Dietmar Gross · Thomas Seelig Bruchmechanik
Dietmar Gross · Thomas Seelig
Bruchmechanik Mit einer Einführung in die Mikromechanik 4., bearbeitete Auflage Mit 166 Abbildungen und 8 Tabellen
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Professor Dr.-Ing. Dietmar Gross Institut für Mechanik Technische Hochschule Darmstadt Hochschulstraße 1 64289 Darmstadt E-mail:
[email protected] Priv.-Doz. Dr.-Ing. Thomas Seelig Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM Wöhlerstraße 11 79108 Freiburg E-mail:
[email protected]
ISBN-10 3-540-37113-3 Springer Berlin Heidelberg New York ISBN-13 978-3-540-37113-7 Springer Berlin Heidelberg New York ISBN-10 3-540-42203-X 3. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York
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7/3100/YL – 5 4 3 2 1 0
Gedruckt auf säurefreiem Papier
Vorwort zur vierten Auflage Dieses Buch ist aus Vorlesungen u ¨ber Bruchmechanik und Mikromechanik hervorgegangen, die wir f¨ ur H¨orer aus den Ingenieur- und den Naturwissenschaften halten. Sein Ziel ist es, den Studierenden eine Hilfe beim Erlernen der Grundlagen dieser F¨acher zu bieten. Zugleich soll es dem Fachmann in der Industrie den Einstieg in diese Gebiete erm¨oglichen und ihm das R¨ ustzeug zur Behandlung entsprechender Fragestellungen zur Verf¨ ugung stellen. Das Buch u uhrt in die ¨berdeckt die wichtigsten Teile der Bruchmechanik und f¨ Mikromechanik ein. Dabei kam es uns darauf an, die wesentlichen Grundgedanken und Methoden sauber darzustellen, um damit ein tragf¨ahiges Fundament f¨ ur ein weiteres Eindringen in diese Gebiete zu schaffen. Im Vordergrund steht die Beschreibung von Bruchvorg¨angen mit Hilfe der Mechanik, wobei aber auch werkstoffkundliche und materialspezifische Aspekte gestreift werden. Inhaltlich werden zun¨achst die kontinuumsmechanischen und ph¨anomenologischen Grundlagen zusammengestellt. Es folgt ein Einblick in die klassischen Bruch- und Versagenshypothesen. Ein betr¨achtlicher Teil des Buches ist dann der linearen Bruchmechanik und der elastisch-plastischen Bruchmechanik gewidmet. Weitere Kapitel befassen sich mit der Kriechbruchmechanik sowie der Bruchdynamik. In einem umfangreicheren Kapitel werden die Grundlagen der Mikromechanik und Homogenisierung bereitgestellt. Schließlich werden noch Elemente der Sch¨adigungsmechanik und der probabilistischen Bruchmechanik abgehandelt. In den ersten beiden Auflagen umfasste das Werk ausschließlich die Bruchmechanik. Ab der dritten Auflage wurde der Inhalt deutlich ausgeweitet. Dies betrifft insbesondere die Hinzunahme der Mikromechanik, die aufgrund der zunehmenden Verkn¨ upfung von bruch- und sch¨adigungsmechanischen Fragestellungen mit mikromechanischen Modellierungen eine besondere Bedeutung erfahren hat. Hinzu kamen auch Abschnitte u unner Schichten oder u ¨ber die Bruchmechanik d¨ ¨ber Piezomaterialien. Die vorliegenden Neuauflage haben wir genutzt, um weitere Erg¨anzungen vorzunehmen. Daneben haben wir die Schreibweise und verschiedene Bezeichnungen an die neuen Standards angepasst. Gedankt sei an dieser Stelle allen, die zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Eingeschlossen sind auch die, von denen wir selbst gelernt haben. Wie sagt es Roda Roda so sch¨on ironisch: “Aus vier B¨ uchern abzuschreiben ergibt ein f¨ unftes gelehrtes Buch”. Danken m¨ochten wir besonders Frau Dipl.-Ing. Heike Herbst, die mit viel Sorgfalt die Zeichnungen erstellt hat. Nicht zuletzt sei dem Verlag f¨ ur die gute Zusammenarbeit gedankt. Darmstadt und Freiburg im August 2006
Dietmar Gross Thomas Seelig
Inhaltsverzeichnis
Einf¨ uhrung
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1 Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik 1.1 Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Spannungsvektor . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Spannungstensor . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Gleichgewichtsbedingungen . . . . . . . . 1.2 Deformation und Verzerrung . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Verzerrungstensor . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Verzerrungsgeschwindigkeit . . . . . . . . 1.3 Stoffgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Elastizit¨at . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Viskoelastizit¨at . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Plastizit¨at . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Energieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Energiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Prinzip der virtuellen Arbeit . . . . . . . . 1.4.3 Satz von Clapeyron, Satz von Betti . . . . 1.5 Ebene Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Lineare Elastizit¨at, Komplexe Methode . . 1.5.3 Idealplastisches Material, Gleitlinienfelder 1.6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Klassische Bruch- und Versagenshypothesen 2.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Versagenshypothesen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Hauptspannungshypothese . . . . . . . 2.2.2 Hauptdehnungshypothese . . . . . . . 2.2.3 Form¨anderungsenergiehypothese . . . . 2.2.4 Coulomb-Mohr Hypothese . . . . . . . 2.2.5 Drucker-Prager-Hypothese . . . . . . . 2.3 Deformationsverhalten beim Versagen . . . . . 2.4 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII 3 Ursachen und Erscheinungsformen des Bruchs 3.1 Mikroskopische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Ober߬achenenergie, Theoretische Festigkeit 3.1.2 Mikrostruktur und Defekte . . . . . . . . . 3.1.3 Rissbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Makroskopische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Rissausbreitung . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Brucharten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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51 51 51 53 55 57 57 58 59
4 Lineare Bruchmechanik 4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Rissspitzenfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Zweidimensionale Rissspitzenfelder . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Modus I Rissspitzenfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Dreidimensionales Rissspitzenfeld . . . . . . . . . . . . . . 4.3 K-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 K-Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Integralgleichungsformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Methode der Gewichtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Risswechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Bruchz¨ahigkeit KIc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 Energiefreisetzung beim Rissfortschritt . . . . . . . . . . . 4.6.2 Energiefreisetzungsrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Nachgiebigkeit, Energiefreisetzungsrate und K–Faktoren . 4.6.4 Energiesatz, Griffithsches Bruchkriterium . . . . . . . . . . 4.6.5 J−Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Kleinbereichsfließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.1 Gr¨oße der plastischen Zone, Irwinsche Rissl¨angenkorrektur 4.7.2 Qualitative Bemerkungen zur plastischen Zone . . . . . . . 4.8 Stabiles Risswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Gemischte Beanspruchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10 Erm¨ udungsrisswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11 Der Grenzfl¨achenriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12 Piezoelektrische Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12.2 Der Riss im ferroelektrischen Material . . . . . . . . . . . 4.13 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX 5 Elastisch-plastische Bruchmechanik 5.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Dugdale Modell . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Rissspitzenfeld . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Idealplastisches Material . . . . . 5.3.2 Deformationstheorie, HRR−Feld 5.4 Bruchkriterium . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Bestimmung von J . . . . . . . . . . . . 5.6 Bestimmung von Jc . . . . . . . . . . . . 5.7 Risswachstum . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.1 J–kontrolliertes Risswachstum . . 5.7.2 Stabiles Risswachstum . . . . . . 5.7.3 Station¨ares Risswachstum . . . . 5.8 Konzept der wesentlichen Brucharbeit . . 5.9 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Kriechbruchmechanik 6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Bruch von linear viskoelastischen Materialien . . . . . . . . . . 6.2.1 Rissspitzenfeld, elastisch-viskoelastische Analogie . . . 6.2.2 Bruchkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Risswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Kriechbruch von nichtlinearen Materialien . . . . . . . . . . . 6.3.1 Sekund¨ares Kriechen, Stoffgesetz . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Station¨arer Riss, Rissspitzenfeld, Belastungsparameter 6.3.3 Kriechrisswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Dynamische Probleme der Bruchmechanik 7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Einige Grundlagen der Elastodynamik . . . . . . . . . . . . 7.3 Dynamische Belastung des station¨aren Risses . . . . . . . . 7.3.1 Rissspitzenfeld, K-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Energiefreisetzungsrate, energetisches Bruchkonzept . 7.3.3 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Der laufende Riss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Rissspitzenfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Energiefreisetzungsrate . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Bruchkonzept, Rissgeschwindigkeit, Rissverzweigung, Rissarrest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X 8 Mikromechanik und Homogenisierung 8.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Ausgew¨ahlte Defekte und Grundl¨osungen . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Eigendehnungen, Eshelby-L¨osung, Defekt-Energien . . . . 8.2.2 Inhomogenit¨aten, Konzept der a¨quivalenten Eigendehnung 8.3 Effektive elastische Materialeigenschaften . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Grundlagen; RVE-Konzept, Mittelungen . . . . . . . . . . 8.3.2 Analytische N¨aherungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Energieprinzipien und Schranken . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien . . . . . . . . . 8.4.1 Grundlagen; plastische Makroverzerrungen, Dissipation, Makrofließbedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 N¨aherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Thermoelastisches Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9 Sch¨ adigung 9.1 Allgemeines . . . . . . . . 9.2 Grundbegriffe . . . . . . . 9.3 Spr¨ode Sch¨adigung . . . . 9.4 Duktile Sch¨adigung . . . . 9.4.1 Porenwachstum . . 9.4.2 Sch¨adigungsmodelle 9.4.3 Bruchkonzept . . . 9.5 Literatur . . . . . . . . . .
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10 Probabilistische Bruchmechanik 10.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Statistisches Bruchkonzept nach Weibull . 10.3.1 Bruchwahrscheinlichkeit . . . . . . 10.3.2 Bruchspannung . . . . . . . . . . . 10.3.3 Verallgemeinerungen . . . . . . . . 10.4 Probabilistische bruchmechanische Analyse 10.5 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachverzeichnis
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Einfu ¨ hrung
Unter Bruch versteht man die vollst¨andige oder teilweise Trennung eines urspr¨ unglich ganzen K¨orpers. Die Beschreibung entsprechender Ph¨anomene ist Gegenstand der Bruchmechanik. Von Interesse f¨ ur den Ingenieur ist dabei in erster Linie die Betrachtung der Vorg¨ange aus makroskopischer Sicht. Hierf¨ ur hat sich die Kontinuumsmechanik als Werkzeug bestens bew¨ahrt. Mit ihrer Hilfe k¨onnen Bruchkriterien und Konzepte erstellt werden, die eine Vorhersage des Verhaltens erm¨oglichen. In der Regel erfolgt die Trennung des K¨orpers, indem sich ein oder mehrere Risse durch das Material fortpflanzen. Die Bruchmechanik befasst sich deshalb in starkem Maße mit dem Verhalten von Rissen. Risse unterschiedlicher Gr¨oßenordnung oder Defekte, die zu Rissen f¨ uhren, sind in einem realen Material fast immer vorhanden. Eine der Fragen, deren Beantwortung die Bruchmechanik erm¨oglichen soll, lautet: breitet sich ein Riss in einem K¨orper bei einer bestimmten Belastung aus und f¨ uhrt damit zum Bruch oder nicht? Andere sind die nach der Rissentstehung, nach der Bahn eines sich ausbreitenden Risses oder nach der Geschwindigkeit mit der die Ausbreitung erfolgt. Zur Beschreibung des mechanischen Verhaltens von Festk¨orpern verwendet die Kontinuumsmechanik Gr¨oßen wie Spannungen und Verzerrungen. Diese sind allerdings nicht immer unmittelbar f¨ ur die Beschreibung von Bruchvorg¨angen geeignet. Dies liegt zum einen daran, dass diese Gr¨oßen an der Rissspitze unbeschr¨ankt groß werden k¨onnen. Zum anderen kann man dies schon alleine aus der Tatsache folgern, dass sich zwei Risse unterschiedlicher L¨ange auch dann unterschiedlich verhalten werden, wenn sie der gleichen Belastung ausgesetzt sind. Bei einer Laststeigerung wird sich der l¨angere Riss bereits bei einer geringeren Last ausbreiten, als der k¨ urzere. Aus diesem Grund f¨ uhrt man in der Bruchmechanik zus¨atzliche Gr¨oßen ein, wie zum Beispiel Spannungsintensit¨atsfaktoren oder die Energiefreisetzungsrate, welche den lokalen Zustand an der Rissspitze bzw. das globale Verhalten des Risses bei der Ausbreitung charakterisieren. F¨ ur das Verstehen von Bruchvorg¨angen ist eine zumindest teilweise Einsicht in die mikroskopischen Mechanismen n¨ utzlich. So macht zum Beispiel ein Blick in die Mikrostruktur verst¨andlich, wie ein Materialdefekt sich soweit vergr¨oßert, bis man ihn als makroskopischen Riss ansehen kann. Mit der Bedeutung der Mikromechanismen ist auch die wichtige Rolle zu erkl¨aren, welche die Werkstoffwissenschaften und die Materialphysik bei der Entwicklung der Bruchmechanik gespielt haben und weiterhin spielen werden. In zunehmenden Maße werden heute die mikroskopischen Prozesse mechanisch modelliert und mit Hilfe von Kon-
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Einf¨ uhrung
tinuumstheorien erfasst. Spezialgebiete, wie die Sch¨adigungsmechanik oder die Mikromechanik sind aus diesen Bem¨ uhungen entstanden und stellen inzwischen wichtige Werkzeuge in der Bruchmechanik dar. So bildet die Mikromechanik den theoretischen Rahmen zur systematischen Behandlung von Defekten und ihrer Auswirkung auf unterschiedlichen Gr¨oßenskalen. Die Bruchmechanik kann nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt werden. H¨aufig unterscheidet man die lineare Bruchmechanik von der nichtlinearen Bruchmechanik. Die erste beschreibt Bruchvorg¨ange mit Hilfe der linearen Elastizit¨atstheorie. Hiermit kann insbesondere der spr¨ode Bruch erfasst werden, weshalb die lineare Bruchmechanik auch als Spr¨odbruchmechanik bezeichnet wird. In der nichtlinearen Bruchmechanik werden Bruchvorg¨ange beschrieben, die wesentlich durch ein inelastisches Materialverhalten gepr¨agt sind. Je nachdem, ob sich das Material elastisch–plastisch verh¨alt oder viskose Effekte eine Rolle spielen, kann man dabei noch in elastisch–plastische Bruchmechanik und in Kriechbruchmechanik untergliedern. Eine andere Einteilung orientiert sich am betrachteten Material. So unterscheidet man verschiedentlich eine Bruchmechanik von metallischen Werkstoffen, mineralischen Werkstoffe oder Kompositwerkstoffen. Werden im Gegensatz zur deterministischen Beschreibung von Bruchvorg¨angen statistische Methoden herangezogen, so spricht man von statistischer Bruchmechanik. Die Geschichte der Bruchmechanik reicht in ihren Wurzeln bis zu den Anf¨angen ¨ der Mechanik zur¨ uck. Schon Galileo Galilei (1564-1642) hat 1638 Uberlegungen zum Bruch von Balken angestellt, die ihn zu dem Schluß f¨ uhrten, dass hierbei das Moment das entscheidende Maß f¨ ur die Beanspruchung ist. Mit der Entwicklung der Kontinuumsmechanik im 19. Jahrhundert kam es zur Aufstellung einer Reihe verschiedener Festigkeitshypothesen, die zum Teil noch heute als Bruchkriterien Verwendung finden. In ihnen werden Spannungen oder Verzerrungen zur Charakterisierung der Materialbeanspruchung herangezogen. Entsprechende Bem¨ uhungen erfolgten seit Anfang dieses Jahrhunderts insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung der Plastizit¨atstheorie. Im Jahre 1920 legte A.A. Griffith (1893–1963) einen ersten Grundstein f¨ ur eine Bruchtheorie von Rissen, indem er die f¨ ur den Rissfortschritt erforderliche Energie in die Beschreibung einf¨ uhrte und damit das energetische Bruchkonzept schuf. Ein weiterer Meilenstein war die 1939 von W. Weibull (1887-1979) entwickelte statistische Theorie des Bruchs. Der eigentliche Durchbruch gelang aber erst 1951 G.R. Irwin (1907-1998), der zum erstenmal den Rissspitzenzustand mit Hilfe von Spannungsintensit¨atsfaktoren charakterisierte. Das daraus folgende K–Konzept der linearen Bruchmechanik fand rasch Eingang in die praktische Anwendung und ist inzwischen fest etabliert. Seit Anfang der 60er Jahre wird an Problemen der elastisch–plastischen Bruchmechanik sowie weiterer Teilgebiete gearbeitet. Eine verst¨arkte Einbindung der Sch¨adigungsmechanik und der Mikromechanik erfolgt seit dem vergangenen Jahrzehnt. Trotz großer Fortschritte ist die Bruchmechanik ein noch l¨angst nicht abgeschlossenes Gebiet sondern nach wie vor Gegenstand intensiver Forschung. In starkem Maße angetrieben wurde und wird die Entwicklung der Bruchme-
Einf¨ uhrung
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chanik aus dem Bestreben, Schadensf¨alle an technischen Konstruktionen und Bauteilen zu vermeiden. Dementsprechend wird sie als Werkzeug u ¨berall dort angewendet, wo Bruch und ein damit verbundenes Versagen mit schwerwiegenden oder gar katastrophalen Folgen nicht eintreten darf. Typische Einsatzgebiete finden sich in der Luft- und Raumfahrt, der Mikrosystemtechnik, der Reaktortechnik, dem Beh¨alterbau, dem Fahrzeugbau oder dem Stahl- und Massivbau. Daneben wird die Bruchmechanik in vielen anderen Gebieten zur L¨osung von Problemen verwendet, wo Trennprozesse eine Rolle spielen. Beispiele hierf¨ ur sind die Zerkleinerungstechnik, die Geomechanik und die Materialwissenschaften.
1 Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
In diesem Kapitel sind einige wichtige Begriffe, Konzepte und Gleichungen der Festk¨orpermechanik zusammengestellt. Es versteht sich, dass diese Darstellung nicht vollst¨andig sein kann und sich nur auf das Notwendigste beschr¨ankt. Der Leser, der sich ausf¨ uhrlicher informieren m¨ochte, sei auf die Spezialliteratur verwiesen; einige Angaben hierzu finden sich am Ende des Buches. Wie der Name schon andeutet, verfolgt die Festk¨orpermechanik das Ziel, das mechanische Verhalten von festen K¨orpern einer Analyse zug¨anglich zu machen. Sie basiert auf der Idealisierung des in Wirklichkeit diskontinuierlichen Materials als ein Kontinuum. Seine Eigenschaften sowie die mechanischen Gr¨oßen k¨onnen damit durch im allgemeinen stetige Funktionen beschrieben werden. Es ist klar, dass die darauf aufbauende Theorie ihre Grenzen dort hat, wo der diskontinuierliche Charakter des Materials eine Rolle spielt. So sind Begriffe wie Spannungen und Verzerrungen nur dann physikalisch sinnvoll anwendbar, wenn sie auf Bereiche bezogen sind, die hinreichend groß im Vergleich zu den charakteristischen Abmessungen der vorhandenen Inhomogenit¨aten sind (zum Beispiel bei makroskopischen Bauteilen aus polykristallinen Werkstoffen groß gegen¨ uber der Korngr¨oße). Hierauf ist insbesondere bei der Anwendung der Kontinuumsmechanik auf mikroskopische Bereiche zu achten. Die Darstellung erfolgt im wesentlichen in kartesischen Koordinaten unter Verwendung der Indexschreibweise bzw. der symbolischen Notation. Sie beschr¨ankt sich außerdem meist auf isotrope Materialien sowie auf kleine (infinitesimale) Deformationen.
1.1 1.1.1
Spannung Spannungsvektor
Wirken auf einen K¨orper ¨außere Kr¨afte (Volumenkr¨afte f , Oberfl¨achenkr¨afte t), so werden hierdurch verteilte innere Kr¨afte - die Spannungen - hervorgerufen. Um sie zu definieren, denken wir uns den K¨orper im augenblicklichen (deformierten) Zustand durch einen Schnitt getrennt (Bild 1.1a), u ¨ber welchen die beiden Teilk¨orper durch entgegengesetzt gleich große Fl¨achenlasten aufeinander einwirken. Ist ∆F die Kraft auf ein Fl¨achenelement ∆A der Schnittfl¨ache, so beschreibt der Quotient ∆F /∆A die mittlere Fl¨achenbelastung f¨ ur dieses Element. Den Grenzwert dF ∆F t = lim = (1.1) ∆A→0 ∆A dA
6
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
bezeichnet man als Spannungsvektor in einem Punkt der Schnittfl¨ache. Seine Komponente σ = t · n in Richtung des Normaleneinheitsvektors n (senkrecht √ zum Fl¨achenelement dA) heißt Normalspannung; die Komponente τ = t2 − σ 2 senkrecht zu n (tangential zum Fl¨achenelement dA) nennt man Schubspannung (Bild 1.1b). Der Spannungsvektor t in einem Punkt h¨angt von der Orientierung des Schnittes, das heißt vom Normalenvektor n ab: t = t(n). Wir betrachten zun¨achst drei Schnitte senkrecht zu den Koordinatenachsen x1 , x2 , x3 , denen die Spannungsvektoren t1 , t2 , t3 zugeordnet sind (Bild 1.1c). Ihre kartesischen Komponenten werden mit σij bezeichnet, wobei die Indizes i, j die Zahlen 1, 2, 3 annehmen k¨onnen. Der erste Index kennzeichnet die Orientierung des Schnittes (Richtung der Normale), w¨ahrend durch den zweiten Index die Richtung der Komponente zum Ausdruck kommt. Danach sind σ11 , σ22 , σ33 Normalspannungen und σ12 , σ23 etc. Schubspannungen. Es sei angemerkt, dass es manchmal zweckm¨aßig ist eine andere Notation zu verwenden. Unter Bezug auf die Koordinaten x,y,z bezeichnet man die Normalspannungen h¨aufig mit σx , σy , σz und die Schubspannungen mit τxy , τyz etc. x3
t
τ
σ31
t dA
n
dA
n
σ33 σ32
σ13
σ
σ11 σ12
σ23
t2
σ21
σ22
x2
x1 a)
b)
c)
Bild 1.1 Spannungsvektor F¨ ur das Vorzeichen von Spannungen gilt folgende Vereinbarung: Komponenten sind positiv, wenn sie an einer Schnittfl¨ache, deren Normalenvektor in positive (negative) Koordinatenrichtung zeigt, in positive (negative) Richtung wirken. Mittels der Komponenten l¨asst sich zum Beispiel der Spannungsvektor t2 in der Form t2 = σ21 e1 + σ22 e2 + σ23 e3 = σ2i ei ausdr¨ ucken. Analog gilt t1 = σ1i ei oder allgemein tj = σji ei . (1.2) Darin sind e1 , e2 , e3 die Einheitsvektoren in Richtung der Koordinaten x1 , x2 , x3 . Außerdem wurde Gebrauch von der Einsteinschen Summationsvereinbarung gemacht. Danach ist u ¨ ber einen Ausdruck zu summieren, wenn in ihm ein und derselbe Index doppelt vorkommt; der betreffende Index durchl¨auft dabei der Reihe nach die Werte 1, 2, 3.
7
Spannung
1.1.2
Spannungstensor
Die neun skalaren Gr¨oßen σij sind die kartesischen Komponenten des Cauchyschen Spannungstensors σ (A.L. Cauchy, 1789-1857). Man kann ihn in Form der Matrix ⎛ ⎞ σ11 σ12 σ13 σ = ⎝ σ21 σ22 σ23 ⎠ (1.3) σ31 σ32 σ33 darstellen. Durch den Spannungstensor ist der Spannungszustand in einem Punkt, d.h. der Spannungsvektor f¨ ur jeden beliebigen Schnitt durch den Punkt, eindeutig bestimmt. Um dies zu zeigen, betrachten wir das infinitesimale Tetraeder nach Bild 1.2a. Die Orientierung der Fl¨ache dA ist durch den Normalenvektor n bzw. durch seine Komponenten ni gegeben. Das Kr¨aftegleichgewicht liefert dann zun¨achst t dA = t1 dA1 + t2 dA2 + t3 dA3 (etwaige Volumenkr¨afte sind von h¨oherer Ordnung klein). Mit t = ti ei , dAj = dAnj und (1.2) erh¨alt man daraus ti = σij nj
bzw.
t=σ·n,
(1.4)
wobei der Punkt in der symbolischen Schreibweise die einfache Indexsummation (hier u ¨ber j) kennzeichnet. Mit dem Spannungstensor σ liegt demnach der Spannungsvektor t f¨ ur jeden Schnitt n fest (hier und im weiteren wollen wir Tensoren und Vektoren alternativ durch ihre Symbole oder durch ihre Komponenten kennzeichnen und beide Schreibweisen oft parallel benutzen). Es sei angemerkt, dass (1.4) eine lineare Abbildung zweier Vektoren darstellt, durch welche σ als Tensor zweiter Stufe charakterisiert ist. Aufgrund des Momentengleichgewichts, auf das wir hier nicht eingehen wollen, ist der Spannungstensor symmetrisch: σij = σji . (1.5) Das heißt, die Schubspannungen in aufeinander senkrecht stehenden Schnitten sind einander paarweise zugeordnet. t1
x3
dA1 t2
x3
t
n
x3
x2
x2 dA3
dA2
x2 x1
dA x1
t3
x1 b)
a) Bild 1.2 Spannungszustand
8
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
In manchen F¨allen ist es notwendig, den Spannungstensor bzw. seine Komponenten in einem zum x1 , x2 , x3 -Koordinatensystem gedrehten System x1 , x2 , x3 (Bild 1.2b) anzugeben. Der Zusammenhang zwischen den Komponenten bez¨ uglich des einen und des anderen Systems ist durch die Transformationsbeziehung σkl = aki alj σij .
(1.6)
gegeben. Darin kennzeichnet aki den Kosinus des Winkels zwischen der xk - und der xi -Achse: aki = cos(xk , xi ) = ek ·ei . Ein besonderes Achsensystem ist das Hauptachsensystem. Es ist dadurch ausgezeichnet, dass in Schnitten senkrecht zu den Achsen nur Normalspannungen und keine Schubspannungen auftreten. Das bedeutet, der Spannungsvektor ti und der zugeh¨origer Normalenvektor ni sind jeweils gleichgerichtet: ti = σni = σδij nj . Darin sind σ die Normalspannung im Schnitt und δij das Kronecker-Symbol (δij = 1 f¨ ur i = j und δij = 0 f¨ ur i = j). Gleichsetzen mit (1.4) liefert das homogene lineare Gleichungssystem (σij − σδij )nj = 0
bzw.
(σ − σ I) · n = 0 ,
(1.7)
wobei I den Einheitstensor mit den Komponenten δij darstellt. Es hat nur dann eine nichttriviale L¨osung f¨ ur die nj , wenn seine Koeffizientendeterminate verschwindet: det(σij − σδij ) = 0. Dies f¨ uhrt auf die kubische Gleichung σ 3 − Iσ σ 2 − IIσ σ − IIIσ = 0 ,
(1.8)
wobei die Gr¨oßen Iσ , IIσ , IIIσ unabh¨angig vom Koordinatensystem, d.h. Invarianten des Spannungstensors sind; sie lauten Iσ = σii = σ11 + σ22 + σ33 , IIσ = (σij σij − σii σjj )/2
IIIσ
2 2 2 = −(σ11 σ22 + σ22 σ33 + σ33 σ11 ) + σ12 + σ23 + σ31 , σ11 σ12 σ13 = det(σij ) = σ21 σ22 σ23 . σ31 σ32 σ33
(1.9)
Die drei L¨osungen σ1 , σ2 , σ3 von (1.8) sind s¨amtlich reell. Sie werden als Hauptspannungen bezeichnet. Je einer Hauptspannung ist eine Hauptrichtung (Normalenvektor nj in Hauptachsenrichtung) zugeordnet, die sich aus (1.7) ermitteln l¨asst. Man kann zeigen, dass die drei Hauptrichtungen senkrecht aufeinander stehen. Die Hauptspannungen selbst sind Extremwerte der Normalspannung in einem Punkt. Bez¨ uglich des Hauptachsensystems kann der Spannungstensor durch ⎛ ⎞ σ1 0 0 σ = ⎝ 0 σ2 0 ⎠ (1.10) 0 0 σ3 dargestellt werden.
9
Spannung
In Schnittfl¨achen, deren Normale jeweils senkrecht auf einer der Hauptachsen steht und mit den beiden anderen einen Winkel von 45◦ einschließt, treten extremale Schubspannungen auf. So wirkt zum Beispiel im Schnitt mit der Normalen senkrecht zur σ3 -Richtung eine Schubspannung τ3 = ±(σ1 −σ2 )/2. Allgemein sind die sogenannten Hauptschubspannungen gegeben durch τ1 = ±
σ2 − σ3 , 2
τ2 = ±
σ3 − σ1 , 2
τ3 = ±
σ1 − σ2 . 2
(1.11)
Sind σ1 die maximale und σ3 die minimale Hauptspannung, so ist demnach die maximale Schubspannung σ1 − σ3 τmax = . (1.12) 2 Von praktischer Bedeutung sind noch die Oktaederspannungen. Hierunter versteht man die Normal- und die Schubspannung in Schnitten, deren Normale mit den drei Hauptachsen gleiche Winkel einschließt. Es gilt σii Iσ σ1 + σ2 + σ3 = = , 3 3 3 1 = (σ1 − σ2 )2 + (σ2 − σ3 )2 + (σ3 − σ1 )2 . 3
σoct = τoct
(1.13)
Die Spannung σoct kann man auch als mittlere Normalspannung deuten: σm = σkk /3 = σoct . Vielfach ist es n¨ utzlich, den Spannungstensor additiv zu zerlegen: σij =
σkk δij + sij 3
bzw.
σ = σm I + s .
(1.14)
Darin beschreibt 13 σkk δij eine Beanspruchung durch eine allseitig gleiche Spannung σm . Wegen der Analogie zum Spannungszustand in einer ruhenden Fl¨ ussigkeit wird dieser Anteil als hydrostatischer Spannungszustand bezeichnet. Den Tensor s nennt man Deviator . Durch ihn bzw. durch seine Invarianten Is = 0 , 1 1 sij sij = [(σ1 − σ2 )2 + (σ2 − σ3 )2 + (σ3 − σ1 )2 ] 2 6 1 2 2 2 + σ23 + σ31 , = [(σ11 − σ22 )2 + (σ22 − σ33 )2 + (σ33 − σ11 )2 ] + σ12 6 1 IIIs = sij sjk ski 3 IIs =
(1.15)
wird die Abweichung des Spannungszustandes vom hydrostatischen Zustand cha2 rakterisiert. Durch Vergleich mit (1.13) erkennt man: IIs = 32 τoct .
10
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
Zur grafischen Veranschaulichung des Spannungszustandes werden h¨aufig die Mohrschen Spannungskreise herangezogen (O. Mohr, 1835-1918). Hierbei handelt es sich um die Darstellung der Normalspannung σ und der zugeh¨origen Schubspannung τ als Spannungsbildpunkte in einem σ-τ -Diagramm f¨ ur alle m¨oglichen Schnitte. Geht man von einem Hauptachsensystem aus, so gilt mit (1.4) σ 2 + τ 2 = ti ti = σ12 n21 + σ22 n22 + σ32 n23 , σ = ti ni = σ1 n21 + σ2 n22 + σ3 n23 . Damit l¨asst sich unter Beachtung von ni ni = 1 zum Beispiel die Identit¨at (σ −
σ2 + σ3 2 σ2 + σ3 2 ) + τ 2 = −σ(σ2 + σ3 ) + ( ) + (σ 2 + τ 2 ) 2 2
in der Form (σ −
σ2 − σ3 2 σ2 + σ3 2 ) + τ 2 = n21 (σ1 − σ2 )(σ1 − σ3 ) + ( ) 2 2
(1.16)
schreiben. Man kann dies formal als Gleichung eines “Kreises” mit dem Mittelpunkt bei σ = (σ2 + σ3 )/2, τ = 0 und einem von n1 abh¨angigen Radius auffassen. Wegen 0 ≤ n21 ≤ 1 betr¨agt der minimale Mittelpunktsabstand der Spannungsbildpunkte (σ2 − σ3 )/2 = τ1 (f¨ ur n1 = 0), w¨ahrend der maximale Ab¨ stand σ1 + (σ2 − σ3 )/2 (f¨ ur n1 = ±1) ist. Analoge Uberlegungen k¨onnen an zwei weiteren Gleichungen durchgef¨ uhrt werden, die sich aus (1.16) durch zyklische Vertauschung der Indizes ergeben. Ordnet man die Hauptspannungen nach ihrer Gr¨oße (σ1 ≥ σ2 ≥ σ3 ), so erh¨alt man zusammengefasst eine Darstellung nach Bild 1.3. Spannungsbildpunkte befinden sich danach nur in dem schraffierten Gebiet bzw. auf den Kreisen vom Radius τi . Die Kreise selbst entsprechen dabei jeweils Schnitten, deren Normale senkrecht zu einer der drei Hauptachsen steht. τ τmax σ, τ τ3 τ1 σ3
σ2
σ1
Bild 1.3 Mohrsche Spannungskreise
σ
11
Deformation und Verzerrung
1.1.3
Gleichgewichtsbedingungen
Auf einen beliebigen Teilk¨orper, der aus einem K¨orper herausgeschnitten ist, wirken im allgemeinen u ¨ber das Volumen V verteilte Volumenkr¨afte fi sowie u ¨ ber die Oberfl¨ache ∂V verteilte Fl¨achenkr¨afte (Spannungsvektor) ti . Kr¨aftegleichgewicht herrscht dann, wenn die Resultierende dieser Kr¨afte verschwindet: ti dA + fi dV = 0 . (1.17) ∂V
V
Mit ti = σij nj und unter Anwendung des Gaußschen Satzes σ dV ergibt sich hieraus V ij,j (σij,j + fi ) dV = 0 .
∂V
σij nj dA =
(1.18)
V
Vorausgesetzt ist dabei, dass die Spannungen und ihre Ableitungen stetig sind; letztere sind durch Indizes nach dem Komma gekennzeichnet: σij,j = ∂σij /∂xj . Da das betrachtete Volumen V beliebig ist, folgt aus (1.18), dass f¨ ur jeden Punkt des K¨orpers die Gleichgewichtsbedingungen σij,j + fi = 0
bzw.
∇·σ+f =0
(1.19)
erf¨ ullt sein m¨ ussen. Dabei haben wir in der symbolischen Schreibweise den Vektoroperator ∇ = (∂/∂xj ) ej verwendet. Aus (1.19) erh¨alt man unmittelbar die Bewegungsgleichungen, wenn man die bei der Bewegung auftretenden Tr¨agheitskr¨afte −ρu¨i als zus¨atzliche Volumenkr¨afte auffasst: σij,j + fi = ρ u¨i . (1.20) Darin ist ρ die Dichte; u ¨ber eine Gr¨oße gesetzte Punkte kennzeichnen Ableitungen nach der Zeit. Auf die Momentengleichgewichtsbedingung wollen wir hier nicht n¨aher eingehen. Sie f¨ uhrt auf die in (1.5) schon erw¨ahnte Symmetrie des Spannungstensors.
1.2 1.2.1
Deformation und Verzerrung Verzerrungstensor
Zur Beschreibung der Kinematik eines deformierbaren K¨orpers werden u ¨blicherweise der Verschiebungsvektor und ein Verzerrungstensor herangezogen. Zu ihrer Erkl¨arung betrachten wir einen beliebigen materiellen Punkt P , dessen Lage im undeformierten Zustand (zum Beispiel zur Zeit t = 0) durch die Koordinaten (Ortsvektor) Xi gekennzeichnet wird (Bild 1.4). Ein zu P benachbarter Punkt Q
12
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
Q
Q
dXi x3
x1
Xi x2
P
ui
dxi P
xi
Bild 1.4 Deformation im Abstand dS hat die Koordinaten Xi + dXi . Unter der Wirkung der Belastung verschiebt sich P nach P bzw. Q nach Q . Ihre aktuelle Lage (zur Zeit t) ist durch die Raumkoordinaten xi bzw. xi + dxi gegeben. Die Verschiebung von P nach P wird durch den Verschiebungsvektor ui = xi − Xi
(1.21)
ausgedr¨ uckt. Unter der Voraussetzung, dass eine umkehrbar eindeutige Zuordnung zwischen xi und Xi besteht, kann man den Verschiebungsvektor ui und den Ortsvektor xi als Funktionen der materiellen Koordinaten Xi auffassen: ui = ui (Xj , t) ,
xi = xi (Xj , t) .
(1.22)
Zur Herleitung eines geeigneten Deformationsmaßes vergleichen wir nun die Abst¨ande der benachbarten Punkte im deformierten und im undeformierten Zustand. Es ist zweckm¨aßig hierzu die Abstandsquadrate ∂xk ∂xk dXi dXj ∂Xi ∂Xj = dXk dXk = dXi dXj δij
ds2 = dxk dxk = dS 2
heranzuziehen. Mit (1.22) erh¨alt man
wobei
ds2 − dS 2 = 2 Eij dXi dXj ,
(1.23)
1 ∂ui ∂uj ∂uk ∂uk Eij = ( + + ) 2 ∂Xj ∂Xi ∂Xi ∂Xj
(1.24)
ein symmetrischer Tensor zweiter Stufe ist. Man nennt ihn Greenschen Verzerrungstensor (G. Green, 1793-1841). Es l¨asst sich zeigen, dass f¨ ur hinreichend kleine (infinitesimale) Verschiebungsgradienten (∂ui /∂Xj 1) die Ableitung nach den materiellen Koordinaten Xj durch die Ableitung nach den Ortskoordinaten xj ersetzt werden kann: ∂ui /∂Xj → ∂ui /∂xj = ui,j . Beachtet man, dass in diesem Fall das Produkt
13
Deformation und Verzerrung
der Verschiebungsgradienten in Eij von h¨oherer Ordnung klein ist, so erh¨alt man aus (1.24) den infinitesimalen Verzerrungstensor 1 εij = (ui,j + uj,i) . 2
(1.25)
Man kann ihn in Form der Matrix ⎛
⎞ ε11 ε12 ε13 ε = ⎝ ε21 ε22 ε23 ⎠ ε31 ε32 ε33
(1.26)
darstellen, die wegen εij = εji symmetrisch ist. Geometrisch lassen sich die Komponenten ε11 , ε22 , ε33 als Dehnungen (bezogene L¨angen¨anderungen) und ε12 , ε23 , ε31 als Gleitungen (Winkel¨anderungen) deuten. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die technische Notation. Unter Bezug auf ein x, y, z-Koordinatensystem finden dort h¨aufig die Bezeichnungen εx , εy , εz f¨ ur die Dehnungen und γxy /2, γyz /2, γzx /2 f¨ ur die Gleitungen Verwendung. Die Eigenschaften des Verzerrungstensors k¨onnen wir sinngem¨aß vom Spannungstensor u ¨bertragen. So existiert ein Hauptachsensystem, in dem die Gleitungen verschwinden und nur die Hauptdehnungen ε1 , ε2 , ε3 auftreten. Daneben gibt es die drei Invarianten Iε , IIε , IIIε des Verzerrungstensors. Die erste charakterisiert dabei geometrisch die Volumendehnung (bezogene Volumen¨anderung): Iε = εV = εkk = ε1 + ε2 + ε3 .
(1.27)
Wird der Verzerrungstensor entsprechend εij =
εkk δij + eij 3
bzw.
ε=
εV I +e 3
(1.28)
zerlegt, so beschreibt der erste Anteil die Volumen¨anderung, w¨ahrend durch den Deviator e eine Gestalt¨anderung (bei gleichbleibendem Volumen) ausgedr¨ uckt wird. Angegeben sei noch die zweite Invariante des Deviators. Sie lautet in Analogie zu (1.15) IIe =
1 1 eij eij = [(ε1 − ε2 )2 + (ε2 − ε3 )2 + (ε3 − ε1 )2 ] . 2 6
(1.29)
Bei gegebenen Verzerrungskomponenten liegen mit (1.25) sechs Gleichungen f¨ ur die drei Verschiebungskomponenten vor. Soll in einem einfach zusammenh¨angenden Gebiet das Verschiebungsfeld (bis auf eine Starrk¨orperbewegung) eindeutig sein, so k¨onnen die Verzerrungen nicht unabh¨angig voneinander sein; sie m¨ ussen den sogenannten Vertr¨aglichkeitsbedingungen (Kompatibilit¨atsbedingungen) gen¨ ugen. Letztere ergeben sich aus (1.25) durch Elimination der Verschiebungen zu εij,kl + εkl,ij − εik,jl − εjl,ik = 0 . (1.30)
14 1.2.2
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
Verzerrungsgeschwindigkeit
Der Verzerrungstensor ist nicht immer geeignet, die Deformation bzw. die Bewegung eines deformierbaren K¨orpers zu beschreiben. In manchen F¨allen, wie zum Beispiel in der Plastizit¨at, ist es vielmehr zweckm¨aßig, Verzerrungs¨anderungen bzw. Verzerrungsgeschwindigkeiten zu verwenden. Wir gehen hierzu vom Geschwindigkeitsfeld vi (xj , t) aus (Bild 1.5). Die Relativgeschwindigkeit zweier Partikel, die sich zur Zeit t in den benachbarten Raumpunkten P und Q befinden, wird durch ∂vi dvi = dxj = vi,j dxj (1.31) ∂xj ausgedr¨ uckt. Hierdurch ist der Geschwindigkeitsgradient vi,j als Tensor zweiter Stufe definiert, den man gem¨aß 1 1 vi,j = (vi,j + vj,i ) + (vi,j − vj,i ) = Dij + Wij 2 2
(1.32)
zerlegen kann. Q x3
x1
vi +dvi dxi
x2
P
xi
vi
Bild 1.5 Verzerrungsgeschwindigkeit Der symmetrische Anteil 1 Dij = (vi,j + vj,i) 2
(1.33)
wird als Verzerrungsgeschwindigkeitstensor bezeichnet. Er charakterisiert die zeitliche Verzerrungs¨anderung der momentanen Konfiguration. Das sogenannte nat¨ urliche Verzerrungsinkrement ergibt sich mit ihm zu dij = Dij dt .
(1.34)
Wenn die Verzerrungen f¨ ur alle Zeiten klein sind, dann k¨onnen Dij bzw. dij durch die zeitliche Ableitung des Verzerrungstensors ε˙ij bzw. durch dεij ersetzt werden. Dies wollen wir im folgenden meist voraussetzen. Angemerkt sei wieder, dass auf Dij bzw. dij alle Eigenschaften, die beim Spannungstensor diskutiert wurden, sinngem¨aß zutreffen. Daneben gelten auch die Kompatibilit¨atsbedingungen, wenn in (1.30) εij durch Dij bzw. durch dij ersetzt wird. Der schiefsymmetrische Anteil Wij in (1.32) beschreibt die augenblickliche Drehgeschwindigkeit (Spin), auf die wir hier jedoch nicht weiter eingehen.
15
Stoffgesetze
1.3
Stoffgesetze
Wir beschr¨anken uns im weiteren auf kleine (infinitesimale) Verzerrungen, was f¨ ur eine große Klasse von Problemen zul¨assig ist und die Formulierung von Stoffgesetzen stark vereinfacht. 1.3.1 1.3.1.1
Elastizit¨ at Linear elastisches Material
In Verallgemeinerung des einachsigen Hookeschen Gesetzes σ = E ε (R. Hooke, 1635-1703) sind bei einem linear elastischen Material die Verzerrungen und die Spannungen im dreiachsigen Fall gem¨aß σ=C:ε
bzw.
σij = Cijkl εkl
(1.35a)
miteinander verkn¨ upft. Dabei kennzeichnet der Doppelpunkt bei der symbolischen Schreibweise die Summation u ¨ber zwei Indexpaare (hier k, l). Der Elastizit¨atstensor C (Tensor vierter Stufe) charakterisiert mit seinen Komponenten Cijkl die elastischen Eigenschaften des Materials. Man kann zeigen, dass es im allgemeinsten Fall einer Anisotropie maximal 21 voneinander unabh¨angige Konstanten gibt; dabei gelten die Symmetrien Cijkl = Cjikl = Cijlk = Cklij . L¨ost man (1.35a) nach den Verzerrungen auf, so lautet das Elastizit¨atsgesetz ε=M :σ
bzw.
εij = Mijkl σkl .
(1.35b)
ur Darin ist M = C −1 der Nachgiebigkeitstensor mit den Komponenten Mijkl , f¨ welche die gleichen Symmetrieeigenschaften wie f¨ ur Cijkl gelten. Im Fall eines isotropen Materials ist C durch alleine zwei unabh¨angige Konstanten festgelegt (isotroper Tensor): Cijkl = λ δij δkl + µ (δik δjl + δil δjk ) .
(1.36)
Damit erh¨alt man aus (1.35a) das Elastizit¨atsgesetz σij = λ εkk δij + 2 µ εij ,
(1.37)
worin λ und µ die Lam´e schen Konstanten sind (G. Lam´e, 1795-1870). Ihr Zusammenhang mit dem Elastizit¨atsmodul E, dem Schubmodul G, der Querkontraktionszahl ν (Poissonsche Konstante, S.D. Poisson, 1781-1840) und dem Kompressionsmodul K ist in Tabelle 1.1 gegeben. L¨ost man das Elastizit¨atsgesetz (1.37) entsprechend (1.35b) nach den Verzerrungen auf, so gilt mit den Beziehungen nach Tabelle 1.1 εij = −
ν 1+ν σkk δij + σij . E E
(1.38)
16
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
Tabelle 1.1 Beziehungen zwischen den elastischen Konstanten Zugrunde liegendes Konstantenpaar µ, K E, G E, ν
λ, µ λ
λ
K − 23 µ
G(E − 2G) 3G − E
µ
µ
µ
G
K
λ + 23 G
K
GE 3(3G − E)
Eν (1 + ν)(1 − 2ν) E 2(1 + ν) E 3(1 − 2ν)
µ(3λ + 2µ) λ+µ λ 2(λ + µ)
9K µ 3K + µ 3K − 2µ 2(3K + µ)
E
E
E 2G − 1
ν
E ν
Eine weitere m¨ogliche Schreibweise des isotropen Elastizit¨atsgesetzes folgt durch Trennung in den hydrostatischen (volumetrischen) und den deviatorischen Anteil. Mit (1.14), (1.28) und den Beziehungen nach Tabelle 1.1 ergibt sich σkk = 3 K εkk ,
sij = 2 µ eij .
(1.39)
Ein anisotropes Material verh¨alt sich nicht in allen Richtungen gleich. Wir wollen uns hier auf zwei F¨alle beschr¨anken. Bei Orthotropie hat der Werkstoff aufeinander senkrecht stehende Vorzugsrichtungen. Fallen sie mit den Koordinatenrichtungen zusammen, so lautet das Elastizit¨atsgesetz in Matrizenform ⎡ ⎤ ⎡ ⎤⎡ ⎤ ε11 h11 h12 h13 0 σ11 0 0 ⎢ ε22 ⎥ ⎢ h12 h22 h23 0 ⎢ ⎥ 0 0 ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ σ22 ⎥ ⎢ ε33 ⎥ ⎢ h13 h23 h33 0 ⎥ ⎢ σ33 ⎥ 0 0 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥⎢ ⎥ . (1.40) ⎢ 2 ε23 ⎥ = ⎢ 0 ⎢ ⎥ 0 0 h44 0 0 ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ σ23 ⎥ ⎣ 2 ε31 ⎦ ⎣ 0 ⎣ ⎦ ⎦ 0 0 0 h55 0 σ31 0 0 0 0 0 h66 2 ε12 σ12 Dabei h¨angen die 9 von Null verschiedenen Nachgiebigkeiten hij mit den Tensorkomponenten Mijkl und den technischen Konstanten Ei (Elastizit¨atsmoduli), νij (Querdehnzahlen), µij (Schubmoduli) wie folgt zusammen: 1 , E1 1 , h22 = M2222 = E2 1 , h33 = M3333 = E3
h11 = M1111 =
ν12 ν21 =− , E1 E2 ν23 ν32 h23 = M2233 = − =− , E2 E3 ν13 ν31 h13 = M1133 = − =− , E1 E3 h12 = M1122 = −
1 , µ23 1 h55 = M3131 = , µ31 1 h66 = M1212 = . µ12 h44 = M2323 =
(1.41)
17
Stoffgesetze
Zeigt ein orthotropes Material keine Abh¨angigkeit der Materialeigenschaften bei einer Drehung um eine Achse (zum Beispiel die x3 -Achse), dann nennt man es transversal isotrop. Aufgrund der dann herrschenden Beziehungen zwischen den Nachgiebigkeiten h11 = h22 ,
h13 = h23 ,
h44 = h55 ,
h66 = 2(h11 − h12 )
(1.42)
wird ein solches Material durch nur 5 unabh¨angige Konstanten charakterisiert. Erw¨armt man ein spannungsfreies Material um die Temperaturdifferenz ∆T , so f¨ uhrt dies zu thermischen Dehnungen εth , die in erster N¨aherung proportional zur Temperatur¨anderung sind: εth = k ∆T
εth ij = kij ∆T .
bzw.
(1.43)
Darin stellt k den Tensor der W¨armedehnungskoeffizienten dar, welcher bei thermisch isotropem Material durch einen einzigen Parameter gegeben ist: kij = k δij . Fasst man die elastischen und die thermischen Verzerrungen zu den Gesamtverzerrungen ε zusammen, so erh¨alt man das Duhamel-Neumann-Gesetz (J.M. Duhamel, 1797-1872, F. Neumann, 1798-1895) σ = C : (ε − εth ) . 1.3.1.2
(1.44)
Form¨ anderungsenergiedichte
Bei einem elastischen Material ist die bei einer Deformation pro Volumeneinheit geleistete Arbeit εkl U = σij dεij (1.45) 0
unabh¨angig vom Deformationsweg. In diesem Fall ist der Integrand dU = σij dεij ∂U ein vollst¨andiges Differential (dU = ∂ε dεij ), und es gilt ij σij =
∂U . ∂εij
(1.46)
Man bezeichnet U = U(εij ) als Form¨anderungsenergiedichte oder spezifisches elastisches Potential . Neben U(εij ) kann man eine spezifische Erg¨anzungsenergie oder spezifische (σij ) einf¨ uhren. Sie ist definiert durch Komplement¨arenergie U = σij εij − U = U
σkl εij dσij .
(1.47)
0
Analog zu (1.46) gilt εij =
∂U . ∂σij
(1.48)
18
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
Im Spezialfall des linear elastischen Materials folgt die Form¨anderungs- bzw. die Komplement¨arenergiedichte durch Einsetzen von (1.35a) und (1.35b) in (1.45) und (1.47) zu = 1 σij εij = 1 ε : C : ε = 1 σ : M : σ . U =U 2 2 2
(1.49)
Sie l¨asst sich unter Verwendung von (1.14), (1.28) und (1.39) in zwei Teile aufspalten: 1 U = K ε2kk + µ eij eij = UV + UG . (1.50) 2 Darin ist UV = 12 Kε2kk = 12 KIε2 die Volumen¨anderungsenergiedichte (=Energieanteil infolge reiner Volumendehnung), w¨ahrend UG = µ eij eij = 2 µ IIe die Gestalt¨anderungsenergiedichte (=Energieanteil infolge reiner Gestalt¨anderung) beschreibt. 1.3.1.3
Nichtlinear elastisches Material
Ist ein Material isotrop, so h¨angt die Form¨anderungsenergiedichte U nur von den Invarianten Iε , IIε , IIIε des Verzerrungstensors ab. Dabei lassen sich IIε , IIIε auch durch die Invarianten IIe , IIIe des Deviators ersetzen: U = U(Iε , IIe , IIIe ). Mit Iε = εij δij , IIe = 12 eij eij , IIIe = 13 eij ejk eki und (1.46) kann man demnach ein allgemeines nichtlineares Elastizit¨atsgesetz in der Form σij =
∂U ∂U ∂U δij + eij + eik ekj ∂Iε ∂IIe ∂IIIe
(1.51)
angeben. F¨ ur viele Materialien kann man annehmen, dass sich die Form¨anderungsenergiedichte (wie beim linearen Material) entsprechend U = U1 (Iε ) + U2 (IIe ) aus einem Volumen¨anderungsanteil und einem Gestalt¨anderungsanteil zusammensetzt. In diesem Fall reduziert sich (1.51) auf σij =
dU1 dU2 δij + eij , dIε dIIe
(1.52)
woraus sich durch Zerlegung in den hydrostatischen und den deviatorischen Anteil die folgenden Gesetzm¨aßigkeiten ergeben: σkk = 3
dU1 = f (εkk ) , dIε
sij =
dU2 eij = g(IIe ) eij . dIIe
(1.53)
Wird das Material zus¨atzlich noch als inkompressibel angesehen (εkk = 0), so entf¨allt in (1.53) die erste Gleichung. Die Funktion g(IIe ) kann man dann durch das einachsige Spannungs-Dehnungs-Verhalten σ(ε) des Materials ausdr¨ ucken. Zu diesem Zweck definieren wir zun¨achst eine einachsige Vergleichsspannung oder effektive Spannung σe folgendermaßen: ein dreiachsiger Spannungszustand σ
19
Stoffgesetze
(bzw. s) ist hinsichtlich der Materialbeanspruchung ¨aquivalent zu einem einachsigen Spannungszustand σe , wenn IIs f¨ ur beide gleich ist. Hiermit ergibt sich aus (1.15) mit σ1 = σe , σ2 = σ3 = 0 der Zusammenhang σe2 =
3 3 sij sij = s : s . 2 2
(1.54a)
Analog sehen wir beim inkompressiblen Material einen dreiachsigen Verzerrungszustand ε (bzw. e) als ¨aquivalent zu einer einachsigen Dehnung εe an, wenn IIe in beiden F¨allen gleich ist. Dies f¨ uhrt mit (1.29) und ε1= εe , ε2= ε3= −ε1 /2 auf die Definition der einachsigen Vergleichsdehnung oder effektiven Dehnung ε2e =
2 2 eij eij = e : e . 3 3
(1.54b)
Bildet man nun unter Verwendung von (1.53), (1.54a,b) das Produkt sij sij , so folgt g = 23 σe /εe und damit schließlich sij =
2 σe eij . 3 εe
(1.55)
Als Beispiel betrachten wir einen einachsigen Spannungs-Dehnungs-Zusammenhang in Form eines Potenzgesetzes: ε = B σn
bzw.
σ = b εN .
(1.56)
Darin sind n = 1/N und B = 1/bn Materialkonstanten. Seine dreidimensionale Verallgemeinerung lautet unter der Voraussetzung der Inkompressibilit¨at eij =
3 B σen−1 sij 2
bzw.
sij =
2 N −1 eij . bε 3 e
(1.57)
Die Form¨anderungsenergiedichte und die spezifische Komplement¨arenergie ergeben sich in diesem Fall zu U=
1.3.2
n sij eij , n+1
= U
1 sij eij . n+1
(1.58)
Viskoelastizit¨ at
Viskoelastische Materialien kombinieren elastisches mit viskosem Verhalten. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass das Materialverhalten zeitabh¨angig bzw. eine Funktion der Belastungs- oder Deformationsgeschichte ist. Typische viskoelastische Effekte sind Kriech- und Relaxationserscheinungen, wie sie zum Beispiel bei Polymeren oder im h¨oheren Temperaturbereich auch bei St¨ahlen auftreten.
20
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
1.3.2.1
Linear viskoelastisches Material
Das Stoffgesetz von linear viskoelastischen Materialien unter einachsiger Beanspruchung kann alternativ durch t J(t − τ )
ε(t) = −∞
t
dσ dτ , dτ
E(t − τ )
σ(t) = −∞
dε dτ dτ
(1.59)
ausgedr¨ uckt werden. Darin sind J(t) bzw. E(t) Materialfunktionen, die das Verhalten bei einer pl¨otzlich aufgebrachten, konstanten Spannung σ0 bzw. konstanten Dehnung ε0 beschreiben. Man bezeichnet J(t) = ε(t)/σ0 als Kriechfunktion oder Kriechnachgiebigkeit und E(t) = σ(t)/ε0 als Relaxationsfunktion (Bild 1.6). Sie sind miteinander durch die Beziehung d dt
t J(t − τ ) E(τ ) dτ = 1
(1.60)
0
verkn¨ upft. Die untere Grenze bei den Integralen in (1.59) deutet an, dass das Verhalten des Materials zum Zeitpunkt t von der gesamten zuvor durchlaufenen Spannungs- bzw. Dehnungsgeschichte abh¨angt.
E Eg
J Je
Jg
Ee t
a)
t
b)
Bild 1.6 a) Kriechfunktion, b) Relaxationsfunktion Bei isotropem Materialverhalten ist es zweckm¨aßig, die dreidimensionale Verallgemeinerung von (1.59) in den hydrostatischen und den deviatorischen Anteil zu trennen. Dabei setzt man h¨aufig die bei vielen viskoelastischen Materialien zu beobachtende Tatsache voraus, dass die Volumendehnung rein elastisch erfolgt (σkk = 3Kεkk ). F¨ ur den deviatorischen Anteil gilt dann 1 eij = 2
t −∞
dsij dτ , Jd (t − τ ) dτ
t sij = 2 −∞
G(t − τ )
deij dτ . dτ
(1.61)
21
Stoffgesetze
Die Kriechfunktion Jd (t) und die Relaxationsfunktion G(t) h¨angen wieder wie im einachsigen Fall zusammen. Integrale vom Typ (1.59), (1.61) nennt man Faltungsintegrale. F¨ ur ihre Behandlung bietet sich die Laplace-Transformation an. Die Laplace-Transformierte f¯(p) einer Funktion f (t) ist definiert als ∞ f¯(p) =
f (t) e−pt dt .
(1.62)
0
Wendet man die Transformation zum Beispiel auf die zweite Gleichung von (1.61) an, so ergibt sich unter der Annahme, dass die Verzerrungsgeschichte zum Beispiel zum Zeitpunkt τ = 0 beginnt, ¯ e¯ij . s¯ij = 2 p G(p)
(1.63)
Durch Vergleich mit (1.39) erkennt man, dass das transformierte viskoelastische Materialgesetz und das Elastizit¨atsgesetz die gleiche Form haben. Dies trifft auch auf weitere Gleichungen, wie die Gleichgewichtsbedingungen oder die kinematischen Beziehungen zu. Man spricht aus diesem Grund von der elastisch– viskoelastischen Analogie, aus der sich das Korrespondenzprinzip herleitet. Danach erh¨alt man die Laplace-transformierte L¨osung eines viskoelastischen Problems aus der L¨osung des entsprechenden elastischen Problems, indem man die elastischen Konstanten geeignet durch Kriech- bzw. Relaxationsfunktion ersetzt ¯ (z.B. G → p G(p)). Die endg¨ ultige L¨osung folgt dann durch R¨ ucktransformation. 1.3.2.2
Nichtlinear viskoelastisches Material, Kriechen
Zur Beschreibung des nichtlinear viskoelastischen Verhaltens bedient man sich h¨aufig formaler, pragmatisch begr¨ undeter N¨aherungen. Hierzu geh¨ort zum Beispiel der f¨ ur Polymere gedachte Ansatz (H. Leaderman, 1943) t J(t − τ )
ε(t) = −∞
d(σf ) dτ . dτ
(1.64)
Darin ist f (σ) eine zus¨atzliche Materialfunktion. Sie charakterisiert die Abh¨angigkeit der Kriechdehnung von der Gr¨oße der angelegten konstanten Spannung ¨ σ0 in der Art ε(t) = σ0 f (σ0 )J(t). Eine Ubertragung von (1.64) auf den dreidimensionalen Fall kann sinngem¨aß wie beim linearen Material erfolgen. Wegen seiner praktischen Bedeutung sei hier noch auf das Kriechen metallischer Werkstoffe eingegangen. Man unterscheidet dabei zwischen prim¨arem, sekund¨arem und terti¨arem Kriechen. Das sekund¨are Kriechen zeichnet sich dadurch aus, dass im einachsigen Fall die Dehnungsgeschwindigkeit ε˙ unter festgehaltener Spannung σ zeitlich konstant ist; sie h¨angt nur von der Gr¨oße der Spannung
22
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
ab: ε˙ = ε(σ). ˙ Zur Beschreibung dieser station¨aren Kriechbewegung finden unter anderen die Ans¨atze von Norton-Bailey (F.H. Norton, R.W. Bailey, 1929) ε˙ = B σ n
(1.65)
oder von Prandtl (L. Prandtl, 1875-1953) σ ε˙ = [sinh( )]n ε˙ σ
(1.66)
sowie modifizierte Ans¨atze der Art ε˙ d σ σ = C ( )m + ( )n ε˙ d t σ σ
(1.67)
Verwendung. Darin sind B, C, n, m, σ und ε˙ Materialkonstanten. Die Stoffgesetze f¨ ur viskoses Fließen und elastisches Verhalten weisen h¨aufig eine analoge Struktur auf. So erh¨alt man zum Beispiel (1.65) aus (1.56), indem man die Verzerrungen durch die Verzerrungsgeschwindigkeit ersetzt. Setzt man voraus, dass die Ausdr¨ ucke (Arbeitsraten) σkl = ε˙ij dσij , D
ε˙kl D=
0
σij dε˙ij = σij ε˙ij − D
(1.68)
0
unabh¨angig vom Integrationsweg sind, so gelten die zu (1.48), (1.46) analogen Beziehungen ∂D ∂D ε˙ij = , σij = . (1.69) ∂σij ∂ ε˙ij ij ) als Fließpotential und D(ε˙ij ) als spezifische Form¨andeMan bezeichnet D(σ rungsenergierate; die Gr¨oße σij ε˙ij stellt die spezifische Dissipationsleistung dar. Nimmt man an, dass das Material inkompressibel ist (ε˙kk = 0) und das Fließpotential nur von IIs abh¨angt, so liefert (1.69) e˙ ij =
dD 3 ε˙e sij = sij dIIs 2 σe
(1.70)
mit σe = ( 32 sij sij )1/2 und ε˙e = ( 23 e˙ ij e˙ij )1/2 . Zum Beispiel lauten dann das auf drei Dimensionen verallgemeinerte Nortonsche Kriechgesetz e˙ ij =
3 B σen−1 sij 2
(1.71)
und die zugeh¨orige spezifische Form¨anderungsenergierate sowie das Fließpotential D=
n sij e˙ ij , n+1
= D
1 sij e˙ ij . n+1
(1.72)
23
Stoffgesetze
Diese Beziehungen sind vollkommen analog zu den Gleichungen (1.57), (1.58) f¨ ur das nichtlinear elastische Verhalten entsprechend einem Potenzgesetz; man muss nur die Verzerrungen durch die Verzerrungsraten ersetzen. Als Folge hiervon sind auch die L¨osungen f¨ ur zugeordnete Randwertprobleme analog. Das heisst, man kann die L¨osung eines nichtlinear elastischen Problems auf ein zugeordnetes Kriechproblem u ¨bertragen, indem man die Verzerrungen durch die Verzerrungsraten ersetzt. 1.3.3
Plastizit¨ at
¨ Uberschreitet die Materialbeanspruchung eine bestimmte Grenze, so kommt es insbesondere bei metallischen Werkstoffen zu plastischem Fließen. Hierbei zieht im Unterschied zur Viskoelastizit¨at eine Belastungs¨anderung meist eine unmittelbare (zeitunabh¨angige) Deformations¨anderung nach sich. Plastisches Fließen hat unter anderem zur Folge, dass nach einer Entlastung bleibende Deformationen auftreten. Bei der Beschreibung eines elastisch-plastischen Materialverhaltens wird u ¨ blicherweise angenommen, dass sich die Verzerrungen und damit auch die Verzerrungsinkremente additiv aus einem elastischen und einem plastischen Anteil zusammensetzen: ε = εe + εp , dε = dεe + dεp . (1.73a) Bezieht man die Verzerrungsinkremente auf ein zugeordnetes Zeitinkrement dt, dann l¨asst sich dies auch in der Form ε˙ = ε˙ e + ε˙ p
(1.73b)
ausdr¨ ucken. F¨ ur den elastischen Anteil setzt man dabei einen linearen SpannungsDehnungs-Zusammenhang zum Beispiel in Form von (1.35a) voraus. Mit (1.73a) lautet somit das Elastizit¨atsgesetz σ = C : εe = C : (ε − εp ) .
(1.74)
Als Stoffgesetz f¨ ur den plastischen Anteil finden sowohl Formulierungen in den Verzerrungsinkrementen (inkrementelle Theorie) als auch in den totalen Verzerrungen (Deformationstheorie) Verwendung. Beide machen h¨aufig Gebrauch von der Annahme, dass keine plastischen Volumen¨anderungen auftreten: εpkk = 0; dies hat dann εp = ep zur Folge. 1.3.3.1
Fließbedingung
Wir nehmen an, dass f¨ ur plastisches Fließen ein bestimmter Zustand vorliegen muss, der durch die Spannungen σij gegeben ist. Eine solche Fließbedingung kann durch F (σ) = 0 (1.75a)
24
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
ausgedr¨ uckt werden, was sich auch als Darstellung einer Fl¨ache (=Fließfl¨ache) im neundimensionalen Raum der Spannungen σij deuten l¨asst. Ein Spannungszustand auf der Fließfl¨ache (F = 0) charakterisiert danach Fließen, w¨ahrend Punkte innerhalb der Fließfl¨ache (F < 0) elastischem Verhalten zugeordnet sind. Die erweiterte Form der Fließbedingung F (σ) ≤ 0
(1.75b)
beschreibt danach die Menge aller u ¨berhaupt m¨oglichen (zul¨assigen) Spannungszust¨ande. Die Fließfl¨ache kann ihre Lage und Form im Verlauf des Fließvorganges ver¨andern. Spezialf¨alle sind die selbst¨ahnliche Aufbl¨ahung (isotrope Verfestigung) und die reine Translation (kinematische Verfestigung). Bleibt die Fließfl¨ache unver¨andert, so nennt man das Material idealplastisch. Aufgrund des Prinzips der maximalen plastischen Arbeit, auf das wir noch eingehen werden, ist die Fließfl¨ache konvex. Die Fließbedingung kann bei isotropem Material nur von den Invarianten Iσ , IIσ , IIIσ oder, was gleichbedeutend ist, nur von Iσ , IIs , IIIs abh¨angen. Ber¨ ucksichtigt man, dass bei vielen Materialien (insbesondere bei metallischen Werkstoffen) der hydrostatische Anteil des Spannungszustandes nur zu elastischer Volumen¨anderung f¨ uhrt und den Fließvorgang nicht beeinflusst, so folgt aus (1.75a) die Fließbedingung F (IIs , IIIs ) = 0 . (1.76) Aus der F¨ ulle der M¨oglichkeiten, welche (1.76) bietet, seien hier nur zwei bew¨ahrte und weit verbreitete Fließbedingungen herausgegriffen. Die von Misessche Fließbedingung (R. von Mises, 1883–1953) lautet 1 sij sij − k 2 = 0 . 2
(1.77a)
1 [(σ1 − σ2 )2 + (σ2 − σ3 )2 + (σ3 − σ1 )2 ] − k 2 = 0 6
(1.77b)
F = IIs − k 2 = 0
bzw.
F =
Mit (1.15) l¨asst sie sich auch in der Form F =
¨ ausdr¨ ucken. Danach tritt Fließen auf, wenn IIs einen Wert k 2 erreicht. Aquivalent hierzu sind die Aussagen, dass f¨ ur Fließen eine bestimmte Oktaederschubspannung τoct erforderlich ist bzw. dass beim linear elastischen Material die Gestalt¨anderungsenergiedichte UG begrenzt ist. Durch (1.77b) ist im dreidimensionalen Raum der Hauptspannungen eine Kreiszylinderfl¨ache definiert, deren Mittelachse√ mit der hydrostatischen Geraden σ1 = σ2 = σ3 zusammenf¨allt und deren Radius 2k betr¨agt (Bild 1.7a). Beim idealplastischen Material ist k konstant. Mit der Fließspannung σF unter einachsigem Zug (σ1 = σF , σ2 = σ3 = 0) und der Fließschubspannung τF f¨ ur reinen Schub (σ1 = −σ3 = τF , σ2 = 0) gilt dann √ der Zusammenhang k = σF / 3 = τF . Im Fall einer isotropen Verfestigung h¨angt
25
Stoffgesetze
k von den plastischen Deformationen ab. Dann ist σF durch die aktuelle Fließ√ spannung zu ersetzen: k = σ/ 3. Aus (1.77a) ergibt sich damit die einachsige Vergleichsspannung σe = ( 32 sij sij )1/2 , die wir schon in (1.54a) kennengelernt haben; sie wird auch von Misessche Vergleichsspannung genannt.
σ3
Tresca
hydrostatische Achse
σ2 Tresca
σF
σ2
σF
v.Mises
σF
−σF
σ1 σF
v.Mises −σF σ1
a)
b)
Bild 1.7 Fließbedingungen nach von Mises und Tresca Im Spezialfall des ebenen Spannungszustandes (σ3 = 0) folgt aus (1.77b) die Fließbedingung σ12 + σ22 − σ1 σ2 = σF2 . (1.78) Die zugeh¨orige Fließkurve ist eine Ellipse (Bild 1.7b). Die Fließbedingung von H.E. Tresca (1868) geht von der Annahme aus, dass plastisches Fließen auftritt, wenn die maximale Schubspannung einen bestimmten Wert annimmt: F = τmax − k = 0. Mit den Hauptschubspannungen nach (1.11) muss daher eine der Bedingungen σ1 − σ3 ± 2k = 0 ,
σ2 − σ1 ± 2k = 0 ,
σ3 − σ2 ± 2k = 0
(1.79)
erf¨ ullt sein. Die zugeh¨orige Fließfl¨ache im Raum der Hauptspannungen ist ein hexagonales Prisma, dessen Mittelachse die hydrostatische Gerade ist (Bild 1.7). Beim idealplastischen Material ist der Zusammenhang zwischen k und den Fließspannungen σF (einachsiger Zug) und τF (reiner Schub) durch k = σF /2 = τF gegeben. 1.3.3.2
Inkrementelle Theorie
Im weiteren wird vorausgesetzt, dass der Werkstoff dem Prinzip der maximalen plastischen Arbeit (σij − σij0 ) dεpij ≥ 0 (1.80) gen¨ ugt. Darin sind σij der tats¨achliche Spannungszustand auf der Fließfl¨ache und σij0 ein Ausgangszustand innerhalb oder auf der Fließfl¨ache. Dieses Prinzip l¨asst
26
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
sich dahingehend interpretieren, dass unter allen Spannungszust¨anden σ ˜ij , welche die Fließbedingung erf¨ ullen, die tats¨achlichen Spannungen σij die plastische Arbeit σ ˜ij dεpij zum Extremum machen. Diese Extremalaussage kann in der Art ∂ [˜ σij dεpij − dλ F (˜ σij )] = 0 ∂ σ˜ij
f¨ ur
σ ˜ij = σij
(1.81)
formuliert werden, wobei dλ ≥ 0 ein noch freier, Lagrangescher Multiplikator ist. Hieraus ergibt sich die Fließregel dεpij = dλ
∂F , ∂σij
(1.82a)
die wir auch in den folgenden Formen schreiben k¨onnen: ε˙pij = λ˙
∂F ∂σij
bzw.
ε˙ p = λ˙
∂F . ∂σ
(1.82b)
Ohne im einzelnen darauf einzugehen sei angemerkt, dass aus dem Prinzip der maximalen plastischen Arbeit bzw. aus der Fließregel Konsequenzen erwachsen. Zu ihnen geh¨oren unter anderen die erw¨ahnte Konvexit¨at der Fließfl¨ache und die Normalenregel. Letztere besagt, dass die plastischen Verzerrungsinkremente normal zur Fließfl¨ache gerichtet sind (vgl.(1.82a,b)). Legt man die von Misessche Fließbedingung (1.77a,b) zugrunde, so folgt aus (1.82a,b) dεp = dλ s. Die Hauptrichtungen von dεp stimmen demnach mit denen des Deviators s und folglich auch mit denen von σ u ¨berein. Der Faktor dλ kann bestimmt werden, indem wir die einachsige Vergleichsspannung σe = ( 32 sij sij )1/2 und unter Ber¨ ucksichtigung der plastischen Volumenkonstanz ein einachsiges Vergleichsverzerrungsinkrement dεpe = ( 23 dεpij dεpij )1/2 einf¨ uhren. Aus dεpij dεpij = p (dλ)2 sij sij erh¨alt man dann dλ = 32 dεe /σe und damit dεpij =
3 dεpe sij 2 σe
bzw.
ε˙ p =
3 ε˙pe s. 2 σe
(1.83a)
F¨ ur idealplastisches Material ist σe = σF ; f¨ ur verfestigendes Material schreibt man (1.83a) unter Verwendung des plastischen Tangentenmoduls g = dσe /dεpe = σ˙ e /ε˙pe auch h¨aufig in der Form dεpij =
3 sij dσe 2 g σe
bzw.
ε˙ p =
3 σ˙ e s. 2 g σe
(1.83b)
Durch Zusammenfassen der elastischen und der plastischen Verzerrungsinkremente entsprechend (1.73a,b) ergibt sich schließlich als Stoffgesetz im Fließbereich (F = 0, dσe > 0) das sogenannte Prandtl-Reuss-Gesetz ε˙kk =
1 σ˙ kk , 3K
e˙ =
3 σ˙ e 1 s˙ + s. 2µ 2 g σe
(1.83c)
27
Stoffgesetze
Geht man von der Trescaschen Fließbedingung in der Form F = σ1 −σ3 −k = 0 aus (σ1 ≥ σ2 ≥ σ3 ), so liefert die Fließregel in Hauptachsenrichtung dεp1 = dλ ,
dεp2 = 0 ,
dεp3 = −dλ .
(1.84)
Hierdurch wird ebenfalls die Bedingung plastischer Volumenkonstanz erf¨ ullt. 1.3.3.3
Deformationstheorie
In der Deformationstheorie wird angenommen, dass zwischen den plastischen Verzerrungen und den deviatorischen Spannungen die Beziehung εp = λ s
(1.85)
besteht, wobei der Faktor λ vom Spannungszustand und den plastischen Verzerrungen abh¨angt. Er ergibt sich unter Zugrundelegung der von Misesschen Fließbedingung mit der Vergleichsspannung σe = ( 32 sij sij )1/2 und der plastischen Vergleichsverzerrung εpe = ( 23 εpij εpij )1/2 zu λ = 3εpe /2σe . Fasst man nach (1.73a) die elastischen und die plastischen Verzerrungen zusammen, so erh¨alt man das finite Hencky-Ilyushin-Gesetz 3 εpe 1 1 εkk = σkk , + s. (1.86) e= 3K 2 µ 2 σe Durch Vergleich von (1.86) mit (1.55) erkennt man, dass die Deformationstheorie ein plastisches Materialverhalten wie ein nichtlinear elastisches Verhalten beschreibt. Sie ist dementsprechend nicht in der Lage zum Beispiel Entlastungsvorg¨ange ad¨aquat zu modellieren. Physikalisch sinnvoll kann sie nur im Bereich monoton wachsender Belastung angewendet werden. Dabei ist sie insbesondere dann gut geeignet, wenn eine Proportionalbelastung vorliegt, das heisst wenn gilt s = P s0 .
(1.87)
Darin sind s0 ein Bezugsspannungszustand (zum Beispiel bei der Endbelastung) und P ein skalarer Belastungsparameter. Man kann zeigen, dass in diesem Fall die Deformationstheorie und die inkrementelle Theorie a¨quivalent sind. Als hinreichend gute Approximation des realen Stoffverhaltens spezialisiert man h¨aufig die allgemeine Beziehung (1.85) durch das Potenzgesetz (1.56) bzw. (1.57). Dieses f¨ uhrt immer zu einer Proportionalbelastung nach (1.87), wenn die Belastung eines K¨orpers oder Teilk¨orpers durch einen einzigen Lastparameter P (z.B. durch eine Kraft) vorgegeben ist. F¨ ur die Verzerrungen und die Verschiebungen ergibt sich in diesem Fall εp = P n εp 0 ,
u = P n u0 .
(1.88)
Darin sind εp 0 und u0 die zum Bezugsspannungszustand s0 zugeordneten plastischen Verzerrungen und Verschiebungen. Sind dementsprechend die Spannungen
28
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
und Verzerrungen f¨ ur eine bestimmte Last bekannt, so kennt man sie auch f¨ ur alle anderen Lasten. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Eigenschaften des Potenzgesetzes sinngem¨aß von der Deformationstheorie auf Kriechvorg¨ange u ¨bertragen werden k¨onnen. Aufgrund der Analogie der Stoffgesetze f¨ ur nichtlinear elastisches Verhalten und f¨ ur das Kriechen (vgl. Abschnitt 1.3.2.2) m¨ ussen nur die Dehnungen durch die Dehnungsraten und die Verschiebungen durch die Geschwindigkeiten ersetzt werden, d.h. es gelten dann die Beziehungen s = P s0 ,
1.4
ε˙ p = P n ε˙ p 0 ,
u˙ = P n u˙ 0 .
(1.89)
Energieprinzipien
Im folgenden sind einige klassische Energieprinzipien f¨ ur deformierbare K¨orper zusammengestellt. Dabei wird davon ausgegangen, dass bei Zustands¨anderungen des K¨orpers die materielle Oberfl¨ache unver¨andert bleibt. Ein etwaiges Risswachstum ist hier also ausgeschlossen. Der k¨ urzeren Schreibweise wegen nehmen wir noch an, dass als ¨außere Kr¨afte nur Oberfl¨achenkr¨afte und keine Volumenkr¨afte wirken. Letztere k¨onnen sinngem¨aß aber ohne weiteres ber¨ ucksichtigt werden. 1.4.1
Energiesatz
¨ Der Energiesatz der Kontinuumsmechanik besagt, dass die Anderung der Gesamtenergie (innere Energie + kinetische Energie) eines K¨orpers dem Energiefluss in den K¨orper entspricht. Dies kann alternativ in Form der Gleichungen t2 E˙ + K˙ = P + Q ,
(E + K)2 − (E + K)1 =
(P + Q) dt
(1.90)
t1
ausgedr¨ uckt werden. Darin sind E die innere Energie, K die kinetische Energie und P die Leistung der ¨außeren Kr¨afte. Sie sind gegeben durch 1 E = ρ e dV , K= ρ u˙ · u˙ dV , P = t · u˙ dA , (1.91) 2 V
V
∂V
wobei e die spezifische innere Energie ist. Durch Q wird der Energietransport in den K¨orper beschrieben, welcher nicht durch P erfasst wird (zum Beispiel W¨armetransport); wir wollen ihn hier nicht n¨aher festlegen. F¨ ur ein elastisches Material l¨asst sich ρ e mit der Form¨anderungsenergiedichte U identifizieren. Im Spezialfall einer quasistatischen Belastung (K = 0) und f¨ ur Q = 0 lautet dann der Energiesatz a Πi2 − Πi1 = W12 .
(1.92)
29
Energieprinzipien
Hierbei wurden die Abk¨ urzungen i
Π =
a W12
U dV , V
u2 = [ t · du] dA ∂V u1
(1.93)
f¨ ur die Form¨anderungsenergie des K¨orpers und f¨ ur die Arbeit der ¨außeren Kr¨afte zwischen den Zust¨anden 1 und 2 eingef¨ uhrt. Man nennt Πi auch elastisches Potential . 1.4.2
Prinzip der virtuellen Arbeit
Wir betrachten einen K¨orper im Gleichgewicht, auf dessen Teiloberfl¨achen ∂Vt ˆ vorgeschrieben sind. Die bzw. ∂Vu die Belastungen ˆt bzw. die Verschiebungen u statischen und die kinematischen Grundgleichungen hierf¨ ur lauten σij,j = 0 εij =
1 (ui,j 2
+ uj,i)
in V ,
σij nj = tˆi
auf ∂Vt ,
in V ,
ui = uˆi
auf ∂Vu .
(1.94)
ullt die Gleichgewichtsbedingungen Ein statisch zul¨assiges Spannungsfeld σ (1) erf¨ und die Randbedingungen auf ∂Vt . Analog gen¨ ugt ein kinematisch zul¨assiges Verschiebungsfeld u(2) bzw. Verzerrungsfeld ε(2) den kinematischen Beziehungen und den Randbedingungen auf ∂Vu . Multipliziert man nun die Gleichgewichtsbedingung f¨ ur σ (1) mit den Verschiebungen u(2) und integriert u ¨ber das Volumen V , so erh¨alt man aus (1.94) unter Verwendung des Gaußschen Satzes den allgemeinen Arbeitssatz ˆt(1) · u(2) dA + ˆ (2) dA . σ (1) : ε(2) dV = t(1) · u (1.95) V
∂Vt
∂Vu
Aus (1.95) lassen sich verschiedene Gesetzm¨aßigkeiten herleiten. Verwendet man als Kraftgr¨oßen die zu einem Gleichgewichtszustand geh¨origen wirklichen Gr¨oßen und als kinematische Gr¨oßen die virtuellen Verschiebungen δu bzw. virtuellen Verzerrungen δε aus der Gleichgewichtslage, dann erh¨alt man das Prinzip der virtuellen Arbeit (Prinzip der virtuellen Verr¨ uckungen) δW i = δW a
mit
σ : δε dV ,
δW i = V
(1.96) ˆt · δu dA .
δW a =
(1.97)
∂Vt
Die virtuellen Verr¨ uckungen sind dabei als gedacht, infinitesimal und kinematisch zul¨assig zu verstehen. Befindet sich ein K¨orper im Gleichgewicht, so ist nach diesem Prinzip die bei einer virtuellen Verr¨ uckung geleistete Arbeit δW i der inneren a Kr¨afte gleich der Arbeit δW der ¨außeren Kr¨afte.
30
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
¨ F¨ ur ein elastisches Material entspricht die Arbeit der inneren Kr¨afte der Anderung des elastischen Potentials. Nach (1.45) ist n¨amlich σ : δε = δU, woraus mit (1.97) und (1.93) die Beziehung δW i = δΠi folgt. Sind zus¨atzlich noch die ¨außeren Kr¨afte aus einem Potential herleitbar, so wird δW a = −δΠa , und man erh¨alt aus (1.96) δΠ = δ(Πi + Πa ) = 0 . (1.98) In der Gleichgewichtslage nimmt das Gesamtpotential Π demnach einen Station¨arwert an. Man kann zeigen, dass es sich dabei um ein Minimum handelt, sofern das Potential konvex ist: Π = Πi + Πa = Minimum .
(1.99)
Dies ist das Prinzip vom Station¨arwert (Minimum) des Gesamtpotentials. Es l¨asst sich auch in folgender Form ausdr¨ ucken: unter allen zul¨assigen (mit den kinematischen Randbedingungen vertr¨aglichen) Deformationen machen die wahren Deformationen das Potential Π zu einem Station¨arwert (Minimum). Angemerkt sein, dass das Potential bei einem linear elastischen Material und festen Spannungs- oder Verschiebungsrandbedingungen tats¨achlich konvex ist, in der Gleichgewichtslage also ein Minimum annimmt. Aus (1.95) ergibt sich das Prinzip der virtuellen Komplement¨ararbeit (Prinzip der virtuellen Kr¨afte), wenn man als Verschiebungsgr¨oßen die wirklichen Verschiebungen bzw. Verzerrungen einsetzt und als statisch zul¨assige Kraftgr¨oßen ¨ virtuelle Anderungen aus der Gleichgewichtslage verwendet. Dann folgt i = δW a , δW wobei i = δW
a = δW
ε : δσ dV , V
(1.100) ˆ · δt dA u
(1.101)
∂Vu
die Komplement¨ararbeiten der inneren und ¨außeren Kr¨afte sind. In Analogie zum Vorhergehenden f¨ uhren wir bei elastischem Material das innere Komplement¨arpotential i = U dV Π (1.102) V
a, a = −W ein. Existiert zus¨atzlich noch ein a¨ußeres Komplement¨arpotential mit Π so ergibt sich aus (1.100) = δ(Π i + Π a) = 0 . δΠ
(1.103)
In der Gleichgewichtslage nimmt also auch das Komplement¨arpotential einen Sta konvex ist, was tion¨arwert an. Es handelt sich dabei um ein Minimum, wenn Π bei linear elastischen Systemen zutrifft: =Π i + Π a = Minimum . Π
(1.104)
31
Ebene Probleme
Man nennt dies das Prinzip vom Station¨arwert (Minimum) des Komplement¨arpotentials. Danach machen unter allen zul¨assigen (mit den statischen Randbedingungen vertr¨aglichen) Spannungsfeldern die wahren Spannungen das Komplement¨arpotential zu einem Station¨arwert (Minimum). 1.4.3
Satz von Clapeyron, Satz von Betti
Wir f¨ uhren jetzt in (1.95) als statische und kinematische Gr¨oßen die wirklichen, aktuellen Gr¨oßen ein. Setzt man die ¨außeren Kr¨afte als Totlasten voraus (t = t(x)), so entspricht die rechte Seite von (1.95) der Arbeit W a dieser Kr¨afte vom undeformierten zum aktuellen, deformierten Zustand. Da Totlasten ein Potential besitzen, gilt zudem W a = −Πa . F¨ ur ein linear elastisches Material wird die linke Seite von (1.95) mit σ : ε = 2 U und (1.94) zu 2 Πi . Damit erh¨alt man den Satz von Clapeyron (B.P.E. Clapeyron, 1799-1864) 2 Πi + Πa = 0 .
(1.105)
Im Sonderfall eines inkompressiblen nichtlinear elastischen Materials in Form des Potenzgesetzes (1.56) erh¨alt man unter Verwendung von (1.58) f¨ ur die linke Seite i von (1.95) zun¨achst n+1 Π und damit n n+1 i Π + Πa = 0 . n
(1.106)
Wir betrachten nun nochmals den Fall eines linear elastischen Materials mit dem Elastizit¨atsgesetz σij = Cijkl εkl (vgl.(1.35a)). Wegen der Symmetrie des (1) (2) (2) (1) Elastizit¨atstensors (Cijkl = Cjikl = Cijlk = Cklij ) gilt allgemein σij εij = σij εij . Integration u ¨ ber das Volumen liefert mit dem Arbeitssatz (1.95) den Satz von Betti (Reziprozit¨atstheorem, E. Betti, 1823-1892) t(1) · u(2) dA = t(2) · u(1) dA . (1.107) ∂V
∂V
Danach sind f¨ ur zwei verschiedene Belastungszust¨ande (1), (2) eines K¨orpers die Arbeiten der Randlasten des einen Zustandes an den Verschiebungen des anderen Zustandes jeweils gleich.
1.5 1.5.1
Ebene Probleme Allgemeines
Probleme der Festk¨orpermechanik sind vielfach ebene (zweidimensionale) Probleme, oder sie k¨onnen n¨aherungsweise als solche beschrieben werden. Besonders wichtig f¨ ur die Anwendungen sind der ebene Verzerrungszustand (EVZ) und der
32
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
ebene Spannungszustand (ESZ). Daneben besitzt der longitudinale (,,nichtebene”) Schubspannungszustand noch eine gewisse Bedeutung. Zu ihrer Darstellung bedienen wir uns im weiteren der technischen Notation mit den Koordinaten x, y, z, den Verschiebungen u, v, w, den Verzerrungen εx , γxy , . . . und den Spannungen σx , τxy , . . . . Der ebene Verzerrungszustand ist dadurch gekennzeichnet, dass die Dehnungen bzw. Verschiebungen in einer Richtung (z.B. in z-Richtung) verhindert sind. In diesem Fall sind w, εz , γxz , γyz , τxz , τyz Null, und alle anderen Gr¨oßen h¨angen nur von x und y ab. Die Gleichgewichtsbedingungen (ohne Volumenkr¨afte), die kinematischen Beziehungen und die Kompatibilit¨atsbedingungen reduzieren sich dann auf ∂σx ∂τxy ∂τxy ∂σy + =0, + =0, (1.108) ∂x ∂y ∂x ∂y εx =
∂u , ∂x
εy =
∂v , ∂y
γxy =
∂u ∂v + , ∂y ∂x
∂ 2 εx ∂ 2 εy ∂ 2 γxy . + = 2 2 ∂y ∂x ∂x∂y
(1.109) (1.110)
Auch das Stoffgesetz vereinfacht sich. So erh¨alt man zum Beispiel aus (1.38) f¨ ur ein isotropes, linear elastisches Material εx =
1−ν 2 ν 1−ν 2 ν τxy (σx − σy ) , εy = (σy − σx ) , γxy = E 1−ν E 1−ν G
(1.111)
sowie σz = ν(σx + σy ). Beim ebenen Spannungszustand wird angenommen dass σz , τxz , τyz , γxz , γyz verschwinden und die restlichen Spannungen und Verzerrungen von z unabh¨angig sind. Ein entsprechender Zustand tritt n¨aherungsweise (nicht exakt) in Scheiben auf, deren Dicke klein ist im Vergleich zu den Abmessungen in der Ebene und die nur durch Kr¨afte in der Ebene belastet werden. Die Gleichgewichtsbedingungen, die kinematischen Beziehungen und die Kompatibilit¨atsbedingung stimmen mit den Gleichungen (1.108 – 1.110) des EVZ u ¨berein. Die Verschiebungen u, v, w sind jetzt allerdings im allgemeinen von z abh¨angig. Das Stoffgesetz lautet im Fall der linearen Elastizit¨at bei Isotropie εx =
1 (σx − νσy ) , E
εy =
1 (σy − νσx ) , E
γxy =
τxy ; G
(1.112)
außerdem gilt Eεz = −ν(σx + σy ). Die Gleichungen (1.112) weichen von (1.111) nur durch ge¨anderte Elastizit¨atskonstanten ab. L¨osungen von Randwertproble¨ men des EVZ k¨onnen demnach durch Anderung der elastischen Konstanten auf den ESZ u ¨bertragen werden und umgekehrt. H¨aufig ist es erforderlich, die Spannungen in einem zum x, y-System um den Winkel ϕ gedrehten ξ, η-System anzugeben (Bild 1.8). Die entsprechenden Trans-
33
Ebene Probleme
formationsbeziehungen erh¨alt man aus (1.6) zu 1 1 (σx + σy ) + (σx − σy ) cos 2ϕ + τxy sin 2ϕ , 2 2 1 1 (1.113) ση = (σx + σy ) − (σx − σy ) cos 2ϕ − τxy sin 2ϕ , 2 2 1 τξη = − (σx − σy ) sin 2ϕ + τxy cos 2ϕ . 2 Sie k¨onnen auch durch den Mohrschen Kreis in Bild 1.8 veranschaulicht werden. σξ =
τ τmax
τxy 2ϕ
η
y
ση
ξ ϕ
2ϕ
σy
σξ σ1
σx
σ2
τξη ∗
σ
x −τmax Bild 1.8 Mohrscher Spannungskreis Eine Hauptrichtung ist sowohl im EVZ als auch im ESZ durch die z-Richtung gegeben. Die beiden anderen liegen in der x, y-Ebene; die hierzu geh¨origen Hauptspannungen und Hauptrichtungen sind durch σx + σy σx − σy 2 2τxy 2 , σ1,2 = ± ( ) + τxy tan 2ϕ∗ = (1.114) 2 2 σx − σy bestimmt. In Schnitten unter ϕ∗∗ = ϕ∗ ± π/4 tritt die Hauptschubspannung σ1 − σ2 σx − σy 2 2 τ3 = = ( ) + τxy (1.115) 2 2 auf. Sie ist f¨ ur σ1 ≥ σz ≥ σ2 auch die maximale Schubspannung τmax . Die hier angegebenen Formeln f¨ ur die Spannungen k¨onnen sinngem¨aß auf die Verzerrungen, die Verzerrungsinkremente und die Verzerrungsgeschwindigkeiten u ¨bertragen werden. Der nichtebene oder longitudinale Schubspannungszustand zeichnet sich dadurch aus, dass alle Gr¨oßen bis auf w, γxz , γyz , τxz , τyz verschwinden; diese sind wiederum unabh¨angig von z. Die Gleichgewichtsbedingung, die kinematischen Beziehungen und die Kompatibilit¨atsbedingung lauten in diesem Fall ∂τxz ∂τyz + =0, ∂x ∂y
γxz =
∂w , ∂x
γyz =
∂w , ∂y
∂γxz ∂γyz = . ∂y ∂x
(1.116)
34
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
F¨ ur linear elastisches Material gilt das Stoffgesetz γxz = τxz /G ,
γyz = τyz /G .
(1.117)
Seiner Einfachheit wegen wird der longitudinale Schubspannungszustand h¨aufig als Modellfall herangezogen. In der Plastizit¨at und Viskoelastizit¨at werden die Deformationen in der Regel nicht unmittelbar durch die totalen Verschiebungen und Verzerrungen sondern durch deren Inkremente bzw. durch Geschwindigkeiten beschrieben. In diesem Fall sind in den vorhergehenden Gleichungen die kinematischen Gr¨oßen sinngem¨aß zu ersetzen. 1.5.2
Lineare Elastizit¨ at, Komplexe Methode
Zur L¨osung von ebenen Problemen der linearen Elastizit¨atstheorie existiert eine Reihe von Verfahren. Eines der fruchtbarsten ist die Methode der komplexen Spannungsfunktionen, die hier kurz erl¨autert werden soll. Bei diesem L¨osungsverfahren werden die Spannungen und Verschiebungen als Funktionen der komplexen Variablen z = x + iy = reiϕ bzw. der konjugiert komplexen Variablen z = x − iy = re−iϕ aufgefasst. Man kann dann zeigen, dass L¨osungen der Grundgleichungen des EVZ und des ESZ aus nur zwei komplexen Funktionen Φ(z) und Ψ(z) konstruiert werden k¨onnen. Ihr Zusammenhang mit den kartesischen Komponenten von Spannung und Verschiebung ist durch die Kolosovschen Formeln σx + σy = 2[Φ (z) + Φ (z)] , σy − σx + 2iτxy = 2[zΦ (z) + Ψ (z)] , 2 µ (u + iv) = κΦ(z) − mit
κ=
zΦ (z)
(1.118a)
− Ψ(z) ,
3 − 4ν EVZ (3 − ν)/(1 + ν) ESZ
(1.118b)
gegeben. Vielfach ist es zweckm¨aßig, Polarkoordinaten r, ϕ (Bild 1.9) zu verwenden; dann gilt σr + σϕ = 2[Φ (z) + Φ (z)] , σϕ − σr + 2iτrϕ = 2[zΦ (z) + Ψ (z)z/z] , 2µ(ur + iuϕ ) = [κΦ(z) −
zΦ (z)
(1.119) −iϕ
− Ψ(z)]e
.
Bei der Formulierung von Randbedingungen werden verschiedentlich noch die Beziehungen zwischen Φ, Ψ und den resultierenden Kraftkomponenten X, Y auf
35
Ebene Probleme
uglich des Ursprungs ben¨otigt (Bild den Bogen AB bzw. deren Moment M bez¨ 1.9).Es gelten B X + iY =
B (tx + ity )ds = −i Φ(z) + Ψ(z) + zΦ (z) , A
B M=
A
(x ty − y tx )ds = −Re [zzΦ (z) + zΨ(z) −
(1.120)
Ψ(z)dz]B A .
A
z y
t
ty
B r
ds
tx
ϕ x
s A
Bild 1.9 Komplexe Ebene L¨osungen des longitudinalen Schubspannungszustandes lassen sich besonders einfach darstellen. In diesem Fall k¨onnen die Spannungen und die Verschiebung aus alleine einer komplexen Funktion Ω(z) gewonnen werden: τxz − iτyz = (τrz − iτϕz )e−iϕ = Ω (z) , µ w = Re Ω(z) . 1.5.3
(1.121)
Idealplastisches Material, Gleitlinienfelder
Die L¨osung von Randwertproblemen der Plastomechanik gelingt in vielen F¨allen nur unter Einsatz numerischer Methoden, wie zum Beispiel des Verfahrens der Finiten Elemente. Eines der wenigen Verfahren, das eine weitgehend analytische Behandlung zul¨asst, ist die Gleitlinientheorie. Sie erlaubt die Untersuchung von Spannungen und Deformationen im Fall des ebenen Verzerrungszustandes bei Vorliegen eines starr-idealplastischen Materials, f¨ ur das wir hier die von Misessche Fließbedingung zugrunde legen wollen. Aus der Bedingung dεpz = 0 folgt zun¨achst mit dεpij = dεij und (1.83a) f¨ ur die Spannung sz = 0 bzw. σz = σ3 = (σx + σy )/2 = σm . Die Fließbedingung (1.77b) vereinfacht sich damit zu 2 (σx − σy )2 + 4τxy = 4k 2 ,
(1.122)
36
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
womit f¨ ur die Hauptspannungen σ1 = σm + k, σ2 = σm − k und f¨ ur die maximale Schubspannung τmax = k gelten. Die Fließbedingung stellt zusammen mit den Gleichgewichtsbedingungen (1.108) ein hyperbolisches System von drei Gleichungen f¨ ur die drei Unbekannten σx , σy und τxy dar. y β-Linie
yβ
α-Linie xα
σm
φ
k σm
φ
x Bild 1.10 Gleitlinien Es ist nun zweckm¨aßig ein orthogonales Netz von α- und β-Linien einzuf¨ uhren, deren Richtungen in jedem Punkt mit den Hauptschubspannungsrichtungen u ¨bereinstimmen (Bild 1.10). Da letztere mit den Richtungen maximaler Gleitungs¨anderung zusammenfallen nennt man sie Gleitlinien. Es sei angemerkt, dass diese Linien die Charakteristiken des hyperbolischen Gleichungssystems sind. Bezeichnet man den Winkel zwischen der x-Achse und der Tangente an die α-Linie (=Hauptschubspannungsrichtung) mit φ, so folgen mit (1.114) die Beziehungen σx = σm − k sin 2φ ,
σy = σm + k sin 2φ ,
τxy = k cos 2φ .
(1.123)
Sie erf¨ ullen die Fließbedingungen identisch. Einsetzen in die Gleichgewichtsbedingungen (1.108) liefert ∂σm ∂φ ∂φ − 2 k cos 2φ − 2 k sin 2φ = 0, ∂x ∂x ∂y ∂σm ∂φ ∂φ − 2 k sin 2φ + 2 k cos 2φ = 0. ∂y ∂x ∂y Da die Wahl des Koordinatensystems x, y beliebig ist, k¨onnen wir auch ein lokales System xα , yβ verwenden, dessen Achsen in Richtung der Tangenten an die α- bzw. an die β-Linie zeigen (Bild 1.10). Mit φ = 0 vereinfachen sich die obigen Beziehungen dann zu gew¨ohnlichen Differentialgleichungen entlang der Gleitlinien: d d (σm − 2 k φ) = 0 , (σm + 2 k φ) = 0 . dxα dyβ
37
Ebene Probleme
Integration liefert die Henckyschen Gleichungen (H. Hencky, 1885-1952) σm − 2 k φ = Cα = const
entlang α-Linie ,
σm + 2 k φ = Cβ = const
entlang β-Linie .
(1.124)
Sie erlauben bei gegebenen Spannungsrandbedingungen die Bestimmung von Cα , Cβ und damit des Gleitlinien- und Spannungsfeldes. Liegen dagegen kinematische Randbedingungen vor, so reichen die Gleichungen (1.124) nicht aus. Es m¨ ussen dann noch die kinematischen Beziehungen herangezogen werden. Darauf soll hier jedoch nicht n¨aher eingegangen werden. Ohne Herleitung sei auf zwei geometrische Eigenschaften des Gleitlinienfeldes hingewiesen. Nach dem 1. Henckyschen Satz ist der Winkel zwischen zwei Gleitlinien einer Familie (α) im Bereich des Schnittes mit Gleitlinien der anderen Familie (β) konstant. Befindet sich danach in einer Familie ein Geradenst¨ uck, so besteht die gesamte Familie aus Geraden (z.B. parallele Geraden, F¨acher). Der 2. Henckysche Satz besagt, dass bei Fortschreiten l¨angs einer Gleitlinie sich der Kr¨ ummungsradius der orthogonalen Schar proportional zur zur¨ uckgelegten Strecke ¨andert. Erw¨ahnt sei noch, dass eine Gleitlinie auch eine Unstetigkeitslinie f¨ ur die Normalspannung tangential zur Gleitlinie bzw. f¨ ur die Tangentialgeschwindigkeit sein kann. Analog zum ebenen Verzerrungszustand l¨asst sich der longitudinale Schubspannungszustand behandeln. Hier lauten die Fließbedingung und die Gleichgewichtsbedingung ∂τxz ∂τyz 2 2 τxz + =0. (1.125) + τyz = k 2 = τF2 , ∂x ∂y Wir f¨ uhren nun wieder α-Linien ein, deren Richtung φ die Schnitte kennzeichnet, in denen die Fließspannung τF auftritt; auf β-Linien k¨onnen wir verzichten. Mit τxz = −τF sin φ ,
τyz = τF cos φ
(1.126)
liefert dann die Gleichgewichtsbedingung dφ =0 . dxα
(1.127)
Die α-Linien sind demnach Geraden. Die Fließregel dεij = dεpij = dλ sij nach Abschnitt 1.3.3.2 l¨asst sich in diesem Fall mit ∂w ∂w 2 ε13 = γxz = , 2 ε23 = γyz = (1.128) ∂x ∂y als d
∂w ∂x
=
∂(dw) = 2 dλ τxz , ∂x
d
∂w ∂y
=
∂(dw) = 2 dλ τyz ∂y
(1.129)
38
Einige Grundlagen der Festk¨ orpermechanik
schreiben. Ersetzt man das x, y-Koordinatensystem durch das gleichberechtigte xα , yβ -System, so nimmt sie mit (1.126) und φ = 0 die Form ∂(dw) =0, ∂xα
∂(dw) = 2 dλ τF ∂yβ
(1.130)
an. L¨angs der α-Linie sind die Verschiebungs¨anderungen dw danach konstant. Geht man von einem undeformierten Anfangszustand aus, so erfahren also beim Fließen alle Punkte auf einer α-Linie die gleiche Verschiebung w.
1.6
Literatur
Altenbach, J., Altenbach, H. (1994). Einf¨uhrung in die Kontinuumsmechanik. Teubner, Stuttgart Betten, J. (2001). Kontinuumsmechanik. Springer, Berlin Betten, J. (2002). Creep Mechanics. Springer, Berlin Chakrabarty, J. (1987). Theory of Plasticity. McGraw-Hill, New York Christensen, R.M. (1982). Theory of Viscoelasticity. Academic Press, New York Doghri, I. (2000). Mechanics of Deformable Solids. Springer, Berlin Eschenauer, H., Schnell, W. (1993). Elastizit¨atstheorie. BI Wissenschaftsverlag, Mannheim Fung, Y.C. (1965). Foundations of Solid Mechanics. Prentice-Hall, Englewood Cliffs Gould, P.L. (1994). Introduction to Linear Elasticity. Springer, New York Hill, R. (1983). The mathematical theory of plasticity. Clarendon Press, Oxford Khan, A.S. and Huang, S. (1995). Continuum Theory of Plasticity. John Wiley & Sons, New York Lemaitre, J. and Chaboche, J.-L. (2000). Mechanics of Solid Materials. Cambridge University Press, Cambridge Lubliner, J. (1990). Plasticity Theory. Macmillan Publ. Comp., New York Maugin, G.A. (1992). The Thermomechanics of Plasticity and Fracture. Cambridge University Press, Cambridge
39 Mußchelischwili, N.I. (1971). Einige Grundaufgaben zur mathematischen Elastizit¨atstheorie. Hanser, M¨ unchen Nadai, A. (1963). Theory of Flow and Fracture of Solids, Vol. 1 & 2. McGrawHill, New York Rabotnov, Y.N. (1969). Creep Problems in Structural Members. North Holland, Amsterdam Sokolnikoff, I.S. (1956). The Mathematical Theory of Elasticity. McGraw-Hill, New York
2 Klassische Bruch- und Versagenshypothesen
In diesem Kapitel soll ein kurzer Einblick in einige klassische Bruch- und Versagenshypothesen f¨ ur statische Materialbeanspruchung gegeben werden. Das Wort klassich deutet in diesem Zusammenhang an, dass die meisten dieser Festigkeitshypothesen, wie sie auch genannt werden, schon ¨alteren Datums sind. Sie gehen teil¨ weise auf Uberlegungen Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts zur¨ uck, und sie sind untrennbar mit der Entwicklung der Festk¨orpermechanik verbunden. Durch die moderne Bruchmechanik wurden sie, was die Forschung betrifft, etwas in den Hintergrund gedr¨angt. Wegen ihrer weiten Verbreitung, die nicht zuletzt mit ihrer Einfachheit zusammenh¨angt, haben sie jedoch eine beachtliche Bedeutung.
2.1
Grundbegriffe
Festigkeitshypothesen sollen eine Aussage dar¨ uber machen, unter welchen Umst¨anden ein Material versagt. Ausgangspunkt sind dabei Experimente unter speziellen, meist einfachen Belastungszust¨anden. Als Beispiel sind in Bild 2.1 zwei typische Spannungs-Dehnungs-Verl¨aufe f¨ ur Materialien unter einachsigem Zug schematisch dargestellt. Bis zu einer bestimmten Grenze verhalten sich viele Werk¨ stoffe im wesentlichen rein elastisch. Bei duktilem Verhalten treten nach Uberschreiten der Fließgrenze plastische Deformationen auf. Die Bruchgrenze wird in diesem Fall erst nach hinreichend großen inelastischen Deformationen erreicht. Im Gegensatz dazu ist spr¨odes Materialverhalten dadurch gekennzeichnet, dass vor dem Bruch keine bemerkenswerten inelastischen Deformationen auftreten. σ
σ Bruch
σB
Bruch
σB Fließen
σF
a)
ε b) Bild 2.1 Materialverhalten: a) duktil, b) spr¨od
ε
42
Klassische Bruch- und Versagenshypothesen
Abh¨angig von der Problemstellung kennzeichnet man h¨aufig die Festigkeit bzw. das Versagen eines Materials durch die Fließgrenze oder durch die Bruchgrenze. Gemeinsam ist beiden, dass sich an ihnen das Materialverhalten drastisch ¨andert. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass duktiles bzw. spr¨odes Verhalten keine reinen Stoffeigenschaften sind. Vielmehr hat der Spannungszustand einen wesentlichem Einfluss auf das Materialverhalten. Als Beispiel sei nur erw¨ahnt, dass ein hydrostatischer Spannungszustand bei Materialien, die als plastisch deformierbar gelten, im allgemeinen zu keinen inelastischen Deformationen f¨ uhrt. Unter bestimmten Beanspruchungen kann sich ein solcher Werkstoff also durchaus spr¨ode verhalten. Wir nehmen nun an, dass sowohl f¨ ur den betrachteten einfachen Belastungszustand als auch f¨ ur eine beliebig komplexe Beanspruchung das Verhalten des Materials und damit auch die Versagensgrenze alleine durch den aktuellen Spannungszustand oder Verzerrungszustand charakterisierbar sind. Dann kann die Versagensbedingung durch F (σij ) = 0
oder
G(εij ) = 0
(2.1)
ausgedr¨ uckt werden. Wie die Fließbedingung, die ja durch (2.1) miterfasst wird, kann man die Versagensbedingung F (σij ) = 0 als Versagensfl¨ache im sechsdimensionalen Raum der Spannungen bzw. im dreidimensionalen Raum der Hauptspannungen deuten. Ein Spannungszustand σij auf der Fl¨ache F = 0 charakterisiert dabei Versagen infolge Fließen oder Bruch. Eine Versagensbedingung der Art (2.1) setzt voraus, dass der Materialzustand beim Versagen unabh¨angig von der Deformationsgeschichte ist. Dies kann mit hinreichender Genauigkeit auf das erstmalige Einsetzen des plastischen Fließens bei duktilen Materialien oder auf den Bruch von spr¨oden Werkstoffen zutreffen. Daneben muss das Material bis zum Erreichen der Versagensgrenze als Kontinuum ohne makroskopische Defekte aufgefasst werden k¨onnen. Das bedeutet insbesondere, dass nicht etwa makroskopische Risse das Verhalten eines Werkstoffes bestimmen. Der Deformationsprozess bei plastisch verformbaren Werkstoffen – hierzu z¨ahlt man h¨aufig auch Beton oder geologische Materialien – nach Erreichen der Fließgrenze kann durch die Fließregel beschrieben werden. Die Kinematik des Bruches bei spr¨odem Materialverhalten wird durch letztere nicht bestimmt. Einfache kinematische Aussagen sind dann im allgemeinen nur bei speziellen Spannungszust¨anden m¨oglich.
2.2
Versagenshypothesen
Es ist formal m¨oglich, beliebig viele Versagenshypothesen vom Typ (2.1) aufzustellen. Im folgenden sind einige g¨angige Bedingungen zusammengestellt, von denen ein Teil auf bestimmte Materialklassen mit technisch hinreichender
43
Versagenshypothesen
Genauigkeit angewendet werden kann. Ein Teil hat allerdings nur noch historische Bedeutung. Auf die von Misessche und die Trescasche Fließbedingung wird hier nicht nochmals eingegangen; sie sind in Abschnitt 1.3.3.1 diskutiert. 2.2.1
Hauptspannungshypothese
Diese Hypothese geht auf W.J.M. Rankine (1820–1872), G. Lam´e (1795–1870) und C.L. Navier (1785–1836) zur¨ uck. Nach ihr wird das Materialverhalten durch zwei Kennwerte – die Zugfestigkeit σz und die Druckfestigkeit σd - bestimmt. Versagen wird angenommen, wenn die gr¨oßte Hauptnormalspannung den Wert σz oder die kleinste Hauptnormalspannung die Grenze −σd erreicht, das heißt, wenn eine der Bedingungen σz , σz , σz , (2.2) σ1 = σ2 = σ3 = −σd , −σd , −σd erf¨ ullt ist. Die zugeh¨orige Versagensfl¨ache im Raum der Hauptspannungen ist durch die Oberfl¨ache eines W¨ urfels gegeben (Bild 2.2a). Als Versagenskurve f¨ ur den ebenen Spannungszustand (σ3 = 0) ergibt sich ein Quadrat (Bild 2.2b). σ3 σz −σd
σ3 = 0 σ2
−σd
σ2 σz σz σ1
σz −σd
σ1 b)
a)
Bild 2.2 Hauptspannungshypothese Die Hauptspannungshypothese soll in erster Linie das spr¨ode Versagen von Werkstoffen beschreiben. Bei Zugbeanspruchung verbindet man mit ihr im allgemeinen die kinematische Vorstellung einer Dekoh¨asion der Schnittfl¨achen senkrecht zur gr¨oßten Hauptspannung. Die Hypothese vernachl¨assigt den Einfluss von zwei Hauptspannungen auf das Versagen; sie ist nur recht eingeschr¨ankt anwendbar. 2.2.2
Hauptdehnungshypothese
Bei der von de Saint-Venant (1797–1886) und C. Bach (1889) vorgeschlagenen Hypothese wird angenommen, dass Versagen eintritt, wenn die gr¨oßte Hauptdehnung einen kritischen Wert εz annimmt. Setzt man linear elastisches Verhalten
44
Klassische Bruch- und Versagenshypothesen
bis zum Versagen voraus und f¨ uhren wir mit σz = Eεz die kritische Spannung σz ein, so folgen die Versagensbedingungen σ1 − ν(σ2 + σ3 ) = σz ,
σ2 − ν(σ3 + σ1 ) = σz ,
σ3 − ν(σ1 + σ2 ) = σz . (2.3)
Die Versagensfl¨ache wird in diesem Fall durch eine dreifl¨achige Pyramide um die hydrostatische Achse mit dem Scheitel bei σ1 = σ2 = σ3 = σz /(1 − 2ν) gebildet (Bild 2.3a). Die Versagenskurve f¨ ur den ebenen Spannungszustand ist in Bild 2.3b dargestellt. hydrostatische Achse
σ3 −σd
σz σ2
−σd
σ2 σ3 = 0
σz
−σd σz
σz
σ1
σ1
−σd a)
b) Bild 2.3 Hauptdehnungshypothese
Nach dieser Hypothese m¨ usste Versagen unter einachsigem Druck bei einem Betrag σd = σz /ν auftreten. F¨ ur die meisten Werkstoffe widerspricht dies der experimentellen Erfahrung. 2.2.3
Form¨ anderungsenergiehypothese
Die Hypothese von E. Beltrami (1835-1900) postuliert Versagen, wenn die Form¨anderungsenergiedichte U einen materialspezifischen kritischen Wert Uc erreicht: U = Uc . Dabei wird in der Regel von linear elastischem Verhalten bis zum Versagen ausgegangen. F¨ uhrt man mit Uc = σc2 /2E eine einachsige Versagensspannung σc ein und dr¨ uckt man U = UV + UG unter Verwendung von (1.50) durch die Hauptspannungen aus, so ergibt sich (1 + ν)[(σ1 − σ2 )2 + (σ2 − σ3 )2 + (σ3 − σ1 )2 ] + (1 − 2ν)(σ1 + σ2 + σ3 )2 = 3σc2 . (2.4) Die entsprechende Versagensfl¨ache ist ein Rotationsellipsoid um die hydrostati sche Achse mit den Scheiteln bei σ1 = σ2 = σ3 = ±σc / 3(1 − 2ν). Nach dieser Hypothese kommt es bei hinreichend großen hydrostatischem Druck immer zum Versagen; dies steht in Widerspruch zu experimentellen Ergebnissen. L¨asst man in U den Anteil UV der Volumen¨anderungsenergiedichte weg (inkompressibles Material), so geht die Beltramische Hypothese in die von Misessche Fließbedingung u ¨ ber.
45
Versagenshypothesen
In neuerer Zeit wurde die Form¨anderungsenergiehypothese in modifizierter Form wieder zur Verwendung in Rissausbreitungskriterien vorgeschlagen (vgl. S-Kriterium, Abschnitt 4.9). 2.2.4
Coulomb-Mohr Hypothese
Diese Hypothese soll vor allem das Versagen infolge Gleiten bei geologischen und granularen Materialien, wie zum Beispiel Sand, Gestein oder B¨oden beschreiben. Solche Materialien k¨onnen Zugspannungen nicht oder nur in beschr¨anktem Maße aufnehmen. Zur physikalischen Motivierung gehen wir von einer beliebigen Schnittfl¨ache aus, in welcher die Normalspannung −σ (Druck) und die Schubspannung τ herrschen. Das Coulombsche Reibungsgesetz – angewandt auf die Spannungen – postuliert Gleiten, wenn τ einen kritischen Wert annimmt, der proportional zur Druckspannung −σ ist: | τ |= −σ tan ρ. Darin ist ρ der materialabh¨angige Reibungswinkel . F¨ ur −σ → 0 folgt aus diesem Gesetz auch | τ |→ 0; Zugspannungen k¨onnen in diesem Fall nicht auftreten. Vielfach setzt Gleiten f¨ ur σ = 0 allerdings erst bei einer endlichen Schubspannung ein. Auch k¨onnen die Materialien h¨aufig beschr¨ankte Zugspannungen aufnehmen. Es bietet sich dann an, von der modifizierten Gleitbedingung | τ |= −σ tan ρ + c
(2.5)
auszugehen. Diese ist als Coulomb-Mohr-Hypothese bekannt (C.A. Coulomb (1736– 1806); O. Mohr (1835–1918)). Den Parameter c bezeichnet man als Koh¨asion.
σ3
τ A 2Θ σ3
σ2
τ σ σ1 A
a)
c
−σd σz
ρ
−σd σ
hydrostatische Achse
σ2
σ2
σ3 = 0 σz −σd
σ1 σz
σz σ1
c/ tan ρ
−σd
−σd b)
c)
Bild 2.4 Coulomb-Mohr-Hypothese Im σ-τ -Diagramm entsprechen der Gleitbedingung (2.5) zwei Geraden, welche die Einh¨ ullende der zul¨assigen Mohrschen Kreise bilden (Bild 2.4a). Gleiten tritt f¨ ur diejenigen Spannungszust¨ande ein, bei denen der gr¨oßte Mohrsche Kreis die Einh¨ ullende gerade tangiert. F¨ ur die zugeh¨origen Hauptspannungen liest man die
46 Bedingung
Klassische Bruch- und Versagenshypothesen
| σ1 − σ3 | c σ1 + σ3 = − sin ρ 2 tan ρ 2
(2.6)
ab. Hieraus ergibt sich zum Beispiel die Zugfestigkeit bei einachsiger Beanspruchung mit σ1 = σz und σ3 = 0 zu σz = 2c cos ρ/(1 + sin ρ); analog folgt die Druckfestigkeit mit σ1 = 0 und σ3 = −σd zu σd = 2c cos ρ/(1 − sin ρ). Angemerkt sei noch, dass (2.6) als Spezialfall f¨ ur ρ → 0 die Trescasche Fließbedingung beinhaltet (vgl. Abschnitt 1.3.3.1). Es ist manchmal zweckm¨aßig, anstelle der Parameter ρ und c die Materialkennwerte σd und κ = σd /σz zu verwenden. Aus (2.6) ergibt sich dann, dass f¨ ur Gleiten eine der folgenden Bedingungen erf¨ ullt sein muss: κσ1 − σ3 κσ2 − σ1 κσ3 − σ2 = σd , = σd , = σd . (2.7) −σ1 + κσ3 −σ2 + κσ1 −σ3 + κσ1 Hierbei wurden die Hauptspannungen nicht von vornherein ihrer Gr¨oße nach geordnet. Die zugeh¨orige Versagensfl¨ache ist eine sechsfl¨achige Pyramide um die hydrostatische Achse (Bild 2.4b). Ihr Scheitel befindet sich bei σ1 = σ2 = σ3 = σd /(κ − 1). Die Versagenskurve im ebenen Spannungszustand wird durch das in Bild 2.4c dargestellte Sechseck gebildet. Wie eingangs erw¨ahnt, nimmt man an, dass Gleiten in Schnitten stattfindet, in welchen (2.5) erf¨ ullt ist. Ihnen entsprechen in Bild 2.4a die Punkte A und A . Die Normale der Gleitebene liegt demgem¨aß in der von der gr¨oßten Hauptspannung σ1 und der kleinsten Hauptspannung σ3 aufgespannten Ebene. Sie schließt mit der Richtung von σ1 die Winkel Θ1,2 = ±(45◦ − ρ/2)
(2.8)
ein. Die mittlere Hauptspannung σ2 hat nach dieser Hypothese keinen Einfluss auf das Versagen und den Versagenswinkel. Hingewiesen sei noch auf die Tatsache, dass Versagen entlang der durch (2.8) bestimmten Fl¨ache nur dann eintritt, falls dies auch kinematisch m¨oglich ist. Das Ergebnis (2.8) f¨ ur die Orientierung der Versagensfl¨ache wird unter anderem in der Geologie dazu benutzt, um unterschiedliche Typen von Verwerfungen der Erdkruste zu erkl¨aren. Dabei wird davon ausgegangen, dass alle Hauptspannungen Druckspannungen sind (|σ3 | ≥ |σ2 | ≥ |σ1 |) und in vertikaler Richtung (senkrecht zur Erdoberfl¨ache) bzw. horizontaler Richtung wirken. Eine NormalVerwerfung wird danach mit einer Situation erkl¨art, bei der die vertikale Hauptspannung betragsm¨aßig gr¨oßer ist als die in horizontaler Richtung wirkenden Hauptspannungen (Bild 2.5a). Bei einer Schiebe-Verwerfung wird dagegen angenommen, dass die vertikale Druckspannung die betragsm¨aßig kleinste Hauptspannung ist (Bild 2.5b). Schließlich bringt man eine durchlaufende Verwerfung in Verbindung mit einem vertikalen Druck σ2 , der betragsm¨aßig zwischen der gr¨oßten und der kleinsten Hauptspannung liegt (Bild 2.5c).
47
Versagenshypothesen
σ3
σ1
σ2
σ3
σ1
σ3
θ a)
θ
σ1
θ
b)
c)
Bild 2.5 Verwerfungen Aus Experimenten geht hervor, dass die Coulomb-Mohr-Hypothese das Verhalten verschiedener Materialien zwar im Druckbereich gut, doch im Zugbereich weniger gut beschreibt. Verantwortlich hierf¨ ur kann in verschiedenen F¨allen eine ¨ Anderung des Versagensmechanismus gemacht werden. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn im Zugbereich Versagen nicht infolge Gleiten eintritt, sondern mit einer Dekoh¨asion der Schnittfl¨achen senkrecht zur gr¨oßten Zugspannung verbunden ist. Eine M¨oglichkeit zur Verbesserung der Versagensbedingung besteht dann zum Beispiel darin, die Versagensfl¨ache durch Normalspannungsabschnitte (tension cutoff ) zu modifizieren (Bild 2.6). hydrostatische Achse
σ3 −σd
σ3 = 0 σ2
σz −σd
−σd
σ2 σz
σ1 σz
σz σ1 −σd
−σd a)
b)
Bild 2.6 Tension cutoff Die Hypothese (2.5) geht von einem linearen Zusammenhang zwischen τ und σ aus. Eine Verallgemeinerung der Art | τ |= h(σ)
(2.9)
wurde von O. Mohr (1900) vorgeschlagen, wobei die Funktion h(σ) experimentell zu bestimmen ist. Letztere stellt im σ-τ -Diagramm die Einh¨ ullende der zul¨assigen Mohrschen Kreise dar (Bild 2.7). Wie schon bei der Hypothese (2.5) hat auch hier die mittlere Hauptspannung σ2 keinen Einfluss auf das Versagen. Insofern
48
Klassische Bruch- und Versagenshypothesen
kann man beide als spezielle (nicht allgemeine) Formen einer Versagensbedingung F (σ1 , σ3 ) = 0 ansehen.
τ
τ = h(σ)
σ3
σ2
σ1
σ
Bild 2.7 Mohrsche Versagenshypothese
2.2.5
Drucker-Prager-Hypothese
Nach der Hypothese von D.C. Drucker (1918-) und W. Prager (1903-1980) kommt es zum Versagen, wenn die Bedingung (2.10a) F (Iσ , IIs ) = α Iσ + IIs − k = 0 erf¨ ullt ist. Darin sind Iσ , IIs Invarianten des Spannungstensors bzw. seines Deviators und α, k Materialparameter. Mit σm = σoct = Iσ /3 und τoct = 2 IIs /3 kann man (2.10a) ¨ahnlich wie die Mohr-Coulomb-Hypothese deuten. Versagen tritt danach ein, wenn die Oktaederschubspannung τoct einen Wert annimmt, der linear von der mittleren Normalspannung σm abh¨angt (vgl. (2.5)): √ τoct = − 6 α σm + 2/3 k . (2.10b) Die durch (2.10a,b) aufgespannte Versagensfl¨ache im Raum der Hauptspannungen bildet einen Kreiskegel um die hydrostatische Achse mit dem Scheitel bei σ1 = σ2 = σ3 = k/3α (Bild 2.8a). Die zugeordnete Versagenskurve f¨ ur den ebenen Spannungszustand (σ3 = 0) ist eine Ellipse (Bild 2.8b). Wie die Coulomb-MohrHypothese findet die Drucker-Prager-Hypothese als Fließ- bzw. Bruchbedingung vorwiegend Anwendung bei granularen und geologischen Materialien. F¨ ur α = 0 geht sie in die von Misessche Fließbedingung u ¨ber. Experimente zeigen, dass in manchen F¨allen die Beschreibung der Versagensbedingung mittels zweier Materialparameter nicht hinreichend ist. Sie muss dann geeignet modifiziert werden. Als Beispiel sei eine M¨oglichkeit der Erweiterung der Drucker-Prager-Hypothese angegeben, welche verschiedentlich Anwendung findet: F (Iσ , IIs ) = α Iσ + IIs + β Iσ2 − k = 0 . (2.11)
49
Deformationsverhalten beim Versagen
Darin ist β ein weiterer Materialkennwert. hydrostatische Achse
σ3 σz −σd
σz =
k √ α + 1/ 3
−σd σz
σz −σd
a)
σ2
σ2
σ1
−σd =
σ1
k √ α − 1/ 3
b) Bild 2.8 Drucker-Prager-Hypothese
2.3
Deformationsverhalten beim Versagen
Die Versagensbedingungen alleine lassen keinen unmittelbaren Schluss auf das Deformationsverhalten bzw. die Kinematik beim Versagen zu. Aussagen hieru ¨ber kann man nur dann machen, wenn mit der Versagenhypothese a priori eine bestimmte kinematische Vorstellung verbunden ist, oder wenn man eine solche Annahme zus¨atzlich einf¨ uhrt.
σ1
σ1
τ σ
σ1 a)
b) Bild 2.9 Bruch߬achen
Beim Versagen infolge Bruch wird ein K¨orper in zwei oder mehrere Teile getrennt. Dies geht einher mit der Schaffung neuer Oberfl¨achen, d.h. der Bildung von Bruchfl¨achen. Der dabei ablaufende kinematische Vorgang kann mit einfachen Mitteln nicht beschrieben werden. Nur bei hinreichend gleichf¨ormigen Spannungszust¨anden lassen sich Aussagen treffen, die sich an experimentellen Erfahrungen
50
Klassische Bruch- und Versagenshypothesen
orientieren. Letztere zeigen zwei Grundmuster der Bildung von Bruchfl¨achen. Beim normalfl¨achigen Bruch f¨allt die Bruchfl¨ache mit der Schnittfl¨ache zusammen, in der die gr¨oßte Hauptnormalspannung wirkt; diese muss eine Zugspannung sein (Bild 2.9a). Wird die Bruchfl¨ache dagegen von Schnitten gebildet, in denen eine bestimmte Schubspannung (z.B. τmax , τoct etc.) einen kritischen Wert annimmt, so spricht man von einem scherfl¨achigen Bruch (Bild 2.9b). Abh¨angig vom Spannungszustand und vom Materialverhalten treten diese beiden Typen auch in vielf¨altigen Mischformen auf. Kennzeichnet “Versagen” das Einsetzen von Fließen, so entspricht die Versagensbedingung einer Fließbedingung. Im Rahmen der inkrementellen Plastizit¨at lassen sich dann die beim Fließen auftretenden Deformationen mit Hilfe der Fließregel dεpij = dλ ∂F/∂σij beschreiben (vgl. Abschnitt 1.3.3.2). F¨ ur die von Misessche und die Trescasche Fließbedingung sind die entsprechenden Gleichungen in (1.83a) und (1.84) zusammengestellt. Als Beispiel seien hier noch die inkrementellen Spannungs-Dehnungs-Beziehungen f¨ ur das Drucker-Prager-Modell angegeben. Vorausgesetzt sei dabei, dsss die Fließfl¨ache unabh¨angig von der Deformationsgeschichte ist (ideal plastisches Material). Die Fließregel liefert in diesem Fall mit (2.10a,b), Iσ = σkk = σij δij und IIs = 12 sij sij formal das Ergebnis sij . (2.12) dεpij = dλ α δij + √ 2 IIs Auf die Bestimmung von dλ sei hier verzichtet. Es sei angemerkt, dass nach (2.12) im allgemeinen plastische Volumen¨anderungen auftreten; f¨ ur das entsprechende Inkrement ergibt sich dεpkk = 3α dλ. Experimente legen allerdings nahe, dass bei granularen Materialien die assoziierte Fließregel nicht g¨ ultig ist. Fließen erfolgt hier also nicht senkrecht zur Fließfl¨ache. Gleichung (2.12) sollte folglich f¨ ur solche Werkstoffe nicht verwendet werden.
2.4
Literatur
Gould, P.L. (1994). Introduction to Linear Elasticity. Springer, New York Paul, B. (1968). Macroscopic Criteria for Plastic Flow and Brittle Fracture. In Fracture – A Treatise, Vol. 2, ed. H. Liebowitz, pp. 315-496, Academic Press, London Nadai, A. (1950). Theory of Flow and Fracture of Solids, Vol. 1. McGraw-Hill, New York
3 Ursachen und Erscheinungsformen des Bruchs
Die Ursachen und Erscheinungsformen des Bruchs sind sehr vielgestaltig. Dies liegt daran, dass die Ph¨anomene entscheidend von den mikroskopischen Eigenschaften des Werkstoffes bestimmt werden, welche wiederum von Material zu Material stark variieren. In diesem Buch steht die kontinuumsmechanische Beschreibung des makroskopischen Bruchverhaltens im Vordergrund. Hierf¨ ur ist es jedoch vorteilhaft, einen gewissen Eindruck vom mikroskopischen Geschehen zu besitzen. Aus diesem Grund sind in diesem Kapitel sowohl einige mikroskopische als auch makroskopische Aspekte zusammengestellt. Erstere haben allerdings nur exemplarischen Charakter und orientieren sich an Erscheinungen in kristallinen bzw. polykristallinen Materialien, zu denen unter anderen die Metalle z¨ahlen.
3.1 3.1.1
Mikroskopische Aspekte Ober߬ achenenergie, Theoretische Festigkeit
Bruch ist die Trennung eines urspr¨ unglich ganzen K¨orpers in zwei oder mehrere Teile. Dabei werden die Bindungen zwischen den Bausteinen des Materials gel¨ost. Auf mikroskopischer Ebene sind dies zum Beispiel die Bindungen zwischen Atomen, Ionen, Molek¨ ulen etc.. Die Bindungskraft zwischen solchen zwei Elementen kann durch eine Beziehung a b F =− m+ n (3.1) r r ausgedr¨ uckt werden (Bild 3.1a). Darin sind a, b, m, n (m < n) Konstanten, die vom Typ der Bindung abh¨angen. F¨ ur kleine Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage d0 kann F (r) durch einen linearen Verlauf approximiert werden; dies entspricht einem Stoffgesetz, wie es sich makroskopisch im Hookeschen Gesetz manifestiert. Bei der L¨osung der Bindung, d.h. der Trennung der Elemente, leistet die Bindungskraft eine materialspezifische Arbeit W B , die negativ ist. Infolge der Trennung ¨andert sich zum Beispiel bei einem idealen Kristall die Gittergeometrie in ¨ der unmittelbaren Umgebung der neugeschaffenen Oberfl¨ache. Diese Anderung ist auf einige Gitterabst¨ande ins Innere hinein beschr¨ankt. Sieht man von etwaigen dissipativen Vorg¨angen ab, und betrachtet man das Material vom makroskopischen Standpunkt als Kontinuum, so kann man die Arbeit der Bindungskr¨afte als Oberfl¨achenenergie (= gespeicherte Energie an der Oberfl¨ache) wiederfinden.
52
Ursachen und Erscheinungsformen des Bruchs
σ
F F
σ
Hooke
σc r d0
d0 + x
d0 r
WB
d0
a)
a
σ
x
b)
Bild 3.1 Theoretische Festigkeit Diese ist definiert als Γ0 = γ 0 A ,
(3.2)
0
worin A die neugeschaffene Oberfl¨ache und γ die spezifische Oberfl¨achenenergie sind. Im weiteren betrachten wir als Beispiel den Trennvorgang von zwei Atomebenen eines Kristallgitters, wobei wir f¨ ur die dabei auftretende Spannung σ einen Verlauf ¨ahnlich zur Bindungskraft annehmen (Bild 3.1b). Dieser kann im Zugspannungsbereich durch eine Beziehung σ ≈ σc sin (πx/a) approximiert werden. F¨ ur kleine Verschiebungen x folgt hieraus σ ≈ σc πx/a. Gleichsetzen mit dem Hookeschen Gesetz σ = Eε = Ex/d0 liefert f¨ ur die bei der Trennung zu u ¨berwindende Koh¨asionsspannung oder sogenannte Theoretische Festigkeit σc ≈ E
a . πd0
(3.3)
Nehmen wir zus¨atzlich noch an, dass die Bindung f¨ ur a ≈ d0 vollst¨andig gel¨ost ist, so erh¨alt man die Absch¨atzung σc ≈
E . π
(3.4)
Aus der Arbeit der Spannung l¨asst sich mit den getroffenen Annahmen auch die Oberfl¨achenenergie γ 0 bestimmen. Unter Beachtung, dass bei der Trennung zwei neue Oberfl¨achen geschaffen werden, ergibt sich zun¨achst ∞
a σ(x)dx ≈
0
2γ = 0
σc sin
2a πx dx = σc . a π
(3.5)
0
Mit a ≈ d0 und (3.4) folgt hieraus γ0 ≈
Ed0 . π2
(3.6)
Mikroskopische Aspekte
53
Wendet man die Beziehungen (3.4) und (3.6) auf Eisen bzw. Stahl an, so errechnen sich mit E = 2, 1 · 105 MPa und d0 = 2, 5 · 10−10 m die Ergebnisse σc ≈ 0, 7 · 105 MPa , γ 0 ≈ 5 J/m2 . Entsprechenden Werten kann man allerdings nur bei defektfreien Einkristallen (Whiskern) nahekommen. Bei realem, polykristallinem Material ist die Bruchfestigkeit dagegen um zwei bis drei Zehnerpotenzen geringer. Gleichzeitig u ¨ bersteigt der Energiebedarf bei der Schaffung neuer Bruchoberfl¨achen den Wert nach (3.6) um mehrere Zehnerpotenzen. Die Ursachen hierf¨ ur liegen in der inhomogenen Struktur des Materials und vor allem in seinen Defekten. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Bindungskraft (3.1) aus einem Wechselwirkungspotential Φ(r) hergeleitet werden kann: F = −∂Φ/∂r. Ein typisches Potential f¨ ur die Wechselwirkung von Atomen ist das Lennard-Jones Potential (J. Lennard-Jones, 1924) A B ΦLJ (r) = − 6 + 12 . (3.7) r r Sein erster Term beschreibt die anziehnden van der Waal’s-Kr¨afte w¨ahrend der zweite Term f¨ ur die nahwirkenden, abstoßenden Kr¨afte verantwortlich ist. Obwohl es oft die wirkenden Kr¨afte nicht genau widergibt, wird dieses Potential h¨aufig f¨ ur grundlegende Untersuchungen verwendet. Hierzu geh¨oren insbesondere molekulardynamische Simulationen, die auch Trennprozesse auf der Mikroskala einschließen. 3.1.2
Mikrostruktur und Defekte
Polykristallines Material besteht aus Kristallen (K¨orner), die entlang der Korngrenzen miteinander verbunden sind. Die einzelnen Kristalle haben anisotrope Eigenschaften; die Orientierung ihrer kristallografischen Ebenen bzw. Achsen ¨andert sich von Korn zu Korn. Die Eigenschaften der Korngrenzen weichen zudem von denen der K¨orner zum Beispiel aufgrund von Ausscheidungen ab. Neben diesen Unregelm¨aßigkeiten im Materialaufbau enth¨alt ein reales Material von Anfang an eine Anzahl von Defekten unterschiedlicher Gr¨oßenordnung. Von der charakteristischen L¨ange einer oder mehrerer Kornabmessungen k¨onnen zum Beispiel durch den Herstellungsprozess bedingte Einschl¨ usse mit stark abweichenden Materialeigenschaften, Hohlr¨aume oder Mikrorisse sein. Aus physikalischer Sicht spricht man dabei meist von Defekten auf der Mesoskala. Hinzu kommen die Defekte auf der Mikroskala, worunter Fehler im Kristallgitter selbst verstanden werden. Man unterscheidet dabei Punktimperfektionen (Leerstellen, Zwischengitteratome, Fremdatome), Linienimperfektionen (Versetzungen) und Fl¨achenimperfektionen (Kleinwinkelkorngrenzen, Großwinkelkorngrenzen, Zwillingsgrenzen). Eine besondere Rolle hinsichtlich des mechanischen Verhaltens spielen die Versetzungen. Die Geometrie dieser Gitterst¨orung ist in Bild 3.2a f¨ ur die Stufen-
54
Ursachen und Erscheinungsformen des Bruchs
versetzung und in Bild 3.2b f¨ ur die Schraubenversetzung dargestellt. Charakterisiert werden kann eine Versetzung durch den Burgers-Vektor b (J.M. Burgers (1895-1981)): bei der Stufenversetzung steht b senkrecht auf der Versetzungslinie, bei der Schraubenversetzung zeigt b in Richtung der Versetzungslinie (Bild 3.2a,b). Es sei angemerkt, dass Versetzungen ein Eigenspannungsfeld bewirken, dem eine elastische Energie zugeordnet werden kann (vgl. Abschnitt 8.2.1). Versetzungslinie Versetzungslinie b
b
a)
b) τ τ
Gleitebene
τ
τ c)
d) Bild 3.2 Versetzungen
Unter der Wirkung von Schubspannungen kommt es in der Umgebung der Versetzungslinie zur Umordnung der Atome und damit zu einer Verschiebung der Versetzung (Bild 3.2c). Die dabei geleistete Arbeit wird im wesentlichen als W¨arme (= Gitterschwingung) dissipiert. Die Bewegung von Versetzungen hat ein “Abgleiten” der Gitterebenen zur Folge und kann zur Bildung einer neuen Oberfl¨ache f¨ uhren (Bild 3.2d). Auf diesen mikroskopischen Mechanismus ist das makroskopisch plastische Materialverhalten zur¨ uckzuf¨ uhren. Die Versetzungsbewegung innerhalb eines Kristalls ist dabei h¨aufig nicht gleichf¨ormig verteilt, sondern in Gleitb¨andern lokalisiert. In der Regel k¨onnen Versetzungen nicht unbesch¨ankt wandern. Vielmehr stauen sie sich an Hindernissen, wie zum Beispiel Einschl¨ ussen oder Korngrenzen auf. Makroskopisch macht sich dieser Versetzungsstau als Verfestigung bemerkbar.
55
Mikroskopische Aspekte
3.1.3
Rissbildung
In polykristallinen Werkstoffen gibt es beim Deformationsprozess unterschiedliche Mechanismen der Bildung von Mikrorissen im zun¨achst rissfreien Material. Eine Trennung der Atomebenen ohne begleitende Versetzungsbewegung kommt in dieser Reinheit kaum vor. Mikrorissbildung und -ausbreitung ist praktisch immer mit mehr oder weniger stark ausgepr¨agten mikroplastischen Vorg¨angen verbunden.
a)
b)
Bild 3.3 a) transkristalliner Riss, b) interkristalliner Riss Ein wichtiger Mechanismus bei der Bildung von Mikrorissen ist der Stau von Versetzungen an einem Hindernis. Er bewirkt eine hohe Spannungskonzentration, die zur L¨osung der Bindungen entlang bevorzugter Gitterebenen und damit zu einem Spaltriss (cleavage) f¨ uhren kann. Durchl¨auft ein solcher Riss mehrere K¨orner, so ¨andert sich die Orientierung der Trennfl¨ache entsprechend den lokalen Vorzugsrichtungen der Kristalle (Bild 3.3a). Man bezeichnet solch einen Bruch als transkristallin. Bei hinreichend schwachen Bindungen entlang der Korngrenzen kommt es – beg¨ unstigt durch Versetzungsstau und Korngrenzengleiten – dort zur Separation. Man spricht dann von einem interkristallinen Bruch (Bild 3.3b). Beide genannten Brucharten verlaufen makroskopisch spr¨od . Sie sind mit keinen oder nur sehr geringen makroskopisch inelastischen Deformationen verbunden, und sie ben¨otigen eine geringe Energie.
Bild 3.4 Bildung und Wachstum von Poren Ein Versetzungsstau bewirkt nicht nur eine Spannungskonzentration, sondern man kann ihn auch als die Ursache f¨ ur die Bildung submikroskopischer Poren und L¨ocher verantwortlich machen. Dies ist in Bild 3.4 schematisch dargestellt: die Vereinigung von Versetzungen f¨ uhrt zur Bildung und zum Wachstum von Hohlr¨aumen.
56
Ursachen und Erscheinungsformen des Bruchs
Kristalline Werkstoffe sind h¨aufig mehrphasig; sie enthalten eine hohe Zahl von Partikeln, die an den Korngrenzen oder in den Kristallen eingebettet sind. In ihrer Umgebung kommt es bei hinreichender Mobilit¨at der Versetzungen vor einer Mikrorissbildung zun¨achst zu plastischen Deformationen. Der damit verbundene Versetzungsstau f¨ uhrt dann zur Bildung und zum Wachstum von Hohlr¨aumen um die Partikel: deren Bindungen zur umgebenden Matrix werden gel¨ost. Mit zunehmender makroskopischer Deformation wachsen die L¨ocher durch mikroplastisches Fließen an, vereinigen sich und f¨ uhren auf diese Weise zur Separation (Bild 3.5). Entsprechende Bruchoberfl¨achen zeigen eine typische Struktur von Waben oder Gr¨ubchen (dimples), die durch mikroplastisch stark verformte Zonen getrennt sind. Die f¨ ur so einen Bruch erforderliche Energie ist um ein vielfaches gr¨oßer als die des Spaltbruchs.
Bild 3.5 Bruch durch Lochbildung und -Vereinigung Die Lokalisierung der Gleitvorg¨ange in Gleitb¨andern kann ebenfalls Anlass zur Rissbildung sein. Insbesondere bei hinreichend großer wechselnder Belastung f¨ uhrt sie an der ¨außeren Oberfl¨ache oder an Inhomogenit¨aten zu Extrusionen und Intrusionen (Bild 3.6). Ergebnis der zunehmenden “Aufrauhung” der Oberfl¨ache ist die Bildung eines Erm¨udungsrisses.
Bild 3.6 Bildung eines Erm¨ udungsrisses
Makroskopische Aspekte
3.2 3.2.1
57
Makroskopische Aspekte Rissausbreitung
Aus makroskopischer Sicht betrachten wir das Material im weiteren als Kontinuum, das a priori rissbehaftet ist. Dabei kann es sich entweder um einen tats¨achlich vorhandenen makroskopischen Riss gegebener geometrischer Konfiguration handeln, oder um angenommene, hypothetische Risse von eventuell sehr kleiner Gr¨oße. Letztere sollen die makroskopisch nicht sichtbaren, im realen Material jedoch immer vorhandenen Defekte oder Mikrorisse nachbilden. Die Frage der Rissentstehung in einem anfangs ungesch¨adigten Material wird bei dieser Betrachtungsweise ausgeklammert. Sie l¨asst sich mit den Mitteln der klassischen Kontinuumsmechanik nicht beantworten. Eine Beschreibung der Rissentstehung ist nur mit der Kontinuums-Sch¨adigungsmechanik m¨oglich, welche die mikroskopische Defektstruktur mitber¨ ucksichtigt (vgl. Kapitel 9). Ein Bruchvorgang ist immer mit einem Risswachstumsprozess verbunden. Beide kann man nach verschiedenen ph¨anomenologischen Gesichtspunkten klassifizieren. Die typischen Phasen im Verhalten eines Risses bei einer Belastung werden folgendermaßen gekennzeichnet. Solange der Riss seine Gr¨oße nicht ¨andert, spricht man von einem station¨aren Riss. Bei einer bestimmten kritischen Belastung bzw. Deformation kommt es zur Rissinitiierung, das heißt der Riss beginnt sich auszubreiten; er wird instation¨ar. Bei der Rissausbreitung unterscheidet man verschiedene Arten. Man nennt ein Risswachstum stabil , wenn f¨ ur eine Rissvergr¨oßerung eine Erh¨ohung der ¨außeren Belastung erforderlich ist. Im Gegensatz dazu ist ein Risswachstum instabil , wenn ein Riss sich von einem bestimmten Punkt an ohne weitere Erh¨ohung der ¨außeren Last spontan ausbreitet. An dieser Stelle sei schon darauf hingewiesen, dass im stabilen bzw. instabilen Risswachstum nicht nur Werkstoffeigenschaften zum Ausdruck kommen. Ganz wesentlich gehen auch die Geometrie und die Art der Belastung des K¨orpers ein. Eine Rissausbreitung unter konstanter Belastung, die sehr langsam, kriechend erfolgt (z.B. mit 1 mm/s oder weniger), heißt subkritisch. Unter Wechselbelastung kann sich sich Riss in kleinen “Schritten” fortpflanzen (z.B. mit 10−6 mm pro Zyklus): dies ist dann ein Erm¨ udungsrisswachstum. Findet die Rissausbreitung mit Geschwindigkeiten statt, die in die Gr¨oßenordnung der Schallgeschwindigkeit kommen (z.B. 600 m/s oder mehr), so nennt man sie schnell . Kommt solch ein schneller Riss wieder zum Stillstand, so bezeichnet man dies als Rissarrest. Zur weiteren Kennzeichnung unterscheidet man noch zwischen quasistatischer und dynamischer Rissausbreitung. Die Tr¨agheitskr¨afte spielen bei ersterer keine Rolle, sind aber bei der zweiten nicht zu vernachl¨assigen.
58 3.2.2
Ursachen und Erscheinungsformen des Bruchs
Brucharten
Der Bruchvorgang ist beendet, wenn die Rissausbreitung zum Stillstand gekommen ist, oder wenn - was h¨aufiger eintritt - eine vollst¨andige Trennung des K¨orpers in zwei oder mehrere Teile erfolgt ist. Nach den typischen Erscheinungen teilt man das Gesamtereignis Bruch in verschiedene Arten ein. Bei einem duktilen Bruch (Z¨ahbruch) ist die dem Bruch vorhergehende bzw. die ihn begleitende plastische Deformation groß. Bei einachsiger Zugbelastung von metallischen St¨aben ohne makroskopischen Anriss treten dabei inelastische Dehnungen von mehr als 10% auf. Bei K¨orpern mit einem Anriss sind diese Dehnungen h¨aufig auf die Umgebung der Rissspitze bzw. die Umgebung der Bruchoberfl¨ache konzentriert. Der zugeh¨orige mikroskopische Versagensmechanismus bei metallischen Werkstoffen ist plastisches Fließen mit Hohlraumbildung und -vereinigung. Von einem Spr¨odbruch spricht man, wenn makroskopisch nur kleine inelastische Deformationen auftreten (= verformungsarmer Bruch) oder diese Null sind (= verformungsloser Bruch). In diesem Fall sind an zugbelasteten St¨aben ohne Anriss plastische Dehnungen von <2...10% zu beobachten. Bei Bauteilen mit Anriss sind diese Dehnungen auf einen kleinen Bereich in unmittelbarer Umgebung der Rissspitze bzw. auf die unmittelbare Umgebung der Bruchoberfl¨ache beschr¨ankt. Der mikroskopische Versagensmechanismus bei Metallen ist dabei entweder eingeschr¨anktes plastisches Fließen mit Hohlraumbildung oder der Spaltbruch. Einen Bruch, der durch Rissfortpflanzung unter zyklischer Belastung zustande kommt, nennt man Erm¨udungsbruch oder Schwingbruch. Ein Bruch infolge Kriechrisswachstum ist ein Kriechbruch.
Bild 3.7 Trennbruch mit Scherlippen Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die Orientierung der Bruchfl¨ache (vgl. Abschnitt 2.2.6). Beim normalfl¨achigen Bruch oder Trennbruch liegt die Bruchfl¨ache senkrecht zur gr¨oßten Hauptnormalspannung (Zug). Von einem scherfl¨achigen Bruch spricht man, wenn die Bruchfl¨ache mit einem Schnitt großer Schubspannung zusammenf¨allt. Beide Arten k¨onnen auch kombiniert auftreten. Typisches Beispiel hierf¨ ur ist ein Trennbruch mit sogenannten Scherlippen (Bild 3.7).
Makroskopische Aspekte
59
Die Art des Bruchverhaltens ist stark von verschiedenen Faktoren, wie Temperatur, Spannungszustand oder Beanspruchungsgeschwindigkeit abh¨angig. So verhalten sich zum Beispiel viele Werkstoffe bei hinreichend niedrigen Tempera¨ turen spr¨od, dagegen oberhalb einer Ubergangstemperatur duktil. Auch kann je nach Spannungszustand das plastische Fließen mehr oder weniger stark behindert sein. Abh¨angig davon neigt ein Bruch eher zu spr¨odem oder zu duktilem Verhalten. Die Orientierung der Bruchfl¨ache wird gleichfalls dadurch beeinflußt. So ist das Auftreten der erw¨ahnten Scherlippen darauf zur¨ uckzuf¨ uhren, dass in ihrem Bereich (Rand) vor dem Bruch ein Spannungszustand (dem ESZ nahekommend) vorlag, der das plastische Fließen wenig behindert. Eine charakteristische Gr¨oße bei Bruch kann die Arbeit der Bindungskr¨afte bei der Schaffung einer Bruchoberfl¨ache sein. Das trifft insbesondere dann zu, wenn die zum Bruchvorgang geh¨origen Prozesse der Bindungsl¨osung (z.B. Lochbildung mit großen mikroplastischen Deformationen) auf die unmittelbare Umgebung der makroskopischen Bruchfl¨ache beschr¨ankt sind. Diese Fl¨ache ist aufgrund der mikroskopischen “Zerkl¨ uftung” kleiner als die wahre Bruchoberfl¨ache. Es bietet sich dann an, in Analogie zur Oberfl¨achenenergie eine effektive Bruchfl¨achenenergie Γ einzuf¨ uhren: Γ = γA . (3.8) Darin sind γ die spezifische Bruchfl¨achenenergie und A die makroskopische Bruchfl¨ache.
3.3
Literatur
Anderson, T.L. (1995). Fracture Mechanics; Fundamentals and Application. CRC Press, Boca Raton Blumenauer, H., Pusch, G. (1993). Technische Bruchmechanik. DVG, Leipzig Broberg, K.B. (1999). Cracks and Fracture. Academic Press, London Gittus, J. (1975). Creep, Viscoelasticity and Creep Fracture in Solids. Applied Science Publishers, London Hellan, K. (1985). Introduction to Fracture Mechanics. McGraw-Hill, New York Herzberg, R.W. (1976). Deformation and Fracture Mechanics of Engineering Materials. John Wiley & Sons, New York Knott, J.F. (1973). Fundamentals of Fracture Mechanics. Butterworth, London Lawn, B. (1993). Fracture of Brittle Solids. Cambridge University Press, Cambridge
60
Ursachen und Erscheinungsformen des Bruchs
Liebowitz, H. (ed.) (1968). Fracture – A Treatise, Vol. 1. Academic Press, London Riedel, H. (1987). Fracture at High Temperature. Springer, Berlin Schwalbe, K.H. (1980). Bruchmechanik metallischer Werkstoffe. Hanser, M¨ unchen Suresh, S. (1991). Fatigue of Materials. Cambridge University Press, Cambridge Yang, W. and Lee, W.B. (1993). Mesoplasticity and its Applications. Springer, Berlin
4 Lineare Bruchmechanik
4.1
Allgemeines
Wir wenden uns nun der Beschreibung des Verhaltens eines Risses zu. Aus makroskopischer, kontinuumsmechanischer Sicht fassen wir diesen als einen Schnitt in einem K¨orper auf. Seine einander gegen¨ uberliegenden Berandungen sind die Rissoberfl¨achen; man nennt sie auch Rissflanken oder Rissufer (Bild 4.1). Sie sind in der Regel belastungsfrei. Der Riss endet an der Rissfront bzw. an der Rissspitze. Hinsichtlich der Deformation eines Risses unterscheidet man drei verschiedene Riss¨offnungsarten, die in Bild 4.2 dargestellt sind. Modus I kennzeichnet eine zur x, z-Ebene symmetrische Riss¨offnung. Bei Modus II tritt eine antisymmetrische Separation der Rissoberfl¨achen durch Relativverschiebungen in x-Richtung (normal zur Rissfront) auf. Schließlich beschreibt Modus III eine Separation infolge Relativverschiebungen in z-Richtung (tangential zur Rissfront). Die mit den verschiedenen Riss¨offnungsarten zusammenh¨angenden Symmetrien sind zun¨achst nur lokal, d.h. f¨ ur die Umgebung der Rissspitze, definiert. In bestimmten F¨allen k¨onnen sie jedoch auch f¨ ur einen gesamten K¨orper zutreffen.
Rissober߬achen
Rissfront
Bild 4.1 Bezeichnungen Eine wichtige Rolle f¨ ur die kontinuumsmechanische Beschreibung spielt die Gr¨oße der Prozesszone. Hierunter versteht man die Region in der Umgebung einer Rissfront (Risspitze), in welcher der mikroskopisch recht komplexe Prozess der Bindungsl¨osung stattfindet, der mit den Mitteln der klassischen Kontinuumsmechanik in der Regel nicht beschrieben werden kann. Soll die Kontinuumsmechanik auf den gesamten rissbehafteten K¨orper angewendet werden, muss demnach vorausgesetzt werden, dass die Ausdehnung der Prozesszone vernachl¨assigbar klein ist im Vergleich zu allen charakteristischen makroskopischen Abmes-
62
Lineare Bruchmechanik
sungen des K¨orpers. Eine solche Lokalisierung des Bruchprozesses ist in sehr vielen F¨allen gegeben. Sie ist zum Beispiel typisch f¨ ur metallische Werkstoffe und die meisten spr¨oden Materialien. Allerdings tritt sie nicht in allen F¨allen ein. So kann die Prozesszone bei Beton oder bei granularen Materialien eine erhebliche Gr¨oße haben und unter Umst¨anden sogar den gesamten K¨orper umfassen.
Modus I
Modus III
Modus II
y
y
y x
x
x
z
z
z
Bild 4.2 Riss¨offnungsarten In der linearen Bruchmechanik wird ein rissbehafteter K¨orper im gesamten Gebiet als linear elastisch angesehen. Etwaige inelastische Vorg¨ange innerhalb oder außerhalb der Prozesszone um die Rissspitze m¨ ussen deshalb auf eine kleine Region beschr¨ankt sein, die aus makroskopischer Sicht vernachl¨assigt werden kann. Dementsprechend ist die lineare Bruchmechanik in erster Linie zur Beschreibung des Spr¨odbruchs geeignet (vgl. Abschnitt 3.2.2). Eine fundamentale Bedeutung kommt dem Rissspitzenfeld , d.h. den Spannungen und Deformationen in der Umgebung einer Rissspitze zu. Obwohl dieses Feld, wie schon erw¨ahnt, nicht direkt den Zustand in der Prozesszone beschreibt, bestimmt es doch indirekt die Vorg¨ange, welche in ihr ablaufen. Im nachfolgenden wird das Rissspitzenfeld f¨ ur den Fall eines isotropen linear elastischen Materials unter statischer Belastung n¨aher untersucht.
4.2 4.2.1
Das Rissspitzenfeld Zweidimensionale Rissspitzenfelder
Wir betrachten das zweidimensionale Problem eines K¨orpers, der einen geraden Riss enth¨alt. Dabei interessieren wir uns nur f¨ ur das Feld innerhalb einer kleinen Umgebung vom Radius R um eine Rissspitze (Bild 4.3). Es ist zweckm¨aßig, hierzu die dargestellten Koordinaten mit dem Ursprung in der Rissspitze einzuf¨ uhren.
63
Rissspitzenfeld
y
r ϕ x R
Bild 4.3 Umgebung der Rissspitze Longitudinaler Schub, Modus III Das einfachste ebene Problem ist das des longitudinalen (nichtebenen) Schubspannungszustandes. Hierbei treten nur Verschiebungen w senkrecht zur x, yEbene auf, was zu einer Modus III Riss¨offnung f¨ uhren kann. Das Rissspitzenfeld l¨asst sich in diesem Fall unter Verwendung einer komplexen Funktion Ω(z) ermitteln (vgl. Abschnitt 1.5.2). Als Ansatz f¨ ur die L¨osung w¨ahlen wir Ω(z) = Az λ ,
(4.1)
worin A eine noch freie, im allgemeinen komplexe Konstante ist. Den ebenfalls unbekannten Exponenten λ nehmen wir als reell an. Damit die Verschiebung an der Rissspitze nichtsingul¨ar ist, wird außerdem λ > 0 vorausgesetzt; hiermit ist dann auch die Form¨anderungsenergie beschr¨ankt. Den Sonderfall λ = 0 klammern wir zun¨achst aus; er entspricht nach (1.121) einer spannungsfreien Starrk¨orperverschiebung. Aus (4.1) errechnet sich nach (1.121) mit z = reiϕ 2iτyz = Ω (z) − Ω (z) = Aλr λ−1 e−i(λ−1)ϕ − Aλr λ−1 ei(λ−1)ϕ . Die Randbedingungen verlangen, dass die Rissufer (ϕ = ±π) belastungsfrei sind: τyz (±π) = 0. Dies f¨ uhrt auf das homogene Gleichungssystem Ae−iλπ −Aeiλπ iλπ
Ae
−iλπ
−Ae
=0,
(4.2)
=0.
Eine nichttriviale L¨osung existiert, wenn seine Koeffizientendeterminante verschwindet. Die “Eigenwerte” λ ergeben sich danach wie folgt: sin 2λπ = 0
→
λ = n/2
n = 1, 2, 3, . . . .
(4.3)
Einsetzen dieses Resultats in eine Gleichung aus (4.2) liefert schließlich A = (−1)n A.
64
Lineare Bruchmechanik
Zu jedem der unendlich vielen Eigenwerte λ geh¨ort eine Eigenfunktion vom Typ (4.1), welche die Randbedingungen erf¨ ullt. Die Eigenfunktionen k¨onnen beliebig superponiert werden: Ω = A1 z 1/2 + A2 z + A3 z 3/2 + . . . .
(4.4)
Dementsprechend lassen sich die Spannungen ταz mit α = x, y und die Verschiebung w in folgender Form darstellen: ταz = r −1/2 τˆαz (ϕ) + (1)
w − w0 = r
1/2
(1)
wˆ (ϕ)
(2)
(3)
τˆαz (ϕ) + r 1/2 τˆαz (ϕ) (2)
+ r wˆ (ϕ) + r
3/2
(3)
+... ,
(4.5)
wˆ (ϕ) + . . . .
(1)
Hierin sind τˆαz (ϕ), wˆ (1) (ϕ), . . . Funktionen vom Winkel ϕ, die bis auf jeweils einen Faktor festgelegt sind. Durch w0 soll eine m¨ogliche Starrk¨orperverschiebung erfasst werden. N¨ahert man sich der Rissspitze (r → 0), dann kann das Feld alleine durch den dominierenden ersten Term in (4.4) bzw. in (4.5) beschrieben werden; er geh¨ort zum kleinsten Eigenwert λ = 1/2. Die zugeordneten Spannungen und Verschiebungen sind durch τxz − sin (ϕ/2) 2KIII r KIII , w= =√ sin (ϕ/2) (4.6) G 2π 2πr cos (ϕ/2) τyz gegeben. Danach haben die Spannungen an der Rissspitze eine Singularit¨at vom Typ r −1/2 . Das singul¨are Rissspitzenfeld ist durch (4.6) bis auf den Faktor KIII festgelegt. Dieser wird als Spannungsintensit¨atsfaktor oder kurz als K-Faktor bezeichnet, wobei der Index auf die Modus III Riss¨offnung hindeutet. Man kann KIII als Maß f¨ ur die “St¨arke” des Rissspitzenfeldes ansehen, welches letztlich durch ihn vollst¨andig charakterisiert wird. Umgekehrt l¨asst sich KIII aus (4.6) bestimmen, wenn in der Umgebung der Rissspitze die Spannungen oder Verschiebungen bekannt sind. Nach (4.6) gilt zum Beispiel √ KIII = lim 2πr τyz (ϕ = 0) . (4.7) r→0
Wie die Spannungen und Verschiebungen h¨angt die Gr¨oße des K-Faktors von der geometrischen Form des K¨orpers und von seiner Belastung ab. Der zweite Term in (4.5) geh¨ort zum Eigenwert λ = 1. Er f¨ uhrt auf die nichtsingul¨aren Spannungen und Verschiebungen (2) τxz τ τ (4.8) , w (2) = T r cos ϕ = T x , = τT G G τyz wobei τT eine noch unbestimmte konstante Schubspannung ist. Dieser Beitrag zum gesamten Feld ist unmittelbar an der Rissspitze von untergeordneter Bedeutung. In einiger Entfernung von der Rissspitze kann er jedoch nicht vernachl¨assigt werden.
65
Rissspitzenfeld
EVZ und ESZ, Modus I und Modus II F¨ ur den ebenen Verzerrungszustand (EVZ) und den ebenen Spannungszustand (ESZ) bestimmen wir das Rissspitzenfeld unter Verwendung der zwei komplexen Funktionen Φ(z) und Ψ(z) (vgl. Abschnitt 1.5.2). Die Vorgehensweise ist dabei analog zum longitudinalen Schub. Als L¨osungsansatz findet Φ(z) = Az λ ,
Ψ(z) = Bz λ
(4.9)
Verwendung, wobei der Exponent λ wieder als reell und positiv angenommen wird. Aus (4.9) bestimmen wir nach (1.120) zun¨achst σϕ + iτrϕ = Φ (z) + Φ (z) + zΦ (z) + Ψ (z)z/z = Aλr λ−1 ei(λ−1)ϕ + Aλr λ−1 e−i(λ−1)ϕ +Aλ(λ − 1)r
λ−1 i(λ−1)ϕ
e
+ Bλr
(4.10)
λ−1 i(λ+1)ϕ
e
.
Entlang der Rissufer ϕ = ±π m¨ ussen die Randbedingungen σϕ + iτrϕ = 0 erf¨ ullt sein. Sie liefern unter Beachtung von e−iπ = eiπ = −1 das homogene Gleichungssystem Aλe−iλπ +Aeiλπ +Beiλπ =0, Aλeiλπ
+Ae−iλπ
−iλπ
iλπ
+Be−iλπ
=0, −iλπ
Ae
+Aλe
+Be
=0,
Aeiλπ
+Aλe−iλπ
+Beiλπ
=0.
(4.11)
Die letzten beiden Gleichungen sind dabei das konjugiert Komplexe der ersten beiden. Durch Nullsetzen der Koeffizientendeterminante erh¨alt man eine Eigenwertgleichung, die auf die gleichen Eigenwerte wie beim longitudinalen Schubspannungszustand f¨ uhrt: cos 4λπ = 1
→
λ = n/2
n = 1, 2, 3, . . . .
(4.12)
Setzt man dies in eine Gleichung aus (4.11) ein, dann ergibt sich noch B = −(−1)n nA/2 − A. Die Spannungen σij und Verschiebungen ui mit i, j = x, y k¨onnen wieder als Summe der zu den Eigenwerten geh¨origen Eigenfunktionen dargestellt werden: σij = r −1/2 σ ˆij (ϕ) + (1)
(1)
ui − ui0 = r 1/2 uˆi (ϕ)
(2)
(3)
(2)
(3)
σ ˆij (ϕ) + r 1/2 σ ˆij (ϕ) + . . . ,
+ rˆ ui (ϕ) + r 3/2 uˆi (ϕ) + . . . .
(4.13)
ur r → 0 dominiert Darin beschreibt ui0 eine m¨ogliche Starrk¨orperverschiebung. F¨ der erste, in den Spannungen singul¨are Term. Es ist zweckm¨aßig das zugeordnete Feld in einen symmetrischen und in einen antisymmetrischen Anteil bez¨ uglich der x-Achse aufzuspalten. Das symmetrische singul¨are Feld entspricht einer Modus I
66
Lineare Bruchmechanik
Riss¨offnung, w¨ahrend das antisymmetrische Feld zu einer Modus II Riss¨offnung f¨ uhrt. Die entsprechenden Rissspitzenfelder (Nahfelder) lassen sich in der folgenden Form darstellen: Modus I: ⎧ ⎫ ⎧ ⎫ σ 1 − sin (ϕ/2) sin (3ϕ/2) ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ x ⎪ ⎬ ⎨ ⎬ KI = √ cos (ϕ/2) 1 + sin (ϕ/2) sin (3ϕ/2) , σy ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ 2πr ⎩ ⎭ ⎩ ⎭ sin (ϕ/2) cos (3ϕ/2) τxy u cos (ϕ/2) KI r = , (κ − cos ϕ) 2G 2π v sin (ϕ/2) Modus II: ⎧ ⎫ ⎧ ⎫ σ − sin (ϕ/2)[2 + cos (ϕ/2) cos (3ϕ/2)] ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ x ⎪ ⎬ ⎨ ⎬ KII sin (ϕ/2) cos (ϕ/2) cos (3ϕ/2) σy , = √ ⎪ ⎪ ⎪ 2πr ⎪ ⎩ ⎭ ⎩ ⎭ cos (ϕ/2)[1 − sin (ϕ/2) sin (3ϕ/2)] τxy u sin (ϕ/2)[κ + 2 + cos ϕ] KII r = . 2G 2π cos (ϕ/2)[κ − 2 + cos ϕ] v
(4.14)
(4.15)
Dabei gilt EVZ : ESZ :
κ = 3 − 4ν , κ = (3 − ν)/(1 + ν) ,
σz = ν(σx + σy ) , σz = 0 .
(4.16)
Danach liegt die Verteilung der Spannungen und Deformationen in der Umgebung der Rissspitze eindeutig fest. Sie wird exemplarisch f¨ ur den Modus I in Abschnitt 4.2.2 diskutiert. Die “St¨arke” (Amplitude) des Rissspitzenfeldes wird durch die Spannungsintensit¨atsfaktoren KI und KII bestimmt. Diese h¨angen von der Geometrie des K¨orpers (einschließlich Riss) und von seiner Belastung ab. Sie lassen sich aus den Spannungen oder Deformationen ermitteln, sofern diese bekannt sind. Nach (4.14) und (4.15) gelten zum Beispiel die Beziehungen √ √ KI = lim 2πr σy (ϕ = 0) , KII = lim 2πr τxy (ϕ = 0) . (4.17) r→0
r→0
F¨ ur gr¨oßere Abst¨ande r von der Rissspitze kann der zweite Term in (4.13), der zum Eigenwert λ = 1 geh¨ort, nicht vernachl¨assigt werden. Die zugeh¨origen nichtsingul¨aren Spannungen und Verschiebungen lauten ⎧ ⎫(2) ⎧ σ σ ⎪ ⎪ ⎨ x ⎪ ⎨ T ⎬ σy 0 = ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ ⎩ ⎭ 0 τxy
⎫ ⎪ ⎬ ⎪ ⎭
,
u v
(2)
σ = T 8G
(κ + 1) x (κ − 3) y
,
(4.18)
67
Rissspitzenfeld
wobei σT eine noch unbestimmte konstante Spannung ist. Da sie transversal (l¨angs zum Riss) wirkt, nennt man sie kurz T-Spannung. Aus (4.18) erkennt man, dass dieser Anteil des Feldes symmetrisch zur x-Achse ist und nur zur Modus-I Riss¨offnung beitr¨agt. Die T-Spannung spielt eine wichtige Rolle wenn KI Null oder hinreichend klein ist. Sie repr¨asentiert dann den dominanten Teil des Modus-I Feldes. Das Feld in der Umgebung einer Rissspitze eines geraden Risses mit lastfreien Rissflanken wird nach (4.5) und (4.13) aus einer Summe von Eigenfunktionen gebildet. Von ihnen dominiert der singul¨are erste Term (= Nahfeld), wenn man sich der Rissspitze n¨ahert (r → 0); f¨ ur einen hinreichend großen Abstand r d¨ urfen die h¨oheren Terme allerdings nicht vernachl¨assigt werden. Es l¨asst sich zeigen, dass das Nahfeld von der gleichen Form (4.6), bzw. (4.14), (4.15) ist, wenn die Rissufer belastet sind (Bild 4.4a) oder wenn Volumenkr¨afte auftreten. Dies trifft auch auf einen Riss zu, der im Bereich der Rissspitze gekr¨ ummt ist (Bild 4.4b).
y
r ϕ x
a)
b)
Bild 4.4 a) Rissuferbelastung, b) gekr¨ ummter Riss ur eine Rissspitze. Singul¨are Spannungen Die r −1/2 –Singularit¨at ist typisch f¨ mit einem eventuell anderem Typ der Singularit¨at k¨onnen aber auch bei vielen anderen Problemen der linearen Elastizit¨at auftreten. Als Beispiel sei hier nur eine “riss¨ahnliche” Spitzkerbe betrachtet, deren Flanken einen Winkel 2α bilden (Bild 4.5a). Der Ansatz (4.9) f¨ uhrt mit (4.11) und den Randbedingungen (σϕ + iτrϕ )ϕ=±α = 0 wieder auf ein homogenes Gleichungssystem. Dieses unterscheidet sich von (4.11) nur dadurch, dass an Stelle des Winkels π nun der Winkel α auftritt. Durch Nullsetzen der Koeffizientendeterminante erh¨alt man die Eigenwertgleichung sin 2λα = ±λ sin 2α . (4.19) In Bild 4.5b ist der daraus resultierende kleinste Eigenwert dargestellt. Im Fall 2α ≤ π ist λ = 1; aus (4.9) folgen dann keine Spannungssingularit¨aten (vgl. auch (4.11)). F¨ ur die “einspringende Ecke” π < 2α < 2π liegt λ im Bereich 1/2 < λ < 1, und im Grenzfall 2α = 2π (Riss) ergibt sich das schon bekannte Ergebnis λ = 1/2. Hierzu geh¨oren dann entsprechend (4.9) Spannungssingularit¨aten vom Typ σij ∼ r λ−1 . Auf die Angabe h¨oherer Eigenwerte und der Eigenfunktionen sei hier verzichtet.
68
Lineare Bruchmechanik
λ y
r α
1
ϕ 1/2
x α
π/2
α
π
b)
a)
Bild 4.5 a) Spitzkerbe, b) kleinster Eigenwert 4.2.2
Modus I Rissspitzenfeld
Das Modus I Rissspitzenfeld kann durch die Beziehungen (4.13) beschrieben werden. Danach sind die Spannungen σij (und entsprechend dem Hookeschen Gesetz auch die Verzerrungen εij ) singul¨ar vom Typ r −1/2 , d.h. sie wachsen mit r → 0 unbeschr¨ankt an. Als Beispiel hierf¨ ur ist in Bild 4.6a der Verlauf von σy vor der Rissspitze (ϕ = 0) schematisch dargestellt. Die Verschiebungen zeigen ein r 1/2 Verhalten. Dieses f¨ uhrt entlang der Rissflanken (ϕ = ±π) f¨ ur positives KI zu einer parabelf¨ormigen Riss¨offnung (Bild 4.6a): r KI v ± = v(±π) = ± (κ + 1) . (4.20) 2G 2π ¨ Ist KI negativ, dann kommt es nach (4.14) formal zu einer “Uberlappung” (Durchdringung) der Rissufer. Physikalisch ist dies nicht m¨oglich. Vielmehr sind beim Rissschließen die beiden Rissufer in Kontakt und u ¨ ben Kr¨afte aufeinander aus. Manchmal ist es zweckm¨aßig, das Nahfeld nicht durch seine kartesischen Komponenten (4.14) sondern durch ¨aquivalente oder abgeleitete Gr¨oßen zu beschrei-
σij σϕ (0)
a)
r
π/2
π ϕ
ϕ
σϕ 1/2
v+ v−
σr 1
σy
τrϕ
σϕ
τrϕ
x, r b)
Bild 4.6 Modus I Rissspitzenfeld
σr
69
Rissspitzenfeld
ben. So erh¨alt man zum Beispiel durch Korrdinatentransformation die Spannungskomponenten in Polarkoordinaten (vgl. 1.114)): ⎫ ⎧ ⎧ ⎫ σ 5 cos (ϕ/2) − cos (3ϕ/2) ⎪ ⎪ ⎪ ⎬ ⎨ r ⎪ ⎨ ⎬ KI 3 cos (ϕ/2) + cos (3ϕ/2) . σϕ = √ ⎪ ⎪ ⎪ ⎭ ⎩ ⎩ ⎭ 4 2πr ⎪ sin (ϕ/2) + sin (3ϕ/2) τrϕ
(4.21)
Ihre Winkelabh¨angigkeit ist in Bild 4.6b dargestellt. Die Hauptspannungen in der x, y-Ebene und die Hauptrichtungen – hier mit α bezeichnet – errechnen sich aus (1.114) zu σ1 1 + sin (ϕ/2) π 3 KI , α=± + ϕ. =√ cos (ϕ/2) (4.22) 4 4 2πr 1 − sin (ϕ/2) σ2 Die dritte Hauptspannung ist durch σz gegeben; sie ist nach (4.16) im EVZ und im ESZ unterschiedlich: KI σ3 = 2ν √ cos (ϕ/2) (EVZ) , 2πr
σ3 = 0 (ESZ) .
(4.23)
Danach ist σ1 die gr¨oßte Hauptspannung, die kleinste kann je nach Spannungszustand und Winkel ϕ entweder σ3 oder σ2 sein. Mit den Hauptspannungen l¨asst sich unmittelbar die maximale Schubspannung bestimmen. Aus τmax = (σmax − σmin )/2 ergibt sich ESZ:
τmax = σ1 /2
EVZ: τmax =
4.2.3
(σ1 − σ2 )/2
fu ¨r
sin (ϕ/2) ≥ 1 − 2ν ,
(σ1 − σ3 )/2
fu ¨r
sin (ϕ/2) ≤ 1 − 2ν .
(4.24)
Dreidimensionales Rissspitzenfeld
In verschiedenen F¨allen muß der dreidimensionale Charakter eines Rissproblems beachtet werden. Dies ist im allgemeinen der Fall, wenn die Rissfront gekr¨ ummt ist. Beispiele hierf¨ ur sind ein pfennigf¨ormiger Innenriss oder ein halbelliptischer Oberfl¨achenriss (Bild 4.7a). Aber auch bei einem Riss mit gerader Rissfront in einer ebenen Scheibe mit endlicher Dicke hat man es genaugenommen mit einem r¨aumlichen Problem zu tun: der Spannungszustand ¨andert sich im Rissfrontbereich u ¨ber die Dicke. Es l¨asst sich zeigen, dass im dreidimensionalen Fall das Rissspitzenfeld lokal vom gleichen Typ ist, wie bei ebenen Problem. Es setzt sich im allgemeinen aus den Nahfeldern der drei Moden zusammen, wobei hinsichtlich der Deformationen beim Modus I- und beim Modus II-Anteil vom EVZ auszugehen ist. Legt man in
70
Lineare Bruchmechanik
einen beliebigen Punkt P der Rissfront ein lokales Koordinatensystem nach Bild 4.7b, dann gilt f¨ ur r → 0 σij = √
1 [KI σ ˜ijI (ϕ) + KII σ˜ijII (ϕ) + KIII σ ˜ijIII (ϕ)] . 2πr
(4.25)
Darin sind σ ˜ijI (ϕ), . . . Winkelfunktionen, die durch (4.14), (4.15) und (4.6) festgelegt sind. Das Feld in der Umgebung der Rissfront wird danach durch die Spannungsintensit¨atsfaktoren KI , KII , KIII vollst¨andig charakterisiert. Letztere k¨onnen sich entlang der Rissfront ¨andern: KI = KI (s), . . .. Rissfront
y s rϕ P
A
z
x
b)
a)
Bild 4.7 Zum dreidimensionalen Rissspitzenfeld Die Darstellung (4.25) gilt entlang der Rissfront mit Ausnahme einiger besonderer (singul¨arer) Punkte. Zu ihnen z¨ahlen zum Beispiel ein Knickpunkt in der Rissfront oder ein Punkt, in dem eine Rissfront auf eine freie Oberfl¨ache trifft (vgl. Punkt A in Bild 4.7a). Dort k¨onnen dann Spannungssingularit¨aten auftreten, die nicht vom Typ r−1/2 sind.
4.3
K-Konzept
Wir beschr¨anken uns bei den folgenden Betrachtungen zun¨achst auf den f¨ ur die Anwendungen wichtigsten Fall einer reinen Modus I Riss¨offnung. Das zugeh¨orige Rissspitzenfeld ist, wie schon erw¨ahnt, durch den Spannungsintensit¨atsfaktor KI eindeutig charakterisiert. Dieses KI -bestimmte Feld dominiert in einem nach außen begrenzten Bereich um die Rissspitze, der in Bild 4.8 schematisch durch den Radius R gekennzeichnet ist. Außerhalb von R k¨onnen die h¨oheren Terme nicht vernachl¨assigt werden.
plastische Zone
KI –bestimmtes Feld
r rp ρ R
Bild 4.8 K-Konzept
71
K-Konzept
Die G¨ ultigkeit des KI -bestimmten Feldes ist aber auch nach innen begrenzt, weil die lineare Elastizit¨atstheorie unterhalb einer bestimmten Schranke von r die tats¨achlichen Gegebenheiten nicht mehr richtig beschreibt. Dies schon alleine deshalb, weil kein reales Material unbeschr¨ankt große Spannungen ertr¨agt. Die formal auftretenden singul¨aren Verzerrungen widersprechen zudem den Voraussetzungen der linearen Elastizit¨at (kleine Verzerrungen). Bei den meisten realen Materialien kommt es vielmehr aufgrund der zur Rissspitze hin stark ansteigenden Spannungen zu plastischem Fließen oder allgemeiner, zu inelastischen Deformationen. Außerdem befindet sich an der Rissspitze die kleine, aber immerhin endliche Prozesszone. Ihre charakteristische Abmessung ist in Bild 4.8 mit ρ, diejenige der plastischen Zone mit rp bezeichnet. Wir setzen nun voraus, dass das KI -bestimmte Gebiet groß ist im Vergleich zur eingeschlossenen Region (= black box), welche nicht durch das Nahfeld beschrieben wird (ρ, rp R). Dann kann man davon ausgehen, dass die in ihr ablaufenden Vorg¨ange alleine durch das umgebende KI -bestimmte Feld gesteuert werden. Dies ist die Hypothese, die dem K-Konzept zugrunde liegt: der Zustand in der Prozesszone bzw. an der Rissspitze kann indirekt durch KI charakterisiert werden. Der Spannungsintensit¨atsfaktor wird, ¨ahnlich wie die Spannungen selbst, als eine Zustandsgr¨oße angesehen, die ein Maß f¨ ur die “Belastung” im Rissspitzenbereich ist. Mit dem Spannungsintensit¨atsfaktor steht damit eine Gr¨oße zur Verf¨ ugung, welche die Formulierung eines Bruchkriteriums erlaubt. Danach kommt es zum Einsetzen des Rissfortschrittes (Bruch), wenn der Spannungsintensit¨atsfaktor KI eine materialspezifische kritische Gr¨oße KIc erreicht: KI = KIc .
(4.26)
Unter diesen Umst¨anden liegt in der Prozesszone ein kritischer Zustand vor, welcher zur Separation f¨ uhrt. Dabei haben wir stillschweigend angenommen, dass der Prozesszonenzustand allein durch die aktuelle Gr¨oße von KI bestimmt ist und nicht etwa von der Belastungsgeschichte der Rissspitze abh¨angt. Die Gr¨oße KIc auf der rechten Seite von (4.26) nennt man Bruchz¨ahigkeit. Sie ist ein Materialkennwert, der in geeigneten Experimenten bestimmt wird (vgl. Abschnitt 4.5). Entsprechend (4.21) hat ein K-Faktor die Dimension [Spannung]·[L¨ange]1/2 ; er wird in Vielfachen der Einheit Nmm−3/2 bzw. MP a mm1/2 angegeben. Die Verwendung von Spannungsintensit¨atsfaktoren in einem Bruchkriterium geht auf G.R. Irwin (1951) zur¨ uck. Im Kriterium (4.26) f¨ ur reinen Modus I wird die Beanspruchung der Rissspitze alleine durch KI charakterisiert. Entsprechende 1-parametrige Bruchkriterien lassen sich auch f¨ ur reinen Modus II bzw. f¨ ur reinen Modus III aufstellen: KII = KIIc
(Modus II) ,
KIII = KIIIc
(Modus III) .
(4.27)
Im Fall einer gemischten Beanspruchung durch KI , KII und KIII muss dagegen
72
Lineare Bruchmechanik
von einem allgemeinen Bruchkriterium f (KI , KII , KIII ) = 0
(4.28)
ausgegangen werden (siehe Abschnitt 4.9).
4.4
K-Faktoren
Es gibt sehr viele Methoden zur Bestimmung von K-Faktoren. Da letztere direkt mit den Feldgr¨oßen zusammenh¨angen, sind grunds¨atzlich alle Verfahren anwendbar, welche in der linearen Elastizit¨at zur Bestimmung der Spannungen und Deformationen existieren. Manchmal ist es allerdings notwendig, sie auf die Besonderheit von Rissproblemen (Spannungssingularit¨aten) zuzuschneiden. Analytische Methoden werden haupts¨achlich verwendet, wenn man an L¨osungen in geschlossener Form interessiert ist. Diese sind allerdings nur bei relativ einfachen Randwertproblemen zu erzielen. Bei komplizierteren Problemen ist man auf numerische Methoden angewiesen. Hierbei werden zum Beispiel Finite Elemente Verfahren, Randelementverfahren oder Differenzenverfahren verwendet. Daneben k¨onnen auch experimentelle Methoden, wie Dehnungsmessungen im Rissspitzenbereich oder die Spannungsoptik herangezogen werden. Eine sachgerechte Behandlung aller Verfahren w¨ urde den Rahmen dieses Buches sprengen. Diesbez¨ uglich sei der Leser auf die Spezialliteratur verwiesen. Im folgenden werden nur einige L¨osungen f¨ ur ausgew¨ahlte Risskonfigurationen und Belastungen diskutiert. Anschließend wird beispielhaft auf eine Integralgleichungsformulierung von Rissproblemen, auf die Methode der Gewichtsfunktionen sowie auf ein Verfahren zur Untersuchung von vielen Rissen eingegangen. 4.4.1
Beispiele
Als einfachsten Fall betrachten wir zuerst einen geraden Riss R der L¨ange 2a in einer unendlich ausgedehnten Ebene unter einachsigem Zug σ (Bild 4.9a). Hier und bei vielen anderen Rissproblemen ist es zweckm¨aßig, die L¨osung durch Superposition zweier Teill¨osungen zu erzeugen. Teilproblem (1) betrifft die elastische Ebene ohne Riss unter der gegebenen Belastung σ. Entlang des gedachten Schnittes R (1) tritt dabei die Spannung σy |R = σ auf. Beim Teilproblem (2) wird die elastische Ebene mit Riss alleine entlang der Rissufer durch genau diese Spannung, (2) allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, belastet: σy |R = −σ. Die Randbedingung des Ausgangsproblems (belastungsfreie Rissufer) ist nach Superposition der (1) (2) Teill¨osungen erf¨ ullt: σy |R = σy |R + σy |R = 0. Beim Teilproblem (1) ist kein Riss und dementsprechend auch kein Spannungsintensit¨atsfaktor vorhanden. Dies bedeutet, dass die K-Faktoren des Ausgangsproblems und des Teilproblems (2) u ¨bereinstimmen.
73
K-Faktoren
σ
σ (1)
y x −a
+a
x
= R
R
σ
a)
(2)
y
y
x +a
+ −a σ
σ σy = σx
y
A v
−a −a b)
σ
−σ
+a
u A
x +a
x c)
Bild 4.9 Einzelriss unter Belastung σ Unter Verwendung der komplexen Methode lassen sich die L¨osungen der Teilprobleme und des Ausgangsproblems folgendermaßen darstellen: √ Φ = Φ(1) + Φ(2) , Φ(1) (z) = 14 σz , Φ(2) (z) = 12 σ[ z 2 − a2 − z] , √ Ψ = Ψ(1) + Ψ(2) , Ψ(1) (z) = 12 σz , Ψ(2) (z) = − 12 σa2 / z 2 − a2 .
(4.29)
F¨ ur das Teilproblem (2) erh¨alt man daraus zum Beispiel f¨ ur die Spannungen entlang der x-Achse (Bild 4.9b)
(2) τxy =0,
σy(2) = σx(2) = σ
⎧ ⎨ −1
|x| < a
x ⎩ √ −1 2 x − a2
|x| > a .
(4.30)
Die Verschiebungen des oberen (+) und des unteren (−) Rissufers (|x| ≤ a) ergeben sich zu (Bild 4.9c) 4Gu± = −(1 + κ)σx ,
√ 4Gv ± = ±(1 + κ)σ a2 − x2 .
(4.31)
Den Spannungsintensit¨atsfaktor kann man direkt aus dem komplexen Potential Φ ermitteln. Hierzu betrachten wir zun¨achst eine Rissspitze, die sich an einer beliebigen Stelle z0 befindet. Nach den Kolosovschen Formeln in Verbindung mit
74
Lineare Bruchmechanik
(4.14), (4.15) gilt allgemein f¨ ur r → 0 bzw. z → z0 2Φ (z) + 2Φ (z) = σx + σy = 2(2πr)−1/2 [KI cos (ϕ/2) − KII sin (ϕ/2)] = (2πr)−1/2 [(KI − iKII )e−iϕ/2 + (KI − iKII )e−iϕ/2 ] . Mit reiϕ = z − z0 ergibt sich hieraus die Darstellung 2Φ (z) = (KI − iKII )[2π(z − z0 )]−1/2 oder umgekehrt
(z → z0 ) ,
√ √ KI − iKII = 2 2π lim z − z0 Φ (z) .
(4.32)
z→z0
F¨ ur das konkrete Beispiel tritt aufgrund der Symmetrie nur eine Modus I Belastung auf (KII = 0), die an beiden Rissspitzen gleich ist. Einsetzen von (4.29) in (4.32) liefert den Spannungsintensit¨atsfaktor √ KI = σ πa . (4.33) In einem weiteren Beispiel werde nun der Riss nach Bild 4.10a an den Rissufern durch entgegengesetzte Einzelkr¨afte belastet. Wirkt nur P (Q = 0), dann lauten die komplexen Potentiale P a2 − b2 Φ (z) = , Ψ (z) = −zΦ (z) . (4.34) 2π(z − b) z 2 − a2
y
b P
Q P a a
P
Q
2b
y c c
P
x
x P
a)
σ
2a
P
a
a
c)
b)
τ p(x) y τ x a d)
τ
a
τ
τ 2a
2a e)
f)
Bild 4.10 Rissbelastungen
τ
75
K-Faktoren
Durch sie werden alle Randbedingungen erf¨ ullt. Die zugeh¨origen KI -Faktoren (KII ist aus Symmetriegr¨ unden Null) an der rechten (+) und an der linken (−) Rissspitze ergeben sich aus (4.32) zu a±b P ± KI = √ . (4.35) πa a ∓ b Analog erh¨alt man f¨ ur eine Belastung nur durch Q (reiner Modus II) a±b Q ± ± . KI = 0 , KII = √ πa a ∓ b
(4.36)
Die L¨osungen (4.35), (4.36) kann man als Grundl¨osungen verwenden, mit deren Hilfe man weitere L¨osungen konstruieren kann. So folgt f¨ ur eine Rissbelastung nach Bild 4.10b durch Superposition & % a+b a−b P 2a P KI = √ + =√ √ . (4.37) a−b a+b πa πa a2 − b2 Unter Zuhilfenahme dieses Resultats errechnet sich f¨ ur die Rissbelastung nach Bild 4.10c a a dx a π c √ . (4.38) = 2σ KI = 2σ − arcsin π π 2 a a2 − x2 c
Im Sonderfall c = 0 ergibt sich hieraus das schon bekannte Ergebnis (4.33). Auf ur einen Riss ¨ahnliche Art erh¨alt man unter Verwendung von (4.35) die L¨osung f¨ unter der beliebigen Belastung nach Bild 4.10d: KI±
1 =√ πa
+a a±x dx . p(x) a∓x
(4.39)
−a
Genauso kann man bei Schubbelastungen vorgehen. So ergibt sich mit (4.36) f¨ ur einen Riss unter reiner Schubbelastung (Modus II) nach Bild 4.10e √ KII = τ πa . (4.40) ur und f¨ ur den Fall nach Bild 4.10f stimmen u Der KII -Faktor hierf¨ ¨berein. Bild 4.11a zeigt eine periodische Reihe von kollinearen Rissen gleicher L¨ange 2a im unendlichen Gebiet unter einer Zugspannung σ. Hierf¨ ur lautet die L¨osung in komplexen Potentialen Φ (z) =
σ ' 2
1
sin (πa/2b) 1− sin (πz/2b)
2 ,
Ψ (z) = −zΦ (z) .
(4.41)
76
Lineare Bruchmechanik
σ
σ
y 2a 2b
x
2a 2b σ
a)
σ b)
Bild 4.11 a) Kollineare Rissreihe, b) Scheibenstreifen mit Innenriss Der Spannungsintensit¨atsfaktor KI folgt hieraus mit (4.32) zu √ 2b πa KI = σ πa tan . πa 2b
(4.42)
Hiernach steigt KI stark an, wenn sich die Rissspitzen einander n¨ahern. Dies ist auf die gegenseitige Wechselwirkung der Risse zur¨ uckzuf¨ uhren (vgl. Abschnitt 4.4.4). Kommen sich die Rissspitzen sehr nahe (a → b), so ergibt sich mit der Bezeichnung c = b − a aus (4.40) das Ergebnis 4b b KI = σ f¨ ur cb. (4.43) π c Man kann (4.42) auch als eine N¨aherung f¨ ur die Konfiguration in Bild 4.11b verwenden, wenn die R¨ander hinreichend weit von den Rissspitzen entfernt sind. In der Tabelle 4.1 sind K–Faktoren f¨ ur einige F¨alle zusammengestellt. L¨osungen f¨ ur viele weitere Konfigurationen sind in den einschl¨agigen Handb¨ uchern f¨ ur Spannungsintensit¨atsfaktoren zu finden. Angaben hier¨ uber finden sich im Literaturverzeichnis.
77
K-Faktoren
Tabelle 4.1
K–Faktoren
σ
τ
1
τ
KI KII
2a
σ τ
=
√
πa
σ
b PQ
2
Q P 2a
KI± KII±
=
P Q
1 √ πa
a±b a∓b
σ τ
2b
3
KI KII
2a
τ
=
σ τ
πa 2b tan 2b
σ
P
4
Q
Q b
P
KI KII
=
P Q
√
2 2πb
σ
5
√ KI = 1, 1215 σ πa
a σ
√ KI = σ πa FI (a/b) 6
σ
2b
2a
σ FI =
1 − 0, 025(a/b)2 + 0, 06(a/b)4 cos (πa/2b)
78
Lineare Bruchmechanik
Tabelle 4.1
7
σ
b
√ ( 2b KI = σ πa πa tan πa GI (a/b) 2b 0, 752+2, 02 a +0, 37(1−sin πa )3 b 2b GI = cos πa 2b
σ
a
σ
σ b
8
K–Faktoren (Fortsetzung)
a σ
σ
√ ( 2b KI = σ πa πa tan πa GI (a/b) 2b 0, 923 + 0, 199(1 − sin πa )4 2b GI = cos πa 2b
σ 9
KI =
a
2 √ σ πa π
σ σ σ 10
KI = b
11
a
MT P
MT 2b
2a
P
2 √ σ πa 1 − 1 − (b/a)2 π
√ KI = P 2 πa 1 − a/b GI (a/b) πa √ KIII = 2M3T πa 1 − a/b GIII (a/b) πa GI = 21 (1+ 2ε + 38 ε2 − 0, 363ε3 +0, 731ε4) 5 ε3 + 35 ε4 GIII = 38 (1+ 2ε + 38 ε2 + 16 128 +0, 208ε5) ,
√ KI (θ) = σ πa FI (θ) 2 (1, 211 − 0, 186√sin θ ) FI = π
σ a
12
θ σ
ε = a/b
10◦ < θ < 170◦
79
K-Faktoren
4.4.2
Integralgleichungsformulierung
Ein m¨oglicher Ausgangspunkt zur L¨osung von Rissproblemen ist deren Formulierung durch Integralgleichungen. Von den verschiedenen Arten, welche dabei existieren, sei hier nur eine diskutiert. Ihr Grundgedanke besteht in der Darstellung eines Risses durch eine Versetzungsbelegung. Zur Vorbereitung der Formulierung betrachten wir zun¨achst die aus den komplexen Potentialen Φ(z) = A ln z , Ψ(z) = A ln z (4.44) folgenden Verschiebungen und Spannungen, wobei wir A hier speziell durch die reelle Gr¨oße A = −Gby /π(κ+1) ersetzen: (κ − 1) ln r − cos 2ϕ u −by , = 2π(κ + 1) (κ + 1) ϕ − sin 2ϕ v ⎧ ⎫ ⎧ σ ⎪ ⎪ cos ϕ + cos 3ϕ ⎨ x ⎪ ⎬ −by G ⎨ 3 cos ϕ − cos 3ϕ σy = ⎪ ⎪ π(κ + 1) r ⎪ ⎩ ⎭ ⎩ − sin ϕ + sin 3ϕ τxy
⎫ ⎪ ⎬ ⎪ ⎭
(4.45) .
W¨ahrend die Verschiebung u bei einem Umlauf von ϕ = 0 bis ϕ = 2π keine ¨ Anderung erf¨ahrt, tritt bei v ein Verschiebungssprung (Diskontinuit¨at) der Gr¨oße v(0) − v(2π) = v + − v − = by auf. Die Potentiale (4.44) beschreiben danach eine Stufenversetzung mit einem Verschiebungssprung in y-Richtung (Bild 4.12, vgl. Abschnitt 3.1.2). Entlang der x-Achse wirken dabei die Spannungen σy = σx = −2Gby /π(κ + 1)x, τxy = 0. Soll ein allgemeiner Verschiebungssprung um by in y- und um bx in x-Richtung beschrieben werden, dann muss die Konstante A in (4.44) zu A = G(by − ibx )/π(κ + 1) gesetzt werden.
y r ϕ
by x
Bild 4.12 Verschiebungssprung infolge Stufenversetzung Als konkretes Problem sei im weiteren der schon zuvor untersuchte Riss unter der Rissuferbelastung σ (Druck) nach Bild 4.13a betrachtet. Dabei stellen wir uns nun den Riss erzeugt vor durch eine kontinuierliche Verteilung von Versetzungen, welche im Bereich −a ≤ t ≤ +a auf der x-Achse angeordnet sind (Bild 4.13b).
80
Lineare Bruchmechanik
y
y
σ x +a
−a
dby x +a t
−a
σ b)
a)
Bild 4.13 Riss als Versetzungsverteilung Mit den Umbenennungen by → dby = µdt, x → x − t, z → z − t erh¨alt man dann aus (4.44), (4.45) zum Beispiel f¨ ur die Spannung σy entlang der x-Achse und f¨ ur das Potential Φ die Darstellungen 2G σy (x, 0) = − π(κ + 1) G Φ (z) = − π(κ + 1)
+a −a
+a −a
µ(t)dt , x−t
(4.46)
µ(t)dt . z−t
(4.47)
In unserem Fall ist die Spannung σy im Rissbereich bekannt: σy = −σ. Gleichung (4.46) stellt dementsprechend eine singul¨are Integralgleichung f¨ ur die unbekannte Verteilung µ dar. Ihre L¨osung lautet µ(x) =
σ(κ + 1) x √ . 2G a2 − x2
(4.48)
Hiermit ist das Problem im Prinzip gel¨ost, da sich aus µ die Potentiale Φ und Ψ durch Integration bestimmen lassen. So erh¨alt man aus (4.47) Φ (z) = −
σ 2π
+a −a
xdx z σ √ √ = −1 , 2 (z − x) a2 − x2 z 2 − a2
(4.49)
woraus man dann unter anderem den Spannungsintensit¨atsfaktor ermitteln kann. Ist man nur am Spannungsintensit¨atsfaktor interessiert, so kann dieser auch unmittelbar aus µ bestimmt werden. Entlang des Risses gilt n¨amlich µ = dby /dx = d(v + − v − )/dx. Unter Verwendung der Nahfeldformeln (4.14) ergibt sich daraus f¨ ur die rechte Rissspitze der Zusammenhang 2G √ √ 2π a − x µ(x) . x→a κ + 1 √ Einsetzen liefert das bekannte Ergebnis KI = σ πa. KI = lim
(4.50)
81
K-Faktoren
Die Integralgleichungsformulierung ist nicht nur auf gerade Risse anwendbar. Man kann sie ohne weiteres auf gekr¨ ummte Risse, auf berandete Gebiete und auf beliebige Belastungen erweitern. Sie bietet sich zudem als Ausgangspunkt f¨ ur numerische Verfahren zur Behandlung von Rissproblemen an. 4.4.3
Methode der Gewichtsfunktionen
F¨ ur viele geometrische Konfigurationen sind K-Faktoren f¨ ur bestimmte Belastungen zum Beispiel aus Handb¨ uchern bekannt. Wie man hieraus K-Faktoren f¨ ur andere Belastungen ermitteln kann, soll hier gezeigt werden. Wir wollen uns dabei auf ebene Modus I-Probleme beschr¨anken.
(1)
(1)
σy
(2)
(2)
σy
x a
x
ε
a
ξ
ε ξ
a)
b) Bild 4.14 Anwendung des Bettischen Satzes
Ausgangspunkt ist der Satz von Betti (vgl. Abschnitt 1.4.3) (1) (2) (2) (1) ti ui dA = ti ui dA A
(4.51)
A
mit ti = σij nj , den wir auf die zwei Konfigurationen in Bild 4.14 anwenden. Abgesehen von der Belastung unterscheiden sich beide nur dadurch voneinander, dass die Rissl¨ange der Konfiguration (2) um den kleinen Betrag ε gr¨oßer ist. Da (4.51) nur auf geometrisch gleiche Konfigurationen angewendet werden kann, denken wir uns die Konfiguration (1) vor der Rissspitze entlang der x-Achse um die Strecke ε aufgeschnitten. Die dort wirkenden Normalspannungen sind √ (1) (1) durch die Nahfeldformeln (4.14) gegeben: σy (ξ) = KI (a)/ 2πξ. Analog gilt f¨ ur die Verschiebung v im unbelasteten Bereich 0 ≤ ξ ≤ ε der Konfiguration (2): + 1 K (2)(a+ε)(ε − ξ)/2π. Mit den Bezeichnungen aus Bild 4.14 und v (2) (ξ) = κ2G I unter Ber¨ ucksichtigung der Symmetrie folgt dann aus (4.51) a ε (1) KI (a) κ + 1 (2) ε−ξ (1) (2) √ K (a+ε) dξ σy (x) v (x,a+ε)dx + 2π 2πξ 2G I 0 0 a = σy(2) (x) v (1) (x) dx . 0
82
Lineare Bruchmechanik
Daraus erh¨alt man mit den Entwicklungen v (2) (x, a+ε) = v (2) (x, a)+
∂v (2) ε+. . . , ∂a
(2)
(2)
(2)
KI (a+ε) = KI (a) +
dKI ε+ ... da
und unter Beachtung von a
ε '
a σy(1)
(2)
σy(2)
v (x, a) dx =
0
(1)
v (x, a) dx ,
0
ε−ξ πε dξ = ξ 2
0
nach Grenz¨ ubergang ε → 0 das Ergebnis a σy(1)
∂v (2) κ + 1 (1) (2) dx + K (a) KI (a) = 0 . ∂a 8G I
(4.52)
0
Wir fassen nun die Konfiguration (2) als bekannte Referenzkonfiguration auf, w¨ahrend f¨ ur die Konfiguration (1) der Spannungsintensit¨atsfaktor gesucht wird. Mit den Umbenennungen (2)
KI , v (2) → KIr , v r , ergibt sich dann 8G 1 KI = − κ + 1 KIr
(1)
KI , σy(1) → KI , σy a σy
∂v r dx . ∂a
(4.53)
0
Darin bezeichnet man den Ausdruck [8G/(κ + 1)KIr ]∂v r /∂a als Gewichtsfunktion; mit ihr wird die gegebene Belastung σy bei der Integration “gewichtet” um den zugeh¨origen K–Faktor zu bestimmen. Die Formel (4.53) gilt zun¨achst nur f¨ ur einen Riss mit einer Rissspitze. Man kann sie aber auch auf einen Riss mit zwei Rissspitzen anwenden. Die Integration hat dann u ¨ber die gesamte Rissl¨ange zu erfolgen, wobei die Ableitung ∂v r /∂a nur bez¨ uglich derjenigen Rissspitze vorzunehmen ist, f¨ ur die der K–Faktor bestimmt werden soll (die andere Rissspitze ist festzuhalten). Bei einem symmetrisch belasteten Riss mit KI+ = KI− reduziert sich (4.53) auf die Integration u ¨ ber die halbe Rissl¨ange. Als Beispiel wollen wir K f¨ u r den Riss nach Bild 4.15a mit der RissflankenbelaI stung σy = −σ0 1 − x2 /a2 bestimmen. Als Referenzlastfall verwenden wir den Riss mit einer konstanten Belastung σyr = −σ (vgl. Abschnitt 4.4.1). Hierf¨ ur √ √ r r 2 2 gelten KI = σ πa und 4Gv = (1 + κ)σ a − x . Einsetzen in (4.53) liefert unter Beachtung der Symmetrie das Ergebnis KI =
1 8G √ κ + 1 σ πa
a σ0 0
1−
σa x2 1 + κ 2 √ √ dx = σ0 πa . a2 4G π a2 − x2
(4.54)
83
K-Faktoren
y
y
σy
x +a
−a
x
p a b)
a)
Bild 4.15 Zur Methode der Gewichtsfunktionen H¨aufig ist f¨ ur eine Referenzbelastung σyr zwar der Spannungsintensit¨atsfaktor r KI bekannt, doch die Referenzverschiebung v r unbekannt. In solchen F¨allen ist es m¨oglich, unter Verwendung eines Verschiebungsansatzes zu N¨aherungsl¨osungen f¨ ur KI zu gelangen. Um dies zu zeigen, nehmen wir der Einfachheit halber an, dass die Referenzbelastung u ¨ ber die Rissl¨ange konstant ist: σyr = −σ = const F¨ ur die Referenzverschiebung verwenden wir den zweigliedrigen Ansatz (PetroskiAchenbach-Ansatz) √ 1+κ σ (a − x)3/2 √ vr = √ 4f (a) a (a − x)1/2 + h(a) (4.55) a 8 2 G mit
√ KIr = σ πa f (a) ,
(4.56)
der sich an der Nahfeldl¨osung orientiert. Die Funktion h(a) wird dabei aus der Bedingung der Selbstkonsistenz bestimmt. Danach muss f¨ ur σy = σyr auch KI = r KI sein. Aus (4.53) folgt dann (KIr )2
8G = σ 1+κ
a
∂v r dx ∂a
a (KIr )2
bzw.
0
8G da = σ 1+κ
0
a v r dx 0
und nach Einsetzen √ a 5 2π 20 h(a) = af 2 (a) da − f (a) . 2 2a 3
(4.57)
0
Als Beispiel hierzu betrachten wir den einseitigen Randriss mit dreiecksf¨ormiger Rissflankenbelastung nach Bild √ 4.15b. F¨ ur den Referenzlastfall unter konstanter Belastung gilt KIr = 1, 1215 σ πa , d.h. f = 1, 1215 = const (vgl. Tabelle 4.1, Nr.5). Einsetzen von (4.55) und der Belastung σy = −p(1 − x/a) in (4.53) liefert schließlich als N¨aherung f¨ ur den K–Faktor √ KI 0, 435 p πa . (4.58)
84
Lineare Bruchmechanik
√ Der exakte Wert betr¨agt KIex = 0, 439 p πa . Begn¨ ugt man sich beim Ansatz (4.55) nur mit√dem ersten Glied (h = 0), dann erh¨alt man die gr¨obere N¨aherung KI 0, 480 p πa . 4.4.4
Risswechselwirkung
H¨aufig hat man es nicht nur mit einem Riss sonderen mit mehreren Rissen oder mit einem System aus sehr vielen Rissen zu tun. Ist der Abstand der Risse groß im Vergleich zu ihrer L¨ange, so beeinflussen sie einander nur wenig. Man kann dann jeden einzelnen Riss in erster N¨aherung so behandeln, als g¨abe es die anderen Risse nicht. Liegen die Risse dagegen hinreichend dicht beieinander, so kann die Wechselwirkung zwischen ihnen je nach geometrischer Konfiguration zu einer Vergr¨oßerung oder zu einer Verkleinerung der Rissspitzenbelastung, d.h. der K–Faktoren f¨ uhren. Man spricht in diesem Fall von Verst¨arkungs- oder von Abschirmeffekten. Exakte L¨osungen f¨ ur solche Probleme sind nur in wenigen Sonderf¨allen m¨oglich. Aber auch numerische Verfahren unterliegen starken Einschr¨ankungen; sie sind im allgemeinen nur bei einer geringen Risszahl praktikabel. Ein Beispiel, f¨ ur das eine exakte L¨osung existiert, ist die kollinearen Rissreihe nach Bild 4.11a bzw. nach Tabelle 4.1, Nr.3. Bei Ann¨aherung der benachbarten Rissspitzen (a → b) wachsen hier die K–Faktoren unbeschr¨ankt an (Verst¨arkung).
y “1“
2
x
1
−a
+a b
c
¨ Bild 4.16 Zur Definition des Ubertragungsfaktors Im folgenden wollen wir das Prinzip eines Verfahrens kennenlernen, das auf M. Kachanov (1983) zur¨ uckgeht, und mit dessen Hilfe gute N¨aherungsl¨osungen auch f¨ ur komplexe Risssysteme gewonnen werden k¨onnen. Zur Vorbereitung betrachten wir nach Bild 4.16 einen Riss 1, auf dessen Rissflanken eine konstante Einheitsbelastung wirkt. Die L¨osung f¨ ur dieses Problem ist bekannt (vgl. Abschnitt 4.4.1), und wir k¨onnen die Spannungen in jedem Punkt oder entlang jeder beliebigen Linie bestimmen. So ergibt sich zum Beispiel nach (4.30) entlang der Linie 2 (x-Achse) die Normalspannung (die Schubspannung ist dort Null) σy (x) = f12 (x) = √
x −1. x2 − a2
(4.59)
85
K-Faktoren
¨ Ihren Mittelwert im Intervall (b, c) bezeichnen wir als Ubertragungsfaktor : Λ12
1 = f12 = c−b
√
c f12 (x)dx = b
√ c2 − a2 − b2 − a2 −1. c−b
(4.60)
Er beschreibt die globale Belastung der Linie 2 infolge einer Einheitsbelastung des Risses 1 und ist alleine durch die geometrische Konfiguration bestimmt. Zur Erkl¨arung des Verfahrens von Kachanov beschr¨anken wir uns im weiteren der Einfachheit halber auf zwei kollineare Risse unter einer reinen Modus I Belastung durch die Zugspannung σ0 (Bild 4.17). Da wir nur an den Spannungsintensit¨atsfaktoren interessiert sind, gen¨ ugt es, das System mit den Rissflanken∞ belastungen p∞ = p = σ zu untersuchen. Die L¨osung hierf¨ ur l¨asst sich formal 0 1 2 durch Superposition zweier Teilprobleme erzeugen. Beim ersten ist nur der Riss 1 mit der noch unbekannten Rissflankenbelastung p1 (x) = p∞ 1 (x) vorhanden. 1 +p ¨ Dabei beschreibt p1 (x) die Anderung der Belastung des Risses 1 aufgrund der Existenz des Risses 2. Entlang dessen Linie tritt infolge der Belastung p1 (x) die Spannung σ2 (x) auf. Diese ersetzen wir nun n¨aherungsweise durch die Spannung
p1 f12 (x), welche infolge einer konstanten Rissbelastung durch den Mittelwert
p1 zustande kommt. Wir ber¨ ucksichtigen danach hinsichtlich der Auswirkung
σ0 1
σ0 p∞ 1 = σ0
2
+
=
p∞ 1
˜1 (x) p1 (x) = p∞ 1 +p
p∞ 2
p∞ 2 = σ0
p2 (x) = p∞ ˜2 (x) 2 +p +
= σ2 (x) ≈ p1 f12 (x)
σ1 (x) ≈ p2 f21 (x)
p1
p1 (x) =
+
Bild 4.17 Verfahren von Kachanov
86
Lineare Bruchmechanik
auf den Riss 2 nur die mittlere (globale) Belastung des Risses 1. Beim zweiten Teilproblem gehen wir entsprechend vor. Nach der Superposition f¨ uhren damit die Randbedingungen f¨ ur beide Risse p1 (x) − p2 f21 (x) = p∞ 1 ,
p2 (x) − p1 f12 (x) = p∞ 2
auf die Darstellungen p1 (x) = p∞ 1 + p2 f21 (x) ,
p2 (x) = p∞ 2 + p1 f12 (x) .
(4.61)
Die darin noch unbekannten Mittelwerte p1 und p2 bestimmen wir aus der Bedingung, dass die Gleichungen (4.59) selbstkonsistent sein m¨ ussen, d.h., dass sie auch zur Bildung der Mittelwerte selbst verwendet werden k¨onnen:
p1 = p∞ 1 + p2 f21 ,
p2 = p∞ 2 + p1 f12 .
Diese Selbstkonsistenz-Gleichungen stellen ein lineares Gleichungssystem f¨ ur ¨
p1 , p2 dar, das unter Verwendung der Ubertragungsfaktoren nach (4.58) in der Form
p1 − Λ21 p2 = p∞ 1 , (4.62) −Λ12 p1 + p2 = p∞ 2 geschrieben werden kann. Nach seiner L¨osung liegen die Rissbelastungen p1 (x) und p2 (x) entsprechend (4.61) fest, und wir k¨onnen mit Hilfe von (4.39) die Spannungsintensit¨atsfaktoren KI± f¨ ur die einzelnen Risse bestimmen. Treten nicht nur zwei sondern n Risse unter einer Modus I Belastung auf, so ergibt sich in Verallgemeinerung von (4.62) das Gleichungssystem (δji − Λji) pj = p∞ i ,
i = 1, . . . , n
(4.63)
ur i = j. Wenn die Risse auch eine Modus II Belastung erfahmit Λij = 0 f¨ ¨ ren, dann muss dies in den Ubertragungsfaktoren und in den Randbedingungen ber¨ ucksichtigt werden. Man erh¨alt in diesem Fall bei n Rissen 2n Gleichungen f¨ ur die jeweils n Mittelwerte der Normal- und der Schubbelastungen. Als Anwendungsbeispiel betrachten wir die in Bild 4.18a dargestellten zwei gleich großen, kollinearen Risse. Hierf¨ ur ergibt sich aus (4.62) unter Beachtung von Λ12 = Λ21 = Λ, p1 = p2 = p (Symmetrie!)
p − Λ p = p∞ wobei
bzw.
Λ=
p =
2(1 + κ) √ −1 . 1+ κ
p∞ , 1−Λ
87
K-Faktoren
σ 2l p∞ = σ0 y p∞ = σ0
2a d
x
ϕ
2a
2a
2a
κl a)
σ
b) Bild 4.18 Zwei gleich große Risse
Nach (4.61) und (4.59) liegt damit die Rissbelastung zum Beispiel des rechten Risses (Koordinatentransformation beachten) fest: % & 2x + 1 + κ ∞ p(x) = p + p −1 . 2 (x + κ)(x + 1) Einsetzen in (4.39) liefert schließlich f¨ ur die K–Faktoren die N¨aherungsl¨osung 1 1 ± 0 KI = KI 1+ [±4E(α) ∓ 2κ(κ+1)K(α) − π(1−κ)] . (4.64) 1−Λ 2π(1−κ) √ ur einen einzelnen (ungest¨orten) Riss Hierin sind KI0 = σ0 πa der K–Faktor f¨ und K(α) bzw. E(α) die vollst¨ a ndigen elliptischen Integrale erster bzw. zweiter √ Art mit dem Argument α = 1 − κ2 . In der Tabelle 4.2 sind einige Ergebnisse der N¨aherungsl¨osung den exakten Werten gegen¨ ubergestellt. Man erkennt, dass der Fehler selbst bei recht kleinen Rissabst¨anden gering ist. Tabelle 4.2 Vergleich der N¨aherungsl¨osung mit exakten Werten κ
KI+ /KI0
(KI+ /KI0 )exakt
KI− /KI0
(KI− /KI0 )exakt
0,2 0,05 0,01
1,052 1,118 1,175
1,052 1,120 1,184
1,112 1,452 2,134
1,112 1,473 2,372
Zum Abschluss wollen wir f¨ ur dieses Beispiel noch den Sonderfall betrachten, dass der Rissmittenabstand d = 2(κl + a) groß ist im Vergleich zu den Rissl¨angen: d a. Aus (4.59) erh¨alt man in diesem Fall zun¨achst durch Reihenentwicklung
88
Lineare Bruchmechanik
f¨ ur x a entlang der x-Achse die Spannung f12 = σy ≈ 12 (a/x)2 . Sie kann im Bereich der Risslinie 2 mit x ≈ d als konstant angesehen werden: f12 = Λ12 = σy ≈ 12 (a/d)2 . Hiermit ergibt sich p ≈ p∞ [1 + 12 (a/d)2 ], und wir erhalten f¨ ur die K-Faktoren 1 ) a *2 . (4.65) KI ≈ KI0 1 + 2 d Sie unterscheiden sich in erster N¨aherung an der linken bzw. an der rechten Rissspitze nicht. Auf gleiche Weise folgt f¨ ur die allgemeinere Risskonfiguration nach Bild 4.18b a2 KI ≈ KI0 1 + 2 (2 cos 2ϕ − cos 4ϕ) , 2d (4.66) 2 0 a KII ≈ KI 2 (− sin 2ϕ + sin 4ϕ) . 2d Man erkennt, dass die Wechselwirkung der Risse mit zunehmenden Abstand d sehr schnell abklingt. So ergibt sich f¨ ur d = 10 a bei kollinearen Rissen (ϕ = 0) nur noch eine KI -Vergr¨oßerung um 1/200 bzw. bei u ¨bereinander liegenden Rissen (ϕ = π/2) eine KI -Verkleinerung um 3/200. Die Ursache hierf¨ ur liegt im Abklingverhaltens der Spannungen von einem Riss, der entsprechend Bild 4.16 belastet ist. Dieses ist im ebenen Fall f¨ ur r a allgemein vom Typ (a/r)2 . Im dreidimensionalen Fall zum Beispiel eines kreisf¨ormigen Risses klingen die Spannungen f¨ ur große Abst¨ande (r a) dagegen mit (a/r)3 , d.h. noch schneller ab. Bei gleichen Rissabst¨anden ist dementsprechend die Wechselwirkung im 3D-Fall deutlich geringer als im ebenen Fall. Bei der Ausbreitung wechselwirkender Risse treten mitunter interessante Ph¨anomene auf, wovon wir eines kurz diskutieren wollen. Wir betrachten dabei eine Scheibe, in der sich zwei kollineare, gerade Risse befinden (Bild 4.19). Experimente zeigen, dass diese Risse unter einer Zugbelastung zun¨achst wie erwartet aufeinander zu laufen. Mit geringer werdendem Abstand lenken sich die einander n¨aher kommenden Rissspitzen jedoch ab und vereinigen sich nicht auf dem k¨ urzesten Weg. Vielmehr laufen die beiden Rissspitzen aufgrund ihrer Wechselwirkung in einem gewissen Abstand umeinander herum und vereinigen sich erst sp¨ater mit
Bild 4.19 Wechselwirkung zweier aufeinander zu laufender Risse
Die Bruchz¨ahigkeit KIc
89
dem jeweils anderen Riss. Bild 4.19 zeigt das Ergebnis einer numerischen Simulation, die diesen Vorgang recht deutlich wiedergibt. Auch wenn sich solche krummlinigen Rissbahnen nur numerisch berechnen lassen, l¨asst sich das beobachtete Ph¨anomen qualitativ mit den Ergebnissen (4.66) f¨ ur die Risskonfiguration nach Bild 4.18b erkl¨aren. Wie in Abschnitt 4.9 erl¨autert wird, ist der Winkel, um den eine sich ausbreitende Rissspitze abgelenkt wird, maßgeblich durch den KII -Faktor bestimmt. Dieser ¨andert sich nach (4.66) mit dem Winkel ϕ, d.h. mit der relativen Lage der Rissspitzen und erf¨ahrt einen Vorzeichenwechsel. F¨ ur kleine Winkel ϕ ist KII positiv, was eine anf¨angliche Ablenkung des linken Risses in Bild 4.19 nach unten und des rechten Risses nach oben bewirkt: die Rissspitzen weichen sich danach aus. F¨ ur gr¨oßere Winkel ϕ wird KII dagegen negativ, und die beiden Risse werden aufeinander zu gelenkt.
4.5
Die Bruchz¨ ahigkeit KIc
Die Bestimmung der Bruchz¨ahigkeit KIc eines Werkstoffes erfolgt in der Regel in genormten Versuchen (z.B. nach dem ASTM–Standard E399-90), auf deren Details hier nicht n¨aher eingegangen werden soll. Verwendung finden dabei unterschiedliche Probenformen, von denen zwei in Bild 4.20 dargestellt sind. Die Proben m¨ ussen u ugen, welcher bei metallischen Werkstoffen ¨ber einen Anriss verf¨ von einem Kerb ausgehend durch eine geeignete Schwingbeanspruchung erzeugt wird. Aus der gemessenen Belastung, bei welcher die Rissausbreitung einsetzt, l¨asst sich dann mittels des Zusammenhanges zwischen Spannungsintensit¨atsfaktor, Belastung und Rissl¨ange die Bruchz¨ahigkeit ermitteln.
F F
a
a
F W a)
W
F/2
B b)
F/2
B
Bild 4.20 a) Kompakt-Zugprobe (CT), b) 3-Punkt-Biegeprobe (3PB) Damit aus Messungen tats¨achlich geometrieunabh¨angige Bruchz¨ahigkeiten gewonnen werden k¨onnen, haben die Proben die Bedingungen der linearen Bruchmechanik zu erf¨ ullen. Danach muss die plastische Zone klein sein im Vergleich zu allen relevanten Abmessungen einschließlich der Gr¨oße des KI -bestimmten
90
Lineare Bruchmechanik
KIc
Kc
KIc
B
a)
T
b)
Bild 4.21 a) Einfluss der Probendicke, b) Einfluss der Temperatur Gebietes (vgl. Abschnitte 4.3 und 4.7). Dies wird durch die Gr¨oßenbedingung
KIc a, W − a, B ≥ 2, 5 σF
2 (4.67)
gew¨ahrleistet, wobei f¨ ur σF die Streckgrenze Re eingesetzt wird. Unter diesen Umst¨anden ist dann auch gesichert, dass in der Umgebung der Rissfront im wesentlichen der EVZ vorherrscht. Wie sich eine Verringerung der Probendicke auf den kritischen Spannungsintensit¨atsfaktor auswirkt, ist in Bild 4.21a dargestellt. Die wesentliche Ursache f¨ ur das Ansteigen des Kc –Wertes ist dabei die Abnahme ¨ der Fließbehinderung, welche mit der Anderung des Spannungszustandes einhergeht (vgl. Abschnitt 4.7.2). Tabelle 4.3 Bruchz¨ahigkeiten einiger Werkstoffe Material hochfeste St¨ahle 30CrNiMo8 (20o ) 30CrNiMo8 (−20o ) Baust¨ahle Ti-Legierungen Ti6Al4V Al-Legierungen AlCuMg AlZnMgCu1,5 Al2 O3 -Keramik Marmor Glas Beton
√ KIc /[MPa mm ] 800. . . 3000 3650 2000 1000. . . 4000 1200. . . 3000 2750 600. . . 2000 900 950 120. . . 300 40. . . 70 20. . . 40 5. . . 30
Rp0,2 /[MPa] 1600. . . 2000 1100 <500 800. . . 1200 900 200. . . 600 450 500
91
Energiebilanz
Die Bruchz¨ahigkeit eines Werkstoffes h¨angt von zahlreichen Faktoren ab. Zu ihnen geh¨oren unter anderen die Eigenschaften der Mikrostruktur (z.B. Korngr¨oße), die Vorgeschichte der Belastung, die W¨armebehandlung und das Umgebungsmedium (z.B. Luft oder Wasser). Bild 4.21b zeigt schematisch den signifikanten Einfluss der Temperatur bei vielen Metallen. In der Tabelle 4.3 sind Anhaltswerte f¨ ur die Bruchz¨ahigkeiten einiger Werkstoffe zusammengestellt. Zuverl¨assige Werte f¨ ur ein zum Einsatz gelangendes Material sollten allerdings immer an diesem selbst bestimmt werden.
4.6 4.6.1
Energiebilanz Energiefreisetzung beim Rissfortschritt
Wir betrachten einen rissbehafteten elastischen K¨orper, auf den entlang des Randes ∂Vt ¨außere Lasten wirken bzw. bei dem entlang des Randes ∂Vu die Verschiebungen vorgeschrieben sind (Bild 4.22). Von den a¨ußeren Lasten sei vorausgesetzt, dass sie ein Potential Πa besitzen, was zum Beispiel f¨ ur Totlasten oder Federkr¨afte zutrifft.
111 000
∆A
∂Vt
a ∆a
111111 000000 ∂Vu
Bild 4.22 Rissfortschritt und Energiefreisetzung Infolge eines Rissfortschrittes um die Fl¨ache ∆A (bzw. um die L¨ange ∆a im ebenen Fall) gehe nun das System von der urspr¨ unglichen Gleichgewichtslage 1 in eine ¨ neue Gleichgewichtslage 2 u stellen wir uns folgendermaßen ¨ ber. Diesen Ubergang realisiert vor: wir denken uns den K¨orper im Zustand 1 entlang ∆A geschnitten und fassen die dort wirkenden Spannungen als ¨außere Kr¨afte auf. Diese werden nun quasistatisch auf Null reduziert, so dass am Ende der Zustand 2 erreicht ist. Dabei wird von ihnen eine Arbeit ∆Wσ geleistet, die kleiner oder h¨ochstens ¨ gleich Null ist. Daneben leisten die ¨außeren Kr¨afte auf ∂Vt beim Ubergang vom a Zustand 1 zum Zustand 2 eine Arbeit W12 , welche durch die Potentialdifferenz a ausgedr¨ uckt werden kann: W12 = −∆Πa = −(Πa2 − Πa1 ). Aus dem Energiesatz (vgl. Abschnitt 1.4.1) folgt damit a ∆Πi = Πi2 − Πi1 = W12 + ∆Wσ = −Πa2 + Πa1 + ∆Wσ ,
92
Lineare Bruchmechanik
bzw. mit Π = Πi + Πa ∆Π = ∆Wσ ≤ 0 .
(4.68)
Beim Rissfortschritt nimmt danach die mechanische Energie Π des Systems ab. Die freigesetzte Energie steht f¨ ur den Bruchprozess zur Verf¨ ugung. Ausdr¨ ucklich sei darauf hingewiesen, dass ∆Wσ nicht mit der Arbeit ∆W B der Bindungskr¨afte beim Rissfortschritt verwechselt werden darf. Letztere wird beim Trennprozess zwischen den Bausteinen des Materials geleistet und ist dementsprechend eine materialspezifische Gr¨oße (vgl. Abschnitte 3.1.1 und 3.2.2). Wir wollen kurz zwei Sonderf¨alle betrachten. Sind entlang des gesamten Randes die Verschiebungen festgehalten, dann ist ∆Πa = 0, und es wird ∆Πi = ∆Wσ . Ist dagegen die a¨ußere Belastung eine Totlast, so folgt bei linear elastischem Materialverhalten mit dem Satz von Clapeyron (2Πi + Πa = 0) das Ergebnis −∆Πi = ∆Πa /2 = ∆Wσ . Als Beispiel hierzu sei die Energie¨anderung bestimmt, wenn in einer zun¨achst rissfreien, unendlich ausgedehnten Ebene unter einachsigem Zug σ ein Riss der L¨ange 2a gebildet wird (Bild 4.23). Unter Verwendung der Verschiebung σ
σ y
x 2a
σ
σ
Bild 4.23 Energiefreisetzung bei der Rissbildung √ v = (1 + κ)σ a2 − x2 /4G des oberen Rissufers errechnet sich zun¨achst die Arbeit ∆Wσ bei der Riss¨offnung (am oberen und am unteren Rissufer wird die gleiche Arbeit geleistet): a ∆Wσ = −2 −a
1 1+κ σvdx = −σ 2 a2 π . 2 8G
(4.69)
Hieraus erh¨alt man f¨ ur den Fall, dass im Unendlichen die Lasten konstant bleiben (Totlasten) ∆Π = −∆Πi = ∆Πa /2 = −σ 2 a2 π(1 + κ)/8G . (4.70) Werden dagegen im Unendlichen die Verschiebungen festgehalten, so gilt ∆Π = ∆Πi = −σ 2 a2 π(1 + κ)/8G .
(4.71)
93
Energiebilanz
Zwar ist ∆Π in beiden F¨allen gleich, die ∆Πi unterscheiden sich jedoch durch die Vorzeichen. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass man ohne Beschr¨ankung der Allgemeinheit das Potential f¨ ur den Ausgangszustand (Ebene ohne Riss) zu Null setzen kann. Dann beschreibt (4.70) bzw. (4.71) das Potential Π der Ebene mit Riss. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass die Ausdr¨ ucke (4.67)–(4.69) Arbeiten bzw. Energie¨anderungen pro Einheitsdicke darstellen (ebenes Problem). 4.6.2
Energiefreisetzungsrate
Die auf einen infinitesimalen Rissfortschritt dA bezogene freigesetzte Energie −dΠ nennt man Energiefreisetzungsrate (energy release rate): G=−
dΠ . dA
(4.72a)
Beim ebenen Problem ist dΠ auf die Einheitsdicke bezogen, und man schreibt daher dΠ , (4.72b) G=− da wobei da eine infinitesimale Rissverl¨angerung ist. Die Energiefreisetzungsrate hat die Dimension einer Kraft (pro Einheitsdicke); sie wird deshalb auch als Rissausbreitungskraft (crack extension force) bezeichnet. F
F y a
KI (a) x ∆a
KI (a+∆a) y x a
∆a
Bild 4.24 Energiefreisetzungsrate beim Modus I Im linear elastischen Fall kann die Energiefreisetzungsrate durch die Spannungsintensit¨atsfaktoren ausgedr¨ uckt werden. Wir wollen dies an Hand des Modus I zeigen. Einen Rissfortschritt um die kleine L¨ange ∆a denken wir uns wieder dadurch erzeugt, dass die l¨angs des Schnittes ∆a wirkenden Spannungen quasistatisch auf Null reduziert werden (Bild 4.24). Vor √ dem Rissfortschritt wirkt dort nach (4.13) die Normalspannung σy (x) = KI (a)/ 2πx (Glieder h¨oherer Ordnung k¨onnen wegen des sp¨ateren Grenz¨ uberganges ∆a → 0 unber¨ ucksichtigt bleiben). Die Verschiebung der oberen bzw. der unteren Rissflanke entlang ∆a nach dem κ + 1 ± Rissfortschritt ergibt sich laut (4.20) zu v (x) = ± K (a+∆a) (∆a − x)/2π. 2G I
94
Lineare Bruchmechanik
Damit erh¨alt man 1 ∆Wσ = ∆Π = − 2
∆a σy (v + − v − ) dx
(4.73)
0
∆a = −
KI (a) κ + 1 √ KI (a+∆a) 2πx 2G
∆a − x dx 2π
0
κ+1 KI (a) KI (a+∆a) ∆a , = − 8G woraus f¨ ur ∆a → 0 das Ergebnis dΠ κ+1 2 G=− = KI = da 8G
KI2 /E (1 − ν
ESZ 2
)KI2 /E
(4.74) EVZ
folgt. Analog lassen sich die Energiefreisetzungsraten f¨ ur reine Modus II- und f¨ ur reine Modus III Belastung bestimmen. Es gilt: G=
κ+1 2 K 8G II
(Modus II) ,
G=
1 2 K 2G III
(Modus III) .
(4.75)
Im Fall einer allgemeinen Rissbelastung, bei der alle drei Moden auftreten, erh¨alt man damit f¨ ur die Energiefreisetzungsrate pro Einheitsl¨ange der Rissfront G=
1 1 2 K . (K 2 + KII2 ) + E I 2G III
(4.76)
Dabei ist E = E/(1 − ν 2 ) im EVZ bzw. im dreidimensionalen Fall und E = E im ESZ. Im reinen Modus I besteht nach (4.74) eine eindeutige Beziehung zwischen KI und G. Analoges gilt im reinen Modus II bzw. Modus III. Im Rahmen der linearen Bruchmechanik sind demnach das K-Konzept und ein Kriterium G = Gc
(4.77)
f¨ ur reine Moden ¨aquivalent. Darin ist Gc ein Materialkennwert, der Risswiderstand oder Risswiderstandskraft genannt wird. Wegen des unmittelbaren Zusam2 menhangs Gc = KIc /E wird er h¨aufig genau wie KIc auch als Bruchz¨ahigkeit bezeichnet. Man kann (4.77) folgendermaßen interpretieren: zum Einsetzen des Bruchvorganges kommt es, wenn die bei einem Rissfortschritt freigesetzte Energie der ben¨otigten Energie entspricht. Dieses energetische Kriterium wurde in einer etwas modifizierten Form von A.A. Griffith (1921) aufgestellt. Wir werden in Abschnitt 4.6.4 nochmals darauf zur¨ uckkommen. Eine andere Interpretation
95
Energiebilanz
von (4.77) orientiert sich an der Deutung von G als (verallgemeinerte) Kraft. Danach muss beim Einsetzen des Risswachstums die Rissausbreitungskraft gleich der Risswiderstandskraft sein. Zum Abschluss wollen wir noch die Energiefreisetzungsraten f¨ ur zwei Anwendungsbeispiele bestimmen. Die in Bild 4.25a dargestellte Konfiguration kann als Modell f¨ ur eine Klebe- oder Schweißverbindung zweier d¨ unner Schichten (Streifen) unter einer Zugbelastung F angesehen werden. In hinreichendem Abstand von den Rissspitzen herrschen f¨ ur h 2b außerhalb und innerhalb des Verbindungsbereichs jeweils Spannungszust¨ande, die sich u ¨ber die L¨ange nicht ¨andern. Ein Rissfortschritt um da der linken oder der rechten Rissspitze f¨ uhrt zu einer gleich großen Verl¨angerung bzw. Verk¨ urzung dieser Bereiche. Unter Annahme einer Totlast und Verwendung der Beziehungen der Stab- und Balkentheorie (die in diesem Fall exakt sind), ergibt sich mit dem Biegemoment M = F h/2 und und dem Fl¨achentr¨agheitsmoment I = Bh3 /12 zun¨achst F2 7F2 M2 F2 − da = dΠi = + da . 2 E (B h) 2 E I 2 E (2 B h) 4 E B h Darin ist B die Breite der Schicht. Wegen dΠ = −dΠi = dΠa /2 und dA = B da liefert (4.72a) damit im EVZ G=
7 (1 − ν 2 ) F 2 4 E B2 h
bzw.
G=
7 (1 − ν 2 ) σ 2 h . 4E
(4.78)
Hierbei wurde mit σ = F/Bh die mittlere Spannung in einer Schicht eingef¨ uhrt. Entgegen dem ersten Anschein liegt in diesem Fall keine reine Modus II Belastung vor. Aus diesem Grund lassen sich die Spannungsintensit¨atsfaktoren auch nicht einfach aus√G bestimmen. Ohne n¨aher darauf einzugehen erh¨alt man KI ≈ −KII ≈ 7/9 σ h.
F
h h
da
(1)
F
x
(2)
h x
ε0
2b a)
b) Bild 4.25 Beispiele zur Energiefreisetzungsrate
Bild 4.25b zeigt einen Riss in der Verbindungsebene zwischen einer d¨ unnen Schicht (1) und einem Tr¨agermaterial (2). Dabei wollen wir annehmen, dass der Tr¨ager (2) eine konstante Dehnung εx = ε0 erf¨ahrt, die der Schicht (1) aufgezwungen wird. Setzen wir den EVZ voraus, dann herrscht in ihr f¨ ur |x| h rechts von
96
Lineare Bruchmechanik
der Rissspitze die konstante Spannung σ = Eε0 /(1 − ν 2 ), und links ist die Schicht spannungsfrei. Bei einer Rissfortpflanzung um da verk¨ urzt sich in der Schicht der Bereich mit der konstanten Spannung, w¨ahrend sich der Zustand im Tr¨ager nicht ¨andert. Damit wird 1 σ 2 (1 − ν 2 ) B h dΠi = − σ ε0 B h da = − da . 2 2E Da keine ¨außeren Kr¨afte wirken, gilt dΠ = dΠi , und es folgt aus (4.72a) unter Beachtung von dA = Bda die gesuchte Energiefreisetzungsrate zu G=
(1 − ν 2 ) σ 2 h . 2E
(4.79)
Wie im vorhergehenden Beispiel liegt auch hier kein reiner Modus II vor, weshalb die Spannungsintensit¨atsfaktoren nicht aus G bestimmt werden k¨onnen. Es sei angemerkt, dass durch diese Konfiguration die Delamination einer d¨ unnen Schicht (Film) auf einem Substrat modelliert werden kann. Auf Risse zwischen zwei verschiedenen Materialien werden wir in Abschnitt 4.11 noch n¨aher eingehen. 4.6.3
Nachgiebigkeit, Energiefreisetzungsrate und K–Faktoren
Im linear elastischen Fall steht die Energiefreisetzungsrate mit der Nachgiebigkeit bzw. mit der Steifigkeit des K¨orpers in Zusammenhang. Wir zeigen dies am Beispiel des ebenen Modus I Rissproblems, bei dem ein K¨orper der Dicke B durch eine vorgegebene Einzelkraft F (Totlast) belastet ist (Bild 4.26a). Mit Πa = −F uF und Πi = F uF /2 lautet in diesem Fall das Gesamtpotential 1 Π = Πi + Πa = − F uF . 2 Zwischen der Verschiebung uF des Kraftangriffspunktes und der Last F gilt dabei die Beziehung uF = C F .
uF
F
F a
a+da
-dΠ
a
uF a)
b)
¨ Bild 4.26 Anderung der Nachgiebigkeit beim Rissfortschritt
97
Energiebilanz
Darin ist C die Nachgiebigkeit oder Compliance (= reziproke Steifigkeit). L¨asst man einen Rissfortschritt zu, dann ¨andern sich C und uF (Bild 4.26b): C = C(a), uF = uF (a). Damit erh¨alt man Π = −F 2 C(a)/2, und es folgt G=−
dΠ F 2 dC = . B da 2B da
(4.80)
Man kann zeigen, dass dieses Ergebnis unabh¨angig von der Art der Belastung ist. So k¨onnte zum Beispiel die Kraft F auch u ¨ ber eine Feder auf den K¨orper wirken, oder es k¨onnte anstelle der Kraft die Verschiebung uF festgehalten sein. Im reinen Modus I erh¨alt man aus (4.80) unter Verwendung von (4.74) f¨ ur den Spannungsintensit¨atsfaktor F 2 E dC KI2 = (4.81) 2B da mit E = E im ESZ und E = E/(1−ν 2 ) im EVZ. Man kann diese Beziehung zum Beispiel benutzen, um Spannungsintensit¨atsfaktoren experimentell zu ermitteln. Hierzu werden die Nachgiebigkeiten eines K¨orpers bei Rissl¨angen bestimmt, die sich um die kleine Differenz ∆a unterscheiden. Daneben erlaubt (4.80) in verschiedenen F¨allen die einfache Herleitung von N¨aherungsformeln f¨ ur K-Faktoren.
F h uF a B Bild 4.27 DCB-Probe Als Beispiel hierzu betrachten wir eine DCB-Probe (Double Cantilever BeamProbe), die in bruchmechanischen Experimenten Verwendung findet (Bild 4.27). Fasst man die beiden Arme jeweils als Kragtr¨ager der L¨ange a auf, so gilt nach der Balkentheorie (ohne Ber¨ ucksichtigung des Schubes) uF = 2F a3 /3EI, woraus 3 mit I = Bh /12 die Compliance C = uF /F = 8a3 /EBh3 folgt. Daraus errechnet sich bei Annahme eines ESZ KI = 2 4.6.4
√
3
Fa . B h3/2
(4.82)
Energiesatz, Griffithsches Bruchkriterium
Ein Bruchvorgang in einem K¨orper geht mit irreversiblen Prozessen der Bindungsl¨osung einher. Es ist zweckm¨aßig, die dabei auftretenden und speziell an
98
Lineare Bruchmechanik
Ap dA dA+
ti
dA− Bild 4.28 Bruchprozess und Energiebilanz den Bruchprozess gebundenen Energieformen in der Energiebilanz (1.90) als separate Terme zu ber¨ ucksichtigen. Hierzu geh¨oren zum Beispiel die Oberfl¨achenenergie, die Energie, welche f¨ ur die großen mikroplastischen Deformationen in der Prozesszone ben¨otigt wird, aber auch etwaige chemische oder elektromagnetische Energieformen (vgl. Kapitel 3). Ohne sie hier n¨aher zu konkretisieren, fassen wir sie in Γ zusammen. Dann kann man den Energiesatz allgemein in der Form E˙ + K˙ + Γ˙ = P + Q
(4.83)
schreiben. Er muss sowohl beim Einsetzen als auch im weiteren Verlauf des Bruchprozesses erf¨ ullt sein. Wegen der Irreversibilit¨at des Prozesses ist Γ˙ ≥ 0. Der Bruchvorgang spielt sich in der Prozesszone ab, deren Volumen in vielen F¨allen als vernachl¨assigbar klein im Vergleich zum Volumen des K¨orpers angesehen werden kann (Bild 4.28). Es liegt dann nahe, die Energiebilanz (4.83) aufzuspalten in den Teil f¨ ur die Prozesszone und den Teil f¨ ur den restlichen K¨orper: Γ˙ = −P ∗ ,
Prozesszone :
E˙ + K˙ = P + Q + P ∗ .
K¨orper :
(4.84)
Darin beschreibt −P ∗ den Energietransport in die Prozesszone hinein. Beschr¨anken wir uns dabei auf mechanische Energieformen, dann ist er gegeben durch ∗ P = ti u˙ i dA . (4.85) AP
Ein Bruchvorgang ist mit der laufenden Bildung einer neuen Oberfl¨ache verbunden. So wird das Material zwischen zwei um die Zeit dt benachbarten Zust¨anden 1 und 2 entlang der Bruchfl¨ache dA getrennt. Dabei verschiebt sich die Prozesszone, und alle Punkte von dA durchlaufen eine “Entlastungsgeschichte” vom Zustand 1 zum v¨ollig entlasteten Zustand 2 (ti = 0). Die hierbei geleistete Arbeit (=Energiefluss in die Prozesszone) kann durch (2) dWσ = P dt = [ ti dui ] dA ∗
dA±
(1)
(4.86)
99
Energiebilanz
ausgedr¨ uckt werden. Darin deutet dA± an, dass die Arbeit der Kr¨afte an beiden gegen¨ uberliegenden Fl¨achen zu bilden ist. Gleichzeitig erf¨ahrt bei der Bildung ¨ von dA die Bruchenergie eine Anderung dΓ, die proportional zu dA ist: dΓ ∼ dA. Stellt man sie sich im Zustand 2 (nach vollzogener Trennung) als Bruchfl¨achenenergie entlang der Oberfl¨ache dA± verteilt vor, dann gilt (vgl. Abschnitt 3.2.2) dΓ = Γ˙ dt = 2 γ dA .
(4.87)
Darin wird die spezifische Bruchfl¨achenenergie γ h¨aufig als Konstante angesehen. Sie kann allerdings auch eine Funktion von der Bruchgeschichte sein, d.h. zum Beispiel eine Funktion der Rissverl¨angerung ∆a: γ = γ(∆a). Der Klarheit halber sei noch einmal die unterschiedliche physikalische Bedeutung von Γ˙ und P ∗ betont. Bei der Verschiebung der Prozesszone um dA (= Risswachstum) wird die Energie dΓ durch die Schaffung neuer Bruchfl¨achen in andere Energieformen(z.B. W¨arme, Oberfl¨achenenergie) umgewandelt. Man kann dies auch als Definition der Prozesszone ansehen. Dagegen beschreibt P ∗ die Wirkung des umgebenden Kontinuums auf die Prozesszone. Wir kommen nun auf den Spezialfall des elastischen K¨orpers zur¨ uck, in dem ein “langsamer”, quasistatischer Bruchprozess abl¨auft. Die Prozesszone identifizieren wir hier mit der plastischen Zone, d.h. mit dem gesamten kleinen Bereich um die Rissspitze, in dem inelastische Vorg¨ange auftreten. Dementsprechend beinhaltet Γ jetzt sowohl die f¨ ur den Trennprozess als auch die f¨ ur den inelastischen Deformationsprozess in der plastischen Zone erforderliche Energie. Die kinetische Energie K und der nichtmechanische Energietransport Q spielen keine Rolle. Die innere Energie E kann durch die Form¨anderungsenergie Πi ersetzt werden; von den ¨außeren Kr¨aften wollen wir annehmen, dass sie ein Potential Πa haben. Mit ˙ = dΓ und P dt = −dΠa lautet der Energiesatz (4.83) dann ˙ i dt = dΠi , Γdt Π dΠi + dΠa + dΓ = 0
bzw.
dΠ dΓ + =0 . dA dA
(4.88)
¨ Danach ist beim Bruchvorgang die Anderung der Summe aus dem Potential Π der ¨außeren und inneren Kr¨afte sowie der Bruchenergie Γ Null. F¨ uhrt man die Energiefreisetzungsrate nach (4.72a) ein, dann l¨asst sich (4.88) mit (4.87) und der Bezeichnung Gc = 2γ auch in der Form (4.77), d.h. G = Gc
(4.89)
schreiben. In anderen Worten: beim Einsetzen und beim darauffolgenden Verlauf des quasistatischen Rissfortschrittes muss die freigesetzte Energie gleich sein der f¨ ur den Bruchprozess ben¨otigten Energie. Von A.A. Griffith wurde die energetische Beziehung (4.88) zum ersten Mal als Bruchbedingung verwendet; sie wird deshalb auch als Griffithsches Bruchkriterium bezeichnet. Allerdings hat Griffith Γ nicht als Bruchfl¨achenergie sondern als reine Oberfl¨achenenergie angesehen
100
Lineare Bruchmechanik
und damit den Bruchvorgang formal als reversibel betrachtet. Daneben hat er den Energiesatz (4.88) nur auf das Einsetzen des Risswachstums und nicht auf dessen weiteren Verlauf angewendet. In Abschnitt 4.6.2 wurde schon darauf hingewiesen, dass das K–Konzept und das energetische Kriterium in der linearen Bruchmechanik vollst¨andig ¨aquivalent sind. In der praktischen Anwendung wird allerdings meist dem K–Konzept der Vorzug gegeben. Ein wesentlicher Grund hierf¨ ur ist die einfachere Handhabbarkeit; so sind f¨ ur viele geometrischen Konfigurationen und Lastf¨alle die K– ¨ Faktoren in Handb¨ uchern verf¨ ugbar. Ein anderer liegt in der Ubertragbarkeit des Grundgedankens von dominanten, singul¨aren Rissspitzenfeldern auf die nichtlineare Bruchmechanik, d.h. auf inelastisches, nichtlineares Materialverhalten. Es gibt allerdings in der linearen Bruchmechanik auch F¨alle, in denen das energetische Kriterium bevorzugt wird. Ein Beispiel hierf¨ ur sind Interface-Risse, wie sie in Kompositwerkstoffen oder Laminaten h¨aufig auftreten (vgl. Abschnitt 4.11).
σ
Γ Π
Γ
Π+Γ ac
2a σ
a Π
b)
a)
Bild 4.29 Griffithsches Bruchkriterium Zur Illustration des energetischen Bruchkriteriums (4.88) betrachten wir nochmals den geraden Riss in der unendlich ausgedehnten Ebene unter einachsigem Zug σ nach Bild 4.29. Bezogen auf die Einheitsdicke gelten hierf¨ ur nach (4.70) und (4.87) bei konstantem γ Π = −σ 2 a2 π
1+κ , 8G
Γ = 4aγ .
Aus (4.88) folgt damit die Bedingung d(Π + Γ) =0 da
;
4γ = 2σ 2 πa
1+κ 8G
.
(4.90)
Ist die aktuelle Rissl¨ange gegeben, dann erh¨alt man daraus die f¨ ur den Bruchvorgang erforderliche kritische Spannung ' 16Gγ σc = . (4.91a) π(1 + κ)a
101
Energiebilanz
Umgekehrt ergibt sich aus (4.90) bei vorgegebener Spannung eine kritische Rissl¨ange ac , bei der Risswachstum eintritt: ac =
16Gγ . π(1 + κ)σ 2
(4.91b)
Die gleichen Ergebnisse erh¨alt man nat¨ urlich auch mit dem K–Konzept. In einem anderen Beispiel wollen wir untersuchen, unter welchen Umst¨anden es zum Aufreißen einer d¨ unnen Schicht (Film) (1) der Dicke h kommt, die auf ein Tr¨agermaterial (2) (Substrat) aufgebracht ist (Bild 4.30). Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Kanalbildung (channeling). Dabei nehmen wir an, dass in der Schicht vor dem Versagen eine konstante Zugspannung σ herrscht und beim Aufreißen der Verbund zwischen Schicht und Tr¨ager erhalten bleibt. In guter N¨aherung k¨onnen wir dann die Schicht wie einen schubelastischen Balken behandeln, der senkrecht zur Zeichenebene querdehnungsbehindert ist. Ohne auf die ¨ Details der (elementaren) Herleitung einzugehen, errechnen sich die Anderung der Form¨anderungsenergie bzw. des Gesamtpotentials sowie die Bruchfl¨achenenergie bei vollst¨andigem Durchreißen der Schicht zu √ 2 σ 2 h2 (1 − ν 2 ) Π≈ , Γ = 2 γ h = Gc h . (4.92) 16 E Die energetische Bruchbedingung (4.88) liefert damit bei gegebener Spannung und Bruchz¨ahigkeit eine kritische Schichtdicke √ hc ≈ 4 2
Gc E . − ν2)
σ 2 (1
(4.93)
Soll die Schicht unter Zugspannungen nicht aufreißen (dΠ+dΓ < 0), so ist danach die Schichtdicke h durch hc immer nach oben begrenzt: h < hc . Zugspannungen infolge des Herstellungsprozesses oder aufgrund von thermischen Einwirkungen lassen sich aber in Bauteilen zum Beispiel der Mikrosystemtechnik oft nicht vermeiden. σ
σ (1) (2) x
h
σ
σ (1) (2)
Bild 4.30 Kanalbildung in einer d¨ unnen Schicht An dieser Stelle sei noch eine andere Interpretation des energetischen Bruchkriteriums angesprochen, die auf dem verallgemeinerten Kraftbegriff beruht. Dabei
102
Lineare Bruchmechanik
wird G als Kraft aufgefasst, die den Riss vorw¨arts zu treiben sucht (=Rissausbreitungskraft). Der Rissausbreitung entgegen wirkt der Materialwiderstand Gc (=Risswiderstandskraft). Damit ein quasistatischer Rissfortschritt stattfinden kann, muss die “Gleichgewichtsbedingung” (4.89) erf¨ ullt sein. Letztere kann man u ¨ brigens auch noch in Form des (verallgemeinerten) Prinzips der virtuellen Verr¨ uckungen formulieren. Hierzu f¨ uhren wir einen virtuellen (d.h. einen gedachten und infinitesimalen) Rissfortschritt δA durch. Hierbei leistet die Rissausbreitungskraft die virtuelle Arbeit GδA = −δΠ und die Risswiderstandskraft die Arbeit Gc δA = 2γδA = δΓ. Gleichung (4.88) f¨ uhrt damit auf δ(Π + Γ) = 0 .
(4.94)
Schließlich sei noch auf ein einfaches Modell f¨ ur die Rissausbreitung hingewiesen. Es besteht in der Coulombschen Reibung eines K¨orpers auf einer rauhen Unterlage (Bild 4.31), wobei wir die Bewegung des K¨orpers mit einer Rissausbreitung gleichsetzen. Der K¨orper verharrt in Ruhe, solange die angreifende Kraft kleiner
rauh
F
11111111 00000000
Bild 4.31 Coulombsche Reibung als Rissausbreitungsmodell ist als die Haftgrenzkraft (= + keine Rissausbreitung f¨ ur G < Gc ). Sind angreifende Kraft und Haftgrenzkraft bzw. Reibkraft gleich, dann kommt es zum Einsetzen und zum weiteren Verlauf von Bewegung unter Gleichgewichtsbedingungen (= + Rissfortschritt f¨ ur G = Gc ). Der Energiesatz (4.83) gilt auch dann, wenn große inelastische Bereiche auftreten. In diesem Fall ist es allerdings nicht mehr m¨oglich, den gesamten plastischen Bereich als Prozesszone aufzufassen. Vielmehr ist es in diesem Fall erforderlich, ˙ und f¨ die Energieanteile f¨ ur den Bruchprozess (Γ) ur die inelastischen Deformationen außerhalb der Prozesszone sauber zu trennen. Dies kann zum Beispiel im Rahmen eines Koh¨asivmodells erfolgen. Hierbei wird die Dicke der Prozesszone vernachl¨assigt und sie als reine Fl¨ache AP aufgefasst. Außerhalb der Prozesszone AP verh¨alt sich das Material inelastisch (z.B. elastisch-plastisch). Entlang der Fl¨ache AP findet der Bruchprozess statt, wobei f¨ ur die Koh¨asivspannungen ein materialspezifisches Trenngesetz gilt. Diesem Trenngesetz entsprechend leisten die Spannungen dann eine bestimmte Brucharbeit. 4.6.5
J−Integral
Mit den K–Faktoren und der Energiefreisetzungsrate G haben wir schon Parameter eingef¨ uhrt, die zur Beschreibung des Bruchverhaltens verwendet werden k¨onnen. Eine weitere Gr¨oße ist das J–Integral. Obwohl dieser Parameter in der
103
Energiebilanz
linearen Bruchmechanik ¨aquivalent zu K bzw. zu G ist, hat er doch eine herausragende Bedeutung. Sie beruht unter anderem darauf, dass J im Gegensatz zu K und G auch bei inelastischem Materialverhalten angewendet werden kann (vgl. Kapitel 5, elastisch-plastische Bruchmechanik). 4.6.5.1
Erhaltungsintegrale vom J−Typ
Wir betrachten einen K¨orper aus homogenem, elastischem Material mit der Form¨anderungsenergiedichte U(εij ), auf den keine Volumenkr¨afte wirken (fi = 0). Das Material kann dabei beliebig nichtlinear und anisotrop sein; der Einfachheit halber wollen wir aber kleine Verzerrungen annehmen. Dann ist der J–Integral–Vektor definiert als Jk = bkj nj dA = (U δjk − σij ui,k ) nj dA , (4.95) ∂V
∂V
wobei ∂V eine geschlossene Oberfl¨ache mit dem Normalenvektor nj ist (Bild 4.32a). Den Ausdruck bkj = U δjk − σij ui,k (4.96) bezeichnet man als Konfigurationsspannungstensor oder Eshelby-Spannungstensor und verschiedentlich auch als Energie-Impuls-Tensor der Elastostatik. Bildet man seine Divergenz, indem man nach xj differenziert, so ergibt sich mit (1.46), (1.19) und (1.25) ∂U ∂εmn bkj,j = δjk − σij,j ui,k − σij ui,kj ∂εmn ∂xj (4.97) = σmn um,nk − σij ui,kj = 0 . Hiermit folgt nach dem Gaußschen Satz Jk = 0
(4.98)
f¨ ur jede beliebige Fl¨ache ∂V , die ein defektfreies Material ohne Singularit¨aten oder Diskontinuit¨aten von bkj einschließt. Ist das Material inhomogen oder sind
nβ dc C
nj ∂V
x3
x1 a)
x2 x1
x2 b) Bild 4.32 J-Integral
104
Lineare Bruchmechanik
von ∂V zum Beispiel Diskontinuit¨aten wie etwa ein Riss eingeschlossen, dann ist Jk im allgemeinen von Null verschieden. Gleichung (4.98) stellt einen speziellen Erhaltungssatz der Elastizit¨atstheorie dar, von dem man an verschiedenen Stellen sinnvoll Gebrauch machen kann. Wendet man (4.98) zum Beispiel auf einen schubstarren Balken an, der nur an den Enden A und B durch die Schnittgr¨oßen M (Biegemoment) und Q (Querkraft) belastet ist, so erh¨alt man −
MA2 M2 + QB wB =0. + B + QA wA 2EI 2EI
Darin sind EI die Biegesteifigkeit des Balkens und w die Neigung. Neben (4.95) existieren noch zwei weitere Oberfl¨achenintegrale mit solchen Eigenschaften: Lk =
klm (xl bmj + ul σmj ) nj dA , ∂V
M =
bij xi +
1 σij (2 − α) ui nj dA . 2
(4.99)
∂V
Hierbei sind Lk ein Vektor und M ein Skalar; klm ist der Permutationstensor und α = 3 f¨ ur den r¨aumlichen Fall bzw. α = 2 im ebenen Fall. Analog zu (4.98) folgt durch Anwendung des Gaußschen Satzes Lk = 0
(4.100)
f¨ ur jede geschlossene Fl¨ache ∂V , die ein defektfreies Material einschließt, sofern dieses isotrop und homogen ist. Dar¨ uber hinaus l¨asst sich zeigen, dass Jk = 0 und Lk = 0 auch f¨ ur endliche Deformationen zutreffen. Im Gegensatz dazu gilt M =0
(4.101)
nur im Spezialfall der linearen Elastizit¨at bei infinitesimalen Verzerrungen. Bei ebenen Problemen h¨angen die Feldgr¨oßen nur von x1 und x2 ab. In diesem Fall entarten die Oberfl¨achenintegrale zu Konturintegralen l¨angs einer geschlossenen Kurve C (Bild 4.32b). F¨ ur den J–Integral-Vektor erh¨alt man dann Jα = (U δαβ − σiβ ui,α ) nβ dc , (4.102) C
wobei die griechischen Indizes die Werte 1, 2 durchlaufen. 4.6.5.2
Verallgemeinerte Kr¨ afte
Wir wollen nun die mechanische Bedeutung des J–Integrals (4.95) untersuchen, wenn von ∂V eine Diskontinuit¨atsfl¨ache AD eingeschlossen wird (Bild 4.33a). Eine
105
Energiebilanz
dsk AD
dsk
dA
ti
ti nj
dsk A1
A2
Jk ∂V xk +dsk
xk
dsk Jk
nk dsk
∂V
∂V c)
b)
a)
Bild 4.33 Verallgemeinerte Kr¨afte ¨ solche liegt vor, sofern bkj bzw. eine der Gr¨oßen U, σij , ui,k sich beim Uberschreiten der Fl¨ache AD sprungartig ¨andert. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn AD der Rand des elastischen K¨orpers ist, der durch die Randlasten ti = σij nj belastet ist; links von AD befinde sich also kein Material. Wir nehmen nun an, dass der Rand AD um ein konstantes Inkrement dsk verschoben wird (Translation von AD ), wobei die ¨außere Belastung ti unver¨andert bleibe. Eine solche Verschiebung kann man sich dadurch erzeugt vorstellen, dass Material “weggenommen” oder “hinzugef¨ ugt” wird. Hierdurch erf¨ahrt die Gesamtenergie des Systems eine ¨ Anderung dΠ. Diese besteht aus der im Streifen der Dicke dsk nk gespeicherten Form¨anderungsenergie i dΠ = U dsk nk dA AD
sowie aus der Differenz a dΠ = − ti ui (xk + dsk ) dA + ti ui (xk ) dA = − σij ui,k dsk nj dA AD
AD
AD
des Potentials der ¨außeren Kr¨afte, wobei ui(xk +dsk ) = ui (xk )+ui,k dsk (Bild 4.33b). Damit erh¨alt man dΠ = dΠi + dΠa = dsk (U δjk − σij ui,k ) nj dA . AD
Da nach (4.98)das entsprechende Integral u ¨ ber die geschlosseneFl¨ache A1 + AD verschwindet ( A1 . . . + AD . . . = 0) und da ∂V = A1 + A2 mit A2 . . . = 0, kann man dies auch in der Form dΠ = −dsk (Uδjk − σij ui,k )nj dA = −dsk (Uδjk − σij ui,k )nj dA (4.103) A1
∂V
oder dΠ = −Jk dsk
(4.104)
106
Lineare Bruchmechanik
schreiben. Das Ergebnis (4.104) gilt nicht nur f¨ ur dieses Beipiel, sondern man kann es auf beliebige Diskontinuit¨atsfl¨achen (Fl¨achendefekte) und Singularit¨aten (Punktdefekte) etwa aufgrund von Versetzungen ausdehnen (Bild 4.32c). In anderen Worten: die Energie¨anderung eines elastischen Systems infolge einer translatorischen Verschiebung eines Punkt- oder Fl¨achendefektes kann durch das “wegunabh¨angige” Integral Jk beschrieben werden, wobei der Integrationsbereich (Fl¨ache ∂V ) den Defekt umschließen muss, sonst aber beliebig ist. In diesem energetischen Sinn kann man Jk als Kraft auffassen, die auf den Defekt wirkt; sie wird als verallgemeinerte Kraft, als materielle Kraft oder als Konfigurationskraft bezeichnet. Analog beschreibt das wegunabh¨angige Integral Lk ein verallgemeinertes Moment oder Konfigurationsmoment auf einen Defekt. Es f¨ uhrt zu einer Energie¨anderung des Systems, wenn der Defekt eine Drehung (Rotation) erf¨ahrt. Schließlich charakterisiert das M–Integral die Energie¨anderung aufgrund eines selbst¨ahnlichen Defektwachstums (z.B. Radiusvergr¨oßerung eines kugelf¨ormigen Loches).
σ
E1
x2 x1
1
AD
σ
J1 E2 ds
2
Bild 4.34 Bimaterial-Stab unter Zugbelastung Als einfachstes Beispiel hierzu betrachten wir einen Bimaterial-Stab mit konstantem Querschnitt A unter einachsigem Zug nach Bild 4.34, der bei AD einen Sprung im Elastizit¨atsmodul hat. Die Konfigurationskraft auf AD bestimmen wir unter Verwendung der gestrichelt angedeuteten Integrationsfl¨ache. Dann erh¨alt man mit der Form¨anderungsenergie U = σ 2 /2E, der Stabkraft N = σA und dem Hookeschen Gesetz u1,1 = σ/E das Ergebnis 2 2 N N − σA u1,1 − σA u1,1 − J1 = 2EA 2EA 2 1 2 1 N 1 (4.105) , = − 2A E1 E2 J2 = J3 = 0 , wobei nur die Fl¨achen senkrecht zu x1 einen Beitrag liefern. Verschiebt sich die Sprungstelle des Elastizit¨atsmoduls um ds, so folgt eine Energie¨anderung N2 1 1 dΠ = −J1 ds = ds . (4.106) − 2A E2 E1 Man kann dieses Beispiel auch als einfachstes Modell f¨ ur eine Phasentransformation im Einkristall ansehen. Hierbei verschiebt sich ebenfalls die Grenze zwischen zwei Phasen mit unterschiedlichen elastischen Eigenschaften.
107
Energiebilanz
4.6.5.3
J−Integral als Rissspitzenbeanspruchungsparameter
Wir wenden nun den J–Integral–Vektor auf das ebene Problem eines Risses an, dessen Rissufer belastungsfrei sind (Bild 4.35a). Dabei w¨ahlen wir eine beliebige Kontur C, die an den gegen¨ uberliegenden Rissufern startet bzw. endet und welche die Rissspitze uml¨auft. Dann beschreiben J1 bzw. J2 nach (4.103), (4.104) die Energie¨anderung (Energiefreisetzung) des Systems, wenn die von der Kontur eingeschlossenen Rissufer (= Diskontinuit¨atslinie) zusammen mit der Rissspitze (= Singularit¨at) in x1 - bzw. in x2 -Richtung verschoben werden. W¨ahrend eine Verschiebung in x2 -Richtung nur formal, gedanklich m¨oglich ist, entspricht einer Verschiebung da in x1 -Richtung eine kinematisch m¨ogliche Rissfortpflanzung. Das zugeh¨orige Konturintegral J = J1 = (U δ1β − σiβ ui,1 ) nβ dc = (U dy − ti ui,x dc) (4.107) C
C
bezeichnet man als J–Integral , wobei der Index 1 weggelassen wird.
x2 x1
da
x C
a)
y
C+
y
C C2
C−
ρ C1
b)
x
c)
Bild 4.35 J-Integral In seiner energetischen Interpretation entspricht J der Energiefreisetzungsrate beim Rissfortschritt in einem elastischen K¨orper: J =G=−
dΠ . da
(4.108)
Aufgrund dieses Zusammenhanges kann man J auch als Bruchparameter verwenden; ein Bruchkriterium J = Jc (4.109) ist gleichwertig zum energetischen Kriterium (4.89). Liegt lineares Materialverhalten vor, so folgt aus (4.108) und (4.76) J=
1 1 2 K (K 2 + KII2 ) + E I 2G III
(4.110)
mit E = E/(1 − ν 2 ) im EVZ und E = E im ESZ. Damit ist (4.109) auch ¨aquivalent zum K–Konzept, sofern eine reine Modus I-, eine reine Modus II- oder eine reine Modus III-Belastung vorliegt.
108
Lineare Bruchmechanik
Die Bedeutung von J als Bruchparameter kann man auch begr¨ unden, ohne auf die energetische Interpretation zur¨ uckzugreifen. Zu diesem Zweck w¨ahlen wir nach Bild 4.35b zur Bestimmung von J zwei verschiedene Konturen C1 und C2 . Dann + − gilt nach (4.98) f¨ ur die geschlossene Kontur C1 + C + C2 + C unter Beachtung des Richtungssinnes zun¨achst C1 . . .+ C + . . .− C2 . . .+ C − . . . = 0. Die Integrale . . ., C − . . . verschwinden unter den getroffenen Annahmen C+ (gerade unbelastete Rissufer) wegen Udy = 0 und ti = 0, womit schließlich C1 . . . = C2 . . . folgt. Das J–Integral ist demnach wegunabh¨angig. Es ist ein charakteristischer Parameter f¨ ur den Zustand in unmittelbarer Umgebung der Rissspitze unabh¨angig davon, ob die Kontur durch diesen Bereich verl¨auft oder nicht. Dies trifft sowohl im linear als auch im nichtlinear elastischen Fall zu. Die Wegunabh¨angigkeit von J kann bei der Berechnung der Rissbeanspruchung f¨ ur konkrete Risskonfigurationen vorteilhaft genutzt werden. So w¨ahlt man bei numerischen Rechnungen mit Finiten Elementen oder mit der Randelementmethode den Integrationsweg zweckm¨aßig in hinreichender Entfernung von der Rissspitze. Auf eine aufwendige, genaue Berechnung der Feldgr¨oßen im Rissspitzenbereich kann dann n¨amlich verzichtet werden. Auf diese Weise erfolgt bei Modus I Problemen die numerische Bestimmung von K–Faktoren in vielen F¨allen unter Verwendung der Beziehung 1 J = G = KI2 (4.111) E u ¨ber die Berechnung des J–Integrals. Die Wegunabh¨angigkeit des J–Integrals ist nur unter den genannten Umst¨anden gew¨ahrleistet. Sind die Rissufer belastet oder ist der Riss gekr¨ ummt, so ist J im allgemeinen wegabh¨angig. Dies trifft bei J2 u ¨ brigens schon beim unbelasteten, geraden Riss zu. Einen “wegunabh¨angigen”, den Rissspitzenzustand charakterisierenden Parameter erh¨alt man unter solchen Umst¨anden nur, wenn man die Kontur auf die Rissspitze zusammenzieht (Bild 4.35c): (Udy − ti ui,x dc) .
J = J1 = lim
ρ→0
(4.112)
C
Dann gilt im linear elastischen Fall nach wie vor die Beziehung (4.110). Hiervon kann man sich u ur die Kontur einen Kreis w¨ahlt ¨berzeugen, indem man in (4.112) f¨ und die Nahfeldl¨osung nach Abschnitt 4.2.1 einsetzt. Auf die gleiche Weise l¨asst sich die y-Komponente der verallgemeinerten Kraft auf die Rissspitze bestimmen; man erh¨alt 1 J2 = − KI KII . (4.113) E Das J–Integral l¨asst sich auch auf dreidimensionale Rissprobleme anwenden, bei denen die Rissbeanspruchung entlang der Rissfront ver¨anderlich ist. Als Beispiel hierzu betrachten wir den in Bild 4.36 dargestellten Fall eines ebenen Risses
109
Kleinbereichsfließen
x2
∆l
x2
x3 x1
x1 C
Bild 4.36 J beim dreidimensionalen Rissproblem mit gerader Rissfront. Die auf ein Element ∆l der Rissfront wirkende verallgemeinerte Kraft in x1 -Richtung bestimmt man zweckm¨aßig, indem die Integration von (4.95) u ¨ ber die Oberfl¨ache des scheibenf¨ormigen K¨orpers einschließlich seiner Deckfl¨achen ausgef¨ uhrt wird, der durch die erzeugende Kontur C in der x1 , x2 -Ebene gebildet wird. L¨asst man im Grenzfall die Elementl¨ange (=Dicke der Scheibe) gegen Null gehen, so heben sich die Integrale u ¨ber die Deckfl¨achen gegenseitig auf, und es bleibt nur das Konturintegral (4.105). Dies ist nun allerdings von der Position auf der Rissfront abh¨angig: J = J(x3 ). Mit den gleichen Argumenten wie im ebenen Fall kann man die Wegunabh¨angigkeit von J auch hier zeigen. Bedingung daf¨ ur, dass das J–Integral als Rissspitzenparameter verwendet werden kann, ist eine Kontur, welche die entsprechende Rissspitze uml¨auft. W¨ahlt man im Gegensatz dazu eine geschlossene Kontur um den ganzen Riss, dann beschreibt Jk nach Abschnitt 4.6.5.2 die Energie¨anderung des Systems bei einer Translation des Risses als Ganzes. Analoges gilt f¨ ur Lk bzw. f¨ ur M bei einer Rotation bzw. bei einer selbst¨ahnlichen Rissvergr¨oßerung. Solche “Bewegungen” eines Risses sind von Ausnahmen abgesehen kinematisch nicht m¨oglich, weshalb auch die Bedeutung dieser Integrale gering ist.
4.7 4.7.1
Kleinbereichsfließen Gr¨ oße der plastischen Zone, Irwinsche Rissl¨ angenkorrektur
In der linear elastischen Bruchmechanik wird vorausgesetzt, dass die plastische Zone klein ist im Vergleich zum K-bestimmten Gebiet (vgl. Abschnitt 4.3). Man spricht dann von Kleinbereichsfließen. Dabei umfasst die plastische Zone die gesamte Region, in der das Stoffverhalten vom linear elastischen Verhalten abweicht. Die Bestimmung der Gr¨oße und der Form dieser Zone f¨ ur ein “nichtlineares” Material ist im allgemeinen keine einfache Aufgabe. Wir wollen deshalb hier f¨ ur den Modus I nur eine Absch¨atzung auf der Basis der elastischen Nahfeldl¨osung durchf¨ uhren, wobei wir das Stoffverhalten in der plastischen Zone als idealplastisch annehmen.
110
Lineare Bruchmechanik
σy
x1
σ
α σF 2a
x1 x2 a)
σ
x
2rp
b)
Bild 4.37 Absch¨atzung der Gr¨oße der plastischen Zone Eine auf G. Irwin zur¨ uckgehende erste N¨aherung f¨ ur die Ausdehnung der plastischen Zone vor der Rissspitze erh¨alt man, indem man nach Bild 4.37a die elastische Spannungsverteilung durch die dargestellte elastisch-plastische Spannungsverteilung ersetzt. Diese wird in der plastischen Zone als konstant angenommen, w¨ahrend sie im elastischen Bereich durch die (nach rechts verschobene) elastische Nahfeldl¨osung gegeben sei. Dann fordern wir zun¨achst, dass die Trescasche Fließbedingung σ1 −σ3 = σF an der Grenze von elastischem und plastischem √ Bereich erf¨ ullt ist. Hieraus folgen mit σ1 = σy = KI / 2πx und mit σ3 = 2νσ1 im EVZ bzw. σ3 = 0 im ESZ f¨ ur den plastischen Bereich 1 − 2ν (EVZ) σy = ασF , 1/α = 1 (ESZ) und durch Einsetzen x1 =
1 2π
KI ασF
2 .
Die L¨ange x2 ergibt sich aus der Bedingung, dass die resultierenden Kr¨afte infolge der rein elastischen Spannungsverteilung bzw. infolge der elastisch-plastischen Spannungsverteilung gleich sein m¨ ussen: ∞ 0
K √ I dx = ασF (x1 + x2 ) + 2πx
∞ x1 +x2
KI 2π(x − x2 )
dx .
Dies liefert x2 = x1 , womit sich die L¨ange 2rp = x1 + x2 der plastischen Zone zu ⎧ 2 1 KI ⎪ ⎪ (EVZ) , ⎪ ⎨ 3π σF 2rp = (4.114) ⎪ ⎪ 1 KI 2 ⎪ ⎩ (ESZ) π σF
111
Kleinbereichsfließen
√ errechnet. Dabei wurde im EVZ der Wert α = 3, d.h. ν = 0, 21 gew¨ahlt. Nach (4.114) ist bei gleicher Rissbeanspruchung (gleiches KI ) die plastische Zone im EVZ wesentlich kleiner als im ESZ. Dies ist auch experimentell best¨atigt. Gleichung (4.114) bietet die M¨oglichkeit, die Gr¨oßenbedingung (4.67), welche bei der Bestimmung zul¨assiger KIc –Werte eingehalten werden muss, in anderer Form zu schreiben. Unter Voraussetzung eines EVZ erh¨alt man f¨ ur den kritischen Fall (KI = KIc ) durch Einsetzen 0, 02 {a, W −a, B} . rpc <
(4.115)
Erg¨anzt man die rechte Seite um m¨oglicherweise auftretende weitere Geometrieparameter, dann vermittelt diese Beziehung einen Eindruck von der Gr¨oße der plastischen Zone, die im Rahmen der linearen Bruchmechanik allgemein noch zul¨assig ist. Die L¨ange x2 = rp charakterisiert die Translation des elastischen Nahfeldes infolge plastischen Fließens. Ein entsprechend verschobenes Nahfeld wird aber auch von einem um rp verl¨angerten, fiktiven Riss im rein elastischen Fall hervorgerufen. G. Irwin hat deshalb vorgeschlagen, Fließen in erster N¨aherung im Bruchkriterium dadurch zu ber¨ ucksichtigen, dass von einer um rp korrigierten effektiven Rissl¨ange ausgegangen wird: aeff = a + rp .
(4.116)
Man nennt diese Vorgehensweise Irwinsche Rissl¨angenkorrektur . Wendet man (4.116) √ zum Beispiel auf einen Riss nach Bild 4.37b an, dann ergibt sich mit KI = σ πa und (4.114) im ESZ % 2 2 & 1 KI 1 σ . (4.117) aeff = a + =a 1+ 2π σF 2 σF Setzt man dies in das K–Kriterium ein, so folgt f¨ ur die kritische Spannung KIc KIc = σc = √ . πaeff π[a + (1/2π)(KIc/σF )2 ] 4.7.2
(4.118)
Qualitative Bemerkungen zur plastischen Zone
Genaue Aussagen u ¨ber die Form der plastischen Zone sowie u ¨ber die in ihr auftretenden Spannungen und Deformationen lassen sich nur durch die L¨osung des entsprechenden elastisch–plastischen Randwertproblemes machen. Eine solche ist selbst f¨ ur einfach Stoffmodelle (z.B. elastisch–idealplastisch) und Probleme des EVZ oder ESZ nur mit numerischen Methoden m¨oglich. Einen groben Eindruck von der Form der plastischen Zone kann man erhalten, wenn man den Rand dieser Zone mit der Kontur identifiziert, entlang welcher die Spannungen des elastischen Nahfeldes gerade die Fließbedingung erf¨ ullen.
112
Lineare Bruchmechanik
rp ϕ
v.Mises Tresca
B
EVZ
x3
ESZ a)
b) Bild 4.38 Plastische Zone
Auf diese Weise erh¨alt man zum Beispiel mit der von Misesschen Fließbedingung (1.77b) (σ1 − σ2 )2 + (σ2 − σ3 )2 + (σ3 − σ1 )2 = 6k 2 = 2σF2 , und den Hauptspannungen (4.22), (4.23) im Modus I die Kontur ⎧ 2 ϕ EVZ ⎨ [3 sin 2 + (1 − 2ν)2 ] 2 KI 2 ϕ rp (ϕ) = cos 2πσF2 2⎩ ϕ ESZ . [3 sin2 2 + 1]
(4.119)
Zum Vergleich sind im Bild 4.38a die Konturen dargestellt, die sich nach der von Misesschen und nach der Trescaschen Hypothese ergeben, wobei im EVZ die Querdehnzahl ν = 1/4 gew¨ahlt wurde. Beide Hypothesen zeigen einen deutlichen Gr¨oßenunterschied zwischen EVZ und ESZ. Auf diesem Resultat basiert auch das Hundeknochenmodell nach Bild 4.38b f¨ ur die Form der plastischen Zone in “dicken” Platten (B rp ). Dabei geht man f¨ ur die Umgebung der Rissfront davon aus, dass im Innern n¨aherungsweise ein EVZ vorherrscht (ε33 ≈ 0), w¨ahrend der Spannungszustand an der Oberfl¨ache dem ESZ nahekommt (σ3i ≈ 0). Dreidimensionale numerische Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Gr¨oße der plastischen Zone an der Oberfl¨ache durch dieses Modell meist u ¨bersch¨atzt wird. Im EVZ treten nach (4.24) die maximalen Schubspannungen gr¨oßtenteils in Schnitten auf, deren Normale in der x1 , x2 -Ebene liegt. Dies legt f¨ ur das plastische Fließen einen Gleitmechanismus nahe, wie er in Bild 4.39a dargestellt ist. Entsprechende Gleitprozesse f¨ uhren zur Abstumpfung (blunting) einer urspr¨ ung¨ lich scharfen Rissspitze und damit zur “Offnung” eines Risses. Im Gegensatz zum EVZ tritt τmax im ESZ in Schnitten unter 45◦ zur x1 , x2 -Ebene auf. Dementsprechend wird in “d¨ unnen” Platten (rp B) eher ein Gleitmechanismus nach Bild 4.39b auftreten. Dieser beschr¨ankt die Ausdehnung der plastischen Zone in x2 -Richtung auf die Gr¨oßenordnung der Plattendicke und beg¨ unstigt eine streifenf¨ormige Ausbildung in x1 -Richtung (Bild 4.39c). Auf diesen Mechanismus ist
113
Stabiles Risswachstum
x2
≈B
x1
2rp B a)
b)
c)
Bild 4.39 Gleitmechanismus: a) im EVZ, b) und c) im ESZ auch die Einschn¨ urung vor der Rissspitze zur¨ uckzuf¨ uhren, die man in diesem Fall beobachtet. ur den BruchDie Bruchz¨ahigkeit KIc ist nach Abschnitt 4.6 direkt mit der f¨ 2 prozess ben¨otigten Energie verbunden: KIc ∼ Gc . In diese geht auch die gesamte Energie ein, welche f¨ ur den Deformationsprozess in der plastischen Zone ben¨otigt wird. Damit l¨asst sich die Abh¨angigkeit der Bruchz¨ahigkeit von der Dicke B nach Bild 4.21a qualitativ erkl¨aren. F¨ ur B rp (dicke Proben) herrscht entlang der Rissfront n¨aherungsweise ein EVZ vor, der nur eingeschr¨anktes plastisches Fließen zul¨asst. Dem entspricht eine geringe plastische Energiedissipation und folglich ein kleines KIc . F¨ ur B rp (d¨ unne Proben) dominiert dagegen der ESZ mit gr¨oßerer plastischer Zone und geringerer Deformationsbehinderung. Folge ist eine gr¨oßere plastische Energiedissipation und damit ein gr¨oßerer KIc -Wert.
4.8
Stabiles Risswachstum
Wir betrachten einen geraden Riss in der Ebene unter reiner Modus I-Belastung. Beim Einsetzen und weiteren Verlauf des Risswachstums muß die Bruchbedingung erf¨ ullt sein, welche sich zum Beispiel nach (4.89) als G = Gc ausdr¨ ucken l¨asst. Der Risswiderstand Gc ist dabei in den seltensten F¨allen konstant, sondern nach Bild 4.40a meist eine vom Rissfortschritt ∆a = a − a0 abh¨angige, monoton ansteigende Funktion: Gc = R(∆a) . (4.120) Man bezeichnet R(∆a) als Risswiderstandkurve (crack resistance curve) oder kurz als R–Kurve. So kann der Risswiderstand bei Metallen ausgehend vom Initiierungswert Gci bei der Ausgangsrissl¨ange a0 im Verlauf eines Risswachstums von 1 bis 2 Millimetern auf ein mehrfaches von Gci anwachsen. Eine Ursache hierf¨ ur ist die “Bewegung” der plastischen Zone beim Rissfortschritt. Dabei durchlaufen die materiellen Punkte recht unterschiedliche Spannungsgeschichten (Belastung, Entlastung), und die Gr¨oße sowie die Form der plastischen Zone ¨andern sich. Auf eine detaillierte Beschreibung dieses recht komplexen Vorganges verzichtet man
114
Lineare Bruchmechanik
R, G
Gc
F2
G∗
R(∆a) Gci
Gci ∆a
a)
Fc
b)
R(∆a)
F1
G(F, a)
a0
a∗
a
∆a
Bild 4.40 Stabiles Risswachstum h¨aufig, indem man die R(∆a)-Kurve aus Experimenten bestimmt. Man fasst sie damit insgesamt als eine materialspezifische Funktion auf, die den quasistatischen Rissfortschritt eindeutig charakterisiert. Aufgrund des Anstiegs von R ist es m¨oglich, einen Riss u ¨ber den Initiierungswert hinaus zu belasten. Folge ist ein Rissfortschritt, dessen Gr¨oße durch die Gleichgewichtsbedingung G(F, a) = R(∆a) (4.121) zwischen Rissausbreitungskraft und Risswiderstand festgelegt ist (Bild 4.40b). Darin deutet der Parameter F die Abh¨angigkeit der Rissausbreitungskraft von der Belastung an. Die Gleichgewichtslage ist stabil , sofern bei fester Last der Risswiderstand mit zunehmender Rissl¨ange st¨arker ansteigt, als die Rissausbreitungskraft: ∂G dR . (4.122) < ∂a F =const da Dann muss n¨amlich die Last erh¨oht werden, um den Riss weiter voranzutreiben. Dies ist in Bild 4.40b durch die Schar von G-Kurven f¨ ur unterschiedliche Lasten (F1 < F2 < . . .) angedeutet. Die Grenze des stabilen Risswachstums ist erreicht, wenn der kritische Fall ∂G dR (4.123) = ∂a da F =const
eintritt. Bei weiterer Laststeigerung ist die Gleichgewichtsbedingung (4.121) nicht mehr erf¨ ullt; der Riss beginnt sich dynamisch auszubreiten. Die kritische Belastung Fc bzw. der zugeh¨orige Wert G ∗ h¨angt sowohl von der Rissgeometrie und der Art der Belastung als auch von der R–Kurve ab. Man kann die eben gemachten Aussagen auch auf formalem Weg erhalten. Dabei gehen wir davon aus, dass wir es mit einem System zu tun haben, dessen Gesamtenergie“ durch das Gesamtpotential Π und die Bruchfl¨achenenergie Γ ” gegeben ist: Π∗ (a) = Π(a) + Γ(a) (vgl. Abschnitt 4.6.4). Die Gleichgewichtslage eines solchen Systems ist durch die Bedingung dΠ∗ /da = 0 gekennzeichnet. Dem
115
Stabiles Risswachstum
entspricht mit G = −dΠ/da und R = dΓ/da die Gleichung (4.121). Auskunft u ¨ber die Stabilit¨at gibt die zweite Ableitung. F¨ ur d2 Π∗ /da2 > 0 ist das System in der ¨ Gleichgewichtslage stabil, bei d2 Π∗ /da2 = 0 findet der Ubergang zur Instabilit¨at statt. Dies sind genau die Aussagen von (4.122) und (4.123). Die Untersuchung des stabilen Risswachstums muss nicht auf der Basis des energetischen Konzepts erfolgen. Wegen der in der linearen Bruchmechanik ge¨ gebenen Aquivalenz von K, G und J kann sie vielmehr mit jeder dieser Gr¨oßen durchgef¨ uhrt werden.
F uF CF uP
P a C(a)
Bild 4.41 Stabilit¨at des Risswachstums Im weiteren wollen wir dG/da f¨ ur den rissbehafteten K¨orper nach Bild 4.41 bestimmen, der durch eine Feder mit vorgegebener Verschiebung uF belastet ist. Mit den Nachgiebigkeiten C(a) und CF von K¨orper und Feder gilt zun¨achst f¨ ur die angreifende Kraft und f¨ ur die Verschiebung von P F =
uF , C(a) + CF
uP = CF =
C uF . C + CF
(4.124)
Damit lautet das Potential u2F 1 1 1 Π = F uP + F (uF − uP ) = , 2 2 2 C(a) + CF und man erh¨alt durch Differenzieren G= −
u2 C dΠ = F , da 2 (C + CF )2
u2F C (C + CF ) − 2C 2 F2 2C 2 d2 Π dG C − , = = − 2 = da da 2 (C + CF )3 2 C + CF
(4.125)
wobei C = dC/da. In dG/da gehen also nicht nur die Eigenschaften des K¨orpers, sondern auch die Art der Belastung (CF ) ein.
116
Lineare Bruchmechanik
Aus (4.125) kann man noch Ergebnisse f¨ ur die beiden Sonderf¨alle CF = 0 und CF → ∞ herleiten. Nach (4.124) entspricht der erste einer Belastung des K¨orpers durch eine in P vorgeschriebene Verschiebung uF , der zweite einer von C(a) unabh¨angigen Last (=Totlast). Man erh¨alt ⎧ 2C 2 ⎪ ⎨ − C f¨ ur CF = 0 , dG F C = da 2 ⎪ ⎩ f¨ ur CF → ∞ . C 2
(4.126)
Bei einer zunehmenden Belastung des K¨orpers in P durch Totlasten (CF → ∞) wird der Instabilit¨atspunkt danach immer fr¨ uher erreicht als bei einer zunehmenden Belastung durch vorgegebene Verschiebungen (CF = 0). Als Beispiel betrachten wir die DCB–Probe nach Bild 4.27. Mit der Nachgiebigkeit C(a) = 8a3 /EBh3 (vgl. Abschnitt 4.6.3) errechnet sich ⎧ 2 ⎪ ⎪ − 48F a f¨ ur CF = 0 , ⎪ ⎨ EBh3 dG (4.127) = da ⎪ 2 ⎪ a 24F ⎪ ⎩ + f¨ ur CF → ∞ . EBh3 Bei Belastung durch vorgegebene Verschiebungen (CF = 0) ist das Risswachstum also immer stabil.
4.9
Gemischte Beanspruchung
Wir haben uns bisher im wesentlichen auf Bruchkriterien und Rissprobleme im Falle einer reinen Modus I Belastung konzentriert. Dabei konnten wir davon ausgehen, dass ein Rissfortschritt in Richtung der Tangente an der Rissspitze erfolgt, ein gerader Riss sich also in Richtung seiner L¨angsachse ausbreitet. Wir wollen uns nun mit Bruchkriterien bei gemischter Beanspruchung (mixed mode loading) befassen, bei welcher Modus I und Modus II u ¨ berlagert sind; Modus III soll nicht auftreten. Dann wird der kritische Zustand (=Bruch) durch den Einfluß beider Moden bestimmt. Außerdem setzt die Rissfortpflanzung unter einem bestimmten Winkel zur Tangente an der Rissspitze ein (Bild 4.42). Bei spr¨odem Material ergibt sich dabei meist eine Richtung, bei der sich die neugeschaffenen Rissoberfl¨achen wie bei einer Modus I Belastung ¨offnen. Beim Auftreten beider Moden kann der Zustand an der Rissspitze im Rahmen der linearen Bruchmechanik durch die Spannungsintensit¨atsfaktoren KI und KII charakterisiert werden. Ein mixed mode Bruchkriterium l¨asst sich damit allgemein folgendermaßen ausdr¨ ucken (vgl. (4.28)): f (KI , KII ) = 0 .
(4.128)
117
Gemischte Beanspruchung
−ϕ0 Bild 4.42 Rissausbreitung bei gemischter Beanspruchung ¨ Ahnlich wie bei den Versagenshypothesen in Abschnitt 2 ist es m¨oglich, beliebig viele Bruchkriterien vom Typ (4.128) aufzustellen. Tats¨achlich existieren auch viele Hypothesen, die je nach Materialklasse bzw. je nach dominierendem mikroskopischen Versagensmechanismus mehr oder weniger gut mit experimentellen Ergebnissen u ¨bereinstimmen. Im folgenden sind einige h¨aufig verwendete Kriterien zusammengestellt, die auch Aussagen u ¨ber die Rissfortschrittsrichtung machen. Energetisches Kriterium Nach (4.77) bzw. (4.89) setzt der Bruchvorgang f¨ ur G = Gc
(4.129)
2 uhrt man mittels Gc = KIc /E die Bruchz¨ahigkeit ein, wobei G = (KI2 +KII2 )/E . F¨ f¨ ur den Modus I ein, so l¨asst sich (4.129) auch in der Form 2 KI2 + KII2 = KIc
(4.130)
schreiben. Dieses Kriterium geht von der Annahme aus, dass die Rissfortpflanzung unabh¨angig von der Gr¨oße des Modus II Anteiles immer in tangentialer Richtung erfolgt. Dies trifft in der Regel nur f¨ ur KII KI mit hinreichender Genauigkeit zu, weshalb (4.130) auch nur recht eingeschr¨ankt verwendet werden kann. Kriterium der maximalen Umfangsspannung Diesem Kriterium, das von F. Erdogan und G.C. Sih (1963) stammt, liegen zwei Annahmen zugrunde: (a) der Riss breitet sich in radialer Richtung ϕ0 , senkrecht zur maximalen Umfangsspannung σϕmax aus, und (b) Rissfortschritt wird initiiert, wenn im Nahfeld die Spannung σϕmax = σϕ (ϕ0 ) im Abstand rc vor der Rissspitze den gleichen kritischen Wert annimmt, wie im reinen Modus I. F¨ ur die Umfangsspannung (vgl. Abschnitte 4.2.1 und 4.2.2) 3ϕ 3ϕ ϕ ϕ 1 σϕ = √ − KII 3 sin + 3 sin KI 3 cos + cos 2 2 2 2 4 2πrc
118
Lineare Bruchmechanik
1
−ϕ0
(4.128) (4.132) ν = 1/3
KII KIc
90◦
(4.132) ν = 1/3
60◦
(4.133) (4.129)
(4.129) (4.133)
a)
30
1
KI /KIc
◦
b) KII /(KI + KII )
1
Bild 4.43 Gemischte Beanspruchung: a) Bruchkriterien, b) Ablenkungswinkel gelten damit die Bedingungen ∂σϕ =0, ∂ϕ ϕ0
KIc σϕ (ϕ0 ) = √ , 2πrc
woraus die beiden Gleichungen KI sin ϕ0 + KII (3 cos ϕ0 − 1) = 0 , 3ϕ0 3ϕ0 ϕ0 ϕ0 + cos − KII 3 sin + 3 sin = 4KIc KI 3 cos 2 2 2 2
(4.131)
folgen. Aus der ersten ergibt sich der Ablenkwinkel ϕ0 . Mit ihm ist durch die zweite festgelegt, wann Versagen eintritt. In den Bildern 4.43a,b sind die entsprechenden Ergebnisse f¨ ur KI , KII ≥ 0 dargestellt. So ergeben sich zum Beispiel im reinen Modus II (KI = 0) f¨ ur den Ablenkungswinkel cos ϕ0 = 1/3 bzw. ϕ0 = −70, 6◦ und f¨ ur die kritische Belastung KII = 3/4 KIc = 0, 866 KIc . S–Kriterium Die Form¨anderungsenergiedichte in der Umgebung der Rissspitze l¨asst sich im EVZ mit der Nahfeldl¨osung (4.14), (4.15) in der Form 1 , 2 (1 − ν)(σx2 + σy2 ) − 2νσx σy + 2τxy U = 4G (4.132) / S 1. a11 KI2 + 2a12 KI KII + a22 KII2 = = r r ausdr¨ ucken, wobei 16πGa11 = (3 − 4ν − cos ϕ)(1 + cos ϕ) , 16πGa12 = 2 sin ϕ (cos ϕ − 1 + 2ν) , 16πGa22 = 4(1 − ν)(1 − cos ϕ) + (1 + cos ϕ)(3 cos ϕ − 1) .
(4.133)
119
Gemischte Beanspruchung
Von G.C. Sih (1973) wurde nun angenommen, dass (a) der Riss in diejenige radiale Richtung ϕ0 w¨achst, in der die St¨arke S der singul¨aren Form¨anderungsdichte ein Minimum ist, und dass (b) Risswachstum einsetzt, wenn S(ϕ0 ) einen kritischen Wert Sc erreicht. Letzterer kann durch die Bruchz¨ahigkeit KIc f¨ ur den reinen 2 Modus I ersetzt werden (dann ist ja ϕ0 = 0): Sc = a11 (ϕ0 = 0)KIc . Damit lauten das Richtungs- und das Bruchkriterium dS d2 S =0 mit >0, dϕ ϕ0 dϕ2 ϕ0 (4.134) , 1 − 2ν 2 a11 KI2 + 2a12 KI KII + a22 KII2 ϕ0 = KIc . 4πG Der Ablenkungswinkel und die Versagenskurve sind in Bild 4.43 dargestellt. W¨ahlt man ν = 1/3, so liefert diese Hypothese im reinen Modus II f¨ ur den Ablenkungswinkel cos ϕ0 = 1/9 , d.h. ϕ0 = −83, 62◦ und f¨ ur die kritische Belastung KII = 9/11 KIc = 0, 905 KIc . Das S–Kriterium l¨asst sich auf vielf¨altige Weise modifizieren. So kann es zweckm¨aßig sein, nicht von der Form¨anderungsenergiedichte U, sondern von der Volumen¨anderungsenergiedichte UV oder von der Gestalt¨anderungsenergiedichte UG auszugehen. Hierauf sei jedoch nicht n¨aher eingegangen. Kinken−Modell Dieses Modell geht davon aus, dass die Rissspitze unter gemischter Belastung abknickt, d.h. innerhalb des KI , KII –bestimmten Nahfeldes einen kleinen “Kinken” (Haken) bildet (Bild 4.44). Physikalisch l¨asst sich der Kinken als Ersatz f¨ ur etwaige radiale Mikrorisse in der Umgebung der makroskopischen Rissspitze interpretieren. An der Spitze des Kinken ist das Feld wieder singul¨ar und kann durch die Spannungsintensit¨atsfaktoren kI , kII charakterisiert werden. M.A. Hussain, S.L. Pu und I. Underwood (1972) haben angenommen, dass (a) der Kinken sich unter einem Winkel ϕ0 ausbildet, f¨ ur den die Energiefreisetzungsrate 2 G = (kI2 + kII )/E maximal ist, und dass (b) Risswachstum einsetzt, wenn diese Energiefreisetzungsrate einen kritischen Wert Gc erreicht. Die Richtungs- und die
kI , kII ϕ KI , KII − Feld Bild 4.44 Kinken-Modell
120
Lineare Bruchmechanik
Versagensbedingung lauten danach dG =0, dϕ ϕ0
G(ϕ0 ) = Gc ,
(4.135)
2 wobei Gc = KIc /E . Die L¨osung dieser Gleichungen setzt die Ermittlung von kI (ϕ), kII (ϕ) und damit die L¨osung des entsprechenden Randwertproblems voraus. Dieses ist nur numerisch m¨oglich; Bild 4.43 zeigt die Ergebnisse f¨ ur Ablenkungswinkel und Versagenskurve. Eine N¨aherungsl¨osung f¨ ur kI (ϕ), kII (ϕ) l¨asst sich in der Form √ √ kI C11 KI +C12 KII +D1 σT πε , kII C21 KI +C22 KII +D2 σT πε (4.136a)
mit 1 ϕ 3ϕ (3 cos + cos ), 4 2 2 ϕ 3ϕ 1 C22 = (cos + 3 cos ) , 4 2 2 D1 = sin2 ϕ , C11 =
ϕ ϕ sin , 2 2 ϕ 2 ϕ C21 = sin cos , 2 2 D2 = − sin ϕ cos ϕ . C12 = −3 cos2
(4.136b)
angeben, wobei ε die Kinkenl¨ange kennzeichnet. Die hier diskutierten Bruchkriterien gehen nicht auf den mikroskopischen Versagensmechanismus ein. Dieser kann je nachdem ob der Modus I oder der Modus II dominiert recht unterschiedlich sein, was Auswirkungen auf das Bruchverhalten hat. Aus diesem Grund ist die Anwendbarkeit dieser Kriterien eingeschr¨ankt, und sie d¨ urfen hinsichtlich ihrer physikalischen Interpretation nicht u ¨berstrapaziert werden. So versagen die Kriterien oft schon bei einer reinen Modus II Belastung. Aufgrund der fehlenden Riss¨offnung “verhaken” sich n¨amlich die mikroskopisch rauhen Rissoberfl¨achen, was zu ver¨anderten Verh¨altnissen an der Rissspitze f¨ uhrt. Die tats¨achlich vorliegende Rissspitzenbelastung ist dann geringer als durch KII (berechnet unter der Annahme unbelasteter Rissufer) ausgedr¨ uckt wird. Um lastfreie Rissufer zu sichern, sollte demnach eine gewisse minimale Risssoffnung vorliegen (KI > 0). Außerdem sind die Bruchkriterien grunds¨atzlich nur f¨ ur KI ≥ 0 physikalisch sinnvoll. Kommt es zum Rissschließen, so existiert kein Modus I Rissspitzenfeld mehr, sondern es liegt eine reine Modus II Rissspitzenbelastung vor (KI = 0). Ein Beispiel hierf¨ ur sind Risse unter kombinierter Druck- und Scherbelastung (=Scherriss). Aufgrund der erw¨ahnten Reibungs- bzw. Verhakungseffekte sind dann zwar die Bruchkriterien kaum anwendbar; verwendbar bleiben aber weiterhin die Richtungskriterien f¨ ur den Rissablenkungswinkel. Da die verschiedenen Hypothesen unterschiedlich gut auf unterschiedliche Werkstoffe angewendet werden k¨onnen, ist vorgeschlagen worden, auf eine physikalisch motivierte Bruchhypothese ganz zu verzichten und statt dessen einen formalen, einfachen Ansatz zu verwenden. Eine M¨oglichkeit hierf¨ ur ist die Darstellung µ ν KI KII + =1, (4.137) KIc KIIc
121
Erm¨ udungsrisswachstum
bei dem die vier Parameter KIc , KIIc , µ, ν aus Experimenten ermittelt werden m¨ ussen. Hingewiesen sei noch darauf, dass die verschiedenen Hypothesen sich bei kleinem Modus II–Anteil (|KII | KI ) nur wenig voneinander unterscheiden. Dies trifft insbesondere f¨ ur den Ablenkungswinkel ϕ0 zu. So liefern in diesem Fall (4.131), (4.134) und (4.135) das gleiche Ergebnis ϕ0 ≈ −2
KII . KI
(4.138)
Als einfaches Beispiel zur gemischten Beanspruchung betrachten wir den schr¨agen Riss unter einachsigem Zug nach Bild 4.45a. Hierf¨ ur gilt √ √ KI = σ πa cos2 γ , KII = σ πa sin γ cos γ . (4.139) Wendet man das Kriterium der maximalen Umfangsspannung nach (4.131) an, so ergeben sich die in Bild 4.45b,c dargestellten Ergebnisse f¨ ur den Ablenkungswinkel ϕ0 und die kritische Spannung σc . Es ist bemerkenswert, dass sich letztere f¨ ur nicht zu große γ nur schwach a¨ndert.
σ 2a
−ϕ0
√ σc πa KIc
−ϕ0
3
π/2
2
γ
1 σ a)
b)
π/2 γ
c)
π/2 γ
Bild 4.45 Schr¨ager Riss unter einachsigem Zug
4.10
Ermu ¨dungsrisswachstum
Wird ein Bauteil mit einem Riss statisch beansprucht, so tritt keine Rissausbreitung (=Bruch) auf, solange die Rissl¨ange bzw. die Belastung unterhalb der kritischen Gr¨oße liegt. Bei schwingender Beanspruchung stellt man dagegen ein Risswachstum in “kleinen Schritten” schon bei Belastungen weit unterhalb der kritischen statischen Last fest (vgl. Abschnitt 3.2.1). Man spricht in diesem Fall von Erm¨udungsrisswachstum (fatigue crack growth). Es wird in der Regel durch die Risswachstumsrate da/dN charakterisiert, wobei N die Lastspielzahl ist. Ursache f¨ ur das Erm¨ udungsrisswachstum sind die komplexen inelastischen Vorg¨ange,
122
Lineare Bruchmechanik
da dN mm Lsp
K
10−2
Kmax
10−4 ∆K
Kmin
10−6
∆K t
a)
b)
(4.140)
∆K0
KIc
∆K
Bild 4.46 Erm¨ udungsrisswachstum welche sich bei einer periodischen Belastung in der Prozesszone bzw. in der plastischen Zone abspielen. Bei metallischen Werkstoffen erf¨ahrt dort zum Beispiel ein materielles Teilchen plastisches Fließen abwechselnd unter Zug und unter Druck (plastische Hysterese). Damit verbunden sind wechselnde Eigenspannungsfelder sowie eine zunehmende Sch¨adigung des Werkstoffes (z.B. Hohlraumbildung) bis zur vollst¨andigen Trennung. Wir beschr¨anken uns im weiteren auf eine zyklische Modus I Beanspruchung. Sind die Bedingungen der linearen Bruchmechanik erf¨ ullt (Kleinbereichsfließen), so kann das Erm¨ udungsrisswachstum unter Verwendung des K–Konzeptes beschrieben werden. Einer periodischen Belastung ist dann ein periodisch ver¨anderlicher Spannungsintensit¨atsfaktor zugeordnet, dessen Schwingbreite ∆K (Bild 4.46a) als zyklischer Spannungsintensit¨atsfaktor bezeichnet wird. Misst man f¨ ur einen Werkstoff die Risswachstumsraten in Abh¨angigkeit von ∆K, so ergibt sich qualitativ der in Bild 4.46b dargestellte Verlauf. Unterhalb eines Schwellenwertes ∆K0 breitet sich der Riss nicht aus; dieser Wert ist meist kleiner als KIc /10. Der mittlere Bereich der Kurve zwischen ∆K0 und KIc l¨asst sich bei logarithmischer Auftragung durch eine Gerade mit dem Anstieg m approximieren. Danach wird das Risswachstum empirisch durch die Gleichung da = C (∆K)m dN
(4.140)
beschrieben; sie wird nach P.C. Paris (1963) auch Paris–Gesetz genannt. Die Konstanten C und m h¨angen dabei vom Werkstoff und verschiedenen Einfl¨ ussen wie Temperatur, Umgebungsmedium oder mittlerem Spannungsintensit¨atsfaktor ab. F¨ ur metallische Werkstoffe sind Exponenten im Bereich m ≈ 2 . . . 4 typisch. Es gibt viele verschiedene Ans¨atze, um die experimentellen Ergebnisse besser als nach (4.140) zu erfassen. So wird unter anderen die Foreman–Beziehung
123
Der Grenz߬achenriss
(R.G. Foreman, 1967) C (∆K)m da = , dN (1 − R)KIc − ∆K
(4.141)
verwendet, wobei R = Kmin /Kmax . Daneben existiert eine Reihe von Modellen, die eine vereinfachte Beschreibung des im Detail recht komplexen Vorganges der Erm¨ udungsrissausbreitung erm¨oglichen sollen. Eines dieser Modelle geht zum Beispiel davon aus, dass der Rissfortschritt bei jedem Zyklus proportional zur Gr¨oße der plastischen Zone ist. Wegen rp ∼ KI2 (vgl. (4.114)) f¨ uhrt dies auf da/dN ∼ (∆K)2 , d.h. auf einen Exponenten m = 2. Die Kenntnis der Risswachstumsrate da/dN erm¨oglicht es, eine Lebensdauervorhersage zu machen. Dies geschieht, indem man die erforderliche Lastspielzahl Nc bestimmt, damit ein Riss die kritische L¨ange ac erreicht. Als Beispiel f¨ ur die Vorgehensweise betrachten wir ein Bauteil, das durch ein konstantes ∆σ schwingend √ belastet ist. Der zyklische Spannungsintensit¨atsfaktor sei durch ∆K = ∆σ πa F (a) gegeben, wobei F (a) von der Geometrie des Bauteiles abh¨angt (vgl. Abschnitt 4.4.1, Tabelle 4.1). Geht man vom Paris–Gesetz (4.140) aus, so erh¨alt man damit durch Integration die Zahl der Lastzyklen um einen Riss der Ausgangsrissl¨ange ai auf die L¨ange a anwachsen zu lassen: 1 N(a) = C (∆σ)m
a
da -m ,√ πa F (a)
.
(4.142)
ai
Durch Einsetzen der kritischen Rissl¨ange ac folgt schließlich Nc .
4.11
Der Grenz߬ achenriss
Wir haben uns bisher nur mit Rissen in homogenen Materialien besch¨aftigt. Von betr¨achtlichem praktischen Interesse sind aber auch Risse, die in der Grenzfl¨ache von zwei Materialien mit unterschiedlichen elastischen Konstanten auftreten. Sie werden als Grenzfl¨achenrisse, Bimaterialrisse oder Interface-Risse bezeichnet. Beispiele hierf¨ ur sind Risse in Materialverbunden, in Klebeverbindungen oder Risse in den Grenzfl¨achen von Kompositwerkstoffen (Laminate, Faser-MatrixVerbunde etc.). Auf solche Risse kann das K-Konzept nicht unbesehen angewendet werden, weil das Rissspitzenfeld hier nicht die gleiche Form wie bei homogenen Materialien hat. Es ist von vornherein ebenfalls nicht klar, inwieweit f¨ ur solche Risse Parameter wie G oder J in Bruchkonzepten Verwendung finden k¨onnen. Wir betrachten zun¨achst das Feld an der Spitze eines Bimaterial-Risses, der in der Grenzfl¨ache zwischen den Materialien mit den elastischen Konstanten E1 , ν1 und E2 , ν2 liegt (Bild 4.47). Hierbei k¨onnen wir uns auf den EVZ beschr¨anken, da ein ESZ in der Umgebung der Grenzfl¨ache kaum zu realisieren ist. Um das Rissspitzenfeld zu bestimmen, benutzen wir wieder die komplexe Methode (vgl.
124
Lineare Bruchmechanik
E1 , ν1 y
r ϕ x
E2 , ν2 Bild 4.47 Spitze eines Bimaterial-Risses Abschnitt 4.2.1), die nun aber in der oberen (1) und in der unteren (2) Halbebene getrennt angewendet werden muss. Als L¨osungsansatz verwenden wir Φ1 (z) = A1 z λ ,
Ψ1 (z) = B1 z λ ,
Φ2 (z) = A2 z λ ,
Ψ2 (z) = B2 z λ ,
(4.143)
wobei der Exponent λ im Unterschied zu Abschnitt 4.2.1 jetzt auch komplex sein kann. Damit die Verschiebungen an der Rissspitze nichtsingul¨ar werden und die Form¨anderungsenergie beschr¨ankt bleibt, setzen wir Re λ > 0 voraus. Die Rand¨ und Ubergangsbedingungen (1)
(σϕ + i τrϕ )ϕ=π = 0 , (2)
(σϕ + i τrϕ )ϕ=−π = 0 ,
(1)
(2)
(σϕ + i τrϕ )ϕ=0 = (σϕ + i τrϕ )ϕ=0 , (1)
(2)
(u + i v)ϕ=0 = (u + i v)ϕ=0
f¨ uhren auf ein homogenes Gleichungssystem f¨ ur die vier komplexen Konstanten A1 . . . B2 (4 Real- und 4 Imagin¨arteile). Durch Nullsetzen der 8 × 8 Koeffizientendeterminante erh¨alt man eine Eigenwertgleichung mit der L¨osung 1/2 + n + i ε λ= n = 0, 1, 2, . . . , (4.144) n worin ε=
1 µ2 κ1 + µ1 ln 2π µ1 κ2 + µ2
(4.145)
mit µi = Ei /2(1+νi) und κi = 3−4νi die sogenannte Bimaterialkonstante ist. An der Rissspitze r → 0 dominiert das Feld, das zum Eigenwert mit dem kleinsten Realteil, d.h. zu λ = 1/2 + i ε (4.146) geh¨ort. Nach den Kolosovschen Formeln (1.118a) oder (1.120) und unter Beachtung von r i ε = ei ε ln r zeigen dementsprechend die Spannungen und Verschiebungen ein Verhalten der Art σij ∼ r −1/2 cos(ε ln r) ,
ui ∼ r 1/2 cos(ε ln r) ,
(4.147)
125
Der Grenz߬achenriss
wobei der Kosinus auch durch den Sinus ersetzt werden kann. Das typische √ √ singul¨are 1/ r-Verhalten der Spannungen bzw. das r-Verhalten der Verschiebungen tritt also auch an der Bimaterial-Risssitze auf. Mit Ann¨aherung an die Rissspitze oszillieren die Gr¨oßen aber zunehmend (oszillierende Singularit¨at). Wir wollen hier nicht das komplette Rissspitzenfeld angeben, sondern wir beschr¨anken uns auf die Spannungen im Interface und auf die Riss¨offnung: (σy + i τxy )ϕ=0 =
K (r/2a)i ε √ , 2πr
c1 + c2 K (r/2a)i ε (v − v ) + i (u − u ) = 2 cosh πε 1 + 2 i ε +
−
+
−
(4.148a) r . 2π
Hierin sind 2a eine beliebige Bezugsl¨ange (z.B. die Rissl¨ange), K = K1 + i K2
(4.148b)
ein komplexer Spannungsintensit¨atsfaktor und c1 = (1 + κ1 )/µ1 ,
c2 = (1 + κ2 )/µ2 .
(4.148c)
Danach ist das Rissspitzenfeld eindeutig durch den modifizierten komplexen Spannungsintensit¨atsfaktor K = K (2a)−i ε charakterisiert. Mit dem Betrag und dem Phasenwinkel ( |K| = K12 + K22 , tan ψ = K2 /K1 (4.149) l¨asst er sich auch in der Form K = |K| ei ψ (2a)−i ε
(4.150)
schreiben. Neben den beiden Spannungsintensit¨atsfaktoren K1 und K2 tritt also noch eine L¨ange 2a auf, die mit der Bimaterialkonstante ε gewichtet wird. Deswegen ist eine einfache Aufspaltung in Modus I und Modus II hier zun¨achst nicht m¨oglich. Die Spannungsintensit¨atsfaktoren K1 , K2 k¨onnen daher auch nicht ohne weiteres diesen Moden zugeordnet werden. Man erkennt dies deutlich, wenn man die Spannungen im Interface nach (4.148a) in reeller Form darstellt: σy K1 cos[ε ln (r/2a)] − K2 sin[ε ln (r/2a)] 1 . (4.151) =√ 2πr K1 sin[ε ln (r/2a)] + K2 cos[ε ln (r/2a)] τxy Der Spannungsintensit¨atsfaktor K1 beschreibt danach im Interface nicht nur Normalspannungen sondern auch Schubspannungen. In gleicher Weise sind K2 sowohl Schub- als auch Normalspannungen zugeordnet. Dementsprechend sind beim Bimaterialriss beide Moden (genau genommen) untrennbar miteinander verbunden. Nur im Grenzfall des homogenen Materials (c1 = c2 , ε = 0) reduzieren sich K1 , K2 auf KI , KII , und die beiden Moden sind dann separierbar.
126
Lineare Bruchmechanik
Aus (4.148a) geht hervor, dass die Riss¨offnung mit Ann¨aherung an die Rissspitze zunehmend oszilliert. Da eine Durchdringung der Rissufer physikalisch nicht m¨oglich ist, muss es folglich vor der Rissspitze zum Rissuferkontakt kommen. Die angegebene L¨osung kann also nur außerhalb des Kontaktbereiches das Rissspitzenfeld sinnvoll beschreiben. Im weiteren bestimmen wir noch die Energiefreisetzungsrate G = −dΠ/da f¨ ur einen Rissfortschritt im Interface (vgl. auch Abschnitt 4.6.2, Gleichung (4.74)). Sie ergibt sich aus dΠ 1 = − lim ∆a→0 2∆a da
∆a [σy (v + − v − ) + τxy (u+ − u− )] dx 0
mit (4.148a) und (4.148c) zu G=
(c1 + c2 ) (K12 + K22 ) . 16 cosh2 (πε)
(4.152)
Danach ist zwar G durch die beiden Spannungsintensit¨atsfaktoren eindeutig bestimmt. Umgekehrt lassen sich aber aus G nur der “Betrag” (K12 + K22 )1/2 und nicht etwa die einzelnen Komponenten K1 und K2 ermitteln. Man kann zeigen, dass die Energiefreisetzungsrate auch aus dem J-Integral J = G = (U dy − ti ui,x dc) (4.153) C
bestimmt werden kann. Dieses ist wegunabh¨angig, solange der Riss gerade ist, belastungsfreie Rissufer hat und sich die elastischen Konstanten in x-Richtung nicht ¨andern. Als einfachstes Beispiel eines Grenzfl¨achenrisses, f¨ ur das sich eine L¨osung in geschlossener Form finden l¨asst, betrachten wir den Riss im unendlichen Gebiet unter Innendruckbelastung nach Bild 4.48a. Wegen der Kompliziertheit der komplexen Potentiale sei exemplarisch nur Φ1 angegeben: % & i ε z − 2iεa z+a σ √ −1 . Φ1 = 1 + e2πε z−a z 2 − a2 Die Spannungsintensit¨atsfaktoren an der rechten Rissspitze ergeben sich zu √ K1 = σ π a , √ bzw. K = (1 + 2 i ε) σ πa (4.154) √ K2 = 2 ε σ π a . ¨ Uberlagern wir diesem Belastungsfall ein homogenes Verzerrungsfeld mit der Zugspannung σ in y-Richtung und geeigneten konstanten Spannungen σ1 , σ2 in xRichtung, dann erhalten wir den Belastungsfall nach Bild 4.48b. F¨ ur ihn gelten die
127
Der Grenz߬achenriss
σ µ1 , ν1
(1)
y
(1)
σ
σ1
x 2a µ2 , ν2
2a (2)
(2) σ
b)
a)
σ2
τ (1)
(1) P τ 2a
Q P
(2) c)
Q
τ
τ
2a
(2)
d) Bild 4.48 Grenz߬achenrisse
gleichen Spannungsintensit¨atsfaktoren (4.154) wie bei der Innendruckbelastung. Wirkt im Unendlichen nicht eine Zugspannung sondern die Schubspannung τ (Bild 4.48c), dann erh¨alt man √ √ K1 = −2 ε τ πa , K2 = τ π a . (4.155) Man beachte, dass nach (4.151) in diesem Fall aufgrund von K1 < 0 und K2 > 0 Druckspannungen im Interface auftreten und folglich die Rissspitze geschlossen sein wird. F¨ ur die Konfiguration nach Bild 4.48d ergibt sich schließlich (vgl. auch Tabelle 4.1, Nr. 4) P K1 = √ cosh πε , πa
Q K2 = √ cosh πε . πa
(4.156)
An Hand der Beispiele nach Bild 4.48a,b k¨onnen wir die L¨ange des Kontaktbereiches an der Rissspitze absch¨atzen. Zu diesem Zweck identifizieren wir die Kontaktl¨ange mit dem gr¨oßten Abstand rk , bei dem die Riss¨offung δ = v + − v − aufgrund der Oszillation zum ersten Mal Null wird. Dies f¨ uhrt nach (4.148a) auf die Bedingung Re [K (rk /2a)i ε /(1 + 2i ε)] = 0, und durch Einsetzen von (4.154) ergibt sich Re [rk /2a]i ε = cos[ε ln(rk /2a)] = 0. Hieraus folgt schließlich rk /2a = exp (−π/2 ε) .
(4.157)
128
Lineare Bruchmechanik
Ein extremer Wert, den ε f¨ ur µ2 → ∞ und ν1 = 0 annimmt, betr¨agt εmax = 0, 175. In den meisten praktisch interessierenden F¨allen ist allerdings ε 1. So ergeben sich zum Beispiel ε = 0, 039 f¨ ur die Materialkombination T i/Al2 O3 , ε = 0, 028 f¨ ur Cu/Al2 O3 und ε = 0, 004 f¨ ur Au/MgO. Setzen wir in (4.155) den Wert ε = 0, 05 ein, dann ergibt sich rk /2a ≈ 2 · 10−14 , d.h. die Kontaktzone ist vernachl¨assigbar klein. Dies trifft - wie schon angedeutet - auf eine reine Scherbelastung nicht zu. Ist ihr aber zumindest ein kleiner Zug u uhrt, ¨ berlagert, der zu einer Riss¨offnung f¨ dann wird die Kontaktzone wieder vernachl¨assigbar klein. Das Rissspitzenfeld eines Bimaterialrisses ist eindeutig durch den modifizierten komplexen K-Faktor nach (4.150) bzw. durch seinen Real- und Imagin¨arteil bestimmt. Es liegt deshalb nahe, ein Bruchkriterium formal in der Art K = K c zu formulieren. Dies st¨oßt jedoch auf mehrere Schwierigkeiten. So ist schon die ¨ ur zwei Risse mit den unterUbertragung von K-Faktoren nicht elementar. F¨ schiedlichen Rissl¨angen 2a∗ und 2a liegen bei gleichem ε n¨amlich nur dann gleiche Rissspitzenfelder (und damit Rissbeanspruchungen) vor, wenn gilt ∗
|K ∗ | ei ψ (2a∗ )−i ε = |K| ei ψ (2a)−i ε
(4.158a)
bzw. |K|∗ = |K| ,
ψ ∗ = ψ − ε ln a/a∗ .
(4.158b)
ur beide KonfiDementsprechend m¨ ussen sich die Phasenwinkel (d.h. K2 /K1 ) f¨ gurationen voneinander unterscheiden. Weitere Schwierigkeiten bestehen in der ¨ Ubertragung eines experimentell bestimmten K c -Wertes auf eine davon abweichende Situation sowie in ihrer von ε abh¨angenden Dimension. Aus den genannten Gr¨ unden wendet man h¨aufig eine pragmatische N¨aherung an. In vielen praktisch relevanten F¨allen ist es wegen ε 1 berechtigt, K ≈ K bzw. K1 ≈ KI und K2 ≈ KII zu setzen. Damit wird der Rissspitzenzustand in guter N¨aherung wie bei homogenem Material durch die u ¨ blichen Modus I¨ und Modus II Spannungsintensit¨atsfaktoren beschrieben. Aquivalent hierzu ist eine Charakterisierung der Rissbeanspruchung durch KI2 + KII2 und KII /KI bzw. durch die Energiefreisetzungsrate G und den Phasenwinkel ψ. Das Bruchkriterium kann damit in der Form G(ψ) = Gc(i) (ψ)
mit
tan ψ = (i)
KII KI
(4.159)
ausgedr¨ uckt werden. Die Interface-Bruchz¨ahigkeit Gc weist darin im allgemeinen eine starke Abh¨angigkeit von ψ auf. Wenden wir dieses Bruchkriterium auf die Beispiele nach Bild 4.48a,b an, dann liefert es mit (4.152) und (4.154) bei gegebener Belastung σ eine kritische Rissl¨ange (i) 18 cosh2 (πε) Gc (0) ac = . (4.160) π(1 + 4ε2 )(c1 + c2 ) σ 2
129
Der Grenz߬achenriss (i)
Mit ε 1 kann man sie noch zu ac ≈ 18 Gc (0)/π(c1 + c2 ) σ 2 vereinfachen. Als typisches Anwendungsbeispiel betrachten wir die Delamination zweier Schichten (1) und (2), welche mit der Ausbreitung eines Interfacerisses einhergeht (Bild 4.49a). Mit einem ¨ahnlichen Problem haben wir schon in Abschnitt 4.6.2 befasst. In Verallgemeinerung hierzu sei nun eine endliche Dicke h2 der Schicht (2) angenommen, die wie h1 aber klein im Vergleich zu allen anderen Abmessungen sein soll: h1 , h2 a. Aufgrund einer Eigendehnung ε0 der Schicht (2) zum Beispiel infolge einer Erw¨armung herrsche im System ein Eigenspannungszustand. Diesen k¨onnen wir durch die in beiden Schichten resultierenden Kr¨afte N und Momente M1 , M2 = M1 + (h1 + h2 )N/2 charakterisieren. Die Eigendehnung ε0 beschreibt dabei den Dehnungsunterschied beider Schichten f¨ ur den Fall, dass jede einzelne Schicht sich unbehindert deformieren kann. Die Energiefreisetzungsrate G l¨asst sich exakt mit Hilfe der Balkentheorie ermitteln. Danach ergeben sich f¨ ur x h1 , h2 zun¨achst −1 E1 h1 ε0 (1 + H)2 eH , N =f , f = 1 + eH + 3 B 1 + eH 3 (4.161) (1 + H)eH 3 (1 + H) M1 = − M2 = h2 N , h2 N , 2(1 + eH 3 ) 2(1 + eH 3 ) wobei B die Breite der Schichten ist und die Abk¨ urzungen e = E1 /E2 , H = h1 /h2 verwendet wurden. Mit M12 1 M22 N2 N2 i 12 3 + 12 3 + B da , + dΠ = dΠ = − 2 E1 h1 E2 h2 E1 h1 E2 h2 und der Bezugsspannung σ = E1 ε0 errechnet sich damit G=f
(1 − ν12 ) σ 2 h1 . 2 E1
(4.162) FI,II 0,6
M1 h1
E1 , ν1
h2
E2 , ν2 a
(1) x
N
FI
(2) da
M2
0,4
N
ν1 = ν2 -1
a)
FII
0,5
b)
Bild 4.49 Delamination
1
E1 −E2 E1 +E2
130
Lineare Bruchmechanik
Danach ergibt sich im Grenzfall h1 /h2 → 0 mit f → 1 gerade das Ergebnis aus Abschnitt 4.6.2, w¨ahrend der Grenzfall zweier gleicher Schichten (e = 1, H = 1) auf f = 0, 2 f¨ uhrt. Die Spannungsintensit¨atsfaktoren lassen sich nicht auf eine solch einfache Weise bestimmen. Hierf¨ ur ist vielmehr die L¨osung des elastischen Randwertproblems f¨ ur die Umgebung der Rissspitze erforderlich. Allgemein l¨asst sich die L¨osung in der Form KI = FI N h1 , KII = FII N h1 (4.163) darstellen, wobei FI und FII von H = h1 /h2 und den den elastischen Konstanten abh¨angen. F¨ ur den Sonderfall einer d¨ unnen Schicht auf einem dicken Substrat (h1 /h2 → 0) und ν1 = ν2 sind FI , FII in Bild 4.49b dargestellt. Aufgrund der unterschiedlichen Materialeigenschaften liegt bei einem Bimaterialriss auch bei ansonsten symmetrischen Konfigurationen meist eine gemischte Beanspruchung durch KI und KII vor. Dies kann zur Folge haben, dass eine m¨ogliche Rissausbreitung nicht im Interface erfolgt sondern der Riss in eines der beiden Materialien ausweicht. Das Verhalten des Risses h¨angt dabei sowohl vom Phasenwinkel ψ als auch von den Bruchz¨ahigkeiten des Interfaces und der einzelnen
σ
σ (1)
y
τxy
σy τxy (x)
(2) b)
σ
σ (1)
τxy
σ σ (1)
(1) τxy (x)
σy
(2) σ
(2) c)
σ
d)
(1)
(1) τxy
x
a)
σ
e) Bild 4.50 Rissablenkung
(2) f)
σ
Piezoelektrische Materialien
131
Materialien ab. An Hand des Beispiels nach Bild 4.50a sei dies durch rein quali¨ tative Uberlegungen erkl¨art. Wir wollen dabei µ1 < µ2 , und ν1 = ν2 annehmen, d.h. das Material (1) ist “weicher” als das Material (2). Unter einer Zugbelastung f¨ uhrt dies zu Schubspannungen im Interface, die an der rechten Rissspitze ein negatives KII bzw. einen negativen Phasenwinkel ψ bewirken (Bild 4.50b). Nehmen wir nun an, dass sich der Riss infolge einer St¨orung schon geringf¨ ugig in das Material (1) fortgepflanzt hat, dann k¨onnen wir die Rissablenkungshypothesen nach Abschnitt 4.9 anwenden. Diese ergeben alle f¨ ur die entsprechende Situation einen positiven Ablenkungswinkel ϕ0 , d.h. eine Rissfortpflanzung vom Interface weg in das weichere Material (1) hinein (vgl. auch (4.138)). Wendet man die glei¨ che Uberlegung f¨ ur eine hypothetische kleine Rissfortpflanzung in das Material (2) an, dann ergibt sich auch hier ein positiver Ablenkungswinkel ϕ0 , der nun aber den Riss wieder zum Interface zur¨ uck f¨ uhrt. Insgesamt hat der Riss also das Bestreben aus dem Interface heraus und in das weichere Material hineinzulaufen (Bild 4.50c). Dies wird allerdings nur eintreten, wenn f¨ ur die Bruchz¨ahigkeiten (1) (i) gilt: Gc ≤ Gc . Ein anderes Verhalten ergibt sich f¨ ur den Bimaterialriss nach Bild 4.50d, bei dem wir die gleichen Materialeigenschaften wie zuvor annehmen. Die Zugbelastung f¨ uhrt in diesem Fall zu einer Schubspannungsverteilung im Interface, die ein positives KII bewirkt (Bild 4.50e). Dementsprechend wird jetzt der Riss die Tendenz haben, in das “steifere” Material hineinzulaufen sofern die Bruchz¨ahigkeit dort geringer ist als im Interface (Bild 4.50f).
4.12
Piezoelektrische Materialien
4.12.1
Grundlagen
Piezoelektrika zeichnen sich dadurch aus, dass Deformationen nicht nur infolge mechanische Kr¨afte sondern auch infolge angelegter elektrischer Felder auftreten. Man bezeichnet dieses Ph¨anomen als Elektrostriktion. Umgekehrt rufen Deformationen bei diesen Materialien auch elektrische Felder hervor, was piezoelektrischer Effekt genannt wird. Aufgrund ihrer Verwendung als Stellglieder oder als Sensoren haben unter diesen Werkstoffen insbesondere die ferroelektrischen Keramiken eine große technische Bedeutung erlangt. Bei ihnen tritt ein makroskopischer piezoelektrischer Effekt erst nach einer Polarisierung mittels eines hinreichend starken elektrisches Feldes auf. Infolgedessen verhalten sich diese Werkstoffe dann transversal isotrop, d.h. es existiert eine Vorzugsrichtung, die mit der Polarisationsrichtung u ¨ bereinstimmt. Ohne in die Details zu gehen, wollen wir im folgenden die wichtigsten Grundgleichungen zur Behandlung bruchmechanischer Fragestellungen zusammenstellen. Hierbei beschr¨anken wir uns auf den sogenannten Kleinsignalbereich, der in guter N¨aherung durch ein lineares Stoffverhalten mit unver¨anderlicher Polarisierung gekennzeichnet ist. In diesem Fall sind alle wesenlichen Beziehungen ganz analog zu denen, die wir bei den u ¨blichen, rein
132
Lineare Bruchmechanik
elastischen Materialien schon kennengelernt haben. Allerdings treten jetzt wegen der Kopplung des mechanischen und des elektrischen Problems Zusatzterme auf. Daneben f¨ uhrt das anisotrope Materialverhalten zu einer gewissen Aufbl¨ahung der Gleichungen. Das lineare, gekoppelte elektromechanische Materialverhalten von Piezoelektrika kann beschrieben werden durch (vgl. auch (1.35a)) σij = Cijkl εkl − ekij Ek ,
Di = eikl εkl + ik Ek .
(4.164)
Darin sind Dk die dielektrische Verschiebung, Ei die elektrische Feldst¨arke und ekij sowie ij die Tensoren der piezoelektrischen und der dielektrischen Materialkonstanten (man verwechsle die Verzerrungen εij nicht mit den Materialkonstanten ik und eijk nicht mit dem Permutationssymbol!). Im Fall von transversal isotropen Ferroelektrika, bei denen die Polarisationsrichtung mit der x3 -Richtung zusammenf¨allt, kann das Stoffgesetz auch in der Matrizenform ⎡ ⎤ ⎤ ⎡ ⎤⎡ ⎤ ⎡ c11 c12 c13 0 0 0 ε11 0 0 e31 σ11 ⎢ σ22 ⎥ ⎢ c12 c11 c13 0 0 0 ⎥⎢ ε22 ⎥ ⎢ 0 0 e31 ⎥⎡ ⎤ ⎢ ⎥ ⎥ ⎢ ⎥⎢ ⎥ ⎢ ⎢ σ33 ⎥ ⎢ c13 c13 c33 0 0 0 ⎥⎢ ε33 ⎥ ⎢ 0 0 e33 ⎥ E1 ⎢ ⎥⎣ ⎥ ⎢ ⎥⎢ ⎥ ⎢ ⎦ ⎢ σ23 ⎥ = ⎢ 0 0 0 c44 0 0 ⎥⎢ 2 ε23 ⎥ − ⎢ 0 e15 0 ⎥ E2 ⎢ ⎥ E3 ⎥ ⎢ ⎥⎢ ⎥ ⎢ ⎣ σ31 ⎦ ⎣ 0 0 0 0 c44 0 ⎦⎣ 2 ε31 ⎦ ⎣ e15 0 0 ⎦ 0 0 0 0 0 c66 0 0 0 σ12 2 ε12 (4.165) ⎡ ⎤ ε11 ⎤⎢ ε22 ⎥ ⎡ ⎤ ⎡ ⎤⎡ ⎤ ⎡ ⎥ 11 0 0 0 0 0 0 e15 0 ⎢ E1 D1 ⎢ ε33 ⎥ ⎥ ⎣ ⎦⎣ E2 ⎦ ⎣ D2 ⎦ = ⎣ 0 0 0 e15 0 0 ⎦⎢ ⎢ 2 ε23 ⎥ + 0 11 0 ⎥ e31 e31 e33 0 0 0 ⎢ 0 0 D3 E3 33 ⎣ 2 ε31 ⎦ 2 ε12 geschrieben werden, wobei c66 = (c11 − c12 )/2. Die Verzerrungen εij h¨angen nach (1.25) mit den mechanischen Verschiebungen ui zusammen. Daneben l¨asst sich die Feldst¨arke Ei sich aus dem elektrischen Potential φ herleiten. Die entsprechenden Gleichungen lauten 1 εij = (ui,j + uj,i) , 2
Ei = −φ,i .
(4.166)
Hinzu kommen die Feldgleichungen σij,j = 0 ,
Di,i = 0 ,
(4.167)
wobei wir angenommen haben, dass keine Volumenkr¨afte und Raumladungen vorhanden sind. Zur vollst¨andigen Beschreibung eines Problems geh¨oren schließlich noch die mechanischen und die elektrischen Randbedingungen. Letztere machen
133
Piezoelektrische Materialien
eine Aussage u ¨ber das Potential φ oder die Normalkomponente Dn der dielektrischen Verschiebung am Rand. In Erweiterung der Form¨anderungsenergiedichte (vgl. Abschnitt 1.3.1.2) kann man das spezifische elektromechanische Potential (elektrische Enthalpiedichte) 1 1 W = Cijkl εij εkl − ekij Ek εij − ij Ei Ej (4.168) 2 2 einf¨ uhren. Es existiert dann das Oberfl¨achenintegral Jk = (W δjk − σij ui,k + Dj Ek )nj dA (4.169) ∂V
mit sinngem¨aß den gleichen Eigenschaften wie der J-Integralvektor (4.95). Schließt ∂V einen Defekt ein, so charakterisiert Jk eine Konfigurationskraft, die bei einer ¨ Verschiebung des Defektes um dsk eine Anderung der Gesamtenergie Π des piezoelektrischen Systems bewirkt: dΠ = −Jk dsk . Die Grundgleichungen der transversal isotropen Piezoelektrizit¨at lassen sich in vielen F¨allen vereinfachen. Ein ebener Verzerrungszustand (EVZ) liegt bei einer Polarisierung in x3 -Richtung vor, wenn die mechanischen und elektrischen Felder unabh¨angig z.B. von x2 sind. Mit u2 = 0, ε22 = ε32 = ε12 = 0, E2 = 0 reduziert sich das Stoffgesetz (4.165) dann auf ⎡ ⎤ ⎡ ⎤⎡ ⎤ c11 c13 0 ε11 σ11 0 −e31 ⎢ ⎢ σ33 ⎥ ⎢ c13 c33 0 ⎥ 0 −e33 ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ ε33 ⎥ ⎢ ⎢ σ31 ⎥ = ⎢ 0 ⎥ ⎥ 0 c −e 0 2 ε (4.170) 44 15 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ 31 ⎥ , ⎣ D1 ⎦ ⎣ 0 0 e15 11 0 ⎦ ⎣ E1 ⎦ e31 e33 0 D3 0 33 E3 und die Feldgleichungen lassen sich mit εij = (ui,j + uj,i)/2 folgendermaßen zusammenfassen: c11 u1,11 + (c13 + c44 )u3,13 + c44 u1,33 + (e31 + e15 )φ,13 = 0 , c44 u3,11 + (c13 + c44 )u1,31 + c33 u3,33 + e15 φ,11 + e33 φ,33 = 0 ,
(4.171)
e15 u3,11 + (e15 + e31 )u1,13 + e33 u3,33 − 11 φ,11 − 33 φ,33 = 0 . Besonders einfach gestaltet sich der longitudinale (nichtebene) Schubspannungszustand, f¨ ur den u1 = u3 = 0, E3 = 0 gilt. Bei einer Polarisierung wieder in x3 -Richtung vereinfacht sich das Stoffgesetz zu ⎤ ⎡ ⎤⎡ ⎤ ⎡ 0 −e15 c44 0 2ε23 σ23 ⎢ ⎥ ⎢ σ12 ⎥ ⎢ 0 c44 −e15 0 ⎥ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ 2 ε12 ⎥ , ⎢ (4.172) ⎦ ⎣ ⎣ D1 ⎦ = ⎣ 0 e15 11 0 E1 ⎦ e15 0 D2 0 11 E2 und es folgen die Feldgleichungen c44 ∆u3 + e15 ∆φ = 0 , mit ∆(.) = ∂ 2 (.)/∂x21 + ∂ 2 (.)/∂x23 .
e15 ∆u3 − 11 ∆φ = 0 ,
(4.173)
134 4.12.2
Lineare Bruchmechanik
Der Riss im ferroelektrischen Material
Wir betrachten im weiteren einen Riss im ferroelektrischen Material mit zun¨achst noch beliebiger Polarisationsrichtung (Bild 4.51). Ohne auf die Herleitung einzugehen ergibt sich unter der Annahme, dass die dielektrische Verschiebung entlang der Rissflanken verschwindet (impermeable R¨ander: D2− = D2+ = 0) f¨ ur das Rissspitzenfeld (r → 0) ein Verhalten, das vom gleichen Typ ist wie beim rein elastischen Material: σij ∼ r −1/2 ,
ui ∼ r 1/2 ,
Di ∼ r −1/2 ,
φ ∼ r 1/2 .
(4.174)
Danach hat die dielektrische Verschiebung genau wie die Spannungen an der Rissfront (Rissspitze) eine Singularit¨at vom Typ r −1/2 . Das Feld l¨asst sich vollst¨andig mittels der nunmehr insgesamt vier ”Spannungsintensit¨atsfaktoren” KI , KII , KIII und KIV beschreiben. Der Einfachheit halber seien hier nur die Gr¨oßen vor der Rissspitze (ϕ = 0) angegeben, wobei wir uns auf das Koordinatensystem in Bild 4.51 beziehen: KI σ22 = √ , 2πr
KII σ12 = √ , 2πr
KIII σ13 = √ , 2πr
KIV D2 = √ . 2πr
(4.175)
Dementsprechend beschreibt KIV die St¨arke der singul¨aren dielektrischen Verschiebung. F¨ ur die Energiefreisetzungsrate (Rissausbreitungskraft) beim geraden Rissfortschritt ergibt sich damit die Darstellung G=J =−
dΠ = C M N KM KN da
(M, N = I, II, III, IV ) ,
(4.176)
wobei u ¨ber M und N zu summieren ist. Darin ist J = J1 die x1 -Komponente der Konfigurationskraft Jk nach (4.169), und die CM N sind Materialkonstanten, die von der Polarisationsrichtung abh¨angen.
Polarisierung
x2 r ϕ x3
x1 Rißfront
Bild 4.51 Riss im ferroelektrischen Material Ein technisch wichtiger Sonderfall liegt bei einer Polarisierung senkrecht zur Rissflanke vor, wie sie in Bild 4.52a dargestellt ist. Man beachte, dass hier abweichend von den bisherigen Darstellungen die x3 -Achse senkrecht zur Rissflanke
135
Piezoelektrische Materialien
steht. Im Fall des EVZ, wenn die Felder unabh¨angig von x2 sind und außerdem noch symmetrische Verh¨altnisse bez¨ uglich der x1 -Achse vorliegen, verschwinden KII und KIII . Es liegt dann eine Modus I Riss¨offnung vor, und f¨ ur r → 0 ergeben sich hinter der Rissspitze (ϕ = ±π) KIV r KI KIV r KI ± ± u3 = ±4 , φ = ±4 − . (4.177) + + 2π cT e 2π e Darin kennzeichnen cT , und e zusammengefasste elastische, dielektrische und piezoelektrische Materialeigenschaften, die sich durch die Materialkonstanten in (4.170) ausdr¨ ucken lassen. Die Energiefreisetzungsrate folgt damit zu KI KI KIV KIV G = Gm + Ge = KI + KIV − + + cT e e (4.178) 2 KI2 KIV KI KIV − = +2 . cT e Die beiden Anteile Gm und Ge lassen sich als der mechanische und der elektrische Teil der Energiefreisetzungsrate interpretieren. D0
F r E ϕ x1 Polarisierung
x3
a)
σ0 x3 x1 2a Polarisierung
b) σ0
D0
Bild 4.52 Elektromechanische Rissbelastung Aufgrund der elektromechanischen Kopplung treten bei einer rein mechanischen oder rein elektrischen Belastung im allgemeinen beide Spannungsintensit¨atsfaktoren KI und KIV auf. Bestimmte Belastungen k¨onnen im Sonderfall aber auch nur einen einzigen K-Faktor zur Folge haben. Ein Beispiel hierf¨ ur ist der impermeable endliche Riss im unbeschr¨ankten Gebiet nach Bild 4.52b. Infolge einer Belastung durch σ0 bzw. durch D0 ergeben sich hier √ √ KIV = D0 πa . (4.179) KI = σ0 πa , Der Rissspitzenzustand ist bei symmetrischer Rissbelastung eindeutig durch KI und KIV charakterisiert. Dementsprechend l¨asst sich ein Bruchkriterium f¨ ur diesen Fall formal in der Form f (KI , KIV ) = 0
(4.180)
136
Lineare Bruchmechanik
angeben. Konkret vorgeschlagen wurden unter anderen die Kriterien (A)
G = Gc ,
(B)
Gm = Gmc ,
(C)
KI = KIc ,
(4.181)
wobei das Kriterium (A) h¨aufig vorgezogen wird. Unabh¨angig vom gew¨ahlten Kriterium ist allerdings die Bestimmung sowohl der Beanspruchungsgr¨oßen als auch der materialspezifischen kritischen Gr¨oßen mit Unsicherheiten behaftet. Der Grund hierf¨ ur ist, dass die elektrischen Randbedingungen entlang des Risses bei realen Materialien oft nicht eindeutig festgelegt werden k¨onnen.
4.13
Literatur
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Lineare Bruchmechanik
137
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5 Elastisch-plastische Bruchmechanik
5.1
Allgemeines
Belastet man ein Bauteil aus duktilem Material, das einen Riss enth¨alt, so kommt es zun¨achst in der Umgebung der Rissspitze zur Plastizierung. Dies hat zur Folge, dass mit zunehmender Belastung die Spitze mehr und mehr abstumpft: der Riss ¨offnet sich. Gleichzeitig w¨achst der plastische Bereich an, was je nach Werkstoff und Bauteilgeometrie zur v¨olligen Durchplastizierung f¨ uhren kann. Bei einer bestimmten kritischen Belastung kommt es schließlich zur Initiierung des Risswachstums. In einem solchen Fall, wenn also kein Kleinbereichsfließen stattfindet, sondern gr¨oßere plastische Zonen auftreten, kann die lineare Bruchmechanik nicht mehr angewendet werden. Die Bruchparameter und Bruchkonzepte, die wie das K–Konzept auf dem (außerhalb der Prozesszone) linear elastischen Materialverhalten basieren, haben dann ihre Bedeutung verloren. Man muß in diesem Fall vielmehr Parameter und Konzepte heranziehen, die dem nunmehr in gr¨oßerem Bereich auftretenden plastischen Materialverhalten Rechnung tragen. In der elastisch-plastischen Bruchmechanik haben sich zwei alternative Parameter zur Charakterisierung des Rissspitzenzustandes durchgesetzt. Der eine ist das von J. Rice (1968) vorgeschlagene J–Integral , welches in der Bedeutung eines Spannungs- bzw. Verformungsintensit¨atsfaktors und nicht etwa einer Energiefreisetzungsrate gebraucht wird. Beim zweiten handelt es sich um die Rissspitzen¨offnung δt oder CTOD (= crack tip opening displacement), die ein Maß f¨ ur den Deformationszustand an der Rissspitze sein soll. Dieser Vorschlag geht auf A.H. Cottrell und A.A. Wells (1963) zur¨ uck. W¨ahrend J im wesentlichen durch die Deformationstheorie der Plastizit¨at begr¨ undet wird, ist die Verwendung von δt eher experimentell und anschaulich motiviert. Wir werden allerdings zeigen, dass beide Gr¨oßen meist direkt ineinander u uhrbar sind. ¨berf¨ Bei der Behandlung von elastisch–plastischen Rissproblemen werden wir uns auf einfache Materialmodelle der zeitunabh¨angigen Plastizit¨at, wie zum Beispiel auf das idealplastische Material oder auf die Deformationstheorie beschr¨anken. Außerdem setzen wir voraus, dass die ¨außere Belastung monoton zunimmt; eine globale Entlastung oder gar eine Wechselbelastung sei ausgeschlossen. Nur dann ist es in wenigen Sonderf¨allen m¨oglich, zu L¨osungen in analytischer Form zu gelangen, die eine Basis f¨ ur Bruchkonzepte bilden. Bei aufwendigen Materialmodellen oder bei der elastisch–plastischen Analyse von realen Bauteilen ist
140
Elastisch-plastische Bruchmechanik
man dagegen auf numerische Methoden angewiesen. Wie schon in der linearen Bruchmechanik werden wir uns auch hier auf ebene Probleme mit geraden Rissen unter Modus I Belastung konzentrieren.
5.2
Dugdale Modell
In d¨ unnen Platten aus duktilem Material beobachtet man h¨aufig zungenf¨ormige plastische Zonen vor der Rissspitze (Bild 5.1a). Diese kommen im wesentlichen durch Gleiten in Schnitten unter 45◦ zur Plattenebene zustande, wodurch ihre Ausdehnung in y-Richtung auf die Gr¨oßenordnung der Plattendicke beschr¨ankt ist (vgl. Abschnitt 4.7.2). y
plast. Zone x
a) y
C σF
x b)
δt a
δ d
Bild 5.1 Dugdale Modell Eine einfache Modellierung des entsprechenden elastisch-plastischen Modus I– Problems geht auf D.S. Dugdale (1960) zur¨ uck. Hierbei wird das Material als elastisch-idealplastisch angenommen und vorausgesetzt, dass die Ausdehnung der plastischen Zone in y-Richtung klein ist im Vergleich zu ihrer L¨ange d. Dann kann die plastische Zone als eine Linie (Streifen) angesehen werden, entlang welcher im ESZ nach der Trescaschen Fließbedingung die Fließspannung σF wirkt. Damit ist die Aufgabe auf das rein elastische Problem eines Risses zur¨ uckgef¨ uhrt, der fiktiv um die Strecke d verl¨angert ist und dessen Rissflanken dort durch σF belastet sind (Bild 5.1b). Die noch unbekannte L¨ange d folgt aus der Bedingung, dass die Spannungen nirgends die Fließspannung u urfen. Danach ¨berschreiten d¨ darf an der Spitze des fiktiven Risses (=Ende der plastischen Zone) auch keine Spannungssingularit¨at auftreten, d.h. der K–Faktor muß verschwinden. Ausdr¨ ucklich sei betont, dass die L¨ange der plastischen Zone in diesem Modell keinen Einschr¨ankungen unterliegt; sie kann hier durchaus von der Gr¨oßenordnung der Rissl¨ange oder einer anderen charakteristischen L¨ange sein.
141
Dugdale Modell
Entlang der fiktiven Rissverl¨angerung tritt eine Relativverschiebung der Rissufer um δ = v + − v − auf. Diese nimmt an der Rissspitze den Wert δt (= Rissspitzen¨offnung) an und ist am Ende der plastischen Zone Null. Interpretiert man δ als Resultat der plastischen Deformation, dann ist δt ein m¨ogliches Maß f¨ ur den Verformungszustand an der Rissspitze. Damit l¨asst sich ein elastisch–plastisches Bruchkriterium f¨ ur die Initiierung des Rissfortschrittes in der Form δt = δtc
(5.1)
postulieren. Darin ist die kritische Riss¨offnung δtc ein Werkstoffkennwert. Wir wollen nun noch das J–Integral bestimmen. Hierzu w¨ahlen wir zweckm¨aßig eine Kontur C, die entlang der unteren und der oberen Flanke des Fließstreifens verl¨auft (Bild 5.1b). Nach (4.107) erh¨alt man dann mit dy = 0 und τxy = 0 f¨ ur J den Ausdruck a+d J = −σF
∂ , + v − v − dx = −σF [ δ ]a+d . a ∂x
a
Hieraus folgt wegen δ(a+d) = 0 und δ(a) = δt der einfache Zusammenhang J = σF δt .
(5.2)
Im Rahmen des Dugdale Modells ist danach ein Bruchkriterium J = Jc
(5.3)
¨aquivalent zum δt –Kriterium (5.1). Darin ist Jc = σF δtc ein Materialkennwert, der angibt, wann Risswachstum einsetzt. Wendet man das Dugdale Modell auf einen Riss der L¨ange 2a im unendlichen Gebiet unter einachsigem Zug an, so ergibt sich die in Bild 5.2 dargestellte Konfiguration. Dabei ist es zweckm¨aßig, die L¨osung durch Superposition der beiden Lastf¨alle (1) einachsiger Zug“ und (2) Rissflankenbelastung“ zu gewinnen. Mit ” ” den Bezeichnungen nach Bild 5.2 gilt f¨ ur die entsprechenden K–Faktoren (vgl. Abschnitt 4.4.1) √ (1) KI = σ πb ,
2 √ a (2) KI = − σF πb arccos π b
und f¨ ur die Verschiebungen in y-Richtung an der physikalischen Rissspitze (x = a) 2σ √ 2 b − a2 , E √ 4σF a b (2) 2 2 . v (a) = − b − a arccos + a ln πE b a v (1) (a) =
142
Elastisch-plastische Bruchmechanik
σ
σ y
(2)
(1)
σF
σF
+
=
x
2b = 2(a + d)
2a d
d
σ
σ
Bild 5.2 Dugdale Modell beim Riss unter einachsigem Zug (1)
(2)
Aus der Bedingung KI + KI = 0 ergibt sich die Gr¨oße der plastischen Zone zu & % −1 πσ −1 . (5.4) d = b − a = a cos 2σF Hiermit erh¨alt man f¨ ur die Rissspitzen¨offnung (aus Symmetriegr¨ unden ist v − = −v + ) −1 , - 8 σF πσ δt = 2 v (1) (a) + v (2) (a) = a ln cos πE 2 σF
(5.5)
und f¨ ur das J–Integral J = σF δt =
−1 8 σF2 πσ a ln cos . πE 2 σF
(5.6)
In Bild 5.3a ist die Gr¨oße der plastischen Zone nach (5.4) dargestellt. Dieses ¨ 9 σF in guter Ubereinstimmung Ergebnis steht f¨ ur σ <0, mit experimentellen Resultaten. F¨ ur σ → σF ergibt sich d → ∞, was einer v¨olligen Durchplastizierung entspricht. Dann ist die Grenzlast (limit load) erreicht, und Versagen tritt durch plastischen Kollaps auf. F¨ ur hinreichend kleine Belastung (σ σF ) werden die plastischen Zonen so klein, dass Kleinbereichsfließen vorliegt. Wir befinden uns dann im G¨ ultigkeitsbereich der linearen Bruchmechanik. In diesem Fall erh¨alt man mit −1 2 √ πσ 1 πσ cos ≈1+ und σ πa = KI 2σF 2 2 σF
143
Dugdale Modell
σ σF
d a
KR (5.10)
(5.4)
1
spr¨od
1 1
spr¨od
(5.9)
duktil
(5.7) a)
1
σ σF
1
b)
a Jc E/σF2
c)
1
SR
Bild 5.3 a) plastische Zonengr¨oße, b) Versagenslast, c) Versagensgrenzkurve aus (5.4) die plastische Zonengr¨oße 2 2 a πσ π KI D = . d = 2rp = 2 2σF 8 σF
(5.7)
Dabei deutet der Buchstabe D an, dass sie mit dem Dugdale Modell bestimmt wurde. Analog ergibt sich f¨ ur δt und f¨ ur J in diesem Grenzfall δt =
KI2 , E σF
J=
KI2 . E
(5.8)
Dies bedeutet, dass die Bruchkriterien (5.1) und (5.3) der elastisch–plastischen Bruchmechanik im Fall des Kleinbereichsfließens in die Bruchkriterien der linearen Bruchmechanik (K–Konzept) u ¨ bergehen. Die Ausdehnung der plastischen Zone nach (5.7) stimmt gr¨oßenordnungsm¨aßig gut mit der Irwinschen Absch¨atzung (4.112) f¨ ur den ESZ u ¨berein. Setzt man (5.6) in das Bruchkriterium (5.3) ein, so erh¨alt man f¨ ur den allgemeinen elastisch-plastischen Fall mit beliebig großen plastischen Zonen −1 8 πσ Jc E 1 ln cos . (5.9) = 2 π 2 σF σF a Hieraus folgt im Spezialfall der linearen Bruchmechanik (σ σF ) 2 Jc E 1 σlin . = 2 π σF σF a
(5.10)
Diese Beziehungen beschreiben bei gegebenen Materialparametern Jc , E, σF die Abh¨angigkeit der Versagenslast σ von der Rissl¨ange a im allgemeinen elastischplastischen Fall bzw. im linearen Fall. Bild 5.3b zeigt, dass f¨ ur kleine a duktiles
144
Elastisch-plastische Bruchmechanik
Versagen vorherrscht; die Versagenslast liegt hier in der N¨ahe der plastischen Grenzlast. F¨ ur große a befindet man sich dagegen im Bereich der linearen Bruchmechanik; Versagen wird dann spr¨od erfolgen. Eine von der Rissl¨ange unabh¨angige Darstellung der Versagensbedingung l¨asst sich gewinnen, wenn man (5.9) in (5.10) einsetzt. Mit den Bezeichnungen σ/σlin = KI /KIc = KR und σ/σF = SR ergibt sich auf diese Weise die Versagensgrenzkurve (failure assessment curve) KR = SR
) 8 π *−1 SR ln cos π2 2
−1/2 .
(5.11)
Man kann sie als Versagensbedingung im elastisch-plastischen Bereich zwischen den beiden Grenzf¨allen des Spr¨odbruchs (KR = 1) und des plastischen Kollapses (SR = 1) interpretieren (Bild 5.3c). Wegen der direkten Proportionalit¨at von KI und σ ist ein Belastungsvorgang im Diagramm durch die Bewegung eines Punktes auf einem radialen Strahl nach außen gekennzeichnet. Der Abstand des Punktes zur Grenzkurve kann als ein Maß f¨ ur die Sicherheit gegen¨ uber Versagen angesehen werden. Obwohl (5.11) genaugenommen nur f¨ ur das Beispiel nach Bild 5.2 gilt, wird diese Beziehung wegen ihrer Einfachheit in den technischen Anwendungen h¨aufig auch auf andere Risskonfigurationen bzw. Bauteile angewendet. Dabei ersetzt man σ durch die Bauteilbelastung P und σF durch die entsprechende plastische Grenzlast PG und sieht (5.11) als universell g¨ ultig an. Das Dugdale Modell ist trotz seiner Einfachheit in der Lage, die wesentlichen Ph¨anomene beim elastisch-plastischen Bruch zu beschreiben. Obwohl urspr¨ unglich nur f¨ ur d¨ unne Platten im ESZ gedacht, wird es vielfach auch im EVZ oder in modifizierter Form bei dreidimensionalen Problemen (z.B. beim kreisf¨ormigen Riss) angewendet und f¨ uhrt dort zu technisch befriedigenden Resultaten. Seine Grundidee der Modellierung plastischer Bereiche durch Fließstreifen l¨asst sich vielf¨altig variieren. So kann man zum Beispiel von mehreren gegeneinander geneigten Fließstreifen ausgehen oder die Verfestigung durch eine ge¨anderte Spannungsverteilung entlang des Fließstreifens ber¨ ucksichtigen.
5.3
Rissspitzenfeld
Wie in der linearen Bruchmechanik spielt das Feld in der Umgebung der Rissspitze auch in der elastisch plastischen Bruchmechanik eine fundamentale Rolle. Im folgenden werden wir die Rissspitzenfelder f¨ ur einige Materialmodelle behandeln. Der Einfachheit halber beschr¨anken wir uns hierbei teilweise auf den Modellfall des Modus III.
145
Rissspitzenfeld
5.3.1
Idealplastisches Material
5.3.1.1
Longitudinaler Schub, Modus III
Beim nichtebenen (longitudinalen) Schub treten nur die Verschiebung w sowie die Schubspannungen τxz , τyz auf. Letztere sind beim idealplastischen Material durch die Fließbedingung 2 2 τxz + τyz = τF2 (5.12) verkn¨ upft. Nach Abschnitt 1.5.3 sind die Schnittlinien, in denen τF auftritt (= α–Linien), immer Geraden; in Schnitten senkrecht dazu ist die Schubspannung Null. F¨ ur die Umgebung einer Rissspitze mit belastungsfreien Rissflanken erf¨ ullt dementsprechend ein Liniensystem nach Bild 5.4 die Randbedingungen. F¨ uhrt man Polarkoordinaten r, ϕ ein (ϕ f¨allt hier mit dem Winkel φ nach Abschnitt 1.5.2 zusammen), dann gilt f¨ ur die Spannungen im Bereich des F¨achers (|ϕ| ≤ π/2) τϕz = τF , τrz = 0 . (5.13)
r ϕ
R
Rand
Bild 5.4 α–Linien im Modus III Entlang einer α–Linie ist der Verschiebungszuwachs dw konstant, d.h. im Bereich des F¨achers gilt dw = dw(ϕ) und folglich dγrz = ∂(dw)/∂r = 0. Das Verzerrunginkrement dγϕz = ∂(dw)/r∂ϕ l¨asst sich ermitteln, wenn wir annehmen, dass uns dγϕz (R) entlang des Randes R(ϕ) der plastischen Zone bekannt ist: R(ϕ) dγϕz (r, ϕ) = (5.14) dγϕz (R) . r Setzen wir einen undeformierten Ausgangszustand voraus, so erh¨alt man daraus durch Integration γϕz
1 ∂w R(ϕ) = = γϕz (R) , r ∂ϕ r
ϕ w=
R(ϕ)γϕz [R(ϕ)]dϕ ;
(5.15)
0
dabei wurde w(ϕ = 0) = 0 gesetzt. Die Beziehungen (5.12) bis (5.15) gelten im Bereich des F¨achers allgemein, d.h. auch f¨ ur beliebig große plastische Zonen. Sie
146
Elastisch-plastische Bruchmechanik
zeigen, dass die Spannungen durch die Fließspannung beschr¨ankt sind, w¨ahrend die Verzerrungen an der Rissspitze eine 1/r–Singularit¨at besitzen.
R ϕ M
r ∗ = rp
ϕ∗ = 2ϕ plast. elast. KIII –bestimmtes Feld
Bild 5.5 Plastische Zone im elastischen Nahfeld Die Spannungen (5.13) lassen sich auch in anderer Form darstellen. So lauten die kartesischen Komponenten τxz = −τF sin ϕ und τyz = τF cos ϕ . Entlang eines Kreises dessen Mittelpunkt M im Abstand r ∗ vor der Rissspitze liegt (Bild 5.5) folgt daraus mit dem Winkel ϕ∗ die Darstellung τxz = −τF sin
ϕ∗ , 2
τyz = τF cos
ϕ∗ . 2
(5.16)
Dies entspricht bis auf einen Faktor genau den Spannungen, die sich nach der elastischen Nahfeldl¨osung (4.6) auf einem Kreis um eine Rissspitze bei M ergeben (dabei sind in (4.6) der Abstand r und der Winkel ϕ durch die hier benutzten Gr¨oßen r ∗ und ϕ∗ zu ersetzen). Man kann diese Tatsache ausnutzen, um eine exakte L¨osung f¨ ur den Fall des Kleinbereichsfließen zu konstruieren. Hierbei ist der plastische Bereich von einem elastischen Bereich umgeben, in welchem die elastische Nahfeldl¨osung gilt. An der Grenze zwischen beiden Bereichen m¨ ussen ¨ die Ubergangsbedingungen erf¨ ullt sein, das heißt, die Spannungen aus der L¨osung im plastischen Bereich und aus der L¨osung im elastischen Bereich m¨ ussen u ¨ bereinstimmen. Dies ist in unserem Fall offenbar zu erreichen, wenn man (5.16) mit (4.6) √unter Beachtung der unterschiedlichen Notation gleichsetzt: τF = KIII / 2πr ∗. Die plastische Zone ist also ein Kreis vor der Rissspitze mit dem Radius 2 1 KIII rp = r ∗ = . (5.17) 2π τF Das gleiche Ergebnis f¨ ur rp erh¨alt man u ¨brigens, wenn man die plastische Zone nach Irwin aus der elastischen Nahfeldl¨osung absch¨atzt (vgl. auch Abschnitt
147
Rissspitzenfeld
4.7.1). Mit (5.17) gilt f¨ ur den Rand R(ϕ) der plastischen Zone und f¨ ur die dort auftretende Verzerrung γϕz (R) R(ϕ) = 2rp cos ϕ =
1 π
KIII τF
2 cos ϕ ,
γϕz (R) =
τF . G
(5.18)
Aus (5.14) und (5.15) folgen damit im plastischen Bereich γϕz =
2 1 KIII cos ϕ , r πGτF
w=
2 KIII sin ϕ . πGτF
(5.19)
Die Rissspitzen¨offnung δt ist durch die Relativverschiebung der beiden Rissufer an der Rissspitze gegeben; hierf¨ ur erh¨alt man 2 π 2 KIII π . δt = w( ) − w(− ) = 2 2 π GτF
5.3.1.2
(5.20)
Ebener Verzerrungszustand, Modus I
Das Feld in der Umgebung der Rissspitze l¨asst sich auch in diesem Fall mittels der Gleitlinientheorie nach Abschnitt 1.5.3 ermitteln. Aus Symmetriegr¨ unden k¨onnen wir uns dabei auf die obere Halbebene (y ≥ 0) beschr¨anken (Bild 5.6a). Entlang der belastungsfreien Rissufer und der x-Achse vor der Rissspitze (=Symmetrielinie) ist τxy = 0. Die Gleitlinien m¨ ussen dort also unter 45◦ einm¨ unden. Die Verbindung zwischen den auf diese Weise gebildeten Bereichen A und C wird durch den Viertelkreisf¨acher B hergestellt. Ein entsprechendes Gleitlinienfeld wird nach L. Prandtl auch Prandtl–Feld genannt. Mit den im Bild gew¨ahlten Bezeichnungen erh¨alt man damit am Rissufer (φ = 3π/4 , σy = 0 , τxy = 0 ) aus (1.123) den Startwert“ σm = k . L¨auft man von da aus entlang einer β-Linie durch A , B ” und C (φA = 3π/4, φB = ϕ, φC = π/4), so liefern die Henckyschen Gleichungen (1.124) A =k, σm
B σm = k(1 + 3π/2 − 2ϕ) ,
C σm = k(1 + π) .
(5.21)
Hieraus ergibt sich nach (1.123) f¨ ur die Spannungen in den einzelnen Bereichen Bereich A
⎛
σx
⎞
⎛
σF ⎜ ⎜ ⎟ ⎝ σy ⎠ = √ ⎝ 3 τxy
2 0 0
Bereich B
Bereich C
1 + 3π/2 − 2ϕ − sin 2ϕ
π
⎞
⎟ 1 + 3π/2 − 2ϕ + sin 2ϕ 2 + π ⎠ , cos 2ϕ
0
(5.22)
148
Elastisch-plastische Bruchmechanik
σij σF σϕ y
2
α B
β A a)
σr
r
σr
1
τrϕ
C ϕ
φ
τ σF
A
σϕ x
π/2
b)
B(ϕ = π/2)
1
2
π
ϕ
C
3
σ/σF
c) Bild 5.6 Rissspitzenfeld f¨ ur idealplastisches Material √ wobei f¨ ur k nach von Mises der Wert k = σF / 3 eingesetzt wurde. Rechnet man dies noch in die Komponenten in Polarkoordinaten um, so folgen die in Bild 5.6b dargestellten Verl¨aufe. Durch (5.22) und (5.21) ist wegen σz = σm der Spannungszustand im Rissspitzenbereich vollst¨andig festgelegt. Bild 5.6c zeigt die zugeh¨origen Mohrschen Kreise in den drei Bereichen. Man erkennt, dass vor der Rissspitze (Bereich C) der hydrostatische Anteil am Spannungszustand relativ hoch ist. Man kann dies als einen Hinweis daf¨ ur ansehen, dass dort ein mikroskopisches Porenwachstum beg¨ unstigt wird. Entlang der Gleitlinien sind die Gleitungs¨anderungen maximal und die Dehnungs¨anderungen (in Gleitlinienrichtung) Null. Es l¨asst sich zeigen, dass dies f¨ ur die Verzerrungen im F¨acherbereich B ein Verhalten der Art εij =
1 εij (ϕ) r
(5.23)
zur Folge hat. Wie im Modus III tritt eine 1/r–Verzerrungssingularit¨at auf. Die Bestimmung der Gr¨oße von εij im gesamten plastischen Bereich und damit auch der Riss¨offnung setzt die Kenntnis von εij entlang einer Berandung voraus (d.h.
149
Rissspitzenfeld
zum Beispiel an der Grenze zwischen plastischem und elastischem Bereich). Deren Ermittlung ist allerdings bislang mit analytischen Methoden nicht gelungen. Das Risssitzefeld (5.22) beschreibt zun¨achst nur den Zustand an einer Rissspitze unter reiner Modus I Zugbelastung senkrecht zum Riss. Die L¨osung bleibt jedoch auch g¨ ultig, wenn zus¨atzlich eine Rissparallele T-Spannung u ¨berlagert wird. In diesem Fall ¨andert sich lediglich die Gr¨oße ihres G¨ ultigkeitsbereichs, d.h. die Gr¨oße der plastischen Zone. Um dies qualitativ zu veranschaulichen, betrachten wir bei gegebener konstanter Modus I Belastung den Spannungszustand an einem Punkt, der in geringem Abstand vor der Rissspitze außerhalb des plastischen Bereichs liegt. Wird nun eine negative T-Spannung (Druck) u ¨ berlagert, so w¨achst dort die maximale Schubspannung an bis sie die Flißspannung erreicht. Dies bedeutet, dass eine negative T-Spannung zu einer Vergr¨oßerung der plastischen ¨ Zone f¨ uhrt. Umgekehrt ist bei Uberlagerung einer positiven T-Spannung die plastische Zone kleiner als unter reiner einachsiger Zugbelastung senkrecht zum Riss. Die L¨osung (5.22) gibt die M¨oglichkeit, die plastische Grenzlast PG f¨ ur die Risskonfiguration nach Bild 5.7 unmittelbar zu berechnen. Entsprechend dem dargestellten Gleitlinienfeld, welches f¨ ur b a√g¨ ultig ist, tritt zwischen den beiden Rissspitzen die Spannung σy = σF (2 + π)/ 3 auf. Damit wird die Grenzlast PG = σy 2aB =
2(2 + π) √ aBσF . 3
(5.24)
PG 2b B
2a PG Bild 5.7 Plastische Grenzlast Wir wollen hier noch kurz eine weitere wichtige L¨osung f¨ ur ein Rissspitzenfeld in ideal-plastischem Material diskutieren. Es wurde bereits erw¨ahnt, dass der hohe hydrostatische Spannungsanteil vor einer Risssitze in duktilen Materialien zu Porenwachstum f¨ uhrt. Dieser Effekt tritt noch deutlicher zutage, wenn die etwas realistischere Situation an einer abgerundeten Rissspitze nach Bild 5.8 betrachtet wird. Die Spannungsverteilung kann auch in diesem Fall mit Hilfe der Gleitlinientheorie berechnet werden. F¨ ur y = 0 lautet sie in kartesischen Koordinaten ) ) x * x* 2σY 2σ σy = √ 1 + ln 1 + , σx = √Y ln 1 + . (5.25) r r 3 3
150
Elastisch-plastische Bruchmechanik
σ σY
σy σx
r x
Bild 5.8 Abgerundete Rissspitze in ideal-plastischem Material Die Gleitlinien sind nun logarithmische Spiralen, die vom spannungsfreien Rand unter Winkeln von 45◦ ausgehen. Im Gegensatz zur entsprechenden rein elastischen L¨osung nimmt die vertikale Spannung σy hier mit zunehmendem Abstand von der Rissspitze zu. Die maximale hydrostatische Spannung in der (von außen durch das elastische Feld begrenzten) plastischen Zone tritt somit ein einem gewissen Abstand vor der Rissspitze auf. Dies bedeutet, dass Porenwachstum im Innern des Materials vor der Rissspitze zu erwarten ist. Die Ausdehnung der plastischen Zone und die genaue Lage der maximalen hydrostatischen Spannung k¨onnen nicht im Rahmen der Gleitlinientheorie allein (starr-ideal-plastisches Material) ermittelt werden; hierzu ist eine elastisch-plastische Analyse notwendig. Die Approximation des plastischen Materialverhaltens durch ein idealplastisches Material kann nicht vollst¨andig befriedigen. Zwar liefert die Analyse eine Aussage u ¨ ber den singul¨aren Charakter des Verzerrungsfeldes an der Rissspitze, sie legt direkt aber keinen Parameter nahe, der in einem Bruchkriterium Verwendung finden sollte. Daneben ist dieses Materialmodell nicht in der Lage, eine Verfestigung zu beschreiben, die bei vielen Werkstoffen zu beobachten ist. Eine Modellierung, bei der diese Nachteile nicht auftreten, wird im n¨achsten Abschnitt beschrieben. 5.3.2
Deformationstheorie, HRR−Feld
Im Rahmen der Deformationstheorie (vgl. Abschnitt 1.3.3.3) betrachten wir ein verfestigendes Material, dessen einachsige Spannungs–Dehnungs–Kurve durch das Ramberg–Osgood–Gesetz n ε σ σ = +α (5.26) ε0 σ0 σ0 ur hinreichend kleines α approximiert wird (Bild 5.9a). Darin k¨onnen ε0 , σ0 f¨ als die Dehnung bzw. Spannung aufgefaßt werden, bei der Fließen einsetzt; n
151
Rissspitzenfeld
wird als Verfestigungsexponent bezeichnet. Der Grenzfall n = 1 entspricht einem vollst¨andig linearen Verhalten, f¨ ur n → ∞ n¨ahert man sich einem elastischidealplastischen Material. Die beiden Terme auf der rechten Seite lassen sich als elastischer und plastischer Anteil der Dehnung interpretieren: εe /ε0 = σ/σ0 , εp /ε0 = α(σ/σ0 )n .
σ/σ0
n=1
σ/σF 7
n=1
9
2
3
13 25 1
5 13
1
n→∞
α = 0, 01
a)
1
5
ε/ε0
b)
1
5
ε/εF
Bild 5.9 Potenzgesetz In der Umgebung der Rissspitze befinden wir uns im Fließbereich (ε/ε0 1). Wegen der an der Spitze zu erwartetenden Verzerrungssingularit¨at werden dort die elastischen Verzerrungen vernachl¨assigbar im Vergleich zu den plastischen Verzerrungen sein: εij = εpij . Damit vereinfacht sich (5.26) zu n ε σ =α , (5.27) ε0 σ0 und das allgemeine Stoffgesetz der Deformationstheorie (1.87) lautet εkk = 0 ,
eij =
3 εe sij . 2 σe
Einsetzen von (5.27) f¨ ur die Vergleichsgr¨oßen in (5.28) liefert n 3 sij σe , εij = eij = αε0 2 σ0 σe
(5.28)
(5.29)
wobei f¨ ur die Vergleichsspannung und die Vergleichsdehnung die Beziehungen σe = ( 32 sij sij )1/2 und εe = ( 23 εij εij )1/2 gelten. Das Stoffgesetz (5.29) kann man auch erhalten, wenn man von der Spannungs– Dehnungs–Beziehung f¨ ur σ ≤ σF σ/σF ε = (5.30) εF (σ/σF )n f¨ ur σ ≥ σF
152
Elastisch-plastische Bruchmechanik
ausgeht (Bild 5.9b). Im Fließbereich gilt hier das Potenzgesetz ε/εF = (σ/σF )n . Unter Voraussetzung eines inkompressiblen Materials ergibt sich hieraus gerade die dreidimensionale Verallgemeinerung (5.29), wenn εF /σFn = αε0/σ0n gesetzt wird. In der Deformationstheorie wird das plastische Materialverhalten wie ein nichtlinear elastisches Verhalten beschrieben, welches in unserem Fall noch dazu inkompressibel ist. Man kann sich hiervon u ¨ berzeugen, indem man (5.26–5.29) mit (1.55 ff.) vergleicht. Danach treffen alle Beziehungen der nichtlinearen Elastizit¨at auch auf die Deformationstheorie zu. So erh¨alt man zum Beispiel nach (1.58) f¨ ur die Form¨anderungsenergiedichte im Rissspitzenbereich n n σ0 sij eij = n+1 n + 1 (αε0)1/n 1+n σe n = . αε0 σ0 n+1 σ0
U =
2 εij εij 3
1+n 2n (5.31)
r ϕ C Bild 5.10 Integrationskontur f¨ ur J–Integral ¨ Die Aquivalenz von Deformationstheorie und Elastizit¨atstheorie hat zur Folge, dass das J–Integral (4.107) um eine Rissspitze mit geraden, unbelasteten Rissufern wegunabh¨angig ist (vgl. Abschnitt 4.6.5.3). Diese Eigenschaft erlaubt es, das asymptotische Verhalten der Feldgr¨oßen bei Ann¨aherung an die Rissspitze auf einfache Weise zu bestimmen. Zu diesem Zweck w¨ahlen wir nach Bild 5.10 eine kreisf¨ormige Integrationskontur C im Rissspitzenbereich (r → 0). Mit dc = rdϕ l¨asst sich J damit in der Form J=
+π [Un1 − σiβ ui,1 nβ ] rdϕ
(5.32)
−π
schreiben. Wegunabh¨angigkeit, d.h. Unabh¨angigkeit von r ist nur dann gesichert, wenn der Klammerausdruck ein 1/r–Verhalten f¨ ur r → 0 aufweist. Da beide Terme in der Klammer vom Typ σij εij sind, muß demnach σij εij ∼
ˆ J f(ϕ) = f˜(ϕ) , r r
U∼
Uˆ (ϕ) J ˜ = U(ϕ) r r
153
Rissspitzenfeld
gelten. Mit (5.29) und (5.31) erh¨alt man damit zum Beispiel f¨ ur die Spannungen 1 n+1 J σ ˜ij (ϕ) , (5.33) σij = C r wobei C eine Konstante ist. Es ist zweckm¨aßig diese durch eine neue, dimensionslose Konstante I zu ersetzen. Wir w¨ahlen sie so, dass sowohl σ˜ij (ϕ) als auch der Klammerausdruck, welcher J/r enth¨alt, dimensionslos werden: C = σ0 /(Iαε0 σ0 )1/(n+1) . Die Feldgr¨oßen lassen sich dann f¨ ur r → 0 in der folgenden Weise darstellen 1 n+1 J σij = σ0 σ ˜ij (ϕ) , Iαε0σ0 r n n+1 J (5.34) εij = αε0 ε˜ij (ϕ) , Iαε0σ0 r n n+1 J ui − ui0 = αε0 r u˜i (ϕ) , Iαε0 σ0 r wobei ui0 eine Starrk¨orperbewegung beschreibt. Einsetzen in (5.32) liefert mit σ ˜ = ( 32 σ ˜ij σ ˜ij )1/2 noch den Zusammenhang +π I= −π
n 1 σ ˜ 1+n − (˜ σr u˜r + τ˜rϕ u˜ϕ + τ˜rz u˜z ) cos ϕ n+1 1+n , ur − u˜ϕ ) + τ˜rϕ (˜ uϕ + u˜r ) + τ˜rz u˜z sin ϕ dϕ . + σ ˜r (˜
(5.35)
Darin kennzeichnen Striche die Ableitung nach ϕ. Nach (5.34) weist das an der Rissspitze dominierende Feld Spannungs- und Verzerrungssingularit¨aten auf, √ deren Art vom Verfestigungsparameter n abh¨angt. F¨ ur n = 1 tritt die bekannte 1/ r–Singularit¨at der linearen Theorie auf, w¨ahrend sich f¨ ur n → ∞ nichtsingul¨are Spannungen, aber singul¨are Verzerrungen vom Typ 1/r ergeben. Die in (5.34) auftretenden Winkelfunktionen σ ˜ij , ε˜ij , u˜i lassen sich mittels dieser einfachen Betrachtung nicht bestimmen. Man erh¨alt sie vielmehr (wie im linearen Fall) aus der L¨osung des nunmehr nichtlinearen Randwertproblems. Mit ihnen liegt dann das dominante Rissspitzenfeld bis auf J eindeutig fest. Durch den Parameter J wird die St¨arke oder “Intensit¨at” dieses Feldes charakterisiert. Unter Verwendung der Anfangsbuchstaben von J.W. Hutchinson, J.R. Rice und G.F. Rosengren, welche dieses Feld zum ersten Mal untersucht haben, wird es kurz als HRR–Feld bezeichnet. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass wir das HRR-Feld (5.34) zwar unter Zuhilfenahme der Deformationstheorie hergeleitet haben, dieses aber auch nach der inkrementellen Theorie g¨ ultig ist. Grund hierf¨ ur ist, dass die Rissspitzenbelastung durch den alleinigen Lastparameter J festgelegt ist und damit das
154
Elastisch-plastische Bruchmechanik
Potenzgesetz (5.27) zu einer Proportionalbelastung f¨ uhrt. Nach Abschnitt 1.3.3.3 sind in diesem Fall die Deformationstheorie und die inkrementelle Theorie ¨aquivalent. σij σ ˜ij
y
r ϕ
n→∞
x
6
y
n=1 4
2
v+ v−
2 3
10 4 n=1 x
10 0,5
1
rIαε0σ0 /J b)
a)
Bild 5.11 HRR–Feld: a) Spannungsverteilung, b) Rissspitzenprofil
In Bild 5.11a ist die r–Abh¨angigkeit der Spannungen f¨ ur verschiedene n dargestellt. Man erkennt, dass der Bereich hoher Spannungen, d.h. der Bereich in dem das HRR–Feld tats¨achlich dominiert, mit zunehmenden n immer kleiner wird. Die Deformation der Rissspitze ist ebenfalls vom Verfestigungsparameter abh¨angig (Bild 5.11b); mit wachsendem n “stumpft” das Rissspitzenprofil mehr und mehr ab. Im folgenden sei f¨ ur den EVZ noch angedeutet, wie man die komplette Nahfeldl¨osung erhalten kann. Hierzu formulieren wir das Problem in den Spannungen. Setzt man das Stoffgesetz (5.29) in die Kompatibilit¨atsbedingung ∂εrϕ r =0 ∂ϕ
(5.36)
- 1 ∂ 2 , n−1 1 ∂ 2 , n−1 rσ σ (σr − σϕ ) (σ − σ ) + 2 r ϕ r ∂r 2 r ∂ϕ2 ∂ 1 ∂ , n−1 4 ∂ σ (σr − σϕ ) − 2 r (σ n−1 τrϕ ) = 0 , − r ∂r r ∂r ∂ϕ
(5.37)
1 ∂2 2 ∂ 1 ∂ 2 εr 1 ∂εr − 2 (rεϕ ) + 2 − 2 2 r ∂r r ∂ϕ r ∂r r ∂r ein, so erh¨alt man −
155
Rissspitzenfeld
mit
3 2 σ = (σr − σϕ )2 + 3τrϕ 4
1/2 .
(5.38)
Im weiteren ist es zweckm¨aßig, die Airysche Spannungsfunktion φ(r, ϕ) einzuf¨ uhren, aus der sich die Spannungen folgendermaßen herleiten: 1 ∂2φ 1 ∂φ ∂2φ ∂ 1 ∂φ σr = + . (5.39) , σϕ = 2 , τrϕ = − r ∂r r 2 ∂ϕ2 ∂r ∂r r ∂ϕ Hiermit werden die Gleichgewichtsbedingungen identisch erf¨ ullt. Wir w¨ahlen nun f¨ ur φ den Separationsansatz ˜ φ = A r s φ(ϕ)
mit
s=
2n + 1 , n+1
(5.40)
der dem asymptotischen Charakter des Rissspitzenfeldes nach (5.34) Rechnung tr¨agt. Damit folgt aus (5.37) f¨ ur die Funktion φ˜ die gew¨ohnliche, nichtlineare Differentialgleichung n(n + 2) n−1 2n + 1 ˜ ˜ 2n + 1 ˜ ˜ n−1 + σ ˜ σ ˜ φ + φ φ + φ (n + 1)2 (n + 1)2 (n + 1)2 (5.41) 4n n−1 ˜ σ ˜ + = 0 , φ (n + 1)2 wobei
2 2 1/2 3 2n + 1 ˜ ˜ n ˜ φ σ ˜= +3 . φ+φ 4 (n + 1)2 n+1
y
σ ˜ij σ ˜max
(5.42)
σ˜ij σ ˜max
r ϕ x
2
σ ˜r
2
n=2
n = 10 σ ˜ϕ
1
σ ˜ϕ σ ˜
1
τ˜rϕ π/2
σ ˜r
σ ˜ τ˜rϕ
π
ϕ
π/2
Bild 5.12 HRR–Feld: Winkelverteilung der Spannungen
π
ϕ
156
Elastisch-plastische Bruchmechanik
Das Rissspitzenfeld ist im Modus I symmetrisch bez¨ uglich ϕ = 0: τrϕ (0) = 0, ∂σϕ /∂ϕ|ϕ=0 = 0, ∂σr /∂ϕ|ϕ=0 = 0. Außerdem sind die Rissufer belastungsfrei: σϕ (π) = 0, τrϕ (π) = 0. Dies f¨ uhrt f¨ ur φ˜ auf die Randbedingungen φ˜ (0) = 0 ,
φ˜ (0) = 0 ,
˜ φ(π) =0,
φ˜ (π) = 0 .
(5.43)
Eine L¨osung von (5.41)–(5.43) in geschlossener analytischer Form ist nicht bekannt. Sie kann jedoch mit hoher Genauigkeit mittels numerischer Integration gewonnen werden. In Bild 5.12 ist die Winkelabh¨angigkeit der Spannungen f¨ ur zwei verschiedene n–Werte dargestellt. Ein Vergleich mit den Bildern 4.6b und 5.6b zeigt, dass das Feld f¨ ur n = 2 noch dem des linear elastischen Materials nahe ¨ kommt, w¨ahrend f¨ ur n = 10 schon eine starke Ahnlichkeit mit dem des idealplastischen Materials festzustellen ist. Unter Verwendung der nunmehr bekannten Funktionen σ ˜ij , u˜i kann schließlich noch der Faktor I nach (5.35) bestimmt werden; einige Werte sind in Tabelle 5.1 zusammengestellt. Es sei angemerkt, dass sich analoge Untersuchungen auch f¨ ur den Modus II bzw. den ESZ durchf¨ uhren lassen. Tabelle 5.1 Werte I(n) und D(n) f¨ ur den EVZ n I D
5.4
2 3 5 10 ∞ 5,94 5,51 5,02 4,54 3,72 1,72 1,33 1,08 0,93 0,79
Bruchkriterium
Bei der Formulierung eines Bruchkriteriums der elastisch–plastischen Bruchmechanik kann die gleiche Grundidee angewendet werden, wie beim K–Konzept (vgl. Abschnitt 4.3). Nach (5.34) beschreibt der Parameter J die Intensit¨at des ansonsten vollst¨andig festgelegten Rissspitzenfeldes. Dieses dominiert innerhalb eines Bereiches, dessen Begrenzung nach außen in Bild 5.13a schematisch durch den Radius R gekennzeichnet ist. Seine G¨ ultigkeit ist nach innen begrenzt durch ein Gebiet vom Radius rN , das nicht durch die Deformationstheorie beschrieben werden kann. In ihm treten zum Beispiel große Verzerrungen oder lokale Entlastungsvorg¨ange auf. Daneben enth¨alt es die Prozesszone (Radius ρ), in der sich der BruchProzess mit seinen materialspezifischen mikromechanischen Ph¨anomenen (zum Beispiel Porenwachstum) abspielt. Bild 5.12b zeigt eine schematische Zuordnung der einzelnen Gebiete zu entsprechenden Abschnitten im σ-ε– Diagramm. Ist nun der J–bestimmte Bereich II groß im Vergleich zu dem von ihm eingeschlossenen Gebiet III (R rN , ρ), so wird der Zustand in der Prozess-
157
Bruchkriterium
J–bestimmtes Feld I
III II
σ
r rN
ρ
I
σ0
II
III
R
ε0 a)
ε
b)
Bild 5.13 Zum Bruchkriterium zone durch das umgebende Feld, das heißt durch J festgelegt sein. Danach k¨onnen wir J auch als ein Maß f¨ ur die “Belastung” des Rissspitzenbereiches ansehen. Erreicht diese Belastung eine materialspezifische kritische Gr¨oße Jc , so kommt es zum Einsetzen des Rissfortschrittes: J = Jc .
(5.44)
Basis f¨ ur das Bruchkriterium (5.44) sind die Deformationstheorie sowie die Annahme der Existenz eines dominanten Rissspitzenfeldes. Dies hat Konsequenzen, auf die hier deutlich hingewiesen werden soll. Die Deformationstheorie stimmt mit der inkrementellen Theorie der Plastizit¨at nur u ¨berein, wenn eine monoton zunehmende Proportionalbelastung vorliegt (vgl. Abschnitt 1.3.3.3); Entlastungsvorg¨ange k¨onnen mit ihr nicht modelliert werden. Numerische Simulationen haben ergeben, dass entsprechende Verh¨altnisse in der Umgebung der Rissspitze bei vielen duktilen Materialien in sehr guter N¨aherung tats¨achlich vorliegen, sofern der Riss station¨ar ist. Ein Rissfortschritt ist dagegen immer mit Entlastungsvorg¨angen verbunden. Die Bedingung (5.44) gilt daher zun¨achst nur f¨ ur die Initiierung des Bruchvorganges. Unter welchen Umst¨anden sie auch beim Rissfortschritt Verwendung finden kann, wird in Abschnitt 5.7 gezeigt. Die Dominanz des Rissspitzenfeldes ist nur gew¨ahrleistet, wenn eine hinreichend große Verfestigung vorliegt (vgl. Bild 5.11a). Mit abnehmender Verfestigung wird der Dominanzbereich immer kleiner, und er verschwindet f¨ ur ein idealplastisches Material. Dann kann J nicht mehr als Parameter angesehen werden, der den Rissspitzenzustand kontrolliert. Die Verwendung von J als Bruchparameter ist nicht unmittelbar an das HRR– Feld gekn¨ upft. So kann man das elastisch-plastische Materialverhalten im Rahmen der Deformationstheorie anstelle durch ein Potenzgesetz auch durch einen bilinearen Spannungs–Dehnungs–Verlauf approximieren. Als Ergebnis erh¨alt man
158
Elastisch-plastische Bruchmechanik
in diesem Fall ein dominantes singul¨ares Rissspitzenfeld, das vom HRR–Feld abweicht, dessen Intensit¨at aber wieder durch J bestimmt wird.
P
y
vP P
δt
x
45◦
uP rP Bild 5.14 Rissspitzen¨offnung δt Wie schon erw¨ahnt, findet neben J verschiedentlich auch die Rissspitzen¨offnung δt als Bruchparameter Verwendung. Man geht dabei von der Vorstellung aus, dass δt ein Maß f¨ ur die plastischen Verzerrungen an der Rissspitze ist, durch welche wiederum der Bruchvorgang kontrolliert wird. Erreicht die Rissspitzen¨offnung einen kritischen Wert δtc , so tritt Rissfortschritt ein: δt = δtc .
(5.45)
Nimmt man an, dass der Deformationszustand an der Rissspitze durch das HRR–Feld hinreichend gut beschrieben wird, so sind δt und J ¨aquivalente Parameter, und sie k¨onnen ineinander u uhrt werden. Man erkennt dies aus den ¨berf¨ Gleichungen (5.34), nach denen die Verzerrungen und die Verschiebungen eindeutig mit J zusammenh¨angen. So lauten die Verschiebungen eines Punktes P auf der oberen Rissflanke (Bild 5.14) unter Verzicht auf den Starrk¨orperanteil vP = αε0 rP
J Iαε0σ0 rP
n n+1
v˜(π) ,
uP = αε0rP
J Iαε0 σ0 rP
n n+1
u˜(π) .
Definiert man δt durch die Schnittpunkte zweier unter 45◦ zur x–Achse geneigten Geraden mit der Risskontur, so gilt vP =
δt = rP − u P . 2
Aus diesen drei Gleichungen erh¨alt man durch Eliminieren von rP die Beziehung δt = (αε0 )1/n D
J , σ0
(5.46)
Bestimmung von J
159
wobei D=
2 [˜ v (π) + u˜(π)]1/n v˜(π) . I
(5.47)
Einige Werte f¨ ur D sind in der Tabelle 5.1 angegeben. Speziell f¨ ur das idealplastische Material (n → ∞) ergibt sich daraus formal δt = 0, 79 J/σ0 ; dies kommt der aus dem Dugdale Modell hergeleiteten Gleichung (5.2) recht nahe. Dabei ist allerdings zu beachten, dass letztere f¨ ur den ESZ hergeleitet wurde. Außerdem ist (5.46) f¨ ur diesen Fall genau genommen nicht mehr g¨ ultig. Diese Beziehung δt setzt n¨amlich die Dominanz des HRR–Feldes zumindest f¨ ur r < rP bzw. f¨ ur r < voraus, die f¨ ur das idealplastische Material nicht mehr gegeben ist. Obwohl J und δt ¨aquivalente Parameter sind, bietet die Anwendung von J und damit des Bruchkriterium (5.44) verschiedene Vorteile. So l¨asst sich die Rissbeanspruchung J mit geringerem Aufwand berechnen als δt . Daneben ist die experimentelle Bestimmung des Materialkennwertes δtc im Gegensatz zu Jc mit Schwierigkeiten verbunden. dass die Definition der Rissspitzen¨offnung einer gewissen Willk¨ ur unterliegt, ist ebenfalls von Nachteil. Wir werden uns daher im weiteren nur mit J befassen.
5.5
Bestimmung von J
Die Berechnung von J f¨ ur ein Rissbehaftetes Bauteil bei großen plastischen Zonen bzw. im vollplastischem Zustand kann in der Regel nur mit Hilfe numerischer Methoden erfolgen. Als Verfahren zur L¨osung entsprechender elastisch–plastischer Randwertprobleme werden insbesondere die Finite Elemente Methode (FEM) und in neuerer Zeit auch die Randelementmethode angewendet. Dabei macht man sich die verschiedenen Eigenschaften von J zunutze (vgl. Abschnitt 4.6.5.3). Danach l¨asst sich J zum Beispiel aus einem wegunabh¨angigen Integral ermitteln, solange die Kontur durch Bereiche verl¨auft, die entweder rein elastisch sind oder sich plastisch entsprechend der Deformationstheorie verhalten (keine lokalen Entlastungen). Es ist dann oft zweckm¨aßig eine von der Rissspitze weit entfernte Kontur zu w¨ahlen, die m¨oglicherweise durch einen rein elastischen Bereich verl¨auft. Damit kann man eine aufwendige und genaue Bestimmung der Feldgr¨oßen in der Rissspitzenn¨ahe umgehen, welche beim Verfahren der Finiten Elemente eine feine Netzteilung erfordert. Eine weitere M¨oglichkeit besteht darin, auf die Bedeutung von J als einer Energiefreisetzungsrate zur¨ uckzugreifen. Diese kann man mit der FEM bestimmen indem man einen Rissfortschritt durch L¨osen eines Knotens simuliert und die dabei von der Knotenkraft geleistete Arbeit ermittelt. Hierbei muß das Material selbstverst¨andlich als nichtlinear elastisch angesehen werden. Hinsichtlich weiterer Details sei der Leser auf die umfangreiche Spezialliteratur verwiesen.
160
Elastisch-plastische Bruchmechanik
Neben den rein numerischen L¨osungen f¨ ur J ist es in bestimmten F¨allen m¨oglich, N¨aherungsl¨osungen auf analytischem Weg herzuleiten bzw. J experimentell zu ermitteln. Letzteres wird im n¨achsten Abschnitt diskutiert. Hinsichtlich N¨aherungsl¨osungen sei insbesondere auf das Ductile Fracture Handbook (siehe Literaturliste) hingewiesen.
5.6
Bestimmung von Jc
Die Bestimmung von Jc erfolgt in genormten Experimenten. In ihnen werden Proben einer bestimmten Rissl¨ange a (z.B. CT–Proben nach Bild 4.20) bis zur Rissinitiierung und meist noch dar¨ uber hinaus belastet und die Last–Verschiebungs–Kurven registriert (Bild 5.15a). Die Fl¨ache unter der Kurve F (uF , a) ist dann die von der Kraft F geleistete Arbeit W a , wobei der Parameter a andeutet, dass F auch von der gew¨ahlten Rissl¨ange abh¨angt. Die Arbeit W a entspricht der Form¨anderungsenergie Πi , wenn wir davon ausgehen, dass bei einsinniger Belastung (keine Entlastungsvorg¨ange) das elastisch–plastische Material wie ein nichtlinear elastisches Material beschrieben werden kann: uF Πi (uF , a) = W a =
F (¯ uF , a) d¯ uF .
(5.48)
0
Dann kann aber auch J definiert werden als J = −dΠ/da, mit Π = Πi + Πa . ¨ Ist nun speziell die Endverschiebung uF bei einer Anderung der Rissl¨ange um da konstant, so sind dΠa = 0, dΠ = dΠi , und man erh¨alt uF ∂F ∂Πi dΠi = − = − d¯ uF . J =− da uF ∂a ∂a u¯F
(5.49)
0
Der tiefgestellte Index soll dabei verdeutlichen, welche Gr¨oße bei der Ableitung
uF
F
F
F
i a = Π W a
a
∂F da ∂a
∂uF ∂a
i
W =Π
uF a)
a a+da i −dΠi = dΠ da uF
b) Bild 5.15 Zur Bestimmung und Definition von J
Bestimmung von Jc
161
festgehalten wird. Nach (5.49) l¨asst sich J entsprechend Bild 5.15b formal aus den Last–Verschiebungs–Kurven f¨ ur zwei Proben mit den Rissl¨angen a bzw. a + da ermitteln. Eine Methode zur Jc –Bestimmung, die auf diesem Ergebnis basiert, wurde von J.A. Begley und J.D. Landes vorgeschlagen. Hierbei werden f¨ ur eine Reihe von Proben unterschiedlicher Rissl¨ange a1 , a2 , a3 , . . . die Last–Verschiebungs–Kurven F (uF , ai ) gemessen (Bild 5.16a). Aus ihnen lassen sich schrittweise N¨aherungen f¨ ur Πi (a, uF ) und f¨ ur J(uF , aj ) ≈ −∆Πi /∆a gewinnen (Bild 5.16b,c). Mit dem bekannten Rissinitiierungswert uF c f¨ ur eine bestimmte Rissl¨ange (zum Beispiel f¨ ur a2 ) folgt daraus Jc . Nachteile dieser Mehrprobenmethode sind ihr großer experimenteller Aufwand sowie ihre Ungenauigkeit.
Πi
F
J
a1
a1
∆a ∆Πi
a2
Jc
a3 uF1 uF1 u F2 u F3
uF
u F2
a1
a)
a2
a2
u F3
a3
a3 a
u Fc
b)
uF
c)
Bild 5.16 Bestimmung von Jc nach der Mehrprobenmethode Ein alternatives Verfahren, das mit der Messung an einer einzigen Probe auskommt, geht auf J.R. Rice zur¨ uck. Zu seiner Herleitung f¨ uhren wir zun¨achst die Komplement¨arenergie i (F, a) = W a = Π
F uF (F¯ , a) dF¯
mit
i = uF F Πi + Π
(5.50)
0
i /∂F )a = uF ein (vgl. Abschnitt 1.4 und Bild 5.15a). Unter Beachtung von (∂ Π und F = F (uF , a) folgt dann aus i (F, a) Πi (uF , a) = uF F − Π durch Ableitung i ∂F i i ∂Πi ∂F ∂Π ∂ Π ∂ Π − = uF − · =− ∂a uF ∂a uF ∂F ∂a uF ∂a ∂a a
F
, F
(5.51)
162
Elastisch-plastische Bruchmechanik
womit man aus (5.49) die Darstellung F i ∂uF ∂Π = + dF¯ J =+ ∂a ∂a F¯ F
(5.52)
0
erh¨alt. Man kann sich diese Beziehung auch an Hand der in Bild 5.15b dargestellten Fl¨achenelemente veranschaulichen. Sie trifft selbstverst¨andlich nicht nur f¨ ur die Belastung einer Probe oder eines Bauteiles durch eine Einzelkraft zu, sondern sie gilt sinngem¨aß auch f¨ ur die Belastung durch ein Moment.
F b
M
M a W
a W l/2
l/2 b)
a)
Bild 5.17 Bestimmung von Jc mit einer Probe Im weiteren betrachten wir eine Probe nach Bild 5.17a, deren Enden unter der Belastung durch ein Moment M eine gegenseitige Verdrehung um den Winkel θ erfahren. Hief¨ ur gilt nach (5.52) M J= 0
∂θ ¯ . dM ∂a M¯
(5.53)
Der Verdrehwinkel θ ist im allgemeinen abh¨angig von der Belastung M, den Geometrieparametern a, b, l und vom Stoffgesetz. Charakterisieren wir letzteres unter Vernachl¨assigung eines linear elastischen Bereiches alleine durch σF und einen Verfestigungsparameter n (vgl. Bild 5.9) und machen wir alle Einflußgr¨oßen durch Bezugsgr¨oßen dimensionslos, so gilt M a l σF b2 θ=θ mit M0 = . (5.54) , n, , M0 b b 4 Darin entspricht das Bezugsmoment M0 dem Grenzmoment f¨ ur ein idealplastisches Material. Sind a b, l b und liegt mit n 1 eine nicht zu starke Verfestigung vor, so wird θ von den letzten drei Parametern in erster N¨aherung nicht abh¨angen: M θ≈θ . (5.55) M0
Bestimmung von Jc
163
Mit a = W − b bzw. da = −db erh¨alt man hieraus ∂θ 4M 2 ∂θ dθ · − = − = − M ∂a M ∂b M b3 d( M ) σF 0 4M ∂θ ∂θ dθ = =− M · ∂M a ∂M b d( M0 ) σF b2 M und nach Eliminieren von dθ/d( M ) 0 ∂θ 2M ∂θ · = . ∂a M b ∂M a
Einsetzen in (5.53) liefert schließlich 2 J= b
θ
¯ θ¯ = 2 W a . M(θ)d b
(5.56)
0
Danach ist die aktuelle Rissbeanspruchung J bis auf den Faktor 2/b durch die Arbeit W a des Momentes gegeben. Erzeugt man die Biegebeanspruchung einer Probe der Dicke B nicht durch ein Moment M sondern nach Bild 5.17b durch eine Kraft F , so folgt aus (5.56) unter Ber¨ ucksichtigung, dass dort J auf die Einheitsdicke bezogen war 2 J= B(W − a)
uF F (¯ uF )d¯ uF .
(5.57)
0
Mit dem bekannten Initiierungswert uF c kann damit Jc auf sehr einfache Weise aus der Fl¨ache unter der Last–Verschiebungs–Kurve bestimmt werden. Die N¨aherung (5.57) gilt wie schon erw¨ahnt nur f¨ ur tief angerissene Proben unter Biegung (a b). Die Vernachl¨assigung des elastischen Anteiles im Werkstoffgesetz macht es daneben erforderlich, dass f¨ ur den gr¨oßten Teil des Restquerschnittes die plastischen Verzerrungen groß im Vergleich zu elastischen Verzerrungen sind; der Restquerschnitt muß also bei der Rissinitiierung hinreichend weit durchplastiziert sein. Damit aus Messungen geometrieunabh¨angige Jc –Werte gewonnen werden k¨onnen, m¨ ussen ¨ahnlich wie in der linearen Bruchmechanik noch bestimmte Gr¨oßenbedingungen eingehalten werden. F¨ ur CT–Proben und f¨ ur 3–Punkt–Biegeproben verlangt man Jc W − a, B > 25 . (5.58) σF Wegen der direkten Proportionalit¨at von Jc /σF und δtc (vgl. (5.2), (5.46)) bedeutet dies, dass alle relevanten Abmessungen groß im Vergleich zur Rissspitzen¨offnung bei der Rissinitiierung sein m¨ ussen. Neben (5.58) muß das Material noch
164
Elastisch-plastische Bruchmechanik
die Forderung einer hinreichend großen Verfestigung erf¨ ullen. Andernfalls ist die Dominanz eines J–bestimmten Rissspitzenfeldes nicht gesichert (siehe Abschnitt 5.4).
5.7 5.7.1
Risswachstum J–kontrolliertes Risswachstum
Die Belastung eines Risses kann im allgemeinen auch bei großen plastischen Zonen auf ein mehrfaches des Initiierungswertes gesteigert werden, womit eine Rissverl¨angerung um einige Millimeter einhergeht (vgl. auch Abschnitt 4.8). Mit dem Risswachstum sind insbesondere in den Teilen der plastischen Zone hinter der Rissspitze Entlastungsvorg¨ange verbunden, welche mit der Deformationstheorie nicht richtig beschrieben werden k¨onnen. Folglich sind auch die Voraussetzungen f¨ ur die Anwendung von J nicht erf¨ ullt. Bei geringem Risswachstum kann J unter bestimmten Bedingungen aber trotzdem noch einen sinnvollen Rissbeanspruchungsparameter darstellen. In solch einem Fall gilt im Verlauf der Rissausbreitung die Bruchbedingung J = JR (∆a) ,
(5.59)
wobei JR der von der Rissverl¨angerung ∆a abh¨angige Risswiderstand ist. Man nennt JR (∆a) auch die J–Widerstandskurve eines Materials; ihr prinzipieller VerJ–bestimmtes Gebiet
JR J
dJ r
da
R l
Jc blunting line ∆a
∆a Entlastungszone b) y
r ϕ x
l a)
da c) Bild 5.18 J–kontrolliertes Risswachstum
165
Risswachstum
lauf ist in Bild 5.18a dargestellt. Der anf¨angliche steile Anstieg f¨ ur J < Jc ist alleine auf die Abrundung der Rissspitze durch plastische Deformation zur¨ uckzuf¨ uhren. Dieser Teil wird als blunting line bezeichnet. Nimmt man an, dass die Risserweiterung infolge der Abrundung ungef¨ahr der halben Riss¨offnung entspricht (∆a ≈ δt /2), so erh¨alt man unter Verwendung von J = σF δt (vgl. (5.2) und (5.46)) f¨ ur die blunting line die grobe Absch¨atzung J ≈ 2σF ∆a .
(5.60)
An die blunting line schließt sich f¨ ur J ≥ Jc die eigentliche JR –Kurve an, bei der ein Rissfortschritt durch Materialtrennung zustande kommt. Bild 5.18b zeigt schematisch die Verh¨altnisse an der Rissspitze bei einem Rissfortschritt um ∆a. Ein J–kontrollierter Zustand kann offenbar nur dann vorliegen, wenn das Rissspitzenfeld des station¨aren Risses in seinem prinzipiellen Charakter durch den Rissfortschritt nur geringf¨ ugig ge¨andert wird. Hierf¨ ur ist erforderlich, dass die charakteristische L¨ange der Entlastungsbereiche, d.h. der Rissfortschritt selbst, klein ist im Vergleich zur Abmessung des J-bestimmten Gebietes: ∆a R. ¨ Weitergehende Aussagen kann man erhalten, wenn wir die Anderung des Rissspitzenfeldes mit Hilfe des HRR–Feldes absch¨atzen. Hierzu nehmen wir an, dass sich das Spannungsfeld nach (5.33) σij (J, r, ϕ) = C
1 n+1 J σ ˜ij (ϕ) r
mit der fortschreitenden Rissspitze mitbewegt (Bild 5.18c). Aufgrund einer Steigerung der Belastung um dJ und einer Rissspitzenverschiebung um da erf¨ahrt dann ein materieller Punkt die Spannungs¨anderung dσij = Diese kann mit
∂σij ∂σij dJ − da . ∂J ∂x
∂ ∂ ∂ = cos ϕ − sin ϕ ∂x ∂r r∂ϕ
auch in der Form 1 n+1 da σ˜ij (ϕ) ∂ σ˜ij dJ σ˜ij (ϕ) J + cos ϕ + sin ϕ dσij = C r J n+1 r n+1 ∂ϕ
(5.61)
geschrieben werden. Darin charakterisiert der erste Term in der geschweiften Klammer eine zum Lastinkrement dJ proportionale Zunahme der Spannungen (= Proportionalbelastung). Dies trifft f¨ ur den zweiten Term, welcher durch den Rissfortschritt verursacht ist, nicht zu. Beachtet man, dass die Ausdr¨ ucke in den eckigen Klammern von gleicher Gr¨oßenordnung sind, so kann der zweite Term
166
Elastisch-plastische Bruchmechanik
aber f¨ ur alle r vernachl¨assigt werden, f¨ ur welche die Bedingung da dJ r J
(5.62)
erf¨ ullt ist. Wir f¨ uhren nun mit J/l = dJ/da eine belastungsabh¨angige L¨ange l ein, welche f¨ ur hinreichend großen Anstieg dJ/da von der Gr¨oßenordnung des Rissfortschrittes ist (Bild 5.17a). Damit ist der J–bestimmte Bereich, in dem Proportionalbelastung vorliegt, durch lr
(5.63)
festgelegt (Bild 5.18b). Solange l R ist, kann also ein J–kontrolliertes Risswachstum erwartet werden. Da die Abmessung R des dominanten Rissspitzenfeldes klein im Vergleich zu jeder relevanten geometrischen Abmessung b eines Bauteiles sein muß (z.B. Restquerschnitt in Bild 5.17) und beim Rissfortschritt (5.59) gilt, kann diese Bedingung auch durch lb
bzw.
b dJR 1 JR da
(5.64)
ausgedr¨ uckt werden. 5.7.2
Stabiles Risswachstum
¨ Die Uberlegungen zur Stabilit¨at des J–kontrollierten Risswachstums bei großen plastischen Zonen sind analog zu denen in Abschnitt 4.8. Nach (5.59) ist die Gr¨oße des Rissfortschrittes durch die “Gleichgewichtsbedingung” J(F, a) = JR (∆a) festgelegt. Der Gleichgewichtszustand ist stabil, wenn die Bedingung ∂J dJR < ∂a da
(5.65)
erf¨ ullt ist. Mit wachsender Rissl¨ange steigt dann der Risswiderstand st¨arker an als die Rissausbreitungskraft. Um den Riss weiter voran zu treiben, muß in einem solchen Fall J gesteigert werden (Bild 5.19a). In der Regel erfordert dies eine Steigerung der ¨außeren Belastung F . Bei vorgegebener Last ist die Grenze des stabilen Risswachstums f¨ ur dJ dJR (5.66) = da F da erreicht. F¨ uhrt man nach P.C. Paris mit T =
E dJ σF2 da
(5.67)
167
Risswachstum
den dimensionslosen Reißmodul (tearing modulus) ein, so kann die Stabilit¨atsbedingung (5.65) auch in der Form T < TR
(5.68)
geschrieben werden.
F
J
Fc JR (∆a) F2
J∗
Jc
uF CF uP
P
F1
J(F, a)
a a0 a)
a∗ a ∆a
b)
Bild 5.19 Stabiles Risswachstum Wir wollen nun dJ/da f¨ ur die Konfiguration nach Bild 5.19b bestimmen, bei der die Belastung des K¨orpers u ¨ ber eine lineare Feder mit vorgegebener Verschiebung uF erfolgt. Im Unterschied zum entsprechenden Fall in Abschnitt 4.8 kann der K¨orper hier allerdings nicht als linear elastisch angesehen werden. Wir gehen zweckm¨aßig von (5.52) aus. Mit uF (F, a) = CF F + uP (F, a) gilt danach F J(F, a) = 0
bzw.
∂uP ∂uF = ∂a ∂a
∂uP dF¯ . ∂a F¯
(5.69)
Durch Ableitung erh¨alt man daraus zun¨achst dJ ∂J dF ∂J = + . da ∂F da ∂a
(5.70)
Setzt man die Bedingung (festgehaltene Verschiebung uF ) duF ∂uF dF ∂uF = + =0 da ∂F da ∂a
;
dF ∂uF /∂a ∂uP /∂a =− =− da ∂uF /∂F CF + ∂uP /∂F
168
Elastisch-plastische Bruchmechanik
und die aus (5.69) folgende Beziehung ∂J ∂uP = ∂F ∂a ein, so ergibt sich schließlich * ) ∂uP 2 ∂J dJ ∂a . = − da uF ∂a F C + ∂uP F ∂F
(5.71)
F¨ ur die Sonderf¨alle einer in P vorgegebenen Verschiebung uF (CF = 0) bzw. einer Totlast (CF → ∞) erh¨alt man hieraus ⎧ ⎪ ⎪ ∂J − ∂uP /∂a f u ¨ r CF = 0 , ⎨ ∂a F ∂uP /∂F dJ = (5.72) da ⎪ ⎪ ⎩ ∂J fu ¨ r CF → ∞ . ∂a F Die konkrete Bestimmung von dJ/da f¨ ur spezielle Geometrien ist in der Regel nur mit Hilfe numerischer Methoden m¨oglich. F¨ ur den Fall der tief angerissenen 3–Punkt–Biegeprobe nach Bild 5.17b unter Belastung durch eine vorgegebene Verschiebung uF l¨asst sich aber eine einfache Beziehung angeben. Ausgangspunkt ist dabei die N¨aherung (5.57) 2 J(uF , a) = W −a
uF F (¯ uF , a)d¯ uF , 0
wobei J hier auf die Einheitsdicke bezogen ist. Unter Verwendung von (5.49) folgt hieraus uF uF dJ ∂F 2 2 J d¯ uF = − . = F (¯ uF , a)d¯ uF + 2 da uF (W − a) W −a ∂a W −a 0
(5.73)
0
Wegen dJ/da < 0 ist das Risswachstum unter dieser Bedingung immer stabil. 5.7.3 5.7.3.1
Station¨ ares Risswachstum Riss¨ offnungswinkel
Eine Verl¨angerung eines Risses mit großen plastischen Zonen ist h¨aufig weit u ¨ber die Grenzen des J–kontrollierten Wachstums hinaus m¨oglich. Nach hinreichend großem Rissfortschritt k¨onnen sich dabei sogar station¨are Verh¨altnisse in der ¨ Umgebung des bewegten Risses ausbilden. Sowohl im Ubergangsbereich (zwischen
169
Risswachstum
δ+∆δ CT OA
δ ∆a
a)
b) Bild 5.20 Riss¨offnungswinkel
J-kontrolliertem Wachstum und station¨arem Wachstum) als auch im station¨aren Bereich kann die Beanspruchung an der Rissspitze nicht mehr durch J charakterisiert werden. Vielmehr m¨ ussen in diesem Fall andere Kontrollparameter f¨ ur den Rissspitzenzustand verwendet werden, von denen angenommen wird, dass sie beim Risswachstum konstant bleiben. Unter Bezug auf experimentelle Ergebnisse ist vorgeschlagen worden, hierf¨ ur den Riss¨offnungswinkel zu verwenden. Diese Deformationsgr¨oße kann auf zwei unterschiedliche Arten eingef¨ uhrt werden: ¨ 1) Der Rissspitzen-Offnungswinkel CT OA (crack tip opening angle) ist der ak¨ tuelle Offnungswinkel der Rissflanken in der N¨ahe der Rissspitze (Bild 5.20a). Diese Definition hat den Vorteil, dass CT OA ¨aquivalent zu J ist, solange ein Jkontrollierter Zustand vorliegt. Dann sind n¨amlich die Verschiebungen und folglich auch der Winkel eindeutig durch J festgelegt. Nachteil von CT OA ist, dass diese Gr¨oße schwierig zu messen ist. 2) Der Riss¨offnungswinkel COA (crack opening angle) ist nach Bild 5.20b die ¨ auf eine Rissverl¨angerung ∆a bezogene Offnungs¨ anderung ∆δ an der urspr¨ unglichen Rissspitze: ∆δ COA = . (5.74) ∆a Dieser Parameter ist zwar einfach zu messen, doch ist seine physikalische Signifikanz umstritten. 5.7.3.2
Rissspitzenfeld
Es ist bisher nicht in befriedigendem Maße gelungen das elastisch–plastische Rissspitzenfeld in seiner Entwicklung ausgehend vom Zustand des ruhenden Ris¨ ses u bis hin zum station¨aren Zustand allgemein zu ¨ ber den Ubergangsbereich beschreiben. F¨ ur den station¨aren Zustand k¨onnen dagegen bei einfachen Stoffgesetzen L¨osungen angegeben werden. Als Beispiel wollen wir das Rissspitzenfeld eines mit konstanter Geschwindigkeit a˙ wachsenden Risses im idealplastischen Material betrachten. Der Einfachheit halber beschr¨anken wir uns auf den Modus III und nehmen an, dass die Bewegung der Rissspitze so langsam (quasistatisch) erfolgt, dass Tr¨agheitskr¨afte vernachl¨assigt werden k¨onnen. Die entsprechenden Grundgleichungen bez¨ uglich
170
Elastisch-plastische Bruchmechanik
eines festen x, y–Koordinatensystems sind in Abschnitt 1.5.3 zusammengestellt. Es ist zweckm¨aßig diese auf ein x , y -Koordinatensystem zu transformieren, das sich mit der Rissspitze mitbewegt (Bild 5.21).
y
y
r ϕ x
x a(t)
Bild 5.21 Risswachstum: mitbewegtes Koordinatensystem Der Zusammenhang zwischen bewegten und festen Koordinaten ist durch x = x − a(t) ,
y = y
(5.75)
gegeben, wobei a(t) die von der Zeit t abh¨angige Rissl¨ange ist. F¨ ur eine beliebige Feldgr¨oße F (x, y, t) = F (x [x, a(t)], y [y], t) gilt damit allgemein ∂F ∂F ∂F ∂F ∂F ∂F ∂F ˙ = , = , F = = − a˙ . (5.76) ∂x ∂x ∂y ∂y ∂t x,y ∂t x ,y ∂x Setzen wir station¨are Verh¨altnisse voraus, so verschwindet die Zeitableitung im mitbewegten System, und es wird ∂F F˙ = −a˙ . ∂x
(5.77)
Da nach (5.76) die Ortsableitungen in beiden Systemen gleich sind, behalten die Fließbedingung und die Gleichgewichtsbedingung (1.125) ihre Form im bewegten System bei; es sind nur x durch x und y durch y zu ersetzen. Dies hat zur Folge, dass die Gleitlinien und die Spannungsverteilung unver¨andert vom entsprechenden Randwertproblem f¨ ur den unbewegten Riss aus Abschnitt 5.3.1.1 u ¨bernommen werden k¨onnen. Danach gilt auch beim bewegten Riss im Bereich des F¨achers (vgl. Bild 5.4) τϕz = τF ,
τrz = 0 .
(5.78)
Die zugeh¨origen Verzerrungs¨anderungen (vgl. (5.14)) k¨onnen wir ebenfalls u ¨ bernehmen, wobei wir diese hier auf das Zeitinkrement dt beziehen: γ˙ ϕz (ϕ, r) =
R(ϕ) dγϕz = γ˙ ϕz (R) , dt r
γ˙ rz = 0 .
(5.79)
Darin ist γ˙ ϕz (R) entlang R(ϕ) vorgegeben. Die Integration von (5.79) erfolgt unter
171
Risswachstum
Verwendung von (5.77). Um sie einfach zu gestalten, wollen wir dabei R(ϕ) = R0 und γ˙ ϕz (R0 ) = C a/R ˙ 0 annehmen. Die kartesischen Komponenten der Verzerrungsgeschwindigkeit lauten dann zun¨achst γ˙ xz = − Mit
C a˙ sin ϕ , r
sin ϕ = y /r ,
γ˙ yz = +
cos ϕ = x /r ,
C a˙ cos ϕ . r r 2 = x2 + y 2
und (5.77) ergibt sich daraus ∂γxz Cy = , ∂x x2 + y 2
∂γyz Cx = − ∂x x2 + y 2
sowie nach Integration γxz = C(π/2 − ϕ) + f1 (y ) ,
γyz = −C ln
r + f2 (y ) , r0
(5.80)
ur r → 0 dominiert der logarithmische wobei f1 , f2 , r0 unbestimmt bleiben. F¨ Term in γyz . Beschr¨anken wir uns auf ihn, so lassen sich die Verzerrungen f¨ ur r → 0 auch in der Form γrz = −C ln r sin ϕ ,
γϕz = −C ln r cos ϕ
(5.81)
darstellen. Sie haben danach an der bewegten Rissspitze eine logarithmische Singularit¨at. Diese ist schw¨acher als die 1/r–Verzerrungssingularit¨at eines ruhenden Risses. y elastische Entlastung
a˙
x
Bild 5.22 Modus I – Rissfortpflanzung im idealplastischen Material Eine entsprechende Analyse f¨ ur den bewegten Riss im Modus I ist wesentlich aufwendiger; sie f¨ uhrt wie im Modus III auf eine logarithmische Verzerrungssingularit¨at und auf beschr¨ankte Spannungen. Dabei zeigt sich, dass in diesem Fall das Prandtl–Feld aus Abschnitt 5.3.1.2 nicht im gesamten Rissspitzenbereich g¨ ultig ist. Vielmehr tritt im Gegensatz zum ruhenden Riss ein keilf¨ormiger Entla¨ stungsbereich auf, in dem sich das Material elastisch verh¨alt (Bild 5.22). Ahnliche Entlastungsbereiche erh¨alt man, wenn das Stoffverhalten durch ein modifiziertes
172
Elastisch-plastische Bruchmechanik
Ramberg-Osgood-Gesetz mit elastischer Entlastung modelliert wird. Dann haben allerdings nicht nur die Verzerrungen sondern auch die Spannungen eine vom Verfestigungsexponenten abh¨angige logarithmische Singularit¨at an der Rissspitze. 5.7.3.3
Energiefluß und J–Integral
Vernachl¨assigt man Tr¨agheitskr¨afte und beschr¨anken wir uns nur auf mechanische Energieformen, so gilt nach (4.84)–(4.86) f¨ ur den Energiefluß −P ∗ u ¨ber die Grenze AP in die Prozesszone dWσ = P − E˙ mit P = ti u˙ i dA , E = U ∗ dV . (5.82) −P ∗ = − dt V
∂V
Darin ist ∂V die Oberfl¨ache des materiellen Volumen V mit Ausnahme der Fl¨ache AP , welche die Grenze zur Prozesszone bildet. Durch εkl t t ∂εij ∗ (5.83) U = σij dεij = σij dτ = σij u˙ i,j dτ ∂τ 0
0
0
wird die spezifische Form¨anderungsarbeit beschrieben. Diese ist nur beim elastischen Material unabh¨angig vom Deformationsweg und entspricht auch nur dann der Form¨anderungsenergiedichte U (vgl. Abschnitt 1.3.1.2).
nβ
A
dc
x2
x2
C x1
+
x1
C−
CP
a(t)
C
Bild 5.23 Zum Energiefluß in die Rissspitze Im weiteren betrachten wir das ebene Modus I Problem der Fortpflanzung eines geraden Risses mit lastfreien Rissufern und einer punktf¨ormigen Prozesszone an der Rissspitze (Bild 5.23). F¨ uhren wir mit dWσ /dt = a˙ dWσ /da = −a˙ G ∗ die ∗ Energietransportrate G ein und nehmen wir die Umbezeichnungen AP → CP , A → C + C + + C − , V → A vor, so erh¨alt man aus (5.82) f¨ ur den Energiefluß u ¨ber die Grenze CP zun¨achst d U ∗ dA . (5.84) a˙ G ∗ = ti u˙ i dc − dt C
A
173
Risswachstum
Dabei wurde ber¨ ucksichtigt, dass die Rissufer C ± belastungsfrei sind. Die Kontur CP fassen wir im Grenzfall als verschwindend klein auf (ρ → 0). Der Stern an der Energietransportrate soll daneben andeuten, dass im Unterschied zur Energiefreisetzungsrate G der Energietransport nun nicht notwendigerweise mit einer Potential¨anderung eines elastischen Systems verbunden ist, sondern dass das Materialverhalten beliebig (also auch inelastisch) sein kann. Da sich die Kontur CP mit der Rissspitze bewegt (C ist dagegen fest), ist die Fl¨ache A zeitlich ver¨anderlich. Bei der Zeitableitung der Form¨anderungsarbeit muß dementsprechend der Fluß u ucksichtigt werden (Reynoldsches ¨ ber CP ber¨ Transporttheorem): d dU ∗ dA + a˙ U ∗ n1 dc . U ∗ dA = (5.85) dt dt A
A
CP
Mit der Umformung dU ∗ /dt = σij u˙ i,j = (σij u˙ i ),j − σij,j u˙ i , der Gleichgewichtsbedingung σij,j = 0 und nach Anwendung des Gaußschen Satzes (die Rissufer C ± liefern wegen ti = 0 keinen Beitrag) l¨asst sich dies auch folgendermaßen schreiben: d ∗ U dA = (σij u˙ i ),j dA + a˙ U ∗ n1 dc dt A A CP = σij u˙ i nj dc + σij u˙ i nj dc + a˙ U ∗ n1 dc . C
CP
CP
Einsetzen in (5.84) liefert a˙ G ∗ = −
(a˙ U ∗ n1 + ti u˙ i) dc .
(5.86)
CP
Um zu einer zweckm¨aßigeren Darstellung zu kommen, gehen wir auf das mit der Rissspitze mitbewegte x1 , x2 –Koordinatensystem u ¨ber und sehen ab jetzt die Kontur C und die Fl¨ache A als mitbewegt an. Die Geschwindigkeit u˙ i in (5.86) muß dann nach (5.76) gebildet werden. Hierbei k¨onnen wir voraussetzen, dass die Verschiebung ui(r, ϕ, t) an der Rissspitze (r → 0) regul¨ar und ihre Ortsableitungen (Verzerrungen) singul¨ar sind. Dementsprechend dominiert lokal immer das zweite Glied, und es wird wie im station¨aren Fall u˙ i = −a˙ ui,1 (lokale Stationarit¨at). F¨ ur die Energiefreisetzungsrate erh¨alt man damit G ∗ = − (U ∗ n1 − ti ui,1 ) dc . (5.87) CP
Wenden wir nun noch den Gaußschen Satz auf die Fl¨ache A mit dem Rand
174
Elastisch-plastische Bruchmechanik
C + CP + C + + C − an (C ± liefert wieder keinen Beitrag) und f¨ uhren wir mit (5.88) J ∗ = (U ∗ n1 − ti ui,1 ) dc = (U ∗ δ1β − σiβ ui,1 ) nβ dc C
C
das modifizierte J–Integral ein, so folgt schließlich G ∗ = J ∗ − (U,1∗ − σij ui,j1) dA .
(5.89)
A
Danach ist die Energietransportrate im allgemeinen Fall nicht durch ein wegunabh¨angiges Konturintegral J ∗ darstellbar; vielmehr muß das zus¨atzliche Fl¨achenintegral ber¨ ucksichtigt werden. Zieht man die Kontur C jedoch auf die Rissspitze zusammen, dann verschwindet das Fl¨achenintegral, und es wird G ∗ = lim (U ∗ n1 − ti ui,1) dc . (5.90) ρ→0
C
Dies stimmt mit (5.87) u ¨berein; der Vorzeichenunterschied ist durch den entgegengesetzten Umlaufsinn bedingt. Im Sonderfall station¨arer Verh¨altnisse verschwindet in (5.89) das Fl¨achenintegral dagegen immer. Nach (5.77) und (5.83) wird dann n¨amlich U,1∗ = −U˙ ∗ /a˙ = −σij u˙ i,j /a˙ = σij ui,j1. In diesem Fall gilt also G∗ = J ∗ .
(5.91)
Unabh¨angig vom Stoffverhalten kann dann die Energietransportrate durch das J ∗ –Integral (5.88) ausgedr¨ uckt werden, wobei die Kontur C beliebig ist (Wegunabh¨angigkeit). Dieses Integral unterscheidet sich vom J–Integral (4.107) dadurch, dass bei J ∗ anstelle der Form¨anderungsenergiedichte U die spezifische Form¨anderungsarbeit U ∗ auftritt.
y C −ε
+ε
x
Bild 5.24 Bestimmung von G ∗ Als Beispiel betrachten wir das Risswachstum im idealplastischen Material. Hierf¨ ur sind nach Abschnitt 5.7.3.2 die Spannungen in der Umgebung der Rissspitze (r → 0) beschr¨ankt, w¨ahrend die Verzerrungen logarithmisch singul¨ar sind:
175
Konzept der wesentlichen Brucharbeit
σiβ ∼ σF , ui,1 ∼ ln r. W¨ahlen wir die Kontur C entsprechend Bild 5.24, so erh¨alt man aus (5.90) das Ergebnis +ε
∗
ln |x |dx = lim 2σF [x (ln x − 1)]−ε = 0 . +ε
G ∼ lim 2σF ε→0
ε→0
(5.92)
−ε
Beim idealplastischen Material findet danach kein Energietransport in die Rissspitze statt. F¨ ur einen speziellen, energieverzehrenden Trennprozess in der Prozesszone steht also keine Energie zur Verf¨ ugung. Ursache f¨ ur dieses “Paradoxon” ist offenbar die zu stark vereinfachende Annahme einer punktf¨ormigen Prozesszone in Kombination mit einem idealplastischen Materialverhalten.
5.8
Konzept der wesentlichen Brucharbeit
In Fall ausgedehnter plastischer Zonen (“Großbereichsfließen”) sind Gr¨oßenbedingungen wie (5.58), die zur Charakterisierung der Bruchz¨ahigkeit durch Jc notwendig sind, oft nur schwer zu erf¨ ullen. Dies gilt insbesondere, wenn (z.B. aus praktischen Gr¨ unden) Versuche an d¨ unnen scheibenartigen Proben durchgef¨ uhrt werden und es sich um sehr duktile Materialien mit nur geringer Verfestigung handelt. Die Definition und auch die Messung von Rissspitzen¨offnungsverschiebung (Abschnitt 5.4) oder Rissspitzen¨offnungswinkel (Abschnitt 5.7.3.1) hingegen sind mit einer gewissen Willk¨ ur behaftet. Als Alternative zu diesen lokalen Gr¨oßen basiert das Konzept der wesentlichen Brucharbeit (essential work of fracture, EWF) auf globalen energetischen Betrachtungen. Es wurde von K.B. Broberg, B. Cotterell, J.K. Reddell und Y.-W. Mai entwickelt und wird vorwiegend als pragmatischer Zugang zur Bruchz¨ahigkeitscharakterisierung d¨ unner metallischer Proben (Bleche) oder duktiler Polymere eingesetzt. Zur Definition und Ermittlung der Bruchz¨ahigkeit wird dabei nicht die Rissinitiierung (und evtl. eine kurze anschließende Phase) betrachtet sondern der vollst¨andige Bruch einer Probe. Die Arbeit, die bis zum vollst¨andigen Bruch einer Probe geleistet wird, wird als totale Brucharbeit Wf bezeichnet und ist durch die Fl¨ache unter der dabei gemessenen Kraft-Verschiebungs-Kurve gegeben (Bild 5.25). Sie h¨angt von der Probengeometrie (z.B. Ligamentl¨ange l) ab und ist daher nat¨ urlich nicht als Maß f¨ ur die materialspezifische Bruchz¨ahigkeit geeignet. Das Konzept der wesentlichen Brucharbeit basiert auf der Annahme, dass Wf in zwei Anteile aufgespalten werden kann, die unterschiedlich mit der Ligamentl¨ange l skalieren, d.h. von l mit unterschiedlicher Potenz abh¨angen. Dies setzt voraus, dass vor Einsetzen des Bruchs im gesamten Ligament plastisches Fließen vorherrscht und dass die plastische Zone (hellgrau in Bild 5.25b) die Prozesszone (dunkles Grau) vollst¨andig umschließt. Die totale Brucharbeit f¨ ur eine Probe der Dicke B kann dann als Wf = we B l + wp Bβ l2
(5.93)
176
Elastisch-plastische Bruchmechanik
F, u F
Wf =
F du we
wp
l l
a)
b) u
F, u
Bild 5.25 a) Selbst¨ahnliche Kraft-Verschiebungs-Kurven bei duktilem Bruch, b) plastische Zone und Bruchprozesszone im Ligament einer “double-edge notch tension” (DENT) Probe geschrieben werden, wobei der erste Term auf der rechten Seite die in der Prozesszone dissipierte Arbeit darstellt (Bl = Bruchfl¨ache). Der zweite Term beschreibt die nicht unmittelbar f¨ ur den Bruchprozess ben¨otigte jedoch in der umgebenden plastischen Zone dissipierte Arbeit. Die Gr¨oße der plastischen Zone in der Probenebene ist proportional zu l2 mit dem dimensionslosen Geometriefaktor β. In (5.93) bezeichnet wp die spezifische plastische Arbeit (pro Volumen), w¨ahrend durch we die spezifische wesentliche Brucharbeit definiert ist, die direkt im Bruchprozess (pro Bruchfl¨ache) verbraucht wird. In d¨ unnen Proben aus duktilen Materialien erfolgen plastisches Fließen sowie auch Bruch n¨aherungsweise im ebenen Spannungszustand, wobei typischerweise die in Bild 5.25b skizzierte Situation vorliegt. Die Breite der Prozesszone in der Probenebene ist dann von der Gr¨oßenordnung der Probendicke B, da der Bruchvorgang Gleitvorg¨ange und Probeneinschn¨ urung gem¨aß Bild 4.39b beinhaltet. Dies bedeutet, dass we von der Probendicke abh¨angt. Bei fester Dicke jedoch ist die spezifische wesentliche Brucharbeit we n¨aherungsweise konstant und unabh¨angig von der Probengeometrie. Zu ihrer Bestimmung werden mehrere geometrisch ¨ahnliche Proben unterschiedlicher Gr¨oße und damit unterschiedlicher Ligamentl¨ange l jedoch gleicher Dicke B gepr¨ uft, was zu selbst¨ahnlichen Kraft-Verschiebungs-Kurven f¨ uhrt (Bild 5.25a). Werden die resultierenden Werte der totalen Brucharbeit durch die Bruchfl¨ache Bl dividiert und u ¨ber der Ligamentl¨ange l aufgetragen (Bild 5.26), so erh¨alt man gem¨aß (5.93) n¨aherungsweise die lineare Beziehung Wf = w e + β wp l . (5.94) Bl
177
Konzept der wesentlichen Brucharbeit
ur die Bruchz¨ahigkeit ist Die spezifische wesentliche Brucharbeit we als Maß f¨ dabei durch den Ordinatenschnittpunkt f¨ ur l → 0 gegeben (Bild 5.26).
Wf Bl
β wp
we l Bild 5.26 Bestimmung der spezifischen wesentlichen Brucharbeit we aus Messdaten (◦)
5.9
Literatur
Anderson, T.L. (1995). Fracture Mechanics – Fundamentals and Application. CRC Press, Boca Raton Broberg, K.B. (1999). Cracks and Fracture. Academic Press, London Ductile Fracture Handbook (1989). Electric Power Research Institute, Palo Alto Hellan, K. (1985). Introduction to Fracture Mechanics. McGraw-Hill, New York Hutchinson, J.W. (1979). Nonlinear Fracture Mechanics. Department of Solid Mechanics, Technical University of Denmark Kanninen, M.F. and Popelar, C.H. (1985). Advanced Fracture Mechanics. Clarendon Press, Oxford Knott, J.F. (1973). Fundamentals of Fracture Mechanics. Butterworth, London Miannay, D.P. (1998). Fracture Mechanics. Springer, New York Rice, J.R. (1968). Mathematical Analysis in the Mechanics of Fracture. In Fracture – A Treatise, Vol. 2, ed. H. Liebowitz, pp. 191-311. Academic Press, London
6 Kriechbruchmechanik
6.1
Allgemeines
Verschiedene Werkstoffe zeigen ein zeitabh¨angiges Materialverhalten, das sich in Kriech- bzw. Relaxationserscheinungen a¨ußert. Diese finden in der Regel quasistatisch statt, d.h. sie erfolgen so “langsam”, dass Tr¨agheitskr¨afte keine Rolle spielen. Belastet man ein Rissbehaftetes Bauteil aus einem solchen Material, so kommt es insbesondere in der Umgebung der Rissspitze aufgrund der dort sehr hohen Spannungen zu zeitabh¨angigen Deformationen. Folge davon kann sein, dass der Bruch oder Rissfortschritt erst zeitverz¨ogert, nach Erreichen einer kritischen Rissspitzendeformation, einsetzt. Es kann aber auch sein, dass mit dem Kriechen an der Rissspitze unmittelbar ein Kriechrisswachstum verbunden ist. Typische Beispiele f¨ ur Werkstoffe, bei denen ein entsprechendes Verhalten beobachtet werden kann, sind Polymere (bei Raumtemperatur) oder St¨ahle (bei Temperaturen ab ca. 30% der Schmelztemperatur). Trotz ¨ahnlicher makroskopischer Ph¨anomene unterscheiden sich die Mikromechanismen, die beim Bruch dieser Werkstoffe eine Rolle spielen, deutlich voneinander. Thermisch induziertes Kriechen von Metallen ist mit einem Porenwachstum an den Korngrenzen verbunden. Dieses f¨ uhrt in der Umgebung der Rissspitze zur Bildung von Mikrorissen, zu ihrer Vereinigung und schließlich auf diese Weise zum Rissfortschritt. Bei glasartigen Polymeren (z.B. Plexiglas) geht dem eigentlichen Bruchvorgang dagegen meist die Bildung einer zungenf¨ormigen craze–zone vor der Rissspitze voraus. Dabei handelt es sich um eine d¨ unne por¨ose Schicht von etwa 10−3 mm Dicke und einigen Millimetern L¨ange, in der die Makromolek¨ ule b¨ undelf¨ormig im wesentlichen in Richtung der gr¨oßten Zugspannung (senkrecht zur craze–zone) ausgerichtet sind. Der Trennvorgang findet dann dort bei hinreichend großer Beanspruchung statt, indem die Makromolek¨ ule aus der Matrix “herausgezogen” werden bzw. indem sie zerreißen. Das makroskopische Stoffverhalten von Polymeren kann außerhalb der Prozesszone in vielen F¨allen als linear viskoelastisch beschrieben werden; eine sachgerechte Modellierung des Kriechens von Metallen muß außerhalb der Prozesszone dagegen im allgemeinen durch nichtlineare Stoffgesetze erfolgen. Wir werden uns dabei, ¨ahnlich wie in der Plastizit¨at, auf m¨oglichst einfache Beschreibungen beschr¨anken (vgl. Abschnitt 1.3.2.1). Wie schon erw¨ahnt, ist das Kriechen an der Rissspitze besonders ausgepr¨agt. In manchen F¨allen ist das zeitabh¨angige inelastische Verhalten sogar auf die unmittelbare Umgebung der Rissspitze beschr¨ankt, w¨ahrend das Material ansonsten
180
Kriechbruchmechanik
als linear elastisch angesehen werden kann. Ist diese Kriechzone hinreichend klein, so spricht man von Kleinbereichskriechen. Zur Charakterisierung des Rissspitzenzustandes lassen sich dann die Parameter der linearen Bruchmechanik (z.B. KI oder die Rissspitzen¨offnung) heranziehen, die nun allerdings zeitabh¨angig sein k¨onnen. Parameter der linearen Bruchmechanik lassen sich auch f¨ ur große Kriechbereiche (z.B. Kriechen des ganzen Bauteiles) verwenden, falls der Werkstoff linear viskoelastisch beschrieben werden kann. Bei nichtlinearem Materialverhalten haben sich als Kontrollparameter integrale Gr¨oßen als zweckm¨aßig erwiesen. H¨aufig angewendet werden hier das C– bzw. das C ∗ –Integral, welche enge Bez¨ uge zum J–Integral der elastisch-plastischen Bruchmechanik haben.
6.2 6.2.1
Bruch von linear viskoelastischen Materialien Rissspitzenfeld, elastisch-viskoelastische Analogie
Wir wollen uns hier zun¨achst auf die Betrachtung von station¨aren Rissen in linear viskoelastischen K¨orpern beschr¨anken. Die L¨osung entsprechender Randwertprobleme l¨asst sich oft direkt aus den L¨osungen der zugeordneten elastischen Probleme gewinnen. So erh¨alt man die Laplace-transformierte L¨osung eines viskoelastischen Randwertproblems aus der elastischen L¨osung, indem man die elastischen Konstanten geeignet durch die transformierte Kriech- bzw. Relaxationsfunktion ersetzt (vgl. Abschnitt 1.3.2.1). Tauchen in der L¨osung des elastischen Problems keine Elastizit¨atskonstanten auf, so k¨onnen die Kriech- bzw. die Relaxationsfunktion auch keinen Einfluß auf die viskoelastische L¨osung haben; letztere stimmt dann vollst¨andig mit der elastischen L¨osung u ¨ berein. Ein Beispiel hierf¨ ur ist das Spannungsfeld in der Umgebung der Spitze eines station¨aren Risses. Dieses ist im viskoelastischem Fall genau wie in der linear elastischen Bruchmechanik durch die entsprechenden Gleichungen in (4.6), (4.13), (4.14) und (4.15) gegeben; allerdings k¨onnen die K–Faktoren je nach ¨außerer Belastung nun von der Zeit abh¨angen. In die Verschiebungen an der Rissspitze gehen dagegen im elastischen Fall die Elastizit¨atskonstanten ein. Sie k¨onnen daher zun¨achst noch nicht ohne weiteres auf den viskoelastischen Fall u ¨bertragen werden. Ein anderes Beispiel sind K¨orper, deren Belastung entlang des gesamten Randes vorgegeben ist. Auch in diesem Fall sind die viskoelastische Spannungsverteilung und die elastische Spannungsverteilung gleich. Bei mehrfach zusammenh¨angenden Gebieten (z.B. bei Innenrissen) muß nur gefordert werden, dass etwaige Belastungen von inneren R¨andern jeweils Gleichgewichtsgruppen bilden. Die K–Faktoren Rissbehafteter viskoelastischer K¨orper, deren Belastung vorgegeben ist, k¨onnen also unmittelbar vom elastischen Fall u ¨bernommen werden. Eine besonders einfache Bestimmung der viskoelastischen Spannungen und Deformationen ist m¨oglich, wenn vorausgesetzt wird, dass die Querkontraktionszahl ν wie im elastischen Fall konstant ist (dies trifft n¨aherungsweise auf viele Polymere zu). Wir unterscheiden dabei zwei wichtige F¨alle.
181
Bruch von linear viskoelastischen Materialien
1. Fall: Wird ein K¨orper durch vorgegebene Kr¨afte der Art Fi = Fˆi f (t) belastet (d.h. alle Kr¨afte haben das gleiche Zeitverhalten), so sind die viskoelastischen und die elastischen Spannungen gleich: σij = σ ˆij f (t). Dies trifft damit auch auf die Spannungsintensit¨atsfaktoren zu. Die viskoelastischen Deformationen erh¨alt man aus den entsprechenden elastischen Gr¨oßen, indem der Schubmodul folgendermaßen ersetzt wird: t 1 df (τ ) → dτ . (6.1) Jd (t − τ ) G dτ −∞
(Zur Beachtung: in diesem Abschnitt werden mit Jd (t) bzw. mit J(t) Kriechfunktionen bezeichnet; man verwechsle dies nicht mit dem J-Integral!) 2. Fall: Wird ein K¨orper an einem Teil des Randes durch vorgegebene Verschiebungen der Art uR ˆR i = u i u(t) belastet und ist der Rest des Randes belastungsfrei, so sind die viskoelastischen und die elastischen Deformationen gleich: ui = uˆi u(t). Die viskoelastischen Spannungen und Spannungsintensit¨atsfaktoren ergeben sich aus den elastischen Gr¨oßen, indem man den Schubmodul wie folgt ersetzt: t G→
G(t − τ ) −∞
du(τ ) dτ . dτ
(6.2)
Wendet man (6.1) auf das Rissspitzenfeld an (vgl. (4.6), (4.13), (4.14), (4.15)), so erkennt man, dass sich die viskoelastischen Verschiebungen von den entsprechenden elastischen Verschiebungen nur durch ihr zeitliches Verhalten unterscheiden; die ¨ortliche Verteilung bleibt gleich. Wird im Sonderfall die Belastung (Kr¨afte oder Verschiebungen) zum Zeitpunkt t = 0 aufgebracht und dann konstant gehalten, so folgen aus (6.1) bzw. (6.2) 1/G → Jd (t) ,
G → G(t) .
(6.3)
Dabei durchl¨auft zum Beispiel die Relaxationsfunktion G(t) die Werte zwischen dem instantanen Modul G(0) = Gg und dem Gleichgewichtsmodul G(∞) = Ge (vgl. Bild 1.6). Entsprechendes trifft auf die Kriechfunktion Jd (t) zu. Damit k¨onnen die oberen und unteren Grenzen der Deformationen bzw. der Spannungen sofort angegeben werden. Als Beispiel betrachten wir die Konfiguration nach Bild 6.1a (vgl. auch DCB– Probe, Abschnitt 4.6.3), deren viskoelastisches Stoffverhalten durch den linearen Standardk¨orper approximiert wird. Dieser l¨asst sich durch das Feder-D¨ampferModell in Bild 6.1b veranschaulichen. Unter Annahme von Je = 3Jg und Ge = Gg /3 mit Jg = 1/Gg lauten hierf¨ ur die Kriech- und die Relaxationsfunktion J(t) = Jg (3 − 2e−t/τJ ) ,
G(t) =
Gg (1 + 2e−t/τG ) . 3
(6.4)
182
Kriechbruchmechanik
F G1
h uF
τJ = η1 /G1 Gg
a a)
η1 B
b)
δ(t) δ(0)
K(t) K(0)
3
3
2
2
1
1 1
2
t/τJ
c)
1
2
t/τG
d)
Bild 6.1 a) DCB–Probe,
b) Standardk¨orper, c) F = const,
d) uF = const
Darin sind τG die Relaxationszeit und τJ = τG Gg /Ge = 3τG die Retardationszeit des Materials. Die elastische L¨osung dieses Problems liefert unter Annahme eines ¨ ESZ f¨ ur den Spannungsintensit¨atsfaktor K und die Offnung δ = v + − v − an der Rissspitze die Ergebnisse √ √ Fa 3 uF G(1 + ν)h3/2 r 4KI . (6.5) KI = 2 3 = , δ = Bh3/2 2 a2 G(1 + ν) 2π Als Belastung des viskoelastischen K¨orpers betrachten wir zun¨achst eine zur Zeit t = 0 aufgebrachte konstante Kraft F . Der K–Faktor ist dann zeitlich unver¨anderlich; den Verlauf der Rissspitzen¨offnung erhalten wir aus (6.5), indem wir 1/G durch J(t) ersetzen: √ Fa KI = 2 3 , Bh3/2
δ(t) J(t) = = 3 − 2e−t/τJ . δ(0) J(0)
(6.6)
Danach w¨achst δ mit der Zeit an und erreicht f¨ ur t → ∞ das dreifache des instantanen Wertes (Bild 6.1c). Erfolgt dagegen die Belastung durch eine zur Zeit t = 0 aufgebrachte konstante Verschiebung uF , so bleibt die Rissspitzen¨offnung konstant und K ¨andert sich mit
Bruch von linear viskoelastischen Materialien
183
der Zeit. Man erh¨alt seinen Zeitverlauf, indem im K–Faktor nach Gleichung (6.5) G durch G(t) ersetzt wird: √ uF h3/2 K(t) G(t) r δ=2 3 , = = 1 + 2e−t/τG . (6.7) a2 2π K(0) G(0) Der Spannungsintensit¨atsfaktor klingt in diesem Fall mit zunehmender Zeit ab, und er erreicht f¨ ur t → ∞ ein Drittel des instantanen Wertes (Bild 6.1d). 6.2.2
Bruchkonzept
Das Spannungs- und das Verschiebungsfeld an der Rissspitze haben im viskoelastischen Fall zwar die gleiche Struktur wie bei linear elastischem Materialverhalten, ihr zeitliches Verhalten ist aber im allgemeinen unterschiedlich. W¨ahrend die Spannungen durch K(t) eindeutig festgelegt sind, werden die Verschiebungen durch δ(t) bestimmt. So nehmen im Beispiel des vorhergehenden Abschnittes die Deformationen und damit δ(t) bei festen Spannungen (K =const) mit der Zeit zu. Umgekehrt klingen die Spannungen, d.h. auch K(t), bei festen Deformationen (δ =const) zeitlich ab. Das Rissspitzenfeld und damit die aktuelle Belastung der Rissspitze wird also nicht alleine durch den Spannungsintensit¨atsfaktor sondern durch die aktuelle Gr¨oße von K und von δ festgelegt. Daneben kann man aufgrund des zeitabh¨angigen Materialverhaltens nicht erwarten, dass der Zustand in der Prozesszone alleine durch das aktuelle Rissspitzenfeld bestimmt ist. Vielmehr wird dieser von der Geschichte der Rissspitzenbelastung abh¨angen. Dies wird durch experimentelle Untersuchungen best¨atigt. Sie zeigen zum Beipiel f¨ ur viele viskoelastische Werkstoffe eine deutliche Abh¨angigkeit der Bruchlast von der Belastungsgeschwindigkeit. Letztere bezeichnen wir als groß, wenn bei einer Laststeigerung die Zeit T bis zum Erreichen der Bruchlast klein ist im Vergleich zur charakteristischen Relaxationszeit: T τG . In diesem Fall spielen Kriech- und Relaxationserscheinungen keine Rolle; das Werkstoffverhalten entspricht dann dem eines K¨orpers mit instantaner Elastizit¨at. Ein Sch¨adigungsProzess an der Rissspitze zum Beispiel durch Hohlraumbildung findet nur eingeschr¨ankt statt; der Bruchvorgang erfolgt spr¨od. Bei kleiner Belastungsgeschwindigkeit (T τG ) relaxiert bzw. kriecht dagegen das Material in der Prozesszone so, dass es sich immer im Zustand der Gleichgewichtselastizit¨at befindet. Der Sch¨adigungsProzess an der Rissspitze kann nun so ablaufen, als w¨are er zeitlich unbeschr¨ankt. Wann und ob der kritische Zustand in der Prozesszone erreicht wird, h¨angt demnach genaugenommen vom zeitlichen Verlauf der Rissspitzenbelastung ab. Die Bruchbedingung l¨asst sich damit formal als F [K(t), δ(t)] = 0
(6.8)
schreiben, wobei das Symbol F die Abh¨angigkeit von der Belastungsgeschichte
184
Kriechbruchmechanik
ausdr¨ uckt. Da u ¨ber diese Abh¨angigkeit meist nicht ausreichend experimentelle Daten vorliegen, verzichtet man h¨aufig auf deren Beschreibung. Vereinfachend nimmt man dann an, dass der Zustand der Prozesszone alleine durch die aktuellen Deformationen an der Rissspitze, d.h. durch δ charakterisiert wird. Gest¨ utzt wird diese Hypothese durch die Beobachtung, dass bei viskoelastischen Materialien die Deformation in vielen F¨allen auch ein gutes Maß f¨ ur den Sch¨adigungszustand des Werkstoffes darstellt. Anstelle von δ, das ja im allgemeinen vom Rissspitzenabstand r abh¨angt (vgl. (6.5)), ist es meist zweckm¨aßig eine geeignet definierte Rissspitzen¨offnung δt zu verwenden (z.B. 45◦ -Schnitte mit der Risskontur, vgl. Bild 5.14). Das vereinfachte Bruchkriterium lautet damit δt = δtc .
(6.9)
Erreicht danach δt (t) den materialspezifischen kritischen Wert δtc , so kommt es zum Rissfortschritt. Mit dem Bruchkriterium (6.9) l¨asst sich die Bruchzeit, Inkubationszeit oder Initiierungszeit ti (time of failure) bestimmen, zu der nach einer Belastung Rissfortschritt einsetzt. Als Beispiel hierzu betrachten wir nochmals die DCB–Probe mit dem Stoffgesetz des linearen Standardk¨orpers unter konstanter Last nach Bild 6.1a,c. Der zeitliche Verlauf von δt wird hierf¨ ur durch (6.6) beschrieben. Einsetzen in (6.9) und Aufl¨osen nach der Zeit liefert ti = −τJ ln
3δt (0) − δtc . 2δt (0)
(6.10)
Die Verwendung der Parameter δt (t) bzw. K(t) im Bruchkonzept setzt voraus, dass die Gr¨oßenbedingung erf¨ ullt ist. Danach muß der Bereich, in dem das durch diese Parameter bestimmte Rissspitzenfeld dominiert, groß sein im Vergleich zur Prozesszone (vgl. Abschnitt 4.3). Vereinfacht modelliert man die Prozesszone h¨aufig als eine plastische Zone, in der ein Fließvorgang stattfindet und in der die Spannungen beschr¨ankt sind. Man spricht dann auch im viskoelastischen Fall wie in der linear elastischen Bruchmechanik von Kleinbereichsfließen. 6.2.3
Risswachstum
Bei viskoelastischen Materialien muß die Rissinitiierung nicht unmittelbar zum Versagen eines Bauteiles f¨ uhren. Ursache hierf¨ ur ist, dass der Riss sich zun¨achst nur kriechend fortpflanzt. In einem Bauteil unter festgehaltener ¨außerer Belastung nimmt dabei mit zunehmender Rissl¨ange auch die Risswachstumsrate zu. Erst beim Erreichen einer kritischen Rissl¨ange wird der Riss dann “instabil”, d.h. seine Rissgeschwindigkeit w¨achst unbeschr¨ankt an. Wir wollen diesen Vorgang am Beispiel eines Risses im ESZ untersuchen, bei dem die Prozesszone genau wie beim Dugdale-Modell durch einen Streifen modelliert wird, in welchem die Fließspannung σ0 herrscht (Bild 6.2). Da Klein-
185
Bruch von linear viskoelastischen Materialien
bereichsfließen vorliegen soll, muß die Streifenl¨ange d klein im Vergleich zu allen anderen L¨angen sein, d.h. die Rissl¨ange kann im Vergleich zu d als unendlich groß angesehen werden. Bei elastischem Materialverhalten gelten dann f¨ ur die Streifenl¨ange d, f¨ ur die Riss¨offnung δ im Streifen und f¨ ur die Rissspitzen¨offnung δt die Beziehungen (vgl. (5.7), (5.8)) 2 π KI , (6.11) d = 8 σ0 r ) r 4σ0 d r* δ(r) = + 1− artanh , (6.12) π(1 + ν)G d d d δt = δ(d) =
KI2 . 2(1 + ν)Gσ0
(6.13)
Ist die Rissbelastung durch KI vorgegeben, so liegen diese Gr¨oßen damit eindeutig fest. r y x
σ0 δt
δ d
Bild 6.2 Riss im Kleinbereichsfließen Aus (6.11) bis (6.13) l¨asst sich unmittelbar die entsprechende viskoelastische L¨osung f¨ ur einen station¨aren (nicht kriechenden) Riss ermitteln, der zur Zeit t = 0 eine Belastung KI erf¨ahrt, welche anschließend konstant gehalten wird. Nach (6.3) muß man hierzu nur 1/G durch die Kriechfunktion Jd (t) ersetzen. F¨ ur ¨ die Streifenl¨ange d f¨ uhrt dies zu keiner Anderung. Die Riss¨offnungen im Streifen und an der Spitze werden nun dagegen zeitabh¨angig: 4σ0 d r ) r r* δ(r, t) = Jd (t) + 1− artanh , (6.14) π(1 + ν) d d d δt (t) =
KI2 Jd (t) . 2(1 + ν)σ0
(6.15)
Erreicht δt nach der Initiierungszeit ti den kritischen Wert δtc , so beginnt der Riss zu wachsen. Im weiteren betrachten wir den quasistatisch wachsenden Riss nach Bild 6.3. Bei ihm bewegt sich der Fließstreifen in der Zeit t1 u ¨ ber einen materiellen Punkt x hinweg. Da Kleinbereichsfließen vorliegt, k¨onnen in diesem Zeitintervall die
186
Kriechbruchmechanik
d t=0
y
σ0 x x at ˙
y
t x
δ(x, t) y
t = t1 x
δt = δ(x, t1 ) d = at ˙ 1 Bild 6.3 Rissfortpflanzung
Streifenl¨ange d und die Risswachstumsrate a˙ als konstant angesehen werden, d.h. es gilt d = a˙ t1 . Die Riss¨offnung δ(x, t) im Streifen bestimmen wir unter Zuhilfenahme von (6.14), indem wir die Bewegung des Fließstreifens im Zeitbereich 0 ≤ τ ≤ t als eine zeitliche Aufeinanderfolge infinitesimal gegeneinander verschobener Konfigurationen auffassen: 4σ0 d δ(x, t) = π(1 + ν)
t
∂ Jd (t−τ ) ∂τ
%
& a˙ τ a˙ τ a˙ τ artanh dτ . (6.16) + 1− d d d
0
F¨ ur die Rissspitzen¨offnung ergibt sich daraus mit δt = δ(x, t1 ) und der neuen Variablen ξ = 1 − a˙ τ /d die Darstellung δt =
4σ0 d π(1 + ν)
1 Jd 0
ξd a˙
√
1 − artanh 1 − ξ dξ . 1−ξ
(6.17)
Aus dieser Beziehung l¨asst sich in Verbindung mit der Bruchbedingung (6.9), die ja beim Risswachstum erf¨ ullt sein muß, die Risswachstumsrate a˙ ermitteln. In vielen F¨allen ist es dabei hinreichend, die Kriechfunktion durch das Potenzgesetz Jd (t) = Jg + Jn tn
(6.18)
zu approximieren. Darin sind Jg die instantane Nachgiebigkeit und Jn bzw. n
187
Bruch von linear viskoelastischen Materialien
Konstanten. Einsetzen in (6.17) liefert mit (6.9) zun¨achst n d πδtc (1 + ν) = J g + Jn P n , 4σ0 d a˙ wobei
1 Pn = 0
(6.19)
1 − artanh 1 − ξ dξ ξn √ 1−ξ
(6.20)
eine Konstante ist. Durch Aufl¨osen von (6.19) nach a˙ erh¨alt man mit (6.11) und der Bezeichnung 2(1 + ν) 2 KIg = δtc σ0 (6.21) Jg schließlich 2(n+1)/n KI 1/n 2 KIg KIg π Jn Pn (6.22) a˙ = % 2 &1/n . 8 Jg σ02 K I 1− K Ig
F¨ ur eine gegebene Rissbelastung KI liegt damit bei bekannten Materialkennwerten die Risswachstumsrate a˙ fest. Aus (6.22) erkennt man, dass die Risswachstumsrate unbeschr¨ankt anw¨achst (a˙ → ∞), wenn KI gegen den Grenzwert KIg geht. Letzteren kann man als “instantane Bruchz¨ahigkeit” interpretieren; in ihn geht nach (6.21) nur die instantane Nachgiebigkeit Jg ein und nicht etwa die gesamte Kriechfunktion (6.18). In Bild 6.4 ist a˙ als Funktion von KI f¨ ur den Fall n = 1/2 dargestellt. a˙ 1/n KIg π Jn P n σ0 8 Jg
5
0,5
1
KI KIg
Bild 6.4 Risswachstumsrate (n = 1/2) Die Gleichung (6.22) erm¨oglicht es, die Kriechzeit tc zu bestimmen, die ein Riss ben¨otigt, um von einer AnfangsRissl¨ange a0 die kritische Rissl¨ange ag zu erreichen,
188
Kriechbruchmechanik
t c1/n) * σ0 2 J g 8 π Jn P n σ 4
σ
2
2a
σ
0,5
a0 1 a g
Bild 6.5 Kriechzeit (n=1/2) bei welcher a˙ → ∞ geht. Als einfachstes Beispiel hierzu betrachten wir die unendliche Scheibe mit einer Zugspannung σ nach Bild 6.5. Hierf¨ ur √ einem Riss unter √ gelten KI = σ πa bzw. KIg = σ πag . Die kritische Rissl¨ange ist danach durch ag =
2 KIg πσ 2
(6.23)
gegeben. Damit wird aus (6.22) 1/n 2 KIg [a/ag ](n+1)/n π Jn Pn , a˙ = 8 Jg σ02 [1 − a/ag ]1/n
(6.24)
und man erh¨alt durch Trennung der Ver¨anderlichen und Integration von der AusgangsRissl¨ange a0 bis zur kritischen Rissl¨ange ag tc =
8 π2
Jg Jn P n
1/n )
σ0 *2 σ
1
a0 /ag
[1 − a/ag ]1/n [a/ag ](n+1)/n
d(a/ag ) .
(6.25)
Dementsprechend nimmt die Kriechzeit in diesem Fall mit zunehmender Belaur n = 1/2. stung σ und AusgangsRissl¨ange a0 ab. Bild 6.5 zeigt das Ergebnis f¨ An dieser Stelle sei angemerkt, dass wir das Kriechrisswachstum aufgrund der geringen Rissgeschwindigkeit quasistatisch behandeln konnten. F¨ ur a˙ → ∞ wird der Kriechbereich aber verlassen, und die Ergebnisse verlieren f¨ ur zu große a˙ ihre G¨ ultigkeit. Dann hat man es mit einem schnellen Risswachstum zu tun, bei dem Tr¨agheitskr¨afte nicht vernachl¨assigt werden k¨onnen (vgl. Kapitel 7).
6.3 6.3.1
Kriechbruch von nichtlinearen Materialien Sekund¨ ares Kriechen, Stoffgesetz
Das Kriechen von metallischen Werkstoffen unter konstanter ¨außerer Belastung wird in drei Stadien unterteilt (vgl. Abschnitt 1.3.2.2). Unmittelbar mit der Last-
189
Kriechbruch von nichtlinearen Materialien
aufbringung setzt das prim¨are Kriechen ein, welches durch eine vom Startwert abnehmende Verzerrungsrate gekennzeichnet ist. Daran schließt sich das sekund¨are Kriechen an, bei dem station¨are Verh¨altnisse mit zeitlich konstanten Kriechraten herrschen. Beim terti¨aren Kriechen nimmt die Kriechrate dann aufgrund einer fortschreitenden Materialsch¨adigung unbeschr¨ankt zu, und der Werkstoff versagt. Wir werden uns in diesem Abschnitt auf die Untersuchung der Initiierung und des Wachstums von Rissen in K¨orpern beschr¨anken, bei denen in der Kriechregion sekund¨ares Kriechen herrscht. Die Kriechregion kann dabei je nach vorliegenden Verh¨altnissen entweder auf die unmittelbare Umgebung der Rissspitze beschr¨ankt sein (= Kleinbereichskriechen) oder den gesamten K¨orper umfassen.
ε
E σ
B, n
εv = Bσ n t σ
εe = σ/E t b)
a)
Bild 6.6 Materialverhalten beim Kriechen Das Materialverhalten approximieren wir durch einen nichtlinearen MaxwellK¨orper , dessen Stoffgesetz im einachsigen Fall durch ε˙ =
σ˙ + Bσ n E
(6.26)
gegeben ist; er l¨asst sich durch das Feder-D¨ampfer-Modell in Bild 6.6a veranschaulichen. Danach setzt sich die Dehnungsrate aus dem elastischen Anteil ε˙e = σ/E ˙ und dem nichtlinear viskosen Anteil (Kriechrate) ε˙v = Bσ n zusammen, wobei B und n > 1 Materialkonstanten sind. Die zugeh¨orige Kriechkurve f¨ ur eine zur Zeit t = 0 aufgebrachte konstante Spannung σ ist in Bild 6.6b dargestellt. In diesem Fall liegen mit σ˙ = 0 bzw. ε˙e = 0 station¨are Verh¨altnisse vor und (6.26) reduziert sich auf das Nortonsche Kriechgesetz ε˙ = ε˙v = Bσ n
(6.27)
(vgl. (1.65)). Das instantane Verhalten (t → 0) ist rein elastisch. Anschließend nimmt die Kriechdehnung linear mit t zu. Zur Zeit t = 1/(EBσ n−1 ) sind die elastische Dehnung und die Kriechdehnung gleich (εv = εe ), und nach einer hinreichend großen Zeit gilt εv εe ; die elastische Dehnung kann dann vernachl¨assigt werden. Die hierf¨ ur erforderliche Zeit ist umso kleiner je gr¨oßer die Spannung σ ist. Das Stoffgesetz (6.26) reduziert sich auch f¨ ur zeitlich ver¨anderliche Spannungen auf (6.27) sofern nur Bσ n σ/E ˙ gilt. Dies ist der Fall, wenn die Spannung σ sehr
190
Kriechbruchmechanik
groß wird (z.B. in Rissspitzenumgebung) und die zeitliche Spannungs¨anderung nicht zu schnell erfolgt. Die dreidimensionale Verallgemeinerung von (6.26) lautet unter Verwendung von (1.38) und (1.71) ν 1+ν 3 ε˙ij = ε˙eij + ε˙vij = − σ˙ kk δij + σ˙ ij + B σen−1 sij E E 2
(6.28)
mit σe = ( 32 sij sij )1/2 . Dabei wurde angenommen, dass die Kriechdehnungen aus einem Fließpotential herleitbar sind und inkompressibel erfolgen (ε˙vkk = 0). Ist der elastische Anteil vernachl¨assigbar, so vereinfacht sich (6.28) zu 3 ε˙ij = B σen−1 sij . (6.29) 2 In diesem Fall gilt nach Abschnitt 1.3.2.2 die Analogie zwischen nichtlinear elastischem Verhalten und Kriechen. Konkret bedeutet dies, dass alle Beziehungen und L¨osungen, welche f¨ ur ein nichtlinear elastisches Material mit dem Potenzgesetz nach (1.57) bzw. (5.29) gelten, auf entsprechende Kriechvorg¨ange mit dem Stoffgesetz (6.29) u ¨bertragen werden k¨onnen, indem die Dehnungen durch die Dehnungsraten ersetzt werden. An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass ein nichtlinear viskoelastisches Stoffverhalten vom Typ (6.26) bzw. (6.28) in der Literatur h¨aufig als viskoplastisches Materialverhalten bezeichnet wird. 6.3.2
Station¨ arer Riss, Rissspitzenfeld, Belastungsparameter
Wir betrachten einen station¨aren Riss in einem Bauteil mit dem Stoffverhalten nach (6.28). Die Belastung sei zun¨achst beliebig, d.h. entweder zeitabh¨angig oder konstant. An der Rissspitze (r → 0) erwarten wir ein singul¨ares Spannungsfeld der Art σij (r, ϕ, t) = r λ σ ˜ij (ϕ, t), wobei der Exponent λ < 0 zun¨achst noch unbestimmt ist. Durch Einsetzen in (6.28) erkennt man, dass der elastische Anteil im Vergleich zum Kriechanteil vernachl¨assigbar ist. In der Umgebung der Rissspitze wird das Stoffverhalten also durch (6.29) beschrieben, und die L¨osung f¨ ur das Rissspitzenfeld ist demzufolge analog zur entsprechenden elastischen L¨osung. Letztere ist durch das HRR-Feld gegeben, welches in Abschnitt 5.3.2 diskutiert wurde. Mit den Umbenennungen αε0 σ0n → B, εij → ε˙ij , ui → u˙ i , J → C(t) erh¨alt man damit aus (5.34) 1 C(t) n+1 σij = σ ˜ij (ϕ) , IBr n C(t) n+1 (6.30) ε˜ij (ϕ) , ε˙ij = B IBr n C(t) n+1 u˜i (ϕ) . u˙ i − u˙ i0 = Br IBr
191
Kriechbruch von nichtlinearen Materialien
Darin sind I(n) und die Winkelfunktionen σ ˜ij (ϕ) etc. durch die entsprechenden Gr¨oßen in Abschnitt 5.3.2 gegeben. Das Feld entspricht damit vom Typ genau dem HRR-Feld. Der zeitabh¨angige Belastungsparameter ist hier C(t); er kann in Analogie zu (5.32) durch das Konturintegral +π C(t) = lim [D n1 − σiβ u˙ i,1 nβ ] rdϕ r→0 −π
(6.31)
ausgedr¨ uckt werden (Bild 5.10), wobei die spezifische Form¨anderungsenergierate D durch (1.72) gegeben ist. Die Integrationskontur muß dabei im Rissspitzenfeld liegen, da das Stoffgesetz (6.29) ja nur dort gilt. Das C(t)-Integral ist also im allgemeinen nicht wegunabh¨angig. Um C(t) f¨ ur eine konkrete Risskonfiguration und eine vorgegebene Belastung zu bestimmen, muß das vollst¨andige zeitabh¨angige Randwertproblem mit dem Stoffgesetz (6.28) gel¨ost werden. Dies ist in der Regel nur mit Hilfe numerischer Methoden m¨oglich. Die Feldgr¨oßen in Rissspitzenn¨ahe erlauben dann mit (6.31) die Ermittlung des Belastungsparameters. Im weiteren nehmen wir an, dass die Belastung des Bauteiles zeitlich konstant bleibt. Dies hat zur Folge, dass sich nach hinreichend großer Zeit im Bauteil ein station¨arer Kriechzustand einstellt (σ˙ ij = 0 f¨ ur t → ∞), bei dem die elastischen Dehnungen vernachl¨assigbar sind. Dann gelten (6.29) und die Analogie zum elastischen Fall nicht nur in der Umgebung der Rissspitze, sondern im gesamten K¨orper. Das Rissspitzenfeld ist damit wieder durch (6.30) gegeben, wobei der Belastungsparameter nun allerdings zeitunabh¨angig ist: C ∗ = C(t → ∞) . Er kann durch das Konturintegral C ∗ = [D n1 − σiβ u˙ i,1 nβ ] dc
(6.32)
(6.33)
C
ausgedr¨ uckt werden, welches jetzt im Unterschied zu (6.31) wegunabh¨angig ist (vgl. J-Integral). Vom elastischen Problem lassen sich eine Reihe weiterer Beziehungen u ur J ¨bertragen. So ergibt sich zum Beispiel aus der Darstellung (5.49) f¨ die analoge Darstellung f¨ ur C ∗ ˙ i dΠ ∗ C =− (6.34) da u˙ F
mit
u˙ F ˙i = Π
F du˙ F . 0
(6.35)
192
Kriechbruchmechanik
Daneben k¨onnen nat¨ urlich auch alle L¨osungen f¨ ur spezielle Rissprobleme u ¨ bernommen werden (siehe Abschnitte 5.5 und 5.6). Wir betrachten nun die Entwicklung des Rissspitzenfeldes in einem Bauteil, das einer zur Zeit t = 0 aufgebrachten konstanten Belastung unterliegt. Das instantane Verhalten ist rein elastisch. An der Rissspitze liegt damit anfangs ein Kbestimmtes Feld vor, dessen Dominanzbereich in Bild 6.7a durch RK gekennzeichnet ist. F¨ ur t > 0 entwickelt sich innerhalb des elastischen Rissspitzenfeldes eine Kriechzone mit einem charakteristischen Radius ρ und einem C(t)-bestimmten Feld, dessen Dominanzradius RC ist (Bild 6.7b). Sowohl ρ als auch RC wachsen mit der Zeit an. Außerhalb der Kriechzone sind die Kriechdehnungen noch so klein, dass sie im Vergleich zu den elastischen Dehnungen vernachl¨assigt werden k¨onnen. Der Fall des Kleinbereichskriechen liegt vor, solange ρ RK ist. Dies ist bis zu einer bestimmten Zeit t1 der Fall. Die Rissspitzenbelastung kann in diesem sogenannten Kurzzeitbereich durch den konstanten K-Faktor beschrieben werden. Mit weiter zunehmender Zeit breitet sich die Kriechzone zum Großbereichs-
t=0
K–bestimmtes Feld
t < t ≤ t1
K–bestimmtes Feld
Kriechzone r
r
RK ρ
RK RC C(t)–bestimmtes Feld b)
a)
t > t1
C(t)–bestimmtes Feld
t→∞
r
r RC
c)
C ∗ –bestimmtes Feld
RC ∗
d)
Bild 6.7 Zeitliche Entwicklung des Rissspitzenfeldes
193
Kriechbruch von nichtlinearen Materialien
kriechen aus. Dann kontrolliert das C(t)-bestimmte Feld den Rissspitzenzustand (Bild 6.7c). F¨ ur t → ∞ stellt sich schließlich im K¨orper ein station¨arer Kriechzustand ein, bei dem die Rissspitzenbelastung durch C ∗ gegeben ist (Bild 6.7d). Die Entwicklung der Kriechzone im Kurzzeitbereich (Kleinbereichskriechen) l¨asst sich einfach absch¨atzen. Hierzu nehmen wir an, dass die Grenze ρ der Kriechzone n¨aherungsweise durch die Bedingung εve = εee f¨ ur die Vergleichsdehnungen auf dem Ligament festgelegt ist und dass außerhalb der Kriechzone die zeitlich konstante Spannungsverteilung des K-bestimmten Feldes gilt. F¨ ur eine konstante Vergleichsspannung σe ergibt sich damit aus dem Stoffgesetz zun¨achst die charakteristische Zeit (vgl. Abschnitt 6.3.1) 1 . EB σen−1
t=
(6.36)
Bei ihr erreicht die Kriechzone gerade einen materiellen Punkt, in dem bis zu dieser Zeit die Spannung σe des K-bestimmten Feldes herrschte. Im weiteren ¨ vernachl¨assigen wir außerdem in Bild 6.7b den Ubergangsbereich zwischen dem K- und dem C-bestimmten Feld, d.h. wir setzen RC = ρ. Die Spannungen werden dann außerhalb der Kriechzone durch (4.19), innerhalb der Kriechzone durch (6.30) beschrieben: ⎧ K ⎪ ⎪ √ r≥ρ ⎪ ⎪ ⎨ r σe (r) ∼ (6.37) 1 ⎪ n+1 ⎪ C(t) ⎪ ⎪ r≤ρ. ⎩ Br An der Grenze r = ρ zwischen beiden Bereichen m¨ ussen die Spannungen die gleiche Gr¨oßenordnung haben: K √ ∼ ρ
C(t) Bρ
1 n+1
.
(6.38)
Unter Verwendung von (6.36) und (6.37) ergeben sich damit f¨ ur die Gr¨oße ρ(t) der Kriechzone und f¨ ur C(t) die zeitlichen Abh¨angigkeiten 2
ρ(t) = α1 K 2 (EBt) n−1 ,
C(t) = α2
K2 , Et
(6.39)
wobei die αi dimensionslose Konstanten von der Gr¨oßenordnung 1 sind. Eine grobe Absch¨atzung f¨ ur die Zeit t1 , bis zur der Kleinbereichskriechen herrscht, k¨onnen wir hieraus noch erhalten, indem wir C(t1 ) ≈ C ∗ setzen: t1 = α2
K2 . EC ∗
(6.40)
Zum Abschluß wollen wir noch untersuchen, wann es zur Rissinitiierung kommt. Hierzu verwenden wir das einfache Bruchkriterium (6.9) δt = δtc , wobei δt die
194
Kriechbruchmechanik
Riss¨offnung in einem bestimmten Abstand rc von der Rissspitze sei. Bei hinreichend großer Belastung kommt es noch im Kurzzeitbereich zur Initiierung. Dann gilt mit (6.30) und (6.39)
α2 K 2 δ˙t = 2Brc u˜2 (π) EIBrc t
n n+1
.
(6.41)
Durch Zeitintegration und anschließendes Einsetzen in das Bruchkriterium erh¨alt man f¨ ur diesen Fall die Inkubations- oder Initiierungszeit n+1 n EIBrc δtc ti = . (6.42) 2Brc u˜2 (π) α2 K 2 Sie ist danach umgekehrt proportional zu K 2n . Bei ausreichend kleiner Belastung setzt der Rissfortschritt dagegen erst ein, wenn im Bauteil ein station¨arer Kriechzustand mit dem Belastungsparameter C ∗ herrscht. In diesem Fall folgt aus (6.30) δ˙t = 2Brc u˜2 (π)
C∗ IBrc
n n+1
,
(6.43)
woraus sich durch Zeitintegration und mit dem Bruchkriterium die Initiierungszeit n IBrc n+1 δtc ti = (6.44) 2Brc u˜2 (π) C∗ ergibt. Sie ist nun umgekehrt proportional zu C 6.3.3 6.3.3.1
∗
n n+1 .
Kriechrisswachstum Hui-Riedel-Feld
Nach der Initiierung w¨achst der Riss kriechend. Zur Beschreibung dieses Vorganges bestimmen wir zun¨achst das Rissspitzenfeld, wobei wir station¨are Verh¨altnisse und exemplarisch den ESZ voraussetzen wollen. Bei der Herleitung gehen wir ¨ahnlich vor, wie in Abschnitt 5.3.2 beim HRR-Feld; zweckm¨aßig verwenden wir dabei das mitbewegte Koordinatensystem nach Bild 5.21. Setzt man das Stoffgesetz (6.28) unter Beachtung von (5.77) in die Kompatibilit¨atsbedingung (5.36) ein, so ergibt sich a˙ ∂ [∆(σr + σϕ )] E ∂x1 B 1 ∂ 2 , n−1 + rσ (2σϕ − σr ) + 2 4 r ∂r 1 ∂ , n−1 3 ∂ σ (2σr − σϕ ) − 2 − r ∂r r ∂r
1 ∂ 2 , n−1 σ (2σr − σϕ ) 2 2 r ∂ϕ ∂ r (σ n−1 τrϕ ) =0 ∂ϕ
(6.45)
195
Kriechbruch von nichtlinearen Materialien
mit
. / 2 1/2 σ = σr2 + σϕ2 − σr σϕ + 3τrϕ
(6.46)
und ∂ ∂ ∂ − sin ϕ , = cos ϕ ∂x1 ∂r r∂ϕ
∆=
∂2 1 ∂2 1 ∂ . + + ∂r 2 r 2 ∂ϕ2 r ∂r
(6.47)
Wir f¨ uhren nun die Airysche Spannungsfunktion φ(r, ϕ) mit den Definitionen (5.39) ein, wodurch die Gleichgewichtsbedingungen identisch erf¨ ullt werden. F¨ ur das Rissspitzenfeld w¨ahlen wir den Ansatz ˜ φ = A r s φ(ϕ) .
(6.48)
a˙ s−3 ˜ + BAn−1 r n(s−2) D2 (φ) ˜ =0, r D1 (φ) E
(6.49)
Damit folgt aus (6.45)
wobei
D1 = [(s − 4) cos ϕ − sin ϕ ∂ ] (s − 2)2 (s2 φ˜ + φ˜ ) + (s2 φ˜ + φ˜ ) , ∂ϕ D2 = n(s − 2)[1 + n(s − 2)]˜ σ n−1 [s(2s − 3)φ˜ − φ˜ ] σ n−1 [s(1 − s)φ˜ + 2φ˜ ] +[˜ σ n−1 (s(1 − s)φ˜ + 2φ˜ )] − n(s − 2)˜ +3[1 + n(s − 2)](s − 1)(˜ σ n−1 φ˜ ) , σ ˜=
(6.50)
1/2 s2 (3 − 3s + s2 )φ˜2 + s(3 − s)φ˜φ˜ + φ˜2 + (s − 1)2 φ˜2 .
Der erste Term auf der linken Seite von (6.49) beschreibt den elastischen Anteil, der zweite Term den Kriechanteil des Rissspitzenfeldes. Um den noch unbekannten Exponenten s zu bestimmen, gehen wir zuerst von der Hypothese aus, dass der erste Term, d.h. der elastische Verzerrungsanteil, vernachl¨assigbar ist. Dies f¨ uhrt auf genau dieselben Beziehungen wie beim stehenden Riss. Das zugeh¨orige Rissspitzenfeld ist nach (6.30) vom HRR-Typ mit σij ∼ r −1/(n+1) bzw. φ ∼ r (2n+1)/(n+1) ; der Exponent s hat in diesem Fall den Wert s = 2n+1 . Zur n+1 ¨ Uberpr¨ ufung der Richtigkeit der Hypothese setzen wir dies in (6.49) ein. Der erste Term ist dann vom Typ r −(n+2)/(n+1) und der zweite vom Typ r −n/(n+1) . F¨ ur r → 0 dominiert danach der erste Term, was einen Widerspruch zur urspr¨ unglichen Hypothese darstellt. Anders als beim stehenden Riss kann der elastische Verzerrungsanteil beim wachsenden Riss also nicht vernachl¨assigt werden. Wir nehmen nun umgekehrt an, dass in (6.49) der Kriechanteil im Vergleich zum elastischen Anteil vernachl¨assigt werden kann. Dann erh¨alt man ein elastisches Rissspitzenfeld mit σij ∼ r −1/2 bzw. φ ∼ r 3/2 , und es gilt s = 3/2. Setzen wir dies
196
Kriechbruchmechanik
¨ zur Uberpr¨ ufung der Annahme wieder in (6.49) ein, so ist der erste Term vom ¨ Typ r−3/2 und der zweite vom Typ r −n/2 . In Ubereinstimmung mit der Annahme dominiert danach f¨ ur n < 3 der erste Term tats¨achlich an der Rissspitze (r → 0). In diesem Fall stellt sich also das elastische Rissspitzenfeld ein, welches im Modus I durch (4.13) gegeben ist (vgl. auch Abschnitt 4.2.2). Dagegen ergibt sich f¨ ur n ≥ 3 ein Widerspruch zur Annahme, da dann die Terme von gleicher Gr¨oßenordnung sind (n = 3) bzw. der zweite Term dominiert (n > 3). ¨ Aus den vorhergehenden Uberlegungen folgt, dass f¨ ur n > 3 beide Terme in (6.49) das gleiche asymptotische Verhalten f¨ ur r → 0 haben m¨ ussen. Somit gilt s − 3 = n(s − 2), und es ergibt sich s = 2n−3 . Die Amplitude A k¨onnen wir nun n−1 1/(n−1) noch ohne Beschr¨ankung der Allgemeinheit durch A = (a/EB) ˙ festlegen. Damit reduziert sich (6.49) auf die gew¨ohnliche nichtlineare Differentialgleichung 5. Ordnung ˜ + D2 (φ) ˜ =0 D1 (φ) (6.51) ˜ f¨ ur die noch unbekannte Funktion φ(ϕ). Vier der zugeh¨origen Randbedingungen f¨ ur den Modus I sind durch (5.43) gegeben; hinzu kommt die Bedingung, dass die L¨osung an der Stelle ϕ = 0 regul¨ar sein muß. Die L¨osung von (6.51) unter Beachtung der Randbedingungen kann durch numerische Integration gewonnen werden. Hiermit liegen die Spannungsfunktion und folglich die Spannungen und Verzerrungen im Rissspitzenbereich (r → 0) eindeutig fest. Sie haben die allgemeine Form 1 n−1 a˙ σij = σ ˜ij (ϕ) , EB r (6.52) 1 n−1 a˙ 1 εij = ε˜ij (ϕ) . E EB r Nach C.Y. Hui und H. Riedel, die das Kriechrisswachstum intensiv untersuchten, wird dieses Feld als Hui-Riedel-Feld bezeichnet. Im Unterschied zum stehenden Riss (HRR-Feld) haben die Spannungen und die Verzerrungen des Hui-RiedelFeldes das gleiche asymptotische Verhalten. In Bild 6.8 ist die Winkelabh¨angigkeit der Spannungen und Verzerrungen f¨ ur den Fall n = 5 dargestellt. Darin sind σ ˜ und ε˜ die entsprechend (6.52) normierte Vergleichsspannung und Vergleichsdehnung. Man beachte, dass mit Ann¨aherung an die Rissflanken (ϕ → ±π) die Gr¨oßen σ˜ , ε˜, ε˜ϕ unbeschr¨ankt anwachsen. Es ist dies als Resultat der Verzerrungsgeschichte zu verstehen, die ein materielles Partikel in der Umgebung der x-Achse erf¨ahrt, wenn sich die Rissspitze an ihm vorbeibewegt. Eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft des Feldes (6.52) besteht darin, dass seine Amplitude alleine durch die Rissgeschwindigkeit a˙ und die Materialparameter EB festgelegt ist. Anders als beim HRR-Feld besteht hier keine explizite Abh¨angigkeit der Amplitude von der ¨außeren Belastung oder von der Geometrie des Bauteiles.
197
Kriechbruch von nichtlinearen Materialien
σ ˜ij
ε˜ij
2
4
σ ˜ 1
σr
0
ε˜
2
τrϕ
σϕ
-1 π/2
0
σr π
ϕ
ε˜r ε˜ϕ
-2 π/2
ε˜rϕ π
ϕ
Bild 6.8 Hui-Riedel-Feld, Winkelverteilung der Feldgr¨oßen (ESZ, n = 5) Bei der Herleitung des Rissspitzenfeldes haben wir station¨are Verh¨altnisse (a˙ =const) vorausgesetzt. Dies ist nicht unbedingt erforderlich; vielmehr gelten die Ergebnisse auch f¨ ur den instation¨aren Fall (a˙ =const). Man erkennt dies aus der Zeitableitung von (6.48) f¨ ur den allgemeinen (instation¨aren) Fall, die nach (5.76) durch φ˙ = (∂φ/∂t) − a(∂φ/∂x ˙ 1 ) gegeben ist. Unter Beachtung von (6.47) s ist der erste Term vom Typ r und der zweite vom Typ r s−1 . Dementsprechend wird das asymptotische Verhalten von φ˙ f¨ ur r → 0 im instation¨aren genau wie im station¨aren Fall allein durch den zweiten Term, d.h. durch die von uns benutzte Beziehung (5.77), beschrieben. Analoge Untersuchungen k¨onnen nat¨ urlich auch f¨ ur den EVZ und den Modus II durchgef¨ uhrt werden. Die Struktur des Rissspitzenfeldes (6.52) a¨ndert sich in diesen F¨allen aber nicht. 6.3.3.2
Kleinbereichskriechen
Im weiteren setzen wir voraus, dass das Risswachstum unter Bedingungen des Kleinbereichskriechens stattfindet. Daneben wollen wir n > 3 und wie im vorhergehenden Abschnitt einen ESZ annehmen. Die dann in der Umgebung einer Rissspitze herrschenden Verh¨altnisse sind schematisch in Bild 6.9 dargestellt. In das K-bestimmte Feld mit dem Dominanzradius RK ist die Kriechzone mit dem charakteristischen Radius ρ RK eingebettet. Innerhalb der Kriechzone, an der Rissspitze befindet sich das Hui-Riedel-Feld, dessen Dominanzradius RHR ist. ¨ Die genaue Ermittlung des Feldes im Ubergangsbereich zwischen K-bestimmtem Feld und Hui-Riedel-Feld ist nur mit Hilfe numerischer Methoden m¨oglich. Wir wollen uns deshalb hier mit einer N¨aherungsl¨osung begn¨ ugen, aus der aber alle wesentlichen Aspekte ablesbar sind. Wir gehen dabei ¨ahnlich vor, wie beim Kleinbereichskriechen des stehenden Risses (vgl. Abschnitt 6.3.2). Um die Gr¨oße ρ des Kriechbereiches zu bestimmen, nehmen wir zuerst an, dass diese Grenze
198
Kriechbruchmechanik
K–bestimmtes Feld Kriechzone r RK a˙ ρ RHR Hui-Riedel-Feld Bild 6.9 Risswachstum bei Kleinbereichskriechen, n > 3 n¨aherungsweise durch die Bedingung εve = εee f¨ ur die Vergleichsdehnungen auf dem Ligament festgelegt ist und dass bis zu dieser Grenze die Spannungsverteilung des K-bestimmten Feldes gilt. Letztere ist f¨ ur die Vergleichsspannung auf dem √ Ligament im ESZ durch σe = K/ 2πr gegeben. Damit folgt nach (6.26) unter Beachtung von (.)· = −a˙ ∂(.)/∂r (auf dem Ligament ist x1 = r) εee = −a˙
σe K , = √ E E 2πr
BK n ∂εe v = B σen = ∂r (2πr)n/2
→
εve =
2BK n . n/2 (2π) (n − 2)ar ˙ (n−2)/2
(6.53)
Die Integration bei εve erfolgte dabei in den Grenzen von RK → ∞ bis r. Gleichsetzen der beiden Dehnungen bei r = ρ liefert
EBK n−1 ρ= (2π)(n−1)/2 (n − 2) a˙ 2
womit sich
2 n−3
,
(6.54)
1 n−3 a˙ π(n − 2) (6.55) 2 EBK ¨ ergibt. Im weiteren vernachl¨assigen wir wieder den Ubergangsbereich zwischen dem K-bestimmten Feld und dem Hui-Riedel-Feld und setzen in erster N¨aherung ρ = RHR . F¨ ur die Kriechdehnung erhalten wir dann nach (6.53) und (6.52) ⎧ ) ρ * n−2 ⎪ 2 ⎪ ⎪ r≥ρ ⎨ r v v εe (r) = εe (ρ) (6.56) ⎪ )ρ* 1 ⎪ n−1 ⎪ ⎩ r≤ρ. r 1 εe (ρ) = εe (ρ) = E v
e
199
Kriechbruch von nichtlinearen Materialien
Um das Risswachstum zu beschreiben, ben¨otigen wir noch ein Bruchkriterium. Zu diesem Zweck nehmen wir an, dass das Risswachstum so erfolgt, dass die Kriechdehnung εve in einem bestimmten Abstand rc vor der Rissspitze gerade den kritischen Wert εc annimmt: εve (rc ) = εc . Man beachte, dass in diesem Kriterium nur die Kriechdehnung und nicht etwa die Gesamtdehnung auftritt. Physikalisch kann man dies dadurch begr¨ unden, dass die Vergleichs-Kriechdehnung ein Maß f¨ ur das entstandene Porenvolumen ist, welches seinerseits wieder den Sch¨adigungszustand des Materials beschreibt. Setzen wir (6.56) mit (6.54), (6.55) in dieses Bruchkriterium ein, so erh¨alt man ⎧ n−3 ⎪ ⎪ 2 ρ ⎪ ⎪ rc ≥ ρ ⎪ ⎨ rc 1 (6.57) ¯ = ⎪ − n−3 K ⎪ 2(n−1) ⎪ ρ ⎪ ⎪ rc ≤ ρ ⎩ rc bzw. a ¯˙ =
¯n K
rc ≥ ρ
1
rc ≤ ρ ,
(6.58)
wobei
a˙ K n−2 ¯ = √ , K (6.59) 2 E n B rc εn−1 Eεc 2πrc c die dimensionslose Rissgeschwindigkeit bzw. der dimensionslose K-Faktor sind. a¯˙ =
a¯˙ 100
n=5 n=4
10 a ¯˙ min = 1
¯ min = 1 K
2
3
4 5 6
¯ K
Bild 6.10 Rissgeschwindigkeit Durch (6.58) werden zwei L¨osungen f¨ ur die Rissgeschwindigkeit beschrieben; sie sind in Bild 6.10 dargestellt. Aus (6.57) kann man daneben entnehmen, dass ¯ ≥ 1 zur Folge haben. Der die Bedingungen rc ≥ ρ bzw. rc ≤ ρ in jedem Fall K minimale K-Faktor, f¨ ur den eine Rissausbreitung m¨oglich ist, ist danach durch
200
Kriechbruchmechanik
¯ = 1 bzw. durch K
√ Kmin = Eεc 2πrc
(6.60)
gegeben. Ihm zugeordnet ist eine minimale Geschwindigkeit a ¯˙ = 1 bzw. a˙ min =
2 E n B rc εn−1 . c n−2
(6.61)
Wir betrachten nun den L¨osungsast a ¯˙ = 1 und denken uns die Rissgeschwindigkeit a˙ bei konstantem K durch eine St¨orung etwas erh¨oht. Dann f¨ uhrt dies nach (6.54) zu einer Verkleinerung der Kriechzone, was zur Folge haben kann, dass rc > ρ ist. Dann gilt aber der andere L¨osungsast, und die Geschwindigkeit “springt” auf den zugeh¨origen h¨oheren Wert. In diesem Sinn bezeichnen wir den unteren L¨osungsast als instabil . Die physikalisch interessante L¨osung ist dementsprechend durch den ¯ n , d.h. durch die Beziehung oberen L¨osungsast a ¯˙ = K n 2 B rc K √ a˙ = (6.62) n − 2 εc 2πrc gegeben. Danach w¨achst die Rissgeschwindigkeit mit K n .
6.4
Literatur
Bazant, Z.P. and Planas, J. (1997). Fracture and Size Effects in Concrete and Other Quasibrittle Materials. CRC Press, Boca Raton Bernasconi, G. and Piatti, G. (1978). Creep of Engineering Materials and Structures. Applied Science Publishers, London Gittus, J. (1975). Creep, Viscoelasticity and Creep Fracture in Solids. Applied Science Publishers, London Kanninen, M.F. and Popelar, C.H. (1985). Advanced Fracture Mechanics. Clarendon Press, Oxford Riedel, H. (1987). Fracture at High Temperature. Springer, Berlin Williams, J.G. (1987). Fracture Mechanics of Polymers. John Wiley & Sons, New York
7 Dynamische Probleme der Bruchmechanik
7.1
Allgemeines
Bis jetzt haben wir bei der Untersuchung der Rissinitiierung und der Rissfortpflanzung immer quasistatische Verh¨altnisse vorausgesetzt. Dies ist nicht mehr m¨oglich, wenn die Tr¨agheitskr¨afte oder hohe Verzerrungsraten das Bruchverhalten wesentlich beeinflussen. So ist es eine bekannte Tatsache, dass ein Material unter schlagartiger dynamischer Belastung eher versagt, als unter einer langsam ¨ aufgebrachten Last. Eine Ursache hierf¨ ur besteht in der Anderung des Materialverhaltens. Plastisches oder viskoses Fließen findet mit steigenden Belastungsraten in immer geringerem Maße statt: das Material verh¨alt sich im dynamischen Fall h¨aufig “spr¨oder” als im statischen Fall. Dies sowie m¨oglicherweise ge¨anderte ¨ Versagensmechanismen in der Prozesszone f¨ uhren daneben meist zur Anderung der Bruchz¨ahigkeit. Eine andere Ursache liegt darin, dass es bei einer dynamischen Belastung infolge der Tr¨agheitskr¨afte zu h¨oheren Spannungen in der Umgebung einer Rissspitze kommen kann als im entsprechenden quasistatischen Fall. L¨auft ein Riss durch das Material, so erreicht er nach einer kurzen Beschleunigungsphase h¨aufig eine sehr hohe Geschwindigkeit. Diese kann zum Beispiel u ¨ber 1000 m/s betragen. Bei dieser schnellen Rissausbreitung spielen die Tr¨agheitskr¨afte und die hohen Verzerrungsraten eine wichtige Rolle und bestimmen das Bruchverhalten wesentlich mit. Letzteres ist aus Schadensf¨allen und aus gezielten Experimenten zum Teil gut bekannt. So u ¨berschreitet ein schneller Riss eine bestimmte Grenzgeschwindigkeit nur in Ausnahmef¨allen. Unter bestimmten Umst¨anden verzweigt er sich ein- oder mehrfach, oder er wird hinsichtlich seiner Ausbreitungsrichtung instabil. Dies ¨außert sich darin, dass er selbst unter symmetrischen Verh¨altnissen versucht, von der geraden Bahn abzuweichen. Ein weiterer (oft erw¨ unschter) dynamischer Vorgang ist der Rissarrest, d.h. das Verz¨ogern und schließliche Stoppen eines Risses. Ein Verst¨andnis der genannten Ph¨anomene und ihre sachgerechte quantitative Beschreibung ist nur mit einer dynamischen Bruchtheorie m¨oglich. Einige Grundz¨ uge werden wir in den folgenden Abschnitten behandeln. Hierbei wollen wir uns im Sinne der linearen Bruchmechanik auf die Behandlung des Bruchs spr¨oder K¨orper beschr¨anken, deren Verhalten mit Hilfe der linearen Elastizit¨atstheorie beschrieben werden kann. Zwei typische Probleme stehen im Vordergrund der Betrachtung: a) der station¨are (stehende) Riss unter einer dynamischen Belastung und b) der instation¨are (schnell laufende) Riss. Hinsichtlich des
202
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
Bruchkonzeptes werden wir auf die schon bekannten Gr¨oßen wie K-Faktoren oder Energiefreisetzungsraten zur¨ uckgreifen.
7.2
Einige Grundlagen der Elastodynamik
Die Grundgleichungen der linearen Elastodynamik sind durch die Bewegungsgleichungen (1.20), die kinematischen Beziehungen (1.25) und das Elastizit¨atsgesetz (1.37) gegeben. Setzt man sie ineinander ein, so erh¨alt man im Fall verschwindender Volumenkr¨afte (fi = 0) die Navier-Lam´e-Gleichungen (λ + µ)uj,ji + µui,jj = ρ¨ ui
.
(7.1)
F¨ uhrt man ein Skalarpotential φ und ein Vektorpotential ψk so ein, dass u1 = φ,1 + ψ3,2 − ψ2,3 ,
u2 = φ,2 + ψ1,3 − ψ3,1 ,
u3 = φ,3 + ψ2,1 − ψ1,2 , (7.2)
so folgen aus (7.1) die Helmholtzschen Wellengleichungen c21 φ,ii = φ¨ , mit c21 =
c22 ψk,ii = ψ¨k
(7.3)
µ . ρ
(7.4)
λ + 2µ , ρ
c22 =
Darin beschreiben das Skalarpotential φ eine Volumen¨anderung (Dilatation) und das Vektorpotential ψk eine reine Gestalt¨anderung bei konstantem Volumen (Distorsion). Entsprechend ist c1 die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Dilatationswellen (Longitudinalwellen) und c2 die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Distorsionswellen oder Scherwellen (Transversalwellen). Ihre Gr¨oße ist f¨ ur einige Materialien in Tabelle 7.1 angegeben. Mit diesen Geschwindigkeiten breiten sich St¨orungen (Dilatation bzw. Gestalt¨anderung) in einem K¨orper aus, solange sie auf keine Berandungen treffen. Tabelle 7.1 Wellengeschwindigkeiten Material Stahl Aluminium Glas PMMA
c1
[m/s] 6000 6300 5800 2400
c2
[m/s] 3200 3100 3300 1000
cR
[m/s] 2940 2850 3033 920
F¨ ur ebene Probleme vereinfacht sich die Darstellung. So reduziert sich (7.3) im EVZ mit u3 = 0 bzw. mit ψ1 = ψ2 = 0 und der Bezeichnung ψ = ψ3 auf die
203
Einige Grundlagen der Elastodynamik
beiden Wellengleichungen c21 φ,ii = φ¨ ,
c22 ψ,ii = ψ¨ .
(7.5)
Der ESZ wird durch die gleichen Beziehungen beschrieben; es m¨ ussen dann nur die elastischen Konstanten in den Wellenfortpflanzungsgeschwindigkeiten ge¨andert werden (vgl. Abschnitt 1.5.1). Neben den Transversal- und den Longitudinalwellen spielen die Rayleigh-Wellen oder Oberfl¨achenwellen eine wichtige Rolle bei dynamischen Rissproblemen. Es handelt sich dabei um Wellen, die sich entlang einer freien Oberfl¨ache ausbreiten und die ins Innere hinein schnell (exponentiell) abklingen. Zu ihrer Beschreibung betrachten wir einen K¨orper im EVZ, der die obere Halbebene mit dem Rand x2 = 0 einnimmt und machen den Ansatz φ = A exp−αx2 cos k(x1 − cR t) ,
ψ = B exp−βx2 cos k(x1 − cR t) ,
(7.6)
Darin sind cR die noch unbekannte Geschwindigkeit der Rayleigh-Wellen und k die Wellenzahl. Einsetzen in (7.5) liefert α bzw. β, und aus den Randbedingungen σ22 (x1 , 0) = 0, σ12 (x1 , 0) = 0 ergeben sich das Verh¨altnis A/B sowie die folgende Beziehung f¨ ur cR : ' R(cR ) = 4
1−
cR c1
2 '
1−
cR c2
2
% − 2−
cR c2
2 &2 =0.
(7.7)
Man bezeichnet R(cR ) als Rayleigh-Funktion. Gleichung (7.7) kann auch in der Form 6 2 4 cR cR 8(2 − ν) cR 8 =0 (7.8) −8 + − c2 c2 1−ν c2 1−ν geschrieben werden. Die Geschwindigkeit der Rayleigh-Wellen cR h¨angt danach wie c1 und c2 nur von den Materialkonstanten und nicht etwa von der Wellenzahl bzw. der Wellenl¨ange ab. F¨ ur 0 ≤ ν ≤ 1/2 folgt 0.864 ≤ cR /c2 ≤ 0.955. Insbesondere erh¨alt man f¨ ur ν = 1/4 die Geschwindigkeit cR = 0.919c2 ; dieser Wert wurde in Tabelle 7.1 zugrunde gelegt. Besonders einfach ist der nichtebene (longitudinale) Schubspannungszustand. Bei ihm gehen wir zweckm¨aßig direkt von (7.1) aus. Mit u1 = u2 = 0 und der Bezeichnung w = u3 erh¨alt man c22 w,ii = w¨ .
(7.9)
Die Bewegung wird in diesem Fall durch eine einzige Wellengleichung mit der charakteristischen Wellenfortpflanzungsgeschwindigkeit c2 beschrieben; Rayleighwellen treten hier nicht auf.
204
7.3 7.3.1
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
Dynamische Belastung des station¨ aren Risses Rissspitzenfeld, K-Konzept
Das Rissspitzenfeld eines dynamisch belasteten station¨aren Risses unterscheidet sich nicht von dem des statischen Falles. Man kann dies direkt aus den Feldgleichungen (7.1) erkennen. Dabei gehen wir davon aus, dass die Verschiebungen an der Rissspitze (r → 0) nichtsingul¨ar und die Spannungen singul¨ar sind, d.h. es gilt ui = r λ u˜i (ϕ, t) mit 0 < λ < 1. Die Glieder auf der linken Seite von (7.1) sind dann aufgrund der zweifachen Ortsableitung vom Typ r λ−2 , w¨ahrend die rechte Seite vom Typ r λ ist. Die Tr¨agheitskr¨afte sind damit f¨ ur r → 0 von h¨oherer Ordnung klein und brauchen nicht ber¨ ucksichtigt zu werden. Das Rissspitzenfeld leitet sich folglich im dynamischen Fall aus denselben Gleichungen her wie im statischen Fall und stimmt dementsprechend mit dem statischen Rissspitzenfeld nach Abschnitt 4.2 u ¨berein. Der einzige Unterschied zur Statik besteht darin, dass die Spannungsintensit¨atsfaktoren nunmehr von der Zeit abh¨angen: KI = KI (t) etc.. Letztere k¨onnen in der Regel nicht aus der Statik u ¨bernommen werden, sondern ergeben sich aus der L¨osung des dynamischen Randwertproblems (Anfangs-Randwertproblem). Hierbei m¨ ussen die Tr¨agheitskr¨afte dann sehr wohl ber¨ ucksichtigt werden. Da das Rissspitzenfeld durch die K-Faktoren eindeutig bestimmt ist, liegt es nahe, das K-Konzept auch bei der dynamischen Belastung eines Risses zu verwenden. Danach findet im Modus I die Initiierung des Risswachstums statt, wenn die Bedingung KI (t) = KIc (7.10) erf¨ ullt ist. Die Anwendung dieser Beziehung wird allerdings durch zwei Fakten erschwert. Wie schon erw¨ahnt, ist die Bruchz¨ahigkeit KIc von der Belastungsrate K˙ I bzw. von einer charakteristischen Belastungszeit τ abh¨angig: KIc = KIc (τ ). Ihre Bestimmung setzt insbesondere bei impulsartigen Belastungen einen großen experimentellen Aufwand voraus, der nur von gut ausgestatteten Labors erbracht werden kann. Infolgedessen steht heute nur eine recht beschr¨ankte Zahl zuverl¨assiger Materialdaten zur Verf¨ ugung. Zum anderen ist (7.10) nur g¨ ultig, wenn der Dominanzbereich des K-bestimmten Feldes hinreichend groß im Vergleich zu allen anderen charakteristischen L¨angen ist. Dieser kann in der Dynamik von der Zeit abh¨angen und unter Umst¨anden kleiner sein als in der Statik. So ist zum Beispiel aufgrund der beschr¨ankten Wellenausbreitungsgeschwindigkeiten bei einer stoßartigen Rissbelastung eine gewisse Zeit erforderlich, um ein hinreichend großes dominantes Rissspitzenfeld “aufzubauen”. 7.3.2
Energiefreisetzungsrate, energetisches Bruchkonzept
Die Energiefreisetzungsrate ist definiert als Abnahme der Gesamtenergie eines K¨orpers beim Rissfortschritt. Da im dynamischen Fall die kinetische Energie K
205
Dynamische Belastung des station¨ aren Risses
ber¨ ucksichtigt werden muß, gilt allgemein d(Π + K) . (7.11) G=− da Im vorliegenden Fall des station¨aren Risses (a˙ = 0) ist der Rissfortschritt dabei als “quasistatisch” (bzw. als gedacht) aufzufassen.
C
x2 x1
x2
C
x1
A
a)
b)
ρ→0
Bild 7.1 Zur Energiefreisetzungsrate Wegen der in (7.11) zus¨atzlich auftretenden kinetischen Energie k¨onnen wir f¨ ur G die Beziehungen der Statik (vgl. Abschnitte 4.6.2–4.6.5) nicht unbesehen u ¨bernehmen. Wir werden hier aber auf eine Herleitung verzichten, sondern bedienen uns des Ergebnisses f¨ ur den allgemeineren Fall des laufenden Risses in Abschnitt 7.4.3. Danach ergibt sich aus Gleichung (7.34) f¨ ur die Energiefreisetzungsrate beim ebenen Problem eines geraden station¨aren Risses (Rissgeschwindigkeit = Null) mit belastungsfreien Rissufern G = (Uδ1β − σiβ ui,1 )nβ dc + σij,j ui,1 dA . (7.12) C
A
Darin ist A die von einer beliebigen Kontur C eingeschlossene Fl¨ache, welche die Rissspitze von einem Rissufer zum anderen Rissufer uml¨auft (Bild 7.1a). Im Unterschied zum statischen Fall ist die Energiefreisetzungsrate nun nicht mehr durch das wegunabh¨angige J-Integral gegeben, sondern es taucht in (7.12) ein zus¨atzliches Fl¨achenintegral auf (vgl. auch Abschnitt 4.6.5.3). Dieses verschwindet nur dann, wenn man die Kontur auf die Rissspitze zusammenzieht (Bild 7.1b): G = lim (Uδ1β − σiβ ui,1)nβ dc . (7.13) C→0
C
Die angegebenen Beziehungen sind auch im allgemeinen, nichtlinear elastischen Fall g¨ ultig, da kein spezielles Elastizit¨atsgesetz vorausgesetzt wurde. Liegt linear elastisches Materialverhalten vor, so stimmen beim station¨aren Riss wie schon erw¨ahnt die Rissspitzenfelder des dynamischen und des statischen Falls u ¨berein. Aus (7.13) folgt damit unmittelbar, dass der aus der Statik bekannte Zusammenhang 1 1 2 G = (KI2 + KII K2 )+ (7.14) E 2G III
206
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
auch im dynamischen Fall gilt. Dementsprechend sind zum Beispiel im reinen Modus I wegen G = KI2 /E das K-Konzept und das energetische Konzept G = Gc
(7.15)
genau wie in der Statik ¨aquivalent. Hierin ist Gc (τ ) die f¨ ur den Rissfortschritt ben¨otigte Energie; sie kann von der Belastungsrate bzw. von der charakteristischen Belastungszeit τ abh¨angen. Angemerkt sei an dieser Stelle noch, dass (7.12) in Verbindung mit (7.14) vorteilhaft bei der Bestimmung dynamischer KFaktoren mittels numerischer Methoden benutzt werden kann. 7.3.3
Beispiele
Die Bestimmung dynamischer Spannungsintensit¨atsfaktoren ist mit Hilfe verschiedener Methoden m¨oglich. Zu ihnen z¨ahlen insbesondere die experimentellen und die numerischen Methoden; analytische Verfahren sind nur in wenigen Sonderf¨allen anwendbar. Experimentelle Methoden erlauben die Ermittlung sowohl des Zeitverlaufes KI (t) der Rissspitzenbelastung als auch des Initiierungswertes KIc (τ ). Als besonders geeignet hat sich dabei das sogenannte Kaustikenverfahren erwiesen. Mit numerischen Methoden kann die Rissspitzenbelastung KI (t) bestimmt werden. Erfolgreich eingesetzt werden hierbei die Randelementmethode (BEM), das Verfahren der Finiten Elemente (FEM) und das Differenzenverfahren. Im folgenden werden die Ergebnisse von drei Beispielen diskutiert, die mit diesen Verfahren gewonnen wurden.
KI (t) KIstat
c2 τ /a = 0 1,7 3,4
a 1
σ(t) σ0 c1 Wellenfront
τ 2
4
6
t c2 t/a
Bild 7.2 Stoßbelastung eines kreisf¨ormigen Risses im unendlichen Gebiet Als erstes Beispiel betrachten wir den rotationssymmetrischen Fall eines kreisf¨ormigen Risses (penny shaped crack) im unendlichen Gebiet, der durch eine senkrecht auftreffende Spannungswelle mit der charakteristischen Belastungszeit τ und der Amplitude σ0 stoßartig belastet wird (Bild 7.2). Trifft die Welle
207
Dynamische Belastung des station¨ aren Risses
zur Zeit t = 0 auf den Riss, so w¨achst K(t) zun¨achst an, erreicht einen Spitzenwert und√n¨ahert sich dann oszillierend dem entsprechenden statischen Wert KIstat = 2σ0 πa/π. Das Abklingen kann dadurch erkl¨art werden, dass mit den am Riss reflektierten bzw. gestreuten Wellen laufend Energie ins Unendliche abgestrahlt wird. Diese Wellen tragen nicht mehr zur Rissbelastung bei. F¨ ur τ = 0 liegt der Spitzenwert um zirka 25 Prozent u ¨ber KIstat . Er wird etwa zur Zeit tR = 2a/cR erreicht, welche die Rayleighwellen ben¨otigen, um den Rissdurchmesser 2a zu durchlaufen. Mit zunehmender Belastungszeit τ verringert sich der Spitzenwert. ¨ Eine merkliche dynamische Uberh¨ ohung tritt nur f¨ ur Belastungszeiten auf, die in 1 liegen. Dies ist zum Beipiel bei einem Riss von der Gr¨oßenordnung von τ c2 /a < 2a = 20 mm L¨ange in einer Stahlplatte f¨ ur τ ≈ 6 · 10−6s der Fall. Solch kurze Belastungszeiten treten nur in seltenen Situationen auf.
σ(t)
KI (t) KIstat
σ(t) σ0 t
3 2c 2a
2 1
σ(t) 2b
0
10
20
30
-1
c1 t 2a
Bild 7.3 Stoßbelastung eines Risses im Rechteckgebiet (ESZ, ν = 0.25; a : b : c = 9.5 : 100 : 60) In einem zweiten Beispiel befinde sich ein gerader Riss in einem endlichen Rechteckgebiet, welches von beiden Seiten einen idealen Stoß σ0 H(t) erf¨ahrt (Bild 7.3). Darin ist H(t) die Heaviside-Funktion. Das auf den Riss treffende Wellenprofil wird in diesem Fall durch die R¨ander des Gebietes mitbestimmt. Im Unterschied zum vorhergehenden Beispiel findet hier außerdem keine laufende Energieabstrahlung statt. Der K(t)-Verlauf ist qualitativ eine Schwingung, deren “Schwingungsdauer” im wesentlichen durch die Laufzeit einer Welle u ¨ber die L¨ange 2c bestimmt ist. Dieser Schwingung sind lokale Spitzen u ¨berlagert, die ebenfalls durch Wellenlaufzeiten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten (c1 , c2 , cR ) erkl¨art werden k¨onnen. Aufgrund der fehlenden D¨ampfung klingt die Oszillation von K(t) nicht ab. Als letztes Beispiel sei eine stoßbelastete 3-Punkt-Biegprobe untersucht, wie sie zur Bestimmung dynamischer KIc -Werte verwendet werden kann (Bild 7.4).
208
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
,
F (t)
F
KI (t) M P a m1/2
-
[kN ]
KI (t)
3
111 000
30
400 412
100
1111 0000
3
2
2
1
1 F (t) 0
0.5
1
1.5
2 t [ms]
Bild 7.4 Stoßbelastung einer 3-Punkt-Biegeprobe F¨ ur eine vorgegebene Auftreffgeschwindigkeit des Fallgewichtes wurde dabei der Belastungsverlauf F (t) gemessen, aus dem dann der dargestellte KI (t)-Verlauf resultiert. Man erkennt, dass die Zeitverl¨aufe von F (t) und KI (t) insbesondere bei kleinen Zeiten v¨ollig verschieden sind, d.h. aus der momentanen Gr¨oße von F kann nicht auf die momentane Gr¨oße von KI geschlossen werden. Angemerkt sei noch, dass die Probe bei solchen Belastungen eine Bewegung ausf¨ uhrt, bei der es zum ein- oder mehrfachen Kontaktverlust (Abheben) zwischen Probe und Fallgewicht sowie zwischen Probe und Lagern kommt.
7.4 7.4.1
Der laufende Riss Rissspitzenfeld
Wir betrachten einen Riss, der sich mit der Geschwindigkeit a˙ und der Beschleunigung a ¨ ausbreitet (Bild 7.5). Als einfachsten Fall untersuchen wir zun¨achst das dynamische Rissspitzenfeld f¨ ur den Modus III (longitudinaler Schub). Das entsprechende Problem wird durch die Bewegungsgleichung (7.9) beschrieben, die wir zweckm¨aßig auf die mitbewegten Koordinaten x , y transformieren (vgl. Abschnitt 5.7.3.2). Mit x = x − a(t), y = y gilt dann f¨ ur eine beliebige Feldgr¨oße (hier die Verschiebung w) ∂2w ∂2w = , ∂x2 ∂x2
∂2w ∂2w = , ∂y 2 ∂y 2
w¨ =
2 ∂w ∂2w ∂2w 2∂ w − a ¨ − 2 a ˙ + a ˙ . ∂t2 ∂x ∂t ∂x ∂x2
(7.16)
An der Rissspitze (r → 0) erwarten wir ein nichtsingul¨ares Verschiebungsfeld vom Typ w(r, ϕ, t) = r λ w(ϕ, ˜ t) und ein singul¨ares Spannungsfeld (0 ≤ λ < 1).
209
Der laufende Riss
y
y
r ϕ x
x
a, ˙ a ¨
a(t) Bild 7.5 Laufender Riss Unter Beachtung von ∂ ∂ ∂ − sin ϕ = cos ϕ ∂x ∂r r∂ϕ
,
∂ ∂ ∂ + cos ϕ = sin ϕ ∂y ∂r r∂ϕ
dominiert f¨ ur r → 0 dementsprechend bei w ¨ das letzte Glied u ¨ ber die ersten ur das drei, und es wird w ¨ = a˙ 2 ∂ 2 w/∂x2 . Damit lautet die Bewegungsgleichung f¨ Rissspitzenfeld ∂2w 1 ∂2w + 2 =0 2 ∂x α2 ∂y 2
mit
α22 = 1 −
a˙ 2 . c22
(7.17)
F¨ uhren wir noch die neuen Koordinaten x2 = r2 cos ϕ2 = x = r cos ϕ ,
y2 = r2 sin ϕ2 = α2 y = α2 r sin ϕ
(7.18)
ein (Stauchung der y-Koordinate), so ergibt sich daraus die Potentialgleichung ∂2w ∂2w + =0. ∂x22 ∂y22
(7.19)
Ihre L¨osung erfolgt am einfachsten unter Verwendung der komplexen Methode (vgl. Abschnitte 1.5.2 und 4.2.1). Danach gilt Gw = Re Ω(z2 ) , τxz − i
τyz α2
= Ω (z2 ) ,
(7.20)
wobei z2 = x2 + i y2 = r2 eiϕ2 . Im weiteren kann man genauso vorgehen wie im statischen Fall. Als dominante L¨osung, welche die Randbedingungen erf¨ ullt, 1/2 erh¨alt man Ω = Az2 . Definieren wir den Spannungsintensit¨atsfaktor wie in der Statik durch √ KIII = lim 2πr τyz (ϕ = 0) , (7.21) r→0
210
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
so ergibt sich schließlich das Rissspitzenfeld ⎧ ϕ2 ⎫ 1 KIII ⎨ − α2 sin 2 ⎬ , =√ ⎭ ϕ ⎭ 2πr2 ⎩ cos 22
⎫ ⎧ ⎨ τxz ⎬ ⎩
τyz
2KIII w= Gα2
r2 ϕ2 sin . 2π 2
(7.22)
Seine Struktur ist ¨ahnlich wie im statischen Fall. Die Spannungen haben an der Rissspitze eine Singularit¨at vom Typ r −1/2 . Die Winkelverteilung der Feldgr¨oßen ist allerdings von α2 , d.h. von der Rissgeschwindigkeita˙ abh¨angig. Steht der Riss (a˙ = 0), dann ergibt sich mit α2 = 1 und r2 = r, ϕ2 = ϕ genau das gleiche Feld wie im statischen Fall (vgl. (4.6)). Die Vorgehensweise im Modus I ist analog zu der im Modus III. Die Transformation von (7.5) auf das mitbewegte System liefert f¨ ur r → 0 zun¨achst ∂2 φ 1 ∂2φ + =0, ∂x2 α12 ∂y 2
∂2ψ 1 ∂2ψ + =0 ∂x2 α22 ∂y 2
mit
αi2 = 1 −
a˙ 2 . (7.23) c2i
F¨ uhren wir in die erste Gleichung die Koordinaten x1 = r1 cos ϕ1 = x = r cos ϕ ,
y1 = r1 sin ϕ1 = α1 y = α1 r sin ϕ
(7.24)
und in die zweite Gleichung die Koordinaten (7.18) ein, so ergeben sich daraus die beiden Potentialgleichungen ∂2φ ∂2φ + 2 =0 , ∂x21 ∂y1
∂2ψ ∂2ψ + 2 =0 . ∂x22 ∂y2
(7.25)
Ihre L¨osung f¨ ur das dominante symmetrische Rissspitzenfeld (Modus I) kann man 3/2 3/2 in der Form φ = A Re z1 , ψ = B Im z2 angeben, wobei z1 = x1 + iy1 = r1 eiϕ1 , iϕ2 z2 = x2 + iy2 = r2 e ; die reellen Konstanten A, B folgen aus den Randbedingungen (belastungsfreie Rissufer). Mit der Definition f¨ ur den Spannungsintensit¨atsfaktor √ KI = lim 2πr σy (ϕ = 0) (7.26) r→0
erh¨alt man auf diese Weise ⎧ ⎧ ⎫ ⎪ √ 1 /2) − 4α1 α22 cos(ϕ √ 2 /2) ⎪ (1 + 2α12 − α22 ) cos(ϕ σx ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ r r2 1 + α 1 ⎪ ⎪ ⎪ 2 ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ ⎬ K f ⎪ ⎨ cos(ϕ cos(ϕ /2) I √ 2 /2) −(1 + α22 ) √ 1 + 4α1 α22 σy =√ r r2 1 + α ⎪ ⎪ ⎪ 1 2π ⎪ 2 ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ ⎭ ⎪ sin(ϕ /2) sin(ϕ /2) ⎪ ⎩ 2α1 √ 1 − 2α1 √ 2 τxy r1 r2
⎫ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎬ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎭
(7.27a)
211
Der laufende Riss
⎧ ⎪ KI 2f ⎨ = √ ⎪ ⎭ G 2π ⎩
⎧ ⎫ ⎨ u ⎬ ⎩
v
mit f=
⎫ √ √ ϕ ϕ r1 cos 21 − r2 2α1 α22 cos 22 ⎪ ⎬ 1 + α2 √ √ ϕ ϕ ⎪ −α1 r1 sin 21 + r2 2α1 2 sin 22 ⎭ 1 + α2
(7.27b)
1 + α22 1 + α22 = . R(a) ˙ 4α1 α2 − (1 + α22 )2
(7.28)
Darin ist R(a) ˙ die in (7.7) definierte Rayleigh-Funktion. Die Spannungen und Verschiebungen haben danach prinzipiell das gleiche r-Verhalten, wie in der Statik. Ihre Gr¨oße und ihre Winkelverteilung h¨angen aber von der Rissgeschwindigkeit ab; die Rissbeschleunigung hat keinen Einfluß. Das Rissspitzenfeld ist eindeutig festgelegt, wenn der K-Faktor sowie die Geschwindigkeit bekannt sind. Man kann dies auch an den speziellen Ergebnissen f¨ ur die Spannung σy vor der Rissspitze (ϕ = 0) und f¨ ur die Riss¨offnung δ = v(π) − v(−π) erkennen: r 4α1 (1 − α22 ) KI KI . (7.29) σy = √ , δ= G 2π R(a) ˙ 2πr W¨ahrend σy durch KI eindeutig bestimmt ist, w¨achst δ bei festem KI mit der Rissgeschwindigkeit an und geht f¨ ur a˙ → cR gegen Unendlich. √ 2πr σϕ K I
σy σx ϕ=0
0,6 1
1 0,2
0,5
a˙ = cR 0,5
a)
0,8 0,4
˙ 2) 1 (a/c
(a/c ˙ 2 )2 = 0 2
π
π/2
ϕ
b) Bild 7.6 Einfluß der Rissgeschwindigkeit auf die Spannungen (ν = 1/4)
Aus dem Rissspitzenfeld lassen sich einige Schl¨ usse auf das Verhalten eines schnell laufenden Risses ziehen. Bild 7.6a zeigt, dass das Spannungsverh¨altnis σy /σx vor der Rissspitze (ϕ = 0) mit wachsender Rissgeschwindigkeit abnimmt. Dementsprechend nimmt die Tendenz zur Materialtrennung in Ebenen senkrecht
212
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
zur urspr¨ unglichen Ausbreitungsrichtung immer mehr zu. Erreicht der Riss die Rayleighwellengeschwindigkeit, so wird das Spannungsverh¨altnis Null: eine Rissausbreitung in Richtung von ϕ = 0 wird dann unm¨oglich. Die Rayleighwellengeschwindigkeit kann also als eine obere Schranke f¨ ur die Rissgeschwindigkeit angesehen werden. In Bild 7.6b ist die Winkelverteilung der Umfangsspannung σϕ in Abh¨angigkeit von der Rissgeschwindigkeit dargestellt. W¨ahrend sich das Spannungsmaximum f¨ ur hinreichend kleine Geschwindigkeiten bei ϕ = 0 befindet, liegt es f¨ ur a˙ >0.6 c2 π/3. Geht man davon aus, dass die Rissausbreitung in Richtung der maxibei ϕ> 0.6 c2 malen Umfangsspannung stattfindet, so bedeutet dies, dass der Riss bei a˙ > instabil hinsichtlich seiner Ausbreitungsrichtung wird. Hierauf hat zum ersten Mal E.H. Yoffe (1951) hingewiesen. Man kann diese Stabilit¨atsgrenze als eine andere obere Schranke f¨ ur die Rissgeschwindigkeit auffassen. V¨ollig analog zum Modus I l¨asst sich auch das Modus II Rissspitzenfeld herleiten; es lautet ⎧ ⎫ 2 2 sin(ϕ2 /2) ⎪ ⎧ ⎪ ⎫ 1 /2) ⎪ −2α2 1 + 2α1 − α2 sin(ϕ ⎪ + 2α ⎪ ⎪ √ √ σ 2 x ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ 1 + α22 r1 r2 ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ ⎬ ⎬ K f⎨ sin(ϕ1 /2) sin(ϕ2 /2) II 2α2 − 2α2 σy (7.30a) = √ √ √ ⎪ ⎪ ⎪ r1 r2 2π ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ ⎪ ⎪ ⎭ 4α1 α2 cos(ϕ1 /2) ⎪ ⎪ 2 cos(ϕ2 /2) ⎪ ⎪ τxy − (1 + α ) √ √ ⎩ ⎭ 2 2 1 + α2 r1 r2 ⎫ ⎧ √ ⎧ ⎫ ⎪ r1 2α2 sin ϕ1 − √r2 α2 sin ϕ2 ⎪ ⎪ ⎨ u ⎬ K 2f ⎪ ⎨ 2 1 + α2 2 2 ⎬ II = √ . (7.30b) ⎩ ⎭ G 2π ⎪ √ 2α2 α2 ϕ1 √ ϕ2 ⎪ ⎪ ⎪ ⎭ ⎩ − r1 v + cos r cos 2 1 + α22 2 2 7.4.2
Energiefreisetzungsrate
Wir wollen nun die Energiefreisetzugsrate G f¨ ur das ebene Problem eines geradlinig laufenden Risses mit lastfreien Rissufern und punktf¨ormiger Prozesszone bestimmen. Dabei gehen wir genau wie in Abschnitt 5.7.3.3 vor, wobei nun aber die kinetische Energie ber¨ ucksichtigt werden muß und das Material als elastisch angesehen wird. F¨ ur den Energiefluß −P ∗ in die Prozesszone gilt dann zun¨achst allgemein −P ∗ = P − E˙ − K˙ , (7.31) wobei E die Form¨anderungsenergie und K die kinetische Energie sind. Angewendet auf die Situation in Bild 7.7 erh¨alt man daraus f¨ ur den Energiefluß −P ∗ = aG ˙ u ¨ber die Kontur CP (vgl. (5.84)) d d 1 ρu˙ i u˙ i dA . UdA − (7.32) aG ˙ = ti u˙ i dc − dt dt 2 C
A
A
213
Der laufende Riss
A x2
x2
C x1
+
C−
x1 CP
a(t)
C a˙
Bild 7.7 Zur Energiefreisetzungsrate Hierin sind U die Form¨anderungsenergiedichte und ρu˙ i u˙ i /2 die spezifische kinetische Energie; die Kontur CP wird als verschwindend klein angesehen (CP → 0). Analog zum Vorgehen in Abschnitt 5.7.3.3 ergibt sich daraus nach einigen Schritten mit dem Reynoldschen Transporttheorem, der Umformung dU/dt = σij u˙ i,j = (σij u˙ i ),j − σij,j u˙ i , der Bewegungsgleichung σij,j = ρ¨ ui und dem Gaußschen Satz ) * 1 aG ˙ =− a˙ U + ρu˙ i u˙ i n1 + ti u˙ i dc . (7.33) 2 CP
Wir gehen nun auf das mitbewegte Koordinatensystem x1 , x2 u ¨ber und fassen auch A und C als mitbewegt auf. Da wir voraussetzen k¨onnen, dass ui an der Rissspitze regul¨ar, ui,1 dagegen singul¨ar ist (vgl. (7.27)), gilt nach (5.76) dann an der Rissspitze u˙ i = −au ˙ i,1. Aus (7.32) erh¨alt man damit ) * 1 G=− U + a˙ 2 ρ ui,1 ui,1 n1 − ti ui,1 dc . (7.34) 2 CP
Wenden wir unter Beachtung von ti = σij nj noch den Gaußschen Satz auf die Fl¨ache A mit dem Rand C + CP + C + + C − an (C + , C − liefern keinen Beitrag), so folgt f¨ ur die Energiefreisetzungsrate schließlich G=
C
A
1 (U + a˙ 2 ρui,1 ui,1 )n1 − ti ui,1 dc + 2
(σij,j ui,1 − a˙ 2 ρui,11 ui,1)dA . (7.35)
Die Beziehung (7.35) vereinfacht sich in verschiedenen Spezialf¨allen. F¨ ur ein Risswachstum mit der konstanten Geschwindigkeit a˙ unter station¨aren Verh¨altnissen verschwindet das Fl¨achenintegral wegen σij,j = ρ¨ ui und u¨i = a˙ 2 ui,11 (vgl. auch (7.16)). Dann gilt ) * 1 G= U + a˙ 2 ρui,1 ui,1 n1 − ti ui,1 dc . (7.36) 2 C
214
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
Im Sonderfall a˙ = 0 vereinfacht sich (7.35) auf (7.12). Liegen zus¨atzlich noch statische Verh¨altnisse vor (σij,j = 0), so reduziert sich G auf das J-Integral (4.107). Die Kontur C kann in (7.35) beliebig gew¨ahlt werden. Ziehen wir sie auf die Rissspitze zusammen, dann verschwindet das Fl¨achenintegral, und es wird ) * 1 G = lim U + a˙ 2 ρui,1 ui,1 n1 − ti ui,1 dc . (7.37) C→0 2 C
Hieraus l¨asst sich der Zusammenhang zwischen G und KI im Modus I bestimmen, indem man (7.27) einsetzt: G=
α1 (1 − α22 ) 2 KI2 α1 (1 − α22 ) KI = . 2GR(a) ˙ 4α1 α2 − (1 + α22 )2 2G
(7.38)
Danach ist die Energiefreisetzungsrate durch den Spannungsintensit¨atsfaktor und die Rissgeschwindigkeit eindeutig festgelegt. Nach (7.7) verschwindet die Funktion R f¨ ur die Rayleighwellengeschwindigkeit. F¨ ur KI = 0 w¨achst dementsprechend G unbeschr¨ankt an, wenn die Rissgeschwindigkeit gegen die Rayleighwellengeschwindigkeit geht. Umgekehrt geht bei beschr¨anktem G der Spannungsintensit¨atsfaktor f¨ ur a˙ → cR gegen Null. Im Fall eines laufenden Risses unter einer gemischten Rissspitzenbelastung durch KI , KII und KIII ergibt sich die allgemeine Beziehung 2 2 ) KIII (1 − α22 )(α1 KI2 + α2 KII 1 . (7.39) G= + 2G 4α1 α2 − (1 + α22 )2 α2 Sie geht f¨ ur a˙ = 0 in (7.14) u ¨ber. 7.4.3 Bruchkonzept, Rissgeschwindigkeit, Rissverzweigung, Rissarrest Im Rahmen der linearen Bruchmechanik kann das K-Konzept auch beim schnellen Risswachstum angewendet werden. Danach muß w¨ahrend des Rissfortschrittes im Modus I zu jeder Zeit die Bruchbedingung KI (t) = KId
(7.40)
erf¨ ullt sein. Hierin ist die dynamische Bruchz¨ahigkeit KId ein Materialparameter, welcher in erster N¨aherung nur von der Rissgeschwindigkeit abh¨angt: KId = KId (a). ˙ Sein qualitativer Verlauf ist in Bild 7.8 dargestellt. Ausgehend vom Initiierungswert KIc w¨achst die Bruchz¨ahigkeit meist zun¨achst nur schwach, dann aber stark mit der Rissgeschwindigkeit an. Als eine Ursache f¨ ur dieses Verhalten kann ¨ man die m¨ogliche Anderung der Trennmechanismen in der Prozesszone ansehen. Ein bekanntes Indiz hierf¨ ur ist, dass die Rauhigkeit der Bruchoberfl¨achen mit der Geschwindigkeit stark zunimmt. Eine weitere Ursache liegt in der Tatsache, dass (anders als in der Statik) KI alleine das Rissspitzenfeld bzw. den Zustand in der
215
Der laufende Riss
a/c ˙ 2 a˙ max
0,2 0,1 1
2
3
KId /KIc
Bild 7.8 Abh¨angigkeit der Bruchz¨ahigkeit von der Rissgeschwindigkeit Prozesszone nicht mehr eindeutig charakterisiert. Nach Abschnitt 7.4.1 h¨angen n¨amlich die Spannungen und Deformationen noch von der Rissgeschwindigkeit ab. W¨ahrend des Risswachstums muß auch die energetische Bruchbedingung G(t) = Gd (a) ˙
(7.41)
˙ der materialspezifische und geschwindigkeitsabh¨anerf¨ ullt sein. Darin ist Gd (a) gige Risswiderstand. Aufgrund des Zusammenhanges (7.37) zwischen G und KI sind die Bruchbedingungen (7.40) und (7.41) a¨quivalent. Aus Messungen ist bekannt, dass Risse auch in sehr spr¨oden Materialien eine Maximalgeschwindigkeit von a˙ max ≈ 0.5 c2 nicht u ¨berschreiten (Ausnahmen sind Rissspitzen, denen durch besondere Maßnahmen von außen, z.B. u ¨ber einen Laser, Energie zugef¨ uhrt wird). Hierf¨ ur lassen sich einige Gr¨ unde anf¨ uhren; trotzdem steht eine allseits befriedigende Begr¨ undung f¨ ur diese Tatsache zur Zeit noch aus. So wird zum Beispiel als eine Erkl¨arung f¨ ur die Maximalgeschwindigkeit die 0.6c2 herInstabilit¨at der geraden Rissfortpflanzung f¨ ur Geschwindigkeiten a˙ > angezogen (vgl. Abschnitt 7.4.1). Hierf¨ ur spricht die mit der Rissgeschwindigkeit zunehmende Rauhigkeit (Welligkeit) der Bruchoberfl¨ache sowie die zunehmende Tendenz zur Bildung von Sekund¨arrissen. Hierbei handelt es sich um Nebenrisse geringer L¨ange, die in der Umgebung des Hauptrisses liegen oder von diesem abzweigen. Mit der Welligkeit und mit einer hohen Zahl von Sekund¨arrissen l¨asst sich auch die Zunahme der dynamischen Bruchz¨ahigkeit bzw. des Risswiderstandes qualitativ begr¨ unden. So ist insbesondere die Sekund¨arRissbildung ein Mechanismus, der stark zu einer Energiedissipation beitragen kann. Gegen die ‘Instabilit¨atshypothese’ spricht allerdings, dass die gemessenen Maximalgeschwindigkeiten oft deutlich unter der Instabilit¨atsgeschwindigkeit liegen. Ein anderer, rein qualitativer Erkl¨arungsversuch geht von der diskreten Natur der Bindungsl¨osung aus. Nach dieser Vorstellung breitet sich ein Riss in ‘Spr¨ ungen’ l¨angs diskreter Elemente mit einer charakteristischen Mikrostrukturl¨ange lM aus. Um die gesamte Information u ¨ ber den vorhergehenden ‘Sprung’ auf das n¨achste
216
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
Element zu u ¨bertragen (maximaler Abstand 2lM ), bedarf es einer charakteristischen Wellenlaufzeit τ ≈ 2lM /c2 (statt c2 k¨onnte man auch cR w¨ahlen). Nimmt man an, dass nach dieser Zeit der n¨achste ‘Sprung’ erfolgt, so gelangt man unabh¨angig von der genauen Gr¨oße der Mikrostrukturl¨ange auf die durchschnittliche Rissgeschwindigkeit a˙ ≈ lM /τ ≈ c2 /2. Ein h¨aufig auftretendes Ph¨anomen bei der schnellen Rissfortpflanzung ist die Rissverzweigung (Bild 7.9a). Sie tritt bevorzugt bei Geschwindigkeiten nahe der Grenzgeschwindigkeit a˙ max auf, kann aber (abh¨angig vom Material) auch bei kleineren Geschwindigkeiten beobachtet werden. Einer tats¨achlichen Verzweigung gehen dabei in der Regel eine zunehmende Rauhigkeit der Bruchoberfl¨ache sowie die Bildung von Sekund¨arrissen voraus, die man als ‘Versuche’ von Verzweigun¨ gen interpretieren kann. Ahnlich wie f¨ ur die Rissgeschwindigkeit gibt es auch f¨ ur die Rissverzweigung zur Zeit noch keine allgemein akzeptierte Begr¨ undung bzw. ein gesichertes Verzweigungskriterium. Die meisten Erkl¨arungsversuche basieren auf der Analyse des Rissspitzenfeldes eines einzelnen laufenden Risses bzw. eines sich gerade verzweigenden Risses. So wurde zum Beispiel auch das Verzweigungsph¨anomen in Zusammenhang mit der Richtungsinstabilit¨at gebracht, die bei einer Rissgeschwindigkeit von a˙ ≈ 0.6 c2 auftritt. Hierdurch k¨onnen aber nicht Verzweigungen bei kleineren Geschwindigkeiten sowie der beobachtete Verzweigungswinkel von α ≈ 28◦ erkl¨art werden. Eine Begr¨ undung f¨ ur letzteren ergibt sich allerdings aus der plausiblen Annahme, dass beide Rissspitzen sich nach der Verzweigung jeweils unter lokalen Modus I Bedingungen fortpflanzen. Auf der Basis einer solchen Hypothese liefert schon eine quasistatische Analyse Resultate, die mit der Beobachtung sehr gut u ¨bereinstimmen.
G stat Gc
a˙ 3 ≈ 28◦
a˙ 2
3 2
a1 (t)
a˙ 1
1 ac 1.Verzw. 2.Verzw.
a)
a
b) Bild 7.9 Rissverzweigung
Eine notwendige Bedingung f¨ ur die Rissverzweigung ist ein hinreichender Energiefluß in die Prozesszone, d.h. eine hinreichend große Energiefreisetzungsrate G, welche die Bildung zweier Risse und deren anschließende Fortpflanzung erm¨oglicht. Die Bestimmung von G ist in der Regel aufwendig, da diese Gr¨oße im
Der laufende Riss
217
allgemeinen von der Geometrie des Bauteiles, von der Zeit bzw. der aktuellen Rissl¨ange und von der Rissgeschwindigkeit abh¨angt. Eine einfache, grobe Absch¨atzung f¨ ur G kann man aber unter Vernachl¨assigung der Tr¨agheitskr¨afte aus dem entsprechenden statischen Problem gewinnen. Auf diese Weise ergibt sich zum Beispiel f¨ ur einen SeitenRiss unter einachsigem Zug (vgl. Tabelle 4.1, Nr.5) G ≈ G stat = (KIstat )2 /E = 1.26 πσ 2a. Nimmt man nun vereinfachend noch an, dass Verzweigungen gerade dann erfolgen, wenn G jeweils ein ganzzahliges Vielfaches der zur Initiierung eines Risses erforderlichen Rate Gc erreicht, so ergibt sich das in Bild 7.9b dargestellte Ergebnis. Dieses hat allerdings nur qualitativen Charakter. Von großer praktischer Bedeutung - weil in Bauteilen meist erw¨ unscht - ist der Rissarrest oder Rissstopp. Er tritt auf, wenn beim laufenden Riss der Spannungsintensit¨atsfaktor soweit abf¨allt, dass die Bruchbedingung (7.40) nicht mehr erf¨ ullt ist; der Riss kommt dann zum Stillstand. Die Arrestbedingung kann man in der Form KI (t) = KIa (7.42) ˙ als Arrestz¨ahigkeit bezeichnet wird. Da der schreiben, wobei KIa = min[KId (a)] Rissarrest in einem Bauteil ein dynamischer Vorgang ist, bedarf es zu seiner Behandlung im allgemeinen einer vollst¨andigen dynamischen Analyse der Struktur (unter Ber¨ ucksichtigung der Tr¨agheitskr¨afte und Wellenph¨anomene). Es hat sich jedoch gezeigt, dass in vielen praktischen F¨allen eine quasistatische Untersuchung zu hinreichend guten Ergebnissen f¨ uhrt. Wie bereits diskutiert k¨onnen sich Modus-I-Risse aus theoretischen Gesichtspunkten nicht schneller als mit der Rayleighwellengeschwindigkeit ausbreiten, da die Energiefreisetzungsrate f¨ ur a˙ > cR verschwindet. Bei Modus-II-Rissen ist dies nicht der Fall. Zwar ist auch hier die Energiefreisetzungsrate f¨ ur a˙ = cR gleich √ Null, sie ist jedoch im Bereich c < a ˙ ≤ 2 c wieder positiv. Allerdings ist dann R 2 √ außer bei a˙ = 2 c2 die Rissspitzensingularit¨at nicht mehr vom Typ σij ∼ r −1/2 . Dies bedeutet, dass sich Modus-II-Scherrisse mit sogenannter intersonischer Geschwindigkeit, d.h. gr¨oßer als cR und c2 aber kleiner als c1 , ausbreiten k¨onnen. Neuere experimentelle Untersuchungen sowie auch seismische Messungen bei Erdbeben belegen die Existenz solcher intersonischer Rissausbreitungsvorg¨ange. 7.4.4
Beispiele
Die Untersuchung des schnellen Risswachstums ist in der Regel recht aufwendig unabh¨angig davon, ob experimentelle, numerische oder analytische Methoden zur Anwendung gelangen. Sie vereinfacht sich jedoch erheblich, wenn angenommen werden kann, dass das Risswachstum mit konstanter Geschwindigkeit a˙ unter station¨aren Verh¨altnissen erfolgt. Die Transformation der Wellengleichungen (7.5) f¨ ur den EVZ auf das mit der Geschwindigkeit a˙ mitbewegte System x , y f¨ uhrt dann n¨amlich mit ∂(·)/∂t = 0 und a ¨ = 0 auf genau die Potentialgleichungen
218
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
(7.25), welche wir schon in Abschnitt 7.4.1 kennengelernt haben. Ihre L¨osung l¨asst sich allgemein in der Form φ = Re Φ(z1 ), ψ = Re Ψ(z2 ) angeben. Als Beispiel hierzu wollen wir das klassische Problem von Yoffe betrachten. Hierbei handelt es sich um die Bewegung eines Risses konstanter L¨ange in einem unendlichen Gebiet unter einachsigem Zug σ (Bild 7.10a). Dieser Riss ¨offnet sich
2
σ y
G , KI G stat KIstat
a˙
G
1
x
KI
2a ν = 1/4 a)
0,5
σ
b)
˙ 2 1 a/c a˙ = cR
Bild 7.10 Problem von Yoffe also vorne und schließt sich (physikalisch unrealistisch) hinten wieder. Das entsprechende statische Problem wurde in Abschnitt 4.4.1 untersucht. Als Ans¨atze f¨ ur Φ und Ψ w¨ahlen wir ( ( Φ (z1 ) = A1 z12 − a2 + A2 z1 , Ψ (z2 ) = i B1 z22 − a2 + i B2 z2 , (7.43) aus denen sich die Verschiebungen und Spannungen mit Hilfe von (7.2) und dem Elastizit¨atsgesetz ermitteln lassen. Die Randbedingungen σy = 0, τxy = 0 f¨ ur |x | < a (lastfreie Rissflanken) und σy = σ, σx = 0 f¨ ur zi → ∞ liefern f¨ ur die Konstanten 1 σ 1 + α22 σ 2(α12 − α22 ) , A2 = − , A1 = G R(a) ˙ G R(a) ˙ 1 + α22 (7.44) 1 σ 2α1 σ (α12 − α22 )(1 + α22 ) , B2 = − B1 = ; 2 R(a) ˙ 2 α2 R(a) ˙ 2α2 ur |x | > a sind automatisch erf¨ ullt. die Symmetriebedingungen v = 0, τxy = 0 f¨ Damit liegen die Spannungen und Verschiebungen im gesamten Gebiet eindeutig fest. Insbesondere erh¨alt man f¨ ur die Spannung σy vor der Rissspitze und f¨ ur die Verschiebung v der oberen bzw. unteren Rissflanke σy = σ √
x − a2
x2
,
v± = ±
σ α1 (1 − α22 ) √ 2 a − x2 . G R(a) ˙
(7.45)
219
Der laufende Riss
W¨ahrend σy unabh¨angig von a˙ ist (d.h. genau wie im statischen Fall verteilt ist), nimmt die Riss¨offnung mit der Geschwindigkeit immer mehr zu und geht f¨ ur a˙ → cR gegen unendlich. Dementsprechend ergibt sich f¨ ur den K-Faktor der √ gleiche Wert wie in der Statik: KI = σ πa. Die Energiefreisetzungsrate w¨achst nach (7.38) dagegen mit der Rissgeschwindigkeit unbeschr¨ankt an (Bild 7.10b). Als zweites Beispiel behandeln wir die station¨are Ausbreitung eines halbunendlichen Risses im unendlichen Scheibenstreifen, dessen R¨ander nach Bild 7.11a um den konstanten Betrag 2δ gegeneinander verschoben sind. In diesem Fall
KI KIstat
h
111111111111 000000000000
h
y
x
a˙
1
C
2(h+δ)
0,5
11111111111 00000000000
ν = 0, 3 b)
a)
0,2
0,4
0,6
˙ 2 0,8 cR a/c
Bild 7.11 Station¨ares Risswachstum im Scheibenstreifen kann man die Energiefreisetzungsrate recht einfach aus (7.36) ermitteln. Hierzu w¨ahlen wir die Kontur C so, dass ihr rechter bzw. linker vertikaler Teil weit von der Rissspitze entfernt im ungest¨orten Bereich liegen (Bild 7.11a). Dort gilt im EVZ vor bzw. hinter der Rissspitze δ , h
2Gδ(1 − ν) , h(1 − 2ν)
x1 h :
ε22 =
x1 −h :
ε22 = σ22 = ui,1 = 0 .
σ22 =
ui,1 = 0
Mit U = 12 σ22 ε22 liefert damit alleine der vertikale Teil von C vor der Rissspitze einen Beitrag (die Beitr¨age der horizontalen Teile von C heben sich auf), und man erh¨alt 2(1 − ν) Gδ 2 G = 2h U|x h = . (7.46) 1 1 − 2ν h Die Energiefreisetzungsrate ist danach unabh¨angig von der Rissgeschwindigkeit; das Ergebnis (7.4.4) gilt also gleichermaßen f¨ ur den stehenden Riss. Der K-Faktor folgt damit aus (7.38) zu ' (1 − ν)R(a) ˙ KI (a) ˙ = 2Gδ . (7.47) h(1 − 2ν)(1 − α22 )α1
220
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
Er klingt mit zunehmender Geschwindigkeit ab und geht f¨ ur a˙ → cR gegen Null (Bild 7.11b). An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass man mit ¨ahnli¨ chen Uberlegungen zur Energiefreisetzungsrate auch das schnelle Risswachstum in langen Rohren behandeln kann. Dies stellt in der Praxis einen wichtigen Anwendungsfall dar. In einem weiteren Beispiel sei das instation¨are Wachstum eines Randrisses in einer Rechteckscheibe aus Araldit untersucht, die durch einen idealen Stoß σH(t) belastet ist. Das Bild 7.12 zeigt die Ergebnisse einer numerischen Analyse im ESZ f¨ ur drei verschiedene Bruchkriterien. Im Fall (a) wurde das K-Kriterium (7.40)
σH(t) a(t) b 1,0
b = 60
(c) 120
(b) (a)
0,5
a(t)
0
75
150
225
t [µs]
σH(t) Bild 7.12 Schnelles Wachstum eines Randrisses; a(0)=29.5 mm ˙ in Anlehnung an experimentelle Daten durch zugrunde gelegt, wobei KId (a) (a)
KId = KIc [1 + 2, 5(a/c ˙ 2 )2 + 3, 9 · 104 (a/c ˙ 2 )10 ] (7.48) √ mit KIc = 0.69 MPa m approximiert wurde. Im Fall (b) wurde ebenfalls das K-Kriterium herangezogen, die Bruchz¨ahigkeit vereinfacht aber als geschwindig(b) keitsunabh¨angig angesehen: KId = KIc . Im Fall (c) schließlich wurde die energetische Bruchbedingung (7.41) angewendet, wobei Gd ebenfalls vereinfacht als un(c) 2 /E. Unter abh¨angig von der Geschwindigkeit betrachtet wurde: Gd = Gc = KIc Verwendung von (7.38) l¨asst sich das energetische Kriterium in das K-Kriterium u uhren; die Bruchz¨ahigkeit ist in diesem Fall durch ¨berf¨ ' R(a) ˙ (c) (7.49) KId = KIc (1 − ν)α1 (1 − α22 ) ˙ gegeben. Die drei F¨alle unterscheiden sich damit nur durch unterschiedliche KId (a)(c) (b) (a) Verl¨aufe, wobei im gesamten Geschwindigkeitsbereich KId ≤ KId ≤ KId ist.
221
Der laufende Riss
Dementsprechend bewegt sich der Riss f¨ ur (c) am schnellsten und f¨ ur (a) am langsamsten durch die Scheibe. Die erreichten Maximalgeschwindigkeiten betragen a˙ (c) ≈ a˙ (b) = 0.74 c2 bzw. a˙ (a) = 0.37 c2 . Erstere ist unrealistisch hoch, w¨ahrend die zweite im Bereich experimenteller Beobachtungen liegt. Es ist bemerkenswert, dass sich die Rissgeschwindigkeit im realit¨atsnahen Fall (a) trotz des zeitlich stark ver¨anderlichen Spannungsfeldes u ¨ber die Laufl¨ange kaum ¨andert. Wie bereits angesprochen, k¨onnen Spannungswellen, die sich infolge einer stoßartigen Belastung in einem Rissbehafteten Bauteil ausbreiten, aufgrund von Reflexionen wiederholt mit dem Riss wechselwirken. Dies f¨ uhrt zu einem komplexen zeitlichen K-Verlauf (vgl. Bild 7.3), wobei im allgemeinen eine gemischte (unsymmetrische) Rissspitzenbelastung nach Abschnitt 4.9 vorliegt. Ein Riss durchl¨auft dann eine krummlinige Bahn, die durch die Charakteristik der dynamischen Belastung bzw. durch die an jeder Stelle auftretende momentane Rissspitzenbelastung bestimmt wird. Dies sei an Hand eines Beispiels illustriert, bei dem die Rissausbreitung (inklusive der Richtung) “frei” erfolgt, d.h. nur durch ein Bruchkriterium gem¨aß Abschnitt 4.9 kontrolliert wird. Wir betrachten dazu nach Bild 7.13 eine Rechteckscheibe, deren Symmetrie durch die Lage des Anfangsrandrisses leicht gest¨ort ist. Die Belastung erfolgt durch einen idealen Stoß σH(t) auf den vertikalen R¨andern sowie nach unterschiedlichen Zeitfunktionen σa (t) und σb (t) auf den horizontalen R¨andern. In Bild 7.13 sind die aus numerischen Simulationen f¨ ur unterschiedliche Belastungsgeschwindigkeiten ( σ˙ a (t) σ˙ b (t) ) gewonnenen Rissverl¨aufe dargestellt. Zu ihrer inkrementellen Ermittlung wurde das Bruchkriterium der maximalen Umfangsspannung (Abschnitt 4.9) und f¨ ur die Bruchz¨ahigkeit die Beziehung (7.47) verwendet. Bei der Auswertung des Bruchkriteriums gelten jetzt jedoch nicht mehr die Beziehungen (4.129). Vielmehr ist f¨ ur den schnell laufenden Riss vom dynamischen Risspitzenfeld σϕ (KI , KII , a, ˙ ϕ) auszugehen (vgl. (7.27)).
σa (t)
σH(t)
a)
σb (t)
σH(t)
σa (t)
σH(t)
σH(t)
b)
σb (t)
Bild 7.13 Rissverl¨aufe infolge Wellenbelastung; σ˙ a σ˙ b
222
Dynamische Probleme der Bruchmechanik
¨ Die beiden v¨ollig unterschiedlichen Rissverl¨aufe in Bild 7.13 k¨onnen durch Uberlagerungseffekte der von den Scheibenr¨andern ausgehenden Spannungswellen er¨ kl¨art werden. Bei diesen Uberlagerungen kommt es zu bestimmten Zeiten zu ¨ starken Anderungen des Spannungszustandes an der Rissspitze. Welcher Spannungszustand sich genau ergibt und welche Rissfortschrittsrichtung daraus resultiert h¨angt somit auf komplizierte Weise von der das Wellenprofil bestimmenden Randbelastung σa (t) bzw. σb (t) ab.
7.5
Literatur
Achenbach, J.D. (1972). Dynamic effects in brittle fracture. In Mechanics Today Vol. 1, ed. S. Nemat-Nasser, Pergamon Press, New York Broberg, K.B. (1999). Cracks and Fracture. Academic Press, London Freund, L.B. (1993). Dynamic Fracture Mechanics. Cambridge University Press, Cambridge Gdoutos, E.E. (1993). Fracture Mechanics – An Introduction. Kluwer, Dordrecht Kanninen, M.F. and Popelar, C.H. (1985). Advanced Fracture Mechanics. Clarendon Press, Oxford Klepaczko, J.R. (ed.) (1990). Crack Dynamics in Metallic Materials. CISM courses and lectures no. 310, Springer, Wien Liebowitz, H. (ed.) (1968). Fracture – A Treatise, Vol. 2, Chap. 5. Academic Press, London Ravi-Chandar, K. (2004). Dynamic Fracture. Elsevier Science, Amsterdam Sih, G.C. (ed.) (1973). Dynamic Crack Propagation. Noordhoff, Leyden Sih, G.C. (ed.) (1977). Mechanics of Fracture, Vol. 4, Noordhoff, Leyden Weertmann, J. (1998). Dislocation Based Fracture Mechanics. World Scientific, Singapore Zhang, Ch. and Gross, D. (1997). On Wave Propagation in Elastic Solids with Cracks. WIT Press, Southampton
8 Mikromechanik und Homogenisierung
8.1
Allgemeines
Reale Materialien weisen bei genauem Hinsehen, z.B. durch ein Mikroskop, eine Vielzahl von Heterogenit¨aten auf, auch wenn sie makroskopisch homogen erscheinen m¨ogen. Solche Abweichungen von der Homogenit¨at k¨onnen zum Beispiel durch Risse, Hohlr¨aume, Bereiche aus einem Fremdmaterial, durch einzelne Schichten oder Fasern eines Laminates, durch Korngrenzen oder auch durch Unregelm¨aßigkeiten in einem Kristallgitteraufbau gegeben sein. Wir wollen sie im Weiteren als Defekte in einem verallgemeinerten Sinne bezeichnen. Gegenstand mikromechanischer Untersuchungen ist das Verhalten solcher Inhomogenit¨aten oder Defekte sowie ihre Wirkung auf die globalen Eigenschaften eines Materials. So k¨onnen Heterogenit¨aten jeder Art aufgrund ihrer lokalen Wirkung als Spannungskonzentratoren beispielsweise zur Bildung und Vereinigung von Mikrorissen oder Mikroporen f¨ uhren und damit den Ausgangspunkt einer fortschreitenden Materialsch¨adigung bilden (vgl. Abschnitt 3.1.2 sowie Kapitel 9). Defekte liegen auf unterschiedlichen L¨angenskalen vor, die f¨ ur ein konkretes Material und den jeweiligen Defekttyp charakteristisch sind (Bild 8.1). Eine wichtige Aufgabe der Mikromechanik ist folglich die Verkn¨ upfung mechanischer Zusammenh¨ange auf unterschiedlichen Skalen. Ausgehend von einer makroskopischen Betrachtungsebene bilden dabei die auf einer feineren Skala – der jeweiligen Mikroebene – vorliegenden Heterogenit¨aten und ihre r¨aumliche Verteilung die sogenannte Mikrostruktur eines Materials. Was in einem konkreten Fall als Makroebene und Mikroebene anzusehen ist, h¨angt von der Problemstellung ab und ist eine Frage der Modellbildung. Wie in Bild 8.1 angedeutet, kann man zum Beispiel in einem technischen Bauteil eine Mikrostruktur in Form zahlreicher Risse im Millimeterbereich identifizieren. Das bei dieser Betrachtung scheinbar homogene Material zwischen den einzelnen Rissen kann bei einem metallischen Werkstoff jedoch selbst wieder als Makroebene bez¨ uglich einer polykristallinen Mikrostruktur mit charakteristischen L¨angen (Korngr¨oße) im Mikrometerbereich angesehen werden. Und das einzelne Korn wiederum kann die Rolle der Makroebene u ¨ bernehmen gegen¨ uber der durch diskrete Versetzungen gepr¨agten noch feineren Mikrostruktur des Kristallgitters. Ein wesentlicher Vorteil dieser Betrachtungsweise besteht darin, dass ein makroskopisch komplexes und rein ph¨anomenologisch nur schwer zu beschreibendes Materialverhalten auf elementare Vorg¨ange auf der Mikroebene zur¨ uckgef¨ uhrt wird. Die Behandlung mikromechanischer Probleme kann nach wie vor im Rahmen der Kontinuumsmechanik erfolgen. Einem materiellen Punkt
224
Mikromechanik
der Makroebene wird dabei durch die zus¨atzliche Ber¨ ucksichtigung einer feineren Skala – der Mikroebene – eine r¨aumliche Defektverteilung als Mikrostruktur zugeordnet.
∼ cm... ∼ m
111 000
11 00
∼ mm
∼ µm
∼ nm
("Mikroskop")
Bild 8.1 Makro- und Mikroebenen, charakteristische Skalen Die Untersuchung von Defekten l¨asst sich nach zwei wesentlichen Fragestellungen gliedern. Gegenstand des Interesses kann zum einen das Verhalten eines Defektes auf seiner eigenen charakteristischen Skala sein, wozu auch die Wechselwirkung mit weiteren dort vorliegenden Defekten z¨ahlt. Andererseits kann die Frage nach der Auswirkung vieler Defekte auf das makroskopischen Stoffverhalten auf einer gr¨oßeren Skala im Vordergrund stehen. Im letzteren Fall wird das gesamte Verhalten der Mikrostruktur als mechanischer Zustand eines ma¨ teriellen Punktes der Makroebene interpretiert. Dieser Mikro-Makro-Ubergang erfolgt formal durch geeignete Mittelungsprozesse und wird als Homogenisierung ¨ bezeichnet. Ver¨anderungen der Mikrostruktur dr¨ ucken sich dabei in einer Anderung der makroskopischen oder effektiven Eigenschaften eines Materials aus. Eine mikrostrukturelle Entwicklung wie das Wachstum von Mikrorissen oder -poren, die zu einer Reduktion makroskopischer Festigkeitseigenschaften f¨ uhrt, wird als Materialsch¨adigung bezeichnet und wegen ihrer Bedeutung f¨ ur die Bruch- und Versagensmechanik gesondert in Kapitel 9 behandelt. Das vorliegende Kapitel dient der Einf¨ uhrung in grundlegende Konzepte und Methoden der Mikromechanik. Neben der Charakterisierung typischer Defekte ¨ und ihrer lokalen Wirkung werden wir uns mit der Frage des Ubergangs von der Mikro- zur Makroebene befassen sowie mit der Ableitung effektiver Materialeigenschaften aus einer gegebenen Mikrostruktur. Dabei wird im wesentlichen linear elastisches Materialverhalten vorausgesetzt, jedoch auch ein kurzer Einblick in die Behandlung elastisch-plastischer und thermoelastischer Materialien gegeben. Erste theoretische Untersuchungen zum Verhalten von Materialien mit Mikrostruktur gehen auf J.C. Maxwell (1831-1879), Lord Rayleigh (1842-1919) und A. Einstein (1879-1955) zur¨ uck. W¨ahrend sich die ersten beiden mit der Bestimmung effektiver elektrischer Leitf¨ahigkeiten eines heterogenen Materials befaßten, untersuchte letzterer die effektive Viskosit¨at eines Fluids, das kugelf¨ormige Parti-
Defekte und Grundl¨ osungen
225
kel enth¨alt. In der Festk¨orpermechanik stand zun¨achst die Frage nach der Bestimmung der elastischen Konstanten eines Vielkristalls aus denen eines Einkristalls im Vordergrund. Die ersten Ans¨atzen hierzu kamen von W. Voigt (1850-1919) und A. Reuss (1900-1968); wesentliche Beitr¨age lieferten in der zweiten H¨alfte des vergangenen Jahrhunderts dann unter anderen E. Kr¨oner (1919-2000) und R. Hill. Die dabei entwickelten analytischen N¨aherungsmethoden und Modelle, die sich auch auf moderne Kompositmaterialien anwenden lassen, wurden in j¨ ungerer Zeit auf inelastisches Materialverhalten verallgemeinert. Sie dienen dar¨ uber hinaus als Grundlage zur Behandlung des “inversen Problems”, d.h. der Entwicklung (Design) neuer Kompositmaterialien mit einer hinsichtlich des makroskopischen Verhaltens optimierten Mikrostruktur.
8.2
Ausgew¨ ahlte Defekte und Grundl¨ osungen
In einem elastischen Material sind mit Defekten immer inhomogene Spannungsund Verzerrungsfelder verbunden, durch welche die Defekte charakterisiert werden k¨onnen. Wir unterscheiden dabei zwischen Defekten, die selbst Quelle eines sogenannten Eigendehnungs- oder Eigenspannungsfeldes sind (Versetzungen, Einschl¨ usse) und solchen, die erst unter der Wirkung einer ¨außeren Belastung eine St¨orung des homogenen (r¨aumlich konstanten) Feldes bewirken wie beispielsweise Partikel aus Fremdmaterial, L¨ocher oder Risse. Im letzteren Fall materieller Inhomogenit¨aten ist es m¨oglich und zweckm¨aßig, das gesamte Verzerrungs- und Spannungsfeld in zwei Teile aufzuspalten: (1) in einen homogenen Anteil, wie er in einem defektfreien Material vorl¨age, sowie (2) in die durch den Defekt hervorgerufene Abweichung. Den zweiten Anteil bezeichnet man als die dem Defekt ¨aquivalente Eigendehnung bzw. Eigenspannung. Diese Aufspaltung gestattet es, ¨ unabh¨angig von der physikalischen Ursache eine formale Aquivalenz herzustellen zwischen einem inhomogenen Material und einem homogenen Material, in welchem eine bestimmte Eigendehnungs- bzw. Eigenspannungsverteilung vorliegt. Wir werden im folgenden einige typische Defekte anhand von Grundl¨osungen in einem unendlich ausgedehnten linear elastischen Medium diskutieren und dabei zun¨achst die Wirkung von Eigendehnungen in einem homogenen Material untersuchen. 8.2.1 8.2.1.1
Eigendehnungen Dilatationszentrum
Als Dilatations- oder Dehnungszentrum bezeichnet man die Idealisierung eines “punktf¨ormigen” Bereiches, der eine “unendlich” starke radiale Expansion (Eigendehnung) erf¨ahrt. Ein Dilatationszentrum ruft ein singul¨ares, in isotropem Material radialsymmetrisches Dehnungs- und Spannungsfeld mit Zug in Umfangsrichtung und Druck in radialer Richtung hervor. Aufgrund seiner Wirkung kann
226
Mikromechanik
x2
r a p
x1
x3
Bild 8.2 Dilatationszentrum ein Dilatationszentrums auch als kugelf¨ormiger Bereich vom Radius a interpretiert werden, in dem der Druck p herrscht (Bild 8.2). Das Verschiebungs- und Spannungsfeld im umgebenden Material besitzt in Kugelkoordinaten (r, ϕ, ϑ) die Darstellung ur = p
a3 , 4µr 2
uϕ = uϑ = 0 , (8.1)
a3 σrr = −p 3 , r
σϕϕ = σϑϑ
a3 =p 3 , 2r
σrϕ = σrϑ = σϕϑ = 0 .
Ein Dilatationszentrum kann unter anderem als einfaches Modell f¨ ur die Wirkung eines Zwischengitteratomes (punktf¨ormiger Defekt) in einem umgebenden Kristallgitter dienen. 8.2.1.2
Gerade Stufen- und Schraubenversetzung
Versetzungen sind linienf¨ormige Defekte in kristallinen Festk¨orpern (vgl. Abschnitt 3.1.2). Ihre Wirkung kann kontinuumsmechanisch durch einen als BurgersVektor bezeichneten konstanten Sprung b beschrieben werden, den das Verschiebungsfeld bei einem Umlauf um die Versetzungslinie (x3 -Achse in Bild 8.3) erf¨ahrt (vgl. Bild 3.2). F¨ ur eine gerade Stufenversetzung nach Bild 8.3a mit dem Betrag b des BurgersVektors l¨asst sich das resultierende Verschiebungs- und Spannungsfeld in linear elastischem, isotropem Material wie folgt angeben: x1 x2 * x2 D ) D u1 = 2(1 − ν)ϕ + 2 −(1 − 2ν) ln r + 22 , (8.2a) , u2 = 2µ r 2µ r
227
Defekte und Grundl¨ osungen
x2
x2 ϕ
ϕ
r
r b
x1
b
x3
x1
x3
a)
b)
Bild 8.3 a) Gerade Stufenversetzung, b) gerade Schraubenversetzung 3x21 + x22 x21 − x22 x21 − x22 , σ = D x , σ = D x . (8.2b) 12 1 22 2 r4 r4 r4 Darin sind D = bµ/2π(1 − ν) und r 2 = x21 + x22 . Die entsprechenden Felder einer geraden Schraubenversetzung (Bild 8.3b) haben die einfachere Darstellung σ11 = −D x2
u3 =
8.2.1.3
b ϕ, 2π
σ13 = −
bµ x2 , 2π r 2
σ23 =
bµ x1 . 2π r 2
(8.3)
Einschluß
Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen punkt- oder linienf¨omiger Defekte betrachten wir nun die der Situation einer r¨aumlichen Eigendehnungsverteilung εtij (x). Solche Verzerrungen resultieren beispielsweise aus Phasentransformationen in Festk¨orpern, bei denen sich die Atome in einem Gitter mit ver¨anderter Geometrie neu anordnen. Da sie urs¨achlich nicht mit Spannungen verkn¨ upft sind, nennt man sie auch spannungsfreie Transformationsverzerrungen (hochgestelltes t). Formal k¨onnen alle Verzerrungsanteile, die in einem Material bei Abwesenheit von Spannungen auftreten als Eigendehnungen aufgefaßt werden. In diesem Sinne sind auch thermische oder plastische Verzerrungen (vgl. Abschnitt 1.3.3) als Eigendehnungen interpretierbar. Die Gesamtverzerrung εij setzt sich im Rahmen infinitesimaler Deformationen additiv zusammen aus den elastischen Verzerrun−1 gen εeij = Cijkl σkl und den Eigendehnungen: εij = εeij + εtij . Damit gilt σij = Cijkl (εkl − εtkl ) .
(8.4)
Liegen nur in einem Teilbereich Ω des homogenen Materials von Null verschiedene Eigendehnungen vor, so bezeichnet man diesen Bereich als Einschluß und das umgebende eigendehnungsfreie Material als Matrix (Bild 8.4). Ausdr¨ ucklich
228
Mikromechanik
Einschluss Ω Matrix
εtkl = 0 εtkl = 0
Bild 8.4 Einschluß in Matrix sei darauf hingewiesen, dass ein Einschluß die gleichen elastischen Eigenschaften besitzt wie die Matrix. Ist dies nicht der Fall, so spricht man von einer Inhomogenit¨at. F¨ ur beliebige Einschlußgeometrien Ω und Eigendehnungsfelder εtkl (x) ist es nicht m¨oglich, die Spannungsverteilung und das Gesamtverzerrungs- bzw. Verschiebungsfeld in einfacher geschlossener Form anzugeben. Einige Spezialf¨alle sind im folgenden Abschnitt diskutiert. 8.2.1.4
Eshelby-L¨ osung
Die wohl wichtigste analytische Grundl¨osung der Mikromechanik geht auf J. D. Eshelby (1916-1981) zur¨ uck. Betrachtet wird ein ellipsoidf¨ormiger Einschluß Ω im unendlichen Gebiet mit den Hauptachsen ai (Bild 8.5): (x1 /a1 )2 + (x2 /a2 )2 + (x3 /a3 )2 ≤ 1 . Unterliegt der Einschluß einer konstanten Eigendehnung εtkl = const, so ergibt sich hierf¨ ur die bemerkenswerte L¨osung, dass die Gesamtverzerrungen εkl innerhalb des Einschlusses Ω ebenfalls konstant sind. Sie h¨angen u ¨ber den vierstufigen Eshelby-Tensor Sijkl linear von den Eigendehnungen ab: εij = Sijkl εtkl = const
in Ω
.
(8.5)
Mit (8.4) lassen sich die in Ω dann ebenfalls konstanten Spannungen wie folgt darstellen σij = Cijmn (Smnkl − Imnkl ) εtkl = const in Ω , (8.6) wobei
1 Imnkl = (δmk δnl + δml δnk ) 2
(8.7)
229
Defekte und Grundl¨ osungen
x2
Ω
a2 a3
a1
x1
x3
Bild 8.5 Ellipsoid Ω im unendlichen Gebiet der symmetrische Einheitstensor vierter Stufe ist. Der Eshelby-Tensor ist symmetrisch in den vorderen und hinteren beiden Indizes, im allgemeinen jedoch nicht bez¨ uglich einer Vertauschung dieser Paare: Sijkl = Sjikl = Sijlk ,
Sijkl = Sklij .
(8.8)
Seine Komponenten h¨angen f¨ ur isotropes Material nur von der Querkontraktionszahl ν, den Hauptachsen ai und deren Orientierung bez¨ uglich des x1 , x2 , x3 −Koordinatensystems ab. Wegen der L¨ange der entsprechenden Ausdr¨ ucke verzichten wir hier auf ihre Darstellung und verweisen auf die Spezialliteratur (z.B. T. Mura, 1982). Außerhalb des Einschlusses Ω sind die Verzerrungs- und Spannungsfelder nicht konstant. Sie zeigen mit zunehmendem Abstand r vom Einschluß ein asymptotisches Abklingverhalten vom Typ εij , σij ∼ r −3 f u ¨r r → ∞, das dem eines Dilatationszentrums entspricht. Das Resultat von Eshelby (1957) gilt allgemein f¨ ur anisotropes Material, jedoch ist nur im Fall eines isotropen Materials eine geschlossene Darstellung des Tensors Sijkl und der Felder außerhalb von Ω m¨oglich. Die Eshelby-L¨osung f¨ ur ellipsoidf¨ormige Einschl¨ usse ist von fundamentaler Bedeutung f¨ ur analytische Homogenisierungsverfahren; wir werden in sp¨ateren Abschnitten intensiven Gebrauch von ihr machen. Vom allgemeinen Ellipsoid ausgehend lassen sich diverse Spezialf¨alle ableiten. So ergibt sich beispielsweise die zweidimensionale L¨osung f¨ ur einen unendlich langen elliptischen Zylinder im ebenen Verzerrungszustand durch den Grenz¨ ubergang a3 → ∞ (Bild 8.6). Das ¨außere Verzerrungs- und Spannungsfeld in der x1 , x2 -Ebene zeigt dann ein asymptotisches Verhalten von εij , σij ∼ r −2 f¨ ur r → ∞ . Die nichtverschwindenden Komponenten des Eshelby-Tensors bei iso-
230
Mikromechanik
x2 a3 = ∞ a2 a1
Ω
x1
x3
Bild 8.6 Elliptischer Zylinder tropem Material ergeben sich f¨ ur die Hauptachsenorientierung nach Bild 8.6 zu S1111
1 = 2(1 − ν)
S2211 S1212
a22 + 2a1 a2 a2 + (1 − 2ν) (a1 + a2 )2 a1 + a2
,
a21 + 2a1 a2 a1 , + (1 − 2ν) (a1 + a2 )2 a1 + a2 a22 1 a2 , = − (1 − 2ν) 2(1 − ν) (a1 + a2 )2 a1 + a2 a21 1 a1 , = − (1 − 2ν) 2(1 − ν) (a1 + a2 )2 a1 + a2 2 a1 + a22 1 1 − 2ν , = + 2(1 − ν) 2(a1 + a2 )2 2
S2222 = S1122
1 2(1 − ν)
(8.9)
ν ν 2a2 2a1 , S2233 = , 2(1 − ν) a1 + a2 2(1 − ν) a1 + a2 a2 a1 , S2323 = . = 2(a1 + a2 ) 2(a1 + a2 )
S1133 = S1313
F¨ ur einen kugelf¨ormigen Einschluß (ai = a) verschwindet bei isotropem Material die Abh¨angigkeit von den Hauptachsen und deren Orientierung (geometrische Isotropie), und der Eshelby-Tensor reduziert sich zu Sijkl = α
1 1 δij δkl + β ( Iijkl − δij δkl ) , 3 3
(8.10)
231
Defekte und Grundl¨ osungen
wobei α =
3K 1+ν = , 3(1 − ν) 3K + 4µ
β =
2(4 − 5ν) 6(K + 2µ) = 15(1 − ν) 5(3K + 4µ)
(8.11)
zwei skalare Parameter sind. Diese vollst¨andige (elastische und geometrische) Isotropie des Problems gestattet eine Aufspaltung der Verzerrungen (8.5) in den kugelsymmetrischen und deviatorischen Anteil, wodurch die Bedeutung der Parameter α und β deutlich wird: εkk = α εtkk ,
eij = β etij
in Ω .
(8.12)
Als einfaches Beispiel betrachten wir die thermische Expansion infolge einer konstanten Temperaturerh¨ohung ∆T in einem kugelf¨ormigen Bereich vom Radius a. Der Erw¨armung zugeordnet ist eine Eigendehnung r≤a k∆T δij , εtij = (8.13) 0 , r>a mit dem thermischen Ausdehnungskoeffizienten k. Nach (8.12) ergibt sich im Einschluß (r ≤ a) f¨ ur die Dehnungen εkk = 3αk ∆T , eij = 0 bzw. in Kugelkoordinaten (r, ϕ, ϑ) 1+ν k ∆T . (8.14) εr = εϕ = εϑ = 3(1 − ν) Die L¨osung außerhalb des Einschlusses (r > a) lautet εr = −2 8.2.1.5
1 + ν ) a *3 k ∆T , 3(1 − ν) r
εϕ = εϑ =
1 + ν ) a *3 k ∆T . 3(1 − ν) r
(8.15)
Defekt-Energien
Die auf der Mikroebene eines Materials vorliegenden Defekte wirken sich u ¨ber die von ihnen hervorgerufenen Spannungs- und Verzerrungsfelder auf den Energiehaushalt des Materials aus. Mit einer Defektentwicklung (z.B. Verschiebung oder Vergr¨oßerung) sind daher auch Energie¨anderungen verbunden, die wiederum durch die Wirkung verallgemeinerter (materieller) Kr¨afte (vgl. Abschnitt 4.6.5.2) erkl¨art werden k¨onnen. Von Bedeutung daf¨ ur sind Energieanteile, in denen die Wechselwirkung ¨außerer Felder und defektinduzierter Felder zum Ausdruck kommt. Im folgenden betrachten wir einen beliebigen Einschluß Ω in einem endlichen Gebiet V auf dessen Rand ∂V eine Last t0i wirke (Bild 8.7); Volumenkr¨afte seien vernachl¨assigbar. Aufgrund der Linearit¨at des Problems k¨onnen alle Felder additiv in einen Anteil infolge der ¨außeren Last (Index 0) und einen Anteil infolge
232
Mikromechanik
t0i
Ω
V
εtkl = 0
∂V
εtkl = 0
Bild 8.7 Einschluß Ω in berandetem Gebiet unter a¨ußerer Last der Eigendehnung εtij (x) des Einschlusses (ohne Index) aufgespalten werden. Das Gesamtpotential lautet damit 1 0 0 t Π = (σij + σij )(εij + εij − εij ) dV − t0i (u0i + ui ) dA 2 2 34 5 V ∂V εeij 1 1 σij0 ε0ij dV − t0i u0i dA + σij (εij − εtij ) dV (8.16) = 2 2 34 5 2V 34 ∂V 5 2V t 0 Π Π 1 + (σij0 (εij − εtij ) + σij ε0ij ) dV − t0i ui dA . 2 2V 34 5 2 ∂V 34 5 = 0 (∗) ΠW Das Verschwinden des mit (∗) bezeichneten Terms kann wie folgt gezeigt werden. Durch Einsetzen des Elastizit¨atsgesetzes werden zun¨achst die Terme im Integranden zusammengefaßt. Anwenden des Gaußschen Satzes liefert ein Randintegral sowie ein Volumenintegral, deren Integranden jeweils verschwinden, da Eigendehnungen alleine keine Spannungen auf ∂V hervorrufen (ti |∂V = 0) und die Gleichgewichtsbedingung σij,j = 0 erf¨ ullt ist: 1 [ε0kl Cijkl(εij − εtij ) + σij ε0ij ] dV = σij ε0ij dV (∗) = 2 34 5 2 V V σkl = ti u0i dA − σij,j u0i dV = 0 . ∂V
V
233
Defekte und Grundl¨ osungen
Der Anteil Π0 des Gesamtpotentials (8.16) ist die potentielle Energie infolge der ¨außeren Randlast allein und hier nicht weiter von Bedeutung. Die nur aus der Eigendehnung herr¨ uhrende Energie Πt wird auch als Selbstenergie des Defektes bezeichnet; sie l¨asst sich weiter umformen zu 1 1 1 1 Πt = σij (εij − εtij ) dV = σij εij dV − σij εtij dV = − σij εtij dV . 2 2 2 2 V V Ω 2 V 34 5 = 0, vgl. (∗) (8.17) Speziell f¨ ur einen ellipsoidf¨ormigen Einschluß im unendlichen Gebiet und eine konstante Eigendehnung ist auch die Spannung σij in Ω konstant. Dann vereinfacht sich Πt mit (8.6) weiter zu 1 1 Πt = − σij εtij VΩ = − Cijmn (Smnkl − Imnkl )εtij εtkl VΩ , 2 2
(8.18)
wobei VΩ das Einschlußvolumen bezeichnet. Die Wechselwirkungsenergie ΠW des Einschlusses ist definiert als ΠW = Π − 0 Π −Πt und somit gleich dem verbleibenden Term in (8.16). Dieser bringt die Arbeit der von den Eigendehnungen hervorgerufenen Verschiebungen an der ¨außeren Last zum Ausdruck; er l¨asst sich mit obigen Argumenten ebenfalls noch umformen: W 0 0 Π = − ti ui dA = − σij εij dV = − ε0ij Cijkl (εekl + εtkl ) dV 2 34 5 εkl V V ∂V ε0ij σij dV − σij0 εtij dV = − σij0 εtij dV . (8.19) = − 2 34 5 = 0, vgl. (∗) V
V
Ω
Bei konstanter Eigendehnung und homogener ¨außerer Belastung (σij0 = const) vereinfacht sich dies zu ΠW = −σij0 εtij VΩ . (8.20) Den Zusammenhang zwischen der Wechselwirkungsenergie und der auf einen Defekt wirkenden verallgemeinerten Kraft illustrieren wir am Beispiel eines Dilatationszentrums nach Abschnitt 8.2.1.1 im unberandeten Gebiet. Die Eigendehnung eines sich am Ort x = ξ befindenden Dilatationszentrums kann mit Hilfe der Diracschen Deltafunktion δ(.) auch als εtij (x) = q δ(x − ξ) δij
(8.21)
geschrieben werden, wobei q die Intensit¨at des Dilatationszentrums bezeichnet. Einsetzen in (8.19) liefert die Abh¨angigkeit der Wechselwirkungsenergie vom Ort
234
Mikromechanik
0 σjj
F
Bild 8.8 Verallgemeinerte Kraft auf Dilatationszentrum des Dilatationszentrums: 0 0 (x)δ(x − ξ) dV = −q σjj (ξ) . (8.22) ΠW (ξ) = − σij0 (x)εtij (x) dV = −q σjj V
V
0 Sie h¨angt danach nur vom hydrostatischen Anteil σjj des durch die a¨ußeren Lasten hervorgerufenen Feldes ab. In Analogie zu Abschnitt 4.6.5.2 bestimmen wir die verallgemeinerte Kraft F auf das Dilatationszentrum u ¨ber die bei seiner Verschiebung dξ freigesetzte Energie dΠ = −Fk dξk . Da sich im vorliegenden Fall eines unberandeten Gebietes bei einer Verschiebung des Dilatationszentrums nur die Wechselwirkungsenergie ¨andert, ergibt sich
Fk = −
0 ∂σjj (ξ) ∂ΠW =q . ∂ξk ∂ξk
(8.23)
Die verallgemeinerte Kraft auf ein Dilatationszentrum ist also proportional zum Gradienten des hydrostatischen Anteils des a¨ußeren Spannungsfeldes (Bild 8.8). Man kann dieses Beispiel auch als Modell f¨ ur die spannungsunterst¨ utzte Diffusion eines Zwischengitteratoms in einem Kristallgitter ansehen. Danach bewirkt die verallgemeinerte Kraft eine bevorzugte Wanderung des Zwischengitteratoms in Bereiche gr¨oßerer hydrostatischen Zugspannung, d.h. gr¨oßerer Abst¨ande zwischen den Gitteratomen. 8.2.2 8.2.2.1
Inhomogenit¨ aten Konzept der ¨ aquivalenten Eigendehnung
Wir wenden uns nun der zweiten Defektklasse zu, die nicht durch Eigendehnungen in einem homogenen Material sondern durch inhomogene, d.h. ortsabh¨angige Materialeigenschaften ausgezeichnet ist. Das Ziel ist es, solche Defekte zun¨achst
235
Defekte und Grundl¨ osungen
uˆi
uˆi
Cijkl (x)
0 = const = Cijkl
+
0 Cijkl = const
Bild 8.9
b)
uˆi
0 = const = Cijkl
ε∗ij
ε∗ij
∂V a)
V
V
V
V
d)
c)
a) Heterogenes Material, b) homogenes Vergleichsmaterial, c) ¨aquivalente Eigendehnung, d) homogenisiertes Ausgangsproblem
durch eine ¨aquivalente Eigendehnung in einem homogenen Ersatz- oder Vergleichsmaterial zu charakterisieren, um dann das Eshelby-Resultat auf inhomogene Materialien zu u ¨ bertragen. Dazu betrachten wir ein Gebiet V , dessen inhomogenes Stoffverhalten durch den ortsabh¨angigen Elastizit¨atstensor Cijkl (x) beschrieben sei und auf dessen Rand ∂V die Verschiebungen u ˆi vorgegeben sind (Bild 8.9a). Unter Vernachl¨assigung von Volumenkr¨aften wird dieses Randwertproblem beschrieben durch σij,j = 0 ,
σij = Cijkl(x) εkl ,
ui |∂V = uˆi .
(8.24)
Zus¨atzlich betrachten wir das geometrisch gleiche Gebiet V unter derselben Randbedingung jedoch nun f¨ ur ein homogenes Vergleichsmaterial mit den konstanten 0 elastischen Eigenschaften Cijkl (Bild 8.9b). Die bei diesem Problem vorliegenden Felder kennzeichnen wir mit dem Index 0: 0 σij,j =0,
0 σij0 = Cijkl ε0kl ,
u0i |∂V = uˆi .
(8.25)
Bildet man die Differenzfelder u˜i = ui − u0i ,
ε˜ij = εij − ε0ij ,
(8.26)
so folgt f¨ ur die Differenzspannung ) * 0 εkl − ε˜kl σ ˜ij = σij − σij0 = Cijkl (x) εkl − Cijkl 2 34 5 ε0ij 0 −1 0 0 = Cijkl ε˜kl + Cklmn [ Cmnpq (x) − Cmnpq ] εpq . 2 34 5 −ε∗kl
(8.27)
236
Mikromechanik
F¨ ur die Differenzfelder gelten demnach die Gleichungen ) * 0 ε˜kl − ε∗kl , u˜i |∂V = 0 . σ ˜ij = Cijkl σ ˜ij,j = 0 ,
(8.28)
0 mit EiDurch sie wird ein Randwertproblem f¨ ur ein homogenes Material Cijkl ∗ gendehnung εkl (x) und auf dem Rand ∂V verschwindenden Verschiebungen beschrieben (Bild 8.9c). Dabei wird 0 −1 0 ε∗ij = − Cijkl Cklmn (x) − Cklmn εmn (8.29)
als die zur Heterogenit¨at des Materials ¨aquivalente Eigendehnung bezeichnet. Unter Verwendung eines zun¨achst beliebigen homogenen Vergleichsmaterials wurde somit das urspr¨ ungliche komplexe Problem nach Bild 8.9a reduziert auf das leichter zu behandelnde Problem nach Bild 8.9d mit homogenem Material und einer Eigendehnungsverteilung. Diese h¨angt zwar immer noch vom Verzerrungsfeld des 0 Originalproblems ab, jedoch nur u in den ela¨ber die Abweichung Cijkl(x) − Cijkl stischen Eigenschaften. Diese Vorgehensweise, die man auch als eine Filterung bezeichnen kann, ist in mehrfacher Hinsicht von praktischer Bedeutung. So kennen wir schon Grundl¨osungen f¨ ur Eigendehnungsprobleme in homogenem Material, wie zum Beispiel die Eshelby’sche L¨osung, die nun formal auf materielle Inhomo0 genit¨aten u ¨bertragbar sind. Zum anderen bewirkt die Differenz Cijkl(x) − Cijkl 0 in (8.29) bei geeigneter Wahl von Cijkl, dass sich Fehler in der Approximation von εij (x) bei der L¨osung des Randwertproblems (8.28) geringer auswirken als im Ausgangsproblem (8.24). Die in (8.29) auftretende, auch als Spannungspolarisation bezeichnete Gr¨oße 0 τij (x) = Cijkl (x) − Cijkl εkl (x) (8.30) bringt diesen Zusammenhang zum Ausdruck. Sie beschreibt die Abweichung der “wahren” Spannung σij = Cijkl εkl von der Spannung, welche die “wahre” Verzerrung εkl im homogenen Vergleichsmaterial hervorrufen w¨ urde. Die Spannungspolarisation τij wird im Rahmen einer Variationsformulierung in Abschnitt 8.3.3.2 noch eine wichtige Rolle spielen. Die Methode der Subtraktion eines Randwertproblems f¨ ur homogenes (defektfreies) Material wurde im Prinzip schon in Abschnitt 4.4.1 bei der Aufspaltung in zwei Teilprobleme (Bild 4.9) angewandt. Die im dortigen Teilproblem (2) auftretende fiktive Rissbelastung kann auch als Eigenspannung, der Verschiebungssprung – wie wir noch sehen werden – auch als Eigendehnung interpretiert werden. Liegt zus¨atzlich zur Materialinhomogenit¨at Cijkl(x) auch noch eine “echte” Eigendehnung εtij (x) nach Abschnitt 8.2.1.3 vor, so f¨ uhrt die obige Vorgehensweise auf eine im homogenen Vergleichsmaterial wirksame ¨aquivalente Eigendehnung von ) * 0 −1 0 ε∗ij = − Cijkl Cklmn (x) − Cklmn εmn − Cklmn (x) εtmn . (8.31a)
237
Defekte und Grundl¨ osungen
Angesichts der h¨aufig auftretenden tensoriellen Ausdr¨ ucke werden wir uns im folgenden der leichterer Lesbarkeit halber neben der Indexnotation auch der symbolischen Schreibweise bedienen: σij , εij , Cijkl → σ, ε, C (vgl. Kapitel 1). In dieser Schreibweise nimmt beispielsweise Gleichung (8.31a) die folgende Form an: * ) (8.31b) ε∗ = −C 0 −1 : C(x) − C 0 : ε − C(x) : εt . Zur Unterscheidung vom Einheitstensor zweiter Stufe I wird der Einheitstensor vierter Stufe (8.7) durch das Symbol 1 dargestellt. Die Vertauschung des ersten und zweiten Indexpaares eines vierstufigen Tensors wird durch ein hochgestelltes T (Transposition) gekennzeichnet: Amnij Bmnkl = (AT : B)ijkl . 8.2.2.2
Ellipsoidf¨ ormige Inhomogenit¨ aten
Als wichtigen Spezialfall, der es uns gestattet, das Eshelby-Resultat anzuwenden, betrachten wir nun eine ellipsoidf¨ormige Materialinhomogenit¨at Ω in einer unendlich ausgedehnten Matrix (Bild 8.10a). Die jetzt st¨ uckweise konstanten Eigenschaften sind gegeben durch den Elastizit¨atstensor C I in Ω (Inhomogenit¨at) und C M in der umgebenden Matrix. Im Unendlichen sei das homogene Verzerrungsfeld ε0 = const vorgegeben. Als Vergleichsmaterial w¨ahlen wir das der Matrix, also C 0 = C M . Unter Verwendung von (8.26) und (8.29) ergibt sich damit die ¨aquivalente Eigendehnung in Ω zu * ) * ) 0 ε∗ (x) = − C −1 : ε ˜ (x) + ε . (8.32) : C − C I M M Außerhalb von Ω ist ε∗ = 0, so dass zur Bestimmung der Differenzverzerrung ε˜(x) in (8.28) das Eshelby-Resultat ε˜ = S : ε∗ = const
(8.33)
angewendet werden kann. Die hierf¨ ur vorausgesetzte Konstanz der Eigendehnungen wird durch Einsetzen von (8.33) in (8.32) best¨atigt. Aufl¨osen nach ε∗ liefert die ¨aquivalente Eigendehnung infolge einer im Unendlichen vorgegebenen konstanten Verzerrung ε0 (Bild 8.10b): -−1 0 , ε∗ = − S + ( C I − C M )−1 : C M :ε in Ω . (8.34) Mit (8.33) und (8.34) kann die Gesamtverzerrung ε = ε0 + ε˜ in der Inhomogenit¨at Ω in Abh¨angigkeit von der a¨ußeren Belastung ε0 als -−1 0 , : ( CI − CM ) : ε = const (8.35a) ε = 1 + S : C −1 M 2 34 5 ∞ AI ∞
geschrieben werden. Der Tensor vierter Stufe AI , welcher den Zusammenhang zwischen der Verzerrung ε in der Inhomogenit¨at und der a¨ußeren Belastung ε0
238
Mikromechanik
ε0
ε0 CM
CM CI
ε∗ = 0
=
ε∗ = 0 ε0
ε0
a) Bild 8.10
b) a) Ellipsoidf¨ormige Inhomogenit¨at, Eigendehnung
b) homogenes Material mit
herstellt, wird auch als Einflußtensor bezeichnet. Mit der Beziehung (8.35a) kann nun auch die in Ω ebenfalls konstante Spannung σ = C I : ε angegeben werden, die aus einer konstanten Belastung σ 0 = C M : ε0 im Unendlichen resultiert: ∞
: σ0 . σ = C I : AI : C −1 M
(8.35b)
Als konkretes Beispiel wollen wir σ f¨ ur eine kugelf¨ormige isotrope Inhomogenit¨at bestimmen, die sich in einer isotropen Matrix befindet. Dabei beschr¨anken ∞ wir uns auf den hydrostatischen Anteil. In (8.35b) bzw. in AI sind dann gem¨aß (8.11) nur S durch α(νM ) sowie C I und C M durch die Kompressionsmoduli 3KI bzw. 3KM zu ersetzen: −1 0 σii 3KI − 3KM σii = 3KI 1 + α in Ω . (8.36) 3KM 3KM ur Nach (8.11) ist α = 2/3 f¨ ur νM = 1/3. Mit diesen Werten folgt aus (8.36) f¨ eine “harte” Inhomogenit¨at (KI KM ) eine hydrostatische Spannung in Ω von σii ≈ 1.5 σii0 . F¨ ur eine “weiche” Inhomogenit¨at (KI KM ) ergibt sich dagegen σii σii0 . Außerhalb einer ellipsoidf¨ormigen Inhomogenit¨at sind die Spannungen und Verzerrungen nicht konstant. Die zum a¨quivalenten Eigendehnungsproblem (8.28) geh¨orenden Differenzfelder σ ˜ , ε˜, u ˜ zeigen dort das gleiche aymptotische Verhalten wie die in Abschnitt 8.2.1.4 diskutierte L¨osung des Einschlußproblems. 8.2.2.3
Hohlr¨ aume und Risse
Einen Sonderfall materieller Inhomogenit¨aten stellen Hohlr¨aume (Poren) und Risse in einem sonst homogenen Matrixmaterial dar. Man kann diese Bereiche for-
239
Defekte und Grundl¨ osungen
mal als Materialien mit verschwindender Steifigkeit ansehen. Es ist dann m¨oglich, durch Nullsetzen der Steifigkeit der Inhomogenit¨at (C I = 0) und geeignete Interpretation der dort vorliegenden Verzerrung (siehe auch Abschnitt 8.3.1.2) die f¨ ur allgemeine Inhomogenit¨aten gewonnenen Ergebnisse auf ellipsoidf¨ormige Poren sowie auf Risse als deren Grenzfall (eine verschwindende Halbachse) zu spezialisieren. Es ist jedoch anschaulicher, das Randwertproblem f¨ ur solche Defekte in homogenem Matrixmaterial unter konstanter Belastung im Unendlichen direkt zu behandeln. Es sind dann Randbedingungen auf dem Hohlraumrand oder Riss zu ber¨ ucksichtigen, wobei wir im folgenden annehmen wollen, dass diese R¨ander belastungsfrei sind. In Hinblick auf die sp¨ater ben¨otigten Gr¨oßen gen¨ ugt uns die Kenntnis der Verschiebungen auf dem jeweiligen Defektrand. Sie seien nachfolgend f¨ ur drei wichtige F¨alle angegeben. Die gesamten Spannungs- und Deformationsfelder k¨onnen bei Bedarf der Spezialliteratur entnommen werden (siehe z.B. H.G. Hahn, 1985). a) Kreisloch (2D) F¨ ur eine unendlich ausgedehnte isotrope Scheibe mit einem kreisf¨ormigen Loch vom Radius a unter konstanter Fernfeldbelastung σij0 (Bild 8.11a) lauten die Verschiebungen auf dem Lochrand (r = a) in Polarkoordinaten im ESZ a 0 0 0 σ11 (3 cos2 ϕ − sin2 ϕ) + σ22 ur (a, ϕ) = (3 sin2 ϕ − cos2 ϕ) + 8σ12 sin ϕ cos ϕ E (8.37) a 0 0 0 − σ11 uϕ (a, ϕ) = 4 sin ϕ cos ϕ + σ22 sin ϕ cos ϕ + σ12 ( cos2 ϕ − sin2 ϕ ) . E
0 σ22
0 σ33
0 σ22
0 σ23 0 σ13
x2 0 σ11
a
0 σ12
r ϕ x1
0 σ12
x2 −a
x3 x2 r x1 a
0 σ12
a
x1
0 σ11
0 σ11
0 σ12 0 σ22
a)
0 σ22
b)
c)
Bild 8.11 a) Kreisloch, b) gerader Riss, c) kreisf¨ormiger Riss (3D) b) Gerader Riss (2D) Auf einem geraden Riss der L¨ange 2a in einer unendlich ausgedehnten isotropen Scheibe im ESZ unter konstanter Belastung σij0 im Unendlichen (Bild 8.11b)
240
Mikromechanik
erf¨ahrt das Verschiebungsfeld einen Sprung ∆u. Er kann im x1 , x2 -Koordinatensystem wie folgt dargestellt werden (vgl. Abschnitt 4.4.1) ∆ui (x1 ) =
0 4 σi2 E
(
a2 − x21
(i, j = 1, 2) .
(8.38)
c) Kreisf¨ormiger (‘penny shaped’) Riss (3D) Der Verschiebungssprung u ¨ber einen kreisf¨ormigen Riss vom Radius a, dessen Normale mit der lokalen x3 -Richtung zusammenf¨allt (Bild 8.11c) lautet ∆ui (r) =
16(1 − ν 2 ) 0 √ 2 σ a − r2 πE(2 − ν) i3
(i = 1, 2) , (8.39)
8(1 − ν 2 ) 0 √ 2 σ33 a − r 2 ∆u3 (r) = πE mit r =
8.3
x21 + x22 .
Effektive elastische Materialeigenschaften
Wie bereits angesprochen besitzt ein makroskopisch scheinbar homogenes Material auf einer mikroskopischen Betrachtungsebene im allgemeinen eine heterogene Mikrostruktur. Wir wollen nun untersuchen, wie sich diese auf die u ¨bergeordnete Makroebene, d.h. auf einer gr¨oberen Skala, auswirkt. Dabei werden wir uns zur Beschreibung der Heterogenit¨at auf die zuvor betrachteten ausgew¨ahlten Inhomogenit¨aten bzw. Defekte beschr¨anken. Unter noch zu diskutierenden Voraussetzungen ist es m¨oglich, durch gedankliche Verschmierung der feinskaligen Heterogenit¨at das Material auf der Makroebene als homogen zu beschreiben und ihm ortsunabh¨angige effektive Eigenschaften zuzuordnen, in welche die Mikrostruk¨ tur in einem gemittelten Sinne eingeht. Dieser Mikro-Makro-Ubergang wird als Homogenisierung bezeichnet. Um effektive Materialeigenschaften handelt es sich beispielsweise bei dem an geeigneten Probek¨orpern gemessenen Elastizit¨atsmodul oder der Querkontraktionszahl von Stahl; in vielen technischen Anwendungen l¨asst sich durch diese einfachen makroskopischen Gr¨oßen das Verhalten des mikroskopisch a¨ußerst komplex aufgebauten Werkstoffs (anisotrope Kristallite, Korngrenzen, Versetzungen, etc.) hinreichend gut beschreiben. Nat¨ urlich ist die Messung von Materialeigenschaften nur sinnvoll, wenn das Ergebnis nicht vom konkreten Probek¨orper abh¨angt oder davon, ob der Versuch kraft- oder weggesteuert durchgef¨ uhrt wird. Der Probek¨orper muß repr¨asentativ f¨ ur das Material sein. Bei der theoretischen Bestimmung makroskopischer effektiver Materialeigenschaften aus einer gegebenen Mikrostruktur gelten analoge Anforderungen, auf die wir im folgenden genauer eingehen werden.
241
Effektive elastische Eigenschaften
8.3.1 8.3.1.1
Grundlagen Repr¨ asentatives Volumenelement (RVE)
Im Rahmen eines deterministischen und kontinuumsmechanischen Zugangs kann der Vorgang der Homogenisierung und die Rolle der makroskopischen und mikroskopischen Betrachtungsebenen mit ihren typischen Skalen anhand von Bild 8.12 veranschaulicht werden. An einem beliebigen Ort xmakro der Makroebene (z.B. eines Bauteils), auf der das Material als homogen, d.h. mittels ortsunabh¨angiger effektiver Eigenschaften beschrieben werden soll, wird durch Vergr¨oßerung (Mikroskop) die r¨aumlich ausgedehnte feinskalige Mikrostruktur sichtbar. l (Mikrostruktur) L x3 xmakro
∂V
x2 x1
V
d (RVE)
Cijkl (x)
(Homogenisierung) ∗ Cijkl
xmakro 3
L xmakro 2 xmakro 1
Bild 8.12 Homogenisierung und charakteristische L¨angen Wir nehmen an, dass das Materialverhalten auf der Mikroebene bekannt und linear elastisch ist. F¨ uhren wir dort ein zus¨atzliches Koordinatensystem ein, so kann die Mikrostruktur durch die Abh¨angigkeit des Elastizit¨atstensors Cijkl (x) von den Ortskoordinaten xi der Mikroebene beschrieben werden. Genau wie bei der Messung makroskopischer Materialeigenschaften am repr¨asentativen Probek¨orper betrachten wir einen Volumenbereich V der Mikroebene, der repr¨asentativ f¨ ur das gesamte Material sein soll. Anhand dieses Volumenbereichs werden dem Material u ¨ber einen HomogenisierungsProzess Makroeigenschaften in Form des r¨aumlich ∗ zugewiesen. Damit dieses Ergebnis konstanten effektiven Elastizit¨atstensors Cijkl makro ist, muß die Gesamtheit der durch Cijkl (x) beschriebenen unabh¨angig von x ∗ beitragenden mikrostrukturellen Details ebenfalls unabh¨angig vom und zu Cijkl Ort auf der Makroebene sein. Man sagt auch, als Voraussetzung einer Homogenisierung m¨ ussen die Defekte (Heterogenit¨aten) statistisch homogen im Material ∗ nicht von der Gr¨oße oder Form des gew¨ahlverteilt sein. Außerdem darf Cijkl
242
Mikromechanik
ten Volumenbereichs V abh¨angen. Bei einer regellosen Defektverteilung muß der Bereich V also eine hinreichend große Anzahl von Einzeldefekten enthalten und damit in seiner Abmessung d sehr viel gr¨oßer sein als eine charakteristische L¨ange l der Mikrostruktur. Letztere ist zum Beispiel durch die typische Gr¨oße oder den Abstand von Einzeldefekten gegeben (Bild 8.12). Wie die elastischen Eigenschaften Cijkl (x) mit dieser “Wellenl¨ange” l fluktuieren, so schwanken auch die Spannungs- und Verzerrungsfelder auf der Mikroebene. Andererseits muß der Volumenbereich V aber auch so klein sein, dass er auf der Makroebene n¨aherungsweise als Punkt angesehen werden kann (Bild 8.12). Eine charakteristische L¨ange L auf dieser Ebene ist gegeben durch die Geometrie, durch die r¨aumliche Variation der Belastung oder durch die sich im makroskopisch homogenen Material einstellenden Spannungs- und Verzerrungsfelder (“Makrofelder”). Damit in einer konkreten Situation die Wahl eines zur Homogenisierung geeigneten Volumenbereichs m¨oglich ist, m¨ ussen die charakteristischen L¨angen also die Voraussetzung ldL
(8.40)
erf¨ ullen. Der Bereich V wird dann als Repr¨asentatives Volumenelement (RVE) bezeichnet. Offensichtlich kann die beidseitige Einschr¨ankung von d nach (8.40) unter Umst¨anden die Existenz eines RVE und damit eine sinnvolle Homogenisierung ausschließen. Eine solche Situation liegt beispielsweise an einer makroskopischen Rissspitze vor, wo die Verzerrungen im homogenen Material singul¨ar werden, sich also u ußte ¨ber beliebig kleine L¨angen L stark ¨andern. Die Gr¨oße d eines RVE m¨ nach (8.40) unendlich klein werden und w¨ urde den notwendigen skalenm¨aßigen Abstand zur Mikrostruktur (l) jedes realen Materials verletzen. Man nimmt u ¨bli¨ cherweise an, dass dies erst in der Prozesszone (vgl. Abschnitt 4.1) erfolgt. Ahnliches gilt in der Mikrosystemtechnik, in der Bauteile oft so klein sind, dass klassische, anhand herk¨ommlicher (großer) Proben gemessene Materialeigenschaften nicht mehr zu ihrer Beschreibung verwendet werden k¨onnen. Diese Beispiele betreffen beide den rechten Teil der Ungleichung (8.40), den wir wie auch die statistische Homogenit¨at des Materials im folgenden als erf¨ ullt ansehen wollen. Den linken Teil der Ungleichung, n¨amlich die Bedingung f¨ ur die Mindestgr¨oße d eines RVE werden wir in Abschnitt 8.3.1.3 anhand des konkreten Homogenisierungsprozesses diskutieren, der quantitative Aussagen gestattet. Als praktische Anhaltswerte k¨onnen beispielsweise f¨ ur Keramiken und polykristalline Metalle d ≈ 0.1mm und f¨ ur Beton d ≈ 100mm angesehen werden (vgl. Bild 8.1). Besondere Vorsicht ist auch bei der Beschreibung sogenannter Gradientenmaterialien mit r¨aumlich ver¨anderlichen makroskopischen Eigenschaften geboten. Bei ihnen weist die Verteilung der mikrostrukturellen Details eine Ortsabh¨angigkeit auf, so dass die zur Definition effektiver Eigenschaften vorausgesetzte statistische Homogenit¨at der Mikrostruktur streng genommen nicht gegeben ist. Die Verwendung solcher effektiver Eigenschaften stellt daher nur eine pragmatische N¨aherung dar.
243
Effektive elastische Eigenschaften
Die Voraussetzung der statistischen Homogenit¨at einer lokal unregelm¨aßigen Defektverteilung er¨ ubrigt sich im Sonderfall einer streng periodischen Defektanordnung. Dann ist bereits eine Einheitszelle dieser Anordnung repr¨asentativ f¨ ur das gesamte heterogene Material. 8.3.1.2
Mittelungen
¨ Uber die Zweiskalenbetrachtung nach Bild 8.12 wird einem materiellen Punkt der Makroebene ein Volumenbereich V der Mikroebene zugeordnet; dort liegen Spannungen und Verzerrungen als fluktuierende (Mikro-) Felder vor. Die den mechanischen Zustand des makroskopischen Punktes beschreibenden Makrospannungen und -verzerrungen definieren wir als die Volumenmittelwerte 1 1
σij = σij (x) dV ,
εij = εij (x) dV (8.41) V V V
V
der mikroskopischen Felder und verwenden als Abk¨ urzung daf¨ ur das Klammersymbol · . Mit Hilfe des Gaußschen Satzes k¨onnen die Makrogr¨oßen (8.41) auch durch Integrale u uckt werden. ¨ber den Rand ∂V des Mittelungsbereichs ausgedr¨ Setzen wir voraus, dass keine Volumenkr¨afte auftreten, so gilt mit der Gleichgewichtsbedingung σik,k = 0 und xj,k = δjk f¨ ur die Spannungen zun¨achst die Identit¨at (xj σik ),k = xj,k σik + xj σik,k = σij . Einsetzen in (8.41) liefert f¨ ur die Makrospannungen die Darstellung 1 1 1
σij = (xj σik ),k dV = xj σik nk dA = ti xj dA . V V V V
∂V
F¨ ur die Makroverzerrungen ergibt sich 1 1 ( ui,j + uj,i ) dV = ( ui nj + uj ni ) dA .
εij = 2V 2V V
(8.42)
∂V
(8.43)
∂V
In (8.42) und (8.43) wurde stillschweigend die Differenzierbarkeit des Spannungs- und Verschiebungsfeldes und damit die Anwendbarkeit des Gaußschen Satzes in ganz V angenommen. Dies ist jedoch gerade im Fall heterogener Materialien mit sich sprungartig ¨andernden Eigenschaften nicht gegeben. Trotzdem gelten die Darstellungen (8.42) und (8.43) der Makrogr¨oßen durch Randintegrale ganz allgemein, d.h. unabh¨angig vom Stoffverhalten und auch f¨ ur Mikrostrukturen, die Hohlr¨aume oder Risse enthalten. Um dies zu zeigen, betrachten wir nach Bild 8.13a eine innere Grenzfl¨ache S, die im Volumenbereich V zwei Teilbereiche V1 und V2 mit unterschiedlichen Eigenschaften voneinander trennt und an der die
244
Mikromechanik
nj
nj
nj
nj V2
V1
VM
S
Bild 8.13
Γ+
S = ∂Vc VM ∂V
∂V
a)
nj nj Γ− ∂V
c)
b)
Volumenbereich V mit a) innerer Grenzfl¨ache S, c) Riss Γ = Γ+ + Γ−
b) Hohlraum,
Spannungen und Verschiebungen im allgemeinen nicht differenzierbar sind. Der Gaußsche Satz ist daher auf den Teilbereichen getrennt anzuwenden, wobei S einmal als Rand von V2 (¨außere Normale nj ) sowie als innerer Rand von V1 (¨außere Normale −nj ) auftritt. F¨ ur die Spannungen f¨ uhrt dies auf (2) (1) σij dV = σij dV + σij dV = ti xj dA + ( ti − ti ) xj dA (8.44) V
V1
V2
∂V
S
und f¨ ur den Verschiebungsgradienten auf (2) (1) ui,j dV = ui,j dV + ui,j dV = ui nj dA + ( ui − ui ) nj dA . (8.45) V
V1
V2
(1,2)
S
∂V
(1,2)
Darin sind ti und ui der Randspannungs- und der Randverschiebungsvektor (1) (2) (1) (2) in V1 und V2 entlang der Fl¨ache S. Wegen ti = ti und ui = ui an der Grenzfl¨ache verschwinden in (8.44) und (8.45) die Integrale u ¨ ber S. Die Darstellungen der Makrogr¨oßen
σij =
1 V
ti xj dA , ∂V
εij =
1 2V
( ui nj + uj ni ) dA
(8.46)
∂V
gelten daher auch bei unstetigem Materialverhalten. Da dies unabh¨angig vom konkreten Material und der Geometrie des Teilbereichs V2 gilt, umfaßt dieses Ergebnis auch den Sonderfall von Hohlr¨aumen, den man durch den Grenz¨ ubergang zu einer verschwindenden Steifigkeit des Materials in V2 erh¨alt (Bild 8.13b). ¨ Durch einen weiteren Ubergang S → Γ zu einem unendlich d¨ unnem Bereich V2 (Bild 8.13c) wird auch die Situation von Rissen abgedeckt. In vielen F¨allen besteht der Volumenbereich V aus n Teilvolumnia Vα (α = n 6 1, ..., n) mit den Volumenanteilen cα = Vα /V und cα = 1, in denen die elaα=1
stischen Eigenschaften C α jeweils konstant sind. Man spricht dann von einer
245
Effektive elastische Eigenschaften
Mikrostruktur aus diskreten Phasen, und es gilt
σ =
n 7
cα σα ,
α=1
n 7
cα εα ,
(8.47)
α=1
wobei
σα =
ε =
1 Vα
σ dV ,
εα =
Vα
1 Vα
ε dV
(8.48)
Vα
die Phasenmittelwerte der Spannungen und Verzerrungen sind. F¨ ur diese ist dann jeweils
σα = C α : εα in Vα . (8.49) F¨ ur eine Mikrostruktur, die nur Hohlr¨aume oder Risse enth¨alt, ist es zweckm¨aßig, die Makrogr¨oßen (8.46) in einer anderen Form darzustellen. Dazu bilden wir zun¨achst f¨ ur den Fall von Hohlr¨aumen die mittlere Verzerrung εij M des umgebenden Matrixvolumens VM = cM V . Unter Verwendung des Gaußschen Satzes erh¨alt man (vgl. Bild 8.13b) 1
εij M = (ui,j + uj,i) dV 2VM VM 1 1 = (ui nj + uj ni ) dA − (uinj + uj ni ) dA , 2VM 2VM ∂V
∂Vc
wobei ∂Vc den Hohlraumrand bezeichnet. Ersetzt man das erste Integral auf der rechten Seite durch (8.43), so ergibt sich f¨ ur die Makroverzerrung 1
εij = cM εij M + (uinj + uj ni ) dA . (8.50a) 2V ∂Vc 34 5 2
εij c F¨ ur Risse erh¨alt man daraus mit ∂Vc → Γ = Γ+ + Γ− (Bild 8.13c) und ∆ui = + ui − u− i den Zusammenhang 1
εij = cM εij M + (∆ui nj + ∆uj ni ) dA . (8.50b) 2V 2 Γ 34 5
εij c Die Makroverzerrung setzt sich im Fall von Hohlr¨aumen oder Rissen also zusammen aus der mittleren Matrixverzerrung sowie der Gr¨oße εc , die als die mittlere Verzerrung der Defektphase bezeichnet wird (c f¨ ur cavity oder crack):
ε = cM εM + εc .
(8.51)
246
Mikromechanik
Im Gegensatz dazu ist f¨ ur belastungsfreie L¨ocher und Risse die Makrospannung allein durch die mittlere Matrixspannung gegeben:
σ = cM σM .
(8.52)
F¨ ur ein Material, das ausschließlich Risse enth¨alt, ist der Volumenanteil der Matrixphase cM = 1. Ist das Matrixmaterial homogen mit C M = const , so ergibt sich mit σM = C M : εM und (8.47) sowie (8.50a)
σ = C M :
)
ε − εc
* bzw.
ε = C −1 : σ + εc . M
(8.53)
Nach dieser Darstellung kann εc auch als eine zus¨atzlich zur elastischen Matrixverzerrung auftretende Eigendehnung interpretiert werden. 8.3.1.3
Effektive elastische Konstanten
Analog zum Elastizit¨atsgesetz im Mikrobereich σij (x) = Cijkl (x) εkl (x)
(8.54)
∗ durch die Beziehung zwischen den Makroist der effektive Elastizit¨atstensor Cijkl spannungen und Makroverzerrungen (8.41) definiert: ∗ ε .
σij = Cijkl kl
(8.55)
∗ als Materialeigenschaft sind einige FordeAn die Interpretierbarkeit von Cijkl rungen gekn¨ upft. So ist es plausibel, die Gleichheit der mittleren Form¨anderungsenergiedichte U des Volumenbereichs V zu verlangen, wenn diese mittels der mikroskopischen oder makroskopischen Gr¨oßen gebildet wird: 1 1 ∗ ε .
U = εij Cijkl εkl = εij Cijkl kl 2 2
(8.56)
Diese auch als Hill-Bedingung (Hill, 1963) bezeichnete Forderung kann mit (8.54) und (8.55) in der Form
σij εij = σij εij
(8.57)
geschrieben werden. F¨ uhren wir die Fluktuationen σ˜ij (x) = σij (x) − σij und ε˜ij (x) = εij (x) − εij der Mikrofelder um ihre Mittelwerte ein, so folgt daraus
˜ σij ε˜ij = 0 .
(8.58)
247
Effektive elastische Eigenschaften
Die Spannungsschwankungen (Fluktuationen) d¨ urfen im Mittel also keine Arbeit an den Verzerrungsschwankungen leisten. Unter Verwendung des Gaußschen Satzes und der Gleichgewichtsbedingung σik,k = 0 kann dies durch Gr¨oßen auf dem Rand des Mittelungsbereichs ausgedr¨ uckt werden: ) * ) * 1 ui − εij xj σik − σik nk dA = 0 . (8.59) V ∂V
In dieser Form ist die Hill-Bedingung auch so zu interpretieren, dass die in einem heterogenen Material auf dem Rand eines RVE fluktuierenden Felder im energetischen Sinne gleichwertig sind zu ihren Mittelwerten (Bild 8.14). Wie bereits in Abschnitt 8.3.1.1 diskutiert, ist dies nur zu erwarten, wenn der Mittelungsbereich V eine hinreichend große Anzahl von Defekten enth¨alt. σ, ε
σ, ε
Bild 8.14 Auf dem RVE-Rand fluktuierende Mikrofelder und ihre Mittelwerte Um die Felder σij (x) und εij (x) in einem Volumenbereich V der Mikroebene tats¨achlich berechnen zu k¨onnen, ist die Gleichgewichtsbedingung σij,j = 0 und das Elastizit¨atsgesetz (8.54) durch Randbedingungen auf ∂V zu erg¨anzen, d.h. es ist ein Randwertproblem zu formulieren. Der heterogene Volumenbereich soll ¨aquivalent zu demselben Bereich aus homogenem (effektivem) Material sein und gleichzeitig auf der Makroebene einen Punkt repr¨asentiert, welcher nur homogene Spannungen und Verzerrungen “wahrnimmt”. Es liegt deshalb nahe, solche homogenen Zust¨ande auch als Randbedingungen auf ∂V vorzugeben. Dazu gibt es zwei M¨oglichkeiten: ui = ε0ij xj auf ∂V mit ε0ij = const . Hierf¨ ur folgt aus (8.43) mit xi nj dA = V δij das Ergebnis
a) lineare Verschiebungen:
∂V
εij = ε0ij b) uniforme Spannungen:
ti = σij0 nj
.
auf ∂V
(8.60a) mit σij0 = const .
248
Mikromechanik
Aus (8.42) erh¨alt man hierf¨ ur
σij = σij0
.
(8.60b)
F¨ ur einen beliebigen heterogenen Volumenbereich V sind danach vorgegebene homogene Randverzerrungen ε0ij gleich dem Volumenmittelwert der Verzerrungen. Analog sind vorgegebene homogene Randspannungen σij0 gleich dem Mittelwert der Spannungen in V , sofern dort keine Volumenkr¨afte wirken. Bei homogenem Material sind die beiden Typen von Randbedingungen ¨aquivalent und rufen in einem Volumenbereich homogene Felder hervor. Die Beziehungen (8.60a) und (8.60b) werden h¨aufig auch als ‘average strain theorem’ und ‘average stress theorem’ bezeichnet. Anhand von (8.59) sieht man, dass durch beide Typen von Randbedingungen die Hill-Bedingung identisch, d.h. unabh¨angig vom Bereich V erf¨ ullt wird. Dies ist nicht verwunderlich, da die aus der Hill-Bedingung folgende Ersetzbarkeit auf ∂V fluktuierender durch homogene Felder in den Randbedingungen (a) oder (b) bereits vorweg genommen wurde. Desweitern wird die Hill-Bedingung in der Form (8.57) bzw. (8.59) bei Zugrundelegung der Randbedingungen (a) oder (b) unabh¨angig von einer Verkn¨ upfung der Felder σij und εij erf¨ ullt. Sie kann daher (1) auf beliebige statisch zul¨assige Spannungsfelder σij und kinematisch zul¨assige (2) Verzerrungsfelder εij verallgemeinert werden: (1) (2)
(1)
(2)
σij εij = σij εij .
(8.61)
Dieser Zusammenhang, von dem wir sp¨ater wiederholt Gebrauch machen werden, folgt unter den Randbedingungen (a) oder (b) auch direkt aus dem allgemeinen Arbeitssatz (1.96). Aufgrund der Eindeutigkeit der L¨osungen von Randwertproblemen der linearen Elastizit¨atstheorie h¨angen die Felder im Gebiet V linear von der “Belastung”, d.h. von den Parametern ε0ij oder σij0 der Randbedingungen (a) oder (b) ab. Sie k¨onnen damit in der folgenden Form dargestellt werden: a)
εij (x) = Aijkl (x) ε0kl
fu ¨r
ui = ε0ij xj
auf ∂V ,
(8.62a)
b)
0 σij (x) = Bijkl (x) σkl
fu ¨r
ti = σij0 nj
auf ∂V .
(8.62b)
Darin sind Aijkl (x) bzw. Bijkl (x) die Komponenten sogenannter Einflußtensoren A(x) und B(x). Diese Einflußtensoren repr¨asentieren die vollst¨andige L¨osung des jeweiligen Randwertproblems und h¨angen von der Mikrostruktur im gesamten Volumenbereich V ab. Dabei erf¨ ullt Aijkl (x) bez¨ uglich seiner ersten beiden Indizes (genau wie εij ) die Kompatibilit¨atsbedingung (1.30). Entsprechend erf¨ ullt Bijkl (x) die Gleichgewichtsbedingung: Bijkl,j (x) = 0. Außerdem kann man durch
249
Effektive elastische Eigenschaften
Mittelung von (8.62a), (8.62b) u ¨ber V und unter Beachtung von (8.60a), (8.60b) erkennen, dass der Mittelwert dieser Funktionen der Einheitstensor (8.7) ist:
A = 1 ,
B = 1 .
(8.63)
F¨ ur den effektiven Elastizit¨atstensor C ∗ bzw. den effektiven Nachgiebigkeitstensor C ∗ −1 gelten nach (8.54) und (8.55) in symbolischer Schreibweise die Zusammenh¨ange C ∗ : ε = σ = C : ε
bzw. C ∗ −1 : σ = ε = C −1 : σ .
(8.64)
Sie f¨ uhren im Fall der Randbedingung (a) durch Einsetzen von (8.62a) auf die Darstellung (8.65a) C ∗ (a) = C : A und im Fall (b) mittels (8.62b) auf C ∗ (b) = C −1 : B−1 .
(8.65b)
Durch Einsetzen von (8.62a) und (8.62b) in den Energieausdruck (8.56) erh¨alt man damit die alternativen Darstellungen C ∗ (a) = AT : C : A
bzw.
C ∗ (b) = B T : C −1 : B−1 ,
(8.66)
aus denen die Symmetrie des effektiven Elastizit¨atstensors bez¨ uglich des ersten und des zweiten Indexpaares ersichtlich ist. Durch das hochgestellte (a) bzw. (b) soll hervorgehoben werden, dass diese u ¨ber einen zun¨achst beliebigen heterogenen Volumenbereich V gebildeten Mittelwerte im allgemeinen vom Typ der Randbedingungen auf ∂V abh¨angen. Deswegen kann man bei C ∗ (a) bzw. C ∗ (b) streng genommen noch nicht von effektiven Materialeigenschaften sprechen, da das gew¨ahlte Volumen V nicht von vornherein die Voraussetzungen eines RVE erf¨ ullen muß. Der Abstand zwischen C ∗ (a) und ∗ (b) C (im Sinn einer geeigneten Norm) kann als Maß f¨ ur die G¨ ute eines Mittelungsbereiches angesehen werden. Erst wenn der Bereich V so beschaffen ist, dass C ∗ (a) = C ∗ (b) = C ∗ , kann C ∗ als (eindeutige) makroskopische Materialeigenschaft interpretiert werden. Es versteht sich, dass dies auch f¨ ur jeden gr¨oßeren Bereich, der V enth¨alt gew¨ahrleistet sein muß. Eine wichtige Aufgabe der Mikromechanik ist es, mit Hilfe der in Abschnitt 8.2 vorgestellten Grundl¨osungen und geeigneten Approximationen explizite Darstellungen f¨ ur die Einflußtensoren A(x) oder B(x) und damit f¨ ur die Mikrofelder sowie die effektiven elastischen Konstanten herzuleiten. Wir werden dazu im folgenden Abschnitt eine Reihe unterschiedlicher Methoden diskutieren.
250 8.3.2 8.3.2.1
Mikromechanik
Analytische N¨ aherungsmethoden Allgemeines
Nach (8.65a) oder (8.65b) lassen sich die effektiven elastischen Konstanten C ∗ als die mit einem Einflußtensor (z.B. A(x)) gewichteten Mittelwerte der mikroskopischen elastischen Eigenschaften C(x) darstellen. F¨ ur eine reale Mikrostruktur ist jedoch weder die exakte Funktion C(x) bekannt, noch l¨asst sich im allgemeinen der zugeh¨orige Einflußtensor in geschlossener Form angeben. Man ist also bei der Modellierung der Mikrostruktur hinsichtlich der verf¨ ugbaren Information wie auch der Darstellung von Einflußtensoren auf geeignete Approximationen angewiesen. Es bietet sich an, sich zun¨achst auf Mikrostrukturen aus diskreten Phasen mit jeweils homogenen elastischen Eigenschaften gem¨aß (8.49) zu beschr¨anken, was f¨ ur viele Materialien tats¨achlich auch zutrifft (z.B. Polykristalle, Komposite). Unter Beachtung von (8.60a), (8.60b) folgt dann aus (8.62a), (8.62b) f¨ ur die Phasenmittelwerte bei vorgegebenen Makroverzerrungen ε = ε0 bzw. Makrospannungen σ = σ 0
εα = Aα : ε
σα = B α : σ
bzw.
(8.67)
mit Aα = Aα
und
B α = Bα .
(8.68)
Darin dr¨ ucken die konstanten Einflußtensoren Aα bzw. B α den u ¨ber das Volumen einer Phase α gebildeten Mittelwert eines Feldes in Abh¨angigkeit von der entsprechenden Makrogr¨oße aus. Aus (8.65a) und (8.65b) wird damit 9−1 8 n n 7 7 ∗ C (a) = c C :A bzw. C ∗ (b) = c C −1 : B , (8.69) α
α
α
α
α=1
wobei wegen
α
α
α=1 n 7 α=1
cα A α = 1 ,
n 7
cα B α = 1
(8.70)
α=1
zur Darstellung der effektiven elastischen Konstanten C ∗ nur die Einflußtensoren Aα oder B α von n − 1 Phasen ben¨otigt werden. Der Einfachheit halber werden wir uns im folgenden auf ein zweiphasiges Material beschr¨anken; die diskutierten Methoden gelten jedoch allgemein. Bezeichnen wir die eine Phase als Matrix (M) und die andere als Inhomogenit¨at (I), so folgt aus (8.69) und (8.70) C ∗ (a) = C M + cI ( C I − C M ) : AI bzw.
/−1 . C ∗ (b) = C −1 + cI ( C −1 − C −1 ) : BI . M I M
(8.71a)
(8.71b)
251
Effektive elastische Eigenschaften
Diese Beziehungen sind nicht unmittelbar auf den Spezialfall einer homogenen Matrix anwendbar, die als zweite “Phase” Hohlr¨aume oder Risse enth¨alt. In diesem Fall dr¨ ucken wir die lineare Abh¨angigkeit der in (8.50a), (8.50b) definierten mittleren Hohlraum- oder Rissverzerrung εc von den jeweils vorgegebenen Makrogr¨oßen ε0 bzw. σ 0 durch Einflußtensoren D und H aus:
εc = D : ε f u ¨r ε = ε0
,
εc = H : σ f u ¨r σ = σ 0 .
(8.72)
Mit (8.53) ergibt sich dann aus (8.64) f¨ ur die effektiven elastischen Konstanten C ∗ (a) = C M : (1 − D)
, -−1 C ∗ (b) = C −1 +H . M
bzw.
(8.73)
In Anbetracht der Tatsache, dass Hohlr¨aume und Risse eine Reduktion der effektiven Steifigkeit eines Materials bewirken, kann der Einflußtensor D auch als Sch¨adigungsmaß interpretiert werden (vgl. Kapitel 9), w¨ahrend H eine zus¨atzliche Nachgiebigkeit beschreibt. Im folgenden werden wir einige Approximationen, Modelle und Methoden diskutieren, die eine n¨aherungsweise Bestimmung effektiver elastischer Eigenschaften erlauben. 8.3.2.2
Voigt- und Reuss-Approximation
In einem homogenen Material folgen aus den Randbedingungen (8.60a) oder (8.60b) homogene Spannungen und Verzerrungen. F¨ ur einen heterogenen Volumenbereich besteht daher die einfachste N¨aherung darin, in Einklang mit den Randbedingungen (a) oder (b) je eines der Mikrofelder als konstant zu approximieren. Setzt man nach Voigt (1889) die Verzerrungen in V als konstant an (ε = ε = const), so folgt aus (8.62a) f¨ ur den Einflußtensor A = 1. Nach (8.65a) bzw. (8.69) wird der effektive Elastizit¨atstensor in diesem Fall durch den Mittelwert der Steifigkeiten angen¨ahert: C ∗(Voigt) = C =
n 7
cα C α .
(8.74a)
α=1
Analog dazu geht der Ansatz von Reuss (1929) von einem konstanten Spannungsfeld aus (σ = σ = const), was der Approximation B = 1 in (8.62b) entspricht. Dies f¨ uhrt nach (8.65b) bzw. (8.69) als N¨aherung f¨ ur den effektiven Nachgiebigkeitstensor auf die mittlere Nachgiebigkeit ∗ −1 = C −1 = C (Reuss)
n 7 α=1
cα C −1 . α
(8.74b)
252
Mikromechanik
F¨ ur den Sonderfall diskreter Phasen aus isotropem Material ergeben sich daraus f¨ ur den effektiven Kompressions- und Schubmodul die N¨aherungen ∗ K(Voigt) =
n 7
n 7
∗ µ(Voigt) =
c α Kα ,
α=1
bzw. ∗ −1 = K(Reuss)
cα µ α
(8.75a)
α=1
n 7 cα , Kα α=1
−1 µ∗(Reuss) =
n 7 cα . µ α=1 α
(8.75b)
Man beachte, dass danach das makroskopische Verhalten immer als isotrop approximiert wird, obwohl in Wirklichkeit eine Anisotropie aufgrund der geometrischen Anordnung der Phasen vorliegen kann (z.B. faserverst¨arkte Materialien). Im Fall einer Matrix mit Hohlr¨aumen oder Rissen f¨ uhrt die verschwindende Steifigkeit bzw. unendliche Nachgiebigkeit dieser Defektphase auf die Voigt- und Reuss-Approximationen C ∗(Voigt) = cM C M
C ∗(Reuss) = 0 .
bzw.
(8.76)
Ist hingegen eine der Phasen starr (z.B. C I → ∞), so erh¨alt man ∗ C (Voigt) →∞
bzw.
C ∗(Reuss) =
1 C . cM M
(8.77)
Die Approximation effektiver elastischer Eigenschaften durch die mittleren Steifigkeiten bzw. mittleren Nachgiebigkeiten wird gelegentlich auch als “Mischungsregel” bezeichnet. Sie ist nur in den eindimensionalen Sonderf¨allen einer “Parallelschaltung” unterschiedlicher Materialien (Voigt) oder einer “Reihenschaltung” (Reuss) exakt. Im allgemeinen wird bei Annahme konstanter Verzerrungen das lokale Gleichgewicht (z.B. an Phasengrenzen) und bei konstanten Spannungen die Kompatibilit¨at der Deformation verletzt. Neben diesem offensichtlichen Defizit haben die einfachen Ans¨atze von Voigt und Reuss jedoch den Vorteil, dass die resultierenden Approximationen exakte Schranken f¨ ur die tats¨achlichen effektiven elastischen Konstanten eines heterogenen Materials darstellen. In Abschnitt ∗ ∗ ∗ 8.3.3.1 werden wir zeigen, dass K(Reuss) ≤ K ∗ ≤ K(Voigt) , µ(Reuss) ≤ µ∗ ≤ µ∗(Voigt) gilt. Da die Voigt- und Reuss-Approximationen h¨aufig sehr weit auseinander liegen, besteht ein pragmatischer Verbesserungsansatz zur Bestimmung der effektiven Konstanten in der Verwendung der Mittelwerte K∗ ≈
/ 1 . ∗ ∗ K(Reuss) + K(Voigt) , 2
µ∗ ≈
/ 1 . ∗ ∗ µ(Reuss) + µ(Voigt) . 2
(8.78)
Effektive elastische Eigenschaften
8.3.2.3
253
Wechselwirkungsfreie (“d¨ unne”) Defektverteilung
Mit Hilfe der in Abschnitt 8.2.2 bereitgestellten exakten Grundl¨osungen ist es m¨oglich, mikromechanische Modelle zu entwickeln, die sowohl das lokale Gleichgewicht als auch die Kompatibilit¨at der Deformation gew¨ahrleisten. Wir betrachten dabei ein zweiphasiges Material bestehend aus einer homogenen Matrix mit C M = const, die nur eine Sorte jeweils gleicher Defekte (die 2. Phase) enth¨alt. In Hinblick auf die verf¨ ugbaren Grundl¨osungen werden diese entweder als ellipsoidf¨ormige elastische Inhomogenit¨aten mit C I = const, als Kreisl¨ocher (2D) oder als gerade (2D) bzw. kreisf¨ormige (3D) Risse approximiert. Die einfachste Situation liegt vor, wenn die Inhomogenit¨aten bzw. Defekte so “d¨ unn” in einer homogenen Matrix verteilt sind, dass ihre Wechselwirkung untereinander oder mit dem Rand des betrachteten Volumenbereichs (RVE) vernachl¨assigt werden kann (‘dilute distribution’). Nach Bild 8.15 kann dann jeder Defekt als allein in einem unendlichen Gebiet unter der Wirkung eines homogenen Feldes ε0 = ε oder σ 0 = σ betrachtet werden. Die charakteristischen Abmessungen der Defekte m¨ ussen dazu klein sein im Vergleich zu ihren Abst¨anden untereinander und zum Rand des RVE. Die unter dieser Idealisierung gewonnenen L¨osungen sind selbst zwar nur f¨ ur sehr kleine Volumenanteile (cI 1) g¨ ultig; sie bilden jedoch den Ausgangspunkt f¨ ur wichtige Verallgemeinerungen.
ε0 bzw. σ 0
ε0 bzw. σ 0
∂V
Bild 8.15 Modell der d¨ unnen Defektverteilung a) Ellipsoidf¨ormige Inhomogenit¨aten Im Fall einer ellipsoidf¨ormigen Inhomogenit¨at Ω ist nach Abschnitt 8.2.2.2 die Verzerrung in der Inhomogenit¨at konstant (ε = I in Ω) und u ¨ber den in ∞ (8.35a) eingef¨ uhrten Einflußtensor AI gegeben. Nach (8.71a) lautet also der effektive Elastizit¨atstensor f¨ ur ein Material mit d¨ unn verteilten ellipsoidf¨ormigen Inhomogenit¨aten gleicher Orientierung, gleicher Achsenverh¨altnisse und dem Volumenanteil cI ∞ ∗ (a) C (DD) = C M + cI ( C I − C M ) : AI , (8.79a)
254
Mikromechanik
wobei (DD) f¨ ur ‘dilute distribution’ steht. Einsetzen von (8.35a) f¨ uhrt auf die Darstellung , -−1 ∗ (a) C (DD) = C M + cI ( C I − C M ) : 1 + S M : C −1 : (C I − C M ) (8.79b) M mit dem vom Matrixmaterial abh¨angigen Eshelby-Tensor S M . Liegen mehrere Sorten von ellipsoidf¨ormigen Inhomogenit¨aten mit z.B. unterschiedlicher Orientierung vor, so ist von (8.69) auszugehen, wobei die individuellen Einflußtensoren ∞ Aα dann u ¨ber den Eshelby-Tensor die jeweilige Orientierung der Ellipsoide wiederspiegeln. In (8.79a,b) kommt durch das hochgestellte (a) zum Ausdruck, dass dieses Resultat nur f¨ ur den Fall (a) vorgegebener Makroverzerrungen gilt. Wertet man das Modell der d¨ unnen Defektverteilung f¨ ur vorgegebene Makrospannungen (b) aus, ∗ (a) so kommt man bei endlichem Volumenanteil cI zu einem von C (DD) abweichenden Ergebnis. Im Gegensatz zur Voigt- oder Reuss-Approximation ist das durch (8.79a,b) beschriebene effektive Stoffverhalten auch bei isotropem Material der beiden Phasen im allgemeinen anisotrop aufgrund einer im Eshelby-Tensor ber¨ ucksichtigten m¨oglichen Vorzugsorientierung der Ellipsoide. Im Sonderfall kugelf¨ormiger isotroper Inhomogenit¨aten in einer isotropen Matrix ist auch das makroskopische (effektive) Verhalten isotrop, und (8.79b) kann mit (8.10) bzw. (8.12) in den volumetrischen und den deviatorischen Anteil aufgespalten werden: ∗ K(DD) = KM + c I
(KI − KM ) KM , KM + α (KI − KM ) (8.80)
∗ = µ M + cI µ(DD)
(µI − µM ) µM . µM + β (µI − µM )
Entsprechend dem Modell einer Matrix mit d¨ unn verteilten Inhomogenit¨aten ergeben sich die effektiven elastischen Konstanten aus denen der Matrix und einem (kleinen) in cI linearen Zusatzterm. Die Parameter α und β des Eshelby-Tensors h¨angen nach (8.11) von der Querkontraktionszahl νM = (3KM −2µM )/(6KM +2µM ) und damit von beiden Moduli KM und µM des Matrixmaterials ab. Sie bewirken daher eine Kopplung der Kompressions- und Schubsteifigkeit. Der effektive Elastizit¨atsmodul kann aus E ∗ = 9K ∗ µ∗ /(3K ∗ + µ∗ ) bestimmt werden. Wir betrachten abschließend noch den Spezialfall starrer kugelf¨ormiger Inhomogenit¨aten (KI , µI → ∞) in einer inkompressiblen Matrix (KM → ∞). Mit dem Wert β = 2/5 aus (8.11) f¨ uhrt (8.80) auf ein makroskopisch inkompressibles Material mit 5 ∗ µ(DD) = µM 1 + cI . (8.81) 2 Beachtet man die Analogie zwischen der linearen Elastizit¨atstheorie und einem Newtonschen (linear viskosen) Fluid, so entspricht dieses Resultat genau der von
255
Effektive elastische Eigenschaften
A. Einstein (1906) gefundenen Beziehung f¨ ur die effektive Viskosit¨at einer Suspension aus einem z¨ahen Fluid und starren Partikeln. b) Kreisl¨ocher (2D) Als zweiten Anwendungsfall des Modells der d¨ unnen Defektverteilung behandeln wir eine unendlich ausgedehnte isotrope Scheibe im ESZ mit Kreisl¨ochern vom Radius a (Bild 8.16). Aufgrund der vernachl¨assigten Wechselwirkung erh¨alt man die mittlere Verzerrung εij c jedes einzelnen Loches bei homogener ¨außerer Belastung σij0 mittels (8.50a) durch Integration der Grundl¨osung (8.37) u ¨ ber den Lochrand: 2π 1
εij c = ( uinj + uj ni ) a dϕ . (8.82) 2A 0
Darin sind u1 = ur cos ϕ − uϕ sin ϕ , u2 = ur sin ϕ + uϕ cos ϕ , n1 = cos ϕ , n2 = sin ϕ. In diesem zweidimensionalen Problem erfolgt die Mittelung u ¨ ber die Fl¨ache A der Scheibe, so dass statt des Fl¨achenintegrals in (8.50a) nur ein Kurvenintegral auszuwerten ist. 0 σ22
0 σ12
a
0 σ11
0 σ11
0 σ12
x2 0 σ22
x1
Bild 8.16 Scheibe mit Kreisl¨ochern Aus dem Zusammenhang (8.72) zwischen mittlerer Lochverzerrung und ¨außerer ∞ Belastung σ 0 ergibt sich der zus¨atzliche Nachgiebigkeitstensor H , mit dem nach (8.73) der effektive Elastizit¨atstensor bei d¨ unner Defektverteilung dargestellt werden kann: ∞ -−1 ∗ (b) , C (DD) = C −1 +H . (8.83) M Die nichtverschwindenden Komponenten von H ∞
∞
∞
∞
H1111 = H2222 =
3c , E
∞
lauten
∞
∞
H1122 = H2211 = −
c , E (8.84)
∞
∞
H1212 = H2121 = H1221 = H2112
4c = E
256
Mikromechanik
mit dem Fl¨achenanteil c = πa2 /A der L¨ocher und dem Elastizit¨atsmodul E −1 −1 des Matrixmaterials. Mit C1111 = 1/E und C1212 = 1/2µ lassen sich daraus der effektive Elastizit¨ats- und Schubmodul ableiten: E 4c ∗ = E ≈ E (1 − 3c) , µ∗ = E(DD) ≈ µ (1 − ) . (8.85) (DD) 1 + 3c 2(1 + ν + 4c) 1+ν Wie zu erwarten nehmen beide Steifigkeiten mit wachsendem Lochanteil ab. c) Gerade Risse (2D) Genau wie beim Kreisloch l¨asst sich f¨ ur einen geraden Riss der L¨ange 2a dessen mittlere Verzerrung gem¨aß (8.50b) bei homogener a¨ußerer Belastung aus der Grundl¨osung (8.38) ermitteln (vgl. Bild 8.11b):
ε11 c = 0
ε12 c =
ε22 c =
1 2A 1 A
a ∆u1 (x1 ) dx1 = −a
a
∆u2 (x1 ) dx1 = f −a
a2 π 0 π 0 σ = f σ12 A E 12 E
(8.86)
2π 0 σ . E 22
Dem Volumen- oder Fl¨achenanteil eines Defektes entsprechend wurde hier der Rissdichteparameter f = a2 /A eingef¨ uhrt, der wegen der vorausgesetzten d¨ unnen Verteilung klein sein muß: f 1. Die nichtverschwindenden Komponenten des zus¨atzlichen Nachgiebigkeitstensors lauten damit π 2π ∞ ∞ ∞ ∞ ∞ H1212 = H2121 = H1221 = H2112 = f , H2222 = f . (8.87) E E F¨ ur eine Scheibe aus homogenem isotropem Material, die parallele Risse der einheitlichen L¨ange 2a enth¨alt (Bild 8.17a), ergeben sich nach (8.83) die effektiven elastischen Konstanten E E1∗(DD) = E , ≈ E (1 − 2πf ) , E2∗(DD) = 1 + 2πf (8.88) πf E µ∗12 (DD) = ≈ µ (1 − ). 2(1 + ν + πf ) 1+ν Aufgrund der ausgezeichneten Rissorientierung ist das effektive Materialverhalten hier anisotrop mit einer normal zu den Rissen geringeren Steifigkeit. Liegen die Risse hingegen mit statistisch gleichverteilten Orientierungen vor (Bild 8.17b), so kann im Rahmen des Modells der d¨ unnen Verteilung der zus¨atzliche Nachgiebigkeitstensor (8.87) der Einzelbeitr¨age u ¨ber alle Orientierungen gemittelt werden zu 2π 1 π ∞ ∞ ∞ ∞ ∞ ∞ Hijkl = Hi j k l (ϕ) dϕ ; H1111 = H1212 = H2121 = H2222 = f . (8.89) 2π E 0
257
Effektive elastische Eigenschaften
0 σ22
0 σ22
0 σ11
0 σ11
2a
0 σ12
ϕ
2’
2’
0 σ12
0 σ12
0 σ11
1’
ϕ ϕ 1’
x2
x2 a)
1’
2’
0 σ12
0 σ22
x1
b)
x1
0 σ22
Bild 8.17 a) Parallele und b) statistisch gleichverteilte Rissorientierung Da das Material dann auch makroskopisch keine ausgezeichnete Richtung besitzt, ist das effektive Verhalten isotrop mit ∗ = E(DD)
E ≈ E (1 − πf ) , 1+πf
µ∗(DD) =
πf E ≈ µ (1 − ). 2(1+ν +πf ) 1+ν
(8.90)
d) Kreisf¨ormige (‘penny shaped’) Risse (3D) Mit der gleichen Vorgehensweise wie zuvor erh¨alt man aus der Grundl¨osung (8.39) f¨ ur einen kreisf¨ormigen Riss vom Radius a im unendlichen Gebiet unter der Belastung σij0 den zus¨atzlichen Nachgiebigkeitstensor aus (8.50b) und (8.72). Im lokalen Koordinatensystem mit der Rissnormalen in x3 -Richtung lauten dessen nichtverschwindende Komponenten ∞
H3333 = f
16(1 − ν 2 ) , 3E
∞
∞
H1313 = H2323 = f
32(1 − ν 2 ) , 3E(2 − ν)
(8.91)
wobei der Rissdichteparameter nun (3D) durch f = a3 /V definiert ist. Damit ergeben sich die effektiven elastischen Konstanten eines Materials, das aus einer isotropen Matrix mit d¨ unn verteilten parallelen und gleich großen Rissen besteht, zu E ∗ ∗ E1∗(DD) = E2∗(DD) = E , ν12 µ12 , (DD) = ν , (DD) = µ = 2(1 + ν) E3∗(DD) =
3E , 3 + f 16(1 − ν 2 )
µ∗13 (DD) = µ∗23 (DD)
−1 16(1 − ν) =µ 1+f , 3(2 − ν)
(8.92)
258
Mikromechanik
−1 16(1 − ν 2 ) 16(1 − 2ν)(ν 2 − 1) ∗ ∗ 1 + f ν13 = ν = ν 1 + f . (DD) 23 (DD) 3ν(2 − ν) 3 ∗ ∗ angig voneinander Man beachte, dass E1∗(DD) , ν12 (DD) und µ12 (DD) nicht unabh¨ sind und durch alleine 2 Konstanten gegeben sind. Das damit durch insgesamt 5 unabh¨angige Gr¨oßen charakterisierte makroskopische Materialverhalten weist Isotropie in der x1 , x2 -Ebene auf und besitzt mit der x3 -Achse (Rissnormale) eine ausgezeichnete Richtung. Diese Art der Anisotropie wird als Transversalisotropie bezeichnet (vgl. (1.41), (1.42)). Bei gleichh¨aufigem Auftreten aller m¨oglichen Rissorientierungen ist das makroskopische Verhalten wieder isotrop. Die Mittelung ∞
Hijkl
1 = 4π
2π π
∞
Hi j k l (ϕ, ϑ) cos ϑ dϑ dϕ 0
0
von (8.91) u ¨ber alle Raumrichtungen liefert ∞
∞
∞
∞
∞
∞
∞
∞
∞
H1111 = H2222 = H3333 =
f 16(1 − ν 2 )(10 − 3ν) E 45(2 − ν)
H1122 = H2233 = H3311 = − H1212 = H2323 = H3131 =
f 16ν(1 − ν 2 ) E 45(2 − ν)
(8.93)
f 32(1 − ν 2 )(5 − ν) , E 45(2 − ν)
woraus die effektiven Elastizit¨atskonstanten −1 2 16(1 − ν 2 )(10 − 3ν) ∗ = E 1 + f 16(1 − ν )(10 − 3ν) E(DD) , ≈E 1−f 45(2 − ν) 45(2 − ν) ∗ µ(DD)
−1 32(1 − ν)(5 − ν) 32(1 − ν)(5 − ν) =µ 1+f ≈µ 1−f 45(2 − ν) 45(2 − ν)
(8.94)
folgen. 8.3.2.4
Mori-Tanaka-Modell
Die Approximation einer d¨ unnen, wechselwirkungsfreien Defektverteilung ist gleichbedeutend mit der Annahme, dass in hinreichendem Abstand von einem Defekt n¨aherungsweise das konstante Verzerrungs- bzw. Spannungsfeld ε0 bzw. σ 0 der vorgegebenen ¨außeren Belastung wirkt. Diese Annahme ist ein erster Ansatzpunkt zu einer Verfeinerung des Modells in Hinblick auf die Ber¨ ucksichtigung
259
Effektive elastische Eigenschaften
der Wechselwirkung von Defekten und damit ihres endlichen Volumenanteils. Im Mori-Tanaka-Modell (1973) wird dazu das Verzerrungs- oder Spannungsfeld in der Matrix in hinreichend großem Abstand von einem Defekt durch den Mittelwert εM bzw. σM approximiert (Bild 8.18). Die Belastung eines jeden Defektes h¨angt somit u ¨ ber die mittlere Matrixverzerrung εM bzw. Matrixspannung σM vom Vorhandensein weiterer Defekte ab. Allerdings wird bei dieser Wechselwirkung die Fluktuation der Felder vernachl¨assigt.
ε0 bzw. σ 0
εM bzw. σM
∂V
Bild 8.18 Defektwechselwirkung bei Mori-Tanaka-Modell Durch die idealisierte Betrachtung eines einzelnen Defektes in einer unendlich ausgedehnten Matrix unter einer homogenen effektiven Belastung εM bzw. σM entspricht das Mori-Tanaka-Modell formal dem der d¨ unnen Verteilung (vgl. Bild ∞ ∞ 8.15) und gestattet die Verwendung der bereits bekannten Tensoren AI und H zur Beschreibung der mittleren Defektverzerrung: ∞
εI = AI : εM
bzw.
εc = H
∞
: σM .
(8.95)
Zur Darstellung der effektiven Materialeigenschaften wird die mittlere Defektverzerrung in Abh¨angigkeit von den Makrogr¨oßen ε = ε0 bzw. σ = σ 0 ben¨otigt (vgl. (8.67)); wir eliminieren daher die Matrixgr¨oßen εM und σM . Mit ε = cM εM + cI εI f¨ uhrt (8.95) im Fall ellipsoidf¨ormiger Inhomogenit¨aten auf εI = AI (MT) : ε, wobei , -−1 -−1 , ∞ AI (MT) = cI 1 + cM AI −1 = 1 + cM S M : C −1 : (C I − C M ) M
(8.96a)
der Einflußtensor des Mori-Tanaka-Modells ist. Bei Hohlr¨aumen und Rissen geht (8.95) mit σ = cM σM in εc = H (MT) : σ u ¨ber mit dem zus¨atzlichen Nachgiebigkeitstensor 1 ∞ H (MT) = H . (8.96b) cM
260
Mikromechanik
Als effektive elastische Konstanten erh¨alt man damit nach (8.71a) bzw. (8.73) f¨ ur die beiden Defektklassen C ∗(MT) =
⎧ ⎨ C M + cI ( C I − C M ) : AI (MT) -−1 ⎩ , −1 C M + H (MT)
(Ellipsoide) .
(8.97)
(Hohlr¨aume, Risse)
Aus den Gleichungen (8.96a) und (8.97) erkennt man, dass das Mori-TanakaModell – im Gegensatz zum Modell der d¨ unnen Verteilung – die Grenzf¨alle cI = 0 und cI = 1 (homogenes Material) korrekt wiedergibt, formal also bei beliebigem Volumenanteil cI anwendbar ist. Allerdings kann die Grundannahme (Defekt in homogenem Feld) nur bei kleinen oder großen Werten von cI erf¨ ullt werden. Im letzteren Fall u ¨ bernimmt dann die Inhomogenit¨at die Rolle der Matrix. Bei Hohlr¨aumen liefern (8.96b) und (8.97) einen makroskopischen Verlust ∗ der Tragf¨ahigkeit des Materials (C (MT) → 0) f¨ ur den Grenzfall cM → 0, der jedoch unrealistisch ist. Man kann zeigen, dass die auf dem Mori-Tanaka-Modell basierenden Approximationen f¨ ur die effektiven Eigenschaften eines Materials unabh¨angig vom Typ der vorgegebenen Makrogr¨oßen ε0 oder σ 0 sind. F¨ ur einen kleinen Defektvolumenanteil (cI 1) gehen sie asymptotisch in die Ergebnisse der d¨ unnen Verteilung u ¨ber. Im Sonderfall einer isotropen Matrix, die isotrope kugelf¨ormige Inhomogenit¨aten enth¨alt, liefert das Mori-Tanaka-Modell unabh¨angig von deren r¨aumlicher Anordnung ein isotropes effektives Verhalten mit den elastischen Konstanten (vgl. (8.80)) ∗ K(MT) = KM + c I
(KI − KM ) KM , KM + α (1 − cI ) (KI − KM ) (8.98)
µ∗(MT) = µM
(µI − µM ) µM . + cI µM + β (1 − cI ) (µI − µM )
Eine aus der geometrischen Defektanordnung m¨oglicherweise resultierende makroskopische Anisotropie ist also mit diesem Modell (wie beim Modell der d¨ unnen Verteilung) nicht wiedergebbar. Man beachte, dass die effektiven Konstanten (8.98) im Gegensatz zu (8.80) nun nichtlinear von der Konzentration cI der Inhomogenit¨aten abh¨angen. Sie reduzieren sich im Grenzfall starrer Kugeln (KI , µI → ∞) in einer inkompressiblen Matrix (KM → ∞, β = 2/5) auf (vgl. (8.81)) 5 cI ∗ . (8.99) µ(MT) = µM 1 + 2 (1 − cI ) F¨ ur das 2D-Beispiel einer Scheibe im ESZ mit Kreisl¨ochern vom Fl¨achenanteil c nach Bild (8.16) liefert die Mori-Tanaka-Methode durch Einsetzen von (8.84)
261
Effektive elastische Eigenschaften
in (8.96b), (8.97) ∗ =E E(MT)
1−c , 1 + 2c
µ∗(MT) = µ
(1 − c)(1 + ν) . 1 + ν + c (3 − ν)
(8.100)
Risse haben aufgrund ihres verschwindenden Volumens (cM = 1) keinen Einfluß auf die mittlere Spannung: σM = σ. Dadurch erhalten wir mit dem Mori-Tanaka-Modell f¨ ur ein Material mit geraden oder kreisf¨ormigen Rissen die gleichen effektiven elastischen Konstanten, wie unter der Annahme der d¨ unnen Rissverteilung bei vorgegebenen Makrospannungen (siehe (8.88), (8.90), (8.92) bzw. (8.94)). Auf Risse angewendet sagt das Mori-Tanaka-Modell demnach auch bei beliebig hoher Rissdichte keinen Verlust der makroskopischen Tragf¨ahigkeit voraus. 8.3.2.5
Selbstkonsistenzmethode
Bei der analytischen Bestimmung effektiver Materialeigenschaften beschr¨ankt man sich wegen der Verf¨ ugbarkeit geschlossener Grundl¨osungen in der Regel auf die Betrachtung eines Einzeldefektes im unendlichen Gebiet. Die Wechselwirkung von Defekten hatten wir dabei im vorigen Abschnitt durch geeignete Approximation der Belastung der einzelnen Defekte ber¨ ucksichtigt, wof¨ ur ihr hinreichender Abstand in einer homogenen Matrix Voraussetzung war. Diese Situation ist jedoch h¨aufig nicht gegeben. So grenzen z.B. bei einem Polykristall die Inhomogenit¨aten in Form einzelner K¨orner direkt aneinander und es liegt gar keine ausgezeichnete Matrixphase vor. In Hinblick auf diesen Anwendungsfall wurde die Selbstkonsistenzmethode entwickelt. Bei ihr wird die gesamte Umgebung jedes einzelnen Defektes zu einer unendlich ausgedehnten homogenen Matrix verschmiert, deren elastische Eigenschaften gerade durch die zu bestimmenden effektiven Eigenschaften des heterogenen Materials gegeben sind (Bild 8.19). Die L¨osung des
ε0 bzw. σ 0
ε0 bzw. σ 0 CM ∂V C∗
Bild 8.19 Modell der Selbstkonsistenzmethode
262
Mikromechanik
entsprechenden Randwertproblems (Einzeldefekt unter Belastung ε0 = ε bzw. σ 0 = σ) im Innern des Defektes ergibt sich formal aus der L¨osung bei d¨ unner Defektverteilung indem die Matrixeigenschaften durch die effektiven Eigenschaften ersetzt werden (vgl. Bild 8.15). F¨ ur die mittlere Defektverzerrung und die Einflußtensoren gilt dementsprechend bei ellipsoidf¨ormigen Inhomogenit¨aten
εI = AI (SK) : ε , AI (SK)
(8.101a)
, -−1 = AI (C M = C ∗ ) = 1 + S ∗ : C ∗ −1 : ( C I − C ∗ ) ∞
und bei Hohlr¨aumen und Rissen
εc = H (SK) : σ ,
H (SK) = H (C M = C ∗ ) . ∞
(8.101b)
Die effektiven elastischen Eigenschaften ergeben sich durch Einsetzen in (8.71a) bzw. (8.73). Von ihnen fordern wir, dass sie gerade die zur Darstellung der Einflußtensoren in (8.101a), (8.101b) verwendten effektiven Matrixeigenschaften C ∗ sind, was den Begriff Selbstkonsistenz erkl¨art. Damit f¨ uhrt die Selbstkonsistenzmethode auf eine implizite Darstellung des effektiven Elastizit¨atstensors in Form nichtlinearer algebraischer Gleichungen. Diese lauten mit (8.71a) bzw. (8.73)
C ∗(SK) =
⎧ ∞ ∗ ⎪ ⎨ C M + cI ( C I − C M ) : AI (C (SK) ) ⎪ ⎩ ,C −1 + H ∞ (C ∗ )-−1 (SK) M
(Ellipsoide) .
(8.102)
(Hohlr¨aume, Risse)
Wie das Mori-Tanaka-Modell liefert auch die Selbstkonsistenzmethode ein eindeutiges, d.h. von den Makrogr¨oßen unabh¨angiges Ergebnis, welches die Grenzf¨alle f¨ ur einphasiges Material korrekt enth¨alt. Man beachte auch, dass bei der ∞ ∗ ) bzw. Selbstkonsistenzmethode bereits in dem f¨ ur die Grundl¨osung AI (C (SK) ∞ ∗ H (C (SK) ) anzusetzenden effektiven Materialverhalten eine aus der relativen Defektorientierung oder -anordnung resultierende makroskopische Anisotropie zu ber¨ ucksichtigen ist. Als Beispiel seien hier parallele Risse genannt, die als Defekte selbst eine ausgezeichnete Richtung besitzen. Aber auch durch Vorzugsrichtungen in der r¨aumlichen Verteilung isotroper Defekte kann eine makroskopische Anisotropie bedingt sein. Nur bei vollst¨andiger (materieller und geometrischer) Isotropie der Mikrostruktur ergibt sich auch ein isotropes effektives Verhalten. Typisches Beispiel hierf¨ ur ist eine isotrope Verteilung kugelf¨ormiger Inhomogenit¨aten aus isotropem Material in einer isotropen Matrix. In diesem Fall lassen sich nach Einsetzen der Parameter α∗ (ν ∗ ), β ∗ (ν ∗ ) des isotropen Eshelby-Tensors (8.11) die Bestimmungsgleichungen f¨ ur den effektiven Kompressions- und Schubmodul in der Form
263
Effektive elastische Eigenschaften
0 =
0 =
cM c 3 + ∗ I − , ∗ K(SK) − KM 3K(SK) + 4µ∗(SK) (SK) − KI
K∗
c cM + ∗ I µ∗(SK) − µI µ(SK) − µM
* ) ∗ + 2µ∗ 6 K(SK) (SK) ) * − ∗ + 4µ∗ 5µ∗(SK) 3K(SK) (SK)
(8.103)
angeben. An dieser Darstellung wird deutlich, dass bei der Selbstkonsistenzmethode keine der beteiligten Phasen mehr die ausgezeichnete Rolle einer umgebenden Matrix spielt, was der Situation einer polykristallinen Mikrostruktur oder eines Durchdringungsgef¨ uges gerecht wird. F¨ ur den Sonderfall starrer Kugeln (KI → ∞ , µI → ∞) in einer inkompressiblen Matrix (KM → ∞) liefert die Selbstkonsistenzmethode im Gegensatz zu (8.81) und (8.99) ∗ = 2 µM . µ(SK) (8.104) 2 − 5 cI Daraus folgt bereits bei einem Volumenanteil der Kugeln von cI = 2/5 die makroskopische Starrheit des Materials (µ∗(SK) → ∞). Auch der Sonderfall kugelf¨ormiger Poren (KI → 0 , µI → 0) in einer inkompressiblen Matrix (KM → ∞) l¨asst sich direkt aus (8.103) ableiten zu ∗ = K(SK)
4 µM (1 − 2 cI )(1 − cI ) , cI (3 − cI )
µ∗(SK) =
3 µM (1 − 2 cI ) . 3 − cI
(8.105)
Hieraus erkennt man, dass die Selbstkonsistenzmethode f¨ ur ein por¨oses Material bei einem Porenvolumenanteil von 50% (cI = 1/2) den v¨olligen Verlust der ∗ → 0 , µ∗ → 0) vorhersagt. Das durch makroskopischen Tragf¨ahigkeit (K(SK) (SK) (8.104) und (8.105) beschriebene makroskopische Grenzverhalten eines heterogenen Materials ist qualitativ richtig, da statistisch bereits bei einem Volumenanteil starrer Partikel oder Poren deutlich unterhalb von 1 starre Br¨ ucken oder Hohlr¨aume vorliegen, die das gesamte Material durchziehen und dessen effektives Verhalten bestimmen. Man bezeichnet diesen Effekt auch als Perkolation; die entsprechende statistische Theorie heißt Perkolationstheorie. Diese vermeintliche St¨arke der Selbstkonsistenzmethode wird allerdings dadurch relativiert, dass die zur Homogenisierbarkeit eines heterogenen Materials vorausgesetzte statistische Homogenit¨at (RVE) durch das Vorhandensein solcher Br¨ ucken verletzt wird. Ein weiterer Kritikpunkt an der Selbstkonsistenzmethode liegt in ihrer Vermischung der eigentlich strikt getrennten mikro- und makroskopischen Betrachtungsebenen. So wird ein einzelner, nur auf der Mikroebene “sichtbarer” Defekt in ein nur auf der Makroebene definiertes effektives Medium eingebettet. Um diese Inkonsequenz abzumindern, kann im Rahmen einer verallgemeinerten Selbstkonsistenzmethode der Defekt und die unendlich ausgedehnte effektive Matrix durch
264
Mikromechanik
eine begrenzte Schicht des wahren Matrixmaterials getrennt werden. Auf diese recht aufwendige Methode sei hier jedoch nicht n¨aher eingegangen. Zum Abschluß wollen wir noch die Ergebnisse der Selbstkonsistenzmethode nach (8.102) f¨ ur Kreisl¨ocher und Risse auswerten. Beim Problem einer Scheibe mit isotrop verteilten kreisf¨ormigen L¨ochern (makroskopische Isotropie) ist dazu ∗ zu ersetzen, lediglich in (8.84) der Elastizit¨atsmodul E der Matrix durch E(SK) was auf ∗ = E (1 − 3 c) , E(SK)
µ∗(SK) =
E (1 − 3 c) 2 [1 + c + ν(1 − 3 c)]
(8.106)
f¨ uhrt. Der v¨ollige Verlust der effektiven Steifigkeit der Scheibe wird danach bereits f¨ ur einen Fl¨achenanteil an L¨ochern von c = 1/3 vorausgesagt. Experimentell ermittelte oder auf der Perkolationstheorie basierende Werte sind dagegen etwa doppelt so groß (siehe Bild 8.21). Die Anwendung der Selbstkonsistenzmethode auf Materialien mit parallelen Rissen erfordert wie schon erw¨ahnt wegen der makroskopischen Anisotropie die etwas aufwendige Grundl¨osung eines Einzelrisses in einem anisotropen Material. Unter Verweis auf die Spezialliteratur (T. Mura, 1982) verzichten wir daher auf eine weitere Behandlung und beschr¨anken uns auf die Situation statistisch gleichverteilter Rissorientierungen, f¨ ur die das effektive Materialverhalten isotrop ist. Im Fall gerader Risse der L¨ange 2a in einer Scheibe (ESZ) ist dann in (8.89) ∗ zu ersetzen. F¨ nur E durch E(SK) ur den effektiven Elastizit¨ats- und Schubmodul ergibt sich auf diese Weise ∗ = E (1 − πf ) , E(SK)
µ∗(SK) =
E (1 − πf ) . 2 [1 + ν(1 − πf )]
(8.107)
Hiernach wird ein v¨olliger Verlust der makroskopischen Steifigkeit f¨ ur f = 1/π vorhergesagt. Bei diesem Wert ist die von einem Riss bei Variation seiner Richtung u ur das ¨ berstrichene Fl¨ache πa2 gleich der Bezugsfl¨ache A des Materials. F¨ dreidimensionale Problem kreisf¨ormiger Risse statistisch gleichverteilter Orientierung erh¨alt man den isotropen zus¨atzlichen Nachgiebigkeitstensor H (SK) = ∞ ∗ ) aus (8.93) durch Ersetzen von E und ν durch E ∗ und ν ∗ , was H (C (SK) (SK) (SK) mit (8.102) auf nichtlineare Gleichungen f¨ ur die effektiven isotropen Elastizit¨atskonstanten f¨ uhrt: ∗ ν(SK) E∗
(SK)
1 + ν∗
(SK)
∗ E(SK)
=
∗ (1 − ν ∗2 ) 16ν(SK) ν (SK) +f ∗ )E ∗ , E 45(2 − ν(SK) (SK)
∗2 )(5 − ν ∗ ) 32(1 − ν(SK) 1+ν (SK) +f = . ∗ )E ∗ E 45(2 − ν(SK) (SK)
(8.108)
265
Effektive elastische Eigenschaften
8.3.2.6
Differentialschema
Im Gegensatz zur Selbstkonsistenzmethode, bei der jede Phase des heterogenen Materials mit ihrem vollen Volumenanteil in einem einzigen Schritt in die effektive Matrix eingebettet wird, basiert das Differentialschema auf einer Unterteilung dieser Einbettung in infinitesimale Schritte. Man kann damit gedanklich die tats¨achliche Herstellung eines heterogenen Materials durch schrittweises Einbringen einer Phase (Inhomogenit¨at) in ein urspr¨ unglich homogenes Ausgangsmaterial (Matrix) verbinden, wobei unerheblich ist, welcher Phase die Rolle des Ausgangsmaterials zukommt. Da in jedem Schritt nur ein infinitesimales Volumen dV der Defekt- oder Inhomogenit¨atsphase mit dem Elastizit¨atstensor C I in eine unendlich ausgedehnte homogene Matrix eingebettet wird, sind das Modell der d¨ unnen Verteilung und die entsprechenden Beziehungen f¨ ur die effektiven Eigenschaften dann exakt. In einem beliebigen Schritt wird die Matrix durch die effektiven Eigenschaften C ∗ (cI ) charakterisiert, die dem bis dahin eingebetteten Volumenanteil cI = VI /V entsprechen. dVI = cI dV dV, C I
dV
C ∗(cI + dcI )
C ∗(cI )
Bild 8.20 Differentialschema Die Vorgehensweise ist in Bild 8.20 anhand einer ellipsoidf¨ormigen Inhomogenit¨at dargestellt. Unter Erhaltung des Gesamtvolumens V wird ein infinitesimales Volumen dV der Inhomogenit¨atsphase eingebracht, wozu das gleiche Volumen aus dem effektiven Matrixmaterial entfernt werden muß. Dabei ¨andert sich der Volumenanteil der Inhomogenit¨atsphase auf cI + dcI , und ihre Volumenbilanz kann f¨ ur diesen Vorgang wie folgt geschrieben werden (cI + dcI ) V = cI V − cI dV + dV
;
dcI dV = . V 1 − cI
(8.109)
Weil in diesem Schritt nur ein infinitesimales Volumen dV (Volumenanteil dV /V ) eingebettet wird, ist die Beziehung (8.79a) des Modells der d¨ unnen Verteilung
266
Mikromechanik
exakt und lautet auf die vorliegende Situation angewandt * dV ) ∞ C I − C ∗(cI ) : AI . C ∗(cI + dcI ) = C ∗(cI ) + 2 34 5 2 34 5 V Matrix
(8.110)
Matrix
Darin h¨angt der Einflußtensor vom effektiven Matrixmaterial ab: AI (C ∗(cI )). Mit C ∗(cI + dcI ) = C ∗(cI ) + dC ∗(cI ) und (8.109) erh¨alt man ∞
/ dC ∗(cI ) 1 . ∞ C I − C ∗(cI ) : AI . = dcI 1 − cI
(8.111)
Das Differentialschema f¨ uhrt also auf eine nichtlineare gew¨ohnliche Differentialgleichung f¨ ur den effektiven Elastizit¨atstensor in Abh¨angigkeit vom Volumenanteil cI der eingebetteten Phase. Das Ausgangsmaterial (zweite Phase) tritt nur in der Anfangsbedingung auf: C ∗ (cI = 0) = C M . Im Fall der vollst¨andigen (materiellen und geometrischen) Isotropie erh¨alt man aus (8.111) f¨ ur den effektiven Kompressions- und Schubmodul das folgende gekoppelte Differentialgleichungssystem ∗ ∗ ∗ dK(DS) 1 . ∗ / 3K(DS) + 4µ(DS) , KI − K(DS) = dcI 1 − cI 3KI + 4µ∗(DS) (8.112) ) * ∗ ∗ ∗ 5µ(DS) 3K(DS) + 4µ(DS) dµ∗(DS) 1 . ∗ / ) * ) * µI − µ(DS) = dcI 1 − cI 9K ∗ + 8µ∗ + 6µ K ∗ + 2µ∗ µ∗ (DS)
(DS)
(DS)
I
(DS)
(DS)
∗ (c = 0) = K , µ∗ (c = 0) = µ . mit den Anfangsbedingungen K(DS) I M M (DS) I F¨ ur das Beispiel starrer Kugeln (I) in einer inkompressiblen Matrix (M) reduziert sich (8.112) auf ∗ ∗ dµ(DS) 1 5 µ(DS) (8.113) = dcI 1 − cI 2 mit der L¨osung µM µ∗(DS) (cI ) = . (8.114) (1 − cI )5/2 Im Gegensatz zur Selbstkonsistenzmethode (vgl. (8.104)) liefert das Differentialschema offenbar erst f¨ ur cI → 1 die Starrheit des effektiven Materials. Bei der Anwendung des Differentialschemas auf Materialien mit Hohlr¨aumen oder Rissen sind diese als die einzubettende Phase zu behandeln. Im Fall kreisf¨ormiger L¨ocher in einer Scheibe nach Bild 8.16 gehen wir dabei direkt von den Beziehungen (8.85) bei d¨ unner Lochverteilung aus, die wir in der Form 1 1 3 ∗ = E +cE , E(DD)
1 1 4 = +c 2µ E 2µ∗(DD)
(8.115)
267
Effektive elastische Eigenschaften
schreiben. Die inkrementelle Erh¨ohung dc des Fl¨achenanteils c der L¨ocher f¨ uhrt dann mit der gleichen Vorgehensweise wie bei den Inhomogenit¨aten auf die Differentialgleichungen ∗ −1 dE(DS) dc
=
∗ −1 dµ(DS)
1 3 ∗ , 1 − c E(DS)
dc
=
1 8 ∗ 1 − c E(DS)
(8.116)
∗ (c = 0) = E , µ∗ (c = 0) = µ . Die erste mit den Anfangsbedingungen E(DS) (DS) ∗ (c) Differentialgleichung in kann direkt, die zweite erst nach Einsetzen von E(DS) integriert werden. Dies f¨ uhrt auf die L¨osungen ∗ (c) = E (1 − c)3 , E(DS)
∗ (c) = µ µ(DS)
3(1 + ν)(1 − c)3 . 4 + (3ν − 1)(1 − c)3
(8.117)
¨ Ahnlich wie im vorhergehenden Beispiel liefert das Differentialschema im Gegensatz zur Selbstkonsistenzmethode den Grenzfall v¨olligen makroskopischen Steifigkeitsverlustes erst f¨ ur c → 1. Zum besseren Vergleich sind die Resultate der verschiedenen N¨aherungsmethoden f¨ ur den effektiven Elastizit¨atsmodul einer Scheibe mit Kreisl¨ochern in Bild 8.21 einander gegen¨ ubergestellt. Zus¨atzlich angegeben sind experimentelle Ergebnisse und die Perkolationsgrenze, die bereits f¨ ur einen Fl¨achenanteil c < 1 den v¨olligen makroskopischen Steifigkeitsverlust (E ∗ → 0) zeigen. Dies wird quantitativ lediglich von der Selbstkonsistenzmethode (SK) vorhergesagt. Das Modell der d¨ unnen (Loch-) Verteilung (DD) ist voraussetzungsgem¨aß nur f¨ ur sehr kleine Werte von c g¨ ultig.
E ∗ /E 1
: DD : MT : SK : DS :
Experiment ohne Wechselwirkung Mori-Tanaka Selbstkonsistenzmethode Differentialschema
0.5 DD SK
DS
1/3 0.5
MT
1
c
"Perkolationsgrenze" (~0.6)
Bild 8.21
Effektiver Elastizit¨atsmodul einer Scheibe mit isotrop verteilten Kreisl¨ochern
268
Mikromechanik
Tabelle 8.1
Effektive elastische Konstanten kugelf¨ormige Inhomogenit¨aten
1
KI , µI KM , µM
K ∗ = KM + c I µ ∗ = µ M + cI
(KI − KM ) KM KM + α (1 − cI ) (KI − KM )
(µI − µM ) µM µM + β (1 − cI ) (µI − µM )
kugelf¨ormige Poren ) K∗ = K 1 −
2
) µ∗ = µ 1 −
K, µ
* c 1 − α(1 − c)
* c 1 − β(1 − c)
unidirektionale Fasern (Inhomogenit¨aten) ∗ = µ12
E3∗ = cI EI + (1 − cI )EM , EM , νM
3
EI , νI
∗ = µ∗ = 2(1 + cI ) E , µ13 23 5(1 − cI ) M
2 + cI E , 5(1 − cI ) M
∗ = ν ∗ = 1/4 , ν31 32
1 * 1) 1 5(1 − cI ) 1 + = + ∗ 4 µ∗12 2EM (2 + cI ) 4E3∗ E1,2 fu ¨r νI = νM = 1/4 ,
EI EM ,
cI < 1
unidirektionale Hohlzylinder (EVZ) 4
E, ν
∗ = E1,2
(1 − c)E , 1 + c(2 − 3ν 2 )
∗ = µ12
(1 − c)µ 1 + 3c − 4νc
isotrop verteilte Fasern EM , νM
5 EI , νI
E∗ =
1 + cI /4 + c2I /6 cI EM , EI + 6 1 − cI
ν∗ =
EI EM ,
cI < 1
fu ¨r νI = νM = 1/4 ,
1 4
269
Effektive elastische Eigenschaften
Tabelle 8.1
Effektive elastische Konstanten (Fortsetzung)
parallele Kreisrisse im 3D E3∗ =
∗ =E, E1,2 3
6 KM , µM
∗ =ν, ν12
3E , 3 + f 16(1 − ν 2 )
∗ 2 ∗ = ν ∗ = ν 1 + f 16(1 − 2ν)(ν − 1) E3 , ν13 23 3ν(2 − ν) E µ∗12 =
E , 2(1 + ν)
−1 ∗ = µ∗ = µ 1 + f 16(1 − ν) µ13 23 3(2 − ν)
isotrop verteilte Kreisrisse im 3D −1 16(1 − ν 2 )(10 − 3ν) ∗ , E =E 1+f 45(2 − ν)
7 KM , µM
−1 32(1 − ν)(5 − ν) ∗ µ =µ 1+f 45(2 − ν)
Kreisl¨ocher im 2D (ESZ) E, ν
8
E∗ = E
E, ν
9 2 1
1−c , 1 + 2c
µ∗ = E
1−c 2(1 + ν + c (3 − ν))
parallele Risse im 2D (ESZ) E1∗ = E ,
E2∗ =
E , 1 + 2πf
∗ = µ12
E 2(1 + ν + πf )
isotrop verteilte Risse im 2D (ESZ) 10
E, ν
E∗ =
E , 1 + πf
µ∗ =
E 2(1 + ν + πf )
270
Mikromechanik
In gleicher Weise wie bei L¨ochern l¨asst sich das Differentialschema zur Homogenisierung von Materialen mit verteilten Rissen der Rissdichte f anwenden. Unter Verzicht auf die Herleitung sei hier nur das Ergebnis f¨ ur den isotropen Fall gleichverteilter Risse gleicher Gr¨oße im ESZ angegeben: ∗ (f ) = E(1 − f )π , E(DS)
∗ (f ) = µ µ(DS)
(1 + ν)(1 − f )π . 1 + ν(1 − f )π
(8.118)
Auch hier erfolgt der Verlust der makroskopischen Tragf¨ahigkeit des Materials erst f¨ ur den Grenzfall f → 1. F¨ ur kleine Werte von f geht (8.118) asymptotisch in das Ergebnis (8.90) f¨ ur die d¨ unne Verteilung u ¨ ber. In Tabelle 8.1 sind effektive elastische Konstanten f¨ ur einige F¨alle mit isotroper oder transversalisotroper Mikrostruktur zusammengestellt. Dabei wurde jeweils eine m¨oglichst einfache Darstellung gew¨ahlt. Deutlich betont sei noch einmal, dass es sich bei diesen Konstanten um Approximationen handelt, deren G¨ ute mit wachsendem Defektvolumenanteil ( cI , c, f ) abnimmt.
8.3.3
Energieprinzipien und Schranken
In den vorangegangenen Abschnitten haben wir die effektiven elastischen Eigenschaften eines heterogenen Materials durch L¨osen des Randwertproblems f¨ ur ein RVE bestimmt. Hierbei waren wir auf N¨aherungen und Vereinfachungen angewiesen. So haben wir zum Beispiel das RVE als unendlich ausgedehnt angesehen und die Wirkung verteilter Inhomogenit¨aten immer mit Hilfe der Grundl¨osung f¨ ur einen einzelnen Defekt erfaßt. Die unterschiedlichen Vereinfachungen der mikromechanischen Modelle f¨ uhrten auf unterschiedliche Approximationen der effektiven Eigenschaften. Diese N¨aherungsl¨osungen k¨onnen recht weit auseinander liegen und zeigen in Sonderf¨allen ein qualitativ unterschiedliches Verhalten (siehe z.B. Bild 8.21). Daneben liegen keine Aussagen u ¨ ber die Genauigkeit der Verfahren vor. Es ist daher w¨ unschenswert, einen exakten Bereich anzugeben, in dem die effektiven Eigenschaften eines heterogenen Materials u ¨berhaupt liegen k¨onnen. Den Schl¨ ussel dazu bilden die Extremalprinzipien der Elastizit¨atstheorie, welche es gestatten, aus Energieausdr¨ ucken obere und untere Schranken f¨ ur die effektiven Eigenschaften abzuleiten. 8.3.3.1
Voigt- und Reuss-Schranken
Die in Abschnitt 8.3.2.2 eingef¨ uhrten Voigt- bzw. Reuss-Approximationen bieten neben ihrer Einfachheit den Vorteil, dass sie obere und untere Schranken f¨ ur die effektiven Eigenschaften eines heterogenen Materials darstellen. Um dies zu zeigen, betrachten wir zun¨achst das Prinzip vom Minimum des Gesamtpotentials (1.99). Danach machen unter allen kinematisch zul¨assigen Verzerrungsfeldern die wahren Verzerrungen das Gesamtpotential zu einem Minimum. Sind auf dem gesamten
271
Effektive elastische Eigenschaften
Rand ∂V des Volumenbereichs Verschiebungen vorgegeben, so verschwindet das Potential der Randlasten, und das Gesamtpotential ergibt sich f¨ ur ein kinematisch ˆ ε) = Π ˆ i (ˆ ˆ zu Π(ˆ ˆ:C:ε ˆ dV = V2 ˆ ˆ zul¨assiges Verzerrungsfeld ε ε) = 12 V ε ε:C:ε ˆ nicht die wahren Verzerrungen sein m¨ (man beachte, dass ε ussen). F¨ ur die Randbedingung linearer Verschiebungen u|∂V = ε0 · x mit ε0 = const = ε ist die (wahre) Form¨anderungsenergie nach der Hill-Bedingung (8.56) Π = V2 ε : C ∗ : ˆ ε) ≥ Π folgt damit
ε. Aus dem Extremalprinzip Π(ˆ ˆ ≥ ε : C ∗ : ε
ˆ ε:C:ε
(8.119)
ˆ, die mit obiger Randbedingung vertr¨aglich sind. Ein f¨ ur alle Verzerrungsfelder ε ˆ = const solches zul¨assiges Verzerrungsfeld stellt beispielsweise der Voigt-Ansatz ε = ε dar. Einsetzen in (8.119) liefert
ε : C : ε ≥ ε : C ∗ : ε bzw.
. /
ε : C − C ∗ : ε ≥ 0 .
(8.120)
Im Sinne einer quadratischen Form in ε ist also der mittlere Elastizit¨atstensor C gr¨oßer als C ∗ und stellt damit eine obere Schranke f¨ ur den effektiven Elastizit¨atstensor dar. In gleicher Weise kann man vom Prinzip vom Minimum des Komplement¨arpoˆ die Gleichgetentials (1.104) ausgehen, bei dem zul¨assige Spannungsfelder σ wichtsbedingung erf¨ ullen und mit den vorgegebenen Randspannungen vertr¨aglich sein m¨ ussen. F¨ ur reine Spannungsrandbedingungen ist das Komplement¨arpotenˆ ˆ = V2 σ ˆ : C −1 : σ ˆ gegeben. Daneben ist im Fall uniformer Randtial durch Π(σ) spannungen t|∂V = σ 0 · n mit σ 0 = const = σ nach der Hill-Bedingung die ˆ folgt also = V σ : C ∗−1 : σ. Aus Π( ˆ ≥Π σ) (wahre) Komplement¨arenergie Π 2
ˆ :C
σ
−1
ˆ ≥ σ : C ∗−1 : σ : σ
(8.121)
ˆ Ein solches Feld stellt gerade der Reuss-Ansatz σ ˆ = f¨ ur alle zul¨assigen Felder σ. const = σ dar, und man erh¨alt f¨ ur ihn / . (8.122)
σ : C −1 − C ∗−1 : σ ≥ 0 . Danach stellt die Reuss-Approximation (8.74b) im Sinne einer quadratischen Form in σ eine untere Schranke f¨ ur C ∗ dar. Fassen wir beide Ergebnisse zusammen, so liegt der effektive Elastizit¨atstensor zwischen der Voigt- und der Reuss-Schranke: C ∗(Voigt) = C ≥ C ∗ ≥ C −1 −1 = C ∗(Reuss) .
(8.123)
Im Fall eines Materials aus diskreten isotropen Phasen, die makroskopisch isotrop verteilt sind, ist auch das effektive Verhalten isotrop, und (8.123) kann in die
272
Mikromechanik
Kompressions- und Schubsteifigkeiten aufgespalten werden. So gilt zum Beispiel f¨ ur ein zweiphasiges Material ∗ K(Voigt) = c I KI + c M KM ≥ K ∗ ≥
K I KM ∗ = K(Reuss) c I KM + c M KI (8.124)
µ∗
(Voigt)
= c I µ I + cM µ M
≥ µ∗
µI µM ≥ = µ∗(Reuss) . c I µ M + cM µ I
Die Voigt- und Reuss-Schranken gelten v¨ollig unabh¨angig von der vorliegenden Mikrostruktur. Die ihnen zugrunde liegenden Ans¨atze konstanter Spannungen oder Verzerrungen verletzen in allgemeinen die Kompatibilit¨at der Deformation bzw. das lokale Gleichgewicht (vgl. Abschnitt 8.3.2.2). In einer realen Mikrostruktur sind Kompatibilit¨at und Gleichgewicht jedoch erf¨ ullt, so dass die extremen Werte der Schranken nicht angenommen werden k¨onnen. Die effektiven Eigenschaften aller realen Mikrostrukturen liegen daher immer innerhalb dieser Grenzen. 8.3.3.2
Hashin-Shtrikman-Variationsprinzip und -Schranken
Die aus den klassischen Extremalprinzipien gewonnenen Voigt- und Reuss-Schranken f¨ ur die effektiven Elastizit¨atskonstanten liegen im allgemeinen recht weit auseinander, was ihren Wert beeintr¨achtigt. Zu sch¨arferen Schranken gelangt man mit Hilfe eines Variationsprinzips, das von Hashin und Shtrikman (1962) speziell f¨ ur heterogene Materialien entwickelt wurde. Hierbei werden nicht wie zuvor das gesamte Spannungs- oder Verzerrungsfeld sondern geeignet gew¨ahlte Hilfsfelder betrachtet, in denen nur noch die Abweichung von einer Bezugsl¨osung zum Ausdruck kommt. Dadurch wirkt sich der bei einer Approximation gemachte Fehler geringer auf das Endergebnis aus. Ein solches Hilfsfeld stellt beispielsweise die in Abschnitt 8.2.2.1 eingef¨ uhrte Spannungspolarisation τ (x) dar. Im folgenden betrachten wir einen Volumenbereich V eines heterogenen Materials, auf dessen Rand die Randbedingung u|∂V = ε0 · x mit ε0 = const = ε vorgegeben ist. Die Spannungspolarisation (8.30) beschreibt die Differenz der wahren Spannung von der Spannung, welche durch die wahre Verzerrung ε(x) in einem homogenen Vergleichsmaterial mit dem Elastizit¨atstensor C 0 hervorgerufen w¨ urde. Sie l¨asst sich mit Hilfe der Verzerrungsfluktuation ε˜(x) = ε(x) − ε0 wie folgt darstellen (8.125) τ (x) = C(x) − C 0 : ε0 + ε˜(x) . Aus den Grundgleichungen (8.28) f¨ ur die Fluktuationen * ) u ˜|∂V = 0 ∇·σ ˜ =0, σ ˜ = C 0 : ε˜ − ε∗ ,
(8.126)
273
Effektive elastische Eigenschaften
ergibt sich ε˜(x) in Abh¨angigkeit von der ¨aquivalenten Eigendehnung ε∗ (x). Zwischen dieser und der Spannungspolarisation besteht nach (8.29),(8.30) der lineare Zusammenhang τ (x) = −C 0 : ε∗ (x), so dass die L¨osung von (8.126) formal auch als ε˜[τ (x)] angegeben werden kann. Einsetzen in (8.125) liefert damit eine Bestimmungsgleichung f¨ ur τ (x) in Abh¨angigkeit von der Makroverzerrung ε0 : −1 : τ (x) + ε˜[τ (x)] + ε0 = 0 . (8.127) − C(x) − C 0 Mit Hilfe der Variationsrechnung l¨asst sich zeigen, dass (8.127) ¨aquivalent ist zum Hashin-Shtrikman-Variationsprinzip : ; 1 F (ˆ τ) = τ ] + 2ˆ τ : ε0 dV −ˆ τ : (C − C 0 )−1 : τˆ + τˆ : ε˜[ˆ V V
(8.128)
= station¨ar , wobei F (ˆ τ ) bez¨ uglich des Feldes τˆ zu variieren ist. Danach nimmt der Ausdruck F (ˆ τ ) unter allen denkbaren τˆ f¨ ur die exakte Spannungspolarisation τ einen Station¨arwert an. Um zu Aussagen u ¨ber die effektiven Eigenschaften C ∗ zu gelangen, bestimmen wir zun¨achst den Station¨arwert von F (ˆ τ ). Man erh¨alt ihn durch Einsetzen des wahren τ nach (8.125) und (8.127) in (8.128). Unter Verwendung der Hill-Bedingung ergibt sich der Station¨arwert zu F (τ ) = ε0 : (C ∗ − C 0 ) : ε0 . Man kann zeigen, dass es sich dabeium ein Maximum handelt, wenn f¨ ur beliebige τ der Ausdruck τ (x) : C(x) − C 0 : τ (x) ≥ 0 ist, d.h. wenn die Differenz C(x) − C 0 positiv definit ist. Umgekehrt nimmt F (ˆ τ ) f¨ ur das exakte τ ein Minimum an, wenn C(x) − C 0 negativ definit ist. Schließlich modifizieren wir den Integralausdruck in (8.128) noch etwas. Wegen der Randbedingung u ˜|∂V = 0 in (8.126) muß f¨ ur beliebiges τˆ der Mittelwert der Verzerrungsfluktuation verschwinden: 1 ε˜ dV = 0. Daher ist auch V1 V ˆ τ : ε˜ dV = 0, und der zweite Term unter V V dem Integral kann zu (ˆ τ − ˆ τ ) : ε˜ erweitert werden. Zusammenfassend folgt damit aus (8.128) F (ˆ τ)
≤ ≥
wobei F (ˆ τ) =
1 V
ε : (C ∗ − C 0 ) : ε0 0
fu ¨r C − C
0
pos. def.
,
(8.129a)
: ; −ˆ τ : (C − C 0 )−1 : τˆ + (ˆ τ − ˆ τ ) : ε˜[ˆ τ ] + 2ˆ τ : ε0 dV .
(8.129b)
neg. def.
V
Bei geeigneter Wahl des homogenen Vergleichsmaterials C 0 und einer Approximation f¨ ur τˆ liefert also F (ˆ τ ) nach (8.129b) eine obere oder untere Schranke
274
Mikromechanik
f¨ ur ε0 : (C ∗ − C 0 ) : ε0 . Die Auswertung dieser Schranken erfordert noch die Bestimmung von ε˜ in Abh¨angigkeit von τˆ , was nur f¨ ur Sonderf¨alle m¨oglich ist. Einer dieser Sonderf¨alle ist der wichtige Fall eines aus n diskreten Phasen mit den Teilvolumina Vα = cα V und jeweils konstanten Steifigkeiten C α bestehenden Materials. Es liegt hier nahe, auch die Spannungspolarisation als st¨ uckweise konstant zu approximieren: τˆ (x) = τ α = const in Vα . Mit deren Mittelwert n 6
ˆ τ = cα τ α und den Phasenmittelwerten ε˜α = ˜ εα der Verzerrungsfluktuatiα=1
on vereinfacht sich F (ˆ τ ) zu F (τ α ) = −
n 7
cα τ α : (C α − C 0 )−1 : τ α
α=1
+
n 7
(8.130) cα (τ α − ˆ τ ) : ε˜α + 2 ˆ τ : ε . 0
α=1
Im Eigendehnungsproblem (8.126) zur Bestimmung der Verzerrungsfluktuation ε˜ treten die einzelnen Phasen nur noch als Bereiche Vα konstanter Eigendehnung ε∗α = −C 0 −1 : τ α im homogenen Vergleichsmaterial auf (Einschl¨ usse). Man kann zeigen, dass bei Isotropie aller Phasen und deren makroskopisch isotroper Verteilung in einem unendlichen Gebiet die mittlere Verzerrung ε˜α jeder Phase in (8.126) gleich ist der (konstanten) Verzerrung in einem kugelf¨ormigen Einschluß der Eigendehnung ε∗α = −C 0 −1 : τ α . Es gilt dann mit dem isotropen EshelbyTensor S nach (8.10) der Zusammenhang ε˜α = S : εα∗ = −S : C 0 −1 : τ α ,
(8.131)
der die noch ben¨otigte L¨osung ε˜[τ ] von (8.126) darstellt. Nach Einsetzen in (8.130) liegt F (τ α ) als explizite Funktion der n Parameter τ α vor. Um in (8.129a) zu m¨oglichst engen Schranken zu gelangen, sind die τ α so zu w¨ahlen, dass der Ausdruck F (τ α ) extremal wird. Die dazu notwendigen Bedingungen ∂F =0 ∂τ α
(8.132)
τ ) : S : C 0 −1 = ε0 τ α : (C α − C 0 )−1 + (τ α − ˆ
(8.133)
liefern die n Gleichungen
zur Bestimmung der “optimalen” Parameter τ α (ε0 ). Diese sind linear von ε0 abh¨angig, so dass durch Einsetzen in F (τ α ) die linke Seite der Ungleichung in (8.129a) ein quadratischer Ausdruck in ε0 wird. Im Sinne einer quadratischen Form in ε0 f¨ uhrt (8.129a) somit auf obere und untere Schranken f¨ ur C ∗ , die als Hashin-Shtrikman-Schranken bezeichnet werden. Als wichtigen Anwendungsfall betrachten wir ein heterogenes Material aus zwei isotropen Phasen mit Steifigkeiten C M und C I bzw. KM , µM und KI , µI , wobei
275
Effektive elastische Eigenschaften
wir KM < KI und µM < µI annehmen. Dadurch ist es m¨oglich, die elastischen Eigenschaften eines der Materialen jeweils als die des homogenen Vergleichsmaterials zu w¨ahlen, wodurch die positive oder negative Definitheit von C − C 0 gew¨ahrleistet wird. Diese Wahl hat daneben den Vorteil, dass nach (8.133) f¨ ur eine der Phasen die Spannungspolarisation verschwindet. Wir betrachten zun¨achst den Fall C 0 = C M , womit τ M = 0 und τ = cI τ I wird und sich (8.129b) mit (8.130) auf F (τ I ) = −cI τ I : (C I − C M )−1 : τ I + cM S M : C −1 : τ I − 2ε0 M (8.134)
≤ ε0 : (C ∗ − C M ) : ε0
reduziert. Die Extremalbedingung ∂F/∂τ I = 0 liefert unter Ausnutzung der Symmetrie der Elastizit¨atstensoren und des Eshelby-Tensors sowie mit (8.96a) , -−1 0 τ I = (C I − C M )−1 + cM S M : C −1 : ε = AI (MT) : (C I − C M ) : ε0 . (8.135) M dass dabei auf der rechten Seite gerade der Einflußtensor (8.96a) auftaucht, stellt einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen dem Mori-Tanaka-Modell und dem Hashin-Shtrikman-Variationsprinzip im Fall der Isotropie dar. Einsetzen von (8.135) in (8.134) f¨ uhrt auf F (τ I ) = cI τ I : ε0 = τ : ε0 , wobei der letzte Ausdruck auch im allgemeinen Fall eines n-phasigen Materials gilt. Die Ungleichung (8.134) kann damit zu ) , -−1 * 0 ε0 : C M + cI (C I − C M )−1 + cM S M : C −1 : ε ≤ ε0 : C ∗ : ε0 (8.136) M umgeformt werden und liefert die untere Hashin-Shtrikman-Schranke , -−1 C ∗(HS− ) = C M + cI (C I − C M )−1 + cM S M : C −1 M
(8.137a)
f¨ ur den effektiven Elastizit¨atstensor. Durch Vergleich erkennt man, dass sie mit dem Ergebnis (8.96a), (8.97) des Mori-Tanaka-Modells u ¨bereinstimmt. W¨ahlt man das steifere Material als Vergleichsmaterial (C 0 = C I ), so f¨ uhrt das v¨ollig analoge Vorgehen auf die obere Hashin-Shtrikman-Schranke , -−1 . (8.137b) C ∗(HS+ ) = C I + cM (C M − C I )−1 + cI S I : C −1 I Sie entspricht dem Mori-Tanaka-Resultat bei Vertauschung der Rollen von Matrixmaterial und Inhomogenit¨at. F¨ ur den effektiven Elastizit¨atstensor gilt also (im Sinne einer quadratischen Form) C ∗(HS+ ) ≥ C ∗ ≥ C ∗(HS− ) .
(8.138)
Hieraus folgt aufgrund der vorausgesetzten phasenweisen und makroskopischen Isotropie ∗ + ≥ K∗ ≥ K∗ − K(HS ) (HS )
und
∗ − µ∗(HS+ ) ≥ µ∗ ≥ µ(HS )
(8.139)
276
Mikromechanik
mit ∗ − = K +c K(HS ) M I ∗ + = K +c K(HS ) I M µ∗(HS− ) = µM + cI µ∗(HS+ ) = µI + cM
1 3 cM + KI − KM 3KM + 4µM 1 3 cI + KM − KI 3KI + 4µI
−1
−1
1 6 cM (KM + 2µM ) + µI − µM 5 µM (3KM + 4µM ) 1 6 cI (KI + 2µI ) + µM − µI 5 µI (3KI + 4µI )
−1
(8.140)
−1 .
Die Hashin-Shtrikman-Schranken (8.139), (8.140) grenzen den Bereich, in dem die effektiven Eigenschaften eines heterogenen Materials liegen k¨onnen, wesentlich st¨arker ein als die Voigt- und Reuss-Schranken (8.124). F¨ ur spezielle Mikrostrukturen zeigt sich daneben, dass der effektive Kompressionsmodul je nach Zuordnung von Matrixmaterial und Inhomogenit¨at mit der oberen oder unteren Hashin-Shtrikman-Schranke u ¨ bereinstimmen kann. Dies ist zum Beispiel beim sogenannten Composite Spheres Model der Fall, bei dem der gesamte Raum von kugelf¨ormigen Inhomogenit¨aten unterschiedlicher Gr¨oße und umgebenden Matrixschalen ausgef¨ ullt wird, wobei die Radien von Kugeln und Matrixschalen in einem festen Verh¨altnis stehen (siehe z.B. R.M. Christensen, 1979). Aufgrund ∗ + und K ∗ − die dieser tats¨achlichen Realisierbarkeit sind die Schranken K(HS ) (HS ) bestm¨oglichen, d.h. die sch¨arfsten, die basierend allein auf den Volumenanteilen und Phaseneigenschaften angegeben werden k¨onnen. F¨ ur ein isotropes zweiphasiges Material mit KI = 10KM und µI = 10µM sind die Hashin-Shtrikman- und Voigt-Reuss-Schranken sowie die N¨aherungsl¨osungen der unterschiedlichen Modelle anhand des effektiven Kompressionsmoduls in Bild 8.22 einander gegen¨ ubergestellt. Die Ergebnisse f¨ ur den effektiven Schubmodul zeigen qualitativ gleiche Verl¨aufe. Wie zu erwarten liefern die Hashin-ShtrikmanSchranken einen deutlich engeren Bereich m¨oglichen effektiven Materialverhaltens als die Voigt-Reuss-Schranken. Sie stimmen wie bereits erw¨ahnt mit den Resultaten des Mori-Tanaka-Modells u ¨berein. Das Ergebnis der Selbstkonsistenzmethode, der keine ausgezeichnete Matrixphase zugrundeliegt, geht f¨ ur große oder kleine Volumenanteile asymptotisch in diese L¨osungen u ¨ber. Dieses asymptotische Verhalten entspricht bei kleinem cI der hier nicht dargestellten L¨osung f¨ ur eine d¨ unne Verteilung von Inhomogenit¨aten. Im Grenzfall einer starren Phase (KI → ∞ , µI → ∞) f¨ uhrt (8.140) genau wie die Voigt-Schranke (8.77) auf das Ergebnis einer unendlichen oberen HashinShtrikman-Schranke. Entsprechend liefert bei einem Material mit Hohlr¨aumen die untere Hashin-Shtrikman-Schranke genau wie (8.76) den Wert Null.
277
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
K ∗ 10 KM
HS = Hashin-Shtrikman SK = Selbstkonsistenzmethode DS = Differentialschema
9 8 7
Voigt
6 5
DS
HS+
HS−
4
SK 3
Reuss
2 1
0
0.2
0.4
cI
0.6
0.8
1
Bild 8.22 Effektiver Kompressionsmodul bei KI = 10KM , µI = 10µM Die Auswertung des Hashin-Shtrikman-Variationsprinzips f¨ ur ein n-phasiges Material kann analog zur Vorgehensweise beim zweiphasigen Material erfolgen. Sie ist jedoch wegen der Bestimmung der dann n − 1 freien Parameter τ α wesentlich aufwendiger. Zahlreiche Verallgemeinerungen dieser hier in der Grundversion vorgestellten Methode in Hinblick auf anisotrope, periodische oder stochastische Mikrostrukturen sowie auch auf nichtlineares Materialverhalten sind in der Spezialliteratur zu finden.
8.4
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
Reale Materialen verhalten sich h¨aufig inelastisch und weisen einen nichtlinearen Spannungs-Verzerrungs-Zusammenhang auf. Hierauf sind die bisher diskutierten Modelle und Homogenisierungsmethoden nicht anwendbar. Bei ihnen war ja gerade ein linear elastisches Stoffverhalten und die Verf¨ ugbarkeit entsprechender Grundl¨osungen Voraussetzung. Zur Behandlung des effektiven Verhaltens mikro¨ heterogener inelastischer Materialien sind daher weitergehende Uberlegungen notwendig. Wir wollen uns dabei auf den Fall der ratenunabh¨angigen Plastizit¨at (vgl. Abschnitt 1.3.3) beschr¨anken. Die Mikromechanik gestattet es, den Begriff der Plastizit¨at sehr allgemein zu fassen und eine Vielzahl v¨ollig unterschiedlicher mikroskopischer Vorg¨ange zu betrachten, die allesamt Ursache des makroskopischen Ph¨anomens von bleibenden, plastischen Deformationen sind. Dabei kann es sich um die verschiedenskaligen Mechanismen der Metallplastizit¨at wie Versetzungswanderung und Gleitvorg¨ange
278
Mikromechanik
auf Kristallgitterebenen oder Korngrenzen handeln, aber auch um reibungsbehaftete Gleitvorg¨ange entlang von Mikrorissen in spr¨odem Gestein. Im Rahmen dieser Einf¨ uhrung werden wir uns allerdings auf eine Materialbeschreibung mittels der ph¨anomenologischen Elastoplastizit¨at nach Abschnitt 1.3.3 beschr¨anken. Damit lassen sich wichtige Materialklassen wie Metallmatrix-Komposite oder metallinfiltrierte Keramiken modellieren, aber auch der Einfluß einer mit der Sch¨adigung duktiler Materialien (Kapitel 9) einhergehenden Porosit¨at. 8.4.1
Grundlagen
Wir betrachten wieder einen Volumenbereich V auf der Mikroebene eines heterogenen Materials (Bild 8.23a), innerhalb dessen die Gleichungen nach Abschnitt 1.3.3 gelten sollen. Danach wird das elastisch-plastische Stoffverhalten (Mikrostruktur) beschrieben durch den ortsabh¨angigen Elastizit¨atstensor C(x) sowie die ebenfalls ortsabh¨angige Fließbedingung ) * F σ(x), x ≤ 0 . (8.141) Letztere charakterisiert zul¨assige, d.h. vom Material ertragbare Spannungszust¨ande, die daneben der Gleichgewichtsbedingung ∇·σ(x) = 0 gen¨ ugen. Sie sind u ¨ber das Elastizit¨atsgesetz mit den elastischen Verzerrungsanteilen εe (x) verkn¨ upft, die sich nach (1.73) mit den plastischen Verzerrungen εp (x) zu den Gesamtverzerrungen addieren: * ) (8.142) σ = C(x) : εe = C(x) : ε − εp . Hierzu kommt als weitere Gleichung im Rahmen der inkrementellen Theorie die Fließregel (1.82) f¨ ur die plastischen Verzerrungsinkremente ε˙p oder im Rahmen der Deformationstheorie die Gleichung (1.86). Zur Beschreibung des makroskopischen oder effektiven Verhaltens des Materials suchen wir im folgenden Zusammenh¨ange zwischen den nach (8.41) als Mittelwerte u ¨ber den Volumenbereich V definierten Makrospannungen σ und Makroverzerrungen ε bzw. deren Inkrementen. Dabei geben wir wie im elastischen Fall homogene Randbedingungen ε0 oder σ 0 vor (Bild 8.23a). Jeweils eine der Makrogr¨oßen ist dann durch die vom Stoffverhalten unabh¨angigen Beziehungen (8.60a) oder (8.60b) bekannt. 8.4.1.1
Plastische und elastische Makroverzerrungen
Wie bereits erw¨ahnt, sind die Makroverzerrungen ε als Volumenmittelwerte der mikroskopischen Verzerrungen ε(x) definiert. Entsprechendes gilt in dieser einfachen Form aber nicht f¨ ur die plastischen oder elastischen Verzerrungsanteile. Wir wollen deshalb untersuchen, wie die auf der Mikroebene r¨aumlich verteilten
279
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
ε0 , σ 0
V
)
C∗ ) * F ∗ σ ≤ 0
C(x)
* F σ(x), x ≤ 0
b)
a)
Bild 8.23
ε, σ
V
a) Mikroheterogenes elastisch-plastisches Material, siertes Material
b) homogeni-
plastischen und elastischen Verzerrungen εp (x) und εe (x) auf der Makroebene zum Ausdruck kommen. Dazu betrachten wir zus¨atzlich ein rein elastisches Vergleichsproblem f¨ ur den heterogenen Volumenbereich unter den gleichen Randbedingungen jedoch bei verschwindenden plastischen Verzerrungen. Die zugeh¨origen Felder kennzeichnen wir mit einer Tilde. Diese sind statisch und kinematisch zul¨assig und lassen sich f¨ ur beide Typen von Randbedingungen mittels der in (8.62a) und (8.62b) eingef¨ uhrten Einflußtensoren darstellen: a)
u|∂V = ε0 · x :
ε˜(a) (x) = A(x) : ε0 ,
b)
t|∂V = σ · n :
σ ˜
˜ ε(a) = ε = ε0 , (8.143)
0
(b)
(x) = B(x) : σ , 0
˜ σ
(b)
= σ = σ , 0
˜ (b) = C : ε˜(b) gilt. Multipliziert man im Fall wobei σ ˜ (a) = C : ε˜(a) bzw. σ der Randbedingung (a) das Elastizit¨atsgesetz (8.142) mit ε˜(a) (x) und bildet den Mittelwert u ¨ ber V , so erh¨alt man σ ˜ (a) 4 52 3
σ : ε˜(a) = ε : C : A : ε50 − εp : C : A : ε0 . 2 34 ε˜(a) ˜ (a) sowie ε und σ kinematisch bzw. statisch zul¨assig sind, Da die Felder ε˜(a) und σ kann diese Gleichung unter Verwendung von (8.61) und (8.65a) umgeschrieben werden zu
σ : ε0 = ε : C : A : ε0 − εp : C : A : ε0 = ε : C ∗: ε0 − εp : C : A : ε0 .
280
Mikromechanik
Weil dies f¨ ur beliebige ε0 gilt, folgt daraus der makroskopische Spannungs-Verzerrungs-Zusammenhang * )
σ = C ∗ : ε − E p (8.144) mit der Darstellung
E p = C ∗ −1 : εp : C : A
(8.145a)
f¨ ur den makroskopischen plastischen Verzerrungsanteil. Dementsprechend erh¨alt man f¨ ur den elastischen Anteil der Makroverzerrungen E e = ε − E p = C ∗ −1 : εe : C : A
.
(8.145b)
Die makroskopischen elastischen und plastischen Verzerrungsanteile sind also tats¨achlich nicht die einfachen Mittelwerte, sondern die mit der elastischen Heterogenit¨at (in Form der Tensoren C und A) gewichteten Mittelwerte der entsprechenden Mikrofelder. Nur f¨ ur ein elastisch homogenes Material (C = const, A = 1) oder f¨ ur homogene elastische und plastische Verzerrungen ist E p = εp und E e = εe . Im Fall der Randbedingung (b) f¨ uhrt eine analoge Vorgehensweise unter Verwendung des elastischen Vergleichsfeldes σ ˜ (b) auf die etwas k¨ urzere Darstellung E p,e = εp,e : B ,
(8.146)
wobei der effektive Elastizit¨atstensor dann durch (8.65b) ausgedr¨ uckt wird. F¨ ur ein repr¨asentatives Volumenelement (RVE) m¨ ussen beide Darstellungen ineinander u ¨bergehen. 8.4.1.2
Elastische Energie und Dissipation
Wird ein mikroheterogenes elastisch-plastisches Material nach vorangegangenem plastischen Fließen makroskopisch entlastet ( σ → 0), so findet im allgemeinen nicht in allen Punkten x der Mikroebene eine vollst¨andige Entlastung (σ(x) → 0) statt. Es bleibt vielmehr elastische Energie in einem inhomogenen Restspannungsfeld (Eigenspannungsfeld) gespeichert. Um dies etwas genauer zu untersuchen betrachten wir ein Material, das sich auf der Mikroebene elastisch-idealplastisch verh¨alt. Bei ihm ist eine Energiespeicherung nur in Form elastischer Verzerrungen m¨oglich, und die Form¨anderungsenergiedichte lautet U(x) =
1 e ε : C(x) : εe . 2
(8.147)
Unter der Randbedingung (b) vorgegebener Makrospannungen σ = σ 0 f¨ uhren wir nun die Abweichung der wahren Spannung σ(x) des elastisch-plastischen Problems von der Spannung σ ˜ (b) (x) im rein elastischen Vergleichsproblem als Hilfsfeld ein: σ r (x) = σ(x) − σ ˜ (b) (x) = σ(x) − B(x) : σ 0 .
(8.148)
281
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
Dieses beschreibt bei makroskopischer Entlastung (σ 0 = 0) die im Volumen V vorhandenen Restspannungen. Offensichtlich hat dieses Feld die Eigenschaften ∇ · σ r = 0 in V ,
σ r · n = 0 auf ∂V ,
σ r = 0 ,
(8.149)
und es verschwindet nur, wenn keine plastischen Verzerrungen εp in V vorliegen. Ersetzt man das elastische Verzerrungsfeld in (8.147) unter Verwendung von (8.148) durch / . εe = C −1 (x) : σ = C −1 (x) : B(x) : σ 0 + σ r (8.150) und mittelt u ¨ ber V , so erh¨alt man
U =
=
/ . / 1 . −1
C : B : σ 0 + C −1 : σ r : C : C −1 : B : σ 0 + C −1 : σ r 2 1 0 1 : σ50 . σ : B T : C −1 : B : σ 0 + σ r : C −1 : σ r + σ r : C −1 : B 2 34 2 34 5 2 2 ˜ (b) 5 C ∗ −1 , vgl. (8.66) 2 34σ ε˜(b)
Der letzte Klammerausdruck verschwindet wegen (8.149) und (8.61), so dass sich die mittlere Form¨anderungsenergiedichte in V zu
U =
1 0 ∗ −1 : σ 0 + 1 σ r : C −1 : σ r σ : C34 5 22 2 Ee : C∗ : E e
(8.151)
ergibt. Darin beschreibt der erste Term die Energie der makroskopischen elastischen Verzerrungen w¨ahrend der zweite Anteil die inhomogenen Restspannungen enth¨alt. Bei idealplastischem Materialverhalten wird auf der Mikroebene die Leistung der Spannungen an den plastischen Verzerrungen vollst¨andig dissipiert, und die mittlere Dissipationsleistung im Volumenbereich V lautet D = σ : ε˙p .
(8.152)
Unter Verwendung der inkrementellen Formen von (8.61) und (8.149) sowie des Hilfsfeldes ) * ) * p ˙ − E˙ ˙ − B(x) : σ˙ 0 = C(x) : ε(x) ˙ − ε˙p (x) − B(x) : C ∗: ε σ˙ r (x) = σ(x) 34 5 34 5 2 2 σ(x) ˙ σ˙ 0 l¨asst sich der Zusammenhang p 1 . D = σ : E˙ − σ r : C −1 : σ r 2
(8.153)
282
Mikromechanik
herleiten. Er besagt, dass die Leistung der Makrospannungen an den makroskopischen plastischen Verzerrungen nur zum Teil dissipiert wird. Der Rest wird als elastische Energie der Restspannungen gespeichert. Die unter der Randbedingung (b), d.h. bei vorgegebenen Makrospannungen σ 0 gewonnenen Ergebnisse (8.151) und (8.153) lassen sich auch bei Vorgabe der Makroverzerrungen ε0 erhalten, wobei dann das Verzerrungshilfsfeld εr (x) = εe (x) − A(x) : E e
(8.154)
zu verwenden ist. F¨ ur einen statistisch repr¨asentativen Volumenbereich (RVE) sind beide Zug¨ange ¨aquivalent, und f¨ ur die Hilfsfelder gilt σ r (x) = C(x) : εr (x). 8.4.1.3
Makrofließbedingung
Findet in einem Punkt der Mikroebene plastisches Fließen mit ε˙p = 0 statt, so liegt nach (8.141) der Spannungszustand σ in diesem Punkt auf der Fließfl¨ache F = 0. F¨ ur Spannungszust¨ande, die im Innern (F < 0) dieser Fl¨ache liegen, verh¨alt sich das Material dagegen elastisch. Wir betrachten nun wieder ein mikroskopisch elastisch-idealplastisches Material, bei dem sich die Fließfl¨ache infolge des Fließens also nicht ver¨andert (mikroskopisch keine Verfestigung). Sie kann jedoch wegen der Ortsabh¨angigkeit der Materialeigenschaften von Ort zu Ort auf der Mikroebene eine unterschiedliche Gestalt aufweisen. Zur Untersuchung der Konsequenzen f¨ ur die Makrospannungen σ w¨ahlen wir f¨ ur den Volumenbereich V die Randbedingung σ = σ 0 (Bild 8.23). Wir gehen zun¨achst von einer Situation aus, in der an keiner Stelle in V plastische Verzerrungen vorliegen: εp (x) = 0. Das Spannungsfeld in V ist dann rein elastisch und l¨asst sich nach (8.62b) als σ(x) = B(x) : σ schreiben. Durch Einsetzen in die Fließbedingung (8.141) f¨ ur jeden Punkt x ergeben sich die (unendlich vielen) Bedingungen an die Makrospannungen σ ) * ) * F B(x) : σ, x ≡ Fx∗ σ ≤ 0 f¨ ur alle x in V , (8.155) die formal zu der Makrofließbedingung ) * F ∗ σ ≤ 0
(8.156)
zusammengefaßt werden k¨onnen. Die der Bedingung (8.156) gen¨ ugende Menge der zul¨assigen Makrospannungszust¨ande stellt die Schnittmenge aller σ dar, f¨ ur welche (8.155) in allen Punkten x erf¨ ullt ist. Wir illustrieren dies durch die Betrachtung zweier Punkte xa und xb und stellen die zugeh¨origen Fließfl¨achen als Kurven in der 1,2-Ebene des Hauptspannungsraumes dar (Bild 8.24). Der schraffierte Bereich bezeichnet darin die Menge der zul¨assigen Makrospannungen
σ, f¨ ur welche die Mikrospannungen σ(x) die Bedingung (8.141) sowohl in xa als auch in xb erf¨ ullen. Der Einflußtensor B u uhrt als lineare Abbildung ¨ berf¨
283
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
σ2
σ2 B
) * F ∗ σ ≤ 0
1111 0000 0000 1111 0000 1111
σ1 Fa ≤ 0
) * Fa∗ σ ≤ 0
Fb ≤ 0
σ1 ) * Fb∗ σ ≤ 0
Bild 8.24 Elastische Bereiche und Fließfl¨achen auf Mikro- und Makroebene ∗ =0; die konvexen Mikrofließfl¨achen Fa,b = 0 in ebenfalls konvexe Fl¨achen Fa,b als deren Schnitt ist auch der schraffierte Bereich zul¨assiger Makrospannungen konvex. Da Makrospannungen, die plastisches Fließen hervorrufen, auf dessen Rand liegen, kann dieser als Makrofließfl¨ache F ∗ ( σ) = 0 interpretiert werden. Um den m¨oglichen Einfluß plastischen Fließens auf die Makrofließfl¨ache zu untersuchen, betrachten wir nun einen Punkt x der Mikroebene, in dem eine Plastizierung εp = 0 stattgefunden hat und der Spannungszustand σ auf der Fließfl¨ache liegt (Bild 8.25). Der entsprechende Makrospannungszustand σ befindet sich dann auf der Makrofließfl¨ache. Infolge der Plastizierung ist gleichzeitig das in (8.148) eingef¨ uhrte Hilfsfeld von Null verschieden: σ r (x) = 0. Eine Entlastung an der Stelle x f¨ uhrt zu einem mikroskopischen Spannungszustand σ ∗ innerhalb des elastischen Bereichs (Bild 8.25). Findet eine Entlastung in allen Punkten der Mikroebene statt, so geht der Makrospannungszustand in einen Zustand σ∗
σ2
σ
σ−σ ∗ σ∗ σ1
) * F σ(x), x ≤ 0 Bild 8.25 Elastische Entlastung auf Mikroebene
284
Mikromechanik
innerhalb des makroskopischen elastischen Bereichs u ¨ber (vgl. Bild 8.24). Der ¨ Zusammenhang zwischen der Anderung des Mikrospannungsfeldes und der Makrospannungen kann dann mit (8.62b) zun¨achst in der Form * ) σ(x) − σ ∗ (x) = B(x) : σ − σ∗ (8.157) geschrieben werden. Mit Hilfe des Restspannungsfeldes (8.148) erh¨alt man daraus B(x) : σ∗ = σ ∗ (x) − σ r (x) .
(8.158)
Dieser Zusammenhang ist g¨ ultig f¨ ur alle Werte σ∗ innerhalb der Makrofließfl¨ache, d.h. f¨ ur Makrospannungen, die in jedem Punkt x der Mikroebene einen Spannungszustand σ ∗ innerhalb der lokalen Mikrofließfl¨ache hervorrufen. Danach ergibt sich die Makrofließfl¨ache (bzw. die Menge aller in ihrem Innern liegenden Spannungszust¨ande σ∗ ) aus den zul¨assigen Mikrospannungen σ ∗ (x) durch eine Translation um σ r (x) sowie die Transformation mit B(x) und die Schnittmengenbildung bez¨ uglich x. Die Translation mit σ r (x) hat zu Folge, dass die Makrofließfl¨ache infolge mikroskopischer plastischer Verzerrungen ihre Lage im Spannungsraum ¨andert. Das makroskopische Materialverhalten eines heterogenen elastisch ideal plastischen Materials weist demnach eine kinematische Verfestigung auf (vgl. Abschnitt 1.3.3.1). Dieser Sachverhalt l¨asst sich am eindimensionalen Beispiel der Parallelschaltung eines rein elastischen und eines elastisch ideal plastischen Stabes illustrieren (Bild 8.26). Der Einfachheit halber seien die elastischen Steifigkeiten beider St¨abe
(1) σ, σ
σ, ε
111111 000000 000000 111111
rein elast. 1
makro
elast.
2 ideal
k
(2)
makroskopischer elastischer Bereich nach plastischem Fließen
plast.
11111 00000
ε, ε
σ, ε −k
Bild 8.26 Zur Illustration der kinematischen Verfestigung
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
285
gleich; die Fließspannung des Stabes (2) sei k. Der in Bild 8.26 dargestellte Beund Entlastungszyklus (durchgezogene Linie) zeigt die Verschiebung des makroskopischen elastischen Bereiches infolge plastischen Fließens in Stab (2). Nach der makroskopischen Entlastung σ = 0 betr¨agt die inhomogene Restspannung im elastischen Stab (1) σ1 = k und im Stab (2) σ2 = −k. F¨ ur den Fall, dass die Fließbedingung in jedem Punkt der Mikroebene durch die von Misessche Fließbedingung (1.77) mit einer ortsabh¨angigen Fließspannung k(x) gegeben ist, kann man eine grobe obere Schranke f¨ ur die Makrofließspannung angeben. Aus 1 s(x) : s(x) ≤ k 2 (x) 2
f¨ ur alle x in V
(8.159)
folgt n¨amlich durch Mittelung 1 1
s : s ≤ s : s ≤ k 2 . 2 2
(8.160)
Der Bereich zul¨assiger Makrospannungen liegt danach innerhalb des von Mises Zylinders vom Radius 2 k 2 (vgl. Bild 1.7). Diese Schranke ist jedoch nicht mehr sinnvoll, wenn das Material in einem Teilbereich der Mikroebene rein elastisch (k = ∞) ist. F¨ ur ein por¨oses Material mit der Porosit¨at f und der Matrixfließspannung k = const folgt aus (8.52), dass die Markospannungen gem¨aß der Bedingung 1
s : s ≤ (1 − f )2 k 2 (8.161) 2 eingeschr¨ankt sind. W¨ahrend f¨ ur die deviatorischen Makrospannungen nur Schranken angegeben werden k¨onnen (s.o.), gestattet der Fall der rein hydrostatischen Belastung eines por¨osen ideal-plastischen Materials die Herleitung einer exakten L¨osung. Dazu betrachten wir das kugelsymmetrische mikromechanische Modell einer kugelf¨ormigen Pore umgeben von einer dickwandigen Matrixschale (Hohlkugel) mit Innenradius r = a und Außenradius r = b (Bild 8.27). Der Innenrand (Pore) sei belastungsfrei, d.h. σr (r = a) = 0, und auf dem Außenrand wirke die konstante Radialspannung σr (r = b) = Σm . Letztere ist in diesem Zellmodell auch gleichzeitig die mittlere hydrostatische Spannung (vgl. 8.52). Die Porosit¨at ist durch f = (a/b)3 gegeben. Das Matrixmaterial sei starr-ideal-plastisch und gen¨ uge der (
von Mises-Fließbedingung 32 s : s = σe ≤ k, wobei s die deviatorische Mikrospannung ist. Deformationen k¨onnen in diesem Modell nur auftreten, wenn sich alle Punkte des Matrixmaterials im Zustand plastischen Fließens befinden. Aus der Gleichgewichtsbedingung und der Fließbedingung dσr 2 − (σϕ − σr ) = 0 , dr r
σϕ − σr ≡ σe = k = const
(8.162)
286
Mikromechanik
6m a b
r
Bild 8.27 Hohlkugel unter makroskopisch rein hydrostatischer Belastung ergibt sich die Spannungsverteilung (Mikrospannungen) in der Matrixschale: )r* , σϕ (r) = σr (r) + k . σr (r) = 2k ln (8.163) a Einsetzen der Randbedingungen f¨ uhrt auf die makroskopische Fließbedingung 3Σm 2k 1 bzw. 2f cosh − (1 + f 2 ) = 0 , (8.164) ln Σm = 3 f 2k ) 2 * wobei f¨ ur die zweite Form von (8.164) die Identit¨at ln(x) = Arcosh x 2x+1 verwendet wurde. Die Einschr¨ankung, dass (8.164) zun¨achst nur f¨ ur das Zellmodell einer einzelnen Hohlkugel gilt, welches nicht raumf¨ ullend ist, kann durch die kollektive Betrachtung einander ber¨ uhrender unterschiedlich großer aber geometrisch a¨hnlicher Hohlkugeln gleicher Porosit¨at f behoben werden, analog zum Composite-SpheresModell (Abschnitt 8.3.3.2). Dadurch l¨asst sich der Raum vollst¨andig ausf¨ ullen, wobei die Hohlkugeln alle die Radialspannung Σm aufeinander aus¨ uben. Die Makrofließbedingung (8.164) gilt demnach f¨ ur ein raumf¨ ullendes por¨oses Medium mit starr-ideal-plastischer Matrix und Porosit¨at f unter rein hydrostatischer Belastung. Es ist jedoch anzumerken, dass in realen por¨osen Materialien die Porengr¨oße i.a. nicht gem¨aß dem Composite-Spheres-Modell verteilt ist. Die exakte L¨osung (8.164) spielt eine wichtige Rolle im sogenannten Gurson-Modell, das in Abschnitt 9.4.2. diskutiert wird. 8.4.2
N¨ aherungen
Die im vorangegangenen Abschnitt gewonnenen allgemeinen Aussagen u ¨ber das effektive Verhalten mikroheterogener elastisch-plastischer Materialien basieren allein auf der Existenz der Einflußtensoren A(x) oder B(x) bzw. der durch sie beschriebenen elastischen Hilfsfelder. Ihre expliziten Darstellungen mit Hilfe der Eshelby-L¨osung sind nur f¨ ur das Innere ellipsoidf¨ormiger Inhomogenit¨aten (in
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
287
sonst homogener Matrix) verf¨ ugbar. F¨ ur die Homogenisierung rein elastischer Materialien war diese Information ausreichend. Dies ist jedoch nicht mehr der Fall, wenn zus¨atzlich r¨aumlich verteilte ortsabh¨angige plastische Verzerrungen vorliegen – auch wenn diese formal als Eigendehnungen betrachtet werden k¨onnen. Zur Anwendung analytischer Homogenisierungsmethoden in der Elastoplastizit¨at sind daher weitergehende Approximationen notwendig. Von der Vielzahl unterschiedlicher Zug¨ange, die in der Spezialliteratur diskutiert werden und die aktueller Forschungsgegenstand sind, k¨onnen hier nur einige grundlegende Gesichtspunkte angesprochen werden. Wir betrachten dazu ellipsoidf¨ormige Inhomogenit¨aten (I) in einer unendlich ausgedehnten Matrix (M) mit jeweils konstanten Stoffeigenschaften in Form der Elastizit¨atsgesetze σ = C α : (ε − εp ) (8.165) mit α = I, M und der Fließregeln (vgl. (1.82)) ∂Fα (σ) . (8.166) ∂σ Vor dem Einsetzen plastischen Fließens sind die Spannungen und Verzerrungen in einer einzelnen Inhomogenit¨at aufgrund der Eshelby-L¨osung konstant. Verh¨alt sich alleine die Inhomogenit¨at plastisch, so sind die sich dort gem¨aß der Fließregel entwickelnden plastischen Verzerrungen ebenfalls konstant. Da wir sie als Eigendehnungen auffassen k¨onnen, treten sie analog zu εt in der Gleichung (8.31a) f¨ ur die ¨aquivalente Eigendehnung auf und erm¨oglichen damit weiterhin die direkte Anwendung des Eshelby-Resultats. F¨ ur die Homogenisierung im Rahmen des Modells der d¨ unnen Verteilung oder der Mori-Tanaka-Methode sind dann keine zus¨atzlichen Approximationen notwendig, die u ¨ber die bei rein elastischem Materialverhalten hinausgehen. Die Selbstkonsistenzmethode hingegen erfordert wegen der Einbettung der Inhomogenit¨at in das effektive, jetzt elastisch-plastische Material bereits bei diesem einfachsten Sonderfall Modifikationen, die wir jedoch nicht n¨aher betrachten wollen. Im weiteren wenden wir uns dem f¨ ur praktische Anwendungen wichtigeren Fall von Inhomogenit¨aten in einer duktilen Matrix zu, in welcher inhomogene plastische Verzerrungen auftreten. Hierf¨ ur werden wir einige g¨angige N¨aherungen und deren Unterschiede diskutieren. Wir beschr¨anken uns dabei auf kugelf¨ormige Inhomogenit¨aten, auf isotropes elastisches Verhalten beider Phasen sowie auf die von Mises-Fließbedingung (1.77). ε˙p = λ˙ α
8.4.2.1
St¨ uckweise konstante plastische Verzerrungen
Der einfachste Zugang besteht darin, die plastischen Verzerrungen in beiden Phasen jeweils als konstant und damit gleich ihren Mittelwerten zu approximieren:
εp I in VI p ε (x) = . (8.167)
εp M in VM
288
Mikromechanik
Daneben verwenden wir nur die jeweiligen Phasenmittelwerte der Spannungen in den lokalen Fließregeln (8.166):
ε˙p I = λ˙ I
∂FI ( σI ) , ∂ σI
ε˙p M = λ˙ M
∂FM ( σM ) . ∂ σM
(8.168)
Aufgrund dieser N¨aherung k¨onnen wir auf die in Abschnitt 8.4.1.3 diskutierte formale Konstruktion einer Makrofließbedingung F ∗ ( σ) ≤ 0 verzichten und uns auf die Auswertung der lokalen Bedingungen Fα ( σα ) ≤ 0 beschr¨anken. Da hierzu die Phasenmittelwerte der Spannungen ben¨otigt werden, beschreiben wir im folgenden das effektive Materialverhalten implizit durch ein System von Gleichungen zwischen Phasenmittelwerten und Makrogr¨oßen. Wegen der als phasenweise konstant approximierten plastischen Verzerrungen k¨onnen die makroskopischen plastischen Verzerrungen (8.145a) in der Form * ) E p = C ∗ −1 : cI εp I : C I : AI + cM εp M : C M : AM
(8.169)
geschrieben werden. Darin sind cI und cM die Volumenanteile, und es gilt der Zusammenhang cM AM = 1 − cI AI (vgl. (8.70)). F¨ ur den Einflußtensor AI der Inhomogenit¨at, mit dem nach (8.71a) auch der effektive Elastizit¨atstensor C ∗ bekannt ist, kann nun jede der in Abschnitt 8.3.2 nach verschiedenen Methoden hergeleiteten Darstellungen verwendet werden. Der Vollst¨andigkeit halber seien noch die weiteren Gleichungen angegeben, aus denen bei Vorgabe der Makroverzerrung ε = ε0 alle Phasenmittelwerte sowie die Makrospannungen bestimmt werden k¨onnen: * ) * )
σα = C α : εα − εp α ,
σ = C ∗ : ε − E p , (8.170)
σ = cI σI + cM σM ,
ε = cI εI + cM εM .
Der wesentliche Bestandteil dieses einfachen Zugangs, der die Verwendung elastischer Grundl¨osungen wie des Eshelby-Tensors gestattet, ist die Annahme phasenweise konstanter plastischer Verzerrungen. Konkrete Auswertungen am Beispiel steifer elastischer Partikel (I) in einer weichen (duktilen) Matrix zeigen jedoch auch seine Schw¨ache. Danach f¨allt das vorhergesagte effektive Verhalten im Vergleich zu Resultaten von Finite-Elemente-Rechnungen und alternativen Homogenisierungstechniken (Abschnitt 8.4.2.3, Bild 8.28) viel zu steif aus. Der Grund daf¨ ur ist die vernachl¨assigte Konzentration plastischen Fließens der Matrix in der unmittelbaren Umgebung der Partikel (Spannungskonzentratoren). Im vorgestellten Modell befinden sich die Partikel in einer gegen¨ uber der Realit¨at scheinbar weniger nachgiebigen Umgebung; ihr Beitrag zum Gesamtverhalten des Materials (Versteifung) wird dadurch u ¨bersch¨atzt.
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
8.4.2.2
289
Inkrementelle Theorie
Wir verzichten nun auf die Annahme st¨ uckweise konstanter plastischer Verzerrungen und gehen zun¨achst von einem im Fließbereich g¨ ultigen inkrementellen Stoffgesetz aus. Hierf¨ ur kann das Prandtl-Reuss-Gesetz (1.83c) 1 3 s⊗s e˙ = : s˙ (8.171) 1+ 2µα 2gα s : s f¨ ur beide Phasen verwendet werden, wobei die Summe aus e(x) ˙ und dem rein elastischen volumetrischen Anteil die Gesamtverzerrungsrate ε(x) ˙ ergibt. Mit dem Symbol ⊗ wird dabei das dyadische Produkt zweier Tensoren bezeichnet: (σ ⊗ σ)ijkl = σij σkl . Die Beziehungen zwischen den Spannungs- und Verzerrungsinkrementen k¨onnen unter Verwendung der elastisch-plastischen Tangententen˜ α in der Form soren C ˜ α : ε˙ σ˙ = C
(α = I, M)
(8.172)
geschrieben werden. Man beachte, dass diese Tangententensoren u ¨ber die ak˜α = C ˜ α (s(x)). Zwischen den tuelle Spannungsverteilung vom Ort abh¨angen: C Inkrementen besteht nach (8.172) formal eine zum heterogenen Elastizit¨atsgesetz (8.54) analoge Beziehung. Allerdings sind die Tangententensoren nun selbst bei isotropem elastischen Materialverhalten anisotrop, da sie durch den zweiten Anteil in (8.171) von der Richtung des plastischen Fließens im Spannungsraum abh¨angen. Im weiteren approximieren wir die Spannungsabh¨angigkeit der Tangententensoren durch die Abh¨angigkeit nur vom Spannungsmittelwert der jeweiligen Phase. Hierdurch erh¨alt man f¨ ur die Inkremente ein lineares Stoffgesetz mit phasenweise konstanter Tangentensteifigkeit: ) * ˜ α sα : ε˙ . σ˙ = C (8.173) Damit l¨asst sich wieder das Eshelby-Resultat anwenden, wobei allerdings der ˜ ( s ) zu verwenden ist. Eshelby-Tensor f¨ ur ein anisotropes Matrixmaterial C M M Die in Abschnitt 8.3.2 dargestellten Homogenisierungsmethoden f¨ uhren schlieߘ ∗ ( sα ) zur Beschreibung des makrolich auf einen effektiven Tangententensor C skopischen Materialverhaltens: ) * ˜ ∗ sα : ε
σ ˙ =C ˙ . (8.174) Bei der Auswertung in inkrementellen Schritten sind jeweils die momentanen Mittelwerte sI und sM der deviatorischen Spannungszust¨ande in den beiden Phasen zu bestimmen, mit denen die Tangententensoren aktualisiert werden. Wegen der sich mit der Belastung ¨andernden Anisotropie der Tangententensoren und
290
Mikromechanik
des Eshelby-Tensors ist dieses Verfahren sehr aufwendig. Es f¨ uhrt jedoch zu realistischeren Resultaten, da die plastischen Verzerrungsraten in der Matrix mit 3 sM ⊗ sM : s(x) ˙ (8.175) ε˙p (x) = 2gM sM : sM hier nicht mehr konstant sind. 8.4.2.3
Deformationstheorie
Erhebliche Vereinfachungen ergeben sich, wenn wir uns auf monotone und proportional erfolgende Belastungsvorg¨ange beschr¨anken (vgl. Abschnitt 1.3.3.3). Wegen der Koaxialit¨at von σ, s und σ˙ gilt dann s(s : s) ˙ = (s : s)s˙ = 23 σe2 s, ˙ und (8.171) kann zum Hencky-Ilyushin-Gesetz s = 2µsα e
(8.176)
integriert werden (vgl. (1.86)). Es hat die Gestalt eines isotropen nichtlinearen Elastizit¨atsgesetzes mit dem Sekantenmodul µs (σe (x)). Dieser h¨ angt vom Span(
nungszustand nur u ¨ ber die einachsige Vergleichsspannung σe = 32 s : s ab. Im Fall isotroper Verfestigung ( mit einer von der einachsigen plastischen Vergleichs2 p ε : εp abh¨angigen Fließspannung k(p) = k0 + A p1/n verzerrung p ≡ εpe = 3 lautet der Sekantenmodul
µs (σe ) =
µ σe An σe − k )n σe An + 3µ( √ 0 3
(8.177)
√ f¨ ur σe ≥ 3 k0 , wobei k0 die Anfangsfließspannung ist. Zur Elimination der Ortsabh¨angigkeit der Sekantensteifigkeiten beider Phasen werden die inhomogenen Spannungsfelder durch ihre Phasenmittelwerte approximiert. Damit ergeben sich die einachsigen Vergleichsspannungen zu Σα = ( 3
sα 2
: sα . Aus (8.176) folgt auf diese Weise wieder ein Elastizit¨atsgesetz mit phasenweise konstanten Steifigkeiten s = 2µsα (Σα ) e .
(8.178)
Wegen der jetzt r¨aumlichen Konstanz der Matrixsteifigkeit l¨asst sich auch auf dieses nichtlineare Problem das Eshelby-Resultat f¨ ur eine Einzelinhomogenit¨at u ¨bertragen. Dabei h¨angt der Eshelby-Tensor u ¨ber den Sekanten-Schubmodul µsM (ΣM ) vom Mittelwert der Matrixspannung bzw. der daraus gebildeten einachsigen Vergleichsspannung ΣM ab. Im Fall kugelf¨ormiger Inhomogenit¨aten lauten die Parameter (8.11) des isotropen Eshelby-Tensors (8.10) daher αs (ΣM ) =
3KM , 3KM + 4µsM
β s (ΣM ) =
6(KM + 2µsM ) . 5(3KM + 4µsM )
(8.179)
291
Homogenisierung elastisch-plastischer Materialien
Eine Homogenisierung kann nun mittels der in Abschnitt 8.3.2 erl¨auterten Verfahren durchgef¨ uhrt werden, wobei in den Darstellungen f¨ ur die effektiven Steifigkeiten die Schubmoduli µI und µM durch µsI (ΣI ) und µsM (ΣM ) zu ersetzen sind. Dies f¨ uhrt auf die effektiven Sekantenmoduli Ks∗ und µ∗s und damit auf ein makroskopisches Stoffgesetz der Form
σkk = 3Ks∗ kk ,
s = 2µ∗s e
.
(8.180)
Die Ermittlung von Ks∗ und µs∗ erfordert die L¨osung eines nichtlinearen Gleichungssystems, da die aktuellen Phasenmittelwerte sα in Abh¨angigkeit von einer vorgegebenen Makrogr¨oße mit zu bestimmen sind. Dazu ist es zweckm¨aßig, aus den allgemeinen Beziehungen f¨ ur die Makrogr¨oßen die Verzerrungsmittelwerte zu eliminieren: cI sI + cM sM = s ,
cI sI c sM + M = e . 2µsI (ΣI ) 2µsM (ΣM )
(8.181)
Als Anwendungsbeispiel betrachten wir ein elastisch-plastisches Kompositmaterial aus einer duktilen Aluminium-Matrix, in die rein elastische kugelf¨ormige Aluminiumoxid-Partikel mit der Konzentration cI = 0.3 eingebettet sind. Das Verhalten der Matrix wird durch die Materialdaten EM = 75 GPa, νM = 0.3, k0 = 75 MPa, A = 400 MPa und n = 3 beschrieben und das der Partikel durch EI = 400 GPa und νI = 0.2. In Bild 8.28 ist das Spannungs-Dehnungs-Verhalten der beiden Phasen sowie das makroskopische Stoffverhalten unter einachsigem Zug dargestellt. Aufgrund der gew¨ahlten Materialparameter und der Morphologie des Komposits (steife Partikel in weicher Matrix) ist zu erwarten, dass das makroskopische Verhalten im wesentlichen durch die Matrix bestimmt wird. Verst¨arktes plastisches Fließen in der Umgebung der Partikel reduziert deren versteifende Wirkung gegen¨ uber einem rein elastischen Komposit. Zum Vergleich zeigt Bild 8.28 neben dem auf der Deformationstheorie basierenden effektiven Verhalten auch den aus der Annahme konstanter plastischer Verzerrungen (Abschnitt 8.4.2.1) resultierenden σ, ε-Verlauf. Zur Homogenisierung wurde bei beiden Methoden das Mori-Tanaka-Modell verwendet. Man erkennt, dass die Annahme homogener plastischer Verzerrungen zu einem unrealistisch schwachen Einfluß der Matrixplastizit¨at auf das effektive Verhalten f¨ uhrt; hierauf wurde in Abschnitt 8.4.2.1 schon hingewiesen. Das auf der Deformationstheorie und der Ber¨ ucksichtigung inhomogener plastischer Verzerrungen basierende Resultat spiegelt hingegen sehr viel deutlicher die Dominanz der duktilen Matrix im makroskopischen Verhalten wieder.
292
Mikromechanik
400
Partikel (elast.) Komposit (konst. plast. Verz.)
300
Komposit (Deformationstheorie)
σ, σ 200
Matrix
100
0
0
0.002
0.004
ε, ε
0.006
0.008
0.01
Bild 8.28 Elastisch-plastisches Komposit, Vergleich der N¨aherungsmethoden
8.5
Thermoelastisches Material
Neben den rein elastischen Eigenschaften sind in heterogenen Materialien in der Regel auch andere Stoffparameter ortsabh¨angig. Einer der wichtigsten darunter ist der thermische Ausdehnungskeffizient k, der nach (1.43), (1.44) im DuhamelNeumann-Gesetz ) * ) * σ(x) = C(x) : ε(x) − εth (x) = C(x) : ε(x) − k(x)∆T (x) (8.182) eines mikroinhomogenen Materials auftritt. F¨ ur die meisten praktischen Anwendungen ist es dabei zul¨assig, die Temperatur¨anderung ∆T auf der Mikroebene als konstant zu betrachten. Auf der Makroebene l¨asst sich dann das Materialverhalten durch den effektiven Elastizit¨atstensor C ∗ nach Abschnitt 8.3 sowie einen effektiven W¨armeausdehnungskoeffizienten k∗ charakterisieren: ) *
σ = C ∗ : ε − E th mit E th = k∗ ∆T . (8.183) Vergleicht man (8.182) und (8.183) mit (8.4) bzw. (8.142) und (8.144), so erkennt man, dass W¨armedehnungen εth = k∆T a¨quivalent zu spannungsfreien Transformationverzerrungen εt oder zu plastischen Verzerrungen εp sind. Diese schon wiederholt angesprochene Analogie k¨onnen wir zur Bestimmung von k∗ ausnutzen. Danach liefert (8.145a) die makroskopische thermische Verzerrung E th = C ∗−1 : εth : C : A
(8.184a)
293
Thermoelastisches Material
und nach Einsetzen von E th und εth k∗ = C ∗−1 : k : C : A .
(8.184b)
Der effektive W¨armeausdehnungskoeffizient ist also der mit der elastischen Heterogenit¨at (in Form von C(x) und dem Einflußtensor A(x)) gewichtete Mittelwert des mikroskopischen W¨armeausdehnungskoeffizienten. F¨ ur ein elastisch homogenes Material (C = const, A = 1) ist k∗ = k. Als wichtigen Anwendungsfall betrachten wir wieder ein Kompositmaterial aus zwei st¨ uckweise homogenen Phasen mit C M , C I , kM , kI und den Volumenanteilen cM , cI . Unter Beachtung von cI AI + cM AM = 1 erh¨alt man daf¨ ur aus (8.184b) * ) (8.185a) k∗ = C ∗−1 : kM : C M + cI (kI : C I − kM : C M ) : AI . Ersetzt man mit Hilfe von (8.71a) noch den Einflußtensor AI der Inhomogenit¨atsphase, so folgt ) * k∗ = C ∗−1 : kM : C M +(kI : C I −kM : C M ) : (C I −C M )−1 : (C ∗ −C M ) . (8.185b) F¨ ur den effektiven Elastizit¨atstensor C ∗ kann nun jede der in Abschnitt 8.3.2 nach unterschiedlichen mikromechanischen Modellen hergeleiteten Darstellungen verwendet werden. Eine in der Praxis h¨aufig auftretende Frage ist die nach thermisch induzierten Eigenspannungen beim Abk¨ uhlen oder Aufheizen eines heterogenen Gef¨ uges oder Komposits. Betrachtet man das Material dabei als makroskopisch belastungsfrei
σ = 0, so gilt nach (8.47) f¨ ur die mittleren Spannungen in den beiden Phasen cI σI = −cM σM , und die mittlere Verzerrung ist ε = cI εI +cM εM = k∗ ∆T . Durch Einsetzen der Stoffgesetze σα = C α : ( εα − kα ∆T ) erh¨alt man f¨ ur die Spannungsmittelwerte /−1 . . / cI σI = −cM σM = C −1 − C −1 : cI kI + cM kM − k∗ ∆T . M I
(8.186)
Wir betrachten nun ein Material, dessen beide Phasen elastisch (Kα , µα ) sowie thermisch isotrop sind. Die lokalen thermischen Dehnungen sind dann rein volumetrisch: εth = kα ∆T I. Verh¨alt sich das Material auch auf der Makroebene elastisch isotrop, so ist nach (8.185b) der effektive W¨armeausdehnungskoeffizient ebenfalls isotrop k∗ = k ∗ I und nur vom effektiven Kompressionsmodul abh¨angig: k∗ =
kM KM (KI − KM ) + (kI KI − kM KM )(K ∗ − KM ) . K ∗ (KI − KM )
(8.187)
Verwendet man im Fall einer Mikrostruktur aus kugelf¨ormigen Inhomogenit¨aten zur Homogenisierung beispielsweise das Mori-Tanaka-Modell (Abschnitt 8.3.2.4),
294
Mikromechanik
so ergibt sich mit (8.98) und dem volumetrischen Anteil α = (1 + ν)/3(1 − ν) des isotropen Eshelby-Tensors (8.10), (8.11) ∗ =k +c k(MT) M I
KI (kI − kM ) . KM + (α + cI (1 − α))(KI − KM )
(8.188)
Einsetzen in (8.186) liefert die mittleren thermisch induzierten Spannungen in den beiden Phasen, die rein hydrostatisch sind:
σI = −
cM −3KI KM cM (1 − α)(kI − kM ) ∆T I .
σM = cI KM + (α + cI (1 − α))(KI − KM )
(8.189)
F¨ ur den Sonderfall einer sehr steifen Matrix (KM KI ) erh¨alt man
σI = −3KI (kI − kM )∆T I .
(8.190)
Im Fall eines elastisch homogenen Materials (KM = KI = K) hingegen folgt
σI = −3KcM (1 − α)(kI − kM ) ∆T I ,
(8.191)
worin f¨ ur eine rein auf die Inhomogenit¨at beschr¨ankte W¨armedehnung (kM = 0) und sehr kleine Volumenanteile (cI 1 , cM ≈ 1) das Ergebnis (8.14) enthalten ist:
σI + kI ∆T I = α kI ∆T I .
εI = (8.192) 3K Als praxisrelevantes Beispiel betrachten wir ein Gef¨ uge, das durch die Infiltration von Aluminium in eine por¨ose Keramikmatrix aus Aluminiumoxid (Al2 O3 ) entsteht. Da die Herstellung bei hohen Temperaturen erfolgt, kommt es beim Abk¨ uhlen auf Raumtemperatur zu thermisch induzierten Eigenspannungen in den beiden Phasen. Typische Materialdaten f¨ ur die Keramikmatrix (M) und die als kugelf¨ormige Inhomogenit¨aten approximierte Aluminiumphase (I) sind: KM = 220 GPa, νM = 0.2, kM = 8 · 10−6 K−1 , KI = 60 GPa, νI = 0.3, kI = 2.4 · 10−5 K−1 . Damit ergibt sich α(νM ) = 0.5, und f¨ ur einen Volumenanteil an Aluminium von cI = 0.25 erh¨alt man aus (8.188) den effektiven W¨armeausdehnungskoeffizienten zu k ∗ ≈ 10−5 K−1 . Eine Temperatur¨anderung beim Abk¨ uhlen von ∆T = −400 K f¨ uhrt nach (8.189) zu mittleren Druckeigenspannungen von σM ≈ −250 MPa in der Keramikmatrix (M) und Zugeigenspannungen σI ≈ 750 MPa im Aluminiuminfiltrat (I). Trotz der stark vereinfachenden Approximation der Morphologie durch kugelf¨ormige Aluminiumpartikel entsprechen diese Werte recht gut dem experimentellen Befund. Man beachte, dass die mittlere Spannung in der Aluminiumphase weit u ¨ ber der Fließspannung von Aluminium liegt. Wegen des rein hydrostatischen Spannungszustandes tritt jedoch w¨ahrend des Abk¨ uhlvorganges kein plastisches Fließen auf, sondern es bilden sich Hohlr¨aume (Kavit¨aten) in der Aluminiumphase.
Mikromechanik
8.6
295
Literatur
Aboudi, J. (1991). Mechanics of Composite Materials - A Unified Micromechanical Approach. Elsevier, Amsterdam Christensen, R.M. (1979). Mechanics of Composite Materials. Wiley & Sons, New York Hashin, Z. (1983). Analysis of Composite Materials – A Survey. J. Appl. Mech. 50, 481-505 Hill, R. (1963). Elastic properties of reinforced solids: some theoretical principles. J. Mech. Phys. Solids 11, 357-372 Hill, R. (1967). The essential structure of constitutive laws for metal composites and polycrystals. J. Mech. Phys. Solids 15, 79-95 Jones, R.M. (1975). Mechanics of Composite Materials. McGraw-Hill, Washington Kachanov, M., Shafiro, B. and Tsukrov, I. (2003). Handbook of Elasticity Solutions. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht Kreher, W. and Pompe, W. (1989). Internal Stresses in Heterogeneous Solids. Akademie Verlag, Berlin Mura, T. (1982). Micromechanics of Defects in Solids. Martinus Nijhoff Publishers, Dordrecht Nemat-Nasser, S. and Hori, M. (1993). Micromechanics – Overall Properties of Heterogeneous Materials. North-Holland, Amsterdam Sanchez-Palencia, E. and Zaoui, A. (eds.) (1987). Homogenization Techniques for Composite Materials. Springer, Berlin Suquet, P. (ed.) (1997). Continuum Micromechanics. CISM Lecture notes, Springer, Berlin Van der Giessen, E. (2001). Background on micromechanics. In: Lemaitre, J. (ed.), Handbook of Materials Behavior Models, Vol. 3, Academic Press, 959967 Yang, W. and Lee, W.B. (1993). Mesoplasticity and its Applications. Springer, Berlin Zohdi, T.I. and Wriggers, P. (2004). Introduction to Computational Micromechanics. Springer, Berlin
9 Sch¨ adigung
9.1
Allgemeines
Ein reales Material enth¨alt meist schon im Ausgangszustand eine Vielzahl von Defekten wie Mikrorisse oder Poren. Bei einem Deformationsvorgang k¨onnen sich diese inneren Hohlr¨aume vergr¨oßern und verbinden, w¨ahrend es an Spannungskonzentratoren (z.B. Einschl¨ usse, Korngrenzen, Inhomogenit¨aten) gleichzeitig zu weiteren Materialtrennungen kommt, d.h. neue Mikrodefekte entstehen. Hierdurch ¨andern sich die makroskopischen Eigenschaften des Materials, und seine Festigkeit wird merklich reduziert. Diesen Prozess der Struktur¨anderung des Materials, welcher mit der Entstehung, dem Wachstum und der Vereinigung von Mikrodefekten verbunden ist, nennt man Sch¨adigung (damage). Er f¨ uhrt in seinem Endstadium zur vollst¨andigen Aufl¨osung der Bindungen, d.h. zur Materialtrennung und zur Bildung eines makroskopischen Risses. Die Materialsch¨adigung klassifiziert man ausgehend vom dominierenden makroskopischen Ph¨anomen in spr¨ode Sch¨adigung, duktile Sch¨adigung, Kriechsch¨adigung und Erm¨udungs-Sch¨adigung. Vorherrschender Mechanismus bei der spr¨oden Sch¨adigung ist die Bildung und das Wachstum von Mikrorissen. Beispiele hierzu sind Keramiken, Geomaterialien oder Beton. Im Gegensatz dazu sind die duktile Sch¨adigung und die Kriechsch¨adigung in Metallen im wesentlichen mit dem Wachstum, der Vereinigung und der Neuentstehung von Mikroporen verbunden. Bei der Erm¨ udungs-Sch¨adigung entstehen an Spannungskonzentratoren aufgrund der mikroplastischen Wechselbelastung zun¨achst Mikrorisse, die sich dann ausbreiten und vereinigen. Die Beschreibung des makroskopischen Verhaltens eines gesch¨adigten Materials kann nach wie vor im Rahmen der Kontinuumsmechanik erfolgen. Die auftretenden Makrospannungen und Makroverzerrungen sind dann als Mittelwerte u ¨ber ein repr¨asentatives Volumenelement (RVE) aufzufassen, in welchem sich der Sch¨adigungsProzess abspielt (siehe auch Abschnitt 8.3.1.1). Die zugeh¨origen charakteristischen L¨angen h¨angen dabei vom Material sowie vom Sch¨adigungsmechanismus ab. Der Sch¨adigungszustand wird durch sogenannte Sch¨adigungsvariable (innere Variable) erfaßt. F¨ ur diese muß ein Evolutionsgesetz aufgestellt werden, das die Entwicklung der Sch¨adigung physikalisch ad¨aquat beschreibt. Hierbei bedient man sich zweckm¨aßig mikromechanischer Modelle, welche die wesentlichen Eigenschaften der Defekte abbilden und eine detaillierte Untersuchung ihres Wachstums erlauben. Man kann eine entsprechende Sch¨adigungstheorie als Bindeglied zwischen der klassischer Kontinuumsmechanik und der Bruchmechanik auffassen. Sie
298
Sch¨ adigung
ist prinzipiell in der Lage, die Entstehung eines Risses in einem makroskopisch zun¨achst Rissfreien K¨orper zu beschreiben. In diesem Kapitel wollen wir einige Elemente der Sch¨adigungsmechanik behandeln. Dabei beschr¨anken wir uns auf die einfachsten F¨alle der spr¨oden bzw. der duktilen Sch¨adigung unter monoton zunehmender Belastung.
9.2
Grundbegriffe
Sch¨adigungsvariable lassen sich auf verschiedene Weise einf¨ uhren. Eine einfache M¨oglichkeit zur Beschreibung des Sch¨adigungszustandes besteht in seiner geometrischen Quantifizierung; diese Idee geht auf L.M. Kachanov (1914-1993) zur¨ uck. Wir betrachten dazu in einem Schnitt durch einen gesch¨adigten K¨orper ein Fl¨achenelement dA mit dem Normalenvektor n (Bild 9.1a). Den Fl¨achenanteil der Defekte in diesem Element bezeichnen wir als ‘Defektfl¨ache’ dAD . Dann kann man die Sch¨adigung in diesem Element durch das Fl¨achenverh¨altnis ω(n) =
dAD dA
mit
0≤ω≤1
(9.1)
charakterisieren. Danach entsprechen ω = 0 einem ungesch¨adigten Material und ω = 1 formal einem v¨ollig gesch¨adigten Material mit Verlust der Tragf¨ahigkeit (=Bruch). In realen Werkstoffen treten allerdings bereits bei Werten von ω ≈ 0.2 . . . 0.5 Prozesse auf, die zu einem v¨olligen Versagen f¨ uhren. Ist die Sch¨adigung u ¨ber eine endliche Fl¨ache konstant, wie dies zum Beispiel beim einachsigen Zug nach Bild 9.1b der Fall ist, dann vereinfacht sich (9.1) zu ω = AD /A. Offensichtlich eignet sich diese einfachste Sch¨adigungsdefinition nur f¨ ur porenf¨ormige Defekte, die eine r¨aumliche Ausdehnung und damit in einem beliebigen Schnitt eine Defektfl¨ache dAD aufweisen. Der Einfluß etwa von Mikrorissen, die schr¨ag zur Schnittflache liegen, kann hiermit nicht hinreichend erfaßt werden.
F dF dA
dA
n
n
A
AD
dAD a)
b) Bild 9.1 Definition der Sch¨adigung
F
299
Grundbegriffe
Beim DeformationsProzess wachsen die Defekte bevorzugt in bestimmte Richtungen, die durch den Spannungszustand festgelegt sind. In diesem Fall ist ω von n abh¨angig; die Sch¨adigung ist anisotrop. Von isotroper Sch¨adigung spricht man, wenn die Defekte und ihre r¨aumliche Verteilung keine Vorzugsrichtungen besitzen. Dann ist ω unabh¨angig von n, der Sch¨adigungszustand also durch einen Skalar beschreibbar. Eine hinreichend kleine Sch¨adigung kann man h¨aufig in erster N¨aherung als isotrop ansehen. Bezieht man die im Schnitt wirkende Kraft dF auf die Fl¨ache dA, so erh¨alt man nach (1.1) den u ¨blichen Spannungsvektor t. Der effektive Spannungsvektor ˜t ergibt sich, indem man die Kraft auf die effektive (tragende) Fl¨ache dA˜ = dA − dAD = (1 − ω)dA bezieht: ˜t = t dA = t . dA˜ 1 − ω
(9.2)
Dementsprechend folgen bei isotroper Sch¨adigung (ω unabh¨angig von n) die effektiven Spannungen zu σij σ ˜ij = . (9.3) 1−ω Dabei sind σ ˜ij die mittleren Spannungen im ungesch¨adigten Matrixmaterial. Bei der Formulierung von Stoffgesetzen nimmt man h¨aufig an, dass die effektiven Spannungen σ˜ij am gesch¨adigten Material die gleichen Verzerrungen hervorrufen, wie die u ¨ blichen Spannungen σij am ungesch¨adigen Material (Dehnungs¨ Aquivalenz-Prinzip). Danach kann man das Spannungs-Dehnungs-Verhalten des gesch¨adigten Materials durch das Stoffgesetz des ungesch¨adigten Matrixmaterials beschreiben, indem man die Spannungen durch die effektiven Spannungen ersetzt. Auf diese Weise ergibt sich zum Beispiel f¨ ur ein gesch¨adigtes, linear elastisches Material im einachsigen Fall ε=
σ ˜ σ = , E (1 − ω)E
(9.4)
wobei E der Elastizit¨atsmodul des ungesch¨adigten Materials ist. Entsprechend kann man auch bei inelastischem Materialverhalten vorgehen. So folgt in der Plastizit¨at f¨ ur den elastischen Anteil der Verzerrungen dεe =
dσ d˜ σ = E (1 − ω)E
bzw.
εe =
σ σ ˜ = . E (1 − ω)E
(9.5)
Danach l¨asst sich die Sch¨adigung durch Messung des effektiven Elastizit¨atsmoduls E ∗ = (1 − ω)E
(9.6a)
des gesch¨adigten Materials bestimmen (Bild 9.2): ω =1−
E∗ . E
(9.6b)
300
Sch¨ adigung
σ
σ E
a)
E1∗ E ∗ 2
E
ε
E1∗
E2∗
E3∗
b)
ε
Bild 9.2 Sch¨adigungsentwicklung: a) elastisch, b) elastisch-plastisch Es bietet sich an, die Darstellung (9.6a) mit dem Ergebnis (8.73) C ∗ = C : (1 − D)
(9.7)
aus der mikromechanischen Untersuchung von Materialien mit Hohlr¨aumen und Rissen zu vergleichen. Man erkennt dann, dass die Sch¨adigungsvariablen ω der eindimensionale Sonderfall des Einflußtensors D ist, der auch eine anisotrope Sch¨adigung aufgrund von Vorzugsrichtungen der Defektorientierung erfaßt. Die zur Herleitung von (9.7) in Abschnitt 8.3 zugrunde gelegte Randbedingung (RVE) vorgegebener Makroverzerrungen (vgl. (8.72), (8.73)) findet sich hier im Dehnungs¨ Aquivalenz-Prinzip wieder. Neben ω nach (9.1) oder D nach (9.7) werden auch andere Gr¨oßen zur Charakterisierung der Sch¨adigung verwendet. So l¨asst sich unabh¨angig vom Materialverhalten die anisotrope Sch¨adigung durch Mikrorisse mit Hilfe des Sch¨adigungstensors 1 ωij = (ni ∆uj + nj ∆ui ) dA (9.8) 2V AR
beschreiben. Hierin sind V das Volumen des repr¨asentativen Volumenelements, ∆ui der Verschiebungssprung, ni der Normalenvektor, und die Integration hat u ¨ ber alle Risse im RVE zu erfolgen. Man ¨ber die gesamte Rissfl¨ache AR , d.h. u kann die durch (9.8) definierte Gr¨oße auch als ‘Eigendehnungen’ auffassen, die durch die Sch¨adigung induziert sind (vgl. auch (8.50b),(8.53)). Schließen sich die Mikrorisse beim Entlastungsvorgang nicht vollst¨andig, dann beschreibt (9.8) die bleibenden (inelastischen) Verzerrungen. Die Sch¨adigung durch Poren in duktilen Metallen wird meist durch die Porenvolumenfraktion oder kurz Porosit¨at Vp f= V
(9.9)
301
Spr¨ode Sch¨adigung
beschrieben, wobei Vp das Porenvolumen im Volumen V des RVE ist. Analog dazu kann bei einer Sch¨adigung durch Mikrorisse auch der in Abschnitt 8.3 eingef¨ uhrte Rissdichteparameter als Sch¨adigungsvariable verwendet werden.
9.3
Spr¨ ode Sch¨ adigung
Dominierender Mechanismus bei der spr¨oden Sch¨adigung ist die Ausbreitung und die Neubildung von Mikrorissen. Diese Risse haben in der Regel eine Vorzugsorientierung, die durch die Hauptachsen des Spannungstensors vorgegeben ist. So beobachtet man bei einer Zugbelastung Risse vorwiegend senkrecht zur gr¨oßten Zugspannung (Bild 9.3). Ihre charakteristische L¨ange im Ausgangszustand ist daneben meist durch die Mikrostruktur des Materials (z.B. Korngr¨oße) bestimmt. Bei zunehmender Belastung beginnen sich die Risse ab einer bestimmten Last zu vergr¨oßern und zu vermehren, was zu einer abnehmenden Steifigkeit (abnehmender Elastizit¨atsmodul) in der entsprechenden Zugrichtung f¨ uhrt. Obwohl das ungesch¨adigte Matrixmaterial linear elastisch ist, verh¨alt sich das gesch¨adigte Material aufgrund der zunehmenden Sch¨adigung makroskopisch nichtlinear (Bild 9.3). Der Deformationsvorgang verl¨auft auf diese Weise, bis das Material makroskopisch instabil wird und es zur Lokalisierung der Sch¨adigung kommt. Dann entwickelt sich die Sch¨adigung nicht mehr gleichf¨ormig im gesamten Gebiet sondern einer der Risse dominiert gegen¨ uber den anderen, und er alleine w¨achst weiter. Schädigung
σ1 > σ2
σ2
σ2
σ
Lokalisierung
σ1
ε
Bild 9.3 Spr¨ode Sch¨adigung bei Zugbelastung Bei einer Druckbelastung stellt man h¨aufig Risse in Richtung der gr¨oßten Druckspannung fest, die mit zunehmender Belastung wachsen (Bild 9.4a). Sie haben ihre Ursache in verschiedenen Mechanismen, die zu lokalen Zugspannungsfeldern f¨ uhren. Ein Beispiel hierf¨ ur ist der kugelf¨ormige Hohlraum oder Einschluß, an dessen Polen unter globaler Druckbelastung ein lokaler Zug entsteht. Ein anderer Mechanismus besteht in Scherrissen unter Modus II Belastung, welche abknicken und dann unter lokalen Modus I Bedingungen in Richtung der Druckbelastung wachsen (Bild 9.4b). Makroskopisch verh¨alt sich das Material aufgrund
302
Sch¨ adigung
|σ3 | |σ1 |
σ3
σ1
b)
a)
Bild 9.4 Spr¨ode Sch¨adigung bei Druckbelastung des Sch¨adigungswachstums wiederum nichtlinear. Auch hier kommt es im Verlauf der Deformation zur Materialinstabilit¨at bzw. zur Lokalisierung der Sch¨adigung. H¨aufig beobachtet man dabei die Ausbildung von Scherb¨andern, welche durch die Vereinigung und das Wachstum von Scherrissen unter einem bestimmten Winkel zur Drucklast hervorgerufen werden. Im weiteren wollen wir als einfachstes Beispiel die Sch¨adigung unter einachsigem Zug betrachten (Bild 9.5). Dabei modellieren wir das RVE als ebenen Bereich ∆A, der im Ausgangszustand nur einen Modus I Riss enth¨alt. Seine L¨ange sei im Vergleich zum Abstand von weiteren Rissen immer so klein, dass eine Wechselwirkung der Risse nicht ber¨ ucksichtigt werden muß (vgl. Abschnitt 8.3.2.3). Die Beschreibung des makroskopischen Stoffverhaltens erfolgt unter Zuhilfenahme der (vgl. Abschnitt 1.3.1): Komplement¨arenergie U =U e (σij ) + ∆U (σij , a) . U
(9.10)
Hierin beschreibt der erste Anteil die Energie des ungesch¨adigten Materials, wel e = σ 2 /2E gegeben ist. Der zweite Anteil che nach (1.50) in unserem Fall durch U σ
σ ∆A 2a
Bild 9.5 2D-Sch¨adigungsmodell f¨ ur Zugbelastung
303
Duktile Sch¨adigung
kennzeichnet die Energie¨anderung infolge der Existenz der Mikrorisse. Diese errechnen wir - bezogen auf √ die Gr¨oße des RVE - aus der Energiefreisetzungsrate G = KI2 /E mit KI = σ πa zu a π 2 σ 2 a2 . Gda = (9.11) ∆U = ∆A E ∆A 0
Damit ergibt sich f¨ ur die Komplement¨arenergie 2 2π 2 (σ, a) = σ a 1 + , U 2E ∆A und nach (1.48) erh¨alt man durch Ableitung σ 2π 2 ∂U = 1+ a . ε(σ, a) = ∂σ E ∆A
(9.12)
(9.13)
Darin hat die Rissl¨ange die Bedeutung einer inneren Variablen. F¨ ur eine feste Rissl¨ange (a = const) beschreibt (9.13) ein linear elastisches Verhalten, das man durch den zugeh¨origen effektiven Elastizit¨atsmodul E ∗ = E /(1 + 2πa2 /∆A) charakterisieren kann (vgl. Bild 9.2a). Damit ist nach (9.6b) auch die Sch¨adigung ω bestimmt. Im weiteren nehmen wir an, dass die Risse eine Ausgangsl¨ange 2a0 haben und sich ab einer bestimmten Belastung σ0 bzw. Dehnung ε0 ausbreiten k¨onnen. Der Rissfortschritt erfolge entsprechend der Fortschrittsbedingung G(σ, a) = R(∆a) (vgl. Abschnitt 4.8) bzw. √ KI (σ, a) = KR (∆a) oder σ πa = KR (∆a) , (9.14) wobei KR die Risswiderstandskurve f¨ ur einen MikroRiss sei. Dies ist das Evolutionsgesetz f¨ ur die innere Variable. Zusammen mit (9.13) ist hierdurch das Stoffverhalten eindeutig festgelegt: √ a = const f¨ ur σ πa < KR (∆a) σ 2π 2 ε(σ, a) = 1 + a (9.15) √ E ∆A a˙ > 0 f¨ ur σ πa = KR (∆a) Zur Illustration beschreiben wir die Risswiderstandskurve n¨aherungsweise durch √ den Ansatz KR = K∞ [1 − (1 − K0 /K∞ )e−η∆a/a0 ] mit K0 = σ0 πa0 . Hierin sind K0 der Initiierungswert und K∞ der Plateauwert von KR ; letzterer wird je nach Wahl von η schneller oder oder langsamer erreicht. In Bild 9.6 sind exemplarisch einige hiermit gewonnene Spannungs-Dehnungsverl¨aufe dargestellt.
9.4 9.4.1
Duktile Sch¨ adigung Porenwachstum
Die duktile Sch¨adigung ist durch das Wachstum, die Vereinigung und die Neuentstehung von Mikroporen gekennzeichnet. Diese bilden sich bevorzugt an eingeschlossenen Partikeln, an Korngrenzen oder an anderen Hindernissen f¨ ur die
304
Sch¨ adigung
σ/σ0
K
η = 2, γ = 2.5
K∞ η = 1, γ = 2.5
1
KR
η = 1, γ = 2
K0 ∆a
1
2
ε/ε0
Bild 9.6 Risswiderstandskurve und zugeh¨orige σ-ε-Verl¨aufe 2πa20 /∆A = 0.05, γ = K∞ /K0 Versetzungsbewegung. Sie k¨onnen aber auch durch das Aufreißen von spr¨oden Mikroeinschl¨ ussen initiiert werden.
z a 2a
r ϕ
σ∞
Bild 9.7 McClintock Modell Zur Beschreibung alleine des Porenwachstums gibt es verschiedene Modelle, von denen wir hier das Modell von McClintock (1968) betrachten wollen. Bei ihm wird eine Einzelpore vereinfacht als zylindrisches Loch im unendlichen Gebiet unter radialer Zugspannung σ∞ angesehen (Bild 9.7). Zugrunde gelegt wird ein starr-idealplastisches Materialverhalten sowie ein ebener Verzerrungszustand mit vorgegebener Verzerrungsgeschwindigkeit ε˙z = ε˙0 . Unter Verwendung von Zylinderkoordinaten und Beachtung der Rotationssymmetrie lauten hierf¨ ur die Gleichgewichtsbedingung dσr 1 − (σϕ − σr ) = 0 , dr r
(9.16)
305
Duktile Sch¨adigung
die kinematischen Beziehungen ε˙r =
du˙ r , dr
ε˙ϕ =
u˙ r r
→
ε˙r =
d(rε˙ϕ ) dr
(9.17)
sowie das Stoffgesetz (vgl. Abschnitt 1.3.3) ε˙r = λ˙ sr ,
ε˙ϕ = λ˙ sϕ , ε˙z = λ˙ sz (9.18) 1 2 1 (ε˙r + ε˙2ϕ + ε˙2z ) , mit λ˙ = ε˙r + ε˙ϕ + ε˙z = 0 τF 2 √ und τF = σF / 3. Dann ergibt sich zun¨achst aus der Volumenkonstanz nach (9.18) mit (9.17) durch Integration ε˙ϕ + r
dε˙ϕ + ε˙ϕ + ε˙0 = 0 dr
→
ε˙ϕ =
C1 ε˙0 − . r2 2
˙ = u˙ r (a)/a = ε˙ϕ (a) die Lochwachstumsrate ein, so folgen F¨ uhren wir mit ε˙a = a/a ε˙ϕ =
a2 (ε˙a + ε˙0 /2) − ε˙0 /2 , r2
ε˙r = −
a2 (ε˙a + ε˙0 /2) − ε˙0 /2 . r2
(9.19)
Mit der Abk¨ urzung 2a2 ε˙a + ε˙0 /2 ξ=√ ε˙0 3 r2 liefert (9.19) σϕ − σr = sϕ − sr = (
τF (ε˙ϕ − ε˙r ) 1 2 (ε˙ 2 r
+
ε˙2ϕ
+
ε˙2z )
2ξ . = τF 1 + ξ2
Hiermit l¨asst sich die Gleichgewichtsbedingung in folgender Form schreiben und durch Integration l¨osen: τF dσr = − dξ 1 + ξ2
→
σr = −τF arsinh ξ + C2 .
Mit den Randbedingungen f¨ ur r → ∞: σr = σ∞ und r = a: σr = 0 erh¨alt man daraus schließlich ε˙0 √ σ∞ ε˙a = 3 sinh −1 , (9.20) 2 τF wobei ε˙0 unter Verwendung von (9.20) auch durch die plastische Vergleichsverzerrungsrate im Unendlichen ersetzt werden kann: ε˙pe = [ 32 (ε˙2z + ε˙2ϕ + ε˙2r )]1/2 = ε˙0 . Berechnet man nun noch f¨ ur r → ∞ die hydrostatische Spannung zu σm = σkk /3 =
306
Sch¨ adigung
√ σr − sr = σ∞ + τF / 3 und f¨ uhren wir mit V˙P /VP = 2ε˙a + ε˙0 die Wachstumsrate f¨ ur das Porenvolumen ein, so kann man das Ergebnis auch in der Form √ √ V˙P σm − τF / 3 = 3 ε˙pe sinh (9.21) VP τF schreiben. Danach ist f¨ ur ein Porenvolumenwachstum (V˙P > 0) ein hinreiched großer hydrostatischer Spannungszustand σm erforderlich; das Wachstum ist umso st¨arker, je gr¨oßer σm ist. Zu einem ¨ahnlichen Resultat gelangt das Modell nach Rice und Tracey (1969), bei dem die Wachstumsrate einer einzelnen kugelf¨ormigen Pore in einem ideal plastischen, unendlich ausgedehnten K¨orper untersucht wird: V˙P 3σm = 0.85 ε˙pe exp . VP 2σF
(9.22)
Dabei wird angenommen, dass (wie zuvor) im Unendlichen die Dehnungsraten ε˙z = −2ε˙x = −2ε˙y = ε˙0 herrschen, was einem einachsigen Zug im inkompressiblen Material entspricht: ε˙pe = ε˙0 . Man kann diese Ergebnisse in der Sch¨adigungsmechanik benutzen, wenn wir annehmen, dass die Poren soweit voneinander entfernt sind, dass sie sich gegenseitig nicht beeinflussen. Wir k¨onnen sie aber auch unmittelbar in der elastisch plastischen Bruchmechanik anwenden. Vor einer Rissspitze ist der hydrostatische Spannungszustand im allgemeinen groß. Sch¨atzen wir ihn nach (5.22) ab, so erh¨alt man σm ≈ τF (1 + π), und es folgt aus (9.20) bzw. (9.21) (die Ergebnisse sind praktisch gleich) V˙ P /VP ≈ 31 ε˙pe . Dies l¨asst an der Rissspitze ein starkes Porenwachstum erwarten. 9.4.2
Sch¨ adigungsmodelle
Wir wollen nun das Verhalten eines duktilen gesch¨adigten Materials betrachten. Dabei setzen wir eine isotrope Sch¨adigung durch verteilte Poren voraus, welche durch die Porosit¨at f charakterisiert wird. Die Beschreibung des elastischplastischen Stoffverhaltens kann ¨ahnlich wie bei ungesch¨adigten Materialien erfolgen (vgl. Abschnitt 1.3.3). Hierzu spalten wir nach (1.73) die Verzerrungsraten in einen elastischen und einen plastischen Anteil auf, wobei f¨ ur den elastischen Anteil das Elastizit¨atsgesetz (1.38) g¨ ultig sei. Den plastischen Anteil ermitteln wir mit Hilfe einer Fließbedingung und einer Fließregel. Im Unterschied zum ungesch¨adigten Material geht nun aber in die Fließbedingung nicht nur der Spannungszustand σij sondern auch die Sch¨adigungsvariable f ein: F (σij , f ) = 0. Daneben kann man jetzt nicht mehr annehmen, dass die hydrostatische Spannung σm bzw. die Invariante Iσ das Fließen nicht beeinflußt; sie steuert vielmehr das Porenwachstum und damit auch die plastischen Volumendehnungen (vgl. Abschnitt 9.4.1). Dementsprechend l¨asst sich die Fließbedingung durch F (Iσ , IIs , f ) = 0 .
(9.23)
307
Duktile Sch¨adigung
ausdr¨ ucken, wobei wir gleich angenommen haben, dass F von IIIs nicht abh¨angt. Die durch das Porenwachstum hervorgerufenen plastischen Volumendehnungen sind durch die Volumen¨anderung des RVE gegeben: V˙ /V = ε˙pV = ε˙pkk . Unter Beachtung der plastischen Inkompressibilit¨at des Matrixmaterials ergibt sich damit aus (9.9) f¨ ur die Sch¨adigungsvariable f˙ = (1 − f ) ε˙pkk .
(9.24)
Hinsichtlich der Fließbedingung und des weiteren Vorgehens gibt es unterschiedliche Modelle, von denen wir hier nur das Modell von Gurson (1977) betrachten wollen. Es geht von der Fließbedingung F (Iσ , IIs , f ) =
/ σe2 3σm . + 2f cosh − 1 + f2 = 0 2 σM 2σM
(9.25)
aus. Hierin sind σe = ( 32 sij sij )1/2 die makroskopische Vergleichsspannung und σM die aktuelle Fließspannung des Matrixmaterials. Bei σM handelt es sich um eine effektive, r¨aumlich konstante Fließspannung, die den in Wirklichkeit inhomogenen Fließ- und Verfestigungszustand im die Poren umgebenden Matrixmaterial repr¨asentiert. Die Gurson-Fließbedingung (9.25) umfaßt einige wichtige Spezialf¨alle. F¨ ur rein hydrostatische Belastung (σe = 0) reduziert sich (9.25) auf die analytische L¨osung (8.164). Unter deviatorischer Belastung (σm = 0) hingegen stimmt (9.25) wegen cosh(0) = 1 mit der oberen Schranke (8.161) u ¨berein. Und f¨ ur f = 0 verschwindet der Einfluß der hydrostatischen Spannung und (9.25) geht in die von Mises’sche Fließbedingung (1.77) u ¨ ber. Die makroskopischen plastischen Verzerrungsraten ergeben sich aus der Fließregel ∂F ε˙pij = λ˙ . (9.26) ∂σij Daneben wird angenommen, dass die plastische Arbeitsrate der Matrixspannungen – ausgedr¨ uckt durch die Fließspannung σM und die zugeh¨orige plastische Vergleichsdehungsrate ε˙pM – gleich ist der entsprechenden Arbeitsrate der makroskopischen Spannungen: σij ε˙pij = (1 − f )σM ε˙pM . (9.27) Bei Kenntnis der einachsigen Spannungs-Dehnungs-Kurve des ungesch¨adigten Materials, d.h. bei Kenntnis von ε˙pM (σ˙ M ) liegt damit das Stoffverhalten fest. Es hat sich gezeigt, dass das Verhalten eines duktil gesch¨adigten Materials durch die Gleichungen (9.24) bis (9.27) nicht befriedigend wiedergegeben wird. So tritt der Verlust der Tragf¨ahigkeit erst bei einer unrealistisch großen Sch¨adigung ein. Ein Grund hierf¨ ur ist, dass in dem Modell sowohl eine Porenneuentstehung als auch die sich verst¨arkende Wechselwirkung der Poren bei ihrem Wachstum und ihrer schließlichen Vereinigung unber¨ ucksichtigt sind. Bessere Ergebnisse erh¨alt
308
Sch¨ adigung
man mit der modifizierten Fließbedingung nach Tvergaard und Needleman (1984) F (Iσ , IIs , f ) =
/ σe2 3q2 σm . + 2q1 f ∗ cosh − 1 + (q1 f ∗ )2 = 0 , 2 σM 2σM
(9.28)
wobei q1 , q2 Materialparameter sind. Die Funktion f ∗ (f ) wird so gew¨ahlt, dass v¨olliges Materialversagen bei einer realistischen Sch¨adigung (f ≈ 0.25) eintritt. ¨ Zus¨atzlich wird die Anderung der Porosit¨at infolge der Porenneuentstehung ber¨ ucksichtigt. F¨ ur eine dehnungskontrollierte Porenneubildung dient hierzu der Ansatz (εp − εN )2 1 f˙N eu = D(εpM ) fN ε˙pM , , (9.29) D(εpM ) = √ exp − M 2 2σ σ 2π wobei fN die Volumenfraktion der Partikel ist, an denen neue Poren entstehen. Die Funktion D ist eine Normalverteilung mit dem Mittelwert εN und der Standardabweichung σ (vgl. Abschnitt 10.2). Einen ¨ahnlichen Ansatz kann man f¨ ur eine spannungskontrollierte Porenneuentstehung (z.B. durch Aufreißen von Partikeln) machen, worauf wir hier jedoch verzichten wollen. Das gesamte Porenwachstum setzt sich also aus dem Wachstumsterm (9.24) und dem Entstehungsterm (9.29) zusammen. In Bild 9.8 ist das Materialverhalten unter einachsigem Zug f¨ ur eine spezielle Parameterwahl veranschaulicht. F¨ ur das Matrixmaterial wurde dabei ein Potenz-
σ
f
σkk
[MPa]
[MPa]
b
a
1000 b 0.5
1
a
1000
εp
0.5
1
b
0,1
εp
a
0.5
1
εp
Bild 9.8 Gurson-Modell: Einachsiger Zug, (a) ohne, (b) mit Querdehnungsbehinderung gesetz zugrunde gelegt. Dargestellt sind die Verl¨aufe der Zugspannung σ, der hydrostischen Spannung σkk und der Sch¨adigung f in Abh¨angigkeit von der plastischen Dehnung εp (die elastische Dehnung εe ist vernachl¨assigbar klein). Man erkennt, dass mit zunehmender plastischer Dehnung die Sch¨adigung ansteigt, was zun¨achst zu einer Entfestigung und schließlich zum v¨olligen Verlust der Spannungstragf¨ahigkeit f¨ uhrt. Bemerkenswert ist daneben der Einfluß der Dehnungsbehinderung. Sie beg¨ unstigt eine st¨arkere Sch¨adigungsentwicklung zu Lasten der
309
Duktile Sch¨adigung
makroskopischen Deformation und damit ein Versagen bei kleineren plastischen Dehnungen. 9.4.3
Bruchkonzept
Sch¨adigungsmodelle beschreiben das Stoffverhalten bis zum v¨olligen Verlust der Tragf¨ahigkeit. Lokales Versagen bzw. Bruch tritt ein, wenn die Sch¨adigung f einen bestimmten kritischen Wert fc erreicht: f = fc
(9.30)
Diese lokale Versagensbedingung kann man zur Behandlung von verschiedenen Problemen der Bruchmechanik verwenden. So l¨asst sich hiermit die Bildung eines Risses bei vorhergegangener Sch¨adigungsentwicklung beschreiben. Daneben kann man (9.30) als Bruchkriterium verwenden, das bei der Rissinitiierung und bei der weiteren Rissausbreitung erf¨ ullt sein muß. Der Vorteil einer solchen Vorgehensweise ist, dass man dann auf Bruchparameter wie J, δt oder JR -Kurven nicht angewiesen ist. Abschließend sei hier noch auf einen Schwachpunkt der (Kontinuums-) Sch¨adigungsmechanik hingewiesen: Wie mehrfach erw¨ahnt, kommt es mit zunehmender Sch¨adigung zu einer Instabilit¨at im makroskopischen Materialverhalten (Entfestigung), die eine Lokalisierung der Deformation und Sch¨adigung zur Folge hat (z.B. Wachstum nur noch eines Risses oder Porenwachstum und -neuentstehung in einem schmalen Band). Durch diese Lokalisierung werden die in Kapitel 8 diskutierten Voraussetzungen an ein RVE verletzt, und mikromechanisch motivierte Sch¨adigungsmodelle verlieren ihre G¨ ultigkeit. Die Sch¨adigungsvariablen besitzen dann nicht mehr die ihnen urspr¨ unglich zugewiesene physikalische Bedeutung; sie haben nur noch einen rein formalen Charakter. Ein weiterer Nachteil der Kontinuums-Sch¨adigungsmechanik besteht in der Abh¨angigkeit numerischer L¨osungen von der zugrunde gelegten Diskretisierung (Finite-Elemente-Netz), die als Folge der Lokalisierung in der Regel auftritt.
9.5
Literatur
Bazant, Z.P. and Planas, J. (1997). Fracture and Size Effects in Concrete and Other Quasibrittle Materials. CRC Press, Boca Raton Gurson, A.L. (1977). Continuum theory of ductile rupture by void nucleation and growth. Journal of Engineering Materials and Technology 99, 2-15 Hutchinson, J.W. (1987). Micro-Mechanics of Damage in Deformation and Fracture, The Technical University of Denmark
310
Sch¨ adigung
Kachanov, L.M. (1986). Introduction to Continuum Damage Mechanics. Martinus Nijhoff Publishers, Dordrecht Kachanov, M. (1993). Elastic Solids with Many Cracks and Related Problems. In Advances in Applied Mechanics, Vol. 30, pp. 259-445, Academic Press Krajcinovic, D. (1996). Damage Mechanics. Elsevier, Amsterdam Lemaitre, J. (1992). A Course on Damage Mechanics. Springer, Berlin Miannay, D.P. (1998). Fracture Mechanics. Springer, New York Skrzypek, J. and Ganczarski, A. (1999). Modeling of Material Damage and Fracture of Structures. Springer, Berlin
10 Probabilistische Bruchmechanik
10.1
Allgemeines
Die Versagensanalyse einer Struktur erfolgt auf der Basis einer Bruch- oder Versagensbedingung. Ein Beispiel hierf¨ ur ist die Spr¨odbruchbedingung KI = KIc , nach der kein Versagen f¨ ur KI < KIc auftritt. Wendet man diese Bedingung im deterministischen Sinn an, so muß vorausgesetzt werden, dass alle erforderlichen Gr¨oßen genau bekannt sind. Dies ist aber nicht immer der Fall. So k¨onnen die Betriebsbelastung eines Bauteiles schwanken und die Bruchz¨ahigkeit KIc des Materials streuen. Auch kennt man manchmal die Lage, L¨ange und Orientierung der Risse nicht genau. l¨asst man dies unber¨ ucksichtigt und verwendet ‘gemittelte’ Gr¨oßen, so kann die deterministische Analyse zu unsicheren Aussagen f¨ uhren. Ber¨ ucksichtigt man dagegen die Schwankungen, indem man f¨ ur KI seinen oberen Grenzwert und f¨ ur KIc seinen unteren Grenzwert verwendet, so gelangt man zwar zu vermutlich sicheren aber m¨oglicherweise u ¨bertrieben konservativen Aussagen. Hierbei ist zu beachten, dass die genannten Grenzwerte ja ebenfalls h¨aufig nicht exakt bekannt sind. Das Bruchrisiko ist jedenfalls bei einer deterministischen Betrachtung unbekannt. Entsprechendes trifft auf beliebige andere Versagensbedingungen wie zum Beispiel auf die klassischen Versagenshypothesen (Kapitel 2) oder auf die Lebensdauerhypothese nach dem Paris-Gesetz (Abschnitt 4.10) zu. Im Unterschied zum deterministischen Vorgehen werden bei einer probabilistischen Betrachtungsweise die Streuungen der Materialeigenschaften und die Unsicherheiten hinsichtlich der Belastung und der Defektverteilung in geeigneter Weise ber¨ ucksichtigt. Hierbei wird angenommen, dass die in eine Versagensbedingung eingehenden Gr¨oßen in Form von Wahrscheinlichkeitsverteilungen vorliegen. Dies f¨ uhrt dann auf Aussagen u ¨ber die Versagenswahrscheinlichkeit, durch die das Bruchrisiko bestimmt ist. Statistische Aspekte spielen aber auch eine Rolle, wenn man die bruchmechanisch relevanten Mikrostruktureigenschaften eines Materials erfassen will. So befinden sich in einem realen Material im allgemeinen sehr viele ‘Defekte’ wie Mikroporen, Mikrorisse, Einschl¨ usse oder Inhomogenit¨aten unterschiedlicher Gr¨oße, Form und Orientierung. Durch sie wird der BruchProzess wesentlich bestimmt. Aufgrund ihrer Vielzahl lassen sich diese Defekte in ihrer Auswirkung auf das makroskopische Verhalten zweckm¨aßig mit statistischen Methoden beschreiben. Wir wollen uns in diesem Kapitel nur mit den Grundz¨ ugen der probabilistischen Bruchmechanik befassen. Exemplarisch beschr¨anken wir uns dabei auf spr¨ode Materialien. Diese bieten sich unter anderem deshalb besonders an, weil bei ihnen die
312
Probabilistische Bruchmechanik
Festigkeitskennwerte besonders stark streuen k¨onnen. Spr¨ode Materialien zeigen auch h¨aufig eine signifikante Abnahme der Festigkeit mit zunehmendem Volumen eines K¨orpers. Ursache hierf¨ ur ist die in ihnen vorhandene Defektstruktur. Sie l¨asst erwarten, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines kritischen ¨ Defektes umso gr¨oßer ist, je gr¨oßer das Volumen ist. Auf dieser Uberlegung beruht die auf W. Weibull zur¨ uckgehende statistische Theorie des Spr¨odbruchs. Sie wird in vielen F¨allen zur Beurteilung des Verhaltens von keramischen Werkstoffen, faserverst¨arkten Materialien, Geomaterialien, Beton oder spr¨oden Metallen herangezogen.
10.2
Grundlagen
Die H¨aufigkeit des Auftretens einer Gr¨oße x wie zum Beispiel der gemessenen KIc -Werte eines Materials oder der festgestellten Rissl¨angen wird durch die Wahrscheinlichkeitsdichte f (x) beschrieben (Bild 10.1). Setzen wir voraus, dass x nur positive Werte annehmen kann, dann ist die Wahrscheinlichkeitsverteilung durch x F (x) =
f (¯ x)d¯ x
(10.1)
0
gegeben. Durch sie ist die Wahrscheinlichkeit P festgelegt, dass eine Zufallsgr¨oße X im Intervall 0 ≤ X ≤ x liegt: P (X ≤ x) = F (x) .
(10.2)
Dabei kann P Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Dementsprechend gelten die Beziehungen ∞ P (X < ∞) = f (x)dx = 1 , 0
P (X ≥ x) = 1 − F (x) ,
(10.3)
b P (a ≤ X ≤ b) =
f (x)dx = F (b) − F (a) . a
Der Mittelwert X einer Zufallsgr¨oße (auch Erwartungswert oder Median genannt) sowie die Varianz varX oder Streuung sind definiert als ∞
X = 0
∞ xf (x)dx = [1 − F (x)]dx , 0
∞ varX = [x − X]2 f (x)dx . 0
(10.4)
313
Grundlagen
f F (b)−F (a) f (x) P (a ≤ X≤ b)
1−F (a) P (X ≥ b)
a
b
x
Bild 10.1 Wahrscheinlichkeitsdichte und -verteilung Letztere kann man auch als mittlere quadratische Abweichung vom Mittelwert
X bezeichnen. Die Wurzel aus der Varianz heißt Standardabweichung: σ = √ varX. Als Wahrscheinlichkeitsdichten oder -verteilungen finden unterschiedliche Funktionen Anwendung, von denen hier nur einige angegeben seien. Die Normalverteilung (Gaußsche Glockenkurve) ist durch 1 (x − µ)2 f (x) = √ exp − (10.5) 2σ 2 σ 2π gegeben (Bild 10.2a). Darin sind µ der Mittelwert und σ die Standardabweichung. H¨aufig werden KIc -Werte, Jc -Werte oder andere Werkstoffparameter sowie ihre Streuung n¨aherungsweise durch Normalverteilungen beschrieben. Die logarithmische Normalverteilung oder kurz Lognormalverteilung (Bild 10.2b) ist definiert durch 1 (ln x − µ)2 f (x) = √ , (10.6) exp − 2σ 2 σ 2πx 2
2
2
mit dem Mittelwert X = eµ+σ /2 und der Streuung varX = e2µ+σ (eσ − 1). Sie wird in vielen F¨allen zur Beschreibung von Belastungen, Rissl¨angen- und Defektverteilungen verwendet. Eine besondere Bedeutung kommt der Weibull-Verteilung zu. F¨ ur sie sind Dichte und Wahrscheinlichkeitsverteilung durch α
f (x) = λαxα−1 e−λx ,
F (x) = 1 − e−λx
α
(10.7)
gegeben (Bild 10.2c). Der Mittelwert und die Varianz folgen hieraus zu
X =
Γ(1 + α1 ) , λ1/α
varX =
Γ(1 + α2 ) − [Γ(1 + α1 )]2 , λ2/α
(10.8)
314
Probabilistische Bruchmechanik
f
f
0,3 0,2 0,1
0,4
a)
0,2 µ = 4, σ = 1 2
4
6
µ = 1, σ = 1 8 x
2
4
6
8 x
6
8 x
f
f α=2
0,4
0,3 0,2 0,1
α=1
0,2
λ = 0.3 c)
b)
1
2
3
4 x
d)
α = 2, λ = 0, 3 2
4
Bild 10.2 Wahrscheinlichkeitsdichte: a) Normalverteilung, b) Lognormalverteilung, c) Weibull-Verteilung, d) Gamma-Verteilung wobei Γ die Gammafunktion kennzeichnet. Die Weibull-Verteilung wird besonders h¨aufig bei Erm¨ udungsvorg¨angen und bei der Erfassung von Rissgr¨oßen- und Defektverteilungen in spr¨oden Materialien verwendet. F¨ ur α = 1 bezeichnet man sie auch als Exponentialverteilung. Schließlich sei noch die Gamma-Verteilung genannt, die durch (λx)α−1 −λx e (10.9) f (x) = λ Γ(α) bestimmt ist (Bild 10.2d). F¨ ur sie gelten X = α/λ und varX = α/λ2 . Auch sie wird zur Approximation von Defektgr¨oßenverteilungen herangezogen. Im Falle α = 1 folgt aus ihr wiederum die Exponentialverteilung. Die Lognormalverteilung, die Weibull-Verteilung und die Gamma-Verteilung sind unsymmetrisch. Dadurch eignen sie sich zur Charakterisierung von versagensrelevanten Gr¨oßen besser als die symmetrische Normalverteilung. Eine Motivation hierf¨ ur erfolgt am Beispiel der Weibull-Verteilung im folgenden Abschnitt.
Statistisches Bruchkonzept nach Weibull
10.3
Statistisches Bruchkonzept nach Weibull
10.3.1
Bruchwahrscheinlichkeit
315
Wir betrachten ein isotropes, spr¨odes Material unter einachsiger, homogener Spannung σ, das innere Defekte (z.B. Mikrorisse) aber keinen makroskopischen Riss enthalten soll. Von den Defekten sei vorausgesetzt, dass sie statistisch homogen verteilt sind, d.h. die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Defektes bestimmter Art, Gr¨oße, Orientierung etc. ist u ¨berall gleich. Außerdem nehmen wir an, dass es zum totalen Versagen (=Bruch) des K¨orpers kommt, wenn nur ein einziger Defekt kritisch wird, sich also ausbreitet. Dies soll nur bei einer Zugspannung m¨oglich sein; eine Defektausbreitung unter einer Druckspannung wollen wir hier der Einfachheit halber ausschließen. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei der Zugspannung σ in einem beliebigen Volumen V kein kritischer Defekt vorhanden ist, bezeichnen wir mit F ∗ (V ). Die entsprechende Wahrscheinlichkeit f¨ ur ein beliebiges anderes Volumen V1 (das V nicht enth¨alt) sei F ∗ (V1 ). Setzt man die Unabh¨angigkeit der Ereignisse in V und V1 voraus, dann ist die Wahrscheinlichkeit des Nichtauftretens eines kritischen Defektes in V + V1 durch F ∗ (V + V1 ) = F ∗ (V )F ∗ (V1 )
(10.10)
gegeben. Ableitung bei konstantem V1 und anschließende Division durch (10.10) liefert ∗ ∗ dF (V ) dF (V + V1 ) dV dV dF ∗ (V + V1 ) dF ∗ (V ) ∗ = F (V1 ) , = ∗ dV dV F (V + V1 ) F ∗ (V ) bzw.
d d ln[F ∗ (V + V1 )] = ln[F ∗ (V )] = −c . dV dV Darin ist c eine Konstante, die nur von der Spannung abh¨angt: c = c(σ). Durch Integration unter Ber¨ ucksichtigung von F ∗ (0) = 1 folgt daraus schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass kein kritischer Defekt vorhanden ist zu F ∗ (V ) = e−cV .
(10.11)
Umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in V doch ein kritischer Defekt befindet, F (V ) = 1−F ∗ (V ) = 1−e−c(σ)V . Aufgrund der Annahme, dass ein einziger kritischer Defekt zum Bruch f¨ uhrt, ist dies auch die Bruchwahrscheinlichkeit Pf : Pf = 1 − e−c(σ)V .
(10.12)
Danach nimmt die Bruchwahrscheinlichkeit bei konstantem c (d.h. konstantem σ) ¨ mit zunehmendem Volumen zu. Die ‘Uberlebenswahrscheinlichkeit’ (kein Bruch) −cV ist durch Ps = 1 − Pf = e gegeben; sie nimmt mit zunehmendem Volumen ab.
316
Probabilistische Bruchmechanik
Die Gleichung (10.12) ist recht allgemein. Sie enth¨alt keine Annahme u ¨ber die physikalische Natur der Defekte. Ob es sich um Mikrorisse oder um andere Spannungskonzentratoren handelt, ist gleichg¨ ultig. Es versteht sich von selbst, dass man das Volumen bei fl¨achenf¨ormigen bzw. bei stabf¨ormigen K¨orpern durch die Fl¨ache bzw. die L¨ange ersetzen kann. Durch Vergleich mit (10.7) erkennt man, dass (10.12) bei festem c eine Exponentialverteilung darstellt. Dabei kann man c = 1/V¯ als Durchschnittskonzentration von Defekten interpretieren. Je kleiner das Durchschnittsvolumen V¯ pro Defekt ist, umso schneller erfolgt der Anstieg von Pf mit V . Man kann die Annahmen, die hinter (10.12) stehen auch als ‘Theorie des schw¨achsten Kettengliedes’ (weakest link theory) bezeichnen. Danach versagt eine Kette an der Stelle des schw¨achsten Gliedes, wenn dort die Zugfestigkeit u ¨berschritten wird. In (10.12) ist c(σ) eine zun¨achst noch unbekannte Funktion. F¨ ur sie wird h¨aufig nach Weibull der empirische Ansatz m ⎧ 1 σ − σu ⎪ ⎨ f¨ ur σ > σu V0 σ0 c(σ) = (10.13) ⎪ ⎩ 0 f¨ ur σ ≤ σu eingef¨ uhrt. Darin sind V0 , σ0 Normierungsgr¨oßen und σu die Schwellenspannung, unterhalb der die Bruchwahrscheinlichkeit Null ist. Diese wird vielfach der Einfachheit halber zu Null gesetzt. Den materialspezifischen Exponenten m bezeichnet man als Weibull-Modul ; einige Werte sind in Tabelle 10.1 angegeben. Einsetzen von (10.13) in (10.12) liefert f¨ ur die Bruchwahrscheinlichkeit die WeibullVerteilung (vgl. (10.7)) m V σ − σu Pf = F (σ) = 1 − exp − , (10.14) V0 σ0 wobei nun V als fest angesehen wird. Tabelle 10.1 Weibull-Modul Material Glas SiC Al2 O3 Graphit Gußeisen
m 2.3 4...10 8...20 12 38
Die Beziehung (10.14) gilt nur f¨ ur einen homogenen einachsigen Spannungszustand. Man kann sie jedoch leicht auf einen inhomogenen einachsigen Spannungszustand verallgemeinern, wie er zum Beispiel in Balken unter Biegung herrscht.
317
Statistisches Bruchkonzept nach Weibull
Zu diesem Zweck wenden wir (10.11) auf ein Volumenelement ∆Vi an, in dem eine konstante Spannung σi herrschen soll: ci = c(σi ). Dann ist F ∗ (Σ∆Vi ) = e−c1 ∆V1 e−c2 ∆V2 e−c3 ∆V3 . . . = e−Σci ∆Vi die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Summe von Volumenelementen mit unterschiedlicher Spannung kein kritischer Defekt vorhanden ist. Durch Grenzwertbildung ergibt sich F ∗ (V ) = exp[− cdV ], und f¨ ur die Bruchwahrscheinlichkeit erh¨alt man unter Verwendung von (10.13) ⎡ ⎤ m σ − σ 1 u Pf = F (σ) = 1 − F ∗ = 1 − exp ⎣− dV ⎦ . (10.15) V0 σ0 V
10.3.2
Bruchspannung
F¨ ur einen K¨orper unter homogenen Zug ist F (σ) durch (10.14) gegeben. Setzen wir σu = 0, dann erh¨alt man nach (10.7), (10.8) die mittlere Bruchspannung (=Zugfestigkeit) und die Streuung zu 1 V0 m σ ¯ = σ = σ0 Γ(1 + 1/m) , V 2 ; V0 m : 2 var σ = σ0 Γ(1 + 2/m) − [Γ(1 + 1/m)]2 . V
(10.16)
Dementsprechend h¨angen beide Gr¨oßen vom Volumen des K¨orpers ab. So ergibt sich f¨ ur ein und dasselbe Material bei unterschiedlichen Volumina V1 und V2 σ ¯1 = σ ¯2
V2 V1
1/m ,
(var σ)1 = (var σ)2
V2 V1
2/m .
(10.17)
¯1 /¯ σ2 = 2.24 und Danach folgen zum Beispiel f¨ ur V2 /V1 = 5 und m = 2 die Werte σ (var σ)1 /(var σ)2 = 5. Die mittlere Bruchfestigkeit ist also f¨ ur das kleinere Volumen V1 mehr als doppelt so groß als f¨ ur V2 ; die Streuung ist allerdings ebenfalls gr¨oßer. Erw¨ahnt sei noch, dass die erste Gleichung von (10.17) die Bestimmung von m erlaubt, indem die mittlere Bruchspannung f¨ ur unterschiedliche Volumina gemessen wird. Wir wollen nun noch den Einfluß eines ver¨anderlichen Spannungszustandes untersuchen. Hierzu betrachten wir als Beispiel einen Balken der L¨ange l mit Rechteckquerschnitt (Breite b, H¨ohe h) unter konstantem Biegemoment. Die Spannungsverteilung u ¨ ber die Balkenh¨ohe ist in diesem Fall durch σ(z) = σB 2z/h gegeben, wobei σB die maximale Spannung am Rand ist. Durch Einsetzen in (10.15) erh¨alt man f¨ ur diesen Fall mit V = lbh und unter Beachtung, dass nur
318
Probabilistische Bruchmechanik
u ¨ber den Zugbereich integriert wird (im Druckbereich werden die Defekte als wirkungslos angenommen!) m 1 V σB . (10.18) Pf = F (σB ) = 1 − exp − V0 σ0 2(m + 1) Die mittlere Bruchspannung unter Biegung (=Biegefestigkeit) und die Streuung ergeben sich damit aus (10.7) zu 1 V0 m σ ¯B = σB = σ0 Γ(1 + 1/m)[2(m + 1)]1/m , V 2 ; V0 m : var σB = σ02 Γ(1 + 2/m) − [Γ(1 + 1/m)]2 [2(m + 1)]2/m . V
(10.19)
Durch Vergleich mit (10.16) erkennt man, dass sich die Abh¨angigkeit vom Volumen nicht ge¨andert hat. Die mittlere Festigkeit und die Streuung sind f¨ ur Biegung allerdings gr¨oßer als f¨ ur Zug. Kennzeichnen wir die Gr¨oßen nach (10.16) mit dem Index ‘Z’, so gilt σ ¯B = [2(m + 1)]1/m , σ ¯Z
var σB = [2(m + 1)]2/m , var σZ
(10.20)
σZ = 1.64 folgt. woraus zum Beispiel f¨ ur m = 5 das Ergebnis σ ¯B /¯ 10.3.3
Verallgemeinerungen
Das Weibullsche Bruchkonzept l¨asst sich in verschiedene Richtungen verallgemeinern. So kann man es auf Druckspannungen und auf mehrachsige Spannungszust¨ande erweitern. Daneben ist es m¨oglich, die im konkreten Fall vorliegende Defektstruktur durch geeignete mikromechanische Modelle zu erfassen und damit das statistische Konzept abzust¨ utzen. Außerdem kann man das Weibullsche Konzept auch zur Beschreibung des zeitabh¨angigen Bruchs zum Beispiel von faserverst¨arkten Materialien einsetzen. In diesem Fall f¨ uhrt man f¨ ur c anstelle von (10.13) einen Ansatz vom Typ c = α tβ ein, wobei α und β von der Spannung σ abh¨angen und t die Zeit ist. Wir wollen hier nur eine Erweiterungsm¨oglichkeit diskutieren. Hierbei nehmen wir an, dass nicht nur ein einziger kritischer Defekt zum Bruch f¨ uhrt, sondern dass dazu eine bestimmte minimale Zahl n > 1 von kritischen Defekten erforderlich ist. Hiermit tr¨agt man der Beobachtung Rechnung, dass oft viele Defekte (z.B. Mikrorisse) wachsen, bevor es zum endg¨ ultigen Versagen kommt. Ausgangspunkt ist die Wahrscheinlichkeit ∗ PX=k =
1 (cV )k e−cV , k!
(10.21)
319
Probabilistische bruchmechanische Analyse
f¨ ur das Auftreten von genau k voneinander unabh¨angigen kritischen Defekten im Volumen V . Sie wird auch als Poisson-Verteilung bezeichnet, und sie enth¨alt als Spezialfall f¨ ur k = 0 die Wahrscheinlichkeit (10.11) f¨ ur das Nichtauftreten eines Defektes in V . Dann ergibt sich die Wahrscheinlichkeit f¨ ur das Vorliegen von weniger als n Defekten in V aus der Summe der Wahrscheinlichkeiten des Auftretens von 0 bis (n − 1) Defekten: ∗ PX
n−1 7 1 (cV )k . k! k=0
Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von n oder mehr kritischen Defekten in V folgt damit zu ∗ Pf = PX>n−1 = 1 − PX
n−1 7 1 (cV )k . k! k=0
(10.22)
Dies ist auch gleichzeitig die Bruchwahrscheinlichkeit. Aus der zugeh¨origen Dichte pf = dPf /dV = [c/(n − 1)!](cV )n−1 e−cV erkennt man, dass es sich hierbei um eine Gamma-Verteilung handelt (vgl. (10.9)). Aus (10.22) und durch Vergleich mit (10.12) kann man außerdem ablesen, dass die Zunahme der Bruchwahrscheinlichkeit mit dem Volumen geringer ist als beim einfachen Weibull-Modell und umso langsamer erfolgt je gr¨oßer n gew¨ahlt wird. So ergeben sich zum Beispiel f¨ ur n = 3 bzw. n = 10 bei cV = 3 die Werte Pf,3 (3) = 0.577 bzw. Pf,10 (3) = 0.001 und bei cV = 10 die Werte Pf,3 (10) = 0.997 bzw. Pf,10 (10) = 0.542. Die Abh¨angigkeit der mittleren Bruchspannung vom Volumen sowie von den auftretenden Parametern erh¨alt man unter Verwendung des Ansatzes cV0 = (σ/σ0 )n (vgl. (10.13)) aus (10.4) und (10.22): σ ¯ = σ = σ0
V0 V
1
m
Γ(n + 1/m) . Γ(n)
(10.23)
Die Volumenabh¨angigkeit ist die gleiche wie in (10.16) bzw. (10.19).
10.4
Probabilistische bruchmechanische Analyse
In diesem Abschnitt soll die prinzipielle Vorgehensweise bei einer probabilistischen bruchmechanischen Analyse erl¨autert werden. Als Beispiel betrachten wir ein ebenes Bauteil unter einachsigem Zug, in dem wir im Laufe seines Einsatzes das Auftreten von Rissen unterschiedlicher Gr¨oße erwarten. Als Versagensbedingung √ legen wir das K-Konzept KI = KIc mit KI = σ πa G(a) zugrunde, wobei G(a) ein Geometriefaktor ist. Wir nehmen nun an, dass uns zu einem bestimmten Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeitsdichte fa (a) f¨ ur die auftretenden Rissl¨angen durch Inspektion bekannt ist. Hieraus l¨asst sich mittels obiger Beziehung bei
320
Probabilistische Bruchmechanik
f, F 1 FKIc fKI fKIc Pf K Bild 10.3 Verteilungen von KI und KIc bekannter Belastung σ die Wahrscheinlichkeitsdichte fKI (K) f¨ ur die auftretenden Spannungsintensit¨atsfaktoren bestimmen. Aus Messungen sei uns außerdem die Dichteverteilung fKIc (K) f¨ ur die Bruchz¨ahigkeit des Materials bekannt. Beide Verteilungen sind schematisch in Bild 10.3 dargestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Bruchz¨ahigkeit kleiner als ein bestimmter Wert K ist, wird durch K P (KIc ≤ K) = FKIc(K) =
¯ dK ¯ fKIc(K)
(10.24)
0
ur Rissbelastunbeschrieben. Entsprechend ist fKI(K) dK die Wahrscheinlichkeit f¨ gen im Intervall K ≤ KI ≤ K + dK. Dann ist das Produkt dPf = FKIc(K) fKI(K) dK die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, dass beides zutrifft, d.h. dass das Bauteil versagt. Die Integration u ¨ber alle m¨oglichen Rissbelastungen liefert schließlich die totale Versagenswahrscheinlichkeit: ∞ Pf =
∞ K ¯ dK ¯ f (K) dK fKIc(K) KI
FKIc(K) fKI(K) dK = 0
0
(10.25)
0
Sie entspricht der schraffierten Fl¨ache in Bild 10.3. Wenn sich die Verteilungsdichten f¨ ur die Rissbelastung und die Bruchz¨ahigkeit mit der Zeit ¨andern, dann ¨andert sich auch Pf . Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Risse aufgrund von Wechselbelastung wachsen und das Material altert. Die Bestimmung der Versagenswahrscheinlichkeit muß nicht auf der Basis der K-Faktoren durchgef¨ uhrt werden. Alternativ kann auch direkt die Verteilungsdichte fa (a) der Rissl¨angen zugrunde gelegt werden. Zu diesem Zweck muß man
Probabilistische bruchmechanische Analyse
321
ur kritische Rissl¨angen umrechdie KIc -Verteilungsdichte in eine Dichte fac (a) f¨ nen. Als weitere Alternative l¨asst sich die Versagenswahrscheinlichkeit Pf = P (KI ≥ K und KIc ≤ K) mit 0 ≤ K < ∞
(10.26)
direkt durch Monte-Carlo-Simulation bestimmen. Hierbei werden Zufallswerte von KI und KIc miteinander verglichen. Die Zahl der Ereignisse KI ≥ KIc bezogen auf die Zahl der Versuche liefert Pf . An dieser Stelle soll noch darauf hingewiesen werden, dass die probabilistische bruchmechanische Analyse im konkreten Fall h¨aufig mit Schwierigkeiten verbunden ist. Der Grund hierf¨ ur liegt im wesentlichen in den oft nicht verf¨ ugbaren Daten, die eine hinreichend genaue Information u ¨ber die Verteilungsdichten von Rissl¨angen, Belastungen oder Werkstoffkennwerten (z.B. KIc ) sowie deren zeitli¨ cher Anderung geben.
10.5
Literatur
Bazant, Z.P. and Planas, J. (1997). Fracture and Size Effects in Concrete and Other Quasibrittle Materials. CRC Press, Boca Raton Broberg, K.B. (1999). Cracks and Fracture. Academic Press, London Eggwertz, S. and Lind, N.C. (eds.) (1984). Probabilistic Methods in the Mechanics of Solids and Structures. Springer, Berlin Krajcinovic, D. (1996). Damage Mechanics. Elsevier, Amsterdam Liebowitz, H. (ed.) (1968). Fracture – A Treatise, Vol. 2, Chap. 6. Academic Press, London
Sachverzeichnis
Anisotropie 15, 256, 262, 289 Average strain theorem 248 –, stress theorem 248 ¨ Aquivalente Eigendehnung 225, 234, 236 Bettischer Satz 31, 81 Bimaterial-konstante 124 –, -riss 123 Blunting line 164 Bruchfl¨ achen 49 Bruchfl¨ achenenergie 59, 99 Bruch-grenze 41 –, -kriterium 71, 97, 107, 116, 184, 215, 309 –, -wahrscheinlichkeit 315 –, -z¨ ahigkeit 71, 89, 94, 113, 128, 187, 214 –, -zeit 184 Burgers-Vektor 54, 226 C-Integral 180, 191 C∗ -Integral 180, 191 Clapeyronscher Satz 31, 92 Cleavage 55 Compliance 97 Composite spheres model 276, 286 Coulomb-Mohr-Hypothese 45 Craze-zone 180 CTOD 140 DCB-Probe 97, 116, 181 Defekte 1, 53, 106, 215, 224, 240, 297, 312 Defekt-Energie 231 –, -verteilung 224, 242, 253 –, -wechselwirkung 253, 259, 262 Deformationstheorie 23, 27, 150, 290 ¨ Dehnungs-Aquivalenz-Prinzip 299 Dehnungszentrum 225, 233 Delamination 96, 129 Dielektrische Materialkonstanten 132 – Verschiebung 132 Differentialschema 265, 277 Dilatationszentrum 225, 233 Dilute distribution 253 Dissipation 280 Dissipationsleistung 22, 281 Drucker-Prager-Hypothese 48, 50 Duktiler Bruch 58
Dugdale Modell 140, 189 D¨ unne Schicht 95, 101 –, Verteilung 253, 287 Duhamel-Neumann-Gesetz 17, 292 Durchlaufende Verwerfung 46 Ebener Spannungszustand 32, 34, 65, 239 –, Verzerrungszustand 32, 34, 65, 147, 229 Effektive Dehnung 19 –, Eigenschaften 224, 240, 270 –, elastische Konstanten 246, 268 –, Rissl¨ ange 111 –, Spannung 18, 299 –, Steifigkeiten 251 Effektiver Elastizit¨ atstensor 241 Eigendehnung 129, 225, 227, 231 –, ¨ aquivalente 225, 236 Eigenspannung 225, 280 –, thermisch induzierte 294 Einflusstensor 238, 248, 279, 293 Einheitszelle 243 Einschluss 227 –, ellipsoidf¨ ormiger 228 –, kugelf¨ormiger 230, 274 Elastisches Potential 17, 29 Elastisch-viskoelastische Analogie 21 Elastizit¨ ats-gesetz 15, 246, 278 –, -modul 15 –, -modul, effektiver 256, 268, 299 –, -tensor 15 –, -tensor, effektiver 241, 246, 249, 280 Elektrische Enthalpiedichte 133 Elektrisches Feld 131 –, Potential 132 Elektrostriktion 131 Ellipsoidf¨ ormige Inhomogenit¨ at 237, 253 Energetisches Kriterium 94, 117 Energie-bilanz 91 –, -dissipation 113 –, -fluss 172 –, -freisetzung 91 –, -freisetzungsrate 1, 93, 96, 107, 104, 212 –, -Impuls-Tensor 103 –, -satz 28, 91, 97 Erhaltungsintegrale 103 Erm¨ udungs-bruch 58
324 –, -riss 56 –, -risswachstum 57, 121 Eshelby-L¨ osung 228, 286 –, -Tensor 228, 274, 288, 290, 294 essential work of fracture 175 Failure assessment curve 144 Fasern 223, 268 Ferroelektrika 131 Ferroelektrisches Material 134 Festigkeitshypothesen 41 Fließ-bedingung 23, 278, 282, 306 –, -fl¨ ache 23, 282 –, -grenze 41 –, -potential 22 –, -regel 26, 278, 289 Fluktuation 247, 272 Foreman-Beziehung 122 Form¨ anderungsenergie-dichte 17, 246, 280 –, mittlere 246, 280 –, -hypothese 44 –, -rate 22 Gamma-Verteilung 314 Gemischte Beanspruchung 116 Gesamtpotential 96, 232, 270 Gestalt¨ anderungsenergiedichte 17 Gewichtsfunktion 81 Gleitb¨ ander 54 Gleitlinientheorie 35, 145 Gradientenmaterial 242 Grenz-fl¨ achenriss 123 –, -last 142 Griffith 2, 99 Griffithsches Bruchkriterium 99 Gr¨ oßenbedingung 90, 111, 242 Grundl¨ osungen 75, 225 Gurson-Modell 307 Hashin-Strikman-Schranken 272, 276 –, -Variationsprinzip 272 Haupt-dehnungshypothese 43 –, -spannungshypothese 43 Hencky-Ilyushin-Gesetz 27, 290 Henckysche Gleichungen 37 Hill-Bedingung 246, 271 Hohlraum 223, 238, 243, 251, 260 Hohlzylinder 268 Homogenisierung 224, 240, 277, 293 HRR-Feld 150, 190 Hui-Riedel-Feld 194 Hundeknochenmodell 109
Sachverzeichnis Hydrostatischer Spannungszustand 9 Idealplastisches Material 24, 35, 145, 280 Inhomogenit¨ at 225, 250 –, ellipsoidf¨ ormige 237, 253, 260, 262 –, kugef¨ ormige 254, 260, 293 Inkompressibles Material 18, 254 Inkrementelle Theorie 25, 289 Inkubationszeit 184, 194 Initiierungszeit 184, 194 Innere Energie 28 Instabile Rissausbreitung 57 Interface-Riss 123 Interkristalliner Bruch 55 Invarianten - des Spannungstensors 8 –, des Deviators 9, 13 –, des Verzerrungstensors 13 Irwin 2, 71 Irwinsche Rissl¨ angenkorrektur 109 Isotrope Verfestigung 24 J-Integral 102, 139, 172 Kachanov 84, 298 Kanalbildung 101 K-Faktor 64, 72, 96 Kinematische Verfestigung 24, 284 Kinetische Energie 28, 204, 212 Kinken-Modell 119 K-Konzept 2, 70 Klebeverbindung 95 Kleinbereichs-fließen 109, 184 –, -kriechen 180, 193, 197 Koh¨ asion 45 asionsspannung 52 Koh¨ Kolosovsche Formeln 34 Kompakt-Zugprobe 89 Kompatibilit¨ atsbedingungen 13, 14, 32, 248 Komplement¨ ar-arbeit 30 –, -energie 17, 303 –, -potential 30, 271 Komplexe Methode 34 Komposit-werkstoff 123 –, -material 291 Kompressionsmodul 15, 238 –, effektiver 252, 254, 268, 272, 276, 293 Konfigurations-kraft 106, 133 –, -spannungstensor 103 –, -moment 106 Korrespondenzprinzip 21 Kreisloch 239, 254, 267 Kriechen 21, 28, 188 Kriech-bruch 56, 179
325
Sachverzeichnis –, -funktion 20, 181 –, -zeit 187 –, -zone 180 Kurzzeitbereich 192
Normalspannungsabschnitte 47 Normal-verteilung 313 –, -verwerfung 46 Nortonsches Kriechgesetz 22, 189
Lamesche Konstanten 15 Laplace-Transformation 20 Lennard-Jones-Potential 53 Linearer Standardk¨ orper 181 Lokalisierung 56, 62, 301 Longitudinaler Schub 33, 145
Ober߬ achenenergie 52 Orthotropie 16 Oktaederspannungen 9
Makro-ebene 223, 240, 279 –, -fließbedingung 282 –, -fließfl¨ ache 283 –, -spannung 243, 278 –, -verzerrung 243, 278 –, -verzerrung, plastische 278 Materielle Kraft 106, 231 Matrix 227, 237, 250, 261, 307 –, -eigenschaften, effektive 261, 265 –, -spannung, mittlere 246, 259, 290 –, -verzerrung, mittlere 246, 259 Maximale Schubspannung 9, 25, 33 Maxwell-K¨ orper 189 McClintock-Modell 304 Mehrprobenmethode 161 Methode der Gewichtsfunktionen 81 Mikro-ebene 223, 240, 279 –, -felder 243 –, -risse 53, 223, 298, 300, 315 –, -struktur 1, 53, 223, 240, 250, 278 Mischungsregel 252 Misessche Fließbedingung 24, 26, 112, 285 –, Vergleichsspannung 24, 290 Mittelung 243 –, gewichtete 249, 280, 293 Mixed Mode 116 Mohrsche Versagenshypothese 45 Monte-Carlo-Simulation 321 Mori-Tanaka-Modell 258, 275, 293 Nachgiebigkeit 96 –, mittlere 251 Nachgiebigkeitstensor 15 –, effektiver 251 Nahfeld 66 Nat¨ urliches Verzerrungsinkrement 14 Nichtebener Schubspannungszustand 33, 35 Nichtlinear elastisches Material 18 Normalenregel 26 Normalfl¨ achiger Bruch 50, 58
Paris-Gesetz 122 Penny-shaped Riss 240, 257 Perkolation 263 Perkolationsgrenze 267 Petroski-Achenbach-Ansatz 83 Phasen, diskrete 245, 250 –, -mittelwerte 245 –, -winkel 125, 128 Piezoelektrika 131 Piezoelektrischer Effekt 131 Piezoelektrische Materialkonstanten 132 Plastizit¨ at 23, 277 Plastischer Kollaps 142 Plastische Makroverzerrungen 278 Plastisches Verzerrungsinkrement 23, 280 Plastische Zone 70, 109, 111, 184 Poissonsche Konstante 15 Poisson-Verteilung 319 Polarisation 131 Poren 238, 268, 297 –, -wachstum 303 Porosit¨ at 263, 300 Potenzgesetz 19 Prandtl-Feld 147 –, -Reuss-Gesetz 26, 289 Prandtlsches Kriechgesetz 22 Prinzip der maximalen plastischen Arbeit 25 –, der virtuellen Arbeit 29 –, der virtuellen Komplement¨ ararbeit 30 –, der virtuellen Kr¨ afte 30 –, der virtuellen Verr¨ uckungen 29, 102 –, vom Minimum des Gesamtpotentials 30, 270 arpotentials –, vom Minimum des Komplement¨ 30, 271 Proportionalbelastung 27, 290 Prozesszone 61, 70, 98, 101 Quer-dehnzahlen 16 –, -kontraktionszahl 15 Ramberg-Osgood-Gesetz 150 Rayleigh-Wellen 203
326 –, -Funktion 203 Referenz-belastung 83 –, -konfiguration 82 –, -verschiebung 83 Reißmodul 167 Relaxationsfunktion 20, 181 Repr¨ asentatives Volumenelement 241, 297 Reuss-Ansatz 251, 268 –, -Approximation 251 –, -Schranke 270 Reziprozit¨ atstheorem 31 Rice 153, 161, 306 Rissausbreitung 57 –, dynamische 57 –, instabile 57 –, intersonische 217 –, stabile 57, 113 –, subkritische 57 Riss-ablenkung 130 –, -ablenkungswinkel 130 –, -arrest 57, 201, 214 –, -ausbreitungskraft 93, 102 –, -beanspruchungsparameter 107 –, -bildung 54 –, -dichteparameter 256, 301 –, -flanken 61 –, -front 61 –, -geschwindigkeit 199, 201, 214 –, -initiierung 57 –, -oberfl¨ achen 61 –, -orientierung 256, 264 –, -¨ offnungsarten 61 –, -¨ offnungswinkel 168 –, -schließen 68 –, -spitze 61 –, -spitzenfeld 62, 68, 144, 169, 190, 204, 208 –, -spitzen¨ offnung 139 –, -verzweigung 214 –, -wachstum 164, 184 –, -wachstumsrate 121, 187 –, -wechselwirkung 84, –, -widerstandskraft 94, 102 –, -widerstandskurve 113, 164, 303 R-Kurve 113 Rundkerbe 150 Satz von Betti 31, 81 –, von Clapeyron 31, 92 Sch¨ adigung 223, 297 –, anisotrope 299 –, duktile 303 –, isotrope 299
Sachverzeichnis –, spr¨ ode 301 Sch¨ adigungs-maß 251 –, tensor 300 –, variable 297, 301 Scherfl¨ achiger Bruch 50, 58 Scher-b¨ ander 302 –, -lippen 58 Schiebe-Verwerfung 46 Schranke, obere f¨ ur Makrofließspannung 285 –, Hashin-Strikman- 272 –, Reuss- 270 –, Voigt- 270 Schraubenversetzung 54, 226 Schubmodul 15 –, effektiver 252, 254, 260, 263, 266, 272, 276 Schwingbruch 58 Selbstenergie 233 Selbstkonsistenz 83, 86, 262 –, -methode 261, 267, 277, 287 Sekantenmodul 290 –, effektiver 290 Skalen 2, 223 S-Kriterium 118 Spaltriss 55 Spannung, effektive 299 –, makroskopische 243 Spannungs-intensit¨ atsfaktor 1, 64, 125, 134, 204 –, -polarisation 236, 272 –, -tensor 7 –, -vektor 5 –, -vektor, effektiver 299 Spitzkerbe 68 Spr¨ odbruch 58 Stabiles Risswachstum 113, 166 Station¨ arer Riss 57 Statistisch homogen 241 Steifigkeiten, effektive 251 Streckgrenze 90 Stufenversetzung 53, 79, 226 Subkritische Rissausbreitung 57 Substrat 96, 101 Superposition 72 Tangenten-modul 26 –, -tensor, effektiver 289 –, -tensor, elastisch-plastischer 289 Tearing modulus 167 Tension-cutoff 47 Theoretische Festigkeit 52 Thermische Dehnung 17, 231, 292 Tracey 306
Sachverzeichnis Transformationsverzerrung 227 Transkristalliner Bruch 55 Transversal isotrop 17, 132, 258 Tr¨ agheitskr¨ afte 11, 201 Trennbruch 58 Trescasche Fließbedingung 25, 140 T-Spannung 67, 149 ¨ Ubertragungsfaktor 84 Verallgemeinerte Kr¨ afte 106, 231 Verfestigung 24, 54, 151, Vergleichs-dehnung 19, 290 –, -material, homogenes 235 –, -problem, elastisches 279 –, -spannung 18, 24, 290, 307 Versagens-bedingung 42 –, -fl¨ ache 42 –, -grenzkurve 143 –, -hypothesen 41 –, -wahrscheinlichkeit 320 Verschiebungssprung 79, 240, 245 Versetzung 53, 226 –, Schrauben- 226 –, Stufen- 79, 227 Versetzungsverteilung 80 Verwerfungen 46 Verzerrung 11 –, makroskopische 243, 278 –, plastische 23, 278 Viskoelastizit¨ at 19 Voigt-Ansatz 251, 268 –, -Approximation 251 –, -Schranke 268 Volumen-anteil 244, 265 –, -¨ anderungsenergiedichte 18 –, -mittelwerte 243 –, gewichtete 250, 280, 292 W¨ armedehnungskoeffizient 17, 292 –, effektiver 292 Wechselwirkungsenergie 233 Wechselwirkungspotential 53 Weibull 2, 312, 315 –, Modul 316 –, Verteilung 313 Wellengeschwindigkeiten 202 Wellengleichung 202 wesentliche Brucharbeit 175 Yoffe
212, 218
327 Z¨ ahbruch 57 Zwischengitteratom 226, 234 Zyklischer Spannungsintensit¨ atsfaktor 122