Burt Frederick
Blutige Küste Es war, als hätten sie das Paradies entdeckt. Das Paradies im Paradies. Seit ihrer Ankunf...
28 downloads
759 Views
619KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Burt Frederick
Blutige Küste Es war, als hätten sie das Paradies entdeckt. Das Paradies im Paradies. Seit ihrer Ankunft in der Neuen Welt waren erst wenige Tage vergangen. Die Eindrücke waren überwältigend, das Land von unvorstellbar üppiger Pracht. All das Schöne vermochte auch durch die Schrecken der Indianerangriffe nicht getrübt zu werden. Jung und voller Hoffnung, wie Laura und Michael waren, sahen sie die Zukunft in den schillerndsten Farben. Und nun, da sie auf ihrem Streifzug das idyllische Fleckchen gefunden hatten, fühlten sie sich in ihren kühnsten Erwartungen bestätigt. „Hiermit nehme ich diese Bucht in Besitz!" erklärte Michael Anderson feierlich. Laura Stacey schmiegte sich an ihm und blickte lächelnd zu ihm auf ...
Die Hauptpersonen des Romans: Michael Anderson - der junge Siedler bezahlt seine Sorglosigkeit mit einer schweren Pfeilwunde. Laura Stacey - seine Verlobte wird von Indianern geraubt und erlebt Stunden des Grauens, die sie nie vergessen wird. Gordon Jameson - gerät mit zwanzig anderen Siedlern in eine Falle und soll mit ihnen am Marterpfahl sterben. Rory Calloway - hat mit einer Gruppe anderer Siedler die Nase voll, übernimmt mit ihnen die „Explorer" und will nach England zurücksegeln. Philip Hasard Killigrew - die Atlantiküberquerung war ein Pappenstiel gegen das, was er und seine Arwenacks an der Küste der Neuen Welt erleben.
1. „Glaubst du, daß sich jemand danach richtet?" „Jeder", erwiderte er im Brustton der Überzeugung. „Ab sofort ist dies Anderson Bay. Kolumbus hat die Neue Welt entdeckt. Ich bin der Entdecker dieser Bucht. Sie gehört uns." „Meinst du das wirklich so, wie du es sagst?" Ihr Blick forschte in seinen ernsten Gesichtszügen. „Aber ja!" „Dann ist es ungerecht." „Was?" Auf einmal sah er verblüfft aus. „Was redest du da?" Laura warf mit einer kecken Kopfbewegung ihr schulterlanges blondes Haar zurück. Es schimmerte seidig im Licht der Morgensonne. „Es ist ungerecht, wenn du die Bucht Anderson Bay nennen willst. Wir haben sie gemeinsam entdeckt. Du warst nicht einen Schritt vor mir da. Die korrekte Bezeichnung müßte also lauten: Anderson Stacey Bay. Oder noch besser: Stacey Anderson Bay. Ladies first, nicht wahr?" Er blies die Wangen auf und schickte einen Blick zum Himmel. „Überflüssig, völlig überflüssig!"
„Hör mal!" protestierte sie. „Was meinst du mit ,überflüssig'? Willst du auf einmal behaupten, daß Frauen unwichtig seien? Wir haben England hinter uns gelassen und wollen freie Menschen sein. Also habe ich ebenfalls gewisse Rechte, oder? Immerhin trägt dieses Land beispielsweise einen Frauennamen: Virginia." Michael lächelte. „Sir Walter Raleigh hat darunter wohl weniger einen Namen verstanden als vielmehr eine Anspielung auf Königin Elizabeth. Eine allerdings respektvolle Anspielung auf ihre Jungfräulichkeit, vermute ich." „Lenke nur nicht vom Thema ab. Es geht hier nicht um Sir Walter, nicht um die Queen und auch nicht um Virginia. Es geht um . . . " Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. „Verschwende deine Gedankenkraft auf etwas anderes, liebe Laura. Der Name Stacey wird schon bald keine Rolle mehr spielen." „Wie bitte? Bist du noch bei Trost? Mein Name soll unwichtig sein?" „Das habe ich nicht gesagt. Wenn du allerdings meinst, daß alle kirchlichen und weltlichen Gesetze hierzulande nicht mehr gelten sollen, ist es
5 vielleicht etwas anderes. Ich war davon ausgegangen, daß eine Frau den Namen ihres Ehemannes annimmt." Sie starrte ihn an. Ihre Augen wurden groß. „Aber . . . " „Es gibt kein Zurück", sagte er in gespielt drohendem Ton. „Wir sind verlobt. Du hast dich mir versprochen. Punktum! Ich werde dich nicht freigeben. Wenn du mich loswerden willst, müßtest du mich vergiften." Sie küßte ihn. „Michael", hauchte sie. „Warum auf einmal so eine Eile? Wir haben doch noch nicht einmal richtig Fuß gefaßt." Er lächelte und zog die Schultern hoch. „Es muß wohl an diesem paradiesischen Fleckchen Erde liegen. Es wirkt so anregend auf die Unternehmungslust. Wir sind irgendwie auserwählt. Ist dir das noch nicht klargeworden?" Laura lachte. „Du bist verrückt." „Es macht Spaß, verrückt zu sein. Glaubst du, auch nur irgend jemand in England könnte sich etwas wie das hier vorstellen?" „Vom Paradies kann man nur träumen." „Eben drum", sagte Michael mit einem ernsthaften Nicken. „Ich glaube, es ist uns überhaupt noch nicht richtig bewußt geworden." „Was meinst du?" „Daß wir wahrhaftig das Paradies für uns entdeckt haben." „Michael, ich bitte dich!" Laura schlang die Arme um seinen Nacken und blickte zu ihm auf. „Laß uns aufhören, so übermütig zu sein! Es führt zu nichts Gutem." „Seit wann bist du abergläubisch?" Er lachte, umfaßte ihre Hüften und hob sie ein Stück hoch. „Wir haben dem Tod ins Auge gesehen - als die Cholera an Bord ausbrach. Wir haben die schlimmsten Stürme auf See
überstanden. Erinnerst du dich noch? Zeitweise war es so furchtbar, daß wir alle glaubten, wir würden von der Hölle verschlungen." „Oder von einem dieser schrecklichen Meeresungeheuer." Michael ließ seine Verlobte wieder zu Boden sinken. „Ja, es ist wahr. Alle diese Schrecken haben wir heil überstanden. Das hat eine tiefere Bedeutung. Wir müssen es uns nur einmal richtig vor Augen führen. Ich habe es gesagt: Wir sind auserwählt. Das meine ich wirklich nicht in einem überheblichen Sinn. Wenn wir an die vielen armen Menschen denken, die unterwegs den Tod gefunden haben durch Krankheit oder durch Naturgewalten -, ist es da nicht irgendwie logisch, daß das Schicksal noch etwas für uns vorgesehen hat? Etwas Großes und Bedeutendes?" Laura wurde nachdenklich. Sie preßte die Lippen aufeinander. „Nein, Michael", sagte sie schließlich, „ich glaube doch, daß es nicht gut ist, so zu reden. Du meinst es nicht überheblich, gewiß nicht. Aber es ist doch eine Art von Übermut darin." „Du meinst - Übermut tut selten gut?" Er lachte abermals. „Lach mich bitte nicht aus, Michael. Ich finde, Demut sollte unser Denken und unser Tun bestimmen." „Hast du dich von den frommen Brüdern auf der ,Explorer' beeinflussen lassen? Dann berücksichtige bitte, daß sie bei all ihrer Barmherzigkeit vor allem eines im Kopf hatten: sich möglichst schnell und möglichst kräftig zu bereichern." „Du bist ungerecht. Sie waren fehlgeleitet von Mister Gould. Auch Kapitän Toolan hat sich zu sehr beeinflussen lassen. Aber ich bin sicher, daß sie alle beeindruckt hat, was Sir
6 Hasard ihnen vor Augen führte. Sie sind ja wie umgewandelt." Michael nickte. „Wir sind alle nur Menschen. Jeder von uns hat seine kleinen oder großen Schwächen und Fehler, die er nicht entdecken kann, wenn er nach Belieben handeln darf, ohne daß ihm jemand auf die Finger klopft." „So gesehen", entgegnete Laura mit spitzbübischem Lächeln, „wäre es dann wohl doch von Vorteil, wenn wir so bald wie möglich heiraten." Er staunte. „Woher rührt dein plötzlicher Sinneswandel?" „Es wäre nur zu deinem Guten. Du würdest endlich jemanden haben, der dir auf die Finger klopft, wenn nötig. Du würdest deine schlechten Angewohnheiten ablegen lernen - überhaupt: Du würdest schließlich ein vollkommener Mensch werden." Michael brauchte eine Weile, bis er den Mund wieder zukriegte. „Ist es das, was Ehefrauen bewirken? Aus ihren Männern perfekte Menschen zu bilden?" „Aber ja. Jede Frau ist sicher, daß sie das schafft." „Himmel", sagte er erschrocken, „dann muß ich mich beeilen." „Wobei?" „Noch schnell ein paar Sachen zu tun, die sich nicht gehören." „Zum Beispiel?" „Dies!" rief er und packte sie, ehe sie sich sträuben konnte. Sie zappelte und kreischte, und er lachte, als er sie auf seinen muskulösen Armen in das seichte Wasser der Bucht trug. Unter seinen Schritten schien es sich in kristallene Perlen zu verwandeln, die glitzernd im Sommerlicht emporstiegen.
Das einfache Leinenkleid war völlig durchnäßt und lag wie eine zweite Haut auf Lauras jugendlich straffem Körper. Sie prustete, als Michael sie erneut auf seine Arme nahm. Sie legte die Hände um seinen Nacken und küßte ihn, während er sie zum Ufer trug. „Und jetzt noch etwas Verrücktes", sagte er leise, indem er sie sacht absetzte. Er lehnte sich an die knorrigen Luftwurzeln eines dieser mächtigen Bäume, die die Bucht umsäumten. „Wenn wir schon im Paradies sind . . . " Er brauchte nicht weiterzusprechen. Laura nickte. „Ich würde mir sowieso den Tod holen in diesen nassen Sachen. Du auch. Wir lassen das Zeug an der Sonne trocknen." Augenblicke später liefen sie Hand in Hand über den weißen Sand, ohne einen Fetzen Stoff auf dem Leib. Sie genossen die Sonne auf ihrer nackten Haut, und sie tollten wie Kinder in dem Wasser, das so wundervoll klar und erfrischend war. Die Bucht schien wie dafür geschaffen, zwei Menschen das Alleinsein zu ermöglichen. Laura und Michael wußten das um so mehr zu würdigen, als sie das wochenlange Eingepferchtsein an Bord der Galeone ebenso schwer ertragen hatten wie die anderen Siedler. Es war ein Gefühl grenzenloser Freiheit, sich von den kristallenen Fluten umschmeicheln zu lassen und auf die Weite des Albemarle Sounds hinauszublicken. Die Schiffe und die Siedlung waren von hier aus nicht zu sehen. Weit reichten die Landzungen, die die Bucht zu nahezu drei Vierteln eines Kreises umschlossen. Laura und Michael hatten sich in der ersten Arbeitspause dieses Tages abgesondert
7 und waren in Ufernähe nach Westen gewandert. Das Land war von einer faszinierenden Wildheit. Buntgefiederte Vögel schwirrten von Baum zu Baum, und im Unterholz waren die merkwürdigsten Laute von Tieren zu hören, die dort ihr geheimnisvolles Leben führten, ohne sich dem Menschen zu zeigen. Laura hatte sich anfangs gefürchtet, aber Michael hatte sie beruhigt. Die Tiere griffen Menschen nicht an, wenn man sie nicht herausforderte. Und von blutgierigen Bestien war hier schon gar nichts bekannt. Michael hatte es von jenen Siedlern gehört, die schon nach einer früheren Überfahrt in Virginia gelandet waren. Wenn man sich im übrigen nicht zu weit vom Lager entfernt, ging man praktisch keinerlei Risiko ein. Der Weg durch den Uferwald war nicht beschwerlich gewesen, das Unterholz keineswegs undurchdringlich. Und nichts deutete darauf hin, daß sich hier jemals menschliche Wesen aufgehalten hatten. Es gab keinerlei Spuren, keinerlei Trampelpfade. Laura und Michael waren sich der Tatsache bewußt, daß sie gewissermaßen auf jungfräulichen Boden vorgedrungen waren. Die Bezeichnung, die Sir Walter diesem Land gegeben hatte, gewann eine neue, zusätzliche Bedeutung. Sie umarmten sich im hüfthohen Wasser und horchten gegenseitig auf ihren Herzschlag und ihren Atem. Die Sonne schien in den letzten Minuten noch an wärmender Kraft gewonnen zu haben. „Du mußt schwimmen lernen", sagte Michael. „Wir werden bestimmt an einer Bucht oder an einem Fluß wohnen. Da muß man schwim-
men können. Ich werde es dir beibringen. Denn du mußt es unseren Kindern beibringen." Sie lachte hell. „Warum ich?" „Weil ich meine Zeit damit verbringen werde, unser täglich Brot zu verdienen." „Ach! Heißt das, daß meine Tätigkeit von geringerer Bedeutung sein wird?" „Himmel, nein! Unsere Kinder brauchen das Rüstzeug für ihr künftiges Leben. Dazu gehört, daß sie die nötigen Fähigkeiten erwerben, um Gefahren gewachsen zu sein." „Ich fange an, vor mir selbst Ehrfurcht zu gewinnen." Laura setzte abermals ihr spitzbübisches Lächeln auf. „Und außerdem: Du sprichst von unseren Kindern. Woher weißt du, daß es sie geben wird? Nur weil du es willst?" Er hob sie hoch und versetzte ihr einen Klaps auf die Kehrseite. Als sie zu zappeln begann, ließ er sie sinken. Er setzte einen finsteren Blick auf und sah ihr drohend in die Augen. „Ist dir das nicht klar? Es gibt auch ein paar Punkte, über die der Mann zu bestimmen hat. Ich verfüge hiermit, daß wir beide mindestens zehn Kinder haben werden. Basta!" Laura erschrak. „Halt mich fest", ächzte sie. „Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen, aber ich fürchte, jetzt passiert es." Er ließ sie los und lachte. „Einschüchtern lasse ich mich nicht. Nutzen wir die Gelegenheit zur ersten Schwimmlektion. Sieh genau her, das Wasser ist klar genug. Ich zeige dir, wie man die Arme und Beine bewegt." Bevor sie widersprechen konnte, glitt er flach ins Wasser, von ihr weg. Seine Bewegungen erschienen so einfach und selbstverständlich, daß
8 Laura nicht begreifen konnte, warum man das Schwimmen nicht von selbst beherrschte, ohne es erst lernen zu müssen. Daheim in London lernten es die meisten Jungen. Für die Mädchen dagegen schickte es sich nicht, sich im Wasser zu balgen und sich so durchnäßt zu zeigen, daß man gewisse körperliche Einzelheiten erkennen konnte. „Siehst du?" rief Michael. „Es ist überhaupt nichts Geheimnisvolles daran!" Er schwamm einen Bogen, um zu Laura zurückzukehren. Ein scharfes Zischen durchtrennte die Luft. Es endete in einem dumpfen Laut. Michael schien im Wasser zu rollen. Eine Wucht, die stärker war als er, hatte ihn herumgeworfen. Eine dunkelrote Wolke entstand unter seinem Oberkörper, vergrößerte sich rasch und ließ an ihren Rändern wabernde Fetzen entstehen. Michaels Gesicht tauchte in die Blutwolke. Sie warf einen düsteren Schatten auf den von der Sonne erhellten sandigen Grund der Bucht. Michaels Schulter hob sich aus dem Wasser. Laura vermochte nicht einmal zu sagen, ob es die linke oder die rechte Schulter war. Ein Pfeil ragte heraus, so lang wie ein Männerarm. Das Schaftende war gefiedert, die Federn leuchteten in allen Farben des Regenbogens. Laura schrie gellend. Ein Krampf erfaßte ihren Körper. Sie war nicht imstande, sich zu rühren, obwohl alles in ihr danach schrie, loszustürzen, um Michael zu helfen. Sein blondes Haar wurde im Blut gebadet und färbte sich rot. Laura begann zu zittern. Mit jedem Atemzug wurde das Zittern stärker, und dann fühlte sie sich wie von einer unsichtbaren Faust gepackt, die sie
durchschüttelte. Sie konnte sich nicht dagegen auflehnen, ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. Ihr Schrei wurde zu einem Wimmern. In ihrem Entsetzen erkannte sie nicht, daß Michael abtrieb. Er bewegte sich nicht mehr und lag mit dem Gesicht nach oben im Wasser. Die Wolke aus Blut hatte sich weiter vergrößert. Ausläufer einer Strömung erfaßten ihn, doch Laura nahm nichts davon wahr. Schleier stiegen vor ihren Augen auf und trübten ihren Blick. Die Umgebung verschwamm. Das Bild, das sie sah - Michael in seinem Blut -, verbarg sich mehr und mehr hinter einem Nebel, wobei sich die Ränder des Bildes im Nichts verloren. Nach langen Sekunden wurde sich Laura der Gefahr bewußt, in der auch sie schwebte. Erst jetzt dämmerte ihr, was dieser buntgefiederte Pfeil bedeutete. Es zerriß ihr das Herz, Michael nicht helfen zu können. Nichts wünschte sie sich in diesem Moment sehnlicher, als schwimmen und tauchen zu können, um Michael mit sich zu ziehen und gemeinsam mit ihm der tödlichen Gefahr zu entrinnen. Erneuter Schreck durchzuckte sie. Woher nahm sie die Gewißheit, daß er überhaupt noch am Leben war? Ihre Gedanken waren wie ausgelöscht, als sie sich umdrehte. Es waren Gestalten, die wie Statuen aussahen. Bronzestatuen. Angst und Ausweglosigkeit raubten Laura alle Kraft. Es gab keine Richtung, in die sie fliehen konnte. Es war nur noch ihr Instinkt, der ihr das sagte. Sie starrte und starrte und konnte sich nicht bewegen. Es war wie der Anblick des mörderischen Raubtiers, der das hilflose Reh
9 lähmte. Dabei hatten die Männer eher etwas Würdevolles als etwas Blutrünstiges an sich. Nur die mehr als sechs Fuß hohen Bogen und die großen ledernen Köcher, die sie an den Hüften trugen, gaben einen Hinweis auf ihre kriegerischen Fertigkeiten. Die bunten Federn an den Schaftenden der Pfeile ragten wie straff gebündelte Blütensträuße aus den Köchern. Zugleich ließen sie keinen Zweifel daran, daß es einer dieser Männer gewesen sein mußte, der Michael schwer verwundet, ja, vielleicht sogar getötet hatte. Indianer! Laura begann zu frieren, während sich das Wort in ihrem Bewußtsein formte. Erst in diesem Moment wurde sie sich ihrer Nacktheit bewußt. Doch sie konnte nichts Lüsternes in den schmalen dunklen Augen und den maskenhaften Bronzegesichtern entdecken. Sechs hochgewachsene, muskulöse Männer waren es. Sie trugen selbst so gut wie nichts auf dem Leib. Ihre Lendenschurze bestanden aus hellem Leder, das an den Kanten zu Fransen geschnitten war. Nacktheit schien ihnen etwas völlig Natürliches zu sein. Laura begegnete Indianern zum ersten Male in solcher Nähe. Bei den Überfällen auf die Siedlung war sie an Bord der „Explorer" gewesen und hatte in der Ferne bei den Hütten, zwischen Feuer und Rauch, nicht mehr als ein paar huschende Gestalten gesehen. Auch Michael hatte zweifellos großes Glück gehabt, daß er zu jenem Zeitpunkt bei ihr auf der Galeone gewesen war. Als sich die Indianer langsam in Bewegung setzten, war Laura immer noch wie gelähmt. Ihre gepeinigten Sinne brachten es zustande, daß sie voller Interesse die sonderbaren
Haarfrisuren der Bronzehäutigen betrachtete. In der Kopfmitte, von der Stirn bis zum Nacken verlaufend, stand das Haar in einem dicken Wulst. An den Seiten war es kürzer und flach anliegend. Es mußten jene Virginia-Indianer sein, die von den länger anwesenden Siedlern auch Algonkins genannt wurden. Plötzlich waren sie da und kreisten sie ein. Lauras Angst löste sich in einem Schrei. Die roten Männer lachten rauh und packten sie. Einer hielt ihr den Mund zu. Es gelang ihr noch, einen Blick zurückzuwerfen. Neues Entsetzen traf sie wie ein glühender Stich. Michael war nach links abgetrieben, nach Osten hin. Sie konnte ihn kaum noch erkennen. Auf einmal haßte sie sich selbst. Was bedeuteten ihre Angst und ihre lächerlichen kleinen Qualen verglichen mit dem, was Michael erlitten hatte! Plötzlich verspürte sie die erlösende Bereitschaft, zu sterben. Wenn Michael nicht mehr lebte, wollte auch sie nicht mehr leben. Sie flehte die Indianer an, sie nicht lange leiden zu lassen. Doch sie erntete nur Blicke. Natürlich verstand keiner dieser Ureinwohner, was sie redete. Sie verschleppten sie in das westliche Waldgebiet. 2. Nach der Frühstückspause dauerten die Arbeiten in der Siedlung noch eine gute Stunde an. Dann verhallten die letzten Hammerschläge. Stille kehrte ein. Die Frauen, die in den wieder aufgebauten Hütten beschäftigt waren, hoben die Köpfe. Es war eine Stille, die sie froh stimmte - nicht
10 vergleichbar mit der bedrohlichen Ruhe vor dem Sturm. Eine der Frauen stimmte das Lied „Ye good old fellows" an, und alle sangen mit. Die Vorbereitungen für das Festmahl gingen ihnen jetzt noch rascher von der Hand. Bald lag über der ganzen Ansiedlung der Duft von garendem Fleisch, von frischem Brot und von Kuchen. Die verlockenden Düfte waren den Männern Anlaß, einen kleinen „Appetitanreger" zu sich zu nehmen. Zu diesem Zweck scharten sie sich in der Mitte der Siedlung zusammen, wo es einen Platz gab, wie sie ihn aus ihren vertrauten englischen Dörfern kannten. „Sachte, sachte!" rief Gordon Jameson, der für die Verwaltung der flüssigen Vorräte eingeteilt worden war. „Hier kriegt jeder sein Quantum, aber auch nicht mehr. Alles wird gerecht verteilt. Und komme mir nur keiner mit einer Beschwerde. Was ich euch zu bieten habe, ist einfacher Absinth. Das einfachste vom Einfachen. War eigentlich für die Wundbehandlung vorbehalten. Aber in der Not säuft der Teufel Milch." Die Männer lachten. Sie hatten sich in ordentlicher Reihe angestellt und hielten ihre Trinkbecher erwartungsvoll bereit. „Wenn ich mir jetzt ein kühles Bier vorstelle!" rief einer. „Herrlich!" ließ sich ein anderer verzückt vernehmen. „Allein der Gedanke!" Weitere Stimmen folgten. „Für ein Bier würde ich alles andere stehenlassen." „Da könnten wir uns den Absinth glatt in die Haare schmieren." „Eine Braustube muß her." Nach und nach verstummten die Männer, während die ersten schon
mit ihrem Absinth-Quantum versorgt waren. Ihre Lage wurde ihnen bewußt. Sie hatten nichts als ihre Vorräte. Die ersten Tage in Virginia hatten sie damit verbracht, sich der Indianer zu erwehren und die abgebrannten Hütten wieder aufzubauen. Wie sollte es nur weitergehen? Dies war bereits der Monat Juli Anno 1598. Die vorherigen Siedler hatten in den Monaten ihrer Anwesenheit nichts zustande gebracht. Sie waren von einem Lagerplatz zum anderen vertrieben worden und hatten sich immer neue Scharmützel mit den Indianern geliefert. Jameson zuckte mit den Schultern und teilte mit ungerührter Miene den Schnaps aus. Er war ein untersetzter Mann, bartlos und mit kantigem Schädel. Was aus den Äußerungen der Männer sprach, war eine vordergründige Sorge. Natürlich sehnten sie sich alle nach einem guten englischen Bier. Das schal gewordene Zeug, das es während der Überfahrt aus Fässern gegeben hatte, war kaum noch als Bier zu bezeichnen gewesen. Die meisten hatten es ohnehin nicht genießen können, weil sie entweder seekrank gewesen waren oder unter anderen Krankheiten zu leiden gehabt hatten. Aber alle wußten, daß es hart anzupacken galt - nun, da sie die ersehnte Neue Welt endlich erreicht hatten. Alle waren bereit, auf so manches zu verzichten, wenn es nur dem erfolgreichen Neubeginn dienlich war. Sie brauchten Nahrungsmittel, vor allem Nahrungsmittel. An das Genießen durften sie erst später denken. Gordon Jameson wechselte freundliche Worte mit den Männern, versorgte sie gerecht und warf hin und wieder einen Blick zu den Hütten, in denen die Frauen mit Kochen und
11 Backen beschäftigt waren. Nein, es stand offenbar nicht zu befürchten, daß es wegen des vorzeitigen Absinth-Ausschenkens ein großes Gezeter geben würde. Frauen und Männer waren gleichermaßen guter Dinge. Die Fertigstellung der provisorischen Unterkünfte gab ihrer Stimmung Auftrieb. Ein kleiner Erfolg. Von der guten Laune ließen sich auch die schon länger anwesenden Siedler anstecken. Überhaupt hatte ihnen das Eintreffen der Landsleute Zuversicht gegeben. Nun konnten sie gemeinsam mit unendlich größerer Energie zupakken. Gordon Jameson hatte seine klaren Vorstellungen für die Zukunft. Die Sache mit dem Bier beschäftigte ihn schon länger. In seinem Heimatdorf in England hatte er einen kleinen Ausschank gehabt, seine Farm betrieben und nebenbei ein erstklassiges Bier gebraut. Aus allen Himmelsrichtungen waren sie erschienen, um sich daran zu erfreuen. Ein wahrhaft edles Gesöff hatten sie es genannt, das unvergleiche Porter von Jameson. Wenn es nicht die Mißernten und den Druck der Abgaben gegeben hätte, wäre er vermutlich niemals zu dem Entschluß gelangt, alle Brücken hinter sich abzubrechen und der Alten Welt Lebewohl zu sagen. Jamesons Porter - genau das war es, was ihm auch für Virginia vorschwebte. Allerdings mußte eine Farm auch hier die Grundlage sein. Eine Schenke allein rentierte sich nur in einer größeren Ansiedlung, und ob es die jemals hier geben würde, war mehr als fraglich. Jameson seufzte, während der Absinth aus dem Faß immer dünner in den Krug floß. So gut die Stimmung
auch sein mochte, der neuerliche Verdruß war leider schon abzusehen. Die ersten Siedler in Virginia hatten den Nährboden dafür angelegt, was nicht heißen sollte, daß man ihnen deswegen einen Vorwurf bereitete. Ihr Verhalten war nur menschlich gewesen, überaus menschlich. Bald nach ihrer Ankunft hatten sie die Indianer kennengelernt, und es hatte viele freundschaftliche Begegnungen geben. Geschenke waren ausgetauscht worden, man hatte die Lebensmittel verglichen und voneinander gelernt. Die bronzehäutigen Männer und Frauen vom Stamme der Algonkins hatten sich als überaus gastfreundlich erwiesen. Niemand hatte das Unheil vorhergesehen, aber lange vor dem Einbruch des Winters bahnte es sich an. In der Kürze der Zeit war es den ersten englischen Siedlern nicht gelungen, Land zu roden, um Felder anzulegen und zu bestellen. Zu sehr hatten sie auf ihre Vorräte vertraut und darauf, daß sie bei den Indianern dazukaufen konnten, was sie brauchten. So hatten sie vor allem feste Hütten gebaut, um für die bevorstehende kalte Jahreszeit gerüstet zu sein. Und dann war es geschehen: Der Winter war schlimmer geworden, als auch die Indianer angenommen hatten. Rascher als erwartet waren die Vorräte zur Neige gegangen. Selbst bei den Algonkins waren die Nahrungsmittel knapp geworden. In ihrer Not hatten die Siedler Raubzüge unternommen und von den Ureinwohnern gestohlen, was sie selbst zum Überleben brauchten. Dabei waren Indianer brutal getötet worden. Es war das Ende der Freundschaft gewesen. Die Männer aus dem Stamm der Algonkins, die eigentlich
12 Jäger waren, hatten sich in Krieger verwandelt. Sie hatten blutige Rachefeldzüge unternommen, und bald war das erste Dorf der Siedler in Flammen aufgegangen. Immer mehr Tote waren zu beklagen gewesen. Die Engländer waren von einem Zufluchtsort zum anderen gehetzt worden, bis sie zum Schluß nur noch in Fort Roanoke sicher gewesen waren. Nach dem Eintreffen der Galeonen „Explorer" und „Pilgrim" sowie der Schebecke der Männer unter Philip Hasard Killigrew hatte man wieder Mut gefaßt. Dann aber hatten die Indianer die neue Siedlung angegriffen. Viel Zeit war darauf verwendet worden, die schlimmsten Schäden zu beheben und die Unterkünfte provisorisch wieder herzustellen. Es war Juli und eigentlich schon zu spät, um noch Felder zu bestellen. Dabei hatte man noch nicht einmal mit dem Roden der Wälder beginnen können. Gordon Jameson und die meisten anderen Männer wußten, daß sie sich in einer fast aussichtslosen Lage befanden. Denn die mitgebrachten Vorräte würden niemals über den Winter reichen. Es gab dann letztlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder plünderte man die von den Algonkin-Frauen bestellten Felder zur Erntezeit, oder man schickte die Schiffe los, damit sie aus England neue Vorräte heranschafften. Solche Versuche waren aber in der Vergangenheit kläglich gescheitert, denn die Schiffe waren nie zurückgekehrt, wenn sie erst einmal mit Kurs Heimat davongesegelt waren. In London hatten stets andere, lohnendere Aufgaben auf die Kapitäne gewartet. Leicht vorstellbar, wenn man an den Halunken Granville
dachte, dessen „Discoverer" im Sturm gesunken war, kurz nachdem es ihn auf der Schebecke über Bord gerissen hatte. Die Möglichkeit, auf die Jagd zu gehen, wurde zwar in Betracht gezogen, doch niemand glaubte ernsthaft daran, daß damit ein durchschlagender Erfolg zu erzielen war. Die meisten waren in England Bauern gewesen, etliche Handwerker gab es auch unter den Siedlern. Die Jagdrechte hatten daheim ausschließlich die Landlords, und auf das Wildern standen so empfindliche Strafen, daß keiner der rechtschaffenen Männer ein solches Risiko eingegangen war. Es mangelte ihnen also an Erfahrung - auch im Umgang mit Feuerwaffen. Mit einer Muskete auf hundert Yards ein Scheunentor zu treffen, war schon eine enorme Leistung für einen ungeübten Schützen. Wie aber sollten solche Männer eine Antilope oder einen Bären erwischen? Geschweige denn Hasen oder kleineres Getier. Hinzu kam der entscheidende Punkt, daß man Pulver und Blei auf keinen Fall verschwenden durfte. Mit Angriffen der Indianer war ständig zu rechnen. Pistolen und Musketen waren die einzig wirksamen Waffen, die man gegen ihre tödlichen Pfeile hatte. Nachdem alle ihre wenigen Schlucke Absinth getrunken hatten, war die Stimmung indessen durch düstere Gedanken keineswegs getrübt. Die Frauen begannen mit dem Vorbereiten der Festtafeln im Freien. Einfache Mittel mußten genügen. Es gab kein Leinen für die Tische, die ebenso wie die Sitzgelegenheiten aus Planken und Böcken oder Baumstümpfen zusammengezimmert waren. Töpfe und Schüsseln fehlten, vieles mußte auf einfachen Holzplatten
13 angerichtet werden. All dies jedoch waren Einzelheiten, über die jeder gern hinwegsah. Es war nicht der Augenblick für schlechte Laune. Am allerwenigsten ließen sich jene drei Männer von ungünstigen Zukunftsaussichten beeindrucken, die sich gleich nach dem Ausschenken des Schnapses abgesondert hatten. Am Rand des Platzes hockten sie auf leeren Proviantkisten und nippten an dem hochprozentigen klaren Getränk. Die drei adligen Gentlemen hatten schon vor Beginn der Reise jede Menge Schwierigkeiten bereitet. Die Siedler hatten das mitgekriegt, und es lag ihnen daher nicht viel an einem Kontakt mit den drei Hochwohlgeborenen. Umgekehrt verhielt es sich genauso. Denn als Männer von besserem Geblüt konnten sich die drei natürlich nicht mit dem niederen Volk zusammentun. Sir William Godfrey war der älteste der drei Kerle. Besonders fiel an ihm die rote Säufernase auf. Es hatte sich unter den Siedlern herumgesprochen, daß Godfrey in seinen Kreisen in London als ausgemachter Spinner galt. Niemand weinte ihm eine Träne nach. Im Gegenteil, alle waren froh, daß ihre feine Gesellschaft von einem häßlichen Auswuchs wie ihm befreit war. Begrüßt hatte man bei Hofe auch den Entschluß des ehrenwerten Frank Davenport, eines noch jüngeren Mannes, sein Glück in der Neuen Welt zu suchen. Hochverschuldet wie er war, hatten seine Gläubiger schon lange keine Hoffnung mehr gehabt, ihr Geld jemals wiederzusehen. Wenn er in Virginia oder sonstwo, wie er hoffte, wirklich Gold fand, würde man fraglos auch Mittel und Wege geben, um die Schulden einzutrei-
ben. Der Weg über den Atlantik war letztlich keine unüberwindbare Hürde mehr. Jüngster in dem sauberen Trio war Alec Morris, der vor allem den Arwenacks an Bord der Schebecke durch seine unglaubliche Überheblichkeit aufgefallen war. „Seht sie euch an", sagte Sir William Godfrey nach einer Weile des Schweigens. „Seht sie euch doch bloß mal an!" Mit einer schweifenden Handbewegung deutete er zu dem Geschehen rund um die Festtafeln, die sich allmählich mit Speisen füllen. Davenport und Morris wechselten einen irritierten Blick. „Was soll an denen zu sehen sein?" fragte Morris unwillig. „Nichts als Bauerntölpel." „Oder erfreust du dich neuerdings an den dicken Hintern der Weiber?" fügte Davenport grinsend hinzu. Sir William schüttelte unwillig den Kopf. „Dummes Zeug! Was, zum Teufel, faselt ihr da!" Er trank seinen letzten Schluck Absinth und verzog angewidert das Gesicht. „Ihr habt recht, es sind Tölpel. Eben darauf wollte ich anspielen. Seid ehrlich, ist einer von diesen Einfaltspinseln in der Lage, die gedanklichen Leistungen zu erbringen, zu denen wir fähig sind?" „Natürlich nicht", sagte Morris überzeugt. „Das Denken lernen solche Leute doch nicht. Zu was brauchen sie das auch? Ihre Arbeit erledigen sie mit den Händen. Lesen und Schreiben brauchen sie nicht zu beherrschen. Logisch, daß der Denkapparat da im Lauf der Jahre verkümmert." Sir William stellte seinen Becher beiseite und faltete die Hände über dem Bauch. „Sehr richtig", sagte er grinsend.
14 „Wir sind ihnen also um ein Vielfaches überlegen. Und genau den Punkt müssen wir nutzen. Wir werden in der Lage sein, Dinge zu tun, von denen diese Affen nicht einmal träumen können." „Nämlich?" Davenport sah ihn erwartungsvoll an. Auch Morris wandte den Kopf. Beide wußten, daß Godfrey stets gute Ideen hatte - trotz des Alkohols, der sein Gehirn meist vernebelte. Oder vielleicht gerade deswegen? Der Teufel mußte es wissen, denn er hatte letzten Endes den Schnaps erfunden - wenn man den Aussagen der Pfaffen Glauben schenkte. „Wir werden unsere ganze Energie auf die Goldsuche verwenden", erklärte Sir William. „Goldsuche?" fragte Morris. „Das soll doch aber sehr anstrengend sein!" Sir William verzog das Gesicht. „Himmel noch mal, ich meine damit nicht, daß wir in einem verdammten Flußbett oder zwischen irgendwelchen Felsen danach suchen. Das tun wir bei denen, die es schon haben bei den Indianern. Allerdings müssen wir eine völlig neue Taktik anwenden. Unser erster Versuch war stümperhaft, das müssen wir zugeben. Aber wir sind ja in der Lage, aus u n seren Fehlern zu lernen, nicht wahr? Geht das in eure Schädel hinein?" Morris und Davenport grinsten breit. „Hört sich einfach an", entgegnete Davenport. „Ist es aber nicht. Einfach hingehen und den Wilden das Gold wegnehmen, wird wohl nicht möglich sein. Die haben ja inzwischen auch gelernt, wie sie sich auf uns einstellen müssen. Ich glaube, die sind nicht so dämlich wie unsere Bauerntölpel." „Eben deshalb erwähnte ich unser
gut funktionierendes Denken", näselte Godfrey. „Wir wenden kompliziertere und wirksamere Methoden an als jene, die mit Brachialgewalt vorgehen würden. Es ist so", er beugte sich vor und senkte die Stimme zum Verschwörerton, „wir müssen uns etwas wirklich Geeignetes einfallen lassen. Dafür haben wir ja noch genug Zeit. Fest steht für mich jedenfalls, daß wir mit Überfällen, Geiselnahmen oder Erpressung nicht zum Zug gelangen. Wir müssen die Indianer raffiniert täuschen." „Wie willst du das anstellen?" fragte Morris stirnrunzelnd. „Wir suchen uns ein paar von ihnen als Verbündete. Denen versprechen wir irgend etwas. Was es im einzelnen sein wird, müssen wir uns noch überlegen. Jedenfalls werden wir die Rothäute allmählich dazu bringen, daß sie mit der Sprache herausrücken. Wenn wir erst einmal ihre Geheimnisse kennen und wissen, wo sie ihre Goldlagerstätten haben, dürfte der Rest nur noch ein Kinderspiel sein." Die beiden anderen Männer bewegten zweifelnd die Köpfe. „Da müßten wir aber erst mal ihre Sprache beherrschen", sagte Davenport. „Bei so einer Sache reicht die Zeichensprache nicht aus." „Ist das ein Problem?" fauchte Sir William. „Für uns wird es doch wohl eine Kleinigkeit sein, dieses idiotische Kauderwelsch zu lernen! Bei unserer Intelligenz!" Darauf hatten Davenport und Morris nichts zu erwidern. Dieses Argument überzeugte sie mehr als alles andere.
An Bord der Schebecke herrschte Aufbruchstimmung. Edwin Carberry
15 stemmte beide Hände auf die Backbordverschanzung, beugte den Oberkörper vor, als wollte er sich über Bord stürzen, und reckte dabei das mächtige Rammkinn vor. Er schnupperte. Nur zwei, drei Schritte von ihm entfernt erschien Plymmie. Die Wolfshündin stieg auf die Hinterläufe und legte die Vorderpfoten auf die Verschanzung. Sie hob die empfindsame Nase in den ablandigen Wind. Ihre Lefzen bewegten sich, und das weiße Blitzen ihres seitlichen Gebisses wurde sichtbar. Der Profos wandte den Kopf nach links und betrachtete die Hündin. Auch die Zwillinge waren mittlerweile zur Stelle, landfein wie die meisten anderen Männer. Philip junior kraulte Plymmies Nackenhaare. Vom Achterdeck ertönte die Befehlsstimme des Seewolfs: „Fiert das Beiboot ab!" Die Männer ließen es sich nicht zweimal sagen. Sir John, der Papagei, war längst an Land und drehte muntere Kreise über dem Platz, der einmal ein Dorfplatz werden sollte. Arwenack, der Schimpanse, küpfte kekkernd über die Decksplanken und hielt sich in der Nähe der Männer. Er wußte, daß sie ihn nicht an Bord zurücklassen würden, wenn er sich nur oft genug meldete. Carberry musterte die Wolfshündin intensiver und stieß einen unwilligen Knurrlaut aus. Die Zwillinge sahen den Profos erstaunt und fragend an. „Das Vieh äfft mich nach", sagte Carberry. „Das habe ich genau gesehen. Ich habe nur ein bißchen geschnuppert, was für feine Düfte da von Land herüberwehen. Und schon taucht dieser Wolfsheuler auf und imitiert mich. Erzählt mir jetzt bloß
nicht, daß das ein Zufall sei. Das Biest will mich ärgern." „Aber Mister Carberry!" rief Hasard junior empört. „Plymmie will doch niemanden ärgern. Sie tut nur, was jeder Hund tut. Wo irgend etwas gut riecht, da muß sie erst mal ausgiebig schnüffeln." „Das kenne ich", entgegnete der Profos. „Natürlich müßt ihr sie mal wieder in Schutz nehmen, statt sie richtig zu erziehen. Ich werde jedenfalls nicht zulassen, daß meine Autorität hier an Bord von einem Hundevieh untergraben wird. Entweder ..." Ein schneidender Ruf von der Heckbalustrade her übertönte jede andere Stimme an Bord und ließ jedes Gespräch verstummen. „Treibender Körper Steuerbord achteraus!" Es war Dan O'Flynn, der dies meldete. Augenblicklich wandte sich die Aufmerksamkeit aller in die angegebene Richtung. Sie brauchten einige Sekunden, bis sie den im Wasser treibenden Mann erspähten. Er war mehr als hundert Yards entfernt, und nur sein blutig verfärbtes Haar zeichnete sich deutlich auf der Oberfläche ab. Dan hatte die schärfsten Augen in der gesamten Crew, daran gab es nach wie vor nichts zu rütteln. „Mister Carberry!" rief der Seewolf. „Sir?" Der Profos drehte sich an der Verschanzung um. Der vermeintliche Schabernack der Wolfshündin war vergessen. „Beiboot mit sechs Mann besetzen und treibenden Körper bergen!" „Aye, aye, Sir, treibenden Körper bergen!" wiederholte Carberry und beeilte sich, den Befehl in die Tat umzusetzen. Das war ohne großen Zeitverlust möglich, da das Beiboot bereits gefiert und die Jakobsleiter aus-
16 gebracht worden war. Der Profos beorderte Bob Grey, Sam Roskill, Stenmark, Paddy Rogers, Batuti und Blacky als Rudergasten in die Jolle und enterte als letzter ab, um den Platz an der Pinne zu übernehmen. Sie pullten mit hoher Schlagzahl. Alle an Bord der Schebecke beobachteten die Bergung des bewußtlosen oder toten Mannes. Niemand von Bord der Galeonen „Pilgrim" und Explorer" zeigte indessen auch nur das geringste Interesse an dem Geschehen. Die Kapitäne Amos Toolan und James Drinkwater, ihre Offiziere und ihre Mannschaften hatten alle verfügbaren Jollen zu Wasser gelassen und pullten dem nördlichen Strand des Sound entgegen. Nur die Deckswachen waren auf den ankernden Dreimastern zurückgeblieben. Zügig pullten Carberrys Männer zurück zur Schebecke. Unter Anleitung des Kutschers hatten die Arwenacks an Deck inzwischen Vorbereitungen getroffen. Eine Trage, die sie mit vier Tauen in der Waage hielten, schwebte abwärts. Carberry und die anderen betteten den reglosen Körper auf die Persenning zwischen den Verstrebungen. „Hievt an!" brüllte der Profos. Sie beförderten den Mann sicher an Deck. Alle sahen jetzt, daß ein Pfeil aus seiner Schulter ragte. Der Kutscher ließ ihn in die Krankenkammer bringen und auf den Behandlungstisch legen. Mac Pellew war da, um ihn zu unterstützen, und auch die Zwillinge standen für Handreichungen bereit. Die Männer versammelten sich stumm auf dem Hauptdeck und versuchten, durch das offene Schott einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Was war schwieriger? Eine
Kugel aus dem Körper eines Mannes zu entfernen - oder einen Pfeil? Der Seewolf sah nach dem Rechten und kehrte gleich darauf aus der Krankenkammer zurück. „Der Mann lebt", erklärte er den Arwenacks. „Ich habe ihn an Bord der ,Explorer' gesehen. Er hat also mit uns zusammen die Reise über den Atlantik unternommen." „Wird er überleben?" fragte Dan O'Flynn. Hasard zuckte mit den Schultern. „Der Kutscher kann nichts garantieren. Wir sollten uns vordringlich darum kümmern, warum der Mann von Indianern angeschossen wurde." Ben Brighton deutete nach Westen, wo die Bucht landeinwärts verlief. „Er muß von dort mit der Strömung des Flusses herübergetrieben sein. Also hat er sich bestimmt zu weit von der Siedlung weggewagt." Der Seewolf nickte. „Und noch etwas können wir daraus folgern: Die Indianer sind ganz in der Nähe." Mehr brauchte er nicht zu sagen. Die Männer schwiegen, und die meisten preßten die Lippen aufeinander. Die Algonkins hatten erfahren müssen, daß die weißen Eindringlinge sie beraubten. Jetzt setzten sie sich zur Wehr. Wer wollte ernsthaft behaupten, daß sie im Unrecht waren? Niemand an Bord der Schebecke dachte jetzt noch daran, an dem Fest der Siedler teilzunehmen. Wer nicht als Deckswache oder als Helfer des Kutschers an Bord blieb, gehörte zum Kommando des Seewolfs, das an Land auf Erkundung gehen würde. Philip Hasard Killigrew hatte es nicht auszusprechen brauchen: Die Tatsache, daß sich Algonkins in unmittelbarer Nähe der Siedlung aufhielten, konnte Schlimmes bedeuten. Vielleicht spähten sie nur aus, was
17 sich bei den Hütten der Weißen abspielte. Vielleicht hatten sie aber auch vor, die Eindringlinge nicht zur Ruhe gelangen zu lassen. Der Seewolf und seine Männer wollten rechtzeitig zur Stelle sein, um ein neuerliches Blutvergießen zu verhindern. Dabei wurde ihnen etwas anderes erschreckend bewußt: Sie konnten die Siedler nicht für alle Zeiten beschützen. Die Kapitäne Toolan und Drinkwater würden den Teufel tun und mit ihren Galeonen länger als nötig in der Bucht bleiben. Die Moral der beiden Crews war ohnehin nicht sehr hoch. An Bord der Schiffe gefiel es ihnen wesentlich besser als an Land. Die Siedler waren in ihren Augen hirnverbrannte Hornochsen, daß sie sich in einer Wildnis wie dieser niederließen. Nach dem ungewissen Schicksal der ersten Siedler in Virginia waren Bedenken allerdings berechtigt. Das mußten auch der Seewolf und seine Männer anerkennen. Jene Familien dort am Ufer der Bucht waren ohnehin schlecht gerüstet. Selbst wenn es ihnen gelang, ihr Schwarzpulver trocken zu halten, brachten ihnen die Feuerwaffen dennoch keine nennenswerten Vorteile gegenüber den Indianern. Das Können der indianischen Bogenschützen war außergewöhnlich. Davon hatten sich die Arwenacks mittlerweile überzeugen können. Die jüngeren Männer unter den Siedlern mußten an den Waffen ausgebildet werden. Sie mußten sich mit Blankwaffen im Nahkampf üben, um den Algonkins mit ihren Streitäxten gewachsen zu sein. Es gab unendlich viel zu tun. Beim derzeitigen Stand der Dinge hielt Hasard es für fast aussichtslos, daß sie es schaffen würden. Man hatte diese
armen Menschen nicht gut genug auf die Neue Welt vorbereitet. Hasard begann, darüber nachzudenken, warum Sir Walter Raleigh und die übrigen Kolonisatoren in London so Großartiges über Virginia verkündeten, wenn sie doch nicht in der Lage waren, die Auswanderer besser auf das Leben in der menschenfeindlichen Fremde vorzubereiten. Und Königin Elizabeth war eine hochintelligente Frau. Lag ihr nichts daran, den Siedlern das nötige Rüstzeug mitzugeben? Schließlich waren es diese Leute, die im Namen der englischen Krone einen Teil der Neuen Welt in Besitz nehmen sollten. Sie hatten es verdient, besser ausgerüstet zu werden. 3. Laura Stacey rechnete jede Sekunde damit, daß die bronzehäutigen Männer wie wilde Tiere über sie herfallen würden. Sobald sie nur einen geeigneten Platz fanden, an dem sie vor Überraschungen sicher waren, würden sie das tun. Immerhin befanden sie sich noch in der Nähe der Siedlung. Wenn ihr Opfer schrie, mußten sie mit einem Suchtrupp der Siedler rechnen. Doch schon nach wenigen hundert Yards blieben die Indianer auf einer Waldlichtung stehen. Laura zitterte am ganzen Körper und versuchte, ihre Blöße mit den Händen zu bedekken. Die muskulös gebauten Männer lachten leise und rauh. Mit Schnüren aus Rohhaut banden sie ihr die Hände auf den Rücken. Dabei wechselten sie Worte in ihrer gutturalen Sprache und warfen immer wieder Blicke auf die nackte
18 Haut ihrer Gefangenen. Es war jedoch nichts Begehrliches in diesen Blicken. Eher eine Art von beiläufigem Staunen, zu dem sie sich nun Zeit nahmen, da sie sich sicherer fühlten. Laura begriff. Es war ihre Hautfarbe, die die Algonkins in Erstaunen versetzte. Wahrscheinlich hatten sie aus so unmittelbarer Nähe noch nie einen weißen Menschen gesehen. Sie legten ihr eine lockere Schlinge um den Hals. Der Strick bestand aus geflochtenen Lederschnüren und war hart und rauh. Einer der Algonkins band sich das Ende des etwa drei Meter langen Stricks um die Hüfte und setzte sich in Bewegung. Laura war gezwungen, wie ein Hund hinter ihm herzutraben. Ein zweiter Indianer folgte ihr. Sie benutzten einen Trampelpfad, der nach Westen von der Lichtung wegführte. Die vier anderen blieben zurück. Was mochten sie im Schilde führen? Warum dachten sie noch nicht daran, aus der Nähe der weißen Eindringlinge zu verschwinden? Lauras Gedanken wurden schon sehr bald abgelenkt. Während die Sonne höher stieg, wurde es spürbar wärmer. Laura zitterte nicht mehr. Es erschien ihr sonderbar, doch ihre Angst wich mehr und mehr. Auch die Tatsache, daß sie noch immer splitternackt war, rührte kaum an ihr Schamgefühl. Lag es daran, daß ihre Bezwinger selbst so gut wie nichts auf dem Leib trugen? Hatten diese Männer womöglich ein überaus natürliches Verhältnis zu ihrem eigenen Äußeren? Dann dachte Laura an Michael, und sie schämte sich dafür, daß sie nicht um ihn weinte. Ihrer beider Schicksal war ungewiß. Sie wußte nicht, ob er noch lebte und sie ihn jemals wiedersehen würde.
Aber das ständige Abschweifen ihrer Gedanken lag wohl daran, daß sie versuchte, die wechselnden Eindrücke zu verarbeiten. Das Landschaftsbild änderte sich häufig. Aus den Wäldern heraus durchquerten sie sumpfige Flächen, auf denen die Algonkins mit traumwandlerischer Sicherheit ihren Weg fanden. Vögel, Land- und Wassertiere wurden so gut wie nie aufgescheucht. Es schien, als hätten die Indianer ein geheimes Abkommen mit den Wesen in ihrer Umgebung. Niemand nahm offenbar an dem anderen Anstoß. Nur einmal rauschte eine farbenprächtige Ente aus dem sicheren Schilf gürtel eines Teichs, als der vorausgehende Indianer ausglitt und ungewollt ins seichte Wasser trat. Laura entwickelte eine Art von insgeheimer Bewunderung für diese Menschen, die in so vollkommenem Einklang mit der Natur zu leben schienen. Was hinter ihr lag, erschien ihr plötzlich als ein erschreckendes Abbild menschlichen Lebens. Elend und Krankheit, das Zusammengepferchtsein und das Dahinsiechen auf den Decks der Schiffe - alles das hatte doch nichts Natürliches mehr an sich. Und zu Hause in England? War es denn dort besser? Laura mußte die Frage für sich verneinen. Im stinkenden, schmutzstarrenden London herrschte praktisch das gleiche Elend wie an Bord eines Schiffes, das mit Menschen vollgestopft war. Und in der ländlichen Weite Englands? Nun, dort ging es anders zu als in London und den übrigen größeren Städten. Aber Pestilenzen gab es auch dort. Laura hätte diese kraftvollen bronzehäutigen Männer gern gefragt, ob sie überhaupt Krankheiten kannten. Sie waren so voller Energie, daß man
19 sich nicht vorstellen konnte, sie wür- Schmerzen zuzufügen. Laura empden jemals schwach und hilflos sein. fand Dankbarkeit. In einem fernen Gewiß, Michael stand ihnen in die- Winkel ihres Bewußtseins verser Beziehung in nichts nach. Aber schwand die mahnende Stimme, die Michael war unter seinen Landsleu- ihr sagte, daß es trügerisch war, den ten auch eine Ausnahme. Eine Aus- Wilden zu vertrauen. nahme wie Sir Philip Hasard KilliSie hoffte auf Versöhnlichkeit und grew und seine Männer an Bord der Großherzigkeit dieser stolzen MänSchebecke. ner. Wenn sie nur in der Lage geweSie erreichten einen schmalen Fluß- sen wäre, sich mit ihnen zu verständilauf. Im ersten Moment glaubte gen, hätte sie ihnen erklären können, Laura, daß sie nun schwimmen daß die Mehrzahl der Siedler aus müsse. Doch sie täuschte sich. Der In- England friedliebende Menschen wädianer, der ihr gefolgt war, zog ein ren. Daß es sinnlos wäre, gegeneinanlängliches Boot aus dem Uferschilf. der Krieg zu führen, weil damit beide Laura konnte nur noch staunen. Das Seiten letztlich nur sich selbst schaBoot schien so leicht zu sein, daß der deten. Algonkin es mühelos allein tragen So aber blieb ihr keine andere konnte. Oder aber er verfügte über Wahl, als stumm zwischen den beiden ungeheure Kräfte. Algonkins dahinzutrotten. Doch dann, als er es zu Wasser ließ, Sie baute darauf, daß es glimpflich sah Laura die Erklärung. Das Boot für sie abgehen würde. Die Indianer war aus Birkenrinde gebaut, die man schienen ihr nicht weh tun zu wollen. über einen Rahmen aus starken, aber Vielleicht entführten sie sie nur, um biegsamen Zweigen gespannt und sie als Druckmittel gegen die Siedler wasserdicht zusammengefügt hatte. einzusetzen. Die Tragfähigkeit dieses schlanken Und bestimmt war Michael noch Bootes war ebenfalls beträchtlich. am Leben. Sicher hatte man ihn Von den Paddeln der beiden Indianer längst geborgen, oder er war aus getrieben, glitt es innerhalb von Se- eigener Kraft an Land geschwomkunden über den Wasserlauf und men. Er war zäh. Eine Pfeilwunde tauchte im jenseitigen Schilfgürtel mußte nicht tödlich sein. Wenn er auf unter. Sie gingen an Land, und die In- einem der Schiffe rechtzeitig verdianer sicherten das Boot. sorgt wurde, würde es nicht einmal Laura versuchte sich vorzustellen, lange dauern, bis er wieder genesen wie etwas Ähnliches mit einer klobi- war. gen Jolle möglich sein sollte. Sie verLauras Hoffnung wuchs, obwohl stand, wie die Indianer in einem von sie sich mit jedem Schritt weiter ins Gewässern durchzogenen Land Ent- Ungewisse bewegte. fernungen überbrückten. Das Boot aus Birkenrinde war ihr Hilfsmittel. Sicherlich transportierten sie damit auch große Lasten. Es war Pökelfleisch, das noch aus Laura watete gehorsam durch das England stammte. Doch die Frauen Uferwasser. Der Indianer, der sie hatten es liebevoll mit frischen Geführte, hielt den Strick locker. Er war würzen zubereitet. Der Duft der grooffenbar darauf bedacht, ihr keine ßen Bratenstücke auf der Festtafel
20 stieg allen Leuten wohltuend in die Nase. Auch die Kapitäne Toolan und Drinkwater waren mit ihren Offizieren und Mannschaften inzwischen erschienen. In bunter Reihe hatten sie sich zwischen den Siedlern und ihren Söhnen und Töchtern niedergelassen. Die Seeleute, die einen Platz neben den letzteren ergattert hatten, warfen ihren Gefährten stolze Blicke zu. Ungeduldiges Raunen wurde unter den Anwesenden laut. Gordon Jameson erhob sich. „Ich finde, wir sollten auf Sir Hasard und die Männer von der Schebecke warten!" rief er. „Ihnen haben wir zu verdanken, daß wir heil nach Virginia gelangt sind." „Aber dann wird alles kalt, womit wir uns solche Mühe gegeben haben!" klagte Jamesons Ehefrau Loretta. Amos Toolan stand auf, hob beschwichtigend beide Hände und blickte in die Runde, ehe er sprach. Wenn man ihn sich verkleinert vorstellte, konnte man ihn mühelos mit einem wohlgerundeten, pausbackigen Engel vergleichen. „Es würde uns schlecht zu Gesicht stehen, Brüder und Schwestern, wenn wir die Arbeit der Frauen nicht zu würdigen wüßten", sagte er. „Zwar steht in der Bibel geschrieben, die Frau solle dem Manne Untertan sein. Doch das ist beileibe kein Grund, die Frau wie ein nichtsnutziges Wesen zu behandeln. Schließen wir einen Kompromiß, Brüder und Schwestern. Unsere freundlichen Köchinnen werden sicherlich bereit sein, für Sir Hasard und seine Männer die erforderlichen Portionen aufs Feuer zu stellen. Wir anderen sollten uns inzwischen den leiblichen Genüssen nicht länger verschließen. Seid ihr mit meinem Vorschlag einverstanden?"
Zustimmendes Gemurmel ertönte. „Dann lasset uns dem Herrn danken, wie es sich ziemt, bevor wir mit dem Mahl beginnen." Toolan senkte den Kopf und faltete die fleischigen Hände hoch vor der Brust, so daß es alle sehen konnten. Jemand schien mit einer großen, harten Faust auf die Festtafel zu schlagen. Toolan kriegte nicht einmal die erste Silbe seines Gebets heraus. Eine Schrecksekunde lang begriff niemand, was der dumpfe Schlag bedeutete. Dann aber hefteten sich alle Blicke ruckartig auf den einen Punkt. Augen weiteten sich voller Entsetzen. Toolan erbleichte und wurde starr vor jäher Furcht. Der Pfeil steckte in dem knusprigen Braten vor seiner Nase. Der Schaft vibrierte noch unter der Wucht des Einschlags. Die Federn am Ende des Pfeils leuchteten in den verschiedensten Farben. Der Einschußwinkel wies auf die hohen Eiben an der Westseite der Siedlung. Dort mußte der Bogenschütze im Geäst hocken. Und zweifellos war er nicht allein. Eine Frau schrie gellend auf. Augenblicklich pflanzte sich der Schrei fort. Ein Chor des Entsetzens entstand. „In Deckung!" brüllte Jameson. Andere Männer stimmten mit ein. Frauen und Männer sprangen von den grob gezimmerten Sitzbänken auf. Schreie und Gebrüll vermischten sich. Auch die Kinder schrien jetzt. Weniger lag es an der Gefahr, die ihnen bewußt wurde, als vielmehr an der Panik, die sich unter den Erwachsenen ausbreitete. Sie behinderten sich gegenseitig, als sie versuchten, sich aus der Enge zwischen Tischen und Bänken zu be-
21 freien. Etliche stürzten. In die Angstschreie mischten sich Laute der Wut. Kapitäne und Offiziere herrschten die Mannschaften an, sich mit Waffen zu versorgen. Junge Mütter rissen ihre kleinen Kinder an sich und versuchten, in wilder Flucht die Hütten zu erreichen. Auch die Männer stürmten auf die Hütten zu - allerdings, um sich mit den Musketen zu bewaffnen, die dort in geladenem Zustand an den Außenwänden lehnten. In diesem Augenblick setzte der Pfeilhagel ein. Ein unheimliches Schwirren brach über die Hastenden und Schreienden herein. In das Schrillen der Angst mischten sich die ersten gellenden Schmerzenslaute. Jene Männer, die sich noch nicht weit genug vom Tisch entfernt hatten, wurden als erste getroffen. Die dumpfen Einschläge der Pfeile, die sie durchbohrten, verstärkten augenblicklich die um sich greifende Panik. Frauen und Kinder wurden verschont. Es gelang ihnen, den Schutz jener Hütten zu erreichen, die in der Nähe der Festtafel standen. Die Männer von den Galeonen „Explorer" und „Pilgrim" gelangten unbeschadet zu ihren Waffen, da sie ihre Plätze am weitesten an der Ostseite des Platzes gehabt hatten. Gordon Jameson schaffte es, eine Gruppe von zwanzig Männern um sich zu scharen - in Deckung hinter einer der mittleren Hütten. Da gingen die ersten Brandpfeile auf die Hütten an der Westseite des Platzes nieder. Jameson und den anderen schnürte es die Kehle zu, als sie die Toten und Sterbenden bei den Tischen sahen. Immer noch schwirrten Pfeile in unablässiger Folge. Die ersten Schüsse
krachten an der Ostseite der Siedlung. „Wir schlagen einen Bogen!" rief Jameson, nachdem er sich vergewissert hatte, daß alle Männer seiner Gruppe ihre Musketen hatten. „Es wird erst gefeuert, wenn ich es sage! Habt ihr Munition und Pulverflaschen?" Eilends blickte er in die Runde. Sie nickten. „Dann los!" bestimmte der untersetzte Mann. „Wenn wir es schaffen, den verdammten Rothäuten in den Rücken zu fallen, ist das meiste schon gewonnen." Geduckt liefen sie los, von Hütte zu Hütte, und erreichten den nördlichen Rand der Siedlung, wo das Unterholz bis nahe an die Holzgebäude reichte. Sekundenlang verharrten sie und spähten in das Buschwerk zwischen den mächtigen Baumstämmen. Lauerten dort Indianer, die nur darauf warteten, daß sie vordrangen? Zwischen dem Krachen der Musketenschüsse waren noch immer Schreie zu hören. Offenbar wurden auch Männer aus den Crews getroffen, denn die Schüsse wurden eindeutig spärlicher. Gordon Jameson zögerte nicht mehr. Er teilte drei Männer ein, und gemeinsam mit ihnen drang er als erster in das Unterholz vor. Nichts passierte. Da waren keine bronzehäutigen Kerle, die plötzlich aufsprangen und ihre Streitäxte schwangen. Keine Pfeile schwirrten ihnen entgegen. Fast glaubten Jameson und die anderen an ein Wunder, daß sie samt und sonders unbeschadet im Dickicht am Waldrand untertauchen konnten. Rasch organisierte Jameson das weitere Vorgehen. Wenn sie etwas ausrichten wollten, mußten sie sich beeilen. Denn aus der Siedlung
22 wurde kaum noch geschossen. Es zeigte, daß die Indianer in der Übermacht waren. Mit ihren tödlich präzisen Pfeilen ließen sie den Musketenschützen nur wenig Gelegenheit zum Nachladen. Gordon Jameson und seine Gefährten waren entschlossen, die heimtükkischen Indianer aus ihrem Hinterhalt aufzuscheuchen und zu vertreiben.
Schon als die ersten Schreie aus der Siedlung zu hören waren, wußten die Männer an Bord der Schebecke, was sich anbahnte. Das Verderben brach nahezu lautlos über die Menschen an Land herein. Dies war die Art der Indianer, einen Kampf einzuleiten. Der Seewolf traf seine Entscheidungen, ohne überlegen zu müssen. Er rief den Stückmeister zu sich. „Sir?" sagte Al Conroy knapp. Er wußte, welche Order Hasard erteilen würde. „Richte die Backbordgeschütze, Al. Feuere in den Wald direkt hinter die Siedlung, an der Westseite. Vielleicht kannst du die Indianer davon abhalten, über die Siedler herzufallen." „Aye, aye, Sir." Der schwarzhaarige Mann wiederholte den Befehl in Stichworten. Dann wandte er sich rasch ab, um seine Geschützmannschaften einzuteilen. Hasard übergab das Kommando an Bord an Ben Brighton. Der Erste Offizier würde nötigenfalls die Ankerposition der Schebecke verbessern, um Al Conroy die Arbeit zu erleichtern. Aus der Siedlung waren die ersten Schüsse zu hören. Die Schreie der Sterbenden und Verwundeten versiegten jedoch nicht. Für die Arwe-
nacks war das ein deutliches Zeichen, daß sich die Lage keineswegs zu Gunsten der Siedler und der beiden Schiffsbesatzungen wendete. Der Seewolf wählte für seine Einsatzgruppe Dan O'Flynn, Don Juan de Alcazar, Edwin Carberry, Ferris Tucker, Batuti und Big Old Shane aus. Während sie die Jolle bemannten, ließen sie sich von ihren Gefährten an Bord die vertrauten Waffen nachreichen. Bereits in der nächsten Minute pullten sie mit kraftvollen Schlägen auf den Strand zu, wo die Jollen der „Explorer" und der „Pilgrim" lagen.
Als die bronzehäutigen Gestalten aus dem westlichen Waldrand hervorbrachen, war Kapitän James Drinkwater der erste, der die Lage realistisch einschätzte. Siedler warfen sich den Algonkins mit dem Mut der Verzweiflung entgegen. In sicherer Deckung rief Drinkwater seine Crew zusammen. „Wir müssen die Leute an Bord bringen", sagte er mit durchdringender Stimme, um den Kampfeslärm zu übertönen. „Und zwar Frauen und Kinder zuerst." „Das heißt, anschließend auch die Männer, Sir?" fragte der Erste Offizier ungläubig. „Was denn sonst?" schnaubte Drinkwater. „Glauben Sie, hier gäbe es auch nur eine winzige Chance? Die Rothäute würden nicht angreifen, wenn sie nicht in der Übermacht wären. Los jetzt! Beeilung!" Im Handumdrehen teilte Drinkwater die Rudergasten für die Jollen ein - vorsichtshalber auch für die Beiboote der „Explorer", da er Toolan
23 nirgendwo erblicken konnte. Möglich entsetzt zurück. Sofort setzten die war, daß sich der dickliche Mann in Siedler nach. Indianer sanken zu Boirgendeinem Winkel verkrochen den, von Säbel- und Kolbenhieben gehatte, damit ihn niemand zittern sah. troffen. Doch die weitaus größere Die Jollencrews liefen zum Strand. Zahl erreichte den schützenden Von der Westseite der Siedlung, wo Wald. Gleich darauf setzte der PfeilEngländer und Indianer aufeinan- hagel wieder ein. Das freudige Geder prallten, waren das Klirren von brüll der Siedler verstummte. Metall, Schmerzensschreie und die Dann mußten sie erkennen, daß dumpfen Laute der Schläge zu hören, sich die Algonkins auf die veränderte die mit grausamer Gewalt geführt Lage einstellten. wurden. Einige der Siedler waren mit Während eine neue Breitseite von Säbeln bewaffnet, andere benutzten der Schebecke heranorgelte, wichen die Kolben der leergeschossenen die Indianer noch innerhalb des WalMusketen, um sich damit gegen die des nach Südwesten aus und stießen Streitäxte der Algonkins zur Wehr zu gleich darauf erneut zur Siedlung setzen. vor. Die Männer von der „Pilgrim" schwärmten aus und erreichten die Hütten von den Rückseiten her. Auf 4. diese Weise gelang es ihnen, die ersten Frauen und Kinder herauszuHasard und seine Männer näherten holen. Es gab herzzerreißende Sze- sich dem Strand. Der Kiel des Bootes nen. Einige Frauen wehrten sich ver- knirschte in den flachen Ufergrund. zweifelt dagegen, ihre Männer im Al Conroy ließ Breitseite um BreitStich zu lassen. Sie mußten von den seite abfeuern. Das Baumholz westSeeleuten gezwungen werden. An- lich der Siedlung mußte bereits so dere Frauen waren wie abgestumpft, weit kurz und klein geschlagen wornahmen ihre Kinder und ließen sich den sein, daß die Siedler es als Winwegführen, als nähmen sie ihre Um- terfeuerung nur noch aufzusammeln gebung nicht mehr wahr. brauchten. In diesem Augenblick donnerten Die vier Jollen von der „Explorer" die Geschütze der Schebecke. und der „Pilgrim" hatten die Frauen Jubelgebrüll brach in der Siedlung und Kinder an Bord der Schiffe gelos. Das Orgeln der Geschosse war bracht und befanden sich bereits wiefür die Engländer wie Sphärenmusik. der auf dem Weg zum Strand. UnverDen Indianern fuhr der Schreck in mittelt zeigte sich, daß alles Gealle Knochen. Im nächsten Sekunden- schützfeuer letztlich seine Wirkung bruchteil gab es die ersten schmet- verfehlt hatte. ternden Einschläge in die BaumkroAus dem Gebüsch oberhalb des nen. Prasselnd rasten Geschosse Strandes brachen Männer in wilder durch das Blätterdach und zerhieben Flucht hervor. Panik verzerrte ihre selbst Äste, die mehr als armdick wa- Gesichter. Rauchsäulen stiegen über ren. Schreie von getroffenen Bogen- dem Dorf auf, das sich immer wieder schützen gellten. nur in der Entstehung befand. Würde Die Indianer, die schon in die Sied- jemals eine richtige Ansiedlung darlung vorgedrungen waren, wichen aus werden? Zur Zeit war dies noch
24 mehr als fraglich. Das Feuer, hervorgerufen durch die Brandpfeile der Indianer, breitete sich offenbar aus. Wenn nicht bald gelöscht wurde, war die Arbeit der vergangenen Tage dahin. Hasard und die anderen ergriffen ihre Waffen und schwangen sich über das Dollbord. Batuti und Big Old Sharie blieben zurück und beförderten den Rest der Ausrüstung mit schwungvollen Würfen auf den Ufersand. Hasard, Dan, Don Juan, Carberry und Ferris Tucker stürmten unterdessen den Strand hinauf. Den Fliehenden, die ihnen entgegenhasteten, wiesen sie den Weg zum Beiboot der Schebecke. Dankbarkeit leuchtete aus den angsterfüllten Augen der Männer. Überwiegend junge Männer waren es, ohne jede Kampferfahrung. Sie hatten keine Chance gegen die hünenhaften Algonkins, die nach endlosen Auseinandersetzungen mit den Huronen kampferprobt waren. In breiter Front stürzten die Siedler jetzt aus dem Gebüsch hervor. Weit entfernt von den Arwenacks, an der entlegenen Flanke, tauchten auch Amos Toolan, die Puritaner und die restlichen Männer von der „Explorer" auf. Ihnen stand die Todesangst nicht weniger deutlich im Gesicht als den Siedlern. Jene, die am schnellsten liefen, überwanden das seichte Uferwasser mit langen Sätzen und schwammen dann den Jollen entgegen. Das Beiboot der Schebecke war mittlerweile voll besetzt und lag fast bis zum Dollbord im Wasser. Die Riemenblätter peitschten die Oberfläche, das Boot schien sich doch nicht vom Fleck zu rühren. Wieder donnerten die Geschütze der Schebecke.
Hasard und seine Gefährten standen unvermittelt einem Pulk von Indianern gegenüber. Die bronzehäutigen Männer waren am Rand des Buschwerks aufgetaucht und prallten zurück, als sie die unbekannten Gegner erblickten. Nur wenige Yards entfernt, zur Linken, erschienen weitere Algonkins und stürzten sich mit sausenden Streitäxten auf die Langsamsten unter den Fliehenden. Hasard schwenkte den Drehling herum und feuerte. Die Kugel erwischte einen der Indianer mitten im Sprung. Seine Streitaxt flog im hohen Bogen davon. Der Siedler, dem Hasard das Leben gerettet hatte, war jung, ein Halbwüchsiger noch. Die Gruppe der Indianer, die vor ihnen stand, ging mit Geschrei und Geheul auf den Seewolf und seine Gefährten los. Mehr als zehn Algonkins waren es. Sie ließen ihre Streitäxte kreisen, und es entstand ein sausendes Geräusch, das selbst dem abgebrühtesten Haudegen eine Gänsehaut bereiten konnte. Auf sieben, acht Yards Distanz feuerten Hasard und die anderen ihre Pistolen ab. Feuer und Blei rissen jähe Lücken in die Front der Angreifer. Ihre Angriffsschreie steigerten sich zum Gellen, als sie die Pistolen abgefeuert wähnten. Doch der Seewolf jagte die vier restlichen Kugeln aus den Läufen des Drehlings, und Dan und Don Juan feuerten ein zweites Mal, weil sie mit doppelläufigen Pistolen ausgerüstet waren. Carberry langte zum Säbel und griff mit Gebrüll die Rothäute an. Nur noch drei waren übriggeblieben. Fassungslos stierten sie für die Dauer eines Atemzugs auf die blutüberströmten Körper ihrer Stammesgenossen. Dann sahen sie den blitzen-
25 den Säbel des hünenhaften Mannes mit dem Narbengesicht. Im selben Moment hatte auch der rothaarige Riese seine Zimmermannsaxt einsatzbereit. Und die drei übrigen Männer zogen ebenfalls blank. Grund genug für die drei Algonkins, die Hacken zu zeigen und ihr Heil in der Flucht zu suchen. Unterdessen hatten Batuti und Big Old Shane ihre englischen Langbogen und ein Sortiment geeigneter Pfeile klar zum Schuß. „Macht ihnen Dampf unter dem Hintern!" brüllte Carberry. „Wird ja wohl langsam Zeit, was, wie?" Es waren Pulverpfeile, die der Gambianeger und der Schmied von Arwenack auf die Reise schickten. Krachende Explosionen brachte die Algonkins schlagartig in heillose Verwirrung. Sie prallten zurück, als wären sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Im nächsten Atemzug krachte es erneut. Die Feuerblitze, die mitten unter ihnen aufzuckten, ließen sie in wildes Entsetzensgeheul ausbrechen. Hasard und die anderen wandten sich nach links und stürmten auf die Indianer los, die dort wie vor Entsetzen angewachsen standen. Batuti war im nächsten Moment mit dem Seewolf und seinen Männern auf gleicher Höhe. Er hatte eine Höllenflasche gezündet, während Big Old Shane in stoischer Ruhe Pulverpfeil um Pulverpfeil von der Sehne jagte. Die ersten Algonkins warfen sich herum und nahmen schreiend Reißaus. Sie hatten lernen müssen, daß es in der Kunst des Bogenschießens Varianten gab, die ihnen noch lange nicht geläufig waren. Batutis Höllenflaschen gaben ihnen den Rest. Zuerst war es der Anblick des
schwarzen Herkules, der sie in Fassungslosigkeit versetzte. Erst jetzt schienen sie ihn richtig wahrzunehmen, wie er mit langen, federnden Sätzen heranjagte und etwas auf sie zuschleuderte, das funkensprühend durch die Luft torkelte. Im nächsten Augenblick mußten sie glauben, der Blitz habe bei ihnen eingeschlagen - aus heiterem Himmel. Die Höllenflasche flog mit urgewaltigem Donner auseinander. Gehacktes Blei und rostige Nägel rasten kreisförmig vom Explosionszentrum weg und fanden ihr Ziel. Todesschreie gellten. In Panik kreischend, ergriffen nun sämtliche Indianer, die es noch nicht erwischt hatte, die Flucht. Carberry ließ seinen Säbel sinken und sah den Gambianeger vorwurfsvoll an. „Das gefällt dir wohl, schwarzer Mann: anderen die Arbeit abnehmen, wenn sie gerade richtig in Fahrt sind!" Batuti grinste nur. Big Old Shane ließ seinen Bogen sinken. Eine letzte Breitseite von der Schebecke orgelte über die Männer hinweg. Der Seewolf stieß seinen Säbel in die Scheide, wandte sich um und gab Al Conroy ein Zeichen, das Feuer einzustellen. Hohe Flammen schlugen mittlerweile aus den Hütten. Es wurde höchste Zeit, mit dem Löschen zu beginnen. Wasser gab es in Hülle und Fülle, und auch die erforderlichen Eimer waren bereits von den Siedlern an Land geschafft worden. Blieb nur die Frage, ob man die Löscharbeiten unbehelligt in Angriff nehmen konnte.
Jedesmal, wenn die Backbordgeschütze donnerten, krängte die Schebecke hart nach Steuerbord. Dann,
26 im Verhallen des Donners, war das Rumpeln der mächtigen hölzernen Lafetten zu hören, wenn sie von den Männern unter Al Conroy wieder in die Schußposition geschoben wurden. Der Kutscher und Mac Pellew waren mit dem Verwundeten allein. Die Zwillinge wurden an Deck gebraucht und mußten sich um Kohlebecken und Lunten kümmern. In seiner Funktion als Feldscher hatte der Kutscher ohnehin alles getan, was er tun konnte. Mac hatte ihn nach Kräften unterstützt. Es war ihnen gelungen, die Pfeilspitze außerhalb der Schulter abzutrennen und den Schaft aus der Wunde zu ziehen. Eine mörderische Prozedur, die manchen Mann für immer aus den Stiefeln gekippt hatte. Die Pfeile von Bogenschützen aus den Ländern des alten Europa unterschieden sich in ihrer Wirkung wenig von jenen der Algonkins oder anderen Ureinwohnern der Neuen Welt. Ein englischer Feldscher hatte daher seine einschlägigen Erfahrungen. Sie hatten Michael Andersons Wunde gereinigt und ihm einen Verband aus jenen blütenweißen Tüchern angelegt, die der Kutscher in einem besonderen Schapp unter Verschluß aufbewahrte. „Diese verfluchten Rothäute", murrte Mac Pellew, als eine abermalige Breitseite dem Schiff wiederum einen harten Schlag versetzte. „Langsam könnten sie sich zurückziehen, die Bastarde. Sonst war alles umsonst, was wir für unseren jungen Freund getan haben." „Es ist das Recht der Indianer, sich zur Wehr zu setzen", sagte der Kutscher. Im Lampenlicht der Krankenkammer wirkte sein Gesicht steinern. „Aber sie haben angegriffen!" ent-
gegnete Mac empört. „Das nennst du ein Recht? Mordgieriges Verhalten nenne ich so etwas." Der Kutscher schüttelte verständnislos den Kopf. „Hast du nicht gehört, was an Land berichtet wurde? Die Indianer sind den ersten Siedlern friedlich begegnet und haben sie als willkommene Gäste und künftige Nachbarn empfangen. Und dann wurden sie von eben diesen Gästen bitter enttäuscht." „Wie denn das?" Eine neue Breitseite rumorte und ließ den Schiffsrumpf erbeben. Die beiden Männer mußten sich an dem Krankenlager festhalten. „Nun sag bloß, das hast du auch nicht mitgekriegt!" rief der Kutscher vorwurfsvoll. Mac grinste. „Vielleicht kannst du's dir nicht vorstellen, aber ich hatte an Land andere Dinge im Kopf. Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen, heißt es doch. Und dann gibt's da noch gewisse sonstige Sachen, an die ein Mann von Zeit zu Zeit ebenfalls denken sollte." „Du?" Jetzt war es der Kutscher, der grinste. Macs Kinnlade sackte ab. „Was heißt das? Bin ich etwa nicht normal? He, wenn's so wäre, müßte ich's ja wohl selber am besten wissen!" Es geschah selten, daß der Kutscher einen Heiterkeitsausbruch hatte. Diesmal war er kurz davor. „Meine Güte, ich stelle mir nur vor, wie du dich auf andere Weise an ein weibliches Wesen heranpirschen willst, als dafür mit klingender Münze zu bezahlen." Er hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht zu kichern. Nur die nächste Breitseite und das Krängen des Dreimasters hinderten Mac Pellew daran, seinem Kombü-
27 sengenossen an die Gurgel zu gehen. deutete mit der freien Hand auf den Mac hielt sich fest und brüllte los: dicken Verband. „Also sei froh, daß „Das kann bloß der Neid sein bei dir! du so eine Bärennatur hast." Michael starrte erst den Kutscher Was meinst du wohl, was für hübsche Töchter die Siedlerfrauen da herum- und dann Mac Pellew an. Darauf richlaufen haben? Und ein paar ver- tete er den Blick nach links, soweit er dammt ansehnliche Witwen sind den Verband erfassen konnte. Erst auch dabei. Du würdest wirklich vor jetzt schien seine Erinnerung einzuNeid platzen, wenn du gesehen hät- setzen. test, was für Blicke ich empfangen Unvermittelt weiteten sich seine habe. Das waren heimliche Blicke, Augen. Jäh stemmte er sich gegen die aber einige auch ganz offen. Richtige Hand des Kutschers, und dieser hatte Angebote - verstehst du?" beträchtliche Mühe, der Muskelkraft „Und warum hast du die Angebote Michael Andersons zu trotzen. Mac Pellew war im Begriff, seinem Komnicht genutzt?" „Mußte wieder an Bord - wie alle büsengefährten zu helfen. „Laura!" rief der Verwundete volanderen auch. Aber kommt Zeit, kommt Rat. Laß da draußen erst mal ler Verzweiflung. „Laura, um Himein bißchen Ruhe eingekehrt sein . . . " mels willen!" Im nächsten Atemzug „Aber an meiner Laura vergreifst stieß er einen Schmerzenslaut aus. du dich nicht, Freundchen. Dann Mit verzerrtem Gesicht sank er zurück. kriegst du's mit mir zu tun." Die beiden Männer, die ihn verMac und der Kutscher ruckten herum, starrten auf das Krankenlager sorgt hatten, wechselten einen Blick. und wollten nicht glauben, daß sie die „Was ist geschehen?" fragte der Stimme von dort gehört hatten. Aber Kutscher leise. der blonde junge Kerl hatte eindeutig „Können wir etwas tun?" fügte Mac die Augen aufgeschlagen. Möglich, Pellew hinzu. daß er schon eine ganze Weile zu„Ich glaube nicht", ächzte Michael. hörte. Er holte tief Luft und mußte den Vielleicht war es auch der Kamp- Schmerz überwinden. „Bestimmt hafeslärm, der ihn geweckt hatte. Und ben sie Laura getötet. Oder verallen Ernstes versuchte er jetzt, sich schleppt. Und es ist meine Schuld! Alaufzurichten. Er spannte die Muskeln lein meine Schuld." Seine Stimme an und verzog schmerzerfüllt das Ge- erstickte. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte. Er schilsicht. Der Kutscher legte die Hand auf derte den beiden Männern, was geseine gesunde Schulter und drückte schehen war. ihn behutsam auf das Lager zurück. „Es war verdammter Leichtsinn, „Du bist erst einmal hübsch brav und die Siedlung auf eigene Faust zu verbleibst ganz ruhig, Mister Anderson. lassen", sagte Mac Pellew, nachdem Die Indianer haben dir einen Pfeil Michael geendet hatte. „Den Vorwurf durch die linke Schulter gejagt. Zwei, kann dir niemand ersparen, mein drei Inches tiefer, und wir hätten dich Freund." nicht mehr zu verarzten brauchen. Mac erntete einen unwilligen SeiManch anderer an deiner Stelle hätte tenblick des Kutschers. Mac zuckte nicht einmal dies überstanden." Er mit den Schultern und schwieg. Er
28 sah nichts Falsches darin, seine Meinung zu äußern, auch wenn es vielleicht im Moment nicht angebracht war. Er kannte die Ansicht des Kutschers, der es für besser hielt, Kranke und Verwundete nicht noch unnötig mit Problemen zu belasten. „Es wird sich alles zum Guten wenden", sagte der Kutscher bruhigend. Michael schüttelte mühsam den Kopf. „Nein, nein, es wird niemals wieder auszugleichen sein, was ich angerichtet habe. Ich habe Laura durch meinen Leichtsinn ins Verderben geführt. Und jetzt . . . " Abermals wummerte eine Breitseite. Michael riß erschrocken die Augen weit auf. Erst jetzt schien er überhaupt wahrzunehmen, daß auch von Land her Kampfeslärm zu hören war - gellende Schreie, Schüsse und Detonationen. „Was - was geschieht dort?" flüsterte er tonlos. „Ein Überfall der Indianer", antwortete der Kutscher. „Wie es aussieht, müssen die Siedler schon wieder ganz von vorn anfangen. Es wird Tote gegeben haben - auf beiden Seiten." „Mein Gott", murmelte Michael Anderson. „Dann will ich mich nicht beklagen. Welchen Grund habe ich denn, mein erbärmliches kleines Schicksal zu bejammern? Noch dazu, da ich es selbst verschuldet habe. Diesen armen Seelen dort draußen geht es zehnmal schlechter als mir."
Gordon Jameson wußte, daß er einen Fehler begangen hatte. Die Indianer hatten durch den Kanonenbeschuß keine schwerwiegenden Verluste hinnehmen müssen, da
sie rechtzeitig nach Südwesten und Süden ausgewichen waren. Jameson und seine Männer waren vor dem Geschoßhagel von Bord der Schebecke nach Westen ausgewichen. Sie hatten sich im Buschgelände und kleineren Waldstücken verborgen und auf eine Chance gewartet, den Algonkins doch noch in den Rücken zu fallen. Dann aber waren die Indianer überraschend zurückgeschlagen worden. In breiter Front waren sie in das Dikkicht eingefallen und hatten sich vor den immer noch heranorgelnden Kanonenkugeln in Sicherheit gebracht. Gordon Jameson hatte keine Möglichkeit gesehen, diese Front der Indianer zu umgehen. Plötzlich war es eine zurückwalzende Übermacht, der sie gegenüberstanden. Sie waren weiter zurückgewichen - immer weiter nach Westen. Jetzt brach die Dunkelheit herein, und sie wußten nicht einmal, wie viele Meilen sie bereits von der Siedlung entfernt waren. Bei Tageslicht hatten sie nicht einmal mehr die Rauchsäulen aus den brennenden Hütten sehen können. Sicherlich war inzwischen bereits gelöscht worden, doch Rauch stieg auch aus schwelenden Trümmern immer noch auf. Jameson und seine Gruppe verharrten im Unterholz am Rand einer Waldlichtung und trauten sich nicht auf die freie Fläche hinaus. Sie befanden sich tief im Land des feindlichen roten Mannes, und mit Unterstützung aus der Siedlung konnten sie nicht rechnen. Weder die Schiffscrew noch die Siedler würden das Wagnis auf sich nehmen, ein Kommando ins Algonkin-Land zu schicken. „Vielleicht werden wir noch nicht einmal vermißt", flüsterte Jameson seinem Nebenmann zu, einem bärtigen Hünen namens Bertrand Sutton.
29 „Kann gut sein", antwortete Sutton ebenso leise. „Wer weiß, wie es da aussieht. Vielleicht haben sie noch gar keinen richtigen Überblick." „Wir müssen unser Nachtlager hier einrichten, Bert. Vier Mann als Wache. Wir können gar nicht genug aufpassen." Sutton brummte zustimmend. Die Angst steckte ihnen allen in den Knochen. Jeden Augenblick konnten auf der Lichtung Indianer auftauchen. Genausogut auch am Rand der Lichtung. Die Algonkins kannten ihr Land besser als jeder Eindringling. Sie würden wissen, wo sie zu suchen hatten, wenn sich jemand versteckte.
Der Seewolf hatte angeordnet, daß Brandwachen aufgestellt wurden. Zwar war das Feuer in den Hütten weitgehend gelöscht worden, doch immer noch gab es verborgene Nester von Glut unter den Trümmern. Von Zeit zu Zeit züngelten dann erneut Flammen aus diesen Nestern. Die Brandwachen verfügten über eine ausreichende Zahl von bereitstehenden Eimern, die mit Wasser gefüllt waren. Neu entstehende Flammenherde mußten schleunigst gelöscht werden. Noch war der Wind mäßig, aber wenn er in der Nacht auffrischen sollte, bestand die Gefahr, daß etwaige neue Brände auf die noch intakten Hütten übergriffen. Hasard und Dan O'Flynn unternahmen einen letzten Rundgang, als die Dunkelheit allmählich hereinbrach. Auf dem Platz in der Mitte der Siedlung waren Fackeln angezündet worden. Die Tische und Sitzbänke standen noch dort, die Speisen waren allerdings an Bord der Schiffe gebracht worden, wo die Siedlerfami-
lien für die Nacht Zuflucht gefunden hatten. Außer den Brandwachen waren reguläre Wachen eingeteilt worden. Insgesamt acht Mann waren es, die jeweils als Doppelposten patrouillierten und in Rufweite voneinander entfernt waren. Ihre Route am Rand der Siedlung war ebenfalls genau festgelegt worden. Auf diese Weise würde es augenblicklich auffallen, wenn zwei Mann fehlten. Sowohl die Doppelposten als auch die Brandwachen hatten strikte Anweisung, sich nicht in den Lichtschein der Fackeln zu begeben. Die Fackeln sollten ihnen und den Deckswachen als beruhigendes Zeichen dafür dienen, daß alles in Ordnung war. Im Falle eines Alarms waren die Fackeln sofort zu löschen. Die Deckswachen auf der Schebecke und den Galeonen hatten dementsprechend Order, ständig auf den Flammenschein zu achten. Am Strand waren die Toten aufgebahrt worden. Hasard und Dan blieben einen Moment stehen. Die Jolle lag im flachen Uferwasser, von Smoky, Batuti, Blacky und Bob Grey bewacht. Die Laterne am Bug brannte mit flakkernder Flamme. „Es wird nicht einfach werden, sie morgen unter Kontrolle zu halten", sagte Dan mit düsterer Stimme. „Ich weiß", entgegnete Hasard. „Aber ich werde sie darauf hinweisen, daß jederzeit mit einem neuen Angriff der Indianer zu rechnen ist. Dann verfallen sie vielleicht nicht auf dumme Gedanken." Bereits während der Löscharbeiten und der ersten Aufräumungsmaßnahmen waren insbesondere die Siedlerfrauen in Aufruhrstimmung geraten. Der Tod von acht Männern war
30 zu beklagen, einundzwanzig weitere wurden vermißt. In ihrem Fall befürchteten die schlimmsten Pessimisten, daß sie von den Indianern verschleppt und erschlagen worden waren. Schon in den Nachmittagsstunden war die Meinung verbreitet worden, daß die einundzwanzig Toten wahrscheinlich aus der Flußmündung in die Bucht treiben würden - von den Algonkins als Zeichen ihrer Überlegenheit gedacht. „Es werden die Frauen sein, von denen der Ärger ausgeht", fuhr Dan fort. „Du brauchst nicht weiterzusprechen", sagte Hasard. „Die Männer lassen sich natürlich von den Frauen beeinflussen. Immerhin haben wir acht junge Witwen und eventuell einundzwanzig weitere. Wenn sie sich zusammentun, können sie schon einiges in Gang setzen." „Bis hin zur Meuterei?" „Wir müssen mit allem rechnen. Um so besser können wir etwas dagegen unternehmen." Sie setzten ihren Weg fort. Auch die toten Algonkins lagen am Strand. Insgesamt zweiundzwanzig waren es. Drei von ihnen waren am westlichen Waldrand von dem Geschützfeuer getötet worden. Die anderen hatte es während der Kämpfe am Strand erwischt. 5. Die Nacht wurde schlimmer als ein Alptraum. Gordon Jameson fühlte sich schon nach der ersten Stunde wie gerädert. Es wurde empfindlich kühl, und sie hatten nichts als das, was sie auf dem Leib trugen.
Sie krochen eng zusammen, um sich wenigstens gegenseitig wärmen zu können. Doch die Feuchtigkeit der Erde unter ihnen tat ein übriges, um ihr Unbehagen zu verstärken. Jameson zwang sich, trotzdem stillzubleiben. Er wollte kein schlechtes Beispiel geben. So lagen sie aneinandergedrängt im Unterholz, und jeder erschauerte vor Kälte und vor Angst. Fortwährend hörten sie die fremdartigen Laute der Tiere und unerklärliches Geraschel im Gebüsch - mal nahe, mal weiter entfernt. Immer wieder hielten die Männer um Gordon Jameson den Atem an. Stammte dieses Rascheln nur von Tieren oder auch von Menschen? Keiner der Männer tat ein Auge zu. Doch sie hatten auch nicht den Mut, aufzustehen und ihren Weg fortzusetzen. Überall in der Umgebung lauerten Indianer. Davon waren sie überzeugt. Sie konnten von Glück reden, wenn die Algonkins ihr Versteck noch nicht aufgespürt hatten. Vielleicht hockten sie nur ein paar Yards entfernt, etwa auf der anderen Seite der Lichtung. Es würde ein Katz-und-Maus-Spiel werden, wobei von vornherein feststand, wer die Rolle der Maus übernehmen würde. In der Wildnis waren die Rothäute eindeutig überlegen, darüber brauchte man gar nicht erst nachzudenken. Die Wachen hatten keinerlei Mühe, ihre Ablösung auf die Beine zu kriegen. Es war der seltene Fall, daß sich Männer geradezu darum rissen, auf Wache zu gehen. Sich bewegen zu können, wenn auch vorsichtig, war immer noch besser, als die elende Kälte und die Feuchtigkeit ertragen zu müssen, die einem bis in die Knochen kroch.
31 Bis aus Minuten eine Stunde wurde, schien eine Ewigkeit zu vergehen. Je mehr man auf die Geräusche des nächtlichen Waldes horchte, desto mehr zerrten sie an den Nerven. Es hatte wahrhaftig den Anschein, als würde diese verfluchte Nacht nie ein Ende nehmen. Dabei, so überlegte Gordon Jameson, war ja noch nicht einmal etwas passiert. Wenn die Indianer wirklich in der Nähe lauerten, was hinderte sie eigentlich daran, hart und erbarmungslos zuzuschlagen und endlich ein Ende zu setzen? Aber, sicherlich konnte man seine gewohnte Denkweise nicht auf sie übertragen. Sie waren völlig andere Wesen, in einer anderen Umgebung und mit fremdartigen Gesetzen aufgewachsen. Sie konnten sich nicht einmal vorstellen, wie es in England aussah. Wie sollten sie dann in der Lage sein, die Gedankenwelt von Menschen nachzuempfinden, die von der anderen Seite des riesengroßen Atlantik stammten? Endlich, nach dem dritten Wachwechsel, brach das Morgengrauen an. Unenedlich langsam sickerte das beginnende Tageslicht in den Wald. Es schien davor zu zögern, überhaupt bis in das Unterholz vorzudringen. Und es ließ zwischen den Bäumen trügerische Schatten entstehen, die an menschliche Gestalten glauben ließen. Jameson und die anderen rappelten sich vorsichtig auf. Ihre Hände krampften sich um die Musketenschäfte, und ihre Muskeln waren angespannt, während sie in das Zwielicht spähten. Nichts geschah. Jameson rief mit halblauter Stimme die Wachen zu sich. Nur drei Mann erschienen.
„Wer fehlt?" zischte Jameson stirnrunzelnd. „Scotty Shaftoe", erwiderte der Mann, der mit dem Fehlenden auf Wache gegangen war. „Er wollte bloß mal hinter den Busch. Eigentlich hätte er ja längst wieder da sein müssen. Hätte ich erst nachsehen sollen?" Jameson winkte ab. Er konnte es niemandem verübeln, wenn er erst die Geborgenheit der Gruppe suchte, ehe er darüber nachdachte, ob irgend etwas nicht stimmte. „Wir sehen alle zusammen nach", entschied Jameson. „Aber kein Gebrüll! Und trampelt nicht wie Ochsen durch den Wald. Versucht, euch ungefähr so leise zu bewegen, wie es die Indianer tun würden." Sie versuchten es, ohne damit besonders erfolgreich zu sein. Jameson dachte sich, daß die Algonkins wahrscheinlich Lachkrämpfe kriegten, wenn sie diese fremdländische Horde durch den Wald walzen hörten. Sie fanden nur einen Teil von Scotty Shaftoe - wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der er sich hinter einen Busch verzogen hatte. Sein Gefährte, der mit ihm auf Wache gewesen war, wandte sich ab und erbrach sich. Mehreren anderen ging es genauso. Gordon Jameson und Bertrand Sutton hatten erhebliche Mühe, das Würgen in der Kehle zu bezwingen. Das Fundstück war Shaftoes linker Stiefel - kein leerer Stiefel. Es gab Schleif spuren, denen sie beinahe mühelos folgen konnten. Weniger als fünfzig Yards entfernt fanden sie den Torso. Dann weitere Leichenteile. Die Algonkins hatten Shaftoe mit ihren Streitäxten zerstückelt. Es war völlig geräuschlos geschehen, in Minutenschnelle. Und sie hatten diese grausige Spur gelegt.
32 Gordon Jameson zweifelte nicht daran, daß er und seine Männer in eine Falle gelockt werden sollten. Doch sie konnten nicht mehr zurück. Mit kalkig weißen Gesichtern pirschten sie voran. Ihre Furcht war in eiskalte Wut umgeschlagen. Was mit Scotty Shaftoe geschehen war, hätte jedem von ihnen ebenso passieren können. Mit der gebotenen Vorsicht überquerten sie eine Sumpfwiese, erreichten wieder festeres Gelände mit mannshohen Buschgruppen und standen schließlich vor der Schneise eines Waldes. Sie erstarrten. Frei und ungeschützt waren sie stehengeblieben und doch nicht imstande, auch nur an Deckung zu denken. Scotty Shaftoes weit aufgerissene Augen starrten sie an. Der Kopf steckte auf einem Pfahl, den seine Mörder in der Mitte der Schneise in den Boden gerammt hatten.
Laura Stacey erwachte schweißgebadet. Sie keuchte. Schlimme Träume hatten sie gequält, doch sie vermochte sich an keine Einzelheit mehr zu erinnern. Die Alpträume waren ebenso ausgelöscht wie die Erinnerung an die Realität. Sie wußte nicht, wo sie sich befand. Schwer atmend blieb sie auf dem Rücken liegen und starrte in das düstere Grau, das sie einzuhüllen schien. Es war keine völlige Dunkelheit mehr. Der Tag mußte also angebrochen sein. Aber es gab offenbar auch kein Fenster, durch das Sonnenlicht hätte eindringen können. Welcher Tag? Laura blinzelte verwirrt und setzte sich auf. Die Decken, die von ihrem
Oberkörper rutschten, waren weich und flauschig. Sie selbst trug nichts auf dem Leib. Ihr Schamgefühl erwachte. Wie viele Menschen hatten sie so gesehen? Auf dieser Gedankenbrücke setzte ihre Erinnerung schlagartig wieder ein. Da war der lange Marsch in das Dorf der Indianer gewesen. In der Abenddämmerung hatte sie die länglichen Hütten gesehen, die aus einem Halbrund als Dach und aus halbkreisförmigen Stirnwänden bestanden. Richtig, sie war in eine der kleineren Hütten gebracht worden. Frauen hatten sich um sie gekümmert, sie hatten ihr einen wohlschmeckenden Brei zu essen und köstliches, kristallklares Wasser zu trinken gegeben. Und die Fesseln waren ihr abgenommen worden. Todmüde war sie auf dieses Lager gesunken, und sie mußte sofort eingeschlafen sein. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Außenwelt zu und lauschte. Stimmen waren zu vernehmen. Kurze, abgehackte Laute. Männerstimmen. Sie verständigten sich mit wenigen Silben und Worten, die geradezu barsch klangen. Zwischen den einzelnen Äußerungen lagen längere Pausen. Einige Männer bewegten sich im Laufschritt, dann war wieder Ruhe. Kurze Zeit später konnte Laura die Stimmen von Frauen hören. Ein Kind begann zu schreien. Laura hatte inzwischen festgestellt, daß sie allein in der Hütte war. Wurde sie vielleicht gar nicht bewacht? Vertraute man darauf, daß sie eine Flucht nicht wagen würde? Zumindest würde es aussichtslos sein, zu fliehen. Sie kannte die Wildnis nicht und würde die Boote nicht finden, um damit die Wasserläufe zu überqueren.
In der SW-Nummer 616, S. 63 unten, veröffentlichten wir die Maßnahme der Verlagsleitung, den Verkaufspreis der SW-Hefte auf DM 2,80 wegen den allgemein gestiegenen Kosten erhöhen zu müssen. Wir baten auch um Verständnis. Daß Reaktionen unserer Leser nicht ausbleiben würden, war uns klar. Den folgenden Brief zu diesem Thema schrieb uns M B , Straße , 3472 Beverungen 1: Hallo, Ihr von der Seewölfe-Redaktion! Ich lese Eure Serie schon seit einiger Zeit und verfolge auch aufmerksam, was sich im Forum so alles tut. Nun möchte ich auch einmal meine positive und negative Kritik loswerden. Daß die Seewölfe-Redaktion es sich zu Aufgabe gemacht hat, solche Leute, die ihre Hefte zu Wucherpreisen verkaufen wollen, ins Abseits zu stellen, finde ich sehr gut! Aber jetzt werdet Ihr Eurer Sache selber nicht mehr gerecht. Bei einem neuen Verkaufspreis von DM 2,80 pro Heft (andere Romane kosten so um die DM 1,50 -1,80) fragt man sich, ob der Verlag sich wohl auf die gleiche Stufe mit den Leuten stellen will, die ihre Hefte verteuert anbieten. Diesen Preis finde ich nicht gerechtfertigt, zumal noch einige Seiten im Heft mit Werbung gefüllt sind. Wenn also der Verlag so dringend mehr Gewinn erwirtschaften „muß'', so sollte er lieber eine Zweitauflage auf den Markt bringen, anstatt den Preis eines Heftes um 12% zu erhöhen! Mir persönlich macht diese Preiserhöhung nicht so viel aus, aber der Verlag sollte auch mal an die Leute denken, die nicht so viel im Monat zur Verfügung haben wie z.B. Schüler, Wehrpflichtige usw.! Ansonsten bin ich mit den Autoren und ihren abgeschlossenen Geschichten und Zyklen sowie ihrer Schreibweise sehr zufrieden! Die Hefte sind immer spannend, und der Humor kommt auch nicht zu kurz!
Nur sollten auch mal wieder „ältere" Seewölfe mit einbezogen werden, wie z.B. Jean Ribault und Karl von Hutten. Ansonsten macht weiter so wie bisher, denn ich hoffe, daß die Serie noch lange aufrechterhalten bleibt! PS: Ich suche noch die älteren Hefte. Am besten wäre es, wenn sich jemand aus dem Kreis) Höxter oder dem Kreis Nienburg finden würde, der Hefte zu annehmbaren Preisen anbietet. Dann könnte ich persönlich vorbbischauen. Grüße an alle - M B Herzliehen Dank für Kritik und Lob, lieber Herr B . Lassen Sie uns dafür auch etwas Kritisches sagen, nämlich zu Ihrer Frage, ob sich der Verlag auf die gleiche Stufe mit jenen Leuten stellen will, die ihre Hefte verteuert anbieten. Diese Frage ist falsch gestellt, weil jene Leute die Hefte nicht produzieren sondern versuchen, mehr mit ihrem Verkaufspreis herauszuholen, als sie selbst bezahlt haben. Sie brauchen sich nicht mit Kalkulationen herumzuschlagen, mit der Verteuerung der Papierpreise, der Druckkosten und der gesamten Herstellung. Sie sind nicht Erzeuger, sondern Nutznießer (um kein schärferes Wort zu gebrauchen) eines Fertigproduktes, das sie vielleicht mal für DM 1,50 einkauften, aber für DM 10,oder mehr „verscherbeln" wollen. Wir meinen, daß wir als Hersteller oder Erzeuger eines Verlagsproduktes leider nun mal den Gesetzen einer Marktwirtschaft unterworfen sind. Ob sie stabil oder schwankend sind, sei dahingestellt - wir müssen mit ihnen leben. Und es gibt kein Verlagsobjekt (Buch, Taschenbuch, Heft, Illustrierte oder Zeitung), das heute noch zum selben Preis wie vor sieben, zehn oder zwanzig Jahren verkauft wird. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
In der Seemannskiste der SW-Nr. 615 stellten wir unseren Lesern den Segelriß einer waschechten Brigg vor, also eines Seglers mit zwei vollgetakelten Masten. Jene Brigg sollten sich unsere Leser vor Augen führen, wenn sie die beiden Schiffe auf den vorigen Seifen betrachten. Es handelt sich um einen Dampfer mit Brigg-Takelage, auf der linken Seiten mit Besegelung, auf der rechten Seite mit „nackten" Masten und Rahen - mithin ein Zwitter aus der Zeit, als die Dampfschiffahrt die Segelschiffahrt zu verdrängen begann. Aber noch war man, was die Maschinen als Antrieb betraf, mißtrauisch, und so packte man auf den Rumpf noch zwei Masten vor und achtern, die mit Rahsegeln bestückt wurden. Damals „modern", heute ein Unikum oder kein sehr schönes Beispiel für den Übergang des Segelschiff-Zeitalters in das Zeitalter der Maschinen. Die Nummern bedeuten: 1 Fockmast, 2 Vorstenge, 3 Vor-Bramstenge, 4 Großmast, 5 Groß-Marsstenge, 6 Groß-Bramstenge, 7 Fockrah, 8 VorUntermarsrah, 9 Vor-Obermarsrah, 10 Vor-Bramrah, 11 Großrah, 12 Groß-Untermarsrah, 13 Groß-Obermarsrah, 14 GroßBramrah, 15 Vorbaum, 16 Großbaum, 17 Vorgaffel, 18 Großgaffel, 19 Vor-Stengestagsegel, 20 Fock, 21 Vor-Untermarssegel, 22 Vor-Obermarssegel, 23 Vor-Bramsegel, 24 Groß-Untermarssegel, 25 Groß-Obermarssegel, 26 Groß-Bramsegel, 27 Briggsegel (Großsegel), 28 Ankerdavit, 29 Fischdavit, 30 Bootsdavits, 31 Ventilatoren und 32 Niedergangskappe zum Mannschaftsraum.
37 Sie hatte keine Waffen, um sich vor wilden Tieren zu schützen. Ja, sie wußte nicht einmal, wie sie zur Bucht der Siedler finden sollte. Denn sie hatte nie gelernt, sich nach dem Stand der Sonne zu orientieren. Trotzdem konnte sie dem Drang nicht widerstehen, wenigstens etwas zu unternehmen. Leise und vorsichtig, als würde sie beobachtet, schlüpfte sie aus den Decken. Der Boden der Hütte bestand aus Fellen, die auf einem festen Untergrund lagen. Laura vermutete, daß es sich um sorgfältig zusammengefügte Zweige handelte. Sie kroch an der einen Innenwand entlang und tastete sie ab. Das Gerüst der Hütte bestand aus fast armdicken Ästen, die sorgfältig gebogen waren. Die Zwischenräume waren mit Flechtwerk ausgefüllt. Laura erinnerte sich, daß die Hütten außen mit vernähten Tierhäuten abgedeckt waren. Nirgendwo an der Wand fand sie indessen eine Lücke im Flechtwerk. Sie erreichte die Stirnwand, die dem Eingang gegenüberlag. Auch hier gab es keinen Unterschied. Die straff zusammengeflochtenen Zweige waren lückenlos. Wenn sie ein Werkzeug gehabt hätte, ein Messer etwa, wäre ihre Lage vielleicht aussichtsreicher gewesen. In mühevoller Kleinarbeit hätte sie es vor allem während der Nachtstunden schaffen können, sich einen Fluchtweg zu öffnen. So aber schien es keine Chance zu geben. Schritte näherten sich dem Eingang der Hütte. Laura verharrte erschrocken. Ihr Herz begann zu hämmern. Bis zum Nachtlager würde sie es nicht mehr schaffen, das wußte sie, obwohl sie es in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Aber sie vermochte abzuschätzen,
daß sie sich zu weit entfernt hatte, um noch schnell genug unter die Decken zu kriechen. Das Fell, das vor dem Eingang hing, wurde zur Seite geschlagen. Sonnenlicht flutete herein. Laura wagte nicht, sich zu rühren. Sie bedeckte ihre Blöße mit den Händen. Jetzt wußte sie, woher das seltsame Grau im Inneren der Hütte gerührt hatte. Die strahlende Helligkeit des neuen Tages hatte Häute und Flechtwerk mit einem matten Schimmer durchdrungen. Muskulöse Beine und dann der Oberkörper eines Mannes wurden in dem hellen Rechteck des Eingangs sichtbar. Laura erkannte einen der beiden, die sie hergebracht hatten. Er beugte sich vor und lachte kehlig, als er sie am anderen Ende der Hütte kauern sah. Mit einer Handbewegung gab er ihr zu verstehen, daß sie zu ihm kommen solle. Laura wollte sich sträuben, wollte schreien und sich zur Wehr setzen. Aber ihr wurde bewußt, daß es ihr nicht das geringste genutzt hätte. Wenn sie sich fügte, hatte sie vielleicht Aussicht nicht mißhandelt zu werden. Sie konnte nicht ahnen, was ihr noch alles bevorstand. Aber zumindest in der ersten Nacht waren die Indianer anständig mit ihr umgegangen. Deshalb gehorchte sie. Beide Algonkins, die sie am Tag zuvor geführt hatten, standen vor der Hütte. Sie nahmen Laura bei den Armen, ohne ihr dabei Schmerzen zuzufügen. Das Dorf befand sich unterhalb eines Hügels. Eine weite Ebene dehnte sich diesseits des Hügels, von Wasserläufen durchzogen. Von der Hügelkuppe aus konnten Wachtposten fraglos das Land auf der anderen Seite überblicken. Ob-
38 wohl Laura nichts von kriegerischen Auseinandersetzungen verstand und sich davor fürchtete, wußte sie doch, daß die Algonkins einen hervorragenden Platz für ihre kleine Ansiedlung gewählt hatten. Das bedeutete jedoch, daß sie auch vor dem Eintreffen der englischen Siedler nicht in Frieden gelebt hatten. Es mußte folglich Feinde geben, gegen die sich die Algonkins zu schützen versuchten. Laura verspürte ein unerklärliches Gefühl von Resignation. Auch in diesem fremden Teil der Welt führten die Menschen kein Dasein ohne Auseinandersetzungen und Kampf. Die Gasse zwischen den Hütten erweiterte sich zu einem zentralen Platz. Die Fläche wurde von einem hohen Pfahl in der Mitte bestimmt, um den sich ein Kreis von weiteren Pfählen gruppierte. Der Kreis maß gut zehn Yards im Durchmesser. Nur der mittlere Pfahl war mit eingefärbten Schnitzereien verziert. Die anderen bestanden aus rohem, glattgehauenem Holz. Murmelnd versammelten sich die Männer des Dorfes an jener Seite des Platzes, die etwas erhöht und dem Hügel zugewandt war. Laura erschauerte, während sie in die Mitte des Pfahlkreises geführt wurde. Die Männer ließen sich mit gekreuzten Beinen auf dem Erdboden nieder und betrachteten ihre weiße Gefangene. In den bronzenen Gesichtern der Männer regte sich nichts, weder Mitgefühl noch Haß. Für Laura war das Schamgefühl übermächtig. Sie verspürte den Wunsch, in den Boden zu versinken. Aber es gab keine gütige Fügung, die ihr so etwas Aberwitziges ermöglicht hätte. Die beiden Algonkins banden sie an den farbenprächtigen Pfahl in der
Mitte des Platzes. Sie schnürten ihre Fußgelenke fest, dann die Hüften und den Oberkörper. Die Hände banden sie hinter ihrem Rücken zusammen, auf der anderen Seite des Pfahls. Von neuem empfand Laura Resignation. Wenn sie geglaubt hatte, daß man sie mit Respekt behandeln würde, so schien sie sich getäuscht zu haben. Frauen, Kinder und alte Leute waren nicht zu sehen. Nur die mehr als fünfzig Männer, bei denen es sich offenbar um die Jäger und Krieger des Dorfes handelte. Warum war sie das einzige weibliche Wesen, wenn auch als Gefangene? Sie ahnte, daß ein Zeremoniell bevorstand, doch es schien ihr keinen Sinn zu ergeben. Folter? Das Wort durchzuckte sie wie eine gefräßige, bösartige Flamme. Es konnte keine andere Erklärung geben. Sie würde das Opfer einer unvorstellbaren Art von Marter werden. Erst wog man sie gewissermaßen in Sicherheit - doch wohl nur aus dem Grund, um das Entsetzen dann um so spürbarer über sie hereinbrechen zu lassen. Sie begann zu zittern und leise zu schluchzen. Ihr Körper bog und wand sich, ohne daß sie es wollte. Die Nacktheit war ihr nebensächlich geworden. Sie ahnte die furchtbaren Schmerzen, die ihr zugefügt werden würden. Doch unvermittelt wandten sich alle Blicke nach rechts. Die beiden Männer, die Laura gefesselt hatten, hatten sich bereits zu den anderen zurückgezogen. Aus einer schmalen Gasse zwischen zwei Hütten näherten sich vier Algonkins mit zielstrebigen Schritten. Sie führten einen fünften in ihrer Mitte. Laura konnte ihn erst sehen, als sie
39 den Platz erreichten und mehr Abstand voneinander nahmen. Ein Weißer. Laura starrte ihn ungläubig an. Dem Mann waren die Hände auf den Rücken gefesselt. Zwei Algonkins führten ihn an einem nach beiden Seiten verlaufenden Strick, dessen Schlinge in der Mitte um seinen Hals lag. Die beiden weiteren Indianer bildeten den Schluß der kleinen Gruppe. Der Gefangene war ausgemergelt. Vielleicht hatte man ihn hungern lassen, oder er hatte die Nahrungsaufnahme verweigert. Sein Bart wucherte wild, das dunkle Haar hing ihm in Strähnen über die Ohren und ins Gesicht. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte Laura offenbar noch nicht wahrgenommen. Sie verharrten nur wenige Schritte von ihr entfernt. Einer der Algonkins griff von hinten in die Haare des Gefangenen und riß seinen Kopf zurück. Seine Augen weiteten sich, als er die junge Frau erblickte. „O mein Gott", sagte er heiser. „Sie sind Engländer?" hauchte Laura. Sie achtete nicht auf die höhnischen Grimassen der Algonkins, die allem Anschein nach bezweckt hatten, daß sie mit dem Mann sprach. „Ja, Madam." Seine Stimme klang wie welkes Laub. „Ich bin seit vielen Monaten in der Gewalt dieser Wilden. Und jetzt, da es Hoffnung gibt, da neue Schiffe erschienen sind, werde ich die bessere Zukunft nicht erleben." „Um Himmels willen, so dürfen Sie nicht sprechen! Sicher werden bald Männer zur Stelle sein, die uns befreien." Der Mann schüttelte den Kopf und lächelte schwach. „Das mag für Sie gelten, Madam, und ich wünsche es
Ihnen von ganzem Herzen. Für mich bedeutet dieser Augenblick den Tod. Man hat nur darauf gewartet, einem anderen Weißen vor Augen zu führen, wer dieses Land beherrscht. Ich bedaure zutiefst, daß ich vor Ihren Augen sterben muß. Aber leider liegt es nicht in meiner Macht, Ihnen den Anblick zu ersparen." Er verstummte, als ihn die Indianer packten und in die Knie zwangen. Lauras Kehle schnürte sich zu, als sie sah, was sich anbahnte. Entnervt schloß sie die Augen. Aber sofort war einer der Algonkins zur Stelle und bedeutete ihr mit zornigen Gesten, daß sie die Augen offen zu halten habe. Der Indianer blieb in ihrer Nähe. An der Härte seiner Miene konnte sie ablesen, daß er ihr Schmerzen zufügen würde, wenn sie nicht gehorchte. Die beiden anderen zogen den Strick straff, so daß der Engländer gezwungen war, den Kopf zu heben. Laura sah die erschreckende Leere in seinem Blick, und Tränen rannen über ihre Wangen. Aber es stellte sich keine gütige Fügung ein, die ihr das Gesichtsfeld verschleierte, so daß sie vom Schlimmsten verschont geblieben wäre. Klar und deutlich mußte sie jede Einzelheit mit ansehen. Das Grauen kroch ihr über den Rücken wie ein vielbeiniges Tier. Der dritte Indianer trat einen Schritt vor, von hinten auf den Engländer zu. Der Indianer war ein Hüne von Mann, breitschultrig und mit noch eindrucksvolleren Muskeln bepackt als die drei anderen. Sein Gesicht war kantig und so verhärtet wie eine aus Bronze gegossene Maske. Laura schrie auf, als er eine Streitaxt zum Vorschein brachte, die er bis jetzt hinter dem Rücken gehalten hatte. Sofort richteten sich die Blicke der Zuschauer empört auf Laura. Der
40 Indianer, der bei ihr stand, schlug ihr die flache Hand vor den Mund. Der Schmerz ließ sie wimmern. Doch dann verstummte sie, denn die sehnige Hand versiegelte ihre Lippen. Der hünenhafte Algonkin hob das rechte Bein und stemmte dem Engländer das Knie in den Rücken. Der Blick des Mannes verlor sich im Leeren. Mit lauter und fester Stimme begann er zu beten. „Vater unser . . . ' ' Laura hatte das Gefühl, daß ihr Blut in den Adern zu Eis wurde. Sie spürte, wie ihre Augen aus den Höhlen zu quellen drohten, und sie konnte doch nichts dagegen tun. Ihr Körper versteifte sich, ein einziger Krampf erfaßte alle ihre Muskeln. „ . . . der du bist im Himmel . . . " Der Hüne hob die Streitaxt. Es war ein mächtiger Schaft, der sich nach vorn verdickte. In dem verdickten Teil steckte die Klinge aus Hartholz wie eine nach unten sich erweiternde Zunge. „... geheiligt werde dein . . . " Dem Sausen folgte ein Laut, der Laura durch Mark und Bein ging. Der Schrei brach aus ihr hervor. Nicht einmal die Hand des Indianers war jetzt noch stark genug. Er zog sie weg. Vielleicht sollten sich die Anwesenden nun an ihrem Entsetzen weiden. Laura schrie und schrie. Ihre Stimme überschlug sich und wurde heiser. Der Hüne wich zurück und ließ die Streitaxt über den Erdboden schleifen. Mit zufriedenem Nicken betrachtete er sein Opfer, dem er mit einem einzigen Hieb den Schädel gespalten hatte. Langsam, unendlich langsam kippte der Tote vornüber. Die vier Algonkins wandten sich ab. Laura schrie noch immer. Auch die Zuschauer erhoben sich und gingen fort.
Sie gaben sich den Anschein, als hätten sie jetzt Wichtigeres zu tun. Laura war allein mit dem Toten. Ihr Schreien geriet zu einem Keuchen, und ihre Kehle begann zu schmerzen. Dennoch konnte sie nicht innehalten. Endlich gelang es ihr, die Augen zu schließen. Doch das grauenvolle Bild des Hingerichteten ließ sich nicht wegwischen. Sie wußte in diesem Moment, daß es niemals in ihrem Leben auszulöschen sein würde. Es würde wie ein Fanal sein, das sie ständig daran erinnerte, wozu Menschen fähig waren, was Menschen einander antun konnten. Dann, während ihre Stimmbänder mehr und mehr versagten, hörte sie helle Stimmen. Kinderstimmen. Auch Frauen waren zu vernehmen. Laura konnte nicht umhin, die Augen zu öffnen. Im selben Moment wurde ihr schlecht. Sie vermochte die jäh aufsteigende Übelkeit nicht zu bezwingen. Die Kinder tanzten um den leblosen Körper des Engländers herum und traten ihn mit Füßen. Von den Müttern wurden sie dazu angespornt. Laura übergab sich. Auch die alten Leute waren zur Stelle, und alle brachen in Kichern und schallendes Gelächter aus, als sie Laura Stacey in ihrem Elend beobachteten. 6. Gordon Jameson und die anderen wußten nicht mehr, wie lange sie dagestanden hatten. Das blanke Entsetzen war ihnen in die Gesichter geschrieben. Sie waren nicht imstande, sich zu bewegen. Ihre Muskeln waren wie gelähmt. Der Anblick hatte
41 dumpfe Leere in ihren Gehirnen entstehen lassen. Sie hatten Scotty Shaftoes sterbliche Überreste gesehen, und das Grauenvollste hatten sie jetzt vor Augen. Etwas in ihnen sperrte sich dagegen, es begreifen zu wollen. Er war ein feiner Kerl gewesen, alle hatten ihn geschätzt. Niemals, unter keinen Umständen, hatte er es verdient, auf diese furchtbare Weise zu enden. Selbst dem gemeinsten Verbrecher würde man einen solchen Tod nicht wünschen. Gordon Jameson räusperte sich mühsam. Auf einmal wurde ihm bewußt, daß sie damit fertig werden mußten. Sie mußten sich die Trauer um Scotty für einen anderen Zeitpunkt aufheben. Es ging nicht an, daß sie hier in der Gegend herumstanden und die prächtigsten Zielscheiben abgaben, die man sich nur vorstellen konnte. Plötzlich rechnete Jameson jeden Moment mit dem Zischen von Pfeilen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, verdickte sich zu Perlen und rann ihm von den Schläfen abwärts über die Wangen. „Wir müssen weg", sagte er rauh. „Erst mal in Deckung und dann . . . " „Und was wird mit Scotty?" protestierte der Mann, der mit Shaftoe auf Wache gewesen war. „Wir werden uns später um ihn kümmern", erwiderte Jameson. „Jetzt müssen wir vernünftig sein." „Das ist nicht recht!" ereiferte sich der andere. „Es ist unsere Christenpflicht, Scottys sterbliche Hülle anständig zurückzubringen. Seiner Frau und seinen Kindern sind wir es schuldig. Wir können doch jetzt nicht einfach . . . " Ein scharfes Schwirren schnitt ihm das Wort ab. Der dumpfe Einschlag
ließ die Männer zusammenzucken. Ihre Augen weiteten sich. Der Pfahl wackelte hin und her, so groß war die Wucht des Pfeilschusses gewesen. Scotty Shaftoes Kopf bewegte sich, als ob er nickte. Dann fiel er hinunter, an dem buntgefiederten Schaft vorbei, der den Pfahl genau in der Mitte getroffen hatte. Gordon Jameson wirbelte herum und wollte die Muskete hochreißen. Doch seine Bewegung endete noch im Ansatz. Die Indianer standen da, als wären sie aus dem Nichts aufgetaucht rings um die Schneise. Mehr als dreißig waren es, das sah Jameson auf den ersten Blick. Und jeder von ihnen hatte die Sehne seines Bogens gespannt. „Keiner bewegt sich", sagte Jameson leise, denn er war überzeugt, daß noch nicht einmal alle mitgekriegt hatten, was die Stunde geschlagen hatte. Er wiederholte es. „Keiner bewegt sich, verstanden? Wir sind in der nächsten halben Sekunde von Pfeilen durchlöchert, wenn auch nur einer eine falsche Bewegung ausführt." Jetzt lösten sich bronzehäutige Gestalten auch aus dem Unterholz innerhalb der Schneise. Gordon Jameson mußte endgültig einsehen, daß sie keine Chance hatten. Die Algonkins waren doppelt so stark wie er und seine Männer. Die Musketen nutzten ihnen gar nichts. Zwanzig Kugeln konnten er und seine neunzehn Mann abfeuern. Und dann? Selbst wenn jede Kugel einen Indianer traf, blieben noch mehr als zwanzig übrig, die imstande waren, ihre Pfeile abzuschießen oder die Streitaxt zu schwingen. Die Wirkung einer Feuerwaffe mochte gewaltig sein. Aber wenn
42 man den einen Schuß erst einmal abgefeuert hatte, blieb einem keine Zeit zum Nachladen. Während der umständlichen Prozedur mit Pulverflasche, Schußpflaster, Kugelbeutel und Ladestock jagte jeder der Indianer mindestens drei Pfeile von der Bogensehne. Genug, um einen Mann buchstäblich zu spicken und ins Jenseits zu befördern. „Vernünftig, Engländer", sagte eine tiefe Stimme. „Musketen hoch und ihr tote Männer." Erstaunlich blickten Jameson und die anderen auf den hochgewachsenen Algonkin, der einen Schritt aus der Reihe seiner Stammesgenossen vortrat. Er unterschied sich von ihnen lediglich durch drei fast senkrecht aufragende Hüherfedern, die in seinem Haarwulst am Hinterkopf steckten. Er trug keinen Bogen. Lächelnd holte er hinter seinem Rücken eine Muskete hervor. Es war die Waffe, die Scotty Shaftoe gehört hatte. Gordon Jameson überlief es eiskalt. „Du sprichst unsere Sprache?" sagte er mit zitternder Stimme. „Viel wenig", antwortete der Algonkin. „Ich Häuptling Shenon. Wer du?" „Gordon Jameson." „Du Häuptling?" „Nein, ich habe nur diese Gruppe von Männern geleitet." „Wo hast du unsere Sprache gelernt?" fragte Jameson und war sich der unwilligen Blicke seiner Gefährten bewußt. Es widerstrebte ihnen mächtig, daß er sich mit dem Indianer auf eine so freundschaftlich klingende Weise unterhielt - fast so, als handele es sich hier um eine Plauderei bei einer zufälligen Begegnung. Häuptling Shenon verzog keine
Miene. „Weißhäute vor vielen Monden hier. Haben Algonkins betrogen. Wir Gefangene gemacht. Haben gelernt von Gefangenen." Mit einem Ruck hob er Shaftoes Muskete und spannte den Hahn. Entsetzt sahen Jameson und seine Männer, wie Shenon die Langwaffe in ihre Mitte richtete. Sie warfen sich zu Boden - ungeachtet der Pfeile, die sie im nächsten Moment durchbohren konnten. Shenon lachte, schwenkte den Musketenlauf ein Stück höher und zog durch. Der Schuß krachte. Es gab einen dumpfen Einschlag, und das Splittern von Holz war zu hören. „Waffen liegenlassen!" rief der Häuptling. „Aufstehen! Erst einer, dann anderer." Sie verstanden. Als sie den Befehl befolgten, sahen sie, daß Shenons Musketenkugel den Pfahl präzise an derselben Stelle getroffen hatte, an der auch der Pfeil eingeschlagen war. Von dem Pfeil war nicht einmal mehr ein Rest zu sehen. Und die Kugel hatte eine faustgroße faserige Delle in das Pfahlholz gerissen. Den Siedlern unter Gordon Jameson wurden die Arme mit Rohhautschnüren auf den Rücken gefesselt. Mit einem langen geflochtenen Seil wurden sie in Yard-Abständen aneinandergebunden. Dann trieben Shenon und seine Übermacht sie voran - weiter nach Westen.
Er konnte von niemandem Hilfe verlangen. Am allerwenigsten von den Männern, die ihm das Leben gerettet hatten. Michael Anderson hatte eine ruhige Nacht hinter sich. Er fühlte sich hervorragend. Seine alten Kräfte schie-
43 nen zum größten Teil schon wieder zurückgekehrt zu sein. Das Frühstück war phantastisch gewesen - gebratener Schinken und dazu frisch gebackenes Brot. Er wußte, daß er nicht übermütig werden durfte. Aber er hatte den verteufelten Eindruck, daß er schon bald in der Lage sein würde, Bäume auszureißen. Alle seine Gedanken kreisten um Laura. Er war schuld an dem, was ihr geschehen war. Noch immer hatte er keine Gewißheit über ihr Schicksal. Der Kutscher und Mac Pellew hatten ihre Gefährten gebeten, herumzuhorchen. Das war geschehen. Laura war nirgendwo aufzufinden gewesen. Weder bei den wenigen, die zum Aufräumen an Land gegangen waren, noch bei denen, die sich von der „Explorer" und der „Pilgrim" nicht heruntergetraut hatten. Laura war demzufolge verschwunden. Es brachte ihn fast um den Verstand. Meine Schuld! Immer wieder dröhnte es durch sein Bewußtsein. Nach dem Frühstück erschienen auch der Seewolf und einige der Männer von der Schiffsführung bei ihm, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Michael fragte nach Laura, erfuhr aber auch von Philip Hasard Killigrew und den anderen nichts Neues. Während der Vormittagsstunden blieb es an Bord ruhig. Die meisten Männer befanden sich an Land, wo es galt, die Toten zu begraben und anschließend in der Siedlung nach dem Rechten zu sehen. Michael war allein, als der Kutscher und Mac Pellew in der Kombüse verschwanden, um mit den Vorbereitungen für die Mittagsmahlzeit zu beginnen. An Bord war es jetzt noch stiller geworden. Gedämpfte Stimmen hörte
Michael dagegen nur von Land und von den beiden Galeonen her. Zu dem Entschluß hatte er sich längst durchgerungen. Er wußte, daß seine Retter ihm niemals erlauben würden, schon jetzt das Krankenlager zu verlassen. Andererseits konnte er ihnen nicht zumuten, daß sie ein Suchkommando ausschließlich wegen Laura losschickten. In der Siedlung gab es unendlich viel zu tun, und dann waren da noch die Vermißten, von denen Michael inzwischen gehört hatte: Gordon Jameson und zwanzig Männer. Sie hatten sich noch nicht wieder eingefunden. Auch mit ihnen mußte etwas geschehen sein. Michael überlegte, daß er die besten Aussichten auf Erfolg hatte, wenn er etwas tat, was die verbliebenen Männer an Bord der Schebecke am wenigsten vermuteten. Zum einen rechneten sie wahrscheinlich überhaupt nicht damit, daß er versuchen würde, zu verschwinden. Denn er hatte bislang kein weiteres Wort über seine Sorge um Laura verloren. Zum anderen würden sie eher annehmen, daß jemand einen Fluchtversuch im Schutz der Dunkelheit unternahm. Fluchtversuch! Er haßte sich für das Wort. Es war die reine Undankbarkeit, die seine Gedanken auf derartige Wege leitete. Gern hätte er eine Nachricht an den Seewolf und seine Männer hinterlassen, um ihnen sein Vorhaben zu erklären. Aber er konnte schlecht um Papier und Feder bitten, ohne lange Begründungen abzugeben. Wenn er es lebend überstand, würde er ihnen später sagen können, warum er gezwungen gewesen war, sie zu enttäuschen. Ja, es stand jetzt fest. Er würde seinen Entschluß in der beginnenden
44 Mittagszeit in die Tat umsetzen - bevor die Arwenacks von Land zurückkehrten. Denkbar war allerdings auch, daß der Kutscher und Mac Pellew den Männern das Essen an Land brachten. Auf jeden Fall würde aber eine Deckswache an Bord bleiben. Nur die leisen Geräusche aus der Kombüse waren zu hören. Michael mußte seine Ohren jedoch schon anstrengen, um es überhaupt zu vernehmen. Wie es ihre Art war, redeten Mac und der Kutscher bei der Arbeit wenig. Michael richtete sich vorsichtig auf. Er war versucht, einen Triumphschrei auszustoßen. Die Schmerzen in seiner linken Schulter waren erträglich. Der Kutscher hatte die Wunde hervorragend versorgt. Michael stützte sich mit der rechten Hand auf. Überhaupt würde er darauf achten müssen, den linken Arm möglichst wenig zu belasten. Um so mehr würde er seine Kraftreserven schonen können. Er schaffte es, sich vollends aufzurichten und langsam von dem Krankenlager zu gleiten. Im nächsten Atemzug erhielt sein Triumphgefühl einen erheblichen Dämpfer. Seine Beine waren butterweich und schienen ihn nicht tragen zu können. Ungewollt hielt er sich mit beiden Händen fest. Um ein Haar hätte er geschrien, denn der Schmerz durchstieß ihn von der linken Schulter her wie eine Lanze. Abermals verlagerte er das Gewicht nach rechts. Erst allmählich ließ der Schmerz nach. Seine Beine gewöhnten sich nur widerwillig an die Last, die sie nicht mehr zu tragen gewohnt waren. Er biß die Zähne zusammen, rief seine ganze Willenskraft wach und ließ das Lager los. Sekundenlang hatte er das Gefühl,
als müsse er jeden Moment auf die Nase fallen. Seine Umgebung schien zu schwanken. Aufsteigendes Schwindelgefühl schickte sich an, ihn auf die Planken zu zwingen. Doch mit eiserner Energie hielt er sich aufrecht. Der Gedanke an Laura war es, der das bewirkte. Mit seiner inneren Stimme brüllte er sich an: Hölle und Teufel, du Waschlappen! Reiß dich gefälligst zusammen! Du bist für ihr Schicksal verantwortlich. Also tu jetzt gefälligst, was du zu tun hast. Mehrere Minuten lang übte er das Gehen in der Kammer. Er mußte sich nicht nur bewegen können - nein, er mußte sich lautlos bewegen. Wenn er dazu nicht in der Lage war, brauchte er sein Vorhaben gar nicht erst in Angriff zu nehmen. Schließlich öffnete er vorsichtig das Schott der Kammer - nur einen Spalt weit. Er spähte hinaus, schob das Schott ein Stück weiter auf und konnte gleich darauf das gesamte Hauptdeck überblicken. Er kannte den Mann, der als Deckswache eingeteilt war. Will Thorne, der Segelmacher, ein ruhiger, zuverlässiger Mann. Thorne stand auf dem Achterdeck, auf die Heckbalustrade gestützt und blickte zur Siedlung oder zu den Galeonen hinüber. Eindeutig ließ sich das von Michaels Position aus nicht feststellen. Es spielte jedoch keine sonderliche Rolle. Wichtig war allein, daß der Segelmacher zur Zeit das Deck nicht beobachtete. Michael Anderson rief all seine Energie wach, überzeugte sich, daß auch die beiden Kombüsenmänner nicht zu sehen waren, und schlüpfte aus der Kammer. Geduckt pirschte er zum Bug. Auf dem Weg dorthin belegte er ein Tau am vorderen Mast
45 und ließ es durch seine Hände gleiten. Er brauchte nur wenige Sekunden dafür. Und dann folgte der Moment, in dem der Schmerz zur Höllenqual wurde. Es war der Moment, in dem er sich über die Verschanzung gleiten ließ und abwärts hangelte. Es war, als würde ihm die verwundete Schulter aus dem Leib gerissen. Aber er ließ nicht locker. Seine Zähne schmerzten, so sehr preßte er sie aufeinander, während er sich zur Wasseroberfläche hinuntersinken ließ. Die Tragkraft des Wassers nahm ihn wohltuend auf. Er verspürte keine Kälte, das Wasser war nahezu lauwarm. Er tauchte ein Stück und bewegte sich allein durch Beinstöße und Unterstützung mit dem rechten Arm voran. Den linken Arm und die Schulter konnte er entlasten. Auf dem Rücken schwamm er gemächlich auf den östlichen Bereich der Bucht zu, wo das Dickicht bis unmittelbar ans Ufer reichte. Von Zeit zu Zeit trat er Wasser und horchte. Stimmen waren nach wie vor hauptsächlich von den Galeonen zu hören lauter jetzt. Dort schien es irgendwelchen Ärger zu geben. Es interessierte Michael nicht mehr. Probleme, die es hier gab, lagen für ihn in unendlich weiter Ferne. Er mußte an Laura denken, nur noch an Laura. Daß er keine Waffen hatte mitnehmen können, war im Moment nebensächlich. Er würde mit den bloßen Fäusten kämpfen, oder er würde sich Waffen verschaffen, wenn es soweit war. Niemand hatte seine Flucht bemerkt. Auf der Schebecke blieb alles ruhig. Michael schwamm, bis er sandigen Grund unter dem Körper spürte. Er kroch hinter einen Weidenstrauch
und blieb liegen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß er von der Bucht aus nicht gesehen werden konnte. 7. „Keiner rührt sich!" brüllte der hochgewachsene rothaarige Mann. „Eine falsche Bewegung von euch, und ihr werdet durchlöchert!" Die doppelläufige Pistole, die er auf Kapitän Toolan, die Offiziere und die anderen richtete, schwankte kein bißchen in seiner riesigen Faust. Auch die übrigen zehn Siedler, die unter Führung des Rothaarigen die Offiziersmesse gestürmt hatten, waren mit Pistolen bewaffnet. Ihre Feuerkraft reichte aus, um allen an der Mittagstafel Versammelten das Lebenslicht auszublasen. Amos Toolan, Hannibal Gould und die anderen saßen wie erstarrt. Sie waren sich darüber im klaren, daß die Nerven der Siedler bis zum Äußersten gespannt waren. Die Meuterei, wenn man sie so nennen wollte, hatte in der Luft gelegen. Doch niemand hatte damit gerechnet, daß es so rasch geschehen würde - vor allem, da auch Frauen und Kinder an Bord waren. Oder gerade deswegen? „Alle Hände auf den Kopf!" befahl der Rothaarige. „Faltet sie über dem Kopf, los, los! Stellt euch vor, das wäre jetzt die neue Form des Betens. Darin seid ihr doch solche Künstler." Die Männer an der Tafel gehorchten. Auf einen Wink des Rothaarigen begannen zwei Siedler, den Offizieren und dem Kapitän die Waffen abzunehmen. Die Puritaner trugen aus Überzeugung weder Blankwaffen noch Feuerwaffen bei sich.
46 Hannibal Gould, der knochige, finstere Mann, raffte seinen Mut zusammen und räusperte sich. „Es ist sinnlos, was ihr tut, Männer. Unser Schiff ist für die Rückreise über den Atlantik noch lange nicht ausgerüstet." Der Rothaarige lachte, und die anderen stimmten mit ein. Grinsend trat der Anführer der Siedler auf den Tisch zu und beugte sich vor. „Wer hat dir denn ins Ohr geflüstert, Mister Gould, daß wir sofort nach England segeln. Hältst uns wohl für mächtig dämlich, was? Als ob wir nicht zwei und zwei zusammenzählen könnten!" Er richtete sich auf und ließ seine Stimme dröhnen. „Ihr habt uns alle lange genug für dämlich gehalten Staat und Kirche, Lords und Pfaffen! Und hier, in der ach so schönen Neuen Welt wollt ihr es in der bewährten alten Weise weitertreiben! Deshalb seid ihr ja auch mit von der Partie du und deinesgleichen, Mister Gould! Sobald wir hier Fuß gefaßt hätten, habt ihr euch überlegt, würdet ihr euch als Pfaffen niederlassen und eure Pfründe sichern. Schmarotzer seid ihr! Schmarotzer an ehrlichen und hart arbeitenden Menschen! Aber ihr dürft gern hierbleiben. Werdet Missionare und bekehrt die Algonkins! Eine wahrhaft ehrenvolle Aufgabe, die da auf euch wartet! Die Königin wird es euch danken." Die bewaffneten Siedler brachen in schallendes Gelächter aus. Hannibal Gould und die anderen waren kreidebleich geworden. Doch sie wagten nicht, etwas zu erwidern. Sie hatten begriffen, in welcher Stimmung diese Männer waren. In ähnlicher Stimmung waren fraglos auch die restlichen Siedler an Bord der „Explorer". Und sie hatten einen günstigen Zeitpunkt gewählt. Philip Hasard Killigrew und der
größte Teil seiner Mannschaft waren zu einer Erkundung landeinwärts aufgebrochen. Der Seewolf hatte diesen Entschluß gefaßt, nachdem Michael Anderson von Bord des Dreimasters geflohen war. Ausschlaggebend war jedoch gewesen, daß es noch immer kein Lebenszeichen von Gordon Jameson und den zwanzig anderen Vermißten gab. Überdies war sicher, daß sich der junge Anderson auf eigene Faust auf die Suche nach Laura Stacey begeben hatte. Kapitän James Drinkwater und zwei Drittel seiner Crew befanden sich seit dem Aufbruch der Arwenacks an Land. Drinkwater war von dem Seewolf beauftragt worden, während der Aufräumungsarbeiten in der Siedlung für die notwendige Sicherheit zu sorgen. Aus den Trümmern der abgebrannten Hütten stiegen noch immer Rauchsäulen. Es war, als hätte sich das Feuer mit seiner wilden Glut bis tief in die Erde gefressen. Die Brandwachen bestanden weiter und wurden aus den Reihen der Siedler und der Schiffsbesatzungen abgelöst. „In Ordnung", sagte der rothaarige Anführer der Meuterer. Er imitierte den näselnden Ton, wie man ihn von Mitgliedern der höheren Gesellschaft und anderen Hochwohlgeborenen gewohnt war. „Wenn es den Gentlemen beliebt, dürfen sie gern an Land gehen. Genießen Sie Ihr künftiges Leben in Virginia. Wir hingegen dürfen Ihnen versichern, daß wir uns auf eine gesunde Rückkehr nach England freuen. Sie haben die Wahl, Gentlemen: Gehen Sie an Land oder auf die ,Pilgrim' - oder in die Vorpiek und die anderen feinen Kammern, die wir unter Deck haben!" Abermals wurden die Worte des
48 Rothaarigen von Gelächter untermalt. Amos Toolan erhielt einen Ellenbogenstoß von seinem Nebenmann Gould. Toolan räusperte sich. „Darf ich - darf ich etwas sagen, mein Freund?" begann er zaghaft und blickte den Rothaarigen dabei fast unterwürfig an. Der Anführer der Siedler grinste. „Du darfst, Mister Toolan. Allerdings unter einer Bedingung: Nenn mich nicht noch einmal deinen Freund. Das bin ich nämlich nicht. Keiner von uns ist dein Freund, weil du mit all diesen Burschen unter einer Decke steckst." Mit dem Doppellauf der Pistole wies er auf die acht Puritaner, die sich gern selbst als die Barmherzigen bezeichneten. „So. Jetzt fang an. Aber faß dich kurz. Unsere Zeit ist nämlich begrenzt." Toolan und die Offiziere waren mittlerweile entwaffnet und die Waffen auf ein Schapp in der Nähe des Schotts gelegt worden. Der Rothaarige gab dreien seiner Männer mit einem Handzeichen zu verstehen, daß sie die erbeuteten Pistolen und Säbel hinausschaffen und an Deck verteilen sollten. Zugleich war es die Nachricht für die Verbündeten draußen, daß alles reibungslos geklappt hatte. Toolan räusperte sich erneut. „Ähem - ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, Gentlemen . . . " „Ein überflüssiger Satz, Mister Toolan", knurrte der Rothaarige und trat drohend auf ihn zu. „Wir strengen uns von selber mächtig an, dich richtig zu verstehen. Noch so eine überflüssige Sprechblähung, und ich entziehe dir das Wort. Klar? Sag, was du zu sagen hast. Nicht mehr und nicht weniger." Toolans Mundwinkel zuckten, und seine feisten Wangen begannen zu be-
ben. „Ja, aber ja, natürlich. Es ist so, daß . . . " „Er schafft's einfach nicht ohne Einleitung", sagte der Anführer kopfschüttelnd. Die anderen lachten wieder. „Ihr stellt euch die Rückreise als ein Zuckerlecken vor", sagte Toolan. „Ihr seid aber keine Seeleute. Ich stehe euch nicht zur Verfügung, meine Offiziere nicht und die Mannschaft auch nicht. Im übrigen solltet ihr einmal darüber nachdenken, ob ihr in England wirklich willkommen seid." Die Siedler wechselten Blicke und feixten. „Auf deine werten Dienste verzichten wir gern, Mister Toolan", sagte der Rothaarige. „Das war Punkt eins. Deine Offiziere sind auch nicht zu viel mehr nütze, als sich den Bauch vollzuschlagen und die Gurgel mit Bier und Rum zu spülen. Was die Mannschaft betrifft, da bist du im Irrtum, Mister Toolan. Die Kerls sind in Ordnung. Sie haben sich samt und sonders auf unsere Seite geschlagen." „Dann werden sie in England als Meuterer hängen!" kreischte Toolan. Der Rothaarige hob den Zeigefinger der freien Hand, schüttelte den Kopf und bewegte den Zeigefinger dazu in gegenläufigem Takt. „Eine Behauptung deinerseits, Mister Toolan. Wenn wir nach England zurückkehren, wird unter uns keiner sein, der von einer Meuterei berichtet. Und jeder wird uns glauben, wenn wir erzählen, daß die bedauernswerte Schiffsführung in ihrer Gesamtheit ein Opfer der roten Wilden von Virginia wurde. Der ach so beklagenswerte Mister Toolan, seine tüchtigen Offiziere und die Gentlemen um den frommen Mister Gould wurden doch tatsächlich während eines Spazier-
49 gangs in paradiesischer Umgebung von den roten Teufeln niedergemacht, geköpft und dann gefressen." Die Siedler brüllten vor Lachen. Arnos Toolan griff sich unwillkürlich an den Hals. Gould und die anderen waren noch bleicher geworden. „Für einen Bauernlümmel bist du reichlich wortgewandt", sagte Gould in die Stille hinein. Er konnte sich nicht zurückhalten und es hinnehmen, daß seine aus religiösem Einfluß gewachsene Autorität so sehr mißachtet wurde. Der Rothaarige war mit zwei, drei schnellen Schritten um den Tisch herum, packte den Knochigen am Kragen und stieß ihn gegen die Holztäfelung zwischen zwei Bleiglasfenstern. Mit der Linken preßte der Anführer den finsteren Mann gegen das Holz, mit der Rechten drückte er ihm die Doppelmündung der Pistole unter das Kinn. „Ein Bauernlümmel", flüsterte er, „hat viel freie Zeit, Mister Gould. Und wenn er ein bißchen Grips im Schädel hat, nutzt er die Zeit zum Nachdenken - vielleicht sogar, um Lesen und Schreiben zu lernen. Was er zwangsläufig auch dabei lernt, das ist, Scheinheilige wie dich zu durchschauen. Überlege dir gut, was du sagst. Noch einen Ton von der Art wie eben, und ich blase dir den Kopf auseinander." Mit eiserner Faust führte er Gould zu seinem Stuhl zurück und dirigierte ihn auf die Sitzfläche. Die Blicke des Knochigen waren wie düsteres Feuer des Hasses. Doch er wagte nicht, noch ein Wort von sich zu geben. Der Rothaarige trat vom Tisch zurück. „Also, Gentlemen, ihr habt eine halbe Stunde Zeit, euch zu entscheiden. So lange werdet ihr bewacht.
Meine Männer haben Anweisung, sofort zu schießen, falls einer von euch eine falsche Bewegung ausführt." Er wandte sich ab, nickte den anderen noch einmal aufmunternd zu und verließ die Messe. Die Männer waren entschlossen genug, sich nicht einlullen zu lassen. Das sahen auch Kapitän Toolan, seine Offiziere und die Barmherzigen. Als der Anführer der Siedler an Deck zurückkehrte, waren die beiden Beiboote der „Explorer" bereits zu Wasser gelassen und bemannt worden - an der Seite, die der „Pilgrim" abgewandt war. Der Rothaarige enterte in eins der Boote ab. Zügig pullten sie zur „Pilgrim" hinüber. Gleich darauf hallten Axtschläge über die Wasseroberfläche. Bestürzte Gesichter wurden über der Verschanzung der Galeone sichtbar. Sie blickten in die Laufmündungen von Musketen. Das eine Boot der „Explorer" lag querab, und die Männer auf den Duchten hielten ihre Langwaffen schußbereit. Unterdessen war die zweite Bootsbesatzung dabei, die Ruderanlage der „Pilgrim" so weit zu zerstören, daß die Reparatur mindestens zwei Tage dauern würden. An die Schebecke trauten sich die Siedler indessen nicht heran. Zum einen wußten sie, daß es sich selbst beim Rest der Mannschaft an Bord um äußerst harte Brocken handelte. Zum anderen hatten sie aber auch den Seewolf als einen äußerst fairen Mann kennengelernt. Er würde Verständnis für ihre Entscheidung haben. Als die beiden Bootsbesatzungen an Bord der „Explorer" zurückkehrten, hatte sich auch die Schiffsführung entschieden. Amos Toolan ver-
50 kündete mit zittriger Stimme, man wünsche, an Bord der „Pilgrim" gebracht zu werden. Die Siedler grinsten sich eins. Es paßte zu diesen Helden, daß sie sich nicht an Land wagten. Nur auf der anderen Galeone fühlten sie sich sicher. Möglichen Angriffen der Algonkins ausgesetzt zu sein, wollten sie bei all ihrer Frömmigkeit denn doch nicht in Kauf nehmen. Missionarischen Eifer würden weder Mister Hannibal Gould noch einer der anderen Barmherzigen an den Tag legen. Die Kraft ihres Glaubens reichte nicht so weit, daß sie dafür etwa noch das eigene Leben aufs Spiel setzten. Nachdem sie auf die „Pilgrim" gebracht worden waren, wurden von dort auch jene Siedler mit ihren Frauen und Kindern übernommen, die sich entschlossen hatten, diesem feindseligen Land wieder den Rücken zu kehren. Es blieben nur wenige an Bord der „Pilgrim". Auf der „Explorer" herrschte unterdessen frohe Aufbruchstimmung. Kapitän Drinkwater schien sich nicht einmischen zu wollen. Ebensowenig die paar Männer, die auf der Schebecke geblieben waren. Keiner von ihnen wollte offenbar so recht glauben, daß die „Explorer" wirklich ankerauf gehen würde. Außerdem waren die Siedler gemeinsam mit der Crew zur Zeit ohnehin in der Übermacht. Für die Meuterer stand fest, wie die nächsten Schritte aussehen würden. Zunächst einmal würde man auf Abstand von den bisherigen Verbündeten gehen - mit unbekanntem Ziel. Sobald man in Sicherheit war, konnte man in aller Ruhe dafür sorgen, die erforderlichen Vorräte für die Atlantiküberquerung zusammenzustellen.
Was das Trinkwasser betraf, würde es dabei keine Probleme geben, denn das Land bot Süßwasserreservoirs in Hülle und Fülle. Schwieriger würde es bei der Verproviantierung werden. Dieses Problem mußte gelöst werden, indem man auf die Jagd ging und Fleisch einpökelte. Wo ein Wille war, da gab es schließlich auch ein Weg. In ihrer glühenden Entschlossenheit, dem ungeliebten fremden Land den Rücken zuzuwenden, fühlten sich die Siedler in der Lage, Berge zu versetzen.
Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, als es mit der Mittagsträgheit im Dorf der Algonkins schlagartig vorbei war. Aus allen Ekken und Winkeln strömten sie herbei. Männer, Frauen und Kinder, auch die Greise hatten Erlaubnis erhalten, das sich Anbahnende zu begaffen. Lauras Augen waren verkrustet. Der Schweiß hatte auf ihrem Gesicht eine Schicht gebildet, die jedesmal dann aufplatzte, wenn sie die Wangenmuskeln bewegte. Wenn sie mit der Zunge in die Mundwinkel und über die Lippen fuhr, spürte sie den Salzgeschmack. Sie fühlte sich wie ausgedorrt von der Sonne. Sprechen konnte sie nicht, das wußte sie. Ihr Hals und der Mund schienen von trockenem Schwammgewebe ausgefüllt zu sein. Die Dorfbewohner versammelten sich dort, wo zuvor die Männer als Zuschauer der Hinrichtung gesessen hatten. Kinder tollten herum, und Hunde drangen schnüffelnd immer wieder zu der Leiche des Engländers vor, bis sie jaulend den Schwanz einzogen und davonstoben, wenn sie von
51 jüngeren Männern vertrieben wurden. Laura war sich ihrer Nacktheit kaum noch bewußt. Sie schämte sich nicht mehr. Viel stärker, ja übermächtig, war das Grauen. In den Stunden seit der Hinrichtung hatte sie nichts zu essen oder zu trinken erhalten. Die furchtbar zugerichtete Leiche des hageren Mannes war nicht einmal angerührt worden. Ein christliches Begräbnis würde es für ihn nicht geben, davon war Laura inzwischen überzeugt. Sie vermutete, daß man den Toten später nach außerhalb des Dorfes bringen und ihn den aasfressenden Tieren überlassen würde. So würde es auch ihr ergehen. Vielleicht morgen, vielleicht übermorgen. Man würde sie an diesem entsetzlichen Pfahl stehenlassen, bis alle Kraft aus ihr gewichen und sie halb tot war. Und dann - sie sah das Schreckensbild vor Augen, es ließ sich nicht aus ihrem Bewußtsein verscheuchen. Ja, dann würde man sie neben die blanken Knochen des toten Engländers werfen. Sie würde nicht mehr die Kraft haben, aufzustehen. Bei noch lebendigem Leib würde sie von Wölfen, Krähen oder anderem Getier zerrissen werden. Das Grauen ließ sie trotz der Sonnenglut erschauern. Sie sah die aufgeregt schnatternden Frauen und Kinder nur durch Schleier. Ihre Augen brannten, sobald sie sie zu weit öffnete. Flammen schienen durch die Schleier zu züngeln, doch sie wußte, daß dieser Eindruck nur durch die geröteten Ränder der Augen entstand. Lange Minuten verstrichen, bis Laura begriff, was die Aufregung im Dorf bedeutete. Denn erst nach Minu-
ten vermochte sie die Schritte und das Stimmengemurmel zu hören. Sehen konnte sie niemanden, da sie mit dem Rücken zum Dorfeingang stand. Dann erschienen die gefesselten Männer rechts neben ihr innerhalb des Pfahlkreises. Jähe Fassungslosigkeit traf Laura wie ein Prankenhieb. Obwohl es höllisch brannte, riß sie die Augen weit auf. Sie las die gleiche Bestürzung in den Gesichtern der Männer. Gordon Jameson und ein paar andere kannte sie mit Namen, alle übrigen waren ihr zumindest vom Sehen bekannt. Im nächsten Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Die Krieger, die die Gefangenen hergebracht hatten, bauten sich oberhalb des Pfahlkreises auf. Laura wußte sofort, daß der Mann mit den drei bunten Federn der Häuptling sein mußte. Shenon war sein Name. Sie hatte es aus den Beschimpfungen herausgehört, mit denen sie während der vergangenen Stunden gedemütigt worden war. Immer wieder war drohend von Shenon die Rede gewesen. Die anderen Wörter hatte Laura natürlich nicht verstanden, aber sie hatte begriffen, daß dieser Shenon es ihr schon zeigen würde. Ihr - stellvertretend für alle anderen Weißen. So ähnlich war es aus den furchterregenden Grimassen herauszulesen gewesen. Doch nun war sie nicht mehr allein. Jameson und die anderen würden ebenfalls die Grausamkeit der Indianer zu spüren kriegen. Jene Krieger, die im Dorf geblieben waren, gesellten sich zu ihren erfolgreich heimgekehrten Gefährten. Frauen, Kinder und die Alten wurden zu den Seiten des Platzes hin verscheucht. Shenon hob beide Hände. Seine ehrerbietende Geste ließ das
52 Stimmengewirr augenblicklich verstummen. „Erste Worte, meine, gelten euch, Weißhäute!" rief der Häuptling. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte in die Runde. Laura staunte, daß er sich in der englischen Sprache immerhin ausdrücken konnte. Aber die Erklärung lag für sie im nächsten Moment auf der Hand. Shenon hatte sich von dem Engländer unterrichten lassen, der auf so bestialische Weise umgebracht worden war. Aus den Blicken der Algonkins war jedenfalls zu lesen, wie sehr sie ihren Häuptling wegen seiner Sprachkenntnisse bewunderten. „Ihr alle - des Todes!" fuhr Shenon fort. „Ihr nehmt Land - was ist unser! Ihr nehmt Tiere - was ist unser! Ihr nehmt Feldfrüchte - was ist unser! Ihr schlimmer - als Huronen. Huronen nur kämpfen - nicht rauben. Ihr alle des Todes! Hütten und große Kanus - alle brennen! Alle sterben!" Die Furcht höhlte Laura aus wie mit alles verzehrender Glut. Sie vermochte nicht zu denken. Shenon erklärte für seine Stammesgenossen, was er auf englisch gesagt hatte. Laura ahnte, was geschehen würde. Jameson und die anderen ahnten es ebenfalls. Denn sie hatten ihren toten Landsmann bereits gesehen. Sie brauchten sich keinen falschen Hoffnungen mehr hinzugeben. Sie würden nicht tagelang gefangengehalten werden und vielleicht irgendwann einen Ausbruchsversuch wagen können. Sie würden auf ebenso grauenvolle Weise sterben wie jener Landsmann, der dort vor ihnen im Staub lag. Lauras düstere Vermutung bestätigte sich kurz darauf. Nachdem Shenon seine Rede in der Algonkin-Sprache gehalten hatte, lie-
fen die Krieger in den Pfahlkreis. Jeweils zwei Siedler wurden Rücken an Rücken an die äußeren Pfähle gefesselt. Das Martyrium in der sengenden Sonne begann. Zugleich wurden sie von der Ungewißheit zermürbt. Die Algonkins würden ihnen nicht den Gefallen tun, ihnen mitzuteilen, wann sie von ihren Qualen erlöst werden würden.
Der Seewolf, Dan O'Flynn und Don Juan de Alcazar hatten gemeinsam die Führung der Gruppe übernommen. Batuti pirschte sich drei Schritte vor ihnen durch das fremde Land. Sie hielten ständigen Sichtkontakt. Hasard hatte es allen eingeschärft: Niemals durfte einer für sich allein bleiben, und wenn es auch nur für eine Sekunde war. Dem Einsatztrupp gehörten außerdem Edwin Carberry, Ferris Tucker, Smoky, Blacky, Pete Ballie, Gary Andrews, Matt Davies, Al Conroy, Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey, Paddy Rogers und Roger Brighton an. Die übrigen Crewmitglieder waren unter Ben Brightons Kommando an Bord der Schebecke zurückgeblieben. Etwa vier Meilen weit waren sie bereits landeinwärts vorgedrungen. Das Gelände bestand aus Sumpfwäldern und Buschgelände, das von Wasserläufen durchzogen wurde. Batuti hatte am östlichen Ufer der Bucht jene Stelle gefunden, an der Michael Anderson an Land gegangen war. Der Seewolf und seine Gruppe hatten diese Stelle als Ausgangspunkt für ihre Suche genommen. Hasard hatte entschieden, nicht länger untätig in der Siedlung zu bleiben. Es mußte endlich etwas unter-
54 nommen werden. Michael Anderson und sein aberwitziges Verhalten waren nur der äußere Anlaß. Es ging um Laura Stacey ebenso wie um Gordon Jameson und die zwanzig anderen Vermißten. Michaels Fußspuren waren noch frisch und weniger als eine Stunde alt. Batuti hatte keine Mühe, sie im hohen Gras und im weichen Waldboden zu verfolgen. Plötzlich verharrte der schwarze Herkules. Hasard gab das Zeichen zum Halten. Unwillkürlich griff er zum Dreh--ng. Die anderen folgten seinem Beispiel, obwohl die vorderen in der Marschformation sehen konnten, daß es keine drohende Gefahr war, auf die Batuti reagiert hatte. Jeder aus der Crew der Arwenacks kannte das Verhalten des anderen gut genug, um es sofort richtig einzuschätzen. Gleich darauf scharten sie sich um das grausige Fundstück. Ein Stiefel mit einem abgetrennten Unterschenkel. Michael Anderson war ebenso auf diese furchtbare Spur gestoßen wie eine größere Gruppe von Männern, die ebenfalls Stiefel trugen. Kein Zweifel, daß es sich um Jameson und seine Leute gehandelt hatte. Batuti, Hasard und Dan folgten der abzweigenden Spur ein Stück zurück. Dann fanden sie die Stelle, an der die Gruppe die Nacht verbracht hatte. Von Übernachten konnte keine Rede sein, denn es ließ sich ohne große Gedankenanstrengung folgern, daß hier kaum einer ein Auge zugetan hatte. Sie setzten ihren Weg fort. Bald darauf wußten sie, wer der Getötete war. Scotty Shaftoe hatte zu den Vermißten gehört. Der Seewolf ließ ein Grab ausheben und seinen mißhandelten Körper bestatten. Aus dem
Pfahl, der auf der Schneise gestanden hatte, schlug Ferris Tucker mit seiner Axt ein Kreuz zurecht, das sie in den Erdboden am Kopfende des Grabes rammten. Die Stimmung der Männer war gedrückt, als sie weiter westwärts in das unbekannte Land vordrangen. Alle brüteten über die gleichen Fragen nach: Würden sie Gordon Jameson und seine Männer noch lebend aufspüren? Und Michael Anderson? Was war mit Laura Stacey geschehen? Nach den bisherigen Erfahrungen mit den Algonkins würde sie kaum noch am Leben sein. Es sei denn, die Indianer hatten ihr schlimmere Qualen zugedacht. Die Grausamkeiten waren durch nichts mehr zu rechtfertigen. Die anfänglichen Überfälle durch die ersten Siedler, so sagte sich der Seewolf, hatten durchaus Vergeltungsmaßnahmen verdient. Doch mit ein bißchen gutem Willen auf beiden Seiten wäre ein friedliches Nebeneinander durchaus möglich gewesen. Das Land schien unendlich groß zu sein und konnte unmöglich von den Algonkins allein bewohnt werden. Dafür gab es jedenfalls kein Anzeichen. Und da sie ebenfalls Felder bestellten, also zumindest teilweise Bauern waren, durften sie auch nicht für sich beanspruchen, daß sie alles Land als ihre Jagdgründe brauchten. 8. Der Name des Rothaarigen war Rory Calloway. Gemeinsam mit drei Männern aus der Crew hatte er sich auf dem Achterdeck der „Explorer" aufgebaut und sich den Siedlern und Mannschaftsmitgliedern vorgestellt, die ihn noch nicht kannten.
55 „Frauen und Kinder unter Deck!" „Wenn keiner von euch etwas dagegen hat", sagte er, „werde ich für die rief er. „Spill-Gangs - hievt Anker! Dauer unserer Rückreise das Amt des Rest-Crew in die Wanten! MännliKapitäns übernehmen. Seemännisch che Siedler halten sich für Hilfsleihabe ich allerdings so gut wie über- stungen bereit!" haupt keinen Schimmer. Deshalb Stiefelsohlen trappelten eilig über werde ich mich mehr auf den großen die Decksplanken. Sekunden später Überblick beschränken und die erfor- schon stemmten sich die Männer in derlichen Anordnungen erteilen. Bei die Spillspaken, und die Trosse wichtigen Entscheidungen werden ruckte knarrend an. Leichtfüßig wir natürlich abstimmen und nach enterten die anderen zugleich in den dem Willen der Mehrheit verfahren. Wanten auf. Für das Seemännische sind im übriEs herrschte ein handiger ablandigen die Gentlemen Geoff Mahoney, ger Wind. Während der MorgenstunWesley Collins und Albert Jones zu- den hatte er überwiegend aus nordständig." Er deutete mit einer ausla- westlichen Richtungen geweht. Wie denden Armbewegung auf die drei es schien, würde sich daran auch Männer, die neben ihm standen. während des Nachmittags nichts änDie drei verbeugten sich. Sie gehör- dern. ten zu den Dienstältesten in der Allerdings waren sich die Männer Crew, Collins hatte unter dem Kom- darüber im klaren, daß sie wenig mando von Kapitän Toolan ohnehin Erfahrung hatten, was das Wetter in den Rang des Decksältesten innege- diesen unbekannten Breiten betraf. habt. Während Collins weitere Befehle „Die dringlichsten Vorbereitungen brüllte, begab sich Calloway zur sind getroffen", fuhr Rory Calloway Heckbalustrade. Vom Achterdeck mit erhobener Stimme fort. „Wir ha- der Schebecke wurde die „Explorer" ben genügend Trinkwasser und auch mit Spektiven beobachtet. Calloway einen Rest der alten Proviantvorräte kannte die beiden Männer, die dort an Bord. Daher können wir getrost standen und herüberspähten: Ben erst einmal diese wenig gastliche Brighton, der Erste Offizier des SeeBucht verlassen. So bald wie möglich wolfs, und Big Old Shane, der Hüne werden wir an einem sicheren Ort er- mit dem wallenden Bart. neut ankern, um unsere Vorräte aufInsgeheim staunte Calloway, daß zufrischen. Nach meinem Eindruck sie nichts unternahmen. Doch andescheint niemand von unseren bisheri- rerseits war es erklärlich. Mit den gen Gefährten etwas dagegen zu ha- paar Mann an Bord waren sie kaum ben, wenn wir uns freundlichst emp- manövrierfähig. Sie waren lediglich fehlen." eine verstärkte Wache für ein vor Einige auf der Kuhl lachten. Alle Anker liegendes Schiff. klatschten. Geschütze wirkungsvoll bedienen, „Mister Collins hat das Kom- das konnten sie erst recht nicht. In mando!" rief Calloway und trat von der Beziehung waren sie der zahlender Querbalustrade zurück. starken Besatzung der „Explorer" Collins, ein vierschrötiger Mann, unterlegen. Wenigstens als Geübernahm seinen Platz an der Balu- schützcrews konnten sich die Siedler strade. als nützlich erweisen. Und sie würden
56 ihren Mann stehen. Daran zweifelte Rory Calloway nicht im mindesten. Das Tuch rauschte von den Rahen abwärts. Der Wind griff in das lohfarbene Gewebe und blähte es zu bauchigen Flächen. Die Galeone ächzte und knarrte in ihren Verbänden. Es war wie Musik in Calloways Ohren. Er wußte, daß es seinen Gefährten sowie den Frauen und Kindern nicht anders erging. Gefaßt nahmen sie die Schrecken einer erneuten Fahrt über den Atlantik auf sich. Diese Schrecken würden nichts sein gegen das, was sie hier, in Virginia, erlebt hatten. Die Vorstellung, eine Zukunft unter der ständigen Bedrohung durch die blutrünstigen Wilden aufzubauen, war zu schlimm, als daß man damit hätte leben können. Calloway winkte den Männern am Strand zu, als die Galeone langsam Fahrt gewann und auf den Ausgang der Bucht zuglitt. Die Siedler, die sich jetzt noch an Land aufhielten, hatten ihre Wahl getroffen. Sie hatten sich für das neue Leben voller Gefahren und Entbehrungen entschieden. Wenn sie nicht niedergemetzelt wurden, starben sie wahrscheinlich an Hunger. Sie würden nicht in der Lage sein, rechtzeitig ihre Felder zu bestellen. Irgendwie taten sie Calloway leid. Ihn selbst und alle anderen an Bord der „Explorer" erfüllte ein unbändiges Freudengefühl. Gewiß, was sie in England erwartete, war alles andere als ein Honiglecken. Aber es war immer noch besser als diese grauenerregende Wildnis mit ihren mordgierigen Bewohnern. Die „Explorer" erreichte bald den Ausgang der Bucht und segelte in Küstennähe nach Süden. Noch eine Weile waren über dem flachen Ufer-
land die Segel des Dreimasters zu sehen. Dann über war auch das vorbei.
Laura brachte es nicht mehr fertig, die Augen zu öfffen. Zu sehr brannte die Schweißkruste, sobald sie auch nur ein Lid anhob. Sehen konnte sie ohnehin nichts mehr. Auch ihre Kräfte ließen nach. Noch stand sie auf ihren Beinen. Doch sehr bald schon, das spürte sie, würde sie sich sacken lassen und nur noch von den Fesseln gehalten werden. Den Männern, die an die Außenpfähle gefesselt worden waren, ging es kaum besser als ihr. Sie hatten die Strapazen des langen Marsches hinter sich, und die Sonne begann nun zu wirken. Der Durst quälte sie am meisten. Aber höllisch waren auch die Fesseln aus Rohhautschnüren, die ihnen scharf in die Haut schnitten und den Fluß des Blutes in ihren Adern hemmten. Besonders schlimm wirkten sich die Schnüre aus, die über den Oberschenkeln straffgezogen worden waren, nur knapp oberhalb der Knie. Die meisten Männer hatten kaum noch ein Gefühl in den Beinen. Mit den Armen verhielt es sich keinen Deut besser. Die Handgelenke waren ihnen jeweils seitlich aneinandergebunden worden. Doch sie bissen die Zähne zusammen. Sie alle hatten Lauras Beispiel vor Augen, und sie bewunderten die junge Frau, die noch immer keinen Schmerzenslaut von sich gegeben hatte. Sie sahen aber auch ihren toten Landsmann. Seine Leiche lag noch immer dort, in der oberen Hälfte des Pfahlkreises, und er würde wohl niemals ein würdiges Begräbnis erhal-
57 ten, wie es einem Christenmenschen zustand. Gordon Jameson hatte einige Worte mit Laura wechseln können. Das gesamte Dorf hatte sich nach dem Essen zur Ruhe gelegt. In dieser Zeit war es möglich gewesen, leise zu sprechen. Natürlich hatte keiner der Gefangenen auch nur den kleinsten Bissen erhalten. Man ließ sie absichtlich hungern und dursten. Gordon Jameson hatte berichtet, was in der Siedlung geschehen war. Und Laura hatte geschildert, immer wieder von Hustenanfällen unterbrochen, wie sie den Algonkins in die Hände gefallen war. Sie hatte auch beschrieben, wie der unbekannte englische Siedler hatte sterben müssen. Auch, daß die Indianer dafür nach seiner eigenen Auskunft ihr, Lauras, Auftauchen zum Anlaß genommen hatten. Jameson hatte ihr nicht gesagt, welche Vermutung er von diesem Moment an hegte. Sie würden alle sterben. Nur Laura würde am Leben bleiben. Bestimmt würde sie eines Tages freigelassen werden - gewissermaßen als Abschreckung. Sie sollte etwaigen weiteren Siedlern berichten, was sich abgespielt hatte. Sie sollte der lebende Beweis dafür sein, daß die Algonkins imstande waren, sich gegen die Eindringlinge von jenseits des Atlantik zur Wehr zu setzen. Die Sonne befand sich nun bereits auf ihrem Abwärtsweg zum westlichen Horizont. Die Gefangenen hatten angefangen, zu beten. Wie, in aller Welt, sollten sie die Nacht überstehen? Es würde nicht nur kalt werden. Nein, ihre Gliedmaßen würden absterben. Und am nächsten Morgen waren sie dann mehr tot als lebendig. Dann war es ihnen schon lieber, ein
gnädiges Ende zu finden. Aber nicht einmal das würde man ihnen gewähren. Gordon Jameson ahnte, daß nicht wenige von ihnen dem Wahnsinn nahe sein würden, wenn die Nacht erst einmal vorüber war. Doch dann zeigte sich plötzlich, daß es keine Nacht mehr für sie geben würde. Eine Zeremonie begann. Laura Stacey schaffte es, ihre Augen nur um einen schmalen Spalt zu öffnen. Obwohl sie ahnte, welches neue Grauen sich damit verband, konnte sie nicht anders. Sie mußte sehen, was geschah. Sie wollte das Verderben nicht unvorbereitet auf sich einstürzen lassen. Die ersten, die oberhalb des Pfahlkreises erschienen, waren Indianer mit bunt ausgekleideten und geschmückten Trommeln. Sie hockten sich auf die Baumstümpfe, die als Sitzgelegenheit dienten. Augenblicklich begannen sie mit dumpfen Schlägen in einem langsamen Rhythmus. Laura fror von neuem, trotz der immer noch unerbittlichen Hitze. Lange Zeit waren nur die Trommelschläger am Werk. Laura begriff nicht, was das Ritual bedeutete. Die Hinrichtung des Engländers hatte ohne Äußerlichkeiten stattgefunden - kalt und grausam in ihrem kurzem Ablauf. Warum also jetzt dieser Aufwand? Hing es damit zusammen, daß der Häuptling wieder anwesend war? So mußte es sein. Die Tötung des einen Gefangenen mußte auf eine Anweisung Shenons zurückgehen. Sobald sie einen zweiten Weißen in ihrer Gewalt hatten - so hatte vermutlich sein Befehl gelautet -, war der Engländer vor den Augen eben jenes zweiten Gefangenen zu töten gewesen.
58 Eine zweite Gruppe von Algonkins erschien. Ihre Kleidung bestand überwiegend aus Leder und war noch bunter geschmückt als die der Trommler. Es handelte sich um die Tänzer. Oberhalb des Platzes, zwischen den Außenpfählen und den Trommlern, nahmen sie in einer langen Reihe Aufstellung. Dann begannen sie, sich in wiegendem Takt zu bewegen, wobei sie nichts weiter taten, als abwechselnd mit dem linken und dem rechten Fuß aufzustampfen. Es folgten die Scharfrichter. Sie trugen nichts als den Lendenschurz und waren nicht weiter geschmückt. Lediglich die Streitäxte wiesen auf ihre bevorstehende blutige Tätigkeit hin. Sie hielten die schweren Hiebwaffen geschultert und nahmen neben den Trommelschlägern Aufstellung. Als letzter erschienen Häuptling Shenon und die restlichen Männer des Dorfes. Schweigend ließen sie sich auf den noch vorhandenen Sitzgelegenheiten nieder. Frauen, Kinder und Alte schienen nicht zugelassen zu sein. Jünglinge tauchten auf und versorgten erst den Häuptling und dann die anderen mit gefüllten Trinkgefäßen. Die Trommler beschleunigten ihren Rhythmus kaum merklich. Laura hatte plötzlich eine vage Ahnung, wie es ablaufen würde. Möglicherweise würde die Zeremonie die ganze Nacht über andauern. Vielleicht war es auch in diesem fremden Land üblich, Hinrichtungen kurz vor Sonnenaufgang durchzuführen.
Batuti verharrte von neuem, diesmal am Rand eines kleinen Wald-
stücks. Er gab ein Handzeichen, und der Seewolf und die anderen näherten sich mit der gebotenen Vorsicht. Dan O'Flynn übernahm es, die erforderlichen Wachen einzuteilen, die für die Dauer des Aufenthalts nach allen Himmelsrichtungen zu sichern hatten. Zwischen den Luftwurzeln zweier Bäume war das Gras plattgedrückt. Keine Frage, daß hier jemand gerastet hatte. Ein Mann allein. Die Abdrücke waren noch frisch, wahrscheinlich weniger als eine Stunde alt. Was Batutis Aufmerksamkeit erweckt hatte, waren jedoch die Blutstropfen. Hellrot schillerten sie auf verschiedenen Grashalmen. Das Licht der sinkenden Sonne rief winzige Reflexe auf den Tropfen hervor. „Er mußte mal wieder eine Verschnaufpause einlegen", sagte der Gambiamann und blickte lächelnd zu Hasard und den anderen auf. „Weil nämlich passiert ist, was einfach passieren mußte. Die Wunde ist aufgebrochen, der Verband durchgeblutet." Der Seewolf nickte. „Hoffentlich muß er für seine Unvernunft nicht noch mehr bezahlen. Wenn er in seinem jetzigen Zustand den Indianern in die Hände fällt . . . " Er sprach nicht zu Ende. „Vielleicht ist er auch längst zusammengeklappt", sagte Don Juan. „Mit einer solchen Wunde überhaupt so viele Meilen weit zu gehen, ist schon eine Leistung." „Er hätte wissen müssen, was er sich da für einen Schwachsinn leistet", fügte Dan hinzu. „Ich begreife nicht, was er überhaupt ausrichten will. Will er etwa seine Verlobte in einem nächtlichen Alleingang aus den Händen der Algonkins befreien?"
59 „Was denn sonst!" ließ sich Carberry dröhnend vernehmen. „Wenn so ein unerfahrenes junges Rübenschwein bis über beide Ohren verliebt ist, passieren die verrücktesten Sachen." „Beeilen wir uns", sagte Hasard. „Möglich, daß wir ihn noch erwischen, bevor er Unheil anrichtet." Erneut übernahm Batuti die Führung. Das Land, das vor ihnen lag, war flach wie ein Brett. Nur am westlichen Horizont zeichnete sich eine dunkelgrüne Hügelkette ab. Das Grün der Ebene war heller, von kleinen Waldstücken und Buschgruppen wie von Quasten durchsetzt. Zahlreiche Bachläufe und ein Fluß auf etwa halber Distanz zu den Hügeln waren jetzt zu erkennen. Nicht alle Bäche ließen sich mit einem Sprung überwinden. Etliche mußten durchwatet werden. Die Aussicht stimmte die Arwenacks nicht gerade heiter. Sie fanden Michael Anderson nur wenige Yards vom Flußufer entfernt. Er lag bewußtlos am Rand des Trampelpfades, der hier entstanden war. Der Schulterverband war mittlerweile blutdurchtränkt. Hasard und seine Männer wußten, daß sie ihn für nichts in der Welt bis zum Schlupfwinkel der Indianer mitschleppen würden. Deshalb überlegte der Seewolf nicht lange. „Paddy und Roger", sagte er. „Ihr beiden bringt ihn zurück. Normalerweise würde ein Mann dafür genügen. Aber man weiß nicht, wo unter Umständen noch Algonkins lauern. Deshalb stützt einer von euch den Verwundeten, und der andere hält die Augen offen." Paddy Rogers und Roger Brighton murrten nicht, obwohl ihren Gesichtern anzusehen war, daß sie ihre Ge-
fährten lieber begleitet hätten. Kurzerhand hoben sie den noch Bewußtlosen gemeinsam auf, nahmen ihn in die Mitte und trugen ihn zurück in die Richtung, aus der sie heranmarschiert waren. Wenn er wieder zu Bewußtsein gelangte, konnte er protestieren, soviel er wollte - jedenfalls würde er dann niemanden mehr davon überzeugen, daß er unbedingt seine Suche fortsetzen müsse. Hasard und die anderen gönnten sich keine längere Pause. Zügig setzten sie ihren Weg fort. Die Spuren waren deutlich genug. Daher entdeckten sie das Kanu, das im Schilf verborgen lag. Sie benutzten es, um über den Fluß zu setzen. Die Sonne näherte sich bereits dem Hügelkamm. Etwa nach einer halben Stunde hörten sie die Trommelschläge, noch bevor sie etwas von einer Ansiedlung entdeckten. Sie beschleunigten ihre Schritte. Schon nach Minuten hörten sie die Trommeln deutlicher und dröhnender. Die Richtung ließ sich klarer bestimmen. Keine weitere halbe Stunde verging, und sie sahen die Hütten, die sich dort an den Hügel duckten. Die beginnende Abenddämmerung begünstigte ihr Vordringen. Hasard ließ die Männer ausschwärmen. Jeder hatte weiterhin darauf zu achten, daß Sicht- und Ruf kontakt zu den Nebenmännern bestand. Natürlich würden Wachen aufgestellt sein. Was sich auch in dem Dorf abspielen mochte, die Algonkins würden es nicht ungeschützt geschehen lassen. Während sie im Buschgelände von Deckung zu Deckung schlichen, gab Batuti unvermittelt das Zeichen, indem er den Seewolf an der Schulter berührte. Hasard gab das Zeichen sofort weiter. Die gesamte Gruppe verharrte.
60 Es war der erste Posten, den der Gambianeger entdeckt hatte. 9. Geduckt und ohne das leiseste Geräusch zu verursachen, schlich Batuti auf den Indianer zu. Noch zehn Yards hatte er bis zu dem Posten zurückzulegen. Unbeweglich wie eine Statue lehnte der bronzehäutige Mann an der Stirnwand einer dieser halbrunden Hütten. Er war nach Nordosten gewandt. Konnte er bei Tage sicherlich einen großen Teil des Geländes überblicken, so mußte er sich jetzt in erster Linie auf sein Gehör verlassen. Eben dafür war Batuti der richtige Mann. Er gab dem Wachtposten keinen Grund, die Ohren zu spitzen. Und sicherlich befand sich ein zweiter Posten an der Südostseite des Dorfes. Auch er mußte überrumpelt werden, ohne daß er die anderen alarmieren konnte. Zwar dröhnten die Trommeln heftiger als zuvor, und auch der Rhythmus hatte sich geringfügig beschleunigt. Doch die Posten würden wissen, auf welche Weise sie sich Gehör verschafften - für den Fall, daß sie Alarm zu schlagen hatten. Dank seiner schwarzen Haut brauchte der Gambianeger keinerlei Tarnung. Die Hose, die er trug, war ebenfalls dunkel. Er hatte alle Landschaftsformen dieser Welt kennengelernt, und überall bewegte er sich so völlig sicher wie damals in seiner afrikanischen Heimat. Der Seewolf hatte ihn aus den Klauen von Sklavenhändlern befreit, und Batuti hatte das niemals vergessen. Er war seitdem bei Hasard geblieben. Vier Yards von dem Posten entfernt, verharrte der schwarze Herku-
les hinter dem letzten Busch, der ihm als Deckung blieb. Zwischen ihm und dem Indianer lag jetzt nur noch freie Fläche. Batuti wartete sekundenlang. Dann war er sicher, daß der Algonkin keinen Verdacht geschöpft hatte. Er zog sein Messer. In diesem Kampf gab es kein Erbarmen mehr. Zu viele Menschenleben standen auf dem Spiel. Denn daran, daß zumindest die Jameson-Gruppe in diesem Dorf gefangengehalten wurde, bestand mittlerweile kein Zweifel mehr. Alle Spuren führten hierher. Unterwegs hatte es keinerlei Anzeichen gegeben, die auf einen Aufenthalt oder eine geänderte Marschrichtung hingedeutet hätten. Batuti spannte die Muskeln. Langsam richtete er sich auf. Jäh schnellte er los. Der Algonkin sah ihn einen Sekundenbruchteil zu spät. Batuti war blitzartig bei ihm und ließ das Messer niedersausen. Er sah das vor Entsetzen verzerrte Gesicht des Indianers, als er ihn im schwachen Schein von Mond und Sternen zu Boden gleiten ließ. Batuti duckte sich neben ihn. Die Gesichtszüge des roten Mannes glätteten sich und erschlafften. Der Gambiamann verschwendete keine Zeit. Er verstaute das Messer in der Scheide. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Posten tot war, zog er sich geduckt und lautlos in das Buschwerk zurück. Hasard wußte über sein Vorgehen Bescheid. In sicherer Deckung drang er am Rand der Büsche nach Südosten vor, unbemerkt überquerte er den Weg, der ins Dorf führte. Nur einen kurzen Blick richtete er auf das Geschehen dort. Feuerschein und Pfähle waren zu sehen, tanzende
61 Gestalten und die Gefesselten an den Pfählen. Wie erwartet, fand er den anderen Posten. Batuti machte auch diesmal kurzen Prozeß, ohne daß der Mann Alarm schlagen konnte. In aller Eile begab sich der Gambiamann zurück zu seinen Gefährten. Flüsternd schilderte er dem Seewolf die Lage. Hasard gab seine Anweisungen. Batuti übernahm den englischen Langbogen und den Köcher mit den Pfeilen, beides hatte Bob Grey für ihn getragen. Al Conroy sortierte seinen Vorrat an Brandsätzen, den er in einem Schulterbeutel mitgeführt hatte. Ferris Tucker bedauerte brummelnd, daß er seine Höllenflaschenabschußkanone nicht einsetzen konnte. Überhaupt war es unmöglich, Höllenflaschen einzusetzen, denn die Gefangenen würden dadurch ebenfalls in tödliche Gefahr geraten. Der Seewolf gab das Zeichen zum letzten Vorstoß. Von Posten unbehelligt, erreichten sie den östlichen Dorfrand und gingen in Stellung. Alle Musketen und Pistolen waren geladen, die Langwaffen schußbereit. Die Männer kauerten hinter niedrigem Gebüsch und warteten auf den Feuerbefehl. Die Trommeln dröhnten. Jetzt waren die Gestalten der tanzenden Indianer zu sehen. Sie bewegten sich seltsam zuckend und gekrümmt oberhalb des Pfahlkreises. Nur dort hielten sich Algonkins auf. Batuti hatte seine Anweisungen. Die Lunte, mit der er die unterschiedlichen Pfeile zündete, glomm hinter einem schützenden Busch. Ohne zu zögern, zündete der Gambianeger vier Pulverpfeile auf einmal. Den ersten legte er auf die Bogensehne, die drei anderen griffbereit.
Dann jagte er sie rasch hintereinander in die Luft. Noch bevor der erste Pfeil sein Ziel erreichte, stieg der nächste zischend in die Luft. Bevor die Algonkins begriffen, was geschah, krachten die ersten Explosionen mitten unter ihnen. Jäh brach das Trommeldröhnen ab. Entsetzensschreie gellten. Die Tanzenden warfen sich hin. In den Nachhall der vier Explosionen peitschten die ersten Musketenschüsse. Getroffene stürzten in wildes Durcheinander mit denen, die sich in Sicherheit zu bringen und zu ihren Waffen zu gelangen versuchten. Brandpfeile zischten mit flammender Glutspur in den dunklen Himmel, beschrieben einen fast eleganten Bogen und senkten sich auf die Hütten hinunter. An der Westseite des Dorfes loderten die ersten Flammen auf eben dort, wo sich offenbar die Bogen und die sonstigen Waffen der Indianer befanden. „Vorwärts!" brüllte der Seewolf und sprang als erster auf. Er zog den Drehling und jagte die erste Kugel im Losstürmen aus dem Laufbündel. Es war der richtige Moment. Die Verwirrung unter den Indianern war am größten. Schreiend flohen Frauen, Kinder und Alte aus den Hütten. Sie behinderten die Krieger, die verzweifelt bemüht waren, doch noch eine geordnete Gegenwehr aufzubauen. Immer mehr Hütten gerieten in Brand, die Außenfelle wurden von den Brandpfeilen sofort durchschalgen und das darunter befindliche Flechtgerüst ging in Sekundenschnelle in Flammen auf. Der Kugelhagel der Arwenacks verfehlte nicht seine Wirkung. Als Hasard und die Männer in brei-
62 ter Front an den Feuern beim Pfahlkreis vorbeistürmten, erschien eine letzte Gruppe von Algonkins, die hinter den Baumstümpfen oberhalb des Platzes nur spärliche Deckung fand. Sie versuchten noch, ihre Bogen in Schußposition zu bringen. Der Seewolf schoß allein zwei von ihnen kampfunfähig. Die übrigen Arwenacks hatten noch genügend nicht abgefeuerte Pistolenkugeln in Reserve, um den letzten Widerstand zu brechen. Sie brauchten die Blankwaffen nicht mehr einzusetzen. Die überlebenden Krieger und die restlichen Dorfbewohner flohen in die Dunkelheit. Noch meilenweit entfernt würden sie den Flammenschein sehen, der von ihren niederbrennenden Hütten zeugte. Zur Vorsicht beorderte Hasard die Hälfte seiner Gruppe an den Dorfrand im Süden und im Westen, damit sie nicht noch unliebsame Überraschungen erlebten. Doch es zeigte sich, daß die Algonkins nicht riskierten, noch einmal zu einem Angriff anzusetzen. Im Licht der Flammen befreiten der Seewolf und seine Männer Laura Stacey und die Siedler unter Gordon Jameson. Al Conroy und Sam Roskill übernahmen es, die junge Frau auf dem Rückweg zu stützen. Laura konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Die Männer hatten ihr eine Decke übergeworfen und taten alles, damit sie den Weg ohne übermäßige Anstrengung bewältigen konnte. Gordon Jameson und die anderen waren imstande, ohne fremde Hilfe zu marschieren. Die Freude, gerettet zu sein, verhalf ihnen rasch zu neuen Kräften. Pete Ballie und Gary Andrews trugen den toten unbekannten
Engländer in einer Decke. Er würde dort bestattet werden, wo auch die anderen Toten begraben waren. Um die toten Algonkins mußten sich deren Stammesgenossen kümmern. Sie würden zweifellos noch im Laufe der Nacht in ihr Dorf zurückkehren. Auf dem Weg zur Bucht berichteten Al Conroy und Sam Roskill, was sie über Michael, den verrückten Hund, wußten - über sein wahnwitziges Verschwinden von Bord, darüber, wie er sich an Land vorangeschleppt hatte und sie ihn schließlich auf den Rückmarsch befördert hatten. Lauras Augen leuchteten, während sie den Männern zuhörte.
Als sich Laura Stacey und Michael Anderson in der Siedlung in den Armen lagen, ließ sich der Seewolf von Kapitän Drinkwater Bericht erstatten. Bereits eine Viertelstunde später war die komplette Crew an Bord, und die Schebecke ging ankerauf. Sie nutzten den inzwischen aufgefrischten Wind aus Nordnordwest. Der Abend neigte sich seinem Ende zu, als sie die viel langsamere „Explorer" sichteten. Die Siedler und ihre Verbündeten aus der Crew hatten zwar keine Lampen gesetzt, doch zum einen reicht das schwache Mondlicht aus, um Konturen sichtbar werden zu lassen, und zum anderen hatten sie natürlich nicht ahnen können, über welch einen scharfäugigen Mann der Seewolf in DanO'Flynn verfügte. Wie ein zustoßender Adler jagte die Schebecke auf die Galeone zu. An Backbord querab ließ der Seewolf die Segel wegnehmen. Al Conroy zündete das vordere
63 Steuerbordgeschütz. Die Mündungsflamme leckte mehrere Yards lang aus dem Bronzerohr. Donnernd hallte der Schuß über die Wasseroberfläche. Sekundenbruchteile später stieg zehn Yards vor dem Bug der „Explorer" eine Wassersäule auf. Erschrockene Rufe waren von Bord der Galeone zu hören. Hasard und die anderen konnten das Geschehen auf der „Explorer" jetzt mit bloßem Auge beobachten. Die Geschützmannschaften auf der Steuerbordseite der Schebecke standen mit glimmenden Lunten bereit. Noch waren die Stückpforten der „Explorer" geschlossen. Sobald sie geöffnet wurden, würde der Seewolf das Feuer eröffnen lassen. Die Besatzung der Galeone schien das zu begreifen, denn es tat sich nichts. Zumindest zögerten sie. Hasard wußte indessen um seine Verantwortung für die Frauen und Kinder an Bord der Galeone. Er würde das Schiff unter keinen Umständen zusammenschießen lassen. „Gebt auf!" rief er sie nach einer Weile an. „Zeigt ein weißes Tuch, wenn ihr kapitulieren wollt!"
Wieder vergingen Minuten, ohne daß etwas geschah. Dann, plötzlich, wurde der weiße Fetzen auf dem Achterdeck der „Explorer" geschwenkt. Hasard ließ die Jolle abfieren. Kurz darauf enterte er drüben über die Jakobsleiter auf. „Ich übernehme alle Verantwortung, Sir", sagte der rothaarige Rory Calloway mit belegter Stimme. Der Seewolf winkte ab und begab sich auf das Achterdeck, um ihnen allen zu erklären, daß sie Unmögliches vorgehabt hätten. „Euch wird nichts passieren, wenn wir in die Bucht zurückkehren", sagte er. „Dafür verbürge ich mich. Ihr hättet es mit diesem Schiff niemals geschafft, nach England zurückzukehren. Denn ihr würdet kein Proviant finden. Ihr würdet elend verhungern. Zur Umkehr ist es nicht zu spät. Wagt den Versuch, euch in Virginia anzusiedeln. Wenn ihr in der Lage seid, euch hier selbst zu versorgen, werdet ihr auch Proviantvorräte anlegen können. Ihr werdet eure eigene Schiffe bauen, aber vielleicht
64
wollt ihr dann schon gar nicht mehr nach Hause. Im übrigen werdet ihr lernen, euch gegen die Algonkins zu wehren, oder - noch besser - friedlich mit ihnen zusammenzuleben." Es gab keinen Widerspruch. Die Worte des Seewolfs hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.
Als sie in die Bucht vor der Siedlung zurückkehrten, stiegen aus den Trümmern der abgebrannten Hütten noch immer Rauchsäulen. Aber die Menschen an Bord der „Explorer" werteten es nun als Zeichen, nach Kräften zuzupacken und den Neuaufbau noch einmal zu wagen.
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 632
Siedlun g der Gefahre n von Sean Beaufort Hasard junior löste den Knoten an Plymmies Halsband. Ohne zu bellen, sprang die graufarbene Wolfshündin vorwärts und griff den Bären wild an. Aber sie achtete darauf, nicht in den tödlichen Bereich der riesigen Pranken und Krallen zu geraten. Schon das erste wütende Kläffen lenkte den Bären ab. Batuti schoß aus einer Entfernung von zwanzig Schritten seinen Pfeil ab. Zischend jagte das Geschoß durch die Luft und bohrte sich in den Hals des Tieres. Fast gleichzeitig hatte Hasard junior seine Pistole abgefeuert. Die Kugel drang in den Schädel ein. Plymmie knurrte kurz, packte den Hinterlauf des Bären und schlug ihre Zähne hinein. Der Riese schüttelte sich und schwankte wild hin und her, während er brüllte . . .
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
Printed in Germany. Mai 1988