BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 38
DER GROSSE KRIEG von Alfred Bekker Die RUBIKON hat die Große Magellan...
30 downloads
1188 Views
520KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 38
DER GROSSE KRIEG von Alfred Bekker Die RUBIKON hat die Große Magellansche Wolke erreicht. Von dort flohen die Foronen vor Jahrzehntausenden an Bord der SESHA-Arche vor den übermächtigen Virgh. John Cloud gelingt es mit seinen Gefährten, die Macht über das Schiff an sich zu reißen. Ein historischer Moment. Sobek und Siroona, die bisherigen Herren an Bord, werden zu Gefangenen. Dennoch ist eine Rückkehr zur Milchstraße vorerst ausgeschlossen. Die RUBIKON ist beschädigt, und so bleibt nur der weitere Vorstoß in die sehr viel näher gelegene alte Heimat der Foronen. Indes geschieht in der heimatlichen Milchstraße Zukunftsweisendes. Der von den Jay'nac unterwanderten Allianz CLARON sind die Koordinaten des Erinjij-Systems bekannt geworden. Der offene Konflikt ist nicht mehr aufzuhalten. Indes werden Cy und Algorian tiefer in den Strudel der Ereignisse gerissen. Sie erreichen die Spore Auri – und erkennen die ganze Wahrheit über Cys Heimat...
Ein Summen ertönte in dem hallenartigen, nur von einer Notbeleuchtung erhellten Raum. Das Licht flackerte, wurde kurz heller, ehe es wieder sein Ausgangsniveau erreichte. »Was geht hier vor?«, fragte Cy. Algorian hob die Schultern. »Keine Ahnung«, musste der Aorii eingestehen. Algorian hielt das Ortungsmodul etwas höher. Sein Gesicht wirkte angestrengt. Das Pflanzenwesen Cy betrachtete seinen Freund und Beschützer aufmerksam mit den geöffneten Augenknospen. Cy hätte zwar niemals behauptet, sich schon mit allen Feinheiten der Mimik eines Aorii auszukennen, aber dass Algorian irgendeine irritierende Entdeckung gemacht haben musste, war ihm sofort klar. »Was ist los?«, fragte er. »Wir haben es mit Jay'nac-Technik zu tun«, antwortete Algorian. Seine Stimme war fast tonlos. Cy brauchte einige Augenblicke, um diese Aussage zu verdauen. Nicht genug, dass es im Inneren seiner Heimatspore Auri eine begehbare Anlage gab, von deren Existenz Cy nichts geahnt hatte. Jetzt sollten auch die anorganischen Jay'nac hinter den Artefakten des Sonnensystems 23112 stecken! Die Gedanken rasten nur so durch Cys Nervenknotenpunkt, der sich etwa in der Mitte seines pflanzlichen Körpers befand. »Jay'nac?«, fragte er. »Du musst dich geirrt haben!« Algorian deutete auf die Konsole, vor der er stand und die er ganz kurz sogar hatte aktivieren können. »Die Analyse der angemessenen Energiesignaturen ist ganz eindeutig und weist einige typische Muster der Jay'nac-Technologie auf. Und wenn schon die vergleichsweise schmale Basis an verfügbaren Vergleichsdaten, die dieses einfache Handmodul in seinem Speicher zur Verfügung hat, dazu ausreicht, um das herauszufinden, dann ist das schon ziemlich eindeutig.«
»Überprüf das doch bitte noch mal... Der Gedanke, dass die Jay'nac diese Anlagen hier erbaut haben, gefällt mir ganz und gar nicht!« »Ich habe alles mehrfach überprüft«, erwiderte Algorian. »Sonst hätte ich dir davon gar nichts gesagt, weil ich mir ja denken kann, wie dich das aufwühlt. Aber du solltest den Tatsachen ins Auge sehen. Außerdem ist da noch ein Indiz für eine Urheberschaft der Anorganischen.« »Und das wäre?« »Die Symbole, die kurz zu sehen waren, als ich die Konsole aktivierte, waren eindeutig Jay'nac-Zeichen.« »Das konntest du so schnell erkennen?« Cy klammerte sich an jeden Strohhalm. »Ja.« »Das Projektionsfeld war doch nur wenige Sekunden aktiv!« Algorian schwieg einen Moment und musterte das Pflanzenwesen. Die Tentakelfortsätze zitterten leicht. Wenn man davon ausgeht, dass die Jay'nac tatsächlich die Schöpfer dieser Anlage sind – und vermutlich der gesamten Lebenszone im Gasring um das Licht von Auri! –, dann bedeutet das auch, dass sie die Aurigen erschaffen haben!, ging es Algorian durch den Kopf. Genau gegen diese Erkenntnis sträubte sich Cy offenbar. Algorian wusste, dass es in dessen Pflanzenkörper eine anorganische Komponente gab, deren Funktion nie jemand genauer untersucht hatte. Möglicherweise hatte diese Komponente auch etwas mit der Erschaffung durch die Jay'nac zu tun. »Was bin ich?«, fragte Cy plötzlich. Auf diese Diskussion wollte Algorian sich im Moment auf keinen Fall einlassen. »Eine philosophische Frage, die wir uns vielleicht aufheben sollten, bis wir unser Überleben gesichert haben!« Der Aorii deutete auf die zylinderförmigen Sprengsätze, die er noch immer bei sich trug. »Wir können darauf wetten, dass
Tardralonnen die Bomben zündet, bevor wir das Beiboot bestiegen haben und zurückgekehrt sind! Der Sinn der Operation, mit der die Besatzung der NONG-TO betraut wurde, scheint mir die Zerstörung von wirklich allem zu sein, was noch von der Lebenszone des Gasrings um Stern 23112 übrig ist. Alle Artefakte, die Reste der Maschine, die für die Nahrungsmittelproduktion verantwortlich waren und natürlich die Sporen...« »Und mich!«, stellte Cy bitter fest. »Alles, was auf die Jay'nac hindeutet.« »Von ihnen muss Tardralonnens Crew auch die Zugangscodes haben, die es ermöglicht haben, die Drohnen mit den Sprengladungen in den inneren Bereich der Sporen zu bringen.« Algorian wandte sich wieder der Konsole zu. »Wir müssen die Sprengsätze loswerden!«, forderte Cy. Der Aorii ging auf diese recht naive Bemerkung nicht weiter ein. Tardralonnen hatte die Macht, die Bomben zu zünden, wann immer er wollte. Die Sprengkraft war mit Sicherheit so groß, dass es für Algorian und Cy kaum eine Rolle spielte, wo in der Spore sie sich gerade aufhielten, wenn es zur Explosion kam. Ihr Tod war gewiss. Dass man Cy gezwungen hatte, sich an der Vernichtung seiner Heimatspore aktiv zu beteiligen, war sicherlich nur ein sadistisches Detail. Es diente wohl in erster Linie dazu, auch von den beiden ehemaligen Suchern der Allianz jegliche Spur zu tilgen. Algorian zögerte kurz, ehe seine Hand erneut die Sensorfläche der Konsole berührte. Wie beim ersten Mal entstand eine Projektionsfläche. In rascher Folge erschienen Tausende von Zeichen – Jay'nacSymbole!
Das Ortungsmodul, das er in der anderen Hand hielt, zeigte ein erhöhtes Energieniveau an. Weitere Kontrollanzeigen an anderen Konsolen begannen zu blinken. *** Kommandant Tardralonnen erhob sich von seinem Konturensitz. Der gut zwei Meter große Ovoaner hielt einen Becher mit dampfendem Rrasandrrarr, einem belebenden Getränk, das aus gerösteten Bohnen der Mangtu-Frucht auf Ovoan III aufgebrüht wurde. Das Schattenfeld, unter dem der lichtempfindliche laschkanische Ortungsoffizier verborgen war, änderte geringfügig seine äußere Ausdehnung. Der Schalensitz, auf dem er Platz genommen hatte, drehte sich in Richtung seiner Konsole. Tardralonnen schloss daraus, dass er sich abgewandt hatte. Kein Wunder. Öffentliches Essen und Trinken galt unter Laschkanen als Obszönität. Der Kommandant war allerdings nicht gewillt, auf die kulturellen Besonderheiten der Laschkanen in dieser Hinsicht Rücksicht zu nehmen. Er schlürfte ausgiebig und stieß anschließend einen dumpfen, grollenden Grunzlaut aus. Unter Ovoanern war das ein Ausdruck des Wohlgefallens. »Kommandant, ich messe Schwankungen im Energieniveau der Anlage im Inneren der Spore«, erklärte der Laschkane anschließend in betont sachlichem Tonfall. »Die Anlage ist ja auch nicht vollkommen tot«, entgegnete Tardralonnen. »Schließlich müssen die Basisfunktionen aufrecht erhalten werden.« »Wenn Sie mich fragen, dann versucht da gerade jemand, das Rechnersystem der Anlage in Betrieb zu nehmen«, erklärte der Laschkane. Sein Name war Tramsoy-32. Seit drei Crysral Standardjahren gehörte er zur Besatzung des dem CLARON-
Geheimdienst unterstellten Raumschiffs NONG-TO, das in den scheibenförmigen Gasring um System 23112 geschickt worden war, um alles zu vernichten, was von diesem bizarren und offensichtlich künstlich erzeugten Lebensraum noch übrig war. Tramsoy empfand insgeheim Bewunderung für die enorme technische Leistung, zu der die Schöpfer dieser Lebenszone im Stande gewesen waren. Die atollartigen Sporen, auf denen Wesen wie der Aurige Cy gelebt hatten, waren schon fantastisch genug. Eine gewaltige Fabrikationsanlage hatte die Sporen mit pollenartigen Nahrungsmitteln versorgt, die einfach von den Winden innerhalb der Gaswolke an ihr Ziel getrieben worden waren. Das erstaunlichste Merkmal des Systems war jedoch die Tatsache, dass die Gaswolke im Bereich der Lebenszone keineswegs glühend heiß war, wie man es eigentlich hätte erwarten müssen. Es herrschten gemäßigte Temperaturen, die das Überleben der Aurigen lange Zeit ermöglicht hatten. Tramsoy studierte das auf Grund der Knochenschilde recht bewegungslose ovoanische Gesicht seines Kommandanten. Er erwartete noch immer eine Reaktion. Tardralonnen machte eine ruckartige Bewegung, starrte in Tramsoys Richtung und nahm noch einen schlürfenden Schluck. Es hat seinen Grund, dass in den normalen Flottenverbänden CLARONs keine gemischten Besatzungen eingesetzt werden, ging es Tramsoy durch den Kopf. Dieser war im Verhältnis zum eher schwächlichen, von einem Antigravaggregat gehaltenen Körper sehr groß. Von dem totenschädelbleichen Antlitz mit dem ballonartig vergrößerten Hinterkopf vermochte der Kommandant auf Grund des Schattenschirms jedoch nichts zu sehen. »Wer sollte denn das Rechnersystem wieder in Betrieb nehmen?«, fragte Tardralonnen schließlich. »Das ist doch absurd.«
»Algorian wäre so etwas zuzutrauen«, erwiderte Tramsoy-32 ruhig. »Könnte es sich nicht auch um automatisch einsetzende Routinen handeln?« »Unwahrscheinlich.« Tardralonnen wandte sich an den Ceyniden, der zurzeit Dienst an der Konsole des Kommunikationsoffiziers hatte. »Larenjos, stellen Sie bitte eine Verbindung zu Cy und Algorian her. Die beiden müssten inzwischen die Sprengladungen an den vorgesehenen Orten deponiert haben.« »Ein entsprechendes Signal des Ortungsmoduls, das die beiden bei sich tragen, ist bislang nicht eingetroffen«, berichtete Larenjos. Der ovoanische Waffenoffizier der NONG-TO meldete sich zu Wort. Ungefragt – was für einen ovoanischen Offizier einem Affront gleichkam. Aber an Bord der NONG-TO galten die sehr viel liberaleren Allianz-Vorschriften, im Gegensatz zu dem auf ovoanischen Schiffen herrschenden Reglement. »Mit Verlaub«, sagte er. »Ich habe es von Anfang an für einen Fehler gehalten, Cy und Algorian mit dem Platzieren der Sprengsätze zu beauftragen. Wir hätten sie sehr viel risikoloser eliminieren können...« Tardralonnen stieß einen grollenden Knurrlaut aus, der den Waffenoffizier regelrecht zusammenzucken ließ. »Wir haben unsere Befehle!«, zischte er dann. »Und als Offizier des Geheimdienstes sollten Sie eigentlich wissen, dass wir alle diesen Befehlen Folge zu leisten haben, ohne auch nur das geringste Detail daran in Frage zu stellen, Waffenoffizier Herrelen!« »Jawohl, Kommandant!«, gab der Waffenoffizier der NONG-TO kleinlaut zurück. Es war allgemein bekannt, dass Herrelen der Ansicht war, dass ihm das Kommando über die NONG-TO zugestanden hätte. Aber Tardralonnen war ihm vorgezogen worden. Herrelen glaubte, dass dies keine Frage besserer Qualifikation
gewesen war, sondern in weitläufigen, verwandtschaftlichen Beziehungen zur Familie des ovoanischen Regenten Qarleinen begründet lag. Dieser hatte offenbar dafür gesorgt, dass die Schlüsselpositionen des Geheimdienstes mit Personen seines besonderen Vertrauens besetzt worden waren. Ab und zu trat die im Hintergrund schwelende Rivalität zwischen Tardralonnen und Herrelen offen zu Tage. Aber der Waffenoffizier war klug genug, es zwischen ihnen beiden nicht zum offenen Konflikt kommen zu lassen. Dazu waren sie beide zu sehr aufeinander angewiesen. Herrelen wusste, dass seine eigene Karriere nur dann voranging, wenn Tardralonnen weiter emporstieg und für ihn den Platz freimachen würde. »Es lässt sich keine Verbindung zu Algorian und Cy herstellen«, erklärte jetzt Larenjos. Die schockgrünen Augen des ceynidischen Kommunikationsoffiziers blickten wie gebannt auf die Anzeigen einer Konsole. »Was soll das heißen, Larenjos? Sie werden doch noch in der Lage sein, eine einfache Kom-Verbindung herzustellen!«, fauchte Tardralonnen. »Kommandant, es scheint sich irgendein Abschirmungsfeld gebildet zu haben, das unsere Signale unterdrückt!« »Ihren Verdacht kann ich nur bestätigen!«, ergänzte Tramsoy-32. »Die Abtaster messen jetzt eine erhebliche Veränderung des Energieniveaus an, aber es wird für unsere Ortungssysteme zunehmend schwieriger, noch etwas aufzuzeichnen!« »Was ist das für ein Feld?«, fragte Tardralonnen. »Feldstruktur unbekannt. Analyse blieb bisher ohne Ergebnis. Es gibt offenbar in unseren Datenspeichern keine passenden Vergleichsmuster.« Tardralonnen bleckte die Zähne. Selbst die Reißer an den Seiten wurden sichtbar. Offenbar gestaltete sich die Ausführung dieser Mission mit einem Mal problematischer, als er gedacht hatte.
Vielleicht hatten diejenigen, die ihm seine Befehle gegeben hatten, Algorian und Cy einfach unterschätzt. Aber es war auch möglich, dass System 23112 Geheimnisse enthielt, von denen nicht einmal die Verantwortlichen der obersten Führung etwas ahnten. »Waffenoffizier!«, rief Tardralonnen »Ja, Kommandant?«, meldete sich Herrelen. »Zünden Sie die Sprengsätze! Und zwar jetzt sofort!« »Jawohl, Kommandant!« Tardralonnens Blick wandte sich in Richtung des großen Panoramaschirms. Die atollähnliche, unregelmäßige Spore Auri war dort zu sehen. Er kniff die tief liegenden Augen zusammen und erwartete in den nächsten Sekunden das grelle Aufleuchten einer Explosion. *** Admiral Nadranos lehnte sich in seinem Schalensitz zurück. Er war nicht nur Kommandant des ceynidischen Verbundraumers STERN VON CEYNOR, sondern auch der Oberbefehlshaber der vereinigten Flotte der Allianz CLARON, die sich am Rand des Heimatsystems der Erinjij zum Angriff bereit gemacht hatte. Der Blick seiner grünen Augen ruhte auf dem Panoramabildschirm. Der Zoom war so eingestellt, dass die Größe der fremden Flotte, die plötzlich am Ort des Geschehens aufgetaucht war, abschätzbar wurde. Es waren Hunderttausende von Raumschiffen, urplötzlich aus dem Hyperraum ins Normaluniversum zurückgekehrt, nachdem das Ultimatum an die so genannten Master, wie sich die Herrscher der Erinjij nennen ließen, ohne irgendeine Reaktion verstrichen war. Aber es waren keine Erinjij-Schiffe – sondern ausnahmslos Einheiten der anorganischen Jay'nac!
»Die Jay'nac-Schiffe haben die Schutzschilde aktiviert«, meldete der Ortungsoffizier. »Sie sind gefechtsbereit!« Admiral Nadranos' Hände krampften sich zu Fäusten zusammen. Eine Nachricht nach Crysral an die Regenten von CLARON mit der Bitte um weitere Befehle war längst abgeschickt worden. Bisher ohne Antwort... Nadranos verstand das nicht. Irgendetwas stimmt da nicht, ging es ihm durch den Kopf. Er war erfahren genug, um so etwas im Gefühl zu haben. Gleichzeitig mit der Nachricht an CLARONs Herrscher war eine Grußbotschaft an die Jay'nac-Schiffe gegangen – bislang war auch sie unbeantwortet geblieben. Der Erste Offizier der STERN VON CEYNOR trat neben den Admiral. Er überragte Nadranos um eine halbe Haupteslänge. Das dunkle Haar war bis auf einen breiten Kamm in der Mitte abrasiert. Sein Name war Estan, und mit seinen dreißig Crysral-Jahren war er bereits ungewöhnlich hoch in der Flottenhierarchie aufgestiegen. »Es gefällt mir nicht, dass unsere Verbündeten gegen die Erinjij hier so urplötzlich auftauchen und uns offenbar die sichere Beute noch vor der Nase wegzuschnappen versuchen!«, sagte er. Nadranos verzog das Gesicht. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. In Wahrheit versuchte er nur seine eigene Unsicherheit und Anspannung zu überspielen. »Die Jay'nac sind nicht unsere Verbündeten«, stellte der Admiral fest. »Nicht offiziell«, gab Estan zu bedenken. »Aber faktisch sind sie es. Schließlich kämpfen die Anorganischen und ihre Verbündeten genauso gegen die Erinjij, wie wir es in Kürze tun werden – vorausgesetzt, die Jay'nac lassen uns noch etwas übrig!«
»Ich will mich ja nicht in Ihre Privatangelegenheiten mischen, Estan, aber kann es sein, dass Ihre martialische Ausdrucksweise dadurch bedingt ist, dass Sie häufigen Umgang mit Ovoanern haben?« »Sie sagen das, als ob es dagegen etwas einzuwenden gäbe!«, erwiderte Estan etwas irritiert. »Die Ovoaner sind schließlich mit uns alliiert!« »Sie sollen vor kurzem an einem ovoanischen Kampf ohne Waffen und Regeln teilgenommen haben!« »Aber nur an der harmlosen Variante, die mit den auf Crysral geltenden Allianzgesetzen im Einklang steht!«, versicherte Estan. »Natürlich...« Admiral Nadranos trat ein paar Schritte vor. Er konnte seine wachsende Ungeduld kaum verbergen und wandte sich an die Kommunikationsoffizierin. »Was ist? Noch immer keine Antwort, Sadrii?« »Nein!«, antwortete die Ceynidin »Versuchen Sie, auf allen Kanälen eine Verbindung zu den Jay'nac herzustellen. Wir brauchen Klarheit über ihre Ziele!« »Liegen die nicht auf der Hand?«, mischte sich Estan ein. Nadranos hob die Augenbrauen und wandte den Blick in Richtung seines Ersten Offiziers. »Glauben Sie wirklich?« »Sie werden zuerst die Erinjij in diesem System auslöschen und sich anschließend uns zuwenden. Habe ich Recht, Admiral?« Nadranos nickte düster. Jetzt schien einzutreten, was CLARON bereits seit langem befürchtete. Die Jay'nac und ihre Verbündeten begannen einen Vernichtungsfeldzug gegen alles organische Leben. Die Vernichtung der Erinjij konnte nur eine Etappe für sie sein. Diese Erkenntnis war es auch, die das lange Zögern der Allianz CLARON begründet hatte, dem Eroberungsfeldzug der Erinjij Einhalt zu gebieten.
»Keinerlei Reaktion auf unsere Versuche, eine KomVerbindung herzustellen«, erklärte inzwischen Kommunikationsoffizierin Sadrii nüchtern. Admiral Nadranos schluckte. Eine Flut von Gedanken jagte ihm durch den Kopf. Er spürte, dass einiges von dem, was er als Fakten voraussetzte, nicht stimmen konnte. Die Widersprüche waren zu groß. Warum antworten weder die Jay'nac, noch die Regenten?, durchzuckte es ihn. Ein anderer Punkt, der ihn stutzig machte, war, dass das Auftauchen der Jay'nac-Flotte zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich überhaupt keinen Sinn machte. In CLARON war man sich einig, dass die Strategie der Anorganischen darin bestand, die Allianz als eine Art Vorhut in den Kampf gegen die unersättlichen Eroberer vorzuschicken, um eigene Kräfte zu schonen. So jedenfalls hatte es in den Besprechungen des Flottenstabes immer geheißen. Aber das jetzige Verhalten der Jay'nac passte einfach nicht dazu. »Ich frage mich, wer den Anorganischen die Koordinaten dieses Systems verraten hat!«, murmelte Nadranos. »Vielleicht sind sie einfach den Energiesignaturen unserer Flotte gefolgt«, vermutete Estan. Aber Nadranos war mit dieser Erklärung nicht zufrieden. »Daran habe ich auch gedacht. Aber Sie wissen selbst, wie schwierig das ist. Außerdem haben sie eine gewaltige Flotte mobilisiert und hergeschickt. Das sieht mir eher so aus, als würden sie einem Plan folgen, der viel langfristiger angelegt ist. Keine Reaktion auf unser Flottenmanöver.« »Und woran denken Sie dann?«, fragte Estan. »Verrat!«, murmelte Nadranos. »Jemand hat den Jay'nac offenbar die Koordinaten des Erinjij-Systems übermittelt!« »Dann müsste es sich um eine Verschwörung auf höchster Ebene handeln!«, gab Estan zweifelnd zu bedenken. »So ist es«, bestätigte Nadranos.
Er mochte diesen Gedanken gar nicht bis in die letzte Konsequenz zu Ende denken. Aber welche andere Erklärung konnte es dafür geben, dass auch die Anorganischen über die Koordinaten des bis dahin unentdeckten Heimatsystems der Erinjij verfügten...? *** Äußerlich wirkte das laschkanische Spähschiff ALLIANZ wie ein pockennarbiger Asteroid. Ein unregelmäßig geformter Gesteinsbrocken, der am Rande der von den Erinjij so genannten Oortschen Wolke durch das All trieb und sich in nichts von den Millionen Materiebrocken zu unterscheiden schien, die ganz in der Nähe ihre teilweise sehr exzentrischen Bahnen um das Zentralgestirn zogen. Die ALLIANZ hatte als erstes Spähschiff CLARONs das Heimatsystem der Erinjij erreicht und zunächst die Position eines getarnten Beobachters eingenommen. Auch beim Eintreffen der gewaltigen Jay'nac-Flotte war ihre Position im Vergleich zu den anderen CLARON-Einheiten weit vorgeschoben. Die ALLIANZ trieb immer weiter in die Oortsche Wolke. Es war nicht bekannt, wie gut die Jay'nac die exzellente Tarntechnik der Laschkanen zu durchschauen vermochten. Fest stand aber, dass die ALLIANZ sich als Raumschiff zu erkennen gab, sobald sie ein deutlich sichtbares Flugmanöver ausführte. Gelendos, der ceynidische Erinjij-Forscher an Bord der ALLIANZ, hatte seine Mahlzeit allein in seiner Kabine eingenommen. Als einziger Nicht-Laschkane in einem laschkanischen Raumschiff musste er sich den Sitten seiner Gastgeber anpassen. Zwar war er offiziell Teil der Crew, aber er wusste sehr genau, dass die Mannschaft um Kommandant Kalam-234 ihn im Grunde nicht als vollwertiges Mitglied ansah. Eher als Barbaren, der normalerweise seine Mahlzeiten obszönerweise vor den Augen anderer einnahm, grelles Licht
bevorzugte und sich wie ein Tier auf eigenen Füßen fortbewegte. Gelendos verließ seine Kabine, nachdem er die Mahlzeit beendet hatte. Es war ihm schon zur Gewohnheit geworden, das Nachtsichtgerät aufzusetzen und zu aktivieren, sobald er den vergleichsweise hell erleuchteten Bereich seiner Kabine verlassen hatte. Die Schiebetür schloss sich hinter ihm. Auf dem Korridor herrschte beinahe vollkommene Finsternis. Zwei laschkanische Bordoffiziere kamen Gelendos entgegen und schwebten als bleiche Gestalten an ihm vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Gelendos erreichte schließlich die Zentrale. Kommandant Kalam-234 schwebte etwas erhöht. Er drehte sich zu dem Forscher um, als dieser eintrat. »Gut, dass Sie Ihr Unaussprechliches beendet haben«, begrüßte er den Spezialisten für Erinjij-Forschung. Mit dem Unaussprechlichen war das Aufnehmen von Nahrung gemeint, wie der Gelehrte inzwischen wusste. »Wir benötigen Ihre Dienste, Gelendos!« »Worum geht es?« »Es hat offenbar Kontakt zwischen Jay'nac und Erinjij gegeben«, erklärte Kalam. »Wir konnten Signale zwischen einem etwa auf der Höhe des äußersten Planeten postierten Erinjij-Schiffs und den Jay'nac empfangen und teilweise entschlüsseln.« »Anscheinend zeigen die Erinjij mehr Neigung, mit den Jay'nac zu verhandeln als mit uns«, stellte Gelendos fest. »Schließlich haben sie unser Ultimatum schlicht und ergreifend ignoriert.« »Möglicherweise sehen die Erinjij in uns nichts weiter als Vasallen im Dienst der Anorganischen. Niedere Chargen, mit denen es sich nicht lohnt, Verhandlungen zu führen.« »Zeigen Sie mir die Botschaft.«
»Sofort. Zunächst muss ich ein Schattenfeld um Sie herum aktivieren. Unser Chefingenieur hat die Konsole drei dahingehend verändert, dass man mit ihrer Hilfe Projektionsfelder aktivieren kann, wie sie die Feuervölker gewohnt sind.« Der Laschkane zögerte, ehe er fortfuhr: »Sie verzeihen mir diesen Ausdruck. Er soll keinesfalls meine Geringschätzung zum Ausdruck bringen.« Feuervölker... So nannten die Laschkanen sämtliche Spezies, die es gewohnt waren, in einem wesentlich höheren Helligkeitsniveau zu existieren als es auf der Dunkelwelt Laschkan üblich war. Traditionellerweise wurde der Begriff jedoch mit dem zerstörerischen Lichtgott in Verbindung gebracht und hatte daher ursprünglich eine negative Bedeutung. Gelendos trat an die Konsole heran, und das Schattenfeld wurde aktiviert. Es ähnelte jenen Feldern, mit denen sich Laschkanen in für sie zu lichtintensiven Umgebungen schützten. Dass sich Kalam die Mühe gemacht hat, mir diesen Zugang zu den eingehenden Daten zu ermöglichen, lässt darauf schließen, dass er meine Arbeit langsam zu schätzen weiß, dachte Gelendos. Zu Beginn der Mission hatte der Gelehrte Informationen nur aus zweiter Hand erhalten. Die Laschkanen auf der Brücke der ALLIANZ ließen eingehende Daten über spezielle Interfaces direkt in ihre Hirnrinde projizieren und waren daher von Licht emittierenden Projektionen und Displays unabhängig. »Berühren Sie das Sensorfeld«, hörte Gelendos die Anweisung des Kommandanten. Der Ceynide gehorchte. Ein Rechnersystem startete, und wenig später entstand ein Projektionsfeld. Symbole in laschkanischer Schrift flimmerten über die virtuelle Oberfläche der Projektion, bis endlich die Botschaft der Erinjij gezeigt wurde.
Ein Wesen mit einem massiven Körper und zahlreichen Extremitäten erschien in dreidimensionaler Qualität in der Projektionsfläche. »Ein Keelon!«, entfuhr es Gelendos unwillkürlich. In einem besonderen Fenster innerhalb der Projektionsfläche wurde eine Identitätskennung eingeblendet. Sowohl in Original-Erinjij-Schriftzeichen, als auch in der laschkanischen Entschlüsselung sowie im Zeichen-Standard der Allianz. ARABIM, ERSTER DER MASTER, stand dort. Es schloss sich eine wirre Zeichenfolge an. Vermutlich ein Code. Kann das sein?, ging es Gelendos durch den Kopf. Werden die Erinjij von einem Keelon beherrscht? Er hatte seine gesamte akademische Karriere der Sammlung aller nur verfügbarer Informationen über die skrupellosen Eroberer gewidmet, die die Galaxis mit ihrem scheinbar unaufhaltsamen Eroberungszug heimsuchten. Aber davon, dass die gefürchtetsten Krieger der Galaxis offenbar von Keelon beherrscht wurden, hatte er noch nie etwas gehört. Die Identität der Master war zwar unbekannt gewesen – aber Gelendos hatte nie daran gezweifelt, dass es sich dabei um Erinjij handelte! Der Keelon, dessen Name Arabim war, sagte offenbar etwas. Doch seine Worte waren nicht zu verstehen. Eine dichte Folge schriller, abgehackter Laute begleitete die Bildsequenz. »Was ist mit der Aufzeichnung der Sprache passiert?«, fragte Gelendos. »Die Daten sind extrem fragmentiert«, erklärte Kalam-234. »Bislang ist es uns nicht gelungen, die Verschlüsselung zu knacken, mit deren Hilfe wir das Audio-Signal wiederherstellen könnten.« »Sehen Sie noch eine Chance, an den Inhalt der Botschaft heranzukommen?«, hakte Gelendos nach. »Durchaus. Aber es wird eine Weile dauern.« »Ich fürchte, die haben wir nicht, Kommandant.«
Gelendos berührte das Sensorfeld und gelangte in das interne Rechnermenü der Konsole. Er fand die Funktionen, mit denen er sowohl die Projektion als auch das ihn umgebende Schattenfeld deaktivieren konnte. Er hatte genug gesehen. »Ich hoffe, Sie haben diese Botschaft an Admiral Nadranos weitergeleitet!«, sagte er an den Kommandanten gewandt. Kalams Köper hing regungslos in den Haltegurten seines Antigravaggregats. Er wandte noch nicht einmal den voluminösen Kopf, an dessen Schläfen eine Ader sehr auffällig pulsierte. Seine empfindlichen Augen hatte er geschlossen. Wahrscheinlich wollte er sich auf diese Weise besser auf die Anzeigen konzentrieren, die ihm über sein Interface direkt ins Gehirn projiziert wurden. »Das ist geschehen«, erklärte er schließlich nach einer kurzen Pause. Der Kommunikationsoffizier meldete sich zu Wort. »Befehl von Admiral Nadranos. Volle Gefechtsbereitschaft aufrecht erhalten und Schutzschilde aktivieren!« »Wenn wir unsere Schutzschilde aktivieren, wird unsere Tarnung hinfällig«, sagte Kalam. Die Schilde konnten von Jay'nac und Erinjij sofort angemessen werden. Spätestens dann war klar, dass der Gesteinsbrocken, den die ALLIANZ rein äußerlich darstellte, in Wahrheit ein Raumschiff war. »Gefechtsbereitschaft wird aufrechterhalten«, bestimmte Kalam. »Aber auf die Aktivierung der Schutzschilde verzichten wir einstweilen.« »Es handelt sich um einen Befehl des kommandierenden Admirals!«, gab der Kommunikationsoffizier zu bedenken. Er hob dabei sogar seine Hand, eine für ihn sicher anstrengende Geste, die die Eindringlichkeit seines Einwandes unterstreichen sollte.
»Der Admiral kommandiert die Flotte, ich dieses Schiff. Die Anweisung mag für alle anderen Einheiten der Flotte gelten, aber wir sind in einer Situation, die nicht vergleichbar ist.« Der Ortungsoffizier meldete sich zu Wort. »Kommandant, die Jay'nac-Einheiten in unserer Umgebung aktivieren ihre Waffensysteme. Darauf weisen jedenfalls die angemessenen Energiesignaturen hin. Sie bereiten sich auf die Schlacht gegen die Erinjij vor. Deren Schiffe sind zu weit entfernt, um uns gefährlich werden zu können. Wir haben also nichts zu befürchten.« »Sie gehen davon aus, dass die Jay'nac gegen die Erinjij kämpfen werden?«, fragte Gelendos. »Sie etwa nicht?«, fragte Kalam spöttisch. »Die Erinjij hielten es offensichtlich nicht für nötig, weitere Einheiten ihrer großen Flotte hierher zu beordern. Jedenfalls konnten wir bisher keinerlei derartige Flottenbewegungen beobachten. Richtig?« »Richtig«, bestätigte Kalam-234. »Aber mir ist ehrlich gesagt noch nicht so recht klar, worauf Sie eigentlich hinaus wollen!« »Die Jay'nac kannten die Koordinaten dieses Systems. Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder haben Sie Agenten auf Crysral, die an derartige Informationen herankommen können; oder sie sind unserer Flotte gefolgt, was ich nicht glaube, denn auch die Jay'nac brauchen etwas Zeit, um eine derart große Armada zu mobilisieren.« »Sie sprachen von drei Möglichkeiten«, hakte Kalam nach. »Die dritte Möglichkeit ist, dass sie von Anfang an wussten, wo sich das Heimatsystem der Erinjij befindet...« »... und die Erinjij wussten, dass diese Flotte hier auftauchen wird! Sie haben ihre eigenen Einheiten nicht herbeordert, weil sie Verbündete sind!«, vollendete Kalam. »Achtung! Einheiten der Jay'nac aktivieren ihre Zielsysteme«, meldete in diesem Augenblick der Ortungsoffizier. »Sie feuern!«
Kalam-234 sah vor seinem inneren Auge über das Interface eine Explosion aufleuchten. Er zoomte etwas näher heran. Die ALLIANZ war zu weit vom Ort des Geschehens entfernt, um jedes Detail aufzuzeichnen, aber was der Kommandant zu sehen bekam, reichte ihm. Einer der ceynidischen Verbundraumer war getroffen worden. Die kugelförmige Zentraleinheit zerplatzte. Die Ringsektion war zwar nur durch ein Kraftfeld mit der zentralen Kugeleinheit verbunden, konnte sich aber dennoch nicht schnell genug lösen. Der Ring wurde förmlich auseinander gerissen. Eine weitere Detonation folgte. Glühende Trümmerteile wurden durch das All geschleudert. In diesem Augenblick ging eine Erschütterung durch die ALLIANZ. Gelendos versuchte vergeblich, sich an seiner Konsole festzuhalten. Der Ceynide verlor den Halt und wurde zu Boden geschleudert. Bei den Laschkanen aktivierte sich eine automatische Sicherungsfunktion ihrer Antigravaggregate. Gravo-Felder verhinderten, dass sie gegen Wände oder Konsolen geschleudert wurden. Sie wirkten wie unsichtbare Polster. »Wir werden angegriffen!«, meldete der Pilot. »Schutzschilde aktivieren, auf Ausweichkurs gehen und zurückfeuern!«, ächzte Kalam-234 seine Befehle. Aber bevor die Crew der ALLIANZ dazu in der Lage war, erschütterte ein zweiter Treffer das laschkanische Spähschiff. »Schäden in den Decks zwei und drei!«, meldete der Kommunikationsoffizier. »Die Schutzschilde lassen sich nur noch auf siebzig Prozent bringen und die Geschützbatterie zwei ist ausgefallen.« Für ein paar Augenblicke galt die Funktionsstörung auch für die per Interface ins Hirn projizierten Anzeigen.
Kalam-234 und seine Crew waren für wenige Momente vollkommen blind. Als die Anzeige wieder funktionierte, war es beinahe zu spät. Auf ihrem Ausweichkurs kam die ALLIANZ einem der Materiebrocken sehr nahe, die die Oortsche Wolke bildeten. Der Materiebrocken hatte etwa die zehnfache Größe des Spähschiffs. Angesichts der nur teilweise intakten Schutzschilde hätte ein Zusammenprall katastrophale Auswirkungen gehabt. Die Kollision konnte im letzten Moment verhindert werden. Der Pilot ließ die ALLIANZ dicht an dem zum Großteil aus Eis bestehenden Objekt vorbeifliegen. »Pilot Fereng-90!«, rief Kalam. »Ja, Kommandant?« »Ich sorge dafür, dass für dieses Flugmanöver eine Belobigung in Ihre persönliche Datei geschrieben wird. Und jetzt sorgen Sie dafür, dass wir hier lebend rauskommen!« Kalam aktivierte vor seinem inneren Auge eine schematische Anzeige, die ihm deutlich machte, in welcher Lage sich die ALLIANZ im Augenblick befand. Durch das Ausweichmanöver war sie tiefer in das von den Jay'nac-Schiffen eingenommene Terrain hineingeflogen, als irgendjemandem an Bord lieb sein konnte. Überall brachen jetzt zwischen den Einheiten CLARONs und jenen der plötzlich aufgetauchten Jay'nac-Flotte heftige Kämpfe aus. Kalam sah, wie mindestens drei weitere Verbundraumer der Ceyniden sowie ein kegelförmiges RoghSchiff unter dem heftigen Beschuss der Jay'nac zerbarsten. Fast könnte man auf den Gedanken kommen, dass unsere Flotte hier in eine Falle gelockt wurde!, ging es Kalam-234 durch den Kopf. Der Angriff der Jay'nac war massiv. Außerdem schienen noch immer frische Einheiten das Erinjij-System zu erreichen.
Im Zickzack-Kurs lenkte der Pilot die ALLIANZ zwischen verschiedenen durch das All geisternden Gesteinsbrocken hindurch und versuchte so, das Schiff aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu steuern. Mehrere Jay'nac-Schiffe waren allerdings auf die ALLIANZ aufmerksam geworden. Sie lösten sich aus den keilförmigen Formationen der angreifenden Jay'nac, um auf Kollisionskurs mit der ALLIANZ zu gehen. »Wir scheinen mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, als uns gut tun kann!«, kommentierte Pilot Fereng-90 dies. »Die Jay'nac scheinen zu vermuten, dass wir irgendeine herausragende Position im taktischen Konzept unserer Flotte einnehmen, sonst würden sie uns nicht so viele Jäger auf den Hals hetzen!« »Bei den Göttern aus Licht und Dunkelheit!«, entfuhr es Kalam. »Es wäre schön, wenn unsere Flotte überhaupt ein taktisches Konzept hätte!« Aber die Taktik der CLARON-Flotte war auf eine Invasion des Erinjij-Systems ausgerichtet gewesen, nicht auf eine Begegnung mit einer zahlenmäßig überlegenen Flotte aus Jay'nac-Schiffen. »Feindeinheiten nähern sich!«, stellte der Ortungsoffizier fest. Kommandant Kalam-234 gab den Feuerbefehl, und aus den Geschützbatterien der ALLIANZ schossen schwere Fusionstorpedos. Eines der kleineren Jay'nac-Schiffe wurde getroffen und trudelte auf einem unkontrollierbaren Kurs davon, stieß mit einem der im Außenbereich der Oortschen Wolke schwebenden Eisklumpen zusammen. Die Schutzschilde leuchteten auf – und erloschen. Der nächste Torpedo traf wenige Augenblicke später und verwandelte das Jay'nac-Schiff in eine Miniatur-Sonne. Der Kampf ums Überleben hat begonnen!, durchzuckte es Gelendos.
Er war inzwischen an seine Konsole zurückgekehrt und hatte den Schattenschirm und sein Projektionsfeld aktiviert, um das Geschehen mitverfolgen zu können. Man musste schon ein in taktischen Fragen erfahrener Flottenoffizier sein, um zu erkennen, welche Seite die Überhand hatte. Überall waren die CLARON-Einheiten auf dem Rückzug, Hunderte von ihnen waren schon getroffen worden. Andererseits hatte Admiral Nadranos' Befehl die Schiffe gerade noch rechtzeitig in Alarmbereitschaft versetzt, und es schien Gelendos so, als wäre er den Jay'nac taktisch überlegen. Die Situation der ALLIANZ war natürlich besonders prekär. Nicht nur deshalb, weil sie sich tief hinter den Reihen der Jay'nac-Schiffe befand, sondern auch weil sie ein spezielles Späh-Schiff war, keine schwere Kampfeinheit. Ihre Wendigkeit kam ihr nun allerdings zustatten. Auf einer schematischen Darstellung in einem Nebenfenster vermochte auch Gelendos den Kurs der ALLIANZ zu verfolgen. Der Pilot flog ein gewagtes Manöver, das das Spähschiff mitten in ein dichtes Feld von Materiebrocken hineinführte. Die feindlichen Verfolger nahmen die ALLIANZ unter Beschuss. Das schwere Blasterfeuer zersprengte dabei mehrere Eisbrocken, aber die ALLIANZ kam davon. Die durch das All geschleuderten Materiebrocken konnten von den Schutzschilden mühelos abgewehrt werden. »Gegenfeuer!«, befahl Kalam-234. Der Chefingenieur vom Maschinendeck meldete sich zu Wort. Auf der Anzeige vor Kalams innerem Auge erschien nicht das Gesicht des Chefingenieurs, sondern nur sein Symbol und sein Sicherheitscode. Es war unter Laschkanen unüblich, bei Herstellung einer Kom-Verbindung ein Bildsignal zu versenden. Dies galt sowohl im privaten als auch im dienstlichmilitärischen Bereich. Aber in einer Kultur, in der zu langes
Anstarren als unhöflich galt und direkter Blickkontakt vermieden wurde, war das nicht weiter verwunderlich. »Hier Raynor-112!«, sagte der Ingenieur. »Was gibt es?«, fragte Kalam, während die noch intakten Geschützbatterien der ALLIANZ in Aktion traten und tatsächlich einen der Jay'nac-Verfolger erwischten. Der Treffer sorgte zwar nicht für die Zerstörung des Schiffes, aber es verlor sichtlich an Geschwindigkeit und schied aus der Verfolgergruppe aus. Offenbar waren für die Manövrierfähigkeit dieser Einheit wichtige Systeme beschädigt worden. Die entsprechenden Meldungen des Waffenoffiziers hörte Kalam wie aus weiter Ferne. »Kommandant«, rief Raynor. »Wenn wir weiter so herumballern und gleichzeitig die Impulstriebwerke so stark belasten, werden wir bald nicht mehr genug Energie haben, um die Schutzschilde auf über siebzig Prozent zu halten!« »Das bedeutet eingeschränkte Schutzfunktion«, murmelte Kalam-234. »Ganz genau!« »Tut mir Leid, das müssen wir in Kauf nehmen.« »Kommandant, bei einem der letzten Treffer, die die ALLIANZ bekommen hat, ist irgendetwas mit den Energiekonvertern geschehen«, setzte der Ingenieur seinen Bericht fort. »Die Leistung sinkt – zwar nicht schnell aber beständig!« »Versuchen Sie herauszubekommen, was damit los ist!« »Dazu benötige ich Zeit!« »Ich fürchte, die Jay'nac werden uns diese Zeit nicht geben, Raynor! Tun Sie, was Sie können und beten Sie zum Gott der Finsternis, dass uns das grelle Licht des Todes erspart bleibt.« ***
Das Rascheln von Millionen Rogh-Flügeln erfüllte den Raum mit einem fein strukturierten Klangteppich, dessen Nuancen einzigartig und unwiederholbar waren. Die Flügelpaare, die dieses Rascheln erzeugten, waren unvorstellbar weit entfernt. Das Rascheln wurde mit einer Hyperfunk-Transmission von Farsal, dem Hauptplaneten der Rogh, übertragen. Es half einem Rogh dabei, innere Ausgeglichenheit zu finden und sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen, auch wenn er weit vom Ursprung des Raschelns entfernt sein mochte. So wie Kerrgh, Regent der Rogh, der seit geraumer Zeit auf der CLARON-Zentralwelt Crysral weilte. Kerrgh zog das Rascheln der Metropole As-Farsal jenem der Rogh-Kaverne auf Crysral deutlich vor. Aber natürlich wusste er sehr wohl, dass die audiotechnische Übertragung des heimatlichen Raschelns allenfalls ein Hilfsmittel zur Erlangung innerer Balance war. Es konnte sie aber nicht herstellen, wenn fundamentale innere Widersprüche dies verhinderten. Kein noch so harmonisches Rascheln wird dir deinen inneren Frieden wiedergeben können!, durchzuckte es Kerrgh. Er kauerte versunken auf einer Sitzmatte von erlesener Qualität. Sie war mit kunstvollen Mustern verziert, deren Anblick den Geist bei der Meditation frei machte. Aus der Arrlagh-Lehre bekannte Symbole waren darin sehr fein und auf den ersten Blick kaum erkennbar eingearbeitet. Kerrghs Flügelmembrane bildete ein chaotisches Muster aus scheinbar ineinander laufenden Farben. Rottöne herrschten vor, und es gab scharfe Kontraste. Sie waren ein Spiegelbild seiner Seele. So sehr sich der schmetterlingshafte Kerrgh auch darum bemühte, den inneren Aufruhr zu beherrschen, der in ihm tobte, so gering waren seine Erfolge dabei. Da half es auch nicht, dass er seine so genannte Heilige Zeit, die er täglich in einem tranceähnlichen, selbstversenkten Zustand verbrachte, verdoppelt hatte. Für das Ausmaß an
Psychohygiene, das der Regent der Rogh offenbar nötig hatte, reichte das bei weitem nicht aus. Was ist Identität?, ging es ihm durch den im Vergleich zum Gesamtkörper winzigen Kopf. Was macht das Sein eines denkenden Wesens aus? Er hatte diese Dinge einmal gewusst. War sich der Antworten auf die fundamentalen Fragen eines Rogh-Lebens relativ sicher gewesen. Aber das war vorbei, es gab keine Gewissheit mehr. Kerrgh wusste, dass sein Körper ein Klon war, der den ursprünglichen Rogh-Regenten während dessen Reise von Farsal nach Crysral ersetzt hatte. Ein Klon, hergestellt und konditioniert von den anorganischen Jay'nac, aber beseelt mit einer Bewusstseinskopie des Original-Kerrgh. Anfangs war dieser Umstand nicht weiter problematisch für ihn gewesen. Er hatte nicht darüber nachgedacht. Offenbar verhinderte eine psychische Konditionierung, dass er zu intensiv über derartige Fragen nachdachte. So wie sie auch dafür sorgte, dass er sich den Jay'nac gegenüber loyal verhielt. Aber die Konditionierung hatte Risse bekommen. Auch wenn Kerrghs Bewusstsein nur eine Kopie des Originals darstellte, so war doch alles darin vorhanden, was auch den ursprünglichen Kerrgh ausgezeichnet hatte. Schließlich war jene Kopie einst dafür geschaffen worden, um mit den Jay'nac im Namen der Allianz zu verhandeln. Die ethischen Grundsätze der Arrlagh-Meditationsschule waren sehr fest in Kerrghs Persönlichkeit verankert. Die Konditionierung, der er zu folgen hatte, stand zu diesen Grundsätzen im krassen Gegensatz. Es war, als ob zwei verschiedene Konditionierungsprogramme in ihm um Einfluss kämpften. Die Oberhand hatte das Programm der Jay'nac, dafür hatten sie gesorgt – mit welchen Methoden auch immer... Aber die ursprüngliche Bewusstseinsschicht ließ sich nicht einfach zum Schweigen bringen. Auch wenn es Augenblicke gab, in denen sich Kerrgh genau dies wünschte: ein
Verstummen dieser inneren Stimme, die immer wieder darauf hinwies, dass es falsch war, was er tat. Ein Summton durchdrang den Klangteppich des Raschelns. Kerrghs Fühler gerieten kurzzeitig in eine schwingende Bewegung. »Wer ist da?«, fragte er. Der Klang seiner Stimme aktivierte eine Interkomverbindung. Eine holografische Projektion entstand, zeigte Kerrgh, wer zu ihm vorgelassen werden wollte. Es handelte sich um einen Rogh im Purpurgewand der ArrlaghSchule. Zwei Wächter befanden sich in seiner Nähe. »Hier spricht Zarrorgh, Ihr neuer Arrlagh-Meister«, kam es aus dem Lautsprecher. »Ich bin soeben mit dem Raumschiff aus As-Farsal hier angekommen.« »Ich habe Sie schon erwartet«, erwiderte Kerrgh. Er hatte keinen der Arrlagh-Meister aus der Rogh-Kaverne von Crysral nehmen wollen. Unter dem Eindruck des Zusammenlebens mit Angehörigen so vieler anderer galaktischer Völker hatte sich auch die Lebensweise der crysralischen Rogh leicht verändert. Dies galt natürlich auch für die Praktiken der vier Meditationsschulen der Rogh. Kerrgh wollte sich sicher sein, während seiner heiligen Zeit Rat und Hilfe von einem Meister zu erhalten, der die traditionelle Praxis des Arrlagh wirklich beherrschte und sie nicht durch fremde Einflüsse verfälschte. Eine Schiebetür öffnete sich, Zarrorgh schwebte herein und ließ sich in einigem Abstand zum Ersten Rogh nieder. Seine Flügelmembranen zeigten ein verwaschenes Muster aus blassen Pastelltönen. Die innerlich ausgeglichene psychische Verfassung des Arrlagh-Meisters spiegelte sich darin wider. Kerrgh blickte kurz zu der Holoprojektion, die plötzlich erstarrt war und nun ein etwa fünfzig Zentimeter großes Standbild des Arrlagh-Meisters zeigte. Ein Nebenfenster bildete sich.
Die Anzeige verriet Kerrgh, dass Zarrorgh sämtliche Sicherheits-Checks anstandslos durchlaufen hatte. Er deaktivierte die Projektion. »Sie benötigen meine Dienste, Erster der Rogh«, sagte der Arrlagh-Meister. Er hat dies nicht im Tonfall einer Frage, sondern einer Feststellung gesagt!, ging es dem Rogh-Regenten durch den Kopf. Furcht kam in ihm auf. Furcht davor, dass sein Gegenüber ihn durchschaute, bis auf den Grund seiner zutiefst gespaltenen Seele. Diese Angst spiegelte sich augenblicklich in der Färbung seiner Flugmembranen. Es ist das Programm der Jay'nac, das dir diese Furcht einflüstert!, durchzuckte es ihn. Aber diese Erkenntnis änderte nicht das geringste an ihrem Vorhandensein. »Kommen Sie näher, Zarrorgh«, forderte Kerrgh. Der Meditationsmeister gehorchte. Seine Fühler waren nach vorn gerichtet. Sie waren vollkommen ruhig. Die Färbung der Flugmembranen veränderte sich nicht. Welch ein Bild innerer Disziplin und Selbstbeherrschung, dachte Kerrgh bewundernd. »Manchmal bewundere ich jene galaktischen Völker, die Träume kennen und sich dem Schlaf hingeben dürfen, wie die Ceyniden oder die Ovoaner«, sagte Kerrgh. »Selbst die Erinjij schlafen angeblich!« »Schlaf und Bewusstlosigkeit sind Ausdrucksformen des Todes«, erwiderte Zarrorgh und zitierte damit einen Lehrsatz der Arrlagh-Schule. »Dennoch wäre zeitweiliges Vergessen durchaus angenehm«, stellte Kerrgh dem entgegen. Man musste sich nicht einmal besonders in der emotionalen Farbenlehre von Rogh-Flügeln auszukennen, um zu spüren,
dass er diese Aussage aus einem tiefen inneren Schmerz heraus formulierte. »Vergessen wollen ist eine Fluchtreaktion. Flucht ist die Handlungsweise von Tieren. Von Barbaren.« »Dennoch... Manchmal frage ich mich, ob die Tatsache, dass die Rogh keinen Schlaf im Sinne der anderen Völker kennen, sondern ihre Seele während der so genannten Heiligen Zeit bei vollem Bewusstsein reinigen müssen, wirklich effektiver ist als das, was die Natur vorgesehen hat.« »Die Natur?«, echote Zarrorgh. »Was ist die Natur? Sind die Kerrgh nicht ein Teil dieser Natur?« »Gewiss, wenn überhaupt eine intelligente, sich selbst bewusste Spezies im Universum Teil der Natur geblieben ist, dann sind das zweifellos wir Rogh«, sagte Kerrgh. »Andererseits könnte unser Bedürfnis nach vollkommener Harmonie mit allen Kreaturen und aller Materie durchaus auch ein Ausdruck unserer tatsächlichen Abgehobenheit von diesem Urgrund allen Seins bedeuten.« »Das ist durchaus möglich«, gestand der Arrlagh-Meister zu. »Aber das macht unsere Bemühungen, eins zu sein mit dem Universum und allen Dingen, nicht sinnlos...« Kerrgh bemerkte bei seinem Gegenüber eine winzige Veränderung in der Färbung der Flugmembranen. Für ein paar Augenblicke hatte sich dort ein blutroter, sich ausbreitender Fleck von ungewöhnlich starker Farbintensität gezeigt. Innerhalb weniger Sekunden war er anschließend jedoch verblasst. Er muss etwas bemerkt haben, das ihn beunruhigt!, überlegte Kerrgh. Arrlagh-Meister verfügten über ein sehr großes Wissen über die Körpersprache. In früheren Epochen hatte man ihre Fähigkeit, in das Innere eines Rogh zu schauen, für Magie gehalten. In Wahrheit beruhte das alles in erster Linie weder auf Magie noch auf Parakräften, sondern schlicht und ergreifend auf genaue Beobachtung körperlicher Reaktionen.
Einen Augenblick lang dachte Kerrgh darüber nach, diesen Meditationslehrer wegzuschicken, ehe es zu gefährlich wurde. Andererseits würde er dadurch erst recht das Misstrauen seines Gegenübers erregen. Zudem benötigte Kerrgh dringend die Hilfe eines Arrlagh-Meisters. In seinem Inneren herrschte Chaos. Seine Seele hatte einen Grad an Zerrissenheit erreicht, die ihm das Gefühl gab, in Kürze explodieren zu müssen. Am liebsten hätte er Zarrorgh gegenüber das getan, was Ovoaner und Neeg ihr Herz ausschütten nannten. Rogh besaßen kein Herz. Der Sitz ihrer Emotionalität wurde von den Rogh traditionellerweise in ihren Flügeln lokalisiert. Es wäre so leicht!, durchzuckte es ihn. Ich müsste ihm alles sagen... Aber die Konditionierung der Jay'nac wird das verhindern. »Darf ich fragen, was Sie veranlasst hat, Ihren ArrlaghMeister zu wechseln!«, fragte Zarrorgh. Das traf Kerrghs wunden Punkt, die Färbung der Flugmembranen ließ daran nicht den Hauch eines Zweifels. Er versuchte die Kontrolle über sein inneres Chaos wiederzuerlangen – vergeblich... Bilder stiegen in ihm auf. Bilder des Grauens, die er mühsam unter der Oberfläche seiner Seele gehalten hatte. Aber so tief er sie auch zu versenken versuchte, sie tauchten immer wieder nach oben. Für einen Augenblick fühlte sich Kerrgh wieder in jene Situation zurückversetzt, in der er das größte Tabu der ArrlaghLehre gebrochen hatte. Er hatte einen Mord begangen! Wie automatisch war das innere Programm der Jay'nac abgelaufen, das ihn von Zeit zu Zeit beherrschte. Die Extremitäten eines Rogh waren dünn und zerbrechlich. Richtig eingesetzt konnten sie jedoch zur tödlichen Waffe werden. Ein schneller Stoß an eine ganz bestimmte Stelle zwischen Kopf und dem sehr grazilen Körper hatte dem Leben des
Arrlagh-Meisters Shatragh ein Ende gesetzt. Genau in dem Moment, als dieser erkannt hatte, dass es nicht der wahre Kerrgh war, dem er helfen sollte, seine seelische Stabilität zu gewinnen. »Diese Frage scheint Sie sehr zu beunruhigen«, stellte Zarrorgh fest. »Weshalb erkundigen Sie sich nach Ihrem Vorgänger?«, wich Kerrgh aus. »Ihr bisheriger Arrlagh-Meister war der ehrenwerte Shatragh, nicht wahr?« »Das ist richtig, Meister Zarrorgh.« »Er gilt als einer der vollkommensten Vertreter der ArrlaghSchule, und es ist sogar im Gespräch, dass er in Kürze den Posten des Dekans einnehmen wird.« »An seiner fachlichen und spirituellen Qualifikation gibt es sicherlich keinen Zweifel«, stimmte Kerrgh zu. »Dann waren Sie nicht etwa unzufrieden mit den Diensten Meister Shatraghs?« »Nein.« »Das erleichtert mich« sagte Zarrorgh. »Zwar ist es eine große Ehre, dem Ersten der Rogh durch seine Heilige Zeit zu helfen, aber wenn schon Meister Shatragh Sie nicht zufrieden stellen konnte – wie wäre das dann einem deutlich rangniedrigeren Arrlagh-Meister wie mir möglich?« »Meister Shatragh hat sich zurückgezogen. Die Gründe dafür sind persönlicher Natur und wir müssen sie nicht weiter zu erörtern«, sagte Kerrgh. Er war froh darüber, die Kontrolle über seine Psyche jetzt einigermaßen wiedererlangt zu haben. Seine Fühler waren ruhig und zitterten nicht. Die Rotfärbung seiner Flügel ließ etwas nach. Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Schließlich sagte Kerrgh: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir mit den Meditationsritualen beginnen könnten. Meine Heilige Zeit ist knapp. Und es beginnt bald eine weitere
Sitzung des CLARON-Krisenstabes, zu der ich maximale mentale Ausgeglichenheit benötige.« »Ich verstehe, dass Sie sich dem von den anderen Völkern geforderten Zeit-Reglement hier auf Crysral unterordnen müssen«, erwiderte Zarrorgh und neigte dabei leicht den Kopf und die Fühler. »Dann weiß ich nicht, worauf Sie noch warten.« »Auf Ihre Bereitschaft, Erster der Rogh«, erklärte der Arrlagh-Meister Ein Satz, der Kerrgh wie ein Keulenschlag traf. Schick ihn fort!, schrie eine innere Stimme. Er sieht zu viel. Der Regent ignorierte sie. »Ich bin bereit.« »Nein, das sind Sie offensichtlich nicht. Ich sehe, dass Sie jemand sind, in dem unvorstellbare seelische Spannungen herrschen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich in der Lage bin, Ihnen zu helfen.« »Ich brauche Ihre Hilfe!«, rief Kerrgh beinahe flehend. »Es geht so nicht weiter!« »Das glaube ich Ihnen.« »Beim Rascheln von As-Farsal! Dann fangen Sie doch an!« »Es hat keinen Sinn. Wenn Sie sich nicht öffnen, bleiben die Meditationsformeln des Arrlagh nichts als tote Rituale.« Der Arrlagh-Meister richtete sich auf und schwebte empor. Er war bereits bei der Tür, als Kerrghs Ruf ihn zurückhielt. »Warten Sie!«, forderte er. »Lassen Sie mich nicht allein, Meister!« Zarrorgh drehte sich um, zögerte. Seinen geschulten Augen entging nichts. Schließlich kehrte er zurück und ließ sich erneut nieder. »Also gut«, sagte er. »Ich werde es versuchen.« »Ich danke Ihnen.« »Auf Ihre Verantwortung, Regent!« »Ja«, stimmte Kerrgh zu. »Ich halte es einfach nicht mehr aus.« Ein Summton war zu hören.
Einer der Wächter des Ersten der Rogh meldete sich über eine Kom-Verbindung. »Regent Kerrgh, ich sollte Sie an den Beginn der Sitzung des Krisenstabes erinnern.« »Ich werde mich heute etwas verspäten«, murmelte Kerrgh und wandte sich seinem Meister zu... *** »Wo ist Zegrian?« »Keine Ahnung. Er war schon bei der letzten Sitzung des Krisenstabes nicht zugegen.« »Ist doch irgendwie merkwürdig, dass der alte Magranor sich verkriecht, jetzt wo es hart auf hart gegen die Erinjij geht!« Die Unterhaltung der beiden ceynidischen Offiziere des Sicherheitsdienstes der Flotte verstummte, als Ooras-Fonto, seines Zeichens Regent der echsenartigen Neeg, in ihre Nähe trat. Ooras-Fonto wusste, dass mit dem Begriff Magranor ein auf Ceynor beheimateter Raubvogel mit einer Flügelspannweite von bis zu zehn Metern gemeint war. Außerdem kannte er die ceynidische Kultur genug, um zu wissen, dass ein Magranor in politischen Diskussionen als Synonym für einen militaristischen Hardliner galt. Der Regent musterte die beiden Offiziere einige Augenblicke mit seinen Facettenaugen. Ihm war bekannt, dass sich die psychische Verfassung von Ceyniden in den Gesichtszügen widerspiegelte. Allerdings hatte Ooras-Fonto bisher vergeblich versucht, die Bedeutungsnuancen ceynidischer Mimik zu ergründen. Mit den Gesichtern von Aorii ging es ihm ähnlich. Nur das Antlitz eines Erinjij erschien ihm einfach abgrundtief böse zu sein – ganz gleich, wie dieser die Haut mit Hilfe seiner Wangenmuskulatur auch verziehen oder den Winkel seiner Behaarungsstreifen über den Augen auch verändern mochte.
»Haben Sie etwas darüber gehört, wo sich Zegrian aufhält?«, fragte der Neeg-Herrscher. Die beiden Ceyniden schienen überrascht darüber zu sein, dass ihr Gegenüber auf das Thema ihres Gesprächs einging. Ooras-Fonto wusste, dass der Größere von ihnen Makalos und der Kleinere Derandii hieß. Bei Derandii vermutet Ooras-Fonto, dass es sich um einen weiblichen Ceyniden handelte. Zwar trug Derandii ihre Haare nach Art der ceynidischen Frauen lang, aber ihre Brustwölbungen waren bei weitem nicht so stark ausgeprägt, wie Ooras-Fonto dies aus holografischen Darstellungen in der exobiologischen Fachliteratur kannte. Daher war sich der Neeg-Herrscher nicht ganz sicher, was die geschlechtliche Identität von Derandii betraf. Andererseits wagte er es auch nicht, sie oder ihn direkt danach zu fragen. »Ich weiß nur, dass er an der letzten Sitzung des Krisenstabes nicht teilgenommen hat«, erklärte Derandii. Der Frequenzbereich, in dem sie sprach, lag in einem Bereich, in dem sich männliche und weibliche ceynidische Stimmen überschnitten. Dasselbe galt unglücklicherweise auch für die Körpergröße. »Ich habe des Öfteren Meinungsverschiedenheiten mit Zegrian gehabt«, sagte der Neeg, »wie ein Milliardenpublikum über die Holomedien übertragenen Sitzungen des Hohen Rates von CLARON mitverfolgen konnte. Aber ich habe immer zur Kenntnis genommen, dass Zegrian jemand ist, dessen ehrliche Sorge der Existenz der Allianz gilt.« »Das sehe ich genauso«, erklärte Derandii. Und Makalos ergänzte: »Niemand versteht, weshalb er sich ausgerechnet im Augenblick der höchsten Gefahr, in der unsere Allianz schwebt, anscheinend davonmacht und abtaucht.« Derandii warf Makalos einen Blick zu, den Ooras-Fonto nicht im mindesten zu deuten wusste. »Vielleicht hat ihn der Tod seines Zweitlings doch mehr mitgenommen, als er dies öffentlich zuzugeben bereit war.«
Makalos machte eine entschiedene Geste der Verneinung. »Das glaube ich nicht. Er wäre der erste Aorii-Erstling, dem sein Zweitling auch nur das Mindeste bedeuten würde. Er hat in Ragolian nie mehr als einen willfährigen Handlanger gesehen, der ihm all die Arbeiten abgenommen hat, die dem edlen Zegrian unangenehm waren.« Derandii näherte sich Ooras-Fonto plötzlich und berührte ihn leicht an der sechsfingrigen, schuppigen Hand. Ein winziger Gegenstand, kaum so groß wie eine einzige Hautschuppe des Neeg, blieb darauf kleben. »Ich hoffe nicht, dass unser guter Zegrian irgendein gesundheitliches Problem hat«, sagte Derandii und entfernte sich wieder von dem Echsenmann. »Es ist wahr. Aorii-Erstlinge gelten trotz ihrer enormen Körpergröße nicht unbedingt als physisch robust!«, gestand Ooras-Fonto zu. »Wir müssen jetzt zur Sitzung des Krisenstabes, Tariong!«, wandte sich Makalos an Derandii. Tariong – eine Bezeichnung für eine Frau, die einem privat nahe stand, mit der man aber nicht liiert oder gar durch einen Ehekontrakt verbunden war. Wie Ooras-Fonto wusste, kannten die Ceyniden hier eine ganze Reihe von Abstufungen – aber immerhin wusste er nun, dass Derandii tatsächlich weiblich war. Sein Blick ging zu dem winzigen Gegenstand, den ihm die Ceynidin auf die Außenfläche seiner Schuppenhand geklebt hatte. Ein Datenträger!, erkannte der Neeg-Herrscher sofort. Der Chip war so perfekt an die Oberflächenstruktur seiner Schuppenhand angepasst, dass man ihn ohne weiteres als ein Teil davon ansehen konnte. Die beiden Ceyniden gingen den Korridor entlang in Richtung des Konferenzraums, in dem der Krisenstab tagte.
Ooras-Fonto war irritiert. Bis vor wenigen Augenblicken hatte er geglaubt, zufällig mit den beiden Offizieren des Sicherheitsdienstes der Flotte zusammengetroffen zu sein. Aber das war offensichtlich nicht der Fall. Sie hatten ihn abgepasst, und ihre Unterhaltung über Zegrian hatte nur dazu gedient, sein Interesse wachzurufen. »Worrrauf warrrten Sssie?«, dröhnte die Stimme eines Aorii-Erstlings hinter ihm. Für die sehr sensiblen Ohren eines Neeg war der dröhnende Tonfall eine wahre Tortur. Ooras-Fonto zuckte regelrecht zusammen und wandte den Kopf. Vor ihm stand Barbeilen, der Regent der Aorii. Hinter ihm, wie ein leibeigener Adjutant, sein Zweitling, dessen Namen Ooras-Fonto nicht kannte. Barbeilen blickte sein Gegenüber aufmerksam von oben an. Der Aorii überragte Ooras-Fonto um fast zwei Köpfe. Fast reflexartig bedeckte der Neeg den Datenträger auf dem Handrücken seiner Rechten mit der anderen Hand. Nun, was ist?, erklang Barbeilens mentale Stimme in seinem Kopf. Rücksichtsvollerweise benutzte der Aorii jetzt seine telepathischen Fähigkeiten, um sich mitzuteilen. Bei Gesprächen mit Einzelnen gaben die für gewöhnlich stark psibegabten Erstlinge dieser Kommunikationsform auf Grund ihrer weitaus höheren Effizienz in der Regel den Vorzug. Ooras-Fonto bemühte sich, nicht an den Datenträger zu denken, ihn ganz aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Zumindest für ein paar Augenblicke... Haben die beiden Offiziere des Sicherheitsdienstes Sie bereits über die Nachrichten aufgeklärt, die uns aus dem Heimatsystem der Erinjij erreicht haben?, fragte der AoriiRegent. »Nein.«
Eine riesige Jay'nac-Flotte hat sich auf die Seite der Erinjij gestellt. Es steht schlecht für unsere Einheiten. Der Feind ist in der Übermacht. Für Ooras-Fonto war diese Nachricht wie ein Keulenschlag. Ein röhrender Laut drang über sein lippenloses Echsenmaul. Es wurde mit Hilfe des deutlich sichtbaren hohlen Hornkamms erzeugt, der sich am Hinterkopf eines jeden männlichen Neeg befand. »Dann ist die Entscheidungsschlacht jetzt gekommen«, murmelte er, wobei seine Worte schlecht zu verstehen waren, weil die gespaltene Zunge hervorzüngelte. Ein Ausdruck seines innerlichen Aufgewühltseins. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, Ooras-Fonto, aber ich finde, man sollte die Möglichkeit offen ansprechen, dass Admiral Nadranos eine Niederlage erleiden könnte. Dann steht nichts mehr zwischen den Verbündeten Jay'nac und Erinjij auf der einen Seite und Crysral auf der anderen. »Wenn Crysral fällt, ist die Allianz verloren«, gab der Echsenartige seiner Überzeugung Ausdruck. »Alle Flotteneinheiten sind aus den Weiten des CLARONTerritoriums abgezogen und in das Erinjij-System geschickt worden...« Das ist wahr. »Ein taktischer Fehler!« Wir konnten die Zukunft nicht vorhersehen, werter OorasFonto! Und dennoch ist die Schlacht um das Erinjij-System ja auch nicht verloren, auch wenn die Kräfteverhältnisse gegen die Allianz sprechen. Ein Detail fiel Ooras-Fonto auf. Barbeilen hatte seinen Gedankenstrom so formuliert, dass stets von der Allianz oder CLARON die Rede war. Nie von UNS!, erkannte der Neeg. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass Barbeilen sich gar nicht dazugehörig fühlte, was im krassen Widerspruch
zu der Rhetorik stand, der sich der Aorii-Regent bei verschiedenen Gelegenheiten vor dem Rat bedient hatte. Ein Summton seines Kommunikators erinnerte Ooras-Fonto daran, dass es jetzt wirklich Zeit wurde, zum Konferenzraum zu gehen. Die beiden Neeg-Wächter, die den Regenten dieses kleinsten der sechs CLARON-Hauptvölker stets in einigem Abstand begleiteten, wurden ebenfalls bereits sichtlich unruhig. Es geht darum, unser Handeln für den Fall eines Sieges unserer vereinten Feinde festzulegen, erklärte Barbeilen nochmals und hielt Ooras-Fonto mit einer gebieterischen Geste davon ab, einfach an ihm vorbeizugehen. »Und wie könnte eine plausible Strategie für diesen Fall aussehen?«, hakte der Neeg nach. Es schien Barbeilen außerordentlich wichtig zu sein, diesen Punkt mit Ooras-Fonto zu besprechen, bevor dieser den Konferenzraum betrat, in dem der permanente Krisenstab tagte. Wir sollten dann darüber nachdenken, ob es nicht besser ist, uns zu ergeben. Ooras-Fonto war schockiert. Diese emotionale Reaktion war dermaßen spontan, dass überhaupt keine Chance bestand, den damit einhergehenden Gedankenstrom auch nur ansatzweise zu kontrollieren. Der Echsenartige fragte sich schon Sekunden später, wie viel sein telepathisch begabtes Gegenüber davon wohl mitbekommen hatte. Barbeilen war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten. Ich habe Sie schockiert, Ooras-Fonto. »Das trifft zu«, musste der Neeg-Regent zugeben. Zur Verteidigung Crysrals steht im Wesentlichen nur noch die Neeg-Flotte zur Verfügung. Kleinere Einheiten der anderen Flotten sowie des CLARON-Geheimdienstes lassen wir mal außer Acht. Ich bin von der Tapferkeit Ihres Volkes überzeugt, Ooras-Fonto, aber gegen die Übermacht unserer Feinde wird sie nichts ausrichten können.
»Wir sollten alles versuchen, um unsere Freiheit zu erhalten!«, wandte Ooras-Fonto ein. Schließt Ihre Auffassung das geheime Notfallprogramm ein, nachdem der gesamte Planet gesprengt wird, bevor es zu einer Eroberung kommen kann?, lautete Barbeilens glasklare Frage. Ooras-Fonto schwieg. »Denken Ssssie gut darrrüberrrr nach!«, dröhnte Barbeilen unterdessen laut... *** Irgendetwas geschieht, durchzuckte es den zentralen Nervenknotenpunkt, in dem Cy selbst sowohl sein kognitives Zentrum als auch das Zentrum seiner Emotionalität ortete. Irgendetwas geschieht, und ich kann es nicht einmal begreifen, geschweige denn beeinflussen! Cy war näher an Algorian herangerückt. Der Aorii-Zweitling stand an der Konsole, seine Hand glitt über die Sensorfelder. Das Projektionsfeld hatte seine Größe in den letzten Augenblicken verdreifacht. Algorian zog langsam die Hand zurück. »Ich habe irgendeinen Mechanismus ausgelöst...« »Was geschieht jetzt?«, fragte Cy. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« In der Decke entstand eine exakt quadratische Öffnung. Eine metallisch schimmernde Kugel mit einem Durchmesser von ungefähr zwei Metern schwebte daraus hervor. Sie wurde offenbar durch ein Kraftfeld gehalten. Algorian trat unwillkürlich einen Schritt zurück, Cy blieb in seiner Nähe. Teleskopartige Antennen traten aus der Oberfläche der Kugel hervor. Der Sprengstoff!, durchzuckte es Algorian, er trug die zylinderförmigen Bomben noch immer bei sich.
Möglicherweise hat das System, das ich unabsichtlich aktiviert habe, sie geortet und betrachtet uns jetzt als Feinde! Algorian machte eine Bewegung, wollte die Sprengsätze von seinem Gürtel lösen. Blitze zuckten aus den Antennen, trafen auf die Körper der beiden ungleichen Freunde und umhüllten sie. Cy und Algorian erstarrten. Sie vermochten sich nicht mehr zu bewegen, während um sie herum die Luft flimmerte. Quaderförmige Kraftfelder bildeten sich, die sie beide fixierten. Die Felder waren zwar transparent, brachen aber das Licht, sodass es aussah, als ob Cy und Algorian in einem Block aus Glas gefangen waren. Nicht einmal ein Augenlid vermochte der Aorii zu bewegen. Bist du ein Feind? Algorian war sich nicht sicher, ob er diese Frage tatsächlich auf akustischem Weg gehört hatte oder ob sie ihm auf telepathischem Weg übermittelt worden war. Er spürte einen starken mentalen Druck. Sein Kopf schmerzte. Etwas drang in sein Bewusstsein ein und schien es systematisch zu durchforschen. Bilder und Eindrücke wurden vor Algorians innerem Auge wie im Zeitraffer abgespult. Das Tempo wurde dabei immer mehr gesteigert, sodass der Aorii schließlich nur noch Erinnerungsfetzen registrierte. Sie betrafen jedoch sämtlich die Zeit seit dem Aufbruch der NONG-TO ins System 23112. Der Schmerz steigerte sich. Algorian versuchte, dagegen anzukämpfen und die geistige Kontrolle zu behalten – aber das war unmöglich. Jeder Widerstand ist sinnlos!, sagte die Stimme zu ihm. Unkooperatives Verhalten erhöht nur die Schmerzen! Der mentale Druck verschwand so abrupt, wie er gekommen war. Die Schmerzen waren von einem Augenblick zum anderen vorbei. Durch das ihn umgebende Kraftfeld vermochte Algorian nur verschwommen zu sehen. Dennoch erkannte er, dass sich
mehrere Holosäulen in der hallenartigen Zentrale im Inneren der Spore Auri gebildet hatten. In ihnen waren Bilder zu sehen. Szenen, die Algorians Erinnerungen an die Fahrt der NONGTO entstammten. Auf anderen Säulen waren die gleichen Szenen aus sehr verwirrender Perspektive zu sehen, angereichert mit fremdartigen Farbwahrnehmungen. Cys Sicht, ging es Algorian durch den Kopf. Ich bin die nanotechnisch auf dem Datenträger des Rechnersystems fixierte Kopie Nummer 12 des Bewusstseins von Porlac, erklärte die Stimme. Der für den Krisenfall bestimmte Autoaktivierungsmodus wurde in Kraft gesetzt. Ich habe eure Bewusstseinsinhalte auf die relevanten Daten hin durchsucht, bin mir aber mittlerweile nicht ganz sicher, ob ihr tatsächlich in aggressiver Absicht hier seid. Algorian versuchte zu sprechen, aber kein Laut drang über seine Lippen. Er war nach wie vor durch das ihn umgebende Kraftfeld vollkommen fixiert. Stattdessen versuchte es der Aorii-Zweitling mit einem konzentrierten Gedankenstrom. Das Wesen oder der Mechanismus, mit dem sie es zu tun hatten, verfügte offensichtlich über die Möglichkeit telepathischer Transmissionen. Natürlich war sich Algorian nicht darüber im Klaren, wie weit diese Fähigkeiten reichten und ob sie für eine Kommunikation ausreichend waren. Aber auf der anderen Seite wusste er, dass er irgendetwas unternehmen musste. Schließlich ließen die für das Porlac-Bewusstsein objektiv feststellbaren Tatsachen eigentlich keinen Zweifel daran, aus welchem Grund Cy und Algorian das Innere der Spore betreten hatten. Da waren zum einen die zylinderförmigen Sprengmodule, die ausreichten, die gesamte Spore auseinander zu reißen. Außerdem war anzunehmen, dass Porlac durch die gewaltsam aus den Seelen der Eindringlinge extrahierten Erinnerungen über Sinn und Zweck der NONG-TO-Mission gut informiert
war. Er musste wissen, dass das Ziel in der Vernichtung sämtlicher Sporen und technischen Artefakte in der Lebenszone des Gasrings bestand. Unsere Absicht ist friedlich!, rief der Aorii in Gedanken. Wir sind Gefangene, die dazu gezwungen wurden, Sprengstoff ins Innere der Spore zu bringen. Algorian wartete die Reaktion ab. Gleichzeitig versuchte er, ein eigenen mentalen Fühler auszustrecken. Vielleicht gab es da ja irgendetwas an Signalen, das ihm eine bessere Einschätzung seines Gegenübers erlaubte. Doch in dieser Hinsicht blieb er vollkommen erfolglos. Alles, was er wahrnahm, war Cys furchtbare Angst. Ein Entsetzen, das so fundamental war, dass Algorian um die psychische Stabilität seines Gefährten und Schützlings fürchtete. Insbesondere spürte er darin eine Komponente, die weit über das Gefühl des Ausgeliefertseins und die Furcht vor dem Unbekannten hinausging... Quälend lange Augenblicke verstrichen, ehe Porlacs Reaktion erfolgte. Sie bestand zunächst darin, dass sich die Ausdehnung des Kraftfeldes änderte, in dem Algorian eingeschlossen war. Es endete jetzt knapp unterhalb seines Kinns, der Kopf war frei. »Die Sprengsätze, die ich bei mir trage, können jederzeit von dem Raumschiff, das uns hierher gebracht hat, gezündet werden«, erklärte Algorian. Die einzige Chance, sein Gegenüber davon zu überzeugen, dass er keineswegs feindliche Absichten hatte, bestand in größtmöglicher Offenheit. Nur dadurch konnte er eventuell eine Vertrauensbasis aufbauen. Zumal er damit rechnen musste, dass ein Großteil der Informationen diesem Wesen namens Porlac bereits bekannt waren. »Ich weiß«, erwiderte Porlac. Diesmal sprach er mit einer Stimme, die unzweifelhaft akustischer Natur war. Offenbar hatten die aus Algorians Bewusstsein extrahierten Daten ausgereicht, um ein leistungsstarkes Translatorsystem zu
speisen. »Diese Anlage ist gegenwärtig durch ein Abschirmungsfeld geschützt. Es verhindert, dass die auslösenden Steuerimpulse die Sprengmodule erreichen können«, gab Porlac dann bereitwillig Auskunft. »Mit Hilfe von Drohnen wurden auf sämtlichen Sporen Sprengsätze installiert«, berichtete Algorian. »Dasselbe gilt für die technischen Artefakte im Lebensgürtel des Gasrings.« »Auch das ist mir bekannt«, stellte Porlac klar. »Dennoch... Deine Offenheit erweckt in mir den Eindruck, dass es tatsächlich nicht in deiner Absicht lag, diese Anlage zu zerstören.« »So ist es.« »Dein Begleiter bewohnte früher diese Spore.« »Auch das trifft zu«, sagte der Aorii. »Ein einfältiges Wesen. Das wertlose Ergebnis eines Experiments. Ich schätze es als ungefährlich ein. Aber ich weiß nicht, ob es sich lohnt, diese genetische Probe zu archivieren.« Algorian ließ die Kälte schaudern, mit der Porlac von seinem Gefährten sprach. »Das, was du eine genetische Probe nennst ist für mich ein Freund, den ich beschützen werde!«, erwiderte er. »Nur, dass du dazu kaum in der Lage bist«, erwiderte Porlac. Das Kraftfeld, mit dem Cy bis dahin fixiert worden war, verschwand. Die Tentakelfortsätze zitterten leicht. Das Pflanzenwesen war verwirrt. Algorian konnte das deutlich spüren. »Ich stufe dich nicht als gefährlich ein«, erklärte Porlac noch einmal, da Cy der Unterhaltung offenbar nicht hatte folgen können. »Für meinen Freund Algorian solltest du dasselbe annehmen«, erklärte der Aurige. »Immerhin drang er hier mit ein paar hoch gefährlichen Sprengmodulen ein«, wandte Porlac ein. Cy argumentierte überraschend schlagfertig. »Du würdest nicht mehr existieren, hätte Algorian dich nicht aktiviert.«
»Das geschah unabsichtlich.« »Wenn wir nicht hier wären, wäre die Spore nichts weiter als eine Ansammlung von Staubpartikeln, die durch die Winde der Gaswolke verweht werden.« Einige Augenblicke schwieg Porlac. Die Metallkugel veränderte ihre Position, und weitere Antennen wurden ausgefahren. Endlich verschwand das Kraftfeld, das Algorian einhüllte, mit einem zischenden Geräusch. Vorsichtig bewegte der Aorii die Hände. Er griff zu den Sprengmodulen und löste sie von der Magnethalterung. »Solange diese Dinger nicht neutralisiert sind, besteht Gefahr!«, erklärte er. Ein bläulicher Traktorstrahl schoss aus einer der Antennen und erfasste die zylinderförmigen Sprengsätze. Sie schwebten ein Stück empor, bis sie sich etwa einen Meter unterhalb jener Öffnung in der Decke befanden, aus der die Metallkugel gekommen war. Dort erfasste sie ein Antigravitationsfeld und ließ sie emporgleiten. Algorian konnte nicht sehen, was mit den Sprengmodulen geschah. »Alles, was ich im Moment tun kann, ist, für eine ausreichende Abschirmung dieser Sprengmechanismen zu sorgen«, erklärte die Bewusstseinskopie Porlacs. »Ich muss die verwendete Technik erst genau analysieren, anderenfalls könnte unabsichtlich eine Detonation ausgelöst werden.« Algorian fragte sich, in welcher Gestalt wohl das Original dieses Bewusstseins gelebt haben mochte. Cy meldete sich jetzt zu Wort. Er sprach Porlac direkt an und bewegte sich ein Stück auf die Metallkugel zu. »Du bist ein Jay'nac, nicht wahr?« »Ich bin die für einen bestimmten Zweck modifizierte Bewusstseinskopie eines Jay'nac«, korrigierte ihn die Stimme, deren Ursprung Cy ebenso im Inneren der Kugel vermutete wie Porlac selbst.
Für Algorian war das keineswegs so eindeutig. Wenn dieses Jay'nac-Bewusstsein zu einem Teil des Rechnersystems geworden war, das die Anlage steuerte, so konnte der Ort, an dem die Daten dieser Kopie fixiert waren, unmöglich lokalisiert werden. Porlac war in diesem Fall wohl buchstäblich in allem. In jeder Konsole, in jedem technischen Gerät, das es innerhalb der Anlage gab und durch den Zentralrechner gesteuert wurde. Für Cys naive Weltsicht war eine derartige Vorstellung schwer zu akzeptieren. Aber noch schwerer fiel es ihm, die Konsequenzen eines anderen Gedanken zu verinnerlichen. »Dann bist du eine Schöpfung der Jay'nac!«, wandte sich das Pflanzenwesen an Porlac. »Das ist richtig. Alles hier ist eine Schöpfung der Jay'nac.« »Also auch ich!«, stellte Cy fest. Algorian nahm einen Schwall von chaotischen, widersprüchlichen Emotionen wahr. Es passt alles zusammen, dachte der Aorii. Die anorganische Komponente in Cys Körper findet so wohl eine Erklärung. *** Kommandant Tardralonnen stieß einen grollenden Laut aus. Der Blick seines nahezu starren Gesichtes war auf den Panorama-Schirm der NONG-TO gerichtet. Daneben gab es eine dreidimensionale Projektion in der Mitte der Zentrale, die die Positionen der einzelnen Sporen sowie der technischen Artefakte anzeigte. »Warum sehe ich nicht eine einzige Explosion auf den Anzeigen?«, fragte der Kommandant mit einem Unterton, der seine vollkommene Fassungslosigkeit verriet. Mit energischen Schritten trat er neben den Waffenoffizier Herrelen, der ebenso verdutzt war wie sein Kommandant. Tardralonnen ließ seine Finger über das Terminal huschen und starrte ungläubig auf die Anzeigen.
»Warum reagieren die Sprengmodule nicht?«, verlangte er zu wissen. »Die Steuerimpulse dringen nicht durch«, gab Herrelen Auskunft. »Und zwar bei sämtlichen Sprengsätzen, nicht nur bei denen, die Cy und Algorian in den Anlagen von Auri platzieren sollten!« Die Krallen fuhren aus Tardralonnens Fingerkuppen heraus, ein Zeichen der Wut. »Rekalibrieren Sie das Subsystem und versuchen Sie es noch einmal!«, verlangte der Kommandant der NONG-TO. »Ich habe bereits einen Check des Subsystems durchgeführt. Die Analyse ergab keinen Fehler!« »Tun Sie einfach, was ich sage!«, fauchte Tardralonnen gereizt und wandte sich an den laschkanischen Ortungsoffizier. »Haben Sie eine Erklärung dafür, Tramsoy?« »Ich erhalte hier sehr widersprüchliche Daten, Kommandant«, erklärte Tramsoy-32 sachlich. »Möglicherweise haben sich auch an den anderen Bestimmungsorten der Sprengsätze Abschirmungsfelder gebildet!« »Das heißt, wir haben es mit einer koordinierten Abwehr zu tun!«, stellte Tardralonnen grimmig fest. Larenjos, der ceynidische Kommunikationsoffizier, meldete sich zu Wort. »Ich empfange codierte Signale, die offenbar dem Datenaustausch zwischen den einzelnen Sporen dienen«, sagte er. »Leider lassen sich die Signale bisher nicht entschlüsseln.« In Tardralonnens knochigem Schädel rasten die Gedanken nur so. Irgendetwas ging hier vor sich, von dem in den Befehlen, die der Kommandant der NONG-TO erhalten hatte, keine Rede gewesen war. Diejenigen, die uns hierher geschickt haben, scheinen uns nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben, überlegte er. »Kommandant, sämtliche Sporen verändern ihre Positionen!«, meldete jetzt Tramsoy-32.
Tardralonnen vollführte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf. Der Mund bildete einen geraden Strich. Sein Blick war auf die schematische 3D-Projektion gerichtet, mit deren Hilfe die Lage der einzelnen Sporen veranschaulicht wurde. Die Positionsveränderungen wurden blau markiert. »Sie bewegen sich vollkommen koordiniert«, setzte der laschkanische Ortungsoffizier noch hinzu. »Außerdem messe ich jetzt innerhalb sämtlicher Sporen und technischer Artefakte ein deutlich erhöhtes Energieniveau.« »Kommandant, soll ich eine Verbindung nach Crysral herstellen?«, fragte Larenjos. »Wir haben strenge Anweisung, keinen Kontakt mit Crysral aufzunehmen!«, fauchte Tardralonnen den Kommunikationsoffizier an. Der Ceynide hob die Schultern. »Aber die Lage hat sich auf eine Weise geändert, die man Crysral wissen lassen sollte!«, stimmte der Kommandant schließlich doch zu. Er drehte sich zu seinem Waffenoffizier um. »Sorgen Sie für den Start einer weiteren Drohnen-Staffel. Sie sollen automatisch zünden, nachdem sie die Eingangsschotts passiert haben. Außerdem möchte ich, dass alle Geschützbatterien kampfbereit sind.« Herrelen schluckte den Widerspruch hinunter, der ihm auf den Lippen lag. Er hatte sich bei seinem Kommandanten schon unbeliebt genug gemacht. Außerdem ahnte er, dass es sinnlos war, den Kommandanten der NONG-TO von seiner vorgefassten Meinung abzubringen. Wenn er die Geheimdienstzentrale auf Crysral benachrichtigen würde, müsste er damit zugeben, dass diese Mission nicht wie geplant verlaufen ist, überlegte Herrelen. Und jemand wie Tardralonnen bringt eher das Schiff in Gefahr, als einen Fehler zuzugeben! ***
»Ich habe einige Fragen an euch«, sagte Porlac. Die Metallkugel senkte sich, schwebte schließlich etwa einen Meter über jener Konsole, über deren Sensorfeld Algorian das Rechnersystem der Spore Auri aktiviert hatte. Der Aorii war verwundert. »Fragen? Hast du nicht alles an Informationen aus unseren Bewusstseinen herausgeholt, was du benötigst?« »Es fehlt mir nicht an Informationen«, erklärte die Jay'nacBewusstseins-Kopie. »Aber ich war eine ziemlich lange Zeit deaktiviert. Vielleicht liegt es daran, dass mir die Einordnung mancher Fakten, die ich euren Bewusstseinen entnommen habe, noch schwer fällt.« »An deiner Stelle würde ich zunächst einmal etwas gegen das Raumschiff unternehmen, mit dem wir hierher gelangt sind«, erwiderte Algorian. »Es hat schließlich den Auftrag, alles zu vernichten, was im Lebensbereich des Gasrings noch existiert!« »Gegenmaßnahmen werden eingeleitet, soweit sie erforderlich werden«, versicherte Porlac. Überall in der Zentrale waren jetzt Anzeigetafeln aktiviert worden. Bildschirme leuchteten auf. Auf einer der Holosäulen, die zunächst Bilder aus den Erinnerungen von Algorian und Cy gezeigt hatten, erschien jetzt ein Abbild des Systems 23112. Algorian nahm an, dass es sich bei den Markierungen um die gegenwärtigen Positionen der Sporen und Artefakte handelte. Sie schienen sämtlich in Bewegung geraten zu sein. »Das Beiboot, mit dem ihr hierher kamt, hat eine Sicherheitscodierung benutzt, um das Außenschott zu öffnen. Wie seid ihr in den Besitz dieser Information gelangt?« »Ich weiß es nicht«, erklärte Algorian ehrlich. »Es wurde ferngesteuert. Vielleicht finden sich Hinweise in seiner Datenbank.« »Das habe ich längst untersucht«, war Porlacs Erwiderung. »Leider ohne Ergebnis.«
»Ich nehme an, dass die Schiffsbesatzung der NONG-TO die Daten letztlich von den Jay'nac hat. Ihre Klon-Agenten haben die Allianz CLARON unterwandert. Offenbar auch unseren Geheimdienst.« Die Metallkugel änderte erneut ihre Position. Sie schwebte auf Algorian zu und blieb in einer Entfernung von nur etwa einem halben Meter in der Luft hängen. Die teleskopartigen Antennen wurden bis auf eine zurückgezogen. Porlacs Antwort kam sehr zögerlich. »Warum sollten die Schöpfer dieser Lebenszone ausgerechnet Angehörige eines minderwertigen Kohlenstoff-Volkes damit beauftragen, hier alles zu zerstören? Das ist nicht logisch.« »Tut mir Leid, wir waren Gefangene. Es hat sich niemand die Mühe gemacht, uns umfassend zu informieren«, antwortete Algorian. »Aber möglicherweise wird System 23112 von denjenigen, die hier einst die Lebenszone schufen, nicht mehr benötigt.« Die Pause des Schweigens war diesmal besonders lang. Algorian nahm an, dass sein Gegenüber diesen Gedanken auch schon gehegt hatte. Wahrscheinlich herrscht jetzt ein Zielkonflikt in diesem Bewusstsein, das ja letztlich zum integralen Bestandteil eines Computerprogramms geworden ist!, erkannte Algorian. Porlac ist offenbar auf Selbsterhaltung und Erhaltung der Anlage programmiert. Etwas anderes würde auch keinen Sinn machen. Aber genauso wird er auf bedingungslose Loyalität zu seinen Schöpfern ausgerichtet sein. Beides wird für ihn nicht vereinbar sein! Algorian beschloss, diesen Umstand auszunutzen, um sein Gegenüber zu manipulieren. »Ich kann mir vorstellen, dass du über diesen Punkt gerne Klarheit hättest«, sagte Algorian. »Schließlich muss es ein furchtbarer Gedanke sein, dass deine Schöpfer dich vielleicht töten wollen. Aber es wäre ja ebenso möglich, dass die Codierungs-Daten gar nicht von deinen Schöpfern stammen,
sondern dass die Crew der NONG-TO sie aus einer anderen Quelle erhielt, von der wir beide noch nichts wissen.« »Was sollte das für eine Quelle sein?« »Ich weiß es nicht. Alles, was ich dazu sagen könnte, wäre Spekulation. Aber in der Datenbank der NONG-TO müssten Hinweise zu finden sein.« »Wie könnte ich an diese Daten herankommen?«, fragte Porlac »Durch meine Hilfe.« »Wird die Besatzung der NONG-TO dabei benötigt, die Daten zu übertragen?« »Nein, das Raumschiff kann notfalls von einem einzelnen Piloten bedient werden«, versicherte Algorian. »Es handelt sich um eine Spezialeinheit, die extra so konstruiert wurde.« »Bist du mit der Bedienung des Schiffs und seines Rechnersystems vertraut?« »Gut genug, um dir helfen zu können. Vorausgesetzt natürlich, das Schiff wäre in unserer Gewalt.« Porlac gab darauf zunächst keine Antwort. Doch auf einer der Holosäulen erschien die NONG-TO und wurde näher gezoomt, während an den Konsolen überall Kontrollen und Anzeigen aufleuchteten. Algorian sah sich um, konnte aber nicht daraus schlau werden. Da schoss ein Strahl aus dem Inneren der Spore Auri auf die NONG-TO zu. Er war breit gefächert und schimmerte hellblau in der Gaswolke. Als er auf die Schutzschilde des CLARONSchiffs traf, blitzten diese auf und verloschen. Als der Strahl wenig später verblasste, leuchtete jedoch wieder der energetische Schirm der NONG-TO auf. »Ihr könnt gehen«, sagte Porlac. »Geht, steigt in euer Beiboot und kehrt zurück auf jenes Schiff.« »Das Beiboot wird von der NONG-TO aus gesteuert!«, erinnerte ihn Algorian.
»Ich habe das Beiboot leicht modifiziert, damit ihr selbstständig aus dem Abschirmungsfeld hinausgelangen könnt, das Auri inzwischen umgibt. Anschließend wird es der Bordrechner der NONG-TO zurück in den Hangar steuern!« Die ganze Zeit über hatte Algorian den mentalen Druck gespürt, der sich in Cys Bewusstsein aufgebaut hatte. Algorian hatte deutlich gefühlt, dass diese innere Spannung, diese Neugier, nach einer Entladung suchte. Jetzt meldete sich Cy gegenüber Porlac zu Wort. »Mein Freund Algorian mag gehen. Aber ich werde mich nicht davonscheuchen lassen, ohne mehr über das erfahren zu haben, was hier geschehen ist. Ich habe das Recht zu erfahren, wie Auri und all die anderen Sporen entstanden sind. Schließlich habe ich hier gelebt und bin ein Produkt derselben Schöpfer wie du, Porlac.« Die couragierten Worte des Pflanzenwesens machten auf das Jay'nac-Bewusstsein wenig Eindruck. »Ich bin immerhin das mentale Ebenbild eines unserer Schöpfer. Du aber bist nichts weiter als das Überbleibsel eines missglückten Experiments.« Algorian konnte durch seine Psi-Begabung regelrecht spüren, wie sehr diese Worte das Pflanzenwesen trafen. Die Augenknospen schlossen sich. Cy wünschte sich in dieser Sekunde, nicht zu existieren. »Ein missglücktes Experiment?«, echote er. »Ich weiß nicht, wodurch deine Geringschätzung gespeist wird, Porlac. Aber...« »Das wahre Leben basiert auf Silizium. Auf lange Sicht gesehen ist für ein Nebeneinander von auf Kohlenstoff und auf Silizium basierenden Völkern kein Platz in der Galaxis.« »Und doch habt ihr Wesen wie mich entstehen lassen!«, erwiderte Cy. »Die Lebenszone in diesem Gasring war eines der ersten großen Experimente zur Erschaffung organischer Strukturen«, erklärte Porlac. »Ziel war es, organische Zivilisationen zu unterwandern und zu beeinflussen.«
Die Holosäulen zeigten Bilder von der Entwicklung der Aurigen, die zunächst mit festen Wurzeln im Boden verankert gewesen waren, bevor sie sich unter dem Einfluss der Jay'nac weiterentwickelten und ihre Mobilität gewannen. Endpunkt dieser Entwicklung dürften jene Klon-Agenten sein, die jetzt unsere Führung unterwandert haben, überlegte Algorian. Vielleicht war auch Porlac selbst ein Teil des Experiments gewesen. Schließlich war es für eine Unterwanderung organischer Zivilisationen durch Klone nötig, eine Methode zu finden, die sicherstellte, dass die Klon-Agenten einerseits über das gesamte Wissen und die Persönlichkeit des Originals verfügten, andererseits aber ihren Herren gegenüber loyal waren. Eine Bewusstseinskopie – modifiziert und entsprechend den Bedürfnissen der Jay'nac konditioniert – war wohl die Lösung, die von den Anorganischen schließlich für dieses Problem gefunden wurde, erkannte Algorian. Es war nahe liegend, dass die Jay'nac zunächst versucht hatten, ihre eigenen Bewusstseinsinhalte zu kopieren und mit externen Komponenten zu verbinden – wie zum Beispiel einem Rechnersystem. Algorian und Cy sahen weitere Bilder auf den Holosäulen, die Porlacs Worte illustrierten. Offenbar hatten sie auf Dutzenden von unbedeutenden, aber von organischem Leben bevölkerten Planeten die Evolution zu beeinflussen versucht. Mit unterschiedlich großem Erfolg. Als die Holo-Säulen herzförmige Wesen zeigten, versetzte es Algorian einen Stich. »Keelon!«, entfuhr es ihm unwillkürlich. Es war offensichtlich. Die Jay'nac waren für den evolutionären Schub der Keelon verantwortlich, den insbesondere die Stärkung des Magoo für dieses Volk bedeutet hatte.
Sie müssen das Potenzial erkannt haben, das in der Entwicklung der Zeitreisefähigkeit der Keelon lag!, überlegte Algorian. »Geht jetzt an Bord eures Beibootes!«, bestimmte Porlac. »Ich habe noch viele Fragen, insbesondere zu den Keelon!«, wandte Algorian ein. »Sie waren ein Experiment wie viele andere auch. Was gibt es sonst noch dazu zu sagen?« Die Metallkugel erhob sich ein Stück und schwebte jetzt hinauf zur gewölbten Decke. Dort verharrte sie genau über Algorians Kopf. »Ich benötige die Daten des Bordrechners der NONG-TO, um sie nach Hinweisen durchsuchen zu können. Bedenkt, dass es in meiner Macht steht, euch jederzeit zu töten und das Schiff zu vernichten, falls eure kooperative Haltung keinen Bestand haben sollte.« »Ich habe verstanden«, sagte Algorian. »Aber wie sollen wir es schaffen, die NONG-TO in unsere Gewalt zu bekommen? Dazu fehlen uns die Mittel!« »Alles Nötige ist längst geschehen«, erwiderte Porlac, der nicht gewillt schien, sich zu diesem Punkt weiter zu äußern. Unbekannte Symbole erschienen auf den Anzeigen der Konsolen, weitere Holosäulen entstanden. Die Projektion, die den gesamten Gasring mit den Positionen der Sporen veranschaulichte, wuchs zur doppelten Größe. Es war deutlich erkennbar, dass die Sporen ihre Lage veränderten. Sie strebten auf einen bestimmten Punkt innerhalb der Lebenszone um Stern 23112 zu. Algorian wandte sich an Cy. »Lass uns gehen.« Der Aorii spürte das Widerstreben seines Freundes und verstand auch den Grund dafür. Die Erkenntnis, dass er nichts weiter als ein künstlich in einem Experiment geschaffenes Objekt der Jay'nac-Forschung war, musste ihn hart getroffen und in eine regelrechte Identitätskrise geworfen haben. Die mentalen Impulse, die Algorian von Cy wahrnahm, deuteten
eindeutig in diese Richtung. Der Aurige hatte gewiss noch sehr viele unbeantwortete Fragen an das Porlac-Bewusstsein. Aber jetzt war nicht der Augenblick, sie zu stellen. Sie konnten froh sein, dass Porlac sie wieder ziehen ließ und nicht einfach vernichtete. »Komm jetzt!«, forderte Algorian noch einmal. »Vielleicht wird es zu einem späteren Zeitpunkt Antworten auf deine Fragen geben.« *** Die Heilige Zeit. Die Meditationsrituale des Arrlagh. Die Kunst des Meisters Zarrorgh. All das hatte Kerrghs seelisches Gleichgewicht nicht im mindesten wiederhergestellt. Der Regent der Rogh war der Letzte, der die interne Sicherheitsschleuse zu jenem Konferenzbereich passierte, in dem der Krisenstab tagte. Er hatte sich verspätet, und die Sitzung hatte längst begonnen. Über dem Konferenztisch befand sich ein großes, kugelförmiges Projektionsfeld, auf dem der gegenwärtige Stand der großen Entscheidungsschlacht um das Erinjij-System zu sehen war. Kerrgh schwebte in den Raum und ließ sich an dem für ihn vorgesehenen Platz nieder. Qarleinen blickte kurz in seine Richtung. Barbeilen ebenfalls. Die zusätzlichen Komponenten seines Bewusstseins sorgten dafür, dass er jeden zu erkennen vermochte, der auch dazu gehörte und in Wahrheit ein konditionierter Klon-Agent der Jay'nac war. Es war eine Art zusätzlicher Sinn. Der laschkanische Admiral Weras-967, der das Geschehen kommentierte, war auch einer von ihnen. Die Nüchternheit seiner Worte wurde durch die Tatsache unterstrichen, dass sein
Schattenfeld ihn wie einen gesichtslosen Schemen aussehen ließ. Nicht einmal die wahre Stimme des Laschkanen war zu hören. Er benutzte vielmehr ein Translatorsystem, das über ein neuronales Interface direkt mit seinem Hirn verbunden war. Ooras-Fonto, der Regent der Neeg, saß etwas abseits. Der Echsenmann wirkte nachdenklich. Die zusätzliche Komponente bestätigte Kerrgh, dass es sich bei dem Neeg um einen der wenigen Würdenträger der Allianz handelte, die noch nicht gegen Klone ausgetauscht worden waren. Zegrian, das sicherheitspolitische Urgestein CLARONs, fehlte, dabei stand sein Austausch eigentlich nicht an. Aber möglicherweise waren Umstände eingetreten, die ein schnelles Handeln unumgänglich gemacht hatten. Unter den Sicherheitsoffizieren fielen Kerrgh die beiden Ceyniden Makalos und Derandii auf. Sie wirkten sehr unruhig. Kerrgh wusste, dass sie noch nicht ausgetauscht waren, ebenso wenig der Ceynidische Regent Asmombros. »Die Lage rund um das Erinjij-System ist sehr ernst«, erläuterte Weras-967. »Die Jay'nac-Verbände sind überall auf dem Vormarsch. Unsere Verluste sind hoch, und der Feind ist technologisch ebenbürtig, teilweise sogar überlegen. Ganz sicher verfügt er aber über die größeren Reserven an einsatzfähigen Kampfraumern. Während des bisherigen Verlaufs der Schlacht trafen immer noch weitere Verbände ein, während wir keinerlei Möglichkeit hatten, die Lücken in den Reihen unserer Formationen zu schließen.« »Wie lange, glauben Sie, werden unsere Verbände die Lage noch einigermaßen stabil halten können?«, erkundigte sich Asmombros. Auf der Stirn des ceynidischen Regenten hatten sich tiefe Falten gebildet. »Das ist schwer zu sagen«, antwortete der laschkanische Admiral. »Tatsache ist, dass unsere Verluste deutlich höher sind als die unserer Gegner. Wenn man dann noch bedenkt,
dass zwischen Jay'nac und Erinjij offenbar ein Bündnis besteht und Letztere ihre Schlagkraft gegen uns noch nicht einmal mobilisiert zu haben scheinen, wäre es schon ein Wunder, wenn unsere Flotte es schaffen würde, den Status Quo zu halten. Admiral Nadranos teilt im Übrigen diese Einschätzung.« Betretenes Schweigen herrschte daraufhin im Konferenzraum. Vielleicht hatte der eine oder andere noch mit einem Wunder gerechnet. Aber die Fakten sprachen für sich. Die Überlegenheit der Jay'nac war einfach zu deutlich, als dass es noch möglich war, an den Tatsachen vorbeizusehen. »Das bedeutet: Alles, worauf wir hoffen können ist, dass die Verluste der Jay'nac so hoch sind, dass sie sich ein Vorgehen gegen den Rest der Allianz nicht mehr leisten können«, stellte Asmombros fest. Ooras-Fonto erwachte aus der nachdenklichen Starre, in die er zuvor verfallen war, und meldete sich zu Wort. »Ich nehme eher an, dass der Feind die Entscheidung sucht«, sagte er. »Die Jay'nac werden sich ihren vollständigen Triumph nicht mehr nehmen lassen. Ich frage mich nur, wie sie die Erinjij auf ihre Seite bekommen haben.« »Durch Versprechungen natürlich!«, vermutete Asmombros mit bitterem Unterton. »Vielleicht wird man ihnen die Illusion gegeben haben, im Anschluss an diesen Krieg einen Teil des CLARON-Territoriums vereinnahmen zu können. Wer weiß?« Er erhob sich von seinem Platz und deutete auf die Projektion, die den für die Allianz CLARON ungünstigen Verlauf der Schlacht zeigte. »Ich schlage vor, die letzte Verteidigungsschicht unserer Raumflotte aufzulösen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als alles in die Schlacht zu werfen, was wir haben. Wenn die Jay'nac siegen, dann wird es ohnehin kein Hindernis mehr für sie geben, um das Allianz-Territorium zu erobern.«
»Sollen wir wirklich Crysral seines letzten Bollwerkes berauben?«, fragte Admiral Weras-967 zweifelnd. »Wenn wir die Neeg-Flotte in die Waagschale werfen, könnte sie das entscheidende Gewicht sein, um den Status Quo zu erhalten!«, gab Asmombros zu bedenken. »Gegen einen Angriff auf Crysral würde sie ohnehin nichts mehr ausrichten können.« Der Vorschlag des ceynidischen Regenten fand im Krisenstab durchaus Zustimmung. Der ovoanische Regent Qarleinen schlug schließlich einen Kompromiss vor. »Wir könnten die Verteidigungskräfte der Neeg-Flotte bis auf ein Minimum ausdünnen. Dann können wir uns zumindest nicht vorwerfen, wir hätten nicht alles versucht!« Nach kurzer Diskussion wurde der Vorschlag angenommen. Eine Konsultation des Hohen Rates war dazu nicht nötig. Der Krisenstab hatte für operative Entscheidungen weitgehende Handlungsvollmachten. Außerdem sollten nun auch die letzten Verteidigungskräfte aus den Weiten des CLARON-Gebietes abgezogen werden. Das damit verbundene Risiko der Wehrlosigkeit gegen einen Angriff war nicht zu vermeiden. Die Abstimmung war gerade vorüber, da betrat die massige, hoch gewachsene Gestalt Zegrians den Raum. Die Augen aller waren auf ihn gerichtet. Jeder erwartete von dem verdienten Sicherheitsexperten eine Erklärung dafür, dass er der bisherigen Sitzung fern geblieben war. Doch der Aorii-Erstling ging wortlos zu seinem Platz und setzte sich. Kerrgh musterte ihn aufmerksam. Auch Zegrian ist jetzt einer von uns!, ging es dem schmetterlingshaften Rogh-Regenten durch den Kopf. Das diesbezügliche Gefühl, das durch seine zusätzliche Bewusstseinskomponente gespeist wurde, machte ihn in dieser Hinsicht vollkommen sicher.
»Esss gibt noch etwasss Wichtigesss zzzu besssprrrechen!«, meldete sich nun Barbeilen zu Wort. Der Aorii-Regent erhob sich, machte anschließend eine ausholende, raumgreifende Geste. »Wasss tun wirrr, wenn die Invasssion der Jay'nac errrfolgrrreich sssein sssollte?«, fragte er dröhnend. »Sssollen wir den Plan aufrrrecht errrhalten, Crrrysssrrral zzzu sssprrrengen, bevorrr die Errroberrrerrr kommen?« Nach diesen Worten konnte sich Barbeilen der vollkommenen Aufmerksamkeit aller Anwesenden gewiss sein. Eine Aufhebung des Selbstzerstörungsprogramms für Crysral rüttelte an einer der ältesten Grundsätze CLARONs. Die Allianz war schließlich für den Erhalt der Freiheit gegründet worden. Eines ihrer ideologischen Fundamente lautete, dass es besser war, die eigene Vernichtung in Kauf zu nehmen, als unfrei zu leben. Selbst so unterschiedliche Kulturen wie jene der Rogh und der Ovoaner hatten darin einen Konsens gefunden, der in dem bestehenden Selbstvernichtungsprogramm zum Ausdruck kam. »Diessse Frrrage werrrden wirrr intensssiv zzzu disskutierrren haben!«, fuhr der Aorii-Regent fort. Eine Niederlage CLARONs lag in greifbarer Nähe. Vielleicht ist es tatsächlich besser, sich auf die Gegebenheiten einzustellen, überlegte Ooras-Fonto. Seine Hände lagen übereinander, sodass der winzige Datenträger auf seiner Handfläche unsichtbar blieb. Der Echsenartige bemerkte einen Blick, den die Ceynidin Derandii ihm zuwarf, aber Ooras-Fonto vermochte ihn nicht zu interpretieren... *** Die Diskussion, die Barbeilen begonnen hatte, war zwar heftig, aber ohne Ergebnis verlaufen. Es gab starken Widerstand gegen die Aufhebung des Vernichtungsprogramms.
Einige Mitglieder des Krisenstabes sahen darin so etwas wie einen Verrat an den Prinzipien, auf denen CLARON gegründet war, und verlangten für die Entscheidung eine Einberufung des Hohen Rates. Nur dieses Gremium könnte eine so weit reichende Entscheidung treffen. Ooras-Fonto hatte sich über die Einmütigkeit gewundert, in der so unterschiedliche Personen wie Kerrgh, Qarleinen und Weras-967 zugunsten Barbeilens argumentiert hatten. Er zog sich nach dem vorläufigen Ende der Sitzung in das Quartier zurück, das man ihm in der Nähe der Sitzungsräume zur Verfügung gestellt hatte. Der Raumcomputer meldete sich. »Im Datenspeicher befindet sich eine Botschaft Ihrer Eierlegerin«, erklärte die Computerstimme. Seine angetraute Eierlegerin Tashrahh-Fonto hielt sich auf Neegala auf. Sie war dort eine angesehene Ärztin. Als OorasFonto von dort zur Sitzungsperiode des Hohen Rates von Crysral aufgebrochen war, hatte er nicht damit gerechnet, sie vielleicht niemals wiederzusehen. Dennoch gab es im Augenblick Wichtigeres, als die Nachricht von zu Hause. »Ich werde mir die Nachricht später ansehen«, sagte der Neeg-Regent. Stattdessen wandte er sich dem Datenträger zu, den Derandii ihm gegeben hatte und löste ihn mit etwas Mühe von seiner schuppigen Handaußenfläche. »Diese Nachricht bitte nicht in Verbindung mit dem planetaren Datennetz von Crysral bringen!«, meldete sich eine sehr leise Stimme aus dem Datenträger heraus. »Wenn Sie die Nachricht aktivieren wollen, bestätigen Sie dies durch eine mündliche Äußerung. Ihr individuelles Stimmmuster autorisiert Sie!« »Nachricht zeigen!«, verlangte Ooras-Fonto. Er war neugierig. Wenn eine Offizierin des Sicherheitsdienstes der Flotte ihm unter derart konspirativen
Umständen eine Botschaft zukommen ließ, musste mehr dahinterstecken. Eine Projektion erschien. Sie hatte etwa die Größe eines Neeg-Unterarms und schwebte in der Luft. Ein ceynidisches Gesicht blickte Ooras-Fonto an. »Diese Nachricht ist ausschließlich für Ooras-Fonto, seines Zeichens Regent der Neeg bestimmt«, erklärte es. Das Ceyniden-Gesicht war so ausdruckslos, dass selbst der Neeg unschwer zu erkennen vermochte, dass es sich nicht um eine reale Person, sondern nur um ein computergeneriertes Avatar handelte. Dieser Eindruck war offensichtlich beabsichtigt, denn die Erzeugung von lebensechten Avataren war für ceynidische Technik eigentlich kein Problem. Die Herkunft dieser Nachricht ist offenbar so weit wie möglich anonymisiert worden, ging es Ooras-Fonto durch den Kopf. »Die Allianz CLARON ist bis in die höchsten Ebenen durch Klon-Agenten der Jay'nac unterwandert. Diejenigen, die noch loyal auf Seiten der Allianz und ihrer Werte stehen, müssen jetzt handeln! Der schlimmste Feind CLARONs lauert im Inneren. Weitere Informationen finden Sie auf diesem Datenträger. Rufen Sie sie jetzt ab! Der Datenträger wird sich anschließend selbst vernichten...« *** Eine Erschütterung durchlief die ALLIANZ. Mehrere Treffer hatten eine weitere Geschützbatterie des laschkanischen Spähschiffs nahezu völlig ausgeschaltet. Es gab einen Hüllenbruch, der nur mühsam mit einem Eindämmungsfeld abgedichtet werden konnte. Die Schutzschilde ließen sich nur noch auf nicht mehr als fünfzig Prozent hochfahren. Kommandant Kalam-234 wusste, wie prekär die Lage seines Schiffes war.
Bereits zwei Versuche einer Nottransition in den Hyperraum waren misslungen. Die erforderliche Geschwindigkeit konnte nicht erreicht werden, ohne Energie von den Schutzschilden abzuziehen. Unter fast permanentem Beschuss war das jedoch glatter Selbstmord. Nachdem die Triebwerkssektion einen von den Schutzschilden nur unzureichend gedämpften Treffer abbekommen hatte, war daran gar nicht mehr zu denken. Das Überlichttriebwerk war zwar weitgehend unbeschädigt geblieben, aber von den beiden Impulstriebwerken war eins ausgefallen, während das andere nur noch mit einer Leistungsfähigkeit von gerade einmal sechzig Prozent arbeitete. Das reichte, um einigermaßen manövrieren zu können. Aber die für eine Transition erforderliche Mindestgeschwindigkeit konnte allenfalls nach längerem Flug mit maximaler Leistung erreicht werden. Und auch dann nur unter der Voraussetzung, dass die Schutzschilde komplett abgeschaltet und die Energie in die Triebwerkssektion umgeleitet wurde. In der gegenwärtigen Situation war daran nicht im Traum zu denken. Insgesamt vier Jay'nac-Schiffe hatten die ALLIANZ eingekreist und nahmen sie unter Feuer. Kalam-234 konnte sie über seinen neuronalen Datenzugang sehen. Die Besatzungen der noch intakten Geschützbatterien der ALLIANZ bemühten sich, die Verfolger aufzuhalten. Doch die Jay'nac setzten die Jagd unbeirrbar fort. Die ALLIANZ war dabei immer tiefer zwischen die Reihen der feindlichen Raumschiffe getrieben worden. »Sie haben sich das falsche Schiff ausgesucht, Gelendos!«, wandte sich Kommandant Kalam-234 resignierend an den ceynidischen Erinjij-Forscher. »Abwarten!«, war Gelendos' knappe Erwiderung. Er verfolgte die Ereignisse über die Anzeigen seiner Konsole. Eine kleine Gruppe von Erinjij-Schiffen hatte sich am
Rand des umkämpften Raumgebietes versammelt. Sie griffen jedoch nicht ein, sondern warteten ab. Kalam hat Recht. Die Lage ist vollkommen hoffnungslos, ging es Gelendos durch den Kopf. Und zwar nicht nur für dieses Schiff, sondern für ganz CLARON. Selbst wenn es der CLARON-Flotte gelang, dem übermächtigen Feind einigermaßen Paroli zu bieten und ihn zumindest aufzuhalten, so standen den Jay'nac noch schier unermessliche Kräfte zur Verfügung. Da waren nicht nur die gefürchteten Schiffe der Erinjij, sondern sicherlich auch Hilfseinheiten weiterer anorganischer Völker, die unter der Hegemonie der Jay'nac standen. »Es ist gleichgültig, wo man sich in diesem Moment befindet«, murmelte er – mehr zu sich selbst als an Kalam-234 gerichtet. »Selbst auf Crysral wären wir wohl nur noch kurze Zeit sicher.« Die Geschützbatterien der ALLIANZ feuerten unablässig. Eines der Jay'nac-Schiffe wurde voll getroffen. Die Feldstärke des Schutzschirms verringerte sich für Augenblicke um mehr als ein Drittel. Die laschkanischen Mannschaften an den Batterien nutzen dies zu einem weiteren, verstärkten Beschuss. Mit Erfolg! Das schwere Blasterfeuer drang durch, es kam zum Hüllenbruch. Die ALLIANZ startete eine Drohne, die rasend schnell auf das Jay'nac-Schiff zusteuerte und sich in drei kleinere Flugkörper teilte. Einer davon zerplatzte im Abwehrfeuer der Jay'nac, der zweite wurde ebenfalls getroffen – aber das dritte Geschoss kam durch. Es wich dem breit gestreuten Abwehrfeuer und der Peilung durch das gegnerische Schiff durch eine wahrhaft chaotische, durch einen Zufallsgenerator gesteuerte Flugbahn aus. Auf der Dunkelwelt Laschkan wichen auf ähnliche Weise die etwa
einen Meter großen Raschna-Motten dem Sonar der Nachtsegler aus. Das Geschoss schaffte es bis zum Riss in der Hülle des Jay'nac-Raumers, drang durch den geschwächten Schutzschild und das noch schwächere Eindämmungsfeld. Sekunden später platzte das Jay'nac-Schiff in einem grellen Blitz auseinander. »Treffer!«, verkündete der Waffenoffizier fast schon euphorisch. Nur Augenblicke später durchliefen zwei Erschütterungen kurz hintereinander die ALLIANZ. Aus der Konsole des Waffenoffiziers stieß eine Stichflamme, deren grelles Licht alle Laschkanen auf der Brücke aufschreien und schleunigst den Blick wenden ließ. Der Waffenoffizier selbst wurde mitsamt seinem Antigravaggregat durch den Raum geschleudert. Er prallte gegen die Wand, rutschte aus den Halteriemen seines Aggregats und fiel kraftlos zu Boden. Einer der anderen Laschkanen schwebte zu ihm, um ihm zu helfen, doch es war zu spät. Seine Lebensfunktionen waren bereits erloschen. »Schadensbericht!«, forderte Kommandant Kalam-234. »Zentrale Waffenkontrolle ausgefallen. Leistungsfähigkeit der Schutzschilde liegt bei zwölf Prozent. Mehrere Treffer im Maschinenraum. Die Lebensfunktion der Ingenieurscrew sind nicht mehr messbar. Feuer in Konverterkammer 3. Es sind an fünf Stellen Hüllenbrüche festzustellen...« »Eindämmungsfelder!«, forderte Kalam. »Bereits aktiviert. Sie lassen sich nicht aufrechterhalten. Energielevel sinkt rapide. Lebenserhaltungssysteme sind innerhalb einer Stunde nicht mehr in der Lage, die nötige Zusammensetzung der Atmosphäre zu gewährleis...« Wieder wurde die ALLIANZ getroffen. Gelendos stürzte zu Boden. Die Konsole, die ihm als Terminal zur Verfügung gestellt worden war, wurde dunkel.
Das ihn umgebende Schattenfeld wurde ebenso deaktiviert wie die SD-Projektionen. »Teilausfall des Rechnersystems«, meldete der Kommunikationsoffizier. »Versuchen Sie, es zu rekalibrieren!«, rief der Kommandant. »Rekalibrierung nicht mehr möglich.« Kalam konnte auf seiner neuronalen Anzeige verfolgen, wie ein Teilsystem nach dem anderen ausfiel. Noch wurde von einer Geschützbatterie aus auf die Angreifer geschossen. Aber in Kürze würden die Energiereserven dermaßen absinken, dass kein einziger Blasterschuss mehr möglich war. Die ALLIANZ torkelte auf einer mehr oder minder chaotischen Flugbahn durch die Oortsche Wolke – genau auf einen der Eisbrocken zu, die hier zu finden waren... »Ausweichkurs!«, rief Kalam an den Piloten gerichtet. »Wir sind vollkommen manövrierunfähig. Tut mir Leid, Kommandant« Der Zusammenprall war beinahe ebenso verheerend wie die Treffer der Jay'nac. Hüllenbrüche konnten nicht mehr abgeschirmt werden, ein Teil der Atemluft entwich ins All. Kalam-234 stand vor einer Entscheidung, von der er gehofft hatte, sie nicht treffen zu müssen. Aber es war unausweichlich. »Wir verlassen das Schiff!«, befahl er. »Sequenz zum Start der Rettungskapseln einleiten!« »Das ist Selbstmord!«, warf der Kommunikationsoffizier überzeugt ein. Kommandant Kalam-234 widersprach nicht... *** Admiral Nadranos saß mit versteinertem Gesicht in seinem Konturensessel.
Die Zentrale der STERN VON CEYNOR war von hektischer Aktivität erfüllt. Die Verluste der CLARON-Flotte waren in Besorgnis erregende Höhen gestiegen. Teilverbände der Flotte waren von Jay'nac-Schiffen eingekreist und vom Hauptverband getrennt worden. Auf dem Panorama-Bildschirm des Flaggschiffs der CLARON-Flotte waren überall aufblitzende Detonationen zu sehen. Raumschiffe zerbarsten auf beiden Seiten. Strahlschüsse zuckten durch die ewige Nacht des Weltraums, und Drohnen wurden auf den Weg geschickt, um ihre Ziele selbstständig zu finden und zu vernichten. Doch die Jay'nac verfügten über eine erdrückende Übermacht. Noch immer zeigten die Ortungsanzeigen an, dass weitere – wenn auch vergleichsweise kleine – Verbände der Anorganischen eintrafen. Es schmerzte Nadranos, mit ansehen zu müssen, dass sich Teile der Flottenformation längst aufgelöst hatten. Überall trieben Trümmer durch das All. Halb ausgebrannte Verbundraumer der Ceyniden oder einzelne Fragmente von kegelförmigen Rogh-Raumern. Die ovoanischen Einheiten hatten die größten Erfolge gegen die Jay'nac. Sie erlitten allerdings auch die höchsten Verluste, da sie mit besonderer Tollkühnheit vorgingen. »Wir werden den Status Quo nicht mehr lange aufrecht erhalten können«, meldete sich Estan zu Wort. Der Erste Offizier der STERN VON CEYNOR hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Züge wirkten ebenso verkniffen wie die seines Admirals. »Wir haben leider keine andere Wahl, als es trotzdem zu versuchen!«, murmelte Nadranos. Die Kommunikationsoffizierin Sadrii meldete sich zu Wort. »Eine Verbindung mit Crysral, Kommandant. Der Regent von Ceynor möchte mit Ihnen sprechen, Admiral!« »Schalten Sie durch, Sadrii!«, gab Nadranos zurück.
»Jawohl«, bestätigte die Kommunikationsoffizierin und wandte sich ihrer Konsole zu. Eine Projektion entstand. Der ceynidische Regent Asmombros wurde in einer Darstellung sichtbar, die beinahe Lebensgröße hatte. »Hier Admiral Nadranos. Die Lage ist unverändert schlecht. Wir brauchten dringend Verstärkung, um die feindlichen Verbände aufhalten zu können. Aber ich weiß, dass Sie mir damit nicht dienen können, Regent!« »Wir haben beschlossen, die letzte Verteidigungsschicht der Neeg-Schiffe auszudünnen. Ich weiß, dass das nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber Sie sollen wissen, dass wir Ihnen jede Unterstützung zukommen lassen, die wir Ihnen bieten können!« »Das ist tröstlich«, erwiderte Admiral Nadranos mit einem bitteren Unterton. »Das Schicksal CLARONs hängt davon ab, dass sie die Flut der Jay'nac aufhalten, Admiral!« »Ich weiß.« Das dreidimensionale Abbild des ceynidischen Regenten begann zu verschwimmen, wurde transparent und löste sich schließlich vollständig auf. Eine leichte Erschütterung erfasste die STERN VON CEYNOR. »Kom-Verbindung nach Crysral ist zusammengebrochen!«, meldete Sadrii. Der Ortungsoffizier meldete sich zu Wort. »Es hat eine Explosion ganz in unserer Nähe gegeben!«, erklärte er. »Es war die MOND VON CEYNOR!« »Unser Schwesterschiff!«, murmelte Admiral Nadranos. »Drei Jay'nac-Einheiten im Anflug!«, meldete der Ortungsoffizier. »Ausweichmanöver und Gegenfeuer!«, befahl Admiral Nadranos.
Auf dem Panorama-Schirm wurden die Angreifer herangezoomt. Es handelte sich um kleine, wendige Einheiten der Jay'nac, die vermutlich als Beiboote der größeren Raumer fungierten. Die STERN VON CEYNOR ging auf einen Ausweichkurs und entging so dem gezielten Feuer der Jay'nac. Insgeheim musste Admiral Nadranos den Angreifern Respekt zollen. Sie waren tief in die Formation der Allianz CLARON eingedrungen. Die extreme Wendigkeit hatte diesen Vorstoß ermöglicht. Unablässig nahmen die Geschützbatterien der STERN VON CEYNOR die Angreifer unter Beschuss. Weitere Verbundraumer der Ceyniden kamen zu Hilfe und feuerten ebenfalls. Gegen diese geballte Welle der Vernichtung waren die Angreifer machtlos. Nur wenige Momente später trieben ihre Trümmer zwischen den Wrackteilen der MOND VON CEYNOR durch das All. »Admiral, die Abtaster zeigen das Vorhandensein mehrerer Rettungskapseln an!«, meldete der Ortungsoffizier. »Sofort mit Traktorstrahl an Bord nehmen!«, ordnete Nadranos an. Inzwischen war die Formation der Allianz CLARON wieder geschlossen. Eine Phalanx aus Steinschiffen der Laschkanen hatte sich zwischen die ceynidischen Verbundraumer und die in einer keilförmigen Formation angreifenden schnellen Jay'nacEinheiten geschoben. Ein kleiner Sieg in einer Schlacht, die bereits verloren ist!, durchzuckte es Admiral Nadranos. *** »Treten Sie ein!«, forderte Admiral Weras-967. Er schwebte an den Gurten seines Antigravaggregats hängend durch den fast vollkommen dunklen Raum. Ein
schwächlich wirkender, vollkommen haarloser Körper mit einem bleichen Totenschädelgesicht und einem vergleichsweise riesigen Hinterkopf. Es gab lediglich eine winzige Lichtquelle im Quartier des Stabsadmirals der Allianz CLARON. Die Schiebetür öffnete sich, und ein Ovoaner trat ein. Er wirkte etwas orientierungslos. Schon im Korridor war es ziemlich dunkel gewesen. »Seien Sie gegrüßt, Qarleinen.« »Gemütlich haben Sie es hier nicht gerade«, war die Erwiderung des ovoanischen Regenten. Die feuchte Kühle, die in Admiral Weras' Quartier herrschte, ließ den eigentlich nicht besonders empfindlichen Ovoaner frösteln. »Schattenfeld aktivieren, Beleuchtung auf ovoanisches Level erhöhen!«, wies Weras über die Audio-Eingabe das Rechnersystem des Zimmers und den Schattenfeldgenerator an. In dem selben Moment, in dem das Licht anging, verschwand die Gestalt des Laschkanen hinter einem Schirm aus undurchdringlicher Finsternis. »Ich nehme an, so ist es für Sie angenehmer, Qarleinen.« »Sie sind ein zu gütiger Gastgeber!«, erwiderte Qarleinen – beziehungsweise der Klon-Agent, der seine Stelle angenommen hatte. Er trat näher. Seine Arme waren in die Hüften gestemmt. Er blickte sich um und bleckte dabei leicht die Zähne. Die Einrichtung des Laschkanenquartiers war sehr schlicht. Der Ovoaner wunderte sich darüber, dass nicht einmal irgendwelches kommunikationstechnisches Equipment zu finden war. Was Qarleinen nicht sehen konnte, war, dass Admiral Weras über ein neuronales Interface ständig mit den wichtigsten Schaltstellen der CLARON-Streitmacht und ihrer Teilflotten verbunden war.
So konnte er ständig den Verlauf der Schlacht um das Erinjij-System verfolgen und war jederzeit über den Verlauf der Ereignisse auf dem Laufenden. Selbst wenn er schlief, sorgte eine spezielle Weckfunktion dafür, dass sein Bewusstsein sofort wieder in einen handlungsfähigen Zustand versetzt wurde, sobald ihn Fakten mit hohem Relevanzfaktor erreichten. Qarleinen hatte den eigentlichen Körper des Laschkanen nur für den Bruchteil eines Augenblicks sehen können. Ein Moment, der so kurz war, dass sich der Ovoaner fragte, wie viel von dem scheußlichen Eindruck wohl der Realität entsprach. Das, was Qarleinen gesehen hatte, entsprach jenen aus den Gräbern aufsteigenden Schreckgestalten, von denen ovoanische Eltern ihren Kindern gerne erzählten, um sie psychisch abzuhärten. »Die Schlacht wird sich wohl noch einige Crysral-Tage lang hinziehen«, erklärte jetzt der Admiral. »Die CLARON-Verbände wehren sich effektiver, als wir es von ihnen erwartet hätten!« »Ja.« »Der Beschluss, den Abwehrschild der Neeg-Raumer um Crysral auszudünnen und diese Einheit zum Erinjij-System zu beordern, wird das Ende noch weiter hinauszögern«, sagte Qarleinen vorwurfsvoll. »Hatten wir eine andere Wahl, als dem zuzustimmen?« »Vermutlich nicht.« »Außerdem wird dann das Ende leichter«, erklärte Weras967. »Sie haben wohl Recht. Das Misstrauen des Hohen Rates wäre schlimmer gewesen als die Verzögerung, die vielleicht durch den Einsatz dieser Neeg-Raumer entsteht.« Eine Pause entstand. Schließlich sagte Qarleinen: »Ich bin eigentlich hier, um mit Ihnen über Kerrgh zu reden.« »Was ist mit ihm?«
»Ist es Ihnen wirklich entgangen? Die psychische Integration seiner zusätzlichen Bewusstseinskomponenten scheint ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Die Tatsache, dass er seinen Arrlagh-Lehrer umbringen musste, um die Erfüllung unseres Auftrags nicht zu gefährden, hat ihm sehr zugesetzt.« »Ich darf doch meiner Verwunderung darüber Ausdruck verleihen, dass Sie erstaunlich gut über das Seelenleben des Ersten der Rogh informiert zu sein scheinen.« »Schon mein Vorgänger hatte zahlreiche Spione in der Umgebung des Rogh-Regenten.« Qarleinen bleckte die Zähne. »Diese Rogh-Informanten kennen natürlich nicht die Gründe für das innere Ungleichgewicht ihres Regenten. Aber die seelische Verfassung eines Angehörigen dieser Spezies ist an der Färbung der Flügel zu sehen. Vorausgesetzt, man vermag die feinen Nuancen zu erkennen.« »Und auf Ihre Informanten trifft das zu.« »Sie sind Rogh!« »Natürlich!« Der Ovoaner fragte sich, ob der leicht spöttische Unterton des Laschkanen durch die Modulation des Translatorsystems bedingt war oder tatsächlich die Einstellung des Admirals widerspiegelte. »Wie ich annehme, haben Sie – oder Ihr Vorgänger – nicht nur das Privatleben des Ersten der Rogh intensiv ausspionieren lassen!«, vermutete Weras. »Das stimmt. Seine seelischen Qualen würden mich kaum interessieren, wenn nicht die Gefahr bestünde, dass in dieser kritischen Situation seine Konditionierung versagt.« »So gravierend schätzen Sie das ein?« »Ja.« Weras-967 schwebte zur anderen Seite des Raums. Crysral sollte möglichst kampflos und ohne allzu große Zerstörungen übergeben werden. Dazu war unbedingt notwendig, dass das Selbstzerstörungsprogramm außer Kraft gesetzt wurde. Aber wenn ein völlig aus dem Lot geratener
Kerrgh-Klon, dessen Konditionierung nicht mehr einwandfrei funktionierte, plötzlich für einen Stimmungsumschwung in dieser Frage sorgte – oder vielleicht sogar die Verschwörung ans Tageslicht brachte –, war das Ziel der Mission gefährdet. »Ich könnte Kerrgh ausschalten lassen«, schlug Admiral Weras-967 vor. »Der Tod des Rogh würde das Misstrauen unserer Gegner schüren.« Ein meckernder Laut drang aus dem Schattenfeld. Offenbar handelte es sich um eine laschkanische Ausdrucksform von Heiterkeit. Qarleinen erinnerte dieses Geräusch eher an jene Laute, die halbintelligente Schlachtechsen auf Ovoan III auszustoßen pflegten, wenn sie ahnten, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte. »Von welchen Gegnern sprechen Sie, Qarleinen?«, fragte Weras-967. »Von Algorian und Cy vielleicht? Sie werden im Sternsystem 23112 ihre endgültige Bestimmung finden. Und was gefährliche Personen aus ihrem weiteren Umfeld angeht, wie zum Beispiel den Chef der Raumlotsen... Sie sind sämtlich zum Schweigen gebracht worden.« »Gerade auf Grund dieser – zugegebenermaßen sehr gelungenen – Säuberungsaktionen müssen wir ausgesprochen vorsichtig sein.« Der Laschkane zögerte mit seiner Antwort. »Vielleicht haben Sie Recht«, gab er schließlich zu. »Es soll übrigens eine Widerstandszelle im Sicherheitsdienst der Flotte geben!«, sagte Qarleinen. »Aber das ist ein anderes Thema...« »Geben Sie mir alles, was Sie darüber an Informationen haben, und ich werde dem ein Ende setzen.« »Davon bin ich überzeugt.« »Zurück zu Kerrgh«, entschied Weras-967. »Ich dachte, er hätte einen neuen Meditationslehrer gefunden, der in der Lage ist, ihm seelisches Gleichgewicht zu verschaffen!«
»Kerrgh verweigert seit kurzem den Kontakt mit Meister Zarrorgh«, berichtete der Regent der Ovoaner. »Es gibt bereits Stimmen in der Rogh-Führung, die Kerrgh wegen erwiesener psychischer Erkrankung und Unzurechnungsfähigkeit absetzen wollen! Dann geraten wir erst recht in Schwierigkeiten!« Weras war durchaus klar, worauf sein Gegenüber anspielte. Wenn ein neuer Rogh-Herrscher Kerrghs Stellung einnahm, war es unmöglich, schnell genug einen Klon und eine modifizierte Bewusstseinskopie zu erzeugen, um ihn zu ersetzen. Selbst die in dieser Hinsicht sehr fortgeschrittene Technologie der Jay'nac war dazu nicht in der Lage. Es sei denn, der Nachfolger hätte zufällig auf der Liste jener Personen gestanden, die als wichtig genug eingestuft worden waren, sie durch Klon-Agenten zu ersetzen. »Admiral, ich möchte Sie bitten, diesen Meditationslehrer anzusprechen«, sagte Qarleinen. »Ihn zu ersetzen ist aus mehreren Gründen unmöglich. Nicht nur deshalb, weil wir nicht schnell genug einen Klon bekämen.« »Wir sehen ja, wie instabil ein Rogh-Bewusstsein auf die Konditionierung reagiert. Man hätte Angehörige dieses psychisch anscheinend so sensiblen Volkes niemals dieser Behandlung unterziehen dürfen!« »Wir können daran jetzt nichts mehr ändern.« Admiral Weras sank zu Boden. »Warum sprechen nicht Sie den Meister an?«, fragte er. »Zarrorgh verachtet die ovoanische Kultur. Er hält sie für barbarisch. Außerdem wäre es schlecht, wenn Kerrgh davon erführe, dass ich dahinter stecke.« »Ein Regent sollte niemals versuchen, einen Regenten zu manipulieren!«, zitierte der Laschkane eine der am häufigsten gebrochenen Regeln der Allianz. »Ich verstehe...« »Wir verlassen uns alle auf Sie, Weras«, sagte Qarleinen. Er wandte sich zum Gehen.
»Der Anbruch der nächsten Epoche in der Galaxis wird nicht aufzuhalten sein!«, erklärte Admiral Weras-967. Sein Translatorsystem ließ ihn sehr überzeugend klingen. Die letzten Tage von Crysral hatten begonnen. Unwiderruflich! *** »Algorian und Cy, die verdienstvollen Sucher der ALLIANZ wurden entführt, der Chef der Raumlotsen ermordet und außer Ihnen beiden gibt es unter den Regenten CLARONs nur noch Klon-Agenten!« Die Ceynidin Derandii sprach diese Feststellungen mit überraschender Sachlichkeit aus. Sie flogen mit einem pfeilschnellen Gleiter über eine zerklüftete, karge Landschaft, die von zahlreichen Vulkanen gekennzeichnet war. Am Himmel stand eine große rote Scheibe, daneben eine viel kleinere gelbe Sonne. Diese Kombination entsprach den Verhältnissen auf Neegala, der Ursprungswelt der Neeg, deren exobiologische und medizinische Zentren in der gesamten bekannten Galaxis berühmt waren. Die rote Scheibe war ein Gasriese namens Neegala-To, der auf einer sehr engen Bahn sein Zentralgestirn Neegala-Sanga umkreiste. Hier, in der neeg'schen Kaverne auf Crysral, nahmen Kunstsonnen und Projektionen die Positionen dieser den Neeg von ihrer Heimatwelt her bekannten Himmelserscheinungen ein. Der Gleiter wurde von einem Offizier des Sicherheitsdienstes der CLARON-Flotte geflogen. Es handelte sich um eine attraktive Eierlegerin mit einem sehr reizvollen Schuppenmuster, wie Ooras-Fonto registrierte. Den Namen der Neeg-Frau erfuhr er nicht, aber Makalos und Derandii schienen ihr zu vertrauen. Außer Ooras-Fonto befand sich auch noch der ceynidische Regent Asmombros an Bord.
Er hatte genau wie Ooras-Fonto einen Datenträger erhalten, auf dem Hintergrundinformationen über die Verschwörung enthalten gewesen waren. »Glauben Sie wirklich, dass es besonders klug war, sich während eines Gleiterfluges in der Neeg-Kaverne zu treffen?«, meldete sich Asmombros zu Wort, der auf Derandiis Ausführungen zunächst gar nicht näher einging. »Man wird sich wundern, weshalb der Regent Ceynors ausgerechnet in einer derart kritischen Phase unserer Geschichte nichts Besseres unternehmen kann, als einen Flug durch die NeegKaverne!« »Dieser Gleiter ist einer der wenigen Punkte unseres Planeten, die absolut abhörsicher sind«, erklärte Derandii. »Auf Neegala gibt es auf Grund des Schwerefeldes des nahen Gasriesen mörderische Stürme. Deren Auswirkungen werden in der hiesigen Neeg-Kaverne ziemlich naturgetreu simuliert. Daher sind die hier verwendeten Atmosphärengleiter mit besonders leistungsfähigen Prallfeldern ausgestattet, die außerdem wie eine sehr wirksame Abschirmung wirken.« Derandii machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach. »Ich gehe davon aus, dass Sie den Inhalt der Datenträger genau studiert haben.« »Sonst wären wir nicht hier!«, sagte Asmombros. »Die Beweise und Indizien für eine Verschwörung sind tatsächlich sehr überzeugend«, meldete sich jetzt Ooras-Fonto zu Wort. »Aber so, wie die Lage in der Schlacht um das ErinjijSystem steht, wird den Jay'nac ohnehin alles zufallen. Gleichgültig, ob diese Verschwörung letztlich zum Erfolg führt.« »Sie haben schon aufgegeben?«, fragte jetzt Makalos, der bisher geschwiegen hatte. Der Ceynide musterte Ooras-Fonto auf eine Weise, die den Echsenartigen vor allem deshalb ärgerte, weil er sie nicht zu interpretieren wusste.
»Das wollte ich damit nicht gesagt haben«, erwiderte OorasFonto. »Wir konnten verschlüsselte Datentransmissionen auffangen, über die sich die Verschwörer mit den Jay'nac verständigen«, erläuterte Makalos. »Auf Grund dieser Transmissionen sind wir der Verschwörung überhaupt auf die Spur gekommen. Bislang gelang es uns leider nur, einen Teil des Materials zu entschlüsseln.« »Einige von uns haben das bereits mit dem Leben bezahlt«, ergänzte Derandii. Die Neeg-Pilotin flog einen Bogen, der um den Krater eines rauchenden Vulkans herumführte. Die Sicht verschlechterte sich. Leichte Erschütterungen durchliefen den Gleiter. Auswirkungen der simulierten Stürme, wusste Ooras-Fonto. Nichts, worüber man sich Sorgen machen musste. »Die Verschwörer versuchen, das Selbstzerstörungsprogramm außer Kraft zu setzen, das im Fall einer Besetzung Crysrals den Planeten auseinander sprengen soll«, fuhr Derandii fort. »Angesichts der Umstände kann man sich wirklich fragen, ob die Aufrechterhaltung dieses Programms tatsächlich sinnvoll ist«, sagte Asmombros. »Vielleicht sollten wir uns wirklich von der Maxime abwenden, dass ein Überleben nur in Freiheit lohnt! Ich sehe in dieser Selbstzerstörungsoption nichts weiter als ein pathetisches Relikt der Vergangenheit!« »Das ist es vielleicht auch«, gestand Derandii zu. »Aber wenn unsere Flotte die Flut der Anorganischen nicht aufzuhalten vermag, ist das Selbstzerstörungsprogramm vielleicht die letzte Möglichkeit für uns, den Jay'nac zu schaden. Aus den Transmissionen wissen wir, wie wichtig ihnen die Eroberung Crysrals ist – unzerstört, mit all seinem Wissen, den Datenbänken und dem technologischen Potenzial, das hier zu finden ist. Darum sind die Verschwörer im
Augenblick so darauf aus, einen entsprechenden Ratsbeschluss zu erwirken – und zwar noch bevor die Jay'nac hier eintreffen.« »Barbeilen hat mich darauf angesprochen«, erwähnte OorasFonto. »Kurz nachdem Sie mir den Datenträger gegeben hatten, Derandii!« »Vielleicht werden sich in den Weiten des Allianz-Gebietes kleine Widerstandszellen halten können. Wer weiß? Die Jay'nac und ihre Erinjij-Verbündeten werden mit ihrem Eroberungszug fortfahren, bis die gesamte bekannte Galaxis in ihrer Hand ist und es keine Zivilisation mehr gibt, die mit der ihren konkurrieren könnte. Niemand weiß, wo dieser kosmische Raubzug letztlich enden wird. Niemand! Wir können nur hoffen, dass sich irgendwann eine Macht findet, die stark genug ist, ihnen Einhalt zu gebieten. Aber wenn ihnen Crysral unzerstört in die Hände fällt...« »Sie wollen also, dass wir in Ihrem Sinn die Stimmung im Rat beeinflussen!«, stellte Asmombros fest. »Das sind Sie den Idealen CLARONs schuldig«, fand Derandii. Ooras-Fonto hatte dem Wortwechsel nachdenklich zugehört. Er selbst misstraute jedem allzu vehementen Idealismus. Aber war eine nüchterne Abwägung in dieser Lage überhaupt möglich? Die Argumentation der beiden Offiziere des Sicherheitsdienstes hatte den Echsenartigen durchaus beeindruckt. Er hatte vor allem Respekt vor ihrem Mut. Die Flugbahn des Gleiters senkte sich plötzlich ruckartig. Ooras-Fonto war deswegen nicht beunruhigt. Zwar krallten sich seine schuppigen Hände instinktiv am Armlauf des Konturensitzes fest, aber derartige Turbulenzen war der Regent der Neeg von ähnlichen Flügen auf Neegala und der NeegKaverne von Crysral gewohnt. Die Gleiter verfügten über leistungsstarke Bordrechner, die im Notfall richtig zu reagieren vermochten. Selbst dann, wenn der Pilot kläglich versagte. Und dann gab es da noch die
Prallschirme. Eine Art Lebensversicherung für jeden Insassen eines solchen Fliegers. »Zögern Sie nicht«, beschwor Makalos die beiden Regenten. Ooras-Fonto bemerkte, dass die Pilotin zunehmend nervös wurde. »Das Bordsystem funktioniert nicht einwandfrei«, erklärte sie im nächsten Augenblick. »Ich werde eine Landung vornehmen.« Makalos und Derandii wechselten einen kurzen Blick miteinander. Ruckartig veränderte der Gleiter erneut seine Flugbahn. Er steuerte direkt auf eine hoch aufragende Felswand zu. Anstatt den Kurs wieder zu verändern und dem Hindernis auszuweichen, hielt das Gefährt direkt darauf zu und beschleunigte sogar noch. »Ich kann nichts tun!«, schrie die Neeg-Eierlegerin. »Das System ist blockiert!« Niemand an Bord kam noch dazu, etwas zu erwidern. Der Gleiter prallte gegen die Felswand und explodierte. *** Schwerer Energiebeschuss zischte durch das All. Für einen kurzen Moment war ein grünliches Flackern zu sehen. Das letzte Aufglühen eines Schutzschirms, der nur noch einen Bruchteil seiner normalen Leistungsfähigkeit besaß. Das laschkanische Spähschiff ALLIANZ explodierte unter dem heftigen Beschuss der Jay'nac-Schiffe. Trümmerteile flogen durch das All. Trümmerteile, die bei einem laschkanischen Steinschiff aussahen wie Geröllbrocken. Insgesamt drei dieser angeblichen Trümmerteile waren in Wahrheit Rettungskapseln. Kommandant Kalam-234 befand sich in einer davon und beobachtete über sein neuronales Interface die Jay'nac-Schiffe.
Sie zogen sich nach und nach zurück, um sich anderen CLARON-Schiffen zuzuwenden. Zurück blieb ein Trümmerfeld. Die kommandierenden Offiziere der Kapseln 2 und 3 hatten strenge Anweisung, zunächst keinerlei Funkkontakt aufzunehmen. Die Besatzungen der Rettungskapseln mussten sich eine Weile einfach tot stellen. Eine andere Überlebenschance gab es für sie nicht. Schließlich befanden sie sich mitten in den Formationen der Jay'nac. Gelendos befand sich ebenfalls an Bord von Kapsel eins. Für den Erinjij-Forscher war es bedrückend, eingepfercht zwischen mehreren Dutzend Laschkanen in einer Kapsel zu sitzen. Das feuchtkalte, stockdunkle Innere dieser Kapsel erinnerte Gelendos an eine alt-ceynidische Totengruft. Lebendig begraben in einem Steinsarkophag, der durch das All treibt!, durchfuhr es den Ceyniden. Aber er konnte froh sein, überhaupt mit dem Leben davongekommen zu sein. Es hatte zwei weitere Rettungskapseln gegeben, die nicht rechtzeitig gestartet waren. Fast die Hälfte der Besatzung war in der Explosionshölle der ALLIANZ zurückgeblieben. Ich bin wie blind, dachte Gelendos. Für ihn gab es keinerlei Datenzugang in dieser Kapsel. Optisch sichtbare Projektion waren überhaupt nicht vorgesehen. Es gab lediglich Anschlüsse für ein halbes Dutzend neuronaler Adapter für die führenden Offiziere. Dem Rest der zusammengedrängten Besatzung erging es nicht anders als dem nicht-laschkanischen Gelendos. Die technischen Funktionen der Rettungskapsel waren auf das Wesentlichste reduziert. Es gab eine einzige, kleine Geschützbatterie. Aber diese Strahlenkanone würde gegen den Angriff eines Jay'nac-Schiffs kaum Wirkung erzielen. Mit viel Glück konnte man auf diese Weise ein paar kleine Jäger abwehren.
Kalam hatte allen drei Kapsel-Kommandanten untersagt, Schutzschilde einzusetzen. Diese waren von den FeindEinheiten ohne Schwierigkeiten anmessbar und hätten die Überlebenden sofort verraten. Andererseits waren sie auf diese Weise selbst gegen den Beschuss mit leichten Laserwaffen vollkommen wehrlos. Aber dieses Risiko mussten sie in Kauf nehmen... *** Viele Crysral-Stunden lang herrschte Schweigen in der Dunkelheit der sarkophagähnlichen Rettungskapsel. Es gab einfach nichts zu sagen. Das Gefühl, nichts tun zu können, war geradezu lähmend. Die Kapseln hatten sich inzwischen so weit voneinander entfernt, dass Kapsel 3 nicht mehr über die passiven Ortungssysteme auszumachen war. Den Einsatz der aktiven Orter untersagte Kalam-234 nach wie vor. Alles hat mit einem Triumph angefangen, überlegte Gelendos. Endlich war das Heimatsystem der verhassten Erinjij gefunden worden. Aber so, wie sich die Dinge weiterentwickelt hatten, konnte man fast auf den Gedanken kommen, dass alles nur eine von Anfang an geplante Falle war – aufgestellt zu dem Zweck, die Flotte der Allianz CLARON ins Verderben zu führen. Was den Jay'nac aller Voraussicht nach wohl auch gelingen wird!, durchzuckte es den Erinjij-Gelehrten. Kalam-234 konnte über sein neuronales Interface den Verlauf der Schlacht verfolgen. Zumindest in der näheren Umgebung der Kapsel... Die Front zwischen den Schiffen der Allianz CLARON und den Jay'nac-Einheiten hatte sich verschoben. Den Anorganischen war es gelungen, die CLARON-Verbände weit zurückzudrängen.
Hier und da waren einzelne Allianz-Schiffe zu erkennen, die sich offenbar nicht schnell genug hatten zurückziehen können und jetzt unter massiven Beschuss gerieten. Kalam sah ein Kegelschiff der Rogh explodieren. Desgleichen mehrere pfeilförmige Einheiten der Ovoaner, die allerdings bereits stark beschädigt waren und nur noch über einen geringen Teil ihrer eigentlichen Feuerkraft verfügten. Das hinderte die Ovoaner allerdings nicht daran, sich weiterhin mit aller Kraft zu wehren. Aber dieser ungleiche Kampf währte nicht lange. Die Jay'nac vernichteten die Schiffe, die Trümmerteile wurden wie die Leuchtsplitter eines Feuerwerks durch das All geschleudert. Kalam-234 spürte Wut in sich aufkeimen. Das Gefühl, nichts tun zu können, war grausam. Über lange Crysral-Stunden befanden sich nur noch Jay'nacSchiffe im Erfassungsbereich der Ortungssysteme, über die die Kapsel verfügte. Auch die aktive Ortung – wenn Kalam-234 sie denn eingesetzt hätte – war natürlich nicht mit den Möglichkeiten zu vergleichen, die sich an Bord eines regulären laschkanischen Schiffs befanden. Man ging davon aus, dass eine derartige Kapsel in erster Linie dem Überleben einer möglichst großen Anzahl von Mannschaftsangehörigen zu dienen hatte. Ganze Konvois von Jay'nac-Schiffen unterschiedlicher Bauart zogen an Kapsel 1 vorbei. Die Anorganischen schienen weiter auf dem Vormarsch zu sein und die Einheiten CLARONs regelrecht vor sich her zu treiben. Erneut vergingen Stunden... Da bemerkte der Kommandant zunächst Dutzende von Jay'nac-Einheiten, die offenbar schwer beschädigt waren und sich auf dem Rückzug befanden. Mehrere von ihnen versuchten, bei zu geringer Ausgangsgeschwindigkeit in den Hyperraum zu transitieren. Nicht allen gelang dieses Manöver. Bei manchen dieser
Raumschiffe waren offenbar auch die Triebwerkssektionen in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Anzeigen ließen keinen Zweifel daran, dass sich das Kampfgeschehen jetzt in Richtung der gegenwärtigen Positionen der drei Rettungskapseln verlagerte. »Unsere Schiffe scheinen wieder etwas an Terrain zu gewinnen!«, gab der Ortungsoffizier seiner Hoffnung Ausdruck. Wahrscheinlich nichts weiter als ein letztes Aufflammen von Euphorie!, dachte Gelendos resigniert. Doch er sollte sich getäuscht haben. Das Kampfgeschehen rückte wieder näher. Eine Formation von dreieckigen ovoanischen Kampfschiffen schlug eine tiefe Kerbe in die Reihen der Jay'nac, deren Kampfformationen schließlich auf breiter Front in Auflösung betroffen waren. Die Anorganischen wichen zurück, während ein Verband von Ceyniden-Schiffen der Vorhut der Ovoaner folgte und nachstieß. Es handelte sich um einen koordinierten Angriff, der trotz zahlenmäßiger Überlegenheit der Jay'nac seine Wirkung nicht verfehlte. »Impulstriebwerke einschalten und auf langsame Fahrt gehen!«, befahl Kalam, obwohl er wusste, dass das Risiko, geortet zu werden, hoch war. Andererseits waren sie dem Tode geweiht, wenn sie nicht sehr bald an Bord eines CLARON-Schiffs gelangten. Kalam ließ auch eine entsprechende Meldung an die anderen Kapseln schicken. Er benutzte dazu energiearme, schwer empfangbare Impulsfolgen, die darüber hinaus auch noch verschlüsselt waren. Alle drei Kapseln bewegten sich nun auf die Kampfzone zu, die sich ihnen ihrerseits näherte. Die gewaltigen Energieentladungen und das hohe Strahlungsniveau zeigten, wie heftig die Auseinandersetzungen waren.
Flüchtende Jay'nac-Schiffe zogen jetzt an den Kapseln vorbei, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Manche dieser Einheiten unternahmen eine Nottransition und verschwanden im Hyperraum. Andere wurden von den pfeilförmigen, sehr schnellen ovoanischen Schiffen gestellt und nach heftigem Beschuss zerstört. Nach den Ovoanern folgte die zahlenmäßig viel größere Flotte der Ceyniden. Einige ihrer Verbundraumer hatten die Ring-Sektion aus der Energiefessel gelöst, die sie ansonsten mit dem kugelförmigen Hauptteil des Schiffes verband. Auf diese Weise verfügten sie über eine größere Zahl unabhängig voneinander operierender Schiffe. Die Geschützbatterien an den zentralen Kugelsektionen der Verbundraumer waren sehr leistungsstark. Unermüdlich wurde aus ihnen geschossen. »Das darf doch nicht wahr sein! Unsere Schiffe drängen die Jay'nac zurück!«, entfuhr es Kalam-234. Selbst dieser nüchterne Laschkane konnte einfach nicht mehr an sich halten. Wenig später tauchte der Rumpf eines gewaltigen Raumschiffs vor ihnen auf. Es war die STERN VON CEYNOR – das Flaggschiff der CLARON-Flotte... *** Kerrgh betrat den großen Sitzungssaal, in dem der Hohe Rat seine Sitzung einberufen hatte. Überall waren die Vertreter der einzelnen Mitgliedsvölker dabei, ihre Plätze einzunehmen. Neben einem Lagebericht des Flottenstabes stand nur noch ein Punkt auf der Tagesordnung: die Aufhebung des Selbstzerstörungsprogramms. Barbeilen hatte den entsprechenden Antrag eingebracht. Sein Einfluss war groß, aber wie die Mehrheit der Ratsmitglieder schließlich entscheiden würde, war nicht vorherzusehen.
Inzwischen hatte unter den Teilnehmern der Versammlung bereits eine Meldung die Runde gemacht, laut der die CLARON-Schiffe den Jay'nac unerwartet hohe Verluste beigebracht und sie teilweise sogar zum Rückzug gezwungen hatten. Euphorie, dachte Kerrgh, während er über die Köpfe der anderen Ratsmitglieder hinweg zu seinem Platz flog und sich dort niederließ. Ein Hauch von Hoffnung, die aber kein Fundament hat. Auch wenn sich der Widerstand der CLARONFlotte länger hinzieht, als man es voraussehen konnte, so wird niemand den Beginn der neuen galaktischen Epoche verhindern können. Der Rogh bemerkte ganz in seiner Nähe den ceynidischen Regenten Asmombros im Gespräch mit dem echsenartigen Ooras-Fonto. Der schmetterlingshafte Rogh zuckte regelrecht zusammen, als ihn die Erkenntnis seiner zusätzlichen Bewusstseinskomponente traf. Sie gehören dazu!, erkannte er. Beide. Also ist jetzt die komplette CLARON-Führung auf unserer Seite. Ein Umstand, über den er sich eigentlich hätte freuen sollen. Seine Konditionierung legte ihm jedenfalls diese Emotion nahe – aber er war nur zu sehr verhaltener Freude fähig. Etwas Graues, Düsteres legte sich wie ein fauler Kokon über seine Seele. Ein Bild entstand kurz vor seinem inneren Auge. Kerrgh erinnerte sich daran, einmal als junge Rogh-Raupe einen so genannten faulen Kokon gesehen zu haben. Durch Parasitenbefall war er grau-schwarz geworden. Die RoghPuppe darin hatte sich noch bewegt. Aber sie war zum Tode verurteilt gewesen, wie Kerrgh auch damals bereits sehr genau gewusst hatte. Da ist etwas in mir, was gegen die Konditionierung mit aller Kraft ankämpft und dich wahrscheinlich am Ende zerreißen wird! Da war sich der Erste der Rogh sicher. Er fühlte sich scheußlich.
Seine Heilige Zeit hatte ihm keine Linderung seiner Qualen gebracht. Er war psychisch am Ende. Seine Flügelfarben hatten unter anderen Rogh im Saal bereits Entsetzen hervorgerufen. Entsetzen, das so groß war, dass einige der anderen Rogh Kerrghs Flügelfarben beinahe kopiert hatten. Der Regent konnte von Glück sagen, dass die meisten Räte der anderen Völker sich kaum um diese Kleinigkeiten kümmerten. Zarrorgh, den Meister der Arrlagh-Schule, hatte Kerrgh weggeschickt und die Sitzungen mit ihm abgebrochen. Er hatte es um des Meisters Willen getan. Er wollte um jeden Preis vermeiden, dass noch einmal etwas Ähnliches geschah wie mit Meister Shatragh. Allein der Gedanke daran, dass er Shatragh getötet hatte, weil er einem quasi automatisch ablaufenden psychischen Programm gehorcht hatte, ließ den Ersten der Rogh schaudern. Ihm war bewusst gewesen, dass auch Shatraghs Nachfolger nach kurzer Zeit begriffen hätte, was mit Kerrgh nicht stimmte. Seine eigenen Kenntnisse der Arrlagh-Rituale reichten nicht mehr aus, um sich damit die seelische Gesundheit zu erhalten. Es ist wie eine Infektion, von der man genau weiß, dass sie einen umbringt... Ein schleichendes Gift, das allerdings auch den Arzt sofort tötet, der es diagnostiziert! Der Lärm in der Versammlungshalle schmerzte Kerrgh in den ausgesprochen sensiblen Hörorganen. Die Stellung der Fühler wirkte verkrampft. Er sehnte sich nach dem beruhigenden Rascheln von AsFarsal... Nach Frieden... Innerem wie äußeren Frieden... Kerrgh fühlte eine lähmende Agonie in sich. Ein Gefühl, das ein Rogh eigentlich in der anderen galaktischen Völkern geläufigen Form gar nicht kannte, breitete sich in ihm schon seit geraumer Zeit aus.
Es war nicht das Bedürfnis nach seelischer Harmonie, das einem Rogh die Notwendigkeit anzeigte, eine Heilige Zeit zu nehmen. Es war Müdigkeit. Unendlich große Müdigkeit... Die Sehnsucht nach einem Schlaf, der nie endete und ihn die innere Zerrissenheit seiner Seele nicht mehr spüren ließ. Allein der Gedanke an eine derartige Sehnsucht wäre ihm früher wie ein Frevel an sämtlichen Grundsätzen des Arrlagh vorgekommen. Schlaf war Tod. Das Aussetzen des Bewusstseins. Das Nicht-Sein! Ist es nicht genau das, was mich erlösen würde? *** »Was geschieht mit den Sporen?«, fragte Cy, dessen Augenknospen auf den Panorama-Schirm des Beiboots gerichtet waren. Sämtliche Sporen und Artefakte um Stern 23112 hatten ihre Position verändert und strebten auf einen bestimmten Punkt zu. »Sie scheinen sich zu ordnen«, meinte Algorian. »Anders kann man es wohl nicht beschreiben.« Algorians Finger glitten über das Terminal einer Konsole. Seine Bemühungen waren allerdings ohne Ergebnis. Noch wurde das Beiboot von Porlac ferngesteuert. Erst als es ungefähr ein Drittel der Strecke zum gegenwärtigen Standort der NONG-TO zurückgelegt hatte, änderte sich dies. Der Bordrechner des CLARON-Raumers übernahm jetzt vollautomatisch die Steuerung. Algorian bemerkte, dass röhrenartige Verbindungen aus der Oberfläche einiger Sporen drangen. Sie wurden wie gewaltige Teleskope ausgefahren und auf benachbarten Sporen fest verankert. Ein bizarres Konstrukt entstand auf diese Weise, das
aussah wie die extreme Vergrößerung einer atomaren Gitterstruktur. Auch die technischen Artefakte gliederten sich in dieses wahrhaft gewaltige Bauwerk ein. Was habe ich da nur ausgelöst!, durchfuhr es Algorian. Offenbar waren die Sporen durch ein Programm miteinander verbunden, das nur auf den richtigen Auslöser gewartet hatte, um aktiv zu werden. Die ganze Zeit über, während sich das Beiboot im langsamen Impulsflug auf sein Mutterschiff zubewegte, starrten Cy und Algorian auf das Anwachsen des Konstrukts. Erst als sie die NONG-TO fast erreicht hatten, fragte Cy plötzlich: »Was, glaubst du, werden wir vorfinden, wenn wir an Bord gehen?« »Keine Ahnung. Aber ich bin überzeugt davon, dass Porlac genau wusste, was er tat, als er uns zurück zu unserem Schiff geschickt hat!« »Wenn du wirklich vorhast, ihm die von ihm gewünschten Daten zu überspielen, wirst du damit bei Tardralonnen wohl kaum eine begeisterte Reaktion auslösen!« »Er wird sicherlich einsehen, dass wir alle keine andere Wahl haben«, meinte Algorian. Die NONG-TO wurde von einem bläulichen Traktorstrahl in ihrer Position gehalten. Algorian bemerkte die entsprechenden, automatisch aufgezeichneten Anzeigen des Ortungssystems. Allerdings waren auch diese Systeme seinem Zugriff völlig entzogen, sodass er nicht in der Lage war, sich genauere Daten zu verschaffen. Ein Hangar öffnete sich, und das Beiboot flog ein. Nachdem sich das Außenschott wieder geschlossen hatte, gingen Cy und Algorian von Bord. Der Aorii blickte sich um. Zwei weitere Beiboote unterschiedlicher Größe befanden sich im Haupthangar der NONG-TO. Eines dieser Boote war auf Grund seines steinernen Äußeren sofort als laschkanische Konstruktion
erkennbar. Offenbar ein Spezialraumer für verdeckte Operationen des Geheimdienstes. Algorian blieb kurz stehen, bevor er seinen Weg in Richtung des Hauptschotts fortsetzte. Cy drehte drei seiner Augenknospen zu ihm herum. »Was ist los?« »Ich wundere mich darüber, dass uns niemand in Empfang nimmt!« Eigentlich hatte Algorian erwartet, sofort von Tardralonnens Leuten in Gewahrsam genommen zu werden. Aber das geschah nicht. Das Hauptschott öffnete sich selbsttätig vor ihnen. Algorian trat in den Korridor hinaus. Cy folgte ihm. Der embryonal gekrümmte Körper eines Laschkanen lag regungslos auf dem Boden. Das grelle Licht beleuchtete seine leichenblasse Haut. Das Antigravaggregat war mit Haltegurten auf seinen Rücken geschnallt, aber offensichtlich genauso deaktiviert wie der Schattenschirm. Eine düstere Ahnung keimte in Algorian auf. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Cy. »Komm!« Sie gingen den Korridor weiter in Richtung Zentrale und fanden weitere offensichtlich tote Besatzungsmitglieder. Ovoaner, Ceyniden, Neeg... An keinem von ihnen war irgendeine äußere Verletzung erkennbar. Schließlich erreichten sie die Brücke. Auch hier lagen überall Tote, darunter auch Kommandant Tardralonnen. Algorian erinnerte sich an die Strahlen, mit denen die NONG-TO abgetastet worden war. Offenbar hatten sie viel mehr bewirkt, als das Raumschiff nur zu scannen. An der Konsole des Kommunikationsoffiziers leuchtete eine Anzeige auf. Jemand wünschte Funkkontakt mit der NONGTO.
Algorian löste den Blick von den Toten, trat an die Konsole heran und nahm das Gespräch an. Porlacs inzwischen vertraute Stimme meldete sich. »Ich hoffe, ihr seid gut auf eurem Schiff angekommen.« »Ja«, sagte Algorian fast tonlos. »Ich hatte versprochen, euch das Schiff in die Hände zu geben.« »Es war nicht die Rede davon, die gesamte Mannschaft umzubringen!« »Leider war eine Säuberung eures Schiffs von organischen Strukturen unumgänglich, um mein Versprechen einlösen zu können«, war Porlacs eiskalte Erwiderung. »Das spezielle Säuberungsfeld, das dabei zum Einsatz kam, wurde leider erheblich abgeschwächt, als die Crew im letzten Moment ihre aus energetischen Schutzschilden bestehende DefensivBewaffnung aktivierte. Damit wäre eine erfolgreiche Säuberung fast verhindert worden. Auf Grund der gerade geschilderten Umstände könnte es sein, dass die Crew physische Qualen zu erleiden hatte, bevor sie starb.« Cy mischte sich jetzt in das Gespräch ein. Die Worte Porlacs hatten ihn sehr erregt, das spürte Algorian überdeutlich. Die mentalen Impulse, die er von dem Pflanzenwesen empfing, ließen daran keinen Zweifel. »Habt ihr diese so genannten Säuberungsfelder auch benutzt«, rief der Aurige, »wenn die organischen Kreaturen, die aus eurer Experimentalanordnung hervorgingen, nicht euren Vorstellungen entsprachen?« »Ein gewisses Maß an Kontrolle ist bei jedem Experiment unerlässlich«, war die Erwiderung Porlacs. »Und jetzt wünsche ich das Freischalten einer Datenverbindung. Ich möchte ungern zu gewaltsamen Mitteln greifen, um meiner Forderung Nachdruck zu verleihen, um eventuelle Zerstörungen und Datenverluste zu vermeiden. Wenn ihr allerdings euer Versprechen nicht zu halten gedenkt, so...« »Keine Sorge!«, unterbrach ihn Algorian.
*** Eine Datenverbindung wurde hergestellt, und der Transfer ging reibungslos vonstatten. Anschließend war die NONG-TO wieder voll manövrierfähig. Algorian setzte sich an die Pilotenkonsole. »Kennst du dich damit aus?«, fragte Cy. »Gut genug, um die NONG-TO fliegen zu können«, erwiderte Algorian. Auf dem Panorama-Schirm war zu sehen, wie das aus den Sporen und Artefakten gebildete Konstrukt seiner Vollendung entgegenstrebte. Immer weitere röhrenartige Verstrebungen wurden zwischen den einzelnen Sporen gebildet. »Porlac wird die Antworten auf seine Fragen im Datenmaterial dieses Schiffes finden«, war Algorian überzeugt. »Aber das wird er selbst herausfinden.« Er atmete tief durch, ehe er fortfuhr. Er registrierte die nach wie vor extreme Aufgewühltheit bei seinem Gefährten. Das, was das Pflanzenwesen über sich selbst erfahren hatte, musste erst einmal verarbeitet werden. »Cy, wir haben nicht viel Zeit. Die Machenschaften der Jay'nac müssen auf Crysral endlich bekannt werden!« »Aber wem in der CLARON-Führung können wir noch vertrauen, Algorian? Selbst der Geheimdienst ist schon auf Seiten der Verschwörer, wie diese Mission beweist.« »Ja, ich weiß«, murmelte Algorian. »Wahrscheinlich ist es das Sinnvollste, sich gar nicht an die Führung zu wenden, sondern an die Bevölkerung. Die Jay'nac können vielleicht einige hundert oder vielleicht sogar tausend Individuen an den Schaltstellen von Politik und Militär durch Klon-Agenten ersetzen, aber nicht die Milliarden Bewohner Crysrals! Sie könnten die falschen Regenten stürzen.« »Dein Vorschlag klingt einleuchtend«, sagte Cy. Aber den mentalen Impulsen nach, die Algorian gleichzeitig von ihm
empfing, war der Aurige keineswegs von den Erfolgsaussichten dieses Plans überzeugt. »Hast du daran gedacht, dass die Jay'nac vielleicht schon die gesamte Macht in ihren Händen halten?« »Wir müssen allen Ovoanern, Aorii, Ceyniden, Neeg, Laschkanen und Rogh die Augen öffnen!«, erklärte Algorian entschlossen. Er ging zur Konsole des Kommunikationsoffiziers und aktivierte einen offenen Hyperfunkkanal. Bei den Bewohnern Crysrals genoss er auf Grund der Verdienste, die er sich als Sucher der Allianz erworben hatte, großes Vertrauen. Das konnte ihm jetzt helfen. »Hier spricht Algorian von den Aorii«, sagte er. »Ich richte mich an alle Bürger der Allianz CLARON, die in der Lage sind, diese Botschaft zu empfangen. Die Führungsinstanzen unserer Allianz sind von den Jay'nac durch Klon-Agenten unterwandert...« In knappen aber sehr deutlichen Worten stellte Algorian dar, was er bisher herausgefunden hatte. Er nannte insbesondere auch Qarleinen und Kerrgh als Klon-Agenten beim Namen. Am Schluss rief er zum Widerstand gegen die falschen Anführer auf, die das Vertrauen der CLARON-Bevölkerung missbrauchten. Als er fertig war, sank er matt in einen der Konturensessel. »Ich kann nur hoffen, dass es noch nicht zu spät ist!«, sagte er laut an Cy gerichtet. Der Aurige antwortete nicht. Er verharrte vor dem Panoramabildschirm. Alle seine Augenknospen waren auf das herangezoomte Konstrukt gerichtet, das inzwischen vollendet zu sein schien. Das Pflanzenwesen war in seinen Gedanken versunken. Algorian spürte deutlich die innere Zerrissenheit des Aurigen. »Willst du mir deine Gedanken anvertrauen?« »Was bin ich, Algorian? Auch nur ein Klon-Agent der Jay'nac?«
»Diese Klon-Agenten scheinen ferngesteuerte Sklaven ohne eigenen Willen zu sein«, erklärte der Aorii. »Konditionierte, die zwar das Wissen und die Persönlichkeitsmerkmale der Originale besitzen, aber letztlich nur die Befehle ihrer Auftraggeber ausführen. Du hingegen...« »Bist du dir sicher, dass ich nicht etwas ganz Ähnliches bin?« Algorian machte eine Handbewegung, die bei den Aorii einer Verneinung entsprach. »Nein, diesen Eindruck hatte ich nie von dir! Du bist ein intelligentes Individuum mit freiem Willen.« »Vielleicht glaubt das jemand wie Kerrgh ebenfalls!«, gab der Aurige traurig zurück. »Es könnte alles eine Illusion sein, die mir nur zum Zweck der besseren Tarnung eingepflanzt wurde. So wie Kerrgh seinen eigenartigen Rogh-Ritualen folgen mag oder Qarleinen noch immer überzeugt davon ist, dem Wohl des ovoanischen Volkes und der Allianz zu dienen...« »Cy!«, unterbrach der Aorii das Pflanzenwesen tadelnd. Der Aurige schien sich in seine depressive Stimmung regelrecht hineinzusteigern. Nach Algorians Ansicht gab es jetzt Wichtigeres, als die Pflege individueller Identitätskrisen. Das Schicksal der Allianz stand auf dem Spiel. CLARON stand an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Vielleicht war es noch nicht zu spät und man konnte dieses einzigartige politische Gebilde zum Schutz der organischen Völker der Galaxis noch retten. Algorian hoffte das von ganzer Seele. Ich benötige seine Unterstützung, erkannte der AoriiZweitling. Aber im Moment war Cy gefangen im Netz der quälenden Fragen, die sein Inneres zerrissen. Fragen nach seiner Herkunft, seiner Natur, dem Sinn seiner Existenz... Er wird mir kein brauchbarer Verbündeter in diesem fast aussichtslosen Kampf sein, wenn seine psychische Stabilität
nicht gewährleistet ist!, überlegte Algorian. »Ich bin dein Freund, Cy.« »Ich weiß.« »Du vertraust mir?« »Wie sonst niemandem.« »Wenn ich der Ansicht wäre, dass du ein Klon-Agent der Jay'nac wärst, würde ich nicht mit dir darüber diskutieren, wie man die Herrschaft dieser Verschwörer untergraben könnte!« Cy bewegte seine Tentakelfortsätze. Sie zitterten leicht, wie Algorian bemerkte. »Ich möchte noch einmal mit Porlac in Verbindung treten«, bat der Aurige. »Vielleicht kann er mir meine Fragen beantworten. Ich muss einfach wissen, ob ich nur ein organischer Mechanismus mit fester Programmierung bin oder trotz meiner Herkunft ein selbstbestimmtes Wesen mit freiem Willen!« »Das verstehe ich«, sage Algorian. »Ich werde versuchen, eine Funkverbindung zu Porlac herzustellen.« »Danke...« *** Porlac reagierte nicht auf Algorians Versuche, über Funk mit ihm in Kontakt zu treten. »Unser Freund scheint nicht weiter an uns interessiert zu sein«, meinte der Aorii-Zweitling resignierend nach mehreren Versuchen. »Er hat, was er wollte, jetzt sind wir ihm gleichgültig. Und wenn wir an das Schicksal der Besatzung dieses Schiffes denken, sollten wir vielleicht froh darüber sein.« Cy schwieg. Doch Algorian spürte, dass sich sein Freund zu einem Entschluss durchgerungen hatte. »Ich muss noch einmal in das Innere der Spore«, erklärte der Aurige.
»Du glaubst wirklich, dass du dort mehr erfährst?« »Ich werde versuchen, Porlac noch einmal zur Rede zu stellen. Wenn ich diese Chance nicht nutze, werde ich es mir ewig vorwerfen. Das spüre ich genau.« »Wenn du willst, begleite ich dich!« »Nein, das ist nicht nötig. Das ist eine Sache, die ich allein hinter mich bringen muss. Ich wäre dir allerdings dankbar, wenn du den Kurs für die Fernsteuerung des Beibootes programmierst.« »Du bist wirklich fest entschlossen«, erkannte Algorian. »Natürlich«, versicherte der Aorii. »Und wir bleiben in permanentem Funkkontakt, ja?« »In Ordnung.« *** Cy war innerlich so aufgewühlt wie nie zuvor in seinem Leben. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Er starrte unablässig auf den Panorama-Schirm des Beibootes, auf dem ein Teil des bizarren Sporen-Konstrukts zu sehen war. Wie ein gigantisches Monument schwebte es in der Gaswolke, die Stern 23112 umgab. Wozu mochte dieses Bauwerk dienen? Das Beiboot näherte sich dem gewaltigen Konstrukt, bis es wenig später Auri erreichte. Oder das, was noch von dieser Spore erkennbar war. Zahllose Verbindungen wurden zu den Nachbarsporen gespannt. Das Beiboot bremste die Fahrt stark ab. Automatisch wurde der Eingangscode gesendet, der ihm schon einmal den Zugang zu den Geheimnissen Auris eröffnet hatte – und der Hangar öffnete sich. »Hallo Cy, alles in Ordnung?«, meldete sich Algorian über Funk.
»Ja«, sagte das Pflanzenwesen leise in seinen Kommunikator hinein. »Der Zugangscode wird nach wie vor akzeptiert. Porlac hat offenbar nichts dagegen, dass du ihn besuchst!« »Vielleicht ist er auch so allein wie ich«, sagte Cy. »Ein Bewusstsein, dem bekannt ist, dass es nur eine modifizierte Kopie darstellt, die man wie ein datentechnisches Ersatzteil in ein Rechnersystem eingepflanzt hat.« »Du solltest deine Emotionen nicht auf Porlac projizieren. Ich glaube nicht, dass seine Art der Empfindung mit der unseren allzu viel zu tun hat.« »Der Unseren?«, echote Cy. »Ich bin mit dieser Bewusstseinskopie wahrscheinlich enger verwandt als mit deinesgleichen, Algorian.« Das Beiboot landete im Hangar. Das Pflanzenwesen stieg aus und machte sich auf den Weg zu jenem hallenartigen Kontrollraum, in dem Porlac aktiviert worden war. Durch Zufall oder durch Fügung!, ging es Cy durch das Denkzentrum in seiner Mitte. Ganz wie man will. Ein Brummen erfüllte die gesamte Anlage. Cy empfand diese tiefen Frequenzen als sehr unangenehm. »Porlac!«, rief Cy. »Warum bist du zurückgekehrt?«, meldete sich die Stimme des Jay'nac-Bewusstseins. Sie schien von allen Seiten zu kommen. Die Metallkugel, von der der Aurige annahm, dass sie Porlacs Persönlichkeit enthielt, schwebte über einer Konsole. »Du hast auf unsere Versuche, in Funkkontakt zu treten, nicht reagiert«, erklärte Cy. »Es besteht keine Notwendigkeit einer weiteren Kontaktaufnahme. Andererseits amüsiert mich die geradezu fanatische Neugier, die dich anzutreiben scheint.« Ärger stieg in Cy auf. Die existenziellen Fragen, die ihn quälten, waren für Porlac nichts als ein amüsante Spiel?
Nicht genug, dass die Herren dieses Experiments Lebensformen einzig und allein für ihre egoistischen Ziele erschufen!, durchzuckte es den Aurigen. Die tief gehende Verachtung für die eigenen Geschöpfe ist nicht zu übersehen. Cy jedoch war entschlossen, diesen Ort nicht zu verlassen, ehe er Antworten auf die drängenden Fragen erhalten hatte, die ihn so sehr quälten. »Ich denke, ich habe ein Recht darauf, dass meine Fragen beantwortet werden«, erwiderte Cy so kühl und sachlich, wie es ihm in dieser Situation möglich war. Seine Augenknospen fixierten hochkonzentriert die Metallkugel. Nur einige wenige seiner zahlreichen Sehorgane registrierten, was sich sonst noch im Raum ereignete. »So... Du glaubst, Rechte zu haben!« Porlac schien über die Worte des Aurigen regelrecht erheitert zu sein. »Ich muss wissen, ob ich einen freien Willen habe...« »Eine eher philosophische Frage!«, unterbrach ihn Porlac. »Eigenartig, ich hatte ursprünglich nicht den Eindruck, dass du besonders an den theoretischen Aspekten eines Problems interessiert bist. Den physiologischen Daten deiner Spezies nach erschien mir das doch sehr unwahrscheinlich...« »Bin ich konditioniert? Bin ich ein Sklave irgendeines biologischen Programms, das ihr in mich eingepflanzt habt?« Algorian verfolgte das Gespräch über Funk mit. Es schmerzte ihn, mit anhören zu müssen, wie Porlac seinen Schützling erniedrigte. Plötzlich blinkte ein gutes Dutzend Anzeigen in der Zentrale der Spore Auri auf. Fremdartige Symbole erschienen, die Cy nicht zu deuten vermochte. Das brummende Geräusch verstärkte sich, so als würden die zur Anlage gehörenden Maschinen jetzt auf Hochtouren laufen. »Es tut mir Leid, ich kann mich nicht länger mit dir unterhalten!«, beschied Porlac dem Aurigen knapp. »Warum weichst du meinen Fragen aus?«
»Ich weiche ihnen nicht aus. Aber es wird gerade etwas aktiviert, was nahezu alle meine Ressourcen benötigt....« »Wovon sprichst du?« »Von der Brücke...« Cy zuckte regelrecht zusammen, als nur wenige Meter von ihm entfernt die Luft plötzlich zu flimmern begann. Es bildete sich ein Oval, durch das alles eigenartig verzerrt aussah. So als ob man durch eine aufgewühlte Wasseroberfläche blickte. Der Aurige wich zurück. Die Raumstruktur verfaltete sich. Die Verzerrungen wurden stärker. Das leuchtende Flimmern ließ Cys Augenknospen schmerzen. Im nächsten Moment bildeten sich Umrisse eines Wesens, das etwa zweieinhalb Meter groß war. Nachdem es erst wie eine schwache, durch Interferenzen gestörte Holoprojektion wirkte, gewann es schließlich an Substanz. Cys Tentakelfortsätze erstarrten. Gebannt blieben seine Augenknospen auf das gerichtet, was vor ihnen wie aus dem Nichts erschienen war. Ein hoch gewachsenes, zweibeiniges Wesen in goldener Rüstung stand dort. Der Kopf wurde durch einen Helm mit herunter gelassenem Visier bedeckt. Nur schmale Augenschlitze blieben. Der Torso wirkte fast humanoid, ebenso Arme und Beine. Am Rücken befanden sich jedoch große Flügel. Der Fremde trat einen Schritt auf Cy zu und entfaltete die Flügel... *** Die Rettungskapseln mit den Überlebenden der ALLIANZ waren an Bord der STERN VON CEYNOR geholt worden. Erleichtert, fürs Erste davongekommen zu sein, stieg Gelendos aus dem Dunkel. Er empfand die im Hangar
herrschende Helligkeit als angenehm. Die Laschkanen hingegen aktivierten jetzt sofort ihre Schattenschirme. Estan, der erste Offizier der STERN VON CEYNOR, begrüßte die Geretteten über eine Kom-Verbindung. Aber schon wenige Augenblicke später wurde Estans Aufmerksamkeit auf der Brücke gefordert. Zahlenmäßig starke Verbände der Jay'nac schickten sich an, den kühnen Vorstoß der CLARON-Raumer zu stoppen. Admiral Nadranos saß mit versteinertem Gesicht da, als er auf dem großen Panoramaschirm der STERN VON CEYNOR mit ansehen musste, wie gleich ein ganzes Dutzend ceynidischer Verbundraumer explodierte. Und unter den Dreiecksschiffen der Ovoaner waren die Verluste noch stärker. Der Kommunikationsoffizier meldete sich zu Wort. »Abteilung 15 meldet hohe Verluste.« Nadranos hörte sich den knappen Verlustbericht an und erhob sich dann aus seinem Konturensitz. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Unsere zwischenzeitlichen Erfolge waren nur ein Strohfeuer, erkannte er. Er hatte es von Anfang an befürchtet. Auf einer großen Projektion war der Verlauf der Schlacht deutlich zu sehen. Die Jay'nac hatten in mehreren Sektoren des Kampfgebietes zum groß angelegten Gegenschlag angesetzt. Unsere Erfolge waren auf entschlossene Einzelaktionen zurückzuführen!, erkannte der Admiral. Nicht auf unsere Überlegenheit. Überlegenheit, über die die CLARON-Flotte nicht verfügte. Jetzt schlugen die Anorganischen erbarmungslos zurück. Überall rückten ihre Raumschiffe vor. Ihre schiere Zahl war so groß, dass die CLARON-Verbände kaum eine Chance hatten. Noch immer trafen Nachschubkräfte der Jay'nac im Kampfgebiet ein. Die Übermacht war einfach zu groß, der erhoffte Umschwung trat nicht ein.
Da trafen endlich die Neeg-Raumschiffe ein, die aus der planetaren Verteidigung Crysrals herausgenommen worden waren. »Was...?«, entfuhr es Nadranos. Kaum waren die ersten Neeg-Kreuzer materialisiert, da gingen sie bereits in Flammen auf. Ein kalter Schauder überlief Admiral Nadranos, als er dies sah. Als ob den Jay'nac bekannt war, an welchen Koordinaten die Neeg in den Normalraum eintreten!, durchfuhr es den Oberbefehlshaber der Vereinigten CLARON-Flotte. Verrat! Alles in ihm sträubte sich gegen diese Gedanken, aber die Tatsachen sprachen für sich. Die Übermacht der Anorganischen war einfach erdrückend. Ein Neeg-Schiff nach dem anderen wurde zerstört. Das Schlimmste war, dass Nadranos keinerlei Möglichkeiten hatte, ihnen zu helfen. Zu stark war der Druck auf die bereits in der Schlacht befindlichen Schiffe von Ceyniden, Rogh, Ovoanern, Laschkanen und Aorii. Eine Gruppe laschkanischer Steinraumer wurde abgedrängt und eingekesselt. Einige konnten sich mit einer Nottransition retten, aber ein beträchtlicher Teil dieser Einheiten war bereits durch den andauernden Beschuss stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Verband der ceynidischen Schiffe, in dessen Zentrum sich die STERN VON CEYNOR befand, war jetzt immer heftigeren Angriffen ausgesetzt. Ferngelenkte, sich selbst steuernde Drohnen und Torpedos wurden im großen Stil eingesetzt, nachdem die Energieschilde Dutzender CLARONRaumer längst nicht mehr über die volle Leistung verfügten. Eine Erschütterung durchlief jetzt auch das Flaggschiff der CLARON-Flotte. Estan, der Erste Offizier, forderte den Schadensbericht an. Trümmerteile eines ganz in der Nähe befindlichen Ceyniden-Schiffs waren von dem durch intensiven
Blasterbeschuss geschwächten Schutzschirm nur unzureichend absorbiert worden. Es gab eine leichte Beschädigung der Außenhülle. »Wenn wir jetzt den Rückzug antreten und eine Nottransition durchführen, könnten wir unseren Verband an anderer Stelle sammeln und erneut in die Schlacht führen!«, wandte sich Estan an seinen Admiral. »Rückzug?«, erwiderte Nadranos. Alles in ihm sträubte sich gegen diesen Gedanken. Aber er sah ein, dass sein Erster Offizier recht hatte. Immer größere Teile der CLARON-Flotte und speziell des ceynidischen Verbandes, der das Herz der CLARON-Streitmacht bildete, wurden abgedrängt, eingekreist und anschließend einem mörderischen Beschuss ausgesetzt. Die Jay'nac hatten diese Taktik inzwischen nahezu zur Perfektion gebracht. Die große und noch anwachsende zahlenmäßige Überlegenheit gestattete es ihnen, auf diese Weise vorzugehen. Wenn es dabei Verluste auf ihrer Seite gab, so vermochten sie diese sehr viel leichter auszugleichen als die Allianz. Ein koordiniertes Vorgehen ist nicht mehr möglich, erkannte Nadranos. Allein hinhaltender Widerstand kann für die Verteidiger Crysrals vielleicht noch einen Aufschub bringen... »Nottransition für alle Einheiten der Abteilungen 1, 4 und 7!«, befahl der Admiral. »Koordinaten werden überspielt.« *** Zehntausende vorwiegend ceynidischer Raumschiffe beschleunigten fast synchron und führten wenig später den Raumsprung durch. In einer Entfernung von etwa anderthalb Lichtjahren vom Heimatsystem der Erinjij tauchte diese Flotte in den Normalraum zurück, um sich erneut zu formieren – doch das Blasterfeuer von Jay'nac-Schiffen erwartete sie bereits!
Ein gewaltiger Verband der Anorganischen tauchte annähernd im selben Moment aus dem Hyperraum wie die CLARON-Raumer und eröffnete sofort das Feuer. Sie waren in einer erdrückenden Übermacht. Auch die STERN VON CEYNOR erhielt schon in den ersten Sekunden nach ihrer Materialisierung mehrere schwere Treffer. »Wie ist das möglich!«, ereiferte sich Estan. »Die Jay'nac müssen die Verschlüsselungscodes unserer Schiff-zu-SchiffKommunikation in die Hände bekommen haben! Sonst hätten sie niemals wissen können, zu welchen Koordinaten wir transitieren!« »Wir sind verraten worden!«, murmelte Admiral Nadranos. Sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. Die Jay'nac hatten die gesamte Kommunikation der CLARON-Schiffe abhören können. Wir hatten nie eine Chance, erkannte Nadranos voller Bitterkeit. *** Admiral Weras-967 eröffnete die Sitzung des Krisenstabes. Derandii und Makalos, die beiden Offiziere des Sicherheitsdienstes der Flotte fehlten. Aber niemand vermisste sie. »Wir sind zumindest in diesem Gremium jetzt unter uns«, erklärte der Admiral und aktivierte einen Panorama-Schirm, der eine gesamte Wand des Konferenzraums einnahm. »Soeben traf ein letzter Lagebericht von Admiral Nadranos ein! Sehen Sie selbst...« Der Bericht des Admirals wurde abgespielt. Nadranos sprach von Verrätern, die den geheimen Schiff-zu-SchiffKommunikationscode CLARONs an die Jay'nac übermittelt hatten.
Wie Recht er hat, dachte Admiral Weras-967 ohne Schuldgefühle. Glücklicherweise haben Sie es nicht rechtzeitig bemerkt, Nadranos! Dem Bericht nach war die CLARON-Flotte zerschlagen. Kleinere Verbände hatten sich per Nottransition retten können und waren nun mit ihren teilweise erheblich beschädigten Einheiten irgendwo zwischen den Sternen versprengt. Nadranos' Flaggschiff erging es nicht anders. Es trieb mit etwa einem Dutzend weiterer hauptsächlich ceynidischer Schiffe im All. »Während ein kleinerer Teil der Jay'nac-Schiffe damit beschäftigt ist, unsere versprengten Einheiten zu jagen, hat der Großteil ihrer Flotte diesen Raumsektor verlassen«, berichtete Nadranos. »Ich nehme an, dass Crysral und die anderen Hauptwelten der Allianz ihr Ziel sind.« Der Bericht des Admirals wurde unterbrochen. Sein Erster Offizier meldete das Auftauchen starker Jay'nac-Verbände, die die Versprengten offenbar aufgespürt hatten und sie nun zu vernichten versuchten. Wenig später brach die Transmission ab. »Wie Sie sehen, ist die Lage durchaus zufriedenstellend«, erklärte Weras-967 den übrigen Kolonen. »Die Jay'nac sind gerade dabei, die wichtigsten Welten des Allianz-Territoriums zu besetzen. Der Hauptteil ihrer Flotte wird in Kürze im Orbit von Crysral auftauchen.« »Was ist mit den Neeg-Raumern?«, fragte Qarleinen. »Ich traue denen nicht.« »Sie werden ihre Schiffe den Jay'nac übergeben«, erklärte der Klon des Neeg-Regenten Ooras-Fonto. »Nachdem auch das Selbstzerstörungsprogramm nicht mehr in Kraft ist, kann wohl nichts mehr den Beginn der neuen Epoche aufhalten«, verkündete Admiral Weras. »Nicht einmal dieser klägliche Versuch, eine Rebellion gegen uns anzuzetteln, die der Geheimdienst abfangen konnte. Es wurde ein offener Kanal benutzt, aber glücklicherweise konnte mit Hilfe eines
gezielten Störsignals bewirkt werden, dass diese Botschaft nur verstümmelt ins allgemeine Datennetz gelangte...« Der Laschkane aktivierte erneut den Panorama-Schirm. Das Gesicht Algorians erschien. Im Hintergrund war das Pflanzenwesen Cy zu sehen. »Hier spricht Algorian von den Aorii. Ich richte mich an alle Bürger der Allianz CLARON, die in der Lage sind, die Botschaft zu empfangen. Die Führungsinstanzen unserer Allianz...« Danach wurde die Botschaft unverständlich. »Wie rührend!«, entfuhr es Qarleinen mit beißender Ironie. »Außßßer ein paarrr Aorrrii-Lippenlessserrrn dürrrfte niemand das Gerrrede diessses errrbärrrrmlichen Zweitlings verrrssstehen!«, dröhnte Barbeilen. Weras-967 deaktivierte Algorians Botschaft. Qarleinen ließ unterdessen den Blick in der Runde schweifen. »Wo ist eigentlich Kerrgh?«, erkundigte er sich. »Oh, vergaß ich das zu erwähnen?«, sagte Weras-967. »Kerrgh wurde zu Beginn dieses Crysral-Standard-Tages in seinem Quartier tot aufgefunden. Er starb an einer Überdosis laschkanischer Stimulanzien.« »Er war süchtig?« Das konnte Qarleinen kaum glauben. »Es ist doch bekannt, dass Rogh sehr empfindlich auf dieses Substanzen reagieren.« »Es war Selbstmord«, erklärte Weras. Für einige Augenblicke herrschte Schweigen. Ich dachte, dass uns die Konditionierung und die zusätzlichen Bewusstseinskomponenten vor so etwas zu schützen vermögen!, ging es dem Klon des ovoanischen Regenten durch den mächtigen Schädel. Ein Summton durchbrach nun die Stille. Weras aktivierte über sein neuronales Interface einen KomKanal.
Ein ceynidischer Beamter der Raumkontrolle meldete das Eintreffen einer gewaltigen Jay'nac-Flotte, und auf dem Panorama-Schirm erschienen erste Bilder der aus dem Hyperraum materialisierenden Raumschiffe. Es war eine gewaltige Armada. In der Galaxis hatte ein neues Zeitalter begonnen... ENDE