Sebastian Bukow · Wenke Seemann (Hrsg.) Die Große Koalition
Sebastian Bukow Wenke Seemann (Hrsg.)
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Sebastian Bukow · Wenke Seemann (Hrsg.) Die Große Koalition
Sebastian Bukow Wenke Seemann (Hrsg.)
Die Große Koalition Regierung – Politik – Parteien 2005 – 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16199-0
Inhalt
Vorbemerkung der Herausgeber
7
Wenke Seemann und Sebastian Bukow Große Koalitionen in Deutschland
9
Regieren mit Zweidrittelmehrheit: Große Koalitionen im politischen System Deutschlands Wenke Seemann Die Gesetzgebungstätigkeit der zweiten Großen Koalition (2005-2009)
43
Astrid Lorenz Schutz vor der Mehrheitstyrannei? Parlamentarische Opposition, Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident als Kontrolleure der Zweidrittelmehrheit
59
Werner Reutter „Grand Coalition State“, Große Koalition und Föderalismusreform
85
Karl-Rudolf Korte Präsidentielles Zaudern. Der Regierungsstil von Angela Merkel in der Großen Koalition 2005-2009
102
Die Große Koalition 2005-2009: Reformkoalition oder Stagnation? Christian Brütt Workfare als Soziales. Zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Großen Koalition
123
Nancy Ehlert Die Familienpolitik der Großen Koalition
142
Simone Grimmeisen und Claus Wendt Die Gesundheitspolitik der Großen Koalition
159
Gert-Joachim Glaeßner Die Innen- und Rechtspolitik der Großen Koalition
173
Thomas Rixen Was kam eigentlich nach Kirchhof? Die Steuer- und Finanzpolitik der Großen Koalition
191
6
Inhalt
Ingolfur Blühdorn Win-win-Szenarien im Härtetest. Die Umweltpolitik der Großen Koalition 2005-2009
211
Sven Bernhard Gareis Die Außen- und Sicherheitspolitik der Großen Koalition
228
Parteienwettbewerb und Parteienentwicklung unter den Bedingungen der Großen Koalition Oskar Niedermayer Parteien und Parteiensystem
247
Wolfgang Schroeder und Arijana Neumann Die CDU in der Großen Koalition – auf dem Weg zu einer neuen strategischen Zeitgenossenschaft
262
Heinrich Oberreuter Von Krise zu Krise. Die Erosion der CSU während der Großen Koalition
285
Uwe Jun Die SPD in der Großen Koalition. Selbstverschuldeter Niedergang oder zwanghafte Anpassung an veränderte Ausgangsbedingungen der Politik?
299
Jens Walther Zwischen Kooperation und Blockade – Entwicklung und Strategie der Oppositionsparteien während der Großen Koalition
319
Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
336
Sebastian Scharch Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
357
Autorenangaben
389
Vorbemerkung der Herausgeber
Angeregt von Diskussionen zur Halbzeit der zweiten bundespolitischen Großen Koalition entstand im Herbst 2007 die Idee einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten Bilanz der schwarz-roten Bundesregierung: Schließlich war diese Regierung von Beginn an kein offizielles Ziel der Beteiligten, sondern vielmehr Folge einer elektoralen Pattsituation im fluiden Fünf-Parteien-System. Dazu kam die auf Bundesebene geringe Erfahrung mit einer solchen Regierungskonstellation, lag doch im Wahljahr 2005 die erste Große Koalition im Bund schon fast 40 Jahre zurück. Es überrascht also nicht, dass die Erwartungen an die Große Koalition sehr unterschiedlich ausfielen und auch die politikwissenschaftlichen Einschätzungen zwischen „Sonderfall“ und „Normalität“ changierten. Zentrales Anliegen dieses Sammelbandes ist eine fundierte Analyse der 2009 beendeten Großen Koalition. Die vorliegende Bilanz untersucht dazu die schwarz-rote Regierungszusammenarbeit aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln: Die Große Koalition wird im institutionellen Kontext des bundesdeutschen politischen Systems verortet, Auswirkungen auf das Regieren im deutschen Föderalismus werden überprüft; die Regierungstätigkeit wird mit Blick auf zentrale Politikfelder inhaltlich aufgearbeitet; die Wirkung dieser im Bund seltenen Regierungsformation auf die Entwicklung der Parteien und des Parteienwettbewerbs werden analysiert. Im Ergebnis liefert dieser Band nicht nur einen umfassenden Überblick über die Arbeit der Bundesregierung 2005-2009, sondern geht darüber hinaus und zeigt auf, ob und in wie weit die Große Koalition das Land und das politische System verändert hat – es ist schließlich anzunehmen, dass bis zur nächsten Großen Koalition im Bund nicht erneut fast vierzig Jahre ins Land gehen werden. Eine derart umfassende Bilanz wäre dabei nicht ohne die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge leistbar. Bei der Konzeption des Buches war es uns ein besonderes Anliegen, neben etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch jüngere Nachwuchsforscherinnen und -forscher für die Mitarbeit zu gewinnen. Dies ist uns gelungen, so dass wir allen Autorinnen und Autoren an dieser Stelle herzlich für die geleistete Arbeit danken. Wir wissen, dass unsere Bitten um Kürzungen und Überarbeitungen sowie damit einhergehende Verzögerungen deren Geduld auf die Probe gestellt haben. Gleichwohl hoffen und glauben wir, dass sich die Mühen gelohnt haben. Ein besonderer Dank gilt auch Rolf Lange für seine Unterstützung bei der Lektorierung der Beiträge sowie Herrn Schindler vom VS Verlag für die von Beginn an angenehme und erfolgreiche Zusammenarbeit. Berlin & Köln, im März 2010 Sebastian Bukow & Wenke Seemann
Wenke Seemann und Sebastian Bukow
Große Koalitionen in Deutschland1
Die Bundestagswahl 2005 kann als Durchbruch zu einem echten bundesweiten FünfParteien-System in Deutschland verstanden werden (Herzog et al. 2005; Niedermayer 2008). Zugleich verdeutlicht das Wahlergebnis das mit der Fragmentierung des Parteiensystems verbundene Problem bei der Regierungsbildung, ist doch das bis dato übliche Koalitionsmuster nicht ohne Weiteres auf die veränderten Bedingungen eines Fünf-ParteienSystems übertragbar. Die 2005 gebildete Große Koalition kann zudem kaum als Wunschkoalition der beteiligten Akteure betrachtet werden. Große Koalitionen – verstanden als Koalition von CDU/CSU und SPD2 – gelten nicht nur als unbeliebte Regierungskonstellation, sie werden zudem oftmals als koalitions- und regierungstechnischer Sonderfall verstanden. Dies ist auf Bundesebene nicht verwunderlich, weil mit der Regierungsbildung 2005 eine Große Koalition erst zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik zustande kam. Dies ist jedoch sehr verwunderlich, weil auf Landesebene zwischen 1949 und 2007 – vor und auch nach der Deutschen Einheit – immerhin jede fünfte Regierungskoalition eben diesem Muster entsprach und eine Große Koalition somit auf der föderalen Ebene keine Besonderheit darstellt (Haas 2007: 19). Auf gesamtstaatlicher Ebene werden mit dieser Regierungskonstellation gleichwohl unterschiedlichste Chancen und Gefahren verbunden, die Einschätzungen changieren zwischen der Hoffnung auf grundlegende Reformen im ansonsten politikverflochtenen grand coalition state einerseits und der Annahme einer Gefahr für die Demokratie andererseits. Aufgrund dieser Überlegungen ist es sinnvoll, das Phänomen Große Koalition genauer zu betrachten. Der nachfolgende Beitrag greift dabei den skizzierten Spannungsbogen auf und diskutiert die Besonderheiten bundespolitischer großkoalitionärer Regierungskonstellationen in vier Schritten: (1) Zunächst gilt es, die Regierungsbildung auf gesamtstaatlicher Ebene genauer zu betrachten, wobei insbesondere der vermeintliche Sonderfall einer Großen Koalition von Interesse ist. (2) Mit Blick auf diese Mehrheits- und Regierungskonstellation wird daran anschließend diskutiert, welche Effekte einer großkoalitionären Mehrheit zu erwarten und welche Risiken einer solchen übergroßen Regierungsmehrheit anzunehmen sind. Zentral ist dabei die Frage, welche Folgen eine solche Konstellation für das bundesdeutsche Regierungssystem haben könnte. (3) Im Anschluss daran erfolgt eine vergleichende Betrachtung der beiden bundespolitisch realisierten Großen Koalitionen, wobei vorrangig spezifische Entstehungshintergründe 1
Für ebenso kritische wie konstruktive Kommentare und Anregungen danken wir Rolf Lange. Eine klare Kategorie zur Bestimmung einer großen Koalition fehlt (Jun 1994). Üblicher Weise werden in Deutschland Koalitionen aus CDU bzw. CDU/CSU und SPD als Große Koalition bezeichnet: „Das Kriterium, das den Zusammenschluss aus CDU/CSU und SPD zu einer Großen Koalition werden lässt, ist die Tatsache, dass es sich bei Christ- und Sozialdemokraten traditionell um die stärksten Parteien in den bundesdeutschen Parteiensystemen auf Bundes- und Landesebene handelt.“ (Haas 2007: 19) Die Bezeichnung erfolgt damit unabhängig von der empirischen Realität, also unabhängig davon, ob diese Parteien die beiden stärksten Fraktionen stellen. 2
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Wenke Seemann und Sebastian Bukow
sowie ausgewählte strukturelle Aspekte herausgearbeitet werden, um davon ausgehend die zweite Große Koalition adäquat zu würdigen. (4) Abschließend – und zugleich als Zusammenführung der in diesem Buch vorgenommenen Einzelanalysen – werden konkrete Erwartungen an das Regierungshandeln der Großen Koalition 2005-2009 abgeleitet und unter Rückgriff auf die Einzelbeiträge dieses Bandes bilanzierend erörtert. 1
Große Koalitionen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland
1.1 Regierungsbildung auf Bundesebene: Die Tradition der kleinen Koalition In Deutschland setzt eine Regierungsbildung auf gesamtstaatlicher Ebene zumeist die Bildung einer Koalition miteinander konkurrierender Parteien voraus (Jun 2008: 27). Im Bund waren bislang alle Regierungen Koalitionsregierungen – Alleinregierungen traten lediglich als kurzzeitiges Übergangsphänomen nach dem Scheitern bestehender Koalitionen auf (CDU/CSU 1960-1961, 1966; SPD 1982). Zwei Aspekte sind hierfür ursächlich: Das fest verankerte personalisierte Verhältniswahlrecht verhindert zumeist die absolute Mehrheit einer einzelnen Partei und Regierungen ohne eigene parlamentarische Mehrheit sind absolut unüblich. Die Regierungsbildung im Bund setzt damit voraus, eine regierungseigene parlamentarische Mehrheit, die nur mittels Koalitionsbildung realisierbar ist. Die so sicherzustellende parlamentarische Mehrheit ist dabei auch verfahrenstechnisch faktisch unverzichtbar, denkt man etwa an die Notwendigkeit der absoluten Mehrheiten bei der Wahl des Bundeskanzlers in den ersten beiden Wahlgängen (Art. 63 GG) sowie den jederzeit möglichen Kanzlerwechsel durch ein konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG). Diese verfahrenstechnische Verankerung der Mehrheitslogik verdeutlicht, dass „hierzulande Minderheitsregierungen verpönt“ sind (Schmidt 2007: 97). Es heißt, „nur eine Mehrheitsregierung habe die Macht […] politische Entscheidungen auch effektiv durchzusetzen“ (Jun 2008: 27). Auf Bundes- wie auch auf Landesebene sind Minderheitsregierungen bis heute die absolute Ausnahme, Parteien fügen sich dieser Abneigung und folgen dem Zwang zu Koalitionsbildung. Hinsichtlich der meist notwendigen Koalitionsbildungsprozesse ist dabei nicht nur eine Veränderung von Koalitionspräferenzen und -möglichkeiten als Folge eines Parteienund Parteiensystemwandels zu erkennen, sondern auch Veränderungen hinsichtlich der bevorzugten Koalitionsmuster sind zu konstatieren (zum Zusammenhang von Parteiensystem und Regierungsbeteiligung siehe u.a. Mair 1996; zur Koalitionstheorie bspw. Jun 1994). Die in den Anfangsjahren der Bundesrepublik üblichen Koalitionen nach dem Surplus-majority-Prinzip wurden rasch durch kleine Koalitionen in Form von minimal winning coalitions abgelöst, die vor allem durch die gegenseitige Abhängigkeit der Regierungspartner voneinander gekennzeichnet sind: „Every member of a minimal winning coalition is thus pivotal, in the sense that the member can turn a winning coalition into a losing one by leaving and can turn a losing coalition into a winning one by joining“ (Laver 1998: 8).3 Diesem Wandel des präferierten Koalitionsmusters liegt eine fortschreitende Konsoli3 Als Surplus-majority-Koalitionen werden übergroß dimensionierte Koalitionen bezeichnet. So bildete 1957 die CDU/CSU sogar trotz einer absoluten Mehrheit eine Koalitionsregierung mit den Liberalen und der Deutschen Partei. Minimal winning coalitions agieren dagegen auf der Basis einer kleinstmöglichen Mehrheit, das heißt jeder
Große Koalitionen in Deutschland
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dierung und damit einhergehend die Konzentration des bundesdeutschen Parteiensystems hin zu einem stabilen Zweieinhalb-Parteien-System zu Grunde (ab 1961). Die kleine Koalition, verstanden als „Bündnis, das die Fraktion einer der beiden großen Volksparteien mit einer oder mehreren kleinen Fraktionen im Parlament schließt“ (Thurich 2006), wird in den 1960er-Jahren zum bundespolitischen Regelfall. Auf gesamtstaatlicher Ebene steht dabei bis 1983 lediglich die FDP als kleiner Koalitionspartner im Bundestag zur Verfügung, was dazu führt, dass zwischen 1949 und 2009 immerhin 18 von 22 Bundesregierungen diesem Koalitionsmuster entsprachen.4 Dadurch erlangte die FDP eine über ihre elektorale Stärke hinausgehende, bis in die 1990er-Jahre währende Macht- und Sonderstellung als zumeist unverzichtbare Mehrheitsbeschafferin. Eine Ausnahme bilden lediglich die in den ersten beiden Legislaturperioden bestehenden Drei-Parteienkoalitionen, die Regierungsperioden 1956-1961 und 1966-1969 sowie die Zeit nach 1998, wobei 1998 damit auch das faktische Ende der FDP-Sonderstellung markiert. 1.2 Neue Koalitionsoptionen und Koalitionsnotwendigkeiten Der Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 beendet – wenngleich erst mit deutlicher Verzögerung – die Sonderstellung der FDP, die möglichen Koalitionskonstellationen werden nach ersten Versuchen auf Landesebene auch auf Bundesebene vielfältiger (vgl. zur Entwicklung der Grünen bspw. Bukow 2003, 2008; Poguntke 1998; Raschke 1993). Der bevorzugte Koalitionstyp ändert sich dabei zumindest im Bund nicht, es kommt vielmehr zu einer Lagerbildung in Form einer koalitionsperspektivischen Anbindung je einer Volkspartei und einer Kleinpartei: Während sich die FDP auf Bundesebene seit 1982 und bis heute an die Union bindet, ist eine bundespolitische Regierungsperspektive für die Grünen zunächst gar nicht und seit den 1990er-Jahren nur in Verbindung mit der SPD realistisch. Mit dem ersten und einzigen vollständigen Regierungswechsel auf Bundesebene wird dieses Koalitionsmodell dann 1998 gesamtstaatlich realisiert – 15 Jahre nach dem erstmaligen Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag und nachdem rot-grüne Koalitionen auf Landesebene schon längere Zeit gängige Praxis geworden waren. Grundlegende Bedeutung für die bundespolitische Koalitionsbildung hat darüber hinaus – mit 15 Jahren Verzögerung und erst in Verbindung mit weiteren Entwicklungen (dazu u.a. Niedermayer sowie Jun in diesem Band) – die deutsche Einheit. Seit 2005 ist Die Linke5 auch in den westdeutschen Bundesländern zunehmend erfolgreich und erreicht dadurch bundesweit relevante Stimmanteile, weshalb eine Mehrheitsbildung entlang der üblichen Koalitionspartner ist zum Erhalt der Mehrheit zwingend notwendig (Riker 1984: 40; Pehle/Sturm 2007: 8; Schüttemeyer 2007: 263). Es besteht darüber hinaus die Möglichkeit, dass sich minimum winnig coalitions bilden, also Koalitionen, die über die „kleinstmögliche Mehrheit der Mehrheit der Mandate im Parlament verfügen” (Jun 2008: 29). Im internationalen Vergleich und im Gegensatz zur bundesdeutschen Koalitionsbildungspraxis zeigt sich, dass überdimensioniert große Koalitionen, kleine Minderheitsregierungen sowie minimal winning coalitions etwa gleich häufig vorkommen (Schmidt, 2004: 358). 4 Bundesregierungen nach Parteizugehörigkeit im Zeitraum von 1949 bis 2009 (bis 2003 vgl. Pappi/Becker/Herzog 2005: 440); die Phasen zwischen Koalitionsbruch und -neubildung 1966 und 1982 sind hier nicht berücksichtigt worden. 5 Die Gründung der neuen Partei Die Linke erfolgte formal erst am 16. Juni 2007 in Berlin (Die Linke o.J.) als Zusammenschluss der vor allem westdeutschen WASG mit der einzig verbliebenen ostdeutschen Partei, der SEDNachfolgepartei Linkspartei.PDS. Entscheidend ist, dass die Linkspartei.PDS in der Bundestagswahl 2005 WASG-Mitglieder auf ihre Landeslisten mit aufnahm und damit elektoral sehr erfolgreich war.
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Wenke Seemann und Sebastian Bukow
parteipolitischen Lager schwieriger geworden ist (Decker 2007: 28-29), nicht zuletzt weil die Linke im Bund bislang weder als Koalitionspartner agieren möchte noch von den anderen Parteien als Koalitionspartner akzeptiert wird. Wie zuvor bei den Grünen sind Koalitionen zunächst nur auf Landesebene denkbar bzw. realisiert. Die Konsequenz dieser parlamentarischen Fragmentierung liegt auf der Hand: Erreichen im zunehmend fluiden FünfParteiensystem (Niedermayer 2008) die ehemals kleinen Parteien (also FDP, Grüne und Linke) jeweils deutlich mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen, so verringern sich im Gegenzug die Stimmenanteile von CDU/CSU und SPD. Die bislang bevorzugten minimal winning coalitions in Form einer Zweiparteienkoalition werden unwahrscheinlicher und – wie 2005 geschehen – rechnerisch schlicht nicht mehr möglich. Da Minderheitsregierungen auf Bundes- wie Landesebene weiterhin kaum vermittel- und durchsetzbar sind, verbleiben in einem solchen Fall für tragfähige Regierungsmehrheiten nur zwei weitere Muster der Mehrheitsfindung: die Bildung einer Drei- bzw. Mehrparteienkoalition sowie einer Großen Koalition als Zusammenschluss von CDU/CSU und SPD. Drei- oder Mehrparteienkoalitionen sind gegenwärtig in verschiedenen Koalitionskonstellationen rechnerisch möglich, bleiben jedoch gleichwohl eine eher theoretische Größe. Faktisch sind die koalitionsstrategischen Möglichkeiten begrenzt, Dreiparteienregierungen wurden nur in wenigen Fällen auf Landesebene realisiert und bleiben ein Sonderfall. So genannte „Ampelkoalitionen“ aus SPD, FDP und Bündnisgrünen sind bislang nur zweimal in Bremen und Brandenburg6 zustande gekommen, die so genannte „Jamaika-Koalition“ (CDU, FDP und Grüne) wird bislang nur im Saarland praktiziert. Dreierkonstellationen unter Beteiligung der Linken sind bislang lediglich diskutiert, nicht jedoch realisiert worden.7 Die grundsätzliche Zurückhaltung bei Dreiparteienkoalitionen liegt vor allem darin begründet, dass im Vergleich zu Zweiparteienkoalitionen der zusätzliche dritte Koalitionspartner als koalitionsinterner Vetospieler Dreierbündnisse für die beteiligten Parteien unattraktiv macht, da mit ihm die Verhandlungskosten steigen und das Gewicht der einzelnen Parteien sinkt. Auch muss die in etwa gleich bleibende Anzahl an Regierungsämtern unter drei Partnern verteilt werden, was den Nutzen einer Regierungsbeteiligung – der sich (auch) aus dem Erwerb politischer Ämter ableiten lässt – für die einzelnen Parteien entsprechend verringert. Dazu kommen insbesondere bei FDP und Grünen diffuse Rivalitäten sowie bei FDP/Grünen und Linke eine grundlegende Zurückhaltung hinsichtlich einer möglichen Koalitionsfähigkeit. Damit spielen letztlich auch inhaltliche Differenzen eine Rolle, der gemeinsame inhaltliche Nenner von Dreiparteienregierungen wird gemeinhin als entsprechend kleiner angenommen, wobei alte Traditionen der Lagerbildung eine gewichtige Rolle spielen. Im Ergebnis sind Kompromisse bei drei Parteien nicht nur schwerer zu erreichen, sondern gerade für den am wenigsten berücksichtigten Partner kaum in die eigene Anhängerschaft hinein zu vermitteln. Eine solche Konstellation bringt somit insbesondere für die kleinen Parteien mit einer oftmals spezifisch policy-orientierten Anhängerschaft die Gefahr eines Identitätsverlustes mit sich und birgt erhebliche elektorale Risiken (Müller 2004), insbesondere dann, wenn einer der beiden kleinen Partner dem vermeintlich „anderen“ politischen Lager zugerechnet wird, wie es bei FDP und Grünen der Fall ist – was 6
Bremen (1991-1995) und Brandenburg (1990-1994) Nicht zuletzt im Kontext der Bundestagswahl 2009 wird diese Koalitionsbildung auch auf Landesebene erschwert, wie die Debatten im Saarland und Thüringen nach den Landtagswahlen vom August 2009 zeigen. Zu groß ist die Sorge vor einer Lagerdebatte auf Bundesebene, und zum gegenwärtigen Zeitpunkt gilt eine rot-rotgrüne Zusammenarbeit auf Bundesebene als noch nicht möglich. 7
Große Koalitionen in Deutschland
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diese Regierungsbildung höchst voraussetzungsvoll werden lässt. Damit sind Dreiparteienkoalitionen gegenwärtig keine realistische Antwortstrategie auf die bundespolitisch-elektoralen Folgen des Fünf-Parteien-Systems. 1.3 Große Koalitionen: Notlösung mit großen Herausforderungen Doch auch die zweite verbleibende Möglichkeit zur Mehrheitsfindung – die Große Koalition – wird in aller Regel nicht gezielt oder gar vorrangig angestrebt. Sie wird, insbesondere auf gesamtstaatlicher Ebene, nur dann in Erwägung gezogen, wenn sich die tradierten Zweierkonstellationen als nicht realisierbar erweisen. Große Koalitionen bleiben die bundespolitische Ausnahme und sind wie skizziert als koalitionsstrategischer und von den Parteien nicht offensiv angestrebter Sonderfall zu verstehen: „Grand Coalitions are not deemed desirable in Germany, the fears related to them are grave“ (Bytzek 2009). Sie gelten als Zweckehe und als Notlösung für „Krisenzeiten (Krieg, nationaler Notstand, dringend notwendige Reformen, die nur mit verfassungsändernder Mehrheit möglich sind)“ (Woyke 2003: 274),8 schließlich widerspreche eine Große Koalition der stärksten Parteien „dem eigentlichen Sinn eines parlamentarischen Systems“ (Woyke 2003: 274). Es ist angesichts dieser normativen Zuschreibung nicht verwunderlich, dass sich die beiden Hauptwettbewerber im deutschen Parteiensystem erst zwei Mal und mit einem Abstand von fast 40 Jahren zur gemeinsamen Regierungsarbeit zusammengefunden haben. Die Anreize, eine Große Koalition einzugehen, sind gering (Riker 1984: 41). Denn im dualistisch strukturierten Parteienwettbewerb konkurrieren nur die beiden Großparteien CDU/CSU und SPD ernsthaft um die Regierungsführung und die damit verbundene Kanzlerschaft. Bei einer immer stärkeren inhaltlichen Angleichung der beiden Parteien über die letzten Jahrzehnte (Decker 2007: 28) stehen damit nicht mehr inhaltlich-ideologische Grundsätze, sondern die Verfügungsgewalt über eben dieses Amt im Vordergrund des Widerstreits (Lehmbruch 1998). Im Falle einer Großen Koalition muss jedoch der „große Juniorpartner“ auf seinen Kanzler- und damit Führungsanspruch verzichten, statt Regierungsführung heißt die Devise Regierungsbeteiligung, was eine eigenständige parteipolitische Profilierung erheblich erschwert und dem parteilichen Selbstverständnis widerspricht. Überspitzt formuliert: Von der – gefühlten – Kanzlerpartei wird Gefolgschaft gefordert, die Richtlinienkompetenz muss temporär abgegeben werden und birgt die Gefahr in sich, dass Regierungserfolge dem Kanzler – und damit dem eigentlichen Hauptkonkurrenten – zugeschrieben werden. Doch auch die kanzlerstellende Partei muss in einer Großen Koalition Einschnitte hinnehmen, da im Vergleich zu einer kleinen Koalition von einem weit weniger asymmetrischen Kräfteverhältnis der beiden Bündnispartner auszugehen ist. Die Folge sind geringere Machtressourcen in Form von Ministerämtern für die Kanzlerpartei, zugleich sind 8 Daher ist es kein Zufall, dass der Bundespräsident in seiner (später stark kritisierten, vgl. bspw. Prantl 2006) Rede zur Auflösung des Bundestags am 21.07.2005 einleitend ein Krisenszenario skizziert, das zu handhaben nur eine starke (neu zu wählende) Regierung in der Lage sei: „Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten. In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. Dabei ist die Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine verlässliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag angewiesen.“ (Köhler 2005)
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Wenke Seemann und Sebastian Bukow
die innerkoalitionären Machtverhältnisse wesentlich ungünstiger. Im Normalfall stellt die Kanzlerpartei innerhalb der Regierungsfraktion weit mehr als 80 Prozent der Abgeordneten, bei zwei weitgehend gleichstarken Partnern sinkt dieser Anteil naturgemäß deutlich (19661969: 48 Prozent; 2005-2009: 51 Prozent).9 Damit bringt eine Große Koalition wesentliche Einschränkung für beide Parteien mit sich, der parteiliche Nutzen einer Regierungsbeteiligung sinkt gegenüber einer kleinen Koalition spürbar und das Koalitionsmuster wird wenig attraktiv. Doch nicht nur die nachteilige Kosten-Nutzen-Relation lässt Große Koalitionen als Notlösung erscheinen. Denn wenngleich in jeder Koalition die Wettbewerbsorientierung der beteiligten Parteien teilweise aufgegeben werden muss (Lees 2005), so stellt der zwangsweise Wechsel im Operationsmodus – von „Gegeneinander“ auf „Miteinander“ zwischen den eigentlichen Hauptkonkurrenten im deutschen Parteienwettbewerb – für die Koalitionspartner im Regierungsalltag eine enorme Herausforderung dar. Kompromisse müssen in der Öffentlichkeit als gemeinsames Programm dargestellt und vertreten werden. Fundamentale Kritik am Koalitionspartner kann im Sinne des gesunden Koalitionsklimas kaum geäußert werden, die eigentlich notwendige inhaltliche Abgrenzung wird erschwert und beschränkt sich folglich meist auf die Ebene symbolischer Darstellungspolitik (dazu Korte im selben Band). Diese bundespolitische Pattsituation konfligiert zudem mit der weiterhin bestehenden landesparteilichen Wettbewerbsstruktur im bundesdeutschen Föderalismus, denn die bundespolitische Bedeutung der während der Legislaturperiode des Bundestages stattfindenden Landtagswahlen erschwert die Ausblendung des Konkurrenzmotivs auf Bundesebene erheblich (Seemann 2008). Zu diesen ebenenbedingten Herausforderungen kommen weitere Probleme auf der parlamentarischen Handlungsebene hinzu. So wird in Großen Koalitionen als Folge der übergroßen parlamentarischen Mehrheit die koalitions- und fraktionsinterne Disziplin geschwächt: „Every coalition has internal conflicts over the division of spoils. When pressure from an opposing coalition is great, so great in fact that the opposing coalition may win and thereby deprive the coalition of any spoils to distribute, these internal conflicts are minimized. But when pressure from the outside diminishes, there is less urgency to settle the internal conflicts amicably simply because they are not so dangerous to the oversized winner as to the minimal winner.” (Riker 1984: 66)
Vereinzelt abweichendes Abstimmungsverhalten – etwa aus Gründen der individuellen Profilierung – stellt hierbei zunächst einmal keine direkte Gefahr für die Verabschiedung von Regierungsvorhaben oder die Regierungsstabilität mehr dar und wird daher üblicher Weise in Maßen, solange es sich auf einzelne Abgeordnete beschränkt, toleriert (März 2007: 119). Allerdings kann dies im Ergebnis jene Parteiflügel stärken, die mit der auf Kompromiss ausgerichteten Koalitionspolitik hadern, und zur Herausbildung einer bündnisinternen Opposition führen, welche die Regierungsstabilität und -effizienz gefährdet 9 Während der ersten Großen Koalition entfielen 251 Sitze auf die Unionsfraktion und 217 auf die SPD-Fraktion (Bundeswahlleiter 2009b). Bei der zweiten Großen Koalition standen zu Beginn 226 Unionsabgeordnete 222 SPDParlamentariern gegenüber, wobei es zum Ende der 16. Legislaturperiode beinahe zum Patt gekommen wäre, hat doch die Union während der Legislatur im Saldo vier Abgeordnete verloren, vor allem da für Überhangmandate keine Nachrücker benannte werden durften. Allerdings hat auch die SPD im Saldo einen Abgeordneten (an die Piratenpartei) verloren.
Große Koalitionen in Deutschland
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(Niclauß 2008: 8). Besonders konfliktbehaftet ist in diesem Kontext die spezifische Konstruktion der Union, in der mit CDU und CSU zwei Parteien auf Bundesebene „natürlich“ koalieren und eine Fraktion bilden – was, wie die Phase der Großen Koalition gezeigt hat, nicht immer konfliktfrei gelingt (vgl. Schroeder/Neumann sowie Oberreuter in diesem Band). Dazu kommt, dass gerade die Notwendigkeit von Kompromissen in der Mitte der parteipolitischen Positionen von Union und SPD in der Kombination mit der geringeren Fraktionsdisziplin häufig zu parteiinternen Konflikten und zum Erstarken eher traditionell orientierter Parteiflügel führt, deren Einfluss auf die Regierungspolitik so im Laufe des Bestehens der Koalition zunimmt (Pehle/Sturm 2006: 18). Andererseits ist aber auch denkbar, dass derartige „Randabweichungen“ zugleich der parteilichen Profilbildung dienen können, was mittelfristig jedoch den innerkoalitionären Interessenausgleich erschweren kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Große Koalition gerade auf Bundesebene keine Regierungsbildungsoption erster Wahl sein kann. Sie ist institutionell-normativ kaum erwünscht, besitzt keinen Projekt-Charakter und wird in Wahlkämpfen schon aus taktischen Erwägungen nicht offen angestrebt – schließlich kämpfen beide Parteien um das Kanzleramt. Damit stellen sie auf gesamtstaatlicher Ebene tatsächlich einen Notbehelf in Folge elektoraler Zwänge dar, der überdies mit unterschiedlichen institutionellen Implikationen einhergeht, schließlich handelt es sich eben gerade nicht um das übliche, tradierte Regierungsmuster, sondern um eine „Ausnahmeregierung“, die nicht selten über eine parlamentarische Supermajorität verfügt und die ebenso tradierten wie erprobten Interaktionsund Konfliktmuster durchbricht. 2
Regieren in Großen Koalitionen: Institutionelle und parteipolitische Implikationen
Mit der Kooperationsvereinbarung im Rahmen einer formalen Großen Koalition werden die gewohnten Mechanismen der parlamentarischen Mehrheitsbildung, der oppositionellen Kontrolle und vor allem des Parteienwettbewerbs temporär zu Teilen außer Kraft gesetzt. Es ist daher nun zu diskutieren, welche institutionellen, parteipolitischen und parteienwettbewerblichen Implikationen sich aus dieser Sondersituation für das Regieren im bundesdeutschen Föderalismus ergeben. Dabei ist vorab zu betonen, dass die nachfolgend diskutierten Aspekte nicht bloß formalrechtlicher Natur sind bzw. formalrechtlichen (Mehrheits-) Erfordernissen geschuldet sind, sondern auch in Zusammenhang mit der politisch-parlamentarischen Kultur und damit verbundenen Interaktionsroutinen zu verstehen sind. Die Bedeutung dieser Routinen wird schon dann deutlich, wenn man bedenkt, dass das, was 1966 noch als eine „unverzeihliche Sünde gegen den Geist der Demokratie“ (Schmoeckel/Kaiser 1991: 13) erschien, vierzig Jahre später weitaus weniger dramatisch kommentiert wird (siehe bspw. Dittberner 2007). Schließlich geht der formalen Großen Koalition 2005 schon lange eine politikverflechtungsbedingte informelle Große Koalition voraus. Dieser grand coalition state ist längst zum Markenzeichen bundesstaatlicher Politik in Deutschland geworden (dazu etwa Schmidt 2008). Seit 1972 sind die deutschen Bundesregierungen alle mehr oder weniger lange mit einer oppositionellen Mehrheit im Bundesrat konfrontiert. Üblicherweise ist in diesen Phasen gegenläufiger Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ein Anstieg der Konfrontationsneigung des Bundesrates gegenüber Geset-
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zesvorlagen der Bundesregierung zu verzeichnen; das Regierungshandeln wird dabei durch Einsprüche, Zustimmungsversagungen und Anrufungen des Vermittlungsausschusses seitens der Länderkammer erschwert (Seemann 2009: 272). Für die Verabschiedung zustimmungspflichtiger Gesetzesvorlagen sind Verhandlungen zwischen den beiden großen Volksparteien notwendig, so dass wichtige Reformvorhaben meist eine Kompromissfindung von Union und SPD erfordern. Dies führt zwar nur selten zu einem endgültigen Scheitern von Gesetzen, verschafft der Opposition jedoch bei überzeugender Vetodrohung einen erheblichen inhaltlichen wie wahltaktischen Einfluss auf die Regierungspolitik (Manow/Burkhart 2007). Dieser Umstand einer informellen großen Koalition – in der 15. Legislaturperiode verfügte die oppositionelle CDU durchgängig über die Mehrheit im Bundesrat – könnte vermuten lassen, dass die faktische Zusammenarbeit von Union und SPD keineswegs mehr die Ausnahme, sondern zwischenzeitlich vielmehr die Regel im bundespolitischen Entscheidungsprozess ist und es damit möglicher Weise einen geringen Unterschied macht, ob eine informelle oder eine formal gebildete Große Koalition die Regierungspolitik bestimmt. Entscheidend ist jedoch, und dies legt grundlegende Unterschiede zwischen formaler Großer Koalition und grand coalition state nahe, die Differenz in der parteipolitischen Wettbewerbsstruktur, welche wie argumentiert die Konkurrenten ums Kanzleramt zu Partnern auf Zeit werden lässt. Die Partnerschaft ist dabei nur dann von Dauer, wenn beide Seiten in ähnlicher Weise von der Kooperation profitieren, was zumindest auf der Ebene der Darstellung politischer Entscheidungen einen erheblichen Unterschied machen dürfte, wenn nicht Konflikt, sondern Kooperation das großkoalitionäre Bild nach außen prägen sollen, wodurch auch die Kompromissbereitschaft der beiden Partner auf Zeit stärker ausgeprägt sein dürfte. Nicht nur der Unterschied zwischen informeller Zusammenarbeit und formalem Bündnis ist politikwissenschaftlich relevant, auch die Frage nach dem Unterschied zur sonst üblichen kleinen Zwei-Parteien-Koalition ist eine genauere Betrachtung wert. Als institutionelle Implikationen Großer Koalitionen sind dabei vor allem drei Punkte anzunehmen: (1) Das Verhältnis der Koalitionsparteien untereinander dürfte sich durch die weitgehend gleiche Stärke der Fraktionen im Vergleich zu den üblichen kleinen Koalitionen deutlich verändern, wenn die Konkurrenten CDU/CSU und SPD ein Zweckbündnis auf Zeit eingehen. (2) Nicht ohne Folgen für die parlamentarische Arbeit dürfte bleiben, dass sich zugleich eine starke Asymmetrie zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen im Bundestag ergibt. (3) Letztlich dürfte die großkoalitionäre Zusammenarbeit Effekte auf die Interaktion von Bundesregierung und Bundesrat zeigen, da sich die beiden Parteien hier nicht mehr als Regierung und Opposition, sondern als Regierungspartner gegenüberstehen. Auf diese Aspekte wird nun in Grundzügen eingegangen, eine detaillierte Analyse findet sich in den Einzelbeiträgen. 2.1 Die Bundesregierung: Zweckbündnis von Konkurrenten Von einer Asymmetrie im Kräfteverhältnis der Regierungsparteien kann auf Bundesebene bei einer Großen Koalition faktisch keine Rede sein, gemessen an Parlamentssitzen ist der elektorale Abstand zwischen den Regierungsfraktionen gering. Das hat Auswirkungen auf die Verteilung von koalitionären Machtressourcen (bspw. Verteilung von Ministerämtern;
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inhaltliche Durchsetzungsmacht), aber auch auf die Position des Regierungschefs innerhalb der Regierung. Konnten FDP und Grüne als kleine Koalitionspartner gewöhnlich rund ein Viertel der Ministerposten für sich beanspruchen, so haben die Sozialdemokraten zwischen 1966 und 1969 neun von zwanzig, zwischen 2005 und 2009 sogar acht von vierzehn Ministerien10 geleitet, was die Möglichkeit bietet, die Agenda in den jeweiligen Politikfeldern maßgeblich zu beeinflussen. Die paritätische Machtverteilung wird überdies in der noch stärker als sonst eingeschränkten Richtlinienkompetenz des Kanzlers (Art. 65 GG) deutlich: So lässt die SPD 2005 von Anfang an keinen Zweifel daran, dass aus ihrer Sicht eine wirksame Richtlinienkompetenz in einer Großen Koalition „nicht lebenswirklich“ sei und eine Ausübung dieser Führungsbefugnis die Zusammenarbeit schnell wieder beenden würde (Müntefering zitiert nach Bannas 2005). Vielmehr soll der Koalitionsausschuss zum zentralen Ort der Entscheidungsfindung werden (wie 1967, damals „Kressbronner Kreis“ benannt); hier kommen die Partei- und Fraktionsspitzen zusammen, um koalitionsinterne Kompromisse auszuhandeln, die in der inhaltlichen Mitte der Koalitionspartner liegen und von der Regierungsfraktion in der Regel nur noch „ratifiziert“ werden können (Rudzio 2008: 16-17). Das gleichberechtigte Miteinander sollte damit die Regierungstätigkeit prägen, so dass – von der Vorwahlzeit 2009 einmal abgesehen – die Interaktion der Regierungsakteure vor allem durch die gemeinsame Regierungszugehörigkeit geprägt sein dürfte, was die Wahrscheinlichkeit strategischer Blockaden erheblich verringert. Entscheidend für das Verhältnis innerhalb der Bundesregierung ist jedoch, dass im Unterschied zum grand coalition state Union und SPD im Rahmen der Großen Koalition jederzeit gleichermaßen Zugang zu den gouvernmentalen Machtressourcen haben und im Grunde gleichermaßen Einfluss auf die Regierungsagenda haben können. Es wird daher über die institutionellen Implikationen hinausgehend vor allem zu prüfen sein, wer sich in welchen Policy-Feldern durchsetzen und damit die Regierungspolitik maßgeblich bestimmen konnte. 2.2 Der Bundestag: Kräfteasymmetrie zwischen Regierung und Opposition Für die Mehrheitsbildung im Bundestag ist die Koalitionsform im Grundsatz kaum von Bedeutung: Im bundesrepublikanischen Parlamentarismus baut die Regierung wie ausgeführt stets auf eine eigene parlamentarische Mehrheit. Gleichwohl ist es für die Arbeit des Parlaments womöglich durchaus bedeutsam, dass kleine Koalitionen in der Regel nicht mehr als 60 Prozent der Bundestagsmandate innehaben und so stets einer personell starken Opposition gegenüberstehen, welche ihre parlamentarische Kontrollfunktion personalkapazitäts- und verfahrensbedingt effektiv ausüben kann, wohingegen bei einer Großen Koalition diese Kontrollfunktion durch die übergroße Regierungsmehrheit stark eingeschränkt sein dürfte. Zwischen 1966 und 1969 entfielen annähernd neunzig Prozent der Bundestagssitze auf Union und SPD, so dass die Möglichkeiten der FDP-Opposition mit knapp über zehn Prozent der Sitze stark eingeschränkt sind. Sie kann insbesondere die formal wichtigsten Kontrollinstrumente wie die Einberufung eines Untersuchungsausschusses gemäß Art. 44 I GG oder die abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 III GG nicht nutzen, erfordern diese Instrumente doch mit einem Viertel bzw. einem Drittel der Bundestagsmitglieder für die 10 Da die Kanzlerin und der Kanzleramtsminister ebenfalls in die Rechnung mit einbezogen wurde, ergibt sich im Ergebnis eine ausgeglichene Verteilung von jeweils acht Regierungsämtern für die Union und SPD.
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FDP nicht erreichbare Quoren. Dass allerdings nicht nur die rein numerische Anzahl der Mandatsträger, sondern auch die parteipolitische Zusammensetzung der Opposition für deren politische Stärke entscheidend ist, wird in der sechzehnten Legislaturperiode offensichtlich. Die zweite Große Koalition verfügt mit 73 Prozent im Vergleich zur ersten Großen Koalition über einen deutlich geringeren Anteil der Bundestagssitze (Bundeswahlleiter 2009a, 2009b). Allerdings besteht die damit numerisch stärkere Opposition aus drei höchst unterschiedlichen, sich politisch wenig nahe stehenden Fraktionen (vgl. Walther in diesem Band). Ein Verfahren zur abstrakten Normenkontrolle kann also auch während der zweiten Großen Koalition nicht von den Oppositionsparteien im Bundestag eingeleitet werden. Alle drei Fraktionen müssen sich zudem einig sein, um die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses gegen den Willen der Regierung erzwingen zu können. Wie schwer diese Einigung mitunter zu erreichen ist, hat 2006 die Einrichtung des BND-Untersuchungsausschusses gezeigt (vgl. Lorenz in diesem Band). Eine Ausnahme stellt dies aber nicht dar, wie die Einrichtung des zweiten Ausschusses der 16. Legislaturperiode zur Untersuchung der Mitverantwortung des Finanzministeriums für die Probleme der Hypo Real Estate im Zuge der internationalen Finanzkrise zeigt (BT-Drs. 16/12480). Im Gegensatz zur parlamentarischen Kontrolle ist der Effekt einer Großen Koalition für die Gesetzgebung zunächst einmal als nur gering einzuschätzen: Die Verabschiedung von Gesetzesvorlagen aus dem Regierungslager kann die Bundestagsopposition weder in Phasen kleiner noch Großer Koalitionen verhindern. Die Regierung verfügt bedingt durch ihre Abhängigkeit vom Parlament (Kanzlerwahl; konstruktives Misstrauensvotum) im deutschen Parlamentarismus in aller Regel über eine eigene Mehrheit, und diese ist für die einfache Gesetzgebung völlig ausreichend. Anders verhält es sich hingegen in den Fällen, in denen der Bundestag als Verfassungsgeber tätig wird. Hier ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich, über die die Regierung der Großen Koalition im Gegensatz zur einfachen, kleinen Koalition durchaus verfügt, wenngleich einschränkend zu betonen ist, dass überdies eine gleichartige Mehrheit im Bundesrat notwendig ist, um verfassungsrechtliche Änderungen vorzunehmen – was wiederum nicht die Regel ist (Kapitel 2.3). Es wird also zu prüfen sein, ob sich insbesondere hinsichtlich der parlamentarischen Kontrolltätigkeit und hinsichtlich der Änderungen des Grundgesetzes Effekte der Großen Koalition ausmachen lassen, doch auch die Frage eines eher im Detail stattfindenden Wandels der einfachen Gesetzgebung im Übergang vom informellen grand coalition state hin zur dem gemeinsamen Erfolg verpflichteten Großen Koalition wird zu klären sein. 2.3 Der Bundesrat: Überwindung der Parteipolitisierung? Mit einer formalvertraglich vereinbarten Zusammenarbeit der beiden Volksparteien ist immer auch die Hoffnung auf eine verbesserte Handlungsfähigkeit der Regierung verbunden, die mit einer potenziellen Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern Verfassungsänderungen selbst ohne oppositionelle Zustimmung durchsetzen kann. Aus diesem Grund wird einer Großen Koalition häufig eine große Reform- und Handlungsfähigkeit unterstellt, da ein potenzieller Vetospieler ins Regierungslager wechselt und damit Kompromisse zwischen Union und SPD dem gemeinsamen Erfolg dienen. Hierbei treten allerdings Unterschiede zwischen den beiden Großen Koalitionen auf, da in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik weder Regierung noch Opposition
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über eine Mehrheit im Bundesrat verfügen, die Auswirkungen von gegenläufigen parteipolitischen Mehrheiten noch unbekannt sind und der grand coalition state noch nicht etabliert ist. Deshalb spielt die Parteipolitik zu Beginn der ersten Großen Koalition im Bundesrat eine vergleichsweise marginale Rolle, der Bundesrat fungiert als Länderkammer, eine parteiinterne Koordination der Abstimmungen erfolgt nicht systematisch. Dazu kommt, dass der Regierungswechsel 1966 der neu entstandenen schwarz-roten Koalition noch keine absolute Stimmenmehrheit im Bundesrat bringt, diese kommt erst einen Monat später im Januar 1967 in Folge des Regierungswechsels in Hessen zustande und ist zudem denkbar knapp (22 von 41 Stimmen). Im Oktober 2005 hingegen ist die „Beseitigung unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse in Bundesrat und Bundestag […] eines der Hauptargumente für die Bildung der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD“ (Stüwe 2008: 24). Sowohl SPD als auch CDU/CSU wissen aus der Erfahrung nur zu gut, was es bedeutet, wenn die eigenen Vorhaben vom oppositionellen Veto des jeweiligen Konkurrenten im Bundesrat bedroht sind. Beide Bundesparteien koordinieren seit langem parteiintern und ebenenübergreifend das Abstimmungsverhalten ihrer Landesregierungen im Bundesrat, um entsprechend der Mehrheitsverhältnisse als Regierungspartei die Verabschiedung politischer Vorhaben sicherzustellen oder als Oppositionspartei Einfluss auf die Regierungspolitik auszuüben (Lehmbruch 1998; Scharpf 2003). Zudem bestimmt aufgrund der vielfältigen Koalitionsformate in den Ländern eine ganz andere Dynamik die Entwicklung der Mehrheitsverhältnisse in der sechzehnten Legislaturperiode: Unmittelbar mit der Regierungsbildung verfügt die Große Koalition mit 36 von 69 Stimmen knapp, nach den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im März 2006 dann mit 44 von 69 Stimmen komfortabel über die absolute Mehrheit der Bundesratsstimmen. Diese wächst zwischen November 2006 und Juni 2007 zwar zur verfassungsändernden Zwei-Drittel-Mehrheit an (47 von 69 Stimmen), schrumpft dann aber kontinuierlich bis zum November 2008 auf 35 Stimmen zusammen und geht im Februar 2009 mit der Neuwahl in Hessen (33 von 69 Stimmen) ganz verloren (Bauer/Leunig o.J.; Andersen/Woyke 2009: 734). Obwohl im Zusammenhang mit Großen Koalitionen im Bund immer wieder von verfassungsändernden Mehrheiten die Rede ist (Art. 79 II GG), ist eine Zwei-Drittel-Regierungsmehrheit im Bundesrat offenbar kein Automatismus: Eine solche übergroße Mehrheit besteht in nur 9 von 82 Monaten Großer Koalitionen. Es sind daher durchaus Effekte im Verhältnis von Bundestag und Bundesrat zu erwarten, die jedoch vorrangig der verbesserten Koordination und somit eher indirekt den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen geschuldet sein dürften, wohingegen das konkrete Koalitionsformat weniger relevant sein dürfte, wenngleich dieses klar mit den Mehrheitsverhältnissen zusammenhängt. Für die zweite Große Koalition ist eine deutliche Reduktion der Konfliktneigung im Sinne öffentlich und verfahrenstechnisch ausgetragener Konflikte im Gesetzgebungsprozess anzunehmen. 2.4 Der Parteienwettbewerb: Zwischen Annäherung und Abgrenzung Der größte Unterschied zur kleinen Koalitionen und gleichzeitig auch der Grund für das seltene Zustandekommen Großer Koalitionen ist die Struktur des bundespolitischen Parteienwettbewerbs. Dieser ist in Deutschland durch den Antagonismus von Union und SPD geprägt. Beide streben nach der Kanzlerschaft und der Regierungsführung in einer kleinen
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Koalition unter Ausschluss der jeweils anderen Großpartei (Lehmbruch 1998: 21, 37-39). Eine Große Koalition im Bund durchbricht diesen tradierten Dualismus und führt zu einer temporären Außerkraftsetzung dieses Grundelements des bundesdeutschen Parteienwettbewerbs, wobei gleichwohl zu betonen ist, dass diese Grundstruktur in Folge der Pluralisierung des Parteiensystems, der gestiegenen elektoralen Fluidität und der daraus resultierenden Wahlergebnisse zumindest auf Landesebene immer wieder durch Große Koalitionen durchbrochen wird. Auf Bundesebene wirkt die seit den 1980er-Jahren bestehende Lagerbildung noch nach, wobei diese bislang nur mit einer Großen Koalition temporär durchbrochen werden kann, falls die Wahlergebnisse eine Koalition im Rahmen tradierter Mehrheiten nicht zulassen. Aus einem Gegeneinander der beiden größten parteilichen Hauptkonkurrenten wird in diesem Fall ein temporäres Miteinander, was bei den beteiligten Akteuren im Wettbewerb miteinander notwendigerweise eine Veränderung der Interaktionsgewohnheiten bewirkt: In der Oppositionsrolle haben sowohl Union als auch SPD seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder in Phasen divergierender Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat die institutionell gegebenen Vetopunkte gegeneinander zur Durchsetzungen eigener politischer Positionen oder (wenn auch sehr selten) zur vollständigen Regierungsblockade genutzt. Als großkoalitionäre Regierungsakteure profitieren beide Parteien von erfolgreich umgesetzten Reformprojekten, während öffentlich ausgetragene Konflikte und anhaltende inhaltliche Kontroversen wie beispielsweise bei den Verhandlungen zur Gesundheitsreform (März 2006 – November 2007) die Koalition und damit die Regierungsstabilität gefährden und mit erheblichen Kosten und Risiken verbunden sind (Bräuninger/Ganghof 2005). Das Konkurrenzmotiv wird deshalb während der gemeinsamen Arbeit weitgehend ausgeblendet und Konflikte möglichst koalitionsintern gelöst. Kompromissfindung hat für Union und SPD nun oberste Priorität. Einigungen erzielen diese dabei meist in der Mitte ihrer Positionen, wodurch die politischen Randpositionen beider Parteien im Vergleich zu den üblichen Lagerkoalitionen deutlich unterrepräsentiert werden. Die so entstehende Unzufriedenheit bei den entsprechenden Wählergruppen wirkt sich auf die Nachfrageseite politischer Repräsentation aus. Wähler wandern tendenziell zu anderen, ggf. extremeren Parteien ab, „da die beiden Großparteien keine Auswahl zwischen zwei alternativen Angeboten erlauben“, was die Polarisierung im Parteiensystem verstärkt (Haas 2007: 20-22; Barthel 1971). Dieser Effekt ist dabei bereits bei der ersten Großen Koalition zu beobachten, wenngleich sich elektoral kaum Auswirkungen zeigten. Doch begünstigte die Große Koalition zumindest in den späten 1960er Jahren den Aufstieg und die Stärkung der außerparlamentarischen Opposition (APO) und auch die unerwartet großen Landtagswahlerfolge der NPD 1966 und 1968 sowie den mit 4,3 Prozent der Stimmen nur knapp verpassten Einzug der rechtsextremen Partei in den sechsten Deutschen Bundestag (Hildebrand 2006: 620). Beides bleiben jedoch keine Phänomene der Großen Koalition: Die Rechtsextremisten in Gestalt von NPD, DVU und Republikanern sind „auch im Verlauf der Zeit niemals vollständig von den beiden großen Parteien geschluckt“ (Hildebrand 2006: 623) worden und bis heute Teil des politischen Spektrums. Auch die in der Studentenbewegung und APO verwurzelten Grünen sind seit 2005 bei der Bildung der zweiten Großen Koalition fest im Parteiensystem etabliert, wohingegen sich die Linke erst durch den vorgezogenen Wahlkampf 2005 und die nachfolgende Große Koalition auf Kosten der SPD nachhaltig etablieren kann. Das heißt, die Durchbrechung der zentralen, polarisierungstauglichen Konfliktlinie dürfte nicht nur maßgeblich zu einer Stärkung der kleinen Parteien führen, sondern auch
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von Seiten der koalierenden Großparteien als Problem wahrgenommen werden, da diesen koalitionsbedingt Profilierungs- und Abgrenzungsmöglichkeiten fehlen. Durch die grundlegend differente Wettbewerbssituation im Parteiensystem der 1960er- und 2000er-Jahre sind jedoch vergleichende Analysen der beiden Großen Koalitionen nur sehr eingeschränkt möglich, weshalb an späterer Stelle vorrangig die Entwicklungen seit 2005 thematisiert werden. 3
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An dieser Stelle ist nun ein Blick auf die beiden Großen Koalitionen 1966-1969 und 20052009 sinnvoll. Dieser richtet sich zunächst auf die Entstehungsbedingungen, um dann einzelne strukturelle Aspekte synoptisch zu vergleichen. 3.1 Die Große Koalition 1966-1969:Strategische Übergangslösung im ZweieinhalbParteien-System Vorbedingung der ersten Großen Koalition im Bund ist das bundesdeutsche ZweieinhalbParteiensystem, das sich in den 1960er-Jahren durch die parlamentarische Konzentration auf CDU/CSU, SPD und FDP herausgebildet hat und durch eine Asymmetrie zugunsten der den Kanzler stellenden CDU/CSU auszeichnet (vgl. bspw. von Alemann 2003: 41-79). Erst die Verabschiedung des Godesberger Programms im November 1959 – welches dem programmatischen Wandel der SPD Rechnung trägt und neue Mehrheiten für die SPD ermöglichen soll – bringt durch die nunmehr reduzierte ideologische Distanz zwischen Union und SPD die für eine Große Koalition notwendige allseitige Koalitionsfähigkeit. In dieser Situation kommt die aus der Wahl zum vierten Bundestag 1961 hervorgegangene christlichliberale Koalition bereits 1962 im Zuge der Spiegel-Affäre in eine schwere Krise, in deren Folge erstmals – von den Parteispitzen der Union und der SPD thematisiert – Spekulationen über die Bildung einer Großen Koalition aufkommen. Ein fulminanter Wahlsieg der Union, die 1965 nicht mehr mit Konrad Adenauer, sondern mit Ludwig Erhard als Kanzlerkandidat antritt, beendet derartige Debatten jedoch vorerst (Der Spiegel 1965: 21). Die Union nutzt das Wahlergebnis zur Fortsetzung der christlich-liberalen Regierungszusammenarbeit, eine Große Koalition ist elektoral nun doch nicht erforderlich und die Zeit ist noch nicht reif für eine sozial-liberale Koalition. Doch schon im November 1966 zerbricht das Bündnis im Streit über den Bundeshaushalt 1967. So verliert in der ersten Wirtschaftskrise der jungen Bundesrepublik der „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“ (März 2007: 133) – Bundeskanzler Ludwig Erhard – zunehmend an Macht. Die FDP ist dabei nicht bereit, die von der Union vorgeschlagenen Steuererhöhungen zur Eindämmung der Staatsverschuldung mitzutragen, die FDP-Bundesminister treten am 27. Oktober 1966 geschlossen zurück. Anfang November fordern SPD und FDP in einem gemeinsamen Antrag Bundeskanzler Erhard dazu auf, die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG zu stellen. Daraufhin benennt die Union den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger zu seinem Nachfolger, der am 1. Dezember 1966 vom Bundestag mit den Stimmen der CDU/CSU- und SPD-Fraktion zum neuen Kanzler gewählt wird, ohne dass es zu einer Neuwahl gekommen ist. Entscheidend
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dafür war das grundlegend zerrüttete Verhältnis von Union und FDP. Personelle Regierungsumbildungen hätten zwar möglicherweise den Weg zu einem Neubeginn ebnen können, hatten aber schon in der Vergangenheit das Aufkeimen neuerlicher Konflikte nicht verhindern können. Die zweite Alternative, eine Zusammenarbeit von SPD und FDP, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellbar: Die SPD, zu diesem Zeitpunkt noch ohne eigene bundespolitische Regierungserfahrung, wäre bei einer Regierungsbildung mit der FDP auf eine knappe parlamentarische Mehrheit angewiesen, die bei den bestehenden wirtschaftsund sozialpolitischen Differenzen der beiden Parteien und der aufkeimenden Wirtschaftskrise ihnen entweder erhebliche inhaltliche Zugeständnisse abgerungen oder aber die Stabilität der Regierung gefährdet hätte. Die Angst vor einem Identitätsverlust ist bei den Sozialdemokraten letztlich so groß, dass sie mit Blick auf die Bundestagswahl 1969 eher auf eine langfristige Verschiebung der politischen Gewichte setzen und ihre erste Regierungsbeteiligung einer fragilen Regierungsführung vorziehen (März 2007: 136-139). Die erste Große Koalition der Nachkriegszeit ist mit der Wahl Kurt Georg Kiesingers und der Ernennung Willy Brandts zum Vizekanzler und Außenminister besiegelt (März 2007: 133-138; vgl. Sommer 1966). Machtpolitisch versprechen sich sowohl die SPD wie auch CDU/CSU einen kurz- und langfristigen strategischen Vorteil von der Großen Koalition, die im Ergebnis eine klare Übergangslösung darstellt: „Die SPD wurde endgültig regierungsfähig, die CDU/CSU blieb regierungsfähig, und beide Seiten versprachen sich davon wahltaktische Vorteile“ (Zundel zitiert nach Probst 2006: 639). 3.2 Die Große Koalition 2005-2009: Elektorale Notlösung im Fünf-Parteien-System Unter gänzlich anderen Vorzeichen startet im Jahr 2005 die zweite Große Koalition. Nicht die CDU, sondern die SPD stellt mit Gerhard Schröder seit 1998 den Bundeskanzler. Im vereinigten Deutschland hat sich zudem ein Fünf-Parteiensystem herausgebildet, in dem nunmehr drei Parteien (SPD, Grüne und Linkspartei.PDS) links der Mitte um Wähler werben. Die SED-Nachfolgepartei PDS nimmt dabei zwar seit 1990 in den ostdeutschen Bundesländern die Rolle einer Volkspartei ein, bis 2005 gelingt es ihr jedoch nicht, bundesweit zu reüssieren. Die zweite Amtszeit Schröders verändert dies nachhaltig: Das dominierende Thema ist die Agenda 2010, ein „Maßnahmenbündel, mit dem die Sozialsysteme saniert, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent gesenkt, der Arbeitsmarkt flexibler gestaltet und die öffentlichen Finanzen konsolidiert werden“ (Hüther/Scharnagel 2005: 24; Bundesregierung 2003) sollen. Es gelingt Bundeskanzler Schröder nicht, das Reformpaket in den sozialpolitischen Traditionskontext der SPD einzuordnen. Im Gegenteil, die Agenda 2010 wird als Bruch mit sozialdemokratischen Traditionen wahrgenommen und führt zu einem bis heute nicht geheilten Vertrauensverlust zwischen Traditionsmilieus und SPD (siehe auch Jun in diesem Band). In der Folge treten in der SPD erhebliche Spannungen und Richtungskämpfe auf, die Mitgliederverluste nehmen zu, seit 2002 verliert die SPD bei jeder Landtagswahl an Wählerzuspruch (Hilmer/Müller-Hilmer 2006: 188-189). Dazu treten öffentliche Proteste und 2004 die Gründung der „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG), der es nicht zuletzt durch die Mitarbeit des vorherigen SPD-Parteivorsitzenden, Ministerpräsidenten und Bundesministers Lafontaine gelingt, enttäuschte SPD-Mitglieder und -Wähler zu gewinnen.
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Als im Mai 2005 mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen die letzte rot-grüne Landesregierung von Vertretern einer schwarz-gelben Koalition abgelöst wird und die seit Mai 2002 bestehende Oppositionsmehrheit im Bundesrat fast zu einer Zweidrittelmehrheit anwächst, wird die Beziehungskrise von SPD und ihrer Wählerschaft überdeutlich. Für Bundeskanzler Schröder und den SPD-Parteivorsitzenden Müntefering wird damit aus der Wahlniederlage auf Landesebene ein Vertrauensverlust „der Mehrheit der Deutschen“. Dies nehmen Schröder und Müntefering als Anlass, über den Weg der unechten Vertrauensfrage Neuwahlen anzustreben (Bundestag 2005: 17485; Seemann 2009: 255; Jung/Wolf 2005: 3).11 Im Ergebnis werden Neuwahlen für den 18. September 2005 festgesetzt. Diese unerwartete Wahl führt nicht zuletzt dazu, dass WASG und PDS im Sommer 2005 übereinkommen, gemeinsam eine bundesweite Linkspartei zu etablieren und bei der anstehenden Bundestagswahl nicht gegeneinander anzutreten. Die PDS öffnet – rechtlich nicht gänzlich unumstritten – ihre Bundestagswahllisten für WASG-Mitglieder und agiert künftig „im Interesse einer neuen bundespolitisch wirksamen Linken in Deutschland“ (Die Linke o.J.) unter dem Namen „Die Linkspartei.PDS“, Spitzenkandidaten werden Gregor Gysi (PDS) und Oskar Lafontaine (WASG). Die Umfragewerte der Union liegen während des kurzen Wahlkampfes bis Anfang September 2005 bei über 40 Prozent, die der SPD hingegen bei maximal 30 Prozent und die Werte von FDP, Grünen und Linkspartei.PDS deutlich über der Fünf-Prozent-Hürde (Infratest dimap 2009). Während sich die Grünen auf eine zukünftige Oppositionsrolle einstellen, lassen Union und FDP siegessicher keinen Zweifel daran, dass sie gemeinsam Regierungsverantwortung übernehmen wollen und werden. Die Nominierung Kirchhofs als Finanzminister in Merkels Schattenkabinett, dessen Einheitssteuermodell selbst in den eigenen Reihen auf heftige Kritik stößt, liefert dem erfahrenen SPD-Wahlkämpfer Schröder den Ansatzpunkt zu einer beeindruckenden Aufholjagd in den letzten Wochen vor der Wahl: Gemessen an den Prognosen fällt das Bundestagswahlergebnis der Union dann mit 35,3 Prozent (-3,3 Prozentpunkte im Vergleich zu 2002) enttäuschend aus, während die SPD zwar hohe Verluste hinnehmen muss (-4,3), aber dennoch mit 34,9 Prozent der Stimmen fast mit der Union gleichzieht. Während die ehemaligen Volksparteien die schlechtesten Wahlergebnisse ihrer Geschichte verbuchen, gewinnt die FDP mit 9,8 Prozent deutlich. Die Grünen verbuchen nur geringe Verluste (8,1 Prozent/-0,4), und die Linkspartei.PDS erlangt erstmals auch in den westdeutschen Bundesländern relevante Stimmenanteile (4,9 Prozent) und erzielt mit 8,7 Prozent (+4,7) auch den höchsten Stimmenzugewinn aller Parteien (Bundeswahlleiter 2009a). Damit sind jedoch im Ergebnis die im Wahlkampf als Ziel postulierten, dem traditionellen Lagermuster entsprechenden Koalitionsoptionen schwarz-gelb und rot-grün unmöglich. Da die Linkspartei.PDS aus inhaltlichen und personellen Gründen für die SPD auf Bundesebene als Koalitionspartner nicht in Frage kommt, scheidet ein rot-rot-grünes Bündnis ebenfalls aus. Als mehrheitsarithmetische Möglichkeiten verbleiben damit an Dreierkoalitionen eine rot-gelb-grüne Ampel sowie eine schwarz-gelb-grüne Jamaika-Koalition als Alternative zu der im Wahlkampf angesichts der Umfragergebnisse der Linkspartei.PDS bereits von den Medien an die Wand gemalten, von Seiten der Politik allerdings immer dementierten Möglichkeit einer schwarz-roten Großen Koalition (März 2007: 166). Die 11 Das Bundesverfassungsgericht bejaht die Zulässigkeit der in dieser Form nicht intendierten Anwendung der Vertrauensfrage nach Artikel 68 GG und die damit verbundene Auflösung des Bundestages (2 BvE 4/05 vom 25.8.2005).
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beiden erstgenannten Varianten werden zwar kurz diskutiert, doch schon nach wenigen Tagen wird klar, dass die inhaltlichen Differenzen sowie die elektoralen Risiken zu groß und die Aussichten auf Durchsetzung eigener politischer Vorstellungen zu gering sind, um die Gespräche auf eine ernsthafte und erfolgversprechende Verhandlungsebene zu heben (Pehle/Sturm 2007: 8). Der jeweils „lagerfremde“ kleine Partner verweigert sich somit einer innovativen Koalitionsoption: Die FDP ist für eine Ampelkoalition nicht verfügbar und die Grünen sind – trotz des Angebots mit Joschka Fischer weiterhin den Bundesaußenminister zu stellen – nicht für Jamaika zu gewinnen (Dittberner 2006: 134; Pehle/Sturm 2007: 8-9). Diese elektorale Pattsituation kann rein rechnerisch nur noch durch die Bildung einer Großen Koalition aufgelöst werden und markiert damit vorerst das Ende der parteipolitischen Blockstruktur von SPD und Grünen sowie Union und FDP als zwei sich gegenüberstehenden Lagern im bundesdeutschen Parteiensystem (Kropp 2001: 61; Thaysen 2006: 586). Schon deshalb nehmen – trotz widriger Startbedingungen, nicht zuletzt in Folge einer ebenso erstaunlichen wie entglittenen Fernsehdiskussion zwischen Schröder und Merkel am Wahlabend – die Parteispitzen von Union und SPD erste Sondierungsgespräche auf. So wenig diese Koalition von den beiden Hauptkonkurrenten gewollt ist, der Übergang zur formalen und koalitionsvertraglich geregelten Großen Koalition ist kein Weg ins Unbekannte: Seit Mai 2002 hatte die rot-grüne Regierung keine eigene Mehrheit im Bundesrat mehr und musste, wollte sie die Verabschiedung zustimmungspflichtiger Gesetzesvorlagen nicht gefährden, die politischen Positionen der Union in ihrer Regierungspolitik berücksichtigen. In Folge dieser faktisch bereits bestehenden Großen Koalition unter Beteiligung der Grünen kannten Union und SPD ihre Positionen, Personalien und Verhandlungsweisen bereits aus jahrelanger Erfahrung parteipolitischer Abstimmungsprozesse (März 2007: 167). Nur die Rolle, die Union und SPD beim Eintritt ins nunmehr formal geregelte Regierungsbündnis einnehmen müssen, ist ungewohnt. Sind sie doch fortan gleichberechtigte Partner, die ein gemeinsames Arbeitsprogramm entwickeln, umsetzen und vor allem gemeinsam verantworten müssen. In der Sondierungsphase werden zu Beginn die Personalfragen geklärt. Erst drei Wochen nach der Bundestagswahl gibt Gerhard Schröder seinen Führungsanspruch auf, um im Gegenzug acht von insgesamt vierzehn Ministerposten für die SPD zu reklamieren. So ist der Weg zur Grundsatzentscheidung am 10. Oktober 2005 geebnet, die Bildung einer Großen Koalition unter der Kanzlerschaft Angela Merkels wird nun offiziell angestrebt (Pehle/Sturm 2007: 11). Es ist dabei durchaus bemerkenswert, dass dieses – zumindest von den politischen Eliten – vorgeblich ungewollte Kind der Demokratie zu Beginn medial (vgl. Haas 2007: 18) und in der eigenen Anhängerschaft (vgl. Dittberner 2007:11) vergleichsweise wohlwollend begleitet wird. Der Koalitionsvertrag wird daraufhin am 11. November geschlossen, die Parteitage der Parteien stimmen ihm am 14. November zu und Angela Merkel wird am 22. November 2005 vom Bundestag mit 397 zu 202 Stimmen bei 12 Enthaltungen zur Bundeskanzlerin gewählt (Bundestag 2009: 66). Damit wird der „Ausnahmefall Große Koalition“ zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Realität; zum ersten Mal überhaupt übernimmt damit eine Frau – und eine Ostdeutsche – das Bundeskanzleramt.
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3.3 Struktureller Vergleich: Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten Vergleicht man nun die beiden Großen Koalitionen, so ist festzuhalten, dass in beiden Fällen eine Große Koalition im Bund nur in Folge einer elektoralen Ausnahmesituation zustande kommen konnte. Im Jahr 1966 ist das Scheitern der CDU/CSU-FDP Koalition unter Ludwig Erhardt ein Jahr nach der Bundestagswahl 1965 der entscheidende Startpunkt, im Jahr 2005 die Verbindung von WASG und PDS zur Linkspartei.PDS und der im Ergebnis große Erfolg aller drei kleinen Parteien bei der Bundestagswahl; im bundespolitischen Fünf-Parteien-System erreichen erstmals weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb eine Mehrheit der Sitze im Bundestag, eine lagerorientierte Regierungsbildung ist nicht mehr möglich, die Große Koalition die einzig realisierbare Koalitionsoption. Diese grundlegend unterschiedlichen Rahmen- und Startbedingungen sind damit dafür verantwortlich, dass im Ergebnis auch die politisch-strategische Wirkung beider Regierungen unterschiedlich bewertet werden muss. Damit stellt sich eine synoptische Gegenüberstellung zentraler struktureller Rahmenbedingungen, Merkmale und Kennziffern der beiden bis dato im Bund realisierten Großen Koalitionen wie in Tabelle 1 aufgeführt dar. Neben den bereits thematisierten Aspekten zeigt die Gegenüberstellung zwei Auffälligkeiten. Erstens ist deutlich, dass durch das stärker fragmentierte Parteiensystem die Regierungskoalition im Jahr 2005 einer deutlich größeren Opposition gegenüber steht, die immerhin über 27% der Mandate verfügt. Dieser quantitativ stärkere Oppositionsblock besteht jedoch aus drei Parteien (FDP, Grüne und Linke), die ideologisch bedingt kaum zu gemeinsamer Oppositionstätigkeit fähig sind, weshalb sich die Stärke der Opposition wieder relativiert. Ebenfalls mit Blick auf die parlamentarische Stärke fällt auf, dass zwischen CDU/CDU und SPD im Jahr 2005 faktisch ein Patt besteht, weshalb sich die Machtverteilung innerhalb der Regierung ebenfalls deutlich ausgewogener darstellt als bei der ersten Großen Koalition. Betrachtet man nun zweitens – quasi als Erfolgsindikator – die jeweils nachfolgenden Wahlen, so zeigt sich, dass 1969 die kanzlerstellende Union als langjährige Regierungspartei leichte Verluste hinnehmen muss, während die SPD hinzugewinnt. Die FDP als einzige Oppositionspartei verliert deutlich. Ganz anders die Situation 2009: Die kanzlerstellende Union verliert (von einem deutlich niedrigeren Niveau kommend) zwar erneut leicht, die SPD dagegen dramatisch. Ganz offensichtlich konnte die SPD trotz formal gleichrangiger Stellung zur Union die Regierungszeit dieses Mal nicht für einen Wahlerfolg nutzen. Dies verdeutlicht einerseits die unterschiedliche strategische Bedeutung der beiden Koalitionen, andererseits zeigt dies, dass die SPD noch immer unter den Folgen der Kanzlerschaft Schröder leidet (dazu Jun in diesem Band). Im Gegensatz zu 1969 geht 2005 die Opposition massiv gestärkt aus der Großen Koalition hervor. Im Ergebnis folgt der Großen Koalition 1969 mit Willy Brandt ein SPD-Kanzler nach, wohingegen 2009 die CDU-Kanzlerin Merkel im Amt verbleibt. Bemerkenswert mit Blick auf das Wahlergebnis ist darüber hinaus die Wahlbeteiligung: Während diese 1969 faktisch unverändert bleibt, bricht sie 2009 auf 70,8% ein – ebenfalls ein Grund für das schlechte Abschneiden von Union und vor allem SPD bzw. das ungewöhnlich gute Ergebnis von FDP; Grünen und Linken (siehe dazu Hunsicker/Schroth in diesem Band). Es zeigt sich hier, so ist anzunehmen, eine große Unzufriedenheit mit der Arbeit der Großen Koalition (oder zumindest eine großen Ratlosigkeit hinsichtlich möglicher Alternativen), die sich in einer hohen Wahlenthaltung ausdrückt.
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Tabelle 1: Die beiden Großen Koalitionen im Vergleich Entstehungskontext
Wahlergebnis 1965 | 2005
1. GROßE KOALITION 1966 – 1969
2. GROßE KOALITION 2005 – 2009
- Die CDU/CSU-FDP Koalition unter Ludwig Erhardt scheitert ein Jahr nach der Bundestagswahl 1965.
- Rot-grüne Agenda 2010 - Gemeinsamer Wahlantritt PDS/WASG - weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb erreichen Mehrheit im Bundestag - Linkspartei.PDS nicht koalitionsfähig
CDU CSU SPD FDP
Zweitstimmen 38,0% (202 Sitze) 9,6% (49 Sitze) 39,3% (217 Sitze) 9,5% (50 Sitze)
CDU CSU SPD FDP Grüne Linke
86,8% Wahlbeteiligung
Zweitstimmen 27,8% (180 Sitze) 7,4% (46 Sitze) 34,2% (222 Sitze) 9,8% (61 Sitze) 8,1% (51 Sitze) 8,7% (54 Sitze) 77,7% Wahlbeteiligung
Sitzanteile der Fraktionen
CDU/CSU-Fraktion: 48,5% SPD-Fraktion: 41,9% Opposition: 9,7%
CDU/CSU-Fraktion: 36,8% SPD-Fraktion: 36,2% Opposition: 27,0%
Kanzler
Kurt Georg Kiesinger (CDU)
Angela Merkel (CDU)
Ministerämter CDU/CSU
11 von 20: Inneres; Finanzen; Arbeit und Sozialordnung; Ernährung, Landwirtschaft und Forsten; Verteidigung; Wissenschaftliche Forschung; Post- und Fernmeldewesen; Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte; Familie und Jugend; Schatz
6 von 14: Inneres; Wirtschaft und Technologie Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz; Verteidigung; Bildung und Forschung; Familien, Senioren, Frauen und Jugend (sowie Kanzleramt und Kanzleramtsminister)
Ministerämter SPD
9 von 20: Außen; Justiz; Wirtschaft; Gesundheit; Verkehr; Wohnungswesen und Städtebau; Gesamtdeutsche Fragen; Bundesrat und Länder; Wirtschaftliche Zusammenarbeit
8 von 14: Außen; Justiz; Finanzen; Arbeit und Soziales; Gesundheit; Verkehr, Bau und Stadtentwicklung; Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit; Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Wahlergebnis
Zweitstimmen
G &V Stimmanteile
36,6% (201 Sitze) 9,5% (49 Sitze) 42,7% (237 Sitze) 5,8% (31 Sitze)
- 1,4 - 0,1 + 3,4 - 3,7
1969 | 2009
CDU CSU SPD FDP
Nachfolgeregierung
SPD/FDP-Koalition (Willy Brandt)
86,7% Wahlbeteiligung (-0,1)
Zweitstimmen CDU CSU SPD FDP Grüne Linke
27,3% (194 Sitze) 6,5% (45 Sitze) 23,0% (146 Sitze) 14,6% (93 Sitze) 10,7% (68 Sitze) 11,9% (76 Sitze)
G &V Stimmanteile - 0,5 - 0,9 - 11,2 + 4,7 + 2,6 + 3,2
70,8% Wahlbeteiligung (-6,9) CDU/CSU/FDP- Koalition (Angela Merkel)
Quelle Wahlergebnisse: Bundestagswahlleiter Damit ist nun die Bilanz der Großen Koalition in den Blick zu nehmen: Welche Erwartungen wurden an diese zu Beginn gestellt, und wie sind die institutionellen Effekte, die parteilichen Entwicklungen und die Policy-Outcomes der Großen Koalition 2005-2009 zu bewerten?
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Erwartungen und Ergebnisse: Die Große Koalition 2005-2009
4.1 Erwartungen: Große Koalitionen – Große Veränderungen? Die Erwartungen wie auch die Bedenken, die bezogen auf eine bundespolitische Große Koalition artikuliert werden, sind nicht nur durch die Erfahrungen mit der Großen Koalition von 1966 geprägt; auch die skizzierten theoretischen Überlegungen spielen eine wichtige
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Rolle. Dabei sind die Prognosen zum Reformpotenzial Großer Koalitionen widersprüchlich: Einerseits – bedingt durch die übergroße Mehrheit – gelten Große Koalitionen als potenziell reformfähig. Dieser Optimismus beruht ganz wesentlich auf den Erfahrungen mit der ersten Großen Koalition, deren Reformbilanz nicht nur zwölf Grundgesetzänderungen und damit die bis heute höchste Verfassungsänderungsrate in der Geschichte der Bundesrepublik, sondern beispielsweise auch eine umfassende Strafrechtsreform und die Einführung der Notstandsverfassung aufweist (Menzenbach et al 2009; März 2007: 150-161). Andererseits wird argumentiert, dass der Zwang zum Kompromiss Politikergebnisse befördert, die lediglich als kleinster gemeinsamer Nenner der beiden Großparteien zu verstehen sind: „Große Koalitionen machen keine große Politik“ (Graf Lambsdorff zitiert nach Habicht 2007: 21). Für diese Annahme spricht, dass die Große Koalition aus einer elektoralen Notsituation heraus entstanden ist und in 2005 die beiden (nicht mehrheitsfähigen) Lagerkonstellationen rot-grün und schwarz-gelb für große Schritte hätten stehen können, wohingegen die Große Koalition eher als Koalition der kleinen Schritte gilt (dazu Dittberner 2006, 2007). Es bleibt zunächst offen, inwieweit sich die Chancen auf einen grundlegenden Politikwandel – im Sinne umfassender, die politische Grundausrichtung verändernder Reformen – durch die Bildung einer Großen Koalition tatsächlich erhöhen. So sind zwar die Mehrheiten des Regierungslagers in Bundestag und Bundesrat äußerst komfortabel, die Akteure, welche die erforderlichen Kompromisse aushandeln müssen, ändern sich jedoch nicht. Sie teilen sich nunmehr lediglich die Regierungsbank und werden damit gemeinschaftlich an Erfolg und Misserfolg ihrer Reformen gemessen. Die mit einer bundesratsbedingten Vetomacht ausgestattete parteipolitische Opposition wird eliminiert und in die Koalitionsregierung hinein transferiert, das Vetopotential reduziert sich drastisch: Das Scheitern von Reformvorhaben ist für beide Parteien risikoreich, wohingegen beide Regierungsparteien von politischen Erfolgen profitieren können. Die gemeinsame Regierungsarbeit legt damit die Konkurrenz zwischen Union und SPD temporär still, so dass eine Profilbildung nur sehr eingeschränkt über (strategische) Blockaden und öffentliche Auseinandersetzungen erfolgen kann, denn „Wähler mögen kein Gezänk, heißt es“ (Schlieben 2009). Allerdings gilt es zu bedenken, dass die programmatischen Unterschiede zwischen den beiden Parteien nicht automatisch kleiner werden, im Gegenteil kommt unter der Bedingung einer gemeinsamen Regierungsarbeit nun noch die Schwierigkeit der sichtbaren Abgrenzung vom zumindest teilweise um die gleichen Wähler werbenden Koalitionspartner hinzu. Damit bleiben in den Bereichen, in denen inhaltliche Differenzen unüberbrückbar sind oder in Politikfeldern, die den Koalitionspartnern zur eigenständigen Profilbildung dienen, Kompromisse und inhaltliche Zugeständnisse schwierig. Das heißt in der Konsequenz, dass offen ausgetragene koalitionsinterne Konflikte schon zur Wahrung des Koalitionsfriedens zwar die Ausnahme bleiben, die Wirkung politischer Vorhaben auf die jeweilige Anhängerschaft von den Parteien jedoch immer antizipiert wird, was dazu führt, dass, wo kein gemeinsames Konzept gefunden werden kann, entweder ein Gesetz verabschiedet wird, das lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner widerspiegelt, oder dass auf grundlegende Aktivitäten gänzlich verzichtet wird. In beiden Fällen führt die übergroße Mehrheit dann gerade nicht zu einer Reformmehrheit, sondern endet in kleinen Schritten oder gar im Stillstand. In Bereichen jedoch, in denen eine Einigung grundsätzlich möglich ist und zudem beiden Akteuren zum Vorteil gereichen könnte, steigt mit einer formalen Großen Koalition die
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Handlungs- und Reformfähigkeit der Regierung und damit die Chance für große Schritte. Daher war die Überlegung einer Neutralisierung des parteipolitisch motivierten Blockadepotenzials des Bundesrates 2005 durchaus ein Hauptargument für die Bildung der zweiten Großen Koalition (Stüwe 2008: 24). Schließlich galt vierzig Jahre nach der ersten Großen Koalition der von eben jener gestärkte kooperative Föderalismus als ineffizient und reformbedürftig, das Schlagwort der Politikverflechtung war omnipräsent (dazu etwa Scharpf 2003). Die Reform der bundesstaatlichen Ordnung genießt eine hohe Priorität: Seit 2003 versucht die eigens ins Leben gerufene Föderalismuskommission konsensfähige Vorschläge zur Entflechtung legislativer Zuständigkeiten und der föderalen Finanzbeziehungen zu erarbeiten (dazu bspw. Reutter in diesem Band). Ihr Scheitern im Dezember 2004 ist ein Sinnbild der blockierten Republik, weshalb die Große Koalition im Herbst 2005 von einer hohen internen wie externen Erwartungshaltung hinsichtlich der Reform des deutschen Föderalismus begleitet wird und dieses Vorhaben – verbunden mit einer generell postulierten grundlegenden Reformnotwendigkeit – in Teilen sogar die Konstituierung der Regierung legitimiert.12 Die skizzierte Anreizstruktur sollte damit insbesondere solche Kompromisse erleichtern, die zuvor an strategischen Blockaden gescheitert waren und das Konfliktniveau im Gesetzgebungsprozess im Vergleich zu kleinen Koalitionen, die einer oppositionellen Bundesratsmehrheit gegenüber stehen, deutlich reduzieren. Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich der Erwartungen an die große Koalition 2005 zweierlei festhalten: Einerseits ist davon auszugehen, dass mit einer Großen Koalition die Verabschiedungschancen jener Reformvorhaben steigen, die zuvor an strategischen parteipolitischen Manövern gescheitert sind. Dies kann durchaus zu großen Veränderungen führen. Anderseits stehen CDU/CSU und SPD auch als Große Koalition wie im grand coalition state für eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, was unter der Bedingung der gemeinsamen Regierungsverantwortung zwar nicht zu öffentlich inszenierten Konflikten führen dürfte, gleichwohl im Ergebnis zu kleinen Schritten führen könnte. Ein signifikanter Unterschied der Reformbilanz ist im Vergleich zu kleinen Koalitionen deshalb nicht unbedingt zu erwarten. 4.2 Ergebnisse: Kein Sonderfall, Reförmchen statt Reformen und Schwäche der Großparteien Für eine Bilanzierung der wesentlichen Effekte sowie der Reform- und Nichtleistungen der Großen Koalition 2005-2009 ist es hilfreich, sich noch einmal kurz die Ausgangslage und insbesondere die Erwartungen, die an die zu wählende Regierung 2005 gestellt wurden, in Erinnerung zu rufen. Die Bundesregierung steht 2005 vor einem Bündel komplexer und bisweilen widersprüchlicher Herausforderungen: die Sanierung der Staatsfinanzen (wobei sich die Situation mit der Banken- und Wirtschaftskrise noch dramatisch verschärfen sollte), die Ankurbelung und Stärkung des Wirtschaftswachstums, der Abbau der Arbeitslosigkeit und die Überwindung von Reformblockaden. Dem aus Lagerperspektive indifferenten Wählervotum nach zu urteilen, sollte dem Reformbedarf möglichst mittels maßvoller Reformen ohne allzu schmerzhafte Einschnitte in der Fortsetzung der Kombination aus rheini12 Die schnelle Verabschiedung der Föderalismusreform I in einer kaum veränderten Fassung, aber auch die problemlose Umsetzung der Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent in den ersten Monaten der 16. Wahlperiode sind gute Beispiele für die Wirkung der gestiegenen Konsensanreize (vgl. Reutter sowie Rixen in diesem Band).
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schem Kapitalismus (Union) und Sozialstaat (SPD) entsprochen werden (Probst 2006: 626; Thaysen 2006: 587). Das Ergebnis verdeutliche, so das Argument, dass „die Mehrheit der Wähler allzu weit reichende Reformen eher fürchtete als wünschte“ (Batt 2008: 215). Gleichwohl erzeugt die übergroße Parlamentsmehrheit im Bundestag in Verbindung mit der Regierungsmehrheit im Bundesrat die Hoffnung, die Regierung könne jenseits aller parteipolitischer Manöver durchregieren und beispielsweise die im Frühjahr 2005 gescheiterte Föderalismusreform zu einem erfolgreichen Ende führen (Haas 2007: 18; Pehle/Sturm 2006: 10). Diese Hoffnung gründet auf der Vermutung, dass die gemeinsame Regierungsverantwortung strategische Blockaden reduziert, Konsensanreize erhöht und letztlich Reformen größerer Reichweite ermöglicht. So überbordend diese Erwartungen auch sein mögen, die Skepsis bleibt gegenwärtig: Die unterschwellige Annahme, die Große Koalition sei als pragmatische Koalition nur auf befristete Zeit tragfähig, sorgt regelmäßig wiederkehrend bei nahezu jedem koalitionsinternen Konflikt für öffentliche Spekulationen über ein vorzeitiges Ende des „Regierungsbündnisses wider Willen“. Es ist also zunächst keineswegs klar, welchen Unterschied es für das Regieren im deutschen Föderalismus, für die Politikgestaltung und die Durchsetzung von Reformen, aber auch für den Parteienwettbewerb im Bundesstaat tatsächlich macht, wenn aus einer informellen, großkoalitionär (ver)handelnden kleinen Koalition eine koalitionsvertraglich vereinbarte Große Koalition wird. Nun, nach dem Ende der Regierungsarbeit der Regierung Merkel/Steinmeier, ist eine Analyse gleichwohl möglich und nötig. Die nachfolgende Bilanz bezieht sich dabei auf die in diesem Band zusammengeführten Detailanalysen, deren zentrale Befunde hier zusammengefasst werden und so eine umfassende Bilanzierung ermöglichen. 4.2.1 Institutionelle Effekte und personelle Aspekte Im ersten Schritt sind die Folgen einer Großen Koalition auf die institutionellen Interaktionsmuster und Handlungsweisen zu untersuchen. Der Blick richtet sich also auf die Arbeit und Rolle des Bundesrates, die (möglicher Weise) eingeschränkte Wahrnehmung der politischen Kontrolle durch den Deutschen Bundestag sowie die rechtliche Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht und die Arbeit der Bundesregierung selbst, wobei hier vor allem der Regierungsstil der Kanzlerin das Regierungsgeschäft prägen dürfte. Die Rolle des Bundesrates ist eng mit einer Analyse der Gesetzgebung der zweiten Großen Koalition verknüpft, müssen doch alle Bundesgesetze nicht nur den Bundestag, sondern auch den Bundesrat durchlaufen. Es bleibt dabei nicht folgenlos, wenn die informelle Zusammenarbeit von Union und SPD in einer Großen Koalition formalisiert wird: Klar erkennbar sind im Bereich der parlamentarischen Kernaktivitäten eine starke Zunahme zustimmungspflichtiger Gesetzesentwürfe der Regierungskoalition sowie eine gesteigerte Verabschiedungsquote (Seemann in diesem Band). Die Koalition ist damit hinsichtlich der einfachen Gesetzgebungstätigkeit durchaus aktiv, wenngleich dieser quantitative Aktivismus nicht immer mit einem inhaltlichen Reformaktivismus gleichbedeutend sein muss. Ein ebenso früher wie zentraler Erfolg der Großen Koalition ist die Verabschiedung der Föderalismusreform, die auf der Basis der im grand coalition state vorbereiteten, dann jedoch aus parteitaktischen Gründen nicht zum Abschluss gebrachten Vorschläge erfolgte. Der Erfolg war nur unter den Bedingungen einer Großen Koalition möglich, wies doch die Reform „aufgrund ihres Umfangs und ihres Inhaltes einen außerordentlich hohen Konsens-
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bedarf“ (Reutter in diesem Band) auf. Gleichwohl merkt Reutter kritisch an, dass die Effekte der Reform möglicher Weise überschätzt werden, zumal die ebenso wichtige Föderalismusreform II zur Neuordnung der Finanzbeziehungen nicht erfolgreich zu Ende gebracht wurde. Die Föderalismusreform I ist auch insofern als singuläres Ereignis zu sehen, als dass die Große Koalition entgegen theoretischer Erwartungen bzw. machtpolitischer Möglichkeiten keine Koalition war, die in quantitativer Hinsicht übermäßig verfassungsändernd aktiv war. Die sechs von der Großen Koalition verabschiedeten Verfassungsänderungspakete illustrieren damit, dass kongruente Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht allein der Schlüssel zu einer erfolgreichen Reformbilanz sind. Obwohl die Regierung zwischen September 2006 und Juni 2007 für sieben Monate neben der Zweidrittelmehrheit im Bundestag auch über eine eigene Zweidrittelmehrheit im Bundesrat verfügte, nutzte sie dieses Möglichkeitsfenster nicht: Keine einzige der sechs Grundgesetzänderungen wurde in diesem Zeitraum verabschiedet. Gänzlich ohne Wirkung bleibt die doppelte Mehrheit allerdings nicht, es ist durchaus eine verminderte Konfliktneigung im Bundesrat festzustellen, wenngleich dies kein Spezifikum der Großen Koalition ist, sondern der absoluten Regierungsmehrheit im Bundesrat geschuldet ist. Zusammenfassend ist für das Verhältnis von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung festzuhalten: Die Effekte der Großen Koalition sind gering. Wesentlich ist vor allem die Reform der bundesstaatlichen Ordnung, doch selbst hier gelingt es nicht, alle damit verbundenen Problemlagen anzugehen, ein formales Durchregieren des Verfassungs- bzw. Gesetzgebers ist letztlich nicht erkennbar (dazu Seemann in diesem Band). Wie 1966 ist mit dem Regierungsbündnis der beiden Volksparteien auch 2005 die Sorge verbunden, dass die übergroße Parlamentsmehrheit aufgrund der eingeschränkten Kontrollfunktion der Opposition im Bundestag zu intransparenten Entscheidungsprozessen führt (März 2007: 119) und so die parlamentarische Demokratie in Gefahr bringen könnte. Wie steht es also um die parlamentarisch-politische und formal-(grund)rechtliche Kontrolle der großkoalitionären Mehrheit? Lorenz argumentiert, dass „der parlamentarische Betrieb nicht auf die Kräftekonstellationen einer Großen Koalition ausgelegt ist“: Entscheidend ist, dass der Opposition die Möglichkeit des Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zur Verfügung steht. Von diesem bedeutsamen Instrument einmal abgesehen, standen der Opposition allerdings die üblichen Kontrollinstrumente zur Verfügung, wenngleich dazu teilweise die Kooperation der Oppositionsfraktionen erforderlich gewesen wäre, was angesichts der unterschiedlichen Interessen und Politikorientierung der drei Oppositionsfraktion nicht einfach war und selbst bei gemeinsamen Interessenlagen zu getrennten Handlungen und einem parteilichen Einzelkämpferdasein führte (dazu Lorenz sowie Walther in diesem Band). Eine prozessorientierte Kooperation jenseits parteipolitischen Gezänks war offensichtlich nicht möglich oder gewünscht, so dass die Opposition die zur Verfügung stehenden Instrumente zwar aktiv nutzte, die Möglichkeit einer kooperativen und damit möglicherweise wirkmächtigeren Kontrolle jedoch zumeist verstreichen ließ. Anders formuliert: Parteistrategische Überlegungen und Gezänk schränkten die Kontrolleffizienz der Opposition stärker ein als es die übergroße Mehrheit einer Großen Koalition eigentlich mit sich bringt, was bedeutet, dass eine parlamentarische Kontrolle auch unter den Bedingungen einer Zweidrittelmehrheit – mit Einschränkungen zwar, aber durchaus ausreichend – gewährleistet ist, wobei lagerstrategisches Denken die eigentliche oppositionelle Kontrollfunktion dominiert und so die Ausübung der Kontrolle behindern kann.
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Ein Blick auf den Regierungsstil der Kanzlerin, der ganz wesentlich das Regierungshandeln prägt, zeigt zudem, dass sich Angela Merkels Stil von dem ihres Vorgängers deutlich unterscheidet: Bei Merkel ist eine Armutsästhetik prägend, sie tritt „sachlich, zurückhaltend, bescheiden“ (Korte in diesem Band) auf und prägt einen quasi-präsidentiellen Regierungsstil. Nicht Basta-Politik, sondern abwartendes Taktieren determinieren ihr Führungs- und Politikverständnis. Das Profil der Kanzlerin kristallisiert sich in ihrer Scheu vor klarer Führung heraus, sie agiert vor allem als Vermittlerin und regiert „ohne Privatheit, ohne Leidenschaft, ohne erkennbare Personalität, aber mit effizienter Prinzipienlosigkeit“ (Korte in diesem Band). Dieses – ihrer Beliebtheit beim Wähler nicht abträgliche (dazu Hunsicker/Schroth in diesem Band) – Image der Moderatorin Merkel und die öffentlich inszenierte Nichtöffentlichkeit der Privatperson Merkel (mit nur wenigen für Aufmerksamkeit sorgenden Ausnahmen) sind es, die ihr Erscheinungsbild prägen und symptomatisch für die Große Koalition stehen: Zurückhaltend, abwartend, pragmatisch, taktisch agierend und kompromissorientiert, ohne das Charisma von Alpha-Typen wie Schröder oder Fischer und ohne die Strahlkraft eines politischen Projekts. Doch ist dieser Eindruck der Regierung Merkel auch auf die politischen Inhalte dieser Regierung übertragbar, oder unterscheiden sich hier Schein und Sein? 4.2.2 Policy: Große Reformen oder kleinstmöglicher Kompromiss? Deutliche Differenzen in den einzelnen Policy-Feldern zeigen sich in der Reformintensität und im Regierungshandeln. Grundlegende Reformen sind vor allem in der Familien- und Gesundheitspolitik erkennbar. Dabei ist kaum ein Politikfeld derart komplex und reformproblematisch wie die Gesundheitspolitik. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gesundheitspolitische Vorhaben im Koalitionsvortrag nur sehr vorsichtig skizziert wurden. Schließlich „sind erhebliche politische Anstrengungen erforderlich, um gegen Widerstände Reformen […] durchzusetzen“ (Grimmeisen/Wendt in diesem Band). Dabei könnte genau aus diesem Grund die Große Koalition ein großes Reformpotenzial besitzen, sind doch mehrheitliche Beschlüsse selbst dann möglich, wenn nicht alle Regierungsfraktionsabgeordneten einer Maßnahme zustimmen. Und tatsächlich stellt die Gesundheitspolitik der Großen Koalition, bezogen auf die zu Beginn der Regierungszeit formulierten Erwartungen, „eine Erfolgsgeschichte“ dar: Ein „Meilenstein in der deutschen Gesundheitspolitik“ (Grimmeisen/Wendt in diesem Band) ist beispielsweise die Festschreibung einer Versicherungspflicht für alle Bürgerinnen und Bürger. Ein weiteres wesentliches Reformvorhaben war die Einführung des Gesundheitsfonds, der im Ergebnis das „Ausmaß der staatlichen Regulierung“ im Bereich der Gesundheitspolitik deutlich angehoben hat. Damit hat sich in diesem von der SPD geleiteten Ressort Ministerin Ulla Schmidt weitgehend durchgesetzt, was jedoch auch der Unterstützung Merkels zu verdanken ist: Diese hatte sich, wie Schmidt, schon früh für den Gesundheitsfonds ausgesprochen. Als unerwarteter Aktivposten der Union in der Regierungsarbeit haben sich die Familienpolitik und insbesondere die Familienministerin selbst herausgestellt: Ursula von der Leyen gelang es, dank ihrer Strategiefähigkeit und flankiert von einem günstigen Zeitgeist, trotz innerparteilicher Widerstände die familienpolitische Grundausrichtung der Union zu modernisieren. Die Regierung agierte in diesem Politikfeld als Reformkoalition: „Insgesamt kann man sagen, dass die Umsetzung des Elterngeldgesetzes, des Kinderförderungs-
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gesetzes und des Unterhaltsrechtes einen wegweisenden Ansatz für die Familienpolitik markieren“ (Ehlert in diesem Band). Allerdings ist bemerkenswert, dass gerade dieses Politikfeld für eine „Sozialdemokratisierung“ der Union und eine strategische Neuausrichtung der Union steht, mit der sie sich neue Wählerschichten erschließen möchte. Diese Reformen sind zwar einerseits als weitreichende Reformen zu bewerten, knüpfen aber andererseits direkt an die Politik der Vorgängerregierung an. Kontinuität – allerdings ohne Reformwirkung – prägt auch weitere Politikfelder, etwa die Sozialpolitik. Hier ist die Ausgangslage für beide Parteien wenig erfreulich: Die SPD ging mit der Hypothek „Agenda 2010“ in die Große Koalition, und auch die Union musste sich rasch von ihrem marktliberalen Modell á la Kirchhof verabschieden, wurde doch „von vielen Christdemokraten die Vernachlässigung sozialer Themen“ (Jun 2009: 31) als Hauptursache für das schlechte Wahlergebnis 2005 angesehen. Wie Brütt (in diesem Band) kritisch analysiert, ist die Große Koalition in der Sozialpolitik zwar gesetzgeberisch nicht untätig, agiert inhaltlich jedoch verhalten: Sie hat „im Nachlauf einer auf große Reformen abzielenden Vorgängerregierung weder auf der Ebene sozialpolitischer Leitbilder noch auf der Ebene einzelner Programme einen erneuten Richtungs- oder gar Paradigmenwechsel zu erreichen versucht“. Daran hat selbst die Wirtschaftskrise wenig verändern können, sieht man einmal davon ab, dass mit den Konjunkturpaketen die Arbeitsmarktpolitik kurzfristig (mit dem Instrument der Kurzarbeit) durch eine Beschäftigungspolitik erweitert wurde. Im Ergebnis hat die Große Koalition damit die von rot-grün begonnene workfare-Politik – die Orientierung am Leitbild des aktivierenden Staates bei reduzierter Statussicherung13 – verfestigt. Kontinuität zeichnet auch die Innen- und Rechtspolitik der Großen Koalition aus, die von einer hohen inhaltlichen Kongruenz von Union und SPD profitiert, sind doch gerade in diesem Politikfeld üblicher Weise die kleinen Koalitionspartner die regierungsinternen Vetospieler. Insofern wundert es nicht, dass der großkoalitionäre Innenminister Wolfgang Schäuble nahtlos an die Politik seines Vorgängers Otto Schily anknüpfen konnte. Schon in der Koalitionsvereinbarung wurde ein umfangreicher Katalog anzugehender Maßnahmen festgelegt, mit dem Ziel, Sicherheit und Freiheit in Deutschland zu gewährleisten. Dabei konstatiert Glaeßner (in diesem Band), dass der zentrale „Paradigmenwechsel in der Innen-, Rechts- und Justizpolitik […] mehr als dreißig Jahre zurück“ liegt. Schon aus diesem Grund war die Große Koalition in diesem Feld keine Reformkoalition im Sinne eines Politikwechsels, wobei sie durchaus – gelegentlich gebremst durch das Bundesverfassungsgericht – Reformen zu Gunsten einer (unterstellten) Erhöhung der Sicherheit aktiv betrieben hat. Eine ebenfalls hohe programmatische Kongruenz prägt das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik, die einerseits als „klug, pragmatisch und harmonisch“, andererseits aber auch als „ohne große Glanzlichter“ (Gareis in diesem Band) bewertet werden kann. Es passte dabei zum Regierungsstil von Merkel und Steinmeier, eine pragmatische Außenpolitik zu entwickeln, die „sich einerseits am politisch Machbaren orientierte“ und „die sich andererseits aber auch der Grenzen deutscher Einflussnahmen auf das internationale System bewusst war“ (Gareis in diesem Band). Gerade die hohe Übereinstimmung zwischen den Koalitionspartnern führt zu dieser Neujustierung im Regierungshandeln: Die Große Koalition setzte in ihrem Handeln auf eine verstärkt multilaterale Politik, die verlorenes Vertrauen insbesondere bei europäischen Partnern wieder herstellen sollte und die damit für 13 Wobei die durchgesetzte Verlängerung der Arbeitslosengeldbezugsdauer im Gegensatz dazu eine (zumindest vorübergehend) statutserhaltende Wirkung hat (Rixen in diesem Band).
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ein Ende der Schröderschen „Deutschen Wege“ steht. Ein Highlight der zumeist eher reaktiven deutschen Außenpolitik ist die in die Zeit der Großen Koalition fallende EU-Ratspräsidentschaft. Hier gelang es der Bundesregierung, „Europa aus seiner integrationspolitischen Schockstarre herauszuführen und dem Vertrag von Lissabon schließlich zum Durchbruch zu verhelfen“ (Gareis in diesem Band). Dieser Erfolg darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass (auch) die Große Koalition trotz großer Mehrheit und hoher Übereinstimmung in Grundsatzfragen keine konsistente Bestimmung der deutschen Position im europäischen und weltweiten Machtgefüge vorgenommen und keine visionäre Reformpolitik entwickelt hat. Eine in diesem Sinne verpasste Chance kennzeichnet auch die Finanz- und Steuerpolitik sowie die Umweltpolitik. Steuer- und finanzpolitisch lässt sich die Regierungszeit in die Phase vor und nach der Banken- und Wirtschaftskrise unterteilen. Schon zu Beginn der Regierungsarbeit zeigt sich deutlich, dass sich die beiden Konkurrenten nach dem intensiven Wahlkampf und in Folge deutlicher Policy-Differenzen nicht auf weitreichende Reformkonzepte einigen können, sondern lediglich ein „wenig ambitioniertes Regierungsprogramm“ (Rixen in diesem Band) auflegen, das dem bestehenden Reformbedarf kaum gerecht werden kann und tatsächlich eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners darstellt. Doch auch hier bedeutet fehlende Reformkraft keine Inaktivität der Regierung: Bedingt durch externen Druck wurden gesetzliche Neuregelungen vorgenommen, die jedoch nicht unbedingt als adäquate Antworten auf bestehende Reformbedarfe verstanden werden können (dazu Rixen in diesem Band). Besonders offensichtlich ist dabei das Scheitern in der Haushaltskonsolidierungspolitik, hier wurden spätestens mit der Banken- und Wirtschaftskrise alle Hoffnungen auf einen – politisch als notwendig erachteten – ausgeglichenen Haushalt obsolet. Die Umweltpolitik stellt sicherlich den Bereich dar, in dem die beiden Koalitionspartner die größten Differenzen zur Vorgängerregierung aufweisen – zumindest, wenn man die zuvor ressortführenden Grünen zum Maßstab nimmt. Erstaunlicher Weise ist jedoch die Umweltpolitik der Großen Koalition „derjenige Politikbereich, in dem die Regierung Merkel die höchsten Zustimmungsraten erzielen konnte“ (Blühdorn in diesem Band). Dies dürfte damit zusammenhängen, dass zumindest zu Beginn der Regierungszeit die Umweltpolitik hohe öffentliche Aufmerksamkeit genoss, die Große Koalition dabei (etwa beim Atomausstieg) nicht hinter die Politik der Vorgängerregierung zurückfiel und sich die ehemalige Umweltministerin Angela Merkel geschickt in diesem Politikfeld inszenierte bzw. positionierte. Dass die Umweltpolitik der Großen Koalition dennoch als nicht genutzte Chance bewertet werden kann, ist einer grundsätzlichen Kritik am die Umweltpolitik dominierenden win-win-Paradigma geschuldet: „Die Umweltpolitik der Großen Koalition hat klar erkennbar gemacht, in welch verkürzender Weise die win-win-Szenarien die in der Ökologiepolitik zur Debatte stehenden Problemlagen erfassen, wie wenig sie in der Lage sind, der Dringlichkeit der sich zuspitzenden Klimakrise zu entsprechen, und wie verwundbar sie gegenüber dem politischen Druck wirtschaftlicher Interessen und die Ökologie nicht priorisierender Wähler sind“ (Blühdorn in diesem Band). Zusammenfassend ist der Großen Koalition ein differenziertes Zeugnis auszustellen: Zwar war sie in vielen Bereichen durchaus engagiert tätig, große Reformen und paradigmatische Umbrüche sind aber selten. Eine visionäre Gestaltungskraft entwickelt sich nicht, vielmehr dominieren Kontinuität und eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners das Tagesgeschäft – was zu Teilen durchaus dem Wählerwillen, nicht jedoch bestehenden Re-
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formbedarfen entspricht. Der Eindruck einer „Bilanz ohne Glanz“ (Schuler 2006 über die ersten 100 Tage) prägt die Gesamtschau: Die Große Koalition ist keine Reformkoalition, sondern eine Reförmchenkoalition, die insbesondere in der zweiten Halbzeit ein pragmatisches muddling-through statt einer aktiven Gestaltungspolitik verfolgt. 4.2.3 Große Verlierer, kleine Gewinner: Parteien und Parteiensystem Für eine Bilanz der Großen Koalition sind neben der Analyse institutioneller Interaktionsmuster und inhaltlicher Erfolge (oder Nichterfolge) auch die Entwicklungen auf Parteienund Parteiensystemebene von Bedeutung. Insbesondere der Umstand, dass im Gegensatz zu 1969 im Jahr 2009 die kleinen Parteien die Gewinner der Großen Koalition sind, wurde bereits angesprochen. Ursächlich ist hier jedoch nicht nur die Große Koalition; auch grundlegendere Umbrüche, die sich nicht in den Zeittakt einzelner Wahlperioden einfügen, sind für die mittel- bis langfristigen Veränderungen des Parteiensystems von zentraler Bedeutung. Das heißt: Nicht die Große Koalition hat das Parteiensystem verändert, sondern die Veränderungen des Parteiensystems haben die Große Koalition erst ermöglicht bzw. sogar erzwungen. Auf Systemebene bestimmt eine „fluide Wettbewerbssituation“ (Niedermayer 2008: 9), bei der die Parteien unter einer relativen Unbestimmtheit agieren und großen Unsicherheiten ausgesetzt sind (dazu Jun 2009: 29), das Bild. Entscheidend ist, dass die Nachfrageseite des politischen Wettbewerbs – die in einer Flexibilisierung des Wahlverhaltens zum Ausdruck kommt – an Bedeutung gewinnt, weshalb parteiliche (personelle und inhaltliche) Angebote die Wahlergebnisse zunehmend beeinflussen (können). Mit Blick auf das Verhältnis der Großparteien verweist Niedermayer auf das Konzept der strukturellen, angebotsinduzierten Asymmetrie, die sich durch ein schon länger „bestehendes inhaltliches Glaubwürdigkeitsproblem der SPD hinsichtlich ihrer Positionierung im Sozialstaatskonflikt“ (Niedermayer in diesem Band) zu Ungunsten der SPD entwickeln könnte. Auf Parteisystemebene ist in diesem Zusammenhang die Frage nach möglichen Koalitionsbildungen zur Sicherstellung einer Regierungsmehrheit von besonderer Relevanz. Hier kommt Niedermayer in seinem vor der Wahl abgeschlossenen Beitrag zu dem Schluss, dass trotz weiterer Möglichkeiten eine schwarz-gelbe Koalition – wenn rechnerisch möglich – die wahrscheinlichste aller Regierungsmehrheiten sein dürfte. Ein Befund, der sich nach der Wahl ebenso bestätigt, wie auch weitere (neue) Koalitionsoptionen nicht nur zunehmend diskutiert, sondern – mehr oder weniger experimentell14 – auf Landesebene auch realisiert werden. Damit zeigt der Blick auf das Parteiensystem, dass eine verstärkte Flexibilität kaum mehr zu ignorieren ist, wenngleich das bundespolitische System hier keine Vorreiterrolle einnimmt, sondern (auch) in Zukunft lediglich zuvor auf Landesebene erprobte Koalitionsoptionen aufgreifen dürfte. Die Pluralisierung landesparteilicher Koalitionskonstellationen verdeutlicht, dass sich die Parteien – langsam und vorsichtig, aber durchaus pragmatisch – auf eine Regierungsbildung unter der Bedingungen unsicherer Mehrheiten im fluiden Fünfparteiensystem einlassen und dass neue Mehrheiten jenseits tradierter Lagerkonstellationen nicht mehr a priori ausgeschlossen werden (können).
14 So wird beispielsweise die Jamaika-Koalition im Saarland als „Experiment“ (Cem Özdemir, ARD Tagesschau am 12.10.2009) bezeichnet.
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So verhalten die koalitionsstrategischen Entwicklungen auf Parteiensystemebene wirken, so rasant sind die Entwicklungen auf parteilicher Ebene, wobei diese Analyseperspektiven keineswegs getrennt voneinander zu betrachten sind. Für die Veränderungen auf Parteiensystemebene wie auch für die Einzelparteien ist dabei die Identitäts- und Akzeptanzkrise der SPD, mit der die Partei nicht erst seit der Agenda 2010 zu kämpfen hat, ein zentraler Schlüssel für die Entwicklung des Parteiensystems. Das Unvermögen der SPD, in der Großen Koalition nicht in der Wählergunst zu reüssieren, ist ganz wesentlich diesem Zustand geschuldet: Die SPD geht mit einer schweren Hypothek belastet in die Große Koalition und ist aus programmatischen und innerparteilichen Gründen nicht in der Lage, den Abwärtstrend zu durchbrechen (dazu Niedermayer; Jun; Hunsicker/Schroth in diesem Band). Es zeigt sich eine Distanzierung der Wählerschaft von der SPD in einem Ausmaß, das für „eine große Volkspartei in der Regierungsbeteiligung […] geradezu verheerend“ (Hunsicker/Schroth in diesem Band) ist. Allerdings lässt sich eine europaweite Schwächephase der Sozialdemokratie ausmachen, so dass die Krise der SPD nicht nur selbstverschuldet sein dürfte, sondern auch aus Anpassungszwängen an soziale Prozesse und globale Entwicklungen resultiert – weshalb Jun im Ergebnis die nun anstehende Oppositionszeit auch als Chance für eine strategische Neuausrichtung der SPD sieht.15 Damit ist derzeit offen, ob die „23-Prozent-Wahl des Jahres 2009 […] als heilsamer Modernisierungsschock […] oder als Katastrophe, an deren Ende die inzwischen höchst zerbrechliche Partei in alle Winde zerstiebt“ (Naumann 2009) wirken wird. Die Schwäche der SPD führt jedoch im Gegenzug keineswegs zu einer Stärke der Union. Auch die Union hat mit Erosionsprozessen zu kämpfen, eine „Entfremdung“ (Niedermayer in diesem Band) der Partei von spezifischen Unterstützergruppen tritt deutlich zu Tage. Damit ist die sich abzeichnende strukturelle Vorzugstellung der Union kein Resultat einer starken CDU/CSU, sondern vielmehr einer noch schwächeren SPD: Die Union dominiert den Wettbewerb der Großparteien auf niedrigem Niveau. Wie die SPD ist auch die CDU dabei eine Partei auf der Suche, sie hat ebenfalls „sozialpolitisch bis heute keinen neuen Kurs gefunden“ (Schroeder/Neumann in diesem Band). Zwar ist es der CDU nach dem knappen Wahlsieg 2005 in einigen Politikfeldern, insbesondere der Gesellschaftspolitik, gelungen, die Phase der Großen Koalition für eine programmatische Erneuerung zu nutzen und sich zu modernisieren, dies trägt aber zugleich zur Verärgerung in der Stammklientel bei. Darüber hinaus ist es der CDU bislang nicht gelungen, „ein neues Alleinstellungsmerkmal im Sinne eines Markenkerns zu entwickeln“ (Schroeder/Neumann in diesem Band), es dominiert der Eindruck der Beliebigkeit. Ähnlich desolat geht die Schwesterpartei CSU aus der Großen Koalition hervor, sie ist „in ihrer Doppelrolle in Bayern und im Bund schwächer als zuvor“ (Oberreuter in diesem Band) und von einer (ungewohnt) hohen Diskontinuität geprägt: In der Zeit der Großen Koalition hatte die CSU mit Edmund Stoiber, Erwin Huber und Horst Seehofer drei verschieden Parteivorsitzende. Wie bei der CDU sind darüber hinaus Dealignment-Prozesse offensichtlich, die tradierten Wählerbindungen erodieren. Dazu kommen landesspezifische Aspekte und ein Mangel an überzeugendem Führungspersonal, so dass die CSU-Alleinherrschaft in Bayern auf absehbare Zeit vorüber sein dürfte (dazu Oberreuter in diesem Band). Die Partei hat sich selbst geschwächt und befindet sich am Ende der Großen Koalition in einer Übergangsphase mit offenem Aus15 Wobei dazu auch ernsthafte organisationale Anstrengungen notwendig sind, etwa zur wirksamen Umsetzung innerparteilicher Partizipationsinstrumente (vgl. zur SPD Jun in diesem Band; zu innerparteilichen Partizipationsreformen Bukow 2009a, b).
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gang. Die strategische Neuausrichtung von CDU, CSU und SPD und die damit verbundene Suche nach neuen, verlässlichen Wählerbündnissen geht somit weiter – die gemeinsame Regierungszeit hat lediglich erste Veränderungen bewirkt bzw. vorsichtige Anpassungsleistungen ermöglicht. Im Gegensatz zu den Regierungsparteien sind die kleinen (Oppositions-)Parteien 2009 ungewohnt stark aufgestellt: Im Herbst 2009 sind „alle drei Parteien jeweils in mindestens zwölf Landtagen in Fraktionsstärke vertreten“ (Walther in diesem Band, siehe auch Hunsicker/Schroth in diesem Band), und auch aus der Bundestagswahl gehen sie als klare Gewinner hervor. Insbesondere Die Linke hat es vermocht, von der Schwäche der SPD zu profitieren und sich als einzige Partei die Gruppe der „Modernisierungsverlierer“ als Wählerschaft zu erschließen (Niedermayer 2006). So überspringt Die Linke 2009 erneut die Fünf-Prozent-Hürde problemlos und übertrifft Bündnis 90/Die Grünen; die FDP bleibt mit einem historischen Wahlergebnis drittstärkste Kraft im Bundestag. Dabei dürfen diese Erfolge nicht verdecken, dass alle drei Parteien auch vor ungelösten Problemen stehen: Die Linke hat den Fusionsprozess und daraus resultierende organisationale und inhaltliche Schwierigkeiten keineswegs gelöst oder gar überwunden, die Grünen sind zwar programmatisch gut aufgestellt, aber personell in einer Phase des Übergangs und die FDP agiert im Kern als Einmannpartei, die eine inhaltliche Erneuerung in den langen Oppositionsjahren versäumt hat (dazu Walther in diesem Band). Im Ergebnis ist erkennbar, dass die Große Koalition keine grundlegenden Veränderungen des Parteiensystems bewirkt hat. Allerdings zeigt die geringe Wahlbeteiligung 2009, dass es ihr auch nicht gelungen ist, Begeisterung beim Wahlvolk zu erzeugen. Letztlich haben sich die zuvor einsetzenden parteilichen Entwicklungen beschleunigt und die Fragmentierung des Parteiensystems hat sich erhöht – was künftige Koalitionsbildungen nach traditionellem Muster nicht ausschließt, aber bei anhaltend niedrigen Ergebnissen der ehemaligen Volksparteien stets einen übermäßig starken kleinen Koalitionspartner voraussetzt. 5
Fazit: Die Große Koalition als unspektakuläre Regierungsoption
Die Analyse hat gezeigt, dass die Große Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel zwar zunächst einmal wie ein elektoral erzwungener Sonderfall wirkt, sich dann aber als im Kern wenig spektakuläre und im Ergebnis durchaus stabile Regierungsoption entpuppt. Sicherlich wird eine solche Koalition nur dann im Bund eine Option, wenn sich gewohnte Lagermodelle nicht realisieren lassen. Überlegungen oder Bedenken, dass eine damit einhergehende übergroße Mehrheit die Demokratie gefährden könnte, sind jedoch ganz offensichtlich unbegründet. Dies überrascht jedoch kaum, da Große Koalitionen auf Landesebene zumindest nicht selten sind. Die Große Koalition unter Merkel und Steinmeier hat sich im Ergebnis als pragmatische, aber wenig charismatische Regierung routinierter Berufspolitiker gezeigt. Damit ist die Merkelsche Einschätzung, dass eine Große Koalition aus „staatspolitischen Gründen […] eine Ausnahmesituation“ (Merkel im ZDF „Heute Journal“, 25.09.09) sei, zu relativieren. Auf der Ebene politischer Handlungen dominieren bei der Großen Koalition Reförmchen, nicht Reformen das Bild. Dies ist je nach Politikfeld entweder inhaltlichen Differenzen oder inhaltlichen Übereinstimmungen geschuldet und zudem eine Folge des Merkel-
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schen Politikstils. Die Kanzlerin hat mit ihrem radikalpragmatischen Politikstil die Arbeit der Großen Koalition geprägt. Dieser postcharismatische Politikstil führt beim Wahlvolk – pointiert formuliert – zu einer (eher) zufriedenen Resignation: Die Arbeit der Regierung wurde fast über die gesamte Legislaturperiode hinweg mehrheitlich als gut gewürdigt, löste aber keine Begeisterung aus und zeitigte eine historisch niedrige Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009. Eine Wechselstimmung zu Gunsten einer schwarz-gelben Regierungsmehrheit kam nicht auf, schon weil dieser Formation ein mehrheitliches Zutrauen, es besser zu können, nicht entgegengebracht wurde (dazu Hunsicker/Schroth in diesem Band). Bei der Bundestagswahl 2009 gehen die kleinen Parteien gestärkt aus der Zeit der Großen Koalition hervor, was jedoch, dies zeigen insbesondere die Analysen zur Situation von CDU, CSU und SPD, nicht direkt der Großen Koalition geschuldet ist – die Probleme der (ehemaligen) Volksparteien liegen tiefer. Es ist davon auszugehen, dass diese Große Koalition im Bund nicht die letzte ihrer Art war und sich hier möglicher Weise eine neue Normalität einstellt. Dennoch werden sicherlich auch künftig traditionelle Regierungsformationen bevorzugt angestrebt. Darüber hinaus werden sicherheitshalber neue Koalitionskonstellationen auf Landesebene schon einmal ausprobiert. Literatur Alemann, Ulrich von, 2003: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Bonn. Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.), 2009: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Bonn. Bannas, Günter, 2005: Die Koordinationskanzlerin, in: FAZ 11.10.2005: http://www.faz.net/s/ Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E3483B32ABE0F43FA932C1F41395146 CA~ATpl~Ecommon~Scontent.html (26.06.2009) Barthel, Eckardt, 1971: Hat die Große Koalition in der BRD zu einer Korrosion des Parlamentarismus geführt? Diplomarbeit der Freien Universität. Berlin. Batt, Helge, 2008: Weder stark noch schwach – aber nicht groß: Die Große Koalition und ihre Reformpolitik, in: Tenscher, Jens/Batt, Helge (Hrsg.): 100 Tage Schonfrist. Bundespolitik und Landtagswahlen im Schatten der Großen Koalition. Wiesbaden: 215-246. Bauer, Thomas/Leunig, Sven, o. J.: Die Entwicklung der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat seit 1949. in: http://www.foederalismus.uni-jena.de/Mehrheitsver haeltnisseBRat.doc (03.02.2008). Bräuninger, Thomas/Ganghof, Steffen 2005: Parteienwettbewerb im Zweikammersystem, in: Ganghof, Steffen/ Manow, Philip (Hrsg.): Mechanismen der Politik: Strategische Interaktion im deutschen Regierungssystem. Frankfurt am Main: 149-181. Bukow, Sebastian, 2008: Green Politics in Germany, in: Callicott, J. Baird (Hrsg.): Encyclopedia of Environmental Ethics and Philosophy. MacMillan. Bukow, Sebastian, 2009a: Parteien auf dem Weg zur mitgliederbasierten Leitorganisation: Organisationsreformen zwischen Wettbewerbsdruck und institutionellen Erwartungen, in: Wetzel, Ralf/ Aderhold, Jens/Rückert-John, Jana: Die Organisation in unruhigen Zeiten. Über die Folgen von Strukturwandel, Veränderungsdruck und Funktionsverschiebung, Heidelberg 2009, 105-124. Bukow, Sebastian, 2009b: Parteiorganisationsreformen zwischen funktioneller Notwendigkeit und institutionellen Erwartungen, in: Jun, Uwe/Niedermayer, Oskar/Wiesendahl, Elmar: Die Zukunft der Mitgliederpartei, Leverkusen 2009, 211-228. Bukow, Sebastian/Rammelt, Stephan, 2003: Parteimanagement vor neuen Herausforderungen. Die Notwendigkeit strategischer Steuerung sowie Anforderungen an parteiinterne Organisation und externe Kommunikation für moderne (Regierungs-) Parteien am Beispiel der Grünen. Münster.
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Regieren mit Zweidrittelmehrheit: Große Koalitionen im politischen System Deutschlands
Wenke Seemann
Die Gesetzgebungstätigkeit der zweiten Großen Koalition (2005-2009)
Mit der Entscheidung von Union und SPD für eine gemeinsame Regierungsbildung ist im Oktober 2005 die informelle Kooperation der beiden großen Parteien im grand coalition state der 15. Wahlperiode in eine formale, koalitionsvertraglich vereinbarte Große Koalition überführt worden. Die Hauptkonkurrenten um Wählerstimmen, Kanzlerschaft und Regierungsämter im bundesdeutschen Parteiensystem, die normalerweise eine Regierungsbeteiligung nur unter Ausschluss der jeweils anderen Parteien anstreben, haben damit nach 38 Jahren zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wieder eine Regierungsmannschaft gebildet, die nun gemeinschaftlich politische Verantwortung übernehmen, inhaltliche Entscheidungen treffen und durchsetzen muss. Als Ausnahmeerscheinung unterscheidet sich diese Konstellation mit Blick auf die Regierungstätigkeit von der allseits präferierten, üblicher Weise innerhalb der parteipolitischen Lagergrenzen gebildeten kleinen Koalition in drei wesentlichen Punkten: (1) Die Asymmetrie zwischen Regierungsmehrheit und Oppositionsfraktionen im Bundestag ist höher, (2) die Wahrscheinlichkeit einer stabilen, im Bundesrat vorherrschenden Regierungsmehrheit ist hoch und (3) der Parteienwettbewerb zwischen Union und SPD ist auf Bundesebene temporär ausgeschaltet. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen: (1) Der übliche Dualismus von Regierung und starker parlamentarischer Opposition relativiert sich und schränkt die Kontrollfunktion der Opposition ein, (2) die Bundesregierung kann aufgrund der Mehrheitsverhältnisse weitgehend auf außerkoalitionäre parteiübergreifende Verhandlungen bei der parlamentarischen Umsetzung ihrer politischen Vorhaben verzichten, und (3) strategische Nichteinigung und parteipolitisch motivierte Blockaden von Regierungsvorlagen fallen für die Dauer der Großen Koalition aus dem Interaktionsrepertoire von Union und SPD. Außerordentlich interessant ist die Neuauflage der großkoalitionären Zusammenarbeit von Union und SPD deshalb in Hinblick auf den in Deutschland seit der Deutschen Einheit immer häufiger auftretenden grand coalition state, in dem bei in Bundestag und Bundesrat divergierenden Mehrheitsverhältnissen zur Verabschiedung nicht nur verfassungsändernder, sondern auch zustimmungspflichtiger Gesetzesvorlagen die Zustimmung der Oppositionsvertreter in der Länderkammer notwendig ist. Dann besteht wie beispielsweise während der gesamten 15. Wahlperiode faktisch eine informelle Große Koalition, da Union und SPD zur Verabschiedung von Regierungsvorlagen politische Kompromisse eingehen müssen (Schmidt 2008: 73-81). Während dieser Phasen steigt die Konfliktintensität im Gesetzgebungsprozess gewöhnlich deutlich an (Seemann 2009: 272), da die oppositionsgeführten Bundesländer mit Hilfe von Einsprüchen, Anrufungen des Vermittlungsausschusses oder auch Zustimmungsversagungen gegenüber Regierungsinitiativen versuchen, ihre Vetodrohung glaubhaft zu machen und die Bundesregierung unter Verhandlungszwang zu setzen, um deren Erfolge zu schmälern oder eigene politische Interessen durchzusetzen. Die AnS. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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zahl am Veto des Bundesrates endgültig gescheiterter Gesetze bleibt zwar marginal, der policy outcome aber ist geprägt von Kompromisslösungen, die häufig den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Christ- und Sozialdemokraten darstellen (Scharpf 2003; Burkhart/Manow 2006: 7; Ganghof/Bräuninger 2003: 17-18). Die zweite Große Koalition unter Angela Merkel eröffnet die Möglichkeit, der Frage nach dem Unterschied zwischen dem informellen grand coalition state und formal bestehender Großer Koalition für die Gesetzgebungstätigkeit der Bundesregierung empirisch nachzugehen. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist dabei, die spezifischen Interaktionsmuster von Union und SPD, Regierung und Opposition im Bundestag sowie von Bundesregierung und Bundesrat unter der Bedingung einer Großen Koalition zu identifizieren. Die nachfolgende Untersuchung fokussiert dabei auf die Differenz von Großer Koalition und grand coalition state ebenso wie auf die von Großen und kleinen Koalitionen. Hierbei stehen empirisch die Einspruchs- und Zustimmungsgesetzgebung sowie Verfassungsänderungen im Mittelpunkt. Den potenziellen Effekten einer Großen Koalition auf die Bundesgesetzgebungstätigkeit wird anhand eines umfangreichen Datensatzes nachgegangen, der für die 8. bis 16. Wahlperiode (1976-2009) Informationen zur bundesdeutschen Gesetzgebung mit den Angaben zu den in Bundestag und Bundesrat auftretenden parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen verknüpft.1 Dem Stand der Forschung folgend wird zur Bestimmung der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zwischen einer im Bundesrat vorliegenden Regierungs-, Oppositionsmehrheit oder gemischten Mehrheit differenziert, wobei die Unterscheidung auf einer Kategorisierung der Landesregierungen gemäß der parteipolitischen Übereinstimmung mit der im Bund regierenden Parteienkoalition (ROM-Schema) basiert (u.a. Leunig 2006, Burkhart/Manow 2006a). Der Datensatz enthält für alle seit Dezember 1976 in den Bundestag oder Bundesrat eingebrachten Gesetzesvorlagen die formalen Verfahrensstationen, welche sie im Gesetzgebungsprozess durchlaufen haben, die Angaben zum Initiator (Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat), der Zustimmungspflichtigkeit sowie zum Politikfeld der Gesetzesinitiativen und zum Abstimmungsverhalten in Bundestag und Bundesrat. Das Abstimmungsverhalten des Bundestages und die Abstimmungsergebnisse des Bundesrates sind zudem nach ihrem Konfliktgrad codiert: Namentliche Abstimmungen dienen im Bundestag, Zustimmungsversagungen, Einsprüche und Anrufungen des Vermittlungsausschusses im Bundesrat als Konfliktindikatoren. Darüber hinaus sind die Urheber der Gesetzesinitiativen nach ihrer Zugehörigkeit zum Regierungsbzw. Oppositionslager im Bundestag klassifiziert worden.2 In den nachfolgenden Kapiteln wird der Frage nach dem Unterschied zwischen kleinen Koalitionen mit eigener und ohne eigene Bundesratsmehrheit (grand coalition state) und Großen Koalitionen für das parlamentarische Handeln im deutschen Föderalismus für die 8. -16. Legislaturperiode nachgegangen. Der Fokus liegt dabei auf einer empirischen Analyse der Bundesgesetzgebungstätigkeit, wobei Verfassungsänderungen gesondert betrachtet werden.
1 Die Gesetzgebungsdaten basieren auf den Angaben der GESTA-Datenbank des Deutschen Bundestages (Stand 14.07.2009). 2 Als Regierungsvorlagen werden dementsprechend alle Initiativen der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen im Bundestag, als Oppositionsvorlagen alle anderen Initiativen des Bundestages bezeichnet. Gesetzesentwürfe, an denen sowohl eine Regierungs- als auch eine Oppositionsfraktion beteiligt sind, gelten als interfraktionelle Initiativen. Die Bundesratsinitiativen sind jedoch nicht weiter nach bundeslandspezifischer Herkunft differenziert erfasst worden (Seemann 2008: 259-261).
Die Gesetzgebungstätigkeit der zweiten Großen Koalition (2005-2009) 1
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Parlamentarische Gesetzgebungstätigkeit in Großen Koalitionen
Der deutsche Parlamentarismus ist durch den Gegensatz von Regierungsmehrheit auf der einen und parlamentarischer Opposition auf der anderen Seite geprägt, der bei den bevorzugt gebildeten kleinen Koalitionen gleichzeitig immer auch ein Gegenüber der beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD beschreibt (Andersen/Woyke 2009). In Zeiten einer Großen Koalition aber teilen sich Union und SPD die Regierungsbank. Die üblichen Muster kleinkoalitionärer Zusammenarbeit von bürgerlichem (Union & FDP) und linkem (SPD & Grüne) Lager sind durchbrochen. Das Verhältnis von Regierung und Opposition im Bundestag und Bundesrat ist bestimmt durch eine Machtkonzentration im Regierungslager. Im 16. Deutschen Bundestag steht eine Regierungsmehrheit von 73 Prozent der Abgeordneten einer oppositionellen Minderheit von 27 Prozent gegenüber (443 zu 165 Sitze). Das Regierungslager bilden mit CDU und CSU (36,1 Prozent/222 Sitze) sowie SPD (36,2 Prozent/221 Sitze) zwei faktisch gleich starke Koalitionspartner. Die parlamentarische Opposition besteht mit der FDP (10 Prozent/61 Sitze), den Linken (8,7 Prozent/53 Sitze) und den Bündnis Grünen (8,3 Prozent/51 Sitze) aus drei ebenfalls nahezu gleich starken Fraktionen (Bundeswahlleiter 2009c). Die im Vergleich zur ersten Großen Koalition (19661969) vorhandene relative Stärke der Opposition wird jedoch durch ihre hohe Heterogenität relativiert: Mit FDP, Grünen und Linken stehen erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik drei Oppositionsparteien der Bundesregierung gegenüber, die auf Bundesebene vorher noch nie mit einander koaliert haben und höchst unterschiedliche politische Programme verfolgen.3 Während die Oppositionsparteien in ihrer strukturellen Funktion der öffentlichen Regierungskritik sowie der Darstellung einer politischen Alternative handlungsfähig bleiben, ist ihre Kontrollfähigkeit während der Großen Koalition aufgrund der bei bestimmten Kontrollinstrumenten notwendigen Einigung aller drei Parteien zur Erreichung der erforderlichen Quoren eingeschränkt (siehe dazu Lorenz in diesem Band). Auch der Bundesrat wird während der Großen Koalitionen weitgehend durch eine Regierungsmehrheit dominiert, die zeitweise auch zwei Drittel der Stimmen umfassen kann: Mit der Regierungsbildung im November 2005 verfügt die zweite Große Koalition mit 36 von 69 Stimmen knapp, nach den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im März 2006 dann mit 44 Stimmen komfortabel über die absolute Mehrheit der Bundesratsstimmen. Diese wächst zwischen November 2006 und Juni 2007 zur verfassungsändernden Zwei-Drittel-Mehrheit an (47 von 69 Stimmen), schrumpft dann aber kontinuierlich bis zum November 2008 auf 35 Stimmen zusammen und geht im Februar 2009 mit der Neuwahl in Hessen (33 von 69 Stimmen) ganz verloren (Andersen/Woyke 2009: 734). Das Regieren in einer Großen Koalition ist damit im Vergleich zur kleinen Koalition im Allgemeinen und zum grand coalition state im Speziellen nicht nur von spezifischen Mehrheitsverhältnissen geprägt, sondern bricht auch die gewohnten parteipolitischen Interaktionsmuster auf. Der übliche, sich auch auf den bundespolitischen Entscheidungsprozess auswirkende Wettbewerb der beiden großen Parteien wird durch die gemeinsame Regierungsverantwortung erheblich eingeschränkt. Mit dieser Konstellation werden Erwartungen an eine höhere Wahrscheinlichkeit der Durchsetzbarkeit von Verfassungsänderungen und
3 Auch auf Landesebene stellt die koalitionäre Zusammenarbeit von einer großen und zwei kleinen Parteien die Ausnahme dar, die bisher nur in Form von Ampelkoalitionen in Bremen (1991-1995) und Brandenburg (19901994) zustande kam.
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Wenke Seemann
Reformvorhaben verbunden, die in Phasen eines grand coalition state an der Parteipolitisierung des Bundesrates scheitern (Scharpf 2003: 3, Lehmbruch 1998: 9-19; 143-147, 178). Dieser Beitrag setzt jedoch einen Schritt früher an, indem die Frage thematisiert wird, welche Auswirkungen das Eingehen einer Großen Koalition auf die legislativen Aktivitäten bundespolitischer Akteure hat: Verändern die spezifischen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse, die während der ersten Großen Koalition (1966-1969) noch als Gefahr für die Demokratie galten (Probst 2006: 629, Schneider 1999: 7), die Handlungs- und Konfliktmuster in Bundestag und Bundesrat? Welche Gründe sprechen für einen Einfluss der Koalitionsform auf die Gesetzgebungstätigkeit? Differenziert man die parlamentarischen Aktivitäten nach den Zustimmungserfordernissen der Gesetzesvorlagen und den initiierenden Akteuren, erwächst aus der Machtkonzentration im großkoalitionären Regierungslager vor allem für die Durchsetzung von Verfassungsänderungen (Art. 79, Abs. 2 GG) ein Vorteil gegenüber kleinen Koalitionen mit oder ohne eigene Stimmenmehrheit im Bundesrat. Für sie fällt im Bundestag der oppositionelle Vetospieler bei der Durchsetzung von Grundgesetzänderungen weg, den kleine Koalitionen immer antizipieren müssen, wenn sie ihr Vorhaben nicht gefährden wollen (vgl. Kapitel 3). Die institutionellen Bedingungen für Verfassungsänderungen verbessern sich damit, was sich auf die Verabschiedungswahrscheinlichkeit positiv auswirken könnte. Bei zustimmungspflichtigen Gesetzesvorlagen unterscheidet sich hinsichtlich der legislativen Regierungsautonomie bei der Umsetzung politischer Vorhaben eine Große kaum von einer kleinen Koalition mit eigener Mehrheit im Bundesrat (Art. 77, Abs. 2a GG),4 während sich der Regierungsvorteil für die Durchsetzung einfachgesetzlicher Regelungen (Art. 77, Abs. 3-4 GG) vor allem aus der komfortablen Bundestagsmehrheit ergibt, die koalitionsinterne Abstimmungsabweichler großzügig tolerieren kann. Da die Bundesregierung hierbei aber grundsätzlich über eine eigene Bundestagsmehrheit verfügt und keinerlei parlamentarischen Konsenszwängen ausgesetzt ist, sollte die Große Koalition deshalb kaum Effekte auf die Gesetzgebungstätigkeit des Regierungslagers im Bundestag (bspw. Zunahme von Regierungsinitiativen, Beschleunigung des Gesetzgebungsprozesses) haben. Die Konfliktwahrscheinlichkeit sollte hingegen insbesondere bei zustimmungspflichtigen Gesetzesentwürfen im Vergleich zum grand coalition state genauso absinken wie sie im Unterschied von gleichgerichteten zu divergierenden Mehrheitsphasen bei kleinen Koalitionen abnimmt, da bestehende Konflikte in beiden Fällen ebenenübergreifend parteiintern gelöst werden können (Seemann 2009: 271-273). Aufgrund der starken Dominanz der großkoalitionären Regierung ist es allerdings möglich, dass die Opposition gerade über die verstärkte Einbringung eigener Gesetzesvorlagen versucht, ihre Sichtbarkeit zu erhöhen, schließlich dient das Initiativrecht des Bundestages der Opposition weniger zur Durchsetzung eigener politischer Ziele als vielmehr der Generierung öffentlicher Aufmerksamkeit für inhaltliche Alternativen zur Regierungspolitik (Schindler 1999: 2756, 2764). Die Gesetzgebungsaktivität der Länderkammer hingegen sollte keine Effekte der Koalitionsform im Bundestag aufweisen, da der Erfolg von Länderinitiativen in jedem Fall von der Zustimmung der Bundestagsmehrheit abhängig ist, egal wie groß diese ausfällt.
4 Wenn man allerdings die beteiligten parteipolitischen Akteure betrachtet, muss bei der Interaktion von Regierung und Bundesrat bei kleinen Koalitionen der kleine Koalitionspartner berücksichtigt werden.
Die Gesetzgebungstätigkeit der zweiten Großen Koalition (2005-2009)
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Tabelle 1: Initiativtätigkeit nach parteipolitischen Initiatoren, Gesetzgebungstyp und Koalitions(mehrheits)form (1976-2009) Zeitraum/ Regierung & Oppositions- Bundesrat Interfraktionelle KoalitionsReg. fraktio- fraktionen BT Initiativen BT form* nen BT 3% 18 % 17 % 62 % Einfach8.-16. WP 3% 20 % 23 % 54 % gesetzgebung Kl.K./R-BR 2% 18 % 13 % 68 % GCS 4% 17 % 14 % 65 % GK/R-BR 2% 23 % 14 % 62 % Zustimmungs8.-16. WP 2% 23 % 17 % 58 % gesetzgebung** Kl.K./R-BR 1% 26 % 10 % 63 % GCS 1% 18 % 10 % 71 % GK/R-BR 13 % 25 % 46 % 16 % Verfassungs8.-16. WP 3% 43 % 47 % 7% änderungen Kl.K./R-BR 10 % 23 % 67 % 0% GCS 9% 27 % 54 % 9% GK/R-BR *8.-16 WP = Gesamter Untersuchungszeitraum (N=6600); Kl.K/R-BR = kleine Koalition mit Regierungsmehrheit im Bundesrat (N=1439); GCS = grand coalition state (kleine Koalition mit Oppositionsmehrheit im Bundesrat, N=1773); GK/R-BR = Große Koalition mit Regierungsmehrheit im Bundesrat (N=844) ** Zustimmungsgesetzgebung = ohne Verfassungsänderungsinitiativen
Bevor die hier skizzierten Annahmen zu den Auswirkungen Großer Koalitionen auf die Bundesgesetztätigkeit im Vergleich zum grand coalition state für zustimmungspflichtige und verfassungsändernde Gesetzesvorlagen weiterentwickelt und empirisch überprüft werden (Kapitel 3/4), sollen nun zunächst die legislativen Kernaktivitäten (Initiative, Verabschiedung) während der zweiten Großen Koalition im Vergleich zu kleinen Koalitionen mit eigener und oppositioneller Mehrheit im Bundesrat (grand coalition state) im Zeitraum von 1976 bis 2009 betrachtet werden. Schon ein erster Blick auf die Gesetzgebungstätigkeit zeigt nennenswerte Auffälligkeiten: In Tabelle 1 ist die Initiativtätigkeit parteipolitischer Initiatoren5 nach dem Gesetzgebungstyp und der Regierungskoalitionsform in Verbindung mit der Bundesratsmehrheit aufgeschlüsselt. Dargestellt ist der akteurspezifische Anteil an den verschiedenen in den Bundestag oder Bundesrat eingebrachten Gesetzesentwürfen. Deutlich wird hierbei die generelle Regierungsdominanz in der Initiativtätigkeit, lediglich Verfassungsänderungen werden mehrheitlich von den Oppositionsfraktionen eingebracht. Damit ist das Regierungslager faktisch der parlamentarische Hauptakteur, auch wenn die Mehrheit der Gesetze nur marginaler, formaler oder administrativer Natur ist und öffentlich kaum wahrgenommen wird (Schindler 1999: 2413). Signifikante Varianz weist der Anteil vom Regierungslager initiierter Entwürfe sowohl bei der Einfach- als auch bei der Zustimmungsgesetzgebung auf. Die niedrigste Einbringungsquote weist die Regierung jeweils in Phasen kleiner Koalitionen auf, wenn diese über eine eigene Mehrheit im Bundesrat verfügt. Der Regierungsanteil an den Einspruchsgeset5 Inklusive interfraktioneller Initiativen, also aller Entwürfe, die sowohl unter Beteiligung einer Regierungsfraktion als auch einer Oppositionsfraktion entstanden sind.
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Wenke Seemann
zen ist bei einem bestehenden grand coalition state am höchsten, was sich auf die erhöhte Neigung zur Aufspaltung von Gesetzespaketen in zustimmungs- und nicht zustimmungspflichtige Teile in Antizipation der Blockadegefahr im oppositionellen Bundesrat zurück führen lässt. Der höchste Anteil eingebrachter zustimmungspflichtiger Regierungsentwürfe wird in der Phase der zweiten Großen Koalition erreicht. Er steigt im Vergleich zum Durchschnittswert für den gesamten Untersuchungszeitraum um 9 Prozentpunkte von 62 auf 71 Prozent. Sinkt die Regierungsaktivität bei der Einbringung, so steigt sie im Gegenzug im Oppositionslager um 7 (Einfach-) bis 10 (Zustimmungsgesetzgebung) in Phasen kleiner Regierungskoalitionen mit eigener Bundesratsmehrheit deutlich an. Besonders bemerkenswert ist die durchgängig hohe Initiativtätigkeit bei Verfassungsänderungsvorlagen, hier bringen die Oppositionsfraktionen insbesondere in Phasen des grand coalition state und der zweiten Großen Koalition weit mehr als die Hälfe aller Initiativen ein. Im Gegensatz dazu weist die Initiativtätigkeit des Bundesrates kaum koalitionsspezifische Varianz auf. Unerwartet hoch fällt nur der Anteil von verfassungsändernden Bundesratsinitiativen in Phasen kleiner Regierungskoalitionen mit eigener Bundesratsmehrheit auf. Auch bei den interfraktionellen Initiativen zeigen sich nur bei Verfassungsänderungsinitiativen Auffälligkeiten in Abhängigkeit von der Koalitionsform, hier sind interfraktionelle Entwürfe während einer kleinen Koalition mit oppositioneller Bundesratsmehrheit dreimal häufiger als bei kleinen Koalitionen mit eigener Mehrheit im Bundesrat. Diese Erhöhung dürfte der für Verfassungsänderungen notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit geschuldet sein, da diese ohnehin eine Zusammenführung von Oppositions- und Regierungspositionen erforderlich macht. Der während der zweiten Großen Koalition mit 9 Prozent ebenfalls hohe Anteil interfraktioneller Verfassungsänderungsinitiativen lässt sich mit diesem Argument jedoch nicht erklären. Wie aber der Blick auf die Verabschiedungsleistung der Gesetzgebungsakteure zeigt (Tabelle 2), sind diese Initiativen durchaus von Erfolg gekrönt. Von allen während der zweiten Großen Koalition verabschiedeten Grundgesetzänderungen stammen zwei Drittel aus dem Regierungslager, während das restliche Drittel auf interfraktionelle Initiativen zurückgeht. In Phasen eines grand coalition state ist die Bundesregierung auf die Einbeziehung der Opposition angewiesen, will sie ihre Verfassungsänderungen verabschieden: Alle erfolgreichen Grundgesetzänderungen, über die in Zeiträumen divergierender Mehrheiten abgestimmt worden ist, gehen auf Entwürfe zurück, an denen sowohl die Regierungskoalition als auch mindestens eine Oppositionsfraktion beteiligt war. Das heißt, auch wenn ein parteiübergreifender Konsens bei Verfassungsänderungen in Deutschland keine Ausnahme ist (Lorenz 2007: 47), im grand coalition state ist diese Zusammenarbeit alternativlos.
Die Gesetzgebungstätigkeit der zweiten Großen Koalition (2005-2009)
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Tabelle 2: Verabschiedete Gesetzesvorlagen nach parteipolitischen Initiatoren, Gesetzgebungstyp und Koalitions(mehrheits)form (1976-2009) Zeitraum/ Regierung & Reg. Oppositions- Bundesrat InterfraktionelKoalitionsfraktionen BT fraktionen BT le Initiativen BT form* 5% 5% 1% 90 % Einfach8.-16. WP 6% 9% 0% 85 % gesetzgebung Kl.K./R-BR 3% 4% 1% 92 % GCS 3% 3% 0% 94 % GK/R-BR 2% 6% 0% 92 % 8.-16. WP Zustim2% 7% 0% 91 % Kl.K./R-BR mungs2% 5% 1% 92 % GCS gesetzge0% 4% 0% 96 % GK/R-BR bung** 36 % 40 % 0% 60 % Verfassungs8.-16. WP 0% 50 % 0% 50 % änderungen Kl.K./R-BR 100 % 0% 0% 0% GCS 33 % 0% 0% 67 % GK/R-BR *8.-16 WP = Gesamter Untersuchungszeitraum (N=3715); Kl.K./R-BR = kleine Koalition mit Regierungsmehrheit im Bundesrat (N=757); GCS = grand coalition state (kleine Koalition mit Oppositionsmehrheit im Bundesrat; N=976); GK/R-BR = Große Koalition mit Regierungsmehrheit im Bundesrat (N=533) ** Zustimmungsgesetzgebung = ohne Verfassungsänderungsinitiativen
Darüber hinaus zeigt Tabelle 2, dass die Regierung stets der mit Abstand erfolgreichste Gesetzgebungsakteur ist, und dass andere Akteure kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Umsetzung ihrer Initiativen haben. Sie weist überdies auf einen generellen Effekt der Großen Koalition hin: Die spezifischen Mehrheitsverhältnisse, die mit einer Regierung aus Union und SPD einhergehen, führen zu den jeweils höchsten Regierungsanteilen verabschiedeter Gesetzesvorlagen aus dem Regierungslager, während die Verabschiedungsleistung sowohl von Einspruchs- als auch von Zustimmungsgesetzen in kleinkoalitionären Phasen gleichgerichteter Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat am niedrigsten ausfällt. Bereits an dieser Stelle sind koalitions- und mehrheitsspezifische Effekte erkennbar: Die Initiativtätigkeit und die Verabschiedungserfolge des Regierungslagers steigen insbesondere bei zustimmungspflichtigen Gesetzen deutlich an, während die der Opposition im Bundestag gleichzeitig abnimmt. Es ist daher nun sinnvoll, mittels statistischer Zusammenhangsanalysen diesem Effekt nachzuspüren und so den Unterschied zwischen formaler Großer Koalition und informellem grand coalition state zu analysieren. Dabei wird sowohl die Einfachgesetzgebung wie auch die Verfassungsrechtssetzung untersucht, wobei bei letzterer fallzahlbedingt statistische Aussagen nur eingeschränkt möglich sind.
50 2
Wenke Seemann Grand Coalition State vs. Große Koalition – Von Konkurrenten zu Partnern
2.1 Die informelle Große Koalition im Grand Coalition State Wie bereits argumentiert wurde, ist die Bundesregierung im grand coalition state aufgrund der oppositionellen Mehrheit in der Länderkammer bei der Umsetzung zustimmungspflichtiger Gesetzesvorlagen stets auf die Zustimmung der Opposition angewiesen. Die Regierungspolitik ist dann geprägt von einer Mitregierung der Opposition im Bundestag, die im vertikal integrierten deutschen Parteiensystem ebenenübergreifend das Abstimmungsverhalten ihrer Landesregierungen im Bundesrat koordiniert (Schmidt 2008: 73). Die Nutzung der Vetomacht durch die Opposition liegt jedoch wie auch der Umgang mit der latenten Blockadegefahr durch die Regierung bei den beteiligten politischen Akteuren. Es handelt sich hierbei „um konstitutionelle ‚Opportunitätsstrukturen’ [und] Vetopotentiale“, derer sich politische Akteure bedienen können, so dass „für den Erfolg oder das Scheitern einer demokratisch verantwortungs- und sachlich sinnvollen Reformpolitik nicht nur Strukturbrüche und/oder institutionelle ‚Geburtsfehler’ verantwortlich sind, sondern auch Konkurrenzstil und Kooperationsfähigkeit der Parteien und ihrer Akteure“ (Lhotta 2003: 19). Während die Bundesregierung vor der Wahl steht, die Position der Opposition bei der Formulierung ihrer Gesetzesvorhaben zu antizipieren und inhaltliche Zugeständnisse zu machen oder die Gefahr von Gesetzgebungsblockaden in Kauf zu nehmen, können sich die oppositionsgeführten Landesregierungen zwischen parteipolitischer Konfrontation und kooperativer Mitregierung entscheiden (Schmidt 2008: 81). Das erfolgreiche Umsetzen politischer Reformen aber „signalisiert den Wählern, dass Themen auf der öffentlichen Agenda abgearbeitet werden“ (Bräuninger/Ganghof 2004: 151), der verantwortlichen Regierung wird von den Wählern dafür Kompetenz zugeschrieben, was deren positionale Gewinne und Wahlchancen erhöht. Für die Opposition hingegen ist erfolgreiche Reformpolitik mit positionalen Verlusten verbunden. Durch kooperative Mitregierung verhilft sie der Regierung zu politischen Erfolgen, die sie eigentlich zu verhindern sucht, um sich selbst als die bessere Alternative darzustellen (Scharpf 2003: 3). Regierung und Opposition ziehen also aus einer kooperativen Zusammenarbeit in Phasen von divided government unterschiedlich hohen Nutzen, was deren Kooperationsanreize bestimmt. Die Regierung erzielt mit erfolgreicher Reformpolitik hohen Nutzgewinn und hat deshalb starke Anreize, der Opposition inhaltlich entgegenzukommen, um strategische Blockaden zu verhindern. Die Anreize der Opposition hingegen mit der Regierung zu kooperieren, sind wesentlich geringer. Sie erzielt nur dann Kooperationsgewinne, wenn sie erhebliche Veränderungen am Regierungsentwurf durchsetzen kann, die Änderung des Entwurfes entscheidend von ihrer politischen Position geprägt ist und sie dafür öffentlich Verantwortung reklamieren kann: „They demand significant policy gains in order to send a clear signal to voters that their participation in policymaking makes a difference“ (Ganghof/Bräuninger 2003: 5). Konfrontation und Blockade aber ist für die Opposition ebenfalls mit elektoralen Risiken verbunden, wenn es der Regierung gelingt, sie als strategischen Verhinderer notwendiger politischer Neuregelungen darzustellen (Bräuninger/Ganghof 2004: 151; Schmidt 2008: 81). Dies führt dazu, dass insbesondere die Opposition eine dual track Strategie verfolgt: „Either co-operation and confrontation in legislation and in the symbolic presentation of the choices or, alternatively, co-operation in legislation but with a confrontational style in the political rhetoric of partisan struggles.[…] In practise the governing parties and the opposition party
Die Gesetzgebungstätigkeit der zweiten Großen Koalition (2005-2009)
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have in most cases chosen a co-operative strategy, usually after a longer period of confrontation and negotiation” (Schmidt 2008: 81).
Der Gesetzgebungsprozess ist dann, wie in der 15. Wahlperiode, von der parteipolitischen Konfrontation zwischen SPD-geführter Bundesregierung und unionsgeführter Opposition geprägt. Der Konfliktgrad steigt im Vergleich zu kongruenten Mehrheiten erheblich an, da die oppositionsgeführte Bundesratsmehrheit mit Einsprüchen, Zustimmungsversagungen und Anrufungen des Vermittlungsausschuss die Bundesregierung dort unter Verhandlungszwang setzt, wo sie nicht frühzeitig die oppositionelle Position antizipiert hat (Seemann 2009: 271-273). 2.2 Die Formalisierung der Großen Koalition Mit der Bildung der Großen Koalition im November 2005 sind die Konkurrenten Union und SPD zu Partnern geworden, die gemeinsam Regierungsverantwortung übernehmen. Die Interaktionsmuster der beiden Parteien ändern sich damit schlagartig: „Where there is a formal coalition, collective agency has been created, and all parties to it will be judged at least in part by its successes or failures” (Ganghof/Bräuninger 2003: 5). Der Konsensdruck für Union und SPD steigt, die Kosten, die ein Scheitern von Reformen mit sich bringen, erhöhen sich für alle Beteiligten. Der Konkurrenzmodus des Parteienwettbewerbs wird mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages für die Dauer der Regierungszusammenarbeit zumindest in der öffentlichen Auseinandersetzung und legislativen Arena weitgehend ausgeschaltet. Offen ausgetragene politische Konfrontationen und Konflikte sind keine regelmäßig nutzbare Handlungsoption mehr. Sie gefährden – wie bei allen anderen Koalitionsformaten – nicht nur den Koalitionsfrieden, sondern im schlimmsten Fall die Regierung, was mit erheblichen elektoralen Risiken verbunden ist. Im Vergleich zum grand coalition state müssen somit zwar dieselben Akteure zu einer inhaltlichen Einigung gelangen, Unstimmigkeiten sind jedoch nun koalitionsintern zu lösen. Oder geplante Vorhaben bleiben bei Nichteinigung ganz auf der Strecke – in der Regel ohne überhaupt in den Gesetzgebungsprozess eingebracht worden zu sein. In der Konsequenz wird die Konfliktwahrscheinlichkeit in Phasen formaler, koalitionärer Zusammenarbeit von Union und SPD im tatsächlichen Gesetzgebungsprozess sinken. Parteipolitisch motivierte, strategische Blockaden sind aufgrund der fast durchgängig vorhandenen Regierungsmehrheit im Bundesrat nicht zu erwarten, was aber nicht bedeuten muss, dass inhaltliche Einigungen leichter zu erreichen sind. 2.3 Empirische Überprüfung Um diese Annahme zu verifizieren werden zunächst die Konflikthäufigkeit und anschließend die Konfliktwahrscheinlichkeit im Bundesrat gegenüber Regierungsvorlagen in Abhängigkeit von der auftretenden Koalitions- und Mehrheitskonstellation analysiert. Im ersten Schritt wird die Häufigkeit des Auftretens kontroverser und konsensualer Bundesratsentscheidungen gegenüber Entwürfen aus dem Regierungslager, die vom Bundestag verabschiedetet und an den Bundesrat überwiesenen worden sind, deskriptiv betrachtet. Als kontroverse Abstimmungsentscheidungen der Länderkammer gelten hierbei alle durch die
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Wenke Seemann
Stimmenmehrheit des Bundesrates ausgesprochenen Einsprüche, Zustimmungsversagungen und Anrufungen des Vermittlungsausschusses. Der Verzicht auf diese Instrumente wird hingegen als konsensuales Verhalten bewertet. Abbildung 1 stellt den Anteil kontroverser und konsensualer Bundesratsentscheidungen gegenüber Regierungsvorlagen dar: Für den gesamten Untersuchungszeitraum, für Phasen mit einer kleinen Regierungskoalition, die über eine eigene Regierungsmehrheit im Bundesrat verfügt, für die Phasen eines grand coalition state und den Zeitraum der zweiten Großen Koalition, in dem diese über eine mindestens absolute Stimmenmehrheit im Bundesrat verfügt. Hier zeigt sich, dass die Konflikthäufigkeit im Bundesrat während der Großen Koalition im Vergleich zum grand coalition state fast zehnmal geringer ist: Statt 21 Prozent (GCS) weisen lediglich 2 Prozent aller verabschiedeten Gesetzesvorlagen einen Einspruch, eine Zustimmungsversagung oder eine Anrufung des Vermittlungsausschusses auf. Damit ist die die Konfliktneigung der Länderkammer gegenüber Großen und kleinen Koalitionen mit eigener Bundesratsmehrheit (1 Prozent) vergleichbar, was darauf schließen lässt, dass nicht die Koalitionsform, sondern die im Bundesrat vorliegenden parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse das Konfliktniveau der Länderkammerentscheidungen maßgeblich bestimmen (Seemann 2009: 272). Abbildung 1:
Bundesratsentscheidungen über Regierungsvorlagen in Prozent (1976-2009) 8.-16.WP
88
Kleine Koalition mit eigener BR-Mehrheit
12 99
Grand Coalition State
1
79
Große Koalition mit eigener BR-Mehrheit
21 2
98
konsensual
kontrovers
Eine genauere Analyse zeigt: Auch bei der Großen Koalition steigt das Konfliktpotenzial an, wenn die Regierungsmehrheit im Bundesrat verloren geht. So ging mit der hessischen Landtagswahl im Februar 2009 die großkoalitionäre Bundesratsmehrheit verloren, und letztlich wurden von den insgesamt 15 konfrontativen Entscheidungen des Bundesrates sieben in diesen letzten 5 Monaten der Regierungszeit getroffen. Testet man die konkreten Effekte von Koalitionstyp und den im Bundesrat vorliegenden, parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen auf die Konfliktwahrscheinlichkeit in der Länderkammer, so bestätigt sich diese Interpretation (Tab. 3).
Die Gesetzgebungstätigkeit der zweiten Großen Koalition (2005-2009)
53
Tabelle 3: Logistische Regression – Konfliktwahrscheinlichkeit im Bundesrat gegenüber Regierungsvorlagen (1976-2009) MODELL M1: Große Koalition mit eigener Stimmenmehrheit im Bundesrat
Alle Gesetze
Einspruchsgesetze Zustimmungsgesetze
-2,13 (34,303)***
-2,544 (18,563)***
-1,747 (14,238)***
Konstante/Beobachtungen/Pseudo-R2 -1,821/2125/6
-1,838/993/8,4
-1,808/1124/4
M2: Regierungsmehrheit im Bundes-2,723 rat (alle Koalitionsformen) (57,07)*** 2 Konstante/Beobachtungen/Pseudo-R -1,517/2747/9
-3,062 (18,299)*** -1,696/1190/9
-2,586 (38,233)*** -1,390/1296/10
b-Koeffizient; Wald-Test (z-Werte); Fehlerwahrscheinlichkeit ***p < 0.001, **p < 0.01, *p < 0.05
Tabelle 3 zeigt zwei getrennt berechnete Modelle logistisch-bivariater Regressionen, die den Einfluss der Variable „Große Koalition“ (Modell 1)6 und den der Variable „Regierungsmehrheit im Bundesrat“ (Modell 2)7 für die unterschiedlichen Gesetzestypen im gesamten Untersuchungszeitraum messen. Berechnet man die Effekte beider Variablen für alle Gesetze sowie für Einspruchs- und Zustimmungsgesetze getrennt, so weisen die signifikanten Regressionskoeffizienten jeweils negative Vorzeichen auf und damit auf einen negativen Effekt gleichgerichteter Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat auf die Konfliktwahrscheinlichkeit bei Länderkammerentscheidungen gegenüber Regierungsvorlagen hin. Sowohl eine Große Koalition als auch eine im Bundesrat vorliegende Regierungsmehrheit senken im Vergleich zu kleinen Koalitionen bzw. oppositionellen oder gemischten Bundesratsmehrheiten signifikant die Wahrscheinlichkeit, dass der Bundesrat gegenüber einer Regierungsvorlage einen Einspruch einlegt, seine Zustimmung versagt oder den Vermittlungsausschuss anruft. Die Analyse bestätigt, dass hier also nicht die Koalitionsform für die deutlich niedrigere Konfliktwahrscheinlich im Bundesrat verantwortlich ist, sondern vielmehr die spezifische Ausprägung der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat, welche eine Große Koalition mit sich bringt. Die Parteipolitisierung des Bundesrates zeigt sich unabhängig von der Koalitionsform im Bundestag durch ein geringes Konfliktniveau in Phasen kongruenter Mehrheiten, in denen die Regierungskoalition parteiintern mit den Ministerpräsidenten verhandeln kann und durch einen Anstieg der Konfliktwahrscheinlichkeit, sobald diese Verhandlungen überparteilich erfolgen müssen, weil die Mehrheiten divergieren (Seemann 2009). Stehen sich Union und SPD nicht als Gegner gegenüber, sondern tragen gemeinsam die Regierungsverantwortung, werden Konflikte koalitionsintern und ebenenübergreifend innerparteilich mit den Ländervertretern gelöst. Damit unterscheidet sich das Verhalten nicht von anderen Koalitionsformen mit eigener Mehrheit im Bundesrat. Es zeigt aber, dass der Parteienwettbewerb zwischen den Hauptkonkurrenten des deutschen Parteiensystems in Phasen Großer Koalitionen quasi zum Stillstand kommt. Die öffentliche Abgrenzung und Kritik am Koalitionspartner nimmt erst kurz vor Ende der 6 Dummyvariable für alle Gesetze der zweiten Großen Koalition, bei denen zum Zeitpunkt der Abstimmung im Bundesrat mindestens eine absolute Stimmenmehrheit des Regierungslagers in der Länderkammer vorgelegen hat. 7 Dummyvariable für alle Regierungsentwürfe, bei denen zum Zeitpunkt der Abstimmung im Bundesrat eine Regierungsmehrheit in der Länderkammer vorgelegen hat.
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Wenke Seemann
Legislaturperiode wieder zu, wenn der Bundestagswahlkampf einsetzt und wieder ganz offensichtlich wird, was für den Bund grundsätzlich gilt: Angestrebt wird die Führung der nächsten Bundesregierung ohne Beteiligung des jeweils anderen. 3
Regieren mit Zweidrittelmehrheit – Gute Bedingungen für Verfassungsänderungen?
Zur Änderung des Grundgesetzes bedarf es sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat einer Zweidrittelmehrheit (Art. 79 Abs. 2 GG), womit die Rigidiät des Grundgesetzes im Mittelfeld etablierter Demokratien liegt (Lorenz 2007: 21). Dass im Zusammenhang mit im Bund regierenden Großen Koalitionen immer wieder von guten Bedingungen für Verfassungsänderungen gesprochen wird, ist auf den großen verfassungspolitischen Aktivismus der ersten Großen Koalition (1966-1969) zurückzuführen: Die Regierung Kiesinger hat mit der Verankerung des kooperativen Föderalismus und der Notstandsverfassung sehr weit reichende Verfassungsänderungen umgesetzt (März 2007: 151-152) und war zudem mit 12 Verfassungsänderungen in der fünften Legislaturperiode vergleichsweise aktiv – zuvor waren es im Durchschnitt lediglich 3,5 Grundgesetzänderungen, selbst in der aktivsten zweiten Wahlperiode wurden lediglich sechs Verfassungsänderungen erreicht (Abb. 2; Menzenbach et al 2009). Abbildung 2:
Eingebrachte und verabschiedete Grundgesetzänderungen nach Wahlperioden 1949-2009 (Anzahl)
50 42
initiiert verabschiedet 25
20
21
18
11 6
3
30
16 12
11
3
20 15
10 65
2
30
6
6
4
3
00
0
2
1
4
6
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Quelle: WP 1-7: Menzenbach et al 2009; Lorenz 2007: 9; WP 8-16: eigene Auszählung Dieser Erfolg kann aber nicht auf das Vorliegen verfassungsändernder Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zurückgeführt werden, denn die erste Große Koalition verfügt über den gesamten Zeitraum ihres Bestehens nur über eine absolute Mehrheit der Bundesratsstimmen. Nimmt man beide Großen Koalitionen zusammen, so zeigt sich, dass verfassungsändernde Mehrheiten im Bundesrat für diese nicht der Regelfall sind: Sie liegen in
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nur 9 von 82 Monaten vor. Mit der Bildung von Großen Koalitionen wird damit zwar der parlamentarische Vetospieler Opposition im Bundestag ausgeschaltet, über weite Strecken ihrer Amtszeit bleiben jedoch auch die schwarz-rote Bundesregierungen bei der Durchsetzung von Grundgesetzänderungen von der Zustimmung inkongruenter Landesregierungen im Bundesrat abhängig. Wie Lorenz (2007: 40-45) für den Zeitraum von 1949 bis 2006 zeigt, wirken sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat kaum auf die Anzahl erfolgreich verabschiedeter Verfassungsänderungen aus. Vielmehr scheint die Regierungszusammenarbeit der üblichen parteipolitischen Gegenspieler die Einigungschancen nur bei solchen Vorhaben zu erhöhen, bei denen strategische Blockaden sachpolitisch durchaus mögliche Kompromisse verhindern. Denn als Regierungsparteien profitieren sowohl CDU/CSU als auch SPD in einer Großen Koalition von den positionalen und elektoralen Gewinnen, die mit erfolgreichen Reformen einhergehen. Wo allerdings relevante inhaltlich Differenzen oder nicht in winwin-Szenarien lösbare Konflikte bestehen, erleichtert auch eine formale Große Koalition die Kompromissfindung nicht. Vor diesem Hintergrund ist von der schwarz-roten Regierungszusammenarbeit auch in der 16. Wahlperiode keine relevante Zunahme von Grundgesetzänderungen zu erwarten. Die Empirie bestätigt diese Vermutung: Abbildung 2 zeigt für den Zeitraum von 1949 bis 2009 alle pro Wahlperiode initiierten und verabschiedeten Verfassungsänderungspakete. Bei einer mit 22 Prozent grundsätzlich relativ geringen Verabschiedungsquote von Grundgesetzänderungen (1949-2009) liegt die zweite Große Koalition mit 20 Prozent leicht unter dem Durchschnitt des Gesamtzeitraums. Die Zahl von insgesamt sechs erfolgreichen Änderungen zwischen 2005 und 2009 bewegt sich zwar über dem Durchschnitt von 3,6 Änderungen pro Legislaturperiode, diese Größenordnung aber ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern wird in fast einem Drittel aller Legislaturperioden erreicht. Interessanterweise ist keine einzige dieser Grundgesetzänderungen in jener Phase verabschiedet worden, in der sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit vorliegt: Vier, darunter die Grundgesetzänderung für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon (BT-DRS 16/13924) und die Föderalismusreform II (BT-DRS 16/12400) sind erst 2009 in den letzten Monaten vor Ablauf der Wahlperiode von einer gemischten Bundesratsmehrheit verabschiedet worden. Zur erfolgreichen Umsetzung der Föderalismusreform I ist ebenfalls keine eigene Zweidrittelmehrheit der Großen Koalition im Bundesrat nötig gewesen. Die mit 25 von 192 geänderten Artikeln größte Reform des Grundgesetzes in der Geschichte der Bundesrepublik findet im Sommer 2006 nicht nur die Zustimmung der mit der Bundesregierung parteipolitisch übereinstimmenden Landesregierungen, sondern auch von teilweise inkongruenten Landesregierungen wie der Berliner rot-roten oder der niedersächsischen schwarzgelben Regierungskoalition (Bundesrat 2006: 222) – schließlich galt es, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern und die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern (BT-Drs. 16/813; Georgii/Borhanian 2006). Nichtsdestotrotz haben beide Große Koalitionen auch ohne Zweidrittelmehrheit im Bundesrat umfangreiche Reformen des Föderalismus umgesetzt. Und wie vermutet sind dabei die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat nicht ausschlaggebend für Einigung und Aufgabe konfrontativer Handlungsstrategien gewesen. Gerade das Beispiel der Föderalismusreform I/II zeigt, dass mit dem Regierungsstatus von Union und SPD und der temporären Stilllegung des Parteienwettbewerbs die Konsensanreize erheblich steigen: Sind die Verhandlungen zur Föderalismusreform I Ende des Jahres
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2004 noch am Widerstand vornehmlich unionsgeführter Bundesländer gescheitert (u.a. Schultze 2005: 17), wurden sie nach der Bundestagswahl 2005 innerhalb kürzester Zeit zu einem erfolgreichen, aber kaum differierenden Ergebnis geführt (siehe dazu Reutter in diesem Band). Ein Scheitern der Reformbemühungen hätte der Regierung, die ihre eigene Konstitution mit der Beseitigung divergierender Mehrheitsverhältnisse und Zurückgewinnung der Handlungsfähigkeit begründet hat (Stüwe 2008: 24), schweren Schaden zugefügt. Die gemeinsame Regierungsverantwortung verhindert strategische Blockaden; wo allerdings nicht strategische, sondern wie bei der Regelung der föderalen Finanzbeziehungen signifikant inhaltliche Bund-Länder- oder länderinterne Differenzen bestehen, kann auch der hohe Einigungsdruck einer Großen Koalition keinen Kompromiss erzwingen: Die Föderalismusreform II wird zwar nach erheblichem Ringen im Sommer 2009 doch noch verabschiedet, das eigentlich mit ihr verbundene Hauptziel, die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu zu ordnen, ist aber nicht erreicht worden. 4
Bewertung der Ergebnisse und Schlussbemerkungen
Welchen Unterschied macht es also, wenn die Hauptkonkurrenten im bundesdeutschen Parteiensystem gemeinsam das Steuer übernehmen und damit nicht nur die Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat spezifische Muster aufweisen, sondern auch den Parteienwettbewerb temporär außer Kraft setzen? Für die Gesetzgebungstätigkeit muss man angesichts der Ergebnisse der vorausgegangenen empirischen Analyse sagen: Es treten tatsächlich nachweisbar messbare Unterschiede zwischen den legislativen Aktivitäts- und Interaktionsmustern der Akteure der Großen Koalition und im grand coalition state auf. Bei den parlamentarischen Kernaktivitäten sind insbesondere die deutlich erhöhte Einbringung von zustimmungspflichtigen Gesetzesentwürfen sowie die im Vergleich zu anderen Koalitionsformen gesteigerte Verabschiedungsquote der Regierungskoalition während der Phase der zweiten Großen Koalition hervorzuheben. Obwohl auch die zweite Große Koalition eine umfassende Reform des Föderalismus vornimmt, erreicht die Zahl der Grundgesetzänderungen bei weitem nicht die Dimension der Kiesinger-Regierung. Für keine der sechs Änderungen wird die zeitweise vorhandene Zweidrittelmehrheit der Großen Koalition im Bundesrat genutzt, die Mehrzahl wird sogar wenige Monate vor der Bundestagswahl 2009 verabschiedet, als die Bundesregierung ihre Mehrheit ganz verloren hat. Die Zusammenarbeit von Union und SPD wirkt sich jedoch nicht nur deutlich positiv auf die legislative Einbringungs- und Verabschiedungsleistung aus. Auch die Konfliktwahrscheinlichkeit sinkt in der Phase, in der die zweite Große Koalitionen über eine absolute Mehrheit im Bundesrat verfügt, erwartungsgemäß auf das Niveau, welches kleine Koalitionen aufweisen, die ebenfalls über diese verfügen. Kontroverse Entscheidungen der Länderkammer gegenüber Regierungsvorlagen bleiben während der zweiten Großen Koalition eine absolute Ausnahmeerscheinung. Konfrontative Entscheidungen treten erst mit dem Verlust der Regierungsmehrheit im Februar 2009 wieder vermehrt auf. Damit belegt die vergleichende Analyse einmal mehr die Parteipolitisierung des Bundesrates. Sie zeigt jedoch auch, dass der Regierungsstatus für die Interaktion von Union und SPD entscheidender ist als das Konkurrenzmotiv des Parteienwettbewerbs, welches die Beziehung der beiden Parteien originär konstituiert. Die Konsenszwänge, die von einer gemeinsamen
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Regierungsverantwortung ausgehen, sind wesentlich stärker als die Vetostrukturen des politischen Entscheidungsprozesses. Wo im grand coalition state Konflikt und Blockadedrohung noch – wenn auch mitunter risikoreiche – Optionen sind, die eigene Position einzubringen, so fallen diese Möglichkeiten während der Großen Koalitionen zumindest öffentlich aus: Die Austragung von Konflikten zwischen Union und SPD erfolgt dann koalitionsintern, strittige Punkte werden gegebenenfalls ausgeklammert oder ganz und gar fallen gelassen (z.B. die Frage des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren). Die hohen Konsensanreize innerhalb der Koalitionsregierung führen in Verbindung mit den großkoalitionären Mehrheitsverhältnissen damit nur bedingt zum erwünschten Durchregieren und zur Umsetzung weit reichender Strukturreformen. Dort, wo vor allem strategisch motivierte Blockaden Kompromisse verhindert haben, die nur für die Regierungsparteien Gewinne versprochen hätten, kommen wie bei der Föderalismusreform nun Einigungen zustande, für die in der Großen Koalition sowohl Union als auch SPD Verantwortung reklamieren können. Wo aber, wie bei der Gesundheitsreform, zwei völlig verschiedene politische Positionen aufeinander treffen, fällt der koalitionär ausgehandelte Kompromiss zum Teil weit hinter den Reformbedarf zurück (vgl. Grimmeisen/Wendt in diesem Band). Literatur Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.), 2009: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Bonn. Bauer, Thomas/Leunig, Sven, o. J.: Die Entwicklung der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat seit 1949, in: http://www.foederalismus.uni-jena.de/Mehrheits verhaeltnisseBRat.doc; 03.02.2008. Bräuninger, Thomas/Ganghof, Steffen, 2004: Bikameralismus und Parteipolitik, in: Manow, Philipp/ Ganghof, Steffen (Hrsg.), Theoretische Perspektiven auf das deutsche Regierungssystem. Frankfurt a.M.,149-181. Bundesrat, 2006: Plenarprotokoll 824. Sitzung (07.07.2006), in: http://www.bundesrat.de/cln_090/ nn_44034/SharedDocs/Downloads/DE/Plenarprotokolle/2006/Plenarprotokoll-824,templateId= raw,property=publicationFile.pdf/Plenarprotokoll-824.pdf; 03.09.2009. Bundestag, o.J: DIP - Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge, 15 Wahlperiode. Bundestag, 2009a: Statistik der Gesetzgebung in der 16. Wahlperiode (Stand 14.07.2009), in: http://www.bundestag.de/bic/sach_sprech/gesetzgebung.pdf; 28.07.2009. Bundestag, 2009b: Statistik der parlamentarischen Initiativen in der 16. Wahlperiode (Stand 14.07.2009), in: http://www.bundestag.de/bic/sach_sprech/initiativen.pdf; 28.07.2009. Bundestag, 2009c: Statistik der parlamentarischen Kontrolltätigkeit in der 16. Wahlperiode (Stand 20.08.2009), in: http://www.bundestag.de/dokumente/parlamentsdokumentation/kontroll_ taetigkeiten.pdf 20.08.2009. Bundeswahlleiter, 2009a: Tabellen zur vertieften Analyse für das endgültige Ergebnis, in: http:// www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_05/downloads/; 22.06.2009. Bundeswahlleiter, 2009b: Wahl zum 5. Deutschen Bundestag am 19. September 1965, in: http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/fruehere_bundestagswahlen/btw1965.htm l; 22.06.2009. Bundeswahlleiter, 2009c: Endgültiges Ergebnis der Bundestagswahl 2005. Sitzverteilung, in: http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_05/ergebnisse/bundeserge bnisse/grafik_sitze_99.html; 22.06.2009.
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Schutz vor der Mehrheitstyrannei? Parlamentarische Opposition, Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident als Kontrolleure der Zweidrittelmehrheit Schutz vor der Mehrheitstyrannei?
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Einleitung
Als 1966 die erste Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik gebildet wurde, löste dies Ängste aus (Hildebrand 2008). Das Besondere an solchen Koalitionen ist, dass die Regierungseinbindung der beiden stärksten Parteien institutionelle Barrieren außer Kraft setzt, die sich die Verfassungsgeber ausgedacht haben, um die Machtinhaber zu zügeln: Eine Große Koalition dominiert die parlamentarischen Abläufe, kann mit eigener Mehrheit die Verfassung ändern und die politischen Aushandlungen durch die Verlagerung in informelle Runden der Öffentlichkeit entziehen. All dies schadet potenziell der Demokratie. Den Kontrolleuren des Regierungslagers kommt daher während einer Großen Koalition eine besondere Bedeutung zu. Im Gegensatz zur ersten gemeinsamen Amtszeit von CDU/CSU und SPD standen ihren Erben ab 2005 anstelle nur einer immerhin drei Oppositionsparteien gegenüber, und das politische System war insgesamt gefestigt. Deshalb wurde die Bildung der zweiten Großen Koalition mit weniger grundsätzlichem Argwohn beobachtet. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, ob die parlamentarische Opposition, das Bundesverfassungsgericht und der Bundespräsident unter der zweiten Großen Koalition einen Schutz vor der Mehrheitstyrannei garantierten, der diese Gelassenheit rechtfertigt. Dafür stellt er zunächst theoretische Überlegungen zum Kontrollverhalten unter den gegebenen Bedingungen an. Da Kontrolle die Überprüfung von Handlungen und die Fähigkeit zum korrigierenden Eingriff meint (Rudzio 1991: 248), skizziert der zweite Abschnitt, welche Kontrollinstrumente der Opposition, dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundespräsidenten unter den Bedingungen einer Zweidrittelmehrheit überhaupt zur Verfügung standen, während der dritte Abschnitt analysiert, inwiefern sie diese Instrumente nutzten und Änderungen am politischen Output bewirkten. Das Resümee fasst wesentliche Befunde des Beitrags zusammen und beurteilt, ob die betrachteten Akteure eine effektive Kontrolle gewährleisteten. 2
„Tyrannei der Mehrheit“ und demokratische Kontrolle in der Theorie
Anders als die athenische Demokratie setzt die heutige liberale Demokratie nicht primär auf das Mehrheitsprinzip, sondern sucht explizit die Freiheit des Einzelnen, Minderheitenrechte und die Sicherung des Gemeinwohls mit den Bedingungen von „Volksherrschaft“ zu vereinen. Demokratie wird demnach nicht nur als Ideologie der Mehrheit, sondern gleichzeitig als Ideologie der Minderheit und legalen Opposition konzipiert (Shapiro 1996: 51). Dazu S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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wurden Machtteilung, Verfassung, Bürgerrechte und Entfaltungsmöglichkeiten für die Opposition und (weitere) Elemente von Kontrolle vorgesehen (Schmidt 1997). Nach der Überwindung der Diktaturen des 20. Jahrhunderts erreichten die Überlegungen dazu, wie die neu entstehenden Demokratien möglichst umfassend abgesichert werden könnten, eine neue Qualität und Praxisnähe.
2.1 Demokratische Kontrolle Basierend auf dem Fundus demokratietheoretischer Überlegungen ist anzunehmen, dass eine pluralistische Binnen- und Systemkomposition von Akteuren und die breite Streuung von Ressourcen wechselseitige Kontrolle begünstigen, weil sie Interessenvielfalt fördern. Zu diesen Ressourcen zählen der Zugang zu Bildung, Informationen und Medien ebenso wie die Möglichkeit der Gewaltmaßnahmen, materielle Güter oder sozialer Status. Die effektive Ausübung von Kontrolle ist voraussetzungsvoll: Sie erfordert neben formalen Rechten Wissen (Ismayr 2006: 305), Problembewusstsein, die Bereitschaft zu aktivem Engagement und ein Mindestmaß an Organisiertheit und Infrastruktur. Folgende Mechanismen der Kontrolle politischer Mehrheiten in demokratischen Systemen lassen sich benennen:
die normativ-ideelle Selbstkontrolle der regierenden Mehrheit aufgrund ihrer demokratischen Sozialisation (soziale Norm) und der Akzeptanz liberal-demokratischer Normen und Werte (Überzeugung); Strukturen, die zum Parteienwettbewerb konkurrierende Handlungslogiken generieren (Föderalismus, regionale Heterogenität, Listen- und Direktkandidaten, Ämterrationalität o.ä.);1 die aktive Kontrolle der Regierenden durch die parlamentarische Opposition, die Judikative und das Staatsoberhaupt; investigativer Journalismus: vielfältige Medien, die Informationen über die Politik bereitstellen; staatsbürgerschaftliches Engagement: Bürger/innen, die ihre Erwartungen artikulieren, auch klagen, um das Regierungslager zu kontrollieren und im Bedarfsfall Formen öffentlichen Protestes nutzen; die „Abwahl“ der Regierungsmehrheit; die Einbindung in supranationale oder internationale Rechts- und Handlungssysteme, die obige Bedingungen gewährleisten.
Wenn es im Folgenden um die Wahrnehmung von Kontrolle durch die parlamentarische Opposition, das Bundesverfassungsgericht und den Bundespräsidenten geht, dann bilden sie also nur einen kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt von Kontrollakteuren und mechanismen in Demokratien. Sie sind insofern gut gerüstet, als sie über formale Kontrollrechte (Abschnitt 3), einen privilegierten Zugang zu Informationen, Bewusstsein für die Bedeutung von Kontrolle in der Demokratie und ein hohes Maß an Organisiertheit und 1 Sie sorgen dafür, dass trotz großer parteipolitischer Mehrheit Aushandlungen nötig sind und sich allenfalls in das Regierungslager hinein verschieben.
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Infrastruktur verfügen. Ob sie auch eine besondere Bereitschaft zur aktiven Kontrolle zeigen, wird später zu sehen sein. Es lässt sich zwischen der Kontrolle der politischen Inhalte, der Effizienzkontrolle und der Rechtmäßigkeitskontrolle unterscheiden (Gehrig 1969: 5; Rudzio 1991: 248).2 Die Kontrolle der politischen Inhalte bzw. der politischen Richtung orientiert sich bei den Parteien am Maßstab ihrer individuellen Zielvorstellungen. Der Bundespräsident verfügt ebenfalls über ein materielles Prüfungsrecht. Es ist allerdings eng begrenzt und richtet sich ausschließlich darauf, die gesellschaftliche Integration und die Dignität des Staates zu wahren, denn das Staatsoberhaupt steht über den Parteien (Billing 2001). Letzteres gilt auch für das Bundesverfassungsgericht, das die politischen Inhalte beklagter Normen nur mit dem abgleichen soll, was an politischen Inhalten ggf. verfassungsrechtlich normiert ist. Die Effizienzkontrolle ist ebenfalls im Wesentlichen eine Aufgabe der parlamentarischen Opposition. Sie kann die Bewertung der von einer politischen Entscheidung betroffenen Sachverhalte, die Angemessenheit von Problemlösungen, die Nichtberücksichtigung von Interdependenzen sowie die (unterlassene) Verknüpfung mit weiteren Maßnahmen kritisieren. Die Rechtmäßigkeitskontrolle meint den formalen Abgleich mit den vorhandenen Normen. Für sie sind alle drei hier besprochenen Akteur(gruppen) zuständig. Gerade für eine effektive Ausübung der Effizienz- und der Rechtskontrolle sind fachliche Expertise und konkrete Informationen zu der Vielzahl der politischen Vorhaben des Regierungslagers unabdingbar. Kontrolle kann nachträglich erfolgen, wie im Falle einer Klage nach Verabschiedung eines Gesetzes. Sie kann aber auch eine Vorwirkung entfalten, wenn etwa die parlamentarische Opposition frühzeitig Pläne des Regierungslagers kritisiert, die dann tatsächlich geändert werden (Ismayr 2006: 299-300; Steffani 1989: 1325), oder wenn das Regierungslager einen Einwand, eine Klage oder ein Urteil antizipiert und seine Pläne ändert, um die erwarteten Schritte zu umgehen (Beyme 2004: 272; Vanberg 2005a, 2005b). Sie kann in Form von Rügen oder Sanktionen erfolgen oder über bloße Kommunikation.
2.2 Sonderfall Große Koalition? Koalitionen zwischen einer großen und einer Kleinpartei sind ein „Generalmerkmal der deutschen Politik“ (Hartmann 2004: 178). Mit der Bildung des untypischen Regierungsbündnisses zwischen den beiden stärksten Parteien stieg 2005 der Bedarf an Kontrolle, während das Portfolio an Kontrollinstrumentarien gleich blieb. Über Akteure wissen wir, dass sie aus Kostengründen grundsätzlich ihre am politischen „Normalbetrieb“ ausgerichteten Handlungsroutinen beibehalten, sofern Änderungen der Umstände nicht ihre Präferenzen, Kosten-Nutzen-Erwägungen oder die Verfügbarkeit dieser Routinen ändern. Insofern war im Falle der Großen Koalition – so sie als vorübergehendes Phänomen wahrgenommen wurde – zu erwarten, dass Opposition, Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht sich verhielten wie üblich, wo dies möglich war, und wegfallende Kontrollwege über ausgewählte Maßnahmen (nur dann) auszugleichen suchten, wenn das Verhältnis aus Kosten und Nutzen sinnvoll schien. Den sonstigen Wegfall von Kontrollaktivitäten konnten sie mit dem 2 Ausgeblendet bleibt hier die sogenannte informative Kontrolle, zu verstehen als kommunikative Einwirkung per Mahnung, Warnung oder Gegenempfehlung, Vermittlung oder Streitschlichtung (Billing 2001: 316). Dieser Kontrolltypus basiert auf einer anderen Logik, denn er stellt im Gegensatz zu den genannten Typen nicht auf das Ziel der Kontrolle ab, sondern auf die Art und Weise der Einwirkung.
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Verweis auf die Übermacht der Großen Koalition öffentlich ohne eigenen Schaden legitimieren. Die Anstrengungen sollten sich ansonsten auf die üblichen individuellen Interessen konzentrieren, die dem Kontrollinteresse teilweise abträglich sind. Lediglich wenn Große Koalitionen häufiger gebildet werden oder wenn das Regierungshandeln den Interessen der genannten Akteure stark zuwiderlaufen würde, war eine umfassende Veränderung der Präferenzen und Strategien aller Beteiligten zu erwarten. Was die Opposition betrifft, so ist es ihre ureigene Aufgabe und eine Rollenerwartung dazu, öffentlich gegen die Regierungsmehrheit aufzutreten. Die Sichtbarmachung symbolischer Kontrollmaßnahmen kann dieser Aufgabe und der eigenen parteipolitischen Profilierung dienen. Auf diese Weise legitimiert die Opposition ihre Existenz und erhöht die eigenen Wahlchancen (u.a. Thaysen 1976: 65), während die Regierungsmehrheit bestrebt ist, ihr eigenes Ansehen und die eigenen Handlungsspielräume möglichst groß zu halten (Ismayr 2006: 30). Besonders am Anfang der Legislaturperiode bestanden wegen des Neuigkeitswertes der Großen Koalition und der entsprechend intensiven Medienberichterstattung Anreize dazu, sich als Verhinderer eines „Durchregierens“ zu profilieren. Allerdings kollidiert dieses Kalkül mit dem Interesse daran, die Inhalte der Politik zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. Da die policy-Distanzen zum Regierungslager während einer Großen Koalition wenig von den üblichen Distanzen abweichen, bestand eine gegenüber anderen Legislaturperioden gleichbleibende Chance dazu, inhaltlich gehört zu werden. Für diejenigen, die eine reelle Chance auf Kooperation besaßen, konnte aufgrund von Schnittmengen der eigenen Präferenzen mit denen der Regierungsparteien die Mitwirkung im Kleinen mehr Nutzen einbringen als die öffentliche Sanktionierung des Vorhabens (Rudzio 1991: 254; von Beyme 2004: 283). Konfrontatives Verhalten und der extensive Einsatz von Kontrollinstrumenten hingegen dämpfen potenziell die Bereitschaft der Mehrheit, die inhaltlichen Argumente der Opposition gegen Regierungspläne zur Kenntnis zu nehmen.3 Umgekehrt versprachen die recht deutlichen Präferenzunterschiede der Kleinparteien untereinander und die fehlende Umsetzungschance gemeinsamer Initiativen keinen substanzbezogenen Nutzen eines gemeinsamen Auftretens, weshalb sich bereits im politischen „Normalbetrieb“ Routinen getrennter Kontrollvorstöße verfestigt haben (Ismayr 2006: 303). Zum Ende der Legislaturperiode waren Effekte einer weiteren Interesseninterferenz auf das Kontrollverhalten zu erwarten. Einerseits konnten verstärkte Kontrollmaßnahmen als Mittel betrachtet werden, um Wählerstimmen zu mobilisieren, was zu einer aktiveren Nutzung führen würde. Andererseits konnten sie als abträglich für künftige Koalitionsgespräche betrachtet werden, was eine schwächere oder nur punktuelle Nutzung nach sich zöge. Grundsätzlich sinnvoll und günstig war demgegenüber die verstärkte Nutzung von Instrumentarien zur Bereitstellung von Informationen, denn dadurch, dass die Regierungskoalition keine Fürsprecher aus der Opposition mehr benötigte, um eigene Vorhaben durch das Parlament zu bringen, bestand wenig Anlass für das Regierungslager dazu, sie über eigene Vorhaben zu informieren. Dies vergrößert potenziell den ohnehin beträchtlichen Informationsvorsprung der Regierung (Rudzio 1991: 254; Ismayr 2006: 305-306). Kontrollinstrumentarien, die v.a. auf Informationsbereitstellung abzielen, sind eine geeignete Option, darauf zu reagieren und die Regierung für das Informationsanliegen zu sensibilisieren,
3 Die Beispiele der FDP während der ersten Großen Koalition und der Grünen nach ihrem Einzug in den Bundestag bestätigen dies empirisch (von Beyme 2004: 281).
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zudem kosten sie die Nutzer wenig und wirken relativ neutral hinsichtlich von Kooperationsaussichten. Ähnlich kostengünstig sind Anträge auf namentliche Abstimmungen. Zusammenfassend war von den Oppositionsfraktionen theoretisch keine signifikant verstärkte politische Richtungskontrolle zu erwarten, und ein Anstieg von Maßnahmen der Effizienz- und Rechtskontrolle war nur dann „objektiv“ angebracht, falls das Regierungslager angesichts seiner übergroßen Mehrheit Vorhaben in unausgereiftem Zustand vorschnell und fehlerhaft umsetzen sollte. Oppositionskräfte, die eine Chance darauf hatten, mit Teilnehmern der Großen Koalition zu kooperieren, sollten sich auf eine punktuelle, öffentlich sichtbar gemachte Kontrolle bei profilbildenden Themen konzentrieren, andere auf eine breitere Kontrolle unter Beharrung auf moralischen Überzeugungen. Dem Bundesverfassungsgericht ist verfassungsrechtlich eine ganz andere Rolle zugewiesen. Es soll über die Verfassungskonformität von Gesetzen urteilen, ist aber kein genuin politisches Organ. Der Ausschluss der Wiederwahl der Richter nach ihrer zwölfjährigen Amtszeit (§ 4 BVerfGG) beugt Populismus im Entscheidungs- und Kontrollverhalten vor. Das Gericht kann nicht direkt in den politischen Prozess eingreifen, sondern erst auf Anruf durch antragsberechtigte Institutionen oder Personen (Beyme 2004: 310). Grundsätzlich vermeidet das Bundesverfassungsgericht eine starke Parteinahme wegen der politisch ausgeglichenen Zusammensetzung der Richter, wegen ihres Berufsethos, weil sie wollen, dass sich die politischen Parteien auch bei künftigen Machtwechseln an die Urteile halten und weil die Reputation des Gerichts als seine größte Machtressource v.a. auf seine politische Neutralität zurückgeführt wird. Bei Entscheidungsspielräumen sind die Bedeutung der Materie für das Gericht und die Bundesregierung, der Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Materie und der Tenor der öffentlichen Meinung bei konfliktintensiven Materien relevant (Vanberg 2005a, 2005b). Aufgrund der üblichen Verfahrenslänge von ein bis zwei Jahren4 trifft das Gericht seine abschließende Entscheidung zu einem Zeitpunkt, an dem möglicher von den Klägern verbreiteter politischer „Pulverdampf“ bereits verzogen ist und tendenziell weniger Öffentlichkeit besteht, es steht also nicht im Zentrum des politischen Spiels. Eine erhöhte Zahl eingehender Klagen, wie sie möglicherweise während der Großen Koalition zu verzeichnen sein konnte, steigert potenziell die Wahrscheinlichkeit, dass Akte des Regierungslagers für nichtig erklärt werden. Es gab jedoch keinen theoretischen Grund, warum das Gericht von seinem üblichen Entscheidungsmuster abweichen sollte. Insofern war eine erhöhte Zahl an Nichtigkeitsurteilen ceteris paribus nur dann wahrscheinlich, wenn die Regierungsparteien (etwa aufgrund der klaren Mehrheitsverhältnisse) Gesetze übereilt und nicht ausreichend geprüft verabschiedeten oder wenn ein gesteigertes öffentliches Interesse und Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik bestand. Der Bundespräsident verfolgt ebenfalls kein genuin parteiprogrammatisches Interesse. Seine Aufgabe besteht vornehmlich darin, als oberster Staatsnotar zu fungieren, Deutschland nach außen zu repräsentieren und nach innen überparteilich zu integrieren und das Ansehen des Staates zu fördern (Art. 54-61, 82 GG). Bei der Rechts- und Dignitätskontrolle ist ihm die Letztverantwortung dadurch genommen, dass es das Bundesverfassungsgericht gibt. Existierte es nicht, so erhielte die Bundesrepublik „wahrscheinlich einen stärker präsidentiellen Akzent durch die dem Bundespräsidenten dann sicher in größerem Umfang als 4 Von den zwischen 1990 und 2001 eingegangenen Verfassungsbeschwerden wurden 67,8 Prozent innerhalb eines Jahres zum Abschluss gebracht, 20,8 Prozent innerhalb von zwei Jahren, die übrigen 11,4 Prozent in mehr als drei Jahren (Säcker 2003: 97).
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heute obliegende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der von ihm auszufertigenden Gesetze“ (Säcker 2004: 21). Dass der Bundespräsident keine Letztverantwortlichkeit besitzt, impliziert, dass ein mögliches Veto von ihm nur suspensiven Charakter hat: Seine Entscheidungen unterliegen ihrerseits prinzipiell der Rechtskontrolle des Bundesverfassungsgerichts (Art. 93 GG) und müssen somit nicht endgültig sein (Billing 2001: 316). Ein Scheitern seiner Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht kann der Reputation des Staatsoberhaupts schaden. Insofern scheint es die rationale Variante, sich bei der Prüfung von Gesetzen im Zweifel darauf zu berufen, dass die von ihnen Benachteiligten vor dem Gericht klagen und dieses seine verfassungsrechtliche Aufgabe angemessen ausfüllt. Erweist sich ein von ihm unterzeichnetes Gesetz später als verfassungswidrig, so fällt der Ansehensverlust nicht auf ihn allein zurück, sondern vor allem auf das Regierungslager als inhaltlichen Schöpfer. Der Bundespräsident ist außerdem nicht unabhängig von einem guten Verhältnis zum Regierungslager, denn er befindet sich in einer eher schwachen Position (Rudzio 1991: 322): Seine Anordnungen und Verfügungen bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister (Art. 58 GG). Er ist angesichts des großen Informationsvorsprungs der Bundesregierung und seines kleinen Verwaltungsapparats darauf angewiesen, dass er in umfassender, aber verarbeitbarer Weise Informationen über die Regierungstätigkeit erlangt.5 Besitzt der Amtsinhaber ein Interesse an einer Wiederwahl nach fünf Jahren – was nicht unwahrscheinlich ist, da es sich um ein prestigeträchtiges Amt handelt -, so wird er dies in Anbetracht der politischen Kräfteverhältnisse in Bund und Ländern nicht ohne die Unterstützung von mindestens einer der beiden großen Parteien verwirklichen können, denn die Wahl erfolgt durch die Bundesversammlung, die aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern besteht, die von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden (Art. 54 GG). Der Bundespräsident kann sich aufgrund von Kräfteverschiebungen durch Landtagswahlen während seiner Amtszeit nicht einmal darauf verlassen, dass ein gutes Verhältnis zu einer der beiden Großparteien ausreicht. Sowohl das verfassungsrechtliche Amtsverständnis als auch die Amtspraxis und das Kalkül einer möglichen Wiederwahl machen daher eine ausgeprägte Profilierung des Bundespräsidenten als Kontrolleur der Zweidrittelmehrheit unwahrscheinlich. Dies schließt nicht aus, dass der Amtsinhaber, um seine Funktion als Integrationssymbol auszufüllen, in Reden und Ansprachen „Populäres oder öffentlich kaum Bestreitbares öffentlich anmahnt, empfiehlt oder fordert, ohne selbst für eine Verwirklichung verantwortlich zu sein“ (Rudzio 1991: 324). Ähnlich wie beim Bundesverfassungsgericht gingen die überwiegende Zurückhaltung und Distanz des Bundespräsidenten zu tagespolitischen Konflikten und allgemeine Appelle an die Parteien in Grundsatzfragen der politischen Ordnung, die die Bürger/innen 5 Laut §5 der Geschäftsordnung der Bundesregierung unterrichtet der Bundeskanzler den Bundespräsidenten laufend über seine Politik und die Geschäftsführung der einzelnen Bundesminister durch Übersendung der wesentlichen Unterlagen, durch schriftliche Berichte über Angelegenheiten von besonderer Bedeutung sowie nach Bedarf durch persönlichen Vortrag. Auch hat der Leiter des Bundespräsidialamtes im Range eines Staatssekretärs ein ständiges Teilnahmerecht für die Kabinettssitzungen und die Sitzungen des Bundessicherheitsrates. Dies aber gewährleistet noch keine Möglichkeit der umfassenden Kontrolle der Aktivitäten und Pläne des Regierungslagers. In der Abteilung Inland des Bundespräsidialamtes sind nur vier bis sechs Mitarbeiter im Referat 16 für Verfassung und Recht zuständig, darunter für die Ausfertigung der Gesetze, das Justitiariat und den Datenschutz (Bundespräsidialamt 2009a), während fast 60 Prozent der 170 Mitarbeiter für Organisation, Personal, Haushalt und Protokoll verantwortlich sind (Bundespräsidialamt 2009b).
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gerade interessieren, einher mit einer oft großen, im Laufe der Amtszeit steigenden Beliebtheit in der Bevölkerung (Rudzio 1991: 324; Sontheimer/Bleek 2002: 333-336). Diese Gesamtsituation ist durchaus komfortabel. Für den Bundespräsidenten sollte daher während einer Großen Koalition strukturell kein Grund dafür bestehen, die üblichen Verhaltensmuster zu ändern, sofern die politische Mehrheit ihn nicht aufgrund unausgereifter, rechtlich problematischer Gesetzesvorhaben oder undemokratischer Praktiken dazu veranlasst. Erweiterte Kontrollmaßnahmen sind für ihn nur dann sinnvoll, wenn es ein greifbares öffentliches Interesse an seiner Rolle als Kontrolleur des politischen Geschehens oder dem Sachverhalt gibt und sie öffentlich wahrgenommen werden. Die Richtungskontrolle sollte sich am Grundgesetz, dem Medianwähler und der öffentlichen Meinung orientieren und keine parteipolitische Handschrift tragen. Je näher eine mögliche Wiederwahl rückt, desto geringer ist ceteris paribus die Wahrscheinlichkeit ausgeprägter Kritik und Sanktionen des Bundespräsidenten gegenüber der Großen Koalition. Zusammenfassend sollte eher die Große Koalition selbst einen „Sonderfall“ darstellen, nicht aber das vermutlich moderat variierende Kontrollverhalten der betrachteten Akteure. 3
Formale Kontrollmöglichkeiten und –routinen
Supermajoritäten wird oft die Angst entgegengebracht, dass sie auf legalem Wege die Kompetenzen anderer Akteure zu eigenen Gunsten beschneiden. Diese Angst geht im Falle von Demokratien nicht nur deshalb am zentralen Problem von Supermajoritäten vorbei, weil ein vorausschauender Regent es vermeidet, eine Machtfülle zu schaffen, die sich bei einem Regierungswechsel gegen ihn selbst richten kann. Vielmehr sind solche Maßnahmen oft gar nicht nötig, um sich vor zu viel Kontrolle zu schützen. Dies galt, wie im Folgenden zu sehen sein wird, auch für die Große Koalition 2005 bis 2009, auf die das bestehende Instrumentarium nicht eingestellt war und ist. Dabei sind aus Platzgründen nur jene Kontrollinstrumente berücksichtigt, die unter den Bedingungen einer handlungsfähigen Großen Koalition und für die Fragen der aktuellen Politik überhaupt relevant waren.6 Die parlamentarische Opposition im Bundestag verfügt nicht über gesonderte Kontrollinstrumente, sondern für sie gelten die üblichen Vorgaben für die Abgeordneten, wie sie in der Geschäftsordnung des Bundestages, in einzelnen einfachen Gesetzen und im Grundgesetz geregelt sind (Ismayr 2006: 303). Abgeordnete dürfen danach kurze Einzelfragen zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung richten (§ 105 GOBT), Fraktionen oder Abgeordnete in Fraktionsstärke können Kleine und Große Anfragen an die Bundesregierung stellen (§ 100-104 GOBT). Besonders die umfassenden Großen Anfragen bieten der Opposition die Möglichkeit, ein Thema auf die Agenda zu setzen und die Regierung öffentlich zu kritisieren (Ismayr 2006: 337-338). Sie kann die Beratung der Großen Anfragen im Plenum erwirken (§ 101 GOBT) und diese, Aktuelle Stunden und Befragungen der Bundesregierung (§ 106 GOBT) nutzen, um Kontrolle auszuüben. Während die Einzelfragen oft der Profilierung der Abgeordneten in ihrem Wahlkreis dienen, sind die Anfragen typische von der Opposition genutzte Möglichkeiten der Richtungskontrolle und Informationsgewinnung (Rudzio 1991: 249). Die oppositionellen Fraktionen oder Abgeordnete in Fraktionsstärke können außerdem eigene Alternativentwürfe zu Gesetzentwürfen aus dem Regierungslager einbringen (§ 76 6
Unberücksichtigt sind bspw. Regelungen zum Verteidigungsfall, zur gescheiterten Kanzlerwahl o.ä.
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GOBT). Diese kommen „vornehmlich als öffentlichkeitswirksame Kontrollmittel“ zum Einsatz (Ismayr 2006: 303), denn im Sinne der Durchsetzung der Inhalte ist das Instrument nicht sehr effektiv. Oppositionsentwürfe werden meist „auf die lange Bank geschoben“ (von Beyme 2004: 279). Daneben bestehen Einwirkungsmöglichkeiten in den Ausschüssen, wo die Opposition Änderungen an den Regierungsplänen anregen und argumentativ durchsetzen kann (von Beyme 2004: 281). Die Ausschüsse sind aber ebenso wie der Ältestenrat gemäß den Fraktionsstärken zusammengesetzt (§ 12 GOBT), so dass diese Möglichkeit nicht leicht umzusetzen ist. Die Ausschusssitzungen sind grundsätzlich nicht öffentlich und werden nur auf Beschluss (der Mehrheit) des Ausschusses teilweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (§ 69 GOBT). Über die Herbeirufung von Regierungsmitgliedern zu Ausschusssitzungen wird ebenfalls per Mehrheitsbeschluss entschieden. Es kommt also jeweils auf die Atmosphäre in den Ausschüssen an, wie viel Einfluss der Opposition faktisch eingeräumt wird. Formale Änderungsanträge zu Gesetzentwürfen in zweiter Beratung können dann von einzelnen Abgeordneten eingebracht werden (§ 82 GOBT), in der dritten Beratung müssen sie von Fraktionen oder in Fraktionsstärke eingebracht werden und dürfen sich nur auf Änderungen beziehen, die in der zweiten Beratung beschlossen wurden (§ 85 GOBT). Auf Verlangen einer Fraktion kann namentlich abgestimmt werden (§ 52 GOBT). Dies führt üblicherweise nicht zum Scheitern der Abstimmungen, kann aber bei „Abweichlern“ im Regierungslager eine Wirkung in der Öffentlichkeit entfalten (von Beyme 2004: 282, 284). Prinzipiell kann die Opposition auch die Haushaltspläne und den Haushaltsvollzug kontrollieren. Aufgrund langfristiger Bindungen und Vorgaben der Ausgaben, der knappen Kassen und der Komplexität der Materie sind diese für die Opposition aber schwer zu kontrollieren. Sie „flüchtet sich“ daher oft in allgemeine politische Debatten und nimmt die Kontrollfunktion allenfalls selektiv wahr. Der Bundesrechnungshof ist hier effektiver, doch ist er nicht darauf ausgerichtet, spezifisch die Kontrollfunktion des Parlaments zu stärken (von Beyme 2004: 283-284; Rudzio 1991: 252). Bringen sie ein Viertel der Abgeordneten für einen entsprechenden Antrag zusammen, so können die oppositionellen Kräfte im Parlament die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses (Art. 44 GG) oder – bei umfangreichen und bedeutsamen Sachkomplexen – einer Enquete-Kommission (§ 56 GOBT) durchsetzen. Dies konnten die Oppositionsfraktionen in der 16. Legislaturperiode nur gemeinsam schaffen, denn die FDP-Fraktion verfügte über 61 der 612 besetzten Sitze, die Fraktion Die Linke über 53, die Fraktion von Bündnis 90/Grünen über 51. Insgesamt waren dies 27 Prozent der Mandate. Durch die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zieht der Bundestag die Informationsbeschaffung an sich. Allerdings spiegelt der einmal eingesetzte Ausschuss die Zusammensetzung des Parlaments, und die Vertreter der Regierungsfraktionen arbeiten systematisch darauf hin, die Formulierung von Missständen, die die Regierung zu verantworten hat, abzumildern oder vage zu halten. Untersuchungsausschüsse haben keine richterliche Gewalt und können keine Sanktionen verhängen. Ihre Bedeutung besteht daher vor allem darin, dass sie Öffentlichkeit für Sachverhalte schaffen können (Rudzio 1991: 251; von Beyme 2004: 275). Die Problematik der Besetzung gemäß den aktuellen Machtverhältnissen ergibt sich auch bei weiteren Gremien, so der Parlamentarischen Kontrollkommission oder dem Wehrbeauftragten. Sie werden daher hier außer acht gelassen. Ein wichtiges Instrument der Mehrheitskontrolle ist hingegen die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Fraktionen können gegen parlamentarische Mehrheitsentscheide,
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nicht gedeckte Ausgaben und gegen regierungsamtliche Wahlpropaganda klagen (Rudzio 1991: 249). Für die Kontrolle des Regierungslagers relevant und erreichbar waren die Verfassungsbeschwerde und die Organklage. Allgemeine Verfassungsbeschwerden gegen Akte der öffentlichen Gewalt wegen Verletzung von Grundrechten und gleichgestellten Rechten kann „jedermann“ einbringen. Hier war besonders die Möglichkeit interessant, ein Jahr nach deren Inkrafttreten direkt gegen Gesetze Beschwerde einzulegen, also ohne vorherige Erschöpfung des Rechtsweges. Dafür muss der Antragsteller durch das Gesetz selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein und der Gesetzgebungsvorgang muss abgeschlossen sein. Nur bei Gesetzen, durch die dem Abschluss von Verträgen mit auswärtigen Staaten zugestimmt wird (Art. 59 GG) ist eine Normenkontrolle vor Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und der Verkündung möglich (Säcker 2003: 57-58). Organklagen konnten Fraktionen und einzelne Abgeordnete anstrengen. Hier geht es um die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind (Art. 93 GG). Der Antragsteller muss geltend machen, dass er durch eine Maßnahme oder Unterlassung eines anderen Verfassungsorgans in den ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist (Säcker 2003: 69). Bedeutungsvoll war, dass die Opposition seit der Bundestagswahl 2005 keine abstrakte Normenkontrolle beantragen konnte, da sie weniger als ein Drittel der Abgeordneten stellte. Bei dieser Verfahrensart geht es darum, die Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz, von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht und von vorkonstitutionellem Recht mit dem Grundgesetz prüfen zu lassen. Es ist besonders das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, das den Schutz der parlamentarischen Minderheit gewährleisten soll (Säcker 2003: 65-66). Und es sind besonders diese Verfahren, über die das Bundesverfassungsgericht eine positive Gesetzgebungsfunktion ausüben kann, indem es die Politik qua Nichtigkeitserklärung zu Nachbesserungen verpflichtet und in der Urteilsbegründung dafür den Rahmen absteckt (Sontheimer/Bleek 2002: 345-346). Das Bundesverfassungsgericht konnte das Regierungslager, wie erwähnt, nicht ohne Anruf kontrollieren. Es ist darauf angewiesen, von den verschiedenen möglichen Antragstellern aktiviert zu werden. Die Bundesregierung, der Bundestag, der Bundesrat, die Landesregierungen und Landesparlamente hatten wegen ihrer jeweiligen Mehrheitsverhältnisse aber vermutlich kein ausgeprägtes Interesse daran, Akte der Großen Koalition verfassungsrechtlich prüfen zu lassen. Daneben zählten die Oppositionsfraktionen, die Bürger/innen, Gemeinden und Gemeindeverbände und alle Gerichte zu den möglichen Klägern. Einmal als Vetospieler aktiviert, verfügt das Gericht über im internationalen Vergleich weitreichende Kompetenzen. Regelmäßig hebt es Gesetze auf. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes entfalten nach § 31 BVerfGG eine über den Einzelfall und die an ihm Beteiligten hinaus gehende Bindungswirkung und haben Gesetzeskraft. Die aus dem Entscheidungssatz und den tragenden Gründen folgenden Grundsätze für die Auslegung des Grundgesetzes müssen in allen künftigen Fällen von allen Gerichten und Behörden beachtet werden (Säcker 2003: 89-90). Es urteilt also nicht nur zur konkreten Sach- und Machtkonstellation, sondern bindet potenziell alle nachfolgenden Gesetzgeber. Allerdings war die Große Koalition kräftemäßig in der Lage dazu, unerwünschte Entscheidungen mit Verfassungsänderungen zu beantworten bzw. zu umgehen (Sontheimer/Bleek 2002: 343). Außerdem konnten die Gesetzgebungskörperschaften ein Gesetz, das für verfassungswidrig
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erklärt wurde, in abgewandelter Form und/oder mit einem Verweis auf veränderte Umstände durchaus erneut verabschieden (Säcker 2003: 90). Dem Bundespräsidenten ist eine direkte politische Kontrolle der übrigen Verfassungsorgane verwehrt (Sontheimer/Bleek 2004: 333). Dies gilt bereits für die Rekrutierung des Regierungspersonals. Ist sich die Koalition einig und herrschen klare Mehrheitsverhältnisse, dann kann das Staatsoberhaupt seine Rechte des Vorschlags für die Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 GG), der Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers (Art. 63, 67 GG) und der Bundesminister (Art. 64 GG) nicht nutzen, um die von der Mehrheit gewünschten Kandidaten zu übergehen oder die Nominierung eines Kanzlerkandidaten von der vorherigen Vorlage einer Kabinettsliste abhängig zu machen (Billing 2001: 322-323). Auch das im Grundgesetz und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgeschriebene Wahlverfahren für die Richter des Bundesverfassungsgerichts lässt dem Bundespräsidenten keinen Ermessensspielraum (Billing 2001: 328). Wie weit die personale Prüfungsbefugnis bei der Ernennung und Entlassung der Bundesrichter, der Bundesbeamten, der Offiziere und Unteroffiziere (Art. 60 Abs. 1 GG) reicht, ist juristisch umstritten (Billing 2001: 323-324). Im Vorfeld der formalen Bestellung der deutschen diplomatischen Vertreter (Art. 59 GG) bindet das Auswärtige Amt den Bundespräsidenten frühzeitig informativ ein (Billing 2001: 332). Ansonsten dominieren in der Außenpolitik die Repräsentationsaufgaben des Bundespräsidenten. Er unterzeichnet zwar gemäß Art. 59 GG im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten, erteilt aber in der Praxis meist der Bundesregierung, dem Außenminister, einem Staatssekretär oder einem deutschen Botschafter dafür eine entsprechende Vollmacht. Dies gilt beispielsweise für Regierungsübereinkünfte und Ressortabkommen. Ein potenziell wichtiges, rechtlich aber nicht eindeutiges Kontrollinstrument ist die Verweigerung der Ausfertigung von Bundesgesetzen oder Ratifikationsurkunden. Nach Art. 82 GG ist der Bundespräsident befugt, vor der Unterzeichnung von Gesetzen diese in formeller (Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften) und materieller Hinsicht zu prüfen (Wahrung der Grundrechte, Staatszielbestimmungen, des Staatsorganisationsrechts, der Reputation des Staates). Er kann Gutachten einholen, um komplexe und scheinbar uneindeutige Rechtsfragen zu klären, und darf die Ausfertigung begründet verweigern. Er hat aber nicht das Recht, sie aus politischen Gründen zu verweigern. Die Artikel 58 und 65 GG binden den Bundespräsidenten an die politische Linie der Bundesregierung, solange kein evidenter Verfassungsbruch vorliegt. Wieweit innerhalb dieser Grundsätze die materielle Prüfungsbefugnis des Präsidenten reicht, ist in der Rechtswissenschaft umstritten (Billing 2001: 316, 325, 326). Ebenso ist offen, ob der Bundespräsident ein Gesetz ablehnen darf, das er lediglich als teilweise nicht verfassungsgemäß bewertet (Billing 2001: 326). In der Praxis war die komplette Unterschriftsverweigerung äußerst selten, zumal wegen inhaltlicher Mängel. Es gab aber mehrfach die Verkopplung von Ausfertigung und Erklärung verfassungsmäßiger Bedenken.7
7 Karl Carstens fertigte 1981 das Staatshaftungsgesetz aus, äußerte aber in einem Brief an den Bundeskanzler und an die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat verfassungsmäßige Bedenken. Dasselbe tat Roman Herzog 1994 bei einer Änderung des Atomgesetzes. Richard von Weizsäcker fertigte 1992 das Gesetz zu § 218 StGB aus, verwies aber auf die bereits eingereichte Klage vor dem Bundesverfassungsgericht und die daher absehbare juristische Klärung der Rechtmäßigkeit. 1994 äußerte er nach entsprechender Kritik von Seiten mehrerer Bundesverfassungsrichter und SPD-Abgeordneter verfassungsmäßige Bedenken gegenüber dem neuen Parteiengesetz, unterzeichnete jedoch. Johannes Rau gab 2002 bei der Ausfertigung des Zuwanderungsgesetzes eine öffentliche Erklärung ab, in der er seine Entscheidung trotz verfassungsmäßiger Bedenken begründete.
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Neben diesen formellen Kontrollinstrumenten steht allen Akteuren eine Palette informeller Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung. Der Präsident etwa kann die Bundesregierung „über die verschiedenen formellen und informellen Kanäle (…) beraten, d.h. sie in ihrer Politik ermutigen und bestärken, sie zur Zurückhaltung mahnen und vor einer konkreten Entscheidung warnen oder ihr die Zurücknahme eines Aktes empfehlen“ (Billing 2001: 316; §§ 5, 21, 23 GOBReg; Sontheimer/Bleek 2002: 333). Wie stark diese Kontrolle in der Praxis ausgeprägt ist, lässt sich schwer messen. Zugänglicher sind Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Ähnlich wie beim Bundesverfassungsgericht und bei der Opposition können sie ein Mittel sein, um fehlende Sanktionsmöglichkeiten zu kompensieren und das Regierungslager unter Druck zu setzen. Dies scheint den betreffenden Akteuren auch bewusst zu sein.8 Die Öffentlichkeit ist deshalb so wichtig, weil die Bürger/innen über die Wieder- oder Abwahl der Regierungsmehrheit entscheiden (Ismayr 2006: 302; Vanberg 2005b). Auch dieses Instrument ist jedoch nur im Rahmen bestimmter Grenzen verfügbar. Verletzen der Bundespräsident oder das Bundesverfassungsgericht ihre politische Neutralitätspflicht, so können die Bundesregierung oder der Bundestag eine Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen. 4
Performanz der Kontrolle der Zweidrittelmehrheit 2005 bis 2009
4.1 Opposition im Bundestag Im Bundestag nutzten wie zu erwarten besonders die Oppositionsfraktionen die Kontrollinstrumente. Insbesondere die Großen und Kleinen Anfragen waren ihre Domäne (Tab. 1). Die Zahl der Großen Anfragen fiel gegenüber der 15. Legislaturperiode ähnlich aus, liegt aber im Vergleich zu den Legislaturperioden davor weit niedriger. Dies zeigt, dass die kleinen Parteien das wegfallende Kontrollpotenzial einer großen Partei selbst durch zusätzliche Aktivitäten nicht komplett kompensieren können. Die Fraktion von Bündnis 90/Grünen brachte besonders viele Große Anfragen ein, insbesondere wenn man das Verhältnis aus der Zahl der Abgeordneten und den Anfragen vergleicht. Ein großer Unterschied gegenüber den sonstigen Legislaturperioden zeigte sich bei der Zahl der Kleinen Anfragen. Sie überstieg extrem die von 797 während der vorangegangenen (allerdings verkürzten) Wahlperiode eingebrachten und lag ebenfalls deutlich über den sonstigen Werten der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte (Ismayr 2006: 332). Die Fraktion der Linken formulierte besonders viele dieser Anfragen (fast die Hälfte). Sie sind nicht sehr effektiv, um Öffentlichkeit bereitzustellen, weil sie nur schriftlich beantwortet werden, liefern aber Informationen über die Regierungstätigkeit und können diese indirekt beeinflussen. Niedriger als sonst lag die Zahl an Einzelfragen. Wenn man allerdings berücksichtigt, dass die Oppositionsfraktionen wenig direkt gewählte Abgeordnete haben, die dieses Mittel üblicherweise nutzen, um sich in der Wahlkreisarbeit zu profilieren, so war diese Zahl dennoch erstaunlich hoch. Bei mündlichen Einzelfragen taten sich die Grünen hervor, gefolgt 8 So steht auf der Homepage des Bundespräsidialamtes: „Das gesprochene und geschriebene Wort ist eines der stärksten politischen Mittel, über die der Bundespräsident verfügt. Mit seinen Reden und Ansprachen kann er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Verantwortlichen in Regierung, Parteien und Verbänden auf bestimmte Themen und Probleme in Politik und Gesellschaft lenken, er kann Anregungen geben und Anstöße“ (Bundespräsidialamt 2009c).
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von der Linken, während die FDP dieses Instrument schwach nutzte. Bei den schriftlichen Einzelfragen lag die FDP deutlich vorn, wenn man die absolute Zahl betrachtet. Die Oppositionsparteien waren jedoch ähnlich aktiv, wenn man die Zahl dieser Einzelfragen ins Verhältnis zur Zahl der jeweiligen Abgeordneten setzt. Die Fraktionen schöpften hier ein Viertel bis ein Drittel ihrer maximal möglichen Fragen (GOBT: Anl. 4) aus. Bei den dringlichen Einzelfragen führten Bündnis 90/Grüne, gefolgt von der Linken. Ihre Zahl fiel höher als sonst aus. Tabelle 1: Parlamentarische Kontrolltätigkeit in der 16. Legislaturperiode Linke
FDP
CDU/CSU
SPD
63 3.245 2.703
Bündnis 90/Grüne 34 769 1.174
11 1.468 979
17 1.005 383
1 1 130
35
12.119
2.631
2.709
3.931
1.958
720
111
52
41
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-
-
Gesamt Große Anfrage Kleine Anfrage Einzelfrage mündlich Einzelfrage schriftlich Einzelfrage dringlich
Quelldaten: DBT 2009a. (Stand: 20.8.2009) Betrachtet man in der Abbildung 1 den Zeitverlauf der Anfragen, so bestätigen sich die theoretischen Annahmen mit leichten Abweichungen. In Reaktion auf die ersten Aktivitäten des Regierungslagers erreichten im Frühjahr 2006 die Kleinen und Großen Anfragen höhere Werte. Die meisten Großen Anfragen gab es in den Winterhalbjahren 2006/07 und 2007/08, also nicht am Anfang und Ende, sondern in der Mitte der Legislaturperiode. Bei den Kleinen Anfragen fielen die Quartalswerte nach dem Frühjahr 2006 niedriger aus und erreichten erst in der ersten Jahreshälfte 2008 wieder das Niveau des Frühjahrs 2006. Trotz gleich bleibender Aktivitäten des Regierungslagers nahmen die Kontrolltätigkeiten im Bundestag zum Ende der Legislaturperiode hin ab. Nach dem 17. Februar 2009 wurden keine Großen Anfragen mehr gestellt, und die Zahl der Kleinen Anfragen fiel deutlich niedriger aus als im gleichen Quartal 2006 und 2008. Auffallend ist, dass kein signifikanter Unterschied zwischen der Partei der Linken und den beiden anderen Parteien bestand, obwohl sie im Gegensatz zu diesen keine Aussicht auf eine Koalition mit einem Mitglied der Großen Koalition nach der bevorstehenden Wahl hatte und sich daher gemäß den obigen Erwartungen stärker als Kontrolleurin profilieren konnte. Bei keinem der angesprochenen Kontrollinstrumente wich sie zum Ende der Legislaturperiode signifikant vom Nutzungsverhalten der beiden anderen Parteien ab. Sie verhielt sich also eher wie eine Koalitionspartnerin im Wartestand. Die Bundesregierung wurde aktiv in den Bundestag gerufen. Dies zeigt sich an der Differenz der Häufigkeiten der Aktuellen Stunden und der anderen Formen der Regierungsbefragung.9 In der 16. Wahlperiode gab es 59 Befragungen, 67 Fragestunden, aber 113 Aktuelle Stunden (DBT 2009a). Dennoch liegt die Zahl der Aktuellen Stunden im Vergleich zu den anderen Legislaturperioden im üblichen Bereich (Ismayr 2006: 347). 9 Typischerweise finden in den jährlich etwa 20 Sitzungswochen mittwochs Befragungen der Bundesregierung zu ihrer aktuellen Politik, danach Fragestunden und ggf. Aktuelle Stunden statt.
Schutz vor der Mehrheitstyrannei? Abbildung 1:
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Kleine und Große Anfragen der Oppositionsfraktionen und namentliche Abstimmungen, 16. Legislaturperiode10
Quelldaten: DBT 2009d, DBT 2009e (Stand: 20.8.2009). Eigene Darstellung. Mehr Öffentlichkeit als die geschilderten Kontrollmaßnahmen verursachten die zwei von der Opposition während der Großen Koalition initiierten Untersuchungsausschüsse. Damit wurde die Zahl der vorangegangenen Legislaturperiode erreicht. Die Ausschüsse bestätigen die theoretische Erwartung punktuell intensivierter Kontrollbemühungen zu bestimmten Zeitpunkten: Beide Ausschüsse befassten sich mit parteipolitisch profilbildenden Themen, die noch dazu im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit standen. Sie nahmen diese Aufmerksamkeit auf und verstetigten sie. Der erste Ausschuss wurde kurz nach Beginn der Legislaturperiode eingesetzt, der letzte kurz vor ihrem Ende. Hinzu kam ein weiterer, von der Großen Koalition eingesetzter Untersuchungsausschuss. Den ersten Untersuchungsausschuss gemäß Art. 44 GG beantragten die Oppositionsfraktionen gemeinsam im März 2006 (BT-Drs. 16/990). Die überraschende Kooperation mit den Linken, die den Antrag ermöglichte, hatte mit der Ungeheuerlichkeit der im Raum stehenden Vorwürfe gegen deutsche Sicherheitsbehörden zu tun, die die Fraktionen nicht ausreichend ausgeräumt sahen. Der sogenannte BND-Untersuchungsausschuss sollte im Anschluss an einen dem Parlamentarischen Kontrollgremium von der Bundesregierung vorgelegten Bericht zu Vorgängen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg und der Bekämpfung des internationalen Terrorismus (BT-Drs. 16/800) klären, welche politischen Vorgaben für das Handeln des Bundesnachrichtendienstes, des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Militärischen Abschirmdienstes, des Generalbundesanwalts und des Bundeskriminalamtes gemacht wurden, wie die politische Leitung und Aufsicht ausgestaltet und gewährleistet wurde, ob es zu Rechtsverstößen kam und welche Konsequenzen ggf. gezogen werden müssten, um die Rechtsstaatlichkeit der Terrorismusbekämpfung zu wahren und die Kontrolle der Nachrichtendienste zu verbessern. Der Einsetzungsantrag umfasste in vier Abschnitten einen breiten Katalog von Fragen, die sich auf CIA-Flüge und Gefängnisse, die Verschleppung des deutschen Staatsangehörigen Khaled El-Masri, Vernehmungen durch deutsche Stellen im Ausland nach vorangegangener Folter und den Ein10 Zugunsten der besseren Darstellbarkeit in einem Diagramm wurde die Zahl der Kleinen Anfragen durch 10 geteilt. Angaben zu namentlichen Abstimmungen erst ab Februar 2007.
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satz von zwei BND-Mitarbeitern während des Irakkriegs in Bagdad richteten. Dieser Antrag wurde später noch zweimal ergänzt bzw. geändert, da die Oppositionsfraktionen äußerst unzufrieden mit dem Verlauf der Untersuchung waren und durch Formalisierung des parlamentarischen Auftrags eine bessere Zuarbeit insbesondere der Bundesregierung anstrebten (BT-Drs. 16/1179, 16/3028).11 Hier wird deutlich sichtbar, dass das Recht der „qualifizierten Minderheit“, einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu lassen, dessen effektives Wirken nicht garantiert. Auch die umfassende Verrechtlichung der Ausschussaufgaben bietet keine echte Gewähr.12 Im Zusammenhang mit der Auskunftsverweigerung der Bundesregierung drohte Volker Beck (Bündnis 90/Grüne) ihr bereits im Sommer 2006 mit der Erhebung einer Organklage durch seine Fraktion. Im Oktober 2006 gingen die Regierungsfraktionen in die Offensive, weil die anhaltenden Medienberichte über Folter durch die US-Armee, angebliche CIA-Gefängnisse in Europa und eine mögliche Mitwisserschaft von deutscher Seite nun durch die persönliche Aussage eines Betroffenen getoppt wurde. Murat Kurnaz, ehemaliger Guantánamo-Häftling und türkischer Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz in Deutschland, hatte in der Wochenzeitschrift „Stern“ vom 5. Oktober 2006 erklärt, von zwei deutschen Soldaten des Kommandos Spezialkräfte im US-Gefangenenlager Kandahar (Afghanistan) misshandelt worden zu sein. Die Bundesregierung überstellte in Reaktion auf die öffentliche Beunruhigung dem Bundestags-Verteidigungsausschuss am 18. Oktober einen ersten Bericht zu dem Vorwurf. Kurz darauf beantragten die Regierungsfraktionen, dass sich der Verteidigungsausschuss als 1. Untersuchungsausschuss gemäß Art. 45a GG konstituieren solle, um sich ausführlich mit dem Misshandlungsvorwurf zu befassen. Zur Begründung hieß es: „Durch die besonderen Umstände der behaupteten Täter und Tatbegehung war es… notwendig, der Bundeswehr und der Öffentlichkeit zu zeigen, dass der Deutsche Bundestag seine Stellung den Streitkräften gegenüber ernst nimmt… Genau so wichtig ist jedoch, dass ein solcher Vorwurf nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit stehen bleibt… Deshalb war es hier das Bestreben der Koalitionsfraktionen, keinen Verdacht auf der Bundeswehr und den Soldaten des Kommandos Spezialkräfte ohne umfangreiche Aufklärung der behaupteten Misshandlung von Murat Kurnaz zu belassen.“ (DBT 2008: 125)
Diese Intention steht in Konflikt mit der klassisch-parlamentarischen Erwartung an die Funktion von Untersuchungsausschüssen. Das spätere Ergebnis des Ausschusses, die von Kurnaz behauptete Misshandlung sei von der Staatsanwaltschaft Tübingen im Ermittlungsverfahren als gefährliche Körperverletzung im Amt geführt worden und „im Normalfall“ hätte die Zuständigkeit von Staatsanwaltschaft und Wehrdisziplinaranwaltschaft für die Aufklärung des Sachverhalts ausgereicht, überrascht daher nicht. Bei diesem engen Fokus der Untersuchung beließ es der Ausschuss. Die von den Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Grüne eingebrachten Ergänzungsanträge für eine Erweiterung seiner Aufgaben wurden nicht angenommen. 11 Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD, heißt es in einem Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, „vertraten demgegenüber die Auffassung, dass zwar die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein Minderheitenrecht darstelle, eine Änderung des Untersuchungsauftrages jedoch einer Mehrheitsentscheidung unterliege.“ Einige der im Antrag ausgeführten Ziele des Ausschusses seien außerdem nicht konkret genug formuliert gewesen (BT-Drs. 16/6007). 12 Zu berücksichtigen ist, dass zuvor das Untersuchungsausschussgesetz die Auskunftspflicht eigentlich gestärkt und Minderheitenrechte verbessert hatte (Gärditz 2005; Wolf 2005).
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Die Oppositionsfraktionen sahen ihre Fragen in diesem Ausschuss erneut nicht ausreichend beantwortet und fühlten sich in ihrer Tätigkeit behindert. Im Abschlussbericht formulierten sie drei umfangreiche individuelle Sondervoten, in denen sie zwar ein zunächst kooperatives Aufklärungsinteresse der Parteien und das Bemühen des Ausschussvorsitzenden Lamers konstatierten, jedoch vieles deutlich kritisierten: die Weigerung der Bundesregierung, Informationen zur Verfügung zu stellen, die unzureichende Mitwirkung von Zeugen, die Vernichtung von Beweismaterial u.v.m. (DBT 2008: 137-182). Es handelte sich um dieselben Vorwürfe, die auch im BND-Untersuchungsausschuss erhoben worden waren und gegen die die Oppositionsfraktionen ein gemeinsames Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengten. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse wenig überraschend, erhoben die beiden Untersuchungsausschüsse am Ende ihrer Tätigkeit 2008 (Verteidigung-UA) bzw. 2009 (BND-UA) keine grundsätzlichen Vorwürfe gegen die politisch Verantwortlichen und die Bundeswehr. Ihr Nutzen bestand eher in der öffentlichkeitswirksamen Darstellung der jeweiligen Sichtweise außerhalb des Ausschusses. Dass die Oppositionsfraktionen ihre Kritik am Verfahren und den Vorgängen uneinheitlich und komplex vorbrachten, war mit dem Wunsch nach parteipolitischer Profilierung zu begründen, erschwerte es aber der Öffentlichkeit, die erreicht werden sollte, die Antwort auf die Schuldfrage zu verstehen (z.B. Denso 2009). Auf Initiative der Fraktion Die Linke (BT-Drs. 16/12130) beantragten die Abgeordneten aller drei Oppositionsfraktionen am 25. März 2009 die Einsetzung eines zweiten Untersuchungsausschusses gemäß Art. 44 GG. Sie griffen ein Thema auf, das die Öffentlichkeit stark beschäftigte: die Debatte um die Rolle des Staates bei der Bewältigung der Finanzkrise. Der Ausschuss sollte klären, ob im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen (einschließlich Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung und Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) und der Bundesbank „Erlasse, Weisungen, Fehleinschätzungen, öffentliche Äußerungen, Unterlassungen oder sonstige Handlungen zu den Missständen bei der Hypo Real Estate Holding AG (HRE) beigetragen, diese verschärft oder zu einer vermeidbaren Höherbelastung von Bürgerinnen und Bürgern in Form der Übernahme von Risiken im Zusammenhang mit dem Garantierahmen des Bundes von derzeit 87 Mrd. Euro oder in Form erwartbarer Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt geführt haben“ und spezifizierte zahlreiche Unterfragen (BT-Drs. 16/12480). Auch dieser Ausschuss diente v.a. der Beschaffung von Informationen, der Verpflichtung von Amtsträgern zu öffentlichen Rechenschaftsberichten über ihre Arbeit und zur öffentlichen Profilierung der Ausschussinitiatoren. Die Anhörungen fielen in die Sommer- und Wahlkampfzeit, der Abschlussbericht sollte sieben Tage vor der Bundestagswahl erscheinen. Das Potenzial des Ausschusses für eine effektive Kontrolle des konkreten Regierungshandelns scheint gering, da die Entscheidungen nicht mehr korrigiert werden konnten, doch er übte öffentlichen Druck auf die Entscheidungsträger aus, eigenes Handeln kritisch zu reflektieren und vom konkreten Fall auf die generelle (auch künftige) Beziehung zwischen Staat und privaten Banken zu schließen (u.a. Schumann 2009). Der Versuch der Richtungskontrolle lässt sich im großen Maßstab anhand des Initiativverhaltens im Bundestag prüfen. Bei Gesetzgebungsinitiativen zeigt sich, dass die Oppositionsfraktionen zwar aktiv waren,13 aber nicht dazu neigten, gemeinsam aufzutreten, son13 Von den 961 insgesamt und 258 bis 20. August 2009 im Bundestag eingebrachten Gesetzesinitiativen stammten 48 von Bündnis 90/Grünen, 42 von der Linksfraktion und 44 von der FDP. Keine von ihnen wurde verabschiedet (DBT 2009b, 2009c)
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dern sich auf die eigenständige Vertretung ihrer Politikpräferenzen konzentrierten. Wurden gemeinsame Gesetzesinitiativen eingebracht, so allenfalls unter Beteiligung der Regierungsfraktionen, nicht aber als gemeinsame Oppositionsvorstöße. Bei den Grünen waren dies neun Gesetzesinitiativen, bei der Linken zwei und bei der FDP zehn. Die Vorlagen unter Beteiligung der Regierungsfraktionen wurden wenig überraschend fast alle verabschiedet. Hier bestand eine Möglichkeit der Richtungskontrolle (DBT 2009b, 2009c). Dasselbe Verhaltensmuster gilt für die selbständigen Anträge14 und für die Entschließungsanträge.15 Die Oppositionsfraktionen agierten selbst dann oft nicht gemeinsam, wenn es um die Wahrung ihrer strukturell gleichen Interessen ging. So brachte die FDP den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Oppositionsrechte ein, das das Quorum für Normenkontrollanträge vor dem Bundesverfassungsgericht absenken sollte (BT-Drs. 16/125). Die Fraktion von Bündnis 90/Grünen stellte einen Antrag, der sich auf die Sicherung der Minderheitenrechte im Parlament richtete und entsprechende Änderungen hinsichtlich der Einberufung des Bundestages, der Durchführung von Anhörungen, der Bestimmung der Tagesordnung, Aktuellen Stunden, Untersuchungsausschüsse und auch der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht anregte (BT-Drs. 16/581).16 Und die Fraktion der Linken brachte einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages ein, der sich ebenfalls auf die Stärkung der Minderheitenrechte im Parlament bezog und nicht nur auf den ersten Vorstoß der Grünen verwies, sondern auch konkrete Vorschläge übernahm (BT-Drs. 16/4119). Die mögliche Effektivität paralleler Forderungen zeigt sich daran, dass (lediglich) der Vorschlag zur Verbesserung der Minderheitenrechte eine Aussicht auf Umsetzung erhielt, den alle drei Parteien vorgebracht hatten: die Erleichterung von Normenkontrollklagen.17 Insgesamt18 wird ersichtlich, dass die Oppositionsfraktionen zwar zu punktueller Kooperation in der Lage waren, um über die Untersuchungsausschüsse Kontrolle bei Themen auszuüben, die öffentlichkeitsträchtig waren, dass sie aber nicht strategisch gemeinsam 14 Unter den bis zum 20 August 2009 eingebrachten 1.832 selbstständigen Anträgen im Parlament war ein einziger gemeinsamer Antrag aller drei Oppositionsfraktionen. Anträge von zwei Oppositionsfraktionen gab es nicht. 30 Anträge stellten FDP und Bündnis 90/Grünen mit den Regierungsfraktionen, 11 Anträge alle drei Oppositionsfraktionen mit den Regierungsfraktionen. Darunter war beispielsweise der Antrag auf Weitergeltung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 18. Oktober 2005 (BT-Drs. 16/1). Ein Antrag stammt von der FDP, der Linksfraktion und den Regierungsfraktionen. 15 Bis Ende August 2009 wurden 440 solcher Anträge eingebracht, darunter 147 von der FDP, 140 von Bündnis 90/Grünen, 131 von der Linksfraktion. Ein Entschließungsantrag stammte von zwei Oppositionsfraktionen: von der FDP und Bündnis 90/Grünen. Diese beiden Fraktionen stellten noch zwei weitere Anträge gemeinsam mit den Regierungsfraktionen; der Rest stammt von letzteren selbst (DBT 2009c). 16 Die Fraktion kritisierte die proportionale Gewährung von Rechten im Parlament (Redezeiten, Ausschussbeschlüsse u.ä.) nach Fraktionsstärke und nicht nach dem Prinzip gleicher Rechte für Regierung und Opposition. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sollte prüfen, inwieweit die Rechtslage geeignet und ausreichend sei, um auch unter den Bedingungen einer großen Koalition die Rechte der parlamentarischen Opposition hinreichend zu wahren und insgesamt eine parlamentarische Praxis zu gewährleisten, die eine „lebendige parlamentarische Debatte zwischen Regierung, Koalition und Opposition auf gleicher Augenhöhe“ ermögliche. 17 Freilich war dies auch die Forderung, die die Parlamentsroutinen am wenigsten berührte. Sie wurde in die Grundgesetzänderung zum Lissabon-Vertrag aufgenommen. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Parlamentarischen Kontrollgremiums (ohne weitere Details) und die Änderungen der GOBT aus dem Jahr 2009 verbesserten nicht die Minderheitenrechte. 18 Zur genauen Ausprägung der Kontrolle über Veränderungen von Gesetzesvorlagen in den Ausschüssen oder über Änderungs- bzw. Entschließungsanträge, die Herbeirufung von Regierungsmitgliedern zu Ausschusssitzungen, Änderungen und Anträge am Haushaltsplan und Haushaltsvollzug liegen keine systematischen Informationen vor. Sie kann hier daher nicht bewertet werden.
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agierten. Dies entspricht ganz ihren Verhaltensroutinen (Ismayr 2006). Perfektioniert haben die Fraktionen während der Großen Koalition daher auch die Nutzung eines Kontrollinstruments, das sie jeweils allein aktivieren können: die namentliche Abstimmung. Trotz eines Trends zu mehr solchen Abstimmungen lag die Zahl in der 16. Legislaturperiode außergewöhnlich hoch. Seit Februar 2007 sind die Ergebnisse dieser Abstimmungen öffentlich leicht einsehbar (DBT 2009e). Allein ab diesem Zeitpunkt bis Juli 2009 gab es 110 namentliche Abstimmungen, wobei es um Vorlagen aus dem Regierungslager ebenso wie aus der Opposition ging. Während die Zahl der Kleinen und Großen Anfragen zum Ende der Legislaturperiode hin sank, stieg die Zahl der namentlichen Abstimmungen deutlich (Abb. 1) und damit die potenzielle Verhaltenskontrolle nach innen und außen.
4.2 Bundesverfassungsgericht In der Eingangsstatistik des Bundesverfassungsgerichts während der Großen Koalition zeigen sich Änderungen, die den theoretischen Erwartungen entsprechen. Moderate Änderungen gab es bei der Zahl der Verfassungsbeschwerden, die 2005 außergewöhnlich niedrig ausgefallen war. Sie stieg 2006 um 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr, verblieb dann auf ähnlichem Niveau und stieg 2008 noch einmal um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der langfristige Wachstumstrend setzte sich damit wieder in den sonst üblichen Größenordnungen fort. Auffallend war aber der große Anstieg der vom Zweiten Senat (dem „Staatsrechtssenat“) bearbeiteten Verfassungsbeschwerden ab 2006. Die Zahl der Anträge auf einstweilige Anordnung stieg 2006 um 23 Prozent gegenüber der außergewöhnlich niedrigen Zahl von 2005 (108 zu 88), danach verblieb sie auf diesem Niveau. Die hohen Werte der Jahre 2002 bis 2004 wurden nicht überschritten. 2008 sank die Zahl der Anträge auf Eilentscheidungen dann um 9 Prozent gegenüber 2007 (BVerfG 2009a, 2009c). Eine Besonderheit während der Großen Koalition war die Einbringung der größten „Massenklage“ vor dem Bundesverfassungsgericht seit dessen Einrichtung. Gut organisiert, reichten 34.443 Deutsche, darunter auch Abgeordnete, eine Verfassungsbeschwerde gegen die Einführung der „Vorratsdatenspeicherung“ ein.19 Auffallender waren andere Veränderungen während der Großen Koalition: Die Zahl der Verfahren der abstrakten Normenkontrolle und der Bund-Länder-Streitigkeiten sank wie erwartet auf ein Minimum, während die Zahl der Organklagen über den sonst üblichen Werten lag. Darunter waren Organklagen von Bündnis 90/Grünen wegen des Einsatzes der Bundeswehr beim G8-Gipfel in Heiligendamm20 und (verzögert nach der erwähnten Massenklage) gegen die Vorratsdatenspeicherung,21 Organklagen der Linken im Zusammenhang mit der Bahnprivatisierung,22 dem Lissabon-Vertrag,23 dem KFOR-Bundeswehrein-
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1 BvR 256/08. Siehe unten sowie AK Vorratsdatenspeicherung 2009; Spiegel 2008. Die Fraktion sah Rechte des Bundestages aus Art. 87a Abs. 2 GG dadurch verletzt, dass die Bundesregierung vor dem die Grenzen des Art. 87a i.V.m. Art. 35 GG überschreitenden Einsatz der Bundeswehr den Bundestag nicht mit dieser Verwendung befasste (2 BvE 5/07). 21 2 BvE 1/08. Siehe unten. 22 Die Fraktion sah die Rechte des Bundestages aus Art. 110 i.V.m. Art. 87e Abs. 4 GG dadurch verletzt, dass die Bundesregierung nicht seine Zustimmung zur Veräußerung der Anteile an einer Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn AG eingeholt hat, auf die nicht (mehr) bahnbetriebsnotwendige Immobilien übertragen worden waren (2 BvE 3/08). 20
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satz,24 der Beobachtung durch den Verfassungsschutz25 und der Entsendung von „Tornado“-Flugzeugen nach Afghanistan.26 Die FDP-Fraktion erhob lediglich eine Organklage, nämlich die erwähnte gemeinsame umfangreiche Klage mit den beiden anderen Oppositionsfraktionen wegen Verletzung von Minderheitenrechten im Rahmen des BND-Untersuchungsausschusses.27 In der Statistik der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind mögliche Besonderheiten der Großen Koalition schwer zu erkennen. Es war zunächst noch mit zahlreichen Klagen beschäftigt, die sich auf Gegebenheiten der Zeit vor Oktober 2005 bezogen. Diese Entscheidungen kontrollierten auch den aktuellen Gesetzgeber indirekt, indem sie Vorgaben für die Gesetzgebung machten. So erklärte das Gericht Klauseln des Luftsicherheitsgesetzes (1 BvR 357/05) und des Erbschaftsteuerrechts (1 BvL 10/02) für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Mehrere Entscheidungen beeinflussten außerdem die Ermittlungspraxis im Bereich der inneren Sicherheit und die Novellierung des BKAGesetzes. Das Gericht setzte beispielsweise der präventiven polizeilichen Rasterfahndung, dem Zugriff von Behörden auf persönliche Daten, der richterlichen Anordnung eines solchen Zugriffs sowie der Speicherung des „genetischen Fingerabdrucks“ Grenzen (u.a. 1 BvR 518/02; 2 BvR 2099/04; 1 BvR 538/06; 1 BvR 2045/06; 2 BvR 941/08; 2 BvR 287/09). Dies betraf auch die causa El Masri, dessen Rechtsanwalt Verfassungsbeschwerde gegen die Überwachung seines Telefons eingelegt hatte (2 BvR 2151/06). Öffentlich wahrgenommen wurde auch die Entscheidung zum Bundeswahlgesetz, das wegen der verfassungswidrigen Überhangsmandatsregelungen überarbeitet werden musste (2 BvC 1/07; 2 BvC 7/07). Erst mit einiger zeitlicher Verzögerung kam es zu Entscheidungen betreffend Aktivitäten der Großen Koalition. Ein signifikanter Anstieg der als verfassungswidrig beanstandeten Normen ließ sich dabei nicht feststellen (BVerfG 2009b, 2009d). Allerdings wurden in vielen Verfahren zu von der Großen Koalition beschlossenen Rechtsakten erst nach Ende der Legislaturperiode Entscheidungen gefällt. Dies betraf Klagen zum Gesetz über Erneuerbare Energien 2009, zum Gentechnikänderungsgesetz 2008, zum Erbschaftsteuergesetz, zum Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz, zum Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung u.v.m. (BVerfG 2009e). Die vom Gericht beanstandeten Normen berührten Materien, die für die Große Koalition politisch wichtig waren ebenso wie weniger zentrale, öffentlich weniger beachtete Materien und sie beruhten auf Verfahren, die von unterschiedlichen Akteuren initiiert worden waren: 23 Inklusive Begleitgesetzgebung. Gemeinsam behandelt mit Verfassungsbeschwerden eigener Abgeordneter und von Peter Gauweiler, CSU (2 BvE 5/08; 2 BvR 1010/08; 2 BvR 1022/08; 2 BvR 1259/08; 2 BvR 182/09). Siehe unten. 24 Die Linke sah Rechte des Bundestages dadurch verletzt, dass die Bundesregierung nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Februar 2008 keine erneute Zustimmung zur Fortführung des Bundeswehreinsatzes im Kosovo eingeholt hat (2 BvE 4/08). 25 Die Fraktion sah verschiedene Bestimmungen des Grundgesetzes dadurch verletzt, dass die Bundesregierung es unterlassen habe, die Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz einstellen zu lassen, v.a. Art. 46 Abs. 1, 38 Abs. 1 S. 2 GG (2 BvE 6/08). 26 Die Fraktion bemängelte die Verletzung des parlamentarischen Beteiligungsrechts aus Art. 59 Abs. 2 GG beim Bundestagsbeschluss vom 9. März 2007, Aufklärungsflugzeuge des Typs Tornado nach Afghanistan zu entsenden (2 BvE 2/07). 27 Ein weiteres von der FDP angestrengtes Verfahren betraf die Verhaltensregeln für die Mitglieder des Bundestages. Dabei ging es um eine Maßnahme der vorangegangenen Koalition, deren beschlossene Änderungen der Geschäftsordnung des Bundestages aber erst zu Beginn der 16. Wahlperiode in Kraft getreten und damit beklagbar waren (Auskunft der Fraktion).
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Am 3. Juli 2007 gab der Erste Senat der Verfassungsbeschwerde mehrerer Bürger gegen das Gesetz über die Reform hufbeschlagrechtlicher Regelungen und zur Änderung tierschutzrechtlicher Vorschriften vom 19. April 2006 teilweise statt. Er erklärte mehrere Bestimmungen des Gesetzes für unvereinbar mit Art. 12 des Grundgesetzes und nichtig, soweit sie bestimmte Berufsgruppen und deren Tätigkeiten betreffen (1 BvR 2186/06). Am 11. März 2008 gab das Bundesverfassungsgericht einem Eilantrag teilweise statt, der sich gegen das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung vom 21. Dezember 2007 richtete. Mit diesem Gesetz sollte die EU-Richtlinie zur „Vorratsdatenspeicherung“ in deutsches Recht umgesetzt werden. Seine Ergänzungen und Konkretisierungen gegenüber der EU-Richtlinie widersprachen aber deutschem Recht (1 BvR 256/08). Am 9. Dezember 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht Neuregelungen im Einkommensteuergesetz zur „Pendlerpauschale“ für in dieser Form verfassungswidrig und verpflichtete den Gesetzgeber, rückwirkend auf den 1. Januar 2007 die Rechtslage umzugestalten. Bis zur gesetzlichen Neuregelung war die Pauschale vorläufig ohne die Beschränkung auf Entfernungen erst ab dem 21. Kilometer anzuwenden. Das Verfahren ging auf Vorlagen der Finanzgerichte Niedersachsens und des Saarlandes sowie des Bundesfinanzhofs zurück (2 BvL 1/07; 2 BvL 2/07; 2 BvL 1/08; 2 BvL 2/08).28 Neben den Verfahren, die Bürgerrechte, innere Sicherheit und Pendlerpauschale betrafen, genossen die Urteile zum Vertrag von Lissabon, zum BND-Untersuchungsausschuss sowie zum Auskunftsverhalten der Bundesregierung bei Kleinen Anfragen, die zum Ende der Legislaturperiode ergingen, besondere öffentliche Aufmerksamkeit, gerade auch weil sie recht schnell nacheinander dem Regierungslager Grenzen setzten. Alle drei Entscheidungen stärkten das Parlament und die Rechte der Abgeordneten: Das Gericht erklärte Ende Mai 2009 im Beschwerde- und Organstreitverfahren das Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union für teilweise verfassungswidrig. Es verstoße gegen Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, da Bundestag und Bundesrat im Rahmen von europäischen Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren keine hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden. Trotz Supermajorität der Großen Koalition und der vorhandenen Zustimmung von FDP und Bündnis 90/Grünen scheiterte damit der Versuch, der EU von deutscher Seite neue Kompetenzen zuzuschreiben und ihr zusätzlich die Möglichkeit zu verschaffen, sich ohne explizite Vertragsänderungen weitere Tätigkeitsfelder selbst zuzuweisen. Vielmehr bedürfen derartige Integrationsschritte ebenso wie Gesetzgebungsakte weiter der umfassenden Mitwirkung der deutschen Verfassungsorgane. Die Ratifikationsurkunde war solange nicht gültig, wie diese Mängel nicht rechtskräftig beseitigt waren (2 BvE 2/08). Die Entscheidung gab sowohl dem Regierungslager als auch den Oppositionsfraktionen die Möglichkeit, sich als prinzipiell im Recht zu sehen, heizte aber im Wahlsommer die Innerkoalitionskonflikte mit der EU-kritischen CSU an. 28 Ein weiteres Verfahren, das zu einer Beanstandung führte, wurde noch vor Bildung der Großen Koalition durch einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Schöneberg ausgelöst, war aber insofern für die Koalition relevant, als das betreffende Gesetz zwischenzeitlich auch von ihr gemeinsam geändert worden war. Am 27. Mai 2008 erklärte der Erste Senat eine Norm des Transsexuellengesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Passgesetzes vom 20. Juli 2007 für verfassungswidrig, weil sie einem verheirateten Transsexuellen, der sich geschlechtsändernden Operationen unterzogen hat, die Möglichkeit, die personenstandsrechtliche Anerkennung seiner neuen Geschlechtszugehörigkeit zu erhalten, nur einräumt, wenn seine Ehe zuvor geschieden wird. (1 BvL 10/05).
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Wenig später erklärte das Bundesverfassungsgericht die Anträge der Oppositionsfraktionen in Sachen BND-Untersuchungsausschuss für überwiegend begründet: Die Bundesregierung habe den Informationsanspruch aus Art. 44 GG in unzulässiger Weise verkürzt. Durch die Einschränkung der Beweiserhebung seien die Rechte des Bundestages insgesamt und nicht nur die des Untersuchungsausschusses verletzt worden, denn letzterer übe seine Befugnisse als Hilfsorgan des Bundestages aus. Im Rahmen seines Untersuchungsauftrages dürfe er Regierungsmitglieder sowie Beamte und Angestellte im Verantwortungsbereich der Bundesregierung als Zeugen vernehmen und diejenigen Beweise erheben, die er für erforderlich hält. Bei abgeschlossenen Vorgängen könne gegenüber einem Untersuchungsausschuss der pauschale Verweis darauf, dass der Bereich der Willensbildung der Regierung betroffen sei, die Zurückhaltung von Informationen nicht rechtfertigen. Auch die Verweigerung von Akteneinsicht sei nur eingeschränkt möglich (2 BvE 3/07). Dieses wichtige Urteil erging zu einem so späten Zeitpunkt der Legislaturperiode, dass die Arbeit des betreffenden Untersuchungsausschusses bereits abgeschlossen war. Zwar konnte ein neuer Untersuchungsausschuss mit nun besserem Kontrollpotenzial einberufen werden – wegen der Umstände aber frühestens nach den Wahlen. Das Bundesverfassungsgericht gab außerdem der Organklage von Bündnis 90/Grünen in Bezug auf die 2006 von ihr gestellten Kleinen Anfragen recht. Die Weigerung der Bundesregierung, Auskunft darüber zu geben, ob und ggf. welche Informationen der BND und die Nachrichtendienste der Länder über die Abgeordneten des Bundestages sammeln, war nach seiner Ansicht verfassungsrechtlich nicht tragfähig begründet.29 Sie habe damit die Rechte aus den Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt (2 BvE 5/06). Insgesamt war die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Tätigkeit der Großen Koalition zwar – wie üblich – punktuell kritisch, doch ließen sich (bis zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Beitrags) keine besonderen Abweichungen von seinen Routinen erkennen. Das Gericht nahm also seine Kontrollfunktion wie gewohnt wahr.
4.3 Bundespräsident Bundespräsident Horst Köhler folgt einem Amtsverständnis, das beinhaltet, Entscheidungen der Politik nicht lediglich auszuführen. Er äußerte sich auch zum politischen Tagesgeschehen. Allerdings trat er keineswegs konfrontativ gegenüber der Bundesregierung, den Regierungskoalitionen oder dem Bundesrat auf. Seit seinem Amtsantritt 2004 bis zum Beginn der Großen Koalition hatte er lediglich einmal, im Januar 2005, formelle und materielle Zweifel an einzelnen Bestimmungen eines Gesetzes (zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben) erklärt (das das Bundesverfassungsgericht später tatsächlich als nichtig aufhob), es aber dennoch ausgefertigt. Er hatte im Sommer 2005 auch nicht die Auflösung des Bundestages mittels „unechter“ Vertrauensfrage gekippt, die der Bildung der Großen Koalition vorausgegangen war – nach reiflicher Abwägung und in enger Anlehnung an das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983. Gegen deren Personalentscheidungen und Gesetze gab es von ihm in Fortsetzung dieses Verhaltens zunächst ebenfalls keine öffentlich vorgetragenen Einwände. Unstimmigkeiten, so vorhanden, wurden 29 Sie hatte die Antworten teilweise mit dem Hinweis darauf abgelehnt, dass sie sich zu der Arbeitsweise, der Strategie und dem Erkenntnisstand der Nachrichtendienste des Bundes, die geheimhaltungsbedürftig seien, grundsätzlich nur in den dafür vorgesehenen besonderen Gremien des Deutschen Bundestages äußere.
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intern geklärt, wie etwa beim Haushaltgesetz 2006 (Afhüppe et al 2005). Dennoch verursachte sein Kontrollverhalten Ende 2006 eine Krise im Verhältnis zur Großen Koalition: Anfang Oktober 2006 fertigte Köhler die im April und Mai 2006 von Bundestag und Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit beschlossenen Dokumente zur Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrags aus, erklärte aber, die Ratifizierungsurkunde nicht zu unterschreiben, solange noch Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag anhängig seien.30 Am 24. Oktober 2006 entschied er dann, das bereits am 7. April 2006 vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung (BT-Drs. 16/240, 16/1161) nicht auszufertigen, da es in mehreren Punkten evident gegen Art. 87 d Abs. 1 GG verstoße (BT-Drs. 16/3262; Bundespräsidialamt 2006). Damit stoppte er die noch von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder eingebrachte, später veränderte Vorlage zur Privatisierung der Flugsicherung und stellte sich erneut gegen eine über die Große Koalition hinaus gehende Mehrheit der Abgeordneten. Köhler hatte sich mit seiner Entscheidung Zeit gelassen31 und ein von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten abgewartet. Am 8. Dezember 2006 wiederholte sich das Szenario in Bezug auf das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation.32 Bundespräsident Köhler versagte dem Gesetz die Unterschrift, da es mit Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG kollidiere, der es seit der Föderalismusreform dem Bund verbietet, per Gesetz den Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben zu übertragen. Diese Schritte wurden öffentlich stark wahrgenommen, gerade aufgrund des geringen zeitlichen Abstandes zwischen ihnen. Regierungsparteien, aber auch Journalisten warfen Köhler vor, er mische sich zu sehr in die Politik und in die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts ein. Erinnert wurde auch an seine Entscheidung zur Neuwahl 2005; die damalige Fernsehansprache wurde nun retrospektiv als „übertrieben dramatisch“ bewertet (z.B. Prantl 2006; Emundts 2006; Leicht 2006; Schuler 2006; Krumrey 2006). Auch politik- und rechtswissenschaftlich wurde diskutiert, ob diese Amtsausübung das Machtverhältnis zwischen den deutschen Verfassungsorganen nun verschiebe (Lhotta 2008; Höreth 2008; Jekewitz 2007). Nach dieser Krise im Verhältnis zwischen dem Bundespräsidenten und der Großen Koalition trat Köhler allerdings weniger in Erscheinung. Er stoppte keine Gesetze mehr, und als er am 30. Juni 2008 bekanntgab, er werde den Vertrag von Lissabon solange nicht ratifizieren, wie die oben erwähnten Verfahren dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig seien, berief er sich auf die schriftliche Bitte des Bundesverfassungsgerichts. CDU und SPD reagierten dennoch verärgert, während Vertreter von FDP und Grünen auch in diesem Falle das Vorgehen des Bundespräsidenten als „Selbstverständlichkeit“ und „normales Verfahren“ bezeichneten, das im Übrigen in keiner Weise die Klagen gegen den Lissabon-Vertrag in der Sache bestätige (Tagesschau.de 2008). Besonders ruhig wurde es
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Der Vertrag scheiterte an der fehlenden Ratifikation durch Irland. Das im Sommer 2006 gefällte Urteil des Konstanzer Landgerichts zum Flugzeugunglück 2002 am Bodensee mit 71 Toten mag das Nachdenken über das Gesetz mit befördert haben. Danach musste Deutschland Schadenersatz zahlen, obwohl die schweizerische Flugsicherung für die Betreuung des Flugzeuges verantwortlich gewesen war. 32 Dieses Gesetz ging auf eine Vorlage des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV 2009) zurück, die den Regierungsfraktionen zur Einbringung in den Deutschen Bundestag zur Verfügung gestellt worden und im April 2006 vom Bundeskabinett beschlossen worden war. Es berücksichtigte Änderungsempfehlungen des Bundestagsausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BTDrs. 16/1408, 16/2011). 31
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im Vorfeld der Bundespräsidentenwahl 2009, in der Köhler seine Wiederwahl anstrebte. Dazu trugen die relativ knappen Stimmenverhältnisse sicherlich bei. Insofern erwies sich der Bundespräsident tatsächlich als nachträglicher Vetospieler, jedoch – wie theoretisch vermutet – nur punktuell. Inwiefern seine (wenigen) Vetos dafür sorgten, dass das Regierungslager seine Entscheidungen danach mit mehr Sorgfalt und Vorsicht traf oder mögliche Einwände antizipierte (Höreth 2008: 33), ist schwer zu beurteilen. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts lassen vermuten, dass diese Wirkung allenfalls vorübergehend eintrat. Komplett gestoppt hat der Bundespräsident mit seinen Kontrollmaßnahmen die politischen Entscheidungen jedenfalls selbst in der Sache nicht. Als sich beim Flugsicherungsgesetz Köhlers Ausfertigungsverweigerung abzeichnete, kündigten führende Verkehrspolitiker der Regierungskoalition bereits an, das Grundgesetz zu ändern, um den Plan umsetzen zu können. Tatsächlich begannen unmittelbar danach die Sondierungen, wie der Plan mithilfe rechtlicher Änderungen zu realisieren ist (Stern 2006; SPD-Fraktion 2007). Ähnlich kündigte das Verbraucherschutzministerium sofort nach dem Scheitern des Verbraucherinformationsgesetzes an, einen veränderten Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen, der die Einwände des Präsidenten berücksichtige (BMELV 2009). Bereits ein gutes halbes Jahr später wurde er vom Bundestag verabschiedet und nach der Zustimmung durch den Bundesrat am 5. November 2007 ausgefertigt. 5
Resümee
Der vorliegende Beitrag befasste sich mit der Frage, ob die parlamentarische Opposition, das Bundesverfassungsgericht und der Bundespräsident eine effektive Kontrolle der Zweidrittelmehrheit gewährleisteten. Er stellte zunächst theoretische Überlegungen zu ihrem Kontrollverhalten an. Seine Ausprägung hängt von der Verfügbarkeit formaler Rechte ab, von der Passfähigkeit der üblichen Handlungsroutinen gegenüber den Gegebenheiten einer Supermajorität und von den individuellen Kosten-Nutzen-Kalkulationen. Die Kontrollintention kollidiert latent mit dem Bestreben, inhaltlich gehört zu werden, sowie mit Koalitions- oder Wiederwahlinteressen. Der zweite Abschnitt systematisierte die den Akteuren zur Verfügung stehenden Kontrollinstrumente und beschrieb, wie sie in der Bundesrepublik üblicherweise genutzt wurden. Er zeigte, dass der parlamentarische Betrieb nicht auf die Kräftekonstellationen einer Großen Koalition ausgelegt ist und der Opposition insbesondere das wichtige Instrument der Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zur Verfügung stand. Das Bundesverfassungsgericht kann effektiv, aber nur auf Anruf und wegen der Verfahrenslänge verzögert kontrollieren. Der Bundespräsident vermag dies mit dem Instrument des Gesetzesstopps zu kompensieren, doch ist er in seinem Amt von einem guten Verhältnis zur Bundesregierung abhängig und hat aufgrund der Letztentscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts eine ungünstige Position. Der dritte Abschnitt wertete das tatsächliche Kontrollverhalten in den Jahren 2005 bis 2009 aus, das den theoretischen Annahmen entsprach. Die Oppositionsfraktionen, das Bundesverfassungsgericht und der Bundespräsident nutzten ihre Kontrollinstrumente gegenüber dem Regierungslager aktiv. Allerdings war kein erheblich gesteigerter Kontrollaktivismus zu verzeichnen. Im Bundestag stiegen die Zahl der Kleinen Anfragen, die v.a. auf Informationsbeschaffung ausgerichtet sind, und die Zahl namentlicher Abstimmungen. Beides sind
Schutz vor der Mehrheitstyrannei?
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Instrumente sanfter Kontrolle, ohne Konflikte mit den Regierungsparteien anzuheizen. Die Oppositionsfraktionen agierten ganz überwiegend separat, selbst bei strukturell ähnlichen Präferenzen, oder gemeinsam mit dem Regierungslager. Die Linksfraktion agierte wie die anderen Kleinparteien nach dem Muster einer Koalitionspartnerin im Wartestand. Es gab jedoch mit zwei von der Opposition einberufenen Untersuchungsausschüssen auch auf Konflikt angelegte Kontrollmechanismen bei wenigen profilbildenden, die Öffentlichkeit interessierenden Themen. Das Bundesverfassungsgericht wurde etwas häufiger als üblich angerufen, insbesondere von der Opposition in Organstreitverfahren und in Verfassungsbeschwerden. Sein Vetoverhalten gegenüber der Großen Koalition wich bei Manuskriptschluss jedoch nicht signifikant vom üblichen Muster ab. Der Bundespräsident stoppte in vier Fällen Gesetzes- bzw. Ratifikationsverfahren, drosselte aber nach einer Krise im Verhältnis zur Großen Koalition solche formellen Kontrollmaßnahmen und seine öffentlichen Kommentare zur Politik. Gewährleisteten nun die Oppositionsfraktionen, das Bundesverfassungsgericht und der Bundespräsident während der zweiten Großen Koalition einen ausreichenden Schutz vor der potenziell übermächtigen Zweidrittelmehrheit? Sowohl der theoretische Abschnitt des Aufsatzes als auch die Durchsicht der verfügbaren Instrumentarien und der Empirie führen zu einem Ja mit Zweifeln. Die Existenz von Kontrolleuren, die erwartbar, aber auch überraschend die Große Koalition kontrollieren, setzt das Regierungslager zwar im Prinzip unter Druck, sich zu rechtfertigen, Einwände trotz großer Mehrheit zu berücksichtigen und rechtlich problematische Regelungen zu vermeiden oder zurückzunehmen. Allerdings sind die Kalküle der Parteien und die verfügbaren Kontrollinstrumente daran ausgerichtet, dass eine große mit einer kleinen Partei regiert. Die Handlungsweisen der Akteure bleiben stark in den politischen Routinen verhaftet. Dadurch maximierten sie mit Blick auf ihre multiplen Zielsetzungen zwar möglicherweise ihren individuellen Gesamtnutzen, doch schöpften sie ihre spezifischen Kontrollmöglichkeiten nicht optimal aus. Die Summe der unterschiedlichen Kontrolleure mit ihren individuellen Interessen sorgte zwar immer noch für eine gute zeitliche, rechtliche und thematische Abdeckung wichtiger Kontrollbereiche, doch sind Normen und Praxis politischer Kontrolle – v.a. durch Opposition und Bundespräsidenten – nicht ausreichend auf den Fall einer Großen Koalition eingestellt. Die künftigen Machtverhältnisse werden zeigen, ob es einen Bedarf gibt, dies zu ändern. Literatur Afhüppe, Sven/Bornhöft, Petra/Hipp, Dietmar/Pfister, René, 2005: „Handeln im Sinne der Verfassung“. Bundespräsident Horst Köhler zwingt die künftige Kanzlerin zur Kehrtwende beim Haushalt, in: Der Spiegel 47, 21.11.2005, 32. AK Vorratsdatenspeicherung, 2009: Sammel-Verfassungsbeschwerde gegen Vorratsdatenspeicherung, in: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/51/70/; 02.09.2009. Beyme, Klaus von, 2004: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. Wiesbaden. Billing, Werner, 2001: Der Bundespräsident, in: Westphalen, Raban Graf von (Hrsg.), Deutsches Regierungssystem. München/Wien, 313-338. BMELV [Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz], 2009: Verbraucherinformationsgesetz, in: http://www.vigwirkt.de/de/hintergrund/gesetzesmaterialien/; 19.03. 2009.
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Werner Reutter
„Grand Coalition State“, Große Koalition und Föderalismusreform1
Jede Föderalismusreform, die auf einer Änderung des Grundgesetzes beruht, bedarf in Deutschland einer Großen Koalition, also einer Kooperation zwischen CDU/CSU und SPD, anders gesagt, einer die politischen Lager übergreifenden Vereinbarung der beiden Volksparteien. Wohl nur wenig andere Politikfelder repräsentieren damit so prägnant das, was Manfred G. Schmidt (1996) den „Grand Coalition State“ genannt hat. Darunter ist ein politisches System zu verstehen, „(…) in dem der Parteienwettbewerb, der den Kampf um die Machtverteilung und den Konflikt betont, auf starke Kooperationszwänge stößt – weil die meisten bedeutenden Gesetzgebungen, insbesondere der Verfassungsänderungen und zustimmungspflichtigen Gesetze, die Zustimmung der Zweidrittelmehrheit bzw. der Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat erfordern. … Insoweit ist die Bundesrepublik selbst dann der ‚Staat der Großen Koalition’, wenn im Bund eine kleine Koalition regiert“ (Schmidt 2007: 42).
Für Schmidt ist der „Staat der Großen Koalition“ folglich Ausfluss institutioneller Strukturen, sprich: der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung. Der „Grand Coalition State“ gründet mithin nicht – jedenfalls nicht systematisch – auf einem oversized cabinet. Die zahlreichen Reformen des deutschen Bundesstaates unterfüttern diese Interpretation in nahezu idealtypischer Weise. Dennoch: In der langen Geschichte der föderalen Reformen stechen zwei Perioden hervor: die 5. Wahlperiode (Finanzreform, Einführung der Gemeinschaftsaufgaben etc.) und die 16. Wahlperiode mit der im Weiteren behandelten Föderalismusreform (Lorenz 2007). Und in beiden Wahlperioden hatten CDU/CSU und SPD gemeinsam Regierungsverantwortung übernommen, den „Grand Coalition State“ also formalisiert und in eine Große Koalition überführt. Damit stellt sich unmittelbar die Frage, worin der Unterschied besteht zwischen dem von Schmidt beschriebenen „Grand Coalition State“, den andere als Konsensdemokratie bezeichnen, und einem Kabinett, das sich aus Vertretern der beiden Volksparteien zusammensetzt. Dieser Frage wird im Weiteren anhand der Föderalismusreform 2006 nachgegangen, wobei zuerst auf die Rahmenbedingungen und die Vorgeschichte eingegangen wird, sodann wird das Entscheidungsverfahren skizziert und es werden die wichtigsten Inhalte der Föderalismusreform dargestellt; schließlich wird überprüft, ob und inwieweit die Reform ihre Ziele erreicht hat.
1
Dieser Beitrag wurde vor der Bundestagswahl 2009 fertig gestellt.
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
86 1
Werner Reutter Rahmenbedingungen und Vorgeschichte der Föderalismusreform
Bekanntlich waren weder die Bundesstaatskommission – die „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“, wie sie offiziell hieß – noch die Föderalismusreform 2006 die ersten Versuche, das Verhältnis der beiden in Art. 28 GG zusammengefügten ordnungspolitischen Verfassungsprinzipien von Bundesstaat und (parlamentarischer) Demokratie zu restrukturieren. Die Enquête-Kommission Verfassungsreform, die Gemeinsame Verfassungskommission, die Ministerpräsidenten, die Landesparlamente und deren Präsidenten – sie alle und noch einige andere verlangten schon seit vielen Jahren Änderungen am Grundgesetz und eine Neuordnung des Bund-Länder-Verhältnisses (Hrbek 2004; Thaysen 2005). Auch wenn zwischen den Vorschlägen durchaus Unterschiede existieren, sind ihnen die Ziele gemeinsam, die Handlungsfähigkeit des Staates und den Parlamentarismus in Bund und Ländern zu stärken. Erreicht werden sollte dies unter anderem durch eine Neufassung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, eine Reform des Finanzausgleichs und insbesondere durch eine Reduzierung des Anteils zustimmungspflichtiger Gesetze. Die Föderalismusreform schloss an diese Vorläufer an, ging aber in mancher Hinsicht auch darüber hinaus. Die größte Grundgesetzreform in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – insgesamt waren 25 von 192 Grundgesetzartikeln (einschl. Präambel und Anhang) betroffen – begann formal am 10. März 2006, als zwei Gesetzentwürfe in Bundestag und Bundesrat eingebracht wurden: der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes“ sowie der „Entwurf eines Föderalismusreform-Begleitgesetzes“ (BT-Drs. 16/813, BT-Drs. 16/814). Schon der Umstand, dass die Gesetzgebungsverfahren am gleichen Tag sowohl in der Volksvertretung als auch in der Länderkammer initiiert wurden, ist ungewöhnlich und zeigt, dass es sich um kein „normales“ verfassungsänderndes Gesetzgebungsverfahren handelt. Es war vielmehr strukturell, politisch und inhaltlich vorgeprägt. Abbildung 1:
Anteil zustimmungspflichtiger Gesetze pro Wahlperiode (1949-2005, in Prozent)
75
50
25
Quelle: Reutter 2006a: 1255, eigene Darstellung.
02-05
98-02
94-98
90-94
87-90
83-87
80-83
76-80
72-76
69-72
65-69
61-65
57-61
53-57
49-53
0
„Grand Coalition State“, Große Koalition und Föderalismusreform
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Strukturell war die Reform vorgeprägt, weil, so eines der zentralen Argumente, die seit der Vereinigung gestiegene ökonomische, soziale und politische Heterogenisierung der Länder bundeseinheitliche Regelungen erschwerten und die Entscheidungsfindung im Bund verkomplizierten; gleichzeitig stieg der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze nach 1990 sukzessive auf rund 60 Prozent (Abb. 1). Damit waren gleich zwei Prinzipien des kooperativen Föderalismus in Frage gestellt: die Unitarisierung und die staatliche Entscheidungsfähigkeit. Zuerst zur Unitarisierung: Neben dem bis 1990 bekannten Nord-Süd-Gefälle, den Größenunterschieden und der divergierenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bundesländer trat 1990 mit der Vereinigung eine Ost-West-Differenz hinzu. Mit dieser Heterogenisierung verschwanden aber substanzielle Voraussetzungen des unitarischen Bundesstaates, so zumindest eines der immer wieder vorgebrachten Argumente, um einer „ReFöderalisierung” das Wort zu reden. Bundeseinheitliche Regelungen, die für alle Länder galten, schienen vielen weder zielführend noch problemadäquat. Die Auseinanderentwicklung zwischen normativem Anspruch, aufgrund dessen der Staat die Einheitlichkeit bzw. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse garantieren sollte, und gesellschaftspolitischen Voraussetzungen konnte die Fähigkeit des Bundes, politische Maßnahmen zu beschließen und durchzusetzen, nicht unberührt lassen, auch weil die ökonomischen und sozialen Unterschiede die Fähigkeit der Parteien zur vertikalen Integration unterminierten. Die Parteien scheinen immer weniger in der Lage, die beiden Ebenen des Bundesstaates zu verknüpfen und den Konsens bereitzustellen, den der kooperative Föderalismus benötigt. Seinen Ausdruck fand dieses Funktionsproblem in einem zunehmend asymmetrischen Parteienwettbewerb und in der nachlassenden vertikalen Integrationsfähigkeit der Parteien. Symmetrisch ist ein Wettbewerb, wenn „auf beiden Ebenen dieselben Antagonismen ausgespielt, dieselben Allianzen und Koalitionen geschmiedet werden” (Detterbeck/Renzsch 2008: 40). Bei einem asymmetrischen Parteienwettbewerb sind einzelne Parteien auf einer der beiden Ebenen nicht existent oder spielen eine nur marginale Rolle, stehen auf der anderen aber im Mittelpunkt des Wettbewerbs (Detterbeck/Renzsch 2008: 40; Freitag/Vatter 2008: 63). Zwar weisen die Parteiensysteme in Bund und Ländern eine Reihe von Parallelen auf – insbesondere bei der Fragmentierung –, so dass von einer vollständigen „Entkopplung” der beiden Ebenen nicht gesprochen werden kann. Doch treten seit 1990 neben einigen beachtlichen Differenzen zunehmend auch Niveauunterschiede auf. So besitzen die christdemokratischen Parteien im Bund bei Wahlen einen strukturellen Vorsprung gegenüber der Sozialdemokratie (Asymmetrie), die in den Ländern fast ähnlich große Erfolge vorweisen kann wie CDU und CSU. Hinzu kommt, dass die beiden großen Parteien im Zeitablauf immer weniger Wähler für sich mobilisieren konnten, weshalb die Konzentration gefallen ist. Besonders markant ist darüber hinaus, dass die PDS bzw. Die Linke im Osten mit durchschnittlich 19,2 Prozentpunkten eine feste Größe darstellt, während sie in den alten Bundesländern erst nach der Bundestagswahl 2005 anfing, in Landesparlamente einzuziehen. Insgesamt belegen diese Daten, dass der Parteienwettbewerb in Bund und Ländern asymmetrischer geworden ist (Tab. 1).
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Werner Reutter
Tabelle 1: Parteiensysteme in Bund und Ländern (Durchschnittswerte; 1946-2007) Phasen
Formierung
Stabilität
Öffnung
Dekonzentration
Gesamt
(1946-1961)
(19611977)
(19781990)
(1990-2007)
(19462007)
West
Ost
Anzahl der Wahlen − Länder − Bund
40 4
43 4
39 3
44
76,8 85,0
79,0 88,8
79,5 87,3
66,8
-4,4 11,4
-1,3 4,2
0,7 6,5
2,7
70,8 74,4
86,9 89,4
86,5 85,2
75,1
-
2,4
22 5
188 16
Wahlbeteiligung − Länder − Bund
63,0 79,2
73,9 84,6
9,9 2,1
1,2 5,8
64,8 75,5
77,7 80,5
19,2
7,8 4,9
3,6
2,3 1,5
3,6
3,1 3,0
15,8
10,9 8,4
Asymmetrie − Länder − Bund Konzentration − Länder − Bund
Anteile für PDS/Die Linke, WASG (seit 1990) − Länder − Bund
-
-
4,9
Anteile für rechtsextremistische/ -populistische Parteien − Länder − Bund
1,1 1,2
2,2 1,8
0,6 0,3
4,2
3,4 3,4
2,5 2,5
2,6 2,7
3,3
17,6 15,1
8,7 6,1
6,7 6,3
10,1
2,3
Fragmentierung − Länder − Bund
3,3
Volatilität − Länder − Bund
7,5
Asymmetrie: Stimmenanteile von CDU/CSU minus Stimmenanteile von SPD; Konzentration: Stimmenanteile von CDU/CSU plus Stimmenanteile von SPD; Fragmentierung: Kehrwert der Summe der quadrierten Stimmenanteile der Parteien; Volatilität: Summe der absoluten Veränderungen der Stimmenanteile der Parteien bei zwei aufeinander folgenden Wahlen dividiert durch zwei.
Quelle: Reutter 2008: 91 Gleichzeitig hat die Fähigkeit der Parteien zur vertikalen Integration nachgelassen. Die Regierungsbildung in den Ländern gibt darauf wichtige Hinweise (Sturm 1999; Detterbeck/ Renzsch 2008: 45; Freitag/Vatter 2008: 111-113). Hier zeichnet sich ab, dass Bundespar-
„Grand Coalition State“, Große Koalition und Föderalismusreform
89
teien immer weniger in der Lage sind, ihre Koalitionspräferenzen in den Ländern durchzusetzen. Der bis dato (2009) wohl umstrittenste Fall – der Versuch von Andrea Ypsilanti (SPD) in Hessen, eine durch Die Linke tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung zu etablieren – ist nur ein besonders markantes Beispiel dafür, dass die Koalitionsformate in Bund und Ländern immer öfter voneinander abweichen (Tab. 2). Tabelle 2: Regierungsbildung in den deutschen Ländern (1969-2005, absolut und in Prozent) Kongruente Koalitio- Einparteien- Inkongruente Alternative Landesregierungen nen (nationales regierungen Koalitionen Koalitionen insgesamt Muster) 1969-90
16 ( 29,1 %)
33 (60,0 %)
5 (9,1 %)
1 (1,8 %)
55
1990-05
11 ( 13,4 %)
30 (36,6 %)
26 ( 31,7 %)
15 (18,3 %)
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Quelle: Detterbeck/Renzsch 2008: 45 und 49; eigene Berechnungen So waren zwischen 1969 und 1990 von insgesamt 55 Landesregierungen lediglich 5 Koalitionen inkongruent (9,1 Prozent),2 stimmten also nicht mit der Regierungskonstellation im Bund überein, 33 waren Einparteienregierungen (60 Prozent) und 16 kongruente Koalitionen (29,1 Prozent), in denen sich das nationale Muster wiederholte. Im Gegensatz dazu waren zwischen 1990 und 2005 von insgesamt 82 Regierungen: 11 kongruente (13,4 Prozent), 26 inkongruente (31,7 Prozent) und 15 alternative Koalitionen (18,3 Prozent) sowie 30 Einparteienregierungen (36,6 Prozent). Es versteht sich, dass sich diese Entwicklung in den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat niedergeschlagen hat: Parallele Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat existierten in den seit 1990 vier abgeschlossenen Legislaturperioden zwischen Dezember 1990 und Oktober 2005 für lediglich 9 Monate. Die Regel war und ist also: Die Bundesregierung verfügt im Bundesrat über keine eigene Mehrheit. Zusammenfassend lässt sich somit sagen: „Tendenziell ist es somit für die Bundesregierung seit 1990 schwieriger geworden, Gesetze durch den Bundesrat zu bekommen: Die Heterogenität der Länder erschwert Kompromissbildungen, Enthaltungsklauseln wirken bei der Erfordernis, eine absolute Mehrheit der Stimmen im Bundesrat zu erzielen, faktisch wie Nein-Stimmen, der Zuwachs an alternativen Koalitionen stärkt die Oppositionsparteien im Bund” (Detterbeck/Renzsch 2008: 49).
Es wundert daher kaum, dass die Mitte der 1970er Jahre angestoßene Debatte um eine Reform des Bundesstaates in den 1990er Jahren an Schärfe zunahm, bisweilen sogar hysterische Züge angenommen hat. Sie war Teil der allgemeinen Diskussion um einen Reformstau in Deutschland, den sowohl Roman Herzog in seiner berühmten Ruckrede 1997 diagnostizierte als auch Horst Köhler 2005 in der apodiktischen Formel zum Ausdruck brachte, als er unter anderem sagte: „Die bestehende föderale Ordnung ist überholt” (Köhler 2005).
2 Kongruente Koalitionen entsprechen dem nationalen Regierungsbündnis; bei inkongruenten Koalitionen sind an einer Landesregierung Parteien beteiligt, die im Bund sowohl an der Regierung als auch in der Opposition sind; alternative Koalitionen bestehen aus Parteien, die im Bund entweder in der Opposition bzw. nicht im Bundestag vertreten sind (Detterbeck/Renzsch 2008: 44).
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Werner Reutter
Inhaltlich übersetzt haben sich diese Entwicklungen in die Forderung nach einer grundsätzlichen Reform des Bund-Länder-Verhältnisses, sprich: eines Rückbaus unitarischer Tendenzen, einer Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Ländern sowie nach einer Vereinfachung der Entscheidungsprozesse im Bund. Das waren denn auch die Ziele, die mit der Föderalismusreform verfolgt wurden. Die im oben genannten Gesetzentwurf ebenfalls enthaltenen Ziele, die Europafähigkeit des Grundgesetzes zu verbessern sowie die Finanzbeziehungen zu restrukturieren, blieben so gut wie folgenlos – wie das Thema Europa – oder wurden ausgeklammert und einer neuen Kommission übertragen, die unter anderem Vorschläge zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen sowie zu Entbürokratisierung und Effizienzsteigerung erarbeitet hat.3 Im Zuge der hier interessierenden Föderalismusreform I wurden damit einerseits das Gesetzgebungsverfahren im Bund verhandelt, einfacher gesagt: die Rolle des Bundesrates, sowie andererseits die Kompetenzaufteilung in einer Reihe von Politikfeldern: vor allem in der Bildungspolitik, dem Beamtenrecht, im Bereich Inneres, dem Umweltrecht und beim Strafvollzug. Die Reform zeichnet sich also dadurch aus, dass sie politikfeldspezifische und Institutionen bezogene Änderungen beinhaltete. 2
Große Reform – doppelter Konsens
Ohne die Bundesstaatskommission wäre die Föderalismusreform 2006 nicht beschlossen worden. Eine solche Behauptung muss schon deswegen überraschen, weil sich das in Bundestag und Bundesrat schließlich verabschiedete Reformpaket inhaltlich allenfalls graduell von dem unterscheidet, was im Dezember 2004 in der Bundesstaatskommission keine Mehrheit gefunden hatte. Wieso sollten dieselben Parteien etwas akzeptieren, was sie wenige Monate davor noch abgelehnt hatten? Dennoch waren der Auftrag, den die Bundesstaatskommission 2004 erhalten hatte, und die in dieser Kommission erzielten, letztlich allerdings abgelehnten Verhandlungsergebnisse Grundlage für die Reform 2006. Das Scheitern der Bundesstaatskommission und damit der rot-grünen Koalition einerseits sowie der Erfolg der Großen Koalition andererseits lassen sich also nicht über die Inhalte der beiden Reformpakete erklären, sondern sind über die divergierenden Entscheidungskonstellationen zu erschließen. Grundlage der Föderalismusreform 2006 war der Koalitionsvertrag vom November 2005, in dem eine „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung” vereinbart wurde und zwar auf „Grundlage der Vorarbeiten in der Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat” (Koalitionsvertrag 2006: 109). Obzwar eine speziell eingerichtete Arbeitsgruppe ein eigenständiges Papier für die Koalitionsverhandlungen verfasste, ergaben sich daraus im Vergleich zur Bundesstaatskommission so gut wie keine inhaltlichen Unterschiede. Vielmehr übernahm die Arbeitsgruppe nahezu vollständig den von Edmund Stoiber und Franz Müntefering im Dezember 2004 erzielten Kompromissvorschlag. In der dem Koalitionsvertrag schließlich beigefügten Anlage werden mithin detaillierte Vorschläge unterbreitet, von denen im weiteren Verfahren nur in Einzelfällen abgewichen wurde. Bestätigt wurde dieses Vorgehen auf einer gemeinsamen Konferenz der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten am 14. Dezember 2005. Nach abschließenden Beratungen im Bundeskabi3 Die von der Kommission empfohlene Schuldenbremse sowie eine Reihe weiterer Änderungen wurden inzwischen in das Grundgesetz aufgenommen; eine verfassungsrechtliche Prüfung der Schuldenbremse steht noch aus.
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nett wurde am 10. März 2006 das formelle Gesetzgebungsverfahren eröffnet. In einer zusammen von Bundesrat und Bundestag durchgeführten Anhörung des Gesetzespakets im Rechtsausschuss des Bundestages (März/April 2006) wurden die Änderungen des Grundgesetzes sowie das dazu gehörige Begleitgesetz schließlich am 30. Juni 2006 im Bundestag und am 7. Juli 2006 im Bundesrat verabschiedet, wobei 20 Abgeordnete der Regierungskoalition sowie die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein dem Gesetzespaket die Zustimmung versagten.
2.1 Die Inhalte Wie erwähnt, wurden mit der Föderalismusreform, der „Mutter aller Reformen“ (Edmund Stoiber), mehrere Ziele verfolgt. So sollte mit der Reform die „Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern [verbessert], die politischen Verantwortlichkeiten [sollten] deutlicher [zugeordnet] sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung [sollte gesteigert]“ werden (BT-Drs. 16/813: 7). Erreicht werden sollte dies, indem „demokratie- und effizienzhinderliche Verflechtungen zwischen Bund und Ländern abgebaut“ sowie die „föderalen Elemente der Solidarität und der Kooperation einerseits und des Wettbewerbs andererseits“ neu ausbalanciert werden. Aus dieser Zielbeschreibung lässt sich ohne Weiteres auf die dem Reformvorhaben unterlegte Problemdiagnose schließen: Danach habe die bundesstaatliche Ordnung zu „langwierigen und komplizierten Entscheidungsprozesse[n]“ geführt, eine „übermäßige institutionelle Verflechtung“ hervorgerufen, die „Gesetzgebungsbefugnisse der Länder im Laufe der Zeit immer weiter zurückgedrängt“ und schließlich den Anteil zustimmungspflichtiger Gesetze über die Maßen erhöht (BTDrs. 16/813: 7). Nach verbreiteter Auffassung schränk(t)en unitarischer Bundesstaat und Beteiligungsföderalismus die Kompetenzen der Gesetzgeber in Bund und Ländern beträchtlich ein und zwar aus drei Gründen: Erstens habe sich – bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen – der Bundesrat zum „Widerlager“ der gewählten politischen Mehrheit im Bundestag entwickelt. Damit werde nicht nur der politische Mehrheitswille, wie er in Wahlen zum Ausdruck kommt, unterlaufen, sondern die Exekutive der Länder, die allein im Bundesrat vertreten ist, gewinne einen ihr nicht zustehenden Einfluss auf legislative Entscheidungen (Lehmbruch 2000: 77; Böckenförde 1999: 186). Zum zweiten wird angeführt, dass die Unitarisierung des Bundesstaates (insbesondere im Bereich der Gemeinschaftsaufgaben) zur Politikverflechtung und zu einem kooperativen Föderalismus geführt habe, in dem – erneut – die Exekutive dominiere und Parlamente zu bloßen Ratifikationsinstanzen degradiert worden seien. Beschlüsse der Parlamente in Bund und Ländern sind danach zumeist bloße Notifikationen von Entscheidungen, die Regierungen anderswo gefällt haben (Scharpf 1976; Hesse/Ellwein 1992: 288-290). Schließlich wird angenommen, dass den Ländern sukzessive die meisten, wenn nicht alle substanziellen Gestaltungsbereiche entzogen wurden und damit Landesparlamente als Gesetzgebungsorgane nahezu bedeutungslos geworden sind. All diese Effekte werden auf die Funktionsweise von kooperativem Föderalismus und Politikverflechtung zurückgeführt. „Das föderative Verbundsystem und die Politikverflechtung, die der kooperative Föderalismus hervorbringt, bewirken nicht nur eine Komplizierung des politischen Entscheidungsprozesses und die Tendenz zur Einigung auf den ‚kleinsten gemeinsamen Nenner’, sondern ebenso eine
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Werner Reutter Tendenz zur Entparlamentarisierung, in den Ländern wie im Bund. Das ist der Preis für die oft hervorgehobene Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des kooperativen Föderalismus“ (Böckenförde 1999: 192).
Anders formuliert und nur wenig zugespitzt: Der in Art. 20 Abs. 1 GG postulierte „demokratische Bundesstaat“ ist in der Verfassungswirklichkeit ein „undemokratischer Bundesstaat“ (Reutter 2006b). All dies sollte durch die umfangreichste Verfassungsänderung nach 1949 geändert, zumindest abgemildert werden.
2.2 Reform des Gesetzgebungsverfahrens im Bund4 Im Zentrum der Grundgesetzreform stand die Überlegung, die Zustimmungspflichtigkeit von Gesetzen (und Verwaltungsvorschriften) aufgrund von Art. 84 Abs. 1 GG (alt) zu reduzieren, um so die Rolle des Bundestages zu stärken. Unterstützt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich diese Norm nach Inkrafttreten des GG 1949 rasch zum „Einfallstor“ (Schneider 1953: 257) für die Zustimmungspflichtigkeit von Gesetzen entwickelt. Denn Art. 84 Abs. 1 GG (alt) legte bis zu seiner Neufassung fest, dass Gesetze, die von den Ländern als „eigene Angelegenheiten“ ausgeführt wurden, der Zustimmung des Bundesrates bedurften, wenn sie Regelungen über Behörden und das Verwaltungsverfahren enthielten. Nach Dästner (2001: 296) löste diese Norm zwischen 1981 und 1999 bei 58,1 Prozent aller Fälle die Zustimmungspflichtigkeit von Gesetzen aus; weitere 28,5 Prozent wurden aufgrund des Art. 105 Abs. 3 GG für zustimmungspflichtig gehalten. Auf ähnlich hohe Werte kommt der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages für die 14. und 15. Wahlperiode: Zwischen 1998 und 2005 ging die Zustimmungspflicht in durchschnittlich 55 Prozent der Fälle auf Art. 84 Abs. 1 GG (alt) zurück (Georgii/Borhanian 2006: 40-41). Die Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG enthält nun drei Möglichkeiten, mit denen sich eine Zustimmungspflicht begründen bzw. vermeiden lässt: Der Bundesgesetzgeber kann, erstens, auf eine Ausgestaltung des Landesverwaltungsverfahrens verzichten und dadurch Gesetze zustimmungsfrei halten – eine auch schon bisher bisweilen angewandte Strategie, die aber wenig praktikabel scheint. Der Bund kann, zweitens, durch Gesetz, das keiner Zustimmung des Bundesrates bedarf, die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren der Länder regeln. Doch können dann die Länder vom Bundesgesetz abweichende Regelungen treffen. In der Möglichkeit zur Abweichungsgesetzgebung liegt die zentrale Neuerung der Novellierung: Landesrecht wird zum ersten Mal Bundesrecht brechen können! Nur ausnahmsweise, wenn ein besonderes Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung besteht, kann der Bund, drittens, das Verwaltungsverfahren normieren, ohne den Ländern Abweichungsmöglichkeiten einzuräumen. Dann ist allerdings wieder die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Es wird noch zu diskutieren sein, ob und inwieweit die angenommenen Änderungen zu einer Reduzierung des Anteils zustimmungspflichtiger Gesetze geführt haben. Doch zuerst zum zweiten Teil der Reform: der Restrukturierung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern.
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Das Weitere lehnt sich an: Reutter 2006a und 2006b.
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2.3 Stärkung des Landesparlamentarismus durch eine neue Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern Ein weiteres Ziel der Reform war, die Exekutivlastigkeit des kooperativen Föderalismus zurückzudrängen, sprich: den Parlamenten wieder zu einer größeren Rolle zu verhelfen. Dafür sollten die föderalen Gesetzgebungskompetenzen klarer zugeordnet und die Rahmengesetzgebung sollte abgeschafft werden. Insbesondere die Landesparlamente sollten somit wieder größeren Einfluss gewinnen. Also auch hier galten Politikverflechtung und Unitarisierung als die Ursache allen Übels, und wie bei der Neufassung des Gesetzgebungsverfahrens im Bund bestimmte die Diagnose die Therapie. Weil Unitarisierung und Verflechtung als Problemursachen identifiziert wurden, schienen Kompetenztrennung und die Rückverlagerung von Zuständigkeiten an die Länder die Lösung. Zuerst zur Diagnose. Wie bei der Bundesgesetzgebung mit der Blockadethese hat sich in politischen Debatten und im politikwissenschaftlichen Schrifttum auch für die Landesgesetzgebung eine dominierende Auffassung durchgesetzt: Zumindest als Legislativorgane scheint Landesparlamenten, so die herrschende Meinung, im politischen System der Bundesrepublik Deutschland keine praktische Bedeutung zuzukommen. Uwe Thaysen, der Landesparlamenten immerhin bescheinigt, im Rahmen des Möglichen „beachtlich[e]“ Leistungen vollbracht zu haben (Thaysen 2005: 67), sieht diese gleichwohl in „einem Überlebenskampf zwischen den Gesetzmäßigkeiten des deutschen Verbundföderalismus und denen des europäischen Staatenverbundes“ (Thaysen 2005: 32). Und für Jürgen Linck (2004: 1231) droht den Bundesländern „aus staatsrechtlicher Sicht die Verödung zu regionalen Verwaltungsprovinzen mit Landtagen als regionalen Vertretungskörperschaften.“ Dass die Landesparlamente scheinbar zu „Schmuddelkindern“ (Hartmann 2003: 173) des deutschen Parlamentarismus geworden sind, wird – im Wesentlichen – auf zwei Ursachen zurückgeführt: Zum einen haben der unitarische Bundesstaat und die daraus resultierenden verhandlungsdemokratischen Zwänge sozusagen einen „legislativen Imperialismus“ des Bundes produziert, dem, so eine der zentralen Thesen, seit 1949 die meisten Gesetzgebungskompetenzen der Länder zum Opfer fielen. Zum anderen führte ein ausgedehntes „System kondominialen Zusammenwirkens zwischen den Exekutiven von Bund und Ländern“ (Böckenförde 1999: 189) zu einer weiteren Schwächung der Landesparlamente. Beides zusammen – legislativer Imperialismus des Bundes und Exekutivlastigkeit des politischen Systems – hat zu einem kontinuierlichen Macht- und Einflussverlust der Landesparlamente geführt. In dieser Perspektive sind Landesparlamente „Opfer“ des kooperativen Föderalismus. Insbesondere der Gesetzgebungsfunktion der Länder wird bescheinigt, „dramatisch“ geschwächt und beschränkt worden zu sein (Gunlicks 2003: 218; Linck 2004; Reutter 2006c). Die genannten Effekte ergeben sich keineswegs ohne Weiteres aus dem Verfassungstext. Im Gegenteil, die Kollisionsnorm des Art. 70 GG postuliert eine grundsätzliche Zuständigkeitsvermutung der Länder bei der Gesetzgebung, es sei denn, das Grundgesetz verleiht dem Bunde ausdrücklich die Gesetzgebungsbefugnis (Enumerationsprinzip). Legislative Kompetenzen können mithin nur durch eine Verfassungsänderung auf den Bund übertragen werden. Politisch bedeutete dies bisher einen doppelten Konsens: Die beiden großen Parteien (SPD und CDU/CSU) mussten der Verfassungsänderung ebenso zustimmen wie die Mehrheit der Länder. Grundsätzlich sollten solche Hürden erschweren, Gesetzgebungskompetenzen von den Ländern auf den Bund zu übertragen. Allerdings hatte, so die gängige Annahme, die Konstruktion dieser Norm gerade gegenteilige Effekte. Sie
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schuf Anreize, Zuständigkeiten des Bundes zu erweitern, weil die verfassungsrechtlichen Regelungen nicht die Länder, sondern die Landesregierungen privilegierten. Die Landesregierungen sind im Bundesrat vertreten, und eine Machterweiterung des Bundes bedeutete mithin mehr Einfluss der Landesregierungen und deren Vertreter im Bund (Grimm 1999: 53; Herzog 1987: 473; König/Bräuninger 2005: 1). Folglich sind es vor allem die Landesparlamente, die als Verlierer in diesem Kompetenzspiel zu gelten haben. Vor diesem Hintergrund scheint die These, die Gesetzgebungskompetenzen der Länder seien „dramatisch” reduziert worden, fast wie eine Untertreibung. Die Geschichte der Verfassungsänderungen seit 1949 scheint die vielfach geäußerten Schlussfolgerungen zu bestätigen (Reutter 2006c: 277-278; Schneider 2002: 118-120). Der Bundesgesetzgeber hat nicht nur alle ursprünglichen Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung mit detaillierten Regelungen ausgefüllt, sondern eine größere Anzahl neuer Materien hinzugefügt.5 So wurde 1971 das Recht, die Besoldung und Versorgung im öffentlichen Dienst zu regeln (Art. 74a), dem Bund übertragen, eine Kompetenz, die 2006 wieder an die Länder zurückgegeben wurde. Die Rahmengesetzgebung des Bundes wurde vor allem 1969 erweitert (Art. 75), wobei die Materien dieser Art der Gesetzgebung vorwiegend Angelegenheiten betrafen, die vor der Aufnahme in das Grundgesetz auf Länderebene behandelt worden waren (z.B. Hochschulwesen, Rechtsverhältnisse der Presse, Jagdwesen, Naturschutz, den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland). Landesparlamenten sind schließlich nur wenige Bereiche (z.B. Landesverfassungsrecht, Polizei- und Ordnungsrecht, Kommunalrecht, Bildung, Medienrecht) zur eigenständigen Gestaltung geblieben (Schneider 2002: 123-125). Die verbreitete Vermutung eines stetigen Machttransfers von den Ländern zum Bund hält allerdings einer genaueren Prüfung kaum stand, weil: (1) der Liste der Gegenstände konkurrierender Gesetzgebung häufig Materien – Stichwort: Atomrecht, künstliche Befruchtung – hinzugefügt wurden, ohne dass die Länder in diesen Bereichen vorher legislativ tätig geworden waren, (2) Landesparlamente auch dann gestaltend wirken konnten, wenn die Gesetzgebungskompetenz beim Bund lag (Kalke 2001), (3) Länder sogar in einigen Bereichen erst auf Grund von Bundesgesetzen legislativ initiativ wurden – Stichwort: Hochschulpolitik, Besoldungs- und Versorgungsrecht (Gremmer 1990: 111) –, und (4) schließlich schon vor 2006 Kompetenzen an die Länder zurückgewandert waren. Doch unbeschadet solcher Befunde, die die verbreitete Vermutung eines stetigen Machttransfers von den Ländern zum Bund zumindest relativieren, sollten mit der Änderung des Grundgesetzes 2006 die genannten Fehlentwicklungen revidiert werden. Die Therapie lautete daher: Abschaffung der Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG (alt), Erweiterung der Liste der Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes und Übertragung von 16 Regelungsmaterien (darunter: Strafvollzug, Teile des Umweltrechts, Laden-
5 Für folgende Materien erhielt der Bund nach 1949 Gesetzgebungskompetenzen: Art. 74: Kriegsgräberfürsorge (Nr. 10a, wurde erweitert), Atomrecht (Nr. 11a), Ausbildungsbeihilfen (Nr. 13), Sicherung der Krankenhäuser und Regelung der Krankenhauspflegesätze (Nr. 19a), Tierschutz (Nr. 20), Gebühren für die Benutzung öffentlicher Straßen (Nr. 22), Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbelästigung (Nr. 24), Staatshaftung (Nr. 25) sowie die künstliche Befruchtung von Menschen, Untersuchung und Veränderung von Erbinformationen sowie Regelungen zur Transplantation von Organen und Geweben (Nr. 26). Hinzu kam Art. 74a (Besoldung und Versorgung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes) sowie die Rahmenkompetenz nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG (Hochschulwesen) (Meyer 1990; Greß/Huth 1998: 124-126; Meyer 2004: 1-3).
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schluss etc.) an die Länder.6 Außerdem wurden die Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes in drei Klassen unterteilt: (1) In zehn Bereichen muss der Bund nach Art. 72 Abs. 2 GG (neu) nachweisen, dass eine Regelung im gesamtstaatlichen Interesse liegt und erforderlich ist zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit, ein nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keineswegs nur noch formales Erfordernis; (2) für die restlichen in Art. 74 GG (neu) genannten Bereiche ist dieser Nachweis entfallen; der Bund kann hier autonom gestalten; (3) schließlich können die Länder nach Art. 72 Abs. 3 GG (neu) in sechs Bereichen, die vormals unter die Rahmengesetzgebung fielen, vom Bund abweichende Regelungen treffen. In der Konsequenz kann dies nur heißen: In diesen Bereichen hat der Bund seine autonome Gestaltungsmacht verloren. In den Anhörungen des Rechtsausschusses des Bundestages wurde zwar kaum gegen die allgemeine Stoßrichtung der Reform – Stärkung der Länderkompetenzen und des Wettbewerbsgedankens im Föderalismus – argumentiert, allerdings wurden massive Bedenken gegen die geplanten Änderungen in der Bildungs-, der Rechts- und der Umweltpolitik vorgetragen. So ist die Hochschulpolitik – einer der Streitpunkte, die zum Scheitern der Bundesstaatskommission geführt hatten – inzwischen nahezu vollständig Ländersache. Zwar kann der Bund nach Art. 74 Nr. 33 GG weiterhin Regelungen treffen zur Hochschulzulassung und zu Hochschulabschlüssen, doch können die Länder nach Art. 72 Abs. 3 Nr. 6 GG abweichende Regelungen treffen. Der Bund hat somit kaum noch eigenständige Gestaltungsmacht in diesem Politikbereich und kann bestenfalls noch Politiken der Länder koordinieren bzw. über Sonderprogramme (wie im Rahmen der Exzellenzinitiative) steuern, ist aber auch hier von der Zustimmung der Länder abhängig. Der nahezu vollständige Rückzug des Bundes aus der Hochschulpolitik war denn auch der zentrale Kritikpunkt, der im Rahmen der Anhörungen des Rechtsausschusses des Bundestages vorgebracht wurde. Dennoch wurde an den einmal vorgeschlagenen Änderungen festgehalten, lediglich eine mögliche Beteiligung des Bundes an der Förderung von Forschungsbauten an Hochschulen einschließlich Großgeräten (Art. 91b Abs. 1 Nr. 3 GG) wurde von der Klausel befreit, dass einer solchen Beteiligung alle Länder zustimmen müssen (Sandberger 2008).7 Zu einer ähnlich scharfen Kritik kamen die Experten im Hinblick auf das Umwelt- und das Strafvollzugsrecht, beides Kompetenzbereiche, die an die Länder übergingen. Dem Bund steht beim Umweltrecht – wie in der Hochschulpolitik – zwar weiterhin das Recht zur konkurrierenden Gesetzgebung zu, doch wieder können die Länder abweichende Regelungen treffen. Ob dies, wie von vielen Experten und Umweltverbänden befürchtet, zu einem race to the bottom führt, zu einer Harmonisierungsspirale nach unten, ist allerdings noch 6 Folgende Materien wurden an die Länder übertragen: Art. 74 Abs. 1: Strafvollzug (Nr. 1), Notariat (Nr. 1), Versammlungsrecht (Nr. 3), Heimrecht (Nr. 7), Ladenschlussrecht (Nr. 11), Gaststättenrecht (Nr. 11), Spielhallen etc. (Nr. 11), Messen, Ausstellungen etc. (Nr. 11), Teile des Wohnungswesens (Nr. 18), landwirtschaftlicher Grundstücksverkehr (Nr. 18), landwirtschaftliches Pachtwesen, Wohnungswesen, Siedlungs- und Heimstättenwesen (Nr. 18), Sport- und Freizeitwesen und sogenannter sozialer Lärm (Nr. 24); hinzu kommen: Besoldung und Versorgung von Landesbeamten (Art. 74a, Art. 75 Abs. 1 Nr. 1, Art. 98 Abs. 3 Satz 2), die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse (Art. 75 Abs. 1, Satz 1, Nr. 2). In den Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes werden verlagert: Waffen- und Sprengstoffrecht (Nr. 4a), Versorgung der Kriegsbeschädigten etc. (Nr. 10), Atomrecht (Nr. 11a), Melde- und Ausweiswesen (Art. 75 Abs. 1 Nr. 5), Schutz deutschen Kulturgutes (Art. 75 Abs. 1 Nr. 5). 7 Allerdings plant die Bundesregierung im Rahmen des sogenannten „Bildungsgipfels“ gegenwärtig einige weitreichende Änderungen; so wird über die Gründung einer „Bildungsstiftung“ nachgedacht, mit der ein Wettbewerb um die beste Schule ausgelobt werden könnte (TAZ: 15. 09.2008: 7).
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keineswegs ausgemacht, weil die wichtigsten umweltrechtlichen Regelungen und Normen inzwischen von der EU verabschiedet werden, was einer Zersplitterung Grenzen setzt. Auf totale Verständnislosigkeit stieß hingegen die Regelung, den Strafvollzug durch die Länder gestalten zu lassen, während das Strafrecht weiterhin dem Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung zusteht. Erste Analysen zeigen, dass die Reform der Auffassung, der billigste Strafvollzug sei der beste, weiteren Vorschub geleistet hat. Zugleich scheinen „Rechtszersplitterung“ und „Ungleichheiten beim Vollzug der Freiheitsstrafe“ zwischen den Ländern bewusst in Kauf genommene Kollateralschäden der Föderalismusreform I (Kinzig/Steinhüber 2008: 203). 3
Die Föderalismusreform – eine erste Zwischenbilanz
Die Frage, ob und inwieweit die Ziele der Reform erreicht wurden, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten. Kritisiert wurde sowohl die generelle Stoßrichtung der Reform als auch einzelne Teile. So wurde argumentiert, dass die Idee der Entflechtung die bestehenden funktionalen Abhängigkeiten zwischen Bund und Ländern übersieht und dass dem Bund in vielen Bereichen die Möglichkeit zur politischen Gestaltung entzogen wurde. Auch wurde bezweifelt, dass der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze mit den beschlossenen Maßnahmen in dem angestrebten Ausmaße reduziert werden könnte. Und schließlich fand, wie erwähnt, die Verlagerung von Kompetenzen in diversen Politikfeldern massive Einwände (Scharpf 2006a, 2006b; Münch 2006; Benz 2005; Reutter 2006a, 2006b). Für eine umfassende Bewertung der Reform scheint es allerdings noch zu früh. Immerhin lässt sich die Stichhaltigkeit der der Reform unterlegten Diagnose diskutieren: „Soweit überhaupt über Prinzipien der Reform geredet wurde, stand die Arbeit der Föderalismuskommission unter einer einfachen Maxime: Wenn Politikverflechtung das Problem war, so musste die klare Trennung der Kompetenzen des Bundes und der Länder die Lösung sein“ (Scharpf 2006b: 6).8 Deswegen sollte der Beteiligungsföderalismus reduziert werden, sprich: die Anzahl der eine Zustimmungspflicht auslösenden Tatbestände sollte verringert werden, die Länder sollten wieder mehr Zuständigkeiten erhalten und die Kompetenzen im Bund sollten eindeutiger geschieden werden.9 Wie erwähnt beruht diese Diagnose auf einer verkürzten Analyse und zwar in einer doppelten Hinsicht. Einerseits überschätzt sie die Rolle des Bundesrates, weil zwischen 1949 und 2005 lediglich 171 Gesetze an einer fehlenden Zustimmung der Länderkammer scheiterten, der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze bereits in der 15. Wahlperiode (2002-2005) auf unterdurchschnittliche 50,9 Prozent gefallen war und sich in der Verflechtung zumindest auch funktionale Abhängigkeiten zwischen Bund und Ländern widerspiegeln. Anders gesagt: Es gibt viele gute Gründe dafür, dass die an Politikformulierung und –ausführung beteiligten Länder und Landesregierungen sich im Prozess der Entscheidungsfindung koordinieren. Auch die Vermutung, dass die Bundesrepublik im Kern lediglich „verkappter Einheitsstaat” (Abromeit 1992) sei und Landesparlamente über keine relevanten legislativen Kompetenzen mehr verfügten, scheint überzogen, wenn man die Anzahl der pro Legislatur8 Das Zitat bezieht sich auf die Bundesstaatskommission, an der Scharpf als Sachverständiger teilgenommen hatte, doch gilt es ebenso für das verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren von 2006. 9 Zu erwähnen ist außerdem, dass nach dem novellierten Art. 104a Abs. 4 GG Gesetze, die Ländern Leistungspflichten auferlegen, der Zustimmung des Bundesrates bedürfen (BT-Drs. 16/813: 4, 18-20).
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periode verabschiedeten Gesetze in den Ländern betrachtet. Entgegen einem allgemein behaupteten Rückgang zeigt die genauere Analyse über die Jahrzehnte einen zyklischen Verlauf bei der Anzahl der verabschiedeten Landesgesetze, seit Beginn der 1990er Jahre lässt sich sogar von einer Renaissance sprechen (Reutter 2008: 238-240). Zudem kann eine Reform des Grundgesetzes die Stellung von Landesparlamenten nicht unmittelbar beeinflussen. Nach Art. 28 GG müssen die verfassungsmäßigen Ordnungen der Länder zwar den Grundsätzen des „republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats“ entsprechen, doch gewährt das Demokratieprinzip den Ländern in diesem Bereich eine größere Gestaltungsoffenheit als die anderen ordnungspolitischen Strukturvorgaben dieser Grundgesetznorm. Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen den Landesverfassungen und Grundgesetz durchaus beachtlich: So existiert in allen Ländern die Möglichkeit zur Volksgesetzgebung, alle Landesparlamente haben das Recht, sich aufzulösen, und in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland kann der Regierungschef per einfachem Misstrauensvotum abgewählt werden. Das sind – im Vergleich zum Bund – durchaus relevante Differenzen, die von der Reform des Grundgesetz unberührt bleiben müssen, weil sie in die Kompetenz der Landesverfassungsgeber fallen. Damit stellt sich jedoch erneut die Frage, welche Folgen die Föderalismusreform für den Landesparlamentarismus zeitigen kann und ob die angestrebte Aufwertung der Landtage der Flächenländer, der Bürgerschaften in Bremen und Hamburg und des Abgeordnetenhauses Berlin sich mit der (Rück-)Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen realisieren lässt. Untersucht man schließlich die ersten Auswirkungen der Reform, kommt man ebenfalls zu uneindeutigen Befunden. So lässt sich schon die Frage, inwieweit sich der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze verringert hat – eines der zentralen Anliegen der Reform –, nicht eindeutig beantworten, auch wenn „inzwischen offenbar deutlich weniger als die Hälfte aller Bundesgesetze noch die Zustimmung des Bundesrates“ brauchen (Zohlnhöfer 2008: 417). Nach Horst Risse (2007: 709) waren lediglich 42,7 Prozent der zwischen September 2006 und September 2007 behandelten Gesetzesvorlagen zustimmungspflichtig, was im Vergleich mit der Periode von Beginn der 16. Wahlperiode bis zum Inkrafttreten der Föderalismusreform immerhin einen Rückgang um 14,1 Prozentpunkte – d.h. von 56,8 auf 42,7 Prozent – bedeuten würde. Dagegen hat die Reform nach Marcus Höreth (2007: 727) den Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze von 50 Prozent auf lediglich 47,4 Prozent verringert, also um lediglich 2,6 Prozentpunkte. Schließlich berichtet die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Große Anfrage der FDP-Fraktion, dass der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze zwischen September 2006 und August 2007 auf 44,2 Prozent zurückgegangen sei; ohne die Reform hätte der Anteil bei 59,2 Prozent gelegen (BTDrs. 16/8688: 42). Diese Unterschiede gehen auf divergierende Erhebungszeiträume und Lücken in der Datenbasis zurück. Vor ähnliche Probleme ist man gestellt, wenn man untersucht, welche Folgen die neu gestaltete Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern gezeitigt hat: Ob sie die kompetitiven Elemente im kooperativen Föderalismus gestärkt und den Landesparlamentarismus aufgewertet hat? Zweifellos wurde etwa im Bereich der Hochschulpolitik der Wettbewerb intensiviert – allerdings hatten die Länder in diesem Politikfeld auch schon vor der Reform weitgehende Gestaltungsmacht, wie das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen bestätigt hat. Der Bund konnte und kann hier also lediglich Politiken der Länder koordinieren. Gleichzeitig hat der Bund den Wettbewerb zwischen den Hochschulen mit seiner Exzellenzinitiative forciert, wobei insbesondere die ostdeutschen Länder das
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Nachsehen hatten. Die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse” ist auf dieser verfassungsrechtlichen Basis durch den Bund nicht mehr zu garantieren. Allerdings: Gegenwärtig versucht die Bundesregierung, mit einem Bildungsgipfel und mit einem für ostdeutsche Hochschulen aufgelegten Sonderprogramm Fehlentwicklungen zu korrigieren und die Länder auf eine bestimmte einheitliche Politik zu verpflichten. Etwas anders verlief die Debatte um den Nichtraucherschutz. Wurden zuerst für alle Länder einheitliche Regelungen angestrebt, die allerdings weder notwendig noch sinnvoll scheinen, verfolgen die sozialdemokratisch und christdemokratisch geführten Länder inzwischen offenbar jeweils unterschiedliche Strategien. Jedenfalls ist eine bundeseinheitliche Koordination gescheitert. Betrachtet man abschließend Vorgeschichte, Verlauf und Ergebnis der Föderalismusreform, könnte man durchaus zu der Schlussfolgerung gelangen, dass der „Grand Coalition State” nicht hinreichend war, um die angestrebte Föderalismusreform durchzusetzen. Erst die Große Koalition war dazu in der Lage. Dies hing ohne Zweifel damit zusammen, dass die Reform aufgrund ihres Umfanges und ihres Inhaltes einen außerordentlich hohen Konsensbedarf aufwies und die Parteien nicht in der Lage waren, diesen Bedarf zu befriedigen. Aus dem oben nur stichwortartig skizzierten Entscheidungsprozess ergibt sich mithin ein Zweifaches. Erstens beruhte die Entscheidung auf einem doppelten außerparlamentarischen Konsens: parteipolitisch auf der Koalitionsvereinbarung, bundesstaatlich auf der Zustimmung der Ministerpräsidenten. Ein solcher Konsens war ohne eine Große Koalition nicht herzustellen. Dafür war das Reformpaket zu umfassend. Das Scheitern der Bundesstaatskommission geht dabei auf den Umstand zurück, dass der Parteienwettbewerb eine Einigung im auf Kompromiss angelegten bundesstaatlichen Entscheidungsprozess unmöglich machte. Insbesondere die von Roland Koch geführte hessische Landesregierung verweigerte der rot-grünen Bundesregierung einen entsprechenden Erfolg. Mit der Großen Koalition wurde die Parteienkonkurrenz teilweise stillgelegt, der Einigungsdruck gesteigert und die Kosten bei einem Scheitern der Reform für alle beteiligten Parteien erhöht. Darin liegt denn auch ein zentraler Unterschied einer Großen Koalition als Regierungsformat und des von Schmidt und anderen skizzierten „Grand Coalition State”. Zweitens, der Entscheidungsund Willensbildungsprozess gründet auf der Kombination von formellen und informellen Mechanismen. Außerparlamentarische Absprachen in Koalitionsverhandlungen sowie zwischen Bundesregierung und Landesregierungen waren Voraussetzung dafür, dass das Gesetzgebungsverfahren in relativ kurzer Zeit und mit dem gewünschten Ergebnis durchgeführt werden konnte. Allerdings resultierten aus der informellen Entscheidungsvorbereitung inhaltliche Festlegungen, die im parlamentarischen Verfahren nur noch schwer, jedenfalls nicht mehr grundsätzlich zu ändern waren. Dies wiederum bedeutet keineswegs, dass Politik aus den Institutionen des politischen Systems auswanderte. Eine solche Interpretation verkennt, dass in den Koalitionsverhandlungen wichtige Repräsentanten der Fraktionen beteiligt waren, ganz abgesehen davon, dass auch in der Bundesstaatskommission Vertreter der Fraktionen involviert waren. Insgesamt zeigen die Analyse der Föderalismusreform und deren Vergleich mit der gescheiterten Bundesstaatskommission, dass die Voraussetzungen des „Grand Coalition State“ zu erodieren scheinen. Die Kooperationszwänge mussten jedenfalls bei der Föderalismusreform durch eine „Große Koalition“ unterfüttert werden. Erst damit war es möglich, den Kooperationszwang in einen entscheidungsrelevanten Konsens zu überführen und den Kompromiss herzustellen, der notwendig war. Vieles – vor allem der intensivierte Partei-
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Karl-Rudolf Korte
Präsidentielles Zaudern Der Regierungsstil von Angela Merkel in der Großen Koalition 2005-2009 Präsidentielles Zaudern
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Zum Stil-Typus: Beobachtungen und Wahrnehmungen1
Alle neuen Bundeskanzler sahen sich in einer verantwortlichen Kontinuität der Politik des Vorgängers. Für Angela Merkel markierte diese Erkenntnis 2005 ihren geringen Handlungsspielraum. Faktische Politikwechsel waren in unserer auf Konsens und Stabilität ausgerichteten Innenpolitik immer langfristig angelegt. Abrupter ging es, im Gegensatz zur materiellen Politik, immer im Bereich der Darstellungspolitik zu. Der Stilwechsel in der Politikgestaltung gehörte für jeden neuen Bundeskanzler essentiell mit zur Startphase einer Bundesregierung. Insofern ist die von Merkel vorgestellte Inszenierung der Nichtinszenierung von neuer Sachlichkeit und Nüchternheit fester Bestandteil von Regierungswechseln. Wie lange diese Darstellungsarmut allerdings von positiven Schlagzeilen begleitet wird, hängt von den sichtbaren Politikergebnissen ab, die sich im Umfeld der Finanzkrise täglich veränderten. Statt rot-grüner Kraftmeierei erleben wir seit Beginn der Großen Koalition nunmehr Armutsästhetik. Sachlich, zurückhaltend, bescheiden – das ist das Markenzeichen der neuen Bundesregierung seit 2005. Eine Aura der Solidität durchströmte die Startphase, die sich in der gesamten Ruhigkeit von dem moralisch überhöhten Start von Rot-Grün 1998 fundamental abhob. Nicht ein Projekt wird gestartet, sondern mühsames Patchwork. Die Nüchternheit der Bühnendarstellung bleibt in Erinnerung, nicht der szenische Kraftakt. Doch der Charme der Patchwork-Politik ist begrenzt. Er holt die Regierung wieder sichtbar ein, als die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 ein Entscheiden über den Tag hinaus faktisch unmöglich macht. Hinter dieser neuen Berliner Armutsästhetik verbirgt sich graduell ein protestantisches Politikverständnis der Kanzlerin (Resing 2009). Das selbstlose Dienen zieht sich leitmotivisch durch ihre Reden. Sie gibt sich provozierend unpathetisch und manchmal bis zur Schmerzgrenze ernüchternd. Merkel verzichtet bislang auf alle Gebaren der Macht und erweiterte heroische Gesten. So passte es auch ins Bild, dass sich die neue Bundesregierung am Bauzaun von Schloss Charlottenburg vorbei vom Bundespräsidenten die Ernennungsurkunden abholen musste. Im protestantischen Duktus zählen nur Worte und Werke. Aus dem protestantischen Tugendkanon spricht zudem der Dauerappell der Kanzlerin, den wirtschaftlichen Erfolg aus Tugenden herzuleiten: Was kann ich selber tun? Dieses protestantische Stilmuster konnte für die katholisch geprägte Kohl-CDU auf der Leitungsebene nie mehrheitsfähig werden. Insofern transportiert die Kanzlerin auch eine neue Union. Erstmals ist praktisch die gesamte Führungsspitze protestantisch, nicht katholisch. 1
Dieser Beitrag wurde vor der Bundestagswahl 2009 abgeschlossen.
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Unser Blickwinkel auf Merkel verändert sich rasant. Mit jeder neuen Karrierestufe betrachten wir die Person Angela Merkel mit modifizierter Aufmerksamkeit und unerwarteter Neugierde. Das eigene Zutun – neues Outfit, gelernte Gesten – zu dieser angeblichen Veränderungsdynamik ist zumeist minimal. Vielmehr suchen wir uns als Betrachter stets einen neuen Blickwinkel auf die gleiche unveränderte Person im Rampenlicht der Macht. Die bebilderte Wechselhaftigkeit ist bei einer Person mit der Biographie von Angela Merkel geradezu vorprogrammiert. Denn wir wissen nur ausschnitthaft etwas über sie. Sie hat es bislang geschafft, die Deutungsmacht über ihr Leben zu behalten. „Sphinxhaft“ bleibt die stets verdachtsbestimmte Wahrnehmung der Angela Merkel in Westdeutschland (Langguth 2009). Wir haben ein Bild von erfolgreichen Naturwissenschaftlern, das wir gerne auch auf Merkel projizieren: Streng diszipliniert, selbstverliebt in die Versuchsanordnung, alles im Umfeld vergessend. Gleichzeitig bleibt der Eindruck von gelernten Mechanismen der Entscheidungsfindung, die naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungen folgen: Versuch plus Irrtum. Das funktioniert auf der einen Seite transparent und höchst funktional, aber ohne strategisches Zentrum. Auf der anderen Seite arbeitet dieses System zielstrebig mit dem Charme unverdächtiger Harmlosigkeit, wenn es darum geht, von der einen auf die andere Minute neue Handlungskorridore auszuloten und politische Optionen blitzschnell zu nutzen. Das führt zu immer neuen Überraschungssiegen von Merkel, gerade dann, wenn ihre Gegner sie für längst geschlagen halten. Als Meisterin des Abwartens und des politischen Timings bedient sie mühelos die vielfältigen Instrumente des Regierens als Tagesintegrationsweltmeisterin. Doch ein inhaltlicher Kompass, ein schlüssiger Begründungszusammenhang, eine große Erzählung entsteht bislang nicht daraus. Was will sie mit ihrer Person als Prägestempel hinterlassen? Zudem kann man eine große, verlässliche Gefolgschaft mit Überraschungstechniken nicht sammeln. So ist Merkel die erste Kanzlerin, die ohne eigene Hausmacht, ohne eigenen großen parteipolitischen Landesverband regiert. Ob ihr diese damit einhergehende Unabhängigkeit nutzt oder eher schadet, werden die nächsten Monate zeigen. Sicher ist nur, dass sich ihr Bild in der Öffentlichkeit weiter wandeln wird, völlig unabhängig davon, ob sie dies aktiv betreiben wollte. Solche Wahrnehmungsveränderungen sind zudem immer geschlechtsneutral. Als präsidiale Vermittlerin kann sie unter den Bedingungen einer Großen Koalition nicht kraftvoll führen, selbst wenn sie es wollte. Ausgleichen, lavieren, taktieren, schlichten und moderieren gehören zum Entscheidungsstil einer Kanzlerin der Großen Koalition. Als personalisierter Vermittlungsausschuss verkommt der ehemalige Chefsachen- zum MedienMythos. Umso wichtiger wäre zu wissen, was sie wollte, wenn sie nur könnte. Ist es die Rückkehr zur Radikal-Rhetorik des Reformfurors begleitet vom Mobilisierungsstil einer eiskalten Polarexpedition? Oder folgt Merkel der Einsicht, dass Modernisierungsprozesse zuallererst kulturelle Veränderungen und nicht ökonomische Projekte sind (u.a.: Delhees et al 2008)? 2
Zum Politikmanagement und den Arenen des Regierens
Um solche Einordnungen und Beobachtungen in einen systematischen wissenschaftlichen Kontext von Politikmanagement zu stellen, sollen anschließend zentrale Instrumente des
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Karl-Rudolf Korte
Regierungshandelns erörtert werden. Dabei werden diese Instrumente fallbeispielhaft auf die Regierungszeit Merkel bezogen. Die Prämissen dieses Ansatzes lauten: 1. Das strategische Handlungsvermögen des individuellen Akteurs in einer Regierung (Spitzenakteur) ist abhängig von den Strukturmerkmalen des Regierens: Verhandelnde Wettbewerbsdemokratie, Kanzlerdemokratie, Parteiendemokratie, Koalitionsdemokratie, Mediendemokratie (Korte/Fröhlich 2009c: 73-75). Erfolgreiche Strategien beginnen mit der politischen Lageeinschätzung, die wiederum durch Machtmakler-Gemeinschaften bedingt ist. In der notwendigen Verbindung von Sach- und Machtfragen nutzt der Akteur ein Repertoire an Instrumenten (Ressourcen und Restriktionen), die seinen Handlungskorridor offen halten bzw. erweitern können. Diese Instrumente folgen der Logik der öffentlichen oder der parlamentarischen oder der verhandlungsdemokratischen Arena. Zu einer erfolgreichen Strategie eines individuellen Akteurs gehört die spielerische Kopplung dieser Arenen. 2. Das Politikmanagement verbindet die Steuerbarkeit des politischen Systems mit der Steuerungsfähigkeit der politischen Akteure (Korte/Fröhlich 2009c: 175-176). Regierungssteuerung kann nur funktionieren, wenn der Kanzler unterschiedliche Rollenprofile aktiviert, somit eine Mischung aus Hierarchie und Verhandlung zum Politikmanagement einsetzt. 3. Um das Räderwerk der Politik in Schwung zu halten, muss jede Regierung beachten, dass sie je nach Lageeinschätzung höchst unterschiedliche Steuerungsmechanismen aktiviert. Wie sich die Regierungssteuerung konkret gestalten kann, ist auch davon abhängig, in welcher Arena sie sich abspielt. Drei Arenen sind dabei grundsätzlich zu unterscheiden: Die parlamentarische, die administrative und die öffentliche Arena (Kriesi 2001: 3-10, Rucht 1988: 322; Korte/Fröhlich 2009c: 230-233). Alle drei Arenen verfügen über ausdifferenzierte Handlungsebenen mit eigenen Handlungslogiken und Handlungsanforderungen, unterschiedlichen Reichweiten, Grenzen und verschiedenen Beteiligungschancen der Bürger: Die Parteiendemokratie (darunter könnte man aus steuerungstechnischer Sicht die Kanzlerdemokratie und die Koalitionsdemokratie subsumieren), die Verhandlungsdemokratie sowie die Mediendemokratie. Die Grundthese ist, dass sich diese drei Handlungsebenen des Regierens im Zuge der Professionalisierung von Politik in den letzten Jahrzehnten zunehmend ausdifferenziert haben (Grande 2000, Marcinkowski 2002). Dadurch ist das Prinzip der repräsentativen Demokratie belastet worden. Denn die Herstellung und Legitimation verbindlicher kollektiver Entscheidungen ist aus der dafür vorgesehenen parlamentarischen Arena ausgewandert: durch Überlagerung, Ergänzung, Erweiterung von Regelsystemen der repräsentativen Demokratie (Bergedorfer Gesprächskreis 2001). 1. Die Ebene der Parteiendemokratie: Multi-Options-Pragmatiker Bei der Ebene der Parteiendemokratie folgt das politische Steuern den Mehrheitsregeln des Parlamentarismus. Kurzfristige Kalküle dominieren im Dauerwahlkampf. Alle Zuordnungen bei Sachfragen, alle Lösungsoptionen orientieren sich primär am Dualismus Regierung vs. Opposition. Entschieden wird nicht primär nach dem Gesichtspunkt optimaler Problemlösung, sondern nach machtpolitischen, mehrheits- und die Wiederwahl sichernden Aspek-
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ten. Die parlamentarische Arena bildet zusammen mit der administrativen Arena den Ort, wo sich die politischen Verhandlungsprozesse abspielen. Hier werden die allgemein verbindlichen politischen Entscheidungen gefällt. Als Regierungsstil kristallisiert sich auf dieser Ebene der Multi-Options-Pragmatiker heraus. 2. Die Ebene der Verhandlungsdemokratie: Umarmungskünstler Bei der Ebene der Verhandlungsdemokratie entscheidet der Konsens das institutionelle Arrangement. Wesentliche Entscheidungen werden nicht mit Stimmenmehrheit, sondern auf dem Wege von Aushandlungsprozessen getroffen. Sieger und Besiegte sind nicht wie auf der Ebene des Parteienwettbewerbs erkennbar. Im Gegenteil: Der Parteienwettbewerb wird durch konsensdemokratische („gütliches Einvernehmen“) und konkordanzdemokratische Arrangements überlagert. Die Steuerung ist nicht-hierarchisch, nicht-majoritär. Die freiwillige Einigung charakterisiert das Ergebnis. Der Anteil der Akteure an den Details des geschnürten Verhandlungspakets bleibt gezielt geheim, sie verfügen über eine Abschlussvollmacht. Blockierende Verflechtungsfallen können dennoch ebenso drohen wie Konsensfallen, in welche die jeweilige Opposition geraten kann. Bei der administrativen Arena spielen zusätzlich zu den Parteivertretern die Interessengruppen und die Vertreter der bürokratischen Verwaltungssteuerung eine wichtige Rolle. Als Regierungsstil bietet sich auf dieser Ebene der Typus des Umarmungskünstlers an, dem am Ende keiner widerstehen kann. 3. Die Ebene der Mediendemokratie: Tageskanzlertum Auf der Ebene der Mediendemokratie ist die politische Entscheidung an den Erfolgsbedingungen der medialen Öffentlichkeit zu orientieren. Aufmerksamkeit entscheidet, weniger die sachliche Notwendigkeit. Die Zustimmung zu den politischen Akteuren und den von ihnen vertretenen Positionen ist wichtiger als die Lösung von Problemen. Medienadressierte Personalisierung (Darstellungspolitik) ist wichtig, nicht das verschwiegene Aushandeln in der Verhandlungsdemokratie. Die Steuerung läuft über die Beeinflussung und Aktivierung von Stimmungen, nicht über Hierarchie, Mehrheit, Konsens. In dieser Arena findet primär die politische Kommunikation zwischen den politischen Akteuren und den Bürgern statt (Neidhardt 1995). Die politische Kommunikation und die politische Mobilisierung in der öffentlichen Arena ist zur Erlangung von Zustimmung des Publikums für alle Beteiligten eine entscheidende Voraussetzung zur Durchsetzung ihrer politischen Anliegen. Als Regierungsstil bietet sich auf dieser Ebene das auf daytrading ausgerichtete Tageskanzlertum an. Man erkennt, dass die Handlungsbedingungen und Funktionslogiken auf allen drei Ebenen sehr unterschiedlich sind. Inkompatibilität charakterisiert die drei Ebenen. Die Politik steckt offenbar in einem „Steuerungstrilemma“ (Korte/Fröhlich 2009c: 174): Was sich in der einen Arena als Erfolgsrezept herausbildet, ist schädlich für die Entscheidungsfindung in der anderen Arena.
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Karl-Rudolf Korte Handlungskorridore und Instrumente des Regierens in einer Großen Koalition
Die Große Koalition gehört zu einer Sonderform des Regierens in parlamentarischen Demokratien. Für Lijphart ist es ein unusual cabinet mit den Merkmalen einer minimal winning coalition und einer oversized coalition (Lijphart 1999). Strategisch haben sich faktisch die beiden Wahlverlierer der Bundestagswahl von 2005 – Union und SPD – zusammengeschlossen, um in einem changierenden Fünfparteiensystem mehrheitsfähig zu werden: Eine Allianz der Geschwächten (Lohse/Wehner 2009). Diese Koalition hatte kein inhaltliches Mandat vom Wähler. Die Angst vor Neuwahlen schweißte die drei Partner zusammen. Die Bürger hatten weder rot-grün noch schwarz-gelb für überzeugend empfunden. Aus der mathematischen Notwendigkeit einer Großen Koalition erwuchsen kein Politik-Projekt und keine Legitimation des Aufbruchs. So musste Angela Merkel schon vor Bildung der Großen Koalition ertragen, dass dieses Format einer Regierung nur ohne Richtlinienkompetenz funktionieren kann. Wenn zwei praktisch gleich starke und gleich große konträre Wettbewerber eine strategische Allianz auf Zeit eingehen, setzt das spezifische Führungsbedingungen voraus. Die Arbeit musste anfänglich in einem verdachtsbestimmten Klima erfolgen. Die Strukturmerkmale des Regierens sind dann in einem besonders fragilen Zustand – mit einer Ausnahme: die Ebene der verhandelnden Wettbewerbsdemokratie. Bei diesem Strukturmerkmal verfügte die Großen Koalition bis Mai 2007 im Bundesrat sogar über eine Zweidrittel-Mehrheit, was die Durchsetzung zustimmungspflichtiger Bundesgesetze mit doppelten Mehrheiten erleichterte. Bis zum Ende der Legislaturperiode hatte die Große Koalition allerdings ihre große Mehrheit im Bundesrat verloren und war auf die Unterstützung durch die Stimmen der FDP-Koalitionsregierungen bzw. auf die grüne Landesregierung in Hamburg angewiesen. Grundsätzlich ist die Kanzlerin in einer Großen Koalition zum präsidentiellen Zaudern verdammt (Korte 2009a). Jedes Politikfeld ist praktisch gleichstark und medienvermittelt auch gleich prominent durch den Koalitionspartner besetzt. Jede interessengeleitete Mehrheitsfindung wird dadurch systematisch erschwert. Mehrheitsfindungen können nur durch Dissens-Management erfolgen (Thaysen 2006: 599). Um solche Fragen nach dem spezifischen Führungspotential der Kanzlerin auszuloten, ist es hilfreich, an spezifische Zugänge der Entscheidungsanalyse zu erinnern, die den jeweiligen Handlungskorridor des Regierungschefs stärker berücksichtigen, sozusagen einen „Kanzlerzugang“ zur Steuerungsproblematik. Denn möglicherweise bedarf es im verhandelnden Staat um so mehr mächtiger Zentralinstanzen, als sie allein in der Lage sind, die konsensdemokratische Pluralität und Fragmentierung zu bündeln und einer Entscheidung zuzuführen. Deshalb lautet die Leitfrage: Durch welche Instrumente versuchte sich Merkel die Handlungskorridore des Regierens offen zu halten? Hierzu sollen kurz einige Einordnungen erfolgen.
3.1 Gespielte Kohärenz Alle acht deutschen Bundeskanzler lassen sich situationsspezifisch als Pragmatiker des Augenblicks charakterisieren, die sich zunächst alle politischen Optionen offen hielten, um verschiedene Möglichkeiten sondieren zu können. Entscheidungsalternativen zu besitzen, kennzeichnet politische Macht. Was Merkel an Handlungsautonomie einbüßte, versuchte
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sie, über den Schein einer Politik der Kohärenz spielerisch als Autonomiegewinn für sich zu verbuchen. Kanzler müssen geschmeidig, integrativ und anpassungsfähig sein. Sie verkörpern gegenüber den Bürgern den verlässlichen Lotsen, der das Publikum durch Problemfelder sichernd begleitet, den die Bürger jedoch jederzeit auch unkalkulierbar wieder von Bord schicken können (Korte 2002b). Moderation des Kanzlers ersetzt dabei häufig Steuerung. Ebenso dominiert die Darstellung und Inszenierung gegenüber der Entscheidung. Es ist dieser Urgrund des Politischen sowohl bei den Erwartungshaltungen gegenüber der Regierungspolitik als auch als Instrument der Politik, der die Kanzler zu einem Regierungsstil spielerischer Kohärenz zunehmend antreibt. Merkel betonte in ihrer ersten Regierungserklärung 2005, „Verlässlichkeit“ zum Markenzeichen der Politik ihrer Bundesregierung zu machen. Ihr Ziel war es, verlässliche politische Entscheidungen wieder in den Mittelpunkt der politischen Führung zu rücken und somit den Bürgern ein Stück Vertrauen in die Politik zurückzugeben. Dabei überwiegt die Wahrnehmung, dass Merkel politische Entscheidungen wichtiger erscheinen als das starrsinnige Festhalten an eigenen Positionen (Schwennicke/Schneider 2006). DissensManagement muss im Idealfall systematisch Stammwähler verunsichern. Denn der Kompromiss liegt immer zwischen dem profilierten Ideal der Partei-Programmatik. Kohärenz kann dann nach Jahren des Regierens auch Profillosigkeit zur Folge haben. Weder Union noch SPD sind in ihren Kern-Positionen beim Regierungshandeln erkennbar, was die Kanzlerin wiederum überparteilich präsidentiell enthebt. Der Kanzlerbonus ist in der Großen Koalition nur erreichbar um den Preis unklarer Parteibotschaft.
3.2 Machtzentralisierung Im Mittelpunkt des Regierungsmanagements steht zunächst die Machtzentralisierung (Hirscher/Korte 2001). Die Kanzler erhalten ihre Macht durch tägliche Einfluss-Sicherung, weniger durch ihre Herrschaft. Denn die Herrschaft im Sinne einer hierarchischen Ordnung, z.B. als gewählter Vorsitzender einer Partei, stabilisiert aus dem Amt heraus keinen Machtanspruch. Selbst wenn der Machterwerb zu klaren Mehrheitsverhältnissen führte, ersetzten diese nie die mühsame Tagesarbeit der Machtstabilisierung durch den Aufbau von Kommunikationsnetzwerken, die erst Regierungsarbeit und Machterhalt sichern. In Deutschland versuchten bis heute alle Kanzler mit unterschiedlichem Geschick, Steuerungsleistungen im Sinne der hierarchischen Machtzentralisierung über die Machtnahme der Partei und den Ausbau des Kanzleramtes auszuüben (Niclauß 2002, 2004; Korte 1998; Gros 1998, 2000). Dass der Kanzlermacht durch institutionelle Regelungen oder „Gegenregierungen“ Macht abhanden gekommen ist, kann durch den Ausbau der eigenen Parteimacht innerhalb der Bundesorganisation, auf Landesebene oder auch durch verbessertes Zusammenspiel mit der Bundestagsfraktion kompensiert werden. Merkels Parteimacht wird umso deutlicher, wenn man den Blick auf die Koalitionspartner wirft (Mielke 2009). Sie hatte mit Müntefering, Platzeck, Beck und erneut Müntefering als Verhandlungspartner im Koalitionsausschuss zu arbeiten. Auch die CSU stabilisierte sich nach dem Stoiber-Abgang erst wieder gegen Ende der Legislaturperiode, als Seehofer die Parteiführung nach dem glücklosen Huber übernahm und mit dem Wahlsieg bei der Europawahl 2009 sichtbar punktete. Verlässlich Kontinuität im Parteimanagement bot da nur Merkel an. Sie stabilisierte durch ihre Kanzlerschaft ihre Position an der Spitze der CDU. Ihre Parteiführung blieb zwar stets
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strittig – vor allem von Seiten der Parteivorsitzenden in den Bundesländern – doch stand zu keinem Zeitpunkt während der Großen Koalition ihr Parteivorsitz zur Disposition. Neben dem Versuch der Machtnahme der Partei ist Aneignung des Kanzleramtes als wichtige Ressource der Machtzentralisierung angesehen werden. Politische Führung bedient sich dabei häufig der Stabilisierung durch personale Strukturen (Grasselt 2006: 112114, Müller/Walter 2004). Das Kanzleramt fungiert als Zentrum und zentrale Machtressource des Machtapparates. Doch die Große Koalition relativiert auch den Einfluss des Kanzleramtes. Der Kanzleramtschef Thomas de Maiziere hatte für das Management der Regierung keinesfalls den gleichen Stellewerten wie Steinmeier für Schröder. Das Regieren „auf gleicher Augenhöhe“ mit einem faktisch gleich starken Partner reduziert das Gewicht des Kanzleramtes. Als strategisches Zentrum bleibt für das Kanzleramt kein Platz in einer Konstellation der Großen Koalition. Eher taugt die Analogie zum Präsidial-Büro, von dem aus das Koordinationsmanagement zwischen den Ressorts und damit zwischen den drei an der Regierung beteiligten Parteien leistungs- und druckstark erfolgen konnte (Korte 2010a). Die machtpolitische Aneignung des Kanzleramtes durch Merkel erfolgte jedoch zügig. Anders als bei Kohl und Schröder setzte sie erfolgreich auf die von ihr einmal getroffene Personalkonstellation in den Führungspositionen des Kanzleramtes und des Regierungssprechers. Wechsel blieben in den vier Jahren aus. Es gelang ihr nach kurzer Zeit über das Kanzleramt ein Frühwarnsystem zu installieren. Die „heimliche Chefin“ des Kanzleramtes ist Merkels Büroleiterin Beate Baumann. Beide lernten sich kennen, als Merkel noch Familienministerin im Kabinett Kohl war. Keine wichtige Rede von Merkel, keine strategische Entscheidung erfolgt ohne das Wissen der Büroleiterin. Aber auch die Abteilungsleiter im Kanzleramt haben sich gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise zu zentralen Koordinatoren des gesamten Regierungsmanagement entwickelt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Machtzentralisierung über die Ressourcen Partei und Kanzleramt elementar für die Kanzler sind. Durch die Aneignung und persönliche Formung bestehender Institutionen lassen sich Handlungsspielräume erweitern und Machtstellungen stabilisieren.
3.3 Stilles Regieren Handlungsspielräume werden beim Stillen Regieren nicht durch die Prozesse der Hierarchisierung oder einer Neuinterpretation von Institutionen erweitert – wie bei der Machtzentralisierung –, sondern durch einen Prozess der Informalisierung. Staatliche Steuerung kann nicht mehr ausschließlich über hierarchisch-staatliche Entscheidungen erfolgen, sie muss sich auch weicherer Techniken bedienen: verhandeln, positive Anreize bieten, moderieren. Ausdruck dieser weicheren Techniken als Kompensation von Steuerungsverlusten ist das Stille Regieren. Es lässt sich nachweisen, dass eine institutionelle Stabilisierung der bundesdeutschen Koalitionsdemokratie gerade durch die Prozesse der Informalisierung und Parteipolitisierung erfolgte (Manow 1996). Denn zumeist verlaufen die Entscheidungsprozesse nach dem Schema: Aushandlung der politischen Kompromisse auf der Ebene der Koalitionsarbeitsgruppen, an denen die Fachleute der Fraktionen beteiligt sind, Weiterleitung an das zuständige Ressort und schließlich Formulierung des Gesetzentwurfs – wodurch der klassische Gesetzgebungsweg im Prinzip auf den Kopf gestellt wird. Die Kanzler forcierten diesen
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Aushandlungsprozess maßgeblich. So ist ihre jeweilige Machtposition bei der Entscheidungsfindung nicht daran abzulesen, wie sie wichtige Entscheidungen nachvollziehbar gestalteten, sondern wie die Kanzler die Entscheidungen gezielt machtsichernd in der Partei und der Koalition, aber auch in den Medien vorbereiteten. Zum Erfolgsrezept des Stillen Regierens gehört somit eine Art von Verflüssigung der Richtlinienkompetenz: Eine Entscheidungsfindung wird durch informelle Verfahren unterstützt, die aber durch eine relative Offenheit des Kanzlers in Sachfragen gekennzeichnet werden (Korte 1998). In den Bereich des Stillen Regierens kann man die Koordination im Bereich des Koalitionsausschusses aufnehmen. Das im Koalitionsvertrag als regelmäßiges, mindestens einmal monatlich tagendes festgeschriebene Gremium wurde unter Merkel zum zentralen Entscheidungszentrum der Regierung (Rudzio 2008). Erst Mitte 2006 fand der Ausschuss in seiner heutigen Besetzung zusammen. So hatte sich nach einer Findungsphase eine Siebenergruppe aus den drei Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD, den beiden Fraktionsvorsitzenden der Union und der SPD, der Kanzlerin sowie dem Vizekanzler etabliert. Dieser Kreis wird jedoch bei Bedarf um Finanzminister Steinbrück und Kanzleramtschef de Maizère erweitert. Die bisherigen Sitzungen dauerten zwischen zwei und zehn Stunden und fanden in der Regel montags abends im Kanzleramt statt. Bei zahlreichen wichtigen Vorhaben der Großen Koalition wie der Förderalismusreform I, der Einführung des Elterngelds und der Gesundheitsreform (Rudzio 2008: 16) fiel hier die Vorentscheidung, die jeweils in Koalitionsarbeitsgruppen vorbereitet worden waren (zur Finanzpolitik: Bernhardt/Deter 2009). Dabei sann Angela Merkel beim Amtsantritt zunächst darauf, das Kabinett als eigentliches Entscheidungszentrum zu stärken, was ihr auch teilweise gelang (Grasselt/Korte 2007: 173-174). Die Zahl der Kabinettsausschüsse wurde zum Beispiel auf drei verringert, um effiziente Strukturen zu schaffen. Der Regierungsapparat unter Merkel expandierte auch dadurch, dass es drei zusätzliche parlamentarische Staatssekretäre gab, also insgesamt 30. Zudem blieb mehr als die Hälfte der „Ministerialelite“ der rot-grünen Vorgängerregierung in ihrem Amt, was weiterhin für Kontinuität in den Amtsgeschäften spricht.
3.4 Netzwerk-Pflege Ausdruck der pragmatischen Moderation bei der internen Entscheidungsfindung ist die Netzwerk-Pflege. Gemeint ist eine Steuerung durch Integration von Interessengruppen und Konsens der Beteiligten. In Deutschland kommt die Netzwerk-Pflege häufig im Gewande des Neokorporatismus (Streeck 1999, Steinmeier 2001) daher. Durch Netzwerk-Pflege sollen Entscheidungsblockaden verhindert werden. Die Hauptakteure haben sich damit neue „Institutionen“ zur Entscheidungssteuerung geschaffen. Die informellen Netzwerke verbinden unterschiedliche Entscheidungsarenen. Die freiwillige Koordination erfolgt häufig im „Schatten der Hierarchie und Mehrheit“ (Scharpf 1992: 25). Dieser Regierungsstil beruht auf dem Konsens der Beteiligten. Wer diesen Konsens zustande bringt, in der Regel ein Konsens, der ihm selbst auch nicht gerade schadet, der übt seine Macht auf sanfte Weise aus. Netzwerk-Bildung im Sinne der Ausformung und Ausstattung der Verhandlungsdemokratie ist für die Regierungssteuerung in einer Konsensdemokratie nicht neu. Regierungskommissionen waren schon immer Gremien der Politikberatung und konkreten Politikvorbereitung.
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Merkel machte hier keine Ausnahme. Andererseits hat sich dieses Instrument des Politikmanagements nicht in den Vordergrund geschoben. Denn die Große Koalition an sich setzt bereits ein Handeln in Netzwerken voraus, um überhaupt entscheidungsfähig zu werden. Insofern relativiert sich die Bedeutung dieses Instruments bis 2009. Merkel lud trotzdem zum „Integrations-“ und zum „Energiegipfel“ ins Kanzleramt ein. Doch verfolgt sie mit ihrer Politik eine andere Strategie als ihr Amtsvorgänger (Grasselt/Korte 2007: 176178). Sie wählt bewusst Politikfelder aus, in denen der bundesstaatliche Einfluss begrenzt ist: Integration, Energie etc. In ihrer Netzwerk-Pflege setzt sie auf Moderation und nicht auf konkrete Verhandlungsergebnisse. Sie ist damit nicht auf die Vermittlung der vorgeschlagenen Reformschritte in den Fraktionen und Parteien angewiesen. Häufig werden Kommissionsvorsitzende gewählt, die gezielt nicht der Kanzlerpartei entstammen. Bei klaren Mehrheiten braucht Merkel die „Räte“ nicht zum Regieren, vielmehr führt sie Interessenvertreter in „Gipfeltreffen“ zusammen, die nur wenig konkrete Ergebnisse aber auch Verpflichtungen mit sich bringen. So wird Merkels Netzwerk-Pflege zu einem Instrument der symbolischen Politik und dient nicht der Entscheidung. Grundsätzlich trifft Netzwerkbildung auf die traditionelle Kritik der Parlamentarismusforschung (Blumenthal 2002, Schütt-Wetschky 2001). Das Auswandern der Politik aus den Institutionen schwächt die repräsentative Demokratie. Es stärkt die Tendenz zur Exekutivlastigkeit, zur Gouvernmentalisierung der politischen Prozesse. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier hatte dies scharf kritisiert: „Die neokorporatistischen, verbändestaatlichen und exekutiv-konsensualen Formen der Politik verhindern vielfach notwendige Sachentscheidungen“ (Papier 2003). Nur wenige gut organisierte große Interessenvereinigungen profitieren von der Ausweitung der „Räterepublik“. Die Vertreter der Gruppeninteressen allein oder in Koalitionen vertreten im Gegensatz zum Bundestag nur das Wohl ihrer Mitglieder und nicht das Gemeinwohl. Diejenigen, die nicht mit am Tisch sitzen, bleiben unberücksichtigt. Diese hier angedeutete Kritik macht die Risiken einer Überdehnung dieses Instrumentes deutlich. Gleichwohl liegen auch Chancen darin, den Handlungskorridor der Regierenden durch konsensuale Verfahren zu erweitern.
3.5 Chefsachen-Mythos Indem ein politischer Sachverhalt zur Chefsache erklärt wird, versuchen die Akteure Entscheidungskompetenz und Steuerungspotentiale zurückzuerobern. Die Chefsache macht Hierarchie wieder möglich und sprengt die Zwänge der Politikverflechtung, sie schafft somit Optionen, um sich Handlungsspielräume offen zu halten (Schmidt 1998: 611-613, Korte 1998). Bei diesem Instrument ist bereits wörtlich sowohl die Verengung auf den individuellen Akteur als auch die Zuspitzung auf die Exekutive erkennbar. Beim Chefsachen-Mythos steht nicht die Frage im Mittelpunkt, ob die Bundeskanzler tatsächlich beim Regierungshandeln das letzte Wort behalten. Aber sie müssen zumindest den Eindruck vermitteln, dass sie es könnten, wenn sie nur wollten. So wird aus der faktischen Chefsache ein Mythos. Man kann den Eindruck gewinnen, dass an die Stelle der verfassungsmäßigen, aber für den Kanzler weitgehend unbrauchbaren Richtlinienkompetenz die Entdeckung der Chefsache getreten ist. Solange man die Richtlinienkompetenz besitzt, muss man sich nicht auf sie berufen. Jede öffentliche Demonstration von Führungsstärke mittels einer Berufung auf die formale Richtlinienkompetenz ist ein Anzeichen von Führungsschwäche. Die Kon-
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struktion von Chefsachen-Zuständigkeiten ist wesentlich wirkungsvoller. Sie suggeriert gegenüber dem Publikum: Nun wird es ernst, der Chef packt selbst mit an. Der ChefsachenMythos setzt mittels öffentlicher Artikulation und Inszenierung auf Kompetenz- und Steuerungszuwachs. Vom Regierungschef werden beständig „Machtworte“ und ein entschiedenes Durchgreifen verlangt. In solchen Situationen ist es für jeden Amtsinhaber eine große Versuchung, durch plakative Einzelaktionen diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Wenigstens für einen Moment fallen öffentliche Erwartungen und reale Möglichkeiten des Amtes zusammen. Merkels Führungsverhalten zeichnet sich gerade dadurch aus, dass ihr öffentliche Machtworte fremd sind (Grasselt/Korte 2007: 179). Sie scheut sich geradezu vor öffentlicher Führung, was häufig zur Kritik führt. Taktische Pausen, tagelange öffentliche NichtKommunikation gehören eher zum Ausdruck des Chefsachen-Mythos als öffentlicher Darstellungsreichtum. Sie wartet eher ab, wie sich die Diskussionslager ergeben und artikuliert Positionen, wenn die Mehrheitslage innerhalb der Koalition übersichtlicher geworden ist. Sie wirkt integrierend, in dem sie die Positionen ihrer Verhandlungspartner analysiert und scheinbar auf sie eingeht. Grundsätzlich bleibt für die Kanzlerin in einer Großen Koalition das Kanzlerprinzip nur unzulänglich nutzbar.
3.6 Telepolitik Telepolitik bedeutet: Regieren in der Publikumsgesellschaft (Meyer 2001; Sarcinelli 2005). Komplizierte Aushandlungsdemokratie wird dabei scheinbar durch Telepolitik ersetzt. Da politische Entscheidungen kommunikationsabhängiger geworden sind, wird mittels Telepolitik versucht, Entscheidungskompetenz zurückzugewinnen (Korte/Hirscher 2000, Sarcinelli 1999: 395-397). Entscheidungen sollen über Stimmungen herbeigeführt werden (Korte 2002a). Diese Stimmungen werden auf unterschiedlichen Ebenen bewusst provoziert: zum einen durch einen offenen und medienwirksamen Politikstil, der häufig über medienadressierte Personalisierung vermittelt wird; zum anderen aber auch durch Regierungshandeln im Wahlkampfstil, das als permanente Kampagne mit extremer Demoskopiefixierung und plebiszitären Tendenzen beschrieben werden kann. Medienpräsenz ist eine politische Machtprämie – allerdings auf sehr instabilem politischem Fundament. Der Amtsbonus der Amtsinhaber ist weitgehend ein Fernsehbonus (Korte 2009b, Ballensiefen 2009). Insofern ist es zunächst konsequent, medienvermittelte, symbolische Darstellungspolitik zu betreiben. ‚Going public’ als Instrument zur Erweiterung des Handlungsspielraums bedeutet dabei für die Amtsinhaber die Möglichkeit, sich direkt an die eigene Bevölkerung zu wenden, um Unterstützung für bestimmte politische Vorhaben zu mobilisieren. Das mag für die amerikanischen Präsidenten schon immer eine systembedingte Konsequenz gewesen sein (Helms 2004, Poguntke/Webb 2005). Für die europäischen Parteiendemokratien ist dies jedoch neu, denn es kreiert einen veränderten Typus von Parteiführerschaft: den „outsider“-Status als Parteiführer, der mittels telegenem Schwung von außen seine Parteigremien antreibt (Korte 2000; Foley 1993). Merkel präsentierte den Koalitionsvertrag ihrer Regierung im Innenhof des Paul-LöbeAbgeordnetengebäudes. Auch symbolisch sollte das Parlament gestärkt aus den Neuwahlen 2005 hervorgehen. Große Koalitionen können nur erfolgreich sein, wenn sie heldenlos (es darf keine sichtbaren parteipolitischen Sieger geben) und bildarm (Effizienz der Verhand-
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lungsdemokratie hinter verschlossenen Türen) agieren (Korte 2007). Sie sind strukturell TV-untauglich. Um so mehr kommt es auf einzelne Bilder an. Auch Große Koalitionen können mit der Macht des Bildes arbeiten: Evidenz auf einen Blick mit der Aura des Repräsentativen. Außer den anfänglichen Honeymoon-Bildern von Merkel und Müntefering gab es auch nicht im Ansatz ein positives Foto, ein nicht inszeniertes authentisches Bild zum Programm der Bundesregierung. Gesucht wird ein Bild eines festgehaltenen Moments in all seiner Entschiedenheit und Prägnanz, das immer mehr aussagt als wortreiche Erklärungen. Es gehört zu den Auffälligkeiten der Kanzlerschaft Merkels, dass sie offensichtlich nicht auf den Politikstil der Telepolitik angewiesen ist. Sicherlich ist es vornehmlich der machtpolitischen Konstellationen im Bundestag und Bundesrat zu schulden. Dennoch unterscheidet sich ihr Politikstil, der weitestgehend auf Telepolitik verzichtet, deutlich von dem ihres Vorgängers. Merkel nutzt andere Machtressourcen – weniger die Möglichkeiten, welche die öffentliche Arena und die Telepolitik ihr bieten würde. Aber auch in diesem Bereich schlummern noch ungenutzte Potentiale. Darstellungsarm und bescheiden im Stil protestantischer Armutsästhetik präsentiert sich die Kanzlerin, was stimmig zum Zeitgeist der neuen Sachlichkeit passt. Aufmerksamkeitsmanagement ist in großen viel schwerer als in kleinen Koalitionen. Denn die öffentlich verordnete Harmonie der beiden Volksparteien hat keinen Unterhaltungswert; die Willensbildung erfolgt ohne Kameraausleuchtung. Wenn jedoch mediale Aufmerksamkeit auch Machtprämien verspricht, müssten vermutlich neue telegene Formate von der Bundesregierung in Zeiten einer Großen Koalition entwickelt werden. Trotzdem ist Merkel ebenso wie Schröder Medienkanzler – auf ihre ganz eigene Art (Kurbjuweit 2009, Hofmann 2009). Ihr Medienregime ist ausgeprägt. Sie überlässt weder ein Bild noch eine öffentliche Äußerung dem Zufall. Jedes Detail in der öffentlichen Arena ist diszipliniert kontrolliert. Bundespressekonferenzen setzt sie nur in Ausnahmefällen an. Sie macht sich insgesamt öffentlich rar, wenn Journalisten um eine Stellungnahme bitten. Interviews werden in der Regel nur im Kanzleramt geführt, Podcast-Beiträge am Wochenende als Agenda-Setting-Instrumente eingesetzt. Bei Nachfragen und Bitten um Stellungnahmen wird routiniert auf diese Beiträge verwiesen. Jedes Zusatzwort wird hingegen vermieden. Was insofern heute immer noch öffentlich uninszeniert und authentisch wirkt, ist präzise inszenatorisch geplant. Darstellungsreiches Medien-Charisma baut sich so nicht auf. Aber die schlichte Authentizität ist erfolgreich. Sie gilt in der Wahrnehmung der Bürger als effektive Problemlöserin, die uneitel agiert, ungreifbar wirkt – auch mit ihrem lavierenden Pragmatismus. Ihre Kontrollsucht inszeniert jede Geste, jedes Bild. Sichtbar wird, wie die Unauffälligkeit kalkuliert ist, wie sie die bescheidene Natürlichkeit durchstylt, wie die Kanzlerin ihre Verzichtsästhetik medial arrangiert. „Merkel ist die Königin der Hintergründe, bleibt aber für die breite Öffentlichkeit blass“ (Kurbjuweit 2009: 57).
3.7 Policy-Akzentuierung Handlungskorridore kann sich ein Bundeskanzler offen halten, wenn es ihm gelingt, PolicyAkzentuierungen im Regierungshandeln durchzusetzen, d.h. Policy-Arenen zu bevorzugen, in denen die Veto-Spieler-Anzahl sehr gering oder überschaubar ist. In diesen Feldern kann er sich situationsorientiert besonders akzentuiert betätigen. Ein solches Politikfeld ist klassisch die Außenpolitik (u.a.: Schmidt et al 2007).
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Die Entscheidungsdynamik und die Entscheidungskompetenz ist im Bereich der Außenpolitik in allen politischen Systemen personenzentriert auf die Staats- und Regierungschefs ausgerichtet. Die Außenpolitik gehorcht grundsätzlich anderen Regelmäßigkeiten, da sie weniger in die ‚checks and balances’ der Innenpolitik eingebunden ist, sondern maßgeblich von internationalen Rahmenbedingungen geprägt wird und dazu das Reservat der Exekutive darstellt (Scharpf 1993: 41-42). Dass alle Amtsinhaber deshalb die Domäne der Außenpolitik für sich reklamierten, ist nachvollziehbar. Das außenpolitische Terrain wurde als entscheidendes Betätigungsfeld gesucht, wobei die permanente Ausweitung dessen, was letztlich zur Außenpolitik gehört, im Verlauf der letzten 20 Jahre sukzessive fortgeschritten ist. Dabei kann auch eine spezifische Zunahme von symbolischer Außenpolitik analysiert werden: multilaterale Arrangements – etwa im Kontext von Gipfelbegegnungen – werden getroffen, die den Eindruck großer Tragweite vermitteln, ohne dass dies den Realitäten entsprechen muss (Maull 1997: 1253). Ähnlich wie Schröder verfolgte auch Merkel seit 2005 diese Strategie. Große, internationale Gipfeltreffen wie beispielsweise der G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 wurden erfolgreich dazu genutzt, das eigene Image in der Öffentlichkeit abseits des beschwerlichen innenpolitischen Alltags der Großen Koalition zu verbessern (Hofmann 2008: 22-24). Insgesamt wird sie in Deutschland als internationale Managerin wahrgenommen, die in wichtigen Fragen der europäischen Integration und der sicherheitspolitischen Verortung gehört wird. Eine Policy-Akzentuierung ganz eigener Art ist durch die globale Wirtschaft- und Finanzkrise ab Herbst 2008 entstanden. Als Krisenmanager konnten sich zu Beginn eher ausländische Partner bewähren als die Bundeskanzlerin. Doch je länger die Krise andauerte, umso mehr zeigt ihr Stil des präsidentiellen Zauderns Erfolge. In der Wahrnehmung der Bürger hat die Kanzlerin eine wichtige Problemlösungskompetenz in der Krise. Der Kanzlerbonus gilt 2009 vor allem für den Bereich des Umgangs mit der Finanzkrise. Obwohl der Finanzminister Steinbrück und auch der neue Wirtschaftsminister zu Guttenberg gleichermaßen professionell mit den Krisenfolgen beschäftigt sind, profiliert sich Merkel als Krisen-Bewältigerin. Gerade weil sie öffentlich vage bleiben kann, setzt sie auf Stabilisierung der Lage, auf eine Status-quo-Sicherung und verzichtet im Gegensatz zu ihren Ministern auf konkrete Festlegungen, die polarisieren könnten.
3.8 Ideen-Management Ideen, Wertvorstellungen und Überzeugungen kommt in der Politik eine gestaltende Kraft zu (u.a.: Delhees 2008). Mittlerweile ist in einigen Politikfeldern nachgewiesen worden, welche problemlösende Kraft den Ideen – und eben nicht nur den Interessen – in Verhandlungssituationen zukommt. Die Ideen reduzieren die Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das gilt auch für Entscheidungsfindungen in Verhandlungssituationen (Wendt 1994, Goldstein/Keohane 1993, Grande 2000). Hinzu kommt, dass Ideen, Wissen und Lernprozesse im Umgang mit Problemlösungen grundsätzlich Einfluss auf Entscheidungsprozesse besitzen. Als weiteres Instrument des modernen Regierens können die Kanzler diesen Zugang nutzen: Sie können als personifizierte Ideenträger auftreten, als die Verkörperung von Ideen und damit Prozesse der Entscheidungsfindung durch ihr Deutungsmuster beeinflussen. Was ist das Signum, das Markenzeichen einer Kanzlerschaft?
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Vermutlich wird dies in Zeiten einer Großen Koalition insgesamt schwerer zu ermitteln sein als bei kleinen Koalitionen. Denn diese Koalition hatte vom Start an kein inhaltliches Mandat, eher die Vorstellung von kleinteiliger Schritt-für-Schritt-, Patchwork-Politik. Eine so angelegte, eher unterphilosophierte Politik setzt nicht primär auf Ideen-Management. Andererseits wird diese Regierung mit dem Markenzeichen der weltweiten Finanzkrise in die Geschichte eingehen. Wie managt sie die Krise? Mit welcher Erklär-Macht, mit welchem Vokabular, mit welcher Grundidee wird ein Ausweg aus der Krise skizziert, der einprägsam und nicht beliebig ist? Kann Merkel so eine Idee an sich binden? Wird sie die Personalisierung des Krisen-Auswegs? Das ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersehbar. Doch wer es schafft, am überzeugendsten zu erklären, wird auch Mehrheiten mobilisieren. Dazu könnte die Union auch die Begriffswelt der sozialen Marktwirtschaft als Grundidee wieder aktivieren. Sie könnte sich gegen einen aus den Fugen geratenen StandardKapitalismus (Abelshauser 2003) mit Regeln und Moral behaupten. Liegt ein personenfixiertes Ideen-Management vor, dann ist in Verhandlungssituationen allen beteiligten Akteuren in der Regel klar, dass bestimmte inhaltliche Spielräume nicht überschritten werden können. Die Kanzler stehen mit ihrer Person für ein Thema ein. Sobald grundsätzliche Beschädigungen, weitreichende Eingriffe drohen, sind solche Vorhaben schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt. Die Person ist Träger des Projektes, was gleichzeitig einerseits zum Leitbild von Steuerung werden kann, andererseits Verhandlungsmargen charakterisiert. 4
Merkels Regierungsstil – ein Fazit
Acht unterschiedliche Muster des Regierungshandelns konnten als Handlungskorridore des Regierens vorgestellt werden. Sie charakterisieren Formen des Politikmanagements und des Regierungsstils von Kanzlerin Angela Merkel. Diese spezifischen Strategien des Entscheidungsmanagements verschafften ihr in der Regel Optionen, um den jeweiligen Handlungskorridor zu erweitern. Wie also in welchem Mischungsverhältnis – sie jeweils diese acht Varianten nutzte, kann als persönlicher Regierungsstil der Amtsinhaberin charakterisiert werden. Nicht alle acht Typen des Regierungshandelns sind permanent gleichgewichtig im Einsatz. Das Regierungsmanagement bedient sich in unterschiedlichen Phasen situationsgemäß der angebrachten Instrumente. Die vorgestellten Entscheidungskonstellationen charakterisieren Auswege aus der Veränderung von Steuerungspotentialen hinsichtlich politischer Problemlösungen in einem Staat, der über keine klassisch nationalstaatliche Souveränität mehr verfügt. Regieren spielt sich in vernetzten Gesellschaften häufig im Verhandlungsmarathon mit vielfältigen Akteuren ab. Besonders durch die Finanzkrise ist nochmals sichtbar geworden, wie Regierungshandeln Interdependenzmanagement ist: vernetztes Entscheiden unter extremen Bedingungen von Unsicherheit und Komplexität. Auf der Entscheidungsebene sind die Regierungschefs die zentralen Akteure einer fragilen Regierungsformation, die Institutionen für sich strategisch instrumentalisieren oder gegebenenfalls neue Institutionen schaffen, um politische Optionen zu beeinflussen.2 Andererseits spinnen die Regierungschefs Akteursnetze um Institutionen, die sie nicht unmittelbar für sich instrumentalisieren können, um den entscheidenden Informationsvorsprung zu gewinnen oder um Vorentscheidungen im Sinne negativer Koordination zu verhindern. Mit 2
Dazu für die Ebene der Bundesländer: Grunden 2009.
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anderen Worten, es werden systembedingte Steuerungsverluste akteursspezifisch durch Steuerungsverlagerung ausgeglichen. Die akteursbedingten Faktoren – also das Entscheidungsarrangement der beteiligten Hauptakteure – dokumentieren in der Mehrzahl ihrerseits, inwieweit sich die Kanzler ihrer begrenzten Rolle bei der Entscheidungsfindung bewusst sind. In den vielfältig verflochtenen Verhandlungsdemokratien bietet die Vorliebe für ‚high politics’ und symbolische Politikdarstellung für die politischen Akteure eine der wenigen Möglichkeiten, überhaupt noch sichtbar zu bleiben. Hier zeigt sich, dass auch Regierungschefs in parlamentarischen Demokratien zu Entscheidungsstilen greifen, die eher Präsidenten zugedacht sind, wie beispielsweise „Chefsachen-Mythos“ oder „Telepolitik“. Die unterschiedlichen Typen des Regierungshandelns sind nicht risikolos und teilweise widersprüchlich. Sie enthalten zwar handlungsermöglichende Ressourcen, aber bei einseitiger Überdehnung einzelner Varianten – so z.B. im Bereich der Netzwerkbildung (zu viele Kommissionen) oder im Bereich der Telepolitik (zu viel Darstellung, zu wenig Entscheidung) – stellen sich rasch auch Restriktionen ein. Modernes Regieren in spezifischen institutionellen Kontexten bietet somit keineswegs eine Garantie für immerwährendes Regieren. Strategische Momente verschaffen einer Kanzlerschaft den immerwährenden Eintrag ins Geschichtsbuch (Korte 2010b). Die Finanz- und Wirtschaftskrise gehört zweifellos seit 2008 zu solchen markanten Schlüsselereignissen, die aus der Enge des situativen Regierens ein Reservat der Schlauheit machen können. Die Krise hat politische Gewissheiten in einer ähnlichen Geschwindigkeit vernichtet wie die Finanzakrobaten das Kapital. Weniger Schulden, ausgeglichene Haushalte, Reduzierung der Staatsquote – das klingt mittlerweile wie frühe Vorgeschichte. Damit frisst die Krise auch ein Stück weit demokratische Normalität. Die Große Koalition hat wenige Monate vor ihrem selbst beabsichtigten Ende erstmals auch ein großes Mandat zum Handeln erhalten. Bei Angela Merkel schien sich bislang das Besondere ihrer Kanzlerschaft auf das Ausnahme-Format der Koalition zu beziehen und immer wieder auf die Anerkennung, als erste deutsche Kanzlerin gewählt worden zu sein. Doch erst in dem Moment, in dem die Ökonomie ihre Leitfunktion für die Politik verloren hat, im Schatten des aktuellen Zeitenbruchs, hat sie den strategischen Moment, der ihre Kanzlerschaft unvergessen machen kann. Ein Kipp-Punkt des Regierens, der entweder in den Machtverlust oder souverän in die zweite Kanzlerschaft führen kann. Merkels Stil ist bislang mit einer „Politikmaschine“ (Kurbjuweit 2009: 11) zu vergleichen – ohne Privatheit, ohne Leidenschaft, ohne erkennbare Personalität, aber mit effizienter Prinzipienlosigkeit. Das Merkel-Bild gleicht einer Erfolgstaktikerin als politischem Neutrum. Doch blass ist Merkel in den Augen der Bürger keinesfalls. Ihre Scheu vor öffentlicher Führung und ihr gelebtes Understatement sind ein deutlich wahrgenommenes Profil der Kanzlerin. Sie gilt – wie die Umfragen belegen – als permanent selber anpackende Chefin, die sich in der Männerwelt behauptet hat, der man großen Respekt entgegenbringt und gleichzeitig enorme Sachkunde zur Problemlösung unterstellt. Altbürgerlich lässt sie praktisch keinen Blick in ihr Privatleben zu, was ebenso auf hohe Zustimmung stößt. Das Merkel-Bild ist für die meisten Bürger ziemlich klar. Nur Journalisten und Wissenschaftler suchen häufig noch 20 Jahre nach dem Mauerfall nach dem Fremden an der Kanzlerin. Doch ihre biographischen Wurzeln in einem preußisch-protestantischen Pfarrhaushalt der DDR haben sie lebenslang religionspolitisch ausgestattet (Resing 2009). Das gilt sicher für die Perspektive, in der sie Politik wahrnimmt, für die analytische Schärfe, für den Umgang mit Begründungsdiskursen, für die Gewichtung der Demut. Als bewusste
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Christin sieht sie die wichtigste politische Leistung gerade darin, immer dafür zu sensibilisieren, dass Demokratie keinen religiösen oder auch moralischen Vergemeinschaftungszwang kennt. Dem Individuum lässt das Christentum immer Eigenräume des Privaten. Merkel mag Gelegenheits-Konservative sein, aber keine Gelegenheits-Protestantin. Vielleicht kann man so eine Grundierung auch als Fahrplan aus der Finanz- und Wirtschaftkrise lesen. Denn Merkel steht mit ihrer Lebensgeschichte als protestantische Freiheitspatriotin für das Wissen um die Kraft einer Wertorientierung: Eine religiös fundierte Lebenssinndeutung. Wenn Gewissheiten nicht mehr existieren, braucht man nicht nur neue Regeln, sondern auch einen wertorientierten Kompass. Krisen-Gewinner könnten am Ende diejenigen sein, die eine Rhetorik der Krise entwickeln, die so einen Kompass bietet: Was wollen wir an unserem Wohlfahrtsstaat und an unserer Demokratie angesichts verminderter Erwartungen unbedingt bewahren? Wer am überzeugendsten erklärt, baut seine Macht aus. Eine Wähler-Allianz der Sicherheit und Berechenbarkeit kann man mobilisieren, wenn man politische Begründungen liefert, nicht für das, was zurückliegt, sondern für das, was man schaffen möchte. Dann hätte Merkel den strategischen Moment genutzt. Denn eine politische Strategie beruht auf einer Verfügbarkeit von Orientierungswissen für offene Problemsituationen. Mit dem „C“ ist der Fundus an Orientierungswissen für eine Partei, die dies im Namen trägt, reichhaltig gefüllt. Noch wartet die Kanzlerin, tastet sich mit kleinteiligem Vielfaltsmanagement – hinter dem sogenannten Schleier des Nichtwissens – durch den Alltag der Krise. Ihre „forcierte Passivität“ kann sich am Ende als Klugheit herausstellen. Ihr präsidentielles Zaudern in der Großen Koalition wirkt wie eine Auszeit für einen historischen Möglichkeitssinn. Ihr Zaudern und die strategische Geduld sind vielleicht Methode. Es bedeutet keinesfalls Nichtstun, sondern eine substantielle Langsamkeit, die in Zeiten von Komplexität und Unsicherheit ein Macht-Reservoir sein könnte. Doch Kipp-Punkte an besonderen strategischen Momenten können sich auch ins genaue Gegenteil kehren. Ein hohes Risiko in einem Super-Wahljahr. Literatur Abelshauser, Werner, 2003: Kulturkampf: Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung, Berlin. Ballensiefen, Moritz, 2009: Bilder machen Sieger – Sieger machen Bilder. Die Funktion von Pressefotos im Bundestagswahlkampf 2005. Studien der NRW School of Governance, Wiesbaden. Bergedorfer Gesprächskreis, 2001: Verhandlungsdemokratie? Politik des Möglichen – Möglichkeiten der Politik (Protokoll 120), Hamburg. Bernhardt, Otto/Deter, Anne, 2009: Zum Erfolg verurteilt. Die Willensbildung in der großen Koalition seit 2005 am Beispiel der Finanzpolitik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (1), 196-217. Blumenthal, Julia von, 2002: Auswanderung der Politik aus den Institutionen: Schwächung der repräsentativen Demokratie. Replik auf Eberhard Schütt-Wetschky, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12 (1): 3-26. Delhees, Stefanie/Korte, Karl-Rudolf/Schartau, Florian/Switek, Niko/Weissenbach, Kristina, 2008: Wohlfahrtsstaatliche Reformkommunikation. Westeuropäische Parteien auf Mehrheitssuche, Baden-Baden. Foley, Michael, 1993: The Rise of the British Presidency, Manchester. Goldstein, Judith/Keohane, Robert O., 1993: Ideas and Foreign Policy. An Analytical Framework, in: Goldstein, Judith/ Keohane, Robert O., Hrsg.: Ideas and Foreign Policy, Ithaca/London, 3-27.
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Die Große Koalition 2005-2009: Reformkoalition oder Stagnation?
Christian Brütt
Workfare als Soziales. Zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Großen Koalition
Staatliche Sozialpolitik formt Handlungsoptionen der Einzelnen hinsichtlich der Notwendigkeit, der Möglichkeit, der Art und Weise und des Umfangs des Verkaufs der Arbeitskraft zur Sicherung ihrer Existenz.1 Nach dem Leitbild des aktivierenden Staates hat die rot-grüne Bundesregierung diese Handlungsoptionen fundamental neu gerahmt und damit einen Paradigmenwechsel zur workfare-Politik vollzogen (Kapitel 1), den die Große Koalition gefestigt hat. Hervorzuheben ist jedoch, dass die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik während der sechzehnten Legislaturperiode in einem Normal- und einem Ausnahmezustand stattfand. Workfare-orientierte Normalität und Kontinuität charakterisierte die Politik im Bereich der fortgesetzten Abkehr von der Statussicherung (Kapitel 2), der Familienpolitik mit Marktzufuhreffekt (Kapitel 3) sowie der Mindestsicherung als workfare-Konzentrat (Kapitel 4), wobei die so genannten Ein-Euro-Jobs eine Sonderrolle einnehmen (Kapitel 5). Die Diskussion um den Mindestlohn hingegen ist diesbezüglich ambivalent, da gesetzliche Mindestlöhne den workfare-Trend sowohl verstärken als auch ausbremsen können (Kapitel 6). Während der Phase des Ausnahmezustandes setzte die Große Koalition mit dem Kurzarbeitergeld auf ein Instrument, das sich ebenfalls als in-work benefit, allerdings für Einkommen oberhalb des Niedriglohnsektors, erweist (Kapitel 7). 1
Aktivierung und Workfare
Die rot-grüne Koalition betrieb Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nach dem Leitbild des „aktivierenden Staates“, das als deutsche Interpretation des „Third Way“ (Giddens 1999) eine Synthese zwischen „aktiven“ und „schlanken Staat“ anbot. Wirkungsmächtig wurde das Leitbild infolge der Vorschläge der nach ihrem Vorsitzenden benannten HartzKommission (Kommission MDA 2002) und der Regierungserklärung Gerhard Schröders aus dem Jahr 2003 (PlProt. 15/32), besser bekannt als Agenda 2010, die insbesondere im ersten bis vierten „Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ mündete (Brütt 2003; Schmid 2007). Market workfare (Grover/Stewart 1999) ist die sozialpolitische Antwort des aktivierenden Staates auf Marktversagen und Staatsversagen. Mit dem Leitbild des „aktiven Staates“ teilen die Konstrukteure des Leitbildes „aktivierender Staat“ die Einsicht, dass ein Markt für Arbeitskraft nicht ohne politische Regulierung bestehen kann, dass staatliche Sozialpolitik nicht allein marktkorrigierend, sondern notwendig auch marktschaffend wirkt. Mit dem Leitbild des „schlanken Staates“ teilen sie die Einsicht, dass sozialstaatliche Interventionen misslingen können. Mit dem Leitbild des „aktivierenden Staates“ wird ein sozialpolitisches Staatsversagen konstatiert, das an der Schnittstelle zwischen dem System sozialer Sicherung und dem Arbeitsmarkt als Problem von Abhängigkeit formuliert wird. 1
Dieser Beitrag wurde vor der Bundestagswahl 2009 fertig gestellt.
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Die Problemwahrnehmung beruht auf einem verkürzten Verständnis von Abhängigkeit: Formen unvermeidbarer, notwendiger Abhängigkeit in Pflege und Erziehung werden zum einen nicht von vermeidbarer, überflüssiger Abhängigkeit (necessary vs. surplus dependency) unterschieden und zugleich wird Abhängigkeit ursächlich auf staatliche Transferleistungen zurückgeführt (Fraser/Gordon 1994). Abhängigkeit wird folglich nicht auch als Problem in bestehenden, sondern als Problem aufgrund fehlender Arbeitsbeziehungen charakterisiert. Folglich ist die Teilnahme am Arbeitsmarkt nicht mehr eine mögliche Quelle von Abhängigkeit, sondern stets das Mittel der Wahl gegen Abhängigkeit. Das Staatsversagen besteht aus dieser Sicht darin, dass staatliche Sozialpolitik Fehlanreize, Fatalismus und Fehlverhalten erzeuge, indem sie die Handlungsoptionen der Einzelnen um eine Existenzsicherung mittels Sozialleistungsbezug erweitere oder sie gar darauf einenge. Fehlanreize seien dort zu beklagen, wo die Höhe der Transferleistungen und die Art der Anrechung von erarbeiteten Einkommen auf Sozialleistungen dazu führten, dass der Einzelne seine Arbeitskraft im zu geringen Umfang oder gar nicht auf dem Arbeitsmarkt anbiete. Fatalismus sei die Folge unzureichender Förderung und das Ergebnis einer erlernten Hilflosigkeit. Auch hier führe der Bezug von Sozialleistung zum Rückzug aus dem Arbeitsmarkt. Fehlverhalten entstehe, wenn die Einzelnen mit Hilfe der Transferleistungen ihre Handlungsoptionen gänzlich außerhalb der Arbeitsethik anlegen (Ellwood 1994; Gebauer Petschauer/ Vobruba: 2002; Lødemel/Trickey 2001). Market-workfare2 beruht wie state workfare auf der Wertvorstellung, dass zum einen einer staatlichen Transferleistung eine Gegenleistung gegenüberstehen müsse und dass zum anderen Autonomie und Selbstverwirklichung am besten über die Teilnahme am Unabhängigkeit ermöglichenden Arbeitsmarkt bestehe. Im Gegensatz zum state workfare bleibt der Ansatz des market workfare jedoch nicht auf die Überprüfung der Arbeitsbereitschaft und die Bereitstellung von und die sanktionsbewehrte Verpflichtung zu gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit beschränkt. Market workfare beruht auf der Diagnose von Fehlanreizen im System sozialer Sicherung, die sich sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite auswirken: Zu generöse Transferleistungen führten zu einem über dem Qualifikationsniveau liegenden Anspruchslohn, den potenzielle Arbeitgeber nicht zu zahlen bereit und/oder in der Lage seien, in Kenntnis der Anspruchslöhne der Anbieter von Arbeitskraft würden daher Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich nicht eingerichtet. Market workfare setzt an dieser Diagnose an, indem die Transferleistungen von einer „Entweder-Oder“ auf eine „Sowohl-als-auch“ Logik umgestellt werden: Transferleistungen und Markteinkommen schließen sich nicht aus, sondern Transferleistungen setzen Markteinkommen voraus. Sozialpolitische Transferleistungen, die ein bestehendes Beschäftigungsverhältnis voraussetzen, werden als in-work benefits bezeichnet, in-work benefits implizieren eine radikale Abkehr von der Grundannahme, dass der Wechsel aus dem Transferleistungsbezug in ein privatrechtliches Beschäftigungsverhältnis sowohl faktisch mit dem Bezug eines existenzsichernden Markteinkommens verbunden ist als auch normativ nur solche Beschäftigungen als zumutbar gelten, die ein existenzsicherndes Markteinkommen einbringen (WB BMWi 2002; Sinn et al. 2002, 2006; SVRW 2002: Zf. 433, 2005: Zf. 193). Die workfare-Politik im aktivierenden Sozialstaat Deutschlands beruht auf einem Paternalismus mit Marktzufuhreffekt. Anreize in Form von in-work benefits sollen signalisieren, dass die Teilnahme am Arbeitsmarkt sich (wieder) lohne. Der rational kalkulierende 2 Zur Diskussion unterschiedlicher Begriffsverständnisse von workfare siehe Brütt (2010); Lødemel/Trickey (2001); Jessop (2002); Peck (2001).
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einzelne Anbieter von Arbeitskraft soll zu dem Schluss kommen, dass jedwelcher Umfang und jedwelche Art und Weise des Verkaufs der Arbeitskraft zu einer Besserstellung gegenüber dem alleinigen Verbleib im Transferleistungsbezug führe. Der Nachfrageseite soll hingegen signalisiert werden, dass im Niedriglohnbereich geschaffene Stellen tatsächlich besetzt werden können. Leistungsbezieher werden als „Kunden“ angesprochen, die mit der Sozialverwaltung als Dienstleister vereinbaren, wie ihre Situation zu verbessern wäre. Doch offensichtlich ist das Zutrauen in die Anreiz-Politik unzureichend. Paternalismus schließt die politische Zutrauenslücke, indem die möglichen Wahlentscheidungen im Rahmen der Anreizstruktur deutlich auf die Teilnahme am Arbeitsmarkt zentriert werden. Vereinbarungen stehen unter Kontrahierungszwang, Instrumente der Arbeitsmarktintegration liegen im Ermessen der Sozialverwaltung, abweichendes Verhalten wird strikt durch Transferleistungsentzug sanktioniert (Berlit 2003; Brütt 2009; Ludwig-Mayerhofer et al. 2008; Mohr 2009; Voßkuhle 2001). In ihrer Regierungszeit legte die rot-grüne Bundesregierung zwei Sozialberichte – 2001 (BT-Drs. 14/8700) und 2005 (BT-Drs. 15/5955) – sowie den Ersten und Zweiten Reichtums- und Armutsbericht 2001 (BT-Drs. 14/5990) und 2005 (BT-Drs. 15/5015) vor. Jeder der Berichte enthält eine explizite Bezugnahme auf den „aktivierenden Sozialstaat“. Drei wesentliche Aspekte des aktivierenden Sozialstaatsstaats wurden in den Berichten hervorgehoben: Der erste Aspekt umfasst Aussagen zum rechtlichen Status, der den Empfängern von Transferleistungen zugesprochen werden soll. Der Transferleistungsbezug wird nicht als eigenständige Variante eines Selbstbestimmung eröffnenden Status gesetzt, sondern als eingeschränkter Vorläufer und insofern als Mittel, um die Sphäre der Selbstbestimmung erreichen zu können. Mit dem zweiten Aspekt zielt sie auf die Ausgestaltung der Position außerhalb der Selbstbestimmung – also während des Bezugs von Transferleistungen – durch ökonomische Interventionen. Wesentlich ist hier die Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Leistungen. Der dritte Aspekt benennt eine neue Normalität auf dem Arbeitsmarkt und die Funktion der Sozialpolitik, über die Beeinflussung der Anpassungsfähigkeit der Einzelnen Akzeptanz für den Strukturwandel herzustellen. 2
Fortgesetzte Abkehr von der Statussicherung
Das sozialpolitische Pendant der Relativierung der Statussicherung ist der Ausbau und Umbau der Mindestsicherung sowie der Verweis auf private Absicherung. An der Gesetzlichen Rentenversicherung ist dieser Zusammenhang in seiner Ambivalenz exemplarisch nachvollziehbar: Die so genannte „Riester-Rente“ ist das Eingeständnis sowohl der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses als institutionelles Arrangement, das für die Nacherwerbsphase mindestens eine Existenz- und üblicherweise eine darüber liegende Statussicherung vorsah, als auch der stigmatisierenden Wirkung des Sozialhilfebezugs. Ein rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis allein wird zunehmend unzureichend für den Erhalt des Status im Alter. Dieser Logik entsprechend musste die gesetzliche Rente nach oben durch eine Kapitaldeckung aufgestockt und nach unten durch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit3 gestützt werden. Obwohl das Prinzip der „Teilhabeäqui3 Zwei Jahre nach Inkraftreten wurde das Grundsicherungsgesetz aufgehoben und mit geringen Modifizierungen als viertes Kapitel in das neue Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) integriert. Siehe Artikel 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch, vom 27.12.2003, BGBl. I 2003, S. 3022.
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valenz“ (Ruland 1990) durch den Wechsel vom Prinzip defined benefits zum Prinzip defined contributions (Hinrichs 2004: 276) ohnehin stark relativiert worden ist, wurde es in der Diskussion um die so genannte „Rentengarantie“ diskursiv revitalisiert und materiell neu aufgelegt. Mit einer Schutzklausel sollte garantiert werden, dass Teilhabe sich allein auf den Zuwachs und nicht auch auf einen Rückgang in der für die Berechnung der Rente relevanten Lohn- und Gehaltsentwicklung bezieht. Doch die mit einer verhinderten negativen Rentenanpassung, also Nichtanpassung nach unten, entstehenden Kosten werden mit künftigen positiven Rentenanpassungen verrechnet, so dass eine Status sichernde Wirkung der „Rentengarantie“ letztendlich ausbleibt. Die Garantie erweist sich demnach als nicht nachhaltig, da ab 2011 tatsächlich ausgebliebene Rentenminderungen neutralisiert werden müssen (BGBl. I 2007: 554). Mit zwei weiteren Gesetzen wandten sich Sozialdemokraten und Grüne vom Statusschutz als Ziel des bundesdeutschen Sozialstaats ab: Im „Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt“ (BGBl. I 2003: 3002, vom 23.12.2003) schrieben sie eine grundsätzliche Beschränkung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld von bis dahin 32 Monaten auf 12 Monate, bei über 55-jährigen mit mindestens dreijähriger Beitragszeit auf maximal 18 Monate. Am gleichen Tag wurde mit dem „Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (BGBl. I 2003: 2954) die Grundsicherung für Arbeitssuchende erlassen, welche für Langzeitarbeitslose eine nahezu vollständige Abkopplung vom Statusschutz bewirkte. Statt des relativen Statusschutzes, wie ihn die Arbeitslosenhilfe gewährte, erhalten Langzeitarbeitlose unabhängig vom vorherigen Lohneinkommen eine bedarfsfestgelegte und bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherung, das so genannte Arbeitslosengeld II nach dem SGB II. Diese Mindestsicherung enthält nur noch eine geringfügige Anerkennung vorheriger Erwerbstätigkeit: Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die Arbeitslosengeld II im Anschluss an das Arbeitslosengeld nach dem SGB III (Arbeitslosengeld I) beziehen, erhalten einen gestuften und auf zwei Jahre begrenzten Zuschlag (§ 24 SGB II). Den Statusschutz bei Arbeitslosigkeit hat die Große Koalition teilweise wieder hergestellt. Seit dem 01. Januar 2008 erhalten Arbeitslose nach Vollendung des 58. Lebensjahres, die vor Beginn der Erwerbslosigkeit 48 Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, statt der 18 Monate insgesamt 24 Monate Arbeitslosengeld I (BGBl. I 2008: 681). Beide Maßnahmen sind ein Hinweis darauf, dass zeitnah effektive Einschränkungen des Statusschutzes im Gegensatz zu den erst deutlich später wirksamen Maßnahmen in der Rentenversicherung politischen Widerstand hervorrufen, der zu einer wenn auch nicht im Prinzip, so doch graduellen Rückkehr zum Statusschutz geführt hat. Die wesentlichen Motive des Leitbildes „aktivierender Sozialstaat“ führt die Große Koalition in ihrem Sozialbericht 2009 (BT-Drs. 16/13830) fort: Sozialpolitik soll „gesellschaftliche Teilhabe und Integration durch Aktivierung und Befähigung“ (BT-Drs. 16/13830: 18) sichern. Sozialpolitik laufe dabei stets Gefahr, perverse Effekte in dem Sinne hervorzurufen, dass genau das Gegenteil des Erwünschten erreicht werde, sprich: statt Teilhabe werde Abhängigkeit erzeugt. Daher betont die Große Koalition im Einklang mit dem Aktivierungsdiskurs das Ziel, „dauerhafte Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung zu vermeiden“ (BT-Drs. 16/13830: 18). Wie zuvor werden Transferleistungen nicht bereits als an sich wünschenswerte Erweiterung der Handlungsoptionen der Einzelnen betrachtet, sondern allenfalls als Vorform wirklicher Teilhabe als Teilnahme am Arbeitsmarkt: „Erwerbstätigkeit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für Teilhabe in unserer Gesellschaft“ (BT-Drs. 16/13830: 19). Einer Sozialpolitik als Förderung der Teilhabe als Teil-
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nahme am Arbeitsmarkt weist die Große Koalition in ihrem Sozialbericht neben der üblichen legitimatorischen, politischen und sozialen Bedeutung insbesondere ökonomische Funktionen zu (Kaufmann 1997: 34-47). Die ökonomische Bedeutung wird dabei für zwei Dimensionen angegeben: für den Normal- und Ausnahmefall. Im Normalfall hat Sozialpolitik in Folge des Aktivierungsleitbildes einen Beitrag zur möglichst umfassenden Ausschöpfung des verfügbaren Arbeitskräftepotenzials zu leisten. Damit unterscheidet sich der aktivierende Sozialstaat grundsätzlich von seinen Vorgängern, denen Vollbeschäftigung auch als Ziel galt, dieses Ziel jedoch definitorisch anders gefasst war: Vollbeschäftigung war quantitativ „bescheidener“, da es mit einer Teilbrachlegung des Arbeitskräftepotenzials einherging und qualitativ androzentrisch war, da insbesondere im Rahmen des Familienernährermodells die Arbeitskraft von Frauen durch sozial- und steuerpolitische Anreize brachgelegt worden war.4 Als Folge dieser wettbewerbsorientierten Aktivierung des gesamten Arbeitskräftepotenzials kann auch die zwischen 2012 und 2029 schrittweise Anhebung des Renteneintrittalters von 65 auf 67 Jahre durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz (BGBl. I 2007: 554) interpretiert werden, in der Problemdefinition des Gesetzentwurfes führt die Große Koalition als Ursachen die demographische Entwicklung an, die insbesondere in zu niedrigen Geburtenraten und steigender Lebenserwartung bestehe und folglich aufgrund steigender Ausgaben durch längere Rentenbezugszeiten zu Finanzierungsproblemen führe. Darüber sei es wettbewerbspolitisch notwendig, das Humanvermögen Älterer weiterhin zu nutzen (BT-Drs. 16/3794: 1). Die Verlängerung der Kommodifizierung der Arbeitskraft Älterer strebt die Große Koalition dabei sowohl durch negative Anreize – also faktische individuelle Rentenkürzungen (Rentenabschläge) bei vorzeitigem Renteneintritt aufgrund von Nichterwerbsbeteiligung im Alter – und durch spezielle arbeitsmarktpolitische Instrumente wie der „Initiative 50plus“ an. Die aktivierende Sozialpolitik zielt im Einklang mit der europäischen Beschäftigungspolitik (Büchs 2007) auf eine Optimierung der Beschäftigungsfähigkeit der Bevölkerung und Maximierung der Beschäftigungsquote aus wettbewerblichen Gründen (BT-Drs. 16/13830: 18). Daher rückte für den Normalfall die Frage in den Mittelpunkt, wie zum einen die Notwendigkeit und zum anderen die Möglichkeit der Arbeitsmarktteilnahme sozialpolitisch geformt werden könnte. Zwei Programme sind hierfür beispielhaft: Das Elterngeld und die Grundsicherung für Arbeitssuchende. 3
Familienpolitik mit Marktzufuhreffekt
Mit dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) setzte die Große Koalition 2006 die transferrechtliche Komponente der exit-Option bei Elternschaft in Form einer steuerfinanzierten Erwerbseinkommensersatzleistung ein, die mit einem Mindestbetrag bei geringem oder nicht vorhandenem Einkommen gesockelt ist. Die transferrechtliche Ausgestaltung des Elterngeldes unterscheidet sich gravierend vom früheren Bundeserziehungsgeld (BErzGG). Während zuvor die Transferleistungen mit sinkendem Einkommen bis zu einem Maximalbetrag stiegen, sinken nun die Transferleistungen mit sinkendem Einkommen bis zu einem Minimalbetrag und steigen die Transferleistungen mit steigendem Einkommen bis zu einem Maximalbetrag. Im Vergleich zum Erziehungsgeld erhalten Nichtverdiener mit 4 Zur Teilbrachlegung und somit angebotsseitig quantitativen Regulierung des Arbeitsmarktes zählte des Weiteren die Ausdehnung der Ausbildungszeiten sowie die Frühverrentung.
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dem Elterngeld im schlechtesten Fall 50 Prozent weniger Leistungen, insofern zielt das Elterngeld anders als die Bundesregierung in der Begründung des Gesetzentwurfes darlegt nicht so sehr auf die „Sicherung der Lebensgrundlage“ und eröffnet auch nicht bloß einen „Schonraum, damit Familien ohne größere finanzielle Nöte in das Familienleben hineinfinden können“ (BT-Drs. 16/1889: 15). Im Mittelpunkt steht eine von der Bundesregierung als „Nachteilsausgleich“ bezeichnete Politik, die den sozialen Status und die soziale Ungleichheit vor der Phase der Elternschaft während dieser Phase konserviert (BT-Drs. 16/9215: 1). Während beim Arbeitslosengeld I und II die graduelle Rücknahme der Einschränkung des Statusschutzes aufgrund des politischen Druckes erfolgte, rückt mit dem Elterngeld ein Motiv für den Statusschutz in den Mittelpunkt, das in den Sozialversicherungen zwar stets vorhanden ist, aber nicht diese herausragende Bedeutung hat: Der Statusschutz mit dem Elterngeld dient der Kommodifizierung von Arbeitskraft, ist also als eine Transferleistung mit Marktzufuhreffekt angelegt. Mit der nach oben gekappten, nach unten gesockelten und bei Einkommen unter 1000 Euro ersatzratenerhöhten Äquivalenz von Erwerbseinkommen und Transferleistung will die Bundesregierung den bis zur Familiengründung erreichten Lebensstandard durch „kontinuierliche Einkommensverläufe“ (BT-Drs 16/9215: 16) sichern. Sie senkt damit, wie sie im ersten Bericht zum Bundeselterngeld- und Bundeserziehungszeitgesetz (BT-Drs. 16/10770) betont, bevölkerungspolitisch motiviert die Opportunitätskosten von Elternschaft. Geschlechterpolitisch motiviert soll das Elterngeld die Opportunitätskosten von aktiver Vaterschaft senken.5 Arbeitsmarktpolitisch zielt die Vereinbarkeitspolitik zum einen auf die Angebotsseite. Dort wirkt die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte in die Elternschaft dann nachteilig, wenn ein Mangel an Fachkräften besteht, der durch Immigration nicht ausgeglichen werden kann oder soll. Vereinbarkeitspolitik, so die Argumentation der Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf zum Elterngeld, verhindere „ein ansonsten aufgrund der demographischen Veränderungen sinkendes Angebot insbesondere von Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt“ (BT-Drs. 16/1889: 18). Das arbeitsmarktökonomische Argument für eine Vereinbarkeitspolitik zielt dementsprechend darauf, eine nationale, gut ausgebildete Stille Reserve zu vermeiden oder zu mobilisieren. Nachfrageseitig generiert diese (re-)entry-Politik einen wachsenden Bedarf an haushaltsnahen Dienstleistungen. Wenn Kinderbetreuung weder durch die Eltern noch über Verwandte oder Nachbarn, also nicht informell und in der Gemeinschaftsform verbleibend geregelt werden kann, dann entsteht ein Bedarf an formeller, staatlich oder marktförmig organisierter Kinderbetreuung. Diese Ausprägung einer „commodification of care“ (Lewis/Giullari 2005) kann als steigende Nachfrage nach haushalts- und personennahen Dienstleistungen und damit auf die Nachfrageseite des Arbeitsmarktes wirken. Die Realisierung dieses Bedarfs als Nachfrage wird steuerrechtlich begünstigt: Sowohl die Kosten für ein haushaltsnahes Dienstleistungsverhältnis im Rahmen eines Mini-Jobs als auch die erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten – letztere hat die Große Koalition mit dem Familienleistungsgesetz (BGBl. I 2008: 2955) konzentriert und deutlich ausgeweitet – können steuerlich geltend gemacht werden. Zu den arbeitsökonomischen Argumenten lassen sich drei weitere ökonomische Argumente ergän5 Obwohl die Väterbeteiligung im Vergleich zu den Bedingungen unter dem BErzGG von 4,9 Prozent in 2003 (umfragegenerierter Wert, BT-Drs. 15/3400: 15) bzw. 3,5 Prozent (prozessgenerierter Wert, Antragsstatistik Statistisches Bundesamt) in 2006 deutlich gestiegen ist, beschränkt die Mehrheit der „aktiven“ Väter diese Aktivität auf die so genannten zwei Partnermonate (Statistisches Bundesamt 2007; siehe auch den Beitrag von Ehlert in diesem Band).
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zen, von denen die Bundesregierung zwei anführt. Für Betriebe könne zwar einerseits eine steigende Anzahl von Arbeitnehmern in Elternzeit dann eine Belastung bedeuten, wenn Väter auf die Anreize des Gesetzes reagieren. Andererseits rechnet die Bundesregierung durchschnittlich mit kürzeren exit-Phasen, die einen Kostenvorteil für Arbeitgeber erzeugen. Mit der (re-)entry-Politik verbunden seien „sinkende Qualifikationskosten und geringerer Aufwand für Ersatzeinstellungen“ (BT-Drs. 16/1889: 18). Gesamtwirtschaftlich würden zum einen Kosten gesenkt, wenn durch die Vereinbarkeitspolitik weniger für die sozialer Sicherung ausgegeben wird. Die Bundesregierung folgt in ihrer Begründung einer workfare-Logik, indem sie ihre Argumentation erstens auf die Abhängigkeit erzeugenden Wirkungen staatlicher Transferleistungen aufbaut und zweitens die Teilnahme am Arbeitsmarkt alternativlos als Gegenteil von Abhängigkeit konstruiert (BT-Drs. 16/1899: 2). Gesamtwirtschaftlich entstünden zum anderen dann Kosten, wenn öffentliche Investitionen insbesondere in Form einer Hochschulausbildung inadäquat, das heißt ineffizient, eingesetzt würden: akademisch gebildete Hausfrauen sind aus dieser Sicht eine Fehlinvestition. 4
Market workfare in der Mindestsicherungspolitik
Mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende als Zweites Buch des Sozialgesetzbuches schloss die rot-grüne Bundesregierung die Kategorialisierung bzw. Differenzierung der Mindestsicherung nach Würdigkeitskriterien ab. Das System sozialer Sicherung, aufgeteilt in das „Souterrain“ der Sozialhilfe und die „Beletage“ der Sozialversicherungen (Rosner 1990: 289), wurde ausgehend von einer Reform der Mindestsicherung restrukturiert, in den letzten zwölf Jahren des Bundessozialhilfegesetzes – 1993 bis 2005 – sind vier Adressatengruppen ausgegliedert worden: 1993 Asylbewerber durch das Asylbewerberleistungsgesetz im Rahmen des Gesetzes zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber,6 1995 und 1996 Pflegebedürftige durch das Pflege-Versicherungsgesetz,7 2003 Erwerbsunfähige und Hilfesuchende nach Erreichen der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung durch die Einführung der bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Rahmen des Altervermögensgesetzes8 und 2005 Erwerbsfähige und deren Haushaltsangehörige durch die Grundsicherung für Arbeitssuchende, die mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt9 als Zweites Buch des Sozialgesetzbuches eingeführt worden ist. Ein Ergebnis des Differenzierungsprozesses ist, dass mit den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen eine Gruppe besteht, die von einer workfare-Politik adressiert werden kann. Das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ wurde im Dezember 2003 verabschiedet, die Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) trat jedoch 6 Gesetz zur Neureglung der Leistungen an Asylbewerber vom 30.06.1993, BGBl. I 1993, S. 1074, inkrafttreten 01.11.1993. 7 Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG), vom 26.05.1994, BGBl. I 1994, S. 1014. Das Pflege-VG trat gestaffelt in Kraft: Beginn Beitragszahlungen mit 01.01.1995, Leistungen zur häusliche Pflege 01.04.1995, Leistungen zur stationären Pflege 01.07.1996. 8 Artikel 12 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvermögens (Altersvermögensgesetz – AVmG), vom 26.06.2001, BGBl. I 2001, S. 1310; Artikel 12 ist am 01.01.2003 in Kraft getreten. 9 Artikel 1 des Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, vom 24.12.2003, BGBl. I 2003: 2954, inkrafttreten des SGB II: 01.01.2005.
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erst im Januar 2005 in Kraft. Seitdem ist es mehrfach, unter anderem noch in der 15. Legislaturperiode, geändert worden. Die große Koalition hat insgesamt die politische Ausrichtung der neuen Mindestsicherung aufgenommen und ausgebaut: Hervorzuheben sind hierbei insbesondere das fürsorgelogische Prinzip der strikten Nachrangigkeit und der familialen Subsidiarität, das für unter 25-jährige erwerbsfähige Hilfebedürftige dazu führte, nicht mehr als eigenständige Erwachsene, sondern als Bestandteil ihrer elterlichen Bedarfsgemeinschaft adressiert zu werden. Folglich erhalten sie zum einem einen abgesenkten Regelsatz (80 %), und zum anderen müssen sie die Genehmigung des zuständigen Agentur einholen, wenn sie erstmals eine eigene Wohnung beziehen wollen. Mit dem gleichen Änderungsgesetz (BGBl. I 2006: 558) hob die große Koalition den Regelsatz für die neuen Bundesländer auf Westniveau (345 Euro),10 was der Stärkung der Fürsorgelogik nicht widerspricht, sondern auf entsprechende politische Forderungen vor allem aus Ostdeutschland und insbesondere der Opposition zurückzuführen ist. Nach der Fürsorgelogik wird Bedürftigkeit in zwei Dimensionen bemessen: in einer ökonomischen und in einer moralischen. Die erste Dimension umfasst die Überprüfung des Einkommens und des Vermögens. Im Bereich des Vermögens verschob die Große Koalition die Akzente, indem sie den allgemeinen Freibetrag für Vermögen absenkte (von 200 auf 150 Euro pro Person und Lebensjahr) und im Gegenzug den Freibetrag für private Altersvorsorge anhob (von 200 auf 250 Euro pro Person und Lebensjahr) (BGBl. I 2006: 1706). Zuvor hatte die Bundesregierung den Betrag, der für Empfänger des Alg II an die Rentenversicherung gezahlt wird, nahezu halbiert (von 78 auf 40 Euro), insgesamt stützte die Vermögenspolitik im Bereich des SGB II also die Politik der Schwächung der Gesetzlichen zugunsten der privaten Alterssicherung, die mit der so genannten Riester-Rente begonnen und u.a. mit der Entfristung der beitragsfreien Entgeltumwandlung fortgesetzt worden ist. Die moralische Bedürftigkeitsprüfung zielt über die für alle Bereiche des Sozialgesetzbuches geltende allgemeine Mitwirkungspflicht hinaus auf die Bereitschaft, die Arbeitskraft bedingungslos oberhalb einer sittlichen Untergrenze zu verkaufen oder zumindest die Verkaufsbereitschaft im ausreichenden Maße zu demonstrieren. Durchgesetzt wird diese Form der Bedürftigkeitsprüfung mit Sanktionen. Die große Koalition hat mehrfach (BGBl. I 2006: 1706; BGBl. I 2007: 2326; BGBl. I 2008: 2917) sowohl die Sanktionstatbestände ausgeweitet als auch die Sanktionsformen restriktiver gestaltet. Hervorzuheben ist in diesem Zusammen insbesondere das „Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende“ vom 20.07.2006 (BGBl. I 2006: 1706), mit dem festgelegt wurde, dass erwerbsfähigen Hilfeempfängern, die in den letzen zwei Jahren zuvor weder Leistungen nach dem SGB II noch nach dem SGB III bezogenen hatten, ein Sofortangebot gemacht werden soll. Das neue Instrument dient, so die Begründung im Gesetzentwurf (BT-Drs. 16/1410), zum einen der Vermeidung und Vorbeugung von Hilfebedürftigkeit und zum anderen der Überprüfung der „Bereitschaft des Hilfesuchenden zur Arbeitsaufnahme“ (BT-Drs. 16/1410: 21). Dieses Instrument der moralischen Bedürftigkeitsprüfung ist sanktionsbewehrt, erweitert also den Katalog der Sanktionstatbestände des SGB II. Im Bereich der Sanktionsfolgen ist für erwerbsfähige Hilfeempfänger unter 25 Jahren eine maximale Sanktionsfolge insofern festgelegt worden, als dass sämtliche Leistungen, einschließlich der Kosten für die Unterkunft, gestrichen werden können bzw. die Kosten für die Unterkunft nach Konformitätsbekundungen des Leistungsempfängers als Kann-Leistung gewährt werden. 10
Inzwischen ist der Regelsatz im Zuge der Rentenanpassung auf 359 Euro gestiegen.
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Anders als im BSHG sind in-work benefits im SGB II keine Randerscheinung, sondern sie nehmen eine zentrale Stellung ein. Im Rahmen des SGB II sollen sie dem allgemeinen Ziel der „schnellen und passgenauen Eingliederung in Arbeit“ (BT-Drs. 15/1516: 2) dienen, indem sie das Einkommen aus dem Verkauf der Arbeitskraft erhöhen oder die Lohnkosten senken. Für die Anbieter der Arbeitkraft wird ein Anreiz gesetzt, die Arbeitskraft erstmalig anzubieten oder das Angebot auszuweiten. Der Anreiz erfolgt über einen direkten oder indirekten Zuschuss zum erzielbaren Marktlohn in Form eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses (Einstiegsgeld, Freibeträge bei Erwerbstätigkeit) oder in Form einer selbständigen Tätigkeit (Einstiegsgeld). In der 16. Legislaturperiode wurden die in-work benefits ausgebaut, indem zwar einerseits die Arbeitsbeschaffungsmaßnahen für SGB II Empfänger gestrichen worden sind (BGBl. I 2008: 2917), andererseits jedoch mit dem Beschäftigungszuschuss „als Ausgleich der zu erwartenden Minderleistung des Arbeitnehmers“ (§ 16a Abs. 1 SGB II, i.d.F. BGBl. I 2008: 2917) für Langzeiterwerbslose mit besonderen Vermittlungshemmnissen und dem auf Leistungsempfänger des SGB II sowie regional nach Arbeitslosenquote beschränkten Bundesprogramm Kommunal-Kombi der Adressatenkreis von Lohnsubventionen erweitert und differenziert worden ist. Beide Instrumente sind erfolglos. So ist absehbar, dass die mit dem Bundesprogramm Kommunal-Kombi und dem im SGB II verankerten Beschäftigungszuschuss „JobPerspektive“ jeweils angestrebten zusätzlichen 100.000 Arbeitsplätze nicht erreicht werden (BT-Drs. 16/12579; BT-Drs. 16/13282). Die Statistik des Bundesverwaltungsamtes, das das Programm durchführt, weist zum 01.09.2009 insgesamt 12058 bewilligte Stellen aus (BVA 2009). Durch das Programm „JobPerspektive“ wurden im Zeitraum Oktober 2007 bis April 2009 31.204 Jobs gefördert (BT-Drs. 16/13282: 4). Die Lohnsubventionen im Rahmen des SGB II sind kategoriale Transferleistungen, weil sie auf das Ziel ausgerichtet sind, eine bestimmte Personengruppe – Hilfebedürftige in der Definition des SGB II mit weiterer Differenzierung nach Empfängergruppen – hinsichtlich eines bestimmten Zwecks – Vermeiden, Verringern oder Beenden von Hilfebedürftigkeit und somit des Bezugs von Arbeitslosengeld II – zu unterstützen. Sie wirken in Richtung Selbstverantwortung, verstanden als Arbeitsmarktteilnahme, jedoch auf der Basis allenfalls geringer Selbstbestimmung. Zum größten Teil sind die Lohnsubventionen im SGB II nicht individuell disponibel, das heißt die Adressaten können nicht selbst bestimmen, ob und wann sie die Instrumente einsetzen. Das größte Maß an individueller Disponibilität erreichen Leistungsempfänger im Bereich der hier diskutierten Lohnsubventionen mit der Hinzuverdienstregel: Entweder können Erwerbstätige, sofern ihr Markteinkommen unterhalb eines existenzsichernden Niveaus für Alleinstehende oder auch für eine Familie liegt, ergänzend Arbeitslosengeld II beantragen. Oder Empfänger von Arbeitslosengeld II nehmen eine Beschäftigung auf, die allein nicht existenzsichernd ist. Diese so genannten „Aufstocker“11 verfügen im Rahmen des SGB II über das größte Maß an Selbstbestimmung, anders formuliert: Wem sein Markteinkommen nicht ausreicht, die Existenz zu sichern, der ist frei, zusätzliche Mittel in Form von Transferleistungen zu beantragen; respektive: wer Transferleistungen nach dem SGB II erhält, ist frei, sie mit nicht existenzsichern11 Im April 2009 waren von den 4,9 Millionen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im Leistungsbezug des SGB II gut 1,3 Millionen (26,5 Prozent) erwerbstätig. Mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Leistungsbezieherinnen und bezieher (56,9 Prozent) übte eine geringfügige Beschäftigung auf dem Niveau eines Mini-Jobs aus (Einkommen 400 Euro), weniger als ein Fünftel (18,7 Prozent) übten Tätigkeiten im Midi-Job-Bereich aus (> 400 bis 800 Euro) und knapp ein Viertel (28,3 Prozent) verfügten über Markteinkommen über 800 Euro (BA 2009 und eigene Berechnungen; vgl. zur Diskussion Adamy 2008; Brenke/Ziemendorff 2008; Bruckmeier et al.2008).
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den Markteinkommen zu kombinieren. Eine optimistische Interpretation sieht in dieser Form der Selbstbestimmung eine Chance, dass insbesondere die Kombination aus nicht die Existenz sicherndem Einkommen – vor allem in Form eines Mini-Jobs – und Arbeitslosengeld II eine Brücke in eine Existenz sichernde Beschäftigung bilden könnte. Bisher spricht wenig für diesen Optimismus (RWI/ISG 2006 sowie die regierungsoffiziellen Evaluationsberichte BT- 16/505, 16/3982). Eine zweite Interpretation betont das Potenzial der Aufstockungsregel, Abhängigkeit im Sinne der Rationalitätsfalle oder deviantes Verhalten hervorzurufen: Unter den so genannten „Aufstockern“ könnte sich eine Gruppe befinden, die sich mit dem Kombieinkommen arrangiert und daher gar nicht anstrebe, ohne Transferleistungen auszukommen, weil eine Ausweitung des Arbeitskraftangebots sich entweder nicht „rechne“ oder ein Mini-Job plus Aufstockung durch SGB-II-Leistungen als „Tarnkappe“ für Schwarzarbeit (Luchtmeier/Ziemendorff 2007: 799) genutzt werde oder ohnehin eher die Freizeit als die Arbeitszeit als höheres Gut bewertet werde (Bonin et al 2007). Eine dritte Interpretation im Sinne des market workfare-Arguments bestätigt den in der zweiten Interpretation konstatierten Anreizmechanismus, bewertet ihn jedoch anders: es liege kein Fehlanreiz in der Anrechnungsregel oder Fehlverhalten seitens der Aufstocker vor, sondern die Aufstockung entspreche exakt dem intendierten Ergebnis: der Kombilohn ermögliche eine weitere Spreizung der Löhne nach unten, indem er das nicht existenzsichernde Markteinkommen durch einen Zuschuss individuell akzeptabel macht (SVRW 2006a). Aus gewerkschaftlicher Sicht birgt daher die individuelle Selbstbestimmung im Rahmen des SGB II die Gefahr, dass individuell rationale Entscheidungen zu kollektiver Irrationalität in Form eines insgesamt sinkenden Lohnniveaus führen (DGB 2008). Selbstgefährdung ist in dieser Interpretation eine Folge unregulierter Selbstbestimmung. Eine vierte, die Argumentation der dritten aufnehmende Interpretation hebt hervor, dass die Anrechnungsregel allein deshalb das höchste Maß an Selbstbestimmung biete, weil alle anderen Formen der Lohnsubvention diesbezüglich deutlich schlechter abschneiden. Diese zynische Interpretation kann sich darauf berufen, dass der Zugang zu den anderen Formen der in-work benefits im SGB II, zum Beispiel die Lohnsubvention mit Einstiegsgeld und die produktive Mindestsicherung mit den beiden Varianten der Arbeitsgelegenheiten, nicht an die Selbstbestimmung der Adressaten, sondern an das Ermessen der Fallmanager geknüpft ist. Die market workfare orientierte Transferleistung beruht in diesen Fällen entweder auf einer unter Kontrahierungszwang unterzeichneten Vereinbarung oder auf einem hoheitlichen Verwaltungsakt. Diese Formen der in-work benefits im SGB II wirken daher nicht allein oder zum Teil gar nicht über ökonomische Anreize. Sobald eine Lohnsubventionierung durch den Fallmanager angeboten wird, kann der Kunde, also der erwerbsfähige Leistungsempfänger, das Angebot nur dann ablehnen, wenn er einen aus Sicht des Fallmanagers akzeptablen Grund vorweisen kann oder bereit ist, Leistungskürzungen zu verkraften, inwieweit positive Anreize in Form von Lohnsubventionen im Rahmen des SGB II tatsächlich in dem Sinne wirken, dass Arbeitskraft erstmalig, erneut oder erweitert angeboten wird, ist daher grundsätzlich fragwürdig. 5
Sonderform „Ein-Euro-Jobs“
Die rot-grüne Bundesregierung hat das Instrument der „Arbeitsgelegenheit“ in der Mehraufwandsentschädigungsvariante explizit als Fortsetzung der bereits seit 1961 bestehenden
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(BGBl. I 1961: 815) und bis Ende 2004 im BSHG geltenden Regelung der Mehraufwandsentschädigungsvariante der Hilfe zur Arbeit eingeführt (BT-Drs. 15/1516: 54).12 Die Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsentschädigungsvariante werden abgekürzt als „MAE“ oder synonym als „Zusatzjobs“ oder „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet. Das Instrument „Ein-Euro-Job“ umfasst rechtliche, ökonomische und pädagogische Interventionen. Rechtlich betonen die Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsentschädigungsvariante den Status der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen als behördlich verfügbare Arbeitskräfte. Wie zuvor im BSHG sind die „Ein-Euro-Jobs“ eine Form der moralischen Bedürftigkeitsprüfung, insofern mit ihnen die Arbeitsbereitschaft überprüft werden soll, inwiefern die EinEuro-Jobs einen ökonomischen Anreiz für die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bieten, ist umstritten. De facto hängt der ökonomische Anreiz hängt davon ab, ob die Mehraufwandsentschädigung als zusätzliches Einkommen verfügbar ist oder im vollen Umfang für die tatsächlichen Mehraufwendungen verbraucht wird, in den an die durchführende Verwaltung gerichteten „Arbeitshilfen“ 2005 für die Anwendung der Arbeitsgelegenheiten empfahl die Bundesagentur für Arbeit, die Höhe der Mehraufwandsentschädigung so zu bemessen, „dass ein Anreiz zur Aufnahme einer entsprechenden regulären Beschäftigung nach tariflicher oder ortsüblicher Entlohnung besteht“ (BA 2005: B 1.3 5b), in der „Arbeitshilfe“ 2007 ist diese Marktlohnabstandsklausel nicht mehr enthalten (BA 2007a: B 3.1).13 Darüber ist wie bereits im Rahmen des BSHG die Möglichkeit gesehen, dass die Arbeitsgelegenheit für Bezieher von Leistungen dann Kosten verursacht, wenn ob des Zeitaufwandes für den EinEuro-Job kein Einkommen aus einer illegalen Tätigkeit erzielt werden kann. De jure ist die Entschädigung des Mehraufwandes ohnehin an der Bedarfs- und nicht an der Entgeltlogik ausgerichtet und somit nicht als ökonomischer Anreiz angelegt (Bieritz-Harder 2005). Als pädagogische Intervention zielt das Instrument der Ein-Euro-Jobs auf die Erhaltung oder die Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit: Es soll verhindern, dass die Entqualifizierung der Verkäufer der Arbeitskraft unter das Niveau grundlegender Anforderungen wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit von Abläufen usw. sinkt. EinEuro-Jobs können aus dieser Sicht sowohl der Resozialisierung Einzelner im Sinne einer Arbeitsethik konformen Lebensführung dienen als auch zur Erprobung im Sinne eines verlängerten assessment herangezogen werden, um – so die Auffassung der Großen Koalition – „Erkenntnisse über Eignung und Qualifikation, Motivation und Arbeitsbereitschaft der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“ ermitteln zu können und dadurch „zur Entwicklung weiterführender Integrationsstrategien“ (BT-Dr. 16/8934: 3) beizutragen. Mit den Ein-EuroJobs wird ein Arbeitstest als Form moralischer Bedürftigkeitsprüfung durchgeführt, und zugleich sollen Ein-Euro-Jobs als Integrationsinstrument eingesetzt werden. Die pädagogischen Maßnahmen setzen voraus, dass in jedem Fall entsprechende Defizite festgestellt und ein angemessener Ein-Euro-Job zugewiesen wird. Dementsprechend argumentiert bereits die rot-grüne Bundesregierung, dass die Zusatzjobs „grundsätzlich die erste Stufe einer Eingliederungsleiter“ (BT-Drs. 15/5191: 5) bildeten. Sowohl hinsichtlich der finanziellen Aufwendungen14 als auch hinsichtlich der Teilnehmerzahl15 ist die Arbeitsgelegenheit in der Mehraufwandsentschädigungsvariante das 12 Zur älteren Diskussion im Rahmen der „Hilfe zur Arbeit“ (BSHG) siehe Hoppensack/Wenzel (1985) sowie Berlit (1999). 13 Bundesweit wurde in 2007 im Durchschnitt eine Mehraufwandsentschädigung in Höhe von 1,25 Euro pro Stunde gezahlt (vgl. BA 2008a). 14 Angaben nach BT-Drs. 16/8934: 2 und Anlage 1; Statistik BA. Einnahmen und Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit (Abrechnungsergebnisse im Haushaltsjahr); eigene Berechnungen.
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gewichtigste Instrument im Rechtskreis des SGB II. Für Arbeitsgelegenheiten wurden 2005 und 2006 mehr als ein Drittel der insgesamt 3,1 Milliarden bzw. 3,8 Milliarden Euro im Eingliederungstitel SGB II ausgegeben, in 2007 betrug der Anteil noch knapp ein Drittel (31,3 Prozent) der insgesamt 4,2 Milliarden Euro, in 2008 29,2 Prozent der insgesamt 4,8 Milliarden Euro. Darunter betrug allein der Anteil der Ausgaben für Ein-Euro-Jobs an den Gesamtausgaben im Eingliederungstitel SGB II in 2005 und 2006 rund 29 Prozent und in 2007 knapp ein Viertel (24,1 Prozent) sowie in 2008 gut ein Fünftel (21,5 Prozent). Aufgrund des massenhaften Zugangs zu den Zusatzjobs – in 2005 wurden über 600.000 neue „Ein-Euro-Jobber“ registriert, in 2006 waren es 700.000, in 2007 über 660.000 und in 2008 noch über 640.000 – muss bezweifelt werden, dass das pädagogische Ziel der Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit im Vordergrund steht. Der Anteil der Ein-Euro-Jobber am jahresdurchschnittlichen Bestand aller Teilnehmer an arbeitsmarkpolitischen Instrumenten im Rechtskreis des SGB II betrug 2005 mehr als ein Drittel und sank bis 2007 auf knapp ein Fünftel. Trotz des Rückganges der Bestands- und Zugangszahlen sind demgegenüber die entsprechenden Anteile der durch andere Lohnsubventionen geförderten Teilnehmer als sehr gering zu bezeichnen: für das Instrument Eingliederungszuschüsse betrug der Bestandswert in 2005 gut vier Prozent und in 2007 gut sieben Prozent; der Anteil der Teilnehmerbestandszahlen beim Einstiegsgeld in abhängige Beschäftigung stiegt von 0,2 Prozent in 2005 auf 1,1 Prozent 2007, und der Anteil für das Einstiegsgeld in Selbständigkeit stieg von 1,4 Prozent in 2005 auf 2,6 Prozent in 2007.16 Neu am Instrument der Ein-Euro-Jobs ist also zweierlei: zum einen die Bezeichnung und zum anderen die massenhafte Anwendung des Instruments, die weit über die Anwendungshäufigkeit der Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsentschädigungsvariante im BSHG bis 2004 hinausreicht. De facto handelt es sich bei den Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsentschädigungsvariante um eine Form der „produktiven“ Mindestsicherung: bedürftigkeitsgeprüfte Transferleistungen werden sanktionsbewehrt bei Verrichtung von im öffentlichen Interesse liegenden Tätigkeiten gewährt. Die Gewährung der Transferleistung wird – obwohl dies im Gesetz so nicht vorgesehen ist (Bieritz-Harder 2005) – an eine Gegenleistung in Form des Einsatzes der Arbeitskraft geknüpft. Da die Zusatz-Tätigkeiten nicht in arbeitsrechtlicher, sondern sozialrechtlicher Form verrichtet werden, stellen sie eine Form von workfare without work dar, die ob der Kriterien der Gemeinnützigkeit und Zusätzlichkeit auf den ersten Blick keine Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. Aus der Kritik, die der Bundesrechnungshof in seinen Berichten zum SGB II 2006 und 2008 übte, und aus den Forschungsergebnissen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Bellmann et al 2006; Hohendanner 2007; Hohmeyer et al 2006; Kettner/Rebien 2007; Wolff/Hohmeyer 2008) geht hervor, dass statt Integration in den Arbeitsmarkt negative Wirkungen auf den Arbeitsmarkt bestünden. So kritisiert der Bundesrechnungshof in Berichten aus den Jahren 2006 und 2008, dass die Förderkriterien – Zusätzlichkeit, Gemeinnützigkeit, Bestehen eines öffentlichen Interesses, Wettbewerbsneutralität (BA 2005: B 6) – für die Einrichtung von Ein-Euro-Jobs in einem Viertel (Bericht 2006) beziehungsweise zwei Dritteln (Bericht 2008) der Fälle nicht beachtet worden seien (Bundesrechnungshof 2006, 2008; BT-Drs. 16/9545), insbesondere rügte der Bundesrechnungshof (2008), dass im Rahmen der Ein-Euro-Jobs
15
Siehe Statistik der BA http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/detail/a.html. Förderstatistik der BA (http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/detail/f.html) und eigene Berechnungen. 16
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reguläre Aufgaben öffentlicher Träger verrichtet worden seien. Daher könnten Substitutionsoder Verdrängungseffekte nicht ausgeschlossen werden.17 Die ökonomischen Anreize für die Arbeitgeber sind bezüglich der Lohnkosten eindeutig, da bei Ein-Euro-Jobs der Lohnkostenzuschuss 100 Prozent beträgt. Für Maßnahmeträger setzt die Trägerpauschale einen zusätzlichen Anreiz, Ein-Euro-Jobs einzurichten, insbesondere dann, wenn der zweckgemäße Einsatz der Pauschale – das Abdecken tatsächlich entstandener Maßnahmekosten – nicht ausreichend überprüft wird (Bundesrechnungshof 2006: 4, 16) und die Trägerpauschale für die Absicherung der ökonomischen Existenz des Betriebes eingesetzt wird (Bellmann et al 2006). Die in der Förderstatistik der Bundesagentur als Maßnahmenkostenpauschale bezeichnete Trägerpauschale betrug für Ein-Euro-Jobs durchschnittlich 322 Euro in 2005, 258 Euro in 2006 und 240 Euro in 2007 (BA 2006, 2007a, 2008b). Die verfügbare Arbeitszeit ist ein weiterer Anreiz: Je kürzer die Arbeitszeit, desto geringer die Substitutionsgefahr. Gemäß der von der Bundesagentur für Arbeit herausgegebenen Arbeitshilfe für Arbeitsgelegenheiten soll die Arbeitszeit 30 Wochenstunden nicht überschreiten (BA 2007a). Tatsächlich beträgt die Arbeitszeit seit 2005 in mehr als zwei Drittel aller Ein-Euro-Jobs 30 Wochenstunden (2005: 68,4 Prozent, 2006: 69,4 Prozent, 2007: 68, 1 Prozent; BA 2006, 2007b, 2008a). Ein Nebeneffekt langer Wochenarbeitszeiten ist, dass ab einer Arbeitszeit von mehr als fünfzehn Stunden in der Woche der Ein-EuroJobber nicht mehr als arbeitslos gilt und dementsprechend nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik erfasst wird (§ 16 SGB III). Substitutionseffekte sind insbesondere auch dann zu erwarten, wenn im Rahmen von Ein-Euro-Jobs nicht ausschließlich so genannte arbeitsmarktferne Gruppen, sondern auch Arbeitssuchende beschäftigt werden, deren Beschäftigungsfähigkeit durch Ein-Euro-Jobs gar nicht erweitert werden kann. 6
Mindestlohn contra workfare?
Mit dem neugefassten Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) und dem veränderten Mindestarbeitsbedingungsgesetz (MiArbG) sind im April 2008 zwei Gesetze modifiziert respektive reaktiviert worden, die bereits seit 13 respektive seit 56 Jahren bestehen (BGBl. I 2009: 799 und BGBl. I 2009: 818). Das 1996 verabschiedete Arbeitnehmer-Entsendegesetz zielte ursprünglich auf die Verpflichtung im Ausland ansässiger Arbeitgeber, gegenüber ihren in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern die hier geltenden Arbeitsbedingungen einzuhalten. Es galt zunächst im Wesentlichen für die Baubranche und wurde dann in zwei Schritten zunächst zum 01.07.2007 auf das Gebäudereinigerhandwerk (BGBl. I 2007: 576) und anschließend auf die Branche der Briefdienstleistungen zum 28.12.2007 ausgedehnt (BGBl. I 2007: 3140), bevor mit der Neufassung 2008 sechs weitere Branchen18 aufgenommen worden sind. Während das AEntG bereits praktische Bedeutung hatte, war das Mindestarbeitsbedingungsgesetz von 1952 bis 2008 praktisch ohne Bedeutung (Bispinck/ Schäfer 2006). Beide regeln zwei unterschiedliche Verfahren, Mindestlöhne gesetzlich festzulegen. Ihr jeweiliger Anwendungsbereich scheidet an dem Grad der Tarifbindung: 17
Zu den Formen von Substitution siehe Kettner und Rebien (2007). Sicherheitsdienstleistungen, Bergbauspezialarbeiten, Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst, Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach SGB II und SGB III (vgl. § 4 AEntG). 18
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Sind mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einer Branche bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt, so wird über Mindestlöhne nach den Verfahrensregeln des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes entschieden. Liegt der Grad der Tarifbindung unterhalb der 50 Prozent-Marke, ist ein Verfahren nach dem Mindestarbeitsbedingungsgesetz möglich. Mit den Beschlüssen zum Mindestlohn habe sich die Bundesregierung, so der Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVRW), „auf einen beschäftigungspolitischen Irrweg begeben“ (SVRW 2008: Tz. 580). Eindringlich fordern die so genannten Wirtschaftsweisen daher eine „rasche Umkehr“ (SVRW 2008: Tz. 580). Die Argumente der Diskussion um den Mindestlohn können in ökonomische, sozio-moralische und politische gruppiert werden. Politisch ist der Positionswandel der Gewerkschaften von Bedeutung. Lehnten sie einst gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden jede staatliche Einmischung in die Lohnpolitik als unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie ab, wuchs mit der Erosion der Tarifbindung in den niedrig entlohnten Bereichen auch das Interesse der Gewerkschaften, über das Instrument des Mindestlohns Einfluss zu nehmen. Das gelingt insbesondere dann, wenn die Gewerkschaften am Verfahren der Mindestlohnfestsetzung beteiligt sind, wie es zum Beispiel in Großbritannien in der Low Pay Commission der Fall ist und in Deutschland das Mindestarbeitsbedingungsgesetz für das Verfahren zur Festsetzung der Mindestlöhne in Form des Hauptausschusses und der Fachausschüsse vorsieht. Ähnlich wie die Diskussion um das SGB II konzentriert sich also auch die Mindestlohndebatte um die Frage, wie die staatliche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Anerkennungsverhältnisse beeinflusst. Mindestlöhne und market workfare weisen eine grundlegende normative Gemeinsamkeit auf: Sie geben der Teilnahme am Arbeitsmarkt Vorrang gegenüber anderen Formen der Teilhabe an der Gesellschaft, wie sie alternativ zum Beispiel in Konzepten eines bedingungslosen Grundeinkommens diskutiert werden (Vanderborght/Van Parijs 2005). Doch während im Konzept des market workfare Marktlöhne akzeptiert und durchgesetzt werden sollen, die allein nicht existenzsichernd sind und daher durch Transferleistungen in Form von in-work benefits aufgestockt werden, steht das Konzept der Mindestlöhne für einen gerechten und fairen Lohn, der oftmals mit der Maßgabe einhergeht, dass bei Verkauf der Arbeitskraft im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung der Einzelne mit dem damit erzielten Marktlohn seine Existenz sichern können müsse. Über eine ökonomische Bedeutung hinaus erlangt der Mindestlohn normativ eine soziomoralische und politische Bedeutung, indem mit dem Bezug eines existenzsichernden und Teilhabe ermöglichenden Mindestlohns „der erste Grad der Zugehörigkeit zu einem Arbeitnehmerstatus“ (Castel 2000: 333) signalisiert wird, mithin der „Arbeitsbürger“ (Ferber 1967) vom Fürsorge empfangenden Armen geschieden wird. Die ökonomischen Argumente im engeren Sinne unterscheiden sich je nach ökonomietheoretischer Ausrichtung. Währen den einen ein Mindestlohn eine notwendige Maßnahme darstellt, mit der ein Unterbietungswettbewerb im Niedriglohnbereich verhindert wird, sehen die anderen – so neben anderen die Mehrheit des Sachverständigenrates (2006b: Tz. 546-450, 2008: Tz. 576-578) – in Mindestlöhnen eine Gefährdung für die Teilnahme Geringqualifizierter am Arbeitsmarkt, da die Produktivität ihrer Arbeitskraft einem Marktlohn unterhalb der Lohnuntergrenze entspräche und demzufolge nicht nachgefragt würde. Mit Mindestlöhnen würden dieser Argumentation zufolge die gerade erst durch die Einführung von in-work benefits eingeschränkte faktische Mindestlohnfunktion von Transferleistungen konterkariert. Der theore-
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tische wie auch empirische Nachweis dieser Position ist jedoch sehr umstritten und wird neben anderen durch die Minderheitenposition von Bert Rürup im Sachverständigenrat zurückgewiesen (SVRW 2008: Tz. 581-583; Schulten 2006: 11-13). Entscheidend ist die Höhe des gesetzlich festgelegten Mindestentgeltes. Ein niedriger Mindestlohn gefährdet aus dieser Sicht keineswegs den Bestand an Arbeitsplätzen und dient darüber hinaus als fiskalpolitisches Instrument im Rahmen einer market workfare-Strategie, indem mit der Lohnuntergrenze auch eines Zuschussuntergrenze für in-work benefits und damit eine Begrenzung der fiskalischen Belastung festgelegt wird. Mindestlöhne als solche sind daher kein Widerspruch zur Strategie des market workfare. 7
Kurzarbeit als krisentauglicher in-work benefit
Workfare-Politik beschreibt die Wirkung von staatlicher Sozialpolitik als pervers: Statt Armut abzubauen oder gar zu vermeiden, würden bestimmte Transferleistungen Armut erzeugen. Aus dieser Sicht sind es nicht in erster Linie externe Faktoren, wie z.B. Arbeitslosigkeit und Globalisierung, die eine Schockwirkung von außen entfalten, oder, bezogen auf den deutschen Sozialstaat, Lohnarbeitszentriertheit, Vollbeschäftigung als Pflicht und Statussicherung, die als Steuerungspathologien bzw. Fehlkonstruktion interne Faktoren sind, sondern wesentlich bedeutsamer sind endogene Faktoren (Offe 1995). Die Krise des Sozialstaats wird als eine unintendierte Wirkung des Sozialstaats betrachtet, also als sozialstaatlich selbst verursacht erklärt. Die durch die Finanzmärkte ausgelöste Krise hat kurzfristig, wahrgenommen als Ausnahmefall, die Perspektive auf die Krise der Sozialpolitik verändert. Statt die Wirkung endogener Faktoren durch einen Umbau des Systems sozialer Sicherung zu bearbeiten, rückt das Abfedern einer Wirtschaftskrise mit den Mitteln kompensatorischer Sozialpolitik in Form des Kurzarbeitergeldes in den Mittelpunkt. Die aktuelle Politik mit der Arbeitslosenversicherung lässt sich nicht der Alternative defined benefits oder defined contributions zuordnen. Die Große Koalition führte ein zentrales Moment einer angebotsorientierten Arbeitsmarktpolitik – die Reduzierung des Preises für Arbeitskraft durch Stabilisierung oder Senkung der Sozialversicherungsbeiträge – fort: Jeweils zum 01. Januar 2008 und 2009 senkte sie die Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung von 4,2 auf 3,3 respektive auf 3,0 Prozent (BGBl. I 2007: 3245; BGBl. I 2008: 2860). Mit dem Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland (BGBl. I 2009: 416) wurde zum 01. Februar 2009 eine weitere, bis 31.12.2010 festgeschriebene und zeitlich begrenzte Senkung des Beitragssatzes auf 2,8 Prozent vorgenommen. Diese Beitragssenkungen kombinierten CDU/CSU und SPD mit Ausgabensteigerungen: Die Bezugsdauer für Arbeitslosengeld I für Ältere wurde verlängert (BGBl. I 2008: 681), und indem der Zugang für kurzfristig Beschäftigte zum Arbeitslosengeld I durch eine Verkürzung der Anwartschaftszeiten auf mindestens sechs Monate erleichtert wurde (BGBl. I 2009: 1939), sollte „insbesondere auch den besonderen Bedingungen von Kulturschaffenden Rechnung getragen“ werden (BT-Drs. 16/13424: 34). Zudem veränderte die Große Koalition zugleich wesentlich die Konditionen des Kurzarbeitergeldes hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen, der Kosten für die Arbeitgeber sowie der Bezugsdauer (BGBl. 2009: 416; BGBl. I 2009: 1223; BGBl. I 2009: 1939). Im Grunde genommen ist das Kurzarbeitergeld eine besondere Variante eines Kombi-Einkommens. Es ist insofern ein inwork benefit, als dass es ein Beschäftigungsverhältnis voraussetzt. Anders als die bisher
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dargestellten in-work benefits setzt es jedoch keinen Anreiz für die Nachfrageseite des Arbeitsmarktes, einen Arbeitplatz insbesondere im Niedriglohnbereich erst einzurichten, sondern es setzt einen Anreiz, bereits bestehende Beschäftigungsverhältnisse auch im Hochlohnbereich nicht aufzulösen. Mit den jüngsten Änderungen ist das Kurzarbeitergeld zu einem günstigen Instrument für Betriebe geworden, die Arbeitskraft der Kernbelegschaft kostengünstig zu „horten“ und damit Entlassungskosten (z.B. Abfindungen) wie auch ggf. Wiedergewinnungskosten (z.B. Anwerbung, Einarbeitung) zu vermeiden (Bach/Spitznagel 2009). Als Lohnersatzleistungen gleicht das Kurzarbeitergeld in gleicher Ersatzratenhöhe wie das Arbeitslosengeld I (60 Prozent ohne, 67 Prozent mit Kind im Haushalt) jene Einkommenseinbußen für den Arbeitnehmer aus, die infolge einer durch den Arbeitgeber teilweise oder auf Null reduzierten Arbeitszeit aufgekommen sind. Die Sozialversicherungsbeiträge werden während der Zeit des Kurzarbeitergeldbezugs auf 80 Prozent reduziert, jedoch infolge der jüngsten Reformen (BGBl. I 2009: 1939) nicht mehr allein von den Arbeitgebern, sondern im ersten halben Jahr zur Hälfte und ab dem siebten Monat bedingungslos, das heißt ohne Qualifizierungsmaßname für den Arbeitnehmer, und vollständig von der Bundesagentur für Arbeit aufgebracht. Damit wurden die Remanenzkosten der Betriebe, das heißt die auch bei Kurzarbeit zu leistenden Lohnzusatzkosten, deutlich gesenkt. Die Bezugsdauer wurde – begrenzt auf Ansprüche, die bis Ende 2009 entstanden sind – auf 24 Monate verlängert (BGBl. I 2009: 1223). Fazit: Kontinuität trotz Krise Die hier diskutierten sozialpolitischen Maßnahmen zeigen, dass eine Große Koalition im Nachlauf einer auf große Reformen abzielenden Vorgängerregierung weder auf der Ebene sozialpolitischer Leitbilder noch auf der Ebene einzelner Programme einen erneuten Richtungs- oder gar Paradigmenwechsel zu erreichen versucht hat. So widersprüchlich bereits die Hartz-Reformen waren, wenn es um das oftmals propagierte Ziel einer Aktivierung oder genauer: market workfare ging, so widersprüchlich setzte auch die große Koalition das neue Paradigma des market workfare fort. Die Wirtschaftskrise änderte wenig daran insofern wenig, als dass die Große Koalition im Rahmen der Konjunkturpakete die Arbeitsmarktpolitik kurzfristig durch eine Beschäftigungspolitik erweitert hat, jedoch die Grundlinien der workfare-Politik nicht nur unverändert belassen, sondern ausgebaut hat. Literatur und Quellen Adamy, Wilhlem, 2008: Das Verarmungsrisiko von Erwerbstätigen ist gestiegen. Staat subventioniert Armutslöhne mit Milliardenbeträgen, in: Soziale Sicherheit, 57, 219-226. BA, 2005: Bundesagentur für Arbeit: SGB II: Arbeitshilfen AGH. Stand: 02.09.2005. Nürnberg. BA, 2006: Bundesagentur für Arbeit: Leistungen zur Eingliederung an erwerbsfähige Hilfebedürftige: Einsatz von Arbeitsgelegenheiten 2005. Tabellenanhang zum Sonderbericht. Nürnberg. BA, 2007a: Bundesagentur für Arbeit: SGB II. Arbeitshilfe AGH. Stand 27.07.2007. Nürnberg. BA, 2007b: Bundesagentur für Arbeit: Leistungen zur Eingliederung an erwerbsfähige Hilfebedürftige: Einsatz von Arbeitsgelegenheiten 2006. Nürnberg. BA, 2008a: Bundesagentur für Arbeit: Leistungen zur Eingliederung an erwerbsfähige Hilfebedürftige: Einsatz von Arbeitsgelegenheiten 2007. Nürnberg.
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Nancy Ehlert
Die Familienpolitik der Großen Koalition „Familien stehen im Zentrum der Politik der Großen Koalition.“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel, Haushaltsdebatte im Bundestag 2006)
Einleitung1 Bis zum Jahr 2002 stand unabhängig von der Regierungspartei in der Familienpolitik die Finanzdimension im Vordergrund, mit Renate Schmidt ändert sich die Ausrichtung grundlegend. Von Oktober 2002 bis September 2005 ist sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie stärkt in der rot-grünen Koalition das Profil der Familienpolitik. Schmidt hat in der 15. Legislaturperiode begonnen, in der Familienpolitik eine andere Richtung einzuschlagen. Der Handlungsbedarf wird vor allem darin gesehen, eine Politik für Zeit im Lebensverlauf und in der täglichen Organisation des Alltags bei der Fürsorge für Kinder zu gestalten, die Infrastrukturförderung voranzubringen und die monetäre Unterstützung neu auszurichten. Dazu zählt das Konzept des Elterngeldes, der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen, die flexible Elternzeit, das Recht auf Teilzeit, die steuerliche Begünstigung von Familien, der Kinderzuschlag, die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten, die „Allianz für Familie“ und die „Lokalen Bündnisse für Familie“ (BMFSFJ 2009: 1). Die Familienpolitik in Deutschland erfährt somit seit dem Anfang der Jahrtausendwende eine Imageaufwertung und eine paradigmatische Neuausrichtung. Auch der Siebte Familienbericht nimmt diesen Trend auf und verstärkt ihn zusätzlich: Es wird ein Perspektivwechsel zu einer nachhaltigen Familienpolitik verfolgt, der auch einen ökonomischen und demographischen Blickwinkel erlaubt. Der zentrale Stellenwert der Familienpolitik soll ausgeweitet werden. Angedacht ist eine Politik, die es der nachwachsenden Generation ermöglicht, in die Entwicklung und Erziehung von Kindern zu investieren, Generationensolidarität zu leben und Fürsorge für andere als Teil der eigenen Lebensperspektive zu interpretieren, so in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Siebten Familienbericht zu lesen. Vorrangiger Reformbedarf bestehe in der vorschulischen Kinderbetreuung, der frühen Förderung der Kinder, einem bedarfsgerechten Auf- und Ausbau der Ganztagsschulen und in der Entwicklung von Familien unterstützenden Dienstleistungen (BT-Drs. 16/1360: XXIV-XXV). „Die Rechtssprechung durch das Bundesverfassungsgericht und der sich hieraus ergebende Maßstab der Leistungsgerechtigkeit, die existenzbedrohlichen Folgen der demographischen Strukturverschiebung sowie der Blick in das Ausland im Rahmen des zur Methode avancierten Benchmarkings setzen die Eckwerte für diese Familienpolitik“ (Gerlach 2006: 92). Durch die vorzeitigen Neuwahlen 2005 konnte Renate Schmidt keine volle Legislaturperiode im Amt der Familienministerin verbleiben. Doch die umfangreiche Agenda wurde
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Dieser Beitrag wurde vor der Bundestagswahl 2009 fertig gestellt.
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Die Familienpolitik der Großen Koalition
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von Ursula von der Leyen2 fortgeführt. Sie setzt ab 2005 im Wesentlichen die Politik ihrer Vorgängerin fort und „verkörpert ein hohes Maß an Kontinuität gegenüber ihrer sozialdemokratischen Amtsvorgängerin Renate Schmidt“ (Butterwegge 2006: 321). In der eigenen Partei und der Schwesterpartei CSU wurde das von der Ministerin propagierte Familienbild nicht immer konfliktfrei aufgenommen, sie musste sich gegenüber den eigenen Parteimitgliedern der CDU und CSU behaupten. Außerdem war die Zusammenarbeit der Koalitionäre insgesamt konfliktbeladen. So sagte von der Leyen zur Bilanz nach einem Jahr Großer Koalition: „Die Koalition hat mit einer unendlichen hohen Erwartungshaltung begonnen, nämlich der Erwartung, wenn sich zwei Große zusammentun, dann muss es doppelt so gut werden. Keiner wollte sehen, dass eine Große Koalition auch große Entfernungen zwischen den Positionen haben kann.“ (BMFSFJ 2006: 1). Union und SPD mussten in ihrem Zweckbündnis immer wieder nach Politikfeldern suchen, in denen sie sich vom Partner, der irgendwann wieder ihr politischer Gegner sein würde, abgrenzen können. Es gilt in diesem Artikel zu überprüfen, inwiefern die eingangs zitierte Aussage der Bundeskanzlerin von der Regierungsarbeit der Großen Koalition in der Legislaturperiode 2005 bis 2009 bestätigt werden kann. Dabei sollen die familienpolitischen Initiativen der schwarz-roten Koalition detailliert bilanziert werden. Vorab werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Positionen von CDU, CSU und SPD herausgearbeitet, worauf die Behandlung der familienpolitischen Vorhaben im Koalitionsvertrag der 16. Legislaturperiode folgt. Das familienpolitische Regierungshandeln umfasst dann im Schwerpunktteil die Gesetzesinitiativen der Großen Koalition. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob es sich bei der Familienpolitik der Großen Koalition um eine Koalition der Reformen oder der Stagnation handelt und welche Gründe dafür vorliegen. 1
Positionen in der Familienpolitik: CDU, CSU und SPD
Wenn man die Wahlprogramme von 2005 zu Grunde legt, stellt man noch deutliche Unterschiede in der familienpolitischen Ausrichtung der CDU, CSU und SPD fest. Eine Große Koalition ist zu dem Zeitpunkt nicht beabsichtigt und die Abgrenzung von christdemokratischen und sozialdemokratischen Werten und Forderungen wird forciert. Die SPD wählt den familienpolitischen Wahlkampfslogan: „Wir wollen, dass Deutschland familienfreundlicher wird“ und meint: „Gute Kinderbetreuung, Zeit für Kinder und Familie, effiziente Geldleistungen für Familienpolitik“ (Wahlprogramm SPD 2005: 30). Darunter werden der Ausbau der Quantität und Qualität der Tagesbetreuung hin zum Rechtsanspruch ab dem zweiten Lebensjahr und die schrittweise Gebührenfreiheit für Kindertagesstätten gefasst. Ein weiteres Ziel ist, das bisherige Erziehungsgeld in ein Elterngeld mit Einkommensersatzfunktion umzuwandeln. An der dreijährigen Elternzeit mit Arbeitsplatzgarantie und Teilzeitanspruch soll festgehalten werden. Durch die Fortentwickelung des Kinderzuschlags soll das Armutsrisiko der Kinder von Geringverdienenden vermieden werden (Wahlprogramm SPD 2005: 30). Die CDU/CSU bündelt die familienpolitischen Vorstellungen unter dem Punkt: 2 Im März 2003 tritt Ursula von der Leyen ihren Posten als Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit in der von Ministerpräsident Christian Wulff geführten niedersächsischen Landesregierung an. Von 2003 bis 2005 ist sie Mitglied des Niedersächsischen Landtages. Im August 2005 wird Ursula von der Leyen von Angela Merkel in das Kompetenzteam für die Bundestagswahl der CDU/CSU für die Bereiche Familie und Gesundheit aufgenommen und am 22. November 2005 als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in die von Bundeskanzlerin Angela Merkel geführte Bundesregierung berufen.
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„Zukunft für Familien – Bildung und Erziehung“ und wählt als Schlagwörter dazu „Teilhabe aller an Bildung und Ausbildung, Stärkung frühkindlicher Bildung und Erziehung, Eliteförderung und die Gewährleistung von Religionsunterricht sowie Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Realisierung von Teilzeitarbeit“ (Wahlprogramm CDU/CSU 2005: 25). Als konkrete Maßnahmen werden einzig die Erhöhung des Kindergrundfreibetrages auf 8000 Euro und ein Kinderbonus für Neugeborene von monatlich 50 Euro bis zum 12. Lebensjahr als Beitragsermäßigung in der Rentenversicherung vorgeschlagenen (Wahlprogramm CDU/CSU 2005: 25). Es wird im folgenden Kapitel zur Familienpolitik im Koalitionsvertrag genauer dargestellt, dass sich die CDU/CSU in diesem Politikfeld zum großen Teil der vorangegangen rot-grünen Politik anpasste, vor allem auch deshalb, weil die Familienministerin der familienpolitischen Programmatik der Legislaturperiode bis 2005 weiter Folge leisten wollte. Im Gegensatz zu den Wahlprogrammen lassen sich in den Grundsatzprogrammen schon größere Ähnlichkeiten in der familienpolitischen Ausrichtung ablesen. Sie stammen alle aus dem Jahr 2007 und sind somit schon von der Arbeit der Großen Koalition beeinflusst. Im Zentrum der Politik beider Koalitionsparteien steht, dass Kinderwünsche realisiert werden können. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein Kernbestandteil christlich- und sozialdemokratischer Politik geworden. Die Ehe wird als schützenswert betrachtet, allerdings werden bei der CDU und CSU nichteheliche Lebensgemeinschaften und gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften nicht als gleichwertig anerkannt (Grundsatzprogramm CDU 2007: 16, Grundsatzprogramm CSU 2007: 75). Die SPD will vor allem gute und verlässliche Betreuungsangebote, familiengerechte Arbeitszeiten und finanzielle Hilfen gewährleisten (Grundsatzprogramm SPD 2007: 65-66). Die CDU will die Menschen zu Eigenverantwortung und Solidarität motivieren (Grundsatzprogramm CDU 2007: 122123). Während die SPD überwiegend finanzielle Mittel für Institutionen bevorzugt, also eher Objekte fördern will, ist die CDU zumeist für eine Subjektförderung, also die Zahlung monetärer Leistungen direkt an die Familien. Das heißt: die Sozialdemokraten treten für mehr Geld für staatliche Angebote ein, die Union setzt auf die Eigenverantwortung der Eltern. Damit sich vor allem gut qualifizierte Frauen für Kinder entscheiden, ziehen SPD und CDU allerdings mittlerweile die gleiche Schlussfolgerungen, wenn es um die Verbesserung der Qualität der frühkindlichen Erziehung im Hort und Kindergarten und den Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren geht. Die eingleisige Orientierung auf monetäre Leistungen in der deutschen Familienpolitik stellen beide Parteien in Frage. Größere Debatten gibt es während der Legislaturperiode bei der Ausgestaltung des Elterngeldes. Die CDU/CSU kritisiert die Partnermonate und will als Berechnungsgrundlage das gemeinsame Nettoeinkommen des Elternpaares. Auch bei der Einführung eines sogenannten Betreuungsgeldes, welches sich an Eltern richten soll, die ihre Kinder bis zum dritten Lebensjahr zu Hause betreuen wollen, gibt es grundsätzliche Unterschiede zwischen den Koalitionspartnern. Gestritten wird ebenfalls um die Finanzierung des Kinderförderungsgesetzes und des Familienleistungsgesetzes. Vor allem die Differenzen, die sich bei der Diskussion um das Kindergeld zeigen, offenbaren einen Grundsatzstreit zwischen SPD und Union. Es geht um die Frage, welche Förderung am besten für Kinder ist (vgl. Kap. 3).
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Die Familienpolitik im Koalitionsvertrag
Auch wenn einige zuvor skizzierte familienpolitische Grundpositionen nach der Vereinbarung des Koalitionsvertrages entstanden sind, sollen in diesem Abschnitt die Aussagen zur Familienpolitik im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2005 rückwirkend betrachtet werden. In der Präambel des Koalitionsvertrags wird die geplante familienpolitische Konzeption der Bundesregierung mit folgenden Sätzen eingeleitet: „Familien sind Grundlage eines freiheitlichen Gemeinwesens. Die Kinderbetreuung werden wir steuerlich fördern und ein Elterngeld einführen. Wir werden zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Angebote zur Tagesbetreuung von Kindern und die Ganztagesbetreuung ausbauen. Wir werden Modelle entwickeln, wie mehrere Generationen zusammen leben und Verantwortung füreinander übernehmen können“ (Koalitionsvertrag 2005: 7). Erste inhaltliche Vereinbarungen, die bereits am 10.10.2005 zwischen den Koalitionspartnern beschlossen werden, umfassen als einen von vier Hauptpunkten auch die Familienpolitik: CDU, CSU und SPD setzen sich zum Ziel, die Lebensbedingungen für Familien zu verbessern. Deshalb soll sowohl frühzeitig über einen gleichen steuerlichen Grundfreibetrag für Eltern und Kinder als auch über die Einführung eines Elterngeldes gesprochen werden (Koalitionsvertrag 2005: 70). Der Koalitionsvertrag zieht die familienpolitischen Zielvorstellungen unter dem Punkt VI „Familienfreundliche Gesellschaft“ zusammen und formuliert mit den Themen: bessere Infrastruktur für Familien, familienfreundliche Arbeitsbedingungen, finanzielle Förderung und Kindschaftsrecht die Vorhaben, „die eine fast nahtlose Durchgängigkeit der Familienpolitik von der rot-grünen zur Großen Koalition vermuten lassen“ (Gerlach 2006: 89). Dass der Ausbau der Kinderbetreuung voranzutreiben ist, wird im Koalitionsvertrag als vorderes Ziel benannt. Die Koalitionspartner stehen zu dem im Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) verankerten Ausbau der Betreuungsangebote für unter Dreijährige. Ab 2007 soll mit dem Elterngeld eine einkommensabhängige Leistung für die Eltern neugeborener Kinder geschaffen werden. Zudem soll der Kinderzuschlag weiterentwickelt werden. Bereits ab 2006 sollen haushaltsnahe Dienstleistungen, private Aufwendungen für Erhaltungsund Modernisierungsmaßnahmen im Haushalt und Kinderbetreuungskosten stärker als bislang steuerlich gefördert werden. Beim gemeinsamen Sorgerecht und beim Umgangsrecht will die neue Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern Verbesserungen zum Wohle des Kindes erreichen. Die bereits in der vergangenen Legislaturperiode geplante Reform des Unterhaltsrechts wird weiterverfolgt. Kinder sollen dabei beim Unterhalt an erster Stelle stehen. Des Weiteren hatten CDU und SPD zu Beginn der Legislaturperiode festgelegt, die Effizienz der familienpolitischen Leistungen insgesamt zu überprüfen und innerhalb des Gesamtbudgets einzelne Leistungen gegebenenfalls umzuschichten. So wird langfristig geprüft, ob die Umsetzung einer „Familienkasse“ machbar ist, in der die familienpolitischen Leistungen konzentriert und zusammengeführt werden sollen (Koalitionsvertrag 2005: 47-50). Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung 2005 werden die Mehrgenerationenhäuser als eigenes Projekt innerhalb des Kapitels zur familienfreundlichen Gesellschaft festgeschrieben. Die Ziele werden wie folgt formuliert: sozialraumbezogene Kristallisationspunkte bilden, die fördernde Angebote für Familien und Generationen unter einem Dach und aus einer Hand ermöglichen, generationenübergreifende Alltagssolidarität leben, Angebote der Frühförderung, Bildung, Betreuung und Lebenshilfe schaffen sowie Anlaufstelle und Netzwerk für familienorientierte Dienstleistungen darstellen und Erziehungs- und Famili-
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enberatung, Gesundheitsförderung, Krisenintervention und Hilfeplanung anbieten. Bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2009 ist geplant je Landkreis und kreisfreier Stadt ein Mehrgenerationenhaus zu schaffen. Ein anderes Aktionsprogramm ist mit dem Titel „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und Soziale Frühwarnsysteme“ überschrieben. Die Ziele sind die Stärkung des Schutzauftrages der staatlichen Gemeinschaft, die Verbesserung des Schutzauftrages durch den Aufbau von Frühwarnsystemen, die Verzahnung von gesundheitsbezogenen Leistungen und Jugendhilfeleistungen sowie zivilgesellschaftlichem Engagement und die Stärkung der Erziehungsverantwortung. Im Koalitionsvertrag wird des Weiteren das Ziel vereinbart, die Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“ fortzuführen sowie die Fortentwicklung der Idee und die Überprüfung der nachhaltigen Wirkung für Familien und den Standort vorzunehmen (Koalitionsvertrag 2005: 46-47). Insgesamt soll an den Zielen des Nationalen Aktionsplanes für ein kindgerechtes Deutschland mit den sechs Handlungsschwerpunkten (Chancengerechtigkeit durch Bildung, Aufwachsen ohne Gewalt, Förderung gesunder Umweltbedingungen, Förderung der Kindergesundheit, Sicherung des angemessenen Lebensstandards und internationale Verpflichtungen) festgehalten werden (Koalitionsvertrag 2005: 47).3 3
Das familienpolitische Regierungshandeln
Im Kapitel zum familienpolitischen Regierungshandeln soll im Folgenden aufgezeigt werden, ob und wie die familienpolitischen Vorsätze des Koalitionsvertrages umgesetzt werden. Es wird unterteilt in: Reforminitiative – die die vorangegangenen Wege zur Gesetzgebung umfasst – und Reformkompromiss – der die Einigung der Koalitionspartner hin zur Gesetzgebung beschreibt. Begonnen wird dabei mit einem tabellarischen Überblick, um die vielfältigen Gesetzgebungen in der Familienpolitik schlaglichtartig beleuchten zu können. Tabelle 1: Überblick über die familienpolitischen Gesetze der Großen Koalition Gesetz Kinderförderungsgesetz (BGBI. I S. 2403) Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BGBI. I S. 2748) Weiterentwicklung des Kinderzuschlags (BGBl. I S. 416) Neue Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten (BGBl. I S. 700)
Reforminitiative Einigkeit darüber, mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren zu schaffen Durch Elterngeld einen Einkommenswegfall nach der Geburt des Kindes auffangen Kinderzuschlag besser realisieren und den Kreis der Berechtigten ausweiten Steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen verbessern
Reformkompromiss Objektiv rechtliche Verpflichtungen für die Bereitstellung von Plätzen eingeführt 67 Prozent des vor der Geburt monatlich verfügbaren Erwerbseinkommens festgelegt Mindesteinkommensgrenze gesenkt, Befristung der bisher begrenzten Leistung aufgehoben Kinderbetreuungskosten bis zu einem Höchstbetrag von 4000 Euro pro Kind und Jahr und haushaltsnahe Dienstleistungen wie Betriebsausgaben absetzbar
3 Bei den Aktions- und Förderprogrammen werden überwiegend konfliktarme Entscheidungen getroffen und die Projekte laut der Vertragsvereinbarung angeschoben bzw. weitergeführt (vgl. Kap. 2) und dementsprechend nicht unmittelbar in die Analyse zu den Gesetzesbeschlüssen (vgl. Kap. 3) mit aufgenommen.
Die Familienpolitik der Großen Koalition Familienleistungsgesetz (BGBl. I S. 2955) Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts (BGBl. I S. 3189) Unterhaltsvorschussgesetz (BGBl. I S. 3194)
Über Ausgestaltung zusätzlicher Familienleistungen wie Kindergeld und -freibeträge diskutiert Ziel der Reform, Kinder im Falle einer Scheidung besser zu stellen
Gesetz zur Sicherung und Stabilität in Deutschland (BGBl. I S. 416)
Familien sollen von dem Konjunkturpaket besonders profitieren
3.1
Absinken unter die alten Beträge des Mindestunterhalts in den zwei Altersstufen verhindern
147 Kindergeld gestaffelt erhöht und Kinderfreibeträge gestiegen Erstrangige Unterhaltsansprüche der Kinder eingerichtet, unabhängig ob ehelich oder unehelich Regelbetrag-Verordnung aufgehoben, Festlegung der Höhe der Unterhaltsleistung für das gesamte Bundesgebiet einheitlich Kinderbonus von 100 Euro, Erhöhung der Hartz IV Regelsätze für 6 bis 13jährige Kinder auf 70 Prozent
Das Kinderförderungsgesetz
3.1.1 Die Reforminitiative Grundsätzlich besteht seit Einsetzen der Großen Koalition Einigkeit darüber, mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren zu schaffen, obwohl die Union in der vorherigen Legislaturperiode den Gesetzentwurf der rot-grünen Koalition zum Ausbau der Tagesbetreuung im Bundesrat vorerst abgelehnt hatte (Bundestagsfraktion SPD 2005: 9). Die im Mai 2007 vereinbarten Eckpunkte zum Ausbau der Krippenplätze basieren auf dem Familienkonzept der SPD (vgl. Kap. 1). Familienministerin Ursula von der Leyen hat bis 2013 etwa 500.000 neue Kindertagesbetreuungsplätze angekündigt, jedoch wurde nicht deutlich, wie die Mittel dafür gegenfinanziert werden sollen. Die SPD legt daraufhin ein eigenes Finanzierungskonzept vor, das unter anderem den Verzicht auf die anstehende Erhöhung des Kindergeldes um zehn Euro vorsieht sowie Steuervorteile für Ehepartner verringert (Bundestagsfraktion SPD 2007: 1). Die Union lehnt dies ab, ohne Alternativen zu nennen. Die daraufhin in monatelangem Streit zwischen Finanzminister Peer Steinbrück und Familienministerin Ursula von der Leyen ausgehandelten Mehrkosten für die Kinderbetreuung sollen nach dem Willen der SPD ausreichen und nur anders verteilt werden (Bundestagsfraktion SPD 2008: 1). 3.1.2 Der Reformkompromiss Der Deutsche Bundestag hat nach der Einigung der Koalitionsparteien das Kinderförderungsgesetz (KiföG) am 26. September 2008 verabschiedet. Für die erste Phase bis zum 31. Juli 2013 werden, verglichen mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG), erweiterte, objektiv rechtliche Verpflichtungen für die Bereitstellung von Plätzen eingeführt. Ziel dieser Förderung sind vor allem jene Kinder, die eine Betreuung für ihre persönliche Entwicklung besonders brauchen. Zudem sollen nicht nur berufstätige, sondern auch Arbeit suchende Eltern einen gesicherten Betreuungsplatz bekommen. Erreicht werden soll im gesamtdeutschen Durchschnitt eine 35-prozentige Platzabdeckung. Die Bundesregierung setzt
148
Nancy Ehlert
auf ein vielfältiges Betreuungsangebot und forciert die Profilierung der Kindertagespflege. Deshalb sollen 30 Prozent der neuen Plätze in diesem Bereich geschaffen werden. Dazu werden genaue Standards festgesetzt, z.B. darf eine Tagesmutter grundsätzlich nicht mehr als fünf Kinder betreuen. Die SPD setzt sich mit der Forderung nach einem Rechtsanspruch auf Betreuung ab dem 1. Lebensjahr durch, da auch aus dem Bundesfamilienministerium deutlich dafür votiert wurde. Die Unionsfraktion des Bundestages hatte den Rechtsanspruch vehement abgelehnt. Nun soll jedoch ab dem 1. August 2013 nach Abschluss der Ausbauphase ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für alle Kinder vom vollendeten ersten bis zum vollendeten dritten Lebensjahr eingeführt werden. Das Kinderförderungsgesetz regelt zudem die nötigen Änderungen im Finanzausgleichgesetz zur Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten (BGBI. I: 2403). Für eine Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten setzt sich besonders die SPD ein. Die Bundesfamilienministerin hatte ursprünglich beabsichtigt, den Bund nur an den Investitionskosten zu beteiligen. Die Union hat wiederum durchgesetzt, dass Eltern, die ihre Kinder in den ersten Jahren zu Hause selbst betreuen, ab 2013 ein Betreuungsgeld erhalten sollen. Die entsprechende Passage im Kinderförderungsgesetz ist allerdings ungenau formuliert (BGBI. I: 2403). Eine spätere Regierung soll die Details und die Höhe der Leistung regeln. Die SPD ist strikt gegen ein Betreuungsgeld.
3.2
Das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz
3.2.1 Die Reforminitiative Das Elterngeld soll einen Einkommenswegfall nach der Geburt des Kindes auffangen. In den Koalitionsverhandlungen ist das Elterngeld allerdings nicht bis ins Detail geregelt worden, um eine Diskussion über seine konkrete Ausgestaltung zu ermöglichen. Die Pläne der Familienpolitiker, das Elterngeld einzuführen, entsprechen dem Wahlprogramm der SPD von 2005. Allerdings hat sich Ursula von der Leyen früh für das Konzept des Elterngeldes ausgesprochen (BMFSFJ 2005: 1). Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel will die Kritiker des Elterngeldes in der Union überzeugen (Regierungserklärung 2005: 5). Die Union hat zuvor das Projekt aus ihrem Regierungsprogramm gestrichen, weil sie es für nicht finanzierbar hielt. Ganz besonders um die beiden Partnermonate wird zu Beginn der Legislaturperiode heftig gestritten. Vor allem innerhalb der CSU gibt es Widerstand, vom „Zwang zum Wickelvolontariat“ ist die Rede (Siems 2008: 7). Vor allem bei einigen Männern in den Unionsparteien ist das Vorhaben heftig umstritten, die Auszahlung des Elterngeldes für volle 12 Monate davon abhängig zu machen, dass auch Väter mindestens zwei Monate aus dem Beruf aussteigen, um sich der Kinderbetreuung zu widmen. Für die SPD waren diese Partnermonate jedoch Bedingung, um dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Elterngeldgesetz zuzustimmen. Während vor allem aus der CSU und von einigen CDU-Ministerpräsidenten massive Kritik an einer staatlichen Einmischung in die Familiengestaltung kommt, wird Frau von der Leyen von den Frauen in der Union unterstützt. Der Koalitionsvertrag weist als einen weiteren Positionsunterschied der Koalitionspartner die Berechnungsgrundlage für das Elterngeld auf. Die SPD legt das ausfallende
Die Familienpolitik der Großen Koalition
149
Einkommen zugrunde, die CDU hat den Vorschlag das gemeinsame Nettoerwerbseinkommen zur Berechnung heranzuziehen (Koalitionsvertrag 2005: 49), kann sich damit aber nicht durchsetzen. 3.2.2 Der Reformkompromiss Trotz der beschriebenen Differenzen konnte ein Kompromiss zwischen den Koalitionsparteien gefunden werden, der vor allem deshalb forciert wurde, weil das Elterngeld eine der wichtigsten Zielsetzungen der familienpolitischen Reformideen der Großen Koalition ist. Zum 01.01.2007 hat die Bundesregierung neben dem Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) verabschiedet. Das Elterngeld beträgt 67 Prozent des durchschnittlich nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und Werbungskosten vor der Geburt monatlich verfügbaren laufenden Erwerbseinkommens, höchstens jedoch 1800 Euro und mindestens 300 Euro. Nicht erwerbstätige Elternteile erhalten den Mindestbetrag zusätzlich zum bisherigen Familieneinkommen. Das Elterngeld wird an Vater und Mutter für maximal 14 Monate gezahlt; beide können den Zeitraum frei untereinander aufteilen. Ein Elternteil kann dabei höchstens zwölf Monate für sich in Anspruch nehmen, zwei weitere Monate gibt es, wenn in dieser Zeit Erwerbseinkommen wegfällt und sich der Partner an der Betreuung des Kindes beteiligt. Anspruch auf Elterngeld haben Eltern, die ihre Kinder nach der Geburt selbst betreuen und erziehen, nicht mehr als 30 Stunden in der Woche erwerbstätig sind und mit ihren Kindern in einem Haushalt leben. Eltern mit geringem Einkommen wird ein erhöhtes Elterngeld gezahlt. Ist das bereinigte Nettoeinkommen vor der Geburt geringer als 1000 Euro monatlich, wird die Ersatzrate von 67 Prozent auf bis zu 100 Prozent angehoben. Lebt die berechtigte Person mit zwei Kindern, die das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, oder mit drei oder mehr Kindern, die das sechste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, in einem Haushalt, so wird das Elterngeld um 10 Prozent, mindestens um 75 Euro, erhöht. Bei Mehrlingsgeburten erhöht sich das Elterngeld für das zweite und jedes weitere Kind um je 300 Euro. Jeder Elternteil kann weiterhin bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres seines Kindes Elternzeit beanspruchen (BGBI. I: 2748). Das Erste Gesetz zur Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes soll ab dem 24. Januar 2009 die Wirksamkeit der gesetzlichen Regelungen zum Elterngeld und zur Elternzeit durch eine einheitliche Mindestbezugszeit des Elterngeldes von zwei Monaten erhöhen. Außerdem erhalten Großeltern einen Anspruch auf Elternzeit, wenn ein Elternteil minderjährig ist oder zum Beginn der Berufsausbildung minderjährig war und höchstens zwei Jahre zum Abschluss braucht (BGBI. I: 2748).
3.3
Die Weiterentwicklung des Kinderzuschlags
3.3.1 Die Reforminitiative Ein Kinderzuschlag für minderjährige im Haushalt der Eltern lebende Kinder von bis zu 140 Euro monatlich pro Kind wird 2005 von der rot-grünen Vorgängerregierung mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt eingeführt. Voraussetzung
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Nancy Ehlert
ist, dass die Eltern ihren eigenen Unterhalt in Höhe des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II selbst verdienen, aber den Unterhalt ihrer Kinder von diesem Einkommen nicht bestreiten können (BGBl I, S. 2954). Im Koalitionsvertrag ist eine Weiterentwicklung des Kinderzuschlags vereinbart worden, um die Zielsetzung des Kinderzuschlags besser als bisher zu realisieren und den Kreis der Berechtigten auszuweiten (Koalitionsvertrag 2005: 50). 3.3.2 Der Reformkompromiss Der Kinderzuschlag wird durch eine Gesetzesänderung im Bundeskindergeldgesetz (BKGG) zum 01.01.2008 reformiert. Die Mindesteinkommensgrenze ist nun deutlich niedriger. Sie wird einheitlich auf 600 Euro für Alleinerziehende und 900 Euro für Paare abgesenkt. Auch die Anrechnung für Einkommen aus Erwerbstätigkeit wird von 70 Prozent auf 50 Prozent gemindert. 250.000 Kinder – 150.000 mehr als bisher – und ihre Familien sollen von dieser Änderung profitieren. Des Weiteren gibt es eine Entfristung der bislang auf drei Jahre begrenzten Leistung. Ein neues Wahlrecht zwischen der Inanspruchnahme von Kinderzuschlag und Leistungen der Grundsicherung für jenen Personenkreis, der bei Beantragung von Arbeitslosengeld II Anspruch auf Leistungen für einen Mehrbedarf hätte, wird gesetzlich festgelegt. Insbesondere Alleinerziehende, die aus verschiedenen Gründen, die SGB II-Leistungen nicht geltend gemacht haben, sind nun nicht mehr aufgrund ihres durch den Mehrbedarf erhöhten Bedarfs vom Kinderzuschlag ausgeschlossen (BGBl. I: 416).
3.4
Die Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten
3.4.1 Die Reforminitiative Ende des Jahres 2007 gehört die Auseinandersetzung zwischen Familienministerin von der Leyen (CDU) und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) zu den ersten nach außen erkennbaren Unebenheiten in der zunächst glatten Fassade der Großen Koalition. Obwohl der Finanzminister fiskalische Bedenken hat, sollen nach dem Willen der Sozialdemokraten die Betreuungskosten bereits ab dem ersten Euro steuerlich absetzbar sein. Dies stellt einen Bruch mit den Vereinbarungen dar, die auf der Kabinettsklausur in Genshagen getroffen wurden. Die Betreuungskosten für Kinder bis zum Alter von sechs Jahren, so hatten es die Koalitionäre entschieden, sollen erst ab 1000 Euro angerechnet werden können. Doch der im Januar 2006 zwischen den Spitzen der Fraktionen von Union und SPD gefundene Kompromiss war nicht das letzte Wort und der Streit um die genaue Ausgestaltung der Reform noch nicht ausgestanden. Erst nach zähen Verhandlungen zwischen dem Finanzminister und der Familienministerin einerseits sowie führenden Repräsentantinnen und Repräsentanten von CDU, CSU und SPD andererseits einigt man sich auf die Modalitäten einer Verbesserung der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten (Butterwegge 2006: 321).
Die Familienpolitik der Großen Koalition
151
3.4.2 Der Reformkompromiss Die Große Koalition hat ab dem Jahr 2006 eine Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten im Einkommenssteuergesetz (ESTG) beschlossen. Von der CDU war vorausgesetzt worden, die steuerliche Absetzbarkeit von Betreuungskosten nicht nur auf Doppelverdienerpaare, sondern auch auf Alleinerziehende zu beziehen. Die Koalitionsparteien haben sich dann letzten Endes auf die im Koalitionsvertrag benannte steuerliche Anerkennung haushaltsnaher Dienstleistungen geeinigt (Gerlach 2006: 91). Diese Kosten können nun wie Betriebsausgaben oder wie Werbungskosten abgesetzt werden. Nunmehr können unter bestimmten Voraussetzungen zwei Drittel der Kinderbetreuungskosten bis zu einem Höchstbetrag von 4000 Euro pro Kind und Jahr steuermindernd abgesetzt werden. Voraussetzung ist unter anderem, dass die Kinder das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und dass die Kinderbetreuungskosten wegen Berufstätigkeit, Krankheit, Behinderung oder Ausbildung der Eltern bzw. bei Alleinerziehenden anfallen. Für Kinder, die das dritte aber noch nicht das sechste Lebensjahr vollendet haben, sind Kinderbetreuungskosten nun unabhängig dessen als Sonderausgaben absetzbar. Mit dem Steueränderungsgesetz 2007 wurde die Altersgrenze für die Gewährung von Kindergeld oder von kindbedingten Steuerfreibeträgen vom 27. Lebensjahr des Kindes auf das 25. Lebensjahr abgesenkt, nach dem 18. Lebensjahr wird es weiterhin nur solange gezahlt, bis die (Hoch-)Schulausbildung abgeschlossen ist (BGBl. I: 700).
3.5
Das Familienleistungsgesetz
3.5.1 Die Reforminitiative Zwischen Finanzminister Peer Steinbrück und Familienministerin Ursula von der Leyen bahnt sich erneut Streit über die Finanzierung zusätzlicher Familienleistungen an. Die Schwesterparteien CDU und CSU haben sich einig darin gezeigt, das Kindergeld und den Kinderfreibetrag zum 01. Januar 2009 anzuheben. Obwohl die generelle Notwendigkeit einer Kindergelderhöhung weitgehend unumstritten ist, gestaltet sich die Aushandlung zur Höhe und zur Staffelung schwierig. Familienministerin Ursula von der Leyen spricht sich für eine stärkere Staffelung des Kindergeldes aus, von der große Familien profitieren sollen. Für die SPD ist eine minimale Erhöhung des Kindergeldes, dazu allein nach der Kinderzahl gestaffelt, keine zufriedenstellende Lösung. Auch die Anhebung der Kinderfreibeträge wird von den Sozialdemokraten anfänglich abgelehnt, da in erster Linie die Besserverdienenden davon profitieren und sie zu erheblichen steuerlichen Mindereinnahmen führen (Hamburger Beschluss 2008: 4). 3.5.2 Der Reformkompromiss Trotz dieser Differenzen verständigen sich die Spitzen der Großen Koalition auf ein umfassendes Familienleistungsgesetz, welches zum 01.01.2009 in Kraft tritt. Das Kindergeld wird jeweils monatlich für erste und zweite Kinder um 10 Euro auf 164 Euro, für dritte Kinder um 16 Euro auf 170 Euro sowie für vierte und weitere Kinder um 16 Euro auf 195
152
Nancy Ehlert
Euro angehoben. Es steigt auch der Freibetrag für jedes Kind von 3648 Euro um 216 Euro auf 3864 Euro. Zusammen mit dem Betreuungs- und Erziehungsfreibetrag gelten somit künftig Freibeträge für jedes Kind von insgesamt 6024 Euro (vorher 5808 Euro). Außerdem wird die Förderung von Familien unterstützenden Dienstleistungen vereinfacht. Die Möglichkeiten, diese Leistungen steuerlich geltend zu machen, werden erweitert. Die Förderung wird auf einheitlich 20 Prozent der Aufwendungen von bis zu 20.000 Euro (höchstens 4000 Euro) pro Jahr ausgeweitet, die von der Steuerschuld abgezogen werden können. Zudem erhalten Kinder und Jugendliche aus Familien, die von Arbeitslosengeld (SGB II) oder Sozialhilfe (SGB XII) leben, bis zum Abschluss der Schuljahrgangsstufe 10 jeweils zum Beginn des Schuljahres einen zusätzlichen Betrag von 100 Euro. Damit soll die notwendige Ausstattung mit Schul- und Unterrichtsmaterialien wie Schulranzen, Stifte, Hefte usw. sichergestellt werden. Im März 2009 hat sich die SPD-Bundestagsfraktion damit durchgesetzt, dass das Schulbedarfspaket für Kinder aus einkommensschwachen Familien bis zum Abitur ausgeweitet wird. Nun stimmt auch die Union der Gewährung des Schulbedarfspakets bis zum 13. Schuljahr zu. Außerdem wird der Kreis der Kinder erweitert, der einen Anspruch auf das Schulbedarfspaket hat (BGBl. I: 2955). Künftig bekommen auch Kinder aus Familien, die trotz eigenen Einkommens zur Bewältigung ihres Lebensunterhaltes den Kinderzuschlag erhalten, das Schulbedarfspaket. Diese Änderungen müssen noch gesetzlich manifestiert werden (Bundestagsfraktion SPD 2009a: 1).
3.6
Das Erste Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts
3.6.1 Die Reforminitiative Ein weiteres Reformprojekt der Großen Koalition ist die Unterhaltsrechtsreform. Ziel der Reform ist es, Kinder im Falle einer Scheidung besser zu stellen. Ein erster Gesetzentwurf dazu wird von Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) dem damaligen rot-grünen Kabinett bereits 2005 kurz vor den vorgezogenen Neuwahlen vorgelegt. Anfang April 2006 beschließt das schwarz-rote Kabinett die Reform, die im Jahr 2007 in Kraft treten sollte. Am 23. Mai 2007 entscheidet das Bundesverfassungsgericht jedoch, dass die unterschiedliche Dauer der Unterhaltsansprüche für die Betreuung ehelicher und nichtehelicher Kinder nach dem geltenden Recht verfassungswidrig ist. Das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts muss dieser Entscheidung Rechnung tragen. 3.6.2 Der Reformkompromiss Der Deutsche Bundestag nimmt daraufhin erst im November 2007 die veränderte Reform des Unterhaltsrechts an. Am 1. Januar 2008 ist sie in Kraft getreten. Ziel der Reform ist es, Kinder im Falle der Scheidung der Eltern finanziell besser als bisher zu stellen. Aufgrund von Forderungen der Unionsfraktion werden im Gegensatz zu dem ursprünglichen Entwurf des Bundeskabinetts nun auch geschiedene Ehefrauen besser gestellt. Nach dem bisherigen Entwurf wären geschiedene Ehefrauen mit nicht verheirateten ehemaligen Partnern des Unterhaltsschuldners gleichgestellt worden, wenn beide kleine Kinder erziehen. Die Union setzt nun eine Privilegierung der geschiedenen Ehefrauen beim so genannten Betreuungs-
Die Familienpolitik der Großen Koalition
153
unterhalt durch. Bislang muss sich das unterhaltsberechtigte minderjährige Kind den ersten Rang mit geschiedenen und aktuellen Ehegatten teilen, wenn der Unterhaltsverpflichtete nicht in der Lage ist, alle Unterhaltsansprüche zu erfüllen. Dies führt dazu, dass Kinder, deren Elternteile getrennt voneinander leben, häufiger von Kinderarmut betroffen sind als andere Kinder. Um dem entgegen zu wirken, gilt künftig eine Rangfolge: Im Vordergrund stehen die Unterhaltsansprüche der Kinder. Und zwar unabhängig davon aus welcher Beziehung sie stammen. An zweiter Stelle stehen Elternteile, die wegen der Betreuung eines Kindes unterhaltsberechtigt sind oder im Fall einer Scheidung wären. Gleiches gilt für Ehegatten bei einer Ehe von langer Dauer. Erst danach kommen alle anderen Unterhaltsberechtigten. Die Eigenverantwortung geschiedener Ehegatten wird gestärkt, weil Geschiedene – insbesondere nach kurzer Ehedauer – die Chance haben sollen, eine neue Familie zu gründen und zu finanzieren. Deshalb müssen geschiedene Ehegatten unter Umständen eher wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen als bisher. Darüber hinaus soll die Abschaffung der Differenzierungen bei den Unterhaltssätzen für Kinder in den neuen und alten Bundesländern und die Definition eines einheitlichen Mindestunterhalts das Unterhaltsrecht vereinfachen (BGBl. I: 3189).
3.7
Das Erste Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
3.7.1 Die Reforminitiative Auch der Unterhaltsvorschuss soll in der 16. Legislaturperiode neu geregelt werden. Die Unterhaltsleistung nach dem Gesetz zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter oder Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder Ausfallleistungen – Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) – knüpft bislang an die Regelbeträge nach der Regelbetrag-Verordnung für den Unterhalt eines minderjährigen Kindes an. Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts, mit dem das bürgerlich-rechtliche Unterhaltsrecht reformiert wird, wird die Regelbetrag-Verordnung aufgehoben. An ihre Stelle tritt eine an den einkommensteuerrechtlichen Kinderfreibetrag angelehnte Definition des gesetzlichen Mindestunterhalts im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGBl. I: 1446). 3.7.2 Der Reformkompromiss Das Gesetz zur Sicherung des Unterhalts von Kindern allein stehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfallleistungen (Unterhaltsvorschussgesetz) wird zum 21. Dezember 2007 geändert. Seit Januar 2008 ist die Höhe der Unterhaltsleistung für das gesamte Bundesgebiet einheitlich festgelegt. Der Mindestsatz beträgt für Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres 279 Euro, für Kinder bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahres 322 Euro im Monat. Das Kindergeld wird in voller Höhe von der Unterhaltsleistung abgezogen. Seit dem 01. Januar 2008 erhalten Alleinerziehende für Kinder bis zum sechsten Geburtstag somit monatlich 117 Euro (bisher 125 Euro) und für ältere Kinder bis zum zwölften Geburtstag monatlich 158 Euro (bisher 168 Euro) (BGBl. I: 3194).
154
3.8
Nancy Ehlert Das Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland
3.8.1 Die Reforminitiative Seit Beginn des Jahres 2009 sinken die Wachstumsprognosen und Deutschland gerät in eine Rezession. Die Anzeichen für ein Ende des Aufschwungs bringen ein staatliches Konjunkturprogramm auf den Plan. Deshalb streitet die Große Koalition über Details eines Gesetzes zur Sicherung und Stabilität in Deutschland. Familien sollen davon besonders profitieren. Die SPD möchte allen Eltern, die Kindergeld beziehen, pro Kind einmalig 200 Euro zahlen. Außerdem soll der Hartz-IV-Regelsatz um 35 Euro im Monat auf 246 Euro angehoben werden. Eine Erhöhung des Regelsätze wollen CDU und CSU nicht mittragen. Die Union sperrt sich dagegen, weil erst kurz zuvor das Kindergeld erhöht wurde. Von ihrer Seite wird nur ein Kinderbonus von 100 Euro erwogen (AFP 2009: 1). 3.8.2 Der Reformkompromiss Die Regierungskoalition hat sich im Januar 2009 auf ein zweites Konjunkturpaket im Umfang von insgesamt rund 50 Milliarden Euro geeinigt und am 2. März 2009 das Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland beschlossen. Festgelegt wird ein Kinderbonus von 100 Euro. Die Erhöhung der Hartz IV-Regelsätze von 60 auf 70 Prozent für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren wurde von der SPD durchgesetzt. Des Weiteren gehört ein großer Investitionspakt getragen von Bund, Ländern und Kommunen in einer Größenordnung von 17 bis 18 Milliarden Euro dazu. Das Geld soll vor allem in den Ausbau der Infrastruktur fließen. Ein Großteil sei für die Sanierung von Bildungseinrichtungen vorgesehen. Indirekt kommt vielen Familien die Senkung des Eingangssteuersatzes von 15 auf 14 Prozent zu Gute. Der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung soll von 15,5 auf 14,9 Prozent sinken. Die beschlossenen Maßnahmen sollen zwei Jahre lang gelten. Laut Bundesregierung wird eine vierköpfige Durchschnittsfamilie durch die Reform pro Jahr um rund 200 Euro entlastet (BGBl. I: 416).
3.9
Das Gesetz zur Verbesserung des Kinderschutzes
3.9.1 Die Reforminitiative Vor dem Hintergrund eklatanter Einzelfälle von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung sollten die Anstrengungen der Bundesregierung zum Kinderschutz verstärkt werden. Dabei sollte es insbesondere darum gehen, rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Verantwortlichen für den Kinderschutz Verfahrenssicherheit geben sollen. In mehreren Bundesländern sind in den letzten fünf Jahren Kinderschutzgesetze auf den Weg gebracht und mit dem Ziel beschlossen worden, die verschiedenen Akteure, die mit der Förderung der Entwicklung und dem Schutz von Kindern befasst sind, besser miteinander zu vernetzen, sowie die Verbindlichkeit der Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen zu erhöhen. Die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder haben den Kinderschutz aufgrund der großen gesellschaftspolitischen Bedeutung zum zentralen Gegens-
Die Familienpolitik der Großen Koalition
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tand ihrer Beratungen vom Dezember 2007 und Juni 2008 mit dem Ziel gemacht, Lücken im Kinderschutz zu identifizieren und Maßnahmen zur Stärkung des Kinderschutzes zu veranlassen (BT-Drs. 16/12429: 8). 3.9.2 Der Reformkompromiss Das Bundeskabinett hatte sich bereits auf ein Gesetz zum Schutz von Kindern vor Misshandlungen und vor Verwahrlosung geeinigt. Der Bundesrat hat die Initiative zum Kinderschutzgesetz im März 2009 begrüßt. Doch die Mehrheit der Experten hatten bei der ersten Bundestagsanhörung Ende Mai 2009 erhebliche Kritik an dem Gesetzesentwurf geübt, was die SPD zum Anlass nahm, das Vorhaben nicht weiter zu unterstützen. Die SPD behält sich vor, dem Kinderschutzgesetz nicht zuzustimmen. Man habe sich daher mit den Fachpolitikern des Koalitionspartners CDU/CSU darauf verständigt, das Gesetz nicht mehr in dieser Legislaturperiode zu verabschieden (Bundestagsfraktion SPD 2009b: 1). Damit wird der Reformkompromiss nicht zustande kommen, die Große Koalition ist mit diesem wichtigen Reformvorhaben gescheitert. Der Kinderschutz sollte ein deutliches Zeichen für die Handlungsfähigkeit der Politik setzen, nun scheint sich der Streit in der Familienpolitik zum Ende der Legislaturperiode hin zu verschärfen. Mit dem neuen Gesetz sollte eine eindeutige Rechtsgrundlage für den Austausch von Informationen bei einer vermuteten Kindeswohlgefährdung geschaffen werden. Neben der Schaffung einer eindeutigen rechtlichen Grundlage für den Informationsaustausch zwischen den mit Kinder und Jugendlichen befassten Berufsgruppen werden bundesrechtliche Vorschriften zum Kinderschutz im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) weiterentwickelt. Zur Erhöhung der Rechtssicherheit bei der Abwägung der Schweigepflicht von Berufsgeheimnisträgern mit dem Kinderschutz sollte eine bundeseinheitliche Rechtslage durch eine entsprechende gesetzliche Befugnisnorm außerhalb des Strafrechts geschaffen werden. Die Aktivitäten in den Ländern zum Aufbau von ressortübergreifenden Kinderschutznetzwerken sollten einen bundesgesetzlichen Rahmen erhalten. Bei Vorliegen gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung sollte das Jugendamt das gefährdete Kind und in der Regel auch dessen persönliches Umfeld in Augenschein nehmen, um sich einen unmittelbaren Eindruck von Kind und Eltern zu verschaffen. Dies sollte durch eine Novellierung des § 8a SGB VIII gewährleistet werden. Im SGB VIII sollte auch geregelt werden, dass beim Wohnortwechsel dem neuen Jugendamt alle für eine Gefährdungseinschätzung notwendigen Informationen über eine Familie übermittelt werden. Dem Gesetz nach sollte zudem das Bundeszentralregistergesetz derart geändert werden, dass mit Blick auf den Kinder- und Jugendschutz ein „erweitertes Führungszeugnis“ für kinder- und jugendnah Beschäftigte eingeführt werden kann. Damit sollten sowohl die Jugendämter als auch private Arbeitgeber von Personen, die in engen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen kommen, die Eignung dieser Personen besser prüfen können (BT-Drs. 16/12429: 5-7). 4
Bilanz: Koalition der Reformen oder der Stagnation?
Die Bilanz der Großen Koalition hin zu einer Reformkoalition lässt sich aufgrund einer Vielzahl von Gesetzesverabschiedungen bzw. -novellierungen sowie diverser Aktionspro-
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Nancy Ehlert
gramme konstatieren. Es wird das Kinderförderungsgesetz verabschiedet, das Elterngeld eingeführt, der Kinderzuschlag weiterentwickelt, das Unterhaltsrecht reformiert, der Unterhaltsvorschuss angepasst und das Familienleistungsgesetz verwirklicht. Nur der Kinderschutz wird nicht verbessert. Die Mehrgenerationenhäuser können ausgebaut werden, die „Allianz für die Familie“ kann gestärkt werden und die Anzahl der „Lokalen Bündnisse für Familie“ kann gesteigert werden (vgl. Kap. 3). Insgesamt kann man sagen, dass die Umsetzung des Elterngeldgesetzes, des Kinderförderungsgesetzes und des neuen Unterhaltsrechtes einen wegweisenden Ansatz für die Familienpolitik markieren. Das Familienpolitikressort ist in dieser Zahl und Fülle an Regierungsaktivitäten sicherlich nicht exemplarisch für die Gesamtbilanz der Großen Koalition. Für dieses Politikfeld jedoch konnten günstige Zeitpunkte der gesellschaftlichen Debatte und der politischen Konstellationen für Reformbemühungen vorgefunden und nutzbar gemacht werden. Sowohl die demographische Debatte über die sinkenden Kinderzahlen sowie die zunehmende Alterung ist in allen Parteien virulent. Die Familienpolitik bekommt schon in der 15. Legislaturperiode unter rot-grün eine höhere Bedeutung. Diese wird durch Ursula von der Leyen weiter gestärkt. Auch durch ihre Überzeugungskraft konnte die CDU/CSU für ausschlaggebende familienpolitische Projekte gewonnen werden. Die Politik für Familien geht auch deshalb den Weg der Reformbemühungen, weil die Union von ihren bisherigen Dogmen des nicht notwendigen Kinderbetreuungsausbaus, des unveränderten Unterhaltsrechts und der weniger interessierenden Teilnahme von Vätern an dem Aufziehen ihrer Kinder abgesehen hat und einen innerparteilichen Bedeutungswandel für dieses Politikfeld vollzog. Die Familienpolitik bekommt auch in der Öffentlichkeit eine hohe Präsenz und Dominanz in der medialen Aufbereitung, was sicherlich den Erfolgsdruck von Parlament und Regierung nochmals verstärkt, da die familienpolitischen Ergebnisse eher im Fokus stehen als in den Jahren zuvor. Die Bilanz der Großen Koalition im Feld der Familienpolitik ist somit besser, als es vor der letzten Bundestagswahl möglich zu sein schien. Die Frage nach der Effektivität ihrer familienpolitischen Arbeit kann im Sinne einer Reformkoalition positiv beantwortet werden. Es gibt kaum im Koalitionsvertrag geplante Ziele, die in der Regierungspolitik der Jahre 2005 bis 2009 nicht berücksichtigt wurden. So konnte schon im Jahr 2007 der Auftrag des Koalitionsvertrages weitestgehend erfüllt werden. Auf die Interviewfrage, was für die zweite Hälfte der Legislaturperiode übrig bleibt, da der familienpolitische Teil des Koalitionsvertrages schon bis zum Jahr 2007 abgearbeitet wurde, antwortet die Ministerin Ursula von der Leyen: „Man muss auch Koalitionsverträge nicht nur sklavisch abarbeiten. Dass die Einführung des Elterngeldes beispielsweise eine solch breite gesellschaftliche Diskussion über die Kinderbetreuung auslösen würde, wussten wir 2005 noch nicht, als wir den Koalitionsvertrag unterschrieben haben. Nun ist es so gekommen und die Regierung hat gezeigt, dass sie schnell reagieren und über den Vertrag hinaus gehen kann“ (Tagesspiegel 2007: 3).
Dass aber im Koalitionsvertrag selbst schon so richtungweisende Vorschläge aller Koalitionspartner aufgenommen werden, zeigt dass die Große Koalition schon früh bestrebt ist, in der Familienpolitik reformerisch tätig zu werden. Das ist jedoch vor allem deshalb möglich, weil kein Richtungswechsel und keine Abweichungen von bisherigen familienpolitischen
Die Familienpolitik der Großen Koalition
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Pfaden vorgenommen wurden, sondern die Entwicklungen auf die durch die Neuwahlen im Jahr 2005 unvollendet gebliebene Politik von Renate Schmidt aufbauten. Trotz mannigfaltiger Diskrepanzen in den familienpolitischen Ausrichtungen der Koalitionspartner CDU, CSU und SPD konnte in der Praxis der Familienpolitik eine Koalition der Reformen entstehen und eine Koalition der Stagnation während einer Großen Koalition vermieden werden, wie in den folgenden Punkten begründet wird. 1.
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Ein Grund für eine reformfähige Koalition ist erstens die grundsätzlich ähnliche Interpretation des gesellschaftlichen Wandels, der vor allem die Familien betrifft, was für alle drei Parteien häufig einen Konsens in den Gesetzgebungsinitiativen notwendig erscheinen lässt. Zweitens sind die familienpolitischen Notwendigkeiten intensiv diskutiert und aktuell, sodass sich die Große Koalition keine Stagnation in Gesetzgebungsinitiativen leisten kann. Zudem sind gerade die wirtschaftlichen und demographischen Zahlen zu schwerwiegend, als dass sich die Koalitionspartner auf einen stetigen Dissens berufen können. Drittens standen und stehen die Ziele und Inhalte der Regierungspolitik in der Familienpolitik in Kontinuität zum vorausgegangenen rot-grünen Regierungsbündnis. Die Fortführung der angestoßenen Politiken der Legislaturperiode vor 2005 war ein Garant für die Möglichkeit der Konsensfindung. So konnte die Familienpolitik recht schnelle Erfolge aufweisen und musste nicht in langwieriger Neudefinition der inhaltlichen Ausrichtung verharren. Die weitgehende Übernahme der inhaltlichen Ausrichtung von Renate Schmidt konnte dadurch verstärkt werden, dass trotz veränderter Leitungsebene im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Arbeitsstrukturen im Hause weitgehend aufrecht erhalten werden. Ausschließlich die Staatssekretäre werden der Parteilinie von Ursula von der Leyen angepasst. Auch aus diesem vierten Grund können die genannten Projekte nahtlos weitergeführt werden, wenn auch zum Teil mit neuen Akzentuierungen. Ein fünfter Grund für die Erfolge in der Familienpolitik geht auf die Initiative von Ursula von der Leyen zurück. Die CDU steht anfänglich nicht hinter den Vorstellungen ihrer Familienministerin, sondern diese muss die eigene Partei häufig erst überzeugen. Sie ist damit erfolgreicher, als es die sozialdemokratische ehemalige Familienministerin Renate Schmidt gegenüber einer CDU in einer großen Koalition wohl je hätte sein können.
Literatur AFP (Agences France Presse), 2009: Konjunkturpaket II: SPD fordert 40-Milliarden-Programm. vom 04.01.2009, in: http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM 5gbvozq4qvmEcaGu NVWG7J_PB4zyg; 01.05.2009. BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend), 2005: Interview mit Ursula von der Leyen im Deutschlandfunk zum Thema „Elterngeld“. vom 13.12.2005, in: http://www. bmfsfj.de/bmfsfj/generator/BMFSFJ/aktuelles,did=64400,render=renderPrint.html; 01.05.2009.
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Nancy Ehlert
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Simone Grimmeisen und Claus Wendt
Die Gesundheitspolitik der Großen Koalition
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Einführung
Der gesundheitspolitische Pionier Deutschland mit einer auf das Jahr 1883 zurückreichenden gesetzlichen Krankenversicherung ist 125 Jahre später zum Nachzügler geworden. Während andere europäische Länder entweder primär aus Steuern finanzierte nationale Gesundheitssysteme eingeführt haben oder aber ihre Krankenversicherungssysteme auf die gesamte Bevölkerung ausdehnten, blieben in Deutschland Teile der Bevölkerung von der Versicherungspflicht ausgenommen. Österreich hatte bereits Ende der 1970er Jahre die soziale Krankenversicherung quasi auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt (Wendt 2009: 106) und selbst die Schweiz, deren Gesundheitssystem sich traditionell durch eine ausgeprägte „Marktnähe“ auszeichnet, hat 1996 eine Versicherungspflicht für alle Bürgerinnen und Bürger eingeführt (Rosenbrock/Gerlinger 2006). Nachdem die Niederlande im Jahr 2006 mit einer Versicherungspflicht für die gesamte Bevölkerung nachzogen (Ven/Schut 2008), blieb Deutschland das einzige europäische Land mit einer Ausstiegsoption für höhere Einkommensgruppen und einem Ausschluss von Selbständigen und Beamten aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Mit der Gesundheitsreform 2007 wurde auch in Deutschland erstmals für alle Bürgerinnen und Bürger die Pflicht eingeführt, eine Krankenversicherung abzuschließen. Diese Pflicht kann sowohl als Einschränkung individueller Freiheit als auch als eine Voraussetzung für die Wahrnehmung von Teilhabechancen in unserer Gesellschaft interpretiert werden. Im Sinne von Lepsius (1995) handelt es sich um einen Wertkonflikt, in dem der Gedanke der Chancengleichheit letztlich gegenüber der individuellen Wahlfreiheit die Oberhand behalten hat. In diesem Beitrag zur „Gesundheitspolitik der Großen Koalition“ werden die Ergebnisse dieses Konflikts nachgezeichnet und die gesundheitspolitischen Reformen zwischen 2005 und 2009 dargelegt. Reformbedürftig war jedoch nicht nur die bis zu diesem Zeitpunkt fehlende Universalität des Versicherungsschutzes. Als weitere Defizite können für die Zeit vor der Großen Koalition die unzureichende Verknüpfung von ambulanter und stationärer Versorgung sowie zwischen dem Gesundheits- und dem Pflegesektor, die vergleichsweise schwache Verankerung von Prävention und Vorsorge, das duale Finanzierungssystem im stationären Sektor sowie die Schieflage beim Kassenwettbewerb aufgrund der fehlenden morbiditätsorientierten Komponente im Risikostrukturausgleich hervorgehoben werden (Rosenbrock/Gerlinger 2006; Bäcker et al. 2008; Wendt 2009). Darüber hinaus weist Deutschland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Gesundheitsausgaben auf, auch wenn nach dem – der deutschen Einheit geschuldeten – steilen Anstieg der Gesundheitsausgaben die Entwicklung zumindest stabilisiert werden konnte (Wendt/Kohl 2010). Im Vergleich zu diesen Defiziten des deutschen Gesundheitssystems ist der vor 2009 fehlenden Versicherungspflicht für Teile der Bevölkerung ein besonderer Stellenwert zuzusprechen. Wie Tálos (1995) für Österreich feststellte, hat die Einbeziehung der SelbständiS. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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gen in die Sozialversicherung Österreichs zu einer Überbrückung der traditionellen Kluft zwischen den sozialpolitischen Positionen gewerblicher und industrieller Arbeitgeber auf der einen Seite und von Arbeitnehmern auf der anderen Seite beigetragen (Wendt 2009: 106). Nicht nur für die Verbesserung von Zugangschancen, auch für die Stärkung der Legitimation der gesetzlichen Krankenversicherung hat die Absicherung von Selbständigen, von höheren Einkommensgruppen und von Beamten folglich eine hohe Bedeutung. Dennoch: Gesundheitsreformen sind kein Thema für Wahlkämpfe. Die Gesundheitsversorgung findet in hoch komplexen Systemen statt und bei einer Änderung von Finanzierungsformen, des Leistungsangebots oder von Steuerungsmechanismen können die Bürgerinnen und Bürger nur bedingt beurteilen, ob sie davon profitieren oder zusätzlich belastet werden. Entsprechend hatte in den Wahlprogrammen von CDU/CSU und SPD die Gesundheitspolitik keinen prominenten Platz. Die unterschiedliche Ausrichtung der späteren Koalitionspartner spitzte sich vor allem an den Modellen Bürgerversicherung (SPD) versus Prämienmodell (CDU/CSU) zu. Die Bürgerversicherung sah vor, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger versichern müssen, ohne dabei jedoch, wie es in dem Wahlprogramm der SPD heißt, das „Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen“ (Wahlprogramm SPD 2005: 55) aufzuheben. Allerdings sollten nicht nur gesetzliche, sondern auch private Krankenversicherungen verpflichtet werden, alle Versicherte ohne Berücksichtigung von Vorerkrankungen oder anderer Risiken aufzunehmen (Kontrahierungszwang). Die Beiträge sollten sich gemäß des SPD-Modells weiterhin nach den Einkommen bei Beibehaltung der Beitragsbemessungsgrenze richten, wobei Kapitalerträge bei der Finanzierung zusätzlich berücksichtigt werden sollten. Niemand, so hieß es, solle sich ab einer bestimmten Einkommensgrenze aus der Solidarität verabschieden können (Wahlprogramm SPD 2005: 55). Das Gesundheitsreformvorhaben im Wahlprogramm der CDU/CSU konzentrierte sich auf eine Änderung des Finanzierungsmodus in Form eines Prämienmodells. Was in der Debatte in den Hintergrund trat ist, dass auch die Unionsparteien eine Versicherungspflicht für die gesamte Bevölkerung einführen wollten. Bei der Finanzierung wurde ein einheitlicher kostendeckender Beitrag, die Gesundheitsprämie, für jeden erwachsenen Versicherten vorgeschlagen. Die beitragsfreie Versicherung von Kindern sollte aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden und insofern enthielt dieses Modell ein starkes Umverteilungselement in Richtung Familien (Wahlprogramm CDU/CSU 2005: 26). Darüber hinaus sollten Versicherte mit einem niedrigen Einkommen einen sozialen Ausgleich aus Steuermitteln erhalten, und somit war der Gedanke der Solidarität zwischen höheren und niedrigeren Einkommensgruppen in diesem Modell grundsätzlich verankert. Dieser Finanzierungsmodus orientiert sich an dem Gesundheitssystem der Schweiz, in dem ebenfalls einheitliche einkommensunabhängige Prämien gezahlt werden und Versicherte in „bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen” (Bundesamt für Gesundheit 2007) in ihrem jeweiligen Kanton eine Unterstützung aus Steuermitteln beantragen können (Rosenbrock/Gerlinger 2006). Im Jahr 2007 waren dies 40 Prozent der Haushalte (Bundesamt für Gesundheit 2007). Ein nicht unbedeutender Teil der Bevölkerung wird damit per Definition „arm gemacht“. Statt eines Rechtsanspruchs auf Gesundheitsversorgung aufgrund zuvor gezahlter Beiträge wurde in der Schweiz eine Bedürftigkeitsprüfung institutionalisiert. Darüber hinaus zeichnet sich das Problem ab, dass trotz dieser staatlichen Fürsorgeleistung ein wachsender Teil der Bevölkerung die Versicherungsprämien nicht zahlen kann (NZZ Online, 10. Juli 2007). Die eigentliche Problematik ist nicht das sich ändernde Ausmaß der Umverteilung, sondern dass bei
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einem Prämienmodell ein größerer Teil der Bevölkerung staatliche Hilfen beantragen muss, um die Versicherungsbeiträge finanzieren zu können. Neben der damit verbundenen staatlichen Kontrolle und des organisatorischen Aufwandes ist kritisch anzumerken, dass dadurch das individuelle Recht auf Gesundheitsversorgung von der Offenlegung der individuellen finanziellen Verhältnisse abhängig gemacht und somit eingeschränkt wird. In Deutschland wurde nach der Bundestagswahl im Koalitionsvertrag die Frage „Bürgerversicherung“ oder „Solidarische Gesundheitsprämie“ offen gelassen und betont, dass diese „sich nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren lassen“ (Koalitionsvertrag 2005: 102). Festgehalten wurde allerdings, dass niemand ohne Versicherungsschutz bleiben darf und Versicherte, die ihren Schutz verloren haben, eine Rückkehrmöglichkeit in die jeweilige Krankenversicherung haben sollen. Die Aufrechterhaltung eines Systems mit privaten und gesetzlichen Krankenkassen sowie die Kassenvielfalt wurden ebenso betont wie die freie Arzt- und Kassenwahl. In dieser Hinsicht gibt der Koalitionsvertrag von 2005 nicht allzu viel Aufschluss über mögliche strukturelle Änderungen. Die geplante Berücksichtigung von Morbiditätsrisiken im Risikostrukturausgleich (Koalitionsvertrag 2005: 103), die Ausweitung von pauschalen Vergütungsformen im ambulanten Sektor, die Förderung der integrierten Versorgung (Koalitionsvertrag 2005: 104-106) und weitere Vorschläge sind vor allem auf eine Weiterentwicklung bestehender Maßnahmen und nicht auf eine strukturelle Reform des Gesundheitssystems ausgerichtet. Dagegen kann dem Plan, die Prävention zu einer „eigenständigen Säule der gesundheitlichen Versorgung auszubauen“ (Koalitionsvertrag 2005: 100) zugesprochen werden, dass dies eine Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems bedeuten würde, in dem der Gedanke der Prävention bisher unzureichend verankert ist. Im Folgenden skizzieren wir die wichtigsten gesundheitspolitischen Vorhaben der Großen Koalition und beleuchten zumindest teilweise die ihnen zugrunde liegenden politischen Prozesse. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Gesundheitsreform 2007, die im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) mündete und die, begleitet von einer entsprechenden medialen Aufmerksamkeit, über mehrere Monate hinweg die innenpolitische Debatte in Deutschland prägte. In diesem Abschnitt geht es zunächst um eine Deskription der Gesundheitspolitik der Großen Koalition, wobei angesichts der Fülle an gesetzgeberischer Tätigkeit in diesem Bereich lediglich eine Auswahl der zentralen gesundheitspolitischen Vorhaben beleuchtet werden kann. Eine bewertende Einordnung der Reformen folgt am Ende des Beitrags. 2
Gesundheitspolitische Meilensteine der Großen Koalition
2.1 Das Gesetz für mehr Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung (AVWG) Vielleicht wie in keinem anderen Politikfeld gilt in der Gesundheitspolitik der Grundsatz „Nach der Reform ist vor der Reform“. Unmittelbar nach der Bundestagswahl hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) gleich nach der Aufteilung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung in zwei eigenständige Bundesministerien (BMG und BMAS) mit dem Gesetz für mehr Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung (AVWG) ein erstes Vorhaben auf den Weg gebracht. Mit dieser gesetzgeberischen Maßnahme, die im Juni 2006 in Kraft trat, reagierten die Koalitionäre auf einen drastischen
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Anstieg der Arzneimittelkosten in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Diese waren zwischen 2004 und 2005 um fast 17 Prozent angestiegen und entwickelten sich damit sehr viel dynamischer als prognostiziert und zwischen Leistungserbringern und Kassen vereinbart. Vor diesem Hintergrund vermag es kaum zu überraschen, dass das AVWG in erster Linie darauf abzielte, die GKV-Arzneimittelkosten deutlich (um etwa 1,3 Mrd. Euro jährlich) zu reduzieren. In dieser Hinsicht folgt die Regelung der Tradition der Kostendämpfungsgesetze, die seit Ende der 1970er Jahre das Gesetzgebungsgeschehen in der deutschen Gesundheitspolitik dominieren und sich über die Jahre in politikleitenden Grundsätzen wie „Beitragssatzstabilität“ und „einnahmeorientierte Ausgabenpolitik“ der GKV verstetigt haben (Rosenbrock/Gerlinger 2006). Zur Erreichung des angesichts galoppierender Kostensteigerungen ambitionierten Kürzungsziels sah das AVWG ein Bündel an Einzelmaßnahmen vor. Dazu zählte die Absenkung der Festbeträge für Arzneimittel, die Aufhebung der Zuzahlung für Patienten sofern der Preis eines Medikamentes mindestens 30 Prozent unterhalb des Festbetrags liegt sowie ein zweijähriges Preismoratorium für verordnungsfähige Arzneimittel. Außerdem sah das Gesetz ein Verbot der Naturalrabatte von Pharmaherstellern an Apotheken vor. Besonderen Unmut der Leistungserbringer rief dabei die vom AVWG eingeführte BonusMalus-Regelung hervor, die die wirtschaftliche Verordnung von Arzneimitteln durch die niedergelassenen Ärzte mit finanziellen Anreizen belohnen und nicht wirtschaftlich verordnende Ärzte mit Maluszahlungen belegen sollte.1
2.2 Gesundheitsreform 2007 – GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) Im Vorgriff auf die Gesundheitsreform beschloss die Große Koalition am 27. Oktober 2006 das Vertragsarztänderungsgesetz (VÄndG), das am 1. Januar 2007 in Kraft trat (BGBL vom 26.03.2007). Mit dem VÄndG sollten die gesetzlichen Rahmenbedingungen in der ambulanten Versorgung gelockert und flexibilisiert werden, um auf diese Weise eine drohende Unterversorgung vor allem in ländlichen Regionen zu verhindern. Um diese Zielsetzung zu erreichen, sah das Gesetzesvorhaben die Möglichkeit der Teilzulassung von Vertragsärzten, den Wegfall der Altersgrenze von 55 Jahren für die Niederlassung, den Wegfall der Altersgrenze von 68 Jahren für das Ende der vertragsärztlichen Tätigkeit in unterversorgten Gebieten sowie die Möglichkeit für Vertragsärzte vor, auch außerhalb des Bezirks ihrer Kassenärztlichen Vereinigung tätig zu werden. Basierend auf dem Koalitionsvertrag begannen parallel zum AVWG-Verfahren die Vorarbeiten für die anvisierte große Gesundheitsreform. Dabei konnten die Koalitionäre vor allem auf die Leitplanken des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG) zurückgreifen, das 2003 während der rot-grünen Koalition mit Beteiligung von CDU/CSU ausgearbeitet und verabschiedet worden war und das erhebliche gesundheitspolitische Berührungspunkte zwischen den Koalitionären aufzeigte. 1 Überschreitet ein Vertragsarzt bei der Verordnung von Arzneimitteln für verordnungsstarke Anwendungsgebiete die von den Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) gemeinsam festgelegten Durchschnittskosten je definierter Dosiseinheit, die sich bei wirtschaftlicher Verordnungsweise ergeben, muss er diese aus seinem Honorar anteilsmäßig ausgleichen. Gleichzeitig zahlen die Kassen bei einem Unterschreiten der Durchschnittskosten der von den Ärzten einer KV insgesamt verordneten Arzneimittel je definierter Dosiseinheit einen Bonus an die Kassenärztliche Vereinigung.
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Deutliche Differenzen zwischen den Koalitionspartnern traten, wie nach dem Wahlkampf nicht anders zu erwarten war, vor allem bei den Themen Finanzierungsreform der GKV sowie bei der Frage der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung2 zu Tage. Hier startete der Reformprozess von den „antagonistischen ordnungspolitischen Vorstellungen Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie“ (Knieps 2007). Den politischen Akteuren ebenso wie der Öffentlichkeit dürfte dabei von Anfang an klar gewesen sein, dass kein Koalitionspartner seine Vorstellung zur Finanzierungsreform vollständig durchsetzen können würde. Fraglich war zu Beginn aber die Frage, wie ein Kompromiss aussehen könnte. Betrachtet man den Prozess der Konsenssuche, so zeigt sich, dass während dieses Prozesses zwei Konzepte eine herausragende Rolle spielten: Die Finanzierungsstruktur des niederländischen Gesundheitssystems (Greß/Manouguian 2007) sowie die Ideen des Dortmunder Wirtschaftswissenschaftlers Wolfram F. Richter (Richter 2005: 694). Während die Niederlande zur Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes einkommensabhängige Beiträge, die von einer zentralen Stelle eingezogen werden, mit einem einkommensunabhängigen Beitrag kombinieren, plädiert Richter in seinem vor der Wahl entwickelten Modell für die Einführung eines „Sonderhaushaltes GKV“, in dem einkommensbezogene Beitragszahlungen in einkommensunabhängige Versicherungsprämien („Grundpauschalen“) transformiert werden. Basierend auf der Idee des „Voucher-Konzepts“ sollten die Bürger die an sie auszuzahlenden Grundpauschalen dazu verwenden, sich bei einer Versicherung eigener Wahl gegen die mit einer Krankheit verbundenen Risiken zu versichern. Differenzen zwischen der von der Versicherung geforderten einkommensunabhängigen Pauschalprämie und der Grundpauschale sollten – sofern positiv – vom Versicherten getragen werden bzw. – sofern negativ – an diesen ausbezahlt werden. Neben der Publikation seines Konzepts im „Wirtschaftsdienst“ versandte Richter das Konzept Ende September 2005 an die politischen Entscheidungsträger (Feldenkirchen 2006). Darüber hinaus brachte Richter seinen Vorschlag in den wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfinanzministerium ein. Dieser benannte den Sonderhaushalt in „zentrale Inkassostelle“ um und griff das Konzept Richters damit unter verändertem Namen in seiner Stellungnahme „Zur Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung: Ein Konsensmodell“ auf, die am 18. Oktober 2005 veröffentlicht wurde.3 Der weitere Fortgang des Reformprozesses legt nahe, dass die Vorstellungen des wissenschaftlichen Beirats im Gesundheitsministerium vor dem Hintergrund der Kenntnisse des niederländischen Systems, der dort stattgefundenen Gesundheitsreform sowie der bereits in den 1990er Jahren diskutieren Idee eines „GKV-Beitragspools“ zu einem Kompromiss zusammengebunden wurden, an dessen Ende das Konzept des Gesundheitsfonds stand (Leiber et al. 2008). Prägend für den weiteren Fortgang der Reformdebatte dürfte dabei auch die Tatsache gewesen sein, dass sich Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt und 2 Im Bereich der Finanzierungsreform lief die Konfliktlinie zwischen den Koalitionspartnern wie oben bereits beschrieben zwischen dem auf nominale Kopfpauschalen setzenden Prämienmodell der CDU/CSU und dem Bürgerversicherungskonzept der SPD, das die Beibehaltung des einkommensabhängigen Beitragssatzes bei gleichzeitiger Verbreiterung der Bemessungsgrundlage vorsah. Im Punkto Verhältnis privater und gesetzlicher Krankenversicherung hatte sich die SPD im Wahlkampf dafür eingesetzt, alle Bürger im Rahmen der Bürgerversicherung abzusichern und so die PKV und die GKV im Rahmen des Bürgerversicherungsmodells zu integrieren, d.h. langfristig die substitutive private Krankenversicherung aufzuheben, während sich die CDU/CSU stets dafür aussprach, die Parallelität der Systeme sowie die Option für eine private Vollversicherung zu erhalten. 3 Vgl. www.bmf.bund.de
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Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits im März 2006 – und damit weit vor der heißen Phase der Gesundheitsreform – für das Fondsmodell4 ausgesprochen hatten (Feldenkirchen 2006; Bartels/Paquet 2008). Basierend auf der Vorarbeit einer 16-köpfigen koalitionsübergreifenden Bund-LänderArbeitsgruppe legte der Koalitionsausschuss am 3. Juli 2006 schließlich die Eckpunkte der Gesundheitsreform fest: die Finanzierungsreform der GKV, die die Einführung eines Gesundheitsfonds vorsah sowie eine weit reichende Organisationsreform der GKV, eine Reform der PKV und Strukturreformen im Bereich der medizinischen Versorgung. Weit über die Veröffentlichung des Referentenentwurfs im Oktober 2006 hinaus provozierten die im GKV-WSG zusammengefassten Reformvorschläge massive Proteste bei nahezu allen von der Reform betroffenen Akteuren. Besonders hart und andauernd fiel dabei die Kritik der Krankenkassen, der Leistungserbringer sowie der PKV aus. Auch Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Verbraucher- und Sozialverbände sprachen sich gegen weite Teile der Reform aus. Innerhalb der Parteien traten Widerstände gegen einzelne Maßnahmen aber auch gegen den generellen Duktus der Reform zutage – auch einige Ministerpräsidenten stellen sich öffentlich gegen die Reform. Nicht zuletzt sparte auch die Wissenschaft nicht mit Kritik: Neben den im Verein für Socialpolitik zusammengeschlossenen Gesundheitsökonomen kritisierten die Wirtschaftsweisen sowie der Sachverständigenrat Gesundheit die Kernelemente der Reform (zu Details: Bartels/Paquet 2008). Trotz der massiven Proteste blieben die Grundpfeiler der Reform, d.h. vor allem die Finanzierungsreform und die Organisationsreform, Bestandteil des Gesetzesvorhabens, das am 2. Februar 2007 – trotz der Nein-Stimmen von 43 Koalitionsabgeordneten – im Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Gewinner waren zu diesem Zeitpunkt vor allem zwei Akteure, die ihr politisches Schicksal eng mit dem Erfolg der Gesundheitsreform verbunden hatten: Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Die zentralen Inhalte des GKV-WSG können hier nur kursorisch zusammengefasst werden. Hauptelemente des Gesetzes sind die Strukturreform, die Organisations- und Finanzierungsreform der GKV sowie die Reform der Rahmenbedingungen für die PKV. Als übergeordnetes Element des GKV-WSG soll dabei die erstmalige Einführung einer umfassenden Versicherungspflicht vorangestellt werden, mit der die Koalitionäre auf Hochrechungen reagierten, die die Zahl der Bürgerinnen und Bürger ohne Schutz im Krankheitsfall bei bis zu 200.000 Personen sahen. Die entsprechende Regelung sieht eine Versicherungspflicht für Personen ohne anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall ab dem 1. April 2007 vor, wenn diese zuletzt gesetzlich versichert waren. Seit dem 1. Januar 2009 wird diese Pflicht von einer entsprechenden Regelung für die PKV flankiert. Im Bereich der Strukturreformen führt das GKV-WSG weitere Maßnahmen ein, um die Sektorengrenzen im deutschen Gesundheitssystem zu überwinden. Dazu gehören die Verlängerung der Anschubmaßnahmen für die integrierte Versorgung aber auch die ver4 Im Laufe des weiteren Politikprozesses zeigte sich, dass das Fonds-Konstrukt geeignet war, den oben beschrieben Antagonismus von Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie zu überwinden (Knieps 2007). Der Union kam die Idee des Fonds vor allem deshalb entgegen, weil das Konstrukt die Möglichkeit eröffnete, die lohnbezogenen Pflichtbeiträge zur GKV abzusenken und damit das System in Richtung der Gesundheitsprämie weiterzuführen. Für die Sozialdemokraten war wichtig, dass der Fonds prinzipiell eine Integration der privaten Krankenversicherung ermöglichte und gleichzeitig den Weg eröffnete, im Sinne der Bürgerversicherung den Versichertenkreis zu erweitern sowie neben Lohneinkünften auch andere Einkünfte zur Erweiterung der Bemessungsgrundlage heranzuziehen.
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stärkte Öffnung von Krankenhäusern für die ambulante Versorgung. Ferner verpflichtet das Gesetz die Krankenkassen dazu, ihren Versicherten eine hausarztzentrierte Versorgung anzubieten. Während die vorhergehenden Gesundheitsreformen oftmals Ausgrenzungen aus dem Leistungskatalog der GKV zur Folge hatten, kommt es mit dem GKV-WSG zu einer Ausweitung des Leistungskatalogs: Neben geriatrischer Rehabilitation, Mutter-VaterKind-Kuren und zusätzlichen Schutzimpfungen erhalten die Versicherten mit dem Gesetz einen Anspruch auf die spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Darüber hinaus werden im GKV-WSG die Grundlagen für eine Erweiterung der Kosten-Nutzen-Bewertung im deutschen Gesundheitssystem und für die umfassende Reform der ärztlichen Honorierung gelegt. Im Zuge des GKV-WSG werden außerdem weit reichende Organisationsreformen beschlossen: Die Aufgaben der kassenartenbezogen Spitzenverbände werden überwiegend dem neu zu gründenden Spitzenverband Bund übertragen, die Strukturen im Gemeinsamen Bundesausschuss werden professionalisiert, und die Krankenkassen erhalten mit den Arzneimittelrabattverträgen, dem Ausbau der Wahltarife und Fusionsmöglichkeiten mehr Handlungsoptionen und Instrumente im Rahmen des Kassenwettbewerbs. Mit der Einführung des Gesundheitsfonds reformiert das GKV-WSG ferner die Finanzströme der GKV: Erstmals zum 1. Januar 2009 legt nun die Bundesregierung einen einheitlichen Beitragssatz für die GKV-Versicherten fest. Deren einkommensabhängiger Beitrag fließt ab 1. Januar 2009 in den Gesundheitsfonds. Von dort erhalten die Krankenkassen je Versicherten eine einheitliche Grundpauschale. Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen der Kassen werden darüber hinaus Zuschläge nach dem neu einzuführenden morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich angewiesen. Der Steuerzuschuss zum Gesundheitsfonds soll ab 2009 jährlich um 1,5 Mrd. auf insgesamt 14 Mrd. anwachsen. Kommen die Kassen mit dem ihnen zugewiesenen Geld aus dem Fonds nicht aus, müssen sie pauschale oder prozentuale Zusatzbeiträge erheben (bis max. 1 Prozent des Einkommens der Mitglieder). Bei Überschüssen können die Krankenkassen Beiträge zurückerstatten. Eine weitere Säule des GKV-WSG bilden die Regelungen zur Privaten Krankenversicherung (Genett 2008). Zum einen sieht das GKV-WSG eine Portabilisierung der in der PKV für jeden Versicherten gebildeten Altersrückstellungen vor. Ferner wird die PKV mit der Gesundheitsreform verpflichtet, einen Basistarif anzubieten, in dem Kontrahierungszwang besteht, Risikozuschläge nicht erlaubt sind und dessen Prämienhöhe auf den GKVHöchstbetrag begrenzt ist. Zudem wird mit dem Gesetz auch die Wechselmöglichkeit in die PKV eingeschränkt: Angestellte dürfen seit Inkrafttreten des GKV-WSG erst bei einem kontinuierlichen Überschreiten der Versicherungspflichtgrenze über drei Jahre hinweg in die PKV wechseln.
2.3 Die Implementierung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-OrgWG, MorbiRSA, Vergütungsreform) Um die im GKV-WSG vorgesehenen Veränderungen zu implementieren, wurden im Laufe des Jahres 2008 weitere gesundheitspolitische Reformen auf den Weg gebracht. Zentral waren hierbei die Regelungen zur Insolvenzfähigkeit aller Krankenkassen, die Umsetzung
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der im GKV-WSG geregelten Neugestaltung des Risikostrukturausgleichs sowie die Schaffung der Grundlagen für die Reform der vertragsärztlichen Vergütung. Ein großer Streitpunkt zwischen Bund und Ländern war die Frage nach der Insolvenzfähigkeit aller, d.h. auch der bisher nicht insolvenzfähigen landesunmittelbaren Krankenkassen. Die Länder bestanden darauf, wie im GKV-WSG festgelegt, mit dem Start des Gesundheitsfonds aus der Haftung für die landesunmittelbaren Kassen entlassen zu werden. Diesem Interesse kam der Gesetzgeber im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-OrgWG) entgegen. Dieses sieht vor, dass alle Krankenkassen zum 1. Januar 2010 insolvenzfähig werden und dass im Falle einer unvermeidlichen Insolvenz zunächst Kassen derselben Kassenart in die Pflicht genommen werden, bevor als nächster möglicher Schritt die Schließung folgt. Zudem regelt das GKV-OrgWG auch die Haftung für Pensionen der so genannten Dienstordnungs(DO-)Angestellten der Kassen. Für diese werden die Kassen verpflichtet, innerhalb der kommenden 40 Jahre sukzessive Pensionsrückstellungen zu bilden. Im neuen Risikostrukturausgleich (RSA) sollen neben den bisherigen Faktoren Alter, Geschlecht und Erwerbsminderung auch unmittelbare Morbiditätsfaktoren berücksichtigt werden. Um diese Weiterentwicklung zur direkten Morbiditätsorientierung des RSA gemäß den Vorgaben des GKV-WSG umzusetzen, wurde 2008 ein wissenschaftlicher Beirat beim Bundesversicherungsamt einberufen. Dieser hatte den Auftrag, 50-80 kostenintensive chronische Krankheiten mit einem schwerwiegenden Verlauf auszuwählen, die – wie im GKVWSG formuliert – „für das Versorgungsgeschehen von besonderer Bedeutung sind und wesentlichen Einfluss auf die Kostenbelastung der Krankenkassen haben“ und für welche die Krankenkassen im Rahmen des Morbi-RSA Risikozuschläge aus dem Gesundheitsfonds erhalten. Der wissenschaftliche Beirat setze sich bei der Auswahl der Krankheiten über die engen gesetzlichen Vorgaben hinweg und sprach sich dafür aus, im Rahmen des RSA auch finanzielle Anreize zur Primär- und Sekundärprävention zu schaffen (Cassel/Jacobs 2008). Diese Tatsache sowie die Divergenzen mit der Bundesregierung hinsichtlich der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung des RSA dürften mit zu dem geschlossenen Rücktritt des Beirats im Frühjahr 2008 geführt haben (der für diesen Schritt jedoch keine Gründe benannte). Daraufhin legte das Bundesversicherungsamt im Sommer selbst die notwendigen Schritte fest, um die Einführung des Morbi-RSA zum 1. Januar 2009 zu gewährleisteten. Neben der Auswahl der Krankheiten gehörten hierzu auch die Festlegung des Klassifikationsmodells, das regelt, unter welchen Bedingungen Patienten bzw. ihren Krankenkassen die Morbiditätszuschläge für die 80 Krankheiten zugewiesen werden und wie die Höhe dieser Zuschläge ermittelt wird. Mit dem GKV-WSG wurde auch eine weitreichende Neugestaltung des vertragsärztlichen Vergütungssystems beschlossen (Partsch 2007; Staffeld 2008). Zentrale Bestandteile waren die Übertragung des Morbiditätsrisikos auf die Krankenkassen, die Entlohnung der Vertragsarztleistungen nach einer fest kalkulierbaren Euro-Cent-Gebührenordnung5 sowie die Erhöhung des Vergütungsvolumens in den neuen Bundesländern auf 95 Prozent des West-Niveaus. Gleichzeitig sollten die Beitragszahler vor unbegründeten Leistungsauswei5 Anstelle der bisherigen Vergütung, die von Budgets und floatenden Punktwerten geprägt und für die niedergelassen Ärzte mit Kalkulationsrisiken verbunden war, wurde im Rahmen des GKV-WSG eine Vergütung in „Euro und Cent“ und damit in fest kalkulierbaren Größen vereinbart. Grundlage für die neue Euro-Cent-Gebührenordnung sind regional festgelegte Euro-Cent-Gebührenordnungen, die unter Heranziehung des bundesweit einheitlichen Euro-Orientierungswerts und des neuen Einheitlichen Bewertungsmaßstabs vereinbart werden.
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tungen seitens der Ärzte und einer sich daraus ergebenden Kostensteigerung im ambulanten Bereich geschützt werden. Ein erster Schritt zur Umsetzung dieser ehrgeizigen Ziele bestand in der Reform des einheitlichen Bewertungsmaßstabs Anfang 2008, der erstmals einen bundesweit einheitlichen Orientierungspunktwert festgelegte. Im Sommer 2008 wurde vom Bewertungsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses, nach Mehrheitsentscheid der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sowie des neutralen Vorsitzenden Jürgen Wasem und somit gegen das Votum des Spitzenverbandes der Krankenkassen ein neues Vergütungs- und Verteilungssystem beschlossen, das die oben genannten Grundsätze umsetzen sollte. Gegenüber 2007 soll dieses den Vertragsärzten einen Zuwachs von 3,2 Mrd. Euro einbringen – und dennoch ist der Widerstand der Ärzte seit der Einführung des neuen Systems Anfang 2009 scheinbar ungebrochen. Die Gründe hierfür dürften vor allem darin liegen, dass die KV-Bezirke unterschiedlich stark von den Honorarzuwächsen profitieren. Die Spanne reicht hierbei von ca. 29 Prozent Zuwachs in Thüringen bis zu ca. 5 Prozent Zuwachs in Baden-Württemberg. Hinzu kommen offenbar Implementierungsprobleme, die zumindest teilweise auch den zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen zuzurechnen sind (Reiners 2009).
2.4 Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz (PflWG) Nach der Verabschiedung der Gesundheitsreform kam mit der Reform der Pflegeversicherung direkt das nächste Großprojekt auf die gesundheitspolitische Agenda der Großen Koalition. Zur Vorbereitung der Reform, mit der unter anderem die Finanzierung des jüngsten deutschen Sozialversicherungszweiges überarbeitet werden sollte, fanden frühzeitig Gespräche zwischen den beiden beteiligten Ministerinnen Schmidt und von der Leyen sowie CSU-Chef Seehofer statt. Hauptstreitpunkt war von Anbeginn die Frage, ob und wie die private Pflegeversicherung an den Kosten der gesetzlichen Pflegeversicherung beteiligt wird, wie ursprünglich im Koalitionsvertrag vereinbart. Nachdem sich hier keine Lösung abzeichnete, wurde die zunächst geplante große Finanzierungsreform der Pflegeversicherung vertagt und gleichzeitig eine kleine Finanzierungsreform mit einigen Strukturveränderungen in Angriff genommen. Die Reform selbst, zusammengefasst im Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (PflWG), trat am 1. Juli 2008 in Kraft. 13 Jahre nach Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung wurden im Rahmen des Gesetzes erstmals alle Leistungen der Pflegeversicherung angehoben sowie für die Jahre 2010 und 2012 zwei weitere Anhebungen festgelegt. Auch für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz wurden die Leistungen erhöht: Sie erhalten bis zu 200 Euro monatlich statt maximal 460 Euro jährlich. Zudem stehen diese Leistungen erstmals Menschen zur Verfügung, die nicht die Voraussetzungen für Pflegestufe 1 erfüllen aber dennoch einen speziellen Betreuungsbedarf aufweisen, wie beispielsweise Demenzkranke. Zur Finanzierung der beschriebenen Leistungsausweitungen wurde der Beitragssatz der gesetzlichen Pflegeversicherung mit der Reform um 0,25 Prozentpunkte angehoben. Daneben sieht das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz auch strukturelle Reformen im Bereich der Pflege vor. Dem Trend der vergangenen Jahre folgend, ist ein weiterer Ausbau der ambulanten Pflege vorgesehen. Hierzu können die Länder wohnortnahe Pflegestützpunkte errichten, für die sie eine Anschubfinanzierung seitens des Bundes erhalten. Diese
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Anlaufstellen, die zwischen Union und SPD bis zuletzt hoch umstritten waren,6 sollen die Beratung über die Pflege sowie die Vernetzung aller pflegerischen, medizinischen und sozialen Leistungen bündeln. Sie sollen das Dach bilden, unter dem sich Mitarbeiter/innen der Pflege- und Krankenkassen sowie die Sozialhilfeträger abstimmen, um Betroffenen und ihren Angehörigen Beratung aus „einer Hand“ anbieten zu können. Ferner haben die Versicherten ab 2009 einen Rechtsanspruch auf individuelle Beratung und Unterstützung durch einen Pflegeberater. Fallmanager sollen sich um die Unterstützung der einzelnen betroffenen Personen und ihrer Angehörigen kümmern. Darüber hinaus können Pflegebedürftige, die in betreuten Wohnformen oder Wohngemeinschaften zusammenleben, Betreuungsleistungen künftig gemeinsam abrufen und sich zum Beispiel eine Pflegekraft teilen. Zudem erhalten Arbeitnehmer, die Angehörige pflegen, einen Anspruch auf bis zu sechs Monate unbezahlte Freistellung.
2.5 Krankenhausfinanzierungsreformgesetz (KHRG) Ebenfalls im Laufe des Jahres 2008 erreichte auch die Frage der Neugestaltung des ordnungspolitischen Rahmens der Krankenhausversorgung die gesundheitspolitische Agenda. Anlass für diese Entwicklung war unter anderem das Auslaufen der Einführungsphase der Fallpauschalen/DRG-Finanzierung Anfang 2009. Darüber hinaus standen einmal mehr das Thema Krankenhausplanung sowie die Frage der Krankenhausinvestitionskostenfinanzierung auf dem Prüfstand. Der Boden für den Gesetzgebungsprozess wurde bereits im Jahr 2007 bestellt, als sowohl das Jahresgutachten des Sachverständigenrats Gesundheit als auch ein von der ministerialen Fachebene lanciertes Diskussionspapier weitgehende Änderungen in den angesprochenen Themenkomplexen empfahlen (Sachverständigenrat Gesundheit 2008). Nach einem zähen Ringen im Gesetzgebungsverfahren, das von starken Länderinteressen geprägt war und von breiten Protesten der Klinikbelegschaften bzw. Gewerkschaften sowie der Deutschen Krankenhausgesellschaft begleitet wurde, beschloss der Bundestag im Dezember 2008 das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz (KHRG). Dieses stellt den rund 2000 deutschen Kliniken im Jahr 2009 ca. 3,5 Mrd. Euro zusätzlich zur Verfügung. Mit diesen Mitteln sollen u.a. die Tariflohnsteigerungen der vergangen Jahre ausgeglichen werden sowie ca. 17.000 zusätzliche Pflegestellen in den Krankenhäusern geschaffen werden. Gleichzeitig wird die lange kritisierte Grundlohnsummenbindung der Krankenhauspreise gelockert und durch eine Anbindung an einen neu zu entwickelnden Orientierungswert abgelöst. Darüber hinaus sieht das KHRG Regelungen zur Weiterentwicklung des deutschen DRG-Systems nach Ende der Konvergenz- bzw. Einführungsphase vor. In diesem Zusammenhang ist unter anderem geplant, die Landesbasisfallwerte in Richtung eines bundeseinheitlichen Basisfallwerts weiterzuentwickeln und die DRG-Systematik auf den Bereich der Psychiatrie auszudehnen. Im Bereich der Krankenhausinvestitionsfinanzierung sieht das Gesetz eine Umstellung auf Investitionskostenpauschalen vor, die an das DRGSystem angekoppelt sind. Hierbei bleibt allerdings zunächst das Ergebnis der beauftragten Bund-Länder-Arbeitsgruppe abzuwarten. 6 Während die SPD die Einrichtung von bundesweit ca. 4000 Pflegestützpunkten präferierte, favorisierte die Union eine Lösung mit Beratungsgutscheinen, mit denen Betroffene selbst entscheiden sollten, bei welcher Stelle sie sich beraten lassen wollen.
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2.6 Das Präventionsgesetz Wie oben skizziert, hatte die Große Koalition zu Beginn der Legislaturperiode vereinbart, die Prävention zu einer eigenständigen Säule der gesundheitlichen Versorgung auszubauen und mit einem Präventionsgesetz die Kooperation und Koordination der Prävention sowie die Qualität der Maßnahmen der Sozialversicherungsträger und -zweige übergreifend und unbürokratisch zu verbessern (Koalitionsvertrag 2005: 100). Vor diesem Hintergrund legte das Bundesministerium für Gesundheit bereits im November 2007 einen Referentenentwurf zum Präventionsgesetz vor. Dieser innerhalb der Ressorts abgestimmte Entwurf schlägt eine umfassende Neuorientierung der deutschen Präventionspolitik hin zu Prävention in Lebenswelten bzw. Settings (z.B. Schule, Kindergarten, Betrieb, Sportverein) vor, wie dies neben dem Sachverständigenrat Gesundheit auch andere Experten mehrfach gefordert hatten. Zudem sieht der Referentenentwurf die Einrichtung eines nationalen Präventionsrates vor, der bundesweite Präventionsziele festlegen und Qualitätsstandards für die Prävention formulieren soll. Trotz wiederholter Anläufe und einer bereits stattgefundenen Anhörung zum Entwurf innerhalb der Koalitionsfraktionen konnte jedoch keine Einigung zum Gesetzentwurf erzielt werden – ungeachtet der Tatsache, dass einige CDU-regierte Bundesländer ihre Zustimmung zum Gesetzesentwurf signalisiert hatten. Hauptkonfliktpunkt zwischen den Koalitionären schien dabei die Finanzierung der Umsteuerung hin zu mehr Settingansätzen zu sein, für das die SPD die bisher fast ausschließlich in die Individualprävention fließenden Mittel der Kassen heranziehen wollte. 3
Diskussion
Gesundheitssysteme weisen umfangreiche Vetopositionen für etablierte Interessengruppen auf (Immergut 1992). Aus diesem Grund sind erhebliche politische Anstrengungen erforderlich, um gegen Widerstände Reformen im Gesundheitssystem durchzusetzen. Hierfür ist möglicherweise eine Große Koalition besonders geeignet, da eine Zustimmung aller Abgeordneten der Regierungsparteien nicht erforderlich ist. Das GKV-WSG wurde trotz der Nein-Stimmen von 43 Koalitionsabgeordneten beschlossen, was dafür spricht, dass weitreichende gesundheitspolitische Entscheidungen vor allem bei einer breiten politischen Mehrheit gestemmt werden können. Angesichts der sehr zurückhaltenden Behandlung der Gesundheitspolitik in den Wahlprogrammen und der vorsichtigen Skizzierung der Reformvorhaben im Koalitionsvertrag ist die Gesundheitspolitik der 16. Legislaturperiode eine Erfolgsgeschichte. Seit 2009 haben erstmals alle Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf eine Absicherung im Krankheitsfall. Die SPD konnte sich eindeutig mit ihrem Ziel durchsetzen, dass sich der Beitrag der Versicherten weiterhin an deren Einkommen ausrichtet und die solidarische Umverteilung somit nach wie vor in der Gesetzlichen Krankenversicherung verankert ist. Dagegen scheint das Prämienmodell schweizer oder niederländischer Prägung mit einheitlichen Prämien und staatlicher Unterstützung für Versicherte in „bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen“ auch in den Reihen der CDU/CSU nicht mehr auf der politischen Tagesordnung zu sein. Dies würde einen Wechsel von einem Recht auf Gesundheitsversorgung aufgrund zuvor gezahlter Beiträge hin zu einem Fürsorgemodell bedeuten, in dem Teile der Bevölkerung
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ihre finanziellen Verhältnisse offen legen müssen, um eine Absicherung im Krankheitsfall zu erhalten. Stellt man die Frage, wer in diesem gesundheitspolitischen Konflikt, an dessen Ende umfassende strukturelle Änderungen standen, gewonnen hat, gibt es gleich mehrere Antworten. Zunächst einmal: Die Patienten. Die Einführung einer Versicherungspflicht für alle Bürgerinnen und Bürger ist ein – sehr spät gesetzter – Meilenstein in der deutschen Gesundheitspolitik. Gewonnen haben aber auch zwei Akteure, die sich bereits früh für ein Kernelement der Gesundheitsreform, den Gesundheitsfonds, ausgesprochen hatten: Angela Merkel und Ulla Schmidt. Da nicht nur die SPD, sondern auch die Unionsparteien im Wahlprogramm eine Absicherung aller Bürgerinnen und Bürger als gesundheitspolitisches Ziel definiert hatten, können grundsätzlich beide Koalitionspartner diesen Erfolg für sich reklamieren. Da das Resultat allerdings eher dem Modell der SPD-Bürgerversicherung entspricht, während die ursprüngliche Kernforderung von CDU/CSU, das Prämienmodell, nicht umgesetzt wurde, geht dieser Punktsieg an die SPD. In vier Jahren der Dominanz der Regierungsparteien in Bundestag und Bundesrat wurde die Position des Staates im deutschen Gesundheitssystem gestärkt. Durch die staatliche Festlegung des Beitragssatzes ist das Ausmaß der staatlichen Regulierung im deutschen Gesundheitssystem deutlich gestiegen. Gleichzeitig hat der modifizierte Risikostrukturausgleich zu mehr Wettbewerbsgleichheit zwischen den Krankenkassen geführt und somit den Wettbewerb gestärkt. Durch die Reformen werden die historisch begründeten Kassenarten mittelfristig der Vergangenheit angehören. Gleichermaßen wird der sichtbare Konsolidierungs- und Konzentrationsprozess in der Kassenlandschaft weiter voranschreiten. Dabei zeigt sich an einigen Regelungen des GKV-WSG allerdings auch, dass mit der Stärkung wettbewerblicher Instrumente im Kassenwettbewerb die Frage einhergeht, inwiefern sich das deutsche Gesundheitssystem weiterhin dem Einflussbereich des Wettbewerbsrechts entziehen kann. Fest steht, dass das ursprünglich hohe Ausmaß an Selbstregulierung in der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung durch diese „Umklammerung“ aus staatlicher Regulierung einerseits und Stärkung marktwirtschaftlicher Anreize andererseits weiter geschwächt wurde (Giamo/Manow 1999, Rothgang et al. 2005, Wendt 2006). Insofern stellen die jüngsten Gesundheitsreformen nicht nur die Krankenkassen, sondern vor allem auch die Tradition der gemeinsamen Selbstverwaltung vor eine historische Herausforderung. Ordnet man das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz in den Kontext der vergangenen Reformschritte ein, so kann festgestellt werden, dass die Große Koalition sich gesundheitspolitisch weitgehend auf den Pfaden der Grundlagen bewegt, die 1992 mit dem GSG bzw. 2003 mit dem GMG ebenfalls in Zusammenarbeit zwischen SPD und CDU/CSU gelegt wurden. Im Rahmen dieses Pfades scheint ein Konsens zwischen den beiden großen Parteien möglich. Darüber hinausgehende strukturelle Reformvorstellungen der Parteien, wie beispielsweise die Vereinheitlichung des Versicherungsmarktes, fundamentale Strukturreformen im Arzneimittelsektor oder auch ein weitreichender Umbau der Steuerung der ambulanten Versorgung sind jedoch – bis auf die Frage Prämienmodell vs. Bürgerversicherung – bereits aus dem Koalitionsvertrag ausgeklammert worden. Oder aber sie konnten, wie vor allem das Präventionsgesetz, aufgrund der zu stark divergierenden ordnungspolitischen Vorstellungen der Koalitionsparteien nicht umgesetzt werden.
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Gert-Joachim Glaeßner
Die Innen- und Rechtspolitik der Großen Koalition
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Ausgangslage1
Die Innen- und Rechtspolitik der Großen Koalition kann im Kern als eine durch die politischen Mehrheitsverhältnisse und die größere programmatische und politische Nähe der Koalitionspartner in diesem Politikfeld effektivere Fortsetzung der Politik der rot-grünen Bundesregierung angesehen werden. Deren Politik war durch die Ereignisse des 11. September 2001 überschattet. Dieses einschneidende Ereignis hatte Implikationen weit über den engeren Bereich der Innen- und Justizpolitik hinaus, fokussierte jedoch gleichwohl den Blick der politischen Akteure mit besonderer Schärfe auf den Kernbereich staatlicher Gefahrenabwehr, ein Politikfeld, das in der Geschichte der Bundesrepublik stets heftig umstritten war. Auf die konkrete Bedrohung durch den internationalen Terrorismus reagierte der Gesetzgeber in der Bundesrepublik mit einer Reihe von Gesetzesinitiativen, zuförderst das Terrorismusbekämpfungsgesetz vom 9. Januar 2002 (BGBl. I: 361). Begründet wurden die zum Teil erheblichen Veränderungen und Erweiterungen von Befugnissen der Sicherheitsorgane mit der Notwendigkeit, einen besseren Datenaustausch zu ermöglichen und z.B. bereits die Einreise terroristischer Straftäter nach Deutschland zu verhindern Das gleiche Argumentationsmuster setzt sich bei vielen Gesetzgebungsvorhaben der Großen Koalition fort, sei es bei der Einrichtung einer „Anti-Terror-Datei“, sei es bei der Neufassung des BKA-Gesetzes oder dem Gesetzentwurf der CDU/CSU und SPD vom 27. Januar 2009 für ein „Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten“ (BT-Drs. 16/11735). Die Bundesinnenminister, Otto Schily (SPD), und, in deutlich intensiverer Weise sein Nachfolger, Wolfgang Schäuble (CDU), nutzten jede sich bietende Gelegenheit, um unter dem Rubrum Terrorismusbekämpfung Gesetzesvorhaben auf den Weg zu bringen, die unter anderen Umständen nicht oder nur schwer zu realisieren gewesen wären – zum Beispiel im Bereich des Ausländerrechts. Insgesamt sind die Antworten des deutschen Gesetzgebers auf die neue terroristische Bedrohung in den ersten Jahren nach dem 11. September 2001 jedoch deutlich zurückhaltender ausgefallen als in vielen anderen europäischen Ländern. Dies hat sich mit dem Regierungswechsel 2005 nicht grundsätzlich geändert. Gleichwohl zeigt sich, dass in dieser Zeit die Grundlagen für einen weit reichenden Umbau und erhebliche Kompetenzerweiterungen der Sicherheitsdienste und eine schleichende Aushöhlung individueller Schutzrechte gelegt worden sind, die unter den neuen politischen Konstellationen eine neue Dynamik bekommen haben. Die Große Koalition hat diesen Kurs beibehalten und, was die Initiierung und Umsetzung neuer Maßnahmen anbetrifft, perfektioniert.
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Dieser Beitrag wurde vor der Bundestagswahl 2009 fertig gestellt.
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Gert-Joachim Glaeßner Innen- und sicherheitspolitische Ziele in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition
Liest man die Regierungserklärung der neugewählten Kanzlerin, Angela Merkel, vom 30. November 2005 im Abstand von einigen Jahren, dann fällt auf, dass die Innen- und Rechtspolitik, anders als die Arbeitsmarkt-, Kultur- oder Energiepolitik, nicht mit einer eigenen Überschrift versehen ist, wohingegen sie bereits in den Jahren vor 2005 in der öffentlichen Debatte und danach im konkreten Regierungshandeln eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Aus gegebenem Anlass, der Entführung einer Deutschen im Irak, ging die Kanzlerin eingangs auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus ein. In einem kurzen Abschnitt unter dem Titel „Bekämpfung von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus“ wird Deutschland als ein tolerantes, weltoffenes Land beschworen. Die neue Regierung stellte sich als „Anwalt aller Deutschen wie aller in Deutschland lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger“ vor. Daher werde sie „mit allem Nachdruck, wo immer es erforderlich ist, gegen jede Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus kämpfen.“ Unter der Überschrift „Schlüsselaufgabe Integration“ verweist die Kanzlerin auf die Ansiedelung der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt, mit der ein Signal gesetzt werden solle, „dass dies eine gesamtpolitische Aufgabe ist, der wir große Beachtung schenken wollen.“ Die wenigen präzisen Aussagen zur Innen- und Sicherheitspolitik in der insgesamt sehr detaillierten und kleinteiligen Regierungserklärung finden sich, eher versteckt, im Kapitel Außen- und Europapolitik, wobei besonders hervorgehoben wird, dass die Koalition in diesem Bereich „mehr Gemeinsamkeiten gefunden habe, als jede andere denkbare politische Konstellation.“ (Merkel 2005). Die Koalitionsvereinbarung vom 11. November 2005 ist hingegen wesentlich präziser. Sie enthält einen umfangreichen Katalog angezielter Maßnahmen im Bereich der Innenund Justizpolitik. Dort formulieren die Koalitionsparteien unter der Überschrift „Innenpolitik: Deutschland – ein sicheres und freies Land“, dass es „eine zentrale Aufgabe des Staates“ sei, die Freiheit und Sicherheit seiner Bürger zu schützen. „Freiheit ist ohne Sicherheit nicht denkbar. Beide Werte müssen immer wieder neu – je nach den sich ändernden äußeren Bedingungen – ins Gleichgewicht zueinander gebracht werden. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, vor Kriminalität geschützt zu werden“ (Bundesregierung 2005: 135). Die konkreten Ankündigungen des Koalitionsvertrages konzentrierten sich auf institutionelle und verfahrensmäßige Gesetzesvorhaben im Bereich der Terrorismusbekämpfung. Die umstrittensten Vorhaben waren der Ausbau und Kompetenzzuwachs des Bundeskriminalamtes, das zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus Präventivbefugnisse erhalten sollte, und die weitere Stärkung der Bundespolizei. Als ein erster wichtiger Schritt in der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern zur Verbesserung des Informationsaustauschs bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus wurde die Einrichtung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) in Berlin bezeichnet. Es sollte ferner geklärt werden, ob und welche Konsequenzen aus dem Evaluierungsbericht zum Terrorismusbekämpfungsgesetz von 2002 zu ziehen seien, etwa im Hinblick auf die Sympathiewerbung für terroristische Vereinigungen oder Aktivitäten. Als weiteres Ziel wurde die Schaffung rechtlicher Befugnisse für eine effektive gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus mittels einer Antiterrordatei der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern genannt.
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Im Hinblick auf das Luftsicherheitsgesetz vom 14.01.2005 (BGBl I 2005: 78) sollte die anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abgewartet werden um dann zu prüfen, ob und inwieweit verfassungsrechtlicher Regelungsbedarf besteht. Ferner war ein Seesicherheitsgesetz geplant, das am 24.01.2008 verabschiedet wurde und die Erfassung der an Bord von Schiffen und Fähren befindlichen Personen (Fahrgäste, mitreisende Familienmitglieder, Besatzungsmitglieder) vorsieht. (Gesetz zur Änderung seeverkehrsrechtlicher, verkehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mit Bezug zum Seerecht vom 24.01.2008 BGBl I 2008: 706) Zum Schutz lebenswichtiger Informationsinfrastrukturen sollte ein „Nationaler Plan zum Schutz der Infrastrukturen“ umgesetzt werden. Im Bereich des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes sah das Koalitionspapier vor, die Steuerungs- und Koordinierungskompetenz des Bundes bei der Bewältigung von Großkatastrophen und länderübergreifenden schweren Unglücksfällen zu stärken. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition kündigte auch eine Reihe von Maßnahmen im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik an, von denen einige nicht mehr darstellten als die erneute Wiederholung bekannter Positionen, wie die Forderung nach einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit im Rahmen einer Gesamtkonzeption für die Migrationspolitik, nach einem Zusammenwirken aller Politikbereiche bei der Zusammenarbeit mit der europäischen Ebene sowie den Herkunfts- und Transitstaaten zur Bekämpfung von Fluchtursachen und der Forderung nach einer europaweiten Flüchtlingspolitik. Der im Koalitionsvertrag angekündigte interreligiöse und interkulturelle Dialog, der nicht nur wichtiger Bestandteil von Integrationspolitik und politischer Bildung sei, sondern auch dazu diene, Rassismus, Antisemitismus und Extremismus zu verhindern und zu bekämpfen, wurde mit der bemerkenswerten Initiative der „Islamkonferenz“ auf höchster Regierungsebene ins Werk gesetzt (vgl. www.deutsche-islam-konferenz.de). Komplettiert wurden die Vorhaben der neuen Regierung durch Pläne, das Zuwanderungsgesetz anhand der Anwendungspraxis zu evaluieren, wobei u. a. überprüft werden sollte, ob eine befriedigende Lösung des Problems der so genannten „Kettenduldungen“ erreicht worden sei und humanitäre Probleme, etwa mit Blick auf in Deutschland aufgewachsene Kinder befriedigend gelöst seien. Um eine einheitliche Verwaltungspraxis in allen Ländern sicherzustellen, sollte das Staatsangehörigkeitsrecht präzisiert werden, insbesondere im Hinblick auf Einbürgerungen unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit und die Umsetzung eines Optionsmodells. Schließlich wurde die heftig umstrittene Idee eines „Einbürgerungstests“ und das Bekenntnis der Einzubürgernden zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei der Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit in die Diskussion gebracht. 3
Die „Neue Sicherheitsarchitektur“ – Vernetzung statt Trennung
Eines der grundlegenden Prinzipien der Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik seit ihrer Gründung ist das so genannte „Trennungsgebot“. Zwar ist umstritten (vgl. Bukow 2009: 355), ob dieses Gebot Verfassungsrang hat, die Existenz eines solchen Gebots mit Gesetzesrang ist jedoch unbestritten. (zu den verschiedenen Dimensionen des Trennungsgebots: Gusy o.J.: 8; Gusy/Pohlmann 2007: 53). Am Ende der Regierungszeit der Großen Koalition muss man jedoch feststellen, dass „neue Sicherheitsarchitektur“ dieses grundlegende Prinzip der Sicherheitspolitik weitgehend außer Kraft gesetzt hat.
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Die aktuelle Debatte kreist nicht um die Gestaltung bzw. Verhinderung eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Bundes- und Landespolizeibehörden, sondern um die horizontale Vernetzung, Kooperation unterschiedlicher Sicherheitsbehörden unter funktionalen, organisatorischen und befugnisrechtlichen Gesichtspunkten und deren mögliche faktische Fusion. Die Bundesrepublik müsse, so Innenminister Schäuble, den Netzwerken der Terroristen ein Netzwerk der Sicherheitsbehörden entgegensetzen und die Zusammenarbeit der 38 auf nationaler Ebene zuständigen Behörden koordinieren (Schäuble 2008). Aber nicht nur das, vielmehr müsse ein Netz über den Kreis der Sicherheitsbehörden hinaus gebildet werden, in dem Einrichtungen wie die Ausländer- oder Finanzbehörden wichtig sein könnten – es geht also um die Schaffung eines umfassenden Netzwerkes von Sicherheitsbehörden und öffentlichen Einrichtungen, die über Informationen und Kenntnisse verfügen, die als sicherheitsrelevant eingestuft werden können. Diese Entwicklung ist nicht völlig neu, vielmehr sind seit den 1990er Jahren auf verschiedenen Ebenen „hybride“ Sicherheitsorganisationen aus dem Boden geschossen und zwar auf nationaler wie auf europäischer Ebene – auf europäischer Ebene beschleunigt durch das „Haager Programm“ von 2004 und den „Prümer Vertrag“ von 2005 (u.a.: Töpfer 2008; Wörlein 2008). Das am 17. Juli 2006 in Kraft getretene „Gesetz zu dem Vertrag vom 27. Mai 2005 über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration“ (BGBl I 2006: 626) setzt die Regelungen des Prümer Vertrags in nationales Recht um, darunter vor allem Regelungen über den Informationsaustausch zwischen den europäischen Polizeien. Die neuen Formen der Vernetzung von Sicherheitsdiensten und deren Zusammenarbeit mit Polizeibehörden auf nationaler und europäischer Ebene haben der alten Diskussion über die Aufrechterhaltung des Trennungsgebots, die sehr stark historisch inspiriert war, eine neue Dimension gegeben: bedarf es angesichts einer neuen Gefährdungslage, der nicht mehr mit einem segmentierten Sicherheitskonzept und in ihren Kompetenzen separierten Institutionen mit distinkten Aufgabenstellungen zu begegnen ist, einer neuen, integrierten Sicherheitsstruktur, die folgerichtig auch neue Formen der Zusammenarbeit und Vernetzung, nicht jedoch der Fusion von Institutionen nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Homeland Security Agency“ zur Folge haben muss? Eine solche neue Struktur ist seit einigen Jahren im Entstehen. Sie ist politisch hoch umstritten. Die neuen Formen der Vernetzung, der Einrichtung hybrider neuer Organisationen wie des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums (GTAZ), des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration (GASIM) oder des Gemeinsamen Internetzentrums (GIZ) werden vor allem kritisiert, weil sie undurchschaubare und kaum effektiv kontrollierbare Strukturen der Zusammenarbeit von Sicherheitsapparaten etablieren, die das Prinzip der Gewaltenteilung in einem Bereich auszuhebeln drohen, der nicht nur für die Sicherheit, sondern auch für die Freiheit der Bürger konstitutiv ist (Pütter 2008a: 12). Hierbei kommt neben Befürchtungen des Missbrauchs von Kompetenzen, wie sie nicht zuletzt in einer Einschätzung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz geäußert werden (BT-Drs. 16/10007: 3), und der Furcht vor einer „faktischen partiellen Verschmelzung“ (Bukow 2008: 95), wenn nicht gar einer Fusion zu einer überbordenden Sicherheitsbehörde, auch ein funktionales Argument ins Spiel, das Gusy und Pohlmann stark machen: „Trennungsgebote sollen verhindern, dass behördliche Eingriffsbefugnisse zu Zwecken eingesetzt werden, zu denen sie nicht normiert sind.“ Mit Verweis auf die Aufgabenvertei-
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lung öffentlicher Einrichtungen und der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und dem Ressortprinzip in Art. 65 GG wird argumentiert, dass Grundlage des Organisationsrechts „nicht die horizontale oder vertikale Einheit von Behörden, sondern deren Trennung“ sei. (Gusy/Pohlmann 2007: 55) Dass eine solche Fusion im Falle von Sicherheitsdiensten und der Polizeien von besonderer Problematik wäre, liegt auf der Hand. Hier wie in anderen Bereichen ist eine Tendenz zur ‚securitization’ (Buzan/Wæver/de Wilde 1998: 25) erkennbar, die die funktionale Trennung von Staatsaufgaben abbaut und eine Verkopplung sicherheitsrelevanter Aufgaben forciert. Diese schleichende Fusion sicherheitspolitischer Aufgaben und Kompetenzen im Inneren ist in verschiedenen Bereichen erkennbar. Die Antwort des Gesetzgebers auf die zweifelsohne gegebene Verflechtung unterschiedlicher Gefahrenpotenziale wie Terrorismus, organisierte Kriminalität oder politischer Extremismus ist eine immer stärkere Vernetzung der Arbeit von Nachrichtendiensten, Polizei und Verfassungsschutzämtern. Als Beispiel sei die im Koalitionsvertrag angekündigte Erarbeitung eines „Nationalen Plans zum Schutz der Infrastrukturen“ (NPSI) angeführt, mit dessen Hilfe lebenswichtige Informationsinfrastrukturen geschützt werden sollen. Grundlage ist die Einschätzung, dass der Schutz der Funktionsfähigkeit der Informationsinfrastrukturen im staatlichen Bereich und der privaten Wirtschaft eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, die ein abgestimmtes und koordiniertes Verhalten aller Beteiligten erfordere (BMI 2005a). Mit der wachsenden Verflechtung und Vernetzung und steigender Abhängigkeit in wichtigen Bereichen wie Verkehr, Energieversorgung, Informationstechnik und Telekommunikation, im Finanz- und Versicherungswesen, aber auch in der öffentlichen Verwaltung entstehen „kritische Infrastrukturen“. Als solche werden vom Bundesinnenministerium „Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das Gemeinwesen [bezeichnet], bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“ (BMI 2005b: 4). Deren Schutz ist zentraler Aspekt der präventiven und reaktiven Maßnahmen des vom Bundesinnenministerium in Zusammenarbeit mit den Betreibern kritischer Infrastrukturen erarbeiteten „Umsetzungsplans KRITIS“. 4
Terrorismusbekämpfung
Nach den Anschlägen vom 11. September waren in zwei „Sicherheitspakten“ umfangreiche Gesetzesänderungen vorgenommen worden, die der Bekämpfung des international agierenden Terrorismus dienen sollten, jedoch in vielerlei Hinsicht auch in Bereiche der Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung hineinwirkten, die nicht unmittelbar, häufig aber durchaus mittelbar dem Terrorismus zuzuordnen sind, man denke an verschiedene Bereiche der organisierten Kriminalität, des Drogenhandels oder der Geldwäsche Die Große Koalition komplettierte, in Form eines Artikelgesetzes, die Grundlagen der Terrorismusabwehr der Vorgängerregierung durch das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz (TBEG) vom 10.1.2007 (BGBl I 2007: 2) und eine Reihe weiterer gesetzlicher Regelungen. Es basiert auf der Evaluation der bisherigen gesetzgeberischen Maßnahmen und brachte, wenig erstaunlich, einen erneuten Kompetenzzuwachs der Sicherheitsbehörden und deutlich erweiterte Auskunftsbefugnisse dieser Behörden gegenüber Dritten.
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Vergleicht man die Gesetzgebung von 2002 und 2007, lässt sich festhalten, dass es keine konzeptionellen oder inhaltlichen Veränderungen durch den Regierungswechsel von 2005 gegeben hat. Die beiden Gesetzeswerke nahmen Änderungen an rund 15 Fachgesetzen vor, insbesondere solchen, die Kompetenzen der verschiedenen Sicherheitsorgane betreffen. Sie enthalten Neuregelungen zur Verbesserung des Datenaustauschs zwischen den Sicherheitsapparaten, zur Verbesserung der Grenzkontrollen im Rahmen der SchengenVereinbarungen, Maßnahmen, die die Einreise terroristischer Straftäter verhindern sollen, neue Visumverfahren, Aufnahme biometrischer Daten in Personalausweise und Pässe, verstärkte Sicherheitsüberprüfungen in sicherheitsrelevanten Bereichen und Regelungen zur Gewährleistung der Energiesicherheit, die Sicherung des zivilen Luft- und Seeverkehrs, die (Wieder)Einführung der Rasterfahndung und die Verfolgung extremistischer Ausländervereine. Die in vielen Einzelfragen bereits vor 2005 erkennbare „Große Koalition in Sicherheitsfragen“ funktioniert weiter – mit der Ausnahme der Grünen, die von Koalitionszwängen befreit, wieder ihre alte kritische Position bezüglich der Politik der inneren Sicherheit einnehmen. 5
Institutionelle Stärkung der Sicherheitsbehörden
Die Politik der Großen Koalition ist auch im Hinblick auf die Neugestaltung der institutionellen Struktur der Sicherheitsapparate und ihrer Kompetenzen durch Kontinuität gekennzeichnet. Der Trend zur Zentralisierung setzte sich fort, wurde allerdings durch eine neue Dimension verstärkt: die zunehmende Vernetzung unter maßgeblicher Führung des Bundeskriminalamtes. Noch unter der Ägide der rot-grünen Koalition hat am 14. Dezember 2004 das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin-Treptow seine Arbeit aufgenommen. Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition wurde die Einrichtung des GTAZ als erster wichtiger Schritt in der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern bezeichnet. Es ist keine neue Behörde, sondern eine Einrichtung, die Informationen, die den einschlägigen Sicherheitsbehörden vorliegen, sammelt und auswertet und soll somit der Verbesserung des Informationsaustauschs zwischen den Sicherheitsbehörden dienen. In diesem Zentrum arbeiten nach Auskunft der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen im Deutschen Bundestag 40 verschiedene Behörden und Institutionen bei der Terrorismusbekämpfung zusammen. (BT-Drs. 16/10007) Die wichtigsten sind das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst (MAD), die Bundespolizei, das Zollkriminalamt (ZKA), das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der Generalbundesanwalt, die Kriminalund Verfassungsschutzämter der Länder. In zwei getrennten Auswertungs- und Analysezentren (der polizeilichen und der nachrichtendienstlichen Informations- und Analysestelle PIAS bzw. NIAS) arbeiten Polizei und Geheimdienste operativ zusammen. Aufgaben des GTAZ sind der Informationsaustausch und die Abstimmung operativer Maßnahmen zwischen den zuständigen Behörden. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Informationsaustausch über islamistische terroristische Gruppen und Aktivitäten, mit dem Ziel, Täter- und Unterstützerstrukturen sowie die Rekrutierung von Terroristen wirksam zu bekämpfen. Hier, wie in nahezu allen anderen Fällen seit den ersten Antiterrorgesetzen,
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werden diese Aktivitäten mit der Frage verkoppelt, ob in konkreten Einzelfällen ausländeroder asylrechtliche Maßnahmen getroffen werden sollen (BMI 2006). Anfang des Jahres 2007 wurde, ebenfalls in Berlin Treptow, unter Federführung des Bundesamtes für Verfassungsschutz das Gemeinsame Internetzentrum (GIZ) gegründet, an dem neben diesem das BKA, der BND, der MAD und die Generalbundesanwaltschaft beteiligt ist (BMI 2008). Eines der kontroversesten Vorhaben der Bundesregierung ist die in der Koalitionsvereinbarung angekündigte erneute Stärkung des 1951 gegründeten Bundeskriminalamtes (BKA), das zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus Präventivbefugnisse erhalten hat. Die Bekämpfung des politischen Extremismus und terroristischer Bestrebungen standen seit Jahrzehnten im Zentrum der Arbeit des BKA. Eine Novellierung des BKAGesetzes vom 26. Juni 1973 etablierte das Amt als Zentralstelle der deutschen Kriminalpolizei und schuf die gesetzliche Grundlage für eine enge Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Ermittlung und Fahndung terroristischer Straftaten im BKA erfolgt seither unter der Sachleitung des Generalbundesanwalts. Nach dem Abebben des Terrorismus der 1970er Jahre und dem Zusammenbruch des Kommunismus erschloss sich das BKA ein neues Betätigungsfeld, die „Organisierte Kriminalität“ und bestimmte hier die politische Agenda der Kriminalpolitik in der Bundesrepublik und dann auch in Europa. (Klink 2008: 529) Die Rechtsgrundlage der Tätigkeit des BKA, einer nachgeordneten Behörde des Bundesinnenministeriums, sind das BKA-Gesetz aus dem Jahre 1997 (BGBl I: 1650) sowie eine Reihe von Ergänzungen und Modifikationen durch das „Terrorismusbekämpfungsgesetzes“ von 2002 der rot-grünen Regierung. Einen weiteren Zugewinn an Kompetenzen erfuhr das BKA durch die Einrichtung der unter seiner Leitung arbeitenden Antiterrordatei am 30. März 2007. Das BKA-Gesetz ermächtigt das Amt mit seinen ca. 5000 Mitarbeitern, neben seiner nationalen sowie internationalen Funktion als Zentralstelle in bestimmten Fällen auch Strafverfolgungsaufgaben wahrzunehmen. Hierbei handelt es sich zumeist um komplexe Verfahren, die auch Ermittlungen im Ausland erfordern – sei es im Bereich der organisierten Kriminalität oder der Staatsschutzkriminalität. Dabei wird es entweder aufgrund eigener (originärer) Ermittlungszuständigkeit oder aber aufgrund eines Auftrages tätig. Eigene Ermittlungskompetenzen hat das BKA insbesondere in Fällen von international organisiertem ungesetzlichem Handel mit Rauschgift, Waffen, Munition oder Sprengstoffen, international organisierter Herstellung oder Verbreitung von Falschgeld, international organisierter Geldwäsche. Mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz von 2002 wurden die Zuständigkeiten auf den Bereich des international organisierten Terrorismus und besonders schwere Fällen von Computersabotage erweitert. Bei Entführungen und Geiselnahmen Deutscher im Ausland wird das BKA tätig, sofern eine zuständige Landesdienststelle in Deutschland noch nicht feststeht. Das „Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt“ wurde am 17. Dezember 2008 im Deutschen Bundestag verabschiedet und trat nach einem Vermittlungsverfahren mit dem Bundesrat am 1. Januar 2009 in Kraft (BGBl I 2008: 3083). Das BKA ist erstmals in seiner Geschichte befugt, zur Abwehr terroristischer Gefahren auch vorbeugend zu ermitteln. Dazu erhält es weit reichende Abhörbefugnisse etwa zur verdeckten Online-Durchsuchung. Bei der Neujustierung der Kompetenzen des BKA ging es um die Frage, wann es künftig von sich aus eingreifen und ermitteln dürfe. Das Gesetz führt in § 4a Abs. 1 aus, dass das
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BKA seine Aufgaben bei der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus in drei Fällen ausübe: wenn eine länderübergreifende Gefahr vorliegt, wenn die Zuständigkeit einer Länderpolizeibehörde nicht erkennbar ist oder wenn eine oberste Landsbehörde um Übernahme ersucht. „In diesen Fällen“ (im ursprünglichen Text hieß es allgemein und vage „im Rahmen seiner Aufgaben“) ist das BKA zum Handeln befugt. Dieser weit reichende Kompetenztitel war auf massiven Widerstand nicht zuletzt einiger Länder gestoßen und wurde daher im Vermittlungsverfahren korrigiert. Dass dies Verfahren in relativ kurzer Zeit erfolgreich abgeschlossen wurde, so dass das Gesetz noch vor Jahresende 2008 verabschiedet werden konnte, ist nicht zuletzt den Landtagswahlen in Hessen am 18.01.2009 geschuldet, wurde doch schon im Vorfeld mit einer Koalition von CDU und FDP gerechnet, womit eine Mehrheit für das Gesetz im Bundesrat nicht mehr gegeben wäre. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz mit der knappst möglichen Mehrheit von 35 zu 34 Stimmen nach einem Vermittlungsverfahren zu. Die Vermittlung hat einige, freilich eher marginale Änderungen am Gesetz zur Folge gehabt: Im Ergebnis des Vermittlungsverfahrens dürfen Geistliche und Abgeordnete nicht überwacht werden. Dies gilt auch für Anwälte, die in den durch die Abhörmaßnahmen untersuchten Fällen als Strafverteidiger tätig sind. Im Vermittlungsverfahren ist auch die vorgesehene Regelung gestrichen worden, dass das BKA in Eilfällen bei „Gefahr im Verzug“ Durchsuchungen ohne richterliche Genehmigung beginnen kann und diese erst im Nachhinein einzuholen habe. Ferner war in der vom Bundestag verabschiedeten Fassung vorgesehen, dass die Entscheidung, ob gesammelte Daten den Kernbereich des Privatlebens betreffen, nur im Streitfall einem Richter überlassen werden sollte. Nunmehr erfolgt die Auswertung durch zwei BKA-Beamte und einen BKA-Datenschützer unter der „Sachleitung“ eines Richters, der zu entscheiden hat, welche Daten in den „unmittelbaren Kernbereich privater Lebensführung“ gehören und daher nicht ausgewertet werden dürfen. Das Gesetz hat bereits während des Gesetzgebungsverfahrens erhebliche Kritik ausgelöst. Neben der erneuten Ausweitung von Kompetenzen im Bereich der Informationsgewinnung und -sammlung werden vor allem die Regelungen kritisiert, die dem BKA auf Kosten der Bundesanwaltschaft präventive Befugnisse verliehen und damit ein DauerKonfliktfeld zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei schaffen. (Prantl 2008: 2) FDP, Grüne und die Linke haben das Vorhaben als verfassungswidrig angesehen und abgelehnt. Erneut wird das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort haben und sich damit ein Muster fortsetzen, das die Sicherheitspolitik seit dem 11. September 2001 bestimmt. Änderungen erfolgten auch bei der Bundespolizei, dem früheren Bundesgrenzschutz. Die neu geschaffene Polizei des Bundes, die bereits nach der deutschen Einheit die Aufgaben der Bahnpolizei übernommen hatte, erhielt neue und zusätzliche Kompetenzen. Sie nimmt im Gefüge der Sicherheitsbehörden in Deutschland und im Kontext der internationalen Zusammenarbeit eine wichtige Stellung ein. Nach den grundlegenden Reformen, die der 1951 gegründete ehemalige Bundesgrenzschutz nach seiner Umwandlung in eine Sonderpolizeibehörde des Bundes im Jahr 2005 („Bundespolizei“) erfahren hatte (Peilert/Kösling 2008), und nach den Kompetenzzuwächsen im Zuge der Terrorismusgesetzgebung und von Auslandseinsätzen in verschiedenen Teilen der Welt sah die Koalition am Beginn ihrer Amtszeit offenbar keinen Handlungsbedarf. Gleichwohl erfolgte im Jahre 2008 mit der Bildung von fünf Bundespolizeipräsidien ein tief greifender organisatorischer Umbau (Bundespolizeigesetz 2008). Dies markiert in gewisser Weise den Schlussstein eines Um-
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bauprozesses von der Grenzpolizei zu einer Polizei des Bundes mit weit reichenden Aufgaben und einer schlagkräftigen und zentralisierten Organisationsstruktur. Mit Datum vom 1. März 2008 wurde ein neues Bundespolizeipräsidium in Potsdam als Bundesoberbehörde und zentrale Steuerungszentrale der Bundespolizei geschaffen. Die bisherige Mittelbehördenstruktur mit fünf Bundespolizeipräsidien wurde aufgegeben. Die bisherigen 19 Bundespolizeiämter wurden regional zu 9 zusammengefasst und aufgewertet. Damit werden Entscheidungswege in der Bundespolizei verkürzt, die Strukturen auf allen Ebenen gestrafft und die operative Basis erheblich gestärkt. Als zentrale Aufgaben der Bundespolizei, deren Lösung durch die Strukturreform erleichtert werden soll, bezeichnet das Bundesinnenministerium die Herausforderungen durch die zunehmende terroristische Bedrohung, die dynamische Entwicklung der Verkehrsströme und die Bekämpfung der illegalen Migration. Ferner ergebe sich aus der Schengen-Erweiterung ein Anpassungsbedarf (BMI Pressemitteilung 25. Jan. 2008). Lässt man die institutionellen Veränderungen der Sicherheitsapparate, insbesondere des Bundeskriminalamtes und der Bundespolizei in der 16. Legislaturperiode, Revue passieren, so ist festzuhalten, dass die bereits seit Mitte der 1990er Jahre erkennbare und nach dem 11. September 2001 forcierte Zentralisierungstendenz sich unvermindert fortgesetzt hat. 6
Prävention durch Information: der allwissende Staat
Neben den institutionellen Veränderungen sind die erweiterten präventiven Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden ein zentrales Element der „neuen Sicherheitsarchitektur“. Mit dem Gemeinsame-Dateien-Gesetz (GDT) vom 30. Dezember 2006 (BGBl I: 3409) wurde es den Nachrichtendiensten und den Polizeien des Bundes und der Länder ermöglicht, beim Bundeskriminalamt (BKA) terrorismusbezogene Informationen zu gemeinsamen Datenbeständen zu vereinen und auf diese zugreifen zu können. Hierbei handelt es sich um eine zentrale standardisierte Anti-Terror-Datei und verschiedene anlassbezogene und befristete gemeinsame Projektdateien, die durch Änderungen im BKA-Gesetz, dem BND-Gesetz und dem Bundesverfassungsschutzgesetz ermöglicht wurden (BMI Antiterrordateien 2007). Zugriff auf die Daten der Anti-Terror-Datei haben das BKA, die Bundespolizeidirektion, die Landeskriminalämter, unter bestimmten Voraussetzungen auch weitere Polizeivollzugsbehörden der Länder, die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, der MAD, der BND und das Zollkriminalamt. Das Antiterrordateigesetz (ATDG) vom 22. Dezember 2006 (BGBl. I: 3409) wurde als Artikel 1 des GDT erlassen und, wie zuvor das Terrorismusbekämpfungsgesetz von 2002, mit einer zeitlichen Befristung versehen. Es tritt am 30. Dezember 2017 außer Kraft und muss fünf Jahre nach dem Inkrafttreten unter Einbeziehung eines wissenschaftlichen Sachverständigen evaluiert werden, der im Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag bestellt wird. § 2 des Gesetzes verpflichtet die beteiligten Behörden, bereits erhobene Daten in der Antiterrordatei zu speichern, wenn sich tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Personen einer terroristischen Vereinigung nach § 129a oder (wenn sie einen internationalen Bezug aufweist) §129b des Strafgesetzbuchs angehören oder unterstützen. Darüber hinaus sind Daten über Personen zu speichern, „die rechtswidrig Gewalt als Mittel zur Durchsetzung international ausgerichteter politischer oder religiöser Belange anwenden
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oder eine solche Gewaltanwendung unterstützen, vorbereiten, befürworten oder durch ihre Tätigkeiten vorsätzlich hervorrufen“. Dies gilt auch für „Kontaktpersonen“, die mit diesen in einer nicht nur zufälligen oder flüchtigen Beziehung stehen und von denen „weiterführende Hinweise für die Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu erwarten sind“. Ferner werden Daten über Vereinigungen, Gruppierungen, Stiftungen oder Unternehmen, Sachen, Bankverbindungen, Anschriften, Telekommunikationsanschlüsse, Telekommunikationsendgeräte, Internetseiten oder Adressen für elektronische Post gespeichert, die im Zusammenhang mit dem genannten Personenkreis Aufschlüsse über terroristische Aktivitäten liefern können. Das „Gesetz zur Änderung des Passgesetzes und weiterer Vorschriften“ vom 24. Mai 2007 (BGBl. I: 1566) ermöglichte die Speicherung biometrischer Daten wie Lichtbild und Fingerabdrücke in RFID-Funkchips in Pässen und die Zulassung eines Online-Abrufs gespeicherter Lichtbilder durch Polizei- und Bußgeldbehörden bei Straßenverkehrsordnungswidrigkeiten. Diese Novellierung des Pass- und Personalausweisgesetzes erfolgte auf der Grundlage einer Verordnung des Rates der EU vom 13. Dezember 2004 „über Normen für Sicherheitsmerkmale und biometrische Daten in von den Mitgliedstaaten ausgestellten Pässen und Reisedokumenten“ (ABl. EU Nr. L 385: 1) im Jahre 2007. Danach sind alle ausgestellten Pässen und Reisedokumente (Reisepass, Dienstpass und Diplomatenpass) mit einem elektronischen Speichermedium zu versehen, auf dem das Lichtbild, Fingerabdrücke und weitere Angaben gespeichert werden. Im Rahmen des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes vom 5. Januar 2007 (BGBl I: 2) wurden dem Bundesamt für Verfassungsschutz neue weit reichende Befugnisse zugewiesen: Es ermächtigt das Amt u.a. bei Telekommunikationsanbietern so genannte „Bestandsdaten“ zu erheben (dies sind Daten, die im Zusammenhang mit Kundenverträgen gespeichert werden) und Daten von Fluggesellschaften, Kreditinstituten, Finanzdienstleistern, Finanzunternehmen, Postdienstleistern und Telekommunikationsunternehmen sowie über Kontobewegungen, Geldtransfers etc. zu verlangen. Es ermächtigt ferner zur Ortung von Mobilfunkgeräten. Schiffbruch vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG, 1 BvR 256/08 vom 11.3.2008) erlitt die Regierung (und die Regierungen der Länder Bayern, Brandenburg, Hamburg und Rheinland-Pfalz mit geplanten vergleichbaren landesrechtlichen Regelungen) vorerst mit dem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung (Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 9.11.2007 BGBl I: 3198), das erweiterte verdeckte Ermittlungsmaßnahmen gegen mutmaßliche Straftäter und die sechsmonatige Speicherung aller Verbindungsdaten vorsah. Hier zeigt sich erneut, dass die sicherheitspolitischen Maßnahmen zunehmend die Frage nach der Bedeutung des Datenschutzes aufwerfen. Im Zentrum der Sicherheitspolitik steht nicht der Schutz der Bürger vor einer ausufernden Datenerfassung und –speicherung, sondern die verstärkte Nutzung moderner Informationstechnik und biometrischer Verfahren (Pässe, Personalausweise, Visa, Aufenthaltstitel). Eine der umstrittensten Initiativen des Gesetzgebers in der 16. Legislaturperiode ist der Entwurf für ein „Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Straftaten“ (GVVG), den beide Regierungsparteien am 27. Januar 2009 in den Bundestag eingebracht haben (BT-Drs. 16/11735). Kernpunkt dieses Artikelgesetzes ist die Einfügung zweier neuer Paragraphen (§§ 89a und 89b) in das Strafgesetzbuch. Mit ihnen sollen die Vorbereitung und die Aufnahme von Beziehungen zur „Begehung einer schwe-
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ren staatsgefährdenden Gewalttat“ verfolgt werden. Als eine schwere staatsgefährdende Gewalttat definiert der Entwurf in § 89a Abs. 1 eine Straftat, „die nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben“ (BT-Drs. 16/11735). Der Bundesrat brachte zusätzlich einen eigenen Entwurf für ein „Gesetz zur Bekämpfung des Aufenthalts in terroristischen Ausbildungslagern“ ein (BT-Drs. 16/7958). Beide Vorhaben sollen der Erweiterung des Staatsschutzstrafrechts und Bekämpfung des islamistischen oder rechtsextremistischen Terrorismus dienen, indem bereits bestimmte Vorbereitungshandlungen wie die Beschaffung von Waffen oder Geldmitteln, die Kontaktaufnahme zu terroristischen Vereinigungen mit einer Ausbildungsabsicht sowie die Verbreitung oder Selbstbeschaffung von Anleitungen zur Tatbegehung sanktioniert werden. In diesen Fällen sollen Eingriffe in Grundrechte wie Freiheit der Person, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie Unverletzlichkeit der Wohnung ermöglicht werden. In Zukunft soll sich schon derjenige strafbar machen, der Kontakt zu einer terroristischen Vereinigung aufnimmt oder sich z. B. in einem Ausbildungslager schulen lässt um „staatsgefährdende Straftaten“ zu begehen. Eine solche Bestimmung bedarf nicht einmal des Nachweises eines Versuchs, der Vorsatz zählt und dafür genügt zum Beispiel der Besuch eines einschlägigen Ausbildungslagers oder die Verbreitung einschlägiger Anleitungen im Internet als Beweis. Das Dilemma einer solchen Regelung ist unverkennbar: Galt im Strafrecht ursprünglich der Grundsatz, dass Täter nur für die Tat bestraft werden können, die sie bereits begangen hatten, so gab es in den letzten Jahren bereits zahlreiche Verlagerungen in Vorfeldaktivitäten und nunmehr bewegt sich der Gesetzgeber „im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung“. Die Brisanz der geplanten Veränderungen des Strafgesetzbuches ist der Regierung, das geht aus einer Reaktion der Ministerin für Justiz auf kritische Fragen im Deutschen Bundestag hervor, bewusst (BT Plenarprotokoll 16/202: 21831). Bemerkenswert ist, dass nicht mehr, wie in den Jahren zuvor, ausschließlich auf den islamistischen Terrorismus rekurriert wird, sondern auch rechtextremistische Gruppierungen und Einzelpersonen einbezogen werden. Dieser Tatbestand dürfte nicht nur dem Faktum geschuldet sein, dass rechtsextremistische Gruppen in letzter Zeit verstärkt terroristische Absichten erkennen lassen, sondern er wird wohl auch von der Überlegung motiviert sein, den Plänen der Regierung eine zusätzliche Legitimationsbasis zu verleihen. Vertreter der Opposition, wie der FDP-Rechtsexperte Jörg van Essen, hoben zwei Punkte hervor: Erneut zeige sich, dass die Regierung, wie in einer Reihe von vorherigen Vorhaben, bewusst oder fahrlässig in Kauf nähme, dass dieses Gesetzesvorhaben keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht haben werde. Im Übrigen sei bislang bei allen einschlägigen Straftaten eine Verurteilung möglich gewesen, so auch bei den im Zusammenhang mit diesem Vorhaben immer wieder herangezogenen Beispiel der beiden „Kofferbomber“ von Köln, die zwar nicht wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, wohl aber wegen versuchter schwerer Gewalttaten verurteilt worden seien – das geltende Strafrecht reiche also aus. Was hier geplant sei, sei „Symbolgesetzgebung“, die die Gerichte vor kaum lösbare Probleme stellen werde (BT Plenarprotokoll 16/202: .21833-21836).
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Gert-Joachim Glaeßner Datenschutz und Informationsfreiheit
Die „neue Sicherheitsarchitektur“ in Deutschland und die extensive Gesetzgebung im Bereich der Datensammlung und Auswertung haben nachhaltige Konsequenzen für das Verhältnis (unbescholtener) Bürger zum Staat: der Bereich absolut geschützter privater Lebensgestaltung wird immer weiter eingeengt, Freiheitsrechte häufig als subsidiär zu Sicherheitsanforderungen des Staates angesehen. Diese Eingriffe sind in der Öffentlichkeit, von der Wissenschaft und nicht zuletzt, wie die verschiedenen Anhörungen zu einzelnen Gesetzesvorhaben ausweisen, auch von Sicherheitsexperten heftig kritisiert worden. In einer schriftlichen Stellungnahme für den Innenausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf des Gemeinsamen Dateiengesetzes aus dem Jahre 2006 hat Hansjörg Geiger, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutzes und später des BND, deutliche Kritik an dem Vorhaben angemeldet und insbesondere darauf verwiesen, dass, wenn „zu einem Zweck gewonnene Informationen zu einem anderen Zweck als dem ursprünglich verfolgten verwendet [werden] dies grundsätzlich einen eigenständigen Grundrechtseingriff“ darstelle (Geiger 2006: 2). Mit den Sicherheitsgesetzen der Jahre nach 2001 und verstärkt mit der seit 2005 vorangetriebenen zunehmenden Vernetzung der Sicherheitsbehörden ging eine Schwächung des vom Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil von 1983 kreierten „Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung“ zugunsten der neuen Sicherheitsdoktrin einher. Angesichts dieser Entwicklung kommt dem Datenschutz eine deutlich höhere Bedeutung zu. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit hat sich immer wieder kritisch in die Debatten um immer neuere, verschärfte Sicherheitsgesetze eingeschaltet, freilich ohne durchschlagenden Erfolg. In der Koalitionsvereinbarung wird der Begriff nur dreimal en passant erwähnt. Unter der Zwischenüberschrift „Moderner Staat – effiziente Verwaltung“ wird darauf hingewiesen, dass es vor dem Hintergrund der technischen Entwicklungen einer Überprüfung, Überarbeitung und Fortentwicklung des Datenschutzes bedürfe (Koalitionsvertrag 2005: 109). Im innenpolitischen Kapitel des Vertrages wird aber zugleich erkennbar, dass diese Bereitschaft durchaus Grenzen hat, wenn davon die Rede ist, dass es gelte, die „bewährte Sicherheitsarchitektur“ wo nötig „unter Wahrung des Datenschutzes“ weiterzuentwickeln, zugleich aber daraufhin zu überprüfen, „inwieweit rechtliche Regelungen, etwa des Datenschutzes, einer effektiven Bekämpfung des Terrorismus und der Kriminalität entgegenstehen“ (Koalitionsvertrag 2005: 135). Dies eröffnet eine bemerkenswerte neue und doch alte Perspektive: viele der geltenden Regelungen werden als revisionsbedürftig angesehen, Datenschutz erscheint – implizit – als potenzieller Hemmfaktor für eine effektive Sicherheitspolitik. Um so bemerkenswerter ist es, dass es trotz der dargestellten Tendenzen einer Ausweitung der Kompetenzen der Sicherheitsorgane und einer immer detaillierteren Erfassung und Verwertung privater Daten nach langer Vorgeschichte doch noch zu einer – im Vergleich zu anderen Ländern allerdings längst überfälligen – gesetzlichen Regelung kam, die es Bürgern in beschränktem Umfang erlaubt, freien Zugang zu amtlichen Informationen der öffentlichen Stellen des Bundes zu erlangen.
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Der Weg dahin war freilich lang und steinig. Bereits die Koalitionsvereinbarung der ersten rot-grünen Bundesregierung vom 20. Oktober 1998 hatte ein Informationsfreiheitsgesetz des Bundes vorgesehen, das aber wegen hinhaltenden Widerstandes, nicht zuletzt aus der Wirtschaft, die sich um den Schutz ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sorgte, nicht zustande kam. Erst im Jahre 2004 wurde ein Gesetzesentwurf der Koalitionsfraktionen in den Deutschen Bundestag eingebracht (BT-Drs. 15/4493). Erst unmittelbar vor der vorzeitigen Beendigung der 15. Legislaturperiode wurde das Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG) am 5. September 2005 ausgefertigt (BGBl. I: 2722). Das Gesetz ist am 1. Januar 2006 in Kraft getreten. Mehrere Bundesländer haben inzwischen vergleichbare Regelungen für ihre Landesund Kommunalverwaltungen erlassen. Gleiches gilt für Dienststellen der Europäischen Union, die EU ermöglicht nunmehr ebenfalls einen geregelten Zugang zu den amtlichen Dokumenten. Darüber hinaus gewähren das Umweltinformationsgesetz (UIG) und das neue Verbraucherinformationsgesetz (VIG) spezielle Informationsrechte für die Bürger. Zum Geltungsbereich des Gesetzes gehören neben den Ministerien und den ihnen nachgeordneten Bundesbehörden unter anderem auch die Bundesagentur für Arbeit, die Deutsche Rentenversicherung und die bundesunmittelbaren Krankenkassen und Unfallversicherungsträger. Viele Behörden bemühten sich nach Einschätzung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, der neuen Rechtslage gerecht zu werden und für mehr Transparenz zu sorgen, gleichwohl gebe es aber Bereiche, in denen die Umsetzung des Gesetzes nur sehr schleppend voranschreite. Bisweilen dränge sich „sogar der Eindruck auf, dass die gesetzlichen Informationszugangsansprüche eher als Störfaktor denn als Chance für verbesserte und transparentere Verwaltungsabläufe angesehen werden“ (Bundesbeauftragter für den Datenschutz 2007: 9). 8
Wer zieht die Notbremse? Das Bundesverfassungsgericht als Hüter der verfassungsmäßig verbürgten Grundrechte
Angesichts neuer Bedrohungen der (inneren) Sicherheit greift diejenige Kritik zu kurz, welche jede Erweiterung der Kompetenzen der Sicherheitsorgane oder die in diesem Bereich voran schreitende europäische und internationale Zusammenarbeit ausschließlich unter dem Aspekt einer potenziellen Bedrohung der Freiheitsrechte thematisiert. Andererseits ist in vielen Ländern eine Tendenz erkennbar, mit Verweis auf diese Bedrohungen die Sicherheitsapparate auszubauen und mit neuen weit reichenden Kompetenzen zu versehen. Auch wenn dieser Prozess in Deutschland, wenn man ihn mit etablierten Demokratien wie den USA oder Großbritannien vergleicht, relativ moderat verläuft, ist eine problematische Tendenz unverkennbar. Bereits der Innenminister der rot-grünen Bundesregierung hatte in einer Reihe von Fällen die Grenzen der verfassungsrechtlichen Belastbarkeit in Sicherheitsfragen bewusst getestet. Unter Innenminister Wolfgang Schäuble hat das Bundesinnenministerium jedoch ein Verfahrensmuster etabliert, das es bewusst darauf anzulegen scheint, mit immer neuen, immer weiter reichenden Vorschlägen eine Art „Zermürbungskrieg“ zu führen, um nicht nur die Grenzen des Zulässigen zu testen, sondern auch eine Bresche in bislang als sakrosankt erachtete Grundsätze der Sicherheitspolitik zu schlagen.
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Nirgendwo wird dies deutlicher als bei den wiederholten Versuchen, das Verbot des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren aufzuweichen. Bereits seit Mitte der 1990er Jahren sind immer wieder einmal Anläufe unternommenen worden, die Möglichkeit eines Einsatzes der Bundeswehr im Inneren zu testen, zum Beispiel auf dem Umweg über die Regelungen zur Katastrophenhilfe in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG (Pütter 2008b: 32). Im Vorfeld des zu erwartenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Luftverkehrsgesetz und aufgrund interner Meinungsverschiedenheiten in der neuen Koalition vertagte die Koalitionsvereinbarung eine diesbezügliche Entscheidung bis nach dem Urteil des Gerichts. In seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht, neben erheblichen grundrechtlichen Bedenken gegen das Gesetz, die in diesem Fall im Vordergrund standen, auch auf die verfassungsrechtlich verankerte Aufgabentrennung der Sicherheitsinstitutionen verwiesen. So lasse sich z.B. ein Einsatz der Luftwaffe zum Abschuss einer entführten Passagiermaschine „mit den wehrverfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes nicht vereinbaren“ und sei auch nicht durch die Vorgaben der Bestimmungen über die Katastrophenhilfe in Art. 35 Abs.3 GG oder den Regelungen in Art. 87a Abs. 2 GG gedeckt („Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“). Dieser Artikel des Grundgesetzes solle verhindern, dass für die Verwendung der Streitkräfte als vollziehender Gewalt „ungeschriebene Zuständigkeiten aus der Natur der Sache“ abgeleitet würden – genau dies hatte das Gesetz getan. Vielmehr müssten Möglichkeiten eines Einsatzes der Bundeswehr im Inneren „durch das Gebot strikter Texttreue“ begrenzt werden (BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006: Rd. Nr. 93-94.). Damit erteilte das Bundesverfassungsgericht der Vermischung polizeilicher Aufgaben mit denen der Landesverteidigung durch das Militär mangels fehlender verfassungsrechtlicher Kompetenzzuweisung eine Absage. Einen erneuten, vergeblichen, Vorstoß unternahm der Bundesinnenminister Anfang des Jahres 2007, als er vorschlug, die Hürde, die das Bundesverfassungsgericht errichtet hatte, zu überwinden, indem ein „Quasi-Verteidigungsfall“ konstituiert werde, der die Anwendung des Kriegsvölkerrechts möglich machen sollte. Es müsse geprüft werden, ob Anschläge wie am 11. September 2001 als „Quasi-Verteidigungsfall“ gewertet werden könnten, der dann auch, trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, den Einsatz der Bundeswehr gestatte (SZ 03.01.2007: 5). Dieser intendierten Verwischung von Friedens- und Kriegsrecht hielt die ehemalige Bundesjustizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, entgegen, dass dies die Gefahr heraufbeschwöre, „verfassungswidriges Verfassungsrecht zu schaffen“. Schäuble wolle eine „Lizenz zum Töten einführen“ (SZ 03.01.2007: 5). Angesichts der kontroversen Auffassungen in dieser Frage hatten diese Vorstöße jedoch keine Realisierungschance. Ein weiteres „Testfeld“ ist der Bereich der Informationsbeschaffung und -verarbeitung. Angesichts der veränderten Kommunikationsstrukturen, insbesondere durch das Internet, hat sich das Interesse der Sicherheitsapparate zunehmend auf dieses Feld verlagert. Sowohl bei der Prävention wie auch bei der Verfolgung terroristischer und anderer Straftaten hat die Informationsbeschaffung in diesem Feld eine wichtige Rolle gespielt. Mit dem Gemeinsamen Internetzentrum (GIZ) hat die Bundesregierung institutionell auf diese Herausforderung reagiert. In Umsetzung einer EG-Richtlinie vom März 2006 (Richtlinie 2006/24/EG), nach der die Mitgliedstaaten Internet-Provider gesetzlich zur längerfristigen Speicherung der Verbindungsdaten ihrer Nutzer verpflichten, hat der Gesetzgeber Ände-
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rungen am Telekommunikationsgesetz vorgenommen (BGBl I 2007: 3198), die die Möglichkeit einer „Vorratsdatenspeicherung“ eröffnen. Das Bundesverfassungsgericht gab in zwei einstweiligen Anordnungen vom 11. März 2008 und erneut vom 28. Oktober 2008 (bezogen auf Änderungen im bayerischen Polizeiund Verfassungsschutzrecht) Verfassungsbeschwerden teilweise Recht, die gegen das Gesetz vorgebracht worden waren. Es hat enge Schranken bei der Anwendung (eingeschränkte Verpflichtung der Anbieter zur Bereitstellung von Daten) gezogen und im Übrigen die Geltung des Gesetzes zeitlich limitiert, verstand sich aber nicht auf eine Aussetzung des Vollzugs des Gesetzes (1 BvR 256/08 vom 11.03. 2008). Der Abruf der Daten bedeute einen schweren und nicht mehr rückgängig zu machenden Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG (a.a.O. Rd. Nr. 156). Im Interesse einer späteren Nutzungsmöglichkeit, für den Fall, dass die angegriffenen Normen sich später als verfassungsgemäß herausstellen sollten, verzichtete das Gericht darauf, auch die Sammlung zu untersagen, da dies möglicherweise dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung entgegenstehen könne. Diese halbherzige Entscheidung wurde damit begründet, dass sich der in der Vorratsspeicherung liegende Nachteil für die Freiheit und Privatheit des Einzelnen „erst durch einen Abruf seiner Daten zu einer möglichen irreparablen Beeinträchtigung“ verdichte und konkretisiere (a.a.O. Rd. Nr. 149). Der Bundesregierung wurde aufgetragen, die praktischen Auswirkungen der Vorratsdatenspeicherung und der einstweiligen Anordnung des Gerichts bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu beobachten und dem Bundesverfassungsgericht zu berichten. (a.a.O. Rd. Nr. 177) So positiv die den Freiheitsrechten des Grundgesetzes verpflichteten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in diesen und anderen Fällen auch sein mögen, die Tatsache, dass kaum ein relevantes Sicherheitsgesetz mehr verabschiedet wird, das nicht auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand in Karlsruhe gelangt, hat problematische Folgen. Sie leistet einer weiteren Justizialisierung der Politik Vorschub und schränkt die Souveränität des Gesetzgebers ein, eines Gesetzgebers, der auf Grund eigener Unfähigkeit oder Unwillens, geneigt ist, offenkundige Schranken der Verfassung auszuhebeln oder doch zumindest so weit auszulegen, dass eine verfassungsgerichtliche Prüfung unabdingbar wird. 9
Fazit
Sicherheitspolitik ist mit dem Paradoxon konfrontiert, dass sie unter Bedingungen zunehmender Unsicherheit stattfindet. Sicherheit als Kollektivgut ist nicht mehr nur im „klassischen“ Bereich von Sicherheit und Ordnung, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen zu gewährleisten: in der Wirtschaft, im sozialen Sektor, in der Politik. Während sich die politischen Kontroversen in den vergangenen Jahrzehnten – zu Recht oder zu Unrecht – vordringlich um Fragen der öffentlichen Sicherheit (vor Kriminalität, organisiertem Verbrechen und Terrorismus) drehten und die Innen- und Rechtspolitik dominierten, ist spätestens seit dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise Ende des Jahres 2008 erkennbar, dass Sicherheit ein vieldimensionales, prekäres Gut ist. Die Krise hat zur Folge, dass zwei Jahrzehnte lang voneinander getrennte „Sicherheitsdiskurse“ zusammengeführt werden.
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Man muss nicht den Theorien der „securitization“ (Buzan/ Wæver/de Wilde 1998) anhängen, der Vorstellung also, dass der Staat immer weitere Bereiche politischer, wirtschaftlicher, sozialer Entwicklungen als sicherheitsrelevant veranschlagt und als solche seiner ihm unzweifelhaft obliegenden Schutz- und Sicherungsfunktion unterordnet, um die Einbeziehung immer weiterer Politikfelder in den Sicherheitsdiskurs als zwiespältige Entwicklung zu begreifen. Die Erfahrungen mit der Sicherheitsdiskussion Jahre nach dem 11. September 2001 im klassischen Bereich öffentlicher Sicherheit und Ordnung lassen befürchten, dass die einseitige Betonung der Sicherungs- und Schutzfunktion des Staates nunmehr auf weitere Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens ausgeweitet wird und erneut zu Lasten der Freiräume und Freiheitsrechte der Bürger geht. Da es im Hinblick auf die Innen- und Sicherheitspolitik und die konkreten Gesetzgebungsvorhaben eine weitgehende Kontinuität der Regierungspolitik von der rot-grünen (wie auch zu den Vorgängerregierungen) zur Großen Koalition gibt, steht nicht zu erwarten, dass es in absehbarer Zeit zu einem Paradigmenwechsel kommen könnte, der das Verhältnis Bürger – Staat in den Kernbereichen staatlichen Handelns neu justiert. Der eigentliche Paradigmenwechsel in der Innen-, Rechts- und Justizpolitik liegt mehr als dreißig Jahre zurück. In allen entwickelten Industriestaaten entwickelte sich eine „culture of control“ (Garland 2001), in der potenziellen Risiken und Gefährdungen mit Mitteln staatlicher Kontrolle und Prävention begegnet werden soll. Solange sich dies allein auf den Bereich der Verbrechensbekämpfung und –verhütung beschränkte, waren die Folgen begrenzt – sie trafen in erster Linie diejenigen, die mit dem Gesetz in Konflikt gerieten. Dieses Kontroll- und Präventionsparadigma hat aber inzwischen auf andere Bereiche der Politik und des gesellschaftlichen Lebens ausgestrahlt und ist zu einem generellen Muster politischen Handelns – jenseits konkreter Koalitionskonstellationen – geworden. An die Stelle einer konkreten Bedrohung durch einen exakt benennbaren Feind ist eine diffuse, nicht lokalisierbare, nicht vorhersehbare Gefährdung getreten, vor der es keinen wirklichen Schutz und auf die es keine klare und eindeutige Antwort gibt. Die institutionellen Veränderungen der Sicherheitsapparate, die neuen Kompetenzen, die ihnen übertragen worden sind und die faktische Aushebelung des „Trennungsgebots“ bedienen dieses exzessive Präventionsdenken. Diese Form des Sicherheitsdenkens bringt den Staat in eine zwiespältige Situation: Ohne jeden Zweifel hat er Frieden zu stiften, indem er Sicherheit und Ordnung in einer Gesellschaft garantiert. Zugleich bleibt er eine latente Quelle von Gefährdungen für die Freiheit der Bürger. Um seine umfassenden alten und neuen Aufgaben erfüllen zu können, werden immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens normiert und kontrolliert. Im Bemühen, seine sicherheitsgewährleistende Funktion auszufüllen, greift der Staat weit über die klassischen Bereiche der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, ordnungspolitischer Vorgaben für die Wirtschaftsordnung und wohlfahrtsstaatlicher Regularien und Kontrolle hinaus. Er entwickelt sich – in einem ganz neuen Sinne – zum „Sicherheitsstaat“, weil er umfassende Sicherheitsleistungen im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich verspricht. Wenn es eine über die Zusammenarbeit der Jahre von 2005 bis 2009 hinausreichende Gemeinsamkeit von CDU/CSU und SPD gibt, dann ist es die – unterschiedlich gewichtete – Auffassung, dass der Staat „Sicherheitsstaat“ zu sein habe. Da die Bewahrung oder Wiederherstellung von Sicherheit im Wertehaushalt der Bevölkerung einen hohen Stellenwert hat,
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ist es verständlich, dass die Bürger – zumal in Krisenzeiten – ihre Hoffungen auf diesen (vermeintlich) leistungsfähigen Staat setzen, der ihnen umfassende Sicherheit verspricht. Dabei bleibt die politische Debatte über die Bedingungen, unter denen von den Bürgern legitimer Weise verlangt werden kann, ihre individuelle Autonomie aufzugeben, dem Staat neue Kompetenzen zu konzedieren und sich Regeln zu unterwerfen, die sie nur noch bedingt zu beeinflussen vermögen, weitgehend auf der Strecke. Die Große Koalition hat mit ihrer Sicherheitspolitik keinen erkennbaren Beitrag geleistet, um dies zu verändern. Im Gegenteil, es bedurfte immer wieder des „Hüters der Verfassung“, des Bundesverfassungsgerichts, um die Dinge wieder im Sinne der Priorität der Bürgerrechte ins Lot zu bringen. Literatur Bukow, Sebastian, 2008: Zentralisiert und vernetzt. Die neue deutsche Sicherheitsarchitektur, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 4/2008, 93-102. Bukow, Sebastian, 2009: Die neue deutsche Sicherheitsarchitektur: Wandel und Entwicklung der inneren Sicherheit in Deutschland im europäischen Kontext, in: Lorenz, Astrid/Reutter, Werner (Hrsg.), Ordnung und Wandel als Herausforderungen für Staat und Gesellschaft, Leverkusen 2009; 349-370. Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, 2007: Tätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit für die Jahre 2006 und 2007. Berlin. Bundesministerium des Inneren (BMI), Hrsg., 2005a: Nationaler Plan zum Schutz der Informationsstrukturen. Berlin. Bundesministerium des Inneren (BMI), Hrsg., 2005b: Umsetzungsplan KRITIS des Nationalen Plans zum Schutz der Informationsinfrastrukturen. Berlin. Bundesministerium des Inneren (BMI), 2006: Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, in: http://www.bmi.bund.de/cln_173/DE/Themen/Sicherheit/Terrorismus/NatZusammenarbeit/Nat Zusammenarbeit.html (16.03.2007). Bundesministerium des Inneren, 2008: Das Gemeinsame Internetzentrum (GIZ), in: http://www. pressrelations.de/new/standard/result_main.cfm?r=301493&sid=&aktion=jour_pm&print=1& pdf=1 (18.09.2009). Bundesregierung, 2005: Koalitionsvereinbarung, in: http://www.cdu.de/doc/pdf/05_11_11_Koalitions vertrag.pdf (12.10.2009) Buzan, Barry/Wæver, Ole/Wilde, Jaap de, 1998: Security: A New Framework for Analysis, Boulder. Garland, David, 2001: The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Societies. Oxford. Geiger, Hans-Jörg, 2006: Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder (Gemeinsame-Dateien-Gesetz), Innenausschuss A-Drs. 16(4)131 I (03.11.2006). Gusy, Christoph, o.J.: Trennungsgebot. Tatsächliches oder vermeintliches Hindernis für effektive Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus? in: http://209.85.129.132/ search?q=cache:wh0qw3iI2-IJ:www.jura.uni-bielefeld.de/Lehrstuehle/Gusy/ Veroeffentlichungen_Vortraege/TERRORISMUSTRENNUNG.pdf+Trennungsgebot&hl= de&ct=clnk&cd=3&gl=de (12.03.2009). Gusy, Christoph/ Pohlmann, Kristine (2007): Wächst zusammen, was nicht zusammengehört? Die zunehmende Vernetzung zwischen Polizei und Verfassungsschutz weicht das Trennungsgebot auf, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 2/2007, 53-62. Klink, Manfred, 2008: Bundeskriminalamt, in: Groß, Hermann/Frevel, Bernhard/Dams, Carsten (Hrsg.), Handbuch der Polizeien Deutschlands. Wiesbaden, 516-554.
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Gert-Joachim Glaeßner
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Thomas Rixen
Was kam eigentlich nach Kirchhof? Die Steuer- und Finanzpolitik der Großen Koalition1 Die Steuer- und Finanzpolitik der Großen Koalition
Im August 2005 wurde der Universitätsprofessor Paul Kirchhof von Angela Merkel zum Schattenfinanzminister nominiert. Diese Entscheidung war ein wesentlicher Grund für das enttäuschende Wahlergebnis der CDU. Kirchhofs steuerpolitische Ideen boten der SPD eine willkommene Angriffsfläche, um die CDU als unsozial und neoliberal darzustellen. Bei den Wahlkampfauftritten Gerhard Schröders gehörte die spöttische Bezugnahme auf den „Professor aus Heidelberg“ zum Standardrepertoire und versinnbildlichte die Abgehobenheit, Bürgerferne und soziale Kälte, die die SPD der Union vorwarf. Doch obwohl die Steuerpolitik im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielte, hat sie im Regierungshandeln wenig Raum eingenommen. Die zentrale These dieses Beitrags lautet, dass die Große Koalition in der Steuer- und Finanzpolitik nur die notwendigsten Anpassungen vorgenommen hat, weil man sich regierungsintern wegen unterschiedlicher Policy-Präferenzen nicht auf weit reichende Reformen einigen konnte. Im ersten Abschnitt wird der finanz- und steuerpolitische Reformbedarf, dem sich die Große Koalition gegenüber sah, anhand eines internationalen Kennzahlenvergleichs. Anschließend wird herausgearbeitet, welche konkreten Ziele sich die Koalition in ihrem Regierungsprogramm tatsächlich gegeben hat (Abschnitt 2). Dabei wird deutlich, dass sich die Partner nach einem kontrovers geführten Wahlkampf nicht auf weit reichende Reformpläne einigen konnten. Stattdessen beschloss man ein wenig ambitioniertes Regierungsprogramm, in dem zwar einige der gesellschaftlichen Herausforderungen aufgegriffen wurden, zumeist jedoch nur graduelle Reformmaßnahmen vorgesehen waren. Im dritten Abschnitt wird die Umsetzung der selbst gesetzten Ziele im Regierungshandeln analysiert. Es zeigt sich, dass die Gesetzgebungstätigkeit niedriger war als die der Vorgängerregierung, dass kaum grundlegende Entscheidungen getroffen worden sind und dass wichtige Vorhaben nur in langwierigen Prozessen der Kompromissbildung verabschiedet werden konnten, die nicht immer zu angemessenen Problemlösungen führten. Zu grundlegenden Reformmaßnahmen kam es in der Regel nur dann, wenn die Regierungskoalition durch externen Druck zum Handeln gezwungen wurde. Bei der Unternehmensteuerreform hat der internationale Steuerwettbewerb die entscheidende Rolle gespielt, bei der Erbschaftsteuer das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht war auch bei der Wiedereinführung der Pendlerpauschale von Bedeutung, wobei hier zudem der Finanz- und Wirtschaftskrise eine zentrale Rolle zukam. Diese hat auch weitere, eigentlich konflikthafte Entscheidungen wie beispielsweise die mit der Föderalismusreform II beschlossene Schuldenbremse ermöglicht.2 An diese Detailanalysen 1 Für hilfreiche Hinweise und Anregungen bedanke ich mich bei Sebastian Bukow, Peter Schwarz und Wenke Seemann. Tobias Weise danke ich für Unterstützung bei der Recherche. 2 Allerdings ist das insgesamt enttäuschende Ergebnis der Reform des Finanzföderalismus weniger eine Folge der regierungsinternen Parteiendifferenz als vielmehr auf einen nicht überwundenen Verteilungskonflikt zwischen armen und reichen Bundesländern zurückzuführen (dazu Abschnitt 3).
v S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Thomas Rixen
schließt eine abschließende Würdigung der Steuer- und Finanzpolitik der Großen Koalition an (Abschnitt 4). 1
Die Gestaltungsaufgaben
Vor welchen Aufgaben stand die Große Koalition zu Beginn der Regierungszeit? Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst die steuer- und finanzpolitische Ausgangslage 2005 im internationalen Vergleich dargestellt und anschließend der sich daraus ergebende Reformbedarf identifiziert werden.
1.1 Höhe und Struktur der Einnahmen und Ausgaben – die Ausgangslage Eines der bestimmenden Themen seit den 1990er Jahren ist die Staatsverschuldung, die seit Anfang der 1990er Jahre – bedingt durch die Wiedervereinigung, die von der Regierung Kohl zu einem wesentlichen Teil über die Aufnahme von Schulden und nicht über Steuererhöhungen finanziert wurde – stärker gewachsen ist als im OECD-Durchschnitt, aber immer noch unter diesem liegt. Während Deutschland bei den Staatseinnahmen im Durchschnitt der OECD-Länder liegt, sind die Ausgaben im selben Zeitraum höher, zuletzt jedoch leicht rückläufig (Abbildung 1). Abbildung 1:
Ausgaben, Einnahmen und Schuldenstand in Prozent des BIP, 1991-2006
80 75
Schuldenstand OECD Ø
70
Schuldenstand Deutschland
65 60 55 50
Ausgaben Deutschland
45 40 35
Ausgaben OECD Ø Einnahmen Deutschland Einnahmen OECD Ø
30
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
(Quelle: OECD 2009) Ein genauerer Blick auf die Ausgabenstruktur (Tabelle 1) zeigt, dass Deutschland im europäischen Vergleich über eine sehr niedrige Investitionsquote verfügt und auch die Personal-
Die Steuer- und Finanzpolitik der Großen Koalition
193
ausgaben (inkl. soziale Dienstleistungen) sowie die Bildungsausgaben unterdurchschnittlich ausfallen. Bei den Konsumausgaben und im Bereich des Schuldendienstes liegt Deutschland dagegen im Durchschnitt und bei den Sozialtransfers (monetäre und sachliche Transfers) nimmt es gar den Spitzenplatz ein. Tabelle 2: Struktur der Staatsausgaben in der EU und Norwegen (insgesamt 28 Staaten) in Prozent des BIP (2005)3 Investitionen 5,0% (Malta)
Konsum 26,4 (Schweden)
Zinsen 4,7 % (Italien)
Personal 17,3 % (Dänemark)
Sozialtransfers 26,6 % (Deutschland)
Bildung 8,3 % (Dänemark)
Deutschland
1,4 % (26. Rang)
18,7 % (15. Rang)
2,8 % (8. Rang)
7,5 % (27. Rang)
26,6 % (1. Rang)
4,5 % (20. Rang)
Niedrigste Ausgaben
0,7 % 15,4 % (Großbritannien) (Irland)
0,0 % (Norwegen)
7,3 % (Slowakei)
8,8 % (Litauen)
3,5 % (Rumänien)
EU-15 Ø EU-25 Ø
2,2 % 2,2 %
2,8 % 2,8 %
10,8 % 10,8 %
20,0 % 19,8 %
5,4 % 5,1 %
Höchste Ausgaben
20,9 % 20,8 %
(Quelle: Eurostat 2009) Doch wie ist das Bild auf der Einnahmenseite? Während die deutsche Gesamtabgabenquote – der Anteil der gesamten Steuer- und Abgabenlast am BIP – bis zu den 1980er Jahren über dem OECD-Durchschnitt lag, entspricht sie seit den 1990er Jahren dem Durchschnitt der OECD-Staaten und stagniert seit Mitte der 1990er Jahre. Von 1999 bis 2005 ist sie leicht rückläufig gewesen. Die wichtigsten Gründe dafür waren die Entlastungen durch die große rot-grüne Steuerreform 1998-2005 und die anhaltende gesamtwirtschaftliche Stagnation. Im Unterschied dazu liegt die bundesdeutsche Steuerquote, in der insbesondere die Sozialabgaben nicht enthalten sind, bereits seit den 1980er Jahren unter dem OECD-Durchschnitt, wobei der Abstand zum Durchschnitt im Zeitablauf zugenommen hat.
3 Zwischen den in der Tabelle verwendeten Kategorien gibt es Überschneidungen. Bei Investitionen und Konsum handelt es sich um Abgrenzungen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR). Bildungsausgaben sind z.B. nach der VGR teilweise konsumtiv, teilweise investiv (z.B. Hochschulbau).
194 Abbildung 2:
Thomas Rixen Steuern und Abgaben in Prozent des BIP, 1965 bis 2005
38 36 34 32 30
Abgabenquote Deutschland Abgabenquote OECD Ø
28 26 24 22
Steuerquote OECD Ø Steuerquote Deutschland
19 65 19 67 19 69 19 71 19 73 19 75 19 77 19 79 19 81 19 83 19 85 19 87 19 89 19 91 19 93 19 95 19 97 19 99 20 01 20 03 20 05
20
(Quelle: OECD 2009) Wie Abbildung 3 verdeutlicht, ist in Deutschland der Anteil der direkten Steuern, d.h. der Steuern auf Einkommen und Profite, an den Gesamteinnahmen im internationalen Vergleich eher niedrig. Dafür wird aber ein hoher Anteil der Einnahmen in Form von Sozialabgaben, insbesondere Sozialversicherungsbeiträgen, erhoben (39,9 Prozent aller Staatseinnahmen im Jahr 2005). Dies erklärt, warum in Deutschland die Abgabenquote und die Steuerquote deutlich auseinander fallen und gerade durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer stark belastet sind – deren Gesamtabgabenquote lag 2005 bei 52,5 Prozent und war damit die zweithöchste aller OECD-Länder. Der OECD-Durchschnitt lag bei 37,2 Prozent (OECD 2006: 14). Dagegen fallen die Vermögenssteuern, zu denen unter anderem die Erbschafts- und Grundsteuern gehören, in Deutschland besonders niedrig aus. Damit stellt sich Deutschland als „christdemokratisch-kontinentaleuropäischer“ Steuerstaat dar, wie der Vergleich mit einem typischen Vertreter des „sozialdemokratisch-skandinavischen“ und „liberal-konservativen“ Steuerstaates in Abbildung 3 verdeutlicht (vgl. näher dazu: Wagschal 2001).
Die Steuer- und Finanzpolitik der Großen Koalition Abbildung 3:
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Einnahmen nach Steuerarten in Prozent der Gesamteinnahmen, 2005 2,5 28,2
Deutschland
39,9
29,0
USA
46,5
17,6
24,5
11,3
2,2 Dänemark
32,0
61,7
OECD Ø
0%
20% Direkte Steuern
25,5
32
36
40% Indirekte Steuern
60% Sozialversicherung
80%
3,7
6,3
100%
Vermögensteuer
(Quelle: OECD 2009) Nicht dargestellt, aber ebenfalls zu erwähnen ist der Befund, dass in den OECD-Ländern die steuerliche Belastung des Faktors Kapital im Verhältnis zu der des Faktors Arbeit seit längerem sinkt (Schwarz 2007). Wesentlicher Grund ist der internationale Steuerwettbewerb, in dem die Belastung des mobilen Faktors zu Ungunsten des immobilen sinkt.
1.2 Handlungsbedarf Dieser schlaglichtartige, international vergleichende Blick weist auf Handlungsbedarfe hin. So wird etwa eine ungünstige Struktur der Staatsausgaben deutlich. Insbesondere müsste von konsumtiven zu investiven Staatsausgaben umgeschichtet werden. Dies sollte auch den Umbau des Sozialstaats von einem transferbasierten zu einem stärker auf soziale Infrastruktur setzenden Sozialstaat beinhalten (vgl. z.B. Henkes/Petring 2007). Vor allem im Bildungsbereich gibt es, wie angesichts der PISA-Ergebnisse auch einer breiten Öffentlichkeit bewusst wurde, erheblichen Handlungsbedarf. Entsprechende Umschichtungen würden auch zu einer weiterhin notwendigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte beitragen, da sie langfristig die Kosten senken und das Wachstum befördern könnten, was sich auf der Einnahmenseite positiv bemerkbar macht. Auch auf der Einnahmenseite gibt es Handlungsbedarf. Allerdings nicht bezüglich der Höhe der Gesamtabgaben, sondern vor allem bei der Struktur der Einnahmen. Insbesondere wäre eine andere Finanzierung der Sozialversicherung anzustreben. Die Versicherungsbeiträge erhöhen erstens die Kosten der Arbeit und gelten deshalb als ein Grund für die schlechte Entwicklung des Arbeitsmarktes. Zweitens führen die proportional erhobenen
196
Thomas Rixen
Beiträge dazu, dass abhängig Beschäftigte mit mittleren Einkommen besonders stark belastet werden. Eine stärker steuerfinanzierte soziale Sicherung ist deshalb wünschenswert (Kromphardt 2006: 363). Außerdem wäre eine Regulierung des internationalen Steuerwettbewerbs notwendig, damit sich die relative Belastung der Faktoren Arbeit und Konsum im Verhältnis zu Kapital nicht noch weiter erhöht. Weiterhin zeigt der internationale Vergleich, dass es durchaus Spielraum für eine Erhöhung der Vermögensbesteuerung gäbe. Doch nicht nur die objektiven Befunde zeigen Handlungsbedarf an, sondern auch die subjektiven Bewertungen der Steuer- und Finanzpolitik durch die Steuerzahler. Eine repräsentative Umfrage (Kleinsteuber/Vehrkamp 2007) kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland 80 Prozent der Bevölkerung die Steuer- und Abgabenlast für zu hoch halten, sich gleichzeitig aber eine große Mehrheit der Bevölkerung (66 Prozent) eine aktive Sozialund Umverteilungspolitik vom Staat wünscht. Insbesondere höhere Bildungsausgaben und eine Bekämpfung der Kinderarmut werden von fast allen Bürgerinnen und Bürgern befürwortet (68 bzw. 74 Prozent). Große Einigkeit besteht aber sowohl bei der Bevölkerung als auch bei fast allen Experten (vgl. z.B. Bundesrechnungshof 2006) darüber, dass das derzeitige Steuerrecht zu kompliziert und unverständlich sei. In der Konsequenz ist die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unzufrieden mit dem Steuersystem, weil sie es für ungerecht und intransparent hält (Allensbach Institut für Demoskopie 2008) – es besteht also auch von Seiten der Steuerzahler ein politischer Handlungsdruck. 2
Die Ziele: Steuer- und Finanzpolitik im Wahlkampf und bei der Regierungsbildung
In diesem Abschnitt wird dargestellt, welches Arbeitsprogramm sich die Große Koalition gegeben hat. Zuvor wird auf die Wahlprogramme und den Wahlkampf eingegangen, um die unterschiedlichen Positionen der Parteien herauszuarbeiten.
2.1 Steuer- und Finanzpolitik im Wahlkampf Die rot-grüne Vorgängerregierung konzentrierte sich in ihrer zweiten Legislaturperiode auf die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen der Agenda 2010. Man sah weder Bedarf noch Spielraum für größere steuerpolitische Maßnahmen, da man die Bürgerinnen und Bürger mit den Steuerreformen der vorherigen Legislaturperiode ausreichend entlastet habe (Bach 2008: 65). Auch in ihren Wahlprogrammen für die Bundestagswahl 2005 haben SPD und Grüne diese Linie vertreten und sich auf kleine Korrekturen am bestehenden System beschränkt. Die SPD forderte eine so genannte „Reichensteuer“, nach der für Einkommen ab 250.000 Euro (bzw. 500.000 Euro für Verheiratete) ein Grenzsteuersatz von 45 Prozent gelten sollte, eine aufkommensneutrale Senkung des Unternehmensteuersatzes von 25 auf 19 Prozent, Änderungen bei der Gewerbesteuer und eine Reform der Erbschaftsteuer. Letzteres war wegen eines zu erwartenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts ohnehin notwendig. Außerdem sollte eine europaweite Angleichung der Unternehmensteuer mit Mindestbesteuerung zur Regulierung des Steuerwettbewerbs eingeführt werden (SPD 2005).
Die Steuer- und Finanzpolitik der Großen Koalition
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Auf Seiten des bürgerlichen Lagers arbeitete man zu Oppositionszeiten an weit reichenden Reformvorschlägen zur Einkommensteuer und stieß damit eine intensive Diskussion in Politik und Öffentlichkeit an, die die weit verbreitete Unzufriedenheit mit einem als kompliziert und ungerecht empfundenen Steuerrecht aufgriff. Das Ziel war, durch eine Bereinigung der Bemessungsgrundlagen und eine Senkung der Steuersätze zu einer radikalen Vereinfachung des Steuersystems zu kommen. So sollte es standortfreundlicher werden und mehr Anreize für Wachstum und Beschäftigung setzen. Der ehemalige Verfassungsrichter und Rechtsprofessor Paul Kirchhof legte mit seiner Forschungsgruppe Bundessteuergesetzbuch einen entsprechenden Vorschlag vor (Kirchhof 2003). Dieser sieht vor, dass bei einem Freibetrag von 8.000 Euro ein Steuersatz von 25 Prozent auf alle Einkommen angewandt wird.4 Außerdem soll gänzlich auf Lenkungs- und Subventionsnormen verzichtet werden. Der vorgeschlagene Gesetzestext ist nur neun Seiten lang und umfasst 23 Paragraphen, in denen die Einkommens- und Unternehmensbesteuerung geregelt sind. Auf der Basis dieser Vorschläge hat der CDU-Finanzexperte Friedrich Merz seine „Bierdeckelsteuer“ entwickelt, die einen dreistufigen Einkommensteuertarif vorsah, der von einem Grundfreibetrag von 8000 Euro an Sätze von 12, 24 und 36 Prozent (ab 40.000 Euro) aufweisen sollte. Ausnahmetatbestände wie Freibeträge, Abzugsbeträge sowie Steuerbefreiungen und -ermäßigungen sollten weitgehend gestrichen werden (CDU 2003). Allerdings waren die Pläne von Friedrich Merz in der Union umstritten. Der bayerische Finanzminister Kurt Faltlhauser legte ein weniger radikales Modell mit einem linear-progressiven Tarifverlauf und einem Spitzensteuersatz von 39 Prozent vor. Man einigte sich im unionsinternen Steuerstreit im Frühjahr 2004 darauf, dass man zunächst das CSU-Modell vertreten und erst in einem zweiten Schritt das Stufenmodell von Merz umsetzen wolle (vgl. Leithäuser 2005). Laut Wahlprogramm der CDU/CSU sollte diese Reform den Auftakt bilden für eine radikale Vereinfachung des Steuerrechts, die im späteren Verlauf der Legislaturperiode zu verabschieden sei. Außerdem kündigte die Union eine Abgeltungsteuer an, d.h. eine definitive Besteuerung von Kapitaleinkünften an der Quelle zu einem niedrigen, einheitlichen Satz. Schließlich sollte die Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent erhöht werden, um die zusätzlichen Einnahmen zur Senkung der Beiträge der Arbeitslosenversicherung zu verwenden (CDU/CSU 2005). Einen ähnlichen Entwurf für eine große Reform der direkten Steuern legte die FDP bereits Mitte der 1990er Jahre unter Federführung von Hermann-Otto Solms vor und brachte dessen Weiterentwicklung als Gesetzentwurf in den deutschen Bundestag ein (BT-Drs. 15/2349, 16/679). Nach der Berufung Kirchhofs zum Schattenfinanzminister einer etwaigen schwarzgelben Koalition wurden aber nicht nur die im Wahlprogramm der Union enthaltenen Vorschläge in der Öffentlichkeit diskutiert, sondern auch Kirchhofs Steuermodell. SPD und Grüne kritisierten es als sozial unausgewogen und neoliberal. Dabei konnten sie sich auf Studien berufen, die Einnahmeausfälle in einer Größenordnung von 1,1 bis 1,6 Prozent des BIP prognostizierten und eine überproportionale Entlastung für die Bezieher größerer Einkommen (Finanzministerkonferenz 2004). Auch unionsintern gab es Konflikte. Sowohl die CSU als auch die CDU-Ministerpräsidenten Wulff, Müller und Koch lehnten das KirchhofKonzept ab, da sie Einnahmeausfälle für die Länder fürchteten. So musste schließlich öf4 Allerdings sollen bei einem zu versteuernden Einkommen zwischen € 8.000 und € 13.000 nur 60% des Einkommens diesem Satz unterworfen werden. Für Einkommen von € 13.000 bis € 18.000 werden 80% versteuert. Man kann dies in einen Dreistufentarif umrechnen: 15% für 8.ooo bis 13.000, 20% für 13.000 bis 18.000 und 25% (ab 18.000).
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fentlich klargestellt werden, dass das Unionswahlprogramm die Grundlage der Regierungspolitik in der kommenden Legislaturperiode bilden solle und nicht Kirchhofs eigenes Steuerreformmodell. Angesichts der Tatsache, dass der avisierte Koalitionspartner FDP ein Konzept vertrat, das dem Kirchhofs sehr ähnlich war und Kirchhof selbst seine Pläne für die übernächste Legislaturperiode aufrecht hielt (Leithäuser 2005), blieb SPD und Grünen das Thema aber erhalten. Ein weiterer Streitpunkt im Wahlkampf war die durch die Union angekündigte Mehrwertsteuererhöhung. Die SPD geißelte die regressive Wirkung der von ihr so betitelten „Merkelsteuer“. So wurde die Steuerpolitik zu einem der zentralen Themen des Wahlkampfes, an dem die SPD ihren Vorwurf exemplifizieren konnte, dass die Union in der Regierung eine sozial ungerechte und „neoliberale“ Politik betreiben werde (vgl. Beise 2005). Im Wahlkampf schmolz so der Vorsprung der Union dahin, die Union konnte sich nur knapp als stärkste Kraft über die Ziellinie retten und musste einsehen, dass es für ihre weit reichenden Pläne zur Steuerreform keine gesellschaftlichen Mehrheiten gab (siehe auch Hunsicker/Schroth in diesem Band).
2.2 Steuer- und Haushaltspolitik im Koalitionsvertrag Nach der Regierungsbildung waren die ambitionierten Steuerreformpläne der Union ebenso schnell vom Tisch wie der Widerstand der SPD gegen eine Mehrwertsteuererhöhung. Statt der im Wahlkampf anvisierten zwei Prozentpunkte beschloss man sogar eine Erhöhung um drei Prozentpunkte, so dass der allgemeine Satz zum 1.1.2007 auf 19 Prozent angehoben wurde (der ermäßigte Satz blieb unverändert bei 7 Prozent). Im Koalitionsvertrag erklärten die Partner, dass es angesichts der „dramatischen Ausgangslage“ nicht gelingen werde, im Jahre 2006 einen verfassungskonformen Haushalt im Sinne des Art. 115 GG vorzulegen und die Maastricht-Kriterien einzuhalten. Ab 2007 sollten aber beide Regelgrenzen wieder eingehalten werden. Allerdings wurden kaum konkrete Einsparmaßnahmen, sondern lediglich Grundsätze der Haushaltskonsolidierung benannt. Neben wenigen kleinen Ausgabekürzungen und der Mehrwertsteuererhöhung wurden vor allem Maßnahmen vorgeschlagen, die der wirtschaftlichen Konjunktur und Innovationsfähigkeit zu Gute kommen sollten, wie z.B. die Förderung von Bio- und Gentechnologie, Verkehrsinfrastrukturinvestitionen und die Einführung eines Elterngeldes. Ein höheres Wirtschaftswachstum sollte zu mehr Einnahmen führen und so zur Haushaltskonsolidierung beitragen (CDU/CSU/SPD 2005: 77-81). In der Steuerpolitik gab man sich folgendes Arbeitsprogramm (CDU/CSU/SPD 2005: 77-81; Merkel 2005): Als wichtigste Maßnahme wurde eine Unternehmensteuerreform angekündigt, deren Ziele die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die Sicherung von Steuerbasis im Inland und die rechtsformneutrale Besteuerung sein sollten. Zweitens sollten die Beiträge der Arbeitslosenversicherung zum 1.1.2007 von 6,5 auf 4,5 Prozent gesenkt werden, finanziert durch einen Prozentpunkt der Mehrwertsteuererhöhung und durch Effizienzgewinne bei der Bundesanstalt für Arbeit. Gleichzeitig sollte der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung von 19,5 auf 19,9 Prozent ansteigen. Für die Krankenversicherung wurde ein umfassendes Zukunftskonzept angekündigt, das Beitragssenkungen oder zumindest -stabilität garantieren sollte (siehe Grimmeisen/Wendt in diesem Band). Ab dem 1.1.2007 sollte die von der SPD geforderte „Reichensteuer“ gelten und die
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Eigenheimzulage sollte zum 1.1.2006 abgeschafft werden. Außerdem kündigte man eine Reform der Kfz-Steuer an, die sich zukünftig am CO2- und Schadstoffausstoß orientieren sollte. Die Erbschaftsteuer wollte man bis spätestens 1.1.2007 unter Berücksichtigung des zu erwartenden Bundesverfassungsgerichtsurteils reformieren. Schließlich nahm man sich vor, im zweiten Teil der Föderalismusreform die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu zu ordnen. Zu diesem Zweck wurde eine Bund-Länder-Kommission zur „Modernisierung der Finanzbeziehungen“ eingesetzt. Insgesamt zeigt sich, dass sich die Große Koalition in Folge divergierender politischer Positionen, die im Wahlkampf deutlich betont wurden, nur auf ein wenig ambitioniertes Arbeitsprogramm einigen konnte. Es sah keine grundlegenden Reformen vor, sondern beschränkte sich auf das Notwendigste. Mit Ausnahme der Föderalismusreform sollte es allenfalls graduelle Weiterentwicklungen bestehender Politiken geben. Trotzdem fanden sich zwei traditionell politisch umstrittene Maßnahmen, nämlich die Reform der Unternehmenssteuern und der Erbschaftsteuer auf der Agenda. Diese wurden aber, wie ich im Folgenden argumentieren werde, nur deshalb in Angriff genommen, weil sich die Regierung in diesen Bereichen durch den Steuerwettbewerb bzw. das Bundesverfassungsgericht zum Handeln gezwungen sah. 3
Die Umsetzung: Kaum weit reichende Reformen und schwierige Kompromissbildung
In diesem Teil wird das tatsächliche Regierungshandeln analysiert. Es wird zunächst gezeigt, dass die steuerpolitische Aktivität der Großen Koalition vergleichsweise gering war (Abschnitt 3.1). Anschließend wird anhand der Entstehung der beiden wohl wichtigsten Gesetzesmaßnahmen gezeigt, dass das zurückhaltende Regierungshandeln vorrangig durch grundlegende Policy-Differenzen verursacht wurde. Man kam bei Reformen nur deshalb zu einer Einigung, weil externe Handlungszwänge die Kompromissfähigkeit erhöhten (Abschnitte 3.2, 3.3). Auch die Finanzkrise, deren Folgen sich spätestens ab Herbst 2008 sehr deutlich zeigten, hat die Kompromissbildung erleichtert. Es wird deshalb gezeigt, wie die Krise einerseits die Bemühungen zur Haushaltskonsolidierung vollkommen obsolet machte und andererseits eine schnelle Einigung bei konflikthaften Themen ermöglichte (Abschnitt 3.4).
3.1 Gesetzgebungsaktivität und Reichweite der Reformbemühungen Tabelle 2 zeigt finanzielle Indikatoren für die steuerpolitische Gesetzgebungsaktivität aller Bundesregierungen seit 1965 und basiert auf Schätzungen des Bundesfinanzministeriums (BMF) zu finanziellen Auswirkungen der Steuerrechtsänderungen für den Bundeshaushalt im jeweils ersten Jahr ihrer Geltung (BMF 2008). Spalte 1 enthält die Summe der Steuerbelastungen und Spalte 2 die Steuerentlastungen als prozentualen Anteil an den gesamten Ausgaben des Bundes (Quelle: BMF, verschiedene Jahrgänge), wohingegen Spalte 3 die finanziellen Be- und Entlastungen steuerlicher Gesetzesmaßnahmen summiert und damit die Höhe der Veränderungen verdeutlicht. Um die Koalitionen vergleichen zu können wird dieser Wert auf eine jährliche Maßzahl standardisiert (Spalte 4), welche als Indikator für die Reformaktivität der jeweiligen Regierung dienen kann. Ergänzend wird angezeigt, ob
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die steuerpolitischen Maßnahmen der Regierung in der Gesamtheit zu einer Nettobelastung (+) oder Nettoentlastung (-) geführt haben (Spalte 5). Tabelle 3: Steuerliche Be- und Entlastungen als Anteil an Bundesausgaben, 1965-20095
CDU/CSU und SPD (1965-1969) SPD und FDP (1969-1982) CDU/CSU und FDP (1982-1998) SPD und Grüne (1998-2005) CDU/CSU und SPD (2005-2009)
(4) Jährlicher Ø Summe Beund Entlastungen
(5) Differenz Be- und Entlastungen
10 %
2%
+ 5,8 %
23,1 %
52,5 %
3,8 %
+ 6,3 %
38,5 %
28,6 %
67,1 %
3,9 %
+ 9,9 %
17,7 %
22,9 %
40,6 %
5,1 %
– 5,2 %
12,4 %
9,4 %
21,8 %
4,4 %
+ 1,7 %
(1) Belastungen
(2) Entlastungen
7,9 %
2,1 %
29,4 %
(3) Summe Beund Entlastungen
Es zeigt sich, dass die Große Koalition 2005-2009 ein leicht überdurchschnittliches Aktivitätsniveau aufweist. Allerdings ändert sich das Bild, wenn man die ursprünglich nicht geplanten steuerlichen Maßnahmen der beiden durch die Finanzkrise notwendig gewordenen Konjunkturpakete und die Neuregelung der Pendlerpauschale, zu der die Regierung vom Bundesverfassungsgericht gezwungen wurde und die ebenfalls ursprünglich nicht beabsichtigt war, herausrechnet. Ohne diese Maßnahmen ergäben sich eine durchschnittliche jährliche Summe der Be- und Entlastungen von 3,6 Prozent des BIP und damit ein unterdurchschnittliches Aktivitätsniveau.6 Im Vergleich zur rot-grünen Vorgängerregierung war die Große Koalition hingegen steuerpolitisch weniger aktiv, was insofern bemerkenswert ist, als dass die rot-grüne Koalition meist mit gegenläufigen Mehrheiten im Bundesrat konfrontiert war, während die Große Koalition auf gleichlaufende Mehrheiten trifft (siehe dazu Seemann in diesem Band). Es zeigt sich allerdings über den gesamten Beobachtungszeitraum, dass weder gegenläufige Mehrheiten zu einer niedrigeren Aktivität geführt haben, noch gleichlaufende Mehrheiten zu einer höheren (Wagschal 2006: 247-8). Es ist zudem auffällig, dass linke Regierungen keine höheren Belastungen beschlossen haben als konservative, im Gegenteil ist die rot-grüne Bundesregierung die einzige, die Steuerentlastungen
5 Auswertung auf Grundlage von BMF (2008). Rundungsfehler können auftreten. Für die Große Koalition hat das Bundesfinanzministerium bisher lediglich die bis November 2008 verfügbaren Zahlen vorgelegt. Die Daten wurden deshalb ergänzt durch die wichtigsten Gesetzesmaßnahmen, die anschließend getroffen wurden. Dabei handelt es sich insbesondere um die Wiedereinführung der Pendlerpauschale, die Erbschaftsteuerreform und die steuerlichen Maßnahmen im Rahmen der beiden Konjunkturpakete. Schätzungen zu deren fiskalischen Auswirkungen stammen aus Horn et al. (2009). Es fehlen kleinere Gesetzesmaßnahmen. 6 Die Wiedereinführung der Pendlerpauschale führt zu einer Entlastung von 5,5 Mrd. Euro, inklusive der Rückerstattungen für 2007 und 2008, alleine im Jahr 2009. Die steuerlichen Maßnahmen der Konjunkturpakte führen zu einer ähnlich großen Entlastung.
Die Steuer- und Finanzpolitik der Großen Koalition
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beschlossen hat (Spalte 5). Dazu kommt, dass die jetzige Koalition steuerpolitisch deutlich mehr Geld bewegt hat als die erste Große Koalition. Die finanziellen Auswirkungen sind aber nicht der einzig mögliche Indikator, um die Reformtätigkeit zu messen. Von Bedeutung ist ebenfalls, ob es sich um grundlegende Reformen oder lediglich um kleinere Anpassungen bestehender Politikinstrumente handelt. Eine derartige Typologisierung wird von Peter Hall (1993: 278-9) vorgeschlagen. Er versteht unter einer Reform erster Ordnung, dass das Politikinstrument und das Politikziel unverändert bleiben. Es wird lediglich die Einstellung des Instrumentes, also z.B. ein Steuersatz, geändert. Bei einer Reform zweiter Ordnung bleiben die Politikziele unverändert, aber neue Instrumente zu ihrer Erreichung werden eingeführt bzw. bestehende Instrumente stark verändert. Bei Reformen dritter Ordnung ändern sich nicht nur die Einstellungen und Instrumente, sondern auch die Politikziele. Tabelle 4: Reformpolitische Reichweite von Steuergesetzen, 2005 bis 20097 Jahr der Verabschiedung 2005
2006
Reform erster Ordnung
Reform zweiter Ordnung
- Gesetz zur Beschränkung der Verlustverrechnung bei Steuerstundungsmodellen (30.12.2005; Belastung) - Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung (26.04.2006; Entlastung) - Anhebung des Umsatzsteuersatzes um 3 Punkte im Haushaltsbegleitgesetz (29.06.2006; Belastung) - Abschaffung der Pendlerpauschale bis zum 20. km im Steuerrechtsänderungsgesetz 2007 (26.07.2006; Belastung)
- Gesetz zur Abschaffung der Eigenheimzulage (30.12.2005; Belastung)
2007 2008
- Steuererleichterungen im Rahmen des Konjunkturpaketes I (05.12.2008; Entlastung)
2009
- Steuererleichterungen im Rahmen des Konjunkturpaketes II (20.02.2009; Entlastung) - Wiedereinführung der Pendlerpauschale auf Rechtsstand 2006 (03.04.2009; Entlastung)
- Unternehmensteuerreformgesetz 2008 (06.07.2007; Entlastung) Erbschaftsteuerreform (05.12.2008; aufkommensneutral)
Kfz-Steuerreform (20.02.2009; Entlastung)
7 Eigene Einstufung nach der Systematik von Hall (1993). Datengrundlage: BMF (2008) und für die Zeit nach November 2008 eigene Recherche. Es sind nur jene Maßnahmen berücksichtigt worden, deren gesamte finanzielle Auswirkungen wenigstens 2 Mrd. Euro betrugen. Die Einordnung mancher Maßnahmen in die Systematik könnte strittig sein. Man könnte z.B. der Ansicht sein, dass es sich bei der Abschaffung der Pendlerpauschale um eine Reform zweiter Ordnung handelt, weil die Pauschale grundsätzlich abgeschafft wird und nur in Ausnahmefällen, wenn der Arbeitsweg länger als 20 km ist, gewährt wird. Hier wird sie aber als einfache quantitative Anpassung des Instruments interpretiert.
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Mit Blick auf die in Tabelle 3 erfolgte Klassifizierung der gesetzlichen Maßnahmen der Großen Koalition fällt auf, dass keine Reformen dritter Ordnung aufgeführt sind – derartige Reformen fanden nicht statt und waren auch im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen. Die allermeisten Gesetzesmaßnahmen sind Reformen erster Ordnung. Lediglich der Wegfall der Eigenheimzulage, die Reform der Unternehmenssteuern, die Erbschaftsteuerreform und die Kfz-Steuerreform sind Reformen zweiter Ordnung. Das Unternehmensteuerreformgesetz setzt sich aus mehreren Einzelmaßnahmen zusammen. Während die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes von 25 auf 15 Prozent und die Absenkung der Steuermesszahl in der Gewerbesteuer auf 3,5 Prozent eine Reform erster Ordnung darstellt, ist die Neueinführung einer Zinsschranke und der Wegfall des Betriebsausgabenabzugs in der Gewerbesteuer eine Reform zweiter Ordnung. Insgesamt ist das Gesetz deshalb als eine Reform zweiter Ordnung charakterisiert. Bei der Erbschaftsteuer geht es ebenfalls um eine Reform zweiter Ordnung, weil die Bemessungsgrundlage auf den so genannten Verkehrswert umgestellt wurde. Auf beide Reformen wird unten genauer eingegangen. Die Kfz-Steuer stellt eine Reform zweiter Ordnung dar, weil sie in Zukunft anhand des CO2-Ausstoßes anstatt des Hubraums bemessen wird. Es lässt sich also festhalten, dass sich die Große Koalition hauptsächlich auf die Weiterentwicklung und Anpassung bestehender Gesetze konzentriert hat. Ihre Gesetzgebungstätigkeit bewegt sich, gemessen an den finanziellen Be- und Entlastungen, zwar leicht über dem Durchschnitt der Vorgängerregierungen, wäre aber niedriger ausgefallen, wenn die ursprünglich nicht geplanten steuerlichen Maßnahmen im Rahmen der Konjunkturpakete und die Wiedereinführung der Pendlerpauschale nicht nötig geworden wären. Auch in der Gesamtschau beider hier verwendeten Indikatoren ist die Gesetzgebungsaktivität unterdurchschnittlich. Das hohe finanzielle Niveau wird vor allem durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer erreicht, einer Reform erster Ordnung, die im ersten Jahr ihrer Wirksamkeit zu Mehreinnahmen von rund 23 Mrd. Euro geführt hat.
3.2 Unternehmensteuerreform: Deutschland im internationalen Steuerwettbewerb Die Unternehmensteuerreform wurde von der Koalition als das wichtigste steuerpolitische Reformvorhaben angekündigt. Zentrales Ziel war es, Deutschland im internationalen Steuerwettbewerb besser zu positionieren. Die von vielen geteilte Diagnose lautete, dass die deutsche Wirtschaft unter den hohen nominalen Steuersätzen litt, weil Investoren abgeschreckt bzw. an Standorte mit niedrigeren Sätzen gelockt würden. Gleichzeitig waren aber die tatsächlichen Steuerzahlungen international tätiger Unternehmen in Deutschland sehr niedrig, da es verschiedene legale Möglichkeiten zur internationalen Verlagerung von Steuerbasis in Niedrigsteuerländer gibt (dazu Rixen 2008: 77-81; Maiterth/Müller: 50-52). Vor diesem Hintergrund ließ Finanzminister Peer Steinbrück ein Reformkonzept erarbeiten, das die Absenkung der nominalen Steuersätze auf insgesamt unter 30 Prozent vorsah.8 Gleichzeitig war vorgesehen, die Hälfte aller Zinsaufwendungen zu besteuern, um so die Verlagerung von Steuersubstrat zu verhindern. Gegen dieses Konzept legten die Uni8 Die Satzsenkung wurde erreicht durch die Senkung der Körperschaftsteuer auf 15 % und die Absenkung der Gewerbesteuermesszahl von 5 auf 3,5 %. Im Ergebnis sank der Gesamtsatz von 38,65 % auf 29,83 %. Ein weiteres Reformziel war die Herstellung von Rechtsformneutralität zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften, wozu ein Steuersatz von 28,25 Prozent auf einbehaltene Gewinne von Personengesellschaften vereinbart wurde.
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onsparteien, unterstützt von den Wirtschaftsverbänden, Einspruch ein. Zwar begrüßten sie die Satzsenkung, lehnten aber die Besteuerung der ertragsunabhängigen Zinsen ab. Auch gab es Streit darüber, wie hoch die Nettoentlastung der Unternehmen ausfallen sollte. Insbesondere die parlamentarische Linke in der SPD wollte aufkommensneutrale Steuersatzsenkungen erreichen, während die Union eine deutliche Nettoentlastung wünschte. Dieser Konflikt führte zur Gründung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die einen Kompromiss erarbeitete und sich auf eine Nettoentlastung von 5 Mrd. Euro einigte. Zur Gegenfinanzierung der Satzsenkungen wurde eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durch die Verschlechterung von Abschreibungsbedingungen beschlossen. Statt der hälftigen Nichtabsetzbarkeit von Zinszahlungen wurde schließlich nach zähem Ringen um die Details eine so genannte Zinsschranke verabschiedet, die eine eng begrenzte Nichtabsetzbarkeit von Zinsen vorsieht (vgl. Herz 2006; Jarass 2007).9 Im Zuge der Unternehmensteuerreform wurde auch eine Abgeltungsteuer von 25 Prozent auf alle privaten Kapitalerträge eingeführt. Damit werden Kapitalerträge aus der progressiven Einkommensbesteuerung herausgenommen und das Halbeinkünfteverfahren bei Dividenden abgeschafft. Anders als in Teilen der politikwissenschaftlichen Literatur (vgl. z.B. Garrett/Mitchell 2001; Steinmo 2003) behauptet wird, ist der Steuerwettbewerb Realität und begrenzt die staatliche Gestaltungsfähigkeit. Zwar hat er bisher nicht zu verringerten Steuereinnahmen geführt, wie die Skeptiker der Wettbewerbsthese richtig feststellen, aber er schränkt die Nationalstaaten bei der Wahl ihrer Steuerstruktur ein. Um im Wettbewerb mit anderen Staaten bestehen zu können, sehen sie sich zu einer Absenkung der nominalen Sätze bei einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage gezwungen. Eine solche Strategie ist deshalb Erfolg versprechend, weil im Steuerwettbewerb die Möglichkeit zur künstlichen Verlagerung von Gewinnen eine große Rolle spielt und für diese Entscheidungen von Unternehmen die nominalen Steuersätze maßgeblich sind (vgl. ausführlich Rixen 2006: 78-86). Die großkoalitionäre Reform passt genau in dieses Muster. Wie Ganghof (2004) gezeigt hat, würden sozialdemokratische Parteien in Abwesenheit des Wettbewerbs einer Satzsenkung nicht zustimmen, da sie Auswirkungen auf die gesamte Steuerstruktur hat, die den Politikzielen der SPD deutlich widersprechen. Unter der Handlungsbeschränkung des Steuerwettbewerbs, und dies zeigt sich auch bei der Reform der Großen Koalition, tun sie es aber. Das Ziel der nominalen Satzsenkung war bereits von Beginn an zwischen Union und SPD unumstritten, beide Seiten verfolgten das Ziel der Herstellung eines wettbewerbsfähigen Steuersystems. Lediglich um das Ausmaß der Gegenfinanzierung gab es noch Streit. Die Einigung bei der Unternehmensteuerreform kam zustande, weil der internationale Steuerwettbewerb eine reale Handlungsbeschränkung für die Regierung darstellt. Dabei hat die SPD erkannt, dass es ihren politischen Zielen mittelfristig nicht zuträglich ist, sich durch nationale politische Entscheidungen am Steuerwettbewerb zu beteiligen, sondern dass es notwendig wäre, dem Problem durch internationale Regulierung des Wettbewerbs beizukommen (SPD 2005: 57; 2009: 53). So hat der sozialdemokratische Finanzminister die Bemühungen der europäischen Kommission zur Einführung einer Gemeinsamen Konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage (GKKB) unterstützt. Allerdings ist dieses Projekt, zumindest vorübergehend, am Widerstand Irlands, Großbritanniens 9 Bei der Zinsschranke ist die Absetzbarkeit auf 30 % derjenigen Zinszahlungen, die die Zinserträge des gleichen Jahres übersteigen, begrenzt. Allerdings gibt es eine Freigrenze von einer Million Euro Nettozinszahlungen. Auch sind diejenigen Unternehmen befreit, die nicht Teil eines Konzerns sind oder bei denen das Verhältnis von Eigenkapital zu Fremdkapital nicht schlechter ist als innerhalb des gesamten Konzerns.
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und einiger osteuropäischer Mitgliedsländer gescheitert. Auch die internationale Steuerflucht kam auf die Tagesordnung. Aus Anlass der Zumwinkel-Affäre Anfang 2008 und im Rahmen der Finanzkrise ab Ende 2008 machte sich Steinbrück für ein scharfes Vorgehen gegen Steueroasen stark und provozierte diplomatische Verstimmungen mit der Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg und Österreich. Auch gesetzgeberisch wurde die Große Koalition aktiv. Das „Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz“ (BT-Drs. 16/12852), mit dem eine schärfere Überwachung finanzieller Transaktionen mit Steuerparadiesen ermöglicht wurde, war in der Koalition umstritten. Schließlich gelang es der Union, den Entwurf aus dem Finanzministerium so weit zu verwässern, dass er kaum ein wirksames Instrument gegen internationale Steuerhinterziehung darstellte (näher hierzu: Rixen 2009).10
3.3 Erbschaftsteuerreform: Wackliger Kompromiss unter dem Druck des Verfassungsgerichts Bei der Erbschaftsteuer war die Regierung wegen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2006 gezwungen, bis Ende 2008 eine Neuregelung zu finden, da die Steuer sonst entfallen wäre. Die bestehende Regel führte zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung. Grund- und Betriebsvermögen sind im Regelfall deutlich geringer bewertet worden, als es ihrem Verkehrswert entspricht, während Finanzanlagen mit dem Kurs- oder Nominalwert in die Steuerbasis eingingen. Das Gericht verlangte, dass in Zukunft für alle Vermögen der Verkehrswert zu Grunde gelegt werden soll (BVerfGE 117, 1). Über die Ausgestaltung der neuen Regeln gab es in der Koalition unterschiedliche Ansichten. Die Union befürwortete deutlich großzügigere Freibeträge als die SPD. Auch verlangte die CDU, und besonders vehement die CSU, eine Steuerbefreiung bei der Vererbung von Familienunternehmen, die weitergeführt werden. Die SPD machte es zur Bedingung, dass die Steuer weiterhin ihr altes Aufkommen erzielen sollte (ca. 4 Mrd. Euro). Nach langen Diskussionen kam es schließlich im November 2008 zu einem Kompromiss. Der Freibetrag wurde auf 500.000 Euro für Eheleute und 400.000 für Kinder erhöht. Selbst genutztes Wohneigentum können Eheleute steuerfrei erben. Im Gegenzug wurden die Freibeträge für entfernte Verwandte abgesenkt. Für die Firmennachfolge gelten Steuervergünstigungen, sofern der Betrieb wenigstens 10 Jahre weitergeführt wird und die Arbeitsplätze erhalten werden. Erst kurz vor Ablauf der Frist stimmte auch der Bundesrat zu; bis zuletzt gab es Zweifel, ob die neu gewählte bayerische CSU/FDP-Regierung dem Gesetz ebenfalls zustimmen würde. Die jahrelange Auseinandersetzung zeigt, dass der Erbschaftsteuer, mit der grundsätzliche Gerechtigkeitsfragen verknüpft sind, eine besondere steuerpolitische und ideologische Bedeutung zukommt. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob das verabschiedete Gesetz der hohen Bedeutung gerecht wird und lange bestehen bleiben wird. Das Gesetz ist im Laufe der Verhandlungen immer komplizierter geworden, so dass manche Beobachter bereits Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit geäußert haben (Handelsblatt 2008; Härtel 2007). Konkret musste wegen des erst in letzter Minute verabschiedeten Gesetzes für die erste Jahreshälfte 2009 den Steuerpflichtigen ein Wahlrecht zugestanden werden zwi10 Unter der schwarz-gelben Folgeregierung hat das Finanzministerium die Anwendung des Gesetzes durch ein Schreiben an die Finanzbehörden ausgesetzt.
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schen neuem und altem Recht, weil sie nicht ausreichend Gelegenheit hatten sich auf die Regeln einzustellen. Erst ab 1. Juli 2009 gilt alleine die neue Regelung (Kracht 2009).
3.4 Steuer- und haushaltspolitische Diskussion in der Finanzkrise Ab 2006 – dem Jahr, in dem Deutschland das erste Mal seit 4 Jahren wieder die EUDefizitgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) einhielt – schien ein ausgeglichener Haushalt in erreichbarer Nähe. Allerdings hatte die Einnahmen- und Ausgabenpolitik der Großen Koalition kaum Anteil an diesem Erfolg. Er war vielmehr auf die gute Konjunkturlage zurückzuführen. Der politische Streit drehte sich um die Frage, in welchem Jahr ein Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung, es wäre der erste seit 1969 gewesen, zu verwirklichen sei – erst 2011, wie es die Regierung anstrebte, oder bereits 2009, wie von der Opposition gefordert, die die Regierungspolitik als zu wenig ambitioniert kritisierte (z.B. Bündnis 90/Die Grünen 2008). Auch Experten hielten einen ausgeglichenen Haushalt im Jahr 2009 selbst bei Ausgabensteigerungen für gut erreichbar (vgl. z.B. Wiegard 2007). Die Bundesregierung begründete ihren langsameren Abbau der Kreditaufnahme mit wichtigen Zukunftsinvestitionen wie dem Ausbau der Kinderbetreuung und höheren Ausgaben für Bildung und Forschung (Bundesregierung 2009). Allerdings floss nicht nur in diese Bereiche Geld, sondern man erhöhte unter dem Eindruck sprudelnder Steuereinnahmen im Jahre 2008 auch die Renten, das Kindergeld und verlängerte die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmer. Andererseits widersetzte sich die Regierung den Forderungen nach Steuersenkungen, wie sie von der FDP (Fricke 2007), aber auch von Teilen der Unionsparteien erhoben wurden, die sich für eine Abmilderung der „kalten Progression“ einsetzten. Die SPD vertrat in dieser Debatte, die aber nicht zu konkreten gesetzlichen Maßnahmen führte, die Ansicht, dass es keinen Spielraum für Steuersenkungen gebe, sondern vorrangig die Sozialversicherungsbeiträge zu senken seien (Fuest 2008). Insgesamt verfolgte die Regierung bis 2008 ihre im Koalitionsvertrag vereinbarte und wenig ambitionierte Linie in der Haushaltspolitik, ohne dass es größere Konflikte zwischen den Partnern darüber gab. Doch dann kam die Finanzkrise – und mit ihr rückte das Ziel des ausgeglichenen Haushalts in weite Ferne. Zur Abmilderung des drohenden konjunkturellen Abschwungs beschloss die Regierung zwei Konjunkturpakete (BT-Drs. 16/10930 und 16/11740) in einem Gesamtumfang von über 80 Mrd. Euro.11 Zu deren Finanzierung musste Finanzminister Steinbrück zwei Nachtragshaushalte für 2009 vorlegen (BT-Drs. 16/11700 und 16/13000). Seine Befürchtung, dass es zu einer Nettokreditaufnahme von 50 Mrd. Euro kommen werde, bestätigte sich aber nicht. Es wurden letztlich 34,1 Mrd. Euro aufgenommen. Rechnet man die beiden Schattenhaushalte des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (Soffin) und des Sondervermögens „Tilgungsfonds“, aus dem Kommunalinvestitionen und die Abwrackprämie finanziert werden hinzu, ergibt sich mit 67,8 Mrd. Euro dennoch die höchste Neuverschuldung aller Zeiten für den Bund (Riedel 2009a; BMF 2010). Die geplante Schuldenaufnahme führte dazu, dass die Föderalismuskommission II sich im Mai 2009, kurz vor Ende ihrer Beratungen, doch noch durchringen konnte, eine „Schul11 Zur Konjunkturstützung wurden auch Maßnahmen zur Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform, um die man so schwer gerungen hatte, zeitlich befristet ausgesetzt. Dies betrifft die Rücknahme der schärferen Abschreibungsregeln und eine Anhebung der Freigrenze bei der Zinsschranke auf 3 Millionen Euro (Sievers 2009).
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denbremse“ vorzuschlagen. Die Föderalismusreform II, die zu Anfang der Legislaturperiode als wichtiges Reformprojekt angekündigt wurde, ist insgesamt eine Enttäuschung. Mit Ausnahme der Schuldenbremse konnte sie sich auf keine wesentlichen Veränderungen der Finanzverfassung einigen. Allerdings war der Misserfolg bereits absehbar, als vor Beginn der Verhandlungen beschlossen wurde, den in seiner jetzigen Form bis 2019 gültigen Länderfinanzausgleich aus den Verhandlungen auszuklammern. Dadurch war von Anfang an klar, dass es sich für die Nehmerländer nicht lohnen würde, eine größere Steuerautonomie zu erhalten, wie es von den Geberländern vorgeschlagen wurde (Scharpf 2006: 209-11). Während nach der alten Regelung des Grundgesetzes die Investitionen die Obergrenze der Schuldenaufnahme definierten (Art. 115 GG), sieht die nun vorgeschlagene Schuldengrenze vor, dass die Haushalte der Länder grundsätzlich ausgeglichen sein müssen und für den Bund eine maximale strukturelle Kreditaufnahme von 0,35 Prozent des BIP (derzeit ca. 8 Mrd. Euro) noch als ausgeglichen gilt. Abweichungen von dieser Regel sind nur zulässig bei einer von der Normallage abweichenden Konjunkturentwicklung (in der antizyklische Kreditaufnahmen erlaubt sind, die im Aufschwung zurückzuführen sind) und im Falle von Naturkatastrophen und anderen außergewöhnlichen Notsituationen. Wegen der derzeitigen Finanzkrise und der damit verbundenen Schuldenaufnahme soll die Regel für den Bund erst ab 2016 und für die Länder ab 2020 gelten. Allerdings melden viele Experten Kritik an der Ausgestaltung der Regeln an. Beispielsweise wird kritisiert, dass die Schuldenbremse einen verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das Haushaltsrecht der Länder bedeute. Da die Einnahmen der Länder fast ganz und ihre Ausgaben weitgehend durch Bundesgesetze bestimmt würden, verlören die Länder durch das Verschuldungsverbot auch noch das letzte fiskalische Instrument zur autonomen Politikgestaltung. Auch innerhalb der SPD gibt es Kritik. Der linke Flügel sieht in ihr eine zu große Einschränkung politischer Handlungsoptionen (vgl. Funk 2009). Die Finanzkrise ermöglichte es der Regierung zugleich, schwierigen politischen Entscheidungen – etwa der Pendlerpauschale – aus dem Weg zu gehen. Im Sommer 2006 hatte die Große Koalition beschlossen, die Pendlerpauschale zum 1.1.2007 abzuschaffen; allerdings sah eine Härtefallregelung vor, dass ab dem 21. Kilometer 30 Cent pro Kilometer absetzbar blieben. Das Bundesverfassungsgericht erklärte dies in seiner Grundsatzentscheidung für verfassungswidrig (BVerfG, 2 BvL 1/07 vom 9.12.2008). Die Regierung beschloss daraufhin, zur alten Regelung zurückzukehren, obwohl ihr auch eine andere Form der Neuregelung, inklusive der vollständigen Streichung der Pauschale, möglich gewesen wäre. Darüber hätte es aber innerhalb der Koalition großen Streit gegeben. Insbesondere die CSU trat vehement für eine möglichst großzügige Pendlerpauschale ein. So kam es der Koalition sehr gelegen, dass man die Rückkehr zur alten Regelung und die fälligen Rückzahlungen an die pendelnden Bürgerinnen und Bürger als Konjunkturhilfe in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise verkaufen konnte (Bundesregierung 2008). Gegen Ende der Legislaturperiode prägte der beginnende Vorwahlkampf einige gesetzliche Maßnahmen der Großen Koalition. So war die Union sehr darum bemüht, sich mit der SPD auf das oben bereits erwähnte Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung zu einigen, da man verhindern wollte, im Wahlkampf von der SPD als Helferin von Steuerhinterziehern dargestellt zu werden (Riedel 2009b). Der Wahlkampf lässt aber auch die Differenzen innerhalb der Regierungskoalition in der Öffentlichkeit wieder deutlicher zum Vorschein treten. Die SPD legte sich bereits im April 2009 darauf fest, mit der Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 47 Prozent (ab einem Einkommen von 125.000
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Euro) in den Wahlkampf zu gehen (SPD 2009). Demgegenüber hat die Union, nachdem es über diese Fragen große innerparteiliche Auseinandersetzungen gab (Braun 2009), das Versprechen von Steuersenkungen und eine Behebung der „kalten Progression“ in ihr Wahlprogramm aufgenommen, allerdings offen gelassen, zu welchem Zeitpunkt die Erleichterungen umgesetzt werden. 4
Fazit: Reformkoalition oder Stagnation?
Der zentrale Befund dieses Beitrags ist, dass die Große Koalition sich in der Steuer- und Finanzpolitik auf die dringendsten Handlungsbedürfnisse beschränkt hat. Insgesamt hat sie eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners betrieben. Die bescheidene Bilanz lässt sich damit erklären, dass die beiden Regierungsparteien unterschiedliche Policy-Präferenzen verfolgten. Die Große Koalition ist also nicht durch institutionelle Vetospieler wie Bundesrat oder Bundesverfassungsgericht an weit reichenden Reformen gehindert worden, sondern diese wurden durch inhaltlich begründete interne Konflikte unmöglich. Ganz im Gegenteil sind gerade diejenigen Reformmaßnahmen, denen man eine große Reichweite zuschreiben kann, nur deshalb in Angriff genommen und umgesetzt worden, weil sich die Regierung durch externen Druck dazu gezwungen sah. In der Unternehmensteuer hat sie der internationale Steuerwettbewerb zum Handeln gezwungen, bei der Erbschaftsteuer und der Wiedereinführung der Pendlerpauschale das Bundesverfassungsgericht. Auch die Finanzkrise hat die Kompromissbildung erleichtert. Weiterhin bleibt festzuhalten, dass weder die Union noch die SPD für sich in Anspruch nehmen kann, die Steuer- und Finanzpolitik maßgeblich geprägt zu haben. Vielmehr stellen die Maßnahmen in den meisten Fällen langwierig ausgehandelte Kompromisse zwischen den unterschiedlichen parteipolitischen Vorstellungen dar. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass es sich trotz der gemeinhin als gut geltenden Bedingungen für Reformen – Angela Merkel sprach selbst von einer „Koalition der neuen Möglichkeiten“ – lediglich um eine Koalition „der kleinen Schritte“ (Merkel 2005) gehandelt hat. Insgesamt muss man der Großen Koalition im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik also Stagnation attestieren. Sie ist den eingangs beschriebenen Gestaltungsaufgaben nicht gerecht geworden, auch wenn sie die notwendigsten Anpassungen vorgenommen hat. Erstens ist es nicht gelungen, die Struktur der Staatsausgaben zu verbessern. Zwar hat die Große Koalition die Ausgaben für Bildung und Forschung erhöht und ein Programm zur Kinderbetreuung auf den Weg gebracht, gleichzeitig hat sie aber mit anderen Beschlüssen wie der Verlängerung des Arbeitslosengeldes auch die Transferlastigkeit des deutschen Sozialstaates verstärkt. Auch die sehr niedrige öffentliche Investitionsquote wurde zunächst nicht erhöht. Im Zuge der Konjunkturprogramme wird aber zumindest ein Teil des dringenden Investitionsbedarfes gedeckt. Eine langfristig orientierte Politik zur Erhöhung der Investitionen ist das allerdings nicht. Leichte Verbesserungen lassen sich dagegen zweitens bei der Struktur der Einnahmen konstatieren. Die Sozialversicherungsbeiträge wurden auf unter 40 Prozent gesenkt – die Arbeitslosenversicherung sogar stärker als ursprünglich geplant auf 2,8 statt auf 4,5 Prozent. Insgesamt liegen die Sozialversicherungsbeiträge damit ca. 1,5 Prozentpunkte niedriger als im Jahre 2005. Dies ist durch einen Zuschuss von Steuergeldern aus der erhöhten Mehrwertsteuer zur Arbeitslosenversicherung erreicht worden. Allerdings lässt sich fragen,
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ob ausgerechnet die Arbeitslosenversicherung der richtige Sozialversicherungszweig für den Einstieg in die Umfinanzierung ist. Überspitzt formuliert wird nun die Statussicherung von (vorübergehend) Arbeitslosen von (langfristig) Nichterwerbstätigen durch deren Mehrwertsteuerzahlungen mitfinanziert. In der Renten- und vor allem der Krankenversicherung wäre ein erhöhter Steueranteil sicher besser zu rechtfertigen. So zeigt sich denn auch, dass die Verteilungswirkung dieser Reformmaßnahme im Saldo regressiv ist (Bach 2005). Drittens hinterlässt die Große Koalition in Bezug auf die Haushaltskonsolidierung einen Scherbenhaufen, der der nachfolgenden Regierung kaum einen finanzpolitischen Handlungsspielraum lässt (Bach/Steiner 2009). Zwar ist dies in erster Linie eine Konsequenz der globalen Finanzkrise. Allerdings wären bis zu deren Ausbruch angesichts der sehr guten wirtschaftlichen Bedingungen bis Mitte 2008 ein ambitionierter Konsolidierungskurs in der Haushaltspolitik und eine entschlossene ausgabenseitige Umstellung auf investive Ausgaben möglich gewesen. Den Trend zu einer stärkeren steuerlichen Belastung der Faktoren Arbeit und Konsum einerseits und einer Entlastung des Kapitals andererseits, dies ist der vierte Aspekt, stoppt auch die Große Koalition nicht. Ganz im Gegenteil, sie senkt unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs die Steuersätze für Unternehmen und Kapitalbesitzer. Zusätzlich ist die Unternehmensbesteuerung durch die Maßnahmen zur Begrenzung der Gewinnverlagerungen verkompliziert worden (vgl. z.B. Maiterth/Müller 2007). Es sind dies die Folgen des Versuchs, dem internationalen Steuerwettbewerb mit einzelstaatlichen Maßnahmen zu begegnen. Letztlich werden sich diese Probleme aber nur dann zufriedenstellend lösen lassen, wenn es gelingt, zumindest einige Teile des Steuerrechts zu internationalisieren (Rixen 2008). Dazu gibt es derzeit aber, selbst auf europäischer Ebene, kaum einen politischen Willen (vgl. Genschel et al. 2007; Uhl 2008).12 Fünftens hat man auch bei der Vereinfachung des Steuersystems keine Fortschritte erzielt. Das alles ist deutlich weniger, als Angela Merkel und Paul Kirchhof im Sommer 2005 im Sinn hatten. Literatur Allensbach Institut für Demoskopie, 2008: Ist das deutsche Steuersystem gerecht?, in: Allensbacher Berichte. http://www.ifd-allensbach.de/pdf/prd_0805.pdf; 23.04.2009. Bach, Stefan, 2005: Koalitionsvertrag: Belastungen durch Mehrwertsteuererhöhung werden nur zum Teil durch Senkung der Sozialbeiträge kompensiert, in: DIW Wochenbericht 72, 705-714. Bach, Stefan, 2008: Steuerreform: Notwendige Anpassungen vorgenommen, der große Wurf blieb aus, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 77, 65-89. Bach, Stefan/Steiner, Viktor, 2007: Zunehmende Ungleichheit der Markteinkommen: reale Zuwächse nur für Reiche, in: DIW Wochenbericht 74, 193-198. Bach, Stefan/Steiner, Viktor, 2009: Triste Aussichten nach der Wahl: Haushaltskonsolidierung erfordert Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen, in: DIW Wochenbericht 76, 624-633. Beise, Marc, 2005: Der Buhmann, Süddeutsche Zeitung, 20. September 2005. Braun, Stefan, 2009: Die dreigeteilte Union, Süddeutsche Zeitung, 8. Mai 2009. 12 Auch unter Wettbewerbsbedingungen gäbe es aber steuerpolitische Instrumente, mit denen man etwas tun könnte gegen die wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit in Deutschland (Bach/Steiner 2007): die Vermögen- und Erbschaftsteuer. Angesichts des im internationalen Vergleich sehr niedrigen Niveaus dieser Steuern gäbe es hier Spielraum für eine Erhöhung, der aber im Rahmen der Erbschaftsteuerreform nicht genutzt wurde.
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Win-win-Szenarien im Härtetest Die Umweltpolitik der Großen Koalition 2005-20091
Ökologie und Ökonomie schließen sich nicht gegenseitig aus. Vielmehr können Klima- und Umweltschutz ein Motor der Innovation sein, Arbeitsplätze schaffen, internationale Wettbewerbsfähigkeit sichern und strategisch wichtige Zukunftsmärkte eröffnen. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft ist also nicht nur ein umweltpolitischer Imperativ, sondern auch der Schlüssel zu neuem Wirtschaftswachstum und zukünftigem gesellschaftlichen Wohlstand. Er ist ein win-win-Projekt. Dies war die umweltpolitische Kernidee, die von Bündnis 90/Die Grünen eingebracht unter Kanzler Schröder zumindest in Ansätzen institutionalisiert worden war. In der Großen Koalition seit 2005 wurde diese Idee einem Härtetest unterzogen: Erstens blieb der Klima- und Umweltschutz nun wieder traditionell weit weniger umweltaffinen Parteien überlassen, zweitens kam ab 2007 gerade die Klimaproblematik mit völlig neuer Dringlichkeit auf die internationale Tagesordnung, drittens musste sich erst noch erweisen, inwieweit die win-win-Szenarien auch unter wirtschaftlich angespannten Bedingungen, wie sie ab 2008 herrschten, wirklich tragfähig sind. Und viertens war es bis dato keineswegs gelungen den Verdacht auszuräumen, dass umweltpolitische Zielvorstellungen tatsächlich nur dann mit wirtschaftspolitischen in Einklang gebracht werden können, wenn sie zuvor in äußerst verkürzender Weise reformuliert werden (vgl. Blühdorn 2000). Die Jahre der zweiten Großen Koalition in Deutschland waren für die Umweltpolitik international von außerordentlicher Bedeutung. Der Beginn der ersten Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls und der zweiten Phase des europäischen Emissionshandels (beide 2008-2012) fielen in diese Zeit. Die Veröffentlichung des 4. Sachstandsberichtes des Weltklimarates (IPCC 2007) sowie des Berichtes des ehemaligen Weltbank-Chefökonomen Sir Nicholas Stern (2007) gaben der Umweltpolitik eine völlig neue Grundlage und machten deutlich, dass der zeitliche Spielraum für eine erfolgversprechende Klimapolitik extrem knapp bemessen ist. Weiter fiel die Vorbereitung eines Kyoto-Nachfolgeabkommens (ab 2013) wesentlich in diese Jahre. Und schließlich eröffnete sich mit dem Ende der Amtszeit des US-Präsidenten George W. Bush die Möglichkeit eines grundlegenden Neuanfangs in der internationalen Klimapolitik. Verbreitete Befürchtungen, es könne unter einer Großen Koalition zu einer entschieden regressiven Umweltpolitik kommen, die die internationale Vorreiterstellung Deutschlands aufgeben, die Förderung der erneuerbaren Energien zugunsten der Kernenergie suspendieren oder vielleicht gar das Umweltministerium wieder abschaffen könnte (Simonis 2005; Sager 2005; Umweltverbände 2005), haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil konnte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, befördert durch die deutsche Doppelpräsidentschaft der EU und der G8 im ersten Halbjahr 2007, zunächst so erfolgreich als ‚Klima1 Für inhaltliche Vorarbeiten für diesen Beitrag danke ich Marcus Guhlan, für kritische Anmerkungen zu einer früheren Textversion Christoph Becker-Schaum und Sebastian Bukow.
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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kanzlerin‘ darstellen, dass Bündnis 90/Die Grünen sich genötigt fühlten daran zu erinnern, dass in der Umweltpolitik nur sie ‚das Original‘ seien (z.B. Bündnis 90/Die Grünen 2008). Seit Anfang 2008 jedoch verblasste Merkels umweltpolitischer Glanz. Im Zeichen der sich allmählich entfaltenden Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise erwies sich die Große Koalition vor allem als Fürsprecherin der deutschen Industrie. In der nationalen Umweltpolitik wie auch im Rahmen der EU-Klimaverhandlungen haben Merkel, die Unionsparteien und die mit ihnen regierende SPD die vorhandenen Potenziale bei weitem nicht ausgeschöpft und die umweltpolitische Handlungsdynamik zum Teil sogar deutlich gebremst. Nicht nur haben sie den von den Grünen in die Regierungspolitik eingebrachten win-win-Ansatz bestenfalls halbherzig verfolgt, sondern sie haben sich der dringenden Einsicht verschlossen, dass eine allein auf technologische Innovation und Ressourceneffizienz orientierte Umweltpolitik grundsätzlich unzureichend ist. Gerade die neue Klimadiskussion hat nämlich deutlich gemacht, dass ökologische, wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit ohne einen tiefgreifenden Werte-, Lebensstil- und Strukturwandel nicht zu erreichen sind (Jänicke 2008: 70-72). Entgegen den Versprechen der win-win-Szenarien konnten umwelt- und wirtschaftspolitische Interessen daher keineswegs in Einklang gebracht werden. Vielmehr lief die „ökologische Industriepolitik“ der Großen Koalition (BMU 2006) letztlich auf eine „Politik der Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn/Welsh 2008) hinaus. Dieses Urteil wird im Folgenden schrittweise ausgeführt, wobei zunächst der Frage des Maßstabs für eine umweltpolitische Bilanz nachgegangen werden soll, dann wird das wichtige Konzept der ökologischen Industriepolitik im Allgemeinen diskutiert, und schließlich werden die konkreten umweltpolitischen Maßnahmen der Großen Koalition besprochen. Klimajahr als Wendepunkt: Zur Frage des umweltpolitischen Bewertungsmaßstabs Das herausragende umweltpolitische Thema der 16. Legislaturperiode war der Klimawandel; die herausragende Positivmeldung war, dass Deutschland seine aus dem KyotoAbkommen von 1997 resultierenden Verpflichtungen bereits vier Jahre vor dem Stichtag erfüllt habe (BMU 2008a: 4; Spiegel Online 2008). Vor dem Hintergrund der Vorhersage, dass nur wenige Länder ihre Kyoto-Ziele tatsächlich erreichen würden, erschien dies als beachtlicher Erfolg. Allerdings taugt die Erfüllung der nach heutigem Wissensstand völlig ungenügenden Kyoto-Vorgaben2 kaum als Bewertungsmaßstab für eine erfolgreiche Umweltpolitik.3 Vielmehr muss man fragen, inwieweit die Regierung die umweltpolitischen Handlungskapazitäten ausgeschöpft hat, die in der Ausgangssituation und den sich während der Legislaturperiode entfaltenden politisch-institutionellen, gesellschaftlich-diskursiven und technologisch-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angelegt waren. Die Ausgangsposition bzw. Rahmenbedingungen für eine ambitionierte Umweltpolitik waren in der Tat außergewöhnlich günstig. Die Rot-Grüne Koalition hatte mit zeitweise erheblichem Elan die ökologische Steuerreform, ‚Energiewende‘, ‚Agrarwende‘ und ‚Verkehrswende‘ betrieben, und generell die Nachhaltigkeit als politisches Prioritätsprojekt fest 2 Die EU hatte sich verpflichtet, ihre Treibhausgasemissionen in der ersten Verpflichtungsperiode (2008-12) um insgesamt 8% gegenüber 1990 zu reduzieren. Deutschland sollte eine Verminderung um 21% erreichen. 3 Zumal die deutschen Emissionsminderungen weniger auf eine umfassende Ökologisierung der Lebens- und Wirtschaftsweise zurückzuführen sind als auf die Deindustrialisierung der neuen Bundesländer nach der Vereinigung.
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etabliert (vgl. Mez 2003; Jacob/Volkery 2007). Aufbauend auf die breite Diskussion um die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ (BUND/Misereor 1996) hatte sie die gesellschaftliche Einsicht in die Notwendigkeit eines grundlegenden Richtungswechsels in allen Politikund Lebensbereichen erheblich vorangebracht. Sie hatte eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland verabschiedet (Bundesregierung 2002), zuletzt aber unter dem Druck hoher Arbeitslosigkeit und notwendiger Sozialreformen deutlich an umweltpolitischer Handlungsdynamik verloren (vgl. Egle 2007). Für die Große Koalition ergab sich damit die Möglichkeit, neue Handlungsakzente zu setzen, zumal sie von einer Kanzlerin geführt wurde, die 1994 selbst die Nachfolge des erfolgreichen Umweltministers Klaus Töpfer angetreten hatte. Eine gewisse Entspannung am Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Erholung ab 2006 boten dafür günstige Voraussetzungen, die sich durch den unerwarteten Aufstieg des Klimathemas ab 2006 nochmals erheblich verbesserten: Nachdem 2006 Al Gores Film „Eine unbequeme Wahrheit“ in die deutschen Kinos gekommen war, erschien im Herbst desselben Jahres der im Auftrag der britischen Regierung erstellte „Stern Review on the Economics of Climate Change“ (Stern 2007). Etwa zur gleichen Zeit löste die Veröffentlichung der Hauptergebnisse des 4. UN-Klimaberichts (IPCC 2007) erhebliche Diskussionen aus. Nicht zuletzt von der ‚Klimakanzlerin‘ selbst befördert behielt das Thema in der Nachfolgezeit einen anhaltend hohen Stellenwert. Der G8-Gipfel im Juni 2007, die medienwirksam inszenierte Grönlandreise der Kanzlerin (August 2007), der gemeinsam an Al Gore und das IPCC verliehene Friedensnobelpreis (Oktober 2007) und der UN-Gipfel in Bali (Dezember 2007) sicherten dem Klimawandel über lange Zeit einen Spitzenplatz in der Medienberichterstattung.4 Zudem verdeutlichten die weltweit ansteigenden Energie- und Lebensmittelpreise sowie die sich ab Ende 2007 abzeichnende Krise des internationalen Finanzsystems mit großer Klarheit die umfassende Nicht-Nachhaltigkeit des besonders in den Industrieländern gepflegten Lebensstils, Wirtschaftsmodells und Gesellschaftsentwurfs. In ihrer Gesamtheit erzeugten diese Bedingungen eine umweltpolitische Aufbruchstimmung, die durchaus vergleichbar war mit der Zeit nach der Veröffentlichung des Club of Rome-Berichtes „Die Grenzen des Wachstums“ (Meadows 1972) oder mit den Jahren nach der Katastrophe von Tschernobyl im Frühjahr 1986. Sie schufen ein außergewöhnlich günstiges gesellschaftliches Klima für ambitionierte umweltpolitische Maßnahmen. Den Berichten von Stern und dem IPCC kam hierbei insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie die Komplexität der Umweltpolitik auf ein paar griffige Formeln reduzierten, den bisherigen, stets schwachen Triebfedern der Umweltpolitik harte ökonomische Beweggründe zur Seite stellten und den notorisch unterbestimmten Begriff der Nachhaltigkeit durch klimabezogene kategorische Imperative konkretisierten.5 Gleichzeitig wurde unübersehbar, dass die bisher favorisierte Nachhaltigkeitsstrategie der ‚ökologischen Modernisierung‘ (vgl. Christoff 1996; Mol/Sonnenfeld 2000; Jänicke 2008) für die Stabilisierung des Weltklimas nicht ausreichend sein kann. Zwar leisten technologische Innovationen und effizientere Ressourcennutzung einen unverzichtbaren Beitrag, aber letztlich erfordert der neue kategorische Imperativ der Klima- und Umweltpolitik einen viel grundlegenderen Werte-, Lebenstil- und 4
Die Gesellschaft für Deutsche Sprache wählte das Wort Klimakatastrophe zum Wort des Jahres 2007. Z.B. 2°C Erderwärmung (gegenüber vorindustriellen Werten) als Schwellenwert zur Verhinderung einer Klimakatastrophe und wirtschaftlicher Verluste von mindestens 5% des globalen BIP; 10-15 Jahre als Zeitfenster für eine globale Trendwende bei Treibhausgasemissionen; 25-40% als Emissionsreduktion für Industrieländer bis 2020 (gegenüber 1990). 5
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Strukturwandel, der alle Bereiche des privaten und sozialen Lebens am Ziel der Nachhaltigkeit neu ausrichtet. Insofern stand die Umweltpolitik der Großen Koalition unter einem radikal neuen Vorzeichen. Ein angemessener Maßstab ihrer Bewertung kann entsprechend nur die Frage sein, wie entschlossen die Regierung Merkel nicht nur die von der Vorgängerregierung eingeleitete ökologische Modernisierung der etablierten Strukturen vorangetrieben, sondern sich darüber hinaus der Aufgabe eines grundsätzlichen Werte-, Kultur- und Strukturwandels gestellt hat. Umweltthemen im Wahlkampf 2005 und im Koalitionsvertrag Nach einer umweltpolitisch ingesamt blassen zweiten Legislaturperiode von Rot-Grün (vgl. Jacob/Volkery 2007) stand der Wahlkampf 2005 ganz im Zeichen der Wirtschafts-, Sozialund Arbeitsmarktpolitik. Zwar fielen mit dem Alpenhochwasser im August und Hurrikan Katrina zwei gravierende Umweltkatastrophen in die entscheidende Phase des Wahlkampfs,6 doch Umweltthemen spielten gegenüber traditionelleren Politikfeldern trotzdem eine sehr untergeordnete Rolle. In den Wahlprogrammen der Parteien hatten erwartungsgemäß Bündnis 90/Die Grünen dem Umweltthema den breitesten Raum gegeben. Die SPD hatte der Klima-, Energie- und Umweltpolitik im weiteren Sinne nur gut drei Seiten gewidmet und insbesondere feste Zusagen für die Beibehaltung der Kohlesubventionen, die Förderung der erneuerbaren Energien und die Nichtverhandelbarkeit des Atomausstieges gemacht. In dem knappen Wahlprogramm der Unionsparteien hatte die Umwelt eine marginale Position. In Angela Merkels „Kompetenzteam“ vertrat die wenig bekannte und umweltpolitisch unerfahrene Gerda Hasselfeldt (CSU) den Umweltbereich. Unter anderem sprachen sich die Unionsparteien, ähnlich wie auch die FDP, gegen die Ökosteuer und für einen breiten Energiemix aus, in dem auch die Atomenergie ihren Platz haben sollte. Die Linkspartei schließlich forderte neben einem beschleunigten Atomausstieg, der Demokratisierung der Energiemonopole und dem Abbau von umweltschädlichen Subventionen auch den sofortigen Privatisierungsstopp von im Staatsbesitz befindlichen Flächen mit Naturschutzbedeutung. Weil das Umweltthema in der öffentlichen Diskussion insgesamt gegenüber der Wirtschafts- und Sozialpolitik stark in den Hintergrund getreten war, blieb es vor allem den Umweltverbänden überlassen, für das Thema zu mobilisieren. Bereits im Juli 2005 hatten sie einen gemeinsamen Forderungskatalog vorgelegt (Umweltverbände 2005). In sieben Hauptpunkte geordnet (verstärkter Klimaschutz; ökologische Finanzreform; umweltverträgliche Mobilität; Natur- und Artenschutz; Schutz vor Chemikalien; Förderung des ländlichen Raumes und der naturnahen Landwirtschaft; sozial und ökologisch gerechte Globalisierung) hatten sie eine Reihe konkreter Einzelforderungen formuliert und damit ein klares umweltpolitisches Handlungsprogramm für die neue Regierung abgesteckt. Anfang September 2005 forderten sie in einer weiteren gemeinsamen Erklärung einen „Neustart in der Umweltpolitik“ und mahnten eine „entschiedenere Fortführung“ der unter Rot-Grün nur „in Teilen erfolgreichen“ Umweltbemühungen an (BUND 2005). 6 Das in Österreich und der Schweiz als „Jahrhunderthochwasser“ bezeichnete Alpenhochwasser hatte auch in Bayern zu schwerwiegenden Überschwemmungen geführt. Hurrikan Katrina, einer der schlimmsten Wirbelstürme in der Geschichte der USA, zerstörte New Orleans, ließ den Ölpreis hochschnellen und wurde weltweit zum Symbol für den Klimawandel.
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Der zwischen den Unionsparteien und der SPD nach der Wahl ausgehandelte Koalitionsvertrag (CDU/CSU/SPD 2005) enthielt jedoch keine Aussagen, die auf einen solchen Neustart hingedeutet hätten. Mit Rücksicht auf die SPD wurde das Festhalten am Atomausstieg festgeschrieben. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz sollte „in seiner Grundstruktur“ fortgeführt und das CO2-Gebäudesanierungsprogramm aufgestockt werden (CDU/CSU/ SPD 2005: 52). Naturschutzflächen des Bundes sollten „in einer Größenordnung von 80.000 bis 125.000 Hektar unentgeltlich“ in eine Bundesstiftung überführt werden (CDU/ CSU/SPD 2005: 67). Insgesamt wollte die von der Union geführte Koalition aber bei allen umweltpolitischen Maßnahmen „die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit unser Volkswirtschaft in den Mittelpunkt stellen“ (CDU/CSU/SPD 2005: 53). Im Interesse einer „preisgünstigen Energieversorgung“ sollte die Ökosteuer nicht weiter erhöht werden, und bei der weiteren Entwicklung der erneuerbaren Energien, des europäischen Emissionshandels und des EU-Chemikaliengesetzes REACH sollte „die internationale Wettbewerbsfähigkeit des produzierenden Gewerbes und insbesondere der energieintensiven Industrie“ (CDU/CSU/SPD 2005: 53) im Vordergrund stehen. Dasselbe sollte auch für die Neuregelung des deutschen Umweltrechts, die Emissionsbegrenzung für Kraftfahrzeuge sowie in der Agrarpolitik gelten. Einige in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie (2002) bereits festgeschriebene Ziele (z.B. erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Flächenverbrauch) wurden bestätigt, aber eine anspruchsvollere Neuformulierung blieb aus, und bei der Umsetzung bereits bestehender Richtlinien (z.B. europ. Biotopverbund NATURA 2000) wurde „Augenmaß“ (CDU/CSU/SPD 2005: 67) statt strenger Auslegung vereinbart. So zeigte der Koalitionsvertrag unverkennbar die wirtschaftsorientierte Handschrift der Unionsparteien und deutete auf eine nicht eben ambitionierte Umweltpolitik hin. Ökologische Industriepolitik In der ein Jahr nach Beginn der Legislaturperiode veröffentlichten Informationsbroschüre „Ökologische Industriepolitik“ (BMU 2006) führte allerdings auch Umweltminister Gabriel seinen umweltpolitischen Ansatz in dezidiert wirtschaftsorientierter Weise aus. Mit dem Konzept der ‚ökologischen Industriepolitik‘, später weiter entwickelt durch eine Reihe ergänzender Publikationen (vgl. Gabriel 2007; Machnig 2007; BMU 2008b), wurde ein neues umweltpolitisches Leitparadigma von auch international erheblicher Bedeutung etabliert. Es verdient, zunächst aus genereller Perspektive betrachtet und mit älteren Ansätzen verglichen zu werden. Bereits im Vorwort von Gabriels Broschüre wird als Kernproblem herausgestellt, dass rohstoffarme und exportorientierte Länder wie Deutschland von „extremen wirtschaftlichen Gefahren“ bedroht seien, wobei „unübersehbar geworden“ sei, dass „das Umweltkapital immer mehr zum Engpassfaktor für die weitere wirtschaftliche Entwicklung“ werde (BMU 2006: 4). Es sei absehbar, dass international „abgehängt“ werde, „wer nicht über die Mittel verfügt, in dem Wettbewerb“ um sich verknappende Ressourcen mitzuhalten (BMU 2006: 4). Im Zentrum dieses Politikansatzes steht also explizit die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit,7 und damit einher geht eine ausdrückliche Absage 7 In der 2008 vorgelegten Broschüre „Strategie Ressourceneffizienz” (BMU 2008b) wird noch unmittelbarer deutlich, daß die ‘ökologische Industriepolitik’ zuallererst eine Strategie für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ist. Von ökologischen Zielen ist hier überhaupt nur sehr am Rande die Rede.
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an die ältere umweltpolitische Idee der „Grenzen des Wachstums“ (BMU 2006: 5). Erhofft und erwartet wird vielmehr eine von der Verknappung des „Umweltkapitals“ ausgelöste „dritte industrielle Revolution“: „Um auch in Zukunft gut und besser leben, arbeiten und wirtschaften zu können, brauchen wir mehr als normale Wachstumsraten, wir brauchen einen kräftigen Wachstumsschub, der die Basis einer neuen ökologisch-industriellen Revolution ist“ (BMU 2006: 5-6, Hervorhebungen hinzugefügt; vgl. auch Machnig 2007; Gabriel 2007). Das Konzept der ökologischen Industriepolitik kreist um den Zentralbegriff der Ressourceneffizienz (BMU 2008b). Es setzt wesentlich auf die Wachstumsdynamik der ökoeffizienten Technologien, von denen angenommen wird, dass sie sich zum „neuen Megatrend“ (SRU 2008: 47; Jänicke 2008) entwickeln werden. Der als „umweltpolitischer Pionier“ (BMU 2008b: 10-13; vgl. auch Machnig 2007: 75-77) auftretende Staat soll dabei als treibende Kraft wirken und die entscheidenden Weichen stellen. Er soll Ziele und Indikatoren der Ressourceneffizienz definieren, mit Anreizsystemen die Markteinführung neuer Produkte erleichtern und durch Forschungs- und Innovationsförderung den Fortschritt zu immer höherer Ressourceneffizient auf Dauer stellen (BMU 2008b: 11-12). Während der Ansatz der ökologischen Industriepolitik Kernelemente des älteren Ansatzes der ‚ökologischen Modernisierung‘ aufgreift, stellt er insofern eine Weiterentwicklung dar, als er den Schwerpunkt des Interesses deutlich in Richtung Produktinnovation, Wirtschaftswachstum, neue Arbeitsplätze und internationale Wettbewerbsfähigkeit verschiebt. War die ökologische Modernisierung ihrerseits bereits die marktorientierte Überwindung des wachstums-, konsum- und kapitalismuskritischen Ansatzes der ‚politischen Ökologie‘ (vgl. Lüdke/Dinné 1980; Gorz 1983; Porritt 1984) gewesen, so kann die ökologische Industriepolitik klar als eine dritte Entwicklungsstufe unterschieden werden. Sie verabschiedet sich vollständig von den Restbeständen des bio- oder ökozentrischen Denkens und konzentriert sich ganz auf die wirtschaftlichen Potenziale einer von Umweltveränderungen und Ressourcenknappheit ausgelösten Innovations- und Wettbewerbswelle. Kern der strategischen Überlegung ist, „auf den globalen Märkten von morgen optimal positioniert zu sein“ (BMU 2006: 22; vgl. BMU 2008b: 4). Zwar wird eine „doppelte Dividende für Umwelt und Wirtschaft“ (BMU 2006: 12, 21) in Aussicht gestellt. Aber bei dem Versuch, „gemeinsame Interessen zu identifizieren und Win-win-Strategien zu suchen“, wird die ökologische Industriepolitik zuallererst von der wirtschaftspolitischen Sorge getrieben, dass „das Zeitfenster“, um „unsere Marktstellung [zu] behaupten und aus[zu]bauen“, „nicht unbegrenzt offen“ ist (BMU 2006: 21). Die Herausbildung dieses umweltpolitischen Ansatzes war zweifellos dadurch begünstigt, dass Umweltminister Gabriel bemüht war, seine Agenda dem größeren Koalitionspartner in einer Sprache nahezubringen, die dessen traditionell wirtschaftlichen Prioritäten entgegenkommt. Allerdings entspricht das Konzept der ökologischen Industriepolitik auch in der SPD dominanten Interessenlagen. Es ist die Erneuerung und Verlängerung der tief verwurzelten Überzeugung, dass Wirtschaftswachstum und ein möglichst hoher Beschäftigungsgrad im formalen Arbeitsmarkt der aussichtsreichste Weg zu gesellschaftlichem Wohlstand und Wohlergehen sind. Der zentrale Unterschied zu den Sichtweisen insbesondere der politischen Ökologie, aber auch der ökologischen Modernisierung zeigt sich erstens in der Verkürzung öko-politischer Problemwahrnehmungen auf den Begriff der Ressourceneffizienz; zweitens in der Sicherheit, mit der etablierte Wertvorstellungen, Ansprü-
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che, Lebensstile und Strukturen als unverhandelbar begriffen werden;8 und drittens in der Nüchternheit, mit der der fortschreitende Umweltverbrauch und sich verschärfende Umweltkonflikte als ein im Prinzip unabänderliches Faktum hingenommen werden. Die primäre Frage ist nicht mehr, ob und wie es gelingen kann, die etablierte Logik der Industriegesellschaft zu durchbrechen und den als nicht-nachhaltig erkannten Weg zu verlassen. Vielmehr wird vorausgesetzt: „Wenn wir ehrlich sind, empfindet auch in unserem Land eine Mehrzahl der Menschen ihr ‚Stück vom Kuchen‘ als eher zu klein als zu groß“ (BMU 2006: 5). Und auf dieser Grundlage geht es um die Frage, wer „auch in Zukunft gut und besser leben“ und wer demgegenüber „abgehängt“ wird. In einem Kontext, in dem jenseits der deklaratorischen Politik die Wende zur Nachhaltigkeit offenbar nicht mehr als realistische Perspektive betrachtet wird, konzentriert sich die ökologische Industriepolitik auf die Aufgabe, die eigene Volkswirtschaft optimal für den erwarteten Wettbewerb aufzustellen, denn „jene Länder und Regionen, die die technologische Führerschaft in den grünen Märkten erlangen, verschaffen sich im globalen Wettbewerb entscheidende Vorteile“ (BMU 2006: 10; vgl. BMU 2008b: 7-9).9 Zwar behauptet die ökologische Industriepolitik, dass „ökonomische und ökologische Rationalitäten“ sich „unaufhaltsam und immer schneller“ aufeinander zu bewegen (BMU 2006: 23). Tatsächlich aber bedeutet die von der politischen Ökologie propagierte ökologische Rationalität eine radikale Kritik der Logik der Industriegesellschaft. Sie will gerade nicht strategisch-instrumentelle Vernunft sein, sondern die Unversehrtheit der Natur als intrinsischen Wert zur Geltung zu bringen. Demgegenüber verfestigt der von der Großen Koalition verfolgte Ansatz die Logik der Industriegesellschaft und versteht die Ökologie ausdrücklich als „ein Instrument, um die Wirtschaft fit zu machen für eine neue industrielle Revolution“ (BMU 2008c: 7). Mit der ökologischen Industriepolitik treten viele bereits vom Paradigma der ökologischen Modernisierung her bekannte Probleme noch deutlicher hervor: Erstens ist der auf technologische Innovation und Effizienzsteigerung orientierte Ansatz in wesentlichen Bereichen der Umweltpolitik nicht anwendbar (z.B. Arten- und Habitatschutz, Bodenschutz, Flächenverbrauch). Zweitens werden die ökologischen Gewinne technologischer Innovationen leicht (über-)neutralisiert, wenn neue Produkte zwar pro Einheit ressourceneffizienter werden, die Zahl der in Umlauf gebrachten Einheiten aber ansteigt. Drittens steht der innovationsorientierte Ansatz dem Prinzip der Langlebig- und Reparierbarkeit entgegen, denn der schnelle technische (Effizienz-)Fortschritt taugt jederzeit zur Rechtfertigung einer frühzeitigen Neuanschaffung (z.B. Abwrackprämie). Viertens vernachlässigt der auf technologische Innovation konzentrierte Umweltschutz, dass die entscheidenden Barrieren zur Nachhaltigkeit oft eher politischer als technologischer Natur sind.10 Fünftens tut dieser Ansatz so, als ließen sich seine beiden zentralen Referenzbegriffe, ‚Ressource‘ und ‚Effizenz‘, naturwissenschaftlich objektiv definieren, während beide tatsächlich in ihrer Bedeutung gesellschaftlich, d.h. politisch auszuhandelnde Kategorien sind (Blühdorn 2007a). Und 8 Die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit von Wertewandel und Lebensstiländerungen wird denn auch in den zitierten Dokumenten überhaupt nicht mehr thematisiert. 9 Entsprechend kritisierte der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der Ansatz der Großen Koalition gehe „insofern nicht weit genug, als nicht die ökologische Wirksamkeit von Umweltinnovationen ...den Maßstab bildet“, sondern deren Fähigkeit, einen „kräftigen Wachstumsschub“ zu erzeugen (SRU 2008: 68). 10 Bezeichnenderweise fehlt in den zitierten Dokumenten des BMU jede Diskussion der Frage, wie für die neue Umweltpolitik ‘von oben’ demokratische Legitimation und gesellschaftliche Kooperation ‘von unten’ sichergestellt werden sollen. Dabei hatte gerade die unter Rot-Grün eingeführte Ökosteuer deutlich gemacht, wie sehr die ökologische Modernisierung ihre Grenzen an der Erreichbarkeit von politischem Konsens findet.
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schließlich ist der technologie-, innovations- und effizienzorientierte Umweltschutz oft hochkomplex und der Sinn entsprechender Politikmaßnahmen nur schwer vermittel- und nachvollziehbar (z.B. Ökosteuer, Feinstaubplakette, Biokraftstoffe). Diese Schwächen lassen sich letztlich auf das Grundproblem zurückführen, dass die ökologische Industriepolitik, ebenso wie das ältere Paradigma der ökologischen Modernisierung, die Frage ihrer normativen Grundlagen und der Nachhaltigkeit etablierter Wertpräferenzen, Ansprüche, Lebensstile und Strukturbedingungen weitgehend ausblendet. Darüber hinaus wird in der ökologischen Industriepolitik das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck, das schon im Ansatz der ökologischen Modernisierung zu verwischen drohte, vollständig umgekehrt: Das Primat von Innovation, Markt und Wachstum stellt die Nachhaltigkeitspolitik unter den Druck, jederzeit beweisen zu müssen, dass sie ein probates Mittel zur Belebung der Wirtschaft ist. Dieser Anspruch kam zwar den traditionellen Prioritäten der in der Großen Koalition zusammenarbeitenden Volksparteien entgegen, er ist aber unerfüllbar und blockiert letztlich jede ernsthafte Wende zur ökologischen Nachhaltigkeit. Auf Dauer nämlich „kann Governance für Nachhaltigkeit nicht erfolgreich sein, wenn sie strukturelle Lösungen ausschließt“, und ein wirkungsvoller Klima- und Umweltschutz „wird zwangsläufig“ nicht nur „mit den Kerninteressen umweltintensiver Industrien kollidieren“ (Jänicke 2008: 73-74). Umweltpolitische Maßnahmen und Handlungsdynamik Mit dem auf einer Kabinettsklausur in Meseberg (August 2007) vereinbarten Dokument „Eckpunkte für ein integriertes Energie- und Klimaprogramm“ (IEKP) konkretisierte die Große Koalition ihre umweltpolitische Agenda (Bundesregierung 2007a). Unter dem Eindruck des IPCC-Berichtes und nachdem die EU im März 2007 unter der deutschen Ratspräsidentschaft die markante 20-20-20 Formel (20% CO2-Reduktion, 20% Energieeinsparung durch Effizienzsteigerung und 20% erneuerbare Energien bis 2020) vereinbart hatte, schlug die Bundesregierung einen Katalog von 29 Maßnahmen11 vor, die erstens „zu wirtschaftlichen Preisen“ die Energieversorgung gewährleisten (Bundesregierung 2007b: 2) und zweitens das wesentliche Instrument darstellen sollten, um die deutschen Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40% gegenüber 1990 zu reduzieren. Dieses Ziel hatte die Bundesregierung zunächst auf dem UN-Gipfel in Nairobi (November 2006) in Aussicht gestellt und dann auf der Weltklimakonferenz in Bali (Dezember 2007) bestätigt.12 Noch kurz vor Bali beschloss das Bundeskabinett den ersten Teil des Programms. Er umfasste unter anderem eine Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) mit dem Ziel, den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung zunächst bis 2020 auf 2530% zu steigern, ein Gesetz zum Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK), das den Anteil der KWK-Stromerzeugung bis 2020 auf etwa 25% verdoppeln sollte, und das Erneuerbare Energien Wärmegesetz (EEWG), mit dem der Anteil der erneuerbaren Energien an der Wärmebereitstellung bis 2020 auf 14% angehoben werden sollte. Der zweite Teil 11 Die Maßnahmen konzentrieren sich auf die Hauptbereiche Energieproduktion, Energieeffizienz (inkl. energetische Gebäudesanierung) und Verkehr. 12 Angesichts der Forderung des IPCC an die Industrieländer, ihre Emissionen bis 2020 um 25-40% gegenüber 1990 zu reduzieren, und vor dem Hintergrund des 20%-Zieles der EU war dies ein ambitioniertes Ziel, mit dem die Bundesregierung ihre Vorbild- und Führungsrolle im internationalen Klimaschutz unter Beweis stellen wollte (Bundesregierung 2007b: 2; BMU 2008c: 5).
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des IEKP, bestehend u.a. aus der novellierten Energieeinsparverordnung (Verschärfung der energetischen Anforderungen an Gebäude um zunächst 30%) und der Neuregelung der LKW-Maut (Erhöhung auf 16,2 Cent/km) wurde im Juni 2008 beschlossen.13 Die Gesamtheit der IEKP-Maßnahmen sollte „bei vollständiger und ambitionierter Umsetzung“ Deutschlands Kohlendioxid-Emissionen bis 2020 um etwa 36 Prozent reduzieren (BMU 2008c: 5). Bereits im Juni 2008 jedoch beklagte Greenpeace unter Verweis auf ein selbst in Auftrag gegebenes Gutachten, dass die Beschlüsse von Meseberg „vielfach unvollständig umgesetzt“ oder im Laufe des Politikprozesses „stark verwässert“ worden seien, und „lediglich die Hälfte der von der Bundesregierung in Aussicht gestellten CO2-Emissionsminderungen bis 2020 tatsächlich zu erwarten“ seien (Greenpeace 2008a: 4). In der Tat hatte sich im Umsetzungsprozess insbesondere Wirtschaftsminister Glos konsequent für die Interessen der Industrie und gegen ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen stark gemacht. Im „Umweltgutachten 2008“ bestätigte daher auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), dass die getroffenen Maßnahmen „oft hinter dem zurückbleiben, was im Zeichen eines dynamischen Innovationsprozesses inzwischen möglich geworden ist“ (SRU 2008: 2). Die vom BMU in Auftrag gegebene „Leitstudie 2008“ (BMU 2008d) stellte fest, dass in verschiedenen Bereichen (erneuerbare Energien, KWK, Energieeffizienz, Verkehr) zusätzliche Anstrengungen erforderlich seien, wenn das Ziel einer Emissionsminderung von 40% bis 2020 wirklich erreicht werden solle. Solche zusätzlichen Anstrengungen blieben jedoch aus. Vielmehr erlahmte nach dem UN-Gipfel in Bali der umweltpolitische Ehrgeiz der Großen Koalition, und es wurde zunehmend transparent, dass ökologische Industriepolitik trotz des qualifizierenden Adjektivs und der drängenden Klimakrise in erster Linie Industriepolitik bleibt, d.h. von wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird, denen umweltpolitische Ziele im Zweifelsfall untergeordnet werden. Anlass für zum Teil heftige Kritik von Seiten der Umweltlobby aber auch für koalitionsinterne Konflikte gaben in der Folgezeit vor allem vier Kernbereiche, die jeweils kurz besprochen werden sollen: das insbesondere von der CSU betriebene Scheitern des bereits von der Vorgängerregierung geplanten bundesweiten Umweltgesetzbuches; die Atom- und Kohlepolitik der Regierung; verschiedene Maßnahmen zur Automobil-, Mobilitäts- und Verkehrspolitik; und die Ausgestaltung des europäischen Emissionshandelssystems. Die Zusammenführung der bisher zersplittertern Einzelgesetze auf Bundes- und Landesebene in ein einheitliches Umweltgesetzbuch (UGB) war gerade für die Umweltverbände eines der wichtigsten Projekte für die 16. Legislaturperiode gewesen. Sie hatten sich erhofft, dass ein integriertes Umweltrecht zum zentralen Instrument des Klima- und Umweltschutzes werden könnte. Vor allem den Unionsparteien jedoch hatte es seit Beginn der Legislaturperiode am politischen Willen für ein effektives UGB gefehlt. Bereits die 2006 beschlossene Föderalismusreform erschwerte die Verwirklichung dieses Projektes: Sie überließ die bislang der Rahmengesetzgebung des Bundes zugeordneten Regelungsbereiche des Naturschutzes, des Gewässerschutzes und der Raumordnung den Ländern (ab 2010) und bereitete so den Weg für eine noch weitere Zersplitterung des Umweltrechts.14 Von den Umweltministern der Länder wurde dennoch ein UGB-Entwurf ausgehandelt, den aller13 Die bereits von der Vorgängerregierung geplante Umstellung der KFZ-Steuer auf CO2-Ausstoß wurde nach erheblichem Widerstand insbesondere der CSU und Wirtschaftsminister Glos zu diesem Zeitpunkt erneut verschoben. 14 Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hatte sich daher schon frühzeitig sehr kritisch über die Pläne zur Föderalismusreform geäußert (vgl. SRU 2006: 1).
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dings insbesondere die CSU kontinuierlich mit dem Argument torpedierte, das Vorhaben führe zu zusätzlicher Bürokratie. Immer neue Modifizierungsforderungen im Interesse der Landwirtschaft und Industrie brachten schließlich den Zeitplan für das UGB zum Einsturz, und im Januar 2009 kam das endgültige Aus. Die Chance für einen entschiedenen Schritt zum effektiveren Umwelt- und Klimaschutz blieb ungenutzt. In der Atompolitik hielt die Regierung offiziell zwar dem Koalitionsvertrag entsprechend am Atomausstieg fest, dies war aber begleitet von immer neu angefachten Überlegungen zur Verlängerung der vereinbarten Restlaufzeiten. Wiederholt signalisierten führende Unionspolitiker, dass diese Frage – und die des Atomausstiegs insgesamt – für sie keineswegs abschließend geklärt sei. Im Verein mit den Energiekonzernen beschwor besonders Wirtschaftsminister Glos die Gefahr einer zukünftigen „Stromlücke“ und propagierte verlängerte Laufzeiten als „die einfachste und preisgünstigste Lösung“ (FAZ 2008). Angesichts von Störfällen wie dem Brand im AKW Krümmel (Juni 2007), erheblicher Probleme im niedersächsischen Atommülllager Asse II15 und der überwiegend ablehnenden Haltung gegenüber der Atomenergie in der Bevölkerung verärgerten diese Vorstöße der Union nicht nur den Koalitionspartner. Sie waren umweltpolitisch kontraproduktiv, insofern sie den politischen Elan und die Investitions- und Planungssicherheit für den Ausbau der erneuerbaren Energien unterminierten. Die „Leitstudie 2008“ bestätigte, dass bei einer etwaigen Laufzeitverlängerung der Kernenergie das Ziel der Bundesregierung zum Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung „nicht erreichbar“ und die Ausbaudynamik der EE „grundsätzlich in Frage gestellt“ wäre (BMU 2008d: 6). In der Frage des Kraftwerksneubaus zog auch die SPD erhebliche Kritik auf sich, denn Umweltminister Gabriel machte sich (zusammen mit den Unionsparteien) explizit für neue Kohlekraftwerke stark. Trotz der vom Weltklimarat angemahnten Politikwende blieb die SPD der Kohleindustrie verpflichtet. Zwar hatte Greenpeace bereits Mitte 2008 betont, dass angesichts der bestehenden Pläne zum Kraftwerksneubau eher mit einem Anstieg als einem Rückgang der Emissionen im Kraftwerkssektor zu rechnen wäre (Greenpeace 2008a; siehe auch UBA 2007: 2). Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hatte klargestellt, dass „angesichts dramatischer Klimaveränderungen“ ein massiver Ausbau der Kohlekraft „nicht zu rechtfertigen“ sei (SRU 2008: 3). Und auch die bereits zitierte Leitstudie 2008 vertrat die Position, dass eine „ausgeprägte Kohlestrategie“ mit den Emissionsminderungszielen der Bundesregierung nicht vereinbar wäre (BMU 2008d: 3, 24). Mitte 2009 waren jedoch neun neue Kohlekraftwerke genehmigt und im Bau, 20 weitere waren in der Planung, und eine Reihe noch zusätzlicher Kraftwerksprojekte waren erst nach zum Teil heftigen Bürgerprotesten aufgegeben oder zurückgestellt worden (Deutsche Umwelthilfe 2009). Im Bereich der Verkehrspolitik enttäuschte die Umweltlobby, dass sich die Große Koalition auch in Zeiten der Klimakrise weiterhin weigerte, ein allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen einzuführen. Weiter blieb das umstrittene Dienstwagenprivileg, d.h. die steuerliche Absetzbarkeit von Firmenwagen, unangetastet, obwohl diese einen erheblichen Teil der PKW-Neuzulassungen ausmachen und in aller Regel einen überdurchschnittlichen Kraftstoffverbrauch haben. Eine dritte vergebene Chance, in der Gestaltung des Individualverkehrs eine umweltpolitische Leitwirkung zu entfalten, war die Neuregelung der von den Umweltverbänden als ‚Zersiedelungsprämie‘ kritisierten Pendlerpauschale. Diese war seit 2004 auf 30 Cent pro Entfernungskilometer festgesetzt. Die Koalition hatte 15 Das in den 1960er Jahren in Betrieb genommene Lager für Atommüll aus Forschungsreaktoren geriet 2008 wegen einsickernder Salzlauge und Einsturzgefahr in die Schlagzeilen.
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zunächst beschlossen, ab 2007 nur noch Pendelkilometer oberhalb von 20 Kilometern zu bezuschussen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht jedoch die Ungleichbehandlung von Nah- und Fernpendlern für verfassungswidrig erklärt hatte (BVerfG, 2 BvL 1/07 vom 9.12.2008), wurde die Zahlung nicht etwa vollständig abgeschafft, sondern die zuvor geltende Regelung wieder eingeführt. Darüber hinaus boten im Verkehrsbereich die beibehaltene Subventionierung des Flugverkehrs (Mineralölsteuerbefreiung für Kerosin, Mehrwertsteuerbefreiung von grenzüberschreitenden Flügen) und die Biotreibstoffpolitik der Großen Koalition umweltpolitischen Konfliktstoff. Zunächst hatte der Beschluss zur Besteuerung von Biodiesel (Juni 2006) Zweifel an der Entschlossenheit der Regierung ausgelöst, die noch junge Biotreibstoffindustrie weiter zu fördern.16 Ende 2006 wurde dann beschlossen, Kfz-Kraftstoffen einen bis 2015 auf acht Prozent ansteigenden Biokraftstoffanteil beizumischen. Die Große Koalition wollte so ihr im Meseberger Beschluss später mit 20% beziffertes Ausbauziel für Biokraftstoffe erreichen und den CO2-Ausstoß des Straßenverkehrs senken, möglichst ohne dabei der deutschen Autoindustrie striktere Auflagen machen zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt geriet jedoch die forcierte Entwicklung der Biotreibstoffe wegen deren mitunter negativer Öko- und Sozialbilanz sowie ihrer Auswirkungen auf den Nahrungsmittelbereich in die Kritik, und die Biotreibstoffstrategie der Bundesregierung wurde immer weniger als sinnvoller Weg zur Ökologisierung des Straßenverkehrs gesehen (z.B. Wissenschaftlicher Beirat Agrarpolitik 2007; SRU 2007, 2008; BUND 2008; Greenpeace 2008b). Als sich zudem noch herausstellte, dass das angestrebte Treibstoffgemisch für ältere Fahrzeuge nicht geeignet sein würde und die Biosprit-Verordnung deshalb schließlich zurückgenommen werden musste (April 2008), war evident, dass für eine klimarelevante Reduktion der CO2-Emissionen im Straßenverkehr strikte politische Vorgaben an die Autoindustrie und eine entschiedene Ökologisierung der Kfz-Steuer unverzichtbar sein würden. In beiden Bereichen jedoch gab die Bundesregierung den Interessen der Wirtschaft klaren Vorrang: Bei der Diskussion um die EUAbgasnormen für Neufahrzeuge setzte sie sich massiv (und erfolgreich) für eine Abschwächung des Kommissionsvorschlags ein, bis 2012 eine einheitliche Abgasnorm von 120g CO2/km zu erreichen.17 Bei der Reform der Kfz-Steuer beschloss sie statt einer eindeutig am CO2-Ausstoß orientierten und spürbar progressiven Steuer eine Mischform mit nur geringer ökologischer Leitwirkung.18 Wiederum erwiesen sich die Interessen der Autoindustrie als wichtiger als die Imperative der Klimakrise; und wieder war es besonders Bundeswirtschaftsminister Glos, der alle umweltpolitischen Bemühungen im Kfz-Bereich als „Vernichtungsfeldzug“ gegen deutsche Autobauer geißelte (Handelsblatt 2007). Auch bei der Fortentwicklung des europäischen Emissionshandelssystems (ETS) nutzte die Bundesregierung ihren Einfluss vor allem, um die Interessen der Industrie zu schützen. Das 2005 eingeführte System sollte nach der klimapolitisch praktisch wirkungslos
16 Biodiesel und als Treibstoff verwendetes Pflanzenöl waren bis dahin von der Steuer ausgenommen. Reiner Biodiesel sollte nun mit zunächst neun Cent pro Liter besteuert und bis 2012 schrittweise dem normalen Mineralölsteuersatz angeglichen werden. Reines Pflanzenöl sollte ab 2008 ebenfalls schrittweise besteuert werden. 17 Die im Dezember 2008 erzielte Einigung sieht vor, dass bis 2015 (statt 2012) durch sparsamere Motoren schrittweise ein CO2-Grenzwert von 130g/km erreicht werden soll und weitere 10g/km durch Biosprit, Leichtlaufreifen und/oder sparsamere Klimaanlagen eingespart werden sollen. 18 Die im Januar 2009 beschlossene Regelung bedeutet eine nur marginale Entlastung für sparsame Kleinwagen und keine Mehrbelastung für Fahrzeuge am oberen Ende der Verbrauchsskala.
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gebliebenen ersten Phase (2005-2007)19 in der zweiten und dritten Phase (2008-2012; 20132020) zum entscheidenden Instrument der Emissionsreduzierung im Kraftwerkssektor und den CO2-intensiven Industriebranchen ausgebaut werden. Die Bundesregierung verzichtete jedoch auch für die zweite Phase auf die wenigstens in begrenztem Maße (bis 10%) von der EU vorgesehene Versteigerung der Emissionsberechtigungen.20 Zudem organisierte sie mit dem im Juni 2007 verabschiedeten Zuteilungsgesetz deren Vergabe an die Energieversorger in einer Weise, die Braunkohlekraftwerke gegenüber Steinkohlekraftwerken und beide gegenüber den wesentlich klimafreundlicheren Gaskraftwerken erheblich begünstigte. Außerdem wurden auf Druck des Wirtschaftsministeriums Neuanlagen, die bis 2012 in Betrieb gehen, von zukünftigen Reduktionsverpflichtungen ausgenommen, wenn sie brennstoffspezifisch festgelegten Emissionsstandards genügen. Im Effekt bedeutete diese Politik eine Förderung des Neubaus von Kohlekraftwerken. Sie blockierte durch die Neuanlagenregelung dauerhaft den klimapolitisch notwendigen Umbau des deutschen Kraftwerksparks. Und indem sie statt auf Brennstoffwechsel primär auf Effizienzsteigerungen bei gleichbleibendem Brennstoff setzte, ließ sie die Chance zu wesentlich größeren CO2-Minderungseffekten ungenutzt. Bei den Verhandlungen für die dritte Phase des ETS setzte sich die Bundesregierung darüber hinaus massiv dafür ein, dass entgegen dem Kommissionsbeschluss vom Januar 2008 die energieintensiven Industrien ihre Emissionszertifikate weiterhin kostenlos erhalten, und auch die deutschen Stromversorger erst 2020 ihre Zertifikate zu 100% ersteigern müssen. Während auf dem UN-Klimagipfel im polnischen Posen im Dezember 2008 die Grundlagen für ein wirksames Kyoto-Nachfolgeabkommen geschaffen werden sollten, stellte sich die Bundesregierung auf dem zur gleichen Zeit in Brüssel stattfindenden EUGipfel unverhohlen als klimapolitischer Bremser dar. Der internationale Führungsanspruch und die Vorbildrolle, die die Regierung Merkel in der ersten Hälfte der Legislaturperiode für sich in Anspruch genommen hatte, war inzwischen der Entschlossenheit gewichen, „keine Klimaschutz-Beschlüsse (zu) fassen, die in Deutschland Arbeitsplätze oder Investitionen gefährden“ (Reuters 2008). Der behauptete Gleichklang von ökologischer und ökonomischer Rationalität hatte sich im Zeichen der Finanzmarktkrise unüberhörbar in eine auf Kosten des Klimaschutzes gehende Dissonanz zurückverwandelt. Politik der Nicht-Nachhaltigkeit Im letzten Drittel der Legislaturperiode waren der Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems und die sich daraus entwickelnde Wirtschaftskrise das beherrschende Thema. Umweltminister Gabriel hat die Finanzkrise zu Recht als „Paradebeispiel von nicht nachhaltigem Wirtschaften“ (Gabriel 2009: 31) beschrieben, denn sie illustrierte in aller Deutlichkeit, wie sehr die Wertpräferenzen, Lebensstile und Gesellschaftsstrukturen moderner Konsumgesellschaften auf ungedeckte Hypotheken aufgebaut sind. Gleichzeitig machte die Krise aber auch eine große Entschlossenheit sichtbar, eben diese Präferenzen 19 Insbesondere weil die Emissionszertifikate kostenlos und zudem in zu großer Menge ausgegeben worden waren, konnte sich ein Emissionshandel im eigentlichen Sinne nicht entfalten. 20 Die herstellende Industrie bekam ihre Emissionszertifikate zu 100% kostenlos zugeteilt. Die Stromerzeuger bekamen 90% ihrer Zertifikate kostenlos und mussten die verbleibenden 10% über die Kreditanstalt für Wiederaufbau erwerben.
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und Strukturen mit allen Mitteln zu verteidigen: Die von der Bundesregierung im Dezember 2008 und Januar 2009 verabschiedeten Konjunkturprogramme bedeuteten nicht nur die vollständige Abkehr von jeglicher Haushaltskonsolidierung und nachhaltigen Staatsfinanzen, sondern sie setzten an die Stelle des drängenden ökologischen Gesellschaftswandels das entschiedene Bemühen, das als nicht-nachhaltig Erkannte mit weiteren Hypotheken auf die Zukunft erneut zu stabilisieren. Zwar umfassten die beschlossenen Konjunkturmaßnahmen unter anderem auch ein Förderprogramm für die energetische Sanierung von Wohnhäusern (3 Mrd. Euro bis 2011). Insgesamt jedoch verzichtete die Regierung auf die Möglichkeit, mit den Konjunkturpaketen einen entschiedenen Impuls zum ökologischen Umbau zu geben.21 Vielmehr sind erhebliche Teile des Maßnahmenkataloges ökologisch kontraproduktiv: Etwa 3 Mrd. Euro wurden zusätzlich für den Aus- und Neubau von Umgehungs- und Fernstraßen und damit für die weitere Verfestigung einer ökologisch verfehlten Mobilitätspolitik bereitgestellt; die Kaufanreize für Neuwagen (befristete Steuerbefreiung, Verschrottungsprämie) sind eine Subvention an eine Industrie, die beharrlich eine ökologisch kontraproduktive Produktpolitik verfolgt hat. Demgegenüber blieben zusätzliche Investitionen etwa in den schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien, die Kraft-Wärme-Kopplung, den öffentlichen Personennahverkehr oder den schienengebundenen Güterverkehr aus. Die Maßnahmenmischung in den Konjunkturpaketen war das klare Eingeständnis, dass ökologische und ökonomische Rationalität entgegen allen Beteuerungen eben doch nur unter sehr speziellen Bedingungen harmonieren, dass die Große Koalition trotz ihrer öffentlichen Bekenntnisse zum Klimaschutz jederzeit bereit war, den Interessen der Wirtschaft Priorität zu geben, und dass zügige wirtschaftliche Belebung sich im Zweifelsfalle immer noch am effektivsten mit Mitteln erzielen lässt, die sich unter ökologischen Gesichtspunkten eigentlich verbieten würden. Dabei kann der von der Regierung als ‚Umweltprämie‘ bezeichnete Kaufanreiz für Neuwagen in besonderer Weise zur Illustration der eingeschlagenen „Politik der NichtNachhaltigkeit“ (vgl. Blühdorn/Welsh 2008) dienen. Die Ende Januar 2009 verabschiedete „Richtlinie zur Förderung des Absatzes von Personenkraftwagen“ knüpfte die Auszahlung der Förderprämie tatsächlich an keinerlei umweltpolitische Kriterien, außer dass ein mindestens neun Jahre altes Auto verschrottet werden und der Neuwagen die seit Anfang 2006 ohnehin verpflichtende Abgasnorm Euro 4 erfüllen musste. Bei einem Gesamtfördervolumen, das rechnerisch für 2 Millionen Neuwagen-Prämien ausreichte, hätte die vermeintliche Umweltprämie – trotz des grundsätzlich zweifelhaften Ansatzes, die Umwelt ausgerechnet durch die Subventionierung des Autokaufs schützen zu wollen – bei entsprechender Ausgestaltung tatsächlich eine gewaltige ökologische Leitwirkung entfalten können. In ihrer beschlossenen Form jedoch förderte sie die Verschrottung oftmals völlig intakter Autos und leistete damit einer nicht-nachhaltigen Mentalität des Wegwerfens und Neukonsums Vorschub. Sie verschwendete wertvolle Ressourcen, wo eine längere Nutzungsdauer oftmals ökologisch sinnvoller gewesen wäre. Sie investierte erhebliche Mittel in heutige Technik und verzögerte so die Verbreitung erst auf den Markt kommender Zukunftstechnologien. Und statt neue Verkehrskonzepte zu verfolgen, stärkte sie ein als nicht-nachhaltig erkanntes Mobilitätsmodell. All dies geschah unter dem von der Regierung verliehenen Gütesiegel der Umweltprämie.
21 So sind etwa die Investitionen in die Bildungsinfrastruktur (6,5 Mrd. Euro) und kommunale Infrastruktur (3,5 Mrd. Euro) nicht explizit an Kriterien zum ökologischen Umbau gebunden.
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So wurde die Abwrackprämie zum Sinnbild einer Umweltpolitik, die lautstark verkündet, sie habe den Ernst der Lage begriffen, erkenne die Notwendigkeit sofortigen Handelns, habe probate Mittel bereits zur Hand und sei im Begriff, einen tiefgreifenden Wandel einzuleiten, während sie gleichzeitig mit aller Entschiedenheit die etablierten, nicht-nachhaltigen Wertpräferenzen, Verhaltensmuster und Gesellschaftsstrukturen festigt. Diese Politik der Nicht-Nachhaltigkeit konzentiert sich auf die Verwaltung der politischen Unwilligkeit – und vielleicht strukturellen Unfähigkeit – eine Wende zur Nachhaltigkeit wirklich zu vollbringen (Blühdorn 2007b, 2008, 2009; Blühdorn/Welsh 2008). Tatsächlich zeichnete sich die Umweltpolitik der Großen Koalition durch den neuartig zugespitzten Widerspruch zwischen dem öffentlichen Bekenntnis zu einem umfassenden ökologischen Wandel einerseits und einer relativ geringen Bedeutung im faktischen Regierungshandeln andererseits aus. Fazit Die Umweltpolitik der Großen Koalition war sicher nicht regressiv in dem Sinne, dass sie etwa hinter das von der Vorgängerregierung Erreichte zurückgefallen wäre. Tatsächlich ist sie laut Umfragen derjenige Politikbereich, in dem die Regierung Merkel die höchsten Zustimmungsraten erzielen konnte.22 Aber wie eingangs festgestellt ist gerade vor dem Hintergrund der neuen klimawissenschaftlichen Beweislage die entscheidende Frage, wie entschlossen die Große Koalition die ökologische Modernisierung der etablierten Strukturen vorangetrieben und darüber hinaus die Gunst der Stunde nutzend den unverzichtbaren Wandel von Wertepräferenzen, Lebensstilen und Gesellschaftsstrukturen eingeleitet hat. In diesen beiden Hinsichten jedoch hat die Regierung Merkel keine überzeugenden Erfolge vorzuweisen. In umweltpolitischen Kernbereichen wie der Rohstoffproduktivität, dem Flächenverbrauch, dem Artenschutz, dem gesamten Verkehrsbereich oder der Landwirtschaft hat sie eine Politik verfolgt, die die in der Nachhaltigkeitsstrategie von 2002 definierten Ziele zunehmend unerreichbar erscheinen lässt (vgl. Statistisches Bundesamt 2008; Bundesregierung 2008). Entscheidende Pionierleistungen, die andere Länder etwa unter Wettbewerbsdruck gesetzt hätten oder zum Referenzpunkt in der internationalen Umweltpolitik geworden wären, hat sie im Gegensatz zur Vorgängerregierung nicht erbracht. Und das Paradigma der ökologischen Modernisierung hat sie nur insofern weiterentwickelt, als sie mit ihrem Konzept der ökologischen Industriepolitik die Wachstumslogik noch weiter als bisher in den Mittelpunkt der Umweltpolitik verschoben hat. Betrachtet man also die 16. Legislaturperiode als Härtetest für die auch international rasch an Popularität gewinnenden win-win-Szenarien, so musste man an ihrem Ende feststellen, daß diese zumindest aus ökologischer Hinsicht wohl ein Irrweg sind. Sicher ist richtig, „dass Investitionen, die Ressourcen sparen, die Energie sparen, die grün sind [...] enorm an Fahrt gewinnen werden“ (Gabriel 2009: 31). Richtig ist auch, dass ökologische Industriepolitik „unsere Wirtschaft wettbewerbsfähiger machen“ (Gabriel 2009: 31) und positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben kann.23 Mindestens ebenso sicher aber 22 Im Juli 2009 waren 55% der Befragten trotz der Diskussion um das Atomkraftwerk Krümmel und das Endlager Asse mit der Umweltpolitik der Großen Koalition (sehr) zufrieden. Im Mai 2009 hatte die Zustimmungsrate sogar noch 3% höher gelegen (Der Spiegel 30/2009: 31). 23 Nach Angaben des Umweltministeriums beschäftigte die Umweltwirtschaft im Jahr 2006 etwa 1,8 Millionen Menschen, was einem Anteil von 4,5% (gegenüber 3,8% im Jahr 2004) der Erwerbstätigen entspricht (BMU 2008c: 16). Allein im Bereich der erneuerbaren Energien gab es 2007 knapp 250.000 Beschäftigte (gegenüber
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ist, dass den Problemen des Klimawandels, des Artenverlustes, der stetig steigenden Konsumerwartungen, des kontinuierlich fortschreitenden Naturverbrauchs und der sich weiter aufhäufenden Zukunftshypotheken mit innovativer Effizienztechnologie allein nicht beizukommen ist. Die Umweltpolitik der Großen Koalition hat klar erkennbar gemacht, in welch verkürzender Weise die win-win-Szenarien die in der Ökologiepolitik zur Debatte stehenden Problemlagen erfassen, wie wenig sie in der Lage sind, der Dringlichkeit der sich zuspitzenden Klimakrise zu entsprechen, und wie verwundbar sie gegenüber dem politischen Druck wirtschaftlicher Interessen und die Ökologie nicht priorisierender Wähler sind. Eine Umweltpolitik, die trotz fortschreitenden Artensterbens, Naturverbrauchs und sich verschärfender Umweltkonflikte verkündet, „die Grenzen des Wachstums als politische Botschaft“ seien „weltweit gescheitert“, die sich vermeintlich abgeklärt weigert, den Konsumeliten „moralinsauer zu empfehlen, sie mögen doch, bitte schön, Verzicht üben“, und die sogar verspricht, der ökologische Umbau der Industriegesellschaft werde „das Leben billiger“ machen (Gabriel 2009: 31, 32), reicht letztlich nicht über eine Politik der NichtNachhaltigkeit hinaus. So legt die Umweltpolitik der Großen Koalition nahe, dass der Versuch, ökologische Nachhaltigkeit zu befördern, indem man Umwelt- und Klimaschutz als probates Mittel zur Schaffung von Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und internationaler Wettbewerbsfähigkeit anpreist, eine strategische Sackgasse ist. Ein Weg aus der Politik der NichtNachhaltigkeit wird sich, wenn überhaupt, erst dann weisen, wenn Klima- und Umweltschutz nicht mehr auf den Status eines Mittels reduziert, sondern selbst als Primärzweck verfolgt werden. Hier liegt die entscheidende umweltpolitische Herausforderung für die 17. Legislaturperiode. Die Aussichten allerdings, dass eine Koalition aus FDP, CDU und CSU die unbedingte Notwendigkeit einer solchen Wende anerkennen, geschweige denn in Angriff nehmen, stehen denkbar schlecht. Darüber hinaus stellt sich die einstweilen ungeklärte Frage, inwieweit von der Globalisierung entmachtete und an den demokratischen Wählerwillen gebundene nationale Regierungen dieser Herausforderung überhaupt gewachsen sein können. Literatur Blühdorn, Ingolfur, 2000: Ecological Modernization and Post-Ecologist Politics, in: Spaargaren, Gert/Mol, Arthur/Buttel, Frederick (Hrsg.) Environment and Global Modernity, London, S. 209228. Blühdorn, Ingolfur, 2007a: Democracy, Efficiency, Futurity: Contested Objectives of Societal Reform, in: Blühdorn, Ingolfur/Jun, Uwe (Hrsg.) Economic Efficiency – Democratic Empowerment, Lanham, S. 69-98. Blühdorn, Ingolfur, 2007b: Sustaining the Unsustainable: Symbolic Politics and the Politics of Simulation, in: Environmental Politics 16/2, S. 251-275. Blühdorn, Ingolfur, 2008: Klimadebatte und Postdemokratie. Zur Gesellschaftlichen Bewältigung der Nichtnachhaltigkeit, in: Transit. Europäische Revue 36, S. 46-64. Blühdorn, Ingolfur, 2009: Locked into the Politics of Unsustainability, in: Eurozine, http://www. eurozine.com/articles/2009-10-23-bluehdorn-en.html; 03.10.2009. Blühdorn, Ingolfur/Welsh, Ian (Hrsg.), 2008: The Politics of Unsustainability. Eco-Politics in the Post-ecologist Era, London/New York. knapp 170.000 im Jahr 2004 und etwa 236.000 im Jahr 2006) (BMU 2008a: 13). Für 2008 wird die Zahl auf etwa 278.000 geschätzt (O’Sullivan et al. 2009: 9).
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Sven Bernhard Gareis
Die Außen- und Sicherheitspolitik der Großen Koalition
Nach einem stark personalisierten und äußerst kontrovers geführten Wahlkampf standen CDU/CSU und SPD nach dem unerwartet knappen Ausgang der Bundestagswahl vom 18. September 2005 vor der Aufgabe, die zweite Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland formen zu müssen. Hinzu kam, dass der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Frank-Walter Steinmeier der frühere Chef des Bundeskanzleramtes und engste Vertraute ihres nur knapp unterlegenen Vorgängers als Außenminister zur Seite gestellt wurde – der sich zudem nach einigen Umwälzungen innerhalb der SPD zu ihrem Vizekanzler und schließlich auch zu ihrem Herausforderer für die Bundestagswahl 2009 entwickeln sollte. In der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 hatte eine solche Konstellation angesichts der zwischen den Parteien herrschenden, teils fundamentalen Auffassungsunterschiede noch dafür gesorgt, dass die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland über weite Strecken „unklar und ambivalent wurde“ (Hacke 2003: 141). Tatsächlich stand auch die „Koalition der neuen Möglichkeiten“ (Merkel 2005) bei ihrem Amtsantritt im November 2005 gerade auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik vor einigen Herausforderungen: In kaum einem Handlungsfeld hatten sich die Positionen von SPD und Union so polarisiert gegenübergestanden wie in der Außenpolitik vor allem der zweiten Amtszeit Gerhard Schröders. Die transatlantischen Beziehungen waren über die Konfrontation in der Irak-Krise 2002/03 beschädigt worden. In Europa hatten die Fixierung auf Frankreich und Schröders Sonderwege mit Präsident Jacques Chirac viel Misstrauen insbesondere bei den östlichen Partnern hervorgerufen. Es galt nun, dieses zerschlagene Porzellan gemeinsam zu kitten und Deutschland wieder auf seinen traditionellen und erfolgreichen Kurs des multilateralen Interessensausgleichs mit seinen Partnern in NATO und Europäischer Union zu bringen. Dies war umso dringlicher, als Europa nach den 2005 gescheiterten Referenden über den Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden in einer tiefen Vertrauens- und Sinnkrise steckte und große Hoffnungen und Erwartungen auf die integrative Führungsfähigkeit Deutschlands während seiner EU-Präsidentschaft 2007 gerichtet waren. Unter den Vorzeichen der fortschreitenden Globalisierung drängten Fragen wie die Sicherheit von Energielieferungen und Handelswegen auf die Agenda, mussten die Beziehungen zu Mächten wie Russland oder China fortentwickelt bzw. neu justiert werden. Die Folgen von Krisen und Konflikten auch in scheinbar entlegenen Weltregionen machten sich immer unmittelbarer auch in Deutschland und Europa bemerkbar. Das Krisenmanagement am Hindukusch, im Nahen und Mittleren Osten oder in Afrika stellte nicht nur hohe Anforderungen an die deutsche Diplomatie, sondern verlangte auch die Verstärkung bestehender (Afghanistan) bzw. die Aufnahme neuer (DR Congo, Libanon) Einsätze der Bundeswehr, die sich mehr und mehr zum Instrument einer aktiv betriebenen Außenpolitik entwickelte. Wie gestaltete sich angesichts solcher innerkoalitionären wie internationalen Rahmenbedingungen die Außen- und Sicherheitspolitik dieser zweiten Großen Koalition? Konnten S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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dank einer breiten parlamentarischen Mehrheit größere konzeptionelle Weichenstellungen in der Außen- und Sicherheitspolitik vorgenommen werden, welche Projekte wurden realisiert bzw. blieben unerledigt? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Koalitionäre prägten in diesen vier Jahren die auswärtige Politik der Bundesrepublik? Wie fällt insgesamt die Bilanz der schwarz-roten Außen- und Sicherheitspolitik aus? Diesen Fragen soll im Folgenden durch die Analyse wesentlicher auswärtiger Handlungsfelder der Großen Koalition nachgegangen werden. Zuvor aber wird ein kurzer Blick auf das außenpolitische Vermächtnis der rot-grünen Vorgängerregierung geworfen. Dies erscheint für das Verständnis der Ausgangslage wie auch der Veränderungen in Inhalt und Stil der Außenpolitik unter Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier angebracht. 1
Außenpolitik unter Gerhard Schröder: Versuch eines Paradigmenwechsels
Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland haben alle Bundesregierungen an den kooperations- und integrationsfreundlichen Politikmustern einer fest in den euro-atlantischen Strukturen verankerten Zivilmacht festgehalten. Machtpolitische Zurückhaltung und multilateraler Interessensausgleich waren vor der deutschen Einheit elementare Bestandteile westdeutscher Staatsräson gewesen – unter veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen und mit teils zögerlich vorgenommenen Anpassungen an neue Erfordernisse baute auch die Außenpolitik des wiedervereinten Deutschland auf diesen Fundamenten auf (vgl. Gareis 2006a: 49f.; 65f.). In ihrer ersten Amtszeit setzte die Regierung Schröder/Fischer denn zunächst noch fest auf Kontinuität als verlässlicher Bündnispartner, führte dafür sogar 1999 im Kosovo einen Krieg auf wackligem völkerrechtlichen Grund. Mit seinem in der aufziehenden Irak-Krise 2002 erhobenen Anspruch, dass die wesentlichen Fragen deutscher Außenpolitik in Berlin und nicht anderswo entschieden werden (vgl. Schöllgen 2003: 116) sowie der Ausrufung seines „deutschen Weges“ (vgl. Bahr 2003) postulierte Bundeskanzler Schröder für Deutschland dann aber zunehmend den Status einer „erwachsenen Nation“, die ihre nationalen Interessen eigenständiger formulieren und verfolgen solle. Im Verbund mit Frankreich beschränkte sich Deutschland nicht mehr länger auf die Rolle des europäischen Integrationsmotors, sondern versuchte, etwa im Falle des EuroStabilitätspaktes, die gemeinsamen Regeln und Mechanismen in seinem Sinne zu verändern. Ebenfalls Seite an Seite mit Frankreich bemühte sich Deutschland um eine Emanzipation von den USA, was indes als kaum verhohlene Gegenmachtbildung erscheinen musste, als sich die beiden Länder während der Irak-Krise 2002/03 für die Konstruktion einer Achse Paris-Berlin-Moskau-Beijing einsetzten. Getragen von der Selbstgewissheit einer überlegenen Friedensmacht ließ Schröder den Gesprächsfaden zu den USA immer dünner werden. Dafür reihte sich Treffen an Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin, auch wurde der deutsche Bundeskanzler öfter in Beijing vorstellig als in Washington. In Beijing hatten sich Schröder und Chirac Ende 2004 zudem auf eine Initiative zur Aufhebung des nach der Tiananmen-Tragödie von 1989 verhängten EU-Waffenembargos gegen die VR China verständigt – jedoch wiederum ohne dies mit den Partnern in Europa und den USA abzustimmen. Vor dem Hintergrund dieses Strebens nach erweiterten deutschen Handlungsspielräumen musste auch das grundsätzlich durchaus berechtigte, 2005 dann mit großem Elan vorgetragene Streben Deutschlands nach einem Ständigen Sitz im VN-Sicher-
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heitsrat (s. Gareis 2006b) gewissermaßen als die Krönung des deutschen Anspruchs erscheinen, als Gleicher unter Großen wahrgenommen zu werden. Insgesamt war der Stil der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in der zweiten Amtszeit Gerhard Schröders durch weniger Rücksichtnahmen auf die Partner in EU und NATO gekennzeichnet als bei jeder vorangegangenen Bundesregierung. In der Lockerung des Prinzips machtpolitischer Zurückhaltung und dem wachsenden Vorrang eines „aufgeklärten Eigeninteresses“ zeichnete sich der Versuch eines politischen Paradigmenwechsels ab, der Deutschland aus seiner engen Integration in die Strukturen Europas und der westlichen Allianz hin zu einer eigenständigeren und machtvolleren Position des Landes im internationalen System führen sollte. Die Bilanz dieses ehrgeizigen weltpolitischen Programms fiel indes eher ernüchternd aus. Hatte die rot-grüne Bundesregierung noch 1999 mit ihren Impulsen zur Schaffung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) Wesentliches zur europäischen Integration beigetragen, sorgte nach 2002 das deutsch-französische Vorgehen insbesondere bei den kleineren, aber auch bei den vor ihrem EU-Beitritt stehenden ostmitteleuropäischen Partnern für Sorgen vor einem deutsch-französischen Direktorium. Irritiert wurden zudem in Estland, Lettland, Litauen und Polen die über ihre Köpfe hinweg betriebenen und zwischen Schröder und Putin immer stärker personalisierten deutsch-russischen Beziehungen zur Kenntnis genommen, als 2005 das bilaterale Projekt einer Gaspipeline durch die Ostsee verkündet wurde. Wenn es Bundeskanzler Schröder darum ging, Deutschlands gewachsene Ordnungsansprüche in einem post-integrativen Europa (vgl. Knelangen 2005) und einem stärker multipolaren internationalen System zu sichern und auszubauen, so musste er gegen Ende seiner Amtszeit erkennen, dass sein „deutscher Weg“ zu keinem wirklichen außenpolitischen Mehrwert geführt hatte: Im Sommer 2005 scheiterte sein ambitioniertes, zusammen mit Brasilien, Indien und Japan vorgetragenes Projekt einer Reform des Sicherheitsrates mit anschließendem Aufstieg Deutschlands in die erste Liga der Weltpolitik nicht zuletzt am gemeinsamen Widerstand der verprellten USA wie auch der neuen Freunde in Beijing. Deutschland, dies war nach Gerhard Schröders Höhenflügen klar, wird auch weiterhin eine weltpolitische Rolle nicht auf eigene Faust, sondern nur gemeinsam mit seinen Partnern in Europa und den USA spielen können. 2
Koalitionsvertrag: Neuer Konsens und kollegiale Rollenverteilung
Blickt man auf diese Polarisierungen und Verwerfungen während der zweiten Amtszeit Gerhard Schröders, wird auch verständlich, warum sich CDU/CSU und SPD so rasch und einvernehmlich auf die Grundzüge ihrer auswärtigen Politik im gemeinsamen Regierungsprogramm verständigen konnten. Beiden Seiten war offenkundig daran gelegen, wieder an die langjährige Normalität einer multilateralen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik anzuknüpfen (vgl. Fröhlich 2006: 226) und so den außenpolitischen Grundkonsens zwischen den wichtigsten politischen Kräften des Landes zu erneuern. Bereits die Überschrift über das mit internationalen Fragen befasste Kapitel IX des Koalitionsvertrages, in der „Deutschland als verantwortungsbewusster Partner in Europa und der Welt“ bezeichnet wird, versinnbildlicht diese Bemühungen um die Rückkehr zur Kontinuität, die sich als roter Faden durch die folgenden sieben Abschnitte des Kapitels von der Europapolitik über
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transatlantische Beziehungen und Vereinten Nationen (VN) bis hin zur Entwicklungspolitik ziehen. Besonderes Augenmerk legt der Koalitionsvertrag gleich in der Einleitung zu Kapitel IX auf das die bundesdeutsche Außenpolitik von Beginn an prägende, oft genug ambivalente Wechselspiel zwischen europäischer Integration und transatlantischen Beziehungen. Gerade an diesem Punkt hatten sich nach 2002 die heftigsten Kontroversen um die Außenpolitik Gerhard Schröders entzündet, als sich dieser an Frankreich anlehnte und von den USA entfernte. Hier stellt der Koalitionsvertrag klar, dass diese beiden Handlungsfelder „keine Gegensätze, sondern die beiden wichtigsten Pfeiler unserer Außenpolitik“ sind (CDU/CSU/SPD 2005: 146) und grundlegend die Beziehungen zu Nachbarn wie Frankreich und Polen, aber auch zu den USA und Russland prägen. Zwar widmet das außenpolitische Kapitel des Koalitionsvertrages dann der Europapolitik den weitaus größten Raum; zugleich aber verdeutlichen die Parteien, dass ein „enges Vertrauensverhältnis zwischen den USA und einem selbstbewussten Europa, das sich nicht als Gegengewicht, sondern als Partner versteht, unverzichtbar“ ist und dass sie die NATO als „stärksten Anker“ deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik sehen (CDU/CSU/SPD 2005: 152). Die schwarz-rote Koalition kehrt damit zurück zur bewährten Interessenhierarchie, nach der die feste euroatlantische Integration das Fundament deutscher Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber weiteren Staaten, Regionen bzw. Handlungsfeldern darstellt. Verbunden wird dies mit einem bekräftigten Bekenntnis zum Multilateralismus als bevorzugtem Muster deutscher auswärtiger Politik. So will sich Deutschland für eine Stärkung der gemeinsamen Außenpolitik der EU einsetzen und Europa so zu einem größeren Gewicht in internationalen Foren wie den Vereinten Nationen verhelfen (CDU/CSU/SPD 2005: 146; 158). In der Weltorganisation selbst soll Deutschland nach dem Willen der Koalitionsparteien die 2005 eingeschlagenen Reformschritte aktiv vorantreiben und unterstützen. Zugleich erneuert der Vertrag das deutsche Streben nach einem Ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat – wiederum verpackt in die schon klassische Formulierung, nach der Deutschland bereit sei, „mehr Verantwortung zu übernehmen“, und in der Perspektive einen Sitz für die EU anzustreben (CDU/CSU/SPD 2005: 158; vgl. Gareis 2006b). Insgesamt legte die schwarz-rote Koalition in ihrem Vertrag die Grundzüge einer außenpolitischen Programmatik vor, die vielleicht keinen „Neuanfang“ (Fröhlich 2006: 226), wohl aber eine erkennbare Kurskorrektur im Vergleich zu der am Ende stark von der Persönlichkeit Kanzler Schröders dominierten Außenpolitik der Vorgängerregierung ermöglichen sollte. So konsensorientiert sich beide Parteien in der raschen Einigung auf das Koalitionsprogramm zeigten, so insgesamt kollegial und respektvoll erwies sich dann auch die Rollenverteilung zwischen Bundeskanzlerin Merkel und ihrem Außenminister Steinmeier. Zwar machte Merkel die Außenpolitik von Beginn an zur Chefsache, absolvierte erfolgreiche Antrittsbesuche in Washington, Moskau und Beijing, während Steinmeier anfangs noch durch den BND-Untersuchungsausschuss gebremst wurde, in dem auch seine Rolle als Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder im Entführungsfall Kurnaz untersucht wurde. Trotz Differenzen in Sach-, manchmal auch in Richtungsfragen, wie sie etwa in der China-Politik anlässlich des Besuchs des Dalai Lama im Bundeskanzleramt 2007 auftraten, war die Außenpolitik der schwarz-roten Koalition aber in ihren wesentlichen Linien von Afghanistan bis zur Weltwirtschaftspolitik durch große Übereinstimmung gekennzeichnet. Anders als manche frühere Regierungschefs (vgl. Bierling 2005: 48-49) erlag die Kanzlerin aber nicht der Versuchung, die eigene außenpolitische Strahlkraft zu nutzen,
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um ihren Fachminister an den Rand zu drängen. Auch als dieser im Bundestagswahlkampf 2009 als ihr Herausforderer um das Kanzleramt antrat, blieb eine außenpolitische Polarisierung wie bei den beiden vorangegangenen Wahlen nicht nur aus; vielmehr ging die gemeinsame Übereinstimmung so weit, kritische außenpolitische Themen wie etwa die Lage in Afghanistan so weit wie möglich aus dem Wahlkampf herauszuhalten – was bis zu dem von deutscher Seite befohlenen Luftangriff in Kunduz Anfang September 2009 auch einigermaßen gelang. Der breite außenpolitische Konsens zwischen den beiden Koalitionsparteien hielt so über die gesamte Amtszeit der schwarz-roten Bundesregierung und sorgte für eine vergleichsweise ruhige und reibungslose Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Probleme und Herausforderungen, mit denen sich Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik in diesen vier Jahren konfrontiert sah. 3
Europapolitik
Europa, mit dem die Bundesrepublik seit ihrer Gründung in einer Art „symbiotischer Beziehung“ (Hellmann 2002) lebt, steckte zum Amtsantritt der Großen Koalition in einer tiefen Krise. Frisch war noch die Erinnerung, an die Spaltung Europas und die vollständige Lähmung ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der Irak-Auseinandersetzung. Spätestens mit dem Scheitern des europäischen Verfassungsvertrages (VVE) in den ablehnenden Referenden Frankreichs und der Niederlande im Frühsommer 2005 waren die Bemühungen der Europäer um die Erweiterung ihrer Union bei gleichzeitiger Vertiefung ihrer Integration als „Lebenslüge“ (Hacke 2006: 30) entlarvt. Der permissive consensus, nach dem Fortschritte in der europäischen Integration mit Zugewinnen an Sicherheit und Wohlstand gleichgesetzt wurden, erodierte zusehends: In den europäischen Gesellschaften stieg die Verdrossenheit über eine Union, die ihren Bürgern als ein zunehmend abstraktes, unerklärliches Gebilde erschien und deren Erweiterungs- und Integrationstempo zudem viele Menschen überforderte (vgl. Gareis/Klein 2003). Damit Deutschland in dieser Situation wieder seine klassische Funktion als europäischer Integrationsmotor übernehmen konnte, musste die Große Koalition zunächst das unter der Schröder-Regierung entstandene Bild einer allzu stark an nationalen Interessen orientierten Vormacht korrigieren (vgl. Fröhlich 2008: 18). Eine erste Gelegenheit hierzu ergab sich bereits im Dezember 2005, als Bundeskanzlerin Merkel im Europäischen Rat nicht nur durch intensive Vermittlungen zwischen allen Delegationen, sondern auch durch deutsche Zugeständnisse die Verhandlungen für die mittelfristige Finanzplanung der Union für den Zeitraum von 2007 bis 2013 zu einem erfolgreichen Abschluss bringen konnte. Mit der Auflösung dieser, dank einer eigennützig agierenden britischen Ratspräsidentschaft unter Tony Blair, nahezu völlig blockierten Situation konnte die Bundesregierung Deutschland wieder in die Rolle einer Führungsmacht bringen, die keine Dominanzansprüche stellt, sondern ihre Partner einbindet. Viel von diesem Geschick wurde der Bundesregierung auch im Umgang mit dem europäischen Verfassungsvertrag (VVE) abverlangt. Im Juni 2006 hatte der Europäische Rat die künftige deutsche Ratspräsidentschaft aufgefordert, Mitte 2007, also nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich und nach den Parlamentswahlen in den Niederlanden, einen Bericht zum Stand der Diskussion in den Mitgliedstaaten abzugeben sowie weitere Möglichkeiten zum Umgang mit dem VVE aufzuzeigen. Bundeskanzlerin Angela Merkel strebte
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in dieser komplexen Situation an, soviel Substanz wie möglich aus dem – bereits von 18 Staaten ratifizierten – VVE zu bewahren und in ein neues Vertragswerk zu überführen. Zugleich musste jedoch den Bedenken, die in Frankreich und den Niederlanden zur Ablehnung des VVE geführt hatten, Rechnung getragen werden. Darüber hinaus meldeten Skeptiker wie Polen und Großbritannien weitere Bedenken vor allem bezüglich der Grundrechtecharta, der gemeinsamen Symbole und der Abstimmungsregeln im Ministerrat an. Die Bundesregierung entschied sich für ein zweistufiges Vorgehen: Zunächst sollte eine zwar rechtlich unverbindliche, aber politische Orientierungskraft für die Zukunft der EU entfaltende Erklärung ausgearbeitet werden. Die dann symbolträchtig am 25. März 2007, dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge, verabschiedete „Berliner Erklärung” postuliert denn auch nach einer knappen Bilanz des Erreichten und einem Überblick über die anstehenden Herausforderungen: „For that reason we must always renew the political shape of Europe in keeping with the times. That is why today, 50 years after the signing of the Treaties of Rome, we are united in our aim of placing the European Union on a renewed common basis before the European Parliament elections in 2009. For we know, Europe is our common future.” (Berlin Declaration 2007: 2) Mit diesem „Testlauf für die Verhandlungen zum Verfassungsvertrag“ (Schwarzer 2007) gewann der Verhandlungsprozess über den Verfassungsvertrag ein neues Momentum. Wichtiger aber war noch das neu gefundene Arbeitsformat der Chefunterhändler, mit denen dann die entscheidenden Fragen zur Zukunft des Verfassungsvertrages diskutiert werden sollten (s. Maurer 2007). Parallel führte die Bundeskanzlerin intensive persönliche Konsultationen auf höchster Ebene mit den Skeptikern vor allem in Warschau und London, wobei sie nachdrücklich durch die Regierungschefs von Luxemburg, Spanien und Italien sowie den neuen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy unterstützt wurde. Angesichts der unter der deutschen Präsidentschaft geleisteten Vorarbeiten und getroffenen Entscheidungen konnte der Europäische Rat am 26. Juni 2007 in Brüssel ein sehr detailliertes Mandat für die dann von der nachfolgenden portugiesischen Ratspräsidentschaft umgehend einberufene Regierungskonferenz zur Ausarbeitung des neuen, nunmehr so genannten Reformvertrages erteilen (s. Council of the European Union 2007). Der dann am 13. Dezember 2007 unterzeichnete „Vertrag von Lissabon“ besitzt zwar keinen Verfassungscharakter mehr, dennoch kann festgehalten werden, dass es der deutschen Ratspräsidentschaft unter Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier durch geschickte Verhandlungsführung gelungen ist, zentrale Bestandteile des VVE in den Reformvertrag zu retten (zu den Änderungen des Reformvertrages s. ausführlich Lieb/Maurer/ von Ondarza 2008). Dass es der Bundesregierung gelang, ein fast gescheitertes Projekt gegen viele Widerstände doch noch zu realisieren und Europa aus seiner verfahrenen Situation zu befreien, macht ihre EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 zu einem bemerkenswerten Erfolg, vielleicht sogar zum außenpolitischen Höhepunkt der Großen Koalition. Bemerkenswert ist, dass die Bundesregierung in der Vorbereitung auf diese entscheidende Aufgabe ohne eine substanzielle Abstimmung mit Frankreich vorgehen musste. Präsident Jacques Chirac war nach dem ablehnenden Referendum im Mai 2005 innenpolitisch stark angeschlagen und bis zum Ende seiner Amtszeit auch außen- und europapolitisch weitgehend gelähmt. Insgesamt löste sich Deutschland aus der exklusiven Bindung an Frankreich und erschloss sich wieder neue Handlungsspielräume hin zu den von Schröder/Chirac vernachlässigten Partnern vor allem in Ostmitteleuropa. Wie die wiederkehren-
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den Irritationen mit Staatspräsident Nicolas Sarkozy etwa im Streit um die von ihm vorgeschlagene Mittelmeer-Union oder beim Umgang mit der Finanzkrise 2008/09 zeigen, hat das deutsch-französische Tandem einiges von seinem europapolitischen Schwung verloren. Die breitere Aufstellung der deutschen Europapolitik erscheint daher als richtige Antwort auf die Herausforderungen einer komplexeren EU. Wenngleich der Vertrag von Lissabon zur verbesserten Kohärenz und Handlungsfähigkeit der EU beitragen soll, bleibt die Rolle der EU als weltpolitischer Akteur weiterhin ambivalent. Trotz wachsender wirtschaftlich-politischer Interessen weltweit dominieren in der EU weiterhin die nationalstaatlichen Interessen, die ein gemeinsames Handeln erschweren bzw. verhindern. In den Kriegen in Georgien (2008) und in Gaza (2008/09) spielte die EU als eigenständiger Akteur keine Rolle. Zwar sind – auch unter deutscher Beteiligung – die militärischen und zivilen Operationen der EU im Rahmen ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) weiter ausgebaut worden (vgl. Knelangen 2009) und hat die Union mit der Marineoperation „Atalanta“ zur Piratenabwehr am Horn von Afrika ganz neue Fähigkeiten entwickelt. Doch blieben gerade die beiden großen Militäreinsätze in der DR Kongo (EUFOR DR Congo 2006) und im Tschad/Zentralafrikanischer Republik (EUFOR Chad/CAR), an denen Deutschland nur unter starkem Sträuben (Kongo) bzw. gar nicht (Chad) teilnahm, eher punktuelle, symbolische Interventionen ohne große Nachhaltigkeit für die betroffenen Länder. Anders als in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten, in denen von Deutschland immer wieder entscheidende Impulse für eine Fortentwicklung der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas ausgingen, blieb die Große Koalition auf diesem Gebiet vergleichsweise passiv. Insgesamt indes hat sich die Europapolitik der Großen Koalition als sehr kooperativ und integrationsorientiert erwiesen. Nach den untauglichen Versuchen Kanzler Schröders, in Europa eine Gegenmacht zur NATO bzw. zu den USA aufzubauen, konnte Deutschland seine klassische Mittlerposition in den euro-atlantischen Beziehungen wieder einnehmen und Vertrauen in den stärker atlantisch orientierten ostmitteleuropäischen Staaten zurückgewinnen. Deutschland konnte so sein Gewicht in Europa durchaus weiter steigern und seine Rolle als Vertreterin der EU im internationalen Nahost-Quartett bzw. in den Verhandlungen mit dem Iran über dessen Nuklearprogramm mit wachsendem Rückhalt wahrnehmen. 4
Transatlantische Beziehungen und NATO-Politik
Nach den Irritationen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA vor, während und nach der Irak-Krise hatte die Wiederherstellung gedeihlicher Beziehungen eine hohe Priorität für die neue Bundesregierung, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung am 30. November 2005 unterstrich: „Die neue Bundesregierung wird sich mit aller Kraft für ein enges, ehrliches, offenes und vertrauensvolles Verhältnis in der transatlantischen Partnerschaft einsetzen. Diese Partnerschaft der Wertegemeinschaft der westlichen Welt ist ein hohes – ich sage: ein kaum zu überschätzendes – Gut.“ (Merkel 2005) Hierbei setzte die Bundesregierung sowohl auf die bilateralen Kanäle zwischen beiden Staaten wie auch auf die multilateralen Foren, die NATO, EU und die G-8 Gruppe bereitstellen. Bereits in ihrem ersten Treffen mit US-Präsident George W. Bush am 13. Januar 2006 in Washington gelang es ihr, eine neue sachliche Gesprächsbasis zwischen Verbündeten zu
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finden, in der auch offene kritische Worte ausgesprochen werden können. In der unerwartet langen Unterredung hatte Kanzlerin Merkel deutliche Kritik am US-Gefangenenlager Guantanamo geübt, gleichwohl waren beide Seiten von einem guten Anfang überzeugt. (vgl. Lohse 2006) Anders als Schröder hatte Merkel nie einen Zweifel an ihrer Überzeugung aufkommen lassen, dass eine starke nordatlantische Gemeinschaft und damit verbunden auch eine Führungsrolle der USA im deutschen und europäischen Interesse liegt. So konnte sie auch in den nachfolgenden Monaten und Jahren Themen wie die CIA-Flüge, die Verschleppung des Deutsch-Libanesen Khaled el-Masri durch den US-Geheimdienst oder den Fall des Bremen stammenden Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz ansprechen, ohne dabei Beschädigungen in den wieder verbesserten Beziehungen befürchten zu müssen. Allerdings fiel die deutsche Kritik auch umso nachsichtiger aus, je deutlicher wurde, wie eng deutsche Dienste in der Terrorismus-Abwehr mit den US-Partnern kooperierten und dabei auch auf umstrittene CIA-Erkenntnisse zurückgriffen. Den Stil freundschaftlicher Sachlichkeit übertrug die Bundeskanzlerin auch auf Bushs Nachfolger Barack Obama, ohne der Begeisterung zu erliegen, die der charismatische Präsident nach seinem Amtsantritt Anfang 2009 auch in Deutschland verbreitete. Rasch wurde klar, dass nach dem Ende der dunklen Bush-Jahre zwar ein neuer Stil in die amerikanische Politik eingezogen war, in der weltpolitischen Substanz die USA aber weiterhin eine am Eigeninteresse orientierte und ihre Verbündeten fordernde Weltmacht bleiben würden. Seine Ratspräsidentschaft 2007 in der EU nutzte Deutschland, um auf dem EU-US Gipfel am 30. April 2007 in Washington ein Rahmenabkommen über die Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen EU und USA abzuschließen (s. Merkel et al. 2007) sowie eine verbesserte Zusammenarbeit im Klimaschutz zu vereinbaren. Auch auf dem G-8Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 gelang es der Bundeskanzlerin, die gegenüber multilateralen Verpflichtungen äußerst ablehnende Bush-Regierung zur Zusage einer Teilnahme am Kyoto-Nachfolgeprozess zu bewegen. Das entscheidende multilaterale Forum für die Wiederannäherung in den transatlantischen Beziehungen aber bildete weiterhin die NATO. Hatte Merkels Vorgänger Schröder der Allianz im Februar 2005 auf der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik noch bescheinigt, nicht mehr der primäre Ort zu sein, „an dem die transatlantischen Partner ihre strategischen Vorstellungen konsultieren und koordinieren“ (Schröder 2005), beeilte sich Bundeskanzlerin Merkel ein Jahr später an gleicher Stelle, die besondere Bedeutung der NATO als zentrales Forum für die Ausgestaltung der transatlantischen Beziehungen hervorzuheben (vgl. Merkel 2006a). Tatsächlich leistet Deutschland mit seinen Truppenkontingenten im Kosovo und in Afghanistan mit insgesamt fast 7 000 Soldaten einen substanziellen Beitrag zu den Bemühungen der Allianz um Stabilität in diesen Einsatzgebieten. Auch hat Deutschland auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 die Aufnahme Albaniens und Kroatiens unterstützt – den Wünschen der USA nach engerer Heranführung mit dem Ziel baldiger Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine aber erhebliche Bedenken entgegengestellt. Doch konnte auch der am 3./4. April 2009 von Deutschland und Frankreich gemeinsam ausgerichtete Jubiläumsgipfel anlässlich des 60. Geburtstages der Allianz nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die deutsche Rolle bei der konzeptionellen Fortentwicklung der Allianz mehr als zurückhaltend darstellte. Wenn unter den Staatenlenkern des Bündnisses über dessen künftige Aufgaben und Strukturen nachgedacht oder die neue Vorgehensweise in Afghanistan diskutiert wurde, verharrte Deutschland – nicht zuletzt aufgrund erheblicher innenpolitischer Vorbehalte gegenüber einer allzu aktiven Allianz – in
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einer zurückhaltenden, abwartenden Rolle (vgl. Theiler 2009: 308-309). Auch auf den seit 2006 stärker werdenden Druck der Alliierten bezüglich einer intensiveren Beteiligung Deutschlands an den Kampfeinsätzen vor allem im Süden Afghanistans (s.u. Abschnitt 7) sowie auf die von Präsident Barack Obama seit 2009 erhobenen Forderungen nach stärkeren gemeinsamen Anstrengungen in Afghanistan reagierte die Große Koalition bis zuletzt ausweichend, die Entwicklung einer neuen Afghanistan-Strategie wurde im wesentlichen den USA überlassen. Das Prinzip eines effektiven, handlungsfähigen Multilateralismus, welches deutsche Regierungen immer gerne als Leitlinie außenpolitischen Handelns betonen, lebt in Theorie und Praxis davon, dass die beteiligten Partner neben ihren Interessen auch ihre Beiträge und Fähigkeiten in die aktive Gestaltung internationaler Politik einbringen (vgl. Dettke 2009: 46). Doch statt als partner in leadership, einer Rolle, die Präsident George Bush der Ältere einst dem wiedervereinten Deutschland antragen wollte, wirkte Deutschland unter der Großen Koalition eher als ein zögerlicher Juniorpartner der USA, der sich seiner eigenen Ansprüche und Fähigkeiten nicht recht bewusst ist. 5
Vereinte Nationen/Globale Fragen
Als weltweit agierende Wirtschafts- und Handelsmacht ist Deutschland zunehmend von den immer globaler werdenden Fragen und Herausforderungen einer interdependenten Welt betroffen. Internationale Stabilität und Frieden, der internationale Menschenrechtsschutz, sowie der Schutz von Umwelt und Klima sowie die Überwindung von Unterentwicklung und Armut bilden daher wesentliche Handlungsfelder deutscher Politik auf der globalen Ebene, für deren Ausgestaltung die Vereinten Nationen seit jeher den wichtigsten Rahmen neben EU und NATO bilden. Wesentliche Akzente hat Deutschland auch unter der Großen Koalition wieder im Bereich der internationalen Klimapolitik gesetzt, hat sich in der EU wie auch während der deutschen Präsidentschaft in der G8-Gruppe immer für die verbindliche und überprüfbare Festschreibung von Reduktionszielen bei den Treibhausgasen eingesetzt – wenn auch bereits im Vorfeld des Kopenhagener Klimagipfels der VN klar wurde, dass weder die großen Umweltsünder wie die USA und China noch viele Schwellen- und Entwicklungsländer substanzielle Schritte in diese Richtung unternehmen würden. Im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit hat die Bundesrepublik in den Jahren der Großen Koalition ihre Anstrengungen einerseits weiter konzentriert, andererseits aber auch weiter ausgebaut. Im Jahr 2008 leistete Deutschland mit rd. 14 Mrd. US-$ den weltweit zweithöchsten Beitrag an öffentlicher Entwicklungshilfe hinter den USA; dies entspricht einem unter der Großen Koalition wiederum in kleinen Schritten gestiegenen Anteil von knapp 0,4 Prozent am deutschen Bruttoinlandsprodukt (s. BMZ 2009). Auch der Schutz der Menschenrechte blieb ein wichtiges Thema, für das die Kanzlerin nicht nur in Moskau oder Beijing, sondern auch in Washington deutliche Worte fand. Deutschland kandidierte im Mai 2006 für den neu geschaffenen VN-Menschenrechtsrat und erhielt mit 154 Stimmen das beste Ergebnis aller Kandidaten (s. Gareis 2009c: 95). Im Bereich der internationalen Friedenssicherung übernahm Deutschland 2006 einen Platz im Organisationsausschuss der ebenfalls neu geschaffenen Kommission für Friedenskonsolidierung (peacebuilding commission), blieb im Bereich der durch die VN geführten Frie-
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denseinsätze aber weiterhin sehr zurückhaltend. Einzig im Falle der UNIFIL-Mission im Libanon erklärte sich Deutschland bereit, mit 459 Soldaten und einigen Schiffen ein größeres Kontingent bereitzustellen; die fünf weiteren deutschen VN-Beteiligungen bleiben mit Zahlen zwischen einem und 37 Personen dagegen sehr überschaubar (Stand November 2009; Zahlen www.un.org/dpko). Das zentrale Thema in den VN war während der zweiten Regierungszeit von Bundeskanzler Schröder die offensive Bewerbung um einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Weltorganisation. Diesem Anliegen schien die Große Koalition zunächst nur geringe Bedeutung beizumessen; in ihrer zur Eröffnung der 62. VN-Generalversammlung am 25. September 2007 in New York gehaltenen Rede erneuerte die Kanzlerin jedoch unerwartet deutlich Deutschlands in das mächtigste VN-Gremium: „Aber die Vereinten Nationen haben Reformbedarf. Der betrifft insbesondere den Sicherheitsrat. Der Sicherheitsrat muss in Krisenfällen schnelle und allgemein verbindliche Vorschläge entwickeln. Dazu muss er legitimiert sein. In seiner jetzigen Zusammensetzung spiegelt der Sicherheitsrat nicht mehr die Welt von heute wider. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, ihn den politischen Realitäten anzupassen. Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren in der Debatte stark engagiert. Deutschland ist bereit, auch mit der Übernahme eines ständigen Sicherheitsratssitzes mehr Verantwortung zu übernehmen.“ (Merkel 2007) Deutschland hat dann mit viel Engagement, aber eher im Stillen die Debatte weiter vorangetrieben, sich auch flexibel hinsichtlich einer Zwischenlösung einer längeren, aber weiterhin zeitlich befristeten Repräsentanz im Sicherheitsrat gezeigt. Ein wirkliches Momentum auf der globalen Agenda aber hat die Reform des Sicherheitsrates seit 2005 nicht mehr zurückgewonnen. Vorbereitet wurde durch das Auswärtige Amt die Kandidatur für einen Nichtständigen Sitz im Zeitraum 2011/12, in deren Rahmen Deutschland auf sein vielfältiges Engagement in allen Bereichen der VN verweist (s. Auswärtiges Amt 2009). Insgesamt hat sich die deutsche VN-Politik auch unter der Großen Koalition als engagiert und sachlich erwiesen. Deutschland genießt über die Regionalgruppen der Organisation hinweg hohen Respekt und Wertschätzung, was sich sicher auch in einer starken Unterstützung bei einer Kandidatur auch für einen Ständigen Sitz niederschlagen dürfte. Hierzu müsste allerdings eines Tages eine Reform des Sicherheitsrates durch die VN-Mitgliedstaaten gewünscht und ins Werk gesetzt werden – was in der überschaubaren Zeit aber wohl kaum der Fall sein dürfte. 6
Engagement im Nahen und Mittleren Osten
Vor allem die Zuspitzung der internationalen Kontroverse um das mögliche Atomwaffenprogramm des Iran seit dem Amtsantritt Mahmud Ahmadinejads sorgte dafür, dass die Lage im Nahen und Mittleren Osten für die Außenpolitik der Großen Koalition weiter an Bedeutung gewann. Schon unter der Regierung Schröder/Fischer war die Bundesrepublik gemeinsam mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich für die EU sowie mit den drei weiteren Ständigen Mitgliedern des VN-Sicherheitsrates China, Russische Föderation und USA (EU-3+3) eng in die diplomatischen Bemühungen um eine Beilegung der Krise eingebunden. Die Große Koalition übernahm diese Rolle und entwickelte die deutsche Beteiligung in diesem Format aktiv weiter.
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Von entscheidender Bedeutung war für die Bundesregierung die Lage Israels, dessen Existenzrecht nicht nur von Ahmadinejad mit zunehmender Aggressivität bedroht, sondern weiter auch von den durch Iran unterstützten Bewegungen Hisbollah im Libanon bzw. Hamas in den palästinensischen Autonomiegebieten in Frage gestellt wird. Anders als Bundeskanzler Schröder, der Israel erst nach zwei Jahren besuchte, war es Bundeskanzlerin Merkel wichtig, Jerusalem unverzüglich einen Antrittsbesuch abzustatten. Kurz vor Merkels Besuch in Israel und dann im Westjordanland am 29./30. Januar 2006 hatte die israelfeindliche Hamas-Bewegung die Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten gewonnen; in ihren Gesprächen mit dem amtierenden israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert unterstrich die Kanzlerin die besondere Verantwortung Deutschlands für Israel und machte gegenüber Präsident Mahmud Abbas in Ramallah deutlich, dass Deutschland auch von der Hamas eine Anerkennung Israels als Voraussetzung weiterer Unterstützung für die Palästinenser fordert. (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar 2006) Die Verweigerung von Gewaltverzicht und Anerkennung Israels durch die Hamas führte dann im April 2006 zu einem weitgehenden Einfrieren der direkten EU-Zuwendungen an die Autonomiebehörde – was indes weniger Einlenken als vielmehr eine weitere Radikalisierung von Hamas und Hisbollah nach sich zog. Gegen die zunehmenden Übergriffe aus dem Libanon und dem von der Hamas beherrschten Gaza-Streifen wehrte sich Israel in zwei Kriegen im Sommer 2006 und zum Jahreswechsel 2008/09; die hohen Opferzahlen in den jeweils betroffenen Zivilbevölkerungen und die Zerstörungen in der zivilen Infrastruktur ließen beide Feldzüge indes zu politischen und militärischen Desastern für Israel werden. Ihren Rückhalt für Israel erhielt die Bundesregierung gleichwohl aufrecht; mit der Entsendung einer Marineflottille zur Unterstützung der nach dem Sommerkrieg 2006 vergrößerten VN-Friedenstruppe UNIFIL sollte ein (insgesamt eher symbolischer) Beitrag zur Sicherheit in der Region geleistet, die Möglichkeit einer direkten Begegnung zwischen deutschen und israelischen Soldaten auf libanesischem Boden aber unbedingt vermieden werden. Im März 2008 reiste die Kanzlerin dann mit sieben Ministern nach Jerusalem, um dort die regelmäßigen deutsch-israelischen Regierungskonsultationen ins Leben zu rufen. In diesem exklusiven Format wollen beide Seiten die „politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Beziehungen in Form einer Partnerschaft zwischen demokratischen und pluralistischen Staaten stärken und intensivieren“ (Merkel/Olmert 2008: 1). Bei aller Freundschaft zu Israel unterhält Deutschland aber auch vielfältige Beziehungen zu den Staaten in der engeren und weiteren Nachbarschaft. Nach dem Sommerkrieg im Libanon reiste Außenminister Steinmeier nach Syrien, um den Gesprächsfaden mit diesem zentralen Akteur wieder aufzunehmen. Unter der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 kam es zu zwei Treffen des mit der Friedenssuche im Nahen Osten beauftragten und aus den VN, den USA, Russland und der EU bestehenden Nahost-Quartetts. Gute geheimdienstliche Verbindungen zu den unterschiedlichsten Akteuren ließen Deutschland zudem immer wieder als diskreten und erfolgreichen Vermittler bei Gefangenenaustauschen zwischen Israel, der Hisbollah und der Hamas auftreten. Von den Beziehungen zu Israel stark geprägt wurde die deutsche Politik auch in der Iranfrage. Die langfristigen und guten wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Iran haben sich unter Ahmadinejad zwar eingetrübt, sind aber weiterhin intakt. Gleichwohl hat die Bundeskanzlerin von Beginn an gegenüber Teheran die roten Linien aufgezeigt: „Das Existenzrecht Israels darf niemals in Frage gestellt werden. Deshalb ist es für jede deutsche Bundesregierung auch unerträglich und nicht hinnehmbar, wenn der iranische
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Staatspräsident genau dieses Existenzrecht Israels in Frage stellt.“ (Merkel 2006b) In den gemeinsam mit den fünf Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates geführten Verhandlungen hat sich die Bundesregierung zwar stets für eine diplomatische Lösung des Streits um Irans Atomprogramm ausgesprochen, diese aber zugleich mit politischem Druck und auch Sanktionen zu untermauern verlangt. Gleichwohl hat die Wiederwahl Ahmadinejads am 13. Juni 2009 gezeigt, wie eng die Möglichkeiten externer Einflussnahme auf ein Land von der Größe und wirtschaftlichen Bedeutung Irans tatsächlich sind. Die iranische Bedrohung Israels wird daher weiterhin ein ernstzunehmender internationaler Konfliktherd bleiben. Insgesamt hat Deutschland unter der Großen Koalition seine Kontakte und Aktivitäten in der Region weiter ausgebaut, seinen Fokus aber auf die mit Israel zusammenhängenden Probleme gerichtet. Ein umfassender, auch die südliche Mittelmeerregion in den Blick nehmender Ansatz konnte sich so nicht entwickeln (vgl. Beck/Fürtig/Mattes 2008: 7). Zugleich war sich die deutsche Politik auch ihrer eingeschränkten Handlungsspielräume bewusst, sie blieb weiterhin eingebettet in die (wenig aktive) europäische Politik und letztlich im Schatten der US-Politik in der Region. 7
Überfällige strategische Debatte zu den Bundeswehreinsätzen
Wie kaum ein anderes Symbol kennzeichnen die bewaffneten Bundeswehreinsätze in aller Welt den Wandel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung. Hatte die rot-grüne Koalition bei ihrem Amtsantritt 1998 den Kriegseinsatz im Kosovo gleichsam übernehmen müssen, baute sie in den folgenden Jahren die Beteiligungen deutscher Soldaten an internationalen Militärmissionen auf dem Balkan, in Afghanistan, in Afrika sowie im Rahmen des Anti-Terrorkampfes aktiv aus. Diese Praxis wurde auch unter der Großen Koalition fortgesetzt; doch während die Zahl der eingesetzten Soldaten mit meist zwischen 7000 und 8000 weiterhin recht konstant blieb, wurde die schwarz-rote Bundesregierung stärker als ihre Vorgängerin von den Verbündeten Deutschlands in NATO und EU in immer mehr, vor allem aber in immer robustere Engagements gedrängt. Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit wurde die Bundesregierung mit der Anforderung aus VN und EU konfrontiert, die Führung einer europäischen Truppe zur Absicherung der Wahlen in der DR Kongo zu übernehmen – eine Aufgabe, der sie sich trotz heftiger Widerstände insbesondere seitens des Verteidigungsministeriums nicht entziehen konnte (s. Gareis 2006c). Ebenfalls im Jahr 2006 übernahm die Bundeswehr nach dem Libanon-Krieg die Führung des maritimen Anteils der VN-Mission UNIFIL bei der Überwachung des Waffenstillstands zwischen Israel und Libanon und konnte so eine – von Israel gewünschte – Entsendung von Bodentruppen in die UNIFIL vermeiden. Im Herbst 2006 begannen dann die Verbündeten in der NATO, voran die USA, unter den Vorzeichen der Bündnissolidarität eine Ausweitung des deutschen ISAF-Einsatzes auch in den umkämpften Regionen im Süden und Osten Afghanistans zu fordern (vgl. Burns 2006), eine Diskussion, die auch nach der Entsendung deutscher Aufklärungstornados nach Afghanistan im Jahr 2007 und der Bereitstellung einer Quick Reaction Force (QRF) nicht abriss. Deutschland geriet so in einen sich immer rascher drehenden Teufelskreis aus immer größeren Beiträge zu Kampfeinsätzen im Namen der Bündnisräson und einer darob immer skeptischer werdenden Öffentlichkeit im eigenen Land, Zögerlichkeiten in der politisch-militärischen Führung und wachsenden Verstimmungen unter den Alliierten (vgl. Gareis 2009b).
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Dieses Dilemma ist indes in weiten Teilen hausgemacht. Wie alle Regierungen zuvor versuchte auch die Große Koalition, in Politik, Öffentlichkeit und den Streitkräften selbst eine realitätsbezogene Debatte über den Charakter bewaffneter militärischer Unternehmungen zu vermeiden. Zwar stellt das 2006 von der Bundesregierung vorgelegte Weißbuch die Sicherung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Deutschland an erste Stelle des Auftrages der Bundeswehr, verweist die Landesverteidigung auf den dritten Platz (BMVg 2006: 70) und beschreibt länglich Rahmenbedingungen und Abläufe des Umbaus der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee – eine strategische Orientierung, für welche Interessen, in welchem Umfang, und mit welcher militärischen Intensität die Bundeswehr eingesetzt wird, was also die Verwendung des Militärs als Instrument der Außenpolitik konkret bedeutet, bleibt das Papier jedoch schuldig (vgl. Perthes 2007). Statt sich in einem breiten gesellschaftlichpolitischen Dialog über neue sicherheitspolitische Herausforderungen und die militärischen Beiträge zu ihrer Bewältigung auseinander zu setzen, statt sich um einen neuen, das alte Paradigma der strikten Verteidigungsfunktion der Streitkräfte ersetzenden strategischen Konsens zu bemühen, und statt auf dieser Grundlage eigene Strategieansätze für die Einsatzszenarien vorzulegen, wurde Deutschland in Fragen seiner militärischen Beteiligungen immer mehr zu einer Getriebenen. Wie überfällig eine solche strategische Debatte in Deutschland war und weiterhin ist (vgl. Gareis 2009a: 114), zeigen die innenpolitischen Reaktionen auf die Anordnung eines Luftschlages gegen zwei entführte Tanklastzüge und die für diese Tat verantwortlichen Taliban durch einen deutschen Oberst im afghanischen Kundus am 4. September 2009. Die in Politik und Teilen der militärischen Führung gerne gepflegte Legende von einem humanitären Stabilisierungseinsatz im Norden Afghanistans fiel unversehens in sich zusammen und öffnete den Blick auf ein asymmetrisches Kriegsszenario, in welchem Bundeswehrsoldaten schon über Monate und Jahre fast täglich in schwere Gefechte verwickelt waren. Nach einem misslungenen Kommunikationsmanagement im Verteidigungsministerium stand in der umgehend einsetzenden Debatte dann nicht mehr die eigentlich entscheidende Frage im Vordergrund, ob der Luftschlag mit seinen vielen Toten in der gegebenen Situation erforderlich war oder nicht, sondern die Verwunderung darüber, dass Soldaten in kriegerischen Szenarien auch tatsächlich militärische Gewalt anwenden. Es war letztlich eine Frage der Zeit, wann die Versuche auch der schwarz-roten Bundesregierung, die Militäreinsätze humanitär zu verklären, von der Realität der Einsatzbedingungen eingeholt wurden. Der mangelnde Mut zu politischer Führung, der in der Verdrängung einer offenen Debatte über die Verwendung des Militärs als außenpolitischem Instrument zum Ausdruck kommt, dürfte die ohnedies große Skepsis in der deutschen Öffentlichkeit gegenüber den Bundeswehreinsätzen weiter verstärkt und so die Handlungsspielräume bei der Erfüllung von Verpflichtungen gegenüber den Alliierten fürs erste weiter verringert haben. 8
Bilanz und Fazit
Die Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister FrankWalter Steinmeier hat die Verantwortung für die deutsche Außenpolitik unter schwierigen (welt-) politischen Vorzeichen übernommen. Dank einer weitreichenden Übereinstimmung der beiden Koalitionspartner in der Bewertung wie auch im Umgang mit den wesentlichen
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politischen Herausforderungen für Deutschland konnte eine pragmatische Außenpolitik entwickelt werden, die sich einerseits am politisch Machbaren orientierte, die sich andererseits aber auch der Grenzen deutscher Einflussnahmen auf das internationale System bewusst war. Daher war es mehr als ein bloßer Wechsel im Stil der Außenpolitik, als die Bundesregierung nach den „deutschen Wegen“ Gerhard Schröders wieder verstärkt zu den multilateralen Formen politischer Kooperation und Entscheidungsfindung zurückkehrte. So konnte verlorenes Vertrauen bei vielen europäischen Partnern wiederhergestellt und die transatlantischen Beziehungen wieder gekittet werden. Dass mit diesem zuweilen auch beklagten (s. Masala 2008: 25) Verzicht auf außenpolitische Visionen nicht zwingend auch die Fähigkeit zu politischer Überzeugungskraft und Führung verloren gehen muss, hat die deutsche Politik vor allem während der EU-Ratspräsidentschaft 2007 bewiesen, als es ihr, ohne Frankreich, durch geschickte Diplomatie gelang, Europa aus seiner integrationspolitischen Schockstarre herauszuführen und dem Vertrag von Lissabon schließlich zum Durchbruch zu verhelfen. Dennoch ist die deutsche Außenpolitik unter der schwarz-roten Bundesregierung weiterhin eher reaktiv geblieben. Eigene konzeptionelle Vorstellungen wie es nach Lissabon mit der EU weitergehen, welches die Zukunft der NATO sein oder wie sich das weitere internationale Engagement in Afghanistan gestalten könnte, blieben von deutscher Seite praktisch völlig aus. Trotz einer breiten parlamentarischen Mehrheit und großer Kongruenz in den außenpolitischen Vorstellungen ist Deutschland auch unter der Großen Koalition auf dem Wege einer konsistenten Bestimmung der eigenen Position in Europa und der Welt nicht vorangekommen, wurde die in Politik, Medien und Wissenschaft immer wieder eingeforderte breite gesellschaftliche Orientierungsdebatte um weitere vier Jahre aufgeschoben bzw. verdrängt. Eine solche Positionsbestimmung bildet jedoch eine wesentliche Voraussetzung, um gemeinsam mit den Verbündeten wie auch den internationalen Partnern die Herausforderungen einer komplexen Welt meistern zu können. Die disparate Diskussion um den Einsatz militärischer Gewalt, von der die Große Koalition in den letzten Tagen ihrer Amtszeit eingeholt wurde, hat gezeigt, wie weit Deutschland von einer solchen Positionsbestimmung noch entfernt ist. Insgesamt kann die Außenpolitik der Großen Koalition gleichwohl als klug, pragmatisch und harmonisch, aber auch – vielleicht mit Ausnahme der erfolgreichen EURatspräsidentschaft – als ohne große Glanzlichter bezeichnet werden. Immerhin – und dies ist angesichts der schwierigen weltpolitischen Lage durchaus als Erfolg zu werten – ist die schwarz-rote Bundesregierung ohne größere außenpolitische Fehler über ihre Amtszeit gekommen. Mit ihrer wenig spektakulären, aber soliden und alles in allem erfolgreichen Außenpolitik hat sie der nachfolgenden schwarz-gelben Regierung ein ordentlich bestelltes Politikfeld hinterlassen. Literatur Auswärtiges Amt, 2009: Deutschland in den Vereinten Nationen. Berlin. Bahr, Egon, 2003: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal. München. Beck, Martin/Fürtig, Henner/Mattes, Hanspeter, 2008: Herausforderungen deutscher Außenpolitik im Nahen Osten. GIGA Focus 6. Hamburg.
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Parteienwettbewerb und Parteienentwicklung unter den Bedingungen der Großen Koalition
Oskar Niedermayer
Parteien und Parteiensystem
1
Einleitung1
Das deutsche Parteiensystem zu Beginn der Großen Koalition lässt sich als „fluides Fünfparteiensystem“ (Niedermayer 2002, 2008a) kennzeichnen. Diese These bezieht sich auf seine zentralen Strukturcharakteristika und die daraus resultierenden Wettbewerbskonstellationen, die sich auch wesentlich auf seine inhaltlichen Eigenschaften auswirken. Zum ersten Mal seit dem Ende der Fünfzigerjahre gibt es fünf koalitionsstrategisch relevante Parlamentsparteien: CDU/CSU2, SPD, FDP, die Grünen und die LINKE – wobei eine Partei dann als koalitionsstrategisch relevant angesehen wird, wenn sie rein rechnerisch für „minimale Gewinnkoalitionen“ gebraucht wird, also für Mehrheitskoalitionen, die beim Wegfall einer der Koalitionsparteien keine Mehrheit mehr besitzen. Es spricht Einiges dafür, dass sich dieses parlamentarische Format in absehbarer Zeit nicht verändern wird, da die drei kleinen Parteien mittlerweile stark genug verankert sind, um die zum Erreichen der parlamentarischen Repräsentation notwendige Fünf-Prozent-Hürde bei den Wählerstimmen auch in Zukunft problemlos überwinden zu können, und das Hinzukommen einer sechsten Partei auf der Bundesebene sehr unwahrscheinlich ist.3 Betrachtet man die Wählerstimmenverteilung zwischen den Parteien, so zeigt sich im Vergleich mit früher eine relativ starke Fragmentierung des Parteiensystems. Bezeichnend für die Größenverhältnisse der fünf Parteien ist zum einen eine gesunkene Mobilisierungsfähigkeit der beiden Großparteien und zum anderen eine offene Wettbewerbssituation zwischen den kleineren Parteien, d.h. es steht bei Wahlen nicht mehr von Vorneherein fest, wer dritte Kraft im Parteiensystem ist. Zudem ist seit Ende der Neunzigerjahre die nachfrageinduzierte strukturelle Asymmetrie zwischen den beiden Großparteien weitgehend zerfallen, d.h.: Die jahrzehntelang bestehende, auf langfristig wirkende Faktoren der sozialstrukturellen Zusammensetzung und der politischen Grundorientierung der Wähler begründete Vorteilsposition der Union gegenüber der SPD gehört der Vergangenheit an. Daher existiert von dieser Seite her nicht nur zwischen den drei kleineren, sondern auch zwischen den beiden großen Parteien eine prinzipiell offene Wettbewerbssituation4, die sich in dem in etwa gleich starken Abschneiden von Union und SPD bei den letzten beiden Bundestagswahlen dokumentierte.
1
Dieser Beitrag wurde ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl 2009 fertig gestellt. CDU und CSU werden in Parteiensystemanalysen als eine Partei gezählt, weil in kompetitiven Systemen nur konkurrierende Parteien als getrennte Einheiten betrachtet werden und die beiden Schwesterparteien weder auf der elektoralen noch auf der parlamentarischen Ebene miteinander konkurrieren. 3 Dies bezieht sich vor allem auf die NPD, deren Chancen auf eine parlamentarische Repräsentation auf Bundesebene trotz ihrer punktuellen Erfolge bei Landtagswahlen aus einer Reihe von Gründen sehr gering sind. 4 Auf diese offene Wettbewerbssituation – im Gegensatz zu dem früheren starren Parteiengefüge – bezieht sich das Beiwort „fluide“ bei der Kennzeichnung des Parteiensystems. 2
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Oskar Niedermayer
Neben seinen Strukturcharakteristika zeichnet sich das Parteiensystem durch spezifische inhaltliche Charakteristika aus. Es besteht eine zweidimensionale Polarisierung, d.h. der Parteienwettbewerb wird durch zwei wesentliche Konfliktlinien geprägt: eine sozioökonomische in Gestalt des Sozialstaatskonflikts zwischen Marktfreiheit und sozialer Gerechtigkeit und eine sozio-kulturelle in Gestalt des Gegensatzes zwischen libertären und autoritären Wertvorstellungen. Im Rahmen des Sozialstaatskonflikts bilden die FDP und die LINKE die beiden Pole, der Konflikt zwischen Libertarismus und Autoritarismus wird im Parteiensystem durch die Grünen und die NPD als den beiden Polparteien abgebildet. Die neue Gestalt des Parteiensystems lässt Koalitionsbildungen nach dem traditionellen deutschen Muster einer Zweierkoalition aus einer großen und einer kleinen Partei unsicher werden und setzt daher für die Parteieliten einen machtstrategischen Anreiz zur Erweiterung von Koalitionsoptionen. Dies dürfte mittelfristig zu einer abnehmenden Segmentierung des Parteiensystems – sprich: der Aufweichung traditioneller koalitionspolitischer Trennungslinien – führen. Das fluide Parteiensystem des Jahres 2005 trug jedoch schon den Keim der Neustrukturierung in sich: Die seit 1998 bestehenden Schwierigkeiten der SPD mit ihrer Positionierung im Sozialstaatskonflikt führten 2007 letztendlich zu einer Strukturveränderung des Parteiensystems in Gestalt des Zusammenschlusses der von der SPD abgespaltenen WASG mit der PDS zur neuen Partei DIE LINKE. Dies kann zu einer neuen – nun angebotsinduzierten – strukturellen Vorteilsposition der Union führen, wenn deren inhaltliche Positionsveränderungen – die sowohl auf der sozio-ökonomischen als auch auf der sozio-kulturellen Konfliktlinie erfolgt sind – auch in Zukunft ohne strukturelle Konsequenzen bleiben. Im Folgenden sollen diese Veränderungen im Verhältnis der beiden Großparteien näher analysiert und ihre Auswirkungen insbesondere auch auf die Segmentierung des Parteiensystems beleuchtet werden. 2
Das Verhältnis zwischen Union und SPD: von der nachfrageinduzierten zur angebotsinduzierten Asymmetrie?
In den Anfangsjahren der Bundesrepublik befanden sich die Union und die SPD in einer prinzipiell offenen Wettbewerbssituation.5 In den Fünfzigerjahren vollzog sich jedoch ein Konzentrationsprozess des Parteiensystems, der einseitig zugunsten der Union verlief und sie gegenüber der SPD in eine strukturelle Vorteilsposition brachte. Die strukturelle Asymmetrie zugunsten der Union hielt bis Mitte der Neunzigerjahre an. In diesen vier Jahrzehnten konnte die SPD die Union nur ein einziges Mal knapp schlagen: bei der nach einem gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotum der Union gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt vorgezogenen Bundestagswahl 1972, wo die beiden kurzfristigen Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens, die Kandidaten- und die Sachthemenorientierung, maximal zugunsten der SPD und zu Lasten der Union wirkten. Erst 1998 konnte die SPD die Union wieder überflügeln und diesmal sehr deutlich. Dies ist auch auf eine Reihe von kurzfristigen Faktoren zurückzuführen, vor allem aber Ausdruck langfristiger Entwicklungen. CDU und CSU wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als konfessionsübergreifende Parteien mit dem Anspruch gegründet, die christlich orientierten Wähler beider Konfessio5 Zur Entwicklung des deutschen Parteiensystems und seiner verschiedenen Eigenschaften seit 1949 vgl. ausführlicher Niedermayer 2007.
Parteien und Parteiensystem
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nen anzusprechen. Dennoch waren sie ihren bis in die Gründungsphase des Kaiserreichs zurückreichenden historischen Wurzeln verhaftet, nämlich der konfessionellen Konfliktlinie zwischen Katholizismus und Protestantismus, die durch die Bildung eines katholischen Milieus noch verstärkt und mit der katholischen Kirche als zentraler Milieuorganisation organisatorisch abgesichert wurde. Ihre traditionelle Kernklientel besteht daher bis heute aus den kirchengebundenen Katholiken.6 Dieser Kern schmolz aufgrund der soziokulturellen Wandlungsprozesse in den letzten Jahrzehnten jedoch zusehends: Vor 35 Jahren machten in Westdeutschland kirchengebundene Katholiken noch knapp die Hälfte der Unions-Wählerschaft aus, heute stellen sie nur noch ein knappes Achtel (Roth/Wüst 2006: 55). Durch das Hinzukommen der ostdeutschen katholischen Diaspora nach der Vereinigung7 ist dieser Kern noch deutlich kleiner geworden. Neben der Erosion des Katholischen verlor die Union immer stärker eine Reihe von weiteren Machtressourcen, die ihr in der Vergangenheit erlaubt hatten, eine breite Koalition bürgerlicher Wählerschichten zu schmieden (vgl. auch Bösch 2002: 226ff. und Walter/Bösch 1998: 52ff.): Die Parteireform der Siebzigerjahre und die der selbst erzeugten Besitzstandswahrungsmentalität zuwiderlaufenden Flexibilitätszumutungen der Neunzigerjahre haben zur Entfremdung der Partei von ihren lokalen Honoratiorenschichten beigetragen, mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Ansteuern der politischen Mitte durch die SPD entfiel der Antikommunismus als integrative Klammer der verschiedenen bürgerlichen Milieus, die unionsnah politisch sozialisierten Alterskohorten mit starker lebenslanger Unionsprägung der Weimar- und Adenauer-Generation verschwinden zusehends aus dem Elektorat und die Unionsdominanz konzentriert sich regional bei den letzen drei Bundestagswahlen auf Baden-Württemberg und Bayern, wobei auch diese beiden Bundesländer von der längerfristigen Entwicklung deutlich betroffen sind.8 All dies deutet darauf hin, dass die nachfrageinduzierte, vor allem durch die sozialstrukturelle Zusammensetzung des Elektorats und dessen längerfristige politische Grundorientierungen bedingte „CDU/CSU-Lastigkeit des bundesdeutschen Parteiensystems“ (Kolinsky 1993: 46) seit Ende der Neunzigerjahre nicht mehr besteht (siehe auch Lohauß 2002, Raschke 2003 und Stöss 2004). Es spricht vieles dafür, dass von längerfristigen Faktoren der Wählerseite her bei gleichbleibender Angebotsstruktur, was die Parteienlandschaft betrifft, die Herausbildung einer strukturellen Asymmetrie auch in Zukunft eher unwahrscheinlich ist: Beide Großparteien können nur noch in sehr geringem Maße auf einen längerfristig stabilen Wählerstamm setzen9, der Anteil von Bürgern ohne längerfristi6 In der Wahlforschung wurde zwar seit den Achtzigerjahren die Ersetzung der konfessionellen durch eine religiöse Konfliktlinie diskutiert, die religiöse Wähler jeglicher Konfession von nicht religiösen Wählern trennt, Analysen für die letzten drei Wahlen zeigen aber die „ungebrochene(n) Attraktivität der CDU/CSU für das katholische Milieu“ (Roßteutscher 2007: 326) mit deutlich höheren Unionsanteilen bei den kirchengebundenen Katholiken im Vergleich zu allen anderen Wählergruppen 7 Im Jahre 1990 waren in Ostdeutschland 5,3 Prozent der Bevölkerung katholisch, heute sind es nur noch gut 4 Prozent (eigene Berechnungen aufgrund der Angaben des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz und des Statistischen Bundesamtes). 8 In Baden-Württemberg erzielte die CDU bei Bundestagswahlen von den Fünfziger- bis Mitte der Achtzigerjahre mit wenigen Ausnahmen Ergebnisse um die 50 Prozent, 2005 erreichte sie noch 39,2 Prozent. Bei der bayerischen Landtagswahl von 1974 konnte die CSU 62,1 Prozent der Stimmen erzielen, bei der Wahl von 2008 stürzte sie auf 43,4 Prozent ab und musste sich zum ersten Mal seit 1962 einen Koalitionspartner suchen. Bei der Bundestagswahl von 1976 erzielte sie 60 Prozent, 2005 noch 49,2 Prozent. 9 Nach einer groß angelegten Untersuchung im Auftrag der SPD im Jahr 2001 betrug der Anteil derjenigen Wähler, die die SPD immer gewählt haben und dies auch in Zukunft sicher tun wollen, nur noch 13 Prozent, bei der
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Oskar Niedermayer
ge Bindungen an Parteien ist deutlich größer geworden,10 und die Wähler zeichnen sich durch eine „langfristig und kontinuierlich wachsende Bereitschaft zum Wechsel“ (Neu 2006: 5) aus: In den Siebziger- und Achtzigerjahren betrug der Anteil der Parteiwechsler bei aufeinanderfolgenden Bundestagswahlen etwa ein Siebtel, bei der Bundestagswahl etwa ein Drittel und einschließlich derer, die in oder aus der Nichtwahl wechselten, war es fast die Hälfte (vgl. Weßels 2007: 24f.). Zudem ist mittlerweile die Hälfte der Wähler den so genannten „Spätentscheidern“ zuzurechnen, die sich in den letzten Wochen bzw. Tagen vor der Wahl oder sogar erst am Wahltag selbst entscheiden (Infratest dimap 2005: 81). Die gestiegene Flexibilisierung des Wahlverhaltens – also der Nachfrageseite des politischen Wettbewerbs – führt dazu, dass die Angebotsfaktoren ein größeres Gewicht erhalten. Die von den Wahlergebnissen bestimmte Struktur des Parteiensystems wird damit stärker als früher von dem inhaltlichen und personellen Angebot der Parteien beeinflusst. Führen Veränderungen dieses Angebots zu einer strukturellen Veränderung des Parteiensystems, dann kann hierdurch eine neue, angebotsinduzierte Asymmetrie zwischen den beiden Großparteien entstehen. Da das Konzept der strukturellen Asymmetrie auf eine längerfristige Vorteilsposition einer der beiden Parteien abstellt,11 kann momentan noch nicht entschieden werden, ob wir es mit einer neuen Asymmetrie zu Lasten der SPD zu tun haben. Die strukturellen Voraussetzungen für eine solche Entwicklung haben sich jedoch in den letzten Jahren herausgebildet. Schuld daran ist ein schon ein Jahrzehnt bestehendes inhaltliches Glaubwürdigkeitsproblem der SPD hinsichtlich ihrer Positionierung im Sozialstaatskonflikt, das seit 2005 auch nicht mehr durch ein attraktives personelles Angebot wenigstens teilweise kompensiert werden konnte und das 2007 endgültig zu einer Strukturveränderung des Parteiensystems geführt hat, während die erfolgten Positionsveränderungen der CDU bisher keine strukturellen Konsequenzen hatten. Der Sozialstaatskonflikt als Wertekonflikt um die Rolle des Staates bei der Verteilung von Gütern und Dienstleistungen wird zwischen marktliberalen und an sozialer Gerechtigkeit orientierten Positionen ausgetragen. Dabei wird von beiden Seiten mit unterschiedlichen Konzeptionen des Grundwerts der Gerechtigkeit argumentiert und dabei auch auf die Grundwerte der Freiheit und Gleichheit Bezug genommen. Nach der traditionellen Marktgerechtigkeitskonzeption sind Verteilungsergebnisse des Marktes, die nach bestimmten Grundregeln zustande kommen, auch gerecht. Politik hat demnach nur – durch Gewährleistung der Marktfreiheit – die Einhaltung der Grundregeln zu sichern. Damit wird auf den Grundwert der Freiheit rekurriert und Gerechtigkeit stellt sich als Leistungsgerechtigkeit dar. Die Gegenposition sieht materiell ungleiche Marktergebnisse als sozial ungerecht an, es wird auf den Grundwert der Gleichheit gesetzt und soziale Gerechtigkeit stellt sich als solidarische Verteilungsgerechtigkeit dar. Seinen konkreten Niederschlag findet dieser Wertekonflikt in den entgegengesetzten Politikkonzeptionen des sozialstaatlichen Interventionismus auf der einen und der liberalen Marktwirtschaft auf der anderen Seite. In den Neunzigerjahren haben die Verstärkung der Globalisierungsprozesse, der demographische Wandel in Gestalt der zunehmenden Alterung der Gesellschaft und die verUnion lag der Anteil bei 12 Prozent (vgl. Matthias Machnig: Anforderungen an eine Organisationsreform, o.O., o.J., von der SPD im Internet publiziert). 10 Ende der Siebzigerjahre war etwa jeder Fünfte ohne Parteibindung, seit Mitte der Neunzigerjahre ist es etwa jeder Dritte (Niedermayer 2005: 80). 11 In international vergleichenden Analysen hat es sich als sinnvoll herausgestellt, von einer strukturellen Asymmetrie erst auszugehen, wenn eine der beiden Parteien mindestens fünf Wahlen hintereinander klar für sich entscheiden kann (vgl. Niedermayer 2008b: 369).
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einigungsbedingten finanziellen Lasten den deutschen Wohlfahrtsstaat zunehmend an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gelangen lassen. Dies hat zu einer Revitalisierung des Sozialstaatskonflikts im Rahmen der Konfliktstruktur geführt. Die SPD hat es in der Oppositionszeit versäumt, ihre politischen Grundpositionen im Lichte der gewandelten sozioökonomischen Rahmenbedingungen rechtzeitig zu diskutieren, eine programmatisch klar umrissene und an den eigenen Grundwerten ausgerichtete Reformkonzeption als Antwort auf die neuen Herausforderungen zu formulieren, diese Konzeption ihren Anhängern in einem sorgfältig vorbereiteten politischen Kommunikationsprozess rechtzeitig zu vermitteln und konkrete Politikkonzeptionen zur Umsetzung nach einer möglichen Regierungsübernahme zu entwickeln. Seit 1998 lassen sich fünf Versuche unterscheiden, diese Versäumnisse zu beheben.12 Der erste Versuch wurde gestartet, als vor der Bundestagswahl 1998 immer deutlicher wurde, dass eine konkrete Chance auf eine Machteilhabe der SPD bestand. Mit dem Slogan „Innovation und soziale Gerechtigkeit“, dessen Personalisierung durch das Duo Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, dem Anprangern der durch die ersten von der KohlRegierung vorgenommenen Einschnitte in das Sozialsystem entstandenen „Gerechtigkeitslücke“ und dem Versprechen, diese „sozialen Grausamkeiten“ zurückzunehmen, wurde den Wählern der Eindruck vermittelt, es gäbe eine sozialdemokratische Politikkonzeption eines sozialverträglichen Umbaus des Sozialstaates unter Vermeidung sozialer Einschnitte für weite Kreise der Bevölkerung. Die damit geweckten hohen Erwartungen konnten nach der Regierungsübernahme jedoch nicht eingelöst werden, da hinter den Wahlversprechen keine ausgearbeitete und zwischen Kanzleramt, Fraktion und Parteiführung unstrittige Politikkonzeption stand, die man jetzt in Regierungshandeln hätte umsetzen können.13 Dies führte zu einer Akzeptanzkrise der SPD, die die Partei in der Wählergunst dramatisch abstürzen ließ: Innerhalb eines Jahres verlor die SPD fast die Hälfte ihres Wählerpotenzials (vgl. Abbildung 1).14 Dieser Absturz konnte auch nicht durch den im Juni 1999 von Gerhard Schröder gestarteten zweiten, nun weniger an die Wähler als an die Partei gerichteten Versuch zur Behebung der Versäumnisse aufgehalten werden:15 Im Kanzleramt wurde in Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des britischen Premierministers Tony Blair ein Strategiepapier erstellt, das als Schröder-Blair-Papier in die Annalen einging.16 Die dort angestellten Überlegungen machten deutlich, dass die gewandelte ökonomische Realität nach Ansicht der Autoren die Aufrechterhaltung des bisherigen Niveaus staatlicher Sozialleistungen nicht mehr erlaubt. Das Papier hätte den Anstoß zu einer intensiven innerparteilichen Diskussion geben kön12
Zu den ersten vier Versuchen vgl.ausführlich Niedermayer 2006a. Das Zerbrechen des Zweckbündnisses Schröder/Lafontaine und der anschließende Machtkampf in der SPDFührungsspitze, der mit Lafontaines Rücktritt und der Übernahme des Parteivorsitzes durch Schröder endete, war der personelle Ausdruck dieses Mankos. Hinzu kamen prozedurale Regierungsprobleme in Gestalt von Koordinierungs-, Professionalitäts- und Vermittlungsdefiziten. 14 Das Schaubild gibt die jeweilige momentane politische Stimmung wieder, nicht die strategische Überlegungen und längerfristige Einflussfaktoren mitberücksichtigende Projektion. 15 Dass es der Partei ab Ende 1999 wieder besser ging, lag am politischen Hauptkonkurrenten, der Union, die in den Strudel der Spendenaffäre geriet, in der Wählergunst dramatisch abstürzte und Schröder, seine Regierung und die SPD in der Wählergunst wieder steigen ließ. Nachdem der Wille der CDU zum Neuanfang durch die Übernahme des Parteivorsitzes durch Angela Merkel im April 2000 dokumentiert worden war, holte die Union in der politischen Stimmung jedoch wieder auf. 16 Vgl. Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair, London, 8. Juni 1999. 13
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Oskar Niedermayer
nen, es wurde jedoch von einem großen Teil der Partei ohne ernsthafte Auseinandersetzung abgelehnt, weil man seine zentrale inhaltliche Prämisse nicht akzeptierte. Abbildung 1:
Politische Stimmung: SPD seit 1997 (Angaben in Prozent)
60 55 50 45 40 35 30 25 20 15 10
BTW 98
S-B Papier
BTW 02
Agenda 2010
BTW 05
SPD PT
pers. Neuanf.
5 0 1/97
1/99
1/01
7/02
7/03
7/04
7/05
7/06
7/07
7/08
Eine solche Haltung ist auf dem Hintergrund der in der Bevölkerung bis heute tief verwurzelten Tradition einer „auf sozialem Ausgleich, Verteilungsgerechtigkeit und Staatsintervention basierenden“ (Mielke 2007: 26) Konzeption des deutschen Sozialstaates17 durchaus verständlich. Diese Tradition muss bei allen politischen Sanierungskonzeptionen des Sozialstaates beachtet werden, um deren demokratisch legitimierte Durchsetzbarkeit zu gewährleisten, und sie bedeutet für die politischen Akteure eine „Wanderung auf schmalem Grad… Einerseits stimmen radikale Konzepte des Sozialabbaus nicht mit den Vorstellungen der breiten Masse der deutschen Wähler überein. Gleichzeitig besteht jedoch Grund zur Annahme, dass – wie schon in der Vergangenheit – durch kleine Reformschritte und entsprechende öffentliche Rhetorik die Toleranzgrenze der Bevölkerung sukzessive erhöht werden kann. Der ‚Korridor des Wohlwollens’, in dem die Sozialpolitik der Parteien sich bewegen kann, ohne Wähler abzuschrecken, ist freilich eng“ (Christensen 2007: 82-83). Es spricht sehr viel dafür, dass die Erhöhung der Toleranzgrenze für soziale Einschnitte nur erfolgen kann, wenn eine zentrale Prämisse in den Augen der Bevölkerung gewährleistet ist: die gerechte Verteilung der Lasten solcher Einschnitte. Durch die Weigerung, das Schröder-Blair-Papier zum Anlass einer intensiven Diskussion zu nehmen, vergab die SPD die Chance, eine sozialdemokratische Konzeption der strikten Ausrichtung aller als notwendig erachteten Anpassungsprozesse des Sozialstaates am Grundwert der sozialen Gerechtigkeit zu entwickeln. Dies rächte sich knapp vier Jahre später, als der dritte Versuch der Neupositionierung im März 2003 eben nicht in Form einer innerparteilich ausdiskutierten, an den Gerechtigkeitsvorstellungen und Solidaritätsorientierungen der Partei und ihrer Wählerbasis orientierten Konzeption erfolgte, sondern durch die ohne Einbeziehung der 17
Vgl. hierzu z.B. Christensen 2007, Lippl 2008, Neugebauer 2007 und Roller 2000.
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Partei in einer Blitzaktion von den Ministerialbürokratien und dem Kanzleramt ausformulierte Agenda 2010, die mit der Zeit immer stärker zum Synonym für soziale Ungerechtigkeit wurde. Im Jahr zuvor hatte die Partei wegen der mageren wirtschafts- und arbeitsmarkpolitischen Bilanz der rot-grünen Bundesregierung, die in der Frühphase des Wahlkampfes zur Bundestagswahl 2002 zum beherrschenden Thema wurde, einer Wahlniederlage entgegengesehen. Ein erstes Ausbrechen aus dem Umfragetief gelang ihr mit der Präsentation der Ergebnisse der Hartz-Kommission zur Arbeitsmarktreform, die Erwartungen einer schnellen und deutlichen Reduzierung der Arbeitslosigkeit weckte und einen Teil der enttäuschten SPD-Anhänger wieder an die Partei heranführte. Die endgültige Wende gelang, als die sozio-ökonomische Dimension in der Schlussphase des Wahlkampfs durch zwei andere Themen flankiert wurde: Zum einen instrumentalisierte Gerhard Schröder Anfang August die Angst der Deutschen vor einem Irakkrieg für den Wahlkampf, zum anderen ereignete sich kurz darauf die Flutkatastrophe in Bayern und Sachsen, auf die Gerhard Schröder und die Bundesregierung mit einer erfolgreichen Krisenbewältigungsstrategie reagierten. Schon kurz nach der Wahl ließ die erneute Dominanz der ökonomischen Problemlage im öffentlichen Bewusstsein die SPD jedoch in der Wählergunst wiederum dramatisch abstürzen (vgl. Abbildung 1). Dies alles geschah vor der Vorstellung der Agenda 2010, deren erste Beurteilung durch die Bevölkerung ambivalent ausfiel (vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer, April 2003). Klar auf Distanz gingen die Gewerkschaften und in der Partei begann ein heftiger Streit. Mit der Zeit wurde auch die Bevölkerungsmeinung zur Agenda 2010 immer negativer. Die SPD verlor in ihrem Kernkompetenzbereich der Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit dramatisch an Boden18, musste dramatische Wahlniederlagen hinnehmen und wurde bei der gesetzgeberischen Umsetzung der Agenda 2010 (Stichwort „Hartz IV“) mit dem immer größeren Unmut der – vor allem ostdeutschen – Bevölkerung konfrontiert. Als die Partei dann bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl Mitte Mai 2005 auch noch ihr Kernland an die CDU verlor, traten Kanzler und Parteivorsitzender die Flucht nach vorne an und verkündeten die Vorziehung der Bundestagswahl auf den Herbst 2005. Dass die SPD bei dieser Wahl keine weitere dramatische Niederlage erlitt, sondern letztendlich – auf niedrigem Niveau – fast zur Union aufschließen konnte, liegt zum großen Teil an der Union selbst. Auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hatte die Positionierung ihrer Partei im Sozialstaatskonflikt in Richtung Marktfreiheitspol verschoben, was in den „Leipziger Grundsätzen“ des CDU-Parteitages vom Dezember 2003 deutlich zum Ausdruck kam, angesichts der SPD-Turbulenzen aber nicht ins Visier der Öffentlichkeit geriet. Im Wahlprogramm der Union zur Bundestagswahl wurde die Neuausrichtung dann konkret umgesetzt, während das Wahlmanifest der SPD sich im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich durch eine behutsame Neujustierung des politischen Kurses in Richtung der Parteiund Wählerpräferenzen auszeichnete. Die programmatische Neuausrichtung der Union zusammen mit der Ernennung Paul Kirchhofs zum Schatten-Finanzminister bot der SPD in der Schlussphase des Wahlkampfs die Gelegenheit, sich wieder stärker als Partei der sozialen Gerechtigkeit darzustellen und die Union durch eine geschickte negative-campaigning18 Hatten kurz vor der Bundestagswahl 2002 noch 52 Prozent am ehesten der SPD zugetraut, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, so waren es im Dezember 2003 nur noch 24 Prozent (vgl. Infratest dimap: DeutschlandTREND Dezember 2003). Anfang März 2004 hielten zwei Drittel der Bürger die Agendapolitik für falsch und mehr als drei Viertel fanden sie sozial ungerecht (vgl. Forsa-Umfrage im Auftrag des Stern; stern.de v. 16. März 2004).
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Strategie noch mehr in die marktliberale Ecke der „sozialen Kälte“ zu treiben. Damit konnten einige abtrünnige Wähler wieder für die SPD mobilisiert werden, aber eben nicht alle. Im Endeffekt verloren beide Großparteien durch die von ihren Vorsitzenden betriebene Positionsverlagerung im Sozialstaatskonflikt einen Teil ihrer sozialstaatsorientierten Klientel.19 Dies führte in der Anfangszeit der Großen Koalition noch nicht zu einer Neuausrichtung ihrer Politik in diesem Bereich, im Gegenteil: Mit der Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre, der Kürzung der Pendlerpauschale und der Gesundheitsreform wurden Entscheidungen getroffen, die von der großen Mehrheit der Bürger als sozial ungerecht empfunden und abgelehnt wurden.20 Doch schon 2006 versuchte sich der nordrhein-westfälische CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers mit seinem Vorstoß zu einer Veränderung des Arbeitslosengeldes als soziales Gewissen der CDU zu profilieren und spätestens ab der Mitte der Legislaturperiode war eine „‚Re-Sozialdemokratisierung’ sowohl bei der Union als auch bei den Sozialdemokraten selbst“ (Mielke 2007: 31) zu beobachten. Dass die CDU – nicht ohne innerparteilichen Streit, der aber weniger Sprengkraft entfaltete als bei den Sozialdemokraten – „den Charme des Sozialen“ (Lohauß 2008: 6) wieder entdeckte,21 wurde durch den Rückzug des wichtigsten Exponenten des marktliberalen Flügels, Friedrich Merz, deutlich erleichtert. Seither fehlt diesem Parteiflügel in der innerparteilichen Auseinandersetzung mit dem Sozialflügel eine zentrale Führungspersönlichkeit, die ihn nach innen wie nach außen wirksam vertritt, und der Sozialflügel hat „auch mit dem Segen der Kanzlerin wieder die Oberhand gewonnen“ (Decker 2008: 13). Die SPD leitete ihre Abkehr von der Schröderschen Agendapolitik ab Mitte 2007 mit Initiativen zur Modifikation des Arbeitslosengeldes I und zur Einführung eines Mindestlohns ein und institutionalisierte ihren fünften Versuch zur Neupositionierung auf der sozialstaatlichen Konfliktlinie durch weitreichende Änderungen bei der Formulierung ihres neuen Grundsatzprogramms. Standen im ursprünglichen Entwurf „noch zahlreiche Positionen aus den verschiedenen Anläufen der Schröderjahre im Mittelpunkt, so wurden diese im ‚Hamburger Programm’ deutlich reduziert und durch eher traditionelle, auf eine Identitätssicherung der Partei abzielende Programmelemente ersetzt“ (Mielke 2007: 32). Die weitere politische Agenda wurde von sozialstaatlichen Maßnahmen bzw. Forderungen wie der Teilrücknahme der durch die Agenda 2010 ausgelösten Verkürzung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I, der Einführung von Mindestlöhnen, der vollen Wiedereinführung der Pendlerpauschale, der Aussetzung des Riester-Faktors in der Rentenver-
19 Zum ersten Mal seit der Vereinigung sank die Mobilisierungsfähigkeit beider Großparteien gleichzeitig und führte so zu einer deutlichen Steigerung der Fragmentierung des Parteiensystems. Die Union und SPD konnten 2002 je gut 30 Prozent der Wahlberechtigten für sich gewinnen, 2005 erreichte die Union noch 26,9, die SPD 26,2 Prozent. 20 Gegen die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre sprachen sich im März 2006 mehr als drei Viertel der Bürger aus, wobei die Anhänger aller Parteien mit deutlicher Mehrheit dagegen waren, die Kürzung der Pendlerpauschale wurde im Mai 2006 von vier Fünfteln der Bürger abgelehnt und neun von zehn Bürgern glaubten im Oktober 2006 nicht, dass die Große Koalition mit ihrer Reform die Probleme im Gesundheitswesen für längere Zeit lösen kann. Zudem äußerten die Bürger gegen die Reform erhebliche Vorbehalte: Jeweils drei Viertel der Bürger befürchteten steigende – und zudem ungerecht verteilte – finanzielle Belastungen und zunehmende Defizite in der gesundheitlichen Versorgung (vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer März, Mai und Oktober I und II, 2006). 21 Für Decker (2008: 12) haben die Christdemokraten seit dem Leipziger Parteitag eine „erstaunliche Kehrtwende“ vollzogen haben, indem „sie von der neoliberalen Reformagenda Abstand nahmen und ihre Tradition als Sozialstaatspartei wiederentdeckten“.
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sicherung und der Flexibilisierung der Rente mit 67 geprägt, die in ihrer Gesamtheit harsche Kritik von marktliberal orientierten Beobachtern auslösten.22 Mit den Beschlüssen des Hamburger Parteitages wähnte sich die SPD endlich auf der Siegerstraße, da man sich im Einklang mit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung sah.23 Wie Abbildung 1 verdeutlicht, war dies jedoch ein Trugschluss: Letztendlich gelang es der SPD mit keinem der fünf hier beschriebenen Positionierungsversuche, eine dauerhaft hohe Wählerakzeptanz zu erreichen. Die Partei verlor weiter an Wählerrückhalt und dümpelt seit Mitte 2008 in der politischen Stimmung bei etwa 25 Prozent, während die Union zwar weit von früheren Höhenflügen entfernt ist, sich aber bei etwa 40 Prozent stabilisieren konnte. Anscheinend hat der Union ihr Ausflug in Richtung Marktliberalismus nicht dauerhaft geschadet, während die SPD in den Augen vieler Bürger ihren Markenkern verlor, nämlich die Partei der sozialen Gerechtigkeit und der kleinen Leute zu sein,24 und damit einen Teil ihrer traditionellen Klientel dauerhaft verprellte. Die Gefahr einer Verfestigung dieser Entwicklung zu einer – nun angebotsinduzierten – neuen strukturellen Asymmetrie gegenüber der Union ist durch die Tatsache deutlich gestiegen, dass die Agendapolitik Gerhard Schröders eine „Repräsentations- und Integrationslücke“ (Mielke 2007: 8) erzeugte, die letztendlich durch eine Neustrukturierung des Parteiensystems in Gestalt der LINKEN geschlossen wurde. Dieser Prozess begann 2004 mit der zunächst als Verein gegründeten „Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit“ (WASG), die sich – getragen von gewerkschaftsorientierten Sozialdemokraten und Gewerkschaftern – in Bayern nach langem Anlauf als Protestgruppierung gegen die Agenda 2010 etabliert hatte. Für die PDS, die sich schon Mitte der Neunzigerjahre in Ostdeutschland als eine der drei großen Parteien etabliert hatte, im Westen jedoch eine marginale Partei geblieben war25 und sich nach ihrer Niederlage bei der Bundestagswahl 2002 erst mit der Europawahl 2004 durch eine konsequente Eigenstilisierung als einziger Partei der sozialen Gerechtigkeit und des Protests gegen den Sozialabbau ihren Platz im bundesweiten Parteiensystem zurückerkämpfen konnte, drohte die neue Gruppierung zur westdeutschen Konkurrentin zu werden, bot aber auch die Chance, durch ein Zusammengehen das Vehikel für die erstrebte Westausdehnung zu bilden. Die Führung der PDS traf sehr früh die strategische Grundentscheidung, nicht auf Konfrontationskurs zur Mitte Januar 2005 als Partei konstituierten WASG zu gehen. Der Klärungsprozess des Verhältnisses der beiden Parteien wurde durch Ankündigung vorgezogener Bundestagsneuwahlen wesentlich beschleunigt. Da das deutsche Wahlrecht Listenverbindungen zweier Parteien nicht zuließ, blieb nur der Weg einer Platzierung von 22 Kommentar des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Klaus F. Zimmermann: „Die ökonomische Vernunft läuft erkennbar Amok“ (Zimmermann 2008: 5). 23 Nicht zu unrecht: So waren z.B. schon Mitte 2007 fast drei Viertel der Bürger für die Einführung eines gesetzlich festgelegten Mindestlohns (vgl. TNS Forschung für den SPIEGEL, 20./21. Juni 07). 24 Im August 2008 stimmten nur jeweils 30 Prozent der Bürger den Aussagen zu, die SPD sei die Partei der sozialen Gerechtigkeit und kümmere sich mehr als andere um die kleinen Leute, jeweils zwei Drittel waren nicht dieser Ansicht (vgl. Infratest dimap: DeutschlandTREND, August 2008). 25 Als die Partei bei der vorgezogenen Abgeordnetenhauswahl in Berlin im Oktober 2001 im Westen der Stadt 6,9 Prozent erreichte und mit der SPD die Regierung bildete, schien dies der lang erwartete Durchbruch auch im Westen zu sein. Die Partei versäumte es jedoch, die personellen, inhaltlich-programmatischen und koalitionsstrategischen Voraussetzungen für eine Verstetigung ihres gesamtdeutschen Wählerpotenzials zu schaffen, scheiterte daher bei der Bundestagswahl 2002 wieder an der Fünfprozenthürde und war nur noch mit zwei direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag vertreten.
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WASG-Mitgliedern auf offenen PDS-Landeslisten. Dies wurde jedoch von der WASG mit der Begründung abgelehnt, in Westdeutschland würden unter „PDS“ firmierende Listen die Wahlchancen beeinträchtigen. Nachdem dieses Hindernis durch den salomonischen Vorschlag beiseite geräumt war, die Bundespartei PDS in „Die Linkspartei.PDS“ (Kürzel: „Die Linke.“) umzubenennen und den einzelnen Landesverbänden die Entscheidung darüber zu überlassen, ob der Namenszusatz „PDS“ nach dem Punkt im jeweiligen Bundesland verwendet wird oder nicht, segneten die Gremien beider Parteien die Zusammenarbeit mit großer Mehrheit ab und die PDS nahm unter dem neuen Namen mit WASG-Mitgliedern auf ihren Landeslisten an der Bundestagswahl teil. Die Strategie der Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien führte zum gewünschten Wahlerfolg: Mit Gregor Gysi und dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine als Spitzenkandidaten positionierte man sich im Sozialstaatskonflikt klar als Partei der Verteilungsgerechtigkeit, machte damit der SPD bei Teilen ihrer traditionellen Stammklientel Konkurrenz und konnte mit bundesweit 8,7 Prozent der Stimmen das PDSErgebnis von 2002 mehr als verdoppeln und sogar die Grünen hinter sich lassen. In Ostdeutschland erzielte die Partei mit 25,3 Prozent das bisher beste Ergebnis bei einer Bundestagswahl und im Westen, wo die PDS 2002 nur auf magere 1,1 Prozent kam, erreichte die Linkspartei nun 4,9 Prozent der Stimmen. Obwohl es eine ganze Reihe inhaltlich-programmatischer, politisch-strategischer, personeller und lebensweltlich-kultureller Unterschiede zwischen den beiden Partnern gab,26 führte die „ausgesprochen disziplinierende Wirkung“ (Neu 2007: 7) des guten Bundestagswahlergebnisses von 2005 zu einem Konsolidierungsprozess, der sich im Mai 2007 bei der Landtagswahl in Bremen im ersten Einzug in ein westdeutsches Landesparlament niederschlug. Im Juni 2007 wurde der Fusionsprozess mit der Gründung der neuen Partei DIE LINKE formell abgeschlossen. Die Landtagswahlen 2008 brachten dann mit dem Einzug in die Landesparlamente Hessens, Niedersachsens und Hamburgs den Durchbruch im Westen. Selbst in Bayern, wo die Rahmenbedingungen für DIE LINKE auf Landesebene wohl mit am ungünstigsten sind, konnte sie mit 4,4 Prozent einen beachtlichen Erfolg erzielen und bei der vorgezogenen Neuwahl in Hessen Anfang 2009 konnte sie ihre parlamentarische Präsenz sichern. Es spricht einiges dafür, dass es der LINKEN gelingt, auf der Bundes- und Landesebene die Position einer koalitionsstrategisch relevanten Partei auch in Zukunft zu behaupten und im Bund eine ernstzunehmende Mitbewerberin um die Rolle als dritte Kraft im Parteiensystem zu bleiben. Die Partei hat schon bei der Bundestagswahl 2005 ihr Wählerpotenzial über die solide traditionelle Basis in Ostdeutschland hinaus verbreitert, indem sie einen Teil der von den gewandelten ökonomischen Rahmenbedingungen besonders betroffenen „Modernisierungsverlierer“ eingebunden hat (vgl. Niedermayer 2006b), und in neuester Zeit gehen die Analysen davon aus, dass es der LINKEN „als einziger kleinen Partei gelingt, aus sozial disparaten Milieus Anhänger zu finden“ (Lohauß 2008: 8), nämlich aus den „kritischen Bildungseliten“, der „bedrohten Arbeitnehmermitte“ und dem „abgehängten Prekariat“. In Westdeutschland hilft ihr zudem – stark gefördert durch den Namenswechsel – das allmähliche Verblassen des spezifisch ostdeutschen Interessenvertretungs-Images und der für die westdeutschen Wähler problematischen Vergangenheit ihrer Vorgängerin. Beides fördert einen Imagewechsel zu einer gesamtdeutschen linken Partei. Seit Mitte 2007 26
Vgl. hierzu z.B. Neu 2007 und Neugebauer/Stöss 2008.
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liegt die LINKE daher in der Wählergunst beständig zwischen 8 und 12 Prozent, sodass ein Abrutschen in die Irrelevanz äußerst unwahrscheinlich ist. Zu der für die SPD bestehenden Gefahr einer neuen, angebotsinduzierten Asymmetrie gegenüber der Union hat zudem beigetragen, dass sich die CDU unter der Ägide von Angela Merkel auch im Rahmen der zweiten Konfliktlinie des deutschen Parteiensystems neu positioniert hat: dem Libertarismus-Autoritarismus-Konflikt. In der Ära Kohl hatte sich der sozio-kulturelle Mainstream zunehmend von der Unionsposition entfernt. „Von der Modernisierung ihres Familienbilds über die Enttabuisierung der durch die Einwanderung geschaffenen kulturellen Pluralität bis hin zur Anerkennung zuvor verfemter Lebensformen (etwa der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft) hat die CDU der veränderten gesellschaftlichen Realität seither schneller Rechnung getragen, als man das mit Blick auf ihre konservative Kernklientel vermutet hätte“ (Decker 2008: 13). Auch im Rahmen dieser Konfliktlinie gibt es jedoch für die Großparteien sowohl innerhalb der Partei als auch bei ihrer Wählerklientel einen Akzeptanzkorridor, dessen Überschreitung zu Problemen führt. So gingen manche Beobachter schon 2008 davon aus, dass „sich auch bei der kulturellen Konfliktdimension eine Repräsentationslücke“ (Korte 2008: 8) abzeichnete. Anfang 2009 kamen dann mit der Diskussion um den Sitz der Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach im Stiftungsrat des geplanten Zentrums gegen Vertreibungen und der Kritik Merkels am Papst in der Debatte um die Aufhebung der Exkommunikation des Holokaust-Leugners Richard Williamson27 zwei Themen auf, die die Gefahr in sich trugen, die wertkonservativen Stammwähler noch mehr zu verprellen. Hinzu kam mit der Diskussion um eine Verstaatlichung von Banken und eine Staatsbeteiligung an Unternehmen wie Opel als Reaktion auf die weltweite Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise auch eine erneute Debatte um die Positionierung der Union im Rahmen der sozio-ökonomischen Konfliktlinie und zu der paradoxen Situation, dass die FDP als Partei, die den marktliberalen Pol des Parteiensystems vertritt, von dem Desaster des ungezügelten Marktliberalismus profitierte, indem sie von der CDU-internen Diskussion irritierte wirtschaftsfreundliche Wähler von der Union abzog. Dies führte zum Ruf nach einem schärferen Profil der Union, dem BadenWürttembergs Ministerpräsident Günter Oettinger durch die Aussage Ausdruck verlieh, sie brauche ein gut vorbereitetes Wahlprogramm, das „auch die Vorstellungen des wirtschaftlichen und konservativen Flügels berücksichtigt“. Der Chef der Mittelstandvereinigung der CSU, Hans Michelbach, attestierte: Die Union verliere zunehmend Wähler an die FDP, denen sie nicht mehr die Gewissheit ordnungspolitischer Vorstellungen vermitteln könne. Außerdem fühlten sich immer mehr wertkonservative Anhänger der Union nicht mehr repräsentiert.28 Die neuesten Probleme der Union mit ihrer Positionierung im Rahmen der beiden zentralen Konfliktlinien haben jedoch nicht wie im Falle der SPD zu strukturellen Konsequenzen im Parteiensystem geführt und solche Konsequenzen sind in absehbarer Zukunft auch nicht zu erwarten. Zwar erhielten Spekulationen, die konservativ orientierten Freien Wähler könnten sich nach dem deutlichen Zugewinn bei der Landtagswahl in Bayern auch zu einer bundesweiten konservativen Konkurrenz der Union weiterentwickeln, mit dem 27 Im Februar 2009 fanden 28 Prozent der Gesamtbevölkerung die Kritik Angela Merkels am Papst nicht richtig, 65 Prozent fanden sie richtig. In der traditionellen Kernklientel der Union, den kirchentreuen Katholiken, fanden die Kritk jedoch 55 Prozent nicht richtig und nur 38 Prozent richtig (Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer, Februar 2009). 28 CDU rutscht immer weiter ab, in: Berliner Morgenpost v. 7. März 2009.
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Beschluss der FW zur Teilnahme an der Europawahl 2009 neue Nahrung, diese Gruppierung zerlegt sich auf der Bundesebene jedoch gerade wieder selbst: Die einflussreichen Landesverbände Baden-Württemberg und Sachsen lehnen eine Teilnahme an der Europawahl ab und die Bundesspitze der FW schloss Anfang April 2009 die Landesverbände Brandenburg und Bremen aus.29 3
Auswirkungen auf die Segmentierung des Parteiensystems: Neue Koalitionskonstellationen?
Zum Schluss soll kurz der Frage nachgegangen werden, wie sich die Veränderungen der letzten Jahre auf die Segmentierung des Parteiensystems auswirken, also auf seine koalitionspolitischen Trennungslinien. Seit der Wiedervereinigung waren in der Bundesrepublik fünf Parteien parlamentarisch repräsentiert. Vor 2005 waren jedoch immer nur vier – 2002 sogar nur drei – davon koalitionsstrategisch relevant. Erst mit der Bundestagswahl von 2005 stieg die Zahl der koalitionsstrategisch relevanten Bundestagsparteien auf fünf, und aufgrund der Größenverhältnisse der Fraktionen war zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert eine Koalitionsbildung nach dem traditionellen deutschen Koalitionsmodell einer Zweiparteienkoalition aus einer Groß- und einer Kleinpartei ausgeschlossen. Die Entwicklung der Wählerpräferenzen seit der Wahl bis zum Frühjahr 2009 zeigt einerseits, dass die Mehrheitschancen von Zweierkoalitionen der SPD mit einer der drei kleineren Parteien sehr gering sind, und andererseits, dass die traditionelle Zweierkoalition aus Union und FDP zwar nicht mehr ausgeschlossen ist, das Erreichen der Mehrheit aber nicht als sicher angesehen werden kann. Dies bedeutet, dass die neue Gestalt des Parteiensystems für die Führungsspitzen aller Parteien starke Anreize zur Erweiterung bestehender Koalitionsoptionen setzt. Von den zehn Koalitionsvarianten, die ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl rein rechnerisch unter Umständen als mehrheitsfähig erscheinen, lassen sich Koalitionen unter Beteiligung der Union und/oder der FDP auf der einen und der LINKEN auf der anderen Seite als politisch unmöglich von vorneherein ausschließen. Somit verbleiben sechs Möglichkeiten: die Große Koalition, eine Zweierkoalition aus Union und FDP oder den Grünen, sowie die Dreierkoalitionen „Jamaika“ (Union/FDP/Grüne), „Ampel“ (SPD/FDP/Grüne) und „rot-rot-grün“ (SPD/LINKE/Grüne). Vier dieser sechs Optionen sind neue, auf Bundesebene noch nie realisierte Koalitionen. Eine Abwägung der Realisierungschancen der jeweiligen Optionen (vgl. Niedermayer 2009) kommt zu der Schlussfolgerung, dass die rot-rot-grüne Option für 2009 ausgeschlossen erscheint. Dafür spricht eine Reihe von Gründen: (1) die große Distanz der inhaltlichen Vorstellungen in einigen bundespolitischen Themen auf beiden Konfliktlinien des Parteiensystems, (2) die von der SPD-Führungsspitze gesehene Gefahr, dass eine Koalition zum jetzigen Zeitpunkt noch auf zu große – nicht sachpolitisch, sondern unter Rekurs auf die Vergangenheit und/oder den immer noch angezweifelten demokratischen Charakter der 29 Zur Begründung führte der Bundesvorsitzende der FW, Armin Grein, an, dass sich die Führungsriege des brandenburgischen Landesverbandes fast ausschließlich aus der Führungsriege der ehemaligen Schill-Partei zusammensetze und dass die Äußerungen des Bremer Vorsitzenden Friedhelm Altvater, der den Einsatz von Steuergeldern für einen jüdischen Friedhof als „Verschwendung“ bezeichnet hatte, nicht hinnehmbar seien (vgl. Märkische Allgemeine Zeitung v. 6. April 2009).
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LINKEN begründete – innerparteiliche Widerstände unter den Funktionären und Mitgliedern der SPD sowie ihrer Wählerklientel stoßen würde, (3) die persönlichen Aversionen vieler Akteure in der SPD-Führungsspitze insbesondere gegen den LINKEN-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, aber auch gegen andere frühere Sozialdemokraten und heutige Funktionäre der Linkspartei, denen vorgeworfen wird, die SPD im Stich gelassen und damit Verrat an der Sache der Sozialdemokratie begangen zu haben, (4) die Tatsache, dass sich die SPDFührung nach dem von der Mehrheit der Wähler eindeutig als Wortbruch angesehenen Agieren Andrea Ypsilantis und Kurt Becks in der Frage einer Zusammenarbeit zwischen SPD und LINKEN nach der Landtagswahl 2008 in Hessen einen nochmaligen Wortbruch nicht leisten kann, ohne die Glaubwürdigkeit der SPD abermals – und diesmal noch stärker und nachhaltiger – zu schädigen, was für zukünftige Wahlen verheerend wäre, (5) die Umstrittenheit der Koalitionsfrage in der Linkspartei, wo sich drei Konzeptionen gegenüberstehen (Fundamentalopposition, Koalition mit der SPD nur, wenn sie zentrale inhaltlichen Positionen der LINKEN übernimmt, und Koalition mit der SPD auch unter deutlichen inhaltlichen Zugeständnissen der LINKEN), sowie (6) die Ablehnung einer solchen Koalition auch durch die Führungsspitze der Grünen. Wenn das Wahlergebnis alle fünf noch verbliebenen Koalitionsoptionen rechnerisch zulassen würde, käme mit Sicherheit das traditionelle Koalitionsmodell einer schwarzgelben Zweierkoalition zum Zuge, da dann die beiden anderen Zweierkoalitionen (schwarzgrün und Große Koalition) für die Union in Bezug auf die Durchsetzung der eigenen politischen Inhalte mit größeren Nachteilen verbunden wären, die zwei Dreierkoalitionen als übergroße Koalitionen nicht in Betracht kämen und die FDP eine Zweierkoalition mit dem von ihr deutlich präferierten Koalitionspartner auch bei großen Werbeanstrengungen seitens der SPD sowohl aus inhaltlichen als auch aus Ämterverteilungsgründen einer Ampelkoalition vorziehen würde. Wirklich spannend wird es, wenn es für Union und FDP nicht reichen sollte. Dann spricht vieles dafür, dass alle verbleibenden vier Koalitionsoptionen zumindest ernsthaft verhandelt werden und dass die letztendliche Koalitionsentscheidung davon abhängt, wie hoch der politische Preis ist, den die beiden großen Parteien jeweils für ein Regieren jenseits der Großen Koalition zu zahlen bereit sind. Pokern die beiden kleinen Parteien in den Verhandlungen zu hoch, dann wird man sich wohl in der Union wie in der SPD daran erinnern, dass man trotz aller Schwierigkeiten immerhin vier Jahre zusammengearbeitet hat und die vertraute Große Koalition den Unwägbarkeiten einer neuen Koalitionsoption vorziehen. Literatur Bösch, Frank, 2002: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU. Stuttgart/München: DVA. Christensen, Eva, 2007: Einstellungen zum Sozialstaatsabbau. Erwartungen der Bürger - Handlungsoptionen der Politik, in: Forschungsjournal NSB, 20, S. 72-86. Decker, Frank, 2008: Wo wir sind, ist die Mitte! Zum Standort der CDU im deutschen Parteiensystem, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 55, S. 12-15. Infratest dimap, 2005: Wahlreport. Wahl zum 16. Deutschen Bundestag . 18. September 2005. Berlin: Infratest dimap. Kolinsky, Eva (1993: Das Parteiensystem der Bundesrepublik: Forschungsthemen und Entwicklungslinien, in: Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hrsg.): Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 35-56.
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Wolfgang Schroeder und Arijana Neumann
Die CDU in der Großen Koalition – auf dem Weg zu einer neuen strategischen Zeitgenossenschaft Die CDU in der Großen Koalition
Einleitung Das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 ebnete der Union den Weg in die „Wunschkoalition“ mit der FDP. Dadurch ist ihr eine Wiederauflage der ungewollten Großen Koalition erspart geblieben. Dabei ist es der CDU gerade unter den spezifischen Bedingungen der Großen Koalition gelungen, sich mit Blick auf den Wählermarkt von tradierten Positionen etwa in der Familien- und Ausländerpolitik zu emanzipieren und sich strukturell zu modernisieren. In der Großen Koalition sah sich die Partei, die die Kanzlerin stellte, mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Einerseits war sie in das „Korsett“ des Koalitionsvertrages eingebunden, wodurch eine „CDU-pur-Politik“ von vornherein ausgeschlossen war. Andererseits arbeitete die CDU jedoch bereits seit längerem daran, das durch deutsche Einheit und Globalisierung, vor allem aber durch den sozialen Wandel brüchig gewordene programmatische, mentale und identitätsstiftende eigene Angebot mit den Interessenlagen der Wählerschaft in Einklang zu bringen. Insbesondere die Enttraditionalisierung der Lebensformen, die sich in einem anderen Familien- und Gesellschaftsbild vieler Menschen niederschlägt, hatte sich zu einer starken Herausforderung für die Konservativen entwickelt. Hinzu kommt, dass auf das politische Feindbild des „Antikommunismus“ mit dem Ende der bipolaren Blockkonfrontation nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Wenngleich die Union versucht, mit einer scharfen Abgrenzung zur Linkspartei daran anzuknüpfen, lassen sich neue Feindbilder, wie etwa das Schreckbild des Islamismus, nicht in gleicher Weise identitätsbildend verankern. Auch mit dem Konzept einer „Deutschen Leitkultur“ vermochte die Union diese Lücke bislang nicht zu füllen. Mit fortschreitender Säkularisierung, Individualisierung, Urbanisierung und Medialisierung wird die Zahl der konfessionsgebundenen und im ländlichen Raum lebenden Menschen geringer, wodurch die Union deutliche Stimmenverluste bei diesen bisherigen Stammwählergruppen hinnehmen musste. Ähnliche Probleme lassen sich allerdings nicht nur bei der CDU, sondern auch in den meisten anderen europäischen konservativen Parteien beobachten (Müller-Hilmer 2006; Kersbergen 1995). Im Fall der Union sind es vor allem programmatische Zielkonflikte, die sich aus den parallel bestehenden Ideenwelten einer liberalen Wirtschaftspolitik mit individualistischem Leistungsideal, konservativen Werthorizonten mit einem traditionellen Familienbild oder Konzepten sozialer Verantwortung ergeben können (Micus/Walter 2008: 252). In Anbetracht dieser Ungleichzeitigkeiten steht die Union vor der Frage, ob und wie sie eine neue „strategische Zeitgenossenschaft“ entwickeln kann, um sich auf volatilen Wählermärkten zu behaupten. Im Zentrum einer Modernisierung der Partei stehen vor allem programmatische Neujustierungen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie in der Gesellschaftspolitik. Hier geht es um das Verhältnis von Staat und Markt, eine zeitgenössische Familienpolitik und den Stellenwert des christlich-konservativen Wertekanons im S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Selbstverständnis der Union. Aus den Erosionsprozessen traditioneller Milieus und den damit verbundenen elektoralen Herausforderungen resultieren auch interne Machtkämpfe und politische Suchprozesse. Im Kern geht es um die Definition einer zeitgenössischen Problem-, Interessen- und Ideenpolitik, die die innerparteilichen Richtungen, also vor allem die konservativen, wirtschaftsliberalen und christlich-sozialen Strömungen, so in die Partei einbindet, dass die CDU ihrer klassen- und konfessionsübergreifenden Struktur als Volksund Regierungspartei gerecht werden kann. In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass die Union sich unter den Bedingungen der Großen Koalition von wesentlichen konservativen Identitätsbestandteilen verabschiedet hat. Das betrifft vor allem die Familien- und zum Teil die Ausländerpolitik. Dadurch ist die Partei für urbane, traditionsferne Wähler attraktiver geworden, auch wenn sie sich nicht konsistent als moderne, pragmatische Partei des Hier und Jetzt präsentiert. Mit diesem Modernisierungsprozess hat die CDU allerdings Teile ihrer Traditionsklientel verunsichert. Ausgehend von unserer Grundhypothese, dass es der Union in der Großen Koalition gelungen ist, sich erfolgreich zu modernisieren, untersuchen wir im Folgenden drei Fragen: 1. 2.
3.
1
Welche inhaltlichen und personellen Konflikte wurden zwischen 2005 und 2009 in der Union ausgetragen und wie wirkten sich diese Konflikte auf die Kräfteverhältnisse in der CDU aus? Wie hat die Union unter den Bedingungen der Großen Koalition eine zeitgenössische Strategie entwickelt, die einerseits ihrem traditionellen Markenkern als konservativchristlicher Partei gerecht wird und wie wurde die Partei andererseits in die Lage versetzt, attraktiver als bisher auf die urbanen, weiblichen, arbeiterlichen und ostdeutschen Gruppen zu wirken? Welchen Anteil an der Veränderung der CDU zwischen 2005 und 2009 hatte die Große Koalition, deren Handlungsrahmen im Folgenden zunächst skizziert wird? Handlungsrahmen der Großen Koalition
Nachdem die CDU mit ihren Leipziger Beschlüssen 2003 programmatisch den Anschluss an das mehrheitliche Lebensgefühl in der Gesellschaft gefunden zu haben glaubte, empfanden manche in der Union den Wahlausgang 2005 als „Siegniederlage“. Die Union war zwar knapp stärkste Kraft geworden, musste aber augenreibend feststellen, dass ihr „Ehrlichkeitswahlkampf“, in dem sie mit unpopulären, aber aus ihrer Sicht notwendigen Ankündigungen angetreten war, nicht zum gewünschten Wahlsieg führte. „Die Vernachlässigung des sozialen Aspekts in einem als wirtschaftszentriert geplanten Wahlkampf geriet zum Hauptangriffspunkt gegen die Union (Best 2009: 584). Als Reaktion auf das für die Union enttäuschende Wahlergebnis wartete die Kanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung mit einem nüchternen „Erwartungsmanagement“ auf (Glaab 2006), das die Wünsche und Begehrlichkeiten in der eigenen Partei und unter den Anhängern der Union reduzieren sollte: „Die Regierung will Rituale überwinden und neue Wege aufzeigen. Viele werden sagen: Diese Koalition, die geht ja viele kleine Schritte und nicht den einen großen. Ich erwidere ihnen: Ja, genau so machen wir das. Denn wir glauben, dass auch das ein moderner Ansatz sein kann“ (BT-PlenProt 16/4: 91).
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Der Handlungsspielraum der Kanzlerin war aufgrund der Kräfteverhältnisse in der Großen Koalition naturgemäß eingeschränkter als in einer kleinen Koalition: Die Kanzlerin regierte weniger mit Hilfe der grundgesetzlich verankerten Richtlinienkompetenz, sondern war in starkem Maße auf die Rolle einer Moderatorin sowohl zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen innerhalb der Union und auch zwischen den beiden Regierungsparteien festgelegt (vgl. Murswieck 2008: 211). Die CDU stellte zwar die Kanzlerin, gleichwohl waren die Stimmen im Koalitionsausschuss mit acht zu acht paritätisch verteilt. Die Union erhielt zwei Ministerien weniger als die SPD, weil die Kanzlerin und der Kanzleramtsminister als stimmberechtigt „angerechnet“ wurden. Die Kanzlerin pflegte also eher eine Koordinationsdemokratie als eine Kanzlerdemokratie, was jedoch auch den persönlichen Führungsstärken Merkels entgegenkam. „Hinsichtlich ihrer persönlichen Fähigkeiten gilt die Kanzlerin bei vielen Beobachtern als Meisterin des Abwartens; sie kann zuhören und schweigen. Sie ist keine gute Rednerin, hat wenig Charisma und betreibt kein Imagemanagement“ (Murswieck 2008: 209). Ihre Zurückhaltung und ihre Beschränkung auf eine Moderatorenrolle in innenpolitischen Fragen wurden zwar verschiedentlich innerparteilich und von den Medien kritisiert. In der Gunst der öffentlichen Wahrnehmung und in ihren Sympathiewerten hat ihr dies jedoch kaum geschadet (Niclauß 2008: 5). Die ungleich weniger machtvolle Rolle der Kanzlerin in ihrer Richtlinienkompetenz zeigte sich bereits in den Koalitionsverhandlungen. Denn dort mussten spannungsreiche Themen wie die Haushaltskonsolidierung, Maßnahmen zum Wirtschaftswachstum und Aspekte der sozialen Sicherung in Einklang gebracht werden. Deutliche Unterschiede zwischen Union und SPD gab es in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Energie und Arbeitsmarkt (Jun 2008: 38). Die Kanzlerin musste mit einem Koalitionsvertrag (CDU/CSU/SPD 2005) regieren, der im Vergleich zu anderen sehr detailliert ausgearbeitet wurde und das längste Vertragswerk in der Geschichte solcher Vereinbarungen darstellt. Dennoch blieben bei seiner Unterzeichnung zahlreiche Fragen ungeklärt. Zudem erwiesen sich einzelne Standpunkte, etwa in der Familienpolitik, die im Vertrag klar festgelegt wurden, innerparteilich als strittig. Insgesamt wird deutlich, dass man zur Analyse der Großen Koalition mit Blick auf die Union zwei Konfliktarenen unterscheiden muss. Zum einen die Konflikte mit dem Koalitionspartner SPD und zum anderen die innerparteilichen Auseinandersetzungen innerhalb der Union. Letztere waren für Merkel teilweise schwieriger zu bewältigen als die Differenzen mit dem Koalitionspartner. Zur Entschärfung des Konfliktpotentials trugen die geringen finanziellen Restriktionen der Legislaturperiode bei. Zu Beginn der Großen Koalition waren die Steuereinnahmen aufgrund der Boomphase zunächst hoch und mit dem Beginn der Wirtschaftskrise verabschiedete die Koalition Konjunkturpakete, die zusätzliche Ausgaben mit sich brachten. Folglich war der Handlungsrahmen der Großen Koalition zwar deutlich umgrenzt, finanzielle Verteilungskämpfe konnten aber klein gehalten werden. 2
Wähler, Mitglieder der CDU und Parteiorganisation
Die Zustimmungswerte, die die Union während der Großen Koalition im Rahmen der „Sonntagsfrage“ und bei Landtagswahlen erzielte, variierten im Zeitverlauf. Wir untersuchen im Folgenden Wahlergebnisse, Mitgliederentwicklung sowie Projekte zur organisatorischen und programmatischen Mobilisierung der Partei. Die Union wird häufig als pragmatische Wähler- oder gar Regierungspartei charakterisiert. Dabei wird unterschlagen, dass
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sie nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch gegenwärtig eine Mitglieder- und Bürgerpartei ist und auch programmparteiliche Akzente aufweist.
2.1 Wahlergebnisse in Bund und Ländern 1998 fiel die Union erstmals seit 1949 bei einer Bundestagswahl unter die 40-ProzentMarke, sie erreichte lediglich 35,1 Prozent. Wie sich heute zeigt, war dieser Stimmenrückgang jedoch kein einmaliges Ereignis. Vielmehr ist das Ergebnis Ausdruck der veränderten Konkurrenzsituation zwischen den Parteien sowie voranschreitender Dealignment-Prozesse (Holz-Bacha 2008: 9). Diese Entwicklung setzte sich auch mit dem Wahlergebnis 2009 fort, als schon 33,8 Prozent für die Union zur Bildung der Wunschkoalition mit der FDP ausreichten. Auch bei Betrachtung des Verlaufs der Sonntagsfrage zeigt sich, dass die Umfragewerte der Union während der Großen Koalition dauerhaft nicht oberhalb des 35,2 Prozent-Wahlergebnisses von 2005 lagen. Die Umfragewerte schwankten vielmehr zwischen 30 und 41 Prozent und sackten kurz vor der Wahl 2009 sogar ab, wenngleich nicht so deutlich wie 2005 (dazu auch Hunsicker/Schroth in diesem Band). Abbildung 1:
Entwicklung der Sonntagsfrage der CDU in Prozent
43 41 39 37 35 33 31 29 27 25 27.09.2009 09_09 08_09 07_09 06_09 05_09 04_09 03_09 02_09 01_09 12_08 11_08 10_08 09_08 08_08 07_08 06_08 05_08 04_08 03_08 02_08 01_08 12_07 11_07 10_07 09_07 08_07 07_07 06_07 05_07 04_07 03_07 02_07 01_07 12_06 11_06 10_06 09_06 08_06 07_06 06_06 05_06 04_06 03_06 02_06 01_06 12_05 11_05 10_05 09_05 18.09.2005
Quelle: Infratest Dimap Bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 gab die Union vor allem an die FDP und die Gruppe der Nichtwähler Stimmen ab. Seit 1998 sind insgesamt 2,7 Mio. Wähler von der Union abgewandert. Überdurchschnittliche Einbußen verzeichnete die Union 2005 bei jungen Männern, bei Wählerinnen und Wählern mit geringer und mittlerer Bildung sowie in den Gruppen der Selbstständigen, Arbeiter, Arbeitslosen, Katholiken und unter den Gewerkschaftsmitgliedern. Insgesamt schnitt die Union in allen Altersgruppen außer bei den über 60-Jährigen unterdurchschnittlich ab. Der abermalige Stimmenverlust von 2009 ist insbesondere auf Verluste in den Gruppen der Wähler mit hoher Bildung, der Katholiken, Beamten und Selbständigen zurückzuführen.1 1
Wählerstimmen der Union: 1998: 17.329.388; 2002: 18.482.641: 2005: 16.631.049: 2009: 14.658.515
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Betrachtet man die Jahre 1999 bis 2005, bestätigt sich die These der Wahlforschung, nach der eine Partei, die im Bund in der Opposition ist, bei Landtagswahlen bessere Chancen hat, weil Wählerinnen und Wähler – neben landespolitischen Erwägungen (Hilmer 2008: 98) – dazu neigen, die Bundesregierungsparteien auf Landesebene zu sanktionieren und zur Wahl der Oppositionsparteien neigen (Dinkel 1989; Decker/Blumenthal 2002; Detterbeck 2006; Decker 2008). Das gilt in erster Linie für den großen Koalitionspartner. Von den insgesamt 26 Landtagswahlen, die in dieser Zeit stattfanden, gewann die Union bei 17 Wahlen an Stimmen hinzu. Durchschnittlich ergab das ein Plus von 3 Prozent am Stimmenanteil pro Wahl. Das Hoch der CDU drückte sich aber nicht nur im Zuwachs der Stimmanteile, sondern auch in zunehmenden Regierungsbeteiligungen aus. Nach vier dieser Wahlen kam es zu einem alternierenden Regierungswechsel zu Gunsten der CDU. Die einzigen Bundesländer, in denen die CDU zu Beginn der Großen Koalition 2005 nicht an der Regierung beteiligt war, sind Rheinland-Pfalz, Bremen und Berlin. Als die CDU 2005 wieder in die Bundesregierung eintrat, kehrten sich die Wahlergebnisse um. Von den sechzehn Landtagswahlen zwischen 2005 und 2009 verlor die Union prozentual bei vierzehn Wahlen im Durchschnitt 5,2 Prozentpunkte. Folglich hat sich die These aus der Wahlforschung auch zwischen 2005 und 2009 bestätigt, da die Union als Regierungspartei im Bund bei Landtagswahlen sanktioniert wurde, wobei allerdings in vielen Fällen auch landespolitische Faktoren eine Rolle gespielt haben. Nachdem es mit der Bildung der Großen Koalition und dem hessischen und saarländischen Landtagswahlergebnis 2008 und 2009 im neuen Fünf-Parteien-System zunächst so aussah, als würde es für stabile kleine Koalitionen im bürgerlichen Lager nicht mehr reichen, wurde bei einigen Landtagswahlen in den Jahren 2008 und 2009 (Hessen, Bayern, Sachsen, Niedersachsen) und bei der Bundestagswahl 2009 das Gegenteil bewiesen. Insgesamt hat die CDU während ihrer Regierungszeit seit 2005 an Zustimmung in den Ländern verloren, konnte sich aber im Vergleich mit der SPD besser behaupten, da diese viel tiefer abrutschte. Mit Blick auf die Regierungsbildung verlor die CDU zwar in keinem Bundesland die Regierung an die SPD, musste aber zunehmend Koalitionen eingehen. Neu ist die Entwicklung in Hamburg und im Saarland: In diesen Ländern haben sich die Koalitionsmuster pluralisiert, da es der CDU gleich zweimal gelungen ist, die Grünen in lagerübergreifende Koalitionen einzubinden.
2.2 Die Mitgliederentwicklung der CDU Die CDU, einst als Honoratiorenpartei in der Bonner Republik gestartet, ab Ende der 1960er Jahre zur Mitgliederpartei weiterentwickelt, verzeichnete 2008 mit 528.972 Mitgliedern (Niedermayer 2009: 373) erstmals mehr Mitglieder als die traditionell mitgliederstarke SPD. Beide Volksparteien leiden jedoch an Mitgliederschwund. Der Abwärtstrend verläuft bei der CDU seit Ende der 90er Jahren allerdings deutlich gemäßigter als in der SPD. Die Verluste der CDU fielen in ihrer Oppositionszeit im Bund zwischen 1998 und 2005 mit 8,7 Prozent (7.780 Mitglieder pro Jahr) deutlich geringer aus als während der Großen Koalition mit erneut 9 Prozent zwischen 2005 und 2009 (14.303 Mitglieder pro Jahr). Ingesamt aber ist die Mitgliederanzahl der CDU inzwischen auf den Stand von 1974 zurückgefallen, wie Abbildung 2 zeigt.
Die CDU in der Großen Koalition Abbildung 2:
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Mitgliederentwicklung der CDU und der SPD im Vergleich
1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0
Große Koa.
Opposition
Schwarz-gelbe Regierung
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
CDU
Große Koa.
Opposition
SPD
Quelle: Mitgliederstatistik von CDU und SPD. Die zentrale Erfassung der Mitgliederzahlen in der CDU beginnt erst 1966, weshalb eine längere Datenreihe nicht möglich ist Von Bedeutung ist jedoch nicht allein das absolute Mitgliederniveau, sondern auch die organisatorische Stärke der Partei in den einzelnen Ländern. Der Organisationsgrad2 der CDU reicht von 0,3 Prozent in Brandenburg bis zu 2,36 Prozent im Saarland. Durchschnittlich sind 0,93 Prozent der beitrittsberechtigten Bevölkerung in der CDU und 1,59 Prozent in der CSU organisiert (Niedermayer 2008: 383). In Nordrhein-Westfalen, dem größten Landesverband der CDU, sind ca. ein Drittel aller CDU-Mitglieder organisiert. Überdurchschnittlich repräsentiert sind auch Niedersachsen mit einem Mitgliederanteil von 14,1 Prozent und Baden-Württemberg mit 13,9 Prozent. Die neuen Länder stellen insgesamt 9 Prozent der Mitgliedschaft der CDU, was etwa der Größe des Landesverbandes Hessen entspricht. Sozialstrukturell spiegeln die Mitglieder der CDU den gesellschaftlichen Durchschnitt nicht wider. Vielmehr sind Menschen mit hohem Bildungsniveau, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Personen über 40 Jahre, Männer (ca. 75 Prozent), Katholiken sowie Menschen mit hoher Kirchenverbundenheit und Bewohner ländlicher Räume überrepräsentiert. Auch Parteien wie die CDU sind vom demographischen Wandel betroffen: 1993 war nur ein Drittel der CDU-Mitglieder über 60 Jahre alt, heute sind es bereits über 50 Prozent, und 23 Prozent sind sogar über 70 Jahre alt. Demgegenüber sind nur noch 15 Prozent der Mitglieder unter 40 Jahre alt; der Nachwuchs zwischen 16 und 24 Jahren ist sogar nur zu 2 Prozent in der CDU repräsentiert (Neu 2007: 9f.). Es gibt Hinweise auf einen größeren Anteil engagierter Neumitglieder in der CDU: Einer aktuellen Mitgliederstudie der CDU zufolge ist der Anteil der Mitglieder gestiegen, für die die aktive Gestaltung von Politik im Vordergrund steht, während sozial-gesellige Motive zurücktreten (Neu 2007: 53). Mitglieder sind aber nicht nur als ehrenamtliche personelle Ressourcen, die das Parteileben und die Wahlkämpfe tragen, von Bedeutung, sondern spielen auch als finanzielle Ressource eine wichtige Rolle. Die Mitgliedsbeiträge liefern zusammen mit den Abgaben von Mandatsträgern an die eigene Partei über 40 Prozent der Einnahmen auf Bundesebene. 2 Der Organisationsgrad gibt an, wie viel Prozent der beitrittsberechtigten Bevölkerung (bei der Union ab 16 Jahre) Mitglied einer Partei sind.
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Trotz rückläufiger Mitgliederzahlen ist dieser Anteil der Parteieinnahmen nicht gesunken, sondern hat sich ähnlich wie die Spenden und sonstigen Einnahmen stabilisiert. Folglich ist die CDU nicht angewiesen auf eine gesteigerte Unterstützung durch staatliche Mittel, deren Anteil an der Parteifinanzierung derzeit ca. 30 Prozent beträgt.
2.3 Die Parteiorganisation der CDU Nach dem Wandel von der Honoratioren- zur modernen Mitgliederpartei in den 1960er und 1970ern Jahren (vgl. Schönbohm 1985), gab es seit den 80er Jahren, als die CDU den Zenit in ihrer Mitgliederentwicklung überschritten hatte, in verschiedenen Landesverbänden Vorschläge für Neuerungen. Mitglieder sollten mehr Rechte bekommen, gleichzeitig wollte man die Parteistrukturen auch für Nichtmitglieder öffnen. Insgesamt stieg somit der partizipative Anspruch an das Parteileben. Neu war insbesondere die Forderung, in den Kreisverbänden Parteitage nicht mehr als Delegierten- sondern als Mitgliederversammlungen zu organisieren (Beil/Lepszy 1995). Diese Vorschläge konnten sich jedoch unter dem Vorsitzenden Helmut Kohl nicht durchsetzen, da der (Leidens- und) Handlungsdruck nicht groß genug war und „Impulse aus der Partei (…) von Kohl gekappt“ (Bösch 2002: 53) wurden. Ein großer Teil der Organisationsreformen, die die CDU 2003 auf dem Leipziger Parteitag unter dem Titel „Bürgerpartei. Reformprojekt für eine lebendige Volkspartei“ beschloss, waren demzufolge keine neuen Ideen, sondern griffen frühere Ansätze aus den Landesverbänden auf, die dort entwickelt wurden und zum Teil bereits langjährige Praxis waren. Unter der Idee der „Bürgerpartei“ versteht die CDU eine Weiterentwicklung des Konzepts der Mitgliederpartei. Neu ist in diesem Zusammenhang erstens eine Öffnung für Nichtmitglieder und deren Einbindung in die Parteiarbeit – vor allem über Wahlkampfteams – und Diskussionsprozesse. Zweitens stärkt die Bürgerpartei den Einfluss der einzelnen Mitglieder zu Lasten der Macht der mittleren Funktionärsebene, beispielsweise durch die Möglichkeit von Mitgliederentscheiden in Sach- und Personalfragen (insbesondere bei der Auswahl von Kandidaten für Land- und Bundestag) auf Kreisebene. Eng damit verbunden sind auch Veränderungen im Selbstverständnis der CDU im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Bedeutung, die sie relativiert. „Nur wenn sie (die CDU) sich stärker als bisher auch als Moderator des politischen Willensbildungsprozesses mit vielen gleichberechtigten Akteuren und nicht nur als ihr exklusiver Gestalter versteht, wird sie als Bürgerpartei künftig Mehrheiten für ihre Politik gewinnen können.“ (CDU 2003: 5).3 Bislang ist das Konzept der „Bürgerpartei“ auf Bundesebene jedoch „weitgehend vage und folgenlos“ (Schmid 2008: 74) geblieben. „Der Mitgliederschwund wurde nicht gestoppt und an den Repräsentationsdefiziten bei den Jugendlichen, Frauen und den Angehörigen des produktiven ökonomischen Sektors hat sich so gut wie nichts verändert“ (Wiesendahl 2006: 159). Zugleich haben teilweise auf der Landes- und Kreisebene der CDU partizipationsorientierte Ansätze an Bedeutung gewonnen. Dies wird vor allem daran deutlich, dass sich bei Kreisparteitagen der CDU das Mitgliederprinzip gegenüber dem Delegiertenprinzip immer mehr durchsetzt und auch Landtags- und Bundestagskandidaten von Mitgliederversammlungen nominiert werden (Schroeder/Neumann 2009). Auf der Bundesebene der Partei wird hingegen das 3 Die Reformansätze beziehen sich in erster Linie auf die Kreis- und Bundesebene. Die Landesverbände werden wegen ihrem hohen Maß an traditionell gewachsener Eigenständigkeit mit „Kann-Bestimmungen“ bedacht oder ausgespart.
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Prinzip der top-down-Kommunikation fortgeführt, was sich vor allem in den Regionalkonferenzen zeigt. „Im Übrigen wird die in der Satzung verankerte Willensbildungsstruktur von unten nach oben immer häufiger umgangen, z.B. durch so genannte Regionalkonferenzen. An allen im Parteiengesetz verankerten Willensbildungsstrukturen vorbei lädt die Parteiführung, die bestimmte Positionen oder Personen durchsetzen will, zu regionalen Konferenzen ein, um für ihre eigene Sache zu werben. Damit bestimmt sie alleine die Agenda und ist nicht an die Geschäftsordnung eines Landes- oder Kreisparteitags gebunden“ (Alemann 2005: 47). Das bisher in der CDU wichtige Mediationsprinzip, nach dem Ausgleichsbemühungen zwischen verschiedenen Gruppeninteressen und Proporzüberlegungen bei der Entscheidungsfindung bedacht werden, spielt keine Rolle mehr (Zolleis 2008: 259).
2.4 Das neue Grundsatzprogramm Sieht man ab vom Ahlener Programm (1949) und von den Düsseldorfer Leitsätzen (1950), die nur in den Vorständen und nicht auf Delegiertenparteitagen beschlossen wurden, gab sich die CDU 1978 in Ludwigshafen ihr erstes umfassendes Grundsatzprogramm vergleichsweise spät in ihrer ersten Oppositionsphase. Darin definierte sich die CDU als Volkspartei, die sich „an alle Menschen in allen Schichten und Gruppen“ wendet. Ihre Politik begründet die CDU „auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott“. 1994 wurde das Hamburger Programm als erstes gesamtdeutsches Programm der Partei beschlossen. 2007 unternahm die CDU einen weiteren Anlauf und verabschiedete in Hannover fast zeitgleich mit der SPD ihr drittes Grundsatzprogramm unter dem Titel „Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland“ (CDU 2007). Die seit Anfang 2006 stattfindende Programmdebatte war ein nützliches Instrument, um eine Diskussion über die Fehler des Bundestagswahlkampfes von 2005 zu vermeiden (Schneider 2007). Zentrale Themen im neuen Programm sind die Wirtschafts-, Sozial und Familienpolitik, die Leitkultur sowie die Klimafrage. Das Programm ist ein Konsens, „der auf Gemeinwohl zielt und alte wie neue Wähler“ überzeugen soll (Pofalla 2007: 5). Die CDU versteht sich weiterhin als wertgebundene Partei mit christlichem Menschenbild. „Überhaupt ist im Programmentwurf der Versuch erkennbar, die breit gestreuten Ängste der Bevölkerung vor den Veränderungen des 21. Jahrhunderts aufzufangen und in eine Art christlichen Wertekanon einzubetten“ (Weiland 2007). Obwohl am Ende über 2.400 Änderungsanträge vorlagen und per Internet über 70.000 Anregungen kamen, war die innerparteiliche Debatte zu keinem Zeitpunkt offen, sondern wurde vom Leiter der Programmkommission, CDU-Generalsekretär Roland Pofalla, eng im Auftrag der Kanzlerin geführt (Schütz 2007). Die Regionalkonferenzen, die zur Programmdebatte angeboten wurden, dienten eher zur Beruhigung der Basis als zu einer lebhaften Debatte. Die Neuformulierung der Grundsätze zeigt, dass der Geist der Leipziger Beschlüsse von 2003 nur noch in abgeschwächter Form erkennbar ist. Die CDU ist sichtlich bemüht, das Trauma zu überwinden, das sie 2005 erlitt, als „forsche Reformer dem Wähler ganz schnell sehr viel zumuten“ (Schneider 2007) wollten. Das Ziel der „Leitkultur“ bleibt als Programmelement vor allem erhalten, um den konservativen Flügel der Partei einbinden zu können. Ansonsten weist das Programm eindeutig in Richtung einer Modernisierung, was besonders auf den Feldern Familienpolitik (wo die CDU neben der Ehe nun auch andere Lebensmodelle akzeptiert) sowie der Ausländerpolitik (Anerkennung Deutschlands als
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„Integrationsland“) deutlich wird. Die CDU setzt insgesamt darauf, mit ihrem Programm neue Wählerschichten zu erschließen und geht zugleich davon aus, ihre konservativen Stammwähler weiterhin an sich binden zu können, weil diese Klientel im Parteienwettbewerb nicht über Alternativen verfügt (Schütz 2007). 3
Das Machtzentrum und die Kräfteverhältnisse innerhalb der Union
Diskussionsprozesse und Konflikte lassen sich nicht abstrakt erfassen. Interessen stehen immer in Verbindung zu Akteuren, die Aushandlungsprozesse prägen. Mit Blick auf Parteien lautet die zentrale Frage, ob ein strategisches Machtzentrum existiert, wie stark es ist und welche Akteure es steuern. Ausgehend vom Steuerungszentrum ist von Bedeutung, wie sich die Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Strömungen innerhalb der Partei verändern und welchen Einfluss diese auf das Regierungshandeln haben.
3.1 Merkels Aufstieg und der Weg in die Große Koalition Der Regierungswechsel von 1998 ist in der bundesdeutschen Geschichte insofern singulär, als die Regierungsparteien im Sinne eines alternierenden Regierungswechsels erstmals komplett ausgetauscht wurden (vgl. Feist/ Hoffmann 1999). Die Niederlage und der Wechsel in die Opposition führten zunächst allerdings nicht zu einem umfassenden Neuanfang der CDU. Erst im Zuge des Spendenskandals, der Ende 1999 öffentlich wurde, kam es zu einer Ablösung des alten Machtzentrums um Helmut Kohl. Ein neues, vergleichbar starkes Machtzentrum konnte sich jedoch nicht übergangslos etablieren. Vielmehr wirkte das Kohlsche Erbe mehrere Jahre äußerst belastend auf die Union und behinderte deren Neustrukturierung. Insbesondere der mit den Akteuren des alten Machtzentrums verbundene Spendenskandal schlug hohe Wellen und spitzte den Druck auf die handelnden Akteure in kaum vorstellbarer Weise zu. Die Stunde der tiefsten Krise in der CDU-Nachkriegsgeschichte wurde zum Sprungbrett für den Aufstieg Angela Merkels zur Kanzlerin. Da sie in der Öffentlichkeit und an der Parteibasis als unbelastet vom Spendenskandal galt, konnte sie als Gewinnerin aus der Krise hervorgehen. Merkel nahm die Herausforderung an, das Machtvakuum, das Helmut Kohl hinterlassen hatte, zu füllen und wurde 2000 Vorsitzende der CDU. Merkels Weg an die Parteispitze wurde durch die Medien – vor allem durch ihren Gastbeitrag in der FAZ im Dezember 1999, in dem sie sich deutlich von Helmut Kohl distanzierte – befördert.4 Der Führungswechsel „wäre in dieser Form ohne den vorangegangenen Skandal, ohne den plötzlichen Autoritätsverlust der langjährigen Altvorderen nicht vorstellbar gewesen“ (Schlieben 2007: 56). Merkel galt als ostdeutsche, protestantische Späteinsteigerin, die keinen eigenen starken Landesverband im Sinne einer „Hausmacht“ hinter sich hatte. Im Vergleich zu den „Jungen Wilden“ aus den Ländern, wie Koch, Wulff, Oettinger und von Beust, fehlte es ihr zudem an „Stallgeruch“. Das spielte aber nun alles keine Rolle mehr; denn vor und nach Helmut Kohl sind zwei Zeitrechnungen.
4 Merkel gewann infolge ihrer kritischen Positionierung gegenüber Kohl in der Medienberichterstattung an Sympathie, ohne die ihr der Aufstieg zur Parteivorsitzenden wahrscheinlich nicht gelungen wäre, da sie bisher über keine eigene Basis in der Partei verfügte.
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Angela Merkel brachte zehn Jahre bundespolitische Erfahrung mit, davon sieben als Ministerin zwischen 1991 und 1998. Mit dem Instrument der Regionalkonferenzen baute sie ihre Machtposition als Generalsekretärin direkt bei der Basis auf. Sie zeigte sich schockiert über den Spendenskandal und betonte ihre Distanz zu den diskreditierten Führungszirkeln (Daiber/Skuppin 2006: 47). Merkels Stärke resultierte auch aus der Schwäche der anderen. Die „Jungen Wilden“ hatten zwar verabredet, sich gegenseitig nicht anzugreifen, es fehlte ihnen aber eine Strategie für den Fall eines Wechsels an die Spitze. Bis 2002 konzentrierte sich Merkel auf die Partei und das Konrad-Adenauer-Haus, während Friedrich Merz die Fraktion führte. 2002 suchte sie bereits den Sprung zur Kanzlerkandidatin zu realisieren, konnte sich aber gegen den bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber, der im Zenit seiner Macht stand, nicht durchsetzen. Aus der verlorenen Wahl 2002 ging Merkel gestärkt hervor, weil sie nun auch den Fraktionsvorsitz übernahm und so zur Oppositionsführerin im Bundestag wurde. Im Bundestag der Jahre 2002 bis 2005 fußte die Oppositionsstrategie unter Merkel auf drei Punkten: Erstens konzentrierte sich die CDU 2003 im Rahmen der Leipziger Beschlüsse auf ihre programmatische Erneuerung. Die Beschlüsse basierten nicht auf einem innerparteilichen Diskussionsprozess, sondern auf einem Gutachten der vom Parteivorstand beauftragten Herzog-Kommission und einem steuerpolitischen Konzept von Friedrich Merz. Die Leipziger Beschlüsse orientieren sich an der Leitidee, den deutschen Sozialstaat, insbesondere die Pflege- und Rentenversicherung, von einem umlagefinanzierten Sozialversicherungssystem auf ein kapitalgedecktes System umzustellen. In der Krankenversicherung schlug die CDU ein steuerfinanziertes Prämienmodell, die sogenannte „Kopfpauschale“, vor. Das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Solidarleistung und Eigenverantwortung sollte zu Gunsten letzterer neu ausbalanciert werden (CDU 2003). Es hatte den Anschein, dass die deutschen Christdemokraten mit den Leipziger Beschlüssen mit zwanzigjähriger Verspätung den Kurs von Reagan und Thatcher nachvollziehen wollten.5 Zweitens suchte die CDU ihre Regierungsfähigkeit durch eine punktuelle Kooperation mit der rot-grünen Regierung unter Beweis zu stellen. Aufgrund einer deutlichen Unionsmehrheit im Bundesrat musste die rot-grüne Bundesregierung bei zustimmungspflichtigen Gesetzesvorhaben die Opposition beteiligen. Bei der Gesundheitsreform 2003 saß Sozialpolitiker Horst Seehofer (CSU) gleich mit Gesundheitsministerin Schmidt am Verhandlungstisch, weil die Regierung das Paket im Bundesrat nicht wieder aufschnüren wollte (vgl. Neumann 2009: 91). Im Zuge der Umsetzung von Hartz IV beschränkte sich die CDU, vertreten vom hessischen Ministerpräsident Roland Koch, darauf, mit dem Optionskommunenmodell deutliche eigene Akzente im Reformprozess zu setzen und stimmte den Vorschlägen der SPD zu. Die Union kritisierte die Reformen der Regierung nicht so sehr inhaltlich, sondern monierte vielmehr eine zaghafte und fehlerhafte Umsetzung. Drittens griff die Union die Regierung mit zwei öffentlich viel beachteten Untersuchungsausschüssen heftig an. Nach der Wahl setzte sie auf Initiative von Ministerpräsident Koch einen Untersuchungsausschuss ein, der prüfen sollte, inwiefern die Aussagen der Regierung zur Finanzlage des Bundes im Wahlkampf 2002 eine „Wahllüge“ gewesen seien. Ein weiterer, Ende 2004 von der Union beantragter Untersuchungsausschuss zur Visa-Affäre beschäftigte sich mit der Visavergabepraxis der rot-grünen Bundesregierung und rückte den Bundesaußenminister, Joschka Fischer, ins Visier der Kritik (Zohlnhöfer 2007: 127). 5 Dieser These, die in der neuen Positionierung der CDU eine Art Paradigmenwechsel sieht, widerspricht Zolleis (2008: 172), er sieht die Leipziger Beschlüsse als konsequente Weiterentwicklung der CDU-Wirtschaftspolitik.
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Mit der unerwarteten Ankündigung vorzeitiger Neuwahlen hatte Gerhard Schröder im Mai 2005 den Weg für Angela Merkel zur Kanzlerschaft geebnet. Anders als 2002, als sie in den eigenen Reihen umstritten war und Edmund Stoiber den Vortritt überlassen musste, war sie 2005 als Oppositionsführerin die naheliegende Kandidatin. Allein schon aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit bis zum Wahltermin im September hätte die Union keinen anderen Kandidaten mehr aufbauen können. Während des Wahlkampfes schwebte die CDU auf einem Stimmungshoch und musste sich den Demoskopen zufolge noch Anfang September über eine bürgerliche Mehrheit mit der FDP keine Sorgen machen. In den letzten drei Wochen aber ging die Wahl verloren. Die CDU konnte mit ihrer Strategie der Ehrlichkeit, die angesichts der schwierigen Haushaltlage Kürzungen im Sozialbereich nicht ausschloss, nicht in die Offensive kommen. Vielmehr gelang es der SPD, die Kampagnenthemen der CDU negativ zu deuten, was bei Presse und Öffentlichkeit verfing. Deutlich wurde dies insbesondere im Zusammenhang mit den Vorschlägen zur Steuerreform von Paul Kirchhof (SPD: „Kirchhof-Kahlschlag) und dem Konzept der „Kopfpauschale“, wo es der SPD gelang, diese Pläne als bedrohlich und „radikal unsozial“ zu apostrophieren. Letztlich ist der Partei im Vorfeld der Großen Koalition keine „wählerwirksame Profilierung der ´Marke´ CDU“ gelungen (Schmid 2008: 68). Programmatisch boten die Bedingungen der Großen Koalition, die den verlorenen Bundestagswahlen 2005 folgte, der Union die Möglichkeit, ihren mit den Leipziger Beschlüssen eingeleiteten Pfad der wirtschafts- und sozialpolitischen „Freidemokratisierung“ zu korrigieren. „Nur der Wechsel ins Regierungsamt konnte eine kritische Debatte über die von Merkel verantwortete neoliberale Ausrichtung der CDU seit dem Leipziger Parteitag 2003 verhindern“ (Meng 2008: 285). Die Aufarbeitung wurde erst nach der Regierungsbildung auf die Tagesordnung der CDU gesetzt und ging später im Regierungsalltag konsequenzenlos unter. Zusätzlich erschwerten die Erfolge bei den folgenden Landtagswahlen eine öffentliche Debatte über das Wahlergebnis im Bund. „Parteien haben es in Deutschland nicht so leicht, aus Niederlagen zu lernen. Zu unmittelbar folgen in der föderalen Republik den Talsohlen tiefer Depression häufig genug die lichten Höhen des Trostes, ja der machtpolitischen Kompensation“ (Walter 2006: 23).
3.2 Das Machtzentrum um Kanzlerin Angela Merkel Bei der Verteilung der Kabinettsposten in der Großen Koalition konnte die CDU nur über vier Ressorts frei verfügen, da zwei der sechs Ministerien, die der Union zustanden, für die CSU reserviert waren. Auffällig bei der personellen Verteilung der Ministerposten in der Großen Koalition war, dass niemand aus der Riege der CDU-Ministerpräsidenten ins Kabinett wechselte. Der größte Landesverband, Nordrhein-Westfalen, war nicht mit einem Minister in der Regierung vertreten. Allerdings wusste Merkel die Ansprüche der Landesverbände mit anderen Posten zu bedienen. So stellte Nordrhein-Westfalen mit Roland Pofalla den Generalsekretär der Partei und Norbert Röttgen war bis 2009 Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Der neue Generalsekretär der CDU, Hermann Gröhe, wurde 2008 zum Staatsminister für die Bund-Länder-Koordination im Kanzleramt berufen. Die CDU Baden-Württemberg war mit dem langjährigen Bundestagsfraktionsvorsitzenden, Wolfgang Schäuble (2005-2009 Innenminister), der ehemaligen Landesbildungsministerin Annette Schavan, die seit 2005 auch auf Bundesebene die Res-
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sorts Bildung und Forschung verantwortet, und dem Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder gleich dreimal vertreten. Kauder hält Merkel den Rücken frei und managt die Fraktion im Sinne eines loyalen Organisators. Hinzu kamen die aus Niedersachsen stammende Familienministerin Ursula von der Leyen, die das Ressort Frauen, Familien, Jugend und Senioren übernahm, und der hessische Verteidigungsminister Franz Josef Jung. Diese Verteilung der Posten, die vordergründig nicht allen Proporzansprüchen der Landesverbände entgegenkam, konnte Merkel ohne Gegenwehr durchsetzen und damit ihre Macht festigen. Insgesamt spielen für Merkel traditionelle Proporzüberlegungen eine geringe Rolle, vielmehr setzt sie auf personalisierte Netzwerke, wie etwa die Landesgruppen im Bundestag und deren Vorsitzende, um Zustimmung zu ihrer Politik zu organisieren. Zu den wichtigsten direkten Bezugspersonen von Merkel zählen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der „Kleinen Morgenlage“ im Kanzleramt. Das sind im Einzelnen: Kanzleramtsminister Thomas de Mazière, den Merkel aus ihrer Zeit als stellvertretende Sprecherin der letzten DDR-Regierung kennt, ihre aus Niedersachsen stammende Büroleiterin, Beate Baumann, die ihr von Christian Wulff empfohlen wurde und die Merkel schon seit 1992 begleitet, der Chef des Planungsstabes, Matthias Graf von Kielmannsegg, der Regierungssprecher, Ulrich Wilhelm, oder sein Stellvertreter, Thomas Steg, sowie die ehemalige Vorsitzende der JU und Staatsministerin für die Bund-Länder-Koordination, Hildegard Müller (seit 10/2008 Hermann Gröhe). Fragt man nach dem Machtzentrum der CDU, dann wird deutlich, dass sich Merkel sehr häufig auf Frauen stützt. Zum engsten Kreis um Merkel zählen die Ministerinnen Schavan und von der Leyen sowie die Büroleiterin Baumann und die Vorsitzende der Frauenunion, Maria Böhmer. Darüber hinaus gibt es außerhalb der Parteiorganisation einen Kreis von Unterstützerinnen, der von Friede Springer bis Alice Schwarzer reicht. Diese Verbindungen sind aber nicht mit den Männerbünden in der CDU zu vergleichen, da Merkel zwar einflussreiche Unterstützerinnen hat, ein systematisches Frauennetzwerk jedoch nicht besteht. Auf Seiten der Ministerpräsidenten fand Merkel Unterstützung vor allem durch den Niedersachen Christian Wulff und den ehemaligen Regierungschef von Thüringen, Dieter Althaus. Auffallend war auch die dezidierte Unterstützung durch den hessischen Ministerpräsidenten, Roland Koch, der in früheren Zeiten als Kritiker Merkels in Erscheinung getreten ist. Insgesamt zeigt ein Blick auf das direkte Umfeld von Angela Merkel, dass sie sich nicht mit Persönlichkeiten umgibt, die ihre Stellung in Frage stellen würden und ihr als Konkurrenten gefährlich werden könnten.
3.3 Vereinigungen, Flügel und Strömungen in der CDU Die Entwicklung einer strategischen Zeitgenossenschaft setzt eine Machtbalance der Kräfte innerhalb der Union voraus: Um auch in der Öffentlichkeit den Eindruck von entschlossener Handlungsfähigkeit zu vermitteln, müssen die Ideen, Interessen und Machtansprüche der verschiedenen Flügel so ausbalanciert werden, dass alle sich trotz unterschiedlicher Positionen im Einzelnen in der Union beheimatet fühlen. Traditionell lassen sich in der Union zwei Hauptkonfliktlinien erkennen. Die eine verläuft zwischen dem Sozial- und dem Wirtschaftsflügel, die andere entlang gesellschaftspolitischer Fragen zwischen Mitgliedern mit einem konservativ-christlichen und einem pragmatisch-liberalen Weltbild. Nach einer Mitgliederstudie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2007 lässt sich die Mitglied-
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schaft der CDU in vier Gruppen aufteilen: 32 Prozent der Mitglieder sind „Marktwirtschaftsorientierte“,6 25 Prozent „Christlich-Soziale“,7 17 Prozent „Gesellschaftspolitisch Liberale“8 und 26 Prozent „Traditionsbewusste“9 (Neu 2007: 40ff). Im Bundestag wurde der Wirtschaftsflügel während der Großen Koalition durch den wirtschaftspolitischen Sprecher der Fraktion, Laurenz Meyer, vertreten. Hinzu kam in der Bundestagsfraktion der Parlamentskreis Wirtschaft mit seinem Vorsitzenden Michael Fuchs. Auf der Ebene der Partei sind die Mittelstandsvereinigung (Vorsitzender Josef Schlarmann) und der Wirtschaftsrat (Vorsitzender Kurt Lauk) zu nennen. In den Ländern ist der Wirtschaftsflügel insbesondere durch die Ministerpräsidenten Roland Koch (Hessen), Günther Oettinger (Baden-Württemberg) und teilweise Christian Wulff einflussreich, die den Flügel auch im Präsidium der CDU repräsentieren. Von weit größerer Bedeutung für die Außendarstellung der wirtschaftspolitischen Kompetenz der CDU war allerdings der Finanzpolitiker Friedrich Merz. Da Merz das wirtschaftsliberale Element mit dem konservativ-christlichen verbinden konnte, verkörperte er die Integration zweier Hauptströmungen in der Partei. Der Konflikt zwischen Merz und der Parteivorsitzenden Merkel war richtungsweisend für die Partei und eine der brisantesten Personalkontroversen der vergangenen Jahre. Merz, der als politisches und rhetorisches Ausnahmetalent gilt, war bis 2002 Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag. Sein Abstieg begann, als die Parteivorsitzende Merkel nach der Niederlage bei den Bundestagswahlen 2002 neben dem Parteivorsitz auch den Fraktionsvorsitz beanspruchte und dabei von Wolfgang Schäuble unterstützt wurde. Damit war Merz, der nun nicht mehr in der ersten Reihe stand, „kaltgestellt“. Auch in den Wahlkampf 2005 band Merkel ihren einstigen Rivalen Merz nicht ein, obwohl er zu dieser Zeit unbestritten als der authentischste Vertreter einer liberalen CDU-Wirtschaftpolitik galt. Stattdessen setzte Merkel auf den externen Hochschullehrer Paul Kirchhof als Schattenminister für das Finanzressort. Während der Großen Koalition kritisierte Merz aus dem Hintergrund, konnte aber wenig erreichen. Auf dem Bundesparteitag 2008 ging er mit der Steuerpolitik der Regierung nochmals öffentlich hart ins Gericht und erntete damit viel Beifall und Aufmerksamkeit. Gleichzeitig kündigte Merz jedoch seinen Rückzug aus der Politik für 2009 an, wodurch das wirtschaftsliberale Profil der CDU geschwächt wurde. Der Sozialflügel der Union hat im nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers seinen politisch stärksten Fürsprecher. Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) ist die organisatorische Heimat des sozialen Flügels der CDU. Die CDA wird geführt vom nordrhein-westfälischen Sozialminister Karl Josef Laumann und dem Vorsitzenden der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Gerald Weiß, als seinem Stellvertreter. Auf der Länderebene werden neben Rüttgers seine Amtskollegen 6 Hier dominieren wirtschaftsliberale Einstellungen. Die Mitglieder dieses Typs befürworten Mindestrentenmehr Eigenvorsorge und ein traditionelles Familienbild, sie weisen das höchste Bildungsniveau auf, Frauen sind unterrepräsentiert. 7 Die Christlich-Sozialen befürworten ein sozialstaatlich orientiertes Gemeinwesen, gleichzeitig sind sowohl liberale wie auch konservative Gesellschaftsbilder vertreten, gleichzeitig sind mittlere Bildungsabschlüsse und eine Nähe zu den Gewerkschaften überrepräsentiert. 8 Diese Mitglieder sprechen sich gegen das traditionelle Familienbild aus und charakterisieren sich selbst als eher links und pragmatisch, unterstützen sowohl marktliberale als auch konservative Positionen; der Frauenanteil ist überdurchschnittlich. 9 Älteren Mitglieder sind (75 Prozent über 60 Jahre) deutlich überrepräsentiert und die formale Bildung ist die geringste. Es dominieren weltanschauliche und sozial-emotionale Eintrittsmotive. Der Wunsch, mit netten Leuten zusammenzukommen, ist wichtig wie auch soziale Anerkennung ein Anreiz zum Engagement ist. Insgesamt gehören aber nur 34 Prozent dieser Gruppe zu den Aktivisten.
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Peter Müller (Saarland) und Wolfgang Böhmer (Sachsen-Anhalt) dem sozialen Flügel zugerechnet. Diese drei Ministerpräsidenten sind auch Mitglieder des CDU-Präsidiums. Weitere Vertreter des Sozialflügels im Präsidium der CDU sind Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung und Karl Josef Laumann. Somit ist der Sozialflügel im Präsidium der CDU deutlich stärker vertreten als der Wirtschaftsflügel. Auch wenn die Regierungspolitik der Großen Koalition weit mehr den Interessen des Sozialflügels entsprochen hat teilt er das Schicksal des Wirtschaftsflügels, der nur einen geringen direkten Einfluss auf die Regierungspolitik hatte. Sowohl das Arbeits- als auch Gesundheitsministerium waren in sozialdemokratischer Hand. Darüber hinaus haben die „Sozialexperten“, die ehemals in Union und SPD federführende Verhandlungsleiter waren, während der Großen Koalition an Bedeutung verloren. Die Gesundheitsreform wurde beispielsweise zur „Chefsache“ erklärt und damit den Sozialpolitikern der Fraktion aus der Hand genommen. Die Inhalte der Regierungspolitik bedeuteten für die Partei einen radikalen Kurswechsel, denn noch 2003 war flügelübergreifend der Wille in der Partei sehr stark gewesen, der CDU mit den Leipziger Beschlüssen eine neue Orientierung zu geben. Das zeigte sich daran, dass sich auf Seiten des Sozialflügels, mit Ausnahme von Norbert Blüm auf dem Parteitag kein Widerspruch regte, obwohl es in Leipzig inhaltlich um eine neoliberale Trendwende der CDU ging. Damals gab es insgesamt nur vier Gegenstimmen. Diese Programmatik wäre allerdings nur in einer Koalition mit der FDP umsetzbar gewesen. In der Großen Koalition ist dem Wirtschaftsflügel die Deutungshoheit, die er 2003 mit eben diesen Beschlüssen erlangt hatte, ebenso schnell unter den Fingern zerronnen. Merkel ist es gelungen, durch ihre Regierungsführung ihren eigenen erfolgreichen Weg zu verfolgen, ohne sich auf einen der beiden Parteiflügel stützen zu müssen. Das machte sie unabhängig und führte zu einer Schwächung der beiden Flügel. Neben den verteilungspolitischen Fragen spielte der Konflikt um die gesellschaftspolitische Ausrichtung der CDU zwischen pragmatischen, säkularen „Gesellschaftspolitisch Liberalen“ auf der einen Seite und christlich, konservativen „Traditionsbewussten“ auf der anderen Seite vielleicht sogar die bedeutendere Rolle, wenn man nach maßgeblichen Veränderungen im Kräfteverhältnis innerhalb der Partei fragt. Im Fokus dieser Debatten steht die Auseinandersetzung über die Handlungsorientierung der Partei an christlichen Werten. Die Wertorientierungen in der Partei laufen oft quer zu den Spannungslinien in der Sozialund Wirtschaftspolitik und werden in und außerhalb der Union vor allem durch den Evangelischen Arbeitskreis, die katholischen Bischöfe, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und durch die Christen für das Leben vertreten. In der Großen Koalition bewegte sich die CDU eindeutig weg von der konservativ-christlichen hin zu einer pragmatisch-liberalen Ausrichtung, Diese Entwicklung wurde insbesondere von der Kanzlerin sowie von den Ministerinnen von der Leyen und Schavan vorangetrieben. Im Verlaufe dieses Veränderungsprozesses während der Großen Koalition gerieten vor allem die Familienpolitik, die Frage der Stammzellforschung und die Kritik der Kanzlerin am Papst zu zentralen Konfliktfeldern. Auch fiel die Kritik laut und heftig aus, blieb jedoch ebenfalls ohne Auswirkungen auf den eingeschlagenen Regierungskurs. Der Blick auf die Flügel eröffnet ein vitales Bild sich interessenpolitisch artikulierender Akteure. Zusammenfassend kann man die Rolle und die Interventionen der Parteiflügel hinsichtlich der Partei- und Regierungspolitik während der Großen Koalition wie folgt umreißen: Da der Handlungskorridor auf der Basis des Koalitionsvertrages enger gesteckt war als üblich, blieben den Flügeln drei Aufgaben: Erstens darüber zu wachen, dass von
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den Kompromissen des Koalitionsvertrages nicht zu ihrem Nachteil abgewichen wurde. Zweitens Positionen zu thematisieren, die nicht durch den Koalitionsvertrag abgedeckt waren und drittens die Schlachtordnung für den nächsten Wahlkampf vorzubereiten und damit ihre jeweiligen personellen und inhaltlichen Interessen zu platzieren. Personell fehlten den Flügeln jedoch prominente Vertreter, die in Entscheidungsfindungsprozesse hätten einbezogen werden können. Dies wird mit Blick auf die wirtschaftlich-konservative Richtung insbesondere daran deutlich, dass die Flügel immer nur reaktiv eingriffen und sich oft auf die Forderung beschränkten, „das Rad wieder zurückzudrehen“. „Aus der personellen Krise des Konservatismus ergibt sich fast zwangsläufig die inhaltliche. Wie heute eine zeitgemäße und doch dezidiert konservative Politik aussehen könnte, haben bislang auch diejenigen nicht formuliert, die sie immer wieder fordern. Bis heute gibt es einen deutlichen Widerspruch zwischen den Klagen über das fehlende Profil der Partei und der Unfähigkeit der Kläger, das Defizit auch nur etwas genauer zu umreißen“ (Lau 2009:184).
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Innerparteiliche Konflikte über die Regierungspolitik
Die traditionellen Spannungslinien, entlang derer sich die Flügel der CDU organisieren, waren auch für die parteiinternen Auseinandersetzungen während der Großen Koalition prägend. Der zentrale Vorwurf eines Teiles der liberalen und konservativen Basis gegenüber Merkel ist, dass sie die CDU während der Großen Koalition sozialdemokratisiert habe. Diese Kritik ging zuweilen so weit, dass sie der Regierungspolitik vorwarf, das Selbstverständnis und die ordnungspolitischen Grundlinien der Union zu gefährden. Das wird anhand von Beispielen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik illustriert (siehe dazu auch Brütt und Grimmeisen/Wendt in diesem Band). Vor allem auf diesen Politikfeldern gab es große Vorbehalte innerhalb der CDU gegen Einigungen mit dem Koalitionspartner SPD. Hier wachten die Parteiflügel besonders kritisch über die Umsetzung der Unionsziele, auch deshalb, weil es keine eindeutigen Regelungen im Koalitionsvertrag gab. Tatsächlich hat Merkel die CDU mit ihrem Regierungsteam und insbesondere mit den Protagonistinnen von der Leyen und Schavan gleichsam eigenständig reprogrammiert (vgl. Meng 2008: 291). Die Debatten auf den einzelnen Themenfeldern zeigen, dass die Union in der Regierungszeit, trotz kontroverser Auseinandersetzungen, eine Verschiebung hin zu einer libertären Modernisierung erfahren hat.
4.1 Arbeitsmarktpolitik Mit der Alternative der Kombilöhne versuchte sich die Union von der Sozialdemokratie abzugrenzen, indem sie deren Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen zurückwies und sich stattdessen für Kombilohnmodelle und einen gelockerten Kündigungsschutz aussprach. Im Koalitionsvertrag wurde eine Festlegung vermieden. Beide Modelle sollten geprüft werden (CDU/ CSU, SPD 2005: 25). Inzwischen plädiert die CDU für das Modell des Mindesteinkommens, das eine Entlohnung am Arbeitsmarkt mit ergänzenden staatlichen Leistungen kombinieren will (CDU/CSU 2009: 2). Besonders intensiv waren die Auseinandersetzungen in der Union zum Mindestlohn für Briefdienste, der von Oettinger scharf
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bekämpft und gleichzeitig von Laumann und Brauksiepe (Vorsitzender der CDUFraktionsgruppe für Arbeit und Soziales) auf Seiten der CDA ebenso leidenschaftlich befürwortet wurde. Während Ministerpräsident Koch (Hessen) in der Mindestlohnfrage10 „jede staatliche Aktivität als reine Arbeitsplatzvernichtung“ bezeichnet (Süddeutsche Zeitung 2007), lobt Brauksiepe die Mindestlöhne als „guten Tag für die christlich-soziale Bewegung“ (zitiert nach Siems 2009). Die CDU folgte schließlich der Kanzlerin bei der Einführung des Postmindestlohns. Nur 20 Abgeordnete stimmten dagegen, obwohl der Wirtschaftsflügel in der Fraktion ca. 120 Abgeordnete zählt (Lau 2009: 30). Innerhalb der CDU ist das Nein zum Mindestlohn fast zum ideologischen Menetekel geworden, wohingegen einer Umfrage von Infratest (s. verdi 2009) zufolge sich 75 Prozent der CDU-Wähler für Mindestlöhne aussprechen. Mit den Investivlöhnen,11 über die ein Konsens zwischen den Flügeln der Union besteht, verlor die Union ein Thema, mit dem sie sich gegen SPD und Gewerkschaften profilieren wollte, weil die SPD diesen Ansatz ebenfalls akzeptierte und man sich in der Koalition auf ein gemeinsames Modell einigen konnte. Wie deutlich die Meinungen in der CDU ansonsten in Arbeitsmarktfragen und damit auch in ordnungspolitischen Vorstellungen auseinander gehen, wurde auf dem Dresdner Parteitag 2006 deutlich. Ministerpräsident Rüttgers vertrat in einem Antrag des Landesverbandes NRW die Forderung, das Arbeitslosengeld I an ältere Beschäftigte wieder länger als zwölf Monate zu zahlen. Damit griff Rüttgers noch einmal die rot-grüne Regierungspolitik in diesem Feld an und fand gleichzeitig den Zuspruch der Gewerkschaften und des linken Flügels der SPD. In seiner Antwort darauf stellte Ministerpräsident Oettinger den Antrag, den Kurs von Leipzig zu bekräftigen und eine Lockerung des Kündigungsschutzes zu beschließen. Obwohl sich beide Anträge auf unterschiedliche Felder der Regulierung beziehen und somit nicht inhaltlich widersprechen können, bringen sie den latenten Richtungsstreit innerhalb der Union zum Ausdruck. Die Kanzlerin und Parteivorsitzende lobte Rüttgers wie auch Oettinger und vermied einen expliziten Richtungsstreit, in dem beide Anträge angenommen wurden.
4.2 Gesundheitspolitik Auch in der Gesundheitspolitik (siehe auch Grimmeinsen/Wendt in diesem Band) überwogen die innerparteilichen Konflikte der CDU im Vergleich mit den Auseinandersetzungen zwischen den Koalitionspartnern, insbesondere wenn es um die Abstimmung zwischen Kanzleramt, Fraktion und unionsgeführten Ländern ging. Die Kanzlerin konnte sich insgesamt mehr auf die SPD, namentlich auf Ministerin Ulla Schmidt und die SPD-geführten Länder, verlassen als auf ihre eigenen Reihen. Die Landesfürsten der Union wurden zu Veto-Spielern gegenüber der Kanzlerin, da sie mit dem Scheitern der Reform im Bundesrat drohten. Die Unionsländer kritisierten die grundsätzliche Ausrichtung der Reform, befürchteten einen Abbau bei der Ausgestaltung der privaten Krankenversicherung und eine finan10 2009 wird deutlich, dass die Union nur in der Frage der gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlöhne ihren Standpunkt verteidigt hat, die SPD sich aber mit der Neufassung des Entsendegesetzes und der Möglichkeit, Mindestlöhnen nach dem Mindestarbeitsbedingungsgesetz einzuführen, durchgesetzt. Inzwischen gibt es in neun Brachen einen Mindestlohn, der insgesamt ca. drei Millionen Beschäftigte umfasst. 11 Ein Investivlohn ist ein Teil des Lohns, der nicht ausbezahlt wird, sondern eine Beteiligung am ArbeitgeberUnternehmen begründet.
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zielle Überforderungen der Länder. Im Einzelnen äußerten die Ministerpräsidenten Rüttgers, Oettinger, Althaus, Müller, Milbradt, Stoiber sowie die CDU-Landespolitiker Schönbohm (Innenminister Brandenburg) und Christian Baldauf (CDU-Vorsitzender RheinlandPfalz) ihre Kritik an der Reform. Diese Liste der Kritiker zeigt, dass die Trennlinie in diesem Zusammenhang nicht entlang der sonstigen Strömungen, sondern zwischen der CDURegierung im Bund und den CDU-regierten Ländern verlief. Hinzu kamen bei der Verabschiedung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes 2007 auch 23 Neinstimmen aus der Bundestagsfraktion, unter ihnen der Finanzexperte Merz, der sogar eine Klage beim Bundesverfassungsgericht ankündigte (Neumann 2009: 98f.). Trotz dieser unionsinternen Streitpunkte ist es der Kanzlerin am Ende gelungen, die Mehrheit auch der CDU-geführten Länder im Bundesrat hinter der Gesetzesvorlage zu versammeln. Forderungen der Mittelstandsvereinigung und ihres Vorsitzenden Schlarmann nach einer Rücknahme der beschlossenen Mindestlöhne wie auch der Gesundheitsreform und demgegenüber nach einer umfassenden Steuerreform sowie einer Flexibilisierung des Kündigungsschutzes blieben unbeachtet (Süddeutsche Zeitung 2008).
4.3 Wirtschaftspolitik Besonders vehement wurde die Kritik des Wirtschaftsflügels jedoch an der Strategie, mit der Merkel und die Regierung auf die Wirtschafts- und Finanzkrise reagierten. Auch ohne die Galionsfigur Friedrich Merz machte der Wirtschaftsflügel seine Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik zur Bewältigung der Krise deutlich. Zentral ist dabei der Vorwurf, die CDU werfe im Eiltempo wirtschaftsliberale Grundsätze über Bord und setze ihren Markenkern aufs Spiel: „Die Parteichefin Angela Merkel lasse die Marktskeptiker gewähren.“ (Süddeutsche Zeitung 2009). Eng damit verbunden ist die Mahnung, die CDU gehe wieder zum „Ahlener Programm“ zurück, in dem sie sich 1947 noch für eine Verstaatlichung der Großindustrie ausgesprochen habe. Zur Staatsbeteiligung von Industriekonzernen sagte Lauk: „Wehret den Anfängen. Wir öffnen die Pandora-Büchse. Das hält der Staat nicht aus“ (zitiert nach Bannas 2009). Schlarmann warf der Kanzlerin vor, eine Mitte-LinksPolitik zu betreiben und verdeutlicht damit auch medial die Absetzbewegungen des Wirtschaftsflügels von der Politik der CDU in der Großen Koalition (Die Welt 2009; Bergius 2009). Trotz mehrtätigen Pressetrommelfeuers blieb die Kritik ohne Nachhall, was den geringen Einfluss des Wirtschaftsflügels auf die Regierungspolitik verdeutlicht. Die Kritiker waren nicht in der Lage, Regierung und Parteiführung mit inhaltlichen und personellen Alternativen unter Druck zu setzen.
4.4 Gesellschaftspolitik Die Familienpolitik hat besonders beim konservativen Teil der Union für Emotionen gesorgt. 2002 noch bestätigte Katharina Reiche als Familienministerin in Stoibers Schattenkabinett mit dem Vorschlag des Familiengeldes von ca. 600 Euro pro Monat das traditionell-konservative Familienbild der Union. In eine andere Richtung zielt dagegen der Ansatz des Elterngeldes von Familienministerin Ursula von der Leyen. Sie wurde zu einem „Politikmotor“, da sie die frühere Blockadehaltung der Union in der Familienpolitik zu Gunsten
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einer Modernisierung des Familienbildes auflöste (Batt 2008: 227) und einen Politikwechsel durchsetzte. Mit der ehemaligen niedersächsischen Familienministerin und siebenfachen berufstätigen Mutter war bereits im Schattenkabinett von Merkel der Grundstein für Veränderungen gelegt. Die Regierungspartner vereinbarten bereits im Koalitionsvertrag, dass das von der vorherigen SPD-Familienministerin12 Renate Schmidt ausgearbeitete Konzept des Familiengeldes nach schwedischem Vorbild umgesetzt werden sollte (CDU/CSU/SPD 2005: 117; dazu auch Ehlert in diesem Band). Erstens erkannte die CDU damit auch andere Lebensentwürfe neben der klassischen Familie an. Zweitens betont das Elterngeld die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen und Männern in der Familien- und Erwerbsarbeit. Damit rückte die CDU von der traditionellen Vorstellung ab, dass Kinderbetreuung ausschließlich Aufgabe der Mutter sei. Ursula von der Leyen ist es mit dem Thema Familie gelungen, sowohl ihren Etat aufzuwerten als auch für die CDU zu einem neuen positiven Aushängeschild zu werden und sich republikweit Anerkennung zu erarbeiten. Insgesamt kann man die neue familienpolitische Ausrichtung der CDU als „contagion from the left“ bewerten, da die CDU die Programmatik einer linkeren Partei (der SPD) übernommen hat (Hicks/Swank 1992). Da der Ansatz von Merkel und von der Leyen einen tatsächlichen Bruch mit dem konservativen Wertegerüst der Union bedeutet und insbesondere das Konzept der „Vätermonate“ einem Kulturkampf gleichkam, gab es auch innerparteiliche Kritik. Thüringens Fraktionsvorsitzender Mike Mohring warnte vor elektoralen Folgen der neuen Familienpolitik: „Die Arbeit von Frau von der Leyen ist zu westorientiert, zu großstädtisch ausgerichtet, nimmt zu wenig Rücksicht auf unsere konservative Klientel und auf die Lebenserfahrungen in den jungen Ländern“ (zitiert nach Focus online 14.02.2007). Deutliche gesellschaftspolitische Veränderungen zeigten sich auch im Umgang mit der Frage der Zuwanderung. Zur Repositionierung war es bereits 2000 gekommen, als sich die CDU grundsätzlich zur Zuwanderung und zu Deutschland als Einwanderungsland bekannt hatte (Krupa 06.11.2000). Die CDU griff diese veränderte Beschlusslage in ihrem neuen Grundsatzprogramm 2007 auf und definierte Deutschland als „Integrationsland“. Gleichzeitig betonte sie vehement die Pflichten der Migranten zur Integration (CDU 2007: 95f.). Während der Großen Koalition spielte insbesondere die Frage der Integration in der Regierungspolitik eine entscheidende Rolle, wie die intensiven Anstrengungen der Kanzlerin, des Innenministers Schäuble und der Integrationsbeauftragten Böhmer auf den Integrationsgipfeln und Islamkonferenzen deutlich machten. Hinsichtlich der Integration diskutierte die Regierung intensiv mit den Vertretern der Migranten, welche beiderseitigen Anstrengungen möglich und notwendig sind. Für Aufruhr innerhalb der CDU sorgte auch die Kritik der Kanzlerin am Vorgehen von Papst Benedikt XVI. aufgrund seiner zunächst versöhnlichen Haltung gegenüber dem Holocaust-Leugner Bischof Richard Williamson. Merkel fand am Rande einer Pressekonferenz am 04.02.2009 ungewohnt klare Worte: „Ich glaube, es ist schon eine Grundsatzfrage, wenn durch eine Entscheidung des Vatikans der Eindruck entsteht, dass es die Leugnung des Holocaust geben könnte (…). Deshalb darf das nicht ohne Folgen im Raum stehen bleiben. (…) es geht hier darum, dass vonseiten des Papstes und des Vatikans sehr eindeutig klar gestellt wird, dass es keine Leugnung geben kann (…). Diese Klarstellungen sind aus meiner Sicht noch nicht ausreichend erfolgt.“ 12
Siehe zur Familienpolitik unter der rot-grünen Bundsregierung Leitner 2005.
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Insgesamt billigte eine deutliche gesellschaftliche Mehrheit Merkels Kritik am Papst, auch die Mehrheit der CDU-Anhänger und der Katholiken (vgl. Lau 2009). Die Verstimmung der Kirchentreuen innerhalb der Partei reichte von Peter Gauweiler (CSU) über Karl-Josef Laumann und Norbert Blüm bis hin zu den katholischen Bischöfen (Lau 2009). Mit seinem Austritt nach 30-jähriger Mitgliedschaft reagierte der ehemalige Ministerpräsident (1991 – 1993) von Sachsen-Anhalt, Werner Münch, besonders heftig: „Das war doch unglaublich, das war eine Demütigung des Papstes. Was maßt sich die Kanzlerin an?“ Münch kritisierte, dass die CDU Persönlichkeiten wie Friedrich Merz, Helmut Kohl und Michael Glos keinen Platz lasse, wirft der CDU „Werterelativismus“ vor und fordert, dass die CDU ihre wertkonservative Klientel mehr achten müsse (Münch/Schmid 2009). Die Reaktionen der Wählerinnen und Wähler sowie der CDU-Mitglieder offenbaren, wie groß die Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwahrnehmung in gesellschaftspolitischen Fragen ist und wie wenig sich die Union ihres Wertekanons sicher ist. Die gesellschaftspolitischen „Lockerungsübungen“ haben die CDU zwar einerseits von konservativem Ballast befreit, stellen aber gleichzeitig bisher wichtige Verbindungslinien zwischen der CDU und traditionellen Bezugsgruppen in Frage. So ist die bislang privilegierte Partnerschaft zwischen Kirche und Union beispielsweise inzwischen ist porös geworden. 5
Die Union auf der Suche nach einer neuen strategischen Zeitgenossenschaft
Durch das schlechte Wahlergebnis von 2005 ist der Union vor Augen geführt worden, dass sie sich als Volkspartei keinen Wahlkampf leisten kann, der zu stark an neoliberalen Konzepten orientiert ist. Gleichwohl hat die Partei sozialpolitisch bis heute noch keinen neuen Kurs gefunden. Merkels enorme Anpassungsfähigkeit wird von vielen als Führungsschwäche kritisiert, ist aber im Sinne eines responsiven Regierens, des Gespürs auch für vorpolitische und politisierbare Stimmungslagen ihre eigentliche Stärke (vgl. Schmidt 2009; Netzwerk Recherche 2009: 9). Nach der Wahlniederlage hat sie sich im Zuge der Großen Koalition von den Leipziger Beschlüssen abgewendet, ohne jedoch bisher ein eigenständiges Profil entwickelt zu haben. Auf dem Feld der Gesellschaftspolitik ist die CDU während der Großen Koalition am weitesten vorangekommen, die Kluft zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Parteiprogrammatik zu schließen. So ist es der Partei gelungen, urbane Lebenslagen aufzunehmen und Stimmenzuwächse insbesondere unter jüngeren Frauen zu erzielen. Für diesen neuen Kurs der CDU stehen personell sowohl die ostdeutsche, evangelische und pragmatische Kanzlerin sowie ihre Familienministerin. Von der Leyen vermag es, das traditionelle Familienbild und damit das Wertgerüst der Union zeitgemäß neu zu definieren, ohne dass dies im Wahlergebnis 2009 zu signifikanten Verlusten bei den Stammwählern führte. Die Unzufriedenen innerhalb der Union sorgen sich gleichwohl um die Wählergunst der traditionellen Stammklientel. Friedrich Merz etwa kritisiert eine falsche Prioritätensetzung Merkels im Hinblick auf die Balance von Markt und Staat: „Wenn die Union, insbesondere die CDU, so gut wie alles aufgibt, was sie über Jahrzehnte für richtig gehalten hat, dürfen wir uns über die Abwanderung unserer Stammwähler nicht wundern“ (zitiert nach Wirtschaftswoche 01.07.2008). All diese Vorwürfe lassen sich darauf zuspitzen, dass die CDU durch ihren Versuch in großstädtischen Milieus neue Wählerschichten zu gewinnen, die Gunst ihrer ländlichen, religiös orientierten Stammklientel aufs Spiel setzt. Während die
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Kritiker besorgt sind, dass die CDU in ihren klassischen Milieus verliert, setzt die Kanzlerin statt dessen auf das Kalkül, neue Wählerschichten für die Partei zu erschließen und die konservative und wirtschaftsliberale Klientel weiterhin an die Partei binden zu können. Dieses Kalkül unterstellt, dass diese Stammwähler mangels Alternative nicht auf eine andere Partei ausweichen und deshalb an die Union gebunden bleiben. Offen bleibt jedoch welches Szenario sich entwickelt, wenn sich die konservative Klientel im Parteienspektrum nicht mehr vertreten fühlt. Die Kritiker dürften sich durch die Landtags- und Bundestagswahlen 2009 bestätigt sehen. Die Union musste aufgrund ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Großen Koalition deutliche Einbußen zu Gunsten der FDP hinnehmen. Nicht wenige Wählerinnen und Wähler scheinen sich die Liberalen derzeit als Korrektiv der Union geradezu zu wünschen. Trotz neuer programmatischer Ansätze war die Union bisher nicht in der Lage, ein neues Alleinstellungsmerkmal im Sinne eines Markenkerns zu entwickeln, mit dem sie sich im Parteienwettbewerb hinreichend abgrenzen kann. Die Partei und ihre Vorsitzende zeigen sich vielgesichtig, „mal konservativ, mal liberal und mal sozial, was vorübergehend auch mit Blick auf die Wechselwähler funktioniert, langfristig aber ist eine ankerlose Union problematisch“ (Netzwerk Recherche 2009: 5). Die neue gesellschaftspolitische Ausrichtung unterscheidet sich kaum von anderen Parteien und eignet sich daher wenig zur Polarisierung. Vielmehr vollzieht die Union auf diesem Themengebiet lediglich eine nachholende Modernisierung und hat Ballast abgeworfen. Im Hinblick auf eine neue gesamtgesellschaftliche Erzählung jedoch bleibt die Union nach dem Wegbrechen ihrer alten identitätsstiftenden Leitbilder nach wie vor diffus. Das kann sie sich momentan aus zwei Gründen leisten: Zum einem gelingt der Kanzlerin und Parteivorsitzenden ihre Machtsicherung derzeit auch ohne ein klar konturiertes Leitbild. Zum anderen profitiert die Union von der aktuellen Schwäche der SPD. Bemerkenswert ist, dass die Union nach der Bundestagswahl 2009 die lange angestrebte Wunschkoalition des bürgerlichen Lagers mit der FDP eingehen konnte und dennoch weiterhin auf der Suche nach einer strategischen Zeitgenossenschaft bleibt, die ihr in Zukunft belastbare Mehrheiten eintragen kann. Literatur Alemann, Ulrich von, 2005: Zur Notwendigkeit einer partizipativen Parteireform, in: Dettling, Daniel (Hrsg.): Parteien in der Bürgergesellschaft. Zum Verhältnis von Macht und Beteiligung. Wiesbaden, 43-48. Bannas, Günter, 13.01.2009: Florettschwünge im Kanzleramt, in: FAZ. Batt, Helge, 2008: Weder stark noch schwach – aber nicht groß: Die Große Koalition und ihre Reformpolitik, in: Tenscher, Jens/Batt, Helge (Hrsg.), 100 Tage Schonfrist. Bundespolitik und Landtagswahlen im Schatten der Großen Koalition. Wiesbaden, 215-246. Beil, Stefan/Lepszy, Norbert, 1995: Die Reformdiskussion in den Volksparteien, in: Interne Studien der KAS. Bergius, Michael (23.03.2009): CDU-Wirtschaftsflügel setzt sich ab, in: Frankfurter Rundschau. Best, Bolker, 2009: Die Strategie der kommunizierten Ehrlichkeit im CDU/CSU-Bundestagswahlkampf 2005, in: ZParl, H3, 40. Jg., 579-602. Bösch, Frank, 2002: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU. Stuttgart. Bundestag, 30.11.2005: Plenarprotokoll16/4, 91. CDU, 2003: Bürgerpartei CDU. Reformprojekt für eine lebendige Volkspartei. Beschluss des 17. Parteitags der CDU Deutschlands, Leipzig.
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Heinrich Oberreuter
Von Krise zu Krise. Die Erosion der CSU während der Großen Koalition
Am 27. September 2009 fuhr die CSU mit 42,5 % (-6,7 %) der bayerischen Stimmen das schlechteste Ergebnis ein, das sie seit 1949 bei einer Bundestagswahl je erreicht hatte. Mit ihren bundesweit 6,5 % war sie wie schon 2005 die schwächste der sechs im Bundestag vertretenen Parteien. War dies ein Reflex auf ihre Rolle in der Großen Koalition im Bund 2005 – 2009? Während dieser Legislaturperiode war die CSU in schwere Turbulenzen geraten. Deren Erschütterungen reichten bis nach Berlin, hatten ihr Epizentrum aber zweifellos in Bayern. Determinante der CSU während der Großen Koalition war daher die Landespolitik, mehr noch ein bis dahin unvorstellbares innerparteiliches Chaos. Diese Entwicklungen hatten binnen kurzer Zeit nicht nur zwei Wechsel an der Spitze von Partei und Regierung zur Folge, sondern lähmten die Partei auf beiden Aktionsebenen: Land und Bund. Im Berliner Fraktionsverbund ist sie in Schwächephasen jenseits aller Normalität gefallen (Schwarz 2009). 1
Sonderrolle: Regionalpartei mit bundespolitischem Anspruch
Was aber heißt Normalität? Der CSU kommt als Regionalpartei mit bundespolitischem Anspruch ohnehin eine Sonderrolle im Parteiengefüge der Bundesrepublik zu (Mintzel 1998; Oberreuter 2005). Rückhalt und Machtbasis ist allein Bayern, wo sie seit 1957 bis 2002 die Bundestagswahlen stets mit absoluten Mehrheiten für sich entschied, abgesehen von dem historischen Einbruch 1998 (47,7 %). Mit ihren seit je – auch heute noch – herausragenden Ergebnissen stabilisierte sie zudem ganz entscheidend die Position der Gesamtunion bis hin zur Grundlegung ihrer Regierungsfähigkeit. Außer in den beiden Großen Koalitionen hat die CSU nur einmal die Erfahrung machen müssen, zur Regierungsbildung in einer bürgerlichen Koalition nicht existentiell gebraucht zu werden: beim überragenden Sieg in der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990. In der Gewissheit, bei nächster Gelegenheit auf jedes bayerische Mandat wieder angewiesen sein zu können, hat Kanzler Kohl diese Situation nie ausgenutzt. Ihre Doppelrolle prägt Auftreten und Agieren der CSU. Sie muss sich ihren Wählern als Sachwalterin bayerischer Interessen präsentieren, ohne den Anspruch auf gesamtdeutsche Verantwortung und Gestaltung preiszugeben – wodurch sie sich nur zu einer reinen Regionalpartei degradierte. Folglich genügt der Rekurs auf bayerische Interessen nicht, um ihren Forderungen in Berlin Nachdruck zu verleihen. Gleichwohl muss die Partei im Ergebnis dem Motto „Bayern zuerst“ huldigen; denn ihrer Dominanz dort verdankt sie ihre Stellung im Bund. Ihr immer wieder erhobener Anspruch, die Unionslinie nachhaltig mitzugestalten, ist also nicht nur Ausdruck von eigenständigen, sondern auch von existentielS. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Heinrich Oberreuter
len Interessen, nicht zum 16. CDU-Landesverband herabzusinken, wobei vom Erfolg dieser Doppelstrategie nicht zuletzt auch die Schwesterpartei profitiert, der diese Erkenntnis jüngst gelegentlich verschlossen scheint. Dabei ergeben sich Wechselwirkungen zwischen Bundes- und Landesebene in beiden Richtungen: In Regierungskonstellationen kann die CSU vom Aktionsbonus und Erfolg der von ihr mitgetragenen Bundesregierungen profitieren und gegebenenfalls auch Nutznießerin eines Kanzlerbonus sein. Von einem bundespolitischen Malus bleibt sie aber ebenso wenig verschont. Grenzen ihrer konkurrierenden Eigenständigkeit werden in der Regel deutlich, wenn Landes- und Bundesinteressen in Kollision geraten und CSU-Exponenten als wichtige Rollenträger in der Bundesregierung agieren. Andererseits fiel ihr in depressiven Krisen der größeren Schwesterpartei im Unionsverbund die Rolle der Wortführerin zu, etwa als die CDU durch die Schlappe von 1998, als sie in ihrem Wahlgebiet erstmals seit 1949 nicht einmal 30 % erreichte, und durch ihre Spendenaffäre tief erschüttert war und die Fortführung der Oppositionsarbeit weitgehend von bayerischen Kompetenzen und Initiativen abhängig gewesen ist (Oberreuter 2002). In Folge dieser Situation, in der der bayerische Ministerpräsident zeitweilig als eigentlicher Oppositionsführer im Bund galt, fiel Edmund Stoiber dann auch 2002 die Kanzlerkandidatur zu. Doppelrollen haben es an sich, situationsbedingt und -angemessen unterschiedlich und abwechselnd interpretiert werden zu können. Wenn in der Vergangenheit galt, dass bei schwächerer Führungskraft der Schwesterpartei sich der bundespolitische Mitsteuerungsanspruch aus München stärker entwickelte, so war die Situation der CSU als mit Abstand kleinster Partner in einer großen Koalition zwischen einer präsidialen Kanzlerin und einer zweiten Volkspartei SPD seit 2005 schwieriger als zu Zeiten schwarz-gelber Bündnisse. Positionsbehauptung setzte jedenfalls intakte Parteistrukturen, überzeugendes Führungspersonal und kompetente Präsenz in Berlin voraus. 2
„Gefühlte Stärke“ – trügerisch. Der missglückte Einstieg in die Koalition
Die Bundestagswahl 2005 fand – zumindest oberflächlich betrachtet – in einer historischen Stärkephase der CSU statt: 2002 hatte sie mit 58,6 % in Bayern ihr drittstärkstes Bundestagswahlergebnis erzielt; nur 1976 (60,0 %) und 1983 (59,5 %) war sie erfolgreicher gewesen. Dieses gute Ergebnis brach einen länger dauernden Abwärtstrend. Es war auf Mobilisierungs- und Solidaritätseffekte zurückzuführen, die durch Edmund Stoibers Kanzlerkandidatur ausgelöst worden waren. Mit 9 % im Bund hatte die bayerische Partei wieder an ihre Anteile vor der Wiedervereinigung angeknüpft. Stärke signalisierte noch mehr das Landtagswahlergebnis 2003: phänomenale 60,7 % der Stimmen und mit 124 der 180 Mandate eine Zweidrittelmehrheit im Bayerischen Landtag. Auch in diesem Ergebnis spiegelte sich noch das im Wahlkampf erbetene „Signal für Berlin“ und die Solidarität mit dem – zumindest aus Sicht der Union – knapp unterlegenen Kanzlerkandidaten Stoiber: eine Personalisierung des Erfolges, die bei Reputationseinbußen der Führungsfigur zu Einbrüchen führen musste. Bei der Interpretation dieses Ergebnisses ist eine wesentliche Tatsache übersehen worden: Angesichts der massiv abgefallenen Wahlbeteiligung (von 69,8 % 1998 auf 57,1 % 2003) verbarg sich hinter dem prozentualen Triumph absolut ein Rückgang um 230.000 Stimmen. So gesehen hatte es sich 2003 eher
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um eines der schlechteren Ergebnisse seit 1970 gehandelt (Schoen 2007), was aber weder im Zentrum der Macht noch von Opposition oder Publizistik bemerkt worden ist. Diese „gefühlte Stärke“ der Wahlgänge 2002 und 2003 sollte sich als fatal erweisen: Sie ist die Grundlage für den Verlust an Realität und Bodenhaftung, der die CSU in jene tiefe Vertrauenskrise geführt hat, die sich zwischen 2003 und 2005 aufgebaut, während der Großen Koalition entfaltet und in den Wahlen von 2008 und 2009 erbarmungslos niedergeschlagen hat. Den Wählern hatte es 2003 fern gelegen, mit ihrer Stimme die Aktions- und Reformwut Stoibers zu legitimieren, die seit 2004 auf sie niederfuhr. Insofern erfolgte der Einzug in die Große Koalition 2005 nach einem ernüchternden (49,2 % in Bayern, 7,4 % im Bund) Wahlergebnis (Hilmer/Müller-Hilmer 2006), das die CSU auf den sechsten Platz der im Bundestag vertretenen Parteien abstürzen ließ und dadurch a priori ihren Einfluss minderte, nachdem sie dort über lange Zeit die drittstärkste Kraft gewesen war. Nur mochte dies in der Freude über die Rückkehr auf die Berliner Regierungssessel nach sieben Jahren auf harten Oppositionsbänken niemand wahrhaben. Die schweren Fehler in Wahlkampf und Wahlprogramm, die eine schwarz-gelbe Mehrheit verhindert hatten, waren von den Schwesterparteien gemeinsam zu verantworten. Beide hatten das einseitig orientierte Wahlprogramm erarbeitet, das der SPD die Steilvorlage gab, die Union der sozialen Kälte und des „Neoliberalismus“ zu zeihen, einen Oppositionswahlkampf aus der Regierung heraus zu führen und letztlich wider alle Erwartungen ein Ergebnis auf Augenhöhe einzufahren (Machnig 2009), welches eben die Große Koalition erzwang. Gegen den Unionstrend gab es 2005 in Bayern keine Sonderentwicklung. Gleichwohl lag das Ergebnis der CSU in Regionen, die der Schwesterpartei verschlossen sind. Die relative Stärke der Bayern ermöglichte erst Angela Merkels Kanzlerschaft. Der Vorsprung der Union vor der SPD betrug etwas über 400.000 Stimmen. Hätte die CSU in Bayern nur das durchschnittliche CDU-Ergebnis eingefahren, hätten die Schwesterparteien über 700.000 Stimmen weniger erlangt. Die SPD wäre zum stärkeren Koalitionspartner geworden. Unionsintern hätten die Bayern als Garanten der Kanzlermacht aus dieser Konstellation eigentlich Kapital schlagen müssen. Dies zuzugestehen, lag der CDU offensichtlich fern. Der bundes- und europapolitische Anspruch der Regionalpartei verfing sich in der Position des mit Abstand kleinsten Koalitionspartners. Es bleibt das Handicap der CSU, nicht über die reale Option zu verfügen, den Unionsverbund aufzukündigen – seit dem historischen Kreuth nicht mehr und für alle Zeiten nicht, weil dadurch die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU gefährdet wäre, die ohnehin 2005 von der SPD einmal mehr in Zweifel gezogen worden war mit dem propagandistischen Ziel, als größte Partei das Kanzleramt für Schröder zu verteidigen. Die CSU ist zwar organisatorisch selbstständig, politisch aber nicht völlig frei. In diesem Spannungsfeld wurden ihr bei der Regierungsbildung bereits Grenzen aufgewiesen. Mit erheblichen Konsequenzen für die Partei und ihr Standing in Koalition und Öffentlichkeit scheiterte das Konzept, durch eine eigenständige Macht-, wenn nicht sogar Vetoposition im Kabinett das strategische Defizit der Minoritätsposition zu überspielen. Diese herausgehobene Rolle reklamierte Stoiber mit Unterstützung der Partei für sich, der als mit weitreichenden Zuständigkeiten ausgestatteter Wirtschaftsminister in die Bundesregierung wechseln sollte. Vor der Wahl war für den als sicher geltenden Fall eines schwarzgelben Triumphes gar ein Superministerium für Wirtschaft und Finanzen im Gespräch gewesen. Nun sollte nach grundsätzlichen Sondierungen auf Spitzenebene das Wirtschafts-
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ressort vom Finanzministerium1umfangreiche Kompetenzen in Europafragen sowie vom Bildungs- und Forschungsministerium für Forschung und Zukunftstechnologie erhalten – eine Schlüsselposition, womöglich sogar eine Art Nebenkanzler, der mit dem kongenialen SPD-Chef Franz Müntefering das wahre Führungsduo der Regierung bilden könnte. Beide hatten öffentlich die Richtlinienkompetenz der designierten Kanzlerin in Frage gestellt. Sie hatten schon während der Verhandlungen der Föderalismusreformkommission I harmoniert. Müntefering war als nüchterner, unideologischer Pragmatiker und Anwalt der Agenda 2010 der perfekte Ansprechpartner für Stoiber gewesen. Beide waren sich über die Parteigrenzen hinweg einig über den Ansatz und die Richtung der Zukunftspolitik. Das Projekt scheiterte vordergründig am Widerstand der designierten Minister Peer Steinbrück (SPD) und Annette Schavan (CDU) gegen die Beschneidung ihrer Ressorts, den Angela Merkel strategisch gewiss einkalkuliert hatte. Sie unterstützte Stoiber nicht, verwies ihn auf Verhandlungen mit seinen Konkurrenten und zeigte damit – im Grunde vorhersehbar – an, Gegenmachtpositionen am Kabinettstisch nicht zu akzeptieren, ja nicht einmal ein Sonderrecht des Parteivorsitzenden der CSU. Der (erzwungene) Rückzug Münteferings von der SPD-Spitze gab Stoiber den Vorwand, auf seinen Wechsel nach Berlin zu verzichten. Dass Merkel ihn machtpolitisch ausgebremst hatte, konnte er schwerlich öffentlich kommunizieren. Seine potentiellen Nachfolger, Partei und Öffentlichkeit fühlten sich düpiert. Mit dem Mythos Stoiber brach für die CSU auch die charismatisch gegründete Unterstützung ein. Die Krise war nun endgültig und erwies sich letztlich als unüberwindbar. Das Wirtschaftsministerium fiel schließlich an den langjährigen Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe, Michael Glos, den Angela Merkel ohne Abstimmung mit Stoiber für das Verteidigungsministerium ins Gespräch gebracht hatte. Das für Bayern durchaus wichtige Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz besetzte Horst Seehofer, der über langjährige Erfahrung als Bundesminister verfügte, aber im Streit um die Gesundheitspolitik in Konflikt mit den Parteiführungen von CSU und CDU und eigentlich auf ein politisches Abstellgleis geraten war.2 Seine Nominierung durch Stoiber war daher überraschend gekommen und in der Landesgruppe wegen Seehofers Eigenwilligkeiten auf Widerstand gestoßen. Die Personalie Glos versöhnte die Berliner CSU-Parlamentarier mit dem Gesamtpaket. In den Prozessen der Koalitionsbildung scheiterte die CSU bei dem Versuch, aus ihrer noch immer besonderen regionalen Position Prämien auf die Macht im Bund zu ziehen. Sie zerrieb sich primär an der wieder erstarkten CDU und an Merkels Machtspiel. Die designierte Kanzlerin ließ nicht nur Edmund Stoiber ins Leere laufen. Zumindest taktisch unternahm sie auch den Versuch, ins Personaltableau der Bayern zu intervenieren, denen sie zugleich das erstrebte, gesellschaftspolitisch relevante Familienministerium verweigerte. Seehofer musste sie akzeptieren, der aus Stoibers Sicht eingebunden werden musste, um zu verhindern, dass er sich als designierter Vorsitzender des größten deutschen Sozialverbandes zu einer eigenständigen sozialpolitischen Gegenmacht aufbaute. Allerdings erhielt er ein Ressort abseits dieses brisanten Themenfeldes, trug aber allein durch seine Berufung 1 Es handelte sich um Materien der europäischen Wirtschafts-und Beihilfepolitik sowie um Finanzfragen der EUStrukturpolitik – Bereiche, die Oskar Lafontaine 1998 aus dem Wirtschaftsministerium in das Finanzministerium geholt hatte. 2 2004 hatte sich Seehofer deutlich gegen die Ansichten der Parteimehrheit gestellt und war als scharfer Kritiker des Gesundheitskompromisses von CDU und CSU (u.a. die Festlegung auf die Kopfpauschale) aufgetreten; nach seiner Niederlage in diesem Konflikt zog er sich als stellvertretender Vorsitzender und gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion zurück.
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Zwist in Landesgruppe und Partei. Michael Glos´ Amtsführung ließ anfänglich auf geringes Interesse schließen, das Potential des Wirtschaftsressorts auszuschöpfen, dem ursprünglich – wenn auch mit anderem Zuschnitt – doch so große Bedeutung zugemessen worden war. Vor dem Finanzministerium, einer politischen Bastion schon von Verfassungs wegen, war die Partei aus Popularitätsgründen zurückgezuckt, obwohl sie es mit Fritz Schäffer und Theo Waigel in herausfordernden Perioden kompetent und verdienstvoll geführt hatte und dort, wie sich im Verlauf der Legislaturperiode zeigte, ausgeprägte Profilierungschancen vorgefunden hätte. Im Ergebnis setzte schon die Bildung einer Großen Koalition der CSU strukturelle Grenzen, Angela Merkel und die CDU setzten ihr zusätzlich politische. Obendrein hat sie sich im Prozess der Regierungsbildung auch selbst geschwächt, nicht allein, aber ganz wesentlich und nachhaltig durch das Projekt Stoiber, das die Partei intern erschütterte, ihr extern Vertrauen und Zustimmung entzog und sie in Berlin partiell marginalisierte. Für die Entwicklung während der Koalitionszeit lassen sich, beeinflusst durch innerparteiliche Erschütterungen und Personalrochaden, drei Phasen unterscheiden: 1. 2. 3.
die Phase bis zu Stoibers Rücktritt 2007; die etwa einjährige Phase unter dem Führungsduo Erwin Huber / Günther Beckstein, die mit dem Desaster bei der bayerischen Landtagswahl im Herbst 2008 endete; die Phase unter Horst Seehofer.
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Entmythologisierung: Vertrauensverlust und Ende der Ära Stoiber
Schon die Anfangsphase der Koalition ist von einer schwelenden Vertrauenskrise der Partei und ihres Vorsitzenden in Bayern überschattet gewesen, verursacht einerseits durch eine rücksichtslose Reformpolitik und andererseits durch von kommunikativen Versäumnissen ausgelöste emotionale Entfremdungen (Oberreuter 2008). Die Reformdynamik wurzelte im überbordenden Macht- und Gestaltungswillen nach den Wahlergebnissen von 2002 und 2003. Unmittelbar nach dem Gewinn der Zweidrittelmehrheit der Mandate im Bayerischen Landtag vollzog Stoiber eine abrupte, zuvor nicht thematisierte und Wahlkampfaussagen zum Teil sogar widersprechende Wende: Das alles überragende Ziel eines ausgeglichenen Haushalts sollte durch massive Kürzungen in fast allen Bereichen, durch Mehrarbeit für Beamte und durch eine rigide, gelegentlich das Augenmaß verlierende Verwaltungsreform erreicht werden. Außerdem wurde die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit um ein Jahr verkündet – ohne vorherige Diskussion und zu einem Zeitpunkt, zu dem an den Schulen gerade der neue Lehrplan für das alte Modell ausgeliefert worden ist. Leidtragende dieser Maßnahmen und Einschnitte waren nicht zuletzt auch die Kommunen und damit die sprichwörtlich wohlfunktionierende Basis der Partei. Kritik hagelte es von Lehrern, Polizisten, Hochschulen, Landwirten, Beamten, Kommunen und Wohlfahrtsverbänden, selbst von den treuen Trachtengruppen, denen Zuschüsse gestrichen wurden. Trotz anders lautender Versprechungen blieb auch der Bildungsbereich nicht verschont. Auch aus der Landtagsfraktion wurde deutliche Kritik an Politik und Führungsstil laut. Forderungen mehrten sich, das Reformtempo zu drosseln, der Fraktion mehr Mitsprache einzuräumen und die Betroffenen einzubinden und anzuhören. Parteibasis, Fraktion und Öffentlichkeit, die wichtigsten Fundamente demokratischer Regierung, hatten
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sich von dieser durch deren rigorose Entscheidungen entfremdet. Nicht wenige vermuteten, Edmund Stoibers Reformansatz und Regierungsdynamik sollten als Ausweis einer erneuten Kanzlerkandidatur dienen: Signal für Berlin. In diese angespannte Situation platzte der zweite Vertrauenseinbruch, verursacht durch den Rückzug vom Wechsel nach Berlin, während in Bayern die Nachfolgediskussion zwischen den beiden Rivalen Huber und Beckstein schon voll entbrannt war. Stoibers Rückkehr hinderte beide am weiteren Aufstieg, ob auf Landes- oder Bundesebene. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist ihre persönliche Loyalität zu Stoiber offensichtlich zerfallen, während die politische noch bis zum Ende trug. Auf eher symbolischer Ebene gestaltete sich die Kritik an Stoibers Rückzug an der Parteibasis und in der Bevölkerung massiv. Der Rückzug galt als Verrat bayerischer Geradlinigkeit und Verlässlichkeit. Stoiber habe den Bayern ihren Stolz genommen, bemerkte der Abgeordnete und ehemalige Staatsminister Alfred Sauter. Die Identifikation der Partei mit der Mentalität des Freistaates war beschädigt. Die Mandatsträger bekamen dies im Lande intensiv zu spüren. In der Landtagsfraktion entlud sich im November 2005 heftige Kritik am Führungsstil, an der Einkapselung des Ministerpräsidenten in der Staatskanzlei und die Forderung nach Kabinettsumbildung und Generationenwechsel. Stoiber gelobte zwar Besserung, und wenig später sprach ihm der Parteitag (bei einer Enthaltung durch Gabriele Pauli) das Vertrauen aus; doch wurde die Führungsdiskussion latent weitergeführt. Beim 60. Parteijubiläum im Dezember 2005 schlug dem Vorsitzenden eher feindselige Stimmung entgegen. Über dem ganzen Jahr 2006 schwebte die Frage, ob es Stoiber gelingen könne, ausreichend Vertrauen zurück zu gewinnen, um die Partei in die Landtagswahl 2008 zu führen. Systematisch bereiste er die Bezirke des Landes und der Partei. Initiiert wurde der Diskussionsprozess um ein neues Grundsatzprogramm, das 2008 vollendet sein sollte. Die Partei war im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt statt mit Berliner Profilierung. Ein Feld, auf dem die CSU nicht nur mit der SPD, sondern auch mit der CDU in schwere Konflikte geriet, war die Gesundheitsreform (vgl. Bandelow/Schade 2009). Schon an den im Juli 2006 unter den Koalitionsspitzen ausgehandelten Eckpunkten, darunter der umstrittene Gesundheitsfonds, verstummte die Kritik nie, die durch den Gesetzentwurf des SPD-geführten Gesundheitsministeriums neue Nahrung erhielt. Ein Hauptstreitpunkt waren die Mehrkosten, die durch den Gesundheitsfonds auf die wohlhabenderen Länder, vor allem Bayern, zukommen sollten. Stoiber erreichte die Einfügung einer „Bayern-Klausel“, nach der die aus einem Bundesland abfließenden Gelder 100 Millionen Euro nicht überschreiten dürfen (Neumann 2009: 98). Die Einzelheiten der Umsetzung dieser Kompromisse beschäftigten noch Stoibers Nachfolger im Jahre 2008. Nach dem Start des Gesundheitsfonds flammte die Kritik der CSU, die sich mit diesem Umverteilungsmechanismus auch bis jetzt noch nicht abgefunden hat, im Frühjahr 2009 wieder auf. Stoiber ist es nicht gelungen, die Vertrauenserosion zu beenden, zumal eine dritte Krise intervenierte. Dieser Prozess gipfelte in der Denominierung des Partei- und Regierungschefs durch die Landtagsfraktion im Januar 2007 anlässlich der Affäre um eine angebliche Bespitzelung der Fürther Landrätin Gabriele Pauli, die diese kurz vor Weihnachten 2006 publik gemacht hatte. Pauli hatte sich bereits zuvor gegen Stoiber profiliert, unter anderem mit dem Vorschlag einer Mitgliederbefragung über die Spitzenkandidatur bei den nächsten Landtagswahlen und mit der Einrichtung eines stoiberkritischen Internetforums. Mit ihren Vorwürfen ließ Pauli ein Streichholz auf eine ausgedörrte Vertrauenssteppe fallen. Stoiber
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reagierte unprofessionell. Von Unmutsbekundungen der Basis und schlechten Umfragewerten verunsicherte Landtagsabgeordnete wagten sich zunehmend aus der Deckung. Als Stoiber verkündete, er wolle 2008 noch einmal als Spitzenkandidat antreten und bis 2013 in München regieren, halfen ihm auch neueste, aber bereits konditionierte Solidaritätsadressen nicht mehr. Er beugte sich schließlich dem Druck und kündigte am 18. Januar 2007 seinen Rückzug für Herbst desselben Jahres an. Zuvor hatten sich die beiden Nachfolger verständigt: Beckstein sollte Ministerpräsident, Huber Parteichef werden. Die lange Übergangszeit erwies sich für beide als problematisch. Der scheidende Amtsinhaber drosselte sein Regierungstempo nicht; auch seine Abschiedstournee mit mehreren Auslandsreisen diente vor allem der Stilisierung eigener Erfolge. Die Problemlage wurde augenscheinlich, als der Ministerpräsident auf Abruf noch im Juli 2007, in seiner letzten Regierungserklärung, das milliardenschwere Zukunfts- und Investitionsprogramm „Bayern 2020“ präsentierte, das weithin als Vermächtnis sowie als Versuch interpretiert wurde, seine Nachfolger politisch festzulegen. Diese Interpretation geht zwar fehl; das Gutachten war schon im August 2006 initiiert worden, als von Stoibers Sturz gar keine Vorstellung sein konnte. Doch hätte Stoiber dieses Projekt auch kollegial Beckstein überlassen können. Stattdessen spickte er die vor Selbstbewusstsein strotzende Regierungserklärung mit kaum verhohlenen Mahnungen an seine Nachfolger. Nicht nur die Zukunft des Freistaates, auch die der Partei suchte Stoiber mit seinem Namen zu verknüpfen. Denn er drang darauf, das neue Grundsatzprogramm auf seinem Abschiedsparteitag zu beschließen, womit das prompt eingetretene Risiko verbunden war, von den Personalfragen überschattet und kaum zur Kenntnis genommen zu werden, geschweige denn, dass ein Aufbruchsignal von ihm auszugehen vermochte. Als Modernisierungs- und Mobilisierungselement zugunsten der Partei in den heraufziehenden Wahlkämpfen fiel es somit aus. Beckstein und Huber schrumpften auf diese Weise zu Testamentsvollstreckern. Zeit, sich zu profilieren, blieb ihnen verwehrt. Darüber hinaus versuchte Stoiber, Legitimitätszweifel an seiner Ablösung und Kompetenzzweifel an seinen Nachfolgern zu säen. Innerhalb der Partei brachen die bislang staatsbayerisch überwölbten regionalen Gegensätze speziell zwischen Altbayern und Franken wieder auf. Nach der Verabschiedung des Grundsatzprogramms kam es auf dem Parteitag im September 2007 zur Kampfabstimmung um den Parteivorsitz, in der sich Erwin Huber mit 58,2 % der Stimmen gegen Horst Seehofer (39,1 %) und die marginalisierte Gabriele Pauli (2,5 %) durchsetzte. Seehofer hatte seine Ambitionen bereits nach der Rücktrittsankündigung Stoibers 2007 bekundet, scheiterte jedoch an seiner mehrheitlich empfundenen Unkalkulierbarkeit und an seinem Privatleben. Sein gleichwohl respektables Ergebnis bestätigte ihn allerdings als Führungsreserve und -konkurrenz. Mit der Wahl Günther Becksteins zum neuen Ministerpräsidenten am 9. Oktober 2007 war die Ära Stoiber abgeschlossen. 4
Nur eine Übergangsphase: die Doppelspitze
Damit waren die Ämter des CSU-Vorsitzenden und des bayerischen Ministerpräsidenten wieder getrennt, seitdem Stoiber nach dem Rückzug Theo Waigels vom Parteivorsitz 1999 beide Positionen auf sich vereinigt hatte. Nach der Vertrauens- und Ablösungskrise fing sich die CSU die Struktur- und Funktionsprobleme einer Doppelspitze mit ihren Kommunikations- und Abstimmungserfordernissen ein, die eine klare Führung verhinderten und
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die Medien permanent nach kleinsten Differenzen suchen ließen. Frei davon ist das Verhältnis zwischen beiden Spitzen trotz aller Bemühungen nicht gewesen. Aber anders als bei Waigel und Stoiber personalisierten Huber und Beckstein nicht den Konflikt Bayern – Berlin, zumal Huber sich entschieden hatte, noch nicht auf die Berliner Bühne zu wechseln und dadurch weiter Unruhe ins Personal- und Machtgefüge zu tragen. Außerdem standen bis 2009 in Bayern vier Wahlen an. Stoibers Hypotheken, Doppelspitze und Wahlkampfmarathon waren erhebliche Belastungen für das Duo, denen es nur unter besten Voraussetzungen hätte Stand halten können, die jedoch nicht gegeben waren. Hubers Entscheidung für Bayern warf für den Newcomer ohne ausgeprägte Bundeserfahrung und im Schatten Stoibers Probleme in Berlin auf. Er hatte kaum die Chance, das Provinz-Klischee abzulegen, zumal die CSU völlig zu Recht als angeschlagen galt, durchaus nicht ohne Schadenfreude ihrer Koalitionspartner. Zugleich war die Doppelspitze Gefangene der Sonderrolle ihrer Partei, deren regionale Position auch durch erfolgreiche Präsenz im Bund untermauern zu müssen. Unter ihren erschwerten Bedingungen mussten die Neuen Durchsetzungskraft in Berlin beweisen. Jeder Versuch, dort einen Akzent zu setzen, musste zwangsläufig unter diesem Aspekt kommentiert und frühzeitig auch als Manöver im Blick auf die bevorstehenden Wahlen interpretiert werden. Schon im März 2008 standen Kommunalwahlen an, bei denen mit 40 % das schlechteste Ergebnis seit 1960 erzielt wurde und die Partei nicht das übliche Bild einer Kampfgemeinschaft abgab. Auch bei diesem Wahlgang erwies sich mit dem Transrapid ein Stoiber-Erbstück als schwere Hypothek. Der kostenbedingte Ausstieg aus dem Prestigeprojekt, von dem sich der neue Ministerpräsident bei Amtsantritt vorsichtig distanziert hatte, wurde als Beschädigung der Wirtschafts- und Technologiekompetenz der CSU bewertet. Das Menetekel der Kommunalwahl wollte die Partei noch immer nicht erkennen. Als Profilierungsthema im Bund sollte die Steuerpolitik dienen („Mehr Netto für alle“), speziell die Wiedereinführung der alten Pendlerpauschale. Diese von öffentlichen Kampagnen begleitete Forderung führte zu massiven Konflikten mit den Koalitionspartnern SPD und CDU. Selbst bei einer gemeinsamen Präsidiumssitzung beider C-Parteien in Erding wies die Kanzlerin, wie bei anderer Gelegenheit auch Roland Koch und Peer Steinbrück gemeinsam, diese Forderung zurück, offensichtlich auch gekränkt durch einen nicht abgesprochenen öffentlichen Pressionsversuch Becksteins3. Obendrein wurde die CSU drei Tage vor der Landtagswahl durch die Linke vorgeführt, welche einen Antrag mit der CSUForderung im Bundestag einbrachte. Ganz professionell und alles andere als „nahe bei den Menschen“ stimmte die Landesgruppe aus Fraktionssolidarität gegen ihre eigene Forderung – zum Unverständnis vieler Wähler. Am Ende gab das Bundesverfassungsgericht der CSU Recht – zu spät, nach der Landtagswahl. Erwin Huber resümierte bei seinem Abschied unter lauten Beifallsäußerungen der Parteitagsdelegierten bitter: „Wir hätten uns durchaus etwas mehr Unterstützung der Schwesterpartei vorstellen können.“ Er fügte hinzu: „Manche in der CDU dachten vielleicht auch, es schadet nicht, wenn die CSU ein bisschen kleiner wird.“ Das heißt, die Partner in der Großen Koalition, auch die Schwesterpartei, sahen keine Veranlassung, eine geschwächte CSU zu stützen – im Gegenteil. Die Balance zwischen Landes- und Bundesrolle war nicht mehr intakt. Die Landtagswahlen vom 28. September 2008 markierten nach dem Sturz Stoibers den zweiten tiefgreifenden Einschnitt innerhalb kurzer Zeit: ein Trauma, dessen Schockwellen 3 „Wir glauben nicht, dass wir von Merkels Gnaden einen Wahlsieg haben, sondern wir werden den allein als Bayern holen“. Die CDU mache „einen Fehler“, wenn sie die Pendler nicht entlasten wolle.
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bis nach Berlin reichen mussten. Die CSU kam auf nur noch 43,4 % (-17,3) und verfehlte die gewohnte absolute Mehrheit deutlich (Schultze/Grasnick 2008). Trotz aller Negativtrends, zu denen stets auch Zweifel an den Spitzen gehörten, hatte die Partei an der Illusion „50 + x“ festgehalten. Doch ein Absturz diesen Ausmaßes war auch von Pessimisten nicht befürchtet worden. Dabei gab die CSU laut Wählerwanderungsbilanz vor allem an Konkurrenten im „bürgerlichen Lager“ ab: an die Freien Wähler 190 000, an die FDP 180 000 und an die Nichtwähler 130 000 Stimmen. An Linke (40 000) und an die Oppositionsparteien (SPD 80 000, Grüne 60 000) verlor sie erheblich weniger. Die Absetzbewegung erfasste Arbeiter, Angestellte, Beamte und Selbständige, mit –40 Prozentpunkten am intensivsten die Landwirte. Bei den jungen und mittleren Altersgruppen lagen die Verluste durchweg um die 20 Prozentpunkte, bei den Katholiken bei 17, bei den Protestanten 15 und bei Konfessionslosen ebenso bei 17. Auch der Katholizismus gibt in Bayern der CSU keinen speziellen Halt mehr. Die Größe der Verluste und ihre sozialstrukturelle Verteilung beschnitten die CSU auf Normalmaß. Sie partizipierte erstmals an den Mobilisierungs- und Integrationsproblemen der anderen Großparteien. Zugleich bestätigte sich auch in Bayern, dass deren Bindekraft seit langem einem Erosionsprozess unterliegt, von dem die Kleineren profitieren. Die CSU hatte auf modernisierende gesellschaftliche Veränderungen – zu erheblichem Teil durch ihre eigene Politik angestoßen – keine Antworten und verfehlte zunehmend die Lebenswirklichkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen (z. B. junge, berufstätige, gut ausgebildete Frauen). Kompetenz hatte sie bei den Themen Familie, Arbeit und Bildung verloren. Die Modernisierungsrhetorik ihrer Führung, rein ökonomisch orientiert, verpuffte. Zufriedenheit mit der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sicherheitspolitik und ihren Erfolgen wurde überlagert von Defiziten der Familien- und Bildungspolitik. Der Schlingerkurs der CSU-Führung beim Nichtraucherschutz, der zwischen dem anfänglichen Stolz auf das bundesweit strikteste Rauchverbot, dem Druck der Gastronomen und handwerklichen Unzulänglichkeiten in der Umsetzung schwankte, war vor allem ein Symptom für die Verwerfungen zwischen Partei und Gesellschaft, die bereits in den Jahren zuvor eingesetzt hatten. Das rigide Vorgehen bei der Verabschiedung des Gesetzes bestätigte nur den Eindruck der Abgehobenheit, das Zurückweichen vor dem sich spätestens in den Kommunalwahlen manifestierenden Protest belegte die Verunsicherung der Parteispitze. Das Desaster hatte mit der Fehlinterpretation der Landtagswahlen von 2003 begonnen, das als Legitimation zu tiefgehenden Umbrüchen aufgefasst worden ist, die Anhängerschaft und Betroffene empörten. Hinzu kamen der zurückgenommene Wechsel Stoibers nach Berlin und seine Ablösung. Die lange Übergangsphase in seinen Ämtern raubte den Nachfolgern Beckstein und Huber Profilierungschancen, die ohnehin schon unter der Konstruktion der Doppelspitze leiden mussten. Statt Aufbruchstimmung machten sich Lähmungserscheinungen breit. Bereitschaft, aus den Warnsignalen der ernüchternden Kommunalwahlen vom März 2008 zu lernen, stellte sich nicht im Entferntesten ein. Schließlich war die Wahlkampfführung so desaströs wie das Ergebnis. Aber auch Interferenzen mit der Bundesebene hatten wesentlich zum generellen Glaubwürdigkeitsverlust der CSU beigetragen:
Die Kehrtwende in Sachen Pendlerpauschale wurde von vielen als allzu durchschaubares Wahlkampfmanöver gesehen.
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Heinrich Oberreuter Eine Politik „gegen Berlin“ konnte von denjenigen, die auf die CSU als verantwortliche und verlässliche Kraft auch im Bund bauten, nicht goutiert werden. Denjenigen, die vor allem eine Politik für die Interessen Bayerns und damit „gegen Berlin“ verlangten, war der Einfluss der CSU nach der Demontage Stoibers und unter seinen glücklosen Nachfolgern auf der Bundesebene zu gering geworden.
Die Ursachen für die Schwächung der CSU liegen aber nicht in der Großen Koalition, sondern zuerst bei ihr selbst. Der Verlust der absoluten Mehrheit nimmt nun der CSU ihre Alleinstellung und erzwingt erstmals nach 46 Jahren wieder eine Koalitionsregierung in München. Koalitionspartner wurde just die FDP, an die die CSU massiv Stimmen verloren hatte; der Gedanke, diese Stimmen wieder zurückzugewinnen, liegt manchen rhetorischen Angriffen zu Grunde, welche die CSU seitdem immer wieder gegen den Münchner Partner führt: alles andere als ein Indiz neuer Stabilisierung und keine unbedingt Erfolg versprechende Strategie. Die zweite Folge: Wenn die CSU in der Berliner Koalition von vielen schon seit Stoibers Sturz als lame duck angesehen worden war, so verfestigte sich dieser Eindruck nach dem Verlust der unangefochtenen Dominanz in Bayern noch mehr. Aus der CDU erhoben sich sogar vereinzelte, wenn auch wenig durchdachte Rufe nach einem Ende des CSUSonderstatus innerhalb der Fraktionsgemeinschaft im Bundestag. Dritte Folge: Das Desaster bei der Landtagswahl legte angesichts der ohnehin permanent gestreuten Zweifel an der Doppelspitze erneut personelle Konsequenzen nahe und führte zum zweiten Revirement der Führung binnen eines Jahres. Schon unmittelbar nach Hubers Rückzug am 30. September hatte sich die Parteispitze auf Bundesminister Horst Seehofer als neuen Vorsitzenden geeinigt. Nach Becksteins Verzicht tags darauf folgte ein kurzes, aber intensives Ringen um dessen Nachfolge: Aus den Reihen der Landtagsfraktion bekundeten Innenminister Joachim Herrmann, Wissenschaftsminister Thomas Goppel und Fraktionsvorsitzender Georg Schmid ihr Interesse. Um Seehofer, der gelassen wartend bereit stand, zu verhindern, waren das zwei Kandidaten zu viel. Zur Kampfabstimmung trat dann keiner mehr an. Der Weg für Seehofer in die Staatskanzlei und damit auch für ein Ende der problematischen Doppelspitzenkonstruktion war frei. 5
Stabilisierung? Seehofers Aufstieg
Horst Seehofer wurde am 25. Oktober 2008 durch einen Sonderparteitag (90 % der Stimmen) und am 27. Oktober 2008 durch den Landtag in seine Ämter gewählt. In Personalfragen gab Seehofer als Parole die Verjüngung und die stärkere Repräsentanz von Frauen aus. Für die Staatsregierung bedeutete dies den keineswegs unumstrittenen Verzicht auf Kabinettsmitglieder über 60 Jahren. In diese Personalpolitik passten auch die Ernennung des damals 36-jährigen Außenpolitikers Karl-Theodor zu Guttenberg zum neuen Generalsekretär und die Benennung Ilse Aigners als Nachfolgerin im Bundeskabinett. Gleichzeitig mit den personellen Umbrüchen in der CSU, den Koalitionsverhandlungen mit der FDP, der Kabinettsbildung und den ersten Wochen der neuen Regierung wurde die Schieflage der Bayerischen Landesbank sichtbar: Wahrscheinlich hätte diese auch ohne Wahlniederlage ein Verbleiben Becksteins und Hubers als Mitglieder des Verwaltungsrats der Bank in ihren politischen Ämtern beendet. Bis Ende November 2008 sollte sich der
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Kapitalbedarf auf 10 Milliarden Euro erhöhen, die schließlich vom Freistaat aufgebracht wurden, der dafür die Mehrheit an der BayernLB übernahm. Seehofer zog einen scharfen Trennungsstrich zwischen seiner Regierung und ihren Vorläufern – nicht zur Beruhigung der Parteiseele. Gleichwohl wird seine Regierung mit der Aufarbeitung, den Kompetenzzweifeln an der politischen Kontrolle und vor allem den aufzuwendenden Steuermitteln zumindest mittelfristig belastet. Unter Seehofers Führung gewann die CSU ihre Konfliktfähigkeit in Berlin unmittelbar zurück. „Kaum war er installiert, kehrte auch in der CSU-Landesgruppe gewissermaßen wieder Normalität ein. Wie in alten Zeiten unter Franz-Josef Strauß oder Edmund Stoiber betrieb sie die wohlvertraute Doppelstrategie“ (Schwarz 2009, S. 246): Loyalität in der Fraktionsgemeinschaft einerseits, eigene Akzentsetzungen gegenüber der Bundesregierung andererseits. Partiell traf sie damit die Stimmung in der Gesamtfraktion, die das Ende der Großen Koalition herbeisehnte und selbst konfliktbereiter wurde, erregte aber das Missfallen der SPD und der Kanzlerin. In der Steuersenkungspolitik (Beseitigung der „kalten Progression“), beim Umweltgesetzbuch („bürokratisches Monster“) und bei der Kinderbetreuung (Betreuungsplatz kontra Betreuungs- bzw. „Herd“prämie) legte sich die CSU nun mit den Partnern an, beim Gesundheitsfonds ohnehin in Kontinuität. Allerdings hatte sie in den von ihr geführten Ressorts auch Divergenzen zwischen Landesinteressen und der eigenen Amtsverantwortung ihrer Minister im Bund zu registrieren, wie bei der grünen Gentechnik, wo Aigner Seehofers Wünschen nur partiell, oder beim Fall Opel, wo zu Guttenberg, ordnungspolitisch begründet, ihnen gar nicht folgte. Zu Guttenbergs Aufstieg ins Bundeskabinett ist eine Konsequenz der durch Stoibers Rückzug verursachten verfehlten Personalpolitik bei der Regierungsbildung gewesen, die Michael Glos in ein ungeliebtes und zunächst kaum ausgefülltes Amt geführt hatte – auch für die Partei eine verpasste Chance, für die Kanzlerin Anlass, sich bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise auf Finanzminister Steinbrück (SPD) zu stützen und den CSU-Politiker zu marginalisieren, dem es zudem an Unterstützung durch seinen Parteivorsitzenden mangelte. Wohl aus diesen Gründen bot Glos im Februar 2009 in einem Brief an diesen – nicht an die Kanzlerin! – seinen Rücktritt an. Seehofer akzeptierte nach anfänglichem Zögern und benannte den erst kürzlich zum Generalsekretär ernannten Karl-Theodor zu Guttenberg als Nachfolger, der sich im neuen Amt zwar noch kein Profil, aber erste Lorbeeren erworben hatte. Daran knüpfte er im Ministeramt an und erwies sich als personeller Glücksgriff: Trotz oder gerade wegen der akuten Wirtschaftskrise erklomm zu Guttenberg schnell die Spitze der Popularitätswerte. Authentisches Auftreten, eine klare ordnungspolitische Linie und Rückgrat in innerkoalitionären Konflikten wurden in Umfragen und Kommentaren gleichermaßen honoriert. Damit erwuchs der CSU ein Hoffnungsträger, der schon im anstehenden Bundestagswahlkampf neben dem Parteivorsitzenden selbst eine Hauptrolle als Zugpferd spielte. Mit der personellen Verjüngung und Erneuerung sowie mit dem Wiedergewinn von Präsenz und Konfliktfähigkeit auf Bundesebene sind in der Phase Seehofer und der Endzeit der Großen Koalition wichtige Voraussetzungen zur Restabilisierung des inneren Gefüges der Partei geschaffen worden – nicht mehr und nicht weniger. Der personelle Umbruch trägt seine Logik in sich: Er hätte ohnehin binnen kurzem stattfinden müssen, u.U. allerdings weniger radikal. Seine Gestaltung belegt allerdings auch Seehofers Machtinstinkt. Selbst zu keinem Zeitpunkt Mitglied des „Systems Stoiber“, im Grunde sogar im „System Bayern“ rand-, weil akzentuiert eigenständig, hat er sich ein neues auf ihn ausgerichtetes
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personales Bezugssystem geschaffen und den Kreis potentieller aktueller Konkurrenten überschaubar gehalten. Der Einschnitt gegenüber der Vergangenheit betrifft nicht nur die Landesbank. Ohne innere Stabilisierung wäre der tiefe Fall am Wählermarkt noch schwerer aufzufangen. Attraktivität dort hängt aber primär von Kompetenz und Vertrauen ab, den Defiziten der CSU in einer sich wandelnden bayerischen Gesellschaft, die sich politisch mehr und mehr an der Performance als an Tradition oder Parteibindung orientiert. Insofern ist z.B. die für die CSU erfolgreiche Europawahl (48,1 %, aber immerhin auch -9,3 %!) im Juni 2009 eher ein Warnsignal gewesen. Die Partei hatte überhaupt nichts gegen die Vermutung unternommen, an der bundesweiten 5 %-Hürde scheitern zu können und auf diese Weise bei niedrigster Wahlbeteiligung (42,3 %) ihre Kernanhängerschaft und die Interessenten an einer bayerischen Stimme in Brüssel mobilisiert – aber sonst kaum jemanden. Dass dies kein Ausbruch aus der Krise gewesen ist, belegt das Bundestagswahlergebnis 2009. 6
Fazit: Stabilisierung oder Erosion? Die offene Zukunft der CSU
Das Agieren der CSU während der Großen Koalition war in erster Linie durch landespolitische Entwicklungen in Bayern bestimmt. So hat etwa das erhebliche Selbstbewusstsein der Partei und ihrer Führung nach dem phänomenalen Landtagswahlergebnis 2003, das sich in der bayerischen Landespolitik als fatal erweisen sollte, zu überzogenen Initiativen und Ansprüchen auf der Bundesebene im Umfeld der Koalitionsbildung beigetragen. Der landespolitische Faktor ist auch wesentliche Ursache für die Diskontinuität, welche die Rolle der CSU charakterisierte. So hatten es die Koalitionspartner in Berlin in den Jahren 2005 bis 2009 mit nicht weniger als drei CSU-Parteivorsitzenden zu tun: Edmund Stoiber, Erwin Huber, Horst Seehofer. Der erst schleichende, dann eruptive Machtverfall Stoibers als Parteichef besaß mit dessen Zaudern nach der Bundestagswahl 2005 zwar auch eine Berliner Komponente, hatte seine wesentlichen Gründe aber ebenfalls in der Landespolitik. Auch der Wechsel im Parteivorsitz von Huber zu Seehofer war frei von bundespolitischen Einflüssen und allein im desaströsen Ergebnis der CSU bei den Landtagswahlen 2008 begründet. Die eingangs geschilderten massiven Verluste der CSU bei der Bundestagswahl 2009 sind Ausdruck der gravierenden Erosion ihrer Machtposition in Bayern seit 2003. Dabei sind nicht die Prozentzahlen der vorherigen Bundestagswahl 2005 der zutreffende Referenzpunkt, schon gar nicht die von 2002. Adäquater Maßstab sind die Landtagswahlen 2008. Dass im Vergleich dazu das Ergebnis im Herbst 2009 noch schwächer ausfiel, zeigt, wie wenig es sich bei dem Erdbeben von 2008, das Stoibers Nachfolger verschlang und Horst Seehofer nach oben brachte, um einen Zufall handelte. Breite Wählerschichten, die vormals die Dominanz der Partei sicherten, haben ihre Gefolgschaft aufgekündigt. Sie haben in FDP und Freien Wählern vorerst, vielleicht auch dauerhaft, eine neue Heimat gefunden. Deren Erstarken ist nicht nur punktuell zu erklären, sondern auch durch eine langfristige Erosion der Bindungskraft der CSU. Deren Hintergrund sind gesellschaftliche Entwicklungsprozesse wie Modernisierung, Säkularisierung, Urbanisierung und Individualisierung, die auch vor Bayern nicht halt gemacht haben. Sie schlagen sich nun nach gewissen Verzögerungen auch in der bayerischen Parteienlandschaft nieder, die in ihrer 2008/2009 erreichten Differenzierung der in anderen Ländern oder im Bund nicht mehr nachsteht, allerdings mit der Ausnahme, dass auch eine reduzierte
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CSU sich mit Recht noch immer als große Volkspartei verstehen kann. Zu den langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen kam eine Politik der CSU und besonders ihrer Führung, die den Vertrauens- und Bindungsverlust der Partei massiv beschleunigte und die eruptionsartige Entladung provozierte. Horst Seehofer wollte sich am Bundestagswahlergebnis 2009 messen lassen, für das er eine erhebliche Verbesserung im Vergleich zur Landtagswahl 2008 in Aussicht stellte. Sie ist nicht eingetreten – im Gegenteil. Das Minus setzt sich moderat, aber merklich in den Umfragen fort. Statt sich wieder in Richtung der 50 %-Marke zu orientieren – die zu überspringen in absehbarer Zeit aber illusorisch sein dürfte –, pendeln sich die Werte eher um die 40 % ein. Dass sie, speziell auch im Umfeld der Schieflage der Landesbank, im Januar 2010 nicht darunter lagen, ist von der Partei mit sichtlicher Erleichterung aufgenommen und als hoffnungsvolle Stabilisierung angesehen worden. Sind diese Daten zu positiv, um die tatsächlichen gesellschaftlichen Herausforderungen zu erkennen und anzunehmen? Die Hegemonie, die Alleinherrschaft in Bayern, ist zumindest auf mittlere Sicht dahin, auch wenn die CSU sich dort an eine Koalitionskonstellation in ihren Verhaltensdispositionen noch immer gewöhnen muss; damit ist auch ihre Position im Bund geschwächt. Nach den Ergebnissen der Demoskopie beschränken sich die Verluste keineswegs auf das Vorfeld der letzten Wahlen und die Stoiber-Krise. Sie sind längerfristiger Natur. Im Gefolge der Krisen haben sie sich lediglich beschleunigt und sind auf Kompetenzzweifel in Politikfeldern zurückzuführen, die – wie z.B. Bildung – in der in Bayern auch von der CSU selbst modernisierten Gesellschaft an Bedeutung gewonnen haben. Dabei werden die Verdienste der CSU um Bayerns prosperierende Entwicklung keineswegs geleugnet. Auf die in diesem Kontext entscheidende Frage, ob die Partei fit für die Moderne und die Zukunft ist, hätte das neue Grundsatzprogramm Antwort geben können, das mit der Akzentuierung einer „aktiven Bürgergesellschaft“ und „solidarischen Leistungsgesellschaft“ (Glück/ Vogel/Zehetmair 2006), reformierten gesellschafts- und familienpolitischen Aussagen sowie seinen sozialen, ökologischen und ökonomischen Leitlinien durchaus in der Moderne und in neueren Wertorientierungen angekommen war. Der Bezug zum Konservativen steht dort in der Beschreibung einer „moderne(n) wertorientierte(n) Volkspartei“ neben sieben anderen Grundorientierungen wie z. B. christliche, soziale, europäische und internationale Verantwortung, Bewahrung der Schöpfung, Freiheit.4 Es hätte dazu geeignet sein können, jene Wählergruppen anzusprechen, welche die Partei nicht mehr erreicht hat. In den politischen Turbulenzen ist es aber völlig untergegangen. Die Chance, den Eindruck eines von den Menschen abgehobenen orientierungslosen innerparteilichen Machtspiels aufzusprengen, hat es nicht gehabt. Auch kam es inmitten der Krise und inmitten der Legislaturperiode zu spät, um in der Endphase der Großen Koalition noch praktische Politikansätze entwickeln und in Berlin implementieren zu können. Neben den inhaltlichen Defiziten beklagen die Wähler auch den Verlust an überzeugendem Führungspersonal (Hilmer 2009). Am Ende waren die bekannten Leader verschlissen und eine neue Generation in die Ämter gebracht, die nun die Chance auf kompetente Profilierung erhalten hat. Horst Seehofer selbst hat ausweislich des Bayerntrends 2010 noch immer um Akzeptanz zu ringen. Am Ende der Großen Koalition (und danach) ist die CSU in ihrer Doppelrolle in Bayern und im Bund schwächer als zuvor. Nicht die Koalition, sondern die Partei hat sich 4 Chancen für alle! In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten. Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union in Bayern, beschlossen am 28. September 2007.
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selbst geschwächt. In Berlin ist sie von ihrer Schwesterpartei in dieser Situation nicht gestützt worden. Die CSU befindet sich in einer Übergangsphase, für welche die Herausforderungen vor und während der Großen Koalition ihr durchaus auch positive konzeptionelle und personelle Auspizien eröffnet haben. Was macht sie daraus? Die Antwort darauf entscheidet darüber, ob sie sich etwa auf dem Zustimmungsniveau 2008/2009 zu stabilisieren vermag oder ob der Trend noch unter die 40 %-Grenze führt. Literatur Bandelow, Nils C. / Schade, Mathieu, 2009: Konsens im Dissens? Konflikte in der Gesundheitsreform der Großen Koalition, in: Schroeder, Wolfgang / Paquet, Robert (Hrsg): Gesundheitsreform 2007. Nach der Reform ist vor der Reform. Wiesbaden, S. 58 – 76. Glück, Alois / Vogel, Bernhard / Zehetmair, Hans (Hrsg.), 2006: Solidarische Leistungsgesellschaft – eine Alternative zu Wohlfahrtsstaat und Ellbogengesellschaft. Freiburg. Hilmer, Richard / Müller-Hilmer, Rita, 2006: Die Bundestagswahl vom 18. September 2005. Votum für Wechsel in Kontinuität, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 37, Nr. 1, S. 183 – 218. Hilmer, Richard, 2009: Zeitenwende? Eine Analyse der Landtagswahl. Tutzing/München. Machnig, Mathias, 2009: Der Absturz der „gefühlten Kanzlerin“. Wahlkampfanalyse 2005, in: Oberreuter, Heinrich (Hrsg.): Unentschieden. Die erzwungene Koalition. München, S. 57 – 69. Mintzel, Alf, 1998: Die CSU – Hegemonie in Bayern. Passau. Neumann, Arijana, 2009: Die Union zwischen Gesundheitsfonds und Rettung der PKV, in: Schroeder, Wolfgang / Paquet, Robert (Hrsg), Gesundheitsreform 2007. Nach der Reform ist vor der Reform. Wiesbaden, S. 89 – 102. Oberreuter, Heinrich, 2002: Speerspitze der Opposition – die Rolle der CSU seit 1998, in: Mayer, Tilman / Meier-Walser, Reinhard C. (Hrsg.), Der Kampf um die politische Mitte. Politische Kultur und Parteiensystem seit 1998. München, S. 89 – 101. Oberreuter, Heinrich, 2005: Bayerische Akzente – Zum Gestaltungsanspruch der CSU auf Bundesebene, in: Politische Studien 56, Heft 403, S. 39 – 46. Oberreuter, Heinrich, 2008: Stoibers Sturz. Ein Beispiel für die Selbstgefährdung politischer Macht, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 39, Nr. 1, S. 112 – 118. Schoen, Harald, 2007: Landtagswahlen in Bayern 1966 bis 2003. Verstärkte bundespolitische Durchdringung aufgrund der Doppelrolle der CSU, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 38, Nr. 3, S. 503 – 512. Schultze, Rainer-Olaf / Grasnick, Jan, 2009: Die bayerische Landtagswahl vom 28. September 2008: Betriebsunfall oder Ende eines Mythos, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40, Nr.1, S. 34 – 55.
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Die SPD in der Großen Koalition Selbstverschuldeter Niedergang oder zwanghafte Anpassung an veränderte Ausgangsbedingungen der Politik? Die SPD in der Großen Koalition
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Einleitung: Zwei Narrative
Die Geschichte der SPD in der Großen Koalition von 2005 bis 2009 könnte in zwei, hier etwas vereinfacht dargelegten Narrativen erzählt werden. In der (recht weit verbreiteten) apokalyptischen Version des selbstverschuldeten Untergangs sprechen wir vom scheinbar unaufhaltsamen Niedergang der einstmals erfolgreichen Großpartei, der sich in der Zeit der zweiten Großen Koalition mit Beschleunigung fortgesetzt hat. Demnach verliert die SPD erheblich und unwiederbringlich an gesellschaftlicher Zustimmung und an Gestaltungskraft, ablesbar an deutlich zurückgehenden Wähleranteilen, schmerzlichen Mitgliederverlusten, schwerwiegenden Identitätsproblemen, heftigen innerparteilichen Kontroversen und spürbaren Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von geeignetem Nachwuchspersonal. Die SPD befindet sich in dieser Sichtweise im freien Fall und verliert mittel- und langfristig ihre Position als Großpartei im Parteienwettbewerb; eine strukturelle Asymmetrie gegenüber der CDU ist nicht mehr aufzuhalten; ja möglicherweise wird sie sogar von der Partei die Linke in ihrer politischen Relevanz überholt, da sie nicht mehr als Interessenrepräsentantin der sozial gering privilegierten Bevölkerungsgruppen gilt. Ihren Niedergang hat sie sich demnach zu erheblichen Teilen selbst zuzuschreiben, da es ihr in den 1970er Jahren nicht gelang die ökologischen Probleme rechtzeitig zu erkennen, was das Aufkommen der Grünen begünstigte, und ihr in diesem Jahrzehnt mit der Politik der Agenda 2010 des früheren Bundeskanzlers Schröder auch noch jede Sensibilität für soziale Fragen verloren ging, was zur Stärkung und gesamtdeutschen Etablierung der Linkspartei geführt hat. Mit der Agendapolitik hat sie ihre traditionellen Vorstellungen der sozialen Gerechtigkeit, damit ihren Identitätskern über Bord geworfen und ihre originäre Identität im Parteienwettbewerb eingebüsst. Die Reformpolitik folgte auch nicht den für Legitimation notwendigen strategischen Imperativen, sondern wurde ad-hoc und reaktiv durchgesetzt. Es fehlt der SPD daher zudem an klaren Leitideen und Visionen zu einer Erneuerung sozialdemokratischer Werte, welche als verbindende Klammer gesellschaftsintegrierend und mobilisierend wirken könnten. In der zweiten Version, dem Narrativ einer externen Faktoren geschuldeten Anpassung und Normalisierung, ist die SPD in einer intersubjektiv schwierigen Situation, die sie meistern kann, wenn sie nur die passenden Antworten auf die jeweiligen Herausforderungen findet. Sie befindet sich in einem Stadium der Veränderung, die alle politischen Parteien erfasst hat, insbesondere Großparteien, und hervorgerufen wurde durch Prozesse des gesellschaftlichen, medialen und politischen Wandels. Die SPD und andere sozialdemokratische Parteien waren in dieser Perspektive wie keine andere Parteienfamilie gezwungen sich zu verändern, da eine Politik der materiellen Interessenbefriedigung und der staatlich garanS. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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tierten sozialen Sicherheit angesichts des verschärften Wettbewerbs der nationalen Volkswirtschaften in Folge der Europäisierung bzw. Globalisierung der Produktions-, Finanzund Kapitalmärkte nur noch eingeschränkt möglich ist (siehe Merkel et al. 2006; Lavelle 2009). Parteien in Regierungsverantwortung sind in dieser Sichtweise dazu gezwungen, eine marktkonforme und stärker marktorientierte Politik zu betreiben und Fragen der staatlich regulierten Verteilungsgerechtigkeit in den Hintergrund zu stellen. Zumindest als Regierungspartei ist die Sozialdemokratie dieser Sichtweise zufolge nicht mehr in der Lage, gleichzeitig die Ziele der Interessenwahrnehmung der sozial benachteiligten Wählergruppen und die Stärkung der Volkswirtschaften im verschärften internationalen Wettbewerb zu bewahren, was ihr in Folge hoher ökonomischer Wachstumsraten in Westeuropa noch bis in die 1970er Jahre gelang. Genuin sozialdemokratische Wirtschafts- und Sozialpolitik, basierend auf einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat mit hohen Sozialleistungen, auf Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch progressiv ansteigende Einkommensteuern oder Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen sowie auf staatlichen Interventionismus durch Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist seit den Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre demnach nur noch eingeschränkt möglich. Die sozialdemokratischen Parteien sind im Gegenteil zur Erhaltung des Wohlfahrtsstaates in Folge globaler Wettbewerbsbedingungen dazu gezwungen, eine stärker marktorientierte Politik durchzusetzen (Klitgaard 2007), verlieren aber in Folge dessen bei sozial geringer privilegierten Gruppen an gesellschaftlicher Akzeptanz und europaweit an Stimmenanteilen. Sie büßen einen Teil ihrer Identität ein und verlieren an Akzeptanz durch eine unklare Positionierung im Parteienwettbewerb. Von den allgemeinen Entwicklungen des Rückgangs an Mitgliedern und Stammwählern sind diesem Narrativ zu Folge zudem alle Großparteien mehr oder minder betroffen (siehe dazu für Deutschland Maier 2009). Es gelingt ihnen nicht mehr, die auseinanderstrebenden und -fallenden Gruppen der Bevölkerung ausreichend zu integrieren und die höchst differenzierten und partiell gegensätzlichen Interessen der segmentierten Gesellschaft zu repräsentieren (Wiesendahl 2007, Lösche 2009). Die Folge ist eine Fragmentierung des Parteienwettbewerbs und eine Stärkung kleinerer Parteien. Der Niedergang der SPD hat demnach primär externe Ursachen und ist nur partiell auf eigene Fehlleistungen zurückzuführen. Diese Abhandlung kann nicht abschließend klären, welche der beiden Narrative eher zutreffend ist, sie kann allenfalls einzelne Anhaltspunkte zu dieser Diskussion liefern. Sie beabsichtigt vor diesem Hintergrund eine Analyse der Entwicklung und Situation der SPD in der Phase der zweiten Großen Koalition von 2005 bis 2009. Im Vordergrund stehen Regierungsbildung und -tätigkeit, programmatische und organisatorische Aspekte, die Position im Parteienwettbewerb und das Abschneiden bei Wahlen. Daraus soll ein Fazit gezogen werden, das die beiden oben genannten Narrative aufnimmt. 2
Die SPD als Regierungspartei: Koalitionsbildung und Regierungstätigkeit
Obwohl der damalige Bundeskanzler Schröder die Bildung einer Großen Koalition unter der Führung der CDU/CSU am Wahlabend noch ausschloss, herrschte in der SPD schnell Einigkeit darüber, dass eine Große Koalition die einzige reale Option zur Regierungsbildung darstellte. Andere Koalitionsoptionen zerschlugen sich rasch (siehe dazu Jun 2008,
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2009a). Dennoch beanspruchten die Koalitionsverhandlungen einen vergleichsweise langen Zeitraum, mit 65 Tagen zwischen der Bundestagswahl und der Unterzeichnung der Koalitionsvereinbarungen einen längsten in der Geschichte der Bundesrepublik (vgl. Thaysen 2006). Neben der Kompromissfindung bei zahlreichen inhaltlichen Details wurden die Verhandlungen durch personelle Veränderungen erschwert; auf Seiten der SPD wechselte während der Koalitionsverhandlungen der Parteivorsitz, zum fünften Mal innerhalb von zehn Jahren. Franz Müntefering gab diesen auf, nachdem er bei einer Abstimmung im Parteivorstand seinen Wunschkandidaten für das Amt des Generalsekretärs der Partei Kajo Wasserhövel nicht durchbringen konnte und dieser in einer Kampfabstimmung der Parteilinken Andrea Nahles unterlag. Nahles, die seit November 2009 das Amt ausübt, verzichtete damals schließlich auf das Amt, für das Münteferings Nachfolger Matthias Platzeck den Netzwerker Hubertus Heil vorschlug und durchsetzte. Mit dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zeigte sich die SPD zufrieden; Teile der Koalitionsvereinbarungen trugen aus ihrer Sicht eine spürbare sozialdemokratische Handschrift, erkennbar daran, dass neben einzelnen Veränderungen inhaltliche Kontinuitäten zur vorherigen Regierungspolitik in zahlreichen Politikfeldern der rot-grünen Bundesregierung unübersehbar waren. Das Ziel der Haushaltskonsolidierung wurde stark in den Vordergrund gerückt, der sozialdemokratische Finanzminister Peer Steinbrück sollte dafür die Hauptverantwortung tragen. Zum Erreichen dieses Ziels verständigten sich die Koalitionsparteien jedoch auf eine zuvor im Wahlkampf noch von der SPD heftig attackierte („Merkel-Steuer“) Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent, obwohl die Union im Wahlkampf nur 18 Prozent gefordert hatte. Dieses ist ein markantes Beispiel für die in einzelnen Bereichen deutlich erkennbare Kluft zwischen dem Wahlprogramm sowie den Ankündigungen der Partei im Wahlkampf einerseits und den gouvernementalen Entscheidungen andererseits. Wie schon 2002 ließ sich im Bundestagswahlkampf 2005 ein „sozialdemokratischer Traditionsjargon, den der Kanzler über die Marktplätze peitschte“ (Butzlaff 2009: 59), vernehmen (Schmitt-Beck/Tenscher 2008: 157), während anschließend ein problemlösungsorientierter Pragmatismus dominierte, der partiell sogar im Widerspruch zum Wahlprogramm stand (unter anderem die Einführung der Rente mit 67). Die daraus resultierenden Glaubwürdigkeitsverluste haben fraglos die Identitätskrise und den Rückgang auf der elektoralen Ebene mit herbeigeführt oder verstärkt, Beobachter leiten daraus nachvollziehbar den „Verlust des Verlässlichen“ (Butzlaff 2009) ab. Die Politik und Konstellation der Großen Koalition für die Verluste auf Wählerebene allein verantwortlich zu machen, greift jedenfalls sicherlich viel zu kurz. Die Große Koalition war auf Symmetrie angelegt, unterstützt durch einen lange Zeit eher kooperativen Regierungsstil der Bundeskanzlerin, der jedoch über die ihr gelegentlich von den Medien attestierte reine Moderatorenrolle hinausging (Langguth 2009; Murswieck 2009; siehe auch Korte in diesem Band). Die SPD stellte insgesamt acht der 15 Minister im Kabinett Merkel, darunter unter anderem neben dem Finanz- noch den Außenminister und den Vizekanzler. Letztere Aufgabe übernahm zusammen mit der Leitung des Ministeriums für Arbeit und Soziales Franz Müntefering, der zu Beginn der Koalition eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der CDU-Chefin suchte. Sein mit privaten Erwägungen begründeter Rücktritt im Jahr 2007 sollte der einzige aller SPD-Minister in der Großen Koalition bleiben; der seinerzeitige parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion und frühere Generalsekretär der Partei Olaf Scholz übernahm die Leitung des Ministeriums, Außenminister Frank-Walter Steinmeier den Posten des Vizekanzlers. In seiner zweijährigen Amts-
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zeit als Minister setzte Müntefering die innerhalb seiner Partei umstrittene stufenweise Einführung der Rente mit 67 durch, gegen die sich die SPD im Wahlprogramm noch dezidiert ausgesprochen hatte. Schon die Koalitionsverhandlungen und -vereinbarungen machten deutlich, dass es den Parteien der Großen Koalition keineswegs an politischen Gemeinsamkeiten und Kompromisswillen fehlte. Letztlich prägte der Regierungspragmatismus sowohl CDU/CSU wie SPD. Wesentliche Vorhaben konnten umgesetzt werden, wie etwa die Föderalismusreform, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Reduzierung der Beiträge in der Arbeitslosenversicherung, die Einführung des Elterngeldes oder des Gesundheitsfonds. Auch in Folge der Finanzmarktkrise mit ihren erheblichen ökonomischen Verwerfungen seit Herbst 2008 bewies die große Koalition Handlungsfähigkeit und entwickelte gemeinsame Instrumente und Politiken des Krisenmanagements. Auf SPD-Seite erwies sich Finanzminister Steinbrück als weithin geschätzter und kompetent eingestufter Krisenmanager. Anerkennung fanden auch die einzelnen Fachminister und Verantwortlichen der SPD für die Regierungspolitik. Im Gegensatz zur kaum vorbereiteten und entsprechend sprunghaft wirkenden, zum Teil von situativen Entscheidungen bestimmten Regierungspolitik in der Koalition mit den Bündnisgrünen (Egle 2006), lässt sich für die Große Koalition von einem verlässlicheren und berechenbaren Kompromissweg sprechen. Nur mit Blick auf die Regierungstätigkeit insgesamt könnte durchaus konstatiert werden, dass die SPD die Legislaturperiode mehr als „halbwegs schadlos überstanden“ (von Alemann/Spier 2008: 59 mit Blick auf die erste Hälfte der Legislatur) hat. In regierungsinterner Perspektive jedenfalls erwies sich die Große Koalition als funktionsfähig. Dieses innere Gesicht der Nichtöffentlichkeit, Kompromisse und kollektiven Zielerreichung kontrastiert mit der öffentlichen Wahrnehmung der rhetorischen Abgrenzungen und inhaltlichen Kontroversen, welche partiell inszeniert wirkten und wohl hauptsächlich auf jahrzehntelange Wettbewerbsstrukturen im Parteiensystem zurückzuführen sind. Letztere haben zur Folge, dass der Eindruck entstehen musste (oder sollte?), die Große Koalition vereine Regierung und Opposition gleichermaßen. Insbesondere die SPD füllte öffentlich durch Kritik am Koalitionspartner die Rolle als „Opposition in der Regierung“ aus (siehe auch Sturm 2009: 313f.). Plausibler Grund dafür ist die dem Parteienwettbewerb geschuldete Abgrenzung sowohl gegenüber dem Koalitionspartner als auch gegenüber der Linken und mit Abstrichen gegenüber den Grünen. Somit entsteht für die Öffentlichkeit aber ein uneinheitliches Bild, was bei Wählern vermutlich eher Konfusion hervorruft denn Klarheit bringt. 3
Die Programmdiskussion: Der Streit um die Agenda 2010
Die Auseinandersetzungen zwischen der sogenannten Parteirechten und der Parteilinken reichen zurück bis in die Anfangszeiten der Partei im 19. Jahrhundert, als sich Reformisten bzw. Revisionisten und Revolutionäre gegenüberstanden, und ziehen sich wie ein roter Faden durch die Parteigeschichte. In jüngerer Zeit lassen sich der sogenannte „Seeheimer Kreis“ und die „Demokratische Linke“ als informell organisierte Repräsentanten der Parteiflügel ausmachen (siehe Gebauer 2005). Daneben existieren als dritte größere informelle innerparteiliche Vereinigung noch die sogenannten „Netzwerker“ (siehe Forkmann 2007), eine pragmatische orientierte Gruppierung, die aber inhaltlich den Seeheimern näher zu
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stehen scheint als der Demokratischen Linken, was im Zuge der Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 zum Vorschein kam. Während Seeheimer und Netzwerker mehrheitlich den Modernisierungskurs der Agendapolitik unterstützten, kam von der Parteilinken erhebliche Kritik, zum Teil offen ausgetragen. So waren es etwa Vertreter der Parteilinken, welche 2003 den (erfolglosen) Versuch unternahmen, ein Mitgliederbegehren gegen die Agenda 2010 zu initiieren (siehe Jun 2007). Permanente Störfeuer von Seiten der Parteilinken gegen die Regierungspolitik trugen auch dazu bei, dass Schröder im Frühjahr 2005 keine Mehrheit mehr für seine Regierungspolitik im Bundestag erkennen konnte und die Vertrauensfrage stellte, die zur vorzeitigen Auflösung des Bundestags im Juli 2005 führte. Während der ersten drei Jahre der Amtszeit der Großen Koalition stritten Parteirechte und -linke über die Agendapolitik und damit einhergehend über die zentralen Werte der Partei – über Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit (siehe zur innerparteilichen programmatischen Diskussion auch Pautz 2009). Besonders strittig war die Rolle des Wohlfahrtsstaates als umfassender Vor- und Fürsorgestaat. Auch der Gerechtigkeitsbegriff war nicht unumstritten. In der Zeit der Großen Koalition dominierten insgesamt die Regierungspragmatiker, die vorwiegend der Parteirechten und den Netzwerkern zuzurechnen sind. In der ökonomischen Dimension bewegt sich der Konflikt der Flügel zwischen umfassender staatlicher Regulierung und damit einhergehend weitgehender Bewahrung traditioneller Elemente des Wohlfahrtsstaates auf der einen und im Zuge der Globalisierung und höheren Wettbewerbsdynamik notwendig gewordenen größeren Marktkonformität der Politik und des Forderns nach mehr Eigenverantwortung des Einzelnen auf der anderen Seite. Letzteres interpretiert Nachtwey (2009: 236) als „Zurichtung des Sozialen auf den Markt“. Beide Seiten befürworten zwar grundsätzlich den Wert der sozialen Gerechtigkeit und einen ausgebauten Wohlfahrtsstaat, sehen jedoch differente Wege diese Ziele zu erreichen bzw. zu bewahren. Während die Parteilinke die staatliche Garantie egalitärer Verteilungsgerechtigkeit durch hohe soziale Leistungen im Sinne einer Alimentierung weitgehend gewährleistet sehen möchte, sieht die Parteirechte angesichts enger finanzpolitischer Spielräume und ökonomischer Rationalität dafür keine reale Basis mehr und plädiert stattdessen für mehr Chancengerechtigkeit, welche wesentlich durch sozialpolitische Vorsorge, insbesondere durch Investitionen in Bildung und Infrastruktur, erreicht werden soll. Nicht primär nachsorgende Leistungen, sondern vorsorgende Prävention vor sozialer Ausgrenzung, Marginalisierung und Armut soll im Vordergrund stehen. Damit knüpfte die SPD an Ideen des Dritten Weges von Anthony Giddens (1998) an und versucht einzelne Aspekte in Regierungshandeln umzusetzen (siehe zur Rezeption u.a. Hale et al. 2004; Huo 2009). Die Betonung liegt auf einer gerechten Neuverteilung von grundlegenden Lebenschancen, nicht auf Ergebnisgleichheit. Jeder Einzelne soll dazu befähigt werden, am politischen, kulturellen und ökonomischen Leben teilzuhaben, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, wozu der Staat Unterstützung leistet, das heißt er soll jedem Zugang zu Erwerbsarbeit, Bildung und Information ermöglichen. Diese Zugangsmöglichkeit soll lebenslang gesichert werden, jedoch soll der Einzelne auch eine aktive Bereitschaft zur Förderung seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten aufbringen („Prinzip des Forderns und Förderns“). Das Verhältnis von Pflichten zur Eigenverantwortung und Gewährleistung sozialer Bürgerrechte sollen neu austariert werden (siehe Meyer 2006: 14). Nicht passive staatliche Alimentationen, welche aus Sicht der Modernisierer nur Abhängigkeiten der sozial gering Privilegierten vom Staat verfestigen, sondern Aktivierung der Fähigkeiten und Fertigkeiten jedes Einzelnen stehen bei diesen Überlegungen im Vordergrund: Sozialpolitik wird verstanden
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als Investition in Humankapital (siehe Giddens 1998). Die Wahrnehmung ausreichender selbstbestimmter Handlungschancen im Sinne von politischer und sozialer Teilhabe durch soziale Inklusion aller Personen soll gegeben sein. Zur Herstellung von Chancengerechtigkeit und -gleichheit gehören neben einer aktivierenden Sozialpolitik und erhöhten Bildungsinvestitionen noch die Sicherung fairer Arbeitsbedingungen und eine nachhaltigere Politik zugunsten jüngerer Generationen (Nachtwey 2009: 228). Die Parteilinke befürwortet dagegen umfassende staatliche Sozialleistungen, auch im Sinne einer Alimentation, um dem Wert der Solidarität vollständig gerecht zu werden. Eine Stärkung von Eigenverantwortung schürt in dieser Sicht Ängste und soziale Unsicherheiten benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Umfassende soziale Sicherheit gilt als unverzichtbares Bürgerrecht, das der Staat über ausreichende materielle Alimentierung für alle sicher zu stellen habe. Der Staat hat Regeln zu setzen, die eine faire Verteilung von Ressourcen zum Ergebnis haben sollen, das heißt explizit auch eindeutige und deutliche Umverteilungen zugunsten der sozial Benachteiligten vorzunehmen. Denn Reduzierung von Ungleichheit fördert in dieser Perspektive nicht nur soziale Gleichheit, sondern darüber hinaus den Zusammenhalt der Bevölkerung. Der Staat hat aber gleichzeitig im Sinne des vorsorgenden Sozialstaats die notwendige Infrastruktur zur Garantie von Chancengleichheit zur Verfügung zu stellen. Zur öffentlichen Infrastruktur gehören neben kostenlosen Vorschul-, Schul- und Bildungseinrichtungen auch ein gut ausgebauter öffentlicher Personenverkehr, Postdienste, Energieversorger und öffentliche Banken. Kristallisationspunkt der Kontroverse wurde die ursprüngliche „Hartz IV-Regelung“, nach der Arbeitslose, die länger als 12 Monate (bei über 55jährigen 18 Monate) ohne Beschäftigung sind, nur noch eine Grundsicherung erhalten. Kritiker der Agendapolitik bewerten diese Regelung als Durchsetzung des Minimumprinzips, da nur noch ein Existenzminimum gewährleistet ist, darüber hinaus gehendes Einkommen über den Markt erzielt werden muss; es gelte das „Gerechtigkeitsprinzip des sozialen Minimums“ (Nachtwey 2009: 242). Es sollte aber ergänzt werden, dass die SPD dafür eintritt, dass die Systeme der sozialen Sicherung als Unterstützungs- und Einkommensersatzleistungen erhalten bleiben sollen und durch wirksame Anreize zur Aufnahme von Erwerbsarbeit, die sich auch in der Entlohnung niederschlagen sollen (Forderung nach Einführung flächendeckender Mindestlöhne), ergänzt werden. Innerhalb der SPD wurde fortwährend Kritik an verschiedenen Punkten der Agendapolitik, die in der Großen Koalition zunächst weitgehend fortgesetzt wurde, laut. Dies erschwerte Kurt Beck die Führungsaufgabe, zumal im Kabinett fast ausschließlich die Gruppe der Modernisierer vertreten ist. Daraufhin versuchte Beck, die verschiedenen Interessen und Flügel der Partei wieder vermehrt zu integrieren. Insbesondere Gruppierungen der Parteilinken, die nach dem Rücktritt Lafontaines kaum noch durchsetzungsfähig waren, sollten wieder mehr Mitsprache erhalten (siehe Reinhardt 2009). Ohne die Agendapolitik grundsätzlich in Frage zu stellen, versuchte Beck in seiner Zeit als Parteivorsitzender einzelne Korrekturen im Sinne der Parteilinken vorzunehmen und diese im Hamburger Grundsatzprogramm von 2007 festzuschreiben. Dazu wurde auch der ursprüngliche Programmentwurf (sogenannter Bremer Entwurf) revidiert, in dem etwa Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit wieder aufgenommen, ein eindeutiges Bekenntnis zum traditionellen Sozialstaat gegeben und symbolisch ein Festhalten am demokratischen Sozialismus propagiert wurde (zum Hamburger Programm: Nachtwey 2009: 232ff.; Pautz 2009: 140f.). Während besonders Letzteres unmittelbar im Anschluss an die Verabschiedung des Parteipro-
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gramms die Presse dazu veranlasste, von einem Linksruck der SPD zu sprechen, wertet Nachtwey (2009: 234) das Programm als „Ausdruck ihrer Marktorientierung“. In der Summe findet sich für Vieles ein Beleg im Hamburger Programm, das ein Nebeneinander von traditionellen und modernisierten sozialdemokratischen Vorstellungen beinhaltet (siehe zum Begriffsverständnis Merkel et al. 2006), die nur ansatzweise zu einem integrierten Gesamtkonzept zusammen geführt worden sind. Die jeweilige Interpretation kann entsprechend von einer Lesart geleitet werden. Zwar ließen sich im Regierungsprogramm einzelne Korrekturen der Politik der Agenda 2010 finden, so etwa die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf 24 Monate für ältere Arbeitslose, doch insgesamt hatte die programmatische Debatte innerhalb der Partei keinen durchschlagenden Einfluss auf die Regierungspolitik. Insgesamt konnte sich die Parteilinke nur wenig durchsetzen; sie fand erneut keine einheitlich-strategische Linie und es fehlt ihr nach wie vor an organisatorischer Schlagkraft (so schon Jun 2004b). Bei manchen Beobachtern und Kritikern der derzeitigen Parteiführung schwingt ein Bedauern mit, wenn sie konstatieren, dass das „herrschende Establishment der Bundes-SPD sich rigoros durchgesetzt“ habe (Vester/Geiling 2009: 47) und sie dafür gezielte Kritik von der Parteirechten und zahlreichen Medienvertretern am Integrationskurs Becks mit verantwortlich machen (vgl. Reinhardt 2009: 99); es hat jedoch nicht nur die Stabilität der Großen Koalition befördert, sondern auch offen ausgetragene Kontroversen in der Partei zumindest bis zur Bundestagswahl zurückgehalten. Im Zuge des Führungswechsels im Parteivorsitz von Beck zurück zu Müntefering im Herbst 2008, der zeitgleich einsetzenden globalen Wirtschafts- und Finanzkrise und des Wahlkampfes zur Bundestagswahl 2009 hatten Flügelkämpfe und programmatische Debatten an Intensität deutlich verloren; dennoch konnte die SPD selbst in der Wirtschafts- und Finanzkrise nicht mit einer kohärenten gesellschaftspolitischen Vision antworten. Es fehlt ihr nach wie vor an einer klaren Identität, an einer großen sozialdemokratischen Erzählung. Darauf zurückzuführen ist es auch, dass die SPD im Bundestagswahlkampf 2009 keine eindeutigen Botschaften aussandte, die eine starke Mobilisierung bewirkten. Die einer Botschaft zugrunde liegenden Erzählung bzw. Vision muss noch gefunden werden. 4
Die Organisation: Mitgliederrückgang hält unvermindert an
Betrachtet man die Organisation der Partei zunächst zahlenmäßig, so scheint das erste Narrativ klar die Oberhand zu haben: die SPD verliert auch in der zweiten Großen Koalition weiter kontinuierlich an Mitgliedern (vgl.: Abbildung 1), sie hat eine deutliche Rekrutierungsschwäche bei jüngeren Altersgruppen (Wiesendahl 2006; Leif 2009), was eine zunehmende Überalterung zur Folge hat (Daten: D'Antonio/Munimus 2009). Hinzu tritt eine Erosion der Parteiorganisation (siehe auch Mielke 2009: 232), hervorgerufen durch Apathie und Unlust auf der einen, Überlastung der Amts- und Mandatsträger auf der anderen Seite. Mit nur noch wenig mehr als 500.000 Mitgliedern liegt die SPD auf einem Tiefststand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In den Jahren 2003 und 2004 erlebte die Partei infolge der Agendapolitik ein wahres Mitgliederfiasko und eine Austrittswelle, die ihres gleichen sucht. Doch nicht nur der Mitgliederrückgang macht der Sozialdemokratie zu schaffen, sondern auch die Tatsache der ungünstigen Altersstruktur: Mittlerweile stellen die Rentner die größte aller Mitgliedergruppen dar, noch vor den Angestellten. Eine sozial-
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strukturell starke Position von Rentnern und Pensionären ist nicht zu leugnen, was manche schon vom „Altenheimcharme“ (Wiesendahl 2006: 61) sprechen lässt. Der Anteil der über 60jährigen Mitglieder lag Ende 2008 bei 46,7 Prozent, derjenige der unter 30jährigen bei nur knapp 6 Prozent (vgl. Niedermayer 2009). Der Anteil der Arbeiter ist deutlich auf knapp über 10 Prozent gesunken (Butzlaff 2009: 46). Da Neumitglieder nicht zuletzt aufgrund eines Negativimages von Parteien in jüngeren Altersgruppen rar gesät sind und die Altersstruktur der SPD einen eher abschreckenden Effekt ausübt, ist eine Umkehr des Mitgliederrückgangs nicht in Sicht. Abbildung 1:
Mitgliederstand der SPD zwischen 2005 und 2008
600.000 580.000 560.000 540.000 520.000 500.000 480.000 2005
2006
2007
2008
Quelle: Niedermayer (2009) Die organisatorische Krise erscheint auch weit bedrohlicher als die in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, da die Partei unter erheblichen Kompetenzverlusten und Nachwuchssorgen (man denke an die Situation in vielen Bundesländern) leidet und einstige Weggefährten wie die DGB-Gewerkschaften, die als Vorfeldorganisationen ein Reservoir für sozialdemokratische Mitglieder bildeten, sich von ihr entfernen (siehe Schmitt-Beck/Tenscher 2008). Die Apathie vieler SPD-Mitglieder hat vielfältige Ursachen, zu nennen ist neben der Revision traditioneller Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen und der partiellen Entmachtung der mittleren Funktionärsschichten infolge der Medialisierung von Politik auch der partiell dezisionistische bzw. autoritäre Führungsstil der Parteispitze und der einzelnen von der SPD geführten Bundesregierungen. Insbesondere der frühere Bundeskanzler Schröder bevorzugte einen Politikstil, der auf ausführliche Diskussionen der Politikinhalte oder gar in Fragestellung dieser in der Partei verzichtete; nicht wenige seiner wichtigsten Entscheidungen wurden an der Parteiorganisation vorbei getroffen, standen nicht in Einklang mit Grundsatz- oder Wahlprogrammen der SPD und beriefen sich auf außerparteiliche Kom-
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missions- und Regierungsberichte, ohne nennenswerten Einfluss der Parteimitglieder. Die gesamte Agenda 2010 ist beispielhaft für ein von oben diktiertes, von einem kleinen Kreis von Beratern um den damaligen Kanzleramtschef Steinmeier erarbeitetes Reformprogramm, das lediglich im Nachhinein die (emotionslose) Billigung durch die Partei erfuhr, ohne dass die Mitgliederbasis den Reformen jedoch inhaltlich viel abgewinnen konnte. Schröder verzichtete aber nicht nur auf die Partizipation seiner Partei, deren Zustimmung zur Agendapolitik er wohl zutreffend als sehr unsicher einschätzte, sondern auch auf jegliche normative oder wertegeleitete Begründungen seiner Politik (siehe auch Walter 2009b: 118). Die Agendapolitik wurde lediglich mit der Notwendigkeit ökonomischer Imperative zur Erhaltung oder Wiedererlangung von Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft in Folge der Globalisierung der Produktions-, Kapital und Finanzmärkte gerechtfertigt. Ähnliche Muster lassen sich bei weiteren Reformprojekten sowohl in der Koalition mit den Bündnisgrünen wie mit CDU und CSU (etwa Rente mit 67, Gesundheitsreform etc.) finden. Doch ohne eine profilierte Diskussion oder zumindest einleuchtende Begründung über Sinnhaftigkeit und Werteverständnis einer Politik lässt sich keine dauerhafte Bindung oder gar Identifikation unter den Mitgliedern herstellen, was letztlich auch negativ auf die Kampagnenfähigkeit auswirkt (vgl. von Alemann/Godewerth 2005: 167). Selbst alle Führungswechsel innerhalb der SPD haben sich kaum unter großer Mitwirkung der Parteiorganisation vollzogen, sondern fanden innerhalb der Parteiführung statt und wurden von dieser entworfen, implementiert und getragen. Die Ablösung Schröders 2004, Münteferings 2005, aber noch mehr die Becks 2008 fanden – pointiert formuliert – jeweils auf innerparteiliche Führungskrisen folgend vor dem Hintergrund einer „skandalträchtigen, konspirativen oder putschartigen Kulisse“ statt (Mielke 2009: 235; siehe zu den Einzelheiten Sturm 165ff.; 259ff.; 391ff.). Auch der jüngste Wechsel an der Parteispitze hin zu Sigmar Gabriel wurde sehr zügig innerhalb weniger Tage von einem Führungskreis der Partei vorbereitet und implementiert, nur wenige Tage nach der Bundestagswahl mit ihrem für die SPD katastrophalen Ergebnis. Dass daraus eine begrenzte innerparteiliche Legitimation und mobilisierende Stärke erwächst, liegt auf der Hand. Die Erwartung aktiver Parteimitglieder, an wesentlichen strategischen, programmatischen oder personalpolitischen Entscheidungen mitwirken zu können, wurde also mehr minder enttäuscht. Sie wurden nicht selten nur noch nachträglich befragt und folgten – mal mehr, mal weniger bereitwillig – der Parteiführung, welche ihre Vorteile des Informationsvorsprungs, des medialen Zugangs und der strategisch machtvollen Position zu nutzen wusste und behaupten konnte. Die Diskussionen wurden häufig eher medial vermittelt (durch-)geführt, die in einigen Fällen die Entscheidungsfindung begleitenden Regionalkonferenzen hatten eher einen informierenden und akklamatorischen Charakter, weniger einen partizipativen. Eine solche Diskussionskultur belässt Mitgliedern nur einen eingeschränkten Mitwirkungsspielraum, welcher von der SPD auch durch einzelne organisatorische Veränderungen bislang nicht ausgeweitet wurde (siehe Jun 2009b). Die seit den 1990er Jahren durchgeführten Organisationsreformen lassen jedenfalls eher eine Professionalisierung der Organisationsstruktur, aber kaum eine Stärkung der Mitgliederpartizipation erkennen (vgl.: Bukow 2009). Es fehlt an attraktiven Partizipations- und Einflussmöglichkeiten, um wieder zu einem interessanten Ort der politischen Diskussion und Partizipation für größere Teile der Gesellschaft zu werden. Betrachtet man den organisatorischen Entwicklungsprozess in einem weiten Kontext, so lässt sich eher von einem Wandel denn von Niedergang sprechen; der Parteiapparat hat
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sich zumindest partiell professionalisiert, mediale Kommunikation substituiert zu Teilen die zurückgehende gesellschaftliche Verankerung (siehe Jun 2004 a) und trotz aller Negativtrends steht die SPD im internationalen Vergleich nicht viel schlechter dar als viele andere sozialdemokratische Großparteien. Nicht zuletzt lassen sich ein allgemeiner Abwärtstrend der Mitgliederzahlen und ausbleibende Partizipation der jüngeren Generation in nahezu in allen westeuropäischen Demokratien konstatieren. Auch die CDU ist davon erfasst worden, wenn auch in geringerem Ausmaß (Wiesendahl 2006). 5
Der Parteienwettbewerb: Wahlverluste der SPD und die Gefahr von links
Im deutschen Parteiensystem sind in den letzten 30 Jahren deutliche Wandelprozesse zu beobachten, die sich in der Zeit der Großen Koalition verstärkt haben. Zu konstatieren ist ein Abstieg der beiden Großparteien in der Wählergunst, während sich die Kleinparteien im Aufwind befinden. Entstanden ist eine „fluide Wettbewerbssituation“ (Niedermayer 2008: 9), die durch eine relative Unbestimmtheit der Konkurrenzlage zu kennzeichnen ist, mit großen Unsicherheiten für die Parteien sowohl mit Blick auf Stimmenanteile wie auf Regierungsbildung (vgl. auch Saalfeld 2009). Die gestiegene Fragmentierung – sie beschreibt die Anzahl der Parteien und deren relative Größenordnung zueinander und misst damit die effektive Zahl relevanter Parteien in einem Parteiensystem – hat sich auf der elektoralen Ebene zu Lasten der SPD ausgewirkt. Ursache sind das Aufkommen der Grünen zu Beginn der 1980er Jahre und der seit dem Vollzug der politischen Einheit Deutschlands zu verzeichnende Aufstieg der Nachfolgepartei der DDR-Staatspartei SED PDS, später Linkspartei.PDS; seit der Fusion im Jahre 2007 mit der Wahlalternative für Soziale Gerechtigkeit (WASG) heißt die Partei „Die Linke“. Diese beiden jüngeren Mitbewerber im gesamtdeutschen Parteiensystem konkurrieren auf der Wählerebene zwar auch mit CDU/CSU und FDP, haben aber ihre Wählerschaft zu größeren Teilen von ehemaligen oder potenziellen Wählern der SPD rekrutiert. Die erhöhte Fragmentierung ist wesentlich auf gesellschaftliche Entwicklungen zurückzuführen, hauptsächlich zu nennen sind die schon genannte Erosion traditioneller sozialmoralischer Großmilieus wie das sozialdemokratisch geprägte Arbeitermilieu (siehe Walter 2009a). Damit einhergehend sind Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile, die wiederum zu erhöhter Volatilität, das heißt zu einer Zunahme der Wechselwahlbereitschaft geführt haben. Es lässt sich von einer abnehmenden Loyalität gegenüber den etablierten Parteien, insbesondere gegenüber den Großparteien CDU und SPD sprechen, deren Repräsentationsmacht seit den 1970er Jahren nur noch eingeschränkter vorhanden ist. Die zunehmende Fragmentierung ist ein Ausdruck der Repräsentationskrise der Großparteien (siehe auch Haas 2007; Sloam 2009). Diese Effekte sind in jüngster Zeit noch verstärkt worden durch eine partielle Erosion der politischen und gesellschaftlichen Mitte, zumindest weit verbreiteter subjektiver Gefühle der Statusbedrohung in Teilen der Mittelschichten (Neugebauer 2007). Nach Berechnungen des DIW sank zwischen 2000 und 2006 die Zahl der mittleren Einkommensbezieher an der Gesamtbevölkerung von 62 auf 54 Prozent (Harm 2009: 220). Wichtiger als die absoluten Zahlen, die zudem am Höhepunkt der Krise auf dem Arbeitsmarkt erhoben worden sind, sind zunehmende Ängste vor Statusverlust und die weit verbreitete Skepsis gegenüber der Vorstellung, „dass die Gesellschaft ausreichend durchlässig ist“ (Köcher 2008). Insbesondere bei den unteren sozialen Schich-
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ten ist der Glaube an den sozialen Aufstieg in starkem Maße zurückgegangen, was der SPD alles andere als zum Vorteil gereicht: „Die Zurückgebliebenen und Marginalisierten fühlen sich kulturell, stilistisch und sprachlich nicht mehr von den sozialdemokratischen Aufsteigern repräsentiert“ (Walter 2009a: 77). Bei Arbeitern und Gewerkschaftsmitgliedern verliert die SPD seit 2002 kontinuierlich an Rückhalt (siehe Jung et al 2009: 18), starke Verluste erlitt sie 2009 bei Wählern mit niedrigem und mittlerem Bildungsabschluss. Aus Sicht eines nicht unerheblichen Teils der Wählerschaft haben die Großparteien, insbesondere aber die SPD, durch die Agendapolitik für diese subjektiv wahrgenommenen sozialen Schieflagen und Statusbedrohungen die Verantwortung zu übernehmen. Staatliche Verantwortung für soziale und wirtschaftliche Fragen wird von weiten Teilen der Wählerschaft, nicht nur von den sozial geringer privilegierten Gruppen, gefordert: „Der Wunsch nach umfassender Absicherung durch den Staat ist weit verbreitet“ (Neugebauer 2007: 66). Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit gilt vielen Wählern als sehr wichtig (siehe Köcher 2009b). Von den zentralen politischen Akteuren wird erwartet, Problemlöser und Risikoversicherer zu sein. Diesen „großen Erwartungen an die Politik“ (Neugebauer 2007: 138) können aus Sicht der Wähler die Großparteien aber immer weniger entsprechen. Den Anspruch, nahezu alle gesellschaftlichen Interessen zu repräsentieren und in den politischen Prozess einzubringen, werden SPD und CDU in den Augen ihrer potenziellen Wähler immer weniger gerecht (Neugebauer 2007: 138). Folge ist ein Loyalitätsentzug ihnen gegenüber (siehe für die SPD Tabelle 1). Zwar wird der SPD von 54 Prozent der Wähler noch immer die Verteidigung des Sozialstaats gutgeschrieben, andererseits ist das Vertrauen in die Problemlösungs- und Zukunftsfähigkeit gering; und als Anwalt der unteren Einkommensschichten sehen nur noch 36 Prozent aller Wähler die SPD an (Daten bei Köcher 2009a/b). Sozialstaatliche Prinzipien genießen also nach wie vor sehr hohe Anerkennung, nicht aber die aktuelle Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Politik, die etwa in Bereichen der Gesundheits-, Renten und Armutspolitik von vielen als ungerecht wahrgenommen wird. Dafür trägt die SPD als langjährige Regierungspartei in den Augen vieler Wähler eine hohe Verantwortung. Eine direkte Folge der Großen Koalition für den Parteienwettbewerb ist eine inhaltliche Annäherung beider Koalitionspartner. Sowohl in der kulturellen als auch in der ökonomischen Wettbewerbsdimension rückten beiden Parteien aneinander näher, so dass in den meisten Fällen Kompromisse erzielt und ein Konsens hergestellt werden könnte. Dieser Konsenswille wird zum einen verstärkt durch die prinzipielle Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung beider Großparteien, wie sie in der derzeitigen Großen Koalition prägnant zum Ausdruck kommt. Die Große Koalition kann als Symbol der Konsens- und Kompromissfähigkeit beider Parteien gelten; auf der Arbeitsebene der Regierungspolitik kann nach übereinstimmender Auffassung von Beobachtern ein ausreichender Konsens zur Problembewältigung des Regierungsalltags hergestellt werden (siehe beispielhaft Thaysen 2006, Decker 2007).
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Tabelle 1: Jüngste Wahlergebnisse der SPD (in Prozent und Veränderung gegenüber vorheriger Wahl) Bundesland bzw. Wahl
Brandenburg Schleswig-Holstein Nordrhein-Westfalen Bundestagswahl Sachsen-Anhalt Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Mecklenburg-Vorpommern Berlin Bremen Niedersachsen Hamburg Bayern Hessen Europawahl Sachsen Thüringen Saarland
Datum der Wahl
Wahlergebnis (in Prozent)
19.9.2004 20.2.2005 22.5.2005 18.9.2005 26.3.2006 26.3.2006 26.3.2006 17.9.2006 17.9.2006 13.5.2007 27.1.2008 24.2.2008 28.9.2008 18.1.2009 7.6.2009 30.8.2009 30.8.2009 30.8.2009
31,9 38,7 37,1 34,2 21,4 45,6 25,2 30,2 30,8 36,7 30,3 34,1 18,6 23,7 20,8 10,4 18,5 24,5
Veränderungen gegenüber vorheriger Wahl (in Prozentpunkten) -7,4 -4,4 -5,7 -4,3 1,4 0,9 -8,1 -10,4 1,1 -5,6 -3,1 3,6 -1,0 -13,0 -0,7 0,6 4,0 -6,3
Quelle: www.election.de (14.11.2009) Diese ohnehin schon vorhandene Nähe im Parteienwettbewerb wurde durch externe Einflüsse weiter verstärkt. Die Globalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte sowie der Handelsströme mit ihren vielfältigen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen haben zu gestiegenen Anforderungen der Politikgestaltung geführt, bei gleichzeitig abnehmenden Spielräumen für nationalstaatliche Politik. Zunehmende Transnationalität als Auswirkung der Globalisierung greift auf unterschiedliche ökonomische, gesellschaftliche und politische Bereiche über. Nicht selten können nationalstaatliche Regierungen nur noch an anderen Orten getroffene Entscheidungen, etwa auf supra- oder transnationaler Ebene, nachvollziehen (siehe auch Decker 2007: 35, der vom „bloßen Nachvollzug heteronomer Sachgesetzlichkeiten“ spricht). Die „Politik der materiellen Interessenbefriedigung“ (Decker 2005: 114), orientiert am Ziel sozialer Gleichheit und hoher Wohlfahrtsstandards, die lange Zeit die Anbindung wichtiger Wählergruppen an die Parteien (insbesondere für die SPD) mit gewährleistete, stößt angesichts begrenzter Haushaltskassen und des Zwangs der zumindest partiellen Anpassung an die Bedingungen weltwirtschaftlichen Wettbewerbs an sehr enge Grenzen. Die Amtszeit des früheren Bundeskanzlers Schröder hat eine wesentlich darauf zurückzuführende Positionsverschiebung der SPD im Parteiensystem mit sich gebracht, vornehmlich in der ökonomischen Konfliktdimension. Die im Bundestagswahlkampf von der SPD propagierte „Neue Mitte“ hatte zum damaligen Zeitpunkt hauptsächlich symbolischen Charakter, doch lässt sich konstatieren, dass die SPD
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mittlerweile zu weiten Teilen pragmatisch zentristische Positionen im Sinne des Catch-All Party Ansatzes von Otto Kirchheimer vertritt, ohne sich vollständig von sozialdemokratischen Traditionsbeständen zu lösen (siehe Allen 2009). Als Folge fehlt in den Augen nicht weniger Wähler eine eindeutige Abgrenzung zum Hauptkonkurrenten CDU/CSU. Programmatisch und pragmatisch ist die SPD ist bei der Anwendung neuer Instrumente zum Erreichen traditioneller sozialdemokratischer Ziele vorsichtig vorgegangen, so dass der Eindruck von einem „Mangel an (...) Konsequenz“ (Hilmer/Müller-Hilmer 2006: 208) vorherrschte, der sich wesentlich aus geringer Übereinstimmung von programmatischen Grundsätzen und tatsächlicher Regierungspolitik, aus nicht ausreichend vorhandenen konzeptionellen Grundlagen ergibt. Eine enge Anbindung der Regierungspolitik an zentrale Grundwerte der Sozialdemokratie wurde nur partiell erkennbar und wurde kommunikativ auch wenig hergestellt. Folge der Konkurrenz beider Großparteien um ähnliche Wählergruppen und der Notwendigkeit des Zusammenwirkens bei der Problemlösung sowie der zunehmenden Unberechenbarkeit des Wählerverhaltens ist eine inhaltlich nur bei einzelnen Issues abweichende Haltung der Parteien mit einem erheblichen Ausmaß an Pragmatismus, der eher auf ein gegenseitiges sich aufeinander zu bewegen denn auf eine größer werdende Polarisierung schließen lässt. Dies schließt nicht aus, dass es aufgrund der systemimmanenten Konkurrenzsituation gerade bei einzelnen von den Parteien als Wahl entscheidend wahrgenommenen Themen symbolische und möglicherweise substanzielle Differenzen gibt, wie sie jüngst etwa bei der Reform des Gesundheitswesens zu Tage traten. Denn die langjährige Konkurrenz im Parteiensystem hat auch zur Folge, dass die Koalitionspartner sich auf einer kommunikativen, öffentlichkeitswirksamen Ebene voneinander distanzieren und stets die Differenzen ihrer Politiken herausstellen. Ein weiterer Nachteil der SPD im Parteienwettbewerb, der sich während dieser Großen Koalition verstärkt hat, ist hier anzusprechen. Die Fusion von PDS.Linkspartei und „Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG)“ zur Partei „Die Linke“ (häufig als Linkspartei bezeichnet) und ihre damit einhergehende Westausdehnung hat der SPD Wähleranteile gekostet. Insbesondere im Gewerkschaftslager hat die SPD Stimmen an die Linke verloren, was mit der schon zuvor – spätestens mit der Politik der Agenda 2010 – größeren Distanz zwischen Gewerkschaften und der SPD seinen Anfang nahm. Es nimmt auch nicht Wunder, schließlich entstammt die WASG zu weiten Teilen aus Gewerkschaftskreisen (Nachtwey 2007). Eine hohe Sozialstaatsaffinität zeichnet die Wähler der Linken aus, die in den alten Bundesländern überwiegend aus der Gruppe der über 50jährigen Männer kommt (Messinger/Rugenstein 2009: 76). Die SPD distanzierte sich lange Zeit von der Linken, ohne aber was aber eine klare Strategie im Ungang mit dem Konkurrenten zu formulieren. Sie oszillierte zwischen Annäherung an die Partei des früheren SPD-Vorsitzenden Lafontaine und klarer Ablehnung jeglicher Kooperation. Letztere gab die Parteirechte als Leitlinie aus (insbesondere mit Blick auf die Bundestagswahl 2009), während die parlamentarische Linke auch gemeinsame Inhalte deutlich machte und einer (zumindest punktuellen) Zusammenarbeit vorsichtig zustimmend gegenüberstand. Endgültig offenkundig wurde das Fehlen einer einheitlichen Strategie nach dem Ergebnis der Landtagswahl in Hessen im Januar 2008. Die seinerzeitige Spitzenkandidatin der hessischen SPD, Andrea Ypsilanti, die noch im Wahlkampf jegliche Unterstützung der Linkspartei bei einer möglichen Wahl zur Ministerpräsidentin kategorisch ablehnte, strebte nach langwierigen innerparteilichen Kontroversen (siehe Schroeder 2009) eine Minderheitenkoalition mit den
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Bündnisgrünen an, die sich auf die Tolerierung der Linken stützen sollte. Für die Wahl zur Ministerpräsidentin brauchte sie zusätzlich die Stimmen der Linken. Bundesweit für Aufsehen sorgte diese Episode, weil sie den damaligen Bundes-Parteivorsitzenden Beck stark involvierte und dieser wenige Tage vor der Bürgerschaftswahl in Hamburg im Februar 2008 auf Drängen Ypsilantis öffentlich seine Zustimmung zu dem Vorhaben äußerte, was erheblichen Unmut bei Kritikern innerhalb der SPD hervorrief. Schließlich scheiterte der Plan Ypsilantis am Widerstand einzelner Abgeordneter aus den eigenen Reihen. Nun galt die Leitlinie, dass auf jeder Landesverband selbst über den Umgang mit der Linken zu entscheiden habe, auf Bundesebene aber eine Koalition aus inhaltlichen Erwägungen nach der Bundestagswahl 2009 heraus nicht eingegangen werden sollte. Diese noch immer etwas unklare Strategie der Partei im Umgang mit der Linken hat die Identitätskrise der SPD nicht gerade entschärft. Das selbstbewusste und partiell populistische Auftreten der Linken und ihre Erfolge bei Wahlen in westdeutschen Ländern hat die Konkurrenzsituation nicht entspannt. Die SPD muss sich mittelfristig auf einen Mitbewerber, der in der sozio-ökonomischen Dimension eindeutiger den staatlichen Interventionismus bevorzugt und damit übereinstimmende Wählergruppen gewinnen kann, einstellen. Bei aller Kritik am Fehlen einer klaren Strategie im Umgang mit der Linken, muss der SPD aber zugute gehalten werden, dass sie sich wahrhaft in einem Dilemma befindet: Sollte sie mit der Linken enger kooperieren, könnte sie möglicherweise zwar einen Keil in diese Partei treiben und Teile der Wählerschaft der Linken absorbieren, müsste aber andererseits befürchten, einen Wählereinbruch bei gemäßigten Wechsel-(Wählern), die zwischen den bürgerlichen Parteien und der SPD stehen, zu erleiden (siehe Seitz 2009: 28; von Alemann/Spier 2008: 62). Gleichzeitig demobilisiert sie damit auch Teile ihrer Basis. Die Strategie einer „Umarmung“ der Linken hätte zwar aus SPD-Sicht möglicherweise den Vorteil, Kontroversen zwischen dem Regierungsteilhabe favorisierenden Flügel und den systemkritischen Gruppen der Linken hervorzurufen und bei gemeinsamer Regierungsbildung möglicherweise auch eine „Entzauberung“ der Linken durch unpopuläre Maßnahmen zu erreichen, ließe aber andererseits die Wahrscheinlichkeit auf eine regierungsbildende Mehrheit im Bund sinken. Zumindest bislang konnte die SPD bei Bundestagswahlen nur dann große Erfolge vorweisen, wenn sie sowohl sozialstaatsaffine Traditionswähler als auch Wechselwähler mit gemäßigt bürgerlichen Werten und Vorstellungen für sich gewinnen konnte und personell wie programmatisch sich auf die Mitte der Wettbewerbsdimensionen zu bewegte. 6
Kurzer Blick auf den Wahlkampf: Keine eindeutige Botschaft, kein wählerwirksamer Spitzenkandidat
Der Wahlkampf der SPD hat den sich seit dem Jahr 2000 im Umfragen und Landtagswahlen abzeichnenden elektoralen Niedergang im Gegensatz zu den Bundestagswahlen 2002 und 2005 nicht stoppen können. Schon vor den Bundestagswahlen 2002 und 2005 hatten Meinungsforschungsinstitute der SPD mehrheitlich eine Wahlniederlage prognostiziert, doch vermochten es die Sozialdemokraten mit ihrem Bundeskanzler Schröder jeweils in den letzten Wochen vor der Wahl das Stimmungsbild noch zu ihren Gunsten zu drehen. 2009 ist dieses Unterfangen vollständig missglückt. Vier Hauptgründe sind wohl dafür verantwortlich zu machen: die Glaubwürdigkeitslücke konnte nicht geschlossen werden, es fehlte an einer überzeugenden Botschaft, der Spitzenkandidat war der Bundeskanzlerin in
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Sachen Popularität und Wählerwirksamkeit deutlich unterlegen und das Management des Wahlkampfes war von Inkonsistenzen mitgeprägt. Konsequenz der Regierungstätigkeit der letzten Jahre, des öffentlichen Erscheinungsbildes der Partei und eines nach außen wenig inspiriert wirkenden Wahlkampfes waren erhebliche Vorbehalte der Wähler gegenüber der SPD, insbesondere bisheriger Stammwähler mit Blick auf die Wahrung der programmatischen Grundsätze, der damit in Einklang stehenden Glaubwürdigkeit und mit Blick auf Kompetenzen der Partei (siehe Tabelle 2). Die SPD war im Wahlkampf weiterhin auf der Suche nach einer neuen Identität. Die schon oben erwähnten Glaubwürdigkeitsprobleme (zum Beispiel die Einführung der Rente mit 67 und die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent, obwohl die SPD beides im Bundestagswahlkampf 2005 noch zum Teil massiv bekämpft hatte), innerparteiliche Kontroversen, fehlende Klarheit der Ziele und das Abrücken von sozialdemokratischen Grundsätzen haben die SPD in eine Krise gestürzt, die sich aufgrund des selbstbewussten und populistischen Auftretens der Linkspartei verstärkt hatte. Folge davon war, dass es der SPD nicht gelang eine klare und eindeutige Botschaft darüber zu vermitteln, was die Kernidentität der Partei als Wahlmotiv ausmacht. Das umfassende Wahlprogramm mit sehr unterschiedlichen Themenschwerpunkten wie auch Frank-Walter Steinmeiers vorgelegter Deutschlandplan zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ließen keinen wirksamen Markenkern erkennen; der Deutschlandplan hatte sich zudem mit dem Makel der geringen Realitätstauglichkeit auseinanderzusetzen, da zum einen die Zahl von vier Millionen neuen Arbeitsplätzen hoch und der Zeitraum (bis 2020) lang erschien. Beim Wähler entstand letztlich das Bild einer Partei mit einem unklaren Erscheinungsbild und geringer Problemlösungskompetenz, auch mit Blick auf Zukunftsfragen (Daten bei Köcher 2009a; siehe auch Tabellen 2, 3). Der Angriffswahlkampf gegenüber Union und FDP als Repräsentanten „sozialer Kälte“ verfing im Gegensatz zu 2005 dieses Mal nicht, da die CDU sich nach 2005 erkennbar sozialer ausgerichtet hat und dem Wähler somit kaum Angst vor einer christlich-liberalen Koalition einzuflößen war. Zudem erschien die Partei wenig modern und zukunftsfähig, weshalb sie bei jüngeren Generationen an Zustimmung verlor; bei den unter 30jährigen Wählerinnen und Wählern erreichte sie gerade noch 16 Prozent an Stimmenanteil und lag damit sogar hinter der FDP. Tabelle 2: Wofür SPD und CDU/CSU stehen CDU/CSU*
SPD*
Sozial
24
56
Kraftlos
23
46
Kompetenz
46
25
Zukunft
36
23
Vertrauen
31
14
*alle Angaben in Prozent; Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, in: FAZ, 22.04.2009 Angesichts dieser Umstände war es keineswegs verwunderlich, dass die SPD ein Mobilisierungsproblem hatte, das auch der Spitzenkandidat nicht beheben konnte. Im Gegenteil, seine geringen Popularitätswerte ließen der SPD-Wahlkampfführung auch kaum die Wahl einer vehementen Personalisierung als Element ihrer Strategie. Kanzlerin Angela Merkel
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hatte in den Augen der Wähler in allen Bereichen klare Vorteile im Vergleich zu ihrem Herausforderer: glaubwürdiger, sympathischer, durchsetzungsfähiger und erfolgreichere Krisenmanagerin (vgl. Murswieck 2009: 30). Kurzum: „Entscheidend für den Wahlerfolg der Union war die Dominanz der Bundeskanzlerin in der Kandidatendimension“ (Jung et al. 2009: 13).1 Mag diese Formulierung zugespitzt sein, so kann man nicht umhin aus den Daten herauszulesen, dass Steinmeier wenig Anziehungskraft auf die Wähler hatte. Nach Ergebnissen der Forschungsgruppe Wahlen sahen selbst 20 Prozent der SPD-Wähler Angela Merkel lieber als Bundeskanzlerin als Steinmeier im Amt. Die Forschungsgruppe führt an, dass dieses Faktum zur Demobilisierung der SPD-Wähler beigetragen hat (Jung et al. 2009: 14). Tabelle 3: Kritik an SPD und CDU/CSU Verspricht vieles, was sie nicht halten kann Keine klare Linie in ihrer Politik Ist in sich zerstritten Hält sich nicht an ihre Grundsätze, ihre Prinzipien Kümmert sich zu wenig um ihre Stammwähler
CDU/CSU* 54 32 31 22 15
SPD* 57 54 53 37 36
*alle Angaben in Prozent; Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, in: FAZ, 22.04.2009 Letztlich erreichte die SPD auch nicht mehr die hohen professionellen Standards der Bundestagswahlkämpfe von 1998 und 2002. Konnte Gerhard Schröder 2005 mit recht hohen Popularitätswerten und großem Engagement im Wahlkampf noch einiges wett machen, so fehlte 2009 die Kompensation. Der Wahlkampf wirkte lange Zeit auf viele Beobachter spannungsarm und wenig innovativ, sieht man einmal von der Nutzung neuer Instrumente im Internet ab (vgl. dazu Albers 2009). War das Strategieelement der geringen Polarisierung der CDU angesichts ihres Vorsprungs in Meinungsumfragen und des Führungsstils der Bundeskanzlerin rational nachvollziehbar, so hatte die SPD das Problem, keine klare Machtperspektive aufzuzeigen, weil sie selbst eine Koalition mit der Linken auf Bundesebene ausschloss, gleichzeitig die FDP eine eindeutige Distanz zur Sozialdemokratie kund tat und Spekulationen einer Ampelkoalitionen im Laufe des Wahlkampfes zunehmend entgegentrat. Da eine Mehrheit von SPD und Bündnisgrünen unrealistisch und der Abstand der Union zur SPD deutlich war, hatte die SPD in den letzten Wochen vor der Wahl nur noch eine realistische Machtoption: Juniorpartner in der Großen Koalition – diese Aussicht wirkte ebenfalls auf viele potenzielle Wähler der SPD nicht stimulierend. Auch das Kommunikationsmanagement der SPD im Wahlkampf verlief nicht reibungslos: die Wahlkampforganisation KAMPA in der Parteizentrale um Parteichef Müntefering und Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel stimmte sich mit verschiedenen Akteuren ab, unter anderem dem im Außenministerium angesiedelten Beraterstab Steinmeiers (in seiner Funktion als Vizekanzler) und in der Schlussphase des Wahlkampfes mit dem sogenannten „Team Steinmeier“, das in den letzten Wochen vor der Wahl noch mit dem vormaligen stellvertretenden Regierungssprecher der Großen Koalition, Thomas Steg, ver1 Zu recht weist Axel Murswieck (2009: 31) darauf hin, dass die CDU von den positiven Bewertungen der Kanzlerin profitiert hat. Unklar ist jedoch, wie hoch das Ausmaß dieses Kanzlerbonus’ für das Wahlergebnis der CDU insgesamt ist.
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stärkt wurde, um die Gesamtorganisation stärker auf den Spitzenkandidaten hin zu orientieren (siehe zur Organisation des SPD-Wahlkampfteams Lange 2009). Doch Abstimmungsschwierigkeiten und Strategiedifferenzen blieben nicht aus, insbesondere mit Blick auf die Elemente Personalisierung, Negative Campaigning und bestimmte mediale Formen der Inszenierung. 7
Fazit und Ausblick
Für manche Beobachter und Analytiker hat sich die SPD mit ihrer Regierungspolitik der letzten Jahre in Widerspruch zu ihrem traditionellen Gerechtigkeitsverständnis begeben, „vielfach von sich selbst verabschiedet“ und ist die Partei der „ressourcenstarken Arbeitnehmer in der Mitte der marktförmig strukturierten Wissensgesellschaft geworden“ (Walter 2009a: 88, 97), die keine Heimat mehr für sozial gering privilegierte Gruppen bildet. Unweigerliche Folge davon ist eine Identitätskrise. Eine Partei mit höchst unklarer Identität überzeugt weder Wähler noch (potenzielle) Mitglieder hinreichend, so dass sich sowohl auf der organisatorischen wie elektoralen Ebene fast zwangsläufig ein Niedergang ergibt. Diese Bewertungen weisen in die Richtung des ersten in der Einleitung vorgestellten Narrativs, nachdem sich die SPD unwiederbringlich auf dem Rückzug und im Herbst des Lebenszyklus ihrer politischen Geschichte befindet. Umstritten bleibt jedoch, ob diese Anpassungsschritte notwendig waren oder nicht und inwiefern die SPD sich also selbstverschuldet in diese Lage hinein manövriert hat. Eine Reihe von Anpassungszwängen aufgrund sozialer Prozesse und globaler ökonomischer Entwicklungen scheinen zumindest partiell dagegen zu sprechen wie auch die Tatsache, dass alle Großparteien wie Großorganisationen überhaupt aufgrund sozialer Wandelprozesse insgesamt eher an gesellschaftlicher Unterstützung verlieren (siehe auch Jun 2009a). Europaweit lässt sich zudem eine Schwächephase der Sozialdemokratie ausmachen, die innerhalb Westeuropas zur Zeit nur noch in Großbritannien, Spanien, Österreich und Norwegen die stärkste Kraft ist, wobei sich die Regierungszeit der britischen Labour Party nach derzeitigen demoskopischen Daten wohl im Jahr 2010 ihrem Ende zuneigt und die jüngere Geschichte der SPÖ bei Wahlen keineswegs eine glänzende ist. Für die SPD wird es in der Opposition darum gehen, Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen und eine klare Identität im Parteienwettbewerb zu gewinnen. Dazu gilt es – wenn denn der Anspruch als Großpartei, die Mehrheiten gewinnen möchte aufrecht erhalten werden soll – Aspekte sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Kompetenz mit ökologischer Verantwortung zu verbinden. 84 Prozent aller Wähler halten soziale Gerechtigkeit für wichtig und verbinden damit primär die SPD, mehr als mit der CDU und der Linken (Köcher 2009b). Darin liegt eine Chance für die Partei, die aber bei einer Neudefinition von Gerechtigkeit die Realitätstauglichkeit von Politik nicht außer acht lassen kann. Daran sollte ihre strategische Politikplanung ansetzen. Zur strategischen Neuausrichtung sollte es darüber hinaus gehören, Partizipationsrechte der Mitglieder zu verbessern und die Professionalisierung des hauptamtlichen Parteiapparates mit dem Prinzip der Mitgliederpartei in Einklang zu bringen, um Vernetzungen mit unterschiedlichen Segmenten der Gesellschaft herzustellen. Die ersten Ankündigungen und Schritte Sigmar Gabriels nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden deuten in diese Richtungen. Die Parteienforschung wird das zukünftige Handeln der SPD weiterhin intensiv beobachten und analysieren.
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Zwischen Kooperation und Blockade – Entwicklung und Strategie der Oppositionsparteien während der Großen Koalition Oppositionsparteien während der Großen Koalition
Als am 22. November 2005 die neu gewählte Bundesregierung vereidigt wurde, sah die Ausgangslage für die Arbeit der drei Oppositionsparteien alles andere als komfortabel aus. So verfügte die Große Koalition nicht nur über eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Deutschen Bundestag, sondern auch über eine schwarz-rote Mehrheit im Bundesrat. Diese Stimmenmehrheit konnte nach der Landtagswahl 2006 in Mecklenburg-Vorpommern sogar zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit in der Länderkammer ausgebaut werden. Während die FDP immerhin an fünf Landesregierungen beteiligt war, trug die Linkspartei.PDS nur in zwei Bundesländern Regierungsverantwortung. Die Grünen waren seit der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen 2005 in keiner Landesregierung mehr vertreten. Die Opposition im 16. Deutschen Bundestag unterschied sich in zwei Charakteristika von dem gewohnten bundesdeutschen Oppositionstypus der letzten Legislaturperioden: Zum einen stand der Bundesregierung eine zahlenmäßig sehr schwache Opposition gegenüber und zum anderen stellten die drei Oppositionsparteien aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung keine Alternative zur Großen Koalition bzw. keine Reserve-Regierung dar. So tritt unmittelbar die Frage in den Vordergrund, wie eine so unterschiedlich zusammengesetzte Opposition die ihr zugeschriebenen Aufgaben wahrnehmen konnte. Anliegen dieses Artikels ist es, das politische Handeln und die Entwicklung der drei „kleinen“ Parteien während der Zeit der Großen Koalition zu untersuchen. Dabei wird zwischen der Oppositionsarbeit der drei Fraktionen im Bundestag, dem Stimmverhalten der von den Oppositionsparteien mitgetragenen Landesregierungen im Bundesrat sowie der politischen Arbeit und thematischen Ausrichtung der Oppositionsparteien im Allgemeinen differenziert. Dieser Beitrag bietet einen Überblick über alle drei Oppositionsparteien. Dies führt zwangsläufig dazu, dass nur die wesentlichen Ereignisse und nur ausgewählte innerparteiliche Entwicklungen in personeller und programmatischer Hinsicht betrachtet werden können. 1
Die Arbeit der Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag
Während CDU/CSU und FDP im 15. Deutschen Bundestag eine „lose Koalition in der Opposition“ (Zohlnhöfer 2007: 131) bildeten, bestand die Opposition während der Großen Koalition aus drei programmatisch vollkommen divergenten Parteien. So war das Verhältnis von der FDP und der Linken durch eine gegenseitige Aversion in programmatischen Fragen gekennzeichnet, und auch das Verhältnis zwischen Liberalen und Grünen war belastet: Beide Parteien verbindet eine Hassliebe, sind sie doch bei teilweise ähnlichen Grundüberzeugungen zumindest partiell auf dieselbe Wählerklientel ausgerichtet (vgl. Jesse S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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2006: 36). Beide stützen sich auf die Gutverdienenden und überdurchschnittlich Gebildeten und konkurrieren nicht nur in Bürgerrechtsfragen um die Gunst der Wähler. Letztendlich ging es allen drei Parteien vor allem darum, den Rang als drittstärkste politische Kraft in Deutschland zu behaupten oder zu erlangen. Jedoch zwangen die parlamentarischen Hürden selbst so gegensätzliche Parteien zur Kooperation in Fragen der Rechte der Oppositionsfraktionen, weshalb sich die drei Fraktionen auf einen modus vivendi einigten, wonach sie sich gegenseitig zur Wahrung ihrer Fraktionsrechte gegenüber der Regierungsmehrheit unterstützten wollten (vgl. Beck 2005). So war etwa bei der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses oder bei der Durchsetzung einer Anhörung in den Ausschüssen ein gemeinsames Vorgehen notwendig. Daraus folgte allerdings weder ein Waffenstillstand noch ein Bündnis auf Zeit zwischen den Oppositionsfraktionen. Dies wurde der Republik bereits bei der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages überdeutlich vor Augen geführt, als sich vor allem die Abgeordneten der FDP beharrlich weigerten, den Kandidaten der Linkspartei, Lothar Bisky, ins Amt des stellvertretenden Bundestagspräsidenten zu wählen. Trotz dieses angespannten Verhältnisses untereinander glückte der Opposition direkt zu Beginn der Legislaturperiode ein erster gemeinsamer Triumph gegen die übermächtige Koalition der großen Parteien. In der Aktuellen Stunde zur Arbeit von Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder als Aufsichtsratschef bei Gazprom beantragte die FDP, Vizekanzler Franz Müntefering herbeizuzitieren (vgl. BTProt. 2005: 460-462). Obwohl Union und SPD über eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Parlamentssitze verfügten, gelang es der FDP, sich mit ihrem Antrag durchzusetzen. Grund dafür war, dass zu wenige Abgeordnete der beiden Regierungsfraktionen anwesend waren und FDP, Grüne und Linkspartei.PDS geschlossen für den Antrag stimmten. Die Opposition konnte so der Bundesregierung ihre erste Abstimmungsniederlage zufügen und der Öffentlichkeit demonstrieren, dass sie nicht vollkommen machtlos war. Grundsätzlich musste jede der drei Parteien für sich entscheiden, welche Handlungsstrategie sie in der Opposition zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele wählte. Vor allem zwei Strategien wurden deutlich erkennbar: Die Oppositionsfraktionen schwankten je nach Thematik zwischen „kooperativer“ und „kompetitiver Opposition“ (Beyme 2004: 279). So arbeiteten die FDP und teilweise die Grünen in Fundamentalfragen wie dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan (OEF, ISAF) oder dem Zustimmungsgesetz zum EU-Verfassungsvertrag mit der Bundesregierung zusammen, was sich dann auch im Stimmverhalten niederschlug. Zugleich versuchten die drei Fraktionen aber auch, Gesetzesvorhaben, die sie von ihrer Zielrichtung befürworteten, inhaltlich durch Änderungsanträge zu „verbessern“. Exemplarisch dafür stehen die Änderungsanträge zum Elterngeld (BT-Drs.16/1168, 16/1877, 16/2810). Außerdem wurde von allen Oppositionsfraktionen – und hier überwiegend von der Linken – eine kompetitive Politik betrieben, indem sie in ihren Anträgen klare Gegenpositionen zu Regierungsentscheidungen oder -vorhaben zur Abstimmung stellten. Die Bundesregierung wurde zudem über die eingesetzten Untersuchungsausschüsse direkt angegriffen. Darüber hinaus erfolgte die Kontrolle der Bundesregierung in der Hauptsache über Kleine Anfragen – 3.299 wurden insgesamt von allen Oppositionsfraktionen gestellt – sowie mündliche und schriftliche Fragen der einzelnen Abgeordneten (vgl. BT 2009). Zusätzlich leiteten die Oppositionsfraktionen Organstreitverfahren zur Kontrolle der Bundesregierung und Wahrung ihrer Oppositionsrechte ein (vgl. Bundesverfassungsgericht 2009a, 2009b).
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Eine weitere Strategie vorwiegend von Seiten der Linken und der Grünen war es, den potentiellen Regierungspartner SPD über die Zustimmung zu einer von ihnen eingebrachten Gesetzesvorlage zum Koalitionsbruch zu verleiten. Beispielhaft dafür stehen der Antrag der Linken zur Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns (BT-Drs. 16/1878) sowie der Gesetzentwurf der Grünen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BTDrs. 16/11885) in der letzten Sitzungswoche der Legislaturperiode. Bei einer näheren Betrachtung der Parlamentsdebatten sind jedoch davon unbehelligt nennenswerte parlamentarische Erfolge der Opposition nicht in Erinnerung geblieben. Die Arbeit im Bundestag bot den Oppositionsparteien damit zwar erwartungsgemäß nicht die Möglichkeit, politische Ziele durchzusetzen, aber dennoch die Gelegenheit, Alternativen zu präsentieren und auf die Gesetzesvorlagen der Bundesregierung über die Arbeit in den Ausschüssen einzuwirken. Dabei zeigte sich, dass sich kooperative und kompetitive Oppositionsstrategien nicht widersprechen müssen, sondern die drei Parteien je nach Politikfeld – abhängig von den parteilichen Themenschwerpunkten – die bevorzugte Handlungsstrategie wählten. 2
Die Arbeit der Oppositionsparteien im Bundesrat
Nicht nur der Bundestag bot den Oppositionsparteien ein Forum, auch der Bundesrat bot zumindest zeitweise Einflussmöglichkeiten. Wie weit die Oppositionsparteien hier Einfluss auf die politische Agenda nehmen konnten, soll nun untersucht werden. Guido Westerwelle, Partei- und Fraktionsvorsitzender der FDP, stellte für seine Partei zu Beginn der Legislaturperiode fest: „Wir Liberale verstehen die Oppositionsführung als Gestaltungsauftrag, nicht als Aufforderung zur Totalopposition. (...) Deshalb wird die FDP alles, was richtig für unser Land ist, unterstützen. Dabei wird der Bundesrat ein gewichtiges Gestaltungsmittel sein.“ (Westerwelle 2005: 12). Die Möglichkeit der FDP, der Linken und ab 2009 auch der Grünen, ihre Stimmen im Bundesrat zur Blockade bzw. zur Einberufung des Vermittlungsausschusses zu nutzen, war jedoch aufgrund der Mehrheitsverhältnisse nur sehr gering. Ein Mitregieren qua zustimmungsbedürftiger Gesetze schien für die Opposition spätestens nach der Landtagswahl im September 2006 in Mecklenburg-Vorpommern endgültig in weite Ferne gerückt zu sein, da dort ebenfalls eine Große Koalition gebildet wurde. Von da an verfügten die Alleinregierungen und gemeinsamen Regierungsbündnisse von Union und SPD auch über eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat. Erst als im Herbst 2008 in Bayern eine Koalition aus CSU und FDP gebildet wurde, stand der Großen Koalition nur noch eine knappe absolute Mehrheit zur Verfügung, die dann im Januar 2009 nach den Neuwahlen in Hessen endgültig verloren ging. Diese Wahl hatte gravierende Folgen für die Große Koalition im Bund und die Chancen der Opposition, sich im Bundesrat profilieren zu können. Die Regierung Merkel/ Steinmeier hatte nun im Bundesrat keine sichere Ländermehrheit mehr hinter sich. Dass dieses Faktum die Bundesregierung zum Ende der Legislaturperiode überhaupt tangierte, lag an der dramatischen Situation der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, in der die Bundesregierung aufgrund der Machtverhältnisse im Bundesrat auf eine Kooperation mit den Oppositionsparteien angewiesen war. Da die FDP nun in fünf großen und somit stimmenstarken Bundesländern an der Landesregierung beteiligt war, träumte sie nach der Hessen-Wahl schon vom heimlichen Mitregieren über den Bundesrat. Doch dieser Traum wur-
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de durch einen überraschenden Schachzug der Grünen jäh beendet: Die Grünen sicherten der Bundesregierung zu, dass die von ihnen mitregierten Stadtstaaten Hamburg und Bremen dem zweiten Konjunkturpaket grundsätzlich zustimmen würden. Auf diese Weise gelang den Grünen ein machttaktischer Coup gegenüber ihrem liberalen Konkurrenten. Hierbei wurde der Öffentlichkeit das Dilemma der Oppositionsparteien eindrücklich vor Augen geführt: So stimmten am 13. Februar 2009 sowohl die FDP-Fraktion als auch die Fraktion der Grünen im Bundestag gegen das zweite Konjunkturpaket, während die Bundesländer, die von den Liberalen mitregiert wurden, und das rot-grün regierte Bremen dem Gesetzesentwurf zustimmten. Die Diskrepanz zum Abstimmungsverhalten beider Parteien in Bundestag und Bundesrat kann daher als Versuch verstanden werden, den Eindruck der potentiellen Regierungsfähigkeit nicht gänzlich zu verspielen. Von wenigen Gesetzesvorhaben abgesehen war mit der Großen Koalition das Problem der divergierenden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat beendet. Dies führte dazu, dass der Bundesrat in der ersten Amtszeit Angela Merkels nicht mehr als oppositioneller Vetospieler auftrat (siehe dazu auch Seemann in diesem Band). Für die Oppositionsparteien bedeutete dies im Umkehrschluss jedoch, dass sie die meiste Zeit ihre Stimmen im Bundesrat nicht für ihre Politik und ihre strategischen Ziele einsetzen konnten. 3
Die Oppositionsparteien im Fokus
In einer institutionellen Perspektive boten somit weder Bundesrat noch Bundestag den drei Oppositionsparteien einen nennenswerten gestalterischen Spielraum, vielmehr verdeutlichte sich hier die Rivalität der Parteien untereinander. Daher soll nun der Fokus auf die Entwicklung der Oppositionsparteien in personeller und thematischer Hinsicht gerichtet werden.
3.1 Bündnis 90/Die Grünen Die Ausgangslage der Grünen nach sieben Jahren Regierungsbeteiligung zur Beginn der 16. Legislaturperiode als ungünstig zu bezeichnen, wäre wohl euphemistisch. Mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verloren sie schon vor der Bundestagswahl 2005 die letzte Regierungsbeteiligung auf Landesebene. Die Grünen waren daher nach der Bundestagswahl nicht nur jeglicher Regierungsbeteiligung beraubt, sondern auch nach Mandaten die kleinste Oppositionspartei. Darüber hinaus verloren sie zwei Tage nach der Bundestagswahl mit dem Rückzug ihres Übervaters Fischer ihre zentrale Führungsfigur und damit das machtpolitische Gravitationszentrum der Partei. Vier Jahre später scheinen die Grünen wieder zu alter Stärke und Kampfkraft zurückgefunden zu haben, wenngleich sie trotz eines Rekordergebnisses bei der Bundestagswahl 2009 (10,7 Prozent, 68 Mandate) weiterhin nur die nach Mandaten fünftstärkste Fraktion im Bundestag stellen. Auf Landesebene sind sie im November 2009 in 13 Landtagen in Fraktionsstärke vertreten und an drei Landesregierungen beteiligt. Die Anzahl an Regierungsbündnissen soll jedoch nicht suggerieren, dass es keine weiteren Möglichkeiten für Regierungsbeteiligungen gegeben hätte. Nach drei Wahlniederlagen 2006 reüssieren die Grünen spätestens seit der Bürgerschaftswahl 2007 in Bremen, wo sie 16,4 Prozent der Stimmen und damit ihr bestes Ergebnis bei einer Landtagswahl erzielten. Auch bei der
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Neuwahl des Hessischen Landtags 2009 triumphierten die Grünen und erreichten mit 13,7 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis in einem Flächenland. Ob dem Erfolg der Grünen die eigene Stärke oder die Schwäche der beiden Volksparteien zu Grunde liegt, sei dahingestellt (siehe Geiling 2009). Festgehalten werden kann, dass die Grünen trotz der miserablen Ausgangsposition nach der Bundestagswahl 2005 gute Wahlergebnisse einfahren konnten und nach der Bundestagswahl 2009 bezüglich ihres Wähleranteils deutlich verbessert im deutschen Parteiensystem stehen. Wie aber verlief die Entwicklung der Partei während der 16. Legislaturperiode in personeller und programmatischer Hinsicht? Welche Veränderungen haben diese Wahlentwicklung begleitet oder gar beeinflusst? 3.1.1 Personelle Veränderungen Am 20. September 2005, zwei Tage nach der Bundestagswahl, verkündete der Bundesaußenminister und Spitzenkandidat der Grünen seinen Verzicht auf ein Spitzenamt in Partei oder Fraktion. Der Rückzug des Alphatiers Fischer bedeutete für die Grünen „zunächst den Zusammenbruch der seit einem Jahrzehnt eingeübten und etablierten Führungsarchitektur“ (Haas 2008: 115). Dieses Machtgefüge war zum erheblichen Teil – spätestens mit dem Regierungseintritt 1998 – durch die unangefochtene Autorität Fischers zusammengehalten worden. Als erste Folge dieses sich abzeichnenden Machtvakuums wurden persönliche Rivalitäten verstärkt sichtbar (vgl. Probst 2009: 259). Da die Wahl der beiden Parteivorsitzenden erst wieder im Dezember 2006 anstand, zielten die Nachfolgekämpfe der Diadochen zunächst auf die Vorherrschaft in der Bundestagsfraktion der Grünen. Schon hierbei zeigte sich aber ein strukturelles Problem der Grünen, das sie die nächsten Jahre begleiten sollte: In der Opposition standen ihnen zu wenige Spitzenämter für die große Anzahl an ehemaligen Bundes- und Landesministern sowie Parlamentarischen Staatssekretären zur Verfügung. Für die Fraktionsdoppelspitze waren daher zunächst fünf Bewerber im Rennen: der Umweltminister Jürgen Trittin, die Verbraucherschutzministerin Renate Künast, der frühere Parteichef Fritz Kuhn und die beiden amtierenden Fraktionsvorsitzenden Krista Sager und Katrin Göring-Eckardt. Krista Sager zog jedoch kurz vor der entscheidenden Fraktionssitzung zu Gunsten von Künast ihre Kandidatur zurück. Zu Fraktionsvorsitzenden wurden dann die beiden von Fischer protegierten Kandidaten Künast und Kuhn gewählt. Trittin und Sager wurden hingegen nur stellvertretende Fraktionsvorsitzende, während Göring-Eckardt zur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages gewählt wurde. Nach den ersten Nachfolgekämpfen war deutlich geworden, dass niemand aus der Partei die Rolle des grünen Übervaters neu besetzen konnte. In Folge dessen fehlte und fehlt den Grünen ein machtpolitisches Zentrum mit Richtungs- und Führungskompetenz hinsichtlich der politischen Agenda und der strategischen Ausrichtung. Dies ist zum einen Resultat der doppelten Doppelspitze in Fraktion und Partei und zum anderen die Folge des Mangels an einer Persönlichkeit mit genügend Charisma, um die Partei und ihre Flügel hinter sich zu einigen. Ohne eine solche Führungsfigur, die Fischer in idealtypischer Weise verkörperte, ist es für die Grünen strukturell bedingt ungleich schwerer, geschlossen aufzutreten. Seit der Bundestagswahl 2005 befinden sich die Grünen damit personell in einer Zeit der fluiden Machtverteilung. Die Partei verfügt über keine feste Machtstruktur und ist Schauplatz eines immer wieder aufflammenden Konkurrenzkampfes zwischen ihren Spitzenpolitikern. So wurde gerade hinsichtlich der Einsetzung des BND-Untersuchungsaus-
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schusses zu Beginn des Jahres 2006 deutlich, dass eine Konfliktlinie zwischen Fraktionsund Parteispitze verlief (vgl. Rossmann 2006). Nicht weniger konfliktgeladen war allerdings die Beziehung der beiden ehemaligen Bundesminister Künast und Trittin zueinander, da beide die Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl 2009 für sich ins Visier genommen hatten. Nach dem Zickzackkurs hinsichtlich der Einsetzung des BND-Untersuchungsausschusses schien 2006 eine Waffenruhe zwischen den Spitzenpolitikern eingekehrt zu sein. Grund dafür waren die im Dezember 2006 auf dem Bundesparteitag in Köln stattfindenden Wahlen zum Bundesvorstand und zum Parteirat. Dort bestimmten die Grünen erstmals seit ihrer Abwahl aus der Bundesregierung ihre Führungsspitze neu. Während die beiden Parteivorsitzenden Roth und Bütikofer nur mit einem schlechten Ergebnis im Amt bestätigt wurden, gelang es Trittin aus den Wahlen zum Parteirat als eindeutiger Sieger hervorzugehen. Für Trittin war dies ein entscheidendes Ergebnis bezüglich seiner zukünftigen Machtperspektive. Dennoch traten im darauf folgenden Jahr die Defizite der grünen Führungsspitzen erneut überdeutlich zu Tage. Der Deutsche Bundestag hatte 2007 über eine Verlängerung des ISAF-Mandats und über den Einsatz von Tornados in Afghanistan abzustimmen (BT-Drs. 16/6460, 16/4298). Beide Mandate wurden von den Grünen unterschiedlich bewertet. Da die Bundesregierung sich jedoch dafür entschieden hatte, beide Bundestagsmandate als Junktim zur Abstimmung zu stellen, wurde entgegen dem Wunsch der Parteiführung von der Basis ein Sonderparteitag in Göttingen einberufen. Der Göttinger Parteitag wurde für die Partei- und Fraktionsspitze der Grünen zum Desaster: „Künast, Kuhn, Bütikofer, Roth und Trittin haben sich in Politzwerge verwandelt.“ (Roßmann 2007). Keinem der fünf Spitzenpolitiker – nicht einmal Trittin, der sich als einziger der fünf Spitzenkräfte vor dem Parteitag nicht positioniert hatte – gelang es, die Stimmungslage des Parteitags zu erkennen und im Sinne der Parteiführung aufzugreifen. So konnten die Delegierten entgegen dem Ziel der Parteispitze durchsetzen, dass die Bundestagsfraktion gegen die Verlängerung des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan stimmen sollte. Da jedoch die gesamte Führung kollektiv versagte und kein neuer Konkurrent die alte Garde herausgefordert hatte, änderte sich durch dieses Führungsversagen nichts an der innerparteilichen Machtarithmetik. Der Parteitag machte jedoch deutlich, dass sich neben den Konflikten in der grünen Spitze eine neue Konfliktlinie zwischen einer eher links geprägten Delegiertenbasis und der noch mehrheitlich realpolitisch geprägten Partei- und Fraktionsspitze aufgetan hatte (vgl. Probst 2009: 260). Dieses Desaster für die Parteiführung führte dazu, dass sich Spitzenakteure aus Partei und Fraktion von nun an genötigt sahen, möglichst geschlossen als handlungsfähige Führungsspitze aufzutreten und die eigenen Interessen vorerst zurück zu stellen. Dadurch wurde die Machtfrage bei den Grünen nicht gelöst, aber mit dem Einhalten der Machtarithmetik erzielten die Grünen bei den Landtagswahlen 2008 und 2009 deutliche Erfolge (insbesondere in Bayern und Hessen), auch wenn diese Erfolge wohl mehr dem jeweils landespolitischen Kontext und der Schwäche der SPD zu verdanken waren (vgl. Tils/Saretzki 2008: 293, Schmitt-Beck/Faas 2009: 366-368). Mit den Wahlsiegen erwuchsen auch potentielle neue Konkurrenten für die grüne Spitze, etwa in der Person von Tarek Al-Wazir, der sich bisher jedoch beharrlich weigert von der Bühne des Hessischen Landtags auf die Bundesebene zu wechseln (vgl. Hickmann 2008a). Doch einen anderen Hoffnungsträger der Grünen zog es nach seiner Zwangspause im Europäischen Parlament zurück in die Bundespolitik: Cem Özdemir, der schwäbische Obama (vgl. Mayer 2008), kündigte am 2. Juni 2008
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seine Kandidatur für den Bundesvorsitz beim Parteitag im November an. Vorausgegangen war im März 2008 die Bekanntgabe Bütikofers, auf dem Parteitag nicht mehr für das Amt des Parteichefs zu kandidieren und sich für ein Mandat im Europäischen Parlament zu bewerben. Nach einem vorzeitig beendeten innerparteilichen Wettbewerb um den Parteivorsitz mit dem Berliner Fraktionsvorsitzenden wurde Özdemir im November 2008 zusammen mit Roth zum Parteivorsitzenden gewählt. Von größerer Bedeutung war auf diesem Parteitag aber das Votum der Delegierten bezüglich der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2009. Die Parteispitze der Grünen hatte sich im Vorfeld, nachdem die Idee einer Mitgliederentscheidung nicht weiter verfolgt worden war, auf die ehemaligen Bundesminister Künast und Trittin als Spitzenkandidaten geeinigt. Die Einsetzung dieser weiteren Doppelspitze war wahltaktisch keineswegs unklug, so konnten mit Trittin Wähler eher links der Mitte angesprochen werden, während Künast im kritischen grünen Bürgertum auf Stimmenfang gehen konnte. Beiden gelang es nach der Bundestagwahl 2009 ihren innerparteilichen Führungsanspruch auszubauen und führen nun, in der 17. Legislaturperiode, die Grüne Bundestagsfraktion. Offen bleibt, wie erfolgreich das neue Duo die Zukunft der Partei gestalten wird und welchen Platz der neue Parteivorsitzende in der grünen Machthierarchie einnehmen wird. 3.1.2 Thematische Positionierung und strategische Ausrichtung Nach der Bundestagswahl 2005 mussten sich die Grünen zunächst neu in ihrer Rolle als Oppositionspartei einrichten. Dies bedeutete nach den sieben Jahren Regierungszeit auch, die eigene Position neu zu bestimmen. Sie hatten sich darauf zu einigen, welche politischen Ziele in den nächsten vier Jahren in Angriff genommen werden sollten bzw. wie sie sich strategisch auszurichten hatten (vgl. Haas 2008: 101). Die Grünen standen 2005 vor einer Richtungsentscheidung: Sollten sie mit dem neuen Konkurrenten in der Gestalt der Linkspartei.PDS den Kampf um die linken Wähler aufnehmen oder sollten sie sich mehr auf die Wählerschaft in der Mitte der Gesellschaft konzentrieren und dadurch ihre Koalitionsoptionen erweitern? Eine strategische Neuausrichtung der Grünen auf das sogenannte „grüne Bürgertum“ und eine generelle Ausdehnung ihrer Wählerschaft hatten bereits während ihrer zweiten Regierungsperiode begonnen (vgl. Haas 2006: 201-208). Die Bundesdelegiertenkonferenz im Oktober 2005 versuchte darauf eine erste Antwort zu geben. In einem Parteitagsbeschluss wurde festgehalten, dass die Grünen ihre programmatische Orientierung nicht neu erfinden, sich aber gleichzeitig für neue Wählerschichten rechts und links der grünen Stammwähler öffnen müssten (vgl. Bündnis 90/Die Grünen 2005: 3-4). Ein eindeutiger Linksruck oder eine klare Orientierung zur Mitte blieben damit aus. Über die 16. Legislaturperiode hinweg kristallisierte sich vielmehr heraus, dass sich die Grünen für eine „Strategie der doppelten Öffnung“ (Egle 2008: 119) entschieden hatten. So wurde 2007 in Bremen eine klassische rot-grüne Koalition gebildet, während 2008 in Hamburg die erste schwarz-grüne Landesregierung ihre Arbeit antrat. Auch wenn nicht von einer Äquidistanz der Grünen zu den beiden Volksparteien gesprochen werden kann, so ist doch eine Annäherung der Grünen an die Union et vice versa nicht zu leugnen. Allerdings musste die Grünen-Spitze im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 der Stimmung in der Parteibasis Rechnung tragen. So zogen die Grünen ohne Koalitionsaussage in den Bundestagswahlkampf und schlossen gleichzeitig eine sogenannte Jamaika-Koalition mit CDU/
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CSU und FDP definitiv aus (vgl. Bündnis 90/Die Grünen 2009a: 3). Das Dilemma der Grünen besteht also in der Bereitschaft, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen und gleichzeitig die eigene Parteibasis auch auf neue Bündnisse – vor allem mit Teilen des bürgerlichen Lagers – vorbereiten zu müssen. Neben dieser koalitionsstrategischen Ausrichtung stand nach der Bundestagswahl 2005 auch eine Klärung der Frage an, wie mit der rot-grünen Regierungszeit bzw. mit den zur Regierungszeit getroffenen Entscheidungen umzugehen sei. Ausgelöst wurde diese Debatte, als im Dezember 2005 bekannt wurde, dass bundesdeutsche Behörden sowie der damalige Bundesinnenminister Schily und der Bundesaußenminister Fischer frühzeitig über die Entführung des Deutsch-Libanesen Khaled El-Masri durch die CIA informiert worden waren (vgl. Fiedler 2005). Da sich Fischer zu den Vorwürfen jedoch nicht äußerte, strebten FDP und Linkspartei.PDS die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses an. Ein solcher wurde vor allem von den beiden Fraktionsvorsitzenden der Grünen strikt abgelehnt. Die Performanz der Grünen erinnerte in dieser Phase an einen Hybrid aus „Opposition light“ (Beste/Feldenkirchen 2005) und Regierungspartei im Wartestand. Erst als im Januar 2006 von der Presse gemeldet wurde, der BND hätte während des Irak-Kriegs zwei Mitarbeiter in Bagdad zur Unterstützung der USA stationiert (vgl. Leyendecker/Krach 2006), stimmte auch die Fraktion der Grünen einem Untersuchungsausschuss zu. Somit entschieden sich die Grünen zumindest partiell für eine kritische Aufarbeitung ihrer Regierungszeit und der Annahme ihrer Rolle als Oppositionspartei. Auch nach der Wahlniederlage 2005 hielten die Grünen programmatisch an dem Primat der Ökologie fest und beschlossen 2006 auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz in Köln, sich für „einen neuen und radikalen Realismus in der Ökologiepolitik“ (Bündnis 90/Die Grünen 2006: 11) einzusetzen. Das Festhalten an diesem Bezugspunkt war sowohl der Seele der Partei gezollt als auch wahltaktisch geboten. Denn trotz der Übernahme der grünen Positionen durch andere Parteien, schreiben die Wähler weiterhin den Grünen die höchste Kompetenz in der Umweltpolitik zu (vgl. BMU 2006). Neben dem positiven Image als Ökopartei nehmen die Grünen in der Gesellschaftspolitik deutlich soziale und freiheitliche Positionen ein. Dieses Profil bildet für die Grünen auch künftig die Brücke zu den Sozialdemokraten und potentiell zu den Linken. Während sie so in der Gesellschaftspolitik eine eindeutige Polstellung einnehmen (vgl. Egle 2008: 116), eröffnet ihnen ihre sozioökonomische Offenheit in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik weitere Koalitionsoptionen mit den Parteien des bürgerlichen Lagers. Ob sich jedoch in Zukunft die inhaltlichprogrammatischen Schnittmengen mit dem bürgerlichen Lager oder die präferierten linksorientierten Bündnisse der grünen Parteibasis durchsetzen werden, bleibt abzuwarten. Eine klare Ausrichtung der Partei zu einem der beiden Lager ist auch nach der Bundestagswahl 2009 nicht zu erkennen. Stattdessen berufen sich die Grünen bis auf weiteres auf ihre Eigenständigkeit (vgl. Bündnis 90/Die Grünen 2009b: 7).
3.2 Die FDP Mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch eine schwarz-rote Koalition war auch dem letzten Träumer in der FDP bewusst geworden, dass sie trotz deutlichen Zugewinns bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 erneut nicht an der Regierung beteiligt sein würden. So wurden die Liberalen zwar erstmals seit 1990 wieder drittstärkste Kraft, aber eben
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nicht Regierungspartei. Während der Großen Koalition konnten die Liberalen bei allen Landtagswahlen einen Gewinn verzeichnen, einzig bei den Landtagswahlen 2006 in Sachsen-Anhalt verloren sie erheblich und schieden aus der Regierung aus. Trotz zumeist starker Stimmenzuwächse bei den Wahlen zu den Landesparlamenten war es den Liberalen jedoch nicht möglich, ihre Regierungsbeteiligungen in den Bundesländern ebenso deutlich ausbauen. So verloren sie 2006 ihre Regierungsbeteiligungen in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, bildeten aber nach den großen Wahlerfolgen 2008 in Bayern und 2009 in Hessen, Sachsen und Schleswig-Holstein Regierungskoalitionen mit den Christdemokraten. Ein psychologisch wichtiges Ergebnis erreichten die Liberalen in mehreren Meinungsumfragen im März 2009, in denen sie bei der Sonntagsfrage einen Wert von 17 Prozent erzielten. Die Demoskopen sahen sie also nur noch einen Prozentpunkt von der Zahl entfernt, die zu Beginn der Ära Westerwelle numerisches Symbol aller liberalen Träume und zum Sinnbild der ‚Spaßpartei’ wurde. Doch spiegeln diese Umfrageergebnisse auch ein strukturelles Dilemma des bürgerlichen Lagers wider: So korrespondierte dieser hohe Umfragewert für die FDP zugleich mit einem der schlechtesten Werte für die Union. Dieses Dilemma war auch im Ergebnis der Bundestagswahl 2009 wiederzuerkennen. So konnten die Liberalen zwar mit 14,6 Prozent der Zweitstimmen triumphieren, die Union erreichte jedoch nur 33,8 Prozent. Trotzdem gelang es der FDP 2009 – nach elf Jahren Opposition – zusammen mit CDU und CSU, wieder die Bundesregierung zu stellen. Sie ist Ende 2009 darüber hinaus in 15 Bundesländern in Fraktionsstärke im Landtag vertreten und regiert allein über ihre Regierungsbeteiligungen in den großen Flächenländern fast zwei Drittel aller Bundesbürger. 3.2.1 Personelle Veränderungen Gestärkt durch den deutlichen Stimmenzuwachs bei der Bundestagswahl 2005 setzte sich der FDP-Parteichef Westerwelle schon in der Wahlnacht endgültig gegen Wolfgang Gerhardt, seinen letzten ebenbürtigen parteiinternen Konkurrenten, durch, indem er erfolgreich den Fraktionsvorsitz einforderte. Wie bereits bei der Übernahme des Parteivorsitzes 2001 hatte sich Westerwelle damit gegen Gerhardt durchgesetzt und so die Führungsfrage in kürzester Zeit entschieden. Obwohl sich die Mitglieder der Bundestagsfraktion nicht geschlossen für Westerwelle aussprachen, blieb ein Machtkampf aus und Westerwelle konnte am 1. Mai 2006 den Fraktionsvorsitz übernehmen. Damit wurde die FDP endgültig zur Einmannpartei (vgl. Dittberner 2009: 250): Westerwelle ist die FDP und die FDP ist Westerwelle. Nach dem Tod von Günter Rexroth und Jürgen Möllemann sowie dem Rücktritt von Walter Döring und dem De-Facto-Rückzug von Wolfgang Gerhardt waren 2006 von der alten Führungsriege einzig der frühere Generalsekretär Hermann Otto Solms und der frühere Landesminister Rainer Brüderle übriggeblieben. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende ist umgeben von den beiden altgedienten Prätorianern Solms und Brüderle, von seinem Generalsekretär Dirk Niebel sowie den Geschäftsführern von Partei und Fraktion, Hans Jürgen Beerfeltz und Jörg van Essen. Aufgrund ihrer Loyalität wird aus diesem Kreis für Westerwelle keine neue parteiinterne Konkurrenz erwachsen. Anders kann es sich mittelfristig mit so erfolgreichen Wahlkämpfern wie etwa Andreas Pinkwart, Jörg-Uwe Hahn oder Philipp Rösler verhalten. Die zunehmende Popularität Röslers in der FDP mag Westerwelle nach der Bundestagswahl 2009 wohl auch dazu bewegt haben, ihn für den Posten des Bundesgesundheitsministers vorzuschlagen. Mit dem
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Wechsel von Gerhardt an die Spitze der Friedrich-Naumann-Stiftung fehlt der Partei jedoch bis heute eine Persönlichkeit, die seine Stelle als Widerpart einnehmen will. Genau diese personelle Verengung nahm Gerhardt vor dem Dreikönigstreffen der Liberalen im Januar 2008 zum Anlass, eine über die Medien lancierte innerparteiliche Debatte über mangelndes Profil und eine breitere personelle Aufstellung anzuregen. Gerhardt hatte mit mehreren Interviews für Aufruhr gesorgt und darin beklagt, dass liberale Kernthemen wie Marktwirtschaft, Bildung, Außenpolitik und Bürgerrechte besser präsentiert werden müssten. Bezüglich der personellen Aufstellung der Partei hatte Gerhardt zudem angefügt: „Man kann nicht als One-Man-Show kurz vor der Bundestagswahl Kaninchen aus dem Hut zaubern.“ (Sigmund 2008). Die Kritik Gerhardts am Kurs und der Aufstellung der FDP fand in den darauffolgenden Tagen mehr Zustimmung als zunächst gedacht. So sprach sich die stellvertretende Parteivorsitzende Cornelia Pieper in der Leipziger Volkszeitung für eine breitere personelle und thematische Aufstellung der Partei aus (vgl. Pieper 2008). Westerwelle vermied es jedoch beim Dreikönigstreffen direkt auf die Kritik einzugehen und verwies stattdessen auf die Wahlerfolge der Liberalen während seiner Amtszeit, sodass die Machtarithmetik der Partei nicht infrage gestellt wurde. Westerwelles innerparteiliche Vormachtstellung wurde zuletzt im Mai 2009 auf dem Bundesparteitag der Liberalen in Hannover bestätigt. Hier erhielt Westerwelle bei seiner vierten Wiederwahl zum Vorsitzenden der FDP mit 95,8 Prozent der Stimmen sein bisher bestes Ergebnis. Nach der Bundestagswahl 2009, die den Liberalen ein grandioses Ergebnis bescherte, steht Westerwelle als Bundesaußenminister im Zenit seiner Macht. 3.2.2 Thematische Positionierung und strategische Ausrichtung „Mehr Netto vom Brutto“ – dieser Satz beschreibt wohl am ehesten die politischen Ziele der Liberalen unter ihrem Parteivorsitzenden Westerwelle. Dieses Motto steht weiterhin für die beiden zentralen Forderungen der FDP, die wie bereits 2005 auch 2009 das Wahlprogramm prägten: Steuern senken und Bürokratie abbauen. Die Liberalen postulieren seit dem Bundestagswahlkampf 2005 Steuersenkungen und eine umfassende Steuerstrukturreform. Durch das gebetsmühlenartige Wiederholen dieser Forderungen erarbeitete sich die FDP in den letzten Jahren das Image der neoliberalen Steuersenkungspartei. Wenngleich dies hinsichtlich ihrer traditionellen Wählerklientel kein Nachteil ist, so kann sich dies jedoch hemmend auf andere Wählerschichten auswirken. Trotzdem bleibt die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft weiterhin das wichtigste Projekt der FDP. Schon im Dezember 2005 kündigte Westerwelle an: „Der Politikwechsel in Deutschland bleibt das strategische Ziel der FDP.“ (Westerwelle 2005: 8). Eine solch einseitige programmatische Ausrichtung kann in Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums und der Konsolidierung des Bundeshaushalts eine erfolgversprechende Strategie sein, könnte sich aber in Zeiten einer globalen Wirtschafts- und Finanzkrise als kontraproduktiv erweisen. Die jahrelange Konzentration auf die Wirtschaftspolitik hat der Partei zwar ein scharfes Profil verschafft, aber andere Themen wie Sozialpolitik, Bürgerrechte oder Bildungspolitik in den Hintergrund treten lassen. Die Ausrichtung als wirtschaftsliberale Reformpartei, in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik Priorität genießen, blieb in den letzten Jahren nicht frei von Kritik. Nach der erwähnten deutlichen Kritik Gerhardts an der Ausrichtung der FDP im Januar 2008 meldete sich der niedersächsische
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Hoffnungsträger der FDP, Philipp Rösler, mit seinem Thesenpapier „Was uns fehlt“ zu Wort. Nach Ansicht Röslers müsste die FDP endlich erkennen, dass ihr trotz Wahlerfolgen etwas abhanden gekommen war: „Eine Vision. Ein gesellschaftliches Bild, das glaubwürdig ist.“ (Rösler 2008: 3). Er plädierte daher für eine Überarbeitung des Grundsatzprogramms und drängte seine Partei zu einem stärkeren sozialpolitischen Engagement. Auch vor dem Parteitag der FDP im Mai 2008 erneuerte Rösler abermals seine Kritik. Er bemängelte wie Gerhardt die starke Konzentration auf Steuer- und Wirtschaftsthemen. Ihm fehle eine Wertediskussion in seiner Partei und er beklagte deshalb: „Nicht alle unsere Wähler können sich aber mit nur einer Person identifizieren. Viel wichtiger ist jedoch, dass die FDP nicht nur als Ansammlung von guten Parteitagsbeschlüssen wahrgenommen wird, sondern wegen ihrer Geisteshaltung.“ (Rösler zitiert nach Denkler/Oswald 2008: 3). Trotz dieser deutlichen Kritik suchte Rösler auf dem Parteitag selbst jedoch keine offene Auseinandersetzung mit seinem Parteivorsitzenden. Neben der Konstanz in der programmatischen Ausrichtung erfuhr die koalitionspolitische Ausrichtung der FDP kurzzeitig eine leichte Veränderung. Nach dem verpassten Einzug der FDP in die Hamburger Bürgerschaft im Februar 2008 und der Enttäuschung über eine CDU, die in Hamburg einem schwarz-grünen Bündnis offen gegenüberstand (vgl. Löwenstein/Pergande 2008), wurde parteiintern Kritik an der einseitigen Ausrichtung der Partei geäußert. So sollte die FDP in künftigen Wahlkämpfen zwar für schwarz-gelbe Bündnisse kämpfen, zugleich aber dürften Koalitionen mit anderen demokratischen Parteien nicht per se ausgeschlossen werden. Diese Kritik mündete letztendlich in einer Distanz zur Union. So vollzog die FDP im Frühjahr 2008 eine sanfte Kurskorrektur und schloss eine Koalition mit Sozialdemokraten und Grünen auf Bundesebene nicht mehr kategorisch aus. Trat das bürgerliche Lager auch seitdem nicht mehr so geschlossen auf, so war doch im Bundestagswahlkampf 2009 von einer Äquidistanz zu Union und SPD nichts zu spüren (vgl. Sirleschtov 2009). Dafür gelang es der FDP aufgrund der Schwäche der SPD und deren Ablehnung einer rot-rot-grünen Koalition, sich ihrer alten Schlüsselposition im deutschen Parteiensystem wieder anzunähern. Diesen Vorteil gaben die Liberalen jedoch eine Woche vor der Bundestagswahl durch eine endgültige Absage einer Koalition mit Sozialdemokraten und Grünen auf (vgl. FDP 2009). Trotz der potentiellen Gefahr eines Nullsummenspiels setzte sich Westerwelle für eine klare Koalitionsaussage zu Gunsten der Union ein und erreichte letztendlich das beste Ergebnis der FDP bei einer Bundestagswahl. Es gelang ihm also wider Erwarten (vgl. Vorländer 2008: 144), die FDP zur Regierungspartei zu machen und sie als dritte Kraft im deutschen Parteiensystem zu festigen.
3.3 Die Linke Die Linkspartei.PDS erreichte dank ihrer Kooperation mit der WASG bei der Bundestagswahl 2005 mit 8,7 Prozent wieder Fraktionsstatus. Die neue Fraktion wurde daraufhin die parlamentarische Repräsentation der gesamtdeutschen Partei „Die Linke“, die erst 2007 gegründet werden sollte. Nach diesem ersten gemeinsamen Erfolg musste das neue Bündnis bei den Landtagswahlen 2006 einige deutliche Niederlagen erleiden. Schon hier wurde der Grundkonflikt der späteren Partei deutlich: „Die einen wollten in die Regierung, um von dort aus gegen neoliberale Politik zu agieren, die anderen sahen gerade darin eine Bereitschaft, letztlich diese Politik mit zu tragen, aber nicht für eine Systemänderung einzutre-
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ten.“ (Neugebauer/Stöss 2008: 167). Eben dieser Grundkonflikt führte 2006 dazu, dass WASG und Linkspartei.PDS bei den Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern als Konkurrenten und nicht als Partner auftraten. Ein Jahr später zog Die Linke mit 8,4 Prozent in Bremen zum ersten Mal in ein westdeutsches Landesparlament ein, bis September 2009 folgte der Einzug in vier weitere westdeutsche Landtage. Hierbei waren vor allem die Erfolge in Niedersachsen 2008 und der erneute Einzug in den Hessischen Landtag 2009 ein deutliches Zeichen für die Stärke der neuen Partei. Die Linke schaffte so innerhalb von zwei Jahren das, was der PDS 15 Jahre nicht gelungen war. Für Die Linke hatte so ein halbes Jahr nach der Fusion von Linkspartei.PDS und WASG eine bis heute andauernde Erfolgswelle begonnen, die ihren vorläufigen Höhepunkt am 30. August 2009 erreichte. An diesem Tag erzielte Die Linke bei der Landtagswahl im Saarland fast aus dem Stand 21,3 Prozent und wurde in Thüringen mit 27,4 Prozent zweitstärkste Kraft. Trotz aller Wahlsiege konnte Die Linke während der Großen Koalition ihre Regierungsbeteiligungen in den Ländern jedoch nicht ausbauen. So war sie nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 2006 nicht mehr an der Landesregierung beteiligt und bildete fortan nur noch in Berlin eine Regierungskoalition mit der SPD. Ursachen hierfür waren zum einen die Absage an eine Linkskoalition von Seiten zahlreicher SPD-Landesverbände und zum anderen die Ablehnung vor allem der westdeutschen Landesverbände der Linken, Regierungsverantwortung zu übernehmen (vgl. Hickmann 2008b). Dieser Konflikt um die Frage der Regierungsbeteiligung prägt Die Linke bis heute und bestimmt nicht zuletzt die strategische Ausrichtung der Partei sowie die Auseinandersetzungen zwischen ihren Spitzenpolitikern. 3.3.1 Personelle Veränderungen Mit der Bildung der neuen Bundestagsfraktion waren auch die ersten Machtfragen hinsichtlich der Führung der neuen Wahlallianz bzw. der späteren Partei zu klären. Die Fraktion einigte sich darauf, Gregor Gysi und Oskar Lafontaine zu ihren Fraktionsvorsitzenden zu wählen. So wurde der Vorsitz von zwei „redegewandten Galionsfiguren“ (Lorenz 2007: 294) übernommen. Dadurch sicherte sich die Fraktion aufgrund des rhetorischen Talents beider Politiker die Aufmerksamkeit der Medien und verfügte zugleich über eine Idealbesetzung für eine Partei, die sich hinsichtlich ihrer Programmatik als einzige Alternative zu den etablierten Parlamentsparteien versteht. Im Zuge der Parteineugründung im Juni 2007 musste sich die Partei auch über die Besetzung ihrer Führungsspitze einigen. Auf dem Fusionsparteitag am 16. Juni 2007 in Berlin wurden Oskar Lafontaine und Lothar Bisky zu den neuen Vorsitzenden und Dietmar Bartsch zum Bundesgeschäftsführer gewählt. Der parteilinken Hoffnungsträgerin Katja Kipping und dem Vertreter des Gewerkschaftsflügels, Klaus Ernst, kam nur eine untergeordnete Rolle als stellvertretende Parteivorsitzende zu. Die Linke hatte somit zwar eine Doppelspitze aus WASG und Linkspartei.PDS, doch kristallisierte sich schnell Lafontaines Rolle als primus inter pares heraus. Die Ursachen dafür lagen sowohl in seiner Doppelrolle als Partei- und Fraktionsvorsitzendem als auch in seiner rhetorischen Überlegenheit gegenüber Bisky. Die Partei ist ihrerseits in etliche Strömungen und Flügel aufgespalten – wie etwa der Kommunistischen Plattform oder dem Forum Demokratischer Sozialisten, die um Macht
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und Posten konkurrieren (vgl. Neugebauer 2009: 246-247; Messinger/Rugenstein 2009: 7781). Lafontaine selbst kann keiner Gruppe zugerechnet werden. Da seine Aussagen jedoch eine Absage an eine pragmatische Politik darstellen, wird er von den Radikalen um Sarah Wagenknecht, die als Wortführerin der Kommunistischen Plattform beschrieben werden kann, unterstützt. Lafontaine selbst verfügt aufgrund der Übermacht der alten PDS über keine Hausmacht in der Partei. Daher ist er zum Taktieren gezwungen. Neugebauer beschreibt den Akteur Lafontaine folgendermaßen: „Er stellt Die Linke in der Öffentlichkeit als eine funktionsfähige Partei dar, agiert intern strömungsunabhängig und ist de facto der einzige relevante Stratege in der Linken.“ (Neugebauer 2009: 248). Aufgrund seiner inhaltlichen Positionen und seiner anfänglichen Ablehnung von Regierungsbeteiligungen machte sich Lafontaine in der neuen Partei etliche Gegner unter den modernen Sozialisten und Pragmatikern der ehemaligen PDS. Sie eint der Wille zu regieren und die Sorge, dass Lafontaine dies mit zu hohen Anforderungen an eine Regierungsbeteiligung unmöglich machen könnte. So revidierte Lafontaine 2007 zwar seine Haltung zu Regierungsbeteiligungen, erschwerte aber de facto – wie zuletzt durch Maximalforderungen im Wahlprogramm 2009 – die Möglichkeiten einer Koalition mit den Sozialdemokraten auf Bundesebene. Das Streitthema Regierungsbeteiligung bleibt damit auch in der neuen Partei die Gretchenfrage (vgl. Koß 2007: 128). In den zwei Jahren seit dem Fusionsparteitag wurde immer wieder Kritik an dem autoritären Führungsstil Lafontaines geäußert. So erreichte er bei seiner Wiederwahl zum Parteichef im Mai 2008 auf dem Parteitag in Cottbus nur noch 78,5 Prozent und somit fast zehn Prozentpunkte weniger als 2007. Das Ergebnis drückte den Zwiespalt vieler Delegierter aus: Zum einen bemängelten sie seine Führung, zum anderen wussten sie, dass es Die Linke als erfolgreiche gesamtdeutsche Partei ohne Lafontaine nicht geben würde. Daher wurde Lafontaine in Ermangelung einer Alternative vorerst gefolgt. Nachdem jedoch im Februar 2009 auf dem Essener Parteitag sämtliche Europaskeptiker auf die Europaliste gewählt wurden und zugleich die beiden Pro-Europäer André Brie und Sylvia-Yvonne Kaufmann nicht mehr nominiert wurden, deutete sich eine Zäsur an. Während Kaufmann kurz darauf aus Enttäuschung über ihre Partei in die SPD eintrat, rechnete Brie in einem Essay mit seinem Vorsitzenden ab: „Oskar Lafontaine braucht kein Programm. Er hat eines, er ist eines.“ (Brie 2009). Die Partei werde von ihm und seinen Vasallen dominiert, Andersdenkende würden ausgegrenzt. Zugleich übte er an der Stellung Lafontaines im Machtgefüge der Partei Kritik. So habe es Lafontaine geschafft in der Öffentlichkeit als das Gesicht der Linken wahrgenommen zu werden, obwohl er weder Fraktion noch Partei allein führe. Doch reagierten die parteiinternen Gegner Lafontaines auf diese Steilvorlage nicht mit einer allgemeinen Auflehnung, sondern versuchten vielmehr im Vorfeld der Bundestagswahl ideologische Gefechte zu vermeiden. Ob dies auch mit der Erkenntnis zusammenhing, dass Lafontaine für eine erfolgreiche Bundestagswahl unersetzlich ist, bleibt offen. Jedenfalls konnte Lafontaine im August 2009 bei der Landtagswahl im Saarland und dann bei der Bundestagswahl im September noch einmal seine Fähigkeiten als Wahlkämpfer unter Beweis stellen. Abzuwarten bleibt, wie die Partei bei den Vorstandswahlen 2010, wenn voraussichtlich nur noch ein Vorsitzender gewählt werden wird, votieren wird.
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3.3.2 Thematische Positionierung und strategische Ausrichtung Die thematische Positionierung und die strategische Ausrichtung der Linken können von den innerparteilichen Streitigkeiten nicht losgelöst betrachtet werden. Wie bereits erwähnt, bildete über die gesamte Legislaturperiode die Frage der Beteiligung an Regierungsbündnissen die entscheidende Konfliktlinie der Linken. So geben die Forderungen von Wahlprogramm und Gesetzesvorschlägen auch Auskunft darüber, inwiefern Die Linke bereit war bzw. ist, Regierungsverantwortung auf Bundesebene zu übernehmen. Die Linkspartei.PDS forderte bereits 2005 in ihrem Wahlprogramm den Rückzug aus Afghanistan, eine faktische Auflösung der NATO und die Abschaffung von Hartz IV. Darüber hinaus brachte Die Linke-Bundestagsfraktion während der 16. Legislaturperiode vor allem in ihrer Gesamtheit nur schwer zu finanzierende Gesetzesentwürfe ein, die von kostenlosen Kindergärten über eine Grundsicherung für jeden Bürger bis hin zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung für alle reichten (BT-Drs. 16/453, 16/997, 16/7471). Eine solche Kumulation von Maximalforderungen erschwerte jedoch potentiellen Koalitionspartnern, programmatische Anknüpfungspunkte zu finden. Diese de facto Ablehnung von Regierungsverantwortung versuchte Lafontaine 2008 in einem Interview folgendermaßen zu legitimieren: „Wir regieren aus der Opposition heraus.“ (Denkler 2008). Für ihn fand der Kurs der Linken seine Bestätigung also darin, dass sich die SPD während der Großen Koalition unter dem Druck der Linken auch für einen Mindestlohn und eine Nachbesserung von Hartz IV einsetzte. Da Die Linke ihre Zielvorstellungen jedoch fast ausschließlich ex negativo definierte, musste sie sich auch nicht der politischen Notwendigkeit beugen, eigene Konzepte und Problemlösungsansätze zu entwickeln und politische Mehrheiten für ihre Gesetzesvorhaben zu suchen. Diese Strategie konnte auch deswegen durchgehalten werden, da Die Linke in den ersten Jahren der Großen Koalition die Agenda-Parteien als ihre zentralen Gegner betrachtete. Daher war auch die thematische Ausrichtung der Linken stark durch die Fixierung auf die Sozialdemokratie geprägt. Die Verortung der SPD als Feindbild veränderte sich nur langsam. Bundesgeschäftsführer Bartsch forderte erstmals im März 2008 seine Partei dazu auf, Union und FDP als die politischen Hauptgegner anzuerkennen. Diese Forderung wiederholte Bartsch im Juni 2009 abermals und sprach sich gleichzeitig für die Bildung von rot-roten Bündnissen auf Landesebene aus (vgl. Bartsch 2009). Er folgte damit dem Appell von Brie, der seine Partei dazu aufrief: „Aus dem Kampf gegen die SPD und die Grünen muss der Kampf um eben diese werden.“ (Brie 2009). Vor dem Parteitag der Linken zur Bundestagswahl im Juni 2009 zeichnete sich eine erneute Debatte um den Kurs der Partei ab. Dies lag vor allem darin begründet, dass bisher keine grundsätzliche Diskussion über die strategischen Ziele der Partei sowie über die dazu relevanten Bündnisse stattgefunden hatte. Der Linken fehlt daher bis dato – abgesehen von ihren programmatischen Eckpunkten – ein wirkliches Grundsatzprogramm. Sie verfügt mit Lafontaine zwar über eine strategische und politische Führung, aber eben über keinen Grundkonsens. Es steht somit eine Entscheidung darüber aus, ob sich Die Linke dauerhaft als Oppositionspartei einrichten oder zu einer Reformpartei mit dem Anspruch auf Regierungsbeteiligung weiterentwickeln soll. Solange dies nicht geschieht, besteht für Lafontaine weiterhin die Möglichkeit, die Partei als Resonanzboden für gesellschaftliche Stimmungen zu instrumentalisieren. Als am 11. Mai 2009 der Entwurf des Wahlprogramms durch den Vorstand der Linken vorgestellt wurde, zogen in den darauffolgenden Wochen drei namhafte Politiker die Kon-
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sequenzen: Neben Sylvia-Yvonne Kaufmann, einst stellvertretende PDS-Vorsitzende, und Carl Wechselberg, finanzpolitischer Sprecher der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, trat auch der sächsische Landtagsabgeordnete Ronald Weckesser aus der Partei aus. Wechselberg kritisierte in einem Interview mit dem ‚Bericht aus Berlin’ vor allem das Bundestagswahlprogramm als eine Ansammlung von Fundamentalopposition, Verbalradikalismus und verantwortungslosen Wahlversprechen. Auf dem Parteitag zur Bundestagswahl versuchten dann Vertreter des Reformlagers die Maximalforderungen aus der Umgebung Sarah Wagenknechts durch eigene Anträge im Bereich Mindestlohn, Hartz IV-Regelsatz sowie des öffentlichen Investitionsprogramms abzumildern und so eine Ausrichtung als reine Protestpartei zu verhindern (vgl. Brössler 2009). Es gelang ihnen jedoch nicht, sich gegen den Widerstand von Lafontaine und Wagenknecht durchzusetzen, so dass die fundamentaloppositionelle Ausrichtung durch den Parteitag bekräftigt wurde. Auch wenn es scheint, dass sich im Vorfeld der Bundestagswahl die Wogen zwischen Pragmatikern und Ideologen wieder geglättet haben, bleibt offen, ob es in Zukunft für die Partei reichen wird, sich als das soziale Gewissen Deutschlands zu präsentieren, ohne die eigene Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Ein Erfolg für Die Linke bleibt, dass sie in der Zeit der Großen Koalition ihr Image als nostalgische Ostpartei ablegen konnte und bei der Bundestagswahl 2009 erneut einen erheblichen Stimmenzuwachs zu verzeichnen hatte. Entscheidend wird für Die Linke das Jahr 2010 werden, wenn sie über das Amt ihres Vorsitzenden und über ihr Grundsatzprogramm zu entscheiden hat. 4
Conclusio und Ausblick
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass während der Großen Koalition jede Oppositionspartei zunächst für ihre eigenen Politikvorstellungen und Konzepte kämpfte. Gleichzeitig unterstützen sich die Oppositionsfraktionen hinsichtlich der Kontrolle der Bundesregierung und der Durchsetzung ihrer Parlamentsrechte. Ihrer Rolle als Mitgesetzgeber suchten sie durch Änderungsanträge und eigene Gesetzesentwürfe sowie durch die Arbeit der Abgeordneten in den Ausschüssen nachzukommen. Bezüglich ihrer Landtagswahlergebnisse und Umfragewerte können am Ende der Großen Koalition alle drei Oppositionsparteien eine Erfolgsbilanz verzeichnen. So sind im Herbst 2009 alle drei Parteien jeweils in mindestens zwölf Landtagen in Fraktionsstärke vertreten und erzielten bei der die 16. Legislaturperiode beendenden Bundestagswahl jeweils ein zweistelliges Ergebnis. Eine starke innerparteiliche Entwicklung war vor allem bei den Grünen und der Linken zu beobachten. Die Grünen befinden sich weiterhin in einer personellen Übergangsphase und vor einer offenen Führungsfrage, während sie programmatisch klar positioniert sind. Die Linke stellte sich in der 16. Legislaturperiode aufgrund ihrer Neugründung 2007 als dynamische Partei dar, deren Entwicklung wesentlich von dem Konflikt zwischen Pragmatikern und Ideologen geprägt wurde. Daher wird ihre grundsätzliche Ausrichtung erst in den nächsten Jahren geklärt werden. In der Machtstruktur der FDP verstärkte sich während der Großen Koalition der Trend zur Einmannpartei. Nach vier Jahren Großer Koalition befindet sich Westerwelle als Parteivorsitzender und Außenminister auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Partei steht geschlossen hinter ihm, mögliche innerparteiliche Konkurrenten wurden marginalisiert oder in die Regierungsverantwortung eingebunden.
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Bringt der Ausgang der Bundestagswahl 2009 für die drei „kleinen“ Parteien zwar weitere Dynamik in anstehende Fragen der Führung und der strategischen Ausrichtung, so streben sie jedoch auch weiterhin nicht nach gemeinsamen Bündnissen in potentiellen Dreier-Konstellationen. Die drei Parteien beharren auf ihrer Eigenständigkeit und kämpfen um den dritten Platz im deutschen Parteiensystem. Literatur Bartsch, Dietmar, 2009: Linke: SPD kein Hauptgegner, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung; 14.06.2009. Beck, Volker, 2005: „Technische Kooperation“ mit FDP und PDS in der Opposition, in: http://www.handelsblatt.com; 1.10.2005. Beyme, Klaus von, 2004: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. 10. Auflage. Wiesbaden. Brie, André, 2009: Der Lafontainismus, in: DER SPIEGEL (24/2009); 8.06.2009. Brössler, Daniel, 2009: Die Linke ringt um ihr Wahlprogramm, in: Süddeutsche Zeitung; 20.06.2009. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 2006: Umweltbewusstsein in Deutschland 2006. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. Paderborn (zitiert als BMU 2006). Bundesverfassungsgericht, 2009a: Beschluss 2 BvE 3/07 vom 17. Juni 2009. Bundesverfassungsgericht, 2009b: Beschluss 2 BvE 5/06 vom 1. Juli 2009. Bündnis 90/Die Grünen, 2005: Grün macht den Unterschied – Für die ökologische und solidarische Modernisierung unseres Landes, Beschluss der 25. Ordentlichen Bundesversammlung am 15. Oktober 2005 in Oldenburg. Bündnis 90/Die Grünen, 2006: Für einen radikalen Realismus in der Ökologiepolitik, Beschluss der 26. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz vom 1. bis 3. Dezember 2006 in Köln. Bündnis 90/Die Grünen, 2009a: Aufruf zur Bundestagswahl, Beschluss der 30. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz vom 8. bis 10. Mai 2009 in Berlin. Bündnis 90/Die Grünen, 2009b: Grün macht Zukunft, Beschluss der 31. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz vom 24. bis 25. Oktober 2009 in Rostock. Denkler, Thorsten, 2008: Interview mit Oskar Lafontaine: „Wir regieren aus der Opposition heraus.“, in: http://www.sueddeutsche.de; 20.05.2008. Denkler, Thorsten/Oswald, Bernd, 2008: Interview mit FDP-Präsidiumsmitglied Philipp Rösler: „Die FDP findet in der Wertediskussion nicht statt.“, in: http://www.sueddeutsche.de; 28.05.2008. Deutscher Bundestag, 2009: Statistik der Parlamentarischen Kontrolltätigkeit – Überblick 16. Wahlperiode, in: http://www.bundestag.de/dokumente/parlamentsdokumentation/; 5.11.2009 (zit. als: BT 2009). Deutscher Bundestag Plenarprotokoll, 2005: 16/8, 8. Sitzung vom 15. Dezember 2005, 460-462 (zit. als: BT-Prot. 2005). Dittberner, Jürgen, 2009: FDP – Einmannpartei im bürgerlichen Lager, in: Machnig, Matthias/Raschke, Joachim (Hrsg.), Wohin steuert Deutschland? Bundestagswahl 2009. Ein Blick hinter die Kulissen. Hamburg, 250-257. FDP, 2009: Deutschland kann es besser, Beschluss des a.o. Bundesparteitags der FDP vom 20. September 2009 in Potsdam. Fiedler, Carsten, 2005: Phantom Fischer, in: WELT ONLINE; 15.12.2005. Geiling, Heiko, 2009: Die Krise der SPD. Autoritäre oder partizipatorische Demokratie. Münster. Haas, Melanie, 2006: Innovation mit einer bürgerlichen Partei? Die Grünen nach der Bundestagswahl 2005, in: Jun, Uwe/Kreikenbom, Henry/Neu, Viola (Hrsg.), Kleine Parteien im Aufwind, Frankfurt am Main. 201-222.
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Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers1
1
Einleitung
Das Ergebnis der Bundestagswahl 2005 erzwang eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Die beiden großen Volksparteien erreichten bei der Wahl zum 16. Bundestag zusammen lediglich 69,4% (CDU/CSU 35,2%, SPD 34,2%) der abgegebenen Zweitstimmen und jeweils eines ihrer schlechtesten Ergebnisse bei einer Bundestagswahl. Unter allen Wahlberechtigen entschieden sich lediglich 53,1% für Union oder SPD; so niedrig war die Zustimmung zu beiden Volksparteien bei den wahlberechtigten Bürgen bis zu diesem Zeitpunkt mit Ausnahme von 1949 noch nie (Jung/Wolf 2005). Dass Union und SPD nach 2002 erneut und diesmal deutlich unter der 40% -Marke blieben, ist auch ein Indikator für die viel besprochene nachlassende Bindung großer Teile der Wähler an die Volksparteien. Die Ergebnisse der kleinen Parteien (FDP 9,8%, Linke 8,7%, Grüne 8,1%) zeigen das hohe Ausmaß an Volatilität in der Wählerschaft. Das schlechte Abschneiden von Union und SPD und das Erstarken der Linken stellte vor allem das gewohnte politische Lagerdenken auf den Kopf und hat einen strukturellen Wandel der möglichen Koalitionszusammensetzungen geschaffen, ein fluides Fünfparteiensystem (Niedermayer 2008), welches traditionelle Lagerbündnisse einer „großen“ und einer „kleinen“ Partei rechnerisch nicht immer möglich machen. Die politische Stimmungslage, welche zu diesem Wahlergebnis führte, wollen wir noch mal kurz skizzieren: Im relativ kurzen Wahlkampf des Jahres 2005 sahen die Umfragewerte für Union und FDP relativ günstig aus, auch wurde in den Umfragen kurz vor der Bundestagswahl mehrheitlich Schwarz-Gelb als Wunschkoalition geäußert. Die gute Ausgangslage für das schwarz-gelbe Lager schmolz bis zum Ende des Wahlkampfes dahin, da es der SPD in der Schlussphase durch eine massive Retraditionalisierung ihres politischen Programms gelang, in der Wählergunst Boden gutzumachen (Abb. 1). Das beinahe Gleichauf (CDU/CSU 40%, SPD 38%) in der letzten veröffentlichten Umfrage der FGW zeigt ein politisches Stimmungsbild, welches über die tiefe Unzufriedenheit mit der amtierenden Bundesregierung, vor allem einer schlecht beurteilten SPD, hinwegtäuscht und welches die Union als mangelnde inhaltliche und personelle Alternative für die Wahlberechtigten erscheinen lässt.2 Das Wahlergebnis spiegelt auf der einen Seite das Unbehagen gegenüber 1 Die wesentlichen empirischen Betrachtungen auf der Grundlage der Politbarometer-Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen beziehen sich auf den Zeitraum seit der Bundestagswahl 2005 bis zum 18. September 2009 (letzte Veröffentlichung vor der Bundestagswahl 2009). 2 Als politische Stimmung bezeichnet die Forschungsgruppe Wahlen die Rohdaten-Ergebnisse zur Wahlabsicht (Sonntagsfrage: „Was würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre?“). Diese Daten, die neben der designbedingten Gewichtung lediglich einer sozialstrukturellen Gewichtung unterworfen sind, werden von den meisten anderen Instituten nicht veröffentlicht. Im Gegensatz zur politischen Stimmung werden die aktuellen Überzeichnungen der politischen Stimmung bei der sog. Projektion in einem Modell auf eine NormalwahlSituation übertragen (Was wäre, wenn am nächsten Sonntag wirklich Wahl wäre). Neben der politischen Stim-
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
337
der Schröderschen Agenda 2010 wider und auf der anderen Seite das mangelnde Vertrauen in das neoliberale Wahlprogramm der Union. Abbildung 1
Politische Stimmung in Deutschland 01/2004 – 09/2005 60 50
CDU/CSU
40 30
SPD
20 Grüne
10
FDP
09/05
08/05
07/05
06/05
05/05
04/05
03/05
02/05
01/05
12/04
11/04
10/04
09/04
08/04
07/04
06/04
05/04
03/04
02/04
01/04
04/04
Linke
0
Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer
In unserem Beitrag skizzieren wir nun, wie aus dieser Stimmung heraus die Arbeit der zweiten Großen Koalition in Deutschland seit der Regierungsbildung von den potentiellen Wählern, also den wahlberechtigten Befragten, im Politbarometer beurteilt wurde, wie sich die Imagewerte der beiden Koalitionspartner, Union und SPD, entwickelt haben und welches politische Stimmungsklima sich in der Wahlabsichtsfrage innerhalb der Legislaturperiode abzeichnete. Der Blick fällt auf eine Koalition aus Konkurrenten, die im Wahlkampf 2005 teilweise diametrale Ansichten in wesentlichen Politikfeldern, wie z.B. Steuerpolitik und Reformkurs im Gesundheitswesen, vertraten. 2
Die politische Stimmung in der Zeit der Großen Koalition
Vor der Bundestagswahl war eine Große Koalition weder im Wahlkampf als Wunschbündnis von einer der Parteien noch in der medialen Öffentlichkeit thematisiert worden. Kurze Zeit nach der Bundestagswahl waren im Politbarometer 80% der Befragten mit dem Wahlausgang unzufrieden, was im Vergleich zu den Wahljahren 2002 (45% zufrieden mit Wahlausgang, mung fließen hier auch Erfahrungen über mittel- und längerfristige Bindungen der Wähler, taktisches Wahlverhalten und ein „time-lag“ ein.
338
Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
51% unzufrieden) und gar 1998 (60% zufrieden, 31% unzufrieden) ein enormes Potential an politischer Irritation nach einer demokratischen Wahl aufzeigt. Diese neue, die gewohnten Lagergrenzen verwischende Konstellation wurde aber bereits einige Wochen später im Rahmen der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD über eine Regierungsbildung von 63% der Wahlberechtigen positiv beurteilt und schon kurz nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrages wurde der neuen Regierung von einer großen Mehrheit die Kompetenz zur Lösung der anstehenden Probleme zugetraut (Kornelius/Roth 2008: 59-60). Nach einer durchaus positiven Einstellung gegenüber der Großen Koalition und optimistischen Zukunftsperspektiven in den ersten Monaten nimmt die Zufriedenheit mit der Regierung ab. Die zuvor mit einem Mittelwert von 1,0 bewertete Regierung sinkt bis zum Herbst 2006 über 1,5 Prozentpunkte auf -0,8 (Abb. 2). Auch rumort es innerhalb der Koalition und die Distanzierung zum Bündnispartner steht auf der Tagesordnung. In Zeiten, in denen die Große Koalition in ihrer Leistungsbewertung in den negativen Bereich abrutscht, gelingt es unter den Oppositionsparteien lediglich der FDP, zeitweise in den positiven Beurteilungsbereich zu gelangen. Die Linke wird seit 2005 durchweg deutlich negativ bewertet. Ein Konsens in dringlichen Problemen, allen voran eine von den Bürgern im Jahr 2006 als notwendig erachtete Gesundheitsreform, konnte nicht gefunden werden. Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Koalition ging in allen wesentlichen politischen Bereichen, wie Wirtschaft/Konjunktur, Arbeitsmarkt, Finanzen, Gesundheit und Rente, zurück (Kornelius/Roth 2008: 66-67). Abbildung 2
Zufriedenheit mit Regierung und Koalitionspartnern seit 12/2005 (Mittelwerte auf einer +5/-5-Skala) 1,0
Regierung CDU/CSU
0,5 SPD
0,0
-0,5 Regierung
CDU
SPD
Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer
08/09
06/09
04/09
02/09
12/08
10/08
08/08
06/08
04/08
02/08
12/07
10/07
08/07
06/07
04/07
02/07
12/06
10/06
08/06
06/06
04/06
02/06
12/05
-1,0
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
339
Im April 2006 tritt Matthias Platzeck überraschend als SPD-Vorsitzender zurück, im Mai folgt ihm Kurt Beck in das Amt. Die Anhebung der Mehrwertsteuer sowie die Einschränkung von Steuervorteilen wie Pendlerpauschale und Sparerfreibetrag werden beschlossen. In dieser Phase rutschen die Imagewerte der Kanzlerin von einer durchschnittlichen Einstufung von über zwei auf einen Mittelwert von eins. Die Bundesregierung liegt in ihrer Bewertung zum ersten Mal im negativen Bereich. In der politischen Stimmung rutscht die Union sogar einige Wochen deutlich unter 40%, die SPD kann hingegen Werte über 30% erlangen. Vor allem die FDP und die Grünen können in dieser Phase durch lagerinterne Verschiebungen in der politischen Stimmung zulegen und kommen auf Werte über 10%, was der Linken bundesweit erst ein Jahr später gelingen wird. Abbildung 3
Politische Stimmung in Deutschland 09/2005 bis 09/2009 60 CDU/CSU
50 40 30
SPD
20 FDP Grüne
10
Linke 09/09
07/09
05/09
03/09
01/09
11/08
09/08
07/08
05/08
03/08
01/08
11/07
09/07
07/07
05/07
03/07
01/07
11/06
09/06
07/06
05/06
03/06
01/06
11/05
09/05
0
Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer
Nach den Landtagswahlen im Herbst 2006 in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern kann die Bundesregierung mit positiven Nachrichten punkten. Die Unternehmen werden steuerlich entlastet, die Steuereinnahmen fallen deutlich höher aus als erwartet und die Bundesregierung beschließt, die Neuverschuldung auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung zu senken. Die Leistungsbeurteilung der Regierung und der Koalitionspartner mithilfe der +5/-5-Skala steigt zum Ende des Jahres 2006 wieder in den positiven Bereich, in der politischen Stimmung kann davon allerdings nur die Union profitieren (Abb. 3). Sie kann ab dem Jahr 2007 bei der „Sonntagsfrage“, der Bestandsaufnahme der aktuellen politischen Stimmung, deutlich zulegen und liegt bis Ende 2008 immer in der 40%-Zone. Eine Woche vor der Bundestagswahl 2009 erreicht die CDU in der Stimmung 38%. Die SPD kann seit dem Herbst 2007 in der Stimmung zu keinem Zeitpunkt mehr den Anteil ihres Wahlergeb-
340
Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
nisses von 2005 (34,2%) erreichen. Eine Woche vor der Bundestagswahl sprechen sich in der Stimmung nur noch 25% für die SPD aus. Die Themen des Jahres 2007 sind innerhalb der Großen Koalition geprägt von gegensätzlichen Meinungen zum Ausbau von Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren. Bei der einzigen Landtagswahl in diesem Jahr schafft die Linkspartei zum ersten Mal den Einzug in ein westdeutsches Landesparlament. Im Juni 2007 folgt die Neugründung der Partei Die Linke aus der WASG und der Linkspartei.PDS mit den Vorsitzenden Lothar Bisky und Oskar Lafontaine. Kurz nach dem Einzug in die Bremer Bürgerschaft schafft es die Linke (damals noch Linkspartei) erstmals, in der politischen Stimmung über 10% zu kommen. Die Arbeit der Bundesregierung wird vor allem in der Mitte des Jahres 2007 wieder positiver bewertet, da Deutschland zum ersten Mal nach der Wiedervereinigung einen Haus-haltsüberschuss erzielt. Die Union bleibt im Jahr 2007 in der Stimmung weiterhin bei guten Werten von 40 bis 44% und die SPD kann von ihrem neuen Vorsitzenden Kurt Beck und seinem Bemühen, die Partei inhaltlich wieder etwas mehr nach links zu rücken, nicht profitieren. Auch der Parteitag der Sozialdemokraten im Oktober 2007, auf dem ein neues Grundsatzprogramm vorgestellt wird, das sich wieder explizit auf Werte des traditionellen demokratischen Sozialismus beruft, bringt keinen Aufwind in den Umfragedaten. Bis zum Anfang des Jahres 2008 kann die SPD die 30%-Marke halten, dann stürzt die Hessenwahl im Januar 2008 die Partei und ihren Vorsitzenden durch den „Wortbruch“ von Andrea Ypsilanti in eine schwere Krise, von der sie sich nicht mehr zu erholen vermag. Kurt Beck, der sich dafür ausspricht, dass sich Ypsilanti mit den Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin von Hessen wählen lassen soll, nimmt in seinen Imagewerten rasant ab. Die Sozialdemokraten stürzen in der politischen Stimmung bis auf 22% ab und liegen seither deutlich unter der 30%-Marke. Im September tritt der durch das „hessische Experiment“ politisch schwer angeschlagene Beck als Parteivorsitzender zurück und die SPD erhofft sich von der Rückkehr von Franz Müntefering und der Nominierung von Frank-Walter Steinmeier zum Kanzlerkandidaten einen Neuanfang. Von der Krise der SPD konnten in der bundesweiten Stimmung vor allem die kleinen Parteien profitieren, allen voran die Linke, die im Jahr 2008 noch den Einzug in drei weitere westdeutsche Landesparlamente in Hessen, Niedersachsen und Hamburg schafft und seit Anfang 2008 in der „Sonntagsfrage“ teilweise vor der FDP und den Grünen liegt. Das Jahr 2008 ist durch die weltweite Finanzkrise geprägt. In der Mitte des Jahres verteuern sich die Preise für Lebensmittel und vor allem die Preise für Benzin erheblich. In der Leistungskritik können in dieser angespannten Phase weder die Regierung noch die Opposition überzeugen. Die Arbeit der Großen Koalition wird auf der +5/-5-Skala wieder knapp im Minusbereich verortet (Abb. 2), wobei die Union der besser beurteilte Koalitionspartner ist. Je mehr die Angst vor einer Wirtschaftsrezession in Deutschland wächst, desto stärker bringen Pläne eines Konjunkturpaketes zur Stützung der Wirtschaft im Rahmen der Finanzkrise der Regierung wieder bessere Leistungsbilanzen. Vor allem die Union wird durchschnittlich besser benotet, da der Partei der Kanzlerin im Bereich Wirtschaft eher zugetraut wird, die anstehenden Probleme zu lösen. Das von der Bundesregierung beschlossene zweite Konjunkturpaket im Februar 2009 begrüßen 62 Prozent der Befragten. Während der Großen Koalition konnte die Union in der „Sonntagsfrage“ fast ohne Ausnahme einen höheren Prozentanteil erreichen, als bei der Bundestagswahl 2005. Die SPD liegt meistens unter ihrem Zweitstimmenergebnis von 2005 und seit 2008 zum Teil
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
341
deutlich unter 30%. Die politische Stimmung der kleinen Oppositionsparteien, vor allem der Grünen (BTW 2005: 8,1%) und der FDP (BTW 2005: 9,8%), schwankt meistens ein bis zwei Prozentpunkte um ihre jeweiligen Ergebnisse der letzten Wahl. Vor allem die FDP befindet sich seit der Landtagswahl in Hessen im Januar 2009 im Aufwind und kommt eine Woche vor der Bundestagswahl 2009 in der politischen Stimmung auf 14%. Die Linke kann ab 2008 bei der Sonntagsfrage zulegen und liegt zumeist über den 8,7% von 2005. Abbildung 4
Politische Lager in Deutschland seit 09/2005 60
CDU/CSU + FDP
50 40 SPD + GRÜNE
30 20 10
09/09
07/09
05/09
03/09
01/09
11/08
09/08
07/08
05/08
03/08
01/08
11/07
09/07
07/07
05/07
03/07
01/07
11/06
09/06
07/06
05/06
03/06
01/06
09/05
11/05
Linke
0
Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer
Das schwarz-gelbe Lager aus Union und FDP liegt im Politbarometer bei der „Sonntagsfrage“, mit Ausnahme von einem Erhebungszeitpunkt 2006, immer deutlich vor einer traditionellen rot-grünen politischen Alternative (Abb. 4). Für eine rechnerische Mehrheit hätte es dem schwarz-gelben Lager 2006/2007 jedoch nicht immer gereicht. Seit Anfang 2008 hätten Union und FDP durch den sinkenden Zuspruch zur SPD und eine ansteigende FDP in der politischen Stimmung jedoch eine relativ klare Mehrheit im Parlament gehabt. Obwohl der Großen Koalition während der Legislaturperiode, mit Ausnahme von 2006, mehrheitlich attestiert wird, sie mache ihre Sache gut, und lediglich ein Viertel der Befragten davon ausgeht, eine Koalition aus Union und FDP würde die Sache besser machen, wächst in der politischen Stimmung der Zuspruch für Schwarz-Gelb. Bei der direkten Beurteilung von verschiedenen Koalitionsmodellen wird im Politbarometer seit Mitte 2007 zwar keines der möglichen Regierungsbündnisse von mehr als der Hälfte der Befragten befürwortet, eine schwarz-gelbe Koalition findet jedoch seither mehr Zustimmung als Ablehnung (Abb. 5).
342
Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
Abbildung 5
Eine Koalition aus ... fänden gut ... seit 11/2005 60 CDU/CSU/SPD 50 CDU/CSU/FDP
40
30 SPD/GRÜNE
09/09 III
09/09 I
09/09 II
08/09 III
08/09 I
08/09 II
07/09 I
07/09 II
03/09 I
05/09 II
01/09 I
11/08 I
08/08 II
03/08 I
02/08II
02/08 I
07/07 I
06/07 I
03/07 I
04/06 I
09/06 II
11/05 II
11/05 I
20
Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer
Eine Woche vor der Bundestagswahl fanden 38% eine Neuauflage von Schwarz-Rot (37% schlecht, 21% egal) und 39% eine schwarz-gelbe Koalition gut (37% schlecht, 20% egal). Eine mehrheitliche Zustimmung für eine schwarz-rote Wunschkoalition gab es vor allem in den ersten Monaten der Regierung, die bereits Anfang 2006 rapide an Ansehen verlor. Eine rot-grüne Koalition (nur bis Juni 2009 abgefragt) erhielt zwischenzeitlich nur im Herbst 2006 mehr Unterstützung als die Große Koalition. In dieser Phase hatte die Bundesregierung mit schlechten Imagewerten zu kämpfen und konnte sich inhaltlich nicht auf wesentliche Reformkurse einigen. Ansonsten ist dieses Koalitionsmuster unter den drei Genannten das am wenigsten Gewünschte. Trotz wachsender Zustimmung für eine schwarz-gelbe Alternative zur jetzigen Bundesregierung, insbesondere seit Juni 2009, kann man bis kurz vor der Bundestagswahl 2009 nicht von einer entschiedenen Wechselstimmung weg von der Großen Koalition sprechen. Denn die Arbeit der Bundesregierung wird im Zeitverlauf, mit Ausnahme vom Herbst 2006, von den Bürgern mehrheitlich als gut bewertet (Abb. 6).
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
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Abbildung 6
Die Bundesregierung macht ihre Arbeit eher ... Die Regierung aus ... würde es besser machen 80 70
gut
60 50 40 schlecht
30 20
Union/FDP
10 SPD/GRÜNE 08/09
06/09
04/09
02/09
12/08
10/08
08/08
06/08
04/08
02/08
12/07
10/07
08/07
06/07
04/07
02/07
12/06
10/06
08/06
06/06
04/06
02/06
12/05
0
Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer
Und den genannten politischen Alternativen Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün wird lediglich von unter einem Drittel der Befragten zugetraut, die Arbeit als Bundesregierung besser zu machen, wobei auch hier einer hypothetischen rot-grünen Koalition am wenigsten Vertrauen entgegengebracht wird. So schätzen im Januar 2009 unter den Anhängern der Union gerade mal 45% eine Regierung aus CDU/CSU und FDP als besser ein, 46% sehen in dieser Alternative keine nennenswerten Unterschiede. Auch unter den Anhängern der SPD wird nur von einem Drittel der Befragten eine rot-grüne Koalition als wünschenswerte Alternative zur momentanen Regierung angesehen (Jung 2009). Die Arbeit der Kanzlerin wird seit ihrem Amtsantritt durchweg von 70-80% der Befragten als gut bewertet. Im Vergleich hierzu wurde die Arbeit der Regierung Schröder bereits ab dem Zeitraum der Bundestagswahl 2002 bis zum Zeitpunkt der Neuwahl 2005 von durchschnittlich über 60% der Befragten als schlecht eingestuft, auch Schröder selbst erhielt in seiner zweiten Amtsperiode schlechtere Imagewerte, die sich erst durch den Wahlkampf 2005 wieder verbesserten. 3
Die Landtagswahlen während der Großen Koalition
Während der Großen Koalition haben fünfzehn Landtagswahlen stattgefunden. Einen vergleichbaren Trend der politischen Wandlungen und Regierungswechsel auf der Länderebene, die man als Abstrafung der Bundespolitik während der rot-grünen Regierung erlebte, hat es in dem Ausmaß während dieser Legislaturperiode nicht gegeben. In den sieben Jahren der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder haben die Wähler die Landtagswahlen offen-
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Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
sichtlich dazu genutzt, den Sozialdemokraten in den einzelnen Bundesländern ihre Unzufriedenheit mit der SPD in der Bundesregierung und ihren Unmut über die Agenda 2010 spüren zu lassen. Während der zwei Regierungsperioden von Rot-Grün wurden bei Landtagswahlen sieben sozialdemokratische Ministerpräsidenten/innen bzw. regierende Bürgermeister abgewählt und durch die Herausforderer der CDU ersetzt.3 Eindeutig wurde in dieser rot-grünen Ära die Kanzlerpartei für ihre Arbeit auf Bundesebene abgestraft, profitiert hat davon nicht nur die Union durch einen Zuwachs an Ministerpräsidenten und die daraus entstehende Bundesratmehrheit, auch die kleinen Parteien konnten zulegen. Wie Tabelle 1 zeigt, hat die Union seit dem März 2006 bei fast jeder Landtagswahl Verluste zu verzeichnen. Lediglich bei den Wahlen in Hessen und Brandenburg 2009 kann sie mit jeweils 0,4 Prozentpunkten geringfügig zulegen. Die Liberalen hatten in den Landtagswahlen 2006 keinen guten Start, da sie sich sowohl in Rheinland-Pfalz als auch in Sachsen-Anhalt als Koalitionspartner verabschieden mussten. Seit den Wahljahren 2008 und 2009 regiert die FDP definitiv neu in Bayern, Hessen und Sachsen mit. Im Gegensatz zu den Grünen schafft die FDP, mit Ausnahme von Hamburg, überall den Einzug in die Landesparlamente. Auch die SPD muss in fast allen Landtagswahlen Federn lassen, lediglich in Rheinland-Pfalz, Berlin und Brandenburg, wo sie den Ministerpräsidenten bzw. Regierenden Bürgermeister stellt, und in Sachsen-Anhalt kann sie geringfügig zulegen. Der Zuspruch, den sie bei der Wahl in Hessen 2008 erfährt, endet ein Jahr später in einem sozialdemokratischen Desaster. Die Grünen haben in ihrer neuen Rolle als Oppositionspartei Startschwierigkeiten und scheitern im Wahljahr 2006 dreimal an der 5%-Hürde, können aber auch Gewinne einfahren und kommen zumindest im Westen fast immer über ihr Bundestagsergebnis von 8,1%. Zu Regierungsbeteiligungen, und das sind zur Zeit die einzigen, kommt es jedoch nur in den beiden Stadtstaaten Bremen im Jahr 2007 und Hamburg im Jahr 2008, wo die erste schwarz-grüne Koalition ihre Arbeit aufnimmt. Die Linke muss bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin 2009 hohe Verluste einstecken, bleibt aber in der Regierung. In Mecklenburg-Vorpommern kann sie das Ergebnis der Vorwahl halten, doch wird eine rechnerisch mögliche Fortsetzung von Rot-Rot durch eine Große Koalition ersetzt. Im Mai 2007 zieht die Linke – damals noch als Linkspartei.PDS – bei der Bürgerschaftswahl in Bremen zum ersten Mal in ein westdeutsches Landesparlament ein. Seither hat sich die im Juni 2007 neu gegründete Partei Die Linke, formal entstanden aus der Fusion aus Linkspartei.PDS und WASG, als feste Konstante sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene etabliert. Sie schafft auch bei den Landtagswahlen in Hessen, Niedersachen und Hamburg die 5%-Hürde. Die Linke erzielt mit 19% im Saarland ihr bislang bestes Ergebnis in einem westlichen Bundesland und lediglich in Bayern verfehlt sie mit 4,4% der Gesamtstimmen den Einzug in den Landtag.
3 Bei den Landtagswahlen in Hessen 1999, im Saarland 1999, bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg 2001, in Sachsen-Anhalt 2002, in Niedersachsen 2003, in Schleswig-Holstein 2005 und nicht zuletzt in NordrheinWestfalen 2005. Lediglich bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin 2001 gibt es einen gegenläufigen Trend und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) folgt Eberhard Diepken (CDU) ins Amt.
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
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Tabelle 1: Ergebnisse der Landtagswahlen seit der BTW 2005 Parteianteile in %
WBT in %
CDU1)
SPD
GRÜNE FDP Linke2)
Sonstige
26.03.2006 26.03.2006 26.03.2006 17.09.2006 17.09.2006
53,4 58,2 44,4 58,0 59,1
44,2 32,8 36,2 21,3 28,8
25,2 45,6 21,4 30,8 30,2
11,7 4,6 3,6 13,1 3,4
10,7 8,0 6,7 24,1 7,6 13,4 9,6 16,8
8,2 9,0 8,0 13,8 11,2
57,5 57,1 63,5 57,9 61,0 56,2 52,2 67,6 73,5 67,5
25,6 42,5 42,6 43,4 37,2 31,2 40,2 34,5 31,5 19,8
36,7 30,3 34,1 18,6 23,7 18,5 10,4 24,5 25,4 33,0
16,5 8,0 9,6 9,4 13,7 6,2 6,4 5,9 12,4 5,6
6,0 8,2 4,8 8,0 16,2 7,6 10,0 9,2 14,9 7,2
6,8 3,9 2,5 16,2 3,8 9,1 12,4 4,6 9,8 7,2
WBT in %
CDU1)
SPD
GRÜNE FDP Linke2)
-9,2 -3,9 -12,0 -10,1 -11,5
-0,6 -2,5 -1,1 -2,5 -2,6
-8,1 0,9 1,4 1,1 -10,4
4,0 -0,6 1,6 4,0 0,8
2,6 0,2 -6,6 3,7 -2,3 -9,2 4,9 0,4
2,1 2,0 1,0 8,9 6,9
-3,8 -9,9 -5,2 0,8 -3,3 2,4 -7,4 12,1 6,9 11,1
-4,2 -5,8 -4,6 -17,3 0,4 -11,8 -0,9 -13,0 -8,6 0,4
-5,6 -3,1 3,6 -1,0 -13,0 4,0 0,6 -6,3 -13,2 1,1
3,7 0,4 -2,7 1,7 6,2 1,7 1,3 0,3 6,2 2,0
1,8 6,7 0,1 6,6 2,0 6,4 5,4 4,4 6,8 0,3 4,0 1,3 4,1 -3,0 4,0 19,0 8,3 5,2 3,9 -0,8
-2,4 1,8 -4,7 6,8 -0,7 0,8 -2,1 -4,0 2,3 -6,6
13.05.2007 27.01.2008 24.02.2008 28.09.2008 18.01.2009 30.08.2009 30.08.2009 30.08.2009 27.09.2009 27.09.2009
Baden-Württemberg Rheinland-Pfalz Sachsen-Anhalt Berlin MecklenburgVorpommern Bremen Niedersachsen Hamburg Bayern Hessen Thüringen Sachsen Saarland Schleswig-Holstein Brandenburg
Differenzen zur Vorwahl
26.03.2006 26.03.2006 26.03.2006 17.09.2006 17.09.2006 13.05.2007 27.01.2008 24.02.2008 28.09.2008 18.01.2009 30.08.2009 30.08.2009 30.08.2009 27.09.2009 27.09.2009
Baden-Württemberg Rheinland-Pfalz Sachsen-Anhalt Berlin MecklenburgVorpommern Bremen Niedersachsen Hamburg Bayern Hessen Thüringen Sachsen Saarland Schleswig-Holstein Brandenburg
8,4 7,1 6,4 4,4 5,4 27,4 20,6 21,3 6,0 27,2
Sonstige
1) Bayern: CSU; 2) vor dem 17.07.2005 PDS; bis 15.06.2007 Linkspartei.PDS; am 16.06.2007 Zusammenschluss mit der WASG und Umbenennung in Die Linke.
346
Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
Zusammenfassend können wir festhalten, dass sich in der Zeit der Großen Koalition fast alle amtierenden Ministerpräsidenten im Amt behaupten können.4 Es gab keine Welle des politischen Wechsels wie während der rot-grünen Regierung. Eine direkte Wirkung der Großen Koalition auf das Abschneiden der Parteien bei den Landtagswahlen, eine Art Stimmungstest oder Zwischenzeugnis, ist in dem bekannten Ausmaß der Vorgängerregierung ausgeblieben. Dies ist insofern nicht verwunderlich, da die Wählerinnen und Wähler mehrheitlich bei ihrer Wahlentscheidung die Wichtigkeit der Landes- und weniger die der Bundespolitik hervorheben. Die Wahlentscheidungen auf beiden Ebenen – Land vs. Bund – scheinen inhaltlich eher entkoppelt zu sein. Die beiden Koalitionäre im Bund hatten aber auch keinen Regierungsbonus. Sie konnten auf Länderebene kaum Stimmenzuwächse verzeichnen, wurden aber auch nicht wegen ihrer Bundespolitik vehement abgestraft. Aufgrund der Zusammenarbeit auf Bundesebene konnten Union und SPD kaum polarisierende Wahlkämpfe führen und gleichzeitig mussten die eigenen Reihen von der Richtigkeit der getroffenen Kompromisse überzeugt werden. Mobilisieren konnten sie ihre Wählerschaft jedenfalls nicht, was auch die sinkende Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen nahelegt. Die teilweise großen Verluste der beiden Volksparteien bei den Landtagswahlen waren „hausgemacht“, d.h. waren zum einen die Wahrnehmung landespolitischer Probleme, allen voran die Bildungspolitik und die damit verbundene Bilanzierung der Parteienarbeit und zum anderen der Einfluss nicht überzeugender Kandidaten. Natürlich mag es auch daran liegen, dass während einer Großen Koalition kein politisches Lager „bestraft“ werden kann. Grundsätzliche politische Kontraste, wie bei einer rot-grünen Regierung und einer schwarz-gelben Opposition, stehen bei einer Großen Koalition nicht zur Debatte. Zu Anfang stand die amtierende Regierung im Bund eher für ein gemeinsames Anpacken der anstehenden Probleme, und diese Arbeit wurde zwar nicht als glorreich, aber dennoch als alternativlos betrachtet. Die kleinen Parteien konnten wenn, dann von den Defiziten der großen Parteien auf Landesebene profitieren. Eine Profilierung durch die Oppositionsrolle im Bund ist weniger erkennbar. 4
Die Beurteilung der Parteien und ihre Wähler
Bisher konnten wir sehen, dass während der Legislaturperiode der Zuspruch, den die beiden Koalitionäre von den Wahlberechtigten erfahren haben, ziemlich unterschiedlich ausfiel. Während die Union in der Sonntagsfrage meistens über ihrem Wahlergebnis von 2005 lag, kam die SPD auf schlechtere Werte in der politischen Stimmung, d.h. ein Anteil der Wahlberechtigten hat sich der Union zu- und von der SPD eher abgewandt. Interessant ist dabei, bei welchen sozialstrukturellen Gruppen ein nachlassender Rückhalt festzustellen ist und wie sich die Veränderungen auf die anderen Parteien ausgewirkt haben (4.1). Auch wollen wir untersuchen, ob eine Verschiebung innerhalb oder außerhalb der traditionellen politischen Lager stattgefunden hat (4.2).
4 Im Saarland ist die Regierungsbildung noch offen. In Thüringen stellt die CDU in einer großen Koalition vermutlich weiterhin den Ministerpräsidenten.
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
347
4.1 Wahlabsicht und soziale Lage Wir haben den Untersuchungszeitraum der Großen Koalition in zwei Zeitabschnitte unterteilt. Die zeitliche Trennung markiert zum einen ungefähr die Hälfte der Legislaturperiode, zum anderen einen Zeitpunkt, in dem sich die politische Stimmung stark verändert. Durch den mit der Hessenwahl 2008 einsetzenden Stimmungsabschwung für den Koalitionspartner SPD können sowohl CDU/CSU und FDP wie auch die Linke in der Sonntagsfrage zulegen und seit diesem Zeitpunkt könnte das schwarz-gelbe Lager ohne Ausnahme bei der Sonntagsfrage eine parlamentarische Mehrheit erlangen (vgl. Abb. 4). Zur Analyse wurden die Erhebungsjahre 2006 und 2007 kumuliert sowie die Umfragen des Jahres 2008 bis zum September 2009.5 Die Daten wurden gewichtet mit der Struktur der Wahlberechtigten von 2005 nach Alter und Geschlecht. Zunächst wird untersucht, bei welchen sozialstrukturellen Gruppen die Parteien während der Großen Koalition gut abgeschnitten haben. Ein Vergleich zum Wahlverhalten bei der Bundestagwahl 20056 soll zeigen, ob es eher stabile Zustimmungen innerhalb spezieller sozialer Lagen zu den Parteien gibt, oder ob Parteien in spezifischen Gruppen Verluste hinnehmen müssen. Bei der Bundestagswahl erreichte die Union 35,2%, die SPD 34,3%. Die Grünen lagen bei 8,1%, die FDP bei 9,8% und die Linke bei 8,7%. Altersgruppen Bei der Bundestagswahl 2005 gibt es keine herausragende Altersgruppe, in der die SPD überdurchschnittlich gut abgeschnitten hat, sie wird von allen Altersgruppen recht gleichmäßig gewählt (Kornelius/Roth 2007: 49-50). Auch die kleinen Parteien werden recht homogen von allen Altersgruppen gewählt, mit Ausnahme der Grünen, die in der Gruppe der 60-jährigen und älteren schwächer abschneiden. Die Union kann bei der Bundestagswahl 2005 nach wie vor von den älteren Wählern profitieren und liegt bei den unter 30-Jährigen klar hinter der SPD. Tabelle 2 zeigt, dass auch während der Großen Koalition die Union ihre größte Zustimmung bei den Befragten über 60 hat. Doch gibt es keine Altersgruppe mehr, in der die SPD die meistgenannte Partei ist, selbst bei den unter 30-jährigen, bei denen die SPD verhältnismäßig gut abschneidet, liegt die Union 2008/2009 klar vorne. In der zweiten Hälfte der Großen Koalition verliert die SPD in allen Altersgruppen gleichermaßen, die FDP legt in allen Altersgruppen zu. Kaum Unterschiede gibt es im Zeitverlauf bei den Grünen, die bei den Befragten unter 50 Jahren deutlich besser abschneiden. Wie bei der Bundestagswahl 2005 findet die Linke bei Wahlberechtigten über 40 Jahren mehr Zuspruch als bei jüngeren.
5 Datenbasis getrennt nach den einzelnen Erhebungsjahren: 2006: West 17.101, Ost 4.195, Gesamt 21296; 2007: West 17239, Ost 4219, Gesamt: 21458; 2008: West 17143, Ost 4219, Gesamt 21333; 2009 (bis 18.09.2009): West 17101, Ost 4195, Gesamt 21296. 6 Eine ausführlichere Analyse der Bundestagswahl findet sich in Gabriel/Weßels/Falter 2009.
348
Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
Tabelle 2: Wahlentscheidung/ -absicht in den Altersgruppen 2005 bis 2009 Wahl CDU/CSU SPD FDP Linke Grüne
18-29 Jahre 05 06/07 08/09 29 35 37 35 35 28 11 8 11 8 6 6 10 13 14
30-39 Jahre 05 06/07 08/09 32 39 40 32 28 23 11 10 13 11 5 7 9 13 13
40-49 Jahre 05 06/07 08/09 31 36 36 36 29 24 9 9 13 11 8 9 10 15 16
50-59 Jahre 05 06/07 08/09 34 39 36 35 31 25 10 9 12 11 10 12 8 9 12
60 Jahre und mehr 05 06/07 08/09 43 49 47 34 30 25 9 8 11 7 7 9 5 4 6
Quelle: FGW-Wahltagbefragung BTW 2005, kumulierte Politbarometer 2006/2007, 2008/2009 (bis 18.09.09) Bildung Bei aller Diskussion um abnehmende Erklärungskraft von sozialstrukturellen Variablen bezüglich des Wahlverhaltens stellt die formale Bildung nach wie vor ein deutlich diskriminierendes vertikales Ungleichheitsmerkmal dar. Während die beiden großen Parteien traditionell besser bei den unteren Bildungsgruppen abschneiden, sind bei FDP und Grünen Befragte mit höheren Bildungsabschlüssen deutlich stärker vertreten. Tabelle 3: Wahlentscheidung/-absicht in den Bildungsgruppen 2005 bis 2009 Wahl
Hauptschule 05 06/07
Mittlere Reife
08/09
05 06/07
08/09
Abitur 05 06/07
Hochschule 08/09
05 06/07
08/09
CDU/CSU
38
44
44
35
45
42
31
35
39
33
36
36
SPD
38
35
30
33
30
25
34
32
24
29
25
21 14
FDP
8
6
10
10
7
12
11
10
12
12
12
Linke
7
7
8
10
8
10
9
6
7
10
8
9
Grüne
5
3
5
7
7
9
13
15
16
15
18
19
Quelle: FGW-Wahltagbefragung BTW 2005, kumulierte Politbarometer 2006/2007, 2008/2009 (bis 18.09.09) Das grobe Wählermuster der letzten Bundestagswahl ist auch bei den Befragten im Zeitraum nach 2005 erkennbar. In der zweiten Hälfte der Großen Koalition verliert die SPD aber in allen Bildungsgruppen gleichermaßen. Berufsgruppen Durch die nachlassende Bindung der Wahlberechtigten an bestimmte Parteien und die zunehmende Wechselbereitschaft nimmt der Einfluss der beruflichen Stellung auf das Wahlverhalten stetig ab. Während bei der Bundestagswahl 1998 noch 48% der Arbeiter für die SPD und nur 30% für die Union stimmten, kommen die Genossen 2005 nur auf einen Anteil von 37% bei ihrer ehemaligen Stammklientel, die Union auf 32%. Die Linke kommt unter den Arbeitern auf einen überdurchschnittlichen Anteil von 12%. In der recht hetero-
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
349
genen Gruppe der Angestellten und Beamten waren die beiden großen Parteien 2005 relativ gleich auf (CDU/CSU 37%, SPD 35%).7 Tabelle 4: Wahlentscheidung/-absicht in den Berufsgruppen 2005 bis 2009 Wahl
Arbeiter
Mittlere Angestellte/ Beamte
Leitende Angestellte/ Beamte 06/07
Selbstständige
05
06/07
08/09
06/07
08/09
08/09
05
08/09
08/09
CDU/CSU
32
39
38
40
39
42
42
41
49
45
SPD
37
35
29
32
27
28
24
22
16
13
FDP
8
7
10
7
11
11
13
20
15
21
Linke
12
10
14
7
9
7
9
5
6
7
Grüne
5
4
5
11
13
10
11
10
11
13
Quelle: FGW-Wahltagbefragung BTW 2005, kumulierte Politbarometer 2006/2007, 2008/2009 (bis 18.09.09). Nach der Bundestagswahl 2005 liegt die SPD im Politbarometer selbst in der Gruppe der Arbeiter in beiden Zeitabschnitten hinter der Union, 2008/2009 sogar neun Prozentpunkte. Die SPD verliert ab 2008 in allen Berufsgruppen, die Union, die vor allem unter den leitenden Angestellten und höheren Beamten sowie Selbstständigen besser abschneidet als bei niedrigeren beruflichen Stellungen, bleibt in allen Berufsgruppen während der Legislatur auf etwa gleichem Niveau. Lediglich bei den Selbstständigen verliert die Union, während die Grünen hier leicht zulegen und die FDP in hohem Maße gewinnt (2008/2009: 21%). Die Grünen haben bei den Arbeitern am wenigsten Zuspruch und schneiden bei den Angestellten, Beamten und auch Selbstständigen deutlich besser ab. Vom sinkenden Zuspruch der SPD unter den Arbeitern scheint, wie auch schon bei der Bundestagswahl 2005, die Linke profitieren zu können. Sie erhält in dieser Berufsgruppe ihren höchsten Anteil von 14% im Zeitraum 2008/2009. Gewerkschaftsmitgliedschaft Bei der Bundestagswahl 2005 erreichte die SPD bei den Gewerkschaftsmitgliedern 47%, die Union lediglich 22%. Zwar erhält die SPD mit 42% bzw. 35% in den nachfolgenden Jahren in dieser Gruppe noch den meisten Zuspruch, doch auch hier kommt die Linke 2008/2009 auf 15% (BTW 2005: 12%). In Gewerkschaftshaushalten, in denen der Befragte selbst keine Mitgliedschaft bekundet, liegt die SPD nur im Zeitraum 2006/2007 vor der Union, in der zweiten Regierungshälfte sind Union und SPD gleichauf.
7 Auf Basis der Daten der Wahltagbefragung ist keine Differenzierung zwischen leitenden und mittleren Angestellten/Beamten möglich.
350
Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
Tabelle 5: Wahlentscheidung/-absicht und Gewerkschaftsmitgliedschaft 2005 bis 2009 Wahl
selbst Gewerkschaftsmitglied 05
06/07
08/09
ein Gewerkschaftsmitglied im Haushalt 06/07
08/09
keine Mitgliedschaft 06/07
08/09
CDU/CSU
22
27
27
31
33
45
44
SPD
47
42
35
40
34
27
22
FDP
6
6
8
6
10
9
13
Linke
12
12
15
8
9
6
8
Grüne
8
10
12
12
13
10
11
Quelle: FGW-Wahltagbefragung BTW 2005, kumulierte Politbarometer 2006/2007, 2008/2009 (bis 18.09.09) Zusammenfassend lassen sich im Vergleich zum Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2005 ähnliche Zustimmungen innerhalb spezieller sozialer Lagen zu den Parteien erkennen. Vor allem die Präferenz zugunsten der kleinen Parteien korreliert deutlich mit sozialstrukturellen Merkmalen wie dem Bildungsabschluss. Lediglich die SPD muss auch in spezifischen Gruppen besondere Verluste hinnehmen. Nach der Bundestagswahl 2005, wo sie noch bei den unter 30-jährigen Wählerinnen und Wählern die am meisten gewählte Partei war, verliert sie im Laufe der Großen Koalition deutlich an Rückhalt; auch innerhalb der Gruppe der Arbeiter bei Befragten mit niedrigerem Bildungsniveau und den Gewerkschaftsmitgliedern kann sie nicht an die Ergebnisse von 2005 anschließen. Insbesondere in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode der großen Koalition dringt die Linke weiter in den ehemals sozialdemokratischen Raum ein (Walter 2008).
4.2 Zufriedenheit mit Union und SPD während der Großen Koalition Betrachten wir nun, wie sich die Zufriedenheit mit der Union und der SPD während ihrer Regierungszeit im Vergleich zur Bundestagswahl 2005 entwickelt hat. Die Frage nach der Wahlrückerinnerung ist seit Jahrzehnten zu Recht umstritten, da es bekanntermaßen einen großen Anteil von Wählern gibt, die sich nicht an ein zurückliegendes Wahlverhalten erinnern können. Wir verwenden den sogenannten „Recall“ daher als einen Indikator für die aktuelle Meinung über eine Partei. Der Vergleich von aktueller Wahlabsicht und dem Recall erfasst u.E. bei Kohärenz die dauerhafte, zumindest aber die aktuelle Zufriedenheit mit der politischen Ausrichtung einer Partei. Eine Abweichung impliziert, dass es einen individuellen Distanzierungsprozess weg von der vormals gewählten oder zumindest als wählbar erachteten Partei gegeben hat. Die Gegenüberstellung von Wahlrückerinnerung und aktuell bekundeter Wahlabsicht kann daher als eine Art von individueller Nähe bzw. Distanz zu einer Partei interpretiert werden. Der Anteil der „treuen“ Wähler mag überschätzt sein, da bereits in den 70er Jahren in Panel-Studien beobachtete wurde, dass Befragte, die ihre Wahlabsicht änderten, häufig auch ihre Rückerinnerung entsprechend anpassten (Berger et al. 1977: 224). Wir unterscheiden drei Gruppen. Die erste sind die „Parteitreuen“, d.h. die Befragten gaben an, die Union bzw. die SPD bei der Bundestagswahl 2005 gewählt zu haben, und
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
351
würden die Partei ebenfalls mit ihrer Zweitstimmen wählen, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre. Die zweite Gruppe sind die neu dazu gewonnenen Wähler, die 2005 einer anderen Partei ihre Stimmen gaben oder Nichtwähler waren. Die interessante Gruppe ist schließlich diejenige der unzufriedenen „Wechsler“. Also diejenigen, die angeben, bei der letzten Wahl Union bzw. SPD gewählt zu haben, sich aber bei der nächsten Bundestagswahl eher einer anderen Partei zuwenden, auch wenn ein Teil davon sich noch nicht für eine Alternative entschieden hat. Aus Tabelle 6 wird ersichtlich, dass die Union einen erheblich höheren Anteil an treuen Wählern hat als die SPD. Der Anteil der Unionstreuen von 66% im Jahr 2006 nimmt zwar bis auf 57% im Erhebungsjahr 2009 ab, verglichen mit dem sinkenden Anteil der treuen SPD-Wähler, muss die CDU/CSU mit etwas weniger Ansehensverlust kämpfen. Der Anteil derer, die sich bei einer zukünftigen Wahl für die Union entscheiden würden, dies 2005 aber nicht taten, steigt von 2006 bis 2009 von 9% auf 14% an. Allerdings gab auch ungefähr ein Viertel an, bei der Bundestagswahl 2005 für die Union gestimmt zu haben, dies aber bei der künftigen Wahl nicht wiederholen zu wollen. Dieser ist bis 2009 auf 29% gestiegen. Insgesamt überwiegt im Zeitraum der Großen Koalition der Anteil der treuen Unionsanhänger. Tabelle 6: Zufriedene und unzufriedene Anhängerschaft von Union und SPD CDU Wählerschaft bei BTW05 oder Sonntagsfrage
2006
2007
2008
2009
CDU-CSU Treue
66
63
60
zur CDU-CSU Nur 2005 CDU-CSU gewählt „Wechsler“ N SPD Wählerschaft bei BTW05 oder Sonntagsfrage
9 25
12 25
8.569
SPD Treue zur SPD Nur 2005 SPD gewählt „Wechsler“ N
57
2006/ 2007 65
2008/ 2009 59
13 27
14 29
10 25
13 28
8.452
8.571
8.853
17.021
17.424
2006
2007
2008
2009
57 9 34
52 10 38
45 10 45
45 12 43
2006/ 2007 54 10 36
2008/ 2009 45 11 44
7.316
7.413
7.066
1.647
14.729
13.971
Quelle: Kumulierte Politbarometer der Erhebungsjahre 2006 bis 2009 (18.09.09), Angaben in Prozent Ganz anders stellt sich die Situation der SPD-Wählerschaft dar. Hier sinkt der Anteil der treuen Wähler von einem Anteil von 57% im Jahr 2006 auf 52% 2007 und nochmals auf 45% in den Jahren 2008 und 2009. In dem Maße, wie die Gruppe der Zufriedenen immer kleiner wird, nimmt der Anteil derer zu, die sich von der SPD distanzieren. Im Jahr 2006 sind es noch 34%, 2007 sind es 38%, 2008 und 2009 sind es schließlich jeweils 45% bzw. 43%, die eine bewusste Abkehr von der SPD bezeugen. Für eine große Volkspartei in der Regierungsbeteiligung ist dieses Ausmaß an Distanzierung geradezu verheerend. Vor allem, da sich auch solche Wahlberechtigten für eine andere Partei entscheiden würden, die
352
Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
über eine Parteiidentifikation zugunsten der SPD verfügen. Im Jahr 2009 betrug der Anteil der Abweichler bei Befragten mit mäßiger Parteiidentifikation für die SPD noch 28% (2008: 39%) und selbst 13% (2008: 18%) der Befragten mit einer starken Bindung an die Sozialdemokraten gaben an, die Partei bei der nächsten Wahl nicht mehr wählen zu wollen. Betrachten wir nun in Tabelle 7, wie sich die mit Union bzw. SPD unzufriedenen Wahlberechtigten umorientiert haben. Im Zeitraum der großen Koalition sinkt der Anteil der mit der Union unzufriedenen Wahlberechtigten, die entweder nicht wissen, wen sie alternativ wählen sollen, oder gar nicht zur Wahl gehen würden von 58% auf 44%, bei den unzufriedenen SPD-Wählern von 2005 von 52% auf 41%. Tabelle 7: Wahlabsicht der Parteiwechsler, die bei der BTW 2005 CDU/CSU oder SPD gewählt haben Wahlabsicht
CDU/ CSU
SPD
FDP
Linke
Grüne
andere
N
andere Partei wählen
weiß nicht
würde nicht wählen
N
-
28%
46%
7%
9%
11%
1.814
42%
34%
24%
4.326
-
20%
49%
13%
7%
11%
1.068
46%
35%
19%
2.344
-
15%
58%
7%
9%
10%
1.407
56%
31%
13%
2.524
CDU/ CSU
SPD
FDP
Linke
Grüne
andere
N
andere Partei wählen
weiß nicht
würde nicht wählen
N
28%
-
12%
21%
30%
8%
2.575
48%
31%
21%
5.358
26%
-
11%
29%
27%
7%
1.654
52%
32%
16%
3.163
24%
-
18%
21%
29%
8%
1.754
59%
29%
12%
2.981
früher CDU/CSU 2006/2007 2008 2009 Wahlabsicht früher SPD 2006/2007 2008 2009
Quelle: Kumulierte Politbarometer der Erhebungsjahre 2006 bis 2009 (18.09.09) Dies deutet vor allem darauf hin, dass den Befragten trotz hoher Unzufriedenheit mit den beiden Volksparteien die überzeugenden politischen Alternativen durch die kleinen Parteien nicht geboten werden und auch das Interesse an der politischen Partizipation relativ gering ist. Von denjenigen mit der Union unzufriedenen Befragten, die sich für eine Partei entscheiden können, wenden sich im Jahr der Bundestagswahl 2009 58% der FDP zu, nur 15% entscheiden sich für die SPD. Der Rest verteilt sich in geringen Anteilen auf die restlichen Parteien. Der Hauptteil der mit der Union unzufriedenen Befragten, die sich bereits für eine alternative Wahl entschieden haben, verbleibt also im schwarz-gelben Lager. Diejenigen, die sich bewusst von der SPD abwenden und eine neue Wahlentscheidung getroffen haben, verteilen sich 2009 gleichmäßiger auf die anderen Parteien. 29% würden sich für die Grünen entscheiden, 21% die Linke wählen, aber auch 24% die Union und 18%
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers
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die FDP. Von der Unzufriedenheit mit der SPD profitieren somit alle anderen Parteien, auch wenn die FDP die am wenigsten präferierte Alternative ist. In einem letzten Schritt wollen wir anhand eines logistischen Regressionsmodells sehen, welche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen der unzufriedenen SPD- und Unionswähler von 2005 bezogen auf die Beurteilung der Parteien und den genannten Parteien, die künftig an einer Regierung beteiligt sein sollen, festzustellen sind. Diese Beurteilungsunterschiede können als Indikatoren angesehen werden, die auf eine zukünftige Lagerorientierung schließen lassen. Tabelle 8 berichtet die „odds ratios“. Aus den Modellparametern können Wahrscheinlichkeiten für die Abweichung von Union bzw. SPD berechnet werden. Diese werden bei der inhaltlichen Interpretation zum Teil berichtet, da sie anschaulicher zu interpretieren sind. Unter den signifikanten Einflüssen aus Tabelle 8 zeigt sich, dass die Rolle der FDP in der Opposition von Unionsabweichlern positiver beurteilt wird als von unzufriedenen Wählern der SPD, die Grünen dagegen von SPD-Abweichlern besser beurteilt werden. Diese Effekte zeigen sich in beiden Hälften der Legislaturperiode. 2008/2009 beträgt die Wahrscheinlichkeit der unzufriedenen Unionswähler, mit der FDP-Opposition sehr zufrieden zu sein (Skalenwerte >= +3), 62% (41% bei allen unzufriedenen Wählern von SPD und Union). Die Wahrscheinlichkeit der unzufriedenen SPD-Wähler, mit der Grünen-Opposition sehr zufrieden zu sein, liegt bei 71% (58% bei allen). Sowohl die CDU/CSU- als auch die SPD-Abweichler wünschen sich in beiden Hälften der Legislaturperiode trotz allem, dass die Partei, der sie zum Zeitpunkt der Befragung den Rücken kehren wollen, an einer künftigen Regierungskoalition beteiligt ist. Die CDU/CSU wird 2008/2009 von ihren ehemaligen Unterstützern noch mit einer Wahrscheinlichkeit von 58% (42% bei allen) als künftige Regierungspartei gewünscht, bei der SPD wünschen sich dies immerhin 78% ihrer Wähler aus dem Jahr 2005 (58% von allen). Die punktuelle Unzufriedenheit mit der jeweiligen Partei bedeutet also nicht, dass man sich komplett von ihr abwendet, eine künftige Regierungsbeteiligung ist nach wie vor von Unzufriedenen beider Seiten erwünscht. Zu beiden Zeitpunkten wird bei den Unionsabweichlern mit hoher Wahrscheinlichkeit die FDP als alternative Partei genannt. Die Wahrscheinlichkeit sich von der Union abzuwenden liegt bei den FDP-Wählern unter den Abweichlern sowohl 2006/2007 als auch 2008/2009 bei etwa 74% gegenüber knapp 40% bei allen. Die Wahrscheinlichkeit sich von der SPD abzuwenden liegt bei den Wählern der Grünen bei 83% (2006/2007, 59% bei allen) und der Linken bei jeweils 80% (58% bzw. 60% bei allen). Der Effekt für die Grünen und die Linke ist 2008/2009 nicht mehr signifikant.
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Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
Tabelle 8: Einstellungen der Unions- und SPD-Abweichler, die sich für eine andere Partei entschieden haben (ohne Nichtwähler und Unentschlossene) (logistische Regression)8 2006/2007 Exp(B) Zufriedenheit mit Union in Regierung Zufriedenheit mit SPD in Regierung Zufriedenheit mit FDP in Opposition Zufriedenheit mit Linke in Opposition Zufriedenheit mit Grünen in Opposition Wunsch SPD in Koalition Wunsch Union in Koalition Wunsch Grüne in Koalition Wunsch FDP in Koalition Einstufung Steinmeier Einstufung Merkel FDP vs. Andere Partei Grüne vs. Andere Partei Linke vs. Andere Partei Konstante
2008/2009 B/SE
Exp(B)
B/SE
1,02 1,03-1
-0,72 -1,07
1,06 1,06-1
2,64 -2,58
1,15 1,07-1 1,11-1 1,82-1 1,64 1,25 1,03 1,02-1 1,03 2,78 2,22-1 1,67-1 1,92-1
5,87
1,10
4,79
-3,07 -4,54 -5,55 4,26 1,75 0,22 -0,67 1,21 7,68 -5,06 -2,98 -3,92
1,01 1,08-1 1,75-1 2,03 1,13-1 1,19 1,07-1 1,06 3,84 1,10-1 1,10 3,03-1
0,47 -4,05 -6,37 7,61 -1,19 1,80 -3,59 2,81 12,61 -0,74 0,70 -8,26
-1
Modellergebnisse
Pseudo R2=21%,
Pseudo R2=25%,
Nagelkerke 36%
Nagelkerke 40%
Anteil richtig klassifizierter Fälle
72% (Basismodell: 59%)
76% (Basismodell: 68%)
Fallzahl
n=2.795
n=4.571
Abhängige Variable: 0 = SPD Abweichler, 1 = Union Abweichler, Unabhängige Variablen: Zufriedenheitsskalen und Politikereinstufung: -5/+5% Skala; Koalitionswunsch: 1 = Partei genannt, 0 = Partei nicht genannt; Wahlabsicht FDP: 1 = FDP, 0 = andere Partei; entsprechend für Grüne und Linke. Signifikante Effekte sind hervorgehoben. Die Tabelle zeigt die „odds ratios“ (Exp(B)) und die zugehörigen z-Werte (B/SE). Zusammenfassend gibt es unter den Befragten in der Legislaturperiode und auch vor der Bundestagswahl 2009 ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit der SPD. Das Wahlergebnis von 2009, bei dem die Sozialdemokraten ein historisches Tief von 23% erreichten, zeigt, dass sich diese Distanz der ehemaligen Anhänger zu den Sozialdemokraten nicht wieder hat umkehren lassen. Die FDP kann von allen Parteien am ehesten von den unzufriedenen Unionswählern profitieren, die damit dem schwarz-gelben Lager treu bleiben, während sich die unzufriedenen SPD-Wähler eher diffus und häufig links von der SPD verteilen.
8 Der Wunsch nach einer Koalition mit der Linken wurde aufgrund zu geringer Fallzahlen aus dem Modell genommen.
Die Große Koalition aus der Sicht des Wählers 5
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Zusammenfassung
Allgemein betrachtet überwog in dieser Großen Koalition trotz häufig formulierten Abgrenzungsversuchen der Wille zum Kompromiss im politischen Alltag. Grundsätzliche Unterschiede politischer Richtungen, wie z.B. in der Mindestlohndebatte, wurden wiederholt auf eine programmatische Schnittmenge reduziert. Die Union überstand die Große Koalition weitgehend unbeschadet, die Sozialdemokraten hingegen konnten aus der Regierungsbeteiligung nicht profitieren. Das Stimmungstief und das mangelnde Vertrauen in ihre Arbeit, brachte die SPD als Hypothek der rot-grünen Regierung mit in die Große Koalition und konnte es auch dort nicht wieder loswerden. Die SPD geriert sich durch innerparteiliche Kontroversen, die zu wechselndem Parteivorsitz führen, und einen ungeklärten Umgang mit der Linken als eine nicht zur Ruhe kommende Partei. Der Abwärtstrend der SPD wurde 1998 eingeläutet und scheint bis zu diesem Zeitpunkt immer noch steigerungsfähig. In einigen Ländern ist die SPD auf der Grundlage ihrer Stimmenanteile schon bald nicht mehr als „große Volkspartei“ zu betrachten (Micus/Walter 2008). Die Union bleibt in der politischen Stimmung bis zum September 2009 über ihrem Stimmenanteil der Bundestagswahl 2005. Bei einigen Landtagswahlen verliert sie deutlich Stimmen, bleibt aber an bestehenden Landesregierungen beteiligt. Die politische Stimmung auf der Bundesebene wird davon nicht beeinträchtigt. Der Kanzlerin wird durchweg von einer deutlichen Mehrheit gute Arbeit bescheinigt. Die unzufriedenen Unionswähler verbleiben im schwarz-gelben Lager und wenden sich am ehesten der FDP zu, wie man es auch bei der Landtagswahl in Hessen 2009 beobachten konnte. Die mit der SPD unzufriedenen Befragten verbleiben zumeist links von der SPD, das traditionelle rot-grüne Lager erscheint jedoch unter machtpolitischen Gesichtspunkten zu Beginn des Superwahljahres 2009 chancenlos und unter den Befragten wenig favorisiert. Zwar nahm der Wunsch nach einer schwarz-gelben Koalition seit 2007 deutlich zu, gleichzeitig wird dieser Wunschkonstellation jedoch nicht mehrheitlich zugetraut, die Regierungsarbeit besser zu machen. Eine eindeutige Wechselstimmung weg von der Großen Koalition war nicht auszumachen und so kam es, wie von der Forschungsgruppe wenige Tage vor der Wahl prognostiziert, am 27. September 2009 zu einer „knappe(n), aber sichere(n) Mehrheit für Schwarz-Gelb“9 und damit zum Ende der Großen Koalition. Literatur Berger, Manfred/Gibowski, Wolfgang G./Roth, Dieter/Schulte, Wolfgang, 1977: Bundestagswahl 1976: Politik und Sozialstruktur, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 8, 197-231. Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard/Falter, Jürgen W. (Hrsg,), 2009: Wahlen und Wähler: Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005. Wiesbaden. Jung, Matthias, 2009: Koalitionswunsch und Lagermentalität, in: Machnig, Matthias/Raschke, Joachim (Hrsg.), Wohin steuert Deutschland? Bundestagswahl 2009 – ein Blick hinter die Kulissen. Hamburg, im Erscheinen. Jung, Matthias/Wolf, Andrea, 2005: Der Wählerwille erzwingt die große Koalition, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51-52/2005, 3-12.
9
Tagesspiegel vom 25.09.2009
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Stefan Hunsicker und Yvonne Schroth
Kornelius, Bernhard/Roth, Dieter, 2007: Bundestagswahl 2005: Rot-Grün abgewählt. Verlierer bilden die Regierung, in: Egle, Christoph/Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.), Ende des rot-grünen Projektes. Wiesbaden, 29-59. Kornelius, Bernhard/Roth, Dieter, 2008: Regierungswechsel = Stimmungswechsel?, in: Tenscher, Jens/Batt, Helde (Hrsg.), 100 Tage Schonfrist. Wiesbaden, 55-72. Micus, Matthias/Walter, Franz, 2008: Entkopplung und Schwund: Parteien seit der Bundestagswahl 2005, in: Tenscher, Jens/Batt, Helde (Hrsg.), 100 Tage Schonfrist. Wiesbaden, 247-282. Niedermayer, Oskar, 2008: Das fluide Fünfparteiensystem nach der Bundestagswahl 2005, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005. Wiesbaden, 9-35. Walter, Franz, 2008: Baustelle Deutschland. Frankfurt am Main.
Sebastian Scharch
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
2005 01.07.
Vorgeschichte. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) stellt im Bundestag die Vertrauensfrage und bittet Bundespräsident Horst Köhler (CDU) um die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages sowie die Einleitung von Neuwahlen. Vorausgegangen war die Niederlage der SPD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und damit der Verlust der letzten parteipolitisch regierungskonformen Landesregierung im Bundesrat.
21.07.
Vorgeschichte. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) entscheidet über die Auflösung des Deutschen Bundestages und legt den 18.09.2005 als Wahltermin für den 16. Deutschen Bundestag fest.
18.09.
Bundestagswahl. Wahl zum 16. Deutschen Bundestag. Wahlbeteiligung: 77,7% (-1,4%). CDU/CSU 35,2% (-3,3%); SPD 34,2% (-4,3%); FDP 9,8% (+2,4%); Linkspartei.PDS 8,7% (+4,7%); Bündnis 90/Die Grünen 8,1% (0,5%). SPD und Bündnis 90/Die Grünen verlieren nach 7 Jahren die Mehrheit im Bundestag. CDU/CSU und SPD erleiden Verluste zu Gunsten von FDP und Linkspartei.PDS. Angela Merkel, Fraktionsvorsitzende und Kanzlerkandidatin der CDU/CSU und der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erheben Anspruch auf die Kanzlerschaft. Eine Regierungsmehrheit ist für CDU/CSU und FDP nicht erreichbar, Gespräche mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen werden aufgenommen. Bündnis 90/Die Grünen lehnen eine Kooperation mit CDU/CSU und FDP ab, die FDP spricht sich gegen SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus. Einigkeit besteht über die Nichtaufnahme von Gesprächen mit Linkspartei.PDS. Diese lehnt eine Unterstützung der SPD ab.
20.09.
Regierungsbildung. MdB Peter Gauweiler (CSU) bringt eine Große Koalition mit wechselnder Kanzlerschaft zwischen Angela Merkel (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) ins Gespräch. Der regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), erörtert die Möglichkeit einer Großen Koalition ohne Gerhard Schröder als Kanzler. Beide Positionen treffen in den jeweiligen Parteien auf Ablehnung.
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9_19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
358
Sebastian Scharch Personalien. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering (SPD) sowie die Partei- und Fraktionsvorsitzende Angela Merkel (CDU) werden beide als Fraktionsvorsitzende bestätigt.
22.09.
Regierungsbildung. Beginn von Sondierungsgesprächen zwischen CDU/CSU und SPD. Beide Parteien beanspruchen weiterhin die Kanzlerschaft.
23.09.
Regierungsbildung. Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU beenden ergebnislos ihre Koalitionsgespräche. Die Bildung einer Minderheitsregierung wird abgelehnt, die Große Koalition bleibt als einzige Option bestehen.
28.09.
Regierungsbildung. Zweite Runde der Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU und SPD. Beide Parteien stimmen für eine Große Koalition. Die Frage der Kanzlerschaft bleibt offen. Sicherheitspolitik. Der Bundestag stimmt in einer Sondersitzung in alter Zusammensetzung dem Antrag der Regierung zur Verlängerung des ISAFEinsatzes in Afghanistan zu (BT-Drs. 15/5996).
02.10.
Bundestagsnachwahl. Nachwahl im Wahlkreis 160 (Dresden I) aufgrund des Todes eines Kandidaten der NPD kurz vor dem Wahltag am 18.09.2005. Das amtliche Endergebnis ändert sich nicht. Die CDU gewinnt ein weiteres Bundestagsmandat.
03.10.
Regierungsbildung. Der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) räumt erstmals einen möglichen Verzicht auf die Kanzlerschaft ein.
10.10.
Regierungsbildung. SPD und CDU/CSU einigen sich auf die Kanzlerschaft von Angela Merkel (CDU). Auf die SPD entfallen die Ministerien Arbeit und Soziales, Auswärtiges, Entwicklung, Finanzen, Gesundheit, Justiz, Umwelt, Verkehr. Auf die CDU/CSU der Kanzleramtsminister, Bildung, Familie, Inneres, Landwirtschaft, Verteidigung und Wirtschaft.
11.10.
Personalien. Der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärt, der künftigen Regierung in keiner Position anzugehören.
13.10.
Personalien. Der Parteichef und Fraktionsvorsitzender der SPD Franz Müntefering stellt mit Zustimmung des SPD-Präsidiums die SPD-Minister vor: Franz Müntefering (Arbeit und Soziales, zudem Vizekanzler), Frank-Walter Steinmeier (Auswärtiges), Heidemarie Wieczorek-Zeul (Entwicklung), Peer Steinbrück (Finanzen), Ulla Schmidt (Gesundheit), Brigitte Zypries (Justiz), Siegmar Gabriel (Umwelt), Wolfgang Tiefensee (Verkehr und Aufbau Ost).
17.10.
Personalien. Nach Beschluss der CDU/CSU-Fraktion erhält die CSU zwei Ministerien: Edmund Stoiber (Wirtschaft) und Horst-Seehofer (Landwirt-
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
359
schaft und Verbraucherschutz) und die CDU fünf: Thomas de Maizière (Kanzleramtsminister), Annette Schavan (Bildung), Ursula von der Leyen (Familie), Wolfgang Schäuble (Inneres), Franz Josef Jung (Verteidigung). 18.10.
Personalien. Konstituierende Sitzung des 16. Deutschen Bundestages und Ende der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung. Bundestagspräsident wird Norbert Lammert (CDU). Stellvertreter: Gerda Hasselfeldt (CSU), Hermann Otto Solms (FDP), Wolfgang Thierse und Susanne Kastner (beide SPD), Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen). Der Kandidat der Linkspartei.PDS Lothar Bisky fällt bei der Wahl drei Mal durch.
23.10.
Regierungsbildung. Die inhaltlichen Verhandlungen beginnen.
24.10.
Finanzen/Wirtschaft. In Koalitionsverhandlungen werden Einsparungen zur Sanierung des Haushaltes und Einhaltung des EU-Stabilitätspaktes in Höhe von 35 Milliarden Euro für 2007 festgelegt.
31.10.
Personalien. Franz Müntefering (SPD) tritt vom Vorsitz der SPD zurück und nimmt von seinem Regierungsamt Abstand. Auslöser ist die Ablehnung seines Wunschkandidaten Kajo Wasserhövel bei der Wahl des Generalsekretärs. Es setzt sich statt dessen Präsidiumsmitglied Andrea Nahles durch. Personalien. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) nimmt auf Grund des Rücktritts von Franz Müntefering von seinen Wechsel ins Amt des Bundeswirtschaftsministers Abstand. Als neuer Wirtschaftsminister wird CSU-Landesgruppenchef Michael Glos vorgeschlagen.
01.11.
Personalien. Franz Müntefering (SPD) bleibt designierter Vizekanzler und Minister für Arbeit und Soziales.
02.11.
Personalien. Der Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzeck (SPD), wird vom SPD-Vorstand zum neuen Parteivorsitzenden nominiert. Neuer Generalsekretär soll MdB Hubertus Heil (SPD) werden.
08.11.
Personalien. Im Bundestag wird Lothar Bisky, Kandidat der Linkspartei.PDS, als Bundestagsvizepräsident erneut in der Wahl abgelehnt. Die Fraktion lässt den Posten bis auf weiteres unbesetzt.
11.11.
Regierungsbildung. Die Koalitionsverhandlungen enden mit einer Einigung auf den Koalitionsvertrag, der am 12.11. vorgestellt wird.
12.11.
Finanzen/Wirtschaft. Die designierte Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigt an, dass der Bundeshaushalt 2006 noch nicht verfassungskonform sein wird, da die Schulden weiterhin die Investitionen übersteigen.
360
Sebastian Scharch
14.11.
Regierungsbildung. CDU, CSU und SPD stimmen dem Koalitionsvertrag auf Parteitagen zu.
15.11.
Personalien. Wahl des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) zum Parteivorsitzenden auf dem Parteitag der SPD in Karlsruhe.
18.11.
Regierungsbildung. Unterzeichnung des Koalitionsvertrages durch die jeweiligen Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU), Edmund Stoiber (CSU) und Matthias Platzeck (SPD).
21.11.
Personalien. Wahl der Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU (Volker Kauder) und der SPD (Peter Struck) im Bundestag.
22.11.
Personalien. Wahl Angela Merkels zur deutschen Bundeskanzlerin mit 397 zu 202 Stimmen bei 12 Enthaltungen. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) ernennt Angela Merkel zur Kanzlerin sowie die von ihr vorgeschlagenen Kandidaten zu Bundesministern.
30.11.
Regierungsbildung. Regierungserklärung Angela Merkels im Deutschen Bundestag. Angekündigt wird die Fortführung der Reformpolitik der letzten Regierung, Programmpunkte des Koalitionsvertrages sowie eine Reform des deutschen Föderalismus.
01.12.
Finanzen/Wirtschaft. Als eines der ersten Gesetzesvorhaben bringt die Große Koalition die Abschaffung der Eigenheimzulage zum 01.01.2006 im Bundestag ein (BT-Drs. 16/108).
06.12.
Sicherheitspolitik. Außenminister und früherer Chef des Kanzleramts FrankWalter Steinmeier (SPD) soll vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKG) des Bundestags Bericht über den Fall Khaled el-Masri erstatten (Entführung eines deutschen Staatsbürgers durch den US-Geheimdienst CIA).
14.12.
Sicherheitspolitik. Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) teilt mit, dass Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) den deutsch-syrischen Islamisten Mohammed Haidar Zammar in Syrien verhört haben und im Fall Murat Kurnaz aktiv gewesen sind.
15.12.
Innen-/Rechtspolitik. Bei einem Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder stimmen diese der gemeinsamen Einbringung einer Gesetzesinitiative zur Föderalismusreform durch Bundesrat und Bundestag zu. Sicherheitspolitik. Der Außenminister und damalige Kanzleramtschef FrankWalter Steinmeier (SPD) macht vor dem Außenausschusses des Deutschen
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
361
Bundestags Aussagen zum Verhalten der rot-grünen Bundesregierung im Entführungsfall Khaled el-Masri. Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag beschließt die Abschaffung der Eigenheimzulage (BT-Drs. 16/108) sowie weiterer Steuerprivilegien wie der Nutzung von Steuersparfonds. 17.12.
Europa-/Außenpolitik. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) trägt auf dem EU-Gipfel in Brüssel entscheidend zur Gestaltung des Finanzrahmens der EU für die Jahre 2007 bis 2013 bei, der sich auf 862 Milliarden Euro beläuft.
21.12.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundesrat stimmt der Abschaffung der Eigenheimzulage und weiteren Steuergesetzen zu (BRat-Drs. 857/05).
2006 09.01.
Arbeit/Soziales. Die Große Koalition debattiert über die Einführung von so genannten Kombi-Löhnen, die durch einen staatlichen Zuschuss auch Niedriglohnjobs attraktiv machen sollen. Finanzen/Wirtschaft. Die Große Koalition einigt sich auf ein Konjunkturprogramm über 25 Milliarden Euro. Zu den Maßnahmen zählen Investitionen in Verkehrswege, Forschung und Technologie sowie Steuerentlastungen für Unternehmen.
10.01.
Regierungsarbeit. Klausurtagung der Bundesregierung in Genshagen. Zur Debatte steht erneut der Wiedereinstieg in die Atompolitik. Zur Klärung wird ein Energiegipfel eingerichtet. Finanzen/Wirtschaft. In einer Grundsatzrede erklärt Finanzminister Peer Steinbrück (SPD), die Aufgaben des Staates müssen auf das zwingend Notwendige reduziert werden.
31.01.
Familienpolitik. Die Große Koalition einigt sich auf einen Kompromiss bei der Familienförderung. 2/3 der Kosten für die Betreuung von Kindern bis zum 14. Lebensjahr sollen mit Obergrenze steuerlich geltend gemacht werden können.
01.02.
Arbeit/Soziales. Das Kabinett beschließt die stufenweise Anhebung des Renteneintrittsalters ab 2012 bis 2029 auf 67 Jahre.
10.02.
Sicherheitspolitik. Bundeskanzlerin Angela Merkel plant bis zu 500 deutsche Soldaten in den Kongo zu schicken.
362
Sebastian Scharch
12.02.
Innen-/Rechtspolitik. Die Bundesregierung plant die Einführung eines Einbürgerungstests. Themen sollen sein: Sprache, Bildung, Arbeitsmarkt, Recht und die Integration in die Bürgergesellschaft.
15.02.
Sicherheitspolitik. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes gegen das Grundrecht auf Leben und gegen die Menschenwürde verstößt und deshalb verfassungswidrig ist (BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.02.2006). Innen-/Rechtspolitik. Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) plant im Rahmen der Schaffung eines Familiengerichts vereinfachte Scheidungsverfahren.
20.02.
Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung legt dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKG) einen Bericht zu den Themen Einsatz von BNDMitarbeitern im Irak, Entführungsfall Khaled el-Masri, geheime Gefangentransporte der CIA in Europa und zur Befragung von Gefangenen im Ausland durch deutsche Ermittler vor. Sicherheitspolitik. Die Große Koalition einigt sich auf den Entwurf für ein Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz. Es soll für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), den Bundesnachrichtendienst (BND) sowie die Polizei unter anderem leichter möglich sein auf Kontodaten von Terrorverdächtigen zuzugreifen. Das erste Terrorismusbekämpfungsgesetz läuft durch eine zeitliche Bindung zum Januar 2007 aus.
22.02.
Sicherheitspolitik. Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG) diskutiert den Bericht der Bundesregierung. Nach Beratung entlastet das Gremium mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD die Bundesregierung von dem Vorwurf, BND-Mitarbeiter hätten die USA im Irak-Krieg unterstützt. Linkspartei.PDS und FDP fordern die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses.
27.02.
Sicherheitspolitik. Die New York Times berichtet über die Weitergabe irakischer Verteidigungspläne von deutschen Agenten des Bundesnachrichtendienstes (BND) an die USA. Die Bundesregierung und der BND-Präsident dementieren den Bericht. Die Oppositionsparteien fordern die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses.
07.03.
Sicherheitspolitik. Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Linkspartei.PDS einigen sich auf die Beantragung eines Untersuchungsausschusses zur BNDAffäre.
13.03.
Sicherheitspolitik. Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagt, Deutschland sei grundsätzlich zu einer Beteiligung am Kongo-Einsatz bereit.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
363
15.03.
Finanzen/Wirtschaft. Das Kabinett beschließt einen Entwurf des Energiesteuergesetzes, wonach Biokraftstoffe früher als geplant besteuert werden sollen.
21.03.
Sicherheitspolitik. Politiker von CDU und SPD stellen sich gegen einen möglichen Einsatz deutscher Soldaten im Kongo. Eine Entscheidung ist für Mai geplant.
26.03.
Länder. Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Wahlbeteiligung: 44,4% (-12,2%). Ergebnisse: CDU 36,2% (-1,1%); Linkspartei.PDS 24,1% (+3,7%); SPD 21,4% (+1,4%); FDP 6,7% (-6,6%). Bündnis 90/Die Grünen scheitern erneut an der 5%-Hürde. Die bisherige CDU/FDP-Koalition verliert ihre Mehrheit. Die SPD schließt eine Koalition mit der Linkspartei.PDS aus, so dass Koalitionsgespräche zwischen CDU und SPD aufgenommen werden. Länder. Landtagswahl in Baden-Württemberg. Wahlbeteiligung: 53,4% (9,2%). Ergebnisse: CDU 44,2% (-0,6%); SPD 25,2% (-8,1%); Bündnis 90/Die Grünen 11,7% (+4%); FDP 10,7% (+2,6%). Die SPD erzielt ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis in Baden-Württemberg. Die WASG scheitert mit 3,1% an der 5%-Hürde. Der bisherige und künftige Ministerpräsident Günther Oettinger kündigt Gespräche mit allen Parteien zur Koalitionsbildung an. Es kommt zu einer Fortsetzung der Koalition aus CDU und FDP unter Günther Oettinger. Länder. Landtagswahl in Rheinland-Pfalz. Wahlbeteiligung: 58,2% (-3,9%). Ergebnisse: SPD 45,6% (+0,9%); CDU 32,8% (-2,5%); FDP 8,0% (+0,2%); Bündnis 90/Die Grünen 4,6% (-0,6%); Die WASG scheitert mit 2,6% an der 5%-Hürde. Die Alleinregierung der SPD unter Ministerpräsident Kurt Beck wird fortgesetzt. Bundespolitik. Die Landtagswahlen bewirken einen Stimmenzuwachs von 44 auf 47 Stimmen für die Große Koalition im Bundesrat.
30.03.
Gesundheitspolitik. Erstes Spitzentreffen von CDU/CSU und SPD zur anstehenden Gesundheitsreform.
01.04.
Arbeit/Soziales. Nachdem die Debatte zur Lockerung des Kündigungsschutzes auf Kritik stößt, nimmt Vizekanzler und Minister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering (SPD) von einer Fortführung des Konzeptes Abstand.
03.04.
Finanzen/Wirtschaft. Energiegipfel der Bundesregierung mit Vertretern der deutschen Energiewirtschaft. Beratungen über ein Energiekonzept bis 2020. Ziele: Steigerung der Energieeffizienz und Förderung erneuerbarer Energien. Thema ist auch eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken.
364
Sebastian Scharch
06.04.
Innen-/Rechtspolitik. Die Große Koalition stellt einen Gesetzesentwurf zur Bildung eines Normenkontrollrates zur Überprüfung aller Gesetze auf ihre bürokratischen Kostenwirkungen vor.
07.04.
Sicherheitspolitik. Konstituierende Sitzung des BND-Untersuchungsausschusses. Themen: Tätigkeit des BND im Irak, die Entführung des Deutschen Khalid el-Masri durch die CIA und CIA-Gefangenenflüge über Deutschland. Personalien. Petra Pau (Linkspartei.PDS) wird vom Bundestag zur Vizepräsidentin des Bundestages gewählt.
09.04.
Gesundheitspolitik. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) gibt für die Krankenkassen im Jahr 2006 ein Defizit von ca. 1 Milliarde Euro bekannt. Eine Neuordnung des Finanzierungssystems sei notwendig.
10.04.
Personalien. Matthias Platzeck tritt vom Amt des SPD-Vorsitzenden zurück. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) übernimmt kommissarisch den Parteivorsitz.
13.04.
Länder. In Sachsen-Anhalt schließen CDU und SPD ihre Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer Großen Koalition ab. Ministerpräsident wird erneut Wolfgang Böhmer (CDU).
27.04.
Familienpolitik. Einigung der Großen Koalition auf ein einkommensabhängiges Elterngeld: Eine Zahlung erfolgt bis zu 14 Monate, wenn auch der Vater zwei Monate Elternzeit nimmt.
02.05.
Finanzen/Wirtschaft. Die Große Koalition einigt sich intern über die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 45%.
08.05.
Sicherheitspolitik. Im Verteidigungsministerium debattieren Spitzenpolitiker der Koalition über die Neudefinition der Aufgaben der Bundeswehr. Kernpunkt ist der Streit um den Einsatz der Bundeswehr im Inneren.
10.05.
Finanzen/Wirtschaft. Das Kabinett beschließt ein Steueränderungsgesetz zur Streichung von Steuervergünstigungen (BT-Drs. 16/1545).
14.05.
Personalien. Der kommissarische Vorsitzende der SPD und rheinlandpfälzische Ministerpräsident Kurt Beck wird vom Präsidium der SPD als einziger Kandidat für den ordentlichen Parteivorsitz nominiert und auf dem Sonderparteitag gewählt.
19.05.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag beschließt die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum 01.01.2007 auf 19%. Die Mehreinnahmen sollen zur Sanierung der Haushalte und Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge dienen (BT-Drs. 16/752).
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
365
22.05.
Innen-/Rechtspolitik. Beginn der Verhandlungen zur Föderalismusreform II mit dem Ziel der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Erstellung eines vorläufigen Punkte-Kataloges, darunter ein Frühwarnsystemen bei Haushaltskrisen, Verschuldungsgrenzen und mögliche Sanktionen bei Überschuldung.
01.06.
Arbeit/Soziales. Der Bundestag beschließt die Verschärfung der Hartz-IVRegeln (BT-Drs. 16/1410). Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag beschließt ein Gesetz zur Bildung eines nationalen Normenkontrollrates. Dieser soll helfen, die durch Gesetze verursachten Bürokratiekosten zu senken.
02.06.
Finanzen/Wirtschaft. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages beschließt den Bundeshaushalt 2006 mit einer Nettoneuverschuldung von 38,19 Milliarden Euro. Sicherheitspolitik. Der Bundestag beschließt die Entsendung deutscher Soldaten in den Kongo im Rahmen der EU-geführten Operation EUFOR RD CONGO. Deutschland stellt 780 von insgesamt 2000 Soldaten, der Einsatz ist auf sieben Monate angelegt (BT-Drs. 16/1507).
14.06.
Familienpolitik. Die Große Koalition beschließt in der Kabinettssitzung die Einführung des Elterngeldes. Eltern erhalten für die Betreuung eines nach 2006 geborenen Kindes ein Jahr lang 67% ihres letzten Nettoeinkommens, jedoch höchstens 1800 Euro im Monat.
16.06.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundesrat stimmt der Mehrwertsteuererhöhung zu (BRat-Drs. 142/06).
23.06.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag beschließt den Bundeshaushalt 2006 (BT-Drs. 16/750).
26.06.
Finanzen/Wirtschaft. Die Große Koalition einigt sich über den Emissionshandel. Ein nationaler Zuteilungsplan für den Handel mit Emissionszertifikaten sieht die Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen bis 2012 um weitere 15 Millionen Tonnen vor.
27.06.
Personalien. Der frühere Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) kündigt an, sein Bundestagsmandat niederzulegen und sich aus der aktiven Politik zurückzuziehen.
29.06.
Finanzen/Wirtschaft. Die Große Koalition beschließt ein Steueränderungsgesetz. Darunter: Abschaffung der Bergmannsprämie bis 2008, Kindergeld nur noch bis zum 25. Lebensjahr, Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 45%,
366
Sebastian Scharch Senkung des Sparerfreibetrages und Einschränkung der Pendlerpauschale, Besteuerung von Biokraftstoffen (BT-Drs. 16/1859). Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag beschließt das Verbraucherinformationsgesetz (BT-Drs. 16/5404).
30.06.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag beschließt die Föderalismusreform (BT-Drs. 16/813 und 16/814).
03.07.
Gesundheitspolitik. Präsentation der Eckpunkte zur Gesundheitsreform. Kernthemen: Einführung eines durch Steuermittel ergänzten Gesundheitsfonds, Erhalt der privaten Krankenversicherungen sowie eine veränderte Ärztevergütung. Finanzen/Wirtschaft. Bahn-Privatisierung. Verkehrspolitiker der Großen Koalition plädieren für den Verbleib des Schienennetzes im Staatseigentum zur Gewährung des grundgesetzlich geregelten Infrastrukturauftrages des Bundes (BT-Drs. 16/5725). Finanzen/Wirtschaft. Die Koalitionsrunde beschließt eine Unternehmenssteuerreform, bei der die Körperschaftssteuer auf unter 30% gesenkt und eine Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge eingeführt wird. Die Gewerbesteuer soll in ihrer bisherigen Form erhalten bleiben.
04.07.
Gesundheitspolitik. Abgeordnete der Großen Koalition und Politiker der Oppositionsparteien drängen auf vielfältige Änderungen an der Gesundheitsreform. Die Debatten halten in den kommenden Monaten an.
07.07.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundesrat verabschiedet die Föderalismusreform (BRat-Drs. 178/06 und 179/06).
14.07.
Innen-/Rechtspolitik. Erster Integrationsgipfel der Bundesregierung. In Zusammenarbeit mit Vertretern aus Politik, Gewerkschaften, Medien, Migranten-, Arbeitgeber- und Sportverbänden sollen Integrationsprobleme von Zuwanderern thematisiert werden. Ziel ist die Erstellung eines gemeinsamen nationalen Integrationsplanes.
19.07.
Finanzen/Wirtschaft. EU-Finanzkommissar Joaquin Almunia zufolge könne voraussichtlich Anfang 2007 das EU-Defizitverfahren gegen Deutschland beendet werden.
23.07.
Arbeit/Soziales. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler schlägt ein Mindestlohnsystem vor, bei dem Branchen ohne Tariflohn ein Mindestlohn vorgeschrieben wird. Branchen mit Tarifvertrag werden auf diesen Wert als Mindestlohn festgesetzt.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
367
26.07.
Regierungsarbeit. Neben dem Gremium des Koalitionsausschusses soll es in Zukunft ein verkleinertes Gremium zur schnelleren Entscheidungsfindung geben, bestehend aus Kanzlerin Angela Merkel (CDU), dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU), dem SPD-Vorsitzenden Kurt Beck und dem Vizekanzler und Minister für Arbeit/Soziales Franz Müntefering (SPD).
28.07.
Parteipolitik. Ein Netzwerk („Jamaika-Netzwerk“) aus Jungpolitikern der CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen lotet mögliche weitere Koalitionsoptionen aus.
31.07.
Sicherheitspolitik. In Dortmund und Koblenz misslingen Bombenanschläge auf Regionalzüge. Die Bundesanwaltschaft geht von einer inländischen terroristischen Vereinigung aus. Es wird nach zwei Haupttatverdächtigen gefahndet.
04.08.
Innen-/Rechtspolitik. Die Große Koalition plant im Zuwanderungsgesetz Erleichterungen für den Zuzug hoch qualifizierter junger Arbeitnehmer.
14.08.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag beschließt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das darauf zielt, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ (BT-Drs. 16/1780).
16.08.
Sicherheitspolitik. Die Große Koalition einigt sich auf eine Beteiligung an der internationalen Eingreiftruppe der Vereinten Nationen für den Libanon in Form der Bereitstellung von Marinesoldaten und Bundespolizisten.
29.08.
Finanzen/Wirtschaft. Die Bundesagentur für Arbeit erwirtschaftet einen Überschuss von 9,6 Milliarden Euro. Das Geld soll als Reserve für künftige Ausgaben zurückgehalten werden.
01.09.
Innen-/Rechtspolitik. Die Bestimmungen der Föderalismusreform zur Neuordnung der bundesstaatlichen Ordnung treten in Kraft.
06.09.
Gesundheitspolitik. CDU/CSU und SPD einigen sich zur besseren Bearbeitung von Kritikpunkten auf eine Verschiebung des Gesetzes zur Gesundheitsreform um drei Monate auf April 2007.
10.09.
Gesundheitspolitik. Der Fraktionsvorsitzende der SPD Peter Struck hält ein Scheitern der Großen Koalition für möglich, sollte keine Einigung zur Gesundheitsreform erzielt werden.
13.09.
Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung beschließt den Einsatz der Bundeswehr-Marine im Libanon (BT-Drs. 16/2572).
368 17.09.
Sebastian Scharch Länder. Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Wahlbeteiligung: 59,1% (-11,5%). Ergebnisse: SPD 30,2 % (-10,4%); CDU 28,8% (-2,6%); Linkspartei.PDS 16,8% (+0,4%); FDP 9,6% (+4,9%); NPD 7,3% (+6,5%). Die Grünen scheitern mit 3,4% an der 5-%-Hürde. Nach 12 Jahren zieht die FDP wieder in den Landtag ein. Spitzenkandidat der SPD und damit wieder gewählter Ministerpräsident ist Harald Ringstorff. Beginn der Koalitionsgespräche. Länder. Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin. Wahlbeteiligung: 58% (10,1%). Ergebnisse: SPD 30,8% (+1,1%); CDU 21,3% (-2,5%); Linkspartei.PDS 13,4% (-9,2%); Bündnis 90/Die Grünen 13,1% (+4%). Spitzenkandidat der SPD und designierter regierender Bürgermeister ist Klaus Wowereit.
20.09.
Sicherheitspolitik. Der Bundestag beschließt die Beteiligung der Bundeswehr an der Uno-Friedenstruppe UNIFIL für den Libanon. Für die Bewachung der libanesischen Küste werden bis zu 2400 Soldaten bereitgestellt. Das Mandat ist bis August 2007 befristet (BT-Drs. 16/2616).
22.09.
Gesundheitspolitik. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Chef Kurt Beck treffen sich zu einem Krisengespräch zur Gesundheitsreform, nachdem ein Treffen der Expertengruppen beider Parteien ergebnislos blieb. Insbesondere die unionsgeführten Bundesländer äußern anhaltend Kritik. Eckpunkte sollen nachverhandelt werden. Innen-/Rechtspolitik. Der Bundesrat bestätigt das Verbraucherinformationsgesetz (BRat-Drs. 584/06).
23.09.
Parteipolitik. Der stellvertretende FDP-Chef Rainer Brüderle bietet der SPD generell die Bildung einer Koalition mit der FDP an. Die bisherige Koalitionsaussage in Bezug auf die CDU/CSU gelte nicht mehr.
29.09.
Familienpolitik. Der Bundestag beschließt das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz zur Unterstützung bei der Sicherung der Lebensgrundlage von Familien mit kleinen Kindern. Es gilt für Geburten und Adoptionen ab dem 01.01.2007 (BT-Drs. 16/1889).
30.09.
Länder. Die SPD in Berlin nimmt Koalitionsverhandlungen mit der Linkspartei.PDS auf. In Mecklenburg-Vorpommern entsteht eine Große Koalition.
05.10.
Gesundheitspolitik. Union und SPD einigen sich auf Eckpunkte der Gesundheitsreform, die in einem Gesetzesentwurf münden sollen.
09.10.
Finanzen/Wirtschaft. Zweiter Energiegipfel der Bundesregierung mit Vertretern der deutschen Energiewirtschaft. Weiterhin ist es Ziel, Vorarbeiten für ein nationales energiepolitisches Gesamtkonzept zu leisten.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
369
18.10.
Sicherheitspolitik. Im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages berichten Vertreter der Bundeswehr über geheime Aktionen des Kommandos Spezialkräfte (KSK). Zur Debatte stehen Kooperationen des KSK mit ausländischen Geheimdiensten auch im Rahmen der CIA-Affäre.
24.10.
Arbeit/Soziales. SPD und CDU/CSU einigen sich auf Eckpunkte zu einer Rentenreform. Kernpunkt ist das stufenweise Anheben des Renteneintrittalters von 65 auf 67 Jahre zwischen 2012 und 2029.
25.10.
Sicherheitspolitik. Das Bundeskabinett beschließt die Verlängerung des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr.
27.10.
Gesundheitspolitik. Der Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform wird in erster Lesung im Bundestag vorgestellt und intensiv debattiert (BT-Drs. 16/3100).
02.11.
Finanzen/Wirtschaft. Die Bund-Länder-Gruppe unter Führung von Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) und Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) einigt sich auf Eckpunkte eines Gesetzes zur Unternehmenssteuerreform. Die Steuerbelastung für Unternehmen soll sinken.
03.11.
Finanzen/Wirtschaft. Finanzgipfel zwischen Union und SPD. 39,5 Milliarden Euro zusätzlicher Steuereinnahmen sollen zur Minderung der Schulden und zur Senkung der Lohnnebenkosten genutzt werden.
04.11.
Innen-/Rechtspolitik. CDU und SPD einigen sich auf eine Anhebung des Nachzugsalters für verheiratete Frauen auf 18 Jahren, um die Anzahl der Zwangsehen zu mindern.
06.11.
Arbeit/Soziales. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) schlägt die gestaffelte Ausweitung der Zahlung von Arbeitslosengeld I an ältere Arbeitnehmer im Gegenzug zu Kürzungen bei Jüngeren vor.
07.11.
Europa-/Außenpolitik. In der Großen Koalition besteht Uneinigkeit über die Fortführung der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei. Der Vorsitzende der CSU und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber votiert für eine Unterbrechung, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) für deren Fortführung. Anlass ist Vorstellung des Fortschrittsberichtes durch die EU. Personalien. Der Landtag Mecklenburg-Vorpommern bestätigt Harald Ringstorff (SPD) als Ministerpräsidenten. Damit geht ein Regierungswechsel einher, die rot-rote Regierung wird von einer Großen Koalition abgelöst.
08.11.
Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung plant einen Gesetzesentwurf zur Neuordnung der Telefonüberwachung. Gestärkt werden sollen die Rechte von Berufgeheimnisträgern wie Ärzten und Anwälten.
370
Sebastian Scharch Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung plant eine Verringerung der Zahl deutscher Soldaten in Bosnien-Herzegowina von 3000 auf 2400. Der Teiltruppenabzug ist für die erste Jahreshälfte 2007 geplant.
09.11.
Finanzen/Wirtschaft. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages einigt sich auf den Bundeshaushalt 2007 (BT-Drs. 16/2300). Finanzen/Wirtschaft. Union und SPD einigen sich auf eine Teilprivatisierung der Deutschen Bahn bis 2009. Das Schienennetz soll Eigentum des Bundes bleiben, 24,9% der Bahn verkauft werden. Beschäftigungsgarantien bis 2010 sollen die Mitarbeiter schützen (BT-Drs. 16/5725).
10.11.
Finanzen/Wirtschaft. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) stellt einen Gesetzesentwurf der Regierung zur Änderung des Kartellrechts mit Blick auf mehr Wettbewerb im Energiemarkt vor.
14.11.
Innen-/Rechtspolitik. Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Minister für Arbeit und Soziales sowie Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) beschließen, das Bleiberecht für geduldete Ausländer durch ein Bundesgesetz zu regeln.
17.11.
Innen-/Rechtspolitik. Die Innenministerkonferenz beschließt unter dem Vorsitz Günter Becksteins (CSU) für geduldete Ausländer dauerhaften Aufenthalt zu gewähren, sofern bestimmte Bedingungen wie Straffälligkeitsfreiheit und Besitz eines Arbeitsplatzes erfüllt würden.
18.11.
Arbeit/Soziales. Minister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering (SPD) und Vorsitzender der SPD Kurt Beck sprechen sich gegen die Pläne zur Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer nach Vorschlägen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers aus. Gesundheitspolitik. Eine Verabschiedung der Gesundheitsreform ist, so Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), wegen anhaltendem Diskussionsbedarf im Jahr 2006 nicht mehr erreichbar.
23.11.
Innen-/Rechtspolitik. Debatte im Deutschen Bundestag über einen NPDVerbotsantrag. Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag debattiert die Gestaltung des Haushaltstitels für das Ministerium für Arbeit und Soziales und eine vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers vorgeschlagene Ausdehnung der Zahlungen von Arbeitslosengeld I (ALG I) für ältere Arbeitnehmer bei Senkung der Leistungen für Jüngere.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
371
08.12.
Bundespräsidentschaft. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) verweigert die Ausfertigung des Verbraucherinformationsgesetztes aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken.
10.12.
Finanzen/Wirtschaft. Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wolfgang Tiefensee (SPD) lehnt den neuen Vorstoß von Politikern der Koalitionsparteien aus den Ländern zur Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland ab.
15.12.
Gesundheitspolitik. Der Bundesrat berät über die Gesundheitsreform. Zahlreiche Änderungsanträge werden gestellt. Die Große Koalition tritt erneut zu Diskussionen zusammen (BRat-Drs. 755/06). Innen-/Rechtspolitik. Bundestag und Bundesrat beschließen, eine gemeinsame Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Föderalismuskommission II) einzusetzen.
22.12.
Sicherheitspolitik. Der außenpolitische Sprecher der Union im Bundestag, Eckart von Klaeden (CDU), erklärt, der Einsatz von Tornado-Aufklärungsflugzeugen sei durch das bisherige Afghanistan-Mandat gedeckt. Dem widerspricht die Opposition. Eine endgültige Klärung soll im Januar 2007 erfolgen.
2007 01.01.
Finanzen/Wirtschaft. Die Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19% tritt in Kraft (BT-Drs. 16/752). Familienpolitik. Die Neuregelung zum Elterngeld tritt in Kraft (BT-Drs. 16/2454). Finanzen/Wirtschaft. Inkrafttreten einer Neuregelung der Pendlerpauschale, die gemäß dem Werkstorprinzip Wegekosten als nicht absetzbar ansieht, jedoch ab dem 21. Kilometer die Absetzbarkeit einräumt (BT-Drs. 16/1859).
11.01.
Sicherheitspolitik. Inkrafttreten des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes für die Dauer von 5 Jahren bis zu einer Evaluation (BT-Drs. 16/2921).
18.01.
Länder. Edmund Stoiber (CSU) kündigt für den 30.09.2007 seinen Rücktritt aus dem Amt des bayerischen Ministerpräsidenten an. Sicherheitspolitik. Murat Kurnaz sagt vor dem BND-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages aus.
12.01.
Sicherheitspolitik. Im Rahmen des Afghanistaneinsatzes erklärt Peter Struck (SPD) die Absicht der Bundesregierung, die NATO in Südafghanistan grundsätzlich mit sechs Tornado-Aufklärungsflugzeugen unterstützen zu wollen.
372
Sebastian Scharch
26.01.
Sicherheitspolitik. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer äußert auf dem NATO-Rat in Brüssel den Bedarf nach Aufklärungsjets für Afghanistan indirekt auch an Deutschland.
30.01.
Finanzen/Wirtschaft. Die Große Koalition beschließt den Ausstieg aus der Steinkohleförderung bis zum Jahr 2018. Der Bundestag soll 2012 nochmals unter energiewirtschaftlichem Aspekt darüber beraten.
02.02.
Gesundheitspolitik. Die Gesundheitsreform wird nach einjähriger Debatte vom Bundestag beschlossen (BT-DRS 16/4200).
05.02.
Personalien. Friedrich Merz tritt als Fraktionschef der CDU/CSU zurück und begründet diesen Schritt mit der Ablehnung der Politik der Großen Koalition.
13.02.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag lehnt in Bezug auf die eigene Institution und die Parlamentarier eine Untersuchung der Rosenholz-Daten durch die Birthlerbehörde ab.
02.03.
Familienpolitik. Union und SPD richten eine Arbeitsgruppe zum Ausbau der Krippenplätze ein, um so den Koalitionsstreit beizulegen. Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) soll den Vorsitz übernehmen.
09.03.
Arbeit/Soziales. Der Bundestag beschließt, dass ab 2012 das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre ansteigt. Die Umstellung beginnt mit dem Geburtsjahrgang 1947. Die Jahrgänge 1964 und jünger betrifft die Neuregelung vollständig (BT-Drs. 16/3794). Sicherheitspolitik. Der Bundestag beschließt den Einsatz von TornadoAufklärungsflugzeugen in Afghanistan. Abgeordnete der CDU/CSU und der Linkspartei.PDS reichen Klage beim Bundesverfassungsgericht ein (BT-Drs. 16/6460).
12.03.
Umweltpolitik. Erstmals Festschreibung verbindlicher Klimaziele auf dem europäischen Klima-Gipfel durch Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Bis 2020 soll der Ausstoß von Treibhausgasen um mindestens 20% verringert, der Anteil erneuerbarer Energien auf 20% gesteigert werden.
13.03.
Innen-/Rechtspolitik. Eine Spitzenrunde von Union und SPD beschließt, dass die rund 180.000 geduldeten Ausländer, die seit mehr als sechs Jahren in Deutschland leben, ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Voraussetzung ist jedoch, dass sie bis 2009 eine Arbeit finden. Zudem sollen keine höheren Sozialleistungen anfallen.
14.03.
Finanzen/Wirtschaft. Die Bundesregierung beschließt den Gesetzesentwurf zur Unternehmenssteuerreform.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
373
29.03.
Arbeit/Soziales. Die Ministerpräsidenten von Sachsen (Georg Milbradt, CDU), Thüringen (Dieter Althaus, CDU) und Sachsen-Anhalt (Wolfgang Böhmer, CDU) lehnen die Einführung von Mindestlöhnen prinzipiell ab und stützen so die Position der Union.
02.04.
Sicherheitspolitik. Innenpolitiker der SPD und CDU/CSU planen unter der Führung des Innenministers Wolfgang Schäuble (CDU) eine Ausweitung der Sicherheitsgesetze. Dazu gehören besonders die Rasterfahndung, die Nutzung der Daten der LKW-Maut sowie Online-Durchsuchungen zur Gefahrenabwehr.
04.04.
Innen-/Rechtspolitik. Das Bundeskabinett beschließt nach der Ablehnung durch Bundespräsident Horst Köhler (CDU) ein neues Gesetz zur Verbraucherinformation (BT-Drs. 16/5404).
07.04.
Parteipolitik. Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) spricht sich für die Zeit nach der Bundestagswahl 2009 für eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen aus.
12.04.
Sicherheitspolitik. Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) plant eine Änderung des Passgesetzes, wodurch die Polizei Online-Zugriff auf alle Passfotos und Fingerabdrücke haben soll.
04.05.
Sicherheitspolitik. Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) lehnt eine Verlegung deutscher Soldaten in den Süden Afghanistans nach Anfrage aus Kabul ab.
08.05.
Innen-/Rechtspolitik. Die Große Koalition plant, § 129 des Strafgesetzbuches zur Bildung krimineller Vereinigungen auch auf Einzeltäter und Planungen zu terroristischen Akten auszuweiten.
13.05.
Länder. Bürgerschaftswahl in Bremen. Wahlbeteiligung: 57,5% (-3,8%). Ergebnis: SPD 36,8% (-5,5%); CDU 25,7% (-4,1%); Bündnis 90/Die Grünen 16,4% (+3,7%); Linkspartei.PDS 8,4% (+6,7%), FDP 5,96% (+1,8%). Die Linkspartei.PDS zieht erstmals in einem westdeutschen Bundesland ins Landesparlament ein. Am 30.05.2007 bildet sich eine Rot-Grüne Koalition unter Jens Böhrnsen (SPD). Bundespolitik. Die Große Koalition verliert im Bundesrat ihre für Verfassungsänderungen entscheidende Zweidrittelmehrheit.
24.05.
Innen-/Rechtspolitik. Im Bundestag wird gegen die Stimmen der Opposition das neue Passgesetz beschlossen, wonach Fingerabdrücke in die Reisepässe aufgenommen werden sollen (BT-Drs. 16/4138).
374
Sebastian Scharch
25.05.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag beschließt das Gesetz zur Neuregelung der Unternehmenssteuer (BT-Drs. 16/5377).
03.06.
Parteipolitik. Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) lehnt eine Fortsetzung der Großen Koalition in der Zeit nach der Bundestagswahl 2009 ab. Die Gemeinsamkeiten von CDU/CSU und SPD hätten sich erschöpft.
06.06.
Sicherheitspolitik. Beginn des G8-Gipfels in Heiligendamm unter deutscher Präsidentschaft.
16.06.
Parteipolitik. Nach einem zwei Jahre dauernden Fusionsprozess verschmelzen Linkspartei.PDS und WASG zur neuen Partei Die Linke. Parteivorsitzende werden Oskar Lafontaine und Lothar Bisky.
18.06.
Regierungsarbeit. Tagung des Koalitionsausschusses: Beschlossen werden höhere Beiträge zur Pflegeversicherung und Stabilität der Lohnzusatzkosten durch sinkende Beiträge. Die Union verzichtet auf ihre Forderung nach Kapitaldeckung in der Pflege. Die Frage des Mindestlohns bleibt ungeklärt. Für das Entsendegesetz werden keine allgemeinen gesetzliche Vorgaben, aber Lösungen für einzelne Branchen vereinbart. Demnach kann der jeweils niedrigste Tariflohn eines Wirtschaftssektors als Mindestlohn festgeschrieben werden.
24.06.
Bundespräsidentschaft. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) schlägt die Direktwahl des Bundespräsidenten vor. Die Aussage Köhlers trifft in der Großen Koalition auf Ablehnung. Ähnliches hatte der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau bereits im September 2003 vorgeschlagen, die Idee wurde jedoch nicht aufgegriffen.
03.07.
Sicherheitspolitik. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist der von der NATO geführte Einsatz der ISAF-Truppen und dadurch der Einsatz von Tornados der Bundeswehr verfassunggemäß (BVerfG, 2 BvE 2/07 vom 03.07.2007). Finanzen/Wirtschaft. Dritter Energiegipfel der Bundesregierung mit der deutschen Energiewirtschaft.
04.07.
Finanzen/Wirtschaft. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müssen Parlamentarier ihre Nebeneinkünfte offen legen (BVerfG, 2 BvE 1/06 vom 04.07.2007).
05.07.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag verabschiedet das neue Verbraucherinformationsgesetz (BT-Drs. 16/5404).
06.07.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundesrat stimmt dem Gesetz zur Neuregelung der Unternehmenssteuer zu (BRat-Drs. 220/07).
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
375
09.07.
Sicherheitspolitik. Vorschläge Wolfgang Schäubles (CDU) zur inneren Sicherheit, unterstützt von Günther Beckstein (CSU) und Roland Koch (CDU). Hauptinhalte: Eine neue Rechtsgrundlage für gezielte Tötungen von TerrorVerdächtigen, präventive Haft für so genannte „Gefährder“, ein neu zu schaffender Tatbestand der terroristischen Verschwörung und die Rasterfahndung.
12.07.
Innen-/Rechtspolitik. Zweiter Integrationsgipfel der Bundesregierung. Verabschiedung eines nationalen Integrationsplanes mit Selbstverpflichtungen der Teilnehmer.
29.07.
Parteipolitik. Kurt Beck spricht sich gegen eine Fortsetzung der Großen Koalition nach der Bundestagswahl 2009 aus, da sich die Gemeinsamkeiten der Großparteien nach der Lösung dringender staatlicher Probleme aufgebraucht hätten.
14.08.
Arbeit/Soziales. Franz Müntefering (SPD) schlägt in der Mindestlohndebatte vor, eine mögliche Steigerung des Hartz-IV-Regelsatzes an einen einzuführenden Mindestlohn zu knüpfen. Die Anhebung der Regelsätze war erneut vom thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus (CDU) aufgegriffen worden.
22.08.
Sicherheitspolitik. Das Kabinett beschließt eine Verlängerung des LibanonEinsatzes der Bundeswehr im Rahmen der UNIFIL-Mission um weitere 12 Monate. Die Zahl der entsendeten Soldaten wird auf 1400 halbiert.
21.09.
Finanzen/Wirtschaft. Die Diskussionen um Vor- und Nachteile einer Bahnprivatisierung verlaufen quer durch Koalitions- und Oppositionsparteien. Die Teilprivatisierung soll Ende 2008 umgesetzt werden, der Bund die Mehrheit der Anteile behalten. Innen-/Rechtspolitik. Der Bundesrat bestätigt das neue Verbraucherinformationsgesetz (BRat-Drs. 273/07).
29.09.
Länder. Edmund Stoiber tritt als Parteichef der CSU zurück, sein Nachfolger Erwin Huber wird mit 58,2% der Stimmen von den Delegierten des CSUParteitages gewählt. Als Nachfolger für das Amt des Ministerpräsidenten wird Günther Beckstein (CSU) nominiert.
12.10.
Sicherheitspolitik. Der Bundestag beschließt die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes. 3500 deutsche Soldaten sollen sich an der Mission der ISAFTruppen beteiligen (BT-Drs. 16/6460).
26.10.
Parteipolitik. Beginn des SPD-Parteitages in Hamburg. Wiederwahl des Parteivorsitzenden Kurt Beck. Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Andrea Nahles werden zu stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt.
376
Sebastian Scharch
03.11.
Länder. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) plant für die hessischen Landtagswahlen einen Lagerwahlkampf der bürgerlichen Parteien gegen SPD, Grüne und Linke. Norbert Schmitt, Generalsekretär der hessischen SPD, weist dies zurück. Man werde niemals mit der Linkspartei koalieren.
08.11.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag beschließt das SteinkohleFinanzierungsgesetz zum Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau bis 2018 (BTDrs. 16/6384).
09.11.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag beschließt das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Verbindungsdaten aus der Nutzung von Telefon und Internet werden ab Januar 2008 sechs Monate lang gespeichert (BT-Drs. 16/5846).
13.11.
Personalien. Bundesarbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) tritt aus privaten Gründen von seinen Ämtern zurück.
16.11.
Finanzen/Wirtschaft. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages beschließt den Bundeshaushalt 2008 mit Gesamtausgaben von 283,2 Milliarden Euro. Die Neuverschuldung soll um eine Milliarde Euro sinken, die Investitionen steigen.
21.11.
Personalien. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wird neuer Vizekanzler.
27.11.
Personalien. Nachfolger Franz Münteferings (SPD) als Minister für Arbeit und Soziales wird Olaf Scholz (SPD).
30.11.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundesrat stimmt dem Ausstieg aus dem Steinkohle-Bergbau zu (BRat-Drs. 757/07).
02.12.
Parteipolitik. Beginn des Bundesparteitages der CDU in Hannover. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) macht eine Abgrenzung der CDU zur SPD deutlich, indem sie die CDU als einzige Partei der Mitte bezeichnet.
11.12.
Arbeit/Soziales. Das Kabinett beschließt Änderungen der Hartz-IV-Gesetze als Reaktion auf andauernde Kritik: Ältere Arbeitslose können das Arbeitslosengeld I künftig bis zu 24 Monate lang beziehen.
14.12.
Arbeit/Soziales. Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) kündigt Mindestlöhne für alle Bereiche an. Das Entsendegesetz soll für die Branchen geöffnet werden, bei denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer dies wollen. CDU/CSU sprechen sich dagegen aus.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
377
18.12.
Sicherheitspolitik. Im Fall der misslungenen Anschläge auf Regionalzüge in Dortmund und Koblenz vom Juli 2006 wird Dschihad Hamad im Libanon zu 12 Jahren Haft wegen versuchten Massenmordes verurteilt.
20.12.
Innen-/Rechtspolitik. Der ehemalige Innenminister Nordrhein-Westfalens, Burkhard Hirsch (FDP), legt zusammen mit weiteren Politikern der FDP Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zur Vorratsspeicherung ein. Die Beschwerde soll dem Bundesverfassungsgericht zum In-Kraft-Treten des Gesetzes am 01.01.2008 zugehen.
26.12.
Innen/Rechtspolitik. Bundespräsident Horst Köhler unterzeichnet das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung (BT-Drs. 16/5846).
2008 01.01.
Innen/Rechtspolitik. Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung (BT-Drs. 16/5846) und das neue Verbraucherinformationsgesetz (BT-Drs. 16/5404) treten in Kraft. Finanzen/Wirtschaft. In Kraft treten der Regelungen zur Unternehmenssteuerreform.
25.01.
Arbeit/Soziales. Die Ausweitung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für über 50-Jährige wird im Bundestag gegen die Stimmen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen beschlossen (BT-Drs 16/7460).
27.01.
Länder. Landtagswahl in Hessen. Wahlbeteiligung: 64,3% (-0,1%). Ergebnisse: CDU 36,8% (-12%); SPD 36,7% (+7,6%); FDP 9,4% (+1,5%); Bündnis 90/Die Grünen 7,5% (-2,6%); Die Linke 5,1% (+5,1%). Spitzenkandidat der CDU ist der bisherige Ministerpräsident Roland Koch, für die SPD Andrea Ypsilanti. CDU und SPD sind mit gleich vielen Sitzen vertreten. Die Linke kann erstmals in einem westdeutschen Flächenland in den Landtag einziehen.
27.01.
Länder. Landtagswahl in Niedersachsen. Wahlbeteiligung: 57,21% (-9,9%). Ergebnisse: CDU 42,5% (-5,8%); SPD 30,3% (-1,6%); FDP 8,2% (+0,1%); Bündnis 90/Die Grünen 8% (+0,4%); Die Linke 7,1% (+6,6%). Die schwarz-gelbe Koalition unter Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) behält trotz Stimmverlusten die Mehrheit, während die SPD das bisher schlechteste Wahlergebnis in Niedersachsen erzielt. Die Linke erreicht 7,1% und zieht erstmals in den niedersächsischen Landtag ein.
29.01.
Länder. Hessen. Die CDU plant Gespräche mit Bündnis90/Die Grünen, FDP und SPD. Die hessische SPD schließt eine Große Koalition aus.
378
Sebastian Scharch
31.01.
Länder. Hessen. Der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, bekundet die Bereitschaft des hessischen Linken zur Unterstützung von Andrea Ypsilanti (SPD) bei der Wahl zur Ministerpräsidentin.
18.02.
Länder. Innerhalb der Bundes-SPD wird erstmal die Möglichkeit einer von den Linken unterstützen hessischen Ministerpräsidentin Andrea Ypsilanti (SPD) erörtert.
24.02.
Länder. Bürgerschaftswahl in Hamburg. Wahlbeteiligung: 63,5% (-5,2%). Ergebnisse: CDU 42,6% (-4,6%); SPD 34,1% (+3,6); GAL 9,6% (-2,7); Die Linke 6,8% (+6,8); FDP 4,8% (+2,4). Zur Regierung bedarf die CDU eines Koalitionspartners, Verhandlungen strebt der bisherige und zukünftige Bürgermeister Ole von Beust (CDU) mit SPD und GAL (Grün Alternative Liste) an. Die Linke zieht erstmals in die Bürgerschaft ein, die FDP scheitert erneut an der 5%-Hürde.
27.02.
Innen-/Rechtspolitik. Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur OnlineDurchsuchung. Computer von Verdächtigen dürfen nur dann ausgeforscht werden, wenn „überragend wichtige Rechtsgüter” wie Menschenleben oder der Bestand des Staates konkret gefährdet seien. Darüber hinaus ist eine vorherige richterliche Anordnung notwendig (BVerfG, 1 BvR 370/07 vom 27.02.2008).
29.02.
Länder. Hamburg. Die Landesmitgliederversammlung der GAL stimmt Sondierungsgesprächen mit der CDU zur möglichen Bildung einer Koalition zu.
06.03.
Länder. Hessen. MdL Dagmar Metzger (SPD) gibt bekannt, Andrea Ypsilanti (SPD) aus Gewissensgründen nicht zur Ministerpräsidentin zu wählen. Damit schrumpft die erforderliche Mehrheit der Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf eine Stimme. Andrea Ypsilanti (SPD) sagt die für den 05.04.2008 geplante Wahl im Landtag ab.
29.03.
Länder. Hessen. Auf dem Landesparteitag der SPD wird eine Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke nicht mehr ausgeschlossen, eine Wahl von Andrea Ypsilanti (SPD) zur Ministerpräsidentin ist wieder möglich.
02.04.
Arbeit/Soziales. Die Koalition einigt sich in einer Kabinettsrunde über eine vorgezogene Senkung des Rentenbeitrages. Bis 2013 soll dieser stufenweise auf 19,1% sinken.
17.04.
Länder. Hamburg. Unterzeichnung des Koalitionsvertrages durch Fraktionschefin Christa Goetsch (GAL) und dem weiter regierenden Bürgermeister Ole von Beust (CDU). Die erstmalige schwarz-grüne Regierungszusammenarbeit in einem Bundesland wird sowohl von der Bundes-CDU wie auch den Grünen als Einzelfall unter den besonderen Bedingungen eines Stadtstaates gewertet.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
379
20.05.
Finanzen/Wirtschaft. Eine Diätenerhöhung der Bundestagsabgeordneten sowie eine Erhöhung der Zuschläge für Minister werden nach breiter öffentlicher Kritik zurückgenommen.
22.05.
Bundespräsidentschaft. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) erklärt seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit ab Mai 2009.
26.05.
Bundespräsidentschaft. Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder), wird vom SPD-Vorstand einstimmig als Bundespräsidentschaftskandidatin nominiert.
16.06.
Arbeit/Soziales. Die Ende 2009 auslaufenden Regeln zur Altersteilzeit sollen neu gefasst werden. Nach Vorschlag der SPD soll das bisherige Modell bis 2015 gelten.
02.07.
Finanzen/Wirtschaft. Beschluss des Haushaltsentwurfes durch das Bundeskabinett.
01.09.
Innen-/Rechtspolitik. Nach einer Neuregelung ist bei Einbürgerungen nun ein so genannter Einbürgerungstest abzulegen.
16.09.
Finanzen/Wirtschaft. Haushaltsdebatte im Bundestag. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) erklärt vor dem Parlament, Deutschland befände sich im Abschwung, jedoch nicht in einer Rezession. Ein Konjunkturprogramm lehnt er ab.
24.09.
Finanzen/Wirtschaft. Der Finanzausschuss des Bundestages diskutiert einen Antrag der FDP zur Neuregelung der Erbschaftssteuer, deren Erhebung im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung auf die Länder übergehen soll. Nach einer Festlegung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem November 2006 darf die bisherige Form nur bis zum 31.12.2008 Bestand haben (BVerfG, 1 BvL 10/02 vom 07.11.2006).
26.09.
Finanzen/Wirtschaft. Die Deutsche Bahn gibt den 27.10.2008 offiziell als Termin für einen Börsengang bekannt. Die gegenwärtige Situation der Finanzmärkte dämpft jedoch Erfolgserwartungen.
28.09.
Länder. Landtagswahl in Bayern. Wahlbeteiligung: 57,9% (+0,8%). Ergebnisse: CSU 43,4% (-17,3%); SPD 18,6% (-1%); Freie Wähler 10,2 (+6,2%); Bündnis 90/Die Grünen 9,4% (+1,7%); FDP 8% (+5,4%); Die Linke 4,4% (-). Die CSU verliert die seit 1962 ununterbrochen bestehende absolute Mehrheit. Die SPD erzielt das schlechteste Ergebnis bei einer Landtagswahl in Bayern. Die Freien Wähler sind erstmals und die FDP nach 14 Jahren wieder im Landtag vertreten. CSU-Parteichef Erwin Huber und Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) kündigen ihren Rücktritt an.
380 09.10.
Sebastian Scharch Länder. Die Basis der Hamburger Grünen (GAL) plädiert für eine Fortführung der ersten schwarz-grünen Koalition auf Länderebene, nachdem dies durch die Genehmigung eines umstrittenen Kohlekraftwerks im Stadtteil Moorburg durch die Umweltsenatorin Anja Hajduk (GAL) in Frage gestellt wurde. Finanzen/Wirtschaft. Der Streit um die Ausgestaltung der zum Jahresende 2008 auslaufenden Erbschaftssteuerregelung hält an.
27.10.
Länder. Der bayerische Landtag wählt den bisherigen Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer (CSU), selbst nicht MdL, zum neuen Ministerpräsidenten Bayerns. Personalien. Ilse Aigner (CSU) wird Nachfolgerin von Horst Seehofer im Amt des Bundeslandwirtschaftsministers.
29.10.
Arbeit/Soziales. Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) plant eine Ausweitung des Kurzarbeitergeldes auf 18 Monate.
02.11.
Finanzen/Wirtschaft. Als Reaktion auf die Finanzkrise beschließt die Große Koalition einen Konjunkturgipfel mit Gewerkschaftsführern und Wirtschaftsverbänden im Kanzleramt.
03.11.
Länder. Eine mögliche Wahl Andrea Ypsilantis (SPD) zur Ministerpräsidentin Hessens scheitert im Vorfeld. Die SPD-Landtagsabgeordneten Carmen Everts, Dagmar Metzger, Silke Tesch und Jürgen Walter geben kurzfristig bekannt, nicht für Andrea Ypsilanti (SPD) zu votieren. Roland Koch (CDU) bleibt geschäftsführender Ministerpräsident.
05.11.
Finanzen/Wirtschaft. Das Bundeskabinett beschließt das Konjunkturprogramm „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“ (Konjunkturprogramm I). 2009 und 2010 sollen Aufträge und Investitionen mit einem Volumen von 50 Milliarden Euro durch Unternehmen, private Haushalte und Kommunen gefördert werden. Ein dazugehöriger 16-Punkte-Plan soll eine Rezession verhindern und die Auswirkungen der Finanzkrise mildern sowie Arbeitsplätze sichern. Finanzen/Wirtschaft. Nach einer Sondersitzung des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages bestätigt der Minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wolfgang Tiefensee (SPD) die Absage eines Börsengangs der Deutschen Bahn, der durch Finanzkrise unsicher geworden ist.
06.11.
Innen-/Rechtspolitik. Dritter Integrationsgipfel der Bundesregierung. Bei einer Bilanzierung der bisherigen Ergebnisse kritisiert eine Mehrheit der teilnehmenden Migrantenverbände die verschlechterten Integrationsbedingungen.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
381
07.11.
Gesundheitspolitik. Der Bundesrat stimmt weiteren Teilen der Gesundheitsreform zu (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, BRat-Drs. 733/08(B)).
12.11.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag stimmt dem neuen Bundeskriminalamtgesetz (BKA-Gesetz) nach zweijähriger Diskussion gegen den Widerstand der Opposition zu. Befugnisse von Landespolizeien und Geheimdienste sollen dem BKA übertragen werden. Neben Online-Durchsuchungen gehören dazu Raster- und Schleierfahndungen, ausgeweitete Videowohnraumüberwachungen sowie ein verstärkter Lauschangriff (BT-Drs. 16/10121).
13.11.
Finanzen/Wirtschaft. Dem statistischen Bundesamt zufolge sank im 3. Quartal die Wirtschaftsleistung um 0,5%, womit qua Definition eine Rezession gegeben ist.
19.11.
Länder. Der hessische Landtag hat sich mit den Stimmen aller Abgeordneten aufgelöst und so die Möglichkeit für Neuwahlen im Januar 2009 geschaffen. Roland Koch (CDU) bleibt geschäftsführender Ministerpräsident.
21.11.
Finanzen/Wirtschaft. Der Haushaltsausschuss des Bundestages beschließt eine Neuverschuldung des Bundes für 2009 um 18,5 Milliarden Euro. Das Investitionsvolumen beträgt 27,2 Milliarden Euro.
28.11.
Sicherheitspolitik. Der Bundesrat lehnt das BKA-Gesetz ab und ruft den Vermittlungsausschuss an (BRat-Drs. 404/08).
04.12.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag beschließt mit den Stimmen der Großen Koalition die Umsetzung steuerrechtlicher Regelungen des Maßnahmenpaketes „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“ (Konjunkturpaket I) (BT-Drs. 16/10930). Familienpolitik. Der Bundestag beschließt mit den Stimmen der Großen Koalition eine Erhöhung des Kindergeldes auf 164€ für das erste Kind ab Januar 2009 (BT-Drs. 16/10809).
05.12.
Finanzen/Wirtschaft. Auch der Bundesrat stimmt den steuerrechtlichen Regelungen des Konjunkturpakets I der Großen Koalition zu (BRat-Drs. 923/08).
09.12.
Sicherheitspolitik. Im Fall der misslungenen Anschläge auf Regionalzüge in Dortmund und Koblenz vom Juli 2006 verurteilt das Oberlandesgericht Düsseldorf Youssef al-Hajdib wegen vielfachen versuchten Mordes zu lebenslanger Haft. Finanzen/Wirtschaft. Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Abschaffung der Pendlerpauschale wegen einer fehlenden hinreichenden sachlichen Begründung rückwirkend zum 01.01.2007 für verfassungswidrig (BVerfG, 2
382
Sebastian Scharch BvL 1/07 vom 09.12.2008). Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) verzichtet zu Gunsten der Pendler auf eine Umgestaltung der Regelung.
19.12.
Sicherheitspolitik. Der Bundesrat stimmt dem BKA-Gesetz nach im Vermittlungsausschuss erfolgten Änderungen zu (BT-Drs. 16/10121).
2009 01.01.
Innen-/Rechtspolitik. Weitere Teile der Gesundheitsreform (BT-Drs. 16/3100) und des Bundeskriminalamtgesetzes (BT-Drs. 16/10121) treten in Kraft.
06.01.
Innen-/Rechtspolitik. Föderalismus: Die Große Koalition plant, im Rahmen der Föderalismusreform II ein Instrument gegen die Neuaufnahme von Schulden ins Grundgesetz einzuschreiben („Schuldenbremse“).
13.01.
Finanzen/Wirtschaft. Die Bundesregierung beschließt, ein Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland („Konjunkturpaket II“) zu entwerfen. Im Vordergrund stehen Investitionen und Entlastungen für Konsumanreize.
14.01.
Finanzen/Wirtschaft. Das Bundeskabinett beschließt im Rahmen des Konjunkturpaketes II die Einführung einer Umweltprämie für Neuwagen („Abwrackprämie“).
18.01.
Länder. Landtagswahl in Hessen. Wahlbeteiligung: 61% (-3,3%). Ergebnisse: CDU 37,2% (+0,4%); SPD 23,7% (-13%); FDP 16,2% (+6,8%); Bündnis 90/Die Grünen 13,7% (+6,2%); Die Linke 5,4% (+0,3%). Roland Koch, bisheriger Ministerpräsident und Spitzenkandidat der CDU, nimmt Koalitionsverhandlungen mit der FDP auf. Bundespolitik. Mit der Regierungsbeteiligung der FDP in Hessen verliert die Große Koalition im Bund ihre Mehrheit im Bundesrat.
01.02.
Umweltpolitik. Die Große Koalition kann sich nicht auf ein einheitliches Umweltgesetzbuch einigen. Es gilt damit als gescheitert.
05.02.
Länder. Roland Koch (CDU) wird vom hessischen Landtag mit den Stimmen der CDU und der FDP zum Ministerpräsidenten gewählt.
06.02.
Innen-/Rechtspolitik. Die Föderalismuskommission einigt sich auf eine „Schuldenbremse“. Ab 2020 dürfen Bund und Länder die Haushalte nur ohne neue Kredite aufstellen. Die strukturelle Nettokreditaufnahme des Bundes darf maximal 0,35% des Bruttoinlandsproduktes betragen.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
383
07.02.
Personalien. Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Michael Glos (CSU) kündigt seinen Rücktritt an.
10.02.
Personalien. Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (CSU) wird als Nachfolger von Michael Glos (CSU) neuer Bundesminister für Wirtschaft und Technologie.
13.02.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag stimmt dem Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland („Konjunkturpaket II“) zu. Darunter für 2009 und 2010 ca. 50 Milliarden Euro für Investitionen, Wirtschaftshilfen sowie Steuer- und Abgabensenkungen und einen Bürgschaftsrahmen in Höhe von 100 Milliarden Euro für Firmen (BT-Drs. 16/11801). Gleichzeitig Verabschiedung eines Nachtragshaushaltes für 2009 (BT-Drs. 16/11800).
18.02.
Innen-/Rechtspolitik. Die Große Koalition beschließt das Rettungsübernahmegesetz zur Verstaatlichung von Banken, wenn diese zusammenzubrechen drohen. Es soll bis 30.06.2009 Anwendung finden.
20.02.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundesrat stimmt dem Konjunkturpaket II zu (BRat-Drs. 120/09).
06.03.
Innen/Rechtspolitik. Die Große Koalition einigt sich auf eine Reform des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKG), welches nun von der Bundesregierung unverzüglich über wichtige Vorgänge informiert werden soll.
19.03.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag stimmt für die Rückkehr zur gesetzlichen Regelung der Pendlerpauschale von 2006 (BT-Drs. 16/12099).
20.03.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag verabschiedet das Gesetz zur weiteren Stabilisierung des Finanzmarktes, darunter das Rettungsübernahmegesetz von Banken (BT-Drs. 16/12100).
03.04.
Finanzen/Wirtschaft. Der Bundesrat stimmt dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Pendlerpauschale zu (BRat-Drs. 243/09).
08.04.
Finanzen/Wirtschaft. Die Umweltprämie für Neuwagen („Abwrackprämie“) wird bis zum 31.12.2009 verlängert und die finanziellen Mittel auf fünf Milliarden Euro aufgestockt.
22.04.
Finanzen/Wirtschaft. Gipfeltreffen im Kanzleramt zur Wirtschaftskrise mit Spitzenvertretern aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbänden. Ein drittes Konjunkturpaket wird abgelehnt.
384 23.04.
Sebastian Scharch Finanzen/Wirtschaft. SPD und CDU/CSU einigen sich auf Regelungen zur Managervergütung, wie Selbstbeteiligungen im Schadensfall und Bonuszahlungen. Finanzen/Wirtschaft. Konstituierung eines Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Klärung der Frage, ob staatliche Erlasse, Weisungen, Fehleinschätzungen, öffentliche Äußerungen oder Unterlassungen zur Situation des angeschlagenen Münchener Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate (HRE) beigetragen haben.
29.04.
Arbeit/Soziales. Minister für Arbeit und Soziales Olaf Scholz (SPD) plant per Verordnung eine Verlängerung des Kurzarbeitergeldes von 18 auf 24 Monate.
06.05.
Arbeit/Soziales. Die Große Koalition beschließt einen Gesetzesentwurf zur Stabilisierung der Rentenzahlungen. Renten sollen nicht in Folge schlechter Konjunktur sinken.
23.05.
Bundespräsidentschaft. Die Bundesversammlung bestätigt Horst Köhler (CDU) im Amt des Bundespräsidenten. Für Diskussion sorgt die Tatsache, dass die CDU-Bundestagsabgeordnete Julia Klöckner das Wahlergebnis noch vor der offiziellen Bekanntgabe über die Onlineplattform Twitter veröffentlicht.
25.05.
Finanzen/Wirtschaft. Die Große Koalition plant eine weitere Stärkung der Konjunktur. Vorgesehen sind Entlastungen in Höhe von drei Milliarden Euro durch Hilfen bei der Umsatzsteuer für kleinere Unternehmen und eine Lockerung der Zinsschranke.
29.05.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag verabschiedet im Rahmen der Föderalismusreform II das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes („Schuldenbremse“) (BT-Drs. 16/12410).
12.06.
Innen-/Rechtspolitik. Föderalismus: Der Bundesrat stimmt dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes („Schuldenbremse“) zu (BRat-Drs. 500/09(B)).
17.06.
Sicherheitspolitik. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, die Bundesregierung habe im BND-Untersuchungsausschuss durch eingeschränkte Aussagegenehmigungen für Zeugen und die teilweise Sperre von angeforderten Akten gegen das Informations- und Untersuchungsrecht des Bundestags verstoßen (BVerfG, 2 BvE 3/07 vom 17.06.2009).
18.06.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag verabschiedet das Zugangserschwerungsgesetz („Internet-Sperrgesetz gegen Kinderpornografie“) (BT-Drs. 16/12850).
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
385
19.06.
Sicherheitspolitik. Der Bundestag verabschiedet ein Gesetz, wonach das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) Daten aus der Online-Kommunikation zwischen Bürgern und Bundesbehörden auswerten darf (BT-Drs. 16/11967).
30.06.
Europa-/Außenpolitik. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum EUReformvertrag stoppt dessen Ratifizierung. Gefordert werden Nachbesserungen und eine ausgeweitete Beteiligung der deutschen Parlamente (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.06.2009).
03.07.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundestag beschließt das Gesetz gegen Steuerflucht (BT-Drs. 16/13106). Finanzen/Wirtschaft. Der Bundestag verabschiedet das Gesetz zur Fortentwicklung der Finanzmarktstabilisierung („Bad Bank-Gesetz“), wonach Wertpapiere, die durch die Finanzkrise besonders stark an Wert verloren, aus den Bilanzen ausgelagert werden können. Ziel ist die Erleichterung der Kreditvergabe durch auf diese Weise entlastete Finanzinstitute (BT-Drs. 16/13156).
10.07.
Innen-/Rechtspolitik. Der Bundesrat stimmt dem Gesetz gegen Steuerflucht (BRat-Drs. 16/13106), dem Zugangserschwerungsgesetz gegen Kinderpornografie im Internet (BRat-Drs. 607/09) und dem Gesetz zur Fortentwicklung der Finanzmarktstabilisierung (BRat-Drs. 442/09) zu.
23.07.
Länder. Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) hat in SchleswigHolstein die im Landesparlament gestellte Vertrauensfrage verloren. Neuwahlen sind für den 27.09.2009 geplant.
15.08.
Parteipolitik. Die FDP und Bündnis 90/Die Grünen sprechen sich gegen eine potentielle Koalition aus drei Fraktionen aus. Damit entfallen die Optionen CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sowie SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sowie CDU/CSU, SPD und eine der beiden Parteien.
08.09.
Europa- und Außenpolitik. Sondersitzung des Deutschen Bundestages und Annahme des Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union. (Begleitgesetz zum EU-Grundlagenvertrag von Lissabon, BT-Drs. 16/13923).
18.09.
Europa- und Außenpolitik. Der Bundesrat stimmt für das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union. (Begleitgesetz zum EU-Grundlagenvertrag von Lissabon, BRat-Drs. 716/09).
386 30.08.
Sebastian Scharch Länder. Landtagswahl in Thüringen. Wahlbeteiligung: 56,2% (+2,4%). Ergebnisse: CDU 31,2% (-11,8%); Die Linke 27,4% (+1,3%); SPD 18,5% (+4%); FDP 7,6% (+4%); Bündnis 90/Die Grünen 6,2% (+1,7%). Die CDU verliert im Landtag ihre absolute Mehrheit, bleibt aber stärkste Partei. Bündnis 90/Die Grünen und FDP überschreiten erstmals seit 1990 die 5%Hürde. Länder. Landtagswahl im Saarland. Wahlbeteiligung: 67,6% (+12,1%). Ergebnisse: CDU 34,5% (-13%); SPD 24,5% (-6,3%); Die Linke 21,3% (+18,9%); FDP 9,2% (+4%); Bündnis 90/Die Grünen 5,9% (+0,3%). Die CDU unter Ministerpräsident Peter Müller verliert die absolute Mehrheit im Landtag. Die Linke erzielt ihr bestes Ergebnis in einem westdeutschen Bundesland. Länder. Landtagswahl in Sachsen. Wahlbeteiligung: 52,2% (-7,4%). Ergebnisse: CDU 40,2% (-0,9%); Die Linke 20,6% (-3,0%); SPD 10,4% (+0,6%); FDP 10,0% (+4,1%); Bündnis 90/Die Grünen 6,4% (+1,3%); NPD 5,6% (3,6%). Die CDU unter Ministerpräsident Stanislaw Tillich bleibt bei leichten Stimmverlusten klar die stärkste Partei.
03.09.
Länder. Aufgrund der Verluste der CDU tritt der amtierende thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) zurück. Das Präsidium der Thüringer CDU ernennt Christine Lieberknecht (CDU) zur Kandidatin für das Ministerpräsidentenamt. Die SPD beginnt mit Sondierungsgesprächen für eine Große Koalition sowie für eine mögliche rot-rot-grüne Regierungszusammenarbeit.
20.09.
Parteipolitik. Auf einem Sonderparteitag der FDP in Potsdam beschließen die Delegierten, nach der Bundestagswahl 2009 nicht mit SPD oder Bündnis 90/Die Grünen zu regieren.
27.09.
Länder. Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Wahlbeteiligung: 73,6% (+7,1%). Ergebnisse: CDU 31,5% (-8,7%); SPD 25,4% (-13,3%); FDP 14,9% (+8,3%); Bündnis 90/Die Grünen 12,4% (+6,2%); Die Linke 6,0% (+5,2%). Die CDU unter Ministerpräsident Peter Harry Carstensen ist stärkste Partei. Länder. Landtagswahl in Brandenburg. Wahlbeteiligung: 67,2% (+10,8%). Ergebnisse: SPD 33,04% (+1,14%); Die Linke 27,16% (+0,84%); CDU 19,79% (+0,39); FDP 7,21% (+3,91%); Bündnis 90/Die Grünen 5,66% (+2,06%). Die SPD unter Ministerpräsident Matthias Platzeck ist stärkste Partei. Koalitionen mit CDU oder Die Linke sind möglich.
Chronologie der Großen Koalition 2005-2009
387
Bundestagswahl. Wahl zum 17. Deutschen Bundestag. Wahlbeteiligung: 70,8% (-6,9%). Ergebnisse: CDU/CSU 33,8% (-1,4%); SPD 23,0% (-11,2%); FDP 14,6% (+4,7%); Bündnis 90/Die Grünen 10,7% (+2,6%); Die Linke 11,9% (+3,2%). Das Bundestagswahlergebnis beschließt das Ende der zweiten Großen Koalition im Bund. CDU/CSU und FDP bilden eine schwarz-gelbe Koalition unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel.
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Ingolfur Blühdorn ist Associate Professor (Reader) für Politikwissenschaft/Politische Soziologie an der University of Bath (GB). Sein Forschungsgebiet umfasst soziale Theorie, Demokratietheorie, das politische Erbe der neuen sozialen Bewegungen, Grüne Parteien und Umweltpolitik im umfassenden Sinne. Christian Brütt hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrbereichs Politische Soziologie und Sozialpolitik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin seine Dissertation „Workfare als Mindestsicherung. Von der Sozialhilfe zu Hartz IV. 1962-2005“ verfasst. Er arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter für einen Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Sebastian Bukow hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Innenpolitik der BRD an der Humboldt-Universität zu Berlin seine Dissertation „Die professionalisierte Mitgliederpartei“ verfasst. Er ist assoziiertes Mitglied der Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS) und arbeitet am Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung. Forschungsschwerpunkte: Politisches System der BRD, Parteiorganisations- und Parteiensystemforschung, Innere Sicherheit sowie Wissenschafts- und Hochschulpolitik. Nancy Ehlert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Mikrosoziologie des Instituts für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Elterngeldevaluation, kommunale und internationale Familienpolitik sowie Familie, Bindung und Care. Sven Bernhard Gareis ist seit 2007 Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und seit 2006 Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik sowie Fragen der internationalen Friedenssicherung. Gert-Joachim Glaeßner war von 1992 bis 2009 Professor am Lehrbereich Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und von 2002 bis 2009 Direktor der Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS) am Institut für Sozialwissenschaften der HumboldtUniversität zu Berlin. Er ist weiterhin als Director for International MA Programs an der BGSS tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen deutsche Innen- und Sicherheitspolitik. Simone Grimmeisen ist Projektleiterin im Programmbereich „Gesundheit und Humanitäre Hilfe“ der Robert Bosch Stiftung Stuttgart. Zuvor war sie u.a. wissenschaftliche Referentin im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ der Universität Bremen.
S. Bukow, W. Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, DOI 10.1007/978-3-531-92451-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Autorenangaben
Stefan Hunsicker ist Mitarbeiter der Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in der Methodik der Umfrageforschung und der Stichproben im Kontext der Bundestags- und Landtagswahlen. Uwe Jun ist seit 2005 Professor für Vergleichende Regierungslehre (Westliche Regierungssysteme) an der Universität Trier. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Parteien- und Parteiensystemforschung sowie Politische Kommunikation. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen im Fachgebiet „Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und moderne Staatstheorien“. Seit 2000 leitet er zudem die Forschungsgruppe Regieren, seit 2006 ist er Direktor der NRW School of Governance; seit 2010 ist er Dekan der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften. Astrid Lorenz ist seit 2006 Juniorprofessorin für Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das politische System der Bundesrepublik unter den Bedingungen der europäischen Integration, Verfassungspolitik, Systemvergleich und Systemwechsel. Oskar Niedermayer ist seit 1993 Professor für Politische Wissenschaft an der FU Berlin und Direktor des Otto-Stammer-Zentrums. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen im Bereich der Politische Soziologie (insbesondere Parteien- und Wahlforschung sowie politische Orientierungen und Verhaltensweisen), des politisches System Deutschlands und der Europaforschung. Arijana Neumann hat Politikwissenschaft und VWL in Frankfurt und Wien studiert und ihre Abschlussarbeit über die Arbeitsmarktpolitik der rot-grünen Bundesregierung verfasst. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Kassel arbeit sie seit 2006 an einer Promotion zur CDU auf Landesebene. Heinrich Oberreuter ist seit 1993 Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing und seit 1980 Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau. Die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit sind Parlamentarismus- und Parteienforschung, Kommunikationspolitik sowie Zeit- und Verfassungsgeschichte. Außerdem betätigt er sich publizistisch in Presse, Funk und Fernsehen. Werner Reutter ist derzeit Privatdozent und Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Föderalismus, Landesparlamentarismus, politisches System der Bundesrepublik Deutschland, Vergleichende Politikwissenschaft sowie nationale und internationale Gewerkschaftspolitik und Verbände und Interessengruppen. Thomas Rixen ist Politikwissenschaftler und Ökonom. Er arbeitet am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), hat in Bonn, Hamburg, Paris und Ann Arbor studiert und an der Jacobs University Bremen promoviert. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Internationale und Vergleichende Politische Ökonomie.
Autorenangaben
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Sebastian Scharch ist Sozialwissenschaftler (BA). Er arbeitet am Lehrbereich Innenpolitik der BRD und studiert Sozialwissenschaften (MA) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Darüber hinaus arbeitet er für den Deutschen Bundestag. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Politische Kommunikation, Verwaltungswissenschaften und Transformationsforschung. Wolfgang Schroeder ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Kassel und seit November 2009 Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wandel von Politik und Ökonomie in Deutschland und Europa, sozialstaatlicher Umbau, Verbändeforschung, Arbeitsbeziehungen sowie Parteien- und Organisationsforschung. Yvonne Schroth ist Mitglied des Vorstandes der Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlanalyse, Methodik der Umfrageforschung, Stichproben und Hochrechnungen im Kontext der Bundestags- und Landtagswahlen. Wenke Seemann lehrt seit 2005 am Institut für Sozialwissenschaften der HumboldtUniversität, promoviert an der Berlin Graduate School of Social Sciences und ist derzeit als Gastwissenschaftlerin an der Columbia University New York (2009/2010). Im Rahmen ihrer Doktorarbeit untersucht sie den Einfluss von Wahlen auf das legislative Verhalten politischer Akteure. Jens Walther ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsches und Europäisches Parteienrecht und Parteienforschung an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Wahlkampf- und Wahlsystemforschung. Claus Wendt ist Professor für Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems, Institut für Soziologie der Universität Siegen und External Fellow am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Von 2008 bis 2009 war er Harkness/Bosch Fellow of Health Policy & Practice. Seine Forschungsschwerpunkte sind Vergleichende Gesundheitssystemanalyse, Wohlfahrtsstaatsanalyse und Institutionentheorie.