Aufgezeigt wird, dass das EU-Antidiskriminierungsrecht bislang nur begrenzte Möglichkeiten bietet, um dem Phänomen Mehrfachdiskriminierung gerecht zu werden. Dies resultiert daraus, dass die EU-Richtlinien eine Hierarchisierung hinsichtlich des Schutzniveaus unterschiedlicher von Diskriminierung betroffener Gruppen vornehmen, was u. a. dazu führt, dass Opfer von Diskriminierung beim Einklagen ihrer Rechte darauf verwiesen sind, sich zentral auf eine Diskriminierungskategorie zu stützen und andere auszublenden. Mehrfachdiskriminierung kann jedoch nicht hinreichend als additive oder kumulative Benachteiligung gefasst werden, die an zwei oder mehreren diskriminierungsrelevanten Merkmalen ansetzt. Vielmehr sind auch Formen intersektioneller Diskriminierung in Rechnung zu stellen, die gerade durch das Zusammenwirken von Diskriminierungsgründen zu Benachteiligungen führen. Der Beitrag von Manuela Boatcă zielt auf eine sozialhistorische Betrachtung des Zusammenhangs zwischen der Herausbildung der europäischen Moderne als gesellschaftlicher und politischer Ordnung, die unter Bezugnahme auf das aufklärerische Prinzip der Gleichheit aller Menschen den Anspruch auf Vollinklusion unabhängig von der Herkunft erhob, und der gleichzeitigen Etablierung zahlreicher Formen des Ausschlusses und der Diskriminierung. Aufgezeigt wird, dass aktuelle Diskriminierungen von MigrantInnen und Minderheiten an die mit der Entstehung von Nationalstaaten verknüpfte, über die Kategorie der Staatsbürgerschaft institu-
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tionalisierte Klassi¿kation des In- und Ausländers und an den mit der Figur des Ausländers im Inland generierten Prototyp des Fremden anschließen. Am Beispiel des staatlichen Umgangs mit Einwanderung und in Bezug auf etablierte Diskriminierungsstrukturen in den USA und in Deutschland werden die Unterschiede und die VerÀechtung globaler und lokaler Diskriminierungsstrategien aufgezeigt, deren Rückbindung an die Strukturmerkmale der Inklusions-/Exklusionslogik der Moderne zu analysieren ist. Thomas Hinz und Katrin Auspurg gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, inwiefern empirisch beobachtbare Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen auf geschlechtsbezogene Diskriminierungen bei der Entlohnung zurückzuführen sind. Grundlage der von den AutorInnen durchgeführten empirischen Analyse stellen Lohndiskriminierungen im engeren Sinne dar, d. h. Lohnunterschiede, die nicht mit der ungleichen Positionierung auf dem geschlechtsspezi¿sch segmentierten Arbeitsmarkt erklärt werden können, sondern auch bei gleicher Leistung und gleicher Arbeitsmarktposition bestehen. Zur Untersuchung wird ein methodisches Verfahren genutzt, das Lohnunterschiede innerhalb von Branchen, Berufen, Betrieben und ‚Jobzellen‘ analysiert. Auf der Grundlage der verfügbaren Daten ist davon auszugehen, dass in Deutschland ein ‚within-job wage gap‘ existiert und damit auch Formen der Lohndiskriminierung im engeren Sinne vorliegen. Gezeigt wird aber auch, dass die Vergrößerung des Lohnabstands in den letzten Jahren in erster Linie durch die unterschiedliche Verteilung von Frauen und Männern auf Branchen, Berufe und Betriebe bedingt ist und nicht auf eine direkte Lohndiskriminierung zurückzuführen ist. Maja S. Maier zeigt in ihrem Beitrag, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studien zu sexualitätsbezogener Diskriminierung, die entweder allgemeine Einstellungen oder aber Erfahrungen von Diskriminierung fokussieren, nur begrenzte Aussagekraft beanspruchen können, weil die institutionellen und interaktionellen Prozesse, in denen Sexualität als Diskriminierungsmerkmal in der sozialen Praxis konstituiert und aktiviert wird, weitgehend unberücksichtigt bleiben. Hingewiesen wird auf die Notwendigkeit einer theoretischen Fundierung sexualitätsbezogener Diskriminierungsforschung, die zum einen in Distanz zu einer am Vorurteilskonzept angelehnten Konzeptualisierung des Diskriminierungsbegriffs geht, zum anderen das Merkmal ‚Homosexualität‘ nicht naturalisierend als gegebenen Bezugspunkt für Diskriminierungen voraussetzt. Plädiert wird für eine ungleichheitstheoretisch und heteronormativitätskritische Rückbindung der sexualitätsbezogenen Diskriminierungsforschung, welche die sozialen Klassi¿kationsprozesse, mit denen die Unterscheidung von Heterosexualität und Homosexualität als homogenisierende Bezeichnungspraxis im Kontext umkämpfter gesellschaftlicher Machtverhältnisse hervorgebracht und aktualisiert wird, systematisch berücksichtigt.
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Ulrike Hormel argumentiert in ihrem Beitrag, dass ein enger Begriff von Diskriminierung als direkt an Merkmalen der ‚ethnischen Herkunft‘ ansetzende Ungleichbehandlung keine hinreichende Grundlage für eine Analyse der Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem bietet. Denn in einer solchen Fassung wird Diskriminierung nur dann als solche gewertet, wenn die Benachteiligung von Individuen in keinem Bezug steht zu dem, was jeweilige Organisationen in ihrer eigenen Binnenlogik als zu erbringende Leistungen, Anforderungen, Kompetenzen, Quali¿ kationen etc. voraussetzen. Demgegenüber sind sozialwissenschaftliche Untersuchungen von Diskriminierungen im Bildungssystem darauf verwiesen, nicht von den Eigenschaften und Merkmalen von Individuen als Angehörige sozioökonomisch und ethnisch unterscheidbarer Gruppen auszugehen, die aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit Benachteiligung erfahren. Vielmehr ist es erforderlich, Prozesse in den Blick zu nehmen, durch die ethnisierende, klassen- und milieubezogene Grenzziehungen konstituiert werden und die dazu führen, dass die Unterscheidung Einheimische-MigrantInnen zu einer schulintern bedeutsamen Differenzierungsform wird. Christian Imdorf untersucht in seinem Beitrag unterschiedliche Mechanismen, die zu einer an ethnisierenden Merkmalen ansetzenden Diskriminierungspraxis bei der Vergabe betrieblicher Ausbildungsplätze in Schweizer Klein- und Mittelbetrieben führen. Gezeigt wird, dass gängige Erklärungsansätze, die auf die mangelnde Ausstattung mit Humankapital und fehlende soziale Netzwerke hinweisen, den für MigrantInnen deutlich erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nicht hinreichend aufklären können. Unter Bezugnahme auf die anglo-amerikanische Diskriminierungsforschung und die Rechtfertigungstheorie von Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007) wird das Phänomen einer jenseits der meritokratischen Leistungsnorm orientierten Auswahlpraxis als Effekt einer auf betrieblichen Selektionskalkülen basierenden organisationalen Diskriminierung analysiert. Ausbildungsbetriebe nutzen dabei soziale Unterscheidungen wie die AusländerKategorie als Ressource für ihre Selektionskalküle. Diese sind zum einen darauf ausgerichtet, antizipierte organisatorische Probleme und betriebliche Störungen im Rahmen eines zukünftigen Ausbildungsverhältnisses zu vermeiden, zum anderen darauf, das Auswahlverfahren möglichst pragmatisch und unaufwändig zu gestalten. Der Beitrag von Dietrich Oberwittler und Tim Lukas setzt sich mit Formen der schichtbezogenen und ethnisierenden Diskriminierung im Bereich des Strafrechts auseinander. In ihrer Argumentation gehen die Verfasser davon aus, dass Unterschiede zwischen sozialen Schichten bzw. ethnisch gefassten Gruppen in Hinblick auf die Kriminalitätswahrscheinlichkeit nicht zureichend auf die selektive Wahrnehmung und die Sanktionspraxis der Kontrollinstanzen zurückgeführt werden können, sondern in ihrem Zusammenhang mit Strukturen sozialer Ungleichheit
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und Prozessen der Ethnisierung analysiert werden müssen. Auf der Grundlage der Ergebnisse nationaler und internationaler empirischer Studien wird aufgezeigt, dass die Überrepräsentanz von Migranten in Teilbereichen der registrierten Kriminalität zum einen ein Effekt ihrer soziostrukturellen Benachteiligung ist. Zum anderen wird analysiert, dass und wie die Wahrscheinlichkeit der polizeilichen Registrierung von Straftaten, die justizielle Sanktionspraxis sowie der Umgang der Polizei mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen durch fremdenfeindliche und ethnisierende Stereotype beeinÀusst ist. Darüber hinaus werden Erkenntnisse dazu dargestellt, wie Angehörige von Minderheitengruppen Diskriminierung durch die Polizei wahrnehmen und welches KonÀiktpotential daraus resultiert. Ute Koch zeigt in ihrem Beitrag, dass aktuelle Erscheinungsformen der Diskriminierung von Sinti und Roma nicht hinreichend als Folge historisch tradierter Vorurteilsstrukturen zu verstehen sind, sondern im Zusammenspiel von etablierten politischen und rechtlichen Strukturen, organisatorischem Handeln und Routinen und ethnisierenden Eigenschaftszuschreibungen analysiert werden müssen. In historischer Perspektive werden die Genese und der Funktionswandel jeweiliger ethnisierender Konstruktionen von Sinti und Roma als Bezugspunkte für Benachteiligungen, Ausschluss, Verfolgung sowie für die Legitimation staatlichen Handelns nachgezeichnet. In Hinblick auf die aktuelle soziale Situation von Roma in Südosteuropa und Sinti und Roma in Deutschland, die durch anhaltende Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem und dem Wohnungsmarkt etc. geprägt ist, zeigt sich ein erheblicher Bedarf an Analysen, die Mechanismen direkter und indirekter institutioneller Diskriminierung sowie deren Rückbindung an politische Vorgaben und öffentliche Diskurse theoretisch und empirisch fundiert in den Blick nehmen. Ernst von Kardoff setzt sich in seinem Beitrag damit auseinander, dass die Lebenssituation psychisch kranker Menschen anhaltend durch alltägliche Stigmatisierungserfahrungen sowie durch Formen struktureller Diskriminierung in der Arbeitswelt und im Versorgungssystem gekennzeichnet ist. Aufgezeigt wird weiter, dass es erforderlich ist, die unterschiedlichen Ausprägungen von Diskriminierung in Hinblick auf diejenigen differenziert zu betrachten, die unter der Sammelkategorie ‚Psychisch Kranke‘ subsumiert werden. So ¿nden chronische Erschöpfungszustände angesichts zunehmender beruÀicher Leistungsanforderungen eine größere gesellschaftliche Akzeptanz als etwa psychotische Erkrankungen. Betroffene mit chroni¿zierten Einschränkungen unterliegen einem deutlich erhöhten Risiko der Unterversorgung in zentralen Lebensbereichen und der alltäglichen Stigmatisierung, ohne dass dies in der öffentlichen Wahrnehmung als Folge von Diskriminierung erkannt wird. Die sozial- und psychohistorische Rückbindung der sozialen Konstrukte ‚psychische Krankheit‘, ‚Wahnsinn‘ etc. trägt dazu bei, dass
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beobachtete Formen der Stigmatisierung und Benachteiligung nicht als Verletzung von Gleichheitsrechten gesehen, sondern als legitime und durch die Andersartigkeit angezeigte gesonderte Behandlung verstanden werden. Jan Weisser nimmt in seinem Beitrag eine Analyse der Relationen zwischen Behinderung und Diskriminierung vor und stellt diese in den Kontext einer Politischen Soziologie des Rassismus und der Diskriminierung. An einem Beispiel des juristischen Umgangs mit Diskriminierungserfahrungen wird verdeutlicht, dass die juristische Praxis zum einen diskriminierungsrelevante Differenzkategorien als Merkmale, denen Personen eindeutig zugeordnet werden können, voraussetzt und zum anderen hohe Hürden für den Nachweis von Diskriminierungen etabliert. Während aus soziologischer Perspektive Behinderung als Folge eines gesellschaftlichen Prozesses betrachtet werden kann, der eine Differenz mit sozialer Bedeutung versieht, verschwindet dieser Prozess in der juristischen Praxis mit seiner Setzung der diskriminierungsrelevanten Kategorie ‚Menschen mit Behinderung‘ im Ergebnis. Daraus ergibt sich eine Verkürzung des Verhältnisses von Diskriminierung und Behinderung, demzufolge eine Person zuerst als behindert gelten muss, bevor sie potentiell Diskriminierung erfährt. Aufgezeigt wird demgegenüber eine komplexere Struktur der Relation von Behinderung und Diskriminierung, insofern Diskriminierung auch immer eine Form der Behinderung darstellt, während Behinderung nicht notwendig mit Diskriminierung einhergeht. Thomas Lemke gibt in seinem Beitrag einen Überblick über empirische Studien zu dem in Deutschland bislang wenig diskutierten, insbesondere in den USA aber bereits seit den 1990er Jahren thematisierten Phänomen einer Diskriminierung aufgrund tatsächlicher oder vermuteter genetischer Merkmale. Aufgezeigt wird, dass gängige theoretische Bestimmungen von genetischer Diskriminierung mit einem eng gefassten Begriffsverständnis operieren, das genetische Diskriminierung vor allem als Form gesellschaftlicher Benachteiligung durch institutionelle Akteure wie Arbeitgeber und Versicherungen fasst und zudem sachlich gerechtfertigte Unterscheidungen nach genetischen Merkmalen von illegitimen Formen der Diskriminierung unterscheidet. In Abgrenzung hierzu wird auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen organisationaler, interaktioneller und institutioneller Diskriminierung ein erweitertes Verständnis von genetischer Diskriminierung vorgeschlagen, das darauf zielt, dem Zusammenhang zwischen der Praxis der genetischen Klassi¿zierung und gesellschaftlichen Praktiken der Ungleichheitsproduktion und Stigmatisierung sowie der Verschränkung von genetischen und nicht-genetischen Diskriminierungspraktiken Rechnung zu tragen. Samira Baig diskutiert in ihrem Beitrag die Frage, inwiefern Diversity-ManagementKonzepte einen adäquaten Ansatz zur Überwindung von Diskriminierungen bieten.
Einleitung: Diskriminierung als gesellschaftliches Phänomen
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Gezeigt wird, dass gängige Diversity-Management-Konzepte eine Personal- und Organisationsentwicklung in Unternehmen anstreben, die primär darauf zielt, vorhandene Vielfalt unter der Maßgabe der Kostenminimierung, Pro¿tsteigerung und der Erschließung neuer Marktpotentiale effektiver zu nutzen. Insofern mit der Orientierung an der individuellen Leistungsfähigkeit und der betrieblichen Konkurrenzfähigkeit gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse weitgehend ausgeblendet werden, sind Diversity-Management-Konzepte nur begrenzt in der Lage, Diskriminierungen nachhaltig zu begegnen. Vorgeschlagen wird demgegenüber eine an gesellschaftstheoretische Überlegungen der Cultural, Queer und Postcolonial Studies sowie an den konÀikttheoretischen Ansatz von Johan Galtung rückgebundene Reformulierung von Diversity-Konzepten. Wir danken den AutorInnen für ihre Mitwirkung an diesem Band, Frank Engelhardt vom VS-Verlag für die erneut gute Zusammenarbeit sowie Carina Jung und René Gründer für ihre engagierte Unterstützung bei der Erstellung des Manuskriptes. Literatur Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948: www. un.org/Depts/german/grunddok/ar217a3.html Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz. www.gesetze-im-internet.de/agg/BJNR189710006.htm Blumer, Herbert (1954): ReÀections on Theory of Race Relations. In: University of Hawai Press (Ed.): Conference on Race Relations in World Perspective. Westport: Greenwood Press, pp. 3–19 Blumer, Herbert (1961): Race Prejudice as a Sense of Group Position. In: Masuoka, J./ Preston, V. (Eds.): Race Relations. Problems and Theory. New York: Libraries Press, pp. 217–227 Feagin, Joe R./Feagin, Clairece B. (1986): Discrimination – American Style: Institutional Racism and Sexism. Krieger Publishing Company Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2009): Institutionelle Diskriminierung: Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden, 3. AuÀage Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (2004): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden Kalpaka, Anita/Räthzel, Nora (1986): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Leer Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hrsg.) (2007): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt/New York Marsh, Alan/Sahin-Dikmen, Melahat (2003): Eurobarometer 57.0. Diskriminierung in Europa. http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_168_exec.sum_de.pdf Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.(http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32000L00 78:DE:HTML)
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Ulrike Hormel und Albert Scherr
Europäische Kommission (Hrsg.) (2009): Eurobarometer Spezial 317. Diskriminierung in der EU im Jahr 2009 (http://ec.europa.eu/social/keyDocuments.jsp?type=0&policy Area=0&subCategory=0&country=0&year=0&advSearchKey=eurobsur&mode=a dvancedSubmit&langId=de) Sinus-Sociovision (2008): Diskriminierung im Alltag. Wahrnehmung von Diskriminierung und Antidiskriminierungspolitik in unserer Gesellschaft. Heidelberg (http:// www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/RedaktionADS/PDF-Anlagen/2009-04-02schriftenreihe-band4,property=pdf,bereich=ads,sprache=de,rwb=true.pdf)
Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip Heiner Bielefeldt
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Die Menschenwürde als Grundlage
Als Menschenrechte bezeichnen wir jene grundlegenden Rechte, die dem Menschen allein schon deswegen zustehen, weil er ein Mensch ist. Dies ist mit dem Begriff des menschenrechtlichen Universalismus gemeint. Im Unterschied zu solchen Rechten, die an bestimmte Rollen oder Funktionen in der Gesellschaft anknüpfen – etwa an die Rolle von Mietern oder Vermieterinnen, an die Mitgliedschaft in bestimmten Verbänden und Berufsgruppen oder an den Besitz einer bestimmten Staatsangehörigkeit – sind die Menschenrechte schon mit dem Menschsein des Menschen gegeben. Sie werden nicht erworben oder veräußert und können durch individuelle Leistungen oder Fehlleistungen weder gesteigert noch gemindert werden. In einer aus dem 18. Jahrhundert überkommenen Metapher spricht man noch heute gelegentlich davon, dass die Menschenrechte dem Menschen „angeboren“ seien. So lautet der erste Satz von Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948: „Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren.“ Der Gegenbegriff zum Universalismus der Menschenrechte ist nicht etwa eine regionale (im Unterschied zur globalen) Institutionalisierung rechtlicher Gewährleistungen. Regionale Rechtsinstrumente wie die 1950 vom Europarat verabschiedete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sind nicht etwa „weniger universalistisch“ als das global ausgerichtete menschenrechtliche Schutzsystem der Vereinten Nationen; denn auch die EMRK knüpft in der Gewährleistung der grundlegenden Rechte schlicht an das Menschsein des Menschen an. Dasselbe gilt für einzelstaatliche Menschenrechtsverbürgungen, wie sie zum Beispiel im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes enthalten sind; auch sie gelten im Jurisdiktionsbereich des Grundgesetzes für jeden Menschen gleichermaßen und sind insofern Ausdruck des normativen Universalismus der Menschenrechte. Vielmehr wäre der Gegenbegriff zum menschenrechtlichen Universalismus ein rechtlicher Partikularismus: Sofern grundlegende Rechte von partikularen Bedingungen – Vorleistungen, persönlichen Merkmalen, gesellschaftlichen Statuspositionen usw. – abhängig gemacht würden, wäre ein rechtlicher Partikularismus gleichbedeutend mit Exklusion und Diskriminierung. Im Gegenzug gilt, dass Menschenrechte
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Heiner Bielefeldt
Ansprüche auf Inklusion und Nicht-Diskriminierung formulieren. Genau darin besteht ihr normativer Universalismus. Als Rechte, die dem Menschen allein schon aufgrund seines Menschseins zukommen, müssen die Menschenrechte für jeden Menschen gleichermaßen gelten. Zwischen dem Universalismus der Menschenrechte und ihrer egalitären Ausrichtung besteht ein unauÀöslicher systematischer Zusammenhang. Deutlich zeigt sich dies wiederum in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die bereits im ersten Satz der Präambel die Verbindung zwischen der gebotenen „Anerkennung der inhärenten Würde aller Mitglieder der menschlichen Familie“ und ihren „gleichen und unveräußerlichen Rechten“ herstellt. Dieses Bekenntnis zur Würde aller Menschen und zur Gleichheit ihrer elementaren Rechte, mit dem das Mutterdokument des internationalen Menschenrechtsschutzes beginnt, ist (mit einigen Varianten) in fast alle Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen übernommen worden. Tragender Grund der Menschenrechte – auch dies kommt in dem zitierten Eingangssatz der UN-Erklärung zum Ausdruck – ist die Würde des Menschen. Der Respekt vor der Würde des Menschen hat axiomatischen Stellenwert für sämtliche Bereiche von Moral und Recht, da ohne die Achtung der Menschenwürde moralische und rechtliche Verbindlichkeiten zwischen Menschen überhaupt nicht denkbar wären; sie könnten weder zustande kommen noch aufrechterhalten werden (vgl. Bielefeldt 2008). Insbesondere fundiert die Menschenwürde die Menschenrechte; denn in ihnen ¿ndet der Achtungsanspruch der Würde ausdrückliche Anerkennung und institutionellen Schutz. Auch die egalitäre Ausrichtung der Menschenrechte hat ihren Grund in der Idee der Menschenwürde, die in jedem Menschen gleichermaßen zu respektieren ist. Wollte man die Achtung der Menschen in ihrer Würde hingegen nach äußeren Kriterien abstufen – zum Beispiel nach persönlicher Lebensleistung, gesellschaftlicher Nützlichkeit oder individuellen Merkmalen wie Charme und Intelligenz –, dann wäre die Menschenwürde in ihrem axiomatischen normativen Status geleugnet. Die Würde des Menschen ist denkbar nur als eine und dieselbe Würde für alle Menschen. Im Unterschied zum vormodernen Sprachgebrauch, in dem der Begriff der „Würde“ primär für unterschiedliche ererbte oder erworbene Statuspositionen steht und deshalb gern auch im Plural (im Sinne ständischer „dignitates“) verwendet wird,1 kommt der Begriff der Würde im menschenrechtlichen Zusammenhang bezeichnenderweise nur im Singular vor. Er repräsentiert jeden schlechthin grundlegenden und deshalb gleichen Achtungsanspruch eines jeden Menschen, der das Gewebe menschlicher Verbindlichkeiten überhaupt erst ermöglicht und in den Menschenrechten rechtsinstitutionelle Rückendeckung erfährt. Die Menschenrechte, die jedem Menschen aufgrund seiner inhärenten Würde zukommen,
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Vgl. Artikel „Würde“, in: Brunner/Conze/Koselleck (1978)
Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip
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sind daher ebenfalls notwendig egalitär. Menschenrechte sind Gleichheitsrechte oder sie sind gar nicht. Alle umfassenden Menschenrechtsdokumente kennen das Diskriminierungsverbot; oft steht es in einem der ersten Artikel. Es ¿ndet sich zum Beispiel in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 2 AEMR) und den aus ihr hervorgegangenen rechtsverbindlichen UN-Konventionen zum Menschenrechtsschutz2 oder in der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats von 1950 (Art. 14 EMRK)3 und anderen regionalen Menschenrechtsabkommen, in der (Ende 2009 in Kraft getretenen) EU-Grundrechtscharta aus dem Jahre 2000 (Art. 21 EU-Grundrechtscharta) sowie nicht zuletzt im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes (Art. 3 GG). Einige der im UN-Kontext entstandenen Konventionen tragen das Ziel der Überwindung von Diskriminierung sogar im Titel, so die „Internationale Konvention zur Abschaffung aller Formen von Rassendiskriminierung“ von 1965 und das „Übereinkommen zur Abschaffung aller Formen der Frauendiskriminierung“ von 1979 (vgl. Schöpp-Schilling 2007). Das Diskriminierungsverbot ist demnach nicht nur eine Norm neben anderen, sondern hat darüber hinaus den Stellenwert eines Strukturprinzips für den Menschenrechtsansatz im Ganzen. Das heißt: Alle konkreten menschenrechtlichen Verbürgungen – zum Beispiel die Religionsfreiheit, das Recht auf Bildung, Fairnessregeln im Strafprozess oder das Recht auf Ehe und Familie – müssen nach dem Grundsatz der Nicht-Diskriminierung gewährleistet werden. Andernfalls wären diese Rechte keine Menschenrechte, sondern lediglich Privilegien. 2
Gleichheit als gleichberechtigte Freiheit
Die egalitäre Struktur der Menschenrechte hat immer wieder Anlass für Befürchtungen und Einwände gegeben. Schon Edmund Burke hat in seinen 1790 veröffentlichten Überlegungen zur Französischen Revolution das menschenrechtliche Gleichheitsprinzip als Projekt einer gewaltsamen, letztlich freiheitsfeindlichen Nivellierung kritisiert (vgl. Burke original 1790) und damit die Grundmelodie für eine konservative Menschenrechtskritik angestimmt, die über Hegel, Schopenhauer und Nietzsche bis in manche zeitgenössische kulturpluralistische Positionierungen durchklingt. Gleichheit wird darin als gesellschaftliche Uniformierung und als Verleugnung individueller Besonderheiten – d. h. der individuellen Vorlieben, 2 Vgl. z. B. Art. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und Art. 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966). 3 Das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK sieht darüber hinaus einen allgemeinen – d. h. nicht an bestimmte materiale Menschenrechtsgewährleistungen geknüpften – Schutz vor Diskriminierungen vor. Deutschland hat dieses Protokoll bislang nicht akzeptiert.
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Heiner Bielefeldt
Fähigkeiten, Lebenspläne – ausbuchstabiert. Es kann nicht verwundern, dass die so gefasste Gleichheit als der Widersacher zum Prinzip individueller Freiheit gesehen wird. Noch die hitzig geführte Debatte um die deutsche Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien war weitgehend von diesem vermeintlichen Gegensatz zwischen Freiheit und Diskriminierungsschutz geprägt (vgl. Bielefeldt/ Follmar 2005). Indessen erschließt sich die menschenrechtlich gedachte Gleichheit sinnvoll nur in der Zusammensicht mit dem Freiheitsanspruch. Auch dieser erfährt seine Grundlegung in der Idee der Menschenwürde. Der Anspruch des Menschen, um seiner Würde willen nie ausschließlich als Mittel, sondern immer zugleich auch als Selbstzweck behandelt zu werden4 gewinnt praktisch-institutionelle Rückendeckung in den grundlegenden Rechten auf freie Selbstbestimmung. Diese freiheitliche Orientierung ist für die Menschenrechte insgesamt maßgebend, und zwar nicht weniger als die egalitäre Ausrichtung. Wie man sagen kann, dass alle Menschenrechte Gleichheitsrechte sind, so gilt ebenso, dass alle Menschenrechte Freiheitsrechte sind. Dies trifft nicht nur für die liberalen und politischen Rechte zu, die oft die freiheitliche Ausrichtung schon im Titel tragen („Gewissensfreiheit“, „Religionsfreiheit“, „freie Meinungsäußerung“, „Versammlungsfreiheit“, „Vereinigungsfreiheit“ usw.), sondern gilt auch für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, die den Menschen vor einseitigen Abhängigkeiten – also konkreter Unfreiheit – insbesondere im Wirtschafts- und Sozialleben bewahren sollen (vgl. Krennerich 2006). Freiheit und Gleichheit bilden im Kontext der Menschenrechte zwei Seiten einer und derselben Medaille. Ein Freiheitsrecht, das nicht in sich selbst den Anspruch gleichberechtigter Verwirklichung für alle in sich trüge, wäre damit gerade kein allgemeines Menschenrecht, sondern ein rechtliches Privileg; und ein Gleichheitsrecht, das nicht in sich selbst freiheitlich strukturiert wäre, hätte den Titel „Recht“ nicht verdient. Es geht bei der menschenrechtlichen Gleichheit folglich keineswegs um Nivellierung und Uniformierung oder, mit Nietzsche gesprochen, um die „Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Herdentiere“ und „zum Zwergtiere der gleichen Rechte und Ansprüche“ (Nietzsche 1976: 117). Das Gleichheitsprinzip zielt nicht auf Nivellierung und Homogenisierung, sondern im Gegenteil darauf, dass alle Menschen die Chance haben sollen, ihre je „besonderen“, eigenen Lebensentwürfe in Freiheit zu ¿nden und zu verwirklichen (vgl. Baer 2004: 71 ff.). Die Menschenrechte befördern insofern gerade die Freisetzung von Vielfalt, d. h. sie weisen eine innere Af¿nität zu Pluralisierungsprozessen auf. Entscheidend ist, dass die Möglichkeit, den je eigenen „besonderen“ Lebensweg 4 Vgl. die Formulierung des kategorischen Imperativs: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals nur als Mittel brauchst.“ (Kant 1781: 429)
Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip
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zu ¿nden, kein Privileg Weniger sein darf, sondern durch die Gewährleistung universaler Gleichheitsrechte allen Menschen offen stehen soll. Insofern geht es bei den Menschenrechten von vornherein um eine „Gleichheit ohne Angleichung“.5 Die in den Menschenrechten garantierte gleiche Freiheit, dies sei gegen einen mittlerweile schon „klassischen“ Einwand gesagt, meint im Übrigen keineswegs nur die Freiheit des isolierten Individuum, sondern durchwirkt auch die gemeinschaftlichen Bezüge des Menschen – von der Familie, über die Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften bis hin zur Teilnahme am öffentlichen Leben und zur Mitwirkung am demokratischen Diskurs. Die Menschenrechte sind zwar die Rechte jedes einzelnen Menschen. Gleichwohl haben sie immer auch eine gemeinschaftliche Dimension. Dazu nur einige Beispiele: Die Meinungsfreiheit beschränkt sich nicht auf die individuelle Freiheit zur Meinungsäußerung, sondern sichert genau dadurch zugleich die Möglichkeiten für den demokratischen Diskurs in einem freiheitlichen Gemeinwesen. Das Recht auf Religionsfreiheit umfasst über die individuelle Glaubens- und Bekenntnisfreiheit hinaus wesentlich auch die Freiheit zu gemeinschaftlicher Religionsausübung, hat also ebenfalls eine kommunitäre Dimension, ohne die der rechtliche Schutz der Religionsausübung nicht viel wert wäre. Dass das Recht auf Schutz von Ehe und Familie von vornherein ein gemeinschaftliches Recht darstellt, bedarf wohl keiner Erläuterung, wobei allerdings hinzuzufügen ist, dass im Horizont des Menschenrechtsansatzes nur solche Familienformen Anerkennung beanspruchen können, die der freien Selbstbestimmung der einzelnen Familienmitglieder angemessenen Raum geben. Nicht der oft beschworene Gegensatz von Individuum versus Gemeinschaft bzw. Gesellschaft macht demnach die Pointe menschenrechtlicher Emanzipation aus. Vielmehr steht die durch menschenrechtliche Individualrechte zu ermöglichende freie Gemeinschaftsbildung in der doppelten Frontstellung gegen autoritäre, bevormundende Kollektivismen einerseits und gegen unfreiwillige soziale Ausgrenzungen andererseits. Menschenrechtswidrig wären demnach z. B. Familienformen, die auf erzwungener Eheschließung basieren, Religionsgemeinschaften, die abtrünnige Mitglieder mit Gewalt bedrohen, oder Volksdemokratien ohne Pressefreiheit und ohne Rechte der Opposition. Ebenfalls unter Menschenrechtsgesichtspunkten inakzeptabel aber wären eine Wirtschaftspolitik, die die gesellschaftliche Desintegration von Dauerarbeitslosen tatenlos hinnähme, oder eine gesellschaftliche Praxis, die Menschen mit Behinderungen vom öffentlichen Leben absondert.
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So der programmatische Titel der Studie von Ute Gerhard (1990).
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Heiner Bielefeldt Die exemplarischen Diskriminierungsmerkmale
Seine historisch-konkrete Gestalt erfährt der menschenrechtliche Gleichheitsgrundsatz im Diskriminierungsverbot. „Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“, heißt es beispielsweise in Artikel 2 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Aufzählung der besonderen Diskriminierungsverbote, durch die der Gleichheitsanspruch konkret konturiert wird, bildet keine abschließende Liste, sondern ist nur exemplarisch zu verstehen. Sie bleibt (dies zeigt sich schon in der Formulierung!) ausdrücklich offen für gesellschaftliche Lern- und Sensibilisierungsprozesse und daraus resultierende Veränderungen. In der (bewusst unabgeschlossenen) Liste konkreter Diskriminierungsmerkmale manifestiert sich der historische Protest sozialer Bewegungen, die in ihrem Kampf um Gleichberechtigung zugleich die Klärung des menschenrechtlichen Universalismus vorangetrieben haben. Dies war (und bleibt) schon deshalb notwendig, weil der für die Menschenrechtsidee konstitutive Universalitätsanspruch nicht nur in der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit, sondern auch schon in den jeweils historisch maßgeblichen Formulierungen der Menschenrechte immer wieder faktisch verfehlt worden ist. So wurde das abstrakte Subjekt der Menschenrechte in den ersten Menschenrechtserklärungen aus dem späten 18. Jahrhundert weitgehend fraglos als männlich imaginiert. Abgesehen von seinen geschlechtsspezi¿schen Zügen, war das gedachte Subjekt der Menschenrechte historisch zunächst auch mit anderen partikularen Eigenschaften – Bildungsstand, Herkunft, Hautfarbe – imprägniert. Sogar bis in die Gegenwart hinein wird das Recht auf Ehe und Familie vielerorts ausschließlich auf heterosexuelle Partnerschaften bezogen – zu Lasten anderer Formen von Lebenspartnerschaft. Die Geschichte der Menschenrechte ist von Anfang an durch den fundamentalen Widerspruch zwischen Universalitätsanspruch und partikularistischen Überformungen gekennzeichnet. Die Aufdeckung dieses Widerspruchs hat immer wieder Anlass für eine kritische Klärung und Weiterentwicklung des Universalitätsanspruchs gegeben. Dafür im Folgenden nur einige historische und aktuelle Beispiele. Dass das Subjekt der in den demokratischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts verkündeten menschenrechtlichen Ansprüche zunächst in aller Regel als Mann gedacht wurde, zeigt sich schon in den Überschriften der historisch maßgeblichen Texte über die „rights of man“ bzw. die „droits de l’homme“. Olympe de Gouges war wohl die erste Autorin, die die sprachliche Zweideutigkeit der französischen Männer-Menschenrechtserklärung von 1789 dadurch entlarvte, dass sie ihr bereits zwei Jahre später den Entwurf einer „Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne“ entgegensetzte. „Die Frau ist frei geboren und
Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip
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bleibt dem Manne gleich in allen Rechten“,6 heißt es programmatisch in Artikel 1 des an die Nationalversammlung gerichteten Entwurfs, den diese freilich nie zur Beratung annahm. Anders als der Titel suggeriert, bildet die erste historische Frauen-Menschenrechtserklärung gerade nicht das komplementäre Gegenstück zur Männer-Menschenrechtserklärung. Denn es geht in ihr nicht um Sonderrechte für Frauen, sondern um die Gleichberechtigung der Geschlechter: „Ziel und Zweck jedes politischen Zusammenschlusses ist der Schutz der natürlichen und unveräußerlichen Rechte sowohl der Frau als auch des Mannes.“ (Artikel 2) Daraus folgt für die Legitimation und innere Ordnung des Staates: „Das Gesetz sollte Ausdruck des allgemeinen Willens sein. Alle Bürgerinnen und Bürger sollen persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitwirken. Es muss für alle das gleiche sein. Alle Bürgerinnen und Bürger, die gleich sind vor den Augen des Gesetzes, müssen gleichermaßen nach ihren Fähigkeiten, ohne andere Unterschiede als die ihrer Tugenden und Talente, zu allen Würden, Ämtern und Stellungen des öffentlichen Lebens zugelassen werden.“ (Artikel 6)
Indem Olympe de Gouges die Geschlechterdifferenz zum Thema macht, überwindet sie also jenen faktischen Partikularismus, der in der – bewussten oder unbewussten – Gleichsetzung des Menschen mit dem Mann angelegt ist. Die Frauen-Menschenrechtserklärung steht somit für eine Menschenrechtskritik, die den falschen Universalismus innerhalb eines herrschenden Menschenrechtsdiskurses aufdeckt, um der Idee wirklich universaler und gleicher Rechte zum Durchbruch zu verhelfen. Auch der krasse Widerspruch, der darin bestand, dass mehrere „founding fathers“ der maßgebenden amerikanischen Menschenrechtsdokumente – darunter Thomas Jefferson – selbst Sklaven besaßen, wurde schon im ausgehenden 18. Jahrhundert kritisch thematisiert (vgl. Griswold Jr. 1991: 190 ff.). Sowohl die Praxis der Sklaverei als auch der sie stützende Rassismus, der eine förmliche Hierarchisierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe unterstellt, stehen in direktem Gegensatz zum Bekenntnis der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, dass alle Menschen „gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden“. Bereits wenige Jahre nach der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung kam es zu ersten Gerichtsprozessen, in denen schwarze Sklaven sich auf die in einigen Einzelstaaten verbürgten Grundrechtskataloge beriefen und dabei teilweise Erfolg hatten. So wurde infolge eines Gerichtsverfahrens in Massachusetts 1783 die Sklaverei in diesem Bundesstaat gesetzlich abgeschafft (Stourzh 1987: 87). 6 Hier und im Folgenden zitiert nach der Übersetzung der Erklärung im Anhang bei Ute Gerhard (1990): 263 ff.
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Heiner Bielefeldt
Dieser berühmte Quok Walker-Prozess steht nicht nur am Anfang einer langwierigen und konÀiktreichen Emanzipationsgeschichte in den USA. Er repräsentiert darüber hinaus die grundlegende Einsicht, dass der in den Menschenrechten formulierte universalistische Anspruch nur in der Bereitschaft zur Aufdeckung und effektiven Überwindung rassistischer Ausschlussmechanismen glaubhaft vertreten werden kann. Ein erfolgreiches Beispiel für die jüngere Geschichte der Ausweitung des Diskriminierungsverbotes bietet die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die von der Generalversammlung der UNO im Dezember 2006 verabschiedet wurde (vgl. Degener 2006: 104 ff.). Im Diskriminierungsverbot der UN-Erklärung von 1948 fehlt das Merkmal Behinderung noch. Die Sensibilität dafür, dass die verbreitete Praxis, Behinderte als „invisible minorities“ aus der Gesellschaft fernzuhalten, eine Form von Diskriminierung darstellt, war zum damaligen Zeitpunkt offenbar noch wenig entwickelt. Dies hat sich seitdem vor allem auch durch bewusstseinsbildende politische Aktivitäten von Behindertenorganisationen geändert. Gesellschaftliche Barrieren, dies wird zusehends erkannt, sind zu Strukturen geronnene Diskriminierungen, durch die die Betroffenen absichtlich oder – wahrscheinlich viel öfter – unabsichtlich ausgegrenzt werden. U-Bahnschächte ohne Fahrstühle, Bücherregale, die von einem Rollstuhl aus unerreichbar sind, Witze über geistig Behinderte, das fast totale Fehlen von Gebärdendolmetschern in der Universität und zahlreiche andere Barrieren vermitteln Behinderten alltäglich die Botschaft, dass sie nicht dazugehören und dass man ihr kreatives Potenzial nicht wahrnimmt. Faktisch sind auch heute noch Behinderte vielfach „invisible minorities“, unsichtbare – genauer: unsichtbar gemachte – Minderheiten, die vom „normalen“ gesellschaftlichen Leben ferngehalten werden. Die Überwindung der vielfältigen Barrieren (physischer, organisatorischer, mentaler Art usw.), die der gleichberechtigten Inklusion und selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Wege stehen, ist mittlerweile zu einer zentralen menschenrechtlichen Forderung geworden, die sich insbesondere in der Behindertenrechtskonvention niederschlägt. Zugleich erfährt das Diskriminierungsverbot darin eine konkretisierende Weiterentwicklung als Postulat der Barrierefreiheit (vgl. Art. 3 f. der UN-Behindertenrechtskonvention).7 Eine internationale Konvention zur Gleichberechtigung sexueller Minderheiten gibt es hingegen derzeit noch nicht. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass homophobe Vorurteile in vielen Gesellschaften nach wie vor stark verbreitet sind und in manchen Ländern auch heute noch mit gezielten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen einhergehen. Eine weltweite Anerkennung des Grundsatzes der Nicht-Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Identität (wie
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s. http://¿les.institut-fuer-menschenrechte.de/437/Behindertenrechtskonvention.pdf
Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip
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er etwa in der EU-Grundrechtscharta verankert ist) scheint jedenfalls vorerst nicht sehr realistisch zu sein. Gleichwohl haben internationale Expertinnen und Experten – darunter einige mit hochrangigen Funktionen im UN-Menschenrechtsschutzsystem – das Gesamtspektrum der Menschenrechte systematisch unter dem Gesichtspunkt gleichberechtigter Berücksichtigung von LGBT-Personen8 erschlossen. Die (nach dem Entstehungsort benannten) „Yogyakarta-Prinzipien“ sind zwar noch nicht im engeren Sinne rechtsverbindlich, fassen aber die jüngere Entwicklung in der Interpretation der Menschenrechtskonventionen durch die dafür zuständigen UN-Vertragsausschüsse systematisch zusammen und können insofern durchaus rechtliche Relevanz beanspruchen (vgl. O’Flaherty/Fisher 2009: 41 ff.). Denn seit Mitte der 1990er Jahre besteht bei den UN-Vertragsausschüssen die klare Tendenz, bei der Auslegung des allgemeinen Diskriminierungsverbots die Merkmale sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität ausdrücklich mit zu berücksichtigen. Man könnte die Beispielfälle für die sukzessive inhaltliche Ausgestaltung des Diskriminierungsverbots noch erweitern. Was sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, wird deutlich, wenn man das Diskriminierungsverbot der UN-Erklärung von 1948 mit dem entsprechenden Artikel der EU-Grundrechtscharta aus dem Jahre 2000 vergleicht (wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass deren Gewährleistungen nicht auf die internationale Ebene übertragbar sind!). Artikel 21 Absatz 1 der EU-Grundrechtscharta lautet: „Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“ Auch diese (im Vergleich zu 1948) deutlich erweiterte Liste der Diskriminierungsmerkmale in der EU-Grundrechtscharta bleibt allerdings unabgeschlossen; dies zeigt das Adverb „insbesondere“. Der menschenrechtliche Gleichheitsgrundsatz geht nicht in der Liste der exemplarischen Diskriminierungsmerkmale auf, sondern bleibt ihr voraus und wird damit zum Movens für mögliche Weiterentwicklungen. Es ist durchaus erwartbar, dass aufgrund neuer Gefährdungen von Gleichberechtigung, etwa durch technologische Entwicklungen im Bereich der Genetik, sowie aufgrund von gesellschaftlichen Lern- und Sensibilisierungsprozessen neue Veränderungen und Ausweitungen im Verständnis von Diskriminierung statt¿nden werden.
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LGBT steht für Lesbians, Gays, Bisexuals and Transsexuals.
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Heiner Bielefeldt Direkte, indirekte und strukturelle Diskriminierungen
Das mittlerweile erweiterte Verständnis von Diskriminierung manifestiert sich nicht nur in der Ausweitung der exemplarischen Diskriminierungsmerkmale. Es hat sich darüber hinaus in den letzten Jahrzehnten das Bewusstsein dafür geschärft, dass es neben direkten auch indirekte bzw. neben intentionalen auch strukturelle Formen von Diskriminierung gibt, die oft nicht auf den ersten Blick evident sind, für die Betroffenen gleichwohl einschneidende Wirkungen haben können. Unter dem Anspruch der Menschenrechte sind die Staaten gehalten, gegen alle Formen von Diskriminierung aktiv vorzugehen. Eine bloß formale rechtliche Gleichstellung der Menschen reicht nicht aus. Vielmehr steht der Staat in der PÀicht dafür zu sorgen, dass die Menschen ihre gleichen Rechte auch tatsächlich wirksam zur Geltung bringen können. Unter indirekter Diskriminierung versteht man solche Formen der Ungleichstellung, die sich bei formaler Gleichberechtigung dennoch ergeben bzw. aufrechterhalten werden können. Beispielsweise können Arbeitsmarktreformen nicht-intendierte Nebenwirkungen entfalten – etwa den Effekt, dass Frauen und andere auf dem Arbeitsmarkt unterrepräsentierte Gruppen bei Maßnahmen beruÀicher Fortbildung de facto systematisch benachteiligt werden, auch wenn die Formulierung der entsprechenden Gesetze formal diskriminierungsfrei gestaltet ist. Von indirekten Diskriminierungen spricht man dann, wenn bestimmte Regelungen formal zwar neutral gehalten sind, in ihren Auswirkungen gleichwohl verschiedene Teile der Bevölkerung ungleich hart treffen. Ein anderes Beispiel wären Schulordnungen, die das Tragen von Kopfbedeckungen im Unterricht generell untersagen und insofern in „neutraler“ Sprache abgefasst sind, damit aber faktisch auf das islamische Kopftuch zielen. Indirekte Diskriminierungen können intendiert sein oder auch ohne entsprechende Intentionen bestehen; sie können bewusst oder auch unbewusst statt¿nden – entscheidend ist das Ergebnis, die faktische Benachteiligung bestimmter Menschen. Angesichts des hohen Stellenwerts des Diskriminierungsverbots für die Menschenrechte ist dies nicht hinnehmbar. Während der Begriff der indirekten Diskriminierungen sich aus dem Gegensatz zu direkten Diskriminierungen versteht, setzt der Begriff der strukturellen Diskriminierung auf einer anderen Ebene an und bezeichnet solche Formen von Diskriminierung, hinter denen nicht (oder jedenfalls nicht direkt) ein oder mehrere personale „Tätersubjekte“ stehen, sondern die aus existierenden gesellschaftlichen Strukturen resultieren. Der Ausschluss Behinderter aus dem gesellschaftlichen Leben geschieht nicht nur durch Akte bewusster Herabsetzung und Ausgrenzung, sondern vor allem auch durch das Fehlen barrierefreier Zugänge zu öffentlichen Gebäuden oder Verkehrsmitteln (vgl. Arnade 2003: 3 ff.). Verschiedene empirische Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass im staatlichen Bildungssystem beim Übergang zu weiterführenden Schulen Selektionsmechanismen wirksam sind, die auf eine massive Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen aus
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Familien mit Migrationsgeschichte hinauslaufen. Ein weiteres Beispiel wäre die Unterrepräsentation von Frauen in höheren Lehrberufen – bei ihrer gleichzeitigen Überrepräsentation im Bereich der Elementarbildung (vgl. Motakef 2006). Indirekte und strukturelle Formen von Diskriminierung sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, geschweige denn nachweisbar. Von daher kann es erforderlich sein, statistische Daten zu erheben, um Benachteiligungen für bestimmte Gruppen von Menschen in der gebotenen Klarheit aufzuzeigen. Die UN-Ausschüsse zum Monitoring der Antirassismuskonvention bzw. der Frauenrechtskonvention haben den Staaten – auch Deutschland – seit Jahren immer wieder empfohlen, aussagekräftige empirische Daten zur Verfügung zu stellen, um die gesellschaftliche Selbstaufklärung voranzutreiben und die Bedingungen für eine de facto Gleichberechtigung aller Menschen zu verbessern.9 Für eine wirksame Gleichstellungspolitik kann es auch notwendig sein, zeitweilige Spezialmaßnahmen („temporary special measures“) zu ergreifen. Damit sind Maßnahmen gemeint, die dazu dienen sollen, bestehende diskriminierende Strukturen aufzubrechen. Was vordergründig wie eine Privilegierung aussieht (oder jedenfalls oft so missverstanden wird), ¿ndet seine Begründung gerade darin, existierende und zu festen Strukturen geronnene Privilegierungen zu überwinden und damit tatsächlicher Gleichberechtigung den Weg zu bahnen. Sowohl die Internationale Konvention zur Abschaffung aller Formen der Rassendiskriminierung als auch das Übereinkommen zur Abschaffung aller Formen der Diskriminierung der Frau sehen die Möglichkeit solcher Maßnahmen ausdrücklich vor.10 5
Eine bleibende Aufgabe
Der Anspruch der Diskriminierungsfreiheit ist auch in Deutschland – einer freiheitlichen Gesellschaft mit einem hoch entwickelten Rechtssystem und einer komplexen menschenrechtlichen Infrastruktur – noch uneingelöst. Menschen mit Migrationsgeschichte erleben besondere Hindernisse, wenn sie sich um eine Wohnung oder 9 Vgl. in diesem Sinne zuletzt die Deutschland-Empfehlungen des UN-Ausschusses zur Abschaffung der Frauendiskriminierung (CEDAW) vom 6. Februar 2009, Abschnitt 46. 10 Vgl. Art 1 Abs. 4 der Internationalen Konvention zur Abschaffung aller Formen von Rassendiskriminierung bzw. Art. 4 Abs. 1 des Übereinkommens zur Abschaffung aller Formen der Frauendiskriminierung. Der UN-Ausschuss zur Abschaffung der Frauendiskriminierung führt dazu aus: Das Übereinkommen „hat die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zum Ziel, was die Beseitigung der Ursachen und Folgen ihrer de-facto- oder substanziellen Ungleichheit beinhaltet. Daher ist die Anwendung zeitweiliger Sondermaßnahmen in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen eines der Mittel zur Verwirklichung von de-facto- oder substanzieller Gleichstellung der Frau und nicht nur eine Ausnahme vom Diskriminierungsverbot.“ General Recommendation Nr. 25 (2004), Abschnitt 14, zitiert nach: Deutsches Institut für Menschenrechte (2005: 507).
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Heiner Bielefeldt
eine Arbeitsstelle bewerben; auch bei gleichwertigen Schulabschlüssen sind ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz erheblich schlechter als die von Jugendlichen mit einem traditionell „deutsch klingenden“ Namen. Nach wie vor erhalten Frauen und Männer für gleiche Arbeit keineswegs den gleichen Lohn; der Lohnabstand hat sich über Jahrzehnte – trotz vieler Maßnahmen zur Gleichstellungspolitik – kaum verändert und bleibt auf relativ hohem Niveau. Der Wunsch Behinderter nach Ehe und Familie stößt in der Gesellschaft vielfach auf Unverständnis und auf zahlreiche praktische Hindernisse; insbesondere betrifft dies Menschen mit geistigen Behinderungen. Was die Inklusion von Kindern mit Behinderungen in das Regelschulsystem angeht, liegt Deutschland erheblich unter dem Stand anderer europäischer Staaten. Vor allem Förderschulen für Lernbehinderte sind außerdem ein Sammelbecken für Kinder aus Migrationsfamilien, deren Lebenschancen durch solche Separierung schon frühzeitig massiv beeinträchtigt werden. Stigmatisierungen von Lesben und Schwulen sind trotz mancher Fortschritte keineswegs verschwunden. Muslime und einige andere religiöse Minderheiten können an den etablierten Kooperationsstrukturen von Staat und Religionsgemeinschaften – etwa am schulischen Religionsunterricht – derzeit vielerorts auch dann nicht teilhaben, wenn sie dies ausdrücklich wünschen. Phänomene von Altersdiskriminierung sind in Deutschland noch kaum systematisch untersucht worden; auch in der öffentlichen Diskussion ist das Thema neu. Erst recht gilt dies für die komplizierte Frage, wie Diskriminierungen aufgrund genetischer Merkmale – etwa die Benachteiligung von Menschen mit genetisch bedingten Anlagen für Erkrankungen innerhalb des Versicherungswesens – verhindert werden können. Die Liste der Beispiele ungelöster Fragen und Probleme ließe sich leicht verlängern. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die unterschiedlichen (legislativen, administrativen, sozialarbeiterischen, pädagogischen usw.) Maßnahmen einzugehen, die für eine wirksame Antidiskriminierungspolitik erforderlich sind. Stattdessen sei abschließend auf ein unauÀösliches Spannungsverhältnis hingewiesen, mit dem sich jede Politik zur Überwindung von Diskriminierung konfrontiert sieht: Sie steht vor der doppelten Aufgabe, einerseits alle Diskriminierungsmerkmale gleichermaßen ernst zu nehmen und andererseits jedem der Merkmale auch gesondert Aufmerksamkeit zu widmen. Auf der einen Seite gilt das Postulat der gleichen Berücksichtigung aller Diskriminierungsmerkmale. Denn jedwede „Hierarchisierung“ – dergestalt, dass etwa rassistische Diskriminierung per se schlimmer sei als Diskriminierung aufgrund von Behinderung (oder auch andersherum), stünde letztlich in Widerspruch zum menschenrechtlichen Universalismus.11 Für eine ganzheitliche Herangehensweise Dass es natürlich höchst unterschiedliche Grade von Diskriminierungserfahrungen gibt – von verbalen Attacken über strukturelle Ausgrenzung aus dem Arbeits- und Wohnungsmarkt bis zu Mordanschlägen oder gar Genoziden – steht auf einem anderen Blatt.
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Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip
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an das Thema Diskriminierung – unter gleicher Berücksichtigung aller Merkmale – hat sich der Begriff des „horizontalen Ansatzes“ durchgesetzt (vgl. Baer 2008: 447). Nur innerhalb eines solchen horizontalen Ansatzes ist es möglich, auch multiple Formen von Diskriminierung – etwa die doppelte Benachteiligung von behinderten Frauen oder die schwierige Lage von schwulen Migranten – systematisch zu thematisieren und anzugehen. Auf der anderen Seite bleibt es wichtig, die spezi¿schen Perspektiven, die sich in den jeweiligen Diskriminierungsmerkmalen manifestieren, auch gesondert wahrzunehmen. Es wäre ein Missverständnis zu meinen, dass der horizontale Ansatz spezielle Perspektiven wie etwa das Gender Mainstreaming ausschließen würde. Denn eine wirksame Bekämpfung diskriminierender Praktiken und Strukturen setzt immer Genauigkeit in einer Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse voraus, die sich nur erreichen lässt, wenn man eine spezi¿sche Perspektive wählt und durchhält. Erst wenn man die Gesellschaft systematisch daraufhin betrachtet, wie sie beispielsweise mit der Differenz der Geschlechter umgeht, oder wo überall Barrieren für Blinde oder Rollstuhlfahrer bestehen, lassen sich die jeweiligen Aufgaben der Antidiskriminierungspolitik in der gebotenen Präzision identi¿zieren. Der horizontale Ansatz bedeutet daher keineswegs, wie gelegentlich befürchtet, die Ablösung von Gender Mainstreaming, Disability Mainstreaming oder anderen prägnanten Perspektiven zugunsten eines nur noch kaleidoskopischen Blicks auf die generelle Vielfalt menschlicher Lebenslagen (vgl. dazu Rudolf 2009: 155 ff.). Eine von den Menschenrechten her gedachte Antidiskriminierungspolitik ist ein hoher Anspruch, dessen Einlösung von Staat und Gesellschaft viel verlangt. Die Früchte solcher Politik kommen indessen nicht nur denjenigen zugute, die konkret unter Diskriminierungen leiden. Vielmehr geht es im Bemühen um die sukzessive Überwindung von Diskriminierungen letztlich um die Humanisierung der Gesellschaft im Ganzen und um das Ernstnehmen des Bekenntnisses zur unantastbaren Würde jedes Menschen. Literatur Arnade, Sigrid (2003): Zwischen Anerkennung und Abwertung. Behinderte Frauen und Männer im bioethischen Zeitalter. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 08/2003, S. 3–6 Baer, Susanne (2004): Geschlecht und Recht – zur rechtspolitischen Steuerung der Geschlechterverhältnisse. In: Meuser, M./Neusüß, C. (Hrsg.): Gender Mainstreaming. Konzepte, Handlungsfelder, Instrumente. Bonn, S. 71–83 Baer, Susanne (2008): Ungleichheit der Geschlechter? Zur Hierarchisierung von Diskriminierungsverboten. In: Klein, E./Menke, C. (Hrsg.): Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote. Berlin, S. 421–450
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Heiner Bielefeldt
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Diskriminierung und soziale Ungleichheiten Erfordernisse und Perspektiven einer ungleichheitsanalytischen Fundierung von Diskriminierungsforschung und Antidiskriminierungsstrategien Albert Scherr
Sozialphilosophische, sozialwissenschaftliche und politische Auseinandersetzungen mit sozialer Ungleichheit und Diskriminierung haben einen gemeinsamen Bezugspunkt in der Thematisierung eines moderne Gesellschaften kennzeichnenden Widerspruchs: Zwischen ihrem Selbstverständnis als Gesellschaften freier und gleicher Individuen und der Realität ungleicher Lebensbedingungen und Lebenschancen besteht eine offenkundige Diskrepanz. Trotz dieses gemeinsamen Bezugspunktes ist die folgenreiche Aufspaltung in einen Ungleichheitsdiskurs einerseits und einen Antidiskriminierungsdiskurs andererseits bislang noch nicht überwunden. Diese Aufspaltung ist ersichtlich sozialhistorisch bedingt: Bezugsproblematik und historischer Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Thematisierungen sozialer Ungleichheiten war die sog. soziale Frage der kapitalistischen Marktökonomien, die Analysen der sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen sozialen Klassen, Schichten und Milieus sowie ihrer direkten und indirekten Auswirkungen auf die Lebensbedingungen und Lebenschancen von Individuen und Familien veranlasste (vgl. dazu Kreckel 2006: 7). Bezugsproblematik von Antidiskriminierungsbewegungen und -diskursen waren und sind dagegen gerade solche Formen von Benachteiligung, die in den Ungleichheitstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts und den sozialpolitischen Auseinandersetzungen mit der sog. sozialen Frage bis Mitte des 20. Jahrhunderts verdrängt, vernachlässigt oder als nachrangig betrachtet wurden.1 Zwar waren Antisemitismus, Sklaverei und Rassismus sowie die Frage der Frauenrechte auch schon im 18. und 19. Jahrhundert Gegenstand von Auseinandersetzungen. Die Anerkennung von Rassismus, Antisemitismus und geschlechtsbezogener Benachteiligung als eigenständig bedeutsame, gesellschaftlich verursachte und inakzeptable Sachverhalte setzte sich jedoch erst vor dem HinterIn instruktiver Weise hat Susan Buck-Morss (2005) aufgezeigt, wie die Hegel’sche Sozialphilosophie eine systematische Thematisierung der Sklaverei und der Sklavenaufstände umgeht; eine theoriegeschichtliche Aufarbeitung solcher De-Thematisierungen in der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung steht meines Wissens bislang aus.
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grund der historischen Erfahrung des Holocaust sowie in Reaktion auf die sozialen Bewegungen, insbesondere die Bürgerrechts- und Antirassismusbewegungen und die Frauenbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch.2 Mit diesen knappen Hinweisen auf die sozialhistorischen Entstehungsbedingungen ist aber die Frage nicht beantwortet, ob es auch gegenwärtig noch gute Gründe dafür gibt, die Ausdifferenzierung in sozialwissenschaftliche Ungleichheitsforschung und Sozialpolitik einerseits, Diskriminierungsforschung und Antidiskriminierungspolitik andererseits fortzuführen. Die folgenden Überlegungen zielen diesbezüglich darauf aufzuzeigen, dass sozioökonomische Ungleichheiten und diskriminierende Unterscheidungen zwar vielfach miteinander verknüpft sind und es folglich erforderlich ist, den wechselseitigen Verschränkungen konsequent Rechnung zu tragen; gleichwohl ist aber auch zu berücksichtigen, dass es sich um nicht aufeinander reduzierbare Formen sozialer Privilegierung und Benachteiligung handelt. Im Sinne eines „perspektivischen Dualismus“ (vgl. Fraser 2003: 88; Kreckel 1992: 270 ff.; Ransford 2000: 412 ff.) ist es folglich plausibel davon auszugehen, dass es sich um zwei zu unterscheidende, aber nicht voneinander unabhängige Formen gesellschaftlicher Hierarchiebildung handelt, die weitreichende Auswirkungen auf Lebensbedingungen und Lebenschancen haben; sie sind insbesondere für den Zugang zu materiellen Ressourcen, Macht, sozialer Wertschätzung sowie zu Bildung und beruÀichen Karrieren bedeutsam.
2 Nancy Fraser (2004) argumentiert in Hinblick auf die Geschlechterdifferenz, dass sich die feministische Geschlechterforschung zunächst in einem engen Bezug auf Theorien sozioökonomischer Ungleichheit entwickelt habe, „die Verschiebung von einem quasi-marxistischen, arbeitszentrierten Verständnis zu einer auf Identität und Kultur beruhenden Konzeption“ (ebd.: 454) sei dann in Zusammenhang mit der Krise der Neuen Linken und einer Veränderung der Topoi feministischer Politik erfolgt.
Diskriminierung und soziale Ungleichheiten
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Die Unterscheidung der Ungleichheiten zwischen sozialen Klassen und Schichten von den im gegenwärtigen Antidiskriminierungsdiskurs thematischen Benachteiligungen „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz/AGG, § 1) ist so betrachtet zwar wissenschaftlich, politisch und rechtlich nicht umfassend aufhebbar.3 Wie im Weiteren zu zeigen sein wird, ist jedoch eine ungleichheitstheoretische Rückbindung der Bestimmung diskriminierungsrelevanter Merkmale sowie der Ursachen, Formen und Folgen von Diskriminierungen erforderlich. Denn Diskriminierungen können ohne eine Analyse ihrer Verschränkung mit den Strukturen sozialer Ungleichheit weder angemessen analysiert, noch politisch und rechtlich angegangen werden.4 1
Diskriminierung als Kategorie der Ungleichheitsforschung
Gegenstand sozialwissenschaftlicher Ungleichheitsforschung sind die Ursachen, Ausprägungen und die Folgen der Ungleichverteilung von materiellem Wohlstand, Macht, Prestige und Bildung sowie deren direkte und indirekte Auswirkungen auf vielfältige weitere Aspekte der Lebenssituation und der Lebensführung (etwa Sozialisationsbedingungen, Bildungsstrategien, Heiratschancen, Kriminalisierung, Gesundheitsgefährdung) (vgl. dazu u. a. Hradil 1983; Kreckel 2004; Ritsert 2008; Huinink/Schröder 2008). Eine weitgehende Übereinstimmung der heterogenen Ungleichheitstheorien kann in der Annahme gesehen werden, dass moderne Gesellschaften durch eine gesellschaftsstrukturelle, insbesondere ökonomisch bedingte Ungleichheitsordnung gekennzeichnet sind, in der Klassen bzw. Schichten bzw. soziale Milieus bzw. Lebenslagen durch für sie jeweils typische Privilegierungen oder Benachteiligungen unterschieden werden können. Angenommen wird in den klassischen Klassen- und Schichtungstheorien der Ungleichheitsforschung dabei – und hierfür lassen sich auch gegenwärtig noch vielfältige empirische Belege ¿nden5 –, dass materieller Wohlstand, Bildung, Macht und Prestige eng miteinander verschränkt sind: Sozioökonomische Privilegierung geht demnach typischerweise mit höherer Bildung, mit gesteigerten Möglichkeiten der Machtausübung sowie mit positiven Chancen der sozialen Wertschätzung einher. In der einÀussreichen Es wird also nicht – wie etwa bei Bader (1995) – davon ausgegangen, dass Diskriminierungen zureichend als ein Sonderfall der Mechanismen betrachtet werden können, durch die soziale Ungleichheiten hergestellt und reproduziert werden. 4 Entsprechend ist zugleich eine diskriminierungstheoretische Erweiterung der Theorie und Empirie sozialer Ungleichheit erforderlich (vgl. dazu Weiß 2001 sowie Scherr 2008). 5 Dies ist insbesondere in der Kritik der sog. Individualisierungsthese wiederkehrend geltend gemacht worden (vgl. dazu bereits Bertram 1991). 3
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Weiterentwicklung soziologischer Ungleichheitstheorien, wie sie mit Pierre Bourdieus Theorie des sozialen Raums vorliegt (vgl. Bourdieu 1983, 1984 und 1985), wird demgegenüber zwar akzentuiert, dass ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital keineswegs notwendig miteinander verbunden sind. Entsprechend werden diejenigen sozialen Gruppen, deren gesellschaftliche Position zentral auf der Verfügung über ökonomisches Kapital (Einkommen, Vermögen) beruht, von denjenigen unterschieden, deren Position sich zentral von ihrer Verfügung über Bildung und ihrem Zugang zur Hochkultur ableitet. Zudem wird angenommen, dass die unterschiedenen Kapitalsorten eine eigenständige Bedeutung für ungleiche Lebenslagen sowie für unterschiedliche Lebensstile haben. Aber auch bei Bourdieu wird noch davon ausgegangen, dass Positionen im Gefüge der sozialen Ungleichheiten zentral durch die Verfügung über Vermögen, Einkommen und Bildung bestimmt sind und soziale Anerkennung wesentlich vom verfügbaren Kapitalvolumen abhängig ist. Soziale Privilegierungen und Benachteiligungen treten in der Perspektive der soziologischen Ungleichheitsforschung so betrachtet zentral als sozioökonomisch bedingte, in der Struktur der Eigentumsverhältnisse, der beruÀichen Hierarchien und der Untergliederung in Erwerbstätige und Erwerbslose verankerte Ungleichheiten in den Blick, die durch politische Machtverhältnisse abgesichert werden und die weit reichende direkte und indirekte Folgen für die Lebensbedingungen und Lebenschancen haben. Als Mechanismen, die den Zugang zu sozialen Positionen regulieren, werden entsprechend vor allem die familiale Vererbung von Besitz, die ungleichen Chancen des Erwerbs schulischer und beruÀicher Quali¿kationen sowie die direkte (Kooption) und indirekte Bedeutung von Klassenlage und Lebensstil für den Zugang zu privilegierten Positionen in wirtschaftlichen und politischen Hierarchien analysiert. Als Diskriminierung wurden und werden im Rahmen der Ungleichheitsforschung auf dieser Grundlage ergänzend solche Formen der Benachteiligung thematisiert, die sich nicht zureichend als Bestandteil oder Effekt von Klassenlage, Schicht- und Milieuzugehörigkeit bestimmen und erklären lassen. In den Blick genommen werden dabei vor allem Benachteiligungen, die sich auf sog. zugeschriebene Merkmale, d. h. durch eigene Leistung nicht erwerbbare bzw. veränderbare „soziale oder physische Attribute (Hautfarbe, Alter, Geschlecht, usw.)“ (Parkin 1983: 126) beziehen.6 Rassistische und ethnisierende sowie alters- und 6 Parkin (1983: 126) hat eine instruktive Kritik der Unterscheidung zwischen askriptiven und erworbenen Merkmalen formuliert und vorgeschlagen, diese durch die Unterscheidung von individualistischen und kollektivistischen Ausschlussregeln zu ersetzen. Dabei wendet er sich zugleich gegen das Postulat, dass ein Übergang von einem Typus sozialer Selektion, der auf askriptiven Merkmalen beruht, zu einem, der auf erworbenen Merkmalen beruht, eindeutig als „moralischer Fortschritt“ zu bewerten sei: „Was dabei verschleiert wird, ist die Tatsache, dass dieser Übergang in Wirklichkeit einen Wechsel der Kriterien darstellt, die zur Diskriminierung verwendet werden.“ (ebd.)
Diskriminierung und soziale Ungleichheiten
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geschlechtsbezogene Diskriminierung wird in der Ungleichheitsforschung damit zwar als ein eigenständiger Modus der Herstellung sozialer Benachteiligungen thematisch; ihnen wird in der Regel7 jedoch ein nachrangiger Stellenwert gegenüber der Ungleichheitsreproduktion auf der Grundlage von Klassen-, Schichten- und Milieuunterschieden zugewiesen. Sie gelten gewöhnlich als „Randbedingungen der Sozialstrukturanalyse“ (Kreckel 1991: 375).8 Selbst in der an Pierre Bourdieu anschließenden kulturtheoretisch fundierten Ungleichheitsforschung, die nicht nur sozioökonomische Ungleichheiten, sondern auch „Trennlinien der Distinktion und der Respektabilität“ in den Blick nimmt (Vester et al. 2001: 26 ff.), ¿nden ethnisierende und rassialisierende Grenzziehungen keine systematische Berücksichtigung (vgl. aber Lamont 20009). Grundlage dessen ist ein – seitens der Geschlechter- und Rassismusforschung inzwischen wiederkehrend kritisiertes (vgl. etwa Weiß et al. 2001: 12 ff.; Degele 2004) – Gesellschaftsverständnis, das als Normalfall von Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppen ausgeht, die sich aus physisch und psychisch gesunden, strafrechtlich unbescholtenen männlichen Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen zusammensetzen. Entsprechend wird noch bei Reinhard Kreckel (2004: 17) – und damit einem Autor, der zentral für eine Erweiterung und Öffnung der Ungleichheitsforschung steht10 – formuliert, dass „die Frage der sozialen Ungleichheit heute nicht mehr ausschließlich als Klassen- oder Schichtungsungleichheit – also als vertikale Ungleichheit – aufgefasst werden kann“. Soziale Ungleichheit liege „immer dann vor, wenn bestimmte soziale Differenzierungen es mit sich bringen, dass einzelne Individuen oder Gruppen in dauerhafter Weise begünstigt, andere benachteiligt sind. Regelmäßig trifft das für die Mitglieder von unterschiedlichen Klassen und Schichten zu – aber nicht nur für diese: Ebenso sind davon die Angehörigen diskriminierter (oder privilegierter) gesellschaftlicher Teil- und Randgruppen betroffen, in unserer Gesellschaft z. B. Frauen, Ausländer, Farbige, Bewohner rückständiger Wohngebiete“ (ebd.). Diskriminierung wird hier – wie in der Ungleichheitsforschung auch ansonsten üblich11 – nicht nur als eine nachrangige Dimension sozialer Ungleichheit betrachtet, 7 Anders verhält sich dies jedoch in Charles Tillys Theorie dauerhafter Ungleichheiten (Tilly 1999). Auf diese wird im Weiteren noch zurückzukommen sein. 8 Die Bedeutung von sozioökonomischem Status und ethnisierender Diskriminierung wird in der neueren Bildungsforschung jedoch durchaus kontrovers diskutiert; vgl. dazu insbesondere Diefenbach (2004), Kristen (2006) und Scho¿eld (2006) sowie den Beitrag von Hormel in diesem Band. 9 Michèle Lamont (2000) hat eine Analyse von Prozessen sozialer Abgrenzung („boundary work“) vorgelegt, in der sie aufzeigt, dass und wie in der Festlegung von Grenzlinien der Respektabilität auf klassenbezogene und auf rassialisierende Aspekte Bezug genommen wird. 10 In seiner ‚Politischen Soziologie der sozialen Ungleichheit‘ thematisiert Kreckel (1992: 213) explizit die Hintergrundannahmen der klassischen Ungleichheitsforschung, die zu einer systematischen Vernachlässigung der Kategorie Geschlecht führen. 11 So wird etwa auch in einem aktuellen Lehrbuch der Ungleichheitsforschung (Huinink/Schröder 2008: 136) formuliert: „In sozialen Beziehungen erleben wir die Ungleichbehandlung von Mitgliedern
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sondern zudem in problematischer Weise nach Maßgabe der davon vermeintlich spezi¿sch betroffenen Gruppen von klassen- und schichtenspezi¿scher Benachteiligung unterschieden. Denn diese Unterscheidung ist keineswegs trennscharf: Alle diejenigen, die als „Angehörige“ gesellschaftlicher Teil- und Randgruppen benannt werden, sind zugleich immer auch „Mitglieder“ sozialer Klassen und Schichten und folglich auch als solche von Privilegierungen und Benachteiligungen betroffen. Eine Begriffsstrategie, welche die Differenz zwischen Diskriminierungen und sozioökonomischen Ungleichheiten über unterschiedliche Adressatengruppen auszuweisen versucht, ist folglich nicht tragfähig und sie befähigt nicht dazu, Diskriminierung als eigenständigen – mit der Reproduktion sozioökonomischer Ungleichheiten zwar verknüpften, aber davon auch zu unterscheidenden – Modus der Herstellung gesellschaftlicher Privilegien und Benachteiligungen zu analysieren. Exkurs: Imaginäre Gruppen und Mitgliedschaftskategorien Kategorien wie Nation, Klasse, Schicht, Geschlecht und Ethnizität werden in politischen und medialen Kontexten, aber immer wieder auch in wissenschaftlichen Texten, in einer Weise gebraucht, die eine Gleichsetzung der kategorialen Unterscheidung mit Kollektiven oder Gruppen nahelegt, denen Individuen angehören. In der Folge wird „die gesellschaftliche Welt als eine Ansammlung in sich geschlossener, homogener […] Gruppen dargestellt“ (Brubaker 2007: 116). Dagegen ist inzwischen mit unterschiedlicher Akzentuierung (vgl. Bourdieu 1985; Luhmann 1995; Brubaker 2007) eingewandt worden, dass es sich nicht um Kategorien handelt, denen „Dinge-in-der-Welt, […] reale, substantielle Entitäten mit eigener Kultur, Identität und eigenen Interessen“ (Brubaker 2007: 116) entsprechen (vgl. Scherr 2000; Hormel/Scherr 2003). Bereits Georg Simmel (1908/1968: 305 ff.) hat argumentiert, dass für moderne Gesellschaften eine Vervielfältigung der „sozialen Kreise“ kennzeichnend sei, in denen sich Individuen bewegen. Als Kennzeichen moderner Gesellschaften wird also angenommen, dass Individuen nicht mehr nur auf einen singulären und abgeschlossenen sozialen Kontext bezogen sind. Zudem handelt es sich bei Nationen, Klassen, Schichten oder Ethnien nicht um Realgruppen, d. h. um soziale Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge, an denen eine begrenzte Zahl von Personen teilnimmt und in denen sich auf dieser Grundlage ggf. geteilte Sichtweisen, Werte und Normen sowie ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. In einer sozialkonstruktivistischen Perspektive ist es folglich unhintergehbar, die bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgrund von Vorurteilen, Stigmatisierungen und Diskriminierungen. […] Wir kommen auf diesen Sachverhalt zurück, wenn wir uns mit den Ursachen und Determinanten sozialer Ungleichheit beschäftigen. Allgemein verweist er auf gesellschaftliche Randgruppen.“
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sozialen Prozesse zu analysieren, mit denen Vorstellungen über Nationen, Klassen, Altersgruppen, Rassen, Ethnien und Geschlechter als vermeintlich unabhängig von sozialen Klassi¿kationsprozessen existierende, klar abgrenzbare und in sich homogene Kollektive hervorgebracht und bedeutsam werden. Dafür ist es unverzichtbar, zwischen diskursiven Konstruktionen von „imaginären Gemeinschaften“ (Anderson 1996) und sozialen Praktiken, in denen Mitgliedschaftskategorien12 verwendet werden einerseits, lebensweltlichen Gruppenzugehörigkeiten und sozialen Netzwerken andererseits zu unterscheiden. Zu untersuchen sind die Verwendung von Gemeinschaftskonstruktionen und Mitgliedschaftskategorien als gesellschaftlich folgenreiche Klassi¿kationen sowie die darauf bezogenen Prozessen der Formierung kollektiver Identitäten. In einer solchen Perspektive sind Klassenbildung, Nationenbildung, Ethnisierung, Rassialisierung und Vergeschlechtlichung als soziale Prozesse zu analysieren, die diejenigen Unterschiede erst hervorbringen und relevant werden lassen, die sie als immer schon gegebene und bedeutsame behaupten (vgl. Brubaker 2007: 116 ff.; Scherr 1999). 2
Konturen eines ungleichheits- und differenzierungstheoretisch fundierten Diskriminierungsbegriffs
Für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften ist der Anspruch konstitutiv, dass prinzipiell alle Gesellschaftsangehörigen als Gleichberechtigte um Positionen im sozialen Gefüge konkurrieren können und dass allein individuelle Leistungsbereitschaft und -fähigkeit eine legitime Grundlage für Privilegien und Benachteiligungen darstellt. Im Unterschied zu einer Ungleichheitsforschung, die auf sozialstrukturelle Faktoren hinweist, welche die Fiktion der Chancengleichheit konterkarieren,13 akzentuieren neuere Analysen sozialer Grenzziehung (vgl. Lamont/Molnar 2002) die Bedeutung symbolischer und sozialer Grenzen für die Regulierung des Zugangs zu sozialen Zusammenhängen. Für jede Konkurrenz- und KonÀiktkonstellation ist dabei – so Claus Offe (1996: 274) – nicht nur zwischen Gewinnern und Verlierern in Verteilungskämpfen, sondern zudem zwischen diesen und denjenigen zu unterscheiden, die als „Nicht-Kompetente, Nicht-Teilnahmeberechtigte, ‚ÜberÀüssige‘“ (Offe 1996: 274) gelten und denen entsprechend der Status des gleichberechtigten Teilnehmers verweigert wird.
Bei Harvey Sacks (1992: 41 ff.) wird deutlich zwischen „categorial membership“ und Gruppenmitgliedschaft unterschieden; sein Konzept des „Membership Categorization Device“ zielt darauf, den Gebrauch von Mitgliedschaftskategorien als einen zentralen Mechanismus der alltäglichen Hervorbringung sozialer Ordnung zu analysieren. 13 Siehe als ungleichheitstheoretische Kritik des meritokratischen Selbstanspruchs Solga 2009. 12
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In Übereinstimmung damit argumentiert Niklas Luhmann (1997: 618 ff.) im Rahmen seiner differenzierungstheoretisch angelegten Gesellschaftstheorie, dass soziale Systeme (gesellschaftliche Funktionssysteme wie Ökonomie, Politik, Recht sowie Organisationen, Familien und Interaktionen) nicht nur interne Hierarchien ausbilden, sondern mit je eigenen Regelungen von Inklusion und Exklusion operieren, also Teilnahme an spezi¿sche Bedingungen knüpfen und entsprechende Ausschlussmechanismen vorsehen. Er geht darauf bezogen davon aus, dass „Exklusionsgründe und normative Semantiken“ in modernen Gesellschaften voneinander „entkoppelt“ werden (ebd.: 629). D. h.: Ein prinzipieller und umfassender Ausschluss von Personengruppen aus Politik, Recht, Wirtschaft usw. ist im Selbstverständnis der modernen Gesellschaften nicht mehr vorgesehen, sondern „nur“ noch solche Teilnahmeregulierungen, die in den jeweiligen funktionalen Erfordernissen der gesellschaftlichen Teilsysteme begründet sind.14 Die Idee universeller Menschenrechte gewinnt demnach ihre Plausibilität aus einer Gesellschaftsstruktur, deren Grundlage nicht mehr die Unterscheidungen zwischen ungleichen Ständen, sondern funktionssystemspezi¿sche Differenzierungen (Management/Arbeitnehmer; Lehrer/Schüler; Arzt/Patient usw.) sind, die eine übergreifende „Metaregulierung“ (ebd: 1043) des sozialen Status einer Person außer Kraft setzen (vgl. dazu Giegel 2004: 118 ff.). Ein Spezi¿kum von Diskriminierungen kann vor diesem Hintergrund in der Ermöglichung, Begründung und Legitimation von solchen Teilnahmeregulierungen und Positionszuweisungen gesehen werden, die über funktionale Erfordernisse und leistungsbezogene Festlegungen hinausgehen. Der Bezug auf Kriterien wie „Rasse“, Ethnizität und Geschlecht ist in der Funktionslogik der gesellschaftlichen Teilsysteme nicht vorgesehen und – systemtheoretisch betrachtet – gerade deshalb skandalisierbar (vgl. dazu Luhmann 1993: 574 ff.). In einer differenzierungstheoretischen Perspektive ist weiter anzunehmen, dass diskriminierende Unterscheidungen nicht gesellschaftseinheitlich gehandhabt werden, sondern in den gesellschaftlichen Teilsystemen sowie von Organisationen, Gruppen, Familien und in Interaktionen je spezi¿sch aufgegriffen und verwendet – oder aber neutralisiert werden (vgl. dazu Imdorf 2006; Scherr 2008). Eine Verwendung diskriminierender Unterscheidungen durch Teilsysteme und OrganisaNina Degele (2004: 375 ff.) argumentiert in „Kritik der Theorie funktionaler Differenzierung“, dass „die Funktionslogik öffentlicher Institutionen […] „traditionelle Familienstrukturen“ voraussetzt: „Jemand zuhause kümmert sich um die Kinder, Kranken, ist abkömmlich, und das sind faktisch Frauen. Die Institutionen sind demnach nach wie vor auf eine bestimmte Form geschlechtlicher Arbeitsteilung bezogen und darauf angewiesen.“ Dass dies unter Bedingungen des deutschen Sozialstaatsmodells und der deutschen Familienpolitik bislang der Fall ist, ist nicht zu bestreiten. Das heißt aber nicht, dass eine weitergehende Übernahme traditionell familialer Versorgungsleistungen durch öffentliche Institutionen ausgeschlossen ist und auch nicht, dass diese notwendig auch künftig überwiegend durch Frauen erbracht werden.
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tionen setzt jedoch voraus, dass diese als „externe Referenz“ (Luhmann 1993: 580) teilsystemischer Operationen verfügbar sind und damit für die teilsystemische Teilnahmeregulierung und Positionszuweisung eingesetzt werden können. Über teilsystemische Diskriminierung hinausgehende „strukturelle Benachteiligungen“ ergeben sich so betrachtet dann, wenn diskriminierende Unterscheidungen „generalisiert“, d. h. so verwendet werden, dass sie „sehr unterschiedliche Funktionssysteme transversal durchziehen“ (ebd: 581). Im Anschluss an Goffmans klassische Analyse (Goffman 1967) und in Übereinstimmung mit der einschlägigen sozialpsychologischen Forschung (vgl. Aronson/Wilson/Akert 2004)15 können Diskriminierungen darauf bezogen als eine Unterscheidungspraxis charakterisiert werden, mit der „die Normalen“ von denjenigen unterschieden werden, „die in unerwünschter Weise anders“ sind (Goffman 1967: 13) und deshalb den Status des gleichberechtigten und gleichwertigen Teilnehmers nicht beanspruchen können.16 Diskriminierungen sind demnach – im Unterschied zu klassen- und schichtenbezogener Benachteiligung – konstitutiv mit Annahmen verschränkt, die in einem jeweiligen sozialen Kontext Normalität de¿nieren und aus denen Mitgliedschaftsbedingungen und Teilnahmeregulierungen abgeleitet werden. Damit soll nun keineswegs bestritten sein, dass es auch klassen- und schichtenbezogene Normalitätserwartungen und damit verbundene Teilnahmeregulierungen gibt, wie sie prominent in Pierre Bourdieus Untersuchung der „feinen Unterschiede“ (1984) und in daran anschließenden Arbeiten als Grundlage soziokultureller Distinktionsprozesse analysiert worden sind. Und bereits in der älteren Soziologie ist immer wieder vermerkt worden, dass es auch klassenbezogene Formen von Diskriminierung gibt, so in der Form von „Klassenstigmas“ (Goffman 1967: 13), die sich auf die Armen und die Unterklassen beziehen (vgl. dazu klassisch Simmel 1908/1968: 345 ff. sowie Sennett/Cobb 1966). Entsprechend ist inzwischen in Analogie zu Rassismus und Sexismus auch von „Klassismus“ die Rede (vgl. dazu Leiprecht/Lutz 2009: 186). Ein weiterer, wenn auch nicht trennscharfer Unterschied von Diskriminierung zu klassen- und schichtenbezogener Benachteiligung kann folglich darin gesehen werden, dass Diskriminierungen nicht allein für soziale Positionszuweisungen bedeutsam sind, sondern negative Eigenschaftszuschreibungen umfassen, die nicht klar In einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, die über ein Verständnis von Diskriminierungen als Effekt von Stereotypen und Vorurteilen sowie die Untersuchung von deren Entstehung in GruppenkonÀikten hinausgeht (vgl. dazu Hormel/Scherr 2004: 23 ff.; Hormel 2007: 25 ff.; Scherr 2008) ist jedoch davon auszugehen, dass Diskriminierungen in gesellschaftlich einÀussreichen Diskursen und Ideologien sowie in „institutionalisierten kulturellen Wertemustern“ (Fraser 2003: 71) verankert sind. 16 Dabei ist zwischen solchen Formen der Diskriminierung zu unterscheiden, die – wie der koloniale Rassismus – gesellschaftseinheitliche Geltung beanspruchen und solchen, deren Reichweite teilsystemisch begrenzt bleibt. 15
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von den Eigenschaften, welche die persönliche Identität des Individuums de¿nieren, abgrenzbar sind. Diskriminierungen haben folglich Auswirkungen, die über die Zuweisung einer benachteiligten Position in sozioökonomischen Hierarchien und Machthierarchien hinausreichen: Sie implizieren zum einen Identitätszuschreibungen, denen sich Individuen nur schwer entziehen können, zum anderen negative Bewertungen der zugeschriebenen Identität. Dies ist insbesondere dann folgenreich, wenn diskriminierende Einordnungen als Zuweisungen eines Master-Status (vgl. Hughes 1971) wirksam werden, d. h. eines Status, der die soziale Wahrnehmung anderer Aspekte der sozialen und persönlichen Identität überformt. In der Auseinandersetzung mit Diskriminierungen werden demnach sowohl Fragen der sozialen Verteilungsgerechtigkeit als auch Fragen der Identitätspolitik und der sozialen Anerkennung in je spezi¿schen Verschränkungen thematisch (vgl. Fraser 2003). Darauf bezogen ist zwischen Diskriminierungen auf der Grundlage von Personenkategorien (vgl. dazu Goffman 1967) und Diskriminierungen auf der Grundlage von Gruppenkonstruktionen (vgl. Parkin 1983) zu differenzieren17: Im ersten Fall handelt es sich um Klassi¿kationen und Eigenschaftszuschreibungen, die Individuen als in ihrer Person verankerte Merkmale zugerechnet werden – so etwa im Fall von Behinderung und Alter. Im zweiten Fall wird angenommen, dass diskriminierungsrelevante Eigenschaften aus der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe resultieren – so im Fall von Religion und Weltanschauung –, also durch die Aufkündigung der Gruppenzugehörigkeit prinzipiell überwindbar sind. In Bezug auf Formen geschlechtsbezogener, rassistischer und ethnisierender Diskriminierung ist m. E. jedoch anzunehmen, dass auch heterogene und uneindeutige Mischformen bedeutsam sind, in denen sich z. B. Annahmen über vermeintliche Effekte sozialer und kultureller „Prägung“ mit solchen über vermeintlich angeborene biologische Dispositionen verbinden. Diskriminierungen können folglich als auf sozialen Klassi¿kationen18 basierende Eigenschaftszuschreibungen charakterisiert werden, die zugleich die Zudem sind zumindest drei Formen gruppenbezogener Diskriminierung zu unterscheiden: (1) Diskriminierung im Kontext von Beziehungen und KonÀikten zwischen realen Gruppen, die eine begrenzte Zahl von Individuen umfassen, die in einem Interaktions- und Kommunikationszusammenhang stehen; (2) Diskriminierungen im Kontext von Beziehungen zwischen imaginären Gruppen und Gemeinschaften, z. B. national oder ethnisch de¿nierten Kollektiven, deren „Angehörige“ nicht in einem realen Interaktions- bzw. Kommunikationszusammenhang stehen, sondern deren Identität auf Fremd- und/oder Selbstzuschreibungen vermeintlicher Gemeinsamkeiten beruht; (3) Diskriminierung auf der Grundlage einer Unterscheidung von Kollektiven, die auch durch diskriminierenden Zuschreibungen vorgängige gesellschaftsstrukturelle Differenzen (insbesondere Staatsangehörigkeit und Klassenlage) voneinander unterschieden sind. 18 Vgl. als klassischen Ausgangspunkt einer soziologischen Analyse sozialer Klassifikationen Durkheim/Mauss (1901/1987). Bereits dort werden Klassi¿ kationen in ihrem Zusammenhang mit dem „Konstruieren von Gruppen“ und ihrer Verbindung mit einer „hierarchischen Ordnung“ the17
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Zuweisung eines sozialen Sonderstatus – soziale Ausschließung und soziale Benachteiligung – begründen und rechtfertigen.19 In Übereinstimmung mit der von Nancy Fraser (2003) entwickelten gerechtigkeitstheoretischen Fassung des Anerkennungsbegriffs ist die soziale Bedeutung diskriminierender Personenkategorien und Gruppenkonstruktionen folglich nicht allein darin zu sehen, dass diese zu Akten der Stigmatisierung und Beschämung führen, die Selbstachtung und Selbstwertgefühl beeinträchtigen sowie als mächtige soziale Festlegungen der Identität wirksam werden. Diskriminierende Klassi¿kationen sind vielmehr gesellschaftlich auch als „social and symbolic boundaries“ (Lamont/Molnar 2002: 168) folgenreich, mit denen soziale Grenzziehungen und Teilnahmeregulierungen hergestellt, begründet und legitimiert werden. Zudem enthalten sie Annahmen über die legitime Position innerhalb einer sozialen Ordnung, regulieren, begründen und legitimieren also die Zuweisung benachteiligter sozialer Positionen. In Anschluss an Herbert Blumers Analyse von Race-Relations (Blumer 1954 und 1961) kann diesbezüglich davon ausgegangen werden, dass für diskriminierungsrelevante Personenkategorien und Gruppenkonstruktionen ein „sense of social position“ (Blumer 1961: 221) bedeutsam ist, d. h. Annahmen über den legitimen Ort der imaginierten Eigen- und der Fremdgruppe in Strukturen sozialer Ungleichheit und in Herrschaftsverhältnissen. Blumer akzentuiert, dass Vorstellungen über die soziale Positionen nicht nur empirisch, sondern auch normativ zu verstehen sind: „Sociologically it is not a mere reÀection of the objective relations between racial groups. Rather, it stands for ‚what ought to be‘ rather than for ‚what is‘. It is a sense of where the two racial groups belong.“ (Blumer 1961: 221)
Die gesellschaftliche Bedeutung von Diskriminierung ist folglich nicht zuletzt darin zu sehen, dass eine Unterscheidung zwischen denjenigen vorgenommen wird, die als prinzipiell gleichberechtigte Personen gelten, zwischen den Privilegierungen und Benachteiligungen grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig sind und denen, die nicht als Gleichrangige gelten bzw. die nicht als legitime Teilnehmer gelten: Für diskriminierte Personenkategorien und Gruppen gilt ökonomische, politische, matisiert. Angenommen wird, dass Klassi¿ kationssysteme ihren Ursprung in der Sozialstruktur haben, diese aber nicht nur abbilden: „Kennzeichnend für die Klassi¿ kationssysteme ist […], dass die Vorstellungen darin nach einem Modell geordnet sind, das aus der Gesellschaft stammt. Sobald diese Ordnung der kollektiven Mentalität aber einmal besteht, vermag sie auf ihre Ursache zurückzuwirken und zu deren Modi¿ kation beizutragen.“ (ebd.: 199). Zum Begriff der sozialen Klassi¿ kation vgl. auch Douglas 1991 und Neckel/Sutterlüty 2005. 19 Auf die Notwendigkeit, soziale Ausschließung von der Zuweisung von Positionen in ökonomischen und politischen Hierarchien zu unterscheiden und auf die Verschränkung sozialer Ausschließung mit diskriminierenden Gruppenkonstruktionen hat insbesondere Frank Parkin (1983) – und dies lange vor der neueren Diskussion über Exklusion und sozialen Ausschluss – hingewiesen.
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rechtliche, kulturelle usw. Benachteiligung als Normalfall bzw. als anzustrebender Zustand sowie die Begrenzung oder der umfassende Ausschluss von sozialer Teilhabe als zulässig. Diskriminierung ist somit als eine mit bestimmten Personenkategorien und Gruppenkonstruktionen operierende, sozial folgenreiche Unterscheidungspraxis auf der Grundlage von gesellschaftlich einÀussreichen Normalitätsannahmen und Wertemustern analytisch zu unterscheiden von solchen Privilegierungen und Benachteiligungen, die aus der direkten und indirekten Vererbung von Vermögen, Einkommen, formellen und informellen Quali¿kationen und der an Klassenlagen und Schichtungspositionen gebundenen Verfügung über soziales Kapital und Chancen der Machtausübung resultieren. Für die weitere Argumentation ist es von entscheidender Bedeutung, die so vorgenommene Differenzierung zwischen Diskrimi nierung und sozioökonomischer Ungleichheits(re-) produktion als eigenständige Formen der Hervorbringung und Verfestigung sozialer Benachteiligungen nicht als eine Unterscheidung misszuverstehen, die sich auf realiter durchgängig voneinander unabhängige Prozesse bezieht oder in deren Folge diskriminierte Individuen oder Gruppen klar von sozioökonomisch Benachteiligten unterschieden werden können. Denn ersichtlich waren und sind sozioökonomische Benachteiligung und Diskriminierung vielfach miteinander verschränkt. So waren und sind sozioökonomisch Benachteiligte (Arme, Arbeitslose) wiederkehrend zugleich Adressat von Diskursen, in denen sie als eine von der Majorität vermeintlich klar abgegrenzte gesellschaftliche Problemgruppe konstruiert wurden, deren Angehörige besondere Merkmale – wie etwa geringe Arbeits- und Leistungsmotivation oder kriminelle Neigungen – aufweisen. Ungleichheitstheoretische Analysen geschlechtsbezogener Benachteiligungen akzentuieren entsprechend, dass diese nicht hinreichend als ein Effekt von Geschlechterstereotypen und Geschlechterrollen interpretiert werden können, sondern eine Ursache in geschlechterdifferenzierenden Positionszuweisungen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess, insbesondere in der ungleichen Positionierung in den Bereichen Erwerbsarbeit und Familienarbeit haben (vgl. dazu Becker-Schmidt 1987; Connell 1999; Kreckel 1992: 212 ff.). Diskriminierende Personenkategorien und Gruppenkonstruktionen haben jedoch weder empirisch noch logisch eine notwendige und direkte Entsprechung zu sozioökonomischen Ungleichheiten. Denn Normalitätsmodelle und diesen korrespondierende Diskriminierungen gehen – so etwa im Fall der Diskriminierung von Homosexuellen – keineswegs zwingend mit sozioökonomischen Benachteiligungen einher; zudem haben diskriminierende Praktiken Folgen, die über die direkten und indirekten Auswirkungen sozioökonomischer Positionszuweisungen hinausreichen. Gleichwohl ist es, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird, auf Grundlage eines Verständnisses von Diskriminierung, das auch indirekte, institu-
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tionell und strukturell bedingte Formen von Diskriminierung20 berücksichtigt (vgl. dazu Hormel/Scherr 2004: 29 ff.; Gomolla/Radtke 2002; Gomolla 2005; Kreckel 2004: 237 f.; Scherr 2008) sowie den Diskriminierungsschutz als ein „Strukturprinzip der Menschenrechte“ begreift (Bielefeldt/Follmar-Otto 2005) höchst problematisch, sozioökonomische Ungleichheiten nicht als einen eigenständigen diskriminierungsrelevanten Faktor anzuerkennen. Vielmehr ist es erforderlich – und dies gilt sowohl für wissenschaftliche Analysen als auch für politische Strategien – unterschiedliche Konstellationen in den Blick zu nehmen, in denen sich sozioökonomische Ungleichheiten und Diskriminierungen in Hinblick auf ihre Ursachen, Ausprägungen und Auswirkungen jeweils mehr oder weniger eng miteinander verschränken, oder aber weitgehend unabhängig voneinander sind. Exkurs: Kategoriale Ungleichheiten In seiner in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften wenig beachteten Studie ‚Durable Inequality‘ setzt sich Charles Tilly (1999; vgl. dazu Wright 2000) mit den „Ursachen, Verwendungen, Strukturen und Effekten“ von „kategorialen Ungleichheiten“ (Tilly 1999: 6) auseinander. Unter kategorialen Ungleichheiten werden dabei ungleiche Lebenschancen zwischen „Angehörigen sozial de¿nierter Personenkategorien“ verstanden und es werden solche Personenkategorien ins Zentrum der Betrachtung gerückt, denen binäre Unterscheidungen („distinctly bounded pairs“; ebd.) wie „männlich/weiblich, Aristokrat/Plebejer, Bürger/ Fremder“ zu Grunde liegen, darüber hinaus aber auch „komplexere Klassi¿kationen wie religiöse Zugehörigkeit, ethnische Herkunft oder Rasse“ (ebd.). Tillys Verständnis kategorialer Ungleichheiten rückt damit solche Ungleichheiten in den Blick, wie sie im vorliegenden Text als Ergebnis der Verschränkung von diskriminierungsrelevanten Gruppenkonstruktionen mit sozioökonomischen Ungleichheiten thematisiert werden. Darauf bezogen wird – in scharfer Abgrenzung gegen handlungstheoretische Modelle – eine Theorie entwickelt, die zu erklären beansprucht, warum und wie kategoriale Ungleichheiten, also diskriminierende Gruppenkonstruktionen, mit (1) „Ausbeutung“ (der asymmetrischen Aneignung von Ressourcen, für deren Hervorbringung Arbeit erforderlich ist; vgl. ebd.: 86 ff.) sowie (2) mit der Monopolisierung von Chancen („hoarding of opportunities“;
Strukturelle Formen von Diskriminierung sind dadurch gekennzeichnet, dass diskriminierungsrelevante Kategorien gerade nicht allein in Vorurteilen, Diskursen und Ideologien verankert sind, sondern in einem engen Bezug zu gesellschaftsstrukturell (ökonomisch, rechtlich und politisch) bedingten Positionszuweisungen stehen. 20
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ebd.: 91 ff.) durch Nicht-Eliten zusammenhängt.21 Damit liegt bei Tilly eine Theorie vor, die als eine systematische Verbindung von Ungleichheitstheorie und Diskriminierungstheorie gelesen werden kann. Deren Kernthese lautet, dass kategoriale Ungleichheiten von zentraler Bedeutung für die Hervorbringung und Verfestigung dauerhafter Ungleichheiten sind und dass dauerhafte Ungleichheiten deshalb nicht als Folge graduierbarer individueller Merkmale verstanden werden können.22 Im Zentrum dieser Theorie steht die Annahme, dass Organisationen – wobei als Organisationen nicht nur Betriebe, sondern auch Verwandtschafts- und andere Netzwerke, Haushalte, religiöse Sekten, Gemeinwesen und Staaten gefasst werden (ebd.: 9 u. 85) – kategoriale Ungleichheiten verwenden, um solche „Organisationsprobleme“ (ebd.: 119) zu lösen, die sich stellen, wenn Ausbeutungsverhältnisse und Verhältnisse der Chancenmonopolisierung etabliert werden: „Menschen die kategoriale Ungleichheit durch die vier basalen Mechanismen verursachen oder unterstützen, legen es selten darauf an, Ungleichheit als solche zu erzeugen. Stattdessen lösen sie andere Organisationsprobleme, indem ein kategorial ungleicher Zugang zu wertgeschätzten Gütern (‚outcomes‘) etabliert wird. Vor allem versuchen sie, Vorteile sicherzustellen, die aus der Verfügung über Ressourcen resultieren.“ (ebd.: 11)
Tillys Analyse fokussiert im Weiteren heterogene Ausprägungen des Zusammenhanges zwischen Ausbeutungsverhältnissen, Chancenmonopolisierung und kategorialen Ungleichheiten. Er verweist dabei u. a. darauf, dass organisatorisch etablierte kategoriale Ungleichheiten Ausbeutung erleichtern und Chancenmonopolisierung in Verbindung mit kategorialen Ungleichheiten effektiver und unaufwändiger zu bewerkstelligen ist (ebd.: 85 ff.). Als zentrale Effekte kategorialer Ungleichheit treten die ungleiche Aneignung von Erträgen sowie die ungleiche Anhäufung von Fähigkeiten und sozialen Bindungen in den Blick, und damit Effekte, die ihrerseits die Verfestigung kategorialer Ungleichheiten begünstigen. Damit sind knapp Grundannahmen einer Theorie skizziert, welche darauf zielt, die soziale Genese und Funktion diskriminierender Gruppenkonstruktionen auf der Grundlage einer Verknüpfung von Argumenten der Marx’schen Klassentheorie mit der Weber’schen Theorie sozialer Schließung zu erklären (vgl. Wright 2000) und diesen eine zentrale Bedeutung für die Stabilisierung von Ungleichheitsverhält-
21 Beide Formen kennzeichnet Tilly als „kausale Mechanismen“ (Tilly 1999: 9), durch die kategoriale Ungleichheiten bewirkt werden; er benennt zwei weitere, aber nachrangige kausale Mechanismen („emulation“ sowie „adaption“; ebd.: 170 ff.). 22 Also nicht als Folge eines mehr oder weniger an Einkommen, Bildung und Prestige.
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nissen zuspricht. Tillys Argumentation kann hier nicht näher diskutiert werden.23 Hinzuweisen ist jedoch noch auf einen weiteren Aspekt: In Übereinstimmung mit den vorliegenden Überlegungen wird hervorgehoben (Tilly 1999: 239 ff.), dass unterschiedliche Diskriminierungskategorien in je spezi¿scher Weise mit sozialen Strukturen verschränkt sind und es wird eine solche Diskriminierungsforschung eingefordert, welche die „lokalen, historischen und organisatorischen Kontingenzen“ (ebd.: 240) bezüglich der sozialen Bedeutung jeweiliger Kategorien berücksichtigt. 3
Welche sozialen Merkmale gelten als Anknüpfungspunkt für unzulässige Diskriminierung?
In ihrer Analyse der Bedeutung des Diskriminierungsschutzes weisen Heiner Bielefeldt und Petra Follmar-Otto (2005: 5 ff.; vgl. Bielefeldt 2005 sowie den Beitrag von Bielefeldt in diesem Band) darauf hin, dass dieser sich nicht nur auf die Freiheits- und Abwehrrechte, sondern auf den Zugang zu „sämtlichen weiteren menschenrechtlichen Gewährleistungen“ bezieht. Damit liegt eine Lesart des menschenrechtlichen Diskriminierungsverbotes nahe, das sich auch auf die Rechte auf „politische Mitwirkung“ (AEDM Art. 21), auf „soziale Sicherheit“ (AEDM Art. 22), „auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen“ (AEDM Art. 23), „auf einen für die Gesundheit und das Wohlergehen […] angemessenen Lebensstandard“ (AEDM Art. 25) und auf Bildung (AEDM Art. 26), also auf solche Rechte bezieht, deren Ausübung faktisch nicht allein durch formelle Rechtsgleichheit gewährleistet ist, sondern – folgt man den Ergebnissen der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung – von Merkmalen der sozialen Lage abhängig bzw. mit diesen verknüpft ist: Dass etwa der Zugang zu Erwerbsarbeit sowie zu befriedigenden Arbeitsbedingungen und zu einem angemessenen Lebensstandard, aber etwa auch die Chancen politischer Mitwirkungen in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Lage, nicht zuletzt mit dem Bildungsstatus und den beruÀichen Quali¿kationen stehen, kann vor dem Hintergrund zahlreicher Studien der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung als evident gelten. Geht man zudem davon aus, dass der Diskriminierungsschutz der Menschenrechte nicht allein auf formale Gleichberechtigung, sondern darüber hinausgehend auf „materielle defacto-Gleichberechtigung“ (Bielefeldt/Follmar-Otto 2005: 7 f.) zielt, dann kann es in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive als unstrittig gelten, dass sozioökono-
Sie war im vorliegenden Zusammenhang aber deshalb zu erwähnen, weil sie einen nicht ignorierbaren, aber in der deutschsprachigen Soziologie bislang wenig beachteten Bezugspunkt für die weitere Auseinandersetzung mit den Erfordernissen und Möglichkeiten einer diskriminierungstheoretischen Erweiterung der Ungleichheitsforschung darstellt. 23
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mische Ungleichheiten Auswirkungen auf die Entstehung von Benachteiligungen haben, welche die Gewährleistung von Menschenrechten betreffen. Betrachtet man vor diesem Hintergrund AuÀistungen diskriminierungsrelevanter Merkmale, wie sie in einschlägigen Erklärungen, Richtlinien und Gesetzestexten vorliegen, dann ist zunächst festzustellen, dass diese uneinheitlich gefasst sind und keiner transparenten Systematik folgen. Dies wird schon darin deutlich, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – ein zweifellos auch für den gegenwärtigen Antidiskriminierungsdiskurs relevantes Dokument – in ihrem Artikel 2 eine Reihe von Merkmalen benennt, die in den aktuellen Dokumenten der Europäischen Union keine Erwähnung mehr ¿nden. Dort werden als potentiell diskriminierungsrelevante Merkmale nicht ‚nur‘ „Rasse, Farbe und Geschlecht“ sowie „politische oder sonstige Überzeugung, sondern auch „Sprache“, „nationale oder soziale Herkunft“24 sowie „Vermögen25, Geburt oder sonstiger sozialer Status“ benannt. Dagegen ¿nden sexuelle Orientierung, Behinderung und Alter dort keine Berücksichtigung. Hierin ist mit guten Gründen zum einen eine Folge davon zu sehen, dass das jeweils einÀussreiche Verständnis von Diskriminierung ein „Ausdruck gesellschaftlicher Lernprozesse ist, die wesentlich durch soziale Bewegungen vorangetrieben wurden“ und die zu einer „Ausweitung der Merkmale, die als Anknüpfungspunkt verbotener Diskriminierung fungieren“, geführt haben (Bielefeldt/Follmar-Otto 2005: 6). Zum anderen kann aber nicht ausgeblendet werden, dass die weit gefassten Kriterien der AEDM keineswegs zufällig im Verlauf der weiteren Kodi¿zierung und Institutionalisierung des Diskriminierungsschutzes auch erheblich eingeschränkt wurden. Dies betrifft nicht zuletzt Diskriminierungen aufgrund der nationalen und sozialen Herkunft. Diesbezüglich ist erstens festzustellen, dass in der einschlägigen EU-Richtlinie „zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ vom 29.6. 2000 (Richtlinie 2000/43/EG des Rates, Art. 13) eine „Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit“ ausdrücklich vom Diskriminierungsverbot ausgenommen ist und in der Folge „Vorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatenangehörigen und ihren Zugang zu Beschäftigung und Beruf“, die diese gegenüber EU-Angehörigen benachteiligen, weiterhin zulässig sind. Zweitens gilt die soziale Herkunft zwar durchaus als möglicher Ansatzpunkt für Diskriminierung: Ein diesbezügliches Diskriminierungsverbot wird aber in rechtlichen Kodi¿zierungen eingeschränkt bzw. ausgeklammert. Beate Rudolf (2008: 11) fasst die einschlägige Rechtslage wie folgt zusammen: 24 Die soziale Herkunft wird auch in einer Reihe weiterer menschenrechtlicher Vereinbarungen als Diskriminierungsmerkmal benannt, im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Abs. 2) und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 14). 25 In der englischsprachigen Fassung ist an dieser Stelle von ‚property‘ die Rede.
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„Zwar verbietet das Grundgesetz durch Art. 3 Abs 3 die an ‚Abstammung‘ oder ‚Herkunft‘ anknüpfende Diskriminierung, aber keiner der beiden Gründe wird bislang dahingehend ausgelegt, dass er die soziale Schicht erfasst. […] Hingegen ¿ndet sich im Völkerrecht ein Verbot der Diskriminierung aufgrund der ‚sozialen Herkunft‘, das Benachteiligungen aufgrund der Klassenzugehörigkeit und damit einer Anknüpfung an die soziale Situation einer Person verbietet. Dass weder das europäische noch das deutsche Antidiskriminierungsrecht diese Ungleichheitsdimension aufnehmen, zeigt einen blinden Fleck in ihrem Diversity-Konzept […].“
Damit werden aus Sicht der Ungleichheitsforschung für die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Menschenrechten zentral bedeutsame Aspekte aus dem Diskriminierungsverbot ausgeklammert. Folglich muss die AuÀistung diskriminierungsrelevanter Merkmale, wie sie in den Richtlinien der EU und im AGG vorliegen, als unvollständig gelten – zumal auch weitere Benachteiligungen dort keine Erwähnung ¿nden. So sind auch Benachteiligungen in Folge vorgängiger Kriminalisierung oder Psychiatrisierung, die beim Zugang zu Erwerbsarbeit dann wahrscheinlich sind, wenn ein vorgängiger Gefängnisaufenthalt oder Psychiatrieaufenthalt in der Biogra¿e nicht verdeckt werden kann, dort nicht berücksichtigt. Dies ist zumindest in Hinblick auf zwei zu unterscheidende Gesichtspunkte problematisch: Sozioökonomische Lage und Staatsangehörigkeit sind zum einen als eigenständige Ursachen von menschenrechtlich bedeutsamen Benachteiligungen relevant. Zum anderen sind rassistische, ethnische sowie auf Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung und Alter bezogene Benachteiligungen in komplexer Weise mit sozioökonomischer Ungleichheit verschränkt.26 Zudem verfügen sozioökonomisch Privilegierte vielfach über bessere Möglichkeiten, Diskriminierungen abzuwehren bzw. ihre Folgen zu bewältigen als sozioökonomisch Benachteiligte. Die damit angesprochenen Zusammenhänge können hier nicht umfassend analysiert werden. Denn dies erforderte eine Analyse, die differenziert aufzeigt, wie heterogene Formen von Diskriminierungen in jeweiligen gesellschaftsgeschichtlichen Kontexten in unterschiedlicher Weise mit sozioökonomischen Ungleichheiten, politischen Machtverhältnissen sowie rechtlichen Festlegungen usw. verschränkt sind. Und diesbezüglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass solche Verschränkungen einem einheitlichen Muster folgen; vielmehr sind unterschiedliche Formen diskriminierender Gruppenkonstruktionen und Personenkategorien etwa dahingehend zu unterscheiden, ob sie mit formeller, rechtlicher und politischer 26 Zumindest für geschlechtsbezogene, rassistische und ethnisierende Diskriminierungen gilt, dass die Entstehung, Verfestigung und die Funktion von Stereotypen, Vorurteilen und Ideologien, die Benachteiligungen begründen und rechtfertigen, in einem historisch und systematisch engen Zusammenhang mit der Zuweisung sozioökonomischer Positionen sowie politischen und rechtlichen Unterordnungsverhältnissen stehen (vgl. dazu u. a. Balibar/Wallerstein 1990; Bommes/Scherr 1991; Elias/Scotson 1993; Kreckel 1992: 212 ff.; Priester 2003).
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Gleichstellung einhergehen oder aber unter weitgehendem Ausschluss von rechtlicher KonÀiktregulierung und politischer Interessenvertretung zustande kommen. Deshalb beschränken sich die weiteren Überlegungen darauf, die Notwendigkeit einer ungleichheitstheoretischen Fundierung von Diskriminierungsforschung und Antidiskriminierungsstrategien exemplarisch in Bezug auf Staatsangehörigkeit zu verdeutlichen. Dabei soll auch aufgezeigt werden, dass es sich im Fall von Staatsangehörigkeit – und dies gilt in ähnlicher Weise auch für die sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen Klassen und Schichten innerhalb nationalstaatlich verfasster Gesellschaften – keineswegs um eine zufällige bzw. problemlos überwindbare, sondern gesellschaftsstrukturell bedingte und insofern konÀiktträchtige Blindstelle des gegenwärtigen Antidiskriminierungsdiskurses handelt. 4
Staatsbürgerschaft als Schnittstelle von sozioökonomischer Ungleichheit und menschenrechtlich folgenreicher Diskriminierung
Die Frage, welche sozialen Merkmale eines Individuums für seine sozioökonomischen Lebensbedingungen ebenso wie für seine Chancen der Inanspruchnahme von Menschenrechten von entscheidender Bedeutung sind, kann mit guten Gründen damit beantwortet werden, dass Staatsbürgerschaft einen, in beiderlei Hinsicht zentralen Faktor darstellt.27 Denn zum einen sind Menschenrechte nach wie vor überwiegend primär durch die nationalstaatliche Gesetzgebung gewährleistet, also gewöhnlich nur in dem Maß einklagbar, wie dies die nationalstaatliche Gesetzeslage und Rechtsprechung zulässt. Zum anderen ist Staatsangehörigkeit im Kontext einer durch ungleiche wirtschaftliche Entwicklung zwischen den Regionen der Weltgesellschaft und Nationalstaaten sowie eine weitgehend nationalstaatlich konturierte Sozialstaatlichkeit (vgl. Bommes 1999) in hohem Maß ersichtlich folgenreich für die Wahrscheinlichkeit, gravierenden sozioökonomischen Benachteiligungen zu unterliegen. In seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach den strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheiten argumentiert Reinhard Kreckel (2006: 3) deshalb, dass „die materiellen Lebenschancen der Menschen zum weitaus größten Teil, nämlich zu zwei Drittel bis drei Viertel, durch den geogra¿schen Ort auf der Weltlandkarte bestimmt sind“. Folglich seien „Pass und Visum heute zu den wichtigsten Institutionen sozialer Ungleichheit“ (ebd.: 4) zu rechnen. In einer Betrachtung der Erfordernisse einer transnationalen Sozialpolitik argumentiert Abram de Swaan (1991: 46) damit übereinstimmend: 27 Dies betrifft zum einen die Fragen, ob eine Person Staatsangehöriger oder staatenlos ist sowie welchem Staat sie angehört. Zum anderen wird in der EU und der Bundesrepublik eine Hierarchisierung von Staatsangehörigkeiten vorgenommen, die sowohl für die Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten, als auch für den Zugang zum Arbeitsmarkt folgenreich ist.
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„The ‚limits of welfare state‘ are ¿rst of all limits of their territory: the established are inside, the outsiders remain excluded. If one would really wish to help the very neediest in the poor countries, one should not send them money, but a French, Dutch, or British passport. And this explains the sudden surge of interest in forgery proof passports: West European passports are hunger proof.“
Zwar blenden derart pointierte Formulierungen gravierende Ungleichheiten innerhalb nationalstaatlicher Gesellschaften aus und tendieren auch zur Vernachlässigung bzw. impliziten Relativierung sozioökonomischer Benachteiligungen innerhalb der westeuropäischen Gesellschaften. Gleichwohl markieren sie einen Sachverhalt, der auch zu den Ursachen der Migrationsbewegungen zwischen Süd- und Nordamerika sowie zwischen Afrika und Europa zu rechnen ist: Wer mit dem falschen Pass geboren wird und nicht zu den privilegierten Klassen und/oder politischen Eliten gehört, unterliegt vielfach politischen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen, die gravierende Einschränkungen der formellen und materiellen Gewährleistung von Menschenrechten umfassen und insofern als Diskriminierung zu quali¿zieren sind. Auf die durch zunehmende Globalisierung von Produktion, Kommunikation und Konsumption bei fortbestehender Ungleichheit bedingten Migrationsbewegungen reagieren die Staaten der Europäischen Union jedoch – und dies in eklatantem Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis als den Menschenrechten verpÀichtete Wertegemeinschaft – jedoch gerade nicht mit einer Ausweitung des Asylrechts bzw. einer umfassenden Erweiterung der Aufnahmekriterien für Flüchtlinge28, sondern mit asylrechtlichen Einschränkungen sowie den folgenreichen Anstrengungen, die asylrechtlich legale und die undokumentierte Einwanderung unerwünschter Flüchtlinge zu erschweren. Dass dies zu einer Zunahme undokumentierter Migration sowie zu riskanteren Fluchtwegen mit tödlichen Folgen geführt hat, ist ebenso hinreichend aufgezeigt worden (vgl. etwa Komitee für Grundrechte und Demokratie 2009) wie die menschenrechtliche Problematik der diesbezüglichen Rechtsprechung (vgl. Weinzierl/Lisson 2007). In einer analytischen Perspektive wird darin deutlich, dass Staatsbürgerschaft unter Bedingungen internationaler Ungleichheit nicht zuletzt deshalb ein hoch folgenreiches diskriminierungsrelevantes Merkmal darstellt, weil Staatsangehörigkeit empirisch miteinander verschränkte sozioökonomische, politische und rechtliche Implikationen hat, die für die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Menschenrechten bedeutsam sind. Eine Ausklammerung von Staatsangehörigkeit und sozioökonomischem Status aus der Liste der Merkmale, die als Anknüpfungspunkte für Diskriminierung gelten, ist folglich auf Grundlage eines Verständnisses der
28 Allerdings hat die Europäische Union 2004 mit der sogenannten Quali¿ kationsrichtlinie die bis dahin geltenden Mindeststandards für den Flüchtlingsschutz verbessert (vgl. dazu Markard 2009).
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Menschenrechte als grundlegende und universelle Rechte weder analytisch noch normativ begründbar. Gleichwohl ist eine Überwindung dieser Ausklammerung in dem Maße unwahrscheinlich, wie darauf ausgerichtete Strategien, die eine Infragestellung etablierter Ungleichheitsverhältnisse zwischen und innerhalb der Nationalstaaten erforderlich machen und folglich in einem Spannungsverhältnis mit Interessenlagen stehen, die davon ausgehen, dass eine entsprechende Ausweitung des Diskriminierungsschutzes mit einem nicht akzeptablen Abbau eigener Privilegien einhergehen würde. Dass entsprechend sozioökonomische und politisch gefasste Interessen wiederkehrend stärker gewichtet werden als die SelbstverpÀichtung auf menschenrechtliche Normen, zeigt sich nicht allein in der Entwicklung der Flüchtlings- und Asylpolitik, sondern auch bei den Versuchen, eine Ausweitung des Diskriminierungsschutzes für EU-Angehörige durchzusetzen. Ganz explizit begründete der damals amtierende Bundeswirtschaftsminister seine Ablehnung der geplanten fünften Antidiskriminierungsrichtlinie der EU u. a. mit dem Argument, dass deren Umsetzung „den ohnehin hohen Kostendruck auf die Wirtschaft noch einmal unkalkulierbar erhöhen“ würde (Pressemitteilung des BMI vom 03.07.2008; www.bmwi.de). Im Unterschied zu Staatsangehörigkeit und sozioökonomischem Status kann bzw. muss eine solche strukturelle Verankerung für diejenigen Merkmale, die in den EU-Richtlinien und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz als Gründe unzulässiger Diskriminierung gelten, nicht angenommen werden – jedenfalls nicht für alle diskriminierungsrelevanten Merkmale und auch nicht als konsensuelle Grundannahme des politischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Antidiskriminierungsdiskurses. Insofern liegt es nahe, eine Erfolgsbedingung des bisherigen politischen und rechtlichen Antidiskriminierungsdiskurses gerade darin zu sehen, dass von der Annahme ausgegangen wird, dass die Überwindung von Diskriminierungen keine Infragestellung etablierter struktureller Festlegungen erfordert und keine gravierende Beeinträchtigung der funktionalen Erfordernisse der gesellschaftlichen Funktionssysteme und ihrer Organisationen impliziert.29 5
Folgerungen
Vor dem Hintergrund der hier entwickelten Überlegungen ist – in Übereinstimmung mit Analysen, wie sie insbesondere im Kontext der Geschlechter- und Rassismus29 Menschenrechtlich begründete Forderungen, die an die Antidiskriminierungspolitik gerichtet werden, haben regelmäßig dann zu Kontroversen geführt, wenn – so im Fall des Entwurfs für ein Antidiskriminierungsgesetz (BT-Drucksache 15/4538) und im Fall des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes – diesbezügliche Einschränkungen erwartet wurden (vgl. dazu die Hinweise bei Bielefeldt/ Follmar-Otto 2005: 4 ff.).
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forschung sowie im Kontext der neueren Debatte über Intersektionalität (vgl. Klinger/ Knapp/Sauer 2007: Winker/Degele 2009) vorgelegt wurden – davon auszugehen, dass Diskriminierungen auf der Grundlage von Gruppenkonstruktionen bzw. Personenkategorisierungen und damit einhergehenden Eigenschaftszuschreibungen mit sozioökonomischen, politischen und rechtlichen Benachteiligungen im Sinne eines wechselseitigen Bedingungszusammenhanges verschränkt waren und sind. Eine direkte Entsprechung von diskriminierenden Gruppenkonstruktionen mit sozioökonomischer, politischer und rechtlicher Hierarchiebildung, wie sie die Rassismusforschung für den kolonialen Rassismus aufgezeigt hat, kann dabei jedoch nicht als verallgemeinerbarer Prototypus angenommen werden. Denn diskriminierende Unterscheidungen sind nicht allein als Begründungen und Legitimationen von Positionszuweisungen in vorgängig bzw. unabhängig von ihnen existierenden sozialen Hierarchien bedeutsam; sie artikulieren zudem gesellschaftlich einÀussreiche Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen, denen als Regulierungen legitimer sozialer Teilhabe und als Grundlage sozialer Positionszuweisungen eine eigenständige Bedeutung zukommt. Darüber hinaus gehen diskriminierende Personenkategorien und Gruppenkonstruktionen mit Identitätszuschreibungen einher, die auch unabhängig von ihrer potentiellen Verknüpfung mit sozialen Benachteiligungen als Beschädigungen der Selbstachtung sowie der Möglichkeiten erlebt werden können, die eigene Identität eigensinnig zu bestimmen. Diskriminierungsforschung kann folglich nicht zureichend als Erweiterung und Ergänzung einer auf Klassen, Schichten und Milieus fokussierten Ungleichheitsforschung verstanden und weiterentwickelt werden. Für eine, auf die Analyse und Kritik von Diskriminierungen – einschließlich politischer und rechtlicher Antidiskriminierungsstrategien – ausgerichtete Forschung ist es zudem erforderlich, nicht von starren Vorannahmen darüber auszugehen, wie sich Verschränkungen von Diskriminierungen mit sozioökonomischen, politischen und rechtlichen Ungleichheiten jeweils herstellen sowie welche sozialen Gruppen tatsächlich oder potentiell von Diskriminierung betroffen sind. Dass es sich um komplexe und historisch veränderliche Verschränkungen handelt, wird nicht zuletzt am Fall geschlechtsbezogener Ungleichheiten und Diskriminierungen deutlich: Die inzwischen weitreichende Infragestellung tradierter Geschlechterideologien sowie die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern hat bislang nicht zu einer umfassenden Überwindung von Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen „männlicher“ Erwerbsarbeit und „weiblicher“ Fürsorge- und Familienarbeit sowie der Aufspaltung in Frauen- und Männerberufe geführt. Durchaus überwunden ist dagegen die Bildungsbenachteiligung von Mädchen/Frauen im Bereich der schulischen Bildung. Das Verhältnis zwischen diskriminierenden De¿zitzuschreibungen und sozioökonomischen Benachteiligungen hat sich also verändert, ohne dass letztere sowie naturalisierende Differenzkonstruktionen überwunden sind.
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Im Unterschied auch zu gängigen Vorschlägen, neben Klasse auch Geschlecht, „Race“ und „Ethnizität“ als gleichrangige diskriminierungs- und ungleichheitsrelevante Strukturkategorien gesellschaftstheoretisch zu reklamieren (vgl. etwa Balibar/Wallerstein 1990; Klinger/Knapp/Sauer 2007; Weiß 2001) ist es erforderlich, diese Kategorien in Hinblick auf die Form ihrer gesellschaftsstrukturellen Verankerung zu unterscheiden. Sozioökonomische Ungleichheiten und die staatliche Diskriminierung zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern sind Bestandteil der Strukturen der kapitalistischen Marktökonomie bzw. nationaler Wohlfahrtsstaaten. Im Unterschied dazu stellt die Fortschreibung einer Bindung von Staatsangehörigkeit an Kriterien der Abstammung ebenso wenig ein funktionales Erfordernis moderner Gesellschaften dar wie die Fortschreibung der tradierten Geschlechterverhältnisse. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses moderner Gesellschaften als funktional differenzierte bzw. „polykontexturale“ (Fuchs 1992: 35 ff.) kann auch nicht postuliert werden, dass das gesellschaftlich verfügbare Repertoire diskriminierender Gruppenkonstruktionen und Personenkategorien in unterschiedlichen sozialen Kontexten, etwa in Betrieben, Schulen und Hochschulen, direkt und in einheitlicher Weise aufgegriffen und verwendet wird. Damit stellt sich die Aufgabe, empirisch zu rekonstruieren, in welchen sozialen Kontexten welche diskriminierenden Unterscheidungen wie verwendet und relevant gesetzt werden sowie welche privilegierenden oder benachteiligenden Effekte dies jeweils nach sich zieht. Erforderlich ist es also differenziert zu untersuchen, wie soziale Grenzziehungen, Benachteiligungen und Identitätszuschreibungen durch eine potentiell komplexe Verschränkung von sozioökonomischen Ungleichheiten mit formellen und informellen Teilnahmeregulierungen und Positionszuweisungen hervorgebracht und reproduziert werden sowie welche Bedeutung dabei diskriminierenden Unterscheidungen zukommt.
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Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem Mechtild Gomolla
Im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern hat der Begriff der ‚institutionellen Diskriminierung‘ in Deutschland wenig Tradition. In der wissenschaftlichen Forschung, der Berichterstattung in den Medien, im politischen und pädagogischen Handeln werden Rassismus, Sexismus oder Diskriminierungen ‚behinderter‘ Menschen primär als Resultat von Vorurteilen einzelner Personen oder relativ klar einzugrenzender sozialer Gruppen (z. B. rassistische oder rechtsextremistische Orientierungen sozio-ökonomisch marginalisierter Jugendlicher) de¿niert. Dabei wird vielfach unterstellt, diskriminierende Praktiken stellten eine Art ‚Unfall‘ dar – eine Ausnahmeerscheinung in einer gesellschaftlichen Praxis, in der demokratische Prinzipien der Fairness und Meritokratie die Regel sind.1 In diesem ‚minimalistischen‘ Konzept von Diskriminierung werden die vielfältigen Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit und die Barrieren, die die konkrete Teilhabe einzelner Gruppen in den Basisinstitutionen des gesellschaftlichen Lebens (z. B. im Bildungs- und Ausbildungssektor, im Beschäftigungssystem, auf dem Wohnungsmarkt oder im Polizei- und Justizsystem) versperren, weitgehend ausgeblendet. Indem Erklärungen für Diskriminierung hauptsächlich in den Orientierungen von Individuen und ihren Interaktionen gesucht werden, wird auch kaum nach dem Beitrag des institutionellen Settings – d. h. v. a. nach der Rolle von rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, der Arbeitskulturen in einzelnen Organisationen und dem professionellen Handlungswissen der Akteure – für die Hervorbringung und Verfestigung sozialer Unterschiede gefragt. Mit den Antidiskriminierungsgesetzen der Europäischen Union (vgl. EU 2000a; EU 2000b; ECRI 2002) und dem 2006 verabschiedeten bundesdeutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (vgl. Bundesministerium der Justiz 2006) haben Aspekte der strukturellen und institutionellen Diskriminierung jedoch erstmalig auch in Deutschland politische Bedeutung erlangt. Das Gesetz zielt darauf,
Für eine ausführliche theoretische Kritik (sozial-)psychologisch und wirtschaftswissenschaftlich fundierter Diskriminierungstheorien vgl. Henriques (1984), Rizvi (1993), Rommelspacher (1997), Terkessidis (1998), Hormel (2007). 1
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Mechtild Gomolla „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse2 oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ (AGG § 1).
Der Schutz vor Diskriminierung bezieht sich auf Kernbereiche des gesellschaftlichen Lebens – von der Erwerbstätigkeit über die Versorgung mit sozialen- und Gesundheitsdiensten bis hin zu Bildung und Wohnen (vgl. AGG § 2). Neben dem Tatbestand der unmittelbaren Diskriminierung werden Formen der mittelbaren Diskriminierung geahndet, d. h. „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können“ (EU 2000a, Art. 2, Abs. 2 a, b; vgl. auch den entsprechenden Passus im AGG § 3, Abschnitt 2).
Damit werden Ungleichheitseffekte – ohne von unmittelbar diskriminierenden Absichten und Einstellungen der Akteure auszugehen – mit institutionellen Handlungskontexten als Problemursache in Beziehung gesetzt. Der in den aktuellen Antidiskriminierungsgesetzen geltend gemachte Begriff der ‚institutionellen Diskriminierung‘ hat v. a. in den angelsächsischen Ländern nicht nur auf der juristischen Ebene, sondern auch in den Sozialwissenschaften und in der politischen Arena eine lange Geschichte. Im Folgenden will ich die theoretische Bedeutung dieses Konzepts genauer bestimmen und seine Brauchbarkeit für die Analyse von Erscheinungsformen von Rassismus in Verbindung mit anderen Aspekten sozialer Ungleichheit, wie auch als Orientierungsrahmen für die Entwicklung von Praxiskonzepten untersuchen. Da mein eigener Zugang zu dieser Thematik v. a. auf Forschungsarbeiten zu den Wirkungsweisen institutioneller Diskriminierung und zur Entwicklung geeigneter Interventionsmöglichkeiten gegen institutionelle Diskriminierung im Bereich der schulischen Erziehung und Bildung basiert, liegt ein Akzent der Darstellung auf diesem Feld. Der Text ist folgendermaßen strukturiert: Aufgrund der engen Verwobenheit von institutioneller Diskriminierung als politischem, theoretischem und rechtlichem Begriff ist eine historische Betrachtung unerlässlich. Der erste Teil dieses Textes beleuchtet die Ursprünge von Theorien des institutionellen Rassismus und der institutionellen Diskriminierung im Kontext der Bürgerrechtsbewegung und 2 Leider wird in solchen Gesetzestexten oft der Begriff ‚Rasse‘ benutzt, ohne ihn genauer zu erläutern. Immerhin wird in der Gesetzesbegründung zum AGG darauf hingewiesen, dass es „menschliche Rassen im biologischen Sinne“ nicht gibt (Schiek 2007: 72). Andere europäische Rechtsordnungen im Antidiskriminierungsbereich benutzen den Begriff überhaupt nicht (Finnland, Österreich) oder versehen diesen mit einem „so genannt“ (z. B. Belgien).
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der sich formierenden neuen sozialen Bewegungen Ende der 1960er Jahre in den USA. Ferner wird die lange und wechselvolle Geschichte der Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus im britischen Kontext skizziert. Der zweite Teil betrachtet das Konzept des institutionellen Rassismus aus einer analytischen Perspektive und diskutiert zentrale Probleme der Forschung und Theoriebildung, die dieser Erklärungsperspektive von ihren Anfängen an anhaften. Mit dem Akzent auf Fragen des Rassismus und der Ungleichheit im schulischen Bereich wird alternativ ein grundlagentheoretisch angelegtes, deskriptiv-analytisches Modell institutioneller Diskriminierung vorgeschlagen, das auf Entscheidungsverhalten in Bildungsorganisationen in bestimmten historischen, politischen und sozialräumlichen Kontexten fokussiert. Der heuristische Nutzen dieses Ansatzes wird im dritten Teil anhand empirischer Befunde über schulische Selektionsprozesse untermauert. Im vierten Teil werden zentrale Interventionspunkte, um institutionelle Diskriminierung sichtbar zu machen und zu unterbinden, umrissen. Wie konkrete Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in Verbindung mit rassismuskritischer pädagogischer Arbeit im Bereich der frühkindlichen und schulischen Bildung gestaltet und umgesetzt werden können, wird zum Schluss an zwei Fallbeispielen illustriert.3 In diesem Text werden Prozesse in mehreren Ländern – v. a. in den USA und Großbritannien, wo der Begriff der institutionellen Diskriminierung maßgeblich entwickelt wurde und im deutschsprachigen Raum – behandelt. Wie es bei sozialen Konstruktionen immer der Fall ist, haben ähnliche Bezeichnungen für soziale Gruppen in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen, die sich zudem im Laufe der Zeit permanent verändern.4 Um den Kontextbezug nicht zu verwischen, habe ich z. T. auf eine Übersetzung englischsprachiger Begriffe verzichtet. Ferner benutze ich den Terminus ‚minorisierte Gruppen‘ als allgemeine Formulierung, die die soziale Konstruktion der Beziehungen zwischen Minderheiten und Mehrheit unterstreicht. Wie noch ausführlich darzulegen ist, beziehen sich der Begriff ‚race‘ und daraus abgeleitete englisch- und deutschsprachige Termini (z. B. rassisch, rassialisiert) grundsätzlich auf einen instabilen Komplex sozial konstruierter und geltend gemachter Kategorien, die in alltäglichen Interaktionen und im Zuge politischer InteressenskonÀikte fortwährend transformiert werden.
Die Ausführungen unter Punkt 4 sind schon an anderer Stelle veröffentlicht worden (vgl. Gomolla 2009). So war die Bezeichnung ‚Black‘ in den angelsächsischen Ländern lange ein politischer Kampfbegriff für alle Gruppen, die dem Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt waren. Mit der stärkeren Beachtung der Unterschiede innerhalb einzelner Gruppen werden heute in den USA v. a. Personen afroamerikanischen Ursprungs, in Großbritannien Personen schwarz-afrikanischer und karibischer Herkunft als ‚Black‘ bezeichnet (vgl. Gillborn 2008: 2). 3
4
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Mechtild Gomolla Begriffsgeschichtliche Hintergründe
1.1 Der Bruch im Ethnizitätsdiskurs der 1960er Jahre Der Begriff der institutionellen Diskriminierung wurzelt in den Debatten über institutionellen Rassismus, die von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Ende der 1960er Jahre in den USA angestoßen wurden, gefolgt von der Frauenbewegung, Homosexuellen, Menschenrechtsgruppen, Studentinnen und Studenten, der Anti-Kriegs- und Umweltbewegung. Mit der Formation neuer politischer Subjekte und der Ausweitung des Terrains politischer Debatten wurden nicht nur die existierenden Muster des Zusammenlebens von Weißen und Schwarzen in Frage gestellt. Zurückgewiesen wurden auch die vorherrschenden Theorien der Beziehungen sozialer Gruppen, die sich als Angehörige unterschiedlicher ‚Rassen‘ gegenüberstanden (vgl. Williams 1985; Omi/Winant 1994). In den USA wie in anderen Ländern waren im 20. Jahrhundert die Theorien der ‚race relations‘ weitgehend vom Ethnizitätsparadigma durchdrungen (für einen kritischen Überblick vgl. Steiner-Khamsi 1992: 8 ff.; Omi/Winant 1994: 14 ff.). Michael Omi und Howard Winant (1994) arbeiten in ihrem einflussreichen Buch „Racial Formation in the United States“ (erstmalig veröffentlicht 1986) heraus, dass das Ethnizitätsparadigma zur Zeit seiner Entstehung in den 1930er Jahren ein aufrührerischer Ansatz war, mit dem biologistische Rassentheorien zurückgewiesen wurden – die allerdings dennoch bis in die 1950er Jahre eine hohe Akzeptanz fanden. Das Ethnizitätsparadigma wurde auf der Grundlage der Erfahrungen europäischer Immigrantinnen und Immigranten in Nordamerika entwickelt. Es postuliert grob zusammengefasst ein Modernitätsgefälle zwischen Herkunfts- und Einwanderungsgesellschaft. Unabhängig davon, ob einzelne Theorievarianten eher die Verwirklichung einer homogenen Mehrheitsgesellschaft (Assimilation) oder die Aufrechterhaltung von Gruppenidentitäten über einen gewissen Zeitraum (kultureller Pluralismus) betonen, wird eine nach gesetzmäßigen Stufen verlaufende Inkorporation von Minoritätengruppen in die Gesellschaft als Lösung sozialer KonÀikte betrachtet. In der Perspektive des vorherrschenden Ethnizitätsparadigmas wurde rassistische Diskriminierung primär als Resultat der Einstellungsmuster und Vorurteile auf Seiten der weißen amerikanischen Bevölkerung betrachtet (vgl. Omi/Winant 1994: 10). Laut Omi und Winant war auch die frühe Bürgerrechtsbewegung an den vorherrschenden Ethnizitätstheorien orientiert, die in der damaligen Zeit als liberal galten. Als politische Ziele wurden v. a. die Überwindung von Vorurteilshaltungen zugunsten von Toleranz und Solidarität sowie die Verankerung von Gesetzen zum Schutz vor Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung beim Zutritt zu öffentlichen Plätzen, Arbeitsgelegenheiten, Schulen und Universitäten de¿niert. Mitte der 1960er Jahre erfolgte jedoch ein Bruch mit dieser Vision. Die bisher erkämpften
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Gesetze und Instrumente zur Beseitigung der rassistischen Diskriminierung und Segregation erwiesen sich als zu langsam und wenig effektiv, um realen Wandel zu bewirken.5 Während weiße Einwanderergruppen und Teile der weißen Arbeiterklasse einen sozialen Aufstieg verzeichnen konnten, konsolidierte sich eine schwarze Unterschicht, die abhängig von der öffentlichen Wohlfahrt oder von schlecht bezahlten, unquali¿zierten Arbeiten war. Während sich schwarze Ghettos ausdehnten, verschafften sich jedoch auch eine kleine schwarze Mittelklasse und schwarze Akademikerinnen und Akademiker, die z. T. durch spezielle Programme Anfang der 1960er Jahre Zutritt zu den Universitäten erlangt hatten, mit radikaleren Forderungen Gehör (vgl. Williams 1985). Die Welle von Aufständen, die zwischen 1964 und 1968 die nordamerikanischen Großstädte erschütterten und die Gründung radikaler, marxistisch oder nationalistisch orientierter Organisationen, korrespondierten mit dem Eingeständnis, dass die Ursachen des Rassismus weitaus tiefer in der Gesellschaft verwurzelt waren. In den Sozialwissenschaften nahm das Interesse an Fragen des Rassismus zu. Kritische Autoren (z. B. Blauner 1970) bemängelten, dass das vorherrschende Ethnizitätsparadigma die eigenständige Dynamik rassistischer Unterdrückung verfehle, indem Rassismus weitgehend auf ökonomische und psychologische Ursachen reduziert werde. Pluralistische Konzepte des Staats als neutralem Schlichter in sozialen InteressenskonÀikten wurden in Zweifel gezogen. Die als Garanten der Freiheits- und Gleichheitsgrundsätze der Verfassung geltenden Basisinstitutionen (vgl. Myrdal 1962) selbst gerieten unter Kritik und damit auch der Beitrag eines wissenschaftlichen Expertenwissens, das primär die Interessen der weißen Mehrheitsgesellschaft reÀektierte. Neue Theorien wurden entwickelt, die dem ideologischen und institutionellen Charakter rassistischer Klassi¿kationen und ihrer systemischen Einbettung in verschiedenen sozialen Sphären wie Bildung, Sozialpolitik, Recht, Religion, Kunst oder Wissenschaft Rechnung zu tragen suchten: „Appeals for justice and equality and the passing of a few civil rights bills were not enough. White institutions de¿ned black riots, crime, truancy and indiscipline in schools as problems which whites had to understand and cope with. Explanations of social problems in terms of immigration from the rural South, cultural shocks apparently soluble with the passage of time and notions of the melting pot producing harmony, were not longer tenable. One alternative explanation offered was the study of those institutional processes which created and perpetuated the ghetto; a vivid example of
5 Meilensteine waren das Urteil des Obersten Gerichts im Prozess Brown v. Board of Education 1954, das die Rassentrennung an staatlich ¿nanzierten Schulen für verfassungswidrig erklärte und ihre Aufhebung anordnete; die Aufhebung noch bestehender Segregationsgesetze durch das Bürgerrechtsgesetz 1964, der Voting Rights Act von 1965 und die Akzeptanz von Af¿rmative Action-Programmen durch Präsident Lyndon B. Johnson 1966 (vgl. Williams 1985).
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Mechtild Gomolla black oppression. Institutional racism, internal colonialism and dual labour markets were concepts used to provide this alternative explanation.“ (Williams 1985: 328)
1.2 Black Power und Aufkommen von Theorien des ‚institutionellen Rassismus‘ Der Begriff ‚institutioneller Rassismus‘ wurde erstmalig prominent von den beiden politischen Aktivisten und Theoretikern Stokely Carmichael und Charles Hamilton benutzt. Im Vorwort zu ihrer berühmten politischen Kampfschrift „Black Power“ (1967) unterscheiden sie zwischen offenem und individuellem Rassismus einerseits und verdecktem und institutionellem Rassismus andererseits. Letzteren de¿nierten sie als „less overt, far more subtle, less identi¿able in terms of speci¿c individuals committing the acts. But it is no less destructive of human life. [It] originates in the operation of established and respected forces in the society, and thus receives far less public condemnation“ (Carmichael/Hamilton 1967: 20; Hervorh. i. Orig.).
Die Analyse ist bei dieser Problembeschreibung auf indirekte Schlüsse angewiesen. Beispielsweise lassen sich hinter dem statistisch messbaren Phänomen der im Vergleich mit Weißen erhöhten Sterblichkeit bei schwarzen Neugeborenen als Ursache die Verkettung von struktureller Armut, Ernährungsmängeln, ungenügender medizinischer Versorgung und der Entstehung ‚schwarzer‘ Slums und Ghettos aufzeigen. Hier eröffnet sich ein weites Feld zur Erforschung der Mechanismen, die solche Korrelationen hervorbringen. Aber die frühen Arbeiten zum institutionellen Rassismus waren primär daran interessiert, die Effekte von institutionellem Rassismus nachzuweisen. In Folge der von Carmichael und Hamilton angestoßenen Diskussion wurde institutioneller Rassismus rasch als brauchbares deskriptives und erklärendes Konzept akzeptiert. Der Begriff wurde systematisch auf eine Vielzahl von Institutionen bezogen (z. B. Arbeits- und Wohnungsmarkt, Gesundheitsversorgung, Ausbildung, Gerichtsbarkeit, politische Partizipation, Präsentation in den Medien), theoretisch ausdifferenziert (vgl. Knowles/Prewitt 1969; Blauner 1970; Jones 1972; Benokraitis/ Feagin 1974; Wellman 1977) und zu einem allgemeinen Konzept institutioneller Diskriminierung weiter entwickelt, das unterschiedliche relevante Diskriminierungsmuster (v. a. Geschlecht, sozioökonomischer Hintergrund, Behinderungen, sexuelle Orientierung, Alter) einzuschließen sucht. An diesem Prozess waren auch Gerichte und Regierungsorgane, die in den 1960er und 1970er Jahren gezwungen waren, Regulierungsmechanismen für die gewaltförmigen sozialen KonÀikte zwischen rassi¿zierten Gruppen zu ¿nden und in konkrete Politik umzusetzen, wesentlich mitbeteiligt.
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Der britischen Soziologin Jenny Williams (1985: 325 f.) zufolge weisen die frühen Theorien des institutionellen Rassismus eine Reihe charakteristischer Gemeinsamkeiten auf: Betont wurde die Produktion rassischer Ungleichheit in einem breiten Spektrum von Institutionen durch deren normale Operationen. Die Absichten der Akteure galten als irrelevant. Der Blick verlagerte sich auf die historische Entstehung rassischer Ausgrenzung und Unterdrückung, sowie auf die Beziehungen zwischen den Institutionen, von denen Diskriminierung ausgeht – als Ergebnis der Kumulation von diskriminierenden Wirkungen in einzelnen institutionellen Sektoren. Die aufgelisteten Dimensionen waren laut Williams nicht neu, wurden jedoch erstmalig in ein deskriptiv-erklärendes Konstrukt integriert. Trotz begrifÀicher und theoretischer Unklarheiten führten sie zu fruchtbaren Perspektiven und Fragestellungen, mit denen ein im damaligen Kontext völlig neuartiger Rassismus-Begriff angestrebt wurde. So wurde die Analyse von Rassismus mit anderen Schlüsselkonzepten der Soziologie verbunden (Klassentheorien, Theorien des Inlandskolonialismus). Die Beziehungen zwischen Institutionen und die Verstärkung eines Teufelskreises von Unterklassenstatus und institutionellem Rassismus durch diesen Prozess fanden vermehrt Beachtung. Wurde Rassismus bis dahin ausschließlich als Ideologie de¿niert, wurde der Begriff nun auf ein breites Spektrum sozialer Prozesse bezogen – v. a. thematische Diskurse, politische Strategien und organisatorische Strukturen und Praktiken in zentralen gesellschaftlichen Institutionen – die auf Diskriminierung und ihre Rechtfertigung hin beobachtet wurden. Fragen, wer von rassistischen Ideologien und Praktiken pro¿tiert und wie Dominanzverhältnisse und Privilegien aufrechterhalten werden, wurden in den Blick gerückt. In den 1970er Jahren verschob sich das Interesse wissenschaftlicher Arbeiten von der Identi¿zierung der Effekte institutioneller Diskriminierung allmählich auf die Aufklärung der Mechanismen, die hinter Korrelationsmaßen stehen, die z. B. auf unterschiedliche Gesundheitspro¿le oder Bildungsresultate bestimmter Bevölkerungsgruppen verweisen. In dieser Zeit entstanden theoretisch enger gefasste und präzisere Forschungsansätze, die den Fokus auf die Verteilungsprozesse in Organisationen legen (vgl. Alvarez 1978). Die von Joe R. Feagin und Clairece B. Feagin (1986) ausgearbeitete Unterscheidung von direkter und indirekter institutioneller Diskriminierung ist in die Antidiskriminierungsgesetze in den USA, Großbritannien und in jüngster Zeit auch auf der Ebene der Europäischen Union eingegangen. Formen direkter institutioneller Diskriminierung sind Feagin und Feagin zufolge regelmäßige, intentionale Handlungen in Organisationen. Dies können hochformalisierte, gesetzlich-administrative Regelungen sein, aber auch informelle Praktiken, die in der Organisationskultur als Routine abgesichert sind (implizite Übereinkünfte, ‚ungeschriebene Regeln‘). Der Begriff der indirekten institutionellen Diskriminierung zielt dagegen auf die gesamte Bandbreite institutioneller Vorkehrungen, die Angehörige bestimmter Gruppen überproportional negativ treffen (vgl. zusammenfassend auch Gomolla/Radtke 2009: 48 ff.).
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1.3 Institutioneller Rassismus und der Antirassismus britischer Behörden In Großbritannien wurde institutioneller Rassismus in den 1970er Jahren zur politischen Mobilisierungsformel schwarzer Bevölkerungsgruppen. Der politische, soziale und ökonomische Hintergrund, die Theorierezeption und daraus abgeleitete Maßnahmen wiesen Parallelen zu den USA auf. Zwar spielten explizit formulierte Theorien biologischer Minderwertigkeit in den öffentlichen Diskussionen der 1960er Jahre kaum eine Rolle. Ungeachtet der Tatsache, dass bestimmte Formen rassistischer Diskriminierung illegal waren, lebten jedoch viele Immigrantinnen und Immigranten aus den ehemaligen britischen Kolonien in katastrophalen Wohnverhältnissen und verrichteten überwiegend unquali¿zierte Arbeit. Ähnlich wie in den USA verlagerte sich die Aufmerksamkeit von expliziten Ausdrucksformen des Rassismus als Ideologie und von intentional und individuell begangenen Handlungen der Diskriminierung auf die fortgesetzte Benachteiligung der Schwarzen und ihre Ursachen (vgl. Williams 1985; Miles 1991). Bis Ende der 1970er Jahre bekannten sich die beiden großen Parteien zu einer Politik der aktiven Integration der im Land lebenden Immigrantinnen und Immigranten. Letztere stellten ein bedeutsames Wählerpotential dar und waren darüber hinaus wichtige Akteure in der Integrationsdebatte. Antidiskriminierungsgesetze (Race Relations Acts) bildeten ein zentrales Element der staatlichen Integrationspolitik. Besonders bedeutsam war der Race Relations Act von 1976, mit welchem der Begriff der ‚indirekten Diskriminierung‘ aus dem amerikanischen Recht übernommen wurde.6 Über die Umsetzung des Antidiskriminierungsgesetzes wachte eine halbstaatliche Gleichstellungsstelle, die Commission for Racial Equality. Diese war mit weitgehenden Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet und konnte z. B. von der Regierung unabhängige wissenschaftliche Studien über Diskriminierung anregen und ¿nanzieren. In of¿ ziellen Verlautbarungen der nationalen Regierung, wie etwa dem Scarman-Report (vgl. Scarman 1982), der Anfang der 1980er Jahre die Hintergründe der als ‚race riots‘ wahrgenommenen sozialen Unruhen in britischen Städten untersuchte, wurde der Begriff ‚institutioneller Rassismus‘ allerdings vermieden (vgl. auch Hall 2001; Wight 2003). Institutioneller Rassismus wurde v. a. von Kritikerinnen und Kritikern des staatlichen Multikulturalismus zum Thema gemacht. Die Schule war der Hauptschauplatz der Debatte. Im Bewusstsein, dass kompensatorische Förderprogramme wie das Zelebrieren der kulturellen Vielfalt – die beiden Säulen multikultureller Bildungsprogramme – an den niedrigen Schulerfolgen und Arbeitsmarktchancen schwarzer Jugendlicher wenig änderten, 6 In Großbritannien wurde positive Diskriminierung im Sinne der ‚af¿rmative action‘-Programme in den USA durch das Gesetz untersagt, gefordert wurden jedoch Förder- und Unterstützungsprogramme für ethnische Minoritäten (‚positive action‘).
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rückten zahlreiche Lehrkräfte, Eltern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und politische Akteure von pluralistischen Konzepten der ‚multicultural education‘ ab. Rassismus in Schule und Gesellschaft wurde zunehmend als Problemursache anerkannt. Unter dem Leitbegriff der ‚Antiracist Education‘ wurden in Theorie und Praxis neue Konzepte entwickelt, die darauf zielten, Rassismus mit den breiteren sozialen Strukturen in Verbindung zu bringen, die bestehende Ungleichheiten stützen und vergrößern. Obwohl der Antirassismus nie von der Zentralregierung unterstützt wurde, haben sich im Rahmen der existierenden staatlichen Gleichstellungspolitik in den 1980er Jahren zahlreiche lokale Schulbehörden und Schulen in dieser Richtung engagiert und umfassende Programme zur Schulentwicklung in antirassistischer Richtung entwickelt. Das Neue an diesen Ansätzen bestand darin, dass die Berücksichtigung von Fragen des Rassismus in den Curricula mit einer geplanten Entwicklung der Organisationen als Ganzes unter Zielen der Gleichstellung und des Antirassismus verbunden wurde (vgl. Troyna/Williams 1986; Steiner-Khamsi 1992; Gillborn 1995; Gomolla 2005a: 192 ff.). Ähnlich wie in den USA Anfang der 1970er Jahre (vgl. Omi/Winant 1994) wurde die Ausdehnung des Terrains politischer Debatten unter dem Begriff des institutionellen Rassismus und die damit verbundenen Errungenschaften in Großbritannien in den 1980er Jahren allmählich durch eine neo-konservative, assimilationsorientierte Reformagenda und eine Politik des Law-and-order wieder einzudämmen gesucht. Im staatlichen Erziehungswesen waren in den frühen 1990er Jahren Themen des Rassismus und Antirassismus nahezu gänzlich von der Agenda verbannt. Erst Ende der 1990er Jahre wurde institutioneller Rassismus für fast eine Dekade erneut zu einem wichtigen politischen Thema. 1.4 Der Fall Stephen Lawrence und institutioneller Rassismus Im Frühjahr 1999 wurde institutioneller Rassismus durch den Abschlussbericht der Untersuchung der fehlgeschlagenen polizeilichen Aufklärung des Mordes an dem 16-jährigen Collegeschüler Stephen Lawrence (vgl. Macpherson of Cluny 1999) zu einem wichtigen Thema britischer Regierungspolitik.7 Die im Juli 1997 begonnene Untersuchung, in deren Verlauf die gesamte polizeiliche Version der Ereignisse zusammenbrach, kam zu dem Ergebnis, dass die Bearbeitung des Falls 7 Stephen Lawrence wurde im April 1993 in Südlondon an einer Bushaltestelle von fünf weißen Jugendlichen, die nach Aussagen von Zeugen „What, what, nigger?“ riefen, niedergestochen (Macpherson of Cluny 1999: 1.3). Die Polizei lehnte es ab, den Vorfall als rassistische Attacke einzuordnen und verschleppte die Aufklärung bis zur Einstellung des Verfahrens. Seine Eltern gewannen nach einer beharrlichen langen und schmerzhaften Kampagne schließlich die zweite von ihnen durchgesetzte öffentliche Untersuchung des Versagens der Polizei, den Fall aufzuklären. Die Täter sind allerdings bis heute nicht gefasst worden.
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durch die Metropolitan Police „beeinträchtigt war durch eine Kombination von beruÀicher Inkompetenz, institutionellem Rassismus und mangelnder Führung durch leitende Beamte“ (ebd.: 46.1; Übersetzung M. G.). Der Macpherson Report wurde als Wendepunkt in der Geschichte der ‚race relations‘ in Großbritannien gefeiert. Die Regierung kündigte ihre Absicht an, institutionelle Diskriminierung in sämtlichen politischen Handlungsfeldern zu bekämpfen. Im Mittelpunkt stand die Polizei, aber auch dem Bildungsbereich wurde eine hohe Aufmerksamkeit zuteil. Vier der siebzig im Macpherson-Bericht ausgesprochenen Empfehlungen bezogen sich direkt auf das Erziehungswesen und wurden vom Innenministerium in einem Handlungsplan umgesetzt.8 In Verbindung mit den neuen EU-Direktiven zur Bekämpfung von rassistischer Diskriminierung wurde auch das Antidiskriminierungsgesetz verbessert. Der Race Relations (Amendment) Act 2000 verpÀichtet öffentliche Körperschaften, einschließlich der lokalen Schulbehörden und der Verwaltungsbeiräte von Schulen, aktiv zu handeln, um ethnische Diskriminierung zu eliminieren und Chancengleichheit und gute Beziehungen zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu fördern. Die im Antidiskriminierungsgesetz formulierten Ziele sollten im Verständnis eines ‚Mainstreaming‘ in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Sektors verankert werden.9 Im Bildungsbereich wurden alle Schulen und lokalen Behörden vom Gesetzgeber verpÀichtet, die Leistungen von Angehörigen ethnischer Minoritäten in den Fächern des Nationalen Curriculums zu verbessern, bestehende Disparitäten in den Erfolgen unterschiedlicher Gruppen abzubauen und ihre Praxis in einer inklusiven Richtung zu verändern. Dazu wurde u. a. systematisches ethnisches Monitoring mit den regulären Verfahren des School Improvement verzahnt. Durch zusätzliche materielle und fachliche Ressourcen im Rahmen des neu eingerichteten Ethnic Minorities Achievement Grant (EMAG) sollten alle Primar- und Sekundarschulen
8 Empfohlen wurden: 1.) Ergänzungen des Nationalen Curriculums im Hinblick auf die Wertschätzung der Diversität, zur Prävention von Rassismus und um allgemein der gesellschaftlichen Verschiedenheit und Vielfalt besser zu entsprechen; 2.) die PÀicht von Lokalen Schulbehörden (LEAs) und Schulbeiräten, Strategien zu entwickeln, um Rassismus in Schulen zu verhindern und zu bekämpfen; 3.) OFSTED-Inspektionen zur Kontrolle der Implementierung dieser Strategien und 4.) der Appell an Communities und Gemeinden, Initiativen zur Förderung der kulturellen Vielfalt und zur Bekämpfung von Rassismus zu ergreifen (vgl. Macpherson of Cluny 1999). 9 Öffentliche Körperschaften sind demnach angehalten, „to work for the elimination of racial discrimination and to promote equality of opportunity and good race relations between people of different racial groups. As a part of this duty, public bodies should: consider the implications for racial equality of all their policies or actions; include equality terms in their external contracts and funding agreements; monitor both employment and service delivery, by ethnic group; report annually on how they have ful¿lled their racial equality duties. If a public body fails to comply with its racial equality duties, this could be challenged by judicial review. The CRE should be given the power to bring proceedings to secure compliance.“ (vgl. HMSO 2000)
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unterstützt werden, ihre Praxis in einer inklusiven Richtung zu verändern (vgl. Tikly 2006; Gomolla 2005, 2005a, 2006). Das Engagement der britischen Regierung, institutionellen Rassismus im öffentlichen Sektor zu unterbinden, war jedoch nur von kurzer Dauer. In einem neueren Überblick zeichnet David Gillborn (2008: 118 ff.) detailliert nach, wie die Errungenschaften sukzessive wieder aufgehoben wurden. Die Entwicklung kulminierte in der faktischen Abschaffung der Commission for Racial Equality im Jahr 2007. Im Bestreben, bestehende Gesetze zur Gewährleistung der Chancengleichheit zu vereinfachen und zu modernisieren, wurden die Commission for Racial Equality, die Equal Opportunities Commission und die Disability Rights Commission in einer einzigen Körperschaft, der Equality and Human Rights Commission, zusammengeführt, die nun für sämtliche Fragen der Gleichheit und Diskriminierung zuständig ist. Das Abrücken der britischen Regierungspolitik von zentralen VerpÀichtungen im Gefolge des Macpherson-Berichts drückt sich v. a. in der Preisgabe eines konsequenten Mainstreaming von Zielen der Gleichstellung aus. Unter den neuen Gesetzen können öffentliche Körperschaften nun vollständig selbst entscheiden, welche Art von Gleichstellungszielen sie mit welchen Strategien angehen wollen. Im Bildungsbereich sind Maßnahmen, um das Gefälle in den Schulerfolgen unterschiedlicher Gruppen abzutragen, nicht mehr verpÀichtend (ebd.: 131 f.). Der Macpherson-Report ist auch in theoretischer Hinsicht ein aufschlussreiches Dokument. Auf der einen Seite stellt er ein beeindruckendes und wegweisendes Beispiel für die politische Anerkennung von institutionellem Rassismus als gesellschaftlichem Problem und für die Übernahme politischer Verantwortung für Rassismus und rassialisierte Ungleichheiten dar. Obgleich institutioneller Rassismus im Apparat der Metropolitan Police u. a. Bereichen des öffentlichen Lebens in dem 70-tägigen (!) Untersuchungsausschuss und im Abschlussbericht mit aller Deutlichkeit zur Sprache gebracht und dokumentiert wurde, weisen die Erklärungen der Problemursachen jedoch eine Reihe konzeptioneller Schwächen und Widersprüche auf, die Theorien des institutionellen Rassismus von Anfang an anhafteten. 2
Theoretische Differenzierungserfordernisse
Der Begriff des institutionellen Rassismus wurde in seinem Entstehungskontext den politischen Realitäten der Zeit fraglos besser gerecht als die vorherrschenden Theorien der Assimilation und des kulturellen Pluralismus. Die wachsende Beachtung der strukturellen Dimension spiegelt die schmerzhafte Erfahrung vieler Menschen, dass alltägliche Diskriminierungen und ungleiche Lebensperspektiven entlang rassischer Trennlinien trotz ihrer Ächtung durch Gesetze weitgehend intakt
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bleiben konnten. Theorien wurden zurückgewiesen, die die Opfer für ihre eigene Ausgrenzung und Unterdrückung verantwortlich machten und die Mehrheitsgesellschaft von ihrer Verantwortung entlasteten. Trotz ihres großen EinÀusses war die Erklärungsperspektive des institutionellen Rassismus jedoch von Anfang an umstritten. In den USA wie in Großbritannien bemängelten kritische Kommentatorinnen und Kommentatoren (z. B. Williams 1985; Troyna/Williams 1986; Miles 1991; Omi/Winant 1994) einen inÀationären Gebrauch des Begriffs, der losgelöst von seinem Entstehungskontext jegliche spezi¿sche Erklärungskraft verloren habe. Diesseits wie jenseits des Atlantiks wurde eine sorgfältige Überprüfung und Weiterentwicklung der methodologischen Grundlagen von der Vermischung mit politischen Taktiken und dem Druck, schnelle, einfache und handhabbare Lösungen für die Praxis zu entwickeln, überdeckt. Daraus resultierten zahlreiche Missverständnisse und theoretische Kurzschlüsse: mangelnde Klarheit bei der Unterscheidung verschiedener Formen von Ungleichheit und ungenügend präzise de¿nierte statistische Vergleichsmaße; Abhängigkeit von impliziten ethnozentristischen Annahmen; die mangelnde Konzeptualisierung einer institutionellen (‚mittleren‘) Erklärungsebene; die Fokussierung auf einzelne politische Strategien und Institutionen, statt auf den breiteren gesellschaftlichen und politischen Kontext, in dem sie ihre Wirkung entfalteten. Seit den 1970er Jahren ist die Erklärungsperspektive des institutionellen Rassismus im angelsächsischen und im deutschsprachigen Kontext mit differenzierteren und dynamischeren Modellen weiterentwickelt worden, die darauf abzielen, die Schwächen der frühen Entwürfe zu überwinden.10 Barry Troyna und Jenny Williams schlagen insbesondere in ihrem Buch „Racism, Education and the State“ (Troyna/Williams 1986: 55 f.) eine Agenda zur theoretischen Klärung des Konzepts vor. Demnach muss die Beschäftigung mit Phänomenen der institutionellen Diskriminierung zumindest auf drei Punkten basieren: ƒ ƒ
einer klaren theoretischen Ausformulierung der Beziehungen zwischen den (diskriminierenden) Institutionen, einem Verständnis der internen Operationen und Praktiken der Institutionen und
Aufgrund der Fülle der angelsächsischen Literatur sei an dieser Stelle exemplarisch auf die Arbeiten von Troyna/Williams (1986), McCarthy (1990), Miles (1991), Essed (1991), Troyna (1993), Omi/ Winant (1994) und Hall (2000) verwiesen; auch die in den USA etablierte Critical Race Theory (z. B. Crenshaw et al. 1995), die in jüngster Zeit auch in Großbritannien rezipiert wird (vgl. Gillborn 2008), ist hier zu nennen. Zur Rezeption und Weiterentwicklung von Theorien des institutionellen Rassismus/institutioneller Diskriminierung im deutschsprachigen Kontext vgl. Bommes/Radtke (1993), Osterkamp (1996), Jäger/Kaufmann (2002), Gomolla/Radtke (2009), Hormel/Scherr (2004), Gomolla (2005), Hormel (2007), Imdorf (2008). 10
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einem Verständnis der Beziehung zwischen den Individuen, die Teil der Institution sind und den Strukturen, innerhalb derer sie arbeiten.
An diese Überlegungen lässt sich anknüpfen, wenn es darum geht, das Konzept weiter zu operationalisieren und empirische Forschungen anschließen zu können. 2.1 Institutioneller Rassismus – theoretische Kritik Zentrale Desiderata v. a. der frühen Theorien über institutionellen Rassismus lassen sich unter drei Punkten zusammenfassen: (1) Soziologische Überdehnung und Essentialisierung des Rassismusbegriffs Dem Erklärungsansatz des institutionellen Rassismus haftet seine Herkunft aus den USA an. Das Schwergewicht der anfänglichen Diskussionen lag auf der historischen Institutionalisierung rassialisierter Ungerechtigkeit und Ungleichheit und deren Fortschreibung in urbanen Settings der modernen Industriegesellschaft durch das komplexe Zusammenwirken verschiedener Institutionen auf verschiedenen Ebenen der politischen, sozialen und kulturellen Praxis der Organisationen des modernen Wohlfahrtsstaates (vgl. Feagin/Feagin 1986; Gomolla/Radtke 2009: 35 ff.). In der Folge wurde der Begriff dann jedoch in stark vereinfachter Form aufgegriffen. Robert Miles (1991: 74 ff.) betont, ähnlich wie Williams und Troyna in ihren Arbeiten (z. B. Williams 1985; Troyna/Williams 1986; Troyna 1993), dass der Begriff des institutionellen Rassismus eine unhaltbare Theorie der sozialen Strati¿zierung impliziere. Die hierarchische Beziehung von Weißen und Schwarzen, die als homogene Gruppen betrachtet werden, werde als hauptsächliche soziale KonÀiktlinie de¿niert. Die Bedeutung anderer Differenzachsen für den Zugang zu gesellschaftlicher Macht und für die Aufrechterhaltung von Ungleichheit, wie v. a. die soziale Klassenstruktur und Geschlechterungleichheiten, würde ausgeblendet. Damit verbunden werde der Begriff ‚institutioneller Rassismus‘ soziologisch überdehnt, indem – ausgehend von vor¿ndbaren Unterschieden und Machtverhältnissen – pauschal „all diejenigen Vorgänge […] welche beabsichtigter- oder unbeabsichtigterweise in der fortgesetzten Ausgrenzung einer untergeordneten Gruppe resultieren“ (Miles 1991: 69) als rassistisch de¿niert wurden. Miles kritisiert diese simpli¿zierende De¿nition von (‚weißem‘) Rassismus als ‚Vorurteil plus Macht‘ als teleologischen Rassismusbegriff, welcher bereits voraussetze, was im konkreten Fall erst empirisch nachzuweisen wäre. In der Praxis führt ein solcher essentialisierender Rassismusbegriff unweigerlich zu einem moralischen, symbolischen Anti-Rassismus. Aus der Linse simpli¿zierender Schwarz-Weiß-Schemata wird die reale Heterogenität der Identitäten und Lebenslagen genauso verkannt,
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wie die individuellen und kollektiven Widerstandsformen und -potentiale der von Diskriminierung Betroffenen (vgl. Gillborn 2000). Miles (1991) hebt ferner hervor, dass die De¿nition von Rassismus als strukturelle Beherrschung von Schwarzen durch Weiße den Bereich der Analyse von Rassismus auf bestimmte historische Beispiele einschränke. Inwiefern Ausgrenzungspraktiken auch in anderen Fällen, die sich nicht auf ‚schwarze‘ Menschen beziehen (z. B. Diskriminierung gegen europäische Migrantinnen und Migranten in Nordamerika oder der Genozid an der jüdischen Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland), durch rassistische Ideologien gerechtfertigt werden können, könne in diesem theoretischen Rahmen nicht erfasst werden. (2) Betrachtung isolierter Institutionen und Strategien, statt des sozialen Kontextes Konträr zur oben aufgezeigten soziologischen Überdehnung des Rassismusbegriffs wird die Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus auch oft fälschlicherweise auf einzelne institutionelle Sektoren oder Organisationen und deren innerer Dynamik beschränkt. Dabei werden direkte und kausale Beziehungen zwischen einer Form der Ungleichheit (z. B. Disparitäten in den Schulleistungen unterschiedlicher Gruppen) und den Praktiken in dem jeweiligen institutionellen Sektor (dem Bildungssystem) oder sogar in einzelnen Organisationen (z. B. Schule X) unterstellt. Mit solchen vereinfachten Kausalzuschreibungen werden jedoch die vielschichtigen Ursachen von Diskriminierung, die nicht nur in den Organisationen selbst, sondern v. a. auch im breiteren politischen und sozialen Kräftefeld zu suchen sind, verfehlt (vgl. Williams 1985; Troyna/Williams 1986; Troyna 1993; Bhavnani 2001). Die Rolle von Rassismus für die Aufrechterhaltung von Machtstrukturen im breiteren gesellschaftlichen Kontext gerät erst gar nicht in den Blick (vgl. Essed 1991): „Understanding racism with reference to ideology, nation, identity construction, the role of whiteness and the nature of ethnicity are rendered invisible. Tackling racism comes to be seen as primarily about changing policies and procedures. Racism becomes rede¿ned in social policy, away from its theoretical underpinnings, resulting in confusion in practice and in the design of training courses.“ (Bhavnani 2001: 9)
In der Praxis führt eine atomistische Betrachtung der einzelnen Organisationen unweigerlich zu pauschalisierenden Schuldzuweisungen – nach dem Motto: „Dont’t blame individuals, blame the organization“ (Bhavnani 2001: 22) – wodurch die Gesellschaft wiederum von Verantwortung für politische Missstände entlastet wird. In Verbindung mit einem reduktionistischen Verständnis von institutionellem Rassismus als Problem einzelner Organisationen beschränkt sich die Diskussion auch oft auf die Entwicklung, Implementierung und Verbesserung einzelner Maßnahmen. Beide Probleme sind im Kontext der neuen output-orientierten
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Steuerungsregime, die seit den 1980er Jahren in den (ehemaligen) westlichen Wohlfahrtsstaaten die Sozial- und Bildungspolitik – und damit auch Antidiskriminierungspolitiken – rahmen, hoch aktuell. Dies hebt Reena Bhavnani (2001) mit Bezug auf die Anti-Diskriminierungspolitik der britischen Labour-Regierung nach dem Macpherson-Tribunal hervor: „De-politication […] is integral to the creation of a managerial state (Clarke/Newman 1997). […] The de-politicised approach affects not only the ways in which institutions should be structured but also the thinking about inequalities and the contradictions inequalities may pose for policy formation. The fragmentation of social communities across several axes of class, gender, race and/or disability are not taken into account, so they come to be problems of homelessness, truancy, exclusion and crime – problems that have to be managed.“ (Bhavnani 2001: 108; Hervorhebung M. G.)
Beispielsweise die nach dem Macpherson-Tribunal ergriffenen Initiativen der britischen Regierung zur Bekämpfung von Bildungsungleichheit und institutioneller Diskriminierung im Erziehungssystem zeichnen sich zwar dadurch aus, dass Ziele der Gleichstellung und zur Verbesserung der ‚race relations‘ auf vorbildliche Weise in das reguläre Qualitätsmanagement im Erziehungssystem integriert wurden. Von den Verfahren des Qualitätsmanagements blieben jedoch strukturelle Rahmenbedingungen, von denen ein wesentlicher EinÀuss auf schulisches Handeln unter Gesichtspunkten der Gleichstellung zu erwarten ist, wie v. a. die hochgradig selektiven Schulstrukturen, die Markt- und Wettbewerbsmechanismen und die autoritären Top-Down-Systeme der Qualitätskontrolle, systematisch ausgeblendet. Solche strukturellen Widersprüche sind als eine wichtige Ursache für die relative Wirkungslosigkeit dieser Maßnahmen anzusehen (vgl. Tikly 2006). U. a. stellen sie die Akteure in der Praxis zwangsläu¿g vor Dilemmata, in denen die Nichtbeachtung oder Preisgabe demokratischer Bildungsziele angelegt ist (vgl. die unter 3. vorgestellte Studie von Gillborn und Youdell; Gomolla 2005a, b). (3) Ein System ohne Akteure? Durchgehend problematisiert wird in der Literatur, dass unter dem Begriff des institutionellen Rassismus die Unterscheidungen zwischen Überzeugungen und Handlungen sowie zwischen Intentionalität und Nicht-Intentionalität verwischt würden (vgl. Williams 1985; Miles 1991; Wieviorka 1995). Für die Analyse der vielschichtigen Mechanismen von Diskriminierung in Institutionen wie für die Gestaltung realisierbarer und wirksamer Gegenmaßnahmen ist es jedoch keineswegs trivial, ob Diskriminierung aus Absicht oder Überzeugungen resultiert; als unbeabsichtigte Folge von Entscheidungen, bei denen Absichten und Überzeugung keine Rolle spielten, zustande kommt oder eine Folge von für selbstverständlich gehaltenen Prozessen darstellt (vgl. Miles 1991: 81 ff.).
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Durch diese konzeptionellen Uneindeutigkeiten, so Williams (1985), würden unter dem Label ‚institutionelle Diskriminierung‘ historisch-soziologische und (sozial)psychologische Erklärungen von Rassismus und Diskriminierung vermischt. Dabei wird – wie Colin Wight (2003) am Beispiel des MacphersonReports herausarbeitet – auch unter dem Begriff des institutionellen Rassismus der erkenntnistheoretische Rahmen des methodologischen Individualismus nicht überwunden – die Ursachen der Diskriminierung werden weiterhin auf der Ebene individueller Einstellungsmuster und Entscheidungen gesucht. Der französische Rassismustheoretiker Michel Wieviorka (1995) argumentiert, dass die Eigenart von institutioneller Diskriminierung gerade darin bestehe, dass Repräsentationen und Wahrnehmungen von ‚Anderen‘ nicht direkt und unmittelbar in Vorurteile und Entscheidungen übersetzt würden. Gerade weil es zu einem großen Ausmaß eine Institutionalisierung von Rassismus bzw. Diskriminierung gebe, funktioniere Diskriminierung auf einer Ebene, die nicht die gleiche sei wie die, auf der das Phänomen produziert werde. Zu untersuchen sei ein Set von Praktiken, die eine gewisse Autonomie und Eigendynamik erreicht haben. Dies sei aber eine Dynamik, die von widersprüchlichen Gefühlen und Interessen der einzelnen Akteure geformt sei, die aus der Geschichte resultieren und der Selbstreproduktion der Gesellschaft dienen (z. B. die historisch gewachsenen Strukturen, Normen und Praktiken der Leistungsdifferenzierung im Bildungssystem). Dabei ist davon auszugehen, dass die Beziehungen zwischen diskriminierenden Einstellungsmustern und Absichten, Praktiken und Effekten (in Form von Ungleichheiten) komplex und vielschichtig sind. Diese Beziehungen können zwar theoretisch postuliert, letztendlich aber nur empirisch geklärt werden (vgl. Troyna/Williams 1986). Im Hinblick auf die Dilemmata von intentionaler vs. nicht-intentionaler, sowie bewusster vs. nicht-bewusster Diskriminierung hebt Wieviorka (1995) des Weiteren hervor, dass die Lokalisierung von Diskriminierung auf institutioneller Ebene keineswegs bedeute, dass man pauschal jede Intentionalität ausschließen und jedes Bewusstsein über die Diskriminierung verneinen müsse. Im Gegenteil: Institutionelle Diskriminierung sei in der Praxis nie vollkommen unsichtbar und maskiert für diejenigen, die davon pro¿tieren. Das Potential des Begriffs der institutionellen Diskriminierung liege gerade darin, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, latente Formen der Benachteiligung und des Ausschlusses zur Sprache zu bringen, dazu beizutragen, dass Rassismus und Diskriminierung in den Medien thematisiert werden, Untersuchungen und Initiativen zur Bekämpfung der Probleme anzustoßen. Mit dem Konzept der Institutionalisierung würden Phänomene des Rassismus und der Diskriminierung auf einer Ebene lokalisiert, auf der Widerstand der Betroffenen, konzertiertes Handeln und politischer Druck potentiell ankommen und wirksam werden könnten. Die Idee eines institutionellen Rassismus, der vom Bewusstsein der Akteure abgespalten sei, führt Wieviorka zufolge jedoch zu unhaltbaren Paradoxien. In
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einem solchen Verständnis würde nicht nur die dominierende Gruppe als Ganzes des Rassismus beschuldigt. Die Thematisierung von institutionellem Rassismus könne auch leicht als Einladung an die Akteure missverstanden werden, sich von jeglicher Verantwortung frei zu sprechen – es ist ja ‚das System‘ bzw. ‚die Organisation‘ die diskriminiert – oder in Anlehnung an eine Formulierung Hannah Arendts (1991: 12): „wo alle schuldig sind, da ist es niemand“. 2.2 Institutionelle Diskriminierung, Organisation und sozialer Kontext Um das analytische Potential der Erklärungsperspektive des institutionellen Rassismus zu bewahren und die aufgezeigten theoretischen Schwierigkeiten zu überwinden, fordert Williams (1985) die trennscharfe Konzeptualisierung der institutionellen Ebene, das heißt der involvierten institutionellen und organisatorischen Strukturen und Arbeitsweisen, die Ungleichheitsmuster schafften und aufrecht erhalten. Studien über institutionelle Diskriminierung müssen Williams zufolge – statt Diskriminierung immer wieder auf individuelles Verhalten zu reduzieren – dezidiert beim institutionellen Setting und den organisatorischen Arrangements ansetzen: „If institutions are de¿ned as sets of structures and practices which are not reducible to the individuals who staff them, then it is reasonable that these structures and practices should be the object of study.“ (Williams 1985: 331)
In Anlehnung an die Überlegungen von Williams, Troyna u. a. kritischer Autorinnen und Autoren müssten Untersuchungen der Dynamik von Diskriminierung im Erziehungs- und Bildungssektor von mindestens vier methodologischen Voraussetzungen ausgehen: Institutionelle Diskriminierung und institutioneller Rassismus Betrachtet man Rassismus als kontingentes Phänomen, dessen Erscheinungsformen sich in unterschiedlichen historischen, ökonomischen, politischen und sozialen Kontexten häu¿g ändern und die auf der individuellen, der institutionellen und auf der gesellschaftlichen Makroebene operieren, lässt sich unter dem Begriff der institutionellen Diskriminierung der Beitrag des institutionellen Settings an der Herstellung, Verfestigung und Modi¿zierung sozialer Differenzen genauer erfassen. Das Forschungsinteresse richtet sich v. a. auf die Einbettung von Diskriminierung in der ‚normalen‘ Alltagskultur von Organisationen und in der Berufskultur der in ihnen tätigen Professionellen. Die Mechanismen institutioneller Diskriminierung werden – in den Worten von Stuart Hall
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Mechtild Gomolla „auf informellen und unausgesprochenen Wegen durch ihre Routinen und täglichen Verfahren als ein unzerstörbarer Teil des institutionellen Habitus weitergegeben. Diese Art von Rassismus wird Routine, gewohnt, selbstverständlich“ (Hall 2001: 165).
In diesem Verständnis zielt das Konzept der institutionellen Diskriminierung nicht darauf ab, die Auseinandersetzung mit Rassismus und sozialer Ungleichheit aus (sozial)psychologischer und aus historischer und makrosoziologischer Sicht zu ersetzen, sondern die besonders schwer zu erfassende Dynamik von Diskriminierung in organisationalen Handlungsbezügen konsequent auf einer theoretischen Meso-Ebene zu konzeptualisieren und für empirische Untersuchungen zugänglich zu machen. Dabei sind ‚institutioneller Rassismus‘ und ‚institutionelle Diskriminierung‘ sorgfältig zu unterscheiden. Als allgemeinere analytische Kategorie weist der Begriff der institutionellen Diskriminierung den Vorteil auf, dass nicht von vorneherein festgelegt wird, welche Differenzaspekte für das Zustandekommen von Diskriminierung eine Rolle spielen – diese Frage ist empirisch zu klären (vgl. Bhavnani 2001). Damit bleibt die Analyse anschlussfähig für breitere Fragen der sozialen Ungleichheitsforschung und v. a. für intersektionelle Forschungsansätze, die an der Interaktion unterschiedlicher Differenzaspekte für das Zustandekommen von Diskriminierung interessiert sind. Dass in solchen Prozessen ‚institutioneller Rassismus‘ eine zentrale Problemursache darstellen kann, kann dann empirisch durchaus nachgewiesen werden. So schlägt Miles (1991) vor, den Begriff des institutionellen Rassismus v. a. in zwei Fällen anzuwenden: „erstens in solchen, in denen Ausschließungspraxen aus einem rassistischen Diskurs entstanden sind und ihn daher voraussetzen, aber nicht mehr ausdrücklich mit ihm gerechtfertigt werden. Zweitens in Fällen, in denen ein explizit rassistischer Diskurs modi¿ziert wird, so dass der offen rassistische Inhalt eliminiert ist, andere Worte, aber die ursprüngliche Bedeutung transportieren“ (Miles 2000: 27).
Einbettung von Diskriminierung in organisationale Strukturen und Prozesse Um die für das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung von Diskriminierung in Organisationen ursächlichen Strukturen und Verfahrensweisen präzise zu bestimmen, schlägt Rodolfo Alvarez (1979) vor, die Analyse auf den Prozess der Verteilung von Belohnungen in Organisationen zu fokussieren (in der Schule v. a. Ressourcen und weitere Zugänge eröffnende Leistungsresultate und Abschlüsse): „Institutional discrimination is a set of social processes through which organizational decision making, either implicitly or explicitly, results in a clearly identi¿able population receiving fewer psychic, social, or material reward per quantitative and/
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or qualitative unit of performance than a clearly identi¿able comparison popula-tion within the same organizational constraints.“ (Alvarez 1979: 2; Hervorhebung M. G.)
In Anlehnung an Rodolfo Alvarez (1979) müssen Untersuchungen institutioneller Diskriminierung – da diese nicht direkt zu beobachten ist – in zwei Schritten vorgehen: Erforderlich sind zunächst geeignete statistische Vergleichsmaße und Vergleichsverfahren, die anzeigen, dass bestimmte soziale Gruppen systematisch weniger Belohnungen oder Leistungen erhalten als klar identi¿ zierbare Vergleichsgruppen.11 In einem zweiten Schritt sind qualitative Untersuchungen anzuschließen, die der Frage nachgehen, wie die Unterschiede im alltäglichen Handeln in den betreffenden Einrichtungen zustande kommen und welche Bedingungen in den Organisationen und ihrem institutionellen Umfeld es möglich machen, dass Diskriminierung im organisationalen Handeln geschehen und aufrecht erhalten werden kann. Bezogen auf die Schule ist demnach sichtbar zu machen, wie in einem Kontext, in dem i. d. R. nur Leistungskriterien eine legitime Entscheidungsgrundlage darstellen, systematisch von askriptiven Merkmalen (der ethnischen und sozialen Herkunft oder des Geschlechts) Gebrauch gemacht wird; wie Prozesse, in denen bestimmte Gruppen weniger bekommen als das, was ihnen normativ zusteht, mit Sinn ausgestattet und legitimiert werden und welche institutionelle und organisatorische Faktoren – die vielleicht auf den ersten Blick mit Diskriminierung wenig zu tun haben – daran beteiligt sind, dass askriptive Merkmale entscheidungsrelevant werden und dennoch der Anschein der Legitimität und Fairness gewahrt bleibt: „[…] the variable to be explained is justi¿ability; that is, on what basis can a particular distribution pattern be justi¿ed. […] The central and exciting part of the analysis takes place in the identi¿cation and articulation of antecendent and intervening variables by which to characterize normatively the process as eventually justi¿able or not.“ (Alvarez 1979: 7 f.; Hervorhebungen M. G.)
Alvarez macht dabei auf eine wichtige Beobachtung aufmerksam: Die i. d. R. als illegitim geltende Verwendung askriptiver Merkmale der Klientinnen und Klienten kann für die Aufgabenerfüllung und die Bestandsinteressen der Organisationen ebenso funktional sein wie Leistungskriterien, die Ansprüche begründen. Denn Askriptionen erhöhen die Entscheidungsoptionen.12 Um diese Dynamiken empirisch Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Problemen quantitativer Analysen zur Ermittlung der Effekte institutioneller Diskriminierung s. Gomolla/Radtke (2009: 86 ff.). 12 Beispielsweise können bei der Neuaufnahme von Erstklässlerinnen und Erstklässlern in einer Grundschule das Interesse, eine bestimmte Zügigkeit zu erhalten, eine Vorbereitungsklasse mit der nötigen Schülerzahl zu füllen, Probleme zu delegieren oder zukünftige zeitraubende KonÀikte mit Eltern zu 11
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untersuchen und theoretisieren zu können, sind die Organisationen in ihrer historischen Gewordenheit zu begreifen und in ihrem jeweiligen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Kräftefeld zu situieren. Organisationales Handeln und sozialer Kontext Alvarez (1979) zufolge setzt die Allokation qua Askription als gesamtgesellschaftlicher Mechanismus Machtarrangements innerhalb der Organisationen voraus. Die Analyse institutioneller Diskriminierung gewinnt ihre Perspektive gerade aus der Annahme, dass Diskriminierung in Organisationen nicht gänzlich spontan entsteht und dass die Gelegenheiten für einzelne Organisationen, zu diskriminieren, nicht zufällig verteilt sind. Die ursächlichen Konstellationen können auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen – im lokalen, nationalen oder internationalen Kontext (vgl. Wight 2003: 173). Die jeweilige Bedeutung dieser Faktoren für die Entstehung von Ungleichheit kann nur empirisch ermittelt werden. Um solche strukturellen Kon¿gurationen, die dazu beitragen, dass Diskriminierung in Organisationen statt¿ nden und aufrechterhalten werden kann, zu identi¿zieren, ist v. a. nach dem EinÀuss rechtlicher Vorgaben, politischer Prozesse, professioneller Normen und Wertorientierungen im sozio-kulturellen Kontext der Organisationen, die auf die alltägliche Praxis normierend einwirken, zu fragen (vgl. Gomolla/Radtke 2009; Gomolla 2005). Theoretisierung des Verhältnisses von Subjekten und institutionellen Handlungskontexten Die Analyse institutioneller Diskriminierung zielt auf die Beschreibung und Erklärung der komplexen, vielschichtigen und manchmal widersprüchlichen Art und Weise, in der soziale Differenzen im organisationalen Handeln konstruiert und rekonstruiert werden. Um den Beitrag organisationaler Strukturen, Programme, Regeln und Praktiken an diesen Prozessen für empirische Untersuchungen zugänglich zu machen, ist es erforderlich, die Diskriminierungskonzepte mit weiteren Theorien zu ergänzen, die das Verhältnis von Individuen, die Teil von Institutionen sind und den institutionellen Strukturen, in denen sie arbeiten und agieren, genauer fassen. In Arbeiten zur institutionellen Diskriminierung in der Schule und in Ausbildungsbetrieben (vgl. Gomolla/Radtke 2009; Gomolla 2005; Imdorf 2008) hat sich die Verschränkung von Diskriminierungstheorien mit Konzepten der neueren amerikanischen Organisationsforschung als produktive Heuristik erwiesen. Theorieangebote, die unter den Bezeichnungen ‚lose Kopplung‘, ‚verhaltenswissenschaftliche vermeiden, Strategien der Ethnisierung Vorschub leisten. Diese sind für die Organisation funktional – diskriminierende Wirkungen für die betroffenen Kinder werden mit Verweis auf die begrenzten Kapazitäten und Möglichkeiten der Schule offenbar hingenommen (vgl. Gomolla/Radtke 2009: 161 ff.).
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Entscheidungstheorie‘ und ‚Neo-Institutionalismus‘ bekannt sind, stellen die im scienti¿c management vermittelte Vorstellung, Organisationen seien technischrationale Instrumente, um organisatorische Aktivitäten ef¿zient zu steuern, in Frage. Im Vordergrund stehen stattdessen Fragen, wie Entscheidungen in Organisationen durch die Eigenrationalität und die Mikropolitik in Organisationen hervorgebracht und begrenzt werden und welche Faktoren im Umfeld der Organisationen solche konkreten Prozesse beeinÀussen (vgl. Meyer/Rowan 1977 u. 1978; Weick 1976; March/Olsen 1976; Olsen 1991; Powell/DiMaggio 1991). Im nächsten Abschnitt wird das Potential der Perspektive der institutionellen Diskriminierung für die Analyse schulischer Selektionsprozesse an zwei Untersuchungen illustriert. Trotz etwas unterschiedlicher theoretischer Perspektiven zeigen beide Studien, dass Diskriminierung im Schulalltag mitnichten allein aus individuellen Einstellungsmustern und sozialen Interaktionen resultiert, sondern zu einem Großteil in den formalen Rahmenbedingungen des professionellen Handelns angelegt ist. 3
Empirische Befunde zur institutionellen Diskriminierung in der Schule
In Deutschland haben in jüngster Zeit v. a. internationale und nationale Schulleistungsvergleiche das große Gefälle in den Schulerfolgen entlang der Trennlinien soziale Herkunft, Migrationshintergrund und Geschlecht ins öffentliche Bewusstsein gerückt.13 Insbesondere qualitative Untersuchungen machen ersichtlich, dass Schulen im Umgang mit sozialen Differenzen alles andere als passive Instanzen sind. In einer in den 1990er Jahren von der Verfasserin mit durchgeführten Studie (vgl. Gomolla/Radtke 2009) wurden am Fallbeispiel der Stadt Bielefeld zentrale Bildungsübergänge (Einschulung, Umschulung auf eine Sonderschule für Lernbehinderte und Übertritt auf die weiterführende Schule) von Kindern aus Einwandererfamilien untersucht. Ausgehend von schulstatistischen Daten, die gravierende Benachteiligungen von Kindern mit ausländischem Pass14 an den drei Übergangsschwellen indizierten, wurden mit Hilfe qualitativer Verfahren die Entscheidungspraktiken in den Schulen rekonstruiert. Im Gesamtergebnis ließ sich eine Fülle von Mechanismen der direkten und indirekten Diskriminierung, eingebettet Als Überblick vgl. Diefenbach (2007), Konsortium Bildungsberichterstattung (2006). Aufgrund der damals verfügbaren schulstatistischen Daten konnten nur die Staatsangehörigkeiten der Schülerpopulation erfasst werden. Auch die Merkmale Geschlecht und soziale Herkunft wurden aufgrund der Datenlage bei der Beschreibung der Schülerpopulation nicht systematisch kontrolliert. Im qualitativen Teil der Studie wurde die Relevanz dieser Merkmale und ihre Verbindung mit Aspekten der Nationalität, Sprache, Ethnizität und Religion in den Deutungshaushalten der Akteure aufgezeigt.
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in den schulischen Routinen, rekonstruieren. Unter dem vorrangigen Ziel, homogene Lerngruppen zu bilden, wurde in den alltäglichen Prozessen der Differenzierung und Auslese – immer mit Blick auf verfügbare Fördermöglichkeiten und v. a. das gegliederte Sekundarschulsystem – systematisch von Zuschreibungen hinsichtlich des sprachlichen und sozio-kulturellen Hintergrundes als Indikatoren für das Lernund Leistungsvermögen Gebrauch gemacht. Benachteiligungen gaben sich zudem als Kumulationseffekt mehrerer Einzelentscheidungen zu erkennen. Um aus der Fülle der aufgezeigten Mechanismen der Diskriminierung zwei herauszugreifen: ƒ
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Wurden etwa Kinder mit anderen Erstsprachen als Deutsch beim Eintritt in die Schule häu¿g zurückgestellt, markierte ihr höheres Alter später in der Grundschule bei geringen sichtbaren Lernerfolgen tendenziell eine potentielle Sonderschulbedürftigkeit. Beim Übergang in die Sekundarstufe wurde vor dem Hintergrund fehlender Sprachförderung an den höheren Sekundarschulformen in einigen Grundschulen die Tendenz ersichtlich, Entscheidungen strategisch zu umgehen, indem die Gesamtschule von vorneherein als die Schule für Kinder mit Migrationshintergrund erachtet wurde. Dabei wurde selten in Rechnung gestellt, dass die städtischen Gesamtschulen aufgrund des großen Nachfrageüberhangs eine ‚Ausländerquote‘ in Höhe des Anteils an der Gesamtpopulation anwandten oder versuchten, ihre Klientel gezielt in Mittelschichtbezirken zu rekrutieren.
Die Studie zeigt insgesamt, wie Muster der Diskriminierung und Abweisung entlang von Normalitätserwartungen in Bezug auf die Lern- und Sprachfähigkeit, wie sie deutschsprachigen, im weitesten Sinne christlich sozialisierten MittelschichtKindern entsprechen, die Schullaufbahn von Kindern mit Migrationshintergrund von der Einschulung bis zum Verlassen der Schule prägten. Als Problemursachen erwiesen sich Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen: politische Vorgaben, lokale organisatorische Strukturen, organisatorische Handlungszwänge und etablierte Praktiken in einzelnen Schulen sowie ein pädagogischer Common Sense, der stark von de¿zitorientierten Annahmen und statischen Konzepten kultureller Identität bestimmt ist. Einen ähnlichen Erklärungsansatz verfolgt eine britische Studie, in welcher die Auswirkungen auf Chancengleichheit durch spezi¿sche Bildungsreformen untersucht werden; Bildungsreformen, die gegenwärtig in vielen Ländern umgesetzt werden und in besonderer Weise markt- und outputorientiert sind. David Gillborn und Deborah Youdell (2000) gingen in einer zweijährigen ethnographischen Feldforschung in zwei Sekundarschulen der Frage nach, wie bei den in den 1990er Jahren insgesamt jährlich steigenden Leistungsergebnissen das Gefälle entlang der Trennlinien Gender, ethnische Herkunft und soziale Herkunft kontinuierlich anwachsen konnte. In ihrer Arbeit zeichnen sie detailliert nach, wie der
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Leistungswettbewerb die Schulen zwingt, ihr gesamtes Handeln an den für die öffentlichen Schulrankings relevanten Quoten der höheren Abschlussprüfungen am Ende der 11. Klasse (Grade A* bis C im General Certi¿cate of Secondary Education, GCSE)15 zu orientieren. In den Schulen wurde eine regelrechte „A-toC-economy“ identi¿ziert, die sich in einem Spektrum unterschiedlicher Strategien zur Selektion und damit verbundener Rationierung von Unterricht und Betreuung – nicht nach Bedürfnissen der Kinder, sondern nach Nutzenkalkülen der Schulen (!) – manifestierte: So wurde, um das ‚Begabungspro¿l‘ zu verbessern, in einer Schule schlichtweg die Zahl von Schülerinnen und Schülern aus der Mittelschicht erhöht. Zur ef¿zienten Identi¿kation von ‚Begabungen‘ wurden Tests privater Agenturen benutzt, deren Wirkungen unter Gesichtspunkten der Fairness in sprachlich-kulturell heterogenen Kontexten zweifelhaft waren. Auf der Grundlage solcher Testdaten wurden vermehrt Niveaukurse (in einzelnen Fächern) und ‚fast tracks‘ für besonders Begabte eingerichtet. Besondere Lernbedürfnisse, einschließlich Unterricht in Englisch als zusätzlicher Sprache, galten als De¿zite. Die Betroffenen fanden sich zumeist in den Gruppen, in denen schulischer Erfolg als unwahrscheinlich galt. Bei der Anmeldung zu den gestuften GCSE-Prüfungen war die Wahrscheinlichkeit für schwarze Jugendliche, nur für das unterste Niveau zugelassen zu werden, erheblich größer als für Weiße.16 Am sichtbarsten wurde die Rationierung von Unterricht und Betreuung bei der Identi¿kation derjenigen, die mit gezielter Förderung in den Abschlussexamina in einzelnen Prüfungsfächern einen Sprung von einem niedrigen D-Abschluss zu einem C-Abschluss schaffen könnten. Eine solche ‚zweite Chance‘ erhielten tendenziell eher weiße, männliche Jugendliche aus der Mittelschicht. Zu den ‚hoffnungslosen Fällen‘ gehörten vor allem schwarze Kinder aus ökonomisch deprivierten Verhältnissen. Die britische Studie macht die Verschärfung der sozialen Selektivität in marktförmig organisierten Bildungssystemen deutlich. In Verbindung mit den öffentlichen Schulrankings, auf deren Grundlage Eltern und Kinder ihre Schule auswählen, wurden rückschrittliche und wissenschaftlich unzureichend fundierte Konzepte von ‚Begabung‘ bzw. ‚underachievement‘ als zentrale Problemursache identi¿ziert. Diese Konzepte von Begabung als einem festen, generalisierbaren und messbaren Potential erwiesen sich anschlussfähig für verbreitete Stereotype von schwarzen Jugendlichen als angeblich weniger begabt, störend, etc.
Das General Certi¿cate of Secondary Education (GCSE) wird regulär am Ende der Sekundarstufe (11. Klasse) abgelegt und entscheidet über das Vorrücken in die Sekundarstufe II. 16 Die GCSE-Examina werden in vielen Schulen als gestufte Prüfungen durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler erhalten in gleichen Fächern unterschiedliche Aufgabenblätter, die nur bestimmte erreichbare Noten zulassen. Somit kommt der Entscheidung der Lehrpersonen, zu welchem Examen jemand zugelassen wird, eine wichtige Selektionsfunktion zu (vgl. Gillborn/Youdell 2000: 102 ff.). 15
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Mechtild Gomolla Strategien gegen institutionelle Diskriminierung im schulischen Bereich
In diesem Abschnitt werden zunächst zentrale Interventionspunkte, um institutionelle Diskriminierung in pädagogischen und anderen Organisationen zur Sprache bringen und unterbinden zu können, umrissen. Als konkrete Strategien werden danach zwei Fallbeispiele – das eine stammt aus dem vorschulischen, das andere aus dem schulischen Bereich – vorgestellt. 4.1 Interventionspunkte Damit es in schulischen Einrichtungen gelingen kann, Heranwachsende zur Auseinandersetzung mit Fragen der Differenz, Gleichheit und Diskriminierung zu befähigen und Ungleichheiten nicht nur nicht zu verschärfen, sondern im Gegenteil die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen aus sozial marginalisierten Gruppen zu verbessern, sind konzertierte Aktionen auf unterschiedlichen Ebenen des Schulgeschehens gleichzeitig erforderlich: ƒ
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Um eine Bildungs- und Erziehungskultur zu schaffen, die die Auseinandersetzung mit institutioneller Diskriminierung ermutigt, müssen die entsprechenden politischen Instanzen eine führende Rolle übernehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bildungsungleichheit in keinem politischen Handlungsfeld isoliert bekämpft werden kann. Initiativen sind etwa auch auf integrationspolitischer Ebene, in der Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik und im Beschäftigungssystem unabdingbar. Damit die Schule ihren Beitrag leisten kann, müssen Maßnahmen in antidiskriminierender Absicht relevant sein. Sie dürfen nicht abgekoppelt sein von anderen Initiativen und Reformen, die die schulischen Strukturen und Routinen beeinÀussen. Themen der sozialen Heterogenität und Gleichheitsziele müssen explizit in laufenden Reformvorhaben verankert und zum relevanten Prüfkriterium für die Qualität anderer Reformelemente werden. Generell müssen Handlungsansätze, um die Mechanismen institutioneller Diskriminierung zu identi¿zieren, abzustellen und zu vermeiden, eine zweifache Stoßrichtung aufweisen: In Verbindung mit einer besseren Adaption der Einrichtungen und ihrer Angebote und Arbeitsweisen an veränderte Bildungserfordernisse ist eine Steigerung der Problemlöse- und Lernfähigkeit der Organisationen in Bezug auf Aspekte der Heterogenität und Gleichheit anzustreben. Individuen und Organisationen sind darin zu unterstützen, ihre eigenen Handlungskontexte und Arbeitskulturen auf Einseitigkeiten und Diskriminierungen hin zu untersuchen. Dabei sollen sie „ihre Deutungen der
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bestehenden und der wünschbaren Situation explizit machen und untereinander austauschen, […] Vereinbarungen bezüglich dieser Situationsdeutungen und der erforderlichen Maßnahmen treffen und in Aktionen umsetzen und […] neu entstehende Situationen wiederum einem gemeinsamen Deutungsprozess unterziehen“ (Heller et al. 2000, 13 f.). Eine solche Arbeit erfordert längerfristige Perspektiven, externe Vorgaben, Richtlinien und Überprüfungsmethoden, den Einbezug externer Fachleute und die Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Akteuren in den Organisationen und aus ihrem Umfeld. Die Umsetzung einer solchen Schulentwicklung setzt dialogische und konÀiktund partizipationsorientierte Arbeitsweisen voraus.
4.2 Exemplarische Strategien Zum Schluss dieses Textes werden zwei erprobte Programme zur Qualitätsentwicklung skizziert. Beide verbinden eine rassismus- und diskriminierungskritische Gestaltung der pädagogischen Inhalte und Prozesse (in den drei Dimensionen: Curricula/fachliche Inhalte, Methoden/Materialien und Quali¿zierung) mit einer kontinuierlichen ReÀexion und Entwicklung der Organisationen unter der expliziten Zielsetzung, strukturelle Barrieren, die die gleichberechtigte Teilhabe bestimmter Gruppen versperren, abzutragen. Das erste Fallbeispiel ist das Berliner Projekt ‚Kinderwelten – Vorurteilsbewusste Bildung in Kindertageseinrichtungen‘; das zweite das im Kanton Zürich Àächendeckend institutionalisierte Programm ‚Qualität in multikulturellen Schulen‘ (QUIMS). Beide zeigen, dass die Perspektive der institutionellen Diskriminierung praktikable politische und pädagogische Praxiskonzepte informieren kann, die die Fallstricke handlungstheoretisch verengte Herangehensweisen überwinden und vor der Individualisierung von Verantwortung für politische Missstände schützen können. Fallbeispiel 1: Das Berliner Projekt Kinderwelten17 Mit dem Projekt Kinderwelten verfolgt das Institut für den Situationsansatz (ISTA) in der Internationalen Akademie an der Freien Universität Berlin seit 2000 das Ziel einer vorurteilsbewussten Fortbildung der Fachkräfte in Verbindung mit konkreten Projekten zur Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen. Qualität bedeutet hier die bessere Anpassung der pädagogischen Angebote und der Praxis in Kindertagesstätten an die Erfordernisse der Einwanderungsgesellschaft. Ziel ist eine Kultur des Aufwachsens, in der die Verschiedenheit und Vielfalt von sprachlichen Für eine ausführliche Beschreibung vgl. Wagner 2008, Wagner et al. 2006 und diverse Publikationen und Materialien auf der Kinderwelten-Homepage unter: www.kinderwelten.de.
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Voraussetzungen, Identitäten, Erfahrungen und Lebenshintergründen anerkannt und als Ressource genutzt werden. Die gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder an den Angeboten der Elementarbildung soll verbessert werden. Als theoretische Grundlage greift Kinderwelten auf den aus Kalifornien stammenden Anti-Bias-Approach zurück (vgl. Derman-Sparks 2001)18, der Erkenntnisse über die Identitätsentwicklung kleiner Kinder, über institutionelle Diskriminierung und über Strategien zur Selbst- und PraxisreÀexion der pädagogischen Fachkräfte verbindet. Charakteristisch ist die Verbindung zweier Handlungsebenen: (1) In der pädagogischen Arbeit mit Kindern geht es darum, schon kleine Kinder zum konstruktiven Umgang mit Aspekten der Differenz, Gleichheit und Diskriminierung zu befähigen. Betont werden vier Bildungsziele: Stärkung der Ich- und Bezugsgruppenidentität, Kennenlernen von Vielfalt und Entwicklung von Empathie, Thematisieren und Kritisieren von Einseitigkeiten, aktives Widersprechen gegen Diskriminierung. (2) Diversitäts- und diskriminierungsbewusste Organisationsentwicklung (nach der Methode des Situationsansatzes; vgl. Preissing 2003) zielt darauf ab, strukturelle Barrieren, die für Kinder mit bestimmten Voraussetzungen den Zugang zu den Angeboten der Kindestagesstätten versperren und ihre Lernund Entwicklungsmöglichkeiten einschränken, in kontinuierlichen gemeinsamen ReÀexionsprozessen sichtbar zu machen und abzutragen. Die Partizipation der Fachkräfte in den Kindestagesstätten und die Kooperation mit Trägern, Beraterinnen und Beratern, Eltern und Kindern soll eine dialogische Kultur begründen oder erweitern, in der auch Kontroversen und KonÀikte ihren Platz haben. Nachdem der Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung in ersten Pilotprojekten in Berliner Kindestagesstätten entwickelt und erprobt worden war, wurden in einem bundesweiten Disseminationsprojekt (2004–2008) Leitungskräfte und einzelne Erzieherinnen in Kindertagesstätten, Vertreterinnen und Vertreter der Trägerorganisation sowie Fachberaterinnen und -berater als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren fortgebildet.19 Laut Zwischenergebnissen einer von der Verfasserin durchgeführten Evaluation (vgl. Gomolla 2007) haben sich der doppelte Fokus auf die rassismuskritische pädagogische Arbeit mit Kindern und die gleichzeitige Restrukturierung des institutionellen Settings sowohl aus der Sicht vieler beteiligter Erzieherinnen und Erzieher als auch aus der Perspektive der Trägereinrichtungen bewährt. Besonders geschätzt am Konzept der Vorurteilsbewussten Bildung wurden u. a. die Offenheit der Konzeption für vielfältige Differenzen und Diskriminierungen. Auch einige Einrichtungen, die kaum von Kindern mit Migrationshintergrund besucht wurden und die daher anfangs skeptisch waren, ob sie überhaupt die passende Zielgruppe wären, betrachteten Kinderwelten rasch als Gewinn für ihre ‚Anti-Bias‘ wird im Projekt Kinderwelten zumeist mit ‚vorurteilsbewusst‘ übersetzt, weitere Übersetzungen sind ‚gegen Einseitigkeit‘ oder ‚gegen Voreingenommenheit‘. 19 In drei Projektregionen waren 14 Trägereinrichtungen mit insgesamt 31 Kindestagesstätten beteiligt. 18
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pädagogische Praxis. Die Verbindung von Quali¿zierung und Praxisentwicklung im Rahmen eines vorgegebenen dreijährigen Programms hatte sich in den Augen vieler Beteiligter bewährt. Die Wirksamkeit zeigte sich in vielen Kindestagesstätten darin, dass es den Projekt-Delegierten gelungen war, in den Teams Motivation zu wecken, Kooperationsstrukturen und eine Kommunikation über Projektinhalte zu etablieren und Praxisveränderungen in drei zentralen Handlungsfeldern (Kita als Lernumwelt, Interaktion in der Kita, Zusammenarbeit mit Eltern) anzustoßen. In allen Kindestagesstätten haben sich rasch erste Erfolge eingestellt, die auch für Kinder und Eltern deutlich bemerkbar waren. In einigen Einrichtungen zeichneten sich ein beachtlicher Sichtwechsel und eine Kompetenzerweiterung der Fachkräfte im Umgang mit Fragen der Diversität, Diskriminierung und Gleichbehandlung ab. Auf der Trägerebene wurde in der Vorurteilsbewussten Bildung ein nützliches Instrumentarium gesehen, um – vor dem Hintergrund der Einführung von Bildungsplänen für die Elementarstufe, der Intensivierung der Sprachförderung und der Etablierung neuer Formen des Qualitätsmanagements – Aspekte der Diversität und bildungs- und sozialpolitische Ziele der Gleichheit und Nicht-Diskriminierung in die allgemeine Qualitätssteuerung zu integrieren. Fallbeispiel 2: Die Strategie Qualität in multikulturellen Schulen im Kanton Zürich20 Mit dem Schulentwicklungsprogramm Qualität in multikulturellen Schulen (QUIMS) verfolgt die kantonale Bildungsdirektion in Zürich seit Mitte der 1990er Jahre das Ziel, die Erfolge von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in Richtung durchschnittlicher Bildungsbeteiligung zu steigern. Durch ein gutes Leistungsniveau sollen Schulen mit höheren Anteilen von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund und geringen sozioökonomischen Ressourcen für bildungserfolgreiche Eltern und Kinder attraktiv bleiben. Ferner soll die Schulzufriedenheit von Kindern, Eltern und Lehrkräften verbessert werden. Angestrebt wird die gezielte Adaption des Schulsystems als Ganzes an die Erfordernisse der Einwanderungsgesellschaft. Hauptsächlicher Träger des Wandels sind die Einzelschulen, mit denen die kantonalen Verantwortlichen eine dialogische Entwicklungspartnerschaft initiierten. QUIMS verbindet Erkenntnisse der Schulentwicklungsforschung mit theoretischen Erkenntnissen der Interkulturellen Bildungsforschung. Grundlage ist ein Modell zur Qualitätssicherung im multikulturellen Umfeld (vgl. Rüesch 1999; Mächler et al. 2000), in dem die Prozesse im Klassenzimmer und die Beziehung der Schule zum Elternhaus als hauptsächliche Ansatzpunkte für Interventionen gelten. Diese müssen jedoch durch ein positives pädagogisches Klima im gesamten Schulhaus 20 Für eine ausführliche Beschreibung vgl. diverse Publikationen und Materialien auf der QUIMSHomepage unter: www.quims.ch, Gomolla (2005a, 2005b), Mächler (2008), Truniger (2006).
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und Maßnahmen im weiteren institutionellen Umfeld der Schule abgestützt sein. Betont wird die Wichtigkeit einer Gesamtstrategie, die die verschiedenen Handlungsebenen verknüpft und gleichgerichtetes Arbeiten ermöglicht. Da die Schule gleichzeitig auf mehreren Ebenen ansetzen muss, wurden im Projekt unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten de¿niert: Verstärkung der Leistungsförderung, Sprachförderung, angepasste Lernbeurteilung und Förderplanung, Einbezug und Mitwirkung der Eltern, vor- und außerschulische Lernanregungen und Gestaltung einer Schulkultur der Anerkennung (vgl. Mächler et. al 2000). Im Vordergrund stehen vier Handlungsfelder: (1) Sprachförderung (Förderung der Literalität aller Schülerinnen und Schüler, quali¿zierter DaZ-Unterricht, möglichst in Verbindung mit Zusatzunterricht in Erstsprachen); (2) Förderung des Schulerfolgs (integrative und differenzierende Lernförderung, fördernde Lernbeurteilung, Unterstützung der Stufenübergänge); (3) Soziale Integration (Kultur der Anerkennung und Gleichstellung, Mitwirkungen der Schülerinnen und Schüler, Mitwirkung der Eltern); (4) Weiterbildungen der Lehrpersonen und Zusammenarbeit mit Eltern, Àankierend zu jedem Schwerpunkt, den eine Schule bearbeitet. In den beteiligten Schulen wird die Einführung von QUIMS als pädagogischer Schwerpunkt im Schulprogramm festgelegt. Die Entwicklungsarbeit in den Schulen ist längerfristig angelegt und wird vom Kanton in ¿nanzieller und materieller Hinsicht unterstützt (z. B. durch ein vorgegebenes Programm, ausreichende ¿nanzielle Mittel, einen Zerti¿zierungslehrgang für QUIMS-Beauftragte an der Pädagogischen Hochschule Zürich, schulinterne Fortbildungen, Beratung und vielfältige Materialien (vgl. www.volksschulamt.zh.ch/internet/bi/vsa/de/ Schulbetrieb/QUIMS.html). Im Zuge der sorgfältigen Entwicklung und Erprobung der pädagogischen und methodischen Konzepte wurde die Zahl der teilnehmenden Schulen sukzessive erhöht. Seit 2005 ist die Qualitätssicherung in multikulturellen Schulen im Volksschulgesetz verankert. Diversen Evaluationen und wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge hat sich QUIMS als produktiver Handlungsrahmen bewährt, um zu einer Transformation der Prozesse in Unterricht und Schulleben in Richtung von Inklusion und Bildungsgerechtigkeit beizutragen.21 Dadurch, dass das Projekt klar auf die Gestaltung der Lernbedingungen in Unterricht und Schule fokussiert, wurde es von Anfang an von vielen beteiligten Lehrerinnen und Lehrern als Hilfestellung erlebt und sehr positiv bewertet. Ähnlich wie im Projekt Kinderwelten erwies sich die enge Verbindung von Quali¿zierung, pädagogischer Entwicklungsarbeit und strukturellen Veränderungen auf der Organisationsebene im Rahmen eines längerfristigen vorgegebenen Programms als produktiver Ansatz. Ein weiterer
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Vgl. hierzu die in der Fußnote 20 angegebene Literatur.
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positiver Faktor sind die durch den Kanton gesetzten Anreize, die quali¿zierte Unterstützung der pädagogischen Entwicklungsarbeit und die partnerschaftlichen Formen der Zusammenarbeit zwischen Behörden und Schulen. Insgesamt verfügen Schulen über eine nützliche Mischung aus Vorgaben und Freiraum, um auf der Basis sorgfältiger Erkundungen der eigenen Praxis, Bedarfsanalysen und Beratung vor Ort, eigene Strukturen aufzubauen, damit die institutionellen Barrieren abgetragen werden können, die dem Erfolg bestimmter Kinder im Weg stehen. Dabei versteht QUIMS sich als pragmatisches Vorgehen – nicht als Ersatz für grundlegende Reformen im Bildungssystem, v. a. den Abbau selektiver Schulstrukturen. Auf der politischen Ebene eröffnet die Berücksichtigung von Aspekten der Heterogenität und Chancengleichheit als Bestandteil breiterer Reformen nicht zuletzt Optionen, dass diese Ziele auch auf längere Sicht zum Prüfkriterium für die Qualität anderer Reformelemente werden können (z. B. politischer Verzicht auf die Ausweitung der Gelegenheiten zur freien Schulwahl zugunsten einer gemeinsamen Volksschule für alle Kinder). Literatur Alvarez, Rodolfo (1979): Institutional Discrimination in Organizations and their Environments. In: Alvarez, R./Lutterman, K. G. and Associates (1979): Discrimination in Organizations. San Francisco. Jossey-Bass Publishers, pp. 2–49 Arendt, Hannah (1991): Persönliche Verantwortung in der Diktatur. In: Dies.: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze, hrsg. von Geisel, Eike/Bittermann, Klaus. Berlin, S. 7–38 Benokraitis,Nijole V./Feagin, Joe R. (1974): Institutional Racism: A Perspective in Search Clarity and Research. In: Wille, Ch. V. (Ed.): Black Brown White Relations, Race Relations in the 1970. New Brunswick Bhavnani, Reena (2001): Rethinking Interventions in Racism. Commission for Racial Equality. Stoke-on-Trent: Trendham Books Blauner, Robert (1970): Racial Oppression in America. New York: Harper and Row Bommes, Michael/Radtke, Frank-Olaf (1993): Institutionalisierte Diskriminierung von Migrantenkindern. In: Zeitschrift für Pädagogik, 39/3, S. 483–479 Bundesministerium der Justiz (2006). Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2006). Im Netz abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/agg/BJNR189710006.html Carmichael, Stokely/Hamilton, Charles V. (1967): Black Power. The Politics of Liberation in America. London: Penguin Clarke, John/Newman, Janet (1997): The Managerial State. London: Sage Crenshaw, Kimberlé/Gotanda, Neil/Peller, Gary/Thomas, Kendall (Eds.) (1995): Critical Race Theory: the Key Writings that Formed the Movement. New York: New Press Derman-Sparks, Louise (2001): Anti-Bias-Arbeit mit kleinen Kindern in den USA. Manuskript eines Vortrags, gehalten am 21.03.2001 in Berlin. Im Internet abrufbar unter: www.kinderwelten.de
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Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs Elisabeth Holzleithner
Bis vor einem Jahrzehnt fokussierte die Europäische Union in den rechtlichen und politischen Strategien zur Gleichbehandlung ihrer Bürgerinnen und Bürger ausschließlich auf das Geschlecht und die EU-Nationalität. Erst die letzte Dekade brachte eine Erweiterung der europarechtlichen Wahrnehmung von Gründen, die nicht herangezogen werden dürfen, um eine Benachteiligung zu legitimieren. Der in Folge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon neuerdings einschlägige Artikel 19 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)1 nennt acht solche Gründe – Geschlecht, Rasse, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung – und ermächtigt den für die Unionsgesetzgebung zuständigen Rat dazu, angemessene Schritte zu setzen, um darauf basierte Diskriminierungen zu bekämpfen. Die nunmehr rechtsverbindliche EU-Grundrechtecharta (vgl. Art 6 EUV-neu) formuliert noch breiter und listet in Artikel 21 mit Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, ethnischer oder sozialer Herkunft, genetischen Merkmalen, Sprache, Religion oder Weltanschauung, politischer oder sonstiger Anschauung, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt, Behinderung, Alter und sexueller Ausrichtung gleich 13 einschlägige Gründe. Auch die in der EU-Grundrechtecharta über den AEUV hinaus aufgezählten Diskriminierungsgründe werden in Zukunft eine Rolle spielen; rechtliche Regelwerke, welche die Diskriminierungsverbote ausdifferenzieren und im Einzelnen implementieren, ¿nden sich bislang allerdings nur für jene Gründe, die im AEUV genannt sind. Die Aktivitäten des EU-Gesetzgebers haben nämlich bereits zu einer Mehrzahl von Richtlinien geführt, die eine Bekämpfung von Diskriminierungen ermöglichen und weitergehende Maßnahmen der Gleichstellung anstoßen sollen. Dazu zählen die (unglücklich benannte) „Richtlinie 2000/43/EG zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse“2, die „Richtlinie 2000/78/EG zur
Der AEUV hat den EG-Vertrag abgelöst. RL 2000/43/EG des Rates vom 29.06.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. Nr. L 180 vom 19/07/2000, S. 0022– 0026.
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Gleichbehandlung im Bereich der Beschäftigung“3 (mit Vorgaben für Religion und Weltanschauung, Alter, Behinderung und sexuelle Orientierung) sowie Richtlinien zur Geschlechtergleichbehandlung, einerseits im Bereich von Beschäftigung und Beruf (2006/54/EG)4, andererseits aber auch für den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen (2004/113/EG). Diese Richtlinien umfassen die in Artikel 19 AEUV aufgezählten Diskriminierungsgründe in recht unterschiedlicher Weise: Während rassistische Diskriminierung in allen für die EU relevanten Bereichen bekämpft werden soll, gilt der Schutz vor Benachteiligungen aufgrund des Alters, der sexuellen Orientierung, von Religion und Weltanschauung sowie einer Behinderung bislang nur für Beschäftigung und Beruf. Eine Richtlinie zur Gleichbehandlung im Bereich Güter und Dienstleistungen aufgrund dieser Gründe ist im Frühjahr 2010 (noch) in Bearbeitung.5 Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ist auch beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen verboten; ausgenommen sind allerdings die Bereiche Bildung und Medien,6 die wiederum von der Antirassismusrichtlinie erfasst sind. Die Vervielfältigung der verbotenen Diskriminierungsgründe und die zum Teil unterschiedlichen Regelungen des EU-Antidiskriminierungsrechts eröffnen die dringliche Frage danach, wie sich diese Gründe zueinander verhalten: ob und wie sie sich überkreuzen, in symbiotischer Beziehung zueinander stehen, wie sie konvergieren oder miteinander kollidieren. Die Antidiskriminierungsnormen bilden ein komplexes GeÀecht, das verschiedene Felder durchzieht und im Rahmen dessen die Interessen der Angehörigen jener verschiedenen Gruppen, die davon pro¿tieren sollen, bisweilen des Ausgleichs bedürfen.7 Problematiken solcher Art werden mittlerweile auch im Europarecht unter dem Begriff der „Mehrfachdiskriminierung“ diskutiert. Diese Debatte ist von der Einsicht getragen, dass Diskriminierung sehr häu¿g nicht bloß auf einem Grund beruht, sondern auf 3 RL 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ABl. Nr. L 303 vom 02/12/2000, S. 0016–0022. 4 Siehe weiters z. B. RL 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Art. 16 Abs. 1 der RL 89/391/EWG), ABl. Nr. L 348 vom 28/11/1992, S. 0001–0008 und RL 96/34/EG des Rates vom 3.06.1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub ABl. Nr. L 145 vom 19/06/1996, S. 0004–0009, CONSLEG – 96L0034 – 16/01/1998 -11, geändert durch ABl. L 010 16.01.98, S. 24. 5 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung {SEK(2008) 2180} {SEK(2008) 2181}, KOM/2008/0426 endg. Siehe dazu Bell 2009. 6 Die von der Europäischen Kommission ursprünglich vorgesehene Aufnahme dieser Bereiche scheiterte am Widerstand der Mitgliedstaaten. 7 Zu potenziellen KonÀiktfeldern siehe Holzleithner 2005: 948–951.
Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs
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einem Konglomerat von Gründen, die miteinander interagieren. Diese Einsicht wird auf Metaebene konstatiert und analysiert, sie lässt sich allerdings nicht ganz einfach auf die Rechtsanwendung übertragen (vgl. Hanneth 2003; Solanke 2009). Das ist aber wichtig, will das Recht Menschen in ihrer Gesamtheit wahrnehmen und ihre Identität nicht in unangemessener Weise fragmentieren.8 Vor diesem Hintergrund gilt es, einen näheren Blick auf die einschlägigen Richtlinien zu werfen: inwiefern sie konvergieren und wo sie unterschiedliche Schutzniveaus9 etablieren. Das hat auch Rückwirkungen darauf, wie Situationen der Mehrfachdiskriminierung (etwa aufgrund des Geschlechts und der ethnischen Herkunft) respektive der Benachteiligung aufgrund des Zusammentreffens mehrerer Diskriminierungsfaktoren (intersektionelle Diskriminierung) angemessen entgegen zu treten ist. Die Europäische Kommission hat im Jahr 2007 eine Studie veröffentlicht, die eine Problembestandsaufnahme, exemplarische bewährte Praktiken sowie einige Empfehlungen enthält, mit denen Mehrfachdiskriminierungen zu Leibe gerückt werden soll. Unter Berücksichtigung dieser Studie wird im Folgenden kurz die Problematik der Mehrfachdiskriminierung skizziert. Dies schafft die Grundlage für eine Darstellung der verschiedenen Achsen des europäischen Antidiskriminierungsrechts und einiger Einzelfragen, die sich aus der Perspektive mehrfacher Diskriminierungen stellen. Ein zentrales Anliegen besteht darin, die komplexe VerÀochtenheit von Diskriminierungsgründen in einen theoretischen Rahmen zu stellen, der es ermöglicht, Synergieeffekte im Bemühen um Gleichstellung zu erzeugen und mit Spannungen in akzeptabler Weise umzugehen. 1
Mehrfachdiskriminierung – ein komplexes Phänomen
Die Problematik der „Mehrfachdiskriminierung“ beginnt bereits mit dem Begriff. Darunter wird einerseits eine Mehrzahl von Phänomenen subsumiert, die andererseits wieder mit je eigenen Begriffen bezeichnet werden. Zunächst kann „mehrfach“ in einem additiven Sinn verstanden werden: Wenn eine Person mehrere Charakteristika auf sich vereint, die sie je nach Situation aufgrund des einen oder anderen Charakteristikums vulnerabel machen. So mag eine Frau aus einer ethnisch minorisierten Gruppe in einer Situation deshalb benachteiligt werden, weil sie eine Frau ist, in einer anderen deshalb, weil sie Angehörige der ethnischen Minderheit ist (Europäische Kommission 2007: 16). Eine solche Sichtweise von Mehrfachdiskriminierung wurde allerdings schon frühzeitig kritisiert, weil es unmöglich ist, die einzelnen Charakteristika fein säuberlich auseinanderzuhalten, sie gleichsam
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So bereits Lam v University of Hawaii 40 F. 3d 1551, 1561 (9th Cir. 1994). Diese Unterschiede werden in der Literatur als Hierarchisierungen kritisiert; vgl. Schiek 2002: 308–311.
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Elisabeth Holzleithner
zu kompartmentalisieren, d. h. in vermeintlich voneinander unabhängige Aspekte zu untergliedern. (Uccellari 2008: 25). Immer noch im Paradigma der Kompartmentalisierbarkeit verbleibt das Konzept der kumulierenden bzw. verstärkenden Diskriminierung. Hier wird davon ausgegangen, dass eine Person „aus zwei oder mehreren Gründen gleichzeitig diskriminiert“ (Europäische Kommission 2007: 16) wird. Beide oder alle Gründe zusammen wirken benachteiligend, und dass die Person mehrere Gründe auf sich vereint ist gravierender, als wenn nur ein Grund greifen würde. Denn es vermindert ihre Chancen etwa auf eine bestimmte Stelle gleich doppelt. Ein zur Illustration häu¿g zitierter Fall aus Großbritannien ist Nwoke vs. Government Legal Service & Civil Service Commissioners10. Die Antragstellerin, eine in Nigeria geborene Frau, hatte sich für eine Stelle im Government Legal Service beworben. Die aufnehmende Stelle reihte alle Bewerberinnen und Bewerber nach den Interviews entlang einer Skala von A bis E. Frau Nwoke erhielt die schlechteste Bewertung E. Es konnte nachgewiesen werden, dass alle weißen Bewerberinnen und Bewerber besser evaluiert wurden, selbst wenn sie einen niedrigeren Ausbildungsgrad aufwiesen. Darüber hinaus stellte sich heraus, dass weiße Frauen, auch wenn sie besser eingeschätzt wurden, weißen Männern gegenüber geringere Chancen hatten, eingestellt zu werden – und wenn sie aufgenommen wurden, dann bekamen sie ein niedrigeres Gehalt. Dadurch erwies sich das Geschlecht als eigenständiges Diskriminierungsmerkmal. Die benachteiligende Behandlung, der Frau Nwoke ausgesetzt war, setzte sich somit aus zwei Elementen zusammen: Sie basierte auf dem Geschlecht ebenso wie auf der rassisierenden Zuschreibung; sie war kumulierend. Bei der intersektionellen Diskriminierung schließlich ist es gerade das Zusammenwirken von zwei Diskriminierungsgründen, das zur Benachteiligung führt. Für sich würde weder das eine noch das andere Charakteristikum zum Anknüpfungspunkt einer Diskriminierung werden; vielmehr ist es ausschließlich die Kombination von beiden (oder mehreren) Gründen, die das benachteiligende Ergebnis produziert (vgl. Crenshaw 1989). Ein Beispiel für intersektionelle Diskrimi nierung könnte folgende (¿ ktive) Argumentation eines Arbeitgebers sein, der keine Frauen beschäftigen will, die aus religiösen Motiven ein Kopftuch tragen. Er könnte behaupten, er würde nicht aufgrund der Religion diskriminieren, weil er sowohl muslimische Männer als auch muslimische Frauen beschäftige, und er würde schon gar nicht aufgrund des Geschlechts diskriminieren, denn bei ihm arbeiten auch Frauen. Eine Frau, die ihr Geschlecht auf eine spezi¿sche religiöse Art präsentiere, stelle eine Subgruppe dar, die nicht spezi¿sch durch das Recht geschützt sei.11 Ein derartiger Rechtfertigungsversuch allerdings führt das (1996) 28 EOR 6; siehe zur Darstellung und Kritik des Falls Hannett 2003: 68; Solanke 2009: 728. Entsprechende Argumentationen ¿nden sich in Urteilen US-amerikanischer Gerichte, die Kimberlé Crenshaw aufgearbeitet und kritisiert hat; vgl. Crenshaw 1989; s. auch Fredman 2008.
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Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs
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Antidiskriminierungsrecht ad absurdum. Der benachteiligende Charakter einer Situation soll nicht dadurch rechtlich unanfechtbar werden, dass diese erst durch eine Kombination von Kategorien entsteht. Vielmehr muss es möglich sein, gegen jenes Konglomerat von Gründen vorzugehen, die all jene in eine vulnerable Position versetzen, die nicht die Eigenschaften des imaginierten Normarbeitnehmers aufweisen: männlich, weiß, heterosexuell, etc. – zumindest, wenn es um lukrative Stellen geht (vgl. Holzleithner 2008; Markard 2009). Mehrfachdiskriminierungen unterschiedlicher Art wahrzunehmen ist insbesondere notwendig, um der Vielfalt und Überkreuzung von Subjektpositionen gerecht zu werden. So ist etwa die Vorstellung einer Entgegensetzung von männlicher Macht und weiblicher Ohnmacht zu schlicht und vermag die Realität komplexer Ungleichheitsverhältnisse nicht zu erfassen. Zu jenen Charakteristika und Einbettungen, die Gegenstand von Zuschreibungen und Identi¿kationen sein können, gehören ethnische Herkunft und Verwandtschaft, Alter und körperliche Fähigkeiten, Kultur, Sprache und ggf. Religion, die soziale und politische Position. Entsprechende Gruppenunterschiede verlaufen in vielfältiger Weise quer durch die jeweiligen Lebenslagen. Ein und dieselbe Person kann je nach Situation Privilegierung oder Unterdrückung erfahren (Young 2007: 429). Die These des Zusammenwirkens diverser Achsen der Unterdrückung ist daher zentral – etwa für ein angemessen komplexes Verständnis der Geschlechtergerechtigkeit. Geschlecht ist demzufolge ein wesentliches strukturierendes Merkmal, das für Frauen, bisweilen auch für Männer, aufgrund spezi¿scher sozialer Festlegungen und Rollenvorstellungen mit Nachteilen verbunden ist. Wie sich diese Nachteile materialisieren hängt aber wiederum von den darüber hinausgehenden Positioniertheiten ab. Es kann sein, dass (ebenfalls in sich differenzierte) Subgruppen – wie Kopftuch tragende, behinderte oder ethnisch minorisierte Frauen – Diskriminierungen erfahren, die sich quantitativ wie qualitativ von jenen unterscheiden, mit denen (andere) Frauen typischerweise konfrontiert sind. Das Recht ist hier ganz besonders gefordert. Es kann Formen der Mehrfachdiskriminierung aber nur dann gerecht werden, wenn es Opfer von Diskriminierung nicht dazu zwingt, sich beim Einklagen ihrer Rechte (jedenfalls hauptsächlich) auf eine Diskriminierungskategorie zu stützen und die anderen auszublenden. Hier wäre eine entsprechende EU-rechtliche Vorgabe wünschenswert (so auch Europäische Kommission 2007: 7, Empfehlung Nr. 2). 2
Gleichheit und Diskriminierung in den EU-Verträgen
Das europäische Antidiskriminierungsrecht wird den Herausforderungen durch die Mehrfachdiskriminierung bislang nur unzureichend gerecht. Das hat neben den bereits genannten Gründen u. a. damit zu tun, dass die Schutzniveaus für
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die diversen Diskriminierungstatbestände unterschiedlich ausgestaltet sind. Das beginnt bereits auf der Ebene der Verträge. In den allgemeinen Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hat die Geschlechtergleichheit eine herausgehobene Stellung. Die Union verpÀichtet sich darauf, bei all ihren Tätigkeiten auf eine Beseitigung von Ungleichheiten hinzuwirken und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern (Art. 8 AEUV). Damit wird das Prinzip des Gender Mainstreaming auf der Ebene des „höchsten Rechts“ verankert. Geschlechtergleichheit ist insofern nicht nur eine Angelegenheit für sektorale politische Maßnahmen in eng de¿nierten „Frauenangelegenheiten“ am Rande des politischen Mainstreams. Vielmehr steht Gender Mainstreaming für die Idee, dass Geschlechterfragen im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit zu stehen haben, egal, welcher politische Bereich in Angriff genommen wird. Neu ist die Vorgabe in Art. 10 AEUV, dass die Union bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen jeweils darauf abzielt, „Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“ Damit ist eine Berücksichtigung aller Diskriminierungsgründe gewährleistet, allerdings geht die Forderung nach der Bekämpfung von Diskriminierung weniger weit als die Vorgabe, Geschlechtergleichstellung sei herbeizuführen. Schließlich ist das Geschlecht auch insoweit hervorgehoben, als die Bestimmung über die Lohngleichheit (Art. 157 AEUV) ausschließlich auf das Verhältnis von Männern und Frauen abstellt. Dazu gehört jene Norm, welche die Möglichkeit eröffnet, Maßnahmen im Hinblick auf die „effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeitsleben“ zu beschließen; der Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter stelle diesbezüglich kein Hindernis dar – solange die Förderung des einen (unterrepräsentierten) Geschlechts nicht zur Diskriminierung des anderen führt.12 2.1 Die Antidiskriminierungsrichtlinien Werfen wir vor diesem Hintergrund einen Blick auf die Antidiskriminierungsrichtlinien. Aus Platzgründen wird sich die folgende Darstellung auf jene (Vorschriften in den) Richtlinien konzentrieren, die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf verhindern sollen. Es geht darum zu ergründen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen und inwieweit die Richtlinien selbst das Zusammenspiel oder möglicherweise die Kollision verschiedener Diskriminierungsgründe thematisieren.
Die einschlägigen Grenzen wurden insbesondere in der Quotenjudikatur des EuGH ausgelotet. Siehe dazu Holzleithner 2002: 72–75; 80–82.
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Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs
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2.1.1 Positionierung und Thematisierung von Mehrfachdiskriminierung Es ist bemerkenswert, dass die Richtlinie zur Gleichbehandlung der Geschlechter bei Beschäftigung und Beruf die Problematik der Mehrfachdiskriminierung nicht erwähnt. Demgegenüber ¿nden sich in den Präambeln der Antirassismusrichtlinie und der Beschäftigungsrahmenrichtlinie jeweils Verweise auf die Vorgabe, man habe sich zu bemühen, „Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern, zumal Frauen häu¿g Opfer mehrfacher Diskriminierung sind“ (Erwägungsgrund 14, RL 2000/43/EG; Erwägungsgrund 3, RL 2000/78/ EG). Diese Diagnose ist wichtig; dabei geht aber unter, dass selbstverständlich auch Männer Opfer von mehrfachen Diskriminierungen sein können, etwa durch ein Zusammenspiel von Alter und religiösen Überzeugungen. Ein einschlägiges Beispiel ¿ndet sich im Bericht der Europäischen Kommission (2007: 21), wonach ein junger, traditionell gekleideter Muslim an seinem Arbeitsplatz, einem Call Center, mehrfach mit Terrorismus in Verbindung gebracht wurde: „In der Tat werden nur muslimische Männer mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht und schnell mit dieser Art von Vorurteil belegt (wahrscheinlich sogar nur junge muslimische Männer).“ 2.1.2 Konzept der Diskriminierung Von besonderer Bedeutung für ein kohärentes Vorgehen gegen Mehrfachdiskriminierung ist die Tatsache, dass die Richtlinien einen einheitlichen Diskriminierungsbegriff aufweisen. So wird einheitlich davon ausgegangen, dass direkte Diskriminierung dann vorliegt, wenn eine Person aus einem der anerkannten Gründe „in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“ (Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/43/EG; Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/78/EG; Art. 2 Abs. 1 lit. a RL 2006/54/EG) Bemerkenswert an dieser De¿nition ist, dass sie auf Typizität abstellt. Sprich: Es muss keine konkrete Vergleichsperson geben, die eine günstigere Behandlung erfährt; es reicht, wenn nachgewiesen werden kann, dass eine Person etwa aufgrund ihres Geschlechts typischerweise eine weniger günstige Behandlung erfährt. Insbesondere für Fälle der Mehrfachdiskriminierung stellt sich dann aber die Frage nach der Konstruktion der relevanten Vergleichsperson. Die Problematik wurde bereits mit Blick auf Frauen, die aus religiösen Motiven ein Kopftuch tragen, angedeutet. Dabei konnte gezeigt werden, dass es mit Blick auf die Konstruktion der Vergleichsperson einen erheblichen interpretatorischen Spielraum gibt. Was ist demgegenüber im Europarecht unter mittelbarer Diskriminierung zu verstehen? Dabei handelt es sich um jene Situationen, „in der dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ Personen mit bestimmten Merk-
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malen in besonderer Weise gegenüber Personen benachteiligen können, die solche Merkmale nicht aufweisen. Allerdings ist nicht jede mittelbare Diskriminierung verboten; vielmehr ist es möglich, sie entlang der Kriterien des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu rechtfertigen, indem „die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren […] durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel […] zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“13 sind. Das eröffnet ein weites Feld möglicher Rechtfertigungen – im Gegensatz zur unmittelbaren Diskriminierung, die einer Rechtfertigung prinzipiell nicht zugänglich ist.14 Wenn eine unmittelbare Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts – aus einem Konglomerat von abschließend aufgezählten Gründen – erlaubt ist, dann handelt es sich so betrachtet eben nicht um eine Diskriminierung. 2.1.3 Gerechtfertigte Ungleichbehandlung Den Gründen für eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung gelten die folgenden Ausführungen. Hier unterscheiden sich die Richtlinien ganz erheblich. Auffällig ist, dass die Beschäftigungsrahmenrichtlinie eine Generalklausel enthält, wonach die Richtlinie solche im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen nicht berührt, die „in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.“ (Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG) Es ist anzunehmen, dass dieser Vorbehalt primär, wenn auch nicht ausschließlich, Verhalten auf Basis religiöser oder politischer Überzeugungen im Visier hat. So wird bisweilen überlegt, eine Angelegenheit wie das Tragen eines Kopftuchs oder gar eine Vollverschleierung aus religiösen Motiven in der Schule, als Staatsdienerin oder sonst im öffentlichen Raum vor diesem Hintergrund zu regeln und auch Verbote auszusprechen.15 Alle drei Richtlinien erlauben eine unterschiedliche Behandlung dann, wenn sie mit bestimmten beruflichen Anforderungen im Einklang ist: „wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruÀichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende beruÀiche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“ (Art. 4 RL 2000/43/EG; Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG; Art. 14 Abs. 2 RL 2006/54/EG) Der Europäische Gerichtshof Art. 2(2)b RL 2000/43/EG; Art. 2(2)b, i RL 2000/78/EG; Art. 2(1)b RL 2006/54/EG. So jedenfalls mit guten Argumenten Ellis 2005: 111–113. Möglich sind allerdings legitime Ungleichbehandlungen; s. dazu weiter unten. 15 Siehe zu diesen Fragen z. B. Loenen 2008 sowie die Beiträge in Berghahn/Rostock 2009; zur einschlägigen Judiktatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte siehe Vakulenko 2007. 13 14
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(EuGH) hat diese Bestimmung im Zusammenhang mit der Geschlechtergleichheit tendenziell eng interpretiert. So hat er es zwar für zulässig gehalten, Frauen aus einer Elitetruppe der Britischen Marines auszuschließen, die nach dem Prinzip der „allseitigen Verwendbarkeit“ organisiert ist.16 Das bedeutet: Jedes Mitglied der Einheit hat „tatsächlich auch als Angehörige eines Kampftrupps zu dienen“; alle Mitglieder der Einheit werden zu diesem Zweck eingestellt und ausgebildet und es gibt „im Zeitpunkt der Einstellung keine Ausnahme von dieser Regel“ (Sirdar, RN 30). Sie vor allem würde „rechtfertigen, dass diese Einheiten ausschließlich aus Männern bestehen“ (Sirdar, RN 31).17 Einen Ausschluss von Frauen vom gesamten Heer mit Ausnahme von Militärmusik und Sanität erklärte der Europäische Gerichtshof demgegenüber für zu weit gehend.18 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Beschäftigungsrahmenrichtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, die Geltung der Richtlinie hinsichtlich von Diskriminierungen wegen einer Behinderung und des Alters für die Streitkräfte auszuschließen (Art. 3 Abs. 4 RL 2000/78/EG). Damit ist im Umkehrschluss klar, dass der Diskriminierungsgrund der sexuellen Orientierung im Bereich der Streitkräfte anzuwenden ist. Das ist nicht selbstverständlich, blickt man auf die in den USA immer noch geltende Politik des „Don’t ask, don’t tell“19 und auf die Geschichte der Diskriminierung von Homosexuellen im Britischen Heer.20 Was der Vorbehalt der beruÀichen Anforderungen jedenfalls auch ermöglichen soll, sind Vorgaben für die Beschäftigung von Personen im Rahmen von Institutionen und Maßnahmen, die Menschen in bestimmten Situationen unterstützen sollen. Dazu gehören etwa Frauenhäuser oder Einrichtungen zur Unterstützung und Beratung von Angehörigen religiös oder ethnisch minorisierter Gruppen oder von sexuellen Minderheiten. Der Vorbehalt ist demnach auch im Kontext positiver Maßnahmen (vgl. Art. 5 RL 2000/43/EG; Art. 7 RL 2000/78/EG; Art. 3 RL 2006/54/EG) zu sehen, die an die in den Richtlinien genannten Charakteristika anknüpfen – und die ein unterschiedlich breites Spektrum an Fördermaßnahmen ermöglichen (vgl. Fredman 2008). Solche positiven Maßnahmen sollten, wie in der Literatur häu¿g vorgebracht wird, nicht als Ausnahme vom Prinzip der Gleichbehandlung gesehen werden sondern vielmehr als fundamental für dessen Gewährleistung (vgl. Rudolf 2004: 56; Solanke 2009: 749; Tobler 2007). Die Beschäftigungsrahmenrichtlinie enthält schließlich eine elaborierte Bestimmung, in der es um Beschäftigungsverhältnisse innerhalb von „Kirchen Angela Maria Sirdar gegen The Army Board und Secretary of State for Defence, 16.10.1999, Rs C-273/97, Slg. 1999, I-7403 17 Für kritische Nachfragen siehe Holzleithner 2008b: 211. 18 Tanja Kreil gegen Bundesrepublik Deutschland, 11.01.2000, Rs. C-285/98, Slg. 2000, I-69. 19 Umfassende Informationen auf http://www.sldn.org/templates/index.html (23.11.2009). 20 Siehe die Darstellungen des EGMR in Smith und Grady gegen Großbritannien, 27.09.1999, 33.985/96 und 33.986/96, NJW 2000, 2085. 16
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und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen [geht], deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht.“ Auf bauend auf zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie bereits existierenden Bestimmungen dürfen Mitgliedstaaten „Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche GepÀogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte beruÀiche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“ (Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG) Besonders wird darauf hingewiesen, dass derartige Bestimmungen verfassungsgemäß sein müssen und dass sie keine Diskriminierung aus einem anderen Grund rechtfertigen. Der 2. Satz von Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG vertieft die Problematik noch. Nach dessen Vorgabe dürfen Kirchen und andere öffentliche Organisationen, deren Ethos auf religiösen oder weltanschaulichen Grundsätzen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass diese sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten – sofern die religiösen oder weltanschaulichen Arbeitgeber „die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen“ einhalten. Diese „komplexe und sperrige“ (Bell 2002: 118) Vorgabe, die auf ein gewisses Spannungsverhältnis21 zwischen den durch die Beschäftigungsrahmenrichtlinie geregelten Diskriminierungsgründen hindeutet, ist von erheblicher praktischer Bedeutung. Bekanntlich lehnen einige große religiöse Gemeinschaften, darunter die katholische Kirche, gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen und Beziehungen prinzipiell ab. Bedeutet die Richtlinien-Bestimmung nun, dass sie (prospektive) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgrund einer (gelebten) homosexuellen Orientierung benachteiligen dürfen? Die katholische Kirche etwa will dies für sich beanspruchen: Der Ständige Rat der deutschen Bischofskonferenz hat in einer Erklärung vom 24.06.2002 festgehalten, dass es mit den Loyalitätsobliegenheiten gemäß der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“22 vom 22.09.1993 unvereinbar ist, eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft einzugehen. (In Österreich gibt es ein solches Rechtsinstitut seit 01.01.2010; vgl. Benke 2010) Ist diese Bestimmung im Lichte der Richtlinie zulässig? Hier stehen einander zwei Prinzipien gegenüber: Das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre Angelegenheiten autonom zu regeln und besondere Anforderungen an Beschäftigungsverhältnisse zu richten einerseits und
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Die folgenden Ausführungen überschneiden sich teilweise mit Holzleithner 2008c: 261–265. Abgedruckt in NJW 1994, 1394.
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andererseits das Recht jeder einzelnen Person, nicht aufgrund ihrer (gelebten) sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden. Gehen wir beim Versuch einer Problemlösung vom Wortlaut der Richtlinienbestimmung aus: Auf einem religiösen oder weltanschaulichen Ethos basierende Organisationen können Loyalität von ihren (prospektiven) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verlangen, „sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen eingehalten werden“. Wie diese Passage verstanden wird, hängt von der Interpretation der Phrase „im übrigen“ (engl.: „otherwise“) ab. Manche wollen sie so auslegen, dass die Bestimmungen der Richtlinie eben einzuhalten sind: Auch Loyalitätsanforderungen können den Diskriminierungsschutz nicht aushebeln. Andere meinen, durch die Wortwahl werde zum Ausdruck gebracht, dass für den Fall einer Kollision der Loyalität mit einem verbotenen Diskriminierungsgrund die Forderung nach Loyalität obsiegen dürfe. Die Bestimmungen der Richtlinie seien eben nur „im übrigen“ einzuhalten. Jene, die ein striktes Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung vertreten, stützen sich nicht nur auf den Wortlaut. Sie bringen zudem vor, dass dem Gleichbehandlungsgrundsatz im EU-Recht eben ein zentraler Stellenwert zukommt. Schließlich kann noch hinzugefügt werden, wie gerade wieder im Fall Tadao Maruko gg. Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen (EuGH, 01.04.2008, Rs C-267/06) vorexerziert wurde, dass der Europäische Gerichtshof Ausnahmen von Gleichbehandlungsbestimmungen durchgängig eng fasst. Im Fall Maruko hielt er etwa fest, dass eine Ungleichbehandlung zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft nicht einfach darauf gegründet werden darf, dass zwei verschiedene Statusgemeinschaften vorliegen. Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit diese Statusgemeinschaften inhaltlich gesehen vergleichbare Vorgaben machen. Auch und gerade im Lichte dieser avancierten Judikatur lässt sich mit Däubler (2003: 208) und Windisch-Graetz (2005) ein Vorrang des Verbots der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gegenüber der kirchlichen Autonomie annehmen. Windisch-Graetz (2005: § 20, RN 22) hält fest, die Wortfolge „im übrigen“ sei so zu verstehen, „dass die übrigen Diskriminierungstatbestände nicht berührt werden sollen. Es kann daher bloß eine Loyalität auf einer niedrigeren Stufe verlangt werden“, die keine Diskriminierung aus einem der in der RL genannten Gründe darstellt.23 Auch Schiek argumentiert für den Vorrang des Schutzes von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Künftig müsse die Kirche daher „die Eingehung einer Lebenspartnerschaft durch ihre Mitarbeiter sowie auf andere Weise praktizierte Homosexualität“ (Schiek 2007: § 19 RN 19) tolerieren. Zulässig sei 23 Auch Stein (2007: § 9 RN 39) ist dieser Ansicht: „Nur auf die beiden Merkmale Religion und Weltanschauung dürfen sich unterschiedliche Behandlungen beziehen. Im Übrigen gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung.“
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demgegenüber auch weiterhin eine „Kündigung eines Arbeitnehmers wegen dessen Kirchenaustritt oder wegen einer kirchenrechtlich verbotenen Eheschließung“ (Schiek 2007: § 19 RN 16).24 Das betrifft bspw. eine Caritas-Mitarbeiterin, die als Geschiedene wieder heiratet. Die Differentia speci¿ca liegt darin, dass die Kirche im einen Fall die bloße Illoyalität sanktioniert, im anderen Fall aber aufgrund der sexuellen Orientierung diskriminierend vorgehen würde; ersteres wird als erlaubt, zweiteres als im Lichte der Richtlinie und des deutschen AGG verboten angesehen. Aus Sicht der betroffenen Kirchen wird hier freilich ein Wertungswiderspruch erzeugt. Die geschiedene Wiederverheiratete verstößt gegen kirchenrechtliche Normen, dies aber mit einem Verhalten, das unter anderen Vorzeichen (einer kirchenrechtlich rechtmäßigen Ehe) nicht zu beanstanden wäre. Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen und Beziehungen werden demgegenüber als an sich verwerÀich angesehen; solche Handlungen bzw. die rechtliche Absicherung von Beziehungen, die gleichsam den Rahmen für solche Handlungen bilden, müssten die Kirchen nun aber dulden. Dieses Ergebnis scheint einigen AutorInnen nicht als tragbar. Sie verweisen zunächst auf das erklärte Anliegen der Richtlinie, wonach jener Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, nicht beeinträchtigt werden sollte. Diese Vorgabe ¿ndet sich nicht nur in Bestimmungsgrund 24 der Präambel zur RL 2000/78/EG; das Anliegen hat auch Eingang in den Text der Richtlinie selbst gefunden. In Art. 4 ist zweimal von in den Mitgliedstaaten bestehenden „GepÀogenheiten“ die Rede, wie sie sich in ihren Rechtsordnungen ¿nden. Im für unser Problem einschlägigen Art. 4 Abs. 2, letzter Satz wird zudem nicht eigens darauf hingewiesen, dass keine Diskriminierung aus einem anderen Grund zulässig ist. Es heißt eben bloß, die Bestimmungen der Richtlinie seien „im übrigen“ einzuhalten. In Zusammenschau all dieser Vorgaben will Joussen (2003: 38) nun geradezu einen „Freibrief für die Kirchen“ erkennen. Dieser ergebe sich aus der Sonderstellung, welche Kirchen aufgrund von Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG zukommt. Dazu gehört, dass es gemäß ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts25 an den Kirchen selbst liegt zu de¿nieren, was in den Bereich der von der Kirche legitimer Weise geforderten Loyalität fällt und auch für welche Positionen das gilt. Diese Sonderstellung werde von der Antidiskriminierungsrichtlinie vollumfänglich geachtet. Sie wolle die einschlägigen Fragen gar nicht regeln: „[S]ie verbietet zwar eine Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung, erlaubt diese aber zugleich den Kirchen.“ (Joussen 2003: 38) Ganz in diesem Sinn meint auch Thüsing (2002: 312), der Hinweis der Richtlinie auf die zum Zeitpunkt ihrer „Annahme bestehenden einzelstaatlichen GepÀogenheiten“ könne „zur Gänze ausgeschöpft 24 25
Für eine differenzierende Sichtweise zur Problematik in Österreich siehe Schinkele 2008a. Beginnend mit BVerfGE 70, 138 (168) aus 1985.
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werden.“ Die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung mit Blick auf die Frage der Loyalität zu einer religiösen Lehre liege ganz im Bereich der durch die Kirche als Arbeitgeberin selbst gesetzten Kriterien. Eine solche Entsorgung der Problematik geht freilich selbst für die kirchenfreundliche deutsche Rechtslage zu weit. Der Standard der Richtlinie ist jedenfalls ein höherer, dem Anliegen der Antidiskriminierung zuträglicherer. Damit bleibt, die Regelung innerhalb dieses Spannungsfeldes einer teleologischen Interpretation zuzuführen, die versucht, beiden Anliegen angemessen Rechnung zu tragen – wohl wissend, dass bei der Abwägung im Einzelfall jeweils eine Seite obsiegen und daher die andere logischerweise unterliegen muss. Es muss daher auf eine Gewichtung der verschiedenen im Spiel be¿ndlichen Interessen hinauslaufen. Auf der einen Seite steht das Selbstbestimmungsrecht von Kirchen und anderen durch die Richtlinie 2000/78/EG berechtigten Institutionen; auf der anderen Seite liegen die Grundrechtspositionen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Genau diese Grundrechtspositionen zu schützen, ist erklärte Aufgabe der Richtlinie und der daran anknüpfenden nationalen Regelungswerke. Ausnahmen sind eng auszulegen. Schon aus diesem Grund kann es Kirchen, Religionsgemeinschaften und weltanschaulichen Organisationen nicht völlig freigestellt werden, wie sie sich (prospektiven) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber verhalten, die aufgrund bestimmter Charakteristika gefährdet und daher vor Diskriminierung geschützt werden sollen. Ein kontextunabhängiger absoluter Vorrang des Schutzes vor Diskriminierung etwa aufgrund der sexuellen Orientierung erschiene aber ebenfalls als überschießend. In diesem Spannungsfeld bedarf es einer Abwägung, im Zuge derer der Kontext der zu beurteilenden Problematik eine zentrale Rolle spielt: wer also in welcher kirchlichen oder weltanschaulichen Organisation welche Rolle einnimmt, welcher Art die Tätigkeit ist und in welcher Nähe sie sich zu den jeweiligen religiös-weltanschaulichen Kernbereichen bzw. zur Verkündigung be¿ndet. Bei der Lösung der einschlägigen Rechtsfragen ist jeweils das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Derart kommt unter Anknüpfung an den Richtlinienverweis auf die innerstaatlichen GepÀogenheiten allenfalls eine vorsichtige teleologische Reduktion der Reichweite des Diskriminierungsverbots aufgrund der sexuellen Orientierung in Frage. So wird etwa die Römisch-Katholische Kirche von einem ständigen Diakon verlangen können, dass er im Einklang mit den Vorgaben der kirchlichen Sexualmoral steht; nämliches gilt wohl für Pastoralassistentinnen und Pastoralassistenten (siehe in diesem Sinn auch Mahlmann 2007: § 3 NR 115; Wedde 2007: § 9 RN 59–78). In beiden Fällen würde dies bedeuten, dass von den Betroffenen verlangt werden kann, eine homosexuelle Neigung nicht (offen) auszuleben. KnifÀiger wird es mit Blick auf die Anforderungen an Religionslehrerinnen und Religionslehrer, Lehrkräfte an religiösen Privatschulen oder auch bei Arbeitskräften in kirchennahen sozialen Organisationen wie dem Kolpingwerk, wenn
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sie im Bereich der Erziehung tätig sind. Kirchen- und kirchennahe Institutionen tendieren dazu, ihre Anforderungen an die Loyalität an einen möglichst weiten Personenkreis zu richten. Dies können sie allerdings nicht schrankenlos tun. Mein Vorschlag besteht nun darin, dass bei der Festlegung, für welche Positionen solche Loyalitätsanforderungen gestellt werden dürfen, der Standard gemäß Art 4 Abs 2 Satz 1 RL 2000/78/EG heranzuziehen ist. Das bedeutet, es ist jeweils die Frage zu stellen, inwieweit der Einklang mit Loyalitätsvorgaben tatsächlich „eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Anforderung“ mit Blick auf die spezi¿sche Position und die damit verbundene Tätigkeit darstellt. Angesichts der notwendigerweise restriktiven Interpretation der Ausnahmebestimmung dürfte dies außer für die Tätigkeit als Religionslehrerin oder Religionslehrer zu verneinen sein. Und auch im Fall der Religionslehrer sollte im Rahmen von an rechtsstaatlichen Standards orientierten Verfahren auf den Einzelfall abgestellt werden (vgl. Schinkele 2008b). Grundsätzlich gilt: Für Ungleichbehandlungen aufgrund der sexuellen Orientierung lässt die RL 2000/78/EG wenig Raum. Damit wird die Handlungsfreiheit von Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, deren traditionelle Sexualmoral gleichgeschlechtliche Beziehungen ablehnt, eingeschränkt. Nur in Bereichen, in denen unmittelbare Verkündigungsarbeit betrieben wird, kann überhaupt daran gedacht werden, aufgrund der sexuellen Orientierung zu differenzieren respektive Personen, die offen homosexuell leben, von bestimmten beruÀichen Tätigkeiten auszuschließen. Angesichts der Umstrittenheit dieser Fragen in der Literatur, die diametral unterschiedliche Positionen vertritt, kann die Judikatur des EuGH jedenfalls mit Spannung erwartet werden. Die folgenden Ausführungen befassen sich nun ebenfalls mit einer Problematik aus dem Fragenkomplex um religiöse Freiheit, diesmal kombiniert mit dem Thema der Geschlechtergleichstellung. 3
Tragen von Kopfbedeckungen aus religiösen Motiven: eine intersektionelle Analyse 26
In Diskussionen über die Benachteiligung, die Frauen erleiden, wenn sie aus religiösen Motiven Kopfbedeckungen tragen, wird als Hauptgesichtspunkt einer Betrachtung aus Perspektive der Antidiskriminierung zumeist die Religion ins Spiel gebracht. Die Frage der Geschlechtergerechtigkeit ist häu¿g nur ein Nebengleis27; sie wird bisweilen mit einem gewissen Unbehagen ins Spiel gebracht, indem behauptet wird, dass das Kopftuchtragen an sich und als solches eine Benachteiligung von Frauen darstelle. Demzufolge würden Geschlechtergleichheit und die Frage der Die folgenden Ausführungen basieren auf Holzleithner 2008a. Vakulenko (2007: 184) spricht von einer „noticeable tendency to overlook or underestimate the gender dimensions of the hijab controversy“. 26 27
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religiösen Freiheit in Opposition zueinander stehen. Frauen, so kommt es aus einschlägigen Stellungnahmen heraus, lassen sich durch das Kopftuchtragen auf ihre eigene Unterdrückung ein. Aus diesem Grund scheinen sie Kindern ein schlechtes Beispiel zu geben, und das spielt zumal in der Schule eine wesentliche Rolle: Mädchen könnten sich dazu aufgefordert sehen, selbst ein Kopftuch zu tragen und in Jungen könnte die Überzeugung wachsen und befördert werden, dass dies die adäquate Art ist, in der sich Frauen eben zu verhalten haben: submissiv sich dem Willen Allahs und ihrer männlichen Verwandten ergebend. So gesehen könnte die Geschlechtergleichheit nur dann befördert werden, wenn die Religionsfreiheit eingeschränkt wird. Das allerdings liefe auf eine Diskriminierung aufgrund der religiösen Überzeugungen hinaus. Diese Sichtweise scheint aus der Perspektive des Antidiskriminierungsrechts nicht richtig zu sein (vgl. Sacksofsky 2005; Schiek 2004: 68). Denn schon auf den ersten Blick ist doch offenkundig, dass eine Benachteiligung einer Frau wegen des Tragens von geschlechtlich konnotierten Kleidungsstücken eine Diskriminierung, zumindest auch auf Grund des Geschlechts, darstellt. Welche Form der Diskriminierung, ob mittelbar oder unmittelbar, hängt zunächst von der Formulierung des Kopftuchverbots ab. Verbietet ein Arbeitgeber ganz allgemein „Kopfbedeckungen“, so handelt es sich um eine Bestimmung, die typischerweise Kopftuch tragende Frauen benachteiligt, neutrale Formulierung hin oder her. In einem solchen Fall ist demnach an eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Verbindung mit der Religion zu denken. Gegebenenfalls könnte der Arbeitgeber versuchen, dies unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu rechtfertigen. Wie liegt nun aber der Fall, wenn ein Arbeitgeber Frauen ganz direkt verbietet, aus religiösen Motiven ein Kopftuch zu tragen? Wir haben es hier sicherlich mit einer unmittelbaren Diskriminierung aufgrund der religiösen Überzeugungen zu tun: Die Praxis des Kopftuchtragens ist deren unmittelbarer Ausdruck. Ist damit aber auch eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbunden oder kommt das Geschlecht nur mittelbar ins Spiel? Wie diese Frage beantwortet wird, hängt vom Geschlechterbegriff ab. Wird anerkannt, dass es sich beim Tragen eines Kopftuchs aus religiösen Motiven nicht einfach um eine religiöse, sondern um eine ebenso unhintergehbar geschlechtlich konnotierte Praxis handelt, um eine ganz bestimmte „Genderperformance“, dann ist die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ebenso unmittelbar. Jemand, der eine Frau deshalb nicht als Arbeitnehmerin haben will, weil sie ein Kopftuch trägt, möchte dies deshalb nicht, weil diese Person eine bestimmte Art von Weiblichkeit zur Schau stellt. Die Benachteiligung bezieht sich daher unmittelbar auf die Art, wie Geschlecht dargestellt wird, in diesem Kontext vor einem religiösen Hintergrund. Das Spannende an dieser Interpretation ist ihre Verallgemeinerbarkeit. Bisweilen wollen Dresscodes von Unternehmen sicherstellen, dass Frauen eine bestimmte, attraktive Performance von Weiblichkeit entlang aktueller „westlicher“ Standards
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an den Tag legen. Das beinhaltet etwa die PÀicht zum Tragen von engen Röcken, welche manche Fluglinien ihren weiblichen Mitarbeiterinnen nach wie vor auferlegen.28 Der Unterschied zwischen diesen beiden Fällen ist offenkundig: Während im Fall des Kopftuchtragens „zu viel“ (kulturell abweichende) Weiblichkeit an den Tag gelegt wird, zeigt die Flugbegleiterin in Hosen offensichtlich „zu wenig“. Aber die Logik ist die Nämliche: Frauen sollen sich im Rahmen der kulturell üblichen Konventionen (attraktiver, d. h. auch: heterosexueller) Weiblichkeit bewegen. Auf diese Art kann Antidiskriminierungsrecht ganz allgemein für Frauen in Anschlag gebracht werden, die von stereotypen Erwartungen hinsichtlich der Geschlechterperformance abweichen, sei diese nun religiös inspiriert29 oder dem Wunsch zur Abweichung von Geschlechterstereotypen geschuldet. Das US Supreme Court hat in einem Fall bereits die Notwendigkeit anerkannt, Frauen vor den Zumutungen von Geschlechterstereotypen zu schützen; dabei ging es darum, dass einer Frau eine Partnerschaft in einer großen Rechtsanwaltskanzlei versagt worden war, weil ihr Verhalten nicht als hinreichend feminin angesehen wurde.30 Der EuGH hatte noch keinen solchen Fall zu bearbeiten. Dieser Ansatz nimmt die dekonstruktivistische These ernst, dass Geschlecht in ganz fundamentaler Weise eine normative Konstruktion darstellt. Davon sollen all jene pro¿tieren können, die nicht gängigen Geschlechterstereotypen entsprechen, seien sie fromm, politisch religiös, unkonventionell feminin oder maskulin oder transgender. Nach diesem Ansatz dürfen Normen der Geschlechterperformance nur durchgesetzt werden, wenn sie – gemäß dem EU-Antidiskriminierungsrecht – ein Charakteristikum darstellen, das „aufgrund der Art einer bestimmten beruÀichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende beruÀiche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“ (Art. 14 Abs. 2 RL 2006/54/EG) Diese Ausnahme ist, wie bereits mehrfach betont, eng zu interpretieren. 4
Schlussbemerkungen
Die vorangegangenen Ausführungen sollten deutlich machen, wie komplex die Problematik der Mehrfachdiskriminierung ist: im Spannungsfeld jener Hierarchien, die im Schutzniveau der EU-Richtlinien auszumachen sind, an der Schnittstelle zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung und angesichts dessen, 28 Beispielsweise schreiben die Casinos Austria ihren weiblichen Mitarbeiterinnen in der Kasinohalle (immer noch) das Tragen von Röcken vor. E-Mail von Ing. Buchinger, Hauptabteilung Personal der Casinos Austria AG, 25.06.2007. 29 Die einschlägigen Motivationen sind überaus divers. Vgl. Amir-Moazemi (2007), Schröter (2002). 30 Price Waterhouse v. Hopkins, 490 U.S. 228 (1989); vgl. Franke (1995).
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dass Maßnahmen gegen Diskriminierung aus dem einen Grund sich nicht immer synergetisch zu Maßnahmen gegen Diskriminierung aus einem anderen Grund verhalten. Eine möglichst produktive Anwendung des europäischen Antidiskriminierungsrechts wird jedenfalls davon abhängen, inwieweit es diesen Herausforderungen gerecht zu werden imstande ist. Literatur Amir-Moazemi, Schirin (2007): Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich Bell, Mark (2002): Anti-Discrimination law and the European Union. Oxford: Oxford University Press Bell, Mark (2009): Advancing EU Anti-Discrimination Law: the European Commission’s 2008 Proposal for a New Directive. The Equal Rights Review 3, pp.7–18 Benke, Nikolaus (2010): Zum Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft 2009: Weder Ehe noch Familie. In: Zeitschrift für Ehe- und Familienrecht 5/1 (im Erscheinen) Berghahn, Sabine und Petra Rostock (Hrsg.) (2009): Der Stoff, aus dem KonÀikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeld Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalising the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracial Politics. In: University of Chicago Legal Forum, pp. 139–168 Däubler, Wolfgang (2003): Das kirchliche Arbeitsrecht und die Grundrechte der Arbeitnehmer, RdA. S. 204–209 Ellis, Evelyn (2005): EU Anti-Discrimination Law. Oxford: Oxford University Press 2005 Europäische Kommission (2007): Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung. Praktiken, Politstrategien und Rechtsvorschriften. Brüssel Franke (1995): The Central Mistake of Sex Discrimination Law: The Disaggregation of Sex from Gender, University of Pennsylvania Law Review, pp. 1–99 Fredman, Sandra (2008): Einen Unterschied bewirken: Möglichkeiten und Risiken von positiven PÀichten im Bereich der Gleichberechtigung. In: Europäische Zeitschrift zum Antidiskriminierungsrecht 6/7, S. 49–59 Hannett, Sarah (2003): Equality at the Intersections: The Legislative and Judicial Failure to Tackle Multiple Discrimination. Oxford Journal of Legal Studies 23/1, pp. 65–86 Holzleithner, Elisabeth (2002): Recht Macht Geschlecht. Legal Gender Studies. Eine Einführung. Wien Holzleithner, Elisabeth (2005): Mainstreaming Equality: Dis/Entangling Grounds of Discrimination. In: Transnational Law and Contemporary Problems 14/3. 927–957 Holzleithner, Elisabeth (2008a): Gendergleichheit und Mehrfachdiskriminierung: Herausforderungen für das Europarecht. In: Arioli, K./Cottier, M./Farahmand, P./Küng, Z. (Hrsg.): Wandel der Geschlechterverhältnisse durch das Recht? Zürich/St. Gallen, S. 305–320
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Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs
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Diskriminierung in der longue durée. Globale Muster und lokale Strategien Manuela Boatcă
Diskriminierung auf der Grundlage von Rasse1, Ethnie, Geschlecht, Herkunft, körperlicher Verfassung oder Bildungsniveau ist ein Kennzeichen der westlichen Moderne. Zwar wurde Fremdheit in früheren sozialen Systemen auch als Bedrohung der sozialen Gemeinschaft interpretiert. Die daraus resultierende Logik der Xenophobie diktierte jedoch meist den physischen Ausschluss der jeweils Fremden, Andersartigen oder „Barbaren“ aus der Gemeinschaft oder Eigengruppe – im Extremfall durch deren Tod (Wallerstein 1998: 44). Die europäische Moderne hingegen war die erste gesellschaftliche und politische Ordnung, die – im Anschluss an das aufklärerische Prinzip der Gleichheit aller Menschen unabhängig von der sozialen Herkunft – den Anspruch der Vollinklusion ihrer Mitglieder durch die Einführung universalistischer Standards erhob. Mit gestiegener sozialer Mobilität, Urbanisierung und der AuÀösung traditioneller Bindungen wurde in zunehmend funktional differenzierten, modernen Industriegesellschaften jedoch auch die Erfahrung von Fremdheit generalisiert (vgl. Hahn 1994: 162). Die Moderne wurde paradoxerweise zum Ort zahlreicher Exklusionen, die über die in allen sozialen Gemeinschaften übliche Semantik von Ab- und Ausgrenzungen „des“ Fremden weit hinausgingen und in „soziale Unwerturteile“ (Peters 1995: 30) mündeten, die sich als verschiedene Typen und Grade der Fremdheit ausdrücken ließen und unterschiedliche Formen der Diskriminierung zur Folge hatten. Nationalität, Geschlecht, Rasse, Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, ja sogar die körperliche Verfassung wirkten vor dem Hintergrund moderner Normsetzungen nicht nur identitätsstiftend, sondern vor allem fremdheitsgenerierend. Da jedoch die physische Vernichtung Andersartiger in der Moderne kein legitimes Mittel der Herstellung rationaler sozialer Ordnung mehr darstellte (weshalb gerade die systematische Ausrottung von Juden, Katholiken, „Zigeunern“, Homosexuellen und Behinderten im Zweiten Weltkrieg als irrationaler Ausnahmeakt wegerklärt Wenn im Folgenden von „Rasse“ gesprochen wird, ist damit nicht die biologische Existenz von unterschiedlichen Rassen gemeint, sondern ihre soziale Konstruktion als ein für Diskriminierungsprozesse – Rassismus, Rassisierung – oft instrumentalisiertes Unterscheidungskriterium. Zum unterschiedlichen Umgang mit dem Begriff Rasse bzw. race je nach unterschiedlichem nationalen Kontext und Wissenschaftskultur s. unten.
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wurde), mussten generalisierte Fremdheit und ihr Bedrohlichkeitsstigma im neuen Gesellschaftstyp koexistieren. Dementsprechende Abgrenzungsstrategien speisten sich folglich aus der „Eindeutigkeitsmetaphysik der Moderne“ (Beck 1995: 154), indem sie Identität als eindeutig, kohärent und geordnet, Alterität hingegen als unberechenbar, irrational und daher unsozial konstruierten. Ihre Polarisierung zu sozial und naturhaft sich ausschließenden Gegensätzen legitimierte somit Strategien der Ausgrenzung oder Vereinnahmung „des“ Fremden als Mittel der Kontrolle des sozialen Raums und begründete gleichzeitig eine für die Moderne charakteristische, dualistische Weltsicht, in der die Sphäre des (historisch, politisch, ökonomisch, sozial und psychisch) Gemeinsamen zwischen dem Fremden und dem Eigenen ausgeblendet bleibt. Handlungen der Ein- und Ausgrenzung entsprachen fortan dem Gesetz vom ausgeschlossenen – weil komplexen, ambivalenten, oder unde¿nierbaren – Dritten, das mit der Etablierung der Ordnungsherstellung als archetypische Aufgabe der Moderne einherging: „Da die Souveränität des modernen Intellekts die Macht ist, zu de¿nieren und den De¿nitionen Wirksamkeit zu verschaffen – ist alles, was sich der unzweideutigen Zuordnung entzieht, eine Anomalie und eine Herausforderung“ (Bauman 1992: 21). Den anhand systematischer Klassi¿ kation erst geschaffenen Anomalien Herr zu werden, wird zur Aufgabe des modernen Nationalstaates. Generalisierte Fremdheit im sozialen Nahraum ging mit Entfremdungsprozessen des Einzelnen als Folge des Wegfalls ständischer Zuweisungs- und Identi¿kationskriterien, des Bedeutungsverlustes der religiösen Gemeinschaft als Quelle von Sinn und Solidarität, sowie der wachsenden Autonomie politischer Subjekte einher. Das Mehr an Freiheit – von der göttlichen wie der feudalen Autorität – hatte zugleich eine Suche nach neuen Zugehörigkeiten zur Folge. Ein rationales Modell gesellschaftlicher Integration, wie es das aufklärerische „Projekt der Moderne“ (Habermas 1990) realisieren sollte, war daher auf eine legitime Instanz zur Herstellung kollektiver Identität angewiesen, das dem Gefühl der Entfremdung einen neuen, gemeinschaftsstiftenden „Glauben“ entgegensetzen konnte. 1
Der Ausländer als Prototyp
Diese Funktion übernahm ab dem 19. Jahrhundert die Nation. Bereits durch die Monopolisierung der Gewalt im 16. und 17. Jahrhundert als übergeordnete Repressions- und Ordnungsinstanz herausgebildet, erhoben sich europäische Staaten im Zuge der Nationalstaatsbildung zusätzlich zu Integrations- und Sinninstanzen, die ihren Bürgern gegen den Tribut der politischen Loyalität nach außen und der Anerkennung staatlicher Autorität im Inneren eine Identitätsquelle in Gestalt nationaler Gemeinschaften lieferten. An die Stelle der Religion als Indikator für die
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Inklusion des Einzelnen in die Gesamtgesellschaft traten Gemeinsamkeiten der Sprache, Gesittung und Abstammung (vgl. Nassehi 1990: 264). Indem die dadurch gestiftete nationale Einheit reale Ungleichheiten des Einkommens, des Berufs und des politischen EinÀusses zwischen den – für gleichwertig erklärten – Gesellschaftsmitgliedern verdeckte, wurde sie ihrerseits zur Religion und der Staat zum neuen „Glauben der Moderne“ (vgl. Hahn 1993: 197). Es ist diese Konsens¿ktion moderner Nationalstaaten, auf die anschließende De¿nitionen von Fremdheit Bezug nahmen (und nehmen). Der Prototyp des Fremden wurde der Ausländer im Inland (vgl. Hahn 1994: 163), das Prinzip der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft die Erlangung der Staatsbürgerschaft. Gleichzeitig gewann Nicht-Zugehörigkeit den Status eines systematischen Stigmas, dessen Überwindung das vorrangige politische Ziel seiner Träger wurde. Die Exklusion, die es zu bekämpfen galt, war das Gegenstück der Inklusion, die durch Staatsbürgerschaft gewährt werden sollte: „Those who were not citizens of the state had become by de¿nition aliens […] The story of the nineteenth century (and indeed of the twentieth) has been that some (those with privilege and advantage) have been attempting to de¿ne citizenship narrowly and that all the others have been seeking to validate a broader de¿nition. It is around this struggle that the intellectual theorizing of the next 200 years centered. It is around that struggle that the social movements were formed.“ (Wallerstein 2003: 651).
Das Gewaltmonopol des modernen Nationalstaates übte somit nicht nur eine Schutzfunktion in Bezug auf das Leben und Eigentum der Staatsbürger aus, sondern verfügte darüber hinaus über eine De¿nitionsmacht, die die Kriterien der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft festlegte und dabei Gewalt gegenüber Nicht-Staatsbürgern legitimierte. Fremde waren nicht mehr nur (Staats)Feinde, sondern vornehmlich diejenigen, die sich den etablierten Kriterien widersetzten und dadurch den Selbstverständlichkeitscharakter des Nationenprinzips in Frage stellten. Für die Moderne der Nationen gilt demnach, dass „selbst Feinde […], zugespitzt gesagt, in gewisser Hinsicht weniger bedrohlich [sind] als Fremde, weil sie der etablierten Ordnung der Eigen- und Fremdstereotypen gehorchen […] Fremde sind ein purer Beleg, dass die ‚Natürlichkeit‘ der hiesigen Ordnung künstlich, konventionell ist. Durch den Widerspruch, den sie […] verkörpern, beweisen sie immer wieder aufs Neue, dass die Welt auch anders sein könnte“ (Beck 1995: 140).
Das Versprechen der Vollinklusion wurde damit auf paradoxe Weise „eingelöst“: Voraussetzung für die Teilhabe an der homogenen kulturellen Identität, die durch den Staat vergeben wurde, war das Staatsmandat zur Befriedung der sozialen Binnenräume – ein „Freibrief“, der jedoch häu¿g mit dem gewaltsamen Ausschluss der kulturell „Anderen“ einherging. Vor dem Hintergrund der systema-
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tischen „Er¿ndung des Anderen“ (Castro-Gómez 2000) im Zuge der Produktion und Aufrechterhaltung der rationalen gesellschaftlichen Ordnung, die sich die Moderne zur Aufgabe gesetzt hatte, erscheinen Diskriminierungsstrategien als Kehrseite des „Projektes der Moderne“ (Habermas 1990) – und deshalb für diese historische Epoche nicht minder konstitutiv als ihre erklärten Ziele. Obwohl rasch zum Hauptmechanismus der Zuweisung sozialer Identität emporgestiegen, war die durch den Nationalstaat institutionalisierte Klassi¿kation in In- und Ausländer, Staatsbürger und „Andere“, nur Ausdruck der – die Moderne kennzeichnenden – Grundidee der Naturbeherrschung durch die Konstruktion von Ordnung. Sowohl in Francis Bacons Projekt der Unterwerfung der Natur mit Hilfe von Wissenschaft und Technik, in Descartes’ Programm, die Menschen zu „maîtres et possesseurs de la nature“ (Descartes 1997: 62) zu machen, wie in Hobbes’ gewaltmonopolisierendem Staat als Lösung des urtümlichen „Krieges aller gegen alle“ galt „zweckgerichtete Ordnung“ (Bauman 1992: 28) als Gegenpol zur ziellosen und damit irrationalen „Natur“. Analog dazu sollte die neue dominante Selbstbeschreibung moderner Staaten – die Nation – dazu dienen, den „Naturzustand“ zu überwinden und ihn durch die ¿ktive „Natur“ der Volksgemeinschaft zu ersetzen (vgl. Hahn 2000: 57). Diese, auf die Zunahme der Herrschaft über die äußere und innere Natur basierende Entwicklung, die Max Weber als fortschreitende Rationalisierung, Norbert Elias als Zivilisations- und Michel Foucault als Disziplinierungsprozess beschrieben haben, zielte im nationalstaatlichen Kontext auf die Herstellung eines Rechtssubjekts, das sich in vorformulierte, verfassungsrechtliche Grenzen fügen und das bei der Realisierung und Aufrechterhaltung des nationalen Projektes eine produktive Rolle übernehmen sollte. Als Legitimationsbasis für die experimentelle Veränderung der äußeren Natur, von der sich die Wissenschaft seit Bacon die kontinuierliche Verbesserung von Lebensbedingungen versprach (vgl. Bonß 2002: 121), diente dabei der Fortschrittsoptimismus der Aufklärungsphilosophie. Auf der gleichen Grundlage wurde auch das mit zur modernen Praxis gehörende Assimilationsprinzip zur Norm erhoben: Abweichungen von der juristisch-politischen Norm – und somit jede Art von Andersartigkeit der Rechtssubjekte – wurden als Störung der herzustellenden sozialen Ordnung delegitimiert, Assimilation von Fremdartigkeit hingegen als Emanzipation vom Naturzustand der sozialen Gemeinschaft angesehen. Laut Zygmunt Bauman war Assimilation „[…] eines von vielen Details im Gesamtplan der Ersetzung der natürlichen Ordnung der Dinge durch eine künstlich hergestellte; und es war der Versuch der Gestaltenden, ein monopolistisches Recht auf die Trennung von ‚Passendem‘ und ‚Unpassendem‘, ‚Wertvollem‘ und ‚Wertlosem‘ auszuüben und auch die Bedingungen zu formulieren, unter denen ein Übergang vom zweiten zum ersten möglich sei“ (Bauman 1991: 38 f.).
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Mit anderen Worten, es war die im Zeitalter universalistischer Ideologie unerlässliche Hinterfragbarkeit längst vorhandener Ungleichheiten der Bildung, des Geschlechts, des Alters, der ethnischen Zugehörigkeit oder der Rasse, die ihre Übersetzung in rigide, weil „naturalisierte“ binäre Kategorien notwendig machte. Auf deren Grundlage ließen sich folglich Exklusion und Inklusion aus ihrem Naturcharakter heraus rechtfertigen, als dessen Vorlage die für das europäische Selbstverständnis konstitutive Unterscheidung von „zivilisiert“ und „barbarisch“ fungierte. 2
Grundlagen globaler Diskriminierung im langen 19. Jahrhundert
Die Homogenisierung nationaler Identitäten innerhalb Europas im 19. Jahrhundert ging nicht zuletzt mit der aggressiveren imperialistischen Politik europäischer Kolonialmächte und mit der wissenschaftlichen Legitimierung der europäischen Zivilisation als „das Zentrum und das Ende“ (Hegel 1955: 235) der antiken Welt einher. Bereits kolonisierte oder noch zu erobernde Weltteile wurden, im Verhältnis dazu, als „das Andere“ Europas und der Moderne de¿niert. Diese fundamentale Fremdheitserfahrung der späten Moderne, auf deren Basis (west)europäische Identität sich mit Zivilisation, Rationalität, Wissenschaftlichkeit, Fortschritt und Gewaltlosigkeit assoziieren ließ – nicht-europäische Alterität hingegen die Restkategorie darstellte, die von Barbarei, Irrationalität, Aberglaube, Rückständigkeit und Gewalt geprägt war – lieferte die Basis für die dualistische Weltsicht, derer sich die modernen (Sozial)Wissenschaften wie Staatsbürgerschaftskonzepte anschließend bedienen würden. Die mit dem „Zivilisationsauftrag“ verbundene Wirtschaftslogik bestand in der Notwendigkeit, innerhalb der zunehmend in (kolonialen) Zentren und (kolonisierten) Peripherien sich strukturierenden, kapitalistischen Weltwirtschaft (vgl. Wallerstein 1974) Hierarchien im Hinblick auf den Wert geleisteter Arbeit zu etablieren, mit deren Hilfe sowohl die Kosten der Integration „Anderer“ als auch die ihnen gewährten Rechte möglichst gering gehalten werden konnten. Während also das Identitätsbildungsprojekt moderner Nationalstaaten eine nach innen gerichtete Disziplinierung und Normalisierung der Rechtssubjekte zum Ziel hatte, stellte ihre nach außen gewandte, wirtschaftliche Expansion den dazugehörigen Alteritätsgenerator dar (vgl. Boatcă/Neudecker 2006, Boatcă 2009). Paradigmatisch für die diskriminierenden Praktiken, die auf dieser Grundlage institutionalisiert werden würden, waren die nationalpolitischen Folgen der Französischen Revolution. Im unmittelbaren Anschluss an die Revolution wurden die Untertanen des neu ausgerufenen französischen Nationalstaates in „Aktiv-“ und „Passivbürger“ eingeteilt (vgl. Hanagan 2002: 167). Die erste Kategorie umfasste hauptsächlich männliche Eigentümer, die gegen die Gewährung von Bürgerrechten das militärische Tribut der WehrpÀicht und das ökonomische der Steuer „eintauschten“; zu der zweiten Kategorie zählten Frauen, Ausländer,
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Kinder, sowie alle, die nicht an der Gestaltung des öffentlichen Lebens beteiligt waren (vgl. Siéyès, in: Wallerstein 2003: 651 f.). Zusätzlich durch den Ausschluss vom Militär wie durch das Attribut der Gebärfähigkeit für schutzbedürftig und naturnah de¿niert, befanden sich Frauen nunmehr außerhalb der mit politischer Partizipation, Lohnarbeit, Schutz- und Versorgerfunktionen assoziierten Männerdomäne der Kultur (vgl. Boatcă 2003: 67). Das staatlich propagierte, bürgerliche Familienmodell, in dem Frauen die ausschließliche Rolle der Hausfrau und Mutter zukam, verband somit die Er¿ndung der Subsistenzproduktion mit ihrer Stigmatisierung als „Nicht-Arbeit“2, aber auch mit einer „territorialen Lizenz für Gewalt innerhalb des Haushalts“ (Taylor 2000: 555), die dem staatlichen Gewaltmonopol auf dem Nationalgebiet entsprach. Dass die innerhäusliche Gewalt hauptsächlich die Form von Männergewalt gegen Frauen annahm, ist angesichts der Tatsache, dass die „Züchtigung“ von (Ehe)Frauen bis in das 20. Jahrhundert hinein als legal galt, mehr als wahrscheinlich. Die Verweigerung von aktiven Bürgerrechten an einfachen Arbeitern aufgrund ihrer Eigentums- und Bildungslosigkeit – als „Beweis“ für ihr mangelndes Interesse an der Wahrung sozialer Ordnung (vgl. Wallerstein 2003: 662) – und die Exklusion der Schwarzen und Mulatten aus der Gemeinschaft der französischen Staatsbürger in der französischen Kolonie St. Domingue spiegelten auch die übrigen Kriterien wider, anhand derer im 19. Jahrhundert Klassi¿kationen im gesamten außereuropäischen Raum vorgenommen werden würden. Dort bildeten das Geschlecht, die Rasse, der Eigentümerstatus sowie die Lese- und Schreibfertigkeit nach europäischen Normen die Grundlagen für den Erwerb der Staatsbürgerschaft und zugleich für die Konstruktion der Fremdbilder, die der modernen Identität als Kontrastfolie dienten. Die dadurch aufgestellten Typologien legitimierten die Etablierung einer Hierarchieskala für die Vergütung von Arbeitsleistungen nach dem Grad der Nähe zum Staatsbürgerschaftspro¿l, die durch institutionelle Mechanismen unterstützt wurde. So wurde die Arbeit der Schwarzen und Indios in den Kolonien, wie die der Frauen und Kinder in der gesamten Weltwirtschaft als minderwertig, die der Hausfrauen gar als „Nicht-Arbeit“ (von Werlhof et al. 1983) behandelt. Die Sanktionierung und Reproduktion des westlichen Staatsbürgerschaftsmodells übernahmen dabei – wie in Westeuropa selbst – nationale Verfassungen, Schulen, Krankenhäuser und Gefängnisse. Dementsprechend ¿elen Behinderte, Homosexuelle und Dissidenten genauso aus dem gesetzten Rahmen des ökonomisch gewinnbringenden und sozial konformen Rechtssubjekts wie Frauen, Analphabeten, 2 Dieses – zunächst auf bürgerliche Frauen beschränkte – Phänomen des Hineinde¿ nierens in die Natur, das Maria Mies (1996) als „Hausfrauisierung“ bezeichnet, wurde nach und nach auch auf kleinbürgerliche, später auch auf proletarische Frauen ausgeweitet. Vgl. dazu auch von Werlhof et al. 1983, Mies 1996: 103.
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Nicht-Weiße oder Sklaven – wie Santiago Castro-Gómez für Lateinamerika des 19. Jahrhunderts dokumentiert: „Der Erwerb der Staatsbürgerschaft ist […] ein Filter, durch das nur diejenigen durchgelassen werden, deren Pro¿l zum Typ des Staatsbürgers passt, den das Projekt der Moderne verlangt: männlich, weiß, des Lesens und Schreibens mächtig, Familienvater, katholisch, Eigentümer, Heterosexueller. Diejenigen Individuen, die diesen Anforderungen nicht genügen (Frauen, Gesinde, Geisteskranke, Analphabeten, Schwarze, Häretiker, Sklaven, Indios, Homosexuelle, Dissidenten) bleiben außerhalb der ‚gebildeten Metropole‘, gefangen im Raum der Illegalität und durch das gleiche Gesetz, das sie ausschließt, zur Strafe und zur Therapie verurteilt.“ (Castro-Gómez 2000: 149)
3.
Lokale Diskriminierungsstrategien im 21. Jahrhundert
Die heutige Diskriminierung von MigrantInnen und ethnischen Minderheiten folgt der gleichen Inklusion/Exklusions-Logik, die das Identitätsbildungsprojekt moderner Nationalstaaten an die Pathologisierung der (Rechts-)subjekte in den außereuropäischen Kolonien koppelte. Als solche stellt sie ein strukturelles Problem des modernen und zugleich kolonialen Weltsystems (vgl. Mignolo 2000) mit unterschiedlichen Ausprägungen dar, die sich, je nach Kontext, meist als kultureller Rassismus oder als Fremdenfeindlichkeit auf ethnischer oder religiöser Grundlage artikulieren. Dabei wirkt sich – trotz Globalisierung und dem laut propagiertem Willen zur transnationalen Politik – die soziokulturell und programmpolitisch unterschiedliche Haltung von Nationalstaaten gegenüber der eigenen Stellung als „Einwanderungsland“ auf den Umgang mit MigrantInnen und ethnischen Minderheiten entscheidend aus. 3.1 USA: Der ungleiche Melting Pot Für die Vereinigten Staaten, für die der Charakter als Einwanderungsland zum nationalen Selbstverständnis gehört, ist es die Unterscheidung zwischen europäischer und nicht-europäischer Herkunft, die als zentrale Achse der Rassendiskriminierung von MigrantInnen fungiert (Grosfoguel/Georas 2000). Während europäische MigrantInnengruppen – so wie Iren, Italiener und Osteuropäer – oder aber Australier, Afrikaner und Südamerikaner europäischer Herkunft – innerhalb der Rassenhierarchie als „weiß“ eingestuft wurden, fanden MigrantInnen aus Lateinamerika und der Karibik in den meisten Fällen nur als „Schwarze“ – oder als eine Abstufung davon – Eingang in die U.S.-amerikanische Gesellschaft (Ignatiev
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1995, Goldberg et al. 2006). Dabei bezeichnet die Kategorie „Latino“, wie auch das seit 1997 in die Volkszählung of¿ziell eingeführte Ethnonym „Hispanic or Latino“, keine homogene Volksgruppe. Im Gegenteil, die auf Selbsteinschätzung beruhende Kategorie setzt sich aus Menschen zusammen, die aus unterschiedlichen spanischsprachigen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten in die USA eingewandert sind, sowie aus solchen, die in Folge des mexikanisch-amerikanischen Krieges automatisch Einwohner der USA geworden sind. (Grosfoguel/Maldonado-Torres/ Saldívar 2005: 6). Je nach Gebrauch umfasst die Bezeichnung Hispanic/Latino jedoch auch Personen brasilianischer oder portugiesischer Herkunft, die indigene Bevölkerung aus Nord- und Zentralamerika oder LateinamerikanerInnen schwarzafrikanischer Herkunft („Afro-Latinos“). Der Diskurs der Rassendifferenz, geprägt durch das koloniale Machtverhältnis zwischen „weißen“ europäischen EinwanderInnen auf der einen Seite und „schwarzen“ bzw. „braunen“ nordamerikanischen UreinwohnerInnen, afrikanischen SklavInnen und BewohnerInnen kolonisierter Gebiete wie Mexiko, Puerto Rico und die Philippinen auf der anderen, wird im Falle der „Latinos“ und „Latinas“ auf Volksgruppen extrapoliert, die als Folge direkter oder indirekter militärischer Interventionen der U.S.-Regierung in ihren Heimatländern in die Vereinigten Staaten eingewandert sind (vgl. Grosfoguel 2003). DominikanerInnen, SalvadorianerInnen oder GuatemaltekerInnen in den USA werden somit, kraft der Analogie mit Chicanos/Chicanas und PuertorikanerInnen, häu¿g als „schwarz“ – oder jedenfalls „nicht-weiß“ – konstruiert und rassi¿ziert. Das Beispiel kubanischer EinwanderInnen stellt in diesem Zusammenhang eine Ausnahme dar, die den instrumentellen Charakter von Diskriminierungspraktiken umso deutlicher macht. Als Teil des kubanischen Flüchtlingsprogramms des U.S.-Ministeriums für Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt, pro¿tierten ExilkubanerInnen zwischen 1960 und 1980 von Sozialhilfe, bilingualen Sprachkursen, Ausbildungsbeihilfen, subventionierten Studiendarlehen und Krankenversicherungen, die im Kontext der Außenpolitik der USA während des Kalten Krieges dazu dienten, die Überlegenheit des kapitalistischen Modells gegenüber dem sozialistischen zu demonstrieren (Pedraza-Bailey 1985, Grosfoguel 1997). Die nicht-europäische Herkunft kubanischer MigrantInnen, die sonst zur Grundlage der Rassi¿zierung von „Latinos“/„Latinas“ fungiert, wurde in diesem Fall aus dem öffentlichen Diskurs ausgeblendet, der politische Herkunftskontext hingegen als Erklärung für die mangelnde vertikale Mobilität der KubanerInnen im Heimatland und für den erfolgreichen sozialen und ökonomischen Aufstieg in den USA instrumentalisiert. Damit reihen sich kubanische EinwanderInnen in die (wenigen) MigrantInnengruppen ein, anhand derer historisch und politisch kontingenter Erfahrung die Mythen des indiskriminierenden Melting Pots und des amerikanischen Traums verallgemeinert und die „kolonialen Genealogien“ der heutigen Migrationsregimes (Gutiérrez-Rodríguez 2005) verschleiert werden.
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„This is the case of migrants coming from Korea, Cuba, Hong Kong and Taiwan. By creating a middle strata of ‚successful minority groups‘ (model minorities), the dominant white Euro-American groups can create racial/ethnic symbolic showcases to escape criticism about racial discrimination coming from colonial immigrants and colonial/ racial subjects of empire. This contributes to the invisibility of the still persistent racial discrimination in America.“ (Grosfoguel/Maldonado-Torres/Saldívar 2005: 12)
Die Nicht-Kontextualisierung des historischen und machtpolitischen Hintergrunds der unterschiedlichen MigrantInnengruppen führt jedoch dazu, dass der Integrationserfolg von illegalen mexikanischen EinwanderInnen oder derjenige der puertoricanischen Minderheit, die selten in den Genuss staatlicher Unterstützung kommen, mit dem von Flüchtlingen aus Gegnerstaaten der USA (Kuba, Nicaragua, Vietnam), deren gelungene Einreise in die USA positiv besetzt ist und die durch Behörden eine dementsprechende Behandlung erfahren, gemessen wird. Zurückgeführt wird der Integrationserfolg dabei lediglich auf die Disziplin, den Berufsethos oder höchstens noch das Sozialkapital der jeweiligen ethnischen Gruppen, während die Ungleichheiten im staatlichen Umgang mit MigrantInnen als Teil einer nationalstaatlichen Einwanderungspolitik begriffen werden, in der weder die koloniale Vergangenheit noch die gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen Aufnahme- und Herkunftsland der MigrantInnen eine Rolle spielen. Dass Staaten jedoch keine autonomen Akteure sind, sondern in supranationale Machtstrukturen eingebettet sind, die die ökonomischen und politischen Hierarchieverhältnisse des globalen kapitalistischen Systems widerspiegeln, ist heute genauso zutreffend wie zur Zeit des Kalten Krieges. Für eine differenzierte Analyse der Situation von MigrantInnen und ethnisierten Anderen in den heutigen USA, wie in anderen (post)kolonialen Kontexten, ist deshalb der jeweilige geopolitische Hintergrund zentral: „[…] it is crucial to locate each ethnoracial group within the broader context of the core-periphery relationships between their state of origin and the US. […] Whether the core-periphery relationship is colonial or neo-colonial with an active military intervention by the US, or peripheral with little or no geopolitical importance for the core states is signi¿cant here. Likewise, the migrants’ class origin and educational backgrounds, as well as public perception of them, will affect US policies regarding migrants’ reception, and in turn their modes of incorporation into the labor market.“ (Goldberg et al. 2006: 267)
Dass KubanerInnen bis heute als „die guten, Àeißigen Latinos/Latinas“ herausgestellt werden, die – im Gegensatz zu der meist ungebildeten, armen, und stark kriminalisierten lateinamerikanischen und afroamerikanischen Population der USA – als „weiß“ gelten, ist für die Ausblendung des historisch-strukturellen Migrationskontextes
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und die damit zusammenhängende Reproduktion diskriminierender Mechanismen symptomatisch. Nach dem 11. September 2001 sind diese Unterschiede in der Behandlung von MigrantInnen aus Lateinamerika größtenteils verwischt worden, als durch die sich verschärfenden nationalen Sicherheits-Maßnahmen und racial pro¿ling nicht nur Arab-AmerikanerInnen und SüdasiatInnen, sondern auch die U.S.-hispanische Bevölkerung unter generellen Terrorismus-Verdacht geriet (vgl. Jonas 2006: 6 ff.). Dabei waren viele der im US Patriot Act von 2001 enthaltenen Maßnahmen zur Terrorismus-Bekämpfung Bestandteile älterer Immigrationsgesetze: Das Illegal Immigrant Reform and Immigrant Responsibility Act, das die präventive Inhaftierung straffälliger ImmigrantInnen und die Erleichterung von Abschiebungen vorsah, das Anti-Terrorism and Effective Penalty Death Act, das die rückwirkende Inhaftierung von MigrantInnen für Vergehen und Bagatelldelikte erlaubte, sowie das Welfare Reform Act, das allen Nicht-StaatsbürgerInnen den Zugang zu staatlicher Gesundheitsversorgung und Schulbildung verweigerte, hatten bereits 1996 zur verstärkten Kriminalisierung legaler wie illegaler EinwanderInnen beigetragen. Im Kontext der Angriffe vom 11. September ermöglichten die bereits existierenden Gesetze die Umde¿nition der gesamten MigrantInnenpopulation als terroristische Bedrohung und legitimierten dadurch repressive Maßnahmen – von Untersuchungshaft bis Eilabschiebung – für die die administrativen Hürden des geltenden Strafrechts kurzfristig außer Kraft gesetzt werden konnten: „In the name of ‚national security‘ – although in practice, on the basis of immigration (visa) violations totally unrelated to terrorism – many thousands of Latino migrants have been subjected to arbitrary roundups, preventive detention and/or summary deportation, with no recourse to legal counsel or court appeals. The U.S. government has broadly used anti-immigrant provisions of the Anti-Terrorist Laws (1996, 2001) in part because immigration law does not guarantee the due process rights available to citizens under the criminal law.“ (Jonas 2006: 9)
Spätestens seit den Massendemonstrationen gegen das neue Einwanderungsgesetz der Bush-Regierung 2006 und der damit zusammenhängenden Militarisierung der Grenze zu Mexiko genießen lateinamerikanische EinwanderInnen die größte internationale Sichtbarkeit unter den U.S.-MigrantInnengruppen. Innerhalb der USA ist ihre Sichtbarkeit jedoch meist negativ konnotiert und mit ihrer Kategorisierung als „nicht-weiß“ eng verknüpft: Laut dem Bericht des Federal Bureau of Justice Statistics (zit. in: Robinson 2007) ist die Wahrscheinlichkeit, dass Weiße, AfroamerikanerInnen und LateinamerikanerInnen verdachtsunabhängig einer Verkehrskontrolle unterzogen werden, zwar gleich groß; schwarze FahrerInnen werden jedoch doppelt so oft festgenommen als weiße, die Autos von Schwarzen und LateinamerikanerInnen mehr als doppelt so oft durchsucht, als von Weißen, während LateinamerikanerInnen öfter als Weiße und Schwarze einen Strafzettel
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bekommen. Im Hinblick auf racial pro¿ling bedeutet das, dass sich das Spektrum kriminalisierten Verhaltens von „driving while black“ auf „driving while brown“ erweitert hat. Im Hinblick auf das starke Wachstum der lateinamerikanischen Bevölkerung in den USA der letzten drei Jahrzehnte und ihre Binnenmigration in traditionell „weiße“, Mittelschicht geprägte und monolingual englischsprachige Bundesstaaten, wo Nicht-Weiße einer mehr als zehnfachen Verfolgungsintensität ausgesetzt sind, als „Einheimische“ (vgl. Mucchetti 2005), prä¿guriert sich damit das Erstarken einer Diskriminierungsstruktur, die sich nach wie vor der Rhetorik des RassenkonÀikts bedient (vgl. dazu auch Boatcă/Neudecker 2006). 3.2 Deutschland: Einwanderungsland wider Willen In Deutschland hingegen, wo sowohl der politische als auch der wissenschaftliche Diskurs lange Zeit die Bezeichnung „Einwanderungsland“ vermieden haben, und wo der Begriff „Rasse“ aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit unterthematisiert und untertheoretisiert3 bleibt, vollzieht sich eine zentrale Dimension von Diskriminierung nach wie vor entlang der Unterscheidungsachse Inländer vs. Ausländer. Geläu¿ge Bezeichnungen wie „Ausländerpolitik“, „Ausländerfragen“ und „Ausländerfeindlichkeit“, die wichtige Problembereiche der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit ethnischen Minderheiten benennen sollen, tragen durch die Dichotomisierung von Differenz zwischen Eigen und Fremd nicht nur dazu bei, den sozialen und historischen Kontext von Einwanderung als Prozess auszuklammern (vgl. Geißler/Meyer 2008: 232 f.), sondern laden auch ihre Konsequenzen einer homogenisierten und als Gegenpol zum Inländer konstruierten Ausländer¿gur auf. Diese trägt somit nicht nur das Stigma ethnischer Andersheit, sondern auch das des kulturell-normativen Mängelwesens, dem, wie im Falle der rassi¿zierten MigrantInnen in den USA, durch die sprachliche Abweichung von der mehrheitsgesellschaftlichen Norm – als mangelnde Kompetenz statt als Zusatzquali¿kation interpretiert – eine generelle Tendenz zur Normabweichung und dadurch zur Kriminalität unterstellt wird.
3 Bekanntlich bestätigen Ausnahmen die Regel. Zu neueren kritischen Auseinandersetzungen mit Rasse und Rassismus im deutschen Kontext sowie in vergleichender Perspektive vgl. Costa 2007, Ha 2007, Dietze et al. 2009. Wenngleich die Diskussion um Rassismus sich mittlerweile auch in Deutschland eines regen Interesses erfreut, gilt das nicht für den Begriff „Rasse“, der in deutschsprachigen Texten nach wie vor entweder in Anführungszeichen gesetzt oder mit Hilfe des englischen Terminus „race“ vermeintlich von seinen nationalsozialistischen Konnotationen abgegrenzt wird. Damit ergibt sich die paradoxe Situation, dass als akut wahrgenommene Phänomene wie Rassismus und soziale Prozesse wie Rassi¿ zierung sich scheinbar gegenstandslos ereignen, da ihre Grundkategorie unaussprechlich bleibt.
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Für die Mehrzahl der deutschen Massenmedien ist das Klischee vom „kriminellen Ausländer“ – eindeutig männlich besetzt – seit geraumer Zeit „die dominante Facette des Ausländerbildes“ (Geißler/Meyer 2008: 348) und der vergleichsweise höhere Ausländeranteil an der Begehung von Straftaten in Deutschland eines der hartnäckigsten Vorurteile. Zwar gelten im öffentlichen, vor allem polizeilichen Kriminalisierungsdiskurs ab der Mitte der 80er Jahre verschiedene Themenkreise als „Ausländerproblem“ – von den Kampagnen gegen Rauschgift, über die organisierte Kriminalität bis neuerdings zu dem „Sicherheitsverlust“ nach der Öffnung der Grenzen in Westeuropa. Im Wesentlichen geht es aber bei diesem Diskurs immer um die Herstellung von (nationalstaatlicher) Ordnung – insbesondere nach dem 11. September um Forderungen nach intensiverer sozialer Kontrolle – und sein Tenor ist die (massenmedial und politisch geschürte) Angst. Die allgemeine Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung, deren Verlauf subjektiv und unabhängig von der tatsächlich auftretenden Gewaltkriminalität ist (vgl. Lamnek 2000: 255), wird im Falle der Ausländerkriminalität durch die Angst, die vor „dem“ Ausländer als dem kulturell Anderen ausgeht, potenziert und durch die „ereignisorientierte“ (Butterwegge 2002: 6), d. h. strukturelle Zusammenhänge mißachtende Berichterstattung bestätigt: „Thematisieren die Massenmedien beide Problematiken (Ausländer und Kriminalität) in einem Atemzug, so lässt sich die Präokkupation mit dem Thema Gewaltkriminalität leicht verstehen. Fatal ist, dass die Ausländer, die in besonderem Maße zu Opfern von Gewalt durch Deutsche werden, implizit in eine neue Rolle geraten: Der Kampf gegen Gewaltkriminalität wird zu einem Kampf gegen Ausländer, obwohl bei den Gewalthandlungen, die die Emotionen der Öffentlichkeit besonders in Wallung gebracht hatten, Ausländer die Opfer der Gewalt waren.“ (Albrecht 2001: 24)
Aus dem Einwanderungsproblem, auf das von seiten der (nachweisbar) deutschen Bevölkerung teilweise mit Ablehnung, Diskriminierung und gewalttätigen Ausschreitungen reagiert wurde, wird somit ein „Einwandererproblem“. Ähnlich wie in den USA lassen sich die dabei eingesetzten Diskriminierungsstrategien anhand des konstruierten Gegensatzes zwischen gelungener Integration einerseits und ordnungsgefährdender Kriminalität andererseits aufzeigen: In der polizeilichen Kriminalstatistik wurden zwischen 1953 und 2001 Daten über bekannt gewordene Straftaten „deutscher“ und „nicht-deutscher“ Tatverdächtiger gesondert erfasst, allerdings ohne bei letzteren zwischen der Wohnbevölkerung – zu der auch MigrantInnen in der 3. Generation oder solche mit doppelter Staatsbürgerschaft gehören – und den vorübergehend in Deutschland lebenden Personen – also Illegale, ArbeitsmigrantInnen, AsylbewerberInnen, Durchreisende, GrenzpendlerInnen, TouristInnen usw. – zu differenzieren. Nachdem 2001 erstmals Daten über die Aufenthaltsdauer nichtdeutscher Tatverdächtiger für Bayern und Niedersachsen in
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die PKS aufgenommen wurden (BKA 2001: 124), sind seit 2002 auch differenzierte Angaben zur Verteilung nichtdeutscher Verdächtige nach dem Aufenthaltsgrund für das gesamte Bundesgebiet aufgeführt. Dass die PKS Tatverdächtigenzahlen, keine Täterzahlen, enthält – d. h., es werden nur Personen erfaßt, gegen die im Berichtsjahr ermittelt wird (vgl. BKA 2008: 10) – fällt im Falle der „Ausländer“ besonders schwer ins Gewicht, wenn man bedenkt, dass sie einer erhöhten Verfolgungsintensität ausgesetzt sind und aufgrund ihrer Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur ohnehin öfter polizeiauffällig werden: Im multiethnischen Segment be¿nden sich nämlich mehr männliche, mehr jüngere und kaum alte Menschen, zudem leben sie häu¿ger in Großstädten, wo eine breitere Opportunitätsstruktur bei der Begehung von Delikten vorhanden ist, und sie gehören häu¿g den sozialen Randschichten an (vgl. BKA 2008: 105). Hinzu kommen die ausländerspezi¿schen Delikte, wie Straftaten gegen das Ausländer- und das Asylverfahrensgesetz bzw. das Freizügigkeitsgesetz/EU, die de¿nitionsgemäß von Deutschen nicht begangen werden können, bei denen NichtStaatsbürgerInnen dagegen überproportional vertreten sind. Für 2008 verringert sich somit der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtige von 96,0 % auf 18,9 %, wenn die ausländerspezi¿schen Verstöße herausgerechnet werden (vgl. BKA 2008: 105). Bei Berücksichtigung von Alters-, Regional- und Schichtungseffekten des multiethnischen Segments reduziert sich der AusländerInnenanteil an der Gesamtkriminalität derart, dass die 9 % „Nichtdeutsche“ in der deutschen Bevölkerung letztendlich unterproportional gegen das Gesetz verstoßen (vgl. Geißler 2001: 29). Nichtsdestotrotz ist das Stereotyp des „kriminellen Ausländers“ ein wichtiger Indikator für die allgemeine Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung und als solcher ein fester Bestandteil des Sicherheits- und Ordnungsdiskurses.4 Zuschreibungen und Ausgrenzungen, durch den Sprachgebrauch begünstigt, werden aus dem öffentlichen Bewusstsein in Handeln überführt, das auf individueller wie institutioneller Ebene statt¿ndet. Diesen Prozess sozialer Ausschließung des „Fremden“ und gleichzeitiger sozialer Schließung des „Eigenen“ treiben die Medien als „primäre De¿ nierer“ und Bindeglieder zwischen institutionellem, pseudowissenschaftlichem und Alltagsrassismus (vgl. Butterwegge 2002) parallel dazu durch Bedrohungsszenarien über Drogenkartelle, Bandenkriege, Asylbetrug, Menschenhandel – und neuerdings (wieder) Terrorismus – voran. Eine diskursanalytische Untersuchung von sechs auÀagestarken Printmedien über einen Zeitraum Die kritische Hinterfragung der PKS-Zahlen darf natürlich die tatsächliche Kriminalität der ausländischen Bevölkerung nicht verharmlosen. Dem Befund, dass z. B. Arbeitsmigranten deutlich gesetzestreuer sind als Deutsche mit einem vergleichbaren Sozialpro¿l (vgl. Geißler/Meyer 2008: 348) stehen Ergebnisse zum starken Anstieg der Kriminalität junger Migranten seit der Mitte der 90er Jahre (Pfeiffer/Wetzels 2001) gegenüber. Das Sozialpro¿l statt der Nationalität als Ordnungskriterium zu verwenden würde allerdings eine differenzierte Erfassung der Kriminalitätsentwicklung ermöglichen. 4
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von drei Monaten ergab, dass sich die Berichterstattung über ausländische StraftäterInnen markant von derjenigen über TäterInnen deutscher Herkunft unterscheidet (vgl. Jäger et al. 1998). Während bei den „Inländer-Artikeln“ die Nationalität nicht explizit genannt und der Personenschutz durch Verwendung von Namenskürzeln, Beruf und Alter gewahrt wird, sind Verweise auf Nationalität, Herkunft und (mangelnde) Deutschkenntnise, oft auch Fotos, die das „fremde“ Aussehen belegen, fester Bestandteil der Berichte über ausländische TäterInnen. Die Beweggründe für die Tat werden im Falle deutscher StraftäterInnen hinterfragt und die Strategie der Resozialisierung zur Sprache gebracht; bei den ohnehin als viel brutaler und gefährlicher dargestellten Straftaten ausländischer TäterInnen, deren mehrfache Straffälligkeit besonders betont und in Zusammenhang mit der sich ausbreitenden organisierten Kriminalität gebracht wird, ist es meist die Perspektive der Polizei und des Gerichts, nicht die „des“ Täters, die eingenommen wird. Kritiker dieser differenzierenden und diskriminierenden Behandlung bei gleichzeitiger Verwendung undifferenzierter Terminologie haben deshalb wiederholt betont, das Ausländerkonzept erfasse „nur noch einen immer kleiner werdenden Ausschnitt aus dem multiethnischen Segment; Ausländer-Statistiken und Studien über Ausländer bilden die wirklichen Quantitäten und Vorgänge im multiethnischen Segment immer unzureichender ab. Der Ausländerbegriff ist ein Auslaufmodell, dem die soziale Wirklichkeit davonläuft. Zudem haften dem Ausländerbegriff zum Teil ethnozentrische, integrationshemmende Nebenbedeutungen an: Er akzentuiert das Fremde und einen minderen Rechtsstatus, er betont stark das ‚Nichtdazugehörende‘, das ‚Ausgrenzende‘“ (Geißler/Meyer 2008: 233).5 Was allerdings die Integration in erheblichem Maße hemmt, sind nicht nur die Nebenbedeutungen des sozialwissenschaftlichen und amtlichen Ausländerkonzepts, sondern auch, und insbesondere, die diskriminierenden und Hierarchie verfestigenden Auswirkungen des Integrationskonzepts selbst: Dass Deutschland seit den 1960er Jahren zu einem Einwanderungsland für ArbeitsmigrantInnen, (Spät)AussiedlerInnen, Flüchtlinge und Illegale geworden ist, stand lange Zeit im Widerspruch zum Fehlen einer kohärenten Integrationspolitik und einer systematischen Beschäftigung mit den auftretenden Integrationsproblemen. Die heutige Haltung eines „Einwanderungslandes wider Willen“ (Geißler/Meyer 2008: 237) macht sich hingegen in einer Integrationspolitik bemerkbar, die als Erziehungsund Bildungsauftrag gegenüber Eingewanderten konzipiert ist und damit Dominanzverhältnisse und Diskriminierungspraktiken am Nationalisierungsgrad festmacht (vgl. Gutiérrez-Rodríguez 2003: 161 ff.; Ha 2009: 138). Eine Politik, die Integrationskurse nur für StaatsbürgerInnen von Nicht-EU-Ländern für zwingend erklärt und negative rechtliche Sanktionen – die bei „mangelndem Integrations-
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Hervorhebung im Original
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willen“ von der Verweigerung der Staatsbürgerschaft bis zur Ausweisung reichen können – ausschließlich für diese vorsieht, macht aus der EU-Angehörigkeit ein Differenzierung- und Diskriminierungskriterium, das, wie im Falle der „guten“ und „schlechten“ Latinos und Latinas in den USA, systematisch zwischen „guten“ und „schlechten“ MigrantInnen in der EU unterscheidet: „Indem zwanghaft über die Notwendigkeit der einseitigen Integration des Anderen gesprochen wird, kann Integration als ein öffentlich zelebriertes Glaubensbekenntnis des eigenen guten Willens, der deutschen Offenheit wie der moralischen Überlegenheit westlicher Demokratien instrumentalisiert werden. Gleichzeitig scheinen im of¿ziellen Integrations(dis)kurs soziale Realitäten wie struktureller Rassismus, institutionelle Diskriminierungen und sozio-kulturelle Ausgrenzungen durch die deutsche Gesellschaft wenig relevant […] Soziale Ungleichheiten und Ausgrenzungen werden letztlich als ein kleines Missverständnis banalisiert, das auf die fehlenden Deutschkenntnisse der Eingewanderten zurückzuführen sei.“ (Ha 2009: 141)
Die daraus resultierende Pathologisierung unerwünschter MigrantInnen als integrationsbedürftige Fremdkörper im homogenen nationalen Ganzen bedient sich somit derselben Bilderwelt wie die kolonialen Praktiken des 19. und 20. Jahrhunderts, die koloniale Subjekte als von „Natur“ aus kriminell und infantil, und deshalb zivilisierungs- und korrekturbedürftig konstruierten. Das vornehmlich am Abstammungsprinzip orientierte deutsche Staatsbürgerschaftsrecht stellt dabei einen Versuch dar, Nationalstaatlichkeit dadurch aufrechtzuerhalten, dass Einwanderungsprozesse als im Zeitverlauf punktuell und zahlenmäßig unbedeutend aufgefasst werden – im Gegensatz zur dauerhaft und zahlenmäßig dominanten einheimischen Bevölkerung. Daran ändert auch das seit 2000 bestehende und auf dem Territorialprinzip basierende „Optionsmodell“ für Migrantenkinder nichts, da es sie letztendlich doch zur Entscheidung für eine einzige Staatsbürgerschaft zwingt und damit die Idee der Loyalität zu einem Nationalstaat wieder verfestigt. Die komplexe Einwanderungssituation des vereinten Deutschlands wird durch die meisten amtlichen Bevölkerungsstatistiken, in denen, wie in der polizeilichen Kriminalstatistik, ebenfalls nach Staatsbürgerschaft klassi¿ziert wird, nur unzureichend erfasst: die unterschiedlichen Migrations- und Rezeptionskontexte mehrerer Generationen von AussiedlerInnen, die bei der Einreise in die Bundesrepublik die Staatsbürgerschaft erhalten haben, werden dadurch ausgeblendet, diejenigen von ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlingen hingegen nicht thematisiert. Aus dieser Ausklammerung resultiert nicht nur historische Blindheit gegenüber postkolonialen Migrationsbewegungen, politisch und wirtschaftlich motivierten Änderungen von Einwanderungsregimes und Arbeitsmarktpolitik, sondern auch eine systematische Reproduktion der Dichotomisierung „Aus- vs. Inländer“ für jede Generation aufs Neue.
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Für die hier besprochenen Beispiele USA und Deutschland – und darüber hinaus für alle Einwanderungsgesellschaften – gilt es deshalb, zu beachten, dass MigrantInnen niemals an einem neutralen, geschichtsfreien Nationalterritorium ankommen, sondern meist in metropolitanen Räumen „that are already polluted by a colonial history, a colonial imaginary, colonial knowledges, a racial/ethnic hierarchy linked to a history of empire“ (Grosfoguel/Maldonado-Torres/Saldívar 2005: 8). Die VerÀechtung globaler und lokaler Diskriminierungsstrategien bedarf deshalb einer historischen Analyseperspektive, welche die Funktion und die Strukturmerkmale der Inklusions-/Exklusionslogik der Moderne als ein System, das sowohl den Anspruch des Universalismus institutionalisiert, als auch die Institutionen seiner systematischen Verhinderung universalisiert hat, zu berücksichtigen vermag. Literatur Albrecht, Günther (2001): Einleitung: Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität. In: ebd. (Hrsg.): Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität. Frankfurt, S. 9–67 Bauman, Zygmunt (1991): Moderne und Ambivalenz, in: Bielefeld, Uli (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde: neuer Rassismus in der alten Welt? Hamburg, S. 23–49 Bauman, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg Beck, Ulrich (1995): Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reÀexiven Moderne. In: Ders.: Die feindlose Demokratie. Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart, S. 131–162 BKA (2001): Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2001, http://www.bka. de/pks/pks2001/index2.html, letzter Zugriff 25.10.2009 BKA (2008): Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2008, http://www. bka.de/pks/pks2008/download/pks2008_imk_kurzbericht.pdf, letzter Zugriff 25.10.2009 Boatcă, Manuela (2003): Die diskursive Macht von Zuschreibungen. Zur Irrfahrt unumstrittener Ergebnisse der Gewaltdebatte. In: Fuchs, M./Luedtke, J. (Hrsg.): Devianz und andere gesellschaftliche Probleme. Opladen, S. 111–130 Boatcă, Manuela (2009): Lange Wellen des Okzidentalismus. Ver-Fremden von Gender, Rasse und Ethnizität im modernen Weltsystem. In: Dietze, G./Brunner, C./Wenzel, E. (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld, S. 233–250 Boatcă, Manuela/Neudecker, Claudia (2006): Einleitung. Eine interdisziplinäre Sicht auf Dimensionen der Fremdheit. In: Boatcă, M./Neudecker, C./Rinke, S. (Hrsg.): Des Fremden Freund, des Fremden Feind. Fremdverstehen in interdisziplinärer Perspektive. Münster, S. 13–36 Bonß, Wolfgang (2002): Riskantes Wissen? Zur Rolle der Wissenschaft in der Risikogesellschaft, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Gut zu Wissen. Links zur Weltgesellschaft, S. 114–130
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Geschlechtsbezogene Diskriminierung bei der Entlohnung Thomas Hinz und Katrin Auspurg
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Equal Pay und Diskriminierung
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – mit diesem Slogan wird die politische Forderung nach Beseitigung jeglicher Ungleichbehandlung gleicher Arbeitsleistungen propagiert. Der Slogan stammt aus den 1970er und 1980er Jahren und bezog sich in Deutschland vor allem auf die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen, in den USA ebenso auf die Unterschiede zwischen weißen und farbigen Amerikanern. Die ungleiche Entlohnung von Personen, welche gleiche Arbeitsleistung erbringen, ist in Deutschland wie in den USA und vielen anderen Staaten seit Jahrzehnten gesetzlich verboten (Ramirez 2001). Dennoch reißt die Diskussion über eine mögliche geschlechtsbezogene Diskriminierung nicht ab, wie der seit 2008 europaweit begangene „Equal Pay Day“ belegt. Der Aktionstag, der in Deutschland im Jahr 2009 auf den 20. März ¿el, markiert den Zeitraum, den Frauen ab Jahresanfang länger arbeiten müssen als Männer, um auf das gleiche mittlere Jahresgehalt zu kommen. Dieses im öffentlichen Diskurs verbreitete Konzept von Lohnungleichheit nimmt den empirisch beobachteten, mittleren Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen zum Anlass, Lohndiskriminierungen festzustellen. Dabei wird ausgeblendet, dass eine ganze Reihe von Faktoren den beobachteten Lohnunterschied beeinÀussen: die nach Geschlecht unterschiedlichen Arbeitszeiten, die differenten Berufe (Roos/Gatta 1999), die unterschiedlich langen Erwerbskarrieren (Fitzenberger/Schnabel/Wunderlich 2004), die verschieden häu¿gen Unterbrechungen für Familienphasen (Beblo/Wolf 2003) und die differenten Platzierungen in den Hierarchien der Unternehmen (Lazear/Rosen 1990). Vergegenwärtigt man sich diese Faktoren, ist sofort ersichtlich, dass Ungleichheit und Diskriminierung auseinander gehalten werden müssen. Im engeren und juristischen Sinn liegt Lohndiskriminierung nur dann vor, wenn die Ungleichheit in der Entlohnung auch bei Berücksichtigung all dieser Umstände noch existiert, also Arbeitnehmer mit gleicher Leistung und Arbeitsmarktposition verschieden entlohnt werden. Auch wenn sich dies nach einer leichten Übung anhört, wird der vorliegende Beitrag herausarbeiten, wie schwer in der Praxis der empirische Nachweis dieser Form von Diskriminierung fällt.
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In einer erweiterten Perspektive geraten auch Prozesse, die der Lohnungleichheit vorgelagert sind, in den Verdacht, diskriminierend zu sein. Dies sind der Lohnbildung vorgeschaltete Entscheidungen von Akteuren im Arbeitsmarkt sowie institutionelle Regelungen, welche die Lohnbildung nachhaltig beeinÀussen. Zu den Entscheidungen gehören die Ausbildungs-, Studienfach- und Berufswahl sowie Arbeitszeitpräferenzen auf der Seite des Arbeitsangebots sowie die Einstellungs- und Beförderungspraxis von Unternehmen auf der Nachfrageseite. Aus diesen Entscheidungen können Lohnunterschiede folgen, etwa wenn im höheren Management ausschließlich Männer eingestellt werden oder wenn sich Frauen auf wenige, mehrheitlich von Frauen ausgeübte Berufe konzentrieren, in denen dann aufgrund der hohen Arbeitsnachfrage oder auch aufgrund einer Abwertung der Tätigkeiten geringere Löhne bezahlt werden (England/Hermsen/Cotter 2000). Zu den Institutionen des Arbeitsmarkts gehören rechtliche und organisationale Regelsysteme, welche etwa Einstufungen in Tarifgruppen, Erschwerniszulagen und Beförderungswege in höhere Hierarchiestufen festlegen (Baron/Newman 1990). Speziell die Debatte um „gleichen Lohn für vergleichbare Arbeit“ (comparable worth; England 1992) fragt nach den Ursachen für Lohnunterschiede zwischen Berufsgruppen, die bei ähnlichem Quali¿kationsniveau unterschiedliche Entgelte erhalten. Neuere Forschungen zeigen etwa für Deutschland, dass frauentypische Studienfächer an Universitäten und Fachhochschulen mit niedrigeren Verdienstchancen einhergehen als männerspezi¿sche Fächer (Leuze/Strauß 2009). Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Diskriminierung im engeren Sinn, ohne die Aspekte der Diskriminierung im erweiterten Sinn aus den Augen zu verlieren. Zunächst stehen in Abschnitt 2 wichtige theoretische Positionen zur Erklärung von Diskriminierung im Mittelpunkt. Anschließend werden zentrale methodische Schritte zur Untersuchung von Lohndiskriminierung diskutiert (Abschnitt 3). Ein kurzer Blick auf die empirische Lage in Deutschland unterstreicht, wie wenig gesicherte Erkenntnisse über die komplexen Wirkungszusammenhänge bislang vorliegen und wie sehr die Diskussion von Spekulationen geprägt ist (Abschnitt 4). Der letzte Abschnitt liefert einen Ausblick auf experimentelle Untersuchungsmethoden und resümiert abschließend die Frage, ob die Akteure trotz des rechtlichen Verbots diskriminierenden Urteilsregeln folgen (Abschnitt 5). 2
Theoretische Positionen
Die meisten theoretischen Abhandlungen zur Erklärung von Diskriminierung im Arbeitsmarkt nehmen Bezug auf Gary S. Beckers Dissertationsschrift „The Economics of Discrimination“ (1971, zuerst 1957). Becker analysiert mittels eines neoklassischen Arbeitsmarktmodells den Spielraum für Ungleichbehandlungen
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von Angehörigen bestimmter Gruppen, sofern diese rein auf Vorurteile der diskriminierenden Akteure zurückgehen. Aus den Vorurteilen erwachsen Präferenzen, Angehörige einer bestimmten Gruppe zu bevorzugen, ihnen etwa einen höheren Lohn als den Marktlohn zu bezahlen. Neben dem ökonomischen Pro¿t, den alle rationalen Akteure anstreben, gehen diese Vorlieben oder Abneigungen für bestimmte Gruppen in die Nutzenfunktionen der Akteure ein. Dabei können Arbeitgeber genauso wie Kunden oder Mitarbeiter als diskriminierende Akteure auftreten. Um spürbare Lohndifferenzen, etwa zwischen Männern und Frauen, auszulösen, muss die Gruppe der Akteure mit diskriminierenden Präferenzen hinreichend groß sein bzw. eine hinreichend große Marktmacht besitzen. Eine Folgerung aus dem Modell lautet auch, dass in funktionierenden Wettbewerbsmärkten diskriminierende Akteure wegen der anfallenden Diskriminierungsprämie langfristig nicht überleben werden: Die diskriminierenden Akteure leisten sich höhere Lohnkosten als die nicht-diskriminierende Konkurrenz, was sie auf Dauer aus dem Markt drängen sollte. Diese theoretische Prognose steht im Spannungsfeld zu vielen empirischen Ergebnissen, wonach in Marktwirtschaften auch bei Berücksichtigung der Heterogenität der Akteure eine klare Bevorzugung oder Benachteiligung von Gruppen zu beobachten ist.1 Während von Becker die Ursachen für die Vorurteile nicht weiter thematisiert werden und ihre Erklärung an die Sozialpsychologie delegiert wird, muss man davon ausgehen, dass die Präferenzen sich entlang von ökonomischen Gruppeninteressen entwickeln. Sie können somit nicht einfach als gegeben bzw. „exogen“ vorausgesetzt werden (Mueser 1989) – auch in dieser Hinsicht gilt das Modell als zu abstrakt. Eine zweite, ebenso prominente theoretische Begründung für Diskriminierung liefert die These der statistischen Diskriminierung (Arrow 1974, Phelps 1972). Die Ursache für ein diskriminierendes Verhalten wird in diesem Konzept auf das Problem unvollständiger Information zurückgeführt. Arbeitgeber beurteilen Arbeitnehmer, die sich in distinkte Gruppen (in unserem Fall Männer und Frauen) einteilen lassen, wegen ihrer schwer absehbaren tatsächlichen Qualitäten nach der leicht zugänglichen Information über ihre Gruppenzughörigkeit. Statistische Eigenschaften der Gruppenmitgliedschaft dienen als Annäherungswert für nicht oder nur schwer beobachtbare Eigenschaften von Individuen, wie etwa ihre zu erwartende Verbleibsdauer im Betrieb und damit die Einträglichkeit von umfangreichen Einarbeitungen. Den Individuen wird also der statistische Erwartungswert der Gruppe, der sie angehören, zugeschrieben. Insbesondere bei Einstellungsentscheidungen sowie bei unternehmensseitigen Investitionen in betriebsspezi¿sches Humankapital müsste aufgrund des hier stärkeren Informationsproblems die Diskriminierung kann unter bestimmten Konstellationen auch extrem pro¿tabel sein. Man denke nur an die Sklaverei. Auch in liberalen Marktgesellschaften ¿ nden sich viele empirische Belege für institutionalisierte Diskriminierungen.
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statistische Diskriminierung eine Rolle spielen. Die statistische Diskriminierung setzt – wenn sie ef¿zient eingesetzt wird – eine Art Teufelskreis in Gang. Gerade weil Frauen wissen, dass Arbeitgeber in dieser Weise mit fehlenden Informationen umgehen, sie also im Schnitt bei Einstellungen und Beförderungen benachteiligt werden, haben sie weniger Anreize, in ihre allgemeinen und betrieblichen Quali¿kationen zu investieren, und werden eher solche Berufe anstreben, in denen Informationsprobleme über die zu erwartende Performanz selten sind. Beides prädestiniert sie dann wieder für familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und einen Ausschluss von teuren Weiterbildungsmaßnahmen und bestärkt generell die statistischen Erwartungen der Arbeitgeber über ihre Gruppe. In engem Zusammenhang mit den Lohnunterschieden und einer zu erwartenden statistischen Diskriminierung stehen die Entscheidungen von Frauen, überhaupt am Arbeitsmarkt teilzunehmen, und die Entscheidungen für ein bestimmtes Berufsfeld, in dem sie Quali¿kationen erwerben.2 In dieser Hinsicht ist die über das Arbeitsverhältnis hinausweisende Arbeitsteilung in Haushalten und Familien von Bedeutung (Blau/Ferber/Winkler 2006; England/Farkas 1986). Wenn Haushalten durch eine Spezialisierung Vorteile entstehen, dann erklärt sich auch, warum Frauen weniger als Männer zeitaufwendige Berufsausbildungen anstreben und beruÀiche Karrieren verfolgen. Die geschlechtsspezi¿sche Arbeitsteilung in Haushalten und Familien befördert somit auch den geschlechtsspezi¿schen Lohnunterschied. Ob allerdings damit eine Diskriminierung im engeren Sinn einhergeht, ist zu bezweifeln. Betrachtet man die Entscheidungsmacht der Arbeitgeber, dann bietet sich die Unterscheidung von drei Erscheinungsformen der Diskriminierung an (Petersen 2009). Erstens spricht man wenn im gleichen Job bei gleicher Quali¿kation unterschiedliche Löhne gezahlt werden von einem within-job wage gap. Solche Lohnunterschiede sind zumindest in Ländern wie den USA, Schweden und Norwegen (Petersen/Morgan 1995, Peterson/Meyersson Milgrom/Snartland 2003, Petersen/Snartland/Becken/Olsen 1997) sehr selten, da ein entsprechender Nachweis als relativ einfach gilt und die Sanktionen hoch sind. Die zweite Diskriminierungsform seitens der Arbeitgeber stellt die allokative Diskriminierung dar. Arbeitgeber sortieren ihre Beschäftigten auch bei gleicher Quali¿ kation in unterschiedliche Positionen, die mit differenten Karriereoptionen verbunden sind. Drei Prozesse der Allokation können dabei differenziert werden: (a) Rekrutierung bzw. Einstellung, (b) Beförderung und (c) Entlassung (Petersen/ Saporta 2004). In rechtlicher Sicht sind das Rekrutierungs- und Einstellungsverhalten am schwierigsten zu beurteilen. Sofern Informationsprobleme von Bedeutung sind, greift bei der allokativen Diskriminierung die Logik der bereits geschilderten statistischen Diskriminierung. Somit wäre zu erwarten, dass allokative Diskrimi2 Die „Entscheidungen“ von Frauen und Männern sind abhängig von einer „invisible hand of the kind of things […] – culture, jobs, society – the kind of things sociologists call ‚structure‘“ (Stone 2007: 112).
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nierung im Arbeitsmarkt eher am Anfang des Berufslebens praktiziert wird, wenn wichtige Informationen über die Performance der Arbeitnehmer noch fehlen. Das Pro¿l der Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen sieht jedoch genau anders aus: Zu Beginn des Berufslebens klaffen die Löhne von Männern und Frauen weniger weit auseinander als zu späteren Karrierezeitpunkten (Cornelißen 2005: 204 ff. für Deutschland). Hierfür werden vor allem die bei Frauen häu¿geren Erwerbsunterbrechungen verantwortlich gemacht (Beblo/Wolf 2003). Insgesamt greifen also angebots- und nachfrageseitige Faktoren ineinander. Drittens können institutionelle Regelungen zur Arbeitsbewertung (Einstufung, Erschwernis- und Gefährdungszuschläge, etc.) eine diskriminierende Wirkung haben, wenn sie Berufe, die – bei ähnlichen Quali¿ kationsvoraussetzungen – überwiegend von Frauen ausgeübt werden, schlechter stellen. Man spricht von evaluativer Diskriminierung (Petersen 2009). Die Diskriminierung ist in diesem Fall mittelbar, weil etwa bestimmte beruÀiche Positionen, aber eben nicht Frauen oder Männer, benachteiligt oder bevorzugt werden. Die geschlechtsspezi¿schen Lohnunterschiede sind also insgesamt durch ein Zusammenspiel verschiedener Arten von Diskriminierung beeinÀusst. Die hier vorgestellten Ansätze widersprechen sich nicht, sie können sich im Gegenteil ergänzen oder sogar wechselseitig verstärken. Was wir noch nicht wissen: Gibt es angesichts der beobachteten Lohnunterschiede Belege oder zumindest Anzeichen für einzelne Formen der Diskriminierung im deutschen Arbeitsmarkt? Im folgenden Abschnitt steht die dominierende Analysestrategie, um Lohnunterschiede mit Diskriminierung in Verbindung zu setzen, im Zentrum der Aufmerksamkeit: die Regressionsanalyse von Einkommensdaten in einem ex-post-facto Design. 3
Analyse und Interpretation von Einkommensdaten
In der umfangreichen empirischen Literatur zum geschlechtsspezi¿schen Lohnunterschied (Überblicke bei Darity/Mason 1998, Altonji/Blank 1999, Blau/Ferber/ Winkler 2006) ist meistens die so genannte Mincer-Gleichung der Ausgangspunkt für die Datenanalyse (Mincer 1974). Zentral ist die Idee, Arbeitsmarktergebnisse in Form der Bruttoentlohnung (standardisiert auf eine sinnvolle Zeiteinheit wie Tages- oder Stundenlohn) durch Humankapitalvariablen zu erklären. Dazu wird eine Regression mit der abhängigen Variablen Bruttoeinkommen und den unabhängigen, „erklärenden“ Variablen Quali¿kation und Berufserfahrung (als Indikatoren für das Humankapital) geschätzt. Damit sind problematische Annahmen und eine wichtige Einschränkung verbunden: Zunächst wird unterstellt, dass das Lohnniveau von der Produktivität abhängt. Kritisch ist dann vor allem, dass diese Produktivität ausschließlich durch die Investitionen in Humankapital gemessen wird. Weiterhin wird angenommen, dass eine unverzerrte Zufalls-
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stichprobe der Beschäftigten mit Angaben zu ihren Bruttolöhnen, Arbeitszeiten, Berufserfahrungen und Quali¿kationen vorliegt. Dies ist in vielen empirischen Studien nur mit Einschränkungen tatsächlich der Fall (vgl. etwa die Diskussion in Hinz/Gartner 2005). Die wichtigste Limitation besteht aber sicher darin, dass lediglich ein Ausschnitt des Arbeitsmarktgeschehens betrachtet werden kann – nämlich der Lohn der Erwerbstätigen (Diekmann/Engelhardt/Hartmann 1993). Insbesondere die Entscheidung über die Partizipation am Arbeitsmarkt, aber auch die zuvor diskutierten Formen der allokativen und evaluativen Diskriminierung und ihr EinÀuss auf die Lohnstruktur bleiben unweigerlich außen vor. Dennoch handelt es sich um das am meisten verbreitete Analyseverfahren zur Aufdeckung von Lohndiskriminierung. Um den EinÀuss des Geschlechts auf die Entlohnung zu bestimmen, wird in die Mincer-Gleichung zusätzlich zu den Bestandteilen des Humankapitals das Geschlecht als unabhängige Variable aufgenommen und deren EinÀuss (genauer ihr Koef¿zient) als Indikator für das Ausmaß des geschlechtsspezi¿schen Lohnunterschieds – bei sonst gleichen Eigenschaften der Arbeitnehmer – gewertet. Dabei ist diese Interpretation davon abhängig, wie gut die beobachteten Humankapitalvariablen die Streuung der Löhne insgesamt erklären können. In vielen empirischen Studien ist der Anteil der durch das Regressionsmodell erklärten Varianz nicht allzu hoch. Anders ausgedrückt: Es spielen noch weitere, unbeobachtete Faktoren, etwa die Bereitschaft zu Überstunden, bei der Erklärung des Lohnniveaus eine Rolle. Liegt eine Korrelation dieser Faktoren mit dem Geschlecht vor, sind Interpretationen des Regressionskoef¿zienten für Geschlecht als Maß für die Ungleichbehandlung von „Gleichen“ nicht zulässig. In der Forschung werden verschiedene Verfahren zur Zerlegung des geschlechtsspezi¿schen Lohnunterschieds in möglichst aussagekräftige Bestandteile eingesetzt.3 An dieser Stelle soll nur die bekannteste Form, die so genannte Oaxaca-BlinderZerlegung (Blinder 1973, Oaxaca 1973) angesprochen werden. Den Ausgangspunkt für diese bilden für interessierende Gruppen (hier also Männer und Frauen) getrennt durchgeführte Regressionsschätzungen. Auf Basis dieser Schätzungen lässt sich dann genauer taxieren, wodurch die gruppenspezi¿sche Entlohnung bedingt ist. Von Interesse ist vor allem die Dekomposition des geschlechtsspezi¿schen Lohnunterschieds in zwei „hypothetische“ Bestandteile: Der Ausstattungseffekt gibt an, wie viel Männer weniger verdienen würden, wenn sie die gleiche Ausstattung in den beobachteten, unabhängigen Merkmalen wie Frauen hätten und diese Ausstattung wie die von Männern entlohnt würde. „Ausstattung“ umfasst also allein die im Modell abgebildeten Variablen – in der Mincer-Gleichung sind dies die beiden Humankapitalfaktoren Quali¿kation und Berufserfahrung. Der 3 Beispielsweise wird die Dekomposition von Juhn/Murphy/Pierce (1993) benutzt, um auch Veränderungen der Lohnverteilungen über die Zeit berücksichtigen zu können.
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Gruppeneffekt gibt die Unterschiede zwischen den Koef¿zienten zwischen Männern und Frauen an und weist damit aus, wie viel Frauen mehr verdienen würden, wenn ihre tatsächliche Ausstattung analog zu der von Männern entlohnt würde.4 Der Gruppeneffekt wird in der Literatur auch als Diskriminierungseffekt bezeichnet. Allerdings kann nur dann von Diskriminierung gesprochen werden, wenn die im Modell untersuchten Zusammenhänge nicht durch die bereits erwähnten unbeobachteten Faktoren (wie beispielsweise auch Krankheitstage, besuchte Fortbildungen) beeinÀusst werden. Darin liegt eine sehr weitreichende und kaum erfüllbare Annahme. Weiterhin besteht ein Problem darin, dass zumindest für die erwerbstätigen Frauen die Annahme einer Zufallsstichprobe verletzt sein dürfte (Heckman 1979, Diekmann/Engelhardt/Hartmann 1993). Es sind bekanntlich insbesondere gut quali¿zierte Frauen erwerbstätig (Fitzenberger/Schnabel/Wunderlich 2004), damit Frauen, die womöglich überdurchschnittlich (wenig) von Diskriminierungen betroffen sind. Die Handhabung dieses Stichprobenproblems ist komplex und soll hier dahingehend zusammengefasst werden, dass sich in jüngster Zeit nicht-parametrische Matching-Verfahren etablieren, die weniger Annahmen benötigen als Regressionsschätzungen und verlässlicher „Gleiches mit Gleichem“ in Beziehung setzten (Gangl/DiPrete 2004). Überdies muss man sich vergegenwärtigen, dass im dargestellten Regressionsansatz nur mittlere Lohnabstände der Gruppen betrachtet werden. Oft stehen aber Unterschiede in den unteren oder oberen Abschnitten der Lohnverteilungen im Mittelpunkt des Interesses (Giesecke/Verwiebe 2008). Für diese Problematik können wiederum andere ökonometrische Modelle (etwa Quantilsregressionen) eingesetzt werden, die aber allesamt das eingangs angesprochene Hauptproblem unbeobachteter Heterogenität nicht lösen können. Die Frage, ob eine Lohndiskriminierung der Geschlechter vorliegt, ist mit Einkommensdaten daher stets nur mit erheblichen Einschränkungen zu untersuchen. Der nächste Abschnitt berichtet dennoch eine auf Regressionsverfahren basierende Annäherung an den within-job wage gap in Deutschland. Das eingesetzte Verfahren bietet bislang eine bestmögliche empirische Umsetzung für Lohndiskriminierungen durch Arbeitgeber.
Anders ausgedrückt gibt der Ausstattungseffekt also an, welcher Anteil der Lohndifferenz durch unterschiedliche Humankapitalausstattungen zu erklären ist; der Gruppeneffekt dagegen, welcher Anteil auf die unterschiedliche Bewertung der Ausstattungen zurückgeht. Wie bereits angedeutet, sind in beiden Effekten nur die durch die Humankapitalvariablen erklärbaren Lohnunterschiede erfasst. Unterschiede, die durch ungemessene Eigenschaften bedingt sind, bleiben unweigerlich außen vor. 4
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Thomas Hinz und Katrin Auspurg Empirische Analyse zur Lohndiskriminierung in Deutschland
Wie ist angesichts der Lohnlücke zwischen den Geschlechtern, die sich nach den Berichten der Kommission der Europäischen Union (2007, 2009) in Deutschland derzeit auf 23 bis 24 Prozent geringere Durchschnittseinkommen für Frauen beläuft, ein empirischer Nachweis von Diskriminierung zu erbringen? Ein ähnlicher hoher Unterschied wird auch für Frauen in Führungspositionen in der Privatwirtschaft berichtet (Holst/Busch 2009). Auf der Basis von Daten des Sozio-ökonomischen Panels erklären unterschiedliche „Ausstattungen“ (Quali¿kation, Berufserfahrung) von Männern und Frauen nur ein Drittel des Lohnunterschieds in Führungspositionen. Sind die anderen zwei Drittel diskriminierenden Praktiken zuzuschreiben? Als geeigneter Maßstab kann allein ein Verfahren gelten, welches „Gleiches mit Gleichem“ vergleicht. Eine möglichst gute Umsetzung dieses Anspruchs mit Arbeitsmarktdaten bietet eine Methode, die zunächst für die USA und für skandinavische Länder zum Einsatz kam (Petersen/Morgan 1995). Die Idee besteht darin, Lohnunterschiede nur innerhalb von Branchen, Berufen, Betrieben und so genannten „Jobzellen“ zu betrachten. Eine Jobzelle beschreibt Personen, die im gleichen Betrieb im gleichen Beruf beschäftigt sind – und sich damit in vielen lohnrelevanten Merkmalen, wie der Branche, Betriebsgröße und konjunkturellen Lage des Unternehmens entsprechen. Wenn sich dann selbst bei Berücksichtigung von Quali¿kation und Berufserfahrung immer noch Unterschiede zwischen Männern und Frauen zeigen, ist dies ein deutliches Indiz für Lohndiskriminierung. Die empirische Umsetzung dieses Verfahrens für den deutschen Arbeitsmarkt ist ebenfalls voraussetzungsvoll und erfordert geeignete betriebs- und personenbezogene Daten.5 Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg ermöglicht mit dem LIAB-Datensatz (linked employer-employee data) entsprechende Auswertungen. An dieser Stelle berichten wir zusammenfassend die Analysen von Gartner/Hinz (2009). Die Ergebnisse beziehen sich aus verschiedenen technischen und inhaltlichen Gründen auf vollzeitbeschäftigte Personen in Westdeutschland, die Beiträge an die Sozialversicherung abführen. Abbildung 1 (s. u.) zeigt den relativen durchschnittlichen Lohn von vollzeitbeschäftigten Frauen in Westdeutschland im Zeitraum 1993 bis 2006. Diese lange Beobachtungszeit umfasst verstärkte gesetzliche Anstrengungen für ein europaweites Diskriminierungsverbot (EU Richtlinie 2000/78/Art. 2,1). Die Abbildung enthält vier Linien: Ganz unten ¿ ndet sich als Bezugspunkt die Situation im Gesamtarbeitsmarkt ohne Berücksichtigung irgendwelcher Unterschiede in der 5 Einen Überblick über verschiedene geschlechtsspezi¿sche Ungleichheitsdimensionen liefert eine Publikation der Projektgruppe „Geschlechterungleichheit im Betrieb“ (2010) der Hans-Böckler-Stiftung. Auf der Grundlage von Lohndaten, die in einem Online-Portal gesammelt wurden, analysieren Bispinck/Dribbusch/Öz (2009) geschlechtsspezi¿sche Lohnunterschiede in der ersten Berufsphase.
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Ausstattung und Tätigkeit (dunkle durchgezogene Linie). Der relative Lohn von Frauen nimmt seit 2001 tendenziell ab. Der Abstand beläuft sich in 2006 etwa auf die von der EU berichteten 23 bis 24 Prozent. Abbildung 1
Relativer Lohn von vollzeitbeschäftigten Frauen (1993–2006), Schätzungen mit ¿xen Effekten
Anmerkung: abhängige Variable: logarithmierter Bruttotageslohn; unabhängige Variablen: höchster Ausbildungsabschluss, Berufserfahrung. Quelle: LIAB, siehe: Gartner/Hinz (2009)
Die dunkle gestrichelte Linie gibt den relativen Lohn von Frauen unter Berücksichtigung des Humankapitals (höchster Ausbildungsabschluss und Berufserfahrung) an. Ungefähr ein Drittel des Lohnabstands geht im gesamten Zeitraum auf die unterschiedliche „Ausstattung“ zurück. Betrachten wir die helle durchgezogene Linie, dann erhalten wir den Lohnabstand zwischen Männern und Frauen in der gleichen Jobzelle – also im gleichen Betrieb und Beruf. Die Lücke beläuft sich konstant auf etwa 15 Prozent. Beziehen wir hier nun auch wieder die Ausbildung und Berufserfahrung mit ein, reduziert sich der Lohnabstand auf 12 Prozent. Mit dieser empirischen Annäherung an das Konzept der Lohndiskriminierung sind immer noch einige Mess- und Stichprobenprobleme verbunden (siehe die Diskussion in Gartner/Hinz 2009), dennoch ist davon auszugehen, dass in Deutschland ein within-job wage gap existiert. Vermutlich verbirgt sich dahinter vor allem eine unterschiedliche hierarchische Platzierung in den Unternehmen, die mit den zur Verfügung stehenden Berufsklassi¿ kationen nicht abgebildet werden kann. Es
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lässt sich nur spekulieren, ob bzw. gegebenenfalls wie bedeutsam unbeobachtete Faktoren wie Leistungsbereitschaft, kognitive Fähigkeiten und Überstunden für eine weitere Reduktion des Lohnunterschieds innerhalb der Jobzellen sind. Auch darüber, ob die Größenordnung von 12 Prozent bemerkenswert ist, kann man geteilter Meinung sein. Angesichts der in internationalen Studien berichteten Werte für den within-job wage gap ist sie es. Berger (2009) hält den wage gap dagegen aufgrund der weitaus gravierenderen Wirkung von Erwerbsunterbrechungen sowie von Doppelbelastungen durch die Erwerbs- und Familienarbeit auf die Karriereund Entlohnungschancen von Frauen für vernachlässigbar. Interessant ist weiterhin, dass sich für die within-Schätzungen seit 2001 anders als im Gesamtarbeitsmarkt kein Anwachsen der Lohnkluft zeigt. Dies bedeutet, dass die im Arbeitsmarkt etwas gestiegene Lohndifferenz durch die unterschiedliche Verteilung von Frauen und Männern auf Branchen, Berufe und Betriebe (Segregation) bedingt ist. Der in der Öffentlichkeit thematisierte Anstieg der Lohnkluft hat nichts mit direkter Einkommensdiskriminierung zu tun. Die Analysen zeigen auch, dass der Lohnabstand innerhalb der Jobzellen trotz der seit 2000 anhaltenden Diskussionen um ein verschärftes Antidiskriminierungsgesetz in der Europäischen Union unverändert geblieben ist. Dies erstaunt auf den ersten Blick, allerdings gibt es theoretische Modelle, welche unter bestimmten Konstellationen nach Einführung von Antidiskriminierungsmaßnahmen sogar ein Ansteigen des Lohnunterschieds prognostizieren (Kaas 2009, Kaas/Ju 2009).6 Im Hinblick auf mögliche organisationale Maßnahmen gegen Diskriminierung kann auf Resultate einer Untersuchung von Wolf/Heinze (2007) verwiesen werden. Die Autorinnen zeigen, dass bei einer höheren Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Entscheidungsprozessen der Unternehmen der Lohnabstand zwischen Männern und Frauen geringer ausfällt (siehe auch Achatz/Gartner/Glück 2005). Ihre Analysen unterstützen außerdem die These, dass jüngere Unternehmen einen geringeren Lohnunterschied aufweisen als ältere – was mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für Gleichstellungsfragen in jüngeren Unternehmen erklärt wird. Ohne Auswirkung auf den innerbetrieblichen Lohnabstand sind leistungsbezogene Entlohnungssysteme. Als kontraproduktiv können zeitintensive Weiterbildungsmaßnahmen gelten (Wolf/Heinze 2007). Wie gesagt: Diese Ergebnisse zeigen nur dann mögliche Diskriminierungen an, wenn unbeobachtete Faktoren (wie etwa die Bereitschaft zu Überstunden) nicht systematisch mit dem Geschlecht oder
6 Es handelt sich beispielsweise um ein Modell mit monopsonistischem Wettbewerb, bei dem Arbeitgeber entweder bei der Einstellung oder bei der Entlohnung diskriminieren. Falls die Entgeltdiskriminierung wirksam verboten wird, verlagert sich – bei gleich starker Präferenz für oder gegen eine Gruppe – die Diskriminierung auf die Einstellungsentscheidung, was zu größerer Segregation und zu größeren Lohnunterschieden zwischen den Gruppen führt.
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anderen unabhängigen Variablen zusammenhängen. Daher sind die Resultate stets mit Vorsicht zu interpretieren. Die an dieser Stelle dargestellten Ergebnisse machen deutlich, in welchen Feldern zukünftiger Forschungsbedarf besteht. Auch wenn die empirische Erfassung des within-job wage gap in Deutschland noch erheblich verbessert werden müsste, erscheinen die beiden anderen Arten von Diskriminierung für das Zustandekommen der Lohnunterschiede bedeutsamer. Hinsichtlich der allokativen und evaluativen Diskriminierung liegen jedoch bislang selbst international nur wenige und auf einzelne Organisationen beschränkte Studien vor (vgl. Petersen 2009, als Beispiel: Nelson/Bridges 1999). Auf jeden Fall sollten die Bemühungen, bei der Untersuchung von Lohnunterschieden und möglicher Diskriminierung auch die Kontextmerkmale der Organisationen und Arbeitsplätze einzubeziehen, weiterhin unterstützt werden. Wenngleich die genutzten LIAB-Daten noch vor kurzem nicht mögliche Analysewege erlauben, ist die immer noch ausstehende Ergänzung des Datenmaterials durch eine deutsche Version der National Organization Study (NOS, Kalleberg/Knoke/Marsden/Spaeth 1996) wünschenswert. 5
Ausblick
Der empirische Nachweis von geschlechtsbezogener Lohndiskriminierung ist voraussetzungsvoll und auf der Basis von Umfragedaten oder prozessproduzierten Daten7 letztlich nur mit Einschränkungen durchführbar. Wie argumentiert, hat dies mit den Unzulänglichkeiten der Analysemethoden und der verwendeten Daten gleichermaßen zu tun. In der Diskriminierungsforschung werden daher auch andere Wege beschritten, um das Ausmaß und die „Stellgrößen“ von Diskriminierungen zu erforschen. Der Einsatz von experimentellen Methoden dürfte im Fall der Lohndiskriminierung schnell an praktische Grenzen stoßen, wenngleich bestimmte Ausschnitte des vorgelagerten Arbeitsmarktgeschehens durch Feldexperimente erfasst werden können (Pager/Shephard 2008). Es existieren etwa so genannte Audit-Studien zum Rekrutierungsverhalten von Arbeitgebern (Neumark/Bank/Van Nort 1996, Pager 2007 für einen Überblick, kritisch: Heckman 1998): In diesen wird geprüft, ob Paare von Bewerbern, die sich bis auf das interessierende Gruppenmerkmal (hier das Geschlecht) möglichst ähneln, dieselben Beschäftigungschancen aufweisen. In der Variante schriftlicher Korrespondenztest (postalische oder Email-Bewerbungen) lassen sich die Merkmale der Bewerber 7 Prozessproduzierte Daten werden anders als Umfragedaten nicht zu Forschungszwecken erhoben. Ein von Forschungszusammenhängen unabhängiger „Prozess“ führt dazu, dass diese Daten gespeichert werden (etwa die Meldungen zur Sozialversicherung oder Gewerbeanmeldungen). Ihre Nutzung unterliegt strengen datenschutzrechtlichen Restriktionen.
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vollständig standardisieren, was einen besonders zuverlässigen Test für Diskriminierungen erlaubt. Diese Methoden werden zwar prinzipiell dem Desiderat gerecht, die Aspekte der allokativen und evaluativen Diskriminierung direkter zu erfassen; aufgrund der unweigerlichen Beschränkung auf die ersten Schritte im Einstellungsverfahren und auf ausgewählte Arbeitgeber lässt sich mit ihnen aber stets nur ein kleiner Ausschnitt des Arbeitsmarktgeschehens erforschen. Schließlich sei noch ein weiterführender Hinweis erlaubt. Selbst wenn Lohndiskriminierung gesetzlich verboten ist, kann sie weiter existieren, wenn die betroffenen Beschäftigten sowie weitere in den Arbeitsmarkt involvierte Akteure (wie etwa die Kunden von Unternehmen) eine Ungleichbehandlung trotz gleicher Leistung akzeptieren. Diskriminierende Arbeitgeber werden dann nicht aus dem Markt gedrängt, da weder potenzielle Arbeitnehmer noch Kunden ihr Verhalten missbilligen und nicht diskriminierende Arbeitgeber keine Vorteile aus der Situation ziehen. In dieser Hinsicht sind auch Untersuchungen zu den als gerecht empfundenen Entlohnungsstandards aufschlussreich. In unserer Forschungsgruppe haben wir einige erste Befragungen mit Faktoriellen Surveys durchgeführt, die belegen, dass ein als gerecht empfundenes Arbeitseinkommen von Männern um etwa 7 bis 8 Prozent höher ausfällt als das von Frauen, die mit exakt den gleichen Humankapital- und Beschäftigungsmerkmalen ausgestattet sind (siehe Auspurg/ Hinz/Liebig/Sauer 2009 für die Methodik).8 Interessanterweise urteilen Frauen und Männer in der gleichen Weise diskriminierend gegenüber weiblichen Arbeitnehmern. Trotz des anhaltenden Diskurses um verschärfte Diskriminierungsverbote sind die Anzeichen für „unterschiedliche Standards“ einer gerechten Entlohnung weiblicher und männlicher Arbeit unverkennbar (Jasso/Webster 1997). Solange derartige (Vor-)Urteile vorherrschen, wird zumindest einer moderaten Ungleichbehandlung durch die Unternehmen Vorschub geleistet. Literatur Achatz, Juliane/Gartner, Hermann/Glück, Timea (2005): Bonus oder Bias? Mechanismen geschlechtsspezi¿scher Entlohnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 57, S. 466–493 Altonji, Joseph/Blank, Rebecca (1999): Race and Gender in the Labor Market. In: Ashenfelter, O./Layard, R./Card, D. (Eds.): Handbook of Labor Economics, Vol. 3C. Amsterdam: Elsevier, pp. 3143–3259 8 Der just gender wage gap beläuft sich in der Untersuchung von Auspurg/Hinz/Liebig/Sauer (2009) auf ein weitaus geringeres Ausmaß und begünstigt zudem teilweise Frauen. Der Grund ist, dass hier ausschließlich Studierende befragt wurden. Verschiedene Befragungen der Allgemeinbevölkerung in Deutschland ergeben dagegen robust einen gerechten Lohnunterschied im genannten Ausmaß von 7 bis 8 Prozent geringeren Einkommen für Frauen (Ergebnisse noch nicht publiziert).
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Bekennen, Bezeichnen, Normalisieren: Paradoxien sexualitätsbezogener Diskriminierungsforschung Maja S. Maier
Beim Nachdenken über Homosexualität im Kontext von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung ist zunächst zu konstatieren, dass sich die rechtliche Situation von Lesben und Schwulen infolge der Gesetzgebung zur Registrierung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, in dem sexuelle Identität explizit als möglicher Grund von Benachteiligungen genannt wird, in den letzten zehn Jahren merklich verändert hat und, dadurch befördert, homosexuelle Lebensformen stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt sind. Auch in wissenschaftlichen Diskursen, beispielsweise der Familiensoziologie, der Geschlechterforschung und der Pädagogik, werden „sexuelle Identität“, „sexuelle Orientierung“ und „Homosexualität“ häu¿ger explizit benannt und teilweise in empirischen Studien und wissenschaftlichen Publikationen berücksichtigt. Bei näherer Betrachtung ergeben sich jedoch spezi¿sche Schwierigkeiten bei der Einschätzung, wie sich diese, auf den ersten Blick als nachlassende Diskriminierung und wachsende gesellschaftliche Anerkennung auf juristischem, politischem und wissenschaftlichem Gebiet erscheinende Entwicklung auf die alltägliche Situation von Homosexuellen in der Gesellschaft auswirkt. 1
Homosexualität als Kategorie sozialer Ungleichheit?
In den klassischen Katalog der Dimensionen sozialer Ungleichheit wird Homosexualität als solche nicht eingeschlossen, was sich vor allem auf drei mit dem Gegenstand selbst verbundene Aspekte zurückführen lässt: Erstens kann der empirische Zugang zu Homosexuellen1 wie auch zu anderen stigmatisierten Gruppen bis in die Gegenwart als schwierig bewertet werden (vgl. Peplau/Spalding 2000: 111). Die Aussagekraft der wenigen vorliegenden Ergebnisse muss daher grundsätzlich reÀektiert bzw. relativiert werden. Sozialstrukturanalysen, in denen Homosexuelle überhaupt auftauchen, geben nur in Ansätzen Auskunft über deren Lebenssituation: Die Ergebnisse der Mikrozensusbefragung, in der seit „Homosexuelle“ ist ein die Verwobenheit von gesellschaftlichen Bezeichnungspraktiken und diskriminierender Politik negierender Kunstbegriff; dazu an späterer Stelle ausführlich (3.2).
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1995 die Frage, ob man mit einem Partner, einer Partnerin in einem Haushalt lebt, geschlechtsneutral formuliert ist und damit die Erfassung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften ermöglicht, zeigen, dass der Anteil der homosexuellen Lebensgemeinschaften seit dem Zeitpunkt ihrer ersten Erfassung ansteigt (Eggen 2001a). Weiter ¿nden sich, grob vereinfacht gesagt, auch unter Schwulen und Lesben dauerhafte Partnerschaften, die den Charakter von Versorgungsgemeinschaften aufweisen (s. auch Buba/Vaskovicz 2001). Die häusliche Arbeitsteilung gestaltet sich in den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften vergleichsweise egalitär, die Person, die zeitlich weniger in die Erwerbsarbeit eingebunden ist, verrichtet etwas mehr Hausarbeit. Insgesamt können die familialen und ökonomischen Strukturen gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als vielfältig und vergleichbar mit heterosexuellen Lebensformen bewertet werden (Eggen 2001b: 583). Die im Vergleich zu heterosexuellen Paaren belegten höheren Bildungsabschlüsse – zumindest einer Person – der im Mikrozensus erfassten schwulen und lesbischen Lebensgemeinschaften sind möglicherweise als kumulative Effekte der generationsabhängig unterschiedlichen Offenheit der Lebensform oder auch des Bildungsniveaus zu bewerten (Eggen 2001b: 582). Für differenzierte Aussagen über das Verhältnis von Homosexualität und sozialer Lage sind die Daten bislang kaum ergiebig: Sexualität als Kategorie sozialer Ungleichheit und damit im Zusammenhang mit sozioökonomischer Ungleichheit als relevant zu betrachten, ist demzufolge vor allem deshalb schwierig, weil sich zumindest auf Basis der wenigen vorhandenen Daten keine systematischen Unterschiede zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen nachweisen lassen. Wenig plausibel scheint die Ungleichheitsrelevanz sexueller Identität zweitens deshalb, weil sich in den Bereichen Politik und Öffentlichkeit, aber auch in der Medien- und Modebranche prominente und beruÀich sehr erfolgreiche Schwule und Lesben ¿nden, denen ihr Coming-out offenbar nicht geschadet, sondern sogar genutzt zu haben scheint. Daraus lässt sich folgern, dass Homosexualität, wenn überhaupt, dann unter noch genauer zu bestimmenden Bedingungen ungleichheitsrelevant werden kann. Insofern wäre zu prüfen, inwieweit „Sexualität“, die bislang nicht in den gängigen Katalogen „horizontaler Dimensionen“ sozialer Ungleichheit auftaucht, als solche aufgefasst und die Bedingungen ihrer Aktualisierung empirisch präzisiert werden müsste. In welcher Weise sich die Probleme der Verschränkung unterschiedlicher Kategorien, insbesondere mit Klasse bzw. Milieu, durch den Einbezug von „Sexualität“ multiplizieren – ein grundlegendes, eng mit den mindestens aus heutiger Perspektive androzentrierten klassentheoretischen Annahmen der Klassiker verbundenes, nach wie vor ungelöstes Problem der Sozialstrukturforschung (vgl. Kreckel 1989) –, wäre dabei eine noch offene Frage. Zu erwarten ist, dass die neuere deutschsprachige Intersektionalitätsdebatte zukünftig zur Klärung des Status der Kategorie „Sexualität“ beiträgt: Bislang wird Sexualität meist additiv an die Kategorienliste angefügt; wenn sie eine eigenständige
Paradoxien sexualitätsbezogener Diskriminierungsforschung
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Erwähnung als Strukturkategorie ¿ndet (beispielsweise mit dem Hinweis auf den Ausschluss bestimmter Rechte z. B. im Adoptions-, Steuer- und Versorgungsrecht), dann wird die theoretisch abgeleitete gesellschaftlich verankerte Hierarchisierung von Sexualität (vgl. Rubin 2003) und deren zunächst als eigenständig ungleichheitsrelevant eingeschätzter Stellenwert früher oder später meist doch unter die Geschlechterkategorie subsumiert (z. B. in Winker/Degele 2009). Schließlich liegt es drittens nahe, Ungleichheit von Homosexuellen – historisch betrachtet: ein Phänomen einer typischen Randgruppe –, eher als Ergebnis von Stigmatisierung und Diskriminierung zu betrachten, die sich im Zuge der fortschreitenden Modernisierung zusammen mit negativen Vorurteilen und Stereotypen auÀösen werden; auch aus der Perspektive der Ungleichheitsforschung sicherlich eine durchaus begründbare Annahme. In einer Gegenwart, die in sexueller Hinsicht von kultureller Liberalisierung und dem Bekenntnis zu pluralisierten Lebensstilen gekennzeichnet ist, ist eine homosexuelle Lebensweise kaum mehr als solche skandalisierbar. Dies ist auch der Ausgangspunkt eines US-amerikanischen Sammelbandes (Badgett/Frank 2008), der auf einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive gründet und sich unter dem Titel „Sexual Orientation Discrimination“ der Frage widmet, inwiefern Homosexualität trotz einer merklichen Liberalisierung in der westlich-kapitalistischen Welt zu Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt, in Bildung und Erziehung, in Politik, Kultur und Religion führt, die sozioökonomische Folgen haben. In den internationalen Beiträgen werden Forschungsergebnisse präsentiert, die beispielsweise belegen, dass heterosexuelle verheiratete Männer ein höheres Einkommen und ein mehr an Prämien vom Arbeitgeber erhalten (Carpenter 2008) und lesbische und bisexuelle Frauen höhere Bildungsabschlüsse erwerben und sich in höheren Lohngruppen als heterosexuelle Frauen ¿nden (Rothblum et al. 2008). Am Beispiel von KrankenpÀegerinnen wird weiter gezeigt, dass sich eine nichtheterosexuelle Orientierung für die Berufsplanung als zentraler Faktor erweist: So führen Diskriminierungserfahrungen zu einem häu¿geren Arbeitsplatzwechsel und der Inkaufnahme unterbezahlter Arbeitsstellen; bezogen auf die beruÀiche Laufbahn ergeben sich daraus nicht zu unterschätzende ¿nanzielle und psychische Kosten (MacDonnell 2008). Die teils quantitativ und sekundäranalytisch, teils qualitativ gewonnenen Studienergebnisse des Bandes sehen die Autorinnen und Autoren selbst als Beginn einer noch auszubauenden Forschung zu sexualitätsbezogener Diskriminierung, um Debatten über konkurrierende Thesen und Dateninterpretationen anzustoßen und schließlich differenziertere Aussagen zum benachteiligenden Potential von sexueller Orientierung machen zu können. Lassen sich die skizzierten Ergebnisse auch nicht einfach übertragen, so zeigen sie doch auf, dass es durchaus sinnvoll sein mag, sexualitätsbezogene Diskriminierung und ihre möglichen sozioökonomischen Folgen innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung stärker zum Gegenstand zu machen – gerade auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierung.
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Festhalten lässt sich an dieser Stelle, dass eine systematische Erforschung der Prozesse, in denen Homosexualität im Sinne eines Merkmals einer spezi¿schen Gruppenzugehörigkeit aufgefasst und dadurch Benachteiligungen – u. a. auch sozioökonomischer Art – hervorgebracht werden, noch aussteht. Im vorliegenden Beitrag wird deshalb davon ausgegangen, dass sexuelle Identität in institutionellen oder interaktionellen Settings – trotz aller rechtlichen Gleichstellungsbemühungen – als Unterscheidungsmerkmal aktiviert wird und diskriminierende Wirkungen entfalten kann. Skizziert werden soll im Folgenden, welche Ergebnisse die sozialwissenschaftliche Forschung sexualitätsbezogener Diskriminierung bislang hervorgebracht hat und insbesondere, welche mit der spezi¿schen gesellschaftlichen Konstruktion von Homosexualität verbundenen Paradoxien die wissenschaftliche Klärung sexualitätsbezogener Diskriminierung erschweren. Dazu sollen die Perspektiven und Ergebnisse ausgewählter aktuellerer Studien, die sexuelle Identität, sexuelle Orientierung und Homosexualität zum Gegenstand haben, herangezogen werden. 2
Sexualitätsbezogene Diskriminierungsforschung
Diskriminierungserfahrungen und Diskriminierungspotenziale zu erforschen, ist konstitutiver Bestandteil der jüngeren Forschung zu Homosexuellen, auch wenn es nur einige wenige empirische Studien dazu gibt. Erforscht werden Diskriminierungen allgemeiner Art und spezi¿sche Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz und in der privaten Sphäre. Die Verbreitung diskriminierender Einstellungen und die Haltung zur AntiDiskriminierungspolitik zu erforschen, war Ziel der Studie zu „Diskriminierung im Alltag“, die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegeben wurde (2008).2 Die Fragestellung zielte auf milieubezogene Wahrnehmungen und Einstellungen zu Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Identität. Bezogen auf die Diskriminierung nicht-heterosexueller Orientierungen war ein zentrales Ergebnis, dass sich gegenüber Homosexualität „tief verwurzelte Barrieren und virulente Vorurteile“ ¿ nden, vor allem in den traditionellen und bürgerlichen Milieus3 (ADS 2008: 17). Grundsätzlich bestehen beim größeren Teil aller Befragten gegenüber einer Politisierung des Umgangs mit Homosexualität und einer weiteren Verankerung eines rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung Widerstände (67 %), schließlich halten die sexuelle Orientierung doch insgesamt 88 % aller Befragten 2 Es handelt sich dabei um eine repräsentative quantitative Studie (n = 2610), die um qualitative Teilstudien ergänzt wurde, im Folgenden immer abgekürzt als ADS 2008. 3 Genauer fallen hier die Sinus-Milieus der „Konservativen“, der „Traditionsverwurzelten“ und der „DDR-Nostalgischen“ darunter.
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für eine Privatsache (ADS 2008: 85). Moderne Unterschichten – so die Ergebnisse weiter – seien gegenüber „unkonventionellem sexuellem Verhalten“ (ADS 2008: 87) dabei eher aufgeschlossen, im Milieu der „Postmaterialisten“ ¿nde sich eine positive Einstellung gegenüber Schwulen und Lesben (ADS: 2008 86). Zusammengefasst belegen die Ergebnisse milieuabhängige Einstellungen gegenüber Homosexualität: Positive Haltungen ¿nden sich dort, wo Homosexualität als eine Lebensform neben anderen und Toleranz als Wert gilt oder dort, wo Homosexualität als eine Spielart sexueller Pluralität bewertet wird. Negative Einstellungen gehen einher mit konservativen Haltungen und basieren auf einer stark emotional begründeten Abwehr: Immerhin wollen über 60 % aller Befragten mit dem Thema Homosexualität insgesamt so wenig wie möglich in Berührung kommen (ADS 2008: 85). Aufschlussreich ist weiter eine vergleichende Betrachtung der Einstellungen gegenüber den unterschiedlichen benachteiligten Gruppen: So werden Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht, Behinderung und Alter als eine Folge ungleicher Chancen auf dem Arbeitsmarkt und insofern als „unverschuldet“ eingeschätzt. Homosexualität wird demgegenüber als private Präferenz betrachtet und nicht für diskriminierungsrelevant gehalten (ebd.). Problematisieren lässt sich an dieser Stelle, dass den Befragungen ein alltagstheoretischer Begriff von Diskriminierung zugrundegelegt ist, der zudem teilweise in nicht nachvollziehbarer Weise operationalisiert wurde.4 Hinzu kommt die generell begrenzte Aussagekraft von Einstellungsuntersuchungen, die häu¿g eher etwas über soziale Erwünschtheiten aussagen und darüber hinaus den Zusammenhang von Haltungen und Einstellungen zur Alltagspraxis ungeklärt lassen. Gerade vor diesem Hintergrund ist mit Blick auf die Fragestellung aber besonders interessant, dass sich vergleichsweise hohe Werte der Ablehnung gegenüber Homosexualität ¿nden. Sexualitätsbezogene Diskriminierung – so lässt sich an dieser Stelle erstens festhalten –, basiert offenbar zu einem wesentlichen Anteil tatsächlich auf einer vorurteilsbezogenen individuellen, kollektiven und alltäglichen Unterscheidungsund Benachteiligungspraxis (zur Unterscheidung verschiedener Formen der Diskriminierung vgl. Hormel/Scherr 2004: 27). Zweitens lassen die Ergebnisse die Schlussfolgerung zu, dass Offenheit und Toleranz gegenüber Homosexualität und Anti-Diskriminierungspolitik nur in bestimmten Milieus vorhanden sind; eine gesamtgesellschaftlich wachsende Akzeptanz, wie sie in Wissenschaft und Öffentlichkeit häu¿g behauptet wird, lässt sich aus den Ergebnissen nicht ableiten, eher noch eine vom gesellschaftlichen Konsens getragene Haltung, die die Gleichstellung Homosexueller für faktisch überÀüssig hält.
4 Beispielsweise wurde danach gefragt, inwieweit das stereotypisierte Bild vom „netten Schwulen“ der Realität entspricht, eine Fragestellung, die sich selbst auf homophobe Argumentationen stützt.
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Die Ergebnisse der Studie zu Einstellungen der heterosexuellen Mehrheit5 lassen sich mit den Erfahrungen von Lesben und Schwulen zu sexualitätsbezogener Diskriminierung am Arbeitsplatz ergänzen bzw. konfrontieren: Dominic Frohn hat in seiner repräsentativen Online-Befragung von 2007 (n = 2712, bereinigt 2230) zusammengefasst: Ungleichbehandlung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung haben knapp 30 % der Gesamtstichprobe in mindestens einem der folgenden Bereiche erlebt: Urlaub (12,7 %), Wertschätzung (11,9 %), Beförderung/ Weiterentwicklung (9,7 %), Leistungsdruck (8,3 %), Einkommen (4,4 %), Fort- und Weiterbildung (3,2 %) (Frohn 2007: 11). Fast 8 % der Befragten gaben außerdem an, dass sie aufgrund der sexuellen Orientierung eine Arbeitsstelle nicht erhalten haben, 2 % haben deshalb eine Versetzung, 4 % eine Kündigung erlebt. Neben den Erfahrungen der Ungleichbehandlung erfasst Frohn explizitere Diskriminierungshandlungen am Arbeitsplatz: Die 17 von ihm aufgelisteten Formen der Diskriminierung umfassen ein Spektrum von alltäglichem abwertenden bis zu eindeutig strafbarem Verhalten: „Körperliche Gewalt/Aggression“, „Sachbeschädigung“, „sexuelle Belästigung“ und „Drohung/Erpressung“ wurde jeweils von 5 bis 10 % der Befragten erlebt. Von den verbleibenden 13 Diskriminierungsformen sind es neun Formen, von denen über 20 % der Befragten betroffen waren: Dies sind Diskriminierungen, die auf das Privatleben der Befragten zielen wie „Tuscheln/ Gerüchte/Lügen“, „Imitieren/Lächerlichmachen“, „Nicht-Ernst-nehmen“, „sexuelle Anspielungen“ bzw. „Befürchtungen sexueller Belästigung“, „unangenehmes Interesse am Privatleben“, „Ignorieren der Person“, „Kontaktabbruch/Ausgrenzung“, „Beschimpfung/Beleidigung“. Zwischen 10 und 20 % der Befragten haben Diskriminierungen erlebt, die die Arbeit im engeren Sinne betreffen wie die Vorenthaltung von Informationen und kommunikativer Ausschluss, das Erteilen sinnloser Arbeitsaufträge, unsachgemäße Kritik, Arbeitsbehinderung und Mobbing (Frohn 2007: 13). Gar keine Diskriminierung erlebt haben nach eigenen Angaben 22,5 % der Befragten, mindestens eine Form erlebt haben also 77,5 %. Ein Viertel davon schätzt das Ausmaß der eigenen Belastung als hoch ein, 10 % sogar als sehr hoch (Frohn 2007: 14). Während in einer vergleichbaren Studie von 1997 noch 81 % der Befragten angegeben haben, mindestens einmal aufgrund ihrer Homosexualität am Arbeitsplatz diskriminiert worden zu sein und 28 % ihre Homosexualität am Arbeitsplatz komplett verschwiegen haben (Knoll et al. 1997), galt letzteres in der Befragung von 2007 nur mehr für um die 10 % der Befragten (Frohn 2007: 6). Frohn konstatiert deshalb, dass sich die Situation seit 1997 offenbar etwas gebessert habe, allerdings nicht in dem Maße, wie es unter den gewandelten Bedingungen (u. a. Diversity-Programme) erwartbar gewesen sei (Frohn 2007: 18).
4 % der Befragten bezeichneten sich als von sexualitätsbezogener Benachteiligung betroffen, gesondert ausgewertet wurde diese Gruppe nicht (ADS 2008: 84).
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Diskriminierungserfahrungen im privaten Bereich wurden im Zusammenhang mit den beiden großen quantitativen Studien zur „Benachteiligung gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare“ (2001) und zu „Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften“ (2009) erhoben. Während in der erstgenannten Studie Repräsentativität durch die Nutzung vielfältiger Zugangswege zu den Befragten angestrebt wurde, lässt sich die zweite Studie zumindest bezogen auf die geschätzte Grundgesamtheit aller Kinder, die in einer gleichgeschlechtlichen Elterngemeinschaft aufwachsen, als repräsentativ bewerten (Rupp/Bergold 2009: 282). Benachteiligungserfahrungen waren expliziter Gegenstand der ersten Studie zu schwulen und lesbischen Paarbeziehungen, in der ein vergleichsweise junges Sample (nur 1/3 der Befragten war zum Befragungszeitpunkt über 35 Jahre), das zudem über relativ hohe Bildungsabschlüsse verfügte (Buba 2000: 3; Eggen 2001b: 582), befragt wurde. Benachteiligungen in der Arbeitswelt haben hier 2/3 der Befragten erfahren (Buba 2000: 9). Diskriminierendes oder benachteiligendes Verhalten von Freunden haben vier Fünftel der Befragten erlebt, in der Regel verändert sich nach einem Coming-out häu¿g auch der Freundeskreis, was mal aktiv eingeleitet, mal hingenommen wird (Buba 2000: 7). Auch in der Familie haben die Befragten durchaus Diskriminierungserfahrungen gemacht, nahezu 20 % der Befragten sind mindestens bei einem Elternteil nicht geoutet (Buba 2000: 7) und 90 % der geouteten Befragten geben an, innerhalb der Familie bzw. im Verwandtenkreis mit diskriminierendem Verhalten konfrontiert worden zu sein. Erst über die Zeit scheint bei den heterosexuellen Familienmitgliedern eine „Gewöhnung“ einzutreten; über die Hälfte der offen lebenden Befragten erlebt aber auch aktuell, d. h. zum Zeitpunkt der Befragung, noch benachteiligende Erfahrungen (Buba 2000: 8). Interessant sind die Daten über Diskriminierungserfahrungen der Studie zu Kindern aus gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften: So haben 47 % der Eltern selbst Diskriminierungen erfahren, ein Viertel dieser Gruppe fühlt sich davon sehr belastet (Rupp/Bergold 2009: 266 f.). Bei der Einschätzung der Diskriminierungserfahrungen ihrer Kinder geben 20 % der Eltern an von solchen zu wissen, weitere 17 % nehmen solche an, ohne konkret davon zu wissen. Von den Kindern berichten 46 % von Diskriminierungen. Dabei handelt es sich vor allem um Diskriminierung durch Gleichaltrige (herabsetzende Handlungen oder Äußerungen, Beschimpfungen, körperliche Gewalt androhen oder ausüben, Eigentum beschädigen, Erpressung), die im schulischen Umfeld, teils auch im Kindergarten statt¿ndet. Besonders auffällig ist, dass sich ein Viertel davon im Beisein von Erwachsenen ereignete, die aber nach Angaben der Kinder nur selten unterstützend eingegriffen haben. Die als Experten befragte Gruppe der Lehrkräfte gaben demgegenüber an, selbst noch keine Diskriminierungen beobachtet, aber
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von Kollegen davon gehört zu haben (Rupp/Bergold 2009: 297).6 Eltern lassen die Vorfälle zu einem großen Teil (43 %) auf sich beruhen, besprechen sich aber mit den Kindern, auch über Verhaltensregeln. Die (antizipierte) Offenheit von Betreuungseinrichtungen und Schulen ist für die gleichgeschlechtlichen Elternpaare ein wichtiges Auswahlkriterium. Dass vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehungen negative Erfahrungen abfedern können, ist bekannt. Insgesamt leben nicht alle der befragten gleichgeschlechtlichen Familien offen, aus Sorge vor Diskriminierung oder infolge der Einschätzung, dass die private Lebensform am Arbeitsplatz keine Rolle spiele (Bergold/Rupp 2009: 296). Auch Kinder machen ihre Familiensituation nicht überall öffentlich. Die Ergebnisse zeigen, dass Diskriminierung eine Rolle für die Lebensqualität spielt, wenn auch unscharf bleibt welche. Neben Arbeitswelt und Privatleben machen Lesben und Schwule auch in anderen Lebensbereichen Diskriminierungserfahrungen (vgl. Steffens/Wagner 2009), beispielsweise im Gesundheitswesen: Dabei ist der Übergang von inadäquaten Verhaltensweisen durch Psychotherapeuten (vgl. Wolf 2006) zu den in jüngerer Zeit auch in der Öffentlichkeit propagierten konversionstherapeutischen Maßnahmen, die auf eine Veränderung der sexuellen Orientierung zielen, Àießend (Steffens/ Wagner 2009: 249 f.). Sexualitätsbezogene Diskriminierung ist auch im weiteren sozialen Umfeld Alltag, beispielsweise im Bereich Wohnen und Nachbarschaft, in der anonymen Öffentlichkeit, von Dienstleistungsanbietern und öffentlichen Behörden (vgl. zusammenfassend Steffens/Wagner 2009: 242 ff.). In jüngerer Zeit wurde auch Homophobie im Sport häu¿ger zum Gegenstand gemacht (z. B. PFIFF 2008). Benachteiligungserfahrungen im Bereich Bildung und Erziehung sind bislang auffallender Weise kaum Gegenstand von größeren Studien, sondern eher Thema von (sexual-)pädagogischen Empfehlungen (z. B. Van Dijk 2008).7 Zusammengefasst lässt sich der Forschungsstand als unbefriedigend und die Aussagekraft der wenigen Ergebnisse als begrenzt bewerten. Diskriminierungspotenziale wurden in den dargestellten Studien auf der Basis allgemeiner Einstellungen oder der Selbsteinschätzung von Betroffenen erhoben, multiperspektivische Erhebungen fehlen. Auch die wenigen qualitativen Studien zu Diskriminierungen am Arbeitsplatz (vgl. Maas 1999; Losert 2007) fokussieren die Benachteiligungsbetroffenen und verzichten auf eine Kontextuierung der Selbsteinschätzungen im jeweiligen sozialen Feld. Dies ist weniger den Vorgehensweisen der einzelnen Studien anzulasten als vielmehr der Komplexität der Thematik sexualitätsbezoge-
Hieran zeigt sich u. a. die Notwendigkeit der Professionalisierung von pädagogischem Personal. Ähnlich unterbelichtet ist das Feld der Religion: Offenbar gelten heteronormative geschlechtliche und sexuelle Ordnungsmuster hier als konstitutiv, die Diskriminierung von Homosexuellen erscheint dann als vernachlässigbar (vgl. auch Steffens/Wagner 2009: 243). 6
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ner Diskriminierung und den Leerstellen theoretisch-konzeptioneller Klärungen in der Literatur. Die vorhandenen Daten über Erfahrungen und Einstellungen heterosexueller und homosexueller Befragter lassen sich trotz aller Einschränkungen jedoch als deutlicher Hinweis darauf lesen, dass sexualitätsbezogene Diskriminierung ein konstitutives Merkmal alltäglicher kultureller Diskurse ist und nicht nur eine Ausnahme darstellt. Ausnahmen sind einzig – bei dennoch erschreckenden Prozentwerten – eindeutig strafbare Formen der Diskriminierung, wobei über Anzeigehäu¿gkeit und das Maß polizeilicher Verfolgung in den skizzierten Studien keine Aussagen gemacht werden. Mit den vorhandenen Daten lassen sich jedoch keine institutionellen und interaktionellen Prozesse, in denen Sexualität als Diskriminierungsmerkmal aktualisiert wird, beschreiben. Ungeklärt bleibt deshalb zum einen, welcher Art die Prozesse sind, auf die die Selbstaussagen der Betroffenen verweisen, und zum anderen in welchem Verhältnis diskriminierende Einstellungen zu diskriminierenden Handlungen stehen. Zugrundegelegt ist den vorliegenden Studien außerdem ein Diskriminierungsbegriff, der in erster Linie auf soziale Handlungen (oder Unterlassungen) fokussiert und damit rein auf vorurteilsbezogene Diskriminierung abstellt. Somit lassen sich auch Zusammenhänge zwischen dem Toleranzdiskurs sexueller Pluralität und der sozialen Praxis der Diskriminierung nicht klären. Die Gründe liegen m. E. in der gesellschaftlichen Konstruktion von Homosexualität selbst, was im Folgenden erörtert werden soll. 3
Paradoxien sexualitätsbezogener Diskriminierungsforschung
Zunächst einmal lassen sich einige der bekannten methodischen Probleme der Diskriminierungsforschung auch für die Erforschung von sexualitätsbezogener Diskriminierung benennen: So ist der Diskriminierungsbegriff – wie auch in anderen thematischen Feldern – theoretisch ungeklärt. In der Regel werden ganz allgemein Diskriminierungserfahrungen erhoben oder bestimmte abwertende individuelle Handlungen als Diskriminierungsformen beschrieben und abgefragt. Ein solcher erfahrungsbasierter Diskriminierungsbegriff ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen bezieht er sich auf die Annahme sichtbarer oder bekannter identitätsbezogener Merkmale, was dazu führt, dass Handlungen, die solche Merkmale schlicht „unterstellen“ oder auch die individuellen Strategien der Kontrolle sichtbarer Merkmale nicht in den Blick genommen werden können. Zum anderen verwischt er die Grenzziehung zwischen ethisch zu problematisierenden Handlungen des persönlichen Umgangs am Arbeitsplatz und juristisch verfolgten Straftaten wie körperlicher Gewalt oder deren Androhung, sexuelle Belästigung und Erpressung, die in Form von „hate crimes“ besonders schwere Auswirkungen
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auf die individuelle Gesundheit haben und in ihrem Schweregrad höher als andere Straftaten einzuschätzen sind (Steffens/Wagner 2009: 248). Für eine sozialwissenschaftliche Analyse diskriminierender Prozesse spielen solche Grenzziehungen (die sich u. a. durch die Einsetzung des AGG sowie die juristische Verfolgung von Mobbing verschieben) zwar keine zentrale Rolle. Allerdings führt die Offenheit bzw. die Unschärfe eines erfahrungsbasierten Diskriminierungsbegriffs dazu, dass die Daten zu Diskriminierung als rein subjektiv aufgefasst werden können und selten rechtliche Formen der sexualitätsbezogenen Benachteiligung, wenn sie überhaupt Gegenstand von Analysen sind, als „Diskriminierung“ gedeutet werden (vgl. Steffens/Wagner 2009: 243). Auf das Problem der Perspektivenverengung der sexualitätsbezogenen Diskriminierungsforschung hat bereits Annett Losert hingewiesen: Empirische Studien, die auf die Wahrnehmung und den Umgang mit diskriminierendem Verhalten fokussieren, lassen keine Aussagen über die allgemeine Situation, z. B. am Arbeitsplatz zu. Um einer solchen Reduzierung auf Diskriminierungserfahrungen zu entgehen, sei es notwendig, die Forschungsperspektive auf die Situation am Arbeitsplatz zu öffnen und auch nach der sozialen Eingebundenheit und den Gestaltungsmöglichkeiten von Lesben und Schwulen zu fragen (Losert 2009: 187, im Anschluss an Knoll et al. 1997). Ein weiteres Problem der sexualitätsbezogenen Diskriminierungsforschung liegt in der fehlenden systematischen ReÀexion der Aussagekraft von Selbsteinschätzungen: Sind „Betroffene“ über selektive Wahrnehmung empfänglicher dafür, auf ihre Person bezogene negative Rückmeldungen als Diskriminierung zu bewerten oder sogar zu beklagen – im Kontext geschlechtsbezogener Diskriminierung wird das ja teilweise behauptet. Möglicherweise sind die Selbsteinschätzungen wahrgenommener Diskriminierung davon geprägt, dass sich die Betroffenen als ein von normativen Erwartungen und den Reaktionen des Umfelds unabhängiges selbstbestimmtes Subjekt konstituieren wollen und infolgedessen diskriminierende Erfahrungen ausblenden (vgl. dazu auch Maier 2008: 241 ff.), vergleichbar mit der Tabuisierung einer Selbsteinschätzung als Opfer geschlechtsbezogener Diskriminierung bei jungen Frauen (vgl. Hagemann-White 2006: 82). Steffens und Wagner weisen darauf hin, dass Selbsteinschätzungen von wahrgenommenen Diskriminierungen als komplexe, kognitiv und emotional beeinÀusste Urteilsprozesse bewertet werden müssen (Steffens/Wagner 2009: 253). Typischerweise unterliegen mehrdeutige soziale Interaktionen, aber auch solche, in denen merklich keine Intention der Diskriminierung vorliegt, solchen komplexen Prozessen. Aber auch sexualitätsbezogene abwertende Handlungen, die nicht gegen homosexuelle Personen gerichtet sind, sondern – gestützt auf homophobe Argumentations¿guren – zur Reproduktion der Naturalisierung von Heterosexualität beitragen, bilden sich in den Selbsteinschätzungen nicht unbedingt ab. Dass auch Homosexuelle an dieser Reproduktion beteiligt sind, zeigt sich daran, dass sie unter
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dem Vorzeichen des Stigma-Managements ihre Außendarstellung auf die normative Heterosexualität abstimmen: So geben zwischen 40 % und 60 % der von Frohn Befragten an, sich mehr Gedanken als ihre Kollegen darüber zu machen, welche Themen sie aus Privatleben und Freizeit einbringen, welche Symbole sie bei der Ausgestaltung ihres Arbeitsplatzes verwenden und ob sie im Zusammenhang mit inhaltlichen Aspekten ihrer Arbeit auf Homosexualität eingehen (Frohn 2007: 15).8 Über diese allgemeinen Problematiken hinaus soll im Folgenden versucht werden, eng mit dem „Gegenstand“ verbundene Paradoxien herauszuarbeiten, die in die Perspektivenentwicklung einer sexualitätsbezogenen Diskriminierungsforschung einbezogen werden müssen. 3.1 Bekenntnisparadox Sexualitätsbezogene Diskriminierung analytisch zu erfassen, wird dadurch erschwert, dass es mit Goffman (1967) gesprochen – wie bei anderen „nicht-sichtbaren“ stigmatisierten Identitäten – möglich ist, die sexuelle Orientierung zu verbergen. Dies entspricht auf der einen Seite dem Bedürfnis der Einzelnen, sich durch eine Geheimhaltung vor Diskriminierung zu schützen, zugleich entspricht eine solche Geheimhaltung den Erwartungen eines größeren Teils des heterosexuellen Umfeldes, das ja zu 60 % eine Berührung mit Homosexualität ablehnt (ADS 2008: 85). Auf der anderen Seite sprechen die Zahlen für eine Entwicklung hin zu mehr Offenheit: Haben sich 1996 noch 66,8 % Prozent der Homosexuellen gegenüber keinem einzigen Kollegen oder nur einigen wenigen Personen gegenüber geoutet, waren dies 2006 nur noch 51,9 % (Frohn 2007: 6). Ein Coming-out ist in grundsätzlich umfassende Strategien der Informationskontrolle bzw. des Informationsmanagements (vgl. Goffman 1967: 56 ff.) eingebettet, gemäß derer homosexuelle Beschäftigte je nach sozialem Ort, beruÀicher Position, sozialem Klima, privater Lebenssituation etc. entscheiden, wem gegenüber sie sich auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt „outen“. Für den Umgang mit Homosexualität am Arbeitsplatz lassen sich unterschiedliche Strategien des Stigma-Managements rekonstruieren, die insbesondere auf der Auseinandersetzung mit Geschlechternormen gründen, wie eine qualitative Studie zu homosexuellen/ schwulen Männern in Führungspositionen gezeigt hat (Maas 1999): Das Spektrum reicht u. a. von der öffentlichen Darstellung eines heterosexuellen Lebens über Verhaltensanpassungen durch ein gleichzeitiges Ausweichen bei homosexuellen Themen, die Suche nach Verbündeten innerhalb und außerhalb des Unternehmens, der Normalisierung von Homosexualität, dem individuellen Erbringen besonderer 8 Dass eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit Ressourcen bindet, was zu Leistungsbeeinträchtigungen führen kann, darauf weisen Steffens und Wagner (2009: 253) hin.
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Leistungen bis zum offensiven Umgang mit der eigenen Homosexualität (zusammengefasst bei Junge 2001: 17). Dabei hängt die Art der dominanten Strategie – so die Ergebnisse der Studie – u. a. vom eigenen Selbstverständnis und dem Grad der Eingebundenheit in homosexuelle Netzwerke ab, weshalb sich die bevorzugten Strategien auch im biogra¿schen Verlauf verändern können. Dass solche individuellen Strategien des Stigma-Managements auch von den sozialen und organisationalen Bedingungen abhängen, zeigt sich daran, dass ein Zusammenhang zwischen hohen Coming-out Zahlen und geringen Diskriminierungserfahrungen besteht. Ob allerdings eine hohe Coming-out-Rate zu weniger Diskriminierung führt, oder aber ein offeneres Betriebsklima es homosexuellen Beschäftigten eher ermöglicht, offen zu leben, konnte bislang nicht abschließend geklärt werden. Selbst in Unternehmen, die unter dem Vorzeichen von Diversity Management eine größere Offenheit gegenüber sexueller Vielfalt demonstrieren und beispielsweise die Bildung homosexueller Netzwerken fördern, bestehen Vorbehalte gegenüber einem Coming-out; es lässt sich bisher nicht zeigen, dass Diversity Management zu grundsätzlichen Veränderungen auf der organisationalen und sozialen Ebene führt (Losert 2009: 194 f.). Schließlich wäre es auch naiv anzunehmen, dass ein offener Lebensstil ein Garant dafür sein könnte, dass Diskriminierungen ausbleiben und darüber hinaus sogar soziale und strukturelle Veränderungen am Arbeitsplatz, in der privaten Sphäre und der anonymen Öffentlichkeit bewirkt werden könnten – selbst wenn sich tolerante Einstellungen häu¿ger bei Heterosexuellen ¿nden, die persönliche Kontakte zu Homosexuellen haben (Steffens/Wagner 2009: 257). Einigkeit besteht in der Literatur darin, dass das Coming-out-Verhalten von Lesben und Schwulen nicht für die Anti-Diskriminierungspolitik instrumentalisiert werden sollte.9 Neben der in einer durch Heterosexualität regulierten Gesellschaft notwendigen Aufgabe, sexualitätsbezogene Informationen zu kontrollieren, ¿ndet sich zugleich die popularisierte Auffassung, dass sich Homosexuelle – im Interesse ihrer eigenen Gesundheit und um die Möglichkeit der Diskriminierung vorweg auszuschließen – „outen“ sollen. Einem Verschweigen von Homosexualität wird vor allem im heterosexuellen Umfeld mit Misstrauen begegnet oder es wird als fehlendes Vertrauen gedeutet und missbilligt (Steffens/Wagner 2009: 242 f.). Am Arbeitsplatz kann schließlich ein auffallend zurückhaltender Umgang mit dem Privatleben als mangelnde Kommunikations- und Teamfähigkeit interpretiert, auf die Persönlichkeit zurückgerechnet und als negativ in die Bewertung beruÀicher Kompetenzen aufgenommen werden (vgl. Losert 2007: 327). Die, wenn auch in emanzipatorischer Absicht formulierte Empfehlung, Homosexualität nicht zu 9 Ein Beispiel dafür, dass diese Verknüpfung doch immer wieder aktualisiert wird, ist die im Pro¿Fußball vom DFB eingeschlagene Linie Homophobie zu bekämpfen mit der entsprechenden Aufforderung an die Spieler, sich doch (am besten gruppenweise) zu „outen“ (vgl. z. B. Schollas 2009).
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verschweigen, überantwortet die diskriminierungsanfälligen Bewertungspraktiken nicht nur dem Individuum, sie impliziert darüber hinaus auch einen unausgesprochen wirkenden Veröffentlichungszwang sexualitätsbezogener Informationen. Zusammengenommen konstituieren Geheimhaltung bzw. Informationskontrolle und Veröffentlichungszwang ein durch widersprüchliche normative Erwartungen der modernen Gesellschaft erzeugtes „Bekenntnisparadox“ (vgl. dazu anschaulich Nord 2004). Auf der individuellen Ebene müssen zum einen Bedürfnisse nach persönlicher Freiheit, geschützter Privatsphäre und selbstbestimmter Identität ausbalanciert werden, zum anderen müssen unterschiedliche Strategien, mal offenes Bekennen, mal geschicktes Verbergen, in Anwendung gebracht werden, ohne gewährleisten zu können, dass sie zum Erfolg führen. Für die Gleichstellungs- und Anti-Diskriminierungspolitik ist dieses Bekenntnisparadox konstitutiv. Ein „Bekenntnis“ wird (bislang) als Voraussetzung für Gleichbehandlung in den unterschiedlichen Gleichstellungsbemühungen verankert, in der Gesetzgebung der Lebenspartnerschaft, der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung, aber auch in Diversity-Programmen. Daraus resultiert beispielsweise eine spezi¿sche, m. E. nicht zu lösende Problematik für die Stellvertreter- und Betroffenenpolitik: So wird beispielsweise der Aufbau innerunternehmerischer Netzwerke von homosexuellen Beschäftigten zwar positiv eingeschätzt, ohne dass sie unbedingt daran teilnehmen – was insbesondere ein Problem für die betrieblichen Diversity-Beauftragten darstellt (vgl. Lederle 2008).10 Da ein öffentliches Engagement gegen Homophobie in der heterosexuellen Umwelt schon ohne explizites Coming-out als ein solches wirkt, lehnen Homosexuelle häu¿g diese auf die Repräsentation einer Randgruppe fokussierte Reduzierung der eigenen Person ab, auch Heterosexuelle ¿nden sich aufgrund dessen nur selten als Bündnispartner. Für die sexualitätsbezogene Diskriminierungsforschung ergibt sich aus diesem Paradox die besondere Herausforderung, den Zusammenhang zwischen sozialer Situation, Selbsteinschätzung und der kulturellen Verankerung homophober Abwertungen auszuleuchten. Schließlich gilt es die Frage ins Zentrum zu stellen, inwieweit sich sexualitätsbezogene Diskriminierung auch ohne „Betroffene“ realisiert, oder möglicherweise dann sogar am wirksamsten. Sexualitätsbezogene Diskriminierungen beziehen sich ja häu¿g gar nicht auf tatsächliche sexuelle Präferenzen, Praktiken oder Lebensstile, sondern es reicht bereits, für homosexuell gehalten zu werden. Inwieweit genau deshalb, sprich: um nicht in diesen „Verdacht“
Lederle fasst zusammen: „Die ‚Anderen‘ entziehen sich dem Ver-A(e)nderungsangebot, aus Angst vor negativen Konsequenzen. Das ist nur möglich, da die sexuelle Orientierung keine im Unternehmen erfasste Kategorie darstellt, die eine Zuordnung per se erlauben würde. Die Abwehr der Selbstkategorisierung verweist auf die Stigmatisierung, der Homosexuelle in konservativen Unternehmen ausgesetzt sind.“ (Lederle 2008: 235)
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zu kommen, Homophobie von Heterosexuellen und Homosexuellen geduldet und unterstützt wird, wäre eine zentrale Forschungsfrage. 3.2 Bezeichnungsparadox Homosexualität muss, wie oben bereits erwähnt, als Kunstbegriff betrachtet werden. Die Unterscheidung von Homosexualität und Heterosexualität lässt sich als binäre Codierung beschreiben – wenn auch in anderer Weise als die Geschlechterdifferenz: Indem Heterosexualität als natürlich verstanden wird, markiert Homosexualität immer schon und zwangsläu¿g die Abweichung. Zugespitzt formuliert gibt es infolge der gesellschaftlichen Verankerung des Systems der Zweigeschlechtlichkeit und der Naturalisierung von Heterosexualität keine Heterosexuellen (vgl. Hirschauer 1992: 340), sodass mit der Unterscheidung Heterosexualität/Homosexualität sprachlich nur sichtbar gemacht wird, was noch nicht zur (gesellschaftlich de¿nierten) „Natur“ geworden ist. Historisch entwickelt hat sich diese spezi¿sche Form des Bezeichnungsparadoxes – folgt man Foucaults genealogischer Analyse von Sexualitäten – als Produkt des Sexualitätsdiskurses des 19. Jahrhunderts (vgl. Foucault 1983). Die Unterscheidung Homosexualität/Heterosexualität erhielt also erst spät den Charakter einer sozialen Klassi¿kation, mit der „Homosexualität“ als sexuelle Abweichung gekennzeichnet und infolge der diskursiven Regulierung (homo-)sexuellen Verhaltens zugleich die Ausformung homosexueller Identität befördert wird.11 Zusammengefasst habe sich im 19. Jahrhundert demnach eine „Persönlichkeit mit einer eigenen psychologischen und mitunter auch physiologischen Substanz herausgebildet“ (Hergemöller 1999: 33), deren Pathologisierung sich im Wechselspiel von medizinischen und juristischen Diskursen entwickelt hat. Die in der poststrukturalistischen Theorie betonte Gleichzeitigkeit12 von Unterscheidung und Unterwerfung ist an dieser Stelle vor allem deshalb interessant, weil sie sich auch auf die sexualitätsbezogene Selbstbezeichnungspraxis „der Homosexuellen“ auswirkt13 und immer wieder kontrovers diskutierter Gegenstand innerhalb der politischen Bewegungen, der Subkultur und individueller Identitätskonstruktionen ist. Ausgangspunkt solcher Debatten ist die Frage, wie mit den in Zur Kritik an Foucaults These der „Diskursivierung des Sexes“ im 19. Jahrhundert vgl. z. B. Hergemöller (1999: 32 ff.), der auf Quellen aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit verweist. 12 International wurde diese Gleichzeitigkeit bezogen auf Homosexualität in der EssentialismusKonstruktivismus-Debatte der 1990er Jahre ausführlicher behandelt, im deutschsprachigen Raum wurde diese aber nur innerhalb der kritischen Sexualwissenschaft (v. a. Hirschauer 1992; Lautmann 1992) und dort eher randständig aufgegriffen (vgl. Hergemöller 1999: 43 ff.). 13 Im Grunde genommen gilt das auch für „die Heterosexuellen“, denen die Frage nach ihrer sexualitätsbezogenen Selbstbezeichnung allerdings selten gestellt wird. 11
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gesellschaftliche Machtverhältnisse verwobenen homogenisierenden Bezeichnungspraktiken umgegangen werden soll: Ein Ergebnis ist die positive Aneignung der Bezeichnungen „schwul“ oder „queer“, die sich gegen die gesamtgesellschaftlich verankerte negative und diskriminierende Konnotation der Begriffe wendet. Ein anderes Ergebnis ist die Ausrichtung von – insbesondere auf Jugendliche zielenden – Aufklärungskampagnen, die durch ihre Bezugnahme auf sexualitätsbezogene Diskriminierung an der Homogenisierung von Sexualitäten mitwirken, was – weiter gedacht – auch die Gefahr einer nicht-intendierten Re-Pathologisierung des „homosexuellen Jugendlichen“ beinhaltet (vgl. Thielen 2009: 73 ff.). Auf diese Paradoxie zwischen homogenisierenden und dynamisierenden Bezeichnungspraktiken stoßen auch empirische Studien, die die Bezeichnungsproblematik theoretisch durchdrungen haben (vgl. dazu Maier 2004). So bot eine der wenigen Studien zu sexualitätsbezogener Diskriminierung an Hochschulen, für die Studierende und Beschäftigte von 30 US-amerikanischen Universitäten befragt wurden, sechs Kategorien der Selbstbezeichnung an: „lesbian“, „gay“, „bisexual“, „transgender“, „heterosexual“ und „uncertain“, mit dem Ergebnis, dass sich zahlreiche Befragte nicht eingeordnet, sondern andere Bezeichnungen verwendet haben und die Kategorienliste als „white social construct of identity“ oder als „not suf¿ciently disruptive of existing paradigms of gender and sexuality“ kritisierten (Rankin 2008: 239). Die Begrenzung des (gegenüber den deutschsprachigen Studien zu Diskriminierung bereits enorm) geöffneten LGBT-Bezeichnungsspektrums14 zu erkennen, war schließlich ein wichtiges Ergebnis der Studie. Im Kontext von Migration wiederum hat sich in der Studie von Marc Thielen zu Männern iranischer Herkunft gezeigt, dass die identitätsbezogenen institutionellen Sexualitätsdiskurse der Einwanderungsgesellschaft lebensbiogra¿sch zum „Motor der Konstruktion einer sexuellen Lebensweise“ werden können (Thielen 2009: 209 ff.). Sie können aber auch als Zwangsinstrument der Vereindeutigung sexueller Praktiken zu einer sexuellen Identität, durch die insbesondere die Abweichung zur „Normalität“ markiert wird, wirken, was Traumatisierungen, die im Zusammenhang mit der individuellen Migrationsgeschichte entstanden sind, noch verstärken kann (Thielen 2009: 115 ff.). Auch in der bereits erwähnten Studie zu männlichen Führungskräften erweist sich weniger die Homosexualität der Befragten selbst als vielmehr deren Selbstbeschreibung als identitätsrelevant: So bestehen offenbar Zusammenhänge zwischen der Strategie des individuellen Stigma-Managements und der Art der Selbstbezeichnung als „homosexuell“ oder, im Anschluss an eine Politisierung von Homosexualität, als „schwul“ (vgl. Maas 1999).
LGBT steht international für „Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual“ und bezeichnet die Pluralität nicht-heterosexueller Sexualitäten.
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Dieses Paradox des identitätsstiftenden und identitätsnormierenden Charakters von Selbst- und Fremdbezeichnungen wird im Vorfeld von empirischen Studien zu sexualitätsbezogener Diskriminierung in der Regel weder reÀektiert noch konzeptionell in die Perspektivenentwicklung einbezogen.15 Schließlich stützen sich die konzeptionellen Perspektiven der dargestellten Studien allesamt nicht nur auf die Selbstoffenbarung der Befragten, sondern auch auf eine im Vorfeld der Befragung erfolgte Unterscheidung der „Homosexuellen“. Streng genommen ist diese Unterscheidung aber bereits in diskriminierende Bezeichnungslogiken verwoben, weil ihre Inanspruchnahme zum einen selbst als Strategie des StigmaManagements begriffen werden muss, da sie den, der Unterscheidung immanenten Bekenntnis- bzw. Identi¿zierungszwang ignoriert; zum anderen weil die homogenisierende Kategorie „Homosexualität“ weder die Vielfalt der damit vermeintlich abgebildeten sexuellen Stile und Begehrensformen abzubilden vermag, geschweige denn deren gesellschaftliche Hierarchisierung (vgl. Rubin 2003: 43).16 Letztere drückt sich demgegenüber im alltagsüblichen sexualitätsbezogenen Vokabular der Beschimpfungen aus. Homosexualität nimmt dabei eine besondere Stellung ein.17 Nicht zuletzt um die diskursive Schließung, die durch rechtliche Regelungen und sich darauf stützende heteronormative gesellschaftliche und insbesondere auch wissenschaftliche Diskurse zu „den Homosexuellen“ erzeugt wird, in ihren perspektivischen Konsequenzen für die sexualitätsbezogene Diskriminierungsforschung zu reÀektieren, wäre eine Berücksichtigung queertheoretisch fundierter, auf die VerÀüssigung von sexuellen und geschlechtlichen Identitäten zielender Betrachtungsweisen sinnvoll bzw. notwendig.
Kinseys frühe Studie hat demgegenüber sexuelles Verhalten abgefragt, seine Ergebnisse – so die Kritik – gehe allerdings kaum über die Dreiteilung „heterosexuell-bisexuell-homosexuell“ hinaus. Kinseys Differenzierung trug jedoch dazu bei, „den Homosexellen“ als abweichende und somit stigmatisierbare Person zu dekonstruieren, was seinerzeit als Verneinung einer „homosexuellen Identität“ (u. a. von Dannecker 1978: 61) kritisiert wurde. 16 Im Anschluss an Judith Butler (1991) lässt sich argumentieren, dass die Annahme, es sei das (andere oder gleiche) Geschlecht, das im Gegenüber begehrt wird, selbst einer heteronormativen Logik folgt (vgl. dazu auch Maier 2008: 259 ff.). 17 Ein Beispiel hierfür ist die Rechtsprechung eines Fußball-Sportgerichts von 2007: Ein Spieler, der von einem dunkelhäutigen Gegenspieler angeklagt wurde, diesen rassistisch beschimpft zu haben, indem er dem allgemein üblichen Beleidigungsvokabular ein „schwarz“ voranstellte, klärte über das „Missverständnis“ auf: Er gestand, beleidigend gewesen zu sein, aber „schwul“ gesagt zu haben, was ihm eine geringere Strafe eintrug (Schollas 2009: 17). Deutlich wird hier zweierlei: Es macht zum einen offenbar einen Unterschied, je nachdem, ob ein zutreffendes „Identitätsmerkmal“ zur Diskriminierung aktualisiert wird oder nicht; zum anderen werden homophobe Beschimpfungen als Disziplinierungen in geschlechtlicher Hinsicht interpretiert und daher weniger als zu sanktionierende Beleidigung aufgefasst. Rehabilitierung wird in dieser Logik nicht der beleidigenden, sondern, im Gegenteil, von der beleidigten Person abverlangt. 15
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3.3 Normalisierung Praktiken der Normalisierung von Homosexualität lassen sich in einer allgemeinen Form in der Liberalisierung des gesamtgesellschaftlichen Sexualitätsdiskurses erkennen; in einer spezi¿schen Form zeigen sich Normalisierungspraktiken insbesondere in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Homosexualität. Eine normalisierende Wirkung im Allgemeinen haben insbesondere die rechtliche Verankerung der eingetragenen Lebenspartnerschaft und der Einbezug der Dimension „Sexualität“ in Gleichstellungsgesetze und Diversity-Programme sowie die wachsende mediale Verarbeitung homosexueller Themen und damit zusammenhängender Problematiken. Normalisierend wirken die genannten Aspekte bereits schon deshalb, weil sie, auch wenn sie im Grunde genommen die Tabuisierung von Homosexualität voraussetzen, zu ihrer Enttabuisierung beitragen. Bezogen auf Menschen mit Behinderungen wurde die normierende Wirkung von Normalisierungspolitik und die Hierarchisierung der ihr zugrundeliegenden Unterscheidungen kritisch analysiert: Die Kritik richtet sich insbesondere auf funktional argumentierende Normalisierungspolitiken, die die Integration in die Erwerbssphäre zum Ziel erklären und diese als Voraussetzung für Gleichstellung und gesellschaftliche Teilhabe betrachten. Kapitalismuskritische und demokratietheoretische Ansätze analysieren demgegenüber Erwerbstätigkeit bzw. -fähigkeit im Kontext von Dis/ability als Bezugsnorm, die eine institutionelle Diskriminierung rechtfertigt und erst hervorbringt (vgl. Bösl 2009). Dieser Doppelcharakter der Normalisierung lässt sich – übertragen auf den Gegenstand der sexualitätsbezogenen Diskriminierung – insbesondere im Feld der wissenschaftlichen Forschung als Paradoxie rekonstruieren. So tragen die von ministerialer Seite initiierten Auftragsstudien zur Erforschung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und Familienformen, wie sie von Buba/Vaskowicz (2001) und Rupp/Bergold (2009) vorgelegt wurden, zum einen zur Normalisierung homosexueller Lebensformen bei, indem sie den traditionellen Stereotypen des promisken, beziehungsunfähigen und an Familie desinteressierten Homosexuellen empirische Daten gegenüberstellen, die die Vergleichbarkeit der Lebensformen (rückwirkend) belegen. Zwischen den Lebensformen der Gruppe der homosexuellen Personen und der Gruppe der heterosexuellen Personen ¿ nden sich weniger Unterschiede als Ähnlichkeiten, zumindest den statistischen Daten des Mikrozensus zufolge (Eggen 2001b). Konstitutiv für eine solche Normalisierung von homosexuellen Lebensformen ist dabei ihre Entsexualisierung. Dies gilt gleichermaßen für Arbeitswelt und private Lebensführung: Sexualitätsbezogene Diskriminierung am Arbeitsplatz ¿ndet vor dem Hintergrund der „Asexualitäts¿ktion der Arbeitswelt“ statt (Burell 1984), die sich auf die normative Trennung von Erwerbs- und Privatsphäre stützt und im Zusammenhang mit der Entwicklung bürgerlich-kapitalistischer Produktionsverhältnisse etabliert wurde. Das Informationsmanagement homosexueller
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Beschäftigter zielt infolgedessen nicht nur auf den Schutz der Privatsphäre, sondern insbesondere darauf, die homosexuelle Lebensführung ihrer sexualisierten Konnotation zu entledigen. Dass eine solche Entsexualisierung der Selbstpräsentation am Arbeitsplatz von heterosexuellen Beschäftigten nicht gleichermaßen abverlangt wird, sondern im Gegenteil, kulturelle Normen heterosexuelle und geschlechtsbezogene Verkörperungen bzw. Performances am Arbeitsplatz vor allem heterosexuellen Männern ermöglichen bzw. nahe legen, zeigt u. a. Mc Dowell (1999) anschaulich in ihrer Studie zur beruÀichen Kultur britischer Bankangestellter. Infolge der auch begrifÀich akzentuierten Nähe zu Sexualität stellt die Dimension „sexuelle Orientierung“ deshalb gerade auch betriebliches Diversity-Management vor eine besondere Herausforderung. Sexualitätsbezogene Stigmatisierungen erfolgen schließlich gleichzeitig mit der Anerkennung und Etablierung einer rechtlichen Gleichstellung von Homosexualität (Lederle 2008: 233). Für den Bereich der privaten Lebensformen gilt ähnliches: So wirkt die homosexuelle Paarbildung typischerweise als „detoxi¿kation of homosexuality“ (De Cecco 1988: 3). Paare erfahren im heterosexuellen Umfeld eine größere Toleranz oder bringen diese überhaupt erst hervor (vgl. auch Maier 2008). Diese für die Normalisierung von Homosexualität notwendige „Entgiftung“ stützt sich ebenfalls auf sexualisierte Stereotypen, die unterstellen, dass, wer Kontakt zu Homosexuellen hat, selbst Gefahr läuft als homosexuell zu gelten oder es gar zu werden. Die gesellschaftlich verankerte Entsexualisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, auf die sich die gesellschaftliche Ordnung stützt, bildet für das sexualisierte Stereotyp des Homosexuellen den kulturellen Hintergrund.18 Interessanterweise schließen die jüngeren wissenschaftlichen Ergebnisse direkt an solche Formen der Entsexualisierung an, wenn sie empirisch belegen, dass Homosexuelle verantwortungsvolle Lebensgemeinschaften bilden (Buba/Vascovicz 2001), überdurchschnittliche Kompetenzen in der Kindererziehung aufweisen (Rupp/Bergold 2009) oder – wie in der popularisierten Debatte zu regionaler Entwicklung – als Teil der „creative class“ wirtschaftliches Wachstum hervorbringen (Florida 2004; Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2007). Normalisierung im Kontext der Unterscheidung Heterosexualität/Homosexualität zielt hier, zugespitzt formuliert, darauf, Homosexualität mittels Entsexualisierung innerhalb der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionslogiken zu integrieren und sie ihrer funktionalen Unbestimmtheit zu entledigen.19 Aus einer kritischen Perspektive Homosexuellenstereotype unterscheiden sich nach Geschlecht: Infolge der unterschiedlichen Verknüpfung von Geschlecht, Sexualität und Macht gehen Stereotype von weiblicher oder männlicher Homosexualität in unterschiedlicher Weise in die normative Ordnung ein und werden mit Bedeutung versehen, was allerdings ein eigenes Thema wäre. 19 Queere Theorien weisen darauf hin, dass genau mit dieser Funktionslosigkeit von Homosexualität die Trennung zwischen Arbeit und Privatsphäre aufgebrochen wird (vgl. Engel 2009: 110). 18
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lässt sich die Normalisierung von Homosexualität, die sich auf die Anpassung an heteronormative Lebensstilmuster stützt, insofern als eine Delegitimierung von Differenz analysieren (Degele et al. 2002). Die kontraproduktiven Effekte, die eine solche Normalisierung auf die Forschung sexualitätsbezogener Diskriminierung hat und darüber hinaus auch auf sexualitätsbezogene Diskriminierung in Alltagspraxis und Wissenschaft, wären infolgedessen zu problematisieren und zu konkretisieren. 4
Ausblick
Normalisierungsprozesse, wie sie der aktuellen politisch-gesellschaftlichen Thematisierung von Homosexualität zu Eigen sind, können in Erweiterung der Goffman’schen Terminologie als eine Form des „institutionellen Stigmamanagements“ auf den Begriff gebracht werden. Vor dem Hintergrund eines auf Pluralität und Toleranz basierenden Selbstverständnisses moderner Gesellschaften entsteht die Notwendigkeit, sexualitätsbezogene Diskriminierung als Ausnahmeerscheinung institutionell zu kennzeichnen und damit die Stigmatisierbarkeit von Homosexualität zu relativieren. Sollte sich die sozialwissenschaftliche Forschung zu Homosexualität und sexualitätsbezogener Diskriminierung nicht darin erschöpfen wollen, eine solche Normalisierungspolitik af¿rmativ zu begleiten, dann zählt es zu ihren wichtigsten Aufgaben, die skizzierten Paradoxien homosexueller Subjektivierung systematischer als bislang und in ihrer kontextspezi¿schen Wirkungsweise zu reÀektieren. In konzeptioneller Hinsicht wäre es darüber hinaus wünschenswert, stärker an ungleichheitstheoretische und heteronormativitätskritische Überlegungen zu Geschlecht, Sexualität und Macht – und damit auch an den internationalen Diskurs – anzuschließen. Literatur ADS Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.) (2008): Forschungsprojekt. Diskriminierung im Alltag, Wahrnehmung von Diskriminierung und Antidiskriminierungspolitik in unserer Gesellschaft, http:/www.antidiskriminierungsstelle. de/RedaktionBMFSFJ/RedaktionADS/PDF-Anlagen/2009-04-02schriftenreiheband4,property=pdf,rwb=true.pdf Badgett, M. V. Lee/Frank, Jefferson (2008): The global gay gap: institutions, markets, and social change. In: Badgett, M. V. Lee/Frank, J. (Eds.): Sexual Orientation Discrimination. An international perspective. New York. IAFFE Advances in Feminist Economics, pp. 1–15
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Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem Ulrike Hormel
„Auch ‚Gerechtigkeit‘ bezweckt Diskriminierung – im ursprünglichen Sinne von Unterscheidung und durchaus auch im engeren Sinne des Wortes von ungleicher Verteilung von Gütern und Positionen […] Deshalb ist faktisch auch relativ häu¿g gerade dann von Gerechtigkeit die Rede, wenn es darum geht, die Zufügung eines Übels oder das Vorenthalten eines Gutes zu rechtfertigen […]“ (Heid 1988: 13).
Mit der Problemstellung ‚Diskriminierung im Bildungssystem‘ werden Strukturen und Prozesse in den Blick genommen, die in fundamentalem Widerspruch zu dem für moderne Gesellschaften charakteristischen Selbstanspruch der herkunftsunabhängigen Zuweisung von Lebenschancen stehen. Dabei weist die Thematisierung von Diskriminierungen insofern über deskriptive Beschreibungen von Bildungsbenachteiligungen immer schon hinaus, als die Zurechenbarkeit benachteiligender Effekte auf die Strukturen des Bildungssystems und die Praktiken der in ihm handelnden Akteure behauptet wird. Eine Schwierigkeit bei der Analyse von Formen der Diskriminierung im Bildungssystem kann darin gesehen werden, dass der Diskriminierungsbegriff primär in politischen und rechtlichen Zusammenhängen und damit im Horizont einer moralisch-juridisch gefassten Norm und Problemde¿ nition Verwendung ¿ ndet. Dies ist sowohl für die bildungspolitische Diskussion als auch für die wissenschaftliche Fachdebatte folgenreich: Während der Sachverhalt einer ausgeprägten Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem inzwischen durch zahlreiche empirische Studien differenziert dokumentiert und belegt ist1, liegen zu der Frage, ob diese Dieser zeigt sich u. a. in überproportional häu¿gen Rückstellungen von der Einschulung und Klassenwiederholungen, im seltenen Besuch von Gymnasien, aber sehr häu¿gen Besuch von Hauptschulen, im Erwerb niedrig bewerteter Schulabschlüsse und dem häu¿gen Verlassen der Schule ohne quali¿ zierenden Abschluss, in den erhöhten Schwierigkeiten eine Lehrstelle zu ¿ nden und einen beruÀichen Abschluss zu erwerben sowie nicht zuletzt in den hohen Überweisungsquoten an Sonderschulen mit dem Schwerpunkt ‚Lernen‘ (vgl. zusammenfassend Diefenbach 2008; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006; Stanat 2008). Insgesamt liegt jedoch eine sehr uneinheitliche Empirie zur Bildungsbenachteiligung vor: So differenziert die amtliche Bildungsstatistik zum Teil immer noch nach Staatsangehörigkeit und damit nach einem Kriterium, das nicht geeignet ist, den
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Benachteiligung auch als Folge einer Diskriminierung analysiert werden kann und muss, konträre Einschätzungen vor: Als der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen Vernor Muñoz-Villalobos in seiner im Jahr 2006 durchgeführten Untersuchung zum deutschen Bildungssystem zu dem Befund kam, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund diskriminiert werden (vgl. Muñoz 2007), wurde diese Feststellung als unangemessener Vorwurf interpretiert und durch Bildungsverantwortliche in Bund und Ländern teilweise vehement zurück gewiesen2 (vgl. Oberwien/Prengel 2007). Dies ¿ndet in der wissenschaftlichen Fachdebatte insofern eine Entsprechung, als auch hier diesbezüglich widersprüchliche Einschätzungen zu ¿nden sind, die im Zusammenhang mit dem jeweils zugrunde gelegten beobachtungsleitenden Konzept von Diskriminierung stehen. Während Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke in einer qualitativ angelegten und organisationstheoretisch fundierten Studie Mechanismen und Prozesse einer institutionellen Diskriminierung von Migrantenkindern im Bildungssystem herausarbeiten konnten (vgl. Gomolla/ Radtke 2002, s. u.), kommt Cornelia Kristen auf der Grundlage der Auswertung vorliegender quantitativer Studien zu der Einschätzung, „dass sich derzeit keine Hinweise auf eine Schlechterstellung von Kindern aus Zuwandererfamilien aufgrund von Diskriminierungen bei den Leistungseinschätzungen ¿nden lassen“ und dass „[e]thnische Diskriminierungen […] keine Schlüsselrolle bei der Erklärung der bestehenden Bildungsunterschiede“ spielen (Kristen 2006: o. S.). Kristen geht von einem an Gary S. Becker angelehnten Diskriminierungsbegriff und damit von einem in den Wirtschaftswissenschaften Verwendung ¿ ndenden Konzept aus, demzufolge „ethnische Diskriminierung“ nur dann als solche gelten kann, wenn Formen der Ungleichbehandlung „in sehr direkter Weise mit der ethnischen Herkunft verknüpft sind“ (Kristen 2006: 12). Die Untersuchungsperspektive beschränkt sich damit auf den in Bildungszusammenhängen im Vergleich zu anderen Formen von Diskriminierung relativ unwahrscheinlichen Fall einer direkt an Merkmalen der ‚ethnischen Herkunft‘ ansetzenden Ungleichbehandlung. Zwar schließt Kristen nicht aus, dass auch indirekte Formen der Diskriminierung, wie sie in der Studie zur institutionellen Diskriminierung von Gomolla und Radtke aufgezeigt werden, im schulischen Kontext von Bedeutung sind, diese könnten jedoch mit quantitativen Verfahren wegen der Vielzahl potentieller Drittvariablen nur schwer gemessen werden. Kristen argumentiert weiter, dass aber nur quantitaauch unabhängig davon relevanten Migrationshintergrund zu erfassen. Damit liegen auch den hier referierten Studien Daten mit unterschiedlichen Bezugsgrößen zu Grunde. Dies wird dadurch angezeigt, ob jeweils zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund – bzw. verkürzt MigrantInnen – oder zwischen Ausländern und Deutschen differenziert wird. 2 Vgl. als Übersicht zu den Reaktionen auf den Muñoz-Bericht http://www.bildungsserver.de/innovationsportal/bildungplus.html?artid=610#presse; letzter Zugriff 17.12.09.
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tive Analysen geeignete Informationen bezüglich einer möglichen Diskriminierung von MigrantInnen im Bildungssystem bereitstellen können, da die notwendigerweise kleinen Stichprobengrößen qualitativer Analysen keinen Rückschluss auf die Repräsentativität der jeweiligen Prozesse erlauben (vgl. Kristen 2006: 12 f.). Eine solche methodischen und forschungspragmatischen Überlegungen folgende Einschränkung der Fragestellung hat schließlich zur Folge, dass auf eine theoretisch begründete Konturierung des Untersuchungsgegenstandes ‚Diskriminierung‘ verzichtet und als ‚ethnische Diskriminierung‘ untersucht wird, was anhand der Variable ‚ethnische Herkunft‘ operationalisiert werden kann.3 Damit kann sich eine sozialwissenschaftliche Analyse von Diskriminierungen im Bildungssystem nicht zufrieden geben, wie im Folgenden gezeigt werden soll (vgl. dazu auch Scho¿eld 2006, Flam 2007, Hormel 2007, Motakef 2009). 1
Diskriminierung als Operation professionellen Unterscheidens und organisatorischen Entscheidens
Moderne Bildungssysteme können als paradigmatischer Fall der nominellen Durchsetzung herkunftsunabhängiger Zugangs- und Teilhabechancen einerseits, der Ausstattung der Gesellschaft mit „Diskriminierungsfähigkeit“ (Luhmann 2000: 393) andererseits gelten. Mit dem formalen Anspruch auf Gleichheit produziert das Bildungssystem und seine Organisationen fortlaufend Ungleichheit und nimmt dabei einen besonderen Stellenwert im Rahmen der Regulierung sozialer Teilhabechancen ein, die Luhmann generell in Bezug auf die Funktionsweise von Organisationen formuliert: „Innerhalb der Organisationen und mit ihrer Hilfe lässt die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit scheitern.“ (Luhmann 1994: 193)
Organisationen bilden einen genuinen Typus sozialer Systeme und konstituieren sich über die Zuweisung exklusiver Mitgliedschaften. Im Fall von Organisationen ist daher im Unterschied zu Funktionssystemen Exklusion und nicht Inklusion der „Normfall“ (Luhmann 2000: 390). Organisationen basieren dabei operativ betrachtet auf Entscheidungsförmigkeit; als „Exklusionsmaschinen, deren Grundstruktur in entscheidungsgestütztem selektivem Zugriff auf Menschen besteht“, sind sie zugleich „Generatoren von Inklusion“ (Nassehi 2004: 338). Auch das 3 Dies ist insofern folgenreich, als die Ergebnisse der vorliegenden Studie von Kristen in aktuellen Publikationen als gesicherter empirischer Wissensbestand zur Frage der Diskriminierung von MigrantInnen im Bildungssystem rezipiert werden (so etwa bei Schründer-Lenzen 2008: 112; kritisch dazu hingegen Diefenbach 2008: 108).
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Schulsystem erfüllt seine Allokationsfunktion, indem es in seinen binnenorganisatorischen Strukturen Selektionsentscheidungen prozessiert4: „Jeder hat die Schule zu besuchen; aber da es sich um eine Organisation handelt, kann intern entschieden werden, auf welchem Niveau und mit welchem Erfolg.“ (Luhmann 1994: 193)
Die Diskriminierungsfähigkeit des Schulsystems beruht – vom Fall der Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit irregulärem oder prekärem Aufenthaltsstatus abgesehen5 – folglich darauf, dass die Inklusionsgleichheit des Erziehungssystems (allgemeine SchulpÀicht) über Prozesse der organisationsinternen Zuweisung auf horizontal und vertikal differenzierte Schultypen in Ungleichheit transformiert wird. Legitimiert wird diese durch die differentielle Bewertung von Leistung und den daraus resultierenden ungleichen Chancen zum Erwerb sozial unterschiedlich bewerteter Bildungszerti¿kate. Bewertungs- und Selektionsentscheidungen erlangen dadurch legitimen Status, dass sie dem meritokratischen Selbstanspruch der Schule folgen: „Unterschiedliche Belohnungen und Erfolge […] sind erlaubt und gewünscht, wenn sie Folge individueller Leistungsunterschiede (Begabung, Anstrengungen) sind“ (Hillmert 2008: 81 f.). Folglich gelten Entscheidungen dann als gerechtfertigt, wenn sie auf der Ungleichbehandlung leistungsdifferenter SchülerInnen basieren. Als „illegitim“ gelten demgegenüber Selektionsentscheidungen, „die auf kategorialen 4 So können Schulen in Deutschland nicht, oder zumindest noch nicht, aktive Inputselektion betreiben. Dies etwa im Unterschied zu Betrieben, die ethnisierende Unterscheidungen auch bei der Rekrutierung von Lehrlingen in Betracht ziehen können (vgl. dazu Imdorf im vorliegenden Band); es ¿ nden sich folglich gemäß der unterschiedlichen Organisationslogiken differentielle Gelegenheitsstrukturen zur Diskriminierung. 5 Die fehlende Gewährleistung des Rechts auf Bildung für MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus muss als der weiterhin bestehende problematische Fall eines faktischen Ausschlusses aus dem Bildungssystem gelten. Diese Problematik betraf bis vor kurzem auch noch Asylsuchende und Geduldete, die über keinen gefestigten Aufenthaltsstatus verfügten und bis 2005 noch in zahlreichen Bundesländern nicht der SchulpÀicht unterlagen (vgl. Harmening 2005). Dies hat sich in den letzten Jahren nach und nach verändert. So haben zuletzt auch die Bundesländer Baden-Württemberg, Hessen und das Saarland die SchulpÀicht für diese Personengruppe eingeführt. Der Ausschluss von der SchulpÀicht stellt insofern einen Bezugspunkt für Diskriminierungen dar, als damit gleichzeitig auch Ansprüche, das Recht auf Bildung wahrzunehmen, prekär werden. Hiervon sind Asylsuchende und Geduldete weiterhin betroffen, wenn die PÀichtschulzeit absolviert ist und ihnen eine weiterführende Ausbildung verwehrt wird (vgl. Weiss 2009: 67). Bei MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus, die prinzipiell auch ein Recht auf Schulbesuch haben, kommt das Problem der Melde- und ÜbermittlungspÀicht seitens der Schulen hinzu. Hier ¿ndet sich eine in den Bundesländern sowie auf der Ebene von Kommunen recht unterschiedliche Praxis und es besteht eine erhebliche Rechtsunsicherheit, so dass davon auszugehen ist, dass nur wenige Kinder und Jugendliche ohne regulären Aufenthaltsstatus die Bedingungen vor¿ nden, das Recht auf Bildung auch wahrnehmen zu können (vgl. Koch/Stark 2007).
Diskriminierung von MigrantInnen im Bildungssystem
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Zugehörigkeiten (wie etwa soziale Herkunft oder Geschlecht) basieren und daher leistungsfremde Kriterien für Verdienste darstellen“ (Becker/Hadjar 2009: 41). Insofern jedoch die „meritokratische Leit¿gur“ einen zentralen Bezugspunkt für die „Begründung und Legitimation sozialer Ungleichheiten“ und damit „zunächst nichts anderes als eine normative Selbstde¿nition moderner Gesellschaften“ (Solga 2005: 23) darstellt, erweist sich der Fokus auf die als illegitim de¿nierten Formen des Entscheidens als unzureichende Beobachtungsperspektive. Vielmehr sind im Kontext schulischer Organisation und professionellen Handelns auch Mechanismen zu berücksichtigen, in denen unter Inanspruchnahme des Prinzips formaler Gleichheit Entscheidungen getroffen werden, die zu Benachteiligungen führen. Im Folgenden wird argumentiert, dass sich die Analyse von Diskriminierungen im Bildungssystem daher nicht auf solche Formen beschränken kann, die an askriptiven Merkmalen wie ‚ethnische‘ Herkunft ansetzen und als unzulässige Ungleichbehandlungen gelten. Es geht vielmehr um die Frage, welche diskriminierungsrelevanten Entscheidungsprämissen in den Selektionsprozessen, in denen MigrantInnen systematisch benachteiligt werden, zum Tragen kommen. Die zentrale These ist dabei, dass es sich bei diesen Entscheidungsprämissen um organisationsintern kultivierte und routinisierte Logiken des Unterscheidens entlang sozialer Differenzierungslinien handelt. Angeschlossen wird damit an eine Perspektive, die „Unterschiede in der Bildungsbeteiligung als Ergebnis des Entscheidungsverhaltens der beteiligten Organisationen“ (Radtke/Hullen/Rathgeb 2005: 15) betrachtet. Organisationen nutzen gesellschaftlich vorhandene Wissensbestände, Deutungsund Handlungsangebote nicht in Form einer einfachen Adaption und Anwendung, sondern selegieren und interpretieren diese eigensinnig. Das Entscheidungsverhalten in Organisationen vollzieht sich entsprechend als „eigenlogische[r] und selbstreferentielle[r] Umgang mit vielfältigen und widersprüchlichen Umwelterwartungen, die von der Organisation wahrgenommen und in der Organisation verarbeitet werden“ (Gomolla/Radtke 2002: 59). Insofern die Differenz von Organisation und Profession ein konstitutives Strukturmerkmal des Schulsystems darstellt (vgl. Luhmann 2002; Klatetzki/Tacke 2005; Helsper et al. 2008)6, muss davon ausgegangen werden, dass im Fall diskriminierender Selektionsentscheidungen auch erfahrungsgesättigte professionelle Wissensbestände eine Rolle spielen. Von Bedeutung sind somit die infolge der organisatorischen Binnendifferenzierung des Schulsystems strukturell ermöglichten und erzwungenen Selektionsentscheidungen einerseits sowie die Prozessierung dieser Entscheidungen und deren Ausstattung mit Legitimität auf der Ebene des Professionshandelns andererseits. Folglich Niklas Luhmann zufolge ist es für das Erziehungssystem – im Unterschied zu anderen Funktionssystemen – charakteristisch, dass Erziehung unter den unterscheidbaren Gesichtspunkten bzw. Strukturmerkmalen von Organisation und Profession respezi¿ziert werden muss (vgl. Luhmann 2002: 142 ff.).
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können die jeweiligen kategorialen Bezugspunkte von Diskriminierungen im Zusammenspiel professionellen Unterscheidens und organisatorischen Entscheidens nicht abstrakt in Bezug auf ein übergeneralisierend-objektiviertes Merkmal wie ‚soziale und ethnische Herkunft‘ oder ‚Migrationshintergrund‘ vorausgesetzt, sondern nur in Hinblick auf ihre Artikulation und Überlagerung in den jeweiligen Figurationen schulischer Kontexte und deren handlungsleitender Interpretation durch den professionellen Diskurs rekonstruiert werden. Da diesbezüglich aufschlussreiche empirische Studien nur begrenzt und mit spezi¿schen Fragestellungen vorliegen (s. u.), wird im Folgenden vor dem Hintergrund relevanter Forschungsergebnisse der Frage nach den Mechanismen nachgegangen, die dazu führen, dass die Unterscheidung Einheimische-MigrantInnen zu einer schulintern bedeutsamen Differenzierungsform wird. Dies geschieht nicht zuletzt mit dem Interesse aufzuzeigen, welche möglichen diskriminierungsrelevanten Unterscheidungen als Bezugspunkte künftiger Analysen institutioneller Diskriminierung von MigrantInnen im Bildungssystem von Bedeutung sein könnten. 2
Diskriminierung auf der Grundlage der Unterscheidung ethnisch/ nicht-ethnisch
Bei der Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund auf der Grundlage ethnisierender Unterscheidungen handelt es sich zunächst um eine Form der Ungleichbehandlung, die keinen Bezug zu dem hat, was Schule als individuelle Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit de¿niert und die sich folglich in der Binnenrationalität des Bildungssystems als illegitim darstellt. Es geht also um einen Fall von Diskriminierung, der nicht nur im politisch-rechtlichen Antidiskriminierungsdiskurs als Ungleichbehandlung auf der Grundlage von Merkmalen der durch die Gesetzgebung ‚geschützten Gruppen‘ – hier aufgrund der „ethnischen Herkunft“7 – besondere Beachtung ¿ndet, sondern auch in den Auswertungen der Schulleistungsstudien als problematische Form der Bildungsbenachteiligung thematisiert, wenngleich dort nicht explizit als Diskriminierung gefasst wird. Während in den Interpretationen der ersten PISA-Studie herausgestellt wird, dass es sich bei der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund wesentlich um durch „Leistung gedeckte Ungleichheiten“ (Baumert/Schümer 2001: 358) handelt, die auf De¿zite in der deutschen Verkehrssprache zurückgeführt werden, sowie um schichtspezi¿sche Benachteiligungen (vgl. Baumert/Schümer 2002: 168), werfen die mit der Grundschuluntersuchung IGLU 2001 erhobenen Daten 7 Vgl. Richtlinie 2004/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (http://eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:180:0022:0026:DE:PDF).
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die Frage auf, inwiefern die Bildungsbenachteiligung von MigrantInnen über den vermittelten Bezug auf die sozioökonomische Lage und die in der Schule vorausgesetzten Sprachkompetenzen hinausgehend auch als ein Effekt einer spezi¿sch am Migrationshintergrund ansetzenden Diskriminierungspraxis gesehen werden muss. Denn die Sekundarschulempfehlungen nach der vierten Klasse weisen nicht nur eine ausgeprägte Selektivität in Abhängigkeit von der Sozialschichtzugehörigkeit, sondern auch in Abhängigkeit vom Merkmal ‚Migrationshintergrund‘ auf (vgl. Bos et al. 2004: 211 ff.). Dieser Sachverhalt der Benachteiligung bei gleichen (Lese-) leistungen und einer auch durch schichtspezi¿sche Unterschiede nicht hinreichend aufklärbaren Benachteiligung deutet folglich auf eine auf ethnisierenden Zuschreibungen basierende Diskriminierungspraxis bei den Übergangsempfehlungen hin.8 Zu gegenteiligen Ergebnissen kommen Lehmann und Peek in der Hamburger Längsschnittstudie „Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung“ (LAU), die zwar auch eine ausgeprägte soziale Selektivität der Übergangsempfehlungen nachweisen können, jedoch bei Kontrolle des sozio-ökonomischen Hintergrunds eine Empfehlungspraxis feststellen, die MigrantInnen tendenziell begünstigt (vgl. Lehmann/Peek 1997). Kristen (2006) ermittelt auf der Grundlage der Ergebnisse der Bundesländer vergleichenden IGLU-E-Studie und unter Hinzuziehung weiterer Variablen wie Testleistungen in Mathematik, Anstrengungsbereitschaft, Leistungsangst sowie Mathematik- und Deutschnoten, dass sich keine „ethnische Diskriminierung“ bei den Übergangsempfehlungen feststellen lässt. Einschränkend gegenüber dieser Einschätzung wird erwähnt, „dass mit den Noten […] zentrale Beurteilungskriterien der Lehrkräfte als unabhängige Variablen berücksichtigt“ werden und die Notengebung bereits durch diskriminierende Aspekte beeinÀusst sein könnte (Kristen 2006: 19 f.). Resümierend lässt sich feststellen, dass sich auf der Grundlage vorliegender quantitativer Studien zwar Hinweise auf Formen ethnisierender Ungleichbehandlung ¿ nden lassen, die Aussagekraft der vorliegenden Daten jedoch nur als eingeschränkt bewertet werden kann. Dies gilt nicht nur für den Fall der Berücksichtigung von Noten, die vor dem Hintergrund der Forschung über die soziale Selektivität der Notengebungspraxis (s. u.) keine erklärende, sondern eine zu erklärende Variable darstellen, sondern auch bezüglich des Faktors ‚Migrationshintergrund‘, da hier von Verstärkungseffekten in Zusammenhang mit dem ‚sozio-ökonomischen Hintergrund‘ ausgegangen werden muss.9 8 Dieser Zusammenhang zwischen Schullaufbahnempfehlung und Migrationshintergrund fällt in der zweiten IGLU Studie 2006 nicht mehr gravierend aus, während der soziale Status nach wie vor einen sehr deutlichen EinÀuss auf die Übergangsempfehlungen hat (vgl. Arnold/Bos/Richert/Stubbe 2007: 286 ff.). 9 Angesichts der divergierenden Forschungsergebnisse vorliegender quantitativer Studien konstatiert Frank-Olaf Radtke: „Es kommt darauf an, welche Größen miteinander korreliert werden und welche
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In Hinblick auf die Ausprägungen der Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird auf die großen Unterschiede zwischen den Bundesländern sowie auf Differenzen „zwischen verschiedenen Nationalitäten bzw. Schülern verschiedener ethnischer Zugehörigkeit“ (Diefenbach 2009: 439) hingewiesen.10 Entsprechend wird in der Auswertung der zwischen den Bundesländern vergleichenden PISA-Studie (PISA-E) auch danach gefragt, ob die unterschiedlich ausgeprägte Bildungsbenachteiligung in den Bundesländern auf spezi¿sche Migrationspopulationen zurückgeführt werden kann. Dies wird jedoch gerade nicht bestätigt: Jürgen Baumert und Gundel Schümer stellen vielmehr fest, dass die Differenzen zwischen den Bundesländern hinsichtlich des Einbezugs von MigrantInnen vor allem in Zusammenhang stehen mit „Unterschiede[n] in der länderspezi¿schen Angebots- und Nutzungsstruktur, die auch die Bildungsbeteiligung der Jugendlichen aus Familien ohne Migrationshintergrund reguliert“ (Baumert/ Schümer 2002: 196). Uwe Hunger und Dietrich Tränhardt ziehen aus der starken regionalen Diskrepanz des Bildungserfolgs von MigrantInnen den Rückschluss, dass die bundeslandspezi¿sche Bildungspolitik den ausschlaggebenden Faktor für die Varianzen in den Benachteiligungsmustern darstellt und bezweifeln vor diesem Hintergrund die eigenständige Erklärungskraft der nationalen bzw. ‚ethnischen‘ Herkunft für den Bildungserfolg unterschiedlicher Migrantengruppen (vgl. Hunger/Tränhardt 2001: 60). Winfried Kronig kann für die Schweiz eine „erhebliche regionale Streubreite“ von Übertrittswahrscheinlichkeiten auf bestimmte Sekundarschultypen zeigen, so dass „der Wohnkanton eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle wie der Pass“ spielt, den Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien besitzen (Kronig 2006: 208). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die ‚gruppen‘spezi¿sche Ungleichheit der Bildungschancen, die sich statistisch beschreiben lässt, nicht hinreichend mit den unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen und Bildungsaspirationen ethnisch oder kulturell verstandener Gruppen aufgeklärt werden kann, sondern dass es primär darum geht, ob und inwiefern die Unterscheidung Einheimische-MigrantInnen bzw. die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Migrantengruppen im Schulkontext soziale Bedeutung erhält und als Ressource bei der Verteilung von Bildungschancen Verwendung ¿ndet. Hierfür sind Studien von Bedeutung, die sich auf der Grundlage qualitativempirischer Forschung mit der Bildungsbenachteiligung von MigrantInnen auseinVariablen als abhängig und welche als unabhängig gesetzt werden. Das kann nur unter Rückgriff auf Theorien geschehen“ (Radtke 2008: 666). 10 So gelten etwa SchülerInnen mit spanischem und griechischem Migrationshintergrund als relativ bildungserfolgreich, SchülerInnen mit türkischem und italienischem Migrationshintergrund als besonders benachteiligt, während SchülerInnen, die als Aussiedler in die Bundesrepublik migriert sind, eine mittlere Position einnehmen (vgl. Hunger/Tränhardt 2001).
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andersetzen und kulturalistische Annahmen und ethnisierende Zuschreibungen in der unterrichtsbezogenen und informellen schulischen Kommunikation (vgl. Schulze 2007) sowie bei den Schullaufbahnentscheidungen an den Übergangsschwellen des Bildungssystems (vgl. Gomolla/Radtke 2002; Weber 2003) aufzeigen. Im Unterschied zu bildungssoziologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschungen, die migrationsbezogene Bildungsungleichheit vorrangig als Effekt schulexterner Faktoren (Sprachde¿zite, soziale Herkunft, Bildungsaspirationen) untersuchen, wird in der Studie von Gomolla und Radtke zur institutionellen Diskriminierung das „in der Organisation Schule institutionalisierte und geteilte Wissen“ in den Blick genommen, das „ethnische Unterscheidungen legitimiert und darstellbar macht“ (Gomolla/Radtke 2002: 17). Der Beobachtungsfokus richtet sich folglich nicht auf die Frage, ob MigrantInnen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit Diskriminierung erfahren, sondern auf die „Herstellung von ethnischer Differenz“, d. h. darauf, wie ethnisierende Gruppendifferenzen konstruiert und in der Organisation Schule sozial wirksam werden. Untersuchungsgegenstand sind dabei nicht nur die institutionalisierten Deutungs- und Handlungsmuster, die Selektionsentscheidungen beeinÀussen, sondern auch die Rückbindung dieser Entscheidungen an die strukturellen Voraussetzungen der Verteilungsprozesse innerhalb des Schulsystems, insbesondere an das lokale Schulplatzangebot (vgl. Gomolla 2005). Neben direkten Formen institutioneller Diskriminierung stellen Gomolla und Radtke insbesondere Mechanismen heraus, die auf der Grundlage der „Anwendung gleicher Regeln“ (Gomolla/Radtke 2002: 270) bei ungleichen individuellen Voraussetzungen und organisationsspezi¿scher Normalitätserwartungen ethnische Differenz herstellen und als indirekte institutionelle Diskriminierung an den Übergangsschwellen des Bildungssystems (Einschulung, Klassenwiederholung, Überweisung in Sprachförderklassen und Sonderschulen, Sekundarschulempfehlungen) wirksam werden: „Dabei werden […] die vermeintlich ‚neutralen‘ Leistungskriterien vielfach mit askriptiven Merkmalen in bezug auf den kulturell und religiösen Hintergrund der Kinder und ihrer Familien gefüllt“ (Gomolla/ Radtke 2002: 270). In Anschluss an Karl Weick wird davon ausgegangen, dass Entscheidungen, die der Eigenrationalität und den etablierten Erwartungsstrukturen der Organisation folgen, mit dem Rückgriff auf institutionell verankerte Wissensbestände retroaktiv plausibilisiert und legitimiert werden: Entsprechend werden „ethnisierende Begründungen dann bemüht […], wenn die Schule eine Entscheidung bereits getroffen hat, die ihrer eigenen Logik der Problemlösung folgt, aber negative Auswirkungen auf die Bildungskarriere eines Kindes hat“ (Gomolla/Radtke 2002: 274). Diese verknüpfen sich regelmäßig mit der Diagnose vorhandener Sprachde¿zite oder vollziehen sich als Konstruktion eines „kulturellen Passungsproblems“ zwischen migrationstypischem Familienhintergrund und Schule (vgl. Gomolla/Radtke 2002: 270 f.).
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Auszugehen ist demzufolge davon, dass über die Attribution ‚ethnischer‘ Merkmale ein grundlegendes entscheidungsrelevantes Differenzierungsschema zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund – und damit zwischen einer als ethnisch konzipierten Minderheit und einer als nicht-ethnisch verstandenen Mehrheit – durch die Organisation Schule (mit-)erzeugt wird. Es handelt sich folglich um eine Konstruktion differentieller Gruppen im Kontext der organisationsbasierten Vollzüge von Bildungsinstitutionen: Dabei wird das Merkmal ‚ethnisch‘ als partikulare Eigenschaft prozessiert, während ‚nicht-ethnisch‘ unmarkiert und universell bleibt, als „das leere Zeichen, die Norm, an der ‚Differenz‘ (Ethnizität) gemessen“ wird (Hall 2004: 203). Dieses grundlegende Differenzierungsschema wird dabei potenziell mit wiederum differenziellen Logiken respezi¿ziert und operationalisiert, wie im Folgenden gezeigt werden soll. 3
Diskriminierung auf der Grundlage der Unterscheidung deutschsprachig/nicht-deutschsprachig
Im Unterschied zu ethnisierenden Unterscheidungen – verstanden als Ungleichbehandlung auf der Grundlage der (zugeschriebenen) ethnischen Herkunft – gilt die Unterscheidung deutschsprachig/nicht-deutschsprachig als legitimes Kriterium für schulische Bewertungen, weil sprachliche Kompetenzen keine per se leistungsfremden Merkmale darstellen, sondern einen Bezug zu den im Schulkontext als relevant de¿nierten Fähigkeiten und Leistungsvoraussetzungen haben. Insofern wird die differenzielle Bewertung unterschiedlicher Sprachkenntnisse in der allgemeinen Bildungsforschung auch kaum als Diskriminierungsfrage thematisch, sondern insbesondere als Folge der unterschiedlichen Ausstattung mit für den Bildungserfolg erforderlichen Ressourcen verhandelt (vgl. kritisch dazu Diefenbach 2008: 140 ff.). Der Topos de¿ zitärer Sprachkompetenzen verfestigt sich dabei zu einer weit über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus verfügbaren Erklärungsroutine und stellt vor diesem Hintergrund auch den zentralen Ansatzpunkt für bildungspolitische Maßnahmen dar, die auf die Bildungsbenachteiligung reagieren. So gehört die Feststellung, dass für „Kinder aus Zuwandererfamilien […] die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in ihrer Bildungskarriere“ darstellt (Baumert/Schümer 2002: 199), zu den viel zitierten Problembeschreibungen in der Diskussion um die Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (vgl. etwa Stanat 2003: 260). Mangelnde Kompetenzen in der deutschen Verkehrssprache werden dabei primär als Merkmale der Kinder bzw. ihrer Herkunftsfamilien und als Element der unzureichenden Ausstattung mit kulturellem Kapital thematisiert. Die alltägliche Verwendung nicht-deutscher Sprachen erscheint in diesem Kontext als „Risikofaktor“ (Roth 2007: 165), der dem Bildungserfolg im Wege steht. Dabei gerät allerdings aus dem Blick, dass es
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für die Erzeugung von Benachteiligungen entlang des Kriteriums Sprache einen gravierenden Unterschied macht, ob „Mehrsprachigkeit in der Schule als Problem, als Ressource oder als Recht angesehen wird“ (Fürstenau 2009: 75). Unterschiedliche Sprachkompetenzen stellen nicht lediglich ein in der Umwelt von Schule zu verortendes Merkmal dar, sondern werden in der Schule in Abhängigkeit davon eigenlogisch operationalisiert, ob die Bildungsvoraussetzung ‚Mehrsprachigkeit‘ eine systematische Berücksichtigung ¿ndet oder ob die Beherrschung der Schulund Unterrichtssprache Deutsch als Normalitätserwartung auf der Grundlage eines „monolingualen Habitus“ (Gogolin 1994) vorausgesetzt wird. Entsprechend reproduziert das Bildungssystem dann ungleiche Startvoraussetzungen, wenn es von der Fiktion der Homogenität der Eingangsvoraussetzungen von SchülerInnen ausgeht und wenn es die aktive Herstellung gleicher Sprachkompetenz nicht als seine Kernaufgabe begreift, sondern fast nur als Aufgabe ergänzender Maßnahmen der kompensatorischen Erziehung oder – wie aktuell präferiert und forciert – als Ansatzpunkt vorschulischer Fördermaßnahmen versteht. Joachim Roth weist darauf hin, dass die in Reaktion auf die Bildungsbenachteiligung von MigrantInnen zur Zeit im Vorschulalter zunehmend Àächendeckend eingesetzten Sprachstandserhebungsverfahren in ihrer Validität sehr umstritten sind, mit der Folge, dass „wir in der Bundesrepublik weitreichende Entscheidungen fällen über frühe Selektion und Sprachfördermaßnahmen, ohne überhaupt zu wissen, dass das, was wir messen, Sprachkompetenz überhaupt erfasst“ (Roth 2007: 167). Erste Ergebnisse einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung11 bestätigen diese Einschätzung und weisen zudem darauf hin, dass die aus den bundesuneinheitlichen Sprachtests jeweils abgeleiteten Diagnosen und Reaktionen in Abhängigkeit davon erfolgen, ob in den Bundesländern vorschulische Sprachfördermaßnahmen institutionalisiert sind. In Bundesländern, in denen dies nicht der Fall ist, liegt die Tendenz vor, den Sprachtest lediglich zur Formulierung des Problems einer mangelnden Sprachkompetenz zu nutzen, das an die Herkunftsfamilien zurückgewiesen und selektionsrelevant wird. Damit droht das Merkmal „Herkunftssprachgebrauch in der Familie“ zu einem zentralen Bezugspunkt de¿zitärer Zuschreibungen und „zu einem stehenden Begründungsmuster der Lehrer für negative Selektionsentscheidungen“ zu werden (Radtke 2008: 662), das im Unterschied zu herkunftsbezogenen Zuschreibungen und Kriterien keinen weitergehenden Legitimationsbedarf erzeugt, sondern durch den engen Bezug zu ‚Leistung‘ und ‚Kompetenz‘ immer schon als legitimer und selbsterklärender Begründungszusammenhang in Erscheinung tritt. vgl. den Bericht über die ersten Ergebnisse der von Hans Döbert vom DIPF geleiteten Untersuchung als Grundlage für den Nationalen Bildungsbericht 2010 in der Frankfurter Rundschau vom 20.10.2009 (http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/2049342_Bringen-Sie-IhremKind-mal-Deutsch-bei.html; letzter Zugriff 19.12.09). 11
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Ulrike Hormel Diskriminierung auf der Grundlage der Unterscheidung sozial benachteiligt/sozial privilegiert
Vorliegende Studien kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Benachteiligung von MigrantInnen im Bildungssystem zu einem großen Teil auf die benachteiligte sozio-ökonomische Lage zurückzuführen ist (vgl. zusammenfassend Stanat 2008). So stellt das PISA-Konsortium fest: „Das Vorliegen eines Migrationshintergrundes geht eng einher mit einer niedrigen sozioökonomischen Stellung. Damit ist die soziale Lage der entscheidende Faktor für die Verteilung auf die Schulformen.“ (PISA-Konsortium Deutschland 2004: 267) In der aktuellen Forschung zur Bildungsbenachteiligung dominieren deskriptive Studien (vgl. Hillmert 2008: 77) und Ansätze, die aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven den Zusammenhang zwischen der Kapitalausstattung, den Bildungsstrategien der Herkunftsfamilien und dem Bildungserfolg untersuchen (vgl. Becker 2009). Dabei wird mehrheitlich an Raymond Boudon (1974) und dessen Unterscheidung zwischen ‚primären und sekundären Herkunftseffekten‘ angeschlossen (vgl. Becker 2009: 105 f.). Als primäre Herkunftseffekte gelten unterschiedliche Ausgangsbedingungen von SchülerInnen verschiedener sozialer Herkunft, also die Verfügung über vor- und außerschulisch erworbene, aber schulisch relevante Kenntnisse, Fähigkeiten und Handlungskompetenzen, als sekundäre Herkunftseffekte demgegenüber insbesondere herkunftsabhängige familiale Bildungsentscheidungen, die aus der subjektiven Bewertung der Vor- und Nachteile höherer Bildung sowie der Einschätzung der Erfolgsaussichten individueller Bildungsanstrengungen und Bildungsinvestitionen resultieren. Während primäre Herkunftseffekte demnach mit den leistungsrelevanten Maßstäben und Erwartungen der Schule zusammenhängen, realisieren sich sekundäre Herkunftseffekte in der schichtspezi¿schen Varianz von Bildungsentscheidungen, die auch bei gleicher Leistung einen „leistungsunabhängigen sozialen Filter“ (Geißler 2006: 42) bilden. Im Anschluss an Boudon stellen sich Bildungskarrieren als „Folge von Entscheidungspunkten“ (Böttcher/Klemm 2000: 26) dar, die in Relation zu der erbrachten Leistung sozial unterschiedlich erfolgen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich die soziale Selektivität kumulativ verstärkt, je mehr Entscheidungspunkte und Weichenstellungen es in einem Bildungssystem gibt (vgl. ebd.: 27). Obwohl Boudon auf die institutionellen Bedingungen der Genese von Bildungsentscheidungen und auf die Selektionsmechanismen des Bildungssystems hinweist, wird die „Sozialisationswirkung der Schule“ und deren eigenständiger Beitrag zur Reproduktion oder Verstärkung „schichtabhängiger Startchancen“ Rolf Becker zufolge relativ wenig beachtet (Becker 2009: 109). Dies setzt sich insofern in den an Boudon anschließenden Untersuchungen fort, als hier teilweise die Tendenz vorliegt, die Prozesse der Erzeugung von Bildungsungleichheit, verstanden als „aggregierte Folge vorausgegangener individueller Bildungsentscheidungen“
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(Kristen 1999: 16), auf die Seite der Herkunftsfamilien zu verlagern und die institutionellen Bedingungen nicht als eigenständigen EinÀussfaktor zu analysieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich zunächst feststellen, dass die Unterscheidung zwischen primären Herkunftseffekten und sekundären Herkunftseffekten analytisch zwar hilfreich ist, aber unterschlägt, dass sowohl die schichtspezi¿sche Leistungsperformanz (primäre Herkunftseffekte) als auch die schichtspezi¿schen Bildungsentscheidungen (sekundäre Herkunftseffekte) keine statischen, in der Umwelt von Schule liegenden Ungleichheitsfaktoren sind, sondern dass Schule durch ihre spezi¿schen Operationen zur sozialen Genese solcher milieu- und schichtspezi¿schen Leistungskompetenzen sowie der familialen Bildungsentscheidungen beiträgt. Heike Solga weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Perzeptionen von „Leistungen“, „Kompetenzen“ und „Begabungen“ von „sozial strati¿zierten Wahrnehmungen von LehrerInnen und Eltern“ abhängen (Solga 2005: 30) und damit nicht als neutrale Größen existieren, sondern immer schon institutionell ausgedeutet und bewertet sind. Entsprechend ist davon auszugehen, dass auch milieuspezi¿sche Bildungsvoraussetzungen und Bildungsaspirationen keinen hinreichenden Erklärungsfaktor für ungleiche Bildungschancen darstellen, da auch diese schulintern interpretiert, kommuniziert und als entscheidungsrelevante Faktoren mit Sinn ausgestattet werden. Für die Frage nach einer möglichen institutionellen Diskriminierung von MigrantInnen auf der Grundlage der sozialen Herkunft ist daher zum einen von Bedeutung, dass sich die Benachteiligung spezi¿scher Teilgruppen in und durch das Bildungssystem auch dadurch realisiert, dass unter dem Paradigma der Chancengleichheit vermeintlich neutrale Erwartungen und Regeln zur Anwendung kommen und dass Schulen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen voraussetzen und bewerten, die sie selbst nicht vermitteln (vgl. Bourdieu/Passeron 1971). Zum anderen realisiert sich die Wahrnehmung von Fähigkeiten und Leistungen nicht unabhängig von sozialen Klassi¿kationen und Zuschreibungen, mit denen LehrerInnen ihre SchülerInnen typisieren: So stellt Helmut Heid unter Bezugnahme auf empirische Studien aus den 1970er und 1980er Jahren fest: „Auf interpersonal ungleiche Lernvoraussetzungen reagieren Lehrer tendenziell ungleich im Sinne weiterer Begünstigung der für gut und zusätzlicher Benachteiligung der für ‚schlecht‘ gehaltenen Schüler“ und zwar auch dann, wenn die Lehrer selbst davon ausgehen, dass sie alle Schüler gleich behandeln (Heid 1988: 3). Diese Begünstigung und Benachteiligung manifestiert sich in der Praxis sozial selektiver Notengebung und Schullaufbahnempfehlung, wie bereits im Kontext der Bildungsforschung der 1960er Jahre festgestellt wurde (vgl. Preuss 1970). Aber auch aktuelle Studien zeigen: „Kinder der unteren Schicht werden gemessen an ihren tatsächlichen Leistungen, zu schlecht, Angehörige der mittleren, vor allem aber der oberen Sozialgruppe werden bezogen auf die tatsächlichen Leistungen deutlich zu gut benotet“ (Ditton 2008: 266). Eva Schumacher kann mit einer Studie
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zur Milieuspezi¿k von Deutungsmustern bei GrundschullehrerInnen zeigen, dass Dimensionen wie „gute Umgangsformen“, „Sozialverhalten“, der „kreative Umgang mit Lerninhalten“ systematische Berücksichtigung bei der Leistungseinschätzung und -bewertung erfahren – und zwar insbesondere bei denjenigen LehrerInnen, die dem „liberal-intellektuellen Milieu“12 zugeordnet werden können und eine starke Orientierung am Ideal der Chancengleichheit aufweisen (Schumacher 2002: 261 f.). Hingewiesen ist damit auf eine am Merkmal der sozialen Herkunft ansetzende Form der Diskriminierung, die über „implizite Begabungs- und Persönlichkeitstheorien“ (Ditton 2008: 269) vermittelt ist, ohne sich dabei im ‚Normalfall‘ absichtsvoll zu vollziehen (vgl. ebd.). Wolfgang Böttcher und Klaus Klemm deuten den damit angesprochenen Zusammenhang dahingehend, dass „[d]as ‚systemische‘ Ignorieren der sozialen Herkunft der Schüler […] mit einer zwar individuellen, freilich systematischen, wohl mehrheitlich unbewussten Abwertung bildungsferner Herkunft“ einhergeht (Böttcher/Klemm 2000: 24). Für eine Aufklärung dieser ‚systemischen‘ und d. h. institutionellen Rückbindung der Abwertungsprozesse sind entsprechende organisationstheoretisch angelegte Forschungsperspektiven notwendig, die der Frage nachgehen, ob und in welcher Form die Unterscheidung sozial benachteiligt/sozial privilegiert schulintern operationalisiert wird und zu den beobachtbaren Benachteiligungen führt.13 Dabei ist davon auszugehen, dass die Struktur des Bildungssystems mit ihren Entscheidungspunkten und Übergangsschwellen nicht nur sozial selektive Bildungsentscheidungen befördert, sondern auch zahlreiche Gelegenheiten zur institutionellen Diskriminierung durch die Organisation Schule bereitstellt. Wie Ditton zeigen kann, hat das regionale Schulangebot EinÀuss sowohl auf die familialen Bildungsaspirationen als auch auf die Empfehlungspraxis der Lehrkräfte (vgl. Ditton 2007: 33). Entsprechend ist anzunehmen dass die getroffenen Entscheidungen eine Rückbindung nicht nur an die Gelegenheitsstrukturen des gegliederten Schulsystems als solche haben, sondern durch strukturelle Vorgaben und Bedingungen in konkreten lokalen und regionalen Kontexte gerahmt sind, die Entscheidungen zwar nicht determinieren, aber den jeweiligen Entscheidungs- und Aushandlungsspielraum vorstrukturieren. Die Zuordnung zu Milieus wurde in Anlehnung an das SINUS-Milieu-Modell vollzogen, wobei das „liberal-intellektuelle Milieu“ das weitaus dominante Milieu innerhalb der befragten Lehrerschaft darstellte. Dabei handelt es sich um GrundschulpädagogInnen, die in den späten 1960er- und 70er Jahren studiert haben und zum großen Teil durch Wertorientierungen geprägt sind, „in denen der Solidaritätsgedanke, die Frage nach sozialer Chancengleichheit sowie weitere, an die Frankfurter Schule angelehnte freiheitsbewusste Perspektiven zu einem allgemein-gesellschaftlichen und (bildungspolitischen Auf- bzw. Umschwung führten […]“ (Schumacher 2002: 256 f.). 13 Entsprechende Untersuchungen, die in ähnlicher Weise wie Gomolla/Radtke (2002) mit der Frage nach der „Herstellung ethnischer Differenz“ in der Schule auf klassen- und milieubezogene Differenzierungen fokussieren, liegen meiner Kenntnis nach in Deutschland nicht vor. 12
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Insofern die Ergebnisse der IGLU- und PISA-Studien darauf hinweisen, dass die im Vergleich zur Primarstufe zunehmende Herkunftsabhängigkeit der Leistungen in der Sekundarstufe auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Entwicklungsmilieus (vgl. Baumert et al. 2006: 177) in den weiterführenden Schulen sowie der Schulform-Vermitteltheit der Leistungs- und Kompetenzentwicklung zu interpretieren ist, erschöpft sich das Phänomen einer institutionellen Diskriminierung nicht im punktuellen Moment sozial selektiver Übergangsempfehlungen, sondern steht in engem Zusammenhang mit der schulformbezogenen Genese von Leistungen und Kompetenzen. Damit stellt sich die sozial ungleiche Leistungsperformanz nicht lediglich als primärer Herkunftseffekt, sondern auch als Effekt der Verteilung von Schülerpopulationen auf differenzierte Schultypen und deren „unterschiedlichen Förderintensitäten“ (Dravenau/Groh-Samberg 2005: 115) dar: Insbesondere in Hinblick auf die „sozial homogenste Schulform“ (Solga/Wagner 2008: 192) Hauptschule kann dabei gelten, dass die Klassenlage durch die Folgen des sozial segregativen Bildungssystems an Relevanz gewinnt und damit zu einem Erfahrungshorizont wird, der durch schulische Selektion mit hervorgebracht wird (vgl. ebd.). 5
Diskriminierung auf der Grundlage der Unterscheidung behindert/ nicht-behindert
Obwohl die seit den 1990er Jahren anhaltend hohe und zum Teil steigende Quote von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund an Schulen mit sonderpädagogischem Förderbedarf auch als ein allgemeiner Indikator für die Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gewertet werden kann (vgl. Powell/Wagner 2002), bleibt das Phänomen einer spezi¿schen Benachteiligung durch Aussonderung aus dem Regelschulsystem in den einschlägigen Studien der empirischen Bildungsforschung und auch in vorliegenden bildungssoziologischen Untersuchungen weitgehend unberücksichtigt (vgl. dazu Kronig 2007: 56). Der prozentuale Anteil der Kinder ohne deutsche Staatsangehörigkeit ist innerhalb der Sonderschulform mit dem Förderschwerpunkt ‚Lernen‘14 besonders hoch: Reimer Kornmann hat auf der Grundlage der Schulstatistiken für das Jahr 2002 einen Relativen-Risiko-Index von 2,23 hinsichtlich des Besuchs dieser Schulform für diese Gruppe errechnet (Kornmann 2006: 72). Die damit angezeigte deutliche Überrepräsentation ausländischer Schüler und Schülerinnen auf Sonderschulen mit Die Terminologie für Sonderschulen im Förderschwerpunkt ‚Lernen‘ ist in den Bundesländern uneinheitlich. Manche verwenden noch den Terminus ‚Sonderschule für Lernbehinderte‘, andere haben den Terminus ‚Förderschule‘ eingeführt.
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dem Förderschwerpunkt ‚Lernen‘ weist jedoch eine erhebliche Varianz zwischen den einzelnen Bundesländern auf (vgl. ebd.: 73). Z. B. ist in Baden-Württemberg das Risiko eines Kindes mit Migrationshintergrund um den Faktor 3,4 gegenüber einem Kind ohne Migrationshintergrund erhöht, eine Förderschule zu besuchen, während sich in Bremen kein überproportional erhöhtes Risiko ¿ndet (vgl. Werning/Reiser 2008: 533). Dies geht einher mit dem allgemeinen Phänomen enormer Unterschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich des Prozentanteils von SonderschülerInnen, das sich in bundeslandspezi¿schen Quoten ‚lernbehinderter‘ SchülerInnen zeigt. Eine von Hans Wocken durchgeführte Studie zu Förderschulen in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg und Niedersachen zeigt darüber hinausgehend auf, dass erheblich divergierende Förderschulbesuchsquoten nicht nur im Vergleich zwischen den Bundesländern, sondern auch im Verhältnis unterschiedlicher Regionen innerhalb eines Bundeslandes in Rechnung zu stellen sind (vgl. Wocken 2005: 7 f.). Eine in Nordrhein-Westfalen durchgeführte Untersuchung zu den sozialstrukturellen Bedingungen der Varianz von Sonderschul- und Integrationsquoten kommt zum Ergebnis, dass Sonderschulquoten im Förderbereich ‚Lernen‘ zwischen Städten in Abhängigkeit von kommunalen Sozialstrukturdaten wie etwa Arbeitslosenquote und Wohnungsmieten variieren (vgl. Mand 2006: 110). Zudem erweisen sich nicht nur die Sonderschulquoten, sondern auch die Integrationsquoten als abhängig von sozialer Herkunft und Migrationshintergrund: So haben als sonderpädagogisch förderungsbedürftig klassi¿zierte Mittelschichtkinder deutlich größere Chancen auf eine integrative Beschulung als Angehörige sozial benachteiligter Schichten und Milieus (vgl. ebd.: 113 f.). Günther Cloerkes zieht aus der in der Sonderschulstatistik dokumentierten Varianz von Förderschulquoten den Rückschluss auf eine „weitgehende Beliebigkeit in der Zuweisung von Sonderschulplätzen“ (Cloerkes 2003: 11) und verweist auf die Intransparenz der Kriterien für Sonderschulzuweisungen und für die Diagnose eines ‚sonderpädagogischen Förderbedarfs‘. Vor diesem Hintergrund steht der allgemeine Anstieg in den Förderschulquoten in einem Spannungsverhältnis zur wissenschaftlichen Debatte um den Status von Sonderschulen im Bereich ‚Lernen‘: Hingewiesen wird darauf, dass eine in sich konsistente Bestimmung des Phänomens ‚Lernbehinderung‘ im Sinne einer medizinischen, pädagogischen und psychologischen Diagnostik nicht vorliegt und auch nicht möglich sei (vgl. Eberwein 2003). Im Unterschied zu anderen Kategorien der Behinderung wird ‚Lernbehinderung‘ exklusiv als ein Unterscheidungskriterium relevant, das auf schulisches Lernen bezogen ist: Es handelt sich somit um ein schulinduziertes, „schulorganisatorisches Phänomen“ (Eberwein 2003: 339) und damit um ein Produkt sozial selektiver Typisierungs- und Stigmatisierungsprozesse, die das Scheitern an den Regelanforderungen des Schulsystems markieren und den Regelschulen Möglichkeiten der Entlastung und Exklusion von leistungsschwachen SchülerInnen bieten (vgl. Kornmann 2006: 71).
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Vorliegende Analysen zu den Folgen der Sonderbeschulung zeigen auf, dass diese als Praxis der „institutionellen Aussonderung“ (Solga 2003: 20) mit spezi¿schen Formen sozialer Benachteiligung einhergeht, sowohl hinsichtlich der schlechten Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen von Jugendlichen mit Sonderschulbiographien als auch der stigmatisierenden Wirkungen, die mit der Klassi¿kation als SonderschülerIn verbunden sind. Insofern eine Rückschulung auf die Regelschule nur in Ausnahmefällen vorkommt (vgl. Eberwein 2003: 339), erzeugen Entscheidungen, die zu einer Überweisung auf eine Sonderschule führen, meist irreversible und in diesem Sinne ‚stabile‘ Sonderschulkarrieren. Es handelt sich somit um einen „Modus schulischer Auslese“, der dazu führt, dass „Schülerinnen und Schüler dauerhaft aus der regulären Bildungslaufbahn genommen werden, mit äußerst geringen Aussichten auf Wiedereingliederung“ (Kronig 2007: 14). Brigitte Schumann weist mit einer qualitativen Untersuchung zu den „Beschämungseffekten“, die mit einem Sonderschulbesuch einhergehen, darauf hin, dass Strategien der Verleugnung des Sonderschulbesuchs beobachtbar sind und mit „negativer Selbsttypisierung“ und „Anpassungsprozessen“ einhergehen können, die zu einer Verfestigung von „Exklusionskarrieren“ beitragen (Schumann 2007: 18). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern die negative und stigmatisierende Klassi¿kation als SonderschülerIn/FörderschülerIn einen eigenständigen Stellenwert im Rahmen der Reproduktion sozialer Ungleichheit in und durch das Bildungssystem übernimmt und inwiefern die Klassi¿kation lernbehindert/ nicht-lernbehindert keine diskriminierenden Praktiken vorgängige Unterscheidung darstellt, sondern als solche Diskriminierung konstituiert. Eine in der Schweiz im Kanton Aargau durchgeführte Studie zum Aussonderungshandeln zeigt aus wissenssoziologischer Perspektive auf, dass die institutionalisierten Deutungs- und Handlungsmuster, die in jeweiligen (Selektions-) Entscheidungen auf der Ebene der Schule als Organisation zum Tragen kommen, von Aushandlungsprozessen in spezi¿schen, lokal variierenden Akteurskonstellationen abhängen, in denen institutionelle Vorgaben ‚rekontextualisiert‘ und mit Sinn ausgestattet werden (vgl. Sieber 2006). Herausgearbeitet wird, dass Klassi¿kationsprozesse der Sonderschulbedürftigkeit mit der Zunahme des Migrantenanteils in einem Schuleinzugsgebiet positiv korrelieren und dann wahrscheinlicher werden, wenn institutionalisierte Angebote des Umgangs mit Heterogenität ausschließlich in Form separativer Unterstützungs- und Fördermaßnahmen vorliegen (vgl. ebd.: 239). Dabei weist diese Untersuchung auf eine Überlagerung der Variablen Klasse/Schicht/Milieu, Migrationshintergrund/Nationalität und Sprache hin, die als Bezugspunkte der Klassi¿kation von Sonderschulbedürftigkeit in den Deutungsund Handlungsmustern der beteiligten Akteure bedeutsam werden. Vor diesem Hintergrund kann die Unterscheidung (lern-)behindert/nicht-(lern-)behindert als eigenständiges, diskriminierungsrelevantes Klassi¿kationsschema angenommen werden, das nur vermeintlich in engem Bezug zu Leistungskriterien steht und
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offensichtlich mit ethnisierenden und sozialstereotypisierenden Zuschreibungen ‚spezi¿ziert‘ wird. 6
Schlussfolgerungen
Der Beitrag, den Bildungsinstitutionen hinsichtlich der Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund leisten, lässt sich nur unzureichend beobachten, wenn dieser monokausal auf die Dimension ‚ethnische Diskriminierung‘ eingeschränkt wird. Denn damit wird die Fragestellung unter Bezugnahme auf ein am meritokratischen Ideal orientiertes Modell formaler Chancengleichheit konturiert und unterstellt, dass Benachteiligungen, die sich im Verhältnis zwischen Einheimischen und MigrantInnen realisieren, nur dann als Diskriminierung gelten können, wenn sie geradlinig auf Mechanismen zurückzuführen sind, die am Merkmal der ethnischen Herkunft ansetzen.15 In dieser Perspektive wird folglich Diskriminierung nur als Diskriminierung gewertet, wenn die Benachteiligung von Individuen in keinem Bezug steht zu dem, was jeweilige Organisationen in ihrer eigenen Binnenlogik als zu erbringende Leistungen, Anforderungen, Kompetenzen, Quali¿kationen etc. voraussetzen. Dies hat zur Folge, dass die Herstellung und Prozessierung sozioökonomischer Ungleichheiten sowie sprachbezogener Unterschiede in der und durch die Schule unberücksichtigt bleibt und die Diskriminierung von MigrantInnen letztlich als ein von der Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu unterscheidender – und statistisch nur begrenzt nachzuweisender – Sonderfall verhandelt wird. Demgegenüber sind sozialwissenschaftliche Untersuchungen der Diskriminierung von MigrantInnen darauf verwiesen, nicht von den Eigenschaften und Merkmalen von Individuen als Angehörige sozioökonomisch und ethnisch unterscheidbarer Gruppen auszugehen, die aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit Benachteiligung erfahren, sondern Prozesse in den Blick zu nehmen, durch die ethnisierende und klassen- und milieubezogene Grenzziehungen konstituiert und sozial wirksam werden. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass soziale Klassi¿kationen wie soziale Schichtzugehörigkeit und Ethnizität weder den Ausgangspunkt noch das Ende wissenschaftlicher Untersuchungen von Bildungsungleichheiten darstellen können. Vielmehr sind die Mechanismen und Prozesse aufzuklären, durch die distinkte soziale ‚Gruppen‘ auch im Kontext organisatorischen Handelns hervorgebracht werden und die in Bezug auf die Genese, Attribuierung und Bewertung von Leistung Bedeutung erlangen. Letztlich geht es um nichts weniger als die Klärung der
Vgl. hierzu auch Gomolla und Radtkes Kritik an einem verkürzten Verständnis von institutioneller Diskriminierung (2002: 50 f.) sowie Gomolla (2005) und im vorliegenden Band.
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von Helmut Heid bereits 1988 im Kontext der Analyse von Bildungsungleichheiten formulierten Frage: „Unter welchen Bedingungen und Gesichtspunkten, zu welchen Zwecken und mit welchen Konsequenzen werden Menschen nicht nur miteinander verglichen und voneinander unterschieden, sondern individuelle Unterschiede zwischen Menschen und Menschengruppen allererst erzeugt?“ (Heid 1988: 11 f.)
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Die Diskriminierung ‚ausländischer‘ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl1 Christian Imdorf
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Einleitung
Ethnische Ungleichheiten im Zugang zu Arbeitsplätzen halten sich weltweit hartnäckig. Eine langjährige Forschungstradition hat untersucht, in welchem Ausmaß Diskriminierung eine Rolle bei der Formung solcher Arbeitsmarkt-Disparitäten spielt (Pager/Shepherd 2008). Mit dem Begriff Diskriminierung werden dabei unterschiedliche soziale Prozesse gefasst, die letztendlich zur Folge haben, dass eher zugeschriebene Ethnizität als meritokratische Leistungsprinzipien den Zugang zu Erwerbsarbeit regelt. Ich beziehe mich im vorliegenden Aufsatz – im Sinne einer exemplarischen Analyse – auf einen Spezialfall der Stellenvergabe, der sich, wie noch zu zeigen sein wird, für die Untersuchung von Diskriminierung besonders eignet: Die Vergabe betrieblicher Ausbildungsplätze in Schweizer Klein- und Mittelbetrieben. Berufslehren in Ausbildungsbetrieben stellen einen zentralen Bestandteil des Schweizer Berufsausbildungssystems dar. Zwei von drei Jugendlichen be¿nden sich spätestens zwei Jahre nach Abschluss des neunten Schuljahrs in einer Berufsausbildung, die zu über 80 % als alternierende Ausbildung in Betrieb und Berufsschule organisiert ist (Stalder/Meyer/Hupka-Brunner 2008). Die betrieblichen Ausbildungsplätze werden dabei zu annähernd 90 % von Klein- und Mittelunternehmen (KMU) angeboten (Imdorf 2008: 153). Jugendliche bewerben sich u. a. auf bestimmte Ausbildungsplätze, weil sie entweder einen Beruf oder einen Betrieb interessant ¿nden. Der Zugang zum Schweizer Lehrstellenmarkt entscheidet dabei über ihre späteren Erwerbsaussichten mit, denn junge Erwachsene ohne Berufsbildungsabschluss sind besonders häu¿g von prekären Arbeitsverhältnissen und Arbeitslosigkeit betroffen (Stalder et. al. 2008). Es sind jedoch die Betriebe, die in eigener Regie über den Abschluss eines Ausbildungsvertrags entscheiden, Der vorliegende Aufsatz wurde anlässlich zweier Forschungsaufenthalte am Laboratoire d’Économie et de Sociologie de Travail (Aix en Provence) sowie an der Adam Smith Research Foundation (University of Glasgow) durch ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) ermöglicht. Ich bedanke mich bei Regula Leemann, Thomas Meyer, Ulrike Hormel und Albert Scherr für hilfreiche kritische Kommentare zu früheren Versionen dieses Aufsatzes.
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und die bei der Auswahl neben ihren eigenen Bedürfnissen auch die für eine erfolgreiche Ausbildung erforderlichen beruÀichen und schulischen Anforderungen klären (Imdorf 2009b). Der erste Schritt in den Schweizer Arbeitsmarkt erfolgt demnach – ebenso wie in Deutschland – nicht erst nach Abschluss der beruÀichen Erstausbildung, sondern bereits am Ende der obligatorischen Schule, wenn sich eine große Zahl von SchulabgängerInnen mit der Herausforderung konfrontiert sieht, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu ergattern. Dabei ist der Lehrstellenmarkt nicht für alle Schülergruppen in gleichem Maß zugänglich. Bestimmte Gruppen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund – insbesondere Kinder aus Immigrantenfamilien aus Nicht-EU-Staaten, denen in der Schweiz in besonderem Maße das Ausländerstigma2 anhaftet – sehen sich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert, sich erfolgreich auf einen Ausbildungsplatz zu bewerben. Solange diesen Jugendlichen der Zugang in die betriebliche Berufsausbildung vorenthalten bleibt, besteht das Risiko, dass ihnen später die gesellschaftlich abverlangte Sozialintegration via quali¿zierte Berufsarbeit nicht gelingt (Imdorf 2008). Bei der betrieblichen Auswahl von Auszubildenden handelt es sich dabei um einen Spezialfall der Personalselektion, der sich aus mehreren Gründen für die Untersuchung von Diskriminierung eignet: Während die innere Gestaltung der Ausbildungsverhältnisse staatlich reguliert ist, gilt dies für die Auswahl der Lernenden selbst kaum. Die Schweiz kennt generell keine Gesetze und Rechtsmittel, welche Benachteiligte bei der Stellenvergabe vor Diskriminierung schützen würden3. Betriebe erhalten zudem meist eine hohe Zahl von Bewerbungen für eine offene Ausbildungsstelle, und dies eröffnet ihnen eine große Wahlfreiheit bei der Entscheidung für einen Kandidaten, der absehbar den eigenen Ansprüchen am besten zu genügen vermag. Da sich in der Schweiz (und Deutschland) die große Mehrheit der Bewerber aus Abgängern der obligatorischen Schule sowie des Übergangssystems zusammensetzt, deren persönliches Entwicklungspotential 2 Nachfolgend werden mit der Bezeichnung ‚Ausländer‘ Personengruppen benannt, die im öffentlichen Diskurs eines spezi¿schen regionalen und historischen Kontexts als ausländisch gelten. In Deutschland und in der Stadt Basel sind dies gegenwärtig Personen türkischer Abstammung, in der übrigen deutschsprachigen Schweiz hingegen primär Immigranten aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens. In Abgrenzung zur nicht deckungsgleichen juristischen Ausländerkategorie wird die soziale Konstruiertheit dieser Zuschreibung, die jeweils nur bestimmte Nationalitäten betrifft, im Folgenden durch einfache Anführungs- und Schlusszeichen hervorgehoben. 3 Obwohl in der Schweizer Bundesverfassung in Art. 8 Abs. 2 unter dem Titel „Rechtsgleichheit“ ein allgemeines Diskriminierungsverbot verankert ist, ermöglichen die für die Stellenvergabe verbindlichen Rechtsmittel – das schweizerische Vertragsrecht (Grundsatz der Vertragsfreiheit), das Strafrecht (Antirassismus-Strafnorm) sowie das Privatrecht (Persönlichkeitsschutz) – keinen Rechtsschutz vor Diskriminierung bei der Einstellung. Ein Arbeitgeber, der eine Einstellungspraxis auf der Basis ethnisierender Kriterien vollzieht, bleibt solange straÀos, als er dies nicht öffentlich eingesteht und darstellt, etwa in einem Stelleninserat oder in einem Absageschreiben (Geiser 2001).
Die Diskriminierung ‚ausländischer‘ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl
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inmitten der Adoleszenz als wenig berechenbar gilt, erweist sich die Abschätzung der betrieblichen Produktivität eines Lernenden in besonderem Maße als schwierig. Um eine Prognose hinsichtlich ihrer betrieblichen und beruÀichen Eignung zu stellen, stehen Klein- und Mittelbetriebe zudem nur limitierte Ressourcen zur Verfügung. Den Ausbildungsverantwortlichen solcher Betriebe fehlt es meist an spezi¿schen Fachkompetenzen der Personalauswahl, und ihnen steht für die Aufgabe der Lehrlingsselektion nur wenig Zeit zur Verfügung. Sie bedienen sich daher mehr oder weniger effektiver, im Wesentlichen auf Erfahrung basierender Lösungen der Komplexitätsreduktion. All diese Merkmale lassen erwarten, dass Diskriminierung bei der Ausbildungsstellenvergabe eher der Normalfall als ein Sonderfall ist. Anschließend an die Rechtfertigungstheorie von Boltanski und Thévenot (2007) sowie von Boltanski und Chiapello (2003) schlage ich im Folgenden einen organisationstheoretischen Rahmen vor, um betriebliche Diskriminierung bei der Stellenvergabe am Beispiel des Ausländerausschlusses zu verstehen. Es wird zu zeigen sein, dass sich Diskriminierung vor diesem Hintergrund und mit Bezugnahme auf die anglo-amerikanische Diskriminierungsforschung als ein zweidimensionaler Prozess erweist: Zum einen als eine Selektionspraxis, die sich auf organisationale Normen der betrieblichen Koordination jenseits der gängigen meritokratischen Leistungsideologie bezieht; zum anderen als eine kollektivistische Beurteilung von betrieblichen Anforderungen an die Bewerber. 2
Diskriminierung bei der Personalauswahl aus Sicht der bisherigen Forschung
Unzureichendes Humankapital (Becker 1993) sowie fehlende soziale Netzwerke (Granovetter 1995: 133; Holzer 1987) gehören in der internationalen Literatur zu den populärsten und dominierenden Konzepten, um nachteilige Arbeitsmarktzugänge von Ausländer- bzw. Migrantengruppen zu erklären. Zahlreiche Bewerberexperimente (Pager 2007), die es erlauben, Humankapital und soziale Netzwerkressourcen zu kontrollieren, haben jedoch gezeigt, dass sich der Ausländerausschluss mit diesen zwei Erklärungsansätzen nicht befriedigend verstehen lässt. Solche Feldexperimente ermöglichen die Messung von Diskriminierung bei der Stellenvergabe. Sie können jedoch nicht erklären, weshalb Arbeitgeber motiviert sind, soziale Unterscheidungen wie etwa ausländisch klingende Vor- und Familiennamen bzw. die nationale Herkunft (aber auch anderweitige soziale Zughörigkeitskategorien wie Geschlecht oder Alter) bei der Personalauswahl zu verwenden. Es stellt sich daher die Frage nach alternativen sozialen Mechanismen jenseits sozialer Netzwerk rekrutierung und Humankapitaltransfers, welche das Phänomen Diskriminierung bei der Stellenvergabe zu erklären vermögen.
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Die anglo-amerikanische Diskriminierungsforschung bietet zu dieser Frage eine breite Palette theoretischer Erklärungen an (für einen Forschungsüberblick vgl. Pager/Shepherd 2008). Am meisten verbreitet sind wohl jene Ansätze, die aus Arbeitgebersicht danach fragen, welche Bewerber zukünftig am wenigsten produktiv sein könnten. Sie basieren auf der Annahme, dass alle Bewerber mit einer individuellen Produktivität bzw. Kompetenz ausgestattet sind, die sich unter idealen Bedingungen objektiv messen lässt (vgl. dazu kritisch Eymard-Duvernay 2008: 56). Das Modell der statistischen Diskriminierung (Arrow 1972; Phelps 1972) hebt dabei den betrieblichen Informationsmangel über diese individuelle Produktivität von Bewerbern hervor, bzw. die Kosten, welche zu deren Messung anfallen würden. Die Arbeitgeber lösen dieses Problem, indem sie generalisierte Produktivitäts-Annahmen über ‚Ausländer‘ machen, die sie durch Erfahrung oder anderweitige empirische Belege begründen. Implizite Vorurteilsmodelle (Quillian 2006) betonen dagegen niedrigere Produktivitätserwartungen von Arbeitgebern gegenüber Ausländergruppen, welche sich eher auf Gefühl und Glauben als auf empirische Belege stützen. Diskriminierung erklärt sich aber aus Sicht beider Ansätze mit dem Problem, die Produktivität von Bewerbern individuell erfassen zu können, weshalb soziale Merkmale verwertet werden, mittels derer die individuelle Produktivität geschätzt bzw. zugeschrieben wird. Das Problem solcher Erklärungsansätze besteht jedoch darin, dass die Reduktion von Bewerbern auf Annahmen über ihre individuelle Produktivität die komplexen sozialen Bezüge und Abhängigkeiten eines Betriebs vernachlässigt, die ebenso zum wirtschaftlichen Erfolg beitragen (Kirschenman/Neckerman 1991: 231). In den Blick gerät damit zum einen das soziale BeziehungsgeÀecht innerhalb eines Produktionsbetriebs, d. h. die horizontalen Sozialbeziehungen innerhalb der Belegschaft. Modelle der sozialen Schließung (Roscigno/Garcia/Bobbitt-Zeher 2007) gehen davon aus, dass Diskriminierung bei der Stellenvergabe vorwiegend durch partikularistische Interessen der Belegschaft vor Ort verursacht sei. Die Personalverantwortlichen respektieren solche Partikularinteressen beispielsweise, wenn sie nach ‚inländischen‘ Kandidaten suchen, die sozial möglichst gut in eine bestehende ‚inländische‘ Belegschaft ‚passen‘ (Jenkins 1986), um damit antizipierten sozialen Spannungen vorzubeugen. Zum anderen sind die Vorgesetzten aber auch daran interessiert, solche Bewerber einzustellen, von denen sie erwarten, dass sie sich der betrieblichen Anleitung und Führung weder entziehen noch widersetzen, die sich also möglichst reibungsfrei ‚managen‘ lassen. ‚Ausländer‘ können dann bei der Personalauswahl benachteiligt sein, wenn ihre betriebliche Fügsamkeit und ihr Wille zur Unterordnung zur Diskussion stehen (Waldinger/Lichter 2003: 143 f.).4 4 Um sozial passende, loyale sowie gut führbare neue Mitarbeiter zu rekrutieren, nutzen Manager daher die sozialen Netzwerke ihrer Angestellten, da letztere primär ihresgleichen empfehlen und später am Arbeitsplatz für die soziale Kontrolle des Neulings im Interesse des Managements sorgen werden, um
Die Diskriminierung ‚ausländischer‘ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl
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Der betriebliche Selektionskalkül ‚Produktivität‘ lässt sich unter Berücksichtigung solcher Überlegungen eher als Resultat von Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz und weniger als Funktion individueller Kompetenzen im Sinne der Humankapitaltheorie verstehen (Shih 2002: 102). Neben den innerbetrieblichen horizontalen und vertikalen Sozialbeziehungen gilt es schließlich auch, die betrieblichen Markt- und Kundenbeziehungen bei der Analyse von Diskriminierung zu berücksichtigen. Sowohl Produktions- als auch Dienstleistungsbetriebe sind in der Regel gewillt, die Bedürfnisse und Wünsche der Kundschaft bei wichtigen Entscheiden zu berücksichtigen. Gemäß Becker (1971: 75 f.) kann die Kundschaft bei der Bewertung eines Produkts oder einer Dienstleistung Merkmale des Verkaufspersonals wie Geschlecht, ‚Rassen‘- oder Religionszugehörigkeit mitberücksichtigen und aus rassistischen Gründen eine Verkaufsabteilung meiden. Yinger (1998: 38) hat auf amerikanische Autohändler verwiesen, die keine schwarzen Mitarbeiter einstellen, da sie deren Verhandlungsposition gegenüber der präferierten weißen Kundschaft als geschwächt einstufen. Damit kann die Klientel aus Arbeitgebersicht eine Nachfrage nach – im us-amerikanischen Kontext – weißen Arbeitnehmern schaffen, insbesondere wenn die Mitarbeiter Direktkontakt mit der Kundschaft haben (Brief/Butz/Deitch 2005: 130; Reskin/McBrier/Kmec 1999: 343). Sowohl eine Diskriminierung infolge bedeutsamer betrieblicher Sozialbeziehungen für einen gelingenden Produktionsprozess als auch aus Kundenpräferenzen erwachsende Benachteiligungen bei der Stellenvergabe gehen über ein Verständnis hinaus, welches Diskriminierung primär als verzerrte Wahrnehmung individueller Produktivität versteht. Diskriminierung ist nun nicht mehr die Folge eines Wahrnehmungs- bzw. Messproblems von Kompetenz, sondern sie ist in betrieblichen Selektionskalkülen jenseits einer meritokratischen Leistungsnorm begründet. Jewson und Mason (1986) haben bereits vor geraumer Zeit in ähnlicher Weise auf diese zwei Dimensionen5 hingewiesen, welche es bei der Analyse von Diskriminierung bei der Stellenvergabe zu unterscheiden gilt. Insbesondere die Berücksichtigung betriebsrelevanter Sozialbeziehungen – sowohl jene innerhalb des Betriebs als auch jene zwischen Mitarbeitern und Kundschaft –, von denen die Produktivität der betrieblichen Produktions-, Dienstleistungs- und Verkaufsprozesse maßgeblich abhängen, verweist auf ein soziologisches ihre eigene betriebliche Reputation nicht aufs Spiel zu setzen (Jenkins 1986: 135 ff.; Waldinger/Lichter 2003: 91 u. 187). Von sozialer Netzwerkrekrutierung können somit auch ‚ausländische‘ Bewerber pro¿tieren, sofern ihre Eigengruppe genügend stark in der betrieblichen Belegschaft vertreten ist. 5 Jewson und Mason (1986) unterscheiden einerseits individualistische und kollektivistische Rekrutierungsprinzipien und andererseits – mit Verweis auf Jenkins (1986) – Akzeptabilität (Acceptability) und Tauglichkeit (Suitability) als Selektionskriterien. Rekrutierungsprozesse, die entweder auf kollektivistischer Kategorisierung und/oder auf dem Kriterium der Akzeptabilität basieren, gehen als Folge von Determinismus, Partikularismus oder Patronage (ebd.: 46) mit Diskriminierung einher.
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Modell der Diskriminierung bei der Personalauswahl, welches die wohlbekannten kognitiven und sozialpsychologischen Prozesse bei der Personalselektion mit organisationalen Kontexten in Beziehung setzt. Die soziologische Diskriminierungsforschung plädiert denn auch bereits seit längerem für organisationale Zugänge, um besser zu verstehen, weshalb Arbeitgeber diskriminieren (Feagin/ Eckberg 1980; Lewin 1963: 222; Pager/Shepherd 2008). Aus dieser Perspektive gilt es, den (Ausbildungs-)Betrieb als zentrale Analyseeinheit bei der Untersuchung und Theoretisierung von Diskriminierungsprozessen zu berücksichtigen und die betrieblichen Mechanismen und Opportunitätsstrukturen herauszuarbeiten, welche eine askriptive Selektion erst ermöglichen (vgl. Baron/Pfeffer 1994; Peterson/ Saporta 2004; Reskin 2003). 3
Multiple betriebliche Koordinationsanforderungen: Ein soziologisches Modell der Personalselektion6
3.1 Auf der Suche nach akzeptablen und akzeptierten Auszubildenden Ausgangspunkt meines soziologischen Modells der Lehrlingsselektion sind zunächst Bedürfnisse und Sachzwänge von Ausbildungsbetrieben, die sich aus dem Zwang des Überlebens auf dem Branchenmarkt ergeben. Bei der Lehrlingsauswahl geht es daher immer auch um ein potentielles ‚Pro¿tgeschäft‘: Die Ausbildung muss sich für einen Betrieb früher oder später lohnen, also zum eigenen Bestand beitragen. Ein Hauptproblem, wenn Betriebe Auszubildende auswählen, besteht darin, unter Bedingungen von Zeitknappheit und Unsicherheit das implizite, erfahrungsbasierte betriebliche Ausbildungsstellenpro¿l (u. a. Anforderungen der beruÀichen, arbeitsförmigen und sozialen Passung) auf pragmatische Weise mit meist unbekannten jugendlichen Bewerbern zu ‚matchen‘. Mehrfache Strukturprobleme im Selektionsprozess (u. a. multidimensionale Anforderungen des Stellenpro¿ls, die kein Bewerber in ihrer Gesamtheit annähernd perfekt erfüllt) führen dazu, dass ‚der beste Kandidat‘ gar nicht gefunden werden kann. Betriebe brechen ihre Suchbemühungen frühzeitig ab, sobald ein Kandidat gefunden ist, der die multiplen
6 Die Modellpräsentation schließt an frühere, empirisch reichhaltige Publikationen an (Imdorf 2008, 2010b) und erweitert zugleich die theoretische Argumentation zu den in Kapitel 5 skizzierten Bewährungsproben. Das Modell der Personalselektion wurde im Rahmen einer Sekundäranalyse von Interviews der SNF-geförderten Untersuchung ‚Lehrlingsselektion in KMU‘ (2004–06) zur Ausbildungsplatzvergabe in Deutschschweizer Kleinbetrieben entwickelt, welche auch die Quelle der nachfolgenden empirischen Bezüge darstellt.
Die Diskriminierung ‚ausländischer‘ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl 203 betrieblichen Anforderungen ‚genügend befriedigt‘ (im Sinne des satis¿cing, vgl. Simon 1957: 169). Darüber hinaus erfordert dieses pragmatische matching von Bewerber und Stelle, dass das Resultat der Selektion in den betriebsrelevanten Öffentlichkeiten auf Akzeptanz stößt. Das Publikum eines Kleinbetriebs7 setzt sich einerseits aus der Kundschaft und den Geschäftspartnern zusammen. Andererseits gilt es Protest ‚innerhalb der eigenen Mauern‘, insbesondere unter den Mitarbeitern, die in kleineren Betrieben meist an den Auswahlverfahren mitbeteiligt sind, zu vermeiden, um deren Kooperation und Arbeitsmotivation zu sichern (vgl. die auf Großbetriebe bezogene Argumentation von Boltanski/Chiapello 2003, die hier auf Kleinbetriebe übertragen wird). 3.2 Koordinationsfähigkeit am Arbeitsplatz als Beurteilungskriterium von Stellenbewerbern Um die Komplexität und Mehrdeutigkeit bei der Personalselektion erfolgreich zu bewältigen, sind die Selektionsverantwortlichen daher auf Formen und Ordnungen der Rechtfertigung angewiesen, die es erst ermöglichen, eine getroffene Wahl gegenüber den betrieblich relevanten Öffentlichkeiten als legitim darzustellen (ich beziehe mich nachfolgend auf das Konzept der Rechtfertigungsordnung von Boltanski/Thévenot 2007). Personalentscheide lassen sich rechtfertigen, wenn die Selektionskriterien in diesen Öffentlichkeiten als einem Gemeinwohl dienend – etwa im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt einer dörÀichen Gemeinschaft, oder einer heterogenen, sozialstaatlich integrierten Gesellschaft – und somit als fair und gerecht erachtet werden (Eymard-Duvernay 2004: 98). Von selektionsrelevanter Bedeutung ist nun, dass die Beförderung eines solchen Gemeinwohls eine bestimmte Form der Koordination von sozialen Akteuren voraussetzt (ebd.: 66). Arbeitsorganisationen erfordern dabei von ihren Mitgliedern verschiedene Formen der Koordination im Verlauf eines typischen Arbeitstages: Ein Automechaniker (bzw. ein Auszubildender) arbeitet beispielsweise in der Autoreparaturwerkstatt unter Zeitdruck mit Apparaturen, Werkzeugen und anderen technischen Hilfsmitteln an einem reparaturbedürftigen Automotor. In einer anderen Situation erhält er Weisungen oder Anleitung durch den (Ausbildungs-)Chef, die es möglichst pragmatisch umzusetzen gilt. Während der Pausenzeiten pÀegt er den freundschaftlichen Austausch mit Arbeitskollegen und erholt sich dabei etwas vom Arbeitsstress. Später empfängt er in der Autogarage die Kundin, die ihren reparierten Wagen abholen kommt. Entsprechend haben Personal- bzw. Ausbildungsverantwortliche 7 Obwohl Kleinbetriebe eher unscheinbar und im Gegensatz zu Großbetrieben für Öffentlichkeit und Medien wenig interessant sind (Pichler/Pleitner/Schmidt 2000), sind sie dennoch nicht unsichtbar.
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verschiedene, aber begrenzte Normen der Handlungskoordination zur Verfügung, um die Qualität eines neuen Mitarbeiters oder Auszubildenden im betriebsüblichen Alltag zu beurteilen. Von den verschiedenen Formen der Koordination hängt letztendlich auch die Funktionstüchtigkeit und damit der Bestandeserhalt eines Betriebs ab, weshalb die vorliegende Konzeption der Personalauswahl den Anspruch einer Organisationstheorie erhebt, die über eine bloße Theorie der Rechtfertigung im Sinne von Boltanski und Thévenot (2007) hinausgeht. Um ein soziologisches (in Abgrenzung zu einem sozialpsychologischen oder ökonomischen) Modell der Stellenvergabe handelt es sich, da es betriebliche Koordinationsformen sozialen Handelns mitberücksichtigt, wobei die interessierenden Sozialbeziehungen organisational sowie – durch Mitberücksichtigung der Organisationsumwelt – gesellschaftlich gerahmt sind. Damit ¿nden, vermittelt über die betrieblichen Sozialbeziehungen, auch gesellschaftliche Machtbeziehungen ihren Eingang in die Organisation und in die Voraussetzungen der Selektion. Einer Person, die in einer betrieblich relevanten Situationen technische und/ oder soziale Koordinationsfähigkeit unter Beweis stellt, wird – im Wortgebrauch von Boltanski und Thévenot (2007) – ‚Größe‘ (frz. ‚grandeur‘) in Bezug auf diese Situation zugesprochen. Die Autoren (ebd.: 183) sprechen nun mit Bezugnahme auf die Bewertung von Größe in unterschiedlichen Koordinationszusammenhängen von verschiedenen Welten, in denen ein je spezi¿sches Ordnungsprinzip (u. a. Ef¿zienz, Seniorität, Marktwert etc.) zugrunde gelegt wird (verstanden auch als moralisches Prinzip bzw. als Gerechtigkeitsprinzip einer jeweiligen Welt). Jede Koordinationsnorm verweist entsprechend auf eine eigene ‚Welt‘. Man kann nun verschiedene solcher Welten wie die ‚industrielle Welt‘, die ‚häusliche Welt‘, die ‚projektförmige Welt‘ oder die ,Welt des Marktes‘ unterscheiden, um Diskriminierung bei der Ausbildungsplatzvergabe, bzw. den Ausländerausschluss bei der Selektion von Auszubildenden auf der Ebene unterschiedlicher Selektionsnormen und -Kriterien besser zu verstehen. 4
Anstellungshindernisse für ‚Ausländer‘ in verschiedenen betrieblichen Welten
4.1 Die Anforderungen der industriellen Welt In der industriellen Welt eines Betriebs erfordert die Herstellung von Handelsware oder die Bereitstellung einer Dienstleistung ef¿ziente Produktionsprozesse, die durch neue Auszubildende besser nicht gestört werden sollten. Die Koordination innerhalb der Belegschaft, aber auch jene zwischen Arbeitern und Dingen, fußt auf inhaltlicher und zeitlicher Planbarkeit und Funktionalität, und sie basiert entspre-
Die Diskriminierung ‚ausländischer‘ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl 205 chend auf regelmäßigen, geplanten Handlungen, berechenbaren Produktionsabläufen sowie unpersönlichen betrieblichen Interessen (Boltanski/Thévenot 1999: 362). Personen haben in dieser Welt Größe bzw. Qualität, wenn sie ef¿zient, produktiv und funktional handeln. Beziehungen sind dann harmonisch, wenn sie organisiert, messbar, funktional und standardisiert sind (ebd.: 373). Im Selektionsprozess lässt sich industrielle Größe bzw. Leistungsfähigkeit bestenfalls objektiv messen und testen. Neue Auszubildende werden aufgrund traditioneller Arbeitstugenden (wie Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit oder Ordnung im Sinne industrieller Koordinationsanforderungen) sowie aufgrund berufsspezi¿scher Anforderungen und schulischer Kompetenzen ausgewählt. Berufsfachliche bzw. professionsspezi¿sche Anforderungen gehen allerdings über die industrielle Welt hinaus und betreffen u. a. auch anderweitige weiter unten thematisierte Welten. Was die technischen und industriellen Koordinationsanforderungen an einen Auszubildenden betrifft, haben die in der eigenen Untersuchung befragten Arbeitgeber bei ‚ausländischen‘ Jugendlichen im Vergleich zu ‚Schweizer‘ Bewerbern selten betriebliche Probleme thematisiert. Bereits beim Screenen der schriftlichen Bewerbungen von ‚Ausländern‘ wurden jedoch oft berufsschulische Probleme antizipiert. Befürchtet wurde etwa, dass schulische und sprachliche De¿zite die erfolgreiche Absolvierung der Berufsschule sowie den Abschluss der Lehrabschlussprüfung in Frage stellen könnten – mit Nebenwirkungen auf die betriebliche Produktivität, etwa wenn die Auszubildenden für Stützkurse freigestellt werden müssen, oder weil sich die betrieblichen Ausbildungsinvestitionen bei einem frühzeitigen, schulbedingten Ausbildungsabbruch nicht lohnen (zur industriellen Relevanz möglicher Probleme in der Berufsschule vgl. Imdorf 2009b). Auch wenn sowohl mündliche als auch schriftsprachliche Kompetenzen für die Aufgaben der industriellen Welt in der Regel wichtig sind – etwa für die Kommunikation mit Mitarbeitern oder mit Kunden, desweitern bei der Konsultation eines Reparaturleitfadens oder bei der Niederschrift eines Rapportes – so wäre es verkürzt, Sprachkompetenzen primär der erforderlichen Größe der industriellen Welt zuzuordnen. Die Bedeutsamkeit sprachlicher Zuschreibungen für das Rechtfertigungsgeschehen geht über die ‚industrielle Leistungsfähigkeit‘ von Stellenbewerbern weit hinaus, denn Sprache betrifft u. a. auch deren ‚häusliche Passung‘, da sie ein wichtiges Identitätsmerkmal einer betrieblichen Belegschaft darstellt. 4.2 Die Bedrohung der häuslichen Welt durch die ‚Ausländer‘ Ein Betrieb umfasst neben einem technischen Produktionsprozess auch eine soziale Gruppe, d. h. die Belegschaft mit ihrer Betriebskultur und ihren Gewohnheiten (Hohn 1988: 111). Arbeitsplätze sind damit Teil einer sozialen Organisation (Waldinger/Lichter 2003: 64), und die betriebliche Integration eines neuen Mit-
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arbeiters erfordert nicht bloß ein Rearrangement von technisch-instrumentellen Aufgabenzusammenhängen, sondern ebenso von betrieblichen Sozialbeziehungen (Laske/Weiskopf 1996: 312). Die Koordinationsanforderungen dieser ‚häuslichen Welt‘ eines Betriebs sind besonders aufschlussreich, um die Diskriminierung von ‚Ausländern‘ bei der Lehrstellenvergabe jenseits von de¿zitären sprachlichen und schulischen Leistungszuschreibungen in der industriellen Welt zu verstehen (Imdorf 2008: 138 ff.). Diese ‚häusliche Welt‘ umfasst zwischenmenschliche Beziehungen und Erwartungen zwischen den Mitarbeitern, die sich in Klein- und Mittelbetrieben oft an den Koordinationsformen der traditionellen, patriarchal strukturierten Familie orientieren. Die soziale Bande bzw. die Koordination zwischen den Mitarbeitern basiert auf generalisierten Verwandtschaftsnormen sowie auf Abstammung und Tradition. Es handelt sich um einen nachbarschaftlichen Raum, der durch die Differenz zwischen ‚Wir und den Anderen‘, nach Alter geordneten Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnissen sowie nach traditionell ausgerichteten Geschlechterrollen strukturiert ist (Boltanski/Thévenot 1999: 370). Im betrieblichen Kontext schlägt sich dies in sozialen Kontrollstrukturen, im Respekt vor den Vorgesetzten, der Anerkennung der Autorität älterer Mitarbeiter oder der geschlechtstypischen Arbeitsteilung nieder. Darauf beziehen sich die Mitglieder eines Betriebes oftmals als ‚Geist des Hauses‘ und Bewerber werden daraufhin beobachtet, ob sie ‚dazu passen‘. Die Differenzierung von professionellen und persönlichen Sozialbeziehungen ist in der ‚häuslichen‘ Welt suspendiert und der Mitarbeiter ist am Arbeitsplatz in eine familienförmige Umgebung eingebettet (Boltanski/Thévenot 1999: 362; Eymard-Duvernay 2008: 61). ‚Ausländer‘ ¿nden in diesem Familienmodell kaum einen Platz. Sie gelten als Fremde, die den ‚Geist des Hauses‘ in Frage stellen, und mit ihrer Präsenz droht die Beeinträchtigung der betrieblichen Funktionstüchtigkeit beziehungsweise der Anfall hoher ‚sozialer Kosten‘ (Sayad 2006: 35 ff.) im eigenen Haus. Diskriminierende betriebliche Auswahlkriterien, die oftmals bereits bei der Vorselektion auf der Grundlage der vorliegenden Informationen zu Namen und Nationalität im Bewerbungsdossier durchgesetzt werden, resultieren entsprechend aus einer Selektionslogik der betrieblichen Sozialintegration, die im Lichte des betrieblichen Bestandeserhalts und Überlebens interpretiert werden kann (Hohn 1988: 111). Die Rechtfertigungsreden im eigenen empirischen Material verweisen wiederholt darauf, dass die soziale Zusammensetzung der Belegschaft von hoher betrieblicher Relevanz ist. Die Ausbilder betonen die Privilegierung von ‚Einheimischen‘ (im Sinne von Nicht-‚Ausländern‘), da diese besser in das soziale Gefüge des eigenen Betriebs passen würden. Passung in die häusliche Welt, also die geteilten Formen der Sozialität, wird dabei in Verhalten und Sprache konnotiert. Fremdheit bzw. erworbene Sprache muss entsprechend hervorgehoben und in ihrer Abweichung von der Familiensprache dargestellt werden (für ein empirisches Beispiel vgl. Imdorf 2008, 140; zu sprachbasierter sozialer Grenzziehung zwischen Mitarbei-
Die Diskriminierung ‚ausländischer‘ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl 207 tern vgl. Waldinger/Lichter 2003, 200). Bei ‚ausländischen‘ Bewerbern werden zudem soziale KonÀikte am Arbeitsplatz und die Gefahr von Mobbing antizipiert (vgl. ebd. 2003: 187–199). Einige Ausbildungsverantwortliche betonten, dass sie selbst nichts gegen ‚Ausländer‘ hätten, dass sie aber auf die Mitarbeiter Rücksicht nehmen müssten, welche ‚ausländische‘ Lehrlinge möglicherweise nicht positiv aufnehmen würden. Im Unterschied zur ‚Anpassungsfähigkeit‘ von ‚ausländischen‘ Jugendlichen, die hinsichtlich der horizontalen Sozialintegration in den Interviews kaum problematisiert wurde, scheint der Selektionskalkül der ‚sozialen Passung‘ bzw. der ‚Teampassung‘ ein wesentlicher Mechanismus hinter dem betrieblichen Ausländerausschluss zu sein. Neben den vielfältigen Hinweisen auf die Gefährdung harmonischer Arbeitsbeziehungen durch die Einstellung von ‚Ausländern‘ verweisen anderweitige Argumente direkt auf den betrieblichen Bedarf nach führbaren und fügsamen Auszubildenden. So wird beispielsweise darauf geachtet, dass nicht mehrere bzw. zu viele Mitarbeitende derselben (als ausländisch geltenden) Nationalität rekrutiert werden. Damit lässt sich die Bildung fremdsprachlich homogener Mitarbeitergruppen vermeiden, deren Kommunikation und Dynamik schwierig zu kontrollieren wäre. Schließlich sind junge ‚ausländische‘ Männer in besonderem Maße von betrieblicher Problemantizipation betroffen, insbesondere wenn ihnen ein machohaftes Verhalten zugeschrieben wird. Sie stehen dann im Verdacht, dass sie sich gegenüber weiblichen Vorgesetzten nicht angemessen unterzuordnen wüssten (vgl. dazu auch die Empirie von Waldinger/Lichter 2003: 186 f.). Kulturelle Standards der Akzeptabilität (Jenkins 1986) koinzidieren entsprechend mit dem betrieblichen Bedürfnis nach wenig aufwändigen und möglichst leicht disziplinierbaren Mitarbeitern (Hohn 1988: 102). 4.3 Ethnisierte Aspekte der Kundenbindung Unter dem Gesichtspunkt möglicher funktionaler Erfordernisse eines Betriebs sind schließlich auch Kundenpräferenzen in den Blick zu nehmen, um Diskriminierung bei der Stellenvergabe zu verstehen. Zusätzlich zu ihrer industriellen und häuslichen Größe erhalten Auszubildende im Direktkontakt mit Kunden einen zusätzlichen Wert für den Betrieb, da sie Verkauf und Absatz eines Produktes oder einer Dienstleistung fördern oder hemmen können (Imdorf 2008: 137 f.). Durch ihre Erscheinung und durch ihr Verhalten stoßen Auszubildende bei der Kundschaft in unterschiedlichem Maß auf Gefallen, was sich auf aktuelle und zukünftige Kundenbindungen auswirken kann. Arbeitgeber repräsentieren somit die Bedürfnisse ihrer eigenen Klientel, wenn sie im Selektionsprozess die für die Kundenbindung nötigen Koordinationsressourcen prüfen. Dazu zählen verkaufsrelevante Kriterien wie sympathisches oder hübsches Aussehen, ‚gute‘ Umgangsformen sowie (jenseits
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der industriellen und häuslichen Welt) vorteilhafte Sprach- und Sprechweisen. Das produktive Potential eines Betriebs umfasst demnach auch Ressourcen der Koordination und des Austausches mit der Kundschaft, etwa die ‚Sozialkompetenzen‘ der Mitarbeiter (Eymard-Duvernay 1994: 326). Der betriebliche ‚Wert‘ eines Mitarbeiters im Austausch mit der Kundschaft basiert dabei auf unterschiedlichen Typen der Koordination bzw. auf einem ‚Kompromiss‘ von mehreren Rechtfertigungsordnungen, insbesondere wenn die Qualität der Kundenbindung von adäquaten ‚Sozialkompetenzen‘ der Mitarbeiter abhängt. Erstens kann die Verhaltensanforderung, mit kommunikativen und Kontakt fördernden Kompetenzen Beziehungen mit Kunden zu knüpfen und aufrecht zu erhalten, über die häuslichen Koordinationsanforderungen hinaus als eine eigenständige Größe interpretiert werden. Die entsprechende Welt haben Boltanski und Chiapello (2003) als ‚projektbasierte Polis‘ bezeichnet, in der ‚Netzwerkmenschen‘ soziale Beziehungen projektförmig leben. In einer Zahnarztpraxis wurde beispielsweise mit Bezugnahme auf diese projektförmige Welt berichtet, dass sich ‚ausländische‘ Bewerberinnen in Praktika verschlossen gezeigt und sich zurückgezogen hätten, was aus Sicht der Personalverantwortlichen als „Handicap“ und als den Patienten nicht zumutbar beurteilt wurde. Kundenbindungen lassen sich zweitens in der häuslichen Welt verorten, sofern sie eine harmonische persönliche Beziehung voraussetzen, was in kleineren Betrieben üblich und im Falle von personalisierten Dienstleistungen (u. a. in Arzt- und Zahnarztpraxen) fundamental ist. In dieser Welt sind ‚Ausländer‘, wie bereits ausgeführt, im Nachteil, da als ‚nicht passend‘ eingestuft. Drittens könnten ‚ausländische‘ Jugendliche ohne ihr eigenes Zutun aus betrieblicher Sicht Kundenbindungen gefährden, wenn die Arbeitgeber befürchten, dass Kunden Vorbehalte gegenüber ‚ausländischen‘ Mitarbeitern haben könnten. In der Wahrnehmung der Arbeitgeber, die sich in ihre Kunden hineinversetzen, nehmen die Auszubildenden einen eigentlichen Warencharakter an und jenseits ihrer ‚sozialen Kompetenz‘ rückt ihre Größe in einer ‚Welt des Marktes‘ in den Vordergrund. Ein Zahnarzt äußerte beispielsweise das Gefühl, „dass gute, langjährige Schweizerpatienten“ aufgrund ausländischer Namen von Angestellten „abspringen könnten“. Darüber hinaus fand sich interessanterweise in mehreren Betrieben das Argument, dass man bei der Lehrlingsauswahl auch darauf achte, dass neue Auszubildende keine unliebsame Kundschaft anziehen. Dieser Selektionskalkül verweist auf eine unerwartete Spielart der Marktlogik: ‚Ausländische‘ Jugendliche können die marktförmige Welt eines Betriebs stören, indem sie eine aus betrieblicher Sicht unliebsame ethnische Klientel anziehen, die dem Betrieb besondere Probleme bereiten könnte. Um dies zu vermeiden, verzichten einige Ausbildungsbetriebe darauf, Jugendliche mit entsprechender ethnisierter Herkunft einzustellen.
Die Diskriminierung ‚ausländischer‘ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl 209 4.4 Diskriminierung durch die Selektion in multiplen Welten Zusammen formen die skizzierten Welten als sozial konstruierte und historisch wandelbare Sozialordnungen Arbeitsorganisationen (Boltanski/Thévenot 1999: 369). Auszubildende und neue Mitarbeitende im Allgemeinen stellen sowohl ein Risiko als auch eine Chance für die Kontinuität der verschiedenen Welten dar. Um den betrieblichen Bestandeserhalt zu gewähren, tendiert daher jede Welt zur Reproduktion, indem sie ihre je eigenen Koordinationsprinzipien und Kriterien der Personalbeurteilung und -Auswahl einfordert. Einen neuen Auszubildenden einzustellen bedeutet demnach für einen Betrieb, das Risiko, dass er oder sie eine dieser Welten grundlegend stören könnte, frühzeitig zu ermitteln und zu minimieren. Diskriminierung (im Verständnis der meritokratischen Leistungsideologie) tritt insbesondere dann auf, wenn bei der Personalauswahl andere Koordinationsanforderungen als jene der industriellen Welt für die betriebliche Reproduktion als besonders relevant eingestuft werden. Erfolgreiche Bewerber müssen daher je nach einzelbetrieblicher Gewichtung der verschiedenen Welten ihre Größe(n) in der industriellen, häuslichen, projekt- oder marktförmigen Welt unter Beweis stellen. Dies geschieht mittels sogenannter ‚Bewährungsproben‘ im Rahmen des Selektionsprozesses. 5
Die Bestimmung von Größe im Selektionsprozess
Die je spezi¿schen Koordinations- bzw. Ordnungsprinzipen der verschiedenen betrieblichen Welten funktionieren wie Äquivalenzprinzipien, die es gestatten, in Respektierung des jeweilig gültigen Prinzips Wertigkeiten von Menschen festzulegen. Bei der Personalselektion ermöglicht der Rekurs auf solche Prinzipien den Personalverantwortlichen, zwei oder mehrere Bewerber begründbar miteinander zu vergleichen, zu bewerten und in eine Rangordnung zu bringen. Um abschätzen zu können, inwiefern Diskriminierung auch bei der Bestimmung von Größe in den betrieblichen Welten auftreten kann, ist von Bedeutung, inwiefern es erst die Verwertung sozialer Merkmale ermöglicht, im Selektionsprozess solche Rangordnungen zu erstellen. 5.1 Der betriebliche Selektionsprozess als Verkettung von Bewährungsproben Die Wertigkeiten eines Bewerbers in den verschiedenen Welten werden im Rahmen der Lehrlingsselektion in einer Reihe unterschiedlicher Prüfsituationen mittels so genannter Bewährungsproben bestimmt (zum Begriff vgl. Boltanski/Chiapello 2003; für empirische Beispiele vgl. Imdorf 2008: 128–131). Eine Bewährungsprobe
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ermöglicht eine differenzbasierte Auslese von Personen auf Rangplätze unterschiedlicher Wertigkeit, also das ‚Vermessen‘ von Bewerbern und die Erstellung einer begründbaren Rangfolge. Sie setzt Strukturen voraus – Selektionsformen und -routinen unterschiedlichen Formalisierungsgrads – mit denen sich die Prüfkriterien evaluieren lassen (Boltanski/Thévenot 2007: 362 u. 463). In den Bewährungsproben des Selektionsprozesses kommen sehr unterschiedliche Diagnose-Instrumente zum Einsatz, und jede Welt zeichnet sich durch ihre charakteristische Prüfmethode aus: In der ‚industriellen Welt‘ sind es unter anderem die wohlbekannten Methoden der Leistungsmessung, auf welche die Lehrlingsselektion im öffentlichen Diskurs oft reduziert wird: Betriebsexterne oder interne Schulleistungstests, ein Stück Holz, das es nach Vorgabe im Rahmen eines kurzen Betriebspraktikums zu bearbeiten gilt, oder ein Brieftext, der möglichst fehlerfrei auf dem Computer geschrieben werden soll. In der ‚häuslichen Welt‘ stellt hingegen der ‚Bauch‘ (als Metapher für das affektive Evaluationsinstrumentarium des Betriebs) bzw. ein ‚Vertrauenstest‘ (Thévenot 2001: 415) das zentrale Prü¿nstrument dar. Denn die ‚Größe‘ einer Person ist in dieser Welt durch eine Vertrauenshierarchie bestimmt, die von Tradition, Abstammung, sozialer Nähe und Respekt getragen ist (Boltanski/Thévenot 1999: 370). Künftige Auszubildende müssen glaubhaft belegen oder verkörpern, dass sie die häuslichen Kontrollstrukturen sowie die geschlechtstypische Arbeitsteilung des Betriebs akzeptieren werden, dass sie vor den Alteingesessenen und älteren Mitarbeitern des Betriebs Respekt haben und deren Autorität anerkennen. Die fehlende soziale Passung eines ‚Ausländers‘ wird in der häuslichen Welt entsprechend nicht ‚industriell‘ gemessen, sondern durch die Selektionsmitbeteiligten systematisch gefühlt (Imdorf 2010a). Die Lehrlingsselektion kann somit als eine komplexe Verkettung von simultanen oder zeitlich aufeinander folgenden Bewährungsproben in den verschiedenen betrieblichen Welten verstanden werden. Die Gesamtbeurteilung der Bewerber resultiert entsprechend in einem mehrdimensionalen Urteil, das von einem Ausbildungsverantwortlichen mit der Metapher des Mosaiks beschrieben wurde. Ein solches Mosaik unterschiedlicher ‚Größen‘ überzeugt, wenn es die viel-weltlichen Ansprüche an die betriebliche Funktionstauglichkeit genügend befriedigt, um damit gleichzeitig die Beendigung des Selektionsverfahrens in nützlicher Zeit zu erwirken. Ein derartiger pragmatischer Verfahrensabschluss wird in der Regel erreicht, wenn ein Bewerber identi¿ziert werden kann, von dem angenommen wird, dass er oder sie künftig keine namhaften Probleme in den verschiedenen, betrieblich relevanten Welten verursachen wird.
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5.2 Eine Typologie von individualistischen und kollektivistischen Bewährungsproben Um das Problempotential eines künftigen Auszubildenden zu klären, werden auch Bewährungsproben eingesetzt, die in manchen Fällen die zeitlichen und lokalen Dimensionen des betrieblichen Auswahlverfahrens sprengen. Selektionsrelevante Bewährungsproben können bereits in der Vergangenheit sowie außerhalb des Betriebs erfolgt sein. Aufgrund der eigenen Datenanalyse lassen sich fünf verschiedene, in Tabelle 1 schematisierte Typen von Bewährungsproben identi¿zieren, auf welche sich Selektionsverantwortliche bei der Rechtfertigung des Ausschlusses von ‚ausländischen‘ Jugendlichen regelmäßig stützen. Um das Diskriminierungspotential einer jeweiligen Bewährungsprobe abzuschätzen, d. h. deren mangelnde Zuverlässigkeit im Hinblick auf die tatsächliche Größe eines Bewerbers, gilt es zu eruieren, inwiefern Betriebe auf die Verwertung kollektivistischer sozialer Merkmale (Nationalität, Namen, Geschlecht etc.) und Zuschreibungen angewiesen sind, die es erst erlauben, mehrere Bewerber gemäß ihrem antizipierten betrieblichen Problempotential in eine Rangordnung zu bringen. (1) Ein betrieblicher individualistischer Praxistest wird insbesondere im Rahmen kurzer Betriebspraktika, betriebsinterner Tests sowie anlässlich von Telefonoder Vorstellungsgesprächen durch den selektierenden Betrieb selbst ausgeführt, um die Größe eines Kandidaten in unterschiedlichen Welten zu beurteilen. Die individuelle Größe der jugendlichen Bewerber wird damit unter Realbedingungen (und somit relativ zuverlässig) beurteilt, wobei neben den Selektionsverantwortlichen auch anderweitige Mitarbeiter als Beobachter und Prüfer amten können. Zu den betrieblichen Praxistests gehören auch emotion-basierte Einschätzungen, etwa wenn die soziale Passung eines ‚ausländischen‘ Jugendlichen gefühlt wird (Imdorf 2010a). Tabelle 1
Typologie von Bewährungsproben nach Ort und Individualisierungsgrad der Probe
Individualisierungsgrad individualistische Probe (eher zuverlässig) kollektivistische Probe (wenig zuverlässig)
Ort der Bewährungsprobe betriebsintern betriebsextern imaginiert Betrieblicher Delegierter -Praxistest Praxistest Auf betrieblicher Delegierte, Imaginäre BewähErfahrung basiererfahrungsbasierrungsprobe te Bewährungste Bewährungsprobe probe
Obwohl Erfahrungen aus Direktkontakten mit den Bewerbern (u. a. während Betriebspraktika) für die Betriebe die glaubwürdigste Informationsquelle darstellen,
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bedeuten sie im Gegensatz zur alternativen Verwertung der knappen Informationen eines Bewerbungsdossiers einen großen betrieblichen Aufwand. Bewerbungsdossiers ermöglichen es demgegenüber, unter Mitberücksichtigung einiger grober und oft jeder Zuverlässigkeit entbehrender, für die jeweiligen Welten jedoch ausschlaggebender ‚Indikatoren‘, das Auswahlverfahren nach pragmatischen Gesichtspunkten zu beschleunigen. Die nachfolgenden Typen von Bewährungsproben lassen sich in der Regel daher bereits auf der Basis von Bewerbungsunterlagen anwenden und sind somit bei der Aussortierung von Bewerbungen (Vorselektion) besonders entscheidend. (2) Für einen delegierten individualistischen Praxistest ist charakteristisch, dass die Prüfung eines Kandidaten außerhalb des Betriebs statt¿ndet bzw. stattgefunden hat. Ein typisches Beispiel stellen Zeugnisinformationen dar, u. a. die darin ausgewiesenen Schulleistungen, die durch die Schule getestet und mit Noten sowie Schulabschlüssen of¿zialisiert wurden. Weitere Beispiele für Urteile aus delegierten Praxistests sind die Resultate betriebsexterner Leistungstests, Praktikumszeugnisse von Drittbetrieben, sowie Referenzschreiben, welche die Größe der Bewerber in unterschiedlichen Welten bescheinigen. Eine betriebsexterne individualistische Beurteilung ist im Vergleich zu betrieblichen Praxistests allerdings mit einem Reliabilitätsverlust belastet, insbesondere wenn die Abschätzung von betriebsrelevanter Größe (in Abgrenzung von den in der Berufsschule geforderten Kompetenzen, vgl. Imdorf 2009b) im Vordergrund steht. (3) Eine auf betrieblicher Erfahrung basierte kollektivistische Bewährungsprobe liegt vor, wenn eine zurückliegende betriebliche Erfahrung mit einem ‚ausländischen‘ Auszubildenden auf gegenwärtige Kandidaten übertragen wird, welche ein vergleichbares soziales Merkmal (z. B. Nationalität) teilen. In diesem Fall entscheidet eine selektive und generalisierte Erfahrung mit einem vergangenen Einzelfall über die antizipierte Größe des Kandidaten in einer spezi¿schen Welt. So haben nicht wenige Ausbildungsverantwortliche auf „schlechte Erfahrungen“ mit ‚Ausländern‘ im Sinne betrieblicher Probleme verwiesen, die sich im Verlauf eines vergangenen Ausbildungsverhältnisses ergeben hatten. Erfahrung basierte Bewährungsproben wurden dabei hochgradig selektiv verwertet, um den Ausschluss von ‚ausländischen‘ Bewerbern zu begründen. Das Erfahrungs-Argument wurde nie verwendet, um sich gegen ‚Schweizer‘ Kandidaten auszusprechen, obwohl praktisch jeder Betrieb bei entsprechender Nachfrage auch von schlechten Erfahrungen mit Inländern berichten konnte. Die behaupteten schlechten Erfahrungen waren zudem oft nicht die eigenen, weshalb es von der auf betriebseigener Erfahrung basierenden Bewährungsprobe einen weiteren kollektivistischen Typ zu unterscheiden gilt: (4) Im Rahmen einer delegierten erfahrungsbasierten kollektivistischen Bewährungsprobe wird eine problematisierte außerbetriebliche Erfahrung mit einer bestimmten Personengruppe (bzw. die Erfahrung eines Drittbetriebs) bei der Antizipation von möglichen Ausbildungsproblemen auf einen Kandidaten
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übertragen, der ein soziales Merkmal mit der problematisierten Personengruppe teilt. Hierzu gehören etwa behauptete schlechte Erfahrungen mit ‚ausländischen‘ Auszubildenden, die am Stammtisch zwischen Vertretern verschiedener Betriebe ausgetauscht werden, und die dann den Selektionsprozess aufgrund antizipierter Probleme „vom hören sagen“ zu ungunsten ‚ausländischer‘ Kandidaten beeinÀussen. In die Kategorie dieser delegierten Bewährungsproben gehören auch Analogieschlüsse aus nicht-betrieblichen Kontexten, etwa wenn ein vergangener oder aktueller KonÀikt in einem Kriegsgebiet (z. B. die Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Gruppen im Rahmen der Jugoslawienkriege) auf den künftigen Betriebsalltag übertragen wird (vgl. das empirische Beispiel bei Imdorf 2008: 139). (5) Schließlich liegt eine imaginäre kollektivistische Bewährungsprobe vor, wenn Alltagstheorien im Selektionsprozess verwertet werden, die weder durch betriebliches noch durch außerbetriebliches Erfahrungswissen gestützt werden können. Hier handelt es sich um Formen des Alltagsglaubens, wie er in Stereotypen und Vorurteilen transportiert und im öffentlichen Diskurs über Ausländer verankert ist. 5.3 Zum Diskriminierungspotential von Bewährungsproben Eine diskriminierende Bewährungsprobe liegt vor, wenn die individuelle Größe eines Bewerbers im Selektionsprozess nicht angemessen beurteilt wird und wenn die Verzerrung der Beurteilung mit einem sozialen Gruppenmerkmal variiert. Einer Person wird dabei unabhängig von Aktivität und Situation ein de¿nitiver Charakter und ein dauerhaftes (Problem-) Potential zugeschrieben (Eymard-Duvernay/Marchal 1997: 50). Die Antizipation von betrieblichen Problemen im Zusammenhang mit einem künftigen Auszubildenden basiert somit nicht auf Erfahrungswissen bzw. auf einem Praxistest mit dem betreffenden Bewerber selbst, sondern auf einem sozialen Merkmal, welches dieser mit einer betrieblich problematisierten Gruppe teilt, und welches mit einem betrieblichen Problempotential assoziiert wird. Gemäß der skizzierten Typologie sind die Betriebe in den Bewährungsproben (3), (4) und (5) auf solche sozialen Merkmale angewiesen, um die Größe der Kandidaten zu beurteilen. Dagegen sind die Praxistests (1,2) von diskriminierenden Zuschreibungsprozessen einigermaßen gefeit. Die Bewährungsproben vom Typ (2), (3), (4) und (5) können zudem aus einem weiteren Grund die Diskriminierung bei der Stellenvergabe fördern: Sie ermöglichen eine kostengünstige Vorselektion bei der Aussortierung von schriftlichen Bewerbungen, indem sie einen zeitef¿zienten Selektionsprozess gewährleisten (Eymard-Duvernay/Marchal 1997: 16). Da die einfach verwertbaren Informationen zu Alter, Geschlecht oder Nationalität bereits aus den schriftlichen Bewerbungsunterlagen ersichtlich sind, wird Diskriminierung zur ökonomischen Ressource bei der industriellen Abwicklung der Vorselektion.
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Im Extremfall machen kostengünstige Rechtfertigungsressourcen (Bewährungsproben vom Typ 3, 4 und 5) Praxistests vom Typ (1) und (2) gänzlich überÀüssig. So bedarf die Abklärung schulischer und sprachlicher De¿zite bei ‚ausländischen‘ Jugendlichen oft keiner individualistischen Praxistests mehr. Die behaupteten De¿zite gelten in der Umwelt als gesichert und werden nicht in Frage gestellt. Damit erweist sich die Zuschreibung schulischer und sprachlicher De¿zite gegenüber ‚ausländischen‘ Jugendlichen als besonders ‚kostengünstiges‘ betriebliches Argument, um ihren Ausschluss, der möglicherweise eher auf einer Problemantizipation in der häuslichen oder marktförmigen Welt beruht, ohne Protestfolgen zu rechtfertigen. 6
Ausländerausschluss als Folge organisationaler Diskriminierung
Um die betrieblichen Logiken hinter der Auswahl von Auszubildenden im Allgemeinen und hinter dem tendenziellen Ausschluss von als ausländisch geltenden Bewerbern im Speziellen zu verstehen, erweist sich ein organisationstheoretischer Zugang als fruchtbar. Ausbildungsbetriebe versuchen bei der Selektion neuer Auszubildender zum einen, das Risiko künftiger betrieblicher Störungen möglichst gering zu halten. Zum anderen sind sie auf einen pragmatischen Selektionsprozess angewiesen, den sie mit beschränkten zeitlichen und personellen Mitteln bewältigen müssen. Gemäß dieser zwei Logiken bedient sich der Betrieb u. a. der AusländerKategorie im Sinne einer Ressource, um potentielle organisatorische Probleme im Rahmen eines künftigen Ausbildungsverhältnisses zu reduzieren sowie um das Selektionsverfahren kostengünstig zu handhaben. Die Folgen beider Prozesse führen im Endresultat zu organisationaler Diskriminierung.8 Organisationale Diskriminierung resultiert demnach einerseits, wenn Bewerber eher auf Basis kollektivistischer Rekrutierungsprinzipien (Jewson/Mason 1986) als aufgrund individueller Praxistests selektiert werden, um den organisatorischen Aufwand der Personalselektion zu reduzieren. Auf Vorurteilen bzw. Stereotypen basierte Diskriminierung setzt immer auch eine organisationale Opportunitätsstruktur voraus (Peterson/Saporta 2004). Diese ist gegeben, wenn Betriebe eher kostengünstige kollektivistische Bewährungsproben als aufwändige betriebliche Praxistests einsetzen, um Selektionskriterien bei verschiedenen Bewerbern zu prüfen. Vor diesem Hintergrund ist organisationale Diskriminierung funktional für die Abwicklung des Selektionsprozesses. Eine abgekürzte Kompetenz-Beurteilung, 8 Hinsichtlich der Lehrlingsselektion in Kleinbetrieben ist es angemessener von organisationaler als von institutioneller Diskriminierung (vgl. den Beitrag von Mechtild Gomolla im vorliegenden Sammelband) zu sprechen, da die Formen der Mitgliedschaftsvergabe – Koordinations- bzw. Rechtfertigungsordnungen und Bewährungsproben – in Kleinbetrieben kaum institutionalisiert sind.
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wie sie für kollektivistische Bewährungsproben charakteristisch ist, beschränkt sich dabei nicht nur auf die Abklärung von Anforderungen der industriellen Welt, auf welche sich die Konzepte der statistischen Diskriminierung oder die Vorurteilsforschung in der Regel beschränken. Organisationale Diskriminierung bei der Kompetenz-Beurteilung lässt sich ebenso bei der Beurteilung der ‚Größe‘ eines Bewerbers in anderen betrieblichen Welten nachweisen, etwa wenn aufgrund eines ausländischen Namens, des Geschlechts oder der Altersangabe im Bewerbungsschreiben vorschnell auf eine mangelnde soziale Passung in der häuslichen Welt des Betriebs geschlossen wird. Organisationale Diskriminierung entsteht andererseits, wenn eine Personalselektion nicht ausschließlich auf den Selektionskriterien der meritokratischen Leistungsideologie fußt. Sie ist dann das Resultat von befürchteten Problemen jenseits der industriellen Welt in anderweitigen – also den häuslichen, markt- oder projektförmigen – Welten, die für die betriebliche Reproduktion als besonders relevant eingestuft werden. Vor diesem Hintergrund ist organisationale Diskriminierung funktional für die Reproduktion von Arbeitsorganisationen und der betriebliche Normalfall. Betrieblich relevant werden ethnische Kategorien entsprechend bereits in der Vorselektion bei einer schnellen Beurteilung, ob ein Kandidat den alltäglichen Fortbestand und die Funktionstüchtigkeit des Ausbildungsbetriebs in Zukunft stören könnte. Als ausländisch geltende Stellenbewerber haben dabei besonders in jenen Betrieben schlechte Karten, welche die Anforderungen der häuslichen und marktförmigen Welt vor jenen der industriellen Welt gewichten. Die industrielle Welt hält jedoch in vielen (Klein-)Betrieben ihre selektionsrelevante Bedeutung aufrecht. Anders ließe sich schwer erklären, weshalb ‚Ausländer‘ immer wieder Arbeitsmarktzugänge offen stehen. Aufgrund des namhaften Ausländeranteils in der schweizerischen Arbeitswelt dürfte zudem die häusliche und marktförmige Problemantizipation in jenen Betrieben reduziert sein, die bereits ‚Ausländer‘ beschäftigen, und die dadurch allfällige Bedenken bereits im Rahmen von betrieblichen Praxistests widerlegen konnten. Die Stereotype und Vorurteile, welche der Problemantizipation in der häuslichen oder marktförmigen Welt zugrunde liegen, variieren zudem nach nationaler Zugehörigkeit der Bewerber sowie im Zeitverlauf, und sie sind in der Gegenwart im deutschsprachigen Raum für eher wenige Nationalitäten (sehr) negativ besetzt (gegenwärtig u. a. für Türken und Südosteuropäer). Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, wie das Ausländerstigma als organisationale ‚Ressource der Diskriminierung‘ konkret den Weg in die Betriebe hinein ¿ndet, um bei der Personalauswahl selektionsrelevant zu werden. Wie kommt es dazu, dass die ‚Ausländer‘ (also bestimmte Nationen) betrieblich als problematischer beurteilt werden als anderweitige Nationalitätengruppen? Wie lässt sich verstehen, dass die ehemaligen Gastarbeiter aus Italien und Spanien sowie ihre Nachkommen, die noch vor 30 Jahren in der Schweiz möglicherweise vom Stigma
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des innerbetrieblichen Störenfrieds betroffen waren, heute zu ‚Schweizern‘ bzw. zu problemlosen Mitarbeitern geworden sind? Der hier vorgeschlagene organisationssoziologische Erklärungsrahmen der Personalselektion sucht Antworten auf solche Fragen in der Organisationsumwelt eines (Klein-)Betriebs, insbesondere in der De¿nitionsmacht und den partikularistischen Interessen des (klein-)betrieblichen Publikums (Mitarbeiter, Kundschaft, Geschäftspartner). Ein Betrieb versucht durch seine Personalauswahl immer auch sein Ansehen in der Öffentlichkeit zu wahren und Protest möglichst vorzubeugen. Während Großbetriebe einer medialen Öffentlichkeit ausgesetzt sind, die mitunter sensibel ist für Fragen der staatsbürgerlichen Gerechtigkeit, müssen sich Kleinbetriebe solchen von außen geforderten Gerechtigkeitsprinzipien weniger stark beugen. Kleinbetriebliche Öffentlichkeiten sind für staatsbürgerliche Gerechtigkeitsprinzipien meist weniger sensibel, und sie sehen sich durch die betriebliche Verwertung des Ausländerstigmas in ihrem Selbstverständnis eher bestätigt als zu Protest herausgefordert. Diese Diagnose ist im Hinblick auf mögliche Interventionen zur Bekämpfung von organisationaler Diskriminierung bzw. zur Erhöhung der Chancengleichheit beim Zugang zu betrieblichen Ausbildungsplätzen bedeutsam. Weil die staatsbürgerliche Welt (vgl. ausführlicher dazu Boltanski/Thévenot 2007: 254 ff.) in Kleinbetrieben geschwächt ist, und solange die Vergabe von Ausbildungsplätzen staatlich nicht geregelt werden kann, braucht es anderweitige Interventionen, um die betrieblichen Ausbildungschancen von ‚ausländischen‘ Jugendlichen zu erhöhen. Zum einen können sich entsprechende (klein-)betriebliche Innovationen auf eine vermehrte individualistische Beurteilung der Bewerber richten (etwa durch die vermehrte Schaffung von Kontaktmöglichkeiten zwischen Betrieben und ‚ausländischen‘ Schulabgängern im Rahmen von Betriebspraktika; oder durch die Einführung einer anonymisierten Vorselektion). Alleine durch eine ‚Rationalisierung‘ des Selektionsprozesses lässt sich aber noch keine Chancengerechtigkeit bei der Stellenvergabe herbeiführen, solange die häusliche Welt oder die marktförmige Welt weiterhin bemüht sind, ihre eigenen Zutrittskriterien bei der Auswahl durchzusetzen. Entsprechend gilt es, die Akzeptanz dieser Welten für ‚ausländische‘ Mitarbeiter zu erhöhen (für eine Diskussion entsprechender Innovationen vgl. Imdorf 2008). Letztendlich ermöglicht jedoch die Berücksichtigung pluralistischer Koordinations- und Selektionsprinzipien eine Wertevielfalt bei der Personalselektion, welche für die Gesamtheit aller benachteiligten Gruppen möglicherweise die bestmögliche Integration garantiert bzw. die totale Exklusion einzelner Gruppen verhindert (Eymard-Duvernay 2001: 284 f.). So haben z. B. ‚Schulversager‘ oder als behindert geltende Menschen vor allem in der häuslichen Welt eines Betriebs gewahrte Zutrittschancen, während es ‚Ausländern‘ dagegen eher gelingt, sich in der industriellen Welt kompensatorische Wege in die Betriebe zu erschließen (Imdorf 2009a: 79). Zur Verhinderung des totalen Ausschlusses einer Gruppe im
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Schichtbezogene und ethnisierende Diskriminierung im Prozess der strafrechtlichen Sozialkontrolle Dietrich Oberwittler und Tim Lukas
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Einleitung
Das Begriffspaar „Kriminalität und Ungleichheit“ bildet einen klassischen Zugang zu der soziologischen Analyse von Verbrechen und Strafe mit einer sehr langen Geschichte und andauernden Brisanz (Hagan/Peterson 1995; Karstedt 1996; Ludwig-Mayerhofer 2000; Scherr 2010). Eine wichtige Dimension dieser Verbindung betrifft die Annahme, dass Tatverdächtige im Strafrechtssystem aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit oder ihrer ethnischen Herkunft ungleich und damit diskriminierend behandelt werden. In den 1960er und 1970er Jahren wurde diese Fragestellung der Selektivität und Diskriminierung der strafrechtlichen Sozialkontrolle erstmals in den Vordergrund der Kriminalsoziologie gerückt. Ging es dabei zunächst fast ausschließlich um die soziale Schichtzugehörigkeit als Diskriminierungsmerkmal, so wandelte sich die Perspektive in dem Maße, in dem die deutsche Gesellschaft durch die Immigration von „Gastarbeitern“ und anderen allochthonen Bevölkerungsgruppen zu einem Einwanderungsland wurde, hin zu der heute vorherrschenden Frage nach Diskriminierungen aufgrund ethnischer Zuschreibungen. Der Aspekt der sozialen Ungleichheit ist dadurch beinahe vollständig in den Hintergrund gedrängt worden, obwohl sich nicht nur in Bezug auf Kriminalität, sondern auch in Bezug auf andere gesellschaftspolitische Felder zeigen lässt, dass ethnische Ungleichheiten und Benachteiligungen primär soziale Ungleichheiten und Benachteiligungen sind (Esser 2001; Hoffmann-Nowotny 2000). Diese Dominanz der ethnischen Perspektive insbesondere in der kriminalsoziologischen Forschung ist eine Folge der politischen und medialen Brisanz des Reizthemas „Ausländerkriminalität“ (Geißler 2000; Sessar 1999; Walter/Kubink 1993). Offensichtlich wird die Straffälligkeit von Migranten von vielen Menschen als besonders bedrohlich empfunden (Pfeiffer et al. 2004). Dies entspricht der sozialpsychologischen Tendenz, die Problemwahrnehmungen von Kriminalität eher auf solche Tätergruppen zu fokussieren, die ohnehin marginalisierte soziale Positionen einnehmen, denn diese eignen sich besonders gut für die negative Abgrenzung zwischen „Uns“ und den „Anderen“, zwischen „Ingroup“ und „Outgroup“ (Albrecht 1997). Die gemeinschaftsstärkenden Funktionen solcher Ausgrenzungen
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Dietrich Oberwittler und Tim Lukas
haben Soziologen wiederholt beschrieben (vgl. Garland 1990; Maruna/King 2004): Durch sie wird die Gruppensolidarität (Mead 1918: 580) und die kulturelle Identität von Gemeinschaften (Erikson 1966: 13) gestärkt. Für die populistische Ausbeutung des Themas (Ausländer-)Kriminalität in Wahlkämpfen gibt es in Deutschland „erfolgreiche“ und nicht „erfolgreiche“ Beispiele: Während die „Schill-Partei“ im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf von 2001 mit dem Thema „Law and Order“ knapp 20 Prozent der Stimmen gewinnen konnte (Reuband 2002), scheiterte der Versuch des CDU-Kandidaten Roland Koch während des hessischen Landtagswahlkampfs 2008, eine in den Medien präsente Gewalttat zweier allochthoner Jugendlicher zu nutzen, um seine Popularität mit Forderungen nach einer radikalen Verschärfung des Jugendstrafrechts zu steigern. Nichtsdestoweniger weisen diese Beispiele auf ein möglicherweise auch im alltäglichen Umgang mit allochthonen Tatverdächtigen wirksames Diskriminierungspotenzial hin. Daran anschließend stellt sich die Frage, ob Diskriminierungen bei den Betroffenen zu reduziertem Systemvertrauen und einem beschädigten Gerechtigkeitsgefühl führen. Die Gleichbehandlung vor dem Gesetz gehört zum Grundbestand des demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens. Diskriminierungserfahrungen durch Polizei oder Gerichte (wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen) gefährden die Integration und können Tendenzen zur Re-Ethnisierung und Bildung von Parallelgesellschaften fördern. Das Verhältnis von allochthonen Jugendlichen und Heranwachsenden zur Polizei als dem sichtbaren Träger des staatlichen Gewaltmonopols hat jedoch eine ganz besondere Bedeutung für die Legitimität der Staates (Tyler 2001). Konfrontative Begegnungen und belastete Wahrnehmungen im Verhältnis von Polizei und Jugendlichen waren in der Vergangenheit stets der Auslöser von gewaltsamen Protesten in französischen und britischen Großstädten (Waddington et al. 2009). Über die subjektiven Diskriminierungswahrnehmungen und daraus folgenden Einstellungsmuster allochthoner Jugendlicher ist in Deutschland noch nicht sehr viel bekannt. Das Thema sozialer und ethnischer Diskriminierungen im Strafrechtssystem hat also verschiedene Dimensionen, die wir in diesem Beitrag anhand neuerer und empirisch ausgerichteter Studien ausführlicher behandeln wollen. Im nächsten Abschnitt erörtern wir zunächst die theoretische Basis für die Analyse von Diskriminierungen und setzen uns dabei kritisch mit dem kriminalsoziologischen De¿nitionsansatz auseinander. Im Abschnitt 3 folgen dann Darstellungen des Forschungsstandes hauptsächlich zur selbstberichteten Delinquenz von Jugendlichen (3.2) und zur ersten Selektionsstufe des Übergangs vom „Dunkelfeld“ ins „Hellfeld“ der polizeilich bekannt gewordenen Delikte sowie zu den weiteren Instanzen der staatlichen Sozialkontrolle (Staatsanwaltschaft und Gericht) (3.3), bevor wir uns anschließend den alltäglichen Erfahrungen mit der Polizei und subjektiven Wahrnehmungen der Polizei durch benachteiligte und allochthone Bevölkerungsgruppen zuwenden (3.4).
Schichtbezogene und ethnisierende Diskriminierung 2
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Theoretische Überlegungen
Die Perspektive auf selektive und diskriminierende Kontrollpraktiken des Strafrechtssystems ist untrennbar mit dem Aufstieg des De¿nitionsansatzes (Labeling Approach) in den 1960er Jahren verbunden. Die zentrale Annahme des De¿nitionsansatzes, dass Kriminalität eine Eigenschaft ist, die Personen und Handlungen von der Gesellschaft (von den Opfern, Beobachtern sowie vor allem den Instanzen der staatlichen Sozialkontrolle) angeheftet wird, hat konsequenterweise die Forderung nach sich gezogen, die Normengenese, die Bewertungs- und Stigmatisierungsprozesse, die an der Produktion von Kriminalität beteiligt sind, in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen. Zunächst standen dabei alleine die staatlichen Instanzen der Sozialkontrolle im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Feest/Blankenburg (1972) und Feest/Lautmann (1971) untersuchten die polizeilichen Ermessens- und Entscheidungsspielräume und zeigten den engen Zusammenhang der Alltagstheorien des „Verdachts“ mit Annahmen über die soziale Schichtzugehörigkeit des Gegenübers. Später führte jedoch die Erkenntnis, dass über 90 % aller registrierten Straftaten auf Anzeigen von Opfern oder Zeugen und nicht auf pro-aktivem Polizeihandeln beruhen, dazu, dass die Frage nach der sozialen Selektivität polizeilichen Handelns in den Hintergrund trat (Lehne 1993: 393). Andere Studien konzentrierten sich auf die Arbeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte (Blankenburg et al. 1978; Lautmann 1972). Innerhalb dieser kriminalsoziologischen Strömung kann man grob zwei unterschiedliche Ausprägungen unterscheiden: Erstens gibt es einen mit den ätiologischen (täterorientierten) Theorien kombinierbaren Ansatz, der den Anteil der Normanwendung und selektiven Sanktionierung an der Produktion von Kriminalität untersucht, ohne die Existenz abweichenden Verhaltens unabhängig von der Kontrolldimension zu verneinen. Dieser Ansatz interessiert sich besonders für die biographische Entwicklung und Verstärkung krimineller Karrieren (durch Stigmatisierung, self-ful¿lling prophecy etc.). Hierfür steht insbesondere das Konzept der sekundären Devianz (Lemert 1967; vgl. Ehret 2007; Lamnek 2001: 220), enge Berührungspunkte gibt es darüber hinaus mit der kriminologischen Lebenslauf-Forschung (siehe unten) und dem Ansatz des „Reintegrative Shaming“ (Braithwaite 1993). Zweitens gibt es den „radikalen De¿ nitionsansatz“, der darauf insistiert, dass eine Erforschung der Erscheinungen und Ursachen von Kriminalität auf der Ebene des Täters und seiner Handlungen unmöglich sei, weil die De¿nition der kriminellen Handlung erst mit der sozialen Reaktion der Gesellschaft beginne und nicht schon mit der Handlung selbst (Sack 1969; Peters 1996). In dieser Perspektive macht eine Unterscheidung von „Dunkelfeld“- und „Hellfeld“-Kriminalität sowie die empirische Untersuchung selektiver Kontrolle abweichenden Verhaltens keinen Sinn (Ehret 2007: 39; Hess/Scheerer 2004: 74). Der radikale De¿nitionsansatz baut jedoch auf zwei konzeptionellen bzw. empirischen Fehlannahmen auf: Zum einen
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macht die Verabsolutierung des Grundgedankens des De¿nitionsansatzes aus den Tätern passive Opfer und spricht ihnen nicht nur jegliche Verantwortung, sondern auch die Entscheidungsfreiheit für oder gegen Normabweichungen ab, wodurch der Ansatz des symbolischen Interaktionismus Herbert Meads unfreiwillig konterkariert wird (Lemert 1974: 458; vgl. von Trotha 1977). Zum anderen basiert er auf einer in der Entstehungsphase allerdings weit verbreiteten Fehlinterpretation der Dunkelfeldstudien, die den Eindruck zuließen, dass delinquentes Verhalten in der Gesellschaft mehr oder weniger gleich- oder gar zufällig verteilt sei, und eine Überrepräsentierung der unteren Schichten bei der registrierten und sanktionierten Kriminalität daher ausschließlich auf eine sozial selektive Strafverfolgung zurückgeführt werden könne. Diese Auffassung ist jedoch empirisch eindeutig widerlegt, wie auch in diesem Beitrag noch ausführlich dargestellt wird (vgl. Albrecht/Howe 1993; Farnworth et al. 1994; Hagan 1992). Der radikale De¿nitionsansatz ist daher keine geeignete Ausgangsposition, um Fragen nach einer sozial selektiven und diskriminierenden Behandlung im System der staatlichen Sozialkontrolle zu untersuchen. Obwohl der „gemäßigte“ De¿nitionsansatz zu den empirisch weniger gut bestätigten Theorien abweichenden Verhaltens gehört, hat insbesondere die kriminologische Längsschnittforschung gerade in den letzten Jahren Ergebnisse erbracht, die für die Frage der diskriminierenden Wirkungen strafrechtlicher Sanktionen von größter Bedeutung sind (Boers 2008, 2009; Ehret 2007; Sampson/Laub 2005; Schumann 2003, 2010; Thomas/Stelly 2008). In verschiedenen Längsschnittstudien mit Jugendlichen und Heranwachsenden bestätigte sich die Vermutung, dass die Anwendung formeller Sanktionen die weitere Delinquenzentwicklung verstärken kann. Im Sinne einer self-ful¿lling prophecy führt die Anwendung strafrechtlicher Sanktionen zu einer kumulativen Einschränkung von Lebensbewältigungschancen, zum Beispiel durch ein erhöhtes Risiko der Arbeitslosigkeit als Folge einer Sanktionierung, und zu einer graduellen Verfestigung devianter Handlungsorientierungen. Diese nichtintendierten Sanktionswirkungen sind besonders fatal, da die Längsschnittforschung auch gezeigt hat, dass selbst eine wiederholte Delinquenz im Dunkelfeld nicht zwangsläu¿g den Beginn einer kriminellen Karriere markiert, sondern in der Regel von den Jugendlichen spontan und ohne staatliche Intervention beendet wird. Selbst wenn bei der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen keine massiven sozialen Selektionsprozesse feststellbar sind, so könnten doch auch leichtere Ungleichbehandlungen bereits einen sich über längere Zeiträume selbst verstärkenden Prozess auslösen, der vermutlich bei ohnehin sozial benachteiligten Jugendlichen größere kumulative Benachteiligungen auslösen würde als bei Jugendlichen, die über bessere soziale Ressourcen verfügen. Ein Teil dieses negativen Verstärkungsprozesses wird durch die Neigung der Instanzen des Strafrechtssystems induziert, bei wiederholter Auffälligkeit nicht mehr auf formelle Registrierungen zu verzichten und die Sanktionsschraube
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anzuziehen (Höfer 2003). Diese Überlegungen sind für die Bewertung der später berichteten Erkenntnisse über die soziale Selektivität strafrechtlicher Reaktionen auf abweichendes Verhalten sehr relevant. Eine weitere Perspektive des De¿ nitionsansatzes ist auf die Frage gerichtet, welche Verhaltensweisen in einer Gesellschaft als abweichend und kriminell de¿ niert werden und welche nicht, und welche sozialen Ungleichheiten und Machtverhältnisse sich in diesen Entscheidungen und der möglicherweise selektiven Durchsetzung unterschiedlicher Normen widerspiegeln. Diese eher makrosoziologische Perspektive steht in einer marxistischen und konÀikttheoretischen Tradition (Chambliss 1999), die dem Gerechtigkeitsanspruch des staatlichen Strafrechts misstraut, so wie es folgendes, häu¿g zitierte Bonmot des Schriftstellers Anatole France zum Ausdruck bringt: „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es den Reichen wie den Armen, unter den Brücken zu schlafen“ (zitiert bei Klute/Kotlenga 2008: 10). Auf die aktuelle gesellschaftliche Situation bezogen: Warum ist Sozialhilfebetrug kriminell, aber der Abbau von tausenden Arbeitsplätzen unter Mitnahme von staatlichen Subventionen oder die Kapitalvernichtung durch Börsencrashs unter Mitnahme von Bonus-Zahlungen nicht? Warum wird Ladendiebstahl strafrechtlich sanktioniert, aber für Steuerhinterziehung auch im großen Stil wird den reuigen Tätern Straffreiheit garantiert? Nicht nur das Normensystem, sondern auch die öffentliche oder veröffentlichte Wahrnehmung von Kriminalität ist offenbar durchzogen von selektiven Perspektiven, die tendenziell die Schwachen und Außenseiter in der Gesellschaft schärfer treffen und die Abweichungen der „Angepassten“ und „Mächtigen“ eher tolerieren (Frehsee 1991; Karstedt 2004, 2008; Karstedt/Farrall). Die oft gut sichtbaren und plumpen Formen der Regelverstöße von Unterschichtsjugendlichen eignen sich eher für die Kristallisation von Bedrohungsgefühlen, als die teils komplizierten Vermögensdelikte, die an den Schreibtischen der Weiße-Kragen-Täter angebahnt werden und trotz enormer Schadenshöhen von der Strafjustiz oftmals nicht sanktioniert werden (Boers et al. 2004; Bussmann/Lüdemann 1992). Nach der of¿ziellen Kriminalstatistik fallen in lediglich 2 % der Fälle von Eigentums- und Vermögenskriminalität, die zum Bereich der Wirtschaftskriminalität gezählt werden, 50 % des registrierten Gesamtschadens an, nämlich 4,2 Milliarden € im Jahr 2005 (BMI/BMJ 2006: 22). 3
Forschungsergebnisse
3.1 Of¿zielle Kriminalstatistiken Die systematischen Datensammlungen der Instanzen des Strafrechtssystems – Polizei, Gerichte und Strafvollzugsanstalten – lieferten das Ausgangsmaterial
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für die öffentliche und teils auch für die fachwissenschaftliche Wahrnehmung des Problems der so genannten „Ausländerkriminalität“ (z. B. Luff 2000; Rebmann 1998; Walter 1996). In allen drei Statistik-Serien sind Personen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit gemessen an ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung deutlich überrepräsentiert. Da die Schwierigkeiten, aus diesen Tätigkeitsstatistiken ein von ihren Entstehungsbedingungen unabhängiges und „unverzerrtes“ Bild der Kriminalität bestimmter Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, offensichtlich sind und auch frühzeitig diskutiert wurden (z. B. Albrecht/Lamnek 1979; Geißler/Marißen 1990), wollen wir diesen Zweig empirischer Analysen hier nur kurz streifen. Das Bundeskriminalamt als Herausgeber der Polizeilichen Kriminalstatistik hat z. B. wegen der Problematik der nicht zur Wohnbevölkerung gehörenden Tatverdächtigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit (Illegale, Touristen, Durchreisende usw.) schon seit langem aufgehört, bevölkerungsbasierte Raten der „Kriminalitätsbelastung“ der Nichtdeutschen zu berechnen, berichtet jedoch immer noch die absoluten Ziffern und Prozentanteile. Mit der zunehmenden „Diversi¿zierung“ der ethnischen und juristischen Zuordnungen verschiedener autochthoner und allochthoner Bevölkerungsgruppen macht es auch immer weniger Sinn, das Kriterium der Staatsangehörigkeit, das in den Kriminalstatistiken nach wie vor als einziges Merkmal einer allochthonen Herkunft verfügbar ist, als Indikator zu verwenden. 3.2 Dunkelfeldstudien Befragungen zu selbstberichtetem delinquenten und strafbaren Verhalten werden ganz überwiegend mit Jugendlichen durchgeführt, zum einen, da diese Altersphase wegen ihres Delinquenz-Maximums und in der weiteren Entwicklungsperspektive besonders interessant ist, und zum anderen, weil die methodischen Probleme bei der Befragung von Erwachsenen stärker zunehmen (Junger-Tas/Marshall 1999). Damit steht ein Ausschnitt der Kriminalität im Zentrum der Aufmerksamkeit, der sich ohnehin durch eine vergleichsweise größere Sichtbarkeit auszeichnet und daher von der Öffentlichkeit eher wahrgenommen (und zudem stärker symbolisch aufgeladen) wird als die Kriminalität der „Angepassten“ und „Mächtigen“ (siehe oben). Seit Mitte der 1990er Jahre haben Jugendsoziologen, Pädagogen und Kriminologen im deutschsprachigen Raum viele lokale und regionale Schulbefragungen durchgeführt, die das Dunkelfeld der Jugenddelinquenz erheblich aufhellen konnten und aufgrund recht großer Stichproben auch Vergleiche zwischen ethnisch de¿nierten Gruppen zulassen (Baier 2008; Baier et al. 2009; Eisner et al. 2000; Fuchs et al. 2008; Lösel/Bliesener 2003; Oberwittler et al. 2001; Pfeiffer et al. 1998; Tillmann et al. 1999; Wetzels et al. 2001; Wilmers et al. 2002; vgl. Zauberman 2009). Den Fragen nach potenziell strafbaren Handlungen schließen sich in einigen Studien auch Fragen nach Polizeikontakten infolge dieser Handlungen
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an, womit Untersuchungen zum Übergang vom Dunkelfeld ins Hellfeld möglich werden. Einige Studien haben Schulbefragungen speziell für detaillierte Analysen der selbstberichteten Delinquenz autochthoner und allochthoner Jugendlicher unterschiedlicher Herkunft genutzt (Babka von Gostomski 2003; Baier/Pfeiffer 2007, 2008; Baier et al. 2009; Brettfeld 2009; Heitmeyer et al. 2005; Naplava 2003; 2004; Strobl/Kühnel 2000).1 Die Forschungsergebnisse sollen im Folgenden zunächst auf soziale und ethnische Unterschiede des delinquenten Verhaltens und anschließend auf die Wahrscheinlichkeit einer polizeilichen Registrierung in Folge dieses delinquenten Verhaltens untersucht werden. Selbstberichtete Delinquenz Die Ergebnisse der Schulbefragungen lassen sich am ehesten so zusammenfassen: Durchweg ¿nden sich starke Zusammenhänge zwischen unterprivilegierter Soziallage (gemessen vor allem an der Schulform) und einigen Formen strafbarer Delinquenz, und überwiegend ¿nden sich ebenfalls deutliche Zusammenhänge zwischen der Zugehörigkeit zu einigen allochthonen Gruppen und einigen Formen strafbarer Delinquenz. Bedeutsame Unterschiede zeigen sich dann, wenn man als Kriterium nicht pauschal delinquentes Verhalten wählt, das im Jugendalter als relativ ‚normal‘ gilt, sondern auf schwerere Formen der Eigentumsdelinquenz (zum Beispiel Einbruch, Autoaufbruch oder Rollerdiebstahl) und auf Gewaltdelinquenz fokussiert, und zudem auch nach der Häu¿gkeit des abweichenden Verhaltens fragt. Denn Schwere und Intensität der Delinquenz sind zentrale EinÀussfaktoren auf die Wahrscheinlichkeit einer polizeilichen Registrierung (siehe dazu unten). So zeigen sich bei einigen Formen strafbarer Delinquenz wie Sachbeschädigung oder Drogenkonsum keine eindeutigen Unterschiede zwischen Schülern verschiedener Schulformen und Migrationshintergründe. Ein anderes Bild zeigt sich beim Diebstahl: Türkisch-stämmige Jugendliche berichten weniger und Jugendliche mit einem osteuropäischen Migrationshintergrund mehr Ladendiebstähle als autochthone Jugendliche (Baier et al. 2009: 70; Naplava 2003). Schwere Schulbefragungen zeichnen sich gegenüber den zuvor üblichen haushaltsbasierten face-to-face Befragungen (z. B. Albrecht/Howe 1992; Sutterer/Karger 1994; Villmow/Stephan 1983), die teilweise Jugendliche mit Migrationshintergrund bewusst ausgeschlossen hatten, durch höhere Ausschöpfungsraten insbesondere bei Jugendlichen mit niedrigem Sozialstatus und vermutlich geringere Verzerrungseffekte der sozialen Erwünschtheit aus (Oberwittler/Naplava 2002; Köllisch/Oberwittler 2004). Grundsätzlich kann man daher eine relativ hohe Validität der Selbstberichte in Schulbefragungen annehmen; jedoch gibt es auch vereinzelte Hinweise auf eine geringere Validität der Antworten (im Sinne eines Unter-Berichtens) von allochthonen Jugendlichen, insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion (Naplava 2003). 1
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Eigentumsdelikte und Gewaltdelikte jedoch werden nach den übereinstimmenden Resultaten der meisten Studien erheblich häu¿ger von Jugendlichen aus einigen Migrantengruppen begangen als von autochthonen Jugendlichen. Dies gilt für die zahlenmäßig bedeutsamen Gruppen der türkischen und ex-jugoslawischen Minderheiten sowie teils auch für Aussiedlerjugendliche. Nach den Ergebnissen der Schülerbefragungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) im Jahr 2005 hatten 39 % der türkisch-stämmigen Jungen in den letzten zwölf Monaten mindestens ein Gewaltdelikt und 13 % mindestens fünf Gewaltdelikte begangen, während die Anteile bei den autochthonen Jungen nur bei 21 % bzw. 4 % lagen (Baier/Pfeiffer 2007: 19). In der jüngsten KFN-Schulbefragung von 2008 wurden 8,3 % der Mädchen und Jungen mit türkischem und 9,4 % der Mädchen und Jungen mit ex-jugoslawischem oder albanischem Migrationshintergrund als mehrfach gewalttätig identi¿ziert, gegenüber 3,3 % der einheimisch-deutschen Schüler (Baier et al. 2009: 70). Eine Sekundäranalyse verschiedener Schulbefragungen der Jahre 1995 bis 2000 scheint die Annahme einer erheblich höheren Gewaltneigung von Jugendlichen mit türkischem und ex-jugoslawischem Migrationshintergrund (Naplava 2003) zu bestätigen, und weitere Studien wie die von Heitmeyer et al. (2005: 50) und Fuchs et al. (2008: 201) fügen sich in dieses Bild ein. Nur in der Duisburger Studie von Boers et al. (2006, 2007) zeigte sich kein Unterschied in der Gewaltausübung zwischen autochthonen und türkisch-stämmigen Jugendlichen. Jugendliche, die stärkere delinquente Neigungen zeigen, begehen in der Regel sowohl Gewalt- als auch Eigentumsdelikte und tun dies zudem deutlich häu¿ger als die große Mehrheit der ‚normalen‘ delinquenten Jugendlichen (vgl. Brettfeld 2009: 213). Dadurch erhöht sich ihr Risiko, von der staatlichen Sozialkontrolle wahrgenommen zu werden, im Extremfall als so genannte „Intensivtäter“ (Naplava 2010). Auf der Basis der Daten der vom Max-Planck-Institut für Strafrecht (MPI) durchgeführten Schulbefragung de¿nierten Oberwittler et al. (2001: 27) diese Gruppe als solche Jugendliche, die innerhalb eines Jahres mindestens sieben schwere Gewalt- oder Eigentumsdelikte begangen hatten. Befragte mit türkischem Migrationshintergrund erfüllten diese De¿nition mehr als doppelt so häu¿g wie autochthone Jugendliche (6,5 % vs. 3.1 %). Innerhalb der Gruppe der „Intensivtäter“ berichteten diejenigen mit türkischem Migrationshintergrund zudem deutlich mehr schwere Delikte (durchschnittlich 43 im letzten Jahr) als die übrigen (durchschnittlich 33), und ein höherer Anteil von ihnen hatte mindestens einen Polizeikontakt (72 % vs. 60 %). Da das dreigliedrige Schulsystem sozial sehr selektiv wirkt und der Besuch einer Haupt- oder Sonderschule bereits eine wichtige Weichenstellung für einen späteren marginalisierten Sozialstatus darstellt (vgl. etwa Solga/Wagner 2008), macht es Sinn, die Schulform als eine Proxy-Variable des sozialen Status von Jugendlichen zu verwenden (vgl. Albrecht/Howe 1992). Wie schon angedeutet, ¿ndet sich in allen Schulbefragungen ein deutlicher Zusammenhang zwischen
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der Schulform und schweren Formen der Delinquenz. In der MPI-Schulbefragung wurden 8,1 % der Hauptschüler als Intensivtäter eingruppiert, aber nur 4,6 % der Realschüler und 1,5 % der Gymnasiasten (Oberwittler et al 2001: 28). Auch Fuchs et al. (2008: 94), Baier et al. (2009) und Wetzels/Brettfeld (2009), um nur einige aktuelle Studien zu nennen, bestätigen den Zusammenhang zwischen Schulform und schwerer Eigentums- und Gewaltdelinquenz. Die Schulform darf jedoch nicht mit dem Sozialstatus der Herkunftsfamilie gleichgesetzt werden und macht dessen Berücksichtigung bei der Analyse sozialer Bedingungen von Jugenddelinquenz nicht überÀüssig. Die Erhebung des elterlichen Sozialstatus in Schulbefragungen ist schwierig und wurde nur in einigen Studien durchgeführt, so auch in den Schulbefragungen des KFN und des MPI. Enzmann et al. (2004: 279) errechneten einen steigernden Effekt des niedrigen elterlichen Sozialstatus auf Gewaltdelinquenz, der jedoch im Vergleich zur Schulform schwächer aus¿el. Rabold/Baier (2007: 32) fanden einen Effekt der Arbeitslosigkeit bzw. des Sozialhilfebezugs der Eltern (ebenfalls unter Kontrolle der Schulform) nicht auf Gewalt-, aber auf leichte und schwere Eigentumsdelikte. Oberwittler (2004, 2007) zeigte, dass die auch in der MPI-Schulbefragung sichtbaren Effekte des niedrigen elterlichen Sozialstatus und der Arbeitslosigkeit/Sozialhilfe auf Gewalt- und schwere Eigentumsdelinquenz zu einem erheblichen Anteil darauf beruhen, dass sozial benachteiligte Familien in segregierten Wohngebieten mit hoher Armutskonzentration leben. Dieser Kontexteffekt gilt jedoch nicht für allochthone Jugendliche. Zusammenfassend bestätigen diese Ergebnisse, dass eine marginalisierte Soziallage der Herkunftsfamilie, vor allem aber die besuchte Schulform als ProxyVariable des eigenen Sozialstatus mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit schwerer Jugenddelinquenz einher gehen. Die Schulform repräsentiert jedoch über die Soziallage hinaus implizit noch weitere Effekte wie schulische Leistungs- und Verhaltenskriterien, die selbst mit delinquentem Verhalten korrelieren, sowie auch Verstärkungseffekte der sozialen Segregation im dreigliedrigen Schulsystem (Oberwittler 2010; Sienneck/Staff 2008). Die sich an diese Erkenntnisse unmittelbar anschließende Frage, ob eine höhere Delinquenzneigung von allochthonen Jugendlichen bereits hinreichend durch ihre weitaus stärkere soziale Marginalisierung erklärt werden kann, wurde ebenfalls in einigen Studien untersucht. Unter Kontrolle von elterlichem Sozialstatus, besuchter Schulform und erlittener Elterngewalt verschwinden in der Analyse von Enzmann et al. (2004: 281) auf der Basis der KFN-Schulbefragung 2000 signi¿kante Effekte des Migrationsstatus auf Gewalthandeln. In der KFNSchulbefragung 2005 bleibt eine signi¿kante Höherbelastung von Jugendlichen mit türkischem, ex-jugoslawischem und russischem Migrationshintergrund bei Gewaltdelinquenz – nicht jedoch bei schwerer Eigentumsdelinquenz – bestehen, trotz statistischer Kontrolle von sozialer Lage der Eltern und der Zustimmung zu „gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen“ (Rabold/Baier 2007: 32). Auf
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der Basis der MPI-Schulbefragung kam Naplava (2004) zu dem Ergebnis, dass die soziale Benachteiligung etwa zwei Drittel des Zusammenhangs von schwerer Jugenddelinquenz und Migrationsstatus erklärt. Die höhere Neigung allochthoner Jugendlicher zu schweren Formen der Delinquenz kann demnach entweder vollständig oder zumindest zu einem erheblichen Teil durch deren soziale Marginalisierung erklärt werden. Dies wurde auch in US-amerikanischen Studien zu den Wirkungen der Ghettoisierung auf afro-amerikanische und Latino-Jugendliche festgestellt (Bellair/McNulty 2005; Kirk 2008; vgl. Häußermann 2007; Wacquant/Wilson 1989). Weiterhin ist wichtig, dass sich die EinÀussfaktoren und sozialen Mechanismen, die den Zusammenhang zwischen sozialen Benachteiligungen und Delinquenz herstellen, nicht zwischen autochthonen und allochthonen Jugendlichen unterscheiden. Weiterführende Studien haben gezeigt, dass es keine direkten Wirkungspfade von Armut oder relativer Deprivation zu Delinquenz gibt, sondern vielmehr indirekte Wirkungspfade, die zum Beispiel über das elterliche Erziehungsverhalten, die Beziehung zu den Gleichaltrigen, die Übernahme subkultureller Orientierungsmuster und über sozialräumliche Verstärkungseffekte der sozialen Segregation in Wohngebieten und Schulen laufen (Boers/Reinecke 2007; Eisner/ Ribeaud 2003; Lösel/Bliesener 2003; Oberwittler 2007, 2010; Scheithauer et al. 2008). So ¿ndet sich z. B. der starke Zusammenhang zwischen der Zustimmung zu den bereits erwähnten „gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen“ und der Gewaltausübung bei autochthonen wie bei allochthonen, und bei männlichen ebenso wie bei weiblichen Jugendlichen (Enzmann et al. 2004: 283). Es macht daher wenig Sinn, abweichendes Verhalten von allochthonen Jugendlichen als ein besonderes Problem zu betrachten, für das eigene Erklärungsansätze notwendig wären. Es deutet sich jedoch an, dass einige allochthone Gruppen besonders hohe Ausprägungen von Eigenschaften oder Problemlagen aufweisen, die dann auch zu besonderen delinquenten Verhaltensneigungen beitragen. Einen partiellen, aber sehr eindringlichen Einblick in Gewaltphänomene allochthoner Bevölkerungsgruppen jenseits des Jugendalters bietet die bundesweit repräsentative Befragung von Frauen zu ihren Opfererfahrungen physischer und sexueller Gewalt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2004). Häusliche oder familiale Gewalt spielt sich in einem „doppelten Dunkelfeld“ (Schneider 2009) ab, da es zu einem sehr viel kleineren Anteil of¿ziell registriert und sanktioniert wird und auch in Opferbefragungen nur schwer aufzuhellen ist. Insgesamt 37 % der befragten Frauen berichteten über körperliche Gewalterfahrungen seit ihrem 16. Lebensjahr, 23 % über Gewalt in Paarbeziehungen. Von den Frauen, die Gewalterfahrungen gemacht hatten, gaben 16 % an, verprügelt worden zu sein, 10,5 % waren mit einer Waffe bedroht worden und 14,4 % war gedroht worden, sie umzubringen. Von den befragten Frauen mit türkischem Migrationshintergrund berichteten 46 % über körperliche Gewalterfahrungen und 38 % über Gewalt in
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Paarbeziehungen. Von den türkisch-stämmigen Frauen, die Gewalterfahrungen gemacht hatten, gaben 31 % an, verprügelt worden zu sein, 18 % waren mit einer Waffe bedroht worden, und 27 % war gedroht worden, sie umzubringen. Diese Zahlen weisen auf eine erheblich höhere Gewaltneigung türkisch-stämmiger Männer innerhalb von Partnerschaften hin und legen eine Verbindung zu dem Befund ihrer mehrfach höheren Belastung bei Tötungsdelikten nahe (siehe unten). Wahrscheinlichkeit der polizeilichen Registrierung Die Dunkelfeldbefragungen haben das Wissen über den Übergang potenziell strafbaren Verhaltens Jugendlicher vom Dunkel- ins Hellfeld und die dabei wirksamen Selektionsmechanismen erheblich erweitert. Durch ihre sehr großen Stichproben erlauben einige Schulbefragungen erstmals auch differenzierte Analysen nach einzelnen Deliktsformen und ethnischen Gruppen. Dadurch können Annahmen über eine selektive Strafverfolgung von allochthonen Jugendlichen direkt geprüft werden, die sich zuvor indirekt aus dem Befund ergeben hatten, dass Verfahren gegen allochthone Jugendliche von den Staatsanwaltschaften häu¿ger eingestellt wurden (siehe oben; vgl. Mansel 2008). Die folgenden Erkenntnisse stützen sich in erster Line auf die bereits erwähnten Schulbefragungen des KFN und des MPI. In beiden Befragungen wurde an die Fragen nach strafbaren Handlungen jeweils die Frage angeschlossen, ob die Jugendlichen wegen dieser Handlung einen Polizeikontakt hatten bzw. ob die Polizei davon erfahren hat. Wie sich bei einer externen Validierung dieser Angaben anhand der tatsächlichen polizeilichen Registrierungen zeigte, die Köllisch/Oberwittler (2004) mit einer kleineren Vergleichsstichprobe durchführten, endeten Polizeikontakte jedoch nicht immer mit einer formellen Registrierung und nachfolgenden justiziellen Reaktion. In welchem Umfang und in welcher Selektivität die Polizei auf eine formelle Registrierung ihnen bekannter jugendlicher Delinquenten verzichtet, ist noch weitgehend ungeklärt. Zudem zeigte sich, dass Gymnasiasten ihre Polizeikontakte in Schulbefragungen weniger ehrlich zugeben als Haupt- und Realschüler, so dass die soziale Selektivität polizeilicher Registrierungen möglicherweise weniger stark ausgeprägt ist als es die nachfolgenden Ergebnisse nahelegen (Köllisch/Oberwittler 2004: 728). Zunächst bestätigen die aktuellen Befragungen den bekannten Befund, dass nur eine kleine Minderheit von potenziell strafbaren Handlungen Jugendlicher of¿ziell bekannt wird (vgl. Albrecht 2003; Karstedt-Henke/Crasmöller 1991). Während in der im Jahr 2000 durchgeführten KFN-Schulbefragung 86 % der befragten Jugendlichen in den letzten zwölf Monaten mindestens ein Delikt (einschließlich Schwarzfahrens) begangen hatten, berichteten nur 11,4 % über einen Polizeikontakt (Brettfeld/Wetzels 2003). Die Wahrscheinlichkeit eines Polizeikontakts wird entscheidend von der Art und Schwere des Delikts sowie von der Häu¿gkeit des delinquenten Verhaltens
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bestimmt (Karstedt-Henke/Crasmöller 1991). Köllisch (2005: 221) berechnete anhand der Daten der MPI-Schulbefragung, dass das polizeiliche Entdeckungsrisiko bei Gewaltdelikten und Einbruchsdiebstahl zwischen einer Häu¿gkeit von fünf bis etwa 50 Delikten im Jahr von ca. 20 % auf 100 % ansteigt. Man kann daher annehmen, dass die kleine Gruppe von delinquenten Jugendlichen, die sehr viele Gewalt- und schwere Eigentumsdelikte begehen, weitgehend polizeibekannt ist. Bei Drogendelikten und Ladendiebstahl steigt das Entdeckungsrisiko hingegen auch bei sehr hoher Häu¿gkeit nie über ca. 30 % an. Während die polizeiliche Registrierung von Gewaltdelikten und vielen Eigentumsdelikten wie Wohnungseinbruch, Autoaufbruch etc. maßgeblich von der Anzeigeneigung der privaten Opfer bestimmt wird, handelt es sich bei Drogendelikten um ein so genanntes Kontrolldelikt, dessen Entdeckung von pro-aktivem Polizeihandeln abhängig ist. Über die polizeiliche Registrierung eines Ladendiebstahls wiederum entscheiden semi-formelle Akteure – das Verkaufspersonal oder Ladendetektive. Daher ist es sinnvoll, die Selektivität polizeilicher Registrierungen getrennt nach Deliktstypen mit jeweils unterschiedlichen Akteuren und Handlungslogiken zu untersuchen. Bei Ladendiebstahl stellte Köllisch (2005: 228 f., 2008) eine sehr deutliche soziale und ethnische Diskriminierung jugendlicher Täter fest: 34,5 % der Jugendlichen mit türkischem oder ex-jugoslawischem Migrationshintergrund gegenüber 19 % der autochthonen Jugendlichen, die wenigstens einen Ladendiebstahl begangen hatten, berichteten über einen Polizeikontakt. Für Haupt- und Sonderschüler lag das Anzeigerisiko bei 34 %, für Gymnasiasten nur bei 17 %. In multivariaten Analysen unter Kontrolle von Alter, Geschlecht, der Häu¿gkeit der Ladendiebstähle und der Zugehörigkeit zu einer delinquenten Freundesgruppe behielten sowohl der Migrationsstatus als auch ein niedriger Sozialstatus der Eltern einen signi¿kant steigernden EinÀuss auf das Anzeigerisiko. Offenbar ist die selektive Aufmerksamkeit des Verkaufspersonals und der Ladendetektive von Stereotypen geprägt, die primär auf die äußere Erscheinung von Jugendlichen ¿xiert sind und dadurch ethnisch und sozial diskriminierend wirken. Demgegenüber ergaben sich bei Drogendelikten und Einbruchsdiebstahl keine Hinweise auf eine Selektivität des Entdeckungsrisikos (Köllisch 2005: 252). Ob Gewalthandlungen von Jugendlichen im Dunkelfeld verbleiben oder ins polizeiliche Hellfeld gelangen, ist das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen den KonÀiktbeteiligten (und ihren Familien). Hier besteht zudem – anders als bei einem Ladendiebstahl oder einem Autoaufbruch – ein wesentlich höherer Spielraum, eine Gewalthandlung als Rauferei unter Jugendlichen oder als strafbares Delikt zu de¿nieren (von Felten 2000; Menzel/Peters 1998). Bei den Schulbefragungen von KFN und MPI wurde die Frage nach Körperverletzungen daher auf Ereignisse eingeschränkt, die zu manifesten Verletzungen führten. Dennoch wurden nur 8 % aller aus der Opferperspektive berichteten Körperverletzungen in der MPI-Schulbefragung der Polizei angezeigt (Köllisch 2005: 158).
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Die Ergebnisse der Schulbefragungen legten schon früh den Verdacht nahe, dass die ethnische KonÀiktkonstellation ein relevanter EinÀussfaktor auf die Entscheidung für oder gegen eine polizeiliche Anzeige sein könnte. Pfeiffer et al. (1998: 73) zeigten, dass KonÀiktgegner, die der jeweils eigenen Ethnie angehören, seltener angezeigt werden als KonÀiktgegner einer anderen Ethnie, und dass dies sowohl für autochthone als auch allochthone Opfer gilt. Köllisch (2005, 2009) hat die Determinanten der unterschiedlichen informellen und formellen Bewältigungsformen von Gewalterlebnissen im Rahmen einer Theorie der sozialen Distanz untersucht und konnte zeigen, dass eine polizeiliche Anzeige dann wahrscheinlicher wird, wenn das soziale Kapital zwischen den KonÀiktbeteiligten als eine gemeinsame Ressource für informelle KonÀiktlösungen zu gering ist. Dieses soziale Kapital ist zwischen Bekannten, Schülern der gleichen Schule, Bewohnern kleinerer Gemeinden und Angehörigen der gleichen Ethnie größer als zwischen Unbekannten, Großstadtbewohnern und Angehörigen verschiedener Ethnien. In einem multivariaten Modell erklären neben der Deliktschwere und der Bekanntheit der KonÀiktgegner vor allem die gemischt-ethnische KonÀiktkonstellation die Anzeigewahrscheinlichkeit, nicht jedoch die allochthone Herkunft des Täters alleine (Köllisch 2009: 48). Ein anderes Ergebnis dieser Studie ist, dass Selbstjustiz als eine informelle Variante der Sanktionierung relativ häu¿g vorkommt, wenn beide KonÀiktgegner allochthoner Herkunft sind und das Opfer selbst eine hohe Gewaltneigung hat. Dieser Befund, der von qualitativen Studien unterstützt wird (Gesemann 2003; Strasser/Zdun 2003, 2005), beleuchtet eine wenig beachtete Schattenseite der informellen KonÀiktbewältigung von Jugendgewalt, welche mit einer geschwächten Legitimität der Polizei bei allochthonen Jugendlichen zusammenhängt. Ähnliche Verhaltensmuster beobachtet auch Schweer (2004: 19) im Duisburger Eckenstehermilieu türkischer Herkunft, in dem im Falle einer Opfersituation nur 44 % der Befragten die Polizei in Anspruch nehmen würden. Weitere 23 % der befragten Jugendlichen gaben an, die Inanspruchnahme hänge von der jeweiligen Situation ab, die übrigen 33 % lehnten polizeiliche Hilfe im Falle der Opferwerdung kategorisch ab. Die Inanspruchnahme der Polizei verstößt bei diesen Jugendlichen gegen eine Art Ehrenkodex und würde als Schwäche oder gar Verrat ausgelegt (Walter/Grübl 1999). Die Ergebnisse dieser Analysen auf der Basis von Schulbefragungen sprechen gegen die Annahme einer intentionalen Diskriminierung allochthoner Jugendlicher durch private Opfer, die eine Schlüsselposition als „Gatekeeper“ des Systems der staatlichen Sozialkontrolle innehaben. Allochthone Jugendliche werden nicht häu¿ger polizeilich registriert, weil die deutsche Mehrheitsbevölkerung durch ein selektives Anzeigenverhalten ihre Dominanz gegen eine als bedrohlich wahrgenommene Minderheit aufrechterhalten will, sondern weil diese Minderheit durch einen Mangel an verwertbarem Sozialkapital strukturell benachteiligt ist. Da die heteroethnischen KonÀiktsituationen durch die starke Zunahme allochthoner
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Bevölkerungsanteile wahrscheinlich häu¿ger geworden sind, kann diese strukturelle Benachteiligung auch als eine plausible Erklärung (neben anderen) für die immer stärkere Aufhellung des Dunkelfeldes bei Jugendgewalt gelten (Köllisch/ Oberwittler 2004; Köllisch 2007). In einer Befragung der erwachsenen Wohnbevölkerung fanden Mansel et al. (2001) und Mansel/Albrecht (2003a) jedoch Hinweise auf eine höhere Anzeigeneigung durch Kriminalitätsopfer bei allochthonen Tätern auch auf der Basis fremdenfeindlicher Einstellungen, die allerdings in multivariaten Modellen nicht signi¿kant waren. Auch in den nach einzelnen allochthonen Gruppen differenzierten Analysen der KFN-Schulbefragung 2000 von Brettfeld/Wetzels (2003) spielte der Migrationshintergrund unter Berücksichtigung von tatbezogenen Merkmalen keine, der Besuch einer Hauptschule oder eines Berufsvorbereitungsjahres jedoch eine sehr signi¿kante Rolle für die Erklärung des Registrierungsrisikos. 3.3 Justizielle Behandlung Über den weiteren Verlauf der staatlichen Sozialkontrolle gibt es vergleichsweise wenige aktuelle empirische Studien, so dass viele Fragen nach einer sozial und ethnisch selektiven Behandlung von Beschuldigten im Strafrechtssystem nicht ganz befriedigend beantwortet werden können (Albrecht 1997, 2007). Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die beiden maßgeblichen Akteure im Strafrechtssystem, Staatsanwaltschaft und Gericht, in deren Hand die Anwendung der Normen und Sanktionen liegt. Die Staatsanwaltschaft verfügt mit der Entscheidung für Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung über eine erhebliche De¿nitionsmacht im Prozess der staatlichen Sozialkontrolle. Infolge der Ausdehnung rechtlicher Spielräume der Staatsanwaltschaft und eines langfristigen Trends zur informellen Sanktionierung von Kriminalität wurden 2006 nur noch gegen 53 % aller Personen, gegen die ein hinreichender Tatverdacht vorlag, Gerichtsverfahren eröffnet; in beinahe der Hälfte der Fälle stellten die Staatsanwaltschaften die Strafverfahren, teilweise mit AuÀagen, ein (Heinz 2008). Dabei sind die Einstellungen aufgrund mangelnden Tatverdachts noch nicht berücksichtigt. Die Diversionsrate im Jugendstrafrecht, d. h. der Anteil der Verfahren, die unterhalb der Stufe einer gerichtlichen Verurteilung beendet werden, liegt seit Mitte der 1990er Jahre sogar bei knapp 70 %. Eine der gründlichsten empirischen Studien zur Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaften liegt bereits mehr als eine Generation zurück. Blankenburg et al. (1978) fanden dabei keine Indizien für eine direkte soziale Diskriminierung zulasten von Unterschichtsangehörigen. Jedoch wirkten sich vorgegebene Kriterien wie vor allem die Vorstrafenbelastung eher zu ungunsten von Tatverdächtigen mit niedrigem Sozialstatus aus. Tatverdächtige mit Migrationshintergrund spielten
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in dieser Studie noch keine wesentliche Rolle, jedoch zeigte sich auch hier keine Benachteiligung gegenüber autochthonen Tatverdächtigen. In den 1980er und 1990er Jahren ergaben vergleichende Auswertungen der polizeilichen Tatverdächtigen-Statistiken und der justiziellen Strafverfolgungsstatistiken konsistente Hinweise darauf, dass Strafverfahren gegen nicht-deutsche Staatsangehörige häu¿ger eingestellt wurden als gegen deutsche Staatsangehörige (Geißler/Marißen 1990; Mansel/Albrecht 2003b). Dieser auf den ersten Blick überraschende Befund wird vor allem darauf zurückgeführt, dass die Staatsanwaltschaften das höhere Risiko allochthoner Personen, auch in Zweifelsfällen und wegen Bagatelldelikten angezeigt zu werden, durch eine größere Neigung ausgleichen, solche Strafverfahren aus Mangel an Tatverdacht oder wegen Geringfügigkeit einzustellen. Außerdem argumentierten einige Forscher, dass allochthone Tatverdächtige aufgrund tatsächlicher oder vorgeschobener mangelnder Sprachkenntnisse in polizeilichen Vernehmungen strukturell im Vorteil seien, weil sie ein Schuldgeständnis eher vermeiden könnten (Reichertz/Schröer 1993). Mansel/ Albrecht (2003b: 690) errechneten, dass die Rate der Verfahrenseinstellungen in der Altersgruppe der Heranwachsenden und Jungerwachsenen bei nicht-deutschen Staatsangehörigen um 10 Prozentpunkte höher lag als bei deutschen Staatsangehörigen. Dennoch lagen auch auf der Basis der gerichtlich Abgeurteilten (d. h. nach „Korrektur“ durch Verfahrensseinstellungen) die Belastungsziffern für türkische und (ex-)jugoslawische Staatsangehörige deutlich oberhalb der Belastungsziffern der deutschen Staatsangehörigen. Dies gilt insbesondere auch für Tötungsdelikte, für die Mansel/Albrecht (2003b: 695) eine dreimal höhere Belastung bei den 18–21jährigen Männern mit Migrationshintergrund und eine viermal höhere Belastung bei den 21–25jährigen Männern mit Migrationshintergrund gegenüber den autochthonen Vergleichsgruppen berichten. Eine detaillierte Analyse von Strafverfahren der Jahre 1997 und 2002 in einem nordrhein-westfälischen Gerichtsbezirk bestätigte die These, dass Verfahren gegen nicht-deutsche Staatsangehörige häu¿ger eingestellt werden, und zwar vor allem wegen größerer Beweisschwierigkeiten, welche wiederum indirekt auf eine ethnisch diskriminierende Anzeigepraxis schließen lassen (Mansel 2008). In einem multivariaten Modell zur Erklärung der Entscheidung für Einstellung oder Anklageerhebung hatte ein Migrationshintergrund der Tatverdächtigen – ähnlich wie in der älteren Studie von Blankenburg et al. (1978) – keinen eigenständigen Effekt. Mansel/Albrecht (2003b: 712) deckten darüber hinaus starke regionale Unterschiede in der Strafverfolgung von nicht-deutschen Staatsangehörigen besonders wegen Verstößen gegen das Ausländergesetz auf: Politisch konservative Bundesländer zeichnen sich demnach durch eine überproportionale Kriminalisierung und Strafverfolgung von nicht-deutschen Staatsangehörigen aus, was mit einer restriktiveren Ausländerpolitik korrespondiert.
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Auf der gerichtlichen Ebene sprechen einige Studien für eine ethnisch diskriminierende Strafpraxis. Die methodisch aufwändige Untersuchung von LudwigMayerhofer/Niemann (1997), die auf Aktenanalysen und teilnehmenden Beobachtungen von insgesamt 430 Jugendgerichtsverfahren basiert, stellte eine signi¿kant höhere Sanktionshärte bei Angeklagten mit türkischem und (ex-)jugoslawischem Migrationshintergrund auch unter Kontrolle von Tatschwere, Vorstrafen und weiteren Merkmalen fest. Die Autoren bewerteten diese Diskriminierung jedoch als „nicht besonders stark ausgeprägt“ (Ludwig-Mayerhofer/Niemann 1997: 50). Zu einem anderen Ergebnis kam eine kleinere Studie zur justiziellen Behandlung von wegen Einbruchsdiebstahls angeklagter Jugendlicher und Heranwachsender in bayerischen Gerichtsbezirken. Hier zeigte die nicht-deutsche Staatsangehörigkeit weder auf die Entscheidung für oder gegen eine Anklageerhebung noch auf die Sanktionshärte einen signi¿kanten Effekt (Dittmann/Wernitzing 2003). Jedoch waren aufgrund der geringen Fallzahl keine detaillierten Analysen unterschiedlicher ethnischer Gruppen möglich. Neuere Analysen der amtlichen Strafvollzugsstatistik durch Pfeiffer et al. (2004: 70) zeigen, dass Angeklagte nicht-deutscher Staatsangehörigkeit im Zeitraum 2001/2002 gegenüber dem Vergleichzeitraum 1993/1994 relativ häu¿ger zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt wurden, obwohl ihr Anteil an den Tatverdächtigen, Angeklagten und Verurteilten im gleichen Zeitraum rückläu¿g war. Außerdem wurden sie zu längeren Haftstrafen verurteilt als Angeklagte mit deutscher Staatsangehörigkeit. Eine weitere auf Aktenanalysen basierende Studie von ca. 1500 Strafverfahren in Niedersachsen und Schleswig-Holstein der Jahre 1991, 1995 und 1997 gab weitere Hinweise auf eine diskriminierende Sanktionsanwendung vor allem zu Lasten von Angeklagten nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, die keine gültige Aufenthaltsgenehmigung besitzen (Schott 2004). Bei schwerem Diebstahl wurden 47 % der Angeklagten ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt, während nur 35 % der nicht-deutschen Angeklagten mit Aufenthaltsgenehmigung und 32 % der Angeklagten mit deutscher Staatsangehörigkeit diese Sanktion erhielten. Damit im Zusammenhang steht, dass ein erheblich größerer Anteil der Angeklagten ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in Untersuchungshaft genommen wurde. Dies wird in der Regel mit einer erhöhten Fluchtgefahr der Angeklagten ohne festen Wohnsitz in Deutschland begründet. Aber auch nicht-deutsche Angeklagte mit Aufenthaltsgenehmigung wurden häu¿ger in Untersuchungshaft genommen als Angeklagte mit deutscher Staatsangehörigkeit, zum Beispiel 13 % gegenüber 7 % bei gefährlichen und schweren Körperverletzungen (Schott 2004: 391). Mit der Anordnung von Untersuchungshaft wird offenbar eine spätere Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe präjudiziert, d. h. die Tatsache, bereits in Haft zu sein, erhöht das Risiko der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe unabhängig von anderen Fak-
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toren. Der Aufenthaltsstatus erweist sich demnach als eine Ursache struktureller Diskriminierung, von der naturgemäß nur Migranten betroffen sind. 3.4 Wahrnehmung von Diskriminierungen – zum Verhältnis von Polizei und benachteiligten Bevölkerungsgruppen Die Arbeit der Polizei erfährt in demokratischen Staaten einen vergleichsweise hohen Zuspruch aus den Reihen der Bevölkerung, so dass allgemein davon ausgegangen werden kann, dass Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit ihren Niederschlag auch im Vertrauen in die Polizei ¿nden. Befragungen aus den USA zeigen gegenwärtig, dass rund 60 % der amerikanischen Staatsbürger der Polizei viel bzw. ziemlich viel Vertrauen entgegenbringen (Pastore/Maguire 2009). Auf Grundlage der letzten Befragungswelle 2008/09 des British Crime Survey ermitteln Walker et al. (2009) für England und Wales, dass 53 % der Befragten der Polizei gute bzw. sehr gute Arbeit bescheinigen. Beide Werte liegen jedoch weit unterhalb entsprechender Befragungsergebnisse in Deutschland. Im Rahmen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) erhobene Daten zeigen, dass das Vertrauen in öffentliche Institutionen wie z. B. Parteien oder Behörden zwar krisenhafte Züge annimmt, der Polizei jedoch über 70 % der Befragten sehr viel bzw. ziemlich viel Vertrauen schenken (Schupp/Wagner 2004: 313). Im internationalen Vergleich erreicht das Vertrauen in die Polizei damit in der Bundesrepublik einen Spitzenwert, wie er ansonsten nur in den skandinavischen Ländern erreicht wird (GfK Custom Research 2009). Die vorgestellten Ergebnisse verschleiern indes die Tatsache, dass das Vertrauen in die Arbeit der Polizei je nach sozialer Gruppenzugehörigkeit sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Der Grad des Vertrauens in die Polizei variiert mit verschiedenen demographischen und kontextuellen Faktoren ebenso wie mit der Art und Weise und Häu¿gkeit des Polizeikontakts. Wiederholt wurde darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Vertrauen in die Polizei vor allem im Hinblick auf die ethnische Herkunft von Bürgern unterscheidet (Bowling/Phillips 2002; Gabbidon/Taylor Greene 2009; Weitzer/Tuch 2006). So ist das Vertrauen in die Polizei unter Angehörigen ethnischer bzw. rassialisierter Minderheiten regelmäßig geringer ausgeprägt als bei Autochthonen. In den USA liegt zwischen schwarzen und weißen Bürgern ein durchschnittliches Gefälle von rund 25 Prozentpunkten im Hinblick auf verschiedene positive Zuschreibungen zur Polizei (Huang/Vaughn 1996). Dem entspricht der aktuelle Befund, wonach sich gegenüber 63 % unter den befragten Weißen nur 38 % der befragten Schwarzen zufrieden mit der Arbeit der Polizei äußern (Pastore/Maguire 2009). Während in England und Wales traditionell vergleichbare Unterschiede berichtet wurden (Bowling/Phillips 2002: 136), zeigte sich im British Crime Survey
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überraschend, dass 56 % der schwarzen und 53 % der asiatischen, aber nur 48 % der autochthonen Befragten der Polizei bescheinigen, allgemein gute bzw. sehr gute Arbeit zu leisten (Jansson 2006: 23). Walker et al. (2009: 104) schränken allerdings auf Basis der letzten Befragungswelle ein, dass Angehörige ethnischer Minderheiten zwar insgesamt positiver gegenüber der Polizei eingestellt sind als die autochthone Bevölkerung, dass sie sich aber dennoch seltener respektvoll durch die Polizei behandelt fühlen. Myhill/Beak (2008: 12) kommen überdies zu dem Schluss, dass nach Aufschlüsselung einzelner Minderheitengruppen derart starke Unterschiede offenbar werden, dass die Bewertung der polizeilichen Arbeit in bestimmten Minderheitengruppen (z. B. unter Personen mit afro-karibischer Zuwanderungsgeschichte) letztlich ebenso schlecht ausfällt wie unter den befragten Autochthonen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Polizeivertrauen Jugendlicher in Deutschland. Anhand der Daten des vom Deutschen Jugendinstitut durchgeführten Ausländer- und Jugendsurveys, in dem 2.500 deutsche, griechische, italienische und türkische Jugendliche und Heranwachsende befragt wurden, bilanziert Weidacher (2000: 142) zwar „ein hohes Maß an Ähnlichkeit in den Vertrauensbekundungen“ gegenüber Polizei und Gerichten, in einer kritischen Re-Analyse dieser Daten aber berechnet Gesemann (2003: 210), dass unter den befragten Jugendlichen 27,5 % der deutschen, aber 36,8 % der Jugendlichen türkischer Herkunft der Polizei misstrauen. In die gleiche Richtung deuten die Befunde der 13. Shell Jugendstudie, nach der 22 % der autochthonen Jugendlichen und 30 % der Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund der Polizei nur wenig oder sehr wenig Vertrauen entgegenbringen (Gesemann 2003: 210). Darüber hinaus geben Celikbas/Zdun (2008: 131) an, dass unter in Duisburg befragten männlichen Jugendlichen türkischer Herkunft rund ein Drittel ein starkes, dagegen jedoch fast die Hälfte ein nur mittelmäßiges und etwa jeder Fünfte sogar kaum Vertrauen in die Arbeit der Polizei aufweist. Auswertungen des „IKG-Jugendpanels“ des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre KonÀikt- und Gewaltforschung weisen einen deutlichen Verlust an Vertrauen in das Rechtssystem im zeitlichen Übergang vom Jugendlichen- zum Erwachsenenalter aus, der bei türkisch-stämmigen und Aussiedlerjugendlichen deutlich größer ausfällt als bei autochthonen Jugendlichen (Heitmeyer et al. 2005: 40 f.). Im Ausmaß des Vertrauens unterscheiden sich diese Gruppen jedoch nicht. Verglichen mit dem Migrationsstatus erweist sich die soziale Schichtzugehörigkeit als ein vergleichsweise widersprüchlicher Prädiktor des Vertrauens in die Polizei. US-amerikanische Studien weisen auf ein größeres Misstrauen gegenüber der Polizei sowohl in den unteren (Cao et al. 1996; Huang/Vaughn 1996) als auch in den höheren sozialen Schichten (Murphy/Worrall 1999; Peak et al. 1992) hin. Individuelle EinÀussvariablen verlieren jedoch an Bedeutung, wenn auf der Makroebene die sozialökologischen Bedingungen des Stadtviertels berücksichtigt werden. Sampson/Bartusch (1998) stellen dazu am Beispiel Chicagos fest, dass unter
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Berücksichtigung der lokalen Konzentration sozialstruktureller Benachteiligung Effekte der individuellen ethnischen Herkunft und Schichtzugehörigkeit auf die Zufriedenheit mit der polizeilichen Arbeit weitgehend neutralisiert werden (vgl. Cao et al. 1996; Reisig/Parks 2000). Wu et al. (2009) bestätigen, dass sich ethnische und schichtbezogene Unterschiede unter der Voraussetzung sozialer Desorganisation im Wohnumfeld praktisch auÀösen, Einstellungen gegenüber der Polizei also über verschiedene soziale Schichten und Ethnien annähernd gleich verteilt sind, sobald der jeweilige Stadtviertelkontext kontrolliert wird. Unzufriedenheit mit der polizeilichen Arbeit und Misstrauen gegenüber der Polizei kann demnach vor allem in solchen Stadtquartieren beobachtet werden, die durch ethnische Heterogenität, zunehmende Armut und Arbeitslosigkeit ebenso gekennzeichnet sind wie durch eine hohe Rate der registrierten Gewaltkriminalität (Sampson/Bartusch 1998; Reisig/Parks 2000). Anhand der Daten der MPI-Schulbefragung und der Zuordnung der Befragten zu Wohnquartieren können wir ebenfalls feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit, sich im Vergleich zu autochthonen Jugendlichen von der Polizei ungerechter behandelt zu fühlen, für alle untersuchten Minderheitengruppen außer den aus Russland eingewanderten Aussiedlerjugendlichen gegen Null geht, wenn in Mehrebenenmodellen die soziale Benachteiligung des Wohnquartiers ebenso wie individuelle Merkmale eines benachteiligten Sozialstatus kontrolliert werden. Türkisch-stämmige Jugendliche sind dann sogar etwas zufriedener mit der Polizei als autochthone. Die Befunde deuten darauf hin, dass Bewohner benachteiligter Stadtteile über Erfahrungen mit der Polizei verfügen, wie sie in besser situierten Stadtvierteln kaum je gemacht werden. Bekannt ist, dass die Einstellungen derer, die bereits einmal mit der Polizei in Berührung kamen, üblicherweise negativer sind als die derjenigen, die bislang noch keinen Kontakt hatten (Allen et al. 2006; FitzGerald et al. 2002; Skogan 2006). Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Polizei benachteiligte Stadtteile mit einer deutlich höheren Präsenz und Kontrolldichte überzieht als dies andernorts der Fall ist (Kane 2002; Klinger 1997; Smith 1991; Terrill/Reisig 2003). Kontakte mit der Polizei sind aufgrund dessen in benachteiligten Stadtteilen zwangsläu¿g wahrscheinlicher als anderswo. Im Hinblick auf die dort lebende Wohnbevölkerung erscheint es nicht unplausibel, dass vor allem (junge) Migranten einem erhöhten Kontrollrisiko unterliegen, da sie im Straßenbild eher auffallen – zumindest dann, wenn sie in ein bestimmtes Raster fallen oder gewisse Stereotype bedienen (Walburg 2009: 30). In England und Wales haben allochthone Bevölkerungsgruppen ein verglichen mit autochthonen siebenfach erhöhtes Risiko, von der Polizei kontrolliert und durchsucht zu werden (Jones/Singer 2007). Zu einem ähnlichen Befund kommt eine aktuelle, an zwei Pariser Bahnhöfen durchgeführte Studie der Open Society Justice Initiative (2009: 10). Danach wurden in den Bahnhöfen Personen mit süd-
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afrikanischem oder karibischem Migrationshintergrund durchschnittlich sechsmal häu¿ger und Personen mit nord-afrikanischer oder maghrebinischer Zuwanderungsgeschichte fast achtmal häu¿ger durch die Polizei kontrolliert als Autochthone. Ebenso geht die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarates (ECRI) in ihrer dritten Prüfungsrunde auch für Deutschland davon aus, dass Angehörige der sog. visible minorities (äußerlich erkennbarer Minderheiten) übermäßig oft von der Polizei kontrolliert werden (ECRI 2004: 27). Hüttermann (2000) hat durch teilnehmende Beobachtungen in Duisburg untersucht, mit welchen Mitteln die Polizei in sozialräumlich benachteiligten Stadtvierteln auf ein „avanciertes Eckensteher-Milieu“ ausländischer Herkunft reagiert. Demnach hat sich innerhalb spezieller, pro-aktiv arbeitender Dienstgruppen ein Praxisstil etabliert, durch den sich die sogenannten „Street Corner“-Polizisten in Körpersprache und Rhetorik an die migrantisch geprägte Eckensteher-Gesellschaft adaptieren. Verbale Entgleisungen, die von Außenstehenden als diskriminierend interpretiert werden könnten, resultieren dabei weniger aus kontextunabhängig gegebenen fremdenfeindlichen Einstellungen, sondern spiegeln vielfach nur den verbreiteten Jargon der Straße wider (Schweer/Strasser 2008: 25). Zwar sind durch die Polizei initiierte Kontrollen stets dazu angetan, Einstellungen gegenüber der Polizei negativ zu beeinÀussen, entscheidend im Hinblick auf die Entstehung von Vertrauen oder Misstrauen auf Seiten des Kontrollierten aber ist häu¿g weniger die Durchführung der Kontrolle an sich, als vielmehr die Art und Weise, wie sich die Beamten gegenüber dem Bürger verhalten und ob sich in der Begegnung situativ bestimmte Erwartungshaltungen des Bürgers an die Polizei befriedigen lassen. Skogan (2005: 316 f.; vgl. Tyler 2001) stellt dazu fest, dass eine der maßgeblichen Determinanten der Zufriedenheit mit der polizeilichen Arbeit darin besteht, dass das polizeiliche Gegenüber das Gefühl hat, gerecht behandelt zu werden. Angehörige ethnischer Minderheiten aber machen häu¿g gegenteilige Erfahrungen. Auf der Grundlage einer Schülerbefragung in Nordrhein-Westfalen berichten Heitmeyer et al. (1997: 270), dass sich rund 34 % der befragten Jugendlichen türkischer Herkunft häu¿g bzw. sehr häu¿g ungerecht durch die Polizei behandelt fühlen. Salentin (2008: 518) gibt an, dass das Gefühl, bei Behörden oder durch die Polizei schlechter behandelt zu werden als Deutsche, vor allem unter den befragten Türken zu den häu¿gsten Diskriminierungserfahrungen zählt. Rund 25 % der Befragten fühlen sich durch Behörden oder Polizei diskriminiert. Eine repräsentative Studie des Zentrums für Türkeistudien kommt zu dem Ergebnis, dass jeder Fünfte der befragten türkisch-stämmigen Migranten in der Bundesrepublik bereits diskriminierende Erfahrungen mit der Polizei gemacht hat (Sauer 2009: 166). Gruppeninterviews, die Gesemann (2003) mit Migrantenjugendlichen in Berlin durchgeführt hat, belegen weiter, dass insbesondere Personenkontrollen, Festnahmen und Razzien von den Jugendlichen als ethnische Diskriminierungen
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gedeutet und auf ihren Status als Ausländer in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zurückgeführt werden. Im Rahmen des sogenannten „Minorities and Discrimination Survey“ der Grundrechte-Agentur der Europäischen Union (FRA) schließlich geben 37 % der befragten Muslime türkischer Herkunft in der Bundesrepublik an, im vorangegangenen Jahr nach ihrem subjektiven Eindruck wenigstens einmal lediglich aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit kontrolliert worden zu sein (FRA 2009: 13). Über die selektive Kontrollpraxis der Polizei hinaus ¿nden diskriminierende Verhaltensweisen ihren wohl brutalsten Ausdruck in polizeilichen Übergriffen auf Ausländer und Angehörige ethnischer Minderheiten, von denen in der Vergangenheit etliche Fälle auch in Deutschland registriert wurden. So listet die Menschenrechtsorganisation Aktion Courage e. V. (2004) für den Zeitraum 2000 bis 2003 insgesamt 70 Fallbeispiele polizeilicher Misshandlungen gegen Ausländer auf und Amnesty International (2004) stellt beispielhaft 20 Fälle dar, die sich auf persönliche Befragungen der Opfer, Presseberichte und Rechtsdokumente stützen. Vorfälle wie diese, aber auch die von Bosold (2006: 123) auf der Grundlage einer Mitarbeiterbefragung der niedersächsischen Polizei berichtete fast alltägliche Gewaltanwendung gegenüber Bürgern, sind in besonderer Weise dazu geeignet, ein „Klima von gegenseitigem Misstrauen und von Hass“ (Lapeyronnie 1998: 301) entstehen zu lassen. Schließlich sind es nicht allein persönliche Erfahrungen mit der Polizei, sondern auch Erfahrungen vom Hörensagen, die das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit prägen (Rosenbaum et al. 2005). Auslöser der Krawalle in Frankreich und England waren zumeist kleinere, nichtsdestotrotz gewalttätige KonÀikte zwischen einzelnen Polizisten und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in der migrantisch geprägten Gemeinschaft sehr schnell Resonanz fanden und die Wut der Jugendlichen auf die Polizei lenkten. Die Polizei als Feindbild funktioniert dabei auf zweierlei Weise: Zum einen als Symbol für eine als rassistisch erfahrene gesellschaftliche Ordnung (Dubet 1997: 225), zum anderen als Organisation, die den Rassismus in Staat und Gesellschaft strukturell aufgreift, reproduziert und verstärkt und in diesem Sinne selbst als rassistisch erfahren wird (Antidiskriminierungsbüro Berlin e. V. 2007). Zwar blieben vergleichbare KonÀikte in Deutschland bislang weitgehend aus, Umfragen aber haben auch hierzulande wiederholt auf fremdenfeindliche Einstellungsmuster innerhalb der Polizei aufmerksam gemacht. Backes et al. (1998) etwa kommen anhand von Befragungen und teilnehmenden Beobachtungen bei der Hamburger Polizei zu dem Ergebnis, dass sich in Teilgruppen der Polizei problematische Einstellungen gegenüber Migranten und problematische Erwartungshaltungen gegenüber dem Verhalten von als Fremde wahrgenommenen erkennen lassen, die insgesamt ungünstige Voraussetzungen dafür seien, in KonÀiktsituationen eine angemessene und nicht grenzüberschreitende KonÀiktregulierung gewährleisten zu können. Auf der Basis einer Befragung von 145 Beamten einer großstädtischen Polizeidirektion beziffern Mletzko/Weins (1999) den Anteil derjenigen Polizisten,
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bei denen sich fremdenfeindliche Einstellungselemente verfestigt hätten, auf rund 15 %. Allerdings gibt Jaschke (1997: 118 ff, 130) am Beispiel der Frankfurter Polizei zu bedenken, dass das Meinungsklima der Polizei im Hinblick auf das Thema Ausländer ebenso polarisiert sei wie innerhalb der übrigen städtischen Öffentlichkeit. Grundsätzlich kann man daher mit Albrecht (2002: 335) davon ausgehen, dass sich Polizisten ebenso wie Staatsanwälte und Richter nicht wesentlich unterscheiden „von der Bevölkerung insgesamt oder den sozialen Segmenten, aus denen sich die verschiedenen Berufsgruppen der Strafverfolgung rekrutieren“. Es ist daher auch nicht plausibel anzunehmen, dass die Polizei ein Hort von Autoritarismus und Rassismus innerhalb einer ansonsten äußerst liberalen Öffentlichkeit sei (Waddington 1999: 292 f.). Wenngleich die Wertmaßstäbe der polizeilichen Berufskultur in sehr viel stärkerem Ausmaß durch subkulturelle Muster (Männlichkeitsrituale, Gruppenprozesse) beeinÀusst sind als in jeder anderen Organisation (Behr 2000), so erscheinen die Einstellungsdifferenzen zwischen der Polizei und der „Restbevölkerung“ letztlich doch eher gering. Zudem ist Reden nicht gleich Handeln. Es ist, so Lüdemann/Ohlemacher (2002: 186) zutreffend, „ein weiter Weg von einer Einstellung zu einer Handlung.“ Wer sich ausländerfeindlich äußere, werde nicht unbedingt auch einen Ausländer misshandeln. Im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung unter Duisburger Polizisten stellen Schweer/Strasser (2008: 35) denn auch fest, dass diskriminierendes Verhalten von Polizisten gegenüber ethnisch de¿nierten Minderheiten eine Ausnahme bildet. Ressentiments gegenüber Ausländern und Migranten allerdings seien „keine pathologischen Erscheinungen, sondern wie Kriminalität normale Phänomene“. Vorurteile und negative Stereotype sind demnach auch ein Resultat polizeilicher Alltagserfahrungen und Belastungen der Polizeibeamten im Umgang mit sozialen Randgruppen, die typischerweise nicht durch Kontakte mit sich konform verhaltenden Migranten neutralisiert werden können, da entsprechende (möglicherweise außerdienstliche) Kontakte auf Seiten der Polizei oftmals fehlen (Mletzko/Weins 1999). 4
Zusammenfassung
Soziale und ethnisierende Diskriminierungen im System der staatlichen Sozialkontrolle gehören zu den alltäglichen Erfahrungen in Deutschland. Die empirischen Forschungsergebnisse zeigen dies am dichtesten für Jugendliche. Sozial benachteiligte Jugendliche sind bereits im Dunkelfeld häu¿ger schwer und mehrfach delinquent als andere Jugendliche, wobei die Bedeutung ethnischer Kategorien, wie zu erwarten, hinter die Bedeutung sozialer Marginalisierung zurücktritt. Eine statistische Überrepräsentierung in of¿ziellen Kriminalstatistiken ist daher nicht ausschließlich auf Selektionseffekte durch Opfer, Polizei und andere Instanzen
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des Strafrechtssystems zurückzuführen. Dennoch: beim Ladendiebstahl werden allochthone und Unterschichtsjugendliche aufgrund eines stereotypen Generalverdachts des Personals selektiv häu¿ger entdeckt und angezeigt als autochthone Mittelschichtsjugendliche. Auch Gewalt in heteroethnischen KonÀiktkonstellationen geht aufgrund der größeren sozialen Distanz zueinander mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einer polizeilichen Registrierung von allochthonen Jugendlichen einher. Auf der justiziellen Ebene sieht das Bild weniger eindeutig aus: Zum einen scheinen die Staatsanwaltschaften das höhere Anzeigerisiko allochthoner Tatverdächtiger durch eine stärkere Neigung zu Verfahrenseinstellungen bei Bagatelldelikten teilweise wieder auszugleichen, zum anderen haben einige punktuelle Studien eine härtere Sanktionspraxis der Richter gegen allochthone Jugendliche belegt. Auch wenn im Prozess der staatlichen Sozialkontrolle keine massiven intentionalen Ungleichbehandlungen statt¿nden, arbeiten die Entscheidungsregeln des Systems doch vielfach gegen die Menschen, die ohnehin schon sozial benachteiligt sind, so dass es zu kumulativen Benachteiligungs- und Ausschließungserfahrungen kommen kann. Dies ist angesichts des mittlerweile gesicherten Wissens über die potenziell Problem verschärfenden Effekte strafrechtlicher Sanktionen bei delinquenten Jugendlichen sicherlich kontraproduktiv. Die Forschung zu den subjektiven Wahrnehmungen von Diskriminierungen und Einstellungen zur Polizei und zum Strafrechtssystem bei sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen zeigt, dass den faktischen Diskriminierungserfahrungen auch ein reduziertes Vertrauen entspricht. Dabei handelt es sich teils um kollektive Erfahrungen und Einstellungen, die räumlich auf die sozial besonders benachteiligten Wohnquartiere der Großstädte konzentriert sind. In Hinblick auf die gesellschaftliche Integration und die Legitimität staatlicher Ordnung in diesen Sozialräumen und darüber hinaus ist dies problematisch, auch wenn sich in Deutschland bislang die subjektiven Exklusions- und Benachteiligungswahrnehmungen offenbar noch nicht so aufgestaut haben, dass es zu massiven Gewaltausbrüche wie in Frankreich gekommen wäre. Nichtsdestoweniger resultiert aus den Forschungsergebnissen unseres Erachtens eine Aufforderung zum überlegten Handeln und Gegensteuern auf den verschiedenen Ebenen und Instanzen der staatlichen Sozialkontrolle. Literatur Aktion Courage e. V. (Hrsg.) (2004): Polizeiübergriffe auf Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland 2000–2003. Bonn: Aktion Courage e. V. Albrecht, Günter/Howe, Carl-Werner (1992): Soziale Schicht und Delinquenz. Verwischte Spuren oder falsche Fährte? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 44, S. 697–730
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Soziale Konstruktion und Diskriminierung von Sinti und Roma Ute Koch
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Einleitung
Nach einer Umfrage des Bielefelder Emnid-Instituts von 1994 wollten 68 Prozent der Deutschen „Zigeuner“ nicht als ihre Nachbarn haben. Das Allensbach Institut ermittelte 1992, dass 64 Prozent der Deutschen eine negative Meinung von Sinti und Roma haben. Auch in anderen europäischen Ländern ist die Abneigung gegen „Zigeuner“ groß (vgl. Wippermann 1997: 15). 87 Prozent der Slowaken und 75 Prozent der Rumänen lehnen Roma als Nachbarn ab (vgl. Mihok/Widmann 2005). Der Bereich der Vorurteilsforschung, der die Entstehung und Entwicklung antiziganistischer Vorurteile untersucht, ist mittlerweile weit entwickelt. Man erhofft sich dabei vor allem, durch die Erkenntnis der Genese dieser Vorurteile, Mittel und Wege zu ¿nden, sie zu beseitigen. Denn es sind diese jahrhundertealten Vorurteile, die in erster Linie für die anhaltende Diskriminierung von Sinti und Roma in Europa verantwortlich gemacht werden. Das hier zugrunde gelegte Verständnis von Diskriminierung als Folge von Vorurteilen greift jedoch zu kurz. Wenngleich eine gegenseitige Verstärkung möglich ist, führen Vorurteile nicht unbedingt zu diskriminierenden Handlungen. Diskriminierung kommt im Zusammenspiel von politischen und rechtlichen Strukturen und organisatorischem Handeln und Routinen zustande, abgestützt durch bestimmte Eigenschaftszuschreibungen. Die Ungleichbehandlung von Roma und Sinti wird heute als eines der dringendsten Menschenrechtsprobleme Europas bezeichnet. Dennoch herrscht ein eklatanter Mangel sowohl an belastbaren Daten über ihre sozialen Lagen wie auch an Forschungsarbeiten, die strukturelle und institutionelle Formen ihrer Diskriminierung empirisch in den Blick nehmen. Der vorliegende Text beginnt mit der Darstellung des Forschungsstandes. Dabei wird ersichtlich, dass ein großer Teil der Forschung (und spärlichen Empirie) den Prozess der Konstruktion einer homogenen ethnischen Kategorie ganz entscheidend beeinÀusst und damit historisch auch zu gewaltsamen staatlichen Interventionen beigetragen hat. Im nächsten Schritt wird für Deutschland die historisch-spezi¿sche Genese der Kategorie „Zigeuner“ als Bezugspunkt für Diskriminierungsprozesse dargestellt. Die Ideologien und Semantiken, die dieser Gruppenkonstruktion Plausibilität verleihen, blieben nicht ohne Folgen für
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Ute Koch
Roma, die aus dem östlichen Europa nach Deutschland migrierten. Empirische Befunde beleuchten, dass die Art und Weise, in der die Prozesse der Migration dieser Roma und ihre Folgeprobleme konzeptualisiert und bearbeitet werden, ganz eigendynamisch die Interaktion präformieren. Anschließend werde ich mich der Frage der Diskriminierung von Sinti und Roma von den alarmierenden Effekten im östlichen Europa wie in Deutschland her annähern, die sich als Benachteiligung für alle zentralen Lebensbereiche ausweisen lassen. 2
Sinti und Roma als Thema der Wissenschaft
Trotz einer mittlerweile unüberschaubaren Vielzahl an Veröffentlichungen zu Sinti und Roma sind bislang kaum empirische Forschungen zu ihrer Lebenssituation in Deutschland und Europa durchgeführt worden. Die Marginalisierung der Sinti- und Roma-Forschung ist vor allem Resultat eines geringen „Distanzierungsniveaus“ (Treibel 1988)1, das dem Griff nach ad hoc-Erklärungen Vorschub leistet und eine Theorie- und Methodenexplikation nahezu vollständig verhindert. Zudem blockieren vereinfachende Annahmen über eine klar abgrenzbare und beschreibbare Kultur, wie sie sich in der Rede von „den Zigeunern“ oder der Kultur „der Sinti und Roma“ zeigen, eine theoretisch und empirisch differenzierte Auseinandersetzung mit den Lebenszusammenhängen der jeweils untersuchten Gruppe. Gegenstand selbstkritischer Diskussion ist die Sinti- und Roma-Forschung schon seit den 1980er Jahren. Die Mehrzahl der AutorInnen beschließt ihre Kritik jedoch nicht mit wissenschaftstheoretischen oder methodischen Appellen, sondern verweist auf eine moralische VerpÀichtung gegenüber Sinti und Roma als verfolgte Minderheit. Die sehr aufgebracht geführten Debatten, geprägt von Emotionalität und (politischer) Parteinahme, verfehlen jedoch das Grundproblem des Forschungsbereichs: den Mangel an theoretisch und methodisch durchdachten empirischen Untersuchungen. Dies führt letztlich dazu, dass die Forschung sich seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein auf die fortwährende Reproduktion desselben Datenmaterials beschränkt. Selbst erzeugte Mythen haben sich zur Wahrheit verfestigt, je öfter sie abgeschrieben wurden.2 Anette Treibel (1988) hat für die westdeutsche soziologische Ausländerforschung gezeigt, dass sich diese durch ihren starken Anwendungsbezug, insbesondere wenn sie sich explizit auch auf politischer Ebene für die Lösung der durch Migration entstandenen Probleme engagiert, in einem Dilemma zwischen Engagement und Distanzierung be¿ndet. In dieser Hinsicht zeichnen sich zwischen der Sinti- und Roma-Forschung und der westdeutschen Ausländerforschung deutliche Parallelen ab. Der Begriff „Distanzierungsniveau“ operationalisiert in Anlehnung an Elias (1983) die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Soziologie zwischen Engagement und Distanzierung. 2 Ein sehr verbreitetes Vorurteil ist der Mythos vom „Wandertrieb“ der Sinti und Roma, der auch in der wissenschaftlichen Forschung hartnäckig vertreten wird. Nomadismus wird dort zum de¿nitorischen
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Soziale Konstruktion und Diskriminierung von Sinti und Roma
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Im Prozess der Konstruktion ganz unterschiedlicher Gruppen zu einer homogenen ethnischen Kategorie „Zigeuner“ hat vor allem der Historiker Heinrich Grellmann (1753–1804) mit seinem Werk „Historischer Versuch über die Zigeuner“ (1783) eine wichtige Rolle gespielt. Indem er diese Kategorie mit einer ethnischen Identität, typischen Sitten und einer kohärenten Geschichte ausstattete, entwarf er aus der Kombination verschiedener Quellen die Vorstellung eines homogenen Volkes, das durch seine indische Herkunft, seiner mit dem Hindustani verwandten Sprache, durch sein orientalisches Aussehen und eine nomadisierende Lebensweise gekennzeichnet sei – eine ethnogra¿sche Charakterisierung, die zwei Jahrhunderte Forschung geprägt hat. Unter dem EinÀuss des Gedankengutes der Aufklärung gelangte Grellmann zwar zu der Überzeugung, die Herkunft der „Zigeuner“ stünde einer Assimilation im Wege, doch hielt er andererseits eine Umerziehung – allein schon aus wirtschaftlichen Gründen – für notwendig (vgl. Willems 1996: 88 ff.). Während des Nationalsozialismus ging die Behandlung des Themas „Zigeuner“ weitgehend in die Hände von Eugenikern, Medizinern, Kriminalbiologen und Anthropologen über. Der führende „Zigeunerforscher“ in dieser Zeit war der Psychiater Robert Ritter, der 1936 zum Leiter der ‚Rassenhygienischen Forschungsstelle‘ des Reichsgesundheitsamtes in Berlin ernannt wurde. Die Notwendigkeit einer Klassi¿zierung „nicht-sesshafter Bevölkerungsgruppen“ wuchs nach dem Runderlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 8.12.1938, mit dem das Umherziehen von „Zigeunern“ und nach „Zigeunerart umherziehender Personen“ unterbunden werden sollte.3 Himmler befahl dort, „die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus in Angriff“ zu nehmen. Hier wurden Ritter und seine Mitarbeiter tätig und erstellten zwischen 1938 und 1945 etwa 24.500 rassendiagnostische Gutachten auf der Grundlage bereits bestehender Registrationen durch die Polizei. Mehr als 90 Prozent der „Zigeuner“ wurden darin als „Mischlinge“ eingestuft, die Ritter und seine Kollegen aufgrund ihrer „genetischen Minderwertigkeit“ als „Asoziale“ stigmatisierten, die an einer FortpÀanzung mittels Sterilisation und Kontrolle zu hindern seien (Lucassen 1996: 202 ff.). Nach dem Tod Ritters im Jahr 1951 übernahm Herrmann Arnold, ein Medizinalrat aus der Pfalz, Material der NS-rassenbiologischen Forschung und avancierte zu dem bedeutendsten deutschen „Zigeunerkenner“ der Nachkriegszeit, der beim Bundesinnen- und Familienministerium, beim Deutschen Caritasverband, Kriterium der Gruppenzugehörigkeit. Eine solche Beobachtungsform führt notwendigerweise dazu, die sesshaften Sinti und Roma – die Mehrheit also – als ‚assimilierte Nomaden‘ zu verstehen (vgl. z. B. bei Liégeois 1986: 54 ff.). Auch die Migrationsforschung, die allerdings bislang die Migration und Flucht von Roma aus Osteuropa nur als ein randständiges Thema behandelt hat, übernimmt unhinterfragt das Klischee, „dass diese Minderheit von je her wanderfreudig ist“ (Seewann 1997: 64; auch Blaschke 1992: 134 ff.). 3 Anmerkung der Herausgeber: Der Text dieses Runderlasses ist im Internet unter folgender Adresse verfügbar: http://home.balcab.ch/venanz.nobel/qwant/DoeringZigeunerImNSStaat_197.html
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dem ‚Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge‘, der ‚Katholischen Zigeuner- und Nomadenfürsorge‘, dem Bundeskriminalamt sowie der Polizei als Experte gehört und empfohlen wurde. Arnold prägte nachhaltig das Bild von Sinti und Roma als ‚kindhafte Naturmenschen‘, die einer Spezialfürsorge bedürfen. Erst nachdem Vertreter des ‚Verbands Deutscher Sinti‘ und der ‚Gesellschaft für bedrohte Völker‘ auf das Wirken Arnolds und den Verbleib des Aktenmaterials des NS-Rassenhygienischen Instituts seit Ende 1979 öffentlich aufmerksam machten, büßte Arnold seine Anerkennung in weiten Kreisen ein (vgl. Reemtsma 1996a: 22 ff.). Außer Arnold fand sich im deutschsprachigen Raum bis Ende der 1970er Jahre kaum jemand, der sich zum Thema aus wissenschaftlicher Sicht äußerte. Stattdessen erweckten Sinti und Roma seit den 1950er Jahren das Interesse der Fürsorge, die „Zigeuner“ als soziale Aufgabe für sich entdeckte. Unzureichende Wohnbedingungen, schwindende Einkommensmöglichkeiten, Abhängigkeit von der Sozialhilfe sowie mangelnde schulische und beruÀiche Quali¿kationen wiesen auf eine Integrationsproblematik hin, die es mittels einer Sonderfürsorge zu lösen galt. Geprägt war das „Zigeunerbild“, wie es in der deutschen Sozialarbeit lange Zeit vorherrschte, nachhaltig durch die Veröffentlichungen der Sozialreferentin der ‚Katholischen Zigeuner- und Nomadenseelsorge‘, Silvia Sobeck, die Ideen Arnolds teils bis in den Wortlaut hinein übernommen hat (vgl. z. B. Sobeck 1973). Trotz zahlreicher Aufsätze von Sozialarbeitern und Fachleuten der „Zigeunerarbeit“ gibt es bis heute wenig fundiertes Material zu den Lebensbedingungen deutscher Sinti; Untersuchungen über deutsche Roma fehlen nahezu vollständig. Eine Wissenschaftlerin, die Anfang der 1960er Jahre die Lage von Sinti einer Wohnwagenanlage in Hildesheim untersuchte, ist die Soziologin Lukretia Jochimsen (1963). Jochimsen kommt in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass die untersuchten Siedlungsbewohner durch Zerstörung der Familienstrukturen während der NSDiktatur und Funktionsverlust der alten handwerklichen Dienstleistungsfertigkeiten in die Abhängigkeit von Unterstützungsleistungen geraten sind. Dies birgt einen Zirkelschluss: Das tradierte Vorurteil des „faulen und parasitären Zigeuners“ wird – in modi¿zierter Form – bestätigt und dies verstärkt die faktische Ausgrenzung der Sinti etwa auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Denn es genügt, auf dem Wohnwagenplatz zu wohnen, um etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt weitgehend chancenlos zu sein (Jochimsen 1963: 50). Es ist sicherlich das Verdienst der Untersuchung Jochimsens, dass sie – über den in diesem Wissenschaftsbereich sonst üblichen pauschalen Verweis auf die jahrhundertealte Verfolgungsgeschichte von Sinti und Roma in Europa hinaus – die Problematik von Vorurteilen und sozialen Ungleichverhältnissen in einem spezi¿schen Bedingungszusammenhang erstmals empirisch zu beschreiben versucht. Ihre Analyse der Vorurteile unter der Nachbarschaft der Wohnwagenanlage ermöglicht jedoch nur eine sehr verkürzte Analyse von Diskriminierung.
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Die umfangreichsten Berichte zur sozialen Lage der Sinti in der Bundesrepublik gehen auf eine Initiative des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit zurück. Sie geben Einblick in die soziale Lage der deutschen Sinti und Roma Ende der 1970er Jahre (vgl. Hundsalz 1982; Freese/Murko/Wurzbacher 1980). Seither hat es dazu – bis auf einige Untersuchungen auf lokaler Ebene – keine umfassende Untersuchung mehr gegeben. Waren und sind also empirische Studien über deutsche Sinti und Roma schon kaum vorhanden, gab es lange Zeit über migrantische Roma nahezu keine Erkenntnisse. Erst seit Ende der 1990er Jahre rückten diese – sicherlich auch angesichts spektakulärer politischer Aktionen für ein Bleiberecht von Roma-Flüchtlingen – ins Blickfeld der Forschung. Überwiegend geht es hier vor allem darum, zu zeigen, dass nicht die Kultur der Roma, sondern „Mechanismen der Mehrheitsgesellschaft […] die Prozesse der Marginalisierung steuern“ (Jonuz 2009: 289). Jonuz, die in ihrer Dissertation Roma zum Gegenstand ihrer Untersuchung hat, die in den 1960er- und 1970er Jahren als so genannte „Gastarbeiter“ aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Bundesrepublik kamen, kommt zu dem Ergebnis, dass MigrantInnen der ersten Generation, die bereits im Herkunftsland eine diskriminierte Minderheit darstellten und somit spezielle Ethnisierungsprozesse durchlaufen hatten, der soziale Aufstieg nur „durch Verbergen des Stigmas der Ethnizität“ gelang (ebd.: 290). Überwiegend widmen sich Veröffentlichungen jedoch Roma, die in Deutschland lediglich ausländerrechtlich geduldet sind (z. B. Heinz 1997; Koch 2005; Mihok/Widmann 2007). Mihok und Widmann untersuchen die Konsequenzen, die der Status der Duldung für Kinder und Jugendliche aus Roma-Familien hat. Die Frage, ob bei ihren Versuchen, Zugang zu den relevanten Bereichen der Lebensführung (Arbeitsmarkt, Bildung, Wohnungen und Gesundheit) zu ¿nden, neben Benachteiligungen wegen des prekären Aufenthaltsstatus auch Besonderheiten aufgrund einer ethnischen Zuschreibung ins Spiel kommen, stellt die Studie nicht. Einen Extremfall multipler Exklusionen aus den Bereichen Ökonomie, Bildung und Wohnen einer Gruppe von Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien beschreibt Heinz (1997). Der Ausschluss dieser Gruppe von Arbeit und ihr Abrutschen in die Beschaffungskriminalität ist nach Heinz direkte Folge des Duldungsstatus bzw. des Lebens in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität. Die Verbindung von Grundlagenforschung mit der Zielsetzung, Verständnis für Roma zu wecken, birgt immer die Gefahr monokausaler Erklärungen. So übersieht der Autor z. B., dass die Illegalität des Aufenthalts die Chancen auf einen Arbeitsplatz in den Produktions- und Dienstleistungsbereichen, in denen niedrige Löhne für hohe Arbeitsleistungen gezahlt werden, sogar steigern kann. Der Kategorie Staatsangehörigkeit bzw. Aufenthaltstitel kommt insofern ein besonderer Status zu, da sie im Unterschied zu den Kategorien ‚ethnische Herkunft‘ oder ‚Rasse‘ usw. ein legales Instrument der Ungleichbehandlung darstellt. Die Thematisierung der Diskriminierung von Sinti und Roma konzentriert sich jedoch wesentlich auf die Überwindung von Benachteiligungen aus Gründen der
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Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft. Dieser Diskurs wird in den letzten Jahren hauptsächlich aus den Reihen der Verbände der Sinti und Roma geführt. Um auf Vorurteile und Diskriminierung aufmerksam zu machen, greifen auch die politischen Akteure auf Problemformulierungen zurück, die ethnisch-kulturelle Differenz hervorheben. Als kollektives Opfer einer gemeinsamen Geschichte wird das ‚Volk‘ als objektive Gegebenheit postuliert, dessen Existenz „kraft der jedem Akt der Benennung innewohnenden Magie instituiert“ wird (Bourdieu 1985: 40). Die Verbandsvertreter haben vielfach ein besonderes Gewicht, da sie unmittelbar in den wissenschaftlichen Diskurs eingreifen und andererseits, mit Verweis auf die am eigenen Leib erfahrene Diskriminierung, wirksam die Belange der Minderheit nach außen vertreten können. Doch der Versuch, eine gemeinsame kulturelle Identität zu etablieren,4 stützt sich auf ein problematisches Konstrukt. Die tatsächliche Heterogenität der einzelnen Gruppen muss eingeschränkt und die kulturelle Differenz zur Mehrheitsgesellschaft festgeschrieben werden.5 Das Volks- und Nationenverständnis als eine Abstammungsgemeinschaft mit einer Gemeinsamkeit der Kultur und Geschichte, die in der gemeinsamen Herkunft bedingt ist, ist zwar angesichts der Selbstbeschreibung von Nationalstaaten außerordentlich brauchbar für programmatische Zwecke. Mit der gewählten Form der Kommunikation wird aber zugleich die (kritisierte) Ethnisierung sozialer Verhältnisse fortgeschrieben. Dessen ungeachtet ist es der Bürgerrechtsbewegung gelungen, den unterschlagenen Völkermord und die fortgesetzte Diskriminierung ins öffentliche Bewusstsein zu bringen – auch die Rolle der Wissenschaft bei der Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma. Seither wird insbesondere von der Antiziganismusforschung der Dialog mit der Minderheit und das Einvernehmen mit den Verbänden Deutscher Sinti und Roma gesucht. Unter „Antiziganismus“ wird die feindliche Haltung gegenüber „Zigeunern“ verstanden, die von Vorurteilen über Ausgrenzung und Vertreibung bis zu massenhafter Vernichtung von Sinti und Roma reicht. Diese Haltung zeigt sich ebenso in der Diskriminierung wie in der romantischen Verklärung des „lusti4 Die Konstruktion einer solchen gemeinsamen kulturellen Identität ist z. B. von Bedeutung für die Umsetzung der mit der Anerkennung als „deutsche Minderheit“ verbundenen Rechte, eine Aufgabe, die der ‚Zentralrat deutscher Sinti und Roma‘ wahrnimmt. Der ‚Roma-National-Congress (RNC)‘ fordert hingegen die Anerkennung von Roma als „europäisches Volk“ mit Aufenthaltsrecht und Freizügigkeit in allen Staaten. Einen ganz anderen Ansatz vertritt die kulturpolitisch arbeitende ‚Internationale Romani-Union‘, die in den frühen 1970er Jahren von einer Gruppe intellektueller Roma gegründet wurde. Im Zentrum der Bemühungen der dort tätigen Wissenschaftler steht die Standardisierung der verschiedenen Dialekte und eines einheitlichen Alphabets für ein weltweit verbindliches Romanes. Zur Kritik an der sozialen Konstruktion einer ethnischen Identität durch ethnische Eliten vgl. auch Gheorghe 1997. 5 Allerdings wird ein homogenes Auftreten durch die kontroverse politische Diskussion der unterschiedlichen politischen Verbände erschwert.
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gen Zigeunerlebens“. Die Antiziganismusforschung befasst sich im Gegensatz zur „Tsiganologie“, die die Sinti und Roma zum Objekt der Forschung macht, mit den Ursachen der Ausgrenzung und Verfolgung der Sinti und Roma in der Vergangenheit und Gegenwart, besonders des Völkermords an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus sowie der Untersuchung von Vorurteilen der Mehrheitsbevölkerung.6 Diese Vorurteile werden als Ausgangspunkt für die bis heute fortdauernde Diskriminierung der Sinti und Roma lokalisiert und bei dem Versuch, unterschiedliche historische Verfolgungen zu einem Phänomen zusammen zu bringen, wird eine historische Kontinuität antiziganistischer Stereotype unterstellt. Eine Beschränkung der Analyse diskriminierender Einstellungen zwischen Realgruppen ist mehrfach als unzureichend kritisiert worden (vgl. z. B. Hormel 2007). Will die Antiziganismusforschung nicht nur politisch und moralisch korrekt auftreten, sind die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Positionierungen und politischen Strategien, öffentlichen Diskursen sowie institutionalisiertem Wissen und diskriminierenden Praktiken in zentralen gesellschaftlichen Institutionen des Lebens (z. B. im Bildungsbereich, im Beschäftigungssystem, auf dem Wohnungsmarkt, bei der Polizei usw.) ebenso sichtbar zu machen wie soziale Konstruktionsprozesse, die verschiedene Gruppen erst infolge von Unterscheidungsoperationen zu „Zigeunern“ mit kollektiven Eigenschaftszuschreibungen werden lassen. Nur wenige Autoren haben bislang den historischen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Positionierung der Sinti und Roma und den Diskursen, Semantiken und Gruppenkonstruktionen – als Begründung für ihre Ausgrenzung und Verfolgung – aufgezeigt. Wer Sinti und Roma zum Gegenstand der Forschung macht, betritt ein politisch und moralisch hochgradig aufgeladenes Feld. Sinti- und Roma-Forschung ist engagierte Forschung, sei es im Interesse der Wahrung und Durchsetzung sozialer Ordnung und damit staatsorientiert, sei es im (reklamierten) Interesse der Minderheit, die als ‚Volk ohne Rechte‘ gilt und deren Emanzipation die betriebene Forschung dienen soll. Eine je anders funktionalisierte Forschung führt im Ergebnis dazu, dass theoretische und methodische Problemstellungen im Sinne der je leitenden außerwissenschaftlichen Gesichtspunkte dieser Forschung verborgen werden. Diese normative Perspektive hat den Forschungsbereich in eine kommunikative Isolation geführt, in der die Aufnahme methodischer und theoretischer Anregungen kaum möglich ist. Kennzeichnend für den Forschungsbereich ist, dass zum einen soziale Handlungsformen der Sinti und Roma als kulturell spezi¿sch und ethnisch quali¿ziert ausgewiesen werden, zum anderen dass die Bedeutung ihrer Ethnizität als Bezugspunkt sozialer Beziehungen und ihre anhaltende Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem und dem Wohnungsmarkt usw. als empiVgl. z. B. ‚Europäisches Zentrum für Antiziganismusforschung‘ (http://www.ezaf.org/de/ezaf/2. html; letzter Zugriff 2.11.2009).
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risch evident vorausgesetzt wird. Dabei wird übersehen, dass Sinti und Roma in den Formen ihrer Lebensführung die strukturellen Bedingungen der modernen Gesellschaft leben und dass die Diskriminierungsproblematik von Sinti und Roma ohne analytische Unterscheidung zwischen den komplexen Mechanismen, die für die Reproduktion der marginalen gesellschaftlichen Positionierung von Sinti und Roma kennzeichnend sind und Diskriminierungen, die an ethnisierenden Zuschreibungen ansetzen, nicht hinreichend beantwortbar ist. Letztendlich muss man die Sinti- und Roma-Forschung als Teil eines sozialen Zusammenhangs begreifen. Dies nicht nur in einem allgemeinen methodologischen Sinne, sondern in dem spezi¿schen Sinne, dass diese Forschung den Zusammenhang ihrer Untersuchung stets mitde¿niert und historisch auch für gewaltsame staatliche Interventionen präpariert hat und umgekehrt von untersuchten Gruppen in ihre Realität längst eingebaut worden ist – im Wechselspiel von Distanzierung und Funktionalisierung (vgl. dazu ausführlich Koch 2005: 15 ff.). 3
Die Konstruktion des „Zigeuners“
Es herrscht heute aufgrund von Sprachvergleichen weitgehend Konsens darüber, dass Sinti und Roma von Gruppen abstammen, die aus dem nordwestlichen Indien stammen. Der genaue Zeitpunkt und die Gründe für die Migration aus Indien sind unbekannt. Zunächst verbreiteten sie sich über das Gebiet der heutigen Staaten Pakistan, Afghanistan und Iran. Einige Gruppen wanderten dann wahrscheinlich im Zuge der arabisch-islamischen Expansion und späteren Ausdehnung des osmanischen Reichs weiter westwärts und erreichten spätestens um 1200 das heutige Griechenland und damit europäischen Boden (vgl. Kenrick/Puxon/Zülch 1980: 9 ff.). Heute gibt es über ganz Europa verteilt einen ‚Flickenteppich‘ von hunderten verschiedener Minderheiten, die, so verschieden sie auch sein mögen, häu¿g als „Zigeuner“ bezeichnet werden und als so Bezeichnete vor allem eines teilen: die Erfahrung, in der öffentlichen Wahrnehmung auf negative Einstellungen zu stoßen. Die Rede über „die Zigeuner“, „die Roma“ und „die Sinti“ verbietet sich jedoch schon deshalb, weil damit keine sozialen und kulturellen Einheiten in den Blick genommen werden können, sondern jeweils eine Kategorie. Mittels dieser Kategorien wird zwar soziale Realität hergestellt, die sich auch in identi¿zierenden Unterscheidungen und einem Zugehörigkeitsgefühl zu einer als ethnisch gefassten Minderheit niederschlägt, doch die sozialen Folgen einer Differenzierung entlang ethnischer Kategorien sind im Kontext der Etablierung ihrer Gültigkeit zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund wird im folgenden Kapitel der Prozess nachgezeichnet, der aus ganz verschiedenen Gruppen „Zigeuner“ macht. Dabei wird der historische und systematische Zusammenhang zwischen Etikettierungspraxis
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und den gesellschaftlichen Positionierungen der „Zigeuner“ analysiert. Es lässt sich zeigen, dass es sich bei dem Begriff „Zigeuner“ zunächst um eine soziale Kategorie handelt, die alle „Fahrenden“ – also Personen mit ambulanten Berufen, die lokal nicht zuordenbar waren – erfasste und erst im Laufe der Jahrhunderte zunehmend ethnisch und in der Folge rassistisch besetzt wurde. Diese Praxis führte zu einer verstärkten Kriminalisierung der Kategorie, auf deren Grundlage eine spezielle „Anti-Zigeunerpolitik“ und schließlich die Vernichtung im Dritten Reich legitimiert wurden. Die kollektiven Eigenschaftszuschreibungen blieben nicht ohne Folgen, auch für Roma, die im Zuge der Zuwanderung oder als Flüchtlinge in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind. 3.1 Deutsche Sinti und Roma: Eine nationale Minderheit Die Geschichtswissenschaft geht davon aus, dass um 1400 die ersten „Zigeunergruppen“ in Deutschland eintrafen; sie gelten heute als die Vorfahren der deutschen Sinti. Dabei ist jedoch nicht immer zweifelsfrei zu belegen, wer mit der Kategorie „Zigeuner“ bezeichnet wurde, da die Quellen von Angehörigen orientalischer Völkerschaften, Bettlern oder Vagabunden sprechen, also höchst unterschiedlichen Gruppen, die einer ambulanten Lebensweise folgten. Zu Beginn noch als interessante Abwechslung betrachtet und als „Pilger“ unterstützt, wandten sich die Kirche, die Zünfte und die weltliche Obrigkeit Ende des 15. Jahrhunderts gegen sie und verboten „Zigeunern“ als Handwerkern umherzuziehen oder Handel zu treiben. Der Reichstag des Heiligen Römischen Reiches von 1498 in Freiburg erklärte sie für „vogelfrei“ und damit rechtlos. Wurden Personengruppen als „Zigeuner“ etikettiert, galten sie als das Gegenteil des gehorsamen Untertanen: als Spione, die die Christenheit auskundschafteten, gottlose Leute, Zauberer, Gauner, Pestbringer und nutzloses Volk, das seine ambulante Lebensweise für Bettelei, Diebstahl und Raub missbraucht (vgl. Hehemann 1992: 272). Die Verfolgung der „Zigeuner“ erreichte in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in ganz Westeuropa ihren Höhepunkt. Eng zusammen hängt diese Verfolgung nach Lucassen (1996: 74 ff.) mit der Bildung von Armeen und ihrem Bedarf an Soldaten und Galeerensklaven sowie der Heimatgesetzgebung, wonach jede Gemeinde für ihre Armen selbst verantwortlich war. Ortsfremde, von denen man vermutete, sie würden die Armenfürsorge in Anspruch nehmen, wurden zielgerecht ausgegrenzt. Dies betraf auch die Eheschließung, die für Unterschichten wie „Fahrende“ praktisch ausgeschlossen war, da die Gemeinde, die die Eheurkunde ausstellte, für die Unterstützung des Ehepaars aufkommen musste, wenn es in ¿nanzielle Not geriet. Die Stigmatisierung und Verfolgung der „Zigeuner“, damals noch als soziale, nicht so sehr ethnische Kategorie gefasst, war demzufolge Teil einer Offensive gegen Arme, Bettler und „Fahrende“.
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Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wandelte sich das „Zigeunerbild“ unter dem EinÀuss des Gedankengutes der Aufklärung grundlegend. „Zigeuner“ wurden zunehmend als ein eigenes Volk betrachtet, das man durch Umerziehung in „nützliche“ Bürger verwandeln kann. Ein wichtiger Impuls für diese veränderte Beobachtungsweise ging dabei von Grellmanns Studie (1783) aus (vgl. Willems 1996, Kapitel 2). Vorbild war die Assimilierungspolitik der Kaiserin Maria Theresia von Österreich-Ungarn und ihres Sohnes Joseph II. Sie verabschiedeten ab Mitte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Gesetze, um so genannte „Wanderzigeuner“ sesshaft und damit kontrollierbar zu machen. Roma wurden registriert und verpÀichtet sich niederzulassen; der Besitz von Pferden war außer zu landwirtschaftlichen Tätigkeiten verboten; Kinder sollten zur Adoption freigegeben werden; alle Roma mussten ‚bürgerliche‘ ortsübliche Namen annehmen und es wurde ihnen verboten ihre Sprache, das Romanes, zu sprechen (vgl. Mayerhofer 1987: 23 ff.). Eine ähnliche „Zigeunerpolitik“ gab es auch in Deutschland, wo vor allem die Kirchen Mitte des 19. Jahrhunderts radikale Maßnahmen zur Umerziehung der „Zigeuner“ ergriffen. Das Scheitern dieser Maßnahmen wurde zum vermeintlichen Beleg für die „Unverbesserlichkeit dieses Volkes“ (vgl. Hehemann 1992: 273). Die Entstehung des Begriffs „Zigeuner“ als polizeiliche Ordnungskategorie steht in einem Zusammenhang mit dem Scheitern dieser Umerziehungsversuche. Vor allem aber steht sie in einem direkten Zusammenhang mit der zunehmenden Zentralisierung, Professionalisierung und Spezialisierung der deutschen Polizeibehörden gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Problematisierung der „Zigeuner“ durch die Ermittlungsbehörden ist damit untrennbar mit der modernen Staatsbildung und den veränderten Aufgaben der Polizei verknüpft. Diese hatte die allgemeine Aufgabe, unerwünschte Arbeitsmobilität zu begrenzen. Die erhöhte Aufmerksamkeit für „Fahrende“ im Allgemeinen und „Zigeuner“ im Besonderen war eine Folge der Ausgrenzung von Teilen der Unterschichten, die aufgrund des Systems der Armenfürsorge und der damit verbundenen Ehebeschränkungen zu „Heimatlosen“ wurden, die die notwendigen Papiere für die neue AusweispÀicht auf legalem Wege nicht erhielten. Das zunehmende Bedürfnis, Umherziehende zu kontrollieren und ambulantes Gewerbe einzuschränken, äußerte sich auch in einer restriktiven Gesetzgebung hinsichtlich des Hausierens (Lucassen 1996). Mit der Reichsgründung 1871 und den damit einhergehenden verschärften Verwaltungsund Kontrollmaßnahmen setzte ein neuer Abschnitt der „Zigeunerdiskriminierung“ ein, der durch eine unübersehbare Zahl restriktiver und kriminalisierender Gesetze gegen das „Zigeunerunwesen“ gekennzeichnet ist. Bereits 1899 wurde mit der Münchener „Zigeunernachrichtenstelle“ die planmäßige Erfassung von „Zigeunern“ begonnen, „ausländische Zigeuner“ wurden abgeschoben. Das Bayerische „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ aus dem Jahr 1926 stellte einen vorläu¿gen Höhepunkt der Erfassung und Kontrolle dar (vgl. Hehemann 1992: 276 f.). Im Zuge der Zentralisierung und Spezialisierung
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der Polizei wurde die Kategorie „Zigeuner“ auf eine Reihe im Familienverband reisender Personen ausgeweitet und zunehmend kriminalisiert und ethnisiert. Die ständig neuen Verordnungen gegen „Zigeuner“ und den ambulanten Handel im Allgemeinen sowie das Erfassungsstreben der Polizeistellen verbanden sich mit einer zunehmenden biologisch-rassistischen Auffassung des Begriffs „Zigeuner“. Auf den von Polizeidienststellen in den Jahren 1899 bis 1932 angelegten „Zigeunerakten“ (ca. 20.000 Personen) aufbauend, konnten die Nationalsozialisten den Genozid an deutschen Sinti und Roma durchführen. Während der Verfolgung im Dritten Reich wurden nicht nur schätzungsweise 500.000 europäische Sinti und Roma ermordet, davon 15.000 aus Deutschland, es wurde auch ihre gesamte Familienstruktur zerstört, die den Überlebenden nach dem Krieg bei einer Neuorientierung hätte helfen können. Die kriminalisierende Konstruktion des „Zigeuners“ führte nach dem Zusammenbruch des NS-Staates zur weiteren Diskriminierung der Sinti und Roma. Die Überlebenden mussten nach 1945 erleben, dass ihnen Wiedergutmachungsleistungen fast vollständig vorenthalten wurden und die polizeiliche Erfassung fortgesetzt wurde.7 Die NS-Argumentation übernehmend, bestritten die Entschädigungsstellen der neu gegründeten Bundesrepublik, dass Sinti und Roma im Dritten Reich aus rassistischen Gründen verfolgt worden waren. Als Konsequenz daraus erging am 7. Januar 1956 ein Urteil des Bundesgerichtshofes, das die Verfolgung von 1933 bis 1938 und die Deportationen zwischen 1938 und 1943 als „sicherheitspolitische und kriminalpräventive Maßnahmen“ wertete. Erst im Jahr 1965 revidierte der Bundesgerichtshof diese Entscheidung, gewährte aber Wiedergutmachungsansprüche nur für nach 1938 widerfahrenes Unrecht (Hohmann 1988: 188 ff.). Um auf die Diskriminierung und Benachteiligungen nach 1945, gerade auch bei der Wiedergutmachung aufmerksam zu machen, begannen sich die Sinti zunehmend in der Bürgerrechtsbewegung zu organisieren. Mit vielfältigen Aktionen, wie einer Gedenkkundgebung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen und einem Hungerstreik in der KZ-Gedenkstätte Dachau, ist es dem ‚Verband deutscher Sinti‘ mit Unterstützung der ‚Gesellschaft für bedrohte Völker‘ gelungen, weltweite Beachtung zu erlangen. Im März 1982 konnten sie schließlich erreichen, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Völkermord an Sinti und Roma anerkannte. Heute wird in der politischen Arbeit der Umsetzung der mit ihrer Anerkennung als „deutsche Minderheit“ verbundenen Rechte sowie der Beseitigung Der Großteil der Gelegenheiten zur Diskriminierung von Roma durch die Polizei war zumindest bis Ende der 1980er Jahre in die ‚normalen‘ Routinen, Wissensbestände und Argumentationsmuster, die z. B. über den Begriff der „kriminalistischen Erfahrung“ dienstliche Maßnahmen in der Praxis legitimieren konnten, eingebettet (vgl. die Studie von Feuerhelm 1987). Leider hat es nach 1987 keine systematische Untersuchung der Diskriminierung durch die Polizei mehr gegeben. 7
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jeder Form von Rassen-Diskriminierung (z. B. über Eingaben beim Ausschuss über die Beseitigung der Rassendiskriminierung) Priorität einräumt. Die Angehörigen der deutschen Sinti und Roma sind deutsche Staatsbürger. Gemeinsam mit der dänischen Minderheit, den Friesen und Sorben verfügen sie über den Status einer nationalen Minderheit. Für sie gelten die Bestimmungen des Rahmenabkommens des Europarats von 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten ebenso wie der vom Europarat verabschiedeten Charta der Regional- und Minderheitensprachen von 1992 (vgl. Mihok/Widmann 2007: 17). Die Geschichte der Zuwanderung von Roma nach Deutschland begann – deutlich später als die der Sinti (s. o.) – mit dem ökonomischen und politischen Umbruch auf dem Balkan Mitte des 19. Jahrhunderts und der Abschaffung der Leibeigenschaft 1855 in der Moldau und 1856 in der Walachei. Hauptsächlich die ambulanten Handwerker nutzten die neu gewonnene Freiheit, um sich neue Lebensräume zu erschließen und der drückenden Armut auf dem Balkan zu entÀiehen. In kleinen Gruppen verteilten sich die Roma über ganz Europa, einige setzten von den europäischen Hafenstädten nach Übersee über. Die Nachfahren derer, die in Deutschland blieben, gelten heute als deutsche Roma. Sie sind, wie die Sinti, deutsche Staatsbürger und verfügen über den Status der nationalen Minderheit. Von ihnen werden Roma unterschieden, die seit den 1960er Jahren nach Deutschland einwanderten (vgl. Vossen 1983: 58 ff.). 3.2 Migrantische Roma in Deutschland Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gab es, abgesehen von Familien deutscher Roma aus Polen, die in den 1950er Jahren in die Bundesrepublik umsiedelten, keine größeren Zuwanderungen von Roma aus Osteuropa. Dies änderte sich erst mit der of¿ziellen Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in den 1960er Jahren – hauptsächlich aus Serbien, Bosnien und Mazedonien. Als so genannte „Gastarbeiter“ lebten sie in den Städten und ländlichen Gemeinden, ohne als Roma wahrgenommen zu werden. Viele dieser Roma haben inzwischen aufgrund des Hineinwachsens von Migranten in Rechtspositionen einen unbefristeten Aufenthaltsstatus oder die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen und sich als Arbeiter, Angestellte und selbstständige Kleinunternehmer etabliert. Nach dem 1973 in Kraft getretenen Anwerbestopp begaben sich viele Roma vor allem aus Jugoslawien mangels legaler Kanäle der Zuwanderung in die aufenthaltsrechtliche Illegalität. Sie lebten ohne gültige Aufenthaltspapiere und damit ohne Anspruch auf Sozialhilfeleistungen in Wohnwagen auf Standplätzen am Rande der Städte in ganz West-Europa. Seit Mitte der 1970er Jahre führte die öffentliche Registrierung ihres Erscheinens und Versuche ihrer Legalisierung immer wieder zu heftigen kommunalpolitischen Auseinandersetzungen. Nur wenigen dieser Roma
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gelang es, in Westeuropa ein kommunales Bleiberecht zu erstreiten, viele andere nutzten das in Deutschland bis 1993 offen gestaltete Asylrecht, um – zumindest auf Zeit – geduldet zu werden. Als Asylsuchende hatten sie jedoch nie eine Chance auf Anerkennung, da das deutsche Asylrecht auf akute individuelle politische Verfolgung von staatlicher Seite zielt (vgl. Koch 2005: 87 ff.). Die bislang größte Zuwanderungs- und Fluchtbewegung von Roma nach Deutschland setzte mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder und den Kriegen in Osteuropa ein (vgl. Reemtsma 1996b: 144 f.). Die Kommunen reagierten auf diese verstärkte Zuwanderung von Asylbewerbern mit Provisorien – z. B. durch Notunterkünfte inmitten von Einkaufsstraßen ohne ausreichende Sanitäranlagen, Unterbringung in Turnhallen, Containern und Einrichtung von Sammelunterkünften. Mit dieser Form der kommunalen Problembearbeitung wurde die „Anormalität der Lebensführung“ (Bommes 2003: 474) von Asylbewerbern öffentlich zur Schau gestellt, mit dem Effekt, dass nun von den Nachbarschaften massive Proteste gegen die Anwesenheit dieser Zuwanderer geäußert wurden. Die Kommunen versuchten, mit diesen Protesten aus der Bevölkerung Bund und Länder zu bewegen, die Asylbewerberzuwanderung zu begrenzen, indem sie diesen Störungen der lokalen Ordnung als „Überschreiten der Belastungsgrenzen der Bevölkerung“ beschrieben. Die administrative Abwehrpolitik und öffentliche Diffamierung der Asylsuchenden richteten sich auch und vor allem gegen Roma aus Rumänien, die nun wieder als „Zigeuner“ bezeichnet wurden. In teils latenten, teils aber auch offen rassistischen Zuschreibungen wurden Roma als Trittbrettfahrer und „Asyltouristen“ bezeichnet, deren Lebensweisen und Praktiken als Handlungen mit einem fremden kulturellen Hintergrund dargestellt wurden, die im Kontrast zu den herrschenden Wertemustern stünden (vgl. dazu ausführlich Mutz 1995). Diese Devianz- und Dramatisierungssemantik, die die öffentliche Thematisierung des „Zigeunerproblems“ in dieser Zeit kennzeichnete, blieb nicht ohne Folgen, auch für die so genannten ‚heimatlosen‘, meist aus Jugoslawien stammenden Roma. Denn die langjährige Forderung von Menschenrechts- und Interessenorganisationen, dieser Zuwanderungsgruppe ein Bleiberecht zu erteilen, ließ sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Ablehnung von Roma in der Öffentlichkeit politisch kaum mehr durchsetzen. Nach der geförderten freiwilligen Rückwanderung, der Änderung des Grundrechts auf Asyl und dem deutsch-rumänischen ‚Rücknahmeabkommen‘ (1992) sowie aufgrund von Abschiebungen und Weiterwanderungen in andere europäische Länder ging die Zahl der Roma in Deutschland spürbar zurück.8 8 Roma (Aschkali) aus dem Kosovo wurden erneut aufgrund der Zuspitzung ihrer Lage im Kosovo nach der of¿ziellen Beendigung des Krieges 1999 geduldet, da extremistische Albaner sie zu kollektiven Feinden erklärten, sie angriffen und ihre Siedlungen zerstörten. Bisher hatte die UN-Übergangsverwaltung des Kosovo (UNMIK) Abschiebungen von Roma und Serben in den Kosovo verhindert bzw. nur nach eingehender Prüfung zugelassen. Nach der Unabhängigkeitserklärung im Februar 2008 hat
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Mit der Erweiterung der Europäischen Union 2004 sind auch Millionen Roma Bürger der EU geworden und genießen – wenn auch in Deutschland eingeschränkt – Freizügigkeit. Erst seither hat sich der Blick des Westens auch auf die soziale Lage der Roma-Bevölkerungen Mittel- und Osteuropas gerichtet. In der Berichterstattung durch die Medien kurz vor und nach der EU-Osterweiterung wurden diffuse Ängste vor einer Massenmigration der aufgrund ihrer kulturellen Fremdheit als nicht integrierbar erachteten Roma geschürt. Zusammenfassend zeigt die historische Rückschau die Genese und den Funktionswandel der jeweiligen Gruppenkonstruktionen sowie deren EinÀießen in die Begründungen staatlichen Handelns. Die Ideologien und Semantiken, die den jeweiligen Gruppenkonstruktionen Sinn verleihen, können immer dann aktualisiert werden, wenn problematische Auswirkungen von Benachteiligungen durch Ausschluss aus gesellschaftlichen Teilsystemen oder Prozesse der Migration von Roma als soziale Ereignisse registriert und mit Beschreibungen verknüpft werden. 3.3 Die Kommunikation von Hilfsbedürftigkeit Die Perspektiven, in die vor allem zugewanderte Roma-Flüchtlinge eingerückt werden, sind in vielen Kommunen ähnlich: Sie werden als Problemfälle beobachtet, die in vielfacher Hinsicht benachteiligt sind und denen entsprechend geholfen werden muss. Um fremde und – als im Vergleich zu anderen Gruppen – besonders problematisch beobachtete Verhaltensweisen von Roma (und Sinti) erklären zu können, werden in der Regel Traditionszusammenhänge als Ursache herangezogen, und damit wird zugleich entschieden, dass die ‚Kultur‘ in dieser Frage das zu Verstehende ausmacht. Dabei können sich die involvierten Organisationen der Sozialen Arbeit und kommunalen Verwaltungen auf entsprechende wissenschaftliche Handreichungen stützen, in denen die Lebenszusammenhänge von Sinti und Roma zumeist auf simple Schemata über ihre Kultur oder allgemeine Elemente ihres sozialen Lebens reduziert werden. Spezielle Maßnahmen zur verbesserten Integration von Sinti und Roma erscheinen vor dem Hintergrund einer solchen Beschreibungssemantik unumgänglich. Denn das auf der Basis von problemerzeugenden Differenzen argumentierende Erklärungsmodell stellt zugleich den zentralen Begründungsrahmen für die Notwendigkeit besonderer pädagogischer Interventionsstrategien dar, die sich am Merkmal „Zigeuner“ orientieren.9 Die die neue Kosovarische Regierung ein Rückübernahmeabkommen mit Deutschland abgeschlossen. Einige Bundesländer haben jetzt bereits begonnen, Roma in den Kosovo abzuschieben. Siehe: http:// www.amnesty.de/2009/1/28/roma-droht-abschiebung-den-kosovo (letzter Zugriff 2.11.2009). 9 Die Formen der Problemkonstruktion sind dabei hochgradig abhängig von ihrer Brauchbarkeit zur Handhabung je eigener Problemstellungen. Die Art und Weise, wie die Migration von Roma und die
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Maßnahmen selbst haben in Deutschland wie Europa dabei zumeist einen hochgradigen ad hoc-Charakter. Anhand eines Falles der Sozialen Arbeit mit Roma und der hier anfallenden Probleme (s. dazu Koch 2005) lässt sich zeigen, wie die lokale Konstellation – mit ihren legitimen und sich ergänzenden Argumenten, Mythen und Erwartungen – den Aufbau einer Organisation der Sozialen Arbeit ermöglichte und zahlreichen ‚Helfern‘ die Gelegenheit bot, sich einer politisch und moralisch guten Sache zu widmen. Vor dem Hintergrund der Erinnerung an die jahrhundertelange Verfolgung der Sinti und Roma wurde ein möglicher Handlungsspielraum für Hilfe entworfen und mittels einer moralischen InpÀichtnahme eingefordert. In dieser, nicht zuletzt aus historischen Gründen, moralisch und politisch aufgeladenen Atmosphäre gelang es den Beteiligten schließlich nicht mehr, sich zu distanzieren und sich im Prozess der Hilfeerbringung der Funktionalisierung durch die betreuten Roma zu entziehen. Soziale Arbeit und ihre politische und moralische Begründung wurde zu einem Teil eines Reproduktionszusammenhangs sozialer Grenzen in der untersuchten Stadt, in dem sie letztlich mit dazu betrug, dass sich die sozialstrukturell periphere Positionierung der Roma verfestigte. Die sozialen Ungleichheitsverhältnisse wurden dabei in der öffentlichen Debatte wieder unter dem Vorzeichen ethnischer bzw. kultureller Unterschiede interpretiert und reformuliert. Diese Prozesse der Grenzziehungen und Konstruktionen von Zugehörigkeiten können als Diskriminierungsressource im Rahmen der Reproduktion sozialer Ungleichheitsverhältnisse Bedeutung haben. Eine solche Analyse steht jedoch noch aus. Vor dem Hintergrund der Forschungslage kann eine Annäherung an die Frage der Diskriminierung in erster Linie von den beunruhigenden Effekten her erfolgen, die sich statistisch als Ungleichheit in allen zentralen Lebensbereichen zeigt. Denn unumstritten ist heute der Sachverhalt, dass Sinti und Roma in ganz Europa erheblich benachteiligt sind, ihnen vor allem der Erwerb von höheren Schulabschlüssen und der Zugang zum Arbeitsmarkt zu einem größeren Teil nicht gelingt.
damit verbundenen sozialen Folgen in den beteiligten Organisationen wahrgenommen und konzipiert werden, lassen auf Seiten der Roma Entsprechungen ¿ nden. Denn die Betroffenen lernen in der praktischen Auseinandersetzung mit den Organisationen, die für sie zuständig sind, sich als Publikum an der Form ihrer Inanspruchnahme auszurichten und die damit verbundenen Zuschreibungen in ihre Selbstpräsentationsformen einzubauen, um ihre Ansprüche adäquat anzumelden, treffen diese doch auf die Resonanz der helfenden Organisationen. (Dies ist ausführlich dargelegt in Bommes/Scherr 2000).
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Unterschiedliche Berichte und Studien belegen,10 dass ein großer Teil der Sinti und Roma-Bevölkerungen in ganz Europa systematisch geringen Zugang zu relevanten Bereichen der Lebensführung erhält und ihnen der damit verknüpfte Erwerb sozialer Statuspositionen nicht ermöglicht wird. Viele Individuen, Familien und Gruppen sind in Exklusionsprozesse geraten, die sie selbst nicht mehr aufhalten können. Mit der EU-Osterweiterung ist dies zu einem gesamteuropäischen Problem geworden. Inklusion in die für die Lebensführung bedeutsamen Bereiche – wie Arbeit, Erziehung und Ausbildung, Recht und Gesundheitsversorgung – hängt neben den individuellen Voraussetzungen, die Menschen mitbringen, ganz entscheidend auch von den Bedingungen ab, auf die Menschen bei ihren Versuchen treffen, Zugang zu diesen Bereichen zu ¿nden. Den vorliegenden Daten sind deutliche Hinweise zu entnehmen, dass Sinti und Roma aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit, der ungleichen sprachlichen Voraussetzungen (aufgrund der Muttersprache Romanes) sowie ethnisierender bzw. rassistischer Zuschreibungen, Diskriminierung erfahren. In welcher Weise und in welchem Ausmaß die einzelnen Dimensionen empirisch zum Tragen kommen, ist bislang jedoch nicht untersucht worden. Ihre Effekte lassen sich zwar statistisch beschreiben, die vorliegenden nationalen Studien belegen aber, dass bislang selbst of¿zielle Daten zur Lage der Roma in der Europäischen Union in verschiedenen Bereichen kaum vorliegen. Dies gilt auch für Deutschland. Zur alltäglichen Diskriminierung in Organisationen ¿ndet man meist nur anekdotisches Wissen. 4.1 Zur Lage der Roma in Südosteuropa In den 27 EU-Staaten leben schätzungsweise 10–12 Millionen Roma – vorwiegend in Südosteuropa. In der Slowakei werden rund zehn Prozent der Bevölkerung den Roma zugerechnet, in Bulgarien acht Prozent, in Rumänien sechs Prozent und in Ungarn fünf Prozent. Allein in diesen vier Ländern leben drei bis vier Millionen Roma. Mehreren Untersuchungen zufolge (s. o.) gehören die Roma zu den am meisten von Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus betroffenen Gruppen in Europa. Probleme, mit denen Roma zu kämpfen haben, werden heute zu Europas drängendsten Menschenrechtsfragen gezählt. Während des Erweiterungsprozesses verlangte die Europäische Union von den Beitrittsländern die erfolgreiche Integration und Abschaffung aller direkten und indirekten Diskriminierungsformen Vgl. z. B. Unicef Serbien 2007; EUMC (2006); Europäische Kommission (2004 u. 2007) oder die Veröffentlichungen der ODIHR, Of¿ce for Democratic Institutions and Human Rights (eine Unterorganisation der OSCE): http://www.osce.org/odihr/18148.html (letzter Zugriff: 23.11.2009).
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ihrer nunmehr zahlenmäßig bedeutendsten Minderheit. Seither sind zahlreiche Roma-Projekte in Osteuropa unterstützt worden (z. B. Siedlungen, Schulen, Gesundheitsversorgung und Ausbildungsmaßnahmen)11 die bisher jedoch weitgehend unwirksam blieben. Denn – ungeachtet des allgemeinen Mangels an differenzierten of¿ziellen Daten – belegen die regelmäßig vorgelegten Länderberichte, dass es in den neuen Mitgliedstaaten nach wie vor eine große Kluft zwischen Roma und Nicht-Roma in allen Schlüsselbereichen der Lebensführung gibt. Die heutigen Lebensbedingungen von Roma in diesen Staaten sind durch die sozio-ökonomischen Entwicklungen zur Zeit der sozialistischen Systeme entscheidend beeinÀusst: Nach dem zweiten Weltkrieg galt in vielen Ländern der Region die Integration der Roma in den planwirtschaftlichen Arbeitsprozess durch Assimilation als Voraussetzung zur Verbesserung ihrer Lebenssituation. Zur Erreichung dieses Zieles wurde z. B. die Ausübung traditioneller Berufe erschwert oder verboten, die noch wenigen ambulanten Roma angesiedelt und bildungspolitische Maßnahmen ergriffen, die vielfach getrennte Schulsysteme mit homogenen Roma-Klassen vorsahen (vgl. Matter 2005: 20 f.). Mit dem Ende der kommunistischen Regime und dem Übergang zur Marktwirtschaft verloren die im Durchschnitt schlechter ausgebildeten Roma als erste ihre Arbeitsplätze in der Industrie und Landwirtschaft. Kurz nach der Wende konnten einige Roma noch einträgliche Nischen (Handel und Schwarzmarkt) ¿nden, doch in der Regel bedingten der Stellenverlust und die Unmöglichkeit, wieder eine Anstellung zu ¿nden, Armut und zwangen viele Familien, wieder zurück in separierte Roma-Siedlungen zu ziehen. Hier sahen sie sich besonders schweren Problemen gegenübergestellt. Mehr als 50 Prozent der Roma leben in Häusern, die nicht an die Abwasserversorgung angeschlossen sind. Die schlechten hygienischen Zustände sind unter anderem mitverantwortlich für ernsthafte Gesundheitsgefahren bei gleichzeitigem schlechtem Zugang zur Gesundheitsversorgung in den isolierten Siedlungen. Dies führt zu weiterer Segregation, die wiederum gegenseitige Vorurteile bestärkt. Allein in Rumänien leben etwa ein Drittel der Roma in Slums und Gettos der Städte und Dörfer. Viele dieser Siedlungen wurden nach der Wende zum Ziel von Übergriffen durch rassistische Gruppierungen. Der sich zunehmend öffentlich artikulierende Nationalismus breiter Bevölkerungsschichten zeigte sich auch im Ausbruch starker Ressentiments gegen Roma. Manche Regierungen machten explizit Roma für den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und die negativen Folgen im Transformationsprozess verantwortlich. Die Strafverfolgungsbehörden reagierten auf diese rassistisch motivierten Gewalttaten kaum (ebd: 21 ff.).
Von 2000 bis 2006 Àossen EU-Mittel in Höhe von 275 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds in spezielle Projekte für Roma, u. a. in Bildungsprogramme, Gesundheitsvorsorge, Ansiedlungs- und Wohnungsbauprojekte (vgl. Europäische Kommission 2009, S.16).
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Die Folge ist, dass heute große Teile der Roma-Bevölkerung auf sehr stabile Weise von jeder Teilnahme an den Leistungsbereichen der Funktionssysteme ausgeschlossen sind. Einer UNICEF-Studie aus dem Jahr 2007 zufolge ist die Analphabetenrate unter Roma nach der politischen Wende 1989/1990 deutlich gestiegen. Roma-Kinder wachsen in mehrheitlich bildungsfernen Familien auf und benötigen entsprechend eine frühe Förderung. Im Alltag sind die meisten Roma-Kinder jedoch von der Kindergarten- oder Vorschulerziehung ausgeschlossen. In Bulgarien und Rumänien stehen z. B. den 76 Prozent der Vorschul- oder Kindergartenkinder im gesamten Land nur 16 bzw. 17 Prozent unter den Roma entgegen. Insgesamt sind auch die Schülerzahlen und die Anwesenheitsquoten von Roma-Schülern im Primarschulwesen sehr niedrig (vgl. Unicef Serbien 2007: 45 ff.). Um die Ausgangsdifferenzen durch spezielle Förderung auszugleichen, galt die Segregation in homogenen Roma-Klassen lange Zeit als bildungspolitisches Konzept. Zwar sind solche Maßnahmen heute gesetzlich meist nicht mehr zugelassen, de facto gibt es jedoch nach wie vor in ganz Südosteuropa auf lokaler Ebene Klassen und Schulen, die von überproportional vielen Roma besucht werden und in denen die Kinder zum Teil nach einem anderen Lehrplan unterrichtet werden. Dies ist teils Folge der Wohnsegregation, teils Folge der direkten und indirekten Diskriminierung durch Schulen und Schulbehörden (EUMC 2006: 9). Die gesamte Schullaufbahn der Kinder ist geprägt von Mustern der Diskriminierung entlang von Normalitätserwartungen, vor allem in Bezug auf ihre Sprachfähigkeit und negativen ethnisch-kulturellen Zuschreibungen. Von Schulen ohne Förderklassen für Kinder mit mangelnden Kenntnissen der Mehrheitssprache werden Kinder aus Roma-Familien vielfach in Sonderschulen für Schüler mit Lernschwächen oder einer geistigen Behinderung überwiesen. Von dieser Praxis wird vor allem aus der Tschechischen Republik, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und der Slowakei berichtet. Die tschechische Regierung hat geschätzt, dass ungefähr 75 Prozent der RomaKinder in Sonderschulen eingeschult sind. Die Segregation durch Überweisung in Sonderschulen sowie die schlechte Grundschulausbildung in Gemeinden mit hoher Roma-Bevölkerung führen auch zu einem geringen Prozentsatz an Roma-Kindern, die weiterführende Schulen besuchen. Insgesamt besuchen in der gesamten Region unter den 16- bis 19-jährigen nur 12 bis 20 Prozent weiterführende Schulen (der Bevölkerungsdurchschnitt liegt bei 68 bis 83 Prozent). In keinem der Länder der Region besuchen mehr als zwei Prozent eine Hochschule (vgl. Unicef Serbien 2007, EUMC 2006, Europäische Kommission 2004). Trotz dieser Zahlen erweist sich die Erklärung der Bildungssituation der Roma-Kinder als schwierig. Bildungsverläufe werden im Bildungssystem unter den dort gültigen Bedingungen hergestellt. Die dort erzeugten Ergebnisse sind wiederum beeinÀusst von der Bildungsausstattung der Eltern, der Haushaltsgröße und des Einkommens, der Wohnungsausstattung usw.; Schulen und Schüler bzw. ihre Familien bauen wechselseitige Erwartungen von Erfolg bzw. Misserfolg auf, die zur Stabilisierung von Erfolgen ebenso wie
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Misserfolgen beitragen. Deutlich wird die Diskriminierung jedoch bei der Überweisung auf die Sonderschulen. Hier werden sie direkt und indirekt diskriminiert, vielleicht auch aufgrund der Schichtzugehörigkeit. Zugleich wird vielfach berichtet, dass viele Eltern von der Bedeutung der Schulbildung nicht überzeugt sind, weil sie selbst nicht oder unregelmäßig zur Schule gegangen sind, dort vorwiegend schlechte Erfahrungen gemacht haben oder traditionelle Rollenmuster den Schulbesuch vor allem der Mädchen behindern (vgl. z. B. Europäische Kommission 2007 und 2004: 41)12. Für die Entwicklung von geeigneten bildungspolitischen Maßnahmen kommt es zukünftig darauf an, dieses Zusammenspiel besser zu verstehen. Denn Individuen sind in ihrer Lebensführung auf die durch Bildung vermittelten Quali¿kationen als Voraussetzungen für den Zugang zu Arbeit und Einkommen angewiesen. Mit fehlendem Schulabschluss bestehen kaum Chancen, eine Berufsausbildung zu absolvieren, mit fehlender Berufsausbildung wiederum ist es schwer, eine Beschäftigung zu ¿nden. In der Slowakei lässt sich z. B. den of¿ziellen Daten aus dem Jahr 2003 entnehmen, dass 87,5 Prozent der Romabevölkerung arbeitslos war (bei 14,2 Prozent der Gesamtbevölkerung). Rassistisch motivierte Diskriminierung stellt eine große Barriere beim Zugang zum Arbeitsmarkt dar. Aus vielen Ländern haben Arbeitsämter berichtet, dass Arbeitgeber ausdrücklich keine RomaBewerber wünschen (vgl. Europäische Kommission 2004: 28 f.). Aus der jüngsten Studie der EU-Agentur für Grundrechte (European Union Agency for Fundamental Rights, FRA 2009) geht hervor, dass die amtlichen Statistiken über persönliche erfahrene Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fälle widerspiegeln. Die vorgestellten Resultate beinhalten u. a. Informationen zu persönlich erfahrener Diskriminierung und rassistischen Delikten, zum Anzeigeverhalten bei Diskriminierung sowie Erfahrungen mit der Polizei. Jeder zweite der befragten Roma hat in den 12 Monaten vor der Erhebung Diskriminierung in mindestens einem Alltagsbereich persönlich erfahren (v. a. in Tschechien, Ungarn, Polen und Griechenland). 20 Prozent der befragten Roma gaben an, in den letzten 12 Monaten Opfer einer rassistisch motivierten Straftat gewesen zu sein. Doch lediglich ein ganz geringer Teil der diskriminierten Roma hat sich daraufhin bei örtlichen Behörden, Verbänden oder gar der Polizei gemeldet. Neben dem Segregationsdiskurs konzentriert sich die Debatte in der EU auf Schulabsentismus und Schulabbruch der Sinti, Roma und Traveller. Meine eigene Feldforschung bei einer Gruppe von Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien (die in der Literatur zumeist als Kalderasch bezeichnet werden) zeigte, dass die untersuchten Familien dem regelmäßigen Schulbesuch der Kinder nur wenig Bedeutung beimaßen. Der Schulbesuch wurde beendet, sobald die Jungen und Mädchen verheiratet wurden – dies zum Teil schon im Alter von 14 Jahren (vgl. Koch 2005). Ähnlich beschreibt es Widmann (2001: 170 f.) für eine Gruppe von Sinti. Andere Untersuchungen belegen eine hohe Bildungsaspiration der Eltern (vgl. z. B. Jonuz 2009; ebenfalls eine Untersuchung über Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien). Ein häu¿ges Fernbleiben vom Unterricht und ein früher Schulabbruch lassen sich daher niemals pauschal für alle Sinti und Roma belegen. 12
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Die meistgenannte Ursache für die geringe Anzeigerate ist die Annahme, dass eine Anzeige folgenlos bleibt. Hinzu kommt, dass 86 Prozent der Roma keinen Namen einer Organisation nennen konnte, die bei Diskriminierungserfahrungen Beratung und Unterstützung anbietet (vgl. FRA 2009). 4.2 Zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland Seit den Anfang der 1980er Jahre vorgelegten und im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen zur sozialen Lage deutscher Sinti (s. o.) liegen keine umfassenden Daten für die empirische Beschreibung ihrer Benachteiligung mehr vor. Ende der 1970er Jahre lebte – den Ergebnissen dieser Studien zufolge – ein großer Teil der Sinti in Armut. Viele Familien verdienten ihren Lebensunterhalt durch selbstständigen Handel, der ihnen eine ausreichende Einkommensquelle sicherte. Die Gesamtzahl derjenigen, die auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen war, betrug jedoch etwa 25 Prozent. Darüber hinaus ging man davon aus, dass weitere Familien, deren Einkommen unterhalb der Bemessungsgrenze für Sozialhilfe lag, aus Scheu vor Behörden, keine Unterstützung beantragten. Die Tendenz zur Selbstständigkeit wurde mit ihrer traditionell hohen Wertschätzung bei Sinti, den geringen schulischen und beruflichen Qualifikationen sowie dem Mangel alternativer Beschäftigungsangebote für als „Zigeuner“ diskriminierte Sinti begründet. Gerade die Bildungsbenachteiligung der Sinti war Ende der 1970er Jahre offensichtlich. Der Anteil der Sonderschüler lag bei 25 bis 30 Prozent, nur ein bis zwei Prozent besuchten eine weiterführende Schule. Noch schlechter war die Lage der Erwachsenen. 30 Prozent der Erwachsenen hatte keine Schule besucht, weitere 50 Prozent hatten die Schule vor dem Abschluss abgebrochen, 35 Prozent waren Analphabeten. Entsprechend hatten nur wenige der Erwachsenen eine abgeschlossene Berufsausbildung (sechs Prozent). Die sozioökonomische Lage wirkte sich vor allem auf die Wohnsituation aus. Etwa 25 bis 30 Prozent der Familien lebten in Obdachlosen- oder in so genannten „Zigeunersiedlungen“. Die Untersuchungen zeigten aber auch große soziale Unterschiede zwischen den Familien hinsichtlich der Bildungssituation, wirtschaftlichen Lage, der Wohnsituation und der sozialen und politischen Partizipation. Die Lebensverhältnisse der ärmeren Familien, insbesondere derjenigen die in so genannten „Zigeunersiedlungen“ lebten, ähnelten in vielen Aspekten mehr denen obdachloser Familien und weniger den wohlhabenden Familien der eigenen Minderheit. Die Sinti, die sich gesellschaftlich etablieren konnten, waren vor allem jene Familien, die in der Öffentlichkeit nicht als Sinti wahrnehmbar waren (vgl. Hundsalz 1982, Freese/ Murko/Wurzbacher 1980).
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In den 1970er Jahre gab es – auch im Zuge der Modernisierung der Sozialen Arbeit – in vielen Kommunen Programme zur Verbesserung der Wohnsituation, des Zugangs zum Gesundheitssystem und zur Schulbildung. Hier liegen einige Untersuchungen auf kommunaler Ebene vor, die allerdings nur Tendenzen erkennen lassen. Neben der Verbesserung der Wohnsituation hat sich in der jüngeren Generation die Zahl der Analphabeten dem bundesdeutschen Durchschnitt angeglichen. Auch die Zahl der Zuweisungen an Sonderschulen hat sich verringert. Für einen Teil der Sinti bot die bessere Schulbildung Möglichkeiten, eine Lehr- oder Arbeitsstelle zu ¿nden. Dennoch scheint die Inklusion in den Arbeitsmarkt nach wie vor für einen Teil der Sinti problematisch. Dem liegt – nach Widmann (2001: 170 f.) – auch zugrunde, dass viele Eltern zwar den Besuch der Grundschule unterstützen, der regelmäßige Schulbesuch nach den ersten sechs oder sieben Schuljahren jedoch deutlich zurückgeht. Insgesamt scheint sich das soziale Gefälle innerhalb der Minderheit vergrößert zu haben.13 Sinti mit besserer Schulbildung verlassen die Siedlungen, wenn sie es sich ¿nanziell leisten können. Zurück bleiben diejenigen, die den unteren sozialen Schichten angehören (ebd.: 167 ff.). Über die soziale Situation von deutschen Roma ist so gut wie nichts bekannt. Ähnlich verhält es sich mit Roma, die als Arbeitsmigranten in den 1960er Jahren von Deutschland angeworben oder als Familienangehörige nachgeholt wurden. Ihre Lebenslagen und die damit verbundenen Chancen auf soziale Teilhabe werden durch verschiedene Bedingungen beeinÀusst, die insgesamt für Migranten in Deutschland gelten. Aus Sicht der Betroffenen scheint ihnen der soziale Aufstieg in der Bundesrepublik jedoch nur gelungen zu sein, indem sie ihre Ethnizität als Roma verborgen haben (vgl. Jonuz 2009). Auch die Lebenslagen von Roma, die seit den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen sind und denen eine Verfestigung ihres Aufenthalts nicht gelungen ist, sind im wesentlichen abhängig von ihrem Aufenthaltstitel, also solchen Diskriminierungen, die sich im Rahmen der bestehenden ausländerrechtlichen Bestimmungen realisieren und die sozialen Teilnahmechancen erheblich einschränken – ungeachtet der zum Teil sehr langen Aufenthaltszeiten in Deutschland (vgl. Mihok/Widmann 2007). Ausblick Diskriminierung kommt im Fall der Sinti und Roma durch das Zusammenspiel von politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen mit organisatorischem Handeln und Routinen zustande, gestützt durch de¿zitorientierte Annahmen und kulturalistische Eigenschaftszuschreibungen. Doch hier ist die Forschungslage sehr dürftig. Auf 13 Vgl. dazu Anm. 12. Auf den Trend der Pluralisierung von Lebenslagen hatte bereits Hundsalz (1982) Anfang der 1980er Jahre hingewiesen.
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diesem Hintergrund kann man sich zur Zeit der Frage der Diskriminierung in erster Linie von den alarmierenden Effekten her annähern, die sich statistisch gesehen als Ungleichheit in allen zentralen Lebensbereichen ausweisen lassen. Ausgehend von diesen Hinweisen auf eine Ungleichbehandlung von Sinti und Roma müssten jedoch durch weitere qualitative Analysen Mechanismen direkter und indirekter institutioneller Diskriminierung in Organisationen ermittelt und die Zusammenhänge zwischen politischen Vorgaben, öffentlichen Diskursen sowie der Praxis in Organisationen empirisch rekonstruiert werden. Dabei ist auch der Zusammenhang zwischen der Benachteiligung von Sinti und Roma und ihrer sozialen Herkunft zu untersuchen, also ob und inwiefern nicht auch institutionelle Diskriminierung auf der Grundlage ihrer sozialen Lage vorliegt. Nur auf dieser Basis ließe sich der Diskurs über die Diskriminierung von Sinti und Roma – bislang vorwiegend verkürzt als Folge jahrhundertealter Vorurteile analysiert – differenziert führen. Literatur Arnold, Hermann (1965): Die Zigeuner. Herkunft und Leben der Stämme im deutschen Sprachgebiet. Olten/Freiburg Blaschke, Jochen (1992): Flucht und Entwicklung in Osteuropa. In: Blaschke, J./Germershausen, A. (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Studien über das WeltÀüchtlingsproblem, Bd. 1. Berlin, S. 101–168 Bommes, Michael (2003): „Die politische Verwaltung“ von Migration in Gemeinden. In: Oltmer, J. (Hrsg.): Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen, S. 459–480 Bommes, Michael/Scherr, Albert (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in Formen und Funktionen organisierter Hilfe. Weinheim/München Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt Elias, Norbert (1983): Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Frankfurt/M. EUMC (2006): Roma und Traveller im öffentlichen Bildungswesen. Ein Überblick über die Situation in den EU-Mitgliedstaaten. Zusammenfassung. Wien Europäische Kommission (2004): Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union. GD Beschäftigung & Soziales. Luxemburg Europäische Kommission (2007): Segregation von Roma-Kindern in der Ausbildung. Mit der Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse gegen strukturelle Diskriminierung angehen (Lila Farkas). GD Beschäftigung & Soziales. Luxemburg Europäische Kommission (2009): Antidiskriminierungsmaßnahmen der EU. Tätigkeitsbericht 2007–2008. GD Beschäftigung & Soziales. Luxemburg Feuerhelm, Wolfgang (1987): Polizei und „Zigeuner“. Strategien, Handlungsmuster und Alltagstheorien im polizeilichen Umgang mit Sinti und Roma. Stuttgart
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Zur Diskriminierung psychisch kranker Menschen Ernst von Kardorff
Vorbemerkung Erfahrungsberichte Betroffener wie Studien zu Vorurteilen gegenüber psychisch kranken Menschen zeigen, dass ein Ende der Ausgrenzung Ver-rückter nicht in Sicht ist (v. Kardorff 2007). Systematische Formen der Benachteiligung zeigen sich trotz einer auf Inklusion und an Menschen- und Bürgerrechten orientierten Behindertenpolitik, trotz verbesserter und ausgeweiteter Integrationsmaßnahmen und Angebote sowie neuer fachlicher Strategien und erweiterter Spielräume für die Selbstbestimmung Betroffener. Initiativen zur Entstigmatisierung können erste Erfolge bei der Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die persönlichen Belange und die soziale Situation Betroffener und ihrer Angehörigen vorweisen. Dennoch haben Vorurteile gegenüber seelisch erkrankten Menschen kaum abgenommen und Formen struktureller Diskriminierung, v. a. in der Arbeitswelt und im Versorgungssystem, bestehen, trotz vielfältiger gesetzlicher und organisatorischer Reformen, fort. Unter Diskriminierung werden hier klassi¿zierende Zuordnungen von Personen zu einer Gruppe verstanden, der negative Eigenschaften (Stigmata) zugeschrieben werden, sei es aufgrund ethnischer Herkunft, sozialer Lage, Auffälligkeiten im Aussehen und Verhalten oder anderer Formen der Abweichung von gesellschaftlichen Erwartungen, insbesondere von Leistungsnormen und Perfektionsidealen, von Regeln der sozialen Interaktion und von einschlägigen Zugehörigkeitsmerkmalen. Derartige Klassi¿kationen sind sozial folgenreich, weil sie soziale Urteile enthalten, die diskriminierendes Verhalten (u. a. abschätziges, benachteiligendes, aggressives) oder segregative Strukturen (z. B. Heime) legitimieren und die Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe begrenzen. Sie fungieren als Platzanweiser in der sozialen Statushierarchie. In gesellschaftlichen Teilsystemen wie Bildung, Arbeitsmarkt und Versorgungssystem führen sie zu systematischen Formen der Benachteiligung. Individuell können sie Abstiegskarrieren einleiten oder verfestigen und setzen Betroffene einer besonderen Aufmerksamkeit informeller wie formeller sozialer Kontrolle aus. Den Nicht-Betroffenen hilft die Zuordnung von Personen zu einer Außenseitergruppe bei der eigenen Verhaltensorientierung, bekräftigt die Geltung sozialer Normen, mahnt zu Vorsichtsmaßregeln, provoziert besondere
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Ernst von Kardorff
Verhaltensweisen der „Normalen“1 und stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie kann den immer rechtfertigungsbedürftigen sozialen Ausschluss eines Mitglieds aus der Gemeinschaft legitimieren. Diskriminierung psychisch kranker Menschen beruht auf einer vorgängigen Stigmatisierung, die im kulturellen Gedächtnis in Form sozialer Repräsentationen (vgl. Herzlich 1973 und 1991; Jodelet 1991) gespeichert und zu Gewohnheiten des Herzens (Bellah u. a. 1985) geworden sind. Sie folgt dabei mehrheitlich konsentierten Praktiken legalen und/oder professionellen Umgangs mit sozialen Auffälligkeiten (wie Sicherheitsverwahrung für psychisch kranke Straftäter), und sie erzeugt neue Abweichungen durch Verengung von Abweichungstoleranzen, Zuspitzung geltender Normen oder Verfeinerung diagnostischer Praktiken. In Zeiten raschen Wandels entstehen neue Bezugsnormen, die die Grenzen zwischen Kategorien in einigen Bereichen aufweichen oder verwischen 2, in anderen wiederum erhöhte Anforderungen an Selbstdarstellung oder an Leistungsfähigkeit, Anpassungsbereitschaft und Flexibilität stellen. Im Folgenden wird zunächst die Spezi¿ k der Diskriminierung psychisch kranker Menschen diskutiert. Die Betrachtung der alltäglichen Erfahrung von Diskriminierung bildet die Grundlage für eine Bestandaufnahme aus der Perspektive Betroffener. Danach werden ausgewählte Ergebnisse struktureller Diskriminierung in den Bereichen Arbeitswelt und Versorgungssystem dargestellt. Schließlich wird nach einer Inklusionsperspektive für psychisch kranke Menschen gefragt. 1
Unterschiede, die Unterschiede machen: Wahnsinnige, psychisch Kranke, seelisch Behinderte, Psychiatrieerfahrene und Ver-rückte im gesellschaftlichen Wandel
1.1 Soziale Konstruktionen und ihre Folgen für Stigmatisierung und Diskriminierung Mit jeder der in der Überschrift genannten gesellschaftlich konstruierten Semantiken verbinden sich andere Formen der Diskriminierung: Der Wahnsinnige muss von der So werden alkoholkranke Menschen nicht mehr eingeladen, um Peinlichkeiten zu vermeiden oder Betroffene werden in beruhigendem Ton vertröstet, ihre Anliegen ausgeblendet, der Kontakt zu ihnen erscheint zuweilen übertrieben bemüht. 2 Dies betrifft etwa das Spiel mit Geschlechtsrollenstereotypen in der jugendlichen Pop-Kultur, kaum aber Krankheit und Behinderung. Der „interessante“ Ver-rückte von Schreber bis zu den von Prinzhorn gesammelten Kunstwerken psychisch Kranker ist nur die eine Seite einer positiven öffentlichen Aufmerksamkeit; in der Postmoderne werden bestimmte ungewohnte „schrille“ Verhaltensweisen toleriert – aber auch nur wenn sie cool und perfekt sind; der gewöhnliche Ver-rückte pro¿tiert davon kaum, er kann bestenfalls mit Gleichgültigkeit rechnen. 1
Zur Diskriminierung psychisch kranker Menschen
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Gesellschaft isoliert und ggf. auch mit Zwang in die Welt der Vernünftigen zurückgeholt werden. Das Konstrukt psychisch Kranker verspricht eine Normalisierung (Kranken wird ein begrenzter Schonraum zugestanden) und eine Entmoralisierung, die auch für die Angehörigen einen „Freispruch“3 bedeutet; sie überantwortet sie aber zugleich der Psychiatrie mit ihrer begrenzten medizinischen Perspektive und ihren oft rigiden Behandlungsregimes. Der Begriff seelisch Behinderte macht die amtlich festgestellte Beeinträchtigung zur Voraussetzung sozialrechtlicher Leistungsgewährung. Die Selbstbeschreibung Betroffener als Psychiatrieerfahrene stellt die Bedeutung des subjektiven Erlebens von Diskriminierung im psychiatrischen Versorgungssystem heraus und fokussiert auf die mangelnde Berücksichtigung eigener Erfahrungen und Expertise, auf die Missachtung von Wünschen und die Verletzung persönlicher Würde und Integrität. Der alltagssprachliche, durch den Trennstrich für die wissenschaftliche Analyse verfremdete Begriff Ver-rückte erlaubt eine reÀexive Beschreibung der klassi¿zierten Personengruppe, die das Selbsterleben betroffener Menschen und zugleich deren gesellschaftliche Wahrnehmung und Einordnung sichtbar machen kann. Die als psychisch Kranke klassi¿zierten Menschen sind aufgrund eines ihnen selbst und ihren Mitmenschen oft fremd gewordenen, ängstigenden, lähmenden oder irritierenden Erlebens, Denkens und Handelns aus ihrer eigenen Mitte und der ihres Umfeldes ver-rückt; aber sie sind dies nie mit ihrer ganzen Person, ihrem gesamten Verhalten und ohne Unterbrechung4. „Ver-rückte“ verstören ihre Angehörigen, Freunde und Arbeitskollegen, und sie stören die gewohnten Abläufe der alltäglichen sozialen Ordnung. Damit werden Reaktionen im sozialen Umfeld aber auch institutionelle Sanktionen herausgefordert, die sich in unterschiedlichen Formen der Diskriminierung ausdrücken können: negativ in Missachtung von Menschenwürde und Grundrechten sowie in Prozessen der Etikettierung5, die Abstiegskarrieren einleiten, Institutionenabhängigkeit und Hospitalisierung begünstigen oder zu systematischer Benachteiligung etwa im Zugang zu Hilfen führen, positiv in besonderen Hilfeangeboten, gezielter Förderung, Empowerment und Unterstützung zur Wiedergewinnung von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung. Die psychohistorische Verankerung der sozialen Konstrukte Wahnsinn, psychische Krankheit, Behinderung etc. kann im sozialen Verkehr dazu führen, dass 3 Das soziale Umfeld, aber auch Fachkräfte geben Angehörigen immer wieder mehr oder weniger verdeckt zu verstehen, dass sie eine Mitschuld am Verhalten ihrer psychisch kranken Familienmitglieder tragen. Um Diskriminierung zu vermeiden und auf der Basis wissenschaftlicher Studien und aus Integrationserwägungen plädieren Dörner/Egetmeyer/Koenning (1975) stattdessen für einen „Freispruch der Familie“, der Misstrauen abbauen und Angehörige in die Therapie einbeziehen soll. 4 Die Zuschreibung „chronisch krank“ wirkt hier bereits diskriminierend, weil sowohl Unheilbarkeit als auch ein Dauerzustand unterstellt wird, der jedes Verhalten der so etikettierten Personen, egal wie auffällig oder normal es auch immer sein mag, tendenziell der bekannten Störung zurechnet. 5 Zu Mechanismen und Folgen der Etikettierung vgl. z. B. Becker (1966); Goffman (1972); Scheff (1973).
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beobachtete Formen der Stigmatisierung und Benachteiligung von der Allgemeinheit als ganz normal und legitim betrachtet und nicht als Verletzung von Bürger- und Gleichheitsrechten gesehen werden, etwa weil die Besonderheit oder Andersartigkeit auch eine besondere „Behandlung“ zu erfordern scheint, weil psychisch kranke Menschen als gefährlich, unberechenbar, unzuverlässig und unverständlich gelten, als wenig belastbar erscheinen oder weil ihre Krankheit besonderer Unterstützung und Aufmerksamkeit bedarf. Anders als viele Körperbehinderungen sind seelische Krankheiten nicht sichtbar, werden aber dennoch subtil wahrgenommen; die im Goffmanschen Sinne Diskreditierbaren (vgl. Goffman 1975: 56 ff.) oder durch eine Krankheitskarriere bereits diskreditierten Betroffenen, müssen beständig auf der Hut sein oder ihre Situation offenbaren, sei es durch die Übernahme der Krankenrolle, im Selbstverständnis als Psychiatrieerfahrene oder indem sie sich provokant als Irre stilisieren. Unter die Sammelkategorie „psychisch Kranke“ fallen Betroffene ganz unterschiedlicher Formen, Ausprägungen und Verlaufskurven psychischer Krankheiten oder Störungen. Nicht alle sind in gleicher Weise oder den gleichen Formen von Diskriminierung ausgesetzt: So wurde Burn-out mittlerweile als Krankheit anerkannt, weil es betriebliche Produktivität beeinträchtigt und mit dem Risiko der Frühverrentung verbunden ist; chronische Erschöpfungszustände als Reaktionen auf gestiegene Leistungsanforderungen im Beruf und in der Work-Life-Balance sind zu einem Kennzeichen der Zeit geworden (vgl. Ehrenberg 2004). Chronische Rückenbeschwerden ohne körperlichen Befund werden als psychosomatische Krankheit und (überwiegend) nicht länger als unstatthaftes Rentenbegehren gewertet und auf die Zunahme von Ängsten und Essstörungen reagieren Experten mit der Forderung nach angemessenen Beratungs- und Therapieangeboten. Demgegenüber können die „klassischen“ Ver-rückten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis oder Menschen mit bipolaren Störungen auf ein umfangreiches, wenngleich unübersichtliches Hilfenetz zurückgreifen; zugleich sind sie aber am stärksten mit Vorurteilen, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg konfrontiert, und besonders stationär versorgte Patienten unterliegen einer stärkeren Diskriminierung als ambulant behandelte (Krumm/Becker 2005). Die Kategorie „psychische Krankheit“ differenziert also zu wenig, um die spezi¿schen Arten von Stigmatisierung und Diskriminierung angemessen zu erfassen. So sind einige Formen psychischer Krankheiten im öffentlichen Bild eher akzeptiert als andere: während mit Psychosen nach wie vor Gewaltförmigkeit und Unheilbarkeit assoziiert wird, gelten Suchterkrankungen als moralisches Versagen. Die vor allem pÀegepolitisch bedeutsame Gruppe von Menschen mit Demenzen und ihre Angehörigen wiederum können mit einer sympathisierenden Öffentlichkeit und angesichts der demogra¿schen Dimension mit gesteigerter politischer Aufmerksamkeit rechnen, wie einige Verbesserungen im PÀegeweiterentwicklungsgesetz
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belegen (v. Kardorff 2009)6. Erschöpfungszustände mit depressiver Verstimmung werden als bedauernswerte Folgen von Stress, die Psychopathologien der Normalen als passagere Reaktion auf die Anforderungen an die angemessene Präsentation des Selbst gesehen. Diese neuen, und von den zuständigen Disziplinen als eigenständige Krankheitsbilder konstruierten Be¿ndlichkeitsstörungen (vgl. Illousz 2006 u. 2009), führen zu einer Ausweitung der „Behinderungszone“ (Felkendorff 2003), die neue Diskriminierungsdiskurse eröffnet. Während „arme Irre“ (Köhler 1979) – oft als psychotisch diagnostizierte Menschen mit mehrfachen Klinikaufenthalten, langen Abstiegskarrieren und zuweilen recht auffälligem Verhalten – im Versorgungssystem vielfältig und oft mehrfach betreut werden, bleiben verbreitete Störungen wie Ängste und Erschöpfungszustände häu¿g lange unerkannt, werden von der Umwelt verharmlost und vom Versorgungssystem ebenso vernachlässigt wie obdachlose psychisch Kranke (Jacobi/Hoyer/Wittchen 2004). 1.2 Stigmatisierung: Bedrohung der Identität – Identitätsarbeit und Identitätspolitiken Mit der sozial erfolgreichen Zuschreibung eines Stigmas und seiner Legitimation durch eine Diagnose/Etikettierung seitens der zuständigen Professionen erhalten die betroffenen Personen einen „Master-Status“ (Hughes 1945), der dazu führt, dass ihr Aussehen, ihr Handeln, ihr Sprechen, kurz die gesamte Person nur mehr über ihr Stigma wahrgenommen wird: Der alkoholkranke Mensch wird zum Alkoholiker. Betroffene geraten damit in eine Kommunikationsfalle, denn alle ihre Lebensäußerungen werden mit dem Wissen um ihre Krankheit, Behinderung oder anderweitige Abweichung wahrgenommen, so dass die Betroffenen ein beständiges Stigmamanagement, vor allem Informationskontrolle gegenüber den „Wissenden“, betreiben müssen. Die negativen sozialen und psychischen Folgen der Stigmatisierung sind vielfältig beschrieben: von Goffmans The moral career of the mental patient (1959/dt. in Goffman 1972), über die Arbeiten von Becker (1966) und Scheff (1973 u. 1999) bis hin zu Studien aus einzelnen Fachdisziplinen (Link/Phelan 2001). Wie Cloerkes (2007) konstatiert, sind Stigmatisierungsfolgen aber weder zwangsläu¿g und einheitlich noch sind es die individuellen Bewältigungsformen. Goffman hat in Stigma (1975) bereits gezeigt, dass Betroffene nicht nur Opfer, sondern in bestimmten strukturellen Grenzen, individuell und kollektiv aktive Gestalter ihres Lebens sind, sein können und auch sein müssen. Letzteres hat unter den Bedingungen der modernen Dienstleistungsgesellschaft z. B. die paradoxe Folge, dass Stigmatisierte im System als souveräne „Kunden“ 6 Hierzu gehört z. B. die Einführung der PÀegezeit für Angehörige, besondere Leistungen zur Betreuung verwirrter Menschen oder eine verbesserte PÀegeberatung durch Àächendeckende PÀegestützpunkte.
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agieren sollen, und wenn ihnen dies misslingt, haben sie mit einer zusätzlichen Stigmatisierung zu rechnen. Stigmatisierung unterliegt zwar gesellschaftlichen Konjunkturen7, sie bleibt jedoch – anders als Diskriminierung – der unausweichliche Normalfall: gesellschaftlich erzeugte Unterscheidungen erhalten ihren sozial folgenreichen Sinn im Kontext von Wertehierarchien und provozieren beständig positiv wie negativ quali¿zierende (= stigmatisierende) Vergleiche. Ob und in welchem Umfang daraus sichtbare negative soziale Konsequenzen (Diskriminierung) folgen, hängt von institutionalisierten Vorgaben, wie etwa dem gesetzlichen Diskriminierungsverbot, sozialpolitischen Kompensationsangeboten und einer Inklusionspolitik, von informellen Aktivitäten wie der Selbsthilfe, von den Medien sowie von konkreten Modellen gelungener Integration ab, die als Beispiele für eine Kultur der Anerkennung dienen können. Aber auch eine sensibilisierende und zuweilen der political correctness verhaftete Sprachpolitik („es ist normal, verschieden zu sein“) hebt die grundsätzlichen Mechanismen von Stigmatisierung und Diskriminierung nicht auf, wenngleich sie eine Sensibilisierung und erneute Thematisierung festgefahrener Bilder erreichen kann. Stigmatisierung entfaltet ihre normative Kraft vor dem Hintergrund der gesellschaftlich durchgesetzten, stillschweigend akzeptierten und sanktionierten Normalitätsdispositive; sie begegnet den Diskreditierten und Diskreditierbaren als strukturelle Gewalt, die sich im Kontext gesellschaftlicher Machtbeziehungen realisiert: „[…] stigma exists when elements of labeling, stereotyping, separation, status loss, and discrimination occur in a power situation that allows them“ (Link/Phelan 2001).
Herrschaft, Macht und strukturelle Gewalt materialisieren sich in der De¿nitionsmacht der Professionellen und in organisationellen Arrangements und Abläufen. Dies hat nicht nur praktische Folgen für Lebensführung, Freiheitsgrade und Lebenslage der Betroffenen, sondern auch für ihre Identität. Stigmatisierte müssen sich beständig mit der Diskrepanz zwischen der ihnen zugeschriebenen sozialen Identität (virtuale Identität) und den Wirkungen ihres Verhaltens (aktuale Identität) auseinandersetzen. Die alltägliche Konfrontation mit diesem Sachverhalt
Die offene gesellschaftliche Ächtung etwa von AIDS und einigen anderen chronischen Krankheiten sowie von Homosexualität ist einem toleranteren öffentlichen Umgang gewichen; dies trifft allerdings weniger auf Behinderung (Cloerkes 2007) und kaum auf psychische Krankheit zu (vgl. z. B. Scheff 1999; Link/Phelan 2001; Angermeyer/Matschinger 2004; Angermeyer 2000 sowie das Sonderheft zu Stigma und Stigmatisierung des Journal of Community and Applied Social Psychology, 16, 2006). Darüber hinaus werden neuerdings (wieder) soziale Lagen und individuelle Ausdrucksformen als persönliche Stigmata zugerechnet und als individuelles/familiäres Versagen moralisiert, von Arbeitslosigkeit über Armut (vgl. Anhorn/Bettinger/Stehr 2007) bis zum Übergewicht. 7
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„beschädigt […] seine soziale Identität; sie hat den Effekt, dieses Individuum von der Gesellschaft und sich selbst zu trennen, so dass es dasteht als diskreditierte Person angesichts einer sie nicht akzeptierenden Welt“ (Goffman 1975: 30).
Beschädigt werden zugleich die Bemühungen um einen eigenständigen Identitätsentwurf, der nur in Reaktion auf die stigmaspezi¿schen Zuschreibungen und Zumutungen möglich ist, sei es in Form von Abgrenzung, ironisierender Distanz oder der Übernahme der zugeschriebenen Rolle und den damit verbundenen sekundären Anpassungsgewinnen. Ergebnisse der Rehabilitationsforschung zeigen, dass unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen die „moralischen Karrieren“ (Goffman 1972) vieler chronisch Kranker und Behinderter neue Verlaufsformen aufweisen. Dazu trägt wesentlich bei, dass Betroffene die gesellschaftlichen Wahrnehmungsmuster und sozialen Repräsentationen von Abweichung durch individuelle wie kollektive Strategien des Stigmamanagements gebrochen und transformiert haben.8 Auch wenn die Mehrzahl der Betroffenen „zu denselben Auffassungen von Identität wie wir“ (Goffman 1975: 16) tendieren und sich nicht immer die Vorstellungen der in ihrem Namen agierenden Betroffenenverbände zu eigen machen, übernehmen sie nicht länger alltägliche oder wissenschaftliche De¿zitzuschreibungen, sondern entwickeln ein eigenes Selbstbewusstsein im Angesicht der Differenz und fordern Chancengleicheit und Partizipation. Diese Entwicklungen bestätigen die Einwände gegenüber Goffmans Begriff der „beschädigten Identität (spoiled identity)“, wie sie von engagierten Betroffenen und von Vertretern/-innen der „Disability Studies“ (Albrecht u. a. 2001; Dederich 2007) auf mehreren Ebenen vorgebracht wurden: normativ als essentialistische De¿zitunterstellung, fachlich als expertende¿nierte Begrenzung eigenständiger Entwicklungsmöglichkeiten, machttheoretisch als normalistischer Modus negativer Identitätsunterstellungen seitens der Dominanzkultur mit der Folge einer konzeptionellen Enteignung der Selbstbestimmung Betroffener. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Analyse von individuellen wie kollektiven Identitätspolitiken an Bedeutung, denn diese reagieren auf den Zwang, dass Diskreditierbare und Diskreditierte sich immer in Bezug zur dominanten Normalität 8 Zu Veränderungen dieser Rahmungen hat auch eine, u. a. durch Gesundheits- und Selbsthilfebewegung (vgl. v. Kardorff 1996) initiierte und intensivierte Entwicklung einer neuen Kommunikationskultur zwischen engagierten Fachkräften und Betroffenen(initiativen) beigetragen, wie etwa in der Sozialpsychiatrie die Praxis des Trialogs, mit dem ein neuer Wahrnehmungsrahmen für das Verständnis psychischer Krankheit und ihrer sozial ver-rückenden Folgen aus einer gemeinsam zu entwickelnden Perspektive von Ärzten, Betroffenen und Angehörigen angezielt wird (vgl. Bock/Deranders/Esterer 1998). Auch „Biogra¿sierung“ stellt eine neue, unter anderem aus der soziologischen und psychologischen Biogra¿eforschung übernommene, fachliche Strategie dar, mit der zunächst in der PÀege, aber auch in Psychiatrie, Sozialarbeit und Pädagogik Neurahmungen des Umgangs mit krisenhaften Lebensgeschichten unterstützt werden.
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positionieren müssen. Die Disability Studies setzen dagegen auf eine Politik von unten, die in einem Neu- und Gegenentwurf zur Hegemonie der wissenschaftlichen Konstrukte von Behinderung/psychischer Krankheit und zum Zwangskorsett des Normalismus (Link 1997; Waldschmidt 2005) deren individualisierende Attributionen umkehrt: nicht die beeinträchtigte Person ist behindert, sondern die behindernde materielle, soziale und symbolische Umwelt macht sie zu Behinderten. 2
Die alltägliche Erfahrung von Stigmatisierung und Diskriminierung
Einschlägige Internetforen, Erfahrungsberichte, Autobiogra¿en seelisch behinderter Menschen und Gespräche mit Betroffenen (z. B. Amsler/Baer/Domingo 2003)9 belegen, dass die Erfahrung von Vorbehalten, Misstrauen, Unaufrichtigkeit, fürsorglicher Belagerung und enteignender Bevormundung bis hin zu versteckter und ganz offener Stigmatisierung und Diskriminierung immer noch zu ihrem Alltag gehört. Dies gilt für Freizeit und Beruf und nicht zuletzt im Kontakt mit dem Versorgungssystem; davon sind auch Fachkräfte in der Psychiatrie nicht ausgenommen (Hinshaw 2008). Es ist gerade die Erfahrung des schleichenden sozialen Ausschlusses, die Festlegung auf eine Sonderrolle, das Erleben, nicht ganz ernst genommen zu werden oder lästig zu fallen, der besorgte Blick, das bedauernde Achselzucken, ausweichende Antworten oder beständige Absagen bei Bewerbungen, die zum Verlust des Selbstwertgefühls, zu Beschämung, zu sozialen Kontaktängsten, zum Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, zu Sinnverlust und Resignation, aber auch zu Verbitterung und Wut führen können. All dies kommt zum krankheitsbedingten Belastungserleben, zur eingeschränkten Leistungsfähigkeit, zu den Nebenwirkungen der Medikamente oder zu einer zeitweisen HilÀosigkeit hinzu, so dass der Sozialpsychiater Asmus Finzen (2001: 178) zu dem Schluss gelangt: „Die sozialen Folgen der Stigmatisierung müssen als zweite Krankheit verstanden werden, die Folgen der Schuldzuweisung und die unmittelbaren Stigmatisierungsfolgen für die Angehörigen gleichsam als Dritte.“
Wie stark letztere in den moralischen Diskurs über das auffällige Verhalten ihrer betroffenen Familienmitglieder einbezogen werden, haben u. a. Studien von Anger meyer und Matschinger (2004) belegt. Es geht in Internetforen und Selbst9 Vgl. etwa die Palette von Erfahrungsberichten Betroffener und ihrer Angehörigen im PsychiatrieVerlag, in der Edition Narrenschiff, im Paranus-Verlag, in der Zeitschrift „Brückenschlag“ oder in Veröffentlichungen des Bundesverbandes Psychiatrieerfahrener, von lokalen Selbsthilfeinitiativen wie dem Lichtblick in Leipzig oder der Irrenoffensive in Berlin.
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hilfegruppen immer wieder um handfeste Benachteiligung bei der Jobvermittlung und Wohnungssuche, im Kontakt mit Behörden und Banken und um verletzende Erfahrungen im Versorgungssystem. Die Menge und das Spektrum dieser Erfahrungsberichte zeigen, dass psychisch behinderte Menschen den Weg aus dem schamhaft beschwiegenen Abseits in die Öffentlichkeit gefunden haben.10 Sie zeigen aber zugleich, wie wirksam die in den Gesellschaftskörper eingewobenen Formen alltäglicher und institutioneller Diskriminierung nach wie vor sind. Die Zunahme dieser Erfahrungsberichte verdankt sich nicht allein Kommunikationsmedien wie dem Internet oder der neuen Bekenntniskultur in einer „Gesellschaft der Individuen“ (Elias 1991), in der theatralisierte Selbstdarstellung und -legitimation in bisher ungekanntem Maße möglich und zugleich sozial gefordert ist (vgl. Willems 2007). Sie sind Ergebnis der Behindertenbewegung, der Zusammenschlüsse Psychiatrieerfahrener und ihrer Angehörigen und der Initiativen engagierter Fachkräfte aus der Sozialpsychiatrie, verdanken sich schließlich auch einer gestiegenen Sensibilität in der Politik und in der Sozialpsychiatrie. Politische Diskurse um Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe, Inklusion und Integration, um Menschen- und Bürgerrechte haben ebenso wie sozialepidemiologische Befunde zur Zunahme seelischer Erkrankungen, zu den gestiegenen Arbeitsunfähigkeitstagen und zur Frühberentung aufgrund psychischer Krankheit das Thema psychische Belastungen und Krankheit auf die Agenda gesetzt.11 Inzwischen hat die Behindertenpolitik mit einem Paradigmenwechsel von patriarchaler Fürsorge zu Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe und sozialpolitisch mit einer Individualisierung von Angebotsformen, die größere Selbstbestimmung ermöglichen sollen (wie etwa persönliches Budget), mit passgerechten Hilfen (z. B. Individueller Behandlungs- und Rehabilitationsplan), mit verbesserter Koordinierung (z. B. case-management; disease-management) neue Wege eingeschlagen. Hierin liegt ein aufklärungsbedürftiger Widerspruch: Während die Sensibilität gegenüber Behinderungen und die Veröffentlichungsbereitschaft seitens Betroffener und Angehöriger gestiegen sind und Hilfsangebote erweitert und verbessert wurden, bekräftigen wissenschaftliche Studien die Erfahrungsberichte und bestätigen die Inwieweit die stärkere öffentliche Sichtbarkeit auch tatsächlich eine breitere Öffentlichkeit jenseits freiwillig sozial Engagierter, direkt und indirekt betroffener Familienangehöriger und der Betroffenen„szene“ erreicht, muss angesichts von Einstellungsuntersuchungen und Umfragen skeptisch beurteilt werden. 11 Sozialepidemiologische Studien belegen, dass es sich bei psychischen Krankheiten keineswegs um ein marginales gesellschaftliches Problem handelt: So zeigen die zwischen 1995 und 1999 erhobenen Daten des Bundesgesundheitssurveys (Jacobi/Hoyer/Wittchen 2004), dass das Lebenszeitrisiko, psychisch zu erkranken insgesamt bei 42,6 % liegt (für Frauen bei 48,9 %, für Männer bei 36,8 %). Die Prävalenzraten für seelische Beeinträchtigungen ergeben, dass 32,1 % (= 15,6 Mio.) der deutschen Bevölkerung im Alter von 18–65 Jahren subjektiv an psychischen Störungen leiden und von unterschiedlich gravierenden störungsspezi¿schen psychosozialen Einschränkungen betroffen sind. 10
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Beharrlichkeit von Vorurteilen (vgl. Stumme 1975; Faust 1981; Angermeyer/Schulze 1998) ebenso wie die Stigmatisierung und Diskriminierung von Betroffenen und ihren Angehörigen (Angermeyer 2000; Link/Phelan 2001; Rössler/Lauber 2004; Gaebel/Moeller/Roessler 2005). Dies lenkt den Blick auf die Formen der Stigmatisierung und Diskriminierung seelisch beeinträchtiger Menschen sowie auf die fortbestehenden Strukturbedingungen und die sozialen Mechanismen der gesellschaftlichen Reproduktion ihrer Diskriminierung. 3
Diskriminierung seelisch beeinträchtiger Menschen – eine exemplarische Bestandsaufnahme
3.1 Individuelles Verhalten, gesellschaftliche Stereotype, institutionelle und professionelle Praktiken – zur Dynamik der Diskriminierung psychisch kranker Menschen Die Diskriminierung psychisch kranker Menschen erwächst aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem individuellen krankheitsbedingten Verhalten und den gesellschaftlich vorgeformten Reaktionen darauf. Ersteres bildet häu¿g Anlass und die oft unausgesprochene Begründung für Diskriminierung. Zu diesem Verhalten gehören in Abhängigkeit von der Diagnose, der psychiatrischen „Karriere“, der individuellen Lebensgeschichte und der präsentierten Identität der Betroffenen unter anderem: leichte Kränkbarkeit und starke Gefühlsschwankungen, Unstetigkeit, Irritierbarkeit durch Unvorhergesehenes, verlangsamte Reaktionen sowie die Unfähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten oder Entscheidungen zu treffen. Arbeitgeber beklagen Leistungsschwankungen und eine unrealistische Selbsteinschätzung, häu¿ge Ausfalltage am Arbeitsplatz und geringe Stresstoleranz. Psychisch kranke Menschen gelten im Alltag als schwierig, die Interaktion mit ihnen als (zu) aufwändig. Diese Aufzählung verdeutlicht, dass es sich nicht um eine „ganz andere Wirklichkeit“ handelt, sondern um (starke) Ausprägungen auf einem Kontinuum. Krankheitsbedingte Verhaltensweisen wie sozialer Rückzug, Misstrauen und gesteigerte Emp¿ndlichkeit werden durch Erfahrungen von Stigmatisierung und Diskriminierung oft bekräftigt. Dies ist auch ein Grund dafür, dass psychisch Kranke im Durchschnitt kleinere soziale Netze als die Durchschnittsbevölkerung aufweisen (z. B. Klug 2005; Röhrle/Laireiter 2009) und ihr Scheidungsrisiko um das Dreifache erhöht ist. Damit verlieren sie oft wichtige soziale Unterstützungsressourcen oder können sie gar nicht erst aufbauen: Zu der erhöhten seelischen tritt eine verstärkte soziale Vulnerabilität hinzu. Eine Folge davon ist, dass viele psychisch kranke Menschen gegenüber Diskriminierung nur geringe Widerstand-
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ressourcen mobilisieren können. In einer fatalen Logik bestätigen sie durch ihr Verhalten wiederum diese Bilder im Blick der Anderen. Verfestigte und typisierte Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster psychischer Krankheit und psychisch kranker Menschen beruhen, ebenso wie die Formen des institutionellen und professionellen Umgangs mit Ver-rückten, auf überwiegend allgemein anerkannten gesellschaftlichen Konstruktionen.12 Diese historisch entstandenen und in kulturellen Mustern verankerten Konstruktionen gerinnen zu einer Macht des Faktischen, die zu strukturellen Formen der Diskriminierung und Benachteiligung beiträgt und die Teilhabechancen psychisch kranker Menschen begrenzt. Ein erster Blick in die unbefriedigende Datenlage13 zeigt, dass psychisch kranke Menschen im Vergleich mit der Normalbevölkerung ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
häu¿g niedrigere Arbeitseinkommen haben; ein doppelt so hohes Risiko aufweisen, den Arbeitsplatz zu verlieren; eine fast doppelt so hohe Erwerbslosigkeit aufweisen; ein dreimal so hohes Risiko haben, verschuldet zu sein; häu¿ger Mietrückstände haben; sich eher in prekären sozialen Lagen be¿nden oder an der Armutsgrenze leben; eine erhebliche Anzahl von Obdachlosigkeit14 betroffen ist (vgl. Eikelmann/ Reker/Richter 2006).
Diese Daten legen in der Summe eine Praxis systematischer Diskriminierung nahe. Die Lebenssituation vieler psychisch kranker Menschen mit chroni¿zierten Störungen ist durch ein Leben am Armutsrand und durch Abhängigkeit von Institutionen gekennzeichnet. Dies geht immer noch einher mit eingeschränkter gesellschaftlicher Teilhabe, Bevormundung, geringer Selbstbestimmung und eingeschränkten Wahlmöglichkeiten. Im subjektiven Erleben zeigen sich oft Beschämung und Gefühle der Erniedrigung und in der Folge sozialer Rückzug
Zu den historischen Konstruktionen des Wahnsinns und der Ver-rückten vgl. u. a.: Foucault 1969; Dörner 1975; Castell 1979; Castell/Castell/Lovell 1984; Blasius 1986 u. 1994; Herzog 1984; Wambach 1980. 13 Untersuchungen zu Diskriminierung und Benachteiligung psychisch kranker Menschen beziehen sich oft auf sehr kleine Stichproben und auf spezielle Diagnosegruppen; im Bereich der Arbeitswelt und des Arbeitsmarkts wiederum wird häu¿g die Sammelkategorie „psychisch Kranke“ verwendet, im Bereich der Rehabilitation der Begriff „seelisch Behinderte“, der sich in einigen Studien nur auf Schwerbehinderte nach SGB IX, in anderen auch auf von einer Behinderung bedrohte Menschen bezieht. Schließlich gibt es eine große Dunkelziffer psychisch kranker Menschen, die im Behandlungssystem gar nicht auftauchen (Bock 1998), sei es als Folge von Diskriminierung, sei es aus Angst vor Diskriminierung. 14 Unter den ca. 550.000 Personen, die in instabilen und ungesicherten Wohnverhältnissen leben und den 24.000 auf der Straße lebenden Menschen (BAG 2002) sind zwischen 15,5 und 45,1 % psychisch krank (Rössler 1994; Nouvertné 1996). 12
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oder Suche nach Schutz und Selbstbestätigung in der Psychiatrieszene, allerdings häu¿g um den Preis einer Selbstisolation. Gerade weil das Benachteiligungsverbot („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“), das Bundesgleichstellungsgesetz (BGG), die entsprechenden Landesgesetze, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und die UN-Behindertenrechts-Konvention zusammen mit der Angst vor negativer sozialer Sanktion gegenüber offenen Formen der Diskriminierung eine hohe Hürde errichten, ist eine konkrete Diskriminierung im Einzelnen nur schwer nachzuweisen, etwa bei Arbeitsgerichtsprozessen zur Benachteiligung bei Einstellungsverfahren oder im Zivilrecht bei Klagen gegen Vermieter oder gegen Banken, etwa bei verweigerter Kreditgewährung. Bis auf derartige offensichtliche Fälle – wobei eine gewisse Dunkelziffer nicht angezeigter Diskriminierung vermutet werden kann – lässt sich Diskriminierung aus der Perspektive der Erfahrungen Betroffener rekonstruieren (vgl. Punkt 2) und aus Daten über die soziale Situation psychisch kranker Menschen erschließen, wie dies im Folgendem an den Bereichen Arbeitswelt und Versorgungssystem exemplarisch geschehen soll. 3.2 Diskriminierung in der Arbeitswelt und auf dem Arbeitsmarkt Veränderungen der Arbeitswelt wie betriebliche Rationalisierung, Arbeitsverdichtung, gestiegene Anforderungen und neue Schlüsselquali¿kationen bewirken einen zunehmenden Ausschluss leistungsgeminderter Personen von dauerhafter Beschäftigung. Dies betrifft zuerst Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen, mit Lernbehinderungen, körperlichen Krankheiten und in besonderer Weise psychisch kranke Menschen und in allen diesen Gruppen überproportional häu¿g Frauen. Die Daten zur Zunahme psychischer Störungen verweisen darauf, dass über diese Risikogruppen hinausgehend immer mehr Menschen von dieser Entwicklung bedroht sind. Dabei handelt es sich besonders um die in der Arbeitswelt selbst neu auftretenden wie um die durch Erwerbslosigkeit mitbedingten psychischen Störungen.15 Beide sind mit Gefahren struktureller Diskriminierung verbunden: in der betrieblichen Praxis z. B. durch Mobbing, in der Erwerbslosigkeit z. B. durch den Verlust von Anerkennung, Strukturierung, Sinnhaftigkeit und Kompetenzerleben (vgl. v. Kardorff/Ohlbrecht 2008). All dies trifft psychisch vulnerable Personen zuerst und in besonderer Weise. Insgesamt lässt sich die Diskriminierung psychisch kranker Menschen in der Arbeitswelt an den ihnen entgegengebrachten Vorurteilen, an der Frühberentung,
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Zu einem ersten Überblick über einige zentrale einschlägige Forschungsergebnisse vgl. v. Kardorff 2008.
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an der Erwerbsbeteilung, an der Erwerbslosigkeit sowie an De¿ziten im System der beruÀichen Rehabilitation ablesen. Vorurteile Patienten, Angehörige und Fachkräfte sehen die Stigmatisierung psychisch Kranker und psychischer Krankheit als eine entscheidende Barriere für den Zugang zum Arbeitsmarkt (Angermeyer/Schulze 2002): 30 % einer repräsentativ befragten Bevölkerungsstichprobe würden die Zusammenarbeit mit einer schizophrenen Person ablehnen (Angermeyer/Matschinger 1997) und 50 % einer Stichprobe befragter Arbeitgeber in der USA würden niemanden mit einer schweren psychischen Erkrankung beschäftigen (Manning/White 1995). Das Wissen um und die Erfahrung mit Vorurteilen im Alltag und im Berufsleben führt dazu, dass viele psychisch kranke Menschen aus Angst vor Diskriminierung oder Arbeitsplatzverlust ihre Krankheit gegenüber dem Arbeitgeber und den Arbeitskollegen verheimlichen. Aus denselben Gründen verzichten viele auf einen Schwerbehindertenausweis und bleiben damit von den besonderen Leistungen des SGB IX, Teil 2 ausgeschlossen.16 Frühberentung Seit 1985 hat sich der Anteil psychischer Krankheiten/Störungen an den Frühberentungen fast verdreifacht (Vetter/Redmann 2005). Psychische Krankheiten sind mittlerweile zu einer der häu¿gsten Ursachen von Erwerbsunfähigkeit geworden. In der Gruppe der unter 40-jährigen Männer machte im Jahr 2002 der Anteil der psychisch Erkrankten 46,2 % (1993: 32,3 %) aller Frühberentungen aus. In der gleichen Altersgruppe der Frauen sind es 45,2 % (1993: 30,5 %) (vgl. Eikelmann u. a. 2005). Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen zeigen zudem die prozentual höchste Zuwachsrate an allen Erkrankungen. Im Jahre 2003 standen psychische Erkrankungen bei Männern mit 24,5 % und bei Frauen mit 35,5 % bereits an erster Stelle der Gründe für vorzeitigen Rentenzugang. Bei den psychischen Erkrankungen ist hier im Zeitraum von 20 Jahren zwischen 1983 und 2003 eine Zunahme um 16,5 % (von 8 % auf 24,5 %) bei den Männern und um über 25 % bei den Frauen (von unter 10 % bis 35,5 %) festzustellen17. Insgesamt liegt der Anteil der psychisch kranken Menschen an allen Beziehern von Erwerbsunfähigkeitrenten bei fast 14 %. Frühberentung ist nicht zwangsläu¿g ein Ausdruck von Diskriminierung. Vor allem für ältere Arbeitnehmer/innen kann eine Frühberentung durchaus eine Hier wird das generelle Paradoxon der Entstigmatisierung in der Behindertenpolitik insgesamt sichtbar: die Gewährung von besonderen Leistungen ist an die Annahme der Klassi¿zierung (= Diskriminierung) gebunden, die den Status als (schwer)behindert sozial sichtbar macht. 17 Dieser Anstieg erweist sich auch gegenüber den wechselnden Konjunkturen der Frühberentungspolitik stabil. 16
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rationale Alternative zu Rehabilitationsmaßnahmen ohne wirkliche Eingliederungsperspektive darstellen und eine subjektive Entlastung bedeuten. Vielfach wird das Instrument der Frühberentung aber auch bei jüngeren psychisch erkrankten Arbeitnehmern/innen eingesetzt, um aufwändige Rehabilitationsmaßnahmen zu umgehen, oder sie wird ihnen vom Arbeitgeber nahe gelegt. Immer wieder ziehen die Betroffenen eine Frühberentung von sich aus den Rehabilitationsmaßnahmen vor, wenn sie schon mehrere Maßnahmen erfolglos durchlaufen haben – eine praktische Kritik an endlosen Rehabilitationsschleifen. Psychisch Kranke auf dem Arbeitsmarkt Trotz schwieriger Datenlage kommen Studien aus Deutschland (Hoffmann 2004) und England (Of¿ce of the Deputy Prime Minister 2004) zu ähnlichen Ergebnissen: Erwachsene mit chronischen Verläufen psychischer Krankheiten sind nur in geringem Umfang voll erwerbstätig. Für Deutschland geht Hoffmann (2004) von folgenden Zahlen aus: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
43 % sind aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, davon sind ca. 16,5 % Langzeiterwerbslose (ALG II-Empfänger), ca. 12,5 % erhalten Sozialhilfe bzw. Sozialgeld, ca. 14 % beziehen Erwerbsunfähigkeitsrente; nur ca. 5,6 % der psychisch Kranken sind vollbeschäftigt; ca. 6,5 % sind teilzeitbeschäftigt; ca. 20 % haben einen geschützten Arbeitsplatz; ca. 5 % be¿nden sich in Maßnahmen der BeruÀichen Rehabilitation.
Diese Ergebnisse zeigen, welchen Risiken psychisch Kranke in der vorrangig an Ef¿zienz, Leistung und Perfektion orientierten modernen Arbeitsgesellschaft ausgesetzt sind. Zusammen mit den Daten zu den AU-Tagen und zur Frühberentung aufgrund psychischer Krankheiten verweist dies auf iatrogene Arbeitsverhältnisse, auf bislang erst in der Entwicklung be¿ndliche Präventionsstrategien wie das beruÀiche Eingliederungsmanagement und auf die geringe Toleranz der Arbeitswelt gegenüber psychischen Belastungen. Erwerbslosigkeit Die Arbeitslosenforschung hat von ihren Anfängen bei Jahoda et al. (1932/1975) bis heute (z. B. Hollederer/Brand 2006) immer wieder gezeigt, in welcher Weise lang anhaltende Erwerbslosigkeit das seelische Gleichgewicht und die Stabilität der alltäglichen Lebensführung beeinträchtigen und zur Entwicklung psychischer Auffälligkeiten wie Apathie und Depression, zu einer allgemeinen Verschlechterung des Gesundheitszustandes (vgl. Rehfeld 2006) und zu Gefährdungen des Familienzusammenhalts führen kann. Auf der Ebene gesellschaftlicher Integration
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kann sie zu einer „müden Gemeinschaft“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975)18, zur Verringerung von Bildungschancen der Kinder Betroffener sowie zur Generationen übergreifenden Verfestigung von Armutslagen (Deutscher Bundestag 2005; Richter/Hurrelmann 2006) und einer sozialen Tradierung besonderer psychischer Vulnerabilität (Schoon/Sacker/Bartley 2003) führen. Nicht alle Menschen reagieren auf Erwerbslosigkeit in gleicher Weise; in Abhängigkeit von biogra¿schen Erfahrungen, sozialer Einbindung und individueller Vulnerabilität erleben aber viele starke Verunsicherung und den Verlust eines positiven Selbstwertgefühls. Sie ziehen sich zurück, verlieren schrittweise die Einbindung in die stützenden und informationshaltigen sozialen Netze. Sie sind parallel mit sozialer Ausgrenzung im Alltag und einer politisch begünstigten Stigmatisierung19 konfrontiert, die das Selbsterleben zusätzlich beeinträchtigt, Passivität begünstigt und Abstiegskarrieren befördert. Für Personen, die länger als ein Jahr erwerbslos sind, verschlechtern sich die Chancen des beruÀichen Wiedereinstiegs dramatisch; das gilt besonders für Ältere, bei geringer beruÀicher Quali¿kation oder chronischer Krankheit und Behinderung der Arbeitssuchenden (vgl. Fünfter Bericht der Bundesregierung zur Lage Behinderter 2006; Niehaus/Montada 1997). Untersuchungen für einzelne Diagnosegruppen psychisch kranker Menschen bestätigen und differenzieren dies: fehlende Teilhabe am Arbeitsleben geht mit einer Zunahme psychischer Erkrankungen Betroffener einher (vgl. Kahn/Langlieb 2003), länger andauernde Erwerbslosigkeit kann zu sozialen Ausschluss führen (Boardman u. a. 2003) und ist mit erhöhtem Selbstmordrisiko verbunden (Brenner 1973). Warner (2004) zeigt, dass Krankheitsverläufe bei Schizophrenen mit dem Grad der Arbeitslosigkeit variieren. BeruÀiche Rehabilitation Trotz eines anspruchsvoll ausgestalteten und vielgestaltigen Systems der beruflichen Rehabilitation (vgl. Bieker 2005) und speziell der differenzierten Angebote für psychisch kranke Menschen (vgl. v. Kardorff/Ohlbrecht 2008; Weber 2007; Mecklenburg/Storck 2008), trotz neuer Instrumente und innovativer Modelle sind die Ergebnisse der beruÀichen Wiedereingliederung überwiegend ernüchternd. Viele psychisch kranke Menschen be¿nden sich in prekären Arbeitsverhältnissen, auf dem zweiten Arbeitsmarkt und in geschützter Arbeit; so ist die Werkstatt 18 Die Symptome einer „müden Gemeinschaft“ ¿ nden sich oft in den ambulanten Ghettos der Tagesstättenkultur. 19 Der moderne sozialpolitische Selbstverantwortungsdiskurs schreibt Erwerbslosigkeit dem individuellen Versagen zu, eine Deutung, die auch im Alltag verbreitet ist und schließlich auch von den Betroffenen selbst übernommen wird. Psychisch Kranke be¿ nden sich hier in einem besonderen Dilemma: ihre Erwerbslosigkeit wird entweder ihrer Krankheit zugeschrieben – obwohl es keinen zwangsläu¿gen Zusammenhang zwischen der Diagnose und der tatsächlichen Leistungsfähigkeit gibt – oder als individuelles Versagen moralisiert, in jedem Fall ¿ndet ein Prozess des „blaming the victim“ (Ryan 1976) statt.
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für Menschen mit Behinderung (WfBM) immer noch und wieder verstärkt die dominante Versorgungsform für schwerbehinderte psychisch kranke Menschen (Hautop/Scheibner 2003). Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage nach den Zielen und der Richtung der aufwändigen beruÀichen Rehabilitation, die nur selten auf den ersten Arbeitsmarkt führt und schließlich – nach langen Maßnahmekarrieren, die oft nur Warteschleifen sind – vielfach auf Sonderarbeitsmärkten endet.20 Mit Blick auf das im SGB IX formulierte Recht auf soziale Teilhabe ist weiter zu fragen, inwieweit bzw. für wen und/oder unter welchen Bedingungen die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt und damit in das traditionelle Muster der Erwerbsarbeit bei der geringen und wenig stabilen (Wieder-)Eingliederungsquote als vorrangige Rehabilitationsstrategie überhaupt sinnvoll ist. Angesichts der unterschiedlichen individuellen Ausprägungen, Verlaufsformen, Arten und Auswirkungen psychischer Beeinträchtigungen sowie angesichts unterschiedlicher Karrieren und Lebensperspektiven der Betroffenen ist eine Fixierung auf den ersten Arbeitsmarkt als Rehabilitationsziel kontraproduktiv. Vielmehr geht es auch um die Suche nach angemessen entlohnten Alternativen jenseits des Systems der Erwerbsarbeit. Hier bietet sich die vieldiskutierte „Tätigkeitsgesellschaft“ an: Erwerbsarbeit und ökonomischer Nutzen sind dabei nicht länger alleinige Erfolgskriterien gelungener (Wieder-)Eingliederung und Maßstab für die gesellschaftliche Wertschätzung eines Menschen. Die öffentlichen, politischen und fachlichen Diskurse beginnen, die mentalitätsgeschichtliche Verankerung des Begriffs der (Erwerbs)Arbeit im modernen Kapitalismus und die Bewertung des Menschen nach Kriterien seines rein ökonomischen Nutzens zu reÀektieren – als eine anthropologisch verkürzte und historisch verhängnisvolle Reduzierung der menschlichen Existenz. In der von Klaus Dörner formulierten Aussage „Jeder Mensch will notwendig sein“ (1994) artikuliert sich ein darüber hinausgehendes Motiv: das Gleichgewicht von Geben und Nehmen in der Gesellschaft, also die Reziprozitätsnorm (vgl. Stegbauer 2002), vor dem Hintergrund einer Ethik des Anderen (Lévinas 1989) zu erfüllen. Dies setzt eine Kultur der Anerkennung (Honneth 2003) voraus, die den Menschen nicht nach seiner Leistungsfähigkeit allein beurteilt.
20 Diese Maßnahmekarrieren sind für viele Teilnehmer/-innen nicht nur mit Frustration und Gefühlen des Versagens verbunden, sondern begünstigen Passivität und führen in ein resignatives Sich-Einrichten auf niedrigem Niveau, zu Schonhaltungen und auch zu administrativ erzeugter erlernter HilÀosigkeit und in der Folge oft zu einer Anspruchshaltung an die Leistungsanbieter. Kruse (1998: 108) fragt angesichts dieser Situation: „Muten wir also unseren mühselig Rehabilitierten nicht eine erneute Niederlage und ein wiederholtes Scheitern zu, nachdem die Psychose ihnen schon das Standbein im einfachen Leben weggeschlagen hat?“
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3.3 Diskriminierung innerhalb des Behandlungs- und Versorgungssystems In den Funktionsbestimmungen des Behandlungs- und Versorgungssystems liegen Gefahren für strukturbedingte Diskriminierungen: ƒ ƒ
ƒ
bei der sozialen Kontrolle psychisch abweichenden Verhaltens in der Verletzung von Menschenwürde und Integrität der Person: bei Behandlung und Korrektur auffälligen Verhaltens im Übergehen des Selbstbestimmungsrechts und der Expertise Betroffener in eigener Sache durch ein zu starres Festhalten an verengten wissenschaftlichen Konzepten und an Routinen der Behandlungsregimes; bei den Angeboten zur Unterstützung und Begleitung in ungleichen Zugangsbedingungen und in Unter-, Über oder Fehlversorgung für einzelne Diagnosegruppen.
Diskriminierung im Kontakt mit Fachkräften und mit dem psychiatrischen Hilfesystem Für viele psychisch kranke Menschen ist der erste Kontakt mit der Psychiatrie traumatisch, etwa bei einer unfreiwilligen Einweisung nach den Gesetzen der Bundesländer zur Unterbringung psychisch Kranker. Die Statuspassage von einem bislang Gesunden in den eines psychiatrischen Patienten mit eingeschränktem Selbstbestimmungsrecht und zeitweise suspendierten Bürgerrechten, seine fürsorgliche Entmündigung und seine Eingliederung in das institutionelle psychiatrische Behandlungsregime – von Erving Goffman in Asyle (1972) als strukturelles Moment einer erzwungenen Identitätstransformation beschrieben – bleibt für Betroffene eine existenzielle Krisenerfahrung, auch wenn sie im Nachhinein als Hilfe oder Schutz anerkannt werden kann. Negative Erfahrungen sind dabei nicht auf die Akutpsychiatrie oder auf Heime beschränkt. So sind viele Hausärzte mit den Problemen betroffener Menschen überfordert; dies betrifft sowohl die Erkennung psychischer Störungen als auch Beratung und Behandlung21 Auch die Mitarbeiter der Jobcenter und Arbeitsagenturen sind in der Regel nicht auf Menschen mit seelischen Behinderungen eingestellt, was zu Fehleinschätzungen bei der Arbeitsvermittlung, zu Abwehrhaltungen gegenüber den Rechtsansprüchen psychisch behinderter Menschen führt, viele Hilfemöglichkeiten ungenutzt lässt und zu einer Verschiebung des „Problemklientels“ in WfBMs oder in die Erwerbsunfähigkeitsrente beiträgt. Der häu¿ge Kontakt von Fachkräften mit psychisch kranken Personen führt nicht von alleine zu mehr Verständnis, größerer Akzeptanz oder zum Abbau von Vorurteilen (z. B.
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Zudem sind regional oft zu wenige oder keine Fachärzte für Psychiatrie/Neurologie vorhanden.
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Ross/Goldner 2009). Mit Blick auf die sogenannte Kontakthypothese (Cloerkes 2007) kann nur die freiwillige Kontaktaufnahme und d. h. auch die Bereitschaft zur direkten Auseinandersetzung zum Abbau von Vorurteilen führen und Scheinakzeptanz verhindern. Für Fachkräfte ist dies nur durch beständige ReÀexion und Supervision zu erreichen, nicht zuletzt, weil sie die Betroffenen oft nur in Krisen erleben und diese ihnen wiederum mit Vorbehalten, oft angstbedingter Aggressivität oder mit einer überzogenen Anspruchshaltung begegnen. Konzeptionelle Bedingungen der Diskriminierung im Versorgungssystem Seit den Arbeiten Michel Foucaults (insbesondere 1969; ders: 1971) sind administrative und disziplinäre Wissenssysteme in ihrer Bedeutung für die soziale Konstituierung ihres Gegenstandes und die diskursiven Praktiken ihrer gesellschaftlichen Behandlung bekannt. Der objektivierende klinische Blick der Psychiatrie – in Deutschland mit Wilhelm Griesingers Diktum, dass man in psychischen Krankheiten „[…] jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen“ (1854: 1)22 habe – und ihre, durch die neuen Erkenntnisse der Genetik und der Hirnforschung noch verstärkte somatische Orientierung führen in der klinischen Psychiatrie zu einer systematischen Ausblendung der erlebnisprägenden, sinnkonstituierenden und handlungsleitenden subjektiven Sicht der Betroffenen und ihrer Expertise in eigener Sache (Richter 2003). Die Sozialpsychiatrie und die klinische Psychologie haben demgegenüber Auswirkungen sozialer Veränderungen, den EinÀuss der Lebenslage auf Genesung, die Bedeutung der Lebensgeschichte und der familiären Tradierungen, die Rolle von Widerstandsressourcen und Resilienz mittlerweile zu einem zentralen Thema sowohl in der Forschung als auch in der Behandlung gemacht (vgl. Dörner/Plog/Teller/Wendt 2004; Mosher/Burti 2004). Verkürzt und überspitzt ließe sich sagen, dass die biologische, die psychologische und die soziale Dimension psychischer Krankheit – in Lehrbüchern zwar immer wieder als Einheit beschworen – in der Versorgungsrealität an unterschiedlichen Orten „verwaltet“ werden. Hier besteht die Herausforderung einer integrierten Sichtweise und der Perspektivenerweiterung, die zu einer vollständigeren Wahrnehmung des Phänomens und zu einer Identi¿kation von Diskriminierung(sgefahren) in der gesamten Versorgungskette beitragen kann. Das zusammen mit Betroffenen entwickelte und inzwischen in vielen Regionen erfolgreich praktizierte Konzept des Trialogs und der Psychoseseminare (Bock/Deranders/Esterer 1998; Bock u. a. 2004), das jeder Perspektive ein Eigenrecht zugesteht, hat nicht nur den Patienten eine eigene Stimme im Dreieck zwischen Psychiatrie und Angehörigen verliehen, sondern Mit dieser Hypothese über den Ort psychischer Störungen hat Griesinger zugleich die Idee vertreten, psychisch Kranke wie körperlich Kranke zu behandeln, sie also gleichzustellen, Zwangsmaßnahmen abzuschaffen und die wohnortferne Unterbringung aufzugeben; mit der damit zugleich gesetzten Hegemonie der Medizin entstehen wiederum neue Probleme. 22
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zeigt auch den Patienten die jeweils andere Seite. Damit kann Diskriminierung exemplarisch zur Sprache gebracht und der Weg für die Umsetzung einer gemeinsamen Entscheidungs¿ndung in der Arzt-Patienten-Interaktion geebnet werden. Diskriminierung in den Versorgungseinrichtungen Trotz vieler organisatorischer Reformen und einer stärkeren Berücksichtigung der Sichtweisen und Bedürfnisse der Patienten bleiben psychiatrische Kliniken und vor allem Heime im Sinne Goffmans totale Institutionen (vgl. Goffman 1972), die ihren Insassen nur begrenzte Möglichkeiten der Entwicklung bieten, Selbstbestimmung begrenzen, gesellschaftliche Teilhabe nur ansatzweise realisieren können und als Sondereinrichtungen zwar Schutz und Therapie gewähren, aber Integration verhindern. Mit Blick auf die dort untergebrachten Menschen verbinden sich mit der Verheimung Phänomene wie erlernte HilÀosigkeit, Entwicklung von Passivität, Bequemlichkeit und Anspruchshaltungen, ein Verlust von erzählbarer und selbstgestalteter Lebensgeschichte und eine Entfernung aus der Alltagswelt der „Normalen“ mit der Konsequenz einer mit zunehmendem stationären Aufenthalt wachsenden Diskriminierung. Der mit der Enthospitalisierung begonnene Aufbruch der Heime (vgl. Dörner 1991 und 1998) stellt einen Weg zur Rückgewinnung vertrauter ortsbezogener Heimat dar, setzt aber die Entwicklung gemeindenaher Strukturen voraus, deren konzeptionelle Orientierung primär zivilgesellschaftlich geprägt und erst sekundär von (sozial-)psychiatrischen und versorgungssystematischen Überlegungen geleitet sein sollte. Strukturelle Benachteiligungen im Versorgungssystem Das System der psychiatrischen Hilfen ist seit der Psychiatriereform, einer Reihe von Modellprogrammen und der nachholenden Modernisierung in den Neuen Bundesländern nach der Wende in entscheidenden Punkten ausgebaut worden, auch wenn es noch immer Koordinations- und Schnittstellenprobleme gibt und in einzelnen Bereichen gravierende De¿zite zu verzeichnen sind (vgl. Aktion Psychisch Kranke 2001; Eikelmann/Reker/Richter 2005; v. Kardorff 2007; Gesundheitsministerkonferenz 2007). Wittchen und Jacobi (2002) sprechen von einer deutlichen Unterversorgung des als dringend behandlungsbedürftig eingeschätzten Anteils psychisch kranker Menschen in der Prävalenzgruppe der 18–65jährigen (= ca. 7,9 Mio. Menschen) im Verhältnis zu den tatsächlich behandelten Personen. Schlüsselt man die Hauptindikationsgruppen auf, zeigen sich weitere Ungleichgewichte: ausgedrückt in Behandlungsquoten gibt es eine relativ gute Versorgung für Panikstörungen (ca. 73,9 %), Zwangsstörungen (ca. 66 %), Medikamentenabusus (57,9 %) und für psychotische Störungen (56 %). Eine deutliche Unterversorgung – ausgedrückt in Nicht-Behandlungsquoten – ¿ndet sich bei Alkoholismus (71 %), Drogenabhängigkeit (73 %), spezi¿schen Phobien (54 %) und anderen Angststörungen (70,3 %),
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bei Essstörungen (63 %) und bei somatoformen psychischen Störungen (60 %). Neben örtlichen Versorgungsde¿ziten tauchen viele chronisch psychisch Kranke wegen der befürchteten sozialen Diskriminierung unter und bleiben unbehandelt (Bock 1997; Wittchen u. a. 2003), bei vielen anderen zeigen sich De¿zite in der hausärztlichen Versorgung, in der manche psychischen Störungen in ihrer Tragweite unerkannt bleiben, andere Betroffene können die Zuschreibung als psychisch krank für sich nicht akzeptieren. Für Patienten mit chroni¿zierten Psychosen hingegen lässt sich – unter Berücksichtigung des Stadt-Land-Gefälles (vgl. Nette 2002) – von einer sehr guten, teilweise von einer Überversorgung sprechen, die erlernte HilÀosigkeit, das Zirkulieren in endlosen Maßnahmeschleifen und die (Selbst-)Ausschließung in ambulanten Ghettos begünstigt. Hinzu kommen große Ungleichgewichte zwischen alten und neuen Bundesländern und Ungleichgewichte in bedarfsgerechten Angeboten für einzelne Gruppen: z. B. Angebote für Kinder psychisch kranker Eltern (Lenz 2005), Angebote für psychisch kranke Jugendliche, betriebsnahe Eingliederungshilfen, ambulante Hilfen für verwirrte alte Menschen, sowie Rund-um-die-Uhr besetzte Krisendienste mit angeschlossenen Krisenbetten unterhalb der Schwelle stationärer akutpsychiatrischer Behandlung (vgl. Gesundheitsministerkonferenz 2007). Ein immer noch weitgehend ungelöstes Problem stellt der Umgang mit psychisch kranken Straftätern dar; die politischen Diskussionen um eine Ausweitung der Sicherungsverwahrung tragen zu einer weiteren Verschärfung bei, weil das Ziel der Wiedereingliederung aufgrund sicherheitspolitischer Erwägungen auf der Strecke bleibt und in der Spezialprävention die Unterstellung der Unheilbarkeit fortbesteht. Ein weiteres, immer wieder diskutiertes Problem stellt die Versorgung psychisch kranker Menschen mit Migrationshintergund dar: Hier fehlen sowohl Fachkräfte mit Hintergrundwissen für die kulturspezi¿schen Deutungen psychischer Probleme als auch zugehende Angebote, vor allem aber entsprechende Fortbildungen für niedergelassene Allgemein- und Fachärzte. Zudem ist zu wenig über das spezielle Hilfesuchverhalten der jeweils in Frage stehenden Gruppen bekannt. Darüber hinaus verweist die Gesundheitministerkonferenz der Länder (2007: 16 ff.) nachdrücklich auf die mangelnde Geschlechtersensibilität innerhalb der psychiatrischen Versorgungspraxis. In der psychiatrischen Versorgung gibt es nach wie vor Diskriminierung und Benachteiligung; in den vergangenen 30 Jahren hat sie dennoch einen hohen und differenzierten Stand mit vielfältigen Hilfen und innovativen Modellen erreicht (vgl. Gesundheitsministerkonferenz der Länder 2007). Der neue Maßstab von Teilhabeorientierung und Selbstbestimmung sowie eine präzisere Evaluation von Maßnahmen und Eingliederungserfolgen lassen Lücken, Reibungsverluste, mangelnde Koordination und Kooperation, vor allem aber auch grundsätzliche konzeptionelle De¿zite stärker hervortreten. Dies gilt besonders für die neuen Herausforderungen der Gerontopsychiatrie und die Zunahme von psychischen
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Erkrankungen in der Arbeitswelt oder die Zunahme von Angsterkrankungen und Depressionen. Nachdem die Psychiatrieplanung nach dem Bericht der Expertenkommission zum Modellprogramm Psychiatrie von 1988 von einer angebotsorientierten Planung zu einer nachfrageorientierten und bedarfsgerechten Planung übergegangen ist, ist als nächste Stufe ein Übergang in eine zivilgesellschaftliche Inklusionsstrategie mit noch weiter Àexibilisierten Hilfen anzustreben. 5
Auswege aus der Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen – Perspektiven
Menschen, die an sich und der Umwelt seelisch leiden, bleiben eine Herausforderung: für Angehörige und das nahe Umfeld Betroffener durch die zeitweilige Fremdheit ihrer Verhaltensweisen oder das Fremdgewordensein ihrer Person sowie die Beschwerlichkeiten in der Kommunikation, die nicht aufgehoben, sondern nur anerkannt werden können. Im alltäglichen Umgang bleibt es eine Gratwanderung, unübersehbare Auffälligkeiten zunächst nach der für alle Interaktionssituationen geltenden Irrelevanzregel (Gar¿nkel 1963) zu behandeln und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, und sie zugleich als besondere, nicht-alltägliche wahrzunehmen, ohne die Person, die Auffälligkeiten gezeigt hat, zu diskriminieren. Die Erfahrungen von Angehörigen, Betroffenen und erfahrenen Fachkräften können in Fallgeschichten und in der Juxtaposition unterschiedlicher Sichtweisen – wie in der Praxis des Trialogs in den Psychoseseminaren – zu einem verbesserten wechselseitigen Verständnis im Sinne einer Perspektivenerweiterung beitragen und als Modelle für die Gelingensbedingungen nicht diskriminierender Kommunikation gelten. Die regionale Verankerung derartiger Initiativen kann besonders im Kontext mit Selbsthilfegruppen und Initiativen vor Ort eine über die Betroffenen und die Expertenkultur hinausgehende Ausstrahlungswirkung auf die lokale Gemeinschaft (Kirchengemeinden, Bürgergruppen, etc.) haben und selbst zum Bestandteil einer bürgergesellschaftlichen Zugehörigkeitskultur werden. Versuche einer generellen Veränderung von negativen Einstellungen und Vorurteilen erweisen sich als weitaus schwieriger, weil sie in Sozialisationsprozessen eher beiläu¿g, aber deshalb nicht weniger wirksam verankert und in kulturelle Systeme sozialer Repräsentationen eingelassen sind, die sich einer nur kognitiv wissensbasierten Aufklärung weitgehend entziehen. Im Unterschied zu derartigen generellen Kampagnen zur Einstellungsänderung, die schon im Bereich Behinderung nur wenig bewirkt haben (vgl. Cloerkes 2007), plädiert Finzen (2001) für eine Strategie konkreter Hilfen zur Stigmabewältigung und zum Empowerment. Beide Vorgehensweisen müssen sich jedoch nicht ausschließen und können sich ergänzen. Dennoch besitzt die Kritik von Bock (2004) an der Open-the-Doors Initiative der World Psychiatric Association (1999)
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inhaltliches und politisches Gewicht: Er sieht in diesen Kampagnen einen Versuch, eher die Akzeptanz der Psychiatrie als die der psychisch Kranken zu fördern, mit ihrer starken kognitiven Orientierung die emotionalen Belastungen Betroffener und ihrer Angehörigen auszublenden, Psychosen nur als Krankheit zu betrachten (wie ausdrücklich in der Changing Minds Kampagne in Großbritannien; vgl. Crisp 2005) und nicht auch als existenzielle Erfahrungen ernst zu nehmen sowie – last but not least – das Erfahrungspotential der Psychoseerfahrenen nicht zu nutzen, und sie von der Teilnahme auszuschließen. Gleichwohl können derartige Initiativen aber den Anstoß für eine neue gesellschaftliche Debatte über den sozialen Umgang mit weniger leistungsfähigen, merkwürdigen und ver-rückten Menschen bilden. Während eine Inklusion psychisch kranker Menschen in die Systeme der sozialen Sicherung vollständig und in die Leistungsangebote zumindest teilweise verwirklicht erscheint, steht eine Inklusion im Sinne einer Anerkennung von Diversität erst am Anfang. Soziale Integration im alltäglichen Miteinander mit stark auffälligen und beeinträchtigten Menschen ist noch der Ausnahmefall. Neben den in der Sozialpsychiatrie, teilweise mit Betroffenenorganisationen und der Selbsthilfe gemeinsam entwickelten Modellen in so verschiedenen Bereichen wie psychiatrische PÀege, Wohngemeinschaften für verwirrte alte Menschen, Enthospitalisierung, Trialog und Psychoseseminaren oder Modellen der beruÀichen Rehabilitation wie Arbeitsassistenz, unterstützte Beschäftigung, Integrationsbetriebe usw. setzen Inklusion und Integration die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung (Honneth 2003) und des Respekts (Sennett 2003) voraus. Literatur Aktion Psychisch Kranke (Hrsg.) (2001): 25 Jahre Psychiatrie-Enquête. Bonn. 2 Bände Albrecht, Gary L./Seelman, Katherine, D. D./Bury, Michael (2001): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks. Sage Amsler, Felix/Baer, Niklas/Domingo, Anna (2003): Diskriminiert. Gespräche mit psychisch kranken Menschen und ihren Angehörigen zur Qualität des Lebens. Bonn Angermeyer, Matthias C. (Hrsg.) (2000): Das Bild von der Psychiatrie in der Bevölkerung. Ergebnisse einer Repräsentativerhebung in den neuen Bundesländern. In: Psychiatrische Praxis 27, S. 327–329 Angermeyer, Matthias C./Schulze, Beate (1998): Psychisch Kranke – eine Gefahr? In: Psychiatrische Praxis 25, S.215–220 Angermeyer, Matthias C./Schulze, Beate (2002): Interventionen zur Reduzierung des Stigmas der Schizophrenie: Konzeptuelle Überlegungen. In: Neuropsychiatrie 16 (1 + 2), S. 39–45 Angermeyer, Matthias C./Matschinger, Herbert (1997): Social distance towards the mentally ill. Results of representative surveys in the Federal Republic of Germany. In: Psychological Medicine, 27, p. 131–141
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Zur Diskriminierung psychisch kranker Menschen
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Behinderung als Fall von Diskriminierung – Diskriminierung als Fall von Behinderung Jan Weisser
Wenn heute jemand auf dem Hintergrund der Menschenrechtsentwicklung seit 1945 etwas als „Diskriminierung“ bezeichnet, so meint er oder sie einen symbolischen und/oder materiellen Vorgang respektive einen Akt der Benachteiligung. Diskriminierung geht im heutigen Verständnis über seine etymologische Bedeutung von lat. discriminare = unterscheiden hinaus und impliziert nicht nur eine ungleiche, sondern auch eine herabsetzende Behandlung. Sozialwissenschaftliche Modellierungsformen von Diskriminierung basierend auf unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen, juristische Praxen in national unterschiedlichen Rechtssystemen und alltägliche Auseinandersetzungen um Diskriminierungen und Diskriminierungsvorwürfe zeugen mittlerweile von einer beträchtlichen Bandbreite und Summe an Auseinandersetzungen um diesen, wie auch immer näher gefassten, sozialen Tatbestand. Alleine die Existenz dieses gesellschaftlichen Wissens scheint der Aussage Frantz Fanons Auftrieb zu geben, wenn er – 1952 in Frankreich – schreibt: „Ein für allemal stellen wir folgendes Prinzip auf: eine Gesellschaft ist entweder rassistisch oder nicht“ (Fanon 1980: 57). Mit dieser Feststellung ging es Fanon keineswegs um die Privilegierung einer spezi¿schen Form von Diskriminierung – es ging ihm also nicht „nur“ um rassistische Diskriminierung. In Schwarze Haut, weiße Masken analysiert Fanon vielmehr unterschiedliche Formen von Herrschafts- und Gewaltverhältnissen in der Weltgesellschaft des 20. Jahrhunderts, die heute in der Intersektionalitätsforschung als Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen untersucht werden (Winker/Degele 2009: 38). Diesen Formen gab Fanon den Namen Rassismus und meinte damit die Struktur einer Erfahrung, die (1) einen (mitunter stummen) Angriff respektive eine Entwertung beinhaltet, in der (2) ein oder mehrere Unterscheidungsmerkmale verwendet werden, die (3) mit der Konsequenz verbunden sind, dass die soziale Welt über (Nicht-)Zugehörigkeiten strukturiert und durch die (4) der ungleiche Zugang zu materiellen und immateriellen Gütern der Gesellschaft legitimiert wird. Wenn nachfolgend von Diskriminierung gesprochen wird, so ist dieser Komplex gemeint. Diskriminierung setzt also nicht voraus, was sie in die Welt setzt und was sie heute einklagbar macht: kein Geschlecht, keine Hautfarbe, kein Aussehen, keine Sprache, keine Religion, keine Behinderung. Diskriminierung ist eine Erfahrung ganz unterschiedlicher Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen. Sie kann
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punktuell auftreten als Ahnung wie es jemandem ergehen muss, der täglich „so etwas“ erfährt; sie kann dauerhaft und relativ unbegrenzt auftreten oder insulär, nur in spezi¿schen Konstellationen wie zum Beispiel im Fitnesszentrum oder in einem Jugendtreffpunkt. Das Unterscheidungsmerkmal, das eine Diskriminierung materialisiert und dingfest macht, ist zunächst etwas Kontingentes, das auf die bloße Verschiedenheit von Menschen verweist (Kreckel 2004: 15): Haarfarbe, Kleiderfarben, Lieblingsspeise, Fingerlänge, Stimmlage usw. Die Zahl solcher Unterscheidungsmerkmale ist entsprechend groß und nur manche von ihnen erlangen durch ihre relationale Stellung im sozialen Kontext eine Bedeutung. Als bedeutend können diejenigen Unterscheidungsmerkmale gelten, mit denen unterschiedliche Chancen verbunden sind in einem sozialen Kontext etwas zu verwirklichen. Etwa wenn nur jemand Bargeld besitzt und alle ein Taxi benötigen, oder wenn es um die Verteilung von Tätigkeiten in einem Team von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen geht, in dem von fünf Personen vier gleichen Geschlechts sind. Ein Unterscheidungsmerkmal wird dann – und nur dann – zu einer Erfahrung als einer subjektiv oder objektiv registrierbaren Wirklichkeit; Erfahrung beinhaltet dabei im Sinne von John Dewey zugleich das, was erfahren wird und die Art und Weise, wie es erfahren wird (Dewey 2007: 450). Ein Mann zu sein oder einen Turnschuh von Nike zu besitzen (und zu tragen) sind in dem Sinne zirkuläre Aspekte menschlicher Erfahrung, die sich nur über ihre Beziehungen zu anderen Erfahrungsmöglichkeiten in einem relationalen Netz von Bezugspunkten verorten lassen. Das Auftauchen und der Bedeutungsgewinn eines Unterscheidungsmerkmals konstituieren folglich einen der Differenz eigenen Erfahrungsraum, der die Struktur von Diskriminierung annehmen kann. Dies ist in dem Maße der Fall, wie Missachtung, Nichtzugehörigkeitspraxen und die Verweigerung von gleichen Zugängen zu materiellen und immateriellen Gütern der Gesellschaft das Feld regieren. Neben Differenzkategorien wie Geschlecht, Herkunft und anderen spielt im Kontext von Diskriminierung zunehmend jene der Behinderung eine Rolle. Über die Differenz von behindert/nicht behindert wird thematisiert, wie etwas bezogen auf eine Erwartung nicht, noch nicht oder nicht mehr geht (Weisser 2005). Es geht also um die Erfahrung, in KonÀikte zwischen Fähigkeiten und Erwartungen involviert zu werden, die mit ungleichen Chancen verbunden sind, Kompetenzen in einem ganz grundlegenden Sinne zu entwickeln und zu realisieren (vgl. die Fallstudie bei Lenney/Sercombe 2002). Im Folgenden sollen die Relationen zwischen Behinderung und Diskriminierung entfaltet werden. Ausgehend von einem Fallbeispiel (1) wird die komplexe Struktur von Behinderungserfahrungen analysiert, und es werden zugleich Grenzen der juristischen Praxis verdeutlicht. Diese Praxis besteht hauptsächlich darin, dass sie Behinderung als etwas Gegebenes betrachtet und hohe Hürden für den Nachweis von Diskriminierung setzt (2). Anschließend werden die Grenzen dieser Praxis in den Kontext einer Politischen Soziologie des Rassismus und der Diskriminierung gestellt. Damit können sie als
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Ergebnis von gesellschaftlichen Kämpfen gelesen werden, was es zugleich ermöglicht, zwischen „Mensch mit Behinderung“ als Rechtssubjekt der Gesellschaft und Behinderungserfahrungen zu unterscheiden (3). Diese Unterscheidung erlaubt es schließlich, Behinderung als möglichen Fall von Diskriminierung, Diskriminierung aber immer als Fall von Behinderung zu verstehen und daraus eine partizipative Perspektive für Anti-Diskriminierungsprogramme zu entwerfen (4). 1
Behinderung und Diskriminierung – ein Fallbeispiel
Die Neue Zürcher Zeitung vom 24. Januar 2009 berichtete über einen Entscheid des Bundesgerichts, das die Nicht-Einbürgerung einer angolanischen Staatsangehörigen mit einer sogenannten „geistigen Behinderung“ durch die Zürcher Gemeinde Mettmenstetten als diskriminierend zurückwies (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1
Aus dem Bundesgericht, Neue Zürcher Zeitung vom 24. Januar 2009, Seite 17.
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Der Fall liegt so (vgl. Urteil 1D_19/2007 vom 16. Dezember 2008, http://www. egalite-handicap.ch/deutsch/gleichstellungsrecht/rechtsprechung.html [30.09.2009]): Die angolanische Staatsangehörige, nennen wir sie Frau A, geboren am 3. Oktober 1986, reist 1995 mit ihrer Mutter aus Angola in die Schweiz ein und lebt hier im Status der vorläu¿gen Aufnahme. Seit 2004 wohnt sie in einem Heim und absolviert die Ausbildung an einem geschützten Arbeitsplatz. Ihr Gesuch um Einbürgerung wird 2005 von der Gemeinde mit Verweis auf folgende Umstände abgelehnt: Die Bewerberin erfülle aufgrund ihres Gesundheitszustandes die Einbürgerungsvoraussetzungen nicht. Es fehlten die kulturelle und politische Integration, die staatsbürgerlichen Kenntnisse und die Fähigkeit zur wirtschaftlichen Selbsterhaltung. Es habe festgestellt werden müssen, dass eine normale Gesprächsführung nicht möglich sei und die Gesuchstellerin einem Gespräch nicht folgen könne (kaum Kindergartenniveau, kleinkindliche emotionale Naivität, einzelne Brocken in Mundart). Ferner fehle der Bewerberin die erforderliche Fähigkeit, sich selber zu erhalten, umso mehr als IV-Leistungen (Leistungen der Invalidenversicherung, Anmerkung JW) abgelehnt worden seien. Aufgrund der Akten müsse schliesslich vermutet werden, dass das Gesuch im Hinblick auf mögliche Sozial- und IV-Leistungen sowie zur BeeinÀussung des die Mutter betreffenden Asylentscheides gestellt worden sei. Es bestünden keine Strafuntersuchungen, Strafregistereinträge und Betreibungen (Urteil 1D_19/2007, Abschnitt B: o. S.).
Nachdem die Gemeinde den üblichen Instanzenweg beschritt, gibt ihr das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich im Urteil vom 24. Oktober 2007 Recht. Gegen diesen Entscheid reicht Frau A. Beschwerde ein, in der sie v. a. eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes gemäß Artikel 8, Absatz 2 der Bundesverfassung (BV) der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 rügt. Der entsprechende Artikel lautet: „Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung“ (Art. 8, Abs. 2 BV).
Im juristischen Sinne liegt eine Diskriminierung dann vor, wenn jemand ungleich behandelt wird auf Grund einer Zugehörigkeit zu einer tendenziell ausgegrenzten oder schlechter bewerteten Gruppe respektive dann, wenn eine nicht offensichtlich diskriminierende Regel in ihren Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre, wie es relativierend heißt (Urteil 1D_19/2007, Erwägungen Punkt 4: o. S.). Im vorliegenden Fall war demnach zu prüfen, ob das Kriterium der Fürsorgeabhängigkeit, das für den Nicht-Einbürgerungsentscheid geltend gemacht wurde, diskriminierend sei. Das Bundesgericht hält
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in seinen Erwägungen fest, dass Menschen in Situationen der Fürsorgeabhängigkeit keine Gruppe bilden würden, die spezi¿sch gegen Diskriminierung zu schützen sei, da Fürsorgemaßnahmen einem Recht auf Hilfe in Notlagen (gemäß Artikel 12 BV) entsprechen und weil unterschiedlichste Gründe zur Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen führen könnten, die wiederum von unterschiedlichster Dauer seien. Im vorliegenden Falle stehe jedoch weniger die Frage der Fürsorgeabhängigkeit als jene der Behinderung der Beschwerdeführerin im Zentrum und damit die Frage, ob das Kriterium der wirtschaftlichen Selbstständigkeit Personen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung in Einbürgerungsprozessen diskriminiere. Das Bundesgericht kommt zum folgenden Schluss: „Diese Personen werden durch das Erfordernis der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit für die Einbürgerung wegen eines nicht selbstverschuldeten und nicht aufgebbaren Merkmals in spezi¿scher Art betroffen und gegenüber ‚gesunden‘ Bewerbern in besonderer Weise benachteiligt und rechtsungleich behandelt. Sie mögen nicht in der Lage sein, aus eigenen Stücken eine wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit zu erlangen. Es wird ihnen dauernd und eben nicht nur vorübergehend verunmöglicht, sich überhaupt einbürgern zu lassen. Insoweit liegt eine Konstellation einer (indirekten) Diskriminierung vor, die einer quali¿zierten Rechtfertigung bedarf, um vor Art. 8 Abs. 2 BV bestehen zu können.“ (Urteil 1D_19/2007, Erwägungen Punkt 6.1: o. S.)
Es geht also um die sachliche Begründung der nachteiligen Behandlung. Hier macht die Gemeinde die ¿nanziellen Folgen geltend und argumentiert, es sei legitim die Ausgaben der öffentlichen Hand niedrig zu halten: „Die Nichteinbürgerung sei geeignet und erforderlich“, so zitiert das Bundesgericht das Verwaltungsgericht, „die Gemeinde […] über eine lange und unbestimmte Zeit von Unterstützungen im hohem Ausmaße von rund 100‘000 Franken pro Jahr zu verschonen“ (ebd., Erwägungen Punkt 6.2: o. S.). Das Bundesgericht anerkannte das Interesse an einem gesunden Finanzhaushalt als legitim, gibt aber auf dem Hintergrund der Gesetzeslage im Bereich des Ausländerrechts und der Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen zu bedenken, dass die Gemeinde ohnehin die Fürsorgekosten früher oder später zu übernehmen hätte. Demgegenüber macht das Bundesgericht die Interessen der Beschwerdeführerin geltend, die sie als gewichtiger einstuft als jene der Gemeinde und folglich die Beschwerde gut heißt: „Dem sind die Interessen der Beschwerdeführerin gegenüberzustellen. Die Frage der Einbürgerung ist für diese von grosser Bedeutung. Sie hat an der Erlangung des Bürgerrechts im Kanton Zürich, wo sie den grössten Teil ihres Lebens verbracht hat, ein gewichtiges Interesse. Dieses ist nicht nur ideeller Natur […], sondern auch rechtlich von Bedeutung. Die Einbürgerung würde der Beschwerdeführerin einen gesicherteren Status in der Schweiz einräumen als der bisherige der vorläu¿gen Aufnahme. […] Ferner mag es unter dem Gesichtswinkel des Diskriminierungsver-
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Jan Weisser botes, das auch Aspekte der Menschenwürde im Sinne von Art. 7 BV beschlägt, als stossend empfunden werden, dass die Beschwerdeführerin – die bis heute von der Asylfürsorge unterstützt worden ist und im Falle der Einbürgerung von der Gemeinde […] zu unterstützen wäre – einzig wegen der Frage, aus welchem ‚Kässeli‘ die ihr zukommende Unterstützung geleistet wird, nicht eingebürgert würde. Vor diesem Hintergrund zeigt sich gesamthaft, dass die Beschwerdeführerin wegen ihrer aktuellen und fortdauernden Behinderung im Einbürgerungsverfahren gegenüber ‚gesunden‘ Bewerbern auf unbestimmte Zeit hinaus benachteiligt wird. Diese Benachteiligung kann in Anbetracht des Umstandes, dass die ¿nanzielle Belastung der Gemeinde […] nicht allein wegen der Einbürgerung auf lange Dauer angelegt ist, nicht wegen der ¿nanziellen Aspekte in quali¿zierter Weise gerechtfertigt werden.“ (Urteil 1D_19/2007, Erwägungen Punkt 6.3: o. S.)
2
Behinderungserfahrungen und die Grenzen juristischer Praxis
Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz ist „Gleiches… nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln“ (Häfelin/Haller 2001: 215, i. O. kursiv). So sind Menschen in Bezug auf ihr Menschsein gleich, in Bezug aber zum Beispiel auf ihr Alter begründet ungleich zu behandeln. In diesem „begründet“ liegt der eigentliche Kern der juristischen Beurteilung – in Fall von Frau A. beruht der Entscheid letztlich auf einer Gewichtung von Gütern rechtsfähiger Personen, für welche die genaue Kenntnis der Gesetzgebung und Praxis im Bereich des Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungsrechts ausschlaggebend war. Diskriminierung im Falle von Behinderung – oder einer anderen als relevant erachteten Differenzkategorie – heißt also, dass jemand durch jemand nicht nur ungleich behandelt, sondern benachteiligt wird und dass er oder sie für dieses Vorgehen keinen vergleichsweise hinreichenden Grund geltend machen kann; umgekehrt muss zum Nachweis der Diskriminierung auf Behinderung als einer der (un-)gleichheitsrelevanten Kategorien rekurriert werden können. Für den Kampf gegen Diskriminierung sind damit hohe Hürden gesetzt: Die Plausibilität von Gründen ist nicht nur eine Frage der Rationalität, sondern auch eine der GepÀogenheiten und der mehrheitsfähigen Interessen (vgl. Sandkühler 2009); so wird dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit im Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz BehiG vom 13. Dezember 2002) entsprechend große Beachtung geschenkt. Gegen diese Gründe muss in essentialisierender Weise Behinderung geltend gemacht werden als Merkmal einer Person, „der es eine voraussichtlich dauernde körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pÀegen, sich fortzubewegen, sich aus- und fortzubilden oder eine Er-
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werbstätigkeit auszuüben“ (Artikel 2, Absatz 1 BehiG). Der Schutz durch den Staat hat mit anderen Worten seinen Preis: Er bedingt, dass Personen sich in bestimmter Weise als Personen von… oder mit… anerkennen müssen, um zu vermeiden, dass sie herabsetzende Behandlung – mit oder ohne materielle Folgen – erfahren, die erst dann als solche juristisch anerkannt wird, wenn auf der anderen Seite keine hinreichenden sachlichen Begründungen nachgewiesen werden können. Frantz Fanon würde wohl so kommentieren: „Für den Kolonisierten ist Objektivität immer etwas, das sich gegen ihn richtet“ (Fanon 1981: 65). Der juristische Umgang mit diskriminierungsrelevanten Differenzkategorien beschränkt sich also darauf zu beurteilen, ob mit ihnen nicht gerechtfertigte Benachteiligungen verbunden sind. Er setzt voraus, dass Personen Differenzkategorien möglichst eindeutig zugeordnet werden können und dass es gute Gründe für Benachteiligung gibt: immer dann, wenn das Spiel zur Herstellung von Unterschieden unter Einhaltung allfälliger Handicapregeln für alle, die sich dafür eignen, dasselbe sei. Geschützt werden das Spiel und der (möglichst knapp zu haltende) Ausnahmefall. Darin gibt es nur Menschen, die schon behindert oder anderweitig diskriminierungsrelevant gekennzeichnet oder eben ungeeignet sind. Drei relevante Aspekte sind nicht vorgesehen: Erstens die Frage nach dem Spiel an sich, seiner historischen Form der Vergesellschaftung, nach seinem humanökologischen Preis und seinen Möglichkeiten der Veränderung. Zweitens die Frage nach den individuellen und kollektiven Erfahrungen von Menschen im GeÀecht von differentiellen Erwartungen an ihre Verhaltensweisen auf dem Hintergrund dessen, was im Spiel als „Eignung“ gilt. Und drittens entsteht auf Basis der beiden zuerst genannten Aspekte die Frage nach einem angemessenen Verständnis der juristischen Anti-Diskriminierungspraxis: Wie kommt es, dass die juristische Praxis – gemessen an einer Anti-Diskriminierungspraxis von Gewicht – nur eingeschränkt handlungsfähig ist? Die Relevanz dieser Fragen, die in den nachgehenden Abschnitten behandelt werden, lässt sich beispielhaft an der Struktur von Behinderungserfahrungen verdeutlichen: Menschen kommen zu einer Behinderung dadurch, dass die Art und Weise wie sie etwas tun respektive nicht, nicht mehr oder noch nicht tun, Erwartungen von Dritten verletzt, die dies kommunizieren oder zeigen können. Erst am Ende eines teilweise langen Prozesses der Irritation folgt eine Behinderungszuschreibung, welche einmal geäußert zu einer ebenso persönlichen wie politischen Erfahrung im Leben Betroffener und ihrer Umwelt wird (vgl. Watson 2002; zur Diagnosemitteilung Niedecken 2003). Behinderung wird biographisch wie gesellschaftlich zu einer sozialen Tatsache mit erheblichem Interpretationsspielraum (Swain/ Cameron 1999), ihr geht nichts voraus außer der Verschiedenheit von Menschen, die unter bestimmten Umständen von Bedeutung werden kann. Die juristische Praxis setzt diesen Prozess voraus und anerkennt nur Menschen mit Behinderung, die auf Grund dieser Behinderung diskriminiert werden können. Sie konstruiert
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eine stabile Kausalität, in der Behinderung als möglicher Fall von Diskriminierung erscheint und führt über sie Wirklichkeits- und Wirksamkeitsannahmen ein, die ihre Praxis fortan bestimmen. Diese Beschränkung des Möglichkeitsraums hat zur Folge, dass die Ambiguitätstoleranz gegenüber Behinderungserfahrungen sinkt und dass zugleich alternative Kausalkonstrukte weitgehend ausgeschlossen werden. Dass man zum Beispiel im öffentlichen Verkehr behindert werden und dagegen klagen kann, ist fortan nur noch möglich, wenn man „seine“ Behinderung ins Spiel bringt. Die juristische und die medizinische Vernunft gehen mit anderen Worten eine stabile Koalition ein und bilden einen Dominanzkomplex in der De¿nition von Behinderung und Diskriminierung (vgl. die Ausführungen zur Internationalen Klassi¿kation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation WHO bei Schuntermann 2007). Versteht man demgegenüber Behinderung als FähigkeitskonÀikt, dann ist von einer grundsätzlichen Kausalindifferenz auszugehen und nichts spricht a priori dagegen, Behinderung beispielsweise als Folge von Verkehrspolitik, Preisstrategien, Arbeitsteilung oder Umweltzerstörung zu begreifen (vgl. Oliver 1990: 11; Graf 2008). Kausalität ist systemtheoretisch „nichts anderes als ein Schema für Selbstspezi¿ kation einer zweiseitigen Unendlichkeit möglicher Ursachen und möglicher Wirkungen“ (Luhmann 2002: 22). Das Kausalschema organisiert mit anderen Worten Zurechenbarkeit und damit so etwas wie Verantwortlichkeit. Kausalpräferenzen zeigen, wie die Welt zum Laufen gebracht wird, wie wir ticken und was wir sind – im Sinne einer historischen Ontologie – wenn wir ticken, wie wir ticken. Dass die Option, Behinderung als Folge von Vorgängen außerhalb des menschlichen Körpers zu betrachten, gesellschaftlich relativ ausgeschlossen ist und unter anderem gerade durch die juristische Praxis zur Aufklärung von Diskriminierungen ausgeschlossen wird, ist in einem empirischen Sinne zur Kenntnis zu nehmen, als Widerspiegelung dessen, was die historischen Spieloptionen zulassen. Nach ihnen ist man zuerst behindert bevor man (allenfalls) behindert wird – woran eine alternative Bezeichnung der ersten Behinderung etwa als „Beeinträchtigung“ wenig ändert. Dass Behinderung zwar ein Fall von Diskriminierung sein kann, dass jedoch Diskriminierung immer ein Fall von Behinderung ist, das leuchtet unmittelbar ein, wenn man die durch Diskriminierung reduzierten Chancen etwas zu verwirklichen als Steigerung von KonÀikten zwischen Erwartungen und Fähigkeiten liest. Mit der Kategorie der Behinderung können fähigkeitsspezi¿sche Dimensionen von sozialen Verhältnissen im Allgemeinen und von Diskriminierung im Besonderen ausgeleuchtet werden. Im gleichen Atemzug wären die zur Geltung gebrachten Kausalschemata als Teil eines Deutungskampfes zu analysieren. Auf das Fallbeispiel bezogen heißt dies: Die Behinderungserfahrung liegt im historisch hervorgebrachten KonÀikt von Einwanderungsgesellschaften zwischen der Fähigkeit, in einem bestimmten Umfeld zu leben und der Erwartung, dabei mit Sicherheit, Schutz und
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Anerkennung rechnen zu können. Dieser KonÀikt wird über das Deutungswissen ausgetragen, das in diesem Fall zur Geltung gebracht wird – etwa, dass Frau A. dies auf Grund „ihrer wirtschaftlichen Unselbstständigkeit“ nicht könne oder dass eine Einbürgerung genau dies ermöglichen würde und der schließlichen Lösung, dass sie es zwar auf Grund „ihrer wirtschaftlichen Unselbstständigkeit“ tatsächlich nicht könne, dass dies aber „auf Grund ihrer Behinderung“ so sei und die Sorge um den Finanzhaushalt der Gemeinde in diesem Falle weniger wiege als das Interesse der Beschwerdeführerin. Erfolg im Kampf um Integration und Partizipation ist auch von der Verfügbarkeit entsprechenden Deutungswissens abhängig. 3
Politische Soziologie des Rassismus und der Diskriminierung
Diskriminierung und Strategien der Anti-Diskriminierung ¿nden in der Gesellschaft statt und ebenso leben diskriminierte Personen und Gruppen in der Gesellschaft und nicht außerhalb (empirisch vgl. Heitmeyer 2006a). Diese perspektivische Setzung soziologischer Erkenntnispraxis ermöglicht die Disidenti¿ kation mit den dem Thema inhärenten Strategien juristischer oder ethischer Rechtfertigung und Legitimierung und sie öffnet damit einen Raum für die Thematisierung von Strukturierungsvorgängen, Deutungspraxen und Erfahrungen, welche möglich sind, sobald Diskriminierung verhandelt wird. Damit betreten wir das Aufgabenfeld einer Politischen Soziologie der sozialen Ungleichheit, das Reinhard Kreckel wie folgt umschreibt: „Ihre Aufgabe ist es, sich damit zu befassen, inwieweit die jeweils herrschenden Rechtsverhältnisse eine Stütze und Widerspiegelung der bestehenden Ungleichheitsverhältnisse sind, und welche gesellschaftlichen Kräfte und Gegenkräfte dabei zusammenwirken“ (Kreckel 2004: 92). Wenn man so ansetzt, fragt man danach, warum etwas, das sich of¿ziell niemand wünscht, existiert: Warum gibt es noch Diskriminierung respektive Rassismus, wenn es ihn eigentlich nicht mehr geben dürfte? So ähnlich fragte auch Albert Memmi: „So gut wie niemand möchte als Rassist gelten, und dennoch behauptet sich das rassistische Denken und Handeln hartnäckig bis auf den heutigen Tag. Auf direkte Fragen verleugnet sich der Rassist und löst sich in nichts auf: er und Rassist – kein Gedanke! Er wäre beleidigt, würde man weiter darauf bestehen. Wenn es demnach auch keinen Rassisten gibt, so gibt es jedoch zweifellos rassistische Einstellungen und Verhaltensweisen; jeder könnte dafür Beispiele anführen … bei jemand anderem. Eigentlich müsste doch die rassistische Argumentation mittlerweile langweilig und überholt erscheinen: Tausend und abertausendmal ist sie von Spezialisten der verschiedensten Fachgebiete stets aufs neue widerlegt worden; die Angelegenheit müsste ein für allemal geklärt, auch der letzte Rassist inzwischen überzeugt sein, und dennoch
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Jan Weisser hört er nicht auf, sich zu wiederholen, als hätte kein einziges Gegenargument bei ihm verfangen. Wovon spricht man eigentlich und von wem? Auch diesen Widersprüchen und dieser Verstocktheit werden wir nachgehen müssen.“ (Memmi 1992: 11)
Etienne Balibar, französischer Philosoph und Marxist aus dem Umfeld von Louis Althusser, hat in diesem Kontext vorgeschlagen, sich auf die historische Suche nach den „Bestandteilen“ des Rassismus und den Grundlagen seiner Reproduktion in der Gegenwartsgesellschaft zu machen (Balibar 1993: 63). Diesem Vorgehen liegt die Idee zu Grunde, dass Rassismus als dauerhaftes Phänomen mit der Suche nach allgemeinen Ursachen nicht hinreichend erfasst werden könne. Seine Dauerhaftigkeit und seine Wandlungsfähigkeit zeige vielmehr, dass er modernen Gesellschaften inhärent und mehr ist als eine Störungskategorie, als die er von diesen Gesellschaften angesehen wird. Entsprechend den Bedingungen, in denen er auftritt, kann er sich auch verändern. Rassismus ist als emergentes Phänomen zu verstehen, das durch Grenzen der Zugehörigkeit im universalistischen Argumentationsrahmen reproduziert und mit den Folgen dieser Grenzziehungen durch Staaten, Organisationen, Gruppen oder Personen existent wird (vgl. Miles 2000; Terkessidis 1998: 74 ff.). Diskriminierung ist mit anderen Worten nur in einer Gesellschaft möglich (und einklagbar), die sich an universalistischen Prinzipien orientiert, diese durch ihre Produktionsweise zugleich verletzt und versucht dort, wo sie es tut, solche Verletzungen unter zu Hilfenahme von Differenzkategorien zu rechtfertigen und gegebenenfalls zu entschädigen oder zu sanktionieren; sie gesteht sie nur unter juristischem Zwang ein (vgl. zum Entschädigungshandeln des Sozialstaates Kreckel 2004: 91 f; vgl. zur Sanktionierungsfrage die Fallstudie zum internationalen Organhandel bei Scheper-Hughes 2009). Was mit einer solchen perspektivischen Option ebenfalls verbunden ist, ist die Unmöglichkeit, diese Gesellschaft als Ganze an den Pranger zu stellen und so zu tun, als könnte man sie von außen beobachten und bekämpfen, etwa als „die diskriminierende Gesellschaft“ im Unterschied zu einer, die das nicht wäre. Auch die soziologische Perspektive ist der Moderne inhärent – sie deckt ihren Gegenstand nur auf, „wenn sie selbst eingreift, um ihn sichtbar zu machen“ (Touraine 1976: 18). Eine Politische Soziologie des Rassismus und der Diskriminierung muss daher, auch um sich selbst wissenssoziologisch und epistemologisch verorten zu können, von umstrittenen sozialen Praxen ausgehen, in denen die Subjekte und Objekte von Kämpfen und Analysen laufend erst entstehen. Bevor wir uns wieder Behinderungserfahrungen zuwenden, soll dieser Punkt des Vorranges von Praxen und Auseinandersetzungen anhand der Staatstheorie des französischsprachigen Philosophen und Marxisten griechischer Herkunft, Nicos Poulantzas, vertieft werden: „Es gibt keine ihrem Gegensatz, d. h. ihren Kämpfen vorausgesetzte Klassen“, schreibt darin Poulantzas in den 1970er Jahren (2002: 57) und sucht angesichts der repressiven Entwicklungen in Ost und West nach einer
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Möglichkeit, politische Akteure einschließlich des Staates aus ihrer Genese und aktuellen Bedeutung in gesellschaftlichen KonÀikten zu analysieren, um darüber Veränderungsperspektiven zu gewinnen. Die Grundvorstellung ist die: Gesellschaftliche Praktiken wie die Inanspruchnahme eines Gesetzes, ein Streik, das Einkaufen von alltäglichen Gebrauchsgegenständen usw. sind als soziale Verhältnisse abbildbar, in denen menschliche und nicht menschliche Dinge relational mehr oder weniger dicht miteinander assoziiert sind. Das Kauen von Kaugummi setzt beispielsweise einen ganzen sozialen und technischen Apparat voraus, der mit jedem Biss und zunehmender Geschmacklosigkeit des Kaugegenstandes bis und mit seinem Verschwinden in den Abfallbergen unterhalten wird. Die Verhandlungen darüber werden von Akteuren geführt, die über unterschiedliche Chancen verfügen, ihre Interessen durchzusetzen. Diese Macht, die ihnen empirisch zugerechnet werden kann, ergibt sich, so Poulantzas, „aus einem relationalen System von materiellen Stellungen, die von diesen oder jenen Agenten besetzt werden“ (ebd.: 178). Der Staat ist nun nicht jener Akteur, der diese Situation neutralisiert, sondern „der Ort der strategischen Organisation der herrschenden Klasse in ihrem Verhältnis zu den beherrschten Klassen“ (ebd.: 179). „Das relationale Machtfeld der Klassen verweist so auf ein materielles System der Aufteilung von Stellungen in der gesamten gesellschaftlichen Arbeitsteilung und ist grundsätzlich (wenn auch nicht ausschließlich) durch die Ausbeutung determiniert. Daraus resultieren die Klassenspaltung, der Klassenkampf und die Volkskämpfe. Man kann deshalb sagen, dass jeder Kampf, auch wenn er kein eigentlicher Klassenkampf ist (der Kampf zwischen Männern und Frauen z. B.), in einer Gesellschaft, in der der Staat jede Macht als Relais der Klassenmacht benutzt, sich zweifellos nur dann entfalten kann, wenn Klassenkämpfe existieren, die dadurch anderen Kämpfen die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln“ (ebd.: 179, i. O. kursiv JW).
Im Staat verdichten sich mit anderen Worten die historischen Machtverhältnisse, die sich ihm einschreiben und ihn konstituieren. Er verkörpert das Verhältnis zwischen den ihn hervorbringenden Kämpfen und ist Ausdruck des jeweiligen historischen Kompromisses, dessen Widersprüche und Spaltungen etwa die Situation seines Personals (Beamte, Angestellte von Staatsbetrieben, Lehrpersonen, PÀegepersonen, Ärztinnen und Ärzte etc.) bis in ihre Handlungen prägen, wenn auch nicht abschließend determinieren (ebd.: 185 ff.). Die relativen Sicherheiten, die dieser Staat bietet, beruhen nicht auf den Qualitäten seiner Er¿ndungen, sondern auf den Kräfteverhältnissen, welche diese Qualitäten decken. Das gilt auch für die Menschen- und Bürgerrechte, die eine Errungenschaft der „unterdrückten Klassen“ sind (ebd.: 101; vgl. historisch Marshall 1992, aktuelle Fallanalyse bei Weisser 2008). Das gilt auch für sein Rechtssystem, das den historischen Kompromiss schützt: „Das Gesetz ist also integraler Bestandteil der repressiven Ordnung und der Organisation der Gewalt, die von jedem Staat ausgeübt wird. […]. Das Gesetz
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ist in diesem Sinne der Kodex der organisierten öffentlichen Gewalt“ (Poulantzas 2002: 104 f, i. O. kursiv JW). Auf diese Weise entstehen erst die Rechtssubjekte der Gesellschaft als „Ensemble materieller Praktiken des Staates“ (ebd.: 100), der Kinder, Väter und Mütter genauso macht wie Menschen mit Behinderung, Hochschulabsolventinnen und Gefängnisinsassen. Sie alle sind über die Praxen der Gesellschaft miteinander verbunden – gerade weil die einen über eine private Krankenkassenversicherung verfügen und die anderen die Grundprämien nicht zahlen können: „Der Prozess, in dem die europäischen Menschen in der Moderne sich selbst schufen, ist der gleiche Prozess, in dem sie auch jene Andersheit produzierten, in der sich das ‚Objekt‘ des Rassismus konstituiert“ (Terkessidis 1998: 255). 4
FähigkeitskonÀikte und Anti-Diskriminierungsprogramme
Das zentrale Argument einer Politischen Soziologie des Rassismus und der Diskriminierung ist es also, dass die Zielsubjekte diskriminierender Angriffe in Verteilungs- und Anerkennungskämpfen entstehen und dass sich zwischen Angreifenden und Angegriffenen interdependente, aber asymmetrische Verhältnisse etablieren. „Haben wir den Mut, es auszusprechen“, schreibt Fanon: „Es ist der Rassist, der den Minderwertigen schafft“ (Fanon 1980: 61, i. O. kursiv JW; vgl. Mecheril/Scherschel 2009). Auf dieser Ebene ¿ndet man empirisch das, was seit den 1990er Jahren verstärkt als Behindertenfeindlichkeit (Rommelspacher 1999) auch im Kontext der Studien über Exklusionsphänomene (Fattah 2002) und sexuelle Ausbeutung (Elmer 2006) diskutiert wird: Vorgänge und Akte, in denen Menschen mit Behinderung von Gewalt betroffen sind. Zugleich zeigt die Politische Soziologie, dass Schutzmechanismen – beispielsweise in der Form von Diskriminierungsverboten – nur in dem Maße aufgebaut und durchgesetzt werden können, wie sie durch Praxen und ihre Akteure gedeckt sind. Gerade dafür dürfte es hilfreich sein, auf Behinderung nicht nur als Fall von Diskriminierung, sondern Diskriminierung auch als Fall von Behinderung zu begreifen und nochmals auf die komplexe Struktur von Behinderungserfahrungen einzugehen. Bei der Kategorie „Menschen mit Behinderung“ handelt es sich nach den bisherigen Ausführungen um eine personalisierende Zuschreibung, welche KonÀikte zwischen Fähigkeiten und Erwartungen beruhigt. Öffnen wir also nochmals die Szenerie vor ihrer Fixierung: Peter Freund hat dies am Beispiel sozialräumlicher Verhältnisse gemacht und die normalisierte Kausalität wie folgt hinter sich gelassen: „If people with an impairment are not automatically or ‚naturally‘ disabled, it is also possible that those who are not impaired may be disabled in a particular temporal-spatial context“ (Freund 2001: 693, i. O. kursiv JW). Die Frage ist dann: Welche Fähigkeiten lassen sich in welchen sozialräumlichen Verhältnissen realisieren – und welche nicht? Menschen, so die Annahme, „move in, engage and modify
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the material environments (including material culture, e. g. technology) in which they carry out activities“ (ebd.: 691). Welche Erfahrungen man dabei machen kann, berichten Udo Sierck und Christian Ritter in der sogenannten „Krüppelzeitung“, nacherzählt von Christian Mürner und Udo Sierck: „Neulich waren wir zum ersten Mal zusammen einkaufen, im Supermarkt. Udo, der Spastiker ist, und ich, Christian, mit einer Querschnittslähmung“, so beginnt in Nummer 2/80 ein zweiseitiger Text unter dem Titel „Wenn Krüppel einkaufen geht …“. Udo Sierck und Christian Ritter reÀektieren ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle bei einem alltäglichen Einkauf. Schon als sie mit dem Auto direkt vor die Tür fahren, handeln sie sich den Unmut des Hausmeisters ein, der sich allerdings „verkrümelt“ als der den Rollstuhl bemerkt. Dann hat Christian Ritter als Rollstuhlfahrer Schwierigkeiten mit dem Drehkreuz am Eingang. Udo Sierck schiebt den Einkaufswagen und Christian Ritter füllt ihn mit Lebensmitteln. „Die Leute haben übrigens ziemlich geguckt, aber immer sich völlig ‚normal‘ verhalten, wenn wir sie angesehen haben.“ Der Eindruck des Spießrutenlaufens verändert sich in ein „Überlegenheitsgefühl“ im Wissen, „die Leute mal zu verunsichern“. An der Kasse geht „die Selbstsicherheit wieder Àöten“ und Udo Sierck und Christian Ritter kommen ins Schwitzen, weil ihre Tüten ziemlich „vollgestopft“ sind und die Schlange an der Kasse wächst, weil es bei ihnen länger dauert. Sie versuchen locker zu bleiben, sie wollen ja nicht die Vorurteile über Behinderte bestätigen. „Aber eigentlich hatten wir echt Angst, Angst vor dem Chaos, das wir verursachen.“ Sie haben Angst vor Sprüchen wie „Bleibt doch zu Hause, wenn ihr nicht klarkommt“ oder „Die Armen müssen ganz allein den schweren Einkauf machen“. Aber die Sprüche fallen gar nicht, vermutlich waren sie aber in den Köpfen. Und Christian Ritter und Udo Sierck stellen fest, dass sie die Sprüche auch im eigenen Kopf haben. Sie bemerken, „dass wir unter einem ziemlichen Erfolgszwang standen, so nach dem Motto: Jetzt zeigen wir es den Nichtbehinderten aber mal!“ Sie wollen nicht als hilÀos erscheinen, sich nicht blamieren, alles richtig machen und auch noch ein gutes Gefühl dabei haben. Trocken stellen sie am Schluss fest: „Aber es hat uns viel genützt, dass wir beide nochmals darüber geredet haben.“ (Mürner/Sierck 2009: 150 f).
Die Protagonistinnen und Protagonisten mit und ohne Behinderung dieser Szene tragen manifeste und latente KonÀikte zwischen Fähigkeiten und Erwartungen aus, welche die Kontingenz zugeschriebener Behinderung verdeutlichen; ähnliches berichten auch unterschiedlich anders wahrgenommene Menschen (vgl. Mecheril 1997). Behinderungserfahrung bedeutet eine Einschränkung der Chancen, etwas zu verwirklichen – gleichviel worauf sie beruht. Sei es die Erfahrung, beim Einkaufen etwas falsch zu machen, beim Sprechen zu stottern oder den gewünschten Beruf nicht erlernen zu können: Es handelt sich um Momente verweigerter Kompetenz, so als ob jemand zur falschen Zeit am falschen Ort gelandet wäre. Diskriminierung bedeutet immer auch, jemanden zu behindern – wohingegen Behinderung nicht notwendig die Struktur von Diskriminierung annehmen muss; Behinderung ist
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nicht immer ein Fall von Diskriminierung – Diskriminierung aber immer einer von Behinderung. „Menschen mit Behinderung“ sind in dem Sinne eine politische Vereinfachung zur Regulierung sozialer Ungleichheit. Anti-Diskriminierungsprogramme, die erst hier ansetzen, greifen grundlegend zu kurz. Soziale Praxen sind nach diesem Ansatz dahingehend zu untersuchen, wie Beteiligte und Betroffene Behinderungserfahrungen machen und mit Diskriminierung konfrontiert werden: Welche Differenzkategorien sind im Spiel? Welche Zugehörigkeiten und welche Nicht-Zugehörigkeiten entstehen? Um welche Güter wird verhandelt? Welche Emotionen sind mit den entsprechenden Praxen verbunden? Welche Rechtfertigungsmuster ¿nden Verwendung? Welche Fähigkeiten werden (nicht) entwickelt? Eine solche Untersuchung ist zugleich verändernde Praxis und weil dabei von intersektionalen Wahrnehmungsmustern auszugehen ist, sind Verwandtschaften mit Ansätzen anders fokussierender Anti-Diskriminierungsprogramme nicht nur zufällig, sondern systematisch (vgl. hierzu Mecheril 2006; Melter 2006; Peters/Wolbers/Dimling 2008). – „Den Menschen dazu zu bewegen, aktiv zu sein und dabei die Achtung vor den Grundwerten zu bewahren, die eine menschliche Welt ausmachen, dies ist die vordringliche Aufgabe desjenigen, der, nachdem er nachgedacht hat, sich anschickt zu handeln“ (Fanon 1980: 141, i. O. kursiv JW).
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Behinderung als Fall von Diskriminierung
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Genetische Diskriminierung: Empirische Befunde und konzeptionelle Probleme Thomas Lemke
Der Begriff der genetischen Diskriminierung ist seit den 1990er Jahren fester Bestandteil der wissenschaftlichen Literatur zu den sozialen, ethischen und rechtlichen Implikationen der Genomforschung.1 Er bezeichnet die Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund vermuteter oder tatsächlich vorhandener genetischer Eigenschaften und wird strikt von Diskriminierung aufgrund von Behinderung und Krankheit unterschieden (Billings et al. 1992: 477; Natowicz et al. 1992: 466). Empirische Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass Menschen in unterschiedlicher Weise von genetischer Diskriminierung betroffen sind. So wurde Stellenbewerbern mit dem Hinweis auf eine eventuelle spätere Krankheit die Quali¿kation für einen Arbeitsplatz abgesprochen und die Einstellung verweigert. Ebenso kündigten Kranken- und Lebensversicherungen Verträge oder verweigerten deren Abschluss, wenn bei ihren (potenziellen) Kunden der Verdacht auf genetische Erkrankungsrisiken bestand. In anderen Fällen wurde Ehepaaren die Adoption von Kindern untersagt, wenn bei einem der Elternteile eine Disposition für eine genetische Krankheit vorlag. Erfahrungen genetischer Diskriminierung sind auch im Gesundheitswesen, dem Bildungssektor und dem Militär dokumentiert. So allgegenwärtig und vielfältig das Problem genetischer Diskriminierung scheint, handelt es sich doch um ein wenig greifbares und kaum begriffenes Phänomen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben kritisch angemerkt, dass der Begriff der genetischen Diskriminierung heute selten trennscharf verwendet wird und seine kognitiven und normativen Prämissen nur in Ausnahmefällen expliziert werden.2 Entsprechend breit und heterogen ist das Spektrum seines Gebrauchs, das „vom Vorwurf der Irrationalität und Unsachlichkeit von Beurteilungen ‚genetisch behinderter‘ Personen über die Behauptung einer Verletzung moralisch
Die folgende Auseinandersetzung mit dem Problem genetischer Diskriminierung stellt eine Aktualisierung und Weiterentwicklung von Argumenten dar, die zuerst an anderer Stelle erschienen sind (vgl. Lemke 2006 sowie Kollek/Lemke 2008: 191–209). 2 Als Illustrationsbeispiel siehe etwa die zirkuläre De¿ nition, die Gregor Wolbring vorschlägt: „Genetic discrimination occurs if we deal with humans or potential humans in a discriminatory fashion based on the knowledge, perception, or reality attached to the consequences of having a particular gene, gene activity, or gene product.“ (2005: 178) 1
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verbürgter Persönlichkeitsrechte oder grundlegender moralischer Prinzipien bis hin zur Unterstellung eugenischer Absichten“ reicht (Paslack/Simon 2005: 133 f.). Trotz dieser begrifÀichen Unschärfen (oder gerade deswegen) blieb die Angst vor einer „genetischen Unterschicht“ (Nelkin/Tancredi 1994: 176; Nelkin 1995: 209; Keays 2000: 84 f.) nicht ohne Resonanz. Seit den 1990er Jahren erfolgte eine Reihe von gesetzgeberischen Initiativen und Stellungnahmen inter- und supranationaler Organisationen und Kommissionen, um Menschen vor genetischer Diskriminierung zu schützen. So heißt es etwa im Artikel 6 der „Deklaration über das menschliche Genom“ der UNESCO: „Niemand darf einer Diskriminierung aufgrund genetischer Eigenschaften ausgesetzt werden, die darauf abzielt, Menschenrechte, Grundfreiheiten oder die Menschenwürde zu verletzen, oder dies zur Folge hat.“
Auf europäischer Ebene enthalten sowohl die Biomedizin-Konvention des Europarates (Art. 11) wie die Charta der Grundrechte der EU (Art. 21) ein explizites Verbot von Diskriminierung aufgrund genetischer Merkmale. Inzwischen erließen auch viele Nationalstaaten Regelungen, die sicherstellen sollen, dass niemand aufgrund seiner genetischen Konstitution benachteiligt wird. In den USA ist 2008 der Genetic Information Non-Discrimination Act (GINA) in Kraft getreten, der die Diskriminierung auf der Grundlage von genetischen Informationen bei Krankenversicherungen und Beschäftigungsverhältnissen verhindern soll (Slaughter 2008). Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2009 nach einer jahrelangen Diskussion das Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz-GenDG) verabschiedet, das den Missbrauch genetischer Daten und die ungerechtfertigte Andersbehandlung von Menschen aufgrund genetischer Eigenschaften verbietet. Der folgende Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Studien, um die Vielfalt von Formen und Erfahrungen genetischer Diskriminierung darzustellen. Im zweiten Teil unterscheide ich zwischen drei Analysedimensionen. Wird genetische Diskriminierung vornehmlich auf organisationale Mechanismen der Benachteiligung und des Ausschlusses begrenzt, werde ich einen erweiterten Begriff vorschlagen, der darüber hinaus auch Praktiken interaktioneller Diskriminierung sowie Formen institutioneller Diskriminierung erfasst. Der dritte Teil fasst die wichtigsten Untersuchungsergebnisse zusammen und zeigt, dass eine systematische Analyse das Augenmerk auch auf das Zusammenspiel und die Verschränkung von genetischen und nicht-genetischen Diskriminierungspraktiken richten muss.
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Ergebnisse empirischer Studien
Seit dem Beginn der 1990er Jahre haben sich mehrere empirische Studien mit dem Phänomen genetischer Diskriminierung befasst. Den Anfang machte eine explorative Studie, die Anfang der 1990er Jahre unter der Leitung von Paul Billings entstand (Billings et al. 1992).3 Billings und seine Mitarbeiter veröffentlichten einen Aufruf im American Journal of Human Genetics, in welchem sie Ärzte und genetische Berater baten, ihnen konkrete Fälle mitzuteilen, in denen Menschen wegen ihrer genetischen Konstitution diskriminiert worden sind. Ein gleich lautendes Schreiben ging an Mediziner, die im Bereich der klinischen Genetik arbeiten sowie an Selbsthilfeorganisationen von Betroffenen genetischer Erkrankungen. Insgesamt dokumentierten Billings und seine Ko-Autoren 41 Fälle genetischer Diskriminierung. Bis auf zwei Ausnahmen betrafen alle Vorfälle den Versicherungsbereich (Kranken-, Lebens- und Kraftfahrzeugversicherung) oder Beschäftigungsverhältnisse (Einstellung, Kündigung, Weiterbildung, innerbetriebliche Karriere). Die Untersuchung von Billings und seinen Mitarbeitern fand in den USA vielfältige Resonanz und löste lebhafte Diskussionen aus. Sie machte auf der Grundlage konkreter Fallbeschreibungen deutlich, dass eine spezi¿sche Form von Diskriminierung existiert, der Menschen ausgesetzt sind, die als „genetisch krank“ behandelt werden. So wichtig und wegweisend diese Pilotstudie war – ihre offensichtliche Schwäche lag in der geringen Datenbasis. Die Untersuchung diente eher der Sondierung des Problemfeldes, ohne Aussagen über die quantitative Bedeutung und die qualitativen Besonderheiten genetischer Diskriminierung treffen zu können.4 Auf dieses Problem reagierte die erste umfassende Studie zu Formen genetischer Diskriminierung, die von Lisa N. Geller und ihren Mitarbeitern 1992 und 1993 durchgeführt wurde und sich ebenfalls auf die Erhebung von Fällen durch Betroffenenbefragungen stützte (Geller et al. 1996). Die Autoren schickten 27.790 Fragebögen an Menschen, in deren Familie folgende Krankheiten bereits aufgetreten waren: Eisenspeicherkrankheit, Morbus Huntington, Phenylketonurie (PKU), Mucopolysaccharidose (MPS). Ergaben sich aus den eingegangenen Antworten Hinweise auf genetische Diskriminierung, wurden die Betroffenen per Telefon weiter befragt. Insgesamt erklärten bei 917 ausgefüllt zurückgesandten Fragebögen (Rücklaufquote: 3,3 Prozent) fast 50 Prozent, bereits Erfahrungen mit genetischer Diskriminierung gemacht zu haben.
3 Für Analysen genetischer Diskriminierung vor der Publikation der Studie von Billings et al. 1992, vgl. Holtzman 1989: 183–231; Duster 1991; Gostin 1991; Draper 1991. 4 Zu den methodischen Mängeln der frühen Studien genetischer Diskriminierung vgl. Treloar et al. 2004; Hall et al. 2005: 311 f.
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Wie die vorangegangene Untersuchung trug auch die Studie von Geller und ihren Mitarbeitern Fallgeschichten zusammen, die Formen und Vielfalt von Praktiken genetischer Diskriminierung anschaulich darstellten. Diese reichten von der Ablehnung von Versicherungsleistungen und dem Verbot der Teilnahme an Blutspendeaktionen bis hin zur Weigerung, Schüler zu versetzen, da die Lehrer schlechte Schulleistungen als erste Symptome einer genetischen Erkrankung interpretierten (ebd.; vgl. auch Geller 2002). Die beiden Pionier-Arbeiten machten die wissenschaftliche Öffentlichkeit auf wichtige negative Folgeerscheinungen des wachsenden genetischen Wissens aufmerksam. Ihnen folgten weitere empirische Untersuchungen, die Umfang und Bedeutung genetischer Diskriminierung in den USA zu bestimmen suchten (Lapham et al. 1996; Hall/Rich 2000; Hall et al. 2005; vgl. auch Martindale 2001; Slaughter 2008: 725 f.). Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem der genetischen Diskriminierung in den Vereinigten Staaten früher und intensiver als in anderen Ländern einsetzte, hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen sind die technologische Entwicklung und der Einsatz von Gentests dort am weitesten fortgeschritten. Zum anderen spielt auch der politisch-institutionelle Kontext eine wichtige Rolle. In den USA fehlt – im Unterschied zu vielen anderen westlichen Industriestaaten – ein gesetzliches Krankenversicherungssystem, was der Risikodifferenzierung aufgrund von genetischen Besonderheiten eine existenzielle Bedeutung verleiht: In Extremfällen werden Antragsteller abgelehnt und bleiben ohne jeden Versicherungsschutz. Praktiken genetischer Diskriminierung sind jedoch nicht auf die USA beschränkt. Lawrence Low, Suzanne King und Tom Wilkie berichteten auf der Grundlage einer Befragung von Menschen mit verschiedenen genetischen Erkrankungen von diskriminierenden Praktiken britischer Lebensversicherer. Die Autoren verschickten 7000 Fragebögen an Mitglieder von sieben Selbsthilfegruppen für genetische Erkrankungen (etwas mehr als 1000 gingen an eine Vergleichsgruppe, die sich aus einem repräsentativen Sample der Gesamtbevölkerung zusammensetzte). Insgesamt schilderten 33,4 Prozent der Befragten Probleme bei der Beantragung von Lebensversicherungen; dagegen hatten nur 5 Prozent der Antragssteller aus der Kontrollgruppe Schwierigkeiten, eine Lebensversicherung abzuschließen. Die Untersuchung zeigte auch, dass viele Fälle genetischer Diskriminierung auf das mangelnde Fachwissen über Verursachungswege und Krankheitsbilder auf Seiten der Versicherungen bzw. deren Vertreter zurückgingen (Low et al. 1998). Fälle genetischer Diskriminierung traten in Großbritannien auch im Rahmen von Beschäftigungsverhältnissen auf, wie die kritische Organisation GeneWatch UK nachgewiesen hat (Mayor 2003). Eine Befragung von Arbeitgebern zeigte vor knapp zehn Jahren, dass 50 Prozent der Verantwortlichen es für angemessen und richtig hielten, genetische Tests einzusetzen, um Menschen mit erhöhten Krankheitsrisiken zu identi¿zieren (GeneWatch UK 2001; 2003).
Genetische Diskriminierung
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Neben diesen größeren empirischen Untersuchungen sind Einzelfälle genetischer Diskriminierung in Frankreich (Browaeys/Kaplan 2000: 2), Kanada (Lemmens 2000: 352–354) und Hongkong (Wong/Lieh-Mak 2001) dokumentiert. Die bislang umfassendste und methodologisch anspruchsvollste Untersuchung wurde in Australien durchgeführt (Otlowski et al. 2002; Taylor et al. 2004; Otlowski et al. 2007; Taylor et al. 2007; Taylor et al. 2008; Barlow-Steward et al. 2009). Der Forschungsverbund umfasste unterschiedliche Teilprojekte zu speziellen Aspekten und offenen Fragen genetischer Diskriminierung.5 So hat die Forschungsgruppe um Kristine Barlow-Stewart vom Centre for Genetics Education in Sydney mehr als 1000 Personen befragt, die sich einem prädiktiven Gentest zur Bestimmung von Krankheitsrisiken unterzogen hatten. Jeder zwölfte Befragte berichtete von Problemen mit Arbeitgebern und/oder Versicherungen (Aldhous 2005). Anders als in den USA, Großbritannien und Australien gibt es in Deutschland bislang keine umfassenden empirischen Studien zu Formen genetischer Diskriminierung. Im Rahmen einer explorativen Studie sind lediglich einzelne Fälle genetischer Diskriminierung von „Risikopersonen“ für die Huntington-Krankheit dokumentiert (Lemke 2006: 79–104).6 Daher ist weitgehend offen, wie häu¿g Menschen hierzulande aufgrund ihrer genetischen Eigenschaften benachteiligt und/oder ausgegrenzt werden. Es gibt jedoch deutliche Hinweise darauf, dass Menschen mit genetischen Erkrankungen bzw. Erkrankungsrisiken in Deutschland genetische Diskriminierung erfahren haben. Innerhalb der Binnenöffentlichkeit von Betroffenen und Selbsthilfegruppen sind Fälle dokumentiert, in denen Menschen mit einem Erkrankungsrisiko für Morbus Huntington bei Versicherungsverträgen, Adoptionsverfahren und der Verbeamtung diskriminiert wurden (vgl. dazu Lemke/ Lohkamp 2005). Einer dieser Fälle fand ein breites Medienecho und sorgte im In- und Ausland für erhebliches Aufsehen (Mechan-Schmidt 2003; Burgermeister 2003; Traufetter 2003). Einer Lehrerin wurde im August 2003 die Einstellung als Beamtin auf Probe in den hessischen Schuldienst verweigert. Die junge Frau hatte auf Nachfrage der Amtsärztin angegeben, dass ihr Vater an Morbus Huntington leide. Das amtsärztliche Gutachten kam zwar zu dem Ergebnis, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine gesundheitliche Eignung der Bewerberin vorliege; die Verbeamtung wurde dennoch mit der Begründung abgelehnt, dass eine erhöhte Wahrscheinlichkeit bestehe, dass Für Informationen zur Gesamtkonzeption und zur Beschreibung der einzelnen Teilprojekte vgl. http://www.gdproject.org/whatisit/index.php (Zugriff: 25. Juli 2009). 6 Die Huntington-Krankheit ist eine neurodegenerative Erkrankung, die meist erst im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt auftritt. Das Leiden ist in der Regel durch schwerwiegende körperliche und geistige Veränderungen gekennzeichnet. Unwillkürliche, ruckartige Muskelzuckungen am ganzen Körper oder psychische Auffälligkeiten und Persönlichkeitsveränderungen markieren häu¿g den Beginn der Krankheit, die im weiteren Verlauf zum körperlichen und geistigen Verfall führt und nach etwa 15 bis 25 Jahren unvermeidlich mit dem Tod der Erkrankten endet. 5
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die Frau in absehbarer Zukunft erkranken und dauerhaft dienstunfähig werde. Die Bewerberin klagte gegen diese Entscheidung vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt, das ihr weitgehend Recht gab und das Land verpÀichtete, sie umgehend in das Beamtenverhältnis zu berufen. Nach Ansicht des Gerichts hatte die Schulbehörde die gesundheitliche Eignung der Beamtenanwärterin falsch beurteilt, da sie das Erkrankungsrisiko von 50 Prozent als „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ einer dauerhaften Dienstunfähigkeit bewertet habe. Das Schulamt verzichtete auf weitere Rechtsmittel und übernahm die Frau inzwischen in den Staatsdienst.7 Dieser Fall weist zum einen darauf hin, dass nicht nur private Unternehmen, sondern auch staatliche Organe ein Interesse daran haben können, Bewerber mit überdurchschnittlich hohen genetischen Risiken zu identi¿ zieren und auszuschließen, da sie im Rahmen der Verbeamtung eine lebenslange FürsorgepÀicht übernehmen. Zum anderen zeigt der Fall auch, dass nicht nur ein genetischer Test, sondern bereits die Familienanamnese weitreichende Aufschlüsse über genetische Krankheitsveranlagungen zulässt und von daher in die Diskussion über genetische Diskriminierung einbezogen werden muss (vgl. auch NER 2007: 22). 2
Dimensionen genetischer Diskriminierung
Die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen sowie die bekannt gewordenen Einzelfälle haben nicht nur neue Erkenntnisse zu Formen und Feldern genetischer Diskriminierung geliefert, sondern auch eine Reihe von theoretischen und praktischen Schwierigkeiten aufgezeigt. Unklar ist zum einen, wie sich genetische von nichtgenetischen Formen der Diskriminierung trennscharf unterscheiden lassen. Viele biochemische Tests liefern auch Informationen über genetische Charakteristika, und oft entscheidet allein der medizinische Kontext darüber, ob es sich im konkreten Fall um ein genetisches oder um ein nichtgenetisches Nachweisverfahren handelt (Alper/Beckwith 1998; Beckwith/Alper 1998). Zum anderen stellt sich in normativer Hinsicht die Frage, ob eine Ungleichbehandlung aufgrund genetischer Eigenschaften im Vergleich zur Diskriminierung von Kranken und Behinderten ein besonderes Unwerturteil enthält, das spezi¿sche Gesetzgebungsnormen oder Regelungskataloge verlangt (vgl. dazu Wolbring 2001; Lemke 2006: 72–78). Genetische Diskriminierung wird meist als eine Form gesellschaftlicher Benachteiligung durch Institutionen betrachtet und von Praktiken der Stigmatisierung und Etikettierung abgegrenzt. In einem nächsten Schritt werden dann sachlich gerechtfertigte Differenzierungen von illegitimen Formen der Diskriminierung
7
Vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 24. Juni 2004, AZ 1 E 470/04 [3]; Tolmein 2004.
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unterschieden (vgl. etwa Paslack/Simon 2005).8 Diese eng gefasste De¿nition greift jedoch für das Verständnis der sozialen Ausgrenzungs- und Benachteiligungsprozesse, wie sie im Zusammenhang mit genetischen Informationen möglich sind bzw. beobachtet werden können, zu kurz. Zwei Gründe lassen sich gegen diese enge Begriffsfassung anführen. Erstens ist zu beachten, dass keineswegs eindeutig geklärt werden kann, welche Handlungen als legitime Risikodifferenzierung und welche als diskriminierende Praktiken zu gelten haben. Was im Einzelfall als diskriminierend empfunden wird, unterliegt selbst gesellschaftlichen Werturteilen und normativen KonÀikten. Was eine Partei als sachlich gerechtfertigte und moralisch legitime Praxis ansehen mag, bedeutet für die Gegenseite möglicherweise Missachtung und Ausschluss. Eine vorgängige Orientierung an der Unterscheidung zwischen „fairen“ und „unfairen“ Praktiken droht, einen wichtigen Teil der Diskussion über Praktiken genetischer Diskriminierung auszublenden.9 Zweitens verdeckt der exklusive Fokus auf organisationale Diskriminierung die Verschränkung und Kontinuität von Praktiken der Benachteiligung, der Missachtung und des Ausschlusses. Das dynamische Zusammenspiel und die wechselseitige Verstärkung dieser unterschiedlichen Formen negativer Kategorisierung und Klassi¿zierung kann so nicht mehr erfasst werden. Aus diesen Gründen schlage ich hier einen weit gefassten Begriff genetischer Diskriminierung vor. Wenn sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf Versicherungen, Arbeitgeber etc. beschränkt, wird eine entscheidende Arena genetischer Diskriminierung nicht erfasst: die Missachtung und Stigmatisierung im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis und in sozialen Interaktionsbeziehungen. Darüber hinaus ist es notwendig, neben Formen direkter Diskriminierung, die sich in konkreten Fällen manifestieren, auch Praktiken institutioneller Diskriminierung einzubeziehen. Darunter sind etwa soziale Normen und Lebenswertzuschreibungen zu begreifen, die eine Missachtung oder Geringschätzung bestimmter Personengruppen und Lebensformen ausdrücken. Diese drei Dimensionen genetischer Diskriminierung sollen im Folgenden eingehender dargestellt werden. 2.1 Organisationale Diskriminierung Die bislang vorliegenden Arbeiten haben eine Vielzahl von Belegen erbracht, dass Menschen in unterschiedlichen Ländern aufgrund von genetischen Besonderheiten durch Versicherungen, Arbeitgeber, Behörden etc. benachteiligt, missachtet oder ausgegrenzt werden. Im Mittelpunkt steht die Benachteiligung von Individuen und 8 Diese Position vertritt auch der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme zum Einsatz prädiktiver Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungsverträgen (vgl. NER 2007: 41 f.). 9 So auch das Argument von Andreas Kuhlmann in dem Kurzbericht der Forschungsstelle Bioethik (2004).
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deren Familienangehörigen in und durch Organisationen. Die analytische Konzentration auf die Benachteiligung von Individuen und deren Familienangehörige in und durch Organisationen führt jedoch auch zu einer Verengung der Untersuchungsperspektive. Für eine systematische Analyse genetischer Diskriminierung reicht es nicht aus, die konkreten Fälle von Diskriminierung zu dokumentieren. Darüber hinaus müssen auch jene Handlungsstrategien in den Blick genommen werden, mit denen Betroffene eine negative Kategorisierung durch das soziale Umfeld antizipieren und sich ihr im Vorfeld entziehen, so dass die entsprechenden diskriminierenden Effekte nicht auftreten. Das wirksamste Mittel, genetischer Diskriminierung zu entgehen, besteht darin, Organisationen wie Versicherungen oder Arbeitgebern den (möglichen) Risikostatus nicht zur Kenntnis zu bringen. Eine der wenigen empirischen Studien, die Strategien zur Vermeidung genetischer Diskriminierung Aufmerksamkeit schenkt, ist die Arbeit von Geller und ihren Kollegen: „These strategies included purchasing insurance policies before genetic testing, being tested anonymously, paying out-of-pocket for tests so that insurance companies would not obtain the results, providing partial disclosure of relevant information and, sometimes, providing incorrect information.“ (Geller et al. 1996: 79)
Wie eine explorative Befragung von Menschen zeigte, in deren Familie die HuntingtonKrankheit bereits aufgetreten ist (vgl. Lemke 2006), antizipierten Betroffene eine – in den Worten eines Befragten – „latent vorhandene Ablehnung“ und stellten sich in ihrem Verhalten reÀexiv darauf ein. Einige der Interviewpartner erklärten, nur deshalb keine Erfahrungen mit genetischer Diskriminierung gemacht zu haben, da sie ihren Risikostatus gezielt verschwiegen. Diese Vorsichtsmaßnahme resultierte aus der Angst vor den möglichen Folgen dieses Wissen in organisationalen Kontexten (aber auch in der personalen Interaktion). Das Verschweigen des eigenen Erkrankungsrisikos und der Ängste, die damit einhergehen, wurde von den Betroffenen als eine Form des Zwangs erfahren, als Einschränkung von Kommunikationsmöglichkeiten und als Notwendigkeit, anderen wichtige Informationen über sich selbst und die eigene Zukunft vorzuenthalten. Die Befragten machten lückenhafte oder falsche Angaben bei Fragen zu familiär bedingten Krankheiten bei amtsärztlichen Untersuchungen, gegenüber Versicherungen und Adoptionsbehörden (Lemke 2006: 87–92). In einer aktuellen kanadischen Studie wurden 37 Personen mit einem positiven Test auf die Anlage zur Huntington-Krankheit befragt, um herauszu¿nden, wie sie auf das Risiko einer Diskriminierung reagieren.10 Die Untersuchung kommt zu dem Der prädiktive Test erlaubt es, die Mutation direkt bei potenziellen Anlageträgern durch Blut- oder Gewebeproben zu diagnostizieren. Beim Nachweis der für die Huntington Krankheit charakteristischen Mutation werden die Untersuchungspersonen mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft erkranken.
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Ergebnis, dass die Interviewten im Wesentlichen vier unterschiedliche Strategien einsetzten: 1. das „Nicht-Auffallen“ („keeping low“); 2. das Herunterspielen der Diskriminierungseffekte; 3. das Treffen von Vorkehrungen und 4. der Widerstand gegen genetische Diskriminierung. Die meisten der Befragten beschrieben ihr Verhalten in Begriffen des „Nicht-Auffallens“. Sie waren extrem vorsichtig und teilten nur sehr wenigen Menschen das Testergebnis und dessen Bedeutung mit, um negative Erfahrungen und Folgen von vornherein zu vermeiden. Die zweite Strategie, die von den Befragten gewählt wurde, bestand in dem „Herunterspielen“ der Folgen genetischer Diskriminierung, etwa wenn sie höhere Versicherungsprämien als „keine besonders wichtige Sache“ ansahen oder ihre Aufmerksamkeit bewusst auf andere Themen und Probleme fokussierten, die ihnen wichtiger oder drängender schienen. Die dritte Verhaltensform, die die Interviewten in Auseinandersetzung mit der Gefahr genetischer Diskriminierung wählten, zielt auf die Vermeidung negativer Effekte durch konkrete Vorkehrungen, z. B. den Kauf von Lebensversicherungen vor dem Test oder die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Besonderheiten der Huntington-Krankheit. Die letzte Gruppe umfasste Individuen, die sich gegen die Erfahrungen genetischer Diskriminierung zur Wehr setzten, etwa indem sie Rechtsanwälte oder Gewerkschaften einschalteten und Freunde oder Vertrauenspersonen im Gesundheitsbereich um Hilfe baten (Bombard et al. 2007; 2008). Die zweifelsfrei dokumentierten Fälle organisationaler Diskriminierung aufgrund genetischer Informationen sollten jedoch nicht dazu verleiten, das Ausmaß des Problems zu überschätzen – und andere Praktiken der Diskriminierung zu vernachlässigen. Eine Untersuchung zur Bewertung prädiktiver medizinischer Informationen im Kontext von Versicherungsentscheidungen hilft, das in der Wissenschaft und in den Medien kursierende einseitige Bild zu korrigieren. Die Studie von Hoyweghen, Horstman und Schepers (2006) analysiert auf der Basis ethnographischer Feldforschung bei belgischen Lebensversicherungsunternehmen, in welcher Weise die Versicherungsangestellten prädiktive Informationen zum Gesundheitszustand der Antragsteller für die Risikobewertung und die Berechnung der Prämienhöhe nutzen. Im Verlauf der Untersuchung zeigte sich deutlich, dass das Interesse der Versicherungsangestellten vor allem den Lebensstilrisiken galt, während genetische Risiken eine untergeordnete Rolle in ihren Überlegungen spielten. Dabei begriffen sie Lebensstilrisiken wie Cholesterolspiegel, Übergewicht oder Bluthochdruck als „Behinderungen“, die praktischen Interventionen und präventiven Regimen offen stehen. Auf diese Weise wurde die individuelle Verantwortung für das Auftreten von Krankheiten betont: „In other words, the issue of compliant behaviour now comes to the fore. Not only the medical risk is the subject of assessment but also the moral risk, the patient’s reliability and disease management.“ (Hoyweghen et al. 2006: 1228)
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In die Risikoabschätzung Àoss also die Art und Weise ein, wie Menschen mit ihren gesundheitlichen Risiken umgehen. Gleichzeitig zeigten sich die Lebensversicherungen vergleichsweise wenig an prädiktiven genetischen Informationen interessiert. Zwar fanden sich in den Fragebögen aller an der Studie beteiligten Unternehmen Fragen zur Familiengeschichte der Antragsteller oder diese Art von Information wurde von den Hausärzten oder Fachärzten eingeholt. Dennoch berücksichtigten die Versicherungsvertreter die Familiengeschichte kaum für die Einschätzung gesundheitlicher Risiken. Entscheidend war vielmehr, ob sich das familiäre Risiko bereits in einer konkreten Symptomatik nachweisen ließ. Obwohl also die Familiengeschichte in die Prämienbemessung einging, war sie doch deutlich weniger relevant als Informationen zu Lebensstilrisiken. Jemandem aufgrund seiner genetischen Risiken oder seiner Familiengeschichte eine höhere Prämie zu berechnen, wurde von den Versicherungsvertretern als illegitim betrachtet, da „schlechte Gene“ außerhalb der eigenen Kontrolle seien. Das Ergebnis der Untersuchung muss angesichts der allseits erwarteten Benachteiligung von Menschen mit genetischen Besonderheiten bei Versicherungsverträgen überraschen: „The outcome is a ¿nancial solidarity or collective responsibility for the genetic risk carriers – the collective risk pool is prepared to pay for them –, and individual ¿nancial responsibility for lifestyle risk takers – they have to pay themselves for their risk via extra premiums. […] Paradoxically, the most important consequence of the genetics discovery might be that it is individual lifestyle that would be given an ever increasing importance. […] Instead of a ‚genetic determinism‘, it seems more plausible that we are all subject to different levels of susceptibility. As a consequence, if society ¿nds out a genetic mutation for some disease, the individual’s lifestyle habits, preventive initiatives and compliant behaviour in relation to these susceptibilities could be stressed more.“ (ebd.: 1232 f.; Hervorheb. im Orig.)
2.2 Interaktionelle Diskriminierung Eine zweite, entscheidende Arena genetischer Diskriminierung ist die Missachtung und der Ausschluss im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis und in der sozialen Interaktion. Diese „Alltagsdiskriminierung“ wird in den vorliegenden empirischen Studien systematisch ignoriert, so dass ein möglicherweise wichtiges Feld genetischer Diskriminierung ausgeklammert bleibt. Bei interaktioneller Diskriminierung stehen nicht eingespielte, häu¿g formalisierte organisationale Praktiken im Mittelpunkt, sondern mehr oder weniger spontane stigmatisierende oder missachtende (Sprech)Handlungen von personalen Akteuren (Individuen oder Kollektiven). Dass es sinnvoll ist, den Fokus nicht allein auf Organisationen zu richten, zeigt die schon zitierte explorative Studie zu genetischer Diskriminierung in
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Deutschland. Viele der Befragten schilderten, wie sich Erfahrungen von Missachtung und Ausgrenzung selbst innerhalb von Familien und im Bekanntenkreis fortsetzten. Statt den Kranken mit Anteilnahme und praktischer Solidarität zu begegnen, wurde oft der Kontakt eingeschränkt oder abgebrochen. In anderen Fällen suchten Familienmitglieder die Verantwortung für Morbus Huntington bei den Kranken selbst oder leugneten die Existenz der Krankheit und der aus ihr folgenden physischen und psychischen Beschwerden und Beschränkungen. Die Maxime von Betroffenen, nichts „nach außen zu tragen“, hat manchmal auch innerhalb der Kernfamilie Gültigkeit, wenn die (erwachsenen) Kinder von Gesprächen über die Krankheit und ihren eigenen Risikostatus ausgeschlossen werden (Lemke 2006: 95–98). In diese Richtung deuten auch Forschungsergebnisse zu genetischer Diskriminierung in Australien. In einer Teilstudie wurden Menschen befragt, die eine genetische Beratung aufgrund einer Familiengeschichte mit einer genetischen Erkrankung aufsuchten. Nach Auskunft der Untersuchungsleiterin Kristine Barlow-Steward erklärte einer von 15 Befragten, die Genanalyse nur auf Druck von anderen gemacht zu haben: „The majority [of pressured cases] were from other family members. People felt pressure to assist another family member, or there was pressure to have a test because it might show something about their own health.“ (Robotham 2004; Billings 2005; vgl. auch Treloar et al. 2004: 163)
Die Öffnung des Begriffs der genetischen Diskriminierung für interaktionelle Formen von Ausschluss, Missachtung und Benachteiligung erlaubt auch Erfahrungen von Stigmatisierung aufgrund genetischer Eigenschaften in die Analyse einzubeziehen. Die Bewältigungsstrategien im Umgang mit genetischen Besonderheiten weisen einige signi¿kante Ähnlichkeiten mit jenen Handlungsmustern auf, die Personen mit beschädigter Identität anwenden. Es liegt daher nahe, die Praktiken der „vorsorglichen Geheimhaltung“ (Lemke 2006: 89) des eigenen genetischen Risikostatus mit Erving Goffmans Studien von stigmatisierten Personen zu vergleichen. Wie bei jenen, die Goffman als „Diskreditierbare“ (1970: 12) bezeichnet, liegt das entscheidende Problem für Menschen mit genetischen Erkrankungsrisiken darin, Informationen über ihren (potenziellen) „genetischen Defekt“ so zu ¿ltern und zu steuern, dass sie gar nicht erst in die Situation einer diskreditierten Person kommen. Dies gilt umso mehr als die genetischen Informationen für die gesamte Lebensdauer der Betroffenen Gültigkeit besitzen. Die sich daraus ergebende permanente „Informationskontrolle als Management von genetischer Besonderheit“ (Scholz 1995: 52) besteht typischerweise in einer Doppelstrategie. Auf der einen Seite vermeiden „Risikopersonen“ Situationen, in denen das Wissen über die eigenen „genetischen Fehler“ relevant werden könnte,
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wobei sie gegenüber den allermeisten Kommunikationspartnern sorgfältige Geheimhaltung üben. Auf der anderen Seite teilen „genetisch Diskreditierbare“ in der Regel einem kleineren Personenkreis (Partnern und engen Freunden) ihren Risikostatus mit, der auf diese Weise nicht nur weiter mit sozialer Bedeutung aufgeladen wird, sondern auch neue Handlungszwänge und Schuldgefühle freisetzt: „Enge Beziehungen zu anderen, die durch das wechselseitige Offenbaren unsichtbarer Mängel immer wieder bestätigt werden, zwingen die einzelnen entweder dazu, den Vertrauten ihre Situation zu gestehen oder sich schuldig zu fühlen, weil sie dies nicht tun.“ (Ebd.: 53)
Allerdings – darauf haben Kommentatoren immer wieder hingewiesen – könnte in der Klassi¿zierung von bestimmten Eigenschaften oder Krankheiten als „genetischen“ Ursprungs auch eine Entlastungsfunktion liegen. Statt Betroffene zu stigmatisieren, könnte das Label „genetisch“ umgekehrt auch von Stigma befreien, wenn Merkmale wie Fettleibigkeit oder Homosexualität nicht mehr als persönliche Schuld angesehen, sondern als angeboren und unveränderbar wahrgenommen werden (Shakespeare 2003: 201–203; NER 2004: 79). Dass dieses Argument zu kurz greift, zeigen Ergebnisse einer sozialpsychologischen Studie unter der Leitung von Jo C. Phelan (2005). Ausgangspunkt der Untersuchung war die Frage, ob der Prozess der Geneti¿zierung von Krankheiten in einer Stigmatisierung der Betroffenen resultiert. Dabei wurden in einem experimentellen Setting zwei unterschiedliche theoretische Ansätze überprüft. Der Erste unterstellt, dass genetische und andere biologische Erklärungen von stigmatisierten Verhaltensformen Schuldzuweisungen reduzieren. In dieser Perspektive vermindern genetische Deutungsvorschläge die kausale Zurechnung auf die Kranken (Krankheit als Folge von Handeln bzw. Unterlassen) ebenso wie negative Emotionen und Verhaltensformen von Dritten. Der zweite Ansatz geht von der Vorherrschaft eines genetischen Essentialismus aus, demzufolge genetische Charakteristika unvermeidlich oder zumindest sehr eng mit dem Individuum verbunden sind und darüber hinaus auch mit den Personen, mit denen dieses genetisch verwandt ist. Wird diese Sichtweise auf krankheitsrelevante Merkmale angewandt, dürfte die Stigmatisierung der Betroffenen eher zu- als abnehmen. In telefonischen Interviews wurden 1.241 Personen zu einem hypothetischen Fall befragt, der schildert, wie eine als schizophren bzw. depressiv diagnostizierte Frau in ein Krankenhaus gebracht wird. Die Befragten erhielten verschiedene Auskünfte über die Krankheitsursachen. In einigen Versionen wurde eine starke genetische Komponente verantwortlich gemacht, in anderen dominierten die nichtgenetischen Faktoren der Krankheitsentstehung. Die Ergebnisse der Untersuchung zeichnen ein differenziertes Bild der Implikationen der Geneti¿zierung von Krankheiten für die Stigmatisierung von Betroffenen. Auf der einen Seite trat tatsächlich ein teilweiser Entlastungseffekt ein, da nach Einschätzung vieler
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Befragter die Frau nicht für ihr Verhalten verantwortlich war; andererseits suchten die meisten Interviewten Distanz zur Familie der betroffenen Frau: „One stigma outcome – the tendency to punish – was signi¿cantly reduced by a genetic causal attribution, and one – social distance from the sibling – was signi¿cantly increased. […] [T]hese ¿ndings indicate that the effects of geneticization on stigma are complex, ameliorating stigma along some dimensions while exacerbating it along others. […] If two important consequences of geneticization are decreased blame and increased fear of genetic contamination, then geneticization may be most bene¿cial to parents and most harmful to younger relatives, such as siblings, children, and cousins of the ill person.“ (Phelan 2005: 318)11
2.3 Institutionelle Diskriminierung Neben einer direkten Diskriminierung von Menschen, die unmittelbar mit Benachteiligung oder Stigmatisierung konfrontiert sind, müssen auch Diskurse und Praktiken in die Analyse einbezogen werden, die mittelbar auf Betroffene einwirken und deren Entscheidungsspielräume und Handlungsoptionen beschränken. Während die Untersuchung genetischer Diskriminierung in der Regel einzelfallbezogen bleibt und die Art und Weise meint, wie bestimmte Menschen mit genetischen Eigenheiten individuell behandelt werden, ist es notwendig, auch jene sozio-kulturellen Regeln zu analysieren, die an alle Gesellschaftsmitglieder adressiert sind und die „bestimmten Einheiten und Handlungen kollektiven Wert verleihen und sie in einen größeren Rahmen integrieren“ (Meyer 2005: 18). Es sind die in diesem Prozess sich herausbildenden normativen Handlungsmuster und kulturellen Selbstverständlichkeiten, die Unwerturteile, Vorurteilsstrukturen und Formen von Missachtung (re-)produzieren und prägen. Diese Unterscheidung liegt auch dem Definitionsversuch der Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ zugrunde: „Direkte Diskriminierung bedeutet eine moralisch nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung oder Ausgrenzung von Menschen durch andere Menschen bzw. Institutionen. Darunter wäre etwa die Diskriminierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder von Versicherten oder Menschen mit Behinderung auf der Grundlage von Gentests zu verstehen. Unter indirekter Diskriminierung sind soziale Werte und Normen zu verstehen, die eine Geringschätzung bestimmter Menschen ausdrücken. Darunter würde die Etablierung gesellschaftlicher Normen wie beispielsweise ‚Lebenswert-
Für weitere Versuche, das Stigma-Konzept im Kontext genetischer Informationen zu nutzen vgl. Miringoff 1991: 41–62 („The Problem of Stigma“); Markel 1992; Evers-Kiebooms et al. 1994.
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Thomas Lemke zuschreibungen‘ aufgrund chronischer Krankheit oder Behinderung fallen.“ (Deutscher Bundestag 2002: 57)12
Die bisherige Literatur zu genetischer Diskriminierung konzentriert sich auf „negative“ Prozessmuster: auf zwangsförmige Verfahren und asymmetrische Entscheidungsprozesse. Als Leitvorstellung fungieren Organisationen, die Verträge verweigern oder Quali¿kationen absprechen. Auf diese Weise bleibt ausgeblendet, inwieweit auch formal freiwillige Handlungsoptionen und symmetrische Entscheidungssituationen diskriminierende Effekte haben können. Auf der Grundlage des hier vorgeschlagenen erweiterten Begriffs genetischer Diskriminierung kann etwa untersucht werden, welche neuen Entscheidungszwänge und bislang unbekannten moralischen PÀichten die Ausweitung und Verbreitung genetischen Wissens produziert: Mit welchen normativen Erwartungen und Vorstellungen „genetischer Verantwortung“ werden die Einzelnen konfrontiert? Wie werden ihre Handlungsoptionen und Entscheidungsmöglichkeiten darüber eingeschränkt? Wird das Management genetischer Risiken zum Bestandteil individueller Gesundheitsvorsorge und kollektiver Präventionspolitiken? Welche Formen genetischer Besonderheit werden demgegenüber als „vermeidbar“ oder „minderwertig“ präsentiert? All diese Fragen verbleiben bislang außerhalb der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit genetischer Diskriminierung.13 Ein weiteres Problemfeld, das bislang noch keine Berücksichtigung in empirischen Studien fand, betrifft Schwangerschaft und Geburt. In Frage steht, ob Vorurteilsstrukturen und Unwerturteile, die in Praktiken genetischer Diskriminierung zum Ausdruck kommen, auch Auswirkungen auf Reproduktionsentscheidungen haben. In diesem Fall ginge der Kreis der Betroffenen weit über diejenigen hinaus, die unmittelbar von genetischen Krankheitsrisiken betroffen sind. Konzentrierten sich die bisherigen Untersuchungen zum Problem genetischer Diskriminierung auf postnatale Gentests und die Benachteiligung bereits geborener Menschen, ist zu fragen, ob die Analyse nicht auch den Bereich der Pränataldiagnostik (selektive Abtreibung aufgrund genetischer Indikation) und der Präimplantationsdiagnostik (gezielte Auswahl genetisch „erwünschter“ Embryonen) erfassen sollte (vgl. NeuerMiebach 2001: 56–59; Volz 2003). Gregor Wolbring weist in diesem Zusammenhang auf ein normatives Problem hin: Deborah Hellmans „expressivist argument“ zielt auf eine ähnliche Unterscheidung: „The expressivist argument […] focuses on the meaning expressed to everyone by the practice of genetic discrimination: does it convey the message that people with genetic conditions are less worthy of our concern and respect than others? While it may be true that an individual is pitied rather than blamed for being obese or alcoholic in that the genetic link tends to absolve individual responsibility for the condition, it may remain true that social practices which continue to treat the obese or alcoholic and others with genetic conditions less well express that the lives of these people are less valuable.“ (2003: 108) 13 Vgl. dazu Kollek/Lemke 2008: 223–287. 12
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„On the one hand, we increase the application and usage of prebirth predictive tests for ‚medical purposes‘ for the characteristics labelled as disabilities, diseases, or defects. And we try to prohibit the use of the same technologies for ‚non-medical purposes‘ such as sex selection. In other words, the society believes that some characteristics deserve special protection from the misuse of the technologies (sex selection), but others don’t (disability, disease, and defect deselection).“ (2005: 180)14
Auch wenn unklar sein mag, wie verbreitet Benachteiligung und Ausschluss aufgrund von (mutmaßlichen) genetischen Besonderheiten sind, unbestreitbar ist, dass die Angst vor genetischer Diskriminierung in vielen Ländern eine gesellschaftliche Realität darstellt. Dies zeigen die Ergebnisse von Umfragen und wissenschaftlichen Erhebungen. Bei der bislang größten Studie wurden mehr als 86.000 Menschen aus verschiedenen Bundesstaaten der USA und Kanadas zu ihrer Einstellung gegenüber genetischer Diskriminierung befragt. Die Auskunftspersonen nahmen an einem Screening-Programm zur Diagnose der Eisenspeicherkrankheit teil. Die Untersuchung erbrachte den Nachweis, dass ein großer Teil der Befragten Angst vor den Folgen genetischer Diskriminierung hat. 40 Prozent der Teilnehmer stimmte der Aussage zu: „Genetic testing is not a good idea because you might have trouble getting or keeping your insurance.“ Da die Befragten bereits eingewilligt hatten, an dem Screening-Programm teilzunehmen und daher erwartet werden kann, dass sie Gentests grundsätzlich positiv gegenüberstehen, könnte die Skepsis in der allgemeinen Bevölkerung noch größer ausfallen (Hall et al. 2005; Michell 2005). Dass sich solche Vorbehalte nicht auf der Ebene unverbindlicher Befragungen oder theoretischer Spekulation bewegen, dokumentiert eine Erhebung aus Großbritannien. Diese zeigt, dass es in allen britischen Brustkrebszentren Patientinnen gab, die das Angebot genetischer Testverfahren ausschlugen, da sie Probleme mit Versicherungen befürchteten. Die Angst vor Benachteiligungen bei Beschäftigungsverhältnissen bewog Frauen in 40 Prozent der Zentren dazu, genetische Tests zu verweigern (Morrison 2005: 878). Eine wichtige Folge von Diskriminierungsängsten besteht also darin, dass Betroffene für sie möglicherweise medizinisch sinnvolle Gentests entweder nicht durchführen oder sie – um anonym zu bleiben – sog. „home test-kits“ benutzen und damit auf wichtige genetische Beratungsangebote verzichten (ETC Group 2008).
Zur kontrovers geführten Diskussion um das Verhältnis von Pränataldiagnostik und Behindertendiskriminierung vgl. Gillam 1999; Shakespeare 1999; 2003; Davis 2001; Lenhard et al. 2004; van den Daele 2005; Wasserman et al. 2005.
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Thomas Lemke Fazit
Der Begriff der genetischen Diskriminierung, der bislang zumeist auf organisationale Mechanismen der Benachteiligung und des Ausschlusses fokussiert blieb, muss um die Analyse interaktioneller und institutioneller Diskriminierungsmechanismen erweitert werden. Die interaktionelle Diskriminierung manifestiert sich in intentionalen Handlungsformen, aber auch in Stereotypen, Vorurteilsstrukturen und Deutungsmustern, die zu diskriminierenden Handlungen ohne bewusste Diskriminierungsabsicht führen können. Organisationale Diskriminierung beruht hingegen auf eingespielten und auf Dauer gestellten, oft formalisierten und explizit geregelten Praktiken von Organisationen. Die zwei Diskriminierungsebenen sind jedoch nur analytisch gegeneinander abzugrenzen, empirisch schließen sie einander keineswegs aus, sondern verschränken und überschneiden sich regelmäßig in der sozialen Realität. Auf der Grundlage des hier vorgeschlagenen Begriffs institutioneller Diskriminierung ist es möglich zu untersuchen, wie das wachsende genetische Wissen als eine moralische Technologie funktioniert, die nicht nur verbietet und ausschließt, sondern positive Erwartungen an die Lebensführung der Einzelnen heranträgt und diese mit bislang unbekannten normativen Vorstellungen genetischer Verantwortung konfrontiert – aus denen wiederum neue organisationale Zwänge entstehen können. Jenseits der Erweiterung des Analysespektrums um die Dimensionen der interaktionellen und institutionellen Diskriminierung muss die Aufmerksamkeit auch jenen Strategien und Techniken gelten, mit denen potenzielle Opfer der Gefahr genetischer Diskriminierung begegnen. Schließlich ist es erforderlich, die handlungsmotivierende und -orientierende Bedeutung der Angst vor genetischer Diskriminierung zu berücksichtigen – selbst wenn die Ängste übertrieben bzw. unrealistisch erscheinen mögen, haben sie doch konkrete individuelle und kollektive Folgen. Sie führen dazu, dass (potenziell) Betroffene nicht mit anderen über ihre genetischen Besonderheiten sprechen bzw. diese verheimlichen, da sie Stigmatisierung, Missachtung und Ausgrenzung befürchten. Ebenso ist es wahrscheinlich, dass Menschen, die sich prinzipiell für die Durchführung eines prädiktiven Tests entschieden haben (aus medizinischen Gründen, aus Gründen der Lebens- bzw. der Familienplanung etc.), davon Abstand nehmen, um Nachteile im sozialen Verkehr zu vermeiden. Für eine systematische Analyse genetischer Diskriminierung ist es jedoch nicht ausreichend, eine interne Differenzierung genetischer Diskriminierungspraktiken vorzunehmen. Darüber hinaus müssen auch Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Diskriminierungsformen berücksichtigt werden. Auf diese Weise kann untersucht werden, wie sich Formen genetischer Diskriminierung mit sexistischen und rassistischen Praktiken verbinden und sie einander wechselseitig verstärken (vgl. Wolf 1995; Andrews 2001: 77–97).
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In Bezug auf das Verhältnis von genetischer Diskriminierung und Rassismus ist festzustellen, dass die größere Verbreitung von einigen genetischen Störungen in Gruppen, die als ethnisch de¿niert und als solche auf Krankheitsrisiken hin beobachtet werden, zu Generalisierungen und Stereotypen führt. Da verschiedene Gruppen in unterschiedlicher Weise anfällig für bestimmte genetische Krankheiten sind (bei Menschen afrikanischer Herkunft tritt das Sichelzellenallel relativ häu¿g auf, das Tay-Sachs-Syndrom ist unter den aschkenasischen Juden besonders verbreitet, und unter der Bevölkerung des Mittelmeerraums ¿nden sich die meisten Träger des Gens für Beta-Thalassämie), besteht die Gefahr, dass Angehörige von Minderheiten mit veränderten Genen in Zusammenhang gebracht und pathologisiert werden, selbst wenn sie keine Mutationsträger sind. So wird die Sichelzellenanämie in den USA fast ausschließlich als Erkrankung der Afroamerikaner angesehen, obwohl sie bei Bevölkerungsgruppen, die aus dem Mittelmeerraum stammen, auch sehr häu¿g anzutreffen ist (Duster 1991: 24–28, 45–51; vgl. Lynch et al. 2008).15 Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass es zu Ungleichheiten in der Ressourcenverteilung und in der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Krankheiten kommt. In den USA erhält beispielsweise die Forschung zu Cystischer Fibrose, die vor allem Menschen mit weißer Hautfarbe betrifft, deutlich mehr Fördergelder als jene zur Sichelzellenanämie, auch wenn Letztere in der Gesamtbevölkerung wesentlich verbreiteter ist (European Commission 2004: 50; Rouvroy 2008: 127–129). Ein personenzentrierter und fallorientierter Diskriminierungsbegriff ist nicht in der Lage, die systematischen Verbindungen zwischen rassistischen und sexistischen Praktiken und Denkweisen auf der einen und genetischen Deutungsund Handlungsmustern auf der anderen Seite zu untersuchen. Bei genetischer Diskriminierung handelt es sich nicht um isolierte und zufällige Abweichungen von der Norm, um individuelle Fälle und institutionelle Fehlentwicklungen, sondern um geregelte soziale Praktiken, die Menschen in genetische Kategorien einteilen und den Glauben an die determinierende Kraft der Gene fördern. Die Analyse und Kritik genetischer Diskriminierung sollte zum einen die genetische Kategorisierung und Klassi¿zierung als integralen Bestandteil gesellschaftlicher Praktiken und struktureller Verhältnisse von Ungleichheitsproduktion, Missachtung, Benachteiligung und Stigmatisierung begreifen und zum anderen die Fiktion einer „genetischen Norm“, die als eine unmittelbar gegebene und neutrale biologische Tatsache erscheint, nicht als unhinterfragten Ausgangspunkt, sondern als Gegenstand der Untersuchung betrachten.
Zur Geschichte der Sichelzellenanämie in den USA: Wailoo 2001; Markel 1992: 212–214; Beeson/ Duster 2002.
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Diversity-Management zur Überwindung von Diskriminierung? Samira Baig
Im Rahmen dieses Artikels werde ich – ausgehend von einer kurzen Beschreibung von Diversity und Diversity-Management – die Möglichkeiten und Grenzen von sozialpsychologisch sowie systemisch fundierten Diversity-Management-Prozessen darstellen. Unter zu Hilfenahme des Modells der integrativen Theorie nach Hilarion Petzold (2007), möchte ich den (Mehr-)Wert und die Notwendigkeit der sog. „hyperexzentrischen ReÀexion“ (s. u.; vgl. Petzold 2007: 128 ff.) herausarbeiten und auf eine Reihe gesellschaftskritischer Theorien, die ihren Ursprung in diversen Empowermentbewegungen haben, Bezug nehmen. Abschließend führe ich die angesprochenen theoretischen Stränge zusammen und skizziere anhand der KonÀikttheorie von Johan Galtung, inwiefern Diversity-Management für eine nachhaltige Überwindung von Diskriminierung hilfreich sein könnte. Dadurch möchte ich eine Erweiterung gängiger Diversity-Managementkonzepte anregen. 1
Diversity-Management – ein Managementkonzept zum Umgang mit Vielfalt
Diversity steht für Vielfalt und Unterschiedlichkeiten von Menschen und hat auf Grund der zunehmenden Heterogenisierung und Diversi¿zierung als Folge von Globalisierungs- und Internationalisierungsprozessen Ende des letzten Jahrhunderts in den westlichen Industriestaaten immer mehr an Bedeutung gewonnen. Diversity meint sowohl Unterschiedlichkeiten auf Grund der jeweiligen Individualität als auch auf Grund von Merkmalen, die soziale Relevanz haben, wie Geschlecht, Ethnizität, Hautfarbe, Behinderung, Alter, sexuelle Orientierung, etc. (vgl. Gardenswartz 2003: 37 ff.). Auch in Unternehmen wurde es notwendig, auf die Heterogenisierung der Bevölkerung, sowohl auf MitarbeiterInnen- als auch auf KundInnenseite zu reagieren und sich Àexibel auf die sich ständig verändernden Gegebenheiten des Marktes einzustellen. Die damit einhergehenden Herausforderungen und Schwierigkeiten schlugen sich hier auch in der Form von ¿nanziellen Belastungen nieder, die durch Diskriminierung in und von Betrieben entstanden – und nach wie vor entstehen,
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zum Beispiel auf Grund von Rechtstreitigkeiten oder durch Demotivationstendenzen in Folge von (latenten) KonÀikten (vgl. Krell 2004: 45 ff.). Diversity-Management stellt somit ein Managementkonzept dar, das beansprucht, hilfreich für den Umgang mit Unterschiedlichkeiten und Vielfalt zu sein. Es bezeichnet eine personalwirtschaftliche und organisationale Orientierung des Managementhandelns in Unternehmen, das sich zum Ziel gesetzt hat, die vorhandene Vielfalt betriebswirtschaftlich besser entwickeln und nutzen zu können (vgl. Koall 2004: 4). Während es somit auf der einen Seite um Kostenminimierung geht, geht es auf der anderen Seite um Pro¿tsteigerung, zum Beispiel durch die Erschließung neuer Marktpotentiale. Auch wenn der Ursprung von Diversity-Management in den USA in den 60er Jahren in Folge der Human Rights Bewegung gesehen wird und es somit ursprünglich einen primär antidiskriminatorischen Anspruch hatte, ist eine (betriebs-)wirtschaftliche Orientierung von Diversity Management von zentraler Bedeutung (vgl. Koall 2002: 1). Diese Einschätzung belegt auch eine Studie der EU Kommission 2005, die in 25 Mitgliedstaaten durchgeführt wurde, und bei der „Zugang zu einem neuen Arbeitskräftereservoir“ und „Nutzen für den Ruf des Unternehmens“ als die beiden meistgenannten Gründe für Diversity-Management angegeben wurden (vgl. Bendl 2007: 21). Dennoch ist der sozial normative Aspekt in Richtung Antidiskriminierung nicht zu vernachlässigen, da ohne diesen der oben beschriebene betriebswirtschaftliche Nutzen nicht erzielt werden kann (vgl. ebd.). Der antidiskriminatorische Anspruch steht meist auch zu Beginn von DiversityManagement-Prozessen im Vordergrund, da es zu einem Abbau von Barrieren für Personen(gruppen) kommen soll, die bisher auf Grund von Kategorienzugehörigkeiten, wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder sexuelle Orientierung, etc. im Unternehmen benachteiligt worden sind. Im Zuge dessen werden dann Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen initiiert – auf der individuellen, der interpersonellen und der organisationalen Ebene (vgl. Abdul-Hussain/Baig 2009: 43 ff.). Auf individueller Ebene steht Bewusstseinsbildung und die persönliche ReÀexion der einzelnen MitarbeiterInnen im Vordergrund. Im Rahmen von Trainings und Seminaren, die auf allen unternehmensinternen hierarchischen Ebenen angeboten werden, geht es darum, sich anzusehen, wie die eigene Wirklichkeit gestaltet wird und wie sich das auf die Wahrnehmung und Sichtweisen auswirkt. In Zusammenhang mit sozialen Kategorien, wie Geschlecht, gleichgeschlechtliche Liebe, Religion, Herkunft, Behinderung etc. soll die Wertebehaftetheit von Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozessen sichtbar und somit reÀektierbar werden (vgl. Koall 2004: 4). Das soll auf interpersoneller Ebene ein gleichwertiges Miteinander fördern, indem gelernt wird, internalisierte Ausschluss- und Abwertungsmechanismen zu umgehen. Trainings im Zuge von Diversity-Management beziehen sich meist auf sozialpsychologische Theorien oder systemische Ansätze. Steht die Sozialpsychologie
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im Vordergrund, geht es darum zu reÀektieren, welche Bilder von einem selbst und von anderen bestehen und wie sich diese auf das Denken und Handeln auswirken (vgl. Baig 2009: 63 ff.). Im Zuge systemischer Ansätze wird der Fokus auf Leitdifferenzen gelegt, auf jene Unterschiede, die im jeweiligen Unternehmen besondere Relevanz haben, da sie sich maßgeblich auf die Kommunikation und das Handeln auswirken (vgl. Engel 2004: 16). Wie bereits erwähnt, wird das Bestreben, ein produktives Miteinander trotz aller Unterschiedlichkeiten zu ¿nden, auch durch Aktivitäten auf organisationaler Ebene unterstützt. Hier wird die Wertschätzung von Vielfalt in Form von Leitbildern oder Mission Statements festgehalten, Beurteilungs- und Anreizsysteme auf „Bias“1 hin überprüft, oder/ und auf eine heterogene Zusammensetzung von Entscheidungsgremien geachtet, sodass dort auch unterschiedliche Perspektiven repräsentiert werden können (vgl. Hansen 2002: 32 f.). Durch all diese Maßnahmen auf individueller, interpersoneller und organisationaler Ebene sollen Arbeitsbezüge geschaffen werden, die Diskriminierung von einzelnen Personengruppen einklagbar machen, wobei die Orientierung an der individuellen Leistungsfähigkeit nach wie vor von zentraler Bedeutung bleibt (vgl. Koall 2002: 7). Es stellt sich nun die Frage, ob und inwiefern eine „Überwindung“ von Diskriminierung im Zuge von oben beschriebenen Diversity-Management Prozessen angestrebt werden kann, wenn Leistung, Konkurrenz- und Durchsetzungsfähigkeit als zentrale handlungsleitende Strukturvorgaben und Werte bestehen bleiben und gesellschaftspolitische Gegebenheiten, inklusive der sich daraus ergebenden Machtkonstellationen, die diese Ausschlüsse womöglich (mit)verantworten, nicht thematisiert werden. 2
Gesellschaftskritisch (hyper-)reÀektiert
An dieser Stelle möchte ich nun die Idee der Integrativen Theorie kurz skizzieren, um dann an Hand der „metahermeneutischen TriplexreÀexion“ (s. u.) darzustellen, wo Diversity-Management, vor allem mit seinen bewusstseinsbildenden Maßnahmen, im Moment angesiedelt ist und wo das weitere Potential in Bezug auf diversitysensible Bewusstseinsbildung und Antidiskriminierung liegt. Die Integrative Theorie bietet verschiedene Konzepte zur Vernetzung und Synergie unterschiedlicher beratungs- und reÀexionsrelevanter Theorien an, mit dem Ziel, dass eine neue Ganzheit, im Sinne eines in sich konsistenten Ansatzes, entsteht – anstelle einer eklektischen Toolbar für ReÀexionsarbeit. Wesentlich ist es dabei, dass durch die Art der Vernetzung zur Erhellung der Situation beige-
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Bias sind systematische Verzerrungseffekte, die Wissen und Wahrnehmung beinträchtigen.
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tragen werden soll; durch nichtlineares pluriformes Denken soll Einseitigkeiten und Dogmatismen entgegen gewirkt werden. Aus einer exzentrischen Position heraus soll die (vielgestaltige) Wirklichkeit betrachtet werden und zwar sowohl aus verschiedenen Perspektiven, als auch aus verschiedenen theoretischen Referenzrahmen heraus. Auf diesem Weg gelingt es dann idealiter, die Komplexität einer Situation oder eines Themas zu erfassen und neue Aspekte zu berücksichtigen (vgl. Abdul-Hussain 2009: 174). Für Diversity-Management bedeutet das einerseits, dass Situationen bzw. Themen nur dann möglichst komplex behandelt werden können, wenn diese in möglichst heterogenen Gruppen reÀektiert und wenn dabei verschiedene theoretische Sichtweisen berücksichtigt werden, durch die verschiedene „Wahrheiten“ gesehen, erkannt, zusammen geführt und miteinander in Verbindung gebracht werden können. Die Integrative Theorie liefert dafür einen Rahmen, der Willkür vermeiden helfen und das Entstehen und Ableiten von neuen Einsichten unterstützen soll. Ein Modell aus diesem theoretischen Ansatz ist die metahermeneutische TriplexreÀexion, die ich etwas näher, wenn auch sehr verkürzt, darstellen werde, da sie eine zentrale Grundlage für meine weiteren Überlegungen darstellt. Es wird davon ausgegangen, dass der Mensch, eine BeobachterIn, die „Wirklichkeit“ wahrnimmt und zwar auf mehreren Bewusstseinsebenen: bewusst, unbewusst, aber auch vor- und mitbewusst. Bei der ReÀexion einer Beobachtung – zum Beispiel im Rahmen eines Trainings zur Bewusstseinsbildung im Rahmen von Diversity-Management, wie auch im Rahmen von Supervision und Coaching – wird nun diese Beobachtung, die eigene Beobachtung und Wahrnehmung ihrerseits beobachtet und analysiert. Diese Beobachtungsebene wird Exzentrizität genannt und dient dazu, das Ich-Bewusstsein zu erweitern, indem un- vor- und mitbewusste Inhalte in der Auseinandersetzung bewusst werden (vgl. Petzold 2007: 133). ReÀexionsarbeit ¿ndet oft hier statt und endet oft auch hier. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn jemand in der Gruppe ihre/seine Unsicherheiten mit „anderen“ bzw. von ihr/ihm „fremden“ Personen schildert und Antworten sucht auf Fragen, wie „Wie soll ich mich der neuen Mitarbeiterin gegenüber verhalten, die angeblich lesbisch ist?“, „Wie ist das bei Autismus?“, „Wie soll ich mich verhalten, wenn der Kollege mit dieser Diagnose wieder offensichtlich gereizt ist und ich befürchte, dass er aggressiv wird?“ Hier steht die ReÀexion des eigenen Ichs im Mittelpunkt und die Zielsetzung, eine für sich selbst stimmige Handlungsoption zu ¿nden. Aus meiner Sicht interessant an der metahermeneutischen TriplexreÀexion ist die nächste Ebene der ReÀexion, die Ebene der Hyperexzentrizität, die auch das kollektive Bewusstsein dezidiert mit einbezieht (vgl. Petzold 2007: 133). Da davon ausgegangen wird, dass in der Wahrnehmung, dem Denken und dem Handeln Einzelner auch Makrokontexte, zum Beispiel in Form kollektiver sozialer Kognitionen oder Repräsentationen wirken, bedarf es des ReÀektierens der Bedingungen des ReÀektierens, des ReÀektierens der eigenen kulturellen Traditionen und „geistigen
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Heimat“. Es gilt sich diese bewusst zu machen, da diese ebenso meist unbewusst, aber auch vor- und mitbewusst sein können, wie Inhalte und Mechanismen des Ichbewusstseins (vgl. Petzold 2007: 92 u. 144). Das Ziel einer vertiefenden ReÀexion, auch im Rahmen von Diversity- Management, ist es somit bzw. sollte es sein, die Gefahren der Reduktion bzw. Ausblendung der „Weltkomplexität“ zu vermeiden und auch verborgene unbewusste Wirklichkeitsebenen, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene in den Blick zu nehmen (vgl. Petzold 2007: 90). Da „sich in der Organisation von Wirklichkeit Regeln fortschreiben, die sich dem Zugriff des Subjekts entziehen und sowohl die diskursiven Auseinandersetzungen des Alltags als auch die wissenschaftlichen Debatten durch¿ltern“ (Petzold 2007: 130), gilt es das Gewohnte quer zu denken, um die Vorläu¿gkeit gesellschaftlicher Ordnungsmuster und die Relativität von Ideologien, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, zu erkennen und so Hintergründe offen zu legen und neue Horizonte kennen zu lernen (vgl. Petzold 2007: 107 u. 111). Was das konkret bedeuten bzw. wie das aussehen kann, werde ich im Zuge der Darstellung der einzelnen theoretischen Zugänge genauer ausführen. Die gängigen sozialpsychologischen und systemischen Methoden, die im Rahmen von Diversity-Management zur Anwendung kommen, dienen in erster Linie der ReÀexion auf exzentrischer Ebene und ermöglichen ein hinreichendes Querdenken nur sehr bedingt: die Sozialpsychologie deshalb, weil sie als originär psychologische Teildisziplin die Mikro- und Mesoebene primär im Fokus hat und nur sehr vereinzelt Verknüpfungen mit der Makroebene anbietet; die systemischen Interventionen deshalb, weil sie den Machtaspekt und dessen (Aus-)Wirkungen nicht dezidiert thematisieren, obwohl gerade dieser eine zentrale Rolle bei Diskriminierung spielt. Aus diesem Grund möchte ich beispielhaft Theorien, die ihre Ursprünge in diversen Empowermentbewegungen haben, wie die Cultural, Queer und Postcolonial Studies, kurz vorstellen und zur Diskussion stellen, inwiefern diese die hyperexzentrische ReÀexion (be-)fördern können, was meiner Meinung nach eine wichtige Voraussetzung für antidiskriminatorische Bewusstseinsbildung darstellt. Beginnen möchte ich mit der theoretischen Perspektive der Cultural Studies. Mit ihrem Verständnis von Kultur, das mehr umfasst als lediglich die gemeinsamen Bedingungen und Praktiken, durch die Welt sinnvoll gemacht wird, um in ihr zu agieren. Kultur gilt hier darüber hinaus als „ein Feld, auf dem konkurrierende Bedeutungen und Weltauffassungen miteinander um Macht und pragmatische Wahrheitsansprüche kämpfen. Bedeutung und Wahrheit konstituieren sich in Machtverhältnissen, die die ansonsten Àüssige Bedeutung festlegen wollen“ (Barker 2003: 183). Die Cultural Studies beziehen somit dezidiert den Machtaspekt mit ein und unterstreichen damit gleichzeitig die Bedeutung der hyperexzentrischen
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ReÀexionsebene. Denn Macht wirkt zwischen allen (gesellschaftlichen) Ebenen und Beziehungen gleichsam wie Zement, der das Soziale zusammen hält und zentraler Bestandteil der Prozesse ist, die Handlungen, Beziehungen und soziale Ordnung, inklusive Diskriminierung, hervorbringen. Diese Machtdynamiken ermöglichen bestimmte Erkenntnisse und Identitäten – andere nicht (vgl. Barker 2003: 182 f. u. 184). Ganz in diesem Sinne werden sprachliche Repräsentationen als perspektivische Standpunkte gesehen, die es zu hinterfragen gilt, als eine gesellschaftliche Konstruktion der Welt und ihre Vorstellung von und durch uns und nicht als ein Spiegel der Realität (vgl. Barker 2003: 182 f.). Was bedeutet es zum Beispiel, dass wir bei jeder Gelegenheit unser Geschlecht angeben bzw. dieses schon durch unsere Vornamen kenntlich machen müssen? Das vermittelt den Eindruck als gäbe es keine Menschen, die sich diesbezüglich nicht festlegen wollen oder können. Unter der Prämisse, dass Machtdynamiken für die Gestaltung und Benennung unserer Realitäten verantwortlich sind, untersuchen die Cultural Studies verschiedene Themen. Als Beispiel möchte ich das Thema Identität heranziehen, anhand dessen ich illustriere, wie gängige Diversity-Management-„Grundsätze“ erweitert werden können. Wie bereits erwähnt, werden zu Beginn von Diversity-Management-Prozessen oft eine oder zwei soziale Kategorien als Anlass für eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Thema herausgegriffen, z. B. Gender und Ethnizität. Im Rahmen des Prozesses wird dann herausgearbeitet, dass Individuen sich nicht nur auf Grund einer Gruppenzugehörigkeit de¿nieren, sondern eine Schnittstelle multipler Gruppenzugehörigkeiten darstellen (vgl. Engel 2004: 18), denn Diversity betont nicht nur die Unterschiedlichkeiten unter Menschen, sondern auch die Vielfalt im Menschen. (vgl. Baig 2008: 100) Es wird somit sichtbar, dass eine Frau nicht nur eine Frau, sondern auch Türkin, Deutsche oder Österreicherin ist, mit oder ohne eine physische oder psychische Beeinträchtigung, Muslimin oder Buddhistin, etc. Während das Bewusstsein für multiple Identitäten, die Individuen ausmachen, einen zentralen Stellenwert in Diversity-Management-Trainings hat, so eröffnet das Verständnis der Cultural Studies diesbezüglich noch mehr Komplexität. Denn „Identität ist immer ein temporärer und instabiler Effekt von Beziehungen, die Identitäten durch Markierung von Differenzen de¿nieren. Der Akzent liegt hier also auf der Vielfalt von Identitäten und Differenzen anstelle einer singulären Identität und anstelle der Verbindungen oder Artikulationen zwischen Fragmenten oder Differenzen“ (Grossberg 2007: 38).
Welche Komplexitätserweiterung dadurch möglich wird, wird sichtbar, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es ganz unterschiedliche Zusammensetzungen von
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temporären, instabilen Identitäten gibt. So z. B. kann eine speziell gelebte Identität im Vordergrund stehen, die aus unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Identitäten besteht, oder sie kann sich dadurch auszeichnen, dass es sich um eine sich im Widerstreit be¿ndende Identität handelt – weder das eine, noch das andere. Aber Identität kann auch so „mobil“ sein, dass sie sich überhaupt nicht festlegen lässt und sich durch diese Ungewissheit und Vielfalt auszeichnet (vgl. Grossberg 2007: 40 f.). So kann sich ein Mann sowohl als Deutscher als auch als Türke gleichzeitig verstehen und muss sich nicht auf eine nationale Identität festlegen, oder er kann sich darüber hinaus weder als Türke noch als Deutscher bezeichnen, sondern als Europäer. Beziehungsweise ist auch vorstellbar, dass er sich in unterschiedlichen Situationen eine jeweils andere nationale Identität zuschreibt, oder sich überhaupt nicht über diese Kategorien de¿niert bzw. de¿nieren möchte, sondern für ihn seine Homosexualität und seine christliche Religionszugehörigkeit im Vordergrund stehen – um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Erweiterung der Komplexität hat zur Folge, dass Identität beweglicher und Àexibler wird. Die Seiten (z. B. Deutsche vs. Türken) stehen nun nicht mehr im Vorhinein fest und die Unterscheidung der Einzelnen ist nicht mehr einfach und klar (vgl. Grossberg 2007: 38). Wenn durch das einseitige Betonen von Ethnizität, Hautfarbe, Gender, etc. das spaltende Denken, das wiederum seinen Niederschlag in Diskriminierung ¿ndet, gefördert wird, ist davon auszugehen, dass die Vorstellung einer sich stetig wandelnden Identität, gepaart mit der Vorstellung von sich verändernden Zugehörigkeiten eine hilfreiche Alternative zur Bewältigung von Vielfalt darstellt, um die Logik der Differenz zu umgehen und die Möglichkeit des Andersseins zu erfassen (vgl. Grossberg 2007: 50 u. 44). Eine andere Theorie, die ich kurz vorstellen möchte, widmet sich ganz zentral dem Thema Identität: die Queer Theories. Auch sie haben ihren Ursprung in einer Empowermentbewegung und stellen aus meiner Sicht eine weitere Bereicherung im Sinne der Hyperexzentrizität dar. Queer bezeichnet eine sexualpolitische Strömung, die die AuÀösung der heterosexuellen Normen und Werte und somit eine tief greifende Veränderung der Gesellschaft fordert (vgl. Spannbauer 1999: 102). Die Queer Theories untersuchen in diesem Zusammenhang gesellschaftsnormierende und –disziplinierende Mechanismen. Ausgehend von der sozialen Dichotomie der Homo- bzw. Heterosexualität befassen sie sich ursprünglich mit dem Thema des sexuellen Begehrens und seinen Spielarten/Ausprägungen. „Queere Praxis und Queer-Theorien in ihrer pluralen-queeren Variante eröffnen aufgrund ihrer Ansprüche nach Anerkennung vielfältiger Lebens- und Denkformen die Chance, insgesamt dichotome Polarisierungen und hierarchisierende Kategorisierungen aufzulösen, zu dekonstruieren, zu verschieben, zu transformieren, und
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Samira Baig eröffnen neue Wege und Möglichkeiten des Umgangs miteinander, des gegenseitigen (Be-)handelns“ (Perko 2005: 67).
Die Queer Theories thematisieren zum einen, dass es neben Männern und Frauen auch eine Reihe von anderen Geschlechtlichkeiten gibt, wie Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle und zum anderen, dass es neben Homo- und Heterosexuellen nicht nur bisexuelle Menschen gibt, sondern unendlich viele Variationen des sexuellen Begehrens, wie z. B. Androgyne, Gendernauts, Tomboyfemmes, etc. (vgl. Perko 2005: 21 ff.). Darüber hinaus bieten die Queer Studies aber auch ein differenzierteres Verständnis des Selbst. Es wird auf der individuellen und interpersonellen Ebene davon ausgegangen, dass das Subjekt in sich gleich, verschieden und anders ist und es gleichzeitig anderen Subjekten gegenüber gleich, verschieden und anders ist (vgl. Perko 2005: 46). Mit gleich meint Perko, dass es immer eine relative Übereinstimmung (mit anderen Menschen) gibt, wobei wir in einigen Teilen auch different, das heißt im Wesentlichen gleich, aber gleichzeitig unterschiedlich bezüglich einzelner Identitätsmerkmale sind und gleichzeitig auch ganz anders – radikal different sind (vgl. Perko 2005: 46). Folglich ist davon auszugehen, dass das Individuum bzw. dessen Identität sich aus so vielen Teilaspekten de¿niert, dass bei der Begegnung mit anderen, es immer Anteile gibt, bezüglich derer man einander als sehr ähnlich – ja nahezu identisch – wahrnimmt, während es in Hinblick auf andere Aspekte kleinere interpersonelle Unterschiede gibt und auch Anteile am jeweiligen Gegenüber, die einem fremd erscheinen. Bei unterschiedlichen Menschen steht für uns in unterschiedlichen Situationen aber jeweils das eine oder andere im Vordergrund. Das meint aber auch, dass bei Menschen, die uns auf den ersten Blick total fremd erscheinen, Anteile vorhanden sind, die wir auch bei uns kennen, ebenso, wie bei augenscheinlich sehr vertrauten Menschen, auch sehr differente Teile des Selbst vorhanden sind, die uns meist sehr irritieren, wenn wir diese im Laufe der Zeit entdecken. Über die Problematisierung der Zweigeschlechtlichkeit und die Thematisierung der Vielfalt sexueller Begehren hinausgehend, stellt Perko auch Überlegungen, wie mit einem Bewusstsein über die beschriebene Komplexität der Vielfalt und der stetigen Veränderung der (eigenen und anderen) Identität antidiskriminatorisch gelebt werden kann, zur Diskussion. Es wird davon ausgegangen, dass es einer ethischen Haltung bedarf, die durch Interesse am anderen geprägt ist. Menschlichkeit im Sinne der Liebe zu den Menschen, die sich darin erweist, dass man bereit ist die Welt mit ihnen zu teilen. Nicht ich frage und du antwortest, sondern wir sprechen in bestimmten Augenblicken miteinander – ohne ein identitätspolitisches Wir zu sein (vgl. Perko 2005: 62). Das Andere wird als solches wahrgenommen, erkannt und als getrennt von sich anerkannt – losgelöst von der ausschließlichen Auffassung, dass, die je eigenen Erfahrungen, Perspektiven und Bewertungen die einzig Richtigen sind.
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Das ist wesentlich für die Subjektkonstituierung des bzw. der anderen (vgl. Perko 2005: 62). Nicht nur das Andere neben sich dulden, sondern die Möglichkeit der Selbstdarstellung desselben forcieren – und es eben nicht nur als Gemeinschaftsmitglied und unterschiedlich erfolgreicher Agent gemeinsamer Werte und Ziele achten, sondern als individuelles, einzigartiges Ganzes – als Anderes (vgl. Perko 2005: 47), und das sowohl wenn die Person als „gleich“ wahrgenommen wird, als auch wenn sie als radikal different wahrgenommen wird, mit allen Abstufungen dazwischen. Denn ein Denken, dass das Wir und Ihr überwindet, schafft erst die Möglichkeiten das Gegenüber als Individuum in ihrer/seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen. Es braucht nicht nur eine Bejahung des Anderen, sondern auch die Bereitschaft zur (Selbst-) Veränderung, das bedeutet, sich den anderen Existenzen gegenüber zu öffnen und die eigenen Anschauungen, Affekte und Denkschemata zu erweitern (vgl. Perko 2005: 65), sodass die Irritationen über das Andersseins des Gegenübers – seien sie augenscheinlich, oder werden sie überdeckt durch Ähnlichkeiten erst später sichtbar – gut auÀösbar werden. Was bedeutet das aber nun in Bezug auf Diversity-Management? Augenscheinlich wird nachvollziehbar, dass es mit einer queeren Haltung obsolet ist, das eigene sexuelle Begehren geheim zu halten, wie es homosexuelle Menschen oft tun müssen – nicht nur in beruÀichen Zusammenhängen. Darüber hinaus wird aber auch eine diversitysensible Haltung beschrieben, die es ermöglicht Menschen in ihrem Mensch sein mit all ihren Aspekten und in ihrer Einzigartigkeit nicht nur zu akzeptieren, sondern auch anzunehmen. Das soll durch das Bewusstsein unterstützt werden, dass immer auch einander ähnliche, wenn nicht sogar identische Anteile vorhanden sind, nach denen es sich zu suchen lohnt, da sie es erleichtern Unterschiedlichkeiten zu leben. Dazu bedarf es allerdings die Bereitschaft sich selbst zu verändern, indem man zum Beispiel lernt in neuen Situationen nicht nur das augenscheinliche wahrzunehmen. Ein anderer theoretischer Ansatz, der neue Sichtweisen im Sinne einer hyperexzentrischen ReÀexion eröffnen kann und seinen Ursprung in einem Empowermentansatz hat, sind die Postcolonial Studies. Unter diesem Blickwinkel wird davon ausgegangen, dass kolonial und imperial geprägte Strukturen sowohl offen als auch unterschwellig nachwirken, wie zum Beispiel in rassischen kulturellen Überlegenheitsfantasien, in denen Weiß-Sein und Deutsch-Sein nicht nur als identisch, sondern auch als normal vorausgesetzt werden (vgl. Ha/Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007: 9), ungeachtet dessen, dass das keineswegs Synonyme sind und es schon seit Generationen farbige Deutsche gibt. Die Postcolonial Studies thematisieren die ungleichgewichtige Globalisierung, zeigen die Notwendigkeit der Aufarbeitung kolonialer Prozesse auf und thematisieren immer wieder den westlichen Überlegenheitsanspruch, denn bestimmte Personengruppen und Communities werden auf
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Grund zugeschriebener wesenhafter kultureller Unterschiede als „anders“ bis hin zu abweichend und unterlegen konstruiert (vgl. ebd.: 10). Denken wir nur an das Bild von der emanzipierten westlichen Frau im Gegensatz zu den unterdrückten muslimischen Frauen in den arabischen Ländern oder der Türkei. Aber nicht nur solche Bilder, sondern allein schon die BegrifÀichkeiten „Minderheit“ und „Minorität“ verobjektivieren Machtverhältnisse und die „weiße“ Mehrheit erscheint demokratisch legitimiert (vgl. ebd.). Auch bei den Postcolonial Studies handelt es sich um einen machtsensitiven Ansatz. Er hat es sich zum Ziel gesetzt, neue positive Selbstbilder, kulturelle und historische Zusammenhänge zu erschließen, indem Betroffene sich Raum nehmen und ihre eigenen Geschichten artikulieren und Neu-entwerfen, wobei ihre subjektiven Beobachtungen durch historische und theoretische Bezüge gestützt werden. Die Intention hierbei ist es, Fremdbilder durch selbst bestimmte Aneignungen und Umdeutungen zu irritieren. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass die Betroffenen trotz aller Unterschiede die Erfahrung teilen auf Grund (kultureller) Fremdzuschreibungen der weißen Dominanzgesellschaft als anders und nicht zugehörig de¿niert zu werden (vgl. ebd.: 11 ff.) – was per se Ausschluss und Diskriminierung fördert. An dieser Stelle möchte ich beispielhaft eine KonÀiktmoderation schildern, die ich in einem Unternehmen durchgeführt habe, das immer wieder als Positivbeispiel für Diversity-Management genannt wird. Als es eines Tages zu einer fast gewalttätigen Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter ägyptischer Herkunft kam, wurde ich hinzu gezogen. Bei dem Vorgespräch mit den Führungskräften zur Klärung meines konkreten Auftrages zeigte sich, dass trotz Diversity-Sensibilisierung kulturelle Zuschreibungen, die die Situation erklären sollten, das Denken prägten: Es wurde von „dem temperamentvollen Südländer“ gesprochen, von dessen vermeintlich ausgeprägtem Ehrgefühl, das dafür ausschlaggebend sei, dass er sich nicht unter Kontrolle hatte, sowie davon, dass Muslime nun einmal sensibler als andere reagieren, wenn es um Religion geht. Es zeigte sich, dass trotz Diversity-Trainings kulturelle Fremdzuschreibungen die Situation prägten und bei den Führungskräften das Bild verfestigt war, dass der Mitarbeiter auf Grund seiner Herkunft seine Gefühle und sich nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Im Zuge von Einzelgesprächen zur Vorbereitung einer KonÀiktmoderation erfuhr ich dagegen von dem Mitarbeiter all den Frust, der sich bei ihm auf Grund jahrelanger Alltagsrassismen angestaut hatte, etwa in Form von „Späßen“ seitens der KollegInnen, auf Grund der Ausgrenzungserfahrungen seiner muslimischen Kinder, – und jetzt aktuell durch die Medienberichterstattung, die dafür sorgte, dass eine islamfeindliche verhetzende Aussage einer österreichischen Politikerin ständig präsent war und auf die er nun permanent angesprochen wurde. Als er dies dann im Rahmen der KonÀiktmoderation im Team schilderte, wurde sichtbar, dass nicht nur er „sich auch integrieren“ muss, wie es eingangs hieß, sondern, dass auch die Mehrheitsangehörigen Möglichkeiten und vielleicht sogar die Verantwortung
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haben, die Situation ihrerseits zu beeinÀussen, was einen längeren Teamentwicklungsprozess nach sich zog. Dieses Beispiel zeigt meiner Meinung nach sehr eindringlich, was einerseits mit dem westlichen Überlegenheitsanspruch und der Zuschreibung wesenhafter kultureller Unterschiede als „anders“ – bis hin zu abweichend und unterlegen – gemeint ist, aber auch was es bringen kann, wenn die „Unterlegenen“ ihre Geschichte erzählen, die sonst oft hinter den Exotisierungen verloren gehen. Dadurch wird ein wesentlicher Beitrag zur Erweiterung des Horizontes der Mehrheitsangehörigen und somit zur Antidiskriminierung geleistet. 3
… und was bedeutet das alles nun für Diversity-Management und die Überwindung von Diskriminierung? – eine (konÀikt-)theoretische Zusammenschau
Iris Koall (2002) spricht von einer „funktionalen Integration“ im Rahmen von Diversity-Management, bei dem Mitglieder minorisierter Gruppen die Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen Erfolg teilzuhaben – vorausgesetzt sie übernehmen die dominante Kultur der Konkurrenz und Leistungserstellung, ebenso wie Methoden der sozialen Durchsetzungsfähigkeit und die Form der Leistungsdarstellung (vgl. Koall 2002: 4). Um der eingangs gestellten Frage, ob und inwiefern eine „Überwindung“ von Diskriminierung im Zuge von Diversity-Management möglich ist, wenn Leistung und Konkurrenz weiterhin handlungsleitende Strukturen und Werte bleiben und gesellschaftspolitische Gegebenheiten, inklusive der sich daraus ergebenden Machtkonstellationen, die Ausschlüsse womöglich (mit)verantworten, nicht thematisiert werden, nachzugehen, möchte ich mich auf den Friedensforscher Johan Galtung beziehen. Sein KonÀiktmodell, das ich kurz skizzieren werde, stellt aus meiner Sicht eine hilfreiche Grundlage für die Zusammenführung des bisher Geschriebenen und die Beantwortung der Frage der Überwindung von Diskriminierung im Zuge von Diversity-Management dar. Johan Galtung (1998) de¿niert KonÀikt als Widerspruch mit damit einhergehenden Annahmen, Einstellungen und Verhaltensweisen. (KonÀikt = Annahmen + Verhalten + Widerspruch) (vgl. Galtung 1998: 135). Widerspruch steht hier als Inkompatibilität von Zielen, wobei Galtung ausführt: „when goals are incompatible a contradiction, an issue is born“ (Galtung 2000: 13).
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Betrachten wir folgendes KonÀiktdreieck,
so steht auch am Beginn eines Diversity-Management-Prozesses meist ein Widerspruch: Nicht alle haben dieselben Karrieremöglichkeiten im Unternehmen, auch wenn das gewünscht ist, ganz egal ob auf Grund gesetzlicher Vorgaben oder aus humanitären oder wirtschaftlichen Beweggründen – und es werden Unterschiede identi¿ziert, die einen benachteiligenden Unterschied machen. Wie dieses Dreieck weiter veranschaulicht, steht dieser Widerspruch nicht für sich, sondern geht einher mit Einstellungen und Annahmen sowie Verhaltensweisen, die diesen Widerspruch ermöglichen und manifestieren. Wenn ich etwa der Meinung bin, dass eine Person, die gehörlos ist, kein adäquater Sekretär in einem Unternehmen sein kann, geht das zum Beispiel mit der Annahme einher, dass ihm viele für seine Arbeit wesentlichen Informationen entgehen, die nebenher kommuniziert werden und diese Annahme bzw. Einstellung bestärkt das Verhalten, eine gehörlose Person nicht als Sekretär einzustellen. Auch wenn ich damit ein sehr plakatives Beispiel herangezogen habe, um dieses Dreieck zu erklären, so veranschaulicht es sehr gut, wie derartige Widersprüche mit einer Reihe von (unterschwelligen) Annahmen und Verhaltensweisen einhergehen und in weiterer Folge einen solchen Widerspruch organisationell manifestieren. Deshalb kommt es bei Diversity-Management, wie eingangs beschrieben, zu breit angelegten sozialpsychologisch oder systemisch fundierten Diversity-Trainings, zur Bewusstseinssensibilisierung auf individueller (Einstellungen/Annahmen) und interpersoneller Ebene (Verhalten) sowie auf organisationaler Ebene, um dem Widerspruch direkt zu begegnen. Galtung geht allerdings davon aus, dass es nur bedingt zu einer nachhaltigen KonÀiktlösung oder Frieden kommen kann, da auf der Ebene des kollektiven Unbewussten sowohl die Tiefenkultur2 als auch die Tiefenstruktur3 wirken und 2 Tiefenkultur benennt all jene unreÀektierten kollektiven Grundannahmen, auf deren Basis etwas als wahr, gut, richtig, schön, heilig empfunden wird. (vgl. Galtung 2000: 13) 3 Als Tiefenstruktur werden kollektiv unbewusste oder latente Beziehungsmuster zwischen gesellschaftlichen Gruppen bezeichnet, zum Beispiel zwischen Mann – Frau, zwischen unterschiedlichen Ethnien, zwischen Alt – Jung etc. (vgl. Graf/Kramer 2007: 244).
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somit die Einstellungen und Annahmen und den Widerspruch beeinÀussen (vgl. Galtung 1998: Pkt.2). Um diesen „Kräften“ zu begegnen, ist eine ReÀexion auf hyperexzentrischer Ebene, wie sie oben beschrieben wurde, erforderlich. Durch die Bewusstmachung der Tiefenstruktur werden gesellschaftsnormierende und -disziplinierende Mechanismen, die einerseits ordnen, aber auch Ausschlüsse produzieren, aufgezeigt. Hierbei sind sämtliche oben beschriebenen gesellschaftskritischen Ansätze hilfreich: Die Cultural Studies, da sie sich zentral mit Kultur und Macht und deren Manifestationen auf gesellschaftlicher Ebene und deren Strukturen auseinander setzen, aber auch die Postcolonial und Queer Studies, stellen jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln diesbezüglich hilfreiche Zugänge dar. Die Postcolonial Studies thematisieren in diesem Zusammenhang die imperial und kolonial geprägten (Gesellschafts-)Strukturen, die, wie bereits erwähnt, westliche Überlegenheitsansprüche manifestieren, indem Personengruppen als „anders“ bzw. als unterlegen konstruiert werden und die Queer Studies stellen heteronormative Werte stark in Frage. Ausschlüsse manifestieren sich auf tiefenkultureller Ebene, wie zum Beispiel in Form von Sprache, die unser Denken, unsere kollektiven Bilder und Haltungen beeinÀussen. Während zu Beginn eines Diversity-Management-Prozesses, je nach de¿niertem Widerspruch, die MigrantInnen den ÖsterreicherInnen, die Männer den Frauen gegenüber stehen oder die Schwulen und Lesben den Heteros, wird allmählich ein Bewusstsein für multiple Identitäten erarbeitet. Wenn wir uns aber darüber hinaus vergegenwärtigen, dass Identitäten (unsere und die der anderen) nicht nur multipel, sondern auch temporär und instabil sind und zudem auch so differenziert und vielfältig in sich, dass sie gleich, verschieden und anders zu gleich sind – so merken wir, dass diese Realität für uns kaum zu denken und auch nicht eindeutig klar zu benennen ist. Das gibt einen Einblick dahin gehend, wie ein transformiertes Bewusstsein in Bezug auf Identität aussehen könnte. Galtung geht davon aus, dass durch das Bewusstwerden unbewusster kollektiver Annahmen und Haltungen sowie unbewusster kollektiver Widersprüche und Ziele auf der Ebene der Tiefenkultur ein transformiertes Bewusstsein entstehen kann, dass sich in transformierten Haltungen und transformierten Zielen zeigt und Gewaltfreiheit, eine nachhaltige KonÀiktlösung (Galtung 1998: Pkt. 3) – oder in unserem Fall die Überwindung von Diskriminierung nach sich ziehen kann. Eine in diese Richtung weisende Möglichkeit zeigen die Queer Theories mit ihrer oben beschriebenen Zielsetzung auf, ein identitätspolitisches ¿xiertes Wir zu überwinden, den jeweils Anderen in ihrer bzw. seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen, sowie in ihrer bzw. seiner Selbstdarstellung zu unterstützen – und zwar auf interpersoneller als auch auf organisationaler Ebene. In Anlehnung an Galtung, müsste das im Zuge von Diversity-Management angestrebte Dreieck daher folgendermaßen aussehen:
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Neben einer „queeren Haltung“ braucht es weitere Haltungen, die an Stelle der dominanten Kultur der Konkurrenz und Leistungserstellung treten sowie kreative Unternehmensziele abseits von Gewinnmaximierung, welche die Überwindung von Diskriminierung fördern und durch die transformiertes Verhalten, das gleichzeitig antidiskriminatorisch ist, erreicht werden kann. Ich denke, dass HyperreÀexion unter Bezugnahme auf die hier beschriebenen gesellschaftskritischen Empowermenttheorien, das pluriforme Denken und somit die Kreativität und das Querdenken unterstützen und hilfreich sein können. Die große Herausforderung liegt allerdings im nächsten Schritt: Ein solches Vorgehen anschlussfähig und integrativ zu konzipieren bzw. zu gestalten, da es ƒ
ƒ ƒ
auf Grund der komplexen Machtkonstellationen eine Vielzahl von Unterschieden, die einen Unterschied machen. im westlichen „Kulturkreis“ gibt, was aus unterschiedlichen theoretischen Positionen heraus reÀektiert zu einer immensen Komplexitätserweiterung führt; die ReÀexion bzw. das Ansprechen der (eigenen) Tiefenkultur und -struktur meist stark emotional behaftet ist und somit starken Widerstand nach sich zieht oder destruktive Eskalationen fördern kann: großer Veränderungsbereitschaft und eine große Af¿nität zur Überwindung von Diskriminierung (anderer) bedarf, um einen langen Prozess gemeinsam zu durchlaufen, der nachhaltig zum Ziel führt.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Katrin Auspurg, geb. 1974, Diplom-Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte und Soziologie Samira Baig, geb. 1973, Mag. phil., selbstständige Supervisorin und Arbeitspsychologin, Lektorin im Studiengang Sozialarbeit der Fachhochschule Wien Heiner Bielefeldt, geb. 1958, Dr. phil., Professsor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg Manuela Boatcă, geb. 1975, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Soziologie am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Mechtild Gomolla, geb. 1962, Dr. phil., Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft, insbesondere interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften Thomas Hinz, geb. 1962, Dr. rer. pol., Professor für empirische Sozialforschung an der Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte und Soziologie Elisabeth Holzleithner, geb. 1970, Dr. iur., Assistenzprofessorin am Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht der Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät Ulrike Hormel, geb. 1968, Dr. päd., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg Christian Imdorf, geb. 1971, Dr. phil., Assistent am Institut für Soziologie der Universität Basel Ernst von Kardorff, geb. 1950, Dr. phil.habil., Professor für Soziologie der Rehabilitation, BeruÀiche Rehabilitation und Rehabilitationsrecht an der HumboldtUniversität zu Berlin, Institut für Rehabilitationswissenschaften
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Autorinnen und Autoren
Ute Koch, geb. 1965, Dr. phil., Professorin für Interkulturelle Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Fakultät Sozialwesen Thomas Lemke, geb. 1963, Dr. phil., Professor für Soziologie an der J. W. GoetheUniversität Frankfurt am Main, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften Tim Lukas, geb. 1976, Diplom-Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Maja S. Maier, geb. 1968, Dr. phil., Vertretungsprofessorin für Schulpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Dietrich Oberwittler, geb. 1963, Priv-Doz. Dr. phil., Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Abteilung Kriminologie Albert Scherr, geb. 1958, Dr. phil. habil., Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Institut für Sozialwissenschaften Jan Weisser, geb. 1970, Dr. phil., Professor an der Pädagogischen Hochschule Fachhochschule Nordwestschweiz, Leiter Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie