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Schon in Aitmatows erstem Welterfolg,der Novelle „Dshamila“ (1958), die Louis Aragon eine der schönsten Liebsesgeschichten der Weltliteratur nannte,offenbarte sich das Streben des 1928 geborenen kirgisischen Schriftstellers, durch das Nationale das Allgemeingültige zu zeigen. Das „Lied“ vom Ausbruch Dshamilas aus patriarchalischerünge und Beschränkung zu menschlicher Selbstvewirklichung im lebendigen Leben leitete die erste Etappe in Aitmatows Schaffen ein. In der schweren Kriegszeit wurde er mit fünfzehn Jahren Sekretär des Dorfsowjets in seinem nordkirgisischen Heimat-AiL Scheker. Nach dem Krieg studierte er zunächst Veterinärmedizin,rnschließend arbeitete er drei Jahre als Zootechniker. 1952 begann er Artikel und kleine Erzählungen zu veröffentlichen. Vier Jahre später wurde er zumStudium an das Moskauer Schriftsteller Institut delegiert. Seine Diplomarbeitwar „Dshamila“. Die Entdeckung menschlicher Größeim unscheinbaren Alltagsleben und diekompromißlose ethischmoralische Fragestellung der Novelle sollten auch fürsein weiteres Schaffen bestimmend wer-den. Es bildete sich die unverwechselbare Stimme Aitmatows heraus, dienach den Worten des sowjetischen Kri-tikers Wladimir Lakschin „die Musik des liedreichen Ostens und zugleich die feinfühlige Seelenspannung eines zeit-genössischen Künstlers wiedergibt, deralle Freuden und Bitternisse des zwan-zigsten Jahrhunderts durchlebt“.
Einige Bemerkungen über mich Die eigene Biographie als Lektüre für andere zu schreiben, für die Publikation, ist nicht leicht. Was soll man machen - ausführlich über sein Leben berichten oder knapp? Schreibst du viel, heißt es: Geschwafel; faßt du dich kurz: Wozu schreibt er überhaupt, wenn er nichts zu sagen hat? Am besten, du läßt die Finger davon. Doch wenn es denn einmal sein muß, will auch ich es versuchen. Ich bin über Vierzig, da hat sich schon etwas zugetragen in meinem Leben. In unserem Ail hatte jeder seine Vorfahren bis ins siebente Glied zu kennen. In der Hinsicht waren die Alten unerbittlich. Immer wieder nahmen sie die Jungen ins Gebet: „Na, Batyr, aus welchem Geschlecht bist du, wer war der Vater deines Vaters? Und dessen Vater? Und dessen? Was war er für ein Mann, was hat er gemacht, was reden die Leute von ihm?“ Und stellte sich dann heraus, daß ein Junge sein Ahnenregister nicht kannte, kam die Schande den Eltern zu Ohren. Was ist das nur für ein Vater ohne Sippe, ohne Stamm, hieß es dann. Wo hat er bloß seine Augen, wie kann ein Mensch heranwachsen, ohne seine Vorfahren zu kennen, und so weiter. Das hat schon seinen Sinn - die Kontinuität der Generationen und die moralische Verantwortung füreinander innerhalb der Sippe. Vielleicht ist jemand aufgefallen: In dem Roman „Der weiße Dampfer“ habe ich versucht, durch den Mund des Jungen davon zu sprechen als er sich mit dem auswärtigen Chauffeur unterhält. Auch ich könnte meine Lebensbeschreibung mit diesem „feudalistjschen Relikt“, wie man es heute allgemein nennt, beginnen. Ich könnte sagen, daß ich aus der Scheker-Sippe stamme; Scheker ist unser Ahnherr, mein Vater ist Torekul, sein Vater Aitmat, dessen Vater Kimbildi und dessen Vater Kontschudshok. Doch genug davon. Weiter wäre es nichts als eine Aufzählung von Namen, mit denen sich für mich nicht die geringste Vorstellung verbindet. Und es gibt niemand mehr, der mir etwas über sie erzählen könnte. Von meinem Ururgroßvater Kontschudshok ist mir nicht einmal der Name überliefert, sondern nur dieser Spitzname. Sein Leben lang ging er in Tscharyks, in Schuhen aus weißgegerbtem Leder, und daher bekam er den Spitznamen Kontschudshok, Schaftloser, das heißt ohne Stiefel. Wir sind also aus dem Geschlecht der „Schaftlosen“ - kein besonderer Grund zum Prahlen, aber so war es nun mal. All dies und auch, was ich noch erzählen werde, hat mir übrigens nicht mein Vater berichtet, er kam nicht dazu, und er hatte auch andere Sorgen. Zu danken habe ich es vor allem meiner Großmutter väterlicherseits, Ajimkan Satankysy, und ihrer Tochter, meiner Tante Karagys Aitmatowa. Verblüffend, wie nah und ähnlich sich Mutter und Tochter sein können - sowohl äußerlich als auch in Charakter
und Geisteshaltung. Sie waren für mich untrennbar - gleichsam ein und dieselbe Großmutter in zweierlei Gestalt, die eine alt, die andere jung. Ich danke dem Schicksal, daß ich diese prächtigen, klugen und schönen Frauen gekannt habe - sie waren wirklich schön… Sie waren es auch, die mich in den alten Bräuchen und der Familienchronik unterwiesen. Meinen Großvater Aitmat habe ich nicht mehr erlebt. Er starb zwischen 1918 und 1920, ich aber wurde am 12. Dezember 1928 geboren. Am Rande unseres Aus Scheker (im Talas-Tal, Kreis Kirow) liegt heute noch im Schwemmland des Flusses Kurkureu ein alter, in die Erde gesunkener Mühlstein. Mit jedem Jahr verwittert er mehr und sackt tiefer ein. Hier stand die Mühle meines Großvaters. Man sagt, er hatte handwerkliches Geschick; er konnte nähen, brachte als erster eine Nähmaschine aus der Stadt mit, weshalb er auch den Spitznamen „Maschinetschi Aitmat“, Schneider-Aitmat, erhielt; der Großvater konnte Sättel fertigen, konnte verzinnen und löten, er spielte ausgezeichnet auf dem Komus, ja er las und schrieb sogar die arabische Schrift. Doch bei all seinem Unternehmungsgeist blieb er sein Lebtag arm, kam nie aus den Schulden heraus, und zuzeiten war er sogar ein Dshatak, ein Nichtnomadisierender, weil er kein Vieh besaß. Einmal aber unternahm der Großvater den verzweifelten Versuch, der Armut zu entrinnen. Er beschloß, eine Wassermühle zu bauen, in der Hoffnung, die Einkünfte könnten ihm zu Reichtum verhelfen. Alles, was er und sein Bruder Birimkul besaßen, das gesamte Vermögen der beiden Wirtschaften, steckten sie in die Mühle. Den ganzen Sommer jenes Jahres grub die gesamte Familie einen Ableitungsgraben vom Kurkureu, um der Mühle Wasser zuzuführen (davon ist eine kaum noch wahrnehmbare Spur übrig), baute die gesamte Familie an den Mauern und dem Dach. Nach Jahresfrist konnte die Mühle schließlich in Betrieb genommen werden. Aber wieder hafte der Unglücksrabe Aitmat Pech. Ein Brand vernichtete die Mühle bis auf die Mühisteine. Endgültig ruiniert, zog der Großvater mit seinem zwölfjährigen Sohn Torekul, meinem Vater, zum Bau des Eisenbahntunnels bei der Station Maimak. Von hier aus kam mein Vater mit Hilfe der dortigen russischen Verwaltung in die russischkirgisische Schule der Stadt Aulije-Ata, des heutigen Dshambul. Warum erzähle ich das alles? Nichts auf Erden geschieht ohne Grund. Wäre die unglückselige Mühle nicht abgebrannt, dann wäre der Großvater nicht zur Eisenbahn gegangen, und der Vater hätte schwerlich in der Stadt zu lernen begonnen. Daß mein Vater in den ersten Jahren der Revolution bereits über eine Schulbildung verfügte (später sollte er zweimal auch in Moskau lernen), daß er einer der ersten kirgisischen Kommunisten wurde, führende Positionen innehatte, sich lebhaft für Politik und Literatur interessierte - so wie auch meine Mutter, Nagima Chamsejewna Aitmatowa, eine gebildete, auf der Höhe der Zeit stehende Frau war -‚ gestattete ihm, mich früh an
die russische Kultur und Sprache heranzuführen, somit auch an die russische Literatur, die Kinderliteratur, versteht sich. Die Großmutter wiederum, die mich, ihren Enkel, ständig in die Berge, zu den sommerlichen Nomadenlagern, mitnahm, eine bezaubernde und kluge, von allen im All geachtete Frau, war für mich ein Schatz an Märchen, alten Liedern, Dichtung und Wahrheit. Ich sah die Noinadenzüge des Volkes so, wie sie vorzeiten waren. Nomadisieren - das heißt nicht einfach, mit den Herden von einem Ort zum anderen zu ziehen, das ist eine große rituelle Wirtschaftsprozession, ein Zurschaustellen des besten Sattel- und Zaumzeugs, des besten Schmucks, der besten Reitpferde, der bestbepackten Kamele und der Teppiche, mit denen die Traglasten abgedeckt wurden. Eine Vorführung der besten Sängerinnen unter den Mädchen, die Trauerlieder improvisierten, wenn man einen Ort verließ, wo ein Nahestehender gestorben war, oder sonst Wanderlieder. Ich erlebte diese farbigen Schauspiele, als sie bereits im Aussterben begriffen waren; später, mit dem Ubergang zur Seßhaftigkeit, verschwanden sie gänz1ich. Wahrscheinlich ohne es selbst zu ahnen, impfte mir die Großmutter die Liebe zur Muttersprache ein. Die Muttersprache! Was wurde darüber nicht schon alles gesagt! Doch das Wunder der Muttersprache ist unerklärlich. Nur ihr Wort, in der Kindheit aufgefaßt und begriffen, vermag einem eine Poesie zu schenken, die aus der Erfahrung des Volkes stammt, vermag im Menschen den Quell des Nationalstolzes zu wecken, vermittelt ihm den ästhetischen Genuß der Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit der Sprache seiner Vorfahren. Die Kindheit ist nicht nur eine wunderschöne Zeit, sie ist auch bestimmend für die künftige Persönlichkeit. Gerade in der Kindheit werden die echten Kenntnisse der Muttersprache begründet, gerade da entsteht das Gefühl, den Menschen seiner Umwelt, der einen umgebenden Natur, einer bestimmten Kultur zuzugehören. Zumindest auf Grund meiner eigenen Erfahrung muß ich sagen, daß man sich in der Kindheit zwei Sprachen gleichzeitig organisch aneignen kann, vielleicht sogar mehr, falls diese Sprachen von den ersten Jahren an die gleiche Rolle spielen. Mir ist die russische Sprache nicht minder vertraut als die kirgisische, vertraut von Kindheit an fürs ganze Leben. Ich war fünf Jahre alt, als ich zum erstenmal dolmetschen mußte, und mein erstes Honorar bestand aus einem Stück gekochten Fleisches. Das war im Sommerlager in den Bergen, wo ich mich gewöhnlich mit der Großmutter aufhielt. Die Kolchnse waren in jenen Jahren noch jung, begannen sich erst zu festigen. Im Sommer ereignete sich bei uns ein Unglück. Ein Zuchthengst, den der Kolchos kurz zuvor gekauft hatte, verendete plötzlich. Am hell4chten Tag stürzte er mit aufgetriebenem Bauch zu Boden und verreckte. Die pferdehirten waren tief betroffen - das Tier war ein wert- voller Rassehengst vom Don, man hatte ihn aus dem fernen Rußland hergebracht. Sie
schickten einen Boten in den Kolchos, von da sandte man einen zum Kreis. Und zwei Tage darauf erschien bei uns in den Bergen ein russischer Veterinär, hochgewachsen, mit rotblondem Bart und blauen Augen, in einer schwarzen Lederjacke, mit einer Feldtasche an der Seite. Ich erinnere mich noch sehr gut an ihn. Er verstand kein Wort Kirgisisch, und unsere Leute konnten kein Wort Russisch. Man mußte das Tier obduzieren, die Todesumstände klären und protokollarisch festhalten. Ohne lange zu überlegen, bestimmten mich die Pferdehirten zum Übersetzer. Ich aber stand indes mitten unter den Kindern, und wir bestaunten den fremden Mann. „Komm her“, sagte ein Hirt zu mir und nahm mich an der Hand. „Dieser Mann kann unsere Sprache nicht, übersetz du, was er redet, und was wir sagen, das sagst du ihm.“ Ich genierte mich, erschrak, riß mich los und rannte zur Großmutter in die Jurte. Hinter mir drein, von Neugier geplagt, die ganze Kinderschar. Kurz darauf erschien der Fremde und beschwerte sich über mich. Die sonst stets freundliche Großmutter wurde streng: „Warum willst du nicht mit dem Zugereisten reden, dich bitten große Leute, du kannst doch Russisch.“ Ich schwieg. Hinter der Jurte hatten sich die Kinder versteckt - was würde nun? „Schämst du dich vielleicht, russisch zu sprechen, oder schämst du dich der eigenen Sprache? Alle Sprachen sind von Gott gegeben, also hab dich nicht so, komm.“ Sie nahm mich an der Hand und führte mich hin. Die Kinder wiederum hinter uns her. In der Jurte, wo zu Ehren des Gastes schon frisches Hamwelfleisch kochte, drängten sich die Menschen. Man trank Kumys. Der Veterinär saß mit den Aksakalen zusammen. Er winkte mich lächelnd herbei. „Komm mal her, Junge. Wie heißt du denn?“ Ich murmelte etwas vor mich hin. Er streichelte mich. „Frag sie, warum der Hengst verendet ist.“ Er legte sich Schreibpapier zurecht. Alles verstummte erwartungsvoll, ich aber brachte kein Wort heraus. Die Großmutter saß betreten da. Da nahm mich ein alter Mann, ein Verwandter, auf den Schoß. Er drückte mich an sich und sagte mir vertraulich und ernst ins Ohr: „Dieser Mann kennt deinen Vater. Was soll er ihm denn von uns berichten? Soll er ihm etwa sagen, was für ein schlechter Sohn ihm bei den Kirgisen heranwächst?“ Und dann erklärte er laut: „Er wird gleich reden. - Sag unserm Gast, daß dieser Ort Uu-Sas heißt. . „Onkel“, begann ich scheu, „dieser Ort heißt Uu-Sas, giftige Wiese.“ Als ich sah, wie sich die Großmutter, der Zugereiste und alle in der Jurte freuten, wurde ich mutiger. Und fürs ganze Leben erinnere ich mich an die synchrone Übersetzung des Gesprächs, Wort für Wort in beiden Sprachen. Der Hengst, so stellte sich heraus, war an giftigem Gras eingegangen. Auf die Frage, warum die anderen Pferde dieses Gras nicht fräßen, erklärten unsere Hirten, die einheimischen Pferde rührten dieses Gras nicht an, weil sie wüßten, daß es ungenießbar sei. Genau so übersetzte ich alles. Der Zugereiste lobte mich, die Aksakale gaben mir ein großes Stück gekochtes
Fleisch, heiß und aromatisch; ich sprang triumphierend aus der Jurte. Im Nu war ich von den Kindern umringt. „Uch, einfach toll !“ sagten sie begeistert. „Du legst russisch so los wie das Wasser im Fluß, ohne Pause!“ In Wirklichkeit sprach ich stockend, doch den Kindern machte es Spaß, alles so darzustellen, wie sie wollten. Wir futterten an Ort und Stelle das Fleisch und rannten spielen. Lohnt es, in einer Autobiographie solche Dinge zu erwähnen? Ich denke schon. Man muß von dem ausgehen, was sich einem als erstes eingeprägt hat, wann und wie das gewesen ist. Manche erinnern sich bis an ihr drittes Lebensjahr zurück, andere mit knapper Not erst ans zehnte. Ich bin sicher, das alles hat viel zu bedeuten. In meiner Kindheit gab es also jenes Ereignis. Meine Großmutter war überaus zufrieden mit mir, und noch lange danach erzählte sie ihren Bekannten mit stolzgeschwellter Brust von der Begebenheit. Sie verschönte meine Kindheit durch Märchen, Lieder, Begegnungen mit Legendenerzählern und Volkssängern, sie nahm mich überallhin mit: zu Besuch, zu den Dshejentek- Festen anläßlich einer Geburt, zu Begräbnissen und Hochzeiten. Oft erzählte sie mir ihre Träume. Die waren so interessant, daß sie nur ein wenig einzunicken brauchte, schon weckte ich sie und bestand darauf, sie möge doch erzählen, was sie geträumt habe. Kurze kleine Träume stellten mich nicht zufrieden. Da ging sie zu den Nachbarn, „einen Traum borgen“. Später begriff ich: Sie erfand sie einfach für mich. Die Großmutter starb bald. Nun lebte ich ständig zu Hause in der Stadt. Dann ging ich zur Schule. Zwei Jahre später kam ich jedoch wieder in meinen heimatlichep Ail. Diesmal für lange und unter bedrückenden Umständen. Im Jahr 5937 wurde mein Vater, Parteiarbeiter und Hörer am Moskauer Institut der Roten Professur, von den Repressalien betroffen. Unsere Familie siedelte in den Ail über. Damals begann für mich die wahre Schule des Lebens mit all ihren Komplikationen. In dieser schweren Zeit gewährte uns die Schwester meines Vatets, Karagys-apa, Obdach. Wie gut, daß wir sie hatten! Sie ersetzte mir die Großmutter. Handwerklich begabt und wie ihre Mutter eine gute Märchenerzählerin und Liederkennerin, genoß sie im Ail auch ebensoviel Achtung und Respekt. Meine Mutter kam schwerkrank in den Ail, sie siechte noch lange Jahre dahin, wir aber waren vier Kinder, ich der Alteste. Unsere Lage war sehr schwer, doch Karagys-apa öffnete uns die Augen dafür, daß, was für Mißgeschick den Menschen auch trifft, er nicht verloren ist, wenn er inmitten seines Volkes lebt. Nicht nur unsere Stammesgenossen, die Scheker (damals leistete uns dieses „feudalistische Relikt“ einen unschätzbaren Dienst), sondern auch die Nachbarn und uns früher gänzlich unbekannte Menschen ließen uns im Unglück nicht
im Stich, wandten sich nicht von uns ab. Sie teilten mit uns, was immer sie konnten — Brot, Heizmaterial, Kartoffeln, sogar warme Kleidung. Einmal, als mein Bruder Ilgis und ich auf dem Feld Reisig zum Heizen sammelten mein Bruder ist heute Wissenschaftler, Direktor des Instituts für Physik und Mechanik des Bergbaus an der Kirgisischen Akademie der Wissenschaften —‚ kam von der Straße ein Reiter auf uns zu. Auf einem guten Pferd, gut gekleidet. „Wessen Söhne seid ihr?“ fragte er. Unsere Karagys-apa hatte uns ständig ermahnt, in solchen Fällen nicht den Kopf hängenzulassen, sondern den Leuten in die Augen zu sehen und Vaters Namen zu nennen. Meinen Bruder und mich bedrückte sehr, was damals über unseren Vater geschrieben wurde, sie aber, Karagys-apa, schämte sich unserer Schmach nicht. Irgendwie begriff diese Frau, obgleich Analphabetin, daß alles Lüge war, daß dies gar nicht sein konnte. Doch sie vermochte ihre Überzeugung nicht zu erklären. Ich las damals schon Bücher über Tschekisten- Kundschafter und träumte insgeheim davon, daß ich beauftragt würde, einen Spion zu fangen, ihn auch tatsächlich erwischte, aber dabei ums Leben käme. So wollte ich beweisen, daß mein Vater vor der Sowjetmacht unschuldig war. Nun also fragte dieser Mann, der von der Straße zu uns abgeschwenkt war, wessen Söhne wir seien. Und obwohl es eine Qual war, nannte ich, ohne die Augen niederzuschlagen, unseren Familiennamen. „Was hast du denn da für ein Buch?“ wollte er wissen. Es war ein Schulbuch, wie ich mich erinnere, ein Lehrbuch der Geographie, das ich hinterm Gürtel trug. Er sah es sich an und fragte: „Wollt ihr in die Schule gehen?“ Und ob wir das wollten! Wir bissen uns auf die Lippen, um nicht loszuheulen, und nickten. „Na schön, ihr werdet lernen!“ Mit diesen Worten ritt er davon. Eine Woche darauf besuchten wir bereits die Schule. Jener Mann war, wie sich herausstellte, der Lehrer Tynalijew Ussubaly gewesen. Ich kam in die Klasse der Lehrerin Inkamal Dsholojewa, und sie schenkte mir in jenen Tagen viel Mitgefühl. Früh begann ich zu arbeiten, vom zehnten Lebensjahr an lernte ich die Landarbeit kennen. Ein Jahr darauf zogen wir ins Kreiszentrum, in das russische Dorf Kirowskoje. Mutter fand dort eine Stelle als Rechnungsführerin. Wieder ging ich in eine russische Schule. Unser Leben wurde ein wenig leichter - da begann der Krieg. 1942 mußten wir die Schule aufgeben; es überstieg Mutters Kräfte, uns in Kriegszeiten alle lernen zu lassen. Und wieder war ich zu Hause in Scheker, das von den Lasten des Krieges bedrückt und ruiniert wurde. Da ich von allen Halbwüchsigen die beste Bildung hatte, machte man mich zum Sekretär des Dorfsowjets, ein anderer fand sich nicht für diese Arbeit. Ich war vierzehn.
Aber jedes Ding hat seine zwei Seiten, wie man so sagt. Hatte ich in der Kindheit das Leben von seiner poetischen, freundlichen Seite kennengelernt, so bot es sich mir nun hart, nackt, bitter und heroisch. Ich sah mein Volk unter anderen Bedingungen - im Augenblick größter Gefahr für die Heimat, im Augenblick äußerster Anspannung sämtlicher geistiger und physischer Kräfte. Ich war gezwungen, war verpflichtet, dies zu sehen, kannte ich doch jede Familie im Bereich des Dorfsowjets, jedes Familienmitglied, das bescheidene Inventar eines jeden Hofes. Ich lernte das Leben von verschiedenen Seiten kennen, in seinen unterschiedlichen Äußerungen. Später arbeitete ich in der Finanzabteilung des Kreises. Ich trieb von der Bevölkerung Steuern ein. Hätte ich gewußt, wie schwierig das im Krieg, in Hungerzeiten ist! Für mich war das eine solche Qual, daß ich nach einem Jahr, im August 1944, diese Arbeit eigenmächtig hinwarf; dafür wäre ich um ein Haar vor Gericht gekommen. Dann ging ich als Rechnungsführer einer Traktoristenbrigade zur Getreideernte. Der Krieg dauerte an, und das Leben zeigte mir jungem Mann immer neue Seiten aus dem Dasein des Volkes. All das habe ich viel später, so gut es mir gelang, in den Novellen „Aug in Auge“ und „Goldspur der Garben“ verarbeitet, teilweise auch in „Dshamila“ und „Du meine Pappel im roten Kopftuch“. 1946, nach Abschluß der achten Klasse, ging ich ans Dsham- buler Zootechnikum. Meine Praktika in den Jahren 1947 und 1948 leistete ich im Heimat-Ail, wo ich, gleichsam als Außenstehender, beobachten konnte, wie sich das Leben der mir nahestehenden Menschen in der Nachkriegszeit veränderte. Im selben Jahr, in dem ich das Technikum als Beststudent abschloß, wurde ich am Kirgisischen Landwirtschaftsinstitut immatrikuliert, das ich übrigens ebenfalls mit Auszeichnung absolvierte. Die Literatur liebe ich von Kind an, in der Schule schrieb ich gern Aufsätze über Themen eigener Wahl, und bereits in den Institutsjahren wurde mir klar, daß mich die schöngeistige Literatur immer stärker in ihren Bann zog. In den besten literarischen Gestalten jener Zeit suchte ich Antwort auf die mich bewegenden Fragen. Ich wünschte sehr, daß über den Krieg, über die Heldentaten des Volkes in den Kriegsjahren starke, farbige Werke geschrieben würden. In der kirgisischen Literatur wurde das Kriegsthema damals noch nicht sonderlich tiefgründig gestellt. Ich wollte, daß auch den Kirgisen die besten Bücher über den Krieg zugänglich würden. Von diesem Gedanken geleitet, übersetzte ich auf eigene Faust den „Sohn des Regiments“ und „Die weiße Birke“, ohne die geringste Vorstellung, was künstlerische Übersetzung ist und wie Bücher herausgegeben werden. Später, als ich meine Übertragungen einem Verlag brachte, sagte man mir, daß diese Werke längst übersetzt seien und bald erscheinen würden. Damals bekümmerte mich das sehr, doch gerade dies war der Beginn meiner literarischen Arbeit. Noch als Student schrieb ich für Zeitungen Kurznotizen, Artikel,
Skizzen. Nach dem Institut arbeitete ich als Zootechniker. In jenen Jahren verfaßte ich bereits Erzählungen. 5956 fuhr ich zur Teilnahme an einem Lehrgang der Literaturhochschule nach Moskau. Dieses zweijährige Studium gab mir, dem einstigen Zootechniker, außerordentlich viel, nicht nur hinsichtlich meiner geisteswissenschaftlichen und theoretischen Ausbildung, sondern auch für die unmittelbare praktische Arbeit unsere Seminare und Diskussionen waren eine gute schöpferische Schule. Zudem bemühte ich mich, an allem Wertvollen des Moskauer Kulturlebens teilzuhaben, sowohl auf dem Gebiet der Literatur als auch des Theaters. Nach Abschluß des Lehrgangs war ich Chefredakteur der Zeitschrift „Literarisches Kirgisien“, dann arbeitete ich fünf Jahre als kirgisischer „Prawda“-Korrespondent, was mir gleichfalls ermöglichte, den Kreis meiner Beobachtungen zu erweitern, das Leben besser kennenzulernen. Selbstverständlich muß ein Schriftsteller die natürliche Fähigkeit besitzen, in künstlerischen Bildern zu denken, sein Talent, seine Persönlichkeit formen sich jedoch unter dem Einfluß eines bestimmten gesellschaftlichen ‘Milieus, der intellektuellen Erfahrung, der kulturellen Traditionen, der Weltanschauung und politischen Struktur seiner Umgebung. Für uns ist diese Umgebung die Sowjetgesellschaft, die sozialistische Ordnung, die kommunistische Weltanschauung. Sie bestimmt die Zielrichtung im Schaffen der sowjetischen Schriftsteller. Es erübrigt sich, zu betonen, daß die Verleihung des Leninpreises im Jahre 1963 für mein Buch „Erzählungen der Berge und Steppen“ ein freudiges, bedeutsames Ereignis in meinem Leben war. Ich danke dem Volk für diese hohe Auszeichnung. Niemand wird Schriftsteller nur aus sich selbst. Die Erfahrung seiner Vorgänger fließt in die schöpferische Welt des Künstlers ein, lange bevor er sich eigener literarischer Neigungen bewußt wird. Natürlich ist es keineswegs allen von uns gegeben, Entdeckungen auf dem schweren Weg der Kunst zu machen. Das hängt schon vom Talent ab, von der Weite des Gesichtskreises. Häufig treten wir nur breit, was unsere Vorgänger bereits erreicht haben, häufig machen wir auch Rückschritte, was Meisterschaft, Gedankentiefe und Kraft der Gestalten und Bilder anbelangt. So ist offensichtlich der literarische Entwicklungsprozeß: kompliziert, langwierig, ungleichmäßig, zuweilen schwer erklärbar. Über das Schicksal der Literatur, über den eigenen Schaffensweg muß man oft und aus verschiedenem Anlaß nachdenken. Da ich schon von mir schreibe, möchte ich hier einige Gedanken zum „Weißen Dampfer“ äußern, der unter den Lesern heftigen Meinungsstreit ausgelöst hat. Meinungsstreit ist etwas ganz Normales. Meinungsstreit muß es geben in der Literatur. Doch was mich in diesem Zusammenhang hellhörig gemacht hat, ist, so paradox das klingen mag, die Gefährlichkeit einer wohlwollenden und auf ihre Weise grundehrlichen Kritik. Manche Leser, die zum Beispiel
„Dshamila“, „Der erste Lehrer“, „Goldspur der Garben“ und andere Sachen liebgewonnan haben, wünschen, ausgehend von ihren Vorstellungen über die Kunst, daß ich auch fernerhin nur auf diese Art schreibe. Ich denke nicht daran, mich von diesen Werken loszusagen, ich leugne auch nicht eine bestimmte Bedeutung dessen, was ich vor „Abschied von Gülsary“ und dem „Weißen Dampfer“ geschrieben habe, aber ich will auch nicht bei dem stehenbleiben, was bereits eine vergangene Etappe ist. Die Literatur muß selbstlos ihr Kreuz tragen, sie muß in die Kompliziertheit des Lebens eindringen, damit der Mensch alles Gute und Würdige in sich selbst, den anderen und der Gesellschaft kennt, liebt und behütet. Darin sehe ich die eigentliche Bestimmung der Kunst. Und ich bin überzeugt, daß es immer so bleiben wird, denn der Mensch sucht in der Kunst die Bestätigung seiner besten Bestrebungen und die Ablehnung alles Bösen und Ungerechten, das seinen sozialen und sittlichen Idealen widerspricht. Das geht nicht ab ohne Kampf, Zweifel und Hoffnung. Und das wird wohl immer so bleiben. Deshalb hat die Kunst ständig die Aufgabe, dem Menschen von der Kompliziertheit und Schönheit des Lebens zu erzählen. Ich weiß nicht, wie sich mein weiteres Schicksal als Schriftsteller fügt, ob es mir gelingen wird, Interessantes zu schreiben. Nun, wir werden sehen... Frunse, 1971