Über dieses Buch
Er hat eine Buchhandlung in Wien, ist achtunddreißig, verheiratet und auf eine seltsame Weise unsiche...
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Über dieses Buch
Er hat eine Buchhandlung in Wien, ist achtunddreißig, verheiratet und auf eine seltsame Weise unsicher, und darum haßt ihn manchmal seine Frau. War das der Grund, weshalb sie ihn betrog? Nach der Scheidung flüchtet Daniel Haid vor der Verlassenheit, den Erinnerungen und vor sich selbst zu Freunden nach Amerika. Mit dem Ausbruch aus dem Alltag beginnt im Chaos von San Francisco, der Welt und Gegenwelt von Sicherheit und Reichtum, Armut und Gewalt die verzweifelte Suche eines Mannes nach seiner Identität. Süchtig nach Erfahrungen, stürzt sich Haid in die Schrecken der amerikanischen Realität, registriert er jedes Detail an Lust und Leid in der Masse der Bettler, Trinker und Verzweifelten, in der Begegnung mit Freunden und Frauen wie ein Schlafwandler, der außerhalb seines Bewußtseins steht. Zum Schutz flüchtet er in fremde Rollen, am liebsten in die des Philipp Marlowe, des menschlichsten Detektivs der Kriminalliteratur, der immer weiß, was zu tun ist. War es diese Rolle, die ihn in einen Kriminalfall, einen Mordverdacht verstrickte? In Panik flieht er nach Los Angeles, Verfolger und Erinnerungen treiben ihn weiter nach Las Vegas und New York, bis unter dem Druck von Angst und Bedrohung sein traumhaftes Wirklichkeitsempfinden umschlägt in die selbsterfühlte Realität, in die Wärme der eigenen Wahrnehmung. Ein »starkes Gefühl der Liebe« siegt über einen langen Traum. Gerhard Roth hat einen modernen Entwicklungsroman geschrieben, dessen innere Spannung durch die äußeren Spannungselemente der Kriminalstory vorangetrieben wird. Die Verbindung von Poesie und Realität, die sein »Held« bei Stifter so liebt, ist auch ihm in dieser Geschichte einer Selbstfindung im Chaos einer entfremdeten Welt gelungen.
Der Autor
Gerhard Roth wurde 1942 in Graz geboren. Nach einem Medizinstudium war er lange Zeit Organisationsleiter im Rechenzentrum Graz. Prosaveröffentlichungen: ›die autobiographie des albert einstein‹. Roman (1972); ›Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und andere Romane‹ (1972); ›Der Wille zur Krankheit‹. Roman (1973); ›Herr Mantel und Herr Hemd‹. Kinderbuch (1974); ›Der große Horizont‹. Roman (1974); ›Ein neuer Morgen‹. Roman (1976; Fischer Taschenbuch 2107); ›Winterreise‹. Roman (1978; Fischer Taschenbuch 2094); ›die autobiographie des albert einstein‹. Kurzromane (Fischer Taschenbuch 5070); ›Circus Saluti‹. Erzählung (Collection S. Fischer 1981/Fischer Taschenbuch Bd. 2321). Für den Roman ›Winterreise‹ wurde Gerhard Roth 1978 der erste Preis des Literaturmagazins des Südwestfunks von 27 Literaturkritikern zugesprochen
GERHARD ROTH
DER GROSSE HORIZONT ROMAN
FISCHER TASCHENBUCH VERLAG
1. - 10. Tausend Januar 1979 11. - 15. Tausend November 1981 Fischer Taschenbuch Verlag Ungekürzte Ausgabe Umschlagentwurf: Jan Buchholz / Reni Hinsch Foto: Gerhard Roth Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © 1974 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main Alle Rechte bei S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany 780-ISBN-3-596-22082-3 EIN KOSTENLOSES ANGEBOT VON GEREBOOKS
Für Wolfgang Bauer
Der im Roman zitierte Philipp Marlowe ist die Detektivfigur in den Kriminalromanen von Raymond Chandler.
REISEN
1
Daniel Haid, ein Mann mit poetischen und hypochondrischen Gefühlen, war 38 Jahre alt und Besitzer einer Buchhandlung in Wien. Er saß am Vorabend seiner Abreise nach Amerika am Schreibtisch und blätterte in den Notizen, die er sich im Laufe der Zeit gemacht hatte: Über den botanischen Bau von Pflanzen, Anmerkungen zur Lektüre von NIELS LYHNE und zur Prosa der deutschen Romantiker, über den Sprung einer Katze aus einem Fenster und seine Gedanken über biologische Ernährung. Es hatte eine Zeit gegeben, da er sich mit biologischer Ernährung beschäftigt hatte, vor allem durch seine Frau angeregt, von der er seit kurzem geschieden war. Seine Beziehung zu Frauen war zwiespältig: Er interessierte sich für sie, aber sobald er länger mit ihnen zusammen war, empfand er sie als Belastung. Es war ihm nie besonders schwergefallen, Frauen kennenzulernen; seine Schwierigkeiten bestanden vielmehr darin, für ein plötzlich auftretendes Gefühl des Überdrusses eine Lüge zu finden, die das Verhältnis beendete. Hatte er sich endlich getrennt, fühlte er sich für kurze Zeit frei und glücklich, bis ihm eine romantische Sehnsucht und seine sexuellen Bedürfnisse in ein
neues Verhältnis trieben. Haid trank auch, zwar nicht regelmäßig, jedoch so unbeherrscht, daß er, obwohl er viel vertrug, am Tag darauf krank und verwirrt war. Als Haid sich erhob, um seine Notizen in das Schrankfach zu räumen, fühlte er einen heftigen Schwindel. Gleich darauf erinnerte ihn nur noch der Schweiß auf der Stirne an seine Schwäche. Es war Mitte März, und Haid fragte sich, ob sein Schwindelanfall etwas mit dem Wetter zu tun hatte, mit den klimatischen Veränderungen, die mit dem Jahreszeitwechsel auftreten, oder vielleicht stand der Anfall mit dem Trinken im Zusammenhang (denn er hatte sich am Tag zuvor betrunken) – dann aber dachte er sich, daß die Jugend ihn verließ. Der Gedanke überraschte ihn so sehr, als hätte ein Fremder zu ihm gesprochen. Er hauchte die Brillengläser an und begann, sie mit einem Taschentuch zu reinigen. Sein Blick fiel auf den gepackten Koffer und lenkte seine Gedanken auf seine Freunde in Amerika: Mehring unterrichtete in San Franzisco Literatur, Kapra war Architekt in Santa Monica und Christine, eine Jugendfreundin, war mit einem Bankbeamten in New York verheiratet. Haid setzte die Brille wieder auf, wickelte die silberne Biedermeierzuckerzange, die er für Christine gekauft hatte, sorgfältig in Seidenpapier und steckte sie zwischen die Hemden in den Koffer.
2
Der Märzmorgen war feucht und nebelig. Haid hatte außer dem Geld für die Reise noch einen größeren Betrag bei sich, da er die Absicht hatte, in Las Vegas zu spielen. Auf dem Flug nach Zürich sah er die schneebedeckten Gipfel der Alpen wie Eisberge aus den Wolken ragen. Zufällig hatte er in einer Zeitschrift einen wissenschaftlichen Artikel gelesen, der sich mit dem Phänomen befaßte, daß Eisberge explodierten. Die Ursache wurde in eingeschlossenen Luftblasen vermutet, die beim Schmelzen des Eises zu brodeln begannen wie Kohlensäure. Haid dachte daran, als er die Berge aus den Wolken ragen sah. Der Gedanke bereitete ihm jedoch keine Freude, da er sich jetzt, sobald er etwas Neues wahrnahm, nicht an etwas Altes erinnern wollte. Als Haid in Zürich landete, hatte er das Flugzeug nach New York versäumt. Man hatte ihn für einen späteren Flug umgebucht und fertigte ihm einen Gutschein aus. Beim Essen fiel ihm ein, daß er zehn Jahre zuvor in einem Eissalon in Wien Gabriel Marcel über einen Eisbecher gebeugt gesehen hatte, den riesigen Schädel rot angelaufen, eine Tellermütze auf dem Kopf, schweiß verklebte Haarlocken in der Stirn, den Bart und das Kinn mit flüssigem Eis bekränzt. Er war stehengeblieben und hatte Marcel von weitem beobachtet, bis er geendet und seine Finger mit einem Taschentuch gereinigt hatte. Dann hatte er ihn mit seinem zerknitterten
Staubmantel an sich vorbeigehen lassen, klein, dick, mit wichtigtuerischen Schritten. Als das Flugzeug in Zürich startete, war es Abend. Die Wolken hatten eine eisblaue Farbe angenommen, und am Himmel leuchteten gelbe Lichtstreifen, die sich gegen den Rand orange und violett verfärbten. Haid fühlte sich friedlich und döste vor sich hin. Zwischendurch hatte er einen Traum, aus dem er mehrmals erwachte, der sich jedoch stets, als er wieder eingedöst war, an der unterbrochenen Stelle fortsetzte. Schließlich blieb er wach und schüttelte die Traumbilder ab. Er hatte die Idee, den Traum aufzuschreiben und verlangte Bleistift und Papier, schrieb jedoch nichts, legte den Bleistift auf das Papier und ließ die Mappe nach der Landung in New York auf seinem Sitz liegen.
3
Aus Freude über die erste Begegnung auf dem Flughafen fragte Haid eine uniformierte Negerin grundlos nach den Telefonzellen im Ankunftsgebäude. Die Negerin öffnete den Mund, und Haid sah eine unförmige Regulierung aus Draht, die an den Zähnen des Unterkiefers befestigt war … Vor dem Flughafen stieg Haid in eine Limousine (ein zwölfsitziges Fahrzeug, dessen Vordertüre klemmte). Hinter dem Lenkrad saß ein fetter, häßlicher Zwerg mit Schirmmütze. Die Lenkradhupe war ausmontiert,
so daß Haid nur noch die Drähte sah. Auch die Deckleuchten hatten weder Schutzgläser noch Glühbirnen. Während Haid zwischen den Backsteinbauten durch dichten Verkehr fuhr, hatte er den Eindruck, sich selbst in einem Kriminalfilm zu sehen. Er dachte an Philipp Marlowe, der in seinem schmutzigen Büro saß, und dem die Farben der Kleidungsstücke, eines Haus Verputzes, der Haare, eines Rasens wie eine leuchtende Vision erschienen. Marlowe erlebte jeden Augenblick wie eine Neuentdeckung, als wüßte er von den Dingen nur das Aussehen und den Namen und nicht die Funktion, als müßte er sich jederzeit vorsehen, daß ein Stuhl kein Stuhl ist. Haid kannte diesen Zustand, in den ihn zeitweilig eine unberechenbare Stimmung brachte. Wie oft hatte er einen Kühlschrank, ein Klavier als etwas Fremdes empfunden, so als sagte ihm KLAVIER oder KÜHLSCHRANK nichts. Wie oft aber war er andererseits am Morgen erwacht und alles war ihm angenehm vertraut gewesen: ein Strauß Veilchen auf dem Schreibtisch, die weißen Gardinen, hell vom Licht eines schönen Morgens, das Zwitschern eines Vogels. Er war in das Badezimmer gegangen, hatte sich gepflegt, das Gefühl der Kälte, das die weizenfarbenen Kacheln ausgestrahlt hatten, genossen, hatte Fruchtsaft getrunken, sich die Haare naß gekämmt und gefühlt, wie sie trockneten. An solchen Tagen erschien ihm alles vertraut und selbstverständlich. Der Griff zur Wasserleitung, das Zähneputzen, ein frischgewaschenes Hemd am Körper, die Toilettfläschchen seiner Frau unter dem
Spiegel, die eingeworfene Zeitung unter dem Briefschlitz. Ein angenehmes Gefühl entstand in ihm, wie er es beim Lesen von Stifter empfand, als sei er eine Pflanze mit feinen Kapillaren, und jede dieser Kapillaren fühlte er als wohltuenden Kitzel. Ein Buick glitt an ihnen vorbei und Haid erkannte, daß auf dem Schoß des Fahrers eine Farbige saß, die sich rhythmisch bewegte. Jetzt sah Haid, daß auch der Fahrer farbig war und daß er mit der Frau auf seinem Schoß koitierte. Er trug ein kariertes Sakko, während die Frau ein rosarotes Kleid mit blauen Tupfen trug. Der Buick fuhr langsam und mit demonstrativem Stolz vorbei. Haid sah nur noch das Stopplicht und verlor den Wagen wenig später aus den Augen. Automatisch erinnerte er sich an einen Sonntagabend im Mai. Er war von einem Ausflug aufs Land zurückgekommen, voll Melancholie wegen des bevorstehenden Wochenbeginns. In einem Gasthaus hatte er mit seiner Frau Weißwein getrunken, dann hatten sie von weitem einem Fischer zugesehen, der Forellen und Äschen unterhalb eines Wehrs gefangen hatte. Als Haid in die Wohnung zurückgekehrt war, hatte ihn sein Heuschnupfen gepackt, an dem er im Frühsommer immer litt, und er war niesend in das Arbeitszimmer geflohen, denn seine Frau haßte es, wenn das Niesen kein Ende nahm. Er hatte die blaue Pillenschachtel gesucht und eine der winzigen Tabletten gegen Allergie geschluckt. Nachdem die Reizung abgeklungen war, war er in die Küche gegangen, mit geschwollenen Augen und roten Augäpfeln, um etwas zu essen. Vor dem ungedeckten
Tisch war seine Frau gesessen, hatte ihn feindselig angestarrt, war dann plötzlich aufgestanden und davongelaufen. Haid war ihr nachgegangen, in die Dunkelheit des Schlafzimmers, in dem sie ihm – ohne ihn anzusehen – gestand, daß sie ihn seit Wochen mit einem Rechtsanwalt betrog. Haid hatte sich tief gedemütigt im Vorzimmer wiedergefunden, mit rinnender Nase, ein Idiot, der nichts bemerkt hatte und der dagegen ankämpfen mußte, daß seine Phantasie ihm nicht Bilder vorführte, die seine Frau voll Wollust in den Armen eines fremden Mannes zeigten. Er riß sich von seinen Erinnerungen los und starrte auf die kegelförmigen Warnsäulen in der Mitte der Fahrbahn. Aus einem vorüberfahrenden Streifenwagen machte ein Polizist eine Handbewegung, die Haid in der Geschwindigkeit des Vorbeifahrens aber nicht zu deuten vermochte.
4
Als Haid in Newark einen Neger beobachtete, der den Boden des Flughafengebäudes reinigte, bemerkte er, wie sehr er sich in Einzelheiten verlor. Der Neger hatte soeben einen Blechkübel umgeschüttet und begann, mit einem Besen und einem Lappen die Reinigungsflüssigkeit über den Boden zu verteilen. Auf dem von der Mütze nicht bedeckten Teil über den Ohren glänzte die nackte Kopfhaut. Haid verspürte den Drang zu urinieren, stieß mit dem
Ellbogen die Schwingtüre zu den Toiletten auf und entdeckte zu seiner Überraschung einen der kegelförmigen Warnpfeiler in einem Urinoir. Ein anderes Urinoir war verstopft und mit Urin gefüllt. Er zündete sich eine Zigarette an, verließ die von den Wasserspülungen rauschende Toilette und ging den langen Gang zu den Warteräumen hinunter.
5
Im Flugzeug schlief Haid ein. Er erwachte, als es langsam dämmerte. Die Erdoberfläche hatte sich schmutzigweiß verfärbt und war von violettgrauen Flußadern durchzogen, wie ein neugeborener, durchsichtiger Fisch von Blutgefäßen. Dazwischen lagen weinrote Ebenen, die Haid wie riesige, versteinerte Laubblätter erschienen. Als er später hinausblickte, sah er den Kondensstreifen einer vorbeigeflogenen Düsenmaschine in der Luft stehen. Er schlief wieder ein und erwachte erst, als das Flugzeug in San Francisco landete.
SAN FRANCISCO
1
Haid zog die geblümten Vorhänge in seinem Hotelzimmer zurück und schaute vom sechsten Stock auf die Powell Street. Neben dem Fenster lief ein langes, grünes Reklameschild mit weißen Buchstaben: XAVIER CUGAT – DANCE STUDIO, FOXTROTT, WALTZ, SWING, RUMBA. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein weißes Haus mit weißer Feuerleiter. In blauer Schrift stand JAPAN AIRLINES auf dem Haus. Die Straße stieg zu einem Hügel an, von dem gerade eine Straßenbahn heruntergefahren kam, ein alter, gelb, tabakbraun und flaschengrün gefärbter Wagen, der von weitem wie ein Museumsstück aussah. Er war zum Teil offen, mit Trittbrettern und weiß gestrichenen Haltegriffen ausgestattet, an die sich eine Traube Menschen klammerte. Haid nahm seinen Fotoapparat und fotografierte aus dem Fenster. Das Straßenbild nahm ihn so gefangen, daß er einen Film verschoß. Er stand am Fenster und betrachtete alles mit größter Genauigkeit: Die Leinendächer vor den Geschäften orange-rot und violett-rosa gestreift, ein vierstöckiges Parkhaus, auf dessen Dach Autos in der flimmernden Sonne standen und deren Scheiben das Sonnenlicht blendend reflektierten. Omar Khayam’s Restaurant, Jax Steaks. Ein Polizist pfiff. Haid freute
sich darüber, den Polizisten zu sehen, wie er den Anblick aus Filmen gewohnt war. Niemand trug einen Mantel. Haid duschte sich. Er vergaß den Plastikvorhang vorzuziehen, so daß der Boden naß wurde. Beim Duschen sah er das Straßenbild vor sich. Er schloß die Augen und stellte sich vor, wie er selbst auf die Straße ging. Er wollte sich dem Zufall überlassen. Die Müdigkeit schwand. Als er sich rasieren wollte, fand er keine passende Steckdose für seinen Apparat. Er zog sich um und überblätterte einen Veranstaltungskalender. Im American Conservatory Theatre spielte die Royal Shakespeare Company »Ein Sommernachtstraum«. Der Titel erschien ihm wie ein Hinweis auf sein traumhaftes Wirklichkeitsempfinden. Am 22. März trat Marlene Dietrich auf, am 23. Jane Russel. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich alles ereignete, schreckte ihn. Er war in ein Labyrinth geraten, in dem er von Einzelheiten überhäuft, verwirrt und getäuscht wurde. So stellte sich Haid den Wahnsinn vor: Daß die Realität sich völlig veränderte und daß man keine Ursachen dafür wußte. Er sagte sich nur, daß er in Amerika sei, und dieses Gefühl war nahezu aufgehoben. »Ich seh mir selber zu«, dachte er sich. Mittlerweile hatte er sich umgezogen und war durch den Hotelflur gegangen, der mit den grünen Türen und dem weiß- und grüngemusterten Teppich in ihm den Einfall erzeugte, er spazierte durch das Gefäßsystem einer riesenwüchsigen Pflanze. Er fuhr mit dem Lift in die Hotelhalle und gab in der
Portiersloge sein Scheckbuch und das Bargeld ab. Hinter dem Pult stand eine magere alte Frau. Sie reagierte auf sein langsames Sprechen und die – durch das nicht völlige Verstehen der Fremdsprache simulierte – Begriffsstutzigkeit mit wachsender Ungehaltenheit. Haid spürte sein automatisches Lächeln. Er gab der alten Frau die Stahlkassette, in die er das Geld gelegt hatte, worauf die Frau ihm die Kassette zurückschob und kopfschüttelnd auf den kleinen Schlüssel wies, den Haid nicht gesehen hatte und mit dem er offenbar die Stahlkassette versperren mußte. Haid wußte jetzt nicht, ob er den Schlüssel an sich nehmen sollte. Er tat es, als wisse er Bescheid. Die alte Frau grunzte und drehte sich von ihm weg.
2
Haid ging die Asphaltstraße hinunter. Nach wenigen Schritten betrat er eine Imbißstube. Er vergaß seine Sprachkenntnisse und gab sich als Fremder zu erkennen, um mit Nachsicht behandelt zu werden. Er ärgerte sich jedoch über seine Unsicherheit. Warum war er stets unsicher. Seine Frau hatte ihn deswegen zutiefst verachtet. Sie sagte häufig, sie würde »die Sache schon in die Hand nehmen«. In die Hand nehmen! Als ob alles sinnlich sei! Als ob man alles mit den Händen machen könnte, mit dem Körper. Er litt darunter, daß ihn sein Körper
unsicher machte. Das Gefühl, das ununterbrochene Gefühl, sich selbst zu spüren! Natürlich hatte er Freud gelesen, aber er konnte sich unter dem Unterbewußten, das seine Unsicherheit verursachte, nichts Rechtes vorstellen. Er kannte diese Hilflosigkeit vom Wort Gott her. Als er während der Scheidung verzweifelt und einsam gewesen war, hatte er oft ins Nichts hinein gesprochen und nachträglich angenommen, daß er versucht hatte, mit Gott zu sprechen. Er glaubte, daß ihn mit Gott eine ähnliche Beziehung verband, wie mit der Natur: Er empfand Sehnsucht nach ihr und fühlte ein Unbehagen, sobald er bemerkte, wie die Zivilisation sie immer mehr verdrängte. Wenn er allein und ruhig war, liebte er Gott. Niemals jedoch konnte er sich sagen, was er sich darunter vorstellte. Er dachte sich zum Trost, daß die Sprache nicht dafür geeignet sei, Gott zu beschreiben. Er war als Student aus der Kirche ausgetreten und hatte die ersten Jahre danach nie an Gott gedacht. Nun, in der Imbißstube, einen Hamburger in der Hand, fielen ihm Gott und das Unterbewußte ein. Vielleicht machte das Unterbewußte ihn unsicher, weil er nicht wußte wer er selbst war. Er dachte sich, daß er sich selber SPIELTE. Genauso wie er sich vorspielen konnte, Philipp Marlowe zu sein. Er trank ein Glas Bier und legte die Postkarten, die er in der Hotelhalle gekauft hatte, auf den Tisch. Die Karten waren zum Großteil unfrankiert, da er bei einem Briefmarkenautomaten versucht hatte, 18Cent-Marken zu kaufen, aber es waren nur
verschiedene niedere Werte zur Auswahl gewesen, die er kombinieren mußte, was ihn bald langweilte. Er steckte die Postkarten ein, vergaß aber den ganzen Tag über, sie aufzugeben.
3
Als Philipp Marlowe kaufte er sich einen Zusatzstecker für seinen Rasierapparat. Er betrat ein Woolworth-Kaufhaus in der festen Absicht, Englisch zu sprechen. Ein Verkäufer hinter einem Stand für Uhren und Juwelen, der eine Lupe am Nickelrahmen seiner Brille trug, wußte ein Geschäft, in dem er den Zusatzstecker bekommen würde. Haid ging in die angegebene Richtung. Unterwegs fragte er mehrmals nach dem Weg, erhielt aber keine Auskunft. Die Angesprochenen starrten verkrampft auf die Straße und gingen, ohne sich umzudrehen, weiter. Zuletzt sprach Haid einen massigen Mann mit blonden, graumelierten Haaren an. Der Mann warf ihm einen feindlichen Blick zu und wechselte über die Straße. Fiel er in die Verwirrung zurück, die ihn im Hotel an seinem Verstand hatte zweifeln lassen, als er die Überschrift im Veranstaltungskalender gelesen hatte? Es kam ihm lächerlich vor, daß die Menschen hastig und geschäftig dahineilten, als müßten sie beweisen, wie wichtig ihre Existenz sei. Er vermutete, daß die Angst, angesprochen oder Zeuge
eines Verbrechens zu werden, sie mit abweisendem Gesichtsausdruck dahinhasten und voll Mißtrauen jedem Fremden gegenüber werden ließ. Haid fand schließlich das Geschäft.
4
Nachdem er den Zusatzstecker gekauft hatte, schlenderte er unschlüssig auf der Straße herum. Es war kühler, als er gedacht hatte. Er kam an einem Spielsalon vorbei, den er betrat. Vor den Tischen saßen Männer und Frauen und bemühten sich, mit einem Gummiball auf der elektrischen Anzeige eine Diagonale oder Horizontale zu schließen. Das Aufsichtsorgan, ein kleiner schusseliger Mann mit blauer Schürze, birnenförmigem Schädel und schütterem Haar, sammelte die Einsätze ein und zahlte mit unbewegtem Gesicht die Gewinne aus. 25Cent-Münzen klapperten auf dem Tisch, eine Glocke gab Signal, das Aufsichtsorgan kassierte, wechselte, zahlte. Alles geschah in Windeseile. Das Aufsichtsorgan rief Haid etwas zu. Haid reagierte nicht darauf. Er bemerkte zwei Parabolspiegel über dem Eingang und am Ende der Halle. Nach einigem Suchen entdeckte Haid sich selbst in einem der Spiegel, klein, verkrümmt, mit pfotenähnlichen Händen. Als er seine Hände an die Wand hinter seinem Rücken legen wollte, fühlte er eine glatte Kälte, und tatsächlich war der schmale Korridor
zwischen den Spieltischen und der Mauer mit Spiegeln verkleidet. Das Aufsichtsorgan rief ihm jetzt mit teilnahmslosem Gesicht zu, von den Tischen weg an die Wand zu treten. Haid befolgte die Anweisung. Eine der Spielerinnen, eine stark gepuderte, betrunkene Vierzigjährige mit BasedowBlick und billiger Dauerwelle kramte in ihrem Handtäschchen nach einer Zigarette. Haid bemerkte, daß der rote Lack auf ihren Nägeln abgesplittert war und daß an ihrer Bluse ein Knopf fehlte. Er hatte den Eindruck, daß die Frau ohne große Hoffnung auf Erfolg spielte. Ihr Spiel hatte etwas Aufsässiges und Gehässiges an sich. Als das Aufsichtsorgan das nächste Mal vorüberkam, legte sie kein Geld auf den Tisch, sondern fragte es, ob es eine Freundin suche. Die Frage an das geschlechtslos aussehende Aufsichtsorgan kam Haid wie ein Witz vor. Das Aufsichtsorgan lenkte mit einem beiläufigen Satz ab. Die Frau spielte weiter. Nachdem das Aufsichtsorgan weitergegangen war, stieß sie flüsternd Schimpfworte aus. Jetzt sah Haid, daß sie orthopädische Schuhe trug. Sie hatte etwas unglaublich Verkommenes an sich. Jeden Fehlwurf begleitete sie mit einem höhnischen Lächeln, so als sei sie zu Recht betrogen worden. Haid nahm Platz und spielte einige Spiele. Einmal gewann er, ohne recht zu wissen warum, verlor aber bald und ging wieder … Auf der Straße kam ihm ein Mann mit wirren Haaren und zerrissenen Kleidungsstücken, die nackten Füße ohne Socken in den Schuhen entgegen.
Haid sah ihm nach, wie er die Entgegenkommenden zu rempeln versuchte. Einmal trat ein Neger mit einem Aluminiumbecher aus einer Hausnische, streckte die Hand vor ihm aus und rief: »CASH!« Haid ging, so wie er es bei den anderen sah, weiter. Er haßte Amerika in diesem Augenblick. Eine Gesellschaft vom Reichtum und der Größe Amerikas lebte gleichgültig mit einer großen Masse von Bettlern, Trinkern, Verzweifelten, als seien diese notwendig für die Gesellschaft oder als besäße man Einsicht in einen Schöpfungsplan, nach dem all dies als etwas völlig Natürliches geschaffen worden war und das unausrottbar in alle Ewigkeit bestehen würde. Er dachte, daß dieses Elend für den Kosmos wohl gleichgültig war, auch hatte er kein schlechtes Gewissen, nicht selbst zu den Elenden zu gehören, es war vielmehr die Schamlosigkeit, die ihn abstieß, zu der sich die Elenden unter dem Druck oder der Gleichgültigkeit der Gesellschaft bekennen mußten, um überleben zu können. Es waren auch die Bösartigkeit und die Aggressivität, mit der diese Menschen ihr Schamgefühl und ihre Selbstbehauptung zu wahren suchten. Natürlich hatte Haid Bettler und Arme in Wien gesehen, aber hier war er unsicher, welche der Menschen arm, kriminell, asozial, verrückt waren und wer sich als Armer, Krimineller, Asozialer oder Verrückter tarnte, um in Ruhe gelassen zu werden. Sein Großvater fiel ihm ein, der als Jugendlicher nach Amerika hatte auswandern wollen. Er war zu Fuß nach Bremerhaven gewandert, hatte unterwegs
verschiedene Arbeiten angenommen, in Heuschobern übernachtet, war verhaftet und wieder freigelassen worden, bis er endlich sein Ziel erreicht hatte, als er sich dann irrtümlich an Bord des Schiffes MARTHA BLUMENFELD versteckte, das nach Cardiff fuhr. Er hatte Amerika nie gesehen. Haid fragte sich, was aus ihm geworden wäre. Ein Bettler? Ein Verrückter? Ein Krimineller? Oder ein Kleinbürger mit einem eigenen Häuschen in WYOMING? Er sah ihn vor sich, in einem weißen Schaukelstuhl auf der Veranda eines Holzhauses, zuckerkrank, mit traurigen Augen und eisgrauem Schnurrbart. In kleinen, von schwarzen Eisenzäunen eingefriedeten Parks und an den Hängen beiderseits der Straßen entdeckte Haid glänzend grüne Efeublätter. Er pflückte ein Blatt und steckte es in die Sakkotasche. Er wußte nicht, warum er es getan hatte, aber er hatte nicht widerstehen können. Er hielt vor einem Sexkino, betrachtete die ausgestellten Fotografien und löste eine Karte. Der Billeteur spuckte einen ausgelutschten Kaugummi in einen Papierkorb. Haid setzte sich in eine leere Reihe und blickte auf die Leinwand. Ab und zu fiel eine Bemerkung aus dem Publikum. Jemand hustete während der Kopulationsszenen asthmatisch. Zwischen den beiden Hauptfilmen waren Coca ColaReklamefilme eingeschoben, die das »WONDERFUL LIFE« an schönen Schauplätzen mit schönen, keuschen Menschen zeigten. Nach dem zweiten Film trat Haid erregt ins Freie. Es war kalt, und er fror. Auf den Stufen zu einem Haus saß eine zerlumpte Gestalt,
die ihn stumm und herausfordernd angrinste. Haid schaute sofort weg und beeilte sich, die Hauptstraße zu erreichen. Er hatte ein wenig die Orientierung verloren, kam an der Oper vorbei, an einer kaffeebraun gestrichenen Bar: Johnnys Cafe. Ein handgeschriebener Zettel war an die Fensterscheibe geklebt: Eintritt nur über 21. Haid wollte eintreten, um einen Whisky zu trinken, aber als er die Schwingtüre geöffnet hatte, bemerkte er, daß die Bar schlecht beleuchtet war und daß einige Gestalten an der Theke lungerten. Er ging wieder hinaus und sah jetzt, daß eines der Fenster zur Bar drei Einschußlöcher aufwies. Er spazierte auf gut Glück weiter, fand die Powell Street, blieb vor dem Hotel stehen und schaute den Straßenbahnen zu, die heftig bimmelnd den Hügel hinauf- und hinunterfuhren.
5
Mitten in der Nacht erwachte er. Im selben Augenblick, als er erwachte, war er nicht mehr müde. Auf der Straße herrschte noch immer Leben. Haid kleidete sich an. Im Lift überlegte er, wie er sein Verhalten dem Portier gegenüber erklären sollte. Warum war er aufgestanden, um mitten in der Nacht auf die Straße zu gehen? Gleich darauf ärgerte er sich, daß er sich für alles, was er tat, rechtfertigte. Wenn er mit jemandem zusammen war, begründete er immerzu sein Tun. Er rechtfertigte sich auch für jeden Spaß,
den er über jemanden machte. Er war der Überzeugung, daß es keinen Spaß gab. Spaß war nur eine andere Form der Ernsthaftigkeit. Humor zu haben und daran zu glauben, kam ihm dumm vor. Der Spaß war ein Mittel, jemandem etwas zu sagen, ohne daß dieser sich davon berührt zeigen durfte. Haid haßte das Lachen, das von einem Spaß gefordert wurde, auch wenn er darunter litt. Und doch konnte er sich selbst nicht beherrschen, einen Spaß über jemanden zu unterdrücken. Aber er hatte kein gutes Gewissen dabei und rechtfertigte sich sofort mit einer Selbstbeschuldigung. Obwohl Haid sich darüber schämte, ging er zum Portier und erklärte ihm umständlich, daß es in Europa jetzt 9.30 Uhr sei. Der Portier nickte, ohne zu antworten … In einer Imbißstube aß Haid einen gekochten Maiskolben und trank Limonade. Ein Neger mit breitem Hut sprach ununterbrochen und laut zu den Gästen. Er rief auch etwas zu Haid hinüber. Die Gäste saßen einsam und frierend auf den Hockern und beachteten den Neger nicht. Es war, als legten sie seine Zurufe als Selbstgespräch aus und als akzeptierten sie sein Verhalten. Der Neger trat plötzlich auf Haid zu und forderte ihn auf, mit ihm am Automaten ein Spiel zu machen. Haid nahm aus Verlegenheit an. Da der Neger keinen Vierteldollar fand, warf Haid eine Münze ein. Der Neger fummelte zerstreut am Drehknopf und erzählte währenddessen von sich. Er sagte, er komme aus White Horse. Er trug eine schmierige, blaue Windjacke und verwechselte Austria mit Australien.
Haid war das egal. Wovon hätte er erzählen sollen, in dieser verdreckten Imbißstube, von Mozart, Beethoven, Stifter, vom AUSTRO MARXISMUS oder von Lipizzanern? – Da Haid die wirren Worte des Negers immer weniger verstand, bediente sich der Neger nur noch einer hektischen Zeichensprache. Haid zuckte die Schultern und wollte sich abwenden. Im selben Moment klammerte sich der Neger an seinen Ärmel, kam ganz nahe mit seinem nach Alkohol stinkenden Mund heran und sagte: »I have no brain. Ich habe kein Gehirn! Kein Gehirn! Kaputt.« Daraufhin schüttelte er ihm die Hand. Haid wollte seine Hand zurückziehen, aber der Neger ließ sie nicht los. »Amerika ist schlecht«, sagte er und starrte ihn mit leblosen Augen an. Haid täuschte Interesse vor, um sich unbemerkt von seiner Hand losmachen zu können und fragte ihn, warum er nicht in White Horse geblieben sei. Der Betrunkene zog schwankend seine Hand zurück und formte mit der Faust und dem ausgestreckten Zeigefinger einen Revolver und imitierte mit dem Mund schnalzend ein Schußgeräusch. Dann zeigte er auf sich und sagte: »Ich.« Haid antwortete, daß er müde sei und ging. Er hatte keine Angst empfunden, nur Unbehagen.
6
Auf der Straße beschimpfte ein Betrunkener die Müllarbeiter, die geräuschvoll die Müllkübel entleerten. Er stand da, ein Herumflanierer, die Hände in den Hosensäcken, ohne Hemd, in einer braunen Jacke, und gab einen Unflat an Worten von sich. Die Müllarbeiter arbeiteten teilnahmslos weiter. Haid kam das vor wie eine surrealistische Szene: Das stumpfsinnige Arbeiten der Müllarbeiter und der Hohn und die Verachtung des Herumflanierers. Ignorieren als Selbstschutz. Wie oft hatte er selbst vorgegeben, etwas nicht zu bemerken, um nicht in eine unangenehme Situation verwickelt zu werden. Tat er nicht gerade jetzt dasselbe, indem er sich so unauffällig wie möglich hinter dem Herumflanierer entfernte? In diesem Augenblick stürzte der Herumflanierer wie vom Blitz getroffen zu Boden. Schaum stand vor seinem Mund, und er warf sich in epileptischen Zuckungen auf dem Asphalt. Was sollte Haid tun? Verschwinden? Das Gesehene ignorieren? Ignorieren erschien ihm ein notwendiges Ausleseverfahren. Es konnte nicht jeder seinen Empfindungen, jedem Eindruck, jedem Satz nachgehen. Haid war völlig unentschlossen. Am liebsten wäre er weitergegangen. Warum tat er es nicht? Und warum stand er bloß auf dem Gehsteig, ohne etwas zu tun, hypnotisiert von dem Schauspiel. Eine kleine Blutlache hatte sich unter dem Hinterkopf des Gestürzten gebildet. Von der anderen
Straßenseite kamen einige Passanten ohne sonderliche Eile auf ihn zu. Seit dem Sturz des Herumflanierers waren nicht mehr als zwei Sekunden vergangen, vielleicht auch drei. Für Haid verlangsamte sich die Zeit in solchen Situationen immer. Er sah, wie einer der Passanten sich bückte, die Jacke öffnete und eine zerbrochene Sonnenbrille, die der Gestürzte bei sich gehabt haben und die beim Sturz aus der Tasche gefallen sein mußte, mit dem Fuß vom Gehsteig trat. Haid war von seiner eigenen Gefühllosigkeit überrascht. Während sich dieser Mensch auf dem Boden wand, dachte er nur an sich selber, beschäftigte er sich nur mit seinen eigenen Reaktionen, beobachtete er sich, mit großer Aufmerksamkeit. Für einen kurzen Moment haßte er sein Gehirn, das alles analysierte und zerriß. Das Zertrümmern jedes Gedankens, jeder Wahrnehmung in Mikroteile war ihm widerlich. Man hatte den Gestürzten inzwischen zur Seite gedreht. Ein Bursche lief in einen Drugstore, um zu telefonieren. Die Müllarbeiter waren fertig und stiegen auf den Wagen. Sie kümmerten sich überhaupt nicht um den Mann, der auf dem Boden lag. Was war das schon Besonderes? Lagen nicht jede Nacht Betrunkene, Verunglückte und Elende auf dem Boden? Haid war zwar stehengeblieben und hatte sich darüber Gedanken gemacht, mehr automatisch als willentlich, was aber hatte er unternommen? Er hatte gewartet, bis die Menschen die Fahrbahn überquert hatten. Und? Nein, es war erbärmlich gewesen. Nicht einmal die Kaltblütigkeit hatte er aufgebracht, die aus der
Not entsteht, eine Kaltblütigkeit, die sich ungeheuer rasch und unter starkem Gefühlsaufwand entwickelt, wenn man sich einen kleinen Anstoß gibt, um sich zu überwinden. Er aber war gefangen von sich selbst gewesen, von seinen eigenen Reaktionen und der Zeugenschaft eines Vorfalls. Der Gestürzte war jetzt von Menschen so umringt, daß Haid nur dessen Schuhe sehen konnte. Philipp Marlowe hätte diese Situation vielleicht anders erlebt, dachte Haid, aber Raymond Chandler, der ihn erfunden hatte, war Haid vermutlich ähnlicher gewesen als die selbst erfundene Figur. Diese Annahme kam ihm sogleich dumm vor. Was wußte er von Raymond Chandler? Der Gedanke ließ ihn sich Raymond Chandler als einen jener Menschen vorstellen, die den Epileptiker umringten, mit dem Gesicht eines versoffenen Archäologen und der schwarzen Hornbrille, interessiert und ruhig, den Epileptiker als neues Fundstück für Philipp Marlowe betrachtend. Haid hätte ihn gerne angesprochen, wenn er ihn unter den Menschen gewußt hätte … Plötzlich kam Haid sich überflüssig vor. Was tat er hier noch. Alles war schon in die Wege geleitet worden und er stand noch immer auf seinem Platz und blickte abwesend auf den Gestürzten. Es war eine Eigenart von ihm, daß er dort, wo er versagt hatte, aushielt. Wenn ihn jemand überraschend und rücksichtslos angriff, fiel ihm häufig nichts ein: Er wiederholte immer wieder einige Sätze, verbohrte sich in sie und selbst wenn der andere nicht mehr darüber sprach, konnte er eigensinnig das Thema mit denselben Sätzen
aufrollen, obwohl er wußte, daß er sich dadurch nur noch lächerlicher machte. Oder wenn er der Mittelpunkt von Späßen gewesen war und er alle, die am selben Tisch saßen, haßte, hielt ihn etwas davor zurück, aufzustehen und zu gehen. Sein Gehirn ließ ihn völlig im Stich. Es fiel ihm nichts mehr ein, keine Bemerkung. Er saß da mit starrem Lächeln, bis ihn die Wangen schmerzten, und tat so, als gefalle es ihm, der Mittelpunkt von Späßen zu sein. Oder wenn man eine falsche Behauptung oder eine Lüge von ihm aufgedeckt hatte, war es ihm ebenso ergangen, es war eine Art Lähmung, die ihn befiel, eine Antriebslosigkeit, durch die er sich erniedrigt vorkam und die ihn deprimierte. Hier vor dem Gestürzten stand er nicht nur aus Neugierde, sondern auch wegen dieser Scham, die ihn schlaff machte. Endlich riß er sich los und spazierte die Straße hinauf. Er war so verwirrt, daß er nicht sofort den Weg zurück ins Hotel fand.
7
Als Haid am hellen Vormittag erwachte und ihm langsam das Erlebte einfiel, stellte er fest, daß er sich im Nachhinein wie einen Fremden betrachtete. Er dachte über sich nach wie über einen Schauspieler, den er in einer Rolle gesehen hatte und den er kurz zufällig in einem Kaffeehaus kennenlernte. Natürlich unterschied sich das Verhalten des Schauspielers von
seinem Verhalten auf der Bühne. Haid konnte sich das Verhalten der Theaterfigur, die der Schauspieler dargestellt hatte, erklären, ohne daß er eine Verbindung zwischen dem Schauspieler und der Theaterfigur herstellte. Wenn er allein war, war er der nüchterne Betrachter des ängstlichen, kleinen, großartigen Daniel Haid, dessen Gesten, Sätze und Motive er auswendig kannte und von dem er nicht loskam. Er öffnete den Vorhang zum Fenster an der Kopfseite des Bettes. Vor dem Fenster befand sich eine häßliche rostigbraune Ziegelwand mit Reklamesprüchen. Sie warben für ein Hotel und für 7UP. Auf einem Geschäft am Gehsteig konnte er weiß auf schwarz das Schild: WATCHMAKER lesen, daneben LIQUORS-CIGARS-MAGAZINES in großen orangenen Buchstaben, die traurig in den Vormittag blinkten. Unter seinem Fenster entdeckte er ein Restaurant mit Namen HOFBRAU. Einige gelbe Zeitungskisten waren auf der Straße aufgestellt, dazwischen stand ein weißer Hydrant. Die Straße war mäßig befahren, so daß sein Blick auf ein paar Tauben fiel, die auf einem Dach neben der nackten Ziegelwand saßen. Haid fand den Anblick poetisch. Er konnte sich vorstellen, daß er durch ein Fenster Zeuge eines Kriminalfalles würde, daß eine Pistole unter seinem Kopfkissen lag, daß er sich vorsehen mußte, wenn es an der Tür zum Hotelzimmer klopfte, daß er mit einem Hut auf dem Kopf als Philipp Marlowe auf der Straße ging, daß er über eine Feuerleiter in eine Wohnung einstieg, daß er auf die Leiche eines
Juweliers im schwarzen Anzug mit goldener Uhrkette stieß, und daß er den Anblick des glatzköpfigen Toten, der unweigerlich Hitchcock ähnelte, poetisch fand. Er nahm den Veranstaltungskalender vom Stuhl und legte sich wieder auf das Bett. Er studierte den Plan, der sich auf der Rückseite des Kalenders befand, riß ihn sodann vom Kalender ab und steckte ihn in die Sakkotasche. Dabei fühlte er das Efeublättchen, das er bei seinem Spaziergang eingesteckt hatte. Er nahm es heraus und legte es auf den Tisch. Es war dunkelgrün und so schlaff, daß es richtig tot aussah. Der Lackglanz war verschwunden und die Oberfläche war stumpf. Als er das Blatt betrachtete, fiel ihm ein Paläontologe ein, der einem Doktoranden einen Sonnenfisch vorgelegt hatte, mit der Aufforderung, ihn zu beschreiben. Der Doktorand beschrieb den Fisch, wie er es gelernt hatte, Haid hatte sich den Namen gemerkt, Ichthys Heliodoplodokus, wurde aber immer wieder abgewiesen, mit dem Hinweis, den Fisch weiter anzusehen. Drei Wochen später war der Fisch im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, aber der Doktorand wußte nun vom Fisch mehr als jemals zuvor. Haid dachte sogleich, das Blatt in den Koffer zu legen, damit es nicht von einem Zimmermädchen fortgeworfen würde, und Tag für Tag die Veränderung zu beobachten. Er kramte eine Tube Scheriproct-Salbe aus dem Koffer, strich eine kleine Menge des blaßblauen Gelees auf den Mittelfinger und schmierte sich die Hämorrhoiden ein.
Währenddessen fiel sein Blick in das Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah er mit großer Deutlichkeit einen Mann im weißen Hemd, der sich über eine zusammenbrechende Frau stürzte. Im nächsten Moment war das Fenster leer. Haid stand wie erstarrt da und ließ das Fenster nicht aus dem Auge. Nichts rührte sich. Er wagte zunächst nicht näher zu treten, stand nur da und wartete. Als sich nichts ereignete, schloß er hastig die Vorhänge und überlegte mit brennendem Kopf, was er tun sollte. Hatte ihn seine Phantasie getäuscht? Handelte es sich um einen Kriminalfall oder war er Zeuge eines stürmischen Liebesaktes geworden? Und wie hatte er sich zu verhalten? Sollte er zur Polizei gehen? Oder dem Portier davon erzählen? – Er konnte sich natürlich lächerlich machen, denn was würde mit ihm geschehen, wenn er sich alles nur eingebildet hatte. Andererseits gab es keinen Zweifel. Er hatte einen Mann in einem weißen Hemd gesehen, der sich auf eine Frau gestürzt hatte. Er zog den Vorhang einen Spalt breit zur Seite, aber das Fenster war noch immer leer. Er empfand jetzt ein großes Bedürfnis nach einem Schluck Alkohol. Vorsichtig schloß er den Vorhang und stand eine Weile untätig auf derselben Stelle. Dann kleidete er sich hastig an, ließ die Salbe auf dem Tisch liegen, wo er sie im ersten Schrecken hingelegt hatte, zählte das Bargeld nach, das er bei sich trug und fuhr mit dem Lift in das Foyer. Er wußte noch immer nicht, was er tun würde. Die Menschen im Lift erschienen ihm gesichtslos.
Nichts fiel ihm auf, keine Augen, keine Haare, kein Mund, sie warteten mit ihren unbeteiligten Gesichtskonserven, bis der Lift anhalten und sie von der ungewollten Gegenwart der anderen befreien würde. Haid war nichts so unangenehm wie das Fahren mit fremden Menschen in einer schmalen Liftkabine, schweigend oder sich räuspernd, manchmal ein blödes Lächeln auf den Lippen. Aber auch das Liftfahren mit Menschen, die er kannte, war ihm zuwider. Es war, als ob man die Verpflichtung hätte, ein Gespräch zu beginnen. Jetzt aber fühlte er von all dem nichts. Er war voller Ungeduld und Angst. Er dachte an das Fenster, das im sechsten Stock lag. Er war halb entschlossen, das Haus zu betreten und auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Vor allem wurde ihm klar, daß er über sich selbst Gewißheit haben mußte. Er mußte wissen, ob alles nur Einbildung war oder ob er etwas Wirkliches wahrgenommen hatte. Noch nie hatte er sich so verzweifelt an die Wirklichkeit geklammert wie jetzt. Dieses ganze Ereignis mußte einfach außerhalb seines Kopfes stattgefunden haben. Er bog, nachdem er aus dem Hotel getreten war, nach rechts ab und stand vor dem Haus. Sollte er zum Fenster hinaufblicken? Noch während er sich fragte, hob er den Kopf und zählte die Stockwerke. Von der Straße aus war nichts Besonderes zu sehen. Haid spähte nach dem Eingang und stellte fest, daß sich die Tür neben einem Geschäft befand, das leergeräumt war und dessen Scherengitter geschlossen waren. Vorsichtig betrat er das Haus. Es war vollständig
ruhig. Der Flur war mit grüner Ölfarbe gestrichen, auch das Eisengeländer an der Wand war grün. Dann sah Haid den Lift. Er scheute sich jedoch, ihn zu benutzen, ohne zu wissen warum. Unentschlossen stieg er die Stufen höher. So war er in den ersten Tagen nach Hause gekommen, nachdem er erfahren hatte, daß seine Frau ihn betrogen hatte. Jeder Schritt voller Angst, das Türöffnen voller Angst, die ersten Worte voller Angst. Damals hatte er sich gewünscht, alles möge nur ein Traum sein. Und auch jetzt kam es ihm so vor, als habe er alles nur im Traum erlebt, als habe er Daniel Haid zugeschaut, wie er langsam und kränklich die Stiegen hochgestiegen war. Er fühlte seine schwitzenden Hände, sein pochendes Herz so quälend, daß er seine Erinnerung als etwas Sentimentales abtat. Die Wirklichkeit findet nur immer im jeweiligen Augenblick statt, dachte er. Nur der jeweilige Augenblick, der kleinste Bruchteil Gegenwart ist Wirklichkeit, alles andere gleicht Erfindung, Traum, Einbildung. Was war das, was er bisher erlebt hatte? Es war etwas ganz und gar Unreales, eine ungeordnete, verwirrende Summe von Bildern, die ihm als blasse, durchsichtige Fragmente durchs Gehirn liefen und von welchem er sich nur selbst einredete, sie seien etwas, was zu seinem Ich gehörte. Er blieb stehen, las die Namen auf den Türschildern und sah plötzlich die Sonne durch ein Gangfenster auf den Boden fallen. Das Sonnenlicht ernüchterte ihn ein wenig, und er schritt rasch die Stufen bis zum sechsten Stock hinauf. Er suchte von den vier Türen jene aus, von der er glaubte, daß sie zur
Wohnung mit dem Fenster führte, an dem er den Vorfall beobachtet hatte. Auf dem Türschild aus goldgefärbtem Glas stand: Charles P. Cromb. Daneben war mit einem Reißnagel eine Visitenkarte befestigt, auf der er lesen konnte, daß man, falls man die Absicht habe, Mr. James Sloughter zu sprechen, dreimal läuten möge. Haid blieb mit angehaltenem Atem stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Der Lift stand noch immer im Parterre. Keine Türe wurde geöffnet. Niemand kam die Treppe herauf. Gerade als Haid sich umdrehen und gehen wollte, hörte er hinter der Tür Schritte. Wie auf einen elektrischen Stromstoß hin betätigte er die Klingel. Das Läuten der Glocke erschreckte ihn, als habe er es nicht erwartet. Die Tür wurde wortlos ein kleines Stück aufgerissen, soweit es die Sperrkette zuließ, und das spitze, verschwitzte Gesicht einer Frau rammte sich ihm fast in die Nase. Haid trat sofort zurück. Er hatte nicht bemerkt, daß er so nahe an der Tür gestanden war. Er begann deutsch zu sprechen, er wußte nicht, was er sprach, das Blut in seinen Ohren rauschte. Er fühlte, wie schwer sein Körper war, wie schwer es war, eine kleine Geste zu machen. Der Kopf der Frau verschwand und statt dessen blickte ihn ein neugieriger junger Mann an. Haid sah sofort, daß er ein weißes Hemd trug. Der Mann blieb hinter der Sperrkette und machte ein eher besorgtes als aggressives Gesicht. In einer Hand hielt er eine Bierflasche. Zu seiner Überraschung gewann Haid die Fassung wieder, stammelte etwas auf deutsch und lief dann, nachdem er gegrüßt hatte, schamerfüllt die Treppe hinunter.
8
Zunächst konnte Haid keinen Gedanken fassen. Er ging wie eine Maschine durch die Polk-Street, überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten und betrat eine Bar. Auf einer Streichholzschachtel an der Theke las er den Namen GOLDEN DUST LOUNGE. Er trank einen Whisky und fühlte, wie er sich in der spärlich besuchten Bar bei gedämpftem Licht langsam wiederfand. Nein, es war kein Anflug von Wahnsinn gewesen, der ihm den Vorfall am Fenster vorgegaukelt hatte, alles war real gewesen. Der Mann im weißen Hemd und die Frau im Schlafrock waren Menschen, keine Erfindungen. Er war Zeuge eines leidenschaftlichen Liebesaktes gewesen, sonst nichts. Haid bemühte sich, die Gedanken abzuschütteln und vertiefte sich in das goldbraune Muster der Seidentapeten. Er sah seine Füße den Barhocker hinunterwachsen und wie fremde Klumpen auf dem Messingrohr unter der langen dunkelbraunen Theke ruhen. Seine Schwäche war, daß er sich zu schnell hinreißen ließ. Als er den Mann und die Frau hatte niederstürzen sehen, hatte er seine Gedanken nicht mehr in der Gewalt gehabt. Er war kein überlegter Mensch. Bevor es noch dazu kam, Wahrscheinlichkeiten zu prüfen, war er ein Opfer seines Hingerissenseins. So schlitterte er oft in Bekanntschaften, in lästige Verpflichtungen, in vertrauensselige Gespräche. Er zündete sich eine Zigarette an und sah sich in einem der goldgerahmten
Spiegel. Über seinem Kopf hing ein Luster aus weißen Glaskugeln wie eine spielerische Drohung. Er sah eine Vase mit tiefgrünen Nelken und ihm fiel ein, daß er am Tag zuvor Stände mit bunten Blumen gesehen hatte, die in Blechkübeln stufenförmig von den durch Leinendächer geschützten Pulten bis zum Trottoir hinunter aufgestellt waren, blühende Wasserfälle aus Blütenblättern, mitten im Getümmel von Menschen, Cadillacs, Oldsmobiles, Fords, gelben Taxis und Straßenbahnen. Häufig waren die Blumen in Zellophanpapier eingewickelt, und von den Leinendächern hingen an gefärbten Schnüren Sträuße leuchtender Trockenblumen. Haid blickte auf die Uhr. Er bezahlte und fühlte, als er sich vom Hocker erhob, daß er angetrunken war. Er hatte noch nichts gefrühstückt, aber die beiden Whiskys auf nüchternen Magen hatten ihm gutgetan. Als er auf die Straße trat, begegneten ihm zwei Männer mit grünen Nelken im Knopfloch. Haid lachte über den Zufall. Wie immer, wenn er getrunken hatte, verwandelte sich die Wirklichkeit in eine Art Farbfilm. Er schwebte träge dahin und bemerkte, daß seine Gesichtshaut empfindungslos war. Ein Passant stand an der Straßenkreuzung und las eine Zeitung, auf deren Titelseite eine Karikatur des amerikanischen Präsidenten abgebildet war. Die Nase des Präsidenten war in Form eines Entenschnabels gezeichnet. Ihm fiel auf, daß er sich den Präsidenten immer als Karikatur vorgestellt hatte. Die Minister, die Waffenfabrikanten, die Kriegsstrategen waren in seiner Vorstellungswelt
stets Comicfiguren gewesen, geldraffende, mordlüsterne Figuren, die sich wie Marionetten bewegten. Jetzt aber, den Passanten mit der Zeitung bereits in seinem Rücken, versetzte ihm die Erkenntnis der Realität der Politiker, Militärs und Industriellen einen Stich. Eine Straßenbahn fuhr an ihm vorbei mit einem buddhistisch gekleideten Jugendlichen auf der Plattform, die Haut bleich, eine Drahtbrille im Gesicht, der Schädel bis auf einen Haarzopf glattrasiert. Während Haid soeben begriffen hatte, daß das, was er in Europa über die amerikanische Politik wie literarische Erzeugnisse gelesen hatte, alltägliche Wirklichkeit war, verwandelten sich im selben Augenblick die buddhistisch gekleideten Jugendlichen in Comicfiguren. Welche Mechanismen wirkten in diesem Land, daß fortlaufend Romantik in die Zivilisation einbrach. Vielleicht war auch die Kriminalität von dem romantischen Protest gegen die Zivilisation und die Gesellschaft mit verursacht. Er sah einen Polizisten an der Ecke stehen, einen schwarzen Knüppel in der Hand, an der dicken Hüfte einen Colt. Wie hätte dieser Polizist reagiert, wenn Haid ihm von seiner Beobachtung am Fenster erzählt hätte? Wäre er mit ihm ins Haus gekommen oder hätte er ihn zur Polizeistation mitgenommen, um ihn mit dem Gesicht zur Wand zu filzen und einem Arzt vorzuführen? Das Gesicht des Polizisten drückte müde Gleichgültigkeit aus. Haid trat an ihn heran und fragte nach dem Postamt. Der Polizist wies mit erhobenem Kopf auf ein Kaufhaus, das in Sichtweite
lag. Haid besah sich den Polizisten. Der Anblick löste die gewohnten Zwangsvorstellungen in ihm aus. Vielleicht lag es daran, daß er sich verpflichtet fühlte, mißtrauisch gegen einen Polizisten zu sein. In Wahrheit war ihm der Polizist egal. Haid ging in das Kaufhaus, kaufte Marken und verstaute sie im Paß. Er schwitzte in seinem Staubmantel. Es kam ihm vor, als habe er damit nichts zu tun, daß sein Körper schwitzte. Die Powell Street stieg vor dem Kaufhaus steil an, verlief flach weiter und stieg wieder steil an. Haid öffnete den Staubmantel und ließ den Wind auf seinen Körper blasen. Dann ging er in das Kaufhaus zurück. Er spazierte durch die riesigen Räume und sah zu, wie die Menschen sich drängten. Es war, als stünden sie unter Zwang. Sie betasteten und beglotzten die bunten Fähnchen, Waschmittelpakete, Konservendosen, Perücken und Kosmetikartikel, rafften sie in farbige Papiersäcke und stürzten davon. Das ist das System, dachte Haid, jeden abhängig zu machen und in einigen das Gefühl zu wecken, daß sie an einer Art Macht teilhätten, indem sie die Interessen anonymer Macht-Teilhaber vertraten: Richter, Polizisten, Militärs. Natürlich war Haid sich im klaren, daß dieses Kaufhaus sich in nichts von Kaufhäusern in Wien oder Berlin unterschied und daß sich die Menschen hier nicht anders verhielten, aber er hatte den Eindruck, als strahlten die Waren eine stärkere Aura von Prestige aus, als würde die Habgier systematischer bis zu einer Form kleptomanischer Besitzgier gesteigert. Man schien es auf dieses kleptomanische Stadium der Habgier
anzulegen und ließ die Gegenstände gleichzeitig durch ein komplizierteres Netz moralischer Instruktionen und Vollzugsbeamten bewachen. Es ist der sanfteste Betrug, den es gibt, dachte Haid. Horkheimer glaubte, daß die Menschen eines Tages im Zustand totaler Zufriedenheit leben würden, ohne Geist, aber glücklich. Das Unbehagen an der Realität würde einfach deshalb verschwunden sein, weil die Menschen sich an die für ihr sicheres Leben notwendigen technischen Bedingungen gewöhnt haben würden. Das richtige Reagieren auf die technischen Bedingungen würde zur Selbstverständlichkeit geworden sein. Haid sah den Menschen zu und hatte das Gefühl, etwas von der Zukunft zu sehen. Der Geist war eine Übergangserscheinung. Er gehörte zur Kindheitsepoche der Menschheit. Man konnte allenfalls hoffen, daß die künftige Menschheit etwas von Religion und Philosophie bewahrte – so wie der erwachsene Mensch ein Stück seiner Kindheit. Er sah in Gedanken Horkheimer vor sich, mit glatzköpfigem Eierschädel, die dicke Hornbrille im Gesicht, leicht gebückt, eine Mischung aus einem lächerlichen und einem großartigen Menschen. »Die Reflexion ist jetzt schon etwas Altmodisches«, dachte Haid. »Wahrscheinlich dauerte es nicht mehr lange, bis die Menschen glücklich und bequem, ohne Phantasie, Sehnsucht und Liebe lebten.« Haid kannte den Menschentyp, der alles auf das Praktikable und den zu erwartenden Vorteil hin untersuchte. Der Geist war nur noch eine klappernde Rechenmaschine. In
diesem Augenblick begriff und liebte Haid die jungen Amerikaner, die als buddhistische Wandermönche verkleidet Flugblätter anboten. Er blickte sich um und langte in einem Regal nach einem Notizbuch, in dem an einer Lederschlaufe ein kleiner Bleistift befestigt war. Als er bezahlen wollte, fand er seine Brieftasche nicht. War sie ihm gestohlen worden? Erschrocken eilte er zum Postschalter zurück. Er war zu keinem Gedanken fähig. Tatsächlich lag die Brieftasche auf dem Pult, dort, wo er stehengeblieben war, um die Marken in den Paß zu stecken. Hinter dem Schalter saß noch immer die junge Dame mit der Brille, die an einem Goldkettchen um ihren Hals hing. Haid hatte das merkwürdige Gefühl, in Gefahr zu sein. Wenn ihn jemand beobachtet hatte, wie er die Brieftasche an sich genommen hatte, konnte womöglich der Eindruck entstanden sein, daß er, Haid, eine herumliegende Brieftasche gestohlen hatte. Er fixierte einen Briefmarkenautomaten, um beschäftigt zu wirken. Das Schlimmste war, ungeschickte Hastigkeit auszudrücken. Gleich darauf kam ihm zum Bewußtsein, daß er dabei war, seine eigene Brieftasche zu stehlen. Aber diese Erkenntnis bereitete ihm kein Vergnügen. Er steckte die Brieftasche ein und musterte die Dame hinter dem Schalter. Sie kümmerte sich nicht um ihn, sondern war gerade in ein Gespräch mit einem Neger verwickelt. Haid riß sich los und verließ das Kaufhaus durch einen Hinterausgang. Plötzlich stand er wieder vor seinem Hotel.
9
Vor ihm befand sich einer der Blumenstände. Auf der anderen Straßenseite erkannte er den Portier, der vor dem Hotel auf- und abspazierte. Hätte er jetzt eine Zeitung bei sich gehabt, dann hätte er sie geöffnet, mit dem Finger ein Loch gebohrt und den Portier beobachtet. Er steckte seine Hände in die Taschen des Staubmantels und schlenderte die Powell Street hinauf. Als er den Hügel erreicht hatte, sah er zwischen den Wolkenkratzern das Meer. Er genoß den Wind, der in kleinen Böen vom Meer herüberwehte. Eine Viertelstunde später spazierte er durch das chinesische Viertel. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit überwältigte ihn. Irgendein Konfuzius blickte schläfrig aus seinem Geschäft und gab einem schwarzen Kater einen Tritt. Der Kater machte einen Satz, hockte sich vor Haid auf die Straße und glotzte ihn an. Haid ging an ihm vorbei. Er ging an Lebensmittelgeschäften vorbei, in welchen getrocknete Gänse, nackt, mit gelber Haut und flach wie ein Omelett von verchromten Fleischhaken hingen, ging an gelben Alten mit Brillen, Spazierstöcken und Hüten vorbei, an Jungen, die korrekt gekleidet waren wie Bankbeamte, an einem Behälter mit krabbelnden Krebsen vor einem Fischgeschäft. Die Reklameschilder mit chinesischen Buchstaben wucherten aus den Hauswänden wie Bilder, die ein manischer Künstler in einem irrwitzigen Einfall die Straße entlang aufgestellt
hatte, besessen vom Drang, jeden Winkel damit zu überfluten. Haid blieb stehen und betrachtete sie, die endlose Straße hinunter, als blättere er in einem farbigen Wörterbuch mit chinesischen Schriftzeichen. Limousinen fuhren leise und langsam vorbei. In einem Cadillac trank ein glatzköpfiger Amerikaner Limonade aus einem Pappbecher. Haid betrachtete alles, als sei es eine Kulisse für ihn. Er hatte Angst, die Schwerelosigkeit zu verlieren. Hermann Hesse rief ihn aus einer dunklen Bar, die durch einen halbzugezogenen Samtvorhang von der Straße nur schlecht abgeschlossen war. Er saß an der Theke mit faltigem, verbittertem Gesicht, betrunken, schweigend, aber mit neugierigen Augen. Der Barhocker neben ihm war leer und Haid nahm Platz. Durch den Spalt im Samtvorhang sah er auf einem schwarzen Schild rote Lämpchen das Wort EMPRESS in die glasklare Luft blinken, als handle es sich um eine metaphysische Botschaft. Hesse schwieg. Ein gelbgestrichener Lastwagen hielt und ein Arbeiter lud Kartons mit der Aufschrift ANDREWS ab. »Sie trinken?«, fragte Hesse. Haid nickte. Der Barkeeper goß ihm auf ein Zeichen von Hesse aus einer Tonflasche eine Flüssigkeit ein und schob sie ihm über den Tisch. Haid trank einen Schluck, der süß und scharf schmeckte. »Haben Sie noch ein Zeitgefühl?«, fragte Hesse. Haid blickte mechanisch auf seine Uhr. Er hatte jedoch nicht die Absicht, die Uhrzeit festzustellen, auch war er zu verwirrt, um zu antworten.
»Es ist seltsam«, murmelte Haid, »ich bin leicht, wie ein Blumenblatt.« Hesse blickte ihn erstaunt an, und Haid bemerkte, daß er neben einem alten Chinesen saß, der sich sofort von ihm ab wandte. Haid bezahlte und stolperte auf die Straße. In einem Geschäft hatte er ein kleines Buch über Akupunktur gekauft, in dem menschliche Körper mit eingestochenen Nadeln in den Gliedern, am Brustkorb und am Rücken abgebildet waren. Er wußte nicht, warum er sich das Büchlein gekauft hatte. Er hatte ein merkwürdiges Verhältnis zur Medizin, sie faszinierte ihn und stieß ihn zugleich ab. Er war überzeugt davon, daß die Medizin sich auf einem Irrweg befand. Der blinde Fortschrittsglaube war losgelöst vom Interesse am Menschlichen. Krankenhäuser kamen ihm vor wie Versuchsstationen für Kaninchen, die man mit chemischem Zeug vollpumpte, um sie möglichst schnell wieder ans Fließband treiben zu können. Viren und Bazillen, Krebsgeschwüre und defekte Herzklappen wurden wie persönliche Feinde bekämpft und der Mensch, der daran litt, war nur das Schlachtfeld für diese Kämpfe. Aber die Viren und Bazillen überlebten die chemische Kriegsführung und zeugten Nachkommen, die dagegen resistent wurden. Immer stärkere Waffen mußten eingesetzt werden, immer kompliziertere Apparate, die aus den kranken Menschen wiederhergestellte Wracks machten. Wiederhergestellt war das Zauberwort der Medizin. Auch Haid lief wie ein abgerichtetes Zirkustier zum Arzt, sobald er Schmerzen fühlte,
aber er war von der Richtung, in die sich die Medizin entwickelte, nicht überzeugt. Es galt nur, Zeit zu gewinnen und so schnell wie möglich die Krankheit auszutreiben. Dieses kleine Büchlein über AKUPUNKTUR vermittelte ihm den Eindruck, daß das kultische Ritual der Krankheitsbekämpfung noch lebendig war. Die Krankheit wurde mit alchemistischer Neugierde im Menschen aufgespürt und nicht von einem Stab technokratischer Ärzte als abstrakter Feind in einem nebulosen Raum bekämpft. Er steckte das Büchlein weg. In einer Auslage waren Schlangen in einem Goldfischglas eingelegt. Die Köpfe sahen aus wie Köpfe von winzigen Drachen … Haid nahm sich vor, den Weg noch einmal zu gehen, mit klarem Kopf und klareren Gedanken. Denn das, was ihn hier zu einem exklusiven Zuschauer des magischen Theaters machte, schien ihm plötzlich nichts anderes zu sein als eine Methode, Profit zu machen. Ein Mister GONG NUM führte einen Kamera-Shop für KODAK-Geräte, ein Mister wo YICK importierte und exportierte, und im Haus Nr. 950 der GRANT AVE führte ein Mister KUO WAH ein chinesisches Speiserestaurant. So reihte sich jedes Haus in dieser Straße in die Kette von Geschäften ein, warb mit bunten Schildern, mit außergewöhnlichem Design, mit Neon und Goldfarbe für Produkte, die erworben werden sollten. Das war alles. Haid war nicht in einen Traum gefallen, sondern der Traum wurde ihm mit realen Mitteln vorgespielt. In den Geschäften und Restaurants standen die Schauspieler und spulten den
Eintretenden ihre Monologe herunter. Haid fiel jetzt auch auf, daß keine schmutzigen Menschen zu sehen waren. Er zündete sich eine Zigarette an und sah einem chinesischen Kind zu, wie es einem braun weißgefleckten Hund mit einem Gemüsestrunk auf die Schnauze schlug. Der Hund schloß schläfrig und gelangweilt die Augen und blieb sitzen. Haid spazierte zu KUO WAHs Speiserestaurant zurück, las die roten Buchstaben auf dem riesigen blauen Leinendach, trat näher, sah an den Säulen zum Eingang Mosaikfiguren, die Saitenspieler darstellten und studierte die Speisekarte, die in chinesischer und englischer Schrift die Speisen mit poetischen Namen anführte. Natürlich war Haid selbst der Poet. Er war ein merkwürdig zerrissener Poet. Kaum war er von etwas fasziniert, wurde er argwöhnisch. Er gab seinem Gehirn die Schuld daran, diesem kleinen, grauen Stück Fleisch, das er mit sich herumtrug, oder das ihn mit sich schleppte und das ihn zur ichbezogenen Figur machte. Sein Gehirn machte das Einfachste kompliziert und wehrte sich gegen Vereinfachung. Haid war aufgefallen, daß die meisten Intellektuellen vorgaben, keine zu sein. Es war wie mit dem Geld. Die Reichen verabscheuten zu zeigen, daß sie Geld hatten. Sie gaben sich lieber leutselig und bescheiden, ohne auf ihr Geld verzichten zu wollen. Haid haßte diese Maskerade bei Intellektuellen. Aber gleichzeitig erkannte er darin die Sehnsucht nach dem Einfachen. Und sah er sich nicht selbst oft in der Rolle des einfachen Menschen, der vorgab, als bedeutete ihm nur das
Sinnliche etwas? Und das Wahrhafte: Was war das? Was man sah und hörte? Was man aus seiner Erfahrung heraus hinzugab? – Gab es überhaupt eine persönliche Erfahrung? Oder gab es nur die persönliche Erfahrung? Wurde einem nicht auch die persönliche Erfahrung beigebracht wie das Lesen von Büchern? Und war nicht jeder Ausbruch aus dem Alltag, ein Ehebruch, ein Rausch, eine Reise, eine Suche nach persönlicher Erfahrung? Und war diese persönliche Erfahrung, die man suchte, nicht eine Fiktion? Haid glaubte, daß in ihr nur ein klein wenig Realität steckte, nur so viel, als es genügte, immer wieder von vorne mit der Suche zu beginnen.
10
Die Bank of America tarnt sich im chinesischen Viertel wie ein Chamäleon, als Pavillon mit von goldenen Drachen verzierten Säulen und flachen, ovalen Decklichtern. Über dem gläsernen Portal ist in Goldschrift die Nummer 701 gemalt. Vor der Bank parkte ein Studebaker, dessen Karosserie mit Holzplatten verkleidet war. Haid stellte sich hinter den Studebaker und faßte den Plan zu warten, wie sich die Geschichte weiterentwickeln würde. Ein Mann kam aus der Bank und stieg in den Studebaker. Haid trat einen Schritt zurück. Er befand sich vor einem Stapel von Gemüsekisten, in welchen Wurzeln und kartoffelartige, große Früchte angehäuft waren,
die Haid nicht kannte. Fluten von Menschen strömten an ihm vorbei. Dann sah Haid, wie der Kerl im Studebaker durch ein geöffnetes Fenster zehn Cents in eine grüne Parkuhr warf. Gleich darauf kam eine blonde Dame aus der Bank und setzte sich in den Studebaker. Das Auto fuhr langsam an. Haid ging auf der anderen Straßenseite mit. An der nächsten Kreuzung hielt der Wagen wieder, die Frau stieg aus und betrat einen Schnellfotoladen. Haid konnte nicht durch die Auslagenscheibe sehen, da diese durch einen Pappkarton, auf dem bunte Ansteckknöpfe befestigt waren, verdeckt war. Zu seiner Überraschung fuhr der Studebaker weiter. Was sollte er tun? Auf die Frau warten? Dem Studebaker folgen? Er merkte sich, daß der Besitzer des Schnellfotoladens ein Mr. Cheng war und eilte dem Studebaker nach. Der Fahrer hatte es nicht eilig. Er suchte eine Parklücke und stieg aus. Es war ein massiver Mann, der eine Strickweste und eine Samthose trug. Der Mann schlenderte die Straße hinauf, verließ das chinesische Viertel und verschwand in einem Geschäft am Broadway. Haid folgte ihm. Er sah den Mann hinter einem schwarzen Vorhang verschwinden. An einer Wand befand sich ein Plakat mit dem Hinweis, daß man für einen Vierteldollar pornographische Filme sehen könne. Haid wechselte an der Kasse zwei Dollar und trat ein. Er vergrub die Faust im Mantelsack, als trage er einen Revolver. Hinter dem schwarzen Vorhang befanden sich ein Dutzend schmaler Kabinen, in welchen Automaten aufgestellt waren. Der Mann war
nirgends zu sehen. Vermutlich befand er sich in einer der durch schwarze Vorhänge verdeckten Kabinen. Haid stellte sich in die erste Kabine und ließ den Vorhang geöffnet, um den Ausgang im Auge zu behalten. Dann warf er einen Vierteldollar ein und sah einen Film, in dem eine üppige Brünette am riesigen Glied eines Negers saugte. Haid vergaß den Mann, dem er als Philipp Marlowe gefolgt war. Er fühlte, daß sich sein Glied regte. Zugleich erinnerte er sich an das Tagebuch einer Irland-Reise BÖLLS, in dem Böll eine Kneipe mit Kabinen für Whiskytrinker beschreibt. Er erinnerte sich daran, daß die Kabinen aus Holz waren und die Trinker sich in ihnen einschlossen und allein tranken. Die Beschreibung hatte ihn traurig gestimmt. Er hatte die Trinker vor sich gesehen, stumm und einsam vor einem Glas Alkohol, nahezu bewegungslos, müde Gestalten, die in Resignation erschlafft waren. Nun stand er selbst in einer Kabine und glotzte in den Automaten. Der Film stoppte und Haid mußte wieder einen Vierteldollar einwerfen. Die Brünette ließ sich lächelnd vom riesigen Glied des Negers in den Anus ficken. Da der Film mit verlangsamter Geschwindigkeit ablief, erweckte jede Bewegung des Paares den Eindruck schläfriger Genußsüchtigkeit. Zwischendurch zog der Neger das Glied heraus und drehte den geöffneten Anus auf exhibitionistische Weise zur Kamera hin. Die Brünette lächelte noch immer. Haid bemerkte, daß der Neger einen Schnurrbart trug und wunderte sich, daß er dieser Wahrnehmung Beachtung schenkte. Dieser schmale
Schnurrbart im Gesicht des Negers schien ihm vorzugaukeln, daß das, was er sah, Wirklichkeit war. Die Brünette faßte jetzt nach dem Glied des Negers und spritzte sich langsam und ruhig eine Samenflut über das lächelnde Gesicht. Haid spähte aus der Kabine. Jemand verschwand soeben hinter einem schwarzen Vorhang, sonst regte sich nichts. Haid öffnete auf gut Glück einen der Vorhänge und sah einen Film in der gespenstisch leeren Kabine laufen, in dem einer weißen Frau die Schamhaare rasiert wurden. War der Mann in der Strickjacke schon wieder gegangen? Haid streifte zwischen den Kabinen herum, überlegte, was er tun sollte und entschloß sich dann, auf der Straße zu warten. Die Sonne schien hell und melancholisch. Vom Mann in der Strickjacke war keine Spur zu sehen. Er spazierte den Broadway hinunter und dachte an die lächelnde Brünette. Als er fünfzehn Jahre alt gewesen war, hatte er nach Kinobesuchen in derselben Weise an Filmstars gedacht, die er gesehen hatte. Es war ein anonymes Begehren, das er verspürt hatte, eine Selbstverstrickung in illusorische Vorstellungen. Aus den Nischen in den Häusern lösten sich Gestalten und forderten ihn auf einzutreten. Die Lokale sahen von außen wenig vertrauenerweckend aus wie bankrotte Lichtspielhäuser in Vorstädten. Alles stank nach Bluff und Suggestion. Er bog hinter einem Reklameschild für Coca-Cola ab und ging in das chinesische Viertel zurück. Eher aus Pflichtgefühl, sein Spiel zu Ende zu spielen, als aus Spaß an der Autohypnose, suchte er den Schnellfotoladen, fand
ihn und schlenderte vorbei. Er konnte jederzeit seine Einbildungskraft steigern und damit seine Wahrnehmungen verändern. Er dachte in diesem Augenblick, während er vor dem Schnellfotoladen auf- und abspazierte, daß alles mit der Einbildungskraft zusammenhing. Die Einzelheiten zerstörten immer die Weltbilder. Ein Weltbild war wie ein Fingerhut, den man auf die Welt zu legen beabsichtigte. Sobald man merkte, daß der Fingerhut zu klein war, tauschte man das Weltbild aus und sah plötzlich wieder etwas Neues, das sich aber ebenso bald wieder nur als ein Ausschnitt erwies. Hermann Hesse, Philipp Marlowe, Karl Marx, er konnte sie beliebig für sich sehen und denken lassen – für sich! Aber er wollte selbst Erfahrungen machen! – Er war süchtig danach, Erfahrungen zu machen.
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Er betrat ein chinesisches Speiserestaurant, bestellte Egg-Flowersoup und BARBEQ-Huhn, saß da, aß nur wenig und trank Bier, das ihm in einem Plastikglas serviert wurde. Am Nebentisch aßen Kinder eine Suppe mit unzerteilten kleinen Tintenfischen. Vor dem Lokal lief ein Neger im Trainingsanzug und einer Wollmütze auf dem Kopf die Straße hinunter und sah aus wie Joe Frazier vor einem großen Kampf. Haid betrachtete gedankenverloren die gebratenen, glänzenden Hühnerteile, die vor ihm auf
dem Tisch lagen. Seine Frau hatte nie Huhn gegessen. Es hatte ihr vor jedem Geflügel geekelt und deshalb hatte er seit langer Zeit keines mehr gegessen. Es überraschte ihn daher, daß ihn schon der Anblick der Speisen sättigte. Dann fiel ihm die lächelnde Brünette ein und vermischte sich mit dem Bild seiner Frau. Seine Frau war ihm gegenüber sexuell nie besonders anspruchsvoll gewesen, und es hatte ihm immer große Anstrengungen gekostet, sie aus ihrer Reserve zu locken. Wie mochte sie mit ihrem Liebhaber leben? Der Liebhaber war ein kleiner, gedrungener Rechtsanwalt, der es geschickt verstand, den Unbekümmerten zu spielen. Er war ein Mann, dem man keine Affären zutraute, der aber offensichtlich erreichte, was er begehrte. Haid hatte sich dagegen gewehrt, Genaueres über die Beziehung zu erfahren, und doch hatte er immer nur mit Mühe dagegen angekämpft, Fragen zu stellen. Dann richteten sich seine sorgenvollen Gedanken auf die Buchhandlung. Er fragte sich, ob die Angestellten mit den täglichen Problemen zurechtkamen, verdrängte aber seine Sorgen und zu seiner Erleichterung fiel ihm ein, daß er sich auf dem Weg zu Mehring befand. Er trank noch einen Schluck aus dem Plastikglas und blickte auf den Tisch, an dem die Kinder saßen. Er hatte nie Kinder gehabt. Obwohl er beim Anblick von Kindern nicht sentimental wurde, machte er automatisch ein freundliches Gesicht, sobald ihn ein Kind anblickte. Auch wenn ihn ein Kind nervös machte, lächelte er. Es war derselbe Mechanismus, der in Kraft trat,
wenn er Tiere mit ihren Besitzern sah, sobald er die Besitzer zumindest flüchtig kannte. Der Rechtsanwalt, mit dem seine Frau ihn betrogen hatte, besaß einen ausgewachsenen Schäferhund. Haid hatte ihn sofort gehaßt, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte sogar in einem irrwitzigen Einfall überlegt, ihn zu vergiften. Seiner Frau hingegen hatte er nur einmal im Traum Gewalt antun wollen. Am nächsten Tag war er zum Schein zur Arbeit gegangen, hatte sich im Espresso gegenüber seiner Wohnung auf einen Hocker gesetzt und die Haustüre beobachtet. Als er eine Tasse Tee bestellt und sich eine Zigarette angezündet hatte, hatte er sich elend gefühlt, als wäre er im Begriff gewesen, etwas Verbotenes zu tun. Eine Stunde später hatte er gesehen, wie seine Frau das Haus verlassen hatte. Er war ihr gefolgt. Den halben Vormittag über war er ihr gefolgt, ohne daß sie Argwohn geschöpft hatte. Sie war durch die Stadt spaziert, hatte Kleinigkeiten eingekauft und schließlich den Rechtsanwalt vor einem Uhrengeschäft getroffen. Der Rechtsanwalt war in Begleitung seines Schäferhundes gewesen, den seine Frau mit einer ihn verletzenden Vertraulichkeit über den Kopf gestreichelt hatte. Dann waren sie in einen hellbeigen Peugeot gestiegen und, ohne ihn zu bemerken, davongefahren. Bestürzt war Haid in seine Buchhandlung gelaufen, hatte sich in seinem Bürozimmer eingeschlossen und keinen Gedanken fassen können. War es dieses Erlebnis, das ihn dazu getrieben hatte, dem Mann und der Frau im
Studebaker von der Bank of America zum Schnellfotoladen und bis zum pornographischen Automatenkino zu folgen? Und war es nicht grotesk, daß ihm als Resultat seiner Verfolgung ein Geschlechtsverkehr gezeigt worden war? Für einen kurzen Augenblick empfand er zwischen beiden Erlebnissen einen geheimnisvollen Zusammenhang, der darauf abzielte, ihn zu erniedrigen. Die Kinder am Nebentisch waren aufgestanden und durch das Lokal gelaufen, wobei sie einen Sessel zu Boden gestoßen hatten. Der auf dem Boden aufprallende Sessel hatte Haid erschreckt und ihn in das kleine chinesische Speiselokal zurückgeholt.
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Nachdem er bezahlt hatte, blieb er noch ein wenig vor den Hühnerteilchen und dem halbgeleerten Bierglas sitzen. Die Kellner unterhielten sich in einem seltsamen Singsang von Englisch, als wollten sie auch beim Sprechen beweisen, daß sie Chinesen waren. Kaum war Haid wieder auf der Straße, als eine Sirene aufheulte. Ein Kamerawagen fuhr hinter einem Auto her und filmte es. Haid hatte das Gefühl, selbst gefilmt zu werden. Ein Neger mit einer roten Plastikjacke, die aussah wie eine Schwimmweste, starrte durch eine Auslagenscheibe. Es war ein aufgegebenes Geschäft mit heruntergerissenen Tapeten. Unter der Auslagenscheibe war ein
Feuerschlaucheinsatz aus Messing in die Wand gemauert, der blendendes Sonnenlicht verbreitete. Haid bemerkte, daß sein Daumen nervös zuckte. Er dachte, wie sinnlos all diese Bilder waren, die er sah. Es war auch sinnlos, daß er hier ging. Nein, Gott verbarg sich nicht in jedem Atom des Feuerschlaucheinsatzes aus Messing, der Plastikjacke des Negers, verbarg sich nicht in all den Zwecken und technischen Regelmechanismen, in all den leeren Gesichtern. Haid stellte sich neben den Neger vor die Auslagenscheibe und betrachtete sein eigenes Gesicht. Es war ebenso leer wie das aller anderen. Einige Straßen weiter setzte er sich in RUBY TABOOS Weinlokal. Hinter der Theke saß ein Bursche mit einer Hasenscharte und musterte ihn interessiert. Haid trank einen Schluck kalifornischen Landweins. Der Mann mit der Hasenscharte unterhielt sich gerade mit einem jungen Mann über Astrologie. Nach jedem Satz warf er einen Blick auf Haid, als wollte er ihm die Möglichkeit geben, sich am Gespräch zu beteiligen. Um auf den fragenden Blick nicht eingehen zu müssen, bezahlte Haid und ging. Die Bilder, die er jetzt sah, störten ihn, ohne daß er sich von ihnen abzuwenden vermochte. Vielleicht kamen sie ihm nur deshalb mit großer Eindringlichkeit zum Bewußtsein, weil er sich als Fremdkörper fühlte. Er wandte seinen Blick von den Reklameschildern weg und blickte geradeaus. Im gleichen Augenblick sah er einen farbigen Schuhputzer, der in einer Wandnische saß. Die Nische war mit dunkelbraunem Holz verkleidet und
auf einem Podest standen zwei dunkelbraune Stühle. Ohne zu wissen warum, ließ Haid sich die Schuhe putzen. Von der Holzwand lachten Filmstars, auf einem der Illustriertenbilder war Joe Louis in Boxerstellung abgebildet. Der Neger machte sich ohne Eile daran, die Schuhe zu reinigen. Für Haid war es ein seltsames Gefühl, in dieser dunklen Nische zu sitzen und ein Gesicht zu machen, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit, daß jemand ihm zu Füßen kniete und den Schmutz von seinen Schuhen bürstete. Er hätte gerne mit dem Neger gesprochen, aber er fand nicht die richtigen Worte. Wahrscheinlich ließ er sich die Schuhe aus Mitleid und Neugierde putzen, denn er hatte den Anblick auf einem Stuhl sitzender Weißer, welchen von Neger-Boys die Schuhe geputzt werden, stets gehaßt. Aber für jemanden, der diesen Anblick von Kindheit an gewöhnt war, mußte es keine Besonderheit darstellen, selbst Platz zu nehmen und zuzusehen, wie ihm ein Neger die Schuhe reinigte. Er erfand für sich eine Geschichte, indem er sich vorstellte, daß ein fetter Geschäftsmann absichtlich in Hundekot trat, um sich mit Genuß von einem Neger den Kot entfernen zu lassen. Aber obwohl Haid dem Neger gerne mitgeteilt hätte, daß er lieber mit ihm sprechen würde, als sich von ihm die Schuhe reinigen zu lassen, wußte er nicht, welchen Rat er ihm hätte geben sollen. Es kam ihm dumm vor, von Revolution zu reden, obwohl er sich in diesem Augenblick wünschte, der Neger möge aus seiner Lethargie erwachen und eine Bank in die Luft
sprengen. Aber gleichzeitig empfand er ein Schuldgefühl, und er stellte sich die Frage, was ihn berechtigte, diesen Wunsch zu haben. Für den Neger, hätte er etwas von Haid gewußt, wäre sein Tun vermutlich etwas Abstoßendes gewesen: Bücher zu lesen, Wein zu trinken, gut zu essen und eine Enttäuschung mit einer Reise überwinden zu wollen. Was Haid am meisten bedrückte, war gerade diese Hilflosigkeit, die ihn stumm bleiben ließ. Er führte einen ununterbrochenen Kampf um seine Existenz, sah gleichzeitig das Unrecht und hatte keine Kraft, ja nicht einmal den Willen, sein Leben zu ändern. Darüber hinaus hatte er keine Idee, auf welche Weise er sein Leben ändern sollte. Genügte es einfach, eine Philosophie zu bejahen und Menschen zu bemitleiden, genügte es, einer Gesellschaft vorzuwerfen, sie sähe zu, wie ein Teil der Menschen andere Menschen ausnützte, während die Ausgenützten keine Macht besäßen, diesen Zustand zu ändern und dann mit dem eigenen Leben wieder auf diese Weise fortzufahren, daß man danach trachtete, aus allem einen Vorteil für sich zu ziehen? – Diese Hilflosigkeit hatte Haid traurig gemacht. Er blickte vom Rücken des Negers auf und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Friseurladen, in dessen mit großen Buchstaben beschrifteter Auslage er sich selbst als schemenhaftes Spiegelbild erkennen konnte. Der Friseurladen war leer, und zwei Männer in weißen Kitteln blickten aus dem Hintergrund des Geschäfts desinteressiert auf die Straße. Vor dem Friseurladen drehte sich eine blau-
weiß-rote Rolle in einem Glasrohr. Der Neger war mit seiner Arbeit fertiggeworden, und als Haid ihm ein Trinkgeld gab, dankte er ihm lachend. Haid hatte die Absicht, sich nicht weiter aufzuhalten, und ging schnell davon. In einem kleinen Park sah er eine weiß gestrichene Kirche mit spitzen Türmen im grünen Gras. Die Häuser waren einstöckig und weiß. Plötzlich bemerkte Haid, wie kalt und hell das Licht war. Die Sonne ging langsam unter. Er ließ die Kirche hinter sich und ging die steil bergan führende Greenwich Street in dem tödlich-surrealen Licht hinauf. Die Straße war leer, und die Häuser schienen von den Menschen verlassen zu sein. Nur auf einem Basketballplatz, der tiefer als die Straße zwischen ungestrichenen Betonmauern lag, spielten schreiende Kinder. Das Licht warf schneeweiße Partikel in Haids Augen und blendete ihn. Er fand, daß das Licht etwas Künstliches an sich hatte, als würde es von einer Neonsonne ausgestrahlt, deren Schein alles verfremdete und die Dimensionen zerriß. Als Haid vor dem Haus Nr. 643 anhielt, drehte er sich um und blickte auf die Straße zurück. Vor einigen Häusern parkten Autos, an den Fenstern war niemand zu sehen. Er betrachtete das Haus, vor dem er stand und den kleinen Toyota, an dessen Lack er erkennen konnte, daß er vor kurzem an einem Unfall beteiligt gewesen sein mußte. Ein eisiger Wind wehte die Straße hinunter. Er trat in das Haus und läutete an der einzigen Glocke, die er entdeckte.
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Mehring war dick geworden und glatzköpfig und seine nervöse Intelligenz hatte sein Wesen vollends durchdrungen. Sie ließ ihn nicht ruhig sitzen, Sätze anfangen und nicht vollenden, Themen in andere Themen umkippen, es schien, als stünden seine Gedanken und seine Verpflichtungen in einem ununterbrochenen Konflikt. Er sprach, stand auf und stellte Tee zu, unterbrach sich und erzählte irgendeine Geschichte über den Lebensmittelhändler, bei dem er den Tee gekauft hatte, erklärte die Vorteile und Nachteile verschiedener Teesorten und kehrte zu seinem ursprünglichen Thema zurück. Dann fiel ihm ein Witz ein, den er, solange er den Tee servierte, nicht vollendete und – nachdem Haid einen Schluck getrunken hatte – wieder von vorne begann, um einen bereits erzählten Teil auszulassen und nur noch die Pointe hinzuwerfen, da ihm im selben Augenblick ein neuer Gedanke kam, den er übergangslos an die Pointe anschloß, als gehörte der neue Gedanke zum Witz. Auf einem Ledersofa saß eine Studentin, die bei Mehring in Untermiete wohnte, neben ihr ein Chinese, der schweigend lächelnd der Unterhaltung folgte. Als während des Gesprächs eine Pause entstand, sagte Mehring, daß in einem Gespräch jeder nur auf das Stichwort warte, bei welchem er von sich selber reden könne. Der andere soll nur die richtigen Stichworte geben, »wie bei diesen Jahrmarktartisten, die als Bauchredner
auftreten und dazu eine Puppe brauchen«. Er lachte auf und machte eine Handbewegung: »Ich werde das Paprikahuhn warm machen. Früher bin ich häufiger essen gegangen, aber hier: Wenn man billig essen will, gibt es immer nur das gleiche – « Er verschwand in die Küche. Der Chinese lächelte freundlich an ihm vorbei. Haid blickte aus dem Erkerfenster hinaus. Er dachte, daß die Studentin mit dem Chinesen schlief. Niemand sprach etwas. Die Studentin sprang auf und verließ mit einem Aufseufzen das Zimmer. Haid war sich nicht sicher, ob das Aufseufzen etwas mit ihm zu tun hatte, vielleicht hatte sie erwartet, daß er mit ihr sprechen würde oder daß er ihr zulächelte wie der Chinese, weiß der Teufel, er mochte das Spiel nicht. Wenn ihm nichts einfiel, wollte er schweigen. Mehring steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Kommst du in die Küche? Das ist übrigens Cheek«, sagte er und wies auf den Chinesen. »Habe ich dir Cheek vorgestellt? Wir essen allein, Carson geht mit Cheek fort.« Haid fühlte, daß sein Daumen nervös zuckte. Er verabschiedete sich von dem Chinesen und Carson und folgte Mehring in die Küche. Mehring holte einen der Gewürzbehälter von der altmodischen Kredenz, auf der Glasfläschchen, Konservenbüchsen, Schachteln und Dosen standen und stellte sie auf den Tisch. »Pfeffer«, sagte er, »du kannst nachwürzen.« Er machte sich an der blechgerahmten Abwasch zu schaffen, neben der an der Wand verschiedene Kücheninstrumente wie zur Dekoration aufgehängt
waren: Schöpfer, Siebe, eine messingfarbene Kuchenform, eine Pfanne, Quirl, Kochlöffel, ein Schaumschläger, ein hölzernes Brett, eine Bratengabel. Haid war müde, ihm war ein wenig übel und sein Daumen zuckte. In der Küche war es angenehm dämmrig, da das einzige Fenster auf einen Hinterhof hinausführte. Ihm kam im Augenblick alles vor wie eine Filmvorschau, er sah einzelne bewegte Bilder, die ohne Zusammenhang waren, den er sich erst im Kopf zusammendichten mußte. »Ich tu alles nur, um mich selbst von mir zu überzeugen«, sagte Mehring. »Ich bin ohne Überzeugung.« Er setzte sich zu Haid an den Tisch und begann zu essen. »Ja«, sagte Haid, »das kenne ich. Ich behaupte etwas und lasse mir durch eine Frage bestätigen, daß es stimmt, auch wenn ich daran, während ich gesprochen habe, glaube.« »Ja, ja. Nimm Brot. Schmeckt es dir? Jeder Satz, der falsch ist, sollte wie eine schmerzhafte Berührung sein. Oder als ob man sich mit einem Hammer auf den Finger schlägt. Gefällt dir San Francisco? New York ist viel schmutziger. Ich mag New York nicht, du wirst ja sehen. Ist es zu scharf? – Nein, das, was du gesagt hast, ist ganz richtig. Ich zum Beispiel lüge sehr schnell. Man will den anderen immer in Staunen versetzen. Man kann es nicht Lüge nennen – eher Übertreibung. Ich beginne dann weiter zu übertreiben, da ich das, was ich einmal gesagt habe, nicht mehr zurücknehmen will. Ich übertreibe so lange, bis jeder kapiert hat, daß es sich nur um einen Witz handelt.« »Bei mir ist das nur der Fall«, entgegnete Haid,
»wenn ich etwas ernst meine und ich bemerke, daß es mich lächerlich macht. Vor Menschen, die mir Angst machen, spreche ich überhaupt nur in Witzen.« Mehring dachte nach. »Wie schmeckt dir das Pilsner«, sagte er dann. »Ist es zu kalt? Ich habe es direkt aus dem Kühlschrank genommen.« Er stand auf und holte eine Flasche Slibowitz von der Kredenz, goß zwei Gläser ein und stellte eines davon vor Haid. Dann trank er das Glas leer und blickte ihn an: »Manchmal stelle ich eine Frage, obwohl mich die Antwort gar nicht interessiert, nur, um Aufmerksamkeit vorzutäuschen. Ich schreibe gerade an einem Buch über das Rollenverhalten. Ich hab mir schon eine Menge Notizen gemacht. Willst du sehen?« Er ging in das Schlafzimmer und kehrte mit einem dicken Stoß Notizen zurück, die er vor Haid aufschichtete. Haid blätterte in den Notizen. Auf einem der Zettel stand der Satz: Darf ich das überhaupt empfinden?
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Bis zum Abend erzählte Mehring von seinen Beobachtungen und Überlegungen, und Haid richtete seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Gewürz- und Marmeladenbehälter. Manchmal sprach er stockend von sich, als probierte er seine Gedanken, bevor er sie aussprach, an, wie fremde Kleidungsstücke. Er sah, daß es draußen dunkel
geworden war, und fühlte eine unbestimmte Sehnsucht, geliebt zu werden. Mehring sprach über soziale Utopien, ging auf und ab, suchte ungeduldig einen bestimmten Notizzettel und las ihn vor. Er behauptete, daß die Menschen alle Erfahrungen an einem utopischen Modell mäßen. Haid, der das Gespräch beenden wollte, erklärte, ohne auf einen bestimmten Zusammenhang anzuspielen, daß Stifter zu lesen für ihn dasselbe sei, wie von einer utopischen Welt zu lesen. Für ihn sei Stifter ein Science Fiction Autor. Auch die Idylle sei als soziale Utopie anzusehen. Im »NACHSOMMER« hätten die Menschen das Gefühl, das Rechte zu tun, und daß ihr Tun schöpferisch sei. Er wollte von sich sprechen, aber es kam ihm plötzlich vor, als würde er sich aufdrängen. Mehring fragte ihn unvermittelt über das Leben in Wien aus und machte – als Carson zurückgekehrt war – den Vorschlag, in ein Cafe am Broadway zu gehen.
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Die Häuserwände waren zu glitzernden Lichtkaskaden aufgeblüht. Haid war, als sei der Frühling über diese Wände hereingebrochen, mit neuerfundenen, künstlichen Blumen, die ihn betören sollten. Eine Blondine lächelte ihn vom Nebentisch herüber an. »Ich will ein harmonisches Lebensgefühl. Sie verstehen, Harmonie«, sagte Carson. »Frieren Sie?«, fragte Haid.
»Ja, mir ist kalt.« Haid legte den Arm um sie. Carson lehnte sich an ihn und spielte mit einem Finger auf der Tischplatte. Eine Blumenhändlerin kam vorbei und bot Nelken zum Kauf an. Automatisch kaufte Haid einige Blumen und legte sie vor Carson. Carson beugte sich zu Haid hin, küßte ihn auf die Wange und verkroch sich frierend in den Mantel. Eine starke Gefühllosigkeit war über Haid gekommen, die ihn lockerte und sorgloser machte. »Heute ist St. Patricks-Tag«, rief die blonde Frau vom Nebentisch herüber. »Sie ist betrunken«, sagte Carson. Haid zog Carson an sich, küßte sie auf den Mund und fühlte, wie sie ihn öffnete. Mehring bezahlte, stand auf und wollte gehen. Haid folgte ihm widerspruchslos, aber Carson hielt ihn zurück. »Wir bleiben noch einige Minuten«, sagte sie scharf. »Selbstverständlich, Carson«, sagte Mehring und setzte sich wieder. »Wir haben keine Eile.« »Nein, wir haben Zeit.« »Ich sagte schon, wir haben keine Eile«, antwortete Mehring mit gespielter Gelassenheit und wandte sich Haid zu. »Du hast noch etwas Gin im Glas.« Haid trank folgsam aus. Dann sagte er: »Ich bin müde.« »Sie wollen gehen?«, fragte Carson. »Ja, ich bin sehr müde«, antwortete Haid. Er wollte eine lange Erklärung hinzufügen, um nicht abweisend zu wirken, schwieg aber. Er verabschiedete sich, überquerte den Broadway,
winkte einem Taxi zu und fuhr zu seinem Hotel. Vor dem Hotel bekam er Lust, noch etwas zu trinken. Er betrat einen kleinen Laden, auf dessen Auslagenscheibe in Schnörkelschrift ZIMS stand, trank eine Tasse Kaffee und betrachtete die Gäste in der langen Spiegelwand hinter der Theke. Beim Hinausgehen steckte er einige Päckchen Reklamezündhölzer ein und bemerkte, daß er den Zimmerschlüssel bei sich hatte. Als er dann in seinem Hotel aus dem Lift stieg, verlor er kurz die Orientierung und verirrte sich in den grünen Gängen. Sein Daumen zuckte, aber er fühlte sich leicht wie Luft.
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Die Sonntage hatte Haid oft verwünscht. Sie schienen ihm leer und ohne Leben, langweilig und am besten zum Schlafen geeignet. Die Menschen waren am Sonntag voller Gier, etwas Besonderes zu erleben. Haid saß barfuß im Pyjama an einem Tischchen und schlang das Frühstück hinunter. Er mußte sich am Morgen zwingen, etwas zu essen. Er stocherte in einer Portion Harn and Eggs, ließ sie stehen und beschmierte eine Scheibe Toast mit farbloser Kirschmarmelade. Nach dem Frühstück duschte er sich. Beim Abtrocknen begann die Haut zu jucken. Haid hatte dies häufig nach einem Bad oder einer Dusche, und er war unglücklich darüber.
Krampfhaft versuchte er an etwas anderes zu denken, an Carson und Mehring, an seinen Daumen, der vor Nervosität gezuckt hatte, an das Fenster im gegenüberliegenden Haus, aber sobald er nur für den Bruchteil einer Sekunde daran dachte, schien sich der Juckreiz auf der Brust und an den Armen zu verstärken. Er zog sich an, spazierte mit juckender Haut zum Chinesenviertel und durchquerte es auf kürzestem Wege. Aber die Wiederholung der Wahrnehmungen beruhigte ihn und nahm ihm sein Hautjucken, als hätte er ein Medikament genommen. Er trat in die nächstbeste Bar am Broadway, bestellte Gin mit Orangensaft und ließ seinen Blick über die lange Reihe Schnapsflaschen mit den bunten Etiketten wandern, über die Gläser, die umgedreht und in den verschiedensten Formen, wie gläserne Blumen auf dem schwarzen Plastikbrett standen, auf die Registrierkasse vor dem Spiegel, die zwischen den Flaschen aufgestellt war, auf die Nummer 619, die er in Spiegelschrift auf einer Glasscheibe über der Bartüre entdeckte, drei große Ziffern, die durch das auftreffende Tageslicht hell leuchteten. Neben ihm saß eine gespenstisch magere Frau, das Gesicht gepudert, die Augenbrauen abrasiert und mit einem dünnen Stift gezogen, die Stirne glatt, aber die Wangen voller Falten, die Hände dünn, mit Nikotinflecken auf dem Zeigefinger. Ein kleiner Mann unterhielt sich mit ihr, sie stand auf, kreischte, und Haid sah ihre Beine, die dünn wie Bleistifte schienen. Zu Haids Verblüffung begann sie zu singen. Ihre Iris war milchig getrübt und ihre
Tränensäcke überschwemmten die Augäpfel mit Sekretflüssigkeit, daß sie darin herumzuschwimmen schienen. Sie sang drei Takte und klatschte dazu mit den Händen. Der Barkeeper kam heran und legte eine Visitenkarte neben sein Glas. Auf der Visitenkarte stand: Spivey’s Swiss Chalet, Cocktail Lounge. Ein paar Minuten später hatte die magere Frau Spivey’s Swiss Chalet, ohne daß Haid es bemerkt hatte, verlassen und der Barkeeper zeigte ihm ein Bild, das zwischen den Flaschen stand: »Das war sie«, sagte der Barkeeper. »Eine schöne Frau. Die Bar hat ihr gehört.« Er stellte das Bild pedantisch zurück. In der Ecke saß ein schweigend lächelnder Chinese im Anzug, das Sakko über den Arm gelegt und rauchte Zigaretten.
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Benommen vom Sonnenlicht auf der Straße, mußte Haid erst nachdenken, wo er sich befand. Er ging auf gut Glück ein Stück in die Richtung, in der er die Greenwich Street vermutete, sah die gleichartigen Häuser, die ansteigende Straße, konnte aber das gesuchte Haus nicht finden. Auf dem Gehsteig saßen zwei Mädchen in der Sonne. Als er näher trat, sah er, daß vor einem Mädchen eine Plastikkassette mit bunten Zwirnsrollen lag und das Mädchen einen Knopf annähte. Das andere Mädchen aß Kuchen aus einer Schachtel. Haid fragte nach der Greenwich-
Street, und das Mädchen bot ihm Bier, das in einer Pepsi-Cola-Flasche abgefüllt war, an. »Sind Sie nicht aus San Francisco?« »Nein. Los Angeles«, sagte Haid. Das Mädchen erklärte ihm den Weg und sagte dann: »Ich glaube Ihnen nicht. Sie kommen nicht aus Los Angeles.« Haid ging wortlos davon und stellte sich vor, Philipp Marlowe zu sein. Wenn er sich vorstellte, Philipp Marlowe zu sein, bemühte er sich, ein starres Gesicht zu machen, und auch seine Bewegungen verlangsamten sich. Er hörte, wie die Mädchen hinter seinem Rücken lachten, aber er tat so, als würde ihn das nicht berühren. Sein Gesicht entspannte sich, und er steckte die Hände in den Staubmantel, um seine Verlegenheit nicht zu zeigen. »Ich entkomme mir nirgendwo«, dachte er.
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Mehring erwartete ihn nervös, mit einem halbausgeschütteten, tropfenden Glas Slibowitz. Er setzte ihn mit Carson in den Fond seines Toyota und fuhr los. »Ich wollte heute noch nach Sausalito fahren, aber du bist so spät gekommen. Was ist mit dir, Carson? Ich habe ihr gestern einen kranken Halswirbel massiert. Sie leidet unter Schmerzen in der Wirbelsäule.« Carson saß schweigend im Wagen und blickte hinaus. »Wir können die Route jetzt nur
mit dem Wagen abfahren, ohne viel auszusteigen. Was ist mit dir, Carson? – Sie ist traurig. Rede mit ihr!« Haid dachte nach. »Ich würde am liebsten wieder aussteigen«, dachte er. Wenn sie traurig war, sollte sie selbst etwas sagen. Er berührte mit einer Hand ihren Rücken und fühlte das Schulterblatt, das knochig aus ihrem Rücken herausstand. Carson tat, als habe er soeben nicht ihren Körper berührt, sondern irgendeine tote Materie, die im Auto herumlag und zu der sie keine Beziehung hatte. Haid ließ seine Hand auf ihrem Rücken und zog sie dann zurück. »Ich hoffe, du mußt im Auto nicht rauchen«, sagte Mehring. »Sonst bleiben wir besser stehen.« Ein junger Motorradfahrer in einer blauen Clubuniform mit aufgenähten, farbigen Abzeichen überholte sie spielerisch mit seiner schweren, blaulackierten Harley Davidson. Carson lachte durch die Nase, als habe sie etwas Komisches gesehen oder als habe sie ein Gedanke überrascht, der einen komischen Sachverhalt aufdeckte. Haid blickte nun selbst schweigend zum Fenster hinaus, denn er mochte Leute nicht, die stumm dasaßen und über ihre eigenen Gedanken lachten. »Sie führen eine Buchhandlung?«, fragte sie ihn, ohne ihn anzusehen. »Ja«, antwortete Haid und sah das kleine Geschäft mit den vollgepfropften Regalen vor sich. Er drehte sich zu Carson hin, aber sie blickte ihn nicht an, sondern hatte sich in ihren Armeelumberjack verkrümmt und machte ein unfreundliches Gesicht.
Gleich darauf sah er, daß Mehring sie im Rückspiegel beobachtete. Als Haids Blick Mehrings Auge im Rückspiegel traf, blickte Mehring konzentriert auf die Fahrbahn und begann zu sprechen. »Sie zieht sich ganz in sich zurück, wenn sie traurig ist«, sagte er auf deutsch. »Was sagst du da?«, fragte Carson, die fühlte, daß er über sie sprach. Mehring übersetzte und Carson fuhr ihn an, nicht von ihr zu sprechen. »Dann sitz nicht so herum!«, antwortete Mehring erregt. »Dein Herumsitzen macht mich ganz verrückt! Ich hab dich nicht gebeten mitzufahren!« In Limousinen glitten weiße, schwarze und gelbe Sonntagsausflügler mit ihren Kindern vorbei. Auf dem Meer segelten vereinzelt Boote. Das Auto fuhr zwischen bunten Holzhäusern mit Erkern und kleinen Feuerleitern. Neger fischten mit Angeln in einer Bucht. »Ich wollte mir hier einmal ein Haus kaufen, für den Sommer«, sagte Mehring. »Ich finde die Häuser sehr schön«, unterbrach ihn Haid. Sie fuhren an langen Angelstegen aus Holz vorbei, an welchen vertäute Segelboote schaukelten; die Häuser waren ihm angenehm neu und schon vertraut, alles grünte, und es war warm. Vor einem weißen Raddampfer mit schwarzem Rauchfang wendete Mehring und fuhr zu einer Tankstelle. Als er ausgestiegen war, um mit dem Tankwart zu sprechen, griff Carson nach Haids Hand und drückte sie.
»Vertritt dir die Füße!«, rief Mehring und steckte den Kopf durch das heruntergekurbelte Fenster. »Ich bleibe im Auto sitzen«, sagte Carson. »Dann bleib nur sitzen!«, sagte Mehring und sprach wieder mit dem Tankwart. Haid stieg aus und spazierte zu einem Anlegesteg. Dort drehte er sich um, sah, wie Mehring bezahlte und kam zurück. Haids Füße waren staubig, da er abseits der Fahrbahn gegangen war. Er hatte Mitleid mit Mehring empfunden, als er an sich und seine Frau gedacht hatte, dann aber war ihm eingefallen, daß er nur Mitleid mit sich selbst gehabt hatte und daß Mehring ihm egal war. Auch Carson war ihm egal. Früher hatte er es auf Reisen nahezu als Verpflichtung empfunden, sich auf jedes Abenteuer einzulassen, aber davon spürte er im Augenblick nichts. Am liebsten wäre er mit einem Bus zurückgefahren. Er stellte sich die Busfahrt als etwas Begehrenswertes vor, das er nicht würde erreichen können. Mehring saß bereits wieder im Wagen, der Motor lief, und Carson behandelte ihn wie Luft. Sie nahm ihm offensichtlich übel, daß er nicht mit ihr im Wagen geblieben war. Haid rückte in seine Ecke. »Übrigens, wir fahren am Nachmittag zu McClure. Du kennst ihn?« – fragte Mehring. »Ich habe schon ein paar Bücher von ihm verkauft.« »Ich habe eine Linzertorte für ihn machen lassen bei einem vorzüglichen Zuckerbäcker.« An der Kontrollstelle hinter der Brücke fuhr
Mehring langsamer und bezahlte 50 Cents, dann bog er nach rechts ab und fuhr zurück in die Greenwich Street.
19
Haid saß in der Küche, während Mehring sich umzog. Haid hörte ihn aus dem Schlafzimmer sich ächzend in ein frisches Hemd zwängen. »Carson fährt nicht mit«, rief er, »sie geht mit Cheek aus. Er läßt sich ein neues Gebiß machen, damit er besser singen kann. Er hat eine schöne Stimme. Er sagt, es gibt ein Spezialgebiß für Sänger.« Mehring kam aus dem Schlafzimmer und lachte, als hätte er selbst künstliche Zähne.
20
Auf einem Hochhaus war eine riesige NeonBierreklame angebracht, Lichtkorpuskeln perlten im Bierkrug wie Kohlensäure auf, weißer Bierschaum schmolz und Leuchtbuchstaben blinkten. Die Straße stieg steil an und die parkenden Autos sahen aus wie auf dem Asphalt festgeklebt. Eine Negerfamilie kehrte vom Sonntagsausflug zurück. Der Vater warf die Vordertüre seines schwarzen Oldsmobiles ins
Schloß. Ein Haustor war weit geöffnet und Haid sah eine hüfthohe, dunkelbraune Holzverschalung, darüber eierschalenfarbene Wände. Negerkinder in kurzen Hosen liefen ein und aus. Das Haus, in dem McClure wohnte, war dunkelrosa. Ein Neger stand davor, umringt von Kindern, auf dem Arm ein Baby, das er mit der Flasche fütterte. Haid folgte Mehring über eine steile Treppe. Im selben Augenblick öffnete McClure die Türe und kam auf sie zu. Er hatte kurzgeschnittene Haare, trug einen Pullover und spitze, schwarze Stiefel, über deren Schaft er die Hosenbeine gezogen hatte. Die Gesichtshaut an der Wange war von Aknenarben übersät. McClure schüttelte ihm die Hand und führte Mehring und Haid in einen Raum mit zwei Fenstern, durch die man auf das dichte Blattwerk von Bäumen sah. Eines der Fenster war zur Hälfte mit einem Ornament aus roten und undurchsichtigen, weißen Scheiben verziert. In einer Ecke befand sich ein Notenständer mit aufgeschlagenem Notenheft, auf dem Boden lag ein schwarzer Flötenkasten. McClure wartete schwarzen Kaffee in Porzellantöpfchen auf und seine Frau kam kurz mit seiner schönen, blonden Tochter herein. Als Haid den ersten Schluck Kaffee genommen hatte, öffnete McClure ein Notizbuch und zeigte ihm eine gepreßte Blume, die er am Nachmittag beim Wandern in den Bergen gepflückt hatte. »Sehen Sie diese Blume, sie ist so wunderbar«, sagte er. »Und ein Blatt, wie wunderbar ist ein Blatt.« Er legte das Notizbuch weg und lehnte sich zurück. »Vor Jahren habe ich mich mit Astronomie
beschäftigt. Ich sehe in der Natur etwas Metaphysisches. Ein Grashalm ist etwas Metaphysisches. Sehen Sie diese vollendete Form, diese wunderbare Farbe. Man muß einen Grashalm so lange ansehen, bis er kein Grashalm mehr ist. Bis man das Wort ›Grashalm‹ nicht mehr denkt. Van Gogh war nicht schizophren. Er hat die Dinge nur zu lange angestarrt. Die Farben, wie merkwürdig, daß es Farben gibt. Die Farben waren heilige Tinkturen für ihn.« Er stand auf, kramte im Bücherregal und las mit großer Ernsthaftigkeit ein phonetisches Gedicht vor. »Wörter sind auch solche Tinkturen«, sagte er. »Man müßte dies alles begreiflich machen können. Diese Wunder sind für den Menschen da, er muß sie sehen und empfinden lernen.« Durch eine geöffnete Tür sah Haid einen Hasen in der Küche von einem kleinen Stuhl mit geflochtenem Sitz hopsen. Der Hase hoppelte in das Zimmer, sprang Haid auf den Schoß und hoppelte weiter. »In der vergangenen Woche war ich in New York. Man muß seinen Körper wegdenken, um New York zu ertragen. Die Fußböden vibrieren, die Fahrstühle bleiben stecken, die Fensterscheiben zerspringen … Haben Sie vor, nach New York zu fahren?« Haid bejahte die Frage. McClure stellte ein zweites Töpfchen heißen Kaffees vor ihn hin. Er rauchte nicht, saß ruhig auf dem Sofa, das sich in der Mitte des Raumes befand. An einer Wand stand ein Korbsessel mit übergroßer Lehne, daneben ein Ofen mit Abzugsrohr. Im Raum roch es süßlich, und es
war warm. McClure öffnete unaufgefordert die Tür zur Außentreppe. »Ist es besser so?«, fragte er. McClure schien durch die Natur zu wandeln, wie ein Astralleib. Jedes Tier, jede Pflanze umfing ihn mit einer magnetischen Strahlung, die ihn berauschte. Zur selben Zeit konnte der Schuhputzer, der Haid die Schuhe geputzt hatte, die Auslagenscheiben zu einem Geschäft einschlagen, um seine Bedürfnisse zu stillen. Natürlich spürte Haid, daß McClure ihm näher war als der Schuhputzer, aber er glaubte, daß diesen eine ebenso nebulose Vorstellung dazu treiben konnte, ein Geschäft auszurauben oder jemanden niederzuschlagen, wie McClure eine Glockenblume oder ein zahmer Hase hinreißen konnten zu glauben, er sei sich selbst einen Schritt nähergekommen. Haid ließ sich selbst dazu hinreißen, alles in derselben Weise zu sehen und zu verarbeiten wie McClure und darum war ihm, als begegnete er sich selbst. Die magische Versenkung in die Natur schien ihm notwendig, genauso wie es für ihn notwendig war, sich mit dem Schuhputzer zu beschäftigen. Vielleicht ging es darum, eine Synthese aus McClure und einem Revolutionär zu schaffen, einem wachen Geist, der die Entwicklung der Gesellschaft mit derselben Sensibilität registrierte wie ein Kunstwerk oder die Natur.
21
Es ist bemerkenswert, wie leicht mir der Haß gegen die Technik, gegen die Zivilisation von den Lippen geht, dachte Haid, als er über die steile Treppe hinunterstieg. Er stürzte beinahe, konnte sich aber noch am Holzgeländer festhalten. Auf der Straße schwitzte er vom schwarzen Kaffee, denn er war es nicht gewöhnt, Kaffee zu trinken. Es war bereits dunkel. Während Mehring dahinfuhr, begann sich Haid immer elender zu fühlen. Am Rand eines Parks bat er aussteigen zu dürfen. Er lief aus dem Wagen und übergab sich unter einem Baum. Mehring kam ihm nach und reichte ihm eine Schachtel Papiertücher. »Ich vertrage keinen Kaffee«, sagte Haid. »Du solltest deinen Magen untersuchen lassen. Ist es schon besser? Ich wollte noch zu Cassler. Er ist hier Dozent.« »Ich hab noch nichts gegessen. Ich hatte keinen Hunger«, sagte Haid. »Mein Gott! Wir bekommen dort sicher etwas zu essen! Geht es wieder? Mach deinen Kragen auf. Wenn einem übel ist, sollen die Arterien am Hals frei sein.« »Ich würde gerne ins Hotel zurückfahren«, sagte Haid. Sie stiegen ein und fuhren an. Der Himmel war ohne Wolken und Haid sah die Sterne und dachte an McClure. Die Sterne machten ihn friedlich und klein, und seine Einsamkeit störte ihn nicht mehr. Die Erde, auf der er dahinfuhr, war 4000 Millionen Jahre alt.
4000 Millionen Jahre! Diese Zahl war für ihn plötzlich voller Beziehungen. Er lehnte sich zurück und war glücklich.
22
Cassler war groß, schlank und glatzköpfig und trug eine runde Brille. »Ihm war nicht gut«, sagte Mehring entschuldigend und deutete auf Haid. »Ich mache Ihnen Tee, warten Sie«, sagte Cassler. Er führte ihn in das Haus, in ein geräumiges Zimmer mit einem riesigen Fenster, von dem aus man auf die Stadt sehen konnte. »Setzen Sie sich ruhig auf den Boden«, sagte Cassler. »Ich war gerade dabei, das Kaminfeuer anzumachen. Anne wird Ihnen den Tee bringen. Sind Sie krank?« »Nein, nein«, antwortete Haid. »Ich habe zu starke Gefühle«, dachte er. »Wenn man zu starke Gefühle hat, wird man lächerlich. Aber vielleicht sollte ich meine Gefühle nicht so sehr beachten. Vielleicht schenke ich ihnen zu viel Aufmerksamkeit.« Casslers Frau kam auf ihn zu und drückte ihm eine Tasse heißen Tee in die Hand. Der erste Schluck tat ihm wohl. Er stand auf und setzte sich an den Tisch, auf dem in verschiedenen Schüsseln kleine Tomaten, hartgekochte Eier, grüner Salat, Oliven, Butter und
unter einem weißen Tuch aufgebackene Sandwiches lagen. Cassler erklärte, wie wichtig die Auswahl der Nahrung für den geistigen Zustand des Menschen sei. Alles, was auf dem Tisch stehe, sei biologische Nahrung. Er kaufe sie in einem Spezialgeschäft. Er fühle sich ungeheuer wohl, seit er kein Fleisch mehr esse. Vor kurzem habe er es versucht, aber es wieder ausgespuckt. Fleisch schmecke nach nichts und mache aggressiv. »Man kann aus Gemüse herrliche Gerichte zubereiten«, sagte er. Wenn man nur Gemüse esse, werde man mit Sicherheit sensibler. »Nicht nur mein Körper, auch mein Geist fühlt sich reiner. Ich bin kein Fanatiker. Mir ist es egal, was die anderen machen. Ich fühl mich jedenfalls großartig.« Er bot Haid eine Zigarette an. Haid rauchte vorsichtig. Eine Jüdin, die ihm gegenüber saß, fragte ihn, was er vom Nationalsozialismus halte. Ihre Eltern seien aus Deutschland geflohen, sagte sie. Seither sei zu Hause nie mehr deutsch gesprochen worden. »Können Sie deutsch?«, fragte Haid. »Ich habe es vergessen«, antwortete sie. Kurze Zeit später schlug Mehring vor, aufzubrechen. Als sie vor dem Hotel anhielten, sah Haid, daß es aus den Kanälen dampfte, und ihm fiel ein, daß er dies schon öfters gesehen hatte, ohne daß er seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet hatte.
23
Er erwachte um acht Uhr und hörte aus den Straßengeräuschen, daß es regnete. Die Autoreifen verspritzten Wasser auf dem Asphalt, und in den Momenten der Stille hörte er den Regen rauschen. Er schaltete den Fernseher ein, döste zwischendurch ein, sah einen Film, der immer wieder durch Werbespots unterbrochen wurde und drehte schließlich ab. Das Efeublatt in seinem Koffer fiel ihm ein, er stand auf, öffnete den Deckel und sah, daß es vertrocknet war. Daraufhin verlor er das Interesse an dem Blatt und warf es in den Papierkorb. Eine Stunde später spazierte er zum Hafen. Als er den Zimmerschlüssel in der Portiersloge abgegeben hatte, war ihm ein Zettel übergeben worden, auf dem eine Telefonnummer notiert war, darunter stand: »Rufen Sie mich an. Carson.« Haid hatte den Zettel eingesteckt. Er genoß es, den Zettel einzustecken und nichts zu unternehmen. Wie oft war Philipp Marlowe in eine Falle gelockt worden und nur dadurch entkommen, weil er nichts unternommen hatte. Es hatte zu regnen aufgehört. Haid fotografierte ein verziertes, hellgrünes Bürohochhaus, mit eisernen Baikonen und Feuerleitern und von Jalousien und riesigen, weißen Vorhängen verdeckten Fenstern. Auf einem der Fenster war ein gelbes Schild befestigt, auf dem CAMERA CLINIC-EXPERT Repair Service stand. Philipp Marlowe würde dieses Bild als letzte Aufnahme in einer Kamera finden, die
neben der Leiche eines Ermordeten lag und herumrätseln, welche Bedeutung der Fotografie zukam. Er würde das Haus betreten, eine Kamera vorlegen und ersuchen, sie zu reparieren. Ein Mechaniker würde herauskommen und sagen: »Ich finde keinen Fehler, Sir.« »Ich möchte den Chef sprechen«, würde Marlowe antworten. Der Chef würde ein geschniegelter Bursche, mit schwarzem, pomadisiertem Haar, mitternachtsblauem Anzug und Blume im Knopfloch sein. An einem Finger würde er einen Ring mit einem großen Rubin tragen. »Sie wünschen?« Natürlich würde die Clinic nur eine Deckfirma für eine kriminelle Organisation sein: Rauschgifthandel oder ein geheimes Bestattungsunternehmen, das Leichen verschwinden ließ. Haid ging weiter und fotografierte eine Auslage, in der Eisbecher mit Plastikcreme und Plastikschlagsahne ausgestellt waren, Tortenstücke aus Plastikteig, mit Plastikschokolade übergossen, HAMBURGER aus Plastik, Plastikfaschiertes zwischen Plastiksemmelhälften, Plastikerdbeeren in einem Papierbecher, Plastikkaffee in einem Plastikglas, Windbäckerei aus Plastik, Steaks aus Plastik, Kartoffeln aus Plastik, Spiegeleier aus Plastik, ganze Menüs aus Plastik. In einer anderen Etage der Auslage befanden sich Wachskerzen, die wie aus Marmor gemacht aussahen, von üppigen Phantasieblumen aus Wachs verziert, orange und gelb, blau und rot, bonbonrosa und pistazienfarben, gold und grün. Natürlich würde
auch diese Fotografie Philipp Marlowe rätseln lassen, welche Bedeutung sie wohl haben mochte. Er würde zunächst auf der anderen Seite vor dem Geschäft stehen und die Straße beobachten. Vor dem Geschäft stand in weißer Farbe Bus auf der Fahrbahn. Marlowe würde über die weißen Buchstaben gehen und hinter einem der kleinen Bäume, die auf dem Gehsteig in grünen Holzbehältern standen, warten, wer das Geschäft betrat und verließ. Er würde die Schilder aufmerksam lesen, die entlang der Straße zu sehen waren: SAN FRANCISCO TICKET CENTER auf einem gelb und rot bemalten Metallschild, Mylans Drugs in lateinischer Schrift, weiß auf grün, Fidelity Savings und darunter eine elektronische Uhr mit roten Ziffern, die 11:38 anzeigte. Marlowe würde eine Zeitung aus dem gelb gestrichenen Zeitungsständer nehmen, der an der Straßenecke stand, einem Holzkasten mit einem Glasfenster, würde in der Zeitung blättern und das Geschäft nicht aus dem Auge lassen. Plötzlich würde jemand das Geschäft verlassen, eine zwielichtige Figur, Buchmacher oder Barbesitzer, und würde die Straße hinaufgehen. Haid dachte an den Zettel in seiner Tasche. Wie würde Marlowe sich entscheiden? Anrufen oder dem Mann folgen? Er würde dem Mann zum Hafen folgen. Haid holte den Plan heraus und ging durch das chinesische Viertel zum Hafen. Er hielt sich im chinesischen Viertel nicht lange auf, wurde aber zu seiner Überraschung von einem freundlichen Alten mit Brille gegrüßt. Haid grüßte zurück, und der Konfuzius grüßte ein zweites Mal.
Als Haid ihn fotografieren wollte, klemmte der Transporthebel seiner Kamera. Der Konfuzius stand noch immer vor ihm und wollte sich fotografieren lassen. Haid gab vor, ihn zu fotografieren und steckte die Kamera in die Manteltasche. Als er sie hinter der nächsten Ecke wieder herausnahm, öffnete sich der Eisenhaken zum Tragband. Haid versuchte den Eisenhaken zusammenzudrücken, war jedoch nicht dazu imstande. Er biß auf das Eisenstückchen und rutschte mit dem Zahn ab. Dabei hatte er den Eindruck, daß der Zahn beschädigt wurde. Gleich darauf überquerte er die Straße und stolperte über die Gehsteigkante. Drei Neger gingen hinter ihm vorbei und lachten ihn aus. Haid drehte sich um, und die Neger blieben stehen. »Wir verprügeln den Kerl«, sagte der Kleinste. Er trug eine Sonnenbrille, obwohl keine Sonne zu sehen war. Der Neger im perlgrauen Anzug lächelte. Der Dritte hatte eine rostfarbene Jacke aus Kunstleder. Haid kehrte ihnen den Rücken zu und ging blindlings die Straße hinunter. Er konnte keinen Entschluß fassen, sich umzudrehen und zu vergewissern, ob die Neger ihm folgten oder nicht. Er ging wie ferngelenkt. Den Fotoapparat hielt er in der Hand. Dann hörte er einen der drei Neger rufen: »Ein schöner Fotoapparat!« Die anderen beiden lachten hysterisch. »Verprügeln wir den Kerl«, sagte der Kleinste wieder. Haid drehte sich nicht um. Er hörte die Neger kreischend lachen. Plötzlich überholte ihn der Neger mit der rostfarbenen Jacke, ging vor ihm her und
imitierte seinen Gang und seine Körperhaltung. Eine Hand hielt er vor dem Bauch, als trage er einen Fotoapparat. Dann blieb er stehen und stellte sich, ohne sich umzudrehen, Haid in den Weg. Haid mußte rasch zur Seite treten, um ihn nicht zu rempeln, sah im selben Augenblick, daß er vor einem Fotogeschäft stand und betrat es. Durch die Auslagenscheibe konnte er feststellen, daß die drei Neger stehengeblieben waren und ihn ebenfalls durch die Auslagenscheibe beobachteten. Als ihn ein Verkäufer nach seinem Wunsch fragte, erklärte er mühsam, was an seinem Fotoapparat nicht funktionierte. Er war bemüht, keinen Blick durch die Auslagenscheibe zu werfen. Ein magerer Mulatte mit einer blauen Schürze wurde herbeigeholt, der die Kamera in der Dunkelkammer öffnen und nachsehen sollte, was mit dem Transportmechanismus los war. Inzwischen stöberte Haid in den Regalen, ließ sich eine Polaroidkamera erklären und drehte sich damit zur Auslagenscheibe hin. Gerade als er durch den Sucher der Kamera blickte, kam der Neger mit dem perlgrauen Anzug zur Tür herein, während Haid die beiden anderen vor der Auslagenscheibe hereinlachen sah. Der Neger im perlgrauen Anzug stutzte, sah, daß Haid ihn mit der Polaroidkamera im Visier hatte, riß die Hand vors Gesicht und stürzte zur Tür hinaus. Haid drückte den Auslöser der ungeladenen Kamera. »Wurden Sie belästigt?«, fragte der Verkäufer. »Ja, sie sind mir gefolgt.« »Wollen Sie ein Taxi nehmen?«
»Nein, ich glaube, sie sind schon weg.« »Ich würde an Ihrer Stelle ein Taxi nehmen und ein paar Blocks fahren.« »Nein, ich glaube nicht, daß ich das tun werde.« »Warten Sie, ich schau auf die Straße hinaus!« Er öffnete die Tür, ging hinaus, blickte die Straße hinauf und hinunter und kam wieder zurück. »Sie sind weg«, sagte er. »Aber es ist nicht sicher, ob sie in der Nähe sind und warten. Ich würde an ihrer Stelle ein Taxi nehmen.« Haid wollte sich jedoch verhalten wie Philipp Marlowe: Vorsichtig, ohne der Gefahr aus dem Wege zu gehen. Der Fotoapparat störte ihn bei seinen Gedanken, aber er konnte sich vorstellen, daß Marlowe den Apparat benötigte, um irgend etwas als Beweisstück zu fotografieren. »Ich brauche kein Taxi«, sagte er. Der Mulatte kam mit der Kamera zurück und zeigte ihm, daß der Film gerissen war. Den belichteten Film überreichte er ihm in einer Blechdose, das abgerissene Stück legte er auf den Tisch. Haid ließ den Eisenhaken für den Tragriemen reparieren, kaufte einen neuen Film und ging hinaus. Der Verkäufer folgte ihm durch die Tür und blickte ihm nach. »Sie sind weg«, rief er. Nur wenige Menschen gingen auf der Straße. Haid entfernte sich immer weiter vom Geschäft, ging an einer knallgelb gestrichenen Imbißstube vorbei, spähte hinein, spähte in parkende Autos, in offene Automatensalons, ohne eine Gefahr zu entdecken. Vor einer Tankstelle für STANDARD OIL war an einem Mast ein großes
Steuerrad befestigt, in das eine runde Tafel eingeschlossen war. In ihrem Zentrum war eine Krabbe gemalt und darum stand FISHERMANS WHARF. Es begann langsam zu regnen, und Haid schaute sich nach einem Lokal um. Er ging die Hafenpromenade entlang, und die hölzernen Leitungsmasten, die die ganze Promenade entlang die elektrischen Drähte führten, sahen sinnlos und traurig aus. Vor einem kreisrunden Restaurant parkten ein Bus und eine große Anzahl von teuren Personenwagen. Er wollte nicht mehr bis zum Meer gehen, aus dem er nur in einiger Entfernung das Gewimmel der leeren Masten vertäuter Segelschiffe sah. Ein aus Holz geschnitzter Kapitän machte Reklame für einen Andenkenladen. Haid fand ein kleines Speiselokal, aß Roastbeef und trank eine Flasche Bier. Während er aß, begann es stärker zu regnen, und er kam auf den Gedanken, Carson anzurufen. Nach einigem Suchen fand er einen Wandapparat, vor dem auf einem Stück Holz ein Telefonbuch in einem Plastikeinband lag. Er wählte die Nummer, jedoch niemand meldete sich. Er hörte das eintönige Signal, und ihm fielen die drei Neger ein. Der Korridor war leer. Haid legte den Hörer auf und bezahlte. Eine Weile schlenderte er lustlos unter den Leinendächern der Andenkenläden, in der Hoffnung, ein vorbeifahrendes Taxi zum Anhalten zu bewegen, aber keines der Taxis blieb stehen. Schließlich ging er zum Broadway zurück, stellte sich einmal in einem Automatensalon unter und schaute zu, ohne zu spielen. Draußen fuhren die
Straßenbahnen vorbei, wendeten, warteten eine Weile und fuhren wieder an. Haid stieg ein und fuhr ein Stück, und plötzlich ließ der Regen nach, und er sprang aus dem fahrenden Wagen auf die Straße. An der nächsten Station warteten gelbe Kinder. Eines der Kinder spielte mit einem Basketball im Regen auf dem Gehsteig. Haid fand Spivey’s Swiss Chalet und setzte sich im Mantel auf einen Hocker. Ein anderer Barkeeper machte Dienst. Haid trank wieder Gin mit Orangensaft und schaute zwei Gästen zu, die um Drinks würfelten. Dann stand er eine Weile auf dem Broadway und sah zu, wie es dämmrig wurde. Die Leuchtschilder nahmen immer intensivere Farben an, eine kleine Chinesin ging vorbei, mit einem gelben Schirm in der Hand, und Haid sah ihr nach, wie sie unter den Reklamen für ELECTRIC KITCHENS, Italian Food und Lee Poy Watch Repair immer kleiner wurde. Die Autos hatten die Scheinwerfer eingeschaltet, und die Scheinwerfer und die Stopplichter hinterließen Spuren auf dem naßglänzenden Asphalt, die sich gleich darauf in Nichts auflösten. Ein orangeroter School-Bus hielt vor der Ampel an und die orangene Leuchtreklame 99 ¢ BOTTOMLESS blinkte immer auffälliger und das farbige Licht spiegelte sich immer auffälliger in der nassen Straße und auf den nassen Dächern der vorüberflutenden Autos. Die Häuser am Broadway waren so niedrig, und die Straße war nicht übermäßig breit, so daß das Gewühl etwas Intimes ausstrahlte. Ihm gegenüber befand sich ein völlig dunkelblaues Haus mit einem weißen Schild, auf dem in
Buchstaben, wie sie die New York Times in der Überschrift verwendet, stand: THE COMMITTEE, darüber waren vier weiße Beleuchtungskugeln montiert und darüber stand For Lease, Repetto Realty. Auf den Fensterscheiben klebten Zettel mit der Aufschrift: Opening April. Hinter dem blauen Haus sah Haid eine hölzerne Plakatwand, auf die eine Flasche Jim Beam gemalt war, dahinter konnte er die beiden Türme der Kirche sehen, die vor der Greenwich Street stand. Eine Hure mit Kopftuch und Regenmantel machte ein Zeichen zu ihm hinüber. Haid trat in die Bar zurück und telefonierte. Unter der Nummer, die auf dem Zettel stand, meldete sich niemand. Haid telefonierte mehrmals und einmal hatte er plötzlich die Empfindung, sich selbst zu sehen, vor dem länglichen Telefonkasten an der Wand, wie er mit seinem Finger die Wählscheibe über die Buchstaben und Ziffern drehte, als spiele er in einem Humphrey Bogart-Gangsterfilm. Später versuchte er mit einem Flipperautomaten zu spielen, aber der Automat funktionierte nicht. Beim nächsten Anruf meldete sich Carson. »Ist Mehring zu Hause?«, fragte Haid. »Nein, komm«, antwortete Carson.
24
Als Haid vor dem Haus in der Greenwich Street stand, sah er, daß die Tür zu Mehrings Wohnung nur
angelehnt war. Er gab der Tür einen Stoß und sie ging langsam auf. Nirgends brannte Licht. Haid betrat die Wohnung, blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Nichts rührte sich. Er dachte an den Zettel, der ihm vom Portier zugesteckt worden war, an Philipp Marlowe und an die drei Neger. Beim Gedanken an die drei Neger empfand er Angst. Ein wahnwitziger Einfall ging ihm durch den Kopf, der ihn jedoch gleich darauf lächeln ließ: Stand Carson in Verbindung mit den drei Negern? Er konnte sich gut vorstellen, daß der Kerl im perlgrauen Anzug irgendwo im Dunkeln saß und ihn bereits die ganze Zeit über beobachtete. Was konnte man mit ihm vorhaben? Warum war die Tür offen gewesen? – Er schloß leise die Tür und blickte in das Wohnzimmer, das vom Straßenlicht erleuchtet war. Er entdeckte nichts Verdächtiges, ging in die Küche und sah, daß die Tür zu Carsons Zimmer einen Spalt breit geöffnet war. Im Zimmer brannte kein Licht. Haid stieß die Tür auf. »Ich habe auf Sie gewartet«, sagte Carson im nächsten Augenblick. Haids Herz klopfte. Er steckte die Zigarette in den Mund und machte die Tür hinter sich zu. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Carson trug einen seidenen Morgenmantel mit aufgedruckten kleinen Pferdchen. »Ich habe die Türen offengelassen, um Sie zu überraschen«, sagte sie und lachte. »Habe ich Sie erschreckt?« »Nein«, log Haid. Er setzte sich im Mantel auf das Bett. Er würde mit ihr schlafen, aber gleichzeitig dachte er an Mehring,
an Cheek, an seine Frau, und er dachte, daß er am nächsten Tag abreisen würde. »Ziehen Sie doch den Mantel aus!« Haid zog folgsam den Mantel aus und setzte sich wieder auf das Bett. Carson setzte sich auf und nahm die Zigarette aus dem Mund. Sie küßte ihn, dabei öffnete sie sein Hemd und seine Hose und nahm sein Glied heraus. Was würde geschehen, wenn Mehring nach Hause kam? Es war ihm egal, ob Mehring sah, wie er mit Carson schlief. Niemand sprach ein Wort.
25
Carson küßte ihn auf die Lippen und Haid dachte: »Ich werde abreisen.« Was sollte er mit ihr sprechen? Er wünschte sich in sein Hotelzimmer zurück. »Was hast du?«, fragte Carson. »Nichts. Warum?« »Denkst du an Mehring? Ich schlafe nicht mit ihm! Glaubst du, daß ich mit ihm schlafe?« »Ich weiß nicht.« »Du glaubst es?« »Ich denke darüber nicht nach.« »Es ist mir egal«, fügte er hinzu. »Ich schlafe nicht mit ihm.« Haid besah sich ihre Brüste, die klein und fest waren. »Massierst du mir den Rücken?« Alles in Haid sträubte sich gegen Zärtlichkeit. »Willst du nicht?« Haid gab keine Antwort. Carson stand auf
und ging im Zimmer herum. Dann war es still, und sie begann leise zu singen. Plötzlich legte sie sich wieder aufs Bett und drückte sich an Haid. Sie küßte seine Brust und schlang die Arme um ihn, aber Haid widersetzte sich. »Was hast du?« Haid lachte kurz auf. Nach einer Weile fragte Carson, ob sie ihn nach Los Angeles begleiten dürfe. »Ich werde es mir überlegen«, antwortete Haid. »Wir könnten gemeinsam nach Los Angeles fliegen und für ein paar Tage zusammenbleiben.« »Ich muß gehen«, sagte Haid nach einer Pause. »Du willst gehen? Warum gehst du weg?« »Ich gehe ins Hotel zurück.« Er streichelte ihre Wange und haßte sich deswegen. Dann zog er sich an. »Gute Nacht«, sagte er. Haid ging durch die Küche, und als er den Korridor hinunterging, sah er, daß in Mehrings Schlafzimmer Licht brannte. Dann hörte er Mehring sich im Bett bewegen und rufen: »Du gehst schon?« »Ich möchte ins Hotel«, sagte Haid vor der halbangelehnten Tür. Es war merkwürdig mit Mehring durch die halbgeschlossene Tür zu sprechen, ihn nicht zu sehen, aber es war auch angenehm, daß er ihm nicht ins Gesicht blicken mußte. »Du willst ins Hotel zurück?« »Ja.« »Ich kann dich mit dem Wagen fahren. Fährt Carson mit? Frag sie, ob sie mitfährt. Ich muß mir nur die Schuhe anziehen.«
26
Carson hatte einen Stoffmantel angezogen und kam schweigend aus ihrem Zimmer. »Was hat sie?«, fragte Mehring. Niemand antwortete. Sie stiegen in das Auto, und Carson reichte ihm aus dem Fond eine kalte Hand über die Schulter. Haid tat, als merkte er nichts. Er entdeckte ein Buch, das auf dem Armaturenbrett lag, ein Werk über Soziologie, und Mehring begann sofort darüber zu sprechen. Sie hielten vor dem Hotel, Haid stieg aus und bemerkte erst im Hotelzimmer, daß er das Buch irrtümlich mitgenommen hatte.
27
In der Früh sprang Haid aus dem Bett und zog die Vorhänge zurück. Die Sonne schien. »Ich werde morgen abreisen«, dachte er. Er buchte telefonisch eine Flugkarte und ließ sich mit Kapra in Santa Monica verbinden. Eine Frauenstimme meldete sich. Sie richtete ihm aus, daß Kapra ihn erwarte. Er ging in das Badezimmer und wusch sich die Haare. Er dachte an seine Frau. Als er ihr gestanden hatte, daß er sie verfolgt und mit dem Rechtsanwalt gesehen hatte, hatte sie geantwortet, sie habe ihm bereits mitgeteilt, daß sie ihn betrüge. Eine Scheidung sei
wohl das beste. Er empfand Sehnsucht, mit ihr zu sprechen. Sollte er sie anrufen? Was würde der Rechtsanwalt dazu sagen, wenn er sie zu sprechen verlangte? Und seine Frau? Er hatte mit ihr seit der Scheidung nicht mehr gesprochen. Nein, es war am besten, er versuchte weiter zu vergessen. Er trat mit feuchten Haaren ans Fenster, öffnete es und ließ die Sonne auf seinen Kopf scheinen. Dann rief er Mehring an und sagte ihm, daß er am nächsten Tag abreisen werde. »Das trifft sich gut«, antwortete Mehring, »ich fahr morgen nach Sacramento. Schon ganz in der Früh. Ich machte mir Sorgen, was du hier allein tust.« Haid zog sich an, steckte das Buch ein, das er irrtümlich mitgenommen hatte und verlangte die Rechnung. Er ging in die Hotelhalle und nahm sich Geld und das Scheckbuch aus dem Safe. Die alte Frau in der Portiersloge ließ ihn die Quittung unterschreiben, und Haid stellte einen Scheck aus. Als er den Scheck wieder im Safe deponieren wollte, murmelte die alte Frau ein Schimpfwort und gab ihm den Schlüssel nicht zurück, worauf Haid den Scheck einstecken mußte. Als er ein paar Cents für die Hotelrechnung nicht sofort in seinen Taschen fand, seufzte sie und zeigte ihm ihre Ungehaltenheit. Haid wußte keine Antwort. Er kramte im Hosensack und legte die Münzen auf das Pult. Dann ging er ohne zu grüßen davon. Der Portier stand vor dem Eingang und winkte ein Taxi herbei. Als Haid ins Freie treten wollte, stand wie aus dem Nichts ein betrunkener Neger vor ihm, boxte ihn gegen die Schulter und
verlangte Geld. Er lallte unverständlich vor sich hin und sein Gesicht war dem Haids so nahe, daß Haid die feinen Adern im Weiß seiner Augäpfel sehen konnte. Haid drehte sich von ihm weg. Im nächsten Moment hatte der Portier den Neger am Ärmel gefaßt und ihn aus dem Hotel hinausgestoßen. Der Neger stand schwankend auf dem Gehsteig und machte ein nachdenkliches Gesicht. Haid sah, daß er mit sich selbst sprach. Er griff nach seinem Geld, um es für die Taxifahrt bereitzuhalten und bemerkte, daß sein Paß fehlte. Hatte er ihn im Zimmer vergessen? Er bat den Portier, das Taxi warten zu lassen und eilte in das Zimmer zurück. Da der Lift besetzt war, lief er die Treppen hoch. Er durchwühlte den Koffer und die Läden im Wäscheschrank, ohne seinen Paß zu finden. Er verspürte sich mit einer quälenden Intensität. Es fiel ihm ein, wie stark er sich, seit er sich in Amerika befand, immer selbst empfand. Als er den Epileptiker gesehen hatte, als er sich eingebildet hatte, Hesse in Chinatown zu begegnen, als ihm nach dem Kaffee bei McClure übel geworden war, als er sein Geldtäschchen verloren hatte, als er mit Carson geschlafen hatte, immer hatte er mit einer unerträglichen Intensität sich selbst gespürt. Nein, es waren nicht nur die Szenen gewesen, die ihm einfielen, es war die ganze Zeit über das Empfinden der eigenen Existenz, ein schmerzliches Selbsterfahren. Noch nie war ihm so bewußt geworden, wie das Leben ihm unter den Händen weglief; auch wenn er durch die Straßen hetzte, hetzte ihm das Leben davon. Für kurze Augenblicke
glaubte er, daß seine Reise nur eine Aneinanderreihung angstvoller Erfahrungen war, daß jede neue Erfahrung ihn erschreckt hatte. Er rief Mehring an und fragte ihn, ob er den Paß bei ihm verloren habe. Mehring legte den Hörer auf, und Haid rief ihn nochmals an. Nach einiger Zeit hob Mehring wieder ab. Nein, er hatte den Paß nicht gefunden. Vielleicht hatte er ihn in Spivey’s Swiss Chalet verloren. Mehring versprach, sich darum zu kümmern, und Haid lief die Treppen hinunter. Er war von Angst so gedemütigt, daß ihm der Schweiß ausbrach. Als die drei Neger ihn verfolgt hatten, war es Todesangst gewesen, die ihn befallen hatte. Er wußte das jetzt. Es war eine würgende Angst gewesen. Dann fiel ihm ein Satz ein: »Komik und Elend. Elend und Komik …« Er hatte ihn in einer Geschichte von Thomas Mann gelesen. Ja, er war gewiß eine komische Figur. Es war für ihn so etwas wie ein persönliches Geheimnis: ein komischer Mensch zu sein. Häufig übertrieb er die komischen Eigenschaften seines Wesens vor anderen, um sie besser verstecken zu können. Wie oft war er eine Parodie seiner selbst gewesen. Er wußte genau, wann er für andere Menschen komisch war. Noch ehe jemand etwas bemerkte, wurde er unsicher oder fühlte sich von irgend etwas betroffen. Und noch ehe jemand über ihn lachte, versuchte er ihm mit einer Selbstparodie zuvorzukommen. Er tat es selten überlegt, eher wie in Trance. Manchmal konnte er es nicht verhindern, daß er sich selbst parodierte. Er war mittlerweile wieder in das Foyer gelangt.
Der Portier hatte das Taxi weggeschickt. Er nahm ein Aluminiumpfeifchen aus der Uniform und stieß einen hellen Pfiff aus. Einige Minuten stand Haid neben dem Portier und fühlte, wie dieser ihm seine Freundlichkeit zeigen wollte, Haid jedoch war nicht fähig, mit dem Portier zu sprechen. Er mußte einen mürrischen Eindruck erwecken, einen mürrischen und abwesenden Eindruck, aber er wollte seine Unsicherheit verbergen. Das Taxi hielt. Am Steuer saß ein Farbiger mit weißem Bart und Kappe. Als sie losfuhren, bemerkte Haid, daß ein Stück des oberen Teils der Windschutzscheibe blaßgrün getönt war. In dem Film BULLITT hatte Haid eine Autoverfolgungsjagd in San Francisco gesehen, und er hatte plötzlich das Bedürfnis, die abfallenden und ansteigenden Straßen hinunter- und hinaufzurasen. »Beeilen Sie sich«, sagte er und drehte sich um, als blickte er durch die rückwärtige Scheibe auf einen Wagen. Der Fahrer reagierte nicht. »Beeilen Sie sich«, wiederholte Haid und nahm einen Fünf-Dollarschein in die Hand. Der Fahrer schielte, ohne sein Gesicht von der Straße wegzudrehen, auf den Fünf-Dollarschein, griff danach und beschleunigte. Der Wagen raste die Straße hinunter, sprang über ein Plateau und bog mit jaulenden Reifen nach rechts ab. Haid mußte sich an einem Türgriff festhalten, um nicht mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe zu stoßen. »Weiter, weiter«, rief er dem Fahrer zu. Das Gesicht des Fahrers blieb unbewegt. Er nickte leicht mit dem Kopf und schoß die jetzt steil ansteigende
Straße hinauf. Haid mußte sich zusammennehmen, um nicht hysterisch aufzulachen. Im selben Moment hielt das Taxi an einer Kreuzung vor der Greenwich Street und der Fahrer riet ihm auszusteigen, da er mit dem Auto einen Umweg machen müsse. Während Haid die Greenwich Street hinaufeilte, sah er, daß der Fahrer ihm einen neugierigen Blick nachwarf.
28
Mehring hatte Spivey’s Bar angerufen. Der Paß war tatsächlich gefunden worden. Haid fühlte sich wie ein Double seiner Person. Im Taxi war sein Double gesessen, und jetzt fühlte er sich wieder als sein eigenes Double. Er legte das Soziologiebuch auf den Tisch. Mehring servierte schwarzen Kaffee, den er in der Zwischenzeit aus der Küche geholt hatte. Er warf eine Spalte Zitrone in den Kaffee. Das kam Haid fremd vor. Alles kam ihm fremd vor. Das weiße Licht, das von den Häusern grell reflektiert wurde, war genauso fremd wie die Zitronenscheibe im Kaffee. Mehring schlug vor, mit dem Auto zum Pazifik zu fahren. Im selben Augenblick betrat Carson das Zimmer. Als sie sich hinsetzte und Mehring aufstand, um eine Tasse für Carson zu holen, warf Haid einen Blick auf den Rücken und den Hinterkopf von Mehring, und Mehring war ihm fremd. Die Stühle waren ihm fremd, selbst seine
Hand war ihm fremd. Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Mehring bot ihm an, den Paß zu holen. Aber Haid wollte nicht mit Carson allein sein und bat, gemeinsam zu fahren.
29
Sein Kopf war leer und stumpf und er fühlte einen unwirklichen Druck hinter den Augen. Carson saß auf dem Vordersitz neben Mehring und im Fond lagen Regenmäntel und eine Kamera. Vor Spivey’s Bar stand ein Gitarrenspieler. Er öffnete den Leinensack, streifte ihn ab, legte ihn behutsam zu Boden und warf einige Münzen auf ihn, die er aus seiner Hosentasche genommen hatte. Mehring trat mit dem Paß aus der Bar und setzte sich hinter das Steuer. In Haid kam jetzt das Gefühl der Fremdheit stärker auf. Auf einem orangenen Schild las er die blauen Ziffern 7 und 5. Haid wollte nicht sprechen, er wollte nicht zuhören. Er war damit zufrieden, dahinzufahren und aus dem Wagen zu schauen. Über einem Lebensmittelgeschäft sah er eine rote Uhr mit weißen Ziffern und Zeigern. Ein Cafehaus war völlig rot angestrichen und der Name des Lokals prangte in goldenen Buchstaben auf dem Straßenfenster. Mehring hielt vor einer Bank und stieg aus. Als er wieder zurückkam, bemühte er sich, ein Gespräch in Gang zu bringen, doch niemand antwortete ihm.
Haid fuhr mit vom Sehen kranken Augen durch die Straßen mit den bunten Reklameschildern. Sie fuhren an einem blauen Haus vorbei, das mit Schmetterlingen und Blumen bemalt war. An anderen Häusern waren die Mauern und die Fensterscheiben bemalt. Carson saß stumm neben Mehring. Haid sah nur ihr langes Haar, das manchmal im Fahrtwind flatterte. Sie durchquerten Filmore und Haid bemerkte die Neger, die vor den abbruchreifen Häusern lungerten, von denen die Farbe abblätterte und deren Holz morschte. Die verfaulten Holztreppen zeigten ihr verfaultes Rosa und Blau und Braun, als seien sie von giftigen Schwämmen befallen. Negerkinder saßen auf einem Brett mit Rädern und fuhren den abfallenden Gehsteig hinunter. Vor einem tintengrünen Haus hockte ein alter Neger und las Zeitung. Sobald Haid zurückblickte, sah er den Verfall und den Schmutz. Die Ornamente und Giebel und Treppengeländer aus Holz waren am Abbröckeln und Zusammenstürzen. Haid wollte fotografieren, Mehring bat ihn jedoch, es nicht zu tun. Im gleichen Atemzug begann er wie zur Entschuldigung von einem Sozialprogramm zusprechen. Er sagte, daß in New York alles viel schlimmer sei. New York sei gefährlich. Haid war gleichgültig gegenüber dem, was er hörte. Er fürchtete sich nicht vor New York. Es kam ihm vor, als sei ganz Filmore aus morschem Holz. Vor einer Reifenhandlung befanden sich Stapel von schmutzigen, schwarzen, ausrangierten Reifen, und zwischen den Stapeln stand ein Neger in Jeans mit
Glatze und einer Zigarette im Mundwinkel. Der Neger stand da wie ein Totenwächter, der das Absterben um sich mit Gelassenheit verfolgte. Mochte alles um ihn absterben, die Gummireifen um ihn bildeten einen Wall, durch den nichts zu ihm eindringen würde. Vielleicht bewahrte ihn auch sein Haß vor der Verzweiflung. Er würde als letzter durch eine tote, verfallene Stadt gehen, würde Wohnungen durchsuchen, in schmutziger Wäsche und ungenießbaren Nahrungsmitteln stöbern, die Zigarette im Mundwinkel, würde irgendwo eine Zeitlang auf dem Fußboden liegen, Whisky trinken und warten, bis am Morgen die Sonne aufging. Er würde mit einem Herzen voller Haß Filmore verlassen, bereit zum Mord und zum Laster, und niemand würde wissen, wer er war. Als letztes sah Haid, wie zwei dicke, junge Mädchen in offenen Mänteln und Strickwesten die Straße hinaufeilten, dann lag Filmore hinter ihm wie eine Filmkulisse.
30
In einem Park hielt Mehring an, und Haid ging über die Wiese, auf der Menschen saßen und sich unterhielten. Mehring fotografierte aus dem Auto, als wollte er wieder rasch weiterfahren. Haid ging zu Fuß weiter. Er fühlte sich angenehm verloren in der großen Wiese, auf der leere Bänke standen. Die Luft war rein und süß. Alles blühte, aber er hörte keine
Vögel. Er blieb stehen und wartete auf ein Vogelgeräusch, aber es blieb still, und da die Wiese so groß war, schienen die Menschen sich flüsternd zu unterhalten. Carson kam auf ihn zu. Haid fühlte nichts. Ein Bursche lag unter einem Baum und las ein Buch. Haid dachte an »Alice im Wunderland«: Plötzlich würde ein weißer Hase über die Wiese laufen und im Baum verschwinden. Schon als Kind hatte er immer darauf gewartet, mitten in der Wiese auf eine tote Katze zu stoßen oder daß die Vögel auf den Telegrafendrähten verschmorten. Einmal hatte er im Garten Stachelbeeren gegessen, als eine verstorbene Nachbarsfrau aus dem Haus getragen worden war. Im nächsten Moment hatte Haid sich vor den Stachelbeeren geekelt und vor seinen Händen, vor allen Früchten, die im Garten wuchsen und vor den Pflanzen im Nachbarsgarten. Auf dem breiten Asphaltweg, der auf die Mitte der Wiese führte, fuhr ein School-Bus vorbei. Aus den Fenstern blickten kleine, ruhige Kindergesichter. Haid ging wortlos zum Auto zurück und Carson folgte ihm. Er wollte nur den Tag hinter sich bringen. Obwohl er bewegungslos im Auto saß, war er voll von Unruhe. Vor einer Buddhafigur hielt Mehring wieder an. Haid blieb zunächst allein im Wagen sitzen. Er sah durch die blühenden Zweige einem Neger im braunen Overall zu, der Beton aufschüttete, um einen Weg zu machen. Später stieg er aus und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Park mit Bäumen, deren Äste vollständig beschnitten waren.
Unter den Bäumen standen lange Reihen leerer Bänke. Haid fühlte Lust, sich auf eine der Bänke zu setzten und auf nichts zu warten. Er ging als Philipp Marlowe zwischen den leeren Bankreihen hindurch, setzte sich hin und beobachtete die Wiese auf der anderen Fahrbahnseite. Der Platz war ideal, um mit einem Erpresser zu sprechen. Haid konnte sich vorstellen, wie an einem Sommersonntag Tausende von Menschen auf den Wiesen lagen und picknickten und wie einer davon ihn von weitem unerkannt mit dem Feldstecher beobachtete, um sicherzugehen, daß er allein war. Der School-Bus kam leer zurück und verschwand hinter der nächsten Kurve. Mehring fotografierte Carson unter einem Kirschbaum, und Haid konnte von weitem seine Kommandos hören. Carson folgte den Kommandos mit trotzigem Gesicht. Sie sah aus wie ein zwölfjähriges Mädchen.
31
Mehring kam verschwitzt zum Auto zurück, als habe er sich angestrengt. Er murmelte etwas von Vorlesungen, die er am Nachmittag halten müsse und beeilte sich wegzukommen. Carson saß mit hochgezogenen Augenbrauen auf dem Vordersitz. Haid fühlte, daß er nur ein Fremdkörper war. Auf einem Poloplatz liefen Pferde herum, und auf zwei Pferden saßen Männer mit Poloschlägern und übten. »Das ist für dich«, sagte Carson und drückte ihm ein
Notizbuch in die Hand. Auf dem Notizbuch war eine Meeresbucht abgebildet, darunter stand: VON DEN FREUNDEN DER ERDE. DIE FREUNDE DER ERDE SIND EINE ORGANISATION, DIE SICH FÜR DIE ERRETTUNG, WIEDERHERSTELLUNG UND VERNÜNFTIGE NUTZUNG DER ERDE EINSETZT. WIR LADEN SIE EIN BEIZUTRETEN. Es folgte die Adresse. Als Haid mit dem Lesen geendet hatte, parkte Mehring den Toyota an einer Kaimauer, und als Haid aus dem Fenster blickte, sah er den blaugrünen Pazifik und die kleinen weißen Schaumkronen auf dem Wasser. Er steckte das Notizbuch ein und stieg über die Steintreppen zum Strand hinunter. Ein kalter, leichter Wind wehte. Carson lief mit zerzausten Haaren einem schmutzigen, weißen Hund nach, der den Strand entlang trottete. Haid wußte nicht, was mit dem Notizbuch gemeint war. Er hatte darin herumgeblättert, aber es war leer gewesen. Carson lief jetzt neben dem Hund her und sprach zu ihm, wie zu einem Menschen, DIE FREUNDE DER ERDE. Er betrachtete Mehring, der ihm lustlos folgte. Mehring bemerkte, daß er ihn betrachtete und fragte ihn, was er wolle. »Nichts«, antwortete Haid. Ob er ihn fotografiere? Haid fotografierte ihn, wie er klein und glatzköpfig, die wenigen Haare vom Wind in die Höhe gezaust, vor dem Pazifik stand und lachte. EIN FREUND DER ERDE. Für einen Augenblick kam ihm Mehring beschränkt vor, als er im Wind vor dem
Pazifik stand und sich fotografieren ließ. Eine Welle überschwemmte den Platz, auf dem Mehring stand, und Mehring bekam, während er fotografiert wurde, nasse Füße. Was hatte Carson mit dem Notizbuch beabsichtigt? Mehring stapfte auf ihn zu und nahm ihm die Kamera ab. »Ich habe kalte Füße«, sagte Mehring. Er ging müde und schlaff zum Auto zurück, setzte sich hinein und sah zu, wie Carson mit dem Hund über den Strand lief und wie Haid im Wind stand und auf das Meer blickte.
32
Auf der Fahrt durch das Universitätsgelände und die Vorstadt summte Carson vor sich hin. Von einem Hügel aus konnte Haid einmal die ganze Stadt sehen, und da es still war, erschien ihm alles friedlich. Mehring fuhr bis in das Chinesenviertel. Die Straße ging steil bergab und Haid bat, aussteigen zu dürfen. »Du kommst am Abend?«, fragte Mehring. »Ja«, antwortete Haid und ging davon. Er befand sich in einem Stadtteil, den er kannte. Das Licht fiel wie weißer Puder vom Himmel. Er betrat ein Restaurant und bestellte chinesische Speisen, die er nur kostete. Als er zum Fenster hinausblickte und einen Friseurladen sah, bestätigte sich seine Wahrnehmung, daß vor den Friseurläden blau-weißrote Zylinder in Glasbehältern rotierten. An der Bar
saßen Chinesen und sangen eintönig. Dann zog es kalt herein, da die Tür repariert wurde. Haid fühlte sich überwältigt, denn die kalte Luft ließ alles noch fremder erscheinen. Er aß ein wenig, rauchte und trank. Niemand beachtete ihn. Als er bezahlte, fand er in seiner Tasche den Zettel mit Carsons Telefonnummer.
33
Am Abend rief er Mehring an, um ihm zu sagen, daß er abreise. Carson hob ab. »Ich reise ab«, sagte Haid. Nach einer Pause sagte Carson: »Ich möchte dich sprechen. Es ist sehr wichtig.« Haid schwieg und Carson sagte, wo sie auf ihn warten würde. Haid dachte nach. Philipp Marlowe würde aufhängen und abreisen. Das würde Philipp Marlowe machen. Aber vielleicht würde Philipp Marlowe einen Fehler machen und bleiben. »Wirst du kommen?«, fragte Carson. »Ja«, antwortete Haid.
34
Die City Lights-Buchhandlung ist ein kleiner Laden mit einem Leinendach über dem Gehsteig der Columbus Avenue. Als Haid die Buchhandlung betrat, sah er Carson hinter einem Stapel von Büchern sitzen und mit dem Verkäufer sprechen. Sie winkte Haid zu. Worauf wollte Carson hinaus? Das Notizbuch mit der Aufschrift: »FREUNDE DER ERDE« fiel ihm ein, und er suchte nach einem Zusammenhang. Carson bezahlte, nahm Haid unter den Arm und winkte einem Taxi zu. Das Taxi hielt vor Mehrings Haus. Carson ging voraus und führte ihn durch einen schmutzigen, braunen Gang hinter das Haus. Von dort stieg sie über eine Hintertreppe zu ihrem Zimmer. Die Fenster standen offen und es war kalt. Hastig schloß Carson das Fenster. Haid zog sich wortlos aus. Er legte sich nackt in das eiskalte Bett und fühlte, daß auch Carsons Körper kalt war. FREUNDE DER ERDE, dachte er. Dann schlief er mit abwesendem Kopf mit Carson.
35
In der Nacht träumte er von seiner Frau. Er sah sie in einer fremden Wohnung mit einem fremden Mann, den sie umarmte. Sie hatte ein glückliches, verklärtes Gesicht, als erlebte sie gerade etwas, was sie sich
immer gewünscht hatte. Später erwachte er. Es regnete und der Regen fiel rauschend und klopfend auf das Holzdach, während er über seinen Traum nachdachte. Nach einer Weile erwachte auch Carson, und er spürte, wie sie seinen Körper liebkoste. Der Traum hielt ihn so gefangen, daß er vorgab, tief zu schlafen. Carson drehte sich von ihm weg und lag ruhig atmend da. Haid schlief wieder ein. Er erwachte durch ein Rumoren in der Küche. Mehring mußte das Geschirr waschen, denn Haid hörte das Glucksen von Wasser, das feine Klingen von Glas, das Klappern von Pfannen und das kurze harte Geräusch, wenn ein Gegenstand auf Holz gestellt wird. Carson lag mit offenen Augen neben ihm und begann ihn lächelnd zu lieben. Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, daß Mehring im Nebenraum ruhelos die Küche saubermachte, während er sich mit Carson vergnügte. Aber er fühlte nicht nur Mitleid mit Mehring, sondern als Carson stöhnte, wünschte er insgeheim, Mehring möge es gehört haben. Draußen war es noch immer dunkel und der Regen hatte noch nicht nachgelassen. Als er um sechs Uhr erwachte, sah er in einer Ecke des Zimmers einen runden, grünen Koffer. In der Küche war es still. Im ersten Augenblick wollte Haid sich aus dem Staub machen. Aber er war nackt und Carson würde erwachen, und außerdem war er nicht sicher, ob nicht Mehring in der Küche saß und Zeitung las. Er wagte zunächst nicht einmal, auf die Toilette zu gehen. Dann aber stand er auf, schlich durch den Korridor zum Bad und knipste das Licht
an. Mit einer häßlichen Eindringlichkeit fielen ihm die Einzelheiten des Badezimmers auf: der wiesengrüne Teppich, auf dem seine nackten Füße standen, der Ölanstrich an der Wand, der abgegriffene Druckknopf, mit welchem er das Licht angeknipst hatte, die weiße Metallbadewanne, die ungeordneten Toilettenartikel auf dem Glasbrett. Er wollte sich die Hände waschen und bemerkte erst jetzt, daß nirgends ein Waschbecken war. Daher drehte er das Wasser über der Badewanne auf, und aus Angst, zuviel Lärm zu machen oder sich mit heißem Wasser zu verbrühen, wusch er sich unter einem kalten, dünnen Strahl die Hände und den Körper. Mehring mußte das Haus schon verlassen haben, denn niemand störte ihn. Er trocknete sich ab und ging zurück in das Zimmer. Er würde sich nicht aus dem Staub machen. Er war zu nichts verpflichtet und hatte das Recht, allein zu bleiben. Er schaltete das Licht in Carsons Zimmer an und sah jetzt Carson, halbnackt auf dem Bett, mit geöffneten Augen, die zur Decke starrten. Eine Sekunde lang wußte er nicht, was das bedeuten sollte. Dann lief er zu Carson und blickte in ihr Gesicht. Er griff nach ihrem Handgelenk, tastete nach dem Puls. Er lauschte an ihrer Brust, an ihrem Mund und sah wieder ihre Augen, die ins Nichts blickten. Der Mund war halb geöffnet und die Zähne schimmerten hinter den Lippen. Einige Minuten lang vermochte er sich nicht zu bewegen; hatte sie Selbstmord begangen? War sie krank gewesen? Sollte er einen Arzt holen? Er stürzte in Mehrings Zimmer. Das Bett war gemacht, der
Schreibtisch war aufgeräumt. Mehring war abgereist. Ein wahnwitziger Gedanke suggerierte ihm, Mehring habe ihn in eine Falle gelockt. Am Ende hatte Mehring sie umgebracht? Vielleicht stand er irgendwo im Haus und wartete darauf, auch ihn umzubringen? Er tappte ins Wohnzimmer, das leer war, öffnete Vorhänge und Schränke und spähte dann durch einen Vorhangspalt auf die Straße. Der Toyota war weg. Also mußte Mehring abgereist sein. Egal, was er mit Carsons Tod zu tun hatte, er war abgereist. Dann befielen ihn Zweifel. Mehring war nicht der Mensch, der einen anderen umbrachte. Mehring würde ihn nicht in eine Falle locken. Es mußte sich um einen Unglücksfall handeln. Aber wenn er zur Polizei ging: Würde man ihn nicht verhören? Würde er nicht ungeahnte Schwierigkeiten bekommen? Man würde die Presse benachrichtigen … Nein, zur Polizei zu gehen, kam für ihn nicht in Frage. Er ging in Carsons Zimmer zurück und sah wieder den Koffer. Carson lag unverändert auf dem Bett. Er trat zu ihr hin, blickte auf den Koffer und überlegte. Hatte sie sich vergiftet? Er konnte nirgends ein Glasröhrchen sehen und dann: Welches Motiv sollte sie gehabt haben? Würde sie sich seinetwegen umbringen? Philipp Marlowe fiel ihm ein und es war ein Trost für ihn, daß er an Philipp Marlowe denken konnte. Man würde Carson finden. Man würde den Koffer finden. Mehring würde sagen, daß er die Nacht mit ihr verbracht hatte … Hatte er es gewußt? Er bemühte sich, das Leintuch zu glätten und über dem Bettrand geradezuziehen. Dann öffnete
er den Koffer, an dessen Griff die Schlüssel an einem Zwirnsfaden hingen und stellte fest, daß er gepackt war. Sie hatte nicht viel eingepackt: einen zweiteiligen Badeanzug, Schuhe, Unterwäsche, eine Hose, einen Pullover, Toiletteartikel. Die Gegenstände lagen verstreut vor ihm auf dem Fußboden. Er sperrte die Kastentüre auf und begann die Kleidungsstücke einzusortieren. Jedes Kleidungsstück kam ihm lächerlich und unnütz vor, es war ihm, als wüßte er nicht, wozu ein Pullover da sein sollte, wozu Schuhe, wozu ein Badeanzug. Sie waren für ihn funktionslose Dinge aus Stoff und Leder. Dann hob er die Toiletteartikel auf und trug sie in das Badezimmer. Den runden Koffer legte er auf den Kasten. Er kam sich vor wie ein Mörder. Jedesmal, wenn er durch die Küche ging, war ihm unheimlich. Er wandte sich wieder Carson zu, Panik erfaßte ihn, und er lief in den Korridor, um nach einem Taxi zu telefonieren. Während er sprach, kam ihm seine Stimme fremd vor. Jetzt erst bemerkte er, daß er noch immer nackt war. Kopflos stürzte er in das Zimmer und begann sich hastig anzukleiden. Der Taxifahrer konnte womöglich schon vor dem Haus warten und, da niemand erschien, wieder wegfahren. Er wollte keine Sekunde länger in diesem Haus bleiben. Dann fiel ihm wieder ein, daß er keine Spuren hinterlassen durfte, und er wischte mit einer Serviette, die auf dem Küchentisch lag, den Telefonhörer, den Koffer und die Toilettegegenstände ab. Nachdem er aus dem Wohnzimmerfenster geblickt und festgestellt hatte,
daß das Taxi noch nicht vor dem Haus wartete, wischte er auch die Türschnallen und den Wasserhahn im Badezimmer ab. Die Serviette steckte er ein. Er bemerkte, daß er noch nicht fertig angezogen war, eilte ins Zimmer zurück und schlüpfte in das Hemd, das Sakko und die Schuhe. Als er den Mantel vom Haken nahm, hielt er kurz an und suchte mit den Augen das Zimmer ab, um sicherzugehen, daß er nichts verloren hatte oder vergessen hatte, irgendeinen Hinweis zu beseitigen. Gleichzeitig bemerkte er, daß es draußen regnete. Er nahm sein Taschentuch in die Hand und öffnete die Wohnungstür. Das Taxi wartete. Er fürchtete, die Uhr vergessen zu haben und hob das Handgelenk. Es war sieben Uhr.
36
»Haben Sie sich an der Hand verletzt?«, fragte der Taxifahrer. Jetzt erst bemerkte er, daß er das Taschentuch noch immer um die Hand gewickelt hatte. »Nein«, antwortete Haid. Der Chauffeur nickte. »Ich dachte mir, Sie hätten sich verletzt«, sagte er. Haid fiel auf, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte nicht nach einem Taxi telefonieren dürfen. Der Taxifahrer würde sich an ihn erinnern. Er würde sich daran erinnern, daß er ihn von der Greenwich Street
bis zum MANX-Hotel in der Powell Street gefahren hatte, und er würde ihn beschreiben. Was konnte er tun? Er mußte zunächst die Stadt verlassen. Das war das Wichtigste. Carson würde vermutlich erst in zwei Tagen gefunden werden, wenn Mehring vom Kongreß zurückkam. Bis dahin war er schon in Santa Monica. Oder vielleicht in Europa. Nein, nach Europa durfte er nicht zurückfliegen. Man würde ihn ausforschen, und er würde schon dadurch verdächtig sein, weil er überstürzt abgereist war. Am besten war es, so schnell wie möglich nach Santa Monica zu fliegen und abzuwarten. Er konnte es abstreiten, Carson als Tote verlassen zu haben. Er konnte behaupten, Carson habe noch gelebt, als er abgereist sei. Aber da war der Taxifahrer! Der Taxifahrer würde sich an die Uhrzeit erinnern und eine Obduktion würde die Todesstunde feststellen. Aber ließ sich das so genau auf eine Stunde feststellen, wenn der Leichnam zwei Tage nicht gefunden wurde? Andererseits: Wer sagte, daß man ein Verbrechen ins Kalkül zog? So, wie es für ihn aussah, war Carson gestorben. Wahrscheinlich war sie krank gewesen und plötzlich gestorben. Mehring würde zurückkommen und sie finden. Er sah ganz deutlich vor sich, wie Mehring das Zimmer betrat und Carson halbnackt und tot auf dem Bett lag. Er war mittlerweile in das Taxi gestiegen und starrte durch das Seitenfenster hinaus. Unter seiner Zunge spürte er eine entzündete Stelle, die er automatisch mit der Zungenspitze berührte. Er dachte »rohes Fleisch«. Dann wurde ihm übel und sein Magen
begann zu schmerzen. Das Taxi fuhr bergab, und Haid zweifelte an seinem Verstand. Erlebte er all das wirklich? Der Taxifahrer führte ihn ahnungslos durch die Stadt. Er tat ihm gegenüber seine Pflicht, als habe Haid ein Anrecht darauf. Er half ihm, ohne es zu wissen, zu entkommen. Er setzte gleichsam voraus, daß es selbstverständlich war, mit einem Fahrgast zu einem Ziel zu fahren und Haid profitierte von dieser Selbstverständlichkeit.
37
Als Haid in das Hotel trat, klopfte ihm der Portier auf die Schulter. Dieses Mißverständnis tat ihm wohl. Er legte sich in seinem Hotelzimmer auf das Bett und stand zwischendurch auf, um seinen Koffer zu packen. Er hatte Angst davor, daß das Telefon läuten könnte oder daß jemand an seine Zimmertür klopfen würde. Er mußte immer wieder aufhören, seinen Koffer zu packen, da er zu kraftlos war, um sich darauf zu konzentrieren. Um zehn Uhr verließ er das Hotel und fuhr mit einem Taxi zum Flughafen. Wieder spürte er die entzündete Stelle unter seiner Zunge. Es regnete stark und ein Teil von San Francisco war von riesigen, schwarzen Wolken verhangen, die durch die getönte Windschutzscheibe bedrohlich aussahen. Die Efeublätter am Straßenrand flatterten im Wind, als winkten sie ihm auf eine unheimliche Weise zu.
SANTA MONICA
1
Den Flug nach Los Angeles verschlief Haid. Er schlief aus Erschöpfung und Verkommenheit, wie er sich sagte. Als er erwachte und sich eine Zigarette anzünden wollte, fand er die Serviette in der Tasche. Alles kam ihm sinnlos vor. Natürlich würde man ihn ausforschen. Mehring würde seinen Besuch nicht verschweigen. Man würde ihn fragen, wann er Carson zum letzten Mal gesehen hatte, und er würde die Wahrheit sagen. Was ihn erstaunte, war, daß er sich erleichtert fühlte. Es kam ihm verrückt vor, daß er sich erleichtert fühlte. Er hatte die Empfindung, als lebe jemand anderer sein Leben und als könne er diesen anderen in keiner Weise beeinflussen. Er dachte wieder an die Serviette und, obwohl er keine Möglichkeit sah, sie im Flugzeug loszuwerden, überlegte er, wo er sie liegenlassen könnte.
2
Kapra holte ihn mit dem Auto vom Flughafen ab. Er war zwei Meter groß, schlank, hatte gewelltes, brünettes Haar und eine scharfe Nase. Wenn er
dastand und jemandem zuhörte, beugte er den Oberkörper leicht nach vorn und ließ eine kleine Pause verstreichen, bevor er antwortete, so daß die Unsicherheit des Sprechenden dazu führen konnte, daß er sich zu wiederholen begann. Kapra hatte in Wien Architektur studiert und war auf den Rat seiner Mutter, die in Innsbruck eine Galerie führte, nach Kalifornien gezogen, um sich eingehend mit amerikanischer Architektur zu beschäftigen. Aber zwischendurch hatte er das Interesse daran verloren und es vorgezogen, als Wirtschaftsberater zu arbeiten. Er hatte eine ruhige und freundliche Art, und doch hatte Haid den Eindruck, daß er dahinter etwas verbarg. Seine Höflichkeit schien aus der eigenen Zufriedenheit zu kommen und von den übrigen Menschen schien ihn, auch wenn er herzlich war, eine kühle Distanz zu trennen. Haid war sicher, daß diese Distanz Kapras innerer Kälte entsprang, einer von Natur gegebenen Gefühllosigkeit. Haid konnte sich nicht erinnern, ihn jemals enthusiastisch gesehen zu haben. Seine innere Kälte jedoch ließ ihn nicht grob zu seiner Umwelt werden, sondern sich in sich selbst zurückziehen. Haid dachte einmal, daß Kapra ein Mensch war, der lange und geduldig warten konnte. Aber er war gewiß auch ein Mensch, der seine Chancen wahrte. Kapra griff nach Haids Koffer und stellte ihm die junge Frau an seiner Seite vor. Sie hieß Kim, war wie Kapra außergewöhnlich groß und trug wie er cremefarbene Jeans. Sie hatte das blonde Haar, die weißen Zähne, die großen gütigen Hände und das
breite Lächeln einer gesunden skandinavischen Bäuerin. Auf der Fahrt nach Santa Monica, wo Kapra in der Ocean Avenue ein Haus gemietet hatte, in dem, wie er sagte, der Dichter Scott Fitzgerald gewohnt habe, erzählte ihm Kapra eine Geschichte über Scott Fitzgerald und Hemingway. Er erzählte, daß Fitzgerald Schwierigkeiten mit Frauen gehabt habe. Eines Tages sei Hemingway mit ihm auf die Toilette gegangen, um beim Urinieren Fitzgeralds Glied zu sehen. Dabei habe er festgestellt, daß Fitzgeralds Glied größer gewesen sei als sein eigenes. Obwohl Haid nicht wußte, ob Kapra einen Witz erzählt hatte oder eine wahre Begebenheit, lachte er, als wisse er Bescheid. Das Auto hielt und Kapra führte ihn über eine Holztreppe, die sich an einer Seite des Hauses befand. Die Holztreppe war lang und schmal und zwischen den Fugen wuchsen vereinzelt Blätter. Von der anderen Seite her hingen grüne Äste, die ein Apartmenthaus verdeckten, über die Holztreppe, Haid blieb stehen, stellte den Koffer ab und blickte zurück auf die Straße, von der die Holztreppe wie eine schwindelerregende, breite Leiter zu ihm herunterkam. An einem Fenster des Hauses waren Blumenkästen befestigt, und in dem Stockwerk, das sich auf gleicher Höhe mit der Straße befand, hatte eine Maklerfirma ihr Büro. Ein Mann mit Bürstenhaarschnitt sah zu, wie sie die Treppe hinunterstiegen. Als Haid wieder nach vorn blickte, schien ihm, als führte die Stiege in das dichte Laubwerk von Bäumen. Die Terrasse war schmal
und bestand aus rohen Brettern. Ein Straßenköter lungerte schläfrig im Schatten. In seiner Einbildung hörte Haid eine Biene summen. Er folgte Kapra durch die wenig möblierte Küche in ein Zimmer. Der Hund war ihm lautlos gefolgt, bellte kurz, streunte vorsichtig um ihn herum und roch an seinem Schuh. Haid kam der Anblick vor, als sähe er Bilder eines Filmes über einen Film. Währenddessen war Kapra wieder auf die Terrasse getreten und hatte aus einer bauchigen Flasche Wein eingeschenkt. Haid konnte ihn durch einen Türspalt sehen. Er folgte ihm, nachdem er den Koffer abgestellt hatte, nahm das angebotene Glas und schaute stumm auf die grünen Hügel und den Pazifik. Plötzlich dachte er an Carson und fragte – da er allein sein wollte – nach der Toilette.
3
Der leichte Gasgeruch in der Toilette machte ihn benommen. Er setzte sich auf den Boden und dachte eine Weile auf eine sprunghafte Weise an Carson und an Mehrings Badezimmer. Dabei schlief er beinahe ein. Als er die Toilette wieder verließ, bemerkte er, wie sehr ihn die Möbel und Farben des Hauses beeinflußten. Einige Türen waren rot gestrichen und mit weißen oder blauen Drehknöpfen ausgestattet, andere wiederum waren blau wie die Fensterrahmen. Auf dem Bett lag ein Buch mit der Aufschrift: A
SEPARATE REALITY. Haid ging auf die Terrasse zurück. Die Luft war angenehm kühl und Vögel zwitscherten. Kapra sagte, daß die Luft im Sommer giftig sei und gelber Staub auf dem Terrassenboden und den Stühlen und den Blättern läge. Überall läge gelber Staub, und wenn man sich längere Zeit im Freien aufhalte, entzündeten sich die Augen. Aber im Frühjahr sei die Luft klar und frisch, und man könne im Freien auf der Terrasse schlafen. Kapra hatte eine Polaroidkamera aus der Wohnung geholt und fotografierte ihn, während er sprach. Gleich darauf sah sich Haid auf einem braungefärbten Bild Wein trinken. Der Gedanke, daß die Luft im Sommer giftig war und gelber Staub alles bedeckte, schien ihm unwirklich und fern, als würde sich alles nie ereignen. Er verstand, daß man das Elend nicht sah, wenn man sich nicht zwang, es zu sehen, denn es schien ihm der stärkste Drang zu sein, sich glücklich zu fühlen. Aber es war nicht möglich, glücklich zu sein, ohne abgekapselt zu sein, und das SichAbkapseln war etwas Automatisches, wie das Schließen der Augenlider. Es war auch unerträglich, immer alles zu sehen, man benötigte Augenblicke, in denen man ruhig und friedlich war. Eine gefleckte Katze lief über die Terrasse. Die Polaroidfotografie trocknete auf dem Holztisch. Als er Kapra eine Fotografie seiner Frau zeigen wollte, bemerkte er, daß er die Fotografie verloren hatte. Er vermochte für kurze Zeit nicht zu sprechen, sondern suchte krampfhaft nach Gedanken, die sich nicht einstellen
wollten. Wo hatte er die Fotografie verloren? In Mehrings Wohnung? In Carsons Zimmer? Wenn er das Bild tatsächlich in Carsons Zimmer verloren hatte, befand er sich in einer gefährlichen Situation. Würde die Polizei wissen, daß er sich hier, in Santa Monica, aufhielt? Sie konnten natürlich über die Fluggesellschaft herauskriegen, wohin er geflogen war. Er hatte seinen richtigen Namen angegeben. Aber andererseits wußte niemand seinen Namen. Solange man nicht wußte, wer er war, würde man nichts unternehmen können. Man konnte jedoch Mehring benachrichtigen, und wenn Mehring etwas mit der Sache zu tun hatte, würde er ihn belasten. Andernfalls würde er versuchen, mit ihm Verbindung aufzunehmen, um ihn zu warnen. Ein zweiter Straßenköter lief über die Terrasse und fraß Hundefutter aus einem Napf. Kim kam aus der Küche, streichelte den Hund flüchtig, klopfte Haid freundschaftlich auf die Schulter und verschwand wieder. Haid stand auf und folgte ihr. Er setzte sich, und Kim entdeckte einen Riß an seiner Hose. Tatsächlich war eine Naht zwischen den Beinen aufgeplatzt. Kim machte sich erbötig, die Hose zu nähen, und Haid streifte sie ab und sah zu, wie Kim sich auf die Terrasse setzte und stumm die Hose zu nähen begann. Er spazierte in der Unterhose herum und spähte durch das Fenster ins Grüne. Einer der Hunde sprang an ihm hoch, um ihm das Gesicht zu lecken. Gerade als Kim fertiggenäht hatte, begann es zu regnen. Haid schaute auf das Meer hinaus, das nun grau war und dessen weiße Gischt zähflüssig
über den Strand lief. Der Regen klatschte auf die Terrassenbretter. Haid streichelte die Hunde und blickte immer wieder aus dem Fenster, um die Bäume und Sträucher zu sehen, die im Regen glänzten. Er sah an einer der Türen die Abbildung einer russischen Ikone hängen. Der Hund sprang mit einem Satz auf das Bett, ließ sich von ihm streicheln und schlief ein. Plötzlich sprang er hoch und begann zu bellen, denn ein großer, schwarzer Hund lief über die Terrasse; er blieb vor dem Futternapf stehen. Der zweite Straßenköter kam aus der Küche gestürzt und besprang den schwarzen Hund, der jetzt so sehr erregt war, daß sein Glied wie ein rohes, rotes Fleischstück wegstand. Er ging mit krummen Hinterläufen herum und verschwand dann wieder über die Holztreppe. Haids Magenschmerzen hatten nachgelassen. Im Nachhinein bemerkte er, daß die Magenschmerzen ihm nicht nur unangenehm gewesen waren. Plötzlich fiel ihm die Serviette ein. Er schlenderte auf die Terrasse und stieg die Holztreppe hinunter, so als interessiere er sich dafür, wohin sie führte. Unterhalb der Terrasse stand ein viereckiger Vogelkäfig. Er war mit einem feinen Netz aus Draht bespannt. Unter dem Käfig war ein Schild mit einem lateinischen Namen angebracht. Der Käfig war leer. Haid nahm die Serviette aus der Tasche. Er fand eine Konservendose, stopfte die Serviette in die Konservendose und warf sie weit in das Gestrüpp hinein. Als er wieder in die Küche trat, hörte er Kapra im Nebenzimmer telefonieren. Gleich darauf
kam Kapra aus dem Zimmer. Haid fragte ihn über das Buch A SEPARATE REALITY aus und Kapra erzählte, daß das Buch von Erfahrungen mit Drogen handle. Um nicht auf das Gespräch eingehen zu müssen, fragte er Kapra, was auf dem Bild an der roten Türe dargestellt sei. Kapra sagte, dies sei die Abbildung der Apsis einer griechischen Kapelle und keine Ikone. Während er zuhörte, bemerkte Haid den abgenutzten, blauen, orientalischen Teppich unter seinem Stuhl. Der Teppich war mit reichen Ornamenten verziert und an verschiedenen Stellen so abgetreten, daß man die braunen Webfäden erkennen konnte. Der unförmig große Kühlschrank in der Ecke war mit Lippenstift beschrieben. Die Buchstaben waren groß und in Eile hingeschrieben worden: »ICH BIN VON KOPF BIS FUSS AUF LIEBE EINGESTELLT.« Als Haid das las, fiel ihm das Notizbuch ein, und er dachte, während er Kapra und Kim zuschaute, wie sie dampfende Spaghetti in Teller abfüllten, an die Überschrift: FREUNDE DER ERDE. Er begann von San Francisco zu sprechen und erzählte, was ihm gerade einfiel. Dabei bemerkte er, daß Kapra ihn mit starren Augen fixierte. Es schien Haid, als vertiefte sich Kapras Blick in seinem, als wolle er ihn bannen, als sei er mißtrauisch Haid gegenüber und als wolle er ihn nicht aus den Augen lassen, um jede Geste und jedes Wort auf seine Wahrheit zu überprüfen. Haid fühlte sich beengt und blickte zu Boden oder auf die Terrasse hinaus, so als suche er nach Worten. Er hätte schneller sprechen können, doch er wollte
nicht. Kapra hatte die nasse Holzbank von der Terrasse in die Küche getragen, ein Handtuch zusammengefaltet, auf die Bank gelegt und sich selbst auf dem Handtuch niedergelassen. Er fragte Haid, welche Lösung er gegen die Armut in Amerika sähe: Gewalt? – Haid war versucht, die Frage automatisch zu bejahen, aber es kam ihm unehrlich vor, mit ja zu antworten. Konnte man Gewalt befürworten und sie dann anderen überlassen? Konnte man sein risikoloses Leben einfach weiterführen und die Anwendung von Gewalt unterstützen? Es drehte sich ihm darum, daß er nicht in der Lage war, sein Leben so zu ändern, daß er ein Recht hatte, über Gewalt zu urteilen. Trotzdem antwortete er, daß Gewalt in bestimmten Fällen der einzige Ausweg sei. Kapra starrte ihm in die Augen, als wartete er darauf, daß Haid weitersprach, und Haid wiederholte nach einer Pause, was er gesprochen hatte. Dann fragte Kapra, ob er unter bestimmten Umständen einen Menschen umbringen könne. Haid sah Carson nackt und tot auf dem Bett liegen, aber er empfand in diesem Moment nichts. Er sagte ja, daß er das könne. Daraufhin hörten sie zu sprechen auf, und Haid bemerkte, daß es dunkler geworden war. Eine Fensterscheibe wies einen feinen Sprung auf, und als sein Blick auf die Teekanne fiel, sah er, daß sie den Zauber, den ihr das Sonnenlicht gegeben hatte, verloren hatte. Anstelle der Teekanne bemerkte er das Etikett eines Honigglases. Es leuchtete wie Zigarettenglut. Er spürte die entzündete Stelle unter der Zunge, spielte mit einer Silbergabel,
die unbenutzt auf dem Tisch lag und berührte mit der Zungenspitze die entzündete Stelle im Mund. Ihm fiel ein, daß er in einem offenen Schrank in Kapras Haus ein seidenes Abendkleid gesehen hatte. Er legte sich auf das Bett, betrachtete den schlafenden Hund und schlief ein.
4
Am späten Abend fuhren sie durch das nächtliche Los Angeles, zwischen Arealen mit flachen Häusern, die von kleinen Rasenflächen umgeben waren, und Tankstellen und Bruchbuden, um die sich niemand mehr zu kümmern schien. Der Himmel war schwarz und weit und von orangefarbenen Wolken bedeckt. Auf einer riesigen Reklametafel trank Mark Spitz lächelnd ein Glas Milch. Haid dachte an Philipp Marlowe, während die Schilder und Tafeln an ihm vorbeiflogen. Er dachte, daß Marlowe in Gedanken versunken in sein Büro fuhr, und er dachte daran, daß er in diesem Augenblick das Stoppschild am Straßenrand sah und daß es für ihn eine bestimmte Bedeutung haben würde. Und während die blinkenden, sich drehenden und mit Scheinwerferlicht bestrahlten Reklametafeln ihn wie eine Beute anzulocken schienen, dachte er an Carson, an Mehring und San Francisco. Er dachte an das Schlafzimmer und an Carsons starre Augen. Irgendwo hatte Haid bei Chandler den Satz vom
»Geruch der Angst« gelesen. Wenn er daran zurückdachte, wie er vom Badezimmer in das Schlafzimmer gegangen war und Carson tot auf dem Bett liegen gesehen hatte, erinnerte er sich, daß er die Angst gerochen hatte: Die Vorhänge hatten nach Angst gerochen, die Türklinken, die Fensterscheiben, der Koffer, der Kasten. Angst stank. Er fühlte sich jedoch in dem Auto, das ruhig auf dem spärlich befahrenen Highway dahinfuhr, sicher. Es war ihm, als könne ihn nichts erreichen. Kein Brief, keine Nachricht, kein Telefongespräch, kein Ermittlungsbeamter. Einen Block weiter fuhr ein Polizeiauto mit heulender Sirene vorbei, aber Haid fühlte sich nicht betroffen. Als Kapra das Autoradio aufdrehte und im Radio ein Bremsgeräusch und ein Auffahrgeräusch zu hören waren, blickte Haid erschrocken durch die Windschutzscheibe. Auch täuschte er sich, als im Radio das Geräusch eines zu Boden fallenden Schlüssels zu hören war, das er für das zu Boden fallen seiner eigenen Schlüssel gehalten hatte. Kapra lachte, als Haid ihm sagte, daß er die Radiogeräusche für Wirklichkeit gehalten habe. In einem Restaurant setzte er sich an das Fenster. Haid hatte jetzt wenig Lust zu sprechen. Er war müde und fühlte, wie es unter jenen Stellen der Haut, wo seine Hand auf dem Tisch lag, kalt wurde. Die Kälte strömte hinauf bis unter die Achsel. Haid trank einen Schluck Bier, als er plötzlich alle Zellen seines Körpers fühlte, wie winzige Eiswürfel, in die sein Körper zu zerbröckeln drohte. Er entschuldigte
sich und bat Kapra, ihn nach Hause zu bringen. Kapra sagte, daß er sich nicht zu entschuldigen brauche. Als sie in das Haus zurückgekehrt waren, aßen sie in der Küche die kalten, übriggebliebenen Spaghetti. Der Hund schlief unter dem Küchentisch.
5
Um sechs Uhr weckte ihn der Hund, indem er ihm zärtlich in die Hand biß. Haid kroch aus dem Bett und öffnete die Tür zur Terrasse und der Hund lief hinaus. Draußen raschelte das Laub. Die Ränder des Himmels sahen aus wie vergilbtes Zeitungspapier. Haid blickte zum Apartmenthaus hinüber, und es schien ihm ausgestorben zu sein. In der Ferne zwitscherte ein Vogel. Da es kalt war, schloß er die Tür und legte sich mit einem Buch, das er auf einem Stapel Zeitungen fand, wieder in das Bett. In dem Buch waren Fotografien von Adolf Hitler abgebildet. Auf einem der Bilder saß Hitler in einem Auto neben Hindenburg, mit langem Haar und einer Blume im Knopfloch, auf einem anderen stand er in einem Auto, das über eine von Blumen übersäte Straße fuhr, auf dem nächsten Bild posierte er in Frack und Zylinder, die Hände vor dem Bauch, mit ernstem Gesicht. Ein Bild zeigte Hitler mit Hut auf einem Schlitten sitzend, eines zeigte ihn, einen Schäferhund beobachtend, der über ein Hindernis sprang, eines mit einem Vogel auf der Schulter,
eines in einem Museum vor der Plastik einer nackten Frau. Haid kamen die Bilder vor wie reale Vorspiegelungen von etwas Unwirklichem. Die Fotografien hatten etwas Unglaubwürdiges an sich, sie drückten nicht Realität aus, sondern hatten das Fluidum einer erfundenen Szenerie. Erst das Wissen um die Zusammenhänge ließ ihn die Bilder auf eine ganz bestimmte Weise betrachten. Es fiel ihm auf, daß die Aufnahmen so gemacht waren, daß sie eine romantische Aura erzeugten. Sie waren in der Absicht angefertigt worden, daß die Menschen sich mit dem Abgebildeten identifizierten. Haid hatte im Winter die ERINNERUNGEN ALBERT SPEERS gelesen und nächtelang von den beschriebenen Räumen geträumt, von riesigen Sälen, die prunkvoll ausgestattet waren und in denen er sich als winziges Wesen bewegte, das nur das Bedürfnis empfunden hatte, den Dimensionen gewachsen zu sein. Er schlief über dem Buch ein und erwachte erst, als Kapra ihn zum Frühstück rief.
6
Den folgenden Tag über war Haid abwesend. Einmal fiel ihm ein, daß Mehring Carson nicht getötet haben konnte. Die Zeit vom Augenblick, als er das Badezimmer betreten hatte, bis er in das Schlafzimmer zurückgekehrt war, war zu kurz gewesen, um Carson zu erwürgen. Außerdem hatte er an Carsons Hals keine
Spur einer Gewaltanwendung feststellen können. Also mußte Carson krank gewesen sein. Er überlegte, Mehring anzurufen, während Kapra mit ihm nach Los Angeles fuhr. Er versuchte sich auf die grünen Wiesen zu konzentrieren, die an der Promenade entlang dem Meer angelegt waren, auf die Palmen und die weißen, runden Beleuchtungskörper an den hohen Betonsäulen, aber er nahm immer nur Stücke wahr, vergaß, was er gesehen hatte und sah wieder eine Einzelheit. In den Wiesen liefen Sportler in Turnkleidung. Es sah aus, als trainierten sie für ein schweres Rennen. Kapra sprach mit ihm, und er riß sich für einige Sekunden los und antwortete auf die letzten Wörter, die er gehört hatte. Dann ersuchte Kapra ihn, einen Brief in einen Postkasten einzuwerfen. Der Postkasten war blau und groß und Haid konnte keinen Einwurfschlitz entdecken. Schließlich entdeckte er einen schubladenähnlichen Mechanismus und zog an. Die Lade gab ein häßlich quietschendes Geräusch von sich. Gleichzeitig wurde die Rückseite der Lade aufgeklappt, die rot war wie eine Zunge. Es kam Haid vor, als werfe er den Brief in einen Mund. Gegenüber dem Briefkasten war die Auslage eines Geschäftes mit farbigen Buchstaben und Ziffern beschrieben. In der Mitte der Auslage war eine menschengroße 4 in schwarzer Farbe gemalt. Haid bezog die Ziffer für einen Bruchteil einer Sekunde auf sich, dann ging er die Palmenallee hinunter zur Wells Fargo Bank, vor der Kapra wartete.
7
Als sie sich Los Angeles näherten, bemerkte er, daß die Straßenhänge mit Efeu bewachsen waren. Gerade als Haid sich an die Efeublätter gewöhnt hatte, ging das Grün der Blätter blitzartig in das schillernde Violett blühender Blumen über, und als Kapra erklärte, daß in einigen Wochen alles violett blühen werde, wurde Haid schwindlig. Sie überholten ein Auto mit verbogenem und verrostetem Kühlergrill und demolierten Stoßstangen. Der Fahrer im zerfallenden Auto rauchte gelangweilt eine Zigarre und warf Haid einen bösen Blick zu, als er merkte, daß er ihn beobachtete. Haid zündete sich automatisch eine Zigarette an und verbrannte sich den Mittelfinger. Die Sonne schien und der Himmel war weit, wie durch ein Weitwinkelobjektiv aufgenommen. Erst jetzt bemerkte Haid, daß sein Mund nicht mehr schmerzte. In Los Angeles hielten sie vor dem Gerichtsgebäude, und Kapra machte ihn mit seinem Freund, einem Gerichtssaalreporter, bekannt. Der Reporter hieß O’Maley, war mittelgroß, korpulent, schwarzhaarig, etwa 35 Jahre alt. Sein Gesicht war rosig und er trug einen grauen Hut mit breitem, schwarzem Band und eine Sonnenbrille, in der Haid für einen Augenblick sein Gesicht sah. Zu seinem schwarzen Hemd hatte er nachlässig eine gelbe Krawatte um den Hals gebunden. Während er in das Auto stieg, öffnete er die Krawatte und stopfte sie in die Tasche. Er saß so nahe neben Haid, daß
Haid den starken Bartwuchs in seinem Gesicht und die einzelnen Barthaare seines Schnurrbartes erkannte. Beim Sprechen konnte Haid sehen, daß seine Zähne leicht auseinanderstanden. Kapra erzählte, als er anfuhr, daß O’Maley einige Jahre bei der Polizei gearbeitet habe. Auf eine Frage Haids antwortete O’Maley, daß er selten Gewalt angewendet habe. Schon bei den ersten Sätzen, die O’Maley sprach, stellte Haid fest, daß O’Maley kurz angebunden war. Er konnte gewiß voll Unternehmungslust sein, war jedoch auch fähig, seine Fröhlichkeit plötzlich in Spott zu verwandeln. Wenn ein Verbrecher vernünftig gewesen sei, sagte O’Maley mit einem kurzen Gelächter, sei ihm kein Haar gekrümmt worden. Haid antwortete in einem freundlichen Ton, den anzuschlagen er gar nicht beabsichtigt hatte, daß er das anständig fände. O’Maley sagte darauf mit unerwartetem Ernst, der auch Höflichkeit sein konnte, daß er sich immer sehr um Korrektheit bemüht habe. Natürlich sei Korrektheit nicht immer möglich. Manchmal habe man es mit den verkommensten Subjekten zu tun. Es gäbe Situationen, in denen man sich nicht mehr an Vorschriften halten könne. Haid fühlte sich auf eine unangenehme Weise angesprochen und fragte ihn, um von sich abzulenken, ob er schon jemanden zu Unrecht verhaftet habe. O’Maley dachte nach und sagte dann nein, das sei ihm noch nie passiert. Die Verhafteten seien selten unbescholtene Staatsbürger. Zumeist
seien sie schon wegen anderer oder gleicher Delikte vorbestraft. Es sei ihm häufig passiert, daß er denselben Verbrecher in den Jahren, in welchen er bei der Polizei gearbeitet habe, mehrmals verhaftet habe. Er habe diese Verbrecher mit dem Vornamen angesprochen und auch sie hätten ihn erkannt und ihm keine Schwierigkeiten gemacht. Dann fragte Haid, ob man einen Verdächtigen automatisch verhafte. Er bemühte sich in gleichgültigem Ton zu sprechen, obwohl er eine immer stärkere Angst fühlte. »Nein«, sagte O’Maley, »wir beobachten, falls das möglich ist, sehr lange, bevor wir verhaften. Wir beobachten auf die unauffälligste und genaueste Weise.« Häufig sei die unauffällige Beobachtung eine sehr kostspielige Angelegenheit, weswegen man natürlich bemüht sei, so rasch wie möglich Beweise zu sammeln, die eine Verhaftung rechtfertigten. Es gäbe allerdings viele Fälle, in welchen sich eine Beobachtung erübrige. Haid wollte nun wissen, auf welche Weise beobachtet würde. »Da gibt es keine generelle Technik«, antwortete O’Maley, »jedenfalls würden Sie, wenn Sie beobachtet würden, keinen Verdacht schöpfen. Ich könnte zum Beispiel eingesetzt sein, um Sie zu beobachten.« Oder man würde das Telefon überwachen. Oder er würde abwechselnd von verschiedenen Leuten beobachtet werden, so daß ihm nichts Besonderes auffallen würde. Haid wollte jetzt etwas über Verhörmethoden wissen; er war so erregt, daß er nur mühsam sprach, aber O’Maley wollte darüber nicht reden. Er sagte, er
habe genug davon. Kapra sagte, daß er das verstehe, und lachte. Daraufhin schwieg Haid. Sie fuhren zu O’Maleys Wohnung, und O’Maley lud sie auf einen Drink ein. »Wie lange wollen Sie noch hierbleiben?«, fragte er Haid, als sie die Treppe hochstiegen. »Ein paar Tage. Vielleicht fahre ich schon morgen oder übermorgen.« Kapra war erstaunt darüber, denn er hatte mit einem längeren Aufenthalt Haids gerechnet. Haid hatte jedoch überlegt, daß Mehring in ein oder zwei Tagen zurückkommen und Carson finden würde, falls sie nicht ohnehin schon gefunden worden war, und dann würde es leichter für die Polizei sein, ihn in Santa Monica auszuforschen als in Las Vegas. Er erklärte auch, daß er die Absicht habe, in Las Vegas zu spielen, und daß er nach New York fliegen wolle und alles in allem nicht viel Zeit zur Verfügung hätte. O’Maley nickte und sagte, daß er selbst gerne spiele. Er spiele zumeist Black Jack oder Poker, aber in letzter Zeit habe er sehr wenig gespielt. Er sperrte die Türe zu seiner Wohnung auf und riet dabei Haid, vorsichtig zu spielen, die meisten würden in Las Vegas verlieren. Haid gab zur Antwort, daß er Roulett spiele und einen fixen Betrag dafür eingeplant habe. O’Maley fand das sehr vernünftig. Er bot ihnen Platz im Wohnzimmer an und holte eine Flasche Whisky aus der Küche. Währenddessen wurde es Haid klar, daß er einen weiteren Fehler gemacht hatte. Warum hatte er angegeben, daß er nach Las Vegas fahren würde. Er
hätte Las Vegas verschweigen und nur New York angeben sollen. Jetzt aber würde er sich doppelt verdächtig machen, wenn er nicht nach Las Vegas fahren und die Polizei nach ihm suchen würde. Er stand auf, trat mit dem Rücken zum Fenster und ließ seinen Blick über das Mobiliar schweifen. Die rotlackierten Holzteile der Couch und die rotlackierten Beine des Tischchens mit Glasplatte glänzten im Licht der einfallenden Sonne. Auf allen Gegenständen lag Staub. O’Maley kam wieder herein und stellte die Whiskyflasche und Gläser auf das Tischchen. »Alles ist voll Staub«, sagte er und machte eine Handbewegung. »Alles ist schmutzig. Ich habe zu wenig Zeit, um sauberzumachen. Ich krieg manchmal Brechreiz von all dem Staub.« Später sagte Kapra, daß in Amerika die Städte zufällig und wild zu wachsen scheinen. Es herrsche eine anarchische Atmosphäre. Gerade das Straßenleben vermittle den Eindruck von Anarchie. O’Maley pflichtete ihm bei und meinte, daß die Polizei selbst als Instrument »organisierter Anarchie« zu betrachten sei. »Sie werden das in New York noch sehen«, sagte er zu Haid hin und lachte.
8
Auf der Rückfahrt saß O’Maley neben Haid im Fond des Wagens. Das Autoradio lief und die beleuchteten
Reklameschilder am Straßenrand sahen aus wie elektrische Phantasiespielkarten, die entlang des Highways aufgestellt waren. Auf der Fahrt über den High Way hatte Haid mehrmals das Gefühl, als schlucke ein riesiger, dunkler Trichter die Straße und die Fahrzeuge und die Reklameschilder. Gleichzeitig bestürzte ihn der weite, tief grüne Himmel und die untergehende Sonne, die den Horizont gelb färbte. Haid empfand mit einem Mal eine unbestimmte Sehnsucht. Was war er? Klein, wehrlos, geschwätzig und mit seinem Ich unrettbar verbunden. Sein Ich hing an ihm wie eine Klette. Es veranlaßte ihn zu Lügen, zu Grimassen, zur Verstellung. Es verlangte stets eine Bestätigung und trieb ihn dazu, so aufzutreten, als sei er im Recht. Als sei er das wandelnde Recht, das stets respektiert werden müsse, das Urteile fällen müsse und dürfe, ohne sich in das Urteil miteinzuschließen. Wenn er erfuhr, daß man hinter seinem Rücken über ihn sprach, war er erstaunt, als handle es sich um einen Traum. Verhielt er sich anders? Waren nicht die anderen Menschen der Stoff seiner Gespräche? Ordnete er diese Menschen nicht so in seiner Erinnerung ein, wie es für ihn selbst am besten war? Und das Erzählen einer Erinnerung, war es nicht immer mit einer Pose verbunden? Schlüpfte er nicht immer in eine lächerliche, ungeschickte, harte, mitleidige, sensible, gekränkte, überlegene Erzählfigur, die an seiner Stelle die Erinnerung stets verzerrt berichtete, die nie von der Angst berichtete, die er beim Reisen empfand und nichts vom Bedürfnis, am Flugplatz
den Eindruck großstädtischer Gelassenheit zu erwecken, die ihn verschweigen ließ, wie er zu seinem Vorteil heuchelte, wie er bei der ersten Umarmung einer Prostituierten zitterte und hin- und hergerissen wurde, sich überlegen zu geben oder sich vollkommen aufzugeben, die ihn sich verhalten ließ, WIE EINE ERDACHTE FIGUR UND NICHT WIE EIN MENSCH. Und jetzt, als er zwischen den beleuchteten Reklametafeln und unter dem tief grünen Himmel dahinfuhr, spürte er zum ersten Mal, wieviel Platz in ihm war, um das Leben in sich aufzunehmen.
9
Im Haus Kapras bat Haid Kim um eine Aspirintablette. Die Hunde streunten freundlich um ihn herum, beobachteten ihn, als er die Tablette mit Wasser schluckte, ließen sich von ihm streicheln und legten sich unter den Tisch. O’Maley saß vor der Küchentür, rauchte eine Zigarette und schwieg. Manchmal warf er einen Blick auf Haid oder Kapra, räusperte sich und machte weiter sein ausdrucksloses Gesicht. Kapra stellte eine Tasse dampfenden Tees vor Haid, nahm ihm gegenüber Platz und starrte ihn an. Während er Haid nicht aus den Augen ließ, begann er zu erzählen, daß er in der Lage sei, mit jedem Auge einzeln wahrzunehmen. Dies habe zwar ein verschwommenes Bild zur Folge, ermögliche ihm
aber andererseits, tiefer zu sehen. Haid antwortete, daß er den Eindruck habe, hypnotisiert zu werden, wenn Kapra ihn anstarre, ihm falle auf, daß er ihm fortwährend in die Augen blicke, wenn er ihm zuhöre oder mit ihm spreche. Kapra erklärte, daß Haid dies nur so vorkomme. Er kam auf die »Teachings of Don Juan« zu sprechen. In diesem Buch seien die magische und die visuelle Welt von einem alten Mexikaner wahlweise aufrufbar. Mit Hilfe der magischen Sehweise gelänge es diesem zum Beispiel, feine Fäden zu erkennen, die von der Magenzone jedes Menschen ausgingen und dorthin führten, womit der betreffende Mensch in enger Beziehung stünde. O’Maley lachte. Kim machte ein ernstes Gesicht und sagte, daß sie das schön fände. Sie fragte Haid, wohin die Fäden aus seinem Körper führten. Unwillkürlich empfand Haid Angst, von Kapra durchschaut worden zu sein. Er dachte dabei an keine bestimmte Situation, in der Kapra ihn durchschaut hatte, sondern an etwas Vollständiges, als habe er ihn durchdrungen, als wisse er von ihm soviel, daß seine Worte nur als Hinweise galten, wie weit er sich verstellte. Es war, als säße ein Verdächtiger vor einem Untersuchungsrichter, der sämtliche Details über das Verbrechen des Verdächtigen ermittelt hat, sich mit dem Verdächtigen über das Verbrechen unterhält, ihn aber im unklaren über sein Wissen läßt. Haid dachte auch an Carson und daran, daß einer dieser geheimen Fäden zur Wohnung Mehrings, in das dunkle Schlafzimmer führte, trank einen Schluck Tee und
antwortete, daß einer seiner Fäden zu Kim führe. Kim lehnte sich zurück und lächelte ihm zu.
10
Es war schon dunkel, als sich Haid mit Kapra und O’Maley in das Auto setzte, um auf Vorschlag Kapras ein deutsches Mädchen in Hollywood zu besuchen. Die Reklametafeln versetzten Haid wieder in einen schläfrigen, hellhörigen Zustand. Als er die Postkästen aus Blech mit den großen aufgemalten Nummern vor den Hauseingängen sah, erinnerte er sich an Zeichnungen in Comic-Heften. Der Wagen bog zum Sunset-Strip ab und hielt vor dem Chinese Theatre. Haid sah das Mädchen unter dem Vordach warten. Sie fror und hielt den Mantel vor der Brust zusammen. Ihr Gesicht war schmal und fein, das blonde Haar fiel bis über die Schultern, und ein kleiner Windstoß legte ein Ohr frei, an dem ein goldener Ring hing. Haid sah zu, wie Kapra sie umarmte und auf die Wange küßte. Beim Gehen betrachtete Haid abwechselnd den Mosaikboden und das Gesicht des Mädchens. Er las die Namen von Filmschauspielern über Sternfiguren, in deren Mitte aus Messing die Abbildung einer Filmkamera eingelegt war und warf gleich darauf einen Blick auf die vollen Lippen und die leichtgeschwungene Nase des Mädchens. Sie erinnerten ihn an eine Jugendliebe, an Sinnlichkeit und Verwirrtheit, er
blickte wieder zu Boden und las einen Namen auf dem Straßenpflaster und dachte an Filme, die er gesehen hatte.
11
Wie immer, wenn Haid in einer Kinovorhalle wartete, überkam ihn eine schwer erklärbare Niedergeschlagenheit. Er fühlte diese Niedergeschlagenheit so lange, bis ihn ein Film gefangen nahm. Wie oft war er an Regentagen vor einem Kino wartend auf- und abgegangen, bis die Zuschauer der vorhergehenden Vorstellung aus dem Saal gekommen waren, wie oft hatte er sich mit nassen Hosenbeinen auf einen Kippsessel gesetzt, in den muffigen Gestank verbrauchter Luft, und hatte bei den langweiligen Reklamen deprimiert auf den Anfang des Filmes gewartet. Erst wenn das Licht völlig erlosch, wurde ihm leichter … Die plastischen Bilder des dreidimensionalen Films lenkten Haid angenehm ab. Auf der Straße kam ihm später das räumliche Sehen wie eine neue Entdeckung vor; er genoß die Tiefe hinter den Gegenständen, als habe er sie soeben für sich erfunden. Der Verkehr, der auf ihn zukam, schien sich von einer Leinwand auf ihn zu stürzen. Einen Moment zweifelte er daran, ob nicht die Fahrzeuge, die ihm entgegenkamen, durch ihn durchfahren würden, als sei er körperlos und könne
durch nichts verletzt werden. Erst beim Weintrinken in einer Raststätte konnte er wieder den Gesprächen zuhören, den Worten, die O’Maley sprach, und Friederike. Auf dem Tisch stand ein weißer Porzellanaschenbecher mit aufgemalten roten Kirschen und grünen Blättern und zartrosa Kirschblüten. O’Maley wollte in diesem Augenblick von ihm wissen, ob er sich über irgend etwas sorge. »Nein«, antwortete Haid. Es war erstaunlich, wie die Angst bei der Erinnerung an Carson von ihm Besitz ergriff. Er blickte nicht zu O’Maley auf, sondern betrachtete nur den Aschenbecher. Friederike griff nach ihrem Glas und berührte dabei flüchtig seine Hand. Haid verhielt sich, als habe er diese Berührung nicht bemerkt, obwohl er sie auf sich bezog.
12
Als O’Maley vorschlug, Friederike zu besuchen, fühlte er sich ein wenig erleichtert. Unterwegs hielten sie vor einem Supermarkt. Einige Nachtwandler spazierten zwischen den aufgehäuften Waren herum. Immer wenn Haid eine Masse von Waren auf einem Haufen sah, konnte er für den Bruchteil eines Augenblicks nicht begreifen, warum man dafür bezahlen mußte. Er verlief sich zwischen den Regalen und stieß auf einen Betrunkenen, der sich, angelehnt an ein hohes Regal mit Toiletteartikeln,
übergab. Er stierte Haid mit glasigen, bösen Augen an und Haid machte kehrt. Der Betrunkene blickte ihm nach, rief ihm etwas zu und zeigte ihm dann, daß er dabei war zu stehlen. Er rief Haid nochmals an, um ihn darauf hinzuweisen, daß er im Begriff war, einen Gegenstand aus dem Regal zu nehmen. Haid nickte und wollte weitergehen, aber der Betrunkene kam ihm nach, mit einer Tube Zahnpasta in der Hand, die er zwar unsicher tastend, aber voll innerer Ruhe, in seine Rocktasche steckte. Dann griff er nach einer Konserve mit Bohnen und steckte sie in die Brusttasche. Er ließ Haid nicht aus den Augen. Haid machte, daß er wegkam, befand sich aber plötzlich wieder allein mit dem Betrunkenen in einem der schmalen Gänge zwischen den Regalen. Der Betrunkene taumelte bei seinem nächsten Schritt, hielt sich an einem schwankenden Regal fest und steckte eine Dose Körpercreme ein. Dann griff er nach einer zweiten Dose und hielt sie Haid hin. In der Geste war nichts von Freundlichkeit oder schlechtem Gewissen, vielmehr war es eine befehlende Geste, die ihn zwingen sollte, ihn zu seinem Komplizen zu machen. Haid trat sofort in den Gang zurück und sah gerade noch, wie der Betrunkene die Dose zu Boden fallen ließ; sie fiel klappernd zu Boden, rollte und kippte um. Gleich darauf fand Haid den Ausgang und das geparkte Auto, vor dem O’Maley stand. »Ist was?« fragte O’Maley. »Nein.« Es erfüllte Haid mit einer Art von Stolz, über den Zwischenfall zu schweigen.
13
Was ist die Konsequenz davon, daß ich das alles sehe, fragte sich Haid. Was bedeutete es für ihn, jeden Tag immer mehr zu sehen und immer fassungsloser zu werden. Und was erwartete er sich vom Sehen vom Fühlen … – was hieß das: Erfahrungen machen? Er wünschte sich, ruhiger zu werden und immer mehr zu verstehen. Vielleicht konnte er immer mehr verstehen und dabei immer ruhiger werden, aber vielleicht würde man immer unruhiger werden, je mehr man verstand. Haid saß mit geschlossenen Augen im Auto und überließ sich dem Gefühl zu fahren.
14
Friederike lebte in einem Bungalow am Rande von Beverly Hills. Die Auffahrt zu ihrem kleinen Holzhaus war so schmal, daß Haid beim Aussteigen in die Grünpflanzen entlang der Auffahrt trat. Kapra hatte seine Hand flüchtig auf Friederikes Gesäß gelegt. Er folgte Friederike in die Küche, während Haid sich im Zimmer vor der Küche hinsetzte und auf den großen, schlafenden Hund in der Ecke schaute. Als O’Maley sagte, dies sei ein WEIMARER Hund, dachte Haid an Goethe und dessen Gesicht im Alter. O’Maley beugte sich über
den Schreibtisch. Der Hund in der Ecke zuckte unruhig. »Was halten Sie von Friederike?«, fragte O’Maley und blickte dabei auf eine kleine ägyptische Steinplastik, die er in den Händen hielt und nach der Frage rasch wieder auf den Tisch zurückstellte. »Ich weiß nicht«, antwortete Haid. »Nein, was Sie von ihr halten?«, wiederholte O’Maley. Haid warf einen Blick auf die Bücher am Tisch und las die Titel. O’Maley nahm eine rötlichbraune Steinfigur mit dem Gesicht eines Malayen vom Tisch, warf einen Blick in den Kopf der Figur, da das Schädeldach vasenförmig geöffnet war und Gegenstände im Hohlraum vermuten ließ. »Sehen Sie hier: ALSO SPRACH ZARATHUSTRA … wer sagt Ihnen, ob sie es gelesen hat?«, sagte O’Maley. »Wer sagt Ihnen, ob es für Friederike etwas bedeutet, dieses Buch zu besitzen, vielleicht hat man es ihr geschenkt.« »Ich ziehe keine Schlüsse«, entgegnete Haid. O’Maley antwortete, er habe sich das Schlüsseziehen bei der Polizei angewöhnt. Haid stand auf und wollte in die Küche gehen, aber im selben Augenblick kam Friederike mit einer Kanne Tee herein und stellte sie auf einen Sessel. O’Maley beobachtete Haid jetzt aufmerksam. Haid machte einen Schritt zur Küche, um vorzutäuschen, er wolle einen Blick auf die Küchenuhr werfen. »Es ist drei Uhr«, antwortete O’Maley, Kapra blickte auf seine Uhr und bestätigte die Uhr zeit. »Ich trage nie eine Uhr«, sagte O’Maley. Daraufhin begann Kapra, während er nach einer
Tasse Tee griff, von einem Experiment zu sprechen, das sich mit der Erforschung der Empfindungen von Pflanzen beschäftigte. Haid hatte sich wieder gesetzt. Friederike wollte Genaueres über das Experiment wissen und Kapra erzählte, wie man aus der Temperaturveränderung in einer Pflanze, die aufgetreten war, als einer Versuchsperson in Hypnose Qualgefühle und dann Gefühle der Wollust suggeriert worden waren, auf die Hypothese kam, Pflanzen hätten ein Seelenleben. »Ja«, sagte O’Maley, »und das wiederum beeinflußt den Menschen.« O’Maley war, obwohl Friederike und Kapra nun bei ihnen saßen, damit fortgefahren, die Gegenstände vom Schreibtisch zu heben und zu untersuchen. Als das Gespräch kurz stillstand und Haid an den Satz dachte, daß das Seelenleben von Pflanzen ihn beeinflußte, fragte ihn Friederike, ob er Schach spiele. Haid antwortete ja. Friederike stellte die Figuren auf und Haid gewann das Spiel, obwohl er ein schlechter Spieler war. Während des Spiels hatte er den Eindruck, als wollte Friederike mit ihm auf diese Weise sprechen. Sie übersah eine Figur und warf ihm, als er die Figur nahm, einen sanften Blick zu.
15
Am frühen Morgen wurde der Hund in der Ecke unruhig. Er erhob sich, streunte herum und begann in
der Küche asthmatisch zu keuchen. Friederike führte ihn vor das Haus und beruhigte ihn. Haid hatte inzwischen ein Buch von W. B. Yeats entdeckt. Gerade als er den Titel A VISION las, hörte er durch die offene Haustür einen Vogel zwitschern. Der Hund beruhigte sich, trottete wieder herein, legte sich Haid zu Füßen und blickte ihn mit bernsteinfarbenen Augen an. Friederike öffnete die Vorhänge, und es wurde hell im Zimmer. »Wann fahren Sie nach Las Vegas?«, fragt O’Maley. »Morgen«, antwortete Haid. »Ich würde Sie gern begleiten. Ich glaube, ich könnte es mir einrichten, ein paar Tage dafür freizubekommen.« Haid traf der Wunsch O’Maleys völlig unvorbereitet. War es Zufall? Steckte Absicht dahinter? – Nein, es war grotesk! Man würde ihn niemals auf diese Weise verfolgen lassen! Oder doch? – Sein Kopf war voll von wirren Überlegungen. »Natürlich«, antwortete Haid. Er hatte vergessen, was O’Maley zuletzt gesagt hatte. »Sie selbst haben mich auf die Idee gebracht«, fuhr O’Maley fort. »Du mußt auf dein Geld aufpassen, wenn du mit ihm fährst«, sagte Kapra. Haid lachte. Friederike blieb ernst. Sie blickte aus dem Fenster, und als Haid ihrem Blick folgte, sah er ein Gewirr aus beschnittenen Efeuranken wie ein Wurzelgeflecht vor dem Fenster. Friederike hatte bemerkt, daß er ihrem Blick gefolgt war und sagte, daß manchmal Ratten auf den Ästen herumkletterten. Das beginnende Tageslicht fiel träge auf die grün und
weiß gestrichenen Fensterläden. Haid begann zur Ablenkung von Adalbert Stifters Stil zu sprechen. Das Poetische sei die Voraussetzung für den Realismus, sagte er. Ohne Poesie gäbe es keinen Realismus, denn auch das ununterbrochene Erfahren der Gegenwart setze keine Handlung im Sinne eines erzählbaren Inhaltes zusammen. Der Inhalt sei immer eine Abstraktion. Bei Stifter werde die Poesie und die Handlung gleichzeitig in jedem Satz transportiert. Jede Seite im »Nachsommer« stünde für das ganze Werk. Friederike bat ihn, etwas aus dem Werk zu zitieren, aber Haid wußte nichts auswendig. Er sagte, er habe sich nur einige Sätze gemerkt. O’Maley, der den Namen Stifter noch nie gehört hatte, bat ihn darum, die Sätze, die er auswendig wisse, zu zitieren. Haid dachte nach und sagte, daß ihm im Augenblick kein Satz einfalle. Friederike lehnte in einem bequemen Stuhl, ihr Haar fiel auf die gestreifte Leinenbluse und ihre Hände lagen entspannt auf den Armlehnen. Haid blickte in ihre Augen. Friederike erwiderte seinen Blick, als habe sie darauf gewartet, daß Haid ihr in die Augen blicke. Haid beugte sich vor und legte seine Hand auf ihre, nahm dann eine Zigarette heraus, zündete sie an und ließ sich zurück in den Sessel fallen. O’Maley stellte jetzt fest, daß keine Zigaretten mehr im Hause waren, und Kapra erklärte sich bereit, mit Haid zu einem Automaten zu fahren. Als Haid aus dem Haus trat, sah er vor der Eingangstür weiße, blühende Orchideen. Die
Pflanzen, in die er beim Aussteigen aus dem Auto getreten war, erkannte er als tief grünes Efeu. Sie machten auf ihn im Morgenlicht den Eindruck von Unterwasserpflanzen. Der Tag war klar und hell. Während sie auf die Straße traten und den frühen Morgen betrachteten, sahen sie einen langsam vorbeigleitenden Chrysler, der aus den Bergen kommen mußte, denn auf seinem Dach lag Schnee. Sofort spürte Haid seine eiskalten Hände und Füße. Ihm fiel das Gespräch mit Kapra ein, in dem Kapra vom Seelenleben der Pflanzen gesprochen hatte. Die Temperaturveränderung in seinen Händen und Füßen war ihm erst durch den Schnee auf dem Dach des Chryslers bewußt geworden. Er blickte auf den Hügel auf der anderen Seite der Straße. Der Hügel war von dichtem Laubwerk bewachsen, dazwischen ragten die Dächer niedriger Holzhäuser hervor. Vor den Häusern standen verrottete Postkästen, nur einer war frisch gestrichen. Die schwarze Farbe war über den Holzpfosten geronnen, auf dem der Postkasten befestigt war und hatte dort eine schwarze Spur hinterlassen. Der Postkasten gehörte zu einem Haus, in dessen Garten sich ein Baum mit kleinen Zitronen befand. Der Himmel war blaßblau und freundlich. Haid konnte sich vorstellen, daß Philipp Marlowe das Haus mit dem Zitronenbaum nicht aus den Augen ließ. Nichts würde sich regen. Auf einmal würde ein Personenwagen die Straße herunterkommen. Der Personenwagen würde Schnee auf dem Dachhaben und zum Haus mit dem Zitronenbaum abbiegen. Dann würde Marlowe einen grauhaarigen Herrn
aussteigen sehen, der einen Koffer aus dem Kofferraum hob und diesen ins Haus trug. Der grauhaarige Herr würde wieder aus dem Haus kommen, den Kofferraumdeckel schließen und davonfahren. Haid konnte sich Zusammenhänge dichten: Was sich in dem Koffer befand, ob das Haus leer war, wer der Mann war, was er damit bezweckte, daß er am frühen Morgen einen Koffer in ein Haus stellte … Für Marlowe würde diese Beobachtung voller Zusammenhänge sein. Chandler ließ ihn Ereignisse und Dinge sehen und für ihn bedeutungsvoll sein, während er die Bedeutung dem Leser erst im Nachhinein erklärte. Dann fiel Haid auf, wie wild und unsystematisch die Häuser über den Hügel verteilt waren, und es fiel ihm Kapras Bemerkung über die anarchische Atmosphäre ein. Sicher war es diese anarchische Atmosphäre, die ihn so oft an Chandler denken ließ. Selbst die Schönheit dieser Landschaft hatte etwas Anarchisches. Wenn er die Straßen, die Häuser, die Autos, die Farbigen, die Geschäfte, die Bars, die Feuerleitern und selbst diese wildbewachsenen Wohnviertel betrachtete, war seine Phantasie plötzlich voller Geschichten. Jede Wahrnehmung war mit Phantasiegeschichten verbunden, die gleichzeitig mit dem Sehen abspulten. War nicht auch Carsons Tod eine real gewordene Phantasiegeschichte? Und die Existenz O’Maleys? Beim Gedanken an Carson setzte er sich in das Auto. Sie fuhren bis zu einer Tankstelle, stiegen aus und warfen Kleingeld in einen Zigarettenautomaten. Von weitem konnte Haid sehen, daß der Tankwart an der
Zapfsäule mit dem Fahrer eines Autos in einen Streit verwickelt war. Das Seitenfenster des Autos war geöffnet und der Tankwart lief dem anfahrenden Auto ein paar Schritte nach, drehte sich um, holte Bleistift und Papier aus der Brusttasche und ging in sein Büro, um zu telefonieren. Haid fragte, was sie unternehmen sollten. »Nichts«, antwortete Kapra. Er setzte sich zurück ins Auto, zündete sich eine Zigarette an und sie fuhren langsam den Hügel hinauf. »Das hatte keine Bedeutung«, sagte Kapra. Vor einem Haus mit einer schwarzgestrichenen Holztreppe wuchsen zwei große Agaven, und ein kleiner, weißer Hund zerrte in einem Garten an einer amerikanischen Flagge, die vor einem Swimmingpool auf einem Plastiksessel lag.
16
Als sie das Haus betraten, schlüpfte O’Maley wütend in seine Hose. Die Socken lagen auf dem Boden und sein Hemd war aufgeknöpft. Kapra wurde bleich und stürzte in die Küche. Gleich darauf hörte Haid ihn erregt flüstern. Währenddessen suchte O’Maley fluchend seine Schuhe. Er ging im Zimmer herum und machte zynische Bemerkungen. Seine nackten Zehen sahen auf dem tiefblauen Teppich groß und unförmig aus. Haid mußte plötzlich an seine Frau und den Rechtsanwalt denken, vielleicht hatte auch
sie seine Abwesenheiten ausgenützt, ohne daß er es jemals gemerkt hatte und ohne daß er es jemals erfahren würde. Er war für kurze Momente aus seiner eigenen Lebensgeschichte ausgeschlossen gewesen, indem er in etwas miteinbezogen war, wovon er nie Kenntnis hatte und nie Kenntnisse haben würde, das aber sein Leben völlig verändert haben konnte. Er dachte auch an Mehring, an jene Nacht, in der er mit Carson im Zimmer geschlafen hatte und Genuß bei dem Gedanken empfunden hatte, Mehring könne ihn hören. Haid schloß die Tür. Die roten und blauen Glasscheibchen in der Tür erschienen ihm wie leuchtende Bildchen. Friederike kam mit Kapra ins Zimmer, legte einen Arm um Haid und zeigte ihm durchs offene Fenster zwei blühende Kirschbäume. »Das waren vor kurzem noch schwarze Zweige«, sagte sie. Dann sagte sie, daß in wenigen Wochen der ganze Hügel von roten Blumen leuchten werde. Sie ließ den Arm fallen und ging in die Küche, aus der sie mit heißem Pfefferminztee zurückkam. Kapra und O’Maley verhielten sich, als wäre nichts vorgefallen. O’Maley machte weiter zynische Bemerkungen und Kapra lachte darüber. Haid kam sich angenehm immun vor. Im Augenblick berührte ihn nichts. Er sah die Gegenstände auf dem Schreibtisch, das gelbe Telefon, ein paar Centstücke, einen lila Bleistift mit Zahnspuren auf dem Blechring, in dem der Radiergummi festgehalten wurde, einen geschlossenen Füllhalter, eine zerdrückte Zigarettenschachtel. Durch das Fenster sah er den gegenüberliegenden Hügel im gelben Sonnenlicht.
Die letzte Stunde kam ihm vor, als sei er durch wäßrige Luft gegangen. Friederike brachte aufgeschnittenes Rosinenbrot mit Butter aus der Küche, und Haid fühlte die Süßigkeit des Brotes durch sich fließen. Sein Blick blieb am Samtsakko Kapras hängen, das auf einem roten Schrank lag. Haid fand jetzt alles schön. Er hörte den Gesprächen zu, und als Friederike erzählte, daß sie in der Umgebung zwei Tote gefunden habe, war ihm, als läse sie aus einem Buch von Raymond Chandler vor. Einen Leichnam, eine Drogenvergiftete, habe sie am Strand gefunden und einen neben der Straße. Beide seien in Decken gehüllt gewesen. Einer der beiden habe Tennisschuhe getragen. Als ihn ihr Begleiter aus der Decke gerollt habe, habe sie gesehen, daß seine Augen geschlossen gewesen seien. Sie habe den Toten angefaßt und gespürt, daß seine Haut kalt gewesen sei. »Das war im Sommer«, sagte sie, »und alles hier war voller Blumen.«
17
Später wollte Kapra mit Prof. Hacker telefonieren, der in der Nähe von Los Angeles ein Nervensanatorium besitzt. In Haid war für einen kurzen Augenblick die Idee entstanden, Hacker alles zu erzählen, was mit Carson geschehen war, aber als er erfuhr, daß Hacker nicht im Sanatorium war, verwarf er diesen Gedanken wieder. Kapra hatte
gebeten, man möge zurückrufen und O’Maley machte eine abfällige Bemerkung über Hacker. Sie schwiegen. Haid hörte den Hund schmatzend in der Küche fressen. Als Kapra und O’Maley in die Küche gingen, um dem Hund beim Fressen zuzusehen, trat Friederike von hinten an Haid heran und legte zärtlich ihre Arme auf seine Schultern. Dann ließ sie ihn los, hob ein Buch auf, das unter dem Schreibtisch lag und drückte es ihm in die Hände. Das Buch war ein Roman von Longfellow und hatte den Titel HYPERION. Haid las eine romantische Schilderung, hörte von Friederike, daß es acht Uhr sei, und als er sie nach einer ihm lange scheinenden Zeit abermals fragte, wie spät es sei, stellte er fest, daß erst fünf Minuten vergangen waren. Er legte das Buch weg und ging in die Küche. O’Maley saß gähnend auf einem Küchenstuhl und schlug in die Stille hinein vor, nach Hause zu fahren. Als sie das Haus verließen, bemerkte Haid, daß die Eingangstür mit einer Fliegengittertür gekoppelt war. Sofort dachte er an Philipp Marlowe. Er sah ihn die Fliegengittertür öffnen und vorsichtig in das Haus treten. Aus der Küche hörte er das Radio laufen. Sein Blick fiel auf den Fußboden, wo Marlowe den Koffer, den der Mann aus dem Chrysler gehoben hatte, stehen sah …
18
Die Sonne schien, und im Auto war es warm. Haid hatte plötzlich das starke Gefühl zu träumen. Er träumte vielleicht nur, daß er zusammen mit Kapra und O’Maley im Auto saß und die von weißen Mauern und lebenden Zäunen abgekapselten Grundstücke sah, mit den riesigen weißen Villen in gepflegten Rasenflächen. Er glaubte jetzt so sehr daran, nur zu träumen, daß er seine Hände betrachtete, um aus ihnen auf das Wachsein schließen zu können. Dann wurde ihm heiß, und er zwang sich, nicht hinauszublicken, da ihn die Palmen am Straßenrand noch mehr verwirrten. Kapra hielt vor einem Drugstore und Haid sah auf der Lieferantenzufahrt eine zerbeulte Blechtonne, um die Glassplitter lagen. Die Glassplitter glitzerten in der Sonne. Haid wußte nicht, weshalb Kapra gehalten hatte. Kapra kam mit einem großen, braunen Papiersack zurück, und Haid blickte weg, um nicht zufällig zu sehen, was sich im Papiersack befand. Kapra stellte den Papiersack neben Haid, und als sie losfuhren, spürte Haid die Kälte des Papiers auf seinem Handrücken, da das Paket zur Seite kippte. Haid schob die Hand in den Ärmel. O’Maley fragte ihn im selben Augenblick, ob er friere, jedoch Haid lachte und schüttelte den Kopf. Er stieg, nachdem sie vor Kapras Haus angelangt waren, die Holztreppe hinunter und ließ sich in einen Liegestuhl auf der Terrasse fallen. Kim kam mit einem
Tennisschläger auf die Terrasse und machte einige Schläge in die Luft. Gleich darauf folgte Kapra mit einem Karton Budweiser Bier aus der Küche. Er sagte, daß er mit Prof. Hacker telefoniert habe, aber Hacker arbeite an seinen Gesammelten Werken und schlage einen zweiten Anruf für den Abend vor. O’Maley, der unbemerkt in der Küche saß, machte wieder eine abfällige Bemerkung über Hacker. Einer der Hunde, die im Schatten unter dem Tisch lagen, trottete zu Haid hin, legte seinen Kopf auf Haids Oberschenkel und blickte ihm ins Gesicht. Haid schlief kurz ein, erwachte und ging in das kühle Zimmer, in dem sich sein Bett befand. Er ließ sich auf das Bett fallen und schlief den ganzen Tag bis zum Abend.
19
O’Maley saß auf dem Bett, rauchte eine Zigarette und blickte auf die Reisetasche zwischen seinen Füßen. Er schien unbegrenzt Geduld zu haben, denn er saß nur auf dem Bett, um zu warten, bis Haid aufgewacht war. Haid fragte ihn erschrocken, was er wolle, aber O’Maley antwortete, daß er für die Abreise nach Las Vegas alles vorbereitet habe. Gleichzeitig lud er ihn zum Essen ein, während er seine Zigarette ausdrückte. Kapra und Kim schliefen noch. Sie verließen das Haus und kletterten stumm die Holztreppe hoch. O’Maley war im Besitz von Kapras Autoschlüsseln und
benutzte dessen Wagen mit größter Selbstverständlichkeit. »Sie wollen mich allein sprechen«, sagte Haid und öffnete die Tür. »Ich freue mich darauf, Sie morgen nach Las Vegas zu begleiten«, antwortete O’Maley und setzte sich hinter das Lenkrad. »Ich fahre nicht gern allein … Haben Sie etwas gegen mich?« »Nein«, antwortete Haid. Er war noch vom Schlaf benommen und durch O’Maleys Sätze zusätzlich verwirrt. Kam er sich verfolgt vor, ohne daß er tatsächlich verfolgt wurde? Bildete er sich ein, verfolgt zu werden? Er dachte daran, daß Mehring am nächsten Tag Carson finden würde, wenn sie nicht schon von jemand anderem gefunden worden war. Sie überholten einen Kranwagen, der ein Personenauto mit eingedrücktem Kühler und ausgebrochener Windschutzscheibe abschleppte. Durch den Schrecken, den der Anblick bei Haid auslöste, fiel ihm ein gelber Hydrant am Straßenrand auf, an dem ein weißer, vom Wind bewegter Plastiksack hing. Sie waren so schnell an dem Hydranten vorbeigefahren, daß Haid den Plastiksack nur für den Bruchteil einer Sekunde wahrgegenommen hatte, aber er merkte sich das Bild in allen Einzelheiten, ohne daß er sich erklären konnte, warum. In einem Restaurant, durch dessen Fenster man das Meer sah, würgte Haid das Essen hinunter. Ihm war übel, und er wußte nicht, was weiter geschehen sollte. Als sie in das Haus zurückkehrten, kam ihnen Kapra entgegen und erzählte, daß Hacker angerufen hatte. Haid ließ sich auf das Bett fallen. Einer der Hunde
sprang zu ihm auf das Bett, stieß ihn mit der Schnauze und ließ sich streicheln. Haid erinnerte sich, daß er als Kind oft nicht gewußt hatte, ob er die Realität nur träumte.
LAS VEGAS
1
Haid hatte in der Nacht kaum geschlafen. Der Gedanke, O’Maley würde ihn begleiten, beunruhigte und ängstigte ihn. Als er am Morgen seine Gepäckstücke ordnete, war er voller Verzweiflung. Kapra betrat das Zimmer und trug einen Koffer die Holztreppe hinauf. Der Hund lief hinter Kapra bis zum Auto. Auf der letzten Treppenstufe fielen Haid drei blaue, mit Wasser gefüllte Glasflaschen auf. Die Sonne, die auf die Wasserflaschen fiel, erzeugte einen seltsam blau leuchtenden Schatten hinter den Flaschen. O’Maley saß im Fond des Autos, die Reisetasche auf den Knien. Haid stellte einen starken Milchgeruch fest, den O’Maley wie etwas Selbstverständliches hinzunehmen schien. Er starrte wortlos durch das Fenster ins Freie. Es schien, als notierte er sich im Kopf die blaugelben und gelbschwarzen Autonummern der vorbeigleitenden Fahrzeuge. Tatsächlich nahm er einen Bleistift heraus und notierte sich zwischendurch eine Autonummer. Er bemerkte den fragenden Blick Haids und erklärte, daß er sich Roulettnummern notiere. Kapra lachte. Haid spürte seine Verlassenheit wie ein schweres Gewicht. Ihm fiel ein, daß Horkheimer von der unabänderlichen Verlassenheit
gesprochen hatte und von der Endgültigkeit dieser Verlassenheit. Der Milchgeruch im Auto und das Schweigen O’Maleys schienen Haid wie Hinweise auf diese Endgültigkeit. Die Erinnerung an den Tod Carsons war mit einem Gefühl der Verlassenheit verbunden, der er sich jetzt immer mehr bewußt wurde. Es war keine romantische Verlassenheit, wie sie sich Haid als Jugendlicher eingeredet hatte, um sein Ich stärker zu fühlen, sondern eine Verlassenheit, die Ekel und Scham in ihm erzeugte. Es ekelte ihn plötzlich davor, all das wahrzunehmen: Die silbrigen Aluminiumbehälter, die für den Abfall die Straße entlang aufgestellt waren, die grüne Landschaft des Golfplatzes mit sinnlos im Wind flatternden bunten Fähnchen, den Mann mit dem Wasserschlauch, der hinter einem niedrigen, weißen Holzzaun sein Gemüse besprengte, den Neger mit gelber Jacke, der Pakete in einem Lastwagen verstaute, den kleinen Hafen mit Motorbooten, das alles zu sehen ekelte ihn mit einem Male so sehr, daß er eine Zeitung vom Boden aufhob und nur die schwarzen Buchstaben anstarrte, als könne er an ihnen Halt finden. Die Scham, daß er wie ein Automat alle Vereinbarungen eingehalten hatte, die ihn Zusammenhänge und SINN erkennen ließen, daß er selbst immer wieder von Zusammenhängen sprach, ohne sie selbst zuvor mühsam gesucht zu haben, ließ in ihm den Wunsch aufkommen, nicht sprechen zu müssen. Die Wahrnehmungen schienen den »blöden Optimismus der Gesellschaft, die ihr eigenes Wissen zu einer neuen Religion aufspreizte«,
wie Horkheimer geschrieben hatte, zu zeigen. Haid wollte gerade darüber zu sprechen beginnen, als er bemerkte, daß das Auto langsamer fuhr und schließlich anhielt. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah ein Weizenfeld. Parkende Autos hatten das Weizenfeld umstellt. Im Feld suchten Neger mit einem Rudel von Hunden, die sie an langen Leinen führten, nach irgend etwas. Einer der Neger trug einen dunklen Hut. Er stand am Rande des Feldes und schrie den Negern mit den Hunden etwas zu. Die Hunde zerrten die Neger hinter sich her. Kapra drehte das Radio auf und fuhr an. Haid blickte zurück. Das Suchen der Neger im Feld hatte etwas von einer zynischen Gewalttätigkeit, etwas von Anarchie. Als sie sich dem Flugplatz näherten, wurde Haid ruhiger. Er stieg aus dem Auto und der Gedanke, daß er, Daniel Haid, einen menschlichen Körper hatte, erschien ihm so komisch, daß er laut auflachte.
2
Durch die Anwesenheit O’Maleys paßte Haid sein Verhalten immer mehr den Erwartungen O’Maleys an. Wenn O’Maley einen Witz machte, mußte er darauf reagieren, wie er bei O’Maleys Witzen von Anfang an reagiert hatte. Er mußte so schweigsam oder so gesprächig sein, wie er es von Anfang an gewesen war. Er mußte mit ihm über das sprechen,
worüber sie meistens sprachen, und wenn beide nicht wußten, was sie sprechen sollten, dann wiederholten sie Begebenheiten, die sie bereits mehrfach erzählt hatten und auf welche sie mit Freundlichkeit zu reagieren pflegten. Wenn Haid etwas sprach oder tat, reagierte er gleichsam im vornhinein auf die Vorstellung, die O’Maley, wie er glaubte, sich von ihm machte. Und Haid fiel auch auf, daß dies nicht nur für sein Zusammensein mit O’Maley zutraf. Hatte er nicht auch mit seiner Frau gelebt, wie er geglaubt hatte, sie erwartete es von ihm?
3
Als er durch die Ankunftshalle ging und die Spieler vor den Automaten sah, fragte er sich, was er hier eigentlich wollte. Er hatte Angst vor dem Spielen. Wenn er hier verlor, kam er sich betrogen vor, und wenn er gewann, verlor er die Beziehung zum Gewinn. Es war ihm aufgefallen, daß er – sobald er gewann – keine Begriffe mehr mit Geldsummen verband, sondern weiterspielte, als verpflichte ihn ein Gewinn gewissermaßen dazu, ihn wieder aufs Spiel zu setzen oder womöglich sogar zu verlieren. Er stellte den Koffer zu Boden. O’Maley stand vor einem der Automaten. Sein Arm bewegte den Nickelhebel nach unten und sein Gesicht drückte dieselbe Gleichgültigeit aus, wie die Gesichter der übrigen Spieler. Haid blickte an O’Maley vorbei und
beobachtete den Lauf der Ziffern, Obstbilder und Buchstaben auf dem Automaten. Er nahm den Koffer wieder auf, ging vor das Flughafengebäude und stieg in ein Taxi, in dem ein Puertoricaner hinter dem Lenkrad saß.
4
Die Sonne strahlte so hell vom riesigen, blauen Himmel, daß Haids Augen zu schmerzen begannen. Er beugte sich nach vorne, sah den behaarten Arm des Puertoricaners, die Gummimatte auf dem Fußboden und dachte daran, daß die Karosserie des Autos glühend heiß sein mußte und daß das Licht von der lackierten Oberfläche grell reflektiert wurde. Als er wieder aufblickte, fiel ihm ein, daß er auf der Flucht war. Vielleicht hatte Mehring Carson schon gefunden. – Sie hielten an einer Kreuzung, direkt unter einer Tafel, auf die eine Frau mit rotem und schmerzhaft verzerrtem Gesicht gemalt war, darunter stand in knallroten Buchstaben: Beenden Sie Ihre Sonnenbrandschmerzen: SOLARCAINE. Das Gesicht der Frau drückte sowohl sexuelle Verzückung als auch etwas Gequältes aus. Haid dachte an Carson, er konnte sich nicht mehr an ihren letzten Gesichtsausdruck erinnern. Nein, er hatte überhaupt vergessen, wie ihr Gesicht aussah! Wenn er an sie dachte, fiel ihm ihr Gesicht nur für Sekundenbruchteile ein: Eine bestimmte Drehung
ihres Kopfes oder wie sie verschlossen im Auto gesessen war, als sie nach Sausalito gefahren waren. Seltsamerweise erinnerte er sich an ihre Hände und die Bekleidung viel besser. Und seine Frau? Er konnte sich ihr Gesicht sehr deutlich vorstellen, aber es fiel ihm auf, daß er sich nur an Fotografien erinnerte, die er manchmal betrachtet hatte. Die Fotografien fielen ihm in allen Einzelheiten ein.
5
Das Golden Key Motel ist ein langgestrecktes Gebäude direkt am Strip. Um den Swimmingpool sind Zypressen gepflanzt und auf dem künstlichen Rasen stehen pastellfarbene Plastiksonnenschirme. O’Maley bestand auf einem Zweibettzimmer. Haid hatte nicht den Mut aufgebracht zu widersprechen. Er bezahlte für zwei Tage im voraus und fuhr mit dem Lift in das letzte Stockwerk. Da der Lift zur Außenseite hin aus Glas war, konnte er sehen, wie ein junges Mädchen vom Sprungbrett einen Kopfsprung in das Wasser machte. Er dachte an Carson und Friederike und war schließlich froh, als O’Maley mit ihm sprach. Auf dem Gang schob eine fette Negerin einen metallfarbenen Plastikwagen mit gebrauchter Bettwäsche vor sich her. O’Maley machte einen schmutzigen Witz über die Negerin und Haid lachte gegen seinen Willen. Im Zimmer warf sich O’Maley in einen Stuhl, und während er
eine Zigarette anzündete, sagte er, daß er einen Spaziergang machen werde. Haid könne sich mittlerweile ausruhen. Er brauche ihn nicht zu begleiten. Haid zuckte die Achseln und gab keine Antwort. Was wollte O’Maley? Telefonieren? Sich auf der Polizeistation melden? Aber warum hatte er ihn nach Las Vegas begleitet und nicht schon in Santa Monica gefaßt? Und wenn O’Maley nichts mit der Polizei zu tun hatte, was wollte er dann? … Vielleicht kannte er eine Frau hier oder vielleicht mußte er erst finanzielle Angelegenheiten regeln? – O’Maley wechselte die Schuhe und verließ das Zimmer. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als in Haid ein neuer Verdacht aufkam. Womöglich gab O’Maley nur vor, einen Spaziergang zu machen und wartete in Wirklichkeit in einem Mietwagen vor dem Hotel, um ihn zu beobachten? War es nicht das beste, wenn auch Haid so schnell wie möglich das Hotel verließ? Denn zu Fuß würde es O’Maley schwerfallen, ihm ungesehen zu folgen. Haid ging die Treppe hinunter, trat in die grelle Sonne, überquerte die breite Fahrbahn und betrat, nachdem er sich umgedreht und festgestellt hatte, daß ihm niemand folgte, ein Casino. Die wenigen Schritte auf der hitzeflimmernden Straße hatten in ihm Erinnerungen an seine Jugend geweckt. Während er eilig die Fahrbahn überquert hatte und auf das Casino zugegangen war, für das ein riesiger silberner Damenschuh Reklame machte, während er die endlose Kette der aluminiumfarbenen Masten sah, die den Strip in der Nacht mit Neonleuchten
bestrahlen würden, erinnerte er sich an die Unruhe und Unrast seiner Jugendjahre. Er hatte geglaubt zu ersticken, hatte die Stadt, in der er gelebt hatte, gehaßt und war von ihr zugleich deprimiert gewesen. Er hatte sich nicht vorstellen können, eines Tages immer wieder dieselben Treppen zu einem Büro hinaufzusteigen; er war am Morgen lange im Bett liegengeblieben, ohne Entschluß, ohne Kraft und ohne Gedanken an die Zukunft, Er hatte sich nur gewünscht, in den Süden zu ziehen, ohne zu wissen, was dort mit ihm geschehen würde. Er hätte am liebsten den ganzen Tag über geschlafen. Er hatte gewartet, ohne zu wissen worauf. Haid dachte daran, während er Frühstücks- und Dinner-Preise über den Casinos und die Namen von Motels, Unterhaltungskünstlern und Zigarettenmarken auf Reklameschildern las und während er unter dem gewaltigen, blauen Himmel die Straße überquert hatte. Als er in den großen Saal des Casinos trat, fühlte er dieselbe Angst, die er als Jugendlicher empfunden hatte, wenn er ein Tanzcafe betreten hatte. Ihm schien jetzt alles wie eine Kulisse für seine Unruhe: die goldroten, altmodischen Tapeten, der weiche Teppichboden, der unter den Füßen sanft nachgab, die Hunderte Spielautomaten, die nierenförmigen Roulette-Tische mit grünem Stoffüberzug und roten Holzrändern, mit schwarzen, gelben und weißen Croupiers dahinter, die Jetons und Karten auf den Tisch warfen, die Flut von Menschen, die von Automat zu Automat tappten und mit abwesenden Gesichtern spielten. Jeder Mensch
schien dem anderen gleichgültig zu sein. Haid fühlte sich einsam und er glaubte, noch nie so viele einsame Menschen gesehen zu haben. Eine Frau mit Kopftuch und Haarwicklern stieß sich an ihm und ging weiter, ohne zu reagieren. In einem unbenutzten RoulettTisch lag ein umgekippter Pappbehälter mit ausrinnendem, schmelzendem Himbeereis. Ein junges Mädchen, mit großen, drahtgerahmten Augengläsern und armseliger Bluse, wechselte einen Berg Münzen beim CASHIER, der hinter einem messinggeschützten Schalter saß. Sie starrte auf das Geld und schenkte Haid keine Beachtung. Haid lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und blickte sich um. Er hatte den Verdacht, daß O’Maley sich in der Nähe befand und ihm folgte. O’Maley konnte hinter einem der Spielautomaten stehen oder an der Bar, am Ende des Saales. Haid wollte ihm plötzlich nicht mehr davonlaufen, sondern ihm begegnen. Er wollte ihn fragen, was er vorhatte. Er würde ihn vor sich herschieben und zu Boden stoßen und das Casino verlassen. Er dachte an Marlowe und sah sich selbst langsam auf die Bar zugehen. Da er O’Maley nirgends entdecken konnte, setzte er sich auf einen Hocker und wartete. Er bildete sich ein, daß dies der beste Platz war, um auf O’Maley zu warten und ihn zur Rede zu stellen. Zur Rede stellen! Wie unsinnig ihm dieser Satz sofort vorkam. Zufällig fiel sein Blick auf einen Glaskasten, in dem große, getrocknete Wüstenblumen ausgestellt waren. Sein Verhalten war so von Zufällen abhängig wie seine Wahrnehmungen. Er hatte daran gedacht, O’Maley
zur Rede zu stellen, den Glaskasten an der Wand gesehen und gleichzeitig daran gedacht, daß es unsinnig war, daran zu denken, O’Maley zur Rede zu stellen, und der Glaskasten mit den getrockneten Wüstenblumen schien ihm wie eine Illustration zu seinen Gedanken. Er aß kalten, süßen Salat, trank Bier und versuchte seine Unruhe zu vergessen. Aber was immer er auch sah, verstärkte seine Unruhe. In einem Gefrierkasten standen Gläser mit gelben und grünen Geleecremes und halbierten Grapefruits, unter Glasstürzen unwirklich aussehende Torten, die üppig mit Sahne verziert waren. Haid bezahlte, stand auf und stieß mit einem Mann zusammen. Der Mann trug eine Hornbrille, und als Haid ihm ins Gesicht blickte, hatte er plötzlich den Verdacht, daß O’Maley ihm diesen Kerl auf die Spur gehetzt hatte. Der Mann rückte seine Hornbrille zurecht und sagte unvermittelt, er möge sich vor Taschendieben in acht nehmen. Haid fragte, warum. Er fühlte, wie sein Gesicht zu einer leblosen Masse wurde. Der Mann sagte, er sei Hausdetektiv. Bei dem Wort Detektiv erschrak Haid. Er setzte sich auf den Hocker zurück, und der Mann fragte ihn, woher er komme. Er selbst stamme aus Oregon. In seiner Freizeit spiele er Roulett, allerdings nur ROT UND SCHWARZ. Das Sprechen des Mannes begann Haid zu stören. »Was wollen Sie?«, fragte Haid. »Nichts«, antwortete der Mann. Haid zündete sich eine Zigarette an und ging, ohne den Kopf zu heben und sich umzudrehen, davon. Ließ O’Maley ihn tatsächlich bespitzeln? – Haid drehte sich scharf um und sah den Mann mit
abgewendetem Gesicht an der Bar sitzen. Vielleicht war er kein Hausdetektiv, sondern ein Taschendieb? Haid griff nach seinem Geld und den Papieren. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß nichts fehlte und daß der Mann noch an der Bar saß, setzte er sich an einen Roulett-Tisch, von dem aus er den Mann im Auge behalten konnte. Ihm fiel ein, daß Marlowe ebenso gehandelt hätte. Marlowe würde niedrige Einsätze an einem Roulett-Tisch spielen und den Kerl nicht aus den Augen lassen. Er wechselte 40 Dollar, setzte auf verschiedene Zahlen, verlor und gewann abwechselnd. Da der Kerl sich nicht von der Bar wegrührte, stand Haid nach einer halben Stunde auf und verließ das Casino. Das scharfe Sonnenlicht schmerzte wieder in den Augen. Er hielt nach O’Maley Ausschau, glaubte auch noch für einen Augenblick, ihn hinter der riesigen Anzeigentafel des STARDUST-Casinos verschwinden zu sehen, stellte aber fest, daß er sich getäuscht hatte. Er fühlte sich schwer und ungelenk, und er dachte, daß er sich durch den weiten Himmel und das grelle Licht so schwer fühlte und daß die riesigen Reklameschilder die Entfernungen kleiner erscheinen ließen, als sie waren. Ein Pontiac fuhr vorbei mit scheppernden Konservenbüchsen und weißen Papierstreifen an der rückwärtigen Stoßstange. Haid schrak aus seinen Gedanken auf. Aber er versank gleich darauf wieder in seine Gedanken und riß sich nur los, um nach dem Kerl oder O’Maley zu schauen. Einmal sah er einen winzigen Hund in einem Geschäft, dünn und schwarz, wie aus Draht gemacht, und als er kurze
Zeit später einen Club betrat, sah er, daß der ganze Boden voll von Papierfetzen aufgerissener Kleingeldrollen und zerdrückten Pappbechern war. Das Geld erzeugte nur eine andere Form der Anarchie.
6
Als Haid den CIRCUS betrat, sah er O’Maley vor einem der Spielautomaten; er drängte sich zu ihm hin, aber als er bei dem Automaten angekommen war, war O’Maley verschwunden. Hatte er sich getäuscht oder war O’Maley vor ihm geflohen? – Haid lief zwischen den Automaten in jene Richtung, in der er glaubte, daß O’Maley geflohen war. Beim Laufen bemerkte er, daß über seinem Kopf an der Kuppel des CIRCUS eine Trapezgruppe turnte, die durch ein Netz von den Spielern getrennt war. Der Anblick der Artisten ließ ihn anhalten. Wozu folgte er O’Maley? Er konnte froh sein, daß O’Maley ihn nicht gesehen hatte. Er starrte zu den Trapezkünstlern hinauf, und als sie sich mit lächelnden Gesichtern in das Netz fallen ließen, fühlte Haid eine lähmende Schwere in den Gliedern. Er bemerkte, daß er schwitzte, und hatte plötzlich den Wunsch, sich zu erfrischen. Ein Negerschuhputzer mit dem Gesicht eines schwarzen Millionärs saß im Erfrischungsraum auf einem der Stühle, die aussahen wie schwarze Zahnarztstühle. Er
bewachte die Toilettewasser, Sprays, Haarwasser, Mundwasser, Rasierwasser, Parfums, Deodorants, Puderdosen, Zahnpasten, Seifen, Kosmetika, die zum freien Gebrauch vor den langen Spiegeln standen. Haid wagte nicht, sich zu bedienen. Während er sich das Gesicht wusch, haßte er plötzlich Carson. Er wußte nicht, woher die Regung kam. Der Neger hatte sich eine Zigarre angezündet und ließ seinen Blick gelangweilt umherschweifen. Haid beneidete ihn in diesem Augenblick. Er wünschte sich die Langeweile und Gleichgültigkeit dieses Negers, und als er den Raum verließ und an ihm vorbeiging, steckte er ihm das Kleingeld, das er fand, in die Tasche des Arbeitsmantels. Der Neger nickte, ohne zu lächeln. Haid ging auf die Straße, nahm ein Taxi und fuhr zur Freemont-Street. Der tickende Taxameter erinnerte ihn vom Augenblick an, als er ihn wahrnahm, an die Taxifahrt von Carson in das Manx-Hotel. Damals war ihm das Geräusch nicht aufgefallen. Jetzt aber hatte er es sofort wahrgenommen, und indem er es wahrnahm, fiel ihm ein, daß es ihm auch damals auf irgendeine Weise aufgefallen war.
7
Es war dunkel geworden, und die Casinos waren von bunten Neonreklamen beleuchtet. Haid stieg vor dem GOLDEN NUGGET aus, spazierte die FreemontStreet hinunter, und ihm erschien alles so künstlich,
daß er selbst eine Pose annehmen wollte, um sich ertragen zu können. Er stellte sich vor, wie er sich als Spieler verhalten würde, der von Casino zu Casino hetzte und sein Geld und seine Existenz aufs Spiel setzte. Aber diese Pose war ihm so fremd, daß er sie fallen ließ. Er schlenderte durch die großen Spielsäle, einmal warf ein Pokerspieler eine Seltersflasche auf einem Spieltisch um, und einmal setzte er sich an eine Bar und fixierte eine Blondine, die aussah wie Marilyn Monroe im Film BUS STOP. Sie trug ein schwarzes Trikot mit Fransen und Netzstrümpfe und servierte Drinks an den Spieltischen. Haid überlegte, sie um eine Auskunft zu bitten und mitten im Gespräch zu unterbrechen, um sie zu fragen, wo er sie treffen könnte. Jedesmal, wenn sie zur Bar zurückkam und er sie anstarrte, warf sie ihm einen Blick zu, von dem er nicht sagen konnte, ob er neugierig oder freundlich war. Aber er fand nicht den Mut, auf sie zuzugehen und etwas zu sprechen. Als sie ganz nahe an ihn herantrat, brachte er sie durch seinen starren Blick dazu, daß sie, als sie Popcorn in den Plastikbehälter eines Automaten nachfüllte, den Plastikdeckel so ungeschickt einsetzte, daß er zu Boden fiel. Sie bückte sich nach dem Deckel und lächelte Haid an. Haid blieb wie gelähmt mit ernstem Gesicht sitzen, dann lächelte er, bezahlte und stand auf. Er war voller Gefühle. Er dachte auch an Carson, doch schien ihm seine Erinnerung jetzt wie etwas, was er sich ausgedacht hatte.
8
Als er den CIRCUS wieder erreichte, fiel ihm O’Maley ein. Obwohl er zuvor nicht mehr die Absicht gehabt hatte, in ein Casino zu gehen, brachte ihn die Überlegung, möglicherweise auf O’Maley zu stoßen, dazu, die breite Auffahrt nochmals hinaufzugehen und im CIRCUS nach O’Maley Ausschau zu halten. Ein Bursche im Jeansanzug bat ihn um eine Zigarette. Haid gab sie ihm und blickte gleichzeitig weg, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden, denn er kannte die gegenseitigen stockenden Fragen, die bei Zufallsbekanntschaften gestellt werden, und sie gingen ihm auf die Nerven, da er sich stets verstellen und Interesse vorgeben mußte. Das JA-SAGEN und NEIN-MEINEN war eine Krankheit von ihm. Er sagte sich das jetzt selber, während er zusah, wie drei Mädchen in Fantasieuniformen auf Hutschpferden bis zur Circuskuppel hochgezogen wurden, von wo sie langsam kreisend Luftballons auf die Spieler warfen. Seifenblasen sprühten um die Mädchen, und die Band spielte STARS AND STRIPES FOR EVER. Haid fiel ein, daß er sich immer wieder vornahm, das auszusprechen, was er sich dachte, um immer wieder dagegen zu verstoßen. Er war vorsichtig mit Bekanntschaften geworden. Wenn er jemanden nicht näher kannte, war es leichter für ihn, sich nicht zu verstellen. Er drehte sich um und sah einen Menschen, der von hinten
O’Maley ähnelte, an einem Roulett-Tisch stehen. Haid ging zu ihm hin, stellte sich an seine Seite und blickte ihm ins Gesicht. Es war tatsächlich O’Maley.
9
O’Maley kümmerte sich nicht um Haid, sondern verfolgte den Lauf der Roulettkugel. Gerade als Haid den Tisch verlassen wollte, sah ihn O’Maley. Er faßte ihn am Arm und fragte ihn, ob er ihm hundert Dollar leihen könne. Er habe sein Geld im Hotel deponiert, wolle den Tisch jedoch nicht verlassen. Haid war von O’Maleys Bitte so überrascht, daß er ihm eine Hundertdollarnote hinstreckte und neben ihm am Roulett-Tisch Platz nahm. O’Maley spielte also wirklich! Oder war es nur ein kompliziertes Manöver O’Maleys, um keinen Argwohn zu erwecken? Haid bemerkte, daß O’Maley abwechselnd auf die Zahlen 11, 13, 14, 17 und 21 setzte. In kurzer Zeit hatte O’Maley die hundert Dollar verloren. Als handle es sich um das Selbstverständlichste, beugte er sich zu Haid und sagte: »Sie haben sicher noch Geld bei sich!« und Haid, der von größtem Unbehagen erfüllt war, stellte ihm beim Cashier einen Scheck über dreihundert Dollar aus. O’Maley wechselte das Geld in Jetons, eilte zum Roulett-Tisch zurück und setzte auf die fünf selben Ziffern. Nachdem anfänglich keine der Ziffern gekommen waren, kamen hintereinander
zweimal die 14, dann die 21, dann wieder 14. O’Maley hatte nahezu vierhundert Dollar gewonnen und begann mit höheren Einsätzen. Haid verließ O’Maley, der so in das Spiel vertieft schien, daß er nichts davon bemerkte.
10
Haid beeilte sich, in das Hotel zurückzukommen. Er hatte nichts gegessen, war müde und niedergeschlagen. Er hatte es nicht zustande gebracht, O’Maleys Wunsch, ihm Geld zur Verfügung zu stellen, zu widerstehen. Gleichzeitig dachte er an den Jungen im Jeansanzug, dem er nicht einmal ins Gesicht geblickt hatte, um nicht von ihm belästigt zu werden. Er betrat das Zimmer und öffnete seinen Koffer, um nach den Toiletteartikeln zu suchen. Bereits beim öffnen des Deckels bemerkte er, daß sein Koffer durchsucht worden war. Ein schmutziges Hemd lag obenauf, doch er wußte, daß er es in einen Plastiksack gestopft hatte. Wer hatte seinen Koffer durchsucht, und warum war er durchsucht worden? Er räumte den Koffer und die Reisetasche aus und stellte fest, daß nichts fehlte. Allerdings mußte auch die Reisetasche durchsucht worden sein, denn die Einstellungshebel und Drehringe seiner Kamera waren verstellt. Er fühlte wieder die altbekannte Angst. Er packte seine Sachen in den Koffer und die Reisetasche, legte sich auf das
Bett und überlegte. Vermutlich hatte O’Maley während seiner Abwesenheit das Gepäck durchsucht. Aber mit welcher Absicht? Verfolgte er ihn tatsächlich wegen Carson oder hatte er ihm sein Geld stehlen wollen, weil er beim Spielen verloren hatte? Er erinnerte sich daran, daß Kapra ihn bei Friederike gewarnt hatte, auf sein Geld aufzupassen. Dann überlegte Haid, Mehring anzurufen, aber er hatte nicht den Mut dazu. Das beste schien ihm, heimlich abzureisen. Er mußte zusehen, daß O’Maley ihm das Geld zurückgab und unter einem Vorwand abreisen. Jedenfalls mußte er verhindern, daß O’Maley sich noch einmal an sein Gepäck heranmachen konnte. Zum Glück hatte er sein Bargeld bei sich gehabt. Das hieß, wenn O’Maley überhaupt darauf aus gewesen war. Aber worauf sonst? Haid dachte nach. Vielleicht hatte er einen Gegenstand gesucht, der in Carsons Zimmer fehlte …? – Und plötzlich fiel ihm seine Frau ein. Sie würde ihn verabscheuen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte und wissen würde, was vorgefallen war. Sie würde ihn nur verabscheuen. Sie würde schweigen, aber ihr Gesicht würde ihm alles sagen. Er dachte plötzlich an Momente, in denen er sie in seinen Armen gehalten hatte und sie zärtlich zu ihm gewesen war. Er erinnerte sich an ihre Worte, ihre Stimme, und er wußte, daß er nicht über seine Erinnerung hinwegkommen wollte. Er wollte über Erinnerungen nicht hinwegkommen. Er stand auf und blickte vom Fenster auf den verlassenen Swimmingpool, vor dem Autos parkten. Dann sah er O’Maley. Er stand vor einem der geparkten Autos
und gab einem Fremden Feuer. Haid machte einen Schritt zur Seite, so daß er von der Straße aus nicht gesehen werden konnte. Der Fremde trug einen Hut. Er wechselte einige Worte mit O’Maley, setzte sich dann in eines der Autos und fuhr davon. O’Maley blickte zum Hotelfenster hinauf und ging ohne Eile zum Eingang.
11
Zuerst überlegte sich Haid, ob er sich schlafend stellen sollte, aber er war noch vollständig angezogen. Obwohl die Angst ihn verwirrte, nahm er sich vor, mit O’Maley zu sprechen. War er durch O’Maley nicht in eine Rolle gepreßt worden, die darin bestand, daß er aus Angst, in O’Maleys Augen nervös, überängstlich, bürokratenhaft oder dumm zu wirken, sich unentwegt gleichgültig gab. Die Angst, in jemandes Augen dumm zu wirken, schien ihn immer beherrscht zu haben. Es war ihm aufgefallen, daß diese Angst nicht nur ihn allein beherrschte. Er entdeckte die Angst, dumm zu wirken, auch bei anderen Menschen. Sie vertraten Ansichten, kauften Dinge, verhielten sich gehemmt oder hochmütig nur aus Angst, dumm zu wirken. Sie versteckten sich hinter Bildung und Wissen, um nicht für dumm gehalten zu werden, und vermochten mit ihrer Bildung und ihrem Wissen nicht so umzugehen, wie sie es wünschten, und hatten noch mehr Angst. Oder
sie verwendeten ihre Bildung und ihr Wissen, um wiederum in anderen das Gefühl der Dummheit zu erzeugen. Er nahm sich vor, das auszusprechen, was er dachte. Er würde nur noch das tun, was er für richtig hielt. In diesem Augenblick kam O’Maley zur Tür herein. »Sie schlafen noch nicht?«, fragte er beiläufig und legte das Sakko ab. »Mein Koffer ist durchsucht worden.« »So?« Während O’Maley sich ungerührt auszuziehen begann, fragte er, wen er im Verdacht habe, seinen Koffer durchsucht zu haben. »Ich weiß es nicht.« »Einen Hotelangestellten?« Haid antwortete wieder, daß er es nicht wisse. »Sie werden doch eine Vermutung haben, wer Interesse daran haben könnte, Ihren Koffer zu durchsuchen.« »Nein.« »Fehlt etwas?« Haid antwortete, daß ihm nichts aufgefallen sei. Daraufhin sagte O’Maley, er sei sicher, daß der Koffer am Flugplatz durchsucht worden sei. »Vermutlich hat man alle Gepäckstücke vor dem Verladen durchsucht.« »Auch Ihre Gepäckstücke?« fragte Haid. »Ich würde das nicht bemerken«, antwortete O’Maley. »Sie müssen wissen, ich packe meinen Koffer sehr nachlässig.« Haid dachte nach. Er durfte nicht zu weit gehen. Jedenfalls wußte O’Maley jetzt, falls er tatsächlich seinen Koffer durchsucht hatte, daß er argwöhnisch geworden war. Immerhin war es
möglich, daß O’Maley ihn dadurch, daß er ihn sofort nach der Ankunft allein im Hotel zurückgelassen hatte, aus dem Zimmer gelockt hatte und, nachdem Haid auf der Straße war, in aller Ruhe den Koffer durchsucht hatte. »Sie glauben doch nicht, daß ich Ihre Koffer durchsucht habe. Ich war den ganzen Tag nicht im Hotel«, sagte O’Maley plötzlich und blickte ihm ins Gesicht. Haid wußte, daß er jetzt nicht zurückziehen durfte. Er durfte nicht zu weit gehen, aber er durfte auch nicht zurückziehen. »Das habe ich nicht behauptet«, sagte er. »Ich sage nur, daß mein Koffer durchsucht wurde, und daß ich nicht weiß, von wem und warum.« »Und ich sage Ihnen, daß es vermutlich am Flughafen geschehen ist«, entgegnete O’Maley gereizt. »Das ist natürlich möglich«, sagte Haid. »Sie glauben also, daß ich es war«, fragte O’Maley scharf. »Nein«, log Haid. »Hätte ich Ihnen die Angelegenheit besser verschweigen sollen? Es tut mir leid, wenn Sie sich betroffen fühlen.« »Nein, ich fühle mich nicht betroffen. Aber ich wollte von Ihnen selbst hören, daß Sie mich in keinen Zusammenhang mit Ihrem durchsuchten Koffer bringen.« »Das ist ein Mißverständnis«, sagte Haid. O’Maley sagte daraufhin, Haid müsse wissen, daß er, O’Maley, im Augenblick überspannt sei. Er habe bis jetzt gespielt und nur verloren. »Ich hatte kein Glück, wissen Sie. Eine Pechsträhne. Ich bin überzeugt, daß ich morgen alles zurückgewinne. Ich hatte heute schon tausend Dollar gewonnen, dann machte ich
den Fehler und begann auf andere Zahlen zu setzen. Sie können mir nicht noch einmal mit zweihundert Dollar aushelfen?« »Ich muß nachsehen«, antwortete Haid. Er fühlte, wie er wieder schwach wurde, und er haßte sich deswegen. Er stand auf, wühlte in der Brieftasche und gab O’Maley hundert Dollar. »Ich habe nur noch Schecks«, sagte er. »Das macht nichts«, antwortete O’Maley, »wenn ich Glück habe, reichen die hundert aus.« Er ging ins Badezimmer und putzte sich lautstark die Zähne. Als er zurückkam, hatte sich Haid bereits zu Bett begeben und ihm den Rücken zugekehrt, um nicht mehr mit ihm sprechen zu müssen.
12
Am nächsten Tag wartete Haid, bis O’Maley das Hotel verlassen hatte. Er hatte sich vorgenommen, sobald O’Maley das Hotel verlassen haben würde, nach New York weiterzureisen. Kaum hatte O’Maley das Hotel verlassen, als Haid von Zweifeln geplagt wurde. Es war schwül, und Haid blickte aus dem Hotelfenster auf die Berge. Sie erhoben sich weit in der Ferne und ihre Spitzen waren von Schnee bedeckt. Er wollte seine Lage durch eine überstürzte Abreise nicht verschlimmern. Wenn O’Maley ihn als Gerichtssaalreporter oder sogar als Polizist wegen Carson verfolgte, so würde er sich dadurch, daß er,
ohne sich von O’Maley zu verabschieden, abreiste, noch verdächtiger machen. Er hatte Angst, das war alles. Er ging zum Swimmingpool hinunter und kleidete sich in einer winzigen Kammer um, deren Steinboden mit dem von den Badegästen abgeronnenen Wasser überschwemmt war. Als er das kalte, klebrige Wasser unter seinen nackten Füßen fühlte, ekelte ihn so, daß er am liebsten in das Hotel zurückgelaufen wäre. Er legte sich auf einen freien Liegestuhl und sah eine zerknüllte Packung CAMEL am Beckenrand liegen. Auf der Cellophanhülle glitzerten Wassertropfen. Der Lift fuhr im gläsernen Liftschacht mit den Negerinnen, die die Schmutzwäsche in den Transportwagen abholten, in die Höhe. – Alles, was Haid sah, schien ihm wie ein Hinweis auf Ordnung. Er fühlte eine so starke Sehnsucht nach dieser Ordnung, daß er sich fragte, warum er noch nicht abgereist war. Worauf wartete er? Ein alter, glatzköpfiger Mann hinkte die Balkontreppe hinunter, ein verbitterter, kleiner Geschäftsmann aus der Provinz oder ein enttäuschter, pensionierter Kellner mit kranken Füßen, und als Haid ihm zusah, wie er ängstlich und krank die Treppen hinunterstieg, war ihm, als ob ihm jemand sagte, er, Haid, habe nicht mehr viel Zeit.
NEW YORK
I
Haid war von Angst betäubt gewesen, wie von einem Gift. In seinem Hotelzimmer hatte er immer quälender an Selbstmord gedacht. Er hatte Angst vor dem Sterben, doch in bestimmten Momenten wünschte er sich den Tod. Als seine Frau ihn betrogen und verlassen hatte, war er tagelang mit dem Gedanken, sich umzubringen, seiner Arbeit nachgegangen. Alles war ihm als ein Hinweis erschienen, daß er es tun sollte … Er brachte sich häufig mit Todesarten in Beziehung und konnte sich nicht erklären, warum er es nicht tat. Es blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß er zu feige war. Oder er brauchte den Gedanken, sich umbringen zu wollen, um leben zu können. Es half ihm über seine Verzweiflung hinweg, daß er wußte, jederzeit sterben zu können. Während er in seinem Hotelzimmer das Reisegepäck in die Hände genommen hatte, war er für einen Moment überzeugt gewesen, daß er sich erschießen würde, wenn er einen Revolver besitzen würde. Dieser Gedanke war ihm nicht neu. Er hatte mehrmals gezögert, sich einen Revolver zu kaufen, und daß er es nicht getan hatte, schien ihm zu bestätigen, daß er in Wirklichkeit leben wollte. Er hatte darüber
nachgedacht, wer ein größerer Egoist sei: Der, der sich aus Gründen, wie er es vorhatte, umbrachte, oder der, der zu feige war, sich in einer ähnlichen Situation umzubringen, obwohl er mit dem Gedanken spielte. Als die Tür zum Hotelzimmer ins Schloß fiel, überlegte er, ob er ein paar Zeilen an O’Maley schreiben sollte. Aber er überlegte nicht ernsthaft, denn er ging wie ein Automat weiter. Er trat in die heiße Luft und die schneidende Angst überfiel ihn, O’Maley könnte ihn sehen, könnte auf ihn zutreten und ihm Fragen stellen. Er ließ das Reisegepäck in der Hotelvorhalle stehen und versuchte ein Taxi aufzuhalten, dabei sah er, wie ein Philippino einem Weißen absichtlich den Schuh von der Ferse trat. Der Weiße drehte sich erschrocken um, sah den Philippino, entschuldigte sich und ging davon. Ohne sich im klaren zu sein, was er tat, trat Haid auf den Philippino zu und fragte ihn nach einem Taxi. Der Philippino blickte ihn feindselig an. Haid hatte keinen klaren Kopf, er dachte noch immer an Selbstmord und es befriedigte ihn, daß der Philippino voller Haß gegen ihn war. Haid wiederholte seine Frage nach einem Taxi. Der Philippino spuckte vor ihm auf die Straße. Im nächsten Augenblick schlug er Haid ins Gesicht. Haid fühlte einen stechenden Schmerz am Ohr und fand sich gleich darauf auf dem Boden liegend. Das Seltsame daran war, daß er den Eindruck hatte, sich selbst auf dem Boden liegen zu sehen. Er bildete sich auch ein zu sehen, daß er aus der Nase blutete, und daß seine Kleidung schmutzig war, dann fühlte er einen dumpfen Schmerz im Knie,
der gleich darauf nachließ und ihn annehmen ließ, er habe sich diesen Schmerz nur eingebildet. Was ihn überraschte, war aber, daß seine Angst verschwunden war. Er fühlte sich wie von einem Alptraum befreit und sah, als er jetzt aufblickte, das Gesicht des Philippinos hoch in der Luft, ein menschlicher Papierdrachen unter dem riesigen, blauen Himmel. Er vermochte das Gesicht nicht zu deuten, da er zu sehr mit sich beschäftigt war, aber er blickte es gelassen an und erhob sich, wie nach einem langen Schlaf. Und wie in einem Traum kam die Faust des Philippinos auf sein Gesicht zu, schwarz, groß und drohend, aber Haid schien, als zögere diese Faust, er konnte ihr mit einer Kopfbewegung ausweichen, und er fühlte, wie sein rechter Arm losschnellte und seine geballte Faust auf knochiges Fleisch traf. Er schlug nochmals zu, und im nächsten Augenblick sackte der Mensch vor ihm nieder. Der Philippino trug einen dunkelblauen Anzug mit Nadelstreifen, in seiner Brusttasche steckte ein seidenes Taschentuch, und sein Seidenschlips hing aus dem Sakko. Haid blieb ruhig stehen. Er fühlte keinen Schmerz, er fühlte auch nicht sich selbst. Es war ihm, als würde ein anderer jede Bewegung für ihn tun. Er erinnerte sich an ein irrwitziges Bild, eine Auslage, in der auf Mahagoniholz ein Jagdgewehr mit Patronen gelegen war und ein Satz fiel ihm ein, den er gedacht hatte, als er die Patronen gesehen hatte: DIE WÜRDEN GUT IN MEINEN KOPF PASSEN. Er war damals ziellos herumgegangen, seine Frau hatte ihn verlassen, und er hatte mit dem Gedanken gespielt,
sich zu töten. Dann hatte er daran gedacht, den Hund des Rechtsanwalts zu töten, und schließlich war er nichts anderes mehr gewesen als ein gedemütigter Mensch, der alles getan hätte, um seine Frau zur Rückkehr zu überreden. Der Portier des Golden Key Motels, ein schmächtiger, blasser Mann mit einem zynischen Gesicht und grauen Augen, stellte den Koffer und die Reisetasche neben ihn und schob ihn in ein Taxi. Er blickte ihn kalt und voller Verachtung an, während er ihn in das Auto schob und die Tür hinter ihm ins Schloß warf. Er mußte die Szene beobachtet haben, auf die Straße gelaufen sein und ein vorbeifahrendes Taxi gestoppt haben. Haid war noch immer so benommen, daß er automatisch in die Tasche griff und dem Portier einen Dollar anbot. »Verschwinden Sie«, sagte der Portier, zog seinen Kopf aus dem geöffneten Fenster zurück, und Haid sah ihn vom anfahrenden Taxi aus auf den Philippino zutreten, Passanten standen unbeteiligt herum, und der Philippino wich langsam wie eine gefährliche Schlange zurück. Haid steckte den Dollar ein, sah den anderen Arm, den er um den Koffer geschlungen hielt und dachte: »Dieser lächerliche Arm, dieser lächerliche Arm.« Er wußte jetzt, daß er im Hotelzimmer niemals Selbstmord begangen hätte. Er hatte gelernt, mit den Selbstmordgedanken zu leben. Er wußte, wann sie kamen, und wenn er verzweifelt war, hatte er stets genug Kraft empfunden, um sich zu widersetzen. Aber jetzt, während er im Taxi saß und sich in Sicherheit zu fühlen begann, war ihm, als gerate sein Denken in einen Sog. Die Nichtigkeiten
waren es, die es ihm plötzlich leicht erscheinen ließen, sich umzubringen: Die Schweißtropfen auf der Stirn des Taxichauffeurs, der Schmutz unter den Fingernägeln, die abgesessenen Polsterbezüge, ein Buick, der mit geöffneten Türen vor einer TexacoTankstelle stand und die Geräusche der Düsenjets, die vom Flugplatz immer deutlicher zu hören waren. Er lehnte sich zurück und dieses Zurücklehnen kam ihm unnatürlich vor. Es kam ihm unnatürlich vor, wie er dasaß, so als spiele er sich nur selbst. Er dachte an Carson und ihm war, als denke er absichtlich daran, um eine Rolle zu finden. Es war ihm, als ob in ihm alles abgestorben sei. Es war ihm völlig gleichgültig, was mit Carson geschehen war und was mit ihm geschehen würde, falls man ihn verdächtigte. Ja, es kam ihm vor, als habe er sich ertappt, wie er sich eine Komödie vorspielte.
2
Als Haid am späten Abend in New York landete, schien es ihm sinnlos, sich irgend etwas zu erwarten oder zu erhoffen. Ich bin nur eine Hülle, dachte er. Er zog sein Notizbuch heraus und bemerkte im selben Augenblick eine Negerin, die neben ihm stand und ihm einen neugierigen Blick zuwarf. Haid konnte ihr starkes Parfum riechen. Sein Blick fiel auf ihre dunkelroten Fingernägel, ihre feuchten Augen, ihre weißen Zähne und das schöne schwarze Haar, und er
empfand eine wehmütige Sehnsucht, als sei er schon alt und dächte über verpaßte Gelegenheiten nach.
3
Mit einem der gelben Taxis, die vor dem Flugplatz standen, fuhr er nach Brooklyn. Auf den Gehsteigen liefen Papierfetzen. Haid lachte auf, und der Fahrer drehte sich erschrocken um. Der Wagen fuhr jetzt schneller zwischen den unverputzten Ziegelbauten dahin, deren Fenster unbeleuchtet oder mit Vorhängen verhängt waren. Horkheimer hatte von der Nichtigkeit des Einzelnen gesprochen. Die NICHTIGKEIT DES EINZELNEN, der durch die Dunkelheit fährt, dachte Haid, an halbabgerissenen, riesigen Wohnhäusern vorbei, an verrotteten Geschäften, die sich mit geschlossenen Eisenrolläden absicherten, an Gaslaternen mit flackerndem Licht, an nackten Ziegelwänden mit schwarzen Feuerleitern, Steintreppen, die zu Haustüren führten, wie er sie von Filmen her kannte. Alles war dunkel, traurig, schmutzig. Die breiten Straßen ohne Menschen, der menschenleere Park, an dem er jetzt vorüberfuhr und eine unbeleuchtete, meterlange Plakatwand schienen ihm unentwegt seine Verlassenheit und seine Nichtigkeit vorzuführen. Haid fühlte, daß sein Hals beim Schlucken schmerzte. »Ich habe eine merkwürdige Logik entwickelt, alles auf mich zu beziehen«, dachte er im selben Augenblick. Ein
Negerkind lief den Gehsteig entlang, ein Stück weiter standen zwei Schwarze und rauchten. An der nächsten Ecke war ein ausgeschlachtetes Autowrack abgestellt. Dadurch, daß Haid bemerkt hatte, daß er alles auf sich bezog, nahm er das Autowrack jetzt wahr, als hätte er es in einem Film gesehen. Es kam ihm immer stärker vor, daß er in einem dunklen Kino saß und sich alles nur vorspielen ließ. Auf der Glasscheibe, die ihn vom Fahrer trennte, sah Haid jetzt ein gelbes Etikett mit der Aufschrift: JESUS CHRIST SUPERSTAR. Er dachte an Carson und an O’Maley. Er hegte immer mehr den Verdacht, O’Maley habe ihn erpressen wollen. Wie konnte er es auch sonst wagen, ihn um eine so große Geldsumme zu bitten, obwohl er ihn erst seit kurzem kannte? Er mußte damit rechnen, daß O’Maley früher oder später in New York auftauchte und nach ihm suchte. Haid warf einen melancholischen Blick aus dem Fenster. Das Taxi fuhr am Prospect Park vorbei und dahinter wurden die Häuser mit einem Mal gepflegter, die Ziegelfassaden waren weiß gestrichen, hinter den Fenstern brannte Licht und die Gardinen schimmerten weiß durch das Fensterglas.
4
Christine saß mit zwei winzigen, kreischenden Hunden im Wohnzimmer. Manchmal hatte Haid den Eindruck, daß sie berechnend war. Immer wenn beim Atmen ihre Nasenflügel vibrierten, ging etwas
Frigides von ihr aus. Aber vielleicht deutete Haid dies auch nur falsch, vielleicht war es Unsicherheit und ein Anflug von Ärger, da Haid ihr schweigsam gegenübersaß und gegen sein automatisches Lächeln ankämpfte. Er fühlte dieses Lächeln wie einen Fremdkörper im Gesicht und vermochte es nur mit Anstrengung einzustellen. Haid hatte Christine auf der Universität kennengelernt. Er hatte einmal mit ihr geschlafen, aber es war so flüchtig gewesen, daß er nur wenig Erinnerungen daran hatte. Er konnte sich an ihr verzücktes Gesicht erinnern und an ihre zärtliche Umarmung, doch er konnte jetzt nicht glauben, daß es einmal Wirklichkeit gewesen war. Vor zehn Jahren hatte sie in London einen jungen Amerikaner kennengelernt, den sie ein Jahr später geheiratet hatte. Haid wußte nur seinen Namen: Jerry Jakubowski. Jakubowski war Abteilungsleiter in der CHASE MANHATTAN BANK, und wie Haid sah, mußte er eine Menge Geld verdienen. Die Hündchen, eine Mischung aus Zwergpudel und Pekinesen, sprangen aufgeregt bellend von Christines Arm und umkreisten Haid. Christine sah lächelnd zu, wie Romy mit winziger Zunge Haids Hand leckte, während Puffer zitternd unter dem Tisch stand und bellte.
5
Dann war Haid plötzlich aufgebrochen. Er hatte seine Koffer in das Zimmer getragen, das Christine ihm gezeigt hatte, einen hellen Raum mit geblümten im Biedermeierstil gehaltenen Vorhängen und honiggelben Parketten. Aber Haid war so benommen gewesen, daß er die Koffer auf den Boden gestellt und gesagt hatte: »Ich bin so benommen von Sehnsüchten und Ängsten, von Wünschen und Befürchtungen, daß ich nichts sehe.« Er hatte die Empfindung, daß er Christine zu lieben begann. Er wollte sich jedoch nicht verlieben, und während er die Koffer zu Boden gestellt hatte, war ihm eingefallen, daß er, wenn er sich einer Frau näherte, immer den Verliebten spielte. Auch wenn es nur darum ging, mit einer Frau zu schlafen, fühlte er sich verpflichtet, ihr in übertriebenem Maße seine Wertschätzung zu bezeugen. Einerseits lag das an der Angst, abgewiesen zu werden (wenn er den Verliebten spielte und abgewiesen wurde, konnte er noch immer den guten Freund spielen), andererseits wünschte er, sich den Schein der Ehrfurcht zu geben. Selbst während des Beischlafs fühlte er sich genötigt, seine Rolle weiterzuspielen. Erst wenn er die Frau gewöhnt war und aus der Gewöhnung heraus seine Hemmungen fallen ließ und oft auch, wenn er keine inneren Beziehungen zu einer Frau hatte, genoß er es, mit ihr zu schlafen. Außerdem erzeugte er durch seine vorgespielte Verliebtheit Gegenliebe, die ihn
störte, da er sich verpflichtet fühlte. Natürlich wehrte sich sein Inneres zu akzeptieren, was ihm so leicht von den Lippen gekommen war. Einige Male war er nicht in der Lage gewesen, einen Beischlaf zu vollziehen, und immer dann hatte er seine Angst vor dem Versagen, seine Verstellung, seine verlogene Verliebtheit schon im Vorhinein mit großem Unbehagen gespürt. Haid war Christine wieder in das Wohnzimmer gefolgt, sie hatte ihm einen warmen Blick zugeworfen, und als sie sein ernstes Gesicht gesehen hatte, hatte sie ihm ihr Gesicht zugewandt und ihn angelächelt. Sie hatte ihn gefragt, ob er traurig sei. Haid hatte geantwortet, was ihn so verändere, sei eine Benommenheit. Er hatte sich in dem schwarzen Holzstuhl mit der hohen Lehne zurückgelehnt, und das Zimmer mit der tomatenroten Tapete, dem Kamin aus weißem Stein und den vielen Bildern hatte ihn zu stören begonnen.
6
Christine gab ihm den Haustorschlüssel, und Haid machte sich auf die Suche nach einer Bar. An Christines Gesicht zu denken, tat ihm weh. Aber er mißtraute sich selbst: Er wußte, daß er Liebesaffären bald als Belastung empfand. Andererseits konnte er diesmal versuchen, sich nicht zu verstellen. Aber hatte er überhaupt Lust, mit ihr zu schlafen? Es war ihm jetzt, als habe er es oft getan, um sich vor sich
selbst rechtfertigen zu können. Ja, es war nur eine Rechtfertigung vor sich selbst gewesen. Aber das war nicht das Wesentliche gewesen. Das Wesentliche war, wie sehr er sich selbst aufgegeben hatte, um eine Frau für sich zu gewinnen. Er hatte geglaubt, stets seine Intelligenz vorzeigen zu müssen, weil er unter einem Zwang litt, man erwartete dies von ihm. Obwohl er wußte, daß das nicht stimmte, war der Zwang stark genug gewesen, um ihn zu beherrschen. Auch war es vorgekommen, daß er an jemanden gedacht hatte, von dem er wußte, daß er Frauen imponierte, und daß er selbst diesen zu imitieren begonnen hatte. Oder er war fröhlich gewesen, wie er geglaubt hatte, daß die Frau es wünschte, ihn zu sehen. Nur wenn er betrunken gewesen war, war es ihm leichter gefallen, so zu sein, wie er war. Manchmal jedoch verstärkte gerade die Betrunkenheit seine gespielte Fröhlichkeit oder Nachdenklichkeit oder Verliebtheit und ließ ihn seine Verstellung durchhalten, auch wenn er sich lächerlich machte. Eine Zeitlang schon zog Haid es vor, zu schweigen, wenn er die Absicht hatte, eine Frau für sich zu gewinnen, womit er zwar nahezu nie Erfolg gehabt hatte, was ihn aber auf eine bestimmte Weise befriedigte, da er annahm, durch sein Schweigen Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben. Diese Aufmerksamkeit gedachte er in einer fernen Zukunft auszunützen. Auch fiel ihm bei diesen Überlegungen ein, daß er in Gesellschaft gerne den Gütigen, Verständnisvollen und Sanften spielte, und es ekelte ihn jetzt davor. Wenn er sich an
einzelne Menschen erinnerte, welchen er seine Rollen vorgespielt hatte, schämte er sich. Aber er war um nichts besser geworden. Es fiel ihm nur leichter, sich dies zu überlegen, weil es ihm vorkam, daß er von sich ganz weit entfernt war, nein, weil er überhaupt den Eindruck hatte, sein eigener Doppelgänger zu sein. Er erschrak bei dieser Überlegung und blickte vom Asphalt auf. Ein hoher, weißblauer Wäschereiwagen parkte am Straßenrand. Am Steuer saß ein Neger und gähnte. Die Häuser waren groß und schmutzig, dunkel und angsterregend, die Gehsteige vom Papierfetzen und Glasscherben übersät. Hinter dem nächsten Block kamen ihm drei Polizisten entgegen, die ihn mißtrauisch beobachteten. Für Philipp Marlowe wäre dies der Ort gewesen, um einen Toten zu finden. Aber diese tristen Blöcke hatten nichts Poetisches an sich. Er spürte ihre Wirklichkeit und die Grausamkeit dieser Wirklichkeit wie ein schweres Gewicht in seinem Kopf. Auch dachte er daran, daß Marlowe zu Frauen immer nur unerfüllte Beziehungen hatte, so als liebte er sie zu sehr, um sie mit seiner Liebe und seinen Sehnsüchten belasten zu wollen. Er fand eine Bar, vor der auf der Straße ein schwarzer Wagenheber aus schwerem Eisen lag. Niemand beachtete den Wagenheber. Es war, als gehörte dieser Wagenheber zur Straße. Niemand verband eine Geschichte damit, weil es gefährlich war, eine Geschichte damit zu verbinden. Haid betrachtete ihn von der Bar aus, während er Whisky trank und ab und zu einen Blick auf den Fernsehapparat warf, auf
dem ein Basketballspiel ablief. Das Publikum johlte und pfiff, und Haid fand es merkwürdig, daß er dabei den Wagenheber auf der Fahrbahn betrachtete. Die Menschen nahmen alles hin. Sie verharrten an ihren Plätzen im Unglück, in der Armut, in der Verzweiflung. Sie ordneten ihr Unglück, ihre Armut und ihre Verzweiflung in ihr Leben und ihre Orte ein, als gehörten sie als unumstößliches Gesetz dazu. Sie waren ohne Kraft, sie änderten sich nicht, weil sie an keine Änderung glaubten und weil sie sich keine Änderung vorstellen konnten. Sogleich kam es ihm vermessen vor, daß er sich seine Wahrnehmungen erklärte. Er glaubte im nächsten Augenblick auch schon nicht mehr an seine Erklärung. Sich etwas zu erklären, war nur eine Methode, sich zu beruhigen. Aber der Wagenheber auf der Fahrbahn hatte etwas Beunruhigendes an sich. Er schien ihm wie eine mächtige Drohung. Und im nächsten Augenblick wußte er, daß er ihn an Carsons Tod erinnerte. Er würde Mehring anrufen. Er mußte ihn anrufen. Er bezahlte und trat auf die Straße. Gaslampen die Straße entlang. Ein weißes Schild mit der Aufschrift in schwarzen Buchstaben: GASLIGHT REALTY. Auf einmal schluchzte Haid auf. Er wußte nicht, warum er schluchzte. Er hatte getrunken, war voll Angst und Verzweiflung. Vielleicht war er in einer zu schlechten Verfassung gewesen, als er Christine wiedergesehen hatte, denn er konnte sich nicht erklären, warum ihn ihr Anblick so getroffen hatte. Plötzlich vermißte er seine Brille. Er glaubte, sie nicht aufgesetzt zu haben. Gleich darauf bemerkte er
den Irrtum und erschrak darüber, daß er sich eingebildet hatte, keine Brille aufgesetzt zu haben. Er berührte einen dunkelgrünen Holzzaun. Wieder schluchzte er auf. Dann stieg er die Steinstufen zur Haustür hoch und sperrte die Glastüren auf. Kaum hatte er die zweite aufgesperrt, als ihm Romy und Puffer kläffend entgegengestürzt kamen. Haid verscheuchte sie mit einer Geste, aber die Hunde liefen ihm nach und bellten wie verrückt. Haid drehte sich um, da er die Hunde beruhigen wollte, als er sah, wie eine Tür geöffnet wurde und ein blasser, junger Mann im Schlafrock herauskam. Sein Haar war wirr und sein Blick war glasig. Offensichtlich war er betrunken. Er blickte Haid neugierig an, ohne auf ihn zuzugehen, und fragte in gebrochenem Deutsch, ob er es mit Mr. Haid zu tun habe. »Ich bin Jerry Jakubowski«, sagte der Mann. Er steckte seine Hände in die Taschen des Morgenmantels und ging langsam in sein Zimmer zurück.
7
Haid packte seinen Koffer aus und lauschte. Unter seinem Zimmer befand sich das Zimmer von Jakubowski, und Haid konnte ihn auf und ab gehen hören. Er legte seine Brille auf die Kommode. Die Hunde hatten aufgehört zu kläffen. Er versuchte das Fenster zu öffnen, konnte es aber nicht. Sein Hals schmerzte ihn weniger. Er ging nochmals zum
Fenster hin und versuchte es zu öffnen. Diesmal gelang es ihm. Unter seinem Fenster stand ein ausgedienter Kinderwagen. Die Schritte in Jakubowskis Zimmer waren verstummt. Haid ging zurück zum Bett, setzte sich und stützte seinen Kopf in die Hand. Wenn er die Augen schloß, sah er Mehring vor sich, vor dem Pazifik stehend mit zerzaustem Haar, O’Maley beim Spiel und Kapra mit einer Flasche Budweiser Bier auf der Terrasse, er sah Friederike in der gestreiften Leinenbluse, dann sah er seine Frau beim Bügeln in der Küche und schließlich Mr. Jakubowski im Morgenmantel …
8
Um zehn Uhr erwachte er. Hastig wusch er sich im rosa und gold gekachelten Badezimmer, rasierte sich vor einem Spiegel, der gerahmt und mit Glühbirnen versehen war, wie Spiegel in den Schminkgarderoben von Theatern. Sein Hals schmerzte ihn. Als er in sein Zimmer zurückkehrte, fand er ein Tablett mit dem Frühstück vor der Tür. Im Badezimmer hatte er in einer Hausapotheke ein Fläschchen Aspirin entdeckt. Er hatte dem Fläschchen drei Tabletten entnommen, die er jetzt mit einem Schluck Kaffee hinunterspülte. Draußen fuhr ein Polizeiauto mit heulender Sirene vorbei. Er ging hinunter in das Wohnzimmer, wo Christine soeben in einen roten Ledermantel schlüpfte.
»Ich wollte schon ohne dich gehen, ich dachte, du schläfst noch …« Sie kam auf ihn zu und küßte ihn auf die Wange. »Ich hatte Halsschmerzen und hab ein paar Aspirin genommen«, sagte Haid. »Hast du Fieber? Laß deine Stirn fühlen …« »Ich habe kein Fieber«, antwortete Haid, »nimmst du die Hunde mit?« Christine lachte und sagte, die Hunde müßten auf das Haus aufpassen.
9
Als sie die Treppe zur Untergrundbahnstation hinunterstiegen, fiel Haid Jakubowski ein, und er erzählte Christine, daß er ihm begegnet war. »War er betrunken?« »Ich weiß es nicht.« »Er war gestern betrunken«, sagte Christine, »wir haben uns gestritten.« Haid schwieg. Er ließ seine Hand auf dem gelben Eisengeländer mitlaufen. Vor dem Eingang hing ein braunes Schild mit unleserlichen Buchstaben. »Ich werde in ein Hotel ziehen«, sagte er. Er warf die durchlochte Messingmünze, die Christine für ihn gelöst hatte, in den Schlitz auf dem Drehkreuz. »Das ist nicht notwendig«, sagte Christine. Die Station war schmutzig und schlecht beleuchtet. Neger lungerten herum. Haid blickte ihnen nicht in das Gesicht. Er erfand einen Traum, den er Christine erzählte. »Ich
träumte von meinem Vater«, sagte er. »Ich war ein Kind und mein Vater befahl mir zu stehlen. Ich mußte auf einem Marktplatz eine Kiste Tomaten stehlen. Die Kiste war mir jedoch zu schwer und ich ließ sie, kaum daß ich sie aufgehoben hatte, fallen. Daraufhin verfolgte mich der Mann, der hinter der Marktbude stand. Mein Vater war verschwunden. Ich stand plötzlich vor einer Meeresklippe und kam nicht mehr weiter. So sehr ich mich auch anstrengte, kam ich nicht weiter. Ich stieß mich ab und schwebte langsam hinunter.« »Auch ich habe geträumt«, sagte Christine. »Ich habe von dir geträumt.« Die Wände in der Station waren weiß gekachelt. »Etwas Angenehmes?« fragte Haid. »Ja, etwas Angenehmes«, antwortete Christine. Haid fragte sich, ob Christine tatsächlich geträumt hatte. Vielleicht hatte auch sie nur einen Traum für ihn erfunden. Die Bahn kam dröhnend angefahren. Aus den beleuchteten Waggons glotzten Neger mit ausdruckslosen Gesichtern durch die Fensterscheiben wie Fische aus einem Aquarium. Einer trug einen schwarzen Hut und musterte Haid unverblümt, als er einstieg. Haid hielt sich an einem Aluminiumgriff unter der Decke fest. Die Menschen saßen schweigend und isoliert nebeneinander. Ein weißer Jugendlicher spielte obszön mit der Antenne eines Kofferradios. Haids Blick schweifte über die lange Reihe der stummen Zeitungsleser. Es kam ihm für einen kurzen Augenblick vor, als lebten die Menschen gar nicht,
als ließen sie sich das Leben im Kino, in der Zeitung, in Büchern, im Fernsehen nur vorspielen und bezogen dann von Fremden Erlebtes und Erfundenes in ihr Leben ein, als hätten sie es selbst erlebt. Irgend jemand hatte die Wände der Untergrundbahn mit blauer, grüner und roter Farbe beschmiert, WENN SIE UNSCHULDIG SIND, SCHLAGT SIE, BIS SIE SCHULDIG WERDEN, las Haid. Sie erzeugen Schuldgefühle und leben ein Leben von Schuldigen, dachte er weiter. Sie wissen nicht, weshalb sie schuldig sind, und sie fragen auch nicht danach. Sie fühlen sich schuldig und gehorchen. Und nur weil sie sich schuldig fühlen, leben sie dieses Leben des täglichen Stumpfsinnes. Dieses Leben funktioniert nur, weil die Menschen sich schuldig fühlen. Seine Gedanken kamen auf Carson und O’Maley, und er spürte wieder Verzweiflung in sich entstehen. Plötzlich fuhr ein Schwarzer ohne Beine auf einem Holzgestell mit Rädern durch den Waggon, in einer Hand hielt er eine Blechbüchse, mit der er rasselte. Er fuhr an Haid vorbei, und Haid bemerkte, daß das Gesicht des Krüppels gerade bis zu seinem Geschlecht reichte. Niemand beachtete den Krüppel und niemand gab ihm etwas. Haid selbst war zu feige und verunsichert gewesen, um ihm etwas zu geben. Er sah ihm nach, wie er im muffigen Untergrundbahnwaggon mit rasselnder Büchse dahinkroch, zwischen den Fahrgästen mit abwesenden Gesichtern, als seien sie Tiere, die mit offenen Augen schlafen, jederzeit bereit, sich zu verteidigen oder zu fliehen, voll
Argwohn und Mißtrauen dem anderen gegenüber. Haid spürte eine neue Angst in sich, sie hatte etwas von Verfolgungswahn und etwas von Melancholie. Er dachte daran, daß er diese Angst bis in die Zahnwurzeln fühlte. Er wußte, daß Christine nichts von seiner Angst wissen konnte, aber er schämte sich vor ihr. Er spürte den Zahnstein an der Innenseite der Vorderzähne mit der Zungenspitze. Er bemerkte, daß er die Daumen in der Faust versteckt hielt. Er drehte sich zu Christine hin, die automatisch einen stumpfsinnigen Gesichtsausdruck angenommen hatte. Aber es war etwas in ihrem Gesicht, das er liebte. Er spürte diesen Gedanken wie einen Schmerz. Er wollte sich nicht mehr verlieben. Er wollte sich nie mehr verlieben. Es war ihm, als müßte er sich freiwillig dem Wahnsinn aussetzen. Er war wahnsinnig gewesen, als er seine Frau kennengelernt hatte, er hatte sie geheiratet, der Wahnsinn war langsam verschwunden, und als sie ihm gesagt hatte, daß sie ihn betrog und daß sie ihn verlassen werde, war der Wahnsinn wieder ausgebrochen. Er hatte Liebe nur als Schmerz erfahren. Die Zeit hatte sich wie ein raffiniertes Folterinstrument gegen ihn gewandt. Wenn er mit seiner Frau zusammengewesen war, hatte er gespürt, wie die Zeit sich rasch und unwiederbringlich verflüchtigt hatte, und wenn sie voneinander getrennt waren, hatte er nichts als Sehnsucht und Trauer empfunden. Die Erinnerungen waren das Furchtbarste. Es schien ihm oft, als gäbe es nur furchtbare Erinnerungen. Eine angenehme
Erinnerung erfüllte ihn mit Sehnsucht und eine unangenehme ließ ihn alles nochmals empfinden, was er einmal empfunden hatte. Er war sich unsicher, ob er, wenn er verliebt war, sich fremd oder näher war als sonst. Vielleicht war das Sichfremdfühlen nur deshalb so stark, weil es sich um eine neue Erfahrung handelte, die ihn sich selbst überließ. Vermutlich war diese neue Erfahrung auch die Ursache für die Verwirrung, die ihn befiel, ja, wahrscheinlich war dieses Sichfremdfühlen in Wirklichkeit ein Sichnahesein. Auf einmal hatte er den Wunsch, Christine zu zeigen, daß er an sie dachte. Er streichelte über ihr Haar, und sie blickte lächelnd zu ihm auf. Dann sah Haid ihre Hände, die lackierten Fingernägel, die weichen Handballen, die schmalen Fingergelenke und er wußte, daß er sich verlieben würde.
10
Sie stiegen mehrmals um, und jedesmal befanden sich in der Subway mehr Farbige als Weiße. Die Weißen waren ärmlich gekleidet, mit zu kurzen Hosenstulpen, so daß man die Socken sah. Einer trug eine Brille in seinem alten versoffenen Gesicht, seine wenigen, kurzgeschnittenen, grauen Haare waren cholerisch gesträubt. Er lehnte an der Wand und hielt eine Hand auf der Hose über seinem Glied. Christine wagte nicht, zu ihm hinzusehen, sie starrte
unbeteiligt zum Fenster hinaus und sprach auch nicht mit Haid. Auf Haid jedoch übte der alte Mann eine eigenartige Faszination aus. Haid glaubte nicht stark genug zu sein, um zum Trinker zu werden. Er kam ganz ungewollt auf diesen Gedanken. Um zum Trinker zu werden, fehlte ihm die Kraft. Er würde sein Leben ändern müssen und dazu fühlte er sich nicht in der Lage. Der alte Mann schubste sich von der Wand weg, taumelte ein Stück durch die Untergrundbahn und stellte sich hinter ein junges Negermädchen mit einem Kopftuch. Er stand ganz nahe hinter dem Mädchen, so daß sein Unterkörper an ihren Hintern stieß. Die Untergrundbahn rüttelte, und der Alte schien es auf dieses Rütteln angelegt zu haben. Das Mädchen blickte mit unbewegtem Gesicht aus dem Fenster und verhielt sich so, als merkte sie nicht, was vorging. Sie gab vor, ihren Körper nicht zu fühlen. An der nächsten Station riß sie sich los und sprang aus dem Waggon. Der Alte schnaufte geräuschvoll durch die Nase und begann wieder mit der Hand zu seinem Glied zu fahren.
11
Als sie an der 79. Straße ausstiegen, fiel Haid wieder das gelbe Stiegengeländer auf. Fluten gelber Taxis überschwemmten die Straßen. Zwei Neger trugen gelbe Plastiksäcke vorbei. Haid erzählte Christine von dem Alten in der Untergrundbahn, während er
zwei Arbeiter mit gelben Helmen auf einem Baugerüst sah. Christine antwortete, sie habe einmal eine Frau in der Untergrundbahn gesehen, die anstelle von Schuhen Handschuhe auf den Füßen getragen habe. Ein andermal habe sie beim Milchholen einen Mann auf Rollschuhen gesehen, der ein weißes Kleid getragen habe, auf dem hunderte kleine Glöckchen befestigt gewesen seien.
12
Vor der Universität hing eine große amerikanische Flagge. Fahrräder lehnten an der schmutzigbraunen Mauer. Haid wartete im 8. Stock, bis Christine mit ihrem Professor, einem dicken, jüdischen Germanisten, gesprochen hatte. Er rauchte eine Zigarette und ging auf dem Gang spazieren. An den Wänden, an welchen man das Muster der rechteckigen Ziegelsteine unter dem Anstrich erkennen konnte, klebten Büschel von farbigen Anschlagzetteln, die Vorlesungen, offene Stellen, Verluste, usf. vermeldeten. Eine weißgekleidete Negerin schob einen Wagen mit Glasflaschen voll Urinproben vorbei; die Flaschenöffnungen waren mit Silberfolien abgedeckt. Der Anblick hatte etwas seltsam Surrealistisches an sich. Als er dann mit Christine die acht Stockwerke zu Fuß hinunterging und in den Ecken der Gänge dicke rotgestrichene Rohre und rote Feuermelder sah, hatte er dieselben
Empfindungen wie beim Anblick der durch Silberfolie abgedeckten Urinproben. Vor dem Universitätsgebäude rollten Arbeiter in khakifarbener Kleidung einen gelben Schlauch auf. Er war ganz seinen Augen ausgeliefert. Christine erzählte ihm irgend etwas, aber Haid hörte ihr nicht zu. Die Sonne schien. Er dachte daran, daß man ihm erzählt hatte, in New York scheine nie die Sonne, und er mußte lachen. Christine, die sein Lachen in Zusammenhang mit dem brachte, worüber sie gesprochen hatte, zog sein Gesicht im Gehen zu sich hinunter und küßte ihn auf die Wange. Haid legte einen Arm um Christines Schulter und drückte sie an sich. Gleich darauf ließ er sie los, steckte seine Hände ein und ging wieder neben ihr her. Er spürte, daß er ihr durch Zurückhaltung näherkommen konnte als dadurch, daß er sich seine Gefühle anmerken ließ. In der 5th Avenue verließ ihn Christine vor einem Friseurgeschäft. Sie winkte ihm, bevor sie das Geschäft betrat, zu, und Haid schlenderte ziellos weiter. Im nächsten Augenblick stand Christine wieder neben ihm und umarmte ihn. »Ich habe ganz vergessen, dir auszurichten, daß Gertrud in New York ist.« Gertrud war Lektorin bei einem österreichischen Verlag. Sie war lange Jahre die Freundin Christines gewesen, und Haid hatte sie immer gemocht. Eine Zeitlang hatte er ihr Briefe geschrieben, als sie nach Salzburg gezogen war und die Stellung im Verlag angenommen hatte, dann waren die Briefe seltener geworden, aber er hatte stets mit einem Gefühl großer Zuneigung an sie
gedacht. Er ließ sich die Adresse geben und von Christine den Weg beschreiben. Dann schlenderte er die 5th Avenue hinunter. Carson und Mehring schienen ihm ganz weit von seinem Leben entfernt. Er mußte vergessen lernen. Er hatte Schwierigkeiten zu vergessen, aber er wollte es lernen. Er wollte vergessen lernen, wie eine literarische Figur vergessen konnte. Philipp Marlowe erinnerte sich nie an vergangene Fälle. Nie erinnerte sich Philipp Marlowe an etwas, was in einem anderen Buch bereits beschrieben worden war. Haid spazierte verträumt die 5th Avenue hinunter und bezog alles, was er sah, in seine Phantasie ein: Die Marmorportale über den Schmuck-, Glas- und Porzellangeschäften, die Vordächer aus Kunststoff und Leinen über Restaurants und Hotels, uniformierte Portiers, den Eislaufplatz im Rockefeller Center, das Glashaus mit Blumen, vor dem eine Dudelsackkapelle in Kilts spielte. Er konnte jede Geschichte mühelos mit Marlowe in Zusammenhang bringen. Er schreckte aus seinem Traum auf, als ein schwarzer Lastkraftwagenfahrer an einer Tankstelle die Wagentür so heftig aufriß, daß er ihn beinahe damit umriß. Zu seiner Überraschung entschuldigte sich der Fahrer. Gleich darauf begriff er, warum der Neger sich entschuldigt hatte, denn er sah an der nächsten Kreuzung einen Polizisten auf einem Pferd, der aufmerksam zu ihnen herüberblickte.
13
Zu Mittag brach er den Spaziergang ab, setzte sich in die Fensternische eines Restaurants am Times Square und dachte über Christine nach. Jakubowski war vermutlich eifersüchtig auf ihn gewesen, aber interessierte ihn das überhaupt? Er bemerkte, daß es ihn nur so weit interessierte, als es ihm Schwierigkeiten bereiten konnte. Auch die Gefühle Mehring gegenüber hatten sich darauf beschränkt, keine Schwierigkeiten mit ihm zu bekommen. Zum ersten Mal und für einen kurzen Augenblick bereitete ihm der Gedanke, mit Carsons Tod in Zusammenhang gebracht zu werden, ein verrücktes Gefühl der Freude. Auch, daß O’Maley ihn womöglich verfolgte, erschreckte ihn nicht. Er glaubte, ihm jetzt gewachsen zu sein, er hatte keine Angst mehr vor ihm. Zuerst aber mußte O’Maley ihn finden, in diesem Gewühl gelber Taxis, in diesem Gewimmel von prostatakranken Pensionisten, jüdischen Bankbeamten, geschlechtskranken Negern, Huren, Stenotypistinnen, Polizisten, Frauen in Pelzmänteln, Arbeitslosen, Kellnern, Köchen, debilen Kindermädchen, schwindelfreien Fensterputzern und abgetakelten Schauspielern. Er blickte den Menschen, die am Restaurant vorbeigingen, nach und stellte sich ihre Berufe und ihre Krankheiten vor, ihre Geheimnisse und ihre Wünsche, und die endlose Flut der Menschenwelle machte ihn ruhiger. Auf der anderen Straßenseite sah
er eine Reklametafel für die Zigarettenmarke WINSTON. AUS dem Mund des Rauchers strömten in rhythmischen Abständen Dampfwolken, nachdem zuvor ein Mechanismus eine Hand mit einer Winston-Zigarette zum Mund des Rauchers geführt hatte. Im Geist sah Haid sich hinter dem großen Bus mit dunkelblauen, hellblauen und silbernen Streifen in Deckung gehen, sah, daß er trotz seiner Angst das schwarzweiße Reklameschild auf dem Dach des Busses bemerkte, sah O’Maley an einem großen, schmiedeeisernen Feuermelder auf der anderen Straßenseite lehnen, eine Hand in die Brusttasche versenkt. Er sah sich hinter einem parkenden Personenwagen Deckung nehmen und O’Maley durch die Scheiben beobachten. Er sah ihn vor dem Wolkenkratzer mit dem reichverzierten, goldenen Portal lehnen. Dann sah er sich langsam, ganz langsam einen Revolver ziehen, sah die Waffe groß vor den Augen, dann sah er, wie O’Maley mit einem endlos langen Explosionsknall in die Luft gerissen wurde, mit mikroskopischer Genauigkeit sah er, wie Haare und Fleischstücke aus O’Maleys Kopf gerissen wurden, wie der Körper nach hinten zusammenklappte, als könnten die Gelenke jede Bewegung ausführen, sah Blutfetzen an die Mauer spritzen, sah O’Maley zu Boden fallen, nein schweben, dann sah er sich selber in Zeitlupe aufrichten (er sah jetzt aus wie Victor Mature), sah einen Neger mit schwarzem Hut und schwarzem Ledermantel erschrocken die Augen aufreißen, sah wieder seine Hand mit der Waffe wie eine
Cinemascope-Projektion vor sich, hörte den Schuß, sah den Hut langsam durch die Luft fliegen, sah den Neger einknicken und mit dem Kopf voran auf den Asphalt stürzen, sah den Polizisten hinter der rotweißen Coca-Cola-Tafel in Deckung gehen, sah das Auseinanderstieben kreischender Menschen, fühlte die Kälte des Schattens der Wolkenkratzer an diesem sonnenhellen Tag, sah sich jetzt auf einmal so schnell laufen, daß alles um ihn nur die vielfarbige Spur von Licht wurde, wie wenn eine Kamera einem schnell jagenden Objekt folgt, sah jetzt seine Füße in Großaufnahme, sah den Polizisten aus einem Auto feuern, spürte, wie eine gewaltige Faust ihm die Luft aus der Brust schlug und wie er zu einem rohen, blutigen Stück Fleisch wurde, das in eine endlos tiefe Dunkelheit fiel.
14
Er ging hinaus auf die zweiundvierzigste Straße und begann zu hinken. Er hinkte, um sich vor den Menschen zu schützen, vor den farbigen Polizisten mit Schlagstöcken in der Faust, vor dem weißen Polizisten, der mit abwesendem, arroganten Gesicht an einer Hausmauer lehnte, vor den verkommenen, abgerissenen, unrasierten, geisteskranken Individuen, den lebhaften Mäusegesichtern, dem Mann mit schwarzer Kappe, der sich von einem Automaten die Füße massieren ließ, vor dem feindseligen Gesicht,
das vor einer Auslage stand, in der das Foto einer Frau mit riesigen nackten Brüsten für eine Sexshow warb. Er hinkte unter den Glasvordächern der Kinos, die noch nicht beleuchtet waren, und auf denen in großen Buchstaben der Name von Schauspielern und Regisseuren und die Titel von Filmen angezeigt wurden. Er stellte sich zur Tarnung in einer der Menschenschlangen an, die vor den Kassen der Kinos auf dem Gehsteig warteten, brach aus und hinkte wieder davon. Am Times Square bog er in die 7th Avenue und suchte in der einundfünfzigsten Straße nach dem Hotel Abbey Victoria. Die Gehsteigkante vor dem Hotel war mit einem Messingbeschlag geschützt, damit sie nicht abgetreten werden konnte. Haid ging durchs Marmorportal und fragte in der Portiersloge nach Gertrud Frank. Der Portier blätterte im Hotelbuch, klappte es zu und sagte: »Gestern abgereist.«
15
Haid beschloß, sich im Centralpark auf eine Bank zu setzen. Er war noch immer nicht in der Lage, klar darüber zu denken, was ihm in San Francisco widerfahren war. Und was sollte er tun? Gedankenverloren wandelte er dahin. Plötzlich, als er sich in der Avenue of the Americas befand, stürmte eine Inderin in europäischer Kleidung auf ihn zu. Sie hatte ein dickes, aufgeschwemmtes Gesicht und ihre
Augen waren voll Fanatismus. In der Hand hielt sie einen Strauß kurzstieliger Nelken. Sie packte Haid beim Mantelkragen und stopfte eine der Nelken in Haids Knopfloch: »Es ist für indische Kinder!« rief sie, »am Abend ist eine Wohltätigkeits-Veranstaltung für indische Kinder.« Haid griff nach seinem Geld, währenddessen kam die Inderin so nah an seinen Körper heran, daß er befürchtete, sie könnte ihm das Geld entreißen. Er griff nach einem 5-Dollarschein und drückte ihn in ihre Hand. »Nein, Sie müssen mehr Geld geben! Ich habe gesehen, daß Sie mehr Geld haben!« – Sie klammerte sich an seinen Mantelkragen und schrie auf ihn ein, so daß sie sein Gesicht mit Speicheltröpfchen benetzte. »Sie haben eine ganze Rolle Dollarnoten. Sie haben eine ganze Rolle Dollarnoten eingesteckt!« – Sie versuchte in seine Tasche zu greifen und ihm das Portemonnaie herauszuziehen. Haid faßte ihre Hand und wollte sie von sich wegdrehen, als die Inderin hysterisch aufkreischte. »Fassen Sie mich nicht an, Mann, fassen Sie mich nicht an. Sie haben mir fünf Dollar gegeben, deswegen haben Sie noch kein Recht, mich anzufassen! Ich schreie um Hilfe, wenn Sie mich nochmals anfassen, verstanden?« »Ich habe Sie nicht angefaßt.« »Fünf Dollar sind zuwenig fürs Anfassen. Fürs Anfassen nochmals fünf Dollar!« Haid durfte kein Risiko eingehen. Wenn die Polizei ihn wegen dieses Vorfalls festnahm, und er wegen Carson womöglich gesucht wurde, konnte er in größte Schwierigkeiten kommen. Er riß sich los, drehte sich um und ging
rasch davon. Einige Schritte lang kam er sich verfolgt vor. Er begann zu laufen, lief am riesigen, schwarzen Wolkenkratzer der Banker’s Trust vorbei, vor dem zwei künstliche Wasserfälle ein monotones Geräusch erzeugten, dann plötzlich an abgerissenen Plakatwänden vorbei, mit Scherengittern verschlossenen Geschäften, entlang der Fahrbahn, die für eine kurze Strecke aus rohen Holzbrettern bestand, welche unter den Autos zitterten und hielt schließlich vor einem schwarzgestrichenen Schuhmacherladen. Er drehte sich um – niemand war ihm gefolgt. Jetzt erst bemerkte er, daß er außer Atem war. Er war verwirrt und gleichzeitig mit der nachlassenden Angst wurde in ihm ein Gefühl des Glücks wach.
16
Vor dem Plaza-Hotel warteten rote, gelbe, braune und schwarze Kutschen auf Fahrgäste. Die Kutscher lungerten müde in ihren Uniformen herum, und Haid spürte, wie sehr er selbst offen war für alles Friedliche, und wie sehr er sich danach sehnte, dieses Gefühl des Friedens in sich zu verstärken. Am Parkrand waren zwei große aluminiumfarbene Behälter aufgestellt, wovon der eine mit der roten Ziffer Eins, der andere mit einer gelben Zwei bemalt war, und Haid versuchte einen Eingang zu finden, da er die Behälter für ein Pissoir hielt. Er ging einmal
herum, ohne einen Eingang zu entdecken. Schließlich setzte er sich auf eine Bank, auf der bereits ein elegant gekleideter Mann mit grauem Hut, dunkelblauem Mantel und dunkler Hornbrille saß. Der Mann hatte ein Bein über das andere geschlagen, wodurch die Hose etwas hinaufgerutscht war und den Blick auf zwei magere Knöchel freigab, die von feinen seidigglänzenden Socken bedeckt waren. Der Mann bemerkte, daß Haid ihn musterte, stand sofort auf und ging davon. Das Mißtrauen mußte hier täglich Tausende kleine Mißverständnisse erzeugen. Haid selbst war in eine ununterbrochene Auseinandersetzung mit Panik und Angst verwickelt. Die Szene mit der Inderin zum Beispiel hatte ihn in Panik versetzt, eine verrückte Straßenszene konnte ihn so weit bringen, den Kopf zu verlieren. Er blickte dem Mann nach, der zwischen den laublosen, gelbgrünen Baumstämmen immer kleiner wurde. Er wäre ihm gerne nachgegangen und hätte ihn angesprochen, aber er wußte, daß er es nicht tun würde. Als er den Weg zurückging, sah er, daß das Plaza-Hotel sich in einem Wolkenkratzer aus Rauchglas spiegelte wie eine Fata Morgana. Eine Nonne in blauem Kleid kam ihm versunken entgegen, und Haid nahm – er wußte nicht warum – die Nelke aus dem Knopfloch seines Mantels, knöpfte ihn auf und steckte die Nelke in die äußere Brusttasche seines Sakkos, hierauf knöpfte er den Mantel wieder zu. Die 5th Avenue war jetzt kalt und schattig. In der dunklen Kühle fühlte Haid körperlich, daß er auf der Flucht war. Er ging
rascher, als folgte ihm tatsächlich jemand, und als er sich dessen bewußt wurde, daß er rascher ging, verlangsamte er seine Schritte wieder. Er kaufte sich in einem Papiergeschäft einen Stadtplan, den er – ohne ihn anzusehen – nach dem Kauf einsteckte. »Das Thema der Zeit ist Selbsterhaltung«, hatte Horkheimer festgestellt, »während es gar kein Selbst zu erhalten gibt.« Es kam ihm hochmütig vor zu behaupten, daß es kein Selbst zu erhalten gäbe. Allein das Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit schien ihm auszureichen, um von einem Selbst zu sprechen. Tolstoi hatte geschrieben, daß jeder Schmerz, jede Krankheit den Menschen ein wenig den Tod erfahren ließen. Man konnte die Sterblichkeit zwischendurch vergessen, aber man wurde immer wieder daran erinnert. War der riesige, blinde Bettler mitten auf dem Trottoir der 5th Avenue nicht eine Erinnerung an den Tod? Er stand da: Starr, mit unbeweglichem Gesicht auf Krücken gestützt, ohne eine Bewegung und bettelte, ohne ein Wort zu sprechen. Haid fühlte sich seltsam bedroht. Es war keine penetrante Bedrohung, die er fühlte, es war nur ein Hauch, eine kleine Berührung, aber es war eine quälende Berührung. Er fürchtete sich davor, auch nur einen Blick in den Madison-Square-Park zu werfen, als würde ihn bereits ein Blick in größte Gefahr bringen. Und dennoch mußte er einfach stehenbleiben und über den schwarzen Eisenzaun in den Park spähen. Auf einer Bank kletterten halbwüchsige Neger herum, das Gras drang nur
spärlich aus der schmutzigen Erde hervor, und die kahlen Bäume verstärkten den Eindruck von Traurigkeit und Verkommenheit. Ein Neger in einem schwarzen Taucheranzug, einen schwarzen Spazierstock in der Hand, ging auf Haid zu und blieb vor ihm stehen. Er war so nahe an Haid herangetreten, daß dieser das Sichverengen und Erweitern der Pupillen in seinen Augen beobachten konnte. »Das ist es«, dachte Haid, »den ganzen Tag war ich unruhig und hatte Angst vor irgend etwas und nun ist ES da.« Er fühlte sich nicht von dem Neger, der vor ihm stand, bedroht, sondern von etwas Vagerem, Unbestimmteren, und der Neger schien ihm diese Bedrohung zu verkörpern, so als handle es sich um nichts Physisches, sondern um etwas Irreales. Haid wagte nicht weiterzugehen, er wagte auch kein Wort zu sprechen oder zu lächeln, er fürchtete sich sogar vor seinem eigenen Atem, weil er dachte, er könne ihn verraten. Er wußte nicht, was der Atem von ihm verraten konnte, er hatte Angst und er vermochte sich gegen diese Angst nicht zur Wehr zu setzen. Er hatte auch nicht die Kraft, sie zu untersuchen. Haid sah die Poren in der Haut des Negers, die Falten unter seinen Augen, die feingeschwungenen Wimpern, den Ansatz der Zähne unter einem dunkelroten Stück Zahnfleisch. »Schau mich an«, befahl dieses Gesicht und Haid gehorchte. Er wußte nicht, wie lange er so dastand, ohne etwas zu tun. Das Gesicht hatte ihn in der Gewalt, und er war wehrlos. Plötzlich öffnete sich der wulstige Mund und sagte mit heiserer Stimme: »Hau ab.«
Haid gehorchte. Die Scham würgte ihm die Luft im Kehlkopf ab, aber er drehte sich um und ging ohne den Versuch eines Protestes davon. Er war so gedemütigt, daß er zu keiner Empörung mehr fähig war. Er fühlte, wie der Schweiß auf seinem Körper erkaltete.
17
Er hatte Angst davor, in Christines Haus zurückzukehren. Er wußte nicht, was ihn dort erwartete. Er faßte den Vorsatz, sich ein Hotelzimmer zu nehmen und in ein oder zwei Tagen auszuziehen. Nach einigem Suchen fand er ein Hotel am Washington Square. Er ließ sich ein Zimmer reservieren, dann nahm er ein Taxi und fuhr zurück nach Brooklyn. Die Bilder, die seine müden Augen aus dem dahinfahrenden Taxi auffingen, befremdeten ihn und ließen ihn das Taxi als enge Zelle empfinden. Die niedere, knallgelbe Häuserwand, auf die rote und weiße Buchstaben gemalt waren, der kleine Park, in dem sich Neger an einem offenen Feuer, das aus einer Blechtonne quoll, die Hände wärmten, die Brooklyn Bridge über dem East River, kleine Schiffe unter der Brücke, Negerkinder, die an einer Tankstelle mit einem Papierdrachen spielten … Ein rotgestrichenes Haus stand da, wie ein mächtiger Blutklumpen. Vor einem violetten Haus mit der
Aufschrift SALE parkte ein schwarzer Chevrolet, an dessen Steuer ein Neger mit rotem Hut saß. Haid ließ das Taxi anhalten, bezahlte und nahm seinen Plan heraus. Er stand vor einer Fläche, auf der Gebrauchtwagen zum Verkauf ausgestellt waren. Ein handgemaltes Schild verkündete: CARWASH 95 ¢. Die Tür zu einem Holzschuppen ging auf und ein fetter Kerl kam heraus. »Suchen Sie was?« fragte der Fette. »Nein.« »Sie suchen aber was auf Ihrem Plan.« »Nein.« Der Fette nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. Er bog die Oberlippe auf, führte die Zigarette zum Mund, und Haid sah, daß er Goldplomben auf den Zähnen hatte. »Mir scheint, Sie suchen eine Straße.« »Ja«, antwortete Haid. Er nannte die Straße und der fette Kerl zeigte ihm den Weg auf dem Plan. Es stellte sich heraus, daß Haid ganz in der Nähe von Christines Haus abgesetzt worden war, und obwohl er auf eigenen Wunsch abgesetzt worden war, empfand er über die Auskunft Erleichterung. »Ich stamme aus Bremen«, sagte der fette Mann, während er Haids Plan sorgfältig zusammenlegte. »Mein Bruder und ich, wir kamen 1950 herüber. Mein Bruder hat die Gemischtwarenhandlung gleich um die Ecke. Ich wollte mich soeben betrinken. Ich sagte mir, ich betrinke mich, wenn nicht in der nächsten Minute ein Mensch vorbeikommt. Gleich darauf sind Sie direkt vor meinem Fenster stehengeblieben. Ich sagte mir, wenn der Mensch in einer Minute
weggeht, trinke ich trotzdem. Ich schaute auf die Uhr und nach einer halben Minute kam ich raus, um Sie zu fragen, was Sie wollen. Ich wollte Sie loswerden, verstehen Sie.« Er reichte Haid den zusammengefalteten Plan und ging, ohne sich umzusehen, in den Schuppen zurück. Eine Gruppe schreiender Kinder spielte weiter unten auf der Straße. Vor Christines Haus, das er jetzt von weitem sehen konnte, lud ein Altwarenhändler Möbel aus einem Auto auf die Straße.
18
Haid war in sein Zimmer gegangen, die Hunde hatten ihn angekläfft, aber weder Jakubowski noch Christine hatten sich blicken lassen. Haid hatte daraufhin begonnen, das Haus zu durchsuchen. Er wußte nicht, warum er es tat. Er stöberte im Badezimmer herum. Die goldfarbenen Tapeten, die goldfarbenen Flaschen mit Badeessenzen, die goldfarbenen Metalljalousien, der goldfarbene Vorhang, alles wies auf den Luxus hin, mit dem sich Christine umgab. Haid stöberte im Abfallkorb, zwischen leeren Haarfestiger-Fläschchen, Wattestücken, Toilettepapier und ausgefallenen Haaren. Er bemerkte die Nelke an seinem Sakko, nahm sie heraus und warf sie in den Abfallkorb. Nein, es war sinnlos. Es war sinnlos, was er tat. Er
ging zurück in sein Zimmer und wartete, bis es dunkel wurde.
19
Lange starrte er im dämmrigen Licht seines Zimmers die hufenförmige Verzierung des Spiegels an, die aus braunem Holz geschnitzt war. Wie hatte sich Mehring verhalten, als er Carson tot aufgefunden hatte? War er zur Polizei gelaufen? Hatte er ihn verdächtigt? Suchte er ihn oder ließ er ihn suchen? Vielleicht war O’Maley ein Privatdetektiv, den Mehring auf seine Spur gehetzt hatte … Er verwarf den Gedanken wieder, stand auf und ging herum. Als es dunkel geworden war, verließ er das Zimmer. Zu seiner Überraschung saß Christine im Wohnzimmer. Sie bot ihm ein Glas Wein an, das er jedoch ablehnte. Haid setzte sich in einen der bequemen Sessel und schwieg. Auch Christine schwieg. Nach einer Weile setzte sich Christine neben ihn und stellte ihm Fragen. Haid dachte lange nach, bevor er antwortete. Er unterbrach sich mitten in einer der Antworten und sagte: »Ich habe das Bedürfnis, dir mit größter Ehrlichkeit zu begegnen. Ich versuchte, seit ich dich gestern wiedersah, mich darauf festzulegen, daß ich mich dir gegenüber mit größter Ehrlichkeit verhalten würde. Jetzt, plötzlich, während ich mit dir spreche, habe ich Angst, daß ich damit eine neue Pose für mich erfinde. Es ist ein Genuß zu spüren, wie man
nur die Wahrheit spricht. Ich fühle, wie ich mich damit fortlaufend in Vorteil bringe. Es bedrückt mich keineswegs, daß ich mir einen Vorteil verschaffe. Wovor ich mich vielmehr in acht nehmen will, ist, daß ich einen Genuß empfinde, indem ich fortlaufend die Wahrheit sage.« – Er war nahe daran, Christine alles zu erzählen, aber er schwieg. »Vielleicht ist auch das, was ich dir soeben gesagt habe, nicht wahr, sondern eine Erfindung von mir. Ich sitze da und rede. Ich rede, und ich habe das Gefühl, es redet selbständig aus mir heraus.« »Dich bedrückt etwas«, sagte Christine. »Mich bedrückt etwas, das ist wahr«, antwortete Haid. »Ich kann es dir jedoch nicht erzählen, denn wenn ich es dir erzählte, würde ich dir fremd werden.« »Du glaubst also, daß du mir nur deshalb nicht fremd bist, weil ich dich nicht kenne.« »Ja.« »Dann glaubst du auch, daß sich die Menschen um so fremder werden, je besser sie sich kennen.« »Auf eine bestimmte Weise ist es so.« »Ich habe dich seltsam in Erinnerung, aber wenn ich dir zuhöre, dann bemerke ich, daß du noch seltsamer geworden bist, als du warst. Ich fürchte mich nicht vor dir, aber du hast etwas Unheimliches an dir, etwas, das mich verunsichert … Ich kann nicht sagen, was es ist: Ich freue mich auf dich, wenn du nicht da bist, aber es fällt mir schwer, mit dir zu sprechen, wenn du bei mir bist …« »Du machst dir falsche Vorstellungen von mir.
Ich bin nichts Besonderes. Wahrscheinlich ist mehr Jämmerlichkeit in mir als in den anderen.« »Warum quälst du dich so? Irgend etwas quält dich.« »Ich kann es dir nicht sagen.« »Hängt es mit deiner Scheidung zusammen?« Natürlich hing es mit der Scheidung zusammen. Diese ganze verdammte Reise hing mit der Scheidung zusammen. »Was würdest du sagen, wenn ich einen Mord begangen hätte?« fragte Haid. Christine kam nahe an ihn heran, er roch ihr Parfum und ihr Haar, er sah ihre Augen vor sich und sie waren voll Zuneigung. »Ich würde es nicht glauben«, sagte sie.
20
Haid betrachtete ihren nackten Körper, die kräftige Brust, die schlanken Hüften, die kleinen Zehen. Er sah ihrem nackten Fuß zu, wie er über den Teppich ging, dem Abrollen über die Ferse, dem Spiel der Zehen, wenn der Fuß vom Boden abhob. »Ich bin voll von Sehnsucht«, sagte Haid. Er setzte sich auf den Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. Auf dem Schreibtisch lag ein leuchtend gelber Papierbogen mit dünnen blauen Linien. Das Papier war eng beschrieben und Haid las: »Mir sind die langen Gespräche in der Dunkelheit des Schlafzimmers zuviel geworden. Ich habe Abscheu
davor, mich jede Nacht neben dich zu legen und mit den Gesprächen, die sich immer um dasselbe drehen, fortzufahren.« »Lies das nicht.« Christine stellte sich neben ihn und nahm ihm das Blatt aus der Hand. Sie zog eine Lade auf, um das Papier hineinzulegen, und Haid sah eine Pistole in der Lade liegen. »Wem gehört diese Pistole?« fragte er. »Niemandem.« »Wieso liegt sie hier?« »Sie gehört zum Haus.« »Ist sie geladen?« »Ja.« »Ich habe immer die Vorstellung, daß ich mich eines Tages erschießen werde«, sagte Haid ruhig. »Meine Frau fragte mich, wenn ich über Selbstmord sprach, warum ich davon spreche. Auf einmal weiß ich, daß ich nur deshalb so oft davon spreche, weil ich mir die Angst nehmen muß. Ich spreche so lange darüber, bis ich mir die Angst davor genommen habe.« Er setzte fort, das Hemd zuzuknöpfen. »Ich fürchte mich nicht vor deinem Mann«, sagte er. »Oder vielleicht fürchte ich mich doch, ich weiß es nicht.« Er dachte an Carson und Mehring und sagte: »Ich habe mir bereits ein Hotel gesucht. Ich werde umziehen.« Christine schwieg, und Haid fühlte sich schuldig. »Ich habe dich sehr gerne«, sagte er unvermittelt.
21
Christine hatte ihm auf seinen Wunsch ein Schlafmittel gegeben, und Haid erwachte erst zu Mittag. Seine Halsschmerzen hatten zugenommen, und er hatte im Badezimmer nach weiteren Medikamenten gestöbert. Er nahm zwei Aspirintabletten und ging benommen aus dem Haus. Christine begegnete ihm mit den Hunden auf der Haustreppe. »Warte auf mich, ich werde dich begleiten«, sagte sie. Sie sperrte die Hunde ins Haus und kam wieder die Treppen herunter. Es war ein sonniger Märztag, und gutgekleidete Negerjungen mit weißen Hemden und Krawatten spazierten über den Gehsteig. Ein altes, elegant gekleidetes Ehepaar stand vor einer schmutzigen, kleinen Kirche, deren Glasfenster zum Schutz gegen Steinwürfe von einem feinmaschigen, schwarzen Gitterwerk abgedeckt waren, wodurch die Kirche von weitem aussah, als hätte sie einen Feuerschaden erlitten. »Wie hast du geschlafen?« »Wir hatten Streit«, antwortete Christine. »Wir lagen im Dunkeln und warfen uns gegenseitig unsere Fehler vor. Ich bemerkte, daß ich Zusammenhänge erfand, die nie existierten. Ich schilderte irgendeine Szene und erfand etwas, das mich an ihm gestört hatte. Ich mußte mich gegen die Einfälle wehren, die mir kamen, wenn ich irgend etwas erzählte. Ich tat es nicht in der Absicht zu verletzen, sondern ich fühlte mich befreit, als ich
Zusammenhänge erfand. Während ich sprach, spürte ich, daß ich mich ins Unrecht setzte, aber es befreite mich.« Ein weißgekachelter Gang führte zum Untergrundbahnschacht hinunter. Haid setzte sich auf eine abgeschabte Holzbank neben einen Juden, der einen schwarzen Hut auf dem Kopf trug. »Ich habe Halsschmerzen«, sagte Haid. »Du mußt zum Arzt gehen.« »Als du mir vorhin vom nächtlichen Gespräch erzähltest, wurde mir klar«, sagte Haid, »warum ich wehrlos gegen meine Frau war. Auch wir sprachen stets in der Nacht, bevor sie von mir wegzog. Ich glaube, sie beschuldigte mich zumeist nur mit erfundenen Dingen. Ich fühlte es damals, aber ich war mir nicht sicher. Es war nur eine Ahnung von mir. Ich zog die Möglichkeit gar nicht ernsthaft in Betracht.« Eine Untergrundbahn donnerte vorbei, deren Außenwände mit Wörtern und Buchstaben beschmiert waren. Haid stand auf. Als er wieder das Geräusch einer sich nähernden U-Bahn hörte, sah er, wie ein Kind aus einem Automaten, der an einer blauen Stahlsäule befestigt war, ein Päckchen CANDY ROLLS holte und stellte gleichzeitig fest, daß anstelle der Untergrundbahn ein gelber Servicewagen die Station passierte.
22
In der Bleeckerstreet hielt Christine vor einer Auslage, in der geschlachtete junge Lämmer mit den Köpfen nach unten hingen. In der Mitte der Auslage war ein abgeschnittener Lammkopf postiert, dem man eine Sonnenbrille mit blauen Gläsern aufgesetzt hatte. Vor den Geschäften stapelten sich Behälter mit Hummern, die zwischen Eisstücken vergraben waren, Körbe voll Muscheln, Kisten voll Obst. Als Haid aufblickte, war Christine verschwunden. Er blickte die Straße hinauf und hinunter, konnte Christine aber nirgends entdecken. Zunächst nahm Haid an, daß sie ein Geschäft betreten hatte, er blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Dann öffnete er die Glastür zur Lammfleischerei. Die Tür sprang mit einem lauten Glockenzeichen auf. Aber das Geschäft war leer. Ein schwarzhaariger Jüngling kam hinter einem Vorhang hervor und fragte ihn nach seinem Wunsch. Haid machte eine entschuldigende Handbewegung und schloß die Tür hinter sich. Er bemühte sich, durch die Auslagen in die Geschäfte zu sehen, aber die Spiegelungen auf dem Glas täuschten ihm einige Male vor, Christine gefunden zu haben, da er nur Teile der Personen sah. Er betrat einen Fischladen, gab vor, als interessierte er sich für die Ware und ging wieder zurück auf die Straße. Christine blieb verschwunden. Was war geschehen? – Die Erinnerung an den Schrecken am frühen Morgen in San Francisco, als er Carsons
Schlafzimmer betreten und sie tot aufgefunden hatte, überwältigte ihn. Er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. War Christine etwas zugestoßen? Erlaubte sie sich einen Scherz mit ihm? Oder hatte sie Wind von der Geschichte in San Francisco bekommen? Aber wie? Es konnte sein, daß O’Maley von Kapra die Adresse herausgekriegt und Christine angerufen hatte. Und warum ließ ihn Christine dann allein? Vielleicht hatte sie die Absicht gehabt, ihm zu erzählen, wovon sie Kenntnis erlangt hatte, und der Mut hatte sie verlassen. Das Entsetzen in ihm wuchs. Er durfte auf keinen Fall in Christines Haus zurückkehren. Er mußte zunächst versuchen, Christine zu finden. Vielleicht hielt sie sich irgendwo in der Nähe versteckt. Er spähte in Cafes durch die Scheiben, durch eine halbgeschlossene, knallblaue Tür, spähte in Juwelierläden und Altwarenhandlungen. Er wußte selbst, daß es sinnlos war, auf gut Glück nach Christine zu suchen, aber er brachte nicht die Kraft auf, NICHT in jedes Cafe und jedes Geschäft zu schauen. Er ging nochmals zur Lammfleischerei zurück, ohne eine Spur zu entdecken. Eine Zeitlang blieb er bewegungslos auf seinem Platz stehen. An der Kreuzung vor ihm humpelte ein schmutziger Weißer mit Krücken aufreizend langsam über die Straße. Christine hatte ihn verlassen. Jedenfalls steckte hinter ihrem Verschwinden Absicht, soviel war sicher, ansonsten würde sie ihn kaum ohne ein Wort stehengelassen haben. Es blieb nur der Schluß, daß O’Maley ihm nachforschte. – Zunächst mußte er sich darüber
klarwerden, was er weiter zu tun beabsichtigte. O’Maley war vermutlich noch nicht in New York, sonst würde er bestimmt selbst gekommen sein. Das heißt, daß eine gewisse Chance bestand, zu Christines Haus zurückzukehren. Er betrat einen Selbstbedienungsladen, bat telefonieren zu dürfen und wählte Christines Nummer. Eine Frauenstimme meldete sich. Haid erschrak, da es nicht Christines Stimme war. »Mrs. Jakubowski ist nicht zu Hause«, sagte die Frauenstimme. Haid hängte auf. Sein Hals schmerzte, als sei er eine offene Wunde. Haid erbat vom Kassier zwei Aspirintabletten und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter. Wenn Christine nicht zu Hause war, so hieß das, daß es günstig war, zurückzufahren und das Reisegepäck zu holen. Andererseits aber war es möglich, daß Christine inzwischen zurückkam. Für diesen Fall war es besser, wenn er wartete, bis es dunkel war und Christine allein zu Hause sein würde. Er war sicher, daß er sie würde überreden können, ihn gehen zu lassen.
23
Er trat auf die Straße hinaus. Ziellos spazierte er um ein paar Blocks. Er sah jetzt das Zimmer in San Francisco mit der toten Carson ganz deutlich vor sich. Es fiel ihm ein, daß er, als er Carson auf dem
Bett gefunden hatte, zufällig ihr Haar berührt und dabei gedacht hatte, daß sie jetzt tot sei, wie ihre Haare tot waren. Und er dachte an Philipp Marlowe und er wunderte sich, daß er zu anderen Gedanken fähig war. Mußte er nicht alles dransetzen, einen Ausweg zu finden? Aber vielleicht handelte es sich nur um Zufälle. Vielleicht hatte er Christine nur zufällig aus den Augen verloren … Was auch die Ursache sein mochte, er mußte vorsichtig sein. »Ich muß vorsichtig sein«, dachte er. Er blickte auf und fand sich in der Bowery zwischen schmutzigen Häusern, alten Autoreifen, Flaschen und Glasscherben. Aber er ängstigte sich nicht vor der verwahrlosten Straße und den zerlumpten Menschen. Die Angst, die ihn mit Christines Verschwinden befallen hatte, und die Gedanken, die sich an Christines Verschwinden knüpften, hatten ihm die Angst vor dem, was er sah, genommen. Er empfand nichts, als er sah, wie zwei Neger auf einen Cadillac zugingen, der vor einer Ampel angehalten hatte. Im Cadillac saß ein elegant gekleideter Neger. Einer der beiden Neger, die auf den Cadillac zugegangen waren, klopfte an das Seitenfenster und rief dem Fahrer etwas zu. Der andere der beiden, ein magerer, großgewachsener Mann in einem abgeschabten, hellgrünen Stoffmantel trat mit einem Fuß gegen den hinteren Pneu. Haid ging ganz nahe an den Negern vorbei, es war ihm egal, was geschehen würde, er mußte einfach ganz nahe an ihnen vorbeigehen, aber die beiden kümmerten sich nicht um ihn. Sie wandten sich – nachdem der Cadillac davongefahren
war – einer Gruppe herumstehender Weißer zu und begannen ein Gespräch. Ein paar Schritte weiter bog Haid in die Siebente Straße ab. Langsam versank er wieder in seine Erinnerung. Er dachte daran, Mehring anzurufen, und sah den Platz, an dem sich das Telefon in Mehrings Wohnung befand, vor sich und er fühlte den Schweiß in den Handflächen, wie er ihn gefühlt hatte, als er auf seiner Flucht das Taxi angerufen hatte, das ihn zum Manx-Hotel gebracht hatte. Er hob den Kopf, erkannte ein Haus, an dem er am Vorabend vorbeigekommen war, und war durch das unvermutete Wiedererkennen seltsam verwirrt. Es war ihm, als müßte er an das Wiedererkennen eine Bedeutung knüpfen, als drängte sich eine Erklärung dafür auf, warum er dieses Haus wiedererkannt hatte, eine Erklärung, die er nicht zu geben wußte. »Es ist, als ob alles bloß da wäre, um Erinnerungen in mir wachzurufen«, hatte Kierkegaard geschrieben. Der Satz war Haid eingefallen, und mit dem Satz war ihm seine Frau eingefallen, die ihm manchmal aus den TAGEBÜCHERN vorgelesen hatte. Christines Verschwinden hatte ihn so tief in einen Strudel von Erinnerungen, Ängsten und Hoffnungen geworfen, daß er seine Wahrnehmungen nur als zusammenhanglose Bruchstücke auf sein Gehirn prallen fühlte: In einem Park im italienischen Viertel schliefen Zerlumpte auf Bänken … frischgekämmte Kinder warteten vor einer Kirche auf den Pfarrer … gelbe Schilder mit schwarzen und roten Buchstaben, die über den Pizzerialäden hingen, trafen auf sein
Gehirn wie Explosionen … Plötzlich befand er sich wieder in der Bleeckerstreet. Vor der Lammfleischerei bemerkte er eine Mülltonne und einen mit Abfall gefüllten, schwarzen Plastiksack, die ihm beide nicht aufgefallen waren, als er vor dem Geschäft auf Christine gewartet hatte. Der Anblick der Lammfleischerei, vor der eine Mülltonne und ein Plastiksack lagen, verunsicherte ihn so, als müßte er entscheiden, ob er, als er das erste Mal hier gestanden war, sich nur im TRAUM hier befunden hatte oder ob er jetzt träumte. Vielleicht würde Christine im nächsten Augenblick aus einem Geschäft kommen, und er hatte vom Zeitpunkt an, als er sich eingebildet hatte, Christine verloren zu haben, bis zu diesem Moment alles nur geträumt? – Er griff einen Hydranten an und es war ihm wie ein Trost, daß er die Kälte des Eisens spürte. Er schaute sinnlos durch eine Auslagenscheibe. Ein plumper, silbern und blauer Wagen mit der Aufschrift U.S.MAIL fuhr vorbei und spiegelte sich im Glas. Haid hörte den Motor und sah das Auto als Spiegelung in der Auslagenscheibe vorbeifahren, und obwohl es eine alltägliche Erfahrung war, schien sie ihm merkwürdig. Als er weiterging, entdeckte er neben der Lammfleischerei ein Schneidergeschäft, das er beim erstenmal ebenfalls nicht bemerkt hatte. Er fragte sich, warum ihm das so bedeutungsvoll schien, daß es ihm auffiel, und daß er darüber nachdachte. Natürlich gab es so etwas wie eine Wiederholung gar nicht. Hinter der Auslagenscheibe, auf die in weißen Buchstaben TAILOR geschrieben war, sah Haid eine
Nähmaschine mit Trittbrett, alte Kleider und einen glatzköpfigen Mann, der eine Hose bügelte. Die Unsicherheit ergriff immer mehr Besitz von ihm. Sobald er den Eindruck hatte, daß ihm jemand folgte, verlangsamte er die Schritte, drehte den Kopf leicht zur Seite, ließ ihn vorbei und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Einige versoffene Gestalten kamen ihm entgegen, einer klein, im Mantel, schwankend vor einem Blumengeschäft, ein unrasierter Neger, den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben, ein wohlsituierter Weißer im Kamelhaarmantel, den Hut und die Hornbrille wie ein Rangabzeichen am Kopf, glattrasiert und wohlduftend von Rasierwasser, mit dem Taxifahrer streitend. Ein Neger blickte im weißen Leibchen aus dem Fenster eines gelbbraunen Ziegelhauses. Der alltägliche Wahnsinn in den Straßen, die verrückt und krank dahineilenden Gestalten deprimierten ihn auf einmal. Aber er konnte keine Befriedigung daran finden, Schuldige auszumachen. Er war ja selbst schuldig, dieses Gefühl des Schuldigsein hatte er immer gefühlt. Die Christen nennen die Schuld, mit der die Menschen zur Welt kommen, Erbsünde, und sie taufen die Menschen, um sie von der Erbsünde zu reinigen, aber für Haid gab es keine Reinigung von den Schuldgefühlen. Diese Gesellschaft konnte ohne Schuldgefühle nicht aufrechterhalten werden. Sein Hals schmerzte, und er versuchte sich abzulenken. Er durfte noch nicht zurückgehen. Er mußte warten, bis es dunkel wurde, dann mußte er sich überlegen, wie er weiter vorgehen sollte.
24
Gerade war er an einem schmutzigen, pornographischen Geschäft vorbeigegangen, das im Schaufenster künstliche Glieder ausgestellt hatte, als einem Neger in Packpapier eingewickelte Pakete von einem Karren gefallen waren. Haid hatte bereits die Absicht gehabt, sich zu bücken und dem Neger beim Einsammeln der Pakete zu helfen, als er es plötzlich nicht mehr gewagt hatte. Im nächsten Augenblick stellte sich bei ihm ein Krampf unter dem Zungenbein ein. Der Krampf war jählings gekommen und drückte sein Zungenbein wie eine Faust in den Hals. Er verspürte gleichzeitig seinen Körper auf eine so verrückte totale Weise, daß er feststellte, daß der Schuh ihn drückte. Vorsichtig bewegte Haid den Kehlkopf. Ihm war übel, und er hatte Angst, keine Luft zu kriegen. Der Krampf dauerte nicht lange, er ebbte bald wieder ab, aber er ließ in Haid das Gefühl zurück, krank zu sein. Er öffnete den Hemdkragen und versuchte, sich eine Erklärung zu geben, er wußte jedoch nicht, was der Krampf zu bedeuten hatte. In einer th Verbindungsstraße zur 5 Avenue fand er eine Bar und setzte sich auf einen freien Hocker. Zwei grauhaarige Barkeeper in weißen Hemden und Schürzen standen hinter der Theke. Haid bestellte eine Flasche Bier. Eine Nonne, die einen Porzellanteller in der Hand trug, bat ihn um eine Spende und später bemerkte er, daß der
Aschenbecher vor ihm zu rutschen begann: Er glitt auf einer Alkoholpfütze langsam der gegenüberliegenden Thekenseite zu. Der Barkeeper mit der schwarzgerahmten Brille hob den Aschenbecher auf und wischte die Pfütze weg. Haid fühlte, daß der Krampf im Hals verschwunden war, aber die Schmerzen beim Schlucken hatten zugenommen.
25
Ein Verrückter in einer Militärjacke regelte die Kreuzung vor der Bar. Er stand inmitten der Autos, schrie die Autofahrer durch die Windschutzscheibe an und forderte sie mit Gesten auf, weiterzufahren. Niemand griff ein. Die Autofahrer gehorchten mit unbewegten Gesichtern, und wenn Haid sich die Sache recht besah, so machte es der Verrückte nicht schlecht. Haid winkte einem Taxi. Der Fahrer ließ sich durch den Wechselgeldmechanismus den Zettel mit der Adresse geben und fragte ihn gleich darauf, ob er Deutscher sei. Haid konnte keinen Plan fassen, wie er sich Christine gegenüber verhalten sollte. Es war das beste, einfach das Haus zu betreten und abzuwarten. Vielleicht war O’Maley noch nicht in New York oder vielleicht hatte Christines Verschwinden nichts mit dem Vorfall in San Francisco zu tun? Er ließ das Taxi an der Ecke vor dem Haus anhalten, bezahlte und ging vorsichtig auf
das Haus zu. Die Straße war leer. Vor dem Haus parkte kein Auto, aber das besagte nichts. Er wechselte die Straßenseite. Im Wohnzimmer brannte Licht, sonst war es überall dunkel. Auch in seinem Zimmer brannte kein Licht. Er überquerte wieder die Straße, ging die Treppen hinauf und öffnete die Tür. Erst als er die Tür geschlossen und einige Schritte in den Vorraum getan hatte, bellten die Hunde. Die Wohnzimmertür wurde geöffnet und Christines ängstliches Gesicht blickte ihn an. »Du bist es?« »Ja«, antwortete Haid, »hast du jemand anderen erwartet?« Er blickte in das Wohnzimmer, aber es war niemand zu sehen. »Willst du nicht hereinkommen?« Haid trat ein und nahm in einem altmodischen Ohrensessel Platz. Warum hatte sie sich gewundert, daß er es war? Hatte sie nicht damit gerechnet, daß er noch kommen würde? Außerdem hatte sie seine Frage nicht beantwortet, ob sie jemand anderen erwartete. Er sah ihr zu, wie sie stumm ihm gegenüber Platz nahm. Ihr Gesicht war blaß. Wovor hatte sie Angst? Befand sich O’Maley bereits im Haus? Oder die Polizei? »Es tut mir leid, daß ich dir davongelaufen bin. Ich möchte es dir erklären. Bitte, versuche nicht, mich umzustimmen.« Was wollte sie? Zeit gewinnen? Und dann: Bitte, versuche nicht, mich umzustimmen … auch seine Frau hatte diese Redewendung gebraucht. »Ich verstehe schon«, sagte Haid. »Du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich ziehe morgen in ein Hotel.«
»Du darfst das nicht mißverstehen, Daniel«, sagte sie, »ich freue mich, daß du nach New York gekommen bist. Aber, als wir durch die Bleeckerstreet gingen, hatte ich plötzlich Angst. Ich spürte auf einmal, daß ich mich verlor. Ich wollte dich nicht kränken, aber ich mußte einfach allein sein. Als ich mit dir in der Untergrundbahn fuhr, dachte ich an Pennsylvania. Ich habe früher mit Jerry in Pennsylvania gewohnt. Ich konnte einen ganzen Vormittag auf die Straße schauen, ohne Fußgänger zu sehen. Ich dachte, daß ich weg muß. Ich hielt es nicht mehr aus, und wir zogen hierher. Als ich gestern mit dir schlief, war mir plötzlich wieder zumute wie in Pennsylvania. Das hat mit Jerry nichts zu tun, verstehst du? Ich fühlte mich so allein, als ich mit dir zusammen war. Ich wollte es dir schon am Morgen sagen, aber ich brachte nicht den Mut auf. Ich erzählte dir von Jerry. Ich konnte über nichts anderes reden als über Dinge, die mich betrafen. Und ich konnte nicht lügen. Ich fühlte mich nicht imstande, über etwas Belangloses zu sprechen. Ich wollte dir alles sagen, und indem ich über mich selbst sprach, hoffte ich den Mut zu finden, über dich zu sprechen.« »Das Gefühl, von dem du sprichst, empfinde ich schon seit langem«, antwortete Haid. »Ich lebe mit diesem Gefühl. Ich habe mich mit ihm liiert, wie man sich mit seinen Schwächen liiert. Ich verstehe, was du meinst. Aber ich war aus einem anderen Grund in großer Sorge. Ich kann dir die Geschichte nicht erzählen. Ist es nicht seltsam, daß man nicht
den Mut aufbringt, etwas zu erzählen, das man erfahren hat? Vielleicht verschweigt man es aus der Befürchtung, daß es wirklich ist, während man noch die Hoffnung hat, alles sei nicht wahr. Und indem man es für sich behält, vermeint man, es sei so etwas wie ein Stück Traum.« Er dachte kurz nach. »Es hat sich niemand nach mir erkundigt?« »Nein, wer sollte sich nach dir erkundigen?« »Ich frage nur. Es hat auch niemand angerufen und nach mir gefragt?« »Nein, warum fragst du mich?« »Irgendwann einmal werde ich es dir erzählen«, sagte Haid. Er stand auf und ging in sein Zimmer. Er fühlte nur Müdigkeit und sein Hals schmerzte. Nachdem er seinen Mantel und die Schuhe ausgezogen hatte, klopfte es an die Tür und Christine trat ein. »Wir sollen uns nicht so trennen«, sagte sie. »Nein, es ist besser so«, antwortete Haid, ohne sich umzudrehen.
26
Am nächsten Morgen stand er früh auf und packte die Koffer. Sein Hals schmerzte ihn. Er wusch sich nicht, sondern bemühte sich, lautlos die Haustreppe hinunterzusteigen. Zu seiner Überraschung stand Mr. Jakubowski vor der Treppe. Auch Jakubowski schien erstaunt zu sein, daß Haid ihm begegnete. Er hielt eine Tasse Kaffee in der Hand, sah Haid
verwundert an, faßte sich jedoch schnell und fragte ihn, ob er abreise. Haid sagte, er wolle seine Gastfreundschaft nicht länger beanspruchen. »Sie haben meine Gastfreundschaft nicht beansprucht«, unterbrach ihn Jakubowski. »Wollen Sie eine Tasse Kaffee? Sie können mit mir zusammen frühstücken, Christine schläft wie immer um diese Zeit, und ich mache das Frühstück selbst.« »Das ist sehr freundlich«, antwortete Haid, »aber ich habe eine Verabredung.« Jakubowski blickte ihn mißtrauisch an. Dann zuckte er die Achseln. An seinem rechten Zeigefinger klebte ein weißer Zahnpastafleck. »In welches Hotel ziehen Sie?« »Fifth Avenue.« Jakubowski nickte. »Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie an.« Er sah Haid mißtrauisch zu, wie er die Koffer vom Boden aufhob und umständlich an ihm vorbeiging. Er überholte ihn, öffnete die Haustür und wartete, bis er die Treppen hinuntergegangen war. »Leben Sie wohl«, sagte er ohne sonderliche Anteilnahme.
27
Die Koffergriffe schnitten ihm in die Hände. Er hielt nach einem Taxi Ausschau, fand eines und winkte es heran. Während er sich auf den Vordersitz setzte, sah er, wie der Chauffeur den
Kofferraum mit einer Messerklinge öffnete, wie er die Koffer schwungvoll verstaute und die Klinge in das Messer einklappen ließ. Die Luft war von den Auspuffgasen und der Wärme glasig und sie bewegte sich wie eine durchsichtige Flüssigkeit und tauchte die Straßen in ein giftiges Licht. Das Taxi fuhr durch das Chinesenviertel, und die roten und schwarzen Schilder mit den chinesischen Schriftzeichen schienen ihm wie Signale aus einer anderen Wirklichkeit. Haid wurde wehmütig, wenn er an Christine dachte, aber er fühlte sich auch erleichtert, daß O’Maley nicht hinter dem plötzlichen Verschwinden Christines in der Bleeckerstreet steckte. Er blickte wieder hinaus, und die glasige Luft, die alles mit einer Traumschicht bedeckte, erinnerte ihn an Horkheimers SEHNSUCHT NACH DEM GANZ ANDEREN. Und er erinnerte sich auch daran, daß Horkheimer geschrieben hatte, daß ein ohnmächtiges und gequältes Leben, das voll von Güte war, vielleicht nicht verloren sei, daß es vielleicht einen ewigen Morgen habe. Er war nicht so vermessen zu glauben, daß dies für sein Leben zutreffen könnte, sein Leben war nicht voll Güte gewesen, aber es war ohnmächtig gewesen und gewiß auch gequält, aber das war nicht das Wesentliche. Das Wesentliche war der Gedanke an einen ewigen Morgen gewesen, der Gedanke, die Hoffnung, daß es überhaupt so etwas gab wie einen ewigen Morgen. Er spürte, wie leicht es für ihn im Augenblick war, in das Traumhafte umzukippen. Er
trieb es nicht voran, aber er wehrte sich auch nicht dagegen. Er fuhr dasselbe Stück durch die Bowery, in dem er am Vortag die beiden Neger gesehen hatte, die sich an dem Cadillac zu schaffen gemacht hatten. Und da ihm jetzt alles auf eine friedliche Weise verändert schien, dachte er sich, daß ihm die Wirklichkeit vorkam wie eine Erinnerung. Nicht die Wirklichkeit allein schien ihm wirklich, sondern daß sie gleichzeitig ERINNERUNG GEWORDEN WAR. Vor dem Hotel Fifth Avenue öffnete der Taxifahrer den Kofferraum wieder mit der Messerklinge. Haid gab ihm zehn Dollar, und der Taxifahrer konnte nicht herausgeben. Sie standen vor dem gelben Taxi in der glasigen Luft und warteten. Der Taxifahrer suchte umständlich in seinen Taschen nach Wechselgeld und auf einmal fühlte Haid sich als Horkheimer, er glaubte, dessen Hornbrille in seinem Gesicht zu spüren, er glaubte, dessen jüdische Nase zu besitzen und eine Güte erfüllte ihn, der er sich gerne hingab. Er hob die Koffer auf, nickte dem Taxifahrer zu und betrat das Hotel.
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Haids Zimmer befand sich im elften Stock. Der Hausbursche, ein älterer Neger in Phantasieuniform, dem der Zentralschlüssel an
einem großen Messingreifen um den Hals hing, hatte gefragt, nachdem er ihn an der Portiersloge hatte deutsch sprechen hören, ob er Max Frisch kenne. Max Frisch habe ein halbes Jahr in diesem Hotel gewohnt, sagte er stolz. Haid nickte. Der Neger trug die Koffer durch den Flur mit schwarzen Türstöcken und rotlackierten Türen, auf denen Messingnummern befestigt waren. Haids Hals schmerzte. Er fragte nach einem Drugstore, und der Hausbursche zeigte ihm einen, der sich gleich um die nächste Ecke befand. 29
Der Verkäufer, ein mächtiger Mann, sprach einen breiten Akzent, war grauhaarig, trug eine ärmellose, schwarze Weste und hatte das Nylonhemd um die Oberarme mit Gummibändern abgebunden. Haid erklärte ihm umständlich seine Beschwerden, und der Verkäufer reichte ihm ein gelbes Pappschächtelchen mit Spezialtabletten. Haid fielen seine behaarten Finger auf. Die Geste, mit der er ihm die Tabletten reichte, hatte etwas Bestimmendes an sich. Haid ließ eine der Tabletten im Mund zergehen und fühlte langsam, wie sein Hals empfindungslos wurde, der Schmerz blieb jedoch auf eine dumpfe und klebrige Weise erhalten. Er wandelte die 5th Avenue hinauf und wartete, daß sein Hals sich bessern würde. War es nicht das beste, abzureisen? – Aber er wußte, daß er nicht abreisen könnte, ohne mit Mehring
gesprochen zu haben. Er war jetzt allein, und das war gut für ihn. Er hatte ein paar Tage Zeit, mit sich ins klare zu kommen. Oder vielleicht würde er schon morgen mit sich im klaren sein, und alles würde sich aufklären. Er würde noch eine Woche in New York bleiben und eine neue Freiheit in sich fühlen. Er entdeckte einen gepflegten Laden mit antiquarischen Büchern und kam auf die Idee, nach dem Buch HYPERION zu fragen, das er bei Friederike gesehen hatte. Die Welt sei das Medium, worin wir leben, sagte Kierkegaard. Aber dieses Medium erstreckte sich über Sichtbares und Fühlbares, es war alles, was sich im Kopf spiegelte, was sich miteinander verwob, was neu entstand, es war alles, was in den Köpfen der Menschen schwappte und brodelte. Man sprach mit den Menschen und man sprach Tausenderlei in ihnen an, wovon man keine Kenntnis hatte.
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Ein kleiner Chinese mit Brille saß unter einer eisernen Wendeltreppe, die durch die Decke in das nächste Stockwerk führte. Der Chinese kam leise hervor und suchte – nachdem er Haids Wunsch gehört hatte – sorgfältig die Regale ab. Nein, er bedaure. Er lächelte und beschrieb Haid einen Buchladen am Broadway, wo dieser das Buch unter Umständen finden könnte.
Haid hatte nicht die Absicht, den Buchladen aufzusuchen. Er bedankte sich und ging. In der vierzehnten Straße verkauften Puertoricaner große, häßliche Phantasieblumen aus Plastik. Ein 30Jähriger mit hellem Vollbart, einem breiten Schlapphut und violetten Brillengläsern fuhr auf einem kleinen Fahrrad über den Gehsteig wie eine Trickfilmfigur. Haid spazierte durch ein paar Quergassen mit dunklen Lagerhallen. Er kam wieder an der Buchhandlung vorbei, vor der sich jetzt Passanten drängten, die durch die offene Tür in den Laden starrten. Im nächsten Augenblick sah Haid Rauchwolken aus dem Laden dringen und den Gehilfen des Buchhändlers mit einem Kübel brennenden Papiers ins Freie laufen. Der alte Chinese sprang vor den Regalen herum und warf Bücher auf die Straße. Brennende Papierfetzen flogen durch die Luft. Eine verwahrloste Type hob eines der Bücher von der Straße auf, blätterte darin und warf es zurück. Jemand rief, daß die Feuerwehr verständigt worden sei, aber alle schienen das für selbstverständlich zu halten.
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Zunächst dachte sich Haid, daß es das beste gewesen wäre, wenn er Carsons Zimmer in Brand gesteckt hätte, um alle Spuren seiner Anwesenheit zu vernichten. Er sah die brennenden Vorhänge, das
brennende Bett, die brennenden Tapeten, und er sah sich am Fisherman’s Wharf stehen und die Rauchwolke in der Ferne aufsteigen. Dann fiel ihm ein, daß er der letzte Kunde gewesen sein konnte, der das Antiquariat betreten hatte, und daß er sich dadurch verdächtig gemacht haben konnte, den Brand im Antiquariat verursacht zu haben. Natürlich dachte er nicht ernsthaft an diese Möglichkeit, aber er zog es vor zu verschwinden. Es konnte sein, daß man ihn als Zeugen befragte, und damit würde der Stein womöglich ins Rollen gebracht. Ein fetter Kerl mit Bürstenhaarschnitt lief in das Geschäft und versuchte dem Buchhändler zu helfen. Jemand anderer hantierte an einem Hydranten auf dem Gehsteig. Der Brand schien nicht so schlimm zu sein, denn kurz darauf gelang es dem fetten Kerl, ihn mit einer Decke zu ersticken. Der Gestank verbrannten Stoffes und angesengten Holzes machte sich vor der Buchhandlung breit. Natürlich fiel Haid die eigene Buchhandlung ein, und obwohl er nicht besorgt war, beschlich ihn Unbehagen und eine Angst vor dem Unbekannten, das sich in der Zwischenzeit ereignet haben konnte. Er machte sich unauffällig davon, den Brandgeruch in der Nase.
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Als er die Türe zu seinem Hotelzimmer aufsperren wollte, bemerkte er, daß das Schloß klemmte. Ein
Neger im Hemd saugte den Kokosläufer im Korridor. Er kam vorsichtig und neugierig näher, während Haid am Schloß rüttelte. Dann setzte er eine Brille auf, die er aus der Brusttasche seines Hemdes nahm, und beugte sich wortlos zum Schloß hinunter, ohne Haid zu helfen. Er versuchte es erst, nachdem Haid ihm Platz gemacht hatte. Während der Neger es versuchte, hielt er die Augen geschlossen und den Kopf leicht zurückgelehnt. Schließlich rief er ein farbiges Zimmermädchen, das die Tür mit einem eigenen Schlüssel öffnete. Den Nachmittag über lag Haid mit trübsinnigen Gedanken auf dem Bett, ließ, wie es der Verkäufer ihm vorgeschrieben hatte, folgsam jede Stunde eine Tablette im Mund zergehen und wartete darauf, daß seine Halsschmerzen verschwinden würden. Wie oft, wenn er krank war, fiel ihm seine Kindheit ein: Häufig war ihm eine Krankheit willkommen gewesen, sie hatte ihn seiner Verpflichtungen und Sorgen enthoben und in einen Leerraum versetzt, der frei war von Ängsten und Hoffnungen.
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Als es dunkel wurde, setzte er sich in eine Bar in der Nähe des Hotels. Er fühlte sich einsam und von seinen Erinnerungen bedrängt, aber er konnte wegen seiner Halsschmerzen nicht schlafen. Noch immer nahm er stündlich die vorgeschriebenen Tabletten,
im Grunde rechnete er jedoch nicht damit, daß sich sein Hals bessern würde. Am Morgen kehrte er in das Hotel zurück. Durch die nächtliche leere 5th Avenue fuhr nur ab und zu ein Taxi. Am Fahrbahnrand parkten riesige Laster mit Aluminiumkästen als Frachtraum. Die 5th Avenue sah in der nächtlichen Dunkelheit breit und drohend aus. Aber Haid fragte sich, wovor er sich noch fürchten sollte … Er dachte an die Fußmärsche durch die Nacht, wenn er, betrunken von einem Seitensprung kommend, das Gefühl süßer Zungenküsse noch im Mund, nach Hause gegangen war. 34
Mit dem beruhigenden Rauschen des Regens im Ohr erwachte er. Auf der Straße hasteten Menschen in Regenkleidung dahin, und der Strom gelber Taxis wälzte sich glänzend über den fettigschwarzen Asphalt. Bei seiner Rückkehr in der Nacht hatte er im Hotelzimmer eine Nachricht gefunden, daß er Mrs. Jakubowski anrufen möge. Er hatte den Zettel zerrissen und in den Papierkorb geworfen, aber das Läuten des Telefons erinnerte ihn wieder daran. Voll zwiespältiger Gefühle hob er ab. »Bist du’s, Daniel?« »Ja, ich bin’s.« »Du hattest es aber eilig, ins Hotel zu ziehen.« Haid schwieg. »Kommst du heute zum Abendessen?«
»Ich weiß noch nicht.« »Wieso weißt du’s noch nicht? Hast du etwas anderes vor?« »Es ist wegen der Halsschmerzen«, log Haid. »Du mußt zum Arzt gehen. Hast du hier einen Arzt? – Nein, natürlich hast du keinen, warte, ich geb dir eine Adresse. Fahr in einer Stunde dorthin, ich kündige dich an.«
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Der Arzt hieß Dr. Stephan Robbins und wohnte in der sechzigsten Straße, Ecke Park Avenue. Der Taxifahrer summte. Sie überholten einen der grünen, mit gelben Buchstaben beschrifteten Müllabfuhrwagen. Mein Gehirn träumt, dachte Haid. Es träumt sich in das Geschäft für Porzellanwaren hinein, das sich hinter der schwarzen Glasscheibe befindet, träumte sich in den LIQUORSHOP mit der langen Reihe von Flaschen in der Auslage, träumt sich in die Kirche mit der blauen Tür und dem kümmerlichen, blühenden Forsythienstrauch im eisenumzäunten Vorgarten. Es träumt auf eine herrschsüchtige Weise, auf eine mich bedrückende Weise. Ich kann es nicht beeinflussen, sondern muß mich danach richten. Fortlaufend muß ich mich zwingen, meine Aufmerksamkeit nach außen zu richten. Der Regen war in ein Nieseln übergegangen, aber
der Himmel war noch immer dunkel wie eine sich auflösende Rauchwolke. Vor dem Haus in der sechzigsten Straße bezahlte er den Fahrer. Die Angst bewirkte, daß er das Künftige voraussehen wollte und es dennoch fürchtete. Das war vielleicht auch der Grund, weshalb ihn die Angst lähmte, weshalb er Mehring noch nicht angerufen hatte und weshalb er sich in den Augenblick floh. Eine grauhaarige Dame, klein, gepflegt, im weißen Mantel öffnete ihm. »Sie sind Mr. Haid?«, fragte sie auf deutsch. Das Wartezimmer war leer. Haid bejahte die Frage und folgte ihr in die Ordination. Durch die halbgeschlossenen Jalousien drang grünliches Licht von der Straße hinein. Dr. Robbins saß freundlich hinter dem Schreibtisch und blickte ihn erwartungsvoll an. Er hatte dunkles, schütteres Haar, war leicht gebückt und trug eine goldene Brille in Halbkreisform. Er fragte Haid über das Klima in Kalifornien aus, während er ihm in den Hals schaute und nebenbei erklärte, daß er eigentlich Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten sei. Mrs. Jakubowski habe ihn gebeten, sich um ihn zu kümmern. Er steckte ihm ein Fieberthermometer in den Mund und suchte in einem gläsernen Arzneischrank nach Medikamenten. »Wie die meisten Intellektuellen werden Sie Amerika nicht mögen«, sagte er. »Ich ziehe jedoch Amerika jedem europäischen Land vor. Ich ziehe auch New York jeder europäischen Stadt vor. Hier fühle ich, daß ich lebe, verstehen Sie? Es ist kein Kunststück, in einem Provinznest zu verkommen.« Er zog das
Thermometer wieder heraus. Dann gab er Haid ein Plastikfläschchen mit orangenen und roten Tetracyclin-Kapseln und begleitete ihn zur Tür. Haid fragte nach dem Honorar, aber Robbins schüttelte gutmütig den Kopf und gab ihm beim Hinausgehen einen freundschaftlichen Klaps.
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Auf der Rückfahrt überlegte Haid, ob er nicht am nächsten Tag abreisen sollte. Er war voll Ungeduld, in das Hotel zurückzukehren, wartete voll Ungeduld auf den Lift und bemerkte, wie alles, was er sah, seine Unruhe verstärkte. Es machte ihn unruhig, daß auf dem Gang ein großer, reichverzierter Kupferaschenbecher stand, der mit weißem Sand gefüllt war, und es machte ihn unruhig, daß der Hausbursche die Zierspiegel im Gang voller Hingabe reinigte. Bevor er noch versuchte, die Türe zu seinem Zimmer aufzusperren, ärgerte er sich über das schlecht funktionierende Schloß. Zu seiner Überraschung aber war das Zimmer nicht versperrt. Hatte er vergessen, es abzusperren? Oder waren die Zimmermädchen mit der Reinigung beschäftigt? – Er lauschte. Nichts war zu hören, auch der Gang, auf dem er sich noch immer befand, war leer. Er betrat das Zimmer und schloß die Tür. Dann hörte er ein Geräusch hinter einer Tür. Er dachte, daß es sich um den Garderobenraum handelte, der ihm bis jetzt noch
nicht aufgefallen war. Er machte einen Schritt auf den Raum zu und riß die Tür auf. Es war ein winziger Raum. In einer Ecke stand ein Eisschrank, und auf einem Tischchen befand sich ein Elektrokocher. Ein dünner Strahl Wasser lief aus einem Wasserhahn. Haid sah alles gleichzeitig, während er auf den Mann starrte, der sich im Raum befand. Es war O’Maley. 37
Was dann geschah, lief in einer so kurzen Zeitspanne ab, daß Haid sich im nachhinein nicht mehr erklären konnte, aus welchem Grund er so gehandelt hatte. Er hatte nach dem Elektrokocher gegriffen, der nicht angesteckt gewesen war, hatte ihn an sich gerissen und nach O’Maley geworfen. Er hatte ihn an der Unterlippe mit einem häßlichen, dumpfen Geräusch getroffen, und O’Maley war zu Boden gestürzt. Aber Haid hatte sich getäuscht, als er geglaubt hatte, O’Maley ausgeschaltet zu haben, denn O’Maley trat ihm die Füße weg, so daß er nach hinten stürzte und mit dem Kopf gegen einen Türpfosten krachte. Er fühlte, daß ihm übel wurde, taumelte in das Zimmer, bückte sich nach einem Stuhl und warf diesen blindlings nach O’Maley, der aus dem Mund blutend auf ihn zuwankte. Er sah, wie O’Maley dem Stuhl auswich, Glas splitterte, und im nächsten Moment hatte O’Maley einen Revolver in der Hand. Einen Augenblick starrte ihn O’Maley voller Haß an, dann trübte sich sein Blick, er machte einen Schritt nach
hinten und stürzte zurück in den kleinen Raum, in dem Haid ihn entdeckt hatte. Haid wartete unbewegt einige Sekunden, ob O’Maley sich erheben würde, dann wankte er auf ihn zu. Er sah nur seine Füße und die schwarzen Schuhe und ein kleines Stück Haut zwischen den Socken und der hinauf gerutschten Hose. Er blickte in den Raum und sah jetzt auch den Oberkörper, die Arme und das blutige Gesicht auf dem Linoleumboden liegen, der wie eine Marmorplatte mit künstlichen, goldenen Adern verziert war. In einer Ecke stand der Eisschrank, dessen Tür geöffnet war. Der Eisschrank war leer. Aus einem der Nickelhähne über dem Waschbecken lief noch immer dampfendes Wasser. Haid drehte es automatisch ab. Er spürte, daß der Wasserhahn heiß geworden war. Auf einem Holzbrett lag ein Plastikeinsatz für Eiswürfel. Der Revolver war auf den Teppich gefallen. Haid stieg wieder über O’Maley hinweg und nahm den Revolver an sich, beugte sich dann über O’Maleys Oberkörper und durchsuchte die Taschen seiner Jacke. Er fand einen Schlüsselbund, ein Feuerzeug, eine angebrochene Packung Zigaretten, Papiertaschentücher, einen Notizblock, einen Kugelschreiber, sowie ein dickes Bündel Dollarscheine. Was er suchte, fand er jedoch nicht: O’Maley hatte keinen Ausweis bei sich.
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Mit einem Ruck setzte sich O’Maley auf, griff nach seinem Kopf und lehnte sich mühsam an eines der eingebauten, weißen Kästchen. Dann schien er den Schmerz in seinem Mund zu fühlen; er verzog das Gesicht und schloß die Augen. Blut lief aus einem Mundwinkel über Wange und Hals in den offenen Hemdkragen. Haid half ihm, vom Boden aufzustehen. O’Maley klammerte sich an Haids Oberarm. Er schüttelte den Kopf und drehte die Wasserleitung mit kaltem Wasser auf. Vorsichtig wusch er sein Gesicht, den Hals, machte das Haar naß und spuckte blutigen Speichel in das Waschbecken. Er blickte Haid nicht ins Gesicht und fragte nichts. Haid überlegte sich, ob er O’Maley den Revolver zurückgeben sollte. Er hatte ihn nicht entladen, weil er keine Erfahrung mit Waffen hatte. Wahrscheinlich war es das beste, wenn er die Waffe nicht erwähnte. Wie aber sollte er begründen, weshalb er den Elektrokocher nach O’Maley geworfen hatte. Er konnte nötigenfalls behaupten, O’Maley nicht erkannt und vermeint zu haben, ein Einbrecher stünde vor ihm. Andererseits mußte ihm O’Maley erklären, weshalb er in das Zimmer eingedrungen war. »Ich wollte Sie überraschen«, sagte O’Maley plötzlich, als habe er Haids Gedanken erraten. Er suchte nach einem Papiertaschentuch und trocknete
sich die Hände ab. »Ich sagte dem Zimmermädchen, ich sei ein Verwandter von Ihnen, und bat sie, mir das Zimmer aufzusperren. Natürlich glaubte sie mir zuerst nicht, aber ich gab ihr fünf Dollar und ließ sie das Geld sehen, das ich in Las Vegas gewonnen hatte.« »Wie haben Sie mich gefunden?« fragte Haid. O’Maley setzte sich auf das Bett und preßte das Taschentuch gegen die Lippen. »Ich hatte in Las Vegas gewonnen und wollte Ihnen das Geld zurückgeben. Ich hatte nicht die Absicht, Sie um Ihr Geld zu erleichtern. Ich rief Kapra an und erzählte ihm, daß Sie überstürzt abgereist seien. Kapra hatte keine Ahnung, wo Sie steckten, aber er wußte eine Adresse, und zwar die von Mrs. Jakubowski. Ich versuchte Sie vor zwei Tagen über Mrs. Jakubowski zu erreichen, aber Mrs. Jakubowski sagte mir, Sie schliefen noch. Ich sagte ihr, daß ich morgen in New York sein würde, und hängte auf. Ich hatte Geld gewonnen und war verrückt danach, es auszugeben. Als erstes dachte ich daran, Ihnen das Geld zurückzugeben. Hat Ihnen Mrs. Jakubowski nicht von meinem Anruf erzählt?« Was O’Maley gesagt hatte, konnte wahr sein, aber warum hatte Christine ihm nichts von O’Maleys Anruf erzählt? Und seltsamerweise war sie am selben Vormittag in der Bleeckerstreet verschwunden. Und am selben Abend hatte sie sich von ihm getrennt. »Nein, sie hat mir nichts gesagt«, antwortete Haid. O’Maley konnte sich die Geschichte auch nur zurechtgelegt und den Auftrag haben, ihn zu überwachen. Der springende
Punkt war, warum Christine ihm nicht mitgeteilt hatte, daß O’Maley angerufen hatte. Und die Einladung für den Abend? Vielleicht hatte Christine ihn im Auftrag O’Maleys angerufen, um ihn aus dem Zimmer zu locken. Vielleicht war es ihr sehr gelegen gekommen, daß sie ihn wegen seiner Halsschmerzen zum Arzt schicken konnte. »Woher wußten Sie, daß ich hier abgestiegen bin«, fragte Haid. »Mrs. Jakubowski wußte es. Ich rief sie gestern abend vom Flugplatz an, und sie gab mir Ihre Adresse. Den Rest habe ich Ihnen erzählt. Ich suchte im Eisschrank nach einer Flasche Bier, als Sie die Tür öffneten. Übrigens, hier haben Sie Ihre fünfhundert Dollar.« Ergriff in die Jackentasche und zählte ein Bündel Dollarscheine auf das Bett. Dann steckte er das übrige Geld wieder ein und sagte kühl: »Ich darf Sie um meinen Revolver bitten.« Haid gab ihn schweigend zurück, und O’Maley verstaute ihn, ohne ihn weiter anzusehen, in seiner Jacke. Haid war sich jetzt sicher, daß O’Maley und Christine ein abgekartetes Spiel trieben. Christine war vermutlich froh gewesen, ihn loszuwerden, als ihr O’Maley erzählt hatte, weshalb er ihn suchte. Sie hatte es mit der Angst zu tun bekommen und die Nerven verloren. Deswegen hatte sie ihn in der Bleeckerstreet verlassen. O’Maley stand auf, öffnete die Badezimmertür, knipste das Licht an und besah sich im Spiegel. Er trat nahe an den Spiegel heran, um seinen Mund und die Zähne zu betrachten. »Sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen«, sagte er.
»Es tut mir leid.« »Erst als ich dem Stuhl ausgewichen war und den Revolver gezogen hatte, wußte ich, wen ich vor mir hatte. Deswegen verlor ich auch das Bewußtsein, ohne zu schießen. Wenn ich Sie nicht erkannt hätte, hätte ich abgedrückt.« Haid schwieg. O’Maley zerknüllte ein Papiertaschentuch und steckte es in den Mund. Er zog es blutig heraus und warf es in den Abfallkorb. Einige Sekunden blickte er dem Taschentuch nachdenklich nach. »Es wäre schön, wenn Sie Mrs. Jakubowski nach einem Zahnarzt fragen würden«, sagte er. Haid hob – bevor er Christines Nummer wählte – den Stuhl auf und stellte die Stehlampe, deren Glühbirne zerbrochen war, dort hin, wo sie früher gestanden hatte. Er warf einen Blick auf O’Maley, der mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag und ein neues Papiertaschentuch in den Mund gesteckt hatte. Als Haid sich mit seinem Namen meldete, fragte ihn Christine nach seinen Halsschmerzen. Haid antwortete, Dr. Robbins habe ihn untersucht. »Ich bin in ein bis zwei Tagen wieder in Ordnung«, sagte er. Dann fragte er, ob sich jemand nach ihm erkundigt habe. Christine tat überrascht. Ja, und zwar schon vor zwei Tagen, ein Mister O’Maley. Er habe sie auch gestern abend vom Flugplatz aus angerufen. »Und warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich habe dich vor zwei Tagen eigens danach gefragt, ob mich jemand sprechen wollte.« »Ich hatte es vergessen. Ich habe die ganze Zeit über an unsere Aussprache gedacht und den Anruf
darüber ganz vergessen. War es wichtig? Du mußt mir verzeihen, ich hoffe, es ist nicht schlimm.« »Es war nicht so wichtig«, murmelte Haid. »Ich muß heute abend absagen, Daniel, es tut mir leid. Jerry hat eine Verpflichtung, und ich muß ihn begleiten. Er wußte nicht, daß ich dich eingeladen hatte. Aber vielleicht sehen wir uns morgen.« Arbeitete Christine wirklich mit O’Maley zusammen? Stand er unter so schwerwiegendem Verdacht, daß Christine ihn an O’Maley verriet? Aber warum verhaftete O’Maley ihn dann nicht? Und warum vermied er es, die Sprache auf Carson zu bringen? – Er drehte sich nach O’Maley um, der noch immer unverändert auf dem Bett lag und auf das Papiertaschentuch biß. Haid sagte, daß O’Maley mit starken Zahnschmerzen eingetroffen sei und in der Hotelhalle sitze. Ob sie ihm einen Zahnarzt vermitteln könne. »Warte«, sagte Christine. Er hörte sie im Telefonbuch blättern.
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Das Taxi wurde von einer fetten Negerin gelenkt, die fortlaufend versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Da weder Haid noch O’Maley antworteten, schwieg sie schließlich mit einem ärgerlichen Grunzton und beeilte sich, die schweigsamen Fahrgäste abzusetzen. Sie hielt vor dem HAUS
EAST 235 in der zweiundzwanzigsten Straße. Neben der Eingangstür war ein schwarzes Glasschild mit goldenen Buchstaben befestigt, auf dem der Name DR. RICHARD AARON KIMAN zu lesen war. Haid fiel auf, daß er immer weniger wahrnahm. Je mehr ihn O’Maley beschäftigte, desto weniger sah er und desto weniger berührte ihn. Ihn berührte im Augenblick weder Armut noch Elend, weder Schmutz noch Alkohol. Seine Gedanken liefen im Kreis. Möglicherweise war dies der Zustand der Elenden und Wehrlosen. Möglicherweise wurden sie von Ängsten und Verzweiflungsgefühlen bedrängt, die sie untätig werden ließen und gar nicht vor die Wahl stellten, etwas zu ändern. Trotzdem erschienen Haid alle Menschen, die er jetzt sah, frei und glücklich. Er beneidete sie, daß sie scheinbar ohne Angst auf der Straße gingen und Zeit hatten. Er hatte keine Zeit mehr. Er hatte seine Zeit verloren, weil er über sie nicht mehr bestimmen konnte. Die Ereignisse und O’Maley bestimmten über seine Zeit. Sie bestimmten, ob sie schnell oder langsam verging oder ob er merkte, wie sie verstrich, oder ob er darauf vergaß. Sie bestimmten, ob er etwas sah und darüber nachdachte, und sie bestimmten nicht zuletzt, was er tat. O’Maley hatte inzwischen die elektrische Klingel betätigt. Gleich darauf öffnete sich die schwere, braune Eingangstür mit einem Summton.
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Dr. Aaron Kiman bohrte lustlos im Mund einer Blondine herum. Er trug einen blauen Ärztekittel und eine zu kurze, schwarze Hose, hatte schwarzes Haar, eine außergewöhnlich große Nase, auf der eine Hornbrille wie ein Aufsichtsorgan thronte. Er wies O’Maley, ohne sich um Haid zu kümmern, in das Wartezimmer, von dem aus Haid in den Behandlungsraum auf den blauen Zahnarztstuhl, die blaue Operationslampe und die blaue Bohrmaschine sehen konnte. Für Haid war alles eine merkwürdige Wiederholung. Er wollte aufhören zu träumen und wußte nicht mehr, ob er träumte oder wachte. Es schien ihm für kurze Augenblicke möglich, daß er selbst O’Maley war, der mit einem ausgeschlagenen Zahn bei einem fremden Zahnarzt saß, während O’Maley als Haid sich bei Dr. Robbins hatte den Hals behandeln lassen. Wie im Traum war es möglich, andere Menschen ungesehen zu begleiten und sich plötzlich vor eine Situation gestellt zu sehen, die unbeeinflußbar und mechanisch ihren Lauf nahm. Auch sein Denken gehorchte einer Art Traumlogik, die im Geiste Dinge miteinander verknüpfen und darauf reagieren konnte, ohne daß er sich irgend etwas zu erklären vermochte: Er konnte sich ohne Mühe vorstellen, als Philipp Marlowe hier zu sitzen und O’Maley zu beobachten. Es war egal, aus welchen Gründen O’Maley hier saß, mochte er zuvor zusammengeschlagen worden sein oder
mochte Marlowe sein Vertrauen gewonnen und ihn zum Zahnarzt begleitet haben. Er mußte auf der Hut sein, stets gegenwärtig, daß Kiman in ein Verbrechen verstrickt war, und daß er alles daransetzen würde, unentdeckt zu bleiben … Kiman kam wie der freundlichste Gentleman herein und bedeutete O’Maley, auf den Zahnarztstuhl zu steigen. Er untersuchte schweigend die Wunde im Mund, machte zwei Röntgenaufnahmen und führte sodann eine Lokalanästhesie durch. Und wieder dachte Haid, daß alles nur Vorwand sein konnte. Wenn Marlowe versuchte, einen Fall oder einen Tatbestand zu klären, so war es immer ein Hinter-eine-FassadeBlicken. Alles konnte in jedem Augenblick nur mehr Fassade gewesen sein, die plötzlich zusammengestürzt war. In Wirklichkeit konnte Kiman Morphinist sein, ein Mann, dessen weiches Gesicht sich jählings in eine kalte Maske verwandeln, dessen Blick wie eine scharfe Rasierklinge den anderen durchdringen konnte, der kein wirklicher Zahnarzt war, sondern ein versoffener Dentist aus Arizona, der die Zahnarztpraxis zur Tarnung betrieb und der in Wirklichkeit nicht eine Lokalanästhesie durchgeführt, sondern O’Maley mit einer Droge betäubt hatte, die ihn nur die Wahrheit sprechen ließ. Kiman fragte jetzt O’Maley nach einem Gefühl in den Mundwinkeln, und als O’Maley antwortete, daß sie sich tot anfühlten, begann er die Wunde zu vernähen und mit einem Nickelhaken das Zahnfleisch wegzustemmen. Mit einem Knacken brach er die
Wurzel heraus und legte sie auf ein Stück Zellstoff. O’Maley war bleich geworden. Seine Hände waren wachsfarben, und die Finger zitterten. Er versuchte, seinen Blick auf die gerahmten Diplome an der Wand zu heften, versuchte sie zu lesen, um das Bewußtsein nicht zu verlieren, verdrehte die Augen jedoch zu einem seltsam heiligen Blick und sackte im Stuhl zusammen. Kiman hielt ihm ohne Aufregung ein Salbenfläschchen unter die Nase und legte ihm zwei Gazestreifen, die er zuvor unter kaltes Wasser gehalten hatte, auf die Nasenwurzel und die schweißbedeckte Stirn. Er seufzte tief, wie es leidgeprüfte Männer aus Gewohnheit tun. O’Maley kam kurz darauf wieder zu sich, und als er auf die Frage Kimans nach seinem Befinden nickte, schabte Kiman die Wunde von Knochenresten aus. O’Maley litt. Kiman kümmerte sich nicht darum, sondern vollendete ungerührt sein Werk. Hierauf drückte er O’Maley einige in grünes Papier eingewickelte Gazestreifen in die Hand, mit der Anweisung, sie alle zehn Minuten zu wechseln. Dann zog er eine Lade aus dem Schreibtisch heraus, wühlte darin herum und fand zwei Briefchen, in welchen sich Schmerztabletten befanden, die O’Maley nehmen sollte. Haid erinnerte sich an seinen schmerzenden Hals. Er dachte wieder an Dr. Robbins, an Dr. Kiman und O’Maley und die Zufälligkeit, die ihn mit diesen Menschen zusammengeführt hatte.
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Mit dem Taxi ließen sie sich zurück in das Hotel bringen, vorbei am Times Square, wo das Auto wegen einer Verkehrsstauung anhielt und Haids Blick auf das durch Reklametafeln verdeckte, rußgeschwärzte Eckhaus zwischen Broadway und der siebenten Straße fiel. In Leuchtschrift blinkte die Automarke CHEVROLET in riesigen Lettern in den Himmel, darunter lief die Reklame für Canadian Club Whisky in Neonröhrenschrift auf gelbem Hintergrund, und näher der Straße warben blaue und rote Schilder für eine Show. Gerade als Haid wegblicken wollte, sah er Christine vor einem Haus stehen und in der Handtasche nach irgend etwas suchen. Er betrachtete die Frau genauer und war sofort voller Zweifel, ob es sich tatsächlich um Christine handelte. Das Taxi fuhr weiter, und Haid starrte durch die Heckscheibe der Frau nach. Sie wurde im Verkehrsgewühl immer kleiner zwischen den hohen Gebäuden, den Reklametafeln auf den Häusern und einer hundertfach vergrößerten Metallkappe einer Pepsi-Cola-Flasche, die auf dem Dach eines Hauses befestigt war. Haid spürte, wie ihn der Anblick der Straße immer mehr gefangen nahm, wie er für ihn poetisch geworden war, und er fragte sich, ob diese Form von Poesie nicht mit Anarchie verbunden war, so wie Chicago mit etwas Poetischem verbunden war, das seine Wurzeln im Verbrechen hatte. Es war gewiß diese Form der Poesie, die in Chandlers Kopf Philipp
Marlowe erzeugt hatte. Haid warf unwillkürlich einen Blick auf O’Maley, den Nacken des Taxichauffeurs und seine um das Lenkrad gekrümmten Hände. Er fühlte sich bedrängt, und eine Beklemmung befiel ihn, so daß er das Fenster herunterkurbelte und krampfhaft das Gesicht nahe vor den Fensterspalt hielt.
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O’Maley legte sich im Hotelzimmer auf Haids Bett und schlief ein. Haid überlegte, was er tun sollte, und beschloß dann, daß es das Vernünftigste sei zu warten. Er aß in einem Selbstbedienungsladen um die Ecke ein Steak. Ein Neger kam hereingestürzt und verlangte nach einem Telefon. Er gab keine Gründe an, und man fragte ihn auch nach keinen Gründen, sondern schickte ihn wieder hinaus. Der Neger ging ohne Widerspruch und ohne nach Gründen zu fragen. Haid schien alles wie auf eine geheime Absprache hin zu funktionieren. Seine Halsschmerzen hatten nachgelassen. Er kaufte einen Karton Bier und einige Stücke Pizza und ging in das Hotel zurück. O’Maley war aufgewacht. Er blutete noch immer ein wenig aus dem Mund, nahm einen Gazestreifen, hielt ihn unter heißes Wasser und biß darauf. Dann versuchte er, auf der anderen Seite ein Stück Pizza zu essen, wobei ein kleiner Bissen mit der Wunde in Berührung kam und in O’Maley die Sorge weckte, sich dadurch womöglich infiziert zu haben. Haid hatte den Motor
des Eisschranks in Betrieb gesetzt, der sofort zu summen begonnen hatte. Er stellte das Bier kalt und öffnete eine Flasche am Türstock, da er keinen Öffner finden konnte. Jetzt erst bemerkte er, daß der Fernsehapparat angeschaltet war. Humphrey Bogarts Gesicht war auf dem Bildschirm zu sehen, die Hutkrempe in der Stirn, melancholische Tränensäcke unter den Augen. Bogart nahm ein Bündel Dollarscheine von einem Tisch und steckte es automatisch ein. Haid erinnerte sich daran, diese Szene bereits gesehen zu haben. Dann fiel ihm ein, daß der Film DER TIEFE SCHLAF hieß und Humphrey Bogart die Rolle des Philipp Marlowe spielte. 43
Schon sehr früh am Morgen erwachte Haid. Er erhob sich vom Boden und warf einen Blick auf O’Maley. Das Polster, auf dem O’Maleys Kopf ruhte, war von Blutflecken verschmiert, die zum Teil durch mitausgeflossenen Speichel hellrosa waren oder von welchen man nur die Ränder sah, andere wiederum waren dunkelrot, wie von Blutstropfen, die aus der Nase kommen. Die Luft war stickig heiß. Haid schaltete die Klimaanlage aus und öffnete das Fenster. Das gegenüberliegende Haus mit den unverputzten Ziegelwänden, den schwarzgestrichenen Fensterrahmen, den eierschalfarbenen Jalousien und den plumpen Boxen der Klimaanlagen war voller Leben. Er konnte zum
Teil in die Fenster blicken, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Natürlich erinnerte er sich an das Fenster in San Francisco, das er von seinem Hotelzimmer aus gesehen hatte, aber seine Empfindungen waren damals andere gewesen. Jetzt empfand er Ekel vor den Menschen, die er in ihren Wohnungen sehen konnte. Sie kamen ihm dumpf und gleichgültig vor und auf eine unbestimmte Art unwirklich. An einem Tisch standen zwei Frauen in Morgenröcken und kochten, eine andere Frau in einem hellblauen Unterkleid öffnete eine Schranktüre und sortierte bunte Frotteehandtücher in ein Fach. Häufig, wenn Haid Ekel empfand, flüchtete er sich in die Betrachtung von Einzelheiten. Auf dem Nachttisch lag ein Päckchen Streichhölzer mit dem Muster eines Rades aus Pfauenrädern, daneben hatte er die Plastikphiole mit den Tetracyclin-Kapseln gelegt. Er schluckte eine Kapsel und bemerkte, daß sein Hals nicht mehr schmerzte. O’Maley schlief noch immer. Lautlos kleidete sich Haid an und ging auf die Straße. Es war ein trüber, regnerischer Sonntag, und Haid wußte nicht, wie er seine Zeit ausfüllen sollte. Während er ziellos die Straße hinunterging, dachte er darüber nach, weshalb O’Maley in New York geblieben war. Wenn er ihm nur das Geld hatte zurückgeben wollen, hätte er noch am selben Tag abreisen können. Aber er hatte von Abreise nichts gesprochen. Andererseits hätte Haid sich auch aus dem Staub machen können. Er hätte seine Koffer packen und verschwinden können. Aber O’Maley schlief. Das heißt, wenn er nicht nur vorgab
zu schlafen. Bei diesem Gedanken drehte sich Haid um und blickte zum Hotel zurück. O’Maley war nirgends zu sehen. Haid betrat die nächste Frühstücksstube und ließ dabei den Hotelausgang nicht aus dem Auge. Wenn O’Maley ihm hatte folgen wollen, so hätte er sich verraten, denn Haid hätte ihn auf der Straße gesehen. So aber konnte er nicht wissen, wo Haid sich befand. Und wenn er ihn vom Fenster aus beobachtete? Wenn ein Taxi vor dem Hotel stand, in das er hastig sprang, um ihm zu folgen? – Nein, ich bin verrückt, dachte Haid. Eine alte Frau wollte die Imbißstube verlassen, aber sie war so kraftlos, daß sie nicht imstande war, die Tür aufzustoßen. Der junge Neger, der vor der Tür die Passanten um einen Dime anbettelte, zog die Tür auf und grinste die Frau an. »Ich bin ein Verrückter«, dachte Haid. Er war über diesen Gedanken nicht nur traurig, sondern fühlte gleichzeitig eine heimliche Freude. Er fand die Vorstellung, verrückt zu sein, äußerst reizvoll, weil sich seine Perspektive verändern würde. Er mußte sich nichts mehr erklären, die Erklärungen würden sich automatisch einstellen. Eine kleine Negerin in einer weißen Bluse, eine rotweißgestreifte Schürze um den mageren Körper, servierte ein Glas Orangenjuice, Ham and Eggs, Kaffee und Toast, und Haid trug sein Frühstück zu einem der gelben und roten Kunststofftische, an welchen Menschen lehnten und kauten. Haid stellte sich neben einen Mann im Regenmantel. Der Mann trug einen Hut auf dem Kopf, und sein Gesicht war von grauen Bartstoppeln
bedeckt. Da Haid dabei war, sich einzureden, daß er verrückt sei, hatte er keinen Argwohn vor dem Mann. Er stellte das Frühstück auf die spiegelnde Platte, und der Eindruck, an einem Ort für Verrückte zu sein, verstärkte sich. Überall lagen Kippen auf dem Boden, und auf den Tischen türmten sich Pappteller mit Speiseresten. Er kam sich vor wie im miesesten Winkel einer surrealen Einöde. Der Mann neben ihm ließ den Pappbecher fallen. Sein Gesicht wurde von einem blöden Grinsen überzogen, er drehte sich zur Bar hin und schaute das Personal fragend an. Niemand interessierte sich für ihn. Es interessierte sich auch niemand dafür, daß einer seiner Füße in einer Kaffeepfütze stand. Haid zündete sich eine Zigarette an und ging wieder auf die Straße, und da er fühlte, daß ihm schwindlig wurde, warf er die Zigarette in das Rinnsal. Es regnete jetzt in Strömen. Haid kaufte sich an einem Zeitungsstand die NEW YORK TIMES. Natürlich dachte er nicht einmal im Traum daran, sie zu lesen. Er beeilte sich, die menschenleere Straße bis zum Hotel hinaufzugehen. Im Lift stieg ein Mann mit einem riesigen Bernhardiner zu. In seinem Zimmer legte sich Haid auf den Boden und überflog den Comic strip in der Zeitung. Ken Norton hatte Cassius Clay den Kiefer gebrochen. O’Maley schlief noch immer.
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Haid mußte über der Zeitung eingeschlafen sein, denn er erwachte verstört am Nachmittag, mit dumpfem Kopf und schweren Gliedern. Das Bett, in dem O’Maley geschlafen hatte, war leer. Haid erhob sich mühsam, steckte seinen Kopf unter die Wasserleitung und warf zur Kontrolle einen Blick in den Raum, in dem sich der Eisschrank befand, aber O’Maley war nicht mehr da. Wohin war er gegangen? Hatte er New York verlassen? Traf er Christine? Oder hatte er eine Unterredung mit der Polizei? – Die Ungewißheit war mit einem Male so quälend, daß Haid wieder auf die Straße flüchtete. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel war dunkel und düster, und die höhergelegenen Stockwerke der Wolkenkratzer waren von weißen Nebeln eingehüllt. Es fiel ihm ein, daß er in der Imbißstube an eine surreale Einöde gedacht hatte, und er empfand diesen Gedanken jetzt stärker, denn die Häuser waren rußig schwarz, vor den nachgedunkelten Ziegelwänden liefen Feuerleitern in unbegreifliche Höhen, und aus Kartons und Plastiksäcken quoll Unrat. An der Ecke der einundzwanzigsten Straße, 5th Avenue, rollte vor seinen Augen eine grüne, gepflegte Limousine quer über die schwachbefahrene Fahrbahn direkt in einen gelben Straßenwegweiser. Der Kühler schob sich zusammen, die Windschutzscheibe splitterte weiß auf, ohne zu zerbrechen, die Türen sprangen auf:
Drei Neger – zwei Männer und eine Frau – taumelten heraus und setzten sich auf die nasse Straße. Alles war ohne ersichtlichen Grund geschehen. Haid konnte sich nicht erklären, weshalb der Wagen plötzlich quer über die Fahrbahn gerast war. Es war so überraschend gekommen, wie Traumbilder plötzlich in andere, die mit den vorherigen nichts mehr zu tun haben, überspringen. Die Frau preßte ein weißes Taschentuch abwechselnd gegen die Hand und die Stirne. Einer der Neger lief zum Wagen und holte eine schwarze Damenhandtasche und einen roten Regenschirm heraus. Haid fragte sich, ob für ihn nicht nur deshalb die Wirklichkeit immer ins Traumhafte umkippte, weil er es wollte. Er war fast geneigt, sich eine Gesetzmäßigkeit in seinem Verhalten einzugestehen. Aber war andererseits wirklich alles eine einfache Kette von Ursachen und Wirkungen? Konnte man alles aus Axiomen und Algorithmen ableiten? Zum Beispiel, daß seine Frau ihn verlassen hatte, welchem Spiel von Ursachen und Wirkungen lag das zugrunde? Sympathie? Überdruß? Frustration? Haß? Leidenschaft? – Was aber erklärten diese Wörter schon? Und daß Carson ihn gedrängt hatte, mit ihm zu schlafen, und daß Christine ihn geliebt hatte? – Ein bebrillter junger Mann hielt eines der gelben Taxis auf. Seine Frau, die einige Schritte hinter ihm herging, eine Tragtasche mit einem Baby in der Hand, war sichtlich stolz auf ihn. Liebe und Abhängigkeit, das war ein Paar von Ursache und Wirkung, das tatsächlich untrennbar verbunden war. Haid ging
weiter, drehte sich aber immer wieder um und sah das Auto mit dem zerknitterten Kühler – die Vorderräder eingesunken – quer über der Fahrbahn stehen. Es schien symbolisch für Irrsinn und Gewalt, gestrandeten Ehrgeiz und die Sinnlosigkeit zu stehen, die hinter dem Leben der drei Insassen stecken mochten. Es war vermutlich derselbe Irrsinn, den auch er empfand und den er in der Imbißstube für sich zunächst mehr erfunden als an sich festgestellt hatte. Ein Stück weiter entdeckte Haid einen zerbeulten, silbergrauen Buick vor einem abgeknickten Schild: DOWN TOWN USE BROADWAY. Der Buick mußte schon länger hier stehen, denn die Stellen, an welchen infolge des Unfalls der Lack abgesplittert war, waren schon von Rost befallen. Technik verweste. Der Gestank von Verwesung aus den Gullies mischte sich mit dem leichten Geruch von Abgasen, der ständig in der Luft lag. Tatsächlich schien es Haid, als befände er sich in einer Traumstadt, einem Gegenstück zur Kubin-Stadt PERLE, ja, etwas, wie EINE ANDERE SEITE. Alles war bedrohlich. Es war eine Art lauernde Abgestorbenheit, wie man sie in Kinofilmen sieht, wenn jemand durch eine verlassene Straße geht, in der sich ein Verbrecher versteckt hält: Heruntergezogene Metalljalousien, verhängte Fenster, leere grüne Telefonzellen, durch deren Glasscheiben man die Hörer schlaff auf den Gabeln hängen sieht, Flaschen, Glasscherben, Pappbecher, in einem mit zerrissenem, blauem Papier ausgeschlagenen Schaufenster: Damenbüsten mit
Perücken auf den Köpfen und schmutzigen, handgeschriebenen Preiszetteln, die verstreut vor den Damenbüsten liegen. Die Nebel sanken immer tiefer und verschlangen langsam die Wolkenkratzer. Was hatte O’Maley dazu gebracht, das Hotelzimmer zu verlassen? Er haßte O’Maley. Er nahm es als völlig natürlich, in Haids Hotelzimmer zu übernachten und als völlig natürlich, daß Haid ihm das einzige Bett überließ. O’Maley ging, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, ob und wann er zurückkommen würde und ohne mitzuteilen, wohin er gegangen war. Er bestimmt über mich, dachte Haid. Ohne ihn würde ich gar nicht hier sein. Ein Polizeiwagen warf plötzlich die Sirene an, die wild aufheulte, fuhr im Rückwärtsgang aus einer Parklücke, karambolierte fast mit einem Taxi, schoß jetzt nach vorn und karambolierte fast mit einer Limousine. Haid nahm alles, was er sah, als Hinweise für seine Angst. Er wußte zwar, daß es sich um die immer wiederkehrende, sonntägliche Apokalypse dieser Stadt handelte, aber gleichzeitig war ihm, als spiegelte die Straße nur seine Gedanken wider. Er streifte durch einen kleinen Park mit leeren blauen, roten und gelben Bänken, aber der Park war so klein, daß er nur wie ein Vorgarten der hohen Häuser, die ihn umgaben, wirkte. Am Rande des Parks befand sich die Hütte eines ZeitungsVerkäufers. Sie war so schmal, daß sie gerade für eine Person Platz bot. Vor dem Verkäufer auf einem Pult flatterten die Zeitungen unter schweren, schwarzen Eisengewichten. Dieser Zeitungsverkäufer
konnte eine Erfindung von Micky Spillane sein. Er würde mit Mike Hammer zusammenarbeiten, würde ihm Informationen geben, auf die Hammer angewiesen war, um sich in seinem Labyrinth aus Vermutungen, Ahnungen, Schlußfolgerungen, Erinnerungen und zufälligen Hinweisen zurechtzufinden. Haid benötigte nur eine Information, und um diese zu erhalten, brauchte er bloß Mehring anzurufen. Was ließ ihn zuwarten, was war die Ursache für jene Lähmung, die ihn daran hinderte, mit Mehring zu sprechen? – An der nächsten Kreuzung standen zwei Polizisten, lange Holzknüppel in der Hand – vor einer mit Scherengittern abgeschlossenen Imbißstube. Haid warf durch die Glasscheibe einen Blick in die Stube. Die Möbel standen funktionslos herum, als sei der Eigentümer gestorben, und niemand kümmerte sich mehr um das Geschäft. Im nächsten Augenblick schreckte ihn das Brausen einer vorbeirasenden Untergrundbahn, das durch ein Luftgitter unter seinen Füßen dröhnte.
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Kann man das Gehirn von Menschen reparieren, wie man kaputte Uhren repariert, fragte sich Haid, als er am Broadway einem Betrunkenen begegnete, der über eine Bierdose gestolpert war und nun seine sinnlose Wut an ihr ausließ, indem er mit den Füßen
auf sie trat. Die Überzeugung, daß die menschliche Erkenntnis alle Fragen löste, ohne nicht gleichzeitig immer mehr Fragen aufzuwerfen, kam ihm als die neue Art von Metaphysik vor, an die es bequem war zu glauben. Aber wenn man Gehirne wirklich wie Uhren reparieren konnte, dann konnte man gewiß auch jegliche Art von Moral, Trieb und Verhaltensweise in sie einbauen und sich ihrer nach Wunsch bedienen. Man konnte die Menschen jeden Morgen in die Untergrundbahnen setzen, sie zu den Fließbändern führen, ihre Handgriffe, ihre Gedanken, ihre Zufriedenheit steuern, und sie würden sich in eine Ordnung einfügen, die ihnen vermutlich als das natürlichste scheinen würde, das es gab. Sie würden den Zustand, in dem sie sich befanden, als den ihnen angemessenen Zustand bezeichnen, und sie würden nicht zulassen, daß irgend jemand diesen Zustand störte. Haid schien es, als stünde die Menschheit vor der Wahl Anpassung oder Widerstand, und dieser Widerstand war oft nichts anderes als Irrsinn. Der Irrsinn, der einen Menschen zum Trinker werden ließ, der ihn verelenden ließ, der ihn dazu brachte, daß er sich fallen ließ – war er nicht der Wunsch nach Reduktion? Eine Art von seelischer Selbstverstümmelung, um eine Begründung zu haben, warum man nicht mehr weitermachte. Er war kein vollständiger Widerstand, denn man begründete auf eine stumme Weise sein Verhalten, um nicht zugrunde gehen zu müssen oder aus Angst vor dem Zugrundegehen. Haid kannte diese Angst vor dem Zugrundegehen. Sie war nichts
Konkretes. Man konnte diese Art von Todesangst nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen, sie war eine Bedrohung aus dem Nichts, aus dem Zukünftigen, einfach aus dem, was möglich war. Man konnte sich die Todesangst ausreden, sie vergessen, aber die Möglichkeiten würden sie immer wieder erzeugen und immer wieder aus neuen Anlässen und Zusammenhängen: In einem einsamen Hotelzimmer, im Wald, in einer riesigen Stadt, in einem dahinrasenden Auto. Der Betrunkene hatte mittlerweile von der Dose abgelassen und sich an einer Kinokasse angestellt und – als könnte er Haids Entschlüsse beeinflussen – ließ dieser sich dazu bringen, ebenfalls eine Karte zu kaufen. Haid interessierte sich jedoch kaum für das Geschehen auf der Leinwand. Das farbige, stinkende Publikum, die kreischenden Kinder und die schnatternden Weiber, die feindselig starrenden Neger und der riesige Farbige neben ihm, der ihn popcornkauend neugierig und ohne Scheu betrachtete, ängstigten ihn. Als Haid für wenige Minuten auf die Leinwand blickte, verwirrte ihn eine Befremdung, sobald er ein gelbes Taxi sah oder als er plötzlich das Lammgeschäft in der Bleeckerstreet erkannte oder einen bestimmten Drugstore in Greenwich Village. Es war eine Form von traumhafter Wirklichkeitsentdeckung, die ihm nicht mehr neu war. Der Neger neben ihm beugte sich zur Seite und sprach ihn an. Haid antwortete mitten in die Sätze hinein, daß er ihn nicht verstehe. Der Neger sprach ihn nochmals an, und Haid stand auf und ging hinaus. Nur für kurze Zeit hatte er nicht
an O’Maley gedacht, aber O’Maley war trotzdem in Form einer unbestimmten Angst bei ihm gewesen. Ihm fiel jetzt auf, daß er immer weniger an Carson dachte und immer mehr an O’Maley. Er trat an den Rand der Fahrbahn und rief nach einem Taxi. Im selben Augenblick torkelte eine Type im Sakko und blauen Hemd heran, blieb neben ihm stehen und spottete: TAXI, TAXI! Er hob die Hand und grinste Haid mit verschleierten Augen an.
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Haid war so in seine Gedanken verstrickt, daß er sich erst zu spät daran erinnerte, in der einundzwanzigsten Straße nach dem verunglückten Auto zu schauen. Er schaute durch die Heckscheibe des Wagens, aber er konnte nichts mehr erkennen. Es hatte wieder heftig zu regnen begonnen. Natürlich fragte sich Haid, ob O’Maley im Hotelzimmer auf ihn warten würde. Und was würde O’Maley ihm sagen, wo er gesteckt hatte, falls er überhaupt zurückgekommen war. Haid wußte nicht, was er sich mehr wünschte: Die Ungewißheit, falls O’Maley nicht wiedergekommen war, oder seine zermürbende Anwesenheit. Er ging auf sein Hotelzimmer, sperrte die Tür auf und sah O’Maley angezogen auf dem Bett liegen. Er hatte die Schuhe anbehalten und hob lässig eine Hand. »Hatten Sie einen angenehmen Sonntag?«, fragte er. Haid wußte nicht, was er von der Frage halten
sollte. War sie zynisch gemeint? Aus Verlegenheit gestellt? »Heute nacht werde ich auf dem Fußboden schlafen«, fuhr O’Maley fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich werde Sie morgen nicht mehr belästigen, ich reise ab. Übrigens versuchte ich ein Zimmer zu bekommen, aber es war leider nicht möglich. Ich hoffe, ich störe Sie nicht allzusehr.« »Sie wollen morgen abreisen?«, fragte Haid unsicher. »Ja, morgen«, antwortete O’Maley.
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Es regnete und Haid, der von O’Maley überredet worden war, ihn zum Flugplatz zu begleiten, saß schweigend und hoffnungsvoll im Fond des Wagens. Er wagte noch nicht daran zu glauben, daß O’Maley abreiste. Immer wieder zweifelte er daran, ob O’Maley nicht einen neuen Schachzug vorbereitet hatte, um ihn zu verblüffen. Am Abend hatte Haid einen Ausschnitt aus dem Film »French Connection« im Fernsehen gesehen, in dem ein Autofahrer die Hochbahn, die auf einem Gerüst zehn Meter über der Straße fuhr, verfolgte. Die Hetzjagd führte entlang dem Meer, entgegenkommende Fahrzeuge stellten sich quer und stießen mit dem verfolgenden Auto zusammen. Auf derselben Strecke fuhr Haid nun mit dem Taxi, und er erinnerte sich sofort an den Filmausschnitt.
Die Eisenkonstruktion, die auf Betonpfeilern über der Straße geführt wurden, verdunkelte das Innere des Taxis. Die Wirklichkeit schien ihm wie eine Luftblase in einem riesigen Gewässer. Er war in diese Luftblase eingeschlossen und das Gewässer war Bedrohung, Ahnung, Unsichtbares. Kleine Kutter tuckerten am East River, am anderen Ufer rauchten Fabrikschlote, und Haid sah von weitem die verwahrlosten Fabrikhöfe. O’Maley hatte sich von ihm weggedreht, als wollte er ihm zeigen, daß er kein Gespräch wünschte. Er veränderte seine Haltung auch nicht, als sie später an Einfamilienhäusern am anderen Ufer des East-River vorbeifuhren, an vereinzelten kümmerlichen Forsythiensträuchern und durch Unfälle zerstörten Autos, die am Straßenrand oder in kleineren Wiesen stehengelassen worden waren. »In einer Luftblase mit O’Maley«, dachte Haid. »Für mich wird alles chaotisch, seit er hier ist.« »Bitte?« – fragte O’Maley in die Stille. »Nichts«, antwortete Haid. Es ärgerte ihn nachträglich, daß er geantwortet hatte, aber auch, daß er sich sein Erstaunen hatte anmerken lassen. Vermutlich hatte O’Maley ihn verunsichern wollen. Und es war ihm – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – gelungen. Nein, nicht nur für einen kurzen Augenblick – denn Haid war sich seiner Unsicherheit nun vollends bewußt geworden. Er starrte auf das braune, schmutzige Gras und las die Hinweisschilder, die zu den Flughafengebäuden führten.
»Bitte, warten Sie im Wagen«, sagte O’Maley. »Ich erledige das rasch.« Warten? Wollte O’Maley nicht abfliegen? Er sah O’Maley voller Mißtrauen nach, wie er im Flughafengebäude verschwand. Wollte er ihn verhaften? Sollte er jetzt verhaftet werden? Möglicherweise hatte O’Maley ihn in eine Falle gelockt … Er beobachtete jeden Fremden mißtrauisch, der sich dem Auto näherte. Sollte er fliehen? Aber wie? Er konnte den Fahrer veranlassen, wieder zurückzufahren. Und wenn er sich weigerte? Es konnte sein, daß er mit O’Maley unter einer Decke steckte. Wahrscheinlich war es besser, auszusteigen und ein anderes Taxi zu nehmen. Natürlich konnte O’Maley versuchen, ihn zu verfolgen. Aber von O’Maley war nichts zu sehen. Wenn Haid sich beeilte, würde O’Maley ihm kaum folgen können. Was sollte jedoch dann geschehen? Haid mußte in das Hotel zurück und das würde O’Maley Gelegenheit geben, ihn zu stellen. Er gab dem Taxifahrer, um ihn zu beruhigen, ein Zeichen und stieg aus. Während er ausstieg, wußte er jedoch, daß er sich damit in keiner Weise festlegte. Er konnte ohne weiteres wieder einsteigen oder auf der Straße warten, bis O’Maley zurückkam. Er spazierte auf den Gehsteig vor dem Flughafengebäude hinaus. Als er wieder zurückkehrte, verließ O’Maley gerade das Gebäude.
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O’Maley öffnete die rückwärtige Autotür und ließ Haid einsteigen. »Ich habe für morgen gebucht. Wissen Sie, ich wollte nicht in der Nacht fliegen.« Er nahm neben Haid Platz und warf die Tür ins Schloß. Haid empfand das Geräusch der zufallenden Tür wie einen Schmerz. »Wann werden Sie fliegen?« »Morgen früh.« »Wir nehmen auf der Rückfahrt einen anderen Weg«, sagte O’Maley, »ich möchte, daß Sie einen Blick auf die Friedhöfe werfen. Ein seltsamer Anblick, Haid.« Haid fror. Er wagte es nicht einmal mehr, sich zu fragen, was O’Maley nun bezweckte. Wollte er ihn weichmachen? Wollte er auf Carson anspielen? Kurz darauf fuhren sie durch das endlos lange Friedhofsgelände, das beiderseits der Straße lag. Es regnete leicht, und Haid wunderte sich darüber, daß ihn der Anblick der weiten, grünen Wiese, der viereckigen Grabsteine und der steinernen Engel ruhiger machte. Die Wolkenkratzer von Manhattan hinter den Hügeln sahen aus wie gigantische Grabsteine. Es war, als vergrößerte sich der Friedhof zum Horizont hin und als läge zwischen den Lebenden und Toten ein Niemandsland, in dem Haid sich jetzt befand. Er erinnerte sich an ein Bild von Caspar David Friedrich, das er vor Jahren in
Hamburg gesehen hatte, und das er jetzt mit einer überraschenden Deutlichkeit vor sich sah, so als habe diese Erinnerung etwas ganz Bestimmtes zu bedeuten und als verpflichte sie ihn, hinter diese Bedeutung zu kommen. Das Bild stellte die Heimatstadt Friedrichs, GREIFSWALD, vor einem hellen, gelben Himmel dar, der durch ein Lichtphänomen seine besondere Farbe angenommen haben mußte. Während der Himmel die obere Hälfte des Bildes einnahm, war die Stadt selbst nur durch eine schmale Silhouette von grüngelben Kirchtürmen, Bäumen, Häusern und zwei Windmühlen dargestellt. Davor lag ein besonnter Rasenteppich mit springenden Pferden, Gänsen und einem Weiher, in dem sich der Himmel spiegelte. Alles wirkte trotz der idyllischen Atmosphäre, die das Bild ausstrahlte, realistisch, bis auf die dunkle Zone des Vordergrundes, die durch eine Bodenwelle und Sträucher vom Hintergrund abgesondert war. Dieser dunkle Streifen machte die Stadt, den besonnten Rasenteppich und den von einem Lichtphänomen erhellten Himmel zu einer Vision. Es schien, als sei dieser Streifen die Realität, das Diesseits, die Schwere, die selbst das Gewicht des Blutes in den Adern fühlbar machte, während dahinter etwas Paradiesisches oder das Paradies selbst sich auf tat. Haid war sich nicht sicher, ob dieses Paradies sich erst mit dem Tode aufmachen würde, es kam ihm vielmehr vor, als sei eine Kraft in ihm, die ihn dazu befähigte, aus dieser Schwere herauszutreten, in eine andere Form der Wirklichkeit. Als er das Bild zum ersten Mal gesehen hatte, hatte
er sofort das Gefühl gehabt, daß er unmittelbar davorstünde, diese Grenze zu durchbrechen. Er stellte sich die Grenze nicht bildlich vor, aber er glaubte, sie als eine Mauer von harter Luft zu verspüren, die ihn von den Gegenständen und Menschen trennte. Er hatte später nicht mehr oft an dieses Bild gedacht, aber die Gedanken, die es ausgelöst hatte, waren geblieben. Was aber hatte es zu bedeuten, daß ihm gerade jetzt dieses Bild einfiel? Was bedeutete es für seine Zukunft, denn er war sicher, daß es ihm etwas sagte. Hatte er sich auf den Tod vorzubereiten? War es eine Täuschung gewesen, daß er geglaubt hatte, als Lebendiger in diese andere Form der Wirklichkeit eintreten zu können? Haid hatte nie an ein Jenseits geglaubt und doch erörterte er nun allen Ernstes die Frage nach einer Realität, die sich erst mit dem Tode auftun würde. Sie waren längst wieder zum East River gelangt, aber Haid merkte nichts. Er dachte sich, daß man diese andere Form der Wirklichkeit, wie sie Caspar David Friedrich sogar hatte malen können, vielleicht sehen konnte, wenn man nicht mehr sprach und nichts mehr hörte und die Augen schloß und seine Sinne erst dann wieder öffnete, wenn in einem nichts mehr als Erinnerungen waren, auf die man blicken konnte, wie auf panoptische Bilder. Man würde sie mit Interesse betrachten, ohne zu urteilen. Man würde sich nur für die eigene Wahrheit, die in diesen Bildern lag, interessieren. Das Taxi hielt an der Grand Central Station. O’Maley bezahlte, und ohne sich abzusprechen
gingen sie automatisch in der Madison Avenue weiter. »Was halten Sie von dem Friedhof?«, fragte O’Maley. »Ich habe mich an etwas erinnert.« »So? Und woran?« Schon als Haid das Wort »erinnert« ausgesprochen hatte, hatte er gewußt, daß O’Maley ihn fragen würde, woran er sich erinnert habe. Falls er ihm den Friedhof nur gezeigt hatte, um ihn an Carson zu erinnern, war diese Frage naheliegend. »An ein Bild«, antwortete Haid ruhig. »An das Bild eines deutschen Malers.« O’Maley nickte. Haid steckte die Hände in seinen Staubmantel. Lag das Geheimnis der anderen Realität, die ihn jetzt so sehr beschäftigte, und die Friedrich sogar gemalt hatte (worüber er immer wieder staunen konnte), lag dieses Geheimnis vielleicht darin, daß die Dinge, die Friedrich sah und malte, wie er sie sah, immer auch etwas anderes bedeuten? Das Grün des Rockes eines der beiden Männer, die auf dem Bild KREIDEFELSEN AUF RÜGEN dargestellt sind, ist gleichzeitig die Farbe der Hoffnung und die Farbe Grün. Die zwei Segelboote auf demselben Bild sind gleichzeitig Sinnbilder von Seelen, die zum ewigen Leben aufgebrochen sind und zwei Segelboote. Haid aber wußte nicht, was die Dinge, die er selbst sah, für ihn bedeuteten. Er war in sie verstrickt. Er wußte nicht einmal, was O’Maley für ihn bedeutete. Er wußte es nicht, weil er nicht den
Mut hatte, die Frage zu stellen. Eine Zeitlang trug er die Erinnerung an Caspar David Friedrichs Bild wie ein leuchtendes Amulett in seinem Kopf herum. Es legte sich über die Waren in den Schaufenstern der Geschäfte, wie ein Bild in einem Film oft ein anderes überdeckt und unter sich verschwinden läßt, wenn eine Szene oder ein Schauplatz wechseln. »Sie dachten an das Bild eines alten deutschen Meisters?«, fragte O’Maley nach einer langen Pause. Haid nickte und wollte umständlich über Caspar David Friedrich zu sprechen beginnen, als O’Maley ihn fragte, ob er es nicht vorziehe, fotografierte Wirklichkeit zu betrachten, gewissermaßen Beweise der Realität, Indizien, die ohne kunstvoll aufgenommen worden zu sein, trotzdem Atmosphäre und Analyse in einem sein könnten. Haid war erstaunt. »Ich möchte Ihnen etwas Bemerkenswertes zeigen, Haid«, fuhr O’Maley fort. »Sie haben mir erst vor kurzem einen bemerkenswerten Friedhof gezeigt«, unterbrach ihn Haid gereizt. O’Maley jedoch schien über eine unerschütterliche Höflichkeit zu verfügen. »Ich will Ihnen keineswegs lästig fallen«, sagte er, »aber ich dachte, Sie würden sich dafür interessieren.« »Wofür?« »Für einen Museumsbesuch.« Erinnerungen wurden in Haid wach, die sich nun vor seinem inneren Auge als ein stummer, farbiger Film abspulte. Die riesigen Räume des
Naturhistorischen Museums, sein Großvater mit der von Speiseresten bekleckerten Krawatte, der ihn an der Hand hielt, ihn von einem Glaskasten zum anderen führte und ihm ohne seine Brille aufzusetzen, die Augen zusammenkneifend die Namen von den Karteikarten vorlas und mit unsicherem Finger auf die betreffenden Gesteine zeigte: Violette Amethyste aus der Tschechoslowakei, roten, kugeligen Manganspat aus Deutschland, der aussah wie eine köstliche süße Igelfrucht, die aufgesägte Knolle eines grünen Malachit, eine steinerne Blume, wie es ihm schien, oder grünes, zu Stein erstarrtes Wasser, dessen Oberfläche gerade von einem Tropfen in Bewegung gesetzt worden war, und von dem sein Großvater ihm vorlas, er sei in Rußland gefunden worden, würfelige, klare Steinsalzkristalle aus Tirol, blauen Opal aus Südaustralien, durch den sich weiße Fasern zogen wie wandernde Wolkenbänke auf einem blauen Himmel, bläuliche, aufgeschnittene Knollen Chalcedon aus Uruguay mit brauner Rinde, innen rot und weiß gebändert, die ihn anzustarren schienen, als seien sie geheimnisvolle Augen, langstenglige, gründurchschimmerte Smaragdkristalle aus dem Ural, Turmalin aus Madagaskar, glänzenden, zinnoberroten Proustit aus Chile, korallenförmige, grüne, warzige Chrysokollkristalle aus den Liparischen Inseln, gelblichrote Krokoitkristalle aus Tasmanien und honigfarbenen Bernstein aus Ostpreußen mit eingeschlossenen Spinnen, Ameisen und Pflanzenresten. Gerne zeigte ihm der Großvater
ausgestopfte Vögel, die er ohne auf die Karteikarte sehen zu müssen, erkannte, und von welchen er immer häufig zu erzählen wußte, vom Kleinen Sturmtaucher, den er als Seemann an den Küsten Nordwestafrikas gesehen hatte, vom Kaiseradler, dessen bellenden Ruf KJAU-RAU er ihm mit einem lächerlich verzogenen Gesicht und angestrengten Lippen, die hervorquollen wie zu dicke Adern, vormachte, und vom Rebhuhn, dessen guten Geschmack er lobte.
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Vom Museum of Modern Arts hing eine gelbe Flagge. »Sie werden jetzt etwas sehen, das Sie überraschen wird«, sagte O’Maley. Haid haßte es, wenn ihm jemand etwas zeigte und durch Worte eine Überraschung ankündigte, oder wenn man ihn durch Beredsamkeit schon im vorhinein beeindrucken wollte. »Ich habe die Ausstellung, bevor ich Sie in Ihrem Hotel aufsuchte, gesehen. Es handelt sich um Zeitungsfotografien aus der Boulevardpresse. Ich wollte sie Ihnen unbedingt zeigen.« Wieder, aber diesmal nur für einen winzigen Augenblick, schien es Haid, als wolle O’Maley ihm eine Falle stellen. Er spürte plötzlich seine Augäpfel brennen, so als müsse er weinen, ohne daß ihm wirklich zum Weinen war. Er schämte sich sofort für seine brennenden und tränenden Augen, drehte sich
zur Seite und wischte sie mit dem Taschentuch aus. Er durfte nicht daran denken, dann würde sich das Brennen von selbst legen, er wußte das aus Erfahrung. Umständlich schob er die Brille zurecht, und als er sich in die wie schlafwandlerisch durch die Korridore gehende Menge der Betrachter einreihte, fühlte er sich auf eine unsinnige Weise geschützt. Er suchte O’Maley und sah ihn in einer verdunkelten Nische stehen, in der automatisch Diapositive auf eine Leinwand projiziert wurden. Aber Haid hatte den Eindruck, daß O’Maley weniger die Diapositive betrachtete als ihn. Haid blickte abwechselnd auf die Bilder an den Wänden und auf O’Maley. Nur mit halber Aufmerksamkeit besah er sich die Fotografien: Einen Ermordeten, dessen Kopf im Backrohr eines Gasherdes lag, während der Körper auf zwei zusammengestellten Sesseln ausgestreckt war, einen jungen vor einem toten Hund, der von einem Lastwagen überfahren worden war, und im Hintergrund wie eine Kulisse bei einem Fotografen: Limousinen, Geschäftsschilder und Slapstickpolizisten. Auch die Diapositive, die in der Stille jeweils mit einem Klicken automatisch wechselten, zeigten Mafiagangster, Betrunkene, die mit blutendem Gesicht vor einer Bar lagen, Boxer, die auf die verzerrten, verbeulten Gesichter ihrer Gegner einschlugen, Reiche, die – mit Juwelen und Orden geschmückt – Späße trieben. Haid zog den Regenmantel aus. Er benützte die Gelegenheit, um wieder einen Blick auf O’Maley zu werfen. O’Maley starrte gebannt auf die Diapositive, so als warte er
auf ein bestimmtes. Er hatte den Blick eines kaltblütigen Detektivs; Haid hatte den Eindruck, daß er seine Aufmerksamkeit zum Teil nur spielte, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Ein paar Collegestudentinnen drängten sich zwischen die beiden, als ein Bild projiziert wurde, auf dem ein Verbrecher bei einem Polizeiverhör zu sehen war, blutend, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Rasch warf Haid einen Blick auf O’Maley. O’Maley hatte sich ihm voll zugewandt und blickte ihn fragend an. Ohne ein Wort zu sagen, ging Haid hinaus.
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Haid hatte zuerst mit dem Gedanken gespielt, sich zu stellen, dann hatte er die Absicht gehabt zu fliehen, aber gleich darauf war er ratlos und unentschlossen gewesen. O’Maley stand plötzlich wieder neben ihm. Haid ließ sich nichts anmerken. Hinter seinem Stirnbein fühlte er einen Druck, und seine Aufmerksamkeit war in Zerstreutheit übergegangen. Wenn er etwas sah, dachte er gleichzeitig an etwas anderes. Eine Zeitlang hatte er unter Blutdruckschwankungen gelitten, aber er war unsicher, ob seine Zerfahrenheit jetzt nicht andere Ursachen hatte, ob sie nicht auf seine nervliche Verfassung zurückzuführen war. Er fühlte, wie seine Haare, wie immer wenn er barhäuptig im
Regen auf der Straße ging, sich einkringelten und wie seine Kopfhaut zu jucken begann. »Hat Sie irgendein Bild besonders beeindruckt?«, fragte O’Maley. »Nein«, antwortete Haid. »Ich verstehe.« Haid dachte über die Frage O’Maleys nach. War sie als eine Anspielung aufzufassen? Natürlich bestand die Möglichkeit, dahinter zu kommen, indem er O’Maley dieselbe Frage stellte. Aber O’Maley würde daraus schließen, daß er Angst hatte. Er sagte daher, daß ihn das Bild des UNSCHULDIGEN beim Polizeiverhör am meisten beeindruckt habe. »Ach, Sie meinen den Kerl, der sein Gesicht hinter den Händen versteckt hielt?« »Ja, den.« »Das war kein Unschuldiger. Im Gegenteil, glauben Sie mir. Wie kommen Sie darauf?« »Das war nur ein Gedanke von mir«, antwortete Haid. Er blieb einen Schritt zurück, um das Gespräch nicht mehr fortsetzen zu müssen. Die Frauen auf der Straße trugen durchsichtige Plastikregenschirme in Quallenform, und er stellte sich vor, Quallen hätten sich über die Köpfe der Frauen gestülpt und schwebten jetzt mit ihrer Beute über den Gehsteig. Dann war ihm, als säße O’Maley wie eine durchsichtige Qualle auf seinem Kopf und saugte ihn langsam aus. Er mußte ihn loswerden. Diesmal war er fester entschlossen als je zuvor. Natürlich war es sinnlos, einfach davonzulaufen oder zu versuchen, O’Maley im Gedränge zu verlieren. Es mußte endgültig sein. Entweder mußte
er Gewißheit haben, was in San Francisco tatsächlich geschehen war, oder er mußte O’Maley entkommen. Haid drehte sich einer Auslage zu, in der prachtvolle violette, purpurfarbene und gelbe Schmetterlinge ausgestellt waren, ein grüner Mondspinner, der die Form eines frischen Blattes hatte, ein dunkelblauer amerikanischer Schwalbenschwanz, mit weißen Sprenkeln und den roten Höfen um die schwarzen Augen am Ende des Körpers und Morphofalter, deren Flügel eine Spannweite bis zu 20 cm hatten. Sie waren in durchsichtigen Plastikschachteln verpackt, und obwohl ihr Anblick ihn faszinierte, machte es ihn traurig, daß sie tot waren. O’Maley stand einige Schritte vor ihm und stupste mit dem Finger an das Glas eines Schaufensters, das kleine junge Hunde von den Passanten trennte. Die Hunde waren herangekommen und preßten ihre Nasen an die Glasscheibe. »Ich habe eine gute Hand für alles Lebendige, und ich hasse alles, was gegen das Leben gerichtet ist«, sagte O’Maley. »Zum Beispiel kann ich den Schmetterlingen da drüben nichts abgewinnen, weil sie tot sind.« »Gehen Sie mit nach Harlem?«, fragte Haid in diesem Augenblick. Der Einfall war ihm ganz plötzlich gekommen. Er war ihm so überraschend gekommen, daß er nicht wußte, ob er ihm nicht überhaupt erst beim Sprechen gekommen war. Er mußte O’Maley dazu bringen, mit ihm nach Harlem zu gehen. Vielleicht stieß ihm dort etwas zu oder vielleicht würde er abreisen.
»Nach Harlem?« O’Maley schaute ihn mißtrauisch an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst.« »Doch.« Haid war bereits gefangen von seinem Gedanken, mit O’Maley nach Harlem zu gehen und ihn dort der Gefahr auszusetzen. Er wußte nicht genau, was er tat, denn seine eigene Bereitschaft, mitzugehen, erschien ihm wie eine Entschuldigung. Was er sich aber nicht eingestand, war, daß er selbst keine Angst mehr hatte. Er kam sich seltsam immun vor. Er dachte sich, daß ihm nichts passieren könne, und im Innersten war es ihm egal geworden, ob ihm etwas passierte. Er machte sich keine Sorgen um sich. Nur die Sache mit Carson mußte er noch ins reine bringen, in die er, wie es ihm schien, schon so verwickelt war, daß er keinen anderen Ausweg wußte. Seine Füße schmerzten, und O’Maley nahm den Umstand, daß es stärker zu regnen begann, zum Anlaß, die nächste Bar zu betreten. Auf der Theke standen Trinkgläser, gefüllt mit Oliven, Kirschen, Cocktailzwiebeln, Stücken von Zitronen mit grünen Schalen und gelben Grapefruitscheibchen. Haid stürzte ein Glas Gin hinunter und hoffte, bald betrunken zu sein.
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Es war schon dunkel, als sie ein Taxi anhielten. O’Maley hatte kein einziges Mal versucht, ihn von
seiner Idee abzubringen. Aber er war schweigsam und zurückhaltend gewesen, als habe er die ganze Zeit über etwas nachgedacht. Haid hingegen hatte unbeherrscht getrunken, und er spürte, als er schwankend auf der Straße stand, wie mühsam es für ihn war, das Gleichgewicht zu halten. Wenn er sich recht erinnerte, hatte auch O’Maley viel getrunken, aber er konnte ihm nichts anmerken.
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Vor dem Apollotheater in der hundertfünfundzwanzigsten Straße tappte Haid auf den schmutzigen Asphalt, der von Papierfetzen übersät war. Ihm fiel ein, daß er in Santa Monica darüber nachgedacht hatte, daß Angst stank. O’Maley hatte bezahlt und stand neben ihm auf der Straße. Die Straße war uneben. Größere Flächen – mit dem Ziegelschutt eingestürzter oder abgerissener Häuser bedeckt – waren mit Drahtzäunen abgesperrt, und Reklameschilder, die keine Funktion mehr hatten, hingen von verwahrlosten, unverputzten Häusern. Haid sprach einen hageren Neger vor den beleuchteten Schaufenstern des APOLLO THEATRES an. Der Neger trug eine abgeschabte blaue Seemannsjacke und geblümte Hosen, beugte sich zu Haid herunter und wies ihm mit schlenkernden Gliedmaßen den Weg zu einer Bar. Da Haid nicht sofort verstand, begleitete er ihn
unaufgefordert. Auf der Fahrbahn fuhren nur vereinzelt Autos, und die Gehsteige waren nahezu leer. Der Neger stellte ihm, während sie gingen, plötzlich einen anderen Neger vor. Irritiert hielt Haid an und streckte ihm die Hand hin. Er bemerkte, wie sehr ihn sein eigenes Verhalten verunsicherte, zog die Hand zurück und zündete sich eine Zigarette an. Seine Finger schwitzten. O’Maley, der bis dahin den Mund nicht aufgemacht hatte, herrschte den stämmigen Kleinen im nächsten Augenblick um seinen Namen an. Er tat dies in einer Polizistenmanier, die Haid wütend machte. Ihm fiel wieder ein, warum er sich hier befand, und er überlegte, wie er O’Maley herausfordern konnte. Währenddessen war der Kleine gehorsam stehengeblieben. Er trug eine olivgrüne Bluse und einen olivgrünen Regenhut vom Aussehen eines Babysonnenhutes. In einer Hand hielt er einen Damenregenschirm, den er jetzt vor Verlegenheit unter den Arm klemmte. Dabei warf er einen dümmlich schläfrigen Blick auf O’Maley, so als sei er gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht. Nach dem Bruchteil einer Sekunde senkte er seinen Blick und kratzte sich mit dem Schirm am Kopf.
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Auf einmal hatte Haid die Gewißheit, daß er durch seine Ängste und Verzweiflungen, seine Hoffnungen
und seinen Haß hindurchgehen mußte, und daß er sie so tief in sich spüren mußte, daß er sich würde immer daran erinnern können. Er ließ seinen Blick über die rote Tapete hinter der Theke gleiten, versuchte, sich das Gesicht der Negerin hinter der Theke in allen Einzelheiten zu merken und die Gesichter der Neger, die ihn anstarrten. Er hatte keine Angst vor ihnen. Er hatte auch keine Angst empfunden, als O’Maley und er die Bar betreten hatten und es plötzlich still geworden war wie in einem Film und einer der Neger mit geöffnetem Mantel auf sie zugekommen war, um sich durchsuchen zu lassen. Was jetzt geschah, schien ihm nicht tatsächlich. Er sah ein Glas mit Eiswasser vor einem Neger stehen, sah O’Maley mit kleinen, aufmerksamen Augen, die Faust geballt, mit dem Rücken an der Wand lehnen, und er hatte den Eindruck, in einer klebrigen, glitschigen Flüssigkeit zu stehen. Er war nur noch müde, ohne daß die Müdigkeit ein Grund war, in das Hotel zurückzukehren. Er hatte zwischendurch vergessen, was ihn dazu bewogen hatte, O’Maley zu überreden, mit ihm zu kommen, und als es ihm wieder einfiel, handelte er nur noch automatisch. Er verfolgte keine Absichten mehr. Er bezahlte und ging auf die Straße. Der Kleine übergab sich auf der Fahrbahn. Ein langer dünner Schleimfaden hing aus seinem Mund, den er mit zwei Fingern abzwicken wollte, ohne daß es ihm zunächst gelang. Wie um sich vor Überlegungen zu schützen, was er als nächstes tun wollte, betrat Haid wieder eine Kneipe. Er wußte, daß die Dinge nicht so waren, wie er sie sah. Der Neger hinter der Bar, eine
Brille auf der Nase, die geblümte Schürze um den Bauch, war nicht nur ein Neger in Harlem, die Gestalten, die ihn sofort musterten, waren nicht nur einfach verkommene Gestalten, sie zeigten ihm ununterbrochen etwas vor, eine Möglichkeit, die in ihm selbst genauso lag, wie sie in ihnen verkörpert war. Er blickte auf eine dunkelhäutige Hand, die aus einem Ärmel hervorlugte, und auf die gelbe Innenfläche, die ihn an eine umgedrehte Eidechse erinnerte. Der Kleine war hinter seiner Bierflasche eingeschlafen und wurde vom Barkeeper roh geweckt. Ein Neger mit Sonnenbrille gab vor, eine Zeitung zu lesen. Haid bemerkte, daß er dem Neger mit der Sonnenbrille ein Verhalten unterstellte. Warum sollte er nicht tatsächlich in der Zeitung lesen? Und warum sollte O’Maley nicht tatsächlich abwesend sein und nur den Abwesenden spielen? Der Kleine stand, als Haid wieder auf der Straße war, mit vom Erbrechen wäßrigen Augen auf dem Gehsteig und sprach mit sich selbst. Er verlangte eigensinnig, in die Bar zurückzugehen. O’Maley verstand ihn als einziger und brachte den Schirm heraus, den der Kleine auf der Theke liegengelassen hatte. Als Haid O’Maley mit dem Damenschirm aus der Bar kommen sah, fiel ihm abermals ein, daß er ihn hatte in Gefahr bringen wollen. Natürlich, das war seine Absicht gewesen, O’Maley in Gefahr zu bringen … Weswegen befand er sich sonst hier? Haid drehte sich um und ging die Lexington Avenue hoch. Abgerissene Neger streiften zu zweit und zu dritt zwischen Autowracks herum. Einer der Neger
fiel Haid auf, da er ein gelbes Sakko trug. Haid wollte ihn ansprechen und war verwundert, daß der Neger ihm ängstlich auswich. Erst als er ein größeres Stück von ihm entfernt war, blieb der Neger stehen und machte eine obszöne Geste. Haid fiel ein, daß der Kleine MURPHY gerufen wurde, und er blieb stehen und rief den Namen. Dann bemerkte er, daß er nicht allein war. O’Maley stand hinter ihm, während Murphy ihn schläfrig und trotzig anstarrte. Zunächst wollte Haid O’Maley die unsinnige Frage stellen, ob er jetzt genug habe, aber es fiel ihm rechtzeitig ein, daß niemand verstehen würde, was er mit dieser Frage meinte. Er bewunderte vielmehr den Hageren, der sich mit dem Kerl im gelben Sakko anlegen wollte. Murphy kümmerte sich nicht darum, sondern bog in eine unbeleuchtete Quergasse ab. Haid folgte ihm. Es war vollständig dunkel, und Haid hatte einen verwirrten Gedanken, der ihm sagte, er sei unterwegs zurück in den dunklen Mutterschoß. Jemand trat eine Flasche vom Trottoir, sonst war es dunkel und still. Er tastete nach einer Haus wand und fühlte die nackten Ziegel. Gleich darauf fand er sich wieder auf einer beleuchteten Straße, die sich zu einem umzäunten, leeren Basketballplatz erweiterte. Er setzte sich auf den Boden und staunte, daß es den Boden wirklich gab. Ihm fiel ein, daß er auch erstaunt gewesen war, tatsächlich einen Ziegel zu fühlen, als er nach der Hauswand gegriffen hatte. Schwerfällig drehte Haid seinen Kopf dorthin, wo er O’Maley vermutete. Er entdeckte ihn auf der anderen Straßenseite. Es schien Haid, als versteckte er sich
dort, als wünschte er das Folgende ungesehen zu beobachten. – Jetzt erinnerte sich Haid auch, daß O’Maley einen Revolver besaß. Der Hagere kam mit einem stämmigen Kerl in einer Lederjacke aus einem Haus. Sie gingen auf O’Maley zu. Der stämmige Kerl schüttelte O’Maley die Hand, warf einen flüchtigen Blick auf Haid und verschwand mit einem Achselzucken. Wieder haßte sich Haid dafür, wie er die Szene beobachtet hatte. »Ich sah nur, was ich wollte«, sagte er sich. Eine Lust überkam ihn, in die Untergrundbahn zu steigen. Dann stand der Hagere vor ihm und fragte ihn, ob ihm nicht gut sei. Haid erhob sich und schüttelte den Kopf. Er zeigte auf Murphy und lachte. »O.K.?« sagte er. O’Maley trat dazwischen und gab dem Hageren fünf Dollar, um die ihn dieser, wie Haid jetzt erst zu Bewußtsein kam, gebeten hatte.
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Als der Hagere zurückkam, hatte sich Haid bereits ein wenig erholt. Er hatte den Mantel und die Jacke geöffnet und betrachtete die kleinen orangefarbenen Phiolen, die ihm der Neger vor das Gesicht hielt. Als O’Maley sich für einen kurzen Augenblick wegdrehte, um nach Murphy zu sehen, fragte ihn der Neger nach seiner Adresse, und ohne nachzudenken, gab Haid sein Hotel an. Wollte er ihn wieder um Geld anpumpen? O’Maley hatte eine Hand
eingesteckt und wartete voll innerer Spannung auf das weitere. Haid drehte sich wieder um und ging davon. Er schlug jetzt die Richtung ein, von der er glaubte, sie führe aus Harlem heraus. Er fühlte eine Kraft in sich, alles aus dem Weg räumen zu können, was sich ihm entgegenstellen würde. Er haßte nicht nur Harlem, sondern, daß es überhaupt so etwas gab wie Harlem. Murphy lehnte an einem abgestellten Autowrack und übergab sich. Haid hatte zuerst das keuchende Würgegeräusch gehört, bevor er sich umgedreht und Murphy gesehen hatte. Der hagere Neger war verschwunden und O’Maley stand mitten auf der Fahrbahn und winkte einem schwarzen Personenwagen zu. Seine Wangen und seine Nase waren gerötet; auch seine Augen waren rot, aber sie waren ohne Mitleid. Das Auto hielt und O’Maley packte Murphy und schob ihn in das Auto. »Er geht auf Sicherheit«, dachte Haid. »Er wagt es nicht, ohne den Neger mit dem Taxi zu fahren.« – Aber wieso ließ O’Maley sich überhaupt darauf ein, sich wegen Haid in Gefahr zu begeben? Plötzlich fühlte Haid den Körper Murphys an seiner Seite. Er war eingeschlafen und zu ihm herübergerutscht. Sein grüner Hut war ihm vom Kopf gefallen auf den schmalen Platz vor der rückwärtigen Scheibe und schaukelte dort. Haid empfand auf einmal Mitleid mit Murphy, und er ließ ihn auf der Fahrt durch den nachtdunklen Centralpark an seine Schulter gelehnt schlafen, als könne er ihm damit alles Elend nehmen, das je über ihn gekommen war.
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Als Haid Murphy am Broadway wachrüttelte, war er voll brüderlicher Gefühle. Er bildete sich ein, ihn vor O’Maley in Schutz nehmen zu müssen. Murphy entschuldigte sich und übergab sich auf der Fahrbahn, als wolle er sie mit seinem Erbrechen in Besitz nehmen. Die Luft war kühl und Haid fühlte sich jetzt als jemand anderer. Er berührte seinen Hals, um sich zu vergewissern, daß er es selbst war, aber der Schwebezustand hielt an. Als er sich umblickte, stellte er fest, daß sie sich vor einem 25Cent-Pornokino befanden. Vor dem Eingang saß eine fette Hure mit blondgefärbten Haaren und einem schwarzen Pelzmantel. O’Maley stand vor ihr und machte den Eindruck, als wolle er sie von ihrem Sessel treten. Haid dachte sich, daß er sich in O’Maley nicht getäuscht hatte. Er wartete jeden Augenblick darauf, daß O’Maley der Hure einen Tritt verpassen würde. Er mußte sich eingestehen, daß er nicht nur Abscheu bei der Vorstellung empfand. O’Maley würde über die fette Hure herfallen und sie verprügeln. War es nicht merkwürdig, daß er sich von der Erwartung einer Gewalttätigkeit einnehmen ließ? Haid dachte im selben Moment an den Neger im gelben Sakko und verzieh ihm. Er starrte noch immer gebannt auf O’Maley und folgte ihm jetzt in das Kino. O’Maley musterte das Paar an der Kasse, als ob es sich um eine Razzia handelte. Der Mann: dick, schwarzhaarig, mit buntem Hemd, und die
Frau: ebenso fett, mit blaulackierten Fingernägeln, zählten teilnahmslos einen großen Haufen 25-CentMünzen. Aber sofort, nachdem er das Kino betreten hatte, war Haids Faszination für O’Maley verschwunden. Er begriff jählings die Pose, die O’Maley einnahm: Er kaute, ohne einen Kaugummi im Mund zu haben. Es war ein billiger Trick, die Backenmuskulatur arbeiten zu lassen und ein ernstes Gesicht zu machen. Zwar hatte Haid jetzt einen deutlicheren Eindruck seiner eigenen Schwäche, aber seine Wehrlosigkeit gab ihm gleichzeitig einen klaren Blick. Er betrachtete den Versuch, O’Maley in Gefahr zu bringen, als gescheitert. Abrupt ging er auf die Straße zurück. Das Jetzt zu empfinden und sich ihm hingeben zu können, kam ihm oft wie eine Erlösung vor. Gleichzeitig war es aber auch sein Betäubungsmittel. Er betäubte sich damit, alles zu sehen und in sich aufzunehmen, aber es kam ihm nun vor, als sei ihm dies nie gelungen. Er hatte immer eine Distanz gefühlt, so als ginge ihn nichts direkt an und ein wenig auch so, als betrachte er das, was er sah, als nicht wirklich. Ihm war, als hätte er die Verpflichtung gefühlt, Abstand zu wahren und seinen Eindrücken zu mißtrauen, ja, als sei er sich stets Mißtrauen schuldig gewesen, um einen klaren Kopf zu behalten.
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Er wartete ruhig auf O’Maley, und als O’Maley in der 8th Avenue die erstbeste weiße Frau, die ihm begegnete, ansprach, trat Haid neugierig näher. Die Frau trug ein tief dekolletiertes Abendkleid und blickte durch O’Maley hindurch. Sie sprach mit ihm, als ginge sie die Angelegenheit nichts an, als sei ihr Körper etwas, das sie nicht mehr empfand und nur noch benötigte, um damit auszudrücken, daß sie lebte. Alles an ihr drückte Hoffnungslosigkeit aus. Ihre Resignation mußte vollends sein, denn sie ließ kein Zeichen von Nervosität oder Ehrgeiz erkennen, und Haid, den ihr Anblick auf seinen eigenen Ehrgeiz aufmerksam machte, spürte so etwas wie Scham. Er wußte, daß er zynisch würde sein können, aber er würde keine Genugtuung darüber empfinden, zynisch zu sein, und er wollte auch nicht mit Zynismus auf seine Unsicherheit reagieren. Ein junger Bursche tauchte aus dem Nichts auf, einen roten Plastiksack mit Lebensmitteln in der Hand, klein, blaß, mit kurzgeschnittenen Haaren, er hinkte heran, blieb stumm neben der Frau stehen und hörte unaufgefordert zu. Als O’Maley mit der Frau in einem schmierigen, verwahrlosten Massagesalon verschwand, blieb der Bursche davor stehen und glotzte blöde auf das Haus, dessen Verputz sich in großen Flecken von den Ziegeln gelöst hatte, wobei ganze Buchstaben der Reklameaufschriften verblaßt
oder mitabgefallen waren. Haid hatte plötzlich das Gefühl, daß O’Maley sich in Gefahr befand. Er blickte sich nach Murphy um, der mit dem Schirm in der Hand auf dem Gehsteig stand. Aber er war sich nicht im klaren, ob dieses Gefühl nicht von seiner eigenen Unsicherheit erzeugt worden war. Dann fühlte er wieder das starke Bedürfnis in sich, keine Angst mehr zu empfinden. Im selben Augenblick ließ der junge Bursche den Plastiksack fallen und eine Milchflasche zersplitterte auf dem Gehsteig. Niemand schenkte dem Zwischenfall Beachtung, auch der junge Bursche hob einfach den Plastiksack wieder auf und ging davon. Die kleinen Lachen Milch am Boden zogen Haid jedoch an und schienen ihm wie Hinweise darauf, daß mit wenigen Schritten – indem er dem jungen Burschen folgen würde – etwas ganz anderes in sein Leben treten würde. Die Lachen waren Materie, Realität, Spuren, nicht nur Erinnerungsbilder, die dadurch, daß nichts Materielles zurückblieb, gleichzeitig Traum und Wirklichkeit waren. Murphy hatte mittlerweile seinen Schirm an den grünen Regulierkasten einer Ampel gehängt und war um die Ecke verschwunden, um sich im dunklen Hinterhof eines Lagerhauses zu übergeben. Sodann war er zurückgekommen, hatte den Schirm wieder sorgfältig vom Regulierkasten genommen und ging nun mit halbgeschlossenen Augen auf und ab. Er wollte nicht sprechen, und auch Haid hatte kein Bedürfnis, mit ihm zu reden. Was aber veranlaßte Murphy, hier mit Haid zu warten? Was versprach er
sich davon? Ließ er sich einfach treiben, so wie Haid sich hatte treiben lassen wollen, als er überlegt hatte, dem jungen Burschen zu folgen?
57
Wenig später war O’Maley mit geöffneten Schuhbändern aus dem Massagesalon gekommen. Sie hatten Murphy einen Dollar für die Untergrundbahn gegeben und ein Taxi zurück in das Hotel genommen. Irgend etwas Neues war zwischen sie getreten. Haid empfand die Stille wie etwas Feindliches. Es war keine nachdenkliche Pause, sondern das Schweigen von Menschen, die voneinander genug haben. Es war die erste Zurückhaltung, die man fallen läßt, bevor die Feindseligkeit offener ausbricht. Dabei wußte Haid nicht, weshalb das feindselige Schweigen gerade jetzt ausgebrochen war. Oder bildete er es sich bloß ein, daß es feindselig war? – Die Hotelhalle war dunkel, nur in der Portiersloge brannte Licht. Haid ging an den hohen Lehnstühlen vorbei, in welchen am Tag die alten Menschen hockten. Plötzlich wurde er in der Dunkelheit angesprochen. Er blickte sich um und erkannte den hageren Neger. Der Neger mußte in einem der Lehnstühle auf ihn gewartet haben. Im ersten Augenblick war Haid so erschrocken, daß er das Klopfen seines Herzens im Mund verspürte. »Ich hab auf Sie gewartet, Sir«,
sagte der Hagere. »Was willst du hier?«, fragte O’Maley aus der Dunkelheit heraus. »Nichts, Sir«, antwortete der Neger. »Dann verschwinde.« »Ich konnte nicht kommen Sir«, fuhr der Hagere fort. »Mein Schwager, Sie haben ihn kennengelernt, war dabei, als man ein Mädchen vor seiner Wohnung anschoß.« »Gut. Dann geh nach Hause.« »Haben Sie ein Glas Wasser, Sir?« »Frag den Portier.« Eine Frau mit violett gepudertem Haar stand mit dem Portier hinter dem Pult. »Komm mit«, sagte Haid plötzlich. Er wußte nicht, warum er das gesagt hatte. Als er mit dem Neger zum Lift ging, hatte er den Eindruck, daß die Frau mit dem violett gepuderten Haar und der Portier sie lautlos auslachten. Schweigend fuhr er mit dem Neger in den elften Stock. Er führte ihn ohne Umschweife in das Badezimmer und füllte ihm das Zahnputzglas. Als der Neger wieder gegangen war, fand Haid einen Zettel, auf dem der Neger ihm den Treffpunkt für den nächsten Tag aufgeschrieben hatte. »Das war sehr unklug«, sagte O’Maley, der alles schweigend mitangesehen hatte. »Er weiß jetzt, auf welchem Zimmer Sie wohnen. Ich rate Ihnen, den Zimmerschlüssel nicht mehr abzugeben, wenn Sie fortgehen.« »Ja«, sagte Haid. Am liebsten hätte er O’Maley auch erzählt, daß er nicht hatte anders können, als
den Neger auf das Zimmer mitzunehmen, aber er schwieg.
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Als Haid am nächsten Morgen erwachte, hatte O’Maley das Hotel bereits verlassen. Auf dem Nachttisch fand er eine Nachricht von O’Maley, daß er abgereist sei. Zunächst konnte Haid es nicht glauben. Er war überzeugt, daß O’Maley sich nur etwas Neues ausheckte, aber nichts geschah. Haid duschte sich, entnahm dem Koffer ein frisches Hemd und fand dabei die silberne Zuckerzange, die er für Christine gekauft hatte. Er beschloß, sie ihr mit der Post zu schicken. Er hatte keine Angst, ihr zu begegnen, aber er fühlte, daß es besser war, wenn er es nicht mehr versuchte. Er machte ein kleines Päckchen und wunderte sich währenddessen, daß er sich frei und unbeschwert fühlte. Er konnte nicht glauben, daß die Abreise O’Maleys die Ursache dafür war. Er begegnete diesem Gedanken allerdings mit Vorsicht, da er nicht neu für ihn war, aber er wollte sich auch nicht dagegen wehren. Andererseits wiederum befürchtete er einen Gefühlsüberschwang, der stets eine gleich starke Niedergeschlagenheit zur Folge hatte. O’Maley war abgereist, dachte Haid. Das bedeutete noch gar nichts. Gewißheit erlangen konnte er nur, indem er mit Mehring sprach. Der Autolärm von der Straße machte ihm die Stille seines
Zimmers bewußt. Er kramte sein Notizbuch heraus und ließ sich von der Hotelvermittlung mit San Francisco verbinden. Niemand hob ab. Er hörte den Freiton und das Rauschen in der Leitung. Gegen Mittag trug er das Päckchen zur Post. Er roch das Parfum auf dem Hotelgang, entdeckte einen gläsernen Postschacht, der entlang dem Lift vom letzten Stockwerk bis zum Parterre in einen großen, verzierten Behälter aus Messing führte, und stellte fest, daß die rothaarige Alte mit dem Spazierstock wieder dort saß, wo sie jeden Tag saß, ohne daß er ihr Beachtung geschenkt hatte.
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Ein Negerkellner servierte ihm in einem Restaurant, das sich um die Ecke in der Gay-Street befand, kleine Tintenfische, und Haid empfand so etwas wie ein Gefühl der Freude, als er das freundliche Gesicht mit dem riesigen, dichten Schnurrbart, der dem Neger über die Wange bis zum Haaransatz am Ohr wuchs, anschaute. Haid wollte klar denken, konnte es aber nicht. Er brachte nicht den Willen auf, darüber nachzudenken, welche Bedeutung die Abreise O’Maleys haben konnte. Es war einfach schön, dem Neger zuzulächeln, und vom Antwortlächeln zu wissen, daß es ihn selbst betraf. Natürlich wußte Haid die ganze Zeit über, daß er darüber nachdenken sollte, aber sein Gehirn gehorchte ihm nicht. Es
brachte den Ansatz eines Gedankens zuwege und beschäftigte sich sodann zerstreut mit dem, was er sah. Hatte er seine Angst verdrängt und gegen einen Zustand des Schlafwandelns eingetauscht? Sein Kopf schmerzte nicht, aber es war nicht hell in ihm. Es war, als seien in einem Raum an einem strahlendhellen Tag die Rolläden geschlossen. Sein Körper war ruhig, doch eine dumpfe, ungerichtete Unruhe saß in seinem Kopf und reizte ihn. Er bemühte sich, sich abzulenken, und sah nun durch die Scheiben des Restaurants, wie ein Polizist einen jungen Mann nach Waffen abtastete und ihn sodann in einen bereitstehenden Polizeiwagen stieß. Eine Menge von Fußgängern stand lose herum und wartete geduldig, bis der Wagen abgefahren war. Haid fiel auf, daß er die Straßenszene nicht auf sich bezog, wie er sie auf sich bezogen hätte, wenn O’Maley neben ihm gesessen wäre. Seltsamerweise, dachte er befriedigt, daß der junge Mann sich nun nicht mehr zu verstecken brauchte.
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Auf dem Weg zurück in das Hotel fiel Haid in einer schmalen Straße eine Auslage mit beschädigten Schneiderpuppen auf, die wahllos aufeinandergeschichtet waren. Sie waren in gelbe, braune und graue Tücher eingewickelt, als handelte es sich um kostbare Mumien ägyptischer Pharaonen. Im
Hotelzimmer schlief Haid später bis zum Abend. Beim Erwachen fiel ihm der Treffpunkt mit dem Neger ein. Er wartete zwei Stunden im Hotelzimmer, da er dem Hageren auch nicht in der Vorhalle begegnen wollte. Einige Male beunruhigten ihn Geräusche vor der Zimmertür, aber nichts geschah. Er ließ sich wieder mit San Francisco verbinden. Kurz darauf läutete das Telefon, und er hörte die leise Stimme Mehrings.
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»Wo bist du, Daniel?«, fragte Mehring. Die Worte klangen traurig und waren voll Einsamkeit. Haid erklärte es. Dabei dachte er daran, daß er sich immer vorgestellt hatte, wie sehr er zittern würde, wenn er mit Mehring sprechen würde. Nichts dergleichen war in ihm: Nicht Verzweiflung, nicht Angst und nicht Neugier. Haid zitterte auch nicht, als er nach Carson fragte. »Carson ist tot«, antwortete Mehring. Haid wußte, daß er sich jetzt verstellen sollte, daß er den Überraschten spielen mußte, aber er schwieg. »Hallo, bist du noch am Apparat?« »Ja«, sagte Haid. »Ich sagte, Carson ist tot«, wiederholte Mehring. »Ich weiß es«, antwortete Haid. »Du wußtest es die ganze Zeit über?« »Ja.«
»Sie war sehr krank, sie hatte mit dem Herzen zu tun.« Wieder entstand eine lange Pause. »Du bist davongelaufen?«, fragte Mehring. »Ja.« Er hörte Mehring atmen und konnte doch nicht mit ihm sprechen. Er hatte keine Worte für das, was er sagen wollte, und so hörte er zu, wie Mehring atmete und sprach nichts. »Schreib mir darüber«, sagte Mehring plötzlich, »du brauchst keine Angst zu haben.« »Ja«, antwortete Haid wieder. »Ich werde dir schreiben.« »Ich habe eine Fotografie in Carsons Zimmer gefunden«, sagte Mehring nach einer Weile. »Ist es das Bild deiner Frau?« »Ja«, antwortete Haid, »behalte es.« 62
Der nächste Tag war ein schöner Apriltag in New York. Haid saß auf einer Bank am Washington Square und sah den spielenden Kindern zu. Er hatte versucht, Christine zu sprechen, über den telefonischen Auftragsdienst jedoch erfahren, daß Mr. und Mrs. Jakubowski für einige Tage verreist waren. Ein kleiner Junge versteckte sich hinter der Bank, auf der Haid saß. Er war klein und mager. Über seiner Oberlippe hatte er eine frischvernarbte Schramme, und sein Haar stand von Wirbeln
unterbrochen an seinem Hinterkopf in die Luft. Haid erinnerte sich an seinen Großvater, dessen Haare auch widerborstig in die Luft gestanden waren. Er gab seinem Einfall nach und betrachtete den Jungen, als sähe er seinem Großvater als Knaben zu. Als der Junge unter die Bank kroch und einen großen, ledernen Baseballhandschuh und eine Baseballmütze hervorholte und er nur den mageren, geschäftigen Hintern sah, überkam ihn Rührung. Der Junge kroch wieder unter der Bank hervor und lief, ohne einen Laut von sich zu geben durch den Park davon. Als er hinter einem Wohnblock verschwand, war Haid, als habe er einen langen Traum ausgeträumt. Er erhob sich und empfand plötzlich ein so starkes Gefühl von Liebe, daß er glaubte, es könne ihm nie mehr etwas geschehen.
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