Heinz Abels Einführung in die Soziologie 2
Hagener Studientexte zur Soziologie Herausgeber: Heinz Abels, Werner Fuchs...
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Heinz Abels Einführung in die Soziologie 2
Hagener Studientexte zur Soziologie Herausgeber: Heinz Abels, Werner Fuchs-Heinritz Wieland Jäger, Uwe Schimank
Die Reihe „Hagener Studientexte zur Soziologie“ will eine größere Öffentlichkeit für Themen, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe ist dem Anspruch und der langen Erfahrung der Soziologie an der FernUniversität Hagen verpflichtet. Der Anspruch ist, sowohl in soziologische Fragestellungen einzuführen als auch differenzierte Diskussionen zusammenzufassen. In jedem Fall soll dabei die Breite des Spektrums der soziologischen Diskussion in Deutschland und darüber hinaus repräsentiert werden. Die meisten Studientexte sind über viele Jahre in der Lehre erprobt. Alle Studientexte sind so konzipiert, dass sie mit einer verständlichen Sprache und mit einer unaufdringlichen, aber lenkenden Didaktik zum eigenen Studium anregen und für eine wissenschaftliche Weiterbildung auch außerhalb einer Hochschule motivieren.
Heinz Abels
Einführung in die Soziologie Band 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft 4. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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4. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16634-6
Vorwort 1 1.1
1.2
Werte und Normen Simmel: Die Ordnung der Dinge - die Rangierung nach Werten Durkheim: Gewohnheiten, Regeln, sittliches Bewusst-
9 15 17 20
sem
Mead : Erfahrung des Richtigen, Generalisierung des Guten 1.4 Parsons: Werte bestimmen die Richtung des Handeins 1.5 Inglehart: Wandel von materialistischen zu postmaterialistischcn Werten 1.6 Klages: Pflicht, Selbstentfaltung, Wertesynthese 1.7 König: Normen - das Urphänomen des Sozialen 1.8 Nonnative Integration, Normverletzung und der Nutzen der Dunkelziffer
1.3
2
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Sozialisation Durkhcim: Socialisation methodique Freud: Über- Ich und Einschränkung der Triebbedürfnisse Kulturanthropologie: Kulturelle Differenzen Lernen unterden Bedingungen der Umwelt Mead: Integration in einen organisierten Verhaltensprozess Parsons: Herstellung funktional notwendiger Motivation Hurrelmann: produktive Verarbeitung der Realität
Rolle 3 3.1 Parsons: Rolle - normative Erwartung 3.2 Merton: Der Rollen-Set 3.3 Dahrendorf Homo Sociologicus und die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft 3.4 Habermas: Kritik der Rollentheorie
27 33 39 45 50 52 57 59 62 68 77
82 89 97 101 103 111 11 8 127
6
4 4.1
Soziales Handeln
Verhalten unter gegebenen Umständen odersinnvolles Handeln? 4.2 Weber: Bestimmungsgründe des Handelns 4.3 Parsons: Alternative Wertorientierungen des Handelns 4.4 Rationale Wahl, gerechter Tausch, symbolische Transaktion 4.5 "Dualität der Struktur" 4.6 Rational e Wahl trotz .Jtabits" und .frames" 4.7 Habermas: Vier Handlungsbegriffe
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9
Interaktion Simmel: Wechselwirkung und Vergesellschaftung Weber: Soziale Beziehung Mead: Interaktion - Verschränkung der Perspektiven Parsons: Rolle, Austausch, Kontingenz Blurner: Symbolische Interaktion Interaktionssysteme: Kommunikation unter Anwesenden Ethnomethodologie: Methodisches im Alltagshandeln Krappmann: Annahmen über das Gelingen von Interaktion Habennas: Kommunikatives Handeln und Diskurs
134 136 141 147 158 168 173 180 184 187 191 196 201 208 214 219 227 230
Gruppe 6 6.1 Durkheim: Die Herstellung moralischer Gefühle in
242 246
6.2 Simmel: Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe 6.3 Primärgruppen - "nursery ofhuman nature" 6.4 Peer group - Sozialisation auf der Schwelle zur
249 259 262
6.5 6.6
271 277
der Gruppe
Gesellschaft Wir und andere: Ethnozentrismus und Außenseiter Bezugsgruppe und soziale Beeinflussung in derGruppe
7
7 7.1 7.2 7.3
Status Linton: Zuschreibung und Leistung Statuskriterien, Statusinkonsistenz, Statussymbole Veblen: Demonstrativer Müßiggang und Konsum der
285 287 289 297
7.4 7.5 7.6
Bourdieu: Die feinen Unterschiede Goffman: Stigma und soziale Identität
303 312 3 18
feinen Leute
Strauss: Statuszwang und Transformation von Statusarten
8 8. 1
Identität
Simmel: Kreuzung sozialer Kreise und individuelles
322 325
Gesetz
8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9
Mead: Identität - sich mit den Augen des anderen sehen Riesman: Außenleitung Goffman: Wir alle spielen Theater Parsons: Individuelles Code-Erhaltungssystem Erikson: Identität im Lebenszyklus Krappmann: Ich-Identität als Balance Berger, Berger, Kellner: Krise der modemen Identität Identität - ein relativer Standpunkt
333 34 1 348 360 367 376 380 387
9
Unversöhnlich
392
Literatu rverzeic hnis
394
Glied erung Band 1: Der Blick auf die Gesellschaft
413
Personenregister
415
Sa chregisler
4 18
Vorw or t
Soziologie befasst sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Handeln zwischen Individuen in diesen Verhältnissen. Diese Definition aus dem ersten Band dieser Einführung soll die Brücke zwischen den Fragen bilden, die dort behandelt werden, und denen, um die es hier gehen wi rd. Dort steht die Frage im Vorde rgrund, wie Gesellschaft möglich ist, in welchen Institutionen sie uns gegenübersteht und wie sie sich sowohl als Struktu r wie auch als Prozess darstellt. Um es mit einem Schlagwo rt zu sagen: Es geht um die Makro themen der Sozi ologie. Deshalb trägt der ers te Band auch den Titel " Der Blick auf die Geseilschaft", was zug leich auch andeutet, dass und wie wir als Soziologen auf die Gesellschaft sehen. In diesem zweiten Band wird die Frage ges tellt, wie die Individuen Te il der Gesellschaft werden, wie sie in ihr handeln und wie sie zu "den anderen" stehen. Wieder mit einem Schlagwo rt: Es geht um Mikrotheme n. De shalb lautet der Tit el auch " Die Individuen in ihrer Gese llschaft". Obwohl im ersten Band der Einführung wichtige Grundlagen für die Fragen hier angesprochen und hier Themen ausgeführt werden, die die Gru ndlagen dort plastischer machen, meine ich doch, dass bei de Bände für sich gelese n und verstanden werde n kö nnen. Was allerdings das Ideale wäre, erhellt aus meiner eingangs gege benen Definition von Soziologie.t Die Erkl ärun gen meiner Art zu schrei ben und meine Überzeugung zur " richtigen" Theorie will ich nicht wiederho len , und auch Nietzsches Empfehlung zum Lesen kluger Bücher setze ich einfach voraus. Nur eine Sache wiederhole ich wö rtlich, we il sie für den Zugang zur Soziologie m. E. unabdi ngbar ist: Eine soz iologische Binführung soll mit einer neuen Wi ssenschaft vertrau t gemacht werden , die von fast nich ts anderem handelt als dem, was wir immer schon verstande n zu haben Für alle Fälle habe ich die Hauptthemen der Gliederung aus Band 1 hier in das Register übernommen.
10
Vorwort
glauben. Das gelingt am besten, wenn man in Ruhe mitdenkt. Werm ich also imm er wieder Beispiele bringe, dann sollten Sie nicht das Tempo erhöhen und sagen "klar, kenn' ich!'', sondern nachdenken, welches Beispiel Ihnen dazu einfällt. Wenn Ihnen eins einfallt, das meine ÜberM
legungen oder die der anderen Soziologen widerlegt, umso besser. Dann beginnt soziologisches Denken zu wirken ! Soziologie hat etwas
mit Irritation zu tun - und vor allem: mit dem Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Beim ersten beginnt Theorie, beim zweiten so hoffe ich - Praxis. Jetzt zum Thema dieses zweiten Bandes. Wie sich das Individuum als Mitglied von Gesellschaft erfahrt, das interessiert hin und wieder auch den Mann auf der Straße, vor allem immer dann, wenn es ihm nicht gut geht. Dann lamentiert er über die Verhältnisse ("Was sind das bloß für Zeiten"!"), vermisst Freundlichkeit und Zuwendung ("Die anderen denken nur noch an sich!") oder fühlt sich von den anderen nicht verstanden. Doch anders als der Mann auf der Straße, der sich oft nur dann, wenn ihm seine "Betroffenheit" auf die Seele fallt, zum Nachdenken anschickt, wartet der Soziologe nicht, bis ihn etwas persönlich berührt, sondern macht sich professionell in den Problemen und ganz besonders in den Gewissheiten im Alltag von ganz normalen Menschen zu schaffen. Warum das so ist und auch so sein sollte und womit man dann rechnen muss, wenn man beginnt, den Dingen auf den Grund zu gehen, und sich im soziologischen Misstrauen übt, das habe ich ausführlich im ersten Band diskutiert. Obwohl ich hoffe, Ihnen für das, was nach den ersten Verunsicherungen und Aussichten dann an soziologischen Überlegungen zu vielen Aspekten der gesellschaftlichen Realität gebracht wurde, auch etwas Mut gemacht zu haben, will ich in diesem Vorwort doch noch einmal daran erinnern, was Ihnen passieren kann, wenn Sie Soziologie als "Lehre vom zweiten Blick", wie es NIKLAS LUH MANN (1979, S. 170) einmal gesagt hat, betreiben. Sie können leicht zum Störenfried werden, weil Sie Dinge, die anderen ganz selbstverständlich sind, ganz anders sehen. Manche genießen diese Rolle als professionelle Durchblicker, wundem sich aber, warum ihnen keiner so richtig zuhört oder warum sich die Verhältnisse nicht ändern. Andere sind frustriert, weil ihre soziologischen Fragen bei den allermeisten ins Leere laufen. Die wissen nämlich immer schon Bescheid, und die großen Erklärungen wie AGIL-Schema und Autopoiesis oder Individualisierung sagen ih-
Vorwort
11
n en nich ts. Da b edarf es scho n gedu ldiger Aufkl ärung, um soziologisches Denk en in Gang zu bringen . Ich verm ute, dass es bei den folge nden T hem en etwas leicht er se in wird, denn immerhin geht es um so ein fache wie um stü rzende Fragen w ie zum Beispiel die folge nden : • • • • •
Woran orienti eren wir uns? Wi e werde n wir eigentli ch , was wir sind? Wie gehen wir mite inander um? W ie stehen wir z u "de n and eren"? Wie stellen wir uns vor anderen dar?
Si e m erken, die soziologisc hen Fragen rüc ken ga nz nah an das Ind ividuum heran, auch an den Soziologen! In dem Augenblick nämli ch , wo wir d ie Fragen für die Beob achtung der anderen schärfen, komm en die von ALVIN W . GOULDNER so genannten .Hintergrundannahmen' ' (Gouldner 1970, S. 44) ins Spi el. Es sind implizite Annahmen über eine "wah re" Gesellsc haft, üb er das "richtige" Ve rhalten des " Individuums an sich" und - das dürfe n wir nicht vergessen - über un sere eigene Iden tität! Wen n wir übe r die anderen sprec hen, sp rec hen wi r auch üb er un s. Ve rstehen Si e diese knappen Andeutungen, di e im ers ten Band dieser Einleit ung aus fuhr Iich beg ründet wurden, deshalb auch als Ermunterung und als Wamun g zugleich. Soziologie ist nic ht leich t zu haben, auch wenn man meint, mit Fragen zu begi nnen, die ein em "eigentlich" vertraut sind. Aber umgekehrt gilt auch: Von der Soziologie läss t man nich t mehr so leicht, wenn m an erst einmal gelern t hat, sich vorzuste llen, wie die D inge auch anders se in könnten. Bei den guten kommen wir so darau f, unter w elchen Bed ingungen wir sie erhalten können, b ei d en sch lechte n, wi e wir sie m ögl icherw eise ändern können. Das wäre n icht der schlecht este Beitra g, den die Soziologie al s nü tzli che und praktische Wissenschaft für eine h umane Welt leis ten könnte!
vorwert zur 2., überarbeiteten und erweiterten Auflage Wi e im ersten Band der Einführu ng habe ich auc h in di esem zweiten Entw ick lungs linien der soziologischen Di skussion nachgezeichnet. Nac h der dort vor geno mmenen Untersche idu ng zwischen einem normativen und einem interpretativen Paradigm a oder, and ers gesagt, zw i-
12
Vorwort
schen einer Perspektive, die vom Ganzen und von Strukturen, und ei-
ner, die vom Individuum und Prozessen ausgeht, habe ich bei den Themen, wo das sinn voll war, die Theorien von GEORG SIMMEL, M AX W EBER, GE ORGE H ERBERT MEAD und TALCon PA RSONS n ach g etra gen. An anderen Stellen habe ich Positionen noch etwas profiliert. Das gilt unter anderem für den Anspruch und die Erklärungskraft des .methodol ogischen Individualismus" , die ich im Kapitel über die individualistischen Theo rien des Verhaltens behandele, und für den Zusammenhang von Sprache und Sozialisation. Warum ich das urspr ünglich nicht intendierte didaktische Prinzip der imm er neuen Hinführungen zu Themen und der entsprechenden Wiederholu ngen in der zweiten Auflage noch verstärkt habe, habe ich am Ende des neuen Vorworts zum ersten Band erklärt. Nach einigen Überlegungen habe ich die The se von DAVID R IESMA N über die ,,Außenleitung" in der Modeme unter die Theo rien zur Identität subsumiert, um auf die riskanten Bedingungen aufmerksam zu maehen, unter denen das Individuum vor den Anderen auftritt. Um den Bogen von der Gesellschaft zum Individuum zu schlagen und dan n wiederum dessen Gewicht gegenüber dieser herauszuarbeiten, habe ich das Kapitel über Identität an den Schlu ss gestellt. Dass ich ein neues Schlu sskapitel unter eine Über schrift geste llt habe, die scheinbar unsoziologisch ist, hat zwei Grunde: Zum einen haben mir die erfreulichen Reaktionen auf die Einführun g gezeigt, dass viele Soziologinnen und andere Interessierte sie als Aufk lärung über die Wechselwi rkun g zwischen Individuum und Gesellschaft gelesen und darau s Hinweise entnommen haben, was sie selbst und ganz konkre t unter gegebenen sozialen Verhältnissen tun könn en. Zum anderen wollte ich noch einmal betonen, dass die Re flexion "gegebener soz ialer Verhältnisse" von einem bestimmten Interesse geleitet sein muss: Es steht in den letzten drei Sätzen des Vorwo rts zur ersten Fassung dieses zweiten Bandes der Einführung in die Soziologie . Und um es ganz klar z u machen, worum es mir geht, endet dieser zweite Band mit demselben Satz wie der erste Band.
Hagen, im Apri l 2004
Vo rwort
13
Vorwort zur 3. Auflage
Die rasch notwendig gewordcne 3. Auflage gab mir die Gelegenheit, den Text an einigen Stellen zu aktualisieren. Das Vergleichen innerhalb der Theorien und zwischen ihnen habe ich erleichtert, indem ich in den Fußnoten Seiten angegeben habe. Die vielen Rückmeldungen haben mir gezeigt, dass mehr und anderes nicht erforderlich ist. Deshalb zeichne ich den langen Weg "Vom Individuum zur Individualisierung" an anderer Stelle (Abels 2006) nach und erweitere dort auch die Perspektive auf das Thema "Identität". Münster, im Juli 2006
1
Werte und Nor men
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Simm el: Die Ordnung der Dinge - die Rangierung nach Werten Durkheim: Gewohnh eiten, Regeln, sittliches Bewusstsein Mead: Erfahrun g des Richt igen, Generalisierung des Guten Parsons: Werte bestimmen die Richtung des Hand eins lnglehart: Wandel von materialistischen zu postmaterialistischen Werten Klages: Pflicht, Selb stentfaltun g, Werte synthese König: Nonnen - das Urphänomen des Sozialen Nonnative Integration, Normverletzung und der Nutzen der Dunkel ziffer
1.6 1.7 1.8
Über den Handlungsreisenden Will y Loman schreibt Arthur Miller: "Er besitzt tatsächlich Werte. Nur die Tatsache, dass diese Werte sich nicht verwirklichen lassen, ist es, was ihn zur Verzweifl ung treibt, wie so viele andere Menschen leider auch. Nur derjenige, der wirklich ohne alle Werte und Ideale lebt, fühlt sich immer und überall vollkommen wohl, denn zwischen nichts und irgendetwas ist ja kein Konflikt m öglieh." ] Das erste mag man wohl glauben, das zweite ist soziologisch wohl nicht denkbar, denn es gibt kein Individuum ohne Werte, und eine Gesellschaft ohne Werte wäre keine Gesellschaft. Im soziologisc hen Sinne kann man unter Werten die bewussten oder unbewussten Vorstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft verstehen, was man erstreben und wie man handeln soll. Durch diese kollektiven Vorstellungen des Guten und Richtigen fühle n sich die Individuen einander verbunden. •
•
Werte geben einen allgemeinen Orientierungsrahmen für Denken und Handeln ab, Norme n schreiben mehr oder weniger streng vor, wie gehandelt werden soll. Nonnen sind Regeln, Ober deren Einhaltung die Gesellschaft wacht. Das tut sie mittels positiver oder negativer Sanktionen,
Arthur Miller im Programmhe ft ,,Der Tod eines Handlungsreisenden", Schauspiel Essen 1993, S. 9
16
1 Werte und Normen
also Lob und Strafe. Sie erreicht No rmkonformi tät aber viel wi rkungsvoller dadurch , dass uns Normen im Prozess der Sozialisati on als "normal" nahe gebrach t werden, dass wir sie als vernünftige Regelungen internalisieren und sie im täglichen Handeln als "s elbstverständlich" be stätigen. Obwohl Werten und Nonnen oft natürliche, gar gött liche Dign ität zugeschrieben wird, dar f man nicht vergessen, dass es Me nsche n waren, aus deren Denken und Handel n sie erwuchse n. All erdin gs, da s hat M AX WEBER in seiner Studie über di e " Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus" gezeigtt , können die materiellen und ideellen Interessen, di e unser Handeln unmittelbar beherrschen, durc h "Weltbilder" in bestim mte Bahnen gelenkt werden. Diese Weltbilder wurzeln oft in rel ig iösen Überzeugungen, und deshalb gelten sie vielen auch als abso lut und "selbstverstän dli ch". Es besteht die Gefahr, dass die " höc hsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bede utung geben, (..) von uns als etwas »objektiv« Wertvo lles empfunden" werden. (Weber 1904 , S. 8 1) Doch sie sind nur inso fern " obj ektiv" , als sie in dieser Kultur oder sogar nur in dieser Gruppe tatsächlich gelten. So hat Durkheim auch von sozi alen Tatsachen gesprochen . Wenn wir also in der Soziologie von Werten sprechen, dann sind immer kulturspezifi sche Wert e gemeint. Natürlic h versichern w ir uns gerne allgeme inm enschliche r Werte in der Hoffnun g, damit im globa len Konsens mit allen Gutmeinenden zu sem. Doc h die Geschichte hat gezei gt, dass es selt en um die Durchsetzung universaler Werte, sondern meis t um höchst einseitige Auslegungen solc her Werte gegangen ist. Wo die Gefahr dieser naiven - oder interessierte n! - Annahme "selbstverständlicher" Werte liegt, kann man in Zei ten dogmati schen Denkens sehen . Dann unterscheiden Wi ssensch aftler zwischen entwic ke lten und prim itiven Kulturen, Mi ssionare ziehen aus, um anderen Völkern das Hei l zu bringen, und Fanatiker entscheiden, was wertvoll bis hin zu m Lebenswerten ist.
Vgl. Band J, Kap. 10.3 " Weber: Asketischer Prot estantismus und rationa le Lebensführung".
Werte und Normen
17
An dieser Grenze zum Ethnozentrism us, der Werte nur aus der eigenen Kultur heraus definiert und zulässt, befinden wir uns immer. Deshalb kann man die folgende Mahn ung Max Webers nicht ernst genug nehmen: Max Weber: Gleiche Dignität versc hiedener Kultu rwerte "Nur positive Religionen - prä ziser ausged rückt: dogmatisch gebunde ne Sekten - verm ögen dem Inha lt von Kulturwerten die Dignität unbe dingt gültiger ethischer Gebote zu verleihen. Außerhal b ihrer sind Kulturideale, die der Einzelne verwirklichen will, und ethische Pfl ichten, die er erfüllen soll, von prinzipiell verschiedener Dignität. Das Schicksal einer Kulturepoche. die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, das s wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus de m noch so sehr verv ollkomrrmeten Ergebn is seiner Durchforsch ung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, das s »Weltanschauungen« niemals Pro dukt fortschreitenden Er/ allrungs wissens sein können, und dass also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken , die Anderen ebenso heilig sind, wie uns die unse ren," (Weber 1904: Die »Objektivitätc sozialwissens chaftlicher Erkenntn is, S. 84)
1.1
Simmel: Die O rd nung der Dinge - die Rangierung nacb Wer ten
Mit den Werten ordnen die Mitglieder einer Gesell schaft ihre Welt. Das ist die The se von GEORG SIMMEL (1858-19 18). Er setzt an den Beginn seiner " Philosophie des Geldes" , einem Schlüsselwerk der Soziologie des 20. Jahrhund erts, einen Einwand : Aus der Sicht der Naturwissenschaft ruht "die Ordnung der Dinge, in die sie sich als natürliche Wirk lichkeiten einstellen", auf der Voraussetzung, dass die Dinge in ihrer Existenz gleichberechtigt sind. M it dieser "gleichgültigen Notwendigkeit" , geben wir uns aber nicht zufrieden, sondern verleih en der Ordnung der Wirklichke it eine andere, " in der die Allgleichheit völlig durchbrachen ist" . Das tiefste Wesen dieser Ordnung ist "nicht die Einheit, sondern der Unterschied (..): die Rangierun g nach Werten ." (Simmel 1900, S. 23)
18
1 werte und Normen
Insofern bilden Werte den Hintergrund der Wechselwirkungen, in denen Individuen und Gruppen untereinander und mit der objektiven Welt stehen. Werte ordnen die Welt und differenzieren sie: Georg Simmel: Die Weil der W erte fasst die Inh alte der Wirklichkeit in eine völlig autonome Ordnung "Ma n macht sich selten klar, dass unser ganzes Leben , seiner Bewusstseinsseite nach, in Wertgefühlen und Wertabwägungen verläuft und überhaupt nur dadurch Sinn und Bedeutung bekommt, dass die mechanisch abrollenden Elemente der Wirklichkeit über ihren Sachgehalt hinaus unendlich mannigfaltige Maße und Arten von Wert für uns besitze n. In dem Augenb lick, in dem unsere Seele kein bloßer interesseloser Spiege l der Wirklichkeit ist - was sie vielleicht niemals ist, da selbst das objektive Erkennen nur aus einer Wertung seiner! hervorgehen kann - lebt sie in der Welt der Werte, die die Inhalte der Wirklichkeit in eine völlig autonome Ordnung fasst." (Simme l 1900 : Philosophie des Geldes, S. 25)
Die gerade zitierten Sätze muss man genau lesen, denn Simmel verweist hier auf die subjektive Kompone nte des Interesses, mit dem den Dingen Wert beigemessen wird. Deshalb kann " ein und derselbe Gegenstand in einer Seele den höchsten, in einer anderen den niedrigsten Grad des Wertes besitzen" . (Simmel 1900, S. 28) Doch diese Subjektivität vergessen wir leicht und meinen, die Dinge hätten einen Wert an sich. Das ist aber nicht der Fall: "Dass Gegenstände, Gedanken, Geschehnisse wertvoll sind, das ist aus ihrem bloß natürlichen Dasein und Inhalt niemals abzulesen." (S. 23) Wertvoll sind sie nur insofern, als wir ihnen eine bestimmte Bedeutung beimessen und sie begehren. Diese Bedeutung erhalten die Dinge auch erst in dem Augenblick, wo sie dem Subjekt als Objekte gege nübertreten, über die es nicht mehr ohne weiteres verfügen kann und die sich einer Erlangung widersetzen: "E rst die Repulsionen, die wir von dem Objekt erfahren , die Schwierigkeiten seiner Erlangung, die Warte- und Arbeitszeit, die sich zwischen Wunsch und Erfüllung schieben, treiben das Ich und das Objekt auseinander" (S. 43) - und wecken Begehren. Wir stellen uns vor, dass uns
Gemeint iSI das Erkennen, das durch den Prozess der Auswa hl und Gewichtu ng dessen, was wahrgeno mmen wird, schon Wertung ist.
I Werte und Nonne n
19
etwas, was wir nicht haben, nützlich sein könnte oder dass es uns Lust bereiten würde, wenn wir es besäßen. (vgl. S. 47) Es gibt also ein Nebeneinander von Wert, der einem Obj ekt zugeschrieben wird, und Wirklichkeit. (vgl. Simmel 1900, S. 27) Diese Differenz will der Mensch überwinden. Als ein Wesen, das Bedürfni sse materieller, sozialer oder geistiger Art - hat und diese Bedürfuisse befried igen will, bewertet er in dem Augenblick, in dem er einem Objekt eine Bedeutung zur Befriedigun g der Bedürfnisse beimisst. Bedeutung beimessen heißt, dass wir nicht unmittelbar die Erftillung eines Wunsches durchsetzen, sondern von unserem Begehren zurücktreten und nach Möglichkeiten der Befriedigung Ausschau halten. Wir legen also eine Distanz zwischen unser Bedürfuis und die möglichen Objekte, durch die wir es befriedigen wollen. Wo diese Distanz fehlt, ist es im soziologischen Sinne kein Wert, der uns antreibt, sondern - unsoziologisch gewendet - Gier, wo diese Distanz allerdings zu groß ist, verschwindet der Wert, weil er unrealistisch wird. Distanz ist also Voraussetzung für die Bewertung von Möglichkeiten des HandeIns. Distanz ist darüber hinaus Antrieb zu handeln, denn " der Sinn jeder Distanzierung ist, dass sie überwunden werde." (Simme1 1900, S. 49) Damit muss man als weitere Konsequenz denken, dass Wert etwas mit Balance zwischen zuviel und zuwenig zu tun hat. Wo kein e Anstrengung nöti g ist, Befriedigung zu erreichen, weil z. B. die Möglichkeiten der Befriedigung im Übenn aß vorhanden sind, verliert jede einzelne Möglichkeit an Wert; wo die Anstrengungen alles Maß übersteigen würden, löst sich der Wert im Abstrakten auf. Bewertung heißt, von etwas, das man selbst nicht ist oder hat, eine geringere oder höhere Befriedigung zu erwarten. Da wir nach einer höheren Befriedigung streben, bevorzugen wir eben dieses gege nüber einem anderen. Je häufi ger diese Befriedi gung eintritt, umso sicherer wird sie erwartet. Je mehr Individ uen diese Erwartun g teilen, umso genereller wird der Wert und leitet schließlich das Handeln vieler an.
20
1.2
I
Werte und Normen
Durkheim: Gewohnheiten, Regeln, sittliches Bewusstsein
Entwickelte Gesellschaften, das war die These von EMILE DURKHEIM (1858-1917), zeichnen sich durch Arbeitsteilung und organische Solidarität! aus. Das bedeutet zunächst einmal, dass sich mit steigender Differenzierung der Funktionen das Gefühl einstellt, dass die Individuen voneinander abhängig sind. Was der eine nicht kann, kann ein anderer; was dieser braucht, hat jener. Schließt man den Fall aus, dass sich die Individuen das, was der andere kann und was sie selbst brauchen, mit Gewalt verschaffen, und auch den Fall, dass j eder selbstlos und ohne zu zögern alles, was er kann und hat, allen anderen schenkt, dann muss man sich fragen, wie denn der Austausch von Leistungen auf Dauer funktioniert. Es geht also um die Frage, wie "die wechselseitigen Beziehungen der Funktionen", denn in dieser Form stehen sich die Individuen gegenüber, geregelt werden. (Durkheim 1893, S. 434) Sie von Fall zu Fall zu regeln, scheidet wegen der Vielfalt und Verzweigung aus. Außerdem wäre es unsinnig, Dinge, die immer wieder passieren, jedes Mal neu zu regeln. Zweitens könnte man an Verträge denken, die Standardsituationen reglementieren, aber dagegen wendet Durkheim ein, dass " nicht alle sozialen Beziehungen dieser rechtlichen Form fähig" sind (ebd.), man denke z. B. an Liebe, Vertrauen oder Hilfe, und außerdem lässt jeder Vertrag Raum .Jür alle möglichen Reibungen" (ebd.), und die wiederum sind durchaus nicht unnötig im sozialen Leben. Drittens: Da der Mensch von Natur aus egoistisc h ist, kann man auch nicht darauf rechnen, dass er von vornherein seine Solidarität empfindet. Ergo: Es muss "die Art und Weise bestimmt sein", wie die Individuen "zusammenwirken müssen, wenn auch nicht bei jeder Art ihres Aufeinendertreffens, so doch für die am häufigsten anzutreffenden Umstände" (ebd.). Und in der Tat gibt es diese Bestimmungen überall, wo Menschen zusammenleben. Durkheim nennt sie soziale Tatsachen oder Institutionen) In jeder Gesellschaft gibt es kollektive Vorstellungen, wie Gesellschaft sinnvollerweise geordnet ist und wie man sich deshalb zu verhalten hat. Es sind Vorstellungen des Guten, und insofern sind sie als Wer te zu verstehen, und zugleich Vorstellungen des Richtigen, und insofern 1 Vgl. Band 1, Kap. 3.6 ,.Mechanische und organische Solidarität", S. 108. 2 Vgl. Band I, Kap. 4.1 "Soziale Tatsachen".
I werte und Normen
21
sind sie Normen. Es sind soziale Tatsachen, die vor jeder sozialen Beziehung schon existieren und als Reg eln unser Verhalten bestimmen. Wie kommen diese Regeln nun zustande? Durkheim sieht es so: " Es gibt bestimmte Arten, aufeinander zu reagieren, die, weil sie der Natur der Dinge gemäßer sind, sich öfter wiederholen und Gewohnheiten werden. Diese Gewohnheiten verwandeln sich, je stärker sie werden, sodann in Verhaltensregeln." (Durkheim 1893, S. 435) Sie werden verbindliche Verkehrsform und soziale Norm. "Eine Regel ist nämlich nicht nur eine gewohnhe itsmäßige Form des Handelns, sie ist vor allem eine verpflichtende Fonn des HandeIns, d. h. sie ist in bestimmtem Umfang der individuellen Willkür entzogen." (5 . 45) Werte und Normen sind aufgehoben im Kol/ektivbewusstsein. Darunter versteht Durkheim "die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft" . (Durkheim 1893, S. 128) Durkheim hat den schwierigen Begriff des Kollektivbewusstseins häufig interpretiert. Am ehesten kann man ihn so verstehen: Er meint das, was in der Gesellschaft als Vorstellung des Verbindenden und Verbindlichen existiert und an dem jedes einzelne Bewusstsein teilhat. Die Betonun g der Bindung in der Erklärung der Funktion des Kollektivbe wusstseins scheint mir wichtig, denn religio heißt ursprün glich genau das! Luhmann interpretiert Durkheim so, dass "das Kollektivbewusstsein (. . .) die Gesellschaft" ist, und deshalb könne man ihn auch mit dem Begriff der Moral zusammenbringen. (Luhmann 1977, S. 24) Schließlich scheint Durkheim selbst das Kollektivbewusstsein mit Instit utionen gleichzusetzen, denn die defin iert er an anderer Stelle gleichlautend als "a lle Glaubensvorstellungen" und - den Blick auf ihre Verbindlichkeit werfend - als " durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen" (Durkheim 1895, S. 100)! Werfen wir einen Blick darauf, wie die Individuen zu einem kollektiven Bewusstsein des Verbindenden, den sozialen Gefühlen, und institutionalisierten moralischen Überzeugungen gebracht werden. Dazu heißt es bei Durkheim : " Es ist unmöglich, dass Menschen zusammenleben und regelmäßig miteinander verkehren, ohne schließlich ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln, das sie mit ihrer Vereinigung bilden, ohne sich an das Ganze zu binden, sich um dessen Interesse zu sorgen und es in ihr Verhalten einzubeziehen. Nun ist aber diese Bindung an etwas, was das Individuum überschreitet, diese Unterordnung der Ein-
22
I
Werte und Normen
zelinteressen unter ein Gesamtinteresse, die eigentliche Quelle jeder moralischen Tätigkeit. Damit sich nun dieses Gefühl präzisieren und bestimme n und auf die gewöhnlichsten oder bedeutsamsten Umstände auswirken kann, überträgt es sich in bestimmte Fonneln; und infolgedessen entsteht ein Korpus moralischer Regeln." (Durkheim 1893, S. 56) Diese Vorstellungen des richtigen Denkens und Handeins existiertcn schon, bevor wir auf die Bühne des Lebens traten, und sie werden uns auch überdauern. Sie sind soziale Tatsachen und dauerhaft festgestellt, weshalb Durkheim sie auch als "Institutionen" bezeichnet, und verbindlich. Institutionen sind Systeme von Nonne n, die spezifische Prozesse regulieren. Wir kommen nicht an ihnen vorbei - ich wiederhole es - weil in ihnen festgelegt ist, wie "man" sich zu verhalten hat und weil sie mit Sanktionen verbunden sind. Mit der Aussage. dass Institutionen normative Systeme sind, ist auch die Frage aufgeworfen, ob dann das in einer Gesellschaft als " normal" bezeichnet werden kann, was institutionellen Regelun gen entspricht. Für Durkheim lautet die Antwort: ja. Normal ist, was sich durchschnittlieh am häufigsten zeigt. (vgl. Durkheim 1895, S. 147) Wenn man Durkheim in dem Gedanken folgt. dass sozi ale Tatsachen nicht nur normal, sondern auch normativ sind, dann kann man diese Antwort leicht nachvollziehen. Und trotzdem bleibt eine zweite Frage als Stachel: Und was ist mit all den Formen des nicht-normalen Verhaltens, z. B. dem Verbrechen? Genau diese Frage hat sich Durkheim auch gesteilt. Getreu seiner Ford erung, Soziales nicht mit irgendeiner religiösen oder philosophischen Spekulation zu beschreiben, sondern ..Soziales mit Soz ialem", also das soziale Leben aus der "Natur der Gesellschaft" und einen sozio logischen Tatbestand aus den •sozialen Phänomenen, die ihm zeitlich vorangehen" (S. 186 und 193) zu erklären, hat er sich der scheinbar individuellsten Handlung eines Menschen zugewandt, dem Selbstmo rd. Die Studie über den Selbstmord, die Durkheim im Jahr 1897 veröffentlichte, ist das Ergebnis einer grandiosen empi rischen Untersuchung und Dokume nt eines streng soziologischen Zugriffs auf ein soziales Phänomen . Von der Psycho logie hält er sich fern, indem er nicht nach den Motiven fragt. die jemanden bewogen haben könnten, seinem Leben ein Ende zu setzen. Von Alltagserklärungen oder angeblich wissenschaftlichen Erklärungen, die z. B. das Klima, die Umwelt oder eine Krankheit anführen, hält er sich fern, indem er den Selbstmord von
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vornherein als ,,nonn ales" Phänomen in einer Gesellsc haft verankert. Deshalb will er auch nicht den Selbstmord an sich erklären, sondern die Selbstmordrate in einer bestimmten sozia len Situation. Die Erklärung, die Durkheim gibt, wirft ein helles Licht auf den Zusam menhang von Verhalten und Normen. Ich will sie kurz referieren. Durkheim fiel auf, dass protestantische Länder höhere Selbstmordraten als katholische Länder aufweise n, obwohl beide Kon fessionen den Selbstmord in gleicher Weise verurteilen. Durkheim sah die Erklärung darin, dass der Protestantismus dem eigenen Denken des einzelnen Gläubigen mehr Raum gibt. Im Prinzip stellt sich der Einzelne seinem Gott und hat die Wahrheit selbst zu entscheiden. Dadurch bleiben die Bindungen an eine Glaubensgemeinschaft loser als das bei den Katholiken der Fall ist. Die Funktion der Gemeinschaft ist in zweierlei Hinsicht geschwächt: Sie übt eine geringere soziale Kontrolle aus, weil die sozialen Beziehungen seltener und schwächer sind, und sie gibt deshalb auch einem kollektiven Dasein nicht genügend Inhalt. (vgJ. Durkheim 1897, S. 185) Die Religion schützt den Menschen also nicht vor der Selbstzerstörung, weil sie ihm "die Achtung vor seiner eigenen Person predigt, sondern weil sie eine Gemeinschaft ist." (S. 184) Wenn diese Erklärung richtig ist, dann müsste sich auch in anderen sozialen Gemeinschaften, die eng und dauerhaft sind, eine geringe re Selbstmordrate zeigen. Und das stellt Durkheim in der Tat auch fest: In Gesellschaften, in denen die Familie enge Beziehungen aufweist, ist die Selbstmordrate signifikant geringer. (vgl. Durkheim 1897, S. 219) Die Tatsache, dass mit steigender Kinderzahl die Rate sinkt, erklärt Durkheim damit, dass mit der Anzahl der Mitglieder Kollektivgefühle wachsen. Das wiederum hängt damit zusammen, dass KoJIektiväußerungen häufiger erfolgen und häufiger erwidert werden. Auf diese Weise stärken sich soziale Gemeinsamkeiten und geben dem Einzelnen Halt. Fazit: .Die Famil ie ist ein mächtiger Schutz gegenüber dem Selbstmord und wirkt um so nachhalti ger, je fester sie gefügt ist." (S. 224) Es ist die Bindungskraft einer sozialen Gemeinschaft, die das Verhalten des Einzel nen erklärt. Dann ist es nur zwangsläufig, auch über den Zustand einer Gesellschaft insgesamt eine Selbstmordrate zu erklären. Landläufig wird oft angenommen, in Zeiten großer Bewegungen oder des Krieges nähmen Selbstmorde zu. Das ist aber gar nicht der Fall. Durkheim erklärt das damit, dass gerade solche sozialen Prozesse .Kollektivempfl ndungen wecken, den Parteigeist ebenso wie den Patri-
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otismu s, den politi schen Glauben wie den nationa len beleben und, indem alle Kräfte auf ein einziges Ziel konzentri ert werden und weni gstens für eine Zeitlang, eine größere Integration des Ganz en zuw ege bringen." (Durkheim 1897, S. 231) Nach seinen empirischen Untersuchungen kommt Durkheim deshalb zu folgend em Sch luss: "Der Selbstmord steht im umgekehrten Verhält nis zum Integrationsgrad der Kirche, der Fam ilie und des Staats." (Durkheim 1897, S. 231)
• Mit dieser These von der Integrationskraft einer Geme inschaft kann man nun eine spez ifisc he Form des Selbstmordes erkläre n, die Durkh eim als "egoistischen Selbstmord" bezeichnet: " Wenn die innere Verbundenheit eine r Gruppe aufhört, dann entfrem det sich in gleichem Maße das Individuum dem Gemeinschaftsleben, und seine Ziele gewinnen Vorrang vor der Gruppe; mit einem Wort, die Einze lpersönlichkeit stellt sich über das Kollekti v. Je we iter die Schwächung in der Gruppe fortschreitet, der er angehört, um so we niger ist er von ihr abhängig, und um so mehr steht es dem zufolge bei ihm, ob er noch and ere Verhaltensregeln anerkennt als die, die in seinem Privatinteresse liegen. Wenn man also einen Zustand, in dem das individuelle Ich sich mit Erfolg gegen übe r dem soz ialen Ich und auf Kosten desselben behauptet, mit Egoismus bezeichnen will , dann können wir diesem beso nderen Typ von Selbstmord, der au s einer übermäß igen Indiv idua tion hervorgeht, als egoistisch bezeichnen." (Durkh eim 1897, S. 232) • Der Selbst mord ist also ein soziales Produkt, und so ist auch die zwe ite Form, die Durkheim als "altruistischen Selbstmord" bezeichnet, zu verst ehen. Dazu kommt es, wenn jemand gegen über einer übennächtigen Gem einschaft keine Individualität ausbilden kann und sich nur als ausfUhrendes Werkzeug dieser Gem einschaft begreift . Vers agt er in dieser zweiten Hinsicht, verlangt die Gemeinschaft sein Selbstopfer oder er selbst sieht sich seiner Ehr e verlustig gega ngen und zieht die Konsequenz. • Eine dritte Form bezeichnet Durkheim als ,fatalistischen Selbstmord '. Er komm e nicht so häufig vor, müsse aber der Vollständigkeit halber genannt werden. Dieser Se lbstmord erwächst "aus einem Übennaß von Reglementi erung"; es ist "der Selbstmord derjenigen, denen die Zukunft mitl eid los verma uert wird." (S. 3 18, Anm . 29)
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• Der gesellschaftstheoretisch interessanteste Fall ist nun der vierte Typ, den Durkheim als .anomischen Selbstmord' bezeichnet. Erinnern wir uns: Den egoistischen Selbstmord hatte Durkheim mit zu geringer Integration des Individuums in die Gesellschaft , und den altruistischen mit zu starker Integration erklärt. Den anomischen Selbstmord erklärt er damit, dass die Ordnung selbst durcheinander gekommen ist und das Individuum seine Orientierung verliert. Zu dieser Erklärung ist Durkheim gekommen, nachdem ihm ein verblüffender Zusarrunenhang aufgefa llen war: In zahlreichen Ländern zeigte sich, dass die Selbstmordraten anstiege n, wenn die Gesellsc haft eine Wirtscha ftskrise durchmachte. Doch auch eine gegenteilige Entwicklung, wenn der Wohlstand eines Landes plötzlich zunahm, hatte einen Anstieg zur Folge! Daraus zieht Durkheim den Schluss: "We nn also Wirtschafts- und Finanzkrisen die Selbstmordzahlen nach oben treiben, dann nicht infolge der wachsenden Armut, Konjunkturen haben die gleiche Wirkung; die Selbstmorde nehmen zu einfach wegen der Krisen, das heißt , wegen der Störungen der kollektiven Ordnung." (Durkheim 1897, S. 278) Und er fährt fort: .Jedesmal , wenn es im sozialen Körper tiefgreifende Umstellungen gibt, sei es infolge plötzlichen Wachstums oder nach unerwarteten Erschütterungen, gibt der Mensch der Versuchung zum Selbstmo rd leichter nach." (S . 279) Wie hat man sich das nun genau zu erklären? Die Antwort, die Durkheim gibt, wurzelt in einer anthropologischen Annahme: Würde man den Menschen lassen, wären seine Begierden unbegrenzt. "Unbegrenzte Wünsche" sind aber "ex definitione nicht zu befriedigen; und nicht ohne Grund wird diese Unersättlichkeit als ein Krankheitssymptom angesehen. Sie gehen immer und unendlich weit über das (Korrektur H. A.) hinaus, was an Mitteln zu ihrer Befriedigung vorhanden ist, weil nichts sie einschränkt. Es ist also nichts da, was sie beschwichtigen könnte. Ein unstillbarer Durst ist ein immerwährendes Strafgericht." (Durkheim 1897, S. 281) Ich will es mit einem Bild erläutern: Würde man seine Ziele in alle Richtungen suchen, könnte man gar nicht losgehen, und würde man irgendeinen Schritt tun, wäre er genau so beliebig wie jeder andere, und würde man sich überhaupt anstrengen, wäre es eine Bemühu ng, die um nichts sinnvoller wäre als irgendeine andere! Ergo: "Der Mensch braucht trotz aller Freude am Handeln, an der Bewegung, an der An-
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strengung auch das Gefühl, dass seine Bemühungen nicht vergeblich sind und dass er dabei weiterkommt. Man kommt aber nicht weiter, wenn man ohne jed es Ziel marschiert, oder, was auf dasselbe hinausläuft, wenn das Ziel, das man zu erreichen sucht, im Unendlichen liegt " (Durkheim 1897, S. 281) Daraus zieht Durkheim den Schluss, da ss den menschlichen Bedürf-
nissen Grenzen gesetzt werden müssen, damit der Mensch überhaupt überleben kann. Doch genau so klar ist auch: Er würde sich von niemandem Vorschriften machen lassen, wenn nicht eine Autorität dahinter stünde, "die er respektiert und vor der er sich spontan verneigt." (Durkheim 1897, S. 283) Diese mäßigende Rolle kann allein die Gesellschaft spielen! Sie begrenzt durch kollektive Vorstellungen, welche Bedürfnisse legitim und welche Mittel zu ihrer Befriedigung erlaubt sind - und zwar für jeden! Im "s ittlichen Bewusstsein der Gesellschaften" gibt es ein Gefühl dafür, was die Dinge wert sind und wie Anstrengungen zu bewerten sind, sie zu erreichen. (ebd.) Da die Kollektivordnung, an der die Individuen durch ihr Denken und Handeln teilhaben, alle betrifft, allen dieselben Pflichten abverlangt, aber auch dieselben Rechte einräumt, wird sie " in normalen Zeiten (...) von der großen Mehrheit der ihr Unterworfenen als gerecht angesehen" . (Durkheim 1897, S. 287) Werte und Bedürfnisse auf der einen Seite und Nonn en und Mittel auf der anderen Seite stehen praktisch im Einklang. Wenn nun eine wirtschaftliche Krise hereinbricht, werden bestimmte Bedürfuisse nicht mehr befriedigt oder die Mittel dazu reichen nicht mehr. Umgekehrt springen in Zeiten plötzlichen Wohlstands ganz neue Ziele auf, verlieren alte an Wert, und die traditionellen Mittel passen nicht mehr zu den neuen Zielen. Normen erodieren; die Gesellschaft wird anomisch; die Individuen verlieren ihre Orientierung. "Man weiß nicht mehr, was möglich ist und was nicht, was noch und was nicht mehr angemessen ist: ' (S. 288) Anomie heißt also nicht, dass ein Individuum gegen irgendwelche Gesetze verstößt, sondern meint den gesellschaftlichen Zustand der Normauflösung. Damit verlieren die Individuen den Sinn. Das ist die eine Konsequenz, die nur das Individuum betrifft. Die andere betrifft die Gesellschaft: In einer anomischen Gesellschaft geht auch die Kontrolle über den Individualismus zurück. Die Individuen geben ihren ungezügelten Begierden nach und setzen die kollektiven Regeln außer Kraft. Werte verlieren ihre Funktion der sicheren Orientierung.
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Im Grunde weisen also der egoistische und der anomische Selbstmord, die Durkheim als ,,nahe Verwandte" (Durkheim 1897, S. 454) bezeichnet, auf den Zerfall sozialer Bindungen hin: auf die zwischen Individuum und Gesellschaft und auf die zwischen den Individuen. Deshalb zieht Durkheim aus seiner Studie über den Selbstmord auch den Schluss: "Es muss erreicht werden, dass der einzelne sich wieder solidarischer mit einem Kollektivwesen fühlt." (S. 443) In dieser Hinsicht setzt Durkheim nicht auf die moralische Kraft der Gesellschaft allein, sondern hofft, dass eine überschaubare Gruppe das leisten kann. Das ist für ihn die .Berufsgruppe". Sie ist " eng genug mit den Dingen dieser Welt verbunden" , dass sie " deren Werte richtig setzen" kann. (S . 456) Wendet man die Botschaft Durkheims ins Allgemeine, kann man sagen: Eine Gesellschaft ist dann "ges und", wenn sich Werte und Normen, d. h. konkret Ziele und Mittel des Handeins, in einem Gleichgewicht befinden, dieses Gleichgewicht im kollektiven Bewusstsein verankert ist und die Individuen sich als integrativer Bestandteil der Gesellschaft verstehen.
1.3
Mead: E rfah r ung des Richtigen, Ge ner alisier ung des G ute n
Im soziologischen Sinne sind Werte nichts Absolutes, sondern sie entstehen aus Erfahrungen in einer bestimmten Gemeinschaft, und sie ändern sich auch mit der Entwicklung dieser Gemeinscha ft. Deshalb interessieren unter einer soziologischen Perspektive auch zwei Fragen vor allem: Wie entstehen Werte, und wie werden Individuen so an gemeinsame Werte gebunden, dass Gesellscha ft möglich bleibt? Das waren auch die Fragen, die GEORGE H ERBERT MEAD (1863-1931) gestellt hat. Er hat sie mit der Theset beantwortet, dass die Gesellschaft eine Ordnung im Diskurs und dass Kommunikation "das Grundprinzip der gesellschaftlichen Organisation des 'Menschen" ist (Mead 1934, S. 299). Diese Organisation zeigt sich in der Orientierung an generellen Erwartungen. Erwartungen, die über konkrete Andere hinaus für alle in einer Gruppe oder Gemeinschaft gelten, nennt Mead den "generalisierten Anderen" (S. 196). Bei dieser Erklärung werde ich kurz aufM eads Erklärung vorgreife n, wie " Interaktion" möglich ist. In aller Kürze lautet 1 VgJ. Band l ,Kap. 3.8, S. 11 8 u. 120.
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sie: Während wir handeln . versetzen wir uns fortlaufend in die Rolle des anderen, denken von seiner Situation aus und reflektieren uns dabei selbst. Auf diese Weise verschränke n sich unsere Perspektiven wechselseitig, und so verständigen wir uns in der Kommunikation über die Rollen, die wir spielen wollen und spielen sollen. t Im Geist des seinerzeit herrschenden Behaviorismus betrachtete auch Mead den Menschen als ein Wesen, das auf Reize seiner Umwelt reagiert und so lernt. Da Mead vor allem die soziale Umwelt in den Blick nahm, bezeichnete er seine Theorie auch als Sot ialbehavio rismus, (Mead 1934, S. 44 ) Die soziale Umwelt besteht in den wechselseitigen Reaktionen der Individuen untereinander. Und das Lernen besteht in der Sammlung von Erfahru ngen über Handlungen, die erfolgreich ocIer weniger erfolgrei ch waren. Das kann man natürlich nach zwei Seiten betrachten: erfolgreich nur im Sinne der totalen Erfüllung aller Wünsche des Individuums und ohne Rücksicht auf die anderen, oder erfolgreich im Sinne relativer Befriedigung, dafür aber mit sozialer Anerkennung durch die anderen. Da man sich eine Gesellschaft, die nur aus rücksichtslosen Egoisten besteht, nicht gut vorstellen kann, und da es in diesem Kapite l um " Werte" geht und die Soziologie darin etwas " Verbindendes" und letzt lich auch "Verpflichtendes" sieht, will ich die soziale Genese von Werten und Nonnen auch in der Theorie von Mead hervorheben. Sie lässt sich aus einem kleinen Beitrag über "Die soziale Identität" aus dem Jahre 1913 herauslesen und dann aus der Theorie des ..generali sierten Anderen " und den dort beschriebe nen sozialen Entwick lungsphasen des Kindes. Im Beitrag über ..Die soz iale Identität" fragt Mead. was dem Menschen eigentlich gegenübertritt, wenn er sich an sein früheres Handeln erinnert. Seine Antwort lautet: Das Ich, wie es früher geha ndelt hat, also ein Subjekt, und das Ich, auf das andere seinerzeit reagiert haben, also ein Objekt . (vgI. Mead 1913, S. 241) Mit dem Erinnerungsbild der persönlichen Identität taucht immer auch ein Erinnerungsbild der sozialen Identität auf. Das kann man sich am besten mit drei Fragen klarmachen : Wie haben mich andere gesehen, wie haben sie deshalb auf mich reagiert , und welchen Schluss habe ich daraus gezogen, um mein weiteres Verhalten so zu organisieren, dass ich weiter mit ihnen auskam? Vgl. unten Kap. 5.3 " Interaktion - Verschränkun g der Perspektiv en", S. 198f. und 20 1.
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An diesem reflexiven Prozess interessiert hier vor allem diese letzte Frage, denn sie zielt auf Erfahrungen, die in einem sozialen Handlungszusammenhang gemac ht wurden und die für beide Seiten relevant waren. Hinter dieser ziemlich abstrakten Überlegu ng steckt eine sehr konkrete Annahme: Mead sagt, dass wir nur handeln können, indem wir uns vorstellen, wie die anderen auf unser Handeln reagieren werden. Und das können wir uns vorstellen, weil wir uns die Reaktionen in ähnlichen Situationen vergegenwärtigen . Mead spricht von "Gedächtnisbildem von Reaktionen der Menschen unserer Umgebung" , auf die wir in unserem Handeln zurückgreifen. (Mead 1913, S. 246) An dieser Stelle kann man einen Weg zu der Frage eröffnen, wie Werte entstehen. Der Mensch tut etwas, um etwas zu erreichen, was ihm aus welchen Gründen auch immer wichtig ist. Er handelt also in Einschätzung des Wertes des Handlungsergebnisses. So hat auch Charles W. Morris, der erste Herausgeber der Mitschriften von Meads Vorlesungen, dessen Definition von Wert referiert: Wert ist die " zukünftige Eigenschaft des Objektes, insoweit es unsere Handlungen ihm gegenüber bestimmt." (Morris 1934, S. 33) Wert ist also zunächst ein individuelles Konstrukt. Doch bei seinem Verhalten macht das Individuum die Erfahrung, dass es typische Reaktionen der anderen gibt. Bei den Reaktionen wird ihm schnell klar, dass sie deshalb typisch erfolgen, weil alle in der Gesellschaft sie für normal halten. .Normal'' heißt nicht nur ..in solchen Situationen aus Erfahrung angemessen" , sondern - mit Blick auf Erwartungen an alle Handelnden in "solc hen Situationen" - zugleich auch Bewertung von "richtig" und "fa lsch" ! Nun zu dem zweiten Zugang zur sozialen Genese von Werten. Wie ich später! ausführlicher zeigen werde, lernt das Kind diese Werte, indem es sich im Rollenspiel, das Mead als »play« bezeichnet, in die Rolle wichtiger (»signifikanter«) Bezugspersonen - von der Mutter bis zum freundlichen Metzgermeister - hineinversetzt und aus ihrer Sicht denkt und redet. Auf diese Weise verinnerlicht es Werte, die Ober seine eigenen hinausgehen und sie allmählich überfonn en. Es macht also Erfahrungen, wie ..man" in seiner kleinen Welt denkt und handelt. In einer zweiten Phase lernt das Kind mit anderen zusammen zu spielen, und zwar nach Regeln, die für alle gelten, und auf ein gemeinsames Ziel hin. Ein solches geordnetes Spiel, z. B. Fußballspiel, nennt I Vgl. Kap. 2.5 .J ntegration in einen organisierten Verhaltensprozess", S . 84.
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Werte und Normen
Mead »garne«. Vom Rollenspiel unterscheid et es sich dadurch , dass das Kind nicht nur in einer Rolle auftritt, sondern sich mit mehreren konkreten Mit spielern und ggf. ebenso konkreten Gegenspielern ko nfrontiert sieht, von deren Verhalten das eigene beeinflusst wird und deren Verhalten es selbst auch beeinfl usst. Um im Spiel zu bleiben, muss es wissen, wer wann was tut oder tun soll und wie wer auf was reagiert. Dazu versetzt es sich innerlich in die Rolle aller ande ren und denkt aus ihrer Perspektive. Unter der Hand lernt es den Sinn des Spie ls und die Regeln des ,,richtigen" Verha ltens . Die Summe der Erwartungen aller anderen an da s richtige Verhalten ist der »generalisierte Andere«. Im play zieht das Kind die Rollen »signifikanter Anderer« an sich heran und lernt ihre Werte, indem es in ihrer Rolle auftritt. Da es das für sich allein tut und höchstens die stumme Puppe sich sagen lassen muss, was sie falsch gemacht hat, verirmerlicht es Werte, wie es sie eben versteht. Einer sozialen Kontrolle hat es sich nicht zu stellen. Wenn es hoch kommt, dann wechselt das aufgeweckte Kind von der einen Rolle in die andere, aber auch dann wird es sich die Argumente 50 zurecht legen, wie es ihm gerade in den Kram passt, und was die Mama heute sagt, kann morgen ganz anders lauten, und die stumme Puppe hat sich ohnehin zu fügen. Das ist beim »game« natürlich anders. Dort merkt das Kind an den Reaktionen der anderen sofort, ob es sich ,,richtig" verhält. Die Bindung an Werte erfolgt also über die soziale Kontrolle des Verhaltens. Unter diesem Gesichtspunkt der sozialen Reaktion auf Verhalten hat Schneider die Entstehung von Nonnen nach der Theorie von Mead nachgezeichnet: In der Phase des »play« antizipiert das Kind konkrete Reaktionen konkreter anderer auf konkretes Verhalten. " Bei zerrissenen Hosen ist mit schimpfenden Eltern zu rechnen. Zwischen richtigem und falschem Verhalten, zwischen »gut« und »b öse« kann deshalb nur anhand der erwartba ren Folgen unterschieden werden. »Richtig« ist, was angenehme (oder zumindest neutrale) Reaktionen auslöst, »falsch« ist, was zu unangenehmen Reaktionen fuhrt." (Schneider 2002, Bd. 1, S. 215) Ein moralisches Bewusstsein existiert noch nicht, es sei denn, dem Kind wird eingeredet, die zerrissene Hose sei auch etwas Verwerfliches, das die Mam a betrübt.
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Zurück zum - hoffentlich - normalen Fall der Orientierung an den Reaktionen der anderen kann man sagen, dass das Kind in der Phase des »play« nonnative Erwartungen nur bei einem individuellen Gegenüber und nur als konkrete Erwartungen in einer spezifischen Situation wahrnimmt. Zu einer generellen Beurteilung nonn ativer Erwartungen eines ge neralisierten Anderen ist es deshalb noch nicht in der Lage, "weil dazu mehrere Perspektiven voneinander differenziert und miteinander koordiniert werden müssen." (Schneider, S. 216) Zu dieser kognitiven Leistung ist das kleine Kind noch nicht fähig, und deshalb tut es etwas " Gutes" nicht, weil es an einen abstrakten Wert glaubt, sondern weil es angenehme Reaktionen auslöst, und es unterlässt das "Fa lsche" nicht, weil es nach einer abstrakten Wertvorstellung "böse" ist, sondern weil es unangenehme Reaktionen gewärtigt.t Erst in der Phase des »game« kann das heranwachsende Kind die Dinge von einem dritten Standpunkt aus, also j enseits des eigenen und eines konkreten anderen, beurteilen. Es ist in der Lage, sich in mehrere Rollen zugleich hineinzuversetzen und das Handeln aus diesen verschiedenen Rollen heraus nach einer generellen Regel zu beurteilen. "Gemeinsam geteilte Nonnen definieren einen Vergleichsmaßstab, an dem Handlungen gemessen und als »richtig« oder »falsch« erkannt werden können, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie angenehme oder unangenehme Konsequenzen fü r den jeweiligen Akteur zur Folge haben. Erst jetzt kann sich ein autonomes Konzept der Gerechtigkeit bilden, das entkoppelt ist von persönlichen Interessen, Vorlieben und Abneigungen. »Gerechtigkeit« bedeutet die unparteiische Anwendung sozial geltender Nonne n zur Beurteilung und Sanktionierung von Handlungen." (Schneider, S. 216) Im Hinblick " auf das moralische Bewusstsein des Kindes" interpretiert Hans Joas diesen Prozess als "eine fortschreitende Universalisierung des Urteils." (Joas 1997, S. 245) Erst von dieser Stufe der Orientierung an einem generalisierten Anderen an ist eine Konfliktregelung im Konsens möglich, weil sie auf einer überindividuellen nonn ativen Verpflichtung aufruht. Soziales Verhalten ist wechselseitig antizipierbar, weil sich die Perspektiven aller Beteiligten wechselseitig verNur vernünftige Eltern erwarten, dass Kinder bei einem Konflikt "etwas einsehen". Die aber folgen leider dem Gesetz des Stärkeren oder strecken sich nach der Decke der geringsten Sanktion!
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Werte und Nonnen
schränken und weil bei allen Beteiligten eine gene relle Wertbindung unterstellt werden kann. D ie se Erklärun g trifft natürlich nicht nur auf die kleine Gruppe zu, in der sich alle Beteiligten an gemeinsame Nonnen halten. Mead geht es ja um mehr. und er zeigt auf, wie auch größere Gemeinschaften und die Gesellschaft als ganze letztlich über das Prinzip der Orientierung an einem »generalisierten Anderen« funktionieren könnten. Ich sage "könnten", denn an diesem Punkt ist Mead durchaus Idealist. Wie gezeigt t, stellt er sich nämlich eine " ideale Gesellschaft" vor, die deshalb - im wertenden Sinn - " idea l" ist, weil sie als "u niverseller Diskurs" funktioniert. In ihr orientieren sich alle an dem, was für alle gilt, und sie handeln so, dass die Interessen aller zur Ge ltung kommen. Es wäre die so bezeic hnete " Demokratie der Gleichen" (Mead 1934 , S. 368 ). Hinter dieser idealistischen Vision, die Mead durchaus als Anspruch form uliert, wird zugleich das Prinzip der W ertbildung und der Wertbindung deutlich : Es besteht in der Kommunikation. Kommunikation bedeutet, dass Indi viduen in Beziehung zueinander treten, auf ihr Verhalten wechse lseitig reagieren und aus dcr Erfahrung dieser wechselseiligen Reaktionen gemein same Symbo le bilden, mit denen sie sich den Sinn des HandeIns anzeigen. Da sie sich dabei auf einen " generalisierten Anderen" beziehen , können sie erstens kooperieren und zweitens auch Störungen der Kommunikation - konk ret Konflikte - bewälti gen . In Meads Ethik, so hat es HANS lOAS formuliert, wird damit Kommunikation selbst zum "substantiellen Ideal". (Joas 1997, S. 266) Als Begründ ung von Werten oder Nonnen kann ma n des halb auch anführen: Die erstere n haben sich aus dem wechselseitigen Verhalten in einer Gemei nschaft so erg ebe n bzw. wurde n in Prozessen des Lern ens oder der Sozialisation tradiert; für die letzteren kann nur angeführt werden , dass sie sich im universellen Diskurs bewähren müssen . (vgl. Joas 1997, S. 267) Nur was als Pri nzip des Handein s aller gelten könnte, darf den Anspruch erheben, Nonn zu sein, und nur was im Diskurs auf beiden Se iten als "gut" vermittelt werden kann , darf als sozialer Wert angese he n werden. D ie Ptiifun g darf sich also nicht aus einer transzendentalen Setzun g und auch nicht aus dem wiederholt en Etfo lg eines Akteurs begrü nden, sondern muss in der Komm unikation selbst liegen . I
Vgl. Band 1, Kap. 3.8 "Gesellschaft - Ordnung als Diskurs", S. 123f..
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Pars onst Werte best immen di e Richtung des lIandelns
Bezogen auf das Individuum sind Werte die Bedeutungen, die es Dingen und Handeln beimisst. Bezogen auf die Gesellschaft stellen Werte den Rahmen de r Bedeutungen dar, die zur Aufrech terhaltung der gesellschaftlichen Ordnung notwe ndig oder förderlich sind. Gese llschaft ist ohne Werte nicht denkbar. Das ist eine Grundannahme in der strukturfunktiona listischen Theorie von TALCOIT PARSONS (1902- 1979). Zu m Verständnis der Verbindung zwisc hen Individuum und Gesellschaft über Werte und Nonnen ist ein kurzer Rückblick I auf seine "Theorie des allgeme inen Handlungssystems'' vonnöten. Nach dieser Theorie sind an jeder Handlung drei Systeme beteiligt: das kulturelle System, das sozia le System und das Persönlichkeitssystcm. Das "kulturelle System", das Parsons auch als " Wertesystem" bezeic hnet, hat nonnative Kontrollfunktion gegenüber den anderen Systemen. Unterhalb des kulturellen Sys tems gibt es "soziale Systeme" , in denen Handlungen von Individuen in ei ner bestimmten We ise geordne t sind. Beispiel sozialer Systeme sind die Familie, ei ne O rganisation oder auch die Gese llscha ft als ganze . Die Strukt ur einer Gesellschaft oder eines sozialen Syste ms besteht aus Mustern nonnativer Kultur. Struktur heißt, dass die nonnative Kultur in der Gese llschaft oder anderen sozialen Syste men institutionalisiert ist. Unterhal b der sozialen Syste me gibt es das .Persönlich keitssystem". Als Mitglieder der sozialen Systeme haben die Persönlichkeiten die nonnative Kultur, die ihnen in Rollenerwartungen en tgegentritt, internalisiert . (vgl. Parsons 1958d, S. 44 9) Die Strukt ur einer Gesellschaft oder eines anderen sozialen Systems setzt sich aus vier versch iedenen Komponentena zusa mmen: Werte, differenzierte Nonnen, Kollektlvit ät und Rollen, und diese Komponenten besitzen einen unterschied lichen Grad von Allgemeingültigkeit. • Gesellschaftliche Werte habe n den höchsten Grad an Allgemeingü ltigkeit , denn es " sind die von den Mitgliedern geteilten Vorstellungen einer erstrebenswerten Gesellschaft", (Parsons 1958d, S, 449 ) Auch wenn man auf die Ebene eines konkreten sozialen Syste ms geht. wird man sich zunächst einmal auf diese allgemeinen Werte beziehen. Vgl. Band I, Kap. 3.9 .Ncrmauve Integration", S. 128 und 13lf.. und Kap. 6.2 •D as allgemeine Handlungssystem und seine Subsysteme", S. 210-213. 2 Vgl. Parsons' Kurzdefinition der Funktion dieser Komponenten unten S. 104.
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Werte und Norme n
• Bei einer genaucren Anal yse wird man allerdings feststellen, dass sich die ausdifferenzierten sozialen Subsysteme einer Gesellschaft durch spezifische "Werturteile", die die Mitg lieder " auf die Eigenschaften und das Verhalten" anwe nden, voneinander unterscheiden. Diese Urteile sind " Spezifikationen" des allgemeinen Wertesystem auf einer konkreteren Ebene. Deshalb unterscheidet Parsons auch zwischen allgeme inen Werten und ausdifferenzi erten Normen. Normen sind das Ergebnis der Differenzierung des Verhaltens, das in einem bestimmten sozialen System institutionalisiert ist. (vgl. Parsons 1958d,S.450) • Eine Kollektivit ät stellt eine differenzierte Einheit innerhalb eines sozialen Systems dar, woru nter im Gren zfall sogar ein Individuum verstanden werden kann, das eine bestimmte Funkt ion erfüllt. Deshalb betrifft die nonnative Kultur auch nur funktional spezifizierte Teile eines sozialen Systems und bestimmt sich nach den "besonderen Zielen, Situationen und Ressourcen" der spezifischen Einheit. Deshalb steht die Kollektivität auch " auf einer noch niedrigeren Ebene in der nonn ativen Kontrollhierarchie des Verhaltens" als die differenzierten Nonnen. (S. 451) • "Alle sozialen Systeme erwachsen aus der Interaktion von Individuen als Einheiten ." (ebd.) Umgekehrt müssen soziale Systeme und Kollektivitäten sicherstellen, dass die Individuen effektiv handeln können. .E ffektiv" heißt, so zu handeln , dass das umfassende Syste m seine Ziele erreicht. Das wird gewährleistet, indem es ein Systcm nonn ativer Erwartun gen gibt, die sagen, was das Individuum in eine r bestimmten Funktion zu tun hat. Solc he normativen Erwartu ngen bezeic hnet Parsons als Rollen . (ebd.) Werte gehören neben Institution en und der politischen Organisation zu den unabdingbaren Voraussetzungen eines sozialen Systems. Das soziale System als ein System des Handeins, von der Fami lie bis zur Gesellschaft als ganzer, funktioniert, weil es verbindliche Werte gibt. an denen sich die Handelnden orientieren. .Values in this sense are the commitments of individual pcrsons to pursue and support certain directions or types of action for thc collcctivity as a system and hence derivatively for their own roles in the collectivity." (Parsons 1958c, S. 172) Mit dem Bez ug auf Rollen macht Parsons klar, dass Werte Strukturkomponenten des sozialen Systems sind. (vgl. S. 171) Sie werden
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von den Mitgliedern des sozialen Systems geteilt, weil sie sie verinnerlicht haben. Werte sind in der individuellen Persönlichkeit verankert und in der sozialen Strukt ur institutionalisiert. (vgl. Parsons 1958c, S. 170) " Commitment" als Bindung wie als Bereitschaft ist das Ergebnis einer erfolgreichen Sozialisation . Deshalb misst Parsons auch den Agen turen der Sozialisation, vor allem der Familie und der Schule, eine solche Bedeutung bei. Darauf werde ich im nächsten Kapitel zurückkommen. Hier nur soviel zur Funktion der Familie, die DIE1ER CLAESSENS im Sinne von Parsons so beschrieben hat: Die Fami lie ist die wichtigste Sozialisationsagentur, die Werthaltungen immer wieder und dauerhaft herstellt. Ihre Funktion besteht in der Enkulturation, das heißt, dort werden die für eine Gesellschaft typischen Werthaitungen ..gelehrt und gelernt". (Claessens 1972, S. 38) In der Famili e kommt es zur " zweiten, sozio-kulturellen Geburt" des Menschen. Dass es dabei in erster Linie um eine Persönlichkeit geht, deren Wertorientierung auf die gese llschaftlichen Anforderungen "passt", deutet Claessens mit diesem Untertitel seines Buches schon an! In der Familie werden die Werte als "Haltungen" im Kind verankert. Da die Familie auch grundlegende emotionale Bedürfnisse des Kindes befriedigt und Identifikationen anbietet, über die das Kind sich selbst und als Teil einer sozialen Gruppe erkennt, wirkt dieser Prozess der Enkulturation so nachhaltig, dass die dort erfahrenen Gru ndorientierungen des Handeins lange Bestand haben. Werte sind das Kriterium, nach dem zwischen Handlungsmöglichkeiten entschieden wird. (vgl. Parsons 1951, S. 12) Dass die Entscheidung nicht aus dem Rahmen der allgemeinen Erwartungen innerhal b einer Gesellschaft fallt, dafür sorgt die ordnende Kraft des kulturellen Systems, das ja nicht nur abstrakt als Summe der typischen Werte der Gesellschaft existiert, sondern uns in konkreten typischen Erwartungen begegnet. Das kulturelle System bestimmt Ziele und Formen gemeinsamen Handeins (Sozialsystem) und gibt auch den Rahmen der individuellen Orientierung (Persönlichkeitssystem) vor. Auf diese Orientierungsfunkt ion der Werte hebt Parsons mit folgender Definition ab: .Values are modes of nonnative orientation of action in a social system which define the main directions of action withou t referen ce to speciflc goals or more detailed situations or structures.' (Parsons 1958c, S. 17 1) Werte geben also die allgemeine Richtung des
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Handeins vor. Insofern sind sie auch allgemeiner als Ziele oder Interes-
sen, die in einer konkreten Situation des Handeins eine Rolle spielen. Von Nonnen unterscheiden sich Werte insofern, als Werte einen allgemeinen Rahmen für mögliches Handeln abgeben , während Nonn en als " spezifische, konkrete und mit äußeren Sanktionen verbundene Verhaltensregeln gelten" . (Dreitzel 1968, S. 131) Werte sorgen - über die Prozesse der Sozialisation und der Internalisierung - für die allgemeine Verp flichtung ("commitment") der Mitglieder einer spezifischen Gesellschaft, in einer bestimmten Weise zu handeln. (Parsons 1958c, S. 174) DANIEL BELL ha t diese Sicht so wiedergegeben: Parsons ver steht
Werte "als ein alle anderen Komponenten der Gesellschaftsstruktur (Nonn en, Kollektive und Rollen) hierarchisch bestimmendes Ordnungsprinzip." (Bell 1975, S. 362) Auf die Frage, woher die Werte, denen er ja zentrale Bedeutung für den Erhalt sozialer Ordnung beimisst, kommen und was sie also letztlich sind, gibt Parsons eine lapidare Antwort: Es sind "e xistential beliefs about the world", und insofern liegt die Begtiindung der Werte jenseits des empirischen Wissens. (parsons 1958c, S. 174) Sie gründen in religiösen Überzeugungen und philosophischen Annahmen. Es sind die grundlegenden Antworten, die die Menschen in einer bestimmten Kultur auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gegeben haben. Festgehalten im kollektiven Wissen und festgestellt in entsprechenden Institutionen sind es Urteile über richtig und falsch. Werte bilden den Hintergrund für soziale Erwartungen. Folgt das Individuum ihnen, erfährt es Anerkennung, entspricht es ihnen durch sein Verhalten nicht, muss es mit Sanktionen rechnen. " So gesehen liegt der wesentliche Aspekt der sozialen Struktur in einem System von Erwartungsmustem, die das rechte Verhalten für Personen in bestimmten Rollen definieren." (Parsons 1945, S. 56) Werte sind im Grunde Bewertungen, und aus diesen Bewertungen ergeben sich Vorstellungen und schließlich Vorschriften des entsprechenden Handeins: "Werte sind (.:) »normative Muster«, die ein positiv bewertetes soziales System beschreiben. Nonnen sind generalisierte Muster von Erwartungen, die die ausdifferenzierten Erwartungsmuster für die ausdifferenzierten (..) Einheiten innerhalb eines bestimmten Systems definieren. Nonn en stehen in einem System immer auf einer niedrigeren Stufe der kulturellen Allgemeingültigkeit als Werte. Mit
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Werte und Normen
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anderen Worten : Normen können durch Werte legitimiert werden, aber nicht umgekehrt ." (Parsons 1958d, S. 450f.) Werte sichern den Zusammenha lt einer Gese llschaft. Das ist die The se in dem grund legenden Aufsatz .Values and value-orie nrations in the theory of action" (195 1) des amerikanischen Kulturan thropologe C LYDE KLUCKHOHN. Danach haben Werte ers tens etwas mit der Befriedigung von Bedürfnissen, welcher Art auch immer, zu tun. Bedürfnisse veran lassen uns zu handeln. Zwei tens haben Werte aber etwas mit dem Zusam me nhalt ei ner Gesellschaft zu tun. Sie sind die entschei dende Verbindung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, insofern sie die O rientierung angeben , wie gehande lt werden so ll. Gäbe es keine verbindlichen Werte, würde die Gesellschaft auseinanderbrechen; gäbe es keine entsprechen de Wertorientierung auf der Seite der Indi viduen, kön nten sie nicht handeln . Die Ta tsache, dass Kluckhohn Werte mit konk reten Bedürfnissen zusammenbringt, bedeutet nicht , dass man " Werte" direkt und nur bezogen auf ein Indi viduum "beobac hten" könnte , sondern sie erschließen sich erst über das Handeln von Individuen in einer spezifischen Gese llschaft. Werte sind Abstrak tionen wie Sys tem oder Kultur. Kluckhoh n zählt sie zu den .aymbohc systems'', die man eher " verstehen" müsse den n "erkläre n" - er verwendet die deu tschen Begriffe - könne . Kluckhohn versteht wie Parsan s Kultur als ein System, das über Sym bole definiert ist, einen inneren Zusa mmenhang aufwe ist und die Tendenz zur Erhalt ung hat. Wen n er nun die folgende Defi nition von Wert abgi bt, da nn ist zu bedenken , dass es um Handeln in diese m kultu rellen S yste m und nach Maßgabe seiner Struktur geh t: " A value is a co ncepti on , explicit o r implici t, distinc tive of an individual or charactcristic of a gro up, of the desirable whic h intl uenees the selectio n from avai lable modes, means, and ends of action." (Kluckhohn 1951, S. 395) Indem Kluck hoh n den Begriff des .Wünscnenswerten " mit der " Auswahl" von möglichen Formen, Mitteln und Zielen des Handeins ver bindet, beton t Kluckhoh n, dass es imm er um Präferenzen geht. Diese Präferenzen hahen aber eine Vorgeschic hte, denn es sind nicht nur die individuel len Bed ürfnisse, d ie sich in ihnen entfalten , sondern es sind die Präferenzen, die in einer bestimmten Gese llschaft oder Gruppe normalerweise gelten .
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Werte und Normen
Werte sind nach Klu ckhohn notw endig für da s .persc nality syst em", also das Individuum, und ruf da s .soc ial systern'' , das System des Handeln s von Individuen : C1yde Klu ckhohn: Values ad d a n eleme nt ofpr edictabilily 10 socia l life "In cu ltural systems the sys temic elemen t is cohe rence: the compone nts
of a cultural system must, up 10 a point, be either logically consistent or meaningfully congruous. Otherwise the culture carriers feel uncom-
fortab ly adrift in a capricio us, chaotic world . In a personality system, behavior must be reasonably regular or predic table, or the individual will no t get expectable and needed respo nses from others beca use they will feel that they cannat »d epend« on hirn. In other words, a social life and Iivin g in a soeial world both require standards »w ithin« the individual and standards rough ly agreed upon by ind ividuals who li ve and wo rk together. There can be no personal security end no stability if social organization unless random carelessness, irresponsibili ty, and purely impulsive beh avior are restrained in tenns o f private and group codes. Inadequate behavior is selfish from the viewpoint of soci ety and autistic from the viewpoint o f pers ona lity. If one asks the que st ion , »Why are there val ues?« the reply must be : »Because social Iife would be impossible without them; the functioning of the soc ial could not contin ue to achieve group goals; individuals could not get what the y want and need from other individua ls in personal an d emotional terms , nor could they feel with in the mse lves a requisire measure of order and unified purpose.« Above all, velues add an element o fpred ictabili ty to social 1ife." (Kl uckhohn 195 1: Values an d value-orientations in the theory of acti on, S. 399f.)
Die ser letzte Blick auf die relativ e Sicherh eit der Orienti erun g de s Individuum s darf nicht übersehen machen, dass die strukturfunktionalist ische Theorie der Werte vo r allem die Erhaltung der sozialen Ordnung im Blick hat. Deshalb kann man sie auch so zusamme nfasse n: Werte stellen die entscheidende Verbindu ng zwisc hen dem Individ uum und dem sozialen System her. Decken sich individuelle Ori entierungen und kulturell e Werte , ist die Gesellscha ft in einem sicheren Gleichgewicht. Wo Werte in Frage geraten, ist soz iale Ordnung in Ge fahr. Genau so wurde dann auch in den 70er Jahr en R ONALD I NGLEHARTS The se vom Wertewandel verstanden .
I Werte und Nonnen
1.5
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Ingleh ar t: Wande l von materia listischen zu postmaterialistischen Werten
Der amerikanische Politikwissenschaftler RONALD F. INGLEHART (*1934) ging davon aus, "dass sozio- ökonomische Veränderung die Wertpräferenzen von Menschen verändern kann, die in einer bestimmten Gese llschaft leben. Und es gilt auch, dass wesentl iche Veränd erungen von gesellschaftlichen Wertpräferenzen und gesellschaftlichem Wissen ihrerseits die Struktur der Gesellschaft graduell verändern können." (ln glehart 1980, S. 145) Die erste Annahme ließ einen Wertewandel erwarten, die zweite ließ sich zur Prognose des gesellschaftliehen Wandels nutzen. Um diese Hypothese zu prüfen, hat Inglehart 1970 in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und 1973 in der erweiterten Gemeinschaft und den USA gefragt, welche Werte und Ziele für die wichtigsten gehalten wurden. Ihnen wurde eine Liste mit folgenden Items vorgelegt (vgl. Inglehart 1980, S. 146): A B C D E F G H I J
K L
Aufrechterhaltung der Ordnung im Land Verstärkte Mitsprache des Volkes bei den Entscheid ungen der Regierung Bekämp fung der Preissteigerung Schutz der freien Meinungsäußerung Wirtschaftliches Wachstum Sicheru ng der Verteidigungsstärke des Landes Mehr Mitspracherecht der Menschen an ihrem Arbeitsplatz und in der Gemeinde Verschönerung unserer Städte und unserer Landschaften Eine stabile Wirtschaft Verb rechensbekämp fung Eine Gesellschaft, die freundli cher und weniger unpersönlich ist Eine Gese llschaft, in der Ideen mehr zählen als Geld
Die Wahlmöglichkeiten A, C, E, F, I und J sollten ökono mische und physische Sicherheitsbedürfnisse (" materialistische Ziele"), die übrigen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und nach intellektueller und ästhetischer Befriedigung (..postmaterialistische Ziele") erfassen. Bevor ich auf das Ergebnis zu sprechen komm e, will ich den theoretischen Hintergrund und die Hypothesen skizzieren.
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Inglehart bezieht sich auf die Annahme des Psych ologen ABRAHAM H . MASLOW, dass Wert e m it einer H ierar chi e von Bedürfnissen zusammenhängen. (Maslow 19 54) Maslow nimmt eine feste Reihen fol ge der Entw ick lung vo n Grund bedürfnissen an: ph ysiologische Bedürfnis-
se (Hunger, Durst, Schmerz), Bedürfnis nach Sicherheit, soziale Bedürfnisse nach Geborgenheit und Liebe, Bedürfnis nach Geltung und Anerkennung und Bedür fnis nach Selbstverwi rklichung. Bedürfn issen, die nur wenig befriedigt werden, kom mt eine beson-
dere Bedeutung zu. In diesem Sinne legte Inglehart seiner Untersuchung des Wertwandels eine Mangelhyp othese zugrunde: ..Die Prioritäten eines Menschen reflektieren sein sozioökonomisches Umfeld: Den größten subjektiven Wert misst ma n den Dingen zu, die relati v knapp sind." (Inglehart 1989, S. 92) Ganz ohn e Iron ie ste llt Inglehart fest: ,,Je reicher man wird, desto unw ichtiger wird Reichtum." (Inglehart 1980, S. 146) Zweitens vermutete Inglehart, dass die Er fahrungen des soz ioökonomischen Umfeldes selbst einen entscheidenden Einfluss darst ellen . Deshal b ergänzte er die Mangelhypothese du rch eine Sozialisationshypot hese. Danach spiegeln die gru ndlegenden Wertvorstellungen eines Men schen "weithin die Bedingungen wider, die in seiner Jugendzeit vorherrschend waren." (Inglehart 1989, S. 92) Wenn also j emand in einer wirtschaftlichen Notsituati on aufgewachsen ist, wird er später andere Wert e vertreten als j emand, der einen solchen Mangel nicht kennen gelernt hat. Da in allen untersuchten Länd ern nach dem Zweiten Weltkrieg ein massiver wirtscha ftlicher Aufschwung erfo lgte, sollte sich ein Unterschied der Wertpräferenzen zwischen den Generatio nen nachwe isen lassen. Inglehart fasst seine Ann ahm en so zusam men: Ro na ld In glehart: Post-materialist goa ls .People have a variety of needs and give most attention to those they feel are in short supply. The generation bom after World War 11, having been raised during a period of unprecedented prosperity, tend to give relatively high priority to nonmaterial goals; their parents and grandparents, having experienced hunger and turmoil during their formative years, remain Iikely to emphasize economic and physical security. This hypothesis implies that post-materialists have only recently emerged in significant numbers. Even now they probably constitute a distinet minority in the populations of Western countries." (Inglehart 1976: Values, levels of eoneeptualization and protest potential among western publies. S. 2)
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Nun zu den Ergebnissen der Unters uchungen. Inglehart hat tatsächlich einen Wertewandel herausgefunden. Es gibt eine eindeutige Verschiebun g von materialistischen zu postmaterialistischen Werten. Sowo hl die Mangel- als auch die Sozialisation shypothese wurden bestätigt: .Befragte, die in relativ wohlhabenden Familien aufgewachsen sind, präferieren postmaterialistische Ziele in stärkerem Maße als solche, die in weniger wohlhabenden Umständen leben mussten, und dies gilt für jede Altersgruppe. Auch das Muster zwischen den Altersgruppen zeigte in die erwartete Richtung: die Materialisten stellen die Mehrheit in den älteren Kohorten, und die Postmaterialisten gewinnen an Bedeutung in den Kohort en der Nachkriegsge neration." (ln glehart 1980, S. 147) Zweitens zeigte sich, wenn ein "materialistisches" Item gewählt wurde, dann wurden auch die anderen gewählt, und umgekehrt lagen bei den anderen Werttypen die .postmaterialistischen" Werte eng beieinander. Als weiteres Ergebnis zeigten die Untersuchun gen .,ein hohes Maß der Vergleichbarkeit zwischen den Ländern." (Inglehart 1980, S. 147) Das ließ sich einmal mit der vergleichbaren wirtschaftlichen Entwicklung erklären. Inglehart stellte das Ergebni s aber auch noch in einen kulturtheoretischen Zusammenhang. (Inglehart 1989) Dabei bezog er sich auf Webers Erklärung des Kapitalismus, der ganz wesentlich von der protestanti schen Arbeitsethik gefordert wurde. So lässt sich in der Tat zeigen, dass vor allem in den protestantisch geprägten Ländern in Europa und Nordamerika im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts materialistische Orientierungen im Vordergrund standen. Auf einem ökonomi sch hohen Niveau setzte in diesen Ländern dann allmähl ich eine stille Revolution der Werthaltungen ein, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auffällig wurde. Interessanterweise verlief eine parallele Entwicklung in wirtschaftlich erfolgreichen Ländern, die nicht von einer protestantischen Ethik geprägt waren, in eine ähnliche Richtung. Die ' Erklärung liegt in globalen Modernisierungsprozessen, in denen postmaterialistische Bedürfuisse attraktiv gemacht werden und dank: relativen Wohlstandes auch als realisierbar gelten. Ganz ohne Ironie: Man muss sich die Kritik an materialistischen Werten auch leisten können! Die These des Wandels von materialistischen zu postmat erialistischen Werten ist breit rezipiert worden, und j eder kann dafür auch aus eigener Erfahrung Belege finden. Gleichwohl ist die Kritik an der These und vor allem an den empirischen Untersuchungen dazu hart gewe-
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Werte und Nonnen
sen . Die einen hielten die These für übertrieben und bewerteten tatsäch-
liche Veränderungen nur als Randerscheinungen. Andere meinten, Ingleha rt habe falsche Fragen gestellt, die nicht die wirkliche Mentalität beträfen oder nichts mit dem tatsäc hlichen Handeln der Befragten zu tun hätten. Wieder andere warfen ihm vor, mit seiner The se einer konservativen Kritik an einer angeblich verderbten Welt Wasser auf die M ühlen geleitet zu haben. Die Tatsache, das s Inglehart seine Forschun-
gen unter dem Titel "The Silent Revolution" (1971, 1977) veröffentlicht hatte, zeigt, wie er den Wertewandel einschätzte, und erklärt, warum besorgte Politik er um die Zukunft des Westens fürchteten. Die Sorge wurde nicht geringer, da Inglehart auch herausgefunden hatte, dass postmaterialistische Werte gehäuft von jungen Leuten mit einem höheren Bildungsniveau vertreten werden. Da sie die künftigen Eliten sein würden, musste man davon ausgehen, dass ihre Wertorientierungen über kurz oder lang die gesamte Bevölkerung ergreifen würden. In der Tat haben dann vergleichende Studien in vielen Industriegesellschaften gezeigt, dass sich "E rscheinungsbild und politische Zielrichtung des Postmaterialismus" zwischen 1970 und 1988 signifikant verändert haben. Kennzeichnete diese Wertorientierung anfangs vor allem die studentischen Protestbewegungen, sind es Ende der 80er Jahre die jungen Eliten, bei denen postmaterialistische Werte eine entscheidende Roll e sp ielen. (Ing lehart 1989, S. 92)
Anlass zur Sorge bot die These vom Wertewandel auch bei kritischen Beobachtern der Gesellschaft, die hinter den postmaterialistischen Werten fehlendes Engagement für die Gesellschaft und wachsenden Egoismus vermuteten. Statt vieler anderer zitiere ich dazu den amerikanischen Soziologen DANIEL BELL, der in seinem Buch "The Coming of Post-Industrial Society" (1975) Ingleharts Thesen weitergedacht und von einer tiefgreifenden Kulturkrise gesprochen hat. Die Krise ergibt sich daduroh, dass durch die Prinzipien der Wirtschaft ..Effizienz und funktionale Rationalität betont und die Menschen auf Rollen und ihre Eignung dafür festgenagelt werden sollen, während die Kultur Selbstverwirklichung und Selbstgenuss fordert und sich dadurch in direkten Widerspruch zur techno-ökonomischen Ordnung begibt. Auf einer anderen Ebene manifestiert sich dieser Widerspruch in der für die westeuropäischen Gesellschaften typischen Spaltung der Generationen in die ältere, die in einer Zeit des Mangels und der Arbeitslosigkeit aufgewachsen ist, weshalb ihr Materialismus und Sicher-
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heit als oberste Werte gelten, und die jüngere, die, in einer Zeit des Überflusses groß geworden, die »Notwendigkeit des Engagements« sowie die Wichtigkeit der geistigen und ästhetischen Belange, d. h. sog. »nachbürgerliche Wertee betont. Aus eben diesem Grunde sollen sich angeblich auch viele Kinder der früheren Mittelschicht zunehmend zur »Neuen Linken« oder mehr »kommunalen« Werten hingezogen fühlen, mit anderen Worten, radikale Sichten angenommen haben." (Bell 1975, S. 16f.) Als theoretische und empirische Fundierung seines Argumentes nennt Bell ausdrücklich die Arbeiten von Inglehart. Die tiefgreifenden Änderungen der Gesellschaft kann ich hier nicht wiedergeben. Ich möchte nur aus dem Schlusskapitel, in dem Bell "Die Aufgaben der Zukunft" benennt, eine Passage zitieren, die eine tiefe Krise der Gesellschaft, insonderheit von Kultur und Bewusstsein, beschreibt: Dani el Bell: Das Syste m kennt kein erl ei transzendente Ethik mehr "Bisher haben alle bedeutenden Soziologen die Gesellschaft auf die eine oder andere Weise als Einheit aus Sozialstruktur und Kultur aufgefasst. Nun hat sich aber m. E. entgegen diesen Konzeptionen in der westlichen Gesellschaft während der letzten hundert Jahre etwas völlig anderes vollzogen, nämlich eine immer spürbarere Trennung von GeseIlschaftsstruktur (Wirtschaft, Technologie und Berufssystem), und Kultur (symbolischem Ausdruck von Sinngehalten), wobei die beiden Bereiche von jeweils unterschiedlichen axialen Prinzipien gelenkt werden - die Gesellschaftsstruktur von funktionaler Rationalität und Effizienz, die Kultur von der antinomischen Rechtfertigung der Steigerung und Überhöhung des Selbst. Der Anstoß kam jeweils aus anderer Richtung. Der vom Prinzip der Kalkulation, der Rationalisierung von Arbeit und Zeit und einer linearen Fortschrittsauffassung geprägte »Lebensstik der Gesellschaftsstruktur ging letztlich auf das Bestreben zurück, die Natur durch Technik zu meistem und die vom Wechsel der Jahreszeiten und den abnehmenden Bodenerträgen bestimmten Lebensrhythmen durch völlig neue zu ersetzen. Diese technische Bewältigung der Natur verquickte sich mit einer bestimmten Charakterstruktur, aus der heraus sich der einzelne damit abfand, auf sofortige Belohnung zu verzichten und sich in Genügsamkeit und Nüchternheit der Arbeit zu widmen, überzeugt, damit ein moralisches, gottgefälliges Leben zu führen und vollauf zufrieden, sich durch Achtbarkeit den eigenen Wert zu beweisen. In dieser Hin-
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sicht war die bürgerliche Gesellsc haft auf de m Höhepunkt der kap italis tischen Zivil isation im 19. Jahrhundert tatsäc hlich ein integriertes Gan-
zes, in dem Kultur, Charakterstruktur und Wirtschaft aus ein und dem-
selben Wertsystem erwuchsen.
Die Ironie des Schicksals aber wollte es, dass all dies vom Kapitalismus selbst untenn iniert wurde, der durch Massenproduktion und Massenkonsum die protestantische Ethik zerstörte und an ihrer Stelle eifrig eine hedonistische Lebensweise forderte. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts suchte sich der Kapitalismus nicht länger durch Arbeit oder Eigentum zu rechtfertigen, sondern begnügte sic h mit den Statussymbolen materiellen Besitzes und der Ausweitung der Vergnügungen.
Ein höherer Lebensstandard und eine Lockerung der Sitten wurden nun
als Zeichen persön licher Freiheit gewertet und zum Selbstzweck erhoben. Da s aber führte zu einer Spa ltung der Gesellscha ftsstruktur. Denn während das System im Hinblick auf die Organisation von Produktion und Arbeit nach wie vor Vorsorge, Fleiß und Selbstdiszi plin, Hingabe an die Karriere und den Erfolg verlangte, forderte es im Konsumbereich die Haltung des carpe diem, d. h. Versc hwendung, Angeberei und die zwang ha fte Jagd nach Amüsement. Eine s fre ilich habe n beide Bereiche bei aller Verschiedenartigkeit doc h gemein: eine absolute Profanität, da da s System keinerlei tra nszendente Ethik meh r kennt. W ie aber die auf Techn ik und Messung gegründete modeme Gesellschaftsstruktur eindeut ig eine historisch neue Art von sozia ler Organisation darste llt, so verbindet die zeitgenössische Kultur in ihrer Beschä ftigung mit dem Selbst die tiefsten Antriebskräfte des Menschen mit der modemen Abneigun g gegen die bürgerlic he Gesellschaft." (Ben 1975: Die nachindustrielle Ges ellschaft, S. 362-364)
Neben der pessimistischen Zeitdiagnose, in der das von Hobbes angenommene Menschenbild aufscheint, fallt vor allem die von Bell so genannte .antinomtsche" Rechtfertigung des Selbst auf Das konnte nur als gegen die Nonne n von Gesellschaft gerichtet und als Widerspruch des Individuums zur Gesellschaft gelesen werden. Aus diesem Geist geriet die Diskussion über Wertewandel leicht in eine Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, die auf eine Auflösung der Ordnung hinauszulaufen schienen. In Deutschland war es dann HELMUT KLAGES, der mit seiner Version des Wertewandels auf den ersten Blick ähnliches zu beschwören schien.
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1.6
Klages: Pflicht, Selbstent fa ltung, Wertesynth ese
HELMUT KLAGES (*1930) stimmt mit Inglehart überein, dass es in den Industriegesellschaften einen Wertew andel gegeben hat. In der Bundesrepublik setzte er Anfan g der 60er-Jahre ein. Klages bezeichnet ihn als Wandel von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu SelbstentfaItungswerten. (Klag es 1984a, S. 17ff.) Er belegt es an Erziehungswerten, die das Meinungsforschungsinstitut EMN ID in repräsentativen Befragungen über mehrere Jahrzehnte erhoben hat. Eitern wurd en gefragt auf weiche Eigenschaften die Erziehung der Kinder in erster Linie hinzielen sollte. Die Antworten zeigen, dass Werte wie Gehorsam und Unterordnung deutlich zurückgehen, während Selbständigkeit und freier Will e stark ansteigen: Erziehungsziele in der Bundesrepublik und den alten Ländern 195 1-1995 (Angabe n in % wichtig")
.
195 1 Ordn un sliebe und Fleiß Gehors am und Unterordnung Selbständigkeit und freier Wille
25 28 41
1964 31 25 45
1972
198 1
199 1
1995
37
38 8 52
36 9 63
33
14 45
9 65
Tab. In Anlehnung an Klages (1998b) : Werte und Wertew andel. S. 702
Interessanterweise halten sich gleichze itig Ordnungsliebe und Fleiß auf einem konstanten, relativ hohen Niveau. Das ist einer der Gründe, weshalb Klages gegen Inglehart kritisch einwende t, der Wertewandel gehe nicht komplett in eine Richtung. Deshalb erlaubten die Daten auch keine Prognosen. Zweitens stimmt er mit Inglehart überein, dass sich eine statistische Korrelation zwischen der Höhe des Bruttosozialprodukt s und der Ausprägung eines »individuali stischen« Wertkomplexes feststellen lässt. (Klages 1984b, S. 224) Doch anders als besorgte Leser der Inglehartsehen These von de r Zunahme postmaterialistischer Werte sieht Klages darin eine Entw icklung, die vom Bildungs- und Beschäftigun gssystem geboten ist. Drittens schließlich stellt Klages wie Inglehart fest, dass es offensichtlich einen Zusammenhang zwischen eher individ ualistischen Werten und der Höhe des Bildungsniveaus gibt. Auf diesen Zusammenhang will ich zunächst eingehen.
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Der Wertewandel machte sich insbesondere bei Schülern und Studenten in der Altersgruppe zwischen 16 und 24 Jahren bemerkbar. Diese Gruppe ist traditionell progressiver in ihren Einstellungen als berufstätige Jugendliche. Ihre Wertedisposition wurd e durch die Intensivierung der Bildungsprozesse verstärkt, und die Gruppe wurde erheblich größer, weil mehr Jugendliche länger im Bildungssystem blieben. Als Gründe, warum Bildung zu einem Wertewandel beiträgt, kann man in Anlehnung an Klages (I 984b, S. 229-232) die folgenden nennen: 1. Das Bildungssystem vermit telt ein Wissen, das in Konkurrenz zum Alltagswissen, z, B. in der Familie steht. Es ist nicht nur ander s, sondern reflektiert und relativiert es. So kommt es zu einer Werteverunsicherun g oder gar zu einem Werteverlust. In dem Maße, wie die Familie als Legitimation für Werte wegfällt, werden auch Werte wie Pflicht und Gehorsam in Frage gestellt. Da immer mehr Jugendliche immer länger mit Altersgleichen zusammen sind, nimmt die Bedeutung der peer group filr die Wertbildung zu. Da die peers aber alle dabei sind, sich von den Eltern abzunabeln und ihre Selbständigkeit zu testen, weist auch die Sozialisation in der peer group in die Richtung Selbstentfaltung. 2. Kinder aus unteren Sozialschichten, die in weiterführende Bildungssysteme kommen, lösen sich oft von ihrem Herkunftsmilieu. Das hängt ebenfalls mit dem anderen Wissen zusammen, das in der Schule vermittelt wird. Das hängt aber auch damit zusammen, dass die Zugehörigkeit zu einern "höheren" kulturellen Niveau durch Verweigerun g des Gehorsams und übertriebene And ersheit zum Ausdruck gebracht wird . 3. Das Wissen in der Schule ist nicht konkret auf Arbeitsrollen bezogen, sondern will im Gegenteil generelle, gewissermaßen kritischreflex ive Fähigkeiten ausbilden. Zu lernen, wie man Wissen erwirbt und wie man damit umgeht, heißt, selbst gefordert zu sein, sich selbst entfalten zu müssen. 4. In der Schule ist jeder für seine Leistung allein verantwortlich. Anders als im Beruf, wo die Tätigkeiten ineinander greifen und Pflicht und Verantwort ung funktional geboten sind, hän gt der Erfolg in der Schule allein davon ab, was der Einzelne tut. 5. Ein letzter, sicher nicht unwesentlicher Faktor ist die Tatsache, dass das Bildungssystem von der Zeit und von der Struktur her den Jugendlichen sehr viel mehr Möglichkeiten bietet, sich selbst darzu-
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stellen. Erleichtert wird das auch dadurch, dass sie durch die Familie versorgt werden und somit noch keine Verantwortung für den Lebensunterhalt oder andere Pflichten zu übernehmen brauchen. Mit diesen Überlegungen hat Klages die Erklärung geliefert, warum es zu einem Wertewandel in Deutschland gekommen ist. Eine ganz andere Frage ist nun, was dieser Wertewandel für die Gesellschaft bedeutet. Wie ich oben gezeigt habe, haben ja viele besorgte Beobachter der Gesellschaft die These vom Übergang zu postmaterialistischen Werten als Beleg für eine Entwicklung gelesen, dass der Einzelne nur noch an sich denkt. Als Klages in Deutschland eine Abnahme von Pflicht- und Akzeptanzwerten und eine Zunahme von Selbstentfaltungswerten konstatierte, konnte das auf den ersten Blick gcnau so gelesen werden. " In einer solchen Formel", räumt Klages ein, "schien ein mit dem Wertewandel einhergehender Moralitätsverlust ja fast schon überdeutlich mit bloßen Händen greifbar zu sein." (Klages 1998a, S. 109) Umso energischer verteidigte er dann auch den Wertewande l. Das tat er mit zwei Argumenten. Zum einen erinnerte er daran, dass wir seit Spencer und Durkheim wissen, dass die sozioökonomische Entwicklung Differen zierung beinhaltet. Es entstehen mehr oder weniger autonome Subsysteme, die untereinander zwar in einem strukturierten Zusammenhang verbunden sind und einander bedingen, die selbst aber eigene Werte ausbilden. Das heißt aber, dass die Gesellschaft insgesamt immer weniger über universelle Werte integriert, sondern durch abstrakte Medien wie Geld, Macht, Recht oder Wahlen "g esteuert" wird. Das hat Konsequenzen für das Individuum und sein Wertebewusstsein. Da es in unterschiedlichste Teilsysteme eingebunden ist, die alle einer eigenen Logik folgen, also je eigene Werte vertreten, kann es gar nicht anders, als sich flexibel auf diese jeweils vertretenen einzulassen. Es muss lernfähig sein, Entscheidungen selbst treffen und individuelle, besondere Leistungen unter gewandelten Bedingungen erbringen können. Von seiten der Teilsysteme sind " Kreativität, Beweglichkeit" und Neugier gefragt, "d. h. Eigenschaften, die viel eher mit »individualistischen« Selbstentfaltungswerte n Hand in Hand gehen." (vgl. Klages 1998a,S.I I I)
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Die gerade beschri ebene Modemisierung hat einen " funktionalen Identitätswandel" zur Folge - und fordert ihn. Eine Identität, die zwa nghaft einen Gleichklang individueller und gesellschaftlicher Werten versuchte, würde an der Pluralität und Heterogenität der Werte zerbrechen, und eine Identität, die festgeftigt ist und konseq uent verbindlichen Werten folgt, würde weder den Erfordernissen der Modemisierung noch ihren Chance n gerecht. ,,» Rational« wird demgege nüber die Entwicklung einer Identität, welche eine hohe Mobilität im Sinne von jederzeitigen Ziel-, Stan dort-, Tätigkeits- und Habitusveränderungen bei geringst möglichen psych ischen »Umstellungskosten«, d. h., wen n man so will, den heute öfters kolportierten Patchwork-Lebenslau f ermöglicht." (Klages 1998a, S. 112) Funktional gebote n ist nicht eine Identität, die sich über Normbefolgung stabilisiert, sondern eine Identität, die sich selbs t unter wechselnden Bedingungen kontrolliert. Das Individuum ist auf sich selbs t gestellt. Seine besten Leistungen wird es nur erbring en, indem es sich selbst entfa ltet! Klages fasst denn auch diesen funktionalen Identitätswandel so zusammen: "Es zeigt sich, dass die von den Modemisierungsbedingungen abge forderte »individualis tische Selbstentfaltung« völlig missverstanden würde, wenn sie als affektiv betonte und lustvoll erlebbare »Triebbcfriedigung« interpretiert würde. Die rea le Herausforderung zur Selbstentfaltung bedeutet vielmehr den Zwang zur Herausstellung von Fähigkeiten, die das Indi viduum in die Lage versetzen, jenseits ehemaliger Sicherheiten und Geborgenheiten mehr oder weniger auf sich gestellt zu existieren, sein Leben »in eigener Verantwortu ng« zu führen und dabei sehr viel instrumentelle Intelligenz, Flexibilität, Anpassungsund Umstellungsgeschick und -energie und social skills, wie auch eine hochentwic kelte Fähigkeit zum Ertragen und produkt iven Verarbeiten von Versag ungen und Misserfolgen zu entwickeln." (Klages 1998a, S. 114)
Das zweite Argument, mit dem Klages den Wertewandel von Pflichtwerten zu Selbstentfaltungswerten verte idigte, stützte sich auf empirische Untersuc hunge n und war dazu angetan , besorgte Gemüter zu beruhigen. Klages belegte nämlich, dass von einem Verlust solcher Werte wie Ordnungsliebe, Fleiß und Pflichterfüllung überhaupt nicht die Rede sein könne. Deshalb hatte er auch schon früher gegen Inglehart eingewan dt, die beiden Pole Materialismus und Postmaterialismus lägen auf verschiedenen Ebenen und würden auch nicht zwangsläufig
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gegenseitig substituiert. (Klages 1984a, S. 23) Es sei vielmehr so, dass Werte flexibel und situationsangemessen gehandhabt würden. Wie gleich zu sehen ist, schließen sich Selbstentfaltung und Akzeptierung von Pflicht auch nicht aus. Selbstentfaltung bedeute auch keineswegs Egoismus und Verantwortungslosigkeit. So sei die Toleranz gegenüber andersartigen Menschen - von Homosexuellen bis zu Behinderten, von Ausländern bis zu Randgruppen - deutlich angestiegen. Selbstentfaltung habe auch nicht die oft beschworene Anonymisierung und Isolation gebracht. Im Gegenteil seien ganz neue soziale Netzwerke entstanden. Die Bindung an den Wohnort sei außerordentlich hoch. Schließlich hätten die empirischen Befunde gezeigt, dass die meisten Eltern ihren Kindern weite Rechte einräumen, sich frei zu entfalten, was Hobbys, Kleidung, politische Ansichten, Freunde oder Religion anbetrifft. Auf der anderen Seite sind sie aber genau so entschieden der Meinung, sie sollten (und wollten) ihre Kinder beeinflussen, was ihr Benehmen, den Umgang mit der Wahrheit, ihr Verhalten anderen Menschen gegenüber oder ihre Einstellung zu Schule und Beruf angeht. (vgl. Klages 1998a, S. 118) Ob sie es tatsächlich tun und wie erfolgreich es ist, das steht natürlich auf einem anderen Blatt! Alles in allem kann man Klages wohl zustimmen, dass von einem totalen Umbau der Werte keine Rede sein kann. Es scheint vielmehr so zu sein, dass Werte j e nach Bedarf synthetisiert werden. Deshalb hält sich auch der »alte« Erziehungswert " Ordnung und Fleiß" trotz der seit den späten 60er Jahren deutlich ansteigenden Zustimmung zu dem »neuen« Wert "Selbständigkeit und freier Wille" auf einem konstanten Niveau. Mit der Darlegung, dass ein Wertewandel in Richtung Selbstentfaltung den Bedingungen einer differenzierten, modernen Gesellschaft optimal entspreche - Klages spricht von einer .Eufunkt ionalität des Wertewandels" ( 1998b, S. 700) -', und dem empirischen Nachweis, dass immerhin eine größere Gruppe zur Verft.lgung steht, die diese individualistischen Werte mit konventionellen, auf die Gesellschaft gerichteten Werten verbindet, hat Klages auch versucht, die Diskussion über " neue Werte" zu beruhigen. Das ist in der Soziologie sicher gelungen. Im Gespräch zwischen den Generationen und vor allem bei Politikern halten sich aber ganz andere Schlagworte. Begriffe wie " Ellbogengesellschaft", ,,Anspruchsdenken" oder "Egoismus" zeigen, dass
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in der Öffentlichkeit das Th ema Wert ewandel fast durchweg mit der Sorge verbunden wird , nun sei der Anfang vom Ende gekommen. Ich vermut e, das haben die Alten schon im Jahre 1708 vor Chr. schon so gesehen. Nun zu dem Thema, das mit dem Begriff der Werte eng verbunde n ist und schon mehrfach angesprochen wurde , dem Them a Normen.
Während Werte generelle Orientierungen des Handeins meinen, drückt der Begriff der Norm die Verpflichtung aus, in einer bestimmten, von der Gesellschaft erwarteten, oft auch vor geschri ebenen Weise handeln
zu sollen. 1.7
König: Normen - Urphänomen des Sozialen
Der Begriff .Joorm'' kommt aus dem Lateinischen, wo .norma'' das Winkelmaß und im bi ldliehen Sinn dann eine Regel oder Vorschrift bezeichnet. Heute wird der Begriff entweder im Sinne einer Vor schrift (Schraubengewinde müssen der Deutschen Industrie Norm entsprechen) oder eines durchschnittlich erwartbaren Tatbestandes (mit sinkenden Temperaturen steigen regelmäßig die Heizölpreise) gebraucht. In der Soziologie bezeichnen Normen allgemein gültige Regeln des Handelns. Während Werte allgemeine Orientierungen für das Handeln sind, sind Normen " Verhaltensregeln, die zur Verwirkl ichung der Werte dienen." (Claessens 1972, S. 35) Der Wertbe griff ist also weiter als der Begri ff der sozialen Norm. RENE KÖNIG (1906-1992) hat einmal gesagt, man könne den ,,Begriff der sozialen Norm (oo) auf keinerlei Weise aus anderen Begriffen" ableiten. In ihm stelle "s ich gewisse rma ßen das »Urphänomen« des Sozialen dar," (Kön ig 1969, S. 978) Hintergrund dieser Aussage ist Durkheims schon genannte These, dass das Handeln des Menschen durch das Kollektivbewusstsein bestimmt wird. Es ist die Summe von Konventionen, sozialen Regeln und rechtl ichen Vereinbarungen, auf die der Einzelne zunächst keinen Einfluss hat. Soziale Normen sind Teil dieses Kollektivbewusstseins. In den Normen äußert sich die Perspektive der Gesellschaft oder ande rs: Das Nonn ative ist die Grundlage von Gesellschaft. " Nonnen im Sinne der Soziologie sind (oo) »Regeln«, die das Verhalten in einem gegebenen Kreise tatsächlich bestimmen und über die jeweil s ein Einverständnis in diesem Kreise besteht, das
I Welle und Normen
51
mehr oder weniger ausdrückl ich sein kann. Im Französischen hat sich dafür der Ausdruck »rea lite mc rale« seit langem eingebürgert, der auch zur Bestimmung der Sozialwissenscha ften als »Moralwissenschaften« ge führt hat." (König 1969, S. 978) Ganz im Sinne der Du rkheimschen Erklärung der Entstehung von Institutionen beze ichnet Dahrendorf Institutionen als "G estalt gewo rdene Normen". (Dahrendorf 1989, S. 4) Nonnen stellen "eine eig ene Dimension der Wirklichkeit dar" und begründen "die Wiederholunge n und Regelmäßi gkeiten" des sozialen Lebens. (König 1969, S. 979) Nonnen machen das Leben in der Gem einschaft bereche nbar und kontrolli eren es. Manche Nonnen ge lten für alle, manche nur für bestimmte Grup pen. H EINRICH POPITZ unterscheidet deshalb zwischen allgemeinen Normen und partikularen Nonnen. (Popitz 1980, S. 40) Immer abe r geben sie an, wie bei Strafe der Missbilligung in ein er soz ialen Situation gehandelt werden muss. Anders als Werte lassen sie im Prinzip keine Entscheidung zw ischen Alternativen zu. Zur Entstehung von Nonnen konkurrieren verschiedene theoretische Grunda uffassungen. wie sie schon bei der Begründung von Werten ank lange n. Einige berufen sich auf ein Naturrecht, andere leiten sie direkt aus dem göttlichen Ratschluss oder aus Ideen ab, die am bestirnten Himmel über uns ewig kreisen. Auf der anderen Se ite stehen die Vert reter des positiven ! Rechts, die zeigen, da ss jede Norm von Menschen geschaffen wurde. Das heißt natürlich nicht, das s sie geplant sein müssen. So kenn en wir alle die " normative Kraft des Faktischen". Damit ist gemeint, dass sich Regelungen des Alltags allmäh lich so verfestigen, dass man an ihnen nicht vorbeiko mmt. Diese Regelungen sind zwar keine Nonnen im rechtli chen Sinn, aber sie haben verpflichtenden Charakter für eine bestimmte Gruppe . Manc hmal bew egt das Fakt ische dann auch den Gesetzgeber, Nonnen neu zu definieren. Als z. B. veränderte moralische Vorstellungen dazu führten, dass viele Männer ihre Zunei gung flireinandcr offen zeigten, begann eine Disku ssion über den Sinn dem entgegen stehender Nonnen. Die " normative Kraft de s Fakt ischen" kom mt auch bei einem anderen Normbegriff zum Ausdruc k, der eingangs schon angedeutet wurd e. Dort hieß es, dass der Begriff auch im Sinne eines durchschnittlich er1 "positiv" im lar. Sinn, dass etwas gesetzt wurde
Werte und Normen
52
wartbaren Tatbestandes verwendet wird. Ein solcher, eher statistisc her Normbegri ff spielt auch in der Sozio logie eine Roll e. Wenn man z. 8. liest, die Menarche trete im Durchschn itt mit 13 Jahren ein, dann wird das zu einem Faktum, an dem sich soziale Vorstellungen von einer Normalentwicklung ausrichten. Die normale Streuung von I 0-1 6Yl Jahren wird dann meist gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Das Durchschn ittliche wird also zur Norm. Wie ein statistischer Wert - oder was da für ausgegeben wird - in eine fast verpflichtende Nenn umschlagen kann, kann man sich an folgendem erfundenen Beispielt klar machen: Wenn Jugendzeitschriften und besorgte Femsehmagazine feststellen, dass 87,93% aller 13jährigen Mädchen sage n, sie hätten schon sexue lle Erfahrungen gemacht, dann kann man davon ausge hen, dass über kurz oder lang kein 14jähriges Mädchen zu den restlichen 12,07% "S pätentwicklern" gehören will. Da statistische Nonnen mit dem Gewicht der große n Zah l operi eren, erschei nen sie vielen Mitgliedern der Gese llschaft auch als soz iale Norm, an der man sich orientiert .
1.8
Nor mative Integration, Nor mverletzu ng und der Nutzen der Dun kelziffer
Soziale Normen sagen , was in einer bestimmten Situation geboten oder verboten ist. Ihre Funktion ist, das Leben in der Ge sellschaft zu rege ln, es sicher und planba r zu machen. Nun ist aber nicht zu übersehen, dass einze lne Nonnen in sich nicht eindeut ig und die Nonnen insges amt keineswegs widers pruchs frei sind. Das Spektrum der Interpretati onen ist groß. In einer Gesellschaft, die sich plurali stisch versteht, verlieren auch die Nonnen eine klar e Orientierungs funktion. Das ist eine Erklärung für abweichendes Verhalten. Du rkheim hat in seiner Studie über den Se lbstmord gezeigt, wie die Aufweichung von Nonnen zu individuellen und kollektiven Reaktionen führt , die auf Dauer den gesellschaftli chen Zusammenhal t gefährden. Den Zustand einer tiefgreifenden Erosion der Nonnen nennt er Ano mie. Auf der anderen Seite erö ffnet eine neue Interpretation der Normen aber auch Freiräume. Mit der Frage nach dem Sinn bestimmt er Die Zah len sind natürlich frei erfu nden, das Prinzip des Beispiels und die Macht der Suggestion durch " Genauigkeit" dagegen nicht.
1 Werte und Nonnen
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Nonne n beginnt der Prozess der Innovation. Diese Frage ist die Voraussetzung dafür, dass sich Gesellschaft wandelt und dass die Norm selbst ihren Sinn immer aufs Neue erweist. Nonnen werden aus unterschiedlichen Gründen befolgt. Der haufigste Grund - wenn man von der Gedankenlosigkeit absieht, mit der man durch seinen Alltag geht - ist sicher, dass einem die Nonne n als vernünftig einleuchten. Sie regeln die Dinge des Lebens und erweisen sich als zweckmäßig. Insofern erscheinen sie auch legitim. Zu diesem Eindruck trägt auch die Tatsache bei, dass wir alle in dergleichen Gesellschaft leben und die wichtigsten Nonne n von allen in dergleichen Weise gelernt und verinnerlicht worden sind. Ein sicher nicht unerheblicher Grund, weshalb wir sie befolgen, liegt auch in den Sanktionen, die mit ihnen verbunden sind. Sie reichen von ausdrücklichem Lob bis zu drakonischer Bestrafung, von der stummen Bestätigung durch Nichtreaktion bis zur deutlichen Verurteilung nach Recht und Gesetz. Es gibt Sanktionen, die unterschiedslos alle treffen (z. B. der Starenkasten am Ortseingang), und solche, die typisch für einen begrenzten sozialen Kreis sind (z. B. das schrille Lob der besten Freundin). Die soziale Integration der Gesellschaft würde aber auf Dauer nicht funktionieren, wenn die Nonne n nur wegen äußerer Kontrolle befolgt würden. Deshalb kennt jede Gesellschaft den Prozess der Sozialisation, in dem die sozialen Nonnen so in den Individuen verankert werden, dass sie gewissermaßen automatisch befolgt werden. Das ist die stärkste Verankerung sozialer Nonnen , dass sie gelernt und verinnerlicht werden. Die innere Kontrolle ist die verlässlichste sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. Mit dieser begründeten Annahme, dass soziale Normen Teil der Persönlichkeit werden und werden müssen, kann man in der Theorie von Parsons Normen als kulturelle Standards für Verhalten bezeichnen. Es sind institutionalisierte Rollenerwartungen. Durch den Prozess der Internalisierung, den schon Durkheim zur Erklärung sozialer Ordnung beschrieben hatte, werden Nonne n "unserer persönlichen Willkür" relativ entzogen und "zu Maximen des eigenen Wollens gemacht." (König 1969, S. 982) Diese Verinnerlichung nonna tiv wirkender Rollen haben auch PETER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN vor Augen, wenn sie schreiben: ,,Mittels der Rollen, die er spielt, wird der Einzelne in einzelne Gebiete gesellschaftlich objektivierten Wissens eingewiesen,
5.
1 Werte und Nonne n
nicht allein im engeren kogn itiven Sinne, sondern auch in dem des »Wissens« um Nonnen, Werte und sogar Gefühle." (Berger u. Luckmann 1966, S. 81) In dies em Sinne ist .normatlve Integration" ruf Parsons Bedingung der Stabilität. (N unne r-W inkler 1984, S. 406) Nun könnte man annehmen, dass die Integration der sozialen Ordnung am ehesten gewährleistet ist, wenn niemand gegen sie verstößt, wenn es also gar keiner strafenden Sanktionen bedarf. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein. So war schon EMILE DURKHEIMaufgefallen, dass die Geltung von Nonnen aus dem kollektiven Bewu sstsein schwindet, wenn sie nicht ab und an verletzt werden! " Das Verletzen einer sozialen Norm hat eine integrative Funktion für das Überleben des Gesamtsystems der sozialen Nonn en, das bei kont inuierlichem Befolgen, also bei totaler Kon formität schnellstens verdämme rn würde." (König 1969,
S. 980) Deshalb haben vor allem die strafenden Sanktionen die Aufm erksamkeit der Soziolo gen auf sich gezogen. Sie interessierte weniger die Frage, was Strafe für das Individuum bedeu tet, sondern wie diese Sanktion den Zusammenhalt einer Gese llschaft tangiert. Nach Durkheim haben Strafen "die nützliche Funktion, (die Kollektivgefühle) auf dem nämlichen Intensitätsgrad zu halten; denn jene Gefühle würden bald erschlaffen, wenn die ihnen zugefügten Verletzungen nicht gesühnt würd en." (Durkheim 1895, S. 181) Man kann es auch so sagen: Normen, über die nicht geredet wird, verlieren ihre Wirkung . Deshalb gibt es in bestimmten Ländern heute noch öffentliche Hinr ichtungen. Ob diese Abschreckung letztlich jemanden von einem Verbrechen abhält, ist umstritten, aber dass mit der öffentlichen Demonstration der Entschlossenheit des Staates, Normverletzungen zu bestrafen, auch die Normen selbs t ins Bewusstsein gerückt werden, ist unbestritten. Durkh eim geht sog ar noch einen Sc hritt weiter: Auch das Verbrechen selbst, also die schwere Übertretung einer sozialen Norm, ist torder lieh fiir den Erhalt und kann nützlich tur die Entwicklung einer Gesellschaft sein. Förderlich für den Erhalt ist es, weil es moralische Empfindungen verletzt und sie somit im öffentl ichen Bewusstsein festigt. (vg l. S. 160) Nützlich für die Entwicklung einer Gesellschaft kann es sein, weil manche s Verbrechen "wirklich bloß eine Anti zipat ion der zukünftigen Moral, der erste Schritt zu dem , was sein wird", ist. (ebd .) Der Fall des Sokrates ist ein promin enter Bewei s.
Werte und Normen
55
Das erste Argument findet sich auch bei GEORGE HERBERT MEAD, der im Vollzug der Strafe ein psychologisches Moment zur Stützung des Rechtsbewusstseins sieht. Mead fragt aber weiter, waru m diese r Effekt eintritt und welche Folgen er hat. Er tritt ein, weil sich jedes Individuum mit eine r Gruppe identifiziert, der es angehört. Selbstverständ lich nimmt es an, dass sie Teil der "gu ten Gesellschaft" ist, dass also die allgemeinen Nonnen dort gelten . In dem Augenb lick, wo jemand diese Nonnen verle tzt, empfindet das Individuum das als Angriff auf sich selbst und seine Gruppe . (vgl. Mead 19 18, S. 879) Instinktiv rückt es näher an die ande ren in seiner Gruppe der Gesetzestreuen heran, um gemeinsam mit ihnen den äußeren Feind abzuwehren. Das kann drastische Formen annehmen, wie wir es von der Lynchjustiz her kennen, das kann aber auch in symbo lischen Gesten der Nonnkonfonnität zum Ausdruck kommen . Die öffentliche Entrüst ung über bestimmte Nonnverletzungen, die in den Medie n insze niert wird , ist ein solcher symbol isch er Beweis. Wenn dann auch noch eine öffe ntliche Bestrafung verm eldet wird, weiß sich das gesunde Volksempfinden auf der richtigen Seite. Wenn die Skandalpresse wieder einmal einen Ministerpräsidenten entdeckt, der sich Frei flüge schen ken lässt, dann befriedigt das auf den ersten Blick Sensationsgier, auf den zweiten Blick hat es aber eine ganz wichtige scziale Funktion: Es zeigt, dass man nicht nur die Kleinen hängt, und das wiederum hat zur Folge, dass sich der Glaube an die Gültigkeit der Nonnen mit neuer Kraft auflädt. Es muss aber auch gesehen werden, dass Sanktionen, die zu oft angewandt werden, ihre Wirkung verlieren . Es kann sogar so sein, dass die Verletzung der Nonnen dadurch, dass sie immer wieder sanktioniert wird, nun erst recht betrieben wird. Manches Verhältnis zwisc hen den Vertretern der öffe ntlichen Ordnung und denen, die sie in mehr ode r minder geistreicher Fonn störten, ist von so lchen gegen teiligen Effekten geprägt. Eine exzessive Verme hrung der Nonnen, meint HEINRICHPOPITZ (1925-2002), sanktioniert eine Norm zu Tode , eine zu seltene Anwendung von Sankti onen schwächt die No rm ebenfalls: Heinrich Popitz: Normen und Sanktionen "E ine exzessive Vermehrung der Sanktionen (..) müsste dazu führen, dass die Normen, die bewahrt werden sollen, zu Tode sanktioniert werden. Wenn auch der Nachbar zur Rechte n und zur Linken bestraft wird,
1
56
Werte und Normen
verliert die Strafe ihr mora lisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend. Auch die Strafe kann sich verbrauchen. Wenn die Norm nicht mehr ode r zu selten sanktioniert wird, verliert sie ihre Zähne , - muss sie dauernd zubeißen, we rden die Zähne stu mp f. (...)
Aber nicht nur die Sanktion verliert ihr Gewicht, wenn der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird. Es wird damit auch offenbar
- und zwa r in denkbar eindeu tiger Weise - , dass auch der Nachbar die
Norm nicht einhält. Diese Demonstration des Ausmaßes der Nichtgeltung der Norm wird sich aber ebenso wie der Gewichtsverlust der Sanktion auf die
Konformitätsbereitschaft auswirken. Werden allzu viele an den Pranger gestellt, verliert nicht nur der Pranger seine Schrecken, sondern auch der Normbruch seinen Ausnahmecharakter und damit den Charakter einer Tat, in der etwas »gebrochen«, zerbrochen wird." (Popitz 1968 : Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, S. 17) Po pitz deutet hier eine weitere Paradoxie in der Geltung von Nonnen an: Wo z u häufig bekannt wird, dass Nonnen übertreten werde n, verlieren sie ebenfalls ihre Wirkun g. Deshalb vert ritt Popitz die These, dass kein Gesetzgeber daran interessiert se in dar f, alle No nnverletz ungen zu kennen: " Ke in System sozialer Norme n könnte einer perfekten Verha ltenstransparen z ausgesetzt we rde n, ohne sich zu Tod e zu blamieren. Eine Gesellsc haft, die jede Verhaltensabweichung au fdeck te, würde zugleich die Ge ltung ihrer Normen ruinieren." (Popitz 1968, S. 9) Wenn zu oft über Ste uerhinterziehu ng berichtet wird, bleibt nicht aus, dass die allgemein e Steuermo ral sinkt. Die Dunkelziffer hat also eine n Entlastungseffekt. Popitz sprich t sog ar vom "Nutzen der Dunk elzi ffer" . (S . 14) An mehreren Stellen wurde di e Frage angedeutet, wa rum Wert e und Nonnen so se lbstverständlich gelten. Auf die se Frage haben die Th eorien der Sozialisation eine Antwort gegeben. Um dieses Them a geht es nun.
2
Sozialisation
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Durkheim: Socialisation methodique Freud: Über-Ich und Einschränkung der Triebbedürfnisse Kulturanthropologie: Kulturelle Differenzen Lernen unter den Bedingungen der Umwelt Mead: Integration in einen organisierten Verhaltensprozess Parsans: Herstellung funktional notwendiger Motivation Hurrelmann: produktive Verarbeitung der Realität
Die Frage, wie wir werden, was wir sind, ist keine neue Frage. Seit je hat man darüber nachgedacht, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zustande kommt. Interessanterweise spielt in allen Erklärungen dieses Verhältnisses der Gedanke eine Rolle, dass der Mensch nicht von selbst mit der Gesellschaft zurechtkommt und umgekehrt dass auch die Gesellschaft sich ihrer Mitglieder nicht von vornherein sicher sein kann. Vor allem dieser Aspekt scheint auch schon bei der ersten Verwendung des Begriffes Sozialisation im Vordergrund gestanden zu haben. Im Oxford Dictionary of the English Language aus dem Jahre 1828 wird "to socialize" nämlich im Sinne von "to make fit for living in society " verwendet. (Clausen 1968, S. 21) In Gesellschaft leben zu können, ergibt sich offensichtlich nicht von selbst, sondern man muss es irgendwie lernen. Damit stellt sich die Frage, warum man es lernen muss, wie man es lernt und was die Bedingungen sind, unter denen man es lernt. Die Nachdenker haben darauf ganz unterschiedliche Antworten gegeben, die bis heute in die Diskussion über den Prozess und das Ziel von Sozialisation hineinspielen. Man kann sie grob nach ihren Grundannahmen über das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft unterscheiden. (vgl. Geulen 1991, S. 21) Einige wurden schon unter dem Stichwort "Wie ist Gesellschaft möglich?" angedeutet. Eine Annahme lautet, dass der Mensch von Natur aus egoistisch sei. Das war z. B. die Ansicht von Thomas Hobbes. Damit nicht einer des anderen Feind werde, müsse man den Menschen durch Furcht im Zaum halten. Dieser Gedanke der nachdrücklichen Anleitung zum " richtigen"
2 Sozialisation sozialen Verhalten spielt in vielen Sozia lisationstheorien eine wichtige Rolle. Als wichtigste nenne ich die von EMlLE DURKHElM, SIGMUND FREun und auch von TALCOTI PARSONS. Für Durkheim wirkt die Gesellschaft durch die Macht ihrer Institutionen und die Sanktione n, die erfolgen, wenn man sie missachtet. Aber sie betreibt Sozialisation auch methodisch in eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen. Freud, der den Begriff Sozialisation selbst nicht benutzt. betrachtet den Menschen als ein Wesen, das in einem schmerzhaften Prozess davon abgehalten werden muss, nur seinen egoistischen Trieben zu folgen. Der Macht der Gesellschaft beugt sich das Kind, indem es die Gebote und Verbote der Gesellschaft verinnerlicht. Auch die Theorie von Parsons wird die Anleitung zum "richtigen", spric h: normalen Verhalten herausstellen, allerdings mit dem wichtigen Untersc hied, dass die Bindung an die Gesellschaft letztlich freiwillig erfolgen müsse. Eine nahezu gegenteilige Ansicht, haben wir bei den Erk lärungen sozialer Ordnung gesehen, vertrat JEAN JACQUES ROUSSEAU. Für ihn ist der Mensch von Natur aus gut, und deshalb solle man ihn sich frei und natürlich entfalten lassen. Die Gesellschaft sei etwas Künstliches und tue der ursprüng lichen Unbefangenheit und Unschuld des Kindes Gewalt an. Aus dieser Annahme speisen sich kritische Einwände gegen Sozialisationstheorien, hinter denen das Ziel einer simplen Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse vermutet wird. In der Hochzeit der Kritik an diesen Verhältnissen kam denn auch die grundsätzliche Frage auf, was dem Individuum im Prozess der Sozialisation eigentlich widerfahre. Eine dritte Richtung betrachtet die Gesellschaft als eine Umwelt, an die sich die Individuen anpasse n müssen, um überleben zu können. Auf die Macht der Umwelt heben lernthe oretische Ansätze ab, die erk lären, wie der Mensch lernt und wie man deshalb auch seine Umwelt so verändern kann, dass er ein ganz bestimmtes soziales Verhalten lernt. Jede Umwelt hat ihre spezifisc he Struktur, also muss auch die Sozialisation spezifisch sein. Diese kulturellen Untersc hiede stellen kultu ranthropologische Theorien heraus. Eine vierte Richtung erinnert daran, dass diese Bedingungen keineswegs von selbst entstanden sind, sondern Produkt menschlichen Handeins sind. Das wird bei der Theorie von GEORGE HERBERT MEAD im Vordergrund stehen, aber auch dort geht es letztlich um die Integration in eine bestehende Ordnung. Dieser letzte Gedanke findet sich
2 Sozialisation
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dann verstärkt wieder bei TALCOTI PARSONS, für den Sozialisation die Herstell ung funk tiona l - d. h. konkre t: aus der Forderung der Gesellschaft! - not wendiger Motivation bedeutet. A ll diese Theori en m üssen aber imme r vor dem Hintergrund gedac ht werden, dass gese llschaftliche Bedingun gen, unter denen wir aufwac hsen und "Gesellsc haft lernen" , nicht von Natur aus so sind, wie sie sind, sondern vo n Menschen gesc haffen wurden. Aus dieser Perspektive stell t sich also immer die kritische Frage nach der Legitim ität der Beding unge n und der Ziele von Sozialisation in einer konkreten Gesel lsc haft. Einen Versuch, das Individu um als Kritiker und Konstru kteur gese llschaftlicher Realität ins Spie l zu bringen , untern immt KLAUS HURRELMANN.
2.1
Durkheim: Socialisation methodique
Obwohl der Begriff der Sozialisati on scho n seit dem frühen 19. Jahrhundert bekan nt war, setz te eine theoretisc he Diskussion unter d iesem Titel erst Ende des Jahrhunderts ein. Den wichtigste n theo retischen Beitrag zur Funktion und zum Prozess der Sozialisation hat sei nerzei t EMlLE DURKHElM geliefert. Seine Theorie der Sozialisation steht im Mitte lpunk t seiner Gese llschaftst heorie , die oben! unter der Frage behandelt wurde, wie gese llschaftliche Ordnung möglich ist. Dort stand natürlich die Seite der Gesellschaft im Vordergrund. Der Seite des Indi viduums wendet sich Dur kheim mit einer Kritik an trad itio nellen Erzieh ungsvorstellungen und dann mit einer dezidierte n anthro pologische n Feststellu ng zu. Zunächst zur Kritik. Durkheim wirft den Pädagogen vor, sie würden in der "Erziehu ng eine rein individuelle Ange legenheit" sehen, in der es daru m gehe , in jedem Individuum " die für wese ntlich geha ltenen Eigenschafte n der mensc hlichen Gattung sc hlec hth in zur Vollendung zu bringen." (Durkhei m 190 3, S. 38) In der Ann ahme, dass alles sc hon in der Natur des Menschen ange legt sei, sä he die Erziehung ih re Aufga be dari n, die latenten Kräfte zu erkennen und zu fördern. Etwa s Neues zu schaffen, beabsichtige sie nich t, und deshalb verlören auch "d ie Bedingu ngen der Zeit und des Ortes, die Zustände, in denen sic h die soz iale Umwe lt befindet , jedes Interesse für die Pädagogi k." Leider, besc hließ t D urkheim seine Kritik an der PädaI
Vgl. Band 1, Kap. 3.6 •.Mechanische und organische Solidarität".
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2 Sozialisation
gogi k, stehe "diese Au ffassung der Erziehung in direktem Widerspruch zu allem , was uns die Geschichte lehrt." (Durkheim 190 3, S. 39) Erstens unterscheiden sich nämlich die Gesellschaften danach, was sie ruf das Ideal der Erziehung halten. Sie lenken die Kinder von Anfang an in eine Richtung, die der Idee der gesellschaftlichen Ordnung entspricht. Wer in Sparta groß wird, soll letztlich bereit sein, sich für seine Stadt zu opfern, wenn das Gesetz es befiehlt , und wer in Indien groß wird, soll wissen, dass Kasten göttlicher Vorsehung entsprechen. Zweitens wird auch innerhalb einer Gesellschaft nirge ndwo eine allgem eingült ige Erziehung für alle praktiziert, sondern überall werden d ie Kinder auf ihre spez iellen Aufgaben in der Gese llsch aft vo rbe reitet. Natürlich gibt es " eine gewisse Anzahl von Ideen, von Gefüh len und Praktiken (...), die die Erziehu ng unterschiedslos allen Kindern beibringe n muss, wel cher sozialen Kat egorie sie auch angehören ." (S . 42) Ab er von einem gew issen Alter an wird die Erziehu ng ungleich, nicht aus Unge rechtigkeit, sondern weil sie sich spezialisiert und so "die Spezialarbeiter' vorbereitet, deren die Gese llschaft bedarf. (S . 40f.) Die Gese llschaft gest altet den Menschen nach ihren Bedürfnissen. Diesen Prozess betreibt sie planmäßig in Form von Erziehung. Das Ziel ist, das Individuum auf die Gese llscha ft einzustellen : ,,Der Mensch, den die Erziehung in uns verwirklichen muss, ist nicht der Mensch, den die Natu r gemacht hat, sondern der Mensch, wie ihn die Gesellschaft haben will; und sie will ihn so haben, wie ihn ihre innere Öko no mie braucht." (Durkheim 1903, S. 44) Das pädagogische Ideal ist "bis in die Einzelhe iten das Werk der Gesellschaft. Sie zeichnet uns das Porträt des Menschen vor, das wir sein müssen." (S . 45) Erziehung heißt Erziehung auf eine bestimmte soziale Ord nun g hin. D iese planmä ßige Erziehung nennt Du rkheim deshalb auch socia/isation methodique. Emile Durkheim: Socia lisatio n met hod ique "Statt dass die Erziehung das Individuum und sein Interesse als einziges und hauptsächliches Ziel hat, ist sie vor allem das Mittel, mit dem die Gesellschaft immer wieder die Bedingungen ihrer eigenen Existenz erneuert . Die Gesellschaft kann nur leben, wenn unter ihren Mitgliedern ein genügender Zusammenhalt besteht. Die Erziehung erhält und verstärkt diesen Zusammenhalt, indem sie von vornherein in der Seele des Kindes die wesentlichen Ät'ul1ichkeiten fixiert, die das gesellschaftliche Leben voraussetzt. Aber ohne eine gewisse Vielfalt wäre andererseits je de Zusammenarbeit unmöglich. Die Erziehung sichert die Fortdauer
2 Sozialisation
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dieser notwendigen Vielfalt. indem sie sich selbst vervielfältigt und spezialisiert. Sie besteht also unter der einen wie der anderen Ansicht aus einer methodischen Sozialisierung (socialisation methodique) der jungen Generation." (Durkheim 1903: Erziehung, Moral und Gesellschaft. S. 45f.) Sozialisation ist also ..Fixierung" von generellen sozialen Einstellungen und Ausbildung spezieller funktionaler Qualitäten, die eine arbeitsteilige Gesellschaft für ihren Zusammenhalt braucht. Deshalb hält Durkheim die Wörter "sozialisiert" und "z ivilisiert" auch für gleichwertig. (Durkheim 1902, S. 56) Soweit zur gesellschaftlichen Notwendigkeit von Sozialisation. Jetzt zur anthropologischen Feststellung, mit der die Notwendigkeit der Sozialisation begründet wird. Durkheim unterscheidet zwei Bestandteile der Persönlichkeit, einen privaten Teil (Triebe, Bedürfnisse), der keinerlei überindividuelle Strebungen zeigt, sondern egoistisch und asozial ist, und einen sozialen bzw. moralischen Teil, der die verinnerlichten sozialen Nonnen und Vorstellungen enthält. Der Mensch ist also ein homo duplex. Die private oder asoziale Seite bringt er von Geburt mit, die soziale oder moralische muss hergestellt werden. Damit ist das Problem fixiert, vor dem jede Gesellschaft immer wieder steht, denn das Kind bringt bei seiner Geburt "nichts mit außer seiner Natur als Individuum. Die Gesellschaft muss mit jeder neuen Generation sozusagen wieder von vorne anfangen. Sie muss auf dem raschesten Weg dem eben geborenen egoistischen und asozialen Wesen ein anderes Wesen hinzufügen, das imstande ist, ein soziales und moralisches Leben zu fuhren. Das ist die Aufgabe der Erziehung." (Durkheim 1903, S. 46f.) Ihr Ziel ist die Herausbildung des sozialen Wesens m uns. Durch methodische Sozialisation wirkt die Gesellschaft so auf das Individuum ein, dass es den Zwang der " sozialen Tatsachen" akzeptiert oder - subtiler - ihn nicht als Zwang empfindet und sich freiwillig dem fügt, was von ihm erwartet wird. Die sozialen Tatsachen - als Regeln und Pflichten - gehen dem Individuum in Fleisch und Blut über. Diesen Vorgang nennt Durkheim Internalisierung. Sie ist die unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt sozialer Ordnung.
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2 Sozialisation
Doch wie ist es mit dem Individuum? Ich hatte oben die Frage gesteilt, wieso die sozialen Tatsachen, die ja immerhin eine Einschrän kung seiner egoistischen Triebe bedeut en und einen moralischen Zwang (contrainte) ausüben, so zwingend sind, dass sie internalisiert werden. Durkheims Antwort lautet: Wenn man sich an die sozialen Tat sachen hält, brin gt das Prestige. Was alle seit je für selbstverständlich halten, was also im kollektiven Bewusstsein richtig ist, ist auch die Norm, nach der wir Denken und Handeln beu rteilen. Deshalb kann man
sagen, dass die Sozialisationstheorie von Durkheim normativ ist.
So wie Durkh eim Sozialisation diskutiert, könnte man meinen, sie führe notwendig zu einer Unterdrückung von Individualität. Das ist aber seines Erachtens nicht der Fall: " Daraus, das s sich uns die sozialen Glau bensvorstellungen und Verhaltenswei sen von außen aufdrängen, folgt nicht, dass wir sie passiv aufnehmen und sie etwa keiner Mo difikation unterzögen. Indem wir die kollektiven Instit utionen erfassen, sie uns ass imilieren, individ ualisieren wir sie und verleihen ihnen mehr oder minder unsere persönliche Marke." (Durkhe im 1895, S. 100 Anm .) Dass diese Erkläru ng am Vorrang der Gesellschaft gege nüber dem Individuum keinen Zwe ifel lässt, braucht man nicht eige ns zu betonen! Eine ähn liche Ansicht vom Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individu um findet sich in einer zweiten großen Theorie, die sich zwar nicht expli zit mit dem Th ema "S oz ialisation" befasst hat, aber ein en außero rden tlichen Einfluss auf die Theorie der Sozialisation und die öffentliche Diskussion über de n Prozess selbst gehabt hat, in der Psychoanalyse.
2.2
Freud: Über-Ich und E ins chr ä nkung der Triebbedürfnisse
Obwohl der Arzt SIGMUND FREUD( 1856- 1939) selb st im Grunde keine Sozialisationstheorie entwickelt hat, sind von seiner Theorie der Psychoanalyse doch entscheidende Impulse für die Sozialisationsforschung gekommen. Dies aus zwei Richtungen: einmal aus einer Theorie der Persönlichke it heraus und zum and eren aus einer anthropologischen Annahme der notw endigen Zurichtung des Individ uums filr die Gesellschaft. Wenden wir uns zunächst der Th eorie der Persönlichkeit zu, die als Theorie einer psychischen Entwick lung angelegt ist. Freud nimmt
2 Sozialisation
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an, dass das Seelenl eben ein Apparat ist, der sich aus mehreren Teilen oder Instanz en zusam mensetz t, die wiederum bestim mte Funktionen erfü llen : Sigmund Freud: Der psychische Appar at " Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir das »Es«; sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe. t (...) Unter dem Ein fluss der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahme und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation hergestellt, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des »Ichs«. (...) Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erftillt sie, indem es nach außen die Reize kennenlernt. Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt. In seiner Tätigkeit wird es durch die Beachtungcn der in ihm vorhanden oder in dasselbe eingetragenen Reizspannung geleitet. Deren Erhöhung wird allgeme in als Unlust, deren Herabsetzung als Lust empfunden . (...) Das Ich strebt nach Lust, will der Unlust ausweichen. (...) Als Niederschlag der langen Klndheitsperiode, während der werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche Einfluss fortsetzt. Sie hat den Namen des »Über-Ichs« erhalten. Insoweit dieses Über-Ich sich vom Ich sondert und sich ihm entgegenstellt, ist es eine dritte Macht, der das Ich Rechnung tragen muss. Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß. Die Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich werden durchwegs aus der ZuIn einer Anme rkung sagt Freud, dass dieser älteste Teil des psychischen Apparates durchs ganze Leben der wichtigste bleibt.
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2 Sozialisation rückführu ng auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verstän dlich. Im Elterne infl uss wirkt natürlich nic ht nur das persönliche Wesen der Eltern . sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluss von Familien-, Rassen- und Volks tradi tion sowie die von ihnen vertre ten An forderungen des jeweiligen sozi alen M ilieus. Ebenso nim mt das ÜberIch im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von seiten späterer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher. öffentl iche Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale. Man sieht, dass Es und Über -Ich bei a11 ihr er funda mentalen Verschiedenheit die eine Übere instimmung zeigen, dass sie die Einflüsse der Vergangenheit repräsentieren. das Es den der ererbten, das Über-Ich
im wesentlichen den der von anderen übernommenen, während das Ich hauptsächlich durch das selbst Erlebte, also Akzidentelle und Aktuelle bestimmt wird." (Freud 1938: Abriss der Psychoanalyse, S. 9-11)
Für eine Sozialisationstheorie ist vor allem die Funktion des Über-Ichs interessant, denn Freud sagt, dass sich in ihm nicht nur die Einflüsse der Eltern niederschlagen, sondern auch die der Gesellschaft. Den Prozess seiner Ausbildung, den Freud am Ende seines Lebens so lapidar beschreibt, muss man sich in Wirklichkeit als dramatische Auseinandersetzung des Kindes mit dem Vater vorstellen. Freud unterstellt, dass das Kleinkind in einer engen affektiven Bindung an die Mutter lebt und den Vater als Rivalen um die emotionale Zuneigung der Mutter empfindet. Freud hat das in Anlehnung an den griechischen Mythos, nach dem Ödipus unwissentlich seinen Vater Laos erschlagen und seine Mutter lokaste geheiratet hat, den Ödipuskonflikt genannt: Das Kind will sich unbewusst der Mutter sexuell bemächtigen und sie für sich allein besitzen. Gleichzeitig hat es - ebenso unbewusst - Angst, dass der Vater diesen Wunsch bemerkt und es bestraft. Um diesen Konflikt abzuwehren oder zu dämpfen, identifiziert es sich mit dem Vater. Es nimmt ihn gewissermaßen als Teil in das eigene Ich hinein, indem es seine Gebote übernimmt. Mit der Identifikation mit dem Vater übernimmt das Kind auch die durch ihn vertretenen gesellschaftlichen Werte und Nonnen. Die psychische Entwicklung ist nach dieser Theorie also " die Geschichte eines Konflikts zwischen konstitutioneller Triebstruktur und Realität." (Geulen 1991, S. 25) Deshalb ließ sich die Theorie auch als Sozialisationstheorie nutzen, weil sie erklärte, wie die Gesellschaft in das Individuum eindringt, ohne dass es sich dessen bewusst wird und ohne dass es eine
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Chance hätte, sich dagegen zu wehren. Vor allem dieser letzte Aspekt spielte in der frohgemut-dogmatischen " antiautoritären" Dis kussion eine zentrale Rolle, indem man diesen Prozess des Eindringens der Geseilschaft in die Köpfe und Herzen der Kinder zieml ich undifferenziert mit der Unterdtiickung durch die Eltern gleichsetzte. Die kamen noch gut dabei weg, wenn man auch ihnen zugestand, selbst Opfer der Verhältnisse zu sein. Ganz grundsätzlich ging man aber davon aus, dass die lustvolle Entfaltung der Triebe - zur Not auch noch nachträglich - das Individuum frei mac ht. Die Konzentration der populären Diskussion auf den ödipalen Konflikt blendete die andere Seite des Beitrags der Psychoanalyse für eine Sozialisationstheorie, die pessimistische Ku/turtheorie, aus. Sie liegt nahe bei Durkheims Erklärung der Sozialisation des homo duplex. Was waren die Kemannahm en dieser Kulturtheorie? Freud geht davon aus, dass die Gesellschaft nur bestehen kann , wenn sie die Triebbedürfnisse des Individuums weitgehend reguliert. Der Mensch ist nämlich "sp o n~ tan nicht arbeitslustig"; deshalb muss die zur Arbeit erforderliche psychische Energie durch Sublimierung sein er Triebe gewonnen werden. Das aber heißt ihre ursprü ngliche, wilde Gestalt zu zügeln und in eine neue, gese llschaftlich erwünschte Fonn zu bringen. Oder anders: Kultur ist ohne Triebverzicht nicht zu haben. Hinter dieser The se steht nun eine Anthro po logie, die überha upt nichts mit der opti mistischen Hoffnung auf die Befreiung durch Triebenthemmung zu tun hat, im Gegenteil. In sein em betiihmten Beitrag über "Das Unbehagen in der Kultur" (1930), in dem der alte Freud auf die Erfahrung des ersten Weltkri eges zutiickblickte, schreibt er: Sigmund Freud: Kultur heißt Einschrä nku ng individueller Freiheit "Vielleicht begi nnt man mit der Erklärung , das kulturelle Element sei mit dem ersten Versuch, diese sozialen Beziehungen zu rege ln, gegeben. Unterbliebe ein solcher Versuch, so wären diese Beziehungen der Willkür des einzelnen unterworfen , d. h . der physisch Stärkere würde sie im Sinne seiner Interessen und Triebregungen entscheiden. Daran änderte sich nichts, wenn dieser Stärkere seinerseits einen einzelnen noch Stärkeren fände. Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder einzelne und gegen jeden einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als »Recht« der Macht des einzel-
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nen , die als »rohe Gewalt« verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, dass sich die Mitglieder der Gemei nscha ft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschrä nken, während der einzelne keine solche Schranke kannte . (..) Die individue lle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings dama ls meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfahrt sie Einschränkunge n, und die Gerec htigkeit fordert, dass keinem diese Einschränkungen erspart werden." (Freud 1930: Das Unbehagen in der Ku ltur, S. 90) W as Freud m it der Einschränku ng ind ivi d ue ller Freihe it anspricht , ist d ie Ho bbesschet Lösung des Prob lems sozialer Ordn ung. Freud fügt di eser Lösung vo n außen nun eine inner e Lösung hi nz u und schreibt, das s K ultur nur m it e ine r Umformu ng de r Triebe zu gewinnen und zu siche rn is t: Sig mu nd Freud: Kultur muss den Aggressionstrieben der Menschen Sc hr a nken setzen "Das gern verleugnete Stück Wirklich keit hinter allede m ist, dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens , wen n angegriffen, auch zu verteidigen verm ag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggre ssionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggressi on an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, ihn zu martern und zu töten . Homo hamini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Gesch ichte den M ut, diesen Sa tz zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst ein er anderen Absicht, deren Ziel auch mit mildernden Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, wegge fallen sind, äußert sie sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist. (..) VgJ. Band 1, Kap. 3.1 .Hobbes: Die Furcht vor dem Leviathan" .
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Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns seihst verspüren können, heim andere n mit Recht voraussetzen, ist das Moment, das unser Verhältni s zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Au fwand nötigt. Infolge dieser pr imären Feindseligke it der Me nsche n gegeneinander ist die Kulturgesellschaft bestä ndig vom Zerfa ll bedroht. Das Intere sse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebha fte Leidenschaften sind stärker als vernü nftige Interessen . Die Kultur muss alles au fbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen , ihre Äußerungen durc h psyc hische Reaktionsbildungen niederzuhalten." (Freud 1930: Das Unbehagen in der Ku ltur, S. 102)
Sozialisation heißt nach dieser Theorie Unterwerfung unter Kultur, und das bedeutet Einschränkung ursprünglicher Freiheit. So erklärt sich das Unbehagen in der Kultur, das Freud programmatisch angesprochen hat: " Wenn die Kultu r nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir besser, dass es dem Menschen schwer wird, sich in ihr bcglückt zu finden. Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannt e. Zum Ausgleich war seine Sicherheit, solches Glück zu genießen, eine sehr geringe. Der Kulturmensch hat für ein StOck Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht." (Freud 1930, S. 105) Freud stellt nun die Frage, welcher Mittel sich die Kultur bedient, " um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten", und kommt zu folgender Antwort: " Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Antcil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als »Gewissen« gegen das Ich diese lbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. (..) Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffuet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt." (Freud 1930, S. llOf.) Gelänge es der Gesellschaft nicht, in jedem Individuum ein festes Über-Ich zu bilden, wäre Kultur nicht zu halten! Individuelle Freiheit ist ohne Verpflichtung nicht zu haben. Parsans wird diesen Gedanken
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der sicheren B indung an die Kultur in seiner Sozialisationstheorie au fnehmen.
Ich komme zu einem zweiten Einfluss auf die Sozialisationstheorie,
durc h den deutlich wurde , dass Form, Inhalt und Dauer von Soz ialisationsprozessen j e nach Gesellschaft erheblich variieren.
2.3
Kulturanthropologie: Kulturelle Differenzen
Mit der Gesellschaft wird das Individuum nicht nur zum Zeitpunkt seiner Geburt konfrontiert, und es lernt auch nicht nur in der Kindhei t und der Jugend, wie es sich in dieser Gesellscha ft zu verhalten hat, sondern Sozialisation ist ein lebenslanger Proze ss. Dieser Geda nke ist eigentlich selbstverständlich, dennoch hat sich die Sozialisationsforschung in ihren Au ffingen fast ausschließlich auf die Phase der Kindheit und Jugend konzentriert. Das gilt auch für die Kulturanthropologie. Deren Forschungen habe n die Diskussion in dreierlei Hinsicht bereichert : Sie haben gezeigt, dass die klassische Annahme der Psychoanalyse nicht für jede Kultur zutrifft, dass der Prozess der Sozialisation extrem verkürzt sein kan n und dass die Kultur einen bestimmten Persönlichk eitstyp prägt. Für alle drei Bereicherungen will ich ein Beispiel geben. Ich beginne mit der Kriti k an einer Annahme, mit der die klassische Psychoanalyse die Bedingungen und die Fonn der grundlegende n Konfrontation zwischen Individu um und Gesellschaft erklä rt hat. Der polnisch-englische Kulturanthropologe B RONISLAW M ALINOWSKI ( 1884194 2) veröffentlichte im Jahre 1924 einen interessanten Aufsatz unter dem Titel "Mutterrechtliehe Fam ilie und Ödipus-Komplex" in der Zeitschri ft Imago, der Zeitschr ift für psychoana lytische Forschu ngen. Aus dieser Studie will ich zwei Ergebnisse nennen, die für eine psych oanalytische Sozia lisationstheorie von ziemlicher Bedeutung sind. Malinow ski wendet gegen den Begri ff "Ö dipuskom plex" und die ihm zugrunde liegende Theorie ein, dass er nur für eine patriarchale Gesellscha ft zutreffe. In mutterrechtliehen Gesellschaften gebe es andere Konflikte, wobei die Rivalität mit dem leib lichen Vater keine Rolle spielt. Deshalb sollte man besser von einem Kernkomplex sprec hen. Zweitens bemängelt Malinowski, bisher gäb e es in keiner psych oanalyt ischen Betrachtung irgendeinen Hinweis " auf das soz iale Mi lieu, noch weniger die Erörteru ng dessen, wie der Kem komplex und seine
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Wirkungen mit der sozialen Sch icht in unserer Gesellschaft wechseln." (Malinoweki 1924, S. 236) Deshalb fordert er, den Kemkomplex "s oziologisch" zu untersu chen. Das tut er, indem er extreme Vergleiche anstellt. Er vergleicht innerhalb der patri archalen Gese llschaft Europas die Verhältnisse in den wohlhabend en Klassen mit denen in der niedersten Klasse, und er ve rgleicht die Verhä ltnisse in der patriarchalen Gesellschaft mit denen in der matrilinearen Gese llschaft au f Trob riand (Papua-Neuguine a). Wend en wir uns zunächst der Betrachtung der sozialen Klassen zu. Der Vergleich zeigt, dass es in der Tat einen Ödipuskomplex in beiden Schic hten gibt, aber Malin owski erklärt ihn "s oziologisch" und zwar zwe ifach : einmal aus der Rolle, die die patriarchal e Gesellschaft für den Vater vors ieht, und zum anderen aus der Konkurrenz, die im Wech sel der Generationen gege ben ist. Die Rolle des Va ters in den patriarcha len Gesellschaften Europas ist für Malinowski eindeutig: Er "ist das Haupt der Famili e, er ist maßgebend für die Abstammung, und er ist auch der wirtschaftliche Versorger. Ein abso luter Herrscher in der Fam ilie, kann er leicht zum Tyrannen we rden." (Malinowski 1924, S. 244) Diese Rolle hat aber je nach Klasse spezifische ZUge und deshalb auch andere Konsequenzen. In den wohlhabenden Klassen taucht der Vater nur selten im Horizon t des Kindes auf und we nn, dann als strenger Fremder, vor dem sich das Kind gut zu benehm en ha t. " Er ist die Quelle der Autorität, der Ursprung der Strafen und wird somit ein Popanz. Das Ergebn is ist gewöhnl ich ein Mischgebilde : er ist das vollk ommene Wesen, um desse n Wohlwollen das beste von allem zu geschehe n hat, und gleic hzeitig ist er ein Wauw au, vor dem sich das Kind zu fLirc hten hat und um dessen Bequemlichke it will en, wie das Kind es sich vorstellt, der ganze Haushalt eingerichtet ist." (ebd.) Die Ge fühle des Kindes richten sich stärker auf die Mutter. Die Soz ialisation, die über den Vate r vermittelt ist, ist geke nnze ichnet durch Furcht vor einer abstrakten, aber imm er gewä rtigen Autorität, die erlaubt und verbietet nach dem Recht, das die Ge sellschaft festgeschri eb en hat. I
Den typischen Vertreter dieses Vaterbildes hat Heinrich Mann in seinem satirischen Roman .D er Untertan" (1918) beschrieben.
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"Anders ist das Bild, wenn auch die Ergebni sse nicht unähn lich sind, in den Einzimmer- und Einbetthaushalten der armen Bauemb evölkerung in Mittel- und Osteuropat , oder der niederen Arbeiterk lassen. Der Vater gelangt in einen engen Kontakt zum Kind, was nur unter seltenen Umständen eine größere Zuneigung zulässt, vielmehr in der Regel zu heftigen und chronischen Reibungen fuhrt. Wenn der Vater müde von
seiner Arbeit heimkehrt oder betrunken aus dem Wirtshaus, lässt er seinen Verdruss an der eingeschüchterten Familie, an Frau und Kindern aus." (Malinowski 1924, S. 244f.) Die Gefühle zwischen dem Kind und der Mutter sind durch die Erfahrung , Leidensgenossen zu sein, geprägt. Die Sozialisation, die über diese Erfahrung vermittelt wird, ist bestimmt von einem Gefühl der Ohnmacht gegen soziale Verhältnisse. Neben diese - aus dem Geist der zwanziger Jahre sicher überzeichnete - Beschreibung der klassenspezifischen Rolle des Vaters setzt Malinowski nun eine zweite sozio logische Erklärung für die Konfrontat ion zwischen Vater und Sohn, die der Konkurrenz im Wechsel der Generationen. Er schreibt: " Der Vater sieht in seinem Sohn seinen Nachfolger, seinen Stammhalter, der ihn einmal ersetzen wird. Er wird daher umso kritischer, und dies beeinflusst seine Empfindungen nach zwei Richtungen. Wenn der Knabe gewisse geistige oder physische Defekte verrät, das Ideal des Vaters nicht erfüllt, wird dies zur Quelle bitterer Enttäuschungen und Feindseligkeiten. Anderseits führt gerade auf dieser Stufe ein bestimmtes Maß an Rivalität , der Groll wegen der zukünftigen Absetzung, die Melancholie der verfallenden Generation, zu einer gewissen Feindseligkeit. In beiden Fällen unterdriickt, verleiht diese Feindseligkeit dem Vater eine gewisse Härte gegenüber dem Sohn, und dies provoziert auf dem Reaktionswege eine Erwiderung der feindlichen Gefühle." (Malinowski 1924, S. 249) Da dieser Zusammenhang zwischen Vatcr und Tochter nicht besteht, sind ihre Beziehungen zärtlichcr, wie das auch zwischen Mutter und Sohn ist. Fast überliest man, was Malinow ski hier gegen Freuds Kemannahmen eingewandt hat, wenn er zusammenfassend bemerkt, " dass die Neigung zum Kinde des anderen Geschlechtes, weil es vom anderen Geschlechte ist, noch nicht unbedingt eine geschlechtliche Neigung sein muss." (S. 250)
1 Malinowslci lebte bis 19 10 in Polen.
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Mit diesen soziologischen Erklärungen des Kernkomplexes wird eine zweite Korrektur an der klassischen Psychoanalyse vorbereitet. Malinowski stellt nämlich fest, dass es ein enges .Jneinanderwirken biologischer Impulse und sozialer Regeln" gibt. (Malinowski 1924, S. 272) Dazu stellt er den zweiten kontrastiven Vergleich an, der noch radikaler als bei den sozialen Klassen ist. Er läuft nämlich auf die Frage hinaus, ob der Ödipuskonflikt - verstanden als Auseinandersetzung mit dem Vater - überhaupt universell ist. Die Antwort gibt Malinowski mit der Beschreibung der typischen Beziehung zwischen dem heranwachsenden Kind und seinen Eltern in der mutterrechtliehen Familie auf Trobriand. Während in Europa dem Vater tatsächlich eine ziemliche Bedeutung zukommt, steht auf Trobriand die Autorität über die Kinder dem Bruder der Mutter zu. Der Vater hat weder die ökonomische Stellung des einzigen Ernährers der Familie noch die soziale Stellung des Familienoberhauptes, sondern steht gewissermaßen auf der gleichen Stufe wie die Kinder. Deshalb gibt es weder die von Freud behauptete Rivalität um die Mutter noch die daraus resultierende drohende Autorität des leiblichen Vaters. Folglich zeigt sich die "Ambivalenz von Ehrfurcht und Abneigung" nicht gegenüber dem leiblichen Vater, sondern gegenüber dem Bruder der Mutter. (S. 275) Diese Beziehung entspricht also nicht dem klassischen Mythos von Ödipus und seiner Mutter Iokaste, weshalb Malinowski auch nicht von einem Ödipuskonflikt, sondern allgemeiner von einem Kernkonflikt spricht. Der Kernkomplex hängt also von der typischen Konstellation der Bezugspersonen, und nicht von einer biologischen Verwandtschaft ab. Entscheidend ist weiter, wie sexuellen Regungen des Kindes Raum gegeben wird. In dieser Hinsicht ist der Kontrast zwischen den beiden Kulturen sehr groß. Während in Neuguinea die Erwachsenen sexuelle Gefühle nicht nur zulassen, sondern sogar noch ermuntern I, werden sie in der patriarchalen Gesellschaft in Europa durch eine rigide Moralvorstellung unterdrückt. Der Ödipuskonflikt löst sich also nicht automatisch, indem sich das Kind aus Angst vor dem übermächtigen Rivalen unterwirft und dessen Bild als Ideal in sich aufrichtet, sondern er ist Die erste Studie, die Malinowski zwischen 1915 und 1918 auf dieser melanesischen Insel durchführte, trug den bezeichnenden Titel "Das Geschlechtsleben der Wilden in Nw -Melanesien'' ( 1929).
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ganz wesentlich bestimmt von den Geboten, unter denen sich die fördernden und strafenden Eltern selbs t sehen. Zusammenfassend kann man sagen: Malinowskis Vergleiche legen die Annahme nahe, dass es einen Kemkompl ex in jeder kindlichen Entwi cklung und in j eder Gesellschaft gibt. Dieser Kemkompl ex hat imm er etwas mit der Auseinandersetzung mit einer Autoritä t und Gefühlen zu nahen Bezugspersonen zu tun. Er stellt ein System von Gefühlen dar, das typisch für eine bestimmte Gesellschaftsfonn ist. (Malinowski 1924, S. 272) Wie sich der Kemkomplex entwickelt und wie er sich äußert, hängt von kulturellen und sozialen Bedingungen ab. Damit
sind einmal die spezifischen Werte und Moralvorstellungen gemeint, damit ist aber auch die Familienstruktur gemeint. Gegen die orthodox e Psychoanalyse, die nur eine Form des Ödipuskomplexes annahm, scheint es Malinowski "n otwendig, die Wech selbeziehung biologischer und sozialer Einflüsse systematischer zu untersuchen, nicht überall die Existenz des Ödipus-Komplexes zu behaupten, sondern jeden Kulturtypus zu studieren und den besonderen Komp lex festzustellen, der zu ihm gehört." (S. 276) Es war der freundliche Rat an Freud, der damals j a auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit stand, seine Axiome "dehnbarer zu gestalten", vor allem aber die Dinge konkreter zu analysieren. Ich sagte es schon eingangs, dass sich die frühe Sozialisationsforschung und die Kulturanthropologie fast ausschließlich mit der Phase der Kindheit und Jugend befasst haben. Danach ist Sozialisa tion der Prozess, in dem die Heranwachsenden in die Rolle eines vollgültigen Mitgliedes der Gesellscha ft hineinwachsen. Das bedeutete in aller Regel, sich auf den Übergang zum Status des Erwachsenen zu konzentrieren. In modem en Gesellschaften erfo lgt das in einem längeren Übergang, der im Wesentlichen durch schulisches Lernen und abrupte Forderung (von seiten der Heranwachsenden) und allmähliche Zuges tehung (von Seiten der meist überraschten Eitern) von Rechten gekennze ichnet ist. Die kuit uranthrop ologische Forschung hat nun geze igt, dass dieser Prozess in bestimmten Gesellschaften außerordentlich kurz ist und z. T. dramatisch gestaltet wird. Der Übergang vom Status des Kindes oder Jugendlichen zum Status des Erwachsenen erfolgt in einem Akt der Initiation. Auch diese Erfahrung stellte die Selbstverständlichkeit unserer Annahmen über den Prozess des Hineinwachsens in die Gesellscha ft in Frage.
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Von den vielen empirischen Untersuchunge n, die zu " fremden" Sozia lisationsprozess en im Laufe der letzten hundert Jahre durc hgefUhrt worden sind, haben die Arbeiten der amerika nischen Ethnologin M AR· GARET M EADI ( 1901- 1978) beson dere Aufmerksamkeit erfah ren. Sie bezweifelte, dass es so etwas wie universelle Formen menschl ichen Verhaltens gibt , und vermutete stattdessen, dass die allermei sten .aiatürlichen" Verhaltensweisen in einer Gesellschaft das Prod ukt dieser bestimmten Ziv ilisation sind. Um diese Vermutung zu erhärten, ging sie für mehrere Jahre nach Samoa und untersuchte dort die Bedi ngungen, unter dene n Kinder aufwachsen. Das Ergeb nis ihrer Beobachtungen verö ffentlichte sie im Jah re 1928 unter dem Titel "Coming of age in Samoa". Im Deutschen trug es den Titel " Jugend und Sexuali tät in prim itiven Gesellschaften" , Mead schreibt über die Initiation eines Jungen bei den Tscham buli: Margaret M ead: Initiation bei den Tschambuli "Zwischen acht und zwölf Jahren - der genaue Zeitpunkt liegt im Ermessen seines Vaters - findet seine Initiierung statt. Er wird auf einem Stein festgehalten, während ein Onkel mütterlicherseits und ein kundiger Tätowierer allerlei Muster in seinen Rücken schneiden. Der Knabe kann schreien, soviel er will; niemand kommt ihm zu Hilfe, niemand kümmert sich um sein Geheul, und niemand ergötzt sich daran." (Mead 1928: Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften, Bd. 3, S. 226f.)
Solche dramatischen Initiationsriten markieren den Übergang zwischen dem Stat us des Kindes und dem des Erwachsenen. Initiatione n dienen als Nachw eis der körperlichen ode r soz ialen Reife und de finieren die neuen Rechte und Pflichten. Reste solcher Initiationen haben sich auch in den Industriegesellschaften erhalten. Die erste geme insame Zig arette, die Vater und Sohn rauchen, hatte früher die se Funktion . Die sexue lle Aufklärung , von der die j üngeren nur noch vom Hörensagen wissen, war auch soziale Initiation. Heute ist es aber eher so, das s Jugendlich e sich selbst in de n Status des Erwachsenen init iieren. So beanspru chen manche Jugendliche mit dramati schen Mu tprob en auf eine n Schlag den Status eines " richtigen Kerls" , Wer sich plötzlich die Haare grün färbt, Da manchmal gefragt wird: Sie ist weder verwandt noch verschwägert mit George Herbert Mead.
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mag vielleicht ähnliches im Si nn haben . Die allerme isten betreiben ihre Initiationen aber kontinuierlich, unspektakulär, aber umso erfolgreicher. Ich komme zum dritten starken Einfluss der Kulturanthropologie auf die Sozialisationsforschung. Er besteht in der These und dem Nachweis, dass die Kultur eine bestimmt e Persönl ichkeitsstruktur ausformt. Mit die ser Th ese trat z. B. der amerik anische Psychoanalytiker ABRAM KARDINER (1891 -1981) gegen biologische Erkläru ngen an, won ach Persönlichkeit durch Vererbung festgelegt ist, aber auch gegen die klassische Psychoanalyse, wonach Kultur das Ergebnis von InstinktRepression ist, Institutionen also einen biologischen Ursprung I haben. (Kardiner 1939, S. 16f.) Dagegen setzte Kardiner die venn ittelnde These, unter den physikal ischen Bedingungen des Klimas und den soziokult urellen Bedingungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur und der damit gegebenen Nonnen werde in der frühen Kindheit eine .Basispcrsönlichkeit" (sb asic personality structure«) ausgebi ldet. Es sind also die Institutionen, die die biologische Ausstattung überformen. So vertritt Kardiner denn auch nachdrücklich die These, .jhat the individual stands midway between institutions which mold and direct his adaptation to the outer world, and his biological needs, which press for gratification. This viewpoint places a heavy emphasis on institutions and stresses the significant role they play in creating the adaptive systems of the individual." (Kardin er 1939, S. 17) Ähn lich wie Freud sah Kardiner in der frühen Mutter-Kind-Beziehung die entscheidende Prägung der Persönlichkeit. Die Kräfte, die sich dort entwickelten, sind es auch, die die Gesellschaft zusammenhalten. (5. 75) Was die Pers önlichkeitsstruktur angeht, wandte der schon einige Male zitierte RALPH LINTON, mit dem Kardiner zusammenarbeitete, ein, dass auch spätere Einflüsse prägend sind, eine Sicht, die schließlich die meisten Kult uranthropologen teilten. (vgl. Huber 1989, S. 32ff.) Anfang der 50er Jahre veröffentlichte dann der dänisch-deutschamerikani sche Psychoana lytiker ERIK H. ERIKSON (1902- 1994), der in den 30er Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, sein Buch "Childhood and Society ". Es enthält eine Theorie der Kindheit unter den Modalitäten des sozialen Lebens und ein EntwicklungsmoAus " basic needs" haben j a Sumner, aber auch Malinowski Institutionen erklärt! (Vgl. Band I, Kap. 4.2 .Sumner: Folkways, Mores, Insntunons' und 4.3 ,,Malinowski: Abgeleitete Bedürfnisse und die soziale Organisation des Verhaltens".)
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deli über das gesamte Leben. Breiten Raum nimmt außerdem die Beschreibung der Kindheit in zwei amerikanischen Indianerstämmen ein. Erikson, der vor allem von Margaret Mead zu solchen Studien angeregt worden war, wollte mit diesen Bildern von " Fremden im eigenen Land" zeigen, dass es nicht nur ein Bild der Persönlichkeit ! gibt, sondern dass Entwicklung und Struktur der Persönlichkeit von konkreten sozialen und kulturellen Bedingungen abhängen. So schilderte er, wie die Prärie-Indianer vom Stamme der Sioux in Süddakota ihre Kinder aufzogen. Auf der einen Seite fiel Erikson, der einige Zeit in diesem Stamm lebte, auf, dass das Kleinkind immer und überall gestillt wurde, sobald es den Wunsch danach zum Ausdruck brachte. Die Stillperiode dauerte manchmal drei bis fünf Jahre, und eine systematische Entwöhnung gab es nicht. Die fehlende Frustration schien soziale Sicherheit und eine große Freigebigkeit zu bewirken. Auf der anderen Seite stellte Erikson fest, dass die Mütter ausgesprochen grausam mit ihren Kindern umgingen, wenn sie beim Saugen Beißversuche machten. Dann stießen sie sie mit dem Kopf auf, was zu einem Wutgeheul beim Säugling führte. Das kleine Siouxkind wurde dann auf ein Wickelbrett gebunden und musste so seine Wut nach innen richten. Erikson fragt, ob die auffällige Gewalttätigkeit der SiouxIndianer, aber auch ihre Fähigkeit, extreme Folter zu ertragen, nicht damit zusammenhängen. (vgl. Erikson 1950a, S. 131-133) Die Vorstellungen über den Zusammenhang von Kultur und Persönlichkeit bringt Erikson mit folgenden Worten zum Ausdruck: Erik H. Erikson : Die Synthese von Kultur und Charakter "Wir behaupten keineswegs, dass ihre Behandlung in der Kindheit eine Gruppe von Erwachsenen veranlasst, bestimmte Charakterzüge zu entwickeln, als brauchte man nur ein paar Knöpfe im Erziehungssystem zu drehen, um diese oder jene Art von Stammes- oder Nationalcharakter zu produzieren. Tatsächlich diskutieren wir Charakterzüge nicht im Sinne irreversibler Charakteristika der Persönlichkeit. Wir sprechen von Zielen und Wertungen und der Energie, die ihnen durch Erziehungssysteme zufließt. Solche Werte leben weiter, weil die öffentliche Meinung fortfahrt, sie für »natürlich« zu halten, und keine Alternative zulässt. Sie bestehen fort, weil sie ein wesentlicher Teil des IdentitätsDas wurde z. B. der Sozialisationstheorie von Taleort Parsons, auf die ich gleich zu spreche n komme, immer wieder nachgesagt.
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gefühls geworden sind, welches das Individuum als Kem seiner inneren Gesundheit und Leistungsfähigkeit bewahren muss. Aber Werte leben
nur dann weiter, wenn sie wirtschaftlich, psychologisch und geistig wirksam bleiben . Und ich behaupte, dass sie dazu fortlaufend, Generation um Generation, in der frühen Erziehung des Kindes verankert werden müssen, während die Erziehung ihrerseits, um ihre Konsistenz zu bewahren, in ein System fortlaufender ökonomischer und kultureller Synthese eingebette t sein muss. Denn es ist die Synthese, die in einer Kultur wirksam wird, die immer zunehmend thematische Beziehungen und wechse lseitige Verstärkung von Dingen , wie Klima und Körperbau, Wirtschaft und Psychologie, Gesellschaft und Erziehung , miteinander zu verweben strebt." (Erikson 1950a: Kindheit und Gesellschaft. S. 134)
Diese Studien wie auch die anderen Arbeiten Eriksons wurden rasch zu einer optimistischen Instrumentalisierung der Psychoanalyse herangezogen. Abgesehen davon, dass er ohnehin eine Theorie sexueller und sozialer Entwicklung vorlegte, in der lebenslang Korrekturen möglich und Hoffnungen begrundet sind, war es Eriksons implizite Kritik am fragwürdigen Umgang mit Sexualität in der westlichen Zivilisation, was eine kritische Sozialisationsforschung beflügelte. Der folgende Text venn ittelt etwas von der Faszination des kontrastiven Vergleichs: Ertk H. El'"ikson: Missbehagen und Desorlentlerung "Die Sioux vertr eten hinsichtlich der menschlichen Entwicklung den Standpunkt, dass ein Kind, solange es klein ist, ein Individualist sein darf. Die Eltern zeigen keinerlei feindselige Ablehnung gegenüber dem Körper als solchem und tadeln kindlichen Eigenwi llen nicht, besonders nicht bei Knaben. Man kennt keine Verurteilung infantiler Gewohn heiten währen d der Zeit, in der das Kind das Kommunikationssystem zw ischen Selbst, Körper und Seinesgleichen entw ickelt, auf dem das kindliche leh fundiert . Erst wenn es körpe rlich kräftig und selbstsic her geworden ist, wird von dem K ind gefordert, dass es sich einer Tradition unerbittlicher Verspottung durch die öffentliche Meinung beugt, die sich weit mehr auf sein soziales Verhalten als auf seine Körperfunktionen oder Phanta sien richtet. (...) Gefährliche Instinktregungen werden dab ei auf äußere Feinde abgelenkt , und die Quelle möglicher Schuld darf immer aufs Übernatürlic he projiziert werden. (...) Im Gegensatz dazu waren die herrschenden Klassen der westlichen Zivilisation (...) der festen Überzeugung, dass eine systematische Regu-
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lierung der Funktionen und Impulse in frühester Kindheit der sicherste Garant für eine spätere erfolgreiche Anpassung sei. Sie prägen dem formbaren Säugling und Kleinkind das pausenlose Metronom der Routine ein, um seine ersten Erfahrungen mit seinem eigenen Körper und seiner unmittelbaren körperlichen Umwelt zu regulieren. Erst nachdem diese mechanische Sozialisierung stattgefunden hat, wird das Kind nun ermutigt, sich zu einem eigenwilligen Individualisten zu entwickeln. Das so vorgeprägte Individuum folgt ehrgeizigen Zielen, bleibt aber zwanghaft an eine berufliche Standardisierung verhaftet, die im Verlauf der Wirtschaftsentwicklung zu immer komplizierteren Formen mehr und mehr die persönliche Verantwortung ersetzt. Die so entstandene Spezialisierung hat der westlichen Zivilisation die Beherrschung der Maschine ermöglicht, aber sie hat auch eine Unterströmung unendlichen Missbehagens und individueller Desorientierung mit sich gebracht." (Erikson 1950a: Kindheit und Gesellschaft, S. 150f.) Hinter der Kritik an der typischen Sozialisation in der westlichen Zivilisation scheint die Annahme auf, dass bei einer Änderun g der Form auch ein anderer Mensch gescha ffen werden könnte. Diese Hoffnung wurde genährt durch eine psychologische Forschung, die gewissermaßen im extremen Gegensatz zur Psychoana lyse stand. Ich meine den Behaviori smus und die Lemtheorie, die Soz ialisation als Lernen unter den Bedingun gen der Umwelt erklärten.
2.4
Lernen unter den Bedingungen der Umwelt
Der russische Physiologe IWAN P. PAWLOW (1849-1936) hatte festgestellt, dass bestimmte Reize körperliche Reaktionen beim Tier auslösten. So hatte er beobachtet, dass es bei einem Hund zum Speichelfluss kam, sobald er den Futternapf sah. Das erfolgte auch, wenn dab ei gleichzeitig eine Glocke ertönte. Interessanterweise kam es auch dann zu einern Speichel fluss, wenn nur die Glocke ertön te. Es wurden also von außen Bedingungen geschaffen, die zu bestimmten Verhaltensweisen fiihrten . Das Verhalten des Tieres wurde also konditioniert. Der amerikanische Psychologe EDWARD LEE THORNDIKE (18741949) entdeckte einen zweiten Zusammenhang: Zufällige Reaktionen, die belohnt wurden, setzten einen Lernprozess in Gang. So hatt e eine Katze im Käfig zufällig einen Hebel betätigt, wora uf Futter ausgesch üt-
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tet wur de. Andere Heb el spendeten kein Futter. Nach und nach " lernte" die Katze nun, welcher Hebel der richtige war. Es handelt sich also um ein Lerne n am Erfolg. Dieses Lernen durch Versuch und Irrtum dauerte zwar ein ige Zeit, aber dafür klappte es schließlich auch umso besser. Später kamen noch Theorien hinzu, in denen Lernen durch die Imitation von Modellen erklärt wird. Aus diesen psychologischen Theorien hat sich für die Soz ialisationsfo rschung die Annah me ergeben, dass die konk rete Umwelt einen entscheidenden Ein fluss au f das soz iale Verhalten hat. Damit lag der Schluss nahe, dass man bei entsprechender Veränderung des Lemmilieus auch das Verhalten steuern könnte. Genau dies hat dann der amerikanische Psycho loge lOHN B. WATSON (1878- 1958) auch verspro chen. Er vertrat die The se, dass Verhalten durch äußere Reize ausgelöst wird. Dieses Verhalten nannt e er Reaktion. Der Mensch lernt , welche Reaktionen zu welchem Erfolg führen. Auf diese Weise generalisiert er die Reakti onen und bildet ein zw eckmäßiges Verhalten aus. Verhalten ist also kondit ionierte Reaktion. Nur dieses beobachtbare Verhalten interessierte Watso n. Was andere übe r das sagten, was in der »black box« - Seele oder Kop f oder irgendetwas Ähnliches - passiert , hielt er für reine Spekulation. Den G lauben an die Existenz eines Bewu sstseins verwies er in die "alten Zeiten des Aberglaubens und der Ma gie." (Watson 1930, S. 36) Wegen dieser Konzentration auf objek tives Verhalten wird die Theorie auch »Behaviorismus« genann t. Watson lehnte auch Annah men über " Begab ung, Neigung und die Vererbung aller soge nannten »seelischen« Eigenschafte n" ab: " Das was nach der Geburt geschieht, mac ht den einen zum Holzfäller und zum Wasserträger, den anderen zum Diplomaten, Dieb, zum erfolgreichen Geschäftsmann oder we ltberühmt en Wissen schaftl er." (Watson 1930, S. 114) Gegen die Annahme, dass die gene tische Ausstattung über die kognit ive und soz iale Entwicklung eines Menschen entscheide, setzt die lerntheoretische Sozialisationsth eorie auf den Einfluss des Mil ieus. Lapidar konstatierte Watson: " Im allgemeinen sind wir das, was die Situation von uns fordert." (S. 272) Der Mensch, das ist die zentrale These des Behaviorismu s, ist ein Produkt seiner Umwelt. So hatte es schon im [ruhen 19. Jahrhundert der eng lische Utopist und Sozialreformer ROBERT OWEN gesehen . Mit dem Motto ,,man is
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the creature of circumstances" wollte er in einer gezielten Erziehung eine neue Gesellschaft herbeiführen. Ähnliches schwebte wohl auch Watson vor, der gegen die Annahme, unser Verhalten würde von natürlichen Instinkten beein flusst, einwandte: Alles, was als »Instinkt« bezeic hnet wird, ist "größtenteils das Ergebnis von Übung und Erziehung - gehört also zum erlernten Verhalten des Menschen," (Watson 1930, S. 115) Fest davon überzeugt, man könne mit einem geziehen Arrangement von Reizen jeglichen Lernerfolg erzielen, gab er ein berühmtes Versprechen ab: John B. Watson: Verhalten ist konditionierte Gewohnheit
"Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall auswähle und zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren. (...) Persönlichkeit ist nichts anderes als das Endprodukt unserer Gewohnheitssysteme." (Watson 1930: Behaviorismus, S.123 und 270) Dieser Optimismus durchzieht natürlich die meisten pädagogischen Theorien , und in der Soz iologie haben übereifrige Praktiker die Sozialisationstheorien, die die Bedeutung des Milieus betonen, auch so verstanden. Doch in der Soziologie geht es genau nicht um die Reaktion auf irgendeinen äußeren Reiz, sondern um den Sinn, den ein Individuum äußeren Bedingungen beimisst, und das Handeln, das dara us folgt. Nun muss man aber sehen, dass auch die psychologische Verhaltenstheorie die schlichte These der bedingten Reaktion auf einen unbedingten Reiz aufgegeben hat. So hat der amerikanische Psychologe FREDERICK B. SKiNNER ( 1904-1990) eine Lemth eorie entwickelt, in der der Mensch - wie jedes andere Tier auch - lernt. Ich sage das nicht ironisch, denn von der psychologischen Theorie des Verhaltens her gibt es da keinen Unterschied, und auch der amerikanisc he Soziologe GEORGE CASPAR HOMANS (1910-1989), der sich auf seinen Freund Skinncr berief, betonte, dass es zwischen dessen Tauben und dem Men-
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sehen in der Soz iologie im Prinzip keinen Unterschied gibt. I Lernen heißt, aus Reaktionen auf eige nes Verhalten Schlüsse zu ziehen. Das wiederum setzt de n Menschen in die Lage, die Bedingungen seines weiteren Verhaltens auch zu manipulieren. In der Sprache diese r Psychologie: Der Mensch schafft sich die Konditionen seines Verhaltens selbst, indem er bedingte Reize herstellt. Sein Verhalten ist ein beding-
ter Reflex, aber er kann die Bedingungen, auf die er dann reagiert, selbst herbeiführen. Reiz und Reaktion sind verbunden in einer wechselseitigen Verstärkung. Sozialisation ist nach dieser weit in die Soziologie ausgreifenden psychologischen Theorie so etwas wie Selbstsozialisarion. lnteressanterweise blieb die Faszination dieser Lemth eorie hinter der spontanen Hoffnung zurück, die Watsons Versprechen ausgerechnet in der kritischen Sozial isationsforsc hung auslöste. Dort wurde es nämlich genutzt, um darüber zumindest bestehende nachteilige Verh ältni sse zu kriti sieren . So hat gerade die schichtenspezifische Soz ialisationsforsch ung ihre praktischen Forderungen immer wieder mit dem Hinw eis auf die Bedeutung der Lemumwelt begründ et. In der Psychologie hat sich eine ökologische Sozialisationsforschung etabliert, in der die Bedeutung des Milieus eine große Rolle spielt . Von der Soziologie ging eine Sozialisationsfo rschung aus, die die objektiven Verhältnisse kritisch analysierte und verlangte, durch eine gezielte Verbess erung des räumli chen Umfe lds oder durch neue Lemmilieus Chan cengleichheit herzustellen. Das war die Zeit der schichtenspezifischen Sozialisationsforschungä, und eines ihrer wichtigsten Themen war die sch ichtenspez ifische Sprache. Der englische Erziehungssoziologe B ASIL B ERNSTEIN (1924-2000) hatte herausgefunden, dass Kinder je nach ihrer Stellung in der sozialen Klassenstruktur einen unterschiedlichen Spracheode pflegen. Den in der Unterschicht nannte er "restringiert", den in der Mittelschicht "e laEh Mens ch sich zu früh freut, wenigstens mit solchen Cousinen verglichen zu werden: in Wahrhe it soll es sich bei ihnen um höchst zänkische Exemplare der Gattung Tier handeln! Sei 's drum. Die .P alken'' mac hen trotzdem den größten politischen Ärger. 2 Die Literatur zu diesem Thema ist unübersehbar gewesen. Einen guten Überblick bieten Günthe r Steinkamp (1991): Sozialstruktur und Sozi alisation und Hans-G. Rolff(1967): Sozialisation und Auslese durch die Schule (überarbeitete Neuausgabe 1997).
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boriert". (Bernstein 1964) Mit dieser Unterscheidung hob Bernstein nicht nur auf den Umfang des Wortschatzes und auf die logische Struktur der Sätze ab, sondern er unterstellte, dass in der Sprache unterschiedliche Formen sozialer Praxis zum Ausdruck kommen. Die Sprache signalisiert, wie die Sprecher sich selbst sehen. wie sie ihre Zukunft planen und wie sie ihre Handlungen organisieren. Obwohl Bernstein selbst betonte, dass " der eine Code nicht besser als der andere" ist und j eder Code " seine Ästhetik, seine eigenen Möglichkeiten" besitzt (Bernstein 1964, S. 114), war mit der Begrifflichkeit auch eine Bewertung in der Welt. Der restringierte Code wurde in der öffentlichen Rezeption auf die Sprache reduziert und galt als defizitär . So wurden dann auch die geringen Schulerfolge der Kinder aus der Unterschicht mit ihrem beschränkten Wortschatz und ihrer mangelnden Fähigkeit, abstrakte Zusammenhänge zu denken und zu artikulieren, erklärt. In Deutschland war es vor allem die bahnbrechende Arbeit von ULRlCH OEVERMANN (*1939), die den Zusammenhang von "Sprache und sozialer Herkunft" (1972) und die Definitionsmacht der Gesellschaft über diesbezügliche Chancen empirisch belegte. Er betonte gegenüber der landläufigen Defizithypothese eine Differenzhypothese, die belegte, dass auch die scheinbar " restringierte" Sprache zumindest in der sozialen Umgebung, in der sie im Alltag gesprochen wurde, angemessen und völlig ausreichend war. Doch die neue Begrifflichkeit änderte nichts an der Tatsache, dass Kinder aus der Unterschicht gerade wegen ihrer Sprache deutlich schlechtere Leistungen in der Schule attestiert bekamen. Das hatte zwei Konsequenzen. Eine kritische Diskussion nahm die Schule aufs Kom, der sie vorwarf, tatsächlich eine MittelklassenInstitution (Lütkens 1959) zu sein, die gesellschaftliche Machtverhältnisse stabilisiere. Neben moderaten Stimmen, die neue curriculare Inhalte und einen liberalen Unterrichtsstil forderten, waren auch radikale zu hören, die eine .Entschulung der Gesellschaft" (lll ich 1972) propagierten oder mit dem revolutionärem Schlachtruf ..Scham die Schule ab!" (Reimer 1972) gleich die "B efreiung aus der Lernmaschine" forderten. Die zweite Diskussion forcierte eine kompensatorische Erziehung, die über außerschulische Arbeit mit Eltern und Kindern der Unterschicht Chancengleichheit zu verbessern suchten.
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Theoriegeschichtlich müssen vor dieser hoffuungsvo Jl-kritischen Sozialisationsforschung noch zwei klassische Positionen betrachtet werden, denn die eine, die von TALCOTT PARSONS. m achte die kritische
Sozialisationsforschung ganz wesentlich für die Chancenungleichheit in der Gesellschaft verantwortlich, und mit der anderen, der von GEORGE HERBERTMEAD, verband sie viele Hoffnungen. Da die Arbeiten von Mead chronologisch vor denen von Parsons
liegen - auch wenn sie erst nach dem Siegeszug von dessen Theorie zur
Kenntnis genommen wurd en! - , werde ich also zunächst die Theorie von Mead behandeln. Gedacht aus dem gerade skizzierten Zusammenhang der schichtspezifischen Sozialisation werden Sie also erst den Rahmen geboten bekommen, aus dem heraus sich ..Fortschri tt" denken ließ, und dann den Rahmen, der angeblich diesem entgegenstand. Um den Bogen zu der Diskussion vorher zu schlagen, will ich noch anmerken, dass sich die Theorie von Mead interessanterweise nach Name und Inhalt auf die eben behandelte Lerntheorie von Watson bezieht, sich aber in einem entscheidenden Punkt von ihr entfernt. 2.5
Mead: Integration in einen organisierten Ver ha ltensp rozess
GEORGE HERBERT MEAD selbst hat den Begri ff Sozia lisation nicht verwandt, aber er hat einige wichtige Erklärunge n geliefert, wie dieser Prozess, den man nach seiner Theorie als Integration in einen "o rganisierten gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozess" (Mead 1934, S. 300f.) ansehen kann, abläuft. Diesen Prozess muss man sich als Kommunikation zwischen konkret en Individuen und zwischen dem Individuum und dem "generalisierten Anderen" vorste llen. Einige Elemente dieser Erklärung habe ich schon genarmt. t In diesem Kapitel will ich genauer auf die Entwicklung des Individuums eingehen. Mead hat seine Theorie als Sozialbehaviorismus bezeic hnet. (Mead 1934, S. 44) Damit wollte er Gemein samkeiten, aber auch Unterschi ede zu der Theorie von Watson, mit dem Mead befreundet war, herausstellen. Wie Watson betrachtet er den Menschen zunächst einmal als ein biologisches Wesen, das auf seine Umwelt reagiert. Diese Umwelt sieht Mead vor allem in den wechselseitigen Reaktionen der Individuen Vgl. Band I, Kap. 3.8 "Ordnung als Diskurs" , Kap. 4.4 " Institution als organisierte Form des Handeins" und in diesem Band S. 27.
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gegeben, und deshalb legt er auch so viel Wert auf die Beobachtung des Verhaltens. Der Unterschied zum Behaviorismus Watsons besteht nun darin: Für Watson war Verhalten konsequente Reaktion auf äußere Reize und insofern ja auch regulierbar, wenn man eben die äußeren Bedingungen veränderte. Was in der .jilack box" - von anderen Seele oder Verstand genannt - passierte, interessierte ihn nicht, Spekulationen darüber waren für ihn keine Wissenschaft. Mead hielt aber gerade die geistigen Aktivitäten, das Denken, als Erklärung für Verhalten für wichtig. Während im strengen Behaviorismus ein passives Individuum unter dem Diktat seiner Umwelt steht, rückte Mead das aktiv handelnde und vernunftbegabte Subjekt in den Vordergrund. Mead erklärt die tätige Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Welt mit einer spezifisch menschlichen Fähigkeit, die er Geist nennt. Sie besteht darin, signifikante Symbole zu schaffen und zu verwenden. Diese Fähigkeit, die das Verhalten steuert, ist in einer spezifisch menschlichen Beziehungsform. die Mead Kommun ikation I nennt, entstanden. In der Kommunikation nehmen sich die Individuen konkret wahr, geben einander zu verstehen, welche Bedeutung sie ihrem Handeln beimessen und interpretieren so wechselseitig ihr Verhalten. Indem sie sich wechselseitigz in ihrem Handeln und in ihren Reaktionen beobachten, beobachten sie sich auch selbst. Mit dem Begriff Sozialbehaviorismus wollte sich Mead aber noch von der zweiten großen psychologischen Theorie seiner Zeit abgrenzen, von der "mehr oder weniger phantastischen Psychologie der Schule Freuds" (Mead 1934, S. 255). Sein Vorbehalt gegen eine " Philosophie der Bewusstseinsebenen" (S. 43 Anm. 3) hängt sicher auch damit zusammen, dem Individuum ein Stück Freiheit zu erhalten: Mead sah das Individuum eben nicht determiniert durch unbewusste seelische Vorgänge, die in der frühesten Kindheit abliefen und dann nur noch Variationen eines festliegenden Grundthemas zuließen. Die Freiheit des Menschen besteht in einer spezifischen Fähigkeit zu handeln: Er kann sich nämlich in die Rolle des Anderen hineinversetzen, sich und die Situation des Handeins aus dessen Perspektive betrachten und dadurch I Vgl. S. 82 Anm. I und weiter oben S. 32 . 2 Deshalb verwende ich auch gleich den Begriff .jnteraktlon'', der bei Mead m. W. nur einma l auftaucht (vgl. unten S. 196), in dem Sinn wechselseitiger Reaktionen und fortlaufender sozialer Beziehungen zwischen Individuen. Zur Beschreibung des Proze sses der Sozialisation ist der Begriff je denfalls sehr hilfreich.
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selbst entscheiden, wie es weitergehen soll. Diese Fähigkeit der Rollenübem alune (»taking the role of the other«) (Mcad 1934, S. 113) entwickelt das Kind in zwei Phasen. Die erste Phase ist das Rollenspiel, das Mead als play bezeichnet. Im play schlüpft das Kind in die Rolle wichtiger Bezugspersonen, so genannter signifikanter Anderer. Es denkt und handelt von ihrem Standpunkt aus. Deshalb tut es auch nicht so, als ob es der andere wäre, sonde m - so heiß t es bei Mead - es ist der andere in diesem Augenblick. Es ist die schimp fende Mutter, und es ist das Krokodil, das dem Kasper ans Zeug will. Es nimmt in seinem Handeln immer jeweils eine bestimmte Perspektive ein. Und wenn der Knab e mit Begeisterung und Hingabe ganz allein für sich den Ball vors Garagentor wummert, dann ist er der große OUi oder der kleine Icke.! Nach und nach gerät das Kind aber in Spielsituationen, an denen mehrere Handelnde gleichzeitig beteiligt sind und in denen bestimmte Regeln, wie "man " handeln soll, existieren. So tritt es zunächst ganz unbefangen gegen seinen Ball, bis es feststellt, dass andere ju st an diesem Ball auch Interesse haben. Gehen wir davon aus, dass beide lemfähig sind und dass ihr Tun ansteckend ist, schon entwickelt sich ein Spiel, in dem die einen dies und die anderen das wollen. Einige bringen schon Erfahrungen mit und nennen das ganze dann Fußba llspiel. Es werden Tore markiert und definiert, wer Freund und wer Gegner ist. Damit ist auch klar, in welche Richtung und zu welchem Zweck der Ball bewegt werden soll. Und schon ist es vorbei mit dem egoistischen Vergnügen. Einer wird verdonnert, sich hinten hin zu stellen und jeden Ball, der von den anderen kommt, nur ja festzuhalten . Einem zwe iten wird klargemacht, dass er sich am besten hinten aufhält und die anderen auf keinen Fall vorbeilassen darf. Alle anderen erklären sich zu Stürme rn und rennen los. Doch wehe, wenn einer was falsch macht, z. 8. den Ball unter den Ann nimmt, oder wenn etwas nicht gelingt, dann heißt es " Das darf man nicht!", " Du sollst doch .. !" oder "W arum hast du nicht .. ?", und manche Kinder geben es dann auf. (Sie ahnen schon, wie kompliziert es ist, was uns am Wochenende von professionellen Spielern geboten wird!) Wenn das Kind aber weiter mitspielen will, Ich weiß, dass die heute ganz anders heißen, aber da ich ihre Namen manchmal schon gar nicht mehr richtig verstehe, sehen Sie mir bitte meinen Kenntnisstand vergangener Zeiten nach!
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dann muss es sich an bestimmte Regeln halten. Ein solches geregeltes Spiel nennt Mead game. Im game muss jeder die Rolle, die ihm zugedacht ist oder die er beansprucht, "ri chtig" spielen, und er muss gleichzeitig wissen, warum und wie er auf das Handeln aller anderen reagieren muss. Er muss sozusagen den Geist des Spiels erfassen und die Rollen aller Beteiligten mehr oder weniger in seinem Kopf präsent haben. Während das Kind mit seiner Puppe oder allein mit seinem Ball vor der Garage nur eine einzige Perspektive eines anderen einnahm, muss sich das Kind nun in die Perspektive vieler anderer zugleich hineinversetzen. In diesem game, in dem die Handlungen aller Beteiligten sich gegenseitig beeinflussen, reicht es nicht aus, wenn man sich nur auf seine eigene Aufgabe oder die nur eines Mitspielers konzentriert, sondern man muss im Prinzip die tatsächlichen und möglichen Handlungen und Perspektiven aller Beteiligten vor Augen haben. Die Summe aller Perspektiven in einem bestimmten Handlungszusammenhang nennt Mead den generalisierten Anderen. Gec rg e Herbert Mead: The generalized ot her "The fundamental difference between the game and play is that in the game (Korrektur H. A.) the child must have the attitude of a11 the others involved in that game. The attitudes ofthe other players whieh the participant assurnes organize into a sort of unit, and it is that organization which controls the response of the individual. The Illustration used was of a person playing baseball. Each one of his own acts is detennined by his assumption of the action of the others who are playing the game. What be does is controlled by his being everyone else on that team, at least in so far as those attitudes effect his own particular response. We get then an »other« which is an organization of the attitudes of those involved in the same process. The organized community or soeial group which glves to the individual his unity of self may be called »the generalized other«. The attitude of the generalizcd other is the attitude of the whole community. Thu s, for example, in the ease of such a social group as a ball team, the team is the gencralizcd other in so far as it enters - as an organized process or social activity - into the experience of any one of the individual members of' it." (Mead 1934: Mind, self, end society, p. 153f.; deutsch a.a.O., S. 196f.)
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Den Un terschied zw ischen dem signi fika nten And eren und dem generalisierten And eren kann man an einem Beisp iel ve rdeutlichen: Die Mutter 8., die das Mädchen C. täglich erlebt, ist d ie sign ifika nte An dece, die das Mädchen im play nachahmt. Wenn das Mädchen C. sich sei ne Gedanken über die .neuen Mütter" macht, die sich von ihren Kindern emanzipieren, dann orientiert es sich an der generalisierten An deren. Der generalisierte And ere ist das Bild, das " man" in einer Gesellschaft vo n einer bestimmten Roll e oder einem bestimmten sozialen Zusammenhang hat. Der generalisie rte An dere ist also d ie Summe
der generellen Haltungen, die man in einer konkreten Situation von all en Handelnd en erwartet. Er ist das Prinzip oder, we nn man so wi ll: der Sinn der Inter-Akti on.t Im pla y geht das Kind in der Roll e eines signifikanten Anderen ganz auf, im game muss es sich genau davon entfernen und das generelle Prinzip des Hand eins aller Beteiligten erfassen. Letztli ch wächst das Ki nd in immer größe re symbo lische We lten hinein und lernt ihre Regeln zu begrei fen. Es spielt nicht mehr nur seine Rolle und versteht nicht nur die RoUe seiner unmittelbaren Partn er in der konkreten Interaktion, sonde rn es erfahrt, dass es in der Fam ilie, in einer Org anisation, in der Ge sellschaft allgemeine Vo rstellungen gib t, w ie zu handeln ist. Insofern kann man den generalisierten An deren auch als die Summe der Erw artunge n aller, und letztl ich als die No nnen und Werte der Gesellschaft, die in einer bestimmten Sit uation relevant sind, bezeichnen. Sozi alisation ist nach der Theorie Meads fortlau fende Interaktion zwischen konkre ten Indi viduen mit bestimmten Erwartungen und ganz allgeme in Kommunikation zwisc hen dem Indi viduum und dem generalisierten Anderen. In den Interakti onen spie lt natürlich auc h das Bild, das jeman d von sich selbs t a ls Partn er der anderen hat, eine wichtige Roll e. Auc h das ist ein Produkt der Kom munikation, denn imm er wird sich das Indi viduum frage n: Wie sehen mic h die anderen? Welches Bil d habe ich mir von mir selbst auf der Basis dieser verm uteten Einschätzung gemac ht? Nun kann man unterstellen, dass das kein einhe itlic hes Bil d sein wird, sondern je nach Situat ion wechselt. In der Ro lle des ve rliebten Fre undes wird mich mein e Angebetete - hoffentl ich - an ders sehen und ich mich Das werde ich noch einmal in Kap. 5.3 .jnteraktion - Verschrä nkung der Perspektiven", S. 200, ansprechen.
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selbst sicher auch, als wenn ich als Automechaniker gefordert bin. Dieses Ich, das die Erwartungen und Einschät zungen der anderen spi egelt, nennt Mead das »me«. Ich m öchte es als "reflektiertes Ich" bezeichnen. Darauf werde ich noch einmal zurückkommen. t Hier nur soviel. Das reflektie rte Ich enthält die Summ e der Reaktionen konkreter anderer und natürlich auch die generellen Reaktionen, die es "s eitens aller Mitglieder der Gemeinschaft auf eine bestimmte Sit uation" (Mead 1934, S. 308) gibt. Mead hat diese gemeinsamen, überindividuellen Reaktionen organisierte Haltungen oder Institutionen genannt.2 Es sind die generellen Haltungen des generali sierten Anderen. Auch sie werden im Prozess der Sozial isation erworben und in wech selseitigem, fortlaufendem Handeln bestätigt. Sozi alisat ion besteht in der spezifisch menschlichen Kommun ikation zwischen dem Individuum und konkreten Anderen und dem generalisierten Anderen . Der generalisierte Andere definiert den Rahmen, in dem diese Kommunikation sinnvoll möglich wird. Damit ist eine weitere Erklärun g, wie Sozialisation nach der Theorie von Mead abläuft, angesprochen. Ich beginne mit der Frage, was eigentlich Interaktion en zwischen ego und alter, wie wir die beiden Partner einmal nennen wo llen, auslöst und warum die Interaktionen überhaupt weitergehen. Mead beantwort et die Frage mit einer Theorie der Kommunikations, nach der die Individuen wechs elseitig und in gleicher Weise auf "Zeichen" , "Gesten" und "S ymbole" reagieren. Ich will diese Erklärung kurz in Erinnerung rufen . Zeichen ist alles, was unsere Sinne reizt, vom Donner, bei dem wir unwillkürlich zusamme nzucken, bis zur prächti gen Sahnetorte, die uns das Wasser im Munde zusammen laufen lässt. Unter Gesten versteht Mead ein bestimmtes Verhalten. Sie drücken den Sinn (emeaning«) einer Interaktion aus und bergen insofern auch die weiteren Reaktionen in sich. Gesten setzen "passende Reaktionen" in Gang. (Mead 1934, S. 52 Anm. 9) Das trifft auf den Hund Benno, der durch Gesten wie z. B. Schwanzwedeln zum Ausdruck bringt, wie Fiffi von Hohenstein bitte reagieren möge, ebenso zu wie auf Menschen, die sich auf leisen Sohlen und in Demutshaltung einander nähern. Tiere reagieren automati sch auf eine Geste, doch der Mensch denkt nach, was sie in einem konkreten Kontex t bedeuten könnte. Wenn j emand vor unseren Augen einen 1 Vgl. unten Kap. 8.2 .Jdennu t • sich mit den Augen des andere n sehen", S. 338. 2 Vgl. Band I, Kap. 4.4 "Institution als organisierte Form des Handelns", S. 152[" 3 Vgl. oben S. 82 Anm. I und unten S. 196ff..
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Stock schwingt, kann das in der einen Situati on bed euten, dass jema nd uns droht, und in der anderen, dass sich jemand als lustiger Laiendirigent aufführt . Symbole sind Zeichen oder Begriffe, die Erfahrungen bündeln, die über die konkrete Situation hinaus auf einen weiteren Sinnhorizont verweisen. Wenn uns jemand ein Kreuz vorhält, dann nehmen wir nicht nur zwei Stäbe wahr, die quer zueinander befestigt sind, son dern die einen assoziieren eine Erlösungsgeschichte und andere vielleicht eine Unterdrückungsgeschichte. Symbole bringen einen Sinn einer Situation oder eines sozial en Phänomens zum Ausdruck. Symbole, die ego und alter gleich interpretieren und zu denen sie sich in gleicher Weise verhalten, nennt Me ad signifikante Symbole. (vgl. Mead 1934, S. 188f.) Wenn wir nun handeln, dann orientieren wir uns an diesen Symbolen und stellen uns vor, welcher Sinn aktuell in Rede steht. Das alles erfo lgt natürlich in den seltensten Fällen bewuss t, da wir die mei sten Situationen schon kennen und uns an das halten, was sich bislan g als richtig, d. h. erfolgreich erwiesen hat. Wenn die Ampel Rot zeigt, bleiben wir stehen, in Cottbus und in Wanne-Eiekel und manchmal sog ar nachts, wenn die Straßen leer sind. Verbind et man nun die Vorstellung, dass ego und alter in einer konkreten Interaktion wechselseitig die Rolle des Anderen übernehmen, mit der begründeten Annahm e, dass sie Zeichen, Gesten und Symbole in dergleichen Weise interpretieren und sich damit auf das beziehen, was als organisiertes Verhalten typisc h für eine soziale Gruppe oder Gemeinschaft ist, dann wird klar, warum die Übernahme der Rolle des anderen immer auch eine Form der sozialen Integration ist! Indem ego und alter nämlich ihre möglichen Reaktionen ins Kalkül ziehen, unterziehen sie ihr Verhalten einer sozialen Kontrolle. Sie revidi eren vielleic ht ihre Handlungsabsichten oder bestärken sie und lösen ein bestimmtes Handeln in sich aus, das dann wieder das Handeln des anderen beeinflusst. Auf diese Weise verschränken sich in der wechselseitigen RolIenüb emahme auch die Perspektiven wechselseitig . Der Mechani smus der Übernahme der Rolle des And eren dient dazu, "den Einzelnen und seine Handlungen im Hinblick auf den organisierten gese llschaftlichen Erfahrungsund Verhaltensprozess zu integrieren." (S. 30 1) Damit ist nun auch das Ziel des Sozialisat ionsprozesses benannt Integration in einen organisierten Verhaltensprozess. Das darf aber nicht als Zurichtung des Individuu ms durch die geregelte Gesellschaft, die
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Nonnen und Institutionen, verstanden werden, sonde rn es geht um die fortlaufende Kommunikation , in der die Handelnden sich gegenseitig den Sinn ihres Handeins und bestehender Regelungen anzeigen. Wie ich im Kapitel über " Ordnung als Diskurs" gezeigt habe, unterstellt Mead bei diesen Kommunik ationen das Prinzip einer idea len Gesellschaft . Sicher. Abe r sie mu ss wenigstens gedacht werden können! Sonst wären Fragen nach der Legitimität der sozialen Ordnung kaum möglich, und Sozialisation wäre nichts anderes als Ausfilhrung festliegender Rollen. Das ist das Problem - vielleicht auch die Sicherheit! in der Theorie von TALCOTI PARSONS.
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Parson s: He rs tell ung funktiona l notwendi ger Motivalio n
Als der Begriff Sozialisation zum ersten Mal in einer soziologisc hen Zeitschrift auftauchte, geschah das in einem interessanten Zusammenhang. Im ersten Heft des American Journal of Socio logy veröffentlichte im Jahre 1896 einer der Gründungsvä ter der amerikani schen Soziolo gie, EDWARD A. Ro ss, einen Beitrag unter dem Titel .Socie l contrc l". In dies em Aufsatz werden zwei Mechanismen genannt, durch die die Gesellschaft ihre schwierige Aufgabe bewältigt, "die Gefühle und Wünsche der Indi vidu en so zu formen, dass sie den Bedürfnissen der Gruppe entsprechen" : soziale Kontro lle und Sozialisation. (Geu len 1991, S. 22) Den wichtigsten Beitrag zu einer Sozialisationstheorie, die dieses gesellschaftliche Erfo rdernis in den Vordergrund stellt, hat zweifellos TALCOTT PARSONS geliefert. Er integrierte die Theorien von Durkh eim und Freud, die kulturanthropologische Forschung, die Lerntheorie und den Sozialbehavi orismus von Mead. Diese breite Integration gibt seiner Soz ialisationstheorie ein besonderes Gewic ht bis heute. Damit hängt aber auch die Kritik zusamme n, Parsons lese diese Theorien nur aus der Sicht der Gese llschaft bzw . genauer: aus der Sicht des Erhalts einer sozialen Ordnung. Erinnern wir uns, dass nach der sozio logischen Theorie von Parsons Werte und Nonnen die entsc heidenden Faktor en sind, die soziale Ord nung garantieren. Damit stellt sich die Frage, wie die objektiven, institutionellen Bedingungen der Gesellschaft mit der subj ektiven Motivation der Hand elnden verknüpft we rden können , oder genaue r, wie das
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instit utionalisierte Wertsystem Teil der Persönlichkeitsstruktur wird. (Dahrendorf 1955, S. 232) Die zwei Sichten, die man auf diese Frage nehm en kann, will ich mit den Worten des volkstümlichen Aufklärers und Dichters Matthias Claudius und des kritischen Psychoanalytikers und Mitgliedes der Frankfurter Schule ERICH FROMM ( 1900 - 1980), der sich auf ihn bezog, besc hreiben: • Matthias Claudius ermah nte seinen Sohn: "Und der ist nicht frei, der da will tun könne n, was er will, sondern der ist frei, der da wollen kann, was er tun soll." (Cla udius 1799, S. 546)1 Die Freiheit bewährt sich am vorn Philosophen Immanuel Kant so genannten sittlichen Gebot. • Erich Fromm hat diese Verbindung von Gese llschaft und Individu um als Repression und als Ursac he von Neurosen verstan den: " In order that any soc iety may function we il, its memb ers must acquire the kind of character whic h makes thcm want to act in the way they have to act. (..) They have to desire what objective ly is necessary for them to do. Guter force is to be replaced by inner compulsion." (Fro mm 1944, S. 38 1) Parsons lässt diese Frage außen vor und sagt, was - aus Sic ht der Gesellscha ft - im Prozess der Sozialisation passieren muss:
Ta lcott Parsons: Entwicklung einer adäquaten Motivation zur Partizipa tion an sozial bewerteten Forme n des Han dein s "Das wichtigste funktionale Problem hinsichtlich des Verhältnisses des sozialen Systems zum Persönlichkeitssystem involviert lebenslanges Lernen, Entwickel n und Aufrechterhalten einer adäquaten Motivation zur Partizipation an sozial bewerteten und kontrollierten Formen des Handeins. Umgekehrt muss eine Gesellschaft auch ihre Mitglieder durch solche Formen des Handeins adäquat befriedigen oder belohnen. wenn sie langfristig auf deren Leistungen angewiesen ist, um als System zu funktionieren . Diese Beziehung konstituiert »Sozialisation« • den gesamten Komplex von Prozessen, durch welche Personen zu Mitgliedern der gesellschaftlichen Gemeinschaft werden und diesen Status beibehalten." (Parsons 1966: Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven. S. 24) Den Gedankenhat Hege! später fortgeführt. Danach entsteht Freiheit aus der Einsicht in die No twendigke it.
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Im Prozess der Sozialisation werden dem Individuum die herrschenden Werte und Nonn en der Gesellschaft nahegebracht. Was alle immer so tun, gilt auch ihm als selbstverständlich. Es kommt noch ein zweites hinzu: Jedes Individuum hat ein Interesse an Gratifikation und an Vermeidung von Frustration. Die Zustimmung zu dem, was allen als normal gilt, verspricht die größere Gratifikation, zumindest wird man nicht bestraft. Auch aus diesem Grunde stimmt das Individuum den gesellschaftlichen Werten und Nonnen zu. So werden im Sozialisationsprozess äußere Werte und Nonnen auch nach innen genommen und Teil der Persönlichkeitsstruktur. Diesen Prozess nennt Parsons lnternalisierung . Über den Weg dieser Internalisierung wird das institutionalisierte Wertsystem Teil der Persönlichkeit und schafft eine Motivationsstruktur, die den gesellschaftlichen Erwartungen und Möglichkeiten entspricht. Das wiederum erklärt, warum sich die Handelnden im großen Ganzen im Einklang mit ihren Bedürfnissen und den Erwartungen ihrer Mitmenschen wähnen. Doch diese passive Einstellung des Individuums reicht nicht, sondern es bedarf des willentlichen Engagements des Individuums: Es muss den Werten und Nonnen auch zustimmen wollen . Dieses - aus Sicht der Gesellschaft - grundlegende Problem thematisiert Parsons in einer Theorie der Motivationspr ozesse, die im Zentrum seiner Sozialisationstheorie steht. In ihr wird der Anspruch der Gesellschaft auf willentliche Zustimmung des Individuums so deutlich formuliert, dass man die Theorie auch als voluntaristische Theorie bezeichnet hat.I Die Erklärung für die adäquate Motivation liegt in der eben genannten Gewohnheit, so zu handeln, wie immer gehandelt wurde, in dem Interesse an Gratifikation und schließlich in der Internalisierung vernünftiger Regelungen. Die willentliche Zustimmung ist deshalb voluntas - lat. Wille. Bei meiner Interpretation des " voluntaristischen" Aspektes der Handlungstheorie stütze ich mich auf Parsons (1945, S. 55 und 56f.). Miebach sieht es ähnlich: ,.Die Werte und Nonnen verwirklichen sich im Handeln nicht von selbst, sondern müssen durch die Anstrengung des Individuums im Handeln zur Geltung gebracht werden (Parsons 1935, S. 287). Der Begriff »Voluntarismus« betont genau diese Willensanstrengung der Handelnden zur Verwirklichung von Normen und Werten." (Miebach 2006, S. 70) Münch, einer der profundesten Parsons-Kermer, versteht den Voluntarismus allgemeiner, indem er das Handeln als willentliche Entscheidung für bestimmte Mittel unter gegebenen normativen Bedingungen beschreibt. (Vgl. Münch 1982, S. 239 und S. 38; vgl. auch Band I, Kap. 3.9 .Parsons: Nonna tive Integration", S. 126.)
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nach der struktur-funktionalen Theorie überhaupt kein Problem, denn sie erfolgt im Grunde freiwillig, d. h. aus Einsicht in die Nützlichkeit
eines HandeIns, das dem Hergebrachten entspricht. Das Ergebnis der Prozesse der Internalisierung und der Motivation ist eine stabile Wertverpflichtung. Parsons bezeichnet sie als .commitmeßt". Die Individuen wollen, was sie sollen! Parsons verband das Ziel der Sozialisation mit seiner Theorie der Motivatio n, und da nach muss das Individuum D ispositionen erwer ben. die notwendig sind. um die Rollen zu spielen, die in der Gesellschaft
geboten sind. Rollen! werden definiert über einen Konsens von Werten
und gesichert durch Nonn en. Da sie funktional notwendig sind, muss je des Individuum dazu gebracht werden, sei ne Ro llen zu spielen. Die Aufgabe , Ro llen zu lernen, stellt sich nach dieser Sozia lisationstheorie immer, das heißt lebenslang, und fUr alle. Zum Problem wird der funktionale Prozess der Sozi alisation , wenn neue Mit glieder der Gesell sch aft auf den Plan treten . Das ist in jedem Auge nblick der Fall, wenn ein Mensch gebore n wird . Parson s wählt ein beze ichnendes Bild für das, womit d ie Gesellschaft perm anent rechnen muss und was sie um ihres Erhaltes willen deshalb permanent sic herste llen m uss: .Whar has sometimes been called the »barbari an invasion-a of the stream of new-bom infants is, of co urse, a criticaI feature of the situation of any society. Alo ng with the lack of biological maturit y, the conspicious fact abo ut the child is that he has to team the patterns of behav ior expected of persons in his statutes in his society." (Parscns 1951 , S, 208 ) Sozia lisation heißt für Parson s die kulturellen Werte zu interna lisiere n und die Rollen zu erlernen, die in einer bestimmten Gesellschaft ge lten. Aus dieser Sicht stellt sich der Prozess der Sozialisation als Enkulturation dar.
Auf Parsons' Rollentheorie gehe ich gleich in Kap. 3.1 ,,Rolle normative Erwartung" ausführlich ein. 2 Nachdem ich dieses Bild lange Zeit aufgeregt zitiert habe, neige ich nun zu einer kühleren Lesart: Das Bild von der Abwehr der Barbaren meint im Grunde nichts anderes, als was Durkheim seinerzeit mit der methodischen Sozialisation des homo duplex gemeint hat! Und die noch pessimistischeren Ausführungen Freuds zur Einschrä nkung des Aggressionstriebes durch Kultur, die Parsons natürlich auch vor Augen hatte, unterstreichen. wie ernst ihm das Problem war. 4
2 Sozialisation
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Der primäre Ort der Sozialisation ist die Kemfamilie. In der Interaktion zwischen allen Beteiligten lernt das Kind, dass Interaktionen in Erwartungen bestehen, die erfüllt werden müssen. Die Bedeutung komplementärer Erwartungen wird ihm durch positive und negative Sanktionen auf sein Verhalten nahegebracht. Da die Eltern von außen soziale Erwartungen in die Familie mit hinein bringen und bestimmte Rollen spielen, durchdringen sich im familialen Sozialisationsprozess Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und Sozialstruktur. Anders als Freud, dessen Theorie der Entwicklung des Über-Ich er im übrigen übernimmt, lenkt Parsons den Blick auf die Integration des Kindes in das Gesellschaftssystem, von dem die Familie ein Teil ist. Er unterscheidet fünf Phasen der Sozialisation: 1. In der ersten Phase ist das Kind völlig abhängig von der Mutter, mit der es eine solidarische " Dyade" bildet. Diese Paarbeziehung ist durch enge und dauerhafte Wechselwirkung gekennzeichnet. Natürlich befindet sich die Mutter " in der Überwältigend dominierenden Machtposition", indem sie z. B. die Stillzeiten bestimmt, aber schon auf dieser Stufe handelt der Säugling aktiv, indem er z. B. durch Schreien die Mutter veranlasst, sich ihm zuzuwenden. (Parsons 1958b, S. 107) 2. In der zweiten Phase wird vom Kleinkind schon erwartet, dass es bewusst bestimmte Leistungen erbringt, die in dieser Gesellschaft von allen Kindern dieses Alters verlangt werden. Ich nenne nur das leidige Thema " Schon trocken"!" . In dieser Phase lernt das Kind auch zu sprechen und übernimmt damit auch die sozialen Bezeichnungen der Dinge. Gleichzeitig nimmt es über diese neue Form der Kommunikation Kontakt zu den anderen Mitgliedern der Familie auf. 3. In der dritten Phase, die der ödipalen bei Freud entspricht, lernt das Kind, dass es jünger ist als seine Eltern und dass es Unterschiede zwischen Vater und Mutter gibt. Es lernt die entscheidenden sozialen Differenzierungen nach Alter und Geschlecht und damit auch die Rollen, die damit verbunden sind. Bezogen auf das Merkmal Alter lernt es den Zusammenhang von Hierarchie und Macht. Mit der Erfahrung des eigenen Geschlechts wird zugleich der gesellschaftliche Anspruch virulent, erotischemotionale Beziehungen zu Vater und Mutter zu neutralisieren. Das ist auch die Funktion des lnzesttabus, mit dem sich Parsons
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2 Sozialisation
in einem großen Aufsatz auseinandergesetzt hat. (Parsons 1954) Sie besteht einma l darin, den Heranwachsenden aus der Familie
hinauszutreiben, damit er neue, generelle gesellschaftliche Erfahrungen macht, zum anderen aber auch darin, ihn zu emotional distanzierten Rollenbeziehungen zu bewegen. Bezogen auf das Merkmal Geschlecht behält das Mädchen seine Identifizierung mit der Mutter bei und lernt, sich mit ihrer Rolle zu identifizieren, während sich der Junge wegen seiner emotionalen Bindung an die Mutter plötzlich in Konkurrenz zum Vater sieht. Diesen, ganz im Sinne der Psychoanalyse zu verstehenden Konflikt löst der Junge, indem er sich mit dem Vater identifiziert und dessen Rolle verinnerlicht. Was die Rolle des Vaters angeht, versteht Parsons sie als eine instrumentelle Rolle, d. h. in ihr werden die sachlichen Erwartungen der Gesellschaft repräsentiert, die man erfüllen muss, um dort erfolgreich zu sein. Die Rolle der Mutter bezeichnet Parsons dagegen als expressiv, d. h. in ihr kommen Orientierungen zum Ausdruck, die für die harmonische und solidarische Beziehung innerhalb der Gruppe wichtig sind. 4. In der vierten Phase komm t das Kind in Kontakt zu sog. peer groups. Das ist die Spielgruppe mit Gleichaltrigen, dann der Kindergarten. Dort merkt das Kind, dass die affekti ven Beziehungen in der Familie nicht gelten, sondern dass neutrale, sachliche Beziehungen gefragt sind. Es kann auch nicht mehr in einer Gesamtrolle Kind auftreten, sondern muss j e nach Situation eine spezielle Rolle spielen. Während es in der Familie, egal was es getan hat oder nicht geschafft hat, immer das liebe Kind ist, zählt beim ersten Streit um das Klettergerüst im Kindergarten nur, was es hier und jetzt tut. Während sein Status in der Familie zugeschriebe n ist (einmal goldig, immer goldig), hängt der Status in der Gruppe der Gleichaltrigen von seiner Leistung ab. 5. In der flinften Phase, die die Schulzeit und den Beruf umfasst, lernt der Heranwachsende, sich an den generellen Erwartungen, die an jeden ohne Ansehen der Person gerichtet sind, zu orientieren. Vor allem aber muss er den Leistungsanforderungen gerecht werden, die in den einze lnen Teilsystemen der Gesellschaft gelten.
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Sozialisation heißt für Parsons also - ich wiederhole - das Erlernen von sozialen Rollen. Jede Rolle in der Gesellschaft verlangt eine bestimmte Motivation vom Handelnden. Parsons fragt also nicht, wie sich in einem Subjekt eine individuelle Motivation ausbilden kann, sondern genau umgeke hrt, "welche Motive durch gesellschaftliche Institutionen jeweils als zulässig festgelegt werden", und deshalb steht für ihn das Thema soziale Kontrolle im Vordergrund. (SprondeI 1977, S. 18) In diesem Sinne ist auch der berühmte Aufsatz über .Die Schulklasse als soziales System" aus dem Jahre 1959 zu lesen, in dem Parsons der Schule zwei Aufgaben attestiert: die Aufgabe der Sozialisation und die Aufgabe der Allokation . Danach sollen in der Schule die Persönlichkeiten ausgebildet werden, die "der Erfüllung von Erwachsenenrollen motivationsmäßig und technisch gewachsen" sind. (Parsons 1959, S. 349) Die Schule hat gleichzeitig die Funktion der Allokation. Das bedeutet, dass sie Arbeitskraft herstellt und verteilt. Da es immer weniger attraktive gesellschaftliche Positionen als individuelle Erwartungen und vor allem Fähigkeiten gibt, setzt dieser Prozess der Allokation immer auch Selekt ion voraus. Selegiert wird, indem Schüler nach dem Kriterium der Leistung differenziert und in entsprechende Karrieren eingewiesen werden. Woh lgemerkt: " Entsprechend" heißt, Art und Wege der Karrieren werde n durch die Gesellschaft und nicht durch das Individuum definiert! Ziel der Sozialisation ist die Herstellung von Bedürfnisdispo sitionen, die den vorgegebenen Rollen entsprechen. Das ist die Erklärung für die Annahme Parsons', dass die Individuen den gesellschaftlichen Werten und Normen letztlich freiwillig zustimmen. Sozialisation heißt nämlich, die individuelle Motivation auf die funktionalen Anforderungen der Gesellschaft auszurichten. Damit ist - ähnlich wie bei Durkheim - die Dominanz der Gesellschaft gegenüber dem Individuum betont. Der kritische Einwand, den man gegen diese Sozialisationstheorie und die damit implizierte Erklärung der Entstehung und des Erhalts sozialer Ordnung erheben kann, liegt auf der Hand : Nach der Intemalisierungstheorie erscheinen die "Akteure schließlich nur noch als Duplikat der Nonnen und Werte der Gesellschaft" . (Hauck 1984, S. 153) Deshalb hat DENNIS WRONG auch von einem .nbersoaiafisierten Menschenbild" (1961) gesprochen, in dem es keine Reste von Widerstand oder Andersheit mehr gibt - oder geben sollte. Seine Warnung lautet:
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2 Sozialisation
" Wenn unsere soziologische Theorie die Stabi lität und Integration der Gesellschaft überbetont, werden wir in der Vorstellung landen, dass der Mensch das körperlose, vom Gewissen getriebene und statussuchende Phantom der modem en Theorie sei." (Wrang 1961, S. 238) Die Krit ik las Parsons' Sozialisation stheorie als Theorie der Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse. Da eine kritische Sozialisationsforschung diese Verhältnisse aber als zutiefst widersprüchlich verstand, konnte eine kritische Sozialisation nur gedacht werden als Teil oder gar als Voraussetzung zur Veränderung dieser Verhältnisse. Zweitens wur de Parsons vorgeworfen, seine Sozial isationstheorie sei auf die amerikani sche Mittelschichtge sellschaft zugeschnitten. Damit favorisiere sie, was dort gilt, und bena chteilige die Ange hörigen der Unterschichten. Von dieser Kritik aus entwickelte sich in den 70er Jahren die Diskussion um Chancengleichheit. Dritt ens sah man in der Einbindung dieser Sozial isation stheorie in eine Th eorie der sozialen Rolle die Ge fahr, dass Individualität unterd rückt wird. Der erste Einwand hat der Soz ialisations forschung übe r viele Jahre zwa r viel Au fmerksamkeit beschert, sie letz tlich aber überfordert . Der zwe ite Einwand ist nich t ganz richtig, aber auch nic ht ganz falsch. Richtig ist, dass Parsons bei der Erklärung, wie Gesellschaft funktioniert, we lche Rolle die Familie in ihr spielt und was die Funktion von Soz ialisation ist, natürlich die Gesellschaft seiner Zeit vor Augen hatte. Falsch ist aber die Annahme, er sähe den Zusammenhang zwischen Gesellschaftsst ruktur, Famili e, Schule und Sozialisation nur in diese r ame rika nischen Gesellscha ftsstruktur gew ährle istet. Dieser Zusammenhan g gilt immer und überall. Von daher ist dann allerdings der dritte Einwand nicht von der Hand zu weisen. Natürlich konn te Parsons aus seiner strukturfunktionalistischen Theo rie heraus und mit der Orientierun g am Konzept der soz ialen Rolle der Individualität nur einen nachgeordn eten Stellenwert einräumen. Merkwürdigerwe ise übersah er dabei aber auch die konstrukti ve Leistun g, die das Individuum im Prozess der Sozialisation selbst nach diese r Th eorie erbrachte. Es dauerte einige Zeit, ehe diese konstruktive Se ite in der Soz ialisationsforschun g thematisiert wurd e. Angespro chen hatten sie schon PE· TER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN in ihrem Buch übe r "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichk eit" ( 1966). Dort war die These vertreten worde n, dass sich das Individuum seine Wirk lichkeit du rchaus auch selbs t zurech tlegt - allerdings auch mit den Mitteln, die
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ihm die Gesellschaft über Wissen und Sprache an die Hand gibt. Sozialisation ist insofern eine Form der Selbstsozialisation. als das Individuum durch sein Denken und Handeln seine Wirklichkeit immer wieder neu definiert. Eine Sozialisationstheorie, die diese konstruktive Leistung des Individuums im Proz ess der Sozialisation ausdrücklich herausstellte, kam erst in den 80er Jahr en heraus. Ein Vertreter dieser Diskussion ist KLAUS HURRELMANN, der mit seinem "Handbuch der Sozialisationsforschung" ( 1980), das er zusammen mit Dieter Ulich herausgegeben hat, eine Syste matisierung der Diskussion in Deutschland vorgenommen hatte.
2.7
Hurrelmann : produktive Verarbeit ung der Realität
Etwa zur gleichen Zeit, als JÜRGEN HABERMAS (1981) 1 seine kritische Theorie der Gese llschaft und der Interaktion wesentlich über die Theorie der Symbo lischen Interaktion begründete, kam auch aus der gleichen Richtu ng Bewegung in die Sozialisationsforschung. Gegenüber einer normativen Sozialisationsforsch ung. die von der Notwendigkeit der Anpassung an die gesellschaftlichen Rollen ausgeht. setzte sich Anfang der 80er Jahre der Gedanke durch, dass das Individuum deutend und handelnd in seine soziale Wirklichkeit eingreift. Diese Annahme liegt dem ,,Modell der produktiven Realitätsverarbeitung" ( 1983) des Bielefelder Sozialisationsforschers KLAUS HUR. RELMANN (*1944) zugrunde. Darin wird dem Individuum eine entscheidende, konstruktive Rolle in seiner Sozialisation beigemessen, weshalb Hurrelmann Sozialisation auch als "Prozess der sozialen Konstitution der Subjektbildung" versteht. (Hurrelmann 1983, S. 16) Sein Sozialisationskonzept. in das interaktionistische und phänomenologische Theorien hineinspielen, geht von einer wechse lseitigen Beziehung zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Realität aus. Danach ist das Subjekt " in einen sozialen und ökologischen Kontext" gestellt, "der subjektiv aufgenommen und verarbeitet wird, der in diesem Sinn also auf das Individuum einwirkt, aber zugleich immer auch durch das Individuum beeinflusst, verändert und gestaltet wird." (Hurrelmann 1993, S.64) 1 Vgl. unten Kap. 5.9 ,,Habermas: Kommunikatives Handeln und Diskurs".
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2 Sozialisation
Wie ich eben schon angedeutet habe, ist diese neuere Sozialisationstheorie von Berger und Luckmann geprägt, die das Indiv iduum als Konstrukteur seiner Lebenswelt verstehen. Vor dem Hintergrund dieser These entwirft Hurrelmann die Skizze seines Modells und zeigt, wo die Vorteile. aber auch die Grenze n der so begründe ten Soziali sationstheorie liegen: Klau s Hurrclm ann : Symbolische Interaktion, Sozialisation und sozia lst rukt ureIle Umwelt "Mein Blick (..) richtet sich (...) auf die Theorie des Sy mbolischen lnteralaionismus. Obwohl nicht als Sozialisations- und Entwicklungstheorie angelegt, sondern als Handlungstheorie, sind hier doch nach meiner Einschätzung viele theoretische Aussagensysteme entfaltet, die in das Grundgerü st einer umfassenden Sozialisationstheorie des beschrie benen Zuschnitts passen. Der symbolische Interaktionismus t, etwa in der von Berger u. Luckmann ausgearbeiteten Form, geht vom Modell des kreativen, produktiv seine Umwelt verarbeitenden und gestaltenden Individuums aus. Der Mensch wird als ein schöpferischer Konstrukteur seiner sozialen Lebenswelt verstanden. Die wesentliche Qualität, die ihn von der Determinierung der materiellen Welt befreit, ist die symbolische Kommunikation: Der Mensch kann nach dieser Vorstellung seine Umwelt und seine eigenen Handlungen in ihr mit Bedeutungen versehen, er kann sich in die Rolle der anderen Kommunikationspartner begeben, die die sozia le Umwelt konstituieren, er entwickelt auf diesem Wege Selbstbild und Bewusstsein. Die Beziehungen zwischen Mensch und Gesellschaft werden dialektisch gesehen. Gesellschaftliche Bedingungen beeinflussen, determinieren aber nicht die menschlichen Bewusstseins- und Handlungsstrukturen. Menschliches Bewusstsein und menschliches Handeln ist kein mechanischer Ausdruck der sozialen Strukture n. Vielmehr bilden sich nach dieser Theorie die sozialen Strukturen aus den wechselseitigen Beziehungen der Menschen untereinander. Die sozialen Strukturen sind das Produkt der Interaktion und Interpretation der menschlichen Subjekte, die sozialen Strukturen sind aus diesem Grund auch ständig Veränderungs- und Umlagerungsprozessen ausgesetzt. Der symbolische Interaktionismus sieht die soziale Realität im Kern als ein interindiviHurre1mann nennt zwar als Bezug Berger und Luckmann, aber die dann referierten Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus stammen wesentlich von Herbert Dlumer. (Vgl.unten Kap. 5.5 .Bl urner: Symbolische Interaktion".)
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duelles Arrangement, das jeweils individuell mit Bedeutung belegt und unterlegt wird. Ein Arrangement, das sich freilich verselbständigen. den aktiven Interpretationsprozessen entziehen und den Individuen als scheinbar dinghaft gestaltete Realität entgegentreten kann. Dieser Umschlagpunkt von interaktiven in institutionelle soziale Strukturen ist eine der faszinierendsten Komponenten der symbolischinteraktionistischen Theorie. Sie verdient eine stärkere Betonung, als bei den meisten Vertretem dieses Ansatzes zu beobachten ist. Ohne die Beachtung der Emergenzprozesse ist die Theorie des Symbolischen Interaktionismus zu »idealistisch«. Zwar handelt das menschliche Subjekt in der sozialen Welt auf der Basis der Interpretationen und Deutungen, die es dieser Welt gibt. Aber die soziale Realität besteht nicht nur aus dem, was das Subjekt an Wissen und Interpretation von ihr besitzt, auch wenn sie den Individuen immer nur in einer subje ktiv interpretierbaren Weise erscheint und bedeutungsvoll wird. Soziale Strukturen verfestigen und institutionalisieren sich und werden zusätzlich beeinflusst durch die Modi der Auseinandersetzung mit der materialen Umwelt, sie gewinnen ihre eigene Seinsqualität und entwickeln ihre eigene Dynamik, mit der sie sich von ihren Schöpfern ablösen und ihnen als vorgeformte Gegebenhe iten entgegentreten . Hier liegen offensichtlich Grenzen der Theorie des Symbolischen Interaktionismus, die nach Ergänzung und Korrektur verlangen . Für individuelles Handeln und individuelle Entwicklung ist mitentscheidend, wie die sozial- und gesellschaftsstrukturellen Gegebenheiten beschaffen sind, denn sie sind konstitutive Bestandteile des Sozialisationsprozesses. Die Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. die durch diese sozialstrukturelle Umweltkonstellation in ihrer jeweiligen historischen Ausprägung gegeben sind, muss ich als Sozialisationsforscher situationsspezifisc h in meine Analyse einbeziehen . Das gilt ganz besonders auch CUr die Strukturen der sozialisatorischen Interaktion innerhalb und außerhalb von Erziehungsinstitutionen. Über diese sozialisatorische Interaktion, die in sich die gesellschaftliche Wert- und Sozialstruktur transportiert und transformiert, die zugleich aber auch nach eigener Regelmäßigkeit und Dynamik Realität konstituiert, wird die Persönlichkeit gebildet." (Hurrelmann 1983: Das Modell des produktiv realitätverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung, S. 16-18) Das Modell der »prod uktiven Realit ätsverarbeitung« drü ckt nach Hurrelm ann s eigener Einsc hätzung " den ge meinsamen Nenner der neueren Sozialisationstheorie n aus, näm lich d ie Vorste llung vom Ind ividuum, das sich einerseits suchend und sondierend , ande rersei ts konstru ktiv
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Sozialisation
eingreifend und gestaltend mit der Umwelt beschäftigt, Umwe ltgegebenheiten aufnimmt und mit den vorhandenen Vorstellungen und Kräften in Eink lang bringt und um eine ständige Abstimmung zwischen den Umweltanforderungen und den eigenen Bedürfnissen und Interessen und Fähigkeiten bemüht ist." (Hurrelmann 1993, S. 64) So optimistisch diese neuere Lesart des Modells klingt: Man darf nicht vergessen, dass Hurrel mann selbst gegen den Interaktionismus eingewandt hat, das Gewicht der objektiven Bedi ngungen der Sozialisation und des Handeins zu unterschätzen. Eine kritische Sozialisationstheorie wird deshalb immer auch die Ana lyse der objektiven Bedingungen einbeziehen müssen. Das mindeste ist zu fragen, wie in der Gesellschaft die sozialen Erwartungen zustande kommen, denen das Individuum nachkommen soll, und welches Gewicht sie gegenüber jeglichem Ansp ruch auf Individualität haben. Um diese Frage geht es im folgenden Kapitel über "Rolle" .
3 3. 1
Rolle Parsons: Ro lle - nonnative Er wart ung
3.2
Merton: Der Rollen-Set
3.3
Dahrendorf: Homo Socio logicus und die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft Habermas: Kritik der Rollentheorie
3.4
..Die ganze Welt ist Bühne, und alle Frau' n und Männer bloße Spieler . Sie treten auf und gehen wieder ab. Sein Lebe n lang spielt einer manche Rollen ..." (Shakespeare 1599: Wie es Euch gefällt, Tl 7, 668ff.)
Genau dieses Bild des Auftretens und wieder Abtretens findet sich auch bei dem amerikanischen Kulturanthropologen RALPH LiNTON, der in einem Aufsatz über den kulturellen Hintergrund der Persönlichkeit feststellt, dass "ein System fortbesteht, während die Individuen. die Plätze in ihm einnehme n, kommen und gehen kö nnen" , (Linto n 1945. S. 252) Im soz iologischen Sinne sind die Plätze Positi onen. Die " Gesam theit der ku lturellen Muster", die mit einer Position verb unde n sind und die unab hä ngig von eine m konkreten Einzelnen gelten, ha t L inton »Rolle « genannt. (ebd .) Vo n dieser Defin ition nimmt die soziologische Rollentheori e ihren Ausg ang . Danach sind Positionen "e tw as prinzipiell unabhängig vom Einze lnen Denkbares" , und der Begriff der soz ialen Rolle bezeich net ein Bündel von Erwart ungen. (Dahrendorf 1958, S.33) Die Rollentheorie sc hlechthin stammt von TALCOTI PARSONS, der darin seine Antwort auf Frage, wie Gesellschaft überhaupt möglich istt, spezifiziert hat. Im Prozess der So zialisation werden die Ind ividuen dazu gebracht, die vorgegebenen Rollen zu spielen und sich so in die Gesellschaft zu integrieren , Das Verh ältnis zwischen Indi viduum und Gesellschaft ist nach diese r Theorie eindeutig geregelt: normativ von ihrer Seite und "freiwillig" zustimmend von jenem . 1 Seine Antwort habe ich in Band 1, Kap. 3.9 ,,Nonna tive Integration". referiert.
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3
Rolle
Eine entscheidende Revision dieser klassischen Rollentheorie hat da nn ein Sch üler von Parsons, ROBERT K. MERTON, vorgenommen. Nac h seiner Theorie ist die Nonn ativität der Rollen relativ, da das Individuum sich verschiede nen Bezugsgruppen gege nübersie ht. Es spielt auch nicht nur eine Rolle, sondern sieht sich nicht selten mit mehreren zugleich kon fronti ert. Von daher ble iben Ro llenko nflikte nicht aus. Auch RALF D AHREl\noRF hat das Verhältnis zwi sc hen dem Individuum und seinen Rollen ganz anders als Parsan s gesehen. Danach handeln wir in unseren Rollen keineswegs freiwillig, sondern weil wir uns ihnen nicht entzie hen können, denn das würde negative Sanktionen nach sich ziehen. Was die Freiheit des Individuums angeht, so sieht es sich mit der "ärgerlichen Ta tsache der Gesellschaft" konf rontiert. Kritiker habe n in diese r The se ei nen neuerlichen Beleg für die typisch deutsche Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft gesehen. Andere gingen genau von diesem Gege nsatz aus und hielten an der Vorstellung fest, der Mensch an sich oder der eige ntliche Mensch sei etwas anderes als der Mensch in seinen Rollen. Gena u das aber hatte Dahrendorf behauptet: wenn man in der Soziologie vom Menschen spreche, dann könne man nur über den Menschen als Rollenträger spreehen. Er nannte ihn den .Jiomo socio logicus ". Andere Annahmen über das Wesen des Menschen und sei ne Verbindung mit der Gesellschaft gehörten in andere Wissenschaften. M it der ersten Diskussion über die Rollentheorie in Deutschland setzte denn aueh schon gleich die Kriti k an ihr ein. So hat JüRGEN HA· BERMAS ganz grundsätz lich die Frage nach der Legitimität de r Rollen, vor allem aber die nach ihrer Funktion geste llt. In seiner großen Kritik der Rollentheorie, die der Diskussion über lange Jahre die Richtung wies , ging er - wie Dahrendorf auch - von der Gefahrdung des Individuums in der Gesell schaft aus , legte seine Kritik aber grundsätzlicher an, indem er fragte , ob nicht im Begriff der Rolle die Entfremdung des Menschen unter gege benen Verhältnissen zum Ausdruck komme. Dass es Rollen gibt und dass wir uns ihnen entspreche nd verhalten müssen, bestritt Habenn as nicht. Er wies aber die glatten Erklärungen der Rollentheorie zurück, vor allem aber deren normative Implik ationen.
3 Rolle
3.1
103
Parsons: Rolle - normative Erwartung
TALcorr PARsoNs will mit seiner Theorie der Rolle erklären, wie Individuen daz u kommen, sich so verhalten zu wollen, wie sie sich verhalten sollen. Dieses Wortspiel! ist nicht zufällig gewählt, denn es geht Parsons um eine Theorie der Ordnung, und zu dieser trägt das Individuum in dem Maße bei, wie es motiviert ist, sich zu verhalten, wie es die Ord nung verlangt.2 Ich will zunächst den Begriff der Rolle in die allgemeine Theorie Parsons' einordnen und dazu kurz auf das Zusamme nspiel von Pers önlichkeitssystem , sozialem System und kulturellem System eingehen. Persönlichkeit ist das Ergebnis eines spezifischen Sozialisation sprozesses, aber auch Ausdruck spezifischer psychologischer Antriebe und sozialer Bedürfnisse. Sie ist ein strukturiertes Ganzes, weshalb Parsons auch von einem Persönlichkeitssystem spricht. Das System des Handeln s, d. h. den strukturierten Zusammenhang der Handlungen aller Beteiligten an einer Situation, nennt Parsons soziales System. An anderer Ste lle benutzt er auch den Begriff des Kollektivs. Das soziale System meint also konkrete Interaktionen. Im kulturellen System sind die Werte und symbolischen Bedeutungen einer Gesellschaft aufgehoben. Es ist das dominante System und durchdringt alle anderen Systeme. Den Schnittpu nkt von Persönlichkeitssystem. sozialem System und kulturellem System bildet die Rolle. Virulent wird sie im sozialen System, dessen interaktive Beziehungen ein bestimmtes Muster aufweisen. Jeder einzelne Handelnde ist in eine Fülle solcher Interaktionen involviert . Parsons betrach tet die Teilnahme an den Beziehungen unter zwei grundsätzlichen Aspekten: " On the one hand there is the positional aspect - that of where the actor in question is »located« in the social system relative to other actors . This is what we will call his status, which is his place in the relationship system considered as a structure. that is a pauerned system of pans. On the other hand there is the processual aspect, that of what the actor does in his relations with others seen in thc context of its functional significance for the social system. It is this Sehen Sie mir nach. wenn es immer mal wieder auftaucht. Ich halte es für eine treffende Beschreibun g dessen, welche Rolle Parsens dem Individuum zugedacht hat. Und außerdem kann man sich sofort klar machen, warum nach der funktionalistischen Theorie Gesellschaft im Großen und Ganzen funktioniert. 2 Deshalb auch der Titel in Band I, Kap. 3.9 ,,Parsons: Normative Integration".
3
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Rolle
which we shall call his rote." (Parsons 1951, S. 25) In seinem Status ist der Handelnde Gegens tand der Orientierungen der anderen. indem er seine Rolle spielt. orientiert er sich an den anderen. Rolle meint die sozialen Erwartungen an das Handeln. Rollen wie auch das soziale System, in dem sie zum Ausdruck kommen, werden von "N ormen reguliert" und sind "durch Festlegung auf Wertmuster chara kterisiert" (Parso ns 1966a, S. 140). Die Normativit ät ergibt sich aus dem kulturellen System, in dem die Werte ] der Gesellschaft aufgehoben sind. Werte versteht Parsans im Sinne des " Mustergültigen" (ebd.). Unter dieser Perspektive und bezogen auf die sozialen Rollen kann man sich das Wertesystem als latenten gesellschaftlichen Konsens vorstellen, wie in einer kon kreten Situation idealerweise gehandelt werde n soll. Normen " haben regulative Bed eutung für soz iale Prozesse und Beziehungen" (ebd.) , schreiben also konkret vor, wie zu hand eln ist. Parsons versteht Werte, Norm en , Soz ialsystem (Kollekti v) und Rol len als Strukturkomponente n der Gesellschaft, die jeweils eine spezifische Funktion für die Erhalt ung einer bestimmten Struktur haben: Talcott Parsons: Die Funktion der strukturellen Kompone nten der Gesellschaft "Werte sind entscheide nd für Strukturerhaltungsfunktionen in e inem Sozia lsystem. Normen sind in erster Linie integrativ; sie steue rn die große Vielfalt von Prozessen, die zur Durchsetzurig der gebildeten We rtbind ungen beitragen. Die Funktionen des Kollekt ivs liegen in der Erreichung aktualer Ziele für das Sozialsystem. Soweit Ind ivid uen gesellschaftlich wichtige Funktionen erfü llen, hande ln sie in ihrer Kapazität als Mitglieder eines Kollektivs. Die primäre Funktion der Rolle in Sozialsyste men schließlich ist ada ptiv. Dies zeigt sich besonders deu tlich an der Kategorie de r Leistung: Die Fähigkeit, gese llschaftlich relevante Rollen zu erfüllen. ist die grundlegendste generalisierte ada ptive Ressource jede r Gesellschaft." (Parsons 1966a: Der Begriff der Gesellschaft: Seine Elemente und ihre Ve rknüpfungen , S. 140f.)2 Vgl. zu den Strukturkomponenten der Gesellschaft " Werte", ,,Normen", .Kollekttv" und .,Rolle" oben S. 33f..
2 Zu dem hier aufscheinenden funktionalen Paradigma und den vier Funktionen Anpassung (adaptation), Zielverwirklichung (goal anainment), Integration (integration) und Strukturerhaltung (latent pattem maintenance) vgl. Band 1. Kap. 6.3 "Grundfunktionen der Strukturerhaltung (AGIL-Schema)", S. 213·217.
3 Rolle
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Jetzt stellt sich die Frage, wie Individuen dazu gebracht werden, dem nonn ativen kulturellen System zu folgen, im sozialen System also ihre Rollen zu spielen, und ihre Bedürfnisse auf die gesellschaftlichen Bedingungen abzustimmen oder genauer: wie das kulturelle System so im Persönlichkeitssystem verankert wird, dass die Individuen so handeln wollen, wie ... (ich sagte es schon). Auf diese Frage antwortet Parsons mit seiner Rollentheorie. Danach bildet die Rolle den Schnittpunkt von kulturellem System, sozialem System und Persönlichkeitssystem. Wie schon gesagt, ist Parsans an der Frage interessiert, wie gesellschaftliche Ordnung zustande kommt und wie sie erhalten wird. Deshalb fragt er in seiner Rollentheorie auch nach den funktionalen Erfordernissen der Integration eines sozialen Systems. Sie hängt davon ab, dass die Bedürfnisse des Individuums und seine Motivation zu handeln, auf die soziale Struktur ausgerichtet werden: Taleort Parsens. Soziale Handlungssysteme und passende Verhaltensmöglichkeiten ..Da die Einheit des sozialen Systems der Handelnde ist, ist die soziale Struktur ein System von sozialen Beziehungsmustem zwischen Handelnden. Allerdings zeichnet sich die Struktur von sozialen Handlungssystemen dadurch aus, dass in den meisten Beziehungen der Handelnde nicht als individuelle Ganzheit beteiligt ist, sondern lediglich mit einem bestimmten, differenzierten »Ausschnitt« seines gesamten Handeins. Ein derartiger Ausschnitt, der die Grundeinheit eines Systems sozialer Beziehungen darstellt, wird heute überwiegend als »Rolle« bezeichnet. Die obige Aussage muss daher folgendennaßen umformuliert werden: die soziale Struktur ist ein System von Beziehungsmustem zwischen Handelnden in ihrer Eigenschaft als Rollenträger. Der Begriff der Rolle verknüpft das Untersystem des Handelnden, als einer »psychologischen« sich in bestimmter Weise verhaltenden Gesamtheit mit der eigentlichen sozialen Struktur. (...) Vom sozialen System her gesehen ist die Rolle ein Element jener allgemeinen Muster, denen das Handeln der beteiligten Individuen folgt. Doch handelt es sich hierbei nicht bloß um einen statistischen »Trend«. Es handelt sich um Ziele und Verhaltensmaßstäbe. Vom Standpunkt des Handelnden her gesehen definiert sich seine Rolle durch die normativen Erwartungen der Gruppenmitglieder, die in den sozialen Traditionen zum Ausdruck kommen. (...) Es bringt Folgen für ihn mit sich, ob er diesen Erwartungen entspricht oder nicht: im einen Fall Anerkennung und Belohnung, im an-
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3
Rolle
deren Ablehnung und Bestra fung. Und was noch mehr ist: sie bilden einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit. Im Ver lauf des Soziallsierung sprozesses nimmt er - in mehr oder wen iger starkem Maße - die
Verhaltensmaßstäbe und Ideale der Gruppe in sich auf. Auf diese Weise werden sie, unabhängig von äußeren Sanktionen, zu wirksame n Motivierungskr äften für sein eigenes Verhalten. (...) Vom funkti onalen Standpunkt aus stellen die ins titutionalisierten
Rollen Mechanismen dar, mit Hilfe derer die außerordentlich vielfältigen Möglichkeiten der »mensc hlichen Natur« in ein einziges, integriertes System eingefügt werden, das mit allen Situationserfordem is-
sen fertig werden kann, denen sich die Gesellschaft und ihre Mitglieder gegenübetsehen (Korr. H. A.). In Bezug auf diese Möglichkeiten erfüllen die Rollen zwei Hauptfunktionen: die erste ist selektiver Art und besteht darin, dass sie die für die Bed ürfn isse und Toleranzen des j eweiligen Strukturmu sters »passenden« Verhaltensmöglichkeiten herausbr ingen und alle anderen beiseite lassen oder verdrängen; die zweite beste ht dar in, dass sie mit Hilfe bestimmter Interaktionsmechan ismen die maximale monvierungsmäßige Stütze für ein den Rollenerwartungen ent sprechendes Han deln sicherstellen. Wichtig ist vor allem, dass die mit »Gewissen« und »Idealen, verbundene n, uneigennütz igen Motive und die eigennützigen Motive im Interesse gleicher verhaltenerichtungen wirken ." (Parsons 1945: Systematische Theorie in der Soziologie, S. 54-56) Ich fas se z usam m en : " Soziales S ystem" m eint die jeweilige Ordnung in den sozi a len Beziehungen. Die Ordnun g is t vo ra b gegeben und in der Form vo n Institutionen, w orunter Parsons alle Rege lungen un d Fest setzungen des kulture llen Systems verste ht , unabhängi g vo n konkreten Handlungen der Individuen. Aus dieser Sicht ist die Rolle ein sozial es Muster, das un abhängi g von den Individuen ex istiert und ihnen un te rsch ied slos vorgib t, w ie sie handel n sollen . Parsons spricht von "stabilizoo patterns of inte raction" . H andeln ist du rc h W ert e, in stitutionelle Vorgaben und d urch " no rmativ e M ust er" b estimmt, " die die w ün sche ns w erte R ichtung des Handelns in der Form vo n Z ie len und Verha lten smaßst äb en" an geben . (Parsons 194 5, S . 53 ) " W ünschenswert" he ißt natürlich im Sinn e des Erhalt s eines bestimmten Systems, und in sofern kommen der Rolle als S tru kturkom po nente des sozi al en S ystems " in der Hauptsa che Anpassun gsfunktionen" zu. (P arsons 197 1, S . 16 und Parsons 1966a, S. 141)
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Der Berliner Soziologe und Bildun gsforscher LoTHAR KRAPPMANN hat beschrieben, wann nach dieser Ro llentheorie Hand eln optimal funktionieren müsste , wohlgem erkt: Er referiert die impl iziten und expliziten Annahmen der Theorie von Parsons : Lothar Krappmann : Bedingungen er folgre iche n Rollenhandeln s na ch dem ko nventionellen RoJlenkon zept 1. "Erfolg im Rolle nhandeln ist desto sicherer gara ntiert, je weitergehend Roll enn ormen und die Interpretation dieser Normen durch den Inhaber der Rolle übere instimmen. Es wird unterstellt, dass die Rol le einde utige Verhaltensanweisungen wenigstens für die zentra len Tätigkeitsbe reiche enthält. (...) 2. Damit die nicht zu leugnenden Diskrep anzen zwischen den Nonnen in einer Gesellscha ft das Rollen hande ln nicht belasten , wird als optimal angesehen, dass das Individ uum sein Verhalten nur an jeweils einer Rolle orientiert. Sind mehrere, viellei cht sogar widersprüchli ehe Roll en in einer Situation angesprochen, muss sich das Indiv iduum zwisc hen ihnen entscheiden oder Erwartungen aus be iden Rollen kombi nieren. (...) 3. Erfolgreich es Rol1enhande ln ist desto wahrsc heinlicher, je weiter gehend die Rolle npartner im Hinblick auf ihre gegense itigen Erwa rtun gen über einstimmen . Diffe renz ierende Interpretationen werden als erste An zeich en von Rollenkonflikt gedeutet (...), der Devianz verursachen und die Stabilität des sozia len Sys tems gefa hrden kann. ( ...) 4. Erfolgreich es Rolle nhandeln setz t voraus, dass die individue llen Bedürfnisse der Handelnden den instituti onalisierten Wertvorstellungen der Gesellschaft entsprec hen . Die Üb ereinstimm ung von Rollennorme n und Bedürfnisd ispo sition ist das Ergebnis eines gelunge nen Sozialisa tions prozess es. (...) 5. Die Orientierung an de n vorg egebenen Rollennonnen garantiert den Rollenpartnern - im als optimal betrachteten Fall der Überei ns timmung von We rten und Bedürfnissen - die gege nseitige Befriedigung ihrer Bedü rfnisse. Unvolls tändi ge Bedürfnisbefriedigung wird als Ge fahr für den Fortgang von Interaktion betracht et. (...) 6. Die Stabilität von Institutionen wird als gewährleistet an gesehen, wenn die Individuen die Roll en aufgründ vorangegangen er Internalisierungsprozesse gleichsam »au tomatisc h« erfüllen, aber dennoch das Bewu sstsein haben , aus eigenem Entschlu ss und Antri eb zu ha ndeln." (Krappmann 1971: Neuere Roll enkon zep te als Erklärun gsmöglichkei t für Sozi ahs ationskonzepte, S. 309ff.)
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Bei diesen Annahmen fallt auf, dass zwischen den Erwartungen der Handeln den Übereinstim mung unterstellt und als erstrebenswert angesehen wird. In ihrer klassischen Fonn erklärt diese Ro llentheorie erfolgreiches Handeln denn auch über Nonncnkonfonnität und Konsens der Handelnden. Wenn ich sage ..klassische Form" , dann ist sc hon angede utet, dass es noch eine andere Fo rm gibt. D as ist in der Tat so, aber sie stellt das ideale Mode ll einer harmonischen Ord nun g nicht in Frage. sondern trägt den reale n D ifferenzen und Dissensen Rechnung. Das werde ich im Kapitel .Jnteraktion'' ! ausfü hrlich behand eln . Hier nur einige And eutunge n. Parsan s konstatiert zwar, dass jeder Handelnde sich an den kulturellen, no rmati ven Mustern orientiert. Das sollte den Einze lnen in seinem Handeln eigentlich sicher machen. Doch ego wei ß, dass sei n Handeln auch von den Erw artungen und Handlungen alters abhän gt, und wie diese Erwartungen tatsächlich sind und welche H andlungen fol gen , das kann ego nicht sicher wissen. Im Grunde kann ego nur von möglichen Erwa rtungen alters ausgehen und dessen mögliches Handeln einkalkulieren . Da ein Teil der Erwartungen egos in möglichen Reaktionen alters besteh t (Parsons 195 1, S. 5), sind egos Er wartungen nicht gewiss, sondern kontin gent. Das ganze gilt natUrIich auch für alter und seine Erw artungen . Die Komplementarität der Erwartungen ist doppelt ungewiss. Deshalb haben Parsa ns und Shils die wech se lseitige Ab hängigkeit des Handeins des einen von den möglichen Erwartungen und dem möglichen Handeln als doppelte Kontingenz bezeichnet. (vgl. Parsons u. Sh ils 195 1, S. 16) Warum und unter welcher Vora ussetzung kann den noch gehandelt werden ? Ego kann alters Reaktion nur vorauss ehen und beeinflussen, wenn ego und alter sich an de n gleichen kulturellen S tandar ds orientieren. Gemeinsames Handeln setzt also voraus, dass die Intera ktionspartner motiviert sind, nach den gleichen Nonnen und Werten zu hande ln, und dass sie das auch voneinander annehmen ! Nur dann kann Möglichkeit zumindest auf Wahrscheinlichkeit reduziert werd en . Die Orientierung an gleichen Standards kann erwartet werden, weil alle Handelnden in der gleichen Gesellschaft soz ialisiert wo rden sind. Sie haben die Werte und No nnen mehr ode r weniger gleich intern alisiert. NatUrlich haben die Individu en höchst unterschied liche Situatio1 Siehe unten Ka p. 5.4 .Rolle, Austausch, Kontingenz" , S. 206f..
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nen des Handeins kennengelemt und orientieren sich auch an unterschiedlichsten Zielen. Doch im Laufe einer "e rfolgreichen" Sozialisation ist es zu einer "s trukturellen Verallgemeinerung der Ziele" gekommen. (Parsons 1945, S. 60) Um es an einem konkreten Beispiel deutlich zu machen: Wer gelernt hat, mit dem Auto auf der rechten Seite zu fahren, muss nicht eigens lernen, auch mit dem Fahrrad rechts zu fahren, denn er hat begriffen, dass der Straßenverkehr nach diesem Prinzip funktioniert. Parsons geht davon aus, dass es in jeder Gesellschaft eine typische Struktur des sozialen Systems und eine typische Struktur sozialer Rollen gibt und dass damit auch eine typische strukturelle Verallgemeinerung von Zielen des HandeIns gegeben ist. Damit wäre das Fundament für die Rollentheorie fast komplett, "fast", denn noch immer erfolgt der Blick auf das Handeln aus der Sicht des sozialen Systems. Die andere Perspektive aus der Sicht des Individuums erfolgt nun, indem Parsons fragt, was auf der Seite des Individuums passieren muss, um - wieder der Blick auf das System! - im Sinne eines geordneten sozialen Systems ,,richtig" handeln zu können - und zu wollen. Die Antwort hat Parsons mit der oben! behandelten Theorie der Motivation gegeben. Dort haben wir auch gelesen, dass das Individuum ein Interesse an Gratifikationen hat und Frustration vermeiden will. Größer ist die Aussicht auf soziale Gratifikation, wenn man sich normal wie alle verhält, oder umgekehrt: Wer den Erwartungen der anderen entspricht, wird zumindest nicht bestraft. Die Handelnden spielen ihre Rollen natürlich nicht allein, weil sie Belohnung filr .normates'' Verhalten und Strafe für abweichendes Verhalten erwarten, sondern indem sie die kulturellen Werte internalisieren und nach und nach äußere Erwartungen nach innen verlagern und zum inneren Antrieb machen. In der Psychologie würden wir von Über-Ich oder Gewissen sprechen, in der Theorie von Parsons geht es um die Ausbildung einer sozial-kulturellen Persönlichkeit, die sich durch eine feste Wertbilldung (scommitment«) an das kulturelle System auszeichnet. Die kulturellen Standards werden zum konstitutiven Bestandteil des Persönlichkeitssystems. Sozialisation - in der Fonn des Lernens von Standards - dient also dazu, eine adäquate Motivation des Handelns zu erzeugen. Im Kern beinhaltet die Theorie der Motivation, dass 1 Vgl. obe n Kap. 2,6 •.Herstellung funktional notwendiger Motivation", S. 9 1f..
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das Individuum im Prozess der Soz ialisation zur freiwilligen Zusti mmun g zu den vorgegebenen Rollen gebracht wird . Kritisch wird gegen diese Rollentheorie eingewand t, dass sie zu einem Verlust der individuellen Autonomie führe. Das war z. B. der Vorwurf von Dahrendorf. Handeln ist nach der Ro llentheorie Handeln nach Nonnen, weshalb diese Theorie auch als normative Theorie bezeichnet wird. "Indem die Notwe ndigkeit des Ausgleich s zwischen den persönlichen Bedürfnissen und den sozialen Interessen in die Natur des Menschen verlegt wird, begründet Parsons die für ihn notwendige The-
se, dass soziales Handeln vornehmlich außengeleitetes Handeln ist." (Karte 1992, S. 179) Da Parsons aber davon ausgeht, da ss die geltenden Werte und Nonnen ihre Funktiorialität fllr diese Gesellschaft bewiesen haben, wäre diese Anleitung des Handeins auch funktional für das Handeln aller. Obwohl das gar nicht intendiert war, hat DAVID RIESMAN (19092002), lange Jahre neben Parsons Soz iologe an der Harvard Unive rsity, mit seiner Th ese von der Auß enleitung des modernen Menschen die Rollentheorie von Parsons an einem wichtigen Punkt in Frage gestellt. Er geht näm lich da von aus, dass es bei der Befolgung von Ro llen gar nich t um ihre Legitimität geht, sonde rn wir handel n so, wie die, die für uns wichtig sind, handeln. Wir äffen sie sozusagen nach. Die Nonnativität kommt den Rollen nur durch die Macht der anderen zu. Da Riesman mit seiner These von der Außenleitung im Grunde ein e Beschreibu ng de s modem en Soz ialcharakters in den westlichen Gesellschaften geliefert hat, werd e ich die Begründung der These im Kapitel übe r " Identität" behandeln. An dieser Stelle deshalb nur ein kurzes Re fera t. Riesmans Buch "The lonely crow d", das er 1950 zus ammen mit anderen ver öffentlicht hat, läuft auf die These hinau s, da ss wir so denken und handeln , wie wir meinen, dass die Anderen, die uns wichtig sind, denke n und handeln . Die wichtigen Anderen k önnen Freunde, Verwan dte, Nac hba rn oder Kollegen sein, aber auch die symbolischen Figuren der Moden und Trends. Um im raschen Wechsel der Moden des Wichtigen und Richtigen mithalten zu k önnen, legen wir uns nicht fest, sondern sind ständig auf Empfang für die Signal e des Zeitgeistes. Wir werden zu flexiblen Ro llenspielern, die es mit allen ein bi sschen können. Im Gegensatz zum innengeleiteten Mensche n, de r sich mit festen Prin zipien auf Kur s hielt, gibt der au ßengeleitete Mensch " die feste Charakterroll e (..) auf und übernimmt daftir eine Vielfalt von Rollen,
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die er im geheimen festlegt und entsprechen den verschiedenen Begebenheit variiert." (Riesman 1950, S. 152) Diese Haltung ist nicht nur möglich, sondern, so muss man Riesman interpretieren, auch funktional angemessen, weil die verschiedenen Rollen, die der außengeleitete Mensch den vielen anderen gegenüber nacheinander oder gleichzeitig spielen muss, "weder institutionalisiert noch klar voneinander abgesetzt sind." (Riesman 1950, S. 152) Die Rollen sind keineswegs eindeutig, sondern diffus, und sie sind auch nicht zwingend, sondern Optionen. In der ersten Hinsicht lebt der außengeleitete in der latenten Angst, etwas falsch zu machen, solange er nicht weiß, was "man" heute so richtig macht. In der zweiten Hinsicht ist er allerdings freier als der innengeleitete Mensch, denn er kann jede Option für sich und die anderen legitimieren, wenn er nur die entsprechende Bezugsgruppe wählt. Man kann Riesmans These als Zweifel an der Nonnativität des kulturellen Systems in der Theorie von Parsons lesen. Genau in diese Richtung zielt auch die Kritik von ROBERT K. MERTON an der klassischen Rollentheorie.
3.2
Merton: Der Rollen-Set
Der amerikanische Soziologe ROBERT K. MERTON (1910-2003), der in den 30er Jahren Schüler von Parsans war, interessierte sich weniger für die Ordnung an sich als filr die Phänomene der Unordnung. Während Parsons davon ausging, dass nach einer richtigen Sozialisation alle Individuen eigentlich den Rollenerwartungen freiwillig zustimmen müssten, konstatierte Merton zunächst einmal, dass sehr viele Individuen die Nonne n nicht erfüllen. Er vermutete, dass einige es nicht können und andere es nicht wollen. I Aus dieser Tatsache hat Merton dann eine Theorie der Anomie entwickelt, in der abweichendes Verhalten damit erklärt wird, dass es DifDiese zwe ite Vermutung hängt mit einem anderen Einwand gegen Parse ns zusammen, den man als "struktu rtheoretische Erklärung sozi aler Prozesse" bez eichnen kann. Danach heißt Handeln nicht. dass Individuen nur unre flektiert soziale Vorschriften exekutieren, sondern sie definieren sie als Handlungsmöglichkeiten, treffen ihre Wahl und strukturieren dadurch die Situation und die Bedingungen ihres (Rollen-)Handelns. (Vgl. unten Kap. 4.6 "Rationale Wahl trotz »habits« und »framesc", S. 173 Anm. L)
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ferenzen über kulturelle Ziele (cu ltu ral goa ls) und die legitimen Mittel (instit ution al means), sie zu erreichen, gibt. Gegen Parson s gewendet hieß das : O ffensichtlich gibt es höchst verschiedene Ziele in einer Gesellschaft und viele Individuen haben nicht die Mittel, die offiziellen Ziele zu erreichen, oder sie setzen andere Mittel ein. Je nachdem ob Ziele und Mittel anerkann t oder nicht anerkannt werden, erge ben sich die folgenden Verhaltensfonnen:
Kulturelle Ziele
+ +
•
•
•
•
instit utionalisierte Mittel +
-
-
+
-
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+/-
+/-
Verhaltensformen Ko nformität Innovation Ritualismu s Eskapismus, Apathie
Rebellion
Wo jemand die gesellschaftlichen Ziele und die entsprechenden Mittel anerken nt, kom mt es zu konform em Verhalten. Er weiß, dass man in dieser Gesellscha ft ein schönes Au to brauc ht, und ergo spart er ganz lange darau f Merton nennt die Übe reinstim mu ng vo n kulturell en Zie len und institutiona lisierten Mitt eln Konformität. Wo j emand die Ziele anerkennt , die Mi ttel aber nich t, komm t es zu einem Verhalten, da s Merton neutral als Innovation bezeic hnet. Es kann Reform aber auch Kriminali tät sein. Wer ein schönes Au to will, aber nicht lange dafür arbeiten möchte, kann z. B. eins klauen oder aber vom Staat verlangen, dass allen ohne A nsehen der Person eins zur Verfügung gestellt wird. Wer die Ziele aus den Aug en ve rlore n hat, aber nach wie vor die institution alisierten Mittel verwendet, die ursprünglich nötig ware n, verhält sich traditio nell oder zw anghaft. Um im Beispiel zu blei ben : Ihm wird das Sparen zum Selbstzweck. Ein anderes Beispiel wäre, dass einer j edes Jahr zum 1. Mai die rote Fah ne rausha lt und sich in den Blaum ann wi rft. Merla n nennt dieses Verha lten Ritualismus. Wo jemand die Ziele fur falsch hä lt und auch die Mittel, kann er ob des Falsch en im Nicht-Versö hnten in stillen Weltschmerz verfallen oder sich für einen Feldzug gegen das Auto schlechthin stark ma-
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ehen und dabei gleich noch die verklemmte Einstellung des Sparens geißeln. Merton nennt das Apathie oder Eskapismus. In diesem Fall steigt man aus dieser Gesellschaft mit ihren Werten und Nonnen aus, und in jenem resigniert man. Und schließlich kann man sich noch den Fall denken, dass jemand bestimmte Ziele und Mittel anerkennt, andere dagegen nicht, oder die kulturellen Ziele und die institutionalisierten Mittel überhaupt ablehnt, aber nicht aus der Gesellschaft aussteigen, sondern alles umkrempeln will. Das nennt Merton Reb ellion . (vgl. Merton 1938, S.293)
Diese Beispiele wurden nicht zufällig gewählt, um den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft zu beschreiben, denn Merton maß die Stabilität der Gesellschaft an der Übereinstimmung von kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln, und dabei hatte er die amerikanische Gesellschaft vor Augen, die Reichtum und Erfolg als überragende Ziele propagierte, aber nicht sah, dass vielen die Mittel fehlten, sie zu erreichen. Bezogen auf die Rollentheorie lautet das Problem dann so: Die Funktion der Ro lle ist, kulturelle Ziele zu definieren und Verhalten zu vereinheitlichen; wenn aber einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft die Mittel fehlen, diese Ziele auf sozial gebilligtem Wege zu erreichen, verlieren sie ihre nonn ative Kraft. Damit liegt der wichtigste Einwand gegen Parsons auf der Hand: Die Werte einer Gesellschaft bedeuten nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft das gleiche, und die Möglichkeiten, sie erreichen zu können, bzw. die Bereitschaft, sie erreichen zu wollen, sind verschieden. Das heißt: Wenn es Gruppen gibt, in denen bestimmte Werte mit den institutionalisierten Mitteln nicht realisiert werden (können), kann man sinnvoll auch nicht mehr von universellen Rollen sprechen. Merton verdeutlicht seinen Einspruch gegen die Theorie seines Lehrers am Widerspruch zwischen einer " amerikanischen Haupttugend" und einem " amerikanischen Grundübel": Robert Merton: Gemeinsame Ziele - fehl ende Miltel "Nur wenn das kulturelle Wertsys tem bestimmte gemeinsame Erfolgsziele für die ganze Bevölkerung über alle übrigen Ziele setzt, während die Soziaistrukturfiir einen großen Teil dieser Bevölkerung den Zugang zu den gebilligten Mitteln zum Erreichen dieser Ziele entscheidend einengt oder sogar völlig verwehrt, haben wir abweichendes Verhalten in
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grö ßerem Umfa ng zu erwarte n. Ande rs ausged rückt : Unsere G leichheitsideolog ie leugnet implizit, dass es Individuen und Grup pen gibt . die sich nicht am Wettbewerb um wirtschaftliche n Erfo lg beteiligen. Sie defin iert vielmehr die gleichen Erfolgssymbole für alle. Die Ziele ken nen ange blich ke ine Schichtgrenze n, sie sind nicht an diese gebu nden; die tatsächliche soziale Struktur jedoc h kenn t schichtspezifische Unterschiede im Zugang zu diesen Zielen. Aus dieser Perspektive betrachtet. verursacht eine arner ikanische Haupttugend - das Strebe n nach Erfolg - e in ame rikanisches Grundübel - abweichendes Verhalten." (Merlan 1938: Sozialstruktur und Ano mie. S. 298)
Mit seinem Hinweis auf Schichtgrenzen bindet Metton die Nonnativität von Rollen an das Handeln von Individuen und kritisiert zugleich eine soziale Ordnung, die mit angeblich universellen Zielen das Handeln ihrer Mitglieder überfordert! Der Unterschied zu Parsans liegt auf der Hand: Wenn über Werte und Rollen gesprochen wird, dann müssen die Bet ugsgruppen v genannt werden, für die sie gelten! Unter »refcrence gro ups- versteht Merton Gruppen, deren Zustimmung oder Ablehnung dem Individuum sehr wichtig sind. (Merton 1957d) Dabei denkt er nicht nur an eine konkrete Gruppe, an deren Erwartungen und Einstellungen sich das Individuum in seinem Handeln und Denken orientiert, sondern auch an die Schicht oder die Subkultur und auch einen Betrieb oder eine Organisation, mit denen es sich identifiziert. Wie weit der Horizont ausgedehnt sein kann, zeigt die globale Orientierung der Jugendmode. Bewegung brachte Merton noch mit einem anderen Gedanken in die Rollentheorie. Gegen RALP" LINTON, der mit seiner berühmten Definition "Rolle als dynamischen Aspekt des Status" bezeichnet hatte, und mit jede m Status auch eine entsprechende Rolle verbunden sah, wendet Merton ein, dass zu jeder sozialen Position eine ganze Reihe von Rollen, ein Rollen-Set, gehört. (Merton, 1957b, S. 260) Deshalb kann man auch unterstellen, dass die .Erwartungen, die andere an jemanden in einer bestimmten Position richten, oft sehr unterschiedlich sind und dass das Individuum in seiner Position mit unterschiedlichen, vielleicht sogar mit widersprüchlichen Erwartungen fertig werden muss. Nun hätte es nahegelegen, die Strategien des Individuums zu beleuchten, mit denen es diese unterschiedlichen Erwartungen auf die I Zum theoriegeschichtlichen Hintergrund des Begriffs vgl. unten S. 277.
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Reihe zu bringen versucht. Doch Merton, der seine Theorie ausdrücklich mit Blick auf "Struk tur und Funktion sozialer Gebilde" (S. 258) entwirft, fragt genau anders: Er fragt nach den "soz ialen Mechanismen" , die einen Konflikt verhindern oder minimieren, die also Ordnung sicherstellen, die Struktur der Rollenbeziehungen erhalten und die Handlungsfähigkeit des Individuums sichern. (S. 262) In einer anderen Arbeit verbindet Merton das Problem, um das es hier geht, mit einer sog. "Theorie des Rollenkonfliktes" . (Merton 1957c, S. 315 Anm. 79) Dieser Begriff hat sich später durchgesetzt, und heute unterscheidet man in der soziologischen Rollentheorie zwischen einem Intra- und einem Interrollenkonflikt. (vgl. Dreitzel 1980, S. 44) "
,. Beim Intrarollenkonflikt geht es um widersprüchliche Erwartungen, die verschiedene Bezugspersonen an ein und dieselbe Rolle eines Statusinhabers richten, ,. beim Interrollenkonfl ikt um widersprüchliche Erwartungen, die an seine verschiedenen Rollen gerichtet werden. Ein Beispiel filr einen Intra-Rollenkonflikt wäre der Lehrer, der aus pädagogischen Gründen in den Klassen 3-4 keine Noten geben will, damit aber in Widerspruch zu seinem Rektor, seinen Kollegen, ja sogar zu den meisten Schülern und ihren Eltern gerät. Ein Beispiel für einen Inter-Rollenkonflikt wäre das Mädchen, das mitten im Abitur steckt, als Mitglied der Volleyballmannschaft an einem Trainingslager teilnehmen soll und als Lieblingsenkelin zum Familienfest der Großmutter in eine andere Stadt eingeladen ist. Rollenkonflikte entstehen immer dann, wenn man sich in einer Rolle gleichzeitig unterschiedlichen Erwartungen gegenübersieht oder wenn sich die Erwartungen an mehrere Rollen, die man gleichzeitig spielt, widersprechen. Betrachten wir zunächst die sozialen Mechanismen zur Konfliktminderung, die Merton für einen Intrarollenkonflikt beschreibt: • Die verschiedenen Bezugspersonen messen einer bestimmten Rolle unterschiedliche Bedeutung bei, und deshalb sind sie auch unterschiedlich an dem Verhalten interessiert. Merton spricht von »differentials of involvement«. (Merton 1957a, S. 113) • Die verschiedenen Bezugspersonen verfügen nicht alle über die gleiche Macht, ihre Erwartungen durchzusetzen. Entgegengesetzte Kräfte können sich sogar neutralisieren.
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• Da niemand permanent mit allen seinen Bezugspersonen in Interaktion steht, ist ein Teil seines Verhaltens zumindest für bestimmte Bezugspersonen und für eine gewisse Zeit nicht sichtbar. Metton nennt das »insulation of role-activitics from observa bility by members of the role-set«. (Merla n 1957a, S. 114) • Die Bezugspersonen stellen fest, dass sie unterschiedliche Erwartungen haben. Merlan nennt diesen strukturellen Mechanismus »observability of conflicting demands by memb ers of a role-set«. (Merton 1957a, S. 11 6) Das kann den Statusinhaber in die komfortable Rolle des lachenden Dritten bringen, der aus dem Streit der anderen seinen Nutzen zieht. • Statusinhaber tun sich zusammen, artikulieren ihre Interessen und unterstützen sich gegenseitig in der Abwehr von bestimmten Erwartungen. • Beziehungen werden eingeschränkt oder ganz abgebrochen. Das setzt natürlich voraus, dass die soziale Struktur ein solches individuelles Verhalten zulässt. " Im großen und ganzen ist diese Chance j edoch selten und begrenzt, da die Zusammensetzung des Rollen-Set gewöhnlich keine Frage der persönlichen Wahl, sondern Sache der sozialen Organisation ist, in die sich der Status eingebettet findet. Allgemeiner ausgedrückt: der Einzelne geht, die soziale Struktur blei bt." (Merton 1957b, S. 266)
Soweit zu den sozialen Mechanismen, die Konflikte minimieren, in die ein Individuum strukturell gerät, wenn es sich widersprüchlichen Erwartungen an sein Verhalten in einer bestimmten Rolle, also einem Intrarollenkonflikt, ausgesetzt sieht. H ANS P ETER D REITZEL (*1935), der mit seinem Buch " Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft" (1968) der kritischen Diskussion über die Rollentheorie in den 60er Jahren die Richtung gegeben hat und mit dem Untertitel "Vorst udien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens" auch deutlich angab, wo es lang gehen sollte, hat nun in Anlehnung an Merton gezeigt, dass auch in der Konstellation eines lnterrollenkonjliktes, wo also das Individuum mit unterschiedlichen Erwartungen, die seine verschiedenen Rollen betreffen, fertig werden muss, Mechanismen zur Stabilisierung des Verhaltens wirken:
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• "Manche Positionen schließen sich auf Grund ihrer konfli gierenden Wertteilhabe von vornherein aus (ein katholischer Priester darf nicht zugleich Ehemann sein); • ferner wirkt das Wissen der anderen um die Vielzahl der Positionen, die jemand einnimmt, modifizi erend und ausgleichend, weil die Positionen nach ihrer werthaften Bedeutung unterschiedlich beurteilt werden (...); • zwischen verschiedenen Positionen und Rollen wirkt eine räumliche und zeitliche Trennung der Handlungsbereiche konfliktmild ernd (der Chef, dessen Frau zu Hause die dominierende Rolle spielt, wird zu vermeiden suchen, dass sie ihn im Büro aufsucht und dort in seiner Chef-Rolle beeinträchtigt); • und schließlich gibt es typische Reihen von Positionen und Rollen, sogenannte Ro//ensequenzen I , die dafür sorgen, dass man mit bestimmten, schwer miteinander zu vereinbarenden Rollen in zeitlicher Abfolge, das heißt nacheinander, konfrontiert wird (man wird üblicherweise erst heiraten, wenn man der Rolle des Kindes entwachsen ist) (...); der Übergang von einer Rolle zur anderen in einer RollenSequenz wird erleichtert durch den Prozess der antizipatorischen Sozialisierung (...), welcher für allmähliche, bruchlose Übergänge zwischen verschiedenen Positionen sorgt, indem man sich rechtzeitig auf die neuen Rollenerwart ungen einstellt." (Dreitzel 1980, S. 45f.) An diesen Konfliktlösungen fällt auf, dass nur die Trennun g der Handlungsbereiche eine aktive Rolle des Individuums vorsieht. Die Erklärung hän gt mit dem oben genannten Anspruch von Merton zusammen, keine Theorie des Verhaltens, sondern eine Rollentheorie mit Blick auf Strukt ur und Funktion sozialer Gebilde zu entwerfen. Diesen Blick nimmt auch Dreitze1 bei seiner Darstellung der Lösungen von Interrollenkonflikten ein. Den Übergang zwischen dem strukturellen Aspekt und dem Handlungsaspekt in einem Interrollenkonflikt kann man übrigens sehr schön anhand einer alten schottischen Erzählung demonstrieren, an die RALPH LINTON erinnert. Sie berichtet von einem Mann, der entdeckt , dass er Dreitzel merkt an, dass Merton hier von sequences ofstatus (vgl. Merton 1957d, S. 357) spricht. was eigentlich auch richtiger wäre.
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de n Mörder seines Bruders zu Gast hat. In der Rolle des Bruders ist der M ann zu r Blu trach e berec htigt und sogar verpflichtet, in der Roll e des Gastgebers hat er die Heiligkeit des Gastes zu respektieren. Der Mann löst - im soziologischen Sinne - den Konfli kt über eine Statussequenz: Er geleitet den Gast sicher übe r die Grenzen des Stammesgebietes und
verwickelt dann den Mörder in einen tödlichen Zweikampf. (Linton 1945, S. 254) Das Thema »Rolle«, das dürfte nach den bisherigen Ausführungen
klar sein, steht für die Beziehung von Individuum und Gesellschaft. Nach der Th eo rie von Parsons ist die Beziehung durch die Nonnativität
des kulturellen Systems und der damit gegebenen Rollen bestimmt. Nach der Th eorie von Merton ist die Beziehung keineswegs einde utig, sondern lässt Raum für abweichendes Verhalten oder erzwingt es sogar. Die Nonnativität der Rollen ergibt sich aus der jeweiligen Bezu gsgruppe, an der sich das Individuum orient iert. Für RALF DAHRENDORF ist die Beziehun g zwischen Gesellschaft und Individuum eine "ärgerliche Tatsache", die nur dadurch gemildert wird, dass Rollen unterschiedliches Gew icht haben.
3.3
Dahrendorf: Homo Sociologicus und die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft
RALF DAHRENDORF (*1929) bringt das Verhältnis von Indiv iduum und Gesellschaft auf die lapidare Forme l: " Die Soz iologie hat es mit dem Menschen im Angesicht der ärgerlichen Tatsach e der Gesellschaft zu tun". (Dahrendorf 1958, S. 18) Anders als z. B. Parsons fragt Dahrendorf nicht, welche Voraussetzunge n beim Individuum erfüllt sein müssen, damit es überhaupt zu so etwas wie Gesellschaft kommen kann, sondern umgekehrt: Inwiefern ist Gesellschaft Voraussetzung und für was? Dara uf gibt er wieder eine lap idare Antwort, die das Ärgernis der Gesellschaft erklärt : " Die Tatsach e der Gesellschaft ist ärge rlich, weil wir ihr nicht entweich en können." (S . 27) Nun ja, das ist nicht weni g, abe r auch noch nicht zuviel - in der Rege l lässt es sich aushalten. Sozi ologisch konkreter wird es, wo Dahrendorf zeigt, dass die Gese llschaft nicht einfach da ist, sondern Ford erungen an das Indi viduum stellt, indem sie Verhalten vorschreibt: " Für jede Position, die ein Men sch haben kann , sei sie eine Geschlechts-
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oder Alters-, Familien- oder Berufs-, National- oder Klassenposition oder von noch anderer Art, kennt »d ie Gesellschaft« Attribute und Verhaltensweisen, denen der Träger solcher Positionen sich gegenübersieht und zu denen er sich stellen muss." (Dahrendorf 1958, S. 27) Wo nun das Problem im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft liegt, schildert Dahrendorf am Beispiel des Studienrates Schmidt, dem es offensichtlich so geht wie allen, wenn sie die Bühne des Lebens betreten: Sobald sich das erste Bewusstsein regt, stellen sie fest, dass alles schon getan ist: Ralf Dahrendorf: Die entfre mdete Gesta lt des Einzelnen "E s lässt sich schwerlich bestreiten, dass die Gesellschaft aus Einzelnen besteht und in diesem Sinne von Einzelnen geschaffen ist, wenn auch die bestimmte Gesellschaft, in der Herr Schmidt sich findet, mehr von seinen Vätern als von ihm geschaffen sein mag. Andererseits drängt die Erfahrung sich auf, dass die Gesellschaft in irgendeinem Sinne nicht nur mehr, sondern etwas wesentlich anderes ist als die Summe der in ihr lebenden Einzelnen. Gesellschaft ist die entfremdete Gestalt des Einzelnen, homo sociologicus ein Schatten, der seinem Urheber davongelaufen ist, um als sein Herr zurückzukehren." (Dahrendorf 1958: Homo Sociologicus, S. 43)
Dahrendorf sieht in der Gesellschaft mit ihren Strukturen und Institutionen eine Einschränkung individueller Freiheit. Marx hat diesen Gegensatz unter den Begriff der Entfremdung gefasst. Um die geht es Dahrendorf auch, abcr mehr noch um die Mittel, mit denen die Gesellschaft täglich erzwingen kann, dass wir unsere Rollen spielen. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft sieht danach so aus: " Übernimmt und bejaht er die an ihn gestellten Forderungen, dann gibt der Einzelne seine unberührte Individualität zwar auf, gewinnt aber das Wohlwollen der Gesellschaft, in der er lebt; sträubt der Einzelne sich gegen die Forderungen der Gesellschaft, dann mag er sich eine abstrakte und hilflose Unabhängigkeit bewahren, doch verfallt er dem Zorn und den schmerzhaften Sanktionen der Gesellschaft." (Dahrendorf 1958, S. 27) Das Individuum erfüllt Erwartungen der Gesellschaft, weil es negative Sanktionen furchtet bzw. positive Sanktionen wünscht. Das wird die Grundaussage des Essays "Homo Sociologicus" aus dem Jahre 1958 sein.
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Jetzt aber zunächst einmal zum Begriff der Rolle, der damals in Deutschland noch gar nicht so recht einge führt war. Dahrendorf schreibt: " Der Punkt, an dem solche Vermittlung von Einze lnen und Gesellschaft sich vollzieht und mit dem Menschen als gesellschaftli-
chem Wesen auch Homo Sociclogicus geboren wird, ist jener »Auftritt als ...« auf der Bühne des Lebens, den Cicero in dem Begriff der »Person«, Marx in dem der »Charektermaske« und Shakespeare - und mit ihm die meisten neueren Sozio logen - in dem der »Rolle. zu fassen sucht." (Dahre ndorf 1958, S. 27) Wenn in der Soziologie vom Men-
sehen gesprochen werde, dann nur vom Menschen als Rollenträger. Deshalb der Titel " Homo Sociologicus". Was wollte Dahrendorf? Nach eigenen Angaben suchte er " nach einer Elementarkatego rie für die eigenständige soziologische Analyse der Probleme des sozialen Handeins." (Dahrendorf 1958, S. 5) Diese Kategorie sieht er in der sozialen Rolle. Auf einen wichtigen theoretischen Ausgangspunkt der The orie des homo sociologicus stößt man erst im zweiten Teil, wo Dahrendor f sagt, dass er seine Elementarkategorie »Rolle« und eine damit im Zusammenhang stehende Kategorie »Status« bei dem schon erwähnten amerikanischen Kulturanthropologen RALPH LINTON ge funden hat. Auf dessen Definition von Rolle hatte sich auch schon Metto n bezogen. Bei Linton hieß es, die Rolle repräsentiere den dynamischen Aspekt eines Status. Der Status ist definiert über Rechte und Verpflichtungen, und wenn das Individuum ihnen in seinem Verhalten nachkomme, spiele es eine Rolle. (vg l. Linton 1936, S. 114) Doch Dahrendorf wählt einen anderen theoretischen Hintergrund fü r sein Konzept der Rolle. Ziemlich zum Schluss seines Essays gibt es eine interessante Anmerkung zur strukturfunktionalen Theorie von TALcolT PARSONS. Dahrendorf verweist zunächst auf sein Buch über " Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft" (1957) und fährt dann fort: " Bei der Skizzierung von Beispielen empirischer Anwendungsmöglichkeiten der Kategorie der Rolle habe ich hier bewusst Problemen des sozialen Konfliktes den Vorzug gegeben. Im Kategorienschema des sog. strukturell-funktionalen Ansatzes zur soz iologischen Theorie sind, wie sich zeigen lässt, die ElementarbegrifCe »Positi on« und »Rolle« auf eine höchst unglück liche Weise mit einer analytischen Position verquickt, deren Einseitigkeit sich nachwe isen lässt. Es ist dies die Integrationstheor ie der Gesellschaft, nach der sozi-
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ale Struktureinheiten als Systeme begri ffen werd en können, zu deren Funktionieren sämtliche ihrer Elemente in angebbarer Weise beitragen bzw. deren Elemente, wo sie dies nicht tun, als »dysfunktional« aus dem Rahmen der Ana lyse herausfa llen. So sinnvoll dieser Ansatz für gewisse Probleme der Forschung ist, so unsinnig ist seine Verabsolutierung, und so gefährlich ist daher der Versuch, von ihm her die Definition der Elementarteilchen soziologischer Analyse einzuengen. Wir haben Roll en als sozialen Positionen anha ftende Kompl exe von Verhaltenserwartu ngen defin iert . Dabei ist jedoch keine Annahme der Art vorausgesetzt, dass nur solche Verhaltensm uster als Erwartungen in Frage kommen, deren Verw irklichung einen Beitrag zum Funktionieren eines bestehenden Systems leistet. Auch Verhalten, das vom Standpunkt der Integrationstheorie »dysfunktional« ist, kann normiert, also zu Rollenerwartungen verfestigt sein." (Dahrendorf 1958, S. 78f. Anm . 84) Mit dieser Krit ik an Parsons verschärft Dahrendorf seine These von der ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft, denn er sagt, dass Gesellschaft keineswegs nur über »funktionale« Elemente integriert wird, sondern im Gegenteil auch über sog. »dysfunktion ale«. Wo die Gesellschaft als Ärgern is emp funden wird und wo sich daraus ein Konflikt ergibt, steht nicht die Ordnung auf dem Spiel, sondern dort wird das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellsch aft neu definiert. Dahrendor f unterlegt seiner Theorie des homo socio logicus also eine Konfl ikuheorie. Nach dieser Theo rie ist die Gesellschaft nicht durch Konsens zusammengehalten, sondern basiert auf Zwang. Insofern ist sie auc h eine Theorie der ungleichen Verteilung von Macht und eines Antagonismus zwisch en Gesellschaft und Individuum. Ungleic hgewic htig sind aber auch die Weltanschauungen und die kulturellen Werte in einer Gesellschaft. Das Prinzip des Sozialen ist deshalb der Konflikt, nicht das ze itlos Gültige. Anders als Parsons, der Konfli kte als Störung der Ordnung betrachtete, hält Dahrendorf Konflikte für den Motor einer notwendigen Entwicklung von Gesellschaft. Bezo gen auf die Rollentheori e kann man deshalb sagen: Die Erfahrun g, dass die Gesellscha ft ein Ärgernis ist, ist der Beginn, sie neu zu bestimmen. Nach dieser ersten Suche nach Thema und Theorie nun wieder zurück zu der An leihe bei Linton und seiner Definition des Verhältnisses von Position und Rolle. Auch Dahrendorf geht von sozialen Positionen
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aus, die in einer Gesellschaft exrstteren: "Zu jeder Stellung, die ein Mensch einnimmt, gehören gewisse Verhaltensweisen, die man von dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Dinge, die er tut und hat; zu j eder sozialen Position gehört eine soziale Rolle. Indem der Einz elne soziale Positionen einnimm t, w ird er zur Person des Dramas, das die Gesellschaft, in der er lebt, geschrieben hat. Mit jeder Position gibt die Gesellschaft ihm ein e Rolle in die Hand, die er zu spielen hat. Durch Positionen und Rollen werden die beiden Tatsaehen des Einzelnen und der Gesellschaft vermittelt; dieses Begriffspaar bezeichnet Homo Sociologicus, den Menschen der Soziologie," (Dahrendorf 1958, S. 32) Der Homo Sociologicus steht " arn Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft", es ist "d er Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft." (S. 20) Mit der Rolle ist vorgeschrieben, was der Einzelne zu tun hat: " Während Positionen nur ürte in Bezugsfeldern bezeichnen, gibt die Rolle uns die Art der Beziehungen zwischen den Trägern von Positionen und denen anderer Positionen desselben Feldes an. Soziale Rollen bezeichnen Anspruche der Gesellscha ft an die Träger von Positionen. (...) Soziale Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellscha ft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen." (Dahrendorfl 958. S. 33) Dahrendorf stellt nun die Frage, wer eigentlich soziale Rollen definiert und über ihre Einhaltung wacht. Seine Antwort bezieht wieder die Situation des schon bekannten Studienrats Sclunidt ein: Ralf Dabrend crf Rollenerw artungen, Nor men un d Sanktionen der Bezugsgru ppe " Die These, die hier vertreten werden soll, besagt, dass die Instanz, die Rollenerwartungen und Sanktionen bestimmt, sich in dem Ausschnitt der in Bezugsgruppen geltenden Normen und Sanktionen finden lässt, der sich auf durch diese Gruppen lokalisierte Positionen und Rollen bezieht. Studienrat Schmidt ist Beamter und als solcher den allgemeinen beamtenrechtlichen Bestimmungen wie den Sondervorschriften und gewolmheiten der für ihn zuständigen Behörde unterworfen; er ist Lehrer und in dieser Funktion gehalten, den Satzungen und Vorschriften seiner Standesorganisation zu folgen; aber auch die Eltern seiner Schüler und die Schüler selbst bilden Bezugsgruppen mit bestimmten Nor-
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men und Sanktionen, die sich auf das Verhalten des Lehrers beziehen. Allgemein lassen sich für jede menschliche Gruppe gewisse Regeln und Sanktionen angeben, mit denen diese Gruppe auf das Verhalten ihrer Mitglieder und auf das von Nichtmitgliedern, zu denen die Gruppe in Beziehung tritt , einwirkt und die sich prinzipiell von den Meinungen der Einzelnen innerhalb oder außerhalb der Gruppe ablösen lassen. In diesen Regeln und Sanktionen liegt der Ursprung von Rollenerwartungen und ihrer Verbindlichkeit. Die Artikulierung solcher Erwartungen stellt uns also in j edem einzelnen Fall vor die Aufgabe, zunächst die Bezugsgruppen einer Position zu identifizieren und sodann die Normen ausfindig zu machen, die j ede Gruppe im Hinblick auf die in Frage stehende Position kennt." (Dahrendorf 1958: Homo Sociologicus, S. 48) Die se einschränkende Definition des Begriffs der Roll e auf die Geltung in einer Bezugsgruppe wird leicht überlesen. Sie ist aber wichti g, denn Dahrendorf löst den Begriff gleichsam unter der Hand aus der all gemeinen kulturellen Nonnativität, die Parsans postul iert hatte. Jetzt erhält der Begriff der sozialen Rolle eine viel konkretere Bed eutung, denn er meint keineswe gs "Verha ltensweisen, über deren Wün schbarkeit ein mehr oder minder eindruc ksvo ller Consensus der Meinungen" in der Gesellschaft besteht, sondern n ur solche, "die für den Einze lnen verbindlich sind und deren Verbindlichkeit institution ali siert ist, also unabhängig von seiner oder irgendeines anderen Meinung gilt." (Dahrendorf 1958, S. 47) Dahrendorf betont, dass Ge sellschaft eine " ärge rliche" Ta tsache ist. Das ist sie, weil sie übe r ihre Roll en normativ ist, Entsch eidungen zu handeln also einschränk t, und weil sie Sanktionen zur Verfügun g hat, individue lles Handeln also kontroll iert : "Soziale Roll en sind ein Zwang, der auf den Einzelnen ausg eübt wird - mag dieser als eine Fessel seiner privaten Wün sche od er als ein Ha lt, der ihm Sich erheit gibt, erlebt werden. Dieser Charakte r vo n Rollenerwartungen be ruht darauf, dass die Gesell scha ft Sanktionen zur Verfügung hat, mit deren Hilfe sie die Vors chriften zu erzwin gen verm ag. Wer seine Rolle nicht spielt, wird bestraft ; wer sie spielt, wird be lohn t, zumindes t aber nicht bestraft," (Dahrendorf 1958, S. 36) Roll enhandeln erfolgt somit, weil das Individ uum negative Sanktionen befürchtet ode r positive erhofft. Die Bedeutung einer Rolle miss t Dahr endorf an der St renge der gesellschatllichen Erwartunge n und dem Gewi cht der gesellschaftlichen Sanktionen , die dam it verbunden sind. Er un terscheidet zwischen
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Rolle
Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen und entsprechenden Sanktionen. Das verdeutlicht er am Beispiel eines Schatzmeisters in einem Sportverem: Art der Sanktione n
Ar t der Er wartu ng
pos itiv
negat iv
Muss-Erwartung
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Gerichtliche
Soll-Erwartung
Sympathie
Kann-Erwartung
Schä tzung
Sc ha tz meister eines
Sportvereins ehrliches
Bestrafung
Finanzgebaren
sozialer
aktive Teilnahme
A usschluss
am Klubleben
Antipathie
freiwi lliges Sammeln von Geldern
[Dahrendorf 1958: Homo Sociologicus, S. 39)
Mit dieser Differenzierung der nonnativen Erwartungen greift Dahrendor f einen zentralen Gedanken von Durkheim auf, den Parsons später zur Erklärung von Interaktion herangezogen hat: Danach kann Interaktion weder mit dem einfachen Reflex auf gegebene Verhältnisse, noch mit einer rein utilitaristischen Einstellung, sondern nur mit dem moralischen Gewicht erklärt werden, den soziale Regelungen haben. Mit abnehmendem Gewicht der Erwartungen nimmt auch das Gewicht der negativen Sanktionen ab; interessanterweise nimmt aber in gleichem Maße das Gewicht der positiven Sanktionen zu. Dahrendorf spricht von der "ärge rlichen Tatsache der Gesellschaft", aber auch davon, dass sie Sicherheit durch Regeln gibt, die schützen und leiten: "Gewiss bezieht der Mensch viele seiner Sorgen und Nöte aus der Tatsache, dass die Gesellschaft ihn in Bahnen und Formen zwingt, die er sich nicht selbst gewählt oder geschaffen hat. Doch sind es nicht nur Sorgen und Nöte, die ihm hieraus erwachsen." Ebenso klar ist, " dass die Tatsache der Gesellschaft ein Gerüst sein kann, das uns aufrechterhält und Sicherheit gibt." (Dahrendorf 1958, S. 42) Denn die " Bahnen und Formen", in die die Gesellschaft zwingt, gelten für alle und machen insofern Verhalten erwartbar. Fragt man zusammenfassend, was Rollen bewirken, dann kann man sagen: Sie vereinheitlichen Handeln, machen es somit regelmäßig, berechenbar und vorhersehbar.
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So weit lässt sich gegen Dahrendorfs Argument kaum etwas einwenden, und dennoch haben sich seinerzeit viele Soziologen mit ilun auseinandergesetzt. Die einen wollten nicht, dass die Dinge so sind, wie sie nach Dahrendorf sind, die anderen warfen ihm vor, mit seinem Essay über die Kategorie der Rolle einer theoretischen Diskussion Vorschub zu leisten, die die Entfremdung des Menschen zum Inhalt hat und sie noch verstärkt. Einige Kritiker hielten Dahrendorf vor, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft antagonistisch zu sehen. Dem hielt z. B. der deutsche philosophische Anthropologe und Soziologe HELMUTH PLESSNER (1892-1985) entgegen, dass die Gesellschaft keineswegs ärgerlicher Gegensatz, sondern notwendige Voraussetzung für die Selbstverwirklichung des Individuums sei. Erst indem es sich mit etwas außerhalb t seiner selbst identifiziere, werde es sich seiner Eigentlichkeit bewusst. (vgl. Plessner 1960a, S. 28 u. 34) Dieses "Außen" ist die Kultur, die Plessner als Kompensation für fehlende Instinkte des Menschen und insofern als natürlichen Bestandteil seines Wesens ansieht. Der wichtigste Einwand kam von FRIEDRICH H. TENBRUCK (19191994), der Dahrendorf vorhielt, er folge "dem düsteren Gedanken der Selbstentfremdung, der sich als roter Faden durch die Schrift hindurchzieht." (Tenbruck 1961 , S. 3) Der Gesamteindruck ist für Tenbruck eindeutig: " Die Rolle wird als etwas dem Individuum Fremdes von außen an den Menschen herangeschoben. Rollenhandeln meint die konform isti sche Selbstübergabe des Individuums an die Gruppe. Es drückt die Ansprüche und Erwartungen der anderen aus." (ebd.) Weil Dahrendorf das so sehe, sei es nur konsequent, dass er den Sanktionen, und hier bezeichnenderweise den negativen, eine zentrale Bedeutung beimesse: " Rollen werden ausge führt , weil hinter den Erwartungen der anderen Sanktionen stehen. Der Zwangscharakter der Rolle entspricht ihrer Entfremdungstendenz." (ebd.) Dies wird denn auch der durchgängige Vorwurf sein, dass nach Dahrendorfs Konzept Rollen nur gespielt würden, weil die Individuen negative Sanktionen fürchteten. Und in der Tat hatte Dahrendorf j a geDamit ist Plessners These angesprochen, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich mit Hilfe des Denkens aus dem Zentrum seines unmittelbaren Milieus hinausbegeben kann und sich von außen, aus einer "exzentrischen Positionalität" ( t 928, Kap. 7, I) betrachten kann und muss, um sich seiner selbst bewusst zu werden.
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sagt: " Wer seine Rolle nicht spielt, wird bestraft; wer sie spielt, wird belohnt, zumindest aber nicht bestraft ." (Dahrendorf 1958, S. 36) Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft war für ihn klar geregelt: Der ärgerl ichen Tatsache konnte jenes leidlich ent gehen, wenn es sich dieser gegenüber nichts zuschulden kommen ließ! Rollenhand eln war Sanktionsvenneidungsve rhalten. Eben diesen Ausgangsp unkt bestritt Tenbruck, indem er behauptete, dass rein logisch Sanktionen gar nicht der auslösende Faktor sein können. Das demonstriert er an einigen Beispielen, die zugleich belegen sollen, dass Dahrendorf zu Unrecht aus dem Gewicht von Erwartungen und Sa nktionen auf die Bedeutung von Rollen schließt. Ich zitiere zwei, in denen es um vitale Interessen der Gesellschaft geht, wo aber Sanktionen nicht erfolgen, wenn die gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllt werden: " Wer nicht heiratet, setzt sich allenfalls sehr geringen Sanktionen aus, obschon das Heiraten für die Gesellschaft vital ist. Man verlässt sich also darauf, dass zum Heiraten nicht genötigt zu werden braucht." (Tenbruck 1961, S. 19) Und das andere Beispiel: "F ür die modem e Industriegesellschaft vital ist jene Mischung aus rationeller Lebenseinstellung und Konsumanspruch, die dem wirtschaftlichen Getriebe als Basis dient. Dennoch sind auch hier die Sanktionen relativ minim al, weil man sich darauf verlassen kann, dass diese Haltungen normalerweise erzeugt werden." (ebd.) Wieder andere Kritiker fragten geradezu empört, welches Menschenbild Dahrendorf mit dem Homo Sociologicus vertrete. Was sie vor allem aufbrachte, war wohl Dahrendorfs unbekümmerte Feststellung, dass das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellscha ft so ist, wie es ist. Es gibt Rollen, und nach ihnen richtet sich das Individuum. Und nur um diesen Menschen - den homo socio logicus eben - gehe es in der Soz iologie. Die einen in der Zunft sahen das Individuum in seiner Würde und Einzigartigkeit aufgegeben, die anderen sahen ihre Wissenschaft zum Instrument des Konformism us degradiert, und wieder andere hielten den Gedanken, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft könnte entfremdet sein, für übertrieben bis falsch. Genau diese Annahme aber war es, die JÜRGEN H ABERMAS zu einer grundsätzl ichen Kritik an der Rollentheorie veranlasste. Grundsätzlich deshalb , wei l er behauptete, dass in der Kategorie der Rolle die Entfremdung des Menschen zum Ausdruck komm e. Habenn as vollzieht mit seiner Kritik der Rollentheorie den Schritt von einer ordnungstheo-
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retischen Begründung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft, zu einer Theorie des Handeins, für die die Freiheit des Individuums konstitutiv ist. 3.4
Habermas: Kritik der Rollentheorie
Während Tenbruck das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft keineswegs als entfremdet ansah, hat JORGEN H Aß ERMAS (*1929), seinerzeit Philosoph in Heidelberg, genau das grundsätzlich gegen die Rollentheorie - und damit war natürlich die nach Parsons gemeint - ins Feld geführt. Er warf ihr vor, sie würde " die gesellschaft.liehe Entwicklung als eine geschichtliche ignorieren" und " geschichtliche Entwicklung auf die gesellschaftliche Abwandlung der immer gleichen Grundverhältnisse reduzieren." (Habermas 1963, S. 239) Im Klartext hieß das: Eine auf Rollenanalyse verpflichtete Soziologie nimmt nicht zur Kenntnis, dass Rollen in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen entstanden sind, in diesen konkreten Verhältnissen eine " quasi dingliche Existenz gegenüber den Personen" bekommen und diese sich in den Rollen " entäußern" müssen. (ebd.) Da die gesellschaftlichen Verhältnisse durch Macht und nicht durch die Freiheit gekennzeichnet sind, werden sich die Individuen also fremd, wenn sie die Rollen dieser Verhältnisse spielen. Genau dieser Zusammenhang muss auch, so muss man Habermas lesen, bedacht werden, wenn eine soziologische Theorie zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft konzipiert bzw. herangezogen wird. Es ist also die Frage, welche persönlichen Wertungen vorab die Auswahl einer Theorie geleitet haben. Diesen Zusammenhang hatte Dahrendorf ausführlich thematisiert in seinem Beitrag " Sozialwissenschaft und Werturteil" , der kurz vor seinem Essay " Homo Sociologicus" entstanden und etwas später veröffentlicht worden war. (Dahrendorf 1961b) In diesem Beitrag geht es um die alte Frage der Wertfreiheit sozialwissenschaftlicher Forschung, und im " Homo Sociologicus" sagt Dahrendorf vor dem Hintergrund der damaligen Überlegungen, warum er just diese Theorie zur Erklärung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. ausgewählt hat: " Es besteht keine Gefahr fü r die Reinheit wissenschaftlichen Tuns, wenn der Soziologe solche prüfbaren Theo-
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rien vorzieht, die dem Recht und der Fülle des Einzelnen Rechnung trage n. Es ist metho disch durchaus unverdäc htig, bei der wissenschaftlich en Beschäftigun g mit der Ges ellscha ft den Gedanken an die mögliche Anwendung von Resultaten zum Nutzen und Woh l des freien Einze Inen nicht aus den Aug en zu verlier en." (Dahrendor f 1958, S. 94) Dieses Bekenntnis reicht Habennas nicht, denn man müsse doch fragen, wie sich solche Ziele " in der konkreten Situation rational ausweisen" ließen und ob diese "erkenntnisleitenden Interessen" nicht möglicherweise durc h die Wah l so grundlegender Kategorien wie " Ro lle" in Frage geste llt würden. Um seine Kritik zu vers tehen, ist ein B lick auf "die" Rollentheorie vo nnö ten, wie er sie An fang der 60er Jahre sah: Jürgen Ilabermas: Die quasi din gliche Existenz von Rollen und die Entäußer ung der Per son .Die Soziologie betrachtet heute die Menschen als Träger sozialer Rcllen. Mit der operationellen Einführung dieser Kategorie erschließt sie Bereiche des gesellschaftlichen Verhaltens exakter Analyse. Soweit die als Verhaltenserwartung einer Bezugsgruppe definierte »Rolle« eine historische Größe darstellt, muss deren Variation im Laufe der Entwicklungsgeschichte der Menschheit soziologischer Untersuchung entzogen bleiben. Vor dieser Schranke machen auch dynamische Theorien, die dem Prozesscharakter des gesellschaftlichen Geschehens ebenso wie seinen Konflikten gerecht werden wollen, halt. Erst in einem fortgeschrittenen Stadium der industriellen Gesellschaft ist mit dem, was Max Weber die Rationalisierung ihrer Verhältnisse genannt hat, die funktionelle Interdependenz der Institutionen so gewachsen, dass die Subjekte, ihrerseits von einer zunehmenden und beweglichen Vielfalt gesellschaftlicher Funktionen beansprucht, als Schnittpunktexistenzen sozialer Verpflichtungen gedeutet werden können. Die Vervielfältigung, die Verselbständigung und der beschleunigte Umsatz abgelöster Verhaltensmuster gibt erst den »Rollen« eine quasi dingliche Existenz gegenüber den Personen, die sich darin »ent äußem« und in der zu Bewusstsein kommenden Entäußerung den Anspruch auf Innerlichkeit entfalten - wie die Geschichte des bürgerlichen Bewusstseins, zumal im 18. Jahrhundert, zeigt. Marx war überzeugt, die Verdinglichurig der Verhaltensweisen auf die Ausdehnung der Tauschverhältnisse, letzten Endes auf die kapitalistische Produktionsweise zurückführen zu können. Das mag dahingestellt sein; so viel ist jedenfalls gewiss, dass die analytische Fruchtbarkeit der Rollenkategorie nicht unabhängig von dem Entwicklungsstand
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der Gesellschaft ist, an deren Beziehungen sie sich zunächst einmal bewährt. Wird sie aber in der Anwendung auf gesellschaftliche Verhältnisse schlechthin zu einer universalhistorischen Kategorie verallgemeinert, muss die Rollenanalyse mit ihrer eigenen geschichtlichen Bedingtheit überhaupt gesellschaftliche Entwicklung als eine geschichtliche ignorieren - so, als sei es den Individuen äußerlich, ob sie, wie der Leibeigene des hohen Mittelalters, einigen wenigen naturwüchsigen Rollen, oder aber, wie etwa der Angestellte in der industriell fortgeschrittenen Zivilisation, vervielfältigten und beschleunigt wechselnden, in gewissem Sinn abgelösten Rollen subsumiert sind. In dieser Dimension der Entwicklung wächst, etwa mit der Chance, sich zu Rollen als solchen verhalten zu können, sowohl die Freiheit des Bewegungsspielraums in der Disposition der Rollenilbemahme und des Rollenwechsels, als auch eine neue Art Unfreiheit, soweit man sich unter äußerlich diktierte Rollen genötigt sieht; vielleicht müssen sogar Rollen um so tiefer verinnerlicht werden, je äußerlicher sie werden. Eine auf Rollenanalyse verpflichtete Soziologie wird diese Dimension überspringen, und damit geschichtliche Entwicklung auf die gesellschaftliche Abwandlung immer gleicher Grundverhältnisse reduzieren müssen. Die Rollen als solche sind in ihrer Konstellation zu den Rollenträgem konstant gesetzt, als sei der gesellschaftliche Lebenszusammenhang dem Leben der Menschen selbst auf immer die gleiche Weise (...) äußerlich." (llabermas 1963: Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, S. 238f.) Rollenth eorie " überspringt" nach der Kritik vo n Habennas die konkreten gesellschaftlichen Verh ältni sse und tut so, als ob es " immer gleiche Grundve rhäl tnisse" gebe . Diese Soziologie ist blind "gegenübe r dem histori schen Charakter der Gesellschaft" . (Habermas 1963, S. 239) Man muss die Krit ik ab er noch we iter lesen, denn implizit wirft Habennas der Rollentheorie nach Pa rsons vor, dass sie die " gesellschaftliche Ab wan dlung immer gleicher Grundve rhä ltnisse" in die spezifischen gesellschaftlichen Verh ältnisse gutheißt. Später hat Hab ennas seiner Kritik an der Rollentheorie eine etwas andere Wendung gegebe n. Sie bezog sich nicht mehr in erster Linie auf die Ges ellschaft, sondern auf die Annahmen über das Gelingen vo n Hand eln , die seines Eracht ens der Rollentheorie zugrunde liegen. Diese Kritik erhob er in einer Vorlesung im Jahre 1968, deren Mitschri ft ku rz darauf als Raubdru ck unter dem Titel "S tichworte zur Theorie der Sozialisation" bundesweit kursierte und erheblich zu der neuen Sicht auf
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"die" Rollentheorie beigetragen hat. Habennas wirft dem " üblichen Rollenkonzept" vor, "drei Dimensionen unberücksichtigt" zu lassen, "in denen das Verhältnis des handelnden Subjekts zu seinen Rollen gefasst werden kann," (Habennas 1968, S. 124f.) Deshalb stellt er drei Annahmen, die die klassische Rollentheorie seines Erachtens macht, drei fundamentale Einwände entgegen : };>
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Die Rollentheorie geht erstens von der Annahme aus, "dass in stabil eingespielten Interaktionen auf heiden Seiten eine Kongruenz zwischen Wertorientierungen und Bedürfuisdispositionen besteht." (Habermas 1968, S. 125) Dieses Theorem bezeichnet Habermas als Integrationstheorem . Diese Annahme lässt sich aus der Theorie von Parsons, um den es ja bei dieser klassischen Rollentheorie geht, so erklären: Die Individuen wünschen nur das zu tun, was sich in der Gesellschaft als wünschenswert durchgesetzt hat; wer anderes wünscht, ist potentiell abweichend. Gegen dieses Integrationstheorem stellt Habenn as (in Anlehnung an A LVIN W. GOULDNER) das Repressionstheorem. Habenn as nimmt nämlich an, "dass in allen bisher bekannten Gesellschaften ein fundamentales Missverhältnis zwischen der Masse der interpretierten Bedürfnisse und den gesellschaftlich lizenzierten, als Rollen institutionalisierten Wertorientierungen bestanden hat. Unter dieser Voraussetzung gilt das Repressionstheorem: dass vollständige Komplementarität der Erwartungen nur unter Zwang, auf der Basis fehlender Reziprozität, hergestellt werden kann." (ebd.) Es gibt also mehr Bedürfuisse als zugelassen werden; wo nicht mehr Bedürfnisse als soziale Rollen existieren, sind sie unterdrückt worden. Die klassische Rollentheorie - so die Kritik von Habennas nimmt zweitens an, dass "in stabil eingespielten Interaktionen auf beiden Seiten eine Kongruenz zwischen Rollendefinitionen und Rolleninterpretationen besteht." (Habennas 1968, S. 126) Gegen dieses so bezeichnete Identitätstheorem setzt Habennas ein Diskrepanztheorem. Danach ist "ei ne vollständige Definition der Rolle, die die deckungsgleiche Interpretation aller Beteiligten präjudiziert, (...) allein in verdinglichten, nämlich Selbstrepräsentation ausschließenden Beziehungen zu realisieren." (ebd.) Bei diesem Diskre-
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panztheorem bezieht sich Habenn as besonders auf RALPH Tu R(role-taking vs. role-making) und auf A NSELM STRA USS und ER V ING GoFFMAN . Deren Annahmen kann man so zusammenfassen: Wo unterschiedliche Standpunkte möglich sind, interpretieren die Menschen nonnalerweise Rollen unterschiedlich. Schließlich kritisiert Habenn as eine dritte Annahme der klassischen Rollentheorie, wonach " eine stabil eingespielte Interaktion auf einer Kongruenz zwischen geltenden Nonne n und wirksamen Verhaltenskontrollen" beruhe; " eine institutionalisierte Wertorientierung (Rolle)" entspreche "einem internalisierten Wert {Motiv)." (Habenn as 1968, S. 126) Diesem Konf ormitätstheorem setzt Habcnn as das Modell der Rollendistanz gegenüber, das E RV ING G OFFMAN Ende der 50er Jahre in Abgrenzung zu Parsons entwickelt hatte. Danach müsse unterschieden werden zwischen einer "reflexiven Anwendung flexibel verinnerlichter Nonn en von einer konditionierten Verhaltensreaktion" auf der einen Seite und einer "z wanghaft automatischen Anwendung rigide verinnerlichter Nonne n andererseits." (ebd.) Aus den von Goffman beschriebenen Belegen für diese Haltung lassen sich drei Schlüsse ziehen, erstens dass Rollen nicht vollständig internalisiert werden, zweitens dass sie das auch gar nicht sein müssen, um erfolgreich miteinander handeln zu können und drittens das auch gar nicht sein sollten, um die eigene Individualität im Spiel zu halten: " Autonomes Rollenspiel setzt beides voraus: die Internalisierung der Rolle ebenso wie eine nachträgliche Distanzierung von ihr," (ebd.) Diese Fähigkeit nennt Habenn as Rollenkomp elenz. NER
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Ich stelle die von Habenn as so gesehenen Annahmen der klassischen Rollentheorie und seine fundamentalen Einwände gegenüber: Annahmen der klassisch en Rollentheori e
funda me nta le Ei nwä nde
Integrationstheorem
Repressionstheorem
Identitätstheorem
Diskrepanztheorem
Kon formit ätstheorem
Rollendislanz
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Was ist also der zentrale Vorwurf an die Rollentheorie? Habennas sagt es ganz deutlich : Sie vernachlässigt "drei Dimensionen möglicher Freiheitsgrade des Handelns." (Habennas 1968, S. 126) So schließt das Integrationstheorem aus, dass wir das Ausmaß der Repressivität in einer Interaktion durchschauen; das Identitätstheorem sieht nicht vor, dass wir die Rigidität der Rollendefinitionen durchschauen; und das Konformitätstheorem sieht nicht vor, dass die Handelnden ihre mögliche Autonomie erkennen. (vgl. S. 127) Damit verschiebt Habennas die Kritik an der Rollentheorie auf die Ebene des Bewusstseins und der Qualifikation des handelnden Subjekts in und gegenüber den gesellschaftlichen Strukturen. Das lag natürlich nahe, da es Haberrnas ja in seiner Vorlesung um eine Theorie der Sozialisation ging. Wenn er Sozialisation nicht als bloße Zurichtung des Individuums auf die bestehenden Verhältnisse verstehen wollte - und das verbot sich aus der von ihm vertretenen Kritischen Theorie und aus dem Geist der Zeit sowieso - , dann musste er Rollenhandeln eben als reflektiertes Handeln gegen herrschende, in sich widersprüchliche Verhältnisse definieren. So bemisst Habenn as denn auch "die im Sozialisationsprozess erworbenen Grundqualifikationen eines handelnden Subjekts in einem gegebenen Rollensystem" erstens danach, ob der Handelnde der Rollenambivalenz gewachsen ist, also Frustrationstoleranz hat, oder ob er umgekehrt "die Komp lementarität der Erwartungen in offenem Rollenkonflikt" bewusst abwehrt und verletzt oder sogar sich und anderen vorspiegelt, seine Bedürfnisse würden in Wahrheit befriedigt, und so die Komplementarität zwanghaft aufrechterhält. Er bewertet sie zweitens danach, ob der Handelnde die Zweideutigkeit einer Rolle (Rollenambi guität) zu einer kontrollierten Selbstdarstellung nutzt oder sich selbst diffus präsentiert oder sich gar restriktiven Rollendefinitionen ohne Widerstand unterwirft. Schließlich bewertet Habermas die Grundqua lifikationen daran, ob der Handelnde "s ich relativ autonom verhält und gut verinnerlichte Nonnen reflexiv anwendet" - das nennt er fl exible Über-fch-Formation - oder ob er dazu neigt, auf auferlegte Normen gehorsam zu reagieren oder sie gar zwanghaft anzuwenden. (vgl. Habenn as 1968, S. 128f.) Mit diesem Maßstab der Beurteilung des Handelns gegenüber Rollenerwart ungen hat Habermas nicht nur die Nonn ativität der Rollentheorie nach Parsons in Frage gestellt, sondern gleichzeitig einen Maßstab zur Bewertung des Handeins vorgelegt. Der oben angefiihrte Be-
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gri ff der Rollendistan z bekommt nun eine gese llschaftskritische und identitätsichem de Dimension: Rollendistanz heißt, sich reflexiv mit Erwartungen auseinanderzusetzen, innerlich und auch explizit die Frage nach ihrer Legitimät zu stellen. Je nachdem wie die Antwort ausfallt, steht die Nonnativität von Rollen auf dem Spiel. Ma n kann sagen, dass mit dieser Krit ik in Deutschland der Übergang von einer Ordnungstheorie der Roll e zu Theo rien der Interaktion begann . Diese Theori en der Interaktion werden allerdings erst verständlich, wenn man die Theorien des sozialen Handeins betrachtet, auf die sie sich manchmal beziehen, von denen sie sich aber auch absetzen oder die sie einfach unter neuen Etiketten weiterführen . Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den Theorien der Interaktion und des soz ialen Handelns werden am Ende des nächsten Kapitels unter Bezug auf Haberm as' Unterscheidung von vier Handlungsbegri ffen vorgestellt. Da dort auch die Verbindun g zur Rollentheorie noch einmal aufgenomm en wird, kann man dieses Unterkapitel auch als rasche Einführung zuerst lesen.
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Sozia les Handeln
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Verhalten unter gegebenen Umständen oder sinnvolles Handeln? Weber: Bestimmungsgründ e des Handelns Parsons: Alternative Wertorientierungen des Handelns Rationa le Wahl, gerechter Tausch, symbolische Transaktion "Dualität der Struktur" Rationale Wahl trotz .Ji abits" und .Jrames'' Habennas: Vier Handlungsbegriffe
4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
Das Spektrum der Diskussion über soziales Handeln ist breit.t Zur Vorgeschicht e einer höchst aktuellen Diskussion gehört eine Theorie, die im strengen Sinn nicht in die Soziologie, sondern in die Psychologie, und zwar in eine ziemlich frühe Ausrichtung der Psycholo gie gehört. Ich meine die Theorie des Behaviorismus, nach der Verhalten durch äußere Bedingungen konditi oniert ist. An sie schloss eine Lerntheorie an, die den Menschen zu den intelligenten Tieren zählt, die sich die Bedingungen ihres Verhaltens selbst schaffen. Um die Frage, was dem Menschen sein Tun bedeuten könnte , an welchem Sinn er es orientiert, geht es in der psychologischen Lemtheorie nicht. Aber genau an dieser Frage, welchen Sinn die Handelnden mit ihrem Handeln verbinden, wird in der Soziologie die Unterscheidung zwischen Verhalten und Handeln fest gemacht. Diese Differenzierung steht gleich in der klassischen soziologischen Theorie des Handeins, der von MAX WEBER, im Vordergrund. Er erklärt Handeln aus dem Sinn, den die Handelnden mit ihrem Tun oder Unterlassen verbinden, wobei dieser Sinn natürlich nicht aus ihnen selbst geschöpft wird, sondern sich aus den kulturellen Vorgaben ergibt, unter denen sie handeln. Konkret sind es Tradition und Sitte, kulturelle Muster der Affekte und spezifische Wertorientienmgen, aber auch die Ziele, die in dieser Gesellschaft als typisch erstrebenswert
Eine Hilfestellung zur Orientierung im weiten Feld habe ich in den letzten Sätzen des letzten Kapitels angeboten.
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gelten. Diese Vorgaben leiten unser Handeln, und sie garantieren, dass wir uns in unserem Handeln in aller Regel auch verstehen. TALCOlT PARSONS fragt, in welchen Strukturen die Individuen han dein und was ihr Handeln fur sie und für die Gesellschaft bedeutet. Damit verbindet er die Theorie von Weber mit der von Durkheim . Parsons versteht unter Gesellschaft die "soziale Struktur" von Handlungen. Handeln erfolgt wie bei Durkheim unter Befolgung institutioneller Vorgaben und hat die Funktion, die gesellschaftliche Ord nung zu erhalten. Deshalb komm t in der strukturfunktionalistischen Handlungstheorie der Handelnde nur in Bezug zu sozialen Rollen vor. Im Zusammenspiel von kulturellen Werten, sozialen Nonnen und persönl icher Motivation werden zwar individuelle Entscheidungen getroffen, aber sie sind durch alternative Wertorientierungen sozial begrenzt. Eine andere Sicht auf das Handeln kommt mit den Theorien auf, die systematisch vorn individ uellen Akteur und seinen Entscheidungen ausgehen. Wissenschaftstheoretisch sind die Akteurtheorien dem Erklärungsprinzip des ,,methodologischen Individualismus" verp flichtet. Nach diesen Theorien sind soziale Strukturen nicht als zwingende Hand lungsbedingungen, sondern als Handlungsmöglichkeiten zu verstehen. Ocr Akteur verfo lgt selbstgewählt e Ziele, verfolgt Strategien, sie zu verwirklichen, und setzt die Mitt el ein, die den größten Erfolg versprechen oder wenigstens den geringsten Aufwand erfordern. Durch ihr Handeln, zumal es im Zusammenwirken mit dem der anderen Akteure erfolgt, schaffen die Akteu re die Bedingungen weiteren HandeIns, also Strukturen. Ein klassisches Beispiel einer Akteurtheorie ist die Austauschtheorie von GEORGE CASPAR HOMANS, die an die eben erwähnte Lerntheorie anknüpft. Für Hornans ist Handeln im Prinzip die rationale Wahl von Strategien in Abw ägung von Kosten und Nutzen. Das soll im ersten Teil der Überschrift mit dem Begriff der "rationalen Wahl" angedeutet werden. Dam it ist aber nicht gesagt, dass die Handlungsfolgen auch rational oder intendiert sind. Die Entscheidungen des Akteurs werden bewusst oder unbewusst - in Konk urrenz oder auch in Kooperation mit anderen Akteuren getroffen. Die Akt eure sind also interdependent, und sie handeln unter der stillen Ann ahme eines "gerechten Tauschs" . Deshalb kommen auch spez ifische Konstellationen oder Strukturen des HandeIns zustande. Auf der Seite der Akteure selbst spielen dann natürlich auch die Erwartungen, die sie aneinander haben, und die Deutun-
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gen, die sie über ihr Handeln und das der ande ren vornehmen, eine ent-
scheidende Rolle. Erwartungen und Deutungen verbinden sich ebenfalls zu Strukturen. Um die Annahm e, dass das "Sozial e" in einer fort laufend en wech-
selseitigen Konstitution von Handeln und Strukturen besteht, geht es unter der Überschrift "Dualität der Struktur" . Dort wird die These von ANTHONY GIDDENS vorgestellt, nach der gesellschaftliche Strukturen nicht an sich, sondern nur in Fenn von Handlungen existieren. Strukturen bedingen Handeln nur insofern, als sie es ermöglichen, umgekehrt bedingen die Individuen die Strukturen insofern, als sie sich für bestimmte Handlungen entscheiden. Handeln ist also strukturiert und es strukturiert seinerse its Handlungsbedi ngungen. Giddens spricht deshalb von einer .jfuafity of struct ure". Die Krei sbew egung Hand eln, Struktur, Hand eln nimmt auch HART· MUT ESSER an, aber er lenkt den Blick auf einige Rahmenbedingungen des Hande lns. Er nennt sie .Ji abits" und .Jrames". Sie scheinen auf den ersten Blick der The se von der rationalen Wahl, die Esser vertritt, zu widersprechen. Doch weder die Tatsache, dass sich die Hand elnde n an Routinen ("habits") orientieren, noch die, dass sie Situation en durch die Angabe eines übergreife nden Ziel s vereinfachen und strukturieren ("framing"), widersprechen dieser These. Zum Sch luss werde ich als Zusammenfassung der Theorien des Hand eins und z ur Vorb ereit ung der Theorien der Interakt ion die vier Handlungsbegri ffe nennen, zwisc hen den en JüRGEN HABERMAS unte rschiede n hat.
4.1
Verha lten unt er gegebenen Umstä nden oder sinnvolles Hand eln ?
Wir kennen den Fall, dass der Mensch "aus sich heraus", "spon tan" etwas tut. Hand elt cr dann oder verhält er sich "nur"? Nehmen wir z. B. die Situation, in der der erste Mensch vor Urze iten durch die Sav anne lief, plötzlich von einem brüll end en Löwen überrascht wurde und spontan das Richti ge tat, indem er ihn mit der Ese lsbacke erschlug.t Jedes Tier hätte - natürl ich hätte es keiner Eselsbacke bedu rft! - in einer ähnliche n Situation "richtig" reagiert , nämlich instinkti v. Reste des richtiI Ich weiß, ich missbrauche dieses schöne Bild einer alten Erzählung!
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gen, instinktiven, das heißt nicht-reflektierten Reagierens finden wir auch noch bei uns modemen Menschen. So schrecken wir instinktiv zusammen, machen also gewissermaßen unsere Angriffsflächen klein, wenn unmittelbar neben uns ein lauter Krach losbricht. Umgekehrt wissen wir, dass sich viele junge Leute scheinbar instinktiv ganz groß machen, wenn der laute Krach jeden Samstag Punkt 23 Uhr und begleitet von Laserblitzen losbricht. Im ersten Fall ist es eine Reaktion, die zu unserer biologischen Ausstattung im Umgang mit der natürlichen Umwelt zählt, im zweiten zu einem Verhalten, das zur sozialen Ausstattung im Umgang mit der vom Menschen geschaffenen künstlichen Welt gehört. Auch scheinbar spontane Reaktionen haben eine Vorgeschichte, die durch die spezifische Sozialisation in der Gesellschaft geprägt ist. Ein Kind der Südsee gerät wahrscheinlich beim ersten Feuerwerk in Panik (wie Freitag seinerzeit beim BüchsenknaII), wohingegen die Kinder in Hagen bei jeder Leuchtrakete .ah!" schreien. Während unsereiner spontan aus dem Zimmer rennt, wenn er eine fette Spinne sieht, fällt einem anderen spontan ein, dass ihm ein freundliches Schicksal wieder einmal einen billigen Mückenfanger frei Haus geliefert hat. Doch um diese mehr oder weniger spontanen Reaktionen geht es nicht, sondern um gelerntes Verhalten unter gegebenen Umständen. Nehmen wir wieder das Beispiel mit dem inszenierten lauten Geräusch Samstagabend Punkt 23 Uhr. Wir könnten uns j a vorstellen, wenn wir alle Menschenj eden Samstagabend in diese Situation brächten, würden nach einiger Zeit wahrscheinlich nur noch die Renitentesten so tun, als ob sie erschrocken wären. Alle anderen hätten gelernt, diese spezifische Ausformung von Geräuschen als Aufforderung, sich ganz zwanglos zu geben, zu verstehen. Und da alle anderen das auch so sehen und sich gegenseitig durch ihr Verhalten auch bestätigen, reagiert man letztlich quasi instinktiv und automatisch auf die immer gleiche Situation. Dieses Beispiel öffnet natürlich die schönsten Aussichten, wie man Menschen dazu bringen könnte, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten: Man muss nur bestimmte äußere Bedingungen herstellen, um bestinunte Dinge dann zu lernen. Das ist der Punkt, an dem sich die Frage, was der Unterschied zwischen Verhalten und Handeln ist, gut beantworten lässt.
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4 Soziales Handel n
Von Verha lten sprechen wir immer da nn, wenn die ge lernte Reaktion auf äußere Bedin gungen gemeint ist. Der Psych ologe FREDERICK B. SKINNER entw ickelte, wie gesagt , das Reiz-Reaktions-Schema weiter, indem er nachwies, dass Tiere durch Le rne n am Erfolg ihr Verha lten so organisieren. dass sie ohne die langen Umwege durch Versuch und Intum direkt zum Erfolg komme n. Die Tauben, die nach vie len vergeblichen Versuc hen. die Fu Uerklappe zu öffnen, endlich auf den Trichter gekommen sind. dass da s Drücken der grü nen Taste zu m Erfolg führt . drUcken schließ lich von vornhere in auf die grüne Taste. S ie schaffen sich die Bedingungen des weiteren Verhaltens selbst. Der Soziologe GEORGE CASPAR HO:MANS, der mit Skinner befreundet war, meint . dass es zwi schen den Tau ben in der Psych ologie und dem Menschen in der Soziolog ie im Prinzip kei nen Unterschied! gebe. Lerne n hei ßt, aus Reakt ionen auf eigenes Verh alte n Sc hlüsse zu ziehen. Das wiederum setzt den Menschen in die La ge , die Bedi ngungen sei nes weiteren Verhaltens auch zu manipu lieren . Er tut, was nützlich ist, und vermei det. was keinen Erfolg bringt. T heori en. die von die se m Erklärun gsp rinz ip der Psyc hologie ihren Au sgang ne hmen . ist vorgeworfen worden. sie seien redu kt ionistisch, weil sie soziale Prozesse und Strukturen auf psyc hisc he Prozesse zurUckführten und soziologisc he Aussagen d urch psyc hologisc he Hypo thesen ersetzten. (vgl. Hillm ann 1994. S. 90 1) Wie ich gleich zeigen werde, betrachten d ie pro minentesten soziologi sc hen Theorien des Ver haltens, die sich auf die Psyc hologie bezi ehen , das nicht als Vorwurf, so ndern zeigen. wie frucht bar dieser Ansatz ist. Wenn sie dennoch von Handeln statt von Verhalten sprec hen, da nn hängt das d amit zusammen, dass sie auf die konstrukti ve Leistun g der Individuen hin wei se n. Sie wählen unter Handlun gsmöglichk eiten, ziehen die Selektionen der andere n in Betracht, tausc hen sich mit ihnen über d ie Bedeutu ng der Sit uation und die Ziele ihres Handeins aus, kurz sie verle ihen der Hand lungssituation Sinn. Sinn ist in der Tat, wie es der Bielefelder Soziologe NIKLAS LUHMANN ( 1927- 1998) einmal gesagt hat, ein - oder vie lleic ht sogar der? Gru ndbegriff der Soziologie . Die spezi fisc he Funktio n des Sinn s sieht Luhm ann in der Reduktion VOll Komplexität. Er ste llt fest. dass "der Ich verweise vorsichtshalber noch einmal auf meine Anmerk ung über Tauben und Falken auf S. 80 !
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Sinnbegri ff (...) die Ord nungsfonn mensc hlichen Erlebe ns" ist. (Luhmann 1971. S. 3 1) Wenn wir etwas erleben, dan n wissen wir, dass es in diesem Augenb lick auch noch etwas anderes außerhalb dieser Sit uation gib t, un d wir ahnen auch, dass die Situation selbst auc h ganz anders erlebt we rden kann. Erleben we ist immer über sich hinaus. " Unausweichlich bleibt daher das Problem, die Aktualität des Erlebe ns mit der Transzend enz sei ner anderen Möglichkeiten zu integrieren, un d unauswe ichlich auch die Fo rm der Erlebn isve rarbeitu ng, die di es leistet. Sie nennen wir Sinn." (Luhmann 1971, S. 3 1) Nikl as Luhmann: Sinn als Reduktion von Komplexität
"Worin besteht nun, genauer gefasst, jenes Problem der Integration des Brlebens mit seinen es transzendierenden Möglichkeiten? Eine funktionale Definition des Sinnbegriffs erfordert eine Antwort auf diese Frage. Die im Erleben sich abzeichnende Differenzierung von Aktualität und Potentialität hat ihre wichtigste Eigentümlichkeit im Charakter der Überftille des Möglichen, die bei weitem das überschreitet, was handlungsmäßig erreicht und erlebnismäßig aktualisiert werden kann. Der jewei ls gegebene Erlebnisinhalt zeigt in der Form von Verweisungen und Implikationen weit mehr an, als zusammengenommen oder auch nacheinander in den engen Belichtungsraum der Bewusstheit eingebracht werden kann. Dem gerade akut bewussten Erleben steht eine Welt anderer Möglichkeiten gegenüber. Die Problematik dieser Selbstüberforderung des Erlebens durch andere Möglichkeiten hat die Doppelstruktur von Komplexität und Kontingenz. Durch den Begriff Kom plexität soll bezeichnet werden, dass es stets mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handeins gibt, als aktualisiert werden können. Der Begri ff Kont ing enz soll sagen, dass die im Horizont aktuellen Erlebens angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns nur Möglichkeiten sind, daher auch anders ausfallen können, als erwartet wurde. ( ...)
Komplexität heißt also praktisch Selektionszwang. Kontingenz heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit, sich auf Risiken einzulassen. (...) Erleben und Handeln ist unaufh örliche Selektion, darf aber die nichtgewählten Alternativen nicht ausmerzen und zum Verschwinden bringen, bis ein Zufall sie wieder vor Augen führt, sondern darf sie nur neutralisieren. Komplexität darf mithin nicht, wie es im Computerjargon heißt und für Maschinen auch adäquat ist, »vcmichtet« werden, sondern wird nur gleichsam ausgeklammert, von Moment zu Moment
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in immer anderer Weise reduziert und bleibt dabei bewahrt als allgemein konstit uierter Selektionsbereich. als »woraus. immer neuer und immer anderer Wahlen - als Welt . Mit diesen Überlegungen haben wir das Bezugsproblem abgeta stet, im Hinblick auf welches der Sinnbegri ff sich funktiona l definieren lässt. Sinn fungiert als Prämisse der Erlebnisverarbe itung in einer Weise, die die Auswahl von Bewusstseinszuständen erm öglicht, dabei das jeweils nicht Gewählte aber nicht vernichtet, sonde rn es in der Fonn von Welt erhält und zugänglich bleiben lässt." (Luhmann 1971: Sinn als Grundbe griff der Soziologie , S. 32-34)
Sinn ist ein Prozess, in dem Komplexität reduziert und die Handlungsmöglichkeit selegiert wird, die den subjektiven und objektiven Bedingungen am besten zu entsprechen scheint. Was Luhmann hier ausgefü hrt hat, darf aber nicht so verstanden werden, als ob es nur um das individuelle Erleben und Handeln ginge. Im Gegenteil, das Individuum in der soziologischen Betrachtung steht immer in Beziehung zu anderen Individuen, und sein Handeln hat immer etwas mit dem Handeln der anderen zu tun. Natürlich kann ich auch mit der sorgfaltigen Drapierung meines Kopfkissens einen Sinn verbinden (dass ich mir z. B. jeden Morgen ein schönes Beispiel meiner Ordentlichkeit liefern will) oder den Nachrichtensprecher lauthals beschimpfen, weil er m. E. bestimmte politische Meinungen immer mit einem ironischen Lächeln vorträgt, doch das ist eher ein Fall für den Psychologen als für den Soziologen. Sobald sich das Ganze aber vor den Augen anderer abspielt, indem ich z. B. meiner Frau demonstriere, wie man Betten "richtig" macht, ist die Soziologie gefragt. Denn dann geht es um soziales Handeln und die Frage, welchen Sinn Handelnde mit ihrem Handeln und dem der anderen - die uns z. B. beobachten verbinden. Von dieser Frage, welcher Sinn gemeint ist, wenn Handelnde sich in ihrem Handeln aufeinander beziehen, geht die bekannteste Definition von Soziologie und knappste Gegenposition zu den psychologischen Theorien des Verhaltens aus, die Definition von MAx WEBER. Um seinen Begri ff des sozialen HandeIns geht es in der ersten soziolog ischen Theorie des Handeins.
4
Soziales Handeln
4.2
141
Weber: Bestimmungsgründe des Handeins
Als ich MAX WEBERS Erklärung, was Ordnung ist und wie sie sich erhält, vorgestellt habe, habe ich auch ! seine De finition der Wissenschaft von " gesellschaftli chen Zusammenhängen" zitiert: "Jede Wisse nschaft von geis tigen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen ist eine Wissenschaft vom menschlichen Sichverhalten (wobei in diesem Fall jeder geistige Denk akt und jeder psychische Habitus mit unter diesen Begriff fällt.)" (Webe r 1917, S. 387). An dieser Definition fallt auf, dass da s Spektrum des "SichMVerhaltens" sehr breit ist. Es reicht vom Denke n über die psych isch e Verfassung bis zum konkreten Hand eln. Erinnern wir uns auch an die zwe ite Definition der Wissenschaft , mit der Weber die "Soziologischen Grundbegriffe" beginnen lässt. Danach soll Soziologie heißen "eine Wissen schaft, welche soziales Handeln deut end verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkunge n ursächlich erklären will." (Weber 1920b, S. 653) Wie passt diese enge re Defini tion mit der ersten zus ammen, und was hat Sic h-Verhalten mit soz ialem Handeln zu tun? Diese Fragen sind nicht leicht zu bean tworten, da die diesbezüglichen Ausfü hrungen, wie vieles bei Webe r, kompliziert nach Geist und Sp rache sind.z Ich beginne mit Webers berühmter Definition des sozialen Hand eins : l\1ax Weber: Handeln und soziales Handeln ,,»)Handeln« soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. »Soziales« Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist." (Weber 1920b: Soziologische Grundbegriffe, S. 653)
Nur wenn wir mit unserem Verhalten irgende inen Sinn verbinde n, sprechen wir von " Han deln", und nur we nn Menschen irgendeinen Sinn mit dem Verhalten untereinander verbinden, sprechen wir von Ich werde auch noch andere Aussagen von Weher wiederholen müssen. Bena chten Sie das als Chance der Verfestigung Ihrer Gedanken beim Lesen. 2 Weber selbst warnt in einer Vorbemerkung, er werde "unvermeidlich abstrakt und wirklichkeitsfremd wirkende Begriffsdefinitionen" vorstellen. Wohl wahr! Lassen Sie sich aber nicht davon abhalten, sie wieder und wieder zu lesen. Es nützt.
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"sozialem Handeln". Wenn ich vor Müdigkeit vom Fahrrad falle, ist es kein Handeln, aber wenn ich vom Fahrrad springe, weil sich plötzlich
die Straße vor mir auftut, ist es Handeln. Es macht Sinn filr mich. Wenn ich in die Hände klatsche, weil ich mich freue, ist es Handeln, aber kein soziales Hand eln, aber wenn ich in die Hände klatsche, um mit den Fans unsere Mann scha ft anzufeuern , dann ist es soziales Handeln. Es macht Sinn, und zwar ruf uns. Sinn heißt, dass es eine rationale Erklärung für das Handeln gibt, dass wir also mit unserem Handeln etwas Bestimmtes meinen und das dem anderen gegenüber zum Ausdruck bringen und dass wir meinen, auch der andere habe mit seinem Handeln etwas ganz Bestimmtes gemeint. An diesem wechselseitig "gemeinten Sinn" ist soziales Handeln orientiert. Weber betont, dass es beim so definierten sozialen Handeln nicht um irgendeinen objektiv "richtigen" oder einen metaphysisch begründeten "wahren" Sinn (Weber 1920b, S 654), sondern um den subjektiv "gemeinten" Sinn! geht. Nach dieser wichtigen KlarsteIlung bestimmt Weber den Begriff des sozialen HandeIns genauer: Max Weber: Der Begriff des sozia len Han dein s 1. "Soziales Handeln (einschließl ich des Unterlassens oder Duldens) kann orien tiert werden am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer (Rache für frühere Angri ffe, Abwehr gegcnwärtigcn Angri ffs, Vcrteidigungsmaßregeln gegen kilnftige Angriffe). Die »anderen« können Einzelne und Bek annte oder unbestimmte Viele und ganz Unbekannte sein. (»Geld« z. B. bedeutet ein Tauschgut, we lches der Handelnde beim Tausch deshalb annimmt , weil er sein Handeln an der Erwartung orientiert, dass sehr zahlreiche, aber unbekannt e und unbestimmt vie le Andere es ihrerseits kilnftig in Tausch zu nehmen bereit sein werden). 2. Nicht jede Art von Handeln - auch von äuße rlichem Handeln - ist »soziales« Handeln im hier festgehaltenen Wortsinn. Äußeres Handeln dann nicht, wenn es sich lediglich an den Erwartungen des Verhaltens sachlicher Objekte orientiert. (...) Alfred Schütz (1932) hat kritisiert, dass auch diese Einschränkung nicht erkläre, wie der Sinn denn überhaupt zustande kommt. Wer nachlesen will, wie Schütz die Konstitution von Sinn bis zu den passiven Prozessen nachzeichnet, in denen sich Erlebnisse in uns ablagern und über Bewusstseinsleistungen in Erfahrungen verwandelt werden, mit denen wir dann uns die Wirklichkeit konstruieren, kann das nachlesen in Abels 1998, Kap. 3.
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3. Nicht je de Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen . Wohl aber wären ihr Versuch, dem anderen auszuweichen, und die auf den Zusammenpra1t folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung »soziales Handeln«. 4. Soziales Handeln ist weder identisch a) mit einem gleichmäßigen Handeln mehrerer, noch b) mit je dem durch das Verhalten anderer beeinflussten Handeln. a) Wenn auf der Straße eine Menge Menschen beim Beginn eines Regens gleichzeitig den Regenschirm aufspannen, so ist (nonnalerweise) das Handeln des einen nicht an dem des andern orientiert, sondern das Handeln aller gleichartig an dem Bedürfnis nach Schutz gegen die Nässe. - b) Es ist bekannt, dass das Handeln des einzelnen durch die bloße Tatsache, dass er sich innerhalb einer örtlich zusammengedrängten »Messe« befindet, stark beeinflusst wird (..): massenbedingtes Handeln." (Weber 1920b: Soziologische Grundbegriffe, S.670-672)
Ich will einige Erläut erungen geben. Die zeitliche Dimension des sozialen Handeins ist ev iden t. Die zweite Differenzierung kann man sich an einem Beispiel klar mach en. Wenn ich beim Mikadospiel au f die Tücke der wackligen Stäbchen reagiere, dann ist das kein soz iales Hand eln. We nn ich aber einen Zusammenbruch des Haufens herbeiführe in der Hoffnung, dass dann einige Stäbchen zur Se ite rollen und meine Tochter endlich auch mal einen Punkt bekomm t, dann ist es soz iales Handeln. Die dritt e Differenzi erung hat Weber selbst wiede r erläutert. Ich will sie noch weiter komm entieren, weil daran deutlich wird, warum ich später Webe rs Begriff des sozialen Handeins unter der Präm isse, dass die Handl ungssituation das erste am Sinn des HandeIns eines anderen orientierte Handeln überdauert und eine Reaktion eines zweiten erfolgt, auf den - von ihm nat ürlich noch nicht benutzten! - Begriff der Interaktion zu führe. t Ich schmücke Webers Beispiel mit dem Zusamme nstoß zweier Rad fahrer aus. Wenn die zwe i Radfahr er ineinander knallen, dann ist das im soz iologischen Sinn ein Ereignis, das nichts mit Hand eln zu tun hat. Auch die Tatsache, dass an diesem beda uerlichen Ereignis zw ei Individuen beteiligt sind, macht das Ereignis nicht zum sozialen Handeln. Wenn aber, so malt Weber die Koll ision aus, beid e I
Vgl. unten S. 180 Anm. I und Kap. 5.2 Weber: Soziale Beziehung", S. 193.
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4 Soziales Handeln
sich anschließend prügeln, dann sprechen wir von "sozialem Handeln", denn das Handeln des einen ist an dem Sinn des Handeins des anderen orientiert. Selbst wenn wir den unwahrscheinlichen Fall nehmen, dass der eine dem anderen eine runterhaut und der so Gezüchtigte ergeben stillh ält. wäre das soziales Handeln, denn er reagiert j a, wenn auch in ungewöhnlicher Form. Aber eigentlich reichte es schon, wenn einer dem anderen eine Ohrfeige gibt, um von sozialem Handeln zu sprechen, denn Weber hatte ja definiert, dass Handeln "seinem von dem (...) Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen" sein müsse. (Weber 192Gb, S. 653) Im konkreten Fall hat A den Sinn des Ereignisses sofort verstande n: B ist ein rücksichtsloser Rowdy und verdient deshalb eine Ohrfeige. Das wär' s dann von seiner Seite. Das Handeln von B ist in seinem Ab lauf natürlich umgekehrt an dem gemein ten Sinn des Handeins von A orientiert: Meint je ner, dass dieser im Recht ist, hält er still; meint er, dass der andere sich unverhältnismäßig aufplustert, schlägt er zurück. Bei der vierten Differenzierung helfen vielleicht folgende Beispiele: Wenn ich einen Regenschirm aufspanne, um mich wie alle anderen auch vor Nässe zu schützen, ist es kein soziales Handeln. Wenn ich aber keinen Regenschirm aufspanne, weil bestimmte Leute, an denen ich mich orientiere, das auch nicht tun (in einem bestimmten Alter ist das woh l so), dann ist das soziales Handeln. Oder: Wenn zwei Leute den Regenschirm aufspannen, um dam it zugleich den Abstand zwischen sich zu vergrößern, dann ist es soziales Handeln . Und: Wenn nur einer den Regenschirm aufspannt in der Hoffnung, dass die andere sich unterhakt, ist es ebenfalls soziales Handeln. Den letzten Fall des durch andere beeinflussten Verhaltens kann man sich schließlich an folgendem Beispiel klar machen: Wenn ich nach einiger Zeit merke, dass ich wie alle anderen Zuschauer me ine Fußballmannscha ft mit einem Schlachtgesang anfeuere, ist es kein soziales Handeln. Ich habe mich unbewusst anstecken lassen, ohne darüber nachzudenken. Wenn ich aber nach reiflicher Überlegung zu dem Ergeb nis komme, dass ich durch Mitsingen mein Scher flein dazu beitrage n könnte, drohendes Unhe il von meiner Mannschaft abzuwende n, dann ist es sozial es Handeln. Ich orientiere mich nämlich an dem Sinn des Handeins der anderen. Und als Beispiel fü r ein Handeln, das durch die Masse bedingt ist, nenne ich die Situation, wo der Pulk Sie in die Disco schiebt, obwohl Sie gerade beschlossen hatten, nach Hause zu gehen: Wenn Sie sich mit
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schieben lassen, ist es ke in soziales Handeln, we nn Sie den Rückwärtsgang ein legen, schon. Der Unterschie d zw ischen Handeln und sozialem Handeln ist, dass letzteres immer seinem Si nn nach auf das Verha lten anderer bezogen. Na türlich, sagt Weber, sind die Übe rgä nge fließen d. Weber fragt nun weiter, was uns veranlasst, in einer besti mmten Weise zu handeln. Das wäre die Frage nach dem Sinn, den wi r mit ihm verbinden. Die Antwort ist nicht übe rraschend: Exakt kann man es in der Regel nicht sage n. Gleichwo hl kann man grobe Unterschei dunge n der Motive des Hand eins vornehmen. Weber nennt sie .Bestimmungsgrü nde sozialen Handeins": Es sind in Rein form vier. Mal' Weber : Bestimmungsgr ünde des sozialen Handeins "Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von andren Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als »Bedingungen« oder als »Mi ttel« für rational, als Er· folg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, 2. wertrational: durch bewussten Glauben an den - ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden - unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen. 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit." (Weber 1920b: Soziologische Grundbegriffe, S. 673) Gehen wir die Bestimm ungsgründe des sozialen Hande Ins einze ln du rch . )- Das soziale Handeln kann erstens zweckrational bestimm t sein, d. h. es werden gezielt bestimmte Mittel eingesetzt, um bestimmte Zwecke zu erreichen. .Zweckrational hand elt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitt el und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinan der ration al abwägt." (1920b, S. 675) )- Zweitens kan n soz iales Handeln wertrational bestim mt sein . " Rein wertra tiona l hande lt, wer ohne Rücks icht auf die vora uszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung." Es ist ein " Handeln nac h »Geboten« oder gemäß »Forderungen«, die der Hand elnd e an sich ges te llt glaubt." (S. 67 4) D ieses Han-
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dein ist häufi g mit unb edingtem Geho rsam verb und en . Beispiele
finden wir in religiösem Verhalten und im Verhalten unter bestimmten Vorstellungen von Disziplin und verbindlichen Aufgaben. Das Handeln fundamentalistischer Bewegungen ist so begrü ndet , aber auch das Hand eln von Offizieren, die sich einem
bestimmten Ehrencodex verpflichtet fühlen. Die ökologische Bewegung handelt nach bestimmten Werten, und eine konsequent e christliche Nächstenliebe fühlt sich bestimm ten Werten
>-
>-
verpflichtet. Ab er auch ganz andere Überzeugungsgemeinschaften könne n nach bestimmten Werten handel n. Für alle gilt, dass für die Ziele des Handelns erst in zwe iter Linie Zustimmung nach Logik und Ration alität, sondern in erste r Linie Zustimmung nach Gefühl und Überzeug ung gesucht wird. Se lbst wo die Ziele des Handelns obj ektiv von irrational gese tzten Wertungen be stimmt sein mögen, ist das Handeln , in diesem Fa ll die Verfo lgung der Ziele, in der Regel rational, d. h. kon sequ ent. Beispiele für dies e Vermischung wertrationalen und zwec kra tion alen Han delns ist das Opfer der christlichen M ärtyrer ebe nso wie das OpM fer ma ncher politisch entschiedener Üb erzeu gungstäter der Ne uze it. Die dritte Orientierung nennt Web er affektuell. insbesondere emotional. Das Handeln kann ein e hemmungslose Reaktion au f einen äußeren Reiz od er ein Ausbruch mä chti ger Gefü hle sein. Im strenge n Sinn, wo dieses Handeln also ohne Refle xion, also Rat ion alisierung, erfo lgt, steht das affektuelle Han deln "an der Grenz e und oft jenseits dessen, was bew usst »sinnha ft« orien tiert ist" . (Weber I920b, S. 674) Viertens kann das soziale Hand eln traditional bestimmt sein. Insofern es "se hr oft nur ein dumpfes in der Richtung der einmal eingelebt en Einstellung ablaufe ndes Reagieren au f gewohnte Reize" ist, steht auch dieses Handeln im strengen Sinn "ganz und gar an der Grenze und oft j enseits dessen, was man ein »sinnhaft« ori entiertes Hand eln Oberhaupt nennen kann". Und Weber fuhrt fort : " Die Masse alles eingeleb ten All tagshandelns nähert sich diesem Typus." (vgl. S. 673f.) Beim traditiona len Handeln result ieren Zie le und Verlauf des Handelns aus der Gewohn heit, ohne dass viel darüber nachgedacht wird.
4 Soziales Handeln
147
Diese Differenzierung hat natürlich nur heuristische n Wert und dient nur dazu , die vorrangige oder auffällige Orientieru ng zu bezeichnen, denn soziales Handel n ist selten "nu r in der einen oder der andre n Art orientiert," (Weber 1920b, S. 675) Immer werden sich die Erscheinungsfonnen als komplex darstellen, und die Unterscheidung, die Max Weber getroffen hat, ist eine idealtypische, die kein Abbild der Wirklichkeit ist. Diese Arten der Orientierung sind lediglich "für soziologische Zwecke geschaffene , begriffl ich reine Typen, denen sich das reale Handeln mehr oder minder annähert oder aus dene n es - noch häufiger - gemischt ist," (S. 676) Die Unterscheidung der Bestimm ungsgrt.inde sozialen Handeins lässt sich nur treffen mit Hilfe solc her Konst rukte "reiner" Forme n des sozialen HandeIns. Die von Weber ange nommenen Bestimmungsgründe des sozia len HandeIns bilden de n Hintergrund für die Differenzie rung der Orienrierungen, die TALCOTf PARSONS bei der Beschreibu ng und Erklärung des Handeins annimmt
4.3
Parsonst Alternative Wertorient ier ungen des Handeins
Der Konsens über Werte und Nonnen ist für TALCOTf PAR S O~ S Erklärung und Bedingung sozialer Integration.t Werte und Nonnen werden den Individuen im Prozess der Sozialisationä nahegebracht. Sie stimmen ihnen freiwillig zu, weil sie ihnen als bewäh rt erscheinen , oder auch notgedrungen, weil Abweich ungen sanktioniert werden. Im Prozess der Internalisierun g werden die Werte Teil der Persönlichkeit Der Schluss, der aus Parsons' Erklärung der Stabilität einer sozialen O rdnung und aus der Theorie der Sozia lisation gezogen werden kann, liegt auf der Hand: Die nonnative Integration, also die Anerkennung soziale r Werte und Nonnen, ist auch Bedin gung gemeinsamen Handelns . Gleichzeitig ist die Anerkennung sozialer Werte und Nonnen aber auch Konsequenz dieses HandeIns. Gesellschaft en tsteht aus /landlungen und besteht in Handlun gen - so könnte man die Grundannahme, die Parsons in seine m ers ten Hauptwerk "The Structure of Soeial Action" aus dem Jahre 1937 vertritt, zusammenfassen. Vgl. Band 1, Kap. 3.9 .,Normative Integration", S. 133f. und in diesem Band Kap. 1.4 .werte bestimmen die Richtung des Hande1ns", S. 33f,. 2 Vgl. oben Kap. 2.6 .Herstellung funktional notwendiger Motivation", S. 9 1.
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4 Soziales Handeln
Handlungen erfolgen nicht zufällig, sondern weisen eine bestimmte Struktur auf, das heißt, sie folgen einer bestimmten Ordnung und sind aufe inander bezogen. Außerd em haben sie eine bestimmte Funkt ion, das heißt sie haben füreina nder eine bestimmte Bedeutung. Den Zusammenhang von Struktur und Funktion fasst Parsan s unter dem Begriff des Systems . Das habe ich an anderer Stelle schon dargelegt.t Da die Gesellschaft als Ge samtheit aller Orientieru rigen und Hand lungen verstanden wird und da je des Handeln d urch die generellen Werte bestimm t wird, bezeichne t Parsons die Gesellschaft auch als allgemeines Handlungssystem.z Es setz t sich aus Subsystemen zusammen, in denen die Elemente des Handeins j e spezifisch organisiert sind. Parsons un terscheidet zwischen vier S ubsys temen : • Organ ismisches System , wom it im Wesentlichen die biolog ische Verfa ssung des Me nschen gemei nt ist. • Persönlichkeit ssystem, das die psychische und motivationale Verfassung des Individuums meint. • Soziales Syst em , das die konkreten und symbolischen Interaktionen von Individuen umfasst. • Kulturelles System, in dem die Werte und Verpflichtunge n einer Gesellschaft aufgehoben sind und das insofe rn normati ve Funk tion hat. Diese Su bsyste me bilden also zusammen da s allgemeine Handlungssystem. Sie stehen in einer Hierarchie , wobei dem kultu rellen Sys tem ein domini erender Ei nfluss zukommt, den n die kulturellen Werte und Nonnen strukturieren jegliches Handeln, we il sie dem Indi viduum im Prozess der Sozialisation nahe gebracht worden sind. Über die Werte besteht Konsens, weshalb Parsons das kulture lle System auch als .ahared symbolic system" bezeichnet. Der Konsens bzw. - so muss man im Vorgriff auf mögliche D issense sagen - die funk tionalen Kontrollmechan ismen, die der Gesellschaft zur Verfügung stehen, um Abweich ungen vom Kon sens zu sanktio nieren, sichern das gemeinsame Zusammenleben .
Vgl. Band 1, Kap. 3.9 .Normauve Integration", S. 128f., und Kap. 6.1 ,,s ystemtheorie der Strukturerhaltun g". 2 Vgl. Band I, Kap. 6.2 .D as allgemei ne Handlungssystem und seine Subsysteme".
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Jede Fonn sozialer Ordnung und jedes Handeln stellen nach dieser Theorie des allgemeinen Handlungssystems das Ergebnis des Zusammenspiels von kulturellen, sozialen und persönlichen Faktoren dar. So weit zum makrosoziologischen Aspekt. Bevor wir nun einen Blick auf die konkrete Handlung werfen, will ich noch einmal an die gerade referierte Antwort Parsans' auf die Frage der sozialen Integration, d. h. der Erklärung und des Erhalts sozialer Ordnung erinnern: Im Prozess der Sozialisation internalisiert das Individuum allgemein verbindliche Werte und Nonnen. Parsons stellt dieser Antwort nun eine zweite an die Seite: Die Gesellschaft funktioniert als ein System gegenseitiger Erwartungen und wechselseitiger Wertorientierungen der Handelnden. Diese Annahme steht im Zentrum der Handlungstheorie. Parsans geht von der Interaktion zwischen ego und alter aus. Unterstellt man - und das tut Parsons - , dass beide ein Interesse daran haben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und unterstellt man, dass die Ziele und die Mittel dazu von beiden ähnlich gewichtet werden, dann sind ego und alter im Prinzip füreinand er Konkurrenten. Das ist die Situation, die THOMAS HOSSES vor Augen hau e. Während Hobbes annahm, dass diese kritische Situation nur dadurch verhindert werden kann, dass jeder Einzelne seine Macht auf eine zentrale Gewalt delegiert und sich damit dem Zwang einer geregelten Ordnung unterwirft, nimmt Parsans einen anderen Mechanismus der Ordnung an. Er geht davon aus, dass sich Individuen zweckrational verhalten, sich dabei aber von kulturellen Geboten leiten lassen und sich deshalb in ihren Handlungen aufeinander einstellen. Hintergrund dieser Annahme ist die Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus, einer sozialphilosophischen Strömung in England Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, die unterstellte, dass jeder Mensch »von Natur aus« nach größtmöglichem Nutzen in allen Bereichen des Lebens strebt. Parsons teilt die Grundannahme, dass das Individuum Bedürfnisse (eneed-dispositions«) befriedigen und Frustrationen vermeiden will. Er nimmt auch ein Interesse an Gratifikation, also Belohnung für Leistung, an, aber er bestreitet, dass es ein unbedingtes Nutzenkalkül in allen Bereichen gibt. So gebe es neben vielen Bereichen, in denen dieses Streben nach Maximierung des Profits gelte (z. B. in der Wirtschaft), andere Bereiche, in denen es keineswegs gelte (z. B. in der Familie oder in einer Freundschaft).
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)- Daraus zieht Parsons den Schluss, dass dem Handeln eine normative Orientierung zugrundeliegt. )- Zweitens nimmt Parsons an, dass der Hand eln de ein besti mmtes Ziel vor Augen hat und dieses Ziel durch die Anwendung bestimmter M ittel zu erreichen sucht. Han deln ist also zweckorientiert. Doch Parsons schränkt ein: Sow ohl bei der Definition der Ziele seines Handeins, als auch bei der Abw ägurig der erforderlichen Mittel, sie zu erreichen, orientiert sich das Individuum an dem, was in der Gesellschaft insgesamt oder in einem Teilsystem kulturell geboten ist. :» Schließl ich konst atiert Parsons, dass Handlun gen durch symbolisehe Prozesse angeleitet werden. Der Handelnde verbindet mit seinem Handeln einen bestimmten Sinn, der über Symbole mit dem Handeln anderer vermittelt ist. Diese dritte Annahme wird verständlich, wenn wir wieder auf die Ausgangssituation, den Handlungszusammenhang von ego und alter zurückgehen. Ego und alter sind im Prinzip Konkurrenten füreinander, sie sind prinzipiell aber auch Partner füreinander. In jedem Fall gilt, dass die Handlungen des einen nicht ohne Folgen für das Handeln des anderen sind. Auf Handlungen alters, die ego für seine Zwecke für förderlich hält, wird ego wohlwollend, auf hinderliche Handlungen eher ablehnend reagieren. Das gleiche gilt natürlich auch fü r alter. Beide werden also ein Interesse daran haben, das Handeln des anderen zu antizipieren, und ihr Wissen über das Handeln des anderen nutzen, um positive Handlungen des anderen he rbeizu führen oder negative zumindest zu verhindern. Es entsteht eine »Komplementarität der Erwartungen«, durch die "die Handlung eines jeden (...) an den Erwartungen des anderen orientiert" ist. (Parsons 195 1, S. 205 u. 204) Allmählich entsteht so ein System gegenseitiger Erwartungen, das festlegt, wie ego und alter sich verhalten sollten. Es erhält eine normative Funktion. Diese normativen Muster bezeichnet Parsons als Werte, die Orientierung der Handelnden nennt er Wertorientierung. Werte reichen über konkrete Interaktionen hinaus. In dem Maße, wie der Konsens über diese Werte wächst und ego und alter den Sinn ihres gegenseitigen Handeins nach diesen überindividuellen Werten beurteilen, verfestigt sich eine symbolische Ordnung. Dieses "shared symbolic system" stellt dann das kulturelle System dar. Die Struktur sozialer
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Systeme wird aus dem gemeinsamen Bezugsrahm en der Handlungen (action fram e of reference) abgeleitet. Das ist in Kurzfassung die Aussage des ersten Hauptwerks "The structure of social action" , mit dem Parsons im Jahre 1937 eine soziologische Diskussion eröffnete, die fast ein halbes Jahrh undert andauerte. Im Jahre 1951 brac hte Parsons dann in seinem Buch "The Social System" eine interessante Optio n des Handeins ins Spiel. Er sah nämlich, dass im Zusammenspiel von kulturellen Werten, sozialen Nonn en und persönl icher Motivation durchaus individuelle Orientierungen herauskommen. Interessant ist nun, dass Parsons dieses Zusammenspiel resp. die möglichen Konfl ikte auf eine Dichotomie verk ürzt, in der sich kulturelles und soziales System auf der einen Seite und der Handelnde, als Persönlichkeitssystem, auf der anderen Seite gegenüberstehen. Parsons nimmt nämlich an, dass sich die Handelnden zwischen alternativen Wertorientierungen entscheiden müssen. Diese alternativen Wertorientierungen nennt er »pattem-altematives of value orientation« (Parsons 1951, S. 58-67; Parsons 1960) oder auch »p attern vartables«) In einem ersten Entwurf hatte Parsons darunter die nonnativen Muster oder die typische Motivierung der Handelnden in einer sozialen Situation verstanden. (vgl. Parsan s 1939a, S. 164 und 175) Welche Bedeutung Parsons der Differenzierung der alternativen Wertorientierungen beimisst, kann man sich am besten klar machen, wenn man die Architektur seiner Handlun gstheorie genauer betrachtet. Parson s geht von der Handlungssituation zwischen ego und alter aus. Ihr Handeln hängt ab von der Bedingung der Situation, von ihren Bedürfuissen, d. h. von den Zielen und den Motiven ihres Handeins, und von ihren Vorstellungen, was die Konsequenzen des Handeins wohl sein werden. Um gemeinsam handeln zu können, müssen ego und alter die Situation sinnhaft auslegen und zwar so, dass beider Handeln füreinander interp retiert wird. Das ist nur möglich, wenn sie sich der gleiehen symbolischen Bedeutungen bedienen. Eben dies macht das kulturelle System aus: "Kultur ist die Menge der Inlerprelationsschemata, die das Geschehen auf einen gemeinsamen Sinn auslegt." (Jensen 1976, S. 34) Das kulturelle System beinhaltet die Nonnen, wie in einer bestimmten Situation gehandelt werden soll. Es gibt in der Li teratur unterschiedliche Übersetzungen. Ich sp reche in der Regel von »Orientierungsaltemariven« oder »alternativen Wertorientierungen«.
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Die Erwartungen, die sich danach an alle Individuen in dieser bestimmten Situation richten, kann man als Rollen bezeichnen. Die Gesellschaft ist ein System von Rollen. Sie begrenzen den Umfang möglichen Hand eins. Innerhalb dieses Rahm ens - manchm al natürlich auch außerhalb - handelt jedes Individuum aus bestimmten Mo tiven und im Hinblick au f bestim mte Zie le. Die Handl ungssituation wird also unbestimmter, zumal jedes Individuum gleichze itig eine ganze Reihe vo n Rollen wahrnimmt. Unbestimmter wird sie aber auch deshalb, weil eine Rolle immer nur einen Teil des Individuums betriffi. Das ist ein Hintergrund der Theorie der Orientie rungsalternativen: Sie bringen Ordnung in die Handlungssituation, denn sie werden nicht zufällig entschieden, sondern folgen den Mustern, die in dieser Gesellschaft üblich und geboten sind. Anders als das Tier, das auf seine Umgebung automatisch richtig reagiert, ist der Mensch weltoffen und kann die Dinge so oder so betrachten. Da nahezu jede soziale Situation relativ unbestimmt ist, muss er sich »orientieren«, das heißt der Situation ihren spezifischen Sinn geben : 1. "Wi e ist - rein kognitiv betrachtet - die Situation beschaffen, welche Objekte bauen sie auf? 2. Welche emotionale Bedeutung hat diese Situation für mich - inwieweit kommt sie meinen Bedürfnissen und Wünschen entgegen, inwieweit widerspricht sie ihnen? 3. Welche Bewertung ist unter diesen Umständen vorzunehmen soU und darf ich gemäß meinen Wünschen mein »Verhalten freisetzen« oder gibt es Schranken?" (Jensen 1980, S. 58) Die Situation des Handeins muss also vorab bestimmt werden: Das Individu um muss sich klar machen, was erwartet wird, was seine Interessen sind und wie seine Handlungsmöglichkeiten wohl sind. l ede Entscheidung strukturiert die nächste Handlungssituation. Das gilt für das Individuum wie für die anderen Handelnden gleichermaße n. Das ist die Ausgangssituation, in der sich das Individuum nach den Orientierungsalternativen entscheidet, die in seiner Gesellschaft als kulturell angemessen gelten. Parsons unterscheidet nun zwischen den folgenden Orientierungsmustem :
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Universalismus oder Partikularismus In bestimmten Situationen wird erwartet, dass alle sich nach dem allgemeinen Prinzip einer bestimmten Rolle verhalten, in anderen, dass sie dem besonderen Fall Rechnung tragen. So kann man erwarten, dass ein Prüfer immer gerecht urteilt, ein Arzt jeden Patienten gleich gut und ein Polizist jeden Übeltäter gleich streng behandelt. In anderen Rollen ist es dagegen möglich oder erforderlich, auf die besondere Situation einzugehen. Meine besondere Zuneigung zu einer bestimmten Person werde ich nicht dadurch zum Ausdruck bringen, dass ich versichere, so sei ich immer zu anderen Menschen. Von einem Therapeuten, dem ich mein ganzes Herz ausgeschüttet habe, kann ich etwas anderes erwarten als die regelmäßige Abfrage nach einer Checkliste. Und selbst bei Rollen, in denen eine universelle Orientierung ("ohne Ansehen der Person") normalerweise geboten ist, ist manchmal genau die andere Wertorientierung angebracht oder erwünscht. Dann hofft man, dass der Prüfer wegen der besonderen Umstände milde ist und der Dorfpolizist dem Jungen von nebenan, der im ersten Vollrausch grölend durch die Straßen zieht, nur gehörig ins Gewissen redet. Friedrichs hat dieses »dilemma of choice« zwischen Universalismus und Partikularismus in folgender Frage zusammengefasst: "Wie soll der Akteur die Objekte beurteilen: nach den allgemeinsten und generellen Normen des sozialen Systems, dem er angehört, oder nach speziellen Normen, die sich aus der Beziehung des Akteurs zu den Objekten ergeben, z. B. besondere Qualitäten des Objekts oder Beziehungen zu den Eigenschaften des Akteurs selbst (z. B. als Freund)?" (Friedrichs 1968, S. 57) Dazu wieder ein Beispiel: Der Handwerksmeister wird den ersten Hocker, den sich sein kleiner Sohn zusammengezimmert hat, sicher nicht nach den universalistischen Kriterien beurteilen, die er bei einer Gesellenprüfung anlegt, sondern gerührt nach partikularen Kriterien loben! Orientierung an Leistung oder Zuschreibung Bei dieser Alternative geht es um die Einschätzung, ob die Situation ein Handeln nach zugeschriebenen {eascription«) Vorschriften erfordert, oder ob individuelle Leistungen {eachievement«)
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möglich oder gar gefordert sind. Ein Beispiel für die Orientie-
rung an der Handlungsalternative Zuschreibung wäre der Dienst nach Vorschrift, ein Beispiel für die andere Alternative das Handeln eines freien Unternehmers. Später hat Parsons diese Alternative neu benannt, indem er zwischen Eigenschaft (equality«) und Leistung (»performance«) unterschied. (vgl. Brandenburg 1971, S. 64) Damit kam ein neuer Aspekt hinein, nämlich die Einschätzung des Handeins der anderen Beteiligten. Ein Beispiel für die Orientierung »Eigenscha ft« ist "das Kind aus schlechtem Haus, von dem man be-
stimmte Dinge gar nicht erst erwarten kann", eines für die Orien-
tierung »Leistung« ist die sachliche Konstatierung der individuellen Leistung. Dass die Orientierung »Eigenschaft« nicht nur zu einer ganz bestimmten Erwartung, sondern auch zu einer anderen Wahrnehmung gegen über den Betroffenen und sogar einem bestimmten Verhalten bei diesen selbst führen kann, haben Experimente in der Schule geze igt. So berichten Rosenthai und Jacobson (1968), dass Lehrern zwei Gruppen von Kindern zugewiesen wurden, die sie in ihre Klassen aufn ehmen sollten. Von der ersten Gruppe hieß es, es seien Kinder, bei denen der Leistungstest besond ers gute Ergebnisse gezeigt habe, von der zweiten, die Leistungen seien unterdurchschnittlich. In Wahr heit unterschieden sich die Leistungen der Kinder überhaupt nicht. Als man dann nach einem halben Jahr diese beiden Gruppen testete, zeigte sich, dass ihre Leistungen tatsächlich dem entsprachen, was man ihnen vorher "zugeschri eben" hatte. Die Erklärung liegt auf der Hand: Positive Erwartungen fuhren zu wohlwollender Unterstützung und spornen zu besonderen Leistungen an, negative führen zu Unterforderung und demotivieren.
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Sp ezifiUit oder Diffusität Manche Rollen sind sehr spezifisch. So wird sich ein Bankangestellter über die korrekte Beratung in Gelddin gen definieren und nicht über das persönliche Mitleid mit einem Kunden, wenn er über einen Kredit verhandelt. Dagegen gibt es andere Rollen, die sehr diffus sind. Nehmen wir die Rolle der Mutter. Sie ist Trösterin, Mülleimer, Prellbock, Dienerin, Vertraute und zum Mutter-
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tag sogar der Mittelpunkt der Familie. Bei ihrem Verhalten wird sie immer ein bissehen von allem sein - oder es zumindest im Hinterkopf haben. Die Soziologin, die vom Ortsvere in der Grünen in Herzlake eingeladen wird, um über Naturschutz und neues Gemeinschaftsdenken zu referieren, wird sich auf sehr spez ifische Erwartungen und Fragen einstellen, währe nd die Soziolo gin, die in der Volkshochschule Sigmaringen zum Thema "Die Gesellschaft und wir" sprechen soll, in ihren Ausru hrungen wahrscheinlich ziemlich allgemein bleiben wird. Die Frage, vor der sich der Handelnde bei diese r Alternative sieht, lautet deshalb: Geb ietet (oder ermö glicht) der Handlungszusamm enhang ein auf den spezifischen Kontext begrenztes Handeln oder kann und mu ss man dabei auch 'viele andere Nebenbed ingungen berücksichtigen? Um es wieder an einem Beispiel zu verdeutlichen, worin das »dilemma of choice« (vielleicht ja auch die Chan ce) besteht: Spezifisch ist die Rolle des Arztes in einer städtischen Unfallambulanz , diffus die des Arzt es in einem kleinen Dorf, wo man darauf achtet, wie "der Doktor" seinen Vorgarten pflegt und welc he Figur er auf dem Schützenfest abgibt. }i>
Affektivität od er Neut r alität Manche Rollen erfo rdern oder erm öglichen ein unmi ttelbares emotionales Eng ageme nt. Eine Mutter wird ihr Kind, das sich gerade das Knie aufgeschlagen hat, spontan trösten, ehe sie ihm die Fallgesetze erklärt. Die Mutter handelt also aus dem Gefühl heraus, affektiv . In anderen Rollen ist sachliches Verhalten geboten oder zulässig. So wird von einem Prü fer erwartet, dass er eine Leistung objektiv und affektiv neutral bewertet, auch wenn er die theoretische Richtung ablehnt, und der Richter muss die Wahrnehmung eines Grundrechts auch bei denen schützen, deren politische Richtung ihm persönlich höchst zuwider ist. Eine affektive Orientierung ist typisch z. B. für das Verhalten in der Familie oder einer Freundschaft , eine neutrale für die Abwicklung eines Geschäfte s.
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Selbstorientierung oder Kollektivorientierung Bei bestimmten Rollen erwartet man, dass die Handelnden ihre eigenen Interessen verfolgen. Das gilt für die Rolle des Geschäftsmannes wie für die des Tennisspie1ers. Bei anderen Rollen erwartet man, dass die Handelnden allgemeinen Interessen folgen. Beispiele ruf solche Rollen sind die des Politikers, des Priesters oder des Arztes. Ihr Verhalten sollte sich am Gemeinwohl orientieren. Dass wir in dieser Hinsicht oft enttäusc ht werden, spricht nicht gegen die Alternative der Wertorientierung. sondern zeigt, dass mancher die Verantwortung, die mit einer bestimmten Rolle verbunden ist, höchst egoistisch wegschiebt.
Das Modell der Orientierungsaltema tivcn kann man einmal so verstehen, dass damit die Entscheidungen angesproche n werden, die das Individuum für sich und sein individuelles Handeln trifft. In diesem Sinn kann man auch das kleine Beispiel verstehen, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Es stammt von Stefan Jensen. Er schreibt: .J emand, der in eine »Peep Show« geht, klassifiziert die Obj ekte seiner Begierde nach ihren universelle n Merkmalen - jeder Körper, der ihn erregen könnte, wird akzeptiert. (})Universell«( sind also Objekte immer dann, wenn sie als austauschbare, beliebige Elemente einer Menge angesehen werden.) Des Weiteren interessiert den ShowBesucher nicht die Gesamtheit der Merkma le, die das obskure Objekt seiner Begierde aufweist, sondern eine besondere Disposition: die Qualität als Stripperin. Die Einstellung (des Show-Interessenten) gegenüber der Sit uation und ihren Objekten ist zum einen stark selektiv, also funktional spezifisch (auf bestimm te sexuelle Aspekte reduziert), zum anderen affektiv - in dem Augenb lick nämlich, wo der Interessent »enthemmt« dem Trieb zum Handeln nachgibt. Solange er dagegen ein »braver Junge« bleibt und der Versuchung widersteht, ist er »inhibiert« beziehungsweise affektiv-neutralisiert. Gibt er dem Affekt nach und macht das, was er immer schon gern wollte, dann ist das (aus der Sicht des Beobachters) eine Performanz - der Aktor stürzt sich ins Abenteuer." (Jensen 1980, S. 68) Das wäre ein Beispiel für die Strukturierung des eigenen Handeins. Doch wenn man den einsamen Betrachter verlässt und eine Situation nimmt, in der ein Individuum zusammen mit anderen handelt, dann ist klar. dass jede Entscheidung für eine Orientierungsalternative Konse-
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quenzen auch für jeden anderen Beteiligten hat. Das Modell der Orientierungsalternativen verbindet die Kategorisierung der Situation durch die Individuen mit den Motiven ihres HandeIns. Die pattern variables markieren j eweils Pole von individuellen Handlungsmöglichkeiten und individuellen Bewertungen des Handeins. Dadurch dass es aber ein nonnatives System gibt, das Erwartungen an Rollenhandeln definiert, markieren sie auch Pole von sozialen Handlungsverpflichtungen und sozialen Bewertungen. Diese doppelte Bedeutung kommt auch in den Fragen zum Ausdruck, in denen UWE SCHIMANK die pattern variables umschreibt. Ich zitiere sie als Zusammenfassung der nonnativen Orientierungen, wobei ich die letzte Frage allerdings umfonnuliert habe: ). "Erlaubt eine Rolle das Ausleben affektiver Impulse, oder hat das Rollenhandeln affektiv neutral zu sein? ,. Fordert eine Rolle dem Handelnden die Ausrichtung an den Belangen der jeweiligen Kollekü vitdt ab, oder kann er vorrangig sein Eigeninteresse verfolgen? >- Verpflichtet die Rolle den Handelnden zur Berücksichtigung partikularistischer Standards der Situationsbeurteilung, oder hat er universalistische Standards zu beachten? )0 Ist die Rolle au ffu nktio nal spezifisch e Erwartungen hin angelegt, oder sieht sich der Handelnde diffusen Erwartungen gegenüber? )0 (Wird das Handeln in einer Rolle nach objektiver Leistung beurteilt, oder ist ihm die Rolle) aufgrund leistungsunabhängiger Attribute - z. B. sozialer Herkunft oder Geschlechtszugehörigkeit zugeschrieben?" (Schimank 1996, S. 85) Die letzte Frage habe ich deshalb umfonnu liert, weil ich die Alternative "achievement" anders als Schimank in Richtung der Beurteilung des Handeins durch andere interpretiere. So hat es auch Linton, an dem sich Parsons ja bei dieser Unterscheidung ursprünglich orientierte, gesehen. Diese Interpretation sehe ich auch dadurch gestützt, dass Parsons diese Alternative später in »performance« umbenannt hat Diese Umbenennung ist Teil einer deutlichen Revision des Modells der pattern variables, indem Parsons den Gedanken der typischen Motivation fallengelassen und stattdessen in den pattern variables Muster der Klassifikation von Objekten gesehen hat. (vgl. Parsons 1960) Als solche
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dienen sie dem Beobac hter zur Differenzierung der physischen , soziaJen und kulturellen Obje kte seiner Handlungssituation . So weit zum Konzept der pattem vari ables sel bst. Ich will noch kurz andeuten, wie sie zur Strukt urerhaltung sozialer Systeme, die man als ..stabile Muster" von Interaktionen handelnder Personen (vgl. Parsons 1971. S. 15) bezeichnen kann, beitragen. Damit ein soziales System, als System der Handlungen von Rollentr ägem. nicht in grundsätzliche Unordnung gerät, müssen die Handlungsori entierun gen vorab und für alle Beteiligten in gleicher Weise geregelt sein - zumindest muss das Spektrum, innerhalb dessen individuelle Entscheidungen getroffen werden. bekannt sein. Deshalb kann ma n auch eine Tendenz ausmachen, nach der Orientierung saltemativen letztlich entsc hieden werden sollen: Damit das soziale System funktioniert, mü ssen part ik ulare in universelle, zuschreibende in leis tun gsbezogene, spezifisc he in diffusallgemeine, affektive in neutrale und selbstbezog ene in kollektive Orienti erun gen umgewandelt werden! Darin sieht Parson s auch kein Pro blem, den n er geht von einem gemeinsamen kulture llen System aus, auf da s sich die Handelnden bezie hen, und er hat mit seiner Theori e der Internalisierung kulturelle r Werte auc h erklärt , warum man diesen gemeinsamen Bez ug zurec ht unterstellen kann. Die Werte bilden die kul turellen St and ards, die für das Handel n in einer bestimmten Gesellsc haft gehen. Handeln ist für Parsons also Handeln, das durc h kulturelle Werte und Nonnen gesteuert wird. Di ese Sicht auf den Zusam menhang von Individuum und Gesellscha ft hat THOMAS P. WILSON als »normatives Paradigma« bezei chnet. (Wilson 1970, S. 55ft.) Der Mensch , um den es in dieser Th eorie geht, ist de r hamo sociotogtcus. Er defi niert H andlungssituationen als "m ustergülti ge" Beispiele normativer Erwartungen. Das war die Grundlage der Rollentheori e von Par son s, und so kann man auch seine The orie des Handeins lesen .
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Rationale Wahl, gerechter Tausch, symbolische Transaktion
Ge gen Parsons, der das Handeln aus den Nonnen eine s besteh enden Syste ms erklärt, wurde eingewandt, in seiner Theorie er scheine "das men schliche Subjekt nicht genuin als prinzipi ell frei un d selbstbestimmt handelndes Wesen , sondern eher als passive Marionette un-
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durchsichtiger nonnativer und struktureller Kräfte und Mechanismen." (Giddens 1988, S. 287) Diesen Einwand erhoben vor allem Theorien, die bei der Erklärung sozialer Phänomene systematisch das Handeln von Individuen in den Vordergrund stellen. Sie werden manchmal als .Handlungstheorien" und manchmal als .Akteurtheorien" bezeichnet. I Außerdem behaupten diese Theorien, dass soziale Struktu ren nicht an sich existieren, sondern ,,nur insofern »wirkliche" werden, "als sie in konkreten Handlungsprozessen von menschlichen Subjekten selbst gesetzt werden." (Kießling 1988, S. 290) Das heißt: • Individuen definieren - bewusst oder unbewusst - die Strukturen als Bedingungen ihres Handels nach ihrer Relevanz für bestimmte Ziele, • wählen entsprechende Mittel aus, sie zu verwirklichen, • und schaffen durch ihr Handeln somit neue Strukturen als Bedingungen weiteren Handeins. Das ist in Kurzfassung eine wesentliche Annahme der "Theorie der Strukturierung", auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde. Ich erwähne diese Kreisbewegung Handeln-Strukturen-Handeln nur deshalb schon, damit die Verbindung zwischen den folgenden Überlegungen über den Zusammenhang von "rationaler Wahl, gerechtem Tausch und symbolischer Transaktion" und der "Dualität der Struktur" immer im Auge behalten wird. Also: Das Thema ist dasgleiche, aber die Akzente werden etwas anders gesetzt. Da die folgenden Theorien systematisch von der Erklärung des Sozialen durch das Handeln der Ind ividu en ausgehen, firmieren sie unter dem wissenschaftstheoretischen Begriff des »methodologischen Individualism us«. Damit ist keine Theorie des Individuums oder des Handelns gemeint, sondern das methodische Prinzip soziologischer Erklärung, die "das Tun der Akteure und die Wirksamkeit der Strukturen gleichermaßen ernst nimmt". (Esser 1999, S. 28) Der methodologische Individualismus "geht von den Strukturen aus, denen das Handeln der Akteure in strukturierter Weise folgt, und kehrt dorthin wieder zurück." (ebd.) Münch (2003) spricht von ,,Handlungstheorie" und rechnet dazu auch Phänomenologie, Ethnomethodologie und Interaktlonismus, die ich unter dem Blick "Interaktion" (Kap. 5) behandele. Den Begriff Akteurtheorien bevorzugt Schimank (2000), der allerdings auch die Rollentheorie in diese Perspektive einbezieht.
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Noch eine letzte Vorbemerkung: Nach meinem früheren Zugang zu diesen Theorien, dessen Fokus "Individuum" ich in der Überschrift »Individualistische Theorie n« (Abeis 2001, Bd. 2, Kap. 4.4) zum Aus-
druck bringen wollte, möchte ich nun mit der Differenzierung der beiden Überschriften »Raticnale Wahl, gerechter Tausch, symbolische Transaktion« und »Rationale Wahl trotz .Jtabits" und .Jrames?« stärker den Effekt und den Rah men seines Handeln s betonen. Was ich über die
historische Einbettung dieser Art, "das Soziale" zu denken, und einige Grundannahmen der Theo rien , die vom Handeln der Individu en ausgehen, sage, gilt deshalb für die beiden theoretischen Akzente. Fragen wir zunächst, wo Wurzeln dieses Denkens liegen. Eine wichtige ist die schottische Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts. Ihre Erkläru ngen des Handeins will ich kurz wiede rholen. ' Die schottischen Mora lphilosophen betrachteten den Menschen als ein Wesen, das ein eingeborenes Se lbstinteresse mitbringt und aus Erfahrungen, vor allem sozialen Erfahrungen, lernt. Es behält Verhaltensformen bei, die sich zur Befriedigu ng der eige nen Bedürfnisse als nützlich erwiesen haben. Der Mensch ist aber auch das Wesen, da s die Reaktion der anderen auf sein Hand eln genau beobachte t, und de shalb tut es Dinge, die von den anderen gutgeheißen oder zumindest nich t be hindert werden. Aus der wech selseitigen Beobachtu ng nützlichen und sozial anerkannten Verhaltens entstehen soziale Gewohnheiten (xhabits«) und aus denen bilden sich schließlich, so die These von ADAM SMITH (172 3-1790), " allgemeine Regeln darüber, (...) was zu tun oder zu meiden schicklich und angemes sen ist". (1759, S. 238) Die Gesell schaft basiert also letztlich auf der wechselseitigen Beobachtung angemessenen und nützlichen Handeins. Als Beispiel, wo diese Form der Beziehung hervorragend funktioniert, verweist Smith au f da s wirtschaftliche Handeln. Dort schufen sich Individuen sachlich e, ratio nale Regeln, die von allen Beteiligten anerkannt wurden und zu imm er größerem Erfo lg - zumindest in einem bestimmt en Handlungsbereich - führten . Ihr Hand eln war durch den " Austausch guter Dienste" gekennzeichnet , "die gleichsam nach eine r vereinbarten Wertbestimm ung geschätzt werd en." (Smi th 1759, S. 128) Sozia le Beziehungen funktionieren also, weil sie nützlich sind. Vgl. Band I, Kap. 3.3 ..Schottische Moralphilosophie: Erfahrungen und Gewohnheiten".
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Für eine individ ualistische Theorie des HandeIns ist auch die These von ADAM FERGUSON (1723- 1816) wichtig, won ach die "Kunst" zur Natur des Menschen gehört. Ferguson meint es in dem ganz radikalen Sinn der Veränderung der Natur und des Schaffens von Bedingungen: Der Mensch "ist gewissermaße n sowohl der Künstler seiner eigenen Ges talt als seines Schicksals." (1767, S. 103) Er ist das Wesen, das in seiner "vorwärtsdrängenden Aktivität" seine sozialen Verhältnisse selbst! schafft. In moderner Terminologie würden wir sagen : Die Gesellschaft ist die Summe der Handlungen der Akteu re. An den Gedanke n des ursprünglichen Selbstinteresses der Individuen und der allmäh lichen Herausbildung zweckmäßiger sozialer Regelungen schloss sich eine »utilitaristischeeä Philosophie an. Danach ist das, was allen nützt, auch das Gute. Da j eder sein individuelles Glück mehren will, handeln alle nach dem Prinzip der Nützlichkeit. Doch der Nutzen kann nicht maximal, sondern immer nur relativ sein, da die individuellen Interessen in Konk urrenz zueinander stehen können und da die Mittel, sie zu verfolgen, nicht gleich verte ilt sind. Dennoch gilt: Um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, entscheiden sich die Individu en filr die Handlungsmöglichkeiten, die den relativ größten Nutzen versprechen und die geringsten Kosten verursachen. Ende des 18. Jahrh underts formulierte der englische Sozialphilosoph und Volkswirt JEREMY BENTHAM (1748-1832) die gri ffige Parol e des Utilitarismus, wonach das Prinzip der Sittlichkeit im "größten Glück der größten Zahl" liegt. Wenden wir uns nach der sozio logiehistorischen Einbettung der Th eorien, die systematisch vom Handeln eines Individuums ihren Ausgang nehm en, nun einigen Grundannahmen der soziologischen Diskussion zu, die im letzten Dri ttel des 20. Jahrhunderts bega nn. Ich will sie so formulieren: };> Erstens, Aussa gen über soziale Strukt uren und Prozesse können auf Auss agen über das Handeln von Individuen zurückgeführt werd en.
Hier dürfte KA RLMARX, den Esser ebenfalls in die Ahnenreihe des methodologisehen Individualismus rechnet, seine Zweifel gehabt haben. Gerade deshalb zieht Esser ihn aber als Kronzeugen für die Erklärung des Zusammenhangs von Struktur , Handeln und Struktur heran. Ich komme darauf in Kap. 4.5 ,,Dualität der Struktur" gleich zurück. 2 utilis, lat. "brauchbar, nützlich"
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);. Zweitens, die Bestimmungsgrü nde des Handelns liegen nicht in irgendwelch en abstrakten kulturellen Systeme n ode r Strukturen eines kollekti ven Bewusstsein s und auch nicht in der psychischen Befin dlichke it oder "der" Nat ur des M enschen, sonde rn in den Erfahrungen, die die Indi viduen mit ihrem Handeln gemac ht hab en, und in den Zielen , die sie für sich aufs tellen. );> Drittens, die Strukturen werden als Handlungsmög/ichkeiten betrachtet. );> Viertens, es we rden die Handlungsmöglichkeiten - bewusst oder unbewusst - als Mittel ode r Strategien der Zielerreichung gewählt, die Aufwand und Ertrag in ein möglich st gutes Verhält nis bringen . };> Fünftens, die Erfahrungen, Ziele und Strategien sind ihrerseits auch beeinflu sst durch die sozia len Strukturen, in de nen die Akteur e hand eln , und - hier schließt sich der Kreis - sie beeinflussen andere rseits wieder diese soz ialen Strukturen, sc haffen sie also. Den deutlich sten Impuls, den Zusammenhang von Gese llscha ft und Individ uum von dessen Handeln aus zu denken, gab im Jahr 1964 der damalige Präsid ent der Am erik anischen Soziologischen Ges ellschaft GEORGE CASPAR HOM ANS ( 1910 - 1989) , der seine »Presidentia l Adress« unter den sprechenden Titel .Bringing Men Back In" stellte. In diesem Vortrag, in dem Hom ans nach eigener Aussage bewu sst "giftig" sein woll te, bezeichnete er die bis dahin herrschende Schule des Funktion alism us als "Hindernis" für da s " Verständnis sozialer Phänomene" (1964 , S. 44) und begründete das damit, er hab e nur kon statiert, dass etwas vorha nden sei, z. B. No nnen, Rollen oder Institut ionen, und dann behauptet, dass sie ein bestimmtes Verhalten nach sich zögen od er eine bestimmte Wirkun g hätten. D ie Frage aber, wie es überhaupt zu Normen , Rolle n oder Instituti onen kom me, sei überh aupt nicht ges tellt worden. Und auf die Frage, wa rum sich Menschen an Nonnen halten. sei höch st allgemein geantwortet worde n, sie hätt en eben bestimm te Werte intern alisiert. Eine Erklärung sei das nic ht, und Hom ans mokiert sich über den Funktionalismus, dass man eine solche doch eigentlich schon bei einem seiner Gründungsv äter. BRONISLAW MALlNOWSKl, hätte lesen könn en . Der hatte nämli ch den Gehorsam gegenüber den No nnen damit erklärt, dass er nach dem Maß ihre r Erfüllung "gewöhn-
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lieh belohnt wird, (..) während Nichtbeachtung die Bestrafung" nach sich zieht. (zit. nach Homans 1964, S. 51) Und um zu zeigen, wo Soziologen, die nicht von sozialen Systemen, sondern vom Individuum aus denken, ihre Erklärungen des Handeins suchen sollten, bringt Homans gar nicht soziologielike eine Hypothese der Psychologie ins Spiel, wonach ein Mensch eine Aktivität umso eher ausführen wird, je mehr sie belohnt wird. (vgl. Homans 1964, S. 51) Deshalb lautet auch seine Erklärung der Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum: "Nicht die Bedürfnisse der Gesellschaften erklären die Beziehung, sondern die Bedürfnisse der Menschen." (S. 52) Dieser Vortrag war "der Ausgangspunkt für die Wiederentdeckung des Menschen als handelndes Subjekt und als der - das nicht immer durchschauende - »Konstrukteur« der ihn umgebenden Gesellschaft. Es war der Beginn des Verfalls des Parsonssehen StrukturFunktionalismus und der Startschuss für die Entwicklung der erklärenden Soziologie." (Esser 2001, S. 418) Um bei dem Letzteren gleich anzufangen: Es war der Beginn einer Soziologie, die, nach dem Prinzip der Naturwissenschaften, Handeln nicht nur verstehen, sondern sachlich, rational erklären wollte. Dazu hatte Homans schon vor seinem präsidialen Paukenschlag auf die psychologische Lemtheorie seines Freundes FREDERICK B. SKINNER zurückgegriffen, der nachgewiesen hatte, dass Tiere auf Reize von außen nicht nur passiv reagieren, sondern dass sie am Erfolg lernen und den immer wieder herbeiführen, indem sie selbst die Umstände ihres Verhaltens bewirken. Skinner hatte das die Fähigkeit des »operanten t Konditionierens« genannt. Es werden die Verhaltensweisen beibehalten oder verstärkt, die die größte Belohnung nach sich ziehen. Homans übertrug den Gedanken des operanten Konditionierens auf eine Theorie des menschlichen Verhaltens. Der Grundgedanke ist einfach: Menschen reagieren auf äußere Reize, machen Erfahrungen, indem sie wiederholte Reaktionen zusammenbringen, und übertragen diese Erfahrungen auf neue Situationen, die sie dann in der gleichen Weise bewältigen, wie sie es früher schon getan haben. Lösungen, die befriedigen (Belohnung), werden beibehalten, Lösungen, die nicht befriedigen oder gar bestraft werden, werden ausgeschieden. Wie die Tiere können auch die Menschen gezielt Situationen herbeiführen, in de1 cperare, lat. "bewirken"
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nen sie Grat ifikationen erhalte n, wo also ihr Verhalten bestätigt wird . Diese Elementarform sozialen Verhaltens nennt Homans »Tausch«. Get auscht werden nicht nur sichtbares Verhalten, sondern auch Gefühle. (vgl. Homans 1961, S. 29) Das Geruht, das den Soziologen am meisten interessiert, ist die soziale Anerkennung . Es ist der soziologische Begriff für die Belohnung im Skinnerschen Lernprogramm. Homans erläutert das Prinzip de s Tau schs an dem Beispiel, dass eine Sekretärin an einer bestimmten Stelle nicht weiter weiß und abwägt, ob sie
ihren Vorgesetzten fragt, was u. U. eine schlechte Beurteilung nach sich ziehen würde , oder ob sie sich an eine Kollegin wend et. Sie tut letzteres, bekommt Hilfe und bedankt sich. In den Worten der Tauschtheorie des sozialen Verhaltens: Hilfe wurd e gegen Anerkenn ung getauscht. (vgl. S. 27) Personen tau schen Leistun gen aus und be kommen dafür Gratifikationen. Wer mitreiße nd reden kann , wird in den Bun destag gewählt, und wer eine Oma über den Zebras treifen winkt, erntet ein freundli ches Lächeln. In diesem Fall wird er sich den Genuss, belohnt zu werden, durch wiederholt es freundliche s Verhalten verschaffen, injenem seinen Wählern imm er wieder schöne ex empla seines rhetori schen Talents liefern. Wer zw eimal ausg elach t wurde, we il er vor sich hinstammelte, wird es sich dreimal überlegen, ob er Redner werden soll t, und wem die vierte Oma noch immer nicht zugelächelt hat, wird in Zukunft auf alte Mensch en im Verkehr nur noch im Notfall Rücksicht nehm en. Kurz: Durch das Erbringen oder Unterlassen vo n Leistungen und das Gewähren oder Vorenthalten von Gratifikationen verstärken die Akteure wechselseitig ihr Verhalten. Im Sinne einer ökonomischen Theorie kann man sagen, das Verhalten reguli ert sich nach Kosten und Nutzen. "Soziales Verhalten ist als Gilteraustausch anzuse hen", der sich auf Dau er bei einem " Gleichgewicht von Tauschgütem'' (Ho mans 1958, S. 184f.) einp endelt und auch nur so lange funktioni ert, wie alle Beteiligten den Eindruck haben, dass der Tau sch gerecht ist, dass also der Wert der Guter stimmt. Homan s betont ausdrücklich, dass der Wert der Güter und die Rationalität des Verhaltens nicht von einem Beobachter und schon gar nicht von einer "objektiven" Warte au s definiert werden können, sondern es Den Fall des Demostheues lasse ich beiseite, da ich nicht weiß, ob man ihn nach einer kognitiv gewendeten Lerntheorie oder nach der Theorie der paradoxen Intention behandeln soll.
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geht immer und ausschließlich um die Rationalität, die sich aus individuellen, erlernten Werten ergibt. Rational verhält sich der kleine Junge, der raucht, weil er gelernt hat, dass ihm das soziale Anerkennung in seiner Gruppe gebracht hat. Wir, die vernünftigen Nicht-mehr-Raucher, wissen, dass das "eigentlich" irrational ist - nach unseren Maßstäben! Das Verhalten einer Person ist rational, "wenn es (...) so berechnet ist, dass sie daraus auf lange Sicht die größtmögliche Versorgung mit diesen Werten erhält." (Homans 1961, S. 68) 1. Der Austausch funktioniert auf Dauer nur, wenn alle beteiligten Akteure auf ihre Kosten kommen, das heißt, möglichst viele Belohnungen erhalten bzw. möglichst geringe Kosten haben. Unter dieser Prämisse treffen sie eine rationale Wahl . 2. Zweitens muss der Austausch gerecht! sein, d. h. die Chancen des Erfolgs und die Zumutungen der Einschränkungen müssen gleich verteilt sein. 3. Das lässt sich nur feststellen und einfordern, wenn die Akteure sich auf ein gemeinsames Wertsystem beziehen. Dieser Anspruch auf einen gerechten Austausch führt drittens dazu, dass sich die Tauschgtiter einpendeln. 4. Aus dauerhaften Austauschprozessen entsteht viertens eine bestimmte soziale Struktur. Sie verfestigt sich aber nicht, sondern bleibt Prozess, in dem Individuen durch ihr Verhalten ständig wechselseitig die Bedingungen für ihr Verhalten schaffen. 5. Und schließlich folgt aus diesen Überlegungen, dass Verhalten in spezifischen sozialen Konstellationen erlernt wird und auch verändert werden kann. In dieser Akteurtheorie behält das Individuum das Heft des Verhaltens
in der Hand, denn - so muss man die psychologische Lerntheorie in die soziologische Austauschtheorie verlängern - es kann auch neue soziale Konstellationen schaffen oder aufsuchen, in denen neue Formen des Austauschs möglich sind und zu mehr Gratifikationen fuhren! Akteure wählen unter möglichen Handlungen die aus, die nach ihrer Erfahrung die größte Belohnung versprechen. Dieses Prinzip des »conrinual bartering of one thing for another« hatte schon der zynische Beobachter der englischen Gesellschaft, Bernard Mandeville, in seiner Bienenfabel als Erklärung dafür abgegeben, warum Menschen einander Dienste leisten. (vgJ. Mandeville 1723, S. 349)
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Auc h der Chicagocr Soz iologe JAM ES S. COLEMAN ( 1926- 1995) geht davon aus, dass die Akteure die Handlungen auswählen, die die größte Befriedigung ihrer Interessen versprechen. t Sie folgen nicht einfach Nonne n, sondern verfolgen Intentionen, und deshalb treffen sie auch bei der Entscheidung, welche Handlungsmöglichkeiten in Frage kommen, eine rationale Wahl (» rational choice«). Auf seine Grundhypothese über die Intentionen und die Selektion der Handlun gsmöglichkeiten hatte seinerzeit schon Homans hingewiesen. Sie lautete: "Jeder Handelnde wird versuchen, seine Macht auf solche Handlungen auszudehnen, an denen er das größte Interesse hat." (Coleman 1964, zit. nach Homans 1964, S. 50) Macht heißt ruf Coleman die Kontrolle über Ressourcen (Coleman 1990, Bd. 3, S. 146f.), aus denen das Handeln der Akteure in einer konkreten Situation seinen Wert bezieht. Geht es z. B. um den ökonomischen Erfolg, ist es in der Regel die Ressource Geld, geht es um die Konkurrenz in einer Fakultät, ist es die Ressource Reputation, und wenn Tom Sawyer vor den schönen Augen des fremden Mädchens den penetranten Streber in den Staub zwingt, dann geht es um die Ressource Aufmerksamkeit. Damit ist auch schon das Problem benannt: Der Akteur kennt die richtigen Mittel und Wege, um seine Ziele zu erreichen, aber er muss feststellen, dass er diese Mittel und Wege nicht allein kontrolliert. Einige Bedingungen zur Befriedigung seiner Interessen werden von anderen kontrolliert. Wenn ich z. B. überzeugt bin, dass die große Politik ohne mich nicht erfolgreich sein kann, dann muss ich die Ochsentour machen, um irgendwann ins Rampenlicht treten zu können. Es gibt Konkurrenten, die das gleiche wollen, und lästige Mitläufer, die man nicht abschütteln kann. Da jeder die Kontrolle über wichtige Ressourcen erlangen will, kann es passieren, dass man seine Ziele nur erreichen kann, indem man die Kontrolle der anderen schwächt. Dazu bedarf es weiterer symbolischer Austauschforrnen oder »Transaktionen«, die man mit anderen Akteuren eingeht. Zu solchen Transaktionen gehören z. B. "Bestechungen, Drohungen, Versprechen und Investitionen an Ressourcen" . (Coleman 1990, Bd. I , S. 36) Es sind gewissermaßen soziale Investitionen, von denen man hofft, dass sie sich rechnen. Da die Handlungen der Akteure in der Regel voneinander abhängig und Hier hat mich Rainer Schützeichel um eine schwierige Klippe der Formulierung herumgelotst.
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aufeinander bezogen, also »interdependent« sind, und da alle Akteure ihre Kosten möglichst gering halten und ihren Gewinn möglichst groß machen wollen, kann das Ergebnis des Austauschs nie ein ideales, sondern nur ein soziales Optimum sein. Das Handeln der Akteure, ich wiederhole es, erfolgt immer unter dem wechselseitigen Einfluss aller Beteiligten. Auf die strukturellen Bedingungen des HandeIns hebt Schimank mit der Differenzierung der drei Arten von sozialen Strukturen, in denen die Handelnden zusammenwirken und die sie durch dieses Handeln immer wieder schaffen: Das ist erstens die Struktur der Erwartungen, die die Handelnden legitimer Weise in einer Gesellschaft oder einer konkreten Handlungssituation aneinander richten. Das ist zweitens die Struktur der Deutungen, worunter die "kulturelle Leitidee" des Handeins oder der Sinn des sozialen Handelns verstanden werden kann. Und drittens ist es die Struktur der Konstellation , worunter man das eingespielte Muster der wechselseitigen Handlungen verstehen kann. (Vgl. Schimank 2000, S. 176ff.) "Diese drei Arten sozialer Strukturen werden allesamt aufgebaut, erhalten und verändert durch das Abarbeiten von Intentionsinterferenzen zwischen Akteuren." (S. 179) Damit ist gemeint, dass sich die Intentionen der Akteure in einer Handlungssituation überlappen, stören, fördern oder ausschließen, j edenfalls wechselseitig beeinflussen. ..Klar ist jedenfalls: Bei kaum einem Handeln ist ein Akteur in dem Sinne unabhängig von anderen, dass diese handeln könnten, wie immer sie wollten, ohne dass ihn dies bei der Verfolgung seiner Intentionen tangierte." (Schimank 2000, S. 174) Und was die Abarbeitung der Intentionsinterfcrenzen angeht, so kann sie "als gewollte Gestaltung von sozialen Strukturen" (5. 179) erfolgen, sie kann aber auch als unbewusste Reaktion erfolgen und sogar nicht intendierte Folgen zeitigen. So oder so: Überall, wo Akteure zusammen handeln, bringen sie Wirkungen hervor, die ihr weiteres Handeln prägen. Und deshalb ist der Gegenstand dieser Art Soziologie die ,f ortlauf ende wechselseitige Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen." (S. 9) Um diese Wechselseitigkeit geht es im folgenden Kapitel "D ualität der Struktur" .
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4.5
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" Dua lität der Str uk tur"
Zunächst eine Vorbemerkung: Was ich im Folgenden referiere, ist keine Theorie, die aus dem Erklärungskonzept des method ologischen Individualismus herausfiele, sondern eine Profil ierun g von Gedanken, die Homans schon angesprochen hat, wo er z. B. sagte, dass aus dauerha ften Austauschprozessen eine bestimmte sozi ale Struktur entsteht. Dennoch möchte ich zur Einführung des Konzeptes der ,,Dualität der Struktur" kurz auf die wissenschaftshistorische Ein bettung der Theorien nach dem Erklärungsprinzip des methodologischen Individualismus zurückkomme n, wo ADAM FERGUSON mit dem Satz zitiert wurde , der Mensch sei der Kün stler seines eigenen Schicksals. In der Arunerkung habe ich angedeutet, wer in dieser Hinsicht seine Zweifel gehabt haben dürfte, und dass Esser just in diesem Zweifel eine weitere histori sche Wurzel für die Erklärung des Zusammenhangs von Strukt ur, Handeln und Struktur gesehen hat. Zweifel dürfte KARL MARX(18 18-1883) gehabt haben, heißt es doch bei ihm : " Die Menschen machen ihre eige ne Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorge fundenen, gegeb enen und überl ieferten Umständen." (1852, S. 115) In soziologischer Terminologie: • Die Akte ure handeln und schaffen durch ihr Handeln Bedingungen des weiteren Handeins - für sich und für die anderen, also Strukturen; • aber sie handeln unter dem Eindruck der Strukturen, die vorher schon bestanden, mit dem Gepäck ihrer Soziali sation und in Reaktion auf das Handeln der anderen . Hand eln ist also strukturiert. Das ist in Kurzfassun g die »Theorie der Strukturi erun g« des englischen Soziologen ANTHONY GIDDENS ("' 1938). Diese Doppelseit e der Struktur, dass Handeln strukturiert ist und Stru kturen schafft, bringt er im Konzept der »dualit y of structu re« zum Ausdruc k. Erinnern wir uns, dass Giddens gegen Parsons eingewandt hat, in seiner Theori e erscheine "das menschliche Subj ekt nicht genuin als prinzipiell frei und selbstbestimmt handelndes Wesen, sondern eher als passive Marionette undurchsichtiger nonnativer und struktureller Kräfte und Mechani smen." (Giddens 1988, S. 287) Die Theorie von Parsons impliziere "e inen Imperialismus des gesellschaftlichen Objekts" (Giddens 1984, S. 52). Das gelte auch für den Funktionalismus überhaupt.
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Giddens greift in seiner Kritik deshalb noch über Parsons hinaus und zielt auf einen Klassike r, der ihm die grundsätzliche Erklärung für den Zusammenhang von Ges ellschaft und indivi due llem Handeln geliefert hatte. Giddens veröffentlichte im Jahre 1976 ein Buch mit dem Tite l .jcew Rules of Socio logical Method''! veröffentlicht. Bei .neuen" Regeln denkt man natürli ch an Durkhe ims " Rege ln der soziolog ischen Methode" aus dem Jahre 1895. Dort hatte er die sozialen Tatsachen als " Institutionen" bezeic hnet, um ihre Fixieru ng und Nonn ativität zu betonen. Sie existierten " losgelöst von den bewussten Subjekten, die sie sich vorstellen" und seien deshalb wie "Dinge" zu behandeln. (Durkheim 1895, S. 125) Gege n diese Rege ln stellt Giddens seine .neuen Regeln", von denen ich zwe i, die "die Produktion und Reproduktion der Ges ellschaft" (Regeln A), und zwe i, die "die Grenzen des Handeins" (Regel n B) betreffen, nenne.a Anthony Giddens: Neue Regeln der soziologischen Methode A
EINS : .S oztotogie beschäft igt sich nicht mit einer »var-gegebenen« Welt von Objekten, sondern mit einer, die durch das aktive Tun von Subjekten konstituiert oder produziert wird." (...) ZWE I: .Die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft muss daher als eine auf Fertigkeiten beruhende Leistung ihrer Mitglieder betrachtet werden, nicht bloß als eine mechan ische Reihe von Prozessen. Aus dieser Auffas sung folgt aber sicher nicht, dass die Handelnden sich gänzlich darüber im klaren sind, was diese Fertigkeiten sind, wie sie sie auszuführen haben, oder dass die Formen des sozialen Lebens als die beabsichtigten Ergebnisse des Handeins zu verstehen sind."
Der deutsche Titel lenkt m. E. von dem eigentlichen Ziel des Buches ab, das Grundprobleme sozialwissenschaftl icher Theoriebildung behandeln will. Deshalb nenne ich vorsichtshalber die Ausgangsthese. die Giddens im Vorwort zur deutschen Ausgabe so formuliert: ..Die Gesellschaftstheorie muss Handel n als rational erklärbares Verhalten betrachten, das von den Handelnden reflexiv organisiert wird; die Bedeutung der Sprache als Medium, wodurch dies erst möglich gemacht wird. ist dabe i zu berücksichtigen." ( 1983, S. 8). 2 Die eigentliche Regel ist - wie auch im Original - jeweils kursiv gesetzt.
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B EINS: ,,Menschliches Handeln hat Schra nken. Die Menschen produzieren die Gesellschaft, aber sie tun es unter bestim mten historischen Bedingungen und nicht unter den Bedingungen ihrer eigenen Wahl." (...) ZW EI: .S truauren üben auf menschliches Handeln nicht nur Zwang
aus, sondern ermöglichen es auch. Dieses Konzept nenne ich die Dualität von Strukt ur. Strukturen können im Prinzip immer im Sinne ihrer StrukJurierung untersucht werden. Die Untersuchu ng de r Strukturierung sozialen HandeIns bede utet den Versuch einer Erklärung , wie Strukturen durch Handeln konstituiert werden, und umgekehrt , wie Handeln strukturell kon stituiert wird," (Giddens 1976: Interpretative Soziologie, S. 197f.)
Gegen Durkheim - und natürlich auch gegen Parsons - gewendet stellt Giddens fest: "Strukturen selbst existieren nicht als eigenständige Phänomene räumlicher und zeitlicher Natur, sondern immer nur in der Form von Handlungen oder Praktiken menschlicher Individuen." (Giddens 1988, S. 290) Die Individuen strukturieren durch ihr Handeln eine Situation, stellen also eine Struktur her. Deshalb hat Giddens seine Theorie auch "Theorie der Strukturierung" genannt. Doch wir dürfen den Doppe1charakter der Struktur nicht aus dem Auge verlieren: Struktur muss verstanden werden "als Ermöglichurig und als Restriktion des Handeins, als Medium und als Resultat der Praxis," (Joas 1992, S. 14) Bleiben wir zunächst bei dem ersten Charakter. Hinter der Theorie der Strukturierung steht ein bestimmter Begriff des Handeins, den Giddens als Fähigkeit definiert, in die "natürliche und soziale Ereigniswelt'' einzugreifen. (Giddens 1988, S. 289) Der Handlungsbegriff schließt alle Formen von Handeln ein: von der offensichtlichen Reaktion bis zur stummen Interpretation der Situation, vom scheinbaren Nichthandeln bis zum bewusst intendierten Handeln. In j edem Fall bedeutet Handeln, dass der Akteur Selektionen aus Handlungsmög/ichkeiten vornimmt. Insofern verbindet sich in der Theorie der Strukturierung der Begriff des Handeins auch mit dem der Macht: "In der Lage zu sein, »anders zu handeln«, bedeutet, fähig zu sein, in die Welt einzugreifen bzw. einen solchen Eingriff zu unterlassen mit der Folge, einen spezifischen Prozess oder Zustand zu beeinflussen. Ein Handelnder zu sein, setzt mithin die Fähigkeit voraus, eine Reihe von Kausalkräften (dauerhaft im Strom des Alltagslebens) zu entfalten, ein-
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schließ lich derjenigen. die der Beeinflussung der von anderen entfalteten Kräfte dienen. Hande ln hängt von der Fähi gkeit des Individuum s ab, »einen Untersc hied herzustellen « zu einem vorher ex istierenden Zustand oder Ereignisverlauf d. h. irgendeine Pe rm von Macht auszuüben ." (Gidde ns 1984. S. 65f.) Einen Unterschied herstellen heißt ja nicht s anderes als sich gegen scheinbar Institutionalisiertes - sozia le Tat sachen ode r eben Strukturvorgaben - zu entscheiden und dies durch Handeln zu m Ausdruck zu bringen. Die Er klärungen des Handeins, die nach dieser Theorie der Strukturierung erfolgen, schließen des halb auch alle Folgen ein, denn jeder Effekt ist de m Akteur zuzurech nen. und jeder Effekt trägt zur Strukturierung der Handlungssituation bei. Deshalb noch einmal eine Erläu terung zum Begriff der "Dualität der Struktur": "Menschliche Handlungen sind - wie einige sich selbst reproduzieren de Phänomene in der Natur - rekursivt . Das bedeutet. dass sie nicht nur durch die sozialen Akteure hervorgeb racht werden. sondern von ihnen mit Hilfe eben jener Mittel fortwährend reproduziert werden. durch die sie sich als Akteure ausdrucken . In und durch ihre Handlungen reproduzieren die Handelnden die Bedingungen. die ihr Handeln erm öglichen." (S. 52) Der Akteur schafft mit seiner individuellen Selektion aus den Handlungsmöglichkeiten sowohl individuelle Bedingungen seines weiteren Handclns. als auch. da dieses Handeln auf das Hande ln der anderen bezogen ist und es korrigierend ode r bestätigend beeinfluss t. soziale Strukturen imm er wieder neu. Das heißt natürlich nicht , dass der Akteur dabei von Null anfangt , sondern er bringt soziale Gewohnheiten mit , die ihm in seiner Gesellscha ft nahe gelegt wurden, und er handelt auch in einem objektiven Rahmen, den sozial e Institutionen und materielle Bedin gungen defin ieren. Des halb zur Erinnerung noch einmal, was Joas über den Doppelcharakter der Stru ktur gesagt hat: Struktur muss verstanden werde n "a ls Erm öglich ung und als Restriktion des Handeins, als Medium und als Resultat der Praxis." (1oas 1992, S. 14) Jetzt also zum zwei ten Charakter.
1 Luhmann hat diese rekursiven Prozesse in seiner Theorie der Autopoiesis in Selbstreproduktion und Selbstorganisation differenziert. Vgl. Band I, Kap. 6.6 .Die autopoietische Wende der Systemtheorie", S. 234.
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Nac h dem Konzept der Dualität der Struktur hat weder "das soziale Objekt" noch "das handelnd e Subjekt" einen " kategorialen Vorr ang", sondern bcide werden vielmehr "in rekursiven sozialen Handlungen oder Praktiken kons tituiert und das heißt: produziert und reproduziert." (Giddens 1988, S. 288f.) Konsequent rich tet sic h Giddcns des halb auch nicht nur gegen den gerade scho n kritisierten " Imperialismus des gesellschaftlichen Objekts", sondern auch gegen die interpretative Soziologie. die "gleichsam auf einen Imperiali smus des Subjekts" gründe. (1984. S. 52) Er begründe t seine Kritik mit dem Argument, dass die sozia len Praktiken, an denen sich der Handelnde selektiv orientiert. als "a lltagsweltliehe Wissensbestände" vorhanden sind. Deshalb sprich t Giddens auch von einem "praktischen Bewusstsein" t, aus dem heraus wir handeln, oder von einem " praktischen Wissen": Es ist "e in eher stillschweigend hingenomme nes, implizit und unausgesprochen bleibendes Wissen darüber, wie in den vielfaltigen Zusammenhängen des sozia len Lebens zu verfah ren sei ." (1988 , S. 29 1) Auch das trickreiche Individuum , das uns später in der Theorie von ERVING GOFFMAN2 begegnen wird, und selbst der aufmüpfige Narr, den HAROLD GARFINKEL3 in seine Krisenexperimente schickt, erfindet die Strategien seines HandeIns nich t ganz aus sich heraus. Im Gegenteil: Auch diese Störer der Normalität und Gegenstrategen bringe n ihre Sozialisation in dieser Gesellschaft mit , müssen sich mit sozia len Institutionen und sozialen Erwartungen auseinendersetzen, und Erfolg haben sie nur, wenn ihr abweic hendes Verhalten anschlussfähig an das ist, was die Normalen zumindest für denkbar halten ! Halten wir also zur Handlungsperspektive der »duality of structure« fest: Handeln ist insofern strukturiert, als die Individuen um die sozialen Regeln wissen, nach denen in dieser Gesellschaft normalerweise gehandelt wird. Das Handeln strukturiert insofern, als das Individuum sich für ode r gegen diese Regel n entscheidet. Giddens betont. dass hier das Konzept des Rezeptwissens nach Alfred Schütz Pate gestanden habe (Gidde ns 1988, S. 29 1), und stellt an anderer Stelle heraus. dass das Wesen des praktischen Bewusstseins ..nur in der Phänomenologie und Erhncmethodologie eine detaillierte und scharfsinnige Behandlung" (Giddens 1984. S. 57) erfahren habe. 2 Vgl. unten Kap. 8.4 "Wir alle spielen Theater". 3 Vgl. unten Kap. 5.7 .E thnomethodo jogie: Methodi sches im Alltagsleben".
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Rationale Wa hl trotz " ha bits" und "frames"
Einer der geistreichsten Weiterdenker einer Theorie der Strukturierung ist der j etzt in Mannheim lehrende Soziologe HARTMuT ESSER (*1943). Und er ist sicher auch einer der entschiedensten Vertreter der Erklärung des HandeIns nach dem Prinzip des methodologischen Individualismus, weshalb ich noch einmal wiederholen will, was Esser über dieses Prinzip der Erklärung von Handeln und Strukturen gesagt hat: Es nimmt "das Tun der Akteure und die Wirksamkeit der Strukturen gleichenn aßen ernst" und weiter: Der methodologische Individualismus "geht von den Strukturen aus, denen das Handeln der Akteure in strukturierter Weise folgt, und kehrt dorthin wieder zurück." (Esser 1999, S. 175) Um diese "strukturierte Weise" des HandeIns geht es nun. Esser spezifiziert seine Sicht des Zusammenhangs von Struktur und Handeln mit ROBERT K. MERTONS strukturtheoretischer Erklärung! sozialer Prozesse, deren drei Analyseschritte er so zusammenfasst: I. "Dies ist erstens die Analyse der sozialen Strukturierung der verfügbaren Alternativen, der Motive und des Wissens der Akteure aufgrund der institutionellen Deflnitionz der Situation. 2. Auf diese Weise wird zweitens das Handeln der Akteure festgelegt. Es ist keine gänzlich freie Wahl, sondern eine strukturierte Selektion aus dem Satz der bereits strukturell vorsortierten Optionen. 3. Und drittens sind dadurch die - oft verdeckten - Effekte des Handeins ebenfalls strukturiert: die - meist uninte ndierten, latenten - strukturierten Folgen der manifest oft ganz anderen Absichten der Menschen." (Esser 1999, S. 23) Nach Essers Theorie erfolgt Handeln nicht zufällig, sondern als rationale Wahl. Das heißt aber nicht, dass ihnen bewusst sein muss, warum und wie sie handeln. Die soziologische Analyse zeigt, dass eine bestimmte Logik auch hinter einem scheinbar irrationalen Verhalten steht, und diese Logik gehorcht der Abwägung von Kosten und Nutzen bei Ich habe sie angedeutet, wo Merton Anomie auch damit erklärt hat. dass die Individuen kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel nicht anerkennen können oder wollen und deshalb eigene Wege gehen. (vgl. oben S. 111 Anm. 1.) 2 Eine Fonnulienmg dieses sozialen Mechanismus, des sog. Themas-Theorems, findet sich gleich in Kap. 5.5 ,,Blumcr: Symbolische Interaktion", S. 209.
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der Definition und Realisierung von mögliche n Zielen des Handeins. Die Akt eure strukturieren die Situation und ihr Handeln selbst, und sie tun es, weil sie etwas Bestimmtes intendieren . Doch oft komm t es anders als man denkt. und viele Handlungen haben unbeabsichtigte Folgen, und manchmal sind die Folgen sogar das genaue Gegenteil von dem, was die Akteure beabsichtigt hatten. Erklären kann man das mit der »bounded rationality« (Esser 1990, S. 234) der Allt agshandelnden. Begrenzt ist die Rationalität aus mehreren Gründen. Da die Wirklichkeit zu komplex ist, die Interdependenzen zu den anderen zu vielfalti g und zu diffus sind, wir die Logik unserer Sozial isation nicht genau durchschauen und die Relevanz unserer Er fahrunge n nicht sicher einschätzen können, durchschauen wir auch nicht alle Bedingungen unseres Ha ndeins. Begrenzt ist die Rationalität zwei tens, weil wir im Alltag auch gar nicht genauer Bescheid zu wissen brauchen und es auch nicht wissen woll en. Was Ziele und Strateg ien unse res Handeins angeht, da sind wir ganz pragmatisch: Wir erfinden sie nicht völlig neu und außerhalb der durchschnittlichen Muster der Norm alität. Drittens schätzen wir, was wir kennen, und deshalb verfahren wir auch nach der immer gleichen Routine. Und viertens ahnen wir, dass wir unsere Geschichte, um mit Marx zu reden, nicht aus freien Stücken machen, sondem dass die da oben oder die Verhältnisse oder einfach die schlechten Zeite n daran schuld sind, das es uns so geht, wie es uns geht. Was ich bis jetzt referie rt habe, scheint Essers These von der rational en Wahl als Erklärun g des Handeins direkt zu widersprechen. Und landläufig wird den .jational-choice't-Brklärungen ja auch unterstellt, sie setzten den perfekt informierten und genau kalkul ierenden Akteur voraus. Das ist aber keineswegs der Fall, denn den kann es nach dem oben Gesagten gar nicht geben. Doch das darf nicht zum Fehlschluss verleiten, dass es dann auch keine rationale Wahl geben könne. Im Gegenteil: Selbst "die Orientierung des Handelns an Routinen (shabits«) bzw. die situationelle Dominanz bestimmter Ziele und »Codes« (eframes«)" können als "Spezialfalle der Theor ie der rationalen Wahl" gelesen werden. (Esser 1990, S. 231) Die Theorie der rationalen Wahl nimmt an, dass der Akteur Handlungsalternativen vergleicht und danach die auswählt, die einen möglichst großen subjektiven Nutzen verspricht. Dagegen wird eingewandt, so ,,zweckrational" verhalte sich nur der homo oeconom icus. Die Rationalität des Alltagshand elnden sei aber begrenzt: Er ist nicht volls tän-
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dig über alle Hand lungsalternati ven informie rt und gar nicht in der Lage, Kosten und Nutzen des Handelns nach einer oder gar mehrerer Alternativen bis zum Ende durchzuspielen. Deshalb stütz t sich das normale Handeln des homo sociologicus unreflektiert auf Gewo hnhe iten (shabits« ). Ein andere r Einwand lautet, die Theorie der rationalen Wahl gelte nur für das von Weber so gen annte .zwec krationa le Handeln" und könne als Erklärun g für .wertrenonales Handeln" kaum und für .fraditionales Hand eln" schon gar nicht dienen. Esser sieht die Theorie der rationa len Wahl noch mit einem and eren Einwand kon frontiert, der aus der interpretativen Soziologie kommt. Danach dürfe man beim Hand eln nicht von " fixen Präferenzen" oder "stabilen Erwartungen" ausgeh en. Stattdesse n würden Präferenzen und Erwartungen fortlaufend neu definiert, und Hand eln könne damit erklärt werd en, dass Bedeutungen generiert würden. " Hierbei werde unter den Akteuren ein Relevanzrahm en (aframe«) darüber festgelegt, was der »Sinn« der jeweiligen Situation sei. (..) Welcher »frame- in der Situation dominant wird, bestimmt dan ach das Handeln." (Esser 1990, S. 233 f.) Was antwortet Esser au f diese Einwän de? Nun, er sagt, so ist es, abe r das sind überhaupt keine Einwän de. Und das erklärt er wie folgt. Versteht man unter »habits« Bündel von unreflektierten Reaktionen auf bestimmte Umgebungsreize, dann ka nn ma n mit Max Weber sagen, dass " die Masse alles eingelebte n Alltagshandeins" sich diesem unreflektierten Handeln nähert. Webe r hat es deshalb - wie Sie sich erinne rn - als traditionales Handeln bezeichnet, weil es "sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Ein stellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize" sei. Im strengen Sinn stünde das traditionale Handeln "ganz und gar an der Grenze und oft jensei ts dessen, was man ein »sinnhaft« ori entiertes Handeln überhaupt nennen kann". (Weber 1922, S. 673f.) Genau das will Esser aber behaupten: Auch dieses habituelle Handeln ist sinnhaft orient iert und rational. Dazu stellt er zunächst einmal fest, dass habits kognitiv als "Schemata" oder .Skripte" repräsentiert werden. Darun ter kann ma n das typ ische Wissen für typische Situationen oder .Rezcptwisscn" verstehen, das Routine erlaubt. ALFRED SCHOTz wird dieses Rezeptwissen mit den Idealisierungen des "u nd so
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we iter" und de s "ich kann immer wieder so handeln" (Schütz u. Luckmann 1975, S. 26) erklären . Ich komme gleich da rauf zurück.t Essers Grundidee ist nun, "da ss es für die An wendung von »Rezepten« (..) für die Ak teure eine Reihe »guter Gründe« gibt, vor deren Hintergrund eine »rationale« Kalkulation von (sobjektiv» vielleicht soga r »bess eren«) Alternativen unterbleiben kann. Aus minde stens drei Gründen eignen sich Rezepte normalerweise ruf Alltagshandlungen besonde rs: sie sind (meist) relativ unaufwendig, sie sind (meist) relativ effizient, und sie finden (häufig) eine zusätzliche normative Stütze." (Esser 1990, S. 235) Aus der Sicht einer Th eorie der rationalen Wahl ist es also ein e vernü nft ige Entscheid ung, wenn man ohne viel nachz udenken Rezeptwissen verwendet und in typischer Weise handelt : Man muss nicht nach neuen Lösungen suchen, also entfallen Informationskosten; man riskiert keine Fehli nvestition, da sich die Rezepte seit langern bewährt haben; schließlich, man irritiert seine Handlungspartner nicht, sondern kommt ihren normalen Erwartunge n entgegen, und deshalb riskiert man keine Mi ssbilligung (soziale Kosten), sondern kann auf stille Zustimm ung (sozialer Nutzen) bauen. Daraus zieht Esser den Sch luss, dass habits "ohne Probleme im Rahm en de r Theorie der ration alen Wahl rekonstr uiert werden" können und "dass jede Aufmerksamkeit für seltene oder die eige ne Kompetenz überschreitend e Hand lungen »irrational« wä ren" ! (Esser 1990, S. 238) Das wäre dann auch die Erklä rung, warum die Akteur e in der Regel gar nicht erst nach einer optimalen Alternative Ausschau halten und auch nicht den maximalen Erfolg suchen: In Abwägung von Aufwand und Ertrag tun sie das, was sie können, und ihnen reicht eine Lösung, die ihre durc hschnittlichen Erw artungen befried igt. Esser zitiert als knappe Form el für die situationsang emess ene rat ionale Wah l: »satisficing« statt »max imizing«. (S . 236) Wenden wir uns nun den .Jtames" zu, die auf den erste n Blick ebenfalls die These von der rationalen Wahl in Frage zu stellen scheinen. Dazu schreibt Esser: " Habits und Routinehandlungen sind Bestandteile eines »rationalen« Umgangs mit dem Sachve rhalt der bounded rationaIity in bezug auf die Auswahl der Mittel bei der Lösung von Allt agsprobl ernen. Die bounded rationality des Menschen zwingt zu einer weiteren Ökonomisierung des Ent scheidungsprozesses: die Vereinfachung 1 Vgl. Kap. 5.7 .Ethnomethodologie: Methodisches im Alltagshandeln" , S. 225.
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der Struktur der Ziele, um die es in einer gegebenen Situation geht." (Esser 1990, S. 238) Da der Akteur in einer Handlungssituation nicht tausend Ziele zugleich verfolgen kann, da er selbst für etwas weniger Ziele nicht alle Bedingungen kennen kann und da er auch nicht sicher wissen kann, welche Ziele die anderen verfolgen, strukturiert er die Situation, indem er ihr eine übergeordnete Bedeutung verleiht. Esser nennt es .frarning'' . Aus der Sicht der Theorie des sozialen HandeIns nach Weber kann man den so konstruierten .frame" mit .Smn", aus der Sicht der gleich zu behandelnden Ethnomethodologie mit "Relevanzstruktur" gleichsetzen. Framing ist die " Selektion des Bezugsrahmens" des Handeins. (Esser 2001, S. 259) Und aus der Sicht einer Theorie der Strukturierung lässt sich der Zusammenhang von .Jrame" und Handlung so verstehen: "Die Vereinfachung der Zielstruktur von Situationen erfolgt durch die Angabe eines die Situation kennzeichnenden übergreifenden Ziels. Mit einem solchen »framing« von Situationen ist die Strukturierung sozialer Handlungsbereiche in sehr unterschiedliche »Logiken«, unterschiedlichen »Sinn« und unterschiedliche »Codierungen« verbunden. Je nach »frame« geIten andere Handlungen als angemessen, effizient oder denkbar. Das eine Situation dominierende »Leitmotiv« ist der Bezug, auf den die spezifische Auswahl der Handlungen (bzw. der Abruf einer Routine) erfolgt." (Esser 1990, S. 238) Wer sich nach seiner erfolgreichen Trauung an die Hochzeitstafel setzt, weiß, dass Friede, Freude, Völlerei angesagt sind. Wer stattdessen seiner Schwiegennu ttcr endlich die Meinung sagen will, seiner Schwiegertochter den Kopf voll jammert, dass man den lieben Sohn verloren hat, oder erklärt, dass er überzeugter Veganer ist und heute sowieso seinen monatlichen Fasttag habe, der/die darf sich nicht wundem, dass die anderen sauer sind. Soziologisch: Das »framing« war voll daneben! »Framing« ist insofern eine rationale Entscheidung, als der Akteur sich die Situation so strukturiert, dass er Handlungsmöglichkeiten mit seinen Intentionen abstimmt, Strategien soweit verfolgt, wie sie nicht scheitern, und Anschlüsse an die Erwartungen und das Handeln der anderen herstellt. Spätestens an dieser Stelle muss man zu bedenken geben, dass das »framing« natürlich nicht vom Wollen oder Können des Akteurs allein abhängt. Die anderen müssen mitmachen, und wer eine Situation völlig falsch einschätzt, kommt überhaupt nicht ins Spiel. Also: Über den
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Rahmen der Sit uation muss Kon sens herrs chen, oder - wenn das nicht der Fall - wenigs tens dürfen sich die unterschied lichen Rahmen, die die Akt eure setze n, nicht gegenseitig ausschließen. Wer sich der still verehrte n Ko llegin auf dem Betriebsausflu g endlich offenbart und gleich erhö rt wird, hat es gut. Das »framing« hat offenbar gestimmt. Wer nach einem Flirt mit dem ne tten Kollegen am nächsten Morgen mit ansehen mu ss, wie er mit einer anderen turt elt, hat Pech. Die »frames« stimmten nicht. Und wie löst eine Theorie der rationalen Wahl das Problem und wieso kann sie »frami ng« sogar als Beispiel ruf rationales Hand eln anführen? Die Antwort hängt mit der gerade beschri ebenen Funkti on von »habits « zusammen. Die Akteure kennen typi sche Zie le fiir typisch e Sit uationen . Wer an den Traualtar tritt, weiß, wie er sich zu verha lten hat, und er weiß, dass die anderen (Plural, weil Freu nde und Verwan dte gerü hrt bis gelangweilt erwa rten, dass alles seinen gewo hnten Gang geht !) das auch wisse n. »Frames« sind soz usagen soz ial codiert. Wer sich an de n Code hält, fallt nicht aus dem Rahm en , hat also ke ine negativen sozialen Ko sten . Nur in Herz-Schm erzstück en macht die Fastbraut, die im letzten Augen blick die Hand wegzieht, einen persönlichen Gewinn. Alle anderen kriegen den übliche n Loh n, den man in dieser Gesellschaft nach einem bestimmten konsensue llen »framing« bekommt. Esse r zieht aus der Prü fung der Einwände gegen die Theori e der rationalen Wahl den Schluss: " Aus dem Modell geht hervor, dass »bounded rationality« in keiner Weise bedeutet, dass Menschen »irrational« handel n. Im Gegente il: die begrenzten Ressourcen des Menschen erlauben es nicht, aufjede Umgebungs änderung sofort »maximierend« zu reagieren. Habits und Frames sind (bisl ang erfo lgre iche und begtilndbare) Vereinfachungen von Situat ionen, die der vernünftige Akteur nicht mit der kleinsten Situationsschwank ung aufgibt. D ie Beibeh altun g von Routinen und die Bewahrung einer deutlichen Relevanzstruktur wird als eine sehr »ratio nale« Ange legenheit erke nnbar." (Esser 1990, S. 244) Und wie steht es mit dem .wertrationa len" Han deln , von dem Weber doch gesagt hat, es sei bestimm t "durch bewu ssten Glauben an den eth ischen, ästheti schen, religiösen oder wie immer sonst zu deutend en unbedin gten Eigenwert eines bestimmten Sic hverh altens rein als solchen und unabhängig vo m Erfolg"? (Weber 192 0b, S. 673 ) Dieser Be-
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stimmungsgrund des Handeins scheint doch mit der Nutzenkalkulation unverein bar zu sein, und Webe rs Erläuterungen , .jein wertrationa l" handele, "wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen C..) im Dienst seiner Überzeugung (..) nac h »Geboten« oder gemäß »Forderungen« ' hand elt, "die der Handelnd e an sich geste llt glaubt" (Weber 1920b, S. 674), verstärken diesen Zwei fel noch. Esser sieht es and ers . Er interp retiert die Formulierung " nach Geboten" zunächst einmal als normative Erwartung, der sich der Akteur glaubt stellen zu müssen. Sieht man einmal davon ab, dass er solche Erwa rtungen im Laufe der Sozi alisation verinnerlicht hat, also hab itualisiert hat und deshalb im Grunde traditional handelt, dann muss man doc h unterstellen, dass es für die Orientierung an bestimmt en Werten gute Gründe gibt. Deshalb hebt Esser in Webers Erklärung auch das Wort "Überzeugung" hervor: "Eine »Überzeugung« C.. ) ist C..) stets eine Frage der im Prinzip durchdachten Überlegung: Der Akteu r müsste auf Befragen - mehr oder weniger: wohlüberlegte - »gute Gründe« angeben können, »warum« er gerade diesem Grundsatz so bedingungslos folgt." (Esser 200 1, S. 3 13) Und fast triumphierend stellt er fest, dass Weber gena u diese rationale Be gründung selbst schon im Auge hatte, heißt es doch bei ihm , dass das wertrationale Handeln "durch die bewusste Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handeins und konsequente planvolle Orientierung daran" (Weber 1922, S. 674) gekennze ichnet sei. Na tür lich folgen Individuen letzten Werten aus glühend er Begeisterung oder mit abgru ndtiefen Ängsten, sie geraten in Ekstase und lassen alles Ird isch e (sprich manchmal: Berechn ende) hinter sich und fühlen sich als Gu tmensch oder Ehrenmann, als gute Mutter und Kre uzträger der Menschh eit. Doch würde man sie fragen, so wü rden sie gute Gründe angeben, warum sie so handeln. Auc h was man um Gottes Lohn tut, lohnt sich auf Erden, wenigstens in dem Sinne, dass man für die Kosten des " Dienstes rein an der Sache" den Nutzen des gute n Selb stge fühls hat! Kommen wir noch zum Framing-Konzep t. Für Esser berü hren die gerade genannten " gute n Gründe" auch ,,konstitutionelle Interessen". " Das ist das Interesse der Akteure an der Geltu ng bestimmter Regeln des Zusam men lebens insgesamt, Regel n, die erkennb ar dafür sorgen , dass es de n Menschen unter dem Dach der betreffenden Verfassung ganz gut geht. Es geht dabei um die Erha ltung ganzer Lebensweisen (..)". (Esser 200 1, S. 320) Das kons titutionelle Interesse betri fft die
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Grü ndung oder den Erhalt einer besti mmte n Ord nung und die Erwartungen und Handlungen der anderen Akteure in diese r Ordnun g. In dem Maße, wie Werte sich fests tellen und sozi al vemetzt werden, verd ichten sie sich zu "be lief systems". Die Akteu re orientieren sich des halb an ihn en , weil sie ihnen als "e rtragbringend ersc he inen" und/oder weil "ihre Änderung als zu teuer oder gar als unmöglich erscheint". (Esser 2001, S. 324) Wertrationales Handeln heißt aus der Sicht der Theorie der rationalen Wahl, ein dominantes Ziel zu setzen, entsprechende Handlun gsmöglichkeiten ausz uwählen und nach dem ..frame" dieses
bestimmten Wertes konsequent zu handeln. 4.7
Habermas: Vier Iland lungsbeg riffe
Wie scho n angede utet, kann man den Begriff des sozialen HandeIns auch mit dem Begriff der Interaktion zusammen bringen. I Um d ie Grenzen zwischen diesen Begriffen und auch die Gem einsamkeiten deutli ch zu machen, will ich die bisherige D arstellung der Theorien sozialen HandeIns zusammenfasse n und d ie Theorien der Interaktion schon vorbereite n. indem ich JORGEN HABERMAS (* 1929) zitie re, der in seiner "Theorie des kommunikat ive n HandeIns" , auf die ich im näc hsten Kapitel zu sprechen komme, vier Handlu ngsbe griffe unterscheidet, die in sozialwissenschaftliehen Th eorien meistens impli zit verwendet werden. Wiewo hl sich konkretes Handeln immer als Mischform darstellt - und Interaktion sowieso! -, unterscheidet Habennas analytisch zwischen eine m teleologischen. ei nem normenregulierten. eine m dramaturgisehen und einem kommunikativen Handl ungsbegriff .l ür gen Haberm ast Teleologisches, normenorlemtcrtes, dram aturglsches und kommunikatives Handeln .Der Begriff des teleologischen Handeins steht seit Aristoteles im Mittelpunkt der philosophischen Handlungstheorie. Der Aktor verwirklicht einen Zweck bzw. bewirkt das Eintreten eines erwünschten Zustandes. indem er die in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel wählt und in geeigneter Weise anwendet. Der zentrale Begriff ist die So setzen z. B. die Übersetzer von Goffmans Ansprache über .D je Interaktionsordnung" (in: Goffman 1982. S. 57) die Begriffe ..Soziales Handeln" und .J r ueraktion" gleich. Vgl. auch meine oben (S. 143) angedeutete Verwandtschaft der beiden Begriffe.
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auf die Reali sierung eines Zwecks gerichtete, von Maximen geleitete und auf eine Situationsdeutung gestützte Entscheidung zwischen Handlungsaltem ativen. Das teleologische wird zum strategischen Handlung smodell erwe itert, wenn in das Erfolgskalkü l des Handelnden die Erwartung von Entscheidun gen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors eingehen kann . Dieses HandlungsmodelI wird oft utilitaristisch gedeutet ; dann wird unterstellt, dass der Aktor Mittel und Zwecke unter Gesichtspunkten der Maxi mierung von Nutzen bzw. Nutzenerwartungen wählt und kalkuliert . Dieses Handlungsmodell liegt den entscheidungs- und spieltheoretischen Ansätzen in Ökonomie, Soziologie und Sozialpsychologie zugrunde. Der Begri ff des normenregulierten Handeins bezieht sich nicht auf das Verhalten eines prinzipiell einsamen Aktors, der in seiner Umwelt andere Aktoren vorfindet, sondern auf Mitglieder einer sozialen Gruppe, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Der einzelne Aktor befolgt eine Norm (oder verstößt gegen sie), sobald in einer gegebenen Situation die Bedingungen vorlie gen, auf die die Norm Anwendung findet. Nonnen drücken ein in einer sozialen Gruppe bestehendes Einverständnis aus. Alle Mitglieder einer Gruppe, für die eine bestimmte Norm gilt, dürfen voneinander erwarten, dass sie in bestimmten Situationen die j eweils gebotenen Handlungen ausführen bzw. unterlassen. Der zentrale Begriff der Normbefolgung bedeutet die Erfüllung einer generalisierten Verha ltenserwartung. verhalte userwartung hat nicht den kogn itiven Sinn der Erwartung eines prognostizierten Ereignisses, sondern den norma tiven Sinn, dass die Angehörigen zur Erwartung eines Verhalt ens berechtigt sind. Dieses nonnative Handlungsmoment liegt der Rollentheorie zugrunde. Der Begriff des dramaturgischen Handeins bez ieht sich primär weder au f den einsamen Aktor noch auf das Mitglied einer sozialen Gruppe , sondern auf Interaktionsteilnehmer, die füreina nder ein Publikum bilden , vor dessen Augen sie sich darstellen. Der Aktor ruft in seinem Publikum ein bestimmtes Bild , einen Eindruck von sich selbst hervor, indem er seine Subjektivität mehr oder weniger gezielt enthüllt. Jeder Handelnde kann den öffen tlichen Zugang zur Sphäre seiner eige nen Absichten, Gedanken, Einstell ungen, Wünsche, Gefühle usw., zu der nur er einen privilegierten Zugang hat, kontrollieren. Im dramaturgisehen Handeln machen sich die Beteiligten diesen Umstand zunutze und steuern ihre Interaktion über die Regulierung des gegense itigen Zugangs zur jewei ls eigenen Subjekti vität. Der zentrale Begriff der Selbstrepräsentatio n bedeutet deshalb nicht ein spontanes Ausdrucks-
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ver halten , sondern die zuschauerbezogene Stilisierung des Ausdruck s
eigener Erlebnisse. (...)
Der Begriff des kommunikativen Handelns schließlich bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten. die (sei es mit verbalen oder ex traverbalen Mitteln ) eine interpe rsonale Beziehung eingehen. Die Akta ren suchen eine Verständigu ng über die Handlungssituation. um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einverne hmlich zu koordinieren. Der zentrale Begriff der lnterpretatian bezieht sich in erster Linie auf das Aushandeln konsensfähiger Situationsdefinitionen. In diesem Hand lungsmodell erhält die Sprache (...) einen prominenten Stellenwert," (Habermas 1981b:
Theorie des kommunikativen HandeIns, Bd. I, S. 126-128) Zusammen bilden die vier Handlungsbegriffe die Facetten der Erkl ärung von Handeln ab. )- Um das teleologische Handeln ging es in der Theorie von M AX WEBER. Das ist am augenfälligsten beim zwec krationalen Handeln, dem Weber ja die größte Aufmerksamkeit geschenkt hat. Dieser Handlungsbegriff scheint auch in den indivi dualistischen Theorien des Verhalten s auf, und Austausch ist gar nicht anders zu denken als zielgerichtete Handlung in Interaktion mit anderen. )- Der Begriff des nonnenregulierten HandeIns steht im Zentrum der Gesellschaftstheorien von EMD...E DURKHEIM und TALCOTI PARSONS. Sowohl die Theorie der Institutionen! wie die der Sozialisation, wie sie Durk heim entwickelt hat, setzte dem Handeln des Individuums de n verbindli chen Rahmen. In die gleiche Richtung dachte auch Par sons mit seiner Theorie der Institutiona und mit seiner oben skizzierten Rolle ntheorie . Die Theorie der alternativen Wertorientierungen lockert die Verpfli chtu ng zu m norm reguliert en Handeln nur scheinbar, de nn selbstverständlich kann (und muss!) sich der Handelnde für die Altern ative entscheiden, die nach dem dom inanten kulturellen System in der konkreten Situation geboten ist.
I VgL Band I, Kap. 4.1 ,,sozialeTatsachen", S. I42f.. 2 Vgl. Band I, Kap. 4.5 .N ormauve Muster", S. I58!..
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)- Der prominenteste Ve rtreter einer Theorie des dramaturgischen Handeins ist ERVING GOFFMAN . Darauf werde ich im Kapitel über "Ide ntität" eingehen. Hier nur so viel vorweg: Handeln ist ein Scha uspiel, das Individuen voreinander und miteinander aufführen . Dazu gehört die Inszenierung des Auftritts, die Präsentation in bestim mte n Fassaden, aber auch der bedachte Rückzug in die Kul issen. Und ma nchmal ist es auch der verzweifelte Versuch, sich gegen den Druck der anderen über Wasser zu ha lten. )- Der kom munikative Handlungsbegriff steht im Zentrum der Theorie des Symbolischen Interaktion ismus nach GEORGE HER· BERT MEAD und in der Ethnomethodologie nach HAROLD GAR. F1NKEL. Habennas selbs t rückt die sen Handlungsbegriff in den Mitt elpu nkt seiner Theor ie des kommunikativen Handeins, verbindet ihn allerdings mit ein er kritischen Variante, die auf die Reflexion und Siche rung des Handelns zielt . Diese Variante nennt er Diskurs oder diskur sive Verständigung. Um diesen kommunikativen Handlungsbegriff. der sich ganz eind eutig ein er Th eorie der Interaktion verdank t, wird es im nächsten Kap ite l gehen. Dort werde ich zunächst seine Fundierung bei Mea d, Blumer und Garfinkel nachzeichnen.
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Interaktion
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9
Simmel: Wechselwirkung und Vergese llschaftung Weber: Sozia le Beziehu ng Mead: Interaktion - Verschränkung der Perspektiven Parsons: Rolle, Austausch, Kontingenz Blumer: Symbo lische Interaktion Interaktionssysteme: Kommunikation unter Anwesenden Ethnomethodologie: Methodisches im Alltagshandeln Krappmann: Annahmen über das Gelingen von Interaktion Habcnn as: Kommunikatives Handeln und Diskurs
Interaktion heißt, dass wenigstens zwei Individucn miteinander und aufeinander bezogen handeln. Auf die Frage. wie das erfolgt und warum es gelingt, hat die Soziologie im Grunde zwei I große Antworten
parat. Die eine findet sich in der Tradition Durkheims, für den soziale Tatsachen - die Institutionen im weitesten Sinn - vorgeben, wie wir uns gegenüber anderen verhalten sollen. Auf dieser Grundannahme hat T ALCOTT P ARSONS, wie gezeigt, eine Theorie der sozialen Rolle entwickelt, nach der wir normativen Vorgaben folgen, die sich aus sozialen Strukturen ergeben . Da sich Parsans .sam Problem der sozialen Ordmmgz rieb" , betonte er zur "Lösung" des Problems besonders "die normativen Aspekte des Handelns". (Joas u. Knöbl 2004, S. 185) Da nicht sicher ist, ob jeder die nonnativen Vorgaben in derselben Weise interpretiert, bleibt in der Interaktion immer ein Rest Ungewissheit. Dass Interaktion in aller Regel aber dennoch gelingt, erklärt Parsons mit der Anna hme, dass sich die Individuen in der Annahme an einander orientieren, dass wir im Prozess der Sozialisation die gleichen Nonnen und Werte der Gesellschaft internalisiert haben und motiviert sind, so Man kann natürlich auch an eine drille Antwort denken, die Austauschtheorien geben. Da sie mehr den Effekt des Handeins als die Interaktion zwischen Handelnden herausstellen, habe ich sie bei den Theorien .So zialen Handelns" in Kap. 4.4 .Rationale Wahl. gerechter Tausch, symbolische Tra nsaktion" vorgestellt. 2 Vgl. Band 1, Kap. 3.9 ..Normative Integration", S. 125.
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zu handeln . wie wir han deln sollen . Die Gru ndorientieru ng dieser Th eorie kann man als normatives Paradigma: bezeichnen. (Wilson 1970, S. 55f. ) Nach diesem Paradigma, ich wiederhole es , folgen die Interaklionsteilnehmer den Rollen. die durch das »soz iokulturelle Wertsystcm« vorgegeben sind. und definieren kon krete Verhaltensweisen als beispielhafte Fälle von erlebten Handlungsmustem . Die zwe ite Antwort findet sich in Theorien. die zwischenmensch liches Handeln da mit erklären. dass die Handelnden die Situation und ihr Handeln wechselseitig interpretieren und sich fortlaufend anzeigen, wie sie die Situation des Handeins definieren . Diese theoretische Ausrichtung bezeichnet Wilson als interpretatives Paradigma. Die Theorien , die soziale Interaktio n gewi ssermaßen als Inte rpretation verstehen, bilden die Interaktionstheorien im engere n Sinn. In diesen Th eorien der Interaktion , deren wichtigste Vertreter GEORG HERBERT MEAD und HERBERT BLUMER sind, steht das Individuum im Vo rdergrund . Interaktio n ist e in permane nter Prozess des Handeln s, Beobachtens und Entwerfen s weiterer Handlungen. In diesem Prozess übe rnehmen ego und alter wechselseitig ihre Rolle, vollziehen Reaktionen nach und antizipieren so weiteres Handeln. Durch ihre wec hselseitigen Interpretationen definieren die Handelnden sich, ihr Handeln und die objektive n Bedingungen des Handeins. Dieser Gedanke der Defi nition der Situation ist grundlegend für die Th eorie des Symb olischen Interaktionismus. Durch ihr Handeln bestätigen sie die Situa tion oder suchen sie zu verändern . Men schliche Interaktion ist huerp rerationtz Zwischen die An nahmen des Symbolischen Interaktionismus und eine pfiffi ge Variante der Analyse alltäg licher Interaktion, die Ethnome thodologie, schiebe ich eine Skizze einer systemtheoretischen Beschreibung von Interaktion. Das mag überr aschen , aber wenn man sich auf eine jüngere Th ese einläs st, Interaktionssysteme als " Kom munikation unter Anwesenden", so der Ti tel der Arbeit von ANDRE KIESER· I Vgl. Band 1. Kap. 2.7 .Zwei grundsätzliche soziologische Perspektiven", S. 78f.. 2 An dieser Stelle muss ich eine Zwischenbemerkung machen: Es hätte auch nahegelegen. eine Theorie. die die wechselseitige Definition der Situation und den dramatischen Auftrin der Individuen auf der BUhne des Alltags in den Mittelpunkt rückt, die Theorie von Erving Gc ffman, in diesem Kapitel über Interaktion zu behandeln. Da ich aber hinter seinen Beschreibungen eine ganz bestimmte Botschaft vermute, werde ich die Theorie in Kap. 8.4 "Wir alle spielen Theater" vorstellen. meine Vermutung im Kap. 7.5 .Stigma und soziale Identität" implizit (S. 3 17) andeuten und später explizit (S. 347 Anm. 2) nennen.
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LlNG, zu verstehen, dann merkt man, wie viel die Systemtheorie inzwischen den interpretativen Theorien verdankt und was sie umgekehrt denen bieten kann! Nach diesem sche inbare n Exkurs wende ich mich HAROLD GARFINKEL zu. Er hat gezeigt, dass wir im Alltag methodisch vorgehen, auch wenn uns das nicht bewusst ist, und dass Interaktion nur gelingt, wenn wir bestimmte Unterstellungen machen. Eine weitere strukturelle Bedingung der Fortführung von Interaktion hat LoTHAR KRA pPMANN benannt. Er sieht sie in bestimmten Fähigkeiten des Individuums, sich den anderen in seiner Identität zu präsentieren. Schließlich setze ich mich mit der Antwort von JüRGEN H ABERMAS auf die Frage auseinander, was notwendige Voraussetzungen filr jegliche Interaktion sind. Er sagt auch, was zu tun ist, wenn Interaktion - Habermas selbst zieht den Begriff des "kommunikativen Handelns" vor - misslungen ist oder zu misslingen droht. Bevor ich auf diese Theorien eingehe, werde ich GEORG SIM MEL behandeln, der mit seinem Begriff der "Wechselwirkung" eigentlich die Basis für eine Soziologie der "Inter-Aktion" gelegt hat. Mit der Annahme, dass sich Individuen im Prozess der Wechselwirkung fortlaufend vergesellschaften, hat er auch einer dynamischen Theorie der sozialen Ordnung die Richtung gewiesen. Der zweite Klassiker, der vor allen Interaktionstheorien behandelt werden muss, ist MAXWEBER. Seine Definition, dass soziales Handeln "se inem von den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer" (Weber 1920b, S. 653) bezogen ist, bildet einen wichtigen Hintergrund für Parsons' normative Erklärung von Handeln und später Interaktion, hilft aber auch, die eigentlichen interpretativen Theorien zu verstehen. Webers Definition kann man nämlich durchaus in einem interaktionistischen Sinn lesen, denn Handeln erfolgt in einer sozialen Beziehung - und ist soziale Beziehung, und die versteht Weber als ein fortlaufendes, "aufeinander gegenseitig eingestelltes und dad urch orientiertes Sichverhalten mehret". (vgL S. 676) Weber muss auch deshalb behandelt werden, damit nicht der Eindruck entsteht, in Theorien des sozialen Handeins ginge es um etwas völlig anderes als in Theorien der Interaktion. I Eine Hilfestellung, dieses Thema mit dem Thema "Soziales Handeln" zu verbinden, habe ich ganz am Ende des Kap. 3 "Rolle", S. 133, angeboten.
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S. I
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Simmel: Wechselwirkung und Vergese llschaftung
In seinem programmatischen Aufsatz ,,Das Problem der Sociologie" ( 1894), den er spä ter zur Einleitung seiner "Soziologie" (1908) umgearbeitet hat, hat GEORG SIMMEL als " das einzige Objekt einer Sociologie als besonde rer Wissenschaft (...) die Untersuchung der Kräfte, Formen und Entwicklunge n der Vergesellschaftung, des Mi t-, Für- und Nebeneinanderse ins der Individuen" bezeichn et. (Simmel 1894, S. 57, Anm.) Erinnern wir uns, wie Simmel Vergesellschaftung erklärt hat: Es ist der Pro zess, in dem Individuen zueinande r in Beziehun g treten oder stehen und wod urch sie wechse lseitig au feinander einwirken. Diesen Zusammenhang zwischen Individuen, Gruppen und Formen, in denen diese Beziehun gen dauerhaft werden, hat er deshalb auch als Wechselwirkung bezeichnet. Und "Gesellschaft im we itesten Sinne ist offenbar da vorhanden, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung I treten." (Simmel 1894, S. 54) In der Einleitung zu seine r "Sozio logie" beschreibt Simm el genauer, was er unter Wechselwirkung versteht, was sie aus löst und in welc hen Formen sie uns begegnet. Er schreib t: "Diese Wech selw irkung entsteht imm er aus bestimmten Triebe n heraus oder um bestimmter Zwecke willen. Eroti sche, religiöse oder bloß gesellige Triebe, Zwe cke der Verteidigung wie des Angriffs, des Spieles wie des Erwerbes, der Hil feleistung wie de r Belehrun g und unzählige andere bewirken es, dass der Mensch in ein Zus amme nsein, ein Fürein ander-, Miteinander-, Gegeneinander-Hande ln, in eine Korrelation der Zustände mit ande ren tritt, d. h. Wirkungen au f sie ausübt und Wirkungen von ihnen empfangt . Diese Wech selwirkungen bed euten, dass aus den individuellen Trägem jener veranla ssenden Triebe und Zwec ke eine Einheit, eben eine »Gesellschaft« wird. (...) Jene Einheit oder Vergesellschaftu ng kann, je nach der Art und Enge der Wech selwirkung, sehr verschiedene Grade haben - von der ephe meren Vereinigung zu einem Spaziergang bis zur Familie, von allen Ve rhältnissen »auf K ündigung« bis zu der Zusammengehörigkeit zu einem Staat, von dem flüchtigen Zusammen einer Hotelgesellschaft bis zu der innigen Verbu ndenhe it einer mittelalterlichen Gilde." (Simm el 1908, S. 17f.)
Die englische Übersetzung des Begriffs "Wechselwirkung" durch .Jnreracn on'' triffi es m. E. ganz gut, denn .action'' heillt sowo hl ,,Handlung" wie "Wirkung".
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Das Handeln des Individuums ist also d urch etwas motiviert und auf etwas gerichtet. Zum gesellschaftlichen Ereignis wird die Verfolgung seiner Ziele, we nn es sich dabei auf andere Individu en bezieht, sei es, dass es sie braucht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sei es, dass sie als Konkurrenten auftreten oder dass sie einfach nur so - als Beobachter, als Personen, auf die man sich bezieht, usw. - vorhanden sind. Weil Individuen Interessen und Neigungen haben und bestimmte Zwecke verfolgen, treten sie wechselseitig in Beziehung und "ve rgesellschaften" sich. Die Wechselwi rkung kan n in keinem Augenblick eine definitive Form erreichen, da j edes Handeln jedes Individuums fortlaufend wirkt und bewirkt wird. Wech selwirkun g ist Prozess. Wegen der unterschiedl ichen Interessen und Zwe cke vergesellschaften sich die Individuen zu "spezifischen Konfi gurationen", doch trotz aller Unterschiede kann man zwischen ihne n .Jormale Gleichheiten" feststellen: " An gese llschaftlichen Gruppen, die ihren Zwecken und ihrem sittlichen Charakter nach die denkbar versc hiedenst en sind, finden wir z. B. die gleichen Formen der Über- und Unterordnung, der Konkurrenz, der Nachahmung, der Opposition, der Arbeitsteilung, wir finden die Bildung einer Hierarchie, die Verkörperu ng des gruppenbilden den Prin zips in Syrnbolent, die Scheidung in Parteien, wir finden alle Stadien von Freiheit oder Bindung de s Individuums der Gruppe gegenüber, D urchkreuzung und Schichtung der Grupp en selbst, bestimmte Reaktionsfermen derselben geg en äußere Einflüsse." (Simmel 1894, S. 54f. ) Die Wechselwirkungen nehmen also bestimm te Form en an. In ihnen wirken " Krä fte (...), die sich bei der gegense itigen Berührung der Menschen in ihnen entwickeln". (5 . 58, Anm.) Diese Berührungen und Fonnen des Zusamme nse ins ändern sich im Laufe der Entwicklung de s Menschen. Sieht sich der Einzelne zunächst .Jn einer Umgebung, die, gege n seine Individualität relativ gleic hgültig, ihn an ihr Schicksa l fesselt und ihm ein enges Zus ammense in mit denjenigen auferlegt, neben die der Zu fall der Geburt ihn gestellt hat" (Simmel 1890, S. 237) , nimmt er mit fortsc hreitender Entwicklung Kontakt zu denen auf, die "durch sachliche Gleichheit der Anlagen, Neigunge n und Tätigkeiten u. s. w. eine Beziehung zu ihm besitzen". (5 . 238). Durch diese "Assoz iationen" ergeb en sich Konstellationen, Dieses Prinzip spielt bei George Herbert Mead, der Simme1 ja in Deutschland gehört hat, eine zentrale Rolle.
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die Simmel "soziale Kreise" nennt.t Darunter muss man sich ein objektives Gebilde vorstellen, das über Inhalte und nicht über individuelle Einstellungen definiert ist. Von daher gibt es Erwartungen, die nicht nur für ein bestimmtes Individuum, sondern grundsätzlich für alle Individuen gelten, die in einen solchen Kreis gestellt sind. Wenden wir nun den Blick von den objektiven Formen der Wechselwirkung, der Gesellschaft, auf das Pendant, das Individuum. Das tut Simmel in seinem Exkurs über die Frage "Wie ist Gesellschaft möglich?" (1908). Dort beschreibt er gewissermaßen, was in den Individuen vor sich geht, wenn sie in Wechselwirkung mit anderen stehen. Konkret nimmt Simmel eine bestimmte Form des Bewusstseins als notwendiger Voraussetzung von Vergesellschaftung in den Blick. Er schreibt: "Das Bewusstsein, Gesellschaft zu bilden, ist zwar nicht in abstracto dem Einzelnen gegenwärtig, aber immerhin weiß jeder den andem als mit ihm verbunden." (Simme1 1908, S. 46) Das ist genau das Neue an diesem Exkurs, dass Simmel jetzt die Möglichkeit von Gesellschaft an das Bewusstsein der Individuen voneinander bindet. Deshalb lautet seine Frage auch: "Welche Voraussetzungen müssen wirksam sein, damit die einzelnen, konkreten Vorgänge im individuellen Bewusstsein wirklich Sozialisierungsprozesse seien, welche Elemente sind in ihnen enthalten, die es ermöglichen, dass ihre Leistung, abstrakt ausgesprochen, die Herstellung einer gesellschaftlichen Einheit aus den Individuen ist?" (Simmel 1908, S. 46) Nicht nur die eigentümliche Verwendung des Konjunktivs macht ein Verständnis des Textes schwierig. Ich interpretiere ihn so: Bedingung der Vergesellschaftung ist "das Bewusstsein, sich zu vergesellschaften oder vergesellschaftet zu sein." (S. 47) Es ist ein wie auch immer "bewusstes" Wissen um die Prozesse der Wechselwirkung, in denen die Individuen stehen. Simmel fragt nun nach den "spezifischen Kategorien", die "der Mensch gleichsam mitbringen muss, damit dieses Bewusstsein" entstehen kann. Dazu stellt er erstens fest, dass "das Bild, das ein Mensch vom andem aus der persönlichen Berührung gewinnt", durch gewisse " Verschiebungen" bedingt ist, die seine reale Beschaffenheit prinzipiell ändern. Konkret ist damit gemeint, dass wir "den Andem in irgend eiDarauf komme ich ausführlich in Kap. 8.1 ,,Kreuzung sozialer Kreise und individuelles Gesetz", S. 327f., zu sprechen.
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nem Maße verallgemei nert" sehen. (Simmel 1908, S. 47) Wir sehen ihn als Typus. Zw eitens se hen w ir den and eren als d en typ ischen Repräsentanten des sozialen Kreises, in dem wir mit ihm in Wechselwirkung verb unden sind. Wir w issen: .Dieser ist ein Mitglied me ines Kr eises." (S. 49) Er ist Mitbewohner meiner besonderen Welt. Schließlich gibt es ein Bewusstsein, dass es wegen d er ind ividuellen Interessen und Fähigkeiten un d der einmaligen Schn eid ung der soz ialen Kreise in einem Punkt auch nur di esen einen Platz ruf das Individu um
in dieser Gesellschaft gibt. Für die Gesellschaft bedeutet das: Jeder Punkt in der Gesellschaft konnte sich nur in einer bestimmten Weise
ergeben, und er kann sich auch nu r in einer bestimmten Weise entwi cke ln - "w enn nicht die Struktur des Ganzen geä ndert se in soll." (Simm el 1908, S. 57) Und bezogen auf das Individ uum lautet die Bedin gun g der Mö glichk eit, dass der Einz elne einer Gese llschaft zugehören kann, so; " Dass j edes Indi viduum durch sei ne Qualität von sich aus auf eine bestim mte Stelle inn erhalb seines sozialen Milieus hin gewiesen ist: dass d iese ihm ideell zugehörige Stelle auch wirklich in dem soz ialen Ganzen vorhande n ist - das ist di e Voraussetzung, von der aus der Einzelne sein gese llschaftliches Leb en lebt." (S. 59) D ie pro zessuale Ordnun g lebt also von dem Bewusstsein der Indi vid uen, dass für j edes von ihne n sich fortlaufend ein besonderer Pla tz ergibt, von dem aus es in Wechselwirk ung zu vielen and eren steht, und dass von diese r Wechselw irku ng di e Struktur des Ganzen abhän gt. Ich will zum Schluss noch auf einen and eren Punkt hinweisen, der zeigt, dass unabhängig vom Bewu sstsein der Individuen allein schon di e Zahl der Beteiligten die Qual ität der Wechselwirku ng be einflusst. Im Kapitel " Die quantitative Bestim mt heit der Gruppe" seiner .Soz iologie" beschreibt Simme l sehr fein di e untersch iedliche D ynamik, d ie sich in Dyaden (z. B. Ehe, Freundschaften, Dopp elherrschaft), Tri aden (z. B. Fami lie) oder Grupp en mit mehr als drei Mi tgliedern ergibt. Vor allem die Dreizah l scheint ihm als Gru ppierungsform soz iolog isch höchst interess ant. So entsteh en durch den Hinzu tritt eines Dritten Differenzen der Solidarität, aber auch des Tr ennenden. Gegen einen M ächtigen könn en Koali tionen der Unterlegenen auft reten, aber der einzelne Unte rlege ne kann jetzt auch die Verantwortung für seine Lage dem Dritten anlasten. Umgekeh rt kann aber auch da s Gemeinsame zw ischen zweien üb er di e wech selseiti ge Verb indung zu einem Dritten ind irekt
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verstärkt werden. Der Dritte kann schließlich auch verbinden und versöhnen zwischen Gegensätzen. (vgl. Simmel 1908, S. 124) Insofern kann man den Dritten in der Tat als den "eigentlichen Träger sozialer Qualitäten" (Nedelmann 1999, S. 138) bezeichnen, denn über ihn werden - in einer modemen soziologischen Terminologie soziale Beziehungen reflexiv. Da in der Dreiergruppe jeder zu jeder Zeit Dritter und Erster zugleich ist, geht es immer um die Reflexion der Darstellung von Individualität (i.Füreinandersein" ), um die Reflexion der Individualität der anderen in der Konstellation zueinander (" Nebeneinandersein") und die Reflexion der Wechselwirkung, die sich zwischen allen direkt und indirekt über den Dritten ("M iteinandersein") ergibt. "Der Fremde", den Simmel in seinem berühmten Exkurs! beschrieben hat, ist der typische Dritte.
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weben Sozia le Beziehu ng
Unter der eingangs zitierten Prämisse, dass soziales Handeln "seinem von den Handelnden ge meinten Sinn nach auf das Verhalten anderer" bezogen und .daran in seinem Ablauf orientiert" (Weber 192Gb, S. 653) ist, steht MAX WEBERS Theorie des sozialen Handeins ganz in der Nähe zu Simmels These von der Wechselwirkung. Vollends seine Ausführungen zu den Formen sozialen Handelns, die er »soziale Beziehungen« nennt, lassen sich mit Simmels Vorstellungen über dauerhafte Konfigurationen parallelisieren. Es gibt einen weiteren Grund, der erklärt, warum sich später die eigentlichen Theorien der Interaktion implizit oder sogar explizit auf Weber beziehen. Er liegt in der Formulierung "g emeinter" Sinn. Das kann doch nur als Ordnungs versuch für das weitere - gemeinsame Handeln verstanden werden! Schließt man die Fälle aus, dass sich die Handlungspartner über den gemeinten Sinn irren und nicht weiter gemeinsam handeln oder dass einer die alleinige Macht hat, dem anderen den gemeinten Sinn zu diktieren, dann kann soziales Handeln eigentlich nicht anders gedacht werden als wechselseitige, fortlaufende Einstellung aufeinander. Und genau so wird Weber "soziale Beziehung" definieren. Ich komme sofort darauf zurück.
I Der kleine .E xkurs über den Fremden" ist Teil der "Soziologie" (SimmeI 1908).
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Um den Begriff de s sozialen Handein s auf den - von Weber natürlich noch nicht benutzten - Begriff der Inter-Aktion hinzu ftihren, ru fe ich noch einmal kurz in Erinnerung, • was das "Soz iale" am soz ialen Handeln ausmacht, woran es also orientiert ist, • und was seine .Bestimmungsgründe" sind. Zunäch st zum "Soz ialen". Das sozi ale H andeln, hab e ich oben Weber re feriert, kann "orien tiert werd en am vergangenen, gegenwärtigen oder für künfti g erwarteten Verhalten anderer" , wob ei die »anderen« " Einzelne und Bekannte oder unbestimmte Viele und ganz Unbekannte sein" können und auch abstrakte Symbole, wie z. B. Geld, umfassen , vo n denen wir erwarten, dass sie für die anderen das Gleiche wie ruf uns bedeuten. (vg l. Weber 1920b, S. 670f.) Um die wechselseitige Orientierung des sozi alen Handeins deutlich zu machen, bemühe ich noch einmal Webers Beisp iel von den zwei armen Rad fahr ern, die zusam menprallen, und schm ücke es mit meinen Worten aus. Der Zusammenstoß ist, wie Weber sagt, "ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen" . Auch die Tatsache, dass an diesem bedauerlichen Ereignis zwe i Individu en beteili gt sind, macht das Ereign is nicht zum sozialen Handeln. Wenn aber, so malt Weber die Kolli sion aus, beide sich ansch ließend prügeln, dann sprec hen wir von "sozialem Handeln ", denn das Handeln des einen ist an dem Sinn des Handelns des and eren orientiert. Selbst wenn wir den unwahrsc he inlichen Fall nehm en, dass der eine dem anderen eine runt erhaut und der so Gezüchtigte nichts tut, wäre auch das soz iales Handeln, denn er reagiert j a, wenn auch in ungewöhnlicher Form (z. B. sc huldbewusst und gerechter Strafe ergeben). Aber eigentlich kann man schon die sc heinbar ganz spontane Reaktion, den anderen zu ohrfeigen, als sozia les Handeln bezeichnen. Wenn wir nämlich eine instinktive Erklärun g ausschließen, dann könn en wir unterstellen, dass A im konkreten Fall den Sinn des Ereign isses sofort verstanden hat : B ist ein rücksicht sloser Rowdy und verdient deshal b eine Ohrfeige. Das wär 's dann von seiner Seite. Das Handeln von B ist in seinem Ab lauf natürlich umgekehrt an dem geme inten Sinn des HandeIns von A orientiert: Meint S , dass A im Recht ist, hält er still; me int er, dass der andere sich unverhä ltnismä ßig aufplustert, schlägt er zurüc k.
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Wenn man auf den Prozess des sozia len Handeins und darauf abhebt, dass auf das erste, am Sinn des Handeins eines anderen orientierte Hand eln eine Reaktion dieses anderen erfolgt, woran sich wiederum das Handeln des ersten orientiert, usw., dann liegen die Begriffe "soziales Handeln" und "Interaktion" durchaus eng zusammen.t Wenn man aber stärker auf die Form der fortdauernden Wechselseitigkeit des Handeins abhebt, liegt ein anderer Begriff noch näher, der der sozialen Beziehung . Darunter versteht Weber ein "a ufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sich-Verhalten" (Weber 192Gb, S. 676). Bevor ich diese Form des gegenseitig eingestellten Handelns erläutere, will ich kurz die vier Bestimmungsgründe des sozialen Handelns in Erinnerung rufen : );;> So kann das soziale Handeln zweckrational bestimmt sein, d. h. es werden gezie lt bestimmte Mittel eingesetzt, um bestimmte Zwecke zu erreichen. );;> Zweitens kann sich jemand wertratio nal verhalte n, also ohne Rücksicht auf Kosten und Erfolge seinen Werten folgen. >- Drittens kann Handeln aus Affekten heraus erfolgen. );;> Schließlich kann Hand eln einfach nur eingeleb ten Gewohnheiten folgen. Weber nennt es traditionales Handeln. (vgl. Weber 1920b, S. 673) Diese di fferenzierten Gründe des Handeins spielen auch in der gegen seitigen Einstellung der Handelnden aufeinander eine Rolle, denn sie helfen ihnen, den gemeinten Sinn des Handeins des Anderen zu verstehen. So sind wir hellwach, wenn uns ein Verkäufer sagt, "Ich hab da was für Sie!", denn der will doch nur "sei n Geschäft" machen; wir stellen die Ohren auf Durchzug, wenn Vater wiede r mal beklagt, welche Werte bei der heutigen Jugend entschwunden sind; und wenn unsere Nachbarn in die Kirche gehen, "weil sich das so gehört", wisse n wir, was wir von ihnen zu halten haben. Diese Erklärungen und Einste llungen sind selbstverständlich in den wenigsten Fällen bewusst. Ich komme nun zu der schon angedeuteten Form des soz ialen Handelns. "Soziales Hand eln" meint einen Prozess. Und wir müssen aus der Formul ierung, dass das Handeln sich dem "Sinn nach auf das Verhalten anderer" bezieht und .daran in seinem Ablauf orientiert ist", 1 Vgl. oben S. 143 und dort besonders die Anmerkung.
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schließen, dass das soziale Handeln beiderseitig etwas bewirkt und so Bedin gungen des weiteren Handeins schafft . Auf die so entstehende, das aktuelle Handeln überdauernde Form des wechse lseitigen Handeins zielt der Begriff der "sozialen Beziehung" . Weber definiert ihn so: "Soziale »Beziehung« soll ein seinem Sinngehait nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sich-verhalten mehrer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlieh: in der Chance, dass in einer (sinnha ft) angebbaren Art sozial gehande lt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beru ht." (Weber 1920b, S. 676) Soziale Beziehung ist also kein Zustand , sondern ein Prozess, nämlich Handeln , und ihre Charakterisierung als "gegenseitig aufeinander eingestelltes Sich-Verhalten" rechtfertigt es, eine soz iale Beziehung in moderner Terminologie als Interaktion zu bezeichnen. So ist auch die Definition eines weiteren Kriteriums einer sozialen Beziehung zu verstehen, das für Weber in einem " Mindestmaß von Beziehung des beiderseitigen Handeins aufeinander" (Weber 1920b, S. 676) besteht. Diese Definition erinnert stark an Simmels Konzept der Wechselwirkung. ' Der Inhalt dieser Beziehung kann ganz unterschiedlich sein. Sowohl Freundschaft wie Feindschaft, Konkurrenz und Kampfwie der erste Kuss im Park gehören dazu, aber auch der Tausch oder der Bruch einer Vereinbarung. Es ist auch nicht gesagt, dass die Handelnd en den gleichen Sinn in die soziale Bezi ehung legen. Selbst bei einer so intime n Angelegenheit wie einem Kuss im Park mag die eine sicher sein , dass der Märc henprinz gerade bei ihr angeklopft hat, während der andere nachrechnet, die wievielte Eroberung er auf dem Konto hat. Und bei der sozialen Beziehu ng zwischen dem Verkäufer, der mir gerade versic hert, das - natürlich auch etwas teurere - lila Sofa nur Leuten mit einem erlesenen Geschmack zu empfehlen, wird man auch nicht von einer gegenseitigen, sondern von einer einseitigen Beziehung sprechen können. Gleichwohl ist sie aufeinander bezogen, weil jeder Beteiligte eine bestimm te Einstellung beim anderen ihm gegenüber voraussetzt und "a n diesen Erwartungen sein eigenes Hand eln orientiert." (S. 677) Von dieser Definition lässt sich leicht eine Verbindung zu Meads These von der Verschrä nkung der Perspektiven und zu seine m Begri ff der .sociat relaticns" herstellen. (Vg l. unten S. 196 Anm. 1 und Band I, Kap. 3.7 "Handeln unter der Vorstellung einer geltenden Ord nung", S. 112 Anm. 1.)
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An dieser letzten Formulierung ist die Bewegungsrichtung des Handelns interessant: Der Handelnde setzt voraus, dass der andere ihm gegenüber bestimmte Einstellungen hat (sicher ist er natürlich nicht), tut dann aber gleich schon so, als ob sie ganz sicher vorhanden sind, somit tatsächliche Erwa rtungen sind, an denen er sich dann orientiert und auf die er "entsprechend" reagiert! Weber selbst führt diesen Gedanken nicht aus, sondern formuliert etwas zurückhaltend über diese »beiderseitige« soziale Beziehung: "Objektiv »beiderseitig« ist sie natürlich nur insoweit, als der Sinngehalt einander - nach den durchschnittlichen Erwartungen jedes der Beteiligten - »entspricht«, also z. B. der VatereinsteIlung die Kindeseinstellung wenigstens annähernd so gegenübersteht, wie der Vater dies (im Einzelfall oder durchschnittlich oder typisch) erwartet." (Weber 1920b, S. 677) An diesem Beispiel und der für Webers Argumentation typischen (meist in Klammem stehenden) Erschöpfung aller denkbaren Fälle wird auch deutlich, warum Weber davon ausgeht, dass wir den "gemeinten Sinn" des Verhaltens anderer "verstehen" können: Sinn ist das, was in einer bestimmten Kultur "im Einzelfall oder durchschnittlich oder typisch" gilt. Die Erwartungen des durchschnittlich typischen HandeIns machen uns sicher im sozialen Handeln.' Ich fasse Webers Au sführungen zum sozialen Handeln und zur sozialen Beziehung zusammen: >- Soziales Handeln ist die gegenseitige Orientierung von Individuen am gemeinten Sinn ihres Verhaltens. Sie können sich verstehen, weil sie sich an durchschnittlichen oder typischen Erwartungen orientieren. >- Eine soziale Beziehung heißt ein fortlaufendes, aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer. Die gegenseitige Orientierung steht auch in der Theorie von GEORGE HERBERT MEAD im Vordergrund, der Interaktion als Kommunikationsprozess versteht und das Sinnverstehen zwischen handelnden Personen als Verstehen von Symbolen bezeichnet. Insofern geht Mead auch über Weber hinaus, indem er eine Bedingung des gemeinsamen HandeIns Ich werde später zeigen. dass genau diese Annalune der sozusagen normalen Erwartungen und des entsprechend "selbstverständlichen" Handelns der Ethnomethodologie zugrunde liegt - und wie böse Überraschungen man in dieser Hinsicht erleben kann.
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themat isiert, die Webe r schl icht vorausgesetzt hat: den Sinn. Mead und die auf ihn folgenden eigentlichen Interaktionisten untersuchen den Prozess, in dem sich die Handelnden den Sinn ihres Hand elns gegenseitig anzeigen. Das tun sie Ober gemeinsam geteilte Symbole. Symbo le sind nichts anderes als Manifestation von Sinn.
5.3
Mead: Interakt ion - Verschrä nk ung der Perspektiven
Der Begriff "Interaktion" taucht bei GEORGEHERBERT M EAD, der gerne als Ahn herr des Interaktionismus bezeichnet wird, nur an einer Stelle auf, wo er von "sodat relations and interactions" (1934, S. 273) spricht. Ich meine aber, dass das englische Wort .Jn ter-acüon'' ganz gut zum Ausdruck bringt, wie Mead das Verhalten zwischen Individuen erklärt: als Kommunikation, in der sie sich wechselseitig wahrnehmen und beeinflussen.t Jedes Verhalten des Individuums ist eingebunden in einen .social act'' (Mead 1934, eng!. Fassung, S. 6f.), und deshalb spreche ich dort von "Interaktion", wo es um fortlaufende Kommunikation und wechselseitiges Handeln zwischen Individuen geht. Mead ist geprägt durch den amerikanischen Pragmatismus, der das Wesen des Menschen in seinem Handeln (griech. pragmein) sah, und durch den Behaviorismus, dessen Erklärung des Verhaltens als ReizReaktion er übernahm, von dem er sich mit einer Theorie des »Sozialbehaviorismus« aber auch deutlich absetzte. (Mead 1934, S. 44) Danach ist Verhalten vor allem durch Verhalten beeinflusst. Verhalten ist also reaktiv, aber der Mensch verhält sich auch prospektiv, indem er sich vorstellt, wie sich der andere verhalten wird. Auf dieses nächste Verhalten stellt er sich innerlich ein, verhält sich in einer bestimmten Weise und beeinflusst so das Verhalten des anderen. Anders als das Tier, das auf seine artspezifische Umwelt instinktiv reagiert, verfügt der Mensch über die Welt und bewältigt sie durch sein Handeln. Diesen Gedanken entwickelt Mead in der schon angesprochenenz anthropologischen Theorie der Kommunikation, die über Zeichen, Gesten und Symbole abläuft. Ich füh re sie etwas aus. So trifft auch Meads para llel verwendeter Begriff ,,social relations" ziemlich genau Webers Definition einer "sozialen Beziehung" : Sie ist ein "gegenseitig aufeinander eingestelltes Sich-Verhallen" (Weber I920b, S. 676). (vgl. oben S. 194) 2 Vgl. oben S. 32, 83, 87f.
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Die einfachsten natürlichen Zeichen sind Sinnesreize, die instinktive Reaktionen auslösen. Man hört z. B. den Donner und zuckt unwillkürlich zusammen. Tiere und Menschen reagieren auf diese Zeichen in ähnlicher Weise. Es sind Reaktionen, die von jeder sozialen Beziehung unabhängig sind. Zeichen in Fonn von Verhalten nennt Mead Gesten (»gesture«). Sie bringen einen bestimmten Sinn (»meaning«) zum Ausdruck, bedeuten also etwas ganz Bestimmtes. Gesten lösen nicht beliebiges Verhalten, sondern eine ganz best immte Reaktion aus. Das erläutert Mead am Beispiel zweier kämpfender Hunde. Der eine zeigt durch sein Knurren an, zu welcher Aggression er gegebenenfalls bereit ist. Diese Geste wird vom andem auch so verstanden und löst eine bestimmte Reaktion aus, indem er z. B. den Schwanz einzieht. Jeder reagiert instinktiv auf das Verhalten des anderen und zeigt das in einer neuen Geste an, was wiederum neue Reaktionen und Gesten auslöst. "Die Handlung jedes der beiden Hunde wird zum Reiz, der die Reaktion des anderen beeinflusst." (Mead 1934, S. 81) Immer aber reagiert das Tier instinktiv und sofort, d. h. es kann nicht zwischen möglichen Reaktionen entscheiden, und es kann seine Reaktionen auch nicht aufschieben. Gesten sichern Kommunikation, indem sie passende Reaktionen auslösen. Diese Funktion haben Gesten in der Kommunikation zwischen Menschen im Prinzip auch. Doch Mead zeigt, dass in der Reaktion auf Gesten der entscheidende Unterschied zwischen Tier und Mensch liegt. Der Mensch ist nämlich in der Lage, seine Reaktion zu verzögern . Diese Verzögerung erfolgt im Prozess des Denkens. Denken bedeutet zunächst, dass der Mensch von der Geste abstrahiert und auf den darin zum Ausdruck kommenden Sinn sieht. Wenn z. B. j emand in der Diskothek vor unseren Augen die Faust ballt, kann das den Beginn eines Streites bedeuten. Wenn jemand das in einem Hörsaal tut, verstehen wir es als körperbetonte Didaktik, mit der uns der Dozent etwas eindringlich nahe bringen will. Wir verstehen es so, weil wir unsere bisherigen Erfahrungen heranziehen und sie mit der neuen Situation vergleichen. Dass ein Professor seine Studenten verprügelt, haben wir noch nie gehört, und dass man sich in einer Diskothek manchmal prügelt, weiß jed er. An diesem Beispiel wird zweierlei deutlich: Sinn ist die Verbindung einer Geste mit einer Handlung, die stattgefunden hat und die sie repräsentiert, oder einer Handlung, die von ihr ausgelöst wird. (Mead 1934,
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S. 120 u. 12 1 Anm . 15) Ges ten verweisen also auf etwas vor oder nach der konkre ten Situation . Zwe itens ist der Mensch in der Lage, Gesten zu interpretiere n. Er verallgemeinert die konkrete Sit uatio n, indem er nach der Idee fragt, d ie mit der Geste zum Ausdruck geb racht werde n soll. Das macht den Geist oder den Verstand des Menschen aus. (vgl. Mead 1934, S. 86) W ird der Sinn einer Situati on oder eines Handlungszusam menhangs
auf einen bestimmten Begriff gebracht oder kommt in einem äußeren Zeichen zum Ausdru ck , dann spricht Mead von einem Sym bol: "Wir verweisen auf den Sinn einer Sache, wenn wir ein Symbo l ve rwe nden. Symbole stehe n fUr den Sinn j ener Dinge oder Objekte, die einen solchen Sinn haben ; es hand elt sich bei ihnen um Teile der Erfahrung, di e andere Te ile der Erfah rung au fzeig en od er repräsentieren, di e gegenwärt ig oder in der gegeb enen Situ ation nich t direkt vorhand en, aber alle in der Si tuation p räsent sind." (Mead 1934 , S. 162f. Anm. 29 ) Symb ol e bringen d en Sinn eines Handlungszusammenhangs zu m Ausdru ck, und zugleich verweisen sie au f se ine Vorgeschic hte, seine Rand bedin gun gen und se ine mögli che Zukunft. Symbole repräsentieren imme r einen komplexen Zusamme nhang. Deshalb lösen sie auch kein automatisches Verhalten aus, sondern erfordern und erm öglichen Interpretat ion en. Das Indi vidu um kann sich mehrere Deutung en üb erlegen und zwisch en möglichen Reaktionen auswählen. Damit ist aber auch da s Ri siko der Kom munikati on zwischen Menschen angespro chen. Währ end Gesten in der Kommunikation zwischen Tieren richtige Reaktionen gara ntieren, sind beim M enschen Interpretationen nicht ausgeschlossen, d ie sich wider sprechen. Auf die Fra ge, wie dann Kommunikation möglich ist, wo doch jeder di e Situation anders verste hen kan n, antwortet Mead mit dem Hinweis, dass Men schen signifika nte Sym bole ausbi lden . Von einem signifikanten Symbol - ich wiederhole es - kann man dann sprechen, wenn ein Ze ichen oder eine symb olisc he Geste beim anderen Ind ividuum die gleiche Vorstellung üb er die dahinter liegende Bed eutung hervorru ft wie im Erz euger und somit die g leiche Re aktion aus löst. (vg l. Mead 1934, S. 188f.) In der Kommun ikation zwischen Mensch en sind Symbo le Stell vertreter für Interpretation sweisen und Handlungsabsichten. Existieren diese in der Erfahrung von Sender und Empfäng er gleichermaßen und wird ihre Bedeutung von allen an der Interaktion Beteiligten geme insam geteilt, löse n sie als signifika nte Symbole bei ego und alter nic ht
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zufällige, sondern ganz bestimmte Reak tionen aus. Das heißt, ego kann sich vorstell en, wie alter wahrscheinlich reagieren wird . Verhalten wird also antizipierba r. Diese Reak tionen zieht es ins Kalkül und revidiert ggf. seine Handlungsabsichten. t Alter tut das genauso. Solange ego und alter die gleiche n Symbole verwenden, können sie sich in die Roll e des anderen hinei nversetzen . Sie " wisse n", wie es weitergeht und dass auch der andere das wei ß. In diesem Proze ss de r we chselseitigen Rollenübernahme (Mead 1934, S. 113) denk en wir aus der Position des anderen, und so verschränken sich die Haltungen und Perspektiven der Handlungsbeteili gten wec hselseitig. Indem sich die Handelnden durch ihre Aktionen und Reakt ionen zu verstehen geben, was in dieser Situation gilt und welchen Sinn sie ihrem wechselseitigen Hand eln beimessen, komm t es zu einer kommunikativen Verständigung über Grunde und Ziele des Hand eins. Vers tändi gung bedeutet natü rlich nicht Einverständnis, sondern nur das Anz eigen der weiteren Handlungsab sichten . Das alles erfolgt natü rlich in den seltensten Fällen bewusst! Die Vergewisserung aller Betei ligten, um welch en Sinn es sich in einer bestimmten Situation handelt und welches Verhalten de shalb nahe gelegt oder ausgeschlossen wird , erfolgt vor allem über die Sprache. Sprache ist die höchstentwick elte Form der Kommunikation. Diese Kommunikati on braucht nich t in hörbar er Sprach e zu erfolgen, und Mead bezeichnet das Denken selbstverständlich auch als eine Form des Sprechens. So malen wir uns genüsslich aus, wie die aufreizende Neue auf ihren Hochhackigen in der Kantine stolpert und dab ei ihr Tablett fallen lässt usw. usw . Wenn sie dann peinlich berührt zu uns rüber blickt, malen wir uns au s, wie sie "M ist!" sagt und wir voll Mit gefühl flöten: " Haben Sie sich weh getan?" Und im Stillen denken wir : "So, Kollegin, jetzt hast Du Dein Fett weg." Natü rlich hoffen wir, da ss sie sich in Zukunft uns gegenüber anders verhält, und vielleicht verhalten wir uns nach dieser finsteren Phantasie ja auch anders ! Denken ist inneres Sprech en und Durch spielen einer Handlung. Im Denken kommen die Ideen zum Ausdru ck, die wir durch unser Han deln auszuführen beabsichtigen bzw. die im Handeln ausgeführt worden sind. Dieses Denken muss aber nicht bewu sst erfol gen. So interpretieren wir z. B. das arrogante Verhalten der Verkäuferin im Designerladen, ohne dass Zu den schönsten Aussichten, die sich daraus für eine Manipulation des anderen ergeben könnten, vgl. Band I, Kap. 3.8 "Ordnung - Gesellschaft als Diskurs", S. 120 Anm 1. Warum sie dann doch nicht so toll sind, steht im nächsten Satz.
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die es merkt und dass wir es uns klar machen. Dass diese Interpretation aber tatsächlich erfolgt ist und objek tive Spuren hinterlassen hat, merken wir vielleicht, wenn wir zu Hause den viel zu teuren Fummel auspacken. Verlassen wir die Niederungen de s Allz umen schlichen und wenden uns wieder den lichten Höhen normaler Interaktion zu. Ich habe gerade referiert, dass Denken das Durchspielen einer HandJung ist, und zwar einer gemeins amen Handlung, in der ich und der andere vorkommen. Die Handlung ist deshalb Interaktion. und sie gelingt nur, wenn ego und alter sich in die Lage des anderen hineinversetzen. Wie oben ! gezeigt, wird diese Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen, über die Stufen des play und des game en twickelt. Im Rollenspiel des play schlüpft das Kind in die Rolle signifikanter Anderer und denkt und handelt von ihrem Standp unkt aus. Im organisierten Regelspiel des game, in dem sich die Handlungen aller Beteiligten gege nseitig beeinflussen , muss das Kind im Prinzip in die Rollen aller Beteiligten schlüpfen und von ihrem Standpunkt aus denk en. Die Summe der generellen Haltungen, die man in einer konkreten Situation von allen Handelnden erwarten kann, nennt Mead, wie gesagt, den generalisierten Anderen. Er ist das Prinzip oder, wenn man so will: der Sinn der Interaktion. Nur weil es diesen ge neralisierten Andere n gibt, ist Kommunikation im Wort sinn erst möglich. Kommunikation setzt nämlich Teilnahme (..participation") an den anderen voraus. (Mead 1934, S. 299) Daru nter versteht Mead kein e gefühlsmäßige Haltung, sondern die T atsache, dass wir am anderen beteiligt sind, indem wir uns vor jeder Reaktion auf ihn, wie gerade besch rieben, in seine Ro lle hineinversetzen. Dazu sind wir in der Lage, weil wir unterstellen, dass auch er sich am genera lisierten Anderen orientiert. Mcad gibt noch eine zweite Antwort . Äußere Erfahrun gen werden sinnvoll zu "inneren Erfahrun gen" verarbeitet. Diese inneren Erfahrungen bezeichnet er als "Ha ltungen" (s attitudes« ), und die wiederum sind .Anfänge von Handlungen". (Mead 1934, S. 43)2 Dam it ist gemeint, dass die Organisation unserer Erfahru ngen nicht nur das umfasst, "w as unmittelbar abläuft, sondern auch die späteren Phasen." (S. 50) Geht man auf eine Situation zu, dann denken wir - bewusst ode r unbewu sst 1 Vgl. Kap. 2.5 .jntcgration in einen organisierten Verhaltensprozess" , S. 84f. 2 Vgl. Band 1, Kap. 3.8 "Gesellschaft . Ordnung als Diskurs", S. 120.
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- auch schon darüber nach, was wir dort tun wollen oder sollen. Auf eine Beerdigung stelle ich mich innerlich und durch mein ganzes Verhalten anders ein, als wenn ich auf meine Hochzeit gehe - wenigstens im Prinzip. Mead führt seinen Gedanken konsequent weiter und sagt, dass in der aktuellen Handlung schon die späteren Phasen der Handlung enthalten sind. Da also unsere Erfahrungen Teil sozialer Erfahrungen und innere Erfahrungen Anfange von Handlungen sind und in ihnen wiederum weitere Handlungen beschlossen sind, wissen wir, was im nächsten Augenblick mit hoher Wahrscheinlichkeit passieren wird. Ego und alter werden gewissermaßen ftireinander berechenbar und verlässlich. Die Ordnung der Interaktion bleibt möglich! Ich schlage noch einmal den Bogen zurück zu Meads These, dass sich in der Interaktion die Perspektiven der Handelnden wechselseitig verschränken. Sie wird am Beispiel eines gelungenen game sofort evident. Zweitens zeigt das Beispiel, dass wir die Perspektive des anderen nur dann verstehen, wenn wir das Prinzip der Handlungssituation verstehen. Das meint der Begriff des generalisierten Anderen. Schließlich zeigt das Beispiel des game, dass Interaktion gelingt, weil wir die gleiche Vorstellung von den Symbolen haben, die in der Interaktion zum Ausdruck kommen. Mit dem Konzept des generalisierten Anderen hat Mead im Kern eine Sozialisationstheorie entworfen und zugleich erklärt, warum Interaktion normalerweise gelingt. Sprache, die darüber mögliche Übernahme der Rolle des anderen und die daraus sich ergebenden gemeinsamen Handlungen machen die eigentliche menschliche Kommunikation aus. Während Mead betont, dass die Rollen erst in der Interaktion Kontur bekommen, betont TALCOIT PARSONS - ganz in der Tradition der These von Durkheim über das Gewicht der sozialen Tatsachen - stärker ihre gegebene Nonnativität. 5.4
Parsons: Rolle, Austausch, Kontingenz
Bei den Erklärungen sozialer Ordnung habe ich die Theorie von TALCOTT PARSONS so zusammengefasst: Ordnung ist das Ergebnis nonnativer Integration, und sie ist nonnative Integration. Diese Nonn ativität scheint auch in seiner Theorie der Interaktion durch, indem Parsons das Konzept der Rolle zur Erklärung des Handeins in einem sozialen Sys-
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lern heranzieht; auf der anderen Seite nähert sich Parsons mit seiner Annah me. dass Interaktion Austausch ist, auch der Position von Mead. Betrachten wir seine Argume ntation etwas genauer. leh fange mit Parsons' Feststellung an, dass ein ..soziales System", wo also konkrete Individuen handeln. ein ..Interaktionssystem" (Parsons 1968a, S. 432) ist - Inter-A ktion (nehmen Sie es zunächst einmal so!) deshalb. weil es "durch Handlung erzeugt" (5. 430) wird, InterAktion, weil die Handlungen von ego und alter sich wechselseitig bewirken, wobei natürlich auch scheinbares Nicht-Handeln (das Kaninchen vor der Schlange oder das coole Übersehen ei nes Anderen) Handeln bedeutet. Und selbstverständlich wirken auch die soziale n Umstände (die Sc hlange vor dem Kaninchen) auf unser Hande ln ein. Auf diese wechse lseitige Bezie hung zielt Parsa ns, wenn er fordert, ein soziales System unter dem Aspekt des " Austausc hs" ("i nterchange") seiner einzelnen Elemente zu analysiere n. (vgl. S. 434) Da ist zunächst die Situation . Sie ist definiert durch die Obje kte, an denen sich die Handelnd en orien tieren . Solche Objekte könne n physischer, kultureller oder soz ialer Natu r sein. • Ein physisches Objekt ist z. B. die Straße, auf die ich mich einstelle, wenn ich sie betrete . Physische Objekte "i nteragieren" nich t mit uns. Dem Asph altplatz ist es zieml ich egal, ob wir ihn mit nackte n FOßen oder Fußballs ch uhen trakt ieren , aber wir selbst werden ganz sicher bei einem Fußballspiel auf der Straße vorsichtiger zu Werke gehen als auf ei nem Rasenplatz. • Kulturelle Obj ekte sind "symbolische Elemente der kulturellen Tradition, es sind Ideen oder Überze ugungen, Symbole oder Werte." (Parsans 1951, S. 4) Das hat Durkhei m "soziale Tatsachen" genannt. Zu den kulturellen O bjekte n ge hören sowohl die Ziele, die man in einer Gesellschaft ode r in einer konkreten Interaktion anstreben darf oder soll, als auch die Mittel, die dabei angewandt werden dürfe n oder sollen . Wo z. B. in unserer Gesellschaft die Maxime gilt, Reich tum zu erwerben, sind die Mittel des Raubes ausgeschlossen. Jede Sit uation gemeinsamen Handeins ist durc h Nonnen des richt igen Verhaltens gekennzeichnet. • Soziale Objekte sind ego und alter. Ihre Teilnahme an der Interaktion kann unter zwei Aspek ten betrachtet werden: Da ist einmal der positionale Aspekt, wo also die Handel nden im soz ialen
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System und zueinander lokali siert sind. Wo diese Position in irgende iner Weise bewertet wird , und das ist beim soz ialen Handeln immer der Fall, denn das mindeste ist, dass einer für so unwichtig gehalten wird, dass ma n ihn gar "nicht wahrnimmt", wo eine Position also bewertet wird, sprechen wir von einem "Status". Da ist zum anderen der p rozessuale Aspekt, unter dem gefragt wird, was die Handelnden in ihren Beziehungen zueinander tun, we lche " Rolle" sie also spielen. (vgl. Parsons 195 1, S. 25) Rolle meint die soz ialen Erwartungen an das Handeln. Ich komme darauf zurück. In der " Inter -Aktion " geht es vor allem um diese soz ialen Objekte. Deshalb bilden die Individuen das zwe ite Element des sozialen Systems. Wie kommen sie in der Inter akt ion vor? • Zunäch st einmal, stellt Parsons fest, ist das Individuum als Handelnder zu sehen, der eine bestimmte Motivation hat. Konkret: " Er hat Wünsche, Zi ele, interna lisierte Wertori entierungen und natürl ich Affekte, »Geflihle«". (Parsons 1968, S. 73) • Zwe itens ist der Handelnd e aber auch "ein Obj ekt von Orientierungen. und zwar für and ere Handelnde wie auch für sich selbst." (ebd .) Und außerdem mu ss man sagen: • ,,Jedes Individuum ist in vielfältigen Interaktionssystemen eingebe ttet, so dass der Teil seines motivationa len Systems, der j eweils »engagiert« ist, von Situation zu Situation versc hieden sein wird. • Ebenso wird seine Bedeutung als Obj ekt von Kontext zu Kon text variieren." (ebd ., Gliederung H. A.) Unter dem Ge sichtspunkt, dass soz iales Hand eln "Inter-Akt ion" ist, ist besonders der zweite Aspekt wichtig, dass die Individuen für einander und für sich Objekte der Orient ierung sind. Mit and eren Worten: Sie reflektieren durch ihr Hand eln das Handeln der anderen und nelunen sich unter dieser Bed ingung auch selbst wahr. Dies haben wir schon bei Mead gelesen , und ihn erwähnt Parsons auch ausdrücklich. Der Bezug zu Mead kommt auch in der folgend en Beschreibung, was soz iale Interaktion ist und wie sie funktioniert, zum Ausdruck: "Der Handelnde nimmt wahr und ist Objekt der Wahrnehm ung, er nutzt instrumentelle Mitt el und ist selbst Mittel, cr ist den anderen ge fühlsmäßig verbunden und ist selbst Objekt solcher Gefühle , er analysiert und ist Objekt der
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Analyse, er interpretiert Symbole und ist selbst Symbo l." (Parsons 1968a, 5 . 436) Das dritte Element ist die Handlun g. Parsons verwendet diesen Begriff sehr allgemein. inde m er ihn mit je der Form von Beziehungen oder Orienticrun gen zwischen Personen gleichsetzt.t Dann gehören selbstverständlich die individuellen Befind lichkeiten (z. B. Freude oder Angst) da zu wie die kulture llen Symbole (rote Karte oder weiße Fahne) und die soziale Situation (Streit oder Liebesgeflüster). Damit wird deutlich, dass Parsa ns das Handeln sowohl aus der Gesellscha ft wie aus der Person erklärt. Das wird auch bei der folgenden Definition deutlich. Dan ach kann man von Handeln sprechen, • wen n es zielorientiert ist, • sich in einer konkreten sozialen Situation abspielt, • von bestimmten Normen geleitet ist und • aus einer bestimmten Motivation heraus erfolgt. (vgI. Parsons et al. 1951, 5 . 53) Nach dem oben gesagten ist dieses Handeln im Prinzip immer "Interaktion", denn es spielt sich in einer sozialen Situation ab, ist deshalb sozialer Austausch, und da es auf Ziele gerichtet ist, die innerhalb eines konkreten sozialen Systems realisiert werden sollen, ist es auch bedingt durch die dort geltenden Nonnen. Austausch ist das Handeln auch insofern, als es wechselseitig ein bestimmtes Folgehandeln auslöst. Handeln hat wechselseitig motivationale Bedeutung. (parsons 1951, S. 4) Das vierte Element des sozialen Systems ist das symbolische System, das die Individuen teilen. (vgl. Parsons et al. 1951, S. 15 und 16) Es ist die "Kultur", die sich in der Kommunikation zwischen den handelnden Personen herausbildet. (vgl. Parsons 1951, S. 5) Natürlich wird sie, wie ich bei der Analyse der Situation gezeigt habe, nicht frei erfunden , sondern ist geprägt von den Werten und Normen, nach denen die Gesellschaft insgesamt geregelt ist. "Der Prototyp einer solchen Ordnung ist die Sprache." (Parsons 1968a, S. 437) Jedes soziale System bildet eine typische "Sprache" aus. Sie beinhaltet einen Code von Normen, die festlegen, wie man "richtig" spricht, wie Symbole zu verstehen sind und wie man Informationen austauscht. (ebd.) Die Sprache ist ein generalisiertes Medium . Bei seiner Definition dürften Max Webers Definitionen von "soz ialer Beziehung" und auch vom ,,Handeln" eine wichtige Rolle gespielt haben.
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Neben der Sprache gibt es noch andere "generalisierte Medien" der Interaktion , die sozusagen spezialisiertere "Sprachen" sind und das Verhalten in bestimm ten Bereichen großer sozialer Systeme "kontrollieren". Solche Medien der Inter aktion sind Geld, Macht und Einfluss. (vgl. Parsons 1968a, S. 440) Interaktionsmedien sind Mitt el, Handlungsabsichten zum Ausdruck zu bringen und komplementäres Verhalten zu erzeugen : Wer fünf € anbietet, kann mit der Herausgabe zumindest einer kleinen Pizza rechnen , wer mit der dicken Keule droht, rechnet mit Unterwerfung, und wer den Mädchen einredet, dass nur die guten Mädchen in den Himmel kommen, hofft, dass sich die bösen, die angeblich überall hin kommen, seinem Einfluss nicht entziehen . Das fünfte Element des sozialen Systems sind die sozialen Rollen. Rollen sind normati ve Erwartungen eines typisc hen Verhaltens in einer bestimmten sozialen Position. Wer die Bank D. am Schalter vertritt, soll aus deren Sicht zwar freundlich sein, aber die Kunden doch allmähl ich dazu bringen, ihre Geldgeschäfte am Automat en zu erledigen. In dem anderen soz ialen System erwartet die alte Frau A. aber, dass die Bankangestellte erst ma l ihrer Tagesgesc hichte zuhört, ehe sie die Überwe isung ausfüllt . "Vom Standpunkt des Hand elnden her gesehen definiert sich seine Rolle durch die normativen Erwartungen der Gruppenmitglicder, die in den sozialen Trad itionen zum Ausdruck kommen." (Parsons 1945, S. 55) Das soziale System we ist "verhältnismäßige stabile Beziehungsmuster" zwischen den Beteiligten auf; Parsons bezeichnet das als Struktur. (vgl. Parsans 1945 , S. 54) "Die Struktur von sozialen Handl ungssystemen" zeichnet sich nun dadurch aus, "d ass in den meisten Beziehun gen der Hand elnde nicht als individuell e Ganzheit beteiligt ist, sondern lediglich mit einem bestimmt en, differenzierten »Ausschnitt« seines gesamten Handei ns. Ein derartiger Aussc hnitt, der die Gru ndeinheit eines Systems soz ialer Beziehungen darstellt, wird heute überwiegend als »Rolle« bezeichnet." (S. 54f.) Rolle meint die Erwartungen, die ein soziales System - vom Gespräch am Schalter über das Fu ßballspiel bis zum Gott esdienst und der Gese llschaft insgesamt - an seine Mitglieder richtet. Rollen haben eine norm ative Funktion, indem sie das "rechte Verhalten" definieren und "passende Verhaltensmöglichkeiten" aufzeigen. (vgl. S. 56)
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Wie Interaktion nach der klassischen Rol lentheorie. wie sie Parsons zunä chst entworfen hatte , idealerweise funktioniert , hat Krappmann an anderer Ste lle I geze igt. Dort habe ich auch schon ange deutet, dass Parso ns nebe n seine Theorie der Ro lle, d ie den Idealfall erfolgreichen gemeinsamen Handel ns mit No nnkonfonnität und Konsens erk lärt , eine Theori e der Interaktion ges tellt hat. d ie gewissermaßen den rea len Diffe renzen und Dissensen - und auch Unge wiss heite n! - im nonnalen Alltag Rechnung trägt.z Um das Problem , mit dem das Individuum in der Interaktion fertigwerden mu ss, geh t es nun. Ich habe oben Parsans mit den Worten zitiert, dass sich die Rolle durc h norm ative Erwart ungen definiert, "die in den soz ialen Traditionen zum Ausdruck kommen" . (vg l. Par sons 1945, S. 55) Dam it ist aber auch sc hon das Problem der Interaktion angedeutet: Im Prinzip haben alle Interaktionspartn er eine höchst spezifisc he Soz ialisation hinter sich. Ihre Erfahrungen und Erw artungen verdanken sich also ganz unterschiedlichen Tra ditio nen. Wo z. B. die eine erwartet, dass sich jeder in einer soz io logischen Disk ussion "vo ll einbringt", ist es der zwe iten "voll peinlich" , was ihr da gebo ten wird, die dritte setzt alle mit Webers Forderung nach to tale r Wertfreiheit unte r Dru ck, und der vierte mim t den gelangweilten Beo bachter. Und man kann auc h unterstellen, dass die Beteiligten nur einen Te il ihrer Persönlichkeit in der aktuellen Rolle aktivieren , was natürlich nicht heißt, der Rest sei nicht wichti g. Wer weiß schon, welchen Ste llvertreterkrieg jemand ausficht, der gegen jede dezidierte Meinung o pponiert? Ergo: Erwartungen an das "richtige" Handeln sind diffus, vielfaltig und manchmal sogar widers prüc hlich. Wichtiger ist aber die Ta tsache , dass de r Handelnde in der Interaktion nicht sicher weiß, wie der andere reagieren wird. Er kann nur mögliche Reaktionen annehmen. (vgl. Parso ns 195 1, S. 5) Die Erwartungen sind als o kontingent, und insofern ist auch das nächste Han deln egos prinzipiell kontingent. Für die Erwartungen und das Handeins alters gilt das genauso. Wegen dieser wech se lseitigen Abh ängigkeit des Handel ns von den mög lichen Erwartungen und dem möglichen Handeln egos und alters ist jeder Interaktion eine doppelte Kontingenz inh ärent. (vg l. Parson s u. Shils 1951 , S. 16)
I Vgl. oben S. 107 2 Vgl. dazu die erste Skizze auf S. 108
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Dass wir trotz dieser Ungewissheit handeln können, erklärt Parsons damit, dass es im Laufe einer "erfolgreichen" Sozialisation zu einer "strukturellen Verallgemeinerung der Ziele" gekommen ist. (Parsons 1945, S. 60) I Diese Erklärung muss man allgemeiner verstehen: Nicht nur die Ziele sind verallgemeinert worden, sondern auch die sozialen Vorstellungen der angemessenen Mittel. Kurz: Im Prozess der Sozialisation werden generelle Muster des Handeins verinnerlicht. Um es an einem konkreten Beispiel deutlich zu machen: Wer gelernt hat, mit dem Auto auf der rechten Seite zu fahren, muss nicht eigens lernen, aueh mit dem Fahrrad rechts zu fahren, denn er hat begriffen, dass der Straßenverkehr nach diesem Prinzip funktioniert. Und cr kann sich darauf verlassen, dass die anderen das auch so kapiert haben. Wer wiederholt leidvoll erfahren hat, dass totale Offenheit zum Schaden gereicht hat, wird irgendwann unterstellen, dass auch andere in der Interaktion etwas zurückhalten. Da strukturelle Verallgemeinerung also nicht nur für Ziele und Mittel, sie zu realisieren, sondern auch für Rollen gilt, kann in einer konkreten Interaktion Möglichkeit zumindest auf Wahrscheinlichkeit reduziert werden. Der Gedanke der Verallgemeinerung ("generalization") entspricht ziemlich genau der Erklärung von Mead, wie Kommunikation zwischen den Individuen möglich ist: Interaktion ist ein System "ko mplementärer Erwartungen", das funktioniert, weil sich ego und alter an einem gemeinsamen symbolischen System orientieren. Auch Pursons' Annahme, dass der Handelnde in einer konkreten Interaktion "ein Objekt von Oriesuierungen, und zwar für andere Handelnde wie auch für sich selbst" (Parsons 1968, S. 73) ist und dass Interaktion funktioniert, weil es ein generalisiertes symbolisches System (in der Sprache Meads der "ge neralized other") gibt, liegt nicht weit von Meads Erklärung weg. Während nach Mead aber Rollen erst in der Interaktion Kontur bekommen, betont Parsa ns stärker die normativen Vorgaben, an denen sich die Handelnden orientieren. Wcnn nun HERBERT BLUMER zur gleichen Zeit, in der Parsans sein Modell der Interaktion ausgearbeitet hat, seine Interaktionstheorie direkt an Mead anschließt, dann hat er nicht die deutlichen Annäherungen Parsons' an Mead vor Augen, sondern das normative Paradigma der klassischen Rollentheorie! I Vgl. obe n S. 109
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5.S
Blumer: Symbolische Interaktion
Als GEORGE HERBERT MEA D 1931 plötzlich starb, übernahm sein ehemaliger Schüler und junger Kollege HERBERT BLUMER (1900-1987) seine Vorlesung zur Sozialpsychologie. Kongenial im assoziativen Stil der Entw icklung und Darstellung einer Theorie der Interaktion hat Blumer auf der Basis eigener und fremder M itschriften der Vorlesungen Meads und in Weiterentwicklung dessen Gedanken erst einer Theorie der Symbolischen Interaktion den Namen gegeben und sie rund drei Jahrzehnte später in seinem Aufsatz " Der methodologische Standort des Symbol ischen Interaktionismus" ( 1969) systematisiert. Letzteres schien ihm überfällig zu sein, nachdem die Kritik an der Rollentheori e von Parsons sich ungeniert bei Mead bediente. Auf die Frage, was das Neue an dieser Theorie ist, gibt Blumer die folgende Antwort : Aus der Sicht des symbolischen Interaktionismus ist "das menschliche Zusammen leben ein Prozess, in dem Objekte geschaffen, bestät igt, umgeformt und verworfen werden. Das Leben und das Handeln von Menschen wandeln sich notwendigerweise in Über~ einstimmung mit den Wandlungen, die in ihrer Obj ektwelt vor sich gehen." (Blumer 1969, S. 9 1) Mit diesem Satz will Blumer nicht so sehr an die triviale Tatsache erinnern, dass die objektive Realität unser Handeln bestimmt, sondern die Th ese vorbereiten, dass die Menschen diese "objektive" Realität "definier en" und damit auch die Bedingungen ihres Handeins selbst verändern. Diese These muss man auch in Beziehung setzen zu Max Weber, den Blumer zwar nicht zitiert, dessen Definition sozialen Handelns aber Ende der 60er Jahre auch in der ameri kanisc hen Disk ussion allgemei n akze ptiert war . Danach heißt soziales Handeln , sich am gemeinten Sinn des Handeins des ande ren zu orien tieren. Diese Erklärung sozialen Handelns erweitert Blumer und sagt, dass sich die Handelnd en wechselseitig den Sinn ihres HandeIns anzeigen und so über die gemeinsame Situatio n verständigen . Diese These steht natürlich vor dem Hintergrund der Erklärungen, die Mead gegeben hatte. Danach gelingt Komm unikation, weil die Beteiligten sich den Sinn ihres Handeins über gemeinsame, signifikante Symbole erschließen. Das hebt Blumer besonders hervor, und insofern wäre es auch klarer, wenn man seine Theorie des Handelns als »symbolvermittelte« Interaktion bezeichnen würd e. (vgl. Joas u. Knöbl
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2004, S. 193) Kommu nikation gelingt nac h der Theorie der Kom munikation von Mead zweitens, weil sich die Handelnden in face-to-faceSituationen wechselse itig in die Rolle des anderen versetzen und sich selbst in ihrem Handeln beobachten und verstehen. Blumer geht nun einen Schritt weiter und sagt, dass die Hand elnden durch ihre Sprache und ihr Verhalten einander dauernd anzeigen, wie sie die Situation verstehen und wie der andere sie verstehen sol l. Sie produzieren in der Interaktio n fortlaufend gemeinsame Symbole, an denen sie sich dann orientiere n, die sie durch ihr Handeln bestätigen, revidieren und wieder neu definie ren. So wird der Sinn der Interaktion fortlaufend ausge handelt, und es kommt zu einer gemeinsamen Definition der Situation . Diese Definition schafft objektive Handlungsbedin gungen und strukturiert die weiteren Interaktionen. WILLlAM I. THOMAS (1863-1947), den Blumer übrigens als prominenten Vorläufer des Symbol ischen Interaktioni smus erwähnt, hat die Kraft der Definitio nen so ausgedruckt: "Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind auch ihre Folgen real." (Thomas u. Thomas 1928, S. 114) Auf diesem sog. Tho mas-Theorem t basieren Blumers "d rei einfache Prämissen" über das Handeln der Menschen gegenüber Dingen, die Bedeutung der Dinge und die Verwendung dieser Bedeut ung : Herbert Blum er: Drei Prämissen über Bedeutungen, Interaktion und Interpretation "Die erste Prämisse besagt, dass Menschen »Dingen« gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter »Dingen« wird hier alles gefasst, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen verm ag - physische Gegenstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder einen Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder Wünsche; und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen. Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Für Robe rt K. Mert on erklärt dieser Mechanismu s de r Strukturierung, den er "s el ffu lfillin g prophecy" nennt, n icht -intendierte Handlungs folgen, für den Symbolischen Intera ktionism us Normai ttiu. Vg l. dazu auch Kap. 4.6 "Rationale W ahl trotz »habirs« und »frameae'', S. 173, und S. 111 Anm. 1.
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Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden." (Blumer 1969: Der methodo logische Stan dort des Symbolischen Interaktionismus, S. 81)
Nach diesen Prämi ssen handeln Menschen nicht, indem sie nonnative Roll en einfach ausführen, sondern indem sie ihnen und den übrigen Bedingungen des Hand eins eine Bedeutung geben und damit die Bedingungen selbst schaffen. Die Zuschreibung einer Bedeutun g kann man als "Definition" bezeichnen. Dieser Prozess der Bedeutun g erfolgt aus der sozialen Interaktion heraus, deshalb bezeichnet Blumer Bedeutungen auch als "soziale Produk te". Die Mensch en zeigen sich wechselseitig an, welche Bedeutung sie einer bestimmten Situation beimessen, wie sie die Bedingungen des nächsten Handeins definieren und wie sie die Effekte dieses Handelns interpretieren. Auch wenn es keinem der Beteiligten bewusst ist: Sie stehen in einem fortlaufenden .formenden Prozess". In diesem wechselseitigen Interpretationsprozess interagiert der Handelnd e auch mit sich selbst. (vgl. Blume r 1969, S. 84) Er definiert sich und strukturiert danach sein Hand eln. Daraus folgt: Die innere Komm unikation eines jeden Beteiligten an der Interaktion ist Reaktion auf die innere Komm unikation jedes anderen Beteiligten. Vor diesem Hintergrund skizziert Blumer nun vier Kernvorst ellungen des Symbolischen Interaktioni smus. Die erste heißt, "dass menschliche Gruppen aus handelnden Personen bestehen", genauer: "dass menschliche Gruppen und Gesellschaften im Grunde nur in der Handlung bestehen." (Blumer 1969, S. 85)1 Gese llschaft ist Handlung; sie besteht in einem fortlaufenden Prozess der wechse lseitigen Interpretation und Abstimm ung der Aktivitäten ihrer Mitglieder. Gese llschaft ist nicht allein aus den sozialen Tatsachen (Durkheim) oder aus dem kultu rellen System (Parsons) zu erklären, sondern muss aus den handelnden Individuen selbst erklärt werden.
Bei Weber war zu lesen, dass ein soziales Gebilde nur solange besteht, wie in ihm sinnvolle Handlungen stattfinden. Vgl. Band I, Kap. 3.7 .H andeln unter der vorstellung einer geltenden Ordnung", S. 112.
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Die zweite Kemvorstellung lautet folgerichtig, dass eine Gesellschaft aus Individuen besteht, "die miteinander interagieren." (Blumer 1969, S. 86) Deshalb müssen sie "darauf achtgeben, was der jeweils andere tut oder tun will" (S. 87), und das tun sie auch. Wie Mead gezeigt hat, erfolgt diese Beachtung durch wechselseitige Rollenübernahme und auf einer symbolischen Ebene. Die Handelnden interpretieren sich und ihr wechselseitiges Handeln, ziehen daraus Schlüsse und definieren so den Rahmen ihres HandeIns. Das Gewicht dieser wechselseitigen Definition hat RALPH H. T URNER in der These zum Ausdruck gebracht, dass j eder Prozess des role-taking auch ein Prozess des role-making ist. (Turner 1962) Die dritte Kemvorstellung betrifft die Beschaffenheit von Objekten. Für Blumer gibt es keine Welt an sich, sondern nur Welten, wie Menschen sie sich und flireinander konstruieren. Diese »Welten« sind aus »Objekten« zusammengesetzt, die wiederum "das Produkt symbolischer Interaktion sind. Zu den Objekten ist alles zu zählen, was angezeigt werden kann, alles, auf das man hinweisen oder auf das man sich beziehen kann." (Blumer 1969, S. 90) Das reicht vom Wassertropfen über konkrete Personen bis zu abstrakten moralischen Prinzipien. Die Bedeutung der Obj ekte ist für verschiedene Personen höchst unterschiedlich. Für den einen ist das Wasser das Zeichen des Lebens, für den anderen Bedrohung. Die Bedeutung der Objekte - ich wiederhole es - liegt denn auch nicht in den Objekten selbst, sondern in der Definition, die die Handelnden sich gegenseitig anzeigen. Wenn kleine Mädchen anfangen zu kreischen, wenn man mit dem Wasserschlauch ankommt, dann zeigen sie sich an, dass das kommende Vergnügen ohne einen kleinen Schock nicht zu haben ist. Objekte sind Produkte des Handeins von Menschen. In sie legen sie Sinn hinein. Will man das Handeln der Menschen verstehen, muss man ihre Welt von Objekten bestimmen. Fährt jemand im offenen Cabriolet mit hämmernden Bässen langsam durch die Straße, ist es sein Arrangement von Körper, Objekt und Raum, mit dem er sich oder anderen imponieren will, und bestimmte Zuschauer werden es auch so verstehen. Andere definieren das natürlich ganz anders und empfinden es als lästig. Viertens sagt der symbolische Interaktionismus, dass der Mensch mit sich selbst in einer sozialen Interaktion steht. Er begegnet einem ständigen Fluss von Situationen; in j eder muss er handeln, und in jeder Situation muss er die Umstände seines Handelns - von seinen Bed ürf-
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nissen bis zu den antizipiert en Erge bnissen des geme insame n HandeIns - interpretieren und d efinieren . Er zeigt sich Obj ekte an und gibt ihn en eine Bed eutung. Nach dieser Bedeutung o rganisiert er sein Handeln. So schafft er sich sei ne eigene Welt. indem er interpretierend über sie ve rfügt. Aus den vier Kernannahmen folgt, dass eine Interaktion mehr ist als
die Summe der einzelnen Handlungen. Sie ist etwas Eigenes, das sich ständig verändert und jede einzelne Handlung bedingt. Dadurch, dass die Handelnd en sich fortlaufend anzei gen, wi e sie die Situation de finieren, verketten sich die einzelnen Handlungen. Dieser Begriff der Verkettung {einterlinkage«) ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn eine Handlung greift in die andere, ist Reaktion auf eine Handlung und Bedingung für eine nächste. Verkettung begründet gemeinsames Handeln. Zu dieser Verkettung macht Blumer nun drei Anmerkungen, die sich auf die scheinbare Wiederholung von Handeln, die Ausdehnung, die eine solche Verkettung annehmen kann, und auf die Vorgeschichte der Handlungen beziehen. So stellt er zunächst einmal fest, dass der überwiegende Teil sozialen Handeins routinemäßig nach bestimmten Mustern erfolgt. " In den meisten Situationen, in denen Menschen in Bezug aufeinander handeln, haben sie im Voraus ein festes Verständnis, wie sie selbst handeln wollen und wie andere handeln werden. Sie haben gemeinsame und vorgefertigte Deutungen dessen, was von der Handlung des Teilnehmers erwartet wird, und dementsprechend ist jeder Teilnehmer in der Lage, sein eigenes Verhalten durch solche Deutungen zu steuern." (Blumer 1969, S. 97f.) Während Parsons das gemeinsame Handeln damit erklären würde, dass die Beteiligten ihre Rollen kennen und sie routiniert ausführen, müssen sie sich nach der These von Blumer zunächst einmal zu verstehen geben, dass es ein Zusammenhang ist, dem man durch Wiederholung von Handlungsmöglichkeiten begegnen kann.t Mit dieser ersten gemeinsamen Definition der Situation beginnt dann der Prozess der Definition, wie weiter gehandelt werden soll. Natürlich leugnet auch Blumer nicht, dass es Nonne n und Regeln gibt, aber es sind die Menschen, die sie filr sich interpretieren und gemeinsam definieren: "Es ist der soziale Prozess des Zusammenlebens, Lesen Sie vor diesem Hintergrund doch noch einmal nach, was Luhmann über die erfolgreiche Überschätzung des Konsenses gesagt hat! Vgl. Band 1, Kap. 4.8 .D ie Geltung von Institutionen und Rituale der Rebellion", S. 170.
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der die Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten." (Blumer 1969, S. 99) In seiner zweiten Anmerkung zur Verkettung geht Blumer auf die ausgedehnten Verbindungen von Handlungen ein. Sie machen einen großen Teil menschlichen Zusammenlebens aus. Blumer nennt sie Netzwerke von Handlungen (anetworks of action«) oder Institutionen. Und auch diesem Thema wendet sich Blumer auf eine ganz neue Weise zu. Während andere Theorien von der Regelmäßigkeit des Handeins fasziniert waren I und die Gründe dafür in den Institutionen suchten oder sogar davon sprachen, dass die Institutionen ihrer eigenen Dynamik folgen, unterstreicht Blumer die Bedeutung des Handeins des Individuums: Institutionen funktionieren, weil die Beteiligten die Situation in einer bestimmten Weise definieren. Die dritte Anmerkung schließlich betrifft die Vorgeschichte des Handeins. Jedes Handeln geht notwendig "aus dem Hintergrund früherer Handlungen der Teilnehmer" hervor. (Blumer 1969, S. 100) Jeder Handelnde bringt in die Interaktion einen Satz von Bedeutungen und Interpretationen mit, die er im Laufe seines Lebens kennengelernt hat. Jeder ist zu jedem Zeitpunkt seines Handeins in seine Biographie eingebunden. Deshalb ist in der Interaktion j eder Handelnde auch in die Biographie aller anderen eingebunden. "Gemeinsames Handeln stellt sozusagen nicht nur eine horizontale Verkettung der Aktivitäten der Teilnehmer dar, sondern auch eine vertikale Verkettung mit vorangegangenem gemeinsamen Handeln." (S. 101) ANSELM STRAUSS, ein Schüler von Blumer, hat diese Verkettung des Handeins mit der Biographie der anderen in folgendem Satz zum Ausdruck gebracht: "Obwohl nur zwei Hauptdarsteller auf der Bühne stehen, sind auch andere, nur dem Publikum oder einem der beiden Akteure sichtbare Spieler anwesend. Somit kann sich j eder Darsteller, indem er sich auf den anderen einstellt, zugleich auf einen unsichtbaren Dritten einstellen, als wäre dieser tatsächlich anwesend." (Strauss 1959, S. 58) Nach der Theorie des Symbolischen Interaktionismus ist also Interaktion im Kern Interpretation von Handeln. Und sie funktioniert auch, wenn sich die sozialen Erwartungen nicht völlig decken. Während bei Parsons die Interaktionsordnung letztlich durch die Orientierung an 1 Vermutlich hat Blumer hier an Max Webers Theorie der Bürokratie gedacht!
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nonnativen Rollen zusammengehalten wird, ist es im interaktioni stisehen Modell Blumers der prozessuale Konsens, der das bewirkt. Dass das nicht so einfach funktioniert, sondern höchst riskant sein kann, hat eine Variante des Symbolischen lnteraktionismus, die Ethnomethod ologie, gezeigt. Bevor ich diese pfiffige Analyse des Alltagshandelns vors telle, wie angekündigt, will ich skizzi eren, wie das Thema Interaktion aus der Sicht der Systemtheo rie behandelt wird. Warum Sie nicht überrascht sein sollten, dass das just an dieser Stelle erfolgt, steht in der Einleitung zu diesem Kapitel. 5.6
In ter a kt ionssysteme: Kommunikation unter Anwesenden
In seinen "S tudien über Inter aktionssysteme" beklagt ANDRE KJESER· UNO, dass es bis dato nicht zu einer "kontrollierten Anwendun g der Systemtheorie auf Interakti onen" gekommen sei. (Kieserling 1999, S. 23) Das kann man als hausinteme Selb stkritik der Systemtheoretiker lesen, denn die Erfahrung, dass Interaktionen eine .Eigenlogik'' haben und dass aus emergenten Prozessen Strukturen sich immer wieder neu schaffen, hätte eigentl ich die Systemtheorie auf den Plan rufen müssen. Das kann man aber auch als nachgetragene Entschuldigung lesen, denn "Interaktion war einer derjenigen Begriffe, mit dem man gegen die seinerzeit domini erende Ver sion von Systemtheorie protestierte. Die Kritik an Parsons wurde als mik rosoziologische Revolution inszeniert, und noch heute leuchten daher Begriffe wie Interaktion oder Situation eher als Gegenbegriff zum Systembegriff ein. Ebenso wie Konflikttheorie gilt auch Interaktionstheorie als eigener Ansatz, den man nur gegen oder nur neben Systemtheori e vertreten könne ." (Kieserling 1999, S. 23) Kieserling hat in einer eindrucksvollen Arbeit gezeigt, was die Systemtheorie bis dah in alles ausgeblendet hat und was umgekehrt die Systemt heorie für die Analyse von Interaktion beitragen könnte. Aus dieser Arbeit will ich nur einige zentrale Gedank en! skizz ieren und einiges, Um die folgende Skizze zu verstehen, ist es hilfreic h, noch einmal nachz ulesen, was ich in Band I, Kap. 6.5 übe r "Die Th ese von der Reduktion von Komplexität" und in Kap. 6.6 über ,,Die autopoietische Wend e der Systemtheorie" gesa gt habe .
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das ich über die Systemtheorie an anderer Stelle t referiert habe, wiederholen . NIKLAS LUHMANN hatte festgestellt, dass ,je nach dem, unter welchen Voraussetzungen der Prozess der Selbstselektion und der Grenzziehung abläuft", sich soziale Systeme auf verschiedene Weise bilden, nämlich als Interaktionssysteme. als Organisationssysteme und als Gesellschaftssys teme. (Luhmann 1975c, S. 10) .Jnt eraktionssysteme kommen dadurch zustande, dass Anwesende sich wechselseitig wahrnehmen. Das schließt die Wahrnehmung des Sich-Wahmehmens ein. Ihr Selektionsprinzip und zugleich ihr Grenzbildungsprinzip ist die Anwesenheit. Wer nicht anwesend ist, gehört nicht zum System." (ebd.) Die Systemgrenze zeigt sich darin, "dass man nur mit Anwesenden, aber nicht über Anwesende sprechen kann; und umgekehrt nur über Abwesende, aber nicht mit ihnen." (ebd.) Es muss aber auch noch eine andere - aus Sicht der Systemtheorie - eingeschränkte Leistungsfähigkeit von Interaktionssystemen bedacht werden: Sie sind strukturell beschränkt, weil sich die Interaktionen auf j eweils ein Thema konzentrieren müssen (man kann nicht gleichzeitig über alles sprechen) und weil die Beiträge zur Interaktion nacheinander erfolgen müssen (es können nicht alle gleichzeitig reden.) An Luhmann s Definition der Systemgrenze schließt Kieserling seine These an, dass Interaktion ..Kommunikation unter Anwesenden" meint. (Kieserling 1999) Unter dieser Einschränkung reicht Interaktion von der Party bis zur gemeinsamen Autofahrt, von der ärztlichen Unters uchung bis zur therapeutischen Gruppensitzung. Kieserling nennt nun einige Merkmale von Interaktionssystemen. Für jede Interaktion gibt es ein ..Typenprogramm" , das der Verständigung über den Sinn der Zusammenkunft dient. (vgl. Kieserling 1999, S. 18) Wer z. B. zu seinem Kollegen ins Auto steigt, damit er ihn mit zur Arbeit nimmt, sollte nicht das Typenprogramm Busfahren im Kop f haben. Typenprogramme dienen der Reduktion von Komplexität. Die gleiche Funktion hat das Thema einer Interaktion. Wenn der Lehrer zwei Streithähne ins Gebet nimmt, geht es um Streit und nicht um die Ermahnung, im Übrigen beim Diktat etwas sauberer zu schreiben. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass das Thema von einem Interaktionsteilnehmer diktiert werden kann, aber dann kann man davon aus1 Vgl. Band I , Kap. 5.7 .Drganisanon als System" .
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gehen, dass man an dieser Kommunikation nur solange teilnimmt, wie es nicht zu umgehen ist. Für norm ale Interaktion gilt, dass ein Thema um so eher alle Beteili gten integriert, je näher es an ihren Erwart ungen in dieser "typischen" Interaktion liegt. Typisch für Interaktionssystem e ist weiterhin, dass jeder Te ilnehme r die ganze Zeit in die Kommunikation eingeschlossen ist, auch wenn er sich abseits stellt, mit der Nachbarin flüstert oder schweigt. Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden bedeutet immer auch undifferenzierte Inklusion. Wa s geschieht, geschieht immer unter de n Augen aller Beteiligten: " In der Interaktion gibt es keine Geheim nisse. Es gibt freilich auch keine Pri vatheit, nämlich keine Möglichkeit, dem »Kle ben der Blicke« (Luhmann) auszuw eichen." (Kieser ling 1999, S. 48) Die Interaktion ist deshal b auch erst dann zu Ende, wenn man sich nicht mehr wech selseitig beobachten kann . Ein weiteres Merkmal der gelingende n Kommunikation unter An wesenden sieht Kieserling darin, dass Reden und Schweigen synchronisiert werden müssen. (vgl. Kieserling 1999, S. 40) Wer redet, darf nicht den Eindruck erwec ken, dass er nie mehr au fhört , we r schweigt, dar f nicht den Eindruck vermitteln, ihn ginge das alles gar nichts an. Reden erfolgt und wird zugelas sen unter den Bedingungen knapper Zeit und des Rechtes, damit eine bestimmte Ordnung des Systems zu de finieren . Also : Wer kurz und knapp ..Ruh e!" schreit, sagt, welches Programm angesagt ist und wer als nächster reden darf (in diesem Fall wahrscheinlich ebendieser l), wer folgt, akzeptiert das Programm. Umgekehrt : Wer redet, mutet anderen währenddessen eine bestimmte Passivität zu. Das ist auch notwendig, weil eben nicht alle gleichzeitig reden könne n. Damit die anderen sich nicht innerlich absentieren, muss er nicht nur seine Rede interessant machen, sondern auch signa lisieren, dass sie ebe nfalls das Wort bekommen werden. Etwas kom plizierter wird es, wenn plötzlich alle schweige n. Je länger das anda uert, um so wahrscheinlicher ist es, dass die Teilnehme r über ihre Inklusion in das Interaktionssystem reflektieren und auf ein Th ema oder ein Ereign is hoffen, das an das gerade abgebrochene Thema angeschlo ssen werde n kann . Da alle in der strukturell diffu sen Interaktion immer potentielle Sprecher sind, hängt die Anschlussfähigkeit der Kommunikation auch von j edem Einzelnen ab, Maßnahmen, die Peinlichkeit zu überbrücken, reichen vom verlegenen Hüsteln bis zum flücht igen Blickkontakt , und schließlich wird jedes Ereignis dankbar
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begrüßt, das das Eis bricht. In solchen Situationen ist oft zu beobachten, dass es zu einem Themenwechse l kommt. Dadurch wird eine neue Ordnung definiert, und sie muss für möglichst alle anschlussfähig sein. Ich habe von undifferenzierter Inklusion gesprochen, die dadurch erfolgt, dass alle lnteraktionsteilnehmer sich wechselseitig als Teilnehmer wahrnehmen. Das heißt aber nicht, dass damit auch die ganze Person beansprucht würde, damit das Interaktionssystem funktioniert. Und umgekehrt heißt das auch nicht, dass das System es zulassen muss, dass die Teilnehmer sich als ganze Person einbringen. Im ersten Fall funktioniert ein Interaktionssystem, auch wenn die Teilnehmer von einander annehmen (und annehmen müssen!), dass sie außerhalb dieses Interaktionssystems noch ein anderer sind. Die thematische Situationsdefinition verlangt aber Einschränkung individueller Besonderheiten . "Das bedeutet nicht zuletzt, dass die mitunter erheblichen Unterschiede der persönlichen Nähe oder Vertrautheit, die unter den Anwesenden bestehen, in der Interaktion nicht gut dargestellt oder gepflegt werden können. (..) Vor allem Paare können die Intimität, in der sie sonst miteinander verkehren, in Anwesenheit anderer nicht gut ausleben, ohne dass der Eindruck einer Fusion von Hinterbühne und Vorderbühne entsteht, der die Einheit von Situation und Stilvorgabe zerfallen lässt. Das mag den noch Liebenden als Zumutung erscheinen, während die schon Streitenden es als Unterbrechung ihres Streites genießen können." (Kieserling 1999, S. 50)
Das Beispiel mit den Interaktionsteilnehmern, die etwas mit in die Situation einbringen, was eigentlich nach Typenprogramm oder Thema nicht dort hinein gehört, zeigt, dass das System eine Grenze hat. Aber diese Grenze steht nicht fest, sondern kann durchlässig sein. So kann, was eigentlich ausgeschlossen werden sollte, z. B. mit einem gewollten Themenwechsel oder auch unter der Hand nach innen gelangen. Der Streit zwischen H. und G., den die unter der Decke halten wollten, von dem aber natürlich alle wussten, bricht plötzlich auf, und zum Schluss kriegen sich alle an die Köpfe. Es kann aber auch der andere Fall eintreten, dass die Teilnehmer ganz bestimmte Reizthemen peinliehst vermeiden. Die Interaktionsstruktur wird also von außen irritiert, und das System, wenn es denn weiter bestehen soll, organisiert sich autopoietisch. Die Grenze, die auf diese Weise gezogen wird, ist nur auf Zeit stabil.
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Betrachten wir schließlich die eingangs angesprochene Bedingung, dass Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden verstanden werden soll. So ganz stimmt das nicht, denn es gibt sowohl den Fall, dass Anwesende nicht als solche ang ese hen werden, als auch den, dass Abwesende als Anwesende behande lt werden: "Diener zum Beispiel können dur ch ihre Herren und deren Besucher als abwesend behandelt werden, auch wenn sie sich im selben Zimmer aufhalte n, Taxifahrer durch die Interaktion unter den Fahrgästen auch dann , wenn sie unmittelbar vor einem sitzen. Es gibt also Ausgrenzung und Exklusion trotz konti nuierlicher Präsenz. Aber auch der um gekehrt e Fall der Inklusion trotz disko ntinuierlicher Präsenz ist weit verbreitet : Wer zwischendurch kurz mal austreten muss, der kann in der Interaktikon trotzdem als anwesend beha ndel t werden. Man verzichtet dann darauf, Themen zu behandeln, die bei ges icherter Abwesenheit der Person eige ntlich nahelägen: zum Beispiel sie selbst ode r ihr merkwürdi ges Betragen wenige Minuten zuvor." (Kieserling 1999, S. 65) Ich breche die Skizze dieser höchst instrukt iven Studie übe r Interak tionssysteme hier ab, we il die weitere Differenzierung der systemtheoretischen Analyse zu wei t führe n wü rde, und weil sie gege n Ende andeutet, we lchen Theoretiker sie einer Systemtheo rie der Interaktion an die Seite stellen möchte: ERVING GOFFMAN. (Kieserling 1999, S. 484) Um ihn geht es später! unter der Annahme, dass wir im Allt ag vor einander ein Scha uspiel aufführen, dass wir das Thema des Stüc ks definieren, Kulissen aufbauen und - so meine These - dam it zwar einen Teil unserer Ident ität vor den ande ren zeige n, gleichzei tig aber auch alles tun, um sie vor dem Zugr iff der and eren zu schützen! Ich komme nun zu einer Theorie, die man im weiteren Sinne auch dem interpretativen Paradigma zurechn en kann, die ihre Erklärung, wie und warum Interaktion funktioniert, aber aus einem deutlich anderen Th eoriehintergrund ableitet, zur Ethnomethodologie. Sie leidet unter einem do ppelten Vorurte il: Gestrenge Theoretiker tun sie leicht als .Jt appe ning'ü ab, und Student en, die sich an ihren Krisenexperim enten erheitert haben, meinen oft , das sei es dann gewesen. M itnic hten! Vgl. unten Kap. 7.5 ..Goffman: Stigma und soziale Identität" und Kap. 8.4 "Goffman: Wir alle spielen Theater" . 2 So war es bei dem tonangebenden Gouldner zu lesen, der die Ethnomethodologie als "sich elegant gebärdenden Anarchismus" der unruhigen 60er Jahre qualifizierte. ( 1970, S. 466 u. 472)
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Ethno methodologie: Met hod isches im Alltags handeln
Nach der Theo rie der Symbolischen Interaktion gehen die Handelnden zwar mit bestimm ten Erwartungen in eine Situation hinein, und so definieren sie auch die Situation für sich und für die anderen, aber welche Bedeutung diese Erw artungen für das gemeinsame Handeln haben sollen, das wird - meist natürlich unbewusst - in der Situation ausge handelt. Diesen Gedanken hat HAROLDGARFINKEL (* 1917) zurückv erfolgt bis zu den stillschweigenden Ann ahmen und praktischen Methoden, mit denen die Handelnden ihren Alltag bewältigen. Garfinkel war lange Zeit Assistent von Parsons, und wie dieser ist er ,.an den Vorb edingungen sozialer Ordnung interessiert. Aber im Gegensatz zu Parsons misst er der Roll e der Wechselseit igkeit von Gratifikationen und der allgemein geteilten moralischen Werte keine Bedeutung bei." (Gouldner 1970, S. 466f.) " Keine" ist vielleicht etwas übertrieben, aber in der Tat hat Garfinkel die Handelnden, wie sie in der Rollentheori e von Parsons vorkom men, als ..eultural dop es'' (Garfinkel 1967, S. 68) empfunden, die quasi .jremdgesteuert'' den internalisierten " vorgegebenen Nonnen nur blind folgen". (Joa s u. Knöb12004, S. 225) Außerdem stelle sich das Ordnungsproblem nicht erst, wo eine Interaktion nicht gelingt, sondern immer, wenn Handelnde im Alltag miteinander zu tun haben. Ordnung wird nämlich in jeder Interaktion von Anfang an gestiftet, indem die Handelnden "sich stets - ohn e explizit Bezug auf irgendwelche Nonnen zu nehmen - selbst die Sinnhaftigkeit ihres Handeins und ihrer Welt wec hselseitig bestät igen" und "weil sie sich sofort der Verständlichkeit ihrer sprachlichen Aussagen und dam it der Anschlussfähigkeit ihrer Handlungen versichern." (Joas u. Knöbl
2004, S. 227f.) Die entsche idenden Gründe, dass soziale Interakt ionen relativ gut funktionieren, liegen für Garfinkel in dem stillschweigenden Einverständnis, dass alle Beteiligten die Welt in dergleichen Weise sehen und den Alltag mit den gleichen praktischen Methoden bewä ltigen. Diese Ann ahme geht auf die Phänomenologie von ALFRED SCHÜTZ zurück, auf die ich gleich noch zu sprechen komm e. In aller Kürze: Schütz verstand die Aufgabe der Phänomenologie darin, herauszufinden, wie Phänom ene, also Objekte der Welt um uns herum, erfahren werden. Dabei fand er eine "natürliche Einstellung" heraus, in der wir die sozia le Welt sinnhaft aufb auen. Zu dieser natürlichen Einstellung
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gehört auch die Annahme, wir alle teilten ein gemeinsames Alltagswiesen. Garfinkel führt diesen Gedanken weiter und sagt, dass wir naiv unterstellen, alle würden es auch in gleicher Praxis verwenden. Seine These ist, dass wir in unserem Alltagshandeln methodisch vorgehen. Diese These mag überraschen, weil wir manches Handeln - meist natürlich bei den anderen - für verrückt und keineswegs rational halten. Doch darum geht es in dieser Theorie gar nicht: Für sie "ist nicht interessant, warum die Menschen bestimmte Handlungen durchführen, sondern wie sie sie durchführen." (Weingarten u. Sack 1976, S. 13) Es geht also um praktische M ethoden des AlltagshandeIns. Diese Methoden wenden wir manchmal bewusst, meist aber unbewusst an, aber immer tun wir es in einer für ein soziales Gebilde (Ethnos) typischen Weise. Deshalb hat Garfinkel seine Theorie Ethnomethodologie genannt. Das soziale Gebilde, aus dem heraus das Alltagshandeln bestimmt ist, kann eine bestimmte Gruppe, ein Milieu oder die Gesell. -. schaft als ganze sein. Um herauszukriegen, wie das Handeln im Alltag funktioniert, hat Garfinkel in diesen Alltag experimentell eingegri ffen und die Routine gestä rt. Es sind vor allem diese .Kriscnexpcrimcnte", weshalb die Theorie der Ethnomethodologie rasch als zu wenig ernst abgetan wird. Dabei wird übersehen, dass mit diesen zum Teil grotesken Experimenten gezeigt werden soll, mit welchen Methoden wir .normalerweise" Normalität herstellen. Es geht um die Frage, wieso wir ganz selbstverständlich annehmen, dass wir die anderen verstehen, und genau so selbstve rständlich darauf vertrauen, dass die anderen auch uns verstehen, wieso also Interaktion gelingt. Mehrere Erklärungen bieten sich an. leh nenne vier, die jede für sich nur einen Aspekt einer einheitlichen sinnvollen Konstruktion einer sozia len Wirklichkeit darstellen. 1. Die Ethnomethodologie sagt erstens: Es gibt .Dinge. die jeder weiß" . Dieses Wissen bezeichnet Garfinkel als "common senseknowledge". Dieses Alltagswissen, das uns im Prozess der Sozialisation vermittelt wurde, verwenden und unterstellen wir ganz selbstverstä ndlich, und wir gehen davon aus, dass die anderen es genau so machen. Solange es keine Missverständnisse gibt, verlassen wir uns auf dieses Wissen stillschweigend. Bis auf Widerru f versichern wir uns durch unser Handeln
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gegenseitig, dass der Alltag zweifelsfrei ist. Auf diese Weise konstituiert sich die Wirklichkeit des Alltags immer wieder neu. Zum Prinzip des Alltagswissens gehört, dass darin auch die Regeln des normalen Denkens und Handeins aufgehoben sind. Nach ihnen leben wir ganz selbstverständlich und erwarten ebenso selbstverständlich, dass auch die anderen danach handeln. Natürlich wissen wir, dass diese Regeln unterschiedliches Gewicht haben. Manche Regeln sind unabdingbar, und ohne sie wäre gemeinsames Handeln gar nicht möglich. Manche sind aber nur Konvention, und im Prinzip ginge es auch anders. Und bei manchen Regeln merken wir noch nicht einmal, dass sie Regeln sind. Wir halten uns ganz automatisch daran. Garfinkel hat nun in einem Krisenexperiment demonstriert, was passiert, wenn wir gewohnte Regeln, die wir noch nicht einmal als solche bemerken, durchbrechen. (Garfinkel 1967, S. 47f.) In diesem Krisenexperiment forderte er seine Studenten auf, sich zuhause bei ihren Eltern wie ein höflicher Gast zu verhalten. Dazu konnte beispielsweise gehören, nur zu reden, wenn sie gefragt würden, höflich zu fragen, ob sie mal zur Toilette gehen dürften, oder das Essen überschwänglich zu loben und sich zu erkundigen, wie es zubereitet worden sei. Alle Studenten berichteten, ihr Verhalten habe zu Konfusion und Unmut geführt. Man habe gefragt, was mit ihnen los sei und was das ganze soll. Schließlich meinten die Eltern, wahrscheinlich seien ihre Kinder überarbeitet oder in einer Krise. Damit hatten sie den Verstoß gegen die Regeln des Alltags erklärt und den Alltag wieder in Ordnung gebracht. I An diesem Krisenexperiment wird deutlich, dass sich unser Alltag über bestimmte Normalitätsannahmen konstituiert. Wir wissen, was jeder weiß, und wir wissen, wie man normalerweise handelt. Aus dem gemeinsamen Vorrat an Wissen heraus zeigen wir uns gegenseitig den Sinn unseres gemeinsamen Handeins auf. Das erfolgt nicht zufällig, sondern wir verwenden dabei im Alltag bewusst oder unbewusst bestimmte Methoden , mit denen wir diese Welt in Gemeinsamkeit mit anderen fortlaufend konstruieren , Wir benutzen praktische Theorien, mit denen wir uns den Alltag erklären und füre inander ordnen. Während nach der Rollentheorie von Parsons - ich wiederhole - Handeln in Setzen Sie sich doch einmal in einer fast leeren Straßenbahn nicht auf irgendeinen freien Platz, sondern direkt neben einen anderen Fahrgast.
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Ausführung allgemeiner Normen erfolgt, sagt GarfinkeI, dass wir wec hse lsei tig füreinander eine geme insame Wirklichkeit konstrui eren , in der die Verbindlichkeit von Normen erst festgelegt wird.
2. Doch so ganz frei sind wir dabei natürlich nicht, denn die gemeinsame Wirklichke it hat j a eine zweifache Vorgeschich te: unser Wissen und das , was jeder weiß. Beid es dient uns als Schema, nach dem wir die Wirklichkeit als eine typische Wirklichkeit ordnen. In der Typisierung des Alltags liegt dann auch die zweite Erklärung, warum wir im Alltag keinen Augenblick daran zweifeln, dass wir die anderen und sie un s verstehen. Das Denken im Alltag ist ein "Denken in der natürlichen Eins te llung" .
Es speist sich aus einem Vorrat früherer Erfahrungen, eigener und von anderen übernommene r. Diese Erfahrungen schließen sich zu einem Wissensvorrat zusammen, der als Bezugsschema für die weitere Weltauslegung dient. Wie Berger und Luckmann t gezeigt haben, bringen wir in die Fülle des Alltags Ordnung, indem wir sie auf ein Muster typiseher Normalität reduzieren. Das Neue ordnen wir in unsere typisehen Erfahrungen ein, und die Besonderheiten spielen wir herunter oder nehmen sie gar nicht wahr. Wie erfinderisch wir sind, das, was wir zunächst nicht einordnen können, doch noch zu "verstehen", hat Garfinkel in einem weiteren Krisenexperiment gezeigt. Studenten, die zu einem "alternativen" Konzept psychotherapeutischer Beratung eingeladen worden waren, sollten dem Therapeuten, der in einem anderen Raum saß, ihr Problem schildern und dann dazu 10 Fragen stellen, die nur mit ,j a" oder "nein" zu beantworten waren. Die Antworten des Beraters waren aber vorher nach dem Zufallsprinzip festgelegt worden, und die Abfolge der Antworten war für alle Fälle die gleiche. Als die Studenten später über die Beratung berichteten, stellte sich heraus, dass j eder versuchte, selbst hinter unerwarteten oder gar widersprüchlichen Antworten noch einen tieferen Sinn zu identifizieren. (Garfinkel 1967. S. 79f.)
An diesem Experiment wird deutlich, dass wir es offensichtlich nicht aushalten können. wenn die Welt in Unordnung ist. Die soziale Wirklichkeit wird fortlaufend von uns so konstruiert, dass sie Sinn Vgl. Band I, Kap. 3.10 "Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit", S. 137f..
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macht. Wir ordnen neue Erfahrungen in ein vertrautes Muster ein, und schon wissen wir Bescheid! Konstruktion heißt natürlich, Entscheidungen zu treffen, was getan und was nicht getan werden soll. Jede Handlung ist also eine Selektion aus einer Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten. Für Garfinkel steht der Handelnde permanent vor der praktischen Frage: What to do next? Eine Methode, sich Voraussetzungen des Handeins angesichts einer komplexen Wirklichkeit zu schaffen, besteht in der dokumentarischen Methode der Interpretation. Interaktionen gelingen, weil alle Beteiligten ihr Verhalten als typisches Beispiel (»Dokument«) fiir ein typisches, in der Gesellschaft bekanntes Muster interpretieren. Mit der dokumentarischen Methode der Interpretation rekonstruieren wir den Typus, unter dem das Handeln und Sprechen der Anderen Sinn macht, und zwar Sinn für beide Seiten. So bringen wir die Dinge des Alltags immer in eine .norrnale" Ordnung. Dabei stoßen wir aber auf ein Problem, das man als die Verweisung des Handeins und Spreehens auf exklusive Besonderheiten bezeichnen könnte. Diese Besonderheit, die sich nicht aus den Dingen selbst und auch nicht aus einem gemeinsam geteilten Wissen ergibt, sondern nur aus einem spezifischen, individuellen Kontext zu verstehen ist, wird in der Ethnomethodologie als Index bezeichnet. Mit solchen Indizes zeigen sich die Handelnden - bewusst oder unbewusst - an, wer sie "außerdem noch" sind bzw. worum es in einer konkreten Interaktion "auch noch" geht. Wenn sich z. B. ältere Deutsche daran erinnern, dass ,,Joschka" bei seinem Antrittsbesuch in Washington "dann doch" keine Turnschuhe anhatte, dann wissen alle Zeitgenossen Bescheid, während ihre Kinder und Amerikaner nur Bahnhof verstehen. Indexikale Äußerungen setzen soziale Nähe und Vertrautheit voraus. Typische indexikalische oder Kontextbegriffe sind z. B. Namen, spezifische Bezeichnungen und Fachausdrücke. Wenn mir z. B. eine Bekannte ganz aufgeregt erzählt, "dass Klaus gestern bei der GP einen Hänger hatte", erwartet sie selbstverständlich, dass ich mich an den Schauspieler Klaus erinnere, von dem sie häufiger erzählt hat, dass GP das Kürzel ist, mit dem insider von einer Generalprobe reden, und dass ein Hänger der gefürchtete Aussetzer auf der Bühne ist. Indizes sind aber auch Worte wie "dan n", "hier", "der", "die", "das" oder "natürlich". Machen Sie sich nur einmal klar, was es heißt, wenn jemand sagt: "und dann kam natürlich auch ...". Die Sprache unseres Alltags ist voll
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von solchen indexikalischen Äuße rungen. Sie vereinnahmen den anderen und ver führen ihn dazu, einen Konte xt, den der Sprecher definiert hat, zu bestätigen. Indexikale Äußerungen sind für diejenigen, die sie kennen, Erleichterungen. Für die anderen sind sie ein Ärgernis, weil sie nicht wissen, was gemeint ist, und somit von einer entscheidenden Voraussetzung gemeinsamen Handelns abgeschnitten sind. Die Handelnden müssen also immer auch entindexikalisieren. Der Hörer lässt sich Erklärungen geben, der Sprecher bietet sie an, wenn er merkt, dass der andere nicht ganz folgen konnte . Mit dieser Strategie der Erklärung stellen die Han-
delnden einen gemeinsamen Sinn wieder her, der kurzfristig in Frage gestanden hat. Viel häufiger ist aber die Erwartung auf beiden Seiten, dass das, was als indexik ale Besonderheit im Moment noch nicht ganz verstanden wird, sich im Laufe der Kommunikation noch klären wird. Diese Fähigkeit, mit Ungewissheit leben zu können, scheint eine gute Vorau ssetz ung für gemeinsames Handeln zu sein. Ein zu großes Risiko ist mit dieser Ungewissheit ohnehin nicht verbunden, weil uns die dokum entarische Methode der Interpretation hil ft, selbst über Lücken des Verständnisses hinwegzukomm en. Um das Handeln im Alltag zu erleichtern, setzen wir sogar gezielt Strategien der Ungewissheit ein, indem wir uns vage ausdrucken. So kann die kochende Hausfrau mit de r Ankündigung "Ich komm so gegen sechs" leben, aber mit der, " um 17.42" da zu sein, auch der netteste aller Ehemänner auf Dauer wohl nicht. Im Umkehrschluss. Wer es zu genau wissen will oder zu genau sagt, gefährdet eine normale Kommunikation . So hat Garlinkel in einem weit eren Krisenexperiment gezeigt, was passiert, wenn man eine vage Sprache nich t akzep tiert. Er fordert e seine Studenten auf, bei der Floskel " Wie steht' s?" nachz uhaken: Opf er: " Wie steht'sT' Nachfraget : "W ie steht es mit was? Meiner Gesundheit, meinen Geldangelegenheiten, meinen Aufgab en für die Hochschule, meinem See lenfried en, meinem ..." Opf er (rot im Gesicht und plötzlich außer Kontroll e): " Hör zu. lch unternahm gerade den Versuch, höfli ch zu sein. Offen gesprochen kümm ert es mich einen Dreck, wie es mit dir steht." (Garfinkel I961, S. 207)
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Man kann das Experiment auch variieren, indem man das Gesagte wörtlich nimmt und ausführlich seine körperlichen Wehwehchen beschreibt. Oder stellen Sie sich vor, jemand bietet nach der Trauung folgende eindeutige Definition an: "Ich liebe Dich. Was ich darunter verstehe, steht unter L im Brockhaus." Kurz: Im Alltag wollen wir es gar nicht immer so genau haben. Dass die Sprache des Alltags vage ist, ist keineswegs ein Nachteil. Im Gegenteil, es erleichtert die Kommunikation, weil jeder sich die gemeinsame Wirklichkeit selbst zusammenreimen kann. 3. Bei dieser Methode des Handeins im Alltag und der ihr zugrunde liegenden Typisierung zeichnet sich schon eine dritte Erkl ärung .ab, weshalb wir im Alltag glauben, uns zu verstehen. Sie besteht inder Idealisierung der Kontinuität und der Idealisierung der Wiederholbarkeit. Nach dieser Erklärung sind mit der Typisierung des Alltags zwei konstitutive Erwartungen verbunden. Die eine hat der österreichischamerikanische Soziologe ALFRED SCHüTz (1899-1959), dessen Schüler Garfinkel wie auch Petcr L. Berger und Thomas Luckmann an der New Yorker New School for Social Research war, die Idealisierung des »und so weiter«, die zweite die Idealisierung des »ich kann immer wieder« genannt. • Die erste Idealisierung des »und so weiter« kann man so beschreiben: Solange es in der Welt des Alltags keine Überraschungen gibt, vertrauen wir darauf, dass die Situation, wie wir sie jetzt erleben, in der typischen Weise weitergehen wird. • Aus dieser Idealisierung der Kontinuität folgt die Idealisierung des »icb kann immer wieder«. Diese Idealisierung der Wiederholbarkeit besteht in der "grundsätzlichen Annahme, dass ich meine früheren erfolgreichen Handlungen wiederholen kann". (Schütz u. Luckmann 1975, S. 26) 4. Ich komme zu einer vierten Erklärung, warum wir im Alltag keinen Augenblick daran zweifeln, dass wir die anderen und sie uns verstehen. Schütz hat sie als Generalthese der wechselseitigen Persp ektiven bezeichnet. (Schütz u. Luckmann 1975, S. 74)
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Die Gene ralthese beinhaltet zwei weitere Idea lisierungen: die der Vertauschbarkeit der Standpun kte und die der Kong ruenz der Relevanzsys-
terne. In der Idealisierung der Vertauschbarkeis der Standp unkte nehme ich an, wenn der andere an meiner Stelle stünde, würde er die Dinge aus der gleichen Perspektive wie ich, und ich würde die Dinge aus der gleichen Perspektive wie er sehen, wenn ich an seiner Ste lle stünde. • In der Idealisierung de r Kongru enz der Re/evanzsy steme nehmen wir an, dass wir die Welt nach den gleichen Kriterien beurteilen. Dazu fühlen wir uns auch berechtigt, weil wir in der gleichen Gese llschaft soz ialisiert wo rden sind. Fo lglich gibt es Dinge, die jeder weiß, wozu auch gehört, wie sie zu beurteilen sind. Im Vertrauen auf die Erfüllung dieser beide n kon stitutiven Brwartungen treten wir in Beziehung zueinande r. Be ide Annahmen machen uns sicher, dass der andere so handeln wird, wie wir es aus eigener Erfahrung kennen; und bis zum Beweis des Ge· genteils stimmt das ja auch. • Die Idealisierungen des »und so weiter« und des »ich kann immer wied er« machen uns als Individuum sicher in den Erwartungen an unser Hand eln. • die Idealisierun gen der Austauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevan zsysteme mache n uns sicher im gemeinsamen Handeln mit anderen. •
Mit den beiden letzten Idealisierungen, die in der Generalth ese der wechse lseitigen Perspekti ven zusa mmengefasst sind, schließt sich gewissennaßen der Kreis der Erklärungen, warum wir im Alltag nicht daran zweifeln, dass wir die anderen und dass sie uns verstehen. LoTHAR KRAPPMANNhat der seinerzeit in Deutschland aufkommenden soziologischen Disku ssion über Interaktionstheorien gleich eine bestimmte Richtung vorgegeben, indem er gezeigt hat, dass wir und die anderen in der Interaktion nur dann zurechtkommen, wenn wir unsere identität in einer bestimmt en Weise ins Sp iel bringen.
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Krappmann: Annahmen über das Gelingen von Interaktion
Gerade nach den warnenden Hinweisen der Ethnomethodoiogie stellt sich die Frage, wann denn Interaktion gelingen sollte. Diese Frage hatte der Berliner Bildungsforscher und Soziologe L OTHAR KRApPMANN (*1 936) in einem Aufsatz, der die Diskussion über den damals in Deutschland noch kaum bekannten Symbolischen Interaktionismus maßgeblich beeinflusst hat, schon an die klassische Rollentheorie von Parsons gestellt.t Für die interaktionistische Theorie nennt er die folgenden Bedingungen: Lothar Krappmann: Bedingungen er folg re ic he n Roll enhandelns nach d em interaktioni stis ch en Rollenmodell "Das interaktionistische Rol1enmodell postuliert als Grundbed ingungen erfolgreic hen Rolle nhandelns, dass I . Rollennormen nicht rigide definiert sind, sondern einen gew issen Spiel raum für subjektive In terpretation durch die Rollenpartner lassen; da ss 2. d ie Ro llenp artner im jeweiligen Interaktionsprozess nicht nur die gerade aktu elle Rol1e überneh men, sondern zugleich verdeutlichen, welc he weiteren Roll en sie noch inne hab en oder früh er innehatten ; da ss 3. mehr als ein vorlä ufige r, tentat iver und kompromissha fter Konsens der Partner übe r die Interpretation ihrer Rol1en im Regelfall nicht zu errei chen und au ch nicht erforderlic h ist. 4. Dieses Mo dell geht ferner gerad e dav on aus, da ss die indiv iduellen Bedür fnisdispositionen den institutionalisierten Wettvorste llungen nicht voll entsprechen . Somit müssen nach d iesem Modell 5. d ie Rollenpartn er für die Sicherung de s Fo rtgangs von Interaktion fähig sein, auf die von den eigenen verschieden en Bedürfn isdispositionen des an deren einzugehen und auch unter Bedingungen unvollstän diger Komplementari tät, d. h. nur teil weiser Befriedigung eigener Bedürfnisse, zu interagieren. 6. Nic ht Institutionen, deren Mitglieder Normen »automatisch« erfüllen , werden als stabil betrachtet, sondern d iejenige n, d ie ihren M itgliedern ermöglichen, im Rahmen de s Interpretationsspielra ums, den d ie vorgeg eben en Normen lassen, eigen e Bedürfnisse in der interaktion zu be friedigen ." (Krappmann 197 1: Ne uere Rollenkonzep te als Erklärun gsmöglichkeit für Sozialisationskonzepte , S. 3 15) Vgi. obe n Kap. 3.1 .Parsons: Rolle - norma tive Erwartung".
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Diese Erklärungen sind natürlich als Einwand gegen die Annahmen der kl assischen Ro llen theorie zu lesen, dass gem einsam es Hand eln erfolgreich ist, wenn Rollen klar defini ert sind und alle Beteiligten sic h in der gleic he n Weise an die gleichen Nonnen ha lten . Der .Regelfall der täg-
lichen Interaktion in Rollen" ist denn auch dadurch gekennzeichnet, "dass die Roll enspieler au f unklare und inkonsistente Erw artungen stoßen, die zudem mit ihren Bed ürfnisdispositionen sich keineswegs de-
cken.' (Krappmann 1971, S. 314) Die Ethnomethodologie hat auch gezeigt, dass das Eis sehr dünn ist, auf dem wir uns beim Alltagshandel n bewegen. Damit es übe rhau pt funk tioniert , m üssen di e Ha ndelnden so gar darauf verzichten, dass jeder eindeutig kl armacht, was er meint. Und schließlich wi ssen wir, das s uns Situationen höchst unangenehm sin d, di e uns b is ins Letzte vorschreiben , was wir zu tun und zu lassen haben . Ku rz : es scheint so zu sein, dass wi r eine mittlere Unbestimm theit sogar brauch en, um uns se lbs t ins Spiel zu bri ngen und andere zu " verstehen" . Im Übrige n hat der Symboli sche Int eraktionismus gezeigt, dass Roll en ers t in der Interaktion Kontur bekommen. Diese Chance des Ind ividuums m üssen wir auch als solche begrei fen! Um im norm alen A lltag eine Interaktion, in der wechselseit ige Interpretation en der Situ atio n und des Handeins des j eweils anderen vo rgenommen we rden, aushalten und bewält igen zu kön nen, sind einige Fähigkeiten vonnöten. Krappmann hat als "s trukture lle Notwendigkeit eines fort zuführenden Interakti onspro zesses" und zugleich zur Förderun g der Identität der H andelnden die fol genden ! vier genannt :
• • •
Ro/lendistanz, Empathie als die Fähigk eit, sich in den anderen einz ufüh len, Ambiguitätstoleranz, worunter man die Fähigkeit verste ht, auch
•
mit un ent schiedenen oder gar w idersprüchlichen Situationen leben zu können, und Identitätsdarstel/ung . (vg l. Krappmann 1969 , S. 132ff.)
Man kann Kr app m ann s Erklärung erfolgr eichen Handeins über die vier identi tätsförd ernden Fähi gkeiten nach zwei Seiten lesen: Zum eine n schafft und erhä lt sich j ed es Individuum mit genau diesen Fähigkeiten di e Fre iheit seine s Hand eins. Mi t diesen Kompetenzen bri ngt sich das Unter der Perspektive der Förderung der Identität komme ich noch einmal in Kap. 8.7 .Kra ppmann: Ich-Identität als Balance", S. 378 darauf zurück.
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Individu um selbst ins Spiel. Mead hatte Interaktion über das wechselseitige »role taking« erklärt. Hier nun zeichnet sich eine Chance ab, dass das Individuum die Roll e auch gestaltet, unter Umständen sogar selbst erst schafft. Deshalb hat Ralp h H. Turner, wie gesagt, auch von einem komplementären Prozess des »role making« gesproc hen . (Turner 1962, S. 117) In der Interaktion erzeuge n ego und alter fortlaufend Erwartungen aneinander und entwerfen durch ihr Verhalten einen Rahmen des nächsten Verhaltens. An den wechselseitigen Reaktionen wird abgelesen, ob man bei seinem Handlun gsentwurf bleiben kann oder nicht. Die Interpretationen in der aktuellen Interaktion sind also ein ständiger Prozess des Konstatierens, Überprtifens und Korrigierens der Definition der Situation. Natürlich kann nicht die »ganze« Situation begriffe n werden, dazu reichte die Zeit nicht, und wir wären auch gar nicht in der Lage, alle Grü nde des Handeln s herauszufinden. Interpretation ist also immer auch Selektio n. In der Interaktion spielen somit die individ uellen Interessen, die reflexiven Fähigkeiten und die konkreten Handlungen zusammen. Sie erklären, warum keine Rolle sozusagen deckungsg leich ausgeflihrt wird, sondern immer modifiziert wird. "Eine derartige Modifikation findet statt bei der fortwä hrenden Wechselwirkung zwischen den ein wenig vagen und stets unvollständigen idealen Konzeptionen von Rolle und der Erfahru ng, wie sie tatsäch lich dann von ego und alter gespie lt werden. Da jede Interaktion in bestimmter Hinsicht einzigartig ist, schließt jede Interaktion eine Improvisation über das durch ego- und alter-Rolle geste llte Thema ein. Eben der Akt, in dem der Handelnde in einem neu generie rten Akt von Rollenhandeln eine Rolle ausdrück t, befähigt den Handelnden, die Rolle in einem etwas anderen Licht zu sehen. Ähnlich dient die Einzigartigkeit von alters Verhalten und die einzigartige Situation, in der alters Verhalten antizipiert oder interpretiert werden muss, dazu, seine Rolle leicht verschieden zu gestalten." (Turner 1962, S. 127) Das leitet über zu der zweiten Lesart der Erklärung erfo lgreichen Rollenhandelns: jedes Individuum schafft mit den genannten identit ätsfordernden Fähigkeiten auch entscheide nde Vorausse tzungen für die Freiheit des Handeins der anderen. Sie wissen - zumindest ungefähr! - , was der andere kann und aushält und vor allem; wer er ist. Im Prinzip sind damit die individuellen Voraussetzungen für eine Interaktion zwischen Gleichen geschaffen.
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Um diese Symmetrie der Interaktion wird es im Modell des Kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas gehen, das ich j etzt darstellen will. Es stellt eine fundament ale Vo raussetz ung heraus, ohne die Interaktion als gemeinsames Hand eln nic ht möglich ist. 5.9
Hab ermas: Kommunikatives Han deln un d Diskurs
Im formalen Sinne sprechen wir dann von Inter-Aktion, wenn sich mindestens zwei Handel nde in ihrem Hand eln wechse lseitig aufeinander bezie hen. Der Fran kfurter Philosoph und Soziologe JÜRGEN HABERMAS (*1929) hat nun noch eine inhaltl iche Bedingung genannt, die so lautet: Wenn wir interagieren, dann wollen wir uns auch verständigen. Nur unter dieser Voraussetzung, selbst wo sie nicht explizit gemacht wird, kann man erwarten, dass sich Handel nde dauerhaft auf einen gemeinsame n Handlungszusammenhang einlassen. Natürlich sehen wir, dass diese Chancen oft gar nicht oder nur in geringem Maße gegeben sind. Dennoch kann man unterstellen, dass unser Handeln im Kern genau von dieser Erwartung gleicher Chancen getragen wird solange wir ein Interesse an der Verständigung in der Interaktion haben. Um diese Voraussetzung der Interaktion geht es im Modell des kommunikativen Handeins. Der Begriff des kommu nikativen Handeins meint eine "In teraktion von mind estens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren" (Habermas 198 1b, Bd. 1, S. 128) Im Zentrum der Theorie steht der Begriff der Interpretation. Um Interpretation als Form und Mittel der Interaktion ging es auch in der Theorie des Symbolischen Interaktionismus nach GEORGE HERBERT MEAD und HERBERT BLUMER und in der Ethnomethodologie nach HAROLD GARFINKEL. Habermas überfuhrt diesen interpretativen Hand lungsbegrifT in den Begriff des kommunikativen Hande/ns und verwendet ihn synonym mit dem Begriff der Interaktion. Mit der klassischen Definition nach Mead oder Blumer stimmt Habermas insofern übe rein, dass er Interpretation als Mittel der Verständigung betrachtet, in der eine konsensfähige Definition der Situation ausgehandelt wird.
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Die Frage ist, unter welchen Bedingungen das erfolgt, ob es gelingt und was passiert, wenn es keinen Konsens mehr gibt. Diese Fragen diskutiert Habermas in seinem monumentalen zweibändigen Werk "Theorie des kommunikativen Handeins" aus dem Jahre 1981. Obwohl der Titel anderes vermuten lässt, handelt es sich in erster Linie um eine kritische Theorie der Gesellschaft, in die allerdings auch eine Handlungstheorie eingewoben ist, auf die ich mich hier konzentrieren werde. Während in anderen Theorien des Handelnst Individuen nur zweckrational kalkulierend miteinander umgehen, Rollenvorschriften exekutieren oder sich voreinander darstellen, erfolgt die Koordinierung der Handlungen nach der Theorie des kommunikativen Handeins als "Verständigung im Sinne eines kooperativen Deutungsprozesses". (Habermas 1981b, Bd. I, S. 151) Wo ein grundsätzliches Interesse an Verständigung nicht unterstellt werden kann, ist kommunikatives Handeln als Inter-Aktion nicht möglich. Das klingt zunächst paradox, doch wenn Inter-Aktion mehr als ein einmaliges Zusammentreffen mit abschließender Reaktion ist, dann ist diese These nicht zu widerlegen. Eine Interaktion, die weitergeht, setzt voraus, dass man vom anderen verstanden werden will und dass man ihn selbst auch verstehen will. Statt einer komplizierten Erklärung ein Beispiel: Stellen Sie sich nur folgende Situationen vor: A sagt zu B: "Du kannst noch so viel argumentieren, ich werde trotzdem tun, was ich will." Oder Ceröffnet 0 : "Ich werde versuchen, Dich zu betrügen." Und die dritte Situation: E leitet seine Rede mit den Worten ein: "Alles, was ich gleich sagen werde, ist gelogen." Und schließlich F zu G: "Du kannst sagen, was Du willst, aber ich sage Dir schon jetzt, ich will Dich nicht verstehenl" Es liegt auf der Hand, dass Kommunikation als Austausch vernünftiger Stellungnahmen nicht möglich und dass auch Verständigung prinzipiell ausgeschlossen wäre. Dass Individuen sich tatsächlich oft genug gerade nicht verständigen, sieht Habenn as natürlich auch, aber er findet dafür eine Erklärung, die dem prinzipiellen Interesse an Verständigung nicht widerspricht. Die Erklärung wird aus einer kritischen Theorie der Gesellschaft abgeleitet. Habermas geht nämlich davon aus, dass alles Handeln in der Gesellschaft untcr das Prinzip der Zweckratio nalität geraten ist und die Vgl. zur Diffe renzierun g der Handlungsbegriffe oben Kap. 4.7 ,,Habenna s: Vier Handlungsbegriffe".
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Rationalität der Verständigung unterdrück t. Mit dieser Kritik knüpft er an die These von Max Weber an, der von der Rationalisierung des modemen Leb ens und einer damit verbundenen unaufhaltsam en Bürokratisierung gesprochen hatte. Weber erklärt diesen strukturellen Wandel mit dem Aufschwung einer analytischen Wissenscha ft und mit der Forcierung von Technik und Wirtschaft. Vor allem in diesen beid en Bereichen ist Berech enbarkeit das Geheimnis des Erfolgs . Das Optimum der Berechenbarkeit , d. h. der sachlichen Pla nun g und rationalen Gesta ltung von Prozessen, sieht Weber in der bürokratischen Organ isation. Rein techn isch ist sie jeder anderen Form der Erledigung einer Au fgabe überlegen, da sie sachlich, ohne Ansehen der Person und der Umstände, aber auch oh ne inneres Engagement, planmäßig und kontrollierbar arbeitet. (vgl. Weber 1922 , S. 66 1) Bürokratisi erung ist immer mit Standardisierung und Verrec htlich urig verbunden. Bürokratie in ihrer reinsten Form ist Zwec krationalität in ihrer reinsten Form. Dieses Pri nzip des Handelns findet seinen auffälligsten Ausdruck in der kapitalisti schen Wirtschaft. In der ,,Protestantischen Ethik" hat Weber die Konsequenz dieses Handlungsprinzips beschrieben: " Die heutige kapitalistische Wirtsc haftsordnung ist ein ungehe urer Kosmos, in den der Einze lne hineingeboren wird und der für ihn, we nigstens als Einzelnen, als faktisch unabä nderliches Gehäuse gegeben ist, in dem er zu leben hat. Er zwingt dem Einzel nen , sowei t er in den Zusa mme nhang des Marktes ve rflochten ist, die Nonnen seines wirtsc haftlichen Handelns au f." (Weber 1904/05a, S. 165f.) Zweckrationalität ist das Prinzip des Handeins in de r Wirtsc haft, auf dem Mar kt, im Beruf. Inzwischen durchdrin gt sie allerdings auch das Han deln auße rhalb dieser Bereiche. An die Stelle einer subjektiv geftihlten Verbundenh eit tritt in der Modeme ein rationales Handeln, das aufInteressen basiert. (vgl. Weber 192Gb, S. 695) Hie r nun schließt Habennas seine kritische Th eorie der Modeme an. Er stellt fest, dass die Zweckrationalität heute alle Bereich e des Lebe ns durchdringt. Die Gesellscha ft hat sich aufgespalten in Subsysteme, die sich mehr und me hr verse lbständigen und alle ihrer eigenen zweckrationalen Logik folgen. Wo wir mit ihnen in Berührung komme n, beanspruchen sie uns nach Maßgab e ihrer Logik und nur unter spezifischen Rollenerwartun gen. Sie erzwi ngen jeweils eigene Fe rmen de s Denkens und Handeins. Parall el und gegenei nande r dringen sie in das Bewusstsein ein und spalten es in abgetrennt e Bereiche auf. Nicht das falsche
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Bewusstsein, das sich nach der These von Marx der Widersprüche einer antagonistischen Gesellschaft nicht innewird, sondern das f ragmentierte Bewusstsein ist nach Habermas das Prob lem der Modeme. (Habermas 1981b, Bd. 2, S. 522) Die Imp erative der verselbständi gten Subsysteme und die aus ihnen herrühr enden Diktate der Zweckrationalität, der Sachlichkeit und der Standardisierung dringen in unsere Alltagswelt ein. Nehmen wir nur das Beispiel des Ma rktes: Wir können gar nicht verhindern, dass wir zu Konsument en gemacht werden, denen gesagt wird, wann sie was zu kaufen haben und wie sie sich als Beschäft igte zu verhalten haben. (vgl. S. 480) Grundsätzlicher muss man sogar sage n: Das Prinzip der Rationalisierung schlägt auf das gesamte private Leben durch. Wiederum durchaus ernst gemeinte Beispi ele: Wir strukturieren den Tagesablauf nach Termi nen (inklusive "Tagessc hau" und "Ve rbotene Liebe"), über antworten die Pflege kranker ode r alter Menschen spezialisierten Dienstleistem und erledigen unsere Ernährung nach dem letzten Gesundheitsplan. Die nur an Zwecken ausgerichtete Rationalität, so fasst Habermas seine Krit ik zusammen, zerstört die Lebenswelt . Darunter versteht er mit Schütz und Luckmann die Welt, die uns fraglos gegeben, selbstverständlich und vertraut ist. Wir nehmen an, dass wir sie mit anderen teilen, die sie in der gleichen Weise sehen wie wir. Sie bildet so etwas wie den Horizont für unser Erleben und Wissen, in dem alles, was wir uns vorstellen können, besch lossen ist. Deshalb merkt Habennas auch an, dass er die Lebensweltanalyse als einen Ver such versteht, "das, was Durkheim Kollektivbewusstsein genannt hat, aus der Innenperspektive der Angehörigen rekonstruktiv zu beschreiben." (Bd. 2, S. 203) Diese Lebenswelt gerät mehr und mehr unter die Imperative der Zwec krationalit ät. die sich von allen Seiten fordernd bemerkbar machen. Es ist, als wenn Kolonialherren in die nat ürliche Ordnung einer Stammesgesellschaft eindri ngen und dort bestimmen, wie die Mensehen von nun an zu denken und zu handeln haben. So spricht Habermas auch von einer .Kolonial isierung der Lebenswelt". (Habennas 1981b, Bd. 2, S. 522) Die Rationalisierung der Lebensweit hat Auswirkungen auf die Begründungen und Formen unseres Handeins. Ein auffälliger Zug ist die Verrechtlichung, die wir nicht nur als Kontro lle des "richtigen" Handeln s erfahren, sondern die wir selbst auch zur Absic herung unseres
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Handeins vorsehen. So ist das Beispiel der Mutter, die sich vor dem Kindergeburt stag von de n Eltern der anderen Kinder schriftlich bestätigen lässt, dass sie sie abends im Auto zurückbringen darf, sicher nicht zu weit hergeholt. Wir handeln nicht spontan, sondern sehen, dass wir keine Fehler machen; wir handeln nicht emotion al engagiert oder ein-
fach aus einer Laune heraus, sondern vernünftig und zweckrational. Die Lebenswelt als die Welt, in der wir uns eigentlich ganz selbstverständlich und nach individuellem Anspruch bewegen können sollten, ist in der Tat kolonialisiert worden. Um diese strukturelle Veränderung geht es Habermas in seiner kritischen Theorie der Gesellschaft. Vor ihrem Hintergrund entwirft er seine Theorie des kommunikativen Handelns. Dazu verbindet er Webers kritische Theorie der Rationalisierung mit zwei Thesen: mit Meads These, dass Interaktion in der wechselseitigen Rollenübernahm e besteht, und mit der These von Schütz, dass wir die Lebenswelt, in der wir uns bewegen, für selbstverständlich halten. Nach Mead gelingt Interaktion, weil sich ego und alter auf gemeinsame Symbole beziehen und sie identisch interpretieren. Dadurch dass sie sich wechselseitig in ihre Rollen versetzen, blicken sie auch auf sich selbst und werden sich der Gründe ihres HandeIns gewahr. Nach Schütz ist die Lebenswelt über eine gemeinsame Sprache organisiert, durch deren Verwendung uns laufend die Muster normalen Denkens und Handelns bestätigt werden. Habenn as geht nun über Meads kommunikationstheoretische Grundlegung des Handeins hinaus, indem er eine weitere Voraussetzung macht: Die Interaktionspartner müssen ein Interesse an Verständigung haben. Ziel einer Verständigung ist weder Überwältigung noch resignative Unterwerfung, sondern Konsens . Medium der Verständigu ng ist die Sprache, die uns durch die Lebenswelt natürlich gegeben ist. Die Sprache ist deshalb auch Medium der Handlungskoordinierung. (Habcnnas 1981b, Bd. 2, S. 41) Sie begründet das kommunikative Handeln in einer konkreten Situation und hält es in Gang. Das muss man sich so klannachen: Durch die Sprache wird immer etwas mitgeteilt, auch, wie das Gesagte verstanden werden soll, und über sie wird wiederum vermittel t, wie das Mitgetei lte verstanden worden ist. "Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne." (Habermas 1981b, Bd. 1, S. 387) Deshalb setzt Habennas Sprache und Verständigung auch ineins.
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Sprachliche Verständigu ng ist das Prinzip der Interaktion, weshalb Habermas auch - ich sagte es schon - die Begriffe Interaktion und kommunikatives Handeln synonym verwendet. Alle Interaktion ist durch Kom munikat ion vermittelt, "in der sich die Interaktionspartner die Bedeutungen ihres HandeIns wechselseitig zu überm itteln und sich wechselseitig in ihren Handlungen und deren Bedeutungen zu beeinflussen versuc hen." (Matthes u. a. 1981, KE 1, S. 65) Insofern ist Sprache auch ein Medium "der Vergesellschaftung von Individuen". (Habermas 1981b, Bd. 2, S. 41) Im kommunikativen Handeln "wird die Geltung von Sinnzusammenhängen naiv vorausgesetzt, um Informationen (handlu ngsbezogene Erfahrungen) auszutauschen." (Habermas 1971, S. 115) Die Geltung kann deshalb naiv vorausgesetzt werden, weil wir ein gemeinsames Alltagswissen besitzen. Es besteht aus "elementaren Wirklichkeitsdefinitionen, die für alle Mitglieder einer gegebene n Gesellschaft, einer Kultur, mit der Unterstellung versehen sind, dass auch jeder andere über sie verfilgen oder zumindest mühelos Zugang zu ihnen gewinnen kann." (Ma tthes u. a. 1981, KE 1, S. 92) Indem wir dieses gemeinsame Alltagsw issen unters tellen, unterstellen wir auch, dass wir eine Situation gleich definieren. Wie ich eben gezeigt habe, hat Schütz von dieser Unterstellung her auch die Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte begründet. Kommun ikatives Hand eln " vollzieht sich in eingelebten und normativ abgesicherten Sprachspielen.' [Habermas 1971, S. 115) Die Sprache selbst ist eine Handlun g, deshalb spricht Habermas auch von Sprechhandlungen oder Spre chakten. Die Gleichse tzung von Sprache und Handlung kann man sich so klarmac hen: Sprechakte beziehen sich auf eine Vergangenheit von individuellen oder gemeinsamen Erfahrungen; sie aktivieren und generie ren Bedeutungen, die für das in Rede stehende Handeln relevant sind, und definieren so den Rahmen des weiteren Hand eins. Da dies in perm anentem Austausch zwischen Sprecher und Hörer, ego und alter, erfolgt, werden durch die Sprache Fakten geschaffen. Es wird also gehandelt. Damit stellt sich nun die Frage, wie denn kommunikatives Handeln funktioniert oder noch grundsätzlicher: wie es überhaupt möglich ist. Denn nach dieser Defin ition der Sprechhandlung bringt doch j eder Beteiligte eine eigene Welt von Erfahrungen mit und wird wahrscheinlich auch höchst individuelle Bedeutungen ins Spiel bringen, um seine Ziele
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zu erreichen . So bescheiden oder gar unbewusst der Anspruch auch sein mag : Jeder Hande lnde setzt durch sein Sprechen auch Bedingungen für das Handeln des anderen, grenzt also dessen Handlungsmöglichkeiten ein. Dabei meine ich noch nicht einma l den Fall, dass einer dem anderen über den Mund fahrt, sondern die ganz normalen Appelle des stillen Einverständnisses und die unb efangenen Begriindungen aus dem Bauch des gesunden Menschenverstandes. Dies alles stellt auch Hab ermas in Rechnung, wenn er von kommunikativem Handeln spricht, aber ihn interessiert noc h mehr, was eigentli ch die strukturelle Bedingung dafür ist, dass dieses Hand eln zus tande kommt und fortl aufend funktioniert, kurz: dass Verständigung möglich ist. Eine strukturelle Bedingung sind für ihn sog. Geltungsansprüche, die wir unausgesproch en beim kommunikativen Hand eln aneinander richten. Es sind drei: 1. Was wir über die objektive Welt sagen, muss wahr sein; 2. was wir in einer gemeinsam en, sozialen Welt sage n, muss richtig sein, also den Normen entsprechen; 3. was wir über unsere subj ektive Welt sagen, muss wahrhaftig sein. (vgl. Habennas 198 1b, Bd. 1, S. 26 und 35) Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: >- Wenn Z behauptet, ihm habe man gerade das Hörnchen Eis aus der Hand gerissen, bean sprucht er, einen obje ktiven Tatbestand zu konstatieren, also die Wahrheit zu sagen. >- Wenn Z sagt, dass dieses Verhalt en strafbar ist, dann beansprucht er, dass diese Aussage in unserer Gesellschaft richtig ist. };- Und wenn Z dabei lauthals seine Empörung über die Jugend von heute zum Ausdruck bringt, beansprucht er, wahrhaftig zu sein. Es liegt auf der Hand , dass diese Geltungsanspruche nicht nur von ego an alter gerichtet sind, sondern dass umgekehrt alter eben diese auch unterstellen muss. Ergo: Beansprucht der andere unausgesprochen die Wahrheit zu sagen, unterstellen wir bis zum Beweis des Gegenteils auch, dass er das tut. Hält er seine Aussage für richti g, sehen wir das so lange auch so, wie wir nichts Gegenteiliges wisse n. Beansprucht er, wahrhaftig zu sein, glauben wir ihm das, solange sich Form und Ziel seine r Empörung im Rahm en des Üblichen bewegen .
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Interaktion ist Wechselwirkung, und die drei Ansprüche oder Rationalitäten gelten ebenso wechselseitig. Nur indem beide Seiten auf diese einander bedingenden Geltungen bauen, können sie kommunikativ hand eln und sich wechselseitig ihr Handeln zurechnen: Als zurechnungsflihig kann denn auch nur gelten, " wer als Angehöriger einer Kommunikationsgemein schaft sein Handeln an intersubjektiv anerkannten Geltungsansprüchen orientieren kann." (Habermas 1981b, Bd. 1, S. 34) Habennas hatte schon früher gezeigt, dass noch andere implizite Erwart ungen logisch zwingend sind, gleichwohl im bewussten Handeln ausgeblendet sind. Im kommun ikativen Handeln hegen wir näm lich unausgesprochen die Erwartung, dass die anderen wisse n, was sie tun und warum sie das tun. Habennas unterscheidet deshalb nach einer Intentionalitätserwartung und einer Legitim itätserwartung. a) Intentionalitätserwartung : Subjek te folgen den Nonnen, nach denen sie handeln, intentional; b) Legiümitätserwartung: Subjekte folgen nur Nonnen, die ihnen gerechtfertigt erscheinen. (vgl. Habennas 197 1, S. 118f.) Wir unterstellen - und müssen unterstellen! - , dass der andere uns sagen könn te, warum er sich so und nicht anders verhält. Um es an einem drastischen Beispiel klar zu mache n: Würde jemand seine Rede mit den Worten einleiten "Ich weiß nicht, waru m ich etwas sage" oder "Die Moti ve meines Hand eins lehne ich ab" wäre eine Komm unikation im Grunde nicht möglich. In Wirkl ichkeit sind diese Erwartungen der Intenti onalität und der Legitimität natürlich .jconrrafaktisch", aber wenn wir nicht so täten, als ob sie sich auf ein Faktum bezögen, könnte man im strengen Sinn nicht kommunizieren. Ähnliche Faktizität messen wir auch einer gemeinsamen Sicht auf die Welt bei. Im komm unikativen Handeln unterstellen wir stillschweigend, dass j eder die Dinge so sieht wie wir. Das betrifft auch die Absichten und Ziele gemeinsamen Handeln s. Wo dieses Einverständnis aus welchen Gründen auch immer nicht mehr herrscht, das Intere sse am Fortgang der Interaktion aber bestehen bleibt, muss eine neue Form der Kommu nikation gefunden werden, die auf die Herstellung eines neuen Einverständnisses zielt. Um diese Strategie geht es im Diskurs.
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Der Diskurs ist ein analytisches Sprechen übe r die Bedingun gen der Kommunikation, also eine Metakommunikation . Den Unterschied zwischen kommunikativem Handeln und Diskurs kann man sich mit folgendem Beispiel klar machen: Herr J. behauptet gegenüber seiner Tochter C., es gebe zwei unum stößliche Wahrheiten. Erstens, die Erde sei eine Sche ibe, und zweitens, Frauen seien dümmer als Männ er. Zieht Tochter C. nur die Brauen hoch, ansons ten geht das Gespräch aber weiter, ist es kommunikatives Hand eln . Bestreitet Tochter C. aber wenigstens eine der Behauptungen und verlangt eine rationale Begründung, beginnt der Diskurs. ..In Diskursen suchen wir ein problematisiertes Einverständnis, das im kommunikativen Hand eln bestanden hat, du rch Begründung wiede rherzuste llen ." (Habennas 197 1, S. 115) Der Diskurs ist ein "Abarbeiten der unterschi edlich en Perspektiven mit rationalen M itte ln." (Matthes u. a. 1981, KE 1, S. 133) Aba rbei ten hat das Zie l, einen Konsens über da s herzustellen , was hinfo rt an An sichten, Urteilen und Regeln des Disku rses ge lten soll. Deshalb spricht Habennas auch "von (disku rsive r) Verständigung ." (Habennas 1971, S. 115) Das klingt gut, die Frage ist aber , unter welchen Voraussetzunge n es überha upt nur zu einem Diskurs kom me n kann . Die wichtigste ist, dass die Interaktionsteil nehm er sich als gle ich e bet rachte n und sich gleiche Rec hte einrä umen . Jeder Teilnehme r muss die gleiche Chance haben zu handel n, sein Handeln zu erkläre n und vom anderen Erk lärungen für de ssen Handeln einzufordern. Eine Interaktion, in der die se Bedingung erfüllt ist, nennt Habennas eine symmetrische Interaktion . Dass die Wahrnehmu ng dieser Chancen n ur im Medium der Sprache erfolge n kann, liegt au f der Hand . Deshalb nennt Habennas als implizite Bed ingung für diese symmetrische Interaktion des Diskur ses die Unterstellung einer idealen Sprechsituation: Jürgen Habermast Die ideale Sprechsituation "Ideal nennen wir im Hinblick auf die Unterscheidung des wahren vom falschen Konsensus eine Sprechsituation, in der die Kommunikation nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert wird. die aus der Struktur der Kommunikation selbst sich ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrung der Kommunikation aus. Nur dann herrscht ausschließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argurnen-
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tes, der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverständig zum Zuge kommen lässt und die Entscheidung praktischer Fragen rational motivieren kann." (Habermas 1971: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, S. 137) Auf diese ideale Sprec hsituat ion greifen wir vor, obwohl sie de facta nicht da ist. Was paradox klingt, kann man so auflösen: Unbewusst unterstellen wir, wenn wir nur wollten, könnten wir den anderen fragen , warum er dies und das gesagt oder getan hat, und selbstverständlich hätten wir das Recht, genau so frei die Grunde für unser Verhalten darzulegen. "Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation ist Gewähr dafür, dass wir mit einem faktisch erziehen Konsensus den Anspruch des wahren Konsensus verbinden dürfen." (Habennas 1971, S. 136) Das wiederum heißt: Wenn wir wollten, könnten wir nachfragen, ob das, worauf wir uns zwisc henze itlich verständ igt haben, wirklich die ganze Wahrheit ist. Deshalb muss auch eine ideale Sprechsituation jeg liche Verzerrung der Kommunikation ausschließen. Eine ideale Sprechsituation ist durch eine vierfache Symmetrie gekennzeichnet: Jeder hat das gleiche Recht, 1. Kommunikation herbeizuführen, 2. Deutungen, Behauptungen, Erklärungen aufzus tellen und ihre Geltungsanspruche zu begrunden und zu widerlegen, 3. auf ungekränkte Selbstdarstellung und 4. zu befehlen und sich zu widersetzen, Rechenschaft abzugehen und zu verlangen. Die ideale Sprechsituation ist also herrschaftsfrei, so dass jeder Interaktionspartner jederzeit die Möglichkeit hat, aus der Interaktion herausund in Diskurse einzutrete n. Damit es nun zu einem wirklichen Diskurs kommt , muss zusätzlich angenommen werden, "dass die Sprecher weder sich noch andere über ihre Intentionen täuschen dürfen." (Habennas 1971, S. 138) Dann - und nur dann! - ist der Diskurs das letzte und entscheidende Mittel, die Freiheit aller beteiligten Individuen in der Interak tion zu garantiere n. Nur durch den Diskurs kann so auch der wahre von einem falschen Konsens unterschieden werden. (vgl. S. 134) Der wahre Konsens ist das Ergebnis einer Kommunikation, in der die vier genannten Bedingungen einer idealen Sprechsituation von Anfang bis Ende erfüllt sind.
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Die Verständ igungspro zesse, die in der Metakommunikation des Diskurses ablaufen, zielen genau wie das kommunikative Handeln selbst "au f ein Einverständnis, welches den Bedingungen einer rational motivierten Zustimmung zum Inhalt einer Äußerung genügt. Ein kommunikativ erzieltes Einverständnis hat eine rationale Grundlage." (Habennas 1981b, Bd. 1, S. 387) Es muss also im Prinzip von allen Beteiligten in rationalen Worten form uliert werden können und auf einem rationale n Konsens basieren. Damit ist sowohl der Fall, das s jemand es aufgibt, den anderen zu überz eugen, als auch der Fall, dass jemand den anderen überredet, ausgeschlossen. Der Diskurs ist anstren gend , aber ohn e ihn ist die Wahrheit über die Bedingungen, unter denen wir kommunikativ handeln, woh l nicht zu haben . Dass manche diese Bedingungen gar nicht so genau wissen wollen, steht auf einem anderen Blatt, und dass gena u so das mei ste im Alltag auch prob lemlos funktioniert, steht auf dem Blatt, das Garfinkel beschri eben hat. Zum Schluss eine kritische Überlegung: Habennas unterstellt, dass wir prinzipiell an Vers tändigung interessiert sind. Würd e man das nicht sicher anneh men können, wäre Handeln überha upt nic ht möglich. Das ist - als Axiom der Logik - zw ingend und insofern nicht zu widerlegen . Allerd ings hat das Interesse in der konkreten Interaktion - und darum geht es in der Sozi ologie - seine Grenzen: Wo eine Verständ igung einen zu schweren Kompromiss tatsächlich nach sich ziehen würde, sind wir nicht an eine r Vers tändigung interessiert, und wo eine Verständigung unseren Wunsch nach Bed ürfnisbefri edigung vollständig zunichte zu machen droht, lassen wir es durchaus auf einen Bruch der Interaktion ankommen. Aus sozio logischer Sicht muss man auch noch ein ande res, mit dem ersten untrennbar verbundenes Axiom skep tisch betrachten . Haberm as unter stellt näm lich, dass wir nach der Wahrheit brenn en. In einem abstrakten Sinn, nämlich insofern Inter-Aktion sonst nicht mögli ch wäre, ist das sicher richtig. Nimmt man aber die konkrete Situa tion in der ganz normalen Alltagsinteraktion, dann kann ma n seine Zweifel haben. Zumindest die Figuren in Goffmans Schau spie l nehm en es, wie ich gleich zeige n werde , mit der Wahrheit ja nicht ganz so genau. Und auch die These der Ethnomethodologie, das s das Alltagshandeln davon lebt, dass die Dinge gerade nich t präzise definiert werden, nimm t der Wahrheitsbedingung von Interaktion etwas von ihrem Gewicht.
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Warum hat Habenn as sie dennoch aufgestellt? Ich meine, dass er damit die prinzipielle Voraussetzung und das prin zipielle letzte Ziel jeglichen HandeIns benennen wollte. Um es etwas weniger abstrakt zu formulieren: Im Alltag reicht uns, dass wir irgendwie miteinander auskommen, und solange es klappt, fragen wir auch nicht, warum es klappt. Genau solche Fragen muss aber der Soziologe stellen, denn er will wissen, wie kommunikatives Handeln normalerweise gewährleistet ist und was die Gründe sind, dass es zum Problem wird. In diesem letzten Fall müssen wir Alltagshandelnden - und die Soziologin natürlich auch - ein Kriterium haben, nach dem wir letztlich beurteilen können, was die wirklichen Gründe des HandeIns sind und wie sie mit Blick auf die Freiheit und die gleichen Rechte aller an der Interaktion Beteiligten zu bewerten sind.
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Gruppe
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Durkheim: Die Herstellung moralischer Gefühle in der Gruppe Simmel: Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe Primärgruppen - .nursery of human nature" Peer group - Sozialisation auf der Schwelle zur Gesellschaft Wir und andere: Ethnozentrismus und Außenseiter Bezugsgruppe und soziale Beeinflussung in der Gruppe
In den Betrachtungen und Erklärungen des gesunden Menschenverstandes wird das Phänomen der " Gruppe" erstaunlich selten thematisiert. So leben wir 20 Jahre in einer Familie, und wenn wir darüber nachdenken, was dort passiert, dann haben wir Personen und ihr Verhalten vor Augen. Wir treffen uns jeden Freitagabend zum Volleyball, und wenn wir unserem Mann erzählen, was heute wieder los war, dann ,,hat Tilly das gesagt", und " Corinna hat das falsch gemacht", und .jvt ia war sauer, weil ...". Selbst wenn wir unseren Sprösslingen beim Groppenturnen zusehen, sehen wir nur auf die konkreten Individuen. Das liegt daran, dass wir uns die Welt in der Regel über das Handeln von konkreten Personen erklären und deshalb auch nur auf konkretes Verhalten sehen. Nur die lärmgeplagte Lehrerin weiß, dass sich die Schüler gegenseitig hochschaukeln, und der besorgte Vater befürchtet, dass die sozialen Kreise, in denen sein Sohn rumhängt, immer mehr auf ihn abfärben. Aber wir kennen auch die Erfahrung, dass wir mit bestimmten Leuten gern zusammen sind und dass andere uns unwahrscheinlich aggressiv machen. Das alles bezieht sich implizit auf eine spezifische Form der sozialen Beziehungen, die man in der Soziologie als "Groppe" bezeichnet. Wenn ich gerade gesagt habe, dass das Thema "Gruppe" im Alltag erstaunlich selten expliziert wird, dann muss ich das in einer bestimmten Hinsicht einschränken. Seit den späten 60er Jahren wurde das Thema "Gruppe" in Kreisen prominent, die sich des allgemeinen Leidens der Vielen an der Gesellschaft im Allgemeinen annahmen oder die als konkrete Individuen spezifisches Leid trugen. In der ersten Hinsicht hoffte man, dass neu zu schaffende Gruppen etwas kompensieren, was
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aus welchen Gründen auch immer in der Gesellschaft oder in formalen Strukturen schief lief. Deshalb erwarteten die einen, durch die Solidarisierung in Gruppen die politischen Verhältnisse zu verändern. Andere hofften, über die Erfahrung in der Gruppe sich selbst frei zu machen. Diese Hoffnung wurde auch in der zweiten Hinsicht gehegt, doch das wichtigste Ziel war, sich gegenseitig bei der Heilung von sozialem, psychischem oder körperlichem Leid zu stützen. Für diese Hoffnung, die bis heute zahlreiche Selbsthilfegruppen beflügelt, steht das überaus populäre Buch "Die Gruppe" (1972) des Psychoanalytikers HORST ESERHARD RICHTER, das den bezeichnenden Untertitel hatte: "Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien. Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen" . Auf die helfende Kraft der Gruppe setzen schließlich zahlreiche Resozialisationskonzepte und Solidargemeinschaften. Die Gruppe taucht im öffentlichen Bewusstsein offensichtlich dann auf, wenn uns "d ie Gesellschaft" zu groß, zu weit weg oder zu anonym ist. Aus diesem Unbehagen speist sich inzwischen sogar eine prominente sozialwissenschaftliche Diskussion auf der Grenze von Politikwissenschaft und Soziologie, der Kommunitarismus. Er plädiert für eine Restitutionalisierung gemeinschaftlicher Werte und für die Wiederbelebung solidarischer Gruppen. Aus diesen Gruppen, in denen das Individuum soziale Nähe, Anerkennung und Heimat findet, in denen ihm aber auch konkrete soziale Verantwortung und persönliches Engagement abverlangt werden, soll dann ein Gemeinwesen erwachsen, das frei und gerecht ist. Die Gruppe taucht im öffentlichen Bewusstsein offensichtlich aber auch dann auf, wenn sich "der Einzelne" überfordert fühlt. Dann sucht er Trost und Rat bei anderen und lässt sich von der Dynamik tragen, die sich in einer Gruppe entfaltet. Die Gruppe scheint also eine Zwischenposition zwischen Gesellschaft und Individuum zu sein. Von daher kann es nicht überraschen, dass die Soziologie der Gruppe auch immer wieder auf die Funktion abgehoben hat, die dieses intermediäre Gebilde hat. Nach diesen vorbereitenden Anmerkungen, die zum Teil ja schon in die soziologische Aufmerksamkeit hineinfUhrten, nun zu Themen und Theorien einer Soziologie der Gruppe.
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Der Mensch ist ein z öon politik6n, und die Sozio logie fragt, wie er mit anderen zusammen lebt und was er tut, dass das auf Dauer auch klappt. Das habe ich unter der Frage "Wie ist Gesellschaft m öglich?"! diskutiert, und die großen Antworten der Soziologie klangen (hoffentlich) auch überzeugend. Diese Antworten zielten auf die Erklärung der Gese llschaft als Ganzes, aber interessanterweise ginge n viele von der Frage aus, wie es übe rhaupt zu dauerhafte n Beziehungen in einem überschaubaren Kreis von Individuen kommt. Konzentriert man sich auf diese Grundfrag e, dann öffnet sich der Blick auf eine Soziologie der Gruppe. Das eigentliche Thema ist dann, wie das soziale Gebilde aussieht, das du rch die Beziehungen von Individuen zueinande r zustande gekommen ist, welche Strukturen sich ausbilden und welche Prozesse sich darin abspielen. Und schließlich geht es um die Frage, an welcher gemeinsame n Idee, so vage sie auch imm er sein mag, sich die Individuen orientieren und wie sie sozial handeln. Wenn Individ uen dauerhaft untereinand er Kontakt haben, wec hselseitig voneinand er wisse n, dass sie sich an eine r gemeinsamen Idee orientieren, und sich dadu rch von anderen untersc heiden, dann kann man dieses sozi ale Gebilde als Gruppe bezeichn en. So ist denn auch meine Definition der soz ialen Gruppe zu lesen: Eine Gruppe ist ein soziales Geb ilde, das überschaubar und von Dauer ist und eine Grenze nach außen hat. Die Mitglieder fühle n sich in irgendeiner Weise einande r verbunden und verfolgen gemeinsame Ziele. Intern weist die G ruppe eine Struktur auf, die das gemeinsame Hand eln bestimmt. Eine Definition, die stärker auf die Form der Beziehungen abhebt, stammt von dem amerikan ischen Sozialpsychologen T HEODORE M. N EWCOMB: Danach besteht eine Gruppe " aus zwei oder mehr Personen, die bezüglich bes timmter Dinge und Fragen gemeinsa me Nonnen haben und deren soz iale Rollen eng miteinander verknüpft sind." (Newco mb 1950, S. 426) Au f den Zweck dieses sozi alen Gebildes und den Sinn, den die Mitgliede r mit ihm verbinden , hebt THEODORE W. MILLS ab, wenn er schreibt, dass sie " sich zu einem bes timmten Zweck treffen" und dass ihne n " bereits dieser Ko ntakt selbst sinnvoll ersche int" . ( 1967, S. 10) I Vgl. Band 1, Kap. 3 "Soziale Ordnung oder: Wie ist Gesellschaft möglich?"
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In einer Gruppe existieren bestimmte Vorstellunge n über soziales Verhalten. Diffuse, nicht bewusste Vorstellungen vom richtigen Denken und Handeln in der Gruppe kann man als latente Erwa rtungen bezeichnen . In älteren Theorien spricht man vom .esprit de corps", vom " Gruppengeist" oder auch von der " Ehre" . Darauf komm e ich gleich zurück. Die verbindlichen, gleichförmigen und dauerhaft en Vorstellungen bezeichne t Pop itz als soziale Normierung, das ungleichartige Verhalten bestimm ter Individ uen innerhalb einer Gruppe als soziale Differenzierung. (Popitz 1968a, S. 8( und 13f.) Je nach Beso nderheit ihrer Zusammensetzung oder Funktion kann man versc hiedene Gruppentypen unterscheiden: ~ Primär-Grup pe und Sekundär- Grupp e, );. peer group, ~ Eigengruppe und Fremdgruppe , ~ formelle oder informe lle Grup pe, )- oder Bezugsgruppe. Daneben gibt es noch den eher statistischen Begriff der Merkmalsgruppen , Darunter versteht man in de r Soziologie Gruppen, die zu statistischen Zwe cken nach bestimmten Kriterien zusamme ngestellt werden. Als man z. B. vor einigen Jahren untersuchte, welche Personen in Deutschland in ihrer Bildun g besonders benachteiligt sind, stieß man auf eine Kombination von bestimmt en Merkmalen, die offensic htlich besond ers negativ wirken können: Religion, Gesc hlecht, Wohnort, Be ruf des Vaters. Das katholische Mädchen vom Lande, dessen Vater Arbeiter war, besuchte sehr viel se ltener ein Gymnasi um als andere Gleichaltrige. Merkm alsgrupp en werden also immer dann konstrui ert, wenn es um verm utete Zusammenhänge von besti mmten Faktoren geht. Deshalb kann es ja aus irgendwelchen Gründen auch sinnvo ll sein, wenn man der Gruppe der link shändigen Legastheniker, die Brill e tragen und bekennende Raucher sind, seine ganze soziologische Aufmerksamkeit widmet. Per sönliche Bekann tschaft ist übrigens nicht unbedingt ein soziales Kriterium für eine Gruppe . So sprechen wir auch dann von einer Gruppe, wenn die Mitglieder nur voneinander wisse n. So würde es den Mitgliedern der Gruppe BRY (" Bewegung zur Rettung Yetis") vollauf genüge n zu wissen, dass irgendwo im Lande noch andere sind, die sich mit diesem Gruppenziel identifizieren. Diese Gruppen, "de ren einzige Gemeinsamkeit in einem gemeinsamen Interesse" bes teht, hat HART-
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MUTESSER in Anlehnung an den Verfechter einer Theorie ökonomischrati onalen HandeIns, M ANCUR L. ÜLSON 1, " latente Gruppen" genannt. (Esser 200 1, S . 422) Diese Interessengruppen wie auch die Merkrnalsgruppen werde ich im Fo lgen den nicht behandeln, sond ern, unter de m Ge sichtspunkt, dass Gruppen soziale Gebilde sind, n ur so lche Gruppen, in den en Interaktionen zwischen sichtbaren Personen stattfinden.
6.1
Durkh eim: Die Herstellung moralisch er Gefühle in der Gruppe
In seiner Studie über den " Selb stmord" war EMILE DURKHEIM zu dem Ergebnis gekommen, das s eine wesentliche Ursache dies es freiwilligen Abschieds au s dem Leben die schwi ndende Integrationskraft einer Ge-
meinschaft ist. Die entsprechende Diagnose der Gesellschaft lautete, dass sich die Moral in einem .alarmierenden Zustand" (1897, S. 460) befinde. Konkret meinte Durkheim damit, dass die Konkurrenz der egoistischen Interessen das Gefühl der Solidarität mehr und mehr zerstöre. Die Gesellschaft treibt in einen Zustand der Anomie, was zur Folge hat, dass sich die Bindung des Individuums an die Gesellschaft immer mehr lockert. Und genau auf diese Bindung an die Gesellschaft kommt es Durkheim an, wenn er schreibt, dass das Individuum praktisch keinem anderen Kollektiveinfluss mehr untersteht als dem Staat mit seinen unpersönlichen, standardisierten Regelungen. "Nu r in ihm spürt der einzelne die Gesellschaft und seine Abhängigkeit von ihr." (S. 463) Das erfahrt er in den Regelungen, die der Staat für alle tri fft und bei allen durchzusetzen trachtet. Ein Gefüh l für die anderen, geschweige denn eine soziale Verantwortung für sie stellt sich nicht ein. Der einzelne "hat während des größten Teils seines Lebens nichts um sich, was ihn über sich selbst hinausheben oder ihm Zügel anlegen könnte. Unter solchen Umständen muss es dazu kommen, dass er im Egoismus und in der Regellosigkeit versinkt." (S. 463f.) Am Ende dieser Diagnose stellt Durkheim nun die Frage, wie man dem Übel steuern könnte, und kommt zu der Antwort, dass sich das Individuum wieder in eine Gruppe integrieren müsse, in der es sich Olson ( 1965): Die Logik des kollektiven HandeIns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen.
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seiner sozialen Stellung in der Gesellschaft bewu sst werde, Solidarität erfahre und selbst erwei sen müsse. Die Gruppe, die das leisten könne, sei die Berufs gruppe. Durkheim kündi gt an, dass er dazu eine eigene Stud ie vorlegen werde. Dazu ist es allerdi ngs nicht gekommen. Startdessen hat er seinen Vorschlag zur Restitution der innigen Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem langen Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches "Übe r soziale Arbeitsteilung" präzisiert. Durkheim hebt mit der Diagnose an, dass sich "das ökonomi sche Lebe n augenblicklich" in einem Zustand der rechtlichen und moralischen Anomie befinde. (vgl. Durkheim 1902, S. 42) Damit hat er nun keineswegs einen Teilbereich der Gesellschaft im Blick, sondern das Kennzeichen der Modeme benannt: Die ökonomischen Funktionen stehen an erster Stelle, womit Dur kheim nicht nur den beherrschenden Einflu ss der rasant wachsenden Wirtschaft seiner Zeit auf Politik und Gesellschaft meint, sondern auch die überragende Bedeutun g, die die ..Tä tigkeitsform" in der Ökonomi e, sprich: der Beruf, im Leben des Einzelnen hat. (vgl. S. 44) Von hier aus entwickelt er nun das Konzept der Berufsgruppen , in denen sich gewissermaßen alle Angehörigen eines gleichen Berufes zusammentun. Das klingt stark nach den Ständen und Zü nften des Mittelalters, und an denen hebt Durkh eim in der Tat auch ihre Funkt ion hervor: Sie "bildeten für ihre Mitglieder ein moralisches Milieu" . (S. 53) Solche Korp orationen lassen sich aus vielerlei Grü nden nicht mehr restituieren, unter anderem, weil sie lokal begrenzt waren und über Privilegien letztlich zu einer Segregation statt Integration der Gesellschaft tendierten. Gleichwoh l hält Durkheim einige Prinzipien dieser Gruppell , denn das waren sie vor allem, für bedenkenswert. Sie sahen kontinuierlichen Kontakt vor, so dass sich gemeinsame Anschauungen, eine Moral also, und wechselseitige, solidarische Gefü hle bilden konnten . Es ist dieser moralische Einfluss, weshalb Durkheim eine Berufsgruppe in der modemen Gesellschaft, die ansonsten auseinandertreibt. für unabdin gbar hält: Sie hat ..die moralische Kraft. die die ind ividuellen Egoismen zügeln . im Herzen der Arbeiter ein lebhafteres Gefühl ihrer Solidarität erhalten und das Gesetz des Stärkeren daran hindern kann , sich derart brutal auf die gewerblichen und kommerziellen Beziehungen auszuwirken." (Durkheim 1902, S. 5 1)
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Nehmen wir an dieser Forderung nur die moralische Funktion der Gruppe für die Bindung der Individuen untereinander und an die Ge· seilschaft in den Blick, die Durkheim so beschreibt und erklärt: Em ile Durkheim: Die Gruppe als Qu elle de s moralisch en Leb ens "S oba ld im Schoß e iner politischen Gese llscha ft eine bestimmte Anza hl von Individuen Ideen, Interessen, Ge fühle und Beschäftigungen gemeinsam haben, die der Rest der Bevölkerung nicht mit ihnen teilt, ist es unvermeidlich, dass sie sich unter dem Einfluss dieser Gleichartigkeit wechselseitig angezogen fühlen, dass sie sich suchen, in Verbindung treten, sich vereinen und auf diese Weise nach und nach eine engere Gruppe bilden, die ihre eigene Physiognomie innerhalb der allgemeinen Gesellschaft besitzt. Sobald aber die Gruppe gebildet ist, entsteht in ihr ein moralisches Leben, das auf natürliche Weise den Stempel der besonderen Bedingungen trägt, in denen es entstanden ist. Denn es ist unmöglich, dass Menschen zusammenleben und regelmäßig miteinander verkehren, ohne schließlich ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln, das sie mit ihrer Vereinigung bilden, ohne sich an dieses Ganze zu binden, sich um dessen Interessen zu sorgen und es in ihr Verhalten einzubeziehen. Nun ist aber diese Bindung an etwas, was das Individuum überschreitet, diese Unterordnung der Einzelinteressen unter ein Gesamtinteresse, die eigentliche Quelle jeder moralischen Tätigkeit. Damit sich nun dieses Gefühl präzisieren und bestimmen und auf die gewöhnlichsten oder bedeutsamsten Umstände auswirken kann, überträgt es sich in bestimmten Formeln; und infolgedessen entsteht ein Korpus moralischer Regeln." (Durkheim 1902: Vorwort zur zweiten Auflage "Über soziale Arbeitsteilung" , S. 55f.)
Diese " sekundären Gruppen" solle n sich zwischen d en Staat und die Bürger schieben, um individuelle Interessen zu sozialen zu organisieren , denn " ein e Gesell schaft, d ie aus eine r Unm ass e von unorga nisierten Individuen zusammengesetzt ist und die sich ein Überstaa t b emüht zusamm enz uhalten, ist ein wahr es so ziologisc hes M onstrum." (Durkheim 1902, S. 71) W ie ein roter Faden zie ht sich d urch Du rkheim s gesamtes Werk da s " Problem der we ch selseitigen Kom patibilität vo n sozialer Ordn ung und indi vidue ller Freiheit, von stru ktureller Differenzierung und Int egration , Gemeinschaft und Individuum " , und die Berufsgru ppen sind di e " interm ed iäre Eb ene" , au f der da s gelingen so ll. (Mül-
ler u. Schmid 1992, S. 511 )
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Als Begründung, warum diese sekundären Gruppen das leisten können, verweist Durkheim interessanterweise auf die Leistung der Primärgrnppe der Familie. Sie sei " die eigentliche Heimstätte der Moralität", das ist ganz unstrittig. Aber sie ist es nicht aufgrund der Blutsverwandtschaft, sondern wegen ihrer soziologischen Besonderheit: Sie ist eine "Gruppe von Individuen, die einander (..) durch eine besonders enge Verbindung von Ideen, Gefühlen und Interessen nähergeruckt sind." (Durkheim 1902, S. 57) In moderner Terminologie würde man sagen: Dauerhafte soziale Interaktion schafft gemeinsame Einstellungen. Von der Primärgruppe Familie, die ja nicht auf Dauer angelegt ist, sondern sich mit dem Auszug der Kinder auflöst, unterscheiden sich die Berufsgruppen, dass sie "s tetig wie das Leben" sind. (S. 58) Im Unterschied zur Primärgruppe Familie, in die man ungefragt hineingeboren wird, sind Sekundärgruppen gestiftet, sei es durch ein gemeinsames Interesse, das die künftigen Mitglieder dieser Gruppe haben und weswegen sie die Assoziation suchen, sei es durch soziale Regelung, nach der Individuen zu einem bestimmten Zweck zusammengefilhrt werden. Beispiele für die erste Fonn der freiwilligen Assoziation wären die Berufsgruppen. wie sie Durkheim beschrieben hat, aber auch die Thekenmannschaft .Dröppelminna" in Solingen; Beispiele für die zweite Form gesellschaftlich definierter Gruppen wären eine Schulklasse so gut wie die Gefangenen in Alcatraz oder das Team der Betriebsprüfer im Finanzamt Münster-Ost. Beide Formen der Gruppe haben, wenn man der Theorie von Durkheim folgt, einen sozialen Effekt: Sie erzeugen durch dauerhafte Kontakte gemeinsame Einstellungen und Gefühle, aber sie üben auch genau deswegen soziale Kontrolle aus. Einen Beleg für diese Annahme haben zahlreiche Studien über die soziale Beeinflussung in der Gruppe geliefert. Ich komme gleich darauf zurück. 6.2
Simmel: Die Selbsterh allung der socialen Gruppe
In einer Zeit, als man in Deutschland noch darum rang, Gegenstand und Aufgabe einer neuen Wissenschaft, die man vorsichtig als »Sociologie« bezeichnete, zu bestimmen, hoffte G EORG SIMMEL, "das Rätsel" zu lösen, "was denn eigentlich »Gesellschaft« ist." (1898, S. 312) Dazu lenkte er den Blick auf die Bindungen, die es offensichtlich dort gibt,
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wo Menschen über eine bestimmt e Zeit zusammenleben. Von da aus ergibt sich auch Simme ls Definition von Gesellschaft : Gesellschaft ist überall dort, "wo eine Anzahl von Menschen in Wechselwirkun g treten und eine vorilbergehende oder dauernde Einheit bilden ," (Simmel 1898, S. 313) Die Frage ist allerdings, wie sich ein solches Gebilde erhält. Sirnmel beantwortet sie mit Blick auf die .scciale Gruppe", wobei man anmerken muss, dass er nach dem genannten Prinzip auch die Gesellschaft als eine Gruppe ansieht . Das Problem der Selbsterhaltung einer Grupp e liegt schon in der Tatsache begriindet, dass Mitglieder ausscheiden oder neue hinzukommen. Nehmen wir z. B. die Grupp e " Gegendruck68" . Gleich im Gründungsjahr ist die Hälfte der Mitstreiterinnen, die das richtige Bewusstsein vermissten, wieder ausgetreten. Da waren's nur noch 4. Drei zogen im Laufe der Zeit weg, aber vier neue kamen hinzu. Als sich die Letzte aus der Gründerzeit einem Vertreter des Kapita ls in die Ehearme schmiss, wurde sie wegen unüberbrückbarer geistiger Differenzen ausgeschlossen. Der Rest nutzte diesen Schnitt für eine Standortbestimmung und brachte "Gegendruck68" mit Handzetteln wieder ins Gespräch. Die Gruppe überdauerte also, obwohl es kein einziges identisches Mitglied mehr gab. Ins Große gewendet: Im Wechsel der Generationen bleibt die einheitliche Grupp e der Gesellschaft bestehen. Die erste Erklärung der Selbsterhaltu ng der Gruppe sieht Simmel denn auch in der Allmählichkeit der Veränderungen. (Simmel 1898, S. 319) Zweitens kann die Kontinuität einer Gruppe damit erklärt werden, dass stets genügend Mitglieder vorhanden sein müssen, die den Nachwuchs schulen. Das kann man in dem engen Sinne verstehen, dass z. 8. die alten Wächter des Grals die Eleven systematisch in die Geheimn isse einweihen, das kann man aber auch in dem weiteren Sinne verstehen, dass neue Mitglieder lange genug mit den Alten zusammen sind, um sich " dem Geist, der Form , der Tendenz der Gruppe völlig zu assimilieren." (SimmeI1 898, S. 320) Drittens wird die Gruppe zusammengehalten durch die Loyalität gegenüber führenden Personen oder einem herrschenden Prinzip . Der fixe Fritz, der bei den Strandpiraten von Sandburg 9 das Sagen hat, treibt die Grupp e jeden Tag zu neuen Abenteuern. Das ist beim großen Fritz im Prinzip nicht anders. Er gibt seinem Volk das Gefühl der Einheit, und über seine aufgeklärt en Prinzipien identifi ziert es sich. Doch was passiert, wenn der fixe Fritz wieder nach Hause fährt oder der gro-
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ße Fritz stirbt. Im ersten Fall findet der traurige Rest der Bande kei nen rechten Schwu ng zu neuen Taten und verkrümelt sich schließlich. Die Gru ppe löst sich auf. Im zwe iten Fall besteht die große Gruppe der Preußen na türlich weiter, weil der große Fritz nicht kraft seiner Person, sondern kraft eines Amtes herrschte. In diesem Fall gilt der Grun dsatz, dass der König nicht stirbt. (vgl. Simmel 1898, S. 323 ) Das erste Beispiel rückt die Bede utung einer führenden Person in den Vordergrund. Die Grup pe hat nur so lange Bestand, wie eine herausragende Person sie zusammenhält. Simme l dtiickt es so aus: " So lange der Bestand noch ein unsicherer und schwankender ist, kann jene höchste, zusamme nhaltende Spi tze ihre Funktion nur verm öge ganz bestimm ter persönlicher Eigenschaften erfüllen." (Simmel 189 8, S. 324) Wenn diese Persönlichkeit die Fähi gkeiten nicht mehr! hat oder ausfällt, ist der Bestand der Gru ppe in Gefahr. An dem zweiten Beispiel wi rd deutlich, dass das ,,Persona lmoment" zutiic ktreten kann, wenn die Form, in der sich die Grup pe selbst erhält, prinzipi ell begtiindet ist, sich soz usagen obj ektiviert hat. Simmel sieht deshalb auch im Erbschafts prinzip, gegen das ja eingewandt wird, dass damit nicht imme r die Besten in das Amt gelangen, einen tieferen Sinn : Es dok umentiert, " dass die Form der Gru ppe, das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten ein rein sachliches und in sich ge festetes geworden ist." (ebd.) " Die Objektivierun g des Zusamme nhaltes der Gruppe kann auch die persönli che Form so weit abstreifen, da ss sie sich an ein sachliches Symbol kn üpft ." (Sim mel 1898, S. 325, Hervorhebung H. A.) Da s wäre das vierte Prinz ip des Zusammenhaltes. Simmel bringt das Beispiel der Fahne in einer kämpfenden Truppe. So lange sie vor ihnen weht, fühlen sich alle als eine verschworene Gem einschaft, sinkt sie, gerät auch der Geist der Truppe in Gefahr . Simmel vermutet aber , dass in einem solchen Fall, wo sich die Gruppe für ihre Selbsterhaltung zu sehr auf ein äußeres Zeichen stützt, der soziale Zusam menhang "schon vorher innerlich stark gelitten haben muss" . (ebd.) Bemerkenswert sei dagegen der umgekehrte Fall, dass nach dem Ve rlust eines Gruppensym bols die Kohärenz umso stärker wird. Als Beispiel verwei st er auf die Zerstörung de s jüdischen Tempels durch Tit us. Nachdem das Symbol als maDieses Problem erwähnt Weber im Zusammenhang mit dem Ausbleiben der außergewöhnlichen Fähigkeiten des charismatischen Herrschers. Vgl. Band I, Kap. 7.4 ,,Herrschaft: Die Legitimation von Macht", S. 257.
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terielle Wirklichke it zerstört worden war, begann es " als bloßer Gedanke, Sehnsucht, Ideal, sehr viel mächtiger, tiefer, unzerstörbarer" zu wirken. (Simmel 1898, S. 325) Ein fünftes, außerordentlich wirkungsvolles Mittel der sozialen Selbsterhalt ung erblickt Simm el in der Ehre. Ursprünglich war Ehre Standesehre, also eine "zweckmäßige Lebensform kleinerer Kreise" , durch die sie " ihren einheitlichen Charakt er" wahrten und sich gegen die anderen Kreise abschlossen. (Simmel 1898, S. 331) In moderner Terminologie würde man sagen: Ehre funktionierte zugleich als Inklusion und als Exklusion, als Integration und Differenzierung. Die Ehre steht zwischen sozialer Rechtsordnung und individueller Moral. Das äußerliche Recht wacht über j ede s Individuum oh ne An sehen der Pe rson, die Mo ral ist an di e Herzen der Individuen geb unden. Wo eine Gruppe eine gen erelle Zustimmung zu einem spezifischen, richtigen Verhalten einfo rdert und das Indi viduum seine ind ivid uelle Moral aus innerer Üb erzeugung in den Di enst einer koll ektiven stellt, funktioniert Ehre als Prinzip sozialen Verh alten s und der Einheit der Gruppe . Auf dieses doppelte Prinzip hebt auch Si mmeI ab: Georg Simmel: Ehre a ls M itt el zu r E rha lt ung der Gr uppe in ihrer Existenz und ihrer spezifischen Bedeutung "Indem die gesellschaftliche Gruppe jedem ihrer Elemente ihre Gesamtehre p ro rata (anteilig, H. A.) anvertraut, gibt sie ihm ein außerordentlich hohes Gut mit, und zwar ein solches, das es in der Mehrzahl der Fälle gar nicht positiv zu erwerben, sondern das es nur nicht zu verlieren braucht. Indem die Ehre des ganzen Kreises so gleichsam zum Privatbesitz des Einzelnen und in dieser Individualisierung eben seine Ehre wird, stellt sie eine ganz einzigartige, äußerst enge Verschmelzung von Individual- und Sozialinteresse dar; das letztere hat hier für das Bewusstsein des Einzelnen völlig personale Formen angenommen. Damit ist der unermessliche Dienst klargestellt, den die Ehre der Selbsterhaltung der Gruppe leistet: denn was ich die Ehre der letzteren nannte, die von der Ehre des Einzelnen repräsentiert wird, das ist doch genau angesehen nichts als der Bestand, die Einheit und der dauernde Charakter der Gruppe. Die Ehre fordert vom Einzelnen diejenigen Verhaltensweisen (KoIT. H. A.), die diesen Zwecken seines Lebenskreises dienen. Indem dies nun einerseits zu einem idealen Werte aufwächst, so ideal und so kraftvoll zugleich, dass die Ehre mehr gilt als das Leben; indem andererseits das Bewahren der Ehre sehr fühlbar angenehme, ihr
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Verlust sehr fühlbar unangenehme Folgen in egoistischer Hinsicht hat bildet sie ein ganz außerordentlich festes Band zwischen dem Ganzen der Gruppe und ihren Elementen. So ist die Ehre eines der durchgreifendsten Mittel, die Gruppe in ihrer Existenz und ihrer spezifischen Bedeutung zu erhalten." (Simmel 1898: Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe, S. 332f)
Ein sechstes Prinzip der Selbsterhaltung der Gruppe liegt darin, dass sich " differenzierte Organe" (1898, S. 350) herausbilden. Sie bestehen aus mehreren Personen, die so etwas wie eine ste llvertretenden Repräsentanz sind. Simmel nennt als Beispiele den Vorstand eines Vereins, die Priesterschaft einer religiösen Gemeinde oder das Komitee einer flüchtigen Vereinigung. Diese Organe sind besondere Teilgruppen, die "di e Idee" der ganzen Gruppe vertreten. Zur Selbsterhaltung der Gruppe tragen diese sozialen Gebilde insofern bei, als sie "beweg licher" sind. Sie können rasch den Willen der Gruppe artikulieren und danach auch schnell handeln. Ehe eine ganze Gruppe zu einer Entscheidung gekommen ist, ist die Chance zu handeln vielleicht schon vertan. Hinzu kommt, dass diese repräsentativen Organe die inneren Gegensätze, die es in jeder Gruppe gibt, ausgleichen und den "Mangel an Sachlichkeit, der so oft die Einheitlichkeit in den Aktionen der Masse verhindert" (Simmel 1898, S. 339), ausgleichen. Damit ist eine weitere soziale Funktion der repräsentativen Organe angesprochen, sie können auf einem intellektuell höheren Niveau als der Durchschnitt der Masse handeln. Simmel beschreibt das Problem so: " Die Gesamtaktion der Menge wird in intellektueller Hinsicht immer auf einem relativ niedrigen Niveau stehen; denn derjenige Punkt, auf den eine große Anzahl von Individuen sich vereinigt, muss immer sehr nahe an dem Niveau des Tiefststehenden unter ihnen liegen; und dies wiederum, weil jeder Hochstehende hinabsteigen, aber nicht j eder Tiefstehende hinaufsteigen kann, sodass dieser und nicht jener das Niveau angibt, das beiden gemeinsam sein kann." (S. 340f.) Doch auf der anderen Seite der Medaille steht ein viel bedrohlicheres Problem: "Wo Erregung und Äußerung von GefUhlen in Frage steht, gilt diese Norm nicht, weil sich in einer aktuell zusammenbefindlichen Masse eine gewisse Kollektivnervosität erzeugt - ein Mitgerissen-Werden des GefUhls, gegenseitig ausgeübte Stimulierungen - so dass eine momentane Erhöhung der Individuen über die durchschnittli-
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ehe Intensität ihrer Gefühle erfolgen mag." (Simmel 1898, S. 341) In den Aktionen der Masse schrumpft das intellektuelle Potential, während sich die irrationalen Affekte potenz ieren. Eine siebte Erklärung der Selbsterhaltung einer sozialen Gruppe sieht Simmel in ihrer Form . " Hier begegnen uns zwei hauptsächliche Möglichkeiten. Die Gruppe kann erhalten werden 1. durch möglichste Konservierung ihrer Form , durch Festigkeit und Starrheit derselben, sodass sie andrängenden Gefahren substantiell Widerstand entgegensetzt und das Verhältnis ihrer Elemente durch allen Wechsel der äußeren Umstände hindurch bewahrt; 2. durch möglichste Variabilität ihrer Form, sodass sie den Wechsel der äußeren Bedingungen durch einen solchen ihrer selbst beantwortet und sich im Fluss erhält, sodass sie sich jeder Forderung der Umstände anschmiegen kann." (Simmel 1898, S. 351) Widerstand oder Anpassung, Abschottung oder Öffnung, Konservierung oder Modernisierung, um diese Fragen geht es. Die Tendenzen in die eine oder die andere Richtung hängen für Simmel von der Zusammensetzung der Gruppe ab. Zum Beharren neigen einmal Gruppen, die aus "d isparaten Elementen mit latenten oder offenen Gegnerschaften" (SimmeI1898, S. 351) bestehen. Sie konservieren ihre Form, weil j ede Irritation von außen die inneren Spannungen verstärken würde. " Deshalb bemerken wir auch tatsächlich, dass bei ungeheuren und unversöhnlichen Klassengegensätzen eher Friede und Beharrlichkeit der sozialen Lebensformen herrscht, als bei vorhandener Annäherung, Vermittlung und Mischung zwischen den Extremen der sozialen Leiter." (5 . 353) In dem Zusammenhang erwähnt Simmel allerdings eine zentrale äußere Erschütterung, die gerade die Tendenz zur Konservierung einer Form verstärkt, den Krieg . Manchen Völkern dient er dazu, "die auseinanderstrebenden und in ihrem Gleichgewicht bedrohten Elemente des Staates wieder zusammenzubinden und seine Form zu erhalten" . (Simmel 1898, S. 352 Anrn.) Simmel hat auch eine Erklärung für diesen scheinbar paradoxen Effekt: " Der Krieg appelliert an diejenigen Energien, welche den entgegengesetzten Elementen der Gemeinschaft dennoch gemeinsam sind, und hebt diese, die vitaler und fundamentaler Natur sind, so stark ins Bewusstsein, dass die Er-
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schütterung hier gerade die Voraussetzung für ihre Schädlichkeit: die Divergenz der Elemente - selbst annull iert." (Simmel 1898, S. 352 Anm.) Zum Beharr en tendi eren aber auch Gruppen, die sich überleb t haben, "d ie keine innere Daseinsberechtigung mehr haben". (Simmel 1898, S. 354) Der Traditionsverein, der noch immer den Sieg von anno dunnemai, über den die neue Völkerverständigung längst hinweggegangen ist, feiert, wird sich ängstlic h an seine Rituale klammern. Als " das letzte Mittel ihrer Selbsterhaltung" gilt diesen soz ialen Foss ilien " ein äußerst strenger Absc hluss, die unbedingte Verhin derung des Zutritts neuer Genossen." (ebd .) Schließlich tendieren Gruppen, die sich einer Konkurrenz von außen nicht gewachsen fühlen, zur Konservierung ihrer Form. (vgl. Simmel 1898, S. 355) In welchen Gruppen ist die Selbsterhaltung durch die umgekehrte Tendenz zur Geschmeidigke it, zur Anpassung und zur Öffn ung bedingt? Das sind sehr oft Gruppen, die innerhalb einer größeren Gesell schaft nur geduldet sind. Sie können ihren Bestand nur durch "vo llkommenste Elastizität" wahren ; sie schlüpfen in jedes Loch und nehmen jede Form an, die sich ihnen bietet. (vgl. Simme l 1898, S. 356) Diese Fähigkeit, die wir heute Assi milation nennen würden, sieht Simmel z. B. den Zigeunern und den Juden nachgesagt, aber im Grun de ist es die später von ihm so beschrieben Figur des Fremdent , die uns hier entgege ntritt : Er lässt sich auf die neue Gruppe ein, soweit das für das eige ne Überleben notwendi g ist, aber er behält so viel Dis tanz zu ihr, wie er für seine Integrität braucht. Zur Flexibilität tendieren aber auch Gruppen, in denen Individualität mög lich und sogar erwü nscht ist. Es sin d oft einzelne Individuen, die sich durch eine Öffn ung für Neues auch neue Chancen für ihre Individualität erhoffen. So tragen sie nach und nach neue Elemente in die Gruppe hinein, die die Gruppe lebendig erhalten . Es sind gewissennaßen dosierte Irritationen, die das Bewusstsein der Gruppe lebendig erhalten. Mit jeder neuen Anregung gerät nämlich jede alte Selbstverständlichkeit auf den Prüfstand, und mit j eder Entscheidu ng, die daraus folgt, entsc heidet die Gruppe letztlich auch, was sie sich als Gruppe zutraut und welchen Weg sie als Gruppe gehen will. 1 Vgl. Sinunels "Exkurs über den Fremden" in: Sinunel ( 190B): Soziologie.
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Damit sind wir bei der letzten und achten Erklärung der Selb sterh al-
tung einer sozialen Gruppe angelangt. Die landläufige Meinung ist leicht gene igt, " den Frieden, die Interessenharmonie , die Eintracht für das Wesen der sozialen Selbsterhaltung anzu sehen". (Simmel 189 8, S. 36 6f.) Dieser Meinung ist Simmel nicht. Er atte stiert dem Prinzip der "Gegensätzlichkeit" (S. 368) die grö ßere Kraft, den Bestand der Gruppe zu gewährleisten. Ihm schei nt denn auch ein "gewisse r Rhythmus zwi-
schen Frieden und Kampf" eine bessere Erklärung der Selbsterhaltungstendenz zu sein. Die s deutet er nach zwei Dim ensionen : "sowohl der Kamp f der Gruppe als ganzer gege n äußere Fe inde in seiner Alternierung mit friedli chen Epochen, wie der Kampf der Konkurrenten, der Parteien, der ent gegengesetzt en Tendenzen j eder Art neben den Tatsachen der Gemeinsamkeit und der Eintracht." (S . 367) In der einen Dim ension erinnert Simmel daran, dass " der Kampf gegen eine Macht, die außerh alb der Gruppe steht, (..) dieser ihre Einheit und die Notwendigkeit, sie unerschüttert zu bewahren, zu eindringlich stem Bewusstsein" bringt. (Simm el 1898, S. 36 7) Diese Ta tsach e ist fiir Simmel von "der größte n soz iologische n Bedeutung", die für fast jede Gruppenbildung gelte: " Die gemei nsame Ge gnerschaft gegen einen Drittel (wirkt) unter allen Umständen zusammenschließend". (ebd .) Er fahrt fort : " Es gibt wohl kaum eine Gruppe - famili ärer, kirchli cher, öko nomischer, polit ischer od er welcher Art immer - die dieses Kittes ganz entbehren könnte. In reinster Wec hselwi rkung entfaltet sich hier das Bew usstsein der vo rhandenen Einhe it und ihre praktische Stärkung und Festigke it:' (ebd .) Das ganze geistige Wesen de s Menschen, schreibt Simmel, sche int auf .Llnters chiedsemp findlichkeit gebaut" zu sein. Der M ensch braucht die Erfahrung der Differenz, um sich seiner Einheit bewusst zu werden. Diese .Llnterschieds empfindlichkei t" gilt auch in der anderen Dimension: Auch innerhalb der Gruppe kann die Gegensätzlichkeit bel ebendes und erhaltendes Prinzip sein. Simmel denkt hier an die Konkurrenz zw ischen Interessent en , die gerade wegen dieser Interessen in enger Wechselwirkung stehen. Ne hme n wir z. B. Händl er und Käu fer. Sie verfolgen gegensätzliche Interessen, und gerade desweg en sind sie geha lten, eine Form der Bezi ehung z u finden und zu pflegen, die wohl tariert ist. In der Konkurrenz der Ge gensätze werden sich be ide Seite ihrer Individu alität inn erhalb einer als Einheit im Gegensatz defin ierten Gruppe bewusst. Es ist das dialekti sche Prinzip von Einhe it und Diffe-
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renz, individueller Eigenart und Alternative, Gleichheit und Gegensatz, das die Gruppe zusammenhält. I Für den gewalttätigen Kampf gegen einen äußeren Feind leuchtet das unmittelbar ein. In dieser Hinsicht will ich nur nachtragen, dass der Kampf schon beginnt, wenn eine Gruppe ihren freundlichen Spott über "die da" ausgießt, und er ist keineswegs eingestellt, wenn man " die da" nicht einmal einer Würdigung für Wert erachtet, und er ist leider oft nicht zu Ende, wenn ein "Feind" liquidiert worden ist. Es ist also höchste Vorsicht geboten, wenn dieser Mechanismus der Selbsterhaltung einer Gruppe wirkt! Und in der anderen Hinsicht muss beim Prinzip der Gegensätzlichkeit innerhalb einer Gruppe gefragt werden, ob denn das Handeln, das aus der Gegensätzlichkeit folgt, gerecht und fair ist. Eine wirtschaftliche Konkurrenz, in der immer nur eine Seite gewinnt, wird auf Dauer die Gruppe in ihrem Bestand zerstören; eine Familie, in der immer nur einer die Rolle des Guten spielen will (ersetze ggf: "des Bösen spielen muss"), lebt am Rande des Chaos. Im Grunde kann das Prinzip der Gegensätzlichkeit nur dann den Erhalt der Gruppe fördern, wenn die Erfahrung der Differenz zugleich eine der sozialen Nähe ist. Das meine ich im Sinne der wechselseitigen, funktionalen Abhängigkeit, die sich aus dem Prinzip der Arbeitsteilung ergibt, und in dem Sinne der wechselseitigen sozialen Achtung auf der gleichen Ebene. Neben diesen Erklärungen der Selbsterhaltung einer sozialen Gruppe muss noch eine andere Frage angesprochen werden, nämlich die nach der Rolle, die das Individuum in der Groppe spielt. Simmel hatte sie in einem sehr frühen Aufsatz beantwortet, der den Titel "Die Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität" (1888) trägt. Dort vertrat er die These, dass die Individua lität umso geringer ist, je enger die Gruppe ist. Je kleiner die Gruppe ist und j e unausweichlicher die Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern sind, umso mehr wird der Einzelne mit seiner ganzen Person in die Gruppe eingespannt. Bei allem, was er tut oder tun soll, wird das mitgedacht, was er in anderen Rollen tut oder zu tun hat. Die kleine Käthe ist nicht nur das Kind, das So hatte es auch schon Durkheim (vgl. Band I Kap. 3.6 ,.Mechanische und organische Solidarität", S. 106) gesagt: Wir suchen - und brauchen! - den, der uns ähnlich ist, aber auch den, der ganz anders ist. Letzteres hatte er so erklärt, dass uns immer etwas fehlt, was der andere kann, und auf dem Wege der Arbeitsteilung versichern wir uns wechselseitig unserer zuträglichen Leistungen.
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zum dritten Mal vom Schwebebalken gefa llen ist, sondern auch das Kind, das der Mama beim Abtrocknen zur Hand geht, den Papa mit einer 2 im Schönschreiben erfreut und ansonsten ein pflegeleichtes Herzchen ist Umgekehrt gilt ruf Simme l: Je größer der Kreis ist, umso mehr Individualität ist möglich. Das hängt zum einen mit der zunehmenden Differenzierung zusammen; zum zweiten vervielfältigen sich die sozialen Kreise l, und der Schnittpunkt, in dem das einzelne Individuum wegen seiner spezi fischen Biograph ie und Qualifikation steht, deckt sich schließlich mit keinem anderen mehr; schließlich sinkt die soziale Kontroll e in dem Maße, wie die Individuen von einem Zentrum abrüc ken könn en . Bei dieser Ausdehnung der Grupp e ist Simmel ein interessanter Ef~ fekt aufgefallen: " Die Individualisierung lockert das Band mit den Nächste n, um dafür ein neues - reales und ideales - zu den Entfernteren zu spinnen." (Simmel 1888, S, 55) Das sei schon in der Frühphase der kulturellen Entwicklung der Völker zu beobachten: " In solchen Zeiten sind die Individu en eines Stanunes so einheitlich und einander so gleich als möglich, dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber ; je enger die Synthese innerhalb des eignen Stanunes, desto strenger die Antith ese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzierung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm ," (ebd.) Die Ausweitung der soz ialen Kreise, die sinkende soziale Kontrolle und die Differenzierung der Tätigkeiten fordern eine geistige Beweglichkeit, die Alternativen zum Denken und Handeln wie immer deshalb prüft, weil damit Individu alität gesteigert werden kann. " Daher komm t es, dass ein starke Ausbi ldung der Individualität und eine starke Wertschätzung derselben sich häufig mit kosmopolitischer Ges innung paart ; dass umgekehrt die Hingabe an eine eng begrenzte soziale Gruppe beides verhindert." (Sim mel 1888, S, 56) Dieser Blick über die eigene Gruppe hinaus beweist auch den Mut, das Band zur sozialen Gruppe zu lockern, sich auf eigene Füße zu stellen, Was das für die Verbindung zwischen Individuum und Gruppe bedeutet, erhellt aus folgendem Satz : " Um (..) weit sehen zu können, muss man über die Nächststehenden hin wegblick en." (S. 57) Auf die sich daraus ergebend en Chancen der Individualität komme ich noch einmal in Kap. 8.1 "S immel: Kreuzung sozialer Kreise und individ uelles Gesetz", S. 327f., zurück.
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Vergleichen wir, was bei GEORG SIMMEL und bei Emile Durkheim im Vordergrund stand, dann kann man sagen: Simmel hat gezeigt, wie die Gruppe funktioniert und wie sie sich selbst erhält. Durkheim hat gezeigt, dass die Gruppe eine Quelle des moralischen Lebens ist und dass von daher ein bestimmtes Gruppenprinzip fiir den Zusammenhalt der Gesellschaft von hoher Bedeutung ist. Der Klassiker, der jetzt angesprochen wird, CHARLES HORTONCOOLEY, hat ebenfalls die funktionale Bedeutung der Gruppe rur die Gesellschaft vor Augen, aber er hat eine ganz andere Gruppe vor Augen und er beschreibt sie auch nicht in nonnativer Absicht.
6.3
Primärgruppen - ..nursery of human nature"
Der amerikanische Soziologe CHARLES H. COOLEY (1864- 1929) betrachtete Indidivuum und Gesellschaft als zwei Seiten einer Medaille. Von besonderer Bedeutung für die Ausformung der sozialen Seite des Individuums sind die sog. Primärgruppen. Darunter versteht Cooley vor allem die Familie, dann aber auch die Gruppe der Gleichaltrigen und die engere Gemeinde. Er bezeichnet diese Gruppen deshalb als Primärgru ppen, weil sie "dem Individuum die früheste und kompletteste Erfahrun g vom sozialen Ganzen vermitteln." (Cooley 1909, S. 26f.) Primärgruppen sind durch enge face-to-face-Beziehungen und kontinuierliche Interaktion gekennzeichnet. Dadurch form en sie sowohl die soziale Natur des Individuum s wie auch seine Ideale: Char les Horton Cooley: Primary group ,,By primary groups I mean those characterized by intimate face-to-face association and cooperation. They are primary in several senses, but chiefly in that they are fundamental in forming the social nature and ideals of the individual. The result of intimate association, psychologically, is a certarn fusion of individualities in a conunon whole, so that one ' s very self, for many purposes at least, is the conunon and purpose of the group. Perhaps thc simplest way of dcscribing this wholeness is by saying that is a »we«: it involves the sort of sympathy end mutual identification for which »wec is the natural expression. One Jives in the feeling of the whole and finds the chief aims of his will in that feeling." (Cooley 1909: Social organization, S. 23)
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Im Hinbli ck auf die Gesellschaft ist die Funktion der Primärgrupp e, ein Wir-Gefühl zu entwickeln , im Hinbl ick auf das Individu um, ihm Ideale zu gebe n. Wenn Cool ey die Primärgruppe deshalb auch als »nursery of hum an nature« (Cooley 1909, S. 24) bezeichn et, dann ist dieser Doppelaspekt gemeint: menschli che Natur als soziale Natur. Primärgruppen wie "die Familie, die Spielgruppe der Kinder, die Nachbar schaft oder die Gemeinschaft der Alten sind praktisch universal. Man findet sie in allen Zeiten und auf allen Entwicklungss tufen von Gesellschaft. Sie sind nach übereinstimmender Auffassung eine wichtige Grund lage ruf das, was in der menschli chen Natu r und den menschlichen Idealen als universal anzusehen ist." (Cooley 1909, S. 24) Gleichwohl fuhren die Primärgruppen in jeder Gesellschaft zu einer besonderen Prägung. Dafür gibt Cooley als genaucr Beobachter seiner Zeit ein Beispiel. In seinem Buch .Soclal Organization", das im Jahre 1909 erschien, schreibt er, dass die Primärgruppen natürlich " nicht unabhängig von der größeren Gesellschaft" sind, sondern " bis zu einem gewissen Grade ihren Geist" reflektieren; "so wie die deutsche Familie und die deutsche Schule in gewissem Sinne den Stempel des deutschen Militarismus tragen." (S. 27) Insofern sind diese Primärgruppen nicht nur die Quelle des Lebens des Individuums, sondern auch der sozialen Institutionen. Das kann man durchaus in einem weiteren Sinn verstehen, denn Cooley sagt, dass unsere Vorstellungen von Liebe, Freiheit oder Gerechtigkeit, die wir mit sozialen Institutionen verbinden, nicht von einer abstrakten Philosophie her rühren, sondern im alltäglichen Leben in den Primärgruppen entstehen. Dort sehen wir, wie "man" in dieser Gesellschaft in dieser Hinsicht denkt und was " man" richtiger Weise deshalb tun sollte. (vgl. Cooley 1909, S. 32) Es sind also Institutionen im Sinne der sozialen Tatsachen, wie sie Durkheim beschrieben hat, die in den Primärgruppen begründet werden. Dieser Gedanke findet sich später auch in der Theorie des Symbolischen Interaktionismust wieder, weshalb man auch Cooley durchaus auch als einen der geistigen Väter dieser Theorie bezeichnen kann. Die Beziehungen in der Primärgruppe sind nicht sachlich, sondern intim und emotional; die einzelnen Mitglieder werden nicht in spezifischen Rollen, sondern in ihrer Gesamtheit als vertraute Personen geseI Vgl. oben Kap. 5.5 ,,s ymbolische Interaktion", S. 210f. und 213.
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hen. Deshalb haben sie auch eine ausgesprochen sozi ale Stützfunktion für das Individuum . Dort findet es Anerkennung, auch wenn seine Leistun gen nach objekti ven Kriteri en nicht ausreichend sind. Sie werden relativ zu seinen persönli chen Fähi gkeiten gese hen. Aus der Sicht der Gesellschaft, so hatte es ja Cooley schon betont, haben die Primärgruppen die Aufgabe, die Ideale der Gesellschaft zu vermittel n, Die Primärgruppe kontrolliert die individuelle Entwi ck lung im Name n der Gesellschaft. (vgl. Thomas u. Znan iecki 1927a, S. 236 u. 242) Sie "de finiert die Situation" d es richtigen Denk ens und Handelns durch das Verhalten und durch die "e motionale Einmütigkeit ihrer Mitglieder." (Thomas 19 17, S. 298 u. 300) Die Primärgruppe ist durch gefühlsm äßige Solidarität gekennze ichnet. Deshalb ist sie auch zah lenmäßig klein und räumlieh eng begrenzt. Th omas gibt dazu ein schönes Beispiel: " Der polnische Bauer verwendet das Wort »okol ica«, »die Nac hbarschaft ringsum«, »soweit des Manne s Stimme reicht«, und man kann dies als die natürl iche räumliche Grenze der Primärgrupp e betrachten, solange den Menschen nur die Kommunikation smittel seiner Gruppe zur Ve rfüg ung stehen." (S. 300) Wei l die Interaktion in der Primärgruppe face- to-face erfolgt, wird dort auch die erste Erfahrung eines Wir-Gefühls gemacht. Es ist das Gefühl, Teil eines " moralischen Ganzen" zu sein und in Verbindung mit dem Geist und den Gefühlen der and eren zu stehe n. (Coo ley 1909, S. 33f.) Dieses Ge fühl wird auch dadu rch gestärkt, dass alle sich unau sgesproch en an gemeinsamen Zielen ori entieren, deren Gültigkeit durch die tägliche Praxis bestätigt wird. In der Primärgruppe werden auch die sozia len Maßstäbe entwickelt, nach dene n man wie selbstverständ lich das Handeln anderer auße rhalb der eige nen Gruppe beurteilt. Auch in dieser Hinsicht ist die Primärgruppe nicht nur eine Pflanzschu le der mensch lichen Na tur, sondern auch verlässliche Einrichtung der gesel lschaftlichen Kontrolle. Die Formuli erun g .Primärgruppe" wec kt das soziologische Interesse, was denn .Sekundärgruppen'' sind. Schäfers weis t darau f hin , dass sich dieser Begriff erst in einem posthum erschi enenen Beitrag Coo leys findet. (Sch äfers 1980a, S. 80) Dort werden sekundäre Grupp en allgemein mit gesellschaftlichen Systemen gleichgesetzt. Vielleicht kann man sie so unterschei den : Primäre Gruppen umfassen den ganz en Menschen und sind geprägt d urch ein Ge fühl der engen persönlich en Verbundenheit, wä hrend sekundäre Gruppen den Menschen nur unter ei-
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nern spezi fischen Interesse beanspruch en . In der Pri märgruppe geht es von Anfa ng an um die ganze Person, in der Seku ndärgru pp e zunächst nur um di e Roll e, die sie spie lt. Dass sich di e erste Grup pe durcha us in die Richtung einer sachlichen Bezi ehung bis zur Entfrem du ng entw i-
ekeln kann, ist ebenso wenig ausgeschlossen wie die Entwicklung der zweiten Gruppe hin zu intimen, solidarischen Beziehungen . D ie erste Entwicklung hat übrigens sc hon WILLIAM I. THOMAS kommen sehen, als er befürchtete, dass in der ration alen Modeme die solidarische Kraft der Primärgrup pen geschwächt werde und kei nen Halt gegen die w idersprüchlic hen Werte und No rme n der ande ren Bezugsgruppen, in d ie das Individuum eingespannt ist, me hr biete. Die zweite Entwic klung stellen wi r beispielsweise in Freundschaften oder auch Liebesbeziehungen fest. Auc h die wenigen sozio logisc hen Unte rsuch ungen zu Krieg und Militär zeigen, dass Erfo lge von Kampfgru ppen umso größer sind, je mehr sie nach d er Art einer Primärgrupp e strukturiert sind.
6.4
Peer group - Sozialisation auf der Schwelle zur Gesellscbaft
»Peers« bed eutet im Eng lisc hen »Gleiche«, sei es von Geburt ode r von Rang. In der Soz iologie werden dam it Altersgleiche, und zwar vornehmlich Kinder und Jugendlich e, und Gleiche im Sta tus bezeichnet. Ich werde sie nur im eingeschränkten ersten Sinne vors te llen. Die peer gro ups haben einen wichtigen Einfluss auf die Sozialisation, in einer bestimm ten Lebensphase sogar den entschei denden Einfluss. Wie ich obe n im Kapitel über Sozialisation gezeigt habe , ist der Eintritt des individuums in die Gesellscha ft probl ematisch fü r das Individ uum und für die Gesellsc haft zug leich. Jenes muss lern en, sich in der Gesellscha ft zurech t zu finden und sic h " richtig" z u verhalten; jene muss wissen, woran sie mi t den ne uen Mitgli edern ist. Das Problem beginnt natürlic h mit der Geb urt jedes neuen Ind ividuum s, wes halb die Sozi alisatio n in der Familie auch so entscheidend ist, und es wiederholt sich, wenn das Kind d ie ersten Schritte aus der kleinen Familie tut. Auf der Schwelle zur größeren Gesellschaft kommt den peer gro ups als A genten der Sozialisatio n, als Raum des Erlemens von Roll en und als Mittel, seine Identität zu find en, eine herausragende Bedeut ung zu.
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Wenn über peer groups gesprochen wird, denkt man meist an Jugendliche. Doch selbstverständlich gibt es auch peer groups von Kindern, und sie haben in den gerade genannten drei Hinsichten eine ähnliche Funktion wie die jugendlichen Gruppen, mit dem Unterschied allerdings, dass hier die Eltern noch steuernd eingreifen (können) . Das ist die These von DAVID RJ ESMAN. Nach seiner Meinung besteht die wichtigste Funktion der kindlichen peer group in der Zeit der Außenleitung, in der wir uns seiner Meinung nach heute befinden, darin, ,Jeden aufs Normalmaß zurechtzustutzen". (Riesman 1950, S. 85) Das gelingt ihr auch, weil die Eltern die Anpassung ihrer Sprösslinge an die Standards. selbst forcieren und die Gruppe über Mittel verfügt, dies auch zu . . erzwingen. Betrachten wir zuerst die Rolle der Eltern, die Riesman zwar fllr Amerika, und zwar vor einem halben Jahrh undert, so beschrieben hat, die Ihnen aber sicher ganz vertraut ist. Riesman stellt fest, dass die EI· tern der Mitte lschicht (wo sich die Außenleitung besonders deutlich zeigt) mit großer Ungeduld - wenn auch unbewu sst - Druck auf das soziale Leben ihrer Kinder ausüben: "Bei den Zusammenkünften der Drei- bis Vierj ährigen sind heute die Eltern die Regisseure, genau wie die Erwachsenen in früheren Zeiten die Heiratsvermittler waren." (Riesman 1950, S. 84) Mit dem Terminkal ender in der Hand transportieren die Mütter ihre Kinder zu Aktivitäten, die als wichtig und wertvoll gelten. " Das Kind gerät so unter seine geradezu wissenschaftlich einwandfrei sozial gleichrangigen und passendsten Altersgenossen." (ebd.) Franz Josef Degenhardt, der soziologische Bänkelsänger, hatte es so im Ohr: "S piel nicht mit den Schmuddelkindern, ... geh doch in die Oberstadt ...". Von da an dikti ert die peer group, und die Eltern sind "ängstlich darauf bedacht, dass sich das Kind mit seinen Altersgenossen versteht, seine »Anpassung« ist deshalb ihre erste Sorge." (Riesman 1950, S. 84) Erst wenn ihr Kind von der Gruppe voll akzeptiert ist, sind sie beruhig t. Die erste Standardisierung ist erfolgreich abgeschlosse n. Da die sozialen Kontakte immer in die gleiche Richtu ng gehen, ist auch zu erwart en, dass die Anpassung weitergeht. An dieser Stelle bringt Riesman die Mittel ins Spiel, mit denen die peer group schon bei den Kindern Standardisierung erzwingt. Sie bestehen in eindeutigen Beurteilungen und sozialem Ausschluss. Besonders sensibel reagiert die peer group, wenn jemand sich etwas einbildet, Gefü hlsregunge n zeigt oder durch außergewöhnliche Tugenden oder
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Untugenden auffäll t. (Riesman 1950, S. 85) Sofort greift einer auf einen Standardsatz von Abwertungen (Heulsuse, Mammakind) zurück, und alle anderen stimmen ein. Die Konsequenz ist klar: Der Abgestrafte läuft weg oder die Gruppe lässt ihn nich t mehr mitmachen. Da auch von einem Kind nicht erwart et werden kann, sich in splendid isolation groß zu fühlen, wird es dieses Risiko unter allen Umständen meiden. Es passt sich an, vor allem an die Geschmacksurteile der Gruppe. Wenn im Fernsehen cereals in weißer Schokolade angesagt sind, hat die Mutter keine Chance, ihre gesunde Vollkomschnitte loszuwerden. Die Primärgruppe der peers im Kindesalter übt die flexible Umstellung auf den .Zeitgeist" (und den entsprechenden Konsum!) wirkungsvo ll ein. Was Riesman beschr ieben hat, entspricht unserem Augenschein; systematische Untersuchungen über die peer group von kleinen Kindern gibt es nicht. Das beklagt auch L OTHAR KRAp PMANN, der die Forschungslage Anfan g der 90er Jahre aufgearbeitet hat. Etw as weniger schlecht sieht die empirische Fundienmg in der mittleren Kindheit, also zwisc hen sechs und zwö lf, aus. Die Sozialisation in diesen peer groups ist von Prozessen wechselseitigen Aush andeins geprägt. Zwar bringen die Kinder Vorstellungen und Verhaltensformen mit, die sie in ihrer Familie kennen gelernt haben, aber in der Grupp e sehen sie sich mit Alternativen konfrontiert. Um miteinander auszukommen, müssen sie in eine Verhand lung eintreten, was forta n gelten soll. Das setzt voraus, dass sie sieh in die Perspektive des anderen hineinversetzen können. Wie das erfolgt, hat GEORGE H ERBERT M EAD am Beispiel des game gezeigt: Um erfolgreich zus ammen spielen zu können, muss man die Rollen aller anderen verstehen und ihre Perspektiven mit der eigenen verschränken können. I Das setzt zweitens voraus, dass sich die Kinder im Prinzip als Gleiche betrachten. Nun fallt genervten Erwachsenen nat ürlich zunächst einm al auf, dass sich die Kinder zanken und keineswegs auf der gleichen Ebene miteinander umgehen. Dennoch ist Gleichheit das "regulative Prinzip" der Kindergrup pe: Lother Krappmann: Regulation in der Kindergruppe "Diese Sozialwelt der Kinder bringt ein neues Moment in den Aufbau einer autonomen, sozial handlungsfähigen Persönlichkeitsstruktur. denn der sozialisatorische Beitrag der Kinderinteraktion kann sich nicht auf Erfahrung, Vorbild und Belehrung stützen, sondern in der Kinderwelt Vgl. oben Kap . 5.3 ..Intera ktion - Verschränkung der Perspekti ven" , S. 200.
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konfrontieren sich relativ Gleiche mit ihren Erwartungen und Absichten und stehen vor der Aufgabe, ihre Sichtweisen und Vorhaben wechselseitig zu koordinieren. (...) In ihren Bemühungen um eine gemeinsame Handlungslinie erfahren die Kinder, welche Vorgehensweisen, Behauptungen, Beweise, Regeln in diesem Prozess der Situationsdefinition und Handlungskoordination taugen." (Krappmann 199 1: Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen, S. 356)
Es ist also die strukturierte Situation, die den Kindern ganz neue Leistungen abverlangt und neue Kompetenzen fördert . Erwachsene greifen gerne helfend in diesen Prozess ein, weil sie meinen, sie würden ihrem Kind dann schneller zur Kompetenz personaler Verständigung und Kooperation verhel fen. Doch im Grunde stören sie den Prozess der .KoKonstruktion", wie es j emand einmal genannt hat. (zit. nach Krappmann 1991, S. 357) Mead hat sich einmal gewundert, mit welchem Eifer Kinder über Regeln streiten. (Mead 1934, S. 194) Hier liegt die Begründung: In der Verhandlung von Gleichen erfinden alle gerneinsam etwas und legen fest, woran sie sich schließlich auch alle halten wollen. Deshalb akzepti ert die Kindergruppe auch keinen, der übertrieben streitsüchtig ist oder die anderen beherrschen will. Nicht in diesem Zusammenhang, sondern nur am Rande m öchte ich noch hinz ufügen, dass die Kindergruppe auffällig oft gleichgeschlechtlich organisiert ist. Wenden wir uns jetzt der peer group der Jugen dlichen zu.I Ich habe einga ngs an die Theorie von TALCOTT PARSONS erinnert, der seine Sozialisationstheorie vor dem Hintergrund einer Theorie der sozialen Ordnung entwickelt hat. Was die Gesellschaft nach dieser Theorie vom Individuum mit Fug und Recht erwarten kann, hat Parsons mit der Formulierung der alternative n Wertorientierungen des Handeins (xpattern variables«) definiert.z Vor allem die Orientierung an einem Kollektiv (statt Selbstorientierung) und die Orientierung an universellen, gesellschaftlichen Werten (statt an partikularen, nur für eine einzel ne Gruppe geltenden) sind die Orientierungen, die dem Individuum beim Übergang in die Gesellschaft abverlangt werden. Vor dem Hintergrund Da dieses Thema in der Psychologie und Soziologie der Jugend eine zentrale Rolle spielt, verweise ich auf Abels (1993): Jugend vor der Modeme. Dort werden die wichtigsten psychologischen und soziologischen Theorien des 20. Jahrhunderts behandelt. Eiligen soziologischen Lesern empfehle ich als Kurzfassung Abels (2000): Die »Jugendc der Soziologie. 2 Vgl. oben Kap. 4.3 •Alternative Wertorientierungen des Handelns", S. 153·157.
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dieser Grundannahmen der strukturfunkt ionalistischen Gese llschafts theori e hat der israelische Soziologe SAMUEL N. E ISENSTADT ("'1923) gefragt, welche Funktion der Gruppe der Gleichaltrigen in diesem Zusammenhang zukommt. Diese Frage behandelt er in dem Buch .Prom generation to generaüon'' (1956), das den bezeichnenden Untertitel trägt: .Age groups and social structure". Eisenstadt sieht wie Parsons den Übergang von der Familie zur Gesellschaft als problematisch an: "Dieser Überga ng verlangt, dass das Individuum nach unive rsalistische n Kriterien handeln lernt, das heißt die Auswahl seiner Objekte, das Verhalten und Verhaltenserwartungen ihnen gegenübe r nach generalisierten, universalistischen Standards auszuric hten, ohne Bezug auf seine partikularistischen Eigenheiten." (Eisenstadt 1956, S. 39) Diese neue Art der Interaktion mit anderen Individuen erlernt und erprobt das Kind in der peer group. Aus der Sicht der Gese llschaft erfilllt die peer group in allen Gesellschaften die Aufgabe der Sozialisation, indem sie auf die sozialen Rollen in der Gese llschaft vorbereitet. Die Sozialisation in der peer group ist allerdings durchaus widersprüch lich, denn "teilwe ise versuchen diese Gruppen zur Abwehr gegen die erwarteten zukün ftigen Rollen andere Formen von Beziehungen aufrechtzue rhalten als die für die Zukunft erwarte ten. And ererseits existiere n jedoch innerhalb dieser Gruppen bereits - latent oder manifest - Orientie rungen auf diese zukün ftigen Roll en hin. (...) Diese beiden Attitüden - Abwehr gegen zukünftige Rollen und die Orientierung an ihnen - finden sich in allen solchen Altersgruppen und bilden einige ihrer Hauptkomponenten." (Eisenstadt 1956, S. 4 1)Aus dieser Perspektive sind peer gro ups also funktional und funktional notw endig für die Gese llschaft und tragen zur Kontinuität des sozialen Systems bei. Das war die Perspektive der Gesellschaft. Wie sieht es aus der Sicht des Individuums aus? Es liegt auf der Hand, dass der Übergang von emotionalen Beziehun gsfonnen, die in der Fam ilie galten, zu sachlichen Formen des Rollenhandelns im Sozialsystem auch emotional belastet. Das Kind, noch mehr aber der Heranwachsende, muss sich beim Erlernen neuer Rollen, die in der größe ren Gesellschaft gelten, in gewisser Weise von den Mustern, die in der Fami lie angemessen sind, distanzieren. Der Übergang von partikularistischen zu universalistisehen Beziehungen gefährdet die emotionale Sicherheit. Es müssen neue Dispositionen entwickelt werden, die auch den emotionalen Be-
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dürfnissen gerec ht werde n. Genau das leistet die peer group: " Unter allen Arte n von Beziehungen genügen wahrscheinlic h nur die mit Altersgenossen, mit Mitgliedern alters homo gener Grupp en, dies en Typen von Bedürfnisdisposi tionen. Diese Beziehungen sind (...) zugesc hrieben, während ihre Diffusität durch die Diffusität von Altersdefinitionen »garantiert« wird. Sie haben auch eine inhärente Te ndenz zu r Solidarität (a) wegen einer gemeinsamen Definition von Lebensra um und Schick sal und (b) wegen gemeinsamer emotiona ler Span nungen und Erfahrungen wäh rend der Zeit des Übergangs und emotionaler Belastungen." (Eisenstadt 1956, S. 40) >- Aus der Sic ht des Individuums hat die peer group die Funktion , den Übergang von emotionalen zu sachlichen Bezieh ungen zu erleichtern. Weniger soz iologisc h kann man aus der Sicht der Jugendlichen auch sagen: Geteiltes Leid ist halbes Leid . >- Aus der Sicht der Gesell schaft ist die Funktion der peer group, die Motiv ation zur Zustimmu ng zu den Rollen der Erwachsenengesellschaft herzustellen. Dafür gew ährt sie einen Übergangsraum, in dem emotionale Bedürfnisse noch befriedigt werden und neue, sachliche Beziehu ngen ohne direkte negative Sanktion gelernt werden können . Diese Mischu ng aus emotiona ler Zuneigung und sachlicher Distanz ist auch noch in einer anderen Hinsicht förderli ch: Die peer group im Jugendalter ist praktisch der erste soziale Raum, in dem der soziale Status des Individuums nicht mehr zugesch rieben ist, sondern von der persönlichen Leistung abhängt. Der Jugend liche bring t bei seiner Annähe rung an die Clique im Grunde nur sein Alter mit; wie er letztlich angesehen wird und wo man ihn in der Strukt ur der Gruppe plaziert, das hängt ganz wesentlich von seinen Anstrengungen ab. Er muss sich seinen Stat us hart erarbeiten . Zwar bringt die Gruppe de r Gleichaltrigen einiges Verständnis mit, weil sich alle in der gleichen Phase e motionaler, sexueller und sozialer Entwicklung befinden, auf der anderen Seite ist die Gruppe nicht zimperlich mit der Definition von gut und böse, richtig und falsch. Der soziale Stat us verlan gt, sich ständig de r Zustimmu ng durch die andere n zu versichern l
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In diese Richtung zielt auch die Theorie von ERIK H. E RIKSON. der die Funktio n der peer group im Juge ndalter darin sieht, die Identität des Jugendlichen zu stützen. Das werde ich noch ausführlic h behandeln. I Ich will nur kurz vorgrei fen. Der Jugendliche ist nicht Fisch und nicht Fleisch und so empfindet er auch. Er will ständig herausfinden, wer er ist und wer er nicht ist, wie er aussieht und wie ihn die anderen ansehen. (vgl. Erikso n 195Gb, S. 106) Unsicher in seinem Selbstgefühl sucht er nach Anerkennung der ganze n Person . Da er dabei ist, sich neu zu positionieren, löst er sich von den Eltern ab, deren Urteil von heute auf morgen nichts mehr gilt. Das geschieht oft in großen Gesten und in dramatischen Ause inandersetzungen, was aber nicht darüber hinwe gtäuschen sollte, dass die Jugendlichen diese Ablösung selbst auch als Risiko erleben. In dieser Phase ist die Gruppe der Gleichaltrigen besonders wichtig. Doch alle sind sie in der gleichen Situatio n, soda ss sich manches subjektive Problem schon durch die Erfahrun g, dass alle anderen genau die gleichen Problem e (meist mit den Elte rn) haben, aufschaukelt. Im Zweifel, wer man wirklich ist und wie es weitergehe n soll, entscheidet man sich für eine bestimmte Meinung oder Verhalt cnsfonn , die man heute total vertritt und vielleicht morgen schon wieder vergessen hat. Dahinter steckt der Vers uch, eine einmal entworfene Identität zusammenzuhalten. Die anderen in der Grup pe bilden dafür gewissermaßen den Chor, der diesen Entwu rf absegnet und stützt. Das erfolgt in der konunentierenden Form von Kritik ("F ind ich doofl" ) und Lob ("E cht cool!" ). Die peer group ist in diesem Alter die bei weitem wichtigste Bezugsgruppe. Gemeinsam versichern sich die Jugendlichen ihrer Identitätsentwürfe und erwarten, dass sich alle an die Ideale halten, die dahinter stehen. Deshalb ist die Treue in dieser Phase auch so wichtig. (vgl. Erikson 1961, S. 108) Es ist natürlich auch die Treue im emotionalen Sinne oder gar romantischen Sinne . Genauso wichtig ist aber die durch Reden und Handeln zu belegende Treue, die fest zu gemeinsamen Weltentwü rfen steht. Das erklärt auch, warum Jugend liche oft totalitären Ideen anhängen: Sie erklären alles, grenzen richtig und falsch klar ab und sie geben gemeinsamem Handeln die Richtun g vor. Das hat zur Folge, das s mit dem erwachenden .Wir-Gefühl'' in der Gruppe fast immer eine Abgrenzung zu "den ande1 Vgl. Kap. 8.6 ..Identität im Lebenszyklus" , S. 369ff..
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ren" verbunden ist! Die Solidarität, die sie sich gegenseitig geben , hat eine gefährliche Rückseite: die Verachtung aller ander en. Dabei ist die harmlo seste Form der Trennung zwischen »in group« und »o ut group « ein bestimmtes modisches Out fit. Nach der Theorie von Erikson findet der Jugendlich e seine soziale Identität ganz wesentlich in der peer group. Darüber besteht in der Soziologie Konsens. Strittig ist aber, ob es eine soziale Identität ist, die auch der Gesellschaft nützt. Diese Frage hat in der Diskussion über die Funktion der peer group von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt, und man che Soziologen haben die peer group auch als Raum betrachtet, in den Jugendliche ausweichen oder in dem sie gar den Widerstand gegen diese Gesellschaft proben. In vielen Jugenduntersuchungen spielte diese Beflirchtun g eine zentrale Rolle und manchen Eltern ist auch heute noch der Einnuss der Clique nicht ganz geheu er. Dass die Gruppe der Gleichaltrigen abweich endes Verhalten fördern kann , ist auch gar nicht zu leugnen. Doch auch hier mus s man wieder sagen, dass Individuen und soziale Gebild e nicht im gesellschaftsfreien Raum existieren. Wo die peer group einen anderen Zugang zu einer anderen gesellschaftl ichen Ordnung vermittelt, gibt es dafür Gründe. Sie liegen sicher oft genug auf der Seite der Individuen, aber genau so oft sicher auch auf der Seite der Gesellschaft. Von den vielen, höchst spannenden einschlägige n Studien zu diesem Problem will ich kurz die klassische Studie "The gang" von FREDERIC M. THRASHER (1927) ansprechen. Er hat in Chicago mehr als tausend gangs, also Jugendbanden, besucht, befragt und auf andere Weise beobachtet und ist zu dem Schluss gekommen, dass die gang die Funkti on hat, dem Jugend lichen einen soz ialen Status zu verschaffen, den er auf andere Weise - z. B. mit legalen Mitteln - nicht erreichen kann. Da es sich um Jugendl iche aus Einwandererfam ilien handelte, standen sie zwischen den Werten, die ihre Fami lie noch verkörperte, und den Werten und Nonnen der amerikani schen Gesellschaft , die sich selbst in heftigem Wand el befand. In diesem Widerspruch war die gang der Ort, wo für alle Beteiligten die Dinge draußen richtig "definiert" wurden, wo vor allem aber eine spezifische Moral der Gruppe selbst festgelegt wurde. (vgl. Thrasher 1927a, S. 930) In jeder gang gibt es eine große Übereinstimmung, was Geflihle, Handlungsmuster und Einstellungen angeht. Es herrscht so etwas wie ein »esprit de corps«, in dem sich alle eins fühlen und dem sie sich be-
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dingungslos unterwerfen. Jede gang weist eine bestimmte Handlun gsstruktur auf, in der jedes Mitglied die Nisc he besetzt, die die Gruppe ihm bestimmt hat. (Thrasher 1927b, S. 40) Es ist wichtig, in der Hierarchie der Gruppe einen genau definierten Status zu erreichen. Thrasher erklärt es mit der These von WILLIAM I. THOMAS, dass es zu den Grundbedürfni ssen des Menschen gehört, wahrgenommen zu werden. Deshalb ist ,jedes Anseh en in der Gruppe", auch wenn es gerin g ist, "b esse r als gar keines, und es besteht imme r die Möglichk eit, seinen
Status zu verbessern. Für den Jungen bedeutet die Teilnahme an den Aktivitäten der gang alles. Sie bestimmt nicht nur, wo er in der einzigen Gesellsc haft, um die es ihm überhaupt geht, sozial steht, sondern sie ist auch die Grundlage seiner Selbsteinschätzung." (5. 41f.) Was Riesman später generell über die Bedeu tung der peer group gesagt hat, trifft für die gang in besonderer Weise zu: "Die Gruppe der Altersgenossen ist das Maß aller Dinge. Das Individuum hat weni g Schutzw älle, die die Gruppe nicht niederreißen könnte." (Riesman 1950, S. 95) Thrasher erklärt diese Bedeutun g so: Der Junge lebt ganz in der Gegenwart , und in der nimmt er sich als Teil der Bande wahr . Die gang ist seine soz iale Welt, alles andere ist nachrangig bis völlig unwichtig. Es gibt aber noch eine zwe ite Erklärung, die in der sozialen Kontrolle in der Gruppe besteht. Wer sich falsch verhält, wird verprügelt ode r mit Worten höhnisch fertig gemacht; wer im Ge ist der gang handelt, kann mit Applaus rechn en. Interessant scheint mir aber ein anderer, subtilerer Mecha nismus zu sein, den Thrasher Rapport nennt. Darun ter versteht er die ständige symbolische Demonstration der Zugehörigkei t z. 8. in Fonn der Kleidung, der Sprache ode r auch bestimmter Taten . (vgl. Thrasher 1927a, S. 933) Eine andere Fonn des Rapp orts scheint mir aber genauso wichtig, die eher beiläufige Abfrage, was man so getan und erlebt hat. So fangen die allermeisten Begrüßun gen zwisc hen Jugendliche n an. Es sind unb ewusste Priifun gen der Zusammengehörigkeit. Hier schließt sich dann der Kreis: Der Junge ist mit der Aufnahme in die gang aus der Gesellschaft ausgetreten; mit der symbolischen Demonstra tion, dass er ganz zu der gang steht, zeigt er auch, dass er in die andere Gesellschaft nicht eintreten will . Die Kontrolle durch die Gruppe stellt sicher, dass das auch nicht passiert .
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Wir und andere: Ethnozentrismus und Anßenseiter
Ein Bewusstsein von uns selbst bekommen wir nur, indem wir uns aus der Sicht der anderen sehen . Mit Blick auf das Verhältnis zwischen uns und den anderen will ich diese zutreffende These von GEORGE HERSERT MEADI schon vorab etwas einschränken: Selbstbewusstsein aus der Sicht der anderen heißt keineswegs, dass man jedes Urteil eines jeden anderen akzeptiert, im Gegenteil: Ganz vielen bestreitet man unbewusst oder bewusst, dass sie eine solche positive Funktion ftir unser Selbstbewusstsein überhaupt haben können. Im Klartext: Wir unterscheiden genau zwischen denen, die "s o sind, wie wir", und solchen, die "eben anders" sind. Mit den ersten identifizieren wir uns, die zweiten lehnen wir ab oder halten sie zumindest nicht filr gleichwertig. Das ist keine Frage der nat ürlichen Unterschiede, sondern Produkt der gesellschaftlichen Einschätz ungen, die wir lernen und an denen wir ständig mitwirken. Diese Einschätzungen entstehen vor allem in Gruppen , denen wir angehören oder denen wir uns verbunden fühle n, und dort werden sie unmerklich auch bestärkt. Der türkis ch-amerikanische Sozialpsychologe MUZAFER SHERIF hat Anfang der 50er Jahre in den USA ein berühmtes Experiment- durchgeführt , bei dem herau skam, dass Einstellungen in erheblichem Maße mit der Zugehörigkei t zu einer Gruppe variieren. Sherif lud 24 Jungen im Alter von 12 Jahren, die sich bis dahin nicht gekannt hatten und alle einen ähnlichen sozialen und Bildungshintergrund aufwiesen, in ein Ferien lager ein: • In der ersten Phase kam es zu spontanen Zusamm enschlüssen, Freundschaften und Abneigunge n. Diese Beziehungen wurden in einem soziometrischen Tests festgestellt. • In der zweiten Phase teilte der Versuchsleiter die Jungen in zwei Gruppen auf, und zwar brachte er mög lichst Jungen zusammen, die - nach dem soziometrischen Test - einander nicht besonders 1 VgJ. Kap. 8.2 "Identität - sich mit den Augen des anderen sehen", S. 335f.. 2 Eine gute Darstellung des Experiments findet sich bei Hofstätter 1954, S. 309f., auf den ich mich auch beziehe. 3 In solchen Tests, die gerne in der Schule, aber auch in Arbeitsteams oder in Gruppentherapien durchgeführt werden, geht es z. B. um Fragen wie ,,Neben wem möchtest Du gerne sitzen?", ,,M:it wem würdest Du gerne ein paar Tage zusammen Urlaub machen?", " Wer, glaubst Du, hätte Verständnis für dich, wenn du ihn fragen würdest? oder " Wer trägt viel zu einem guten Arbeitsklima bei?".
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gut leiden konnten. Das Sherif man unter der Annahme, dass Abneigung eine schwierige Voraussetzung für eine Gruppenbildung ist. Jede der beiden neugebildeten Gruppen lebte in den nächsten fünf Tagen ruf sich. Schon in dieser kurzen Zeit entwickelte sich eine deutliche Struktur, d. h. es gab Führer und Mitläufer und andere Rollen. Jede Gruppe entwickelte einen esprit de corps, d. h. ein Wir-Geruht. Der soziometrische Test ergab, dass nunmehr 90% der positiven Wahlen auf Mitglieder der eigenen Gruppe entfielen. In der dritten Phase wurden die beiden Gruppen wiederholt in Situationen gebracht, in denen sie als Konkurrenten gegeneinander antraten. Dabei zeigten sich ein starker Gruppenzusammenhalt und eine auffällige Feindseligkeit gegen die andere Gruppe. In der vierten Phase versuchten die Leiter des Experiments die beiden Gruppen wieder zu reintegrieren, indem sie eine Notsituation konstruierten, die beide betraf. Die Wasserzufuhr zum Ferienlager ging kaputt und konnte nur repariert werden, indem alle anpackten. Außerdem setzten sie einen Wettkarnpf mit einer Gruppe außerhalb des Lagers an. Nach beiden Aktionen zeigte der soziometrische Test, dass die frühere Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdgruppe fast völlig verschwunden war.
An diesem Experiment wird deutlich, dass unsere Einstellung zu anderen ganz wesentlich von der Gruppe abhängt, der wir uns selbst zurechnen. Dies war schon WILLIAM G. SUMNER aufgefallen, der in seinem Buch über ,,Folkways" (1906) festgestellt hatte, dass "durch Gewohnheit und Brauch (...) auf jedes Individuum ein starker Druck ausgeübt" wird. (Sumner 1906, sec. 2)1 Diese "soziale Kraft" geht vor allem von der Gruppe aus, in der wir leben. Auffällig ist, dass die Anpassung an die Gruppe fast immer mit einer Ausgrenzung anderer Gruppen einhergeht. Die Individuen unterscheiden genau zwischen " ihrer" Gruppe und der der "anderen" . Sumner hat die eigene Gruppe als »in group« und die Fremdgruppe als »out group« bezeichnet. (sec. I3 f.) Die Eigengruppe wird aufgewertet, die Fremdgruppe abgewertet. Diese meist unbewusste Einstellung hat er Ethnozen trismus genannt: Die eigene Gruppe gilt als der Nabel der Welt und als Maßstab des richtigen Verhaltens. Man " rühmt sich seiner Überlegenheit, übertreibt 1 Vgl. Band 1, Kap. 4.2 .Folkways, Mores, Institutions", S. 146.
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die eigenen Vorzüge und blickt mit Verachtung auf Außenstehende herab." (Sumner 1906, sec. 15) Solche ethnozentrischen Vorstellungen finden wir in vielen drastisehen Bezeichnungen, die die Völker füreinander haben. Das Mindeste ist, sie als »Barbaren« zu bezeichnen, wie die Griechen den Rest der Welt bezeichneten, der eben keine richtige Sprache hatte, sondern nur »brabbelte«. Ethnozentrismus zeigt sich vor allem in archaischen Schöpfungsmythen. Der Kulturanthropologe MELVILLE J. HERSKOVITS hat von einem schönen Mythos gehört, mit dem sich angeblich! die Cherokee-Indianer, die ursprünglich in Tennessee wohnten, ihre »natürliche« Überlegenheit erklären. Er geht so: Der Schöpfer der Welt krönte sein Werk, indem er den Menschen schuf. Das tat er, indem er einen Teig anrührte und einen Backofen anheizte. Dann formte er drei menschliche Figuren und schob sie in den Ofen. Ungeduldig, wie er war, schaute er nach kurzer Zeit nach, was aus den Figuren geworden war. Als er die erste herauszog, war er ganz enttäuscht, denn sie war noch nicht ganz gar und ziemlich bleich. Doch sie war nun einmal so, wie sie war, und so entstanden die Bleichgesichter. Wieder nach einer Weile zog er die zweite Figur heraus, und die war wunderschön. Sie hatte eine kräftige braune Farbe, und der Schöpfer konnte sich gar nicht satt genug sehen an ihr. Darüber vergaß er die dritte Figur. Als er sich mit Schrecken daran erinnerte, war sie schon ganz verkohlt. (vgl. Herskovits 1947, S. 68f.) Von wem die Cherokee sich selbst ableiten, bedarf keiner Frage. SJGMUND FREUD hat einige weniger krasse Differenzierungen vor Augen : ,,Jedesmal, wenn sich zwei Familien dureh Ehesch ließung verbinden, hält sich jede von ihnen für die bessere oder vornehmere auf Kosten der anderen. Von zwei benachbarten Städten wird jede zur Ich formuliere diesmal bewusst vorsichtig, um vor einem typischen Anfängerfehler zu warnen, der mir passiert ist. Diesen Mythos habe ich schon am Anfang meines Studiums bei dem auch in der amerikanischen Kulturanthropologie bewanderten Nestor der deutschen Sozialpsychologie Peter R. Hofstätter (1959, S. 381f.) gelesen und ohne Bedenken immer wieder referiert. Als dann nach Erscheinen der Einführung eine freundliche Kollegin Zweifel anmeldete, habe ich das Buch von Herskovits aufgetrieben und nachgeschaut. Und siehe da, es waren nicht die Irokesen, sondern die Cherokee. Außerdem hatte Herskovits angemerkt, dass ein be1giseher Kulturanthropologe ihm diesen Mythos erzählt habe. Ich verlasse mich j etzt auf lI erskovits, und wenn es diesen Mythos doch nicht geben sollte, ist er zumindest gut erfunden.
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missgünstigen Konkurrentin der anderen; jedes Kant önli sieht geringschätzig auf das andere herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen einander ab." (Freud 1921, S. 95) Später hat Freud diesem letzteren Phänomen, "dass gerade benachbarte und einander auch sonst naheste-
hende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so
Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und Schotten", den Namen »Narzissmus der kleinen Differenzen« gegeben. (Freud 1930, S. 104) Er sieht " darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsne igung, durch die den Mitgliedern der Gemei nschaft das Zusammenhalten erleichtert wird." Und er fügt sarkas tisch hinzu: "Das übera llhin verspreng te Volk der Jud en hat sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben," (ebd .) Das Bewusstsein "W ir" scheint immer mit dem Bewusstsein einherzugehen, dass es " Die" gibt, Fremde, die nicht dazugehören und anders sind. "Wi r" und " Die" - darin schwingt immer das Ge fühl der natürlichen Über legenheit mit. In einer Studie über Nachbarschaftsbeziehungen in einer .Winston Parva" genannten kleinen englischen Voro rtgemeinde haben NORBERT EUAS und JOHN L. SCOTSON geze igt, dass dieser Mechanismus der Aufwertung der eige nen und Abwe rtung der anderen Gruppe sich in einem Prozess entwickelt. Sie untersuchten die Beziehung en zwisc hen Ansässigen und neu Zugezogenen . Dabei stellten sie fest, " dass die mächtigere Gruppe sich selbst als die »besseren« Menschen ansi eht, ausgestattet mit einem Gruppencharisma, einem spez ifischen Wert, an dem ihre sämtlichen Mitglieder teilhaben und der den anderen abgeht. Und mehr noch: In all diesen Fällen können die Machtstärkeren die Machtschwächeren selbst immer wieder zu der Überz eugung bri ngen, dass ihnen die Begnadung fehle - dass sie schimpfliche, minderwe rt ige Mensche n seien." (Elias u. Scotson 1965, S. 8) Dazu muss man wisse n, "es gab zwisc hen ihnen keine Differenzen der Natio nalität, der ethnischen Herkunft, der »Hautfa rbe« oder »Rasse«; ebenso wenig unterschiede n sie sich in Beru f, Einkommenshöhe oder Bildung - mit einem Wort, in ihrer sozialen Klasse. Beide Wohngeb iete waren Arb eiterviertel." (S. 10) Die einzige Differenz war die Wohn dauer, in der Tat eine kleine Differenz, um es mit Freud zu sagen.
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Die Frage ist, warum dieser kleine Unterschied zu einem solchen .Jvlachtdifferential'' zwischen den beiden Gruppe führen konnte. Elias und Scotson erklären es so: Die Machtüberlegenheit "beruhte auf dem starken Zusammenhalt zwischen Familien, die einander seit zwei oder drei Generationen kannten - im Gegensatz zu den Zuwanderern, die nicht nur für die Alteingesessenen, sondern auch füreinander Fremde waren." (Elias u. Scotson 1965, S. 11 ) Die Einheimischen hatten ohnehin schon alle wichtigen sozialen Positionen besetzt, aber sie wussten auch, was man gemeinsam tun musste, um die anderen erst gar nicht zum Zuge kommen zu lassen! Eine Strategie, die Macht zu erhalten, war die Stigmatisierung der Auß enseiter, was in einem latenten oder offenen Sprachchauvinismus zum Ausdruck kam. An n äherungsversuche der " Außenseiter" wurden abgewehrt, was deren Aggressivität und demonstrative Verletzung der Normen der Etablierten provozierte. Das wiederum wurde von den Etablierten als Beweis für die Minderwertigkeit gewertet.' Am Beispiel Winston Parva wird deutlich, dass "Außenseiter" zu sein, nicht etwas ist, was in der Natur der Sache, z. B. in den Genen der Betroffenen, liegt, sondern was von einer Gruppe so bezeichnet wird. Wenn die Etablierten von sich annehmen, dass sie sich richtig verhalten, weil sie auch die richtigen Werte haben, dann kann man davon ausgehen, dass die " Außenseiter" das von sich genauso annehmen. Nun könnte man sagen "s o what?", mag doch jeder sich für das halten, was er will. Doch Soziologen fragen nicht nur, wie etwas kommt, sondern auch, was daraus folgt. Dann sieht man schnell, dass Gruppen unterschiedliche Macht haben, jemanden als Außenseiter zu definieren, dass es bestimmte Gruppen gibt, die eher als Außenseiter etikettiert werden als andere, und dass durch die Definition des " abweichenden Verhaltens" ein Prozess der self-fulfilling prophecy in Gang gesetzt wird, aus dem die Betroffenen nur noch schwer herauskommen.
Wem Winston Parva zu weit weg liegt, beobachte nur einmal Kontakte zwischen deutschen Mädchen und türkischen Jungen. Man kann aber auch Bourdieus Überlegungen über die ,,feinen Unterschiede" (vgl. unten Kap. 7.4) weiterdenken, indem man sich z. B. vorstellt, wie wohl jemand reagiert, der sich mühsam nach oben gearbeitet hat und schon zum dritten Mal nicht zum Presseball eingeladen wurde.
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Was ich hier gerade angesprochen habe , ist die These, die der amerikanische Soziologe HOWARD S. BECKER in seinem Buch .A ußenseiter' (I963) vertritt. Danach stellen alle gesellschaftlichen Gruppen Verhaltensrege ln auf und versuchen sie durchzusetze n. Diese Regeln "definieren Situationen und die ihnen angemessenen Verhaltensweisen, indem sie einige Handlungen als »richtig« bezeichnen, andere als »falsch« verbieten." (Becker 1963, S. 1) Gruppen, die sich im Einklan g mit den herrschenden Werten wähnen , haben größ ere Macht, ihre Definitionen durchzusetzen. Das sind, so die Annahme Beck ers, in der Regel die Grupp en, die sich zur breiten Mittelsc hicht rechne n. Umgekehrt gibt es Person en und Grupp en, die eher als andere als abweichend und somit Außenseiter etikettiert werden und darunter auch zu leiden haben. So zeigen Studien über jugendliche Delin quenz, dass schwarze Jugendliche eher von der Polizei aufgegriffen werden als weiße, eher zur Wache gebracht und häufiger verurteilt werden. Dahinter kann man vermuten, dass eine in-group Abweichung eher bei der out-group wahrn immt, sie dort weniger toleriert und am entschieden sten sanktioniert. Diesen Mechani sm us der Definition eines "typi schen" , erwarteten Verhaltens hat man als Etikettierung oder labeling approach bezeichnet. Später hat Becker der »Btikettierungstheorie« einen neuen Namen gegeben, indem er von einer .Jnteraktionstheorie abweichenden Verhaltens" (Becker 1971, S. 163) sprach. Damit wo llte er sagen, dass die Defini tionen und Reaktionen wechselseitig erfo lgen und weitergehen. Die höch st farbige Arb eit von Becker hat noch etwas gezeigt, nämlich, dass es soz usagen Karrieren abweichenden Verhaltens gibt und dass das abweichende Verhalten entscheidend von der Kultur der abweichenden Gruppe geprägt wird. Mit dem Ersteren ist gemeint, dass oft eine Gruppe im Hintergrund steht, aus der heraus jemand sich von der gese llschaftlichen Normalität entfernt. Sie stützt und ermutigt ihn. Daraus folgt das Zweite: Die Gruppe liefert ihm auch die Ideologie zur Begründung seines Hand eins. (Becker 1963, S. 35)
6
Gruppe
6.6
277
Bezugsgruppe und sozial e Beeinflussung in der Gruppe
Der Begriff der Bezugsgropp e (sreference group«) kam Anfang der 40er Jahre zuerst in der Psychologie! auf und meinte die Selbstverortung von Personen in einem sozialen Bez ugssystem . (Hyrna n 1942) In der Soziologie wurde er dann besonders von RORERT K. MERTON aufgegriffen. (Merto n 1957d) Wie ich obenz ausgeführt habe, versteht er unter »reference groups« Gruppen, deren Zustimmung oder Ablehnung dem Indi viduum sehr wichtig sind. Dabei denkt Merton nicht nur an eine konkr ete Gruppe, an deren Erwartungen und Einstellungen sich das Individuum in seinem Handeln und Denken orientiert, sondern auch an die Schicht oder die Subkultur und auch einen Bet rieb oder eine Organisat ion, mit denen es sich identifiziert. Ich will mich hier aber auf eine konkrete Gruppe in sozialen Gebilden konzentrieren. Bevor ich das tue, will ich kurz skizzieren, wo ich den theoret ischen Hintergrund für die Theori e der Bezugsgruppe sehe. Da ist sicher einmal das »law of fashion«, mit dem JOHN Lo c xs, der englische Staatsphilosoph des 17. Jahrhunderts, unser Handeln erklärt hat.ä Wir denken und handeln so, wie es Mode ist, weil wir so die größte Achtung durch die anderen erfahren. Diesem .Jaw of opinion or reputation" bzw. .Jaw of fashion" gehorchen wir mehr als dem göttlichen oder staatlichen Gesetz. (Locke 1690, 11, Kap. 28, §10 und §12) Was die anderen von uns sagen, ist uns wichtig ! Und es sind nicht die Obrigkeit oder ganz entfernte Andere, die wir vor Augen haben, sondern die, mit denen wir tagtäglich umgehen. Die Th eorie der Bezugsgruppe ist sicher auch von der These des schottischen Moralphil osophen ADAM SMITH beeinflusst, dass " die fort gesetzten Beobachtungen, die wir über das Verhalten anderer Me nschen machen, (...) uns unm erklich dazu (bringen), dass wir uns gewisse allgemeine Regeln darüber bilden, was zu tun oder zu meiden schicklich und angemessen ist." (Smith 1759, S. 238) Wir lernen also durch Beobachtung, wie wir uns richtig verha lten so llen. Auch hier kann man da von ausgehen, dass wir gerade die beobachten, mit denen I 2 3
Z ur Gesc h ichte des nach wie vor rech t di ffuse n Begriffs vgl. Gu kenbiehl 1980. Vgl. Kap. 3.2 ,,Der Rollen-Set", S. 114. Vg l. Ba nd 1, Kap. 3.3 "Schottische M oralphilosop hie: Erfahrungen u nd Gewohnheiten " und unten. S. 34 5, wo ich das »[a w of fashione mi t Riesmaus Th ese von der Auß en leitung zu samm enbringe .
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6 Gruppe
wir konkret zu tun haben. Sie sind es, von denen wir unsere Vergleichsmaßstäbe des "Sc hicklichen und Angem essene n" nehmen. Schließlich denk e ich an die The se von EMILE DURKHEJM, dass es feste Vergleichsmaß stäbe geben mu ss, damit das Individuum überhaupt handeln und die Gesellschaft sich auf das Individuum verlassen kann. Wo es diese Vergleichsmaßstäbe nicht gibt, kommt es zu einem Zustand "gestörter Ordnung oder Anom ie". (Durkheim 1897, S. 289) Vergleichsmaßstäbe ergeben sich zwar aus den Werten und Nonnen der gan zen Gese llsch aft , abe r konkret werd en sie erst an dem Platz, den der Einzelne in der sozialen Hierarchie einnimmt. (S. 283) Für diesen Ausschni tt! gibt d ie Gesellsch aft , ich würde jetzt in mod erner Term inol ogie einschrä nkend sagen: geben die Bezugsgruppen, die Maßstäbe vor. Sie existieren als Kollektivbewusstsein eines Teils der Gesellschaft . Durkheim drückt es so aus: Emile Durkheim: Gefühl für ein mittleres Wohlbefind en "U nd tatsäch lich gibt es in jedem Augen blick der Gesch ichte im sittliche n Bewusstsein der Gesellschaften ein vages Gefühl dafür, was die verschiedenen soz ialen Dienste wert sind, und für ihre j ewe ilige entsprechen de Belohnung und dam it für das Maß an Wohlbe finde n, das als Mittelwert den Arbeitend en jed es Berufes zukommt. In der öffentlichen Me inun g sind die verschieden en Funkt ionen in ein e Art Hierarchie einget eilt, und jedem Einzelnen wird e in besti mmtes Maß an Wohler gehen zuer kannt , je nachdem, welchen Platz er innerhalb der Hierarchie einnimm t. Nach den geltenden Vorstell ungen gibt es zum Beispiel für den Arbeiter eine ganz best immte Lebensführung , die als obere Grenze dessen angesehen wird, was er sich vorstellen darf, wenn er versucht, sich sein Leben besser einzurichten, und eine untere Gren ze, die er. ohne in der allgemeinen Achtung tief zu sinken. schwerli ch unte rschre iten darf. Be ide Grenzen sind verschieden für de n Arbeiter in der Stadt ode r auf dem Land, für den Hausangestellten oder für den Tagelöhner. für den Büroangestellten oder für den Beamten, usw. Aus diesen Gründen wirft man es dem Reichen vor. wenn er zu ärml ic h lebt, aber auch wenn er übennäßigen Luxus treibt." (Durkhe im 1897; Der Selbs tmord. S. 283)
Lesen Sie doch noch einmal nach. was Darkheim eingangs (S. 247f.) über die Herstellung moralischer Gefühle in der Gruppe und die Funktion der Berufsgruppen gesagt hat.
6 Gru ppe
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Natürlich kann sich der Mensch mit allen möglichen vergleichen und seine Ziele ins Unendliche setzen, aber wirklich wohlfühlen karm er sich nach der Ansicht Durkheims nur dann, " wenn seine Bedü rfnisse (...) mit den ihm zur Verftigun g stehenden Mitteln einigermaßen in Einklang stehen." (Durkheim 1897, S. 279) Jetzt zurück zu der angekündigten Orienti erung des Individu ums an konkreten Erwartu ngen einer konkreten Bezugsgru ppe bzw. zur unbewussten Unterordnung un ter ihren »es prit de corps« . Dazu will ich zu erst auf eine der größten qual itati ven Studien, die j e du rchgeführt worden sind, zu sprechen kom men , die sog. Hawthorne-Studie.t Auf Bitten des Managem ents der Western Electric Co mpany in Hawthorne bei Chicago, das mit der Produktivität nicht zufrieden war, macht e sich der Industriepsychologe ELTON MAYO vo n der Harvard Business School daran, die Sache wissenscha ftlich zu untersuchen. Un tcr seiner Leitung führten FRITZ J. ROETHLISBERGER und WILLIAM J . D ICKSON zwischen 1927 und 1933 verschied ene Experimen te in dem Betrie b durch . Aus den Forschungsergebnissen will ich nur eines herausgreifen, das die Bedeutung der Gruppe belegt . Das M anagement ging davon aus, dass vor allem ein höh erer Ak kordlohn die Produktivität steige rn würde. Dem wollten die Forscher auch nachgehen , vennuteten aber, dass auch Verbesserungen der kc nkreten Arb eitsbedingungen eine Rolle spielen würden. In der ersten Phase führten die Sozialforscher standardis ierte Be fragungen durch und expe rime ntierten mit bestimmten Verände rungen der Arbcitsbcdingu ngen.z Da die Forsch ungsergebnisse widersprüchlich od er wenig ergiebig waren , ging man da zu über, das Arbeitsverhalten genau zu beobachten . Vo r allem aber führte ma n Intervi ews d urch, in denen keine direkt en Fragen ges te llt wu rden und die Arbeiter einfach erzählten. Die Intervi ews wurden möglichst genau protokolliert. ö Diese offenen Interviews brachten nun das ilberraschende Erge bnis, dass für die Arbeit szufriedenhe it und die Bereitschaft, mehr zu leisten, nicht das Geld, sondem die sozialen Beziehungen {ohuman relations«) die entscheidende Rolle spielten. M
M
Eine knappe methodologische Zusammenfassung findet sich bei von Rosenstiel (199 1), eine ausführliche inhaltliche in Homans (1950). 2 Vgl. Band I, Kap. 5.6 " Human relations - der Hawthome-Effekr", S. 19 1f.. 3 Interessanterweise war einer der beteiligten Forscher CARL ROGERS, der später in der Psychologie die nondirektive Gesprächstherapie entwickelt hat.
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6 Gruppe
So fanden die Sozialforscher heraus, dass es einen stillschwe igenden Gruppenkonsens gab, was z. B. als angemessenes Arbeitstempo galt. Wer zu schnell arbeitete, wurde mit Sticheleien zurückgepfiffen. und wer zu langsam war, wurde angespornt oder unterstützt. Auch die Aussicht auf einen höheren Akkordlohn änderte an diesem informellen Konsens nichts. "Gruppensolidarität und Gru ppenzusammenha lt ware n ihnen wichtiger als individ uelle Leistung." (Lindgren 1969, S. 422) Ein zweites Ergebnis war ebenfalls überraschend. Die Arbeiter schienen besonders motiviert, wenn sie das Gefühl hatten, beachtet zu werden. So führte die Beobachtung du rch die Forscher zu einer deutlic hen Steigeru ng der Produktivität. Drittens fanden die Forscher heraus, dass die Wege der Kommunikation, was Anleitung, Kontrolle oder Klagen anging, andere als die offiziellen waren. Neben der formellen Organisation des Betriebes gab es offensichtlich eine informelle, die wesentlich effektiver funktionierte. Alles in allem war nicht zu übersehen, dass sich die Arbeiter als Individuen (die beachtet werden wollten), als Mit glieder einer Groppe (in der sie sich an einem stillschweigenden Konsens des richtigen Verbaltens orientierten) und als Interaktionspartner (die auf informellen Wegen miteinander umgingen) verstanden. An dieser Studie wurde deutlich, dass die Bezugsgruppe normativ ist. Sie setzt die Maßstäbe, wie wir uns verhalten sollen. Das gilt für das aktuelle, manifeste Verhalten in der Gruppe selbst, aber natürlich hat die Bezugsgruppe, an der wir uns vor allem orientieren, auch eine symbolische, latente Funktion für uns in anderen Situationen. Wem die Bezugsgruppe der Yuppies überaus wichtig ist, wird ein entsprechendes Verhalten nicht nur an den Tag legen, wo er von ihnen gesehen wird, sondern auch bei ganz anderen Gelegenheiten. Ich erinnere abkürzend noch einmal an den Satz von ANSELM STRAUSS: Interaktion ist immer Interaktion mit unsichtbaren Dritten! (Strauss 1959, S. 58) 1 Die Bezugsgruppe ist ein solcher »unsichtbarer Dritter«, auch wenn die Handelnden es gar nicht bemerken. Diese Überlegungen zur norma tiven Funktion der Bezugsgruppe legen es nahe, sich einem merkwürdigen Phänomen zuzuwenden, das man als soziale Beeinfl ussung in der Grupp e bezeichnen kann. Ich beginne mit drei allgemeinen Feststellungen: I Vgl. oben Kap. 5.5 ,,Dlumer: Symbolische Interaktion", S. 213.
6 Gruppe
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,. Der Mensch neigt dazu, sein Verhalten der Mehrheit anzupassen, um nachher nicht als der Einzige dazustehen, der falsch gelegen hat. So wundert man sich, wie viele Leute nach einem überraschenden Wahlausgang sagen, dass sie selbstverständlich die Mehrheitspartei gewählt hätten. (Der andere Fall, dass man einen falschen Sieger selbstverständlich nicht gewählt habe, bestätigt diesen Wunsch, dazuzugehören: Es ist nur eine andere Bezugsgruppel)
);. Zweitens: Der Mensch hat das Bedürfnis, die Dinge unter Kontrolle zu wissen. Die Gefahr besteht darin, dass er die tatsächliche Kontrolle der anderen über- und seine eigene unterschätzt und deshalb keine eigenen Entscheidungen trifft. Wenn er z. B. sieht, dass anscheinend keiner in der Gruppe das Gefü hl hat, die Dinge nicht mehr im GrifT zu haben, hält er sich mit "s törenden" Entscheidungen zurück, );. Drittens verlässt sieh der Mensch auf seinen gesunden Menschenverstand, reflektiert die Dinge also nicht unnötig. Auch hier füh lt er sich durch das Nicht-Handeln der Gruppe beruhigt. Alles in allem: Der Mensch möchte so sein, wie die anderen in seiner Bezugsgruppe offensichtlich sind, zumindest möchte er nicht völlig anders sein. Weil er ohne soziale Anerkennung und das Gefühl, dazu zu gehören, nicht leben kann, lässt er sieh durch die Gruppe beeinflussen. So belegt dann auch eine ganze Reihe von experimentellen Untersuchungen, dass die Gruppe einen starken Einfluss auf die Meinungen und das Handeln der Mitglieder ausübt. In einem der bekanntesten Experimente dazu ging es um den sog. autokin etischen Effekt. Diesen Effekt der schei nbaren Selbstbewegung können wir wahrnehmen, wenn wir einen einsamen Stern betrachten. Da unsere Augenachsen niemals ganz ruhig stehen, scheint sich der Stern zu bewegen. Dieser Eindruck entsteht vor allem dann, wenn es keinen festen Bezugspunkt gibt, an dem wir uns orientieren könnten. Diesen Effekt hat der schon erwähnte Psychologe MUZAFER SH ERIF (1935) für ein Gruppenexperiment genutzt. Er zeigte Versuchspersonen in einem dunklen Raum für kurze Zeit einen kleinen intensitätsschwachen Lichtpunkt. Als sie einzeln befragt wurden, ob und, wenn ja , wie weit sich der Lichtpunkt bewegt habe, streuten die Schätzungen beträchtlich. Als in einem zweiten Versuch alle ihre Schätzungen laut in der Gruppe nennen sollten, konver-
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gierten die Schätzungen. Die Versuchs perso nen beeinflussten sich also gegenseit ig. Ein anderes Experi ment hat SALOMON E. A SCH ( 1955) durc hgeführt. Er zeigte einer Gruppe eine Karte mit einem senkrechten Strich und eine zweite Karte mit drei senkrechten Strichen. Jeder sollte sagen, welcher der dre i Striche der zweiten Karte gleich lang wie der Strich auf der ersten Karte sei. Solange jeder für sich antwortete, waren die Ergebni sse einheitlich. Als aber Asch in mehreren Experimenten je-
weils alle bis auf einen instruierte, ein objektiv falsches Urteil abzugeben, wurden viele derjeni gen, die mit ihrem Urteil allein dastanden, unsicher und schloss en sich letztlich dem Urtei l der Gruppe an.I Was wird an diesen Experimenten deutlich? Deutlich wird, dass eine Gruppe ein dynamischer Prozess ist, in dem das Verhalten der Gruppenm itglieder beeinflusst wird. So ist für GEORGE CASPAR HOMANS die Gruppe auch "definiert durch die Interakt ion ihrer Teilnehmer" . (Homans 1950, S. 102) Das kann man wörtlic h im Sinne der Wechselwirkung verstehen . Nun kann man sich ja auch Gruppensituationen vorstellen, in denen ein Einfluss ganz gezielt ausgeübt wird , und beobachten, was dann passiert. Das haben u. a. Sozialpsycho logen getan, die in Gruppenexperimenten den Zusa mme nhang von Führungsstil und Arbeitsleistung untersucht haben. Ein besonders interessantes Experiment war das von RONALD LIpPITT und RALPH K. WHITE, in dem Gruppen von 11jährigen Kindern untersucht wurden. (Lippitt u. White 1947) Die Gruppen trafen sich meh rere Wochen hintereinander, und jede Gruppe arbeitete unter drei verschiedenen Führung sstilen: autoritäre Führung, demokratische Führung und neutrale " Führung" (alaissez faire«). Jeder der Gruppenleiter war gehalten, in jeder Gruppe nacheinander jede Führungsrolle zu spielen. Auf diese Weise sollte der Einflu ss der Persönlichkei t ausgeschaltet werden.
>-
Der Plan für die autoritäre Führungsrolle sah vor, dass praktisch alle Maßnahmen, die die Aktivitäten der Gruppe betrafen, vom Leiter bestimmt werden sollten. Die Anwei sung lautete deshalb : "Wie und was zu machen ist, wird einzeln Schritt für Schritt von
Wem die exp erimentelle S ituation zu konstruiert erscheint, kann einma l beobachten, was in der Kant ine passiert, wenn einer, der in der Runde etwas gilt, sagt, das Fleisch habe einen leichten Beigeschma ck!
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der Autorität mitgeteilt, sodass Ziele und weitere Schritte weitgehend im Dunkeln bleiben. Der Erwachsene übernimm t die Verantwortung und teilt j edem Mitglied seine Tät igkeit und auch seine Mitarbeiter zu. Bei der Bewertung der Tätigkeit, sei es Einze lner, sei es der Gruppe, lässt der Führer nicht erkennen, nach welchem Maßstab er wertet. Er demo nstriert die T ätigkeiten, enthält sich aber sonst der aktiven Beteiligung." (Lippitt u. Whit e 1947, S. 327) Das Ergebnis dieses Experiments war: In der autoritär geführten Gruppe konzentrierten sich die Kinder zwar sehr auf die Arbeit, aber nur solange, wie der Leiter im Rau m war. Sobald er den Raum verließ, wandten sie sich anderen Dingen zu. Noch interessanter war allerdings die Tatsache, dass die Gruppe praktisch keine eigenen Initiativen entwickelte, wie was zu tun sei, sondern sie wartete auf Instrukt ion durch den Führer. Die Gruppenmitglieder waren wenig kooperativ und neigten zu Aggre ssivität gegenüber Schwäc heren. Klappte etwas nicht sofort, ließen sie sich rasch entmutigen. )0- Der Plan für eine demokratisc he Führungsro /le sah vor: " Soweit wie mö glich sollen alle Unternehmungen Gegenstand von Grup pendiskussion und Gruppenentscheidung sein, mit aktiver Hil fe und Ermutigung durch den erwachsenen Führer. Da bei soll der Leiter zu erreichen versuchen, dass bei den Diskussionen die Tätigkeit en und die einze lnen Schritte zum Ziel geklärt werden . Wenn er um technische Ratschläge gebeten wird , sollte er möglichst mehrere verschiedene Arten des Vor gehens vorschlagen, aus denen die Mitglieder ausw ählen können. Jeder kann, mit wem er will, zusammenarb eiten, und die Vertei lung der Verantwort ung bleibt der Gruppe überlassen. Falls der Führer Einzelne oder Gru ppen lobt oder kritisiert, sollte er versuchen, die objektiven Gründe dafür den Mitgliedern klarzumachen." (Lippit t u. Whit e 1947, S. 327) Das Ergebnis in dieser demokratischen Gruppe war, dass die Kinder zwar nicht so viel leisteten wie in der autoritär geführten, aber sie blieben bei ihrer Arb eit, auch wenn der Leiter den Raum verließ. Die Kinder komm unizierten viel mi teinander, und das Klima war ausgesprochen kooperativ. ;;.. Der Plan für den laissez fa ire-Stil war natürlich kein Führungsplan, sonde rn jeder sollte praktisch machen können, was er wollte. Und so war auch das Ergebnis. Leistung und Arbeit smo ral
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6 Gruppe
waren ziemlich gering. Keiner fühlte sich für irgendetwas verantwo rtlich . Da die Kinder aber ihre Aufgabe selbst gewäh lt hatten , b lieb die Gruppe m ehr bei ihrer Aufgabe als die autori tär geführte Gruppe.
Die Experimente von Lippitt und White zeigen, dass das Verhalten der Gruppenm itglied er auch durch di e Strukt ur der Kooperation beeinflusst
wird. Leistungen, die erbracht werden, werden auch für die Gruppe erbracht; das Ausbleiben von Leistungen wird mit der Passivität der Gruppe entschuldigt. Das klingt harmlos, kann aber unter Umständen sch limme Fol gen hab en. So zeigen viele Unt ersuchungen über Jugendgewalt, das s der Einzelne eigentlich gar nicht gewaltbereit w ar. Dass er
dann aber doch zugeschlagen hat, erklärt er damit, ,,nur mitgemacht" zu haben. Wenn man einmal den Rausch der Gewalt in der Gruppe beiseite lässt, dann scheint in solchen Erklärungen das unbewusste Eingeständnis durch, der Gruppe zu beweisen, dass man zu Recht zu ihr gehört.
Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass keiner etwas tut, weil die anderen auch nichts tun. Wir kennen diese Fälle bei Unfällen oder Straftaten. Erst wenn einer beherzt die Initiative ergreift, werden auch andere aktiv. Dass diese Trägheit einer nicht reagierenden Gruppe schlimme Folgen haben kann, hat man erlebt, als unter dem Nationalsozialismus selbst vertraute in groups nichts getan haben, die Verschleppung und Ermordung der Juden zu verhindern. Nachbarn, die sich bis gestern als "wir" verstanden hatten, blickten weg, als ,,man" bestimmte Personen als "d ie" und "a nders" definierte. Vom Thema "Grup pe" den Bogen zum Thema " Status" zu schlagen, liegt nahe, denn ging es dort um die Strukturen und Prozesse, in denen Individuen miteinander umgehen und aufeinander einwirken, so geht es hier um die Verortung des Individuums in diesen Strukturen und Prozessen, die es selbst - bewusst oder unbewusst - vornimmt oder die die anderen mit ihm vornehmen.
7
Status
7.1
Linton: Zuschreibung und Leistung
7.2 7.3
Statuskriterien, Statusinkonsistenz, Statussymbo le Veblen: Demonstrativer M üßiggang und Konsum der feinen Leute Bourdieu: Die feinen Unterschiede Goffman: Stigma und soziale Identität Strauss: Statuszwang und Transfonnation von Statusarten
7.4 7.5 7.6
.Hilfsarbeiterin, Dozent, Straßenkehrer, Ärztin, Manager, Verkäuferin, Industriefacharbeiter ... - bei j eder dieser Bezeic hnungen entstehen Bilder in unseren Köpfen. Wir stellen uns Mensc hen vor mit bestimmter Kleidung, bestimm ten Utensilien und bestimmten Verha ltenswei-
sen. Befragt nach unseren weiteren Assoziationen, könnten wir dazu bestimmte Lebensgewohnheiten. kulturelle Interessen oder Hobbys nennen, und nicht zuletzt könnten wir unsere Einschätzung dazu abgeben, wieviel eine derartige Person ungefähr verdient bzw. welchen Einfluss sie im gesellschaftlichen Leben hat oder nicht. Mit diesen impliziten Personenschemata wird grundsätzlich ein bestimmtes gesellschaftliches Ansehen, ein Sozi alprestige assoziiert. Würden wir uns etwas bemühen, könnten wir regelrecht eine soziale Landkarte erstellen, mit der die Überordnung, Gleich- oder Unterordnung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen nach ihrem sozia len Prestige sichtbar gemacht würde. Unsere soziale Welt zeichnet sich aus durch eine Fülle von Kategorien und Klassifizierun gen. Die Vorstellunge n, die sich Me nschen von der sozialen Welt machen, tragen zur Konstruktion einer re lativ stabilen Sozialstruktur bei." (Pastner 1996, S. 323) Was hier beschrieben wird, ist die Plazierung des Individu ums im soz ialen Raum . Wir plazieren andere und auch uns selbs t in diesem Raum und nehmen an, dass es für diese Plazierun g auch objek tive Kriterien gibt. So erklären sich typische Vorstellungen, die es in einer Gesellschaft hinsichtl ich Prestige, Über- oder Untero rdnung und Einfluss gibt. In diesem Sinne hat der Begriff etwas mit Bewertung und Vergleich zu tun. Der Gedanke der Verortun g in einem sozialen Referenz-
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7 Status
system kommt schon in einer frühen Verwendung des Wortes "status" zum Ausdruck. So heißt es bei l OHN STUA RT MILL, dem englischen Nationalökonomen, dass eine priv ilegierte Klasse, die einen Status über den anderen hat (" having a status above the common level"}, diesen nicht verlieren möchte. (M ill 1848, S. 370) Wenn man über einen hohen oder niederen sozialen Status spricht, müssen auc h die Werte benannt werden, auf denen diese Einordnung bas iert. In der einen Gesellschaft gilt der Schreibkundige als Weiser, in der anderen ran giert er knapp oberhalb der Analphabeten. Selbst innerhalb ein und derselben Gesellschaft gibt es sehr unter schiedliche Vorstellungen davon, was wertvoll und bedeutend ist. Schließlich muss man sehen, dass Stat uskriterien sich durchaus verändern können. In dem Maße nämlich, wie sie von mehr Individuen erftillt werden, sinkt ihre Bedeutung. Ist beispiel sweise Schu lbildung ein seltenes Gut, hat dieses Kriteri um einen hohen Stellenwert; ha t aber fast jeder das Abitur, die nt es als Kriterium der sozialen Differenzierung nur noch bedingt. Solange Autos ausgesprochene Luxusa rtikel waren, erfreuten sich ihre Besitzer einer hohe n Beachtung. Auch das hat sich heute gewand elt, abgesehe n davon, dass der materielle Besitz in bestimm ten soz ialen Gruppen nie eine sonderliche Rolle bei der Einschätzung des sozialen Rangs gespielt ha t. Eine andere Annahm e über die Bedeutung des Status scheint dagegen unbestritten zu sein, dass es nämlich zu den Grundbedürfuissen des Men schen gehört, sich einen soz ialen Platz zu suchen, den er allein einnehme n kann und auf dem er auch anerkannt wird. W ILLIAM L THO· MAS hat das Bedürfnis nach Anerkennung zu den grundl egend en Wünschen! gerechnet, die der Mensch hat. (Tho mas 1927, S. 159) Darunter verst eht er das Bedürfn is nach soz ialer Wert schätzu ng. Es liegt au f der Hand, dass dami t nicht ein passives Abwarten ge meint ist, sonde rn dass das Individuum dafür etwas tun muss. Es mu ss bestimmte Erwartungen erftillen, die mit seiner Plazierung in der Gesellscha ft verbunden sind . Norma les Verhalten ist das Mindeste, was Wert schätzung erfahrt. In der Regel wird das Individuum aber mehr tun, um beachtet zu we rden. Der soziale Status hat also immer auch etwas mit einem entsprechen den Verhalten zu tun, das von anderen bewertet wird. Die anderen d rei sind der Wunsch nach neuem Erleben, nach Sicherheit und nach Er widerung. (Thomas 1925: The unadjusted girl, S. 16 1) Thomas hat die Theo rie der vier Wünsche mehrmals umfo rmuliert.
7 Status
7.1
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Lint on: Zuschreibung und Leistung
Eine grundlegende theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der sozialen Verortung in einem sozialen System findet sich bei RALPH LINTON (1893-1953), der die Frage stellt, wie der kulturelle Hintergrund die Persönlichkeit prägt. Seine Antwort leitet er unter der Überschrift " Rolle und Status" so ein: " Die Teilnahme eines j eden Individuums an der Kultur seiner Gesellschaft ist keine Sache des Zufalls. Sie wird primär (...) durch seine Stellung in der Gesellschaft und die Erziehung bestimmt, die ihm im Vorgriff auf seine Übernahme dieser Position zuteil wurde. Daraus folgt, dass man das Verhalten des Einzelnen nicht lediglich in bezug auf die Gesamtkultur seiner Gesellschaft untersuchen darf, sondern bei dieser Betrachtung auch die speziellen kulturellen Anforderungen berücksichtigen muss, die seine Gesellschaft deswegen an das Individuum stellt, weil es einen bestimmten Platz einnimmt." (Linton 1945, S.251) Innerhalb einer Gesellschaft werden die Individuen nach Funktionen klassifiziert. Diese Struktur von Funktionszusammenhängen nennt Linton System. Linton betont nun, dass "ein System fortbesteht, während die Individuen, die Plätze in ihm einnehmen, kommen und gehen können" ; den Platz, " den ein Individuum zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten System einnimmt", nennt er Status. (Linton 1945, S. 252) Das Funktionieren einer Gesellschaft hängt davon ab, dass es Muster des wechselseitigen Verhaltens zwischen Individuen und Gruppen gibt. Die Muster gelten generell für jedes Individuum in einem bestimmten Status. Jeder Status ist mit einer bestimmten Rolle verbunden. (vgl. Linton 193630 S. 97) Mit dem Begriff der Rolle bezeichnet Linton - ich wiederhole es - " die Gesamtheit der kulturellen Muster (...), die mit einem bestimmten Status verbunden sind." (Linton 1945, S. 252) Der Einzelne muss also eine Rolle spielen, wie sie sich von der strukturierenden Vorgabe eines Status aus ergibt. Linton fasst diese Annahme in dem Satz zusammen: Die Rolle ist "der dynamische Aspekt eines Status." (ebd.) Linton fragt nun, wie man überhaupt zu einem sozialen Status kommt. Seine Antwort kommt in der berühmten Unterscheidung zwischen einem zuges chriebenen und einem erworbenen Status zum Ausdruck. Der ascribed status resultiert aus konventionellen Annahmen über Geburt, Alter, Geschlecht, Herkunft und ähnliches, der achieved
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7 Status
status beruht dagegen auf eigener Leistung. Ein Beispiel für den Effekt eines zugeschriebenen Status ist die Erwartung, dass ein Kind aus gu-
tem Haus auch bessere Leistungen in der Schule erbringt, oder die umgekehrte Erwartung, dass man von einem Kind aus der Obdachlosensiedlung solches von vornherein nicht erwart en kann. Wie das funktioniert, hat das schon erwähnte I Experiment .Pygmalion im Klassenzimmer" (Ros enthai u. Jacobson 1968) gezeigt. Ich rufe es kurz in Er-
innerung: Lehrern wurden zwei Gruppen von Kindern zugewiesen. Von der ersten Gruppe hieß es, sie hätte bei einem Leistungstest besonders gute Ergebnisse, von der zweiten, sie hätte nur unterdurchschnitt liche Leistungen gezeigt. In Wahrhe it unterschieden sich die Leistungen dieser Kinder überhaupt nicht. Als man dann nach einem halben Jahr diese beiden Gruppen testete, zeigte sich, dass ihre Leistungen tatsächlich dem entsprachen, was man ihnen vorher " zugeschrieben" hatte. Die Erklärung liegt auf der Hand : Positive Erwartungen führen zu wohlwollender Unterstützung auf der Seite der Lehrer und spornen zu weiteren Leistungen auf der Seite der besonders beachteten Schü ler an, negative führen zu Unterforderung und demotivieren. Der Begri ff des Status dient zur Differenzierung der Mitglieder einer Gesellschaft. Die wichtigsten Merkmale, nach denen einem Individuum ein sozialer Status zugeschrieben wird , scheinen Alter, Geschlecht, Herkommen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fami lie zu sein. (Linton 1936a, S. 99) Es sind soz usagen objektive Statuskriterien. über die man eigentlich auch nicht zu diskuti eren braucht. Wer 80 Jahre alt ist, ist älter als ein 20Jähriger, und wer nicht aus der Familie von It· zenplitz kommt, kommt eben nicht aus dieser Familie. Doch selbst an dieser einfachen Statuszuschreibung wird deutlich, dass Statuskriterien bewertet werden. In einer statischen Gesellschaft hat der Alte einen höheren Status, weil er auf eine größere Erfahrung zurückblicken kann, aber in einer dynamischen Gese llschaft mit Jugendlichke itstouch sieht das ganz anders aus. Interessant wird die Frage nach dem sozialen Status denn auch, wenn in die Differenzierung Statuskriterien hineinspielen, die aus subj ektiven oder milieuspezifi schen Wertungen entspringen.
1 Vgl. oben Kap. 4.3 ,,Alternative Wertorientierungen des HandeIns", S. 154.
7 Status
7.2
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Status kriterien, Statusinkonsistenz, Statussymbole
Die Ausftihrungen von Linton zu Rolle und Status haben einen großen Einfluss aufTALCOIT PARSONS ausgeübt. Er betrachtet das Phänomen des sozialen Status unter einem Strukturaspekt und unter einem Hand/ungsaspekt. Unter dem ersten Aspekt geht es um Über- und Unterordnung von Positionen, unter dem zweiten um die Institutionalisierung von Handlungsmustern. In seiner Theorie zur sozialen Schichtung stellt Parsons fest, "dass sich das Handeln in einem sozialen System in großem Maße an einer Schichtungsskala orientiert." (Parsons 1940a, S. 187) Diese Skala ist natürlich in jedem sozialen System eine andere. Als grundlegende Kriterien, nach denen Wertungen erfolgen, nennt Parsons Mitgliedschaft in einer Verwandtschaftsgruppe, persönliche Eigenschaften, Leistungen, Eigentum, Autorität und Macht. " Der Status eines jeden Individuums im Schichtungssystem einer Gesellschaft kann als Resultante der gemeinsamen Wertungen betrachtet werden, nach denen ihm sein Status in diesen sechs Punkten zuerkannt wird." (parsons 1940a, S. 189) Dieser Begriff des Status, der sich nach einem sozialen Konsens über wichtige Kriterien der sozialen Verortung bestimmt, spielte in frühen soziologischen Schichtungstheorien eine wichtige Rolle. Dort wurde der Begriff Status verwandt, um herauszufinden, wie Personen sich oder andere sozial einordnen bzw. wie sie glauben, von anderen eingeschätzt zu werden. Diese Methode wurde z. B. in klassischen amerikanischen Gemeindestudien benutzt. Sie identifizierten das Sozialsystem einer Gemeinde als "status system" (Warner u. Lunt 1942, 11, S. 16), in dem alle wissen, wer welche Reputation genießt. Bei der Messung der sozialen Klassen benutzten die Forscher einen .Jnd ex of status characteristics" (Warner u. a. 1949, S. 39f.), dessen wichtigste Faktoren Beruf, Art und Höhe des Einkommens, Haustyp, Wohngegend und Bildung sind. Man unterstellte gewissermaßen, dass alle im großen Ganzen einer Meinung sind, welcher Beruf angesehen ist und welcher nicht, dass 100.000 $, die man bei der Bank verdient, etwas anderes sind als 300.000 $ aus der Lotterie und der Abschluss in Harvard mehr gilt als der in Wallawalla usw. Obwohl man Zweifel an dieser Übereinstimmung haben kann, sollte man den diffusen Konsens hinsichtlich solcher Statuskriterien doch nicht unterschätzen. So weiß man in jeder Stadt z. 8. , wo die " einfa-
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ehen Leute" und wo die " besseren Leute" wohn en, und man weiß auch, woran man den Status der Bewohner dieser Viertel erkennt. Dabei spielen die gerade genannten objektiven Statuskriterien wie Einkommen, Besitz oder Bildungsabschluss eine Rolle - wie man sie verm utet oder wie sie sich dem Augenschein präsentieren. Gleichzeitig beurteilen die Bewohner sich und ihresgleichen aber auch selbst, und da spielen u. U. ganz andere, subjektive oder milieuspezifische Statuskriterien eine Rolle. Bei den einen überstra hlt das Aut o mit 200 PS alles andere, bei den anderen wird man nicht anerkannt, wenn einem ein bestimmter Bildungsabschluss fehlt. Das zeigt, dass Statuskriterien je nach Sozialschicht und Milieu unterschiedlich sind. Die Kriterien, mit dene n ein sozialer Status bestimmt werden so ll, sind immer nur Kriterien aus einer spezifischen soz ialen Lage und aus einer bestimmten Zeit heraus. Diese KlarsteIlung wird in der Soziologie von PIERRE BOURDIEUgleich eine zentra le Rolle spielen. Kehren wir noch einmal zu dem Stru kturaspekt zurück, unter dem Parsons einen sozialen Status betrachtet. Wenn man die Kriterien, nach denen er sich bemisst, genau liest, sieht man, dass Parsons die von Linton vorgenommene Unterscheidung zwischen Zuschreibung und Leistung in seine Th eorie gleich eingebaut hat. Das war erforde rlich, weil sich sonst nach der strukturfunktionalen Theorie nicht erklären ließe, warum die Menschen bere it sind, sich auf die Rollenerwartungen einzulassen, die mit einer sozialen Position verbunden sind. Um diese Fra ge ging es z. B. in seinem nachgelassenen Essay zur Theorie sozialen Handeins, wo Parsons den Begri ff Status auf den Standort des individuellen Aktors in der Sozialstruktur bezieht. Er differenziert ihn in einem funktionalen Sin ne nach drei Modalitäten: "n ach seinem Rang in der Sc hichtu ngsskala und den versch iedenen Teilbewertungen, die diesen Rang ergeben , nach seinem Verhältnis zur Struktu r von Autorität und Rechten und nach seiner Stellung in bezug auf definierte Rollen." Diese Position soll dann Status heißen, " insofern sie durch eine gemeinsame Wertorientierung sanktioniert, insofern sie »institutionalisiert« ist." (Parsons 1939, S. 188f.) Das ist die Voraussetzung für die Akze ptanz soz ialer Schichtung, und es erklärt auch, warum Parsons z. B. die Plazierung in der Gesellschaft im Große n und Ganzen für gerecht hält: Der soziale Status ist die gerec hte Bewertung individueller Leistung.
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Kriterien der Bewertung nennt auch G EORGE CA SPAR H OMANS, der dazu aber gewissermaßen eine neutrale Theorie des Status entwirft. Für ihn hat Status etwas mit der Bewertung des Austauschs zwischen Individuen zu tun. Diese Sicht findet sich erst in der revidierten Fassung seines grundlegenden Werkes über .Social Behavior" , das bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Man kann Homans so verstehen, dass sich die Mitglieder einer Gruppe voneinander u. a. durch ihre wechselseitige Wertschätzung unterscheiden, wobei er Wertschätzung durchaus im Sinne eines Kosten-Nutzen-Kalküls meint. Oeorge Caspar Homans: Dimensions of status "The fundamental dimensions of starus are those along which men can be ranked according to what they give to others and what they get from them. The capaeines of persons that produce differences between them in power and therefore in status vary in detail from group to group; but of course some such capaeines have been very common hases for power in a large number of groups and society. Some of them have been: intelligence and education, if these imply the capecity to find solution 10 problems; command of physical force; command of material goods; the presumed ability to control physical phenomena, such as rein; capacity to restore physical or spiritual health. Corresponding to this variety in what men can give to others is the variety in what they get from them. Same of the things that men get in many groups end societies are: money and other fonns of wealth; esteem (...); deference; and obedience (...). Persons that have these things to give and get these things in return bccome recognized as holding high status not only in their immediate groups hut in society at large. Note how the two dimensions stand out even in the very generalized status systems of large modem societies. What counts most here are a person' s occupation (what he gives) and his income (what hc gcts)." (Homans 1974: Social behavior. Its elementary forms, S. 198f.)
Der Status einer Person wird also zunächst über den Austausch von Gütern zwischen Personen definiert. Neben diese Dimension des Gebens und Bekommens tritt allerdings noch eine andere Statusdimension. Homans beschreibt sie als "accretion" (Homans 1974, S. 199), was man vielleicht am ehesten mit .Z uwachs" übersetzen kann. Was damit gemeint ist, erläutert er an einem Beispiel: In einer Gruppe von einflussreichen Personen wird der Person in der Regel ein höherer Status
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beigemessen, die älter ist oder schon länger in einer bestimmten Position ist. Es wird angenommen, dass mit Alter oder Dienstzeit auch ein Zuwachs an Wissen, Macht u. ä. erfolgt ist, der wiederum von Vorteil im Hinblick auf das Geben ist. Das scheint Homans die Erklärung dafür zu sein, warum das Alter in vielen Gesellschafte n ein wichtiges Status-
kriterium ist. Neben diese "more fundamental dimensions of status" treten aber noch andere: "se x, race, ethnicity, education, ancient lineage". (Homans 1974, S. 199) Auch Homans misst also den von Linton und Parsons genannten "z ugeschriebenen" Statuskriterien eine große Bedeutung bei. Sie funktionieren als Reize für bestimmte Reaktionen: "Thc crucial stimuli to social behavior are those presented by persons, and a person ' s status is a set of such stimuli." (S. 200) Wo in den Köpfen die Einstellung vorherrscht, dass Erfahrung vom Alter abhängt, wird man bestimmte Leistungen eben nicht von jü ngeren Leuten anfordern. Der Friedensrichter in Wyoming hat immer weiße Haare, und für schwierige politische Missionen wählt man geme eider statesmen. Im Austausch verstärkt also die Statusdimension Alter die Chance des Gebens und damit der Macht. Genau in diesem Sinne sind auch die anderen "z ugeschriebenen" Statuskriterien wie Geschlecht oder Rasse zu verstehen: Für sich sagen sie gar nichts aus, aber in der fllr eine Gesellschaft typischen Einschätzung verstärken oder schwächen sie die Position im Austausch. Neben den objektiven Statusdimensionen wie Alter und Geschlecht gibt es natürlich noch andere Statusanzeichen, mit denen die Mitglieder einer Gesellschaft sich und andere identifizieren und plazieren. Dabei spielt der sog. Halo-Effekt eine wichtige Rolle, wonach ein Merkmal das Gesamtbild eines Menschen überstrahlt und unterstellt wird, dass mit einem bestimmt en Merkmal (z. B. Beruf) auch andere Merkmale [z. B. Bildungsinteressen) verbunden sind. (vgl. Hofstätter 1954, S. 370) Wo diese Erwartungen erfLillt werden, scheint für die Außenstehenden der soziale Status konsistent zu sein. In Wirklichkei t nehmen sie nur Merkmale wahr, die ihrem Vorurteil entgegenkommen. Dass dies sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf den anderen haben kann, liegt auf der Hand. Auf der anderen Seite kann man allerdings durchaus feststellen, dass sich "zwischen den verschiedenen Statusanz eichen ziemlich hohe Korre lationen einz ustellen" pflegen. (S. 407) Diese Korrelation kann man dadurch erklären, dass die Angehörigen einer Rangklasse mehr und engere Binnenkontakte aufweisen als
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Kontakte zu anderen Gruppe n. Das führt zu einer "Uniformierung des Verhaltens der Angehörigen derselben sozialen Rangklasse". (Hofstätter 1954, S. 412) Wie schon gezeigt wurdet, gehört zu jedem sozialen Status nicht nur eine einzige zugeordnete Rolle, sondern eine Reihe von Rollen. (Merton 1957b, S. 260) Die Konstellation dieser Rollenbeziehungen kann in sich wider sprüchlich sein. Das wurde als Rolle nkonflikt bezeichnet. Nun nimmt das Individuum nicht nur einen sozialen Status, sondern mehrere Status ein. Das hat R OBERT K. M ERTON in Anlehnu ng an den Rollenset als Statusset bezeichnet. Diese verschiedenen Status, von denen jeder wiederum einen eigenen Rollen-Set besitzt, können ebenfalls in Widerspruch zueinander stehen, weil die Erwartungen, die an sie gerichtet sind, nicht zueinander passen. Dieser Widerspruch wird als Statusinkonsistenz bezeichnet. "Nimmt ein Individuum diskrepante Status ein, so sieht es sich widersprechenden Erwartungen und Erfahrungen im lnteraktionsprozess ausgesetzt. Seine inkonsistente Statuskonfiguration wird also im Interaktionsprozess bewertet und sanktioniert." (Bornschier u. Heintz 1977, S. 34) Wenn z. B. jemand zu Geld gekommen ist und sich eine Bibliothek zulegt, weil er meint, das gehöre zu einem höheren Status, bei der Auswahl der Bücher aber nur auf die farbliehe Abstimmung mit dem übrigen Interieur geachtet hat, wird es sicher einige geben, die das hinter vorgehaltener Hand und mit Häme kolportieren. Soziologisch verweist das Beispiel darauf, dass das Individuum und seine Bezugspersonen den sozialen Status ganz anders einschätzen und von unterschiedlichen Statuskriterien ausgehen. Diese Di fferenz bekommt jeder Aufsteiger zu spüren, dem man noch lange den kleinsten Fehler als Beweis ankreidet, dass er nicht wirk lich dazugehört. Darauf werde ich gleich noch einmal zurückkommen, wenn ich über " Die feinen Unterschiede" spreche. Neben dieser Statusinkonsistenz, die im Wesentlichen dadurch zustande kommt, dass man eine Plazierung im sozialen Raum und die entsprechenden Kriterien des Verhaltens unterschiedlich bewertet, gibt es aber auch eine objektive Statusinkonsistenz. Dafür gibt eine interessante Untersuchung über den Zusammenhang von Bildung und Statusinkonsistenz bei bestimmten Alterskohorten ein gutes Beispiel. Dort wird festgestellt, dass die Bildungsexpansion den Zugang zu weiterfühI Vgl. oben Kap. 3.2 .Merton. Der Rollen-Set".
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render Bildung verbess ert hat. Davo n haben vor all em Frauen profitiert. Doch obwohl sie gleiche Bildungsabschlüsse wie Männer haben oder sogar höhere Quali fikationen aufweisen, konnten sie sie nicht in Einkommens- oder Statusgewinne im Beruf umsetzen: " Offensichtlich kumuliert bei Frauen die Diskr epanz zwischen Investitions- und Belohnungsdimensionen und damit Statusinkonsistenz. Sie verschärft sich insofern, als Frauen trotz häufigerer A rbeitsp latzwechse l länger in statusinkosistenten Positionen verwei len, während Männer relativ schneller und mit geringerem Ressourcenaufwand unvorteilhafte Statuslagen verlassen können," (Becker u. Zimmerma nn 1995, S. 360) Kehren wir nach diesem Blick auf objektive Statusinkonsistenz wieder zurück zu den Bewertungen, die in der Annahme einer solchen Inkonsistenz und bei der Bewertung eines sozialen Status überhaupt immer mitschwingen. Wie viele Untersuchungen zur Fremd- und Selbsteinschätzung gezeigt haben, werden Statusränge nach Bildung, Einkommen, Herkunft, Konfession, Beruf usw. höchst unterschiedlich bewertet. Doch auch das sind keine objektiven Kriterien, sondern sie werden subjektiv oder milieuspezifisch gewichtet. Mittels dieser Bewertungen schätzen Individuen ihren Status und den der anderen ein. Dieser Gedanke leitet Ober zu der Diskussion über den Zusammenhang von Sozialprestige und Statussymbolen. Wird einem sozialen Status eine hohe Wertschätzung entgegengebracht, spricht man von Sozialprestige. Auch diese Wertschätz ung ist natürlich nicht objektiv und einheitlich, sondern variiert von Schicht zu Schicht. So lässt sich empirisch belegen, dass "un terschiedliche Syrnbolsysteme für die Zurechnung von Prestige verwandt werden - dass etwa in den unteren Schichten das Einkommen, in den Mittelschichten der Beruf und in den oberen Schichten die Schulbildung stärker betont werden." (Scheuch u. Daheim 1961, S. 72) Soz iales Prestige variiert aber auch z. B. nach den Generationen. Bei jungen Leuten zählt vielleicht die sportliche Leistung oder das modische outfit, während die mittlere Generation es mehr mit dem richtigen Kurort und der hypothekenfreien Eigentumswoh nung hält.t Mit dem sozialen Status sind Erwartungen nonnativer Art verbunden, die in einer bestimmt en Bezugsgruppe gelten. Das Konzept des Stat us hätte ohne Gruppen auch keinen Sinn, " da er sich auf Vergleich 1 Klischees haben auch ihr Gutes: Man erntet rascher Zustimmung und Protest.
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und Hierarchien aufbaut und sich auf den relativen Standort eines Individuums bezieht." (Hartley u. Hartley 1952, S. 403) Einen sozialen Status hat man nicht für sich, sondern vor anderen, und diese definieren ihn auch. Um einen bestimmten sozialen Status zu unterstreichen (oder vorzutäuschen), verwenden Menschen Statussymbole. Es spricht viel für die These, dass Statussymbole eine Folge der Urbanisierung (Form u. Stone 1957) oder besse r der sozialen Verdichtung sind. Wo jeder j eden kennt , spielen Statussymbole nur eine geringe Rolle. Je weniger man aber über eine Person weiß, umso mehr versuc ht man sie über Stat ussymbo le zu identifizieren, und umgekehrt versuch t man seinen Status auch dem flüchtigsten anonymen Zuschauer über sofort verständliche Statuss ymbole zu demonstrieren. Hier liegt aber ein Prob lem, das man die kontinuierliche Inflation und Deflation von Statussymbo len genannt hat. (Zelditch 1968, S. 256) Tempo und Funktionalität der Symbol e bestimmt die Mode. Deshalb müssen diejenigen, die es nötig haben, ständig neue Symbole für ihren Status erfinden. Doch Vorsicht, sobald alle z. B. ein Handy haben, verliert dieses Statussymbol seine n Wert als Unterscheidungsmerkm al. Noch etwas anderes macht das Spie l um soziale Abstände heikel: Statussymbole müssen auch von den anderen verstanden werden ! Es genügt keineswegs, sich symbolisch unterscheiden zu wollen, sondern man muss auch jemand en finden, der diese Symbole auch so interpretiert. Die Wahl der Symbole wird nicht nur von einer Seite diktiert: " Die Symbole dürfen nicht so beschaffen sein, dass sie keine Resonanz in der Umwe lt, in der sie wirken sollen, hervorrufen. Sie müssen auch (...) das Interesse der Umwe lt an den Trägem der Symbole wecken und aufrechterhalten." (Kl uth 1957, S. 41) Etwas plastischer: Was keiner versteht (rote Ziege lsteine in jeder Zimme recke), macht keinen neidisch; was jeder kennt oder hat (grüne Brokatdeckehen unter j edem Blumentopf), taugt auch nicht als Stat ussymbol. Die richtige Misc hung aus Fremdheit und Vertrautheit, das macht den Wert der Statussym bo le und des Prestiges aus. Viele Statussymbole der Modeme bestehen in mat eriellen Gütern, die jedermann erwerben kann , wenn er "nu r" das entsprechende Kleingeld hat. Ich betone "nur" , weil es keine andere regulierende Kontrolle des Zugangs zu solchen Prestigesymbo len mehr gibt. Das war vor einigen hundert Jahr en noch ganz anders, wo z. B. fest gerege lt war, wer
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welche Stoffe für welche Kleider erwerben durftet! Gerade die Kleidung unterliegt der von Zelditch angesprochenen Deflation von Statussymbolen. Selbst wo sich Hersteller durch den Auswe is einer exklusiven Mark e und entsprechende Preise und Kunden durch die Treue zu diesem "ex klusiven" Produkt vor der symbolischen Entwertung zu schützen versuchen, ist der soziale Gewinn nur von kurzer Dauer. Die Tricks, die ein globaler Markt inzwischen anwendet, um den Kunden immer wieder einen besonderen Status einzureden, sind bekann t. Die Entwe rtung von bestimmten Statussymbolen über ihre allgemeine Zugänglichkeit hat dazu geführt, dass sich Eliten über " feine Unterschiede" abgre nzen. Au f eine Konsequenz der Entwertung kultureller Statussymbole, konkret Leistungszert ifikate und Bildungstitel. komme ich unter dem Stichwort " Habitus" gleich noch einm al zurück. Eine weitere Konsequenz dieser Demokratisierung der sichtbaren Statussymbole liegt dan n, dass Statussymbole immer unsichtbarer werden. Das ist die These von VANCE PACKARD, der behauptet, die amerikanische Gesellschaft weise " eine sich offenbar immer mehr verfeinernde Klassenstruktur" auf. (Packard 1959, S. 14) Das sei auf den ersten Blick nicht zu erkennen, weil .,unsichtbare Schranken" die einzelnen Ränge trennten und verhinderten, dass die falschen Leute Zugang zu den besseren Rängen bekommen. Gleichwohl seien viele ständig auf der Suche nach einem besonderen Status. Packard hat sie Statuss ucher genannt. Sie hoffen, wenigstens den Schein eines besonderen Status zu erwecken. Deshalb umgeben sie sich mit den äußeren Zeichen - den Statussymbol en - des Rangs, den sie anstreben. Das erklärt, warum Au fsteigerz typischen Statusmerkmalen der angestrebten Sozialschicht viel mehr Bedeutung beimessen als diese selbst und warum Konformität als die mindeste Fonn der Demonstration eines neuen Status gilt. Das wiederum erklärt, warum der Aufsteiger peinlich auf Abstand zu denen hält, die er hinter sich gelassen hat.
VgJ. z. B. zu den Stra fen, die bei Übertretung zu zahlen ware n, Band I, Kap. 8.1 ..Über das dreigeteilte Haus Gottes und den Beruf des Menschen", S. 269 ff.. 2 Bourdieu wird das als fehlendes .xpielerlsches Verhältn is" der Kleinbürger zu bestimmten Statussymbolen geißeln. Vgl. unte n Kap . 7.4 .Die feinen Unterschiede", S. 3 10.
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Veblen: Demonstrativer Müßiggang und Konsum der feinen Leute
Mit dem sozialen Status ist oft nicht nur die Erwartung bestimmter konkreter Verhaltensweisen, sondern auch einer bestimmten Lebensführung verbunden. Diesen Zusammenhang hat MAx WEBER in seiner Abhandlung über " Klasse, Stände und Parteien" dargestellt. Weber benutzt zwar nicht den Begriff Status, aber seine Beschreibung des Standes I trifft ziemlich genau eine kollektive Lage, die als sozialer Status einer bestimmten Gruppe bezeichnet werden kann. Weber spricht von der ständischen Lebensführung und der damit verbundenen Stilisierung des Lebens. (Weber 1922, S. 637) Dieser Gedanke einer bestimmten Lebensführung steht im Mittelpunkt der "Theory of the Leisure Class", die der norwegisch-amerikanische Nationalökonom und Soziologe THORSTEIN VEB LEN (18571929) im Jahre 1899 veröffentlicht hat. Veblen stellte die These auf, dass Besitz und Konsumgüter vor allem als Zeichen von Wert ("wort h") und Tüchtigkeit ("p rowess") gelten. Dabei machte er die merkwürdige Erfahrung, dass bestimmte Leute dazu neigen, ihren sozialen Rang durch demonstrativen Müßiggang ("conspicious leisure") oder demonstrativen Konsum ("conspicious consumption") zu unterstreichen oder auch nur vorzutäuschen. Veblen blickt in die Geschichte des Eigentums zurück: Thorstein Veblen : Trophäen und Reichtum als Zeichen des Erfolgs " Das erste Eigentum bestand in der Beute, den Trophäen eines siegreichen Raubzugs. Solange die Gruppe wenig von der ursprünglichen gesellschaftlichen Ordnung abwich und solange sie in Berührung mit feindlichen Gruppen stand, lag der Nutzen von Sachen oder Personen, die der Gruppe zu Eigentum gehörten, hauptsächlich in dem neiderfüllten Vergleich zwischen der besitzenden Gruppe und dem Feind, dem sie abgenommen worden waren. Die Unterscheidung zwischen individuellen und Gruppeninteressen ist offenbar erst später entstanden. Der neidische Vergleich zwischen dem Besitzer der Ehre verleihenden Beute und seinen weniger glücklichen Gruppengefahrten wurde aber zwei-
Deshalb haben die amerikanischen Übersetzer von "Wirtschaft und Gesellschaft" diesen Begriff zu Recht mit »status« übersetzt.
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fellos schon früh gezogen und stellte einen Teil des Nutzens dar, den Eigentu m brachte. (...) Auf das primäre Stadium des Eigentums, nämlich auf den Erwerb durch einfachen Raub, folgt eine weitere Phase, nämlich die beginnende Organisation der Arbeit auf der Grund lage des Privateigentums (das
heißt hier: der Sklaven); die Horde wird zu einer mehr oder weniger autarken Arbeitsgesellschaft. Besitz gilt nun nicht mehr in erster Linie als Zeugn is eines geglückten Raubzuges, sondern vor allem als Zeichen
der Überlegenheit des Besitzenden über andere Gruppenmitglieder. Damit wird der neiderfüllte Vergleich zu einem Vergleich zwischen
den besitzenden und den besitzlosen Ange hörigen der Grup pe. (...) Mit der Entwicklung geregelter Arbeitsverhältnisse wächst deshalb auch die Bedeutung des Reichtums als Grundlage von Ruf und Ansehen. (...) Bedeutsamer ist dabei noch, dass es nun das Eigentum - im Gegensatz zur heroischen Tat - ist, welches zum leicht erkennbaren Beweis des Erfolgs und damit zur gesellschaftlich anerkannten Grundlage des Prestiges wird. Besitz wird notwendig für eine angesehene Stellung in der Gesellschaft. (...) Reichtum, der einst nur als Beweis der Tüchtigkeit galt, wird nun in der öffentlichen Meinung zum Verdienst an sich; er ist seinem Wesen nach ehrenhaft und verleiht deshalb seinem Besitzer Ehre. Und im Laufe einer sich immer weiter verfeinernden Entwicklung wird der von den Vorfahren ererbte Reichtum bald für ehrenhafter gehalten als vom Besitzer selbst erworbene Güter." (Veblen 1899: Theorie der feinen Leute, S. 36f.)
Im Üb ergang von der " räuberi sch en Kultur" zur "scheinbar friedlichen" (Veblen 1899, S. 60) Epoc he der Industriegese llschaft kommt es zu einer doppelten pr estigeverheißenden Strategie: Man zeigt demonstrativ seinen Re ich tum und dem on strativ Nichtarbeitl " Um Ansehen zu erwerben und zu erhalten, ge nügt es nicht, Rei chtum oder Mach t zu besitz en. Heid e müssen sie auch in Erscheinung treten." (S. 42) Dazu zeigen d ie e inen durch verschwende rischen Kon sum (sconspicious consumption«), wie erfolg reich sie nach ihrer eigen en Einschätz ung sind, während die anderen ihr Prestige dadurch herausstre ichen, dass sie entweder selbs t nicht arbeiten (econspicious lei sure«), od er sich Personen leisten, die stellvertretend ni cht arb eiten . Wa s die letzte Form des stellvertretende n demonstrativen Mü ßi ggangs angeht , erinnert Veblen wortreich an d ie Eh efrau, die in bestimmten Kreisen nicht arbe iten darf und sich Beschäft igun gen hin gibt, die nicht im entferntesten
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an ernsthafte oder gar mühselige Arbeit erinnern.t Aber auch der Hinweis auf Personal oder Handwerker, die für einen auch die einfachsten Arbeiten erledigen, dient der Demonstration, dass man diese Form produktiver Arbeit nicht nötig hat. Und hinter mancher liebevollen Pflege völlig nutzloser und teurer Hobbys oder absichtslosen Versenkung in ästhetische und künstlerische Interessen mag auch der stille Wunsch stehen, dass andere das auch als weiteste Entfernung von banaler Lohnarbeit verstehen. Eine letzte Form, Zeit nichtproduktiv zu verwenden, sieht Veblen in den feinen Manieren: .Die Kenntnis und Beherrschung feiner Lebensformen ist eine Frage langer Gewöhnung. Guter Geschmack, Manieren und kultivierte Lebensgewohnheiten sind wertvolle Beweise der Vornehmheit, denn eine gute Erziehung verlangt Zeit, Hingabe und Geld und kann deshalb nicht von jenen Leuten bewerkstelligt werden, die ihre Zeit und Energie für die Arbeit brauchen." (Veblen 1899, S. 50) Um sich beim Austemschlürfen nicht die Finger abzusäbeln braucht man a) Zeit zum Üben, b) viel Geld für das Grundmaterial und c) Zeit, weil es sie hier leider nicht in jed er Dorfkneipe gibt. Wer all das aber hat, kann sich seinem Publikum stellen. Ich komme zu der anderen Strategie, einen besonderen Status herauszustreichen, dem demonstrativen Konsum. Diese Strategie klang gerade in dem Beispiel mit den Austern (ersatzweise kann man natürlich auch bestimmte Weine aus der Toscana oder Zigarren aus der Karibik nehmen!) schon an. Wichtig ist nun, demonstrativen Konsum nicht mit dem Protz des Neureichen zu verwechseln. Solche plumpen Geschmacklosigkeiten, die Veblcn um die Jahrhundertwende in den USA vielleicht besonders auffielen, gehen heute selbst "kleinen Leuten" auf die Nerven. Veblen interessierte sich denn auch mehr für die verfeinerten Formen demonstrativen Konsums, mit denen wir in der scheinbar friedlichen Industriegesellschaft Prestige erwerben und beweisen wollen. Veblen beginnt wieder mit einem Blick in die frühe, " räuberische" Kulturepoche. Dort hatte der das größte Ansehen, der der Kräftigste war, den Feinden die meisten Trophäen abgenommen hatte und seinen Reichtum dann auch hemmungslos genießen konnte. Der erfolgreichste Jäger nahm selbstverständlich das beste Stück Fleisch, Ich enthalte mich an dieser Stelle jeglicher Süffisanz. Ihnen fallen sicher selbst gute Beispiele ein! Wem partout nichts einfallt, kann hilfsweise eine Woche Vorabendprogramme aus der feinen Gesellschaft gucken.
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und wer sich bei der Erob erung eines Dorfe s hervorgetan hatte, du rfte auch den größten Humpen Met leere n. Aus dieser Zeit rilhrt die Differenzierung der Nahrungs mittel, die wir bis heute kennen. Heute stellt man sein Prestige aber nicht mehr unter Beweis, indem man viel isst, sondern indem man Ausgefallenes, Teures und Se ltenes in kleinen Port ionen zu sich nimmt. Wenn der westfälische Bauer seine Kne chte betrachtete, dan n sah er sie .fdäten", sich selbs t hielt er zugu te zu .J äten", und wenn er sich den Luxus leistete, auszugehen, dann ging er .spiesen'', Der sozialen Differenzierung über das Essverhalten kommen bestimmte Restaurants inzwischen dadurch entgegen, dass sie ausgefallene Zutaten komb inieren und ihre Kreationen in kleinsten Portionen servie ren. M it dieser kultursoziologischen Einsc hränkung ist die fo lgende Beschreibu ng des demonstrativen Kon sums zu lesen: Thorstein Veblen: Demonstrativer Konsum " Der müßige Herr der scheinbar friedlichen Epoche konsumiert somit nicht nur viel mehr, als zur Erhaltung seines Lebens und seiner physischen Kräfte notwendig wäre, sondern er spezialisiert seinen Verbrauch auch im Hinblick auf die Qualität der konsumierten Güter. Frei und ungehemmt genießt er das Beste, was an Esswaren, Getränken, Narkotikat , Häusern, Bedienung, Schmuck, Bekleidung, Waffen, Vergnügen, Amuletten, Idolen und Gottheiten zu haben ist. Den wesentlichsten Grund für die allmähliche Verbesserung der Verbrauchsartikel und das nächstliegende Ziel einer jeden Neuerung bildet ohne Zweifel das erhöhte persönliche Wohlbehagen. Doch stellt dieses nicht den einzigen Zweck des Konsums dar. Das Prestige bemächtigt sich nämlich alsbald der Neuerungen und bestimmt nach seinem Ermessen, welche überleben sollen. Da der Konsum von besseren Gütern ein Beweis des Reichtums ist, wird er ehrenvoll." (Veblen 1899: Theorie der feinen Leute, S. 66)
Deshalb darf man auch nicht zu wenig von den feinen Dingen kon sumieren, denn wer nu r einma l im Jahr einen Jahrgangschampagner trinkt, kann sich vie lleicht nicht mehr leisten; wer sich aber jeden Freitag das Gl äschen im Ede lbistro leistet, ist schon wer.
Darunter versteht Veblen auch Alkohol. Es ist inunerhin die Zeit, in der sich die Prohibition in den Vereinigten Staaten formierte. Die Prohibition Party wurde schon 1869 gegründet, 1893 folgte die Anti-Saloon League.
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Es liegt auf der Hand, dass die Ausbildung eines feineren Geschmacks Zeit und intellektuelle Anstrengung erfordert. Deshalb gehört zum Prestige auch, "ge nau zwischen edlen und gemeinen Konsumgütern zu unterscheiden" . (Veblen 1899, S. 66) Prestige, so könnte man die später zu referierenden Thesen von PIERRE BOURDIEU schon vorbereiten, ist anstrengend: Man muss ständig wissen, welcher Prestigewert einem bestimmten Verhalten oder einem bestimmten Attribut zukommt! Riesmans These von der Außenleitung meint im Grunde nichts anderes. Veblen leitet nun zu einem merkwürdigen Mechanismus des demonstrativen Konsums über, der darin besteht, durch exzessiven Verbrauch von Reichtum einem Rivalen zu imponieren. Kulturgeschichtlich haben die prunkvollen Feste auch diese Funktion seit je gehabt, und die Geschenke, die Herrscher einander machten, dienten auch dazu, das eigene Prestige nach Möglichkeit Ober das des anderen zu stellen. Eine Variante des exzessiven Zurschaustellens von Reichtum hat die kulturanthropologische Forschung im sog. Potlatch der Kwakiutl-Indianer an der NW-Küste der USA identifiziert. Weil dieser Stamm vom Fischfang lebt, haben Kanoes eine wichtige Bedeutung. Nun kommt es vor, dass bei einem Stammestreffen die Häuptlinge ihren besonderen Rang nicht nur dadurch herausstellen, dass sie mit der Anzahl ihrer Kanoes prahlen, sondern sie sogar vor den Augen der anderen zerstören, um so ihren überlegenen Status zu belegen. Hans Christian Andersen hat in seinem Märchen vorn fliegenden Koffer ähnliches beschrieben, wo der Sohn des Kaufmanns so reich ist, dass er Wasserhüpfen mit Goldstücken statt mit Steinen spielt. Demonstrativer Konsum heißt also, die Funktion eines Gutes zu zerstören. Auf diese Weise zeigt man, dass man jeglicher Notwendigkeit (z. B. in Form daraufzu verwendender Arbeit) enthoben ist. Es dürfte klar geworden sein, dass die Theorie von Veblen unter der Hand die These von der Außenleitung in der Modeme vorweggenommen hat. Deshalb will ich abschließend zitieren, was Veblen für unsere fortgeschrittene, schnel11ebige Modeme vor hundert Jahren prophezeit hat, ob also sich demonstrativer Müßiggang oder demonstrativer Konsum durchsetzen wird:
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Thorst ein Vcbl cn : Der hohe Wert der flüchtigen guten M einung "Solange die Gesellschaft oder die Gruppe so klein und so übers ichtlich ist, dass die Sichtbarkei t, die bloße Offenkundigkeit einer Tatsache genügt, um sie bekannt zu machen, das heißt , solange die menschliche Umwelt, an die sich der Einzelne mit Rücksicht auf das Prestige anpassen muss, aus persönlichen Bekanntschaften und nachbarlichem Klatsch besteht, solange ist die eine so gut wie die andere, was für die frühen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklungen zutrifft. Doch mit zunehmender sozialer Differenzierung wird es nötig, eine gr ößere menschliche Umwelt zu berück sichtigen, weshalb allmählich der Konsum als Beweis von (Schicklichkeit) (decency) der Mu ße vorgezoge n wird. Dies gilt besonders für das spätere friedliche Stadium. Hier rucken die Kommunikationsmittel und die Mobilität der Bevölkerung den Einzel nen ins Blickfeld vieler Menschen, die über sein Ansehen gar nicht anders urteilen können als gemäß den Gütern (und vielleicht der Erziehung) , die er vorzeigen kann. Die moderne industrie lle Organisation wirkt sich auch noch in anderer Weise aus. Oft erfordert sie nämlich, dass Individuen und Haushaltungen nebeneinander leben, zwischen denen sonst keiner lei Kontakt besteht. Die Nachbarn sind gesellschaftlich gesehen oft keine Nachbarn, j a nicht einmal Bekannte, und trotzdem besitzt ihre flüchtige gute Meinung einen hohen Wert. Die einzige Möglichkeit, diesen (teilnahmslosen Beobachtern unseres Alltagslebens) (unsympathetic obser vers of one ' s everyday Iife) die eigene finanzielle Stärke vor Augen zu führen, besteht darin, diese Stärke unermüdlich zu beweisen. In der modernen Gesellschaft begegnen wir außerdem einer Unzahl von Personen, die nichts von unserem privaten Dasein wissen - in der Kirche, im Theater, im Ballsaal, in Hotels, Parks, Läden usw. Um diese flüchtigen (Beobachter) gebührend zu beeindrucken und um unsere (Selbstzufriedenheit) (self-eomplacency) unter ihren kritischen Blicken nicht zu verlieren, muss uns unsere finanzielle Stärke auf der Stirn geschrieb en stehen, und zwar in Lettern, die auch der flüchtigste Passant entziffern kann. Deshalb wird wohl in der künftigen Entwicklung der Wert des demonstrativen Konsums jenen der demonstrativen Muße weit überflügeln ." (veblen 1899: Theorie der feinen Leute, S. 75) 1
I Meine Korrekturen an der deutschen Übersetzung stehen in Klammem.
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Ich habe eben referiert, dass Statu ssymbole erst in einer Gesellschaft wichtig werden, wo nicht mehr jeder jeden kennt. Veblen hat richtig vorausgesagt, wie wir unter das Diktat bestimmter Statuss ymbole, die alle etwas mit demonstrativem Konsum zu tun haben, geraten. Ich sehe aber auch Anzeichen dafür, dass der demonstrative Müßiggang als Statussymbol nicht aus der Mode gekommen ist. Galt es näm lich früher als vornehm, blass zu sein, um sich von denen zu unterscheiden, die offensichtlich drau ßen arbeiten mu ssten und von der Sonne verbrannt wurden, so hebt die braune Gesichtsfarbe heute das Ansehen, denn offensichtlich kann man sich reichlich Freizeit in sonnige n Gefilden (oder zumindest den regelm äßigen Besuch im Sonnen studio) leisten.
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Bourdieu: Die feinen Unterschiede
Der französische Soziologe PI ERRE B OURDI EU (1930-2002) untersuchtel in seinem Buch .Die feinen Unterschiede" (1979) die französische Gesellschaft unter der Annahme , dass es eine Klassengesellschaft ist, in der sich die Angehöri gen der Klassen durch die Verfügung über Kap ital und durch Unterschiede in Geschmack und Lebensstil untersc heiden. Sowohl zwischen den Klassen als auch innerhalb der Klassen sind Indivi duen in dieser Hinsicht abgegrenzt und grenzen sich voneinande r ab. Obwohl Bourdieu den soziologisc hen Begriff des Status nicht system atisch verwendet, kann man sein Buch auch als Schil derung eines Klassenkampfe s um den sozialen Statusa lesen. Ich beschränke mich hier auf die Aussagen, die die Diskussion über den soz ialen Status in eine neue Richtun g lenken. Bourdi eu untersche idet zwischen drei Kapital sorten . Die erste nennt er ökonomisches Kapital, und damit sind vor allem Geld und Eigentum gemeint, die zweite soziales Kap ital. Es besteht im Wesentlichen in den sozi alen Beziehun gen, über die man verfügt. Im Zusammenhang mit dem sozialen Status ist vor allem das dritte, das kulturelle Kap ital interessant. Es besteht in Wissen und Qualifikationen, aber auch in Hand-
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Ich knüpfe an einigen Stellen an das an, was ich in Band 1, Kap. 9.3 "So zialer Raum, Kapital und Gescluna ck" über seine Erklärung sozialer Ungleichheit gesagt habe. Man kann es auch als Vertiefung der "Theorie der feinen Leute" von VebJen lesen, den Bourdieu allerding s in seinem Buch mit keinem Wort erwä hnt!
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lungsformen und Einstellungen, die in der Familie und im Ausbildungssystem erworben wurden. Alle drei Kapitalsorten zusammen bestimm en die Plazierung des Individuums im sozialen Raum . Der soziale Raum besteht aus objektiven sozialen Positionen und aus einer Struktur objektiver Relationen , die aus klassenspezifischen Handlungsweisen und Einstellungen resultieren und sie wieder determinieren. (vgl. Bourdieu 1979, S. 378f.) Durch das tägliche Handeln wird das einem sozialen Raum angemessene Prinzip des Denkens und Handeins immer wieder verstärkt. Das Individuum veri nne rlicht die " typischen Gedanken, Wahrn ehm ungen und Handlungen einer Kultur", d. h. seiner Kultur, und entwickelt daraus eine typisehe .Disposition gegenüber der Welt" . (Bourdieu 1967 S. 143 und 1983a, S. 132) Diese Disposition bezeichnet Bourdi eu als Habitus. Der Habitus bewirkt als generatives Prinzip die Praxisforrnen, die für den sozialen Raum angemessen sind. Und ebenso generiert er den Rahmen, in dem sich die Individuen auch selbst zu sehen haben. Indem sie ihn total verinnerlicht haben, funktioniert er automatisch als immer neue Zuweis ung des Individuums an den richtigen Ort. Man kann es so zusammenfassen: Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital definieren zusammen den Status, wo also jemand im sozialen Raum plaziert wird. Der Habitus fixiert den sozialen Status. Bei der sozialen Plazierung in der Klassengesellschaft generell und dem spezifischen sozialen Raum kommt dem kulturellen Kapital, und zwar durch seine Objektivation, also die Art, wie es zum Ausdruck gebracht wird, eine besondere Bedeutung zu. Die Obj ektivation, die die soziale Differenzierung ganz eindeutig macht, ist fllr Bourdieu der Geschmack. Bourdieu unterscheidet drei Gesclunacksarten , die das Ergebnis der Unterschiede der Sozialisation, sprich hier: der Verinn erlichung eines klassenspezifischen Habitus, des kulturellen Kapitals und der objektiven Stellung in der Sozialstruktur sind : den " legitimen oder herrschenden" Geschmack der Bourgeoisie, den "mi ttleren" Ge schmack in den Mittelklassen bzw. den "prätentiösen" Geschmack des Kleinbürgertums, das Bourdieu ebenfalls zu den Mittelklassen zählt, und schließlich den " volkstümlichen oder barbarischen" Geschmack der "c lasse populai re", der Unterschicht, zu der die Arbeiter und Bauern gehören. Man kann sich denken, wie schwer sich manche kritischen Soziologen mit dieser Wortwahl eines ansonsten doch geistesverwa ndten Kollegen
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getan haben, zumal er keinen Zweifel daran ließ, was er als »legitimen Geschmack« ansah! Bourdieu lenkt nun den Blick auf zwei Prozesse, die man als Kampf um den sozialen Status ansehen kann. Da ist einmal die obere Klasse, die einen raffinierten internen kulturellen Klassenkampf austrägt, und zum anderen die Mittelkl asse, in der sich ebenfa lls ein permanenter Kampf um Anerkennung und Unterscheidung abspielt. Betrachten wir zunächst den internen Klassenkamp f der Bourgeoisie. Es ist ein Kampf, der mit den Mitt eln des kulturellen Kapitals ausgetragen wird und die Schließung sozialer Kreise zum Ziel hat. In die sem Kampf um Distinktion, also der bewussten Abgre nzung gegenüber anderen, spielt die Art der Ane ignung von und des Umgangs mit kulturellem Kapital eine entscheidende Rolle. In der oberen Klasse machen sich daran die feinen Unterschied e fest. Zur internen Differenzierung dient nämlich das Prinzip der Anciennität: Wer sein Bildungskapit al schon im Elternhaus erworben hat, blickt verächtlich auf den Aufstelger hinab. Es komm t noch etwas andere s hinzu : Wer sein kulturelles Kapital von Kind auf akku muliert hat, konnte es in Muße in vielerlei Hinsicht differenzi eren. Es war ihm und seinesgleichen selbstverständlieh, und es zu erwerben bedeutete keine übermäßige Anstrengung. Man konnte gelassen damit umgehen und musste es anderen in der gleichen Lage nicht beweisen. Diese Gelassenheit wird der Aufsteiger , wie Bourdieu feststellt, nicht erreichen, weil man ihm die Plackerei des Aufstiegs immer ansehen wird. (vgl. Bourdieu 1983a, S. 136) In der Sprache Lintons fehlt dem achieved status die Zuschreibung der richtigen Vorgeschichte! I Distinktion lebt von einem zeitlichen Vorsprung symbolischer Kompetenz und von der Ablehnun g nachträglicher Qualifikation . Sie ist gepaart mit einer "äs thetischen Einstellung" zu kultur ellen Symbolen. Damit ist gemeint, sie nicht auf ihre prakti sche Funktion oder reaIch habe im Zusanunenhang mit der Entwertung von kulturellen Statussymbolen angedeutet, dass sich Eliten über feine Unterschiede definieren. Ein Beispiel für einen besonders feinen Unterschied liefert MICHAEL HARTMANN, der in einer eindrucksvollen empirischen Studie herausgefunden hat, dass bei der Rekrutierung des Nachwuchses in Leitungsfunktionen der Wirtschaft die Würdigung der objektiven Leistung durch die Wiedererkennung eines bestinunten Habitus überlagert wird. Wer einen bestinun ten sozialen und kulturellen Hintergrund mitbrachte, hatte signifkant größere Chancen, eingestellt zu werden, als der, der .n ur' über gute Leistungszertifikate verfügte . (vgl. Hartmann 2002)
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listische Wiedergabe zu prü fen, sondern den Stil, die Fonn und ihren hintergründigen Sinn zu schätzen. Etwas näher am Alltag: Man kauft nicht die Kaffeekanne, mit der man am besten einschenken kann, sondern die ein bestimmtes Design hat. Die ästhetische Einstellung ist durc h ,,Distanz zur Notwendigke it" gekennzeichn et: Pferre ßourdieu : Die Distanz zur Notwendigkeit "Die ästhetische Einstellung, die zur Auskfam mernng von Natur wie Funktion des Dargestellten tendiert, zur Ausschaltung wie aller rein ethischen so auch jeder »naiven« Reakt ion - Grauen vor dem Grauenhaften, Begehren nach dem Begehrenswerten, gläubiger Kniefall vor dem Heiligen - , um ausschließlich die Darstellungsweise. den Stil, erfasst und bewertet im Vergleich zu anderen Stilen, in Betracht zu ziehen, ist integraler Bestandteil eines umfassenden Verhältnisses zur Welt und zu den Menschen. Sie bildet eine Dimension eines Lebensstils, worin, wenn auch in verstellter Form, spezifische Existenzbedingungen zur Wirkung kommen; Voraussetzung für je de Form des Lemens von legitimer Kultur, sei es implizit und diffus wie gemeinhin innerhalb der Familie, oder explizit und spezifisch ausgerichtet wie im Rahmen der Schule, zeichnen sich diese Existenzbedingungen aus durch den Aufschub und die Suspendierung des ökonomischen Zwangs und zugleich durch objektive wie subje ktive Distanz zum Drängenden der Praxis, dem Fundame nt der objektiven wie subjektiven Distanz zu den diesen Detenninismen unterworfenen Gruppen. (...) Gerade dadurch wird die ästhetisc he Einstellung auch objektiv wie subjektiv in Bezug auf andere Einstellungen definiert: Zur obj ektiven Distanz gegenüber der Sphäre des Notwendigen und gegenüber denen, die darin eingebunden sind, kommt j ene beabsichtigte Distanzierung hinzu, mit der Freiheit sich verdoppelt, indem sie sich zur Schau stellt. Je mehr die obj ektive Distanz wächst, umso stärker wird der Lebensstil auch Ausfluss dessen, was Weber eine »Stilisierung« des Lebens nannte, d. h. eine systematische Konzeption, die die vielfaltigsten Praktiken leitet und organisiert, die Wahl eines bestimmten Weins oder einer Kä· sesarte nicht minder als die Ausstattung eines Landhauses, Als Bekräftigung der Macht über den domestizierten Zwang beinhaltet der Lebensstil stets den Anspruch auf die legitime Überlegenheit denen gegenüber, die (...) von den Interessen und Nöten des Alltags beherrscht bleiben," (Bourdieu 1979: Die feinen Unterschiede, S. 100f. und 103f.)
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Was Bourdieu hier als Distanz zur Notwendigkeit beschreibt, liest sich wie eine modeme Umschreibung des Prinzips demonstrativen Müßiggangs bei Veblen: Ein überlegener Status wird urnso mehr zum Ausdruck gebracht, je weniger die Tätigkeiten an profane Arbeit erinnern! Wenden wir uns nun dem zweiten Kampf, der sich in der breiten Mittelklasse abspielt, zu. Die Mittelklasse, in der sich die deutlichsten Auf- und Abstiege abspielen und wo der Kampf um den sozialen Status besonders verbissen ausgetragen wird, folgt dem kulturellen Kanon, wie sie ihn in der Schule gelernt hat. Danach definiert sie, was gut und schön ist und was sieht schickt. Im Grunde ist es keine selbstbewusste Überzeugung, die dahinter steht, sondern das ängstliche Bemühen, nichts falsch zu machen. Und im Übrigen hoffen die Individuen dadurch in die Nähe der "besseren Kreise" ihrer Klasse zu kommen und ihnen zu imponieren. Auf der anderen Seite beziehen sie aus dem geglaubten kulturellen Kanon auch das Recht, über den schlechten Geschmack der "wirklichen" kleinen Leute zu spotten. Die Schließung dieser Kreise erfolgt ebenfalls über eine klare, kulturelle Grenzziehung nach unten. Interessant ist eine Parallelbewegung, indem bestimmte Gruppen in der Mittelklasse auch über die Grenzen der Klasse hinausgreifen und damit eine scheinbar widersprüchliche Haltung einnehmen. In keiner Klasse werden so viele bunte Blätter gelesen und Sendungen über die feine Welt der Royals und die aparte des Jetsets verfolgt wie in der Mittelklasse. Sie ist auch der eifrigste Konsument der feinen Küche im Fernsehen. Was steckt dahinter? Ich meine, es ist der widersprüchliche Wunsch, der eigenen Individualität die kleine Flucht nach ganz weit draußen zu erhalten, sich also von der Masse, die solche Bilder des feinen Lebens noch nicht eimnal kennt, zu differenzieren und gleichzeitig sich symbolisch bei allen vernünftigen Menschen der eigenen Kreise zu halten, indem man sich über die Skandale " der da oben" entrüstet, ihre menschlichen Schwächen genau registriert und sie letztlich auf das eigene Maß stutzt oder sogar noch darunterdrückt. Die Mittelklasse ist eine mobile Klasse. Hier gibt es die häufigsten Auf- und Abstiege und die feinsten Abstufungen sozialer Differenzierungen. Ein entscheidendes Vehikel, einen besseren Status zu erreichen oder zu halten, ist die formale Bildung. Wer die richtigen Abschlüsse nachweisen kann, ist gut dran, zumindest fürs Erste. Mit der Höhe des Bildungsabschlusses wird auch ein bestimmter Kanon der "ri chtigen"
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und " wichtigen" Kulturinhalte assoziiert, und deshalb defin ieren sich die Angehöri gen der Mittelklasse auch über diese Regeln des guten Geschmacks und den Kanon des Wissenswerten. Bourdieu wendet sich nun zwei Gruppen zu, die um den sozialen Wert dieses Kanon s wissen, ihn in dem einen Fall aber nicht auf dem üblichen Weg erworben haben und in dem anderen Fall ersetzen. Die ersten hoffen , im Kamp fum den soz ialen Status aufzuholen, indem sie sich an eine kulturelle Norm anpassen, die zweiten lehnen diese No nn ab und lernen etwas Neues, um so ihren sozialen Status aufzuwerten. Bourd ieu nennt sie alte und neue Autodidakten. Der Begriff des Autodidakten wird gewö hnlich mit einem Menschen assoziiert, dem eine Kunst nicht in die Wiege gelegt wurde oder der etwas nicht von Grund auf und nach einem gültigen Plan gelernt hat, sondem der sich irgendwie zu Leistungen hochhangelt, die fast an die wirk lichen Meister ihres Metiers herankommen. Die Charakterisierungen, die Bo urdieu aus seinen emp irischen Untersuchungen der Mittelklasse herausgelesen hat, kann man so verstehen, dass das Selbstbewusstsein der Autodidakten nicht stab il ist. Der alte Autodidakt, stellt Bourdi eu fest, entwickelt gege nüber der legitimen Kun st "e ine ziellos schwänncrischc Andacht" und zeigt Ehrfurcht vor "klassisc her" Bildung. Da von gibt er, auch ohn e dass er darum gebeten worden wäre, ständig Proben ab. Gena u dadurch schließt er sich von denen aus »besserem Hause« ab, " die ihre Ignor anz durch Ignorierun g der Fragen oder Situationen, die sie an den Tag bringen könnten, tarnen." (Bourdieu 1979, S. l 48f.) Der ästhetisc he Geschmack ist nich t aus sich begrü ndet und hat sein Ziel nicht in sich selbst. Die neuen Autodid akten unterscheiden sich von den alten, dass sie anderen Göttern folgen. Sie haben sich bis zu einer relativ hohen Stufe durch die Sch ule durchgeb issen und zeigen ein " fast blasiertes, zugleich vertrautes und ernüchtertes Verhältnis zur legitimen Kultur (...), das mit der ehrfürchtigen Haltung des älteren Autodidakten nichts gemein hat, obwohl es zu gleich intensivem und passioniertem Einsatz führt." (Bourdieu 1979, S. 149) Sie erheben modeme Zeitströmungen zum Kanon und machen ihr Bild von sich selbst an dem fest, was in irgendeiner intellektuellen Avantgarde, aktuellen »Gege nku ltur« (vg l. S. 167) oder etablierten Nische als Rahmen des richtigen Denkens definiert worden ist.
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Die dritte, bei weitem größte Gruppe der Mittelklasse stellen die auf strebenden Kleinbürger dar. Ihren Geschmack bezeichnet Bourdieu als "prätentiös". 1m Deutschen hat das Wort einen leicht negativen Klang und wird mit "Anmaßung" assoziiert. Im Französischen ist die Konnotation etwas anders und meint eher "behaupten, vorgeben", aber auch "s treben nach". Ich will es in diesem Sinn interpret ieren. Es ist ein Geschmack, der vorgibt, etwas selbstverständlich zu sein, das er in Wirklichke it nicht ist: er hat sich nicht aus dem Habitus distanzierter Gelassenheit ergeben. Zweitens ist es ein Geschmack, der nach ezwcs strebt, nämlich nach Aneignung dessen, was den aufstrebenden Kleinbürgern als gesellschaftlicher Kanon des Wissens, der Bildung und der Kulturgüter erscheint. Das Kleinbürgertum strengt sich an, um daz uzugehören. Das zeigt sich in typischen Verhaltensweisen, die einen höheren Status beanspruchen und eine andere Identität suggerieren. Bourdieu beschreibt sie drastisch so: 1m Verhältnis des Kleinbürgertums zur Kultur manifestiert sich .Bildungseifer als Prinzip, das je nach Vertrautheit mit der legitimen Kultur, d. h. je nach sozialer Herkunft und entsprechendem Bildungserwerb , unterschiedliche Formen annimmt: So investiert das aufsteigende Kleinbür gertum seinen hilflosen Eifer in Aneignungswissen und Gegenständen, die unter den legitimen die trivialeren darstellen Besuch historischer Stätten und Schlösser (statt z. B. von Museen und Kunstsammlun gen), Lektüre populärwi ssenschaftli cher und geschichtskundlicher Zeitschriften, Photographi eren, Sammeln von Kenntnissen über Filme und Jazz - mit demselben bewundernswerten Einsatz und Erfindungsreichturn, die es dafür aufwendet, »über seine Verhältnisse« zu leben, zum Beispiel mit der Einrichtung von »Nischen« (»)Koch-«, »Ess-«, und »Schlafnische«) die Räume in der Wohnung kunstreich zu multip lizieren oder sie durch »kleine Tricks« zu vergröße rn (»Ablagen«, »Raumaufteiler«, »Sch lafco uch«) , wobei wir von all den Imitaten schweigen wollen und dem, was sonst noch dazu dient, »mebr« (wie man so sagt) aus etwas »ZU rnachen« - ganz wie ein Kind , das »groß sein« spielt. Der Bildungseifer zeigt sich unter anderem in einer besonderen Häufung von Zeugnissen bedingungsloser kultureller Beflissenheit (Vorliebe fü r »wohlerzoge ne« Freunde und für »bildende« oder »lehrreiche« Aufführungen), oft von einem Gefühl eigenen Unwe rts begleitet (»Malerei ist schön, aber schwierig«, usw.), das genau so groß ist wie der Respekt, den man der Sache entgegen-
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bringt. Der Kleinbürger ist ganz Ergebenheit gegenüber der Kultur." (Bou rd ieu 1979, S. 503 f.)
Gerade in dieser Hinsicht leben die Kleinbürger in latenter Angst, etwas falsch zu machen und einen Status, den sie sich vormachen, zu verlieren. Bourd ieu d rückt es so aus: " Die Kleinbü rger haben kein spieleri sches Verhä ltni s zum Bi ldungsspi el: sie nehmen di e Kult ur zu ernst,
um sich einen Bluff oder Schwindel zu erlauben oder auch nur die H15sige Distanz, die von wirklicher Vertrautheit zeugt; zu ernst, um nicht ständig besorgt zu sein, ob sie nicht bei Unkenntnissen oder Schnitzern ertappt werden ." S ie haben nicht " die Ge lassenh eit derjenigen, die sich erm ächtigt fühl en, ihr e Bildungslücken zu ges tehen und sogar auf ihne n zu bestehen. (...) Die Kleinbürger machen aus der Bildung ein e Frage von wahr und falsch , eine Frage auf Lebe n oder Tod." (Bourdieu 1979, S. 5 18) Die Rekl amation eines Status, dessen m an sic h nicht sicher ist, erlaubt keine halben Sac hen. Wo hlgemerkt, es geht nicht um den Sp ießer, der selbstgefä llig und bo rniert seine Pri nzipien für die einzig richti gen hält und sich der Anerkennung durch sei nesgleichen siche r weiß, sondern um d en K leinbürger, der ,j enen Hang zum Höheren" (D egenh ardt) verspü rt und sich in eine r M ischung aus Neid und Bewun derun g nach oben and ient und nach unten abgrenzt. Er hat einen Status inne, der n icht w irklich Ident ität garantiert. Hans Magn us Enze nsberger hat es einm al so ges agt: " Der Kleinbürger wi ll alles, nur nicht Kleinbürger se in. Se ine Identität versucht er nicht dadurch zu gewinnen, das s er sich zu seiner Klasse bekennt, sondern dad urch, dass er sich von ihr abgrenzt, das s er sie verleu gnet. Was ihn m it seinesg leichen verb indet, gerade das streitet er ab. Ge lten so ll n ur, was ihn unte rsc heidet: der K leinbürger ist imm er der and ere." (Enzensber ger 1976, S. 4) De r Kleinbürger ist " der beste Kunde von Massenk ultur" (M üller 1992 , S. 333 ), weil er mein t, es se ien Statuss ymbole der legiti men Kultur. Aber es sind eben nur äuß er e Zeiche n, d ie den sozialen Ab stand nach oben nicht veningern und nach unt en nicht vergrö ßern . Bourdieu beschre ibt das Di lem m a de r prä tentiösen Klasse lapidar so: .Per Definition sind die unteren Klassen nicht distingui ert ; sobald sie etwas ihr eigen nenn en, verl iert es auch schon diesen Charakter. Die herr sch ende Kultur ze ichnet sich imm er d urch einen Abstand aus." Ka um wu rde Ski fahren populär, begann die herrschende Kultur außerhalb der Piste
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zu fahren: " Kultur, da s ist im Grunde auch immer etwas »außerhalb der Piste«," (B ourd ieu 1983a, S. 138) Um ein letztes Mal den Bogen zu einer Theori e des sozi alen Status zu schlagen, möcht e ich ein Kind aus einem großbürgerlichen Ha us zu Wort komme n lassen . HANS-PETER M ÜLLER hat es in sein em Buch über "S ozi alstruktur und Lebensstil e" zitiert. Es hand elt sich um Nicolaus Sombart, der im Rückbl ick auf sein Leben kriti siert, dass es keine tonang eben den, bildungsbürgerlichen Häuser mehr gibt, und be schrei bt, was dar aus folgt: " Wenn es sie nicht mehr gibt, herrschen die Boutiquenbesitzer, Schneider, Photographen , Coi ffeure und Kun sthä ndler, die schließlich zum wichti gsten Um gan g der reichen Leute we rde n, und die Öffent lichkeit bekommt als Vorbild höherer Lebensformen nichts anderes geliefert als die Kaufgewohnheiten der Kon sum gesellscha ft auf der höch sten Einkommensstufe, die die Medien , mehr durch Werbung als durch eine Berichterstattung - denn was sollten sie bericht en - vermitteln. Die Leut e führen dann auch auf ihren Kleidern und Accessoires, ihre m Gepäck und ihre m Gesc hirr nicht mehr ihre Wappen oder Initi alen, sondern die Initialen und Warenz eichen der Geschäfte, in den en sie kaufen. (...) Sie schm ücke n sich mit den teuersten Statussymbolen, abe r sie hab en darauf ve rzichtet, selber zu bestimmen, was Status ist." (So mbart 1984: Jugend in Berlin, S. 80; zit. nach Müller 1992, S. 330) Bourdieu spric ht von einem " naiven Exhibitionismu s des »ostentativen Konsums«, der Distinktion in der primitiven Zursc haus te llung eines Luxus sucht, über den er nur man gelhaft gebietet." (Bourdieu 1979, S. 61) Das klin gt wie eine Para phrase von THORSTEIN VEBLEN, der da von spricht, dass das Prestige sich der Zeichen des Wohlstands bemä chti gt und bestimmt, welche überleben sollen. Demon strativer Konsum ist letztl ich ein entfremdeter Konsum, weil seine symbolische n Formen immer von außen diktiert werd en und permanent der Inflation unterliegen. Bleibt ganz zu m Schluss die Frage, warum dieser doppelte Klassenkampf - Distink tion oben und Prätention unten - immer weiter geht. Bourdieu gibt dafür eine plausibl e Erklärung, die mit der eingangs beschriebenen These des generativen Prinzips des Habitus zusammenhängt . Er schreibt: .Die Erfahrung von soz ialer Welt und die darin steckende Kon struktion sarbeit vollziehen sich wesentli ch in der Pr axis, j en seit s expliziter Vorstellung und verbalen Au sdrucks. Einem Klas-
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sen-Unbewuss ten näher als einem »Klassenbewusstsein« im marxistischen Sinn, stellt der Sinn für die eigene Stellung im sozialen Raum Goffmans »sense of one ' s place« - die praktische Beherrschung der sozialen Struktur in ihrer Gesamtheit dar - vermittels des Sinns für den eingenommenen Platz in dieser." (Bourdieu 1984, S. 17) Etwas weniger abstrakt: Durch das tägliche Handeln wird das einem sozialen Raum angemessene Prinzip des HandeIns immer wieder verstärkt. Unmerklich werden die Akteure dazu gebracht, die Welt wie sie ist hinzunehmen. Durch Distinktion und mittels " feiner Unterschiede" hoffen sich die einen von den anderen abzugrenzen, während die anderen durch Prätention und immer neue Kopien von Statussymbolen die Illusion eines höheren Status nähren. So lange diese Illusion trägt, sei es dass man in Maßen "mithalten" kann oder dass einem die geträumte symbolische Nähe reicht, befiiedigt das Leben. Problematisch wird es für die, deren untere Stellung strukturell in ein prestigereiches Umfeld eingebunden ist, die den großen sozialen Abstand auch spüren, aber ihn mit allen Mitteln , z. B. mit den Symbolen eines höheren Status, aus ihrem Bewusstsein ausklammern. Hinter dem symbolischen Verhalten nagt die "schmerzhafte Erfahrung", di e Bourdieu .positionsbedingtes Elend" nennt. (1993, S. 19) In der Dok umentation " Das Elend der Welt" (Bourdieu u. a. 1993) sind Zeugnisse dieses gar nicht so seltenen, " alltäglichen Leidens an der Gesellsch aft" zuhauf aufgelistet. Man kann sie auch als Zeugnisse des verlorenen Kampfes um einen höheren Status bzw. des Leidens an der Exklusion lesen, die in die von Bourdieu beschriebene Klassengesellschaft eingeschrieben ist!
7.5
Goffman: Stigma und soziale Identität
In der interpretativen Soziologie hat der Status auch etwas mit der Definition der Situation zu tun, die Individuen für sich und wechselseitig mit anderen vornehmen . "Jeder Handelnde lässt durch sein Handeln erkennen, wie er die Situation defin iert, und gibt ihnen damit auch Anhaltspunkte für die Definition ihres eigenen Status in der Situation." (Zelditch 1968, S. 252, Übersetzung H. A.) Die Definition der Situation und der Handelnden hat Folgen, denn - so wurde das sog. ThomasTheorem schon zitiert - " wenn Menschen Situationen als real definieren, sind auch ihre Folgen real" . (Thomas u. Thom as 1928, S. 114)
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Erwart ungen haben eine strukturierende Kraft. Liegen die Definitionen auseinander und haben die Handelnden ein Interesse am Fortgang der Interaktion, kommt es zu Korrekturen und Anpassungen. Diese Anstrengungen gehen in Richtung wechselseitig angemessener Definition, was bedeutet, füreinander reziproke Status zu bestimmen. (vgl. Zelditch 1968, S. 252) Der Status des Herrn ist nur zu denken, wenn ein anderer den Status als Knecht einnimmt, und dieses Verhältnis hat nur solange Bestand, wie die beiden Definitionen der Situation aufeinander bezogen sind. Dass die Chancen, die Situation anders zu definieren, in diesem Beispiel nicht gleich sind, liegt auf der Hand. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die eine Definition ohne die andere nicht denkbar ist, dass sich in der einen auch die andere wiederfindet. Die Selbsteinschätzung, die durch die wechselseitige Spiegelung des Verhaltens zustande kommt, hat CHA RLES HORTON COOLEY .Jooki ngglass self" genannt. (1902, S. 184) I Der Status einer Person hat insofern strukturierende Funktion, als mit ihm bewusst oder unbewusst Erwartungen eines typischen Verhaltens verbunden werden. Handelnde klassifizieren eine Situation und sich selbst nach den Mustern, die ihnen vertraut sind, und erwarten wechselseitig Verhalten, das ihnen als typisch und normal gilt.a Einen Sonderfall der strukturierenden Wirkung der Definition eines sozialen Status hat ERVING GOFFMAN in seinem Buch " Stigma" (1963) beschrieben. Unter einem Stigma verstanden die Griechen ein Zeichen, das in den Körper geschnitten oder gebrannt wurde, um etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes im Charakter des Zeichenträgers öffentlich kundzutu n. Goffman interpretiert den Begriff des Stigm as weiter und versteht darunter Attrib ute, die in irgendeiner Form das Individuum diskreditieren. Solche Stigmata können körperliche Behinderungen, aber auch Hautfarbe, fehlende Bildung oder ein bestimmter " unehrenhafter" Beruf, oder auch Herkunft, missbilligte Neigungen und ähnliches sein. Wie Statussymbole haben auch die Stigmata eine symbolische Funktion. Während j ene aber die Funktion haben, ein Individuum öffentlich aufzuwerten, werte n Stigmata seinen Status ab. Sie lösen Erwartungen aus, die seine Identität diskreditieren. Vgl. zum Begriff ,,5piegelse1bst" auch Kap. 8.2 " Identität - sich mit den Augen des anderen sehen", S. 338 Anm. 2. 2 Vgl. zur Erklärung die Idealisierungen nach Schütz oben S. 225f. und unten S. 3 14
Anm. I.
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Dass Erwartungen den Status definieren und ein bestimmtes Verhal ten pro vozieren, gilt für j ede Interakti on . Um deutlich zu m achen, das s diese Erwartungen das Indi viduum in se iner Gesamth eit beeinträchtigen, zieht Go ffman den Begri ff de r ,,sozialen Identität" dem des "s oz ia-
len Status" vor. (Goffman 1963, S. 10) Gerade aber die Beispiele der nonnativen Strukturierung von Verhalten, die er in seinem Buch beschre ibt, mach en deutli ch, das s die Definition der sozialen Identität den Platz festschreib t, von dem aus nur noch ein begrenztes Reperto ire von
Verhaltensformen möglich ist. Deshalb sagt das Buch "Stigma" auch etwas über die Definition eines Status und das Gesetz des Handeins, d as d ie Gese llsch aft dam it dik tiert . Goffman beschreibt beschreibt den Vor gang der Definition so: " Die Gese llscha ft gibt uns vor, nac h w elch en Kriteri en wir Personen eine rdnen , und nennt un s auc h gleic h di e Attribute, d ie wir bei ihn en als natürli ch und norm al erwarte n können. Soziale Situ atio nen definieren den Typ von Me nschen, dem man aller Wahrscheinlichkeit nach dort begegn et. Die Hand lungsroutin en in defi nierten Situationen erlauben uns, erwart eten Anderen zu bege gnen , ohne das s wir ihnen besondere Au fm erksamkeit schenken m üssten. Se lbs t we nn uns ein Fremder begegnet, dann ste llen w ir un s nach den ersten Eindrii cken eine »soziale Identi tät« vor, die mit den Kate gori en und Att ribute n konstruiert wird, die wi r kennen." (Goffman 1963, S. 2) Der And ere, dem wir begegnen, ist uns im Gru nd e also nicht vö llig neu, sondern wir greife n auf "ähnl iche" Sit uation en zuriick und ordnen ihn gleic h in ein Schem a ein. Er wird charakterisiert und verortet nach unseren Vor erfahru ngen m it Menschen dieser Art in solchen Situationen. Damit meine ich, das s wi r im A lltag no rmalerweise in einer " natürlichen Einstellung" denken : D ie Wir klichk eit ist so, wie wir sie kennen; die ande ren sehen sie genauso, wie w ir, weil wi r in einer gemeinsamen Welt leben, deren Bedeutungen un s vertraut sind und in der sic h di e Erfahrungen gleic hen.t Deshalb er folgen auch die Definiti onen des Anderen nach uns eren Typ isieru ngen im Gestu s d es " das weiß jeder" oder " der ist so" . Unse r Handeln dem Anderen gegenüber erfo lgt auf der Basis des " w ie gewohnt" und des " und so weiterv.z A us unseren Vgl. noch einmal S. 225f. oder auch bei Abels (19 98), Kap. 3.5 " Die Lebenswelt der natürlichen Einstellung". 2 Auch das kann man bei Schütz, hilfsweise auch oben im Kap. 5.7 .Ethnomet hodologie: Methodisches im Alltagsha ndeln", S. 225, nachlesen.
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individuellen Erfahrungen erwachsen generelle Erwartungen. Die Konsequenze n für die Definition des And eren und seines Verhaltens liegen auf der Hand: Die "siche ren" Erwartungen wande ln sich unmerkli ch in .normati ve Erwartungen, in zu Recht erhoben e Ansprüche" um. (Goffman 1963, S. 2) Erinnern wir uns an die These von WILLIAM I. THOMAS, dann ist auch die Relevanz dieser nonnativen Erwart unge n klar: Sie bewirken eine bestimmte soziale Identität des Anderen . Sie wird durch unsere " berechtigten Ansprüche" konstrui ert ! Goffman fahrt fort : .Jo ormalerweise denken wir natürlich nicht darübe r nach, dass wir solche Ansprü che erheben und was sie bedeuten. Erst wenn die Frage auftaucht, ob sie erfüllt werden oder nicht, werden sie uns bewusst. Erst dann machen wir uns wahrsc heinl ich klar, dass wir die ganze Zeit bestimm te Annahmen gemach t haben , was und wie unser Gegenübe r sein sollte." (Goffman 1963, S. 2, Hervorhebung H. A.) Wenn man genau hinsieht, bilden unsere ersten Annahm en von den And eren in der Regel nicht ihre objektive Wirklichkei t ab, sondern sind Forderungen, die aus einer konstruierten Wirklichkeit resultieren. Wegen dieser Differenz nennt GofTman sie auch "abgeleitete" ( ein effectc t) Forderun gen. Und auch wenn wir einem Individuum eine n bestimmten "Charakter" zuschreibe n, dann sollten wir nicht vergessen, dass es sich um eine "abge leitete" C harakteri sierung handelt, die im latenten Rückgriff auf unsere Vorannahmen erfolg t. Unter dieser Perspektive de r Konstruktion, die dann tatsächlich auch etwas beim Anderen bewirkt, lese ich auch Goffmans Unterscheidung de r sozialen Identität: • Die aus unseren Annahme n, wie jema nd nach unsere n Erfahrungen eige ntlich sein sollte, resultierende Identit ät nennt Goffman virtuelle (»virtua [«) soziale Identität. Es ist das Bild, wie er nach unseren ungeprü ften Vorerfahru ngen mit Menschen dieser Art eigentlich sein müsste.z Über diese (ironisierenden?) Anführungszeichen habe ich lange mit Kollegen und besonders mit Frank Brockmeier, dem ich herzlich danke, gegrübelt. Ich interpretiere die Aussage j etzt im Sinne des lateinischen Begriffs "efficere" - ,.hervorbringen, bewirken". Danach meint "in effecr'' die Ableitung aus unseren Vorannahmen, die etwas bewirkt, also das Konstrukt, das dann de facto etwas bewirkt, wie es in der zitierten These von William I. Thoma s mitgedacht wird. 2 Im Sinne Durkheims ist es eine soziale Tatsache, und - noch einmal - nach Thomas hat es tatsächlich Folgen!
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Di e Eino rdnung nach überprütbaren soz ialen Kategori en und tatsächlich vorhandenen Eigensc haften bezeichnet Goffman als tatsächliche {nactual«} soziale Identität.!
Goffinans Buch handelt von der Definition sma ch t hinter der Zuschrci-
bung der virtuellen sozialen Identität und davon, wie Menschen mit einer be schädigten Identität umgehen und w elche tatsächliche soz iale
Identität sie als Gegendefinition ins Spiel bringen. Er beschreibt die Ausgangslage so: "Wenn uns ein Fremder gegenübe rsteht, kann es se in, dass er eine Eigensch aft besitzt, die ihn von anderen seiner Kategor ie un terscheidet ; und dass di ese Eigenschaft wenig wünschenswert ist. Im
Extremfall kann es sich um eine Person handeln, die uns durch und durch schlecht oder ge fährlich ode r schwach zu sei n scheint. In unserer Vorstellung wird sie so von einer vo llständigen und normalen Perso n zu einer, d ie einen Makel hat und minderwertig ist . Ein solche s Merk ma l ist ein Stigma, besond ers dann, wenn sei ne di skreditierende Wir kun g sehr extensiv ist. Ein so lches Merkmal wird manchmal auch als Defekt (xfail ing «), Mangel od er Handikap bezeichnet. Es schafft eine beso nder e Diskrepanz zwischen virtueller (evi rtual«) und tatsächlicher (aact ual«) sozialer Identität." (Goffman 1963a, S. 2f.)2 Auf diese Diskreditierung rea gieren die einen, indem sie peinlich ihr " Stigm a" kaschieren od er sich symbo lisc h unsichtbar machen , and ere stellen ihr " Stigm a" besonders heraus oder kompensieren es d urch besondere Leistun gen auf anderen Gebieten. Die einen wählen eine Kl eidung, di e körperliche Verseh rtheiten verd eckt, d ie anderen zeigen sportliche Leistun gen, die .jcormale' ' staunen ma chen. Wi eder andere pro vozieren ihre Umgebung du rch gezi elte A ggressivität, machen also symbo lisch die anderen für ihren als geringer erachteten sozialen Status veran twortlich. In allen drei Fällen ist es ein Rin gen um einen sozialen St atus auf dem gleichen Niveau wi e di e anderen . Das bedeutet auch, dass der zugeschriebe ne soziale Status, die soziale Identität, wie man also "eigentlich" nach den Erwartungen der anderen sei n sollte, außer Kraft ges etzt wi rd. In vielen Fällen sehen sich Nach dem, was ich in der letzten Anmerkung gesagt habe, könnte man hier das Wort "tatsächlich" auch durch das Wort " wirklich" ersetzen, vorausgesetzt, man versteht es als Gegensatz zu Spekulationen und anderen Voreingenommenheiten. 2 Ich habe den Text selbst übertragen, weil die vorliegende deutsche Übersetzung an entscheidenden Stellen m. E. unverständlich ist.
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denn auch die Stigmat isierten gezwungen, den .jcormalen'' zu helfen, so zu tun, als ob sie sich so nonnal wie gege nüber ihresgleichen verhielten. Da poltert ein Beinamputierter im Aufzug fröhlich los, man solle ihm nicht auf seinen Holzfuß treten, und alle sind froh, dass er die Situation entsp annt. Wenn dann sogar noch jemand sagt, er würde sich aber auch immer vordrängen, dann haben alle anderen das Ge fühl, sich ganz normal wie gege nübe r einem Ihresgleichen verhalten zu haben. Möglicherweise wertet auch der Stigmatisierte das als Zeichen, dass er keinen Sonderstat us hat. Die Diskrediti erten leisten also eine doppelte Konstruktion von Normalität - für sich, inde m sie sich der Illusion einer Schein-Akzepta nz hingeben , und für die anderen, denen sie taktvoll die Illusion der Schein-Normal ität ! erleich tern. (vgl. Goffinan 1963, S. 145-153) Es gibt aber auch die genau umgekehrte Situation, dass die Stigmatisierten in ihrem Sond erstatus gefangen bleiben, weil die .Joorma len' ' nur so mit der Situatio n fertig werden. So lassen sich Rollstuhlfahrer an der Kasse wo hl oder übel nach vorne schieben, weil die anderen so unbewusst ihre Verlegenheit überspie len. Die meisten Mensc hen erwarten eben, dass Stigmatisie rte ihren Stat us nach de n Krite rien der anderen definieren. Goffm an zitiert einige Erfahrungen, die Stigma tisierte machen mussten , als sie sich nicht an das hielten, was man von ihnen erwartete. So berichtet ein Blinder, wie schock iert die Leute waren, als sie hörten, dass er zum Tanz tee gega ngen war.z Die nonnativen Erw artu ngen sind manchm al so fest, dass der Diskrediti erte die Rolle spielen muss, die mit seinem Status verbunde n ist. De shalb ist ihr Han deln auch immer eine Gratwa nde rung: Sie dü rfen nicht so ganz anders sein, dass die Ande ren sich nicht daran ansc hließen können, es darf aber auch nicht zu nah an die Grenze des Normalen zu kommen, oder sie gar überschreiten wollen, weil sich dann die Anderen in ihrer Andersheit irritie rt fühlen. Goffman sagt es so : Vo n den Stigmatisierten wird erwartet, dass sie ihr Glück nicht erzwi ngen und die ihnen gezeigte Akze ptanz nicht auf die Probe stellen. (vg l. Gaffman 1963, S. 150) Das Problem der Schein-Norma lität triffi auch die Identität von Nicht-D iskreditierten; ich komme in Kap. 8.4 "Wir alle spielen Theater", S. 358f. darauf zurück. 2 Sehen Sie sich unter diesem Aspekt der " norma len Erw artungen" doch einma l den Film " Der Duft der Frauen" (Regie : Martin Brest, 1992) an, in dem der blinde Held (AI Pacino) noch ein letztes Mal das Leben in vollen Zügen genießen will!
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Die Stigmatisierten sollen ihren sozialen Stat us - oder in den Worten Go ffmans: ihre soziale Identität - akzeptieren und ihn durch das entsprechende Verhalten konfinn iercn ! Fasst man das Anliegen des Buches " Stigma" unter dem Aspekt von Status und Identität zusammen, so kann man sagen : "Techniken der Bewältigung beschädigter Identität", so lautet der Untertite l des Buches "Stigma" , sind Techniken, um mit einer abträglichen Definition! eines sozialen Status, den die Gesellsc haft diktiert hat, fertig zu werden.
7.6
St rauss : Statuszw ang und Transformation von Statusarten
Um den Zusammenhang von Identität, Interaktion und Status geht es auch in einer Arbeit von ANSELM STRAUSS (1916-1996), die den bezeichnenden Titel " Spiegel und Masken" (1959) trägt. Auf der "S uche nach Identität" be trachten wir die anderen als Spiegel , die das Bild, was wir gerne von uns vermitteln möchten, reflektieren. Um dieses Bild von uns auch gebührend zum Ausdruck zu bringen, treten wir in Masken auf. Es sind Symbole unserer Identität. Strauss nimmt nun an, "dass der Modus dcr Interaktion sich zu jeder Zeit oder in jeder Phase der Interaktion ändert und nicht CUr ihre gesamte Dauer der gleiche bleibt." (Strauss 1959, S. 76f.) Wir ändern dauernd unseren Status und handeln in unterschiedlichen Statusarten. Deshalb müssen auch unterschiedliche Statusmerkma le je nach Situation kontrolliert werden . Strauss versteht unter einem Status die vorläufig zugewiesene Identität in einer Gruppe. Status ist also ein temporäres Konzept. In freien Interaktionsformen gehen Personen von einem Status zum anderen über, und sie wissen auch, wie sie sich der Sit uation entsprechend zu verhalten haben: "In bestimmten Interaktionsarten kennen die Teilnehmer vorher die verschiedenen Stat ustypen, die vertrete n sein werden, und, wie in religiösen Ritualen, sogar die genaue zeitliche Anordnung der Hand lung." (Stra uss 1959, S. 80) Wenn ich mich zum Traualtar begebe, weiß ich, wer welchen Status innehat und wie er sich dementsprechend wohl auch ver halten wird. Doch die allermeisten InteraktioDas ist die These, die ich oben (S. 218), wo es um die .•Kommunikation unter Anwesenden" ging, aufgestellt habe: Auch die ,,Normalen" schützen sich vor falschen Definitionen ihrer sozialen Identität! Auch deshalb ..spielen sie Theater" und tun so, "als ob" . (VgJ. dazu unten S. 324)
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nen sind nicht so streng geregelt, und .jür die meisten Zwecke braucht die Gesellschaft den Personen ihren Status nicht so streng zuzuweisen oder formale Mechanismen anzuwenden, damit sie sich anständig und angemessen benehmen." (Strauss 1959, S. 80) Wieso funktioniert es trotzdem? Es gibt zwei Erklärungen: Erstens wissen wir um unseren Status und wissen, wie "man" sich darin verhält, und zweitens, sagt Strauss, reagieren wir höchst sensibel auf Regieanweisungen. die uns sagen, was wir im Augenblick tun oder nicht tun sollen. (vgl. Strauss 1959, S. 80) Im Klartext: In jeder Interaktion wird die Situation fortlaufend von allen Beteiligten definiert, und das bedeutet auch, dass der Status definiert wird, den jeder haben soll und der bestimmtes Handeln festlegt. Mit dem Status wird eine soziale Identität zugewiesen Was sich in jeder Interaktion nachweisen lässt, fällt in einer Gruppe besonders auf. Da ihre Mitglieder sich in der Regel über einen längeren Zeitraum kennen und in einer dauerhaften Interaktion zueinander stehen, bleibt es gar nicht aus, dass Gruppen "ihre Mitglieder in alle Arten vorläufiger Identitäten hinein- und aus ihnen herauszwingen" können, und sie tun es auch. (Strauss 1959, S. 81) Das nennt Strauss Stat uszwang. Dieser Statuszwang wirkt nach oben und nach unten, hinein und hinaus. So gibt es Mechanismen, jemanden zu beschämen, ihn zu degradieren oder ihn zum Helden zu machen. Auf der horizontalen Ebene reicht der Statuszwang von Vertreibung oder Exkommunizierung bis zur Zulassung zum innersten Kreis einer religiösen Gemeinschaft oder der Aufnahme in den exklusiven Club der Trüffelschweine. Tadel und Lob, Anerkennung und Strafe sind im Grunde Mechanismen der Statuszuweisung in der Absicht, von da an ein bestimmtes Verhalten herbeizuführe n.
Die Zuschreibung wirkt nicht nur von der Gruppe aus, sondern auch von der Person selbst: " Interaktion trägt das Potential unwissentlicher ebenso wie wissentlicher Zuschreibung von unzähligen Motiven und Charakterzügen (in sich, Ergänzung H. A.) - gegenüber anderen und sich selbst. Man kann daher sagen, dass Interaktion von Natur aus den Statuszwang impliziert." (Strauss 1959, S. 87) Wenn ich einem Polizisten klar zu machen versuche, dass ich eigentlich nicht falsch geparkt habe, versuche ich natürlich, ihn in den Status des ein Auge zudrückenden Freundes zu zwingen, während ich selbst mich im Status des armen
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Sünders präsentiere, der völlig ahnungslos in der Feuerwehreinfahrt gelandet ist. Natürlich spielen dabei auch Annahmen über die Motive des Handeins eine Rolle, ob ich also z. B. annehme, dass Polizisten von Haus aus etwas gegen BMW-Fahrer haben, oder der Polizist mir unterstellt, einer von diesen Typen zu sein, die rücksichtslos parken, wo sie wollen. Ergo: Die Interaktion ist ein kompliziertes Wechselspiel von Zuschreibung und Zurückweisung von Statusarten, Ansprüchen und Bewilligungen, Kontrolle und Strategien. (vgl. Strauss 1959, S. 92f.) Der Status steht also nicht fest, sondern ist ein Prozess. Er wird in einem Wechselspiel von Zuweisung und Reaktion, Präsentation und Spiegelung ausgehan delt. Diesen dynamischen Statusbegriff benutzt Strauss auch in einem Biographiekonzcpt, das er gegen die beiden traditionellen Biographiekonzepte " Laufbahn" bzw. " Variation eines Grundthemas" stellt. "Laufbahn" meint, dass die Biographi e in Phasen abläuft, durch institutionelle Vorgaben geregelt und der Status im Wesentlichen über das jeweilige Alter und die damit verbundenen Nonnen definiert ist. Das zweite Konzept, die "Variation eines Grundthemas", unterstellt, dass die Biograp hie z. B. durch frühkindliche Erfahrungen festgelegt ist und j eder Status, der später eingenommen wird, im Grunde eine Ausformung eines prägenden Grund musters ist. Gegen beide Erklärungen setzt Strauss sein Konzept der Transformation von Statusarten. Es impliziert, dass sich die Person an wichti gen Kreuzungspunk ten des Lebens entscheidet, welchen Status es einnehmen will oder einnehm en muss. Der Lebenslauf besteht insofern in einer " Serie von Statusübergängen'' . (Strauss 1959, S. 116) Die subjektiv empfundene Kontinuität über alle Statusübergänge hinweg nennt Strauss Identität. In Anlehnung an ERIKH. ERIKSON unterstellt Strauss, dass hinter dem Bedürfnis nach biographischer Identität ein unbewusstes Streben steht, sein Leben im Nachhinein auf die Reihe zu bringen. Identität ist eine Ordnung vom Ende her. Es ist, als ob man jeder Epoche seines Lebens " im Zeichen des Endprodukts einen Sinn gäbe." (S. 158)
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Biographi sche Identität ist also ein Konstrukt - nicht Lüge, aber auch nicht die Wahrheit. I Diese Konstruktionen (ausdrücklich Plura!!) erfolgen laufend und unbewusst. Besonders intensiv sind sie an den "Wendepunkten" der Biographie, an denen ein Stat us neu definiert werden muss. Solche Wendepunkte können freiwillige Übergänge zu einem neuen Status sein, z. B. beim beru flichen Aufstieg, sie können aber auch durch das Schicksal oder andere Me nschen erzwu ngen werden. Beispiele sind der Verlust eines Partners oder die Einweisung in eine totale Institution . Nach solc hen Wendepunkten erfolgt unmerklich oder auch sehr bewusst eine Bewertung des bisherigen Lebens. Ein besonders drastisches Beispiel für eine Rekonstruktion der Biographie zum Zwecke einer aktuellen Identität sieht Strauss in der Gehirnwäsche. (vgL Strauss 1959, S. 127ff.) Das Opfer emp findet sie als Statuszwang, der einen alten Status auslöscht; aus der Sicht der Täter ist sie Resozialisation für eine neue Identität. Mit der Zuweisung eines Status als jemand, der bis dahin falsch gedacht und gehandelt hat, wird der Prozess der radikalen Ent-Identifizierung mit alten Werten in Gang gesetz t. Er geht über in die Kritik an diesen Werten und alten Identitäten und die allmähliche "Einsicht" in die "wahren" Werte. Mit dem Bekenntnis zu diesen neuen Werten und der Bestätigung durch neues Handeln ist der Prozess der Identitätstransfo rmation abgeschlossen. Das umgedrehte Individu um gehorcht von da an den Verpflichtungen, die mit dem neuen Status verbunden sind, freiwillig. Was Strauss für die Gehirnwäsc he sagt, gilt natürlich auch für religiöse Konversionen und für die Strategien mancher Sekten, in denen der neue Stat us oft auch durch einen Name n zum Ausdruck gebracht wird. Das bekannteste Beispiel ist der Wandel vom Saulus zum Paulus. Immer aber gilt, dass mit dem neuen Status die frühere Identit ät neu definiert wird. Entweder gilt sie als Vorgeschichte, in der sich das Spätere schon abzeichnete, oder als Ze it des Irrtums, die nun endlich überwunden wurde.
Diesen Gedanken, der natürl ich manche n guten Glaube n ersc hüttert, habe ich in Kap. 27.2 " über »die« Wahr heit der Biographie und andere Glättu ngen" im Buch " Identität" (AbeIs 2006) weiter ausgeführt. Dort spreche ich noch andere Zwe ifel an, zeige aber auch die guten Perspektiven auf, die sich daraus für eine Identität ergeben , wie wir sie wollen - und können.
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Id entität
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9
Simm el: Kreuzung sozialer Kreise und individuelles Gesetz Mead : Identität - sich mit den Augen des anderen sehen Riesman: Außenleitung Goffman: Wir alle spielen Theater Parson s: Individuelles Code-Erhaltungssys tem Erikson: Identität im Lebenszyklus Krappmann: Ich-Identität als Balance Berger, Berger, Kellner: Krise der modem en Identität Identität - ein relativer Standpunkt
Manche soziologischen Begriffe erfreuen sich großer Beliebtheit in der Allt agssprache, weil man sie als Kürzel ruf Zusammenhänge benutzen kann, die einem nicht so ganz klar sind, über die sich deswegen aber umso rascher stilles Einverständn is erzielen lässt. Identität ist ein solcher Begriff. Ich will ihn so skizzieren, wie er im Allgemeinen in der Soziologie gebraucht wird: Identität ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein. in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu hab en. s
Inzwischen habe ich dem Thema ein ganzes Buch gewidmet (AbeIs 2006). Dort habe ich unter dem Titel " Vom Individuum zur Individualisierung" auch die lange Vorgeschichte dieser modernen Vorstellung von Identität geschildert. Auf der anderen Seite wird die hier in der Einführung in die Soziologie vorges telfte soziologische Diskussion über Identität dort fortgeführt. Stichworte sind: .A nsprüche auf Anerkennung und auf Nichtaufmerksarnkeit" und " Behauptungen, Revisionen und Verwandlungen", Ich beschreibe aber aueh ,,Die Krise der Lebenswelt" unter den soziologischen Stichworten .Bntaauberung" (Weber), .Kolcnialisierung der Lebenswelt" (Habermas), .Bntbettung" (Giddens), " Ende der großen Erzählungen" (Lyotard) und ,,Ende der Eindeutigkeit" (Bauman). Das abschließende Kapitel sieht ausdrücklich unter der Überschrift " Kompetenzen". Hier ziehe ich einen praktischen Schluss aus der theoretischen Diskussion. Er komml in zwei durchaus ermunternd gemeinten Überschriften zum Ausdruck: " Dem Leben einen Sinn geben und sich in seinem Zentrum wissen" und ,,Bewegliches Denken",
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In Hinsicht auf die Entwicklung des Individuums heißt Identität, die Vergangenheit mit der Gegenwart in einer sinnvollen Ordnung zu halten und die Zukunft planvoll anzuge hen. Insofern kann man Identit ät gleichsetzen mit dem Wisse n um eine eigene Biograph ie. In Hinsicht auf die Interaktion mit anderen heißt Identität, dass sich das Individuum seiner Einz igartigke it und seiner Norma lität zug leich bewusst sein muss und dass es beides zeigen muss. Nur dann ist Interaktion für beid e Sei ten verläss lich.
Neben der An nahme, was Identität ist - oder oft sogar: sein sollte - , scheint das Wort im Alltag oft auch mit einer latenten Unsic herheit assoz iiert zu werden. So schreibt Reck, das Wort Ident ität "scheint in den westlichen Ländern für eine wachsende Zahl von Menschen zu einem Alltagsbegri ff zu werden; und zwar nicht im Sinne des Sprac hgebrauchs der Polizei, sondern in dem der Soz ialpsychologe n. Diskri minierungen von Minde rheiten werden als »Ide ntitätsprobleme« charakterisiert; Wandlungen in der Berufsstruktur oder Arbeitslosigkeit führen zu »Idcntitätskrisc n«; Veränderungen in den Geschlechterrollen bedrohen mit »Identitätsv erlust«; Drogenabh ängigkeit, Selbstmo rd, Krimi nalität werden auf »ldentitätsschw äche« oder auf unerträgliche »Identit ätsbedroh ung« zurUckgeftlhrt. (...) So liegt es nahe, »Identi tät« für einen Krisenbegriff zu halten, der etwas bezei chne t, das heute vielfaltig bed roht ist." (Reck 1981, S. 154) Auf die Krise der Identität in der Moderne wird die soziologische Diskussion über Identität in der Tat hinauslaufen. Vorher will ich aber nachzeichne n, wie das Thema in der Soziologie behand elt worden ist. Am Anfang steht die These von GEORG SIMMEL, dass Individualität allein schon dadurch zustande kom mt, dass jeder Mensch in einem einzigartigen Schnittp unkt sozialer Kreise steht und jedes Leben einem " individuellen Ge setz" folgt. Doch dieses " individ uelle Gesetz" bedeutet nicht zu gleich Freiheit und Chance der Einzigartigkeit, denn dem Individuum droht, von der objektiven Kultur überwuch ert zu we rden . Dieser pessi mistische Gedanke zieht sich durch viele Theorien der Identität. GEORGE HER8ERT MEAD konzentriert seine Erklärungen der Identität auf die Kommunikation, in der sie gewonnen wird . Seine zentrale These ist, dass sich das Individuum seiner selbst bewu sst wird , indem
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Identität
es sich mit den Augen des Anderen betrachtet. Identität hat also etwas mit den Anderen zu tun. Das nimmt auch DAVID RIESMAN an, aber genau das brin gt ihn zu der kritischen These, dass das Individuum der Moderne außengeleitet ist. Es tut das, was alle tun, und ist bereit, sich immer wieder neu auf den Zeitgeist einzustellen. Das Individuum legt sich die Haltung eines flexiblen ROllenspielers zu. Zum Schluss weiß der Außengelei tete nicht me hr, wer er ist und was mit ihm geschieht. ERVING GOFfMAN hat die soziologische Diskussion über Identität mit der These verunsichert, dass wir im ganz normalen Alltag alle The ater spielen. Dabei steht die Strategie im Vordergrund, uns von unsere r besten Seite zu ze igen. Und man wird auch den Verdacht nicht los, dass jemand seine "wahre Identität" nicht preisgibt. Aber wenn man genauer hinsieht, dann sind es auch Strategien, unser bedroht es Selbst zu schützen. Dazu greifen wir manchmal auch zu Tricks. Wir tun so, als ob, und schaffen uns damit einen Freiraum für unsere Identität und erlauben den anderen, so zu tun, als ob sie genau dieses Schauspiel für die Wahrheit hielten. Für TALCOTI PARSONS heißt Identität, dem Rollenpluralism us, der durch die soziale Differenzierung entstanden ist, eine angemessene indi viduelle Integration entgegenzusetzen. Das Individuum muss beides können: sich an gese llschaftliche Werte dauerhaft binden und zugleich ein einzigartiges Orientierungsmuster gegenüber diesen Werten finden. ERIK H. ERIKSON entwickelt aus einer psychoanalytischen Entwic klungsth eori e den Gedanken der Versc hränku ng von psychosexueller und psychosozialer Entwic klung des Ind ividuum s. Er versteht Identität als eine n lebenslangen Prozess. Erikson spric ht ganz offen von einer "gesunden Persönlichkeit", die sich in einer "g elungenen Identität" äuße rt. Erikson nennt sie " Ich-Identität" . Sie lebt von dem ständigen Ans pruch, soziale Erwartungen und eigene Überzeugungen, die Blicke der anderen auf uns und unser Selbstbi ld, das Bild der anderen von uns und unsere Biographi e selbstbewusst zu verbinde n. Ähn lich wie Erikson vertritt auch LoTHAR KRApPMANN die These, dass Identität Balance ist. Allerdings sieht er die gesellscha ftlichen Bedingun gen, unter denen sie überhaupt möglich sein könnte, de utlich kritischer als Erikson, und deshalb ist das Ziel der Identitätsentwicklung auch mehr als Abwehr denn als Gelingen zu verstehen. Identität setzt u. U. auch die Negierung gesellschaftlicher Normen voraus.
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Der Gedanke des Gegenentwurfs findet sich auch bei PETER L. BER· GER, BRJGITIE BERGER und HANSFRTED KELLNER, die von einem Unbehagen in der Modernität sprechen. Für sie ist Identität ein Krisenbegriff. Identität ist offen, was sie im Sinne der Riesmanschen These von der Außenleitung verstehen, und bleibt deshalb diffus. Identität ist differenziert, weil wir zu vielen und unterschiedlichen Erwartungen nacheinander oder gleichzeitig gerecht werden wollen oder müssen. Da bleibt es nicht aus, dass Identität zum Gegenstand angstvollen Forschens wird. Die Tatsache, dass Individualität als unbedingter An spruch vertreten wird, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse immer komplexer werden und dem Individuum so viele Optionen eröffnen, aber auch so viele Entscheidungen abverlangen, dass dieser Anspruch letztlich ins Leere läuft. An das Ende der in der Mehrzah l skeptischen Analysen der Identität stelle ich die These, dass Identität ein relativer Standpunkt ist. Genau deshalb muss ihn das Individuum für sich und für die anderen auch immer wieder neu entscheiden! Diese Forderung lebt von der Hoffnung, der von ZYGMUNT BAUMAN beschworenen "ontologischen Bodenlosigkeit der Postmoderne" immer wieder neuen Sinn entgegenzusetzen. 8. 1
Sim mel: Kreuz ung sozialer Kre ise und individuelles Gesetz
Gesellschaft, so habe ich GEORG SJMMEL schon einige Male zitiert, ist die Summe der Wechselwirkungen, in der Individuen zueinander stehen. Sie wirken aufeinander und werden also gleichzeitig bewirkt Die Wechselwirkungen nehmen bestimmte Fonnen (z. B. Solidarität oder Konkurrenz, Sympathie oder Antipathie, Streit oder Zuneigung) an und verdichten sich zu bestimmten sozialen Gebilden (z. B. Familie, Geld, Staat). Sie bilden den Rahmen, in dem Individuen in Beziehung zu einander treten. Damit ist der grundsätzliche Dualismus zwischen Individuum und Gesellschaft angesprochen, um den sich Simmels Soziologie dreht. In diesem Dualismus steht auch die "I ndividualität" des Einzelnen, und hier entscheidet sie sich auch. Was damit gemeint ist, erhellt aus der Einleitung zu einem Aufsatz mit dem sprechenden Titel " Der Begriff und die Tragödie der Kultur" aus dem Jahre 1911:
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Georg Sirnmel: Geronnener Geist gegen die Lebendigk eit der Seele " Dass der Mensch sich in die natürliche Begebenheit der Welt nicht fraglos einordnet wie das Tier. sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt mit die sem er sten gro ßen Dualismu s entspinn t sich der endlose Prozess zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Innerhalb des Geistes selbst findet er seine zweite Instanz. Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren. unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt. So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte - nicht nur von ihre m Inhalt bald angezogen, bald abges toßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit e inem Stück des Ich, bald in Frem dheit und Un berührbarkeif gegen sie; sondern es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins. der beharrenden Existenz, mit de r der Geist, so zu m Obj ekt geworde n, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnd en Spannungen der subjektiven See le entgegenstellt." (Si mme l 19 11: Der Begri ff und die Tr agödie der Kultur, S. 11 6)
Die Formen, in denen sich der menschliche Geist verwirklicht, "objektiv" wird, nennt Simmel Kultur . Die Formen tendieren dazu, sich festzustellen; der Geist dagegen gehorcht dem Prinzip des Lebens und will immer Neues schaffen.1 Die Tragödie der Kultur ist deshalb, dass sie permanent in ihren Formen destruiert wird, und - so müsste man den Gedanken Simmels verlängern - die Tragöd ie des Individuums ist, dass es sich an diesen Formen stößt und in diesen Formen seine Individualität finden muss: ,,Jene objektiv geistigen Gebilde (...): Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Nonn en - sind Stationen, über die das Subjekt gehen muss, um den besonderen Eigenwert, der seine Kultur heißt, zu gewinnen." (Simmel 1911, S. 120, Hervorhebung H. A.) Um diese "se ine" Kultur geht es hier. Sie druckt seine Individualität aus. Simmel begründet Individualität nun mit zwei Konzepten: mit dem Konzept der .Schneldung sozialer Kreise" und mit dem Konzept des " individuellen Gesetzes" . Neben diese im engeren Sinn soziologischen Vgl. Band 1, Kap. 3.5 "Verdichtung von Wechselwirkungen zu einer Form", S. 104f.
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Begründungen stellt er dann einen Blick auf .,die psychologische Grundlage", auf der sich eine typisch modeme Individualität erhebt, "der Typus großstädtischer Individualitäten" . (Simmel 1903, S. 116) Wenden wir uns zunächst dem Konzept der " sozialen Kreise" zu. Wie an anderer Stellet gezeigt, ändern sich die " Berührungen" der Individuen und die Formen ihres Zusammenseins im Laufe ihres Lebens. Ist der Einzelne zunächst in Gruppen eingebunden, die mit seiner Geburt gegeben sind, nimmt er mit fortschreitender Entwicklung zu anderen Kontakt auf, die " durch sachliche Gleichheit der Anlagen, Neigungen und Tätigkeiten u. s. w. eine Beziehung zu ihm besitzen." (SimmeI 1890, S. 238) Dadurch ergeben sich Konstellationen, die Simmel " soziale Kreise" nennt. Das sind objektive Gebilde, die über Inhalte und nicht über individuelle Einstellungen definiert sind. Von daher gibt es Erwartungen, die nicht nur für ein bestimmtes Individuum, sondern grundsätzlich für alle Individuen gelten, die in einen solchen Kreis gesteIlt sind. Sie sehen sich mit einem je Allgemeinen konfrontiert, dem sie sich nicht entziehen können. Die Differenzierung der Gesellschaft und die Spezialisierung der Tätigkeiten, die dadurch gegeben sind, führen dazu, dass das Individuum in zahlreiche soziale Kreise gleichzeitig eingebunden ist und deshalb unterschiedlichen Erwartungen gerecht werden muss. Von außen betrachtet, ist das Individuum "ei ne Einheit von differenten Erwartungen, also ein Dividuum, ein geteiltes Individuum." (Junge 2002, S. 77) Zu einem " Individuum" im Sinn einer nicht mit anderen geteilten Einzigkeit wird der Einzelne dadurch, dass er im Schnittpunkt vieler sozialer Kreise steht. Je mehr Kreise sich nämlich in einer Person überschneiden, umso einzigartiger ist diese Konstellation. Simmel schreibt: " Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, dass jed e neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer derselben lässt der Individualität noch einen weiten Spielraum; aber j e mehr es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, dass diese vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkt schneiden." (Simmel 1890, S. 240) So kann man denn auch unter Persönlichkeit die individuelle Kombination der Elemente der Kultur verstehen. (vgl. S. 241) Insofern 1 Vgl. oben Kap. 5.1 " Wechselwirkung und Vergesellschaftung", S. 188.
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stellt sich der Einze lne als Einheit dar und kann deshalb auch zu Recht als " Individuum" bezeichnet werden. Individu alität ist die einzig artige
Plazierung in der Gesellschaft. Neben dieser strukturellen Erklärung von Individualität gibt es eine, die aus der Person selbst kommt . Je zahlreicher näm lich die sozialen Kreise sind, in denen eine Person vorkommt, umsa geringer ist das Gewicht jedes einzelnen Kreises für ihre Per sönlichkeit; der Einzelne wird von keinem Kreis ganz bestimmt. Und weiter: Je komplexer ein sozialer Kreis ist, umsc diffuser sind die allgemeinen Erwartungen, und
umso größer ist der Spielraum des Einzelnen. Ich komme zu Simmels zweitem Konzept zur Individu alität, das er unter die Übersc hri ft " Das indiv iduelle Gesetz" stellt. Dieses " individuelle Gesetz" wird häu fig m. E. falschlieh so verstanden, als ob das Individuum sich selbst gestalten müsse, um seine Persönlichkeit als einheitlich in der Vielfalt der soz ialen Kre ise zu retten . Tatsächlich aber hat Simmel dieses individuelle Gesetz gegen die Allgemeinheit des Sollens, die Immanuel Kant postuli ert hatte, gesetzt. Die kompli zierte ph ilosophi sche Argumentation kann man vielleicht so auf den Punkt bringen: Jede s Individuum reprä senti ert in unv erwechselbarer Weise das Prinzip des Lebens! mit seinem " ewigen Stirb und Werde", und es repräsentiert es in unverwechselbarer Weise in jeder seiner Handlungen - unverwechselbar wege n seiner einmaligen Lebensgeschichte und seiner einzigartigen Konstellationen in der Schneidun g sozialer Kreise. Aus dem individuellen " Lauf des Lebens" mit seinen typischen "Maßstäben" und besond eren " Inhalten" ergibt sich ,j ener unbeschreibliche Stil und Rhythm us einer Persönlichkeit, ihre Grundgeste, die jed e ihrer, durch die Gegebenheitsfaktoren hervorgeru fenen Äußerun gen zu etwas unverwechselbar ihr Zugehörigem macht." (SimmeI1 913, S. 228 und 229) Oder anders : " Wie jeder Pulsschlag eines leben digen Wesens durch alle seine vergangenen Pulsschläge bedingt ist, so kann auch in diesem Prozess nichts verlorengehen, der nicht nur die Tat, sondern auch das Sollen jedes Augenblicks zum Erben und Verantwortun gsträger alles dessen macht, was wir j e waren, taten und sollten." (S. 230) Das Indi viduum ist Produkt und Produzent seiner Vergesellscha ftung . Hier liegt seine Freih eit, und hier liegt auch seine Begrenzung. Das individuelle Gesetz ist die spezifische Form, in dem sich "die Verbin1 Vgl. zum •Prinzip des Lebens" die auf S. 326, Anm. 1 genannten Stellen.
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dung von Individualität und (sozialer, Ergänzung H. A.) Gesetzlichkeit" vollzieht. (Simmel 1913, S. 230) leh will diese Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft in den paradoxen Satz fassen: Individualität vollzieht sich hinter dem Rücken des Individuums und wird vor seinen Augen von ihm durch sein Handeln zum Ausdruck gebracht. Dieser halbwegs versöhnliche Ausblick auf Individualität wird allerdings getrübt, wenn man Simmels pessimistische Analyse der Kultur seiner Zeit liest. Er hat sie in einem Vortrag unter dem Titel " Der Konflikt der modemen Kultur" (1918) dargelegt. Simmel sieht die Kultur seiner Zeit in eine kritische Phase eingetreten, die er als "Gesamtnot der Kultur" (Simmel 1918, S. 150) bezeichnet. Es geht nämlich nicht mehr um den Widerspruch zwischen alten Formen und zeitgemäßeren, sondern dass "auf allen möglichen Gebieten das Leben sich dagegen empört, in irgendwie festen Formen verlaufen zu sollen." (Simmel 1918, S. 151) Simmel erklärt das so: Wurden frühere Epochen über .,Zentralbegriffe" wie "Go u" oder "Natur" zusammengehalten, so scheint man um die Wende des 20. Jahrhunderts als neues "Gru ndmotiv für den Aufbau einer Weltanschauung" den Begriff des Leb ens gefunden zu haben. (vgl. S. 153) Gegen diesen Zentralbegriff, der sich der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches verdankt, wäre nichts einzuwenden, würde man ihn nicht " ins Unendliche" erhöhen. (5 . 154) In dieser Übersteigerung tritt das Leben nun in einen fundamentalen Gegensatz zu allem Festen. Es " empört" sich, wie gehört, über seine
Formen.
Damit wird ein Kulturwandel ausgelöst, wie es ihn bisher noch nicht gegeben hat. Die letzte Triebfeder des Wandels ist nämlich "die Gegnerschaft gegen das Prinzip der Form überhaupt". (Simmel 1918, S. 155) Die Gründe dieser Gegnerschaft hatte Simme1 schon in seinem Aufsatz " Der Begriff und die Tragödie der Kultur" (1911) angesprochen. Dort hieß es: Die Produkte des menschlichen Geistes, auch .Kulturinhalte" oder "objektiver Geist" (Simmel 1911. S. 140) genannt, verselbständigen sich, folgen ihrer eigenen Sachlogik, und der Mensch wird zum "bloßen Träger des Zwanges, mit dem diese Logik die Entwicklungen beherrscht." (S. 142) Und es kommt etwas anderes hinzu: Sie wachsen und wachsen mit einer "verhängnisvollen Selbständigkeit (... ), oft fast beziehungslos zu dem Willen und der Persönlichkeit und der Produzenten und wie unberührt von der Frage, von wie vielen Sub-
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j ekten überhaupt" und in welchem Maße sie aufgenommen werden. (SimmeI1911 , S. 142) Um diese Seite der " Tragödie der Kultur" zu markier en, bemüht er ein berühmtes Bild: "D er »Fetischcharakter«, den Marx den wirtsc haftlichen Objekt en in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, ist nur ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte. Diese Inhalte stehen - und mit steigender »Kultur« immer mehr - unter der Paradoxie, dass sie zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt sind, aber ( ...) einer immanenten Entwicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung wie ihrem Zwec k entfremden." (Simmel 1911. S. 140f.) Und die Konsequenz liegt auf der Hand: Sie wecken "künstliche und, von der Kultur der Subjekte her gesehen, sinnlose Bedürfuisse" , und "d er ins Unabsehbare wachsende Vorrat des objektivierten Geistes (... ) schlägt (das Individuum, H. A.) mit Gefühlen eigener Unz ulänglichke it und Hilflosigkeit." (S . 141 und 143) Seine individuelle Entwicklung bleibt hinter der Entwicklung der objektiven Kultur zurück. Das ist das Problem des modemen Menschen, und das ist Teil der .,Tragödie der Kultur" . Diese liegt darin, dass sie schon in ihrer ersten Form , in der sich " ihr inneres Wesen", der menschliche Geist - die unvo llendete Seele - äußert, die Vollendung "a bzulenken, zu belasten, ratlos und zwiespältig zu machen, bestimmt ist." (SimmeII 9l1 , S. 147) Und jenes besteht darin, dass noch die Empörung des modemen Individuums gegen j ede Form, von der eben die Rede war, letztlich Formen folgen muss, die im Prozess seiner Vergesellschaftung permanent produziert werden . Ich habe eingangs gesagt, dass Simmel neben die im engeren Sinne soziologischen Erklärungen von Individualität einen Blick auf die psychologische Grundlage einer typisch modernen Individualität, der großstädtischen, stellt. Sie scheint mir in vieler Hinsicht zu zeigen, in welche Richt ung sich Identität in der fortgeschrittenen Modem e entwickelt. Ich will sie kurz skizzieren. Simmel beginnt seinen Vortrag "Die Großstädte und das Geistesleben" (1903) mit dem Hinweis auf den schon mehrfach angesprochenen Dualismus von Individuum und Gesellschaft: "D ie tiefsten Probleme des modemen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übennächte der Gesellschaft , des geschichtlich
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Ererbten, der äußerlic hen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren." (Simrnel I903, S. 116) Diesen Anspruch des Individuums bzw. die - wie sich zeigen wird .Anpassungen", durch die sich die Persönlichkeit "mit den ihr äußeren Mächten abfindet" (Simmel 1903, S. 116), verdeutlicht Simmel nun an der großstädtischen Individualit ät, Deren psychologische Grundlage " ist die Steigerung des Nervenleb ens. die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrucke hervorgeht". (ebd.) Würde man auf diese ununterbrochenen Eindrucke und Beruhrungen mit unzähligen Menschen mit so vielen inneren Reaktionen antworten "wie in der kleinen Stadt, in der man fast jeden Begegnenden kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat, so würde man sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten." (S. 122f.) Deshalb hat sich in der Großstadt eine Reaktion herausgebildet, die Simmel " Blasiertheit" nennt. (S. 121) Simmel assoziiert mit diesem Begriff nicht die heutige Vorstellung von Hochn äsigkeit oder Herablassung, sondern gewissermaßen eine Schutzreaktion des Individuums gegen höchst differenzierte Reize: " Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden." (SimmeI 1903, S. 12 1) Diese Blasiertheit ist mit einer gewissen .Rescrve't.j a " leisen Aversion" gepaart, mit der wir auf flüchtige Begegnungen ebenso wie z. B. auf jahrelange Hausnachbarn reagieren. (vgl. Simmel 1903, S. 123) Doch gerade diese innere Reserve gewährt dem Individuum der Großstadt "eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit" (S. 124), wie es sie in einem kleineren sozialen Kreis nicht geben kann. In der Kleinstadt kennt jeder jeden, und der Kreis wacht ängstlich " über die Leistungen, die Lebensführung, die Gesinnungen des Individuums". (S. 125) Dieser Kontrolle ist der Großstadtmensch nicht ausgesetzt, aber ist er deshalb wirklich frei? Ist die Fonn seiner Individualität nicht ebenfalls von außen bestimmt? Simmel gibt darauf zwei Antworten. Da ist einmal der Versuch des Individuums, "die eigene Persönlichkeit" dadurch zur Geltung zu bringen, dass es sich als anders, unter-
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schiedlich und besonders darstellt und dadurch "das Bewusstsein des sozialen Kreises irgend wie für sich zu gewinnen" sucht. (Simmel 1903, S. 128) Das verfuhrt "s chließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten", wie Simmel es nennt, "z u den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Fonn des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt." Es ist für viele "das einzige Mittel, auf dem Umweg über das Bewusstsein der anderen irgend eine Se1bstschätzung und das Bewusstsein, einen Platz auszufüllen, für sich zu retten." (S. 128f.) Die zweite Antwort hängt mit der ersten aufs Engste zusammen und lautet so: " Der tiefste Grund indes, aus dem gerade die Großstadt den Trieb zum individuellsten persönlichen Dasein nahelegt - gleichviel ob immer mit Recht und immer mit Erfolg - scheint mir dieser. Die Entwicklung der modem en Kultur charakterisiert sich durch das Übergewicht dessen, was man den objektiven Geist nennen kann, über den subj ektiven. (...) Diese Diskrepan z ist im wesentlichen der Erfolg wachsender Arbeitsteilung; denn eine solche verlangt vom Einzelnen eine immer einseitigere Leistung, deren höchste Steigerung seine Persönlichkeit als ganze oft genug verkümmern lässt. Jedenfalls, dem Überwuchern der objektiven Kultur ist das Individuum weniger und weniger gewachsen." (Simmel 1903, S. 129) Das Individuum ist "z u einer quantite negligeable herabgedrückt, zu einem Staubkorn gegenüber einer ungeheuren Organisation von Dingen und Mächten, die ihm alle Fortschritt e, Geistigkeiten, Werte allmählich aus der Hand spielen und sie aus der Form des subje ktiven in die eines rein obj ektiven Lebens überführen." (S. 129f.) Die Großstadt mit ihren Bauten und Wundem der Techn ik, mit ihren Formen des Lebens und Institutionen des Staates bietet eine "so überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönl ich gewordenen Geistes, dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann. Das Leben wird ihr einerseits unendlich leicht gemacht, indem Anregungen, Interessen, Ausfüll ungen von Zeit und Bewusstsein sich ihr von allen Seiten anbieten und sie wie in einem Strome tragen, in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf. And ererseits aber setzt sich das Leben doch mehr und mehr aus diesen unpersönlichen Inhalten und Darbietungen zusammen, die die eigentlich persönlichen Färbungen
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und Unvergleichlichkeiten verdrängen wollen; so dass nun gerade, damit dieses Persönlichste sich rette, es ein Äußerstes an Eigenart und Besonderung aufbieten muss; es muss dieses übertreiben, um nur überhaupt noch hörbar, auch für sich selbst, zu werden." (S immel 1903, S. 130) Dieses Bild der Individualität in der Modeme hat die soziologische Diskussion nach SimmeI entscheidend geprägt. Darauf werde ich zurückkommen, wenn ich z. B. die kritischen Betrachtungen von David Riesman oder Erving Goffman, aber auch von Peter L. und Brigitte Berger und Hansfried Kellner betrachte. Vorher will ich aber noch eine Theorie vorstellen, die gewissenn aßen unter Absehung von realen gesellschaftlichen Verhältnissen und deshalb auch ohne Wertung den sozialen Prozess der Gewinnung von Identität beschrieben hat. Das ist die Theorie von GEORGE HERBERT MEAD, der kurze Zeit Simme1s Vorlesungen gehört hat. 8.2
Mead: Identität - sich mit den Auge n des ande re n sehe n
Kommun ikation ist "das Grundprinzip der gesellschaftlichen Organisation des Menschen" . (Mead 1934, S. 299) Diese These! gilt auch für die Organisation von Identität. Unser Bewusstsein von uns selbst entsteht aus der permanenten Kommunikation zwischen uns und den anderen. Das erklärt Mead so: Indem wir uns in die Rolle des anderen hineinversetzen und uns vorstellen, wie er auf uns reagieren wird, betrachten wir uns auch selbst, wie wir reagieren. Wir werden auf uns selbst aufmerksam, ja mehr noch: Wir sehen uns mit den Augen des anderen, und erst auf diesem Umweg über den anderen werden wir uns unserer seIbst bewusst! Das ist in Kürze Meads Erklärung der Entstehung von Identität. Mead entwickelt das Konzept der Identität aus der spezifisch menschlichen Kommunikation. Ich will diese Theorie der Kommunikation kurz wiederholen. Wie das Tier reagiert auch der Mensch auf objektive Zeichen (Donner, Blitz oder die Glocke im psychologischen Labor) wie auch auf Gesten, die durch Verhalten (Knurren, hochgezogene Augenbrauen oder hängende Schultern) zum Ausdruck gebracht werden. Anders als das Tier ist der Mensch aber in der Lage, mit ZeiVgl. Band 1, Kap. 3.8 "Ordnung als Diskurs", S. 118 u. 120, und in diesem Band Kap. 2.5 " Integration in einen organisierten Verhaltensprozes s", S. 87.
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chen und Gesten ganze Handl ungszusammenhänge zu verbinden. Wo Zeichen und Gesten für einen komplex en Sinnzusamm enhan g stehen, spricht Mead von Symbolen . Wenn sie von allen Beteiligten in der gleichen Weise verstanden werden, bezeichnet er sie als signifikante Symbole. Ein zweit er Unterschied im Verhalten besteht darin, dass das Tier auf Zeichen wie auf das Verhalten eines anderen Tieres instinktiv und automatisch reagiert, der Mensch aber seine Reaktion verzögern kann. Er überlegt, was der Sinn des Verhaltens des anderen ist. Er denkt. Mead beschre ibt diese Auszeichnun g des Menschen so: " Nur durch Gesten qua signifikante Symbole wird Geist oder Intelli genz möglich, denn nur durch Gesten, die signifikante Symbole sind, kann Denken stattfinden, das einfach ein nach innen verlegtes oder implizites Gespräch des Einzelnen mit sich selbst mit Hilfe solcher Gesten ist. Dieses Hereinnehmen-in-unsere-Erfahrung dieser äußerlichen Übermittlung von Gesten, die wir mit anderen in den gesellschaftlichen Prozess eingeschalteten Men schen ausfü hren, macht das Wesen des Denkens aus." (Me ad 1934, S. 86) Da signifikante Symbole fü r alle Mit glieder einer gese llschaftlichen Gruppe den gleichen Sinn haben, lösen sie auch bei allen Beteili gten die gleichen Haltun gen aus. Nur deshalb können wir die Symbole auch nach innen herein nehmen und uns ihrer Bedeutun gen bewusst werden. Und aus dem gleichen Grund können wir uns auch in die Roll e des anderen hineinversetzen und ihn verstehen. Im Denken des Menschen kommt sein Geist (amind«) zum Ausdruck. Geist heißt, "eine Situation in einen ideellen Rahm en" bringen . (Mead 1934, S. 224) Die Idee ist der Sinn, der einer Situat ion beigelegt wird . Geist hat das Individuum in dem Augenblick, wo es Symbole verwendet und sich der möglich en Bedingungen und Konsequenzen seines eigenen und des Verhaltens des anderen bewu sst wird . Bezogen auf die Interaktion bedeutet Geist die Fähigkeit, sich Verhalten der anderen vorzustellen, erwartba res Verhalten zu antizipieren und das eigene Handeln daran auszurichten. Geist setzt Roll enübemahme vorau s. Durch wechselseitige Rollenübemahme wird eine komm unikative Verständigung über Perspektive n und Rollen möglich. Die Handelnden interpretieren ihr Handeln wech selseitig. Das ist die Voraussetzung für gemeinsames Hand eln. Die se Verständigung über Perspektiv en und Rollen spielt sich aber nicht nur zwischen Personen, sondern auch innerhalb des Individuums
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ab, denn " sagt eine Person etwas, so sagt sie zu sich selbst, was sie zu den anderen sagt". (Mead 1934, S. 189) Nur so kann das Individuum den Sinn von etwas verstehen. Ausgehend von dem Grundgedanken der wechselseitigen Verschränkung der Perspektiven zwischen den Personen in einer Interaktion entwickelt Mead eine zweite These über die spezifische Kommunikation zwischen Menschen: Im Prozess der Kommunikation teilt die Person etwas mit. Indem sie aber etwas mitteilt, befindet sie " sich selbst in der Rolle der anderen Person, die sie auf diese Weise anregt und beeinflusst. Indem sie diese Rolle der anderen übernimmt, kann sie sich auf sich selbst besinnen und so ihren eigenen Kommunikationsprozess lenken." (S. 300) In der Interaktion handelt die Person, und bevor sie handelt, denkt sie. In der Interaktion handelt aber auch der andere, und über dessen Handeln denkt sie ebenfalls nach. Denken zielt also immer in zwei Richtungen: Ich mache mir klar, was ich mit meinem Handeln bezwecke, was ich also dem anderen mitteilen will, und ich mache mir sein Handeln klar. Wenn ich mir dann noch die möglichen Reaktionen des anderen auf mein beabsichtigtes Handeln vorstelle, dann werde ich mir meines Handeins bewusst. Das ist für Mead " der Ursprung des Selbstbewusstseins." (Brumlik 1973, S. 23) Selbstbewusstsein (eself-ccnsciousness«) ist Voraussetzung von Identität. Im Prozess der Rollenübernahme geht es also nicht nur um Interaktion, sondern auch um Identität, denn indem ich mir Standpunkte und Haltungen des anderen mir gegenüber klar mache, löse ich diese Standpunkte und Haltungen auch in mir selbst aus. Ich prüfe, wie es wohl wäre, wenn ich an seiner Stelle stünde. Dabei werde ich mir bewusst, was die Auslöser des eigenen Handeins sind, warum es ggf. dem gleicht, was der andere tut, oder ganz anders ist. Mead betont nun, dass ohne diesen "Umweg" über den anderen Identität nicht zu gewinnen ist. Paradox kann man es so sagen: Das Individuum wird sich seiner Identität erst bewusst, wenn es sich mit den Augen der anderen sieht. Das Individuum gewinnt "Erfahrung von sich als einem Ich nicht unmittelbar, sondern nur im Kontrast zu einem entfremdeten Teil des eigenen Selbst, der sich ihm eben in der Hineinnahme von Verhaltensweisen anderer entfremdet." (Gehlen 1956, S. 147) Durch die Übernahme der Rolle des anderen kontrolliert der Einzelne seine eigenen Reaktionen. (Mead 1934, S. 300f.) Er löst mit seinem Sprechen zu anderen die Haltungen bei sich selbst aus, die er bei
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den ander en mit der Verwendung gemeinsamer, signifikanter Symbole identifiziert oder auslösen will. Insofern ist Kommunikation grundsätzlieh nicht nur an andere , sondern auch an das Subje kt selbst gerichtet: George Herbert Mead: Identität - sich selbst Objekt sein ..Für die Identität ist es notwendig, dass die Person auf sich selbst reagiert. Dieses soziale Verhalten (»social conduct«) schafft die Bedingung für ein Verhalten (»provide s behavi or«), in dem Identität auftritt . Außer dem sprachlichen kenne ich kein Verhalten, in dem der Einzelne sich selbst Objekt ist, und so weit ich sehen kann, ist der Einzelne solange keine Identität im reflexiven Sinn (sreflexive sense«), als er nicht sich selbst Objekt ist. Diese Tatsache gibt der Kommunikation entscheide nde Bedeutung, da sie ein Verhalten ist, bei dem der Einzelne in diese r Weise auf sich selbst reagiert." (Mead 1934: Geis t. Identität und Gesellschaft. S. 184, Korrektur H. A.)
Erst durch den Bezug auf andere vermag ich eine Vorstellung von mir selbst, ein Selbstbewuss tsein zu gewinnen. Identität und Interaktion spielen also ständig ineinander. Selbstbewuss tsein ist ein Prozess, in dem sich das Individuum selbst zum Objekt seiner Wahrnehmung macht. Denk en, hieß es eben, ist ein nach innen verlegtes Gespräch. Durch innere Kommunik ation thematisiert sich das Individuum gleichsam selbst. Es schaut sich selbst zu. Das Individuum ist also gleichzeitig Subje kt des HandeIns wie auch sein eigenes Obje kt. Es beobachtet sich aus der Sicht der anderen und in Reaktion auf diese Sicht der anderen. Es steht gewisse rmaßen im Mittelpunkt wie außerhalb dieses Kreises. Das ist eine wesentliche Fähigkeit, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Das Tier kann sich nicht zuschauen, wie es handelt. Diese Fähigkeit ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Identität. In der Entwicklung der Identität lassen sich zwei soziale Phasen unterscheiden, in denen das Kind lernt, sich an einem größe ren System zu orientieren, und es sich gleichzeitig seiner Identität mehr und mehr bewusst wird. (Mead 1934, S. 200) Das sind die Phasen des play und des game, die oben im Kapitel " Sozialisation" unter dem Titel " Integration in einen organisierten Verhaltensprozess" dargestellt wurdcn. Mit der Fähigkeit, sich auf die Perspektive eines generalisierten Anderen einzustellen, ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Identität gegeben. Die Verinnerlichung des generalisierten Anderen bildet zusam-
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men mit der Rollenübernahme die anthropologisc he Prämisse der Identität. Nun beobachten wir aber, dass Menschen völlig verschieden sind, obwohl sie die gleichen Werte und die gleichen signifikanten Symbo le teilen. Jede Identität weist einzigartige Merkmale auf Das könnte man damit erklären, dass die Erfahrun gen eben doch nicht gleich sind. Das sieht auch Mead so, aber er fragt grundsätzlicher, was denn die Voraussetzungen dafür sind, dass jedes Individuum unterschiedliche Erfahrungen macht. Die Erklärung hängt wieder mit der aktiven Rolle des Individuums zusammen. Diese Aktivität kommt einmal aus dem Inneren des Menschen, und zum anderen entwickelt sie sich in der Auseinandersetzun g zwischen Individuum und Gesellschaft. Mead sieht diese Akti vität auf zwei Seiten des Ichs verteilt. Die eine Seite nennt er das »I«, die andere das »me«; ' Das darf man sich nicht so vorstellen, als seien hier zwei getrennte Instanzen gemeint. Es sind vielmehr "z wei korrespondierende Seiten des Ich einand er gegenübergestellt." (Strauss 1964, S. 30) Das »1« ist vorsozia l und unbewusst. Seine biologische Basis ist ein konstitutionell er Antriebsübe rschuss. In ihm kommen sinnliche und körperliche Bedürfnisse spontan zum Ausdruck. Deshalb möchte ich das >}I« auch als imp ulsives Ich bezeichn en. Es ist nie vollständig sozialisierbar und tendiert - in Traum, Phantasie oder spontaner Aktion dazu, die soz iale Selbstdisziplinierung des Individ uums, die ja mit der Orientierung am generalisierten Anderen erfolgt, aufzuheben. Da ist es dem Frcudschen " Es" du rchaus vergleichbar. Doch anders als Freud, der im Es einen brodelnden Kessel chaotischer Energie sah, sieht Mead die konstruktive Funktion dieses biologischen Impul ses. Weil das impulsive Ich nicht voll sozialisiert werden kann, bringt es immer wied er "Neues und Schöpferisches in die Situat ion". (Strau ss 1964, S. 30) Es kommt den Zumutungen der anderen in die Quere, die sich im Laufe Die v ielen Versuche, die Begriffe »1\( und »me« zu übersetzen, befriedigen allesamt nicht, weshalb wohl die meisten Soziologen es bei den englischen Begriffen belassen. Auch der Vorschlag von Anselm Strauss, zwischen .Jch an sich" und ,,Mich" zu unterscheiden, ist unbefriedigend. (Strauss 1964, S, 30) Ein ganz unsinniger Versuch, das Problem der Übersetzung zu lösen, findet sich in der deutschen Übersetzung von ,,Mind, Self, and Society", wo das Wort Ich in unterschiedlichen Anführungszeichen steht. (vgl. Mead 1934, S. 216, Anm) Man stelle sich vor, man müsste diesen Text laut lesen! Ich werde deshalb die beiden Begriffe gleich inhaltlich umschreiben.
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der Zeit ein bestimmtes Bild von unserer Identität gemacht haben, aber es du rchbricht auch unsere eigenen Strategi en, un sere Identität glatt zu schleifen. Das »I« komm t nur in der Einzah l vor. Die ande re Seite des Ichs, die gewisse rmaß en die Bilder spiegelt, die
andere mit uns verbinden, nennt Mead das »me«.t Da das »me« die Identifikation des Ind ividuum s durch andere w ide rspiege lt, mö chte ich es als reflektiertes lch2 beze ichnen. Wohlge me rkt : Ich spreche vo n einem reflektierten, nicht von einem reflexiven Ich! Das »me« ist die Summ e der sozialen Bilder vo n uns, d ie wir im Laufe der vielen Beziehun gen zu anderen und unter d em sanften Druck der Sozialisation verinnerlicht haben und mit denen wir un s in konkreten Interak tion en konfrontie rt sehen. In dem Maße, wie w ir u ns die sozialen Bilder, di e die anderen von uns haben, auch als typi sche Bilder von uns in typ ischen Situationen se lbst zurechnen, kann man das »me« auch als soziale Identität bezeichn en. Be i der Erklärung der Entste hun g von Werten nach der Theorie von Mead habe ich von " Gedäc htnisbildem von Reakt ionen der Mensch en unsere r Umgebung" gesprochen , auf die w ir in unserem Handeln zurüc kgre ifen. (Mead 191 3, S. 246) Das »me « ist ein Gedächtnisbild des eigenen Ich . Unter der Perspektive von Identität meint das reflektierte Ich deshalb die Se ite zugewiese ner Identität und d ie internal isie rte Vor stellung von dem Bil d, das sich der andere wahrsch einlich von mir gemac ht hat. Ich beton e " wahrscheinlich", weil man es natürlich nicht genau we iß. Aus ein er spä teren Theoriediskussion müsste man sagen: Es ist eine Konstruktion. Das reflektiert e Ich enthält die organisierten Werthalt ungen, die im Verlau f der Sozialisation erworbe n werd en. Das re flektierte Ich repräsentiert die gesellsc haftliche Dimension der Identität. Das »me« ist das, was das Subjekt über sich selbst im Prozess der Rollen übernahme erfahren hat. Es beze ichnet " meine Vorstellung von dem Bild, das der andere von mir hat, bzw. auf pri mi tiver Stufe meine Verinnerlichung sei ner Erwa rtunge n an mich ." (Joas 1991 , S. 139) Diese soziale Seite des Ichs habe ich in Kap. 2.5 unter dem Aspekt der .Jntegration in einen organisierten Verhaltensprozess", S. 87, schon kurz angesprochen. 2 Hier denke ich natürlich an das von Charles H. Cooley so genannte "S piegelselbst" . [Cooley 1902, S. 184 ; vgl. auch oben Kap. 7.5 Goffman: Stigma und soziale Identität", S. 3 13) Obwohl Mead sich kritisch mit Cooleys Identitätskonzept auseinandersetzt (Mead 1934, S. 269, Anm. 26), scheint er den Gedanken der Spiegelung stillschweigend fiir seine Theorie genutzt zu haben.
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Erst im Prozess der Rollenübernahme, habe ich gerade referiert, erfahrt das Individuum etwas über sich selbst. Indem es sich nämlich in die Position des anderen versetzt, betrachtet es sich aus dessen Perspektive. Der Einzelne wird sich selbst zum Objekt. (Mead 1934, S. 180) Dabei hat das me in jedem einzelnen Falle eine ganz bestimmte Funktion: ,,Das »me. als Niederschlag einer Bezugsperson in mir ist sowohl Bewertungsinstanz für die Strukturierung der spontanen Impulse wie Element eines entstehenden Selbstbildes. Trete ich mehreren für mich bedeutsamen Bezugspersonen gegenüber, so gewinne ich mehrere unterschiedliche »me's«." (Joas 1991, S. 139) Mead vergleicht das reflektierte Ich mit Freuds "Über-Ich" , der Zensur-Instanz der Triebimpulse. Das System der reflektierten Ichs repräsentiert die diversen internalisierten Haltungen anderer dem Individuum gegenüber. Insofern kann man auch sagen, im reflektierten Ich kommt die Kontrolle des generalisierten Anderen zum Ausdruck. Auf diesen Aspekt hebt ANSELM STRAUSS ab, wenn er schreibt: "Der generalisierte Andere ist der Repräsentant der Gesellschaft im Individuum. Selbst bei Abwesenheit anderer ist das Individuum imstande, sein Verhalten so zu organisieren, dass es dabei beriicksichtigt, welche diesbezüglichen Haltungen es von ihrer Seite zu gewärtigen hätte. Daher hängt der generalisierte Andere bei Mead sowohl mit Selbstkontrolle wie mit sozialer Kontrolle eng zusammen." (Strauss 1964, S. 30) Das Verhältnis beider Instanzen kann man so verstehen: Das spontane Ich reagiert auf die vielen reflektierten Ichs widerständig und verändernd; die reflektierten Ichs sind eine permanente soziale Kontrolle des spontanen Ichs. Im Laufe der Sozialisation macht das Individuum immer neue soziale Erfahrungen, was auch bedeutet, dass es neue Identifikationen durch andere erfahrt und selbst neue Identifikationen vornimmt. Es nimmt zahllose Standpunkte vieler anderer ein, was auch Standpunkte zu sich selbst einschließt. Die reflektierten Ichs werden aber nicht nur zahlreicher, sondern sie differenzieren sich auch immer mehr, manche widersprechen sich sogar. Die Klassenkameraden sehen einen anders als die Eltern, der Freund erwartet anderes von mir als mein Chef, die Nachbarn behandeln mich auf ihre Weise, und mit meinen Enkeln gehe ich auf meine Weise um. All das zeigt, dass das System der reflektierten Ichs keineswegs festgefügt und homogen, sondern ständig in Bewegung ist.
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Aus der Differenz zwischen dem spontanen, unre flektierten Hand eln des impulsiven Ich und der Pers pektive, die sich aus der Sicht der anderen auf das Individuum ergibt, dem reflektierten Ich, entwickelt sich ein reflexives Bew ussts ein. Die Vielheit der Perspektiven setzt Reflexivität imm er aufs Ne ue in Gang. Die verschiedenen reflekt ierten Ichs " müssen, wenn konsistentes Verhalten übe rhaupt möglich sein soll, zu einem einheitlichen Selbstbild synthetisiert werden. Gelingt diese Synthetisierung, dann entsteht das sel f." (Joas 1991, S. 139) Dieses se/f kann man mit dem Wort Identität übersetzen. Identität entsteht da nn, wenn das spon tane Ich und die reflektierten Ichs in einer typischen Weise relativ dauerhaft vermittelt werden. Ich betone "relativ" , denn ego steht in einem ständigen Dialog mit alter. Das sind nicht nur die konkreten anderen, sondern auch die unbewusst mitspielenden signifikanten Bezugspersonen und die vielen diffusen anderen. Ihre Erwartu ngen reflektiert ego, ihre Reaktionen antizipiert es. Insofern steht Identität nicht fest, sondern wird immer wieder neu entworfen. Das permanent mitlaufende Selbstbewusstsein egos kann man als lchIdentität bezeic hnen. Bleibt die letzte Frage, wieso angesic hts einer organisierten Verhaltensstruktur, in die das Individuum ja integriert wird, ,J ede einzelne Identität ihre eigene spezifische Individualität, ihre einzigartigen Merkmale hat." (Mead 1934, S. 245) Mead beantwortet es so: Jedes Individuum bildet - wegen seiner einzigartigen Kombination zwischen I und me - eine einzigartige Position aus, nimmt deshalb einen andersartigen Aspekt auf die organisierte Struktur ein und verhält sich dementsprechend anders und einzigartig . Der These von der einzigartigen Position kann man sicher zustimmen. An der Annalune, dass sich das Individuum deshalb auch einzigartig verhält, kann man allerdings zweifeln, wenn man DAVID RIESMANs Schilderung des modemen Sozialcharakters in der west lichen Industriegesellschaft liest. Seine Analyse erinnert in manchem an die skeptische Sicht Georg Simmels. In einer Hinsicht übersteigt sie sie allerdings noch: Von einem Zwang, krampfh aft aufzufallen, ist nichts mehr zu spüren, im Gegenteil: Dem Individuum reicht es, wenn die anderen es anerkennen, weil es nicht anders ist als sie selbst!
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Riesman: Auß enleitung
Im Jahre 1950 veröffentlichte DAVID RIESMAN (1909-2002) mit anderen eine berühmte Studie über den amerikanischen Sozialcharakter, die den bezeichnenden Titel .The lonely crowd' trug. Dieser Titel wurde zum geflügelten Wort und traf den Nerv von Intellektuellen und Soziologen gleichermaßen. In dieser Studie kommt Riesman zu dem Ergebnis, dass der Mensch der Modeme sich in seinem Denken und Handeln von den anderen leiten lässt. Im Klartext: Das Individuum tut das, was alle, die ihm wichtig sind - von den engsten Freunden und nächsten Nachbarn bis zu den entferntesten Fans der gleichen Musik und den anonymen Trendsettern weltweit - , auch tun. Der Mensch der Modeme ist "a ußengeleitet" . Das ist die zentrale These dieses Buches, das insofern indirekt etwas über Bedingungen der Identität aussagt, als es eine typische Verhaltenssteuerung beschreibt, wie sie sich in Europa und in den Vereinigten Staaten ergeben hat. Riesman sieht einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsbewegungen und Sozialcharakter, worunter er die typische Verhaltenssteuerung in einer Zeit versteht. Über Jahrtausende waren die meisten Gesellschaften demographisch durch geringe Siedlungsdichte und einen relativ hohen Bevölkerungsumsatz gekennzeichnet, was bedeutet, dass es kaum zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen gekommen ist. Die Bevölkerung war im Durchschnitt recht jung, und eine Generation löste die andere ab, ohne tiefe Spuren zu hinterlassen. (vgl. Riesman 1950, S. 27) Jeder bewältigte sein Leben so, wie es alle anderen seit je getan hatten. );> Riesman nennt diese Verhaltenssteuerung Traditio nsleitung: " Der traditionsgeleitete Mensch steht der Kultur wie einer einheitlichen Macht gegenüber, auch wenn ihm diese durch jene spezifische kleine Gruppe von Menschen, mit denen er in täglichem Kontakt steht, nahegebracht wird. Diese erwartet von ihm nicht, dass er sich zu einer bestimmten Persönlichkeit entwickelt, sondern lediglich, dass er sich in der allgemein anerkannten Art und Weise verhalte." (Riesman 1950, S. 40) Der Traditionsgeleitete wird von abweichendem Verhalten durch die Furcht vor Schande abgehalten.
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In Europa nahm ungefähr seit dem Mittela lter die Bevölkerung rasch zu. Das hing mit verbesserten hygienischen Bedingungen zusammen, wodu rch die Sterblichkeit reduziert wurde. Das hing zwe itens mit verbesserten landwirtschaftl ichen Methoden und einer deutlichen Steigerung der Erträge zusammen, was zu mehr Geburten führte. Und schließlich wurden Verkehrswege ausgebaut, auf denen z. B. Lebensmittel aus Überfluss- in Mangelgebiete transportiert werden konnten . M it einer Bevölkerungszunahme, das haben die Theorien von Spencer und Durkheim gezeigt, • beginnt nicht nur eine verdichtete Siedlung, was Intensivierung der Komm unikation bedeutet, • sondern auch - bedingt durch die Arbeitsteilung - eine Differenzierung der Funkt ionen der Mitglieder der Gese llschaft. • Soziale Mobilität und Femh andel nehmen zu. Mobilität bedeutet Verlassen von vertrauten Kontexten, • und Fernhandel bedeutet auch Vermittlung von fremden Erfahrungen. Das Traditionsgeftige lockert sich, unterschiedliche Verhaltensmuster bilden sich heraus, die jedes für sich funktional sinnvoll sind, in der Summe aber konkurrie rend wirken. 1 Die alte Verhaltenssteueru ng passt nicht mehr. " Die größten Chancen, die diese Gesellschaft zu vergeben hat - und die größte Initiative, die sie denen abve rlangt, die mit den neuen Problemen fertig werd en wollen - , werden von Charaktertypen verwirklicht, denen es gelingt, ihr Leben in der Gesellschaft ohne stre nge und selbstverständliche Traditions-Lenkun g zu führen." (Riesman 1950, S. 3 1) Traditionslenkung ist von Natur aus schwerfällig. Jeder neue Einze lfall wird als Bedroh ung der Routine im konkreten Fall gesehen. Die gese llschaftliche und ökonomische Entwicklung wird aber schne ller und bringt neue Möglichkeiten und Forderungen in immer rascherer Folge. Gefordert ist deshalb eine Orientieru ng an Prinzipien, die grundsätzlich, also auch in sich wandelnden Situationen gelten. Solche Prinzipien bildeten sich in Europa in der Renaissance im 15.116. Jahrhundert und der Reformation heraus. Währ end die Renaissance die Individualität des Menschen beDie ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungen, die eine neue Verhaltenssteuerung nach sich zogen, habe ich ausführlic h im ersten Teil von .Jdentität" (AbeIs 2006) dargestellt. Sie stehen unter der Generalüberschrift "Vom Individuum zur Individualisierung" .
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tonte und die Persönlichkeit als das Ergebnis allseitiger Bildung idealisierte, betonte die Protestantische Ethik, wie sie vor allem Max Weber I bescluieben hat, auf der einen Seite eine religiös fundierte, prinzipiengeleitete Hinwendung zur diesseitigen Welt und die rationale Verfügung über sie und auf der anderen Seite die Verantwortung des einzelnen Individuums für sein eigenes Leben. )i> Diese neue Verhaltenssteuerung nennt Riesman InnenJeitung. Der innengeleitete Mensch nimmt sozusagen einen "seelischen Kreiselkompass" in sich auf, der ihn auf Kurs hält. Diesem nach innen verlegten Steuerungsorgan gehorcht er aus Überzeugung, und wenn er von ihm abweicht, " so wird ihn dies mit SchuldgejUhJ erfüllen." (Riesman 1950, S. 40) Dieser Typus wird im 20. Jahrhundert allmählich abgelöst durch einen Charaktertyp, der für Riesman "seit kurzem in dem gehobenen Mittelstand unserer Städte in Erscheinung" tritt. (Riesman 1950, S. 35) Wie ist es zu diesem neuen Typus gekommen? Riesman erklärt es so: Technik, Wirtschaft und Handel brachten im 19. Jahrhundert einen relativen Wohlstand für alte. Das führte zu einem Rückgang der Geburten. Die Bevölkerung stagnierte zunächst und schrumpfte im 20. Jahrhundert in den meisten Industrienationen. Wichtiger für die Änderung im sozialen Charakter sind aber die sozialen Konsequenzen des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels, der sich mit der Industrialisierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigt hatte. Mit der zunehmenden Arbeitsteilung begann sich auch die Gesellschaft immer mehr zu differenzieren. Auch die Rollen, die sich damit ergaben, wurden zahlreicher und differenzierter. Politische Entwicklungen garantierten größere individuelle Freiheiten, diese Rollen wahrzunehmen und zu gestalten. Mit der Anerkennung unterschiedlicher Interessen ließen sich auch für die verschiedensten Verhaltensformen gute Gründe anfUhren. Die geschlossenen Weltbilder wurden entzaubert oder lösten sich auf, und es kam zu einer Vielfalt von Überzeugungen und Einstellungen. Für die gleichen Situationen stehen heute konkurrierende Muster des Verhaltens zur Verfügung. Die Menschen geraten mit immer mehr fremden Kulturen in Kontakt, was bedeutet, dass sie permanent mit Neuem und Anderem konfrontiert werden. Und sie Vgl. Band 1, Kap. 10.3 ,,Asketischer Protestantismus und rationale Lebensführung" , S. 347ff..
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sehen, dass das Neue und das Andere auch Sinn macht und insofern sogar eine realistische Alternative zum eingelebten Verhalten sein könnte. Die Massenmedien tun ein Übriges, die Alternativen bekannt zu machen, und sie zeigen, dass die Alternativ en auch gelebt werden können . Es kommt noch etwas hinzu : Aufgrund eines allmählich ansteigenden breiten Wohlstands und wachsender Freizeit trat an die Stelle des dauernden .Knappheitsbewusstseins" des innengeleiteten Menschen ein .Dberüussbewu sstsem", das in ein .Verbrauchsbedürfnis'' mü ndet. Die Konsequenz des Übergangs in das Zeitalter des Konsums liegt auf der Hand: Ein steigender Konsum orientiert sich an den Angeboten eines Marktes und wird sichtbar. Das Ver halten der anderen Kon sumenten wird zum Maßstab des eigenen. Und schließ lich: Die Gesellschaft wird auf der einen Se ite bürokratisiert, was bedeutet, dass das Verhalten der Menschen untereinander von außen geregelt wird; auf der anderen Seite ist da s Indi viduum in zah lreiche soziale Bezüge gleichzeitig einge bettet und muss mit höchst unterschiedl ichen soz ialen Erwartungen zurecht kommen. Da ein verbindliches, inneres Prinzip der Verha ltenssteue rung nicht mehr vorhanden ist oder anges ichts der Füll e von Möglichkeiten und Erwartungen nur noch schwach funk tioniert, beginnt der modeme Mensch sich an dem zu orientieren, was ihm die wichtigsten Bezugspersonen vorleben oder wovon er denkt, dass sie so leben. ~ Diese Orientierun g nennt Riesman Auß enleitung . Davtd Riesman: Außenleitung " Das gemeinsame Merkmal der außengeleiteten Menschen besteht dar-
in, dass das Verhalten des Einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von denjenigen, die er persönlich kennt, oder von jenen anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist selbstverständlich auch hier »verinnerlicht«, und zwar insofern, als das Abhängigkeitsgefühl von dieser dem Kind frühzeitig eingepflanzt wird. Die von den außengeleiteten Menschen angestrebten Ziele verändern sich jeweils mit der sich verändernden Steuerung durch die von außen empfangenen Signale. Unverändert bleibt lediglich diese Einstellung selbst und die genaue Beobachtung, die den von den anderen abgegebenen Signalen gezollt wird." (Riesman 1950: Die einsame Masse, S. 38)
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Diese Erklärung des Handelns hat der schottische Moralphilosoph John Locke als .Jaw of reputation" bez eichnet.t Der außengeleitete Mensch lernt "S ignale von einem sehr viel weiteren als dem durch seine Eltern abgesteckten Kreis aufzunehmen. Die Familie stellt nicht mehr j ene eng miteinander verbundene Einheit dar, mit der er sich identifiziert, sondern lediglich einen Teil einer weiterreichenden sozialen Umgebung, an die er sich frühzeitig gebunden fühlt. In dieser Hinsicht ähnelt der außengeleitete Mensch dem traditionsgeleiteten Menschen, denn beide leben in einem Gruppenmilieu, und beiden fehlt die Fähigkeit des innengeleiteten Menschen, seinen Weg allein zu gehen. Doch ist dieses Gruppenmilieu in beiden Fällen grundversc hieden. Der außengeleitete Mensch ist »Weltbürger«.' Er ist " in gewissem Sinne überall und nirgends zu Hause; schnell verschafft er sich vertraulichen, wenn auch oft nur oberflächlichen Umgang und kann mit jedermann leicht verkehren." (Riesman 1950, S. 41) Das Problem des außengeleiteten Menschen besteht darin, dass er sich auf viele Sender und häufigen Programmwechsel einstellen muss. Um die Signale von überallher zu empfangen, ist "nicht erforderlich, einen Kodex von Verhaltensregeln, sondern jenes hochempfi ndliche Gerät, womit er diese Nachrichten empfangen und gelegentlich an ihrer Verbreitung teilnehmen kann, zu verinnerlichen. Gegenüber Kontrollen durch Schuld oder Furcht vor Schande, wenngleich diese selbstverständlich weiterexistieren, besteht ein wesentlicher Beweggrund für den außengeleiteten Menschen in einer diffusen Angst. Der Kontrollmechanismus wirkt j etzt nicht in der Art des Kreiselkompasses, sondern wie eine Radaranlage.' (Riesman 1950, S. 40) Währe nd der innenge1 eitete Mensch sich an Prinzipien oder vorbildlichen Gestalten orientierte, um einen festen, eigenen Weg zu gehen, " sieht der außengeleitete Mensch sein Leben häufig gar nicht als eine individuelle Karriere an. Ihn verlangt nicht nach Ruhm, der ihn bis zu einem gewissen Grade seiner Gruppe von Kollegen (peer-group ) entfremden oder aus einem bestimmten Lebensstil herausreißen würde. Er sucht vielmehr die Achtung, vor allem aber die affektive Zuneigung einer strukturlosen und sich ständig in ihrer Zusammensetzung wandelnden Gruppe von Kollegen und Zeitgenossen." (Riesman 1950, S. Vgl. oben S. 277, wo ich dieses Gesetz der Reputation mit dem Einfluss einer Bezugsgruppe zusammengebracht habe.
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150) Es ist eine paradoxe Situati on, denn genau mit diesen Kollegen und Zeitgenossen, denen er "Aufmerksamke it widmet , um sich nach ihren Verhaltensweisen und Werturteilen zu richten ", steht er in Konkurre nz, da sie die gleichen Zie le wie er verfo lgen. (Riesman 1950, S. 150) Der außengeleitete Mensch bewegt sich "auf einer Milchstraße von fast, wenn auch nicht gänzlich ununterscheidba ren Zeitgenossen." (Riesma n 1950, S. 150) Die Milchstraße besteht bekanntlich aus schier unendlich vielen Sternen, und dem unbewaffneten Auge sehen alle gleich aus und scheinen an ihrem Ort fixiert. Auf de r "s ozialen M ilchstraße" ist es nicht ganz so voll, aber dort ist alles in Bewegung, und man weiß nicht, wem man im nächsten Augenblick begegnet. "U nter dem Zwang, mit einer Vielzahl von Menschen zu verkehren, sie für sich zu gew innen und beeinflussen zu müssen, behandelt der außengeleitete Mensch alle anderen Menschen wie Kunden , die immer recht haben." (5. 152) Um mit allen irgendwie zurecht zu kommen , ist er flexibel und spielt die Rolle, die ihm im Augenblick den größten Erfolg oder wenigsten s den geringsten Ärger verspricht. So spielt der außengeleitete Mensch eine Rolle nach der anderen, manchmal sogar mehrere Rollen zugleich. Das hat Folgen für die eigene Identität, weil er " schließlich nicht mehr weiß, wer er eigentlich wirklich ist und was mit ihm geschieht." (ebd .) Um ein Sprichwort abzuwa ndeln, kann man es so sagen: Wer es allen recht machen will, macht es keinem recht, am wenigsten sich selbst. Es kann sich kein Prinzip ausbilden, nach dem das Individuum strukturiert handelt und nach dem es als Individualität identifiziert werden könnte. Der Außengeleitete gibt "di e feste Charakterrolle des innengeleiteten Menschen auf und übernimmt dafür eine Vielfalt von Rollen, die er im geheimen festlegt und entsprechend den verschiedenen Begebenheiten und Begegnungen variiert." (Riesman 1950, S. 152)1 Es gibt eine Identität für diese Situation und eine andere für eine andere und eine dritte für eine dritte. Das Individuum zeigt nicht, wer es ist, sondern was es kann. Unbewusst misst es sein Können an dem, was die anderen sagen, und ebenso unbewusst bleibt, dass die Kunst nur funktioni ert, wenn das Individuum Lesen Sie doch noch einmal nach, was Simmel oben (S. 33 1) über die Blasiertheit in der Großstadt gesagt hat!
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immer wieder vergisst, was es gestern gedacht und getan hat. Wer sich imm er wieder an Prinzipien erinnert, die gestern gegolten haben, gilt als zwanghaft, wer mit der Zeit geht, als dynamisch. Die bewegliche Umstellung - ich wiederhole, was ich bei der impliziten Kritik Riesmans an Parsons' Rollentheorie schon gesagt habet ist nicht nur möglich, sondern, so muss man Riesman interpretieren, auch geboten, weil die verschiedenen Rollen, die der außengeleitete Mensch den vie len anderen gegenüber spielen muss, "weder institutionalisiert noch klar voneinander abgesetzt sind". (Riesman 1950, S. 152) Sie sind keineswegs eindeutig, sondern diffus, und sie sind auch nicht zwingend, sondern Optionen. In der ersten Hinsicht lebt der Außengeleitete in der latenten Angst, etwas falsch zu machen, solange er nicht weiß, was "man" heute so richtig macht. In der zweiten Hinsicht ist er allerdings freier als der innengeleitete Mensch, denn er kann jede Option für sich und die anderen legitimieren, wenn er nur die entsprechende Bezugsgruppe wählt. Bei Jugendlichen schütteln wir den Kopf, wenn sie heute das und morgen das für walmsinnig wichtig halten, und den anderen Erwachsenen kreiden wir es als Charakterschwäche an, wenn sie " ihr Fähnchen nach dem Wind hängen" . Doch Außenleitung macht sich nicht nur vor unserer Haustür breit, sondern ist in die Bedingungen der Moderne eingewoben. Zwar meinen viele, die überhaupt zu dieser Diagnose durchstoßen, sie seien die einzigen, die "nicht alles mitmachen" und " authentisch" sind, aber im Grunde ist das bei vielen nur Illusion, um den Gedanken der Entfremdung von der eigenen Identität, der ja mit der Außenleitung verbunden ist, nicht an sich herankommen zu lassen. Etwas von dieser Skepsis schwingt auch in der Theorie der Pr äsentation mit, mit der ERVING GOFFMAN die Strategie des außengeleiteten Menschen, mit einem flexiblen Rollenspiel über die Runden zu kommen, beschreibt. Doch bei der Selbstdarstellung in den sozialen Rollen geht es nicht nur darum, es mit allen zu können und nicht aus dem Rahmen zu fallen, sondern auch darum, seine Identität vor den anderen zu schützen.2 I Vgi. oben S. 110. 2 Diese These ist mir so wichtig, dass ich sie an vielen Stellen (z. B. S. 218, 324, 350, 358 oder 377) aufstelle. Vielleiehr gelingt es ja doch, beim deutschen Titel "Wir alle spielen Theater" die Assoziation des Verlogenen zu vermeiden!
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We nn man Go ffmans An alyse, dass "wir alle Theater spielen", folgt, dann wird rasch klar: Es ist kein Spie l, sonde rn di e aktuelle Wahrheit, die dem Publikum allerdings nicht auf die Nase geb unde n wird und von der auch die Schauspie ler se lbst manchmal nichts ahne n!
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Goffman: Wir alle spielen Theater
Das im Jahr 1959 erschienene Buch "Thc presentation of self in everyday life" von ERVING GOFFMAN (1922 - 1982) geht von der Hypothese aus, .,dass ein Einzelner, wenn er vor and eren erscheint, zah lreiche Motive dafür hat, den Eindruck, den sie von der Situation empfange n, unter Kontrolle zu bringe n." (Go ffma n 1959, S. 17) Wie sie das tun, erhellt aus dem deutsch en Titel des Bu ches: "Wi r all e spie len Theater" . Goffman hat es in einer kleinen Gemeinde auf den Shetland-lnseln geschrieben, fernab vom anstrengenden Leb en eine r Großs tadt, w ie sie Georg Simmel vor Auge n hatte, aber ganz nah an alltäg lichen face -toface Begegnungen, di e unau sweichlich waren. Das Anliegen dieses Buches formul iert Go ffma n so : " D iese Untersuchu ng befasst sich mit einigen der üb lichen Techn iken , di e angewand t werden, um herv orgeru fene Eindrüc ke aufrech tzuerhalten, und mit einigen häufi gen Folgeersch einun gen, die mit der Anwendung derarti ger Techniken verbunden sind." (Goffman 195 9, S. 17) Um dieses .dra maturgische Problem" der D arstellung vor ande ren geht es in fast allen seinen Schriften. Goffman interessierte, " w ie Menschen in sozi alen Situationen sich dars tellen, sich w ahrnehmen und ihre Handl ungen koordini eren ." (O sw ald 1984, S. 211 ) Wegen seiner höchst differenzierte n, oft witzigen, Beschre ibung der Technike n der Darstellung vor anderen ha t man Go ffman auch als " die Autori tät für impressi on ma nageme nt" b ezei chn et. (Scott u. Lym an 1968, S. 86) Manche lesen ihn auch, wei l sie di e Tricks kennenlern en wo llen, mit den en man sic h im Allt ag über Wasser halt en oder ganz groß ra uskom men kann . Ich meine, dass da s weder dem eigentlichen Them a Goffmans noch se iner theoretischen Leistun g gerec ht wird. Do ch beid es ist nicht so leicht hera usz ufinde n.
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Zunächst zum Thema: Es geht erstens um »Interaktion«. Dieses Thema behande lt Goffman aus zwei theoretischen Richtungen. • Er behandelt es aus der Richtung von Max Weber , den er zwar nur ganz vereinzelt zitiert, dessen Annahme von der Orientierung des Handelns am gemei nten Sinn ihn aber unverkennba r faszinie rt haben muss. • Und er beha ndelt es aus der Richtung von George Herben Mead, dessen Anna hme von der Rollenübemahme ihn ebenfalls ungemein interessierte. Mit seiner These, dass soz iales Handeln Schauspiel ist, entwickelt Goffman Webers Annahme in die Richtung der Manipulation des zu meinenden Sinns weiter und führt Meads These von der Rollenübernahme in der Richtung der kalkulierten Wirkung fort. Das interaktionistische "Paradigma ist auch insofern weitergekommen, als Goffman, verglichen mit Mead, viel genauer Bescheid weiß über die Tricks im Handwerk des täglichen Lebens. Er schaut immer noch zu, aber er staunt nicht mehr. Er we iß, wie es gemacht wird, und das beschrei bt er kühl und distanz iert." (Steinert 1977, S. 84) Und noch einmal zum Thema: Das lautet zweitens »Identität«. Goffman behandelt es unter der Perspektive der Präsentation. Und ich will gleich warnend hinzufügen: Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Individuen so tun - ich meine sogar: "s o tun müssen" - , als ob es bei der Darstellung vor anderen um die wirkliche Identität geht. Es geht denn auch um mehr als die Darstellung. Das ständig wiederkehrende Thema in fast allen seinen Schriften waren die "Gefahren, denen das Selbst in der Interakt ion ausgesetzt ist." (Oswal d 1984, S. 211) Als RA LF D AHRENDORF im Jahre 1969 sein Vorwort zu der deutschen Veröffe ntlichung von Goffm ans Buch schrieb, fühlte er sich an den totalen Ideologieverdacht bei Karl Mannh eim erinnert. Bei Goffman sah er den "to talen Rollenverdacht". Wie.nach Mannhe im Denken gar nicht ander s möglich ist als Denken von einem bestimmten Standpunkt aus, so sei Handeln nicht anders möglich als Handeln in Rollen. Nach der Lektüre falle es schwer, noch Möglichkeiten zu sehen, " aus der totalen Institution Gesellschaft" auszubrechen. (Dahrendorf 1969, S. VIllj Extreme Gefährdunge n beschreibt Goffman in seinem Buch " Asyle" (196 1a), in dem es um die Vereinnahmu ng durch totale Institutionen wie Gefän gnisse, psychiatrische Kliniken oder Gefangenenlager geht,
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und in seinem Buch "S tigm a" ( 1963 ), das den bezeichne nden Untertitel " Über Techn ik en der Bew ältigung beschädigter Ident ität" trägt. Dort wird z. B. gezeigt, welche Anstrengungen Behinderte unternehmen
müssen, damit Nicht-Behinderte so tun können, als ob sie sie wie "Normale" behandelten. I Um weniger dramatische, gleichwohl immer riskante Ve rsuche , die eigene Identität vor den Vereinna hm ungen durch die anderen zu schützen, geht es in allen übrigen Schriften.
Das ist auch der Grund, weshalb man Goffmans Soziologie als die typische Soziologie des Menschen in der Masse ngesellschaft bezeichnet hat. (Willi ams 1986, S. 349) So hatte es schon ALVIN W. GOULDNER in seiner Ge neralabrechnung mit der westlichen Soziologie ( 1970)
gesehen . Danach beschre ibe Goffman die Über lebensstrategien der Angehörigen der Mittelklasse, die " eifrig an einer llIusion des Selbst" baste ln, obwohl sie wissen, dass sie den gesellschaftlichen Verhältnissen unterlegen sind. Diese bürgerliche Welt des impression management "wird von ängstlichen, außengeleiteten Menschen mit feuchten Händen bewohnt, die in der permanenten Angst leben, von anderen bloßgestellt zu werden oder sich unabsichtlich selbst zu verraten." (Gouldner 1970, S. 457)
Mit diesem Urteil wurde Goffman direkt in das Erbe von D A VID eingesetzt, der Anfang der 50er Jahre mit seiner These von der Außenleitung dem Individuum der Modeme jegliche I1Iusion von Freiheit und Einzigartigkeit geraubt hatte. Doch schärfer als bei Riesman entlarvt sich fiir Gouldner in den Beschreibungen Goffmans die moralische Seite dieses Verhaltens: Während Riesman den Übergang von einer religiös motivierten Innenleitung zu einer Anpassung um der soziale n Anerkennung willen beschrieb, beschreibt Goffman nach der Meinung Gouldners den Übergang von " Menschen mit einem in sich ruhenden calvinistischen Gewissen zu Spielern, die nicht gemäß innerer Einsicht, sondern in schlauer Antizipation der Reaktion anderer auf eine raffini erte Methode »einsteigen«." (Goul dner 1970, S. 463) Einsteigen, so muss man wohl ergänzen, in das Schauspie l auf der Bühne des Lebens, bei dem es m. E. aber nicht um die Unterhaltung des Publikums, sondern um die Präsentation einer Identität geht, der man sich nicht immer sicher ist. RJ ESMAN
1 Vgl. oben Kap. 7.5 " Stigma und soziale Identität" , S. 3 17.
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Unter dieser Perspektive will ich nun einige Kemaussagen von Goffmans berühmtestem Buch " Wir alle spielen Theater" referieren. Die Grundannahme des Buches erschließt sich einem mit der eingangs zitierten lakonischen Hypothese und einem bemerkenswerten Zitat. Das Zitat, dessen Überschrift man wenigstens einmal laut lesen sollte (tun Sie es, bitte!), stammt von einem der Gründerväter der amerikanischen Soziologie, ROBERT EZRA PARK (1864· 1944) : Robert Ezra Park : Th e mask is our tru er self .Jt is probably no mere historical accident that the ward person, in its first meaning, is a mask. It is rather a recognition of the fact that everyone is always and everywhere, more or less consciously, playing a role. We are parents and children, masters and servants, teachers and students, clients and professional men, Gentiles and Jews. It is in these roles that we know each other; it is in these roles that we know ourselves. Dur very faces are living masks, which reflect, to be sure, the changing emotions of our inner Jives, but tend more end more to conform to the type we are seeking to impersonate. Not only every race, but every nationality, has its characteristic »face«, its conventional mask. (..) In a sense, and in so far as this mask represents the conception we have formed of ourselves - the role we are striving to live up to - this mask is our truer self, the self we would like to be. In the end. our conception of our role becomes second nature and an integral part of our personality. We come into the world as individuals, achicve character, and become persons." (Park 1926: Behind our masks, S. 249f.)
Bevor ich auf das Thema Maske eingehe, kurz ein Wort zu Goffmans Art, Soziologie zu betreiben. Er arbeitet mit der Methode der Perspektivenverschiebung, indem er scheinbar vertraute Situationen aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet. Meist ist es der Blick hinter die Kulissen. Und dort versetzt er sich in die Rolle des anderen und folgt seinen Definitionen der Situation. Jetzt zurück zum Thema »Maske«. Das Zitat von Park muss man so verstehen, dass wir unsere Masken nicht zufällig ! wählen, sondern wir wählen solche, die uns so präse ntieren, wie wir sein wollen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb Goffman von .presemation" spricht. Den Gedan ken kann man fortspinnen : Nicht wie wir erscheinen, son1 So heisst es auch in Luigi Pirandellos Stück »Die Riesen vom Berge«.
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dem wi e wir ersch einen wo llen , das sagt etwa s über uns. Deshalb interessiert Go ffinan di e Botschaft, die die Schauspieler mit der Au fführung bewusst verm ittel n wollen oder unbewu sst vermi tteln. Gerade diese D ifferenz fasziniert ihn , wesha lb er auch den Pannen auf der Bühne be so nd ere Aufmerksamkeit schenk t. Es ist das gleiche Interesse, mi t dem Sigmund Freud an den Brüchen im Sprechen ansetzte, um Tiefenstruktu ren zu erkunden. Go ffma n ist neugierig auf das, was sich hinter der Maske tut und was vor und nach der Aufführung passiert. Wäh rend Nietzse he mahnte, "es gehöre zur feineren Me nschlichkeit, Ehrfurcht vo r der Maske zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Ne ugi erde zu betreib en" (Ni etzsc he 1886, 270), treib t Goffman genau diese Neugierde an. Ehrfurcht vor de n Mask en hat er nur insofern, als er keine Mask e besser od er sc hlechter bew ertet als eine andere. Er stellt keinen bloß , und er verurteilt kein H andeln. Das mo ralische Urte il ist nicht seine Sache , sonde rn nu r " die formale soz iologisehe Analyse". (Go ffman 1959, S. 18) Goffmans zentrale Begriffe der Analyse des Schauspiels sind int eraktion (ai nteracti on« ode r »encounter«), Darst ellung (c performance«) und Rolle (xpart« or »ro utine«).
Erving Goffman: Interacnon, performance, part "The perspective employed in this report is that of the theatrical performance; the principles deri ved are dramaturgical ones. I shall consider the way in wh ich the individua l in ordinary wo rk situations presents hirnself and his activity to others, the ways in which he gui des and controls the impression they form of rum, end the kinds of th ings he may and not do while sustaining his performances before thcm. (...) For the purpose of this report, Interaction (that is, face-to -faceinteraction) may be ro ughly defined as the rec iproca l influence of individuals upon one anothe r's actions when in one anoth er 's immediate physical presence. An inleraction may be defin ed as all the interac tion which occurs throughout any one occasion whcn a given set of individuals are in one another ' s cont inuous presence; the term »an encounter« would do as weil. A »performance« may be defined as all the activity of a give n participant on a given occasion which serves to influence in any way any of the other participa nts. Taking a particular participant and his performa nce as a basic point of reference, we may refer 10 those who contribute the other performances as the audience, observers , or co-participants. The pre-es tablished pattcrn of action which is
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unfolded during a performance and which may be presented or played through on other occasions may be called a »part« or »routine«." (Goffman 1959: The presentation of self in everyday life, S. XI und 15f.)
Unter Interaktion versteht Goffman also den "wechselseitigen Einfluss von Indi viduen untereinander auf ihre Handlungen"; Darstellung meint alle Tätigkeiten , mit denen ein Ind ividuum die anderen Beteiligten in einer Situation beeinflusst; Rolle schl ießlich meint das Handlungsmu ster, das sich wäh rend einer Darstell ung entfaltet und auch bei anderen Gelegenheiten vorgeführt oder gespie lt werden kann. (vgl. Goffman 1959, S. 18) Da es hier um das Thema Identität geht, werde ich mich im wes entliche n auf das Kap itel »Darstellungen« konzentrierent , in dem Goffman das anstrengende Spielen unserer »parts« vor Publikum und zusammen mit anderen Spie lern beschreibt. Darstellung bezeichnet das aktue lle Gesamtverhalten vor anderen und nur das . Es geht nicht um die Frage, ob die Darstellung wahr oder falsch, gut oder schlecht ist, sondern nur darum, was passiert und wie es gemac ht wird. Um einen Titel aus einem ande ren Kontext zu bemühen, kann man sage n: Goffman sieht im Medium die Botschaft . Doch das Medium hat schon eine Geschi chte, denn natürlich erfindet das Individuum nicht in jeder Situation ein kom plett neues Scha uspiel , sondern verwendet mehr oder weniger bew usst ein "s tandardis iertes A usdrucksrepertcire", mit dem es " die Situation für das Publik um der Vorstellung zu bestimmen" sucht. Gaffman nennt dieses Repertoi re Fassade (»fro nt«). (S . 23) Da zu gehört zum eine n das Bühnen bild, der gestaltete Raum, in dem wir auftreten. Ein solcher Raum ist z. B. unsere Wohn ung, das Auto, das Lokal, das wir am liebsten besuch en, oder auch - wie wir gleich lesen werden - der Schutzwall am Meeresstrand. Dazu gehört zwe itens die "persönliche Fassade". Dazu zäh len Statussym bole, Kleidung, Geschlecht, Körperhaltung oder die Art zu sprechen. Sch ließlich gibt es noch "s oz iale Fassaden", worunter man die sozialen Erwa rtungsm uster vers teht, die mit einer bestimmten Rolle verbunde n sind, z. B. die festen Vorstellungen, wie " man" sich als Arzt oder als gute Mutter zu verhalten hat. In der Entwicklung der GesellWer sich für eine n Überbli ck über andere Themen GofTmans und seine Methode interessiert, kann das nachlesen in Kap. 6 meiner Einführung in interpretat ive Theorien der Soziologie .j ntcraktion, Identität, Präsentation" (Abels 1998).
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schaft ist es dazu gekommen, " eine große Anzahl verschiedenartiger Handlungen durch eine kleine Anzahl von Fassaden darzustellen." (Goffman 1959, S. 27) Diese Reduzierung auf typische Verhaltensweisen und entsprechende Fassaden, die alle kennen, die in dieser Gesellschaft groß geworden sind, macht die Erwartung der Zuschauer sicherer: Sie brauchen nur ein kleines Vokabular von Fassaden zu kennen, um zu wissen, was vor sich geht und was als nächst es passiert. Und der Schauspieler weiß das zu nutzen! Fassaden gehören zur dramatischen Gestaltung. Dramatische Gestaltung bedeutet, sich in einer Rolle als etwas Besonderes darzustellen. So sagt der eine, wie wahnsinnig anstrengend das ist, was er tut, und der andere gibt zu verstehen, er mache das alles mit links. Goffman interessiert noch ein weiterer Kunstgriff zur Darstellung der Identität, den man so beschreiben kann: Wer auf der wirklichen Bühne des Lebens auftritt, möchte gerne auch zeigen, wer er eigentlich noch ist. Dazu deutet er Facetten seiner Identität an, die man auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Preedy, ein Engländer, der zum ersten Mal am Strand in Spanien auftritt, zeigt uns, wie das geht: Preedy am Strand "Auf alle Fälle aber war er darauf bedacht, niemandem aufzufallen. Als erstes musste er allen, die möglicherweise seine Gefährten während der Ferien sein würden, klann achen, dass sie ihn überhaupt nichts angingen. Er starrte durch sie hindurch, um sie herum, über sie hinweg - den Blick im Raum verloren. Der Strand hätte menschenleer sein können. Wurde zufällig ein Ball in seine Nähe geworfen, schien er überrascht; dann ließ er ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschen (Preedy, der Freundliche), sah sich um, verblü fft darüber, dass tatsächlich Leute am Strand waren, und warf den Ball mit einem nach innen gerichteten Lächeln - nicht etwa mit einem, das den Leuten zugedacht wäre - zurück und nahm heiter seine absichtslose Betrachtung des leeren Raums wieder auf. Aber jetzt war es an der Zeit, eine kleine Schaustellung zu inszenieren, die Schaustellung Preedys, des Geistmenschen. Durch geschickte Manöver gab er jed em, der hinschauen wollte, Gelegenheit, den Titel seines Buches zu bemerken - einer spanischen Homer-Übersetzung, also klassisch, aber nicht gewagt und zudem kosmopolitisch - , baute dann aus seinem Bademantel und seiner Tasche einen sauberen, sandsichercn Schutzwall (Preedy, der Methodische und Vernünftige), erhob
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sich langsam und räkelte sich (Preedy, die Raubkatze ") und schleuderte die Sandalen von sich (trotz allem: Preedy, der Sorglose!). Preedys Hochzeit mit dem Meer! Es gab verschiedene Rituale. Einmal jenes Schlendern, das zum Laufen und schließlich zum Kopfsprung ins Wasser wird, danach ruhiges, sicheres Schwimmen auf den Horizont zu. Aber natürlich nicht wirklich bis zum Horizont! Ganz plötzlich drehte er sich auf den Rücken und schlug mit den Beinen große weiße Schaumwogen auf; so zeigte er, dass er weiter hinaus hätte schwimmen können, wenn er nur gewollt hätte, dann reckte er den Oberkörper aus dem Wasser, damit jeder sehen konnte, wer er war. Die andere Methode war einfacher. Sie schloss den Schock des kalten Wassers ebenso aus wie die Gefahr, übermütig zu erscheinen. Es ging darum, so vertraut mit dem Meer, dem Mittelmeer und gerade diesem Strand, zu erscheinen, dass es keinen Unterschied machte, ob er im Wasser oder draußen war. Langsames Schlendern hinunter an den Saum des Wassers - er bemerkt nicht einmal, dass seine Zehen nass werden: Land und Wasser sind für ihn eins! - die Augen zum Himmel gerichtet, ernst nach den für andere unsichtbaren Vorzeichen des Wetters ausspähend (Preedy, der alteingesessene Fischer)." (Sansom 1956: A contest of ladies, wohl in einer Bearbeitung von Erving Goffman 1959: Wir alle spielen Theater, S. 8f.) Preedyt fällt nicht mit der Tür ins Haus und gibt auch nicht plum p an, sondern wäh lt eine Inszenierung der kleinen An deutun gen in der Hoffn ung: " We r vieles bri ngt, wird manchem etwas b ringe n". Kein Zuschauer so1l 1cer ausge hen, alle sollen sich mit einer Seite ihrer eigenen Identität dem Schauspieler verbu nden fühlen. Deshal b darf er auc h nicht zu dick auftragen , aber auch nicht so zurückh altend se in, dass keiner merkt, was er zum Ausdruc k bringen wo llte. Das berüchtigte "n ame dro ppi ng" ist so ein Fa ll einer komplizi erten Darste llung. Wer einen Namen fallen lässt, m uss sic her sein, dass di e Zuhörer damit auch etwas anfangen können . Manch em wird es gar nichts sag en, wenn ihm j emand beiläufig erzählt, er habe mit To m eine ganze Nac ht über d ie Welträtsel gesprochen . Und ma nche feine Ironi e wi rd gar nich t bemerkt, oder das Gesagte wird fü r bare Münze genom men . De shalb ist ein w ichtiger Bestand teil der dra matischen Gestalt ung di e Ausdruckskontrolle. Wer übrigens gerade gemeint hat, Preedy selbst erlebt zu haben, dem sei hiermit bescheinigt, er hat schon vor allem Studium soziologisch beobachtet!
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Wenn das Publikum die Darste llung falsch interpretiert oder vielleicht einem Missgeschick des Darstellers zu große Aufine rksamkeit schenkt, besteht die Gefahr, dass es eine ganz andere Definition der Situatio n vornimmt, die die geplan te Darstellung nicht mehr zulässt.
Deshalb muss der Darsteller jeden störenden Eindruck vermeiden, denn er weiß: Ein falscher Ton zerstört den Klang eines ganzen Orchesters. Wenn ich nicht mitkriege, dass mein künftiger Schwiegervater meinen Zukunftsplänen mit versteinerter Miene zuhört, rede ich mich um Kopf und Kragen. Das Eis, auf dem wir voreinander auftreten, scheint also sehr dünn zu sein. Goffman erwähnt nun eine Strategie, die auf den ersten Blick das Ende eines gemeinsamen Schau spiels zu signalisieren scheint: die Strategie der Rollendistanz. Doch gerade diese Strategie eröffuet dem Individuum die Chance, die Situat ion und die Fassaden, das Bühnenb ild und sogar die Zuschauer neu zu definieren. Es ist eine Strategie, Identität zu behaup ten! Rollendistanz heißt nicht Verwe igerung oder Unfähigkeit, sondern im Gegenteil die hohe Kompetenz, souverän mit einer Rolle umzugehen. Ihr Zweck ist, soziale Zumutungen, die die Darstellung der Identität stören, zurückzuweisen. Ma n will zeigen (oder wenigstens beanspruchen), dass man noch anderes und mehr ist als in der Rolle erwartet und ermöglicht wird. Goffman geht davon aus, dass das Individuum immer " an einem Gefüge von Rollen teilnimmt" und es gleichzeitig die Fähigkeit besitzt, " sein Engagement für andere Schemata in der Schwebe zu halten; es erhält so eine oder mehrere ruhende Rollen aufrecht, die bei anderen Gelegenheiten ausgeübt werden ." (Goffman 1961b , S. 101) Das ist die eine Seite, weshalb dramatische Darstellungen nur ein Ausschnitt aus einer größeren Wirklichkeit sind. Es bleiben immer Bereich e außen vor, die unter anderen Umständen relevant werden . Der Blick auf diese anderen Bereiche - sprich: Rollen - kann nie ganz vermieden werden. ANSELM STRAUSS hat - wie oben ! schon zitiert wurde - sogar davon gesprochen, dass jede Interaktion eine Interaktion mit abwesenden Zuschauern ist. (Strauss 1959, S. 58) Rollendistanz ist die unbewu sste (oft natürlich auch bewusste!) symbolische Reaktion auf Erwart ungen aus einem anderen Relevanz system.
I Vgl. Kap. 5.5 ,,s ymbolische Interaktion", S. 2 13.
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Zur Rollendistanz gehört deshalb auch, die Erwartungen der anwesenden Zuschauer zu beeinflussen. Einige Attribute, die sie ihm zuschreiben, mag das Individuum akzeptieren, andere nicht. Da in einer Interaktion jeder Darsteller auch Zuschauer und jeder Zuschauer auch Darsteller ist, beeinflusst j ede Definition der Situation jeden anderen in dieser Situation. Jeder versucht, den anderen zu einem Verhalten zu bewegen, das in das eigene Handlungskonzept passt. Das bedeutet notwendig, den anderen in seinem Handeln einzuschränken. Da im Prinzip alle in der gleichen Situation sind, werden alle auch die gleichen Versuche unternehmen, sich nicht in ihrem Handeln festlegen zu lassen. Rollendistanz ist eine Strategie, sich Optionen zu eröffnen. Das ist nicht immer leicht, und grundsätzlich ist die Voraussetzung, dass es eine Interaktion von Gleichen ist. Wo Macht die Situation dominiert, ist nur für eine Seite Rollendistanz möglich. Normalerweise aber stehen uns distanzierende Methoden zur Verfügung, mit denen wir uns als eine Person im Spiel halten und Vereinnahmungen zurückweisen. Solche Methoden sind Erklärungen, Entschuldigungen und Scherze, unbewusst auch Albernheit usw. Es sind alles Methoden, durch die das Individuum bittet, bestimmte Definitionen seiner Person zu streichen. (Goffman 1961b, S. 118) Und umgekehrt beeinflusst das Individuum aktiv das Bild, das andere von ihm haben oder haben k önnten. Ein Beispiel für diese Strategie ist der von Goffman aufmerksam beschriebene kleine Junge, der auf dem Karussell wild herumhampelt, um den anderen Kindern und vor allem seinen ängstlichen Eltern zu signalisieren, dass er kein Baby mehr ist. Rollendistanz kann aber auch der freiwillige Verzicht auf ein bestimmtes Recht sein, das man in einer bestimmten Rolle ausüben könnte. Goffman bringt dazu das Beispiel des Chirurgen, der bei einer komplizierten Operation auf ein Missgeschick seines Assistenten nicht mit einem strengen Verweis reagiert, der ihn womöglich noch unsicherer machen würde, sondern mit einem jovialen " Das ist mir bei meiner ersten Operation genau so passiert!". In diesem Beispiel hat Rollendistanz etwas mit der Abwägung der Vorund Nachteile eines bestimmten Handelns für die Fortführung eines gemeinsamen Handeins zu tun. Damit komme ich noch einmal auf die eben angeschnittene Frage zurück, ob eine Darstellung wahr oder falsch ist. Gerade nach der Beschreibung der Strategie der Rollendistanz kann man das nicht mehr als eine moralische Frage betrachten. Da jede Definition der Situation
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Konsequenzen hat, ist jede Darstellung insofern wahr . Dass sich das Indi viduum se iner D efinitionen und St rateg ien n icht imm er bewusst ist
und dass die anderen möglicherweise ganz andere Definitionen wahrnehm en, steht auf einem anderen Blatt. So kann man auch nur festhalten, dass Ro llendi stanz eine Strategi e ist, mit der wir un sere Identit ät
schützen und präsentieren. Selbstverständlich bleibe ich auch bei meiner Lesart, dass Goffman um die Gefahrdung des Individuums weiß, und desha lb wollte er niemanden bloßstellen, sondern nur vor Illusioneo warnen. Das gilt auch für die Aufdeckung der unbewu ssten Strategien des Individuums, sich gleichzeitig als anders als alle anderen und als so normal wie alle anderen zu präsentieren. Im Anschluss an Meads These, dass das Individuum in der Interaktion mit anderen Objekt für die anderen und für sich ist, möchte ich die These vertreten, dass es zumin-
dest das Erstere auch will: Es will auch bemerkt werden. Daraus ergibt sich aber ein Balanceprob lem: Es möchte nicht, dass andere ihm zu nahe treten, deshalb möchte es nicht zu sehr bemerkt werden; es will aber auch nicht in der Masse unterge hen, deshalb macht es sich auffällig. Das Individuum hat das Bedürfnis, so normal wie alle anderen und so einzigartig wie keiner zu sein. Oder anders: So ganz unauffällig will doch eigentlich niemand sein, aber so ganz anders zu sein als alle anderen, traut sich auch kaum einer zu. Die Spannung zwischen gespielter Norm alität und angeblicher Einzigartigkeit wird in der kritischen Interaktionstheorie als Balance zwischen phantom normalcy und phant om uniqueness bezeichnet. Dieses Bild wird zwar meist Goffman zugesc hrieben, doch diese Gegenüb erstellung ist nur zum Teil ein Zitat aus seinen Arbeiten und dann auch noch aus einem spezifischen Kontext. Goffinan verwendet nur den Begriff phantom normalcy und meint damit ein strategisches Kalkül, das Menschen anwenden, deren sozia le Identität aufgrund eines auffälligen Stigmas gefährdet ist. (Goffman 1963, S. 152) Es handelt sich also um Personen, die Aufmerksamkeit nicht entgehen können. Sie müssen so tun, als ob sie normal wie alle anderen sind, damit diese so tun können, als ob sie sie als Normale betrachten. (vgL S. 122) Aus dieser doppelt gebrochenen Strategie, Annahmen von Normalität im Spiel zu halten, lässt sich dann der Schluss ziehen, den JÜRGEN H ABERMAS aus Goffmans Beschreibungen der Auftritte des Individuums auf der gesellschaftlichen Bühne gezogen hat. Er unterstellt dem
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Individuum nämli ch das Bedürfuis, sich als einzigart ig darzustellen . Da es aber vielleicht gar nicht so anders ist als die anderen, ma cht es sich und den anderen vo r, dass es einzigartig sei. Habennas nennt die se vorgespielte Identität phantom uniqueness. (Habermas 1968, S. 132) Der Einze lne tut so, als ob er ganz einz igartig ist, und lenkt dadu rch bewusst Aufmerksamkeit auf sich. Vermutlic h wäre Go ffman mit dem Komplementärbegriff der phantom uniqueness durchaus einve rstanden gewesen, denn er fügt sich genau in die Erklärung ftir die von ihm beschriebene Strategie der Rollendistanz ein . Doch wie diese Strategie der Rolle selbst nicht entfliehen kann, so geben auch die Strategien ge spie lter Normalität und gespielter Einzi gartigk eit nicht wirklich Freiheit. Phantom nonnalcy und phantom uniqueness sind ein strategisches Kalkül, hinter dem aber die Gefahrdung von sozialer Identität au fschei nt. Und es ist nicht nur der soziale Außenseiter, der es anw enden muss, sondern dieses Kalkül wird auch von denjenigen in ihr Hand eln einbezogen, die sich mitte n im Zentrum der Gese llschaft wähnen. Die Balance von Nicht-Wirklichem zeigt, da ss Identität in der Tat zum Kri senbegriff in der Modeme geworden ist. Außerdem gebe ich zu bedenken : So eindringlich GofTman beschrieben hat, wie Individuen in der Interaktion mit anderen eine soziale Identität vor anderen präsentie ren, so wenig dürfen wir übersehen , dass sie ja nur behauptet wird. Ob sie stimmt, wissen wir nicht. Auch bleibt die Frage, wa s Identität als Vorau ssetzung für das Schauspiel wär e od er welch e sich daraus ergeben könnte, außen vor. Eine mögliche Antwort findet sich be i TAl COTI PARSONS, der annimmt, dass das Indi viduu m auch und gerad e unter der Fülle von Ro llen und Interaktio nen so etwas wie ein grundlegendes Muster in der Organisation seiner sozialen Beziehungen entw ickel t. Parson s' Theorie der Identität ist in ihrer letzten Fonn einige Jahre nach Goffmans Buch über das tägliche Sc hauspie l der Präsentation und Verhüllung von Identität ersc hienen, wesha lb ich sie auch erst hier vorstelle; aber der Rahmen, in dem sie ursprünglich entwickelt wu rde, ist wesen tlich älter.1
Sie können ihn rekapitulieren, wenn Sie in diesem Band die Kapitel 2.6 .Herstellung funktional notwendiger Motivation" und 3.1 ..Rolle - normative Erwartung" nachlesen. Zum grundsätzlichen theoretischen Ralunen und zur Frage, wie nach Parsens gesellschaftliche Ordnung überhaup t möglich ist, vgl. Band I, Kap. 3.9 "Normative Integration".
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Identität
Parsons: Individuelles Code-E r haltungssyste m
Um sich klarzumachen, wo TALCOTT PARSONS das Them a Identitä t lokalisiert, muss man sich einige seiner Grundannahmen in Erinnerung rufen: In seiner Theorie der Institution hatte er gezeigt, wie Wertorientierungen in einer Gesellschaft so verbindlich werden, dass wir an ih-
nen, wie das j a auch Durkheim gesagt hatte, nicht vorbeikommen. Dass sie uns letztlich nicht als Zwang und Einschränkung erscheinen, erklär-
te Parsons mit der Erzeugung einer konformen M otivation im Prozess der Sozialisation. Letztlich wollen wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten so llen. Wir spielen die Rollen, die als soziale Erwartungen nach den nonnativen Vorgaben des kulturellen Systems ruf alle Mitglieder der Gesellschaft gelten und in konkreten sozialen Systemen zum Ausdruck kommen. Und hier siedelt Parsons auch das Problem der Identität an, denn es ist nach seiner Ansicht ein Problem, und es hängt mit der zunehmenden Komplexität und DifTerenzierung der Gesellschaft zusammen: Talcott Parsons: Str ukture lle Differ enzierung, Pluralisierung der Roüenverpütchtun gen, Wahlmöglichkeiten und die Frag e " W er bin ich?" "Der Begriff »Identität« ist zu einem Modewort geworden, das zwar primär als terminus technicus dem Bereich der Sozialpsychologie angehört, das jedoch auch - besonders in den Vereinigten Staaten - breitere Kreise von Intellektuellen anzieht. Die Verbreitung derartiger Begriffe - man denke auch an den eng verwandten der Entfremdung - ist in der Regel symptomatisch für die Spannungen, die durch Veränderungen der Struktur einer Gesellschaft und der kulturellen »Deflnition der Situation" erzeugt werden. Für die beiden genannten Begriffe möchte ich hier lediglich behaupten, dass ihre Verbreitung - vom sozialen System her gesehen - teilweise als Konsequenz einer zunehmenden strukturellen Differenzierung der Gesellschaft zu interpretieren ist, durch die eine zunehmende Pluralisierung der Rollenverpflichtungen des typischen Individuums produziert wird. Dadurch wird nämlich ein häufig verwirrender Bereich von Wahlmöglichkeiten und - nachdem man sich einmal festgelegt hat - von sich vielfaltig überlappenden Zwängen freigesetzt. (. ..) Das System der primären Rollenbindungen von Individuen wurde außerordentlich differenziert; aber gleichzeitig haben sich auch die Sozialsysteme, die unmittelbar Interesse auf sich ziehen, ungeheuer
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ausgedehnt - bis zu einem Punkt, wo eigentlich die ganze Welt für jedes einzelne einigermaßen aufgeklärte Individuum zum Handlungsfeld wird. Daher ist das Individuum entschieden stärker und bewusster damit beschäftigt, herauszu finden, was und wer es in dem ganzen Universum von Identitäten aller möglichen Menschen auf der Erde ist. Diese Entwicklungsprozesse sind m. E. dafür verantwortlich, dass das Problem der Identität (und das damit zusammenhängende, aber von diesem zu unterscheidende der Entfremdung) innerhalb der westlichen Kultur - vor allem der Vereinigten Staaten - in den Vordergrund gerückt ist. Es ist natürlich verständlich, dass die Identitätsprobleme vor allem in den sensiblen (KoIT. H. A.) Gruppen der j üngeren Generation akut sind, da diese Individuen in ein Interaktionssystem einzutreten haben, das erheblich komplexer und verzweigter ist als das, dem ihre Eltern zum entsprechenden Zeitpunkt ihres Lebenszyklus gegenüberstanden." (Parsons 1968: Der Stellenwert des Identitätsbegriffs in der allgemeinen Handlungstheorie, S. 68 und 71) Es kommt sicher nicht vo n ungefähr, dass Parsans den Begriff der Identität zweimal m it dem " dami t zusam menhängenden" d er Entfremdung zusammenbri ngt und ihn als " Mo dewort" bezeichn et, das attraktiv für Intellektuelle ge worden sei. Es war di e histori sch e Er fah rung der Studen tenbewegung in den US A und ihrer Kritik an entfremdende n gesellschaftl ichen Ve rhältn issen , di e den Th eor etik er der Ordnun g über de n Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft in zwei Rich tunge n nachdenken ließ . In der einen Richtung stellte sich die Fr age, was die Voraussetzu ng für di e freiwillige Z us timm ung zu einer Gesellschaft ist. Das m ind este war nach seiner T heo rie, dass di e Ordn ung als legitim und die sozialen Ro llen als einde utig erschienen . Die ein e Bedingung war gerade durch d ie aufkom mende Kritik an den " Ve rhältnissen" öffentlich ins Ge red e geko mmen, die zweite Bedingung hielt Pars ans se lbs t für fragl ich. Fraglic h d esh alb , w eil di e Differenzierung - nicht nur de r Arb eit , sondern des ga nzen Lebens - zu ein er Pl uralisierung von Ro llen ge führt hatt e, d ie w iederum zu eine r Üb erlappung von Zwäng en - und man kann h inzu ftlgen: auch zu Widersprüchen - führten. Fraglich au ch deshalb, wei l di e Sozialsystem e sich ausd ehnten und komplex er wurden. Dadurch ergaben sich ganz neue funktionale Differen zierun gen , aus denen heraus Roll en höchst untersch iedl ich bestimmt werden konnten .
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Die Komplexität der sozialen Systeme schwächte die Norrnativität ei-
nes generellen kulturellen Konsenses. In der anderen Richtung, mit Blick auf das Individu um, stellte sich die Frage, was diese Entwicklung für das Individuum selbst bedeutete, von dessen freiwilliger Bindung ja Gesellschaft abhing. Da stand zu befürchten, dass das Individuum durch die Komplexität der Rollen geistig und sozial überfordert wird, durch ihre Widersprüche in Konflikte gerät und deshalb immer häufiger mit der Frage konfrontiert wird, wer es eigentlich ist. Der kritische Beobachter der amerikanisehen Gesellschaft, DAVID RIESMAN, hatte diese Frage mit der These beantwortet, das Individuum orientiere sich nicht mehr an sich selbst, sondern an den anderen und tue das, was " man" so tut. Diese .Außenleitung" überlagere jede Frage nach der Identität. Eine andere kritische Diskussion, die Anfan g der 1960er Jahre die akademische Jugend in den USA und dann weltwei t mobilisierte, sah Identität grundsätzlich gefährdet, weil die technische Rationalität des Kapitalismus selbst die Widersprüche und Alternativen des Lebens eindimensionierte. Das war die These von HERBERT MARCUSE, In seinem Buch " Der eindimensionale Mensch" ( 1964) beklagte er, dass eine Gesellschaft , die vorgaukelte, dass alles machbar und alles erlaubt ist - vorausgesetzt , cs fügt sieh in die herrschende Ideologie - , Alternativen eines nicht entfremdeten Lebens schon gar nicht mehr denken ließ. Auf einer "fortgeschritteneren Stufe der Entfremdung" identifizieren " sich die Individuen mit dem Dasein ( . . .), das ihnen auferlegt wird" , und haben " an ihm ihre eigene Entwicklung und Befriedigung (. . .); das Subjekt, das entfremdet ist, wird seinem entfremdeten Dasein einverleibt". (Marcuse 1964, S. 31) Auch das war der Hintergrund, vor dem Parsons " Identität" mit dem ,,Modewort" der "Entfremdung" (wohlgemerkt der Intellektuellen!) zusammenbrachte. Dieser maß er schon deshalb eine geringere Bedeutung bei, we il er in seiner Theorie der Sozial isation und der damit untrennbar verbundenen Rollentheorie t erklärt hatte, warum es normal und durchaus erträglich ist, dass wir der Gesellschaft zustimmen. Seine These hieß, dass wir gese llscha ftlichen Erwartungen letztlich freiwillig nachkommen. Die sozial-kulturelle Persönlichkeit zeichnet sich durch eine feste Wertbindung (ecommitment«) an das kulturelle System aus. Vgl. Kap. 2.6 .H erstellung funktional notwend iger Motiva tion", S. 92, und Kap. 3, 1 "Rolle - normative Erwartung" ,
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Und dennoch kommt neben dieser Erwartung normalen, d. h. konformen, Verhaltens auch ein Gedanke von Andersheit ins Spiel, denn Parsons nimmt die Rollenvielfalt und die unterschiedlichen Erfahrungen, die Individuen im Laufe ihres Lebens machen, in den Blick. Danach kann man Identität als individuelle Variation der Kombination von kultureller Bindung, sozialer Erfahrung und spezifischer Rollenkonstellationen verstehen. Das habe ich schon angedeutet, als ich oben beschrieben habe, wie das Individuum in Inter-Aktionen vorkommt: Neben der Tatsache, dass es "Objekt der Orientierung" filr andere Handelnde ist und dass "s eine Bedeutung als Obj ekt von Kontext zu Kontext" variiert, sind vor allem zwei andere wichtig, die ich noch einmal in Erinnerung rufen möchte: Das Individuum wird sich in der Interaktion auch selbst zum Objekt, und zweitens ist j edes Individuum " in vielfiiltigen Interaktionssystemen eingebettet, so dass der Teil seines motivationalen Systems, der jeweils »engagiert« ist, von Situation zu Situation verschieden sein wird" . (Parsons 1968, S. 73) In jeder Interaktion stellen sich Fragen wie: Was ist das Besondere an dieser Situation, welche Rolle wird mir angetragen, was sind meine Erwartungen, und was kann und will ich hier tun? 1m Grunde geht es darum, wie mich die anderen in der konkreten Situation sehen und wie ich mich selbst sehe. Diese beiden Gesichtspunkte ,,Motivation des Handelns" und "Objekt von Orientierungen" haben Implikationen für Parsons' Konzeption der individuellen Identität: • " Erstens: Um angemessen in psychischen und sozialen Bereichen und in deren beständigem Zusammenspiel zu fungieren, muss die Persönlichkeit des Individuums als ein hinreichend deutlich konstituiertes und fest umrissenes Obj ekt definierbar sein - und zwar, damit Fragen wie » Wer oder was bin ich bzw. ist er?« beantwortet werden können, sowohl fllr das Individuum selbst wie für seine Interaktionspartner. In diesem Zusammenhang muss man sich daran erinnern, dass die Persönlichkeit als Objekt das Produkt eines sozialen Prozesses innerhalb eines kulturellen Rahmens ist; Identität konstituiert sich nicht auf der biologischen Ebene. • Zweitens: Die Tatsache, dass Rollenpluralismus an Bedeutung gewinnt, bedeutet, dass die Individuen mehr zentrifugalen Kräften ausgesetzt sind, weil an jede Rollenverpflichtung je eigene Erwartungen, Belohnungen und Verpflichtungen geknüpft sind.
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Für die Persönlichkeit wird es unerlässlich, ein angemessenes Niveau der Integration dieser einzelnen Komponenten herzustellen. Das internalisierte Selbstbild ist der natür liche Bezugspunkt rur diese Integrationsleist ung. Es ist wichtig, sich hier noch einmal vor Augen zu halten, dass die Individ ualisierung ein Pro dukt des von uns genannten Differenzierungsprozesses ist," (Parsons 1968, S. 73) Wie sich das Individuum in einer konkreten Interaktion selbst sieht, woran es sich orientiert und in welchen Kontexten es sich wie verhält, das ist natürlich nicht zufällig oder willk ürlich, sondern Ergebnis seiner spezifischen Sozialisation. Auf diesen Zusammenhang kommt Parsons nun zu sprechen und ruft dazu noch einmal einige Annahmen seiner Theorie zum Zusammen hang von kulturellem, sozia lem und Persönlichkei tssystem in Erinnerung: Danach ist der Mensc h ein Persönlichkeitssystem, das in sozialen System in Interaktion mit anderen handelt; Handeln wiederum ist ein " System des Verhaltens" , das durch .Systeme von kulturellen Bedeutungen organisiert und somit kontrolliert wird" . (Parsons 1968, S. 74) Blicken wir genaue r auf die Struktur des Persönlichkeitssystems. Es baut sieh auf aus "Objekten", " die durch Erfahrung im Verla uf des Lebens gelernt wurden - wobei diese Erfahrung mittels kultureller, symbolisch generalisierter Medien »kodifiziert« wurde." (ebd .) Wie Freud, auf den sich Parsons nun ausdrücklich bezieht, gezeigt hat, sind diese Objekte zunächst und grundlegend soziale Objekte. Indem es ihre Erwartungen internalisiert, entwickelt das Kind ein Bewusstsein seiner selbst, aber nicht nur seiner selbst, sondern auch des Syste ms von Erwartungen, die im sozialen System Familie herrschen. Es ist der Geist seiner Bezugsgrupp e, von dem aus das Kind seine Rolle und die komplementären Rollen der anderen interpretiert. Im Laufe der Entwick lung werden die sozialen Systeme der Sozialisationsagenturen immer komplexer, und das Rollenrepertoire wird differenzierte r. Und zweitens muss man sagen, dass der kulturelle Konsens ubcr Rollen brüchig geworden ist. Genau hier sieht Parsons denn auch das Problem der Identität in der Modeme: " Das häufig als Rollenpluralismus bezeichnete Phänomen ist ein einzigart ig charakteristisches Mer kmal moderner Gese llschaften. Das erwac hsene Individuum ist der Brennpunkt eines komplexen Rollensystems. (..) Wenn diese mannig-
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faltigen Rollenverp flichtungen, die mit zunehmendem Status des Individuums und mit wachsender Komplexität der Gese llschaft komplexer werden, von ein und demselben Individuum gehandhabt werden sollen, müssen sie systematisch miteinander verknüpft werden." (Parson s 1968, S. 78) Das Ergebnis dieser systematischen Verknüpfung kann man als "i ndividuelle Identität" bezeichnen. Identität ist also ein Strukturbegriff. Identität ist aber auch ein Funktionsbegriff. Was damit gemeint ist, wird klar, wenn man sich die vier Funktionen in Erinnerung ruft, die Systeme erfüllen müssen, um sich selbst zu erhalten.' Neben .adaptation" , "goal attainment" und .jntegration'' war das die Funktion der "latent pattern maintenance", also der Erhaltung des latenten Struktunnusters oder - wie ich es im Kapitel über Interaktion gezeigt habe - des typischen Codes, in dem sich das System ve rständigt.ä Diese Funktion hat Identität! Identität ist "das Code-ErhaltungsSystem (pattern maintenance) der individuellen Persönlichkeit", sie ist "C ode-Struktur" . (S. 83) Identität als Code-Stru ktur meint dabe i nicht Ansammlun g von symbolischen Objekten und Bedeutungselementen, sondern die "Organisationsprinzipien und Regeln für die Interpretation und Verbindung von einzelnen Bedeutungselementen" . (ebd.) Erst wenn man sich dieses Organisationsprinzip klar macht, wird auch Motivation .verstehbar", wie Parsons es mit dem deutschen Wort ausdrückt. Halten wir also fest: Das Identitätssystem der Persönlichkeit übt .Jrgendwie die »Funktion der Kontrolle « von Handlungsprozessen" aus. Parsons fahrt fort: "Die betreffende Art der Kontrolle entspricht der, auf die man anspielt, wenn man sagt, eine Person handle »ihrem Charakter entsprechcnd«." Und da er vom Normalfall erfolgreiche r Sozialisation und Internalisierung ausgeht, kann Parsons auch den nächsten Schluss ziehen: " Die meisten normal integrierten Personen verfügen über relativ stabile Orientierungsmuster im Umgang mit Situationen und anderen Menschen." (S. 84) Ich fasse Parsons' Konzept der Identität mit seinen eigenen Worten zusammen, möchte Sie aber ausdrücklich auf die "Botschaft" aufmerksam machen, wen es vor allem betrifft (oder besser: "trim "? ): AusfiihrIich habe ich sie in Band 1, Kap. 6.3 "Grundfunktionen der Strukturerhaltung (AGIL-Schema)" behandelt. 2 Vgl. oben Kap. 5.4 .R olle, Austausch, Kontingenz" , S. 204.
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Ta lcott Parsons: Ge neralisierte Bindungen und indiv id uelle Kombinationen " Die individuelle Identität als Kern des Persönlichkeitssystems würde in diesem begri fflichen Rahmen als komplexer Mechanismus gedacht werden müssen, der für eine angemessene Balance zwisc hen verallge meinerten und individualisierten Momenten verantwortl ich ist. Jedes Individuum ist - überfl üssig das zu sagen - ein »Kind« seiner Kultur und Gesellschaft und natürlich der besonderen Erfahrungen, die es innerhalb der beiden Systeme gemacht hat. (...) Die hochgeneralisierten und allgemein akz eptierten kulturellen Bindungen und Gruppe nmitgliedschaften sind somit unvermeidlich Bestandteil der Identität - um so mehr, j e »lntellektueller« das Individuum ist. Gleichzeitig variiert die Kombination von Momenten, die in eine
Identität eingegangen sind, von Fall zu Fall: in irgendeiner Hinsicht ist sie einzigartig. Das umso mehr, je differenzierter die sozialen und kulturellen Systeme, mit denen das Individuum in enge Berührung gekommen ist, sind. Es dürfte von daher evident sein, dass nach unserer Auffassung die Wahrscheinlichkeit außerordentlich gering ist, dass in irgendeiner Gesellschaft die individuellen Identitäten völlig gleich sind; um so geringer, je weiter der Differenzierungsprozess der Gesellschaft und der Kultur fortgeschritten ist." (Parsons 1968: Der Stellenwert des Identitätsbegriffs in der allgemeinen Handlungstheorie, S. 84f.) Identität ist zum einen ein Strukturprinzip des Handelns des Pers önlichkeitssystems, ein spezifisches .Drientieru ngsmuster". Von indivi dueller Identität spric ht Parsons, weil sie das Produkt einer einzigartigen Sozial isation ist. Zum anderen ist Identität eine objektive Tatsache, die sich aus der individue llen Kombination von Erfahrungen im Sozialisationsprozess und von Rollenverpflichtungen, aber auch Positionen in sozialen Systemen ergibt. Letzteres erinnert stark an Geo rg Simm els These vom einzigartigen Schnitt punkt der sozialen Kreise, in dem nur ein Individuum vorkommen kann. Parsons' Theorie der Identitä t ist in der soziologischen Diskussion nicht mehr so recht zum Tragen gekommen. Das lag einmal daran, dass man sie ohne viel Federlesens der Rollentheori e zuordnete, und über die war das Urteil schon gesproc hen. Vor allem abe r lag es an einer optimist ischen Theorie der Identität , die damals schon in aller M unde war . Ge meint ist die Theorie von Erik H. Erikso n.
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E r ikso n: Identitä t im Lebenszyklus
Der dänisch-deutsch-amerikanische Psychoanalytiker ERIKH. ERI Kso N (1902-1994), der nach seiner Ausbildung bei Anna Freud in die USA ging und dort einer der bedeutendsten sozialwissenschaftlich ausgerichteten Psychoanalytiker wurde und auf die öffentliche Diskussion großen Einfluss hatte, verbindet die psychosexue/le Theorie Freuds mit einer psychosozialen Entwicklungstheorie. Von den Grundannahmen der klassischen Psychoanalyse unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht von einer Festlegung der Persönlichkeit in der frühen Kindheit ausgeht, sondern eine lebenslange Entwicklung der Identität annimmt. Identität ist etwas, das nicht aus dem Individuum allein erklärt werden könnte, sondern was auch kulturell und sozial konstituiert wird. Erikson verbindet also eine Identitätstheorie mit einer Sozialisationstheorie. • Die Entwicklung selbst ist eine Abfolge von phasenspezifischen Krisen. Sie resultieren aus der Erfahrung der Differenz zwischen innerer Entwicklung und Anforderungen der sozialen Umwelt. In jeder Phase kommt es zu einem spezifischen Konflikt der Haltung des Menschen zu sich selbst und zur äußeren Welt. Jede Phase "kommt zu ihrem Höhepunkt, tritt in ihre kritische Phase und erfahrt ihre bleibende Lösung." (Erikson 1950b, S. 60) Diese bleibende Lösung besteht in einer bestimmten Grnndhaltung (S. 62). Sie ist teils bewusst, teils unbewusst, weshalb Erikson sie auch mit den Ausdruck »ein Gefühl von« umschreibt. Sie meint einen unbewussten inneren Zustand wie die Weise des Erlebens und Verhaltens. (vgl. ebd.) • Diese Grundhaltung bezeichnet Erikson auch als .Grundnarke oder Ich-Qualität" (Erikson 1982, S. 106). Manchmal spricht er auch von Grundtugenden (abasic virtues«) (1961, S. 96). Die Unklarheit hat etwas mit der Frage des Psychoanalytikers, was an der Ich-Erfahru ng bewusst ist, und der des Sozialpsychologen, welche Tendenz zum Handeln existiert, zu tun. Heuristisch unterscheide ich zwischen Grundhaltung als dem unbewussten Gefühl aus der Lösungstendenz des Kemkonfliktes und Tugend als der Qualität der Stärke, mit der sich der Mensch aktiv durch sein Leben " steuert" (vgl. Erikson 1961, S. 98). • In jeder Phase kommt es zu einem spezifischen Gefühl, ein Ich in einer bestimmten sozialen Realität zu sein. Dieses Gefühl
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nenn t Erikson Ich-Identit ät. (vg l. Erik son 1946, S. 17) Sie ist .,eine subjektive Erfahrung und eine dynamische Tatsache" insofern, als der Mensch erstens selbst eine "e igene Gleichheit und Kontinuit ät in der Zeit" wahrnimmt und erfahrt, dass auch andere ihn so sehen, und zweitens, dass er mit seiner Ich-Qualität beides auch in den Augen der andere n gewährleistet. (S. 18)
Erikson unterscheidet acht Phasen im Lebenszyklus, in denen jeweils eine spezifische Antwort auf die Frage " Wer bin ich?" gegeben wird. 1. " Ich bin, was man mir gibt." Die erste Phase, das Säuglingsalter, überschrei bt Erikson mit der Aussage: .Jch bin, was man mir gibt." (Erikson 195Gb, S. 98) Damit will er zum Ausdruck bringen, dass der Säugling total von der Mutter abhängig ist. Die psychosoziale Krise, die der Säugling erlebt, ist die Erfahrung, dass die Befriedigung seiner Bedürfnisse nicht ständig oder nicht immer in ausreichendem Maße erfolgt. Die Ungewissheit, ob und wann und wie diese Befriedigung erfolgt, kann sich verdichten zu einem Gefühl des Misstrauens und der Resignation . Umgekehrt führt die Erfahru ng der regelmäßigen und liebevollen Zuwendung zu einem Gefühl grundsätzlichen Vertrauens. Erikson nennt diese Grundhaltung Urvertrauen , die Tugend dieser ersten Phase, die den ersten Ansatz künftiger Ich-St ärke bildet, nennt er Hoffn ung . 2. .Jch bin, was ich will." In der zweiten Phase, dem Kleinkindalter, entwickelt sich im Kind auf die Frage, wer es ist, die Antwort : " Ich bin, was ich will." (Erikson 195Gb, S. 98) Die psychosoziale Krise dieser analen Phase sieht Erikson in dem Missverhältnis zwischen den Ford erungen, die an das Kind gestellt werden - vor allem von seinen Erziehern, zunehmend aber auch von ihm selbst - , und dem, was es tatsächlich schon kann. In dieser Phase entscheidet sich, ob die Grundhaltu ng zur Autonomie oder zu einem Gefühl von Scham und Zweifel ausschlägt. Die Tugend dieser Phase ist der Wille. 3. " Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann." Das Spielalter ist die dri tte Phase. Freud nannte sie die infantilgenitale Phase. In ihr kom mt es zu einer libidinösen Beziehung zu den Eltern, die aber mit dem Gefühl einhergeht, dass eine solche Beziehung nicht statthaft ist. Es kommt also zu einem Konfl ikt zwischen Bedürf-
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nissen und kulturell zuge lassenen Befriedigungen. Der Kemkon flikt heißt Initiative vs. Schuld. Es geht also darum, sich das sozial Zulässige vorzunehmen und das Falsche nicht zu denken. Deshalb kann man diese Phase auch mit der Antwo rt überschreiben: " Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann." (Erikson 195Gb, S. 98) Die Grundstärke. die sich in dieser Phase ausb ildet, ist die Zielstrebigkeit. 4. " Ich bin, was ich lerne:' Um das 6. Lebensjahr tritt eine Pause in der sexuellen Entwick lung ein. Freud spricht von Latenz, Erikson nennt diese vierte Phase Sch ulalter. Jetzt lernt das Kind Dinge, die für das Leben nützlich sind, und erfreut sich daran , etwas zu können und sich mit anderen zu messen. Die Antwort auf die Frage "Wer bin ich?" lautet denn auch: " Ich bin, was ich lerne." (Erikson 19S0b, S. 98) Der Kernkonflikt dieser Phase besteht in der Erfahrung, den Anforderungen, die das Kind an sich selbst oder die wichtige Bezugspersonen stellen, gerecht zu werden oder an ihnen zu scheitern. Mit der Erfahrung des Könnens entwickelt sich die " Lust an der Vollendung eines Werkes durch Stetigkeit und ausdauernden Fleiß", mit der Erfahrung des Versagens sinkt das Selbstvertrauen . (Erikson 1950b, S. 103) Im ersten Fal1 bildet sich ein Gefühl von Werksinn, im zweiten ein Mindenvertigkeitsgefiih/ aus. Die entsprechende Tugend, mit der sich das Kind durchs Leben steuert, ist die Tüchtigkeit. 5. "We r bin ich, wer bin ich nicht?" Anders als Freud, der die Grundstruktur der Persönlichkeit in der frühesten Kindhei t im Wesentlichen ausgebildet sieht, geht Erikson davon aus, dass sich die Identität in der Adoleszenz entscheidet. In dieser fünften Lebensphase kommt es zu einem raschen Körperwachstum, die Geschlechtsreife wird erreicht. und der Jugendliche orientiert sich nach drauß en, d. h. er sucht sich neue Bezugspersonen, was zu einer Neubewertung der alten Orientierungen führt. Gerade was diese psychische Struktur angeht, ist die Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter eine Phase des Zweifels, des Experimentierens, Entwerfens und Revidierens. Erikson fasst diese ,,natürliche Periode der Wurzellosigke it" in ein schönes Bild: "Wie der Trapezk ünstler muss der junge Mensch in der Mitte heftiger Bewegtheit seinen sicheren Griff an der Kindheit aufgeben und nach einem festen Halt am Erwac hsenen suchen. Ein atemloses Intervall lang hängt er von einem Zusam-
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menhan g zwischen Vergangenheit und Zukunft und von der Verlässlichkeit derer ab, die er loslassen muss, und derer, die ihn aufnehmen werden." (Erikson 1959b, S. 77) Deshalb überschreibt Erikson die Phase des Zweife ls und des Übergangs auch nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage: " Wer bin ich, wer bin ich nicht?" (Erikson 1956, S. 215) Der Kemkonflikt ist der zwischen Identität und Identitätsdiffusion. In der Adoleszenz entscheidet sich, ob es zu einer stabilen Identität kommt oder ob sie ohne Kontur und Kraft bleibt. Er ik H. Eri kson: Id entifizierung und das Gefühl der Id entität " Was für eine Kombination von Trieben und Abwehren, von Sublimierungen und Fähigkeiten auch immer sich aus der Kindheit des j ungen Menschen ergeben haben, nun müssen sie in Hinblick auf seine konkreten Möglichkeiten in der Arbeit und in der Liebe Sinn haben; was das Individuum in sich selbst zu sehen gelernt hat, muss jetzt mit den Erwartunge n und Anerkennungen, die andere ihm entgegenbringen, übereinstimmen; was immer an Werten für ihn bedeutungsvoll geworden ist, muss j etzt irgendeiner universellen Bedeutsamkcit entsprechen. Die Identitätsbildung geht also über den Prozess des Sich -Identifizierens mit anderen in nur einer Richtung hinaus, wie er in der früheren Psychoanalyse beschrieben wurde. Sie ist ein Prozess, der auf einer erhöhten kognitiven und emotionalen Fähigkeit beruht, sich selbst als ein umschriebenes Individuum in Beziehung zu einem voraussagbaren Universum, das die Kindheitsumstände übersteigt, identifizieren zu lassen. Identität ist also nicht die Summe der Kindheitsidentifikationen. sondern viel eher eine neue Kombination alter und neuer Identifikationsfragmente. Aus eben diesem Grunde konfirmiert die Gesellschaft in allen Arten ideologischer Strukturierungen - zu diesem Zeitpunkt das Individuum und weist ihm Rollen und Aufgaben zu, in denen es sich erkennen und sich anerkannt fühlen kann. (...) Junge Menschen müssen zu ganzen Menschen aus ihrem eigenen Wesen heraus werden, und das in einem Entwicklungsstadium. das sich durch eine Vielfalt von Veränderungen im körperlichen Wachstum, in der genitalen Reifung und in der gesellschaftlichen Bewusstwerdung auszeichnet. Die Ganzheit, die in diesem Stadium erreicht werden muss, habe ich als Gefühl der inneren Identität bezeichnet. Um das Gefühl der Ganzheit zu erfahren, muss der j unge Mensch eine fortschreitende Kontinuität zwischen dem empfinden, was er während der langen Jahre der Kindheit geworden ist, und dem, was er in der vorgeahnten Zukunft zu werden verspricht; zwischen dem, wofür er sich selbst hält,
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und dem, wovon er bemerkt, dass andere es in ihm sehen und von ihm erwarten. Individuell gesprochen, schließt die Identität all die aufeinanderfolgenden Identifikationen jener früheren Jahre in sich, wo das Kind wie die Menschen zu werden wünschte, von denen es abhing, und oft gezwungen war, so zu werden - aber sie ist mehr als die Summe all dieser Identifikationen. Die Identität ist ein einzigartiges Produkt, das jetzt in eine Krise tritt, die nur durch neue Identifikationen mit Gleichaltrigen und Führerfiguren außerhalb der Familie gelöst werden kann. Die jugendliche Suche nach einer neuen und doch zuverlässigen Identität lässt sich vielleicht am besten in dem beständigen Bemühen beobachten, sich selbst und andere in oft unbarmherzigem Vergleich zu definieren, zu überdefinieren und neu zu definieren; während sich die Suche nach zuverlässigen Ausrichtungen in der ruhelosen Erprobung neuester Möglichkeiten und ältester Werte verrät. Wo die sich ergebende Selbstdefinition aus persönlichen oder kollektiven Gründen zu schwierig wird, entsteht ein Gefühl der Rollenkonfusion.' (Erikson 1959b: Identität und Entwurzelung in unserer Zeit, S. 77 und 78f.) An dieser Beschreibung wird deutlich, warum Erikson der Jugendphase die entsc heidende Bedeutung für die Ausbildung der Identität beimisst. Wenn der Jugendliche sich " in manchmal krankhafter, oft absonderliche r Weise darauf konzentriert herauszufinden, wie er, im Ve rgleich zu seinem eigenen Selbstge fühl, in den Augen and erer erscheint" (E rikson 1950b, S. 106), vo r allem nat ürlich in den Augen seiner peer group !, dann ist das ein Ringen um Selbstbewusstheit und Anerkennung. Mit dieser Suche nach Anerkennung durc h neu e Bezugspe rsonen läss t er oft auch die alten Bezugspe rsonen völlig hinter sich. Eltern wu ndem sich dann, dass nichts mehr von dem zählt, was ihm früher wichtig war, oder erfahre n schmerzhaft, dass der Jugendliche die Konfrontation mit ihnen geradezu sucht, um ihnen dann zu sagen, dass sie ihm überhaupt nichts mehr bedeut en. Die mal mit spektaku läre n Worten behauptete, mal mit aufreizender Selbstve rständlichkeit dem onstrierte Ablösung darf aber nicht dariibe r hinweg täuschen, dass der Jugendli che selbst sie durchaus als Risiko erlebt. Hinter gespielte r Selbstsicherheit verbirgt sich der Zwe ifel, wohin man sich wenden soll. Da sind die peers, vor allem abe r die Freunde, außerordentlich wichtig, aber da sie alle auf der gleich en Suche ihrer Identität sind, verstärken sich manch e Zweifel noch. Das erklärt,
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warum Jugendliche sich scheinbar aus heiterem Himmel " total" ruf eine Meinung, für ein Ziel oder für ein Outfit entscheiden und alles andere " total" ablehnen. Dieser Rigorismus macht Eltern ratlos, zumal er von heute auf morgen einer völlig anderen Sache gelten kann. Auch diese unbedingte Hingabe ist der Versuch, eine gerade entworfene Identität zusammenzuha lten. Abgrenzung und Abwehr sind Mechanismen, eine drohende Diffusion der Identität zu verhindern . Nach dem Prinzip absoluter Exkl usion und absolu ter Inklusion bestimmt der Jugendliche scheinbar für die Ewigkeit, worau s sich seine Identität zusammensetzen soll: " Ist eine bestimmte willkürliche Abgrenzung angenommen, so darf nichts, was hineingeh ört, draußen gelassen, so kann nichts, was draußen sein soll, innen geduldet werden. Eine Totalität ist absolut inklusiv, oder sie ist vollständig exklusiv, ob die absolut zu machende Kategorie eine logische ist oder nicht und ob die Teile wirklich sozusagen ein Verlangen nacheinander haben oder nicht." (Erikson 1959b, S. 79) Mit dem Bedürfnis nach Totalität ist die Tugend schon angesprochen, die in dieser Lebensphase ausgebildet wird, die Treue. Es ist die feste Verpflichtung auf Ideale und idealisierte Personen. Die Tugend der Treue ruht auf dem unbedingten Glauben an etwas Wahres auf, mag dies nun in Werten und Ideologien oder in konkreten oder erdachten Personen gesucht werden. Treue ist eine außerordentlich dichte Beziehungsform. Mit ihr wird die Identität an etwas gebunden, das selbst Tei l dieser Identität wird. Treue ist " der Eckstein der Identität." (Erikson 1961, S. 108) 6. " Ich bin, was ich dem anderen gebe und was ich in ihm finde." In der sechsten Phase, dem frühen ErwaehsenenaIter, ist die weitere Entwicklung der Identität von der Partnerschaft bestimmt. Die Antwort, die in dieser Phase auf die Frage, wer man ist, gegeben werden kann, könnte man in Fortführung Eriksons so formuli eren: .Jch bin, was ich dem anderen gebe und was ich in ihm finde." (vgl. auch Erikson 1961 , S. 111) Es geht also um die Wechselwirkung zwischen Partnern, die sich lieben und fUreinander da sind. Gelingt diese Beziehung, entsteht ein wechselseitiges Gefühl der Intimität, gelingt sie nicht, kommt es zur Isolierung. Die Tugend dieser Phase ist die Liebe.
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7. .Jch bin, was ich mit emem anderen zusammen aufbaue und erhalte." Der Kernkonflikt der siebten Phase, des eigentlichen Erwachsenenalters, besteht in der Spannung zwischen Generativit öt und Selbstab sorption. Der Identität wird Kraft durch die Erfahrun g zugeführt, etwas mit einem anderen zusammen aufzubau en und zu erhalten. So könnte man auch die Antwort auf die Frage "Wer bin ich?" formulieren . Mit Gener ativität ist die Grundhaltung gemeint, sich gemeinsam durch ein Kind in den Zyklus der Generationen zu stellen und Verantwortung für das Weiterleben der Gesellschaft zu übernehmen. Selbstabsorption bedeutet, dass der Erwachsene vor dieser Verantwortung zurück schreckt und "zu seinem eigenen Kind und Schoßtier wird" (Erikson 1961, S. 114). Die Tugend dieser Phase ist die Fürsorge. 8. " Ich bin, was ich geworden bin." In der achten und letzten Phase des Lebens, dem reifen Erwachsenenalter, geht es darum , das zu sein, was man geworden ist (vgl. Brikson 1956, S. 215), was heißt, seine bisherige Entwicklung zu akzeptieren, und zu wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird. Der Kernkonflikt der Identit ät in diese r Phase heißt deshalb Integrität vs. Lebensekel. Das Wachstum der Persönlichkeit vollendet sich in der Tugend der Weisheit. Die wichtigste Botschaft des Identitätskonzeptes von ERlK H. ERIKSON ist die, dass sich Identität über das ganze Leben hin entwickelt, und " das Kemproblem der Identität", so kann man die Theorie zusammenfassen, besteht "i n der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechsel nden Schicksals Gleichheit und Kontinu ität aufrechtz uerhalten." (Erikson 1959b, S. 82) Das bewusste Gefühl des Ichs, "dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuit ät erkennen" , nennt Erikson p ersön/iche Identität; das Bewusstsein, dass es beides auch in seinem Handeln zum Ausdruck bringt, Ich-Identität. (Erikson 1946, S. 18) Diese Differenzierung, die ja nur künstlich ist und die beiden Seiten der Medaille Identität beschreibt, lässt sich durchaus mit dem Konzept von GEORGE HERBERT MEAD verbinden, der ja gesagt hat, dass das Individuum in der Interakti on Objekt für die Anderen wird, das auch weiß, und dass es Objekt für sich selbst wird. Obwohl Erikson das nicht explizit sagt, spielt doch dieser Gedanke der Abhängigkeit der Identität
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von den wechselseitigen Bildern eine große Rolle. Deshalb ist IchIdentität auch nichts Starres, im Gegentei l: Sie muss immer wieder neu hergestellt werden, da wir sie in wechselnden Situationen und vor immer neuen Mitspielern präsentieren müssen. Konkret heißt das, die eigene Lebensgeschichte mit der Gegenwart , in der wir handeln und uns mit Erwartungen der anderen auseinandersetzen, und mit der Zukunft, so wie wir sie angehen, abzustimmen. "Das Gefühl der Identität setzt stets ein Gleichgewicht zwischen dem Wunsch, an dem festzuhalten, was man geworden ist, und der Hoffnung, sich zu erneuern, voraus," (Erikson 1974, S. 113) Identität ist also permanente Aufgabe und Entscheidung. Dass diese Entscheidung allerdings nicht nur eine Entscheidung über die Biographie, wie sie gewesen ist oder hätte sein sollen und wie sie nun weitergehen soll, ist, hat Erikson mit seiner These von der psychosozialen Struktur der Identität betont. LOTHAR KRApPMANN hat bei der Würdigung dieses Identitätskonzeptes die Frage aufgeworfen, ob Eriksons Beschreibungen "nicht wahrhaft nostalgisch" anmuten und ob "die »postmodemen« Lebensverhältnisse die Bemühungen um Identität nicht längst als aussichtslos, sogar als dysfunktional erwiesen" hätten. (Krappmann 1997, S. 66) Auf diese Frage gibt er zwei Antworten. Die erste argumentiert historisch und wendet sich an die Adresse derer, die Erikson vorgeworfen haben, sein harmonisierendes Modell spiegele die idealisierende Erfahrung einer hannonisehen Gesellschaft der amerikanischen Mittelschicht wider. Krappmann hält dagegen: " Keineswegs geht er in seiner Auseinandersetzung mit dem Identitätsproblem von gesicherten Verhältnissen aus, denn Eriksons Sicht der Problematik entsprang seinen Studien in den vierziger Jahren, in denen er Entwicklungsprozesse von Kindern in gegensätzlichen Kulturen, den verflihrerischen Einfluss politischer Bilderwelten auf die Heranwachsenden und die Auswirkungen des Kriegserlebnisses auf heimkehrende Soldaten untersucht hatte. Er fragte folglich nach dem Platz des Individuums in einer sich umstürzenden Welt, in der zunehmend zweifelhaft wurde, wie sich persönliche Lebenspläne mit massiven gesellschaftlichen Veränderungen verbinden lassen. (Krappmann 1997, S. 66[.) Die strukturellen Bedingungen, unter denen Identität zu suchen war, scheinen also durchaus vergleichbar denen zu sein, die heute mit warnenden Begriffen wie "Ze rfall traditionaler Sicherheiten", ,,Auflösung des Sozialen" oder .Zerfascrung des Selbst" belegt werden.
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Gleichwohl deutet Krappmann in einer zweiten Antwort an, dass Identität, die nach dem Konzept von Erikson " an den Schnittstellen von persönlichen Entwürfen und sozialen Zuschreibungen" entsteht und insofern immer »problematisch« sei, "w eil die vom einzelnen zu leistende Integration von der sozialen Gruppe, der er angehört, anerkannt werden muss" (S.67), heute schwieriger zu gewinnen ist. Er schreibt: " Diese Anerkennung ist leichter zu erhalten, wenn die Synthese, die Menschen sich erarbeiten, zu den akzeptierten Bildern von Persönlichkeit, zu vorstellbaren Lebenswegen und üblichen sozialen Rollen passt." (ebd.) Was die Anerkennung angeht, sollte das, was DAVID RIE SMAN über den außengeleiteten Charakter (übrigens zur gleichen Zeit!) geschrieben hat, zu denken geben! Und was die "akzeptierten Bilder" und "üblichen Rollen" angeht, gibt Krappmann zu bedenken, dass "die Gesellschaft (...) in ihren Erwartungen nicht konsistent" ist, dass es "den geteilten Sinn (...) nur sehr begrenzt" gibt und dass "auch die »sozialen Rollen« und »Laufbahnen«, von denen Erikson spricht, (...) keineswegs eindeutig" sind. (Krappmann 1997, S. 79). Die Beschreibungen der gegenwärtigen Gesellschaft durch die Soziologen lauteten ganz anders: ,,Auflösung traditionaler Rollen, Entnorrnativierung, Wertewandel, Unübersichtlichkeit, Pluralisierung, Individualisierung" . (Krappmann 1997, S. 80) Angesichts dieser Zeitdiagnose mute Eriksons " Rede von angebotenen Rollen und Laufbahnen und von der Einfügung der Heranwachsenden in eine kollektive Zukunft, in deren Rahmen sie auf Einheit und Kontinuität vertrauen k önnen", denn doch "nostalgisch" an. (ebd.) Ich möchte noch eine letzte kritische Verrnutung anschließen: Die Optionen in der Moderne sind so zahlreich geworden und suggerieren jede für sich Sinn, dass das Individuum sich letztlich nur noch danach entscheiden kann, was kurzfristig Erfolg verspricht und längerfristig alternative Entscheidungen nicht unmöglich macht. Vor diesem Hintergrund ist die Theorie von LoTHAR KRAp PMANN zu lesen, der inhaltlich an die Arbeiten von George Herbert Mead anknüpft und Eriksons Konzept der Identität auf Kompetenzen z uführt, die man haben muss, um Identität zu gewinnen und zu demonstrieren.
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Krappmann : Ich-I dentit ät als Bala nce
Der deutsche Soziologe LOTHAR KRAPPMANN ('" 1936) hat in seinem Buch " Soz iologis che Dim ensionen der Identität" (1969) die Frage nach "st rukturellen Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen" - so der Untertit el - aufgeworfen. Krappmann setzt sich in diesem Buch, das rasch zum Klassiker der deutschen Diskussion avancierte, kritisch mit der Rollentheorie von T ALCOn P ARSONS auseinander, die von vielen als Theori e der Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse und ergo Nicht-Beanspruchung von Identität gelesen wurde. Zweitens stellte Krappmann GEORGE HERBERTM EADs These heraus, dass Identität nur auf dem Umweg über den Anderen gewon ne n werden kann , und
verband sie mit ERIK H. ERIKSONS These, dass Identität eine personale Seite, die über die unverwechselbare Biographie und ihre typischen Krisenlösungen definiert ist, und eine soziale Seite hat, die über die Anerke nnung des Sc1bstbildes durch die Anderen gewonnen wird. An der schon von Erikson so bezeichneten Ich-Identität stellt Krappmann deshalb das Problem der Balance zwischen Individuum und Gesellschaft heraus. Da Identität für Krappmann eine strukturelle Bedingung für die Teilnahme an Interaktionsprozessen ist, fragt er schließlich drittens, ich deutete es schon an, welche Komp etenzen man eigentlich braucht, um Identität zu gewinnen und zu demonstrieren. Hier lehnt sich Krappmann an die Arbeiten von ERVING GOFFMAN an. Um gleich zu zeigen, wo Krappmann an Erikson anknüpft und wo er mit einer eigenen Theorie über ihn hinausgeht, greife ich auf den bei der kritischen Würdigung Eriksons schon zitierten Aufsatz zurück, der in der ersten Fassung den Titel "Die Suche nach Identität und die Adeleszenzkrise" getragen hatte. Krappmann lenkt also gleich den Blick auf die Phase, in der sich nach der Theorie von Erikson Identität entscheidet. Und er unterstreicht auch dessen These, "dass weder der einzelne seine Identität allein, sozusagen privat, definieren, noch dass die Umwe lt sie ihm zudiktieren kann." (Krappmann 1997, S. 67) Deshalb referiert Krappmann Erikson auch so weiter: ,,Jedes Individuum entwirft seine Identität, indem es auf Erwartungen der anderen , der Menschen in engeren und weiteren Bezugskreisen, antwortet. Diese Bezugskreise müssen den Identitätsentwurf akzeptieren, in dem aufgebaute Identifikationen und Bedür fnisse des Heranwa chsenden mit den Mustern der Lebensführun g, die in einer Gesellschaft angeboten wer-
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den, zusammenge fügt we rden." (Kr appm ann 1997, S. 67) Diese Mu ster, das hatt e auch Erikson schon so gesehen, sind unklar und widersprüchlich gew orden. Und wie sieht es auf der Seite des Individuums aus? Übe rspitzt könnte man sage n: Die Ju gendlichen stehen vor dem Problem, dass sie keinen sicheren Rahmen kenn en, in dem sie richtige Entscheidungen treffen könnten, und die Bezu gsgruppen, aus denen heraus sie Legiti mationen für eigene Ent scheidungen erhalten könnten und auf die hin sie sie legitim ieren müssten, sind diffu s und widersprü chlich gewo rden. Krappmann hatte "das Resultat der Anstrengungen, Unklarheiten, Unstimmigke iten und Widersprüche zu bearbeiten" (Krappmann 1997, S. 8 1) in seinem Buch von 1969 als " balancierende Identität" bezeichnet. Darun ter soll keineswegs eine "fest etablierte Identität, sondern eine Identität, die aus ständiger Anstrengung um neue Verm ittlung entsteht" (ebd .) verstanden werden. Krappmann fahrt fort: "Der Identitätssuchende versuc ht, zusätzliche Inform ationen und Erfahrunge n, ab er auch Enttäuschunge n und Verletzu ngen zu integrieren und sich gegen Stigmatisierungen und Ste reotyp isieru nge n zu wehren. Nicht Inhalte machen diese Identität aus, sondern bestimmt wird sie durch die Art, das Versch ieden arti ge, Widersprüchliche und Sich-Verände rnde wahrzunehmen, es mit Sinn zu füllen und zusammenzuhalten." (ebd.) Krappmann erinn ert an Ga ffman, der " farbig geschildert" hab e, "w ie Men schen daran arbeiten, ihre Identität zu entwerfen, sie and eren verständlich zu machen, sie zu verteidigen und immer wiede r umzukonstruieren." (Krappmann 1997, S. 8 1) Warum tun sie das? Ich habe es oben' schon als Versuch erklärt, Identi tät zu schützen . Krappmann interpretiert es ähnlich : Die Individuen arbeiten an ihrer Identität, verteidigen sie und konstruieren sie ständig neu, " um aus sozialen Erwartungen nicht hera uszufall en und doc h eigenen Wünschen Anerkennung zu versc haffen. Dieses mühevoll e Balan cieren zwisc hen Erwartungen, Zuschreibungen und eigenen Interessen und Sehn süchten ist kein Jon glieren aus Übermut, sondern entspringt der Not, seinen Platz in einer widersprü chlichen, sich wandelnden Ge sellschaft zu bes timme n. Erreichbar ist trotz dieses Aufwands kein e ein für allemal gesicherte Identität, son dern lediglich, sich trotz einer imm er problematischen Ident ität die weitere Beteiligung an Interaktionen zu sichern ." (ebd.) 1 Vgl. oben S. 347 Anm. 2.
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Das zu können, sind bestimmte .jdentltätsfördem de Fähigkeiten" (Krap pmann 1969, S. 132) vonnöten. Krappmann , ich wiederhole! es, nennt vier: )- Da ist zunächst die Fähigkeit, Rollenerwartungen bis zu einem gewissen Maße in Frage zu stellen. Krap pmann nennt diese Fähigkeit mit Erving Goffma n Rollendistanz. );> D ie zweite Fähigkeit besteht darin , sich in die Situation des Partners hineinzuverse tzen, ihn von seinem Standpunkt aus zu verstehen. Das wird als Empathie bezeichnet. Das war das Th ema bei Gcorge Herbert Mcad. );> Drittens muss man auch aushalten könn en, dass Rollen zweideutig (Iat . ambiguus) sind und die Motivationsstrukturen einander wid erstre ben, weshalb auc h nicht alle Bedü rfnisse in einer Situation befriedigt werden können. Krappmann bezeichnet diese Fähigkeit als Am biguit ätstoleranz. );0 Schließlich muss man auch zeigen, wer man ist, was impliziert, dass man ein persönliches Profil sowohl gegenüber den Normalitätserwartungen der anderen als auch in der Kontinuität der eigenen Biographie zeigt. Diese Fähigkeit wird als Identitätsdarstellung bezeichnet. Krappmann definiert nach der gründlichen Diskussion der Theorien von Erikson und Goffman und vor allem in der Abw ägurig der von J ORGEN H ABERMAS (1968) so skizzierten Spannung von phantom uniqueness und phantom normalcya Identität als Balance zwischen p ersönlicher Identität, worunter er die biografische Einzigartigkeit des Individuums, vergleichbar dem »1« bei Mead, versteht, und sozialer Identität, was man mit der Reaktion auf tatsächliche oder unterstellte Erwartungen, vergleichbar dem »me« be i Mead, gleichsetzen kann . Diese balancierende Identität nennt Krappm ann mit Erikson IchIdentität. (Vgl. Krappmann 1969, S. 79) Ich-Identität ist die Fähigkeit, zu zeigen, wer man ist, was impliziert, dass man ein persönliches Profil sowohl gegenüber den Normalitätserwartungen der anderen zeigt als auch in der Kontinu ität der eigenen Biographie rekonstru iert.
Vgl. oben Kap. 5.8, S. 228 wo ich die Fähigkeiten auch unter die Bedingungen einer gelingenden Interaktion gerechnet habe . 2 Siehe oben Kapitel 8.4 "GofTman: Wir alle spielen Theater", S. 358f..
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In das Konzept von Krappmann spielen Meads These - ich wiederhole es -', dass das Individuum in der Interaktion Objekt für die Anderen wird, das auch weiß, und dass es Objekt filr sich selbst wird, und Goffmans These, dass es sich deshalb vor anderen darstellt, hinein. So ist auch seine Definition von Ich-Identität zu verstehen: " Ich-Identität erreicht das Individuum in dem Ausmaß, als es, die Erwartungen der anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Spraehe darstellen kann. Diese Ich-Identität ist kein fester Besitz des Individuums. Da sie ein Bestandteil des Interaktionsprozesses selber ist, muss sie in jedem Interaktionsprozess angesichts anderer Erwartungen und einer ständig sich verändernden Lebensgeschichte des Individuums neu formu liert werden." (Krappmann 1969, S. 208) Das Identitätskonzept von Krappmann unterscheidet sich von den Theorien Eriksons und Goffmans durch den kritischeren Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Kritik hat er seinerzeit eher vorsichtig angedeutet, doch sollte man sie genau lesen, um auch von dieser Seite die soziologische Diskussion über Identität offen zu halten. Krappmann schreibt zum Ende seines Buches: Lothar Krappmann: Identität - nicht üb er einstimmende Nonnen negierend überschreiten "Dieses Identitätskonzept will das Individuum nicht an vorgegebene Verhältnisse anpassen, obwohl in die Identitätsbalance Nonnen und Bedürfnisse der anderen eingehen. Dem Individuum wird nicht die falsche Sicherheit einer festen Position - sei es im Versuch vollständiger Übernahme angesonnener Erwartungen, sei es durch die Bemühung um völligen Rückzug aus Handlungssystemen, in denen divergierende Erwartungen auftreten - empfohlen. Vor den widersprüchlichen Anforderungen einer in sich zerstrittenen Gesellschaft kann es sich nicht schützen. Der hier entwickelte IdentitätsbegrifT versucht vielmehr dem Erfordernis Raum zu geben, kreativ die Nonnen , unter denen Interaktienen stattfinden, zu verändern. Dieses kritische Potential des Individuums zieht seine Kraft aus der strukturellen Notwendigkeit, nicht übereinstimmende Nonn en negierend zu überschreiten. Tatsächlich kann das Individuum nicht jede ihm erwünschte Neuinterpretation vorgegebener Nonnen bei seinen Interaktionspartnern durchsetzen, denn es stößt auf widerstrebende Interessen der anderen. Auch sind die Chancen, einer Identitätsbehauptung Anerkennung zu si-
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ehern , ungleich, we il von den verschiedenen Positionen e ines sozialen Systems aus unterschiedliche Eintlussmöglichkeiten bestehen . Nur eine Analyse der jeweiligen sozialen Verhältnisse kann zeigen, welche Intcrprctationsm öglichke iten dem Individuum offenstehen und welche Grenzen seiner Bemühung um Identität in einem gegebenen System sozialer Ungleichheit gesetzt sind," (Krappmann 1969: Soziologische Dimen sione n der Identität, S. 208f.)
Identität heißt nicht nur, sich der Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft bewusst zu bleiben, sondern die Form dieses Verhältnisses grundsätzlich unter der Perspektive des Möglichen zu bedenken ! Identität impliziert die Anstrengung der wiederholten Definition, wer man sein könnte, wenn man wollte. Dass die " Bemühungen um Identität" heute problematisch sind, ist die These von PETER L. BERGER, BRIGITIE BERGER und HANSFRIED KELLNER. Sie behandeln das Thema Identität unter dem Blickwinkel des "U nbehagens in der Modernität" .
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Berger, Berger, Kellner: Krise der modernen Identität
Das Buch " Das Unbehage n in der Modernität", das PETER L. und BRIGIlTE BERGER zusammen mit HANSFRIED KELLNER im Jahre 1973 veröffentlicht haben, enthält vieles, was dem Individuum heute "Unbehagen" b ereitet, aber genau so viel, was der Gesellschaft, wenn sie denn fühlen könnte, Unbehagen bereitet. Es ist ein Buch über das moderne Bewusstsein, das aus der Perspektive der Wissenssoziologie behandelt werden soll. (vgl. Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 7) Ich möchte IhM nen nur die Passagen zum Thema Identität vortragen . Berger, Berger und Kellner behandeln es unter der Überschrift der .Pluralisierung der soziale n Lebenswelten" . Während die Menschen in früheren Gesellschaften alle in der gleichen »Wclt« lebten, solange sie nicht in fem e Länder reisten, ist " die typische Situation der Menschen in einer modemen Gesellschaft" v öllig anders: "Die verschiedenen Bereiche ihres Alltagslebens bringen sie in Beziehung zu außerordentlich verschiedenenartigen und oft sehr gegensätzlichen Bedeutungs- und Erfahrungswelten. Das modeme Leben ist typischerweise in sehr hohem Grade segmentiert." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 60) Da fällt zunächst einmal eine Trennung zwi-
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sehe n privatem und öffentlichem Bereich auf, aber auch innerhalb dieser beiden Bereiche findet eine Pluralisieru ng statt. Für den öffentlichen Bereich leuchtet das unm ittelba r ein. Die Arbeit steilung vervi elfältigt die sozialen Ro llen, und die Lib eralis ierung der We ltanschau ungen und Rationalitäten gibt Raum für eine Fülle von Handlungsoptionen. Doch auch die Privatsphäre ist " nicht immun gegen Pluralisierung. In der Tat ist es so, dass der modeme Men sch versucht, diese Sphäre so zu gestalten, da ss diese private im Gegensatz zu seiner verwi rrenden Verwi cklung in die Welten öffentlicher Institutionen ihm eine Ordnung integ rieren der und stützender Sinn gehalte liefert. Mi t anderen Worten, der Mensch versucht, eine »Heimatwelt« zu konstruieren und zu bewahren, die ihm als sinnvoller Mittelpunkt seines Lebens in der Gesellschaft dient." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 6 1) Dieser Mittelpunkt wird pluralisiert. Berger u. a. führen dafür zwe i spez ifische Grunde an : die Erfahrung des Stad tlebens, was schon Georg Simmel als Erklärung für das modeme Geisteslebens angeführt hatte, und die Erfahru ng der modem en Massenk ommunikation. " Seit ihrer Ent stehung in alten Zeiten war die Stadt ein Treffpunkt sehr versch iedener Men schen und Gruppen und damit gege nsä tzlicher Welten." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 61) Ihre Bewo hner sahen sich immer wieder mit " unterschied lichen Einstellungen zur Wirklichkeit" konfrontiert und konnten auch dam it umgehen . Der Lebensstil und die Art zu denk en und zu handeln, die sich zuers t in den Städten au sbildeten, haben heute alle Teile der Gesellschaft erfasst, weshalb Berger, Berger und Kell ner auch von einer .Llrbanisie rung des Bewusstseins" sprechen. Sie wurde hauptsächlich d urch die Massenm edien bewirkt, begann aber wa hrsch einlich schon früher mit der Verbreitung der Schulbildung. " In diesem Sinn ist der Lehrer schon seit ein paar Jahrhunderten ein Träger der »Urbanität«. Dieser Prozess wurde jedoch durch die technologischen Kommunikationsmedi en ganz erheblich beschleunigt", die " die in der Stadt erfundenen kognitiven und nonnativen Definitionen der Wirklichkeit sehr schnell in der gesamten Gesellschaft" ve rbreiten. (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 62) Richtig ist, "dass dieser Prozess der Information »den Horizont erweitert«. Zugleich jedoch schwächt er die Unvcrsehrth eit und Überzeugungskra ft der »Heima twelt«." (ebd .)
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Die Pluralisieru ng der Lebe nswelt äußert sich ganz konkret im Alltagsleben. Das verde utlichen Berger, Berger und Kellner am Fall der langfristigen Lebensplanu ng. Leben splanung heißt, sich vorzustellen, wie die persönl iche Zukunft aussieht oder ausse hen 5011, und sich darauf vorzubereiten. Diese Vorstellungen fallen natürlich nicht vom Himmel, sondern orientieren sich an typischen Lebensabläufen, wie man sie vom Hörensagen kennt, wie man es bei Verwandten und Bekannten sieht und wie man es in Sozialisationsagenturen wie Familie und Sch ule gelernt hat. Bei der Planung muss bedacht werden, dass die Laufbahn , auf die man sich begeben will, nicht klar definiert ist, dass es u. U. sogar mehrere »Fahrpläne- gibt und dass man es mit eine r ganzen Reihe von Bezugspersonen zu tun haben wird , mit denen man sich ir· gendwie arrangieren mu ss. Nehmen Sie nur die schlichte Entscheidung " berufstätig". Welcher Beruf würde mir Spaß machen? Welche zeitlichen Anforderungen bringt er mit sich? Was mache ich, wenn wir Kinder kriegen und meine Frau darau f besteht, dass sie ihren Beruf weiter aus übt? Was tue ich, wenn mein Arbeitsplatz in eine andere Stadt verlagert wird ? Welc he Qualifizierungschancen habe ich in meinem Beruf? Und so weiter. Die " Werkstatt" , in der solche Lebensplanu ngen manchmal explizit, meistens eher beiläufig ers tellt und modifiziert werden , ist der private Bereich von Ehe und Fami lie. Wie ta ngiert das die Identität? Berger u. a. sehen es so, dass bei den Entwürfen des Lebens nicht geplant wird, was man tun wird (will), sonde rn auch, wer man sein wird (will). " Im Falle von Menschen, die flireinander von großer persönlicher Wichtigkeit sind, überlagern sich diese Projekte, sowohl hinsichtlich der geplante n Karrieren, als auch hinsichtlich der geplante n Identitäten. Der eine ist ein Teil der Projekte des anderen und umgekehrt ." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 68) Bedenkt man dann noch, dass sich mit jeder Entscheidung des einen nich t nur neue soz iale Konstellat ionen für diesen, sondern auc h für den and eren ergeben, dann kann man sich die Komplexität vors tellen, in der Identität behauptet und in Frage gestellt wird oder gar neu erfunden werden muss. Vo r diesem Hintergrun d, dass der Mensch seine Zukunft mit einem Plan in den Griff zu bekomm en sucht, was natürl ich nicht heißt , dass er das immer bew usst und strategisch anlegt, stellen sich Berger, Berger und Kellner die Frage, welche Implikationen das für die Identität in der modem en Gese llschaft hat. Dabei meinen sie mit Identität "die tatsäch-
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liehe Erfahrung des Ich in einer besti mmten sozialen Situation. Mit anderen Worten, wir meinen mit »Identität« die Art und Weise, in der der Einze lne sieh selber definiert." (Berger, Berger, Kellner 1973, S. 69) Der Lebensplan ist " eine Quelle der Identität", und umgekehrt kann man auch "d ie Identität in der modem en Gesellschaft als einen Plan definieren." (S. 70) Damit ist klar, dass Identität nicht Identität an sich oder eine abstrakte Idee ist, sondern eine Konstruktion, die das Individuum vornimmt. Diese individuelle Konstruktion ist allerdings davon abhängig, wie in der modernen Gesellschaft Identität typischerweise konstruiert wird. Da jeder Teil einer sozialen Wirklichkeit ist, die ihn sozialisiert , ist auch die Art und Weise, in der er sich seine Identität vorstellt und wie er sie präsentiert, durch " Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" - so der Titel des bekannten Buches von PETER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN (1966) - bestimmt. Unter dieser Prämisse heben Berger, Berger und Kellner vier Aspekte der modernen Identität hervor. 1. Die moderne Identität ist besonders offen. Erstens bezeichnen sie die moderne Identität als besonders offen, wobei Offenheit im Sinne der von DAVID RIESMAN beschriebenen Außenleitung zu verstehen ist. (vgl. Berger, Berger, Kellner 1973, S. 70) Identität impli ziert, sich offen zu halten für das, was der Zeitgeist bietet und gebietet. Der modeme Mensch ist ständig auf Empfang für die Signale , von denen es heißt, dass sie wichtig sind. Berger, Berger und Kellner fahren fort: "W enn es auch zweifellos gewisse Züge des Individuums gibt, die beim Abschluss der primären Sozialisation mehr oder weniger dauerhaft stabilisiert sind, ist der modem e Mensch trotzdem »unfertig«, wenn er in das Erwachsenenleben eintritt. Nicht nur ist offenbar eine große objektiv e Fähigkeit zu Transfonnationen der Identität im späteren Leben vorhanden, es ist auch eine subjektive Kenntni s und sogar Bereitschaft für solche Transformati onen da . Der modem e Mensch ist nicht nur besonders »bekehrungsanfällig«; er weiß das auch und ist oft darauf stolz." (ebd.) Der modeme Mensch hält seine Identität auf der Höhe der Zeit. Wirklich ist die Identität, die gerade geboten oder möglich ist; zurück wird die biographische Wirklichkeit schwächer, nach vorne hält man ganz neue Facetten für möglich. " Der Lebenslauf wird begriffen als eine Wanderu ng durch verschiedene soziale Welten und als stufenwei-
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se Verw irklichung einer Reihe von möglichen Identitäten . Der Einzelne denkt nicht nur »gewitzt« über die Welten und Identitäten anderer, sondem auch über sich selbst. Diese Eigenscha ft der Unabgesc hlossenheit der modernen Identität erzeugt psychische Belastungen und macht den Einzelnen besond ers verwu ndbar dafür, dass andere ihn imm er wieder anders definieren." (Berger, Berger, Kellner 1973, S. 70) Für die These der immer anderen Definiti on durch andere verwe isen Berger, Berger und Kellner ausdrücklich auf die Identitätstheorie von George Herbert Mead, die sie so verstehen, "dass in einer sehr grundsätzlichen Weise die Menschen in allen Gesellschaften stets »außengeleitet« und deshalb »unentschieden« (sopen-ended«) gewesen sind." (ebd. Fußnote 34) Ich denke, dass sie hier den Prozess der fortlaufenden Komm unikation, der wechselseitigen Interpretation und Reaktion und der immer neuen gegenseitigen Rollenübernahme, in der erst sich das Individuum seiner selbst gewiss wird, vor Augen haben. Jedenfalls meinen sie, das Besondere an der modernen Identität sei der Grad, in dem das erfolgt. Gedacht ist hier wohl an die eingangs behauptete Pluralisierun g der sozialen Lebenswelt und die Vielfalt der Rollen, die gleichzeitig zu spielen sind.
2. Die moderne Identität ist besonders differenziert. Die Plu ralisierung der Lebensweit und die Vielfalt der Rollen, mit denen der moderne Mensch konfrontiert ist, haben Folgen für seine Identität. " Wegen der Pluralität der sozialen Welten in der modernen Ge~ sellschaft werden die Strukturen jeder einzelnen Welt als relativ labil und unverlässlich erlebt." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 70) Während in der vormodernen Gesellschaft das Individuum in einer einheitlichen Welt lebte, die feste Orientierungen bot, sieht es sich heute mit einer Pluralität von Welten konfrontiert, die j ede für sich Sinn haben. Dadur ch wird aber jede einzelne von ihnen relativiert. Die institutionelle Ordnung erfahrt gewissermaßen einen Wirklichkeitsverlust. " Der »Wirklichkeitsakzent« verlagert sich von der objektiven Ordnung der Instituti onen in das Reich der Subjektivität. Anders ausgedruckt: Für das Individuum wird die Selbsterfahrung realer als seine Erfahrung der obj ektiven sozialen Welt. Er sucht deshalb seinen »Halt« in der Wirklichkeit mehr in sich selbst als außerhalb seiner selbst. Das hat unter anderem zur Folge, dass die subjektive Wirklichkeit des Einzelnen (...) fUT ihn zunehmend differenzierter, komplexer und »interessanter« wird.
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Die Subjektivität erlangt bislang ungeahnte »Tiefen«." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 71)1 Nimmt man die Offenheit und Dijferenziertheit der modernen Identität zusammen, so ist die " Krise der modemen Identität offenkundig. Auf der einen Seite ist (sie) unabgeschlossen, transitorisch, fortlaufendem Wandel ausgesetzt. Auf der anderen Seite ist ein subjektives Reich der Identität der hauptsächliche Halt des Individuums in der Wirklichkeit. Etwas sich fortwährend Wandelndes soll das ens realissimuma sein." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 71) Von daher ist es nicht überraschend, "dass der modeme Mensch an einer permanenten Identitätskrise leidet, ein Zustand, der zu starker Nervosität führt.' (ebd.) So hat es schon Georg Simmel in seinem Aufsatz über die Großstädte und das Geistesleben gesagt!
3. Die moderne Identität ist besonders reflexiv. Aus der Tatsache, dass die modeme Identität angesichts der Relativität der vielen sozialen Welten immer differenzierter wird, folgt ein drittes Kennzeichen der modemen Identität: Sie ist besonders reflexiv. "Wenn man in einer integrierten und intakten Welt lebt, kann man mit einem Minimum an Reflexionen auskommen. In solchen Fällen werden die Grundvoraussetzungen der sozialen Welt für selbstverständlich genommen und bleiben das in der Regel auch innerhalb des Lebenslaufes des einzelnen, jedenfalls der »normalen« Individuen. Dieser Zustand des unreflektierten »Zuhauseseins« in der sozialen Welt ist in Edmund Burkesä berühmtem Bild vom friedlich weidenden englischen Vieh in klassischer Weise eingefangen - von Burke in geschickter Weise als Gegenbild benützt zu der ruhelos fragenden und frenetisch nach Neuerung jagenden Aktivität der französischen Revolutionäre. Die modeme Gesellschaft ist solch ländlicher Geruhsamkeit besonders feindlich. Sie konfrontiert den einzelnen mit einem fortwährend wechselnden Kaleidoskop sozialer Erfahrungen und Bedeutungen, sie zwingt ihn, EntHier liegt eine Erklärung, warum das Wort von der .Betroffenheit" zum Kürzel für Befindlichkeit und unüberbietbare Legitimation geworden ist! 2 Lat., wörtlich "das allerwirklichste Sein"; in der aristotelischen Lehre von der Vollkommenhei t gleichbedeutend mi t dem absoluten, dem reinen Sein. 3 Dieser englische Staatsmann stand seit 1789 in einer besorgten Korrespondenz mit einem "very young gentleman in Paris" . Er legte seine Befürchtungen zur Aufstörung der Welt in .Reflections on Ihe Revolution in France" ( 1790) nieder.
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schei dungen zu treffen und Pläne zu schm ieden," (Berget, Berger u. Kellner 1973, S. 71) Um es platt auszudrücken : Die Zukunft kom mt nicht mehr so, wie sie früher imme r gekommen ist, sondern ist in jeder Hinsicht möglich, im günstigsten Fall nur wahrscheinlich. Deshalb schmiedet man am besten nicht nur einen Plan, sondern mehrere Pläne ftir den Fall der Fälle. Pläne müssen auch nicht zu Ende gedac ht sein, da man nicht weiß, wie die Umstände sein werden. Auf keinen Fall dürfen sie starr sein. Manche tun auch gar nichts und meinen, man könne den Lauf der Dinge ohneh in nicht aufhalten . Berger, Berger und Kellner meinen, dass sich die Reflexion der "wachen" Me nschen angesichts der Pluralität und Relativität der Wirklichkeit draußen gleichermaßen auf die Außenwelt und "auf die Subje ktivität des Individuums, besonders auf seine Identität" richtet: " Nicht nur die Außenwelt, sondern auch das Ich wird zum Gegenstand bewusster Aufmerksamkeit und manchmal angstvollen Forschens." (S. 72) Identität, so könnte man diesen Gedanken fortführen, besteht in der perman enten Beobachtung des Ichs in der permanenten Umstellung auf die Außenwelt. 4. Die mod erne Identität ist besonders individuiert, Berger, Berger und Kelln er kommen zu einem vierten Aspekt der modernen Identität: Sie ist "besonders individuiert", (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 72) " Das Individuum , Träger der Identität als des ens reatissimum, erlangt logischerweise einen sehr wichtigen Platz in der Hierarch ie der Werte. Individuelle Freiheit, individuelle Autonomie und individuelle Rechte werden als morali sche Imperative von fundamentaler Bedeutu ng für selbstverständlich genommen, und das oberste dieser individuellen Rechte ist das Recht, sein Leben so frei wie möglich zu planen und zu gestalten. Dieses Grundrecht wird von einer Vielzahl moderner Ideolo gien ausführlich legitimi ert." (S. 7 1) Die Tatsache, dass Individualität als unbedingter Anspruch vertreten wird, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse immer kompl exer werden und dem Individuum so viele Optionen eröffnen, aber auc h so viele Entscheidungen abverlangen, dass dieser Anspruch letztlich ins Leere läuft. Die soz ialen Beziehungen werden immer mehr rationalisiert und standardisiert, immer unbegreiflicher und anonymer, und damit sinken die Chancen, sich ganz
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anders, ganz autonom zu verhalten. Auch die Tatsache, dass dem Individuum in der Moderne immer mehr Optionen zugesp ielt wer den, schafft nicht wirklich Freiheit: Das Individu um hat zu viele Bälle gleichzeitig in der Luft. (vgl. Berger, Berger u. Kelln er 1973, S. 158) In dieser Situation versuc hen die einen, ein alternatives Leben gegen die Gese llschaft zu führen (das Buch erschien in der hohen Zeit der Diskussion Ober Gegenkultur in den USA!) und sich ganz selbst zu verwi rklichen. And ere arrangie ren sich mit den Verhältnisse n, indem sie das Öffentliche und das Private trennen und hoffen, in diesem das "eigentliche" Leben zu führen. Die Dritten schließlich führen ihr Leben so weiter, wie es die sich wandelnden Verhältnisse jeweils verlangen . Sie erheben nicht "w irklich" den Anspruch, unter diesen Verhältnissen ganz anders und einzigartig zu sein. Ich relativiere bewusst: nicht "w irklich" - aber als gelegentliche gute Meinung von sich schon. 8.9
Id en tität - ein re lativer Standpunkt
Das Wort " Identität" ko mmt vom lateinische n .Jdem ens", d . h. " derselbe seiend" . Vennutlich stellen sich auch die meisten unter Identität so etwas wie eine in sich ruhende Persönlichkeit oder ein unverwec hselbares, dauerhaftes Pro fil, das sich immer gleich bleibt, vor. Lassen wir uns einen Augenblick auf diese - nach der langen soziologischen Diskussion natürlich nicht zu haltende - Vorstellun g ein und fragen, wem eine solc he feste Identität nützen würde. Dem Individuum könn te sie wom öglich mehr und mehr zum Problem werden, weil es wider alle Vernunft und wider alle Cha ncen sich so verhalten müsste, wie es sich immer verhalten hat und wie angeblich alle es von ihm erwarten. Der Gese llschaft könnte das auch nicht nützen. denn starres Denken und Handeln ihrer Mitg lieder würden unterhalb neuer Herausforderungen und Möglichkeiten bleiben. Zur Funktion von Identität in der Spannung von Individu um und Gese llschaft möchte ich eine Weisheit Shakespea res in Erinnerung rufen, wonach niemand eine Insel ist. Das bedeutet im soziologischen Sinne, dass das Indi viduum in der Gese llschaft lebt und durch ihren Wandel berührt wird. Wie sich die Strukturen der Gese llschaft ändern, so ergeben sich auch neue Herausford erungen und Chancen. Jenen
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würde eine rigide Identität nicht gerecht, diese würden von einer solchen nicht wahrgenommen. Zurück zur soziologischen Diskussion . Sie hat - hoffentli ch - gezeigt, dass Identität das Ergebni s spezifischer sozialer Erfahrungen ist, die ja nie aufhören. Aufgrund dieser Erfahrungen, wie bewusst oder unbewusst sie auch sein mögen, konstruiert das Individuum ein Bild von sich und von den anderen, die ihm dieses Bild in der Interaktion face to face spiegeln. Und es konstrui ert auch ein Bild von der Gesellschaft, wie sie ihm durch allgemeine Erwartungen und konkrete Institutionen begegnet. Konstruktionen erfolgen natürlich nicht zufällig, sondern hängen mit der spezifischen Sozialisation des Individuums und seinen Erfahrungen in Interaktionen zusammen. Zweitens muss man bedenken, dass Konstruktionen im soziologischen Sinne nie für die Ewigkeit gelten. Manche Menschen nehmen sich das zwar gelegentlich so vor, und Institutionen beanspruchen das fast immer von sich, doch die Tatsache des sozialen Wandels widerlegt beides. Das sollte nun nicht zu der Annahme verleiten, dann brauche man überhaupt nichts zu konstruieren, wo doch sowieso alles im Fluss ist. Falsch. Auch Identität muss entschieden werden, aber immer wieder. Deshalb möchte ich Identität als relativen Standp unkt bezeichnen. Tatsächlich halten wir ja immer wieder in unserem Denken und Handeln ein, wenn die Umstände plötzlich ganz anders sind, oder wenn wir aus welchen Gründen auch immer zurückblicken auf unser Leben und feststellen, dass wir nicht nur gerade Wege gegangen sind und manches aus den Augen verloren haben, was uns einmal ganz wichtig gewesen ist. Wenn wir einigermaßen vernünftige Antworten geben können, ist das Identität als Bewusstsein von unserer Rationalität. Und die Antwort wird sicher immer etwas anders ausfallen, wenn wir sie mit 20, 30 oder 85 geben. Die Frage, wie wir zu den Dingen, zu den anderen und vor allem zu uns stehen, stellt sich sicher bei kritischen Leben sereignissen und an den dramatischen Wendepunkten des Lebens. Doch auch in den weniger dramatischen Situationen stellt sich diese Frage. Manchmal ganz bewusst, wenn wir z. B. einen Lebenslauf schreiben, einem anderen unser Herz öffnen oder Erklärungen abgeben, manchmal und in der Regel aber unbewusst, indem wir so denken und handeln wie immer und dadurch uns und den anderen signalisieren: Das ist wieder die typi-
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sehe Situat ion, in der ich so denken und handeln kann, wie ich immer gedacht und gehalten habe. All das gehört zur Identitätsarbeit, die eben auch nie aufhört. Deshalb möchte ich auch von einem relativen Standpunkt sprechen. Relativ ist er aber auch aus einem anderen Grund : Wir stehen im Schnittpunkt vieler sozialer Kreise, und das macht unseren Standpunkt einzigartig. Aber wir gehören eben auch all diesen Kreisen an, und da gibt es die unterschiedlichsten Erwartungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Die Art und Weise, wie wir uns auf die Erwartu ngen in dem einen Kreis einstellen, ist vielleicht in einem anderen Kreis nicht opportun oder sogar strukturell unmöglich. Also wird die Präsentation der Identität immer relativ zu den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen sein. Bisher habe ich den Standpunkt vor allem aus dem Blickwinkel des Individuums betrachtet. Ein Standpunkt muss aber auch bezogen werden im Interesse der Gesellschaft. Die anderen, mit denen wir interagieren, müssen auch wissen, woran sie mit uns sind. Natürlich werden sie uns routinemäßig als Typen behandeln, doch auch dieses typische Verhalten muss j a immer unter Beweis gestellt werden, und ganz sicher müssen wir verlässlich sein, wenn Routine durcheinander gerät. An diesem kritischen Punkt und natürlich an jedem Anfang einer neuen Interaktion müssen wir einen Standpunkt einnehmen und uns fragen, wer wir sind und wer wir gleich sein wollen. Die Antwort können wir nicht für uns behalten, denn es soll ja um ein gemeinsames Handeln gehen. Also müssen wir begründen, warum wir etwas tun und was wir wollen. So schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass die anderen uns als rational handelnden Partner der Interaktion erkennen. Die Formulierung " relativer Standpunkt" soll schließlich auch deutlich machen, dass es ein Standpunkt unter gegebenen Umständen ist. Die beiden Betonungen meine ich so: Es ist ein Standpunkt neben vielen anderen möglichen, die andere einnehmen können. Und es ist ein Standpunkt, wie er sich in einer konkreten Situation ergeben hat. Einen Standpunkt nimmt man in seinem Leben nicht ein für alle Mal ein, sondern immer dann, wo die Routine des " weiter so" du rchbrochen wird. Das bedeutet, dass wir Identität immer neu entwerfen müssen für uns und vor den anderen.
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Diese Ford erun g ste lle ich bewusst gegen die "o ntologische Bodenlosigkeit der Postmoderne" , die der poln isch e Soziologe ZYGMUNT BAUMAN (*1925) unter de r sprechenden Überschrift "Wir sind wie
Landstreicher" beschworen hat:
Zygmunt Bauman: Die ontologische Bodenlosigkeit der Pestmodern e "Die Postmoderne ist der Punkt, wo das modeme Freisetzen aller gebundenen Identität zum Abschluss kommt. Es ist jetzt nicht nur leicht, Identität zu wählen, aber nicht mehr möglich, sie festzuhalten. Im Augenblick des höchsten Triumphs muss Befreiung erleben, dass sie den Gegenstan d de r Befreiung vernichtet hat. Je freie r die Entscheidung ist, desto weniger wird sie als Entscheidung empfunden. Je derze it widerrufbar, mangelt es ihr an Gewicht und Festigkeit - sie bindet niemanden, auch nicht den Entscheider selbst; sie hinterlässt keine bleibende Spur, da sie weder Rechte verleiht noch Verantwortung fordert und ihre Folgen, als unangenehm empfunden und unbefriedigend geworden, nach Belieben kündbar sind. Freiheit gerät zu Beliebigkeit; das berühmte Zu-allem-Befähigen, für das sie hochgelobt wird, hat den postmodernen Ident itätssuchern alle Gewalt eines Sisyphos verliehen. Die Postmoderne ist jener Zustand der Beliebigkeit, von dem sich nun zeigt, dass er unheilbar ist. Nichts ist unmöglich, geschweige denn unvorstellbar. Alles, was ist, ist bis auf weiteres. Nichts, was war, ist für die Gegenwart verbindlich, während die Gegenwart nur wenig über die Zukunft vennag. Heutzutage scheint alles sich gegen feme Ziele, lebenslange Entwürfe, dauerhafte Bindungen, ewige Bündnisse, unwandelbare Identitäten zu verschwören." (Bauman 1993: Wir sind wie Landstreicher. Süddeutsche Zeitung vom 16.117. November 1993; zit. nach Keupp 1997, S.24f)
Ich habe am An fang des Kapi tels gesagt, dass die Forderung an das Individuum, Identität als relativen Sta ndpunkt immer wieder neu für sich und für die anderen zu entscheiden, von der Hoffnung lebt, der gerade be schriebenen " ontologischen Bodenlosigkeit" imm er wied er neuen Sinn entgegensetzen zu können. Deshalb nach der langen Diskussion zentraler Themen der Soziologie als letztes Wo rt zum Verhältnis vo n Individ uum und Gesellschaft: Ident ität ist der Standpu nkt , in dem Individuum und Gesells cha ft fortlaufe nd ve rmittelt werden. Auf ihn wi rken die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie indirekt auch im-
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mer, ein, und aus ihm heraus wirkt das Individuum auf sie, wie indirekt auch immer, ein. Worum es bei dieser Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft gehen muss und was das mit der Aufgabe der Soziologie zu tun hat, erhellt aus dem Schlusskapitel, das ich ausdrücklich unter den Titel "Unversöhnlich" gestellt habe.
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Soziologie bef asst sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Handeln zwischen Individuen in diesen Verhältnissen. Diese Definition stand am Anfan g der Einführu ng in die Sozio logie. An der Auswahl der Themen und Theorien, die ich in dem so gesetzten Rahm en für wichtig halte, und an der Art und Weise, wie ich sie behandelt habe, sollte deut-
lich geworden sein, dass sich Soziologie nicht nur mit abstrakten Strakturen und Prozessen befasst, sondern die Individuen in ihrer Gesellschaft sehr konkret in den Blick nimmt. Dabei kommen zwangsläufig Situationen zur Sprache, in denen wir tagtäglich leben, und es geht immer auch um die Frage, wie wir uns selbst und die anderen sehen und
wie wir miteinander umgehen.
Auch für diese Situati onen gilt, was ich von den gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen gesagt habe: Wir müssen hinter den Schein der Phänomene auf die wirkenden Strukturen, auf die Handlun gen der Individuen wie auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit blicken. Deshalb ist mir auch wichtig, zum Schlu ss noch einmal zu sagen, wann Soziologie beginnt: hier und j etzt und immer wieder. Sie beginnt, habe ich gesagt, mit dem Zwe ifel an der Natürlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Soziologie ist Aufklärung! In dem Zusammenhang will ich Ihnen auch noch einmal die Worte von DEsCARTES in Erinnerung ru fen, in denen Bourdieu das Programm der aufklärenden, entmystifizierenden Wissenschaft liest: " Ich bi llige es nicht, dass man sich zu täuschen versucht, indem man sich falschen Einbildungen hingibt. Weil ich sehe, dass es vollkommener ist, die Wahrheit zu kennen, als sie nicht zu kennen, und selbst wenn sie uns zum Nachteil gereichte, geste he ich offen, dass es besser ist, etwas weniger fröhlich zu sein, dafür aber mehr zu wis· sen.' (Descartes, zit. nach Bourdieu 1984, S. 65) Was Bourdieu in diesem Zusammenhang der Soz iologie weiter abverlangt, können sie an anderer! Stelle lesen. Hier möchte ich lediglich seinen Anspruch an die Intellektuellen herausstellen, den ich dort in einer Fußnote versteckt habe: Bourdieu betrachtete die Soz iologie als Kamp f, und von den Intellektuellen forderte er, sich als ..Militanten der Vernunft.. zu verhalten. Wem das zu anstrengend ist, sollte wenigstens 1 Vgl. Band I, Kap. 2.4 ..Soziologie wozu? Eine modeme Debatte", S. 6 1 Anm. 1.
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ab und an einhalten in seinem Denken des " Und so weiter" und sich vorstellen, wie es gekommen wäre und wie es weitergehen würde, wenn man sich auf den zweiten Blick a la Luhmann (Luhmann 1979, S. 170) einließe oder sich von Webers Ermunterung anstecken ließe, " sich gegenüber den jeweilig herrschenden Idealen, auch den majestätischsten, einen kühlen Kopf im Sinn der persönlichen Fähigkeit zu bewahren, nötigenfalls »gegen den Strom zu schwimrnenc" (Webe r 1917, S. 394). Wenn Sie j etzt noch einmal nachlesen, was ich im ersten Band in Kap. 2.6 über eine mögliche fünfte Aufgabe der Soziologie geschrieben habe, dann sollte deutlich geworden sein, was ich mir von dieser Einführung in die Soziologie verspreche. Soziologie hat etwas mit Verantwortung zu tun - für uns, für die Gesellschaft und auch für ganz konkrete Andere. Und wenn Sie das hier und jetzt auch so sehen, soziologisches Wissen also nicht nur für irgendeine Prüfung aufhäufen, sondern auch in die Humanisierung der Welt investieren zu wollen, dann will ich gerne noch einmal erklären, warum ich Ihnen zugemutet habe, die Dinge immer wieder von einer neuen Seite aus zu betrachten und von keiner Theorie die endgültige Erklärung zu erwarten: Ich wollte einem beweglichen Denken eine Richtung weisen. Der schon am Ende des ersten Bandes zitierte kluge Beobachter der kleinen und großen Dinge der Welt hat sie so bestimmt: " Wir dürfen die Dinge nicht so sehen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollen."!
Sogar ganz am Schluss, wo doch alles gerundet sein sollte, muss ich wieder mal um Hilfe bitten: Wo steht das bei Bemard Shaw? Frank Brockmeier hat inzwischen herausgefunden, dass es genau umgekehrt in "The Devil's Dicticnary' (1906) des amerikanischen Zynikers und Satirikers Ambrose G. Bierce heißt: .Endeavor to see things as they are, not as they ought to be." Vielleichi bezog sich Shaw ja gerade auf diesen Satz. Jedenfalls gefällt mir Shaws Kritik, wenn sie denn von ihm stammt, besser!
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Gliederung Band I: Der Bliek auf die Gesellschaft 1
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10
Soziologisches Denken Die Kunst des Misstrauens und die Lehre vom zweiten Blick I-lintergrundannahmen und Wertfreiheit Weber: Die Konstruktion des Idealtypus Weber: Was Wissenscha ft leisten kann und was nicht Reflektierte Gewi ssheit W as ist Soziolo gie und was ist ihre Aufgabe? Zugänge zur Soziologie Was ist eigentlich nicht Gegenstand der Soziologie? Soziologie wozu? Drei klassische Antworten Soziologie wozu? Eine modem e Debatte Wann Soziologie beginnt und warum sie nicht endet Was tut ein Soziologe und was ist se ine Aufgabe? Zwei grundsätzliche soziologische Perspektiven Soziale Ordnung oder: Wie ist Gesellschaft möglich ? Hobbes: Die Furcht vor dem Lev iathan Rousseau: Gesellschaftsvertrag und moralische Freiheit Schottische Moralphilosophie: Erfahrungen und Gewohn heiten Spencer: Fortlaufende Differenzi erung und Integra tion Simmel: Verdichtung von Wechselwirkungen zu einer Form Durkhcim: Mechanische und organ ische Solidarität Weber: Handeln unter der Vorstellun g einer geltenden Ordnung Mead: Gesellschaft - Ordnung als Diskurs Parsons: Nonnative Integration Berger u. Luckmann: Gese llschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Institution Durkheim: Soziale Ta tsachen Sumner: Folkways, Mores, Institutions Malinow ski: Abgele itete Bedürfnisse und die soziale Organisation des Verhaltens Mead: Institution als organisierte Fonn des Handeins Parsons: Nonna tive Muster Gehlen: Institutionen - sich feststellende Gewohnheiten Berger u. Luckmann: Habitualisierung und Institutionalisierung Die Geltung von Institutionen und Rituale der Rebellion
5 5.1 5.2
Organisation Wurz eln des organisationssoziologischen Dcnkens Bewusstes Zusamm enwirken zu einem bestimmten Zweck
4
4.1 4.2 4.3
414 5.3
Gliederung Band 1: Der Blick auf die Gesellschaft
5.5 5.6 5.7 5.8
Die doppelte Realität der Sozialstruktur einer Organisation Motivation der Mitglieder Tay lor: Scientific management Human relations - der Hawthome-Effekt Organisation als Syste m Weber: Bürokratische Organisation
6 6. 1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
System Parsons: Syste mtheorie der Strukturerhaltung Das allgemeine Handlun gssystem und seine Subsysteme Grundfunktionen der Strukturerhaltung (AGI L-Schema) Luhmann: Systemtheorie der Strukturerzeugung Die These von der Reduktion von Komplexität Die autop oietische Wende der Syste mtheorie
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
M a cht und Herrschaft Die Macht des HandeIns und die Macht der anderen Gründe und Formen der Macht Popitz: Prozesse der Machtbi ldung Weber: Herrschaft - die Legitimation von Macht Webe r: Bürokratie - reine Herrschaft und ihre Gefahr Gegen Macht
8
Soziale Schichtung
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
Über das dreigeteilte Haus Gottes und den Beruf des Menschen Klassen und Stände - Marx und Weber Geiger: Sozia llagen und Mentalitäte n Differentielle Wertu ngen, funktionale Leistungen Die emp irische Ermittl ung von Schichten Kri tik an der These und am Begriff der Schichtung
9 9.1 9.2 9.3 9.4
Soziale Ungleich heit Natürliche Ungleich heit? Besitz und Einkommen als Begrundungen für Ungleichheit Bourdieu: Sozialer Raum, Kap ital und Geschmac k Neue Formen sozialer Ungleichheit und ihre Ursachen
10 10.1 10.2 10.3 10.4
Sozialer Wandel Comte: Dreistadiengesetz - der Wandel des Denkens Marx: Der Klassenwiderspruch als Triebkraft der Entwicklu ng Weber: Asketischer Protestantismus und rationale Lebensführung Beck: Individuali sierung und reflexive Modemisierung
5.4
4 15
Personenregister
Personenregister Aristoteles 180 Asch 282 Bauman 322, 325, 390 Becker, H . 276 Bcckcr, R. 294 BeU 36, 42ff. Bcntham 161 Berger, B. (Kap. 8.8) 325,333 Berget, P. L (Kap. 8.8) 53, 96, 98, 222, 225,325, 333 Be rns tein 80 Blumer (Kap. 5.5) 98, 183, 185, 207, 230,260, 280,356 Borns c hie r 293 Bourdieu (Kap. 7.4) 290,294, 296, 301 Brandenburg 154 Brumlik 335 Claes sen s 35, 50 Claudius 90 Clause n 57 Coleman 166 Cooley 259ff., 313, 338 Daheim 294 D ah ren d o rf (Kap. 3.3) 51,90, lOH., 110, 349 D e scart e s 392 Dickse n 279 D reitzel 36,1 15ff. D urkheim (Kap. 1.2,2.1 ,6.1) 16, 47, 50, 52ff., 58, 89, 92 , 95, 124, 135, 169f., 182, 20H., 210, 233, 257, 259f., 278f.,342, 360 Eisenstadt 26M. Enzensbe rger 310 E rikson (Kap. 8.6) 74-77, 268f., 320, 324,378 Esser (Kap. 4.6) 136, 159, 161, 163, 168, 246 F e rgu so n 161, 168 Fo rm 313
Freud (Kap. 2.2) 58, 7H., 74, 89,93,
273f.,33 7,352,364,367f. F ricd richs 153
Fromm 90
(Kap. 5.7) 172, 183, 186, 230, 240 Ge hlen 335 Geulen 57,64, 89 Gidde ns (Kap. 4.5) 136, 159,322 Go ffman (Kap. 7.5, 8.4) 131, 172,180, 183,1 85, 218, 324, 333 Go uldner 11, 130, 218f., 350 G ukenbiehl 277 H abcrmas (Kap. 3.4, 4.7, 5.9) 97,102, 136,1 80, 186, 322, 358, 378 H artlcy 295 Han mann, '\1. 305 Anm. H auck 95 Hegel 90 Heint z 293 Hersko vits 273 Hobbes 44, 57, 66, 149 Ho fstärtee 271,273, 292 H orn an s 79, 135, 138, 162ff., 166, 168, 279,282, 291 Huber 74 Hurrclmann (Kap. 2.7) 59 H yma n 277 Illich 81 Inglehart (Kap. 1.5) 45, 48 jacobson 154,288 Jensen 151f.,156 Jo as 31f., 170f., 184, 208, 219, 338ff. Junge 327 Ka n t 90,328 Kardiner 74 Kellner (Kap. 8.8) 325,333 Keupp 390 Kicserling 186, 214-218 Kieß Ling 159 Kl agcs (Kap. 1.6) Garfinkel
416
Personenregister Kluckhohn 37f. Klurn 295 Knobl auch 180 Knöh1 184, 208, 219 König (Kap. 1.7) 53f., 251 Korte 110 Krappmann {Kap. 5.8, 8.7) 107,1 86, 206,264( , 324, 374f Lindgren 280 Linton (Kap. 7.1) 74, 101, 114, 117, 120f,1 57, 289( , 292 Lippirr 282ff. Locke 277, 345 Luckrnann 53, 96, 98, 176, 222, 225, 233, 383 Lütkens 81 Luhmann 10, 21, 138ff, 171, 212, 215f L un t 289 Lyman 348 Lyo tard 322 Malinowski 68-72, 74, 162 Mandeville 165 Mann, H. 69 Mannheim 173,349 Marcuse 362 Marx 119f, 128, 161, 168, 174, 233, 330 Mas low 4{)
Manhes 235, 238 Mayo 279
Mead, G. I r. (Kap. 1.3, 2.5, 5.3, 8.2) 12, 32, 55, 58, 73, 75, 89, 183, 185, 188, 202f., 207f., 211, 228ff., 234, 264f., 271, 323, 349, 373, 375, 378, 384
Mead, :-'l57f Merto n {Kap. 3.2) 102, 120, 173, 209, 277,293 Miebach 91 l'> lill 286 .....Iiller 15 l'>IiUs 244
Moralphilosophen, schottische
160,
277 Morris 29 Müller 248,310,311 Miinch 91, 159
Newcc mb 244 N ietzache 352
Nwme r-Winkler 54 Oevennann 81 Olson 246 Oswald 348f. Owen 78 Packard 296 Park 194, 351 Parsens (Kap. 1.4, 2.6, 3.1, 4.3, 5.4, 8.4) 12, 53, 58(, 67, 75, 82, lOH., 111f., 118, 120f., 123f., 127, 129ff., 135, 168, 170, 182, 184, 186, 210, 212ff., 219, 221, 227, 265f., 288ff., 292, 324, 347, 359, 376 Pastner 285 Paulus 321 Pawlow 77 Plessner 125 Popitz 51, 55f., 245 Reck 323 Reimer 81 Richtet 79, 155,243 Riesman {Kap. 8.3) 12, 110f., 263f., 270, 324f.,333, 350, 362,375, 383 Roethlisberge r 279 Rogers 279 Rolff 80 Rosenstiel 279 Ros enthal 154, 288 Ross 89 Rousseau 58 Sack 220 Schäfers 26 Scheuch 294 Schllnank 157, 159, 167 Schmid 248 Sehneidee 30,31,311
41 7 Schütz 142, 172, 175, 219, 225, 233ff.,
31' Schützeichel 166 Scorson 274, 275 Scon 348 Shakespeare 101, 120 Shaw 393 She rif 271, 272, 281 Shils 204,403 Simmel (Kap. 1.1, 5.1, 6.2, 8.1) 12,
323, 346, 348, 381, 385 Skinner 79,138, 163 5mith 160, 277 Sembart 311 Spcnccr 47, 342 Spro ndel 95 Steinert 349 Steinkamp 80 Srone 295 $tI'aUSS (Kap.7.6) 131, 213, 280, 337, 339, 356 Sumner 74,272f.
Personenregister T enbruck 12Sff. Thomas 53, 57, 96, 149, 209, 225,
261 [,270,286, 312, 315, 383 Thorndik e 77 TIuasher 269,270 Turner 131,211 ,229 Veblen (Ka p. 7.3) 297-303, 307, 3 11 Warnet 289 Walson 78r., 82 Weber (Kap. 4.2, 5.2) 12, 16f., 128, 134f., 175, 177ff., 182, 186, 208, 210, 232, 251, 297, 306, 322, 343, 349, 303 Weingarten 220 White 282ff. Williams 350 Wilson 158,1 85 Wrong 95 Zelditch 295f., 312f. Zimme rma nn 294 Znaniecki 261
418
Sachregister
Sac hregister achieved status 286 f., 305 achiev ement 153, 157 (s. auch Leistung)
action frame of refcrence 151 adaptarion 104 Anm., 365 (s. auch AGIL-Schem a) affektuelles Handeln (s. Handeln, Bestimmungsgründe) 145f., 193 affektive Orientierun g (5. pattern variables) 94,1 55- 158 AGIL-Schema 104 Anm., 365
Aggression gegen fremde 274f. - Kultur ge gen Aggressio nstrieb 66f., 92 Anm. Akteure , individuelle 135.,1 59, 16lf., 164-167, 170f., 173-180 Akteurtheorien (Kap. 4.4, 4.5, 4.6) 135
allgemeines Handlungssystem (5. Handlungssystcm)
Allokat io n 95 Alltag, Alltagswelt 10, 222-226, 233,
240, 314 - Pluralisierung 382 - Typisierung des Alltags 222f., 225 f. Allta gshandeln (Kap.5 .7) 146, 174ff.. 186, 193. 2 18, 240f., 324 Allta gswissen 172, 174, 220ff., 225f., 235, 240 Alter, soziales Kriterium 93, 119, 287f., 292 , 320 alternative Werturientierung en (so pattern variables) Amb iguität • Ambiguitätstoleranz 228 , 378 - der Rollen 132, 378 Anerkennung 28,36, 40, 105, 164f., 243,261 .268,281 ,286. 305, 319 , 350. 370f.,375 f., 379 Anomie 26, 52, 246f., 278 • abweic hendes Verha lten 111
- anomischer Selbstmord 25ff. Apathie und Anomie 112f. Arbeit. sponta n nicht arbeitslustig 65 Arbeitsteilung 20, 38 1 und sozia le Gefühle 21 Ste igerung der Individualität 332 wechselseitige Abhä ngigkeit 257, 342 ascribed sratus 287 ascription, partcrn variable 153 asketische r Protestantismus (s. protestanti sche Ethik ) amtudes 85 - Haltungen als Anfange von Handlungen 200 Außenlcitung (Kap .8.3) 12, 11Of. , 263, 301 , 324f.. 350. 362, 375, 383f. Außenseiter (Kap. 6.5) Austausc h 164-168. 182 (s. auch Tau sch) gerechter Tau sch (Kap . 4.4) 135 GUterau stausc h 164, 29 1f. guter Dienste 160 Interaktion als Austausc h (Kap. 5.4) von Leistungen 20, 164-167 Status. Austausc h von Gütern 29 1f. Austauschtheorie (Kap. 4.4) 135f., 165. 184 Anm. autoki netischer Effe kt 281 Autopoiesis 171 Anm., 214 Anm.• 217 autor itäre Führung 282ff. Auto rität als Statusk riterium 289f. barterin g 165 Anm. beste perscn ality struct ure, Basispersö nlichkeit 74 Bedürfnisse 19,21 , 26,61 ,1 63 Befriedig ung 19. 37,107, 160, 227 f., 368(., 378 Dispositione n 95 , 101, 106f., 130. 149, 227f.
Sach register emotionale 240, 267 Grund bedürfnisse 2 1, 40, 270, 28 1, 286, 358f. Anlass des Handc1ns 37, 160f.• 16 3 Hierarchie der Bedürfnisse 39t. künstliche, sinnlose 330 soziale 40 T riebbed ürfnisse, kulturelle Einschrän kung (Kap. 2.2) 6 1 Werte und Bed ürfnisse 26,37, 107. 130,227,279 Beeinflussung B. du rch die ander en 277, 346 soz iale B. in der Grup pe (Kap. 6.6) wec hse lseitige B. in der Interaktion 30,85 ,88, 108,167, 196f. Behav io rismus (Kap. 2.4) 28,77 ,83, 134, 196 - Soz ialbehavioris mus (s. d.) beobachten wec hselseitig 160,185,209,2 16, 277 ,302,344 sic h selbst 83, 160,277,336,386 als Methode 11, 83. 279f. . 355 Anm. l des e igenen Ich 386 Beruf und Status 289 Berufsgruppen. Herstel lung moralischer Gefühle 27 , 247ff. Bewu sstse in fragme ntiertes 233 kollektives (s. d.) modernes 380 Stärkung des Normbewusstseins 54 reflexives 340 Se lbs tbewusstsein (s. d.) sitt liches (Kap . 1.2) Urbanisierung des B. 38 1 Be wusstsei n der Verbu ndenheit 189 (s. auc h Vergese llschaftung, Bed ingung) Beziehung, soziale 23, 160 nach auße n 268t., 272t., 274t. - im Betrieb 279
419 face-to-face 259·262 Formen (patte rn variables) 93f. , 265ft. so ziales Kapital 303 als Kommunikation 83 Anm. 2, 196 Anm . l Muster, Struktur 103, 105,205 ,359 bei Weber (Kap. 5.2) 186, 196 Anm. 1, 204 Anm. Wechselw irkung, Vergese llsc haftung 187f., 325 Bezugsgruppe (Kap. 6.6) Außenleitung 111, 347 jugend liche 268 Ro llenerwartu ngen 102, 114, 118, 122f., 128,294,364 Bienenfabel 165 Bildung und sozialer Status 289 ff., 293-296, 304-309 und Werte wandel 45ft. Bildu ngsk apital 305 Bildungsspiel 310 Blick, Le hre vom zweiten 10,393 bound ed ratio nality 174, 176,1 78 Bürokratisierung, unaufhaltsame 232 calvi nistisches Gewissen 350 C hancengleich heit 87t., 104 beim Austausc h 165 beim Handeln 230, 238, 3 13, 379 schichtspezifische Sozialisation 8Off.,96 Charaktermaske 120 C har isma 251 Anm . Chero kee 273
Code Cod es, fra mes 174, 178 Identität als Code -Erhaltungssys tem (Kap. 8.5) Spracheode , elaborierter und restringierter 80f., 395 Sprache e ines Systems 204 , 365 commitment 34ft., 92, 109 , 362
420 Definition der S ituation (s. auch T homas-T heorem)
in der Interaktion 185.209, 212, 229 f., 312, 356f., institutionelle Definitio n der S ituation 173 kulturelle Definition der Situation
360 Defizith ypothese (s. Sprac he)
demonstrativer Konsum. Müßiggang (Kap. 7.3) 307,3 11
Denken 22,2 6,33 4[ ,336 im Alltag 110, 22 lf.• 314, 393 bewe gliches Denken 393 Erklärung des Verhaltens 83, 197, 199f., 334f. G ruppe prägt das Denken 26 1, 277,
304 Muster des norm alen Denk ens 22 1,
234 Denken in natürlicher Einstellung 2 19, 222, 314 Anm. I
selbst denken 23 sozio logisches 1Of., 393
standortgebunden 349 w erte als Rahme n des Den kens 15f. Deutungen. Struktur der D. 167 Differenzhypothese (s. Sprache) Differenzierung der Fun ktione n 20, 342, 36 1 der Gese llschaft 47, 324 , 327, 361 der Identität (s. d.) 366 Ind ivid ualität, Indiv iduali sierung 258,364,366 soz iale 93, 286, 28 8, 302, 304, 307 stru kturelle 248, 360 des Verhaltens 34,245 Diskrepanztheorem. Ide ntitätstheore m 130f. Diskurs Demokratie als universeller Diskurs 27, 32,89
Sachregister ideale Form der Verständigung (Kap.5 .9) 183 Distanz des Fremden 255 zur No twendigke it, ästhetische E instellung 306f. Rollend istanz (s. d.) Distinktion 305, 3 11f. dokume ntarische Methode der Interpreta tion 223f. Dualität der Struktur (Kap. 4.5) 136, 159, 167 Dunkel ziffer, Nutzen der 56 dysfunktional 12 1 Egoism us 24f., 28, 246f. - Natur des Mensche n 20, 57f., 6 1f. • egoistischer Selbstmord 24f., 27 E hre Mittel zur Erhalt ung de r Gruppe 252 f. Geist ei ner Gruppe 245 ,252f. Reichtum und Konsum verleihen Eh re 298, 300 Ver lust 24 Eigentu m Geschichte des Eigentums 297f. • ökonomisches Kapital 303 • Statuskriterium 289 Eindi me nsionierung 362 Einkomm en, Statuskriterium 289f.,
294 Einstellun g ästhetische 305f., 308 Habitus, kulturelles Kapital 304 wec hselseitige 191,193ff. Denke n in natürlicher Einstellung 219, 222,3 14 gemeinsa me 269, 27 1f. Wertewandel 46 , 49 elabo rierter Code (s. Sprac he) Elite, poslm aterialistisc he Werte 42 Emergenz 99 ,2 14
421
Sac hregis ter E mpathie 228, 378 encounter, interactio n 352 En kulturation 35,92 Entfrem du ng Außenleitung, Entfremd ung der Iden tität 347 Identi tät und Ent fremdung 36Off. entfre mdeter Ko nsum 3 11 Kulturinhalte e ntfre mde n sic h 330 Begriff der Rolle , Entfrem dun g 102 , 119, I25ff. Entzauberung 343 E rfahru nge n, typische 222 Erkläre n Erkläre n als Bed ingun g eine r ide alen Sprcchsituatio n 238 Aufgabe der So ziologie: verstehe n und erklä ren 14 1, 163 Erwartunge n Erwartun gen der Bezugsgruppe. Rollenkonfli kt 114ff., 123,228, 279 , 29 3f. generelle Erwartu ngen, der generalisierte A ndere 27, 30 f., 86 Ide ntität als Balance sozialer Erwartungen 322, 324, 327, 340, 376f. Inte ntionalitäts-, Legi tim itätserwa rtung 237 Kompleme ntarität , Widerspruche 108, 130, 132, 150,207,2 13, 228, 293f. ,375 konstitu tive im Alltag 225ff, Kontingenz 108, 206 laten te Erwartungen in e iner Gruppe 245,279 Muss-, So ll-, Kann erwartun gen 124 normati ve (K ap. 3.1) 31, 33f.,53, 179,3 15,3 17 Roll e, normative Er wartung (Kap. 3.1) 10 1,121-1 24,1 28, 152 , 15 8, 203, 205f. , 360 Stru ktur der Er wartunge n 167 Es 63 f., 337 Es kapism us und Anom ie 112f.
Ethik, protestantisc he (s. d.) Ethnom ethodo logie (Ka p.5 .7) 159 Anm., 177, 183, 185, 19 3,2 14, 227f., 230, 240 Kritik 218 Ethnoze ntrismus (Kap. 6.5) 17 EtikeUierung 275f. (s. auch labeling approach) Exkl usion 218,252, 312,372 e xzentrische Po sitio nalitä t 125 An m. Fassa de, soz iale 183, 353f. , 354, 356 feine Unterschiede (Kap. 7.4) 293,
296 frame, framing (Kap. 4.6) 136 , 160 - acti on frame of refere nce 15 1 Freihei t Belie bigkelt 390 Bewährun g im sittlichen Gebot 90 innere Reser ve 33 1 Kultur, Einschrän kung 65 ff. Ordnung und Freiheit 248 Verdoppelung der Freiheit durc h ästhetisch e Einstellung 306 Frustratio n, Verme id ung 91, 109, 149 Frustrat io nsto leranz 132 Füh ru ngsstil 282 f. ga me, play 29ff., 84ff., 200f., 264 , 336 Geb urt, soziokulturelle 35 Gefu hle sozi ale, ge meinsa me 2 1,23,54, 60, 26 1,269 Grup pe, Masse 253f.. 26 1, 269 Herste llung moralischer Gefühle in der Gru ppe (K ap. 6.1) Interaktion 203 Sozialisat ion 54 , 60 , 89 We rtgefühle 18 Gehirn wäsche 32 1 Gehorsam als Wert 45f. - gege nübe r Normen 132, 162 f.
422
Sachregis ter
- gegenüber Werten 146, 321, 343 Geist (m ind) 83, 198, 334
Geltungsansprüche beim kommunikativen Handel n: wahr, richtig, wahrhaftig 236 f., 239 Gemeinschaft
- Bindung, Integration 23f., 246 ge neralisierte Medi en [s. Med ien) ge neralisierter Anderer 27f., 30fL, 82,
85IT.,200 f., 207, 336f., 339 Generalisierung, Verallgemeinerung ge neralisierte kulturelle Bi ndunge n 366 Lernen als G. von Reak tionen 78 ge neralisierte Ver halte nserwartungen
181 ,207,2 66. 366
Werte als Generalisierun g des Guten (Ka p. 1.3) Generationen, Wechsel 70, 250, 341 Geschlech t. soziales Kriteriu m 9 3.
118, 157, 245, 287f., 292, 353 Geschmack der feinen Leute 299, 30 1 als Kriterium einer Klasse 303, 307ff. barbarischer. legitimer, mittler er, popul ärer, prätentiöser, reiner 304f. gese llschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (s. Wirklichke it) Geste 87f., 19 6ft., 333t. • Grund geste, Stil 328 Gewohnheit (Kap. 1.2) soziale, .jrabits'' 160, 175 trad itionales Handel n 145f., 175,
193 Verhalte n, kond itio nierte G. 79 Gleichgewicht einer Gesellschaft 27, 38,121, 254 - im GUte rtausch 164 - als Kennzeichen der Identität 374 goal attainme nt 104 A nm., 365 (s. auch AGIL-Schem a)
Grati fikationen Interesse a n G. als Antrieb des Handelns 9 1,109,1 49, 219 in T auschbezie hungen 16 3ff. Gru ndquali fikationen des Hande Ins
132 Gruppe (Ka p. 6) Bez ugsgruppe (s. d.) Eigengruppe, Fre mdgrupp e 272 Gr uppenb ewusstsein 256 peer group (s. d.) Primärgruppe (Ka p. 6.3 ) 249 So lida rität (s. d.) habits (Kap.4.6) 136, 160 Habitualisierung 179 Habitus 14 1, 304, 3 11 Halo-Effek t 292 Handeln Allta gshandeln (s. d.) alter native Wertorientierunge n (s. paue rn variables) Bestimmungsgr iinde: affektuell, trad itional, wertrationa l, zweckr ational (Kap. 4.2) 19 3 Grund qualifikatio nen (s. d.) kommunikati ve s (s. d.) soziales (s. d.) Handeln und Strukturen 159, 202 Handlung, Handlungen action frame of reference 151 Akteurtheo rie (s. Hand lung, rationale Wah l) 166, 177 Defin itio n (s. Handlungsbeg riffe ) Folgen 174 Gesellschaft besteht in Handlungen 147f., 161,210 Haltungen als Anfän ge von Handlungen 2oo f., 335 Kontingen z 206 rationale Wah l l65ff., 173-180 Strukture n bestehen in Hand lungen 136, 159, 170ff.
Sachregister Struktur funktionalismus 33, 103, lOS, 148ff., 202 , 204 symbolischer Interaktionism us 185, 209· 213 Handlungsa lternativen 191, 198 (s. auch pattern variables) Handlungsbegriffe, vier (Kap. 4.7) Handlungsfolgen. intendierte, nich tintend ierte 135, 167, 174,209 Anm . I Handlungsorientierungen (s. pattem variab les) Handlun gssituation besti mmen 151f., 158 Deutung, Verständi gu ng 182,230 frami ng (s. d.] 177 Prinzip , generalisierter Anderer 201 Sinn verleihen 138 Strukturierung 171, 177 Il andl ungssystem allgemeines 148 • Struktur [s. Struktur, sozial e) - Subsysteme (s. d.) Hand lungstheorie (Kap . 4.4 ) (s. auch Hand1ungsbegriffe, vier) Akteurt heorien [s. d.) interaktionisrische 98, 199 kommunikati ves Handeln [s. d.) 231 stru kturfunktionalistisc he 135, 149, 151, 198 Hawthome-Studie 279 Hedonismus 44 herrsc hafts freie Sprechsituation 239 homo dupl ex 61, 65, 92 Arun. homo homini lupus 66 homo oeconomicus 174 homo sociologicus (Kap. 3.3) 102, 120ff., 126, 158, 175 human relation s 279 I 337f., 340, 378 (s. auch Ich, impulsives) Ich
423 impulsives 337 f., 340 (s. auch I) re flektiertes 87, 338 ff (s. auch me) Ich-Identität (Kap. 8.7) 324,340, 368,373 Ich-Qualit ät ode r Grundhaltung 367 Ich-Stärke 368 ideale Sprechsituation 238f. Idealisierungen "ich kann imme r wieder", ..und so weiter" 175f., 225f. , 313 Anm. Kongru enz der Rele vanzsys teme. Vertau schba rkeit der Standpunkte 226, 235,313 Arun. [s. auch Perspektiven, Generahh ese] Konti nuität, Wiederholbarkeit 225 Idealtypus 147 Identifikation, Identifizieru ng Bedü rfnis des Jugendlichen 375f. des Individuums durch andere 338 f. mit der Grupp e 35,55, 114, 259, 27 1,277,37 1 (s. auch Bezugsgruppe) Identität, sich mit anderen identifizieren und sich ident ifizieren lassen 37Of. mit der Mutter 94 mit de m Vater 64,94 Entide ntifiaienmg 32 1 Identität (Kap. 8) biographische Ident ität, fort laufende Konstrukt ion 321 Definition en 320,322, 382f. einzigartig und norma l 317 Anm., 323,358 ide ntitätsfördernde Fähigkeiten 228, 407f. Funktionsbegriff, Struktur begriff 365 gelun gene 324 Ich-Identität (s. d.) im Lebenszyklus (Ka p. 8.6) mode m e Identität: offen, d ifferenz iert, reflexiv, ind ividuiert (Ka p. 8.8)
·2. sich selbst Obj ekt sein 336 persönliche 28, 373, 376, 378 rigide 48, 387
soziale (Kap. 7.5) 28, 319, 338, 358 f. Kontinuität über Statusü bergänge hinweg 320 virtuelle 315f. funktionale r Wandel 48 Identitätskr ise (Kap. 8.8) 323 • permanente Krise 385 Identitätstheorem. Diskrepanztheorem 13üff. impression man ageme nt 348,350,352 Index, Indexikalität, Indiz es 223 indexi kale Äußerungen 223f. - entindexikahs iere n 224 - Sta tusindex (5. d.} Individualisierung 13 als Ausdru ck der Individualität 62,
252, 258,364,366
als Vereinzelung 13,375 Individualismus, methodelogischer (5. d.) individualistische Theorien des Handelns 16Of. Individualität Anspruch 325,386 in der arbeitsteilige n Gesellschaft
62 Auße nle itung 346 gegenüber sozialen Erwartungen und Ro llen 96,100,11 9, 131 großstädtische Individualität 327, 330-333 in der Gruppe 19 1, 255-258 individuelles Gesetz , Tragödie der Kultur 326, 328f. im Schnittpunkt sozialer Kreise 258, 323 ,326ff. individuelles Gesetz (Kap . 8.1) 323 Initiation 72ff. Inklusion 216ff., 252, 372 Innenleitung 110f., 343, 345ff., 350
Sachregister
Innovation und Anc mie 53, 112 Instinkte erlerntes Verhalten 79 Kultur ist Instinktrepression 74 Kultur als Kompensation für Instinkte 125 Institutionen Gestalt gewordcne Norme n 5 1 Netzwerke von Handlungen 213 organisierte Haltungen 87, 89 soziale Tatsachen 20ff., 169, 184 kulturelles System 106, 360 totale 32 1, 349 überformen die Natur des Menschen
7.
Integration einer Gemeinschaft 24f., 246ff. gese llscha ftliche 54, 147 normative (s. d.) Grundfunktion des Systems 104 Anm., 365 (s. auch AGIL-Schema) Integrationstheorem, Repressionstheorem 130fT. Integrationstheorie 120f. (s. auch Integrationstheorem) intendierte, nicht-intendierte Handlungsfolgen [s. d.) Intentionalitätserwartung 237 Interaktion (Kap. 5) Definition 184 encounter 352 gelingende (Kap. 5.8) 107,1 84, 186,200[, 2 19-226, 234 bei Go ffman 352[ als Interpretation 98, 182,1 85, 209,
213 fortlaufende Kommunikation, wechselse itiges Handeln 196, 2 10 kommunikatives Handeln (s. d.) 230,235 Rollenübernalune 27 f., 88 soziale Beziehung 194 soziales Handeln (s. d.) 133, 143, 180,1 86, 192[ , 203
Sachregister soziale Systeme als stabile Muster von Interaktionen 158 symbolische (s. d.) symmetrische 230, 238 Thema, Typenprogramm (s. d.) mit unsichtbaren Dritten 213,280, 356 Interesse an Verständigung 230f., 240 Interaktionsmedien 205 Interaktionssysteme (Kap. 5.6) 185, 202f., 36 1, 363 Interdependenz • der Akteure 135, 167, 174 - der Institutionen 128 Internalisierung 53, 6 If., 9 1f., 95, 109, 13 1, 147 Interpretation - dokumentarische Methode (s. d.) - als Interaktion (s. Interaktion) interpretatives Paradigma 11, 185, 218 Inzesttabu 93f. Kapitalsorten: Bildungskapital, kulturelles, ökonomisches, soziales 303f. Klassenbewusstsein , KlassenUnbewusstsein 3 12 Klassengesellschaft 303f., 3 12 Klassenkampf, kultureller 303, 305, 3 11 Kollektivbewusstsein 21, 50, 54, 62, 233, 278 Kolonialisierung der Lebensweit 233f. Kommunikation unter Anwesenden (Kap. 5.6) • bei Mead 27, 32, 83, 87fT.,.I 96-200, 333 kommunikatives Handeln (Kap. 5.9) 180, 182f., 186 • Geltungsansprüche (s. d.) Komplexität Kontingenz 139 Reduktion 138fT.,215 (5. auch Sinn, Reduktion)
425
der Systeme und Rollen erschwert Identität 36 1f., 365, 382 Konflikt Individuum und Gesellschaft 121 Kemkonflikte nach Erikson 367· 313 der modernen Kultur 329 Ödipus-Konflikt (s. d.) Prinzip des Sozialen 121 Rollenkonflikt (5. d.) Vater, Sohn 64, 68, 70f., 94 Konflikttheorie 121, 214 Konformität Demonstration eines neuen Status
296 Verhaltensform 112 Konformitätstheorem 13 1r; Konkurrenz der Interessen und Ziele 149f., 16 1, 166, 188, 246, 256f., 346 zwischen Gruppen 255f., 272, 274 äußere K., Tendenz der Gruppe zur Konservierung ihrer Form 255f. Konfiguration, Form sozialer Beziehung 188, 194, 325 im Wechsel der Generationen 69f. Natur des Menschen Konsens • ÜberschälZUng des 2 12Anm. • wahrer und falscher 239 Konsum 44, 126, 233, 311, 344 - demonstrativer (Kap. 7.3) 307,3 1I Kontingenz (Kap. 5.4) 108, 139, 238 [s. auch Erwartungen) • doppelte Kontingenz 108, 206 Kontrolle Ausdruckskontrolle 355 äußere, innere 53 in der Gruppe 249,258,26 1, 270 des Handeins 90, 123, 131, 205, 320,339,365 Kontrollhierarchie der Systeme 33,
364 Macht als K. der Ressourcen 166
426
Selbstkontrolle 335,339
soziale 89,95, 148, 318 sinkende soziale K. 23, 26, 258,
JJ I
wechselseitige in der Interaktion 88,
335,339 Konversion 32 1 Kreise, soziale (Kap.8.1) 189f., 258 , 323,366, 389 Krisenexperimente (Ga rfinkeI) 172,
21S, 220-224 Kultur Abstand, außerhalb der Piste 310f.
Auslegung nach einem gemeinsamen S inn 151 zu ernst nehme n 3 10 individuelle 326f.,330f. Instinkte (s. d.) Krise, Wertewandel 42f. Konflikt, Ges amtnot 329 legitime 306, 308ff. objektive 323, 326, 329f., 332
und Persönlichkeit 74f.• 101. 105. 109,287, 362, 364
räuberische 299 System von Symbolen 37, 43, 148, 150, 204 Tragödie der Kultur 325f.,329f. bede utet Triebverzicht, Einschrä nkung individue ller Freiheit 65ff. Kulturanthropologie. Sozialisation (Kap. 2.3) kulture lles Kapital (5. Kapitalsorten) kulturelles System 33, 35, 103fT., 109, 118, 148,1 5 1, 158, 360 Institutionen 106 Zweifel an der Norma nvit ät 111, 162, 2 10, 364 kulturelle Ziele (5. Ziele) Kulturinhalte, obje ktiver Geist 329f. labeling app roach 276 (5. auch Etikettierung)
Sachregister
latent patte rn rnaintenance 104 Anm., 365 [s. auch AGIL-Schema; Strukturerhaltung) Laufbahn, soziale 320 law offashion, law of opinion or reputauen 277,345 Lebensführung angemessene 278,33 1,376 rationale 16, 370 ständische 297 und Status 297 Lebensstil 303,306 (s. auch Stilisierung des Lebens) Lebenswe lt Kolcmalisierung (s. d.) Mensch als Konstrukteur seiner L 98 Pluralisierung 380ff., 384 Rationalität zerstört die L 233f. Legitimität serwartung 237 Leistung Orientierun gsalternat ive 153f., 157f. Statuskriterium (Kap. 7. 1) Status, Zuschreibung ode r Leistung (Kap. 7.1) 153f.,1 57f. Lernen - in der Umwelt (Kap. 2.4) Lerntheorie 134 rationa l choice 135,163,165 - Sozialbehaviorismus 82 - Sozialisation (Kap. 2.4) 58, 89 looking-glass self 313 Macht die Macht der anderen 110, 34 1 Definitionsmacht 3 16 Erfahrung der Macht in der Fam ilie
93 Macht der Gemeinschaft gegen dic des Einzelnen 65f. der Institutionen 58 Interaktionsmcdium 47,205 Kontrolle der Ressourcen 166
Sac hreg ister Machtdifferen tial 274 ff. Macht ver hält nisse 12 1. 127 Erk lärung gese llsc haftlicher O rdnung 149 Status 289. 29 1f.. 298 Cha nce der Strukturierung 170 f. Mangel hypothese (s. Wenewa ndel) Ma ske 120 . 318. 35 1f. Massen med ien 344. 38 1 me 87.337-3 40.378 (s. auc h Ich. reflekti ertes) - Ged äch tnisbild des Ich 338 Med ien abs trakte. generalis ierte 47. 204 f.•
364 Interaktio nsmed ien 205 Methoden. pr aktische im Alltag 220 f. me thodelogischer Individualismus 12 . 135. 159 . 168. 173 M ilieu Lern e n. Sozi alisation 78ff. Beru fsgruppe n als moralische s 247 Verwiesensein au f ei n soziales Milieu 190 mind 334 M ittel . institutionalisierte 112f.• 173 Anm.
427 Gruppe als Quelle der Moral 248f.• 259 . 261 moralische Ge fühle (Kap. 6 . 1), 26 1 moralische Se ite des Menschen 6 1f. Kollekti vbe wusstsein 2 1.51 mora lisc he Regel n 22. 51 . 124 Moralphilosophie. schott ische l 60 f.• 277 . 345 Moralw issen schaften 5 1 Motivation und Handel n 89 .95. 105. 157. 203f.• 363 Soz ialisat ion. Herstellung fu nkt io naler M . (Kap. 2.6) 59. 109 . 360 T heor ie der Motivatio nsprozesse 9 1f.. 109f. Motive des H andel ns (s. Handel n. Be stimm ungsgründe) M üßiggang. de monstra ti ver (Kap . 7.3 ) 307.3 11 Narz issmus der kle inen D ifferenzen
274
normal, No rmalität d urchsc hnittlic hes Ver halte n 22 Normale und Diskred itierte 3 16f.•
350
Mode
Einzigart igke it und Normalität 323 .
• law o ffas hio n 277 - Statussymbo le 295 Mod erne Identität in der Mod erne (Kap . 8.8) 323.330 .359.364.390 Individualität 327.330. 332 f. krit isch e T heori e 232 f. Ko nflikt de r modernen Ku ltur (s. Kultur. Konflikt) Po stmoderne (s. d.) Rationalisierung. Versachlichung, Öko no mie 232.247. 262.30 2 Sozi alc harakter. Außen leitun g 110. 30 1,324 . 340f.. 344. 347 . 350 Mora l • Arbeits mora l 2 83f.
358 norm ale Erwartu ngen. typ ische No rma lität 222f.. 3 13ft.. 378 Gewohn heit 175 Identität (s . d .) Normalitäts annahmen im Alltag 220f. Schei nnorma lität 317 Anm.• 358 f.• 378 (s. auch phanto m normaley) normative Erw artungen (s. Erwart ungen) nor mative Integrat ion (Ka p. 1.8) 101. 147. 201 normative Muster 36. 106 . 108. 150 f. nor matives Parad igma 11. 158.1 85 .
207
428 Normen (Kap. I, 1.7)
- partikulare. allgemeine 51 - regulative Funktion 104 No rmie rung, soz iale 12 1,245 Nonnkonformität 16 , 55 , 206 [s. auch Konfor m ität) nursery of human nature 259f. • Primärgruppen (Kap. 6. 3) Nutzen, Hand lungsinteresse (Ka p. 4.4 ,
4.6) 181,291 ratio nale Wahl 135, 164, 173-176 ,
179, 291 rela tiver 161 Utilitarism us 149, 16 1
objektive Kultur Individuum bleibt zurüc k 330 - Überwuchern der objektiven Ku ltur
323,332 ödipale Beziehun g, Öd ipuskonfli kt 64f. , 71 , 93 Öd ipuskomplex 68r., 72 Z weifel an der Uni ver sali tät 68 ,
71f. Op timum , soz iales 167
Optionen 386f. Pluralisierung 325.375,38 1, 386f. • strukturell vorsortiert 173 • Rollen 111,347, 357, 381 Ordnung symbolisc he 150 (s. auch kultu relles Syste m) Theorie der Ordnung 103 Unord nung 111, 15 8. 222 or ganismi sches System (s. Sys te m) Or ientieru ngsaltem at ive n (s. pattern variables) P aradigm a, interp retatives , normati ves (s. d.) panem variables 15 1, 157f., 265 (s . a uch Wertorien tierun gen) peer group (Kap. 6 .4) 46 , 94,345
Sachregister Persön lichke it Basispersönli chk eit (s. basic per sonality) Charakter , Person 35 1 homo dup lex (s. d .) pe rso nale Identität 373 Persönlichkei tsstru ktur Formun g durch die Kultur 74 • Sozialisation, Intern alis ierung, We rtsystem 90f. Persö nlichkeitssyste m 33,35,38. 90, 103, 105 , 109, 148 ,1 51 , 364 , 366 Perspektive n Gen eralth ese der wec hse lseitigen Perspe ktiven 22 5f.. 3 13 Anm. 2 Ver schr änku ng (s. d.) Phänom enologie 97 , 159 Anm. , 193. 2 19 pha ntom normalcy , umqueness 358 f.,
378 play, game 29 ff., 84 ff., 200f., 264 ,
33. P lazierun g 290 in de r Gru ppe 267 im soz ialen Raum 285 f., 293, 304 Status. Position 2 86,290,292, 304 ,
328 P luralisierung, P luralität 375 Rollenplurali smus 324, 360f., 363 f.,
384 der sozialen Welte n 380-3 84 der Werte 4 8, 52,375 der W irkl ichkeit 386 Position Allok ation und Sele ktion 95 ..positionsbedingtes E lend" 312 Erwart unge n 119 Position und Rolle 10 1, 103, 114, 117 , 119. 123, 290 im sozialen Raum 304 Status, be wertete Position 203, 290 po stmaterialistische Werte (s. Werte) Po stmode rne 325 . 374 . 390
429
Sac hreg ister Potlaich 30 1 Pragmatismus 196 Prestige R ücksicht auf das Prestige 62 , 302 - sozialer Stat us 285 , 294f., 298-30 1, 311f. Primärgruppe (Ka p. 6.3) 249 protestant ische Ethik 16, 4 1, 44 , 232 ,
343 ratio nal choice, ratio na le Wahl (Kap. 4.4 ,4.6) 135f., 165f., 174 R ational ität beg renzte (s . bounded rationali ty) als Prinzip des Handelns 145. 164f.• 17 3ff. {s. auch ratio na le Wahl) der Verständ igung 232 Z wec kratio nali tät zerstört die Lebenswelt 23 1ff. Raum, so zia ler 304,3 12 Rebelli on und Anomie 112f. Recht ge neralisiertes Medi um 47 individue lle Rech te 386 obj ektives Gebi lde 326 positives Rech t 5 1 Relevanzsysteme. Kongr uenz (s. Idea lisierung) Repression stheo re m, Integratio nstheo rem 130f. Resoz ialisation, neue Identi tät 32 1 Ressou rcen , Ko ntrolle (s. Macht) rest r ingierter Code (s. Sprac he) R itualism us und Anom ie 112 f. role-making, role-takin g 131 , 21 1, 229 (s. auch Rolle nübernah me) Rolle (Kap. 3) Defi nition 104f., 122 expressive, instrumentelle 94 norm ati ve Erw artung (K ap. 3 .1) Repr ession. Zw ang 125.1 30 Rollend istanz 131, 133.228, 356-359 , 378
Rollenhandeln , erfol greiches 107 Rollenkompeten z 131 Rollenkonflikt 102,107, 115ff. , 132,
293 - Interrollenkonflikt U5ff. • Intrarollcnkonflikt 115f. Rolle n-Set (Kap. 3.2) 293 Ro llentheor ie (Kap. 3) 181f.,206 Annahmen über d as Ge linge n von Roll enhandeln und Interaktion 107, 129ff. Kritik (K ap. 3.4) 110, 158f., 207 , 227f.. 376 Roll enUbern ahm e 84,88, 129, 199 , 2 11.234 Bed ingung der Identität 334f., 338f.,384 kalkul ierte Wirk ung 349 Sanktione n Arte n vo n San ktione n 124 Einh a ltun g der Nor men 15, 22, 3 1, 36,53, 55 f., 122 Erklärun g des Ro llen verhaltens 102 , 106. 119 , 122-126 , 147f. strafende Normen notwen dig für das Nor mbe wuss tse in 54f. Schic ht, Sc hichtung De finitio nsma ch t der Schich ten 27 6 Indizes, Kriterien, Ska la 289 f. Kernk omp lex und soz iale Sch icht 68t. schlchtspezi fische Soz ialisat io n 80t., 96 , 263 Bildung, Wertew andel . Soz ialschicht 46 schichtspezifisc he Ziele und Mittel 114 Stat us, Prest ige, Sch ichtungssystem 289t., 294 , 296 schott ische Mora lphi losophie 16Of., 277 , 34 5
430 Sel bst Bewusstsein des Se lbst, sich mit den Auge n des anderen sehen 335f.,340 (s. auc h se it)
Ich-Identität 324,340 Ste ige rung und Überhöhung 43 Sel bstbew usstsei n Ringe n um Se lbstbe wuss the it und Anerkennung 37 1 der Autodid akte n 308 Ansehen in de r Gruppe 27 1 Se lbstdarstellung, Anspruch 132 , 239 Sel bstentfalt ung (Kap . 1.6) Sel bstmord 22 ff., 52, 246 - altruistischer, anom ischer, ego istischer, fatalistischer 24-27
Selbstsozialisation 80, 97 Se lektion Allokatio n und Sele ktion 95 und Handel n 138ff., 177, 229 von Hand lungsmöglichkeite n 166 ,
170f., 173, 177. 223, 229 Reduktion von Kom ple xität 139 f. in der Schule 95 Selbstselekt io n und Grenzziehung des Systems 2 15
self Identität 340 (s. auch Selbs t, Be-
wusstsein) loo king-glass sel f 3 13 self-conscious ness 335 the mask is our truer sel f 35 1 self-fulfilling prophecy 209 Anm. I, 275 signifi kante Andere 29f.• 84, 86. 200 , 340 sig nifikante Symbole (s. Symbole) Sinn Orien tierun g am ge meinten 140 ff., 144, 186. 19 1ff., 195 , 349 sich den S inn des Handeins wechselse itig anze igen 208 als Reduktion von Ko mplexität 138f.
Sach register
Sitte - Lockerung der Sitten 44 - objektives Gebilde 326 Situation, Definition de r (s. Definiti0 0)
socialisatio n merhodiq ue (Kap. 2.1) So lidarität Form der Wechse lwirkungen 325 Gffuppe 190, 26 1, 267, 269. 280 or ganische 20 Gef uh1 der Verbundenheit 20, 246f.• 26 1 Sozialbehaviorismus 28. 82 f., 89. 196 Sozi alchara kter. moder ner 110, 340f. soziale Str uktur dre i Arten; Deutungen, Erwa rtungen, Ko nstellation 167 Beziehungsmuster zwisc hen Handelnden 105, 135 System vo n Erwartungsmustern 36 Ergebnis und Bedingung des Handelns 98. 16lf., 165, 167f., 171 Handlungsmöglichkeiten 135, 159 Institutionalis ien mg e iner sozialen Struktur 99 Prozess 98,165.1 7 1 soz iales Handel n (Kap . 4) 186. 192195,208,349 - Interaktio n 143. 180. 193 so ziales System 103 Elemente des soziale n Syste ms: Situaticn. Jndividuen. Hand lung, symbolisc hes System, soziale Ro llen 202-205 Ausbildun g als Ir ueraktions-, Organisations- und Gesellschaftssysteme 2 15 Orientierungs alternativen 15 3, 158 Stru ktur, Rolle n. Ordn ung der Beziehung en 33. 105ff. . 109 . 205, 360 typische Sp rache, Code von Nor men 204 Sys tem der Hand lunge n 33f. , 103ff.. 148. 151. 158,202, 364
431
Sac hreg ister - Werte 34f..3 8 Soziali sation (Ka p. 2) Definition 57 Enkulturation (s. d.) freiwill ige Bi ndun g und Zustimmung 58.9 1, 95, llOf., 147, 360 (s. auch voluntaristische T heo rie) Herstellung von Mot ivation 59, 89 ff., 95, 109 Internalisierun g von Werte n und Normen (s. Intern alisierun g) Kommunikat io n zwisc hen de m Ind ividuum und dem gene ralisierte n Andere n 86f. Kulturanthropologie (Kap. 2.3) 58 Le rntheorie (Kap. 2.4 ) 58 methodische, sociafisation methodique (Kap. 2. 1) 58 Verankerung der Norme n 53,56 in de r peer group (Kap. 6.4) 46 Phasen 93f. primäre 93 Psychoana lyse (Kap . 2.2) Lerne n von Rollen 89, 92, 95f., 101,107, 100ff., 360. 362 schichtens pez ifisc he 80f. Schule: Soz ialisation und Allokation
95 Se1bstsozial isat ion , produktive Verarbe itung der Reali tät (Ka p. 2.7) 97 Strukturfu nktionalismus (Kap. 2.6)
59 Soz ialisationshypothese (s. Wertewandel) 40f. Soz io logie, Definition 9, 392 soziologisc hes Denken 1Of., 392f. Sprache Deflzit-. Differen zhypoth e se 81 - elaborierter. restringierter Code 80 f. - generalisiertes Medium 204f. Sprechakte, Sprec hhandlungen 235 St andardisierung des Lebens 232f., 386
Status (Kap. 7) Definition 103 Differen zierung nach Alter, Geschlecht, Herkunft 288, 292 Initiatio n als Übergang 72f. bewertete Positio n 203. 286,290,
294 Rolle, d ynamischer Aspek t des Status 114, 120, 287 soziale Identität 314,3 16,3 18 Inkonsistenz (Ka p. 7.2) Index, Kriterien (Kap . 7.2) 288 Kampf um de n Stat us 303, 305-30 8 Stand, stä nd ische Le bensführ ung
297 Statusset 293 T ransformation der Statusarten (Kap. 7.6) zugeschrieben oder erworbe n aufgrund von Leistung 94, 267, 287f., 3 16 Statussymbo le, Saniszeic hen (Kap. 7.2) 44,297-30 1. 303. 310-3 13. 35 3 Statuszwan g (Ka p. 7.6) Stigma (Ka p. 7.5) 350,358 - Stigmatisie rung der Außense iter
275 Stilisierung des Lebens 297 ,306 Strafe, soziale Funkti on 54ff. Struktur der Deutungen , Er wartun gen, Konste llation 167 Dualität der Stru ktur (s. d.) Persönlich keitsstruktur [s. d.) soz iale (s. d.) Stru kturerhaltung Grund funktionen der S. 365 (s. auch AGIL-Sche ma) Persönlichkeitssystem. Identität 365 Sozialsystem , Werte. pattern variables 104. 158 Stru kturf unktiona lismus. strukturfunktionalistisch 33, 38, 96. 135, 266
4 32 Strukturierung durch Definition der Situatio n
209f., 313 du atity of str ucture (Kap. 4.5) 136
des Handeins durch Normen, panern variables 148, 152, 3 14 de s Handeins dur ch Strukturen 136,
159,I 72f. durch Handeln 136, 17()'174, 177 (s. auch framin g)
Theorie der S. 159, 168, 170f., 177 Strukturkompone nte n des so zialen Systems 34, 104, 106 S ubjek tivitä t - Dar ste llun g 18 1 - Er fahrun g 384 ff.
Sublimierung 65, 370 Subsysteme 34, 47, 232f.
- des allgemeinen Handlungssystems 148 Sy mbole
Definition 88, 198, 334 grup penbi lde ndes Prinzip 188, 25 1 Komm unikation, wechselseitiges
Verstehen 195f., 199, 201,209,234 entstehen aus wechselseit igen Reak tionen 32 , 83, 209
signifikante 83,88, 198, 208, 334,
336f. Statussymbole (s. d.) symbolic sys tem, Ku ltur, We rte 37, 43, 103, 148, 150f., 202, 204 symbo lisc h ge neralisierte Med ien
364 symbolisc he Interaktion 183f., (Kap. 5.5) , 2 19, 227f., 230 Symbolisc her Interakt ioni smu s 159 An m., 183, 185 , 196, 20 8-2 14, 227, 230 .260 Einfluss auf Soz ialisa tionstheo rie 97-100 Kritik 99 symbolische T ransaktion (Ka p. 4.4)
Sac hreg ister Sympa thie - positive Sa nktio n 124 - Bed ingu ng e ines Wir-Ge füh ls 259 System allgemeines Hand lungssystem 148 kulturelles (s. d.) organi sm ische s 148 Per sönli chkeitssystem (05. d.) soz iales (05. d .) symbo lisches (05. kulturell es System ; System, symbo lic syste m) S ystem funk tione n (05. AGIL-Schema; Strukturerh altun g) Sys temtheo rie 162,1 73, 187 ,20 3, 233·235, 238 T atsachen, soz iale Normen , Vor ste llun gen des Richtige n 20ff., 6 1, 201 Institu tion en 20,22, 169, 184 , 260 Z wang 6 1f. Tau sch 20 , 142, 164 (05. auch Austausc h) als soziale Bezi ehu ng 194 gerechter Tausch (Kap.4.4) 135 T auschverhä ltnisse 128 T hema ein er Inter akti on 2 15f. Tho mas-T heorem 209 , 312 (05. auch Defi nition der Situation) tota le Institution 32 1, 349 Tradi tion sleitun g 34 1f. T ransaktionen , sy mbo lische (Kap . 4.4 ) Triebe Ausl ösu ng ei ner Wech selwirkung 187 eg oistisc he 5 8. 62 (05. auch homo d uplex) Ei nsc hränkung der T riebbedürfnisse (Kap. 2.2) (62-6 8) T ugend . Gr undstärke des Ich 367 ff., 372 f. Type nprogramm ei ner Interaktion 2 15ff.
Sac hregister Typisierun g des Alltags 222f., 225f., 314 Ober-Ich (Ka p. 2.2) 93 re flektiertes Ich, me 339 - fle xibles Über-Ich 132 - feste Wertbindu ng 109, 362 übersozialisiertes Mensche nbild 95 Umwelt Behaviorism us, Lemtheorie (Kap . 2.4) 58 prod uktive Verarbeitung 98ff. Sozialbeha viorismus 28, 82f. U ntersc hiede, feine (Kap. 7.4) 296, 305 Anm. Ur banisie rurig des Bewusstseins 38 1 Urvertraue n 368 Utilitarismus 149, 161 Vater - So hn, Konfli kt 70 Verallgeme ineru ng des anderen 190 - der Situatio n 198 - der Ziele des HandeIns 109,207 Verbundenhe it (s. Bewu sstse in de r V.) Verd inglich ung der Verh altensweisen 128, 130 Verge sellscha ftung Individuum P rodukt und Prod uzent de r V. 328, 330 Sprac he als Med ium de r V. 235 Bed ingun g: Be wusstsein de r Verbunde nheit 189 Wechse lwirkun g und V. (Kap. 5.1) 186 Verhalte n Lern en von Ver hal ten (Kap. 4.1) indi vid ualistisc he T heo rien des Verhaltens (Ka p. 4.4 ) soz iale Organisation des Ver haltens (Kap. 2.5) Verkettu ng 2 12f.
433 Versch ränkun g der Perspektiven (Kap. 5.3) 28, 3 lf., 88, 194 Anm ., 264,335 Verstehen im Alltag 220, 222 f., 225 f.. 228 als wechselse itige Interpretation 195, 198f., 20 1, 209, 21 1f.. 334f., 378 de utend vers tehen, ursächlich erkläre n 14 1, 163 Sinn vers tehen 134f., 193,195, 335 Verh alten verstehen 195 Vers uch und Irr tum 78,13 8 voluntaristische Theorie 9 1 Wahl ratio nale (s. ratio nale Wahl , rational c hoice) T heorie der Wahl (Kap. 4.4 , 4.6) Wahrheit wisse n, wenige r fröhlich sein
392 w echselwirkeng 186,191,1 94,237, 250 Formen 256, 325 und Vergesell schaft ung (Kap. 5. 1) 325 Weltanschauun gen kein Produk t des Erfahrungswisse ns 17 Wertbi ndun g 32, 104, 109 , 362 (s. auch co mmitment) - Wert bildung 32 Werte (Kap. 1) Definitio n 15, 35f., 37f. kulturell e 38, 92, 135, 151,1 58 materialistische, postmaterialistische (Kap. 1.5) 45,47 St rukturkomponente ei ner Gese llschaft 33 Vorstellu ngen einer erstreben swerten Ges ellschaft 33 wertvoll: Bedeutung beimessen und bege hren 18 Wertesynthe se (Kap. 1.6)
434 Wertesystem (s. kulturelles Sys te m) Wertew andel (Kap . 1.5. 1.6) - Mangelhypothese , Soz ialisationshypothese 40f. Wertfreiheit 127f. Wert orie ntierun gen, alternative (Kap. 4.3) 135, 182 (5. auch pattern vanables) wertrationa les Handeln (5. Hand eln , Bestimmungsgründe) Wirklichkeit, gese llschaftliche Konstruktion 96, 383 , 392 W issen im Alilag 174f., I77, 2 19-222, 235 (5. auch Allta gswi ssen) kulturelles Kapital 303 , 308f. objekt iviertes 53f. praktisches 172 Rezeplwissen 175f. soz iologische s Wissen investieren 393 mehr wissen, etwas weniger fröhlich 392 WUnsche, vier 286
Ze ichen 87f., 196ff., 333f. - soziale Ze iche n (5. St igma)
Sac hregis ter
Ziele Differenz zwischen kulturellen Zielen und instit utionali sierten Mitt eln 11l · 1l 4 kulturelle 112f., 17 3 Anm . strukture lle Verall gem einerun g der Z ie le 109, 207 Zuschreibung e iner Iden tität 315f., 319, 357, 375, 377 und Leistu ng (Kap. 7 .1) 157 , 267, 290 Orientierungsaltern ative 153f., 158, 29 1 ein es Status {Kap. 7.1 ) 290 ,292, 305, 316,3 19 f. Z wang des besse ren Argume nts 2 38 Gesell schaft als Z wang 12 1,149 , 170, 360 Kultur als Zwang 329 öko no mischer 306 Zwa ngsc hara kter der Rolle (s. Rolle) 123, 125 , 130 Statuszwa ng (s. d .) der sozialen Tatsachen 6 1f. z weckrational es Handeln (s. Hand eln, Bestimmungsgründe) 149, 174f., 182,193,23 1-234