Charlotte Engmann
Blutige Hände Version: v1.0
Ryska hatte ihre Opfer gefunden … Unter ihr, im Schutze des...
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Charlotte Engmann
Blutige Hände Version: v1.0
Ryska hatte ihre Opfer gefunden … Unter ihr, im Schutze des Hirschfelsen, lagerten die blonden Krieger mit ihrer Geisel. Eben noch Jäger würden sie bald selbst Gejagte sein. Die schwarzhaarige Frau lächelte kalt. Sobald der Mond sein allmählich voller werdendes Gesicht über die Wälder erhob, würde sie angreifen. Lautlos und schnell wie eine Schlange. Die drei Krieger hatten nicht die leiseste Ahnung, dass ihr Schicksal bereits besiegelt war …
Die Jägerin schob sich an den Rand des kleinen Plateaus und spähte auf das Lager hinunter. Die blonden Männer saßen um ein niedriges Feuer. Ihre Geisel hatten sie am Rand der Lichtung an einen Baum gefesselt. Ryska verzog das Gesicht. Die Hexe hatte sie belogen. Wieder einmal. Die entführte Frau war kein Kind der Berge. Wie die drei Krieger stammte auch sie vom Fluss. Das blonde Haar, das der Gefangenen ins Gesicht fiel, brandmarkte sie als Tochter der Ebene. Ryska dachte darüber nach, ihren Auftrag abzubrechen und unvollendeter Dinge zu verschwinden. Doch das würde bedeuten, ihr Leben wegzuwerfen. Die Jägerin schnaubte leise. Kalt floss das Gift der Hexe durch ihre Adern. Ohne das Gegenmittel waren ihre Stunden gezählt. Sie musste mit der entführten Frau zurückkehren, damit die Hexe ihr das wärmende Gegengift gab. Die Nachtjägerin verlagerte ihr Gewicht, um die Muskeln zu entspannen. Die Kälte des Felsens drang durch ihre lederne Kleidung. In der Ferne raschelten die kahlen Baumkronen in einer Brise, die zu schwach war, um das Lager zu erreichen. Noch drangen vereinzelt Wortfetzen vom Lager zum Hirschfelsen hinauf. Da die Krieger jedoch ihre Decken ausbreiteten, das Feuer schürten und die Flammen mit weiteren Holzscheiten fütterten, mutmaßte die Jägerin, dass bald Nachtruhe im Lager unter ihr einkehren würde. Sich in trügerischer Sicherheit wiegend, sahen sie sich nicht dazu veranlasst, Wachen für die Nacht einzuteilen. Der Krieg hatte das Volk der Bergsassen so geschwächt, dass die drei keinen Rettungsversuch ihrer Gefangenen fürchteten. Dass der Krieg ein viel gefährlicheres Geschöpf als die Krieger der Bergsassen geschaffen hatte, konnten die Strohköpfe nicht wissen. Noch nicht. Die Nachtjägerin machte sich zum Angriff bereit. Der fahle Schein des Mondes glänzte silbern auf den Zweigen und tauchte das Lager zwischen den Felsen in ein unwirkliches Licht.
Ryska spannte die Muskeln an, um ihre müden Glieder zu wecken. Ihre Zeit war gekommen. Langsam stemmte sie sich hoch. Da ließ sie ein lautes Rascheln im Unterholz erstarren. Beißender Gestank wehte den Felsen empor. Das Gemisch aus Fäulnis, Verwesung und Schwefel ließ Ryska würgen. Sie presste die Hand über Mund und Nase. Aus dem anfänglichen Rascheln wurde ein Bersten und Brechen, als tobte ein wütender Bär durch das Unterholz. Doch kein lebendiges Tier des Waldes umgab ein solcher Todesgeruch. Ein unförmiger Schatten brach aus dem Dickicht hervor. Ryska erhaschte einen Blick auf eine nachtschwarze Kreatur, einem Berglöwen nicht unähnlich, doch weitaus größer und von schimmernden Schuppen bedeckt. Dolchartige Zähne glänzten im Mondlicht und in den roten Augenschlitzen loderten die Feuer der Hölle. Ein Entsetzensschrei zerriss die Stille. Ein Krieger sprang auf, zerrte panisch an seinem Schwert, ohne es aus der Scheide ziehen zu können. Das Untier war zu schnell. Es wandte ihm den mächtigen Schädel zu und mit einem Sprung war es über dem Mann. Sein Schrei wandelte sich zu einem erstickten Gurgeln, als die Bestie ihm die Kehle zerfetzte. Zeitgleich kamen die beiden anderen Krieger auf die Füße. Mit Kampfgeschrei stürzten sie sich auf das Untier. Ihre Schwerter fuhren auf den massigen Körper nieder. Funken sprühten, als die stählernen Klingen von den schimmernden Schuppen abglitten. Ein ohrenbetäubendes Gebrüll, das einzig dem Schlund der Hölle entspringen konnte, sprengte Ryska schier den Schädel. Fest presste sie sich an den Felsen, während unter ihr die Bestie die Flussmänner zerfleischte. Unvermittelt kehrte die Nachtruhe zurück. Nur ein sattes Schmatzen störte die Stille des Todes. Getrieben von quälender Neugier kroch Ryska zurück an den
Rand des Plateaus. Der Anblick, der sich ihren schreckensweiten Augen bot, ließ sie erneut würgen. Über den Körpern der vier toten Flussleute stand das Höllentier und labte sich an den dampfenden Eingeweiden. Das Blut der Menschen glänzte dunkel auf seinen Schuppen. Unruhig zuckte sein Schwanz und fegte abgerissene Gliedmaßen zur Seite. Auch die entführte Frau hatte es Stück für Stück vom Baum gekratzt, so dass nur noch Fetzen ihres Kleides von den blutgetränkten Stricken hingen. Plötzlich hob die Bestie den Kopf. Einen Herzschlag lang trafen sich die Blicke des Untiers und der Jägerin. In den glühenden Tiefen seiner Augen las Ryska den Hass und die Mordlust, die nur eine Kreatur der Hölle empfinden konnte. Langsam zog das Untier die Hinterläufe unter seinen mächtigen Leib und verlagerte das Gewicht nach vorne. Kein Zweifel, es sammelte Kraft für einen Sprung die Felsen hinauf. Atemlos starrte Ryska auf den Tod, der ihr gleich entgegenfliegen würde. Die Welt schien still zu stehen. Da riss der Ruf einer Eule Ryska aus ihrer Erstarrung. Sie sprang auf, wirbelte herum und rannte um ihr Leben. Das Felsenplateau bot keine Deckung. Die Jägerin hastete über die freie Fläche und verschwand im Dickicht des Waldes. Ein dumpfer Schlag verkündete, dass das Höllentier mit einem mächtigen Satz die Felsen hinauf gesprungen war. Ryska stöhnte gequält auf. Zweige schlugen ihr hart ins Gesicht, Dornenranken zerrten an ihrer Kleidung, doch sie spürte keinen Schmerz. Todesangst trieb sie voran. Ihr Herz jagte das Blut durch ihre Adern, ihr Atem ging in schnellen Stößen, ihre Füße flogen über Wurzelwerk und Erdhügel hinweg. Aber das Höllentier holte auf, schnell und unerbittlich. Ryska duckte sich unter Ästen hindurch, kämpfte sich durch hohe Farne und dichte Sträucher. Nur knapp entging sie einem tief hängenden Ast, wich im letzten Moment zur Seite und schlug einen Haken.
Hinter ihr brach die Bestie durch das Unterholz und schuf eine breite Schneise der Verwüstung. Unvermittelt brüllte es auf, heiser vor Triumph und Blutdurst. Ruckartig blieb Ryska stehen. In ihrer Panik hatte sie nicht bedacht, dass sie geradewegs auf einen Abgrund zugelaufen war. Vom Grund der Schlucht drang das Gurgeln und Zischen eines reißenden Stroms zu ihr hinauf. Sie warf einen Blick hinunter, doch trotz des Mondlichts konnte sie nicht erkennen, wie tief sie fallen würde. Das Höllentier war keine fünf Meter mehr von ihr entfernt. Wie unter einem Bann drehte sich Ryska um. Da stand die Bestie. Der beißende, faulige Gestank verschlug der Jägerin den Atem. Der unbändige Hass in den Feueraugen lähmte ihre Glieder und saugte ihr die Kraft aus dem Leib. Das Höllentier machte einen Schritt auf sie zu und instinktiv wich sie zurück. Der Boden verschwand unter ihren Füßen. Sie stürzte und rollte den Abhang hinunter. Spitze Steine zerschnitten ihre Kleider und Haut, bevor sie hart auf das Wasser aufschlug. Doch sie lebte und das kalte Nass vertrieb die lähmende Angst. Ryska trieb in die Mitte des Flusses. Die Strömung erfasste sie und eilte mit ihr davon, trug sie fort von dem Abhang und der Ausgeburt der Hölle. Als die Jägerin den Kopf wandte, sah sie im matten Mondlicht das Dämonentier am Ufer schreiten. Laut schnüffelnd wandte es den kantigen Schädel nach rechts und nach links, doch offensichtlich hatte es die Fährte verloren. Der Fluss verwischte Ryskas Spuren und trug sie in Sicherheit …
* Irgendwann, sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, trieb die Strömung
sie an den Rand des Flusses. Mit letzter Kraft hievte sie sich auf das rettende Ufer bevor sie zusammenbrach. Ihr Leib bebte vor Kälte, Erschöpfung und dem Gift, das durch ihre Adern floss. Ein Eisblock befand sich in ihrer Brust und wurde mit jedem Herzschlag größer. Verzweifelt schlang sie die Arme um den Körper und biss die Zähne zusammen. Sie wusste, schon bald würde der tödliche Frost ihre Glieder lähmen, ihren Atem und ihr Herz. Allein das Gegengift vermochte ihr Leben zu retten. Doch würde die Hexe ihren Worten Glauben schenken? Gequält rappelte sich Ryska auf. Ihr blieb keine Wahl. Wenn sie hier am Waldrand liegen blieb, würde sie mit absoluter Sicherheit sterben. Sie musste die Hexe aufsuchen. Selbst wenn Zoya ihr nicht glaubte, war sie vielleicht geneigt, die Jägerin am Leben zu erhalten, damit sie ihr weiterhin diente. Mit eisernem Willen kämpfte Ryska gegen ihren rebellierenden Körper an, orientierte sich und machte sich auf den Weg zur Hexenhütte. Nach einem ihr schier endlos erscheinendem Gewaltmarsch erreichte sie den umzäunten Kräutergarten vor dem Hexenhaus. Mit letzter Kraft öffnete sie das Gatter und taumelte halb besinnungslos auf die Haustür zu. Bevor sie anklopfen konnte, brach sie zusammen und schlug hart auf dem hölzernen Boden vor dem Hexenhaus auf. Tränen der Verzweiflung stiegen in ihr hoch und ließen die Welt vor ihren Augen verschwimmen. Heißer Schmerz schoss durch ihren Körper und vertrieb für einen Augenblick die eisige Kälte in ihrer Brust. Dennoch fand sie nicht die Kraft, erneut auf die Füße zu kommen. Es war vorbei. Sie würde sterben, hier und jetzt, auf Zoyas Schwelle. Da öffnete sich die Tür. In ihrem Blickfeld erschien ein Paar lederner Hüttenschuhe mit Pelzbesatz. Ein bunter, wollener Rock bauschte sich neben ihr auf, als eine scheinbar junge Frau bei Ryska niederkniete. Nur die tiefen Falten um die nachtdunklen Augen und
den schmallippigen Mund zeugten vom wahren Alter der Hexe, deren langes, rotes Haar in üppiger Fülle über die schlanken Schultern fiel. »Was ist passiert, Ryska? Warum kommst du erst jetzt? Und wo ist Alassa?« Zoya umfasste das Gesicht der Jägerin mit beiden Händen, die heiß auf der eisigen Haut brannten. »Ein Höllentier«, flüsterte Ryska. Sie fühlte, wie die Kälte ihre Hände und Füße lahmte. Jeder Atemzug wurde zur Qual. »Es hat alle Strohköpfe getötet.« »Ein Höllentier?« Zoya stand auf und schaute zweifelnd auf die Sterbende hinab. Missbilligend bemerkte sie: »Eine bessere Lüge fällt dir nicht ein, Nachtjägerin?« »Ryska«, stieß sie trotzig zwischen tauben Lippen hervor. »Mein Name ist Ryska. Eine Kreatur der Hölle hat die Flussleute getötet, ihre Leiber zerfetzt und sich an ihren Eingeweiden gelabt.« Schwindel erfüllte ihren Kopf. Jeder klare Gedanke zerfaserte, ihr Gehirn war wie gelähmt vor Kälte und dem Schrecken der Erinnerung. Ryska fühlte ihren Tod nahen. Sie wusste nicht, ob sie mit ihren Worten Zoya überzeugt hatte, doch mit einem Mal war es ihr egal. Nur noch ein paar Herzschläge und sie würde das Bewusstsein verlieren und alle Mühe und Qual hinter sich lassen. Sie würde in die Arme des ewigen Vergessens sinken und endlich Frieden finden. Keine Dämonen mehr, die sie jagten, keine Erinnerungen mehr an die Schrecken der Nacht und die Ströme von Blut, die den Wald in den Bergen rot färbten. Die erlösende Wärme nahm ihren Anfang in ihrem Mund. Sanft glitt sie über Zunge und Gaumen, ehe sie die Kehle hinab floss. Golden wie ein Sommertag erreichte die milde Hitze ihren Magen und strömte von dort aus in alle Glieder. Ryska blinzelte verwirrt. Verschwommen nahm sie ihre Umgebung wahr. Sie lag nicht mehr auf Zoyas Türschwelle, sondern im Innern der Hütte auf einem Lager vor dem Kamin.
Die Hexe hielt einen Holzbecher an ihre Lippen und flößte ihr einen nach Kräutern duftenden Trank ein. Als sie bemerkte, wie sich Ryskas Blick klärte, setzte sie den Becher mit dem Gegengift ab. Mit einer flüchtigen Bewegung goss sie den Trank in die Flammen, nicht gewillt, die Jägerin aus der Sklaverei zu befreien, in die das Gift sie zwang. »Erzähl mir, was geschehen ist«, verlangte Zoya ruhig, während sie in ihrem Lehnstuhl Platz nahm. Der flackernde Schein des Feuers verwandelte ihre strengen Züge in eine Landschaft aus Licht und Schatten. Ein kalter Schauer lief über Ryskas Rücken. Sie setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. Gefasst erzählte sie, wie sie die Männer vom Fluss und die entführte Frau aufgespürt hatte. Doch als die Dämonenkreatur in ihrem Bericht auftauchte, geriet sie ins Stocken. Wie sollte sie diesen bestialischen Gestank beschreiben? Wie das Entsetzen, das das Höllentier allein durch seine Ausstrahlung verbreitete, ganz zu schweigen von seinem schrecklichen Wüten? Offensichtlich fand sie die richtigen Worte, denn als sie endete, blickte Zoya betroffen in die Flammen des Kamins. Sie war blass und tiefe Falten schnitten durch ihre Züge gleich einer Klamm durch die Berge. Tonlos sagte sie: »Eines Tages wird dieses Höllentier seinen Weg zu unseren Dörfern finden. Du musst in die Stadt gehen und dort einen Nekromanten finden, der den Dämon bannen kann.« »Nein!« Ryska schüttelte vehement den Kopf. Lieber stellte sie sich dem Untier ein zweites Mal, als dass sie an den Fluss reiste. »Ich werde die Ebene nicht betreten.« »Rysanka«, sagte Zoya sanft wie zu einem störrischen Kind. »Du hast mit eigenen Augen gesehen, welche Gefahr dieses Höllentier für unsere Dörfer darstellt.« »Deine Dörfer, nicht meine!«, schnappte Ryska. Ihre Heimat war
nur noch eine schmerzende Erinnerung, ein Haufen verbrannter Ruinen und unbestatteter Toter. »Wir sind ein Volk, Rysanka. Deine Herkunft nimmt dich in die Pflicht.« »Ich bin Jägerin, keine Botin. Schick jemanden, der sich besser auf die Strohköpfe versteht. Es gibt genügend junge Männer in den Dörfern, die dir mit Freude zu Willen sind!« Allein bei dem Gedanken, die Ebene zu bereisen, wurde Ryska übel vor Hass und ohnmächtiger Wut. Fahrig wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Die Kriegswaisen waren inzwischen alt genug, selbst für das Wohl und die Sicherheit ihrer Dörfer zu sorgen. Ryska war nicht mehr die Einzige, die die Aufgaben der getöteten Männer erfüllen konnte. »Warum fürchtest du die Flussleute?« In Zoyas sanfte Stimme mischte sich allmählich ein ungeduldiger Unterton. »Sollten sie nicht eher Angst vor dir haben, Nachtjägerin?« Ryska drehte den Kopf zur Seite und starrte in die Flammen des Feuers. »Ich fürchte sie nicht. Ich hasse sie. Sie haben mein Dorf vernichtet, meinen Versprochenen getötet und mich …« Sie brach ab. Über ihre Vergangenheit konnte – musste! – sie nicht sprechen; Zoya kannte die Geschichte nur allzu gut. »Du bist für diese Aufgabe am besten geeignet, Rysanka. Du kannst dem Nekromanten schildern, welche Kreatur in unseren Wäldern lauert und seine Fragen beantworten«, versuchte Zoya noch einmal, sie zu überreden. Doch Ryska würdigte sie keines Blickes. »Ein Nekromant kennt die Kreaturen der Hölle besser als ich. Ich kann ihm nichts sagen, was er nicht schon wüsste.« »Wie du willst.« Zoya stand auf. Von einem Wandregal nahm sie eine zylindrische Tonflasche. »Hier, Ryska. Teile es dir gut ein. Das Mittel reicht sieben Tage. Du hast also genügend Zeit, einen Nekromanten zu finden und ihm zu helfen, das Höllentier zu
vernichten, ehe die Kälte des Todes deinen Körper erstarren lässt.«
* So sehr Ryska das Flussvolk bereits verachtete, auf dem Weg durch die Stadt lernte sie, die Bewohner der Siedlungen noch mehr zu hassen. Dicht an dicht drängten sich die Häuser, doppelt, gar dreifach so hoch wie die Katen der Bergsassen. Zwischen den schmutzigen Fachwerkbauten schlängelte sich ein Pfad aus toter Erde. Unrat und Unflat bedeckten ihn mit einem schleimig‐schmierigen Teppich. Ein beißender Gestank kroch an den grauen Wänden empor und verstärkte die Übelkeit, die Ryska seit dem Betreten der Stadt quälte. So flach wie möglich atmend, packte die Jägerin die Zügel ihres Pferdes fester. Sie hob den Kopf und drückte die Schultern durch, da sie die teils neugierigen, teils verächtlichen Blicke der Strohköpfe im Rücken fühlte. Bloß keine Schwäche zeigen, nicht vor dem Feind, hämmerten die Gedanken in ihrem Kopf. Dabei schrie alles in ihr, die Flucht zu ergreifen, ihre Stute herumzureißen und aus der Stadt zu galoppieren. Doch wenn sie diesem Drang nachgab, würde sie ihren Auftrag nicht erfüllen können und mit ihrem Scheitern ihr Leben verlieren. Nach einer scheinbaren Ewigkeit endete die Straße an einer hohen Mauer, deren Krone von glänzenden Eisenspitzen gesichert wurde. Eine schmale Pforte bildete den einzigen Zugang zu dem Garten und dem Haus, in dem der Nekromant Jaronan leben sollte. Am Stadttor hatte Ryska den Wachen Rede und Antwort stehen müssen. Letztlich hatten die bewaffneten Strohköpfe ihr aber den Weg zu dem Dämonenbeschwörer gewiesen. Die Jägerin stieg aus dem Sattel und klopfte an die Pforte. Eine
Weile rührte sich nichts. Ryska lauschte auf Geräusche, doch hinter der Mauer blieb es still. Verspielt raschelte der Herbstwind in der Rotbuche, die einzige Baumart, die noch Blätter trug. Der Nussbaum, der ebenfalls im Garten stand, streckte seine bereits kahlen Äste wie knochige Finger in den wolkenverhangenen Himmel. Scharrend öffnete sich ein Fensterchen in der hölzernen Pforte. Zum Vorschein kam ein schmales Gesicht mit hoher Stirn und funkelnden, blauen Augen, die Ryska prüfend musterten. Kühl, aber nicht unhöflich fragte der weißhaarige Mann: »Was führt dich an meine Tür, Tochter der Berge?« Ryska lächelte leicht überheblich. »Ein Dämonentier, das durch unsere Wälder streift, Meister Jaronan.« Der Nekromant runzelte die Stirn. Er verschloss die Luke, ehe er die Pforte öffnete und Ryska hereinbat. Sie ließ ihr Pferd in dem verwilderten Garten zurück und folgte dem Dämonenbeschwörer in sein zweigeschossiges Haus. Überrascht schaute sie sich um. Im Inneren herrschte penible Ordnung und peinliche Sauberkeit. Die vertäfelten Wände strahlten den Glanz der polierten Möbel wieder und weiche Teppiche dämpften ihre Schritte. Wandbehänge sorgten für eine angenehme und warme Atmosphäre, die durch den Schein der Kerzenleuchter noch verstärkt wurde. In einem Zimmer, das offensichtlich dem Studium diente, bat Jaronan Ryska, auf einem der beiden Lehnstühle vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich hinter den Tisch in einen gepolsterten Armsessel. »Du meinst also, eine Kreatur der Hölle würde ihr Unwesen in den Bergen treiben.« Der Duft von Holz und Honig hatte den Gestank der Stadt vertrieben und die Vorhänge vor den Fenstern hielten den Straßenlärm draußen. Dennoch blieb Ryska angespannt auf der Kante ihres Stuhls sitzen. Sie durfte nicht vergessen, sie befand sich
in Feindesland. »Die Dämonenkreatur tötet Mensch und Tier, zwei Tagessritte von hier«, erklärte sie knapp. Jaronan sank in den Sessel zurück und legte die Arme auf die Lehnen. Mit skeptischem Blick musterte er die Jägerin. »Bist du dir sicher, dass es sich um ein Geschöpf der Hölle handelt? Könnte es nicht auch das Werk eines Menschen sein oder das eines tollwütigen Tieres?« Ryska legte die linke Hand auf das Langmesser an ihrem Gürtel. »Ich bin Jägerin, ich kenne die Berge. Ich weiß, was durch meine Wälder streift und ich habe das Höllentier mit eigenen Augen gesehen.« Jaronans Blick schien bis ins Innere ihrer Seele zu reichen. »Es hat dich nicht angegriffen, sonst wärst du jetzt tot. Aber es hat dich verfolgt. Wie bist du ihm entkommen?« »Der …« Ryska stockte. »Ein Fluss. Ich bin ins Wasser gefallen und der Dämon hat meine Spur verloren.« »Normalerweise können weder Geister noch Dämonen fließendes Wasser überqueren.« Jaronan erhob sich und trat an einen schmalen Tisch am anderen Ende des Zimmers. Aus einem bauchigen Krug goss er Wasser in eine Schüssel, ehe er seine Hände in dem klaren Nass reinigte und sie anschließend abtrocknete. Verwundert beobachtete Ryska sein Tun. Der Nekromant verhielt sich vollkommen anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Kein ungepflegter Greis, der in seiner eigenen Unordnung schier erstickte. Seine knöchellange Robe bestand aus ungebleichter Wolle und war tadellos sauber. Das weiße Haar trug er kurz geschnitten und aus dem mageren Gesicht gekämmt. In den blauen Augen lag ein Ausdruck von Wissen und Leid, der zu einem weit älteren Mann gepasst hätte. Ryska schätzte ihn auf Mitte Zwanzig; seinen dreißigsten Sommer hatte er bestimmt noch nicht gesehen. »Nun denn …« Jaronan nahm wieder hinter dem Schreibtisch
Platz. »Ein Dämonentier haust in den Bergen. – Aber warum bist du damit zu mir gekommen? Was habe ich damit zu schaffen?« Ryska schnappte nach Luft. Das war ja ungeheuerlich! »Es ist Eure Kreatur, Nekromant! Das Blut, das sie vergießt, klebt an Euren Händen. Ihr habt sie in die Welt gerufen, damit sie für Euch tötet, doch der Krieg ist jetzt vorbei. Ihr müsst sie in die Hölle zurückschicken, aus der Ihr sie beschworen habt.« Jaronan starrte sie wortlos an. Angespanntes Schweigen senkte sich über den Raum. Ryska fühlte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Was war nur in sie gefahren? Niemand wurde gerne an seine Verbrechen erinnert! Verdammt, sie hatte der Hexe gesagt, sie solle jemanden schicken, der sich auf die Strohköpfe verstand. »Das glauben die Bergsassen?« Jaronan klang betroffen. »Dass wir Dämonen beschworen haben, um für uns in diesem unseligen Krieg zu kämpfen?« Stumm erwiderte sie seinen bestürzten Blick. Es wusste doch jedes Kind, wer die Verantwortung für die Heimsuchungen durch die Dämonen trug. Vor zwei Jahrzehnten hatte das Flussvolk begonnen, die Ebene zu verlassen, um in den Bergen zu siedeln. Bald entflammten Zank und Hader zwischen den Bergsassen und den neuen Siedlern; man stritt um Fischgründe, um kostbares Weide‐ und Ackerland. Schnell wurden aus Wortgefechten Handgreiflichkeiten, die ersten Überfälle sollten Besitzansprüche festigen und kurz darauf herrschte Krieg. Mit den ersten Toten erschienen die Dämonen, von den Nekromanten der Flussleute beschworen, um die Bergsassen zu unterwerfen. Mit grausigem Erfolg, wie sich bald zeigte. Jaronan schüttelte unwirsch den Kopf. »Nur ein Wahnsinniger beschwört freiwillig einen Dämon, um ihn in seine Dienste zu zwingen. In den Bergen jedoch ist genug Blut geflossen, um mehr als einmal die Tore der Hölle zu öffnen und ihren Kreaturen einen
Weg in unsere Welt zu weisen.« Erneut stand er auf und trat an den Waschtisch, um seine sauberen Hände zu reinigen. Er spritzte sich ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht, ehe er sich Ryska zuwandte. Grimmige Entschlossenheit stand in seine Züge geschrieben, als er sagte: »Mein Volk ist nicht unschuldig an den Heimsuchungen der Berge, also werde ich die Verantwortung akzeptieren und den Dämon bannen. Aber ich versichere dir, nicht ich habe dieses Höllentier beschworen.« »Wie könnt Ihr da so sicher sein, Meister Jaronan?« Er krampfte die Hände um die Kante des Waschtisches. »Ich habe niemals einen Dämon herbeigerufen. Mein Wort darauf.« Ryska unterdrückte den Impuls, auf den sauber gefegten Boden zu spucken. Das Wort eines Flussmannes war wie Schnee im Sommer, wertlos und flüchtig. Aber es wäre unklug, Jaronan zu verärgern. Immerhin war er bereit, es mit dem Dämon aufzunehmen und nur darauf kam es an.
* »Lass den Mann doch in Ruhe sein Geschäft erledigen!« Prochko schlug Ryska auf die Schulter. Eine Geste, die kameradschaftlich sein sollte, aber von der Jägerin mit einem finsteren Blick erwidert wurde. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Büschen zu, hinter denen Jaronan verschwunden war. Nicht das Tun und Lassen des Nekromanten stand im Mittelpunkt ihres Interesses, sondern seine Sicherheit. Während sie im Wald Holz fürs Lagerfeuer gesammelt hatte, waren ihr die Spuren eines Berglöwen aufgefallen. Jetzt lauschte sie auf ein verräterisches Geräusch, auf das Rascheln von trockenen Ästen oder das Kreischen eines Wächtervogels, das das
Nahen des Raubtieres ankündigte. Ihre Wachsamkeit stellte sich jedoch als unnötig heraus. Unbehelligt trat Jaronan aus dem Unterholz und an das Ufer des Baches, an dem die vier Reisenden lagerten. Nachdem Jaronan Ryskas Auftrag angenommen hatte, hatte er zwei Söldner zur Verstärkung angeheuert. Prochko war der größere der beiden Männer, breit und massig wie ein Bär. Er trug den Beinamen Blutaxt, wie Ryska von seinem Kameraden erfahren hatte. Der dunkelblonde Visseyk Schwarzmesser war kleiner, nicht viel größer als Ryska und sehnig und ruhelos wie ein Frettchen. Wie alle Männer vom Fluss waren die beiden mit Schwertern und Armbrüsten bewaffnet, wobei Visseyk zusätzlich eine Reihe gefährlich glänzender Wurfmesser im Gürtel trug und Prochko eine schwere Axt mit sich führte. Ryska lehnte sich vor und stocherte in der Glut des Lagerfeuers, um die Söldner nicht ansehen zu müssen. Erst Jaronan, der ihr gegenüber auf einem umgestürzten Baumstamm Platz nahm, fing ihren Blick ein. Mit einem feinen Leinentuch trocknete der Nekromant seine frisch gewaschenen Hände, ehe er aus seiner Satteltasche eine grobe Bürste zog, um damit seine schwarzen Stiefel von Staub und Erde zu befreien. »Die Mühe ist vergebens. Vor dem nächsten Abendrot sind sie wieder dreckig«, bemerkte Ryska trocken. Jaronan lächelte leicht gezwungen. »Ich erwarte nicht, diese Reise unbeschadet von Schmutz und Schlamm zu überstehen, dennoch werde ich auf Reinlichkeit nicht verzichten.« Ryska lehnte sich gegen ihren Sattel und stützte sich auf die Ellbogen. »Es wird Regen geben, noch ehe Ihr zurück in der Stadt seid, Meister Jaronan. Es ist unmöglich, bei solch einem Wetter so sauber wie in Eurem Haus zu bleiben.« »Also werde ich versuchen, das Unmögliche zu erreichen«, entgegnete er sanft. »Dazu machen wir doch diese Reise, nicht
wahr?« Ein kalter Schauer lief über Ryskas Rücken. »Das Unmögliche zu erreichen? Ihr seid ein berühmter Nekromant. Es sollte Euch nicht schwer fallen, eine Kreatur der Hölle zu bannen.« »Das ist schwerer, als du denkst, Ryska. Einen Dämon zu rufen ist leicht, dafür muss man nur genügend unschuldiges Blut vergießen, am besten das von Neugeborenen. Ihn zu bannen, ist sich jedoch um einiges schwieriger. Hat ein Dämon einmal die Pforten zu unserer Welt durchschritten und Gestalt angenommen, will er nicht zurück in die Abgründe, denen er entstiegen ist.« Die gleichmütige Kälte, mit der er gesprochen hatte, brachte selbst die hart gesottenen Söldner aus der Ruhe. Visseyk rieb mit beiden Händen seine Oberarme. Prochko schauderte sichtlich, ehe er nach einem Löffel griff und in der Suppe rührte, die über dem Lagerfeuer kochte. Der Duft verschiedener Waldkräuter und einiger Brocken Fleisch vermengte sich mit dem scharfen Geruch der brennenden Zweige. Laut krachend barst ein Ast in den Flammen und schreckte eine Schar Raben auf, die mit empörtem Krächzen aus den nahen Baumwipfeln aufstob. Ryska strich sich eine schwarze Strähne aus der Stirn. Jetzt, da die Nacht das Land eroberte, war ihr nicht nach einem Gespräch über die Kreaturen der Hölle zumute. Dennoch bemerkte sie: »Dafür, dass Ihr angeblich noch nie einen Dämonen beschworen habt, kennt Ihr Euch sehr gut mit den Ritualen aus, Meister Jaronan.« In den blauen Tiefen seiner Augen glühte ein unheimlicher Funke auf. »Wer einen Dämon bannen will, muss wissen, wie man die Tore zur Hölle öffnet, Nachtjägerin.« »Ryska. Mein Name ist Ryska«, sagte sie steif. »Aber einige nennen dich die Nachtjägerin, nicht wahr?« »Die Leute reden viel, wenn die Nächte lang werden.« Ruckartig stand sie auf und trat zu den Pferden, die sie unter einer Weide am Bachufer angebunden hatten. Sie fühlte Jaronans Blicke, die sich
Messerstichen gleich in ihrem Rücken bohrten, aber sie drehte sich nicht um. Ja, es gab eine Frau mit diesem Namen und einer Vergangenheit, von der man in den Bergen nur flüsternd sprach. Aber kaum jemand wusste, wer diese Frau war. Die Hexe Zoya kannte ihr Geheimnis, denn sie hatte Ryska sterbend aus der Siedlung des Todes geborgen und ihr ein neues Leben geschenkt, dem es allein an Freiheit mangelte. Doch woher nahm Jaronan sein Wissen? Der dunkelblonde Visseyk verließ das Lagerfeuer und gesellte sich zu ihr. In der schwarzen Lederkleidung, die sich von Kopf bis Fuß an seinen sehnigen Körper schmiegte, wirkte er wie ein gedungener Mörder aus den Erzählungen der Bergsassen. Die schlanken Wurfmesser an seinem Gürtel verstärkten diesen Eindruck ebenso wie die sturmgrauen Augen, die Ryska teils amüsiert, teils prüfend musterten. »Bist du wirklich die Nachtjägerin?«, hakte er nach. »Und wenn es so wäre?« »Dann wäre mir eine Ehre, mit dir zu reiten, Nachtjägerin. Mit der meist gefürchteten Kopfgeldjägerin von hier bis zum Meer. Es gibt kein Wirtshaus, keine Schänke, in der nicht von deinen Heldentaten erzählt wird.« Sie schnaubte verächtlich. Nun ja, sie hatte mehr als einen strohköpfigen Verbrecher gejagt, gefangen und getötet. Aber nicht wegen der Belohnung der Flussleute, sondern weil es die Hexe so wollte. Was Zoya von ihr verlangte, sie musste es tun – oder ihr Leben lassen. Visseyk lehnte sich gegen den Stamm der Weide, unter der die Pferde grasten und verschränkte die Arme. Leichthin stellte er fest: »Jaronans Ruf scheint nicht bis in die Berge vorgedrungen zu sein, oder irre mich?« »Wie meinst du das?« Ryska zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte Jaronan aufgesucht, weil sie einen Nekromant brauchte und die
Stadtwache ihr den Weg zu ihm gewiesen hatte. War ein Dämonenbeschwörer nicht so gut – oder besser: so schlecht – wie der andere? »Meister Jaronan mag zwar jung an Jahren sein, aber er genießt einen legendären Ruf als Dämonenjäger. Schon mehr als eine Höllenkreatur hat er zurück in die dunklen Abgründe geschickt. Das Flussvolk verehrt ihn als einen unerschrockenen Kämpfer für das Gute.« Visseyk zuckte die Achseln. »Auch wenn ich das für übertrieben halte, bin ich mir sicher, dass Jaronan niemals einen Dämon beschworen hat, noch es je tun wird.« »Soso.« Ryska vergrub die Hand in der Mähne ihres schwarzen Pferdes. Bei ihrem ersten Gespräch hatte Jaronan ihr versichert, er würde keine Dämonen beschwören und durch Visseyk fand sie diese Aussage bestätigt. Aber das änderte nichts an Jaronans Herkunft oder seinem Handwerk. Außerdem war es ihr egal, ob ein Schurke oder ein Held das Höllentier bannte. Hauptsache, die Kreatur kehrte zurück in die Abgründe, denen sie entsprungen war.
* Eine Schneise im Unterholz verriet den Weg, den sich das Höllentier gebahnt hatte. Tiefe Furchen entstellten die Stämme der nahen Bäume. Knorrige Äste, zerborsten unter den wuchtigen Schlägen eines geschuppten Schwanzes, verdeckten kaum die Abdrücke der gewaltigen Tatzen, in denen sich das Wasser sammelte. Buntes Laub und saftige Waldpilze klebten als breiige Masse auf dem Boden, von mächtigen Pranken achtlos zerquetscht. Ryska klammerte die Hände so fest um die Zügel, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Der Stand der Sonne verriet ihr, wo die Schneise enden würde. Doch sie wollte diesen Ort nicht wieder
sehen. Niemals wieder wollte sie die Siedlung betreten, wo ihr früheres Leben in Blut und Entsetzen geendet hatte. Der Ort, an dem die Hexe sie gerettet hatte, nur um sie in die Ketten der Sklaverei zu schlagen. Unvermittelt blieben die hohen Bäume zurück. Junge Sprösslinge, üppige Farne und dornige Büsche eroberten kühn die große Lichtung, die vor zwanzig Jahren von den ersten hellhaarigen Siedlern geschlagen worden war. Wie gigantische Bären im Winterschlaf ragten die Überreste der Blockhäuser aus dem wuchernden Dickicht empor. Die Schneise im Wald verwandelte sich in einen Saumpfad, der in die Ruinen der Siedlung führte und sich schließlich zwischen den halb zerfallenen Häusern verlor. Stur hielt Ryska den Blick auf ihre Hände gesenkt, bis ein schmerzerfülltes Stöhnen sie aufblicken ließ. Sämtliche Farbe war aus Jaronans Gesicht gewichen. Seine blutleeren Lippen bebten, als würde ein eisiger Wind ihn schütteln. Für einen Moment ließ Visseyk die Maske des harten Söldners fallen und erkundigte sich teilnahmsvoll bei dem Nekromanten: »Meister, was habt Ihr? Geht es Euch nicht gut?« »Es ist …« Ruckartig schüttelte Jaronan den Kopf. »Es ist nichts. Nur die Nähe des Dämons. Wir befinden uns im Herzen seines Reviers. Hier wird er erscheinen.« »Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte Ryska harsch in dem Bemühen, ihr eigenes Unwohlsein zu verbergen. Alte Ängste stiegen in ihr auf, begleitet von den Vorboten der drohenden Todeskälte: Der Heiltrank der Hexe reichte nur noch für einen Tag. Morgen Abend musste ihre Mission erfolgreich beendet sein, oder sie würde sterben. »An diesem Ort haben viele Menschen ihr Leben gelassen«, stellte Jaronan fest. »Nicht wahr, Ryska?« »Um das zu erkennen, muss man kein Nekromant sein«, murrte sie grimmig. »Dies ist weder das erste noch das einzige Dorf, das im
Krieg zerstört wurde.« »Soweit ich weiß, wurde nur eine einzige Siedlung in den Bergen vollständig vernichtet«, ließ sich Prochko Blutaxt vernehmen. Seine tiefe, ruhige Stimme verstärkte den bärenhaften Eindruck seiner Erscheinung, ebenso wie die zottigen Pelze, mit denen er sich gegen die Kühle des nahenden Winters schützte. »Das ist eine Lüge!«, schnappte Ryska. Heiß strömte der Zorn durch ihre Adern und wärmte ihren langsam erkaltenden Körper. »Es gibt kein Dorf, das nicht gebrannt hat! Greifennest und Gämsenhain sind nur noch Asche und Staub, ebenso Wolfsruh …« Ihre Stimme brach, kaum dass der halb vergessene Name ihres Heimatdorfes über ihre Lippen drang. Sie bebte vor Wut, Schmerz und Trauer. Die Erinnerung an die vergangenen Schrecken holten sie ein. Im ersten Morgengrauen waren die Flussleute in ihr Dorf eingefallen und hatten die schlaftrunkenen Bergsassen aus ihren Decken gerissen. Im Nu standen die schlichten Hütten in Flammen. Wer sich den Angreifern widersetzte, wurde gnadenlos niedergemetzelt. Die Krieger starben unter den Schwertern der Flussmänner, die Jägerinnen fielen den Bolzen ihrer Armbrüste zum Opfer. Die Alten und die Kranken überließen die hellhaarigen Mörder ihrem Schicksal, während sie die jungen Mütter und die halbwüchsigen Kinder in die Sklaverei führten. »Ryska? Ryska!« Die besorgte Stimme von Visseyk Schwarzmesser erlöste sie aus den Schrecken der Vergangenheit. Der Söldner lenkte sein Pferd neben sie und legte seine Hand über ihre Finger, die sich zitternd um die Zügel klammerten. »Dein Heimatdorf wurde ebenfalls überfallen, nicht wahr?«, erkundigte er sich mitfühlend. »Doch die Vergangenheit liegt hinter uns. Lass sie ruhen und wende dich der Zukunft zu. Wir sind hier, um einen Dämonen zu jagen, damit die Leute in den Bergen wieder in Frieden und Sicherheit leben können.« Unwirsch entriss Ryska ihre Hand seiner Berührung. Mit einem
harten Tritt ihrer Fersen trieb sie ihr Pferd voran in den Windschutz eines größeren Bauwerks. Türen und Fenster waren nur noch leere Höhlen, durch die leise raschelnd der Wind wehte. Hier und da hatten die Winterstürme das Ried vom Dach gefegt, so dass Sonnenlicht durch die breiten Löcher fallen konnte. Pilze und Moose krochen über den Boden aus festgestampften Lehm, der nach und nach von den Wurzeln der Farne aufgebrochen wurde. »Das war der Versammlungsort der Strohköpfe«, erklärte Ryska mit mühsam gezügeltem Hass. »Wir sollten hier unser Lager aufschlagen. Wenn wir die Fenster und Türen verrammeln, sind wenigstens die Pferde vor dem Dämon sicher.« »Das kannst nur du entscheiden«, antwortete Jaronan. »Du hast das Höllentier gesehen und die Berge sind dein Revier, Nachtjägerin.« Mit einem unwirschen Schulterzucken wehrte sie den ungeliebten Namen ab, enthielt sich jedoch einer Entgegnung. Wenn sich die Männer an ihrem Ruf nicht störten, brauchte sie ihre Taten wenigstens nicht zu rechtfertigen, oder zu verleugnen. Die vier Gefährten saßen ab und führten die Pferde in das ehemalige Herz der Siedlung. Nachdem sie ihre Decken ausgebreitet und Holz für die Nacht gesammelt hatten, wandte sich Visseyk an Ryska. »Stimmt es, was Jaronan gesagt hat: Du bist dem Dämonentier begegnet und entkommen?« Als Ryska zögerte, fügte er hinzu: »Bitte. Es ist wichtig. Je mehr wir wissen, umso höher sind unsere Chancen zu überleben.« Ryska musterte ihn überrascht. Die beiden Söldner waren sich also bewusst, dass sie eher sterben als heimkehren würden. War die Verlockung des Geldes wirklich so groß, oder hatten sie den Auftrag aus einem anderen Grund angenommen? Aufgrund von Schuldgefühlen gegenüber den Bergsassen bestimmt nicht. Blutaxt und Schwarzmesser waren Namen, die man nicht für ein schlechtes
Gewissen oder ein empfindsames Gemüt erhielt. Aber auch Nachtjägerin stand nicht gerade für Heldentaten, obwohl es viele Bergsassen so sehen wollten. Ob richtig oder falsch, sie hatte niemals nach der Rechtmäßigkeit ihres Auftrags gefragt. Die Hexe musste sich für ihr Handeln verantworten; Ryska war allein die Hand, die das Langmesser führte und nicht der Kopf, der den Befehl dazu gab. Erst zögerlich, dann immer flüssiger berichtete sie, wie das Höllentier die drei blonden Krieger und die wehrlose Frau zerfleischt hatte, wie der Dämon sie verfolgt und der Fluss sie gerettet hatte. Nachdem sie geendet hatte, senkte sich Schweigen über die Runde. Nur der harte Klang des Feuersteins, mit dem Visseyk Funken schlug, störte die Stille. Als die ersten Flammen an den trockenen Zweigen leckten, sah der Söldner den Nekromanten an. »Stimmt es, dass Dämonen erst mit der Dunkelheit erscheinen, Meister Jaronan?« »Generell schon«, erklärte dieser. »Aber Dämonen haben unterschiedliche Kräfte. Einigen von ihnen ist es möglich, am Tage zu wandeln, wenn auch nur in dunklen Ecken und finsteren Kellern. Es wurde jedoch noch nie von einem Dämon berichtet, der am helllichten Tag auf weiter Flur erschienen ist.« »Was ist mit den Schatten der Wälder?«, hakte Prochko nach. Er hielt seine gewaltige Axt wie ein Wiegenkind im Arm, während er mit geübten Bewegungen die Klinge schliff. »Es mag möglich sein. Aber wie Ryska dieses Höllentier beschrieben hat, wird es nur nachts erscheinen. Seine physische Kraft ist gewaltig, doch verfügt seine Art über keinerlei Magie.« Jaronan zog ein ordentlich gefaltetes Taschentuch aus seiner Satteltasche, tränkte es mit Wasser und reinigte seine Hände. »Obwohl uns die Gefilde der dunklen Abgründe nicht vertraut sind, haben meine Vorgänger im Laufe der Zeit herausgefunden, dass es
Dämonen gibt, die über einen gewissen Verstand verfügen, ähnlich wie wir ihn besitzen. Andere Kreaturen der Hölle dagegen entsprechen trotz ihres Furcht erregenden Aussehens unseren Tieren, denn sie werden allein von ihren Instinkten getrieben.« »Dann sollten wir diesen Umstand ausnutzen, indem wir unserem Dämonentier eine Falle stellen.« Visseyk zog eines seiner vielen Messer, warf es hoch in die Luft und fing es geschickt wieder auf. Er blickte Ryska an und grinste dreckig. »Ich weiß auch schon, wer den Köder macht.«
* Warm rann das Gegengift durch Ryskas Kehle. Eine prickelnde Hitze erfüllte ihren Körper, stieg von ihrem Magen bis in die Spitzen ihrer kalten Finger. Mit einem lautlosen Seufzen setzte sie die leere Tonflasche ab und verschloss sie mit dem abgenutzten Korken, mehr aus Gewohnheit, denn aus Notwendigkeit. »Was ist das?«, schreckte Jaronans Stimme sie auf. Sie hatte gedacht, der Nekromant hätte mit den beiden Söldnern die Versammlungshalle verlassen, um sich ebenfalls auf Position zu begeben, doch sie hatte sich getäuscht. Lautlos war er hinter sie getreten und hatte ihr die Flasche aus der Hand genommen. Vernehmlich schnupperte er an dem Verschluss. Einen Moment lang starrte ihn Ryska an. Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Aber warum? Es ging ihn nichts an. Und helfen konnte er ihr sowieso nicht – selbst wenn sie seine Hilfe gewollt hätte. Ruppig antwortete sie: »Das geht dich nichts an.« »Tut es nicht?« Jaronans fein geschwungene Augenbrauen hoben sich skeptisch. »Wer hat dir dieses Mittel gegeben?« »Eine Hexe«, wehrte sie mürrisch ab.
»Welche Hexe?«, fragte er mit sanfter Stimme weiter. »Die, der ich diene. Ihr Name ist Zoya und sie lebt hoch oben in den Bergen, tief in den Wäldern, wo kein Flussmann sie zu finden vermag.« »Du sagst, du würdest ihr dienen. Hat sie dich zu mir geschickt?« »Und wenn schon.« Ryska nahm ihm die Flasche aus der Hand und verstaute sie in den Tiefen ihrer Satteltasche. »Was macht es für einen Unterschied, wer Euch herbat, Meister Jaronan.« Anscheinend das erste Mal um eine gute Antwort verlegen, musterte der Nekromant sie schweigend, ehe er sich abwandte und das halb verfallene Haus verließ. Mit einem unwilligen Schütteln streifte Ryska den Gedanken an die Hexe und Jaronans seltsames Verhalten ab. Sie konnte später darüber nachdenken. Jetzt lag eine andere Aufgabe vor ihr. Sorgsam versperrte sie den Eingang mit der provisorischen Tür, die sie am Nachmittag gezimmert hatten. Ein letztes Mal streichelte sie ihrer schwarzen Stute durch die dichte Mähne, um das Pferd und sich selbst zu beruhigen. Sie griff nach ihren Waffen – dem Langmesser eines Kriegers und der Schleuder einer Jägerin –, zwängte sich durch eine halb verfallene Fensteröffnung und umrundete die Versammlungshalle. Ein sorgsam gelegtes Feuer hatte den runden Platz in der Mitte der Siedlung von Büschen und Sträuchern gereinigt. Schwarze Asche und verkohlte Rankenreste bedeckten jetzt den Boden und verbargen die weißen Linien der Macht, die Jaronan gezogen hatte. Der Nekromant selbst stand im Zentrum seines Zaubers, bereit, den Dämon zurück in die dunklen Abgründe zu schicken. Ryska nickte ihm kurz zu, ehe sie das nächstgelegene Blockhaus erklomm. Die runden Außenbalken gaben ihren Händen und Füßen Halt, so dass sie mit spielerischer Leichtigkeit das Dach erreichte. Moosbedeckte Steine hielten die Überreste des Rieds auf den sanft abfallenden Schrägen fest. Hier und da klafften große Löcher, wo
die Sparren unter dem Wechsel der Jahreszeiten zerbrochen waren. Am Rand des Daches legte sich Ryska auf die Lauer. Ihr geübter Blick fand Visseyk auf einem der gegenüberliegenden Häuser. Noch zeichnete sich seine schwarze Kleidung wie ein finsterer Schatten auf dem Grün und Grau des Daches ab. Mit Einbruch der Dunkelheit würde er mit seiner Umgebung verschmelzen. Sie blickte hinüber zu Prochko, der sich so positioniert hatte, dass sie Jaronan im Dreieck umzingelten. Der hünenhafte Söldner hatte seine Axt griffbereit an einen Eckpfeiler gelehnt, während seine Hände entspannt die geladene Armbrust hielten. Ryska zog eine Hand voll flacher, glatter Steine aus dem Lederbeutel an ihrem Gürtel und reihte sie in Griffweite auf. Ihr Plan war ebenso einfach wie riskant. Für das Höllentier war Jaronan Köder und Nemesis zugleich. Er würde seine Zauber sprechen, während die drei anderen die Bestie mit ihren Armbrustbolzen und Schleudersteinen beschossen. Auch konnten die Kämpfer zum Nahkampf übergehen, sollten die magischen Bannkreise dem Nekromanten nicht genügend Schutz bieten. Ryska stützte das Kinn auf die Hände und entspannte sich. Jetzt kam der Teil, an dem unerfahrene Jäger zumeist scheiterten: das lange Warten in absoluter Stille und völliger Ruhe. Die Nachtjägerin lächelte flüchtig. In bitteren Stunden hatte sie gelernt, auf ihre Zeit zu warten. Stunden‐, tage‐, gar wochenlang konnte sie auf den richtigen Moment lauern, an dem sich ihre strohköpfige Beute in Sicherheit wähnte und den entscheidenden Fehler beging. Langsam ging der Tag zu Neige. Der glühende Feuerball versank hinter dem Horizont und wie dunkles Wasser, das aus dem Flussbett trat und die Ufer überschwemmte, wuchsen die Schatten in die Länge. Sie umspülten die Häuser, krochen die Wände empor und tauchten den Vorplatz langsam in Dunkelheit. Eine plötzliche Bewegung schreckte Ryska auf. Ruckartig streckte Jaronan die Arme aus. Mit weit ausholender Geste und einem fast
unhörbaren Singsang beschwor der Nekromant seine Kräfte. Wie ein dichter Mantel aus Staub legte sich ein grauer Schimmer auf die Erde und über die Sträucher, die das verbrannte Rund eingrenzten. Ryska schluckte trocken. Obwohl Jaronan ihnen seinen Zauber erklärt hatte, fühlte sie, wie ihr eine Gänsehaut über die Arme und Beine kroch. Das graue Licht würde die Sicht des Dämonentiers behindern, während es den Jägern genügend Helligkeit für den Kampf schenkte. Aber würde es ihnen helfen, gegen die Höllenbestie zu bestehen? Die Sonne verschwand hinter den Bergen und nahm Hoffnung und Zuversicht mit sich. Über das Land kroch eine unnatürliche, beißende Kälte – die Ryska als Angst identifizierte. Eisige Furcht beschlich sie bei dem Gedanken, erneut dem Höllentier entgegentreten zu müssen. Im Tageslicht waren die Erinnerungen an den Schrecken verblasst, doch mit dem Scheiden der Sonne kehrte das Entsetzten mit aller Macht zurück. Ryska biss die Zähne zusammen, fest entschlossen, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen. Lieber sterben als vor den drei Strohköpfen als Feigling dazustehen! Sie war zwar kein Krieger, denn das war ein Handwerk, das selbst in den Bergen den Männern vorbehalten war. Doch sie war eine erfahrene Jägerin, nein, nicht bloß irgendeine eine Jägerin, sie war die Nachtjägerin. Die Menschen fürchteten sie – und dem Dämon wollte sie das Fürchten lehren … Sie horchte in die Nacht. Die Stimmen des Waldes veränderten sich. Die Tiere des Tages zogen sich in ihre Verstecke und Höhlen zurück, während die Wesen der Nacht erwachten und auf die Jagd gingen. Doch unvermittelt verstummte auch das leiseste Geräusch. Selbst das Rauschen des Windes verebbte. Die feinen Härchen in Ryskas Nacken stellten sich auf. Prüfend sog sie die nächtliche Luft ein. Vermischte sich da nicht der Gestank von Schwefel und Verwesung mit dem frischen Duft der Tannen?
Als sie vorsichtig nach Schleuder und Stein griff, bemerkte sie eine Bewegung hinter Visseyk. Über dem Krieger verdichtete sich die Dunkelheit zu einem bekannten, zu einem gefürchteten Schatten. Glutrote Augen flammten in der Dunkelheit auf und der bestialische Gestank nach Schwefel, Asche und Tod wehte zu Ryska hinüber. Visseyks Entsetzensschrei zerriss die unnatürliche Stille. Der Söldner wirbelte um die eigene Achse, riss die Arme hoch und schickte der Bestie einen glänzenden Wurfdolch entgegen. Doch wirkungslos prallte die Waffe von der stahlharten Schuppenhaut ab. Noch während Visseyk nach seinem Schwert griff, gruben sich die mörderischen Klauen in seinen Arm und zerfetzten Haut, Knochen und Adern. Die gewaltigen Kiefer schnappten nach seinem Kopf und rissen ihn vom Körper. »Visseyk!« Prochko ließ seine Armbrust fallen. Er stürmte aus seiner Deckung und rannte blindlings auf das Haus zu, auf dessen Dach sein Freund sein Leben ebenso schnell wie schrecklich verloren hatte. Nur knapp verfehlte er den magischen Kreis, den Jaronan um sich gezogen hatte. Für einen Moment wurde der Nekromant aus seiner Beschwörung gerissen. Er streckte die Hand aus, in einer Geste, deren Sinn Ryska weder kannte noch verstehen konnte, denn der Dämon bannte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Von seinem Anblick gelähmt, beobachtete sie tatenlos, wie das Untier mit einem Sprung das Hausdach verließ und Prochko erreichte. Die langen Klauen rissen tiefe Furche in die harte Erde, als der massige Leib über den Boden schlitterte. Geistesgegenwärtig nutzte der bärenhafte Söldner den kurzen Moment, in dem die Höllenbestie um sicheren Stand kämpfte. Er schwang seine Axt und schmetterte sie auf den unförmigen Schädel. Laut wie Donnerschlag hallte das Geräusch durch die Siedlung. Das Dämonentier wankte, kippte zur Seite und fiel zu Boden. Prochko hob die Waffe für einen zweiten vernichtenden Schlag, als
der Schwanz des Untiers seine Beine traf und ihn von den Füßen fegte. Im Fallen hieb er erneut auf die Bestie ein. So hart war der Schlag, dass der Griff der Axt mit einem lauten Krachen barst. Eine tiefe Kerbe zeichnete sich im Rücken des Untiers ab. Seiner Waffe beraubt griff Prochko die Bestie nun mit bloßen Händen an – doch vergebens. Geschickt warf sie sich herum, begrub den Söldner unter sich und zerfetzte ihn mit den langen Klauen. Der Gestank von Blut überlagerte den Schwefelgeruch und erfüllte Ryskas Nase. Prochkos Todesschreie gellten in den Ohren der Nachtjägerin und rissen sie aus ihrer Starre. Mit zitternden Händen legte sie einen Stein um den anderen in die Schleuder und schickte sie auf ihre tödliche Reise – aber die Geschosse prallten von dem Dämonentier ab, als wären sie Kugeln aus weichem Wachs. Das Untier ließ von den blutigen Überresten des Söldners ab. Mit langen Sätzen jagte es über die Lichtung, wohlweislich den Schutzkreis meidend, in dem Jaronan mit gehetzter Stimme seine Beschwörungen sang. Ryska wich zurück. Sie wollte um ihr Leben rennen, so wie sie es eine Woche zuvor getan hatte, als die Balken unter ihren Stiefeln nachgaben. Sie stürzte in die Tiefe. Ihr Schrei gellte durch die Nacht und verstummte abrupt, als ihr der Aufprall die Luft aus den Lungen presste. Lähmender Schmerz schoss durch ihren Körper. In diesem Moment brach die Höllenbestie durch die morsche Tür, die schräg in den Angeln gehangen hatte. Holzsplitter schossen durch den Raum und krachten gegen die Wände. Mit einem Satz war das Untier über Ryska. Sein abscheulicher Gestank umnebelte ihr die Sinne. In seinen Augen glühten die Feuer der Hölle, die die Nachtjägerin zu verschlingen trachteten. Weit blähten sich die Nüstern, als es hörbar den Geruch der Frau in sich aufsog. Es schnüffelte an ihrem Gesicht, an ihren Haaren, an ihrem Hals.
Die Welt vor Ryskas Augen verschwamm. Nur noch zwei glühende Lichter blieben über ihr, zwei Augen, deren Farbe von einem dämonischen Rot zu dem Blau der Flussmänner wechselte. Der überwältigende Schwefelgestank wurde von schalem Biergeruch und getrocknetem Männerschweiß verdrängt. Das wütende Knurren der Bestie wandelte sich in hasserfüllte Worte. Ryskas Herz drohte, im Leibe zu zerspringen. Eiskalt stand ihr der Schweiß auf der Stirn, als ihre Vergangenheit wiederauflebte. Längst verdrängte Erinnerungen wurden wach und führten sie zurück in die Nacht, in der sich ihr Schicksal zum zweiten Mal gewendet hatte. Über ihr kniete einer jener hellhaarigen Krieger, die vor weniger als einem Mondwechsel ihr Heimatdorf überfallen und niedergebrannt hatten. Seither war er ihr Besitzer und sie sollte seine Sklavin sein. Doch voller Hass auf das Volk vom Fluss weigerte sie sich, ihm Untertan zu sein. Die Aufgaben, die man ihr auftrug, erledigte sie nur widerwillig, sie arbeitete langsam und schlecht. Mehr als einmal gab sie ihrem verhassten Herrn einen Grund, sie zu beschimpfen und zu bestrafen. »Du schafsköpfige Missgeburt einer Berghure«, brüllte der Mann sie an. »Ich werde dich den Gehorsam und die Achtung lehren, die du mir und meinem Weib schuldest!« Wieder schlug er sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Heiß schoss der Schmerz durch ihre Wange. Sie riss die Arme hoch, um sich zu schützen, doch der Mann stieß ihre Hände zur Seite. Gegen den muskulösen Krieger hatte sie keine Chance, nicht, nachdem Wochen der Entbehrung und Misshandlung ihren Körper und ihre Seele geschwächt hatten. Dennoch – oder gerade deshalb – wuchs ihre Wut mit jedem Schlag, der sie traf. Zorn und Hass verdrängten jeden klaren Gedanken. Plötzlich spürte sie den bastumwickelten Griff eines Messers unter ihren Fingern. Die Waffe, die in seinem Gürtel hing, sprang ihr wie
von selbst in die Hand und instinktiv stieß sie die kalte Klinge in den Leib ihres Peinigers. Abrupt hörten die Schläge des Mannes auf. Wortlos kippte er zur Seite und starb, noch bevor er auf den Boden schlug. Ryska starrte ihn an. Augenblicklich wurde ihr klar, dass sie ihr Leben verwirkt hatte. Die Flussleute würden sie auf der Stelle erschlagen, denn es gab keine Rechtfertigung für ihre Tat. Doch weder die Angst vor den Folgen noch der Schrecken über ihr Tun konnten das Hochgefühl vertreiben, das durch ihre Adern loderte. Der Durst nach Rache überfiel sie wie ein hungriges Tier. Die Wochen der Sklaverei schrieen ebenso nach Vergeltung wie der Überfall aus ihr Heimatdorf. Die anderen Gefangenen hatten die Flussleute an weiter entfernt liegende Siedlungen verkauft; allein Ryska war an diesem fürchterlichen Ort verblieben. Sie schlich zur Tür und stahl sich aus der Versammlungshalle. Ihr Peiniger hatte sie hergebracht, damit er sie ungestört bestrafen konnte. Jetzt würde seine scheinheilige Rücksichtnahme einen blutigen Tribut fordern. Ryska lächelte kalt. Unbemerkt huschte sie durch das schlafende Dorf. Die Wachhunde kannten sie und blieben still. Sie schlugen nicht an und warnten niemanden vor der tödlichen Gefahr, die lautlos in das nächstgelegene Haus eindrang. Sie schlich zur ersten Schlafstatt, die sie in der ersterbenden Glut des Herdfeuers entdeckte. Kurz musterte sie den schlafenden Strohkopf, ehe sie ihm mit einer schnellen Bewegung die Kehle durchschnitt. Der Flussmann starb lautlos. Seine Frau, sein Bruder und seine Schwägerin, selbst die Kinder folgten ihm in den Tod, ebenso die übrigen Bewohner des Dorfes. Vom Blutrausch gepackt schlich Ryska von Haus zu Haus und nahm ein Leben nach dem anderen. Ob alt oder jung, schwach oder stark, die Nachtjägerin kannte keine Gnade, kein Erbarmen. Das nächtliche Schweigen, in dem die Siedlung geruht hatte,
verwandelte sich langsam aber unerbittlich in die Stille des Todes. Schließlich erreichte Ryska das letzte Haus, die letzte Schlafstatt. Der schwache Schein des Herdfeuers fiel auf die roten Haare eines bartlosen Jünglings und zum ersten Mal geriet Ryskas Messer ins Stocken. Ein verhasster Strohkopf nach dem anderen hatte den Tod durch ihre Hand erfahren, dieser Junge jedoch besaß den feuerroten Schopf eines Hexenkindes aus den Bergen. Einen Moment lang wurde der eiskalte Hass in ihrem Herzen von Zweifeln verdrängt. Das Messer hoch erhoben zögerte sie verunsichert. Dunkles Blut tropfte von der Klinge und besudelte das Gesicht des Jungen. Er erwachte. Er sah das Messer, erblickte Ryska und seine blauen Augen weiteten sich entsetzt. »Flussmann!«, stieß sie mit zusammengepressten Zähnen hervor. Sie wollte zustoßen, doch der Jüngling war schneller. Nach Hilfe schreiend warf er sich zur Seite. Sein schlanker, sehniger Körper prallte gegen Ryska und sie verlor das Gleichgewicht. Flink sprang der Junge auf die Füße und rannte zur nächsten Schlafstatt, um seinen Vater zu wecken. Als er ihn tot vorfand, verwandelte sich sein Hilferuf in einen Entsetzensschrei. Höhnisch lachte Ryska auf. Sie hob das Messer, um den Jungen von seinem Schrecken zu erlösen. Doch plötzlich gaben ihre Beine nach. Sie sackte zu Boden, als eine unerklärliche Schwäche ihren Körper überfiel. Kälte schwemmte über sie hinweg, hüllte sie ein wie ein Leichentuch. Kraftlos sank sie in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt hatte. Vor ihren Augen flimmerte es. Sie wollte nach dem Jungen rufen, nach ihrem Messer greifen, doch ihre Zunge blieb stumm, ihre Hand verweigerte den Dienst. Eisige Dunkelheit ergriff von ihr Besitz und raubte ihr das Bewusstsein. Erst eine sanfte, feuchte Berührung ließ sie wieder erwachen. Damals, vor mehr als zehn Jahren, hatte Zoya Ryska gefunden und in die Welt der Lebenden zurückgeholt.
Jetzt war es die raue, nasse Zunge der Höllenbestie. Stumm vor Todesangst starrte die Nachtjägerin das Untier an, dessen Gewicht auf ihren Körper drückte. Doch anstatt sie mit seinen gewaltigen Kiefern zu zermahnen, löste sich der Dämon langsam auf. Wie Wasser, das von durstiger Erde aufgezogen wurde, sickerte er in Ryska hinein. Er verschmolz mit ihr und vertrieb die Kälte des Todes, die in ihren Gliedern schlummerte. Verwirrt starrte Ryska Jaronan an, der neben ihr niederkniete. Sie konnte kaum fassen, was gerade geschehen war, geschweige denn verstehen, warum der Dämon sie nicht getötet hatte. »Was …?«, stammelte sie heiser und brach ab. »Die Ausgeburt der Hölle ist zu ihrer Schöpferin zurückgekehrt«, erklärte er mit eisiger Ruhe. »In jener Nacht hast du genug unschuldiges Blut vergossen, um ein Dutzend Dämonen in unsere Welt zu rufen.« Sie zuckte zusammen. Im Licht der frisch erwachten Erinnerungen erkannte sie in Jaronan jenen rothaarigen Jüngling, der damals ihrem Messer entkommen war. Die Schrecken der Blutnacht hatten sein Haar weiß gefärbt, das Geschehene seinem Gesicht die Weichheit der Jugend genommen, dennoch blieb kein Zweifel. »Du warst das!«, zischte er. Sie wollte sich aufrappeln, doch mit harter Hand stieß er sie zurück und hielt sie auf den Boden gepresst. »Mein Leben lang habe ich deine Dämonen gejagt, doch nun habe ich das letzte Geschöpf zur Strecke gebracht – und seine Schöpferin ebenso. Ich frage mich nur, wie du dem Sog entkommen konntest.« »Sog?«, krächzte Ryska. Aus ihrem Verbündeten war unvermittelt ihr Feind geworden, doch sie wusste nicht, wie sie reagieren, was sie tun sollte. Zu viele Fragen wirbelten durch ihren Kopf, zu groß war der Schrecken, den sie gerade erst überstanden hatte. »Jeder Nekromant weiß, dass ein Dämon seine Kraft aus dem Leib seines Schöpfers zieht«, erklärte Jaronan. »Er nimmt sich Stück für
Stück seines Lebens, seiner Seele. Schutzlos wie du warst, hättest du daran sterben müssen.« Er zögerte, dachte kurz nach. »Die Hexe, die du erwähnt hast – sie hat dich gerettet, nicht wahr?« Scharf sog Ryska die Luft ein. Also hatte Zoya sie gar nicht vergiftet! Der Heiltrank, der die Kälte des Todes aus ihren Gliedern trieb, hatte sie vor den Folgen ihrer eigenen Tat geschützt. Sie sollte der Hexe aus Dankbarkeit dienen und nicht mit dem Groll, den sie seit Jahren gegen die weise Frau hegte. »Ich sehe an deinem Blick, dass ich Recht habe.« Jaronans gefährlich leise Stimme sandte eiskalte Schauer über Ryskas Rücken. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie voller Unruhe. »Erst das Geschöpf, dann die Schöpferin.« Mit einer überraschend schnellen Bewegung zog er das Langmesser, das vergessen am Gürtel der Jägerin hing und ohne innezuhalten rammte er Ryska die Klinge in den Leib. Die scharfe Schneide bohrte sich durch ihre Kleidung, durch Haut und Muskeln. Heiß entflammte der Schmerz und nahm Ryska die Stimme. In stummer Qual krümmte sie sich zusammen, die Hände um die eigene Waffe geklammert. Wie aus weiter Feme hörte sie Jaronan murmeln: »Das Dämonenjagen ist schon ein schmutziges Geschäft.« Die Welt verschwamm vor ihren Augen und nur noch undeutlich erkannte sie, wie Jaronan ein kleines Tüchlein aus seinem Ärmel zog und sich ihr Blut von den Händen wischte … ENDE