ANSPRUCH UND RECHTFERTIGUNG
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ANSPRUCH UND RECHTFERTIGUNG
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRÜNDET VON H.L. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT DER HUSSERL-ARCHIVE
191 SOPHIE LOIDOLT
ANSPRUCH UND RECHTFERTIGUNG
Eine Theorie des rechtlichen Denkens im Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls Redaktionskomitee: Direktor: U. Melle (Husserl-Archief, Leuven) Mitglieder: R. Bernet (Husserl-Archief, Leuven) R. Breeur (Husserl-Archief, Leuven) S. IJsseling (Husserl-Archief, Leuven) H. Leonardy (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve) D. Lories (CEP/ISP/Collége Désiré Mercier, Louvain-la-Neuve) J. Taminiaux, (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve) R.Visker (Catholic University Leuven, Leuven) Wissenschaftlicher Beirat: R. Bernasconi (Memphis State University), D. Carr (Emory University, Atlanta), E.S. Casey (State University of New York at Stony Brook), R. Cobb-Stevens (Boston College), J.F. Courtine (Archives-Husserl, Paris), F. Dastur (Université de Paris XX), K. Düsing (Husserl-Archiv, Köln), J. Hart (Indiana University, Bloomington), K. Held (Bergische Universität Wuppertal), K.E. Kaehler (HusserlArchiv, Köln), D. Lohmar (Husserl-Archiv, Köln), W.R. McKenna (Miami University, Oxford, USA), J.N. Mohanty (Temple University, Philadelphia), E.W. Orth (Universität Trier), C. Sini (Universita` degli Studi di Milano), R. Sokolowski (Catholic University of America, Washington D.C.), B. Waldenfels (Ruhr-Universität, Bochum) For further volumes: http://www.springer.com/series/6409
SOPHIE LOIDOLT University of Vienna, Austria
ANSPRUCH UND RECHTFERTIGUNG Eine Theorie des rechtlichen Denkens im Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls
Library of Congress Control Number: 2008934060
ISBN 978-1-4020-9049-3 (HB) ISBN 978-1-4020-9050-9 (e-book)
Published by Springer, P.O. Box 17, 3300 AA Dordrecht, The Netherlands. www.springer.com
Printed on acid-free paper
All Rights Reserved © 2009 Springer No part of this work may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise, without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use by the purchaser of the work.
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
I. DIE GRUNDFRAGEN DES RECHTLICHEN DENKENS: ¨ EINE H INF UHRUNG 1. Der Mensch als rechtliches Wesen. Die Rechtsfrage als erkenntnistheoretisches Problem 2. Rechtsfragen in der Ph¨anomenologie Edmund Husserls 3. Elemente einer Theorie des rechtlichen Denkens: Rechtssinn und rechtliche Intentionalit¨at 4. Kernthemen und Aufbau der Untersuchung 5. Nachtrag: Ankn¨upfungspunkte zu lebensweltlichen Diskursen u¨ ber Recht und Rechtfertigung
ix 1 1 5 11 16 20
ZUR GENESIS DES RECHTLICHEN DENKENS BEI HUSSERL II. DIE RECHTSPR A¨ DIKATION: VORBEREITENDE ¨ NOMENOLOGISCHE BEGRIFFSKL A¨ RUNGEN PH A Einleitung: Vorbemerkungen zu Methode und Terminologie 1. Normierender Akt und Rechtsakt in schlichter Gewissheit 2. Varianten des Rechtsakts und korrelativ dazu des Rechtssinns 3. Ausrichtung des Rechtsakts und korrelativ dazu des Rechtssinns 4. Modalisierungen des Rechtsakts und korrelativ dazu des Rechtssinns 5. Zusammenfassung und Ausblick v
29 29 36 42 48 49 57
vi
inhaltsverzeichnis
III. DIE RECHTSPR A¨ DIKATION DER THEORETISCHEN VERNUNFT. EINE GENETISCHE ANALYSE Einleitung A. Richtigkeit 1. Der Begriff der Richtigkeit und die (erkenntnis-)kritische Einstellung B. Genesis und Teleologie des rechtlichen Denkens: Evidenz als Rechtsgrund 2. Normative Strukturen und rechtliche Intentionalit¨at im theoretischen Bereich 3. Evidenz – Rechtfertigung – Begr¨undung 4. Vernunft als rechtliche Intentionalit¨at 5. Evidenz als volles Angesprochen-Sein und die ihr korrelative Verantwortung
61 61 68 68 81 81 89 98 104
IV. DIE RECHTSPR A¨ DIKATION DER PRAKTISCHEN VERNUNFT: HUSSERLS POSITIONSWANDEL 121 Einleitung 121 A. Rechtheit 125 1. Das ,Rechte’ ist nur ein vermittelter Wert: Scheler, Husserl, Reinach 125 B. Rechtliches Denken in der praktischen Sph¨are: Evidenzanspruch und Unverf¨ugbarkeit 147 2. Das Verh¨altnis von logischer (theoretischer) und praktischer Vernunft 147 3. Husserls Ethik von 1908 bis 1914: Grundfragen, Aufbau, Probleme 156 4. Evidenzstil: Wertevidenz und Willensrichtigkeit 168 5. Verfehlen des Ethischen? Husserls Ethikentw¨urfe der 20er und 30er Jahre zwischen Vernunftanspruch und affektivem An-spruch 181 Abschluss: Der Vorrang der praktischen Haltung oder: Vom rechtlichen Denken zum rechtlichen Sein 191
Inhaltsverzeichnis
vii
¨ HORIZONTE VON KRITIK UND WEITERFUHRUNG: ZUR GENESIS DES RECHTLICHEN DENKENS BEI LEVINAS UND APEL V. LEVINAS: DER ANSPRUCH DER ANDEREN ALS STIFTUNG RECHTLICHEN D ENKENS 203 Einleitung 203 1. Grundz¨uge der ethischen Erfahrung als Erfahrung der Alterit¨at 209 2. Der ,Dritte’ als Anstoß rechtlichen Denkens 222 3. Dekonstruktion als ,Haltung’? (Derrida) 234 4. Rechtsphilosophische Horizonte von Kritik und Weiterf¨uhrung I: Menschenrechte als ,Rechte des Anderen’ 247 VI. APEL: DAS APRIORI DER KOMMUNIKATIONSGEMEINSCHAFT ALS FAKTUM 263 DER V ERNUNFT Einleitung 263 1. Erkenntnistheoretische Aspekte: Intersubjektivit¨at und Geltungskonstitution 264 2. Ethische Aspekte: Argumentation und Anerkennung 284 3. Logosvergessenheit? (Heidegger) 293 4. Rechtsphilosophische Horizonte von Kritik und Weiterf¨uhrung II: Rechtsbegriff und Rechtsverst¨andnis (Habermas) 298 KONKLUSION
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LITERATURVERZEICHNIS
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VORWORT
Die vorliegende Arbeit wurde in den Jahren 2004 bis 2006 in Wien und New York geschrieben und im Juni 2006 an der Universit¨at Wien als Dissertation angenommen. F¨ur die Drucklegung wurde das Manuskript gek¨urzt und umgearbeitet. Mein herzlicher Dank gilt zun¨achst meinem Dissertationsbetreuer Prof. Dr. G¨unther P¨oltner, in dessen Seminaren und Privatissima es immer um die Sachen selbst und um die Sache der Philosophie ging. Ebenso m¨ochte ich mich bei Prof. James Dodd f¨ur die Anregungen bedanken, die ich in seinem Seminar zu ,Husserl und Kant’ an der New School University erhalten habe und die f¨ur mich bei der inhaltlichen und methodischen Durchf¨uhrung der Untersuchung entscheidend waren. Schließlich ist es vor allem der intensive, kritische und unterst¨utzende Austausch mit Freunden, Kollegen und Diskussionspartnern, der eine solche Arbeit m¨oglich macht: Einen besonderen Dank daher an alle, die mich auf diesem Weg begleitet haben. ¨ Die F¨orderung der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften ¨ (OAW) im Rahmen eines DOC-Stipendiums hat mir eine kontinuierliche und konzentrierte Arbeit erlaubt, wof¨ur ich sehr dankbar bin. Dies gilt ebenso f¨ur das Institut f¨ur die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, wo ich als Junior-Visiting-Fellow neun Monate lang in anregender Atmosph¨are arbeiten konnte. F¨ur den Zugang zu Husserls unpublizierten Manuskripten und die stets freundliche Unterst¨utzung gilt mein Dank sowohl Direktor Prof. Dr. Ullrich Melle als auch dem ehemaligen Direktor Prof. Dr. Rudolf Bernet sowie den MitarbeiterInnen des Husserl-Archivs in Leuven. Zuletzt ein herzliches Dankesch¨on an Dr. Wolfgang Fasching, der die Endkorrekturen an diesem Text vorgenommen hat. Wien, Juli 2008 ix
KAPITEL I
DIE GRUNDFRAGEN DES RECHTLICHEN DENKENS: ¨ EINE HINFUHRUNG
1. Der Mensch als rechtliches Wesen. Die Rechtsfrage als erkenntnistheoretisches Problem Unser Verstehen ist durch rechtliche Zusammenh¨ange gepr¨agt. In unserem ganz allt¨aglichen Lebensvollzug urteilen wir st¨andig u¨ ber unsere Erfahrungen ebenso wie u¨ ber unsere Handlungen und sprechen ihnen Recht oder Richtigkeit zu oder ab. Diese Reflexionen u¨ ber Recht und Richtigkeit strukturieren unser Denken und unser geistiges Leben, sie u¨ berziehen gleichsam die Welt mit einem Netz von Rechtfertigungen, Ausweisungen und Begr¨undungen und durchziehen auf diese Weise unser Erleben. Die vorliegende Arbeit stellt dieses bemerkenswerte rechtliche ¨ Verm¨ogen in den Mittelpunkt der Uberlegungen. Sie fragt nach dem Menschen als einem rechtlichen Wesen, einem Lebewesen, das den logos hat und durch ihn immer schon in der Rechtfertigung steht. Was ist der Mensch, insofern in ihm diese Frage aufbricht und er dementsprechend ,Welt’ in rechtlichen Begriffen erf¨ahrt, versteht und auslegt? Was sagen uns die Verfahren der Ausweisung, Rechtfertigung und Begr¨undung, die fundamentale Weisen der Welterschließung sind, u¨ ber die Verfasstheit des Menschen und schließlich, des Bewusstseins? Es scheint, dass die reinen Strukturen dieses Verm¨ogens, also die formalen Bedingungen, unter denen ein Urteil u¨ ber Recht oder Richtigkeit gef¨allt werden kann, immer wieder vernachl¨assigt worden sind zugunsten der Inhalte, die als recht, berechtigt oder richtig zu beurteilen sind. Denn nat¨urlich liegt das Hauptinteresse des Erkennens zun¨achst darin, herauszufinden, was wahr und was falsch, was recht oder was unrecht ist, und nicht wie dieses Urteil zustande kommt. Die ph¨anomenologische Methode hingegen lehrt uns, gerade dieses Wie von Gegebenheitsweise und lebendigem Vollzug zu betrachten und in dieser Korrelation 1
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kapitel i
unsere Welthabe zu ergr¨unden. Was den Menschen als rechtliches Wesen ausmacht, w¨are ph¨anomenologisch also vom Vollzug des Urteilens her zu verstehen; was der Rechtscharakter ist, erschließt sich im Wie seiner Konstitution. Philosophisch gesprochen liegt in dieser allgemeinen Redeweise des rechtlichen Verstehens schon eine erkenntnistheoretische Problematik vor, die in der ganzen Vielfalt ihres Anspruchs erst ph¨anomenologisch ausgedeutet werden muss. Mit Heidegger (1979, § 2) k¨onnte man sagen: Es liegt ein Vorverst¨andnis von Rechtlichkeit zugrunde, das es erst auszulegen gilt. In ungekl¨arter Form besagt dieses Vorverst¨andnis: Im Sinn von ,Recht’ liegt ein Anspruch auf Begr¨undung, der prinzipiell keinen Abschluss findet. Eine ph¨anomenologische Analyse und Genealogie des Rechtfertigens soll zeigen, auf welche Weise eine Intention auf Begr¨undung vorhanden ist, wenn Rechtssinn (und nicht nur Regelsinn als purer Voluntarismus der Setzung) in Anspruch genommen wird. Denn was eine Regel ist, kann vollkommen beliebig festgesetzt werden1 , was allerdings wirklich ,Recht’ sein soll, h¨angt seinem Sinn nach implizit mit einer Rechtfertigung zusammen, muss sich also die Frage nach Begr¨undung gefallen lassen, auch u¨ ber das kontingent gesetzte Regelwerk hinaus. Dabei ist sowohl das Vorverst¨andnis von Rechtlichkeit als Anspruch auf Begr¨undung zu ber¨ucksichtigen als auch das korrelative Ph¨anomen des Geltungszuspruchs durch das angesprochene Subjekt. Umgekehrt ließe sich sagen: Der Erkenntniszusammenhang ist von vornherein ein rechtlicher. Wie sich ein solcher Rechtsanspruch begr¨unden l¨asst und was er f¨ur das Erkennen u¨ berhaupt bedeutet, besch¨aftigt die Philosophie nicht erst seit Kants ,Transzendentaler Deduktion’; Husserl hat sich daran abgearbeitet; und auch in der aktuellen Diskussion geh¨ort die Fragestellung nach der rechtlichen Auslegung von Welt und Erkenntnis ganz wesentlich zur philosophischen Erkenntnistheorie, wie etwa Werke wie Geist und Welt von John McDowell best¨atigen. 1
Ein brauchbares Beispiel f¨ur den Regelsinn sind z. B. Verkehrsregeln, auch Spielregeln. Damit man ,richtig liegt’, kommt es nur darauf an, dass man sich an die beliebig vorgegebenen Regeln h¨alt. Was die Kontingenz dieser Regelsetzung ausmacht, ist, dass sie nicht an eine Sache r¨uckgebunden ist, der sie entsprechen soll, sondern dass die Regelung sich durch ihre eigene Logik konstituiert.
die grundfragen des rechtlichen denkens
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Was es mit diesem Rechtsaspekt auf sich hat, in Argumentationen der Erkenntnistheorie und der Ethik bzw. im Argumentieren und Rechtfertigen u¨ berhaupt, ist das Thema dieser Untersuchung. Damit sollte einerseits klar sein, dass es sich um keinen juristischen Begriff des Rechts handelt. Andererseits soll auch herausgearbeitet werden, dass die philosophische Rechtsfrage im Sinne eines ,rechtlichen Denkens’ nicht einfach mit der erkenntnistheoretischen Frage nach Geltung oder Wahrheit zusammenf¨allt, sondern ihr in gewisser Weise vorhergeht. Denn nur eine vorg¨angige Auffassung von Erfahrung und Welt in rechtlichen Strukturen erm¨oglicht u¨ berhaupt erst die Vollz¨uge des Begr¨undens, Ausweisens und Rechtfertigens von Wahrheit und Geltung. Diese Strukturen auszuleuchten nimmt sich die vorliegende ,Theorie des rechtlichen Denkens’ vor. Die Exposition der Rechtsfrage in diesem einleitenden Kapitel soll den Weg skizzieren, auf dem ph¨anomenologisch nach dem Rechtscharakter in unserem Denken gefragt werden kann. Diese Thematik kn¨upft sowohl inhaltlich als auch methodisch durchaus an das Herzst¨uck der Husserl’schen Ph¨anomenologie an: an die Frage nach der Konstitution von Geltung. Im Spannungsfeld der Objektivit¨at von Welt und ihrer subjektiven Gegebenheitsweisen kreist die transzendentale Ph¨anomenologie um das Grundproblem, wie Objektivit¨at qua Geltung im Bewusstsein und schließlich in der transzendentalen Intersubjektivit¨at konstituiert wird. Die Untersuchung von Bewusstsein ist die korrelative Untersuchung von Welt; das schließt auch ihre Vorg¨angigkeit und Unverf¨ugbarkeit mit ein. In der Reduktion stoßen wir laut Husserls Lehre auf das reine Bewusstsein, dem die transzendente Welt korreliert; wir k¨onnen auf die Akte blicken, in denen sich Sinn, Objektivit¨at und Geltung herstellen, und finden hier auch das ,fundamentum inconcussum’, an dem sich Meinung und Evidenz immer wieder neu bew¨ahren m¨ussen. Dieses ,fundamentum inconcussum’ des Bewusstseins ist aber letztlich keine statische res cogitans, die jenseits der Welt existiert, sondern eine lebendige Bewegung im ,ego cogito cogitatum’, also stets schon verwoben in die Leiblichkeit und Geschichtlichkeit seiner Empfindungen und Erfahrungen. Es geh¨ort somit zum innersten Vollzug des Bewusstseins selbst, dass in ihm die Rechtsfrage aufbricht, oder besser: dass es selbst als Rechtsfrage aufbricht. Den Zusammenhang von Erfahren und Erfahrenem auf das Sch¨arfste erfassend, hat Husserl die Instanz der Rechtsprechung an die ,origin¨are Anschauung’ der ,Sachen selbst’ zur¨uckgebunden. Es ist einzig Evidenz,
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kapitel i
die nach Husserl rechtgebend fungieren kann. Wie aber kommt es, dass Evidenz als rechtgebend oder als Rechtsgrund aufgefasst wird? Und was bedeutet, worauf antwortet diese Art der Erkenntnist¨atigkeit, die alles in Rechtsformen kleidet? Die Frage nach dem Menschen als einem Wesen, das in ganz allt¨aglicher und selbstverst¨andlicher Weise in Ausweisungsund Rechtfertigungszusammenh¨angen steht, vertieft sich so in einer ph¨anomenologischen Betrachtung zu der Frage nach der Verfasstheit des Bewusstseins selbst. Dass dieses als angesprochenes in legitimierenden Strukturen antwortet, hat gleichzeitig theoretische und praktische Implikationen: Es f¨uhrt uns auf ein ,rechtliches Sein’ vor einem ,rechtlichen Denken’. Um zu diesen Thesen ph¨anomenologisch vorzudringen, ist eine systematische Untersuchung der Rechtspr¨adikation in theoretischer und praktischer Hinsicht zu entwickeln. An erster Stelle gilt es festzustellen, in welchen verschiedenen Weisen wir Recht und Richtigkeit aussagen, um dann fragen zu k¨onnen, welchem Anspruch wir damit antworten. Dar¨uber hinaus erfordert die genaue Untersuchung des Zusammenhangs von Evidenz und Rechtscharakter vor allem auf Seiten des Rechtscharakters eine Arbeitsterminologie. Husserl war es durchaus nicht fremd, in genau diesem Zusammenhang von ,Recht’, ,Rechtscharakter’, ,Rechtslehre’, ,Rechtsquelle’ usw. zu sprechen. Diese Begriffe aufgreifend und weiterf¨uhrend, sollen weitere terminologische Differenzierungen erfolgen, welche erlauben, Systeme der Ausweisung, Begr¨undung und Rechtfertigung von Geltung als gestiftet durch die rechtliche Grundauslegung von Erfahrung zu beschreiben. So wird etwa vom Rechtssinn die Rede sein als dem Modus, in dem Geltung als erf¨ullte dasteht. Die Intendierung von Geltung bzw. die Bewegung zur Ausweisung von Geltung als Telos wird als rechtliche Intentionalit¨at beschrieben. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht damit auch eine Neuformulierung des Vernunftbegriffs. Denn eine der zentralen Thesen lautet, dass der allgemeine Legitimations- qua Vernunftdiskurs auf unser innerstes Wesen des Angesprochen-Seins verweist und antwortet. Vernunft in ihrer Eigenschaft als rechtliche Intentionalit¨at zu thematisieren und eine Genesis dieses Verm¨ogens aus dem Antworten auf einen Anspruch vorzustellen, war eines der Hauptanliegen des vorliegenden Buches. Damit ist auch eine ,Kritik der rechtfertigenden Vernunft’ verbunden: Denn es zeigt
die grundfragen des rechtlichen denkens
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sich, dass die Vernunft in ihren Rechtspr¨adikationen nicht nur oft auf die Verschiebung in die Unendlichkeit der ,regulativen Idee’ angewiesen ist, sondern sich auch diesem Aufschub (an Evidenz) praktisch stellen muss. Vernunft sollte daher prim¨ar als ein antwortendes Verm¨ogen verstanden werden, das spontan rechtliche Begriffe hervorbringt, aber nicht souver¨ane, endg¨ultige und ungeschichtliche Urteile f¨allt, sondern dem Angesprochen-Sein gegen¨uber unendlich verpflichtet bleibt – was bedeutet, dass Vernunft sich intersubjektiv stets verantworten muss. Was diese Arbeit in ihrem Kern zusammenh¨alt, war das Bed¨urfnis, das rechtliche Verm¨ogen einmal unabh¨angig von all den inhaltlichen Fragen zu thematisieren, die es st¨andig umtreiben und in seinem Vollzug unsichtbar machen. Es sollte deutlich gemacht werden, dass wir mit dem so allt¨aglich gebrauchten ,Rechtswort’ (Maihofer 1954, 30) einen außerordentlichen Anspruch und eine bemerkenswerte Seinsweise ausdr¨ucken, mit der wir der Welt und vor allem den Anderen immer schon verpflichtet sind. In der menschlichen Freiheit liegt, diese Verpflichtung auch verweigern zu k¨onnen, was aber stets immer nur Antwort, ja unangemessene Antwort bedeutet. Mit der Vernunft stehen wir in einem rechtlichen Sein, das mehr Grenzen als L¨osungen aufweist und das wenig weiß, aber umso mehr verantworten muss. 2. Rechtsfragen in der Ph¨anomenologie Edmund Husserls Im Folgenden wollen wir uns die Fragestellung der Ph¨anomenologie spezifisch f¨ur unsere Problematik zunutze machen. Es sind im Wesentlichen drei ineinandergreifende Bereiche der Husserl’schen Ph¨anomenologie, in denen sich die Frage nach Recht und Geltung als roter Faden der Analyse durchzieht: Erstens, die Entwicklung der ph¨anomenologischen Methode selbst, in der die origin¨ar gebende Anschauung als Rechtsquelle aller Erkenntnis festgelegt wird. Zweitens, die Ph¨anomenologie der Vernunft, in der die rechtgebenden und Sein konstituierenden Akte untersucht werden. Drittens, die Bestimmung der Ph¨anomenologie als Philosophie aus voller Rechtfertigung. Die Rechtsfrage ist f¨ur Husserl kein Sonderbereich einer quaestio iuris, vielmehr pr¨agt sie seine methodische Herangehensweise von Anfang an
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grundlegend. Es geht dabei um das Problem der Sachn¨ahe, das Klaus Held folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: ,,Ich kann u¨ ber eine Sache nur reden – sei es objektiv oder bloß meinungshaft –, weil ich voraussetze, daß sich grunds¨atzlich die M¨oglichkeit realisieren l¨aßt, sie auf eine sachnahe Weise, sozusagen ,anschaulich’, ,leibhaft’ zu erleben. Ohne eine solche M¨oglichkeit w¨are mir die Sache nicht einmal bekannt, sie existierte f¨ur mich nicht.“ (Held 1985, 14) Selbst wenn mir die erfahrene Sache jetzt undeutlich gegeben ist, so ist sie in meiner Auffassung stets r¨uck- oder vorbezogen auf ihre volle Gegebenheit als Sache. Nur von dieser origin¨aren Gegebenheitsweise her kann u¨ berhaupt der Sinngehalt dessen bezogen werden, was es heißt, etwas u¨ ber etwas auszusagen. Husserl fordert diese Einsicht auch f¨ur das philosophische Vorgehen. Deshalb kann das Feld der transzendentalen Subjektivit¨at nur erschlossen werden, wenn methodisch genau festgelegt wird, wie rechtm¨aßige Aussagen u¨ ber Akte und ihre Korrelate, die Gegenst¨ande, zustande kommen k¨onnen. Und diese Rechtm¨aßigkeit liegt f¨ur Husserl in der Sachn¨ahe, d. h. in der origin¨ar gebenden Anschauung, die als Pr¨ufstein f¨ur jegliche Aussage gelten muss. Die deutlichste Formulierung f¨ur dieses Grundgesetz der Ph¨anomenologie findet Husserl – schon dem Titel nach – im ,Prinzip aller Prinzipien’: ,,Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede origin¨ar gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ,Intuition’ origin¨ar [. . .] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich da gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine Theorie irre machen.“ (Hua III/1, 51)
Eine Methode birgt als Verfahren zur Erkenntnis der Wahrheit die Rechtsfrage immer schon in sich. Sie geh¨ort daher wesentlich zu der Perspektive hinzu, aus der sich das Feld der transzendentalen (Inter-) Subjektivit¨at u¨ berhaupt er¨offnet. Ihr ,Pendant’ bzw. ihre ph¨anomenologische Antwort findet sie im Konzept der Evidenz, die eben als origin¨ar gebende Anschauung eine Rechtsquelle ist und damit Geltung garantiert. So wie wir in nat¨urlicher Einstellung als ,rechtliche Wesen’ stets auf eine Begr¨undung zur¨uckgehen, die unseren Rechtsanspruch in argumentativen, moralischen, juristischen etc. Belangen einl¨osen soll, so wird in philosophischer Hinsicht die M¨oglichkeit f¨ur Begr¨undung u¨ berhaupt
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(n¨amlich Sachn¨ahe) zum formalen Grundprinzip (oder zur Grundnorm), das die Rechtm¨aßigkeit aller m¨oglichen Erkenntnis sichern soll. Dieser grundlegende Zusammenhang von ,Recht’ und ,Evidenz’ als einerseits ,methodische’ und andererseits ,sachhaltige’ Seite des ph¨anomenologischen Zugangs pr¨agt diesen auf nachhaltige Weise und ist allein schon eine Untersuchung wert. Denn insofern das Grundanliegen der Ph¨anomenologie darin besteht, ,,Evidenz u¨ ber Evidenz herbeizuf¨uhren“ (Held 1985, 18), l¨auft der rechtliche Rahmen Gefahr, doppelt unbefragt zu bleiben. Immer notwendig in Anwendung befindlich, bedarf es eines eigenen Fokus, um die rechtlich-methodische Komponente ins Blickfeld zu bringen. Recht wird im Bewusstsein nicht beliebig hergestellt – vielmehr meint Husserl, dass alles, was als Recht und Berechtigung Sinn hat, nur als Bewusstsein vollzogen werden kann, und zwar in der Gerichtetheit auf die Gegebenheitsweise der Gegenst¨ande, welche uns von vornherein in den Stand von Fragenden und Richtern setzt. Die Sachn¨ahe, deren Erfassung Husserl der Intuition (Anschauung) zuspricht, muss das unabweisbare Fundament dieser fragenden und urteilenden T¨atigkeit bilden. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich also als eine rechtliche Frage.2 Denn sowohl die Sachn¨ahe als auch der Akt, welcher sie erm¨oglicht (das origin¨ar gebende Sehen), werden methodisch von Anfang an mit rechtlichen Strukturen umkleidet: ,,Das unmittelbare ,Sehen’, nicht bloß das sinnliche, erfahrende Sehen, sondern das Sehen u¨ berhaupt als origin¨ar gebendes Bewußtsein welcher Art immer, ist die letzte Rechtsquelle [Hervorhebung S.L.] aller vern¨unftigen Behauptungen. Rechtgebende [Hervorhebung S.L.] Funktion hat sie nur, weil und soweit sie origin¨ar gebende [Hervorhebung S.L.] ist. Sehen wir einen Gegenstand in voller Klarheit, haben wir rein auf Grund des Sehens und im Rahmen des wirklich sehend Erfaßten Explikation und begriffliche Fassung vollzogen, sehen wir dann (als eine neue Weise des ,Sehens’), wie beschaffen der Gegenstand ist, dann hat die getreue ausdr¨uckende Aussage ihr Recht [Hervorhebung S.L.].“ (Hua III/1, 43)
,,[. . .] Husserl’s concept of evidence proves to be the opposite of what it appears to many at first sight to be: not a ,miraculous’ criterion for absolute truth, but a critical court of appeal before which all the steps in the search for truth are to be subject to a trial of verification and to be held accountable.“ (Str¨oker 2005, 136)
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Dieses Zitat f¨uhrt uns von den methodischen Aspekten des Rechtlichen direkt zum zweiten Punkt, der Ph¨anomenologie der Vernunft 3 . In der transzendentalen Ph¨anomenologie fallen Sein und Erscheinen letztlich zusammen: Was sich in bew¨ahrter Weise origin¨ar zeigt, dies ist auch als seiend zu beurteilen. Sein als Realit¨at und Sein als Bewusstsein klaffen nicht mehr auseinander, sondern: ,,das Sein der Realit¨at ist letztlich das Bewusstsein“ (Fasching 2003, 35). ,Wahrhaft-’ oder ,Wirklich-Sein’ steht in direkter Korrelation zu ,Vern¨unftig-ausweisbar-Sein’ (Hua III/1, 314). An sich kommt Setzungscharakter (also: Seiend-Setzung) allen doxischen Akten zu. Er gilt daher nur dann als vern¨unftiger Setzungscharakter, wenn er ,,Setzung auf Grund eines erf¨ullten, origin¨ar gebenden Sinnes und nicht nur u¨ berhaupt eines Sinnes ist“ (Hua III/1, 316). Anders formuliert: Der Vernunftcharakter der Setzung ist nichts anderes als ihr Rechtscharakter. Es kommt dabei nicht nur auf die F¨ulle des Sinnes, sondern auch auf das Wie der Erf¨ullung an (Hua III/1, 315): Je nachdem, welcher Seinsregion ein betreffender Gegenstand angeh¨ort, sind bestimmte Erf¨ullungsweisen wesensm¨aßig vorgezeichnet. So kann etwa der raum-zeitliche Gegenstand aufgrund seiner Gegebenheitsweise in keiner vollst¨andig abgeschlossenen Bestimmtheit erscheinen. Vollkommene Gegebenheit ist nur als ,,Idee im Kantischen Sinne“ (Hua III/1, 297) erreichbar, also ,,als ein in seinem Wesenstypus absolut bestimmtes System endloser Prozesse kontinuierlichen Erscheinens“ (Hua III/1, 31). In der Idee dieses Kontinuums von endlosen Erscheinungen ist schließlich eine vermittelte Vernunftthesis bzw. Seinssetzung wesensm¨aßig vorgezeichnet. 3
Der vierte Abschnitt in den Ideen zu einer reinen Ph¨anomenologie und ph¨anomenologischen Philosophie (Ideen I) heißt ,Vernunft und Wirklichkeit’; das zweite Kapitel dieses Abschnitts wiederum ist mit dem Titel ,Ph¨anomenologie der Vernunft’ versehen. Hier behandelt Husserl die Begr¨undbarkeit aller doxischen Setzungs- und Seinsmodalit¨aten. Zur Konstruktion einer Ph¨anomenologie der Vernunft vgl. Melle 1997a: ,,A phenomenological theory of reason is constructed in two-steps. The dicta of reason in the pertinent spheres of acts do not happen arbitrarily, rather are carried out according to principles. The corresponding doctrines of principles make up the superstructure of the theory of reason. These doctrines of principles are then to be rationally and critically grounded through a phenomenological description of the forms and networks of acts that fall, along with the noematic correlates, within the jurisdiction of these principles and, above all, through a description of the teleological relations of fulfillment that exist in these networks of acts.“ (Melle 1997a, 170)
die grundfragen des rechtlichen denkens
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Diese und andere konkrete Ausf¨uhrungen zum wesensm¨aßigen Zusammenhang von Recht und Evidenz hinsichtlich der Seinsregionen sind Husserls Hauptgesch¨aft in der ,Ph¨anomenologie der Vernunft’, so wie er sie in den Ideen I konzipiert. Freilich besch¨aftigt sich Husserl schon viel fr¨uher mit den rechtgebenden Akten. Hier ist im Speziellen auf die ,noetische Rechtslehre’ hinzuweisen, die haupts¨achlich in den Jahren 1906 bis 1909 entwickelt wurde und die sowohl theoretische als auch praktische Untersuchungen umfasst4 . Rechtsgr¨unde, Rechtsquellen und rechtgebende Akte werden hier als ein spezielles Thema der Ph¨anomenologie enth¨ullt. Sie muss aufkl¨aren, was in anderen Wissenschaften (inklusive der Logik) unthematisch bleibt, n¨amlich wie Recht im Bewusstsein ausgewiesen werden kann. Husserl untersucht dieses ,Recht’, das in vern¨unftigen Begr¨undungen als Sinnbestand enthalten ist, vor allem in Zusammenhang mit der Urteilsmotivation (Hua XXIV, 122). Die Noetik wird somit bestimmt als die ,,Erforschung und Wertung der intellektiven Stellungnahmen hinsichtlich ihrer Rechtsanspr¨uche“ (Hua XXIV, 129). Auf dem Weg der Ph¨anomenologie zur Transzendentalphilosophie nehmen diese Untersuchungen einen besonderen Stellenwert ein – auf sie wird daher sp¨ater noch n¨aher einzugehen sein. W¨ahrend in der ,noetischen Rechtslehre’ und in den Ideen der Zusammenhang von Evidenz und Rechtscharakter noch durchgehend in ,statischer’ (also in geltungskonstitutiver) Weise behandelt wird, greift der sp¨ate Husserl in Formale und transzendentale Logik und vor allem in Erfahrung und Urteil das Problem der Konstitution von ,,Form und Rechtscharakter“ (EU 23) in genetischer Hinsicht auf. Dabei, so eine Arbeitshypothese, hat er sich vornehmlich auf die ,Form’ im Sinne einer transzendentalen Logik konzentriert. Diese Arbeit m¨ochte eine genauere Ausarbeitung des ,Rechtscharakters’ und seiner Genesis erg¨anzen. Die wesentlichen Entwicklungsschritte liegen hierbei erstens im Nachweis einer Genesis der ausweisenden Systeme der Vernunft und ihrer Rechtscharaktere und zweitens in einer Dynamisierung des Evidenzbegriffs. 4
Zur erkenntnistheoretischen Problematik vgl. Hua XXIV Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906–1907, v. a. II. Abschnitt ,Noetik, Erkenntnistheorie und Ph¨anomenologie’, 4. Kapitel ,Die Noetik als Rechtslehre der Erkenntnis’, 116– 156. Zum Verh¨altnis von logischer und axiologischer (wertender) Pr¨adikation und deren Rechtsgr¨unden vgl. Hua XXVIII Vorlesungen u¨ ber Ethik und Wertlehre 1908–1914, C. Zweiter Teil der Vorlesungen u¨ ber Grundprobleme der Ethik 1908/09, 237–344.
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Diesen beiden Punkten gilt das Hauptinteresse der folgenden Untersuchung: Wie generiert sich das rechtgebende Konstitutionssystem der Vernunft als rechtgebendes? Oder anders formuliert: Was geht der Sache nach den Rechtspr¨adikationen vorher? In der Genesis dieses normativen Elements liegt eine ganze Begr¨undungsstruktur, die sich in der festen Form einer Legitimationskategorie errichtet. Das Kategoriale muss hier ebenso fundamental wie bei den logischen Begriffen genommen werden: Denn es geht um die Bedingung der M¨oglichkeit von ausweisenden, begr¨undenden und rechtfertigenden Strukturen u¨ berhaupt und damit um das Transzendentale der Vernunft selbst, insofern wir uns vern¨unftig denkend oder argumentierend immer schon in diesen Strukturen befinden. Warum ist dies so? Warum ,funktioniert’ unser gesamtes Denken rechtfertigend und ausweisend? Inwiefern liegt dies in der (formal zu fassenden) Bewegung, im Vollzug der Vernunft selbst? Die Frage ist also, inwiefern das Denken selbst als ein rechtliches zu begreifen ist und welche Folgen dies hat: Das Rechtliche wird damit nicht vom Transzendentalen her verstanden, sondern das Transzendentale auf seine Rechtlichkeit, seine rechtliche Struktur hin befragt. Die dritte ph¨anomenologische Perspektive auf die Rechtsfrage betrifft den philosophischen Gestus der Ph¨anomenologie selbst. Das Streben nach Wahrheit ist f¨ur Husserl ein Streben nach gefestigten, immer wieder ausweisbaren und wiederholbaren Urteilen. ,,Der Philosoph aber kann nicht frisch zugreifend anfangen, da er nichts als vorgegeben gelten lassen darf, da er nur hat und haben darf, was er sich selbst in absoluter Rechtfertigung gegeben hat. Vorweg hat er keine Gegenst¨ande, f¨ur ihn gibt es kein selbstverst¨andliches Recht nat¨urlicher Erfahrung, die ihm daseiende Gegenst¨ande freigiebig bietet [. . .]. Nichts, das nicht absolut gerechtfertigt worden ist, soll gelten.“ (Hua VIII, 6)
Recht gilt nur als ,absolutes’, nicht als ,nat¨urliches’ oder ,unmittelbares’ Recht. Es kann nicht auf naive Weise einleuchten, sondern muss stets ¨ die Uberpr¨ ufung an einer Grundnorm durchlaufen, um ein Garant f¨ur Geltung zu sein5 . Der rechtfertigende R¨uckgang ist also das Grundmerk5
,,Solche Rechenschaftsabgabe und Kritik vollzieht sich als ein Erkenntnisprozeß, und zwar [. . .] als methodischer R¨uckgang auf die urspr¨ungliche Quelle alles Rechtes und seiner Erkenntnis [Hervorhebung S.L.]: – in unserer Sprache ausgedr¨uckt – durch R¨uckgang auf vollkommene Klarheit, ,Einsicht’, ,Evidenz‘.“ (Hua VII, 9)
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mal eines philosophischen Vorgehens. Dabei sind die Begriffe ,Recht’ und ,Geltung’ auf das Engste verkn¨upft, auch wenn sie nicht zusammenfallen: Man kann ,Geltung’ als den sachhaltigen Zielbegriff verstehen und ,Recht’ als den operativen Ausweisungsbegriff, der den Anspruch auf Geltung hervorbringt und best¨atigt. ,Recht’ erscheint also im Vollzug des urteilenden, ausweisenden, rechtfertigenden Aktes, ,Geltung’ ist sein gelungenes Produkt oder Ergebnis. Der Rechtssinn ist nichts anderes als der Modus, in dem etwas als wirklich recht, wirklich richtig, wirklich als ein Recht wahrgenommen wird, womit die Geltungsintention selbst als erf¨ullte dasteht. Philosophie aus radikaler Selbstverantwortung zu betreiben, bedeutet auch, die Rechtsgr¨unde selbst einzusehen und zu verantworten. Dies korrespondiert dem philosophischen Projekt der transzendentalen Ph¨anomenologie, jeglichen Sinn von Welt als eine ,Leistung’ der transzendentalen Intersubjektivit¨at zu enth¨ullen. Es wird daher zu fragen sein, welches der Anspruch ist, der den Rechtfertigungsdiskurs in einer transzendentalen Intersubjektivit¨at als Leistung hervorbringt. Wie die drei Themenfelder zeigen, kommt der Rechtsfrage in der Ph¨anomenologie eine nicht zu untersch¨atzende Bedeutung zu. Allerdings taucht das Recht vorwiegend als ,operativer Begriff ’ auf, und so sehr Husserl versucht hat, gerade diese unthematischen Aktvollz¨uge zum Thema ph¨anomenologischer Untersuchungen zu machen, so wenig sind die Rechtspr¨adikationen in ihrer Reinform bisher beachtet worden. Es gilt also, sie als operative bzw. methodische Begriffe sichtbar zu machen und sie auf ihre Struktur und Genesis zu befragen. Dabei wird vor allem ein umgreifendes Ausweisungssystem zum Vorschein kommen, das unser ganzes Verstehen und Vernunftleben gestaltet. 3. Elemente einer Theorie des rechtlichen Denkens: Rechtssinn und rechtliche Intentionalit¨at Im Wesentlichen zeichnet sich die hier verfolgte Vorgehensweise dadurch aus, dass sie die Rechtspr¨adikationen rein als solche und nicht in Hinblick auf einen bestimmten Inhalt betrachtet. Nur auf diese Weise k¨onnen sie von ihrem operativen Hintergrunddasein in das Zentrum einer ph¨anomenologischen Analyse ger¨uckt werden. Was sich Husserl durch die ph¨anomenologische Reduktion erschlossen hat, ist die Korrelation von Akt und Gegenstand, durch die s¨amtliche
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Ph¨anomene/Gegenst¨ande in ihrer spezifischen Gegebenheitsweise konstituiert werden. Rechtspr¨adikationen konstituieren in rein formaler Hinsicht Rechtspr¨adikate. Zu erforschen sind daher die wesenhaften Strukturen im Aufbau dessen, was es heißt, Rechtspr¨adikat d. h. begr¨undeter Anspruch zu sein. Der Akt, der diesem Sinn korreliert, ist ein Urteil; im Folgenden werden wir diese Pr¨adikation auch als ,Rechtsakt’ bezeichnen. In der Betrachtung des Rechtsakts und der korrelativen Beschreibung des in ihm konstituierten Rechtssinns liegt – so die ph¨anomenologische Grundannahme – der Schl¨ussel zu einem Gesamtverst¨andnis des rechtlichen Denkens. Auf diese Weise soll eine Analyse beginnend bei der schlichten Rechtspr¨adikation den Weg zu den gr¨oßeren Zusammenh¨angen weisen. In einem Rechtsverst¨andnis zu stehen, heißt, immer schon in rechtlichen Zusammenh¨angen geurteilt zu haben. Deshalb muss der schlichte Rechtsakt in engem Zusammenhang mit unserer Grunderfahrung von und unserem Grundglauben an Welt, also der Urdoxa, untersucht werden. Von daher wird die Entfaltung des Rechtssinns in seinen verschiedensten Ausformungen weiter zu verfolgen sein. Um zu verstehen, was ein rechtliches Wesen ist und worin seine Seinsweise liegt, m¨ussen wir uns die ,Elementarteilchen’ dieser Sinnkonstitution klarmachen. Hierzu nun einige vorl¨aufige Bemerkungen: ¨ Die Struktur der Uberschreitung in Sinngebilden der Begr¨undung, Ausweisung und Rechtfertigung ¨ Im Rechtssinn liegt eine Dynamik der Uberschreitung. Die Struktur die¨ ser Uberschreitung als rechtliche Intentionalit¨at zu beschreiben, wird eine ¨ Grundaufgabe der folgenden Uberlegungen sein. Dieser kurze Abschnitt soll als Einf¨uhrung in die daf¨ur ben¨otigte Begrifflichkeit und Methode dienen. Der Rechtssinn ist Korrelat des Rechtsakts bzw. Produkt eines gegl¨uckten Rechtfertigungsprozesses. In ihm als einem Modus gilt ein Recht in seinem Anspruch auf Geltung als ausgewiesen. Der Termi¨ nus der rechtlichen Intentionalit¨at beschreibt die Struktur der Uberschreitung, die dem Rechtssinn inh¨arent ist: Denn dieser tendiert auf volle Erf¨ullung und restlose Ausweisung. Wenn diese Ausweisung nicht ¨ gelingt, dann kommt es zu einer Uberschreitung der konstitutiven M¨oglichkeitsbedingung des Rechtssinns, d. h. der Norm. Die gesamte
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Arbeit wird sich der Ausf¨uhrung dieser These und ihrer Konsequenzen widmen. Der folgende Aufriss der Struktur des Rechtssinns ist also als Skizze zu verstehen, die sich nach und nach mit Nuancierungen f¨ullen wird: Die beiden vorab genannten grundlegenden Charakteristika f¨ur die Konstitution des Rechtssinns als ph¨anomenologisch betrachteter Bewusstseinsakt sind Gem¨aßheitsfeststellung und Geltungs¨ubertragung. Gem¨aßheitsfeststellung F¨ur die Konstitution eines normierten Sinns6 ist wesensm¨aßig ein urteilender Akt notwendig, in dem sich ein Gem¨aß-Sein an einem vorgegebenen, also bereits konstituierten Maß zeigt. Dieses ,Maß’ kann jegliche Gr¨oße bzw. Sinneinheit sein, die durch eine vorhergehende Bewusstseinst¨atigkeit konstituiert wurde und an der gemessen werden kann: z. B. eine Norm, aber ebenso, wie wir sehen werden, eine origin¨are Anschauung. Im Urteilen wird das Apperzipierte mit dem Maß zur Deckung gebracht, wodurch sich erst die Bedeutung von ,einem Recht/recht/richtig’ als ,¨ubereinstimmend‘ mit dem Maß (und analog: ,kein Recht/nicht recht/falsch’ als ,nicht u¨ bereinstimmend’) ergibt. Dass ein ,Recht’ erscheinen kann, ist also nicht Folge eines Wahrnehmungsurteils, sondern eines Urteils anhand einer Norm. Oder: Um davon sprechen zu k¨onnen, ein ,Recht’ zu haben, ist zuallererst eine Norm vonn¨oten und anschließend ein Urteil, das diese Norm zu Hilfe nimmt, um u¨ ber das Recht des Gegebenen entscheiden zu k¨onnen7 . Die Norm fungiert als ein Maßstab, anhand dessen wir das Gegebene abmessen, zuordnen k¨onnen. Je mehr diese Norm habitualisiert ist, umso passiver und affektiver erfolgt das Urteil und umso ,urspr¨unglicher’ zeigt sich uns das Recht. Auch ein noch so unmittelbar empfundenes/erfahrenes Recht beruht stets auf einem Urteil anhand eines Maßes, welches deshalb so unmerklich und scheinbar ,Unmittelbarkeit’ ist, weil es so passiv habitualisiert ist – tats¨achlich ist der analytisch verstandene Rechtsbegriff aber 6
Ein normierter Sinn ist eine Sinneinheit, die sich durch die Beurteilung anhand eines Maßstabs ergibt. Davon zu unterscheiden ist das normative Urteil, welches die notwendigen und hinreichenden Bedingungen f¨ur den Besitz eines Wertpr¨adikats ausspricht. Vgl. S. 139 ff. 7 Analog l¨asst sich Kelsens Theorie der normativen Deutung verstehen, auf die wir im n¨achsten Kapitel kurz eingehen werden. (Vgl. S. 29 f.)
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pure Vermittlung. Entscheidend an diesem Punkt ist, dass es keine Vorstellung von Recht ohne vorgegebenes Maß und ohne den Vorgang des Urteilens gibt. Der Rechtsbegriff kann analytisch nur als das Gem¨aß-Sein an einer vorgegebenen Gr¨oße erfasst werden. Geltungs¨ubertragung Dieses Gem¨aß-Sein allein gen¨ugt aber nicht, um den vollen Rechtssinn herzustellen. Denn es ist daf¨ur nicht gleichg¨ultig, wie die Norm, die als Maß dient, aussieht. Das Maß selbst muss gelten, damit auch tats¨achlich der volle Sinn eines Rechts entsteht, welches sich aus dieser Norm ableitet. Kann die rechtserzeugende Norm ihre eigene Rechtm¨aßigkeit nicht erweisen, so ist das, was sie erzeugt, zwar eine Gem¨aßheit in Form einer Regel, aber es verliert den Sinn des Rechts. Der Rechtssinn verlangt stringente Nicht-Kontingenz und Nicht-Beliebigkeit auch jenseits seiner selbst: Er ist eine Bedeutung, die gleichsam mit sich u¨ ber sich selbst hinausw¨achst, da sie die Geltung ihres M¨oglichkeitsgrundes in ihre eigene Ausweisung miteinbezieht. Die Norm, die also eigentlich erst festlegt, was Recht ist, muss sich, damit dies wirklich als Recht apperzipiert wird, selbst beurteilen lassen. Das bedeutet, dass u¨ ber das Recht dieser Norm geurteilt werden muss, was nur anhand einer weiteren Norm getan werden kann, die das Recht f¨ur die erste Norm herstellt. Damit also ein Recht im vollen Rechtssinn erscheint, muss es doppelt gerechtfertigt werden bzw. greift es u¨ ber seine eigentliche Rechtfertigung hinaus auf eine ,h¨ohere Instanz’. Es ist leicht zu sehen, dass diese Bewegung, die sich immer selbst u¨ berschreitet, in einem progressus ad infinitum endet, da jede Norm wieder von Neuem ihr Recht erweisen muss, um f¨ur die vorherige den Rechtssinn herzustellen, und sich dabei in dieselbe Figur verstrickt. Um diesem strukturellen Problem zu entkommen, muss eine ,letzte Norm’ gesetzt werden, die sich durch sich selbst rechtfertigt, was sie im eigentlichen Sinne nicht kann. Sie kann ihr Recht als Recht nicht f¨ur sich selbst ableiten, sie muss es setzen. Welche Setzung kann aber akzeptiert werden, ohne dass nicht immer wieder die Frage von Neuem aufbricht? Wir kennen dieses Problem als ein genuin philosophisches (im Speziellen als ein transzendentales) im Fordern eines letzten Rechtsgrundes; es taucht sowohl in theoretischer als auch in ethisch-moralischer Hinsicht auf. In dieser Arbeit soll es darum gehen, die Rechtsfrage rein als intentional-formale Struktur in den Mittelpunkt zu stellen. In erster Linie
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konzentriert sich die Untersuchung auf Konstitutions- und Aktanalyse als noetische Analyse. Die Ausgangsfrage muss also sein: Durch welche Akte (Noesen) stellt sich ein Rechtssinn im Bewusstsein her? Diese Frage wird zuerst in statischer8 , dann in genetischer Hinsicht abgehandelt. In genetischer Hinsicht sollen vor allem Akte der Modalisierung (z. B. des Zweifelns) betrachtet werden, denn in ihrem Vollzug wird die Geltung von Norm und Rechtssinn fraglich. Damit kommt die Teleologie der rechtlichen Intentionalit¨at ins Spiel: Eine Ausweisung u¨ ber den Konstitutionsgrund des Rechtes hinaus ist gefordert, um zum vollen Rechtssinn zu gelangen. Die Bewegung dieser Teleologie f¨uhrt schließlich zu der Ursprungsfrage, wie u¨ berhaupt etwas als Rechtsgrund konstituiert werden kann: Bewusstsein muss daf¨ur als angesprochenes gedacht werden, das in rechtlichen Strukturen antwortet. Recht, recht, richtig Der Rechtssinn l¨asst sich in verschiedenen Varianten und Ausformungen vorfinden. Es handelt sich dabei um Pr¨adikate mit derselben Sinnstruktur ¨ der Uberschreitung. Man kann erstens von ,einem Recht’ sprechen, das als begr¨undeter Anspruch verstanden wird und das sowohl Menschen als auch Gegenst¨anden wie Behauptungen, Theorien, Meinungen etc. zugesprochen werden kann. ,Ein Recht’ kann innegehabt werden, zu- und abgesprochen werden, verteidigt und beansprucht werden usw. 8
Statische Ph¨anomenologie besch¨aftigt sich mit dem Aufbau von Geltungen im intentionalen Bewusstsein, w¨ahrend die sp¨ater entwickelte genetische Ph¨anomenologie die Genesis dieser Geltungen untersucht. ,,Die statische Ph¨anomenologie geht von festen Gegenstandsarten aus, von realen (z. B. Naturdingen) und idealen (z. B. mathematischen S¨atzen), und untersucht noetisch und noematisch die Erlebniszusammenh¨ange, in denen diese Gegenstandsarten teleologisch zur Gegebenheit kommen. [. . .] Charakteristisch f¨ur diese statische Konstitutionsanalyse ist ein Zweifaches: Sie hat, erstens, feste Gegenst¨ande, eine feste ,Ontologie’, zu ihrem Leitfaden und sie geht, zweitens, Erlebnissen nach. [. . .] In der eigentlich genetischen Ph¨anomenologie wird es nicht mehr darum gehen, diese fertigen Korrelationssysteme zu analysieren, sondern nach ihrer Genesis zu fragen: ,Der Konstitution nachgehen ist nicht der Genesis nachgehen, die eben Genesis der Konstitution ist. . .’ (Hua XIV, 41).“ (Bernet/Kern/Marbach 1996, 182 f.) Vgl. auch Bernet/Kern/Marbach 1996, 181–189 (7.Kapitel. Statische und genetische Konstitution) und Welton 2005.
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Zweitens kann man von ,dem Rechten’ oder dem ,Rechtsein’ (der Rechtheit ) sprechen. Im Gegensatz zu ,einem Recht’ handelt es sich hier nicht um einen ausgewiesenen Anspruch, sondern um ein werthaft aufgeladenes Pr¨adikat, das Sachen, Sachverhalten oder Handlungen zugesprochen wird. Ein ,Verwandter’ des Rechtssinns ist drittens die Richtigkeit oder das Richtigsein. Der Unterschied zum Rechtssinn ist, dass Richtigkeit nicht anhand einer Norm und bez¨uglich einer Setzung zugesprochen wird, son¨ dern sich als klassisches Wahrheitspr¨adikat auf die Ubereinstimmung zwischen gemeintem und gegebenem ,Inhalt’ der Setzung bezieht. Um den Rechtssinn und die ihn konstituierende ,transzendentale Denkstruktur’ systematisch zu erfassen, ist es dar¨uber hinaus ratsam, vorerst zwischen einem theoretischen und einem praktischen Bereich zu unterscheiden. Der Rechtssinn im theoretischen Bereich (wie wir ihn bei Husserl gesehen haben) ist eng mit dem ,richtigen’ Erkennen verkn¨upft, es geht hier um Fragen der Ausweisung, um Normen und Gr¨unde der Erkenntnis und ihre Setzung, und auch um das Verh¨altnis der Richtigkeit zum Rechtssinn. Im praktischen Bereich wiederum geht es um das rechte Handeln, also die Konstitution des ,Rechten’ u¨ berhaupt und seine Komponenten im Rechtssinn. Wie wird hier ,Recht’ gesprochen, zugesprochen und abgesprochen? Diese beiden Bereiche sollen uns den Rechtssinn in seinen operativ-theoretischen und ethisch-praktischen Aspekten erschließen.
4. Kernthemen und Aufbau der Untersuchung Kernthema 1: Genealogie des Rechtscharakters im Urteil. Transzendentalit¨at. Vernunft. Die Analyse des Urteils und des ihm vorausgehenden Fragecharakters9 spielen eine wesentliche Rolle im Verstehen des Rechtssinns. Die Intentionalit¨at auf eine letzte Rechtfertigung hin wird zus¨atzlich eine Fokussierung auf die vorpr¨adikative Erfahrung und ihre Grundlagen in der PassiHusserl behandelt den Fragecharakter explizit in Erfahrung und Urteil.Vgl. § 78. ,Frage und Antwort. Fragen als Streben nach Urteilsentscheidung’ und § 79. ,Die Unterscheidung von schlichten Fragen und Rechtfertigungsfragen’, 371–380.
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vit¨at erfordern, da es hier um die passive Motivation von Setzungen, von thetischem Bewusstsein u¨ berhaupt geht. All diese Fragen, die die wesenhafte Verfasstheit des Bewusstseins und die Genealogie seiner Urteilsstrukturen ber¨uhren, sollen mit den Fragen nach vern¨unftiger Rechtfertigung zusammengef¨uhrt werden. Eine Ph¨anomenologie der Vernunft muss nach Husserl verst¨andlich machen, wie sich das ,,wie Gemeinte so Ausgesagte ,begr¨unden’, ,ausweisen’, direkt ,sehen’ oder mittelbar ,einsehen’ lassen“ (Hua III/1, 314) kann. Am Horizont eines solchen Vorhabens steht eine ,Kritik des vern¨unftigen Rechtfertigungsverm¨ogens’ (oder: der ,Versuch einer Kritik der rechtfertigenden Vernunft’10 ), in der die transzendentalen Bedingungen einer normativen Weltkonstitution enth¨ullt werden. Was damit angestrebt wird, ist eine Ph¨anomenologie des Rechtfertigens als Antagonismus zwischen Gebung und Setzung. Kernthema 2: Transformationen: Anspruch als Stiftung rechtlichen Verm¨ogens. Ethik. Sinnereignis. Die Problematik der Stiftung einer Legitimationskategorie erfordert eine genauere Besch¨aftigung mit dem Vollzug und der Genesis der Sinnbildung: Es wird festzustellen sein, wo das Bewusstsein in klassischer Manier souver¨ane Instanz der Sinngebung ist und wo es vielmehr auf ein ,Sinnereignis’11 antwortet. Rechtssinn kann dadurch als eine spezifische Sinn10
Husserl w¨ahlte f¨ur sein Buch Formale und transzendentale Logik den Untertitel: ,Versuch einer Kritik der logischen Vernunft’. Daran angelehnt soll unsere Theorie des rechtlichen Denkens der Versuch einer Kritik der rechtfertigenden Vernunft sein. 11 ¨ Der Begriff des Sinnereignisses markiert den Ubergang von einem souver¨anen Subjekt, das eindeutig Herr seiner Sinnkonstitution ist, zur gr¨oßeren Beachtung einer Ausgesetztheit dieses Subjekts, das von gewissen Erfahrungen (Alterit¨at, Gewalt etc.) konstituiert wird, ohne dass diese auf eine bestimmte intentionale Leistung seinerseits zur¨uckf¨uhrbar w¨aren. Dieser ,von außen’ einbrechende Sinn hat den Charakter des Ereignisses, insofern er unverf¨ugbar und vorg¨angig ist. Husserl ist in der Entwicklung seiner Lehre von der Passivit¨at selbst schon auf solche Ph¨anomene gestoßen, deren Bedeutung er allerdings eher unterdr¨uckt bzw. harmonisiert hat. Mit Heidegger wird das Ereignisdenken schließlich in den Mittelpunkt einer philosophischen Reflexion gestellt. In dem Band Ereignis auf Franz¨osisch (2004) (Hg. R¨olli) wird der Begriff des (Sinn-) Ereignisses einer eingehenden Diskussion hinsichtlich seiner Herkunft und seiner Vielfalt in der aktuellen Debatte unterzogen.
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einheit begriffen werden, die sich nicht nur in einem normierenden Urteil konstituiert, sondern auch auf eine Genesis aus einem vorpr¨adikativen An-spruch heraus verweist. Sobald diese Struktur sichtbar wird, muss die Frage allerdings noch weitergetrieben werden in den Bereich, wo Angesprochen-Sein und Zuspruch von Rechtscharakter nicht durch das Ideal einer ad¨aquaten Anschauung ,vermittelt’ werden. Dass Evidenz nur in den seltensten F¨allen diesen Charakter hat, vielmehr meist inad¨aquat ist und teleologisch antizipiert werden muss, sieht Husserl vor allem in seinen sp¨ateren Werken deutlich und tr¨agt diesem Umstand auch Rechnung in einer Dynamisierung seines Evidenzbegriffs.12 Noch deutlicher tritt die Rechts- und Evidenzproblematik und die durch sie ausgel¨oste Entwicklung im Husserl’schen Denken allerdings in seinen eher weniger beachteten Schriften zur Ethik hervor: Die gewaltigen Probleme, die sich dadurch ergeben, dass das Gem¨ut zwar eine Art der Evidenz beherbergt, die aber ohne die ,Fackel der logischen Vernunft’ blind ist, f¨uhren Husserl schließlich zu der Formulierung eines ,affektiven Sollens’; man k¨onnte auch sagen: auf ein ,rechtliches Sein’ vor einem ,rechtlichen Denken’. Eine andere Genesis des Rechtscharakters k¨ame dadurch in den Blick. Dass die Frage nach dem Ursprung des Rechtfertigungsverm¨ogens sich nicht in der Untersuchung des Zusammenhangs von Rechtscharakter und Evidenz ersch¨opft, sondern dar¨uber hinaus auf ein affektives Angesprochen-Sein als Verfasstheit des Bewusstseins verweist, ist durchaus im Geiste der genetischen Ph¨anomenologie Husserls. Ebenso st¨utzen ¨ seine ethischen Uberlegungen (in denen sich u¨ ber die Jahre eine bemerkenswerte Transformation vollzieht) die These, dass legitimierende Strukturen als Antwort auf ein Anspruchsereignis zu fassen sind und dass Rechtfertigung gemeinschaftlich-intersubjektiv zu u¨ bernehmen ist. Das ,tiefste Zentrum der Person’ ist beim sp¨aten Husserl durch einen Ruf getroffen, dem sie sich nicht entziehen kann. ¨ Es liegt daher nahe, die Uberlegungen an diesem Punkt mit Levinas aufzugreifen und mit der Radikalit¨at seines Denkens ,vom Anderen her’ dieselbe Rechtsfrage noch einmal aufzurollen. Der Primat des Ethischen vor dem Theoretischen wird hier an der Subjektivit¨at selbst sichtbar, die im Angesprochen-Sein durch den Anderen in ihrem eigenen Recht in 12
Vgl. Heffernan 1999 bzw. S. 112.
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Frage gestellt wird (also in ihrer Selbstsetzung und nicht nur in der Setzung ihrer Gegenst¨ande). Vernunft als Verm¨ogen der Rechtspr¨adikation und der Rechtfertigung ist nach Levinas eine Antwort auf die Forderung nach Gerechtigkeit. Der Aufbau der Untersuchung Abschnitt II. (,Die Rechtspr¨adikation: Vorbereitende ph¨anomenologische Begriffskl¨arungen’) er¨offnet den Hauptteil der Untersuchung ,Zur Genesis des rechtlichen Denkens bei Husserl’ mit einer statischen Aktanalyse, in der der Rechtsakt m¨oglichst umfassend logisch bestimmt wird. In Abschnitt III. (,Die Rechtspr¨adikation der theoretischen Vernunft. Eine genetische Analyse’) wird diese Aktanalyse auf eine genetische Fragestellung in theoretischer Hinsicht umgelegt. Die Frage lautet: Wie wird Recht bzw. Geltung in theoretischer Einstellung zugesprochen, woher kommt dieses Verm¨ogen des ,Vernunfttriebes’ (Husserl) und woraufhin tendiert es? Das Kapitel besteht aus zwei Teilen A. und B., wobei in A. die Begriffe der Richtigkeit und des Richtigkeitsbewusstseins sowie ihre Fundierung in der kritischen Einstellung und das Aufbrechen dieser Einstellung analysiert werden. Im l¨angeren Teil B. stehen die normativen Strukturen in der methodischen Vorgehensweise der Ph¨anomenologie selbst im Mittelpunkt, wobei gezeigt werden soll, dass es dabei nicht um die Richtigkeit des Inhalts der Setzung, sondern um das Recht der Setzung als Setzung geht. Vernunft wird hier als rechtliche Intentionalit¨at beschrieben; kraft ihres begrifflichen Verm¨ogens kann das AngesprochenSein durch die F¨ulle der Evidenz als Rechtsgrund begriffen werden. Gleichzeitig korrespondiert diesem Verm¨ogen ein H¨ochstmaß an Selbstverantwortung. Abschnitt IV. (,Die Rechtspr¨adikation der praktischen Vernunft: Husserls Positionswandel’) versucht nun, diese Erkenntnisse in der praktischethischen Einstellung anzuwenden. Das Problem: Evidenz ist vom theoretischen Rechtssinn her gefordert, kann aber den Anforderungen des spezifisch ethischen Rufs nicht entsprechen. Wieder gibt es ein Parallelkapitel A. zu III. A., das sich diesmal mit der ,Rechtheit’ auseinandersetzt. Teil B. beinhaltet ausf¨uhrlichere Untersuchungen zu Husserls Ethik und Wertlehre. Im Rahmen der Rechtsfrage werden die verschiedenen Entwicklungen in den Ethikentw¨urfen Husserls mitverfolgt, wobei sich schließlich mit dem sp¨aten Husserl der ,Liebesethik’ abzeichnet, dass das Ethische
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gerade in einem Antworten auf einen Ruf und nicht im Ausrechnen von Wertevidenzen beschlossen liegt. Der ,Abschluss’ des Hauptteils fasst die Grundlinien einer Genesis des rechtlichen Denkens in theoretischer und praktischer Hinsicht zusammen. Daran kn¨upfen sich zwei weitere Abschnitte unter dem Titel ,Horizonte von Kritik und Weiterf¨uhrung: Zur Genesis des rechtlichen Denkens bei Levinas und Apel’. Abschnitt V. (,Levinas: Der Anspruch der Anderen als Stiftung rechtlichen Denkens’) setzt sich mit dem Entwurf einer Vernunftgenesis aus dem pluralen Angesprochen-Sein auseinander. Die Doppelthematik, die dabei aus dem Levinas’schen Denken herausgegriffen wird, ist erstens die Erfahrung der Alterit¨at als unausweichliches und vorg¨angiges Angesprochen-Sein und zweitens die Struktur des ,Dritten’ als dringliche Forderung nach Urteil, Rechtfertigung und Gerechtigkeit. Abschnitt IV. (,Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft als Faktum der Vernunft’) greift schließlich die Diskussion mit der transzendentalen Sprachpragmatik und Diskursethik auf. Dabei werden sowohl theoretische Fragen der Geltungskonstitution als auch ethische Fragen der normativen Letztbegr¨undung behandelt. Beiden Abschnitten V. und VI. ist am Ende jeweils ein Kapitel zu rechtsphilosophischen Fragestellungen (Menschenrechte, Rechtsbegriff ) angeh¨angt. 5. Nachtrag: Ankn¨upfungspunkte zu lebensweltlichen Diskursen u¨ ber Recht und Rechtfertigung Wird vom ,Recht’ gesprochen, so f¨allt sofort die semantische Vieldeutigkeit des Begriffs als Problem ins Auge. Wir sagen ,Recht’ und meinen: institutionalisiertes, juristisches Recht; positives Recht, das beliebig vom politischen Souver¨an gesetzt werden kann; Recht, das vom Richter gesprochen wird; g¨ottliches Recht; Naturrecht bzw. Menschenrecht, das jedem zukommen sollte; Rechtsquellen der Erkenntnis; politisches Recht auf Mitbestimmung oder Widerstand; moralisches Recht, das nach einer gewissen Handlung verlangt, aber nicht eingeklagt werden kann; das Recht einer Behauptung oder einer These, das sich auf theoretischem Wege erweist und daher einen Wahrheitsanspruch impliziert; das Rechthaben, das sich auf die Richtigkeit von Urteilen oder Behauptungen zur¨uckf¨uhren l¨asst usw. usf.
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Diese unsystematische und unvollst¨andige Aufz¨ahlung kann die Verschiedenheit der lebensweltlichen Ausdeutung und Handhabung dieses Begriffs nur andeuten. Um philosophisch mit dieser Schwierigkeit umzugehen, k¨onnte man diesen losen Sinnzusammenhang als Sprachspiel (Wittgenstein 2003) auffassen und in einer genauen Analyse der verschiedenen Diskurse den Gebrauch des Wortes ,Recht’ erkl¨aren. Statt einer sprachanalytischen Deutung soll hier aber eine ph¨anomenologische Sinnkl¨arung unternommen werden. Anliegen und Versuch dieser Arbeit ist es demnach, auf die Sinnwurzel zu sprechen zu kommen, welche die semantischen Differenzierungen und lebensweltlichen Ausformungen von rechtlichem Sein von einem ,Grund’ her erm¨oglicht (wobei an dieser Stelle noch nicht klar sein kann, in welchem Sinne ,Grund’ hier zu verstehen w¨are). In einer juristischen Struktur z. B. w¨are mit dem Zur¨uckgehen auf die rechtm¨aßig gesetzte Norm einer Rechtsordnung ein Endpunkt des ausweisenden Prozesses erreicht.13 Analog dazu findet in aufsteigender Stufenordnung ein gesamtes juristisch-rechtspositivistisches System sein Ende und seine letzte Rechtfertigung in einer ,Grundnorm’ (z. B. in einer Verfassung). Durch diese Festlegung wird der Weg (bewusst) abgesperrt f¨ur eine Rechtfertigungsdynamik, die noch dar¨uber hinausgehen k¨onnte, also etwa f¨ur eine politische Rechtfertigung, die nicht mehr zum juristischen Bereich geh¨ort. Thema dieser Arbeit ist aber genau nicht die Festlegung und weitere Festschreibung von verschiedenen Rechtfertigungsbereichen (juristische, moralische, politische, theoretische Argumentationsebenen), sondern die Struktur und Dynamik, die in einem normativen Urteil, einer ,normativen Deutung’ (Kelsen 1960, 3f.) selbst liegen. Dazu ein konkreter Ankn¨upfungspunkt aus der aktuellen rechtsphilosophischen Diskussion: J¨urgen Habermas hat in seinem Buch Faktizit¨at und Geltung (1994) das juristische Rechtssystem auf seine zwei wesentlichen Merkmale hin untersucht: Es besitzt eine Faktizit¨at als Institution und stellt in seinem Funktionieren als gesellschaftliche Ordnung eine ,,soziale Technik“ (Kel13
Der Rechtspositivist H. L. A. Hart unterscheidet zwischen prim¨aren (Pflicht-) und sekund¨aren (Erm¨achtigungs-) Regeln. Der R¨uckgang der juristischen Struktur endet in dieser Hinsicht bei den sekund¨aren Regeln, da sie zum Erlass von prim¨aren Regeln erm¨achtigen (Hart 1973, Horster 2002, 84 ff.).
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sen 1988, 243) dar, deren Aus¨ubung und Befolgung mit juristischen und soziologischen Methoden analysiert werden kann. Gleichzeitig liegt aber eine Sinnkomponente im Recht, die Anspruch auf Geltung, d. h. auf intersubjektiv rechtfertigbare G¨ultigkeit von Normen im absoluten Sinn erhebt. Hier kann Habermas mit seinem diskurstheoretischen Ansatz zeigen, dass die geforderte Legitimit¨at im juristischen Recht in einem allgemeinen vern¨unftigen Rechtfertigungsdiskurs erzeugt werden kann und muss.14 Damit gibt es ein u¨ bergreifendes Struktur- oder Prozesselement zwischen den verschiedenen Ebenen der Rechtfertigung (juristisch, politisch, moralisch), das ihren Zusammenhang deutlich macht. F¨ur den juristischen Rechtsbegriff ist die in ihm enthaltene Doppelgesichtigkeit (oder sein ,Doppelsinn’15 von einerseits heteronom gesetzter und 14
Habermas zeigt in Faktizit¨at und Geltung vor allem sehr deutlich, ,,daß prozeduralisiertes Recht und moralische Begr¨undung von Prinzipien aufeinander verweisen. Legalit¨at kann nur in dem Maße Legitimit¨at erzeugen, wie die Rechtsordnung reflexiv auf den mit dem Positivwerden des Rechts entstandenen Begr¨undungsbedarf reagiert, und zwar in der Weise, daß juristische Entscheidungsverfahren institutionalisiert werden, die f¨ur moralische Diskurse durchl¨assig sind.“ (Habermas 1994, 565) 15 Das Unbehagen dieser Differenz hat die rechtsphilosophische Diskussion auch und vor allem im 20. Jahrhundert nie losgelassen. Ich deute hier nur zwei gegens¨atzliche Positionen an, welche die Gesamtproblematik schnell in den Blick kommen lassen: Felix Soml´o, ein Mitstreiter des Rechtspositivisten Hans Kelsen, formuliert die Problemlage so: ,,Mit der einen dieser Bedeutungen des Wortes [Recht] ist der absolute Richtigkeitsanspruch einer ethischen Norm gemeint, in dem anderen Sinne ist dagegen nur von einer bestimmt gearteten heteronomen Norm die Rede.“ (Soml´o 1973, 424 f.) Als Vertreter der Reinen Rechtslehre muss Soml´o den Sinnbestand eines ,absoluten Richtigkeitsanspruchs’ aus dem rechtswissenschaftlichen Diskurs verbannen und als ein sprachliches Missverst¨andnis abtun. Diese Tendenz hat sich in der Rechtswissenschaft bis heute durchgehalten, zumal sie auch ein wesentlicher Bestandteil in der Selbstdifferenzierung der Rechtswissenschaften im Unterschied zu moralischen oder politischen Fragen ist. Allerdings sind auch andere gewichtige Stimmen zu h¨oren, wie etwa die Gustav Radbruchs, der das Recht als Kulturgebilde in eine wesentliche Beziehung mit dem Wertgebilde der Gerechtigkeit bringt: ,,Recht ist dasjenige, was gerechtes Recht sein sollte, gleichviel ob es wirklich gerechtes Recht ist; Recht ist, was den Rechtszweck hat, aber keineswegs erreicht zu haben braucht; Recht ist der gelungene oder auch mißlungene Versuch, richtiges Recht zu sein; Recht ist das Seinsgebilde, welches dem Rechtswerte, der Rechtsidee zum Substrat und Schauplatz dient – durch alle diese Wendungen kann umschrieben werden, daß der Begriff des Rechts vom Begriff des richtigen Rechts streng unterschieden und doch nur aus ihm gewinnbar ist, daß, wie fr¨uher schon vorl¨aufig
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andererseits moralisch zu legitimierender Norm) stets Anlass zu heftiger Diskussion gewesen. Was Habermas auf den Punkt gebracht hat, ist, dass die notwendige Selbstdifferenzierung des juristischen Rechts nicht bedeuten kann, dieses aus allen lebensweltlichen Rechtfertigungszusammenh¨angen zu isolieren. So sehr es gilt, die Komponente der Faktizit¨at nicht zu ignorieren, so wenig kann dem Anspruch der Geltung eine k¨unstliche Rechtfertigungsgrenze gesetzt werden. Worauf diese Arbeit abzielt, ist allein die Komponente der Geltung, die deutlich macht, dass es einen umfassenden Legitimierungszusammenhang gibt, der uns eben als ,rechtliche Wesen’ sichtbar werden l¨asst. Insofern gibt es einen konkreten lebensweltlichen Ankn¨upfungspunkt der folgenden Analysen, auch wenn sie in keiner Weise das juristische Recht betreffen und auch keine Rechtsph¨anomenologie16 entwerfen. Eine ph¨anomeangedeutet wurde, die Frage nach dem Begriff von der Frage nach dem Zweck des Rechts, ohne mit ihr zusammenzufallen, doch pr¨ajudiziert wird.“ (Radbruch 1999, 54) Die Radbruch’sche Position tr¨agt der Auslegung des Doppelsinns im Ph¨anomen ,Recht’ auf die Weise Rechnung, dass sie ein Ideal mit einer realen Ordnung in eine Wesensbeziehung setzt. Der Rechtspositivismus kann hingegen dahingehend charakterisiert werden, dass er ,Recht’ auf ein ,Regelwerk’ reduziert und die Dimension der Rechtfertigung in andere Bereiche verschiebt. Eine so verstandene Rechtswissenschaft b¨ußt damit den Rechtssinn ein, durch den ,Recht’ geltungsm¨aßig in einer Gesellschaft verankert ist und auf dessen Basis es auch immer neu verhandelt wird. Ein von politischen und moralischen Einfl¨ussen gereinigter, aber m¨oglicherweise auch sinnentleerter und technisierter Rechtsbegriff ist das Ergebnis. 16 ,Rechtsph¨anomenologie’ ist ein Ober- oder Sammelbegriff, der viele divergente Ans¨atze unter sich befasst, aber prinzipiell als eine rechtsphilosophische Reflexion in ph¨anomenologischer Hinsicht zu verstehen ist. Ich habe an anderer Stelle versucht, die Hauptwerke des rechtsph¨anomenologischen Denkens in einem histori¨ schen und systematischen Uberblick einander gegen¨uberzustellen (Loidolt 2006a). Da weder ,Recht’ noch ,Ph¨anomenologie’ von den verschiedenen Autoren einheitlich verstanden wurden, bot sich eine Einteilung in drei ,Str¨omungen’ an: 1. eidetischrealistische Rechtsph¨anomenologie (Adolf Reinach, Wilhelm Schapp), 2. logischpositivistische Rechtsph¨anomenologie (Felix Kaufmann, Fritz Schreier, Paul Amselek) und 3. lebensweltlich-existenziale Rechtsph¨anomenologie (Gerhart Husserl, Werner Maihofer). Verschiedene Aspekte werden je nach Werk behandelt: Strukturfragen zu Rechtsordnungen u¨ berhaupt, Fragen nach der Geschichtlichkeit, Zeitlichkeit und Genesis von Rechtsordnungen, Fragen nach dem intersubjektiven Zusammenspiel in Rechtsordnungen bis hin zu Fragen nach (der Erkennbarkeit) einer idealen Rechtsordnung oder ,Unrechtsordnung’. ,Die’ Rechtsph¨anomenologen sind oft Juristen mit phi-
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kapitel i
nologische Analyse des rechtlichen Denkens bzw. des Vorverst¨andnisses von Rechtlichkeit, das jeder lebensweltlichen Ausformung zugrunde liegt, hat den Anspruch, das Feld f¨ur weitere, spezifischere Rechtfertigungsdiskurse kl¨arend aufzubereiten – nicht mehr und nicht weniger. Weit davon entfernt, in eine komplexe rechtsphilosophische oder gar juristische Argumentation einsteigen zu k¨onnen, m¨ochte ich hier nur auf die Selbstverst¨andlichkeit hinweisen, dass das juristische Recht ebenso wie die Wislosophischer Ausbildung, die ph¨anomenologische Ans¨atze dazu ben¨utzen, sich einen tieferen Einblick in den juristischen Rechtsbegriff und vor allem in das Wesen und den Ursprung von Rechtsordnungen zu verschaffen. Als ph¨anomenologische Ans¨atze kommen dabei etwa Husserls Lehre von der ,kategorialen Anschauung’, der ,Eidetik’, der ,transzendentalen Intersubjektivit¨at’ oder der ,Lebenswelt’ in Frage, aber auch Heideggers ,Fundamentalontologie’ oder Rombachs ,Strukturph¨anomenologie’. Als Ausnahme muss Adolf Reinach genannt werden, der Philosoph mit juristischer Ausbildung (und ,Begr¨under’ des rechtsph¨anomenologischen Denkens), der versucht, einen Rechtsbegriff direkt aus einem ,sozialen Akt’, also unabh¨angig von einer juristischen Rechtsordnung zu entwickeln. Vgl. Werke der Rechtsph¨anomenologie: Prim¨arliteratur (eine Auswahl der wichtigsten Autoren): Reinach 1989 (SW); Schapp 1930; Kaufmann 1922, 1924; Schreier 1924; Husserl G. 1925, 1955, 1964, 1969 u. a.; Amselek 1964; Maihofer 1954, 1956, 1963. Sekund¨arliteratur: Binder 1925, 152 f.; Bloch 1985, 164 ff.; Burkhart 1986, 1987; Cossio 1944; Diemer 1969; D¨obber 1989; Dobretsberger 1927; Hamrick 1997; Kelsen 1965; Kohlberg 1997; Konrad 1991; Krawietz 1987; Kubeˇs 1982, 1987, 1988; Kunz 1927; Maihofer 1962, 1973; Mulligan 1987; Reiner 1969; Schuhmann 1987; Soml´o 1927; Spiegelberg 1965; Stadler 1997; Troller 1971; Vernengo 1988; Walz 1928; Weinberger 1988; Wienbruch 1976; Wolf 1931; W¨urtenberger 1969. Eine weiterf¨uhrende Liste zu rechtsph¨anomenologischer Literatur findet sich in Loidolt 2006a, 73. ¨ Edmund Husserls eigene rechtsphilosophische Uberlegungen lassen sich am besten als ,vernunftrechtlich’ beschreiben. Was Karl Schuhmann als Husserls Staatsphilosophie (1988) herausarbeitet, n¨amlich eine gewisse Dialektik des Husserl’schen Denkens zwischen Faktizit¨at und Idealit¨at (Schuhmanns These ist, dass Husserl den Staat zu den transzendentalen Faktizit¨aten z¨ahlt, also zu den allgemeinen unvermeidlichen ,historischen Notwendigkeiten’), gilt analog ebenso f¨ur Husserls Rechtsphilosophie (soweit vorhanden): In dem unver¨offentlichten Manuskript Kulturphilosophie, Geisteswissenschaft, Rechtsphilosophie aus den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs macht Husserl deutlich: Bei Staat und Recht handelt es sich um ,Fakta’, die aber idealerweise aus rein ethischen Quellen geordnet werden – insofern ist die Ph¨anomenologie gefordert, diese ,Vernunft der sozialen Praxis’ zu entwickeln: ,,Recht und Sittlichkeit. Die h¨ochste Form der Rechtsgemeinschaft ist die sittliche Rechtsgemeinschaft, oder die h¨ochste Form eines Rechtes ist die eines auf philosophischen Erw¨agungen und letzten philosophischen Begr¨undungen
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senschaft, die Moral oder die Politik zum Gesamtzusammenhang einer Lebenswelt geh¨oren, in der Rechtfertigungs- und Legitimationsfragen allgegenw¨artig sind. Wir befinden uns immer schon in einer rechtlichen Auslegung von Welt und k¨onnen darin bestimmte lebensweltliche Bereiche (z. B. juristisches/positives Recht) spezifizieren und ausdifferenzieren; dies geschieht aber vor dem Hintergrund eines Vorverst¨andnisses von Rechtlichkeit, das sich grundlegender und weiter erstreckt als jeder spezifische rechtliche Diskurs.
beruhenden (oder zun¨achst ideal darauf absehenden) Rechtes, das also voraussetzt eine Rechtsgemeinschaft, die schon philosophische Gemeinschaft ist, von philosophischen Ideen geleitet. Konstruktion eines philosophischen Rechtes durch einzelne Philosophen schafft noch nicht Recht. Sie m¨ussten erst die Allgemeinheit davon u¨ berzeugen, sie m¨usste es in den Willen aufnehmen. ((Am Rande:)) Eventuell m¨usste ein Philosophenstand da sein, der anerkannt ist im Beruf, das richtige Recht zu konstruieren als Idee, und der Wille, diesem Stande zu folgen.“ (Husserl Ms. A II 1, 6b) Dar¨uber hinaus haben wir einen Hinweis von Herbert Spiegelberg, dass Husserl die Ausf¨uhrung einer Ph¨anomenologie des Rechtsbewusstseins erwogen hatte. ,,Als Rechtsstudenten wies er mich auf Adolf Reinach hin. Doch er f¨ugte bei, daß noch etwas ganz anderes ben¨otigt sei als Reinachs Ontologie, eine Ph¨anomenologie des Rechtsbewußtseins, von der er improvisierend ein mich damals faszinierendes Bild entwarf.“ (Spiegelberg, zitiert nach: Schuhmann 1987, 249) Vgl. dazu Husserls Aussagen zum Recht in: Hua III/1, 122 f., 354 f.; Hua XIII, 105–110; Ms. A II 1; Ms. A V 19, 40; Ms. A V 21, 35a; Ms. E III 7, 4a.
ZUR GENESIS DES RECHTLICHEN DENKENS BEI HUSSERL
KAPITEL II
¨ DIE RECHTSPRADIKATION: VORBEREITENDE ¨ ¨ PHANOMENOLOGISCHE BEGRIFFSKLARUNGEN
Einleitung: Vorbemerkungen zu Methode und Terminologie Die Kelsen’sche Theorie der ,normativen Deutung’ transzendental gewendet Der Rechtsph¨anomenologe Paul Amselek sieht in Hans Kelsen nicht nur einen der Hauptvertreter des Rechtspositivismus des 20. Jahrhunderts, sondern auch den Vorl¨aufer einer ph¨anomenologischen Rechtstheorie.17 Obwohl sich Kelsen gegen eine solche Interpretation seines Werks zu Wehr gesetzt hat18 , f¨allt doch ins Auge, dass gleich auf den ersten Seiten der Reinen Rechtslehre (1934; 2. Aufl. 1960) eine Erfassung des Rechtsbegriffs u¨ ber einen Aktangestrebt wird: den Akt der normativen Deutung. Kelsen versteht das Wesen des juristischen Rechts als das Ergebnis dieser Deutung: ,,Den spezifisch juristischen Sinn, seine eigent¨umliche rechtliche Bedeutung, erh¨alt der fragliche Tatbestand durch eine Norm, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht, die ihm rechtliche Bedeutung verleiht, so daß der Akt nach dieser Norm gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema. Mit anderen Worten: Das Urteil, daß ein in Raum und Zeit gesetzter Akt menschlichen Verhaltens ein Rechts- (oder Unrechts-) Akt ist, ist das Ergebnis einer spezifischen, n¨amlich normativen Deutung.“ (Kelsen 1960, 3)
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Vgl. Amselek: Titre Premier, Introduction: ,,Le sens pr´ecurseur des travaux de Hans Kelsen“ (Amselek 1964, 45–63). 18 Kelsen antwortet 1965 mit dem Aufsatz ,Eine ph¨anomenologische Rechtstheorie’ auf Amseleks 1964 erschienenes Werk M´ethode ph´enom´enologique et th´eorie du droit. Im Wesentlichen u¨ bernimmt Amselek die Bestimmung des Rechts durch die normative Deutung, setzt sich aber im Folgenden u¨ ber die rigorose Trennung zwischen ,Sein’ und ,Sollen’ hinweg. Kelsen stellt in seiner Replik die Positionen der Reinen Rechtslehre noch einmal konzise dar und grenzt sich so deutlich von den Amselek’schen Thesen ab. (Amselek 1964, Kelsen 1965, vgl. Loidolt 2006a, 50–56).
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Gewiss ist Kelsen nicht als ph¨anomenologischer Denker misszuverstehen, obwohl er Husserl als Philosophen sehr bewunderte und sch¨atzte.19 Dennoch lohnt es sich, dem Gestus dieses Ansatzes kurz nachzugehen, der insofern ,ph¨anomenologisch’ ist, als er das Aktleben der Subjektivit¨at reflektiert und f¨ur die Bestimmung des Rechtsbegriffs in den Mittelpunkt stellt. F¨ur Kelsen ist entscheidend, dass eine Leistung, ein ,,Denkprozeß“ (Kelsen 1960, 4) vollzogen wird, der eine ,,sinnlich nicht wahrnehmbare Qualit¨at“ (Kelsen 1960, 4) erzeugt, die in den bloßen Geschehnissen in Raum und Zeit ohne diese normative Deutung nicht vorhanden w¨are.20 Eine ph¨anomenologische Analyse kann sich diesen Gedanken eines ,Denkprozesses’, einer ,normativen Deutung’, durch die ,rechtliche Bedeutung’ u¨ berhaupt erst konstituiert wird, zunutze machen – mit zwei wesentlichen Modifikationen: Erstens muss die in diesem Fall positivistisch-juristische Bedeutung von ,Recht’ auf eine allgemein rechtliche Bedeutung (so wie in der Exposition ausgef¨uhrt) erweitert werden. Kelsen spricht von einem ,,objektiven Sinn“ (Kelsen 1960, 2), der sich durch die normative Deutung eines Tatbestandes ergibt, wobei die ,Objektivit¨at’ dieses Sinnes durch eine positiv gesetzte Norm gew¨ahrleistet ist. Die Festsetzung dieser Norm als positives Recht durch eine soziale Autorit¨at bietet die ,objektive’ Referenz dieser Deutung. F¨ur Kelsens Zwecke einer ,,Theorie des positiven Rechts“ (Kelsen 1960, 1) ist diese Einschr¨ankung entscheidend, da ja nur normative Deutungen, die anhand der jeweils festgeschriebenen Nor19
Kelsen schreibt in einem Brief an Husserl vom 18. 5. 1931: ,,Hochverehrter Meister! [. . .] Mit großer Freue denke ich an die Stunde, in der es mir verg¨onnt war, mit Ihnen zu sprechen, den ich seit vielen Jahren als Deutschlands heute bedeutendsten Philosophen verehre.“ (HUDO III, 211) In Wien bildete sich zudem in den fr¨uhen zwanziger Jahren mit Felix Kaufmann und Fritz Schreier eine Gruppe von Philosophen und Rechtstheoretikern, die sowohl Anh¨anger Kelsens als auch profunde Kenner von Husserls Logischen Untersuchungen waren. Von der Fusion, die sich aus diesen beiden Denkrichtungen ergeben hat, zeugen z. B. die Werke Logik und Rechtswissenschaft (Kaufmann 1922) und Grundbegriffe und Grundformen des Rechts (Schreier 1924). Vgl. Loidolt 2006a. 20 Die daraus f¨ur ihn folgende rigorose Trennung zwischen einem ,Reich des Sollens’ und einem ,Reich des Seins’ betont nicht nur den modalen Unterschied. Sie deutet dar¨uber hinaus auf die ontologische These hin, dass bloß das ,Sollen’ aus den Subjekten stamme, das ,Sein’ der Natur aber ,objektiv’ und im Sinne der Naturwissenschaften hinzunehmen und zu beschreiben sei. Vom ph¨anomenologischen Standpunkt aus muss diese These zur¨uckgewiesen bzw. vorerst einmal eingeklammert werden.
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men gemacht werden, juristische G¨ultigkeit beanspruchen d¨urfen. Dass aber solche normativen Deutungen anhand von ganz anderen Normen gemacht werden k¨onnen, ist damit nicht ausgeschlossen. Die f¨ur Kelsen relevante Unterscheidung von ,objektivem’ und ,subjektivem’ Sinn ist damit f¨ur uns hinf¨allig, da wir nicht auf der Suche nach der ,richtigen’ oder objektiven normativen Deutung, sondern nach dem Sinn dieser Deutung u¨ berhaupt sind. Zweitens muss die ,normative Deutung’ transzendentalph¨anomenologisch begriffen werden, d. h. nicht in einer schon objektiv konstituierten Welt erfolgend, sondern selbst Welt, d. h. Sinn und Geltung konstituierend. Die Welt wird damit nicht als eine bereits ,objektiv’ vorhandene vorverstanden, zu der die ,rechtliche Bedeutung’ als menschliches Produkt bloß hinzutritt. Vielmehr soll die intersubjektive Weltkonstitution in ihrem Aufbau und in ihrer urspr¨unglichen Verwobenheit mit ,rechtlicher Deutung’ in den Blick kommen.21 Die in dieser Untersuchung h¨aufig gebrauchten Termini des ,Rechtsakts’22 und des ihm korrelierenden ,Rechtssinns’ sind im Folgenden also – 21
In der analytischen Philosophie, vor allem mit John McDowells Buch Geist und Welt, ist dieses Thema der Rechtfertigung und somit das Thema der apriorischen Auffassung von Welt in rechtlichen Begriffen (unter R¨uckgriff auf Kant) in einer neuen Form diskutiert worden. Hier k¨onnten sich von ph¨anomenologischer Seite m¨ogliche Felder des Dialogs mit der Philosophy of Mind auftun, die an dieser Stelle vorerst nur in ihren Grundz¨ugen aufbereitet werden k¨onnen. Vgl. S. 281, Fußnote 205 und Konklusion S. 314 f. 22 Der in diesem Sinn verwendete Begriff des Rechtsakts ist deutlich zu unterscheiden vom juristisch verstandenen Rechtsakt, der eine durch Rechtssetzungsverfahren entstehende Rechtsquelle bezeichnet. Davon unabh¨angig verwendet auch der Rechtsph¨anomenologe Fritz Schreier den Terminus des ,Rechtsakts’ in seiner ph¨anomenologischen Untersuchung Grundbegriffe und Grundformen des Rechts (1924) (die ich der logisch-positivistischen Richtung der Rechtsph¨anomenologie zugeordnet habe, da sie sich prim¨ar um eine logische Bestimmung der Kelsen’schen Reinen Rechtslehre mit Hilfe von Husserls Logischen Untersuchungen bem¨uht): ,,Im Rechtsakt konstituiert sich Recht, wir sind auf Recht intentional gerichtet.“ (Schreier 1924, 12) Schreiers Rechtsakt hat nichts mit dem Akt der normativen Deutung zu tun, der die ,rechtliche Bedeutung’ verleiht, sondern richtet sich auf das Erfassen der Rechtsfolgestruktur, die als das Wesen des juristischen Rechts vorausgesetzt wird. Es konstituiert sich in dem von Schreier angef¨uhrten Akt nichts anderes als die Art dieser juristischen Konsequenz, die nicht kausal ist, sondern als Rechtsfolge auf Grund der Zurechnung durch die Norm erfolgt: ,,Wenn der Tatbestand vorliegt, soll die Person bei Sanktion die Leistung erbringen.“ (Schreier 1924, 70) Wir wissen damit nicht, wie der Akt aussieht, der etwas erst ,ins
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wenn nicht ausdr¨ucklich anders angegeben – in dem hier entwickelten transzendentalph¨anomenologischen Zusammenhang zu verstehen. Der methodische Leitfaden aus ,Erfahrung und Urteil’ Der zugrunde liegende methodische Leitfaden der folgenden Analysen orientiert sich im Wesentlichen an Erfahrung und Urteil. Dabei handelt es sich um ein zentrales Werk der genetischen Ph¨anomenologie, das Ludwig Landgrebe nach Absprache mit Husserl 1939 (also kurz nach dessen Tod) herausgab.23 Wie in Formale und transzendentale Logik wird in Erfahrung und Urteil das Projekt einer ,Genealogie der Logik’ verfolgt. In konkreten Einzelanalysen soll der Ursprung der logischen Leistungen in einer R¨uckf¨uhrung des pr¨adikativen Urteils auf seine Grundlagen in der Erfahrung gekl¨art werden.24 Recht bringt’, sondern haben den Akt betrachtet, der erkennt, dass eine juristische Rechtsnorm eine Rechtsfolge in sich birgt, die sich letztlich unter die formale Logik des Relationsbegriffs unterordnet (wie Schreier selbst zugibt: vgl. Schreier 1924, 80 ff., wo dieser die reine Rechtslehre als einen Teil der formalen Logik bestimmt). 23 Da der Text von Erfahrung und Urteil f¨ur diese Arbeit in weiten Strecken als methodischer Hintergrund dient, m¨ochte ich hier kurz auf die Entstehungsgeschichte des Werks hinweisen. Um die Ergebnisse zu den Forschungen der genetischen Ph¨anomenologie zusammenzufassen, beauftragte Husserl, der sich allein nicht imstande sah, die F¨ulle seiner Forschungsmanuskripte zu bew¨altigen, 1928 seinen Assistenten Ludwig Landgrebe mit einem ersten, 1929/30 mit einem zweiten Entwurf und schließlich 1935 mit einer endg¨ultigen redaktionellen Ausgabe des Textes von Erfahrung und Urteil (EU XX). Landgrebe hielt sich dabei eng an den Wortlaut der Husserl’schen Forschungsmanuskripte. Dieter Lohmar konnte zeigen, ,,daß vor allem die letzte Fassung des Haupttextes (§§ 15–98) von Husserl zusammen mit Landgrebe redigiert wurde und daher als autorisiert angesehen werden kann“ (Lohmar 1996, 34). Die erste Auflage des Buchs 1938 in Prag wurde w¨ahrend des Krieges bis auf einige wenige Exemplare vernichtet. 24 Husserl hebt mit der Analyse der Erfahrung an, die f¨ur Kant das Endprodukt des Zusammenwirkens der beiden Grundquellen der Erkenntnis ist. Mit Husserl hingegen tritt eine ganz neue Gr¨oße in der Transzendentalphilosophie auf: Es ist die Logik des Ph¨anomens, die sowohl eine Logik der Sinnlichkeit als auch des Verstandes in sich beschließt. So gibt es f¨ur Husserl nicht zwei Grundquellen der Erkenntnis, sondern ein Leisten des Bewusstseins als Konstitutionsleistung, das durch die Reduktion sichtbar gemacht und gesichert werden soll. Der Ursprung der Bewusstseinsakte, die kategoriales Denken erm¨oglichen, steht im Mittelpunkt von Erfahrung und Urteil. Vgl. Lohmar 1998, K¨uhn 1998, M¨uller 1999, Loidolt 2005b.
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Husserl unterscheidet daf¨ur zwischen einer vorpr¨adikativen und einer pr¨adikativen Sph¨are. Im vorpr¨adikativen Bereich werden Gegenst¨ande unmittelbar abh¨angig von sinnlichen Eindr¨ucken passiv vorkonstituiert. Auf der Ebene der Pr¨adikation wird die Konstitution der Verstandesgegenst¨andlichkeiten vollzogen, welche im Gegensatz zu den vorpr¨adikativ vorkonstituierten Gegenst¨anden unabh¨angig von der jeweiligen sinnlichen Erfahrung immer wiederholbar und verf¨ugbar sind. Diese Konstitution der Verstandesgegenst¨andlichkeiten bindet Husserl entstehungsm¨aßig an die vorpr¨adikative Sph¨are zur¨uck, betont aber gleichzeitig deren Selbstst¨andigkeit, sobald sie einmal konstituiert sind. Der Aufbau einer Genealogie der Logik beginnt also bei den allgemeinen Strukturen der Rezeptivit¨at sowie bei der schlichten Erfassung und Explikation in der vorpr¨adikativen Sph¨are. Damit ist eine Grundlage f¨ur die Struktur der Pr¨adikation in ihren verschiedenen logischen Ausformungen aufgezeigt. Die genetische ,Schichtung’ (die stets in einem sachlichen und nicht einem zeitlichen Hintereinander zu verstehen ist) wird aufgef¨achert und nachvollzogen, angefangen bei den schlichten Wahrnehmungen bis hin zur h¨ochsten Ebene der Konstitution von Allgemeingegenst¨andlichkeiten. Auf diese Weise wird verst¨andlich, auf welchem Boden sich logische Leistungen u¨ berhaupt gr¨unden k¨onnen und was die spezifische Seinsweise der Verstandesgegenst¨andlichkeiten ausmacht. Ein damit zusammenh¨angendes Hauptanliegen von Erfahrung und Urteil ist der ,,R¨uckgang auf die urspr¨unglichsten Evidenzen der Erfahrung“ (EU 45). Husserl geht es um das stringente Aufzeigen eines Stufenaufbaus der Evidenzen bis hin zur abstraktiven Konstitutionsleistung einer reinen Allgemeingegenst¨andlichkeit, so wie sie die Logik fordert. Damit stehen die logischen Leistungen des Bewusstseins in einem Kontext von rezeptiver Erfahrung und begrifflicher Fassung dieser Erfahrung. Zu diesem Gesamtrahmen von transzendentaler Logik und konstitutiver Problematik soll die vorliegende Untersuchung mit einer Genesis des normierenden Aktes und im Besonderen des Rechtsakts beitragen. Husserl hat eine Genealogie der formalen Logik entwickelt und konnte dabei auf die passive Vorgegebenheit in der sinnlichen Wahrnehmung zur¨uckgreifen. Dies kann bei den normierenden Akten, wo es um ,normative Deutung’ (u. a. des Wahrgenommenen) geht, nicht unmittelbarer Ausgangspunkt sein: Denn das rechtliche Deuten erfolgt ja schon anhand einer Verstandesform und liegt nicht in der schlichten Wahrnehmung
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selbst. Aus diesem Grund wird zuerst die Struktur der normativen Deutung im Vordergrund stehen. Anschließend soll nach der Genesis und Konstitution von Normen in normativen Urteilen gefragt werden. Parallel zu Erfahrung und Urteil wird ein Aufstieg von den elementarsten normierenden Akten in schlichter Gewissheit bis zu den Akten h¨ochster Rechtfertigung von allgemeinen Normen der Theorie und Praxis nachgezeichnet. Eine Genese des Rechtsakts, die sich vor allem auf die Dynamik der Modalisierung25 konzentriert, soll zeigen, dass gerade durch das Fraglich-Werden der Norm der vorpr¨adikative Bereich r¨uckwirkend wieder gr¨oßere Bedeutung gewinnt. Denn der Rechtssinn stellt sich nicht ein, wenn die Meinungen oder Wertungen, welche die Norm im normativen Urteil26 urspr¨unglich konstituieren, in ihrer Gesamtheit fraglich werden. Folglich muss in einen Bereich des reinen An-spruchs27 (im Sinne des Angesprochen-Seins) zur¨uckgegangen werden, von dem aus sich eine neue Normsetzung her motivieren soll. Der Weg der Analyse ist also durch den Leitfaden der Rechtfertigungsfrage vorgezeichnet. Diese setzt eine ausweisende Bewegung in Gang. Von der schlichten Gewissheit einer Norm im Rechtsakt f¨uhrt sie uns zur Notwendigkeit einer normativen Neukonstitution: einer verantwortlichen Setzung im Bereich eines reinen Angesprochen-Seins (An-spruchs). ¨ Der Ubergang von schlichter Explikation zu Verstandesgegenst¨andlichkeit, also von vorpr¨adikativer zu pr¨adikativer Sph¨are, findet seine norma¨ tive Parallele im Ubergang von diesem Angesprochen-Sein (An-spruch) zur urteilenden Setzung. In diesem Zusammenhang geh¨ort unsere Unter25
Eine von Husserls wichtigsten Lehren in den Analysen zur passiven Synthesis sind die Modalisierungen des Zweifels, der M¨oglichkeit und der Negation. Durch sie wird das Bewusstsein passiv motiviert, aus dem Zustand dieses ,Unbehagens’ wieder in einen Zustand der Einigkeit zu kommen. Auf der aktiven Ebene motiviert dies wiederum Frage, Entscheidung und Urteil. Husserl zeigt damit die ,kleinste Einheit’ des universalen Bewusstseinsgesetzes der Teleologie auf. Vgl. Kap. II.4. 26 Das normative Urteil bestimmt die Norm (,So muss ein Kunstwerk sein, damit es gut ist’). Das normierende Urteil beurteilt hinsichtlich oder anhand der Norm (,Diese Kunstwerke sind nicht gut’). 27 Der Begriff de An-spruchs wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer expliziert: Es handelt sich dabei um ein vorpr¨adikatives und passives Angesprochen-Sein (daher An-spruch im Gegensatz zum pr¨adikativen Anspruch auf Erf¨ullung), dessen pr¨adikative ¨ Fassung sich in Rechtsbegriffen a¨ußert. Die Uberlegung, die dieser These zu Grunde liegt, ist die, dass der Rechtscharakter als pr¨adikativ gefasstes Antworten zu begreifen ist, das dem Anspruchscharakter von Gegebenheit entspricht. Vgl. Kap. III., IV., V.
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suchung zum Großprojekt einer transzendentalen Logik, das sich mit den Leistungen der Vernunft im Aufbau von Welt besch¨aftigt; die Parallelen zum Vorhaben von Erfahrung und Urteil sollten hiermit deutlich gemacht werden: im Allgemeinen durch das genetische Projekt der transzendentalen Ph¨anomenologie, im Speziellen durch die Verwandtschaft zu einer Genealogie der Logik und der Einbeziehung einer vorpr¨adikativen Sph¨are als Motivationsgrund f¨ur pr¨adikative Urteile. Bevor nun direkt in die Untersuchung eingestiegen wird, seien noch letzte terminologische Kl¨arungen vorausgeschickt. Der Rechtsph¨anomenologe Paul Amselek analysiert in seiner Arbeit M´ethode ph´enom´enologique et th´eorie du droit (1964) das ,rechtliche Ph¨anomen’ nach Gattung und spezifischer Differenz. Als Gattung gibt er ,Normativit¨at’ an, als spezifische Differenz die ,Modellfunktion einer Rechtsnorm’28 . Ich m¨ochte die Gattungsbestimmung beibehalten und sie unter dem Titel des normierenden Akts untersuchen, f¨ur die Art des Rechtsakts allerdings eine andere spezifische Differenz ausarbeiten. Der normierende Akt als Gattungsbegriff, also jeder Akt, in dem eine Norm zur Beurteilung angewendet wird, ist nicht zu verwechseln mit dem normativen Urteil (Husserls Terminologie in den Logischen Untersuchungen), welches die Norm selbst konstituiert. Als spezifische Differenz des Rechtsakts im Gegensatz zu anderen normierenden Akten (Urteile u¨ ber Sch¨onheit, G¨ute usw.) werde ich die Begriffe Gem¨aßheit und Geltung anf¨uhren. Denn w¨ahrend die Gem¨aßheit in jedem normierenden Akt eine wichtige Rolle spielt, kommt sie im Sinnniederschlag des Rechtsakts auch als Sachgehalt zum Ausdruck. Im Gegensatz zum Regelsinn wiederum, der auch einem normierenden Akt entspringt und in seinem Sinn direkt Gem¨aßheit ausdr¨uckt, beansprucht der Rechtssinn absolute Geltung. So kann die spezifische Differenz des Rechtssinns auf der einen Seite durch das konkrete Ausdr¨ucken der Gem¨aßheit, auf der anderen Seite durch den Anspruch auf Geltung im Gegensatz zur Beliebigkeit bestimmt werden. 28
Amselek meint mit der ,Modellfunktion der Rechtsnorm’, dass diese ein verbindliches Modell f¨ur die Wirklichkeit darstelle (vgl. Amselek 1964, 287 f.). Die These, dass gerade die Verbindlichkeit (obligatori´et´e) das spezifische Merkmal der Rechtlichkeit (juridicit´e) sein solle, u¨ berzeugt kaum. Auch Kelsen bem¨angelt, dass ,,Amselek [dadurch] zu der absurden These gedr¨angt [ist]: daß die Normen der Moral nicht verbindlich seien“. (Kelsen 1965, 400 f.)
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1. Normierender Akt und Rechtsakt in schlichter Gewissheit Der Modus der Gewissheit gr¨undet sich auf bruchlose Einstimmigkeit in der vorpr¨adikativen Erfahrung (EU 325). Husserl bezeichnet diese schlichte Gewissheit als den Grundmodus unseres Erfahrungslebens, d. h. als Urdoxa. Erst auf diesem Boden des Urglaubens an die Welt k¨onnen sich Zweifel, M¨oglichkeitsbetrachtung, Negation usw. errichten. Husserls Untersuchungen betreffen die Urdoxa auf der unmittelbarsten Ebene der sinnlichen Wahrnehmung. Indessen kann auch in anderen Bereichen von schlichter Gewissheit gesprochen werden, n¨amlich dann, wenn s¨amtliche Aktkomponenten (Norm, Urteilssubstrat) in Geltung gehalten werden, ohne jemals durch eine widerspr¨uchliche Auffassung, Wahrnehmung, Meinung hindurchgegangen zu sein. Die einfachste Betrachtung ist die des Aktes in schlichter Gewissheit. Hier zeigen sich im Folgenden Wesensmerkmale von normierenden Urteilen im Unterschied zu bestimmenden oder beziehenden Urteilen. Ebenso kann eine erste spezifische Differenz des Rechtssinns im Unterschied zu anderen normierenden Sinnen ausgemacht werden: der Ausdruck der Gem¨aßheit als Sachgehalt. Im weiteren Verlauf der Analyse werden weitere Differenzierungen bez¨uglich der Varianten des Rechtsakts, seiner Ausrichtung und seiner Modalisierungen vorgenommen. Dabei tritt Schritt f¨ur Schritt das zweite spezifische Merkmal des Rechtssinns in den Vordergrund: die Forderung nach Geltung. Grundcharakteristika von normierendem Akt und Rechtsakt Der normierende Akt in seiner einfachsten Form ist ein in mehrfacher Hinsicht fundierter Akt. Zugleich kann, da er zu den Akten des Urteilens geh¨ort, sein noematisches Korrelat unter die einfachste logische Form ,S ist p’ gebracht werden (im Fall des Rechtsakts: ,S kommt Rechtssinn zu’, S hat ein Recht, ist recht). Die Synthese, die dem normierenden Akt zugrunde liegt und nicht thematisch ist, ist eine einfache Deckungssynthesis des Gegebenen mit dem Gesollten. Dieser Deckungssynthesis geht eine Assoziation vorher. Der Ichstrahl richtet sich nicht auf die Deckung selbst, sondern auf das bestimmte Verh¨altnis, das in dieser Deckung arti¨ kuliert wird. Das bewusste Gerichtet-Sein zielt auf die eventuelle Uberein¨ stimmung oder Nicht-Ubereinstimmung des Gegebenen mit dem Maßstab ab; diese Charakteristik im Akt des Messensist allen normierenden Urtei-
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len als Gattung gleich. Immer wenn eine Norm angewendet wird, um etwas zu beurteilen, ergibt sich diese Struktur der normativen Pr¨adikation. Eine der spezifischen Differenzen des Rechtssinns zu anderen normativen Pr¨adikaten liegt darin, dass der Rechtssinn diese Gem¨aßheit inhaltlich ausdr¨uckt und keine Qualit¨at dar¨uber hinaus (wie z. B. ,gut’ oder ,sch¨on’). Recht-sein heißt nichts anderes als einer Norm gem¨aß sein. Die Gem¨aßheit ist also die Struktur jedes normierenden Aktes, aber nur im Rechtssinn wird sie inhaltlich artikuliert. Ergebnis des Urteils ist, dass der Gegenstand im Rechtsmodus steht. Das bedeutet, dass der Rechtssinn, das Pr¨adikat, das dem (logischen) Subjekt29 S zugeschrieben wird, nicht ,im’ Subjekt ist, so wie es in der ,inneren Explikation’ eines Substrates der Fall ist, und auch nicht ,am’ Subjekt, so wie in einer beziehenden Bestimmung.30 Der Rechtssinn dr¨uckt eine bestimmte Beziehung des Subjekts zu einer Norm aus, die wir als das Gem¨aß-Sein an einer Norm bezeichnen wollen. Es ist also wesensm¨aßig ein zweites Substantiv in Form eines Maßstabs notwendig, um dem Subjekt das Pr¨adikat ,Rechtssinn’ zuschreiben zu k¨onnen. Allgemein gilt f¨ur jeden normativen Sinn, dass es sich bei diesem ,Maßstab’ um eine Norm handelt, also um einen Satz, der etwas vorschreibt. Normierende Akte im Unterschied zu beziehenden und bestimmenden Urteilen Normierenden Akten ist eine Struktur der Pr¨adikation gemeinsam, die sie von anderen Urteilen unterscheidet. Da in Erfahrung und Urteil die spezielle Form dieser Akte nicht besprochen wird, entwickeln wir hier in Anlehnung an die genauer ausformulierten Pr¨adikationsformen eine eigene ph¨anomenologische Beschreibung und Bestimmung von normie29
Die Verwendung des Begriffs ,Subjekt’ ist in den folgenden Passagen (wenn nicht ausdr¨ucklich anders gekennzeichnet) als logischer Terminus zu verstehen und wird a¨quivalent mit dem Begriff des ,Substrats’ gebraucht. 30 Als ,innere Explikation’ bezeichnet Husserl ein Urteil u¨ ber ein dem Substrat inh¨arentes Pr¨adikat (,Die Vase ist blau’ – das Blau ist demnach ,in’ der Vase selbst), w¨ahrend die ,beziehende Bestimmung’ ein Urteil u¨ ber ein bestimmtes Verh¨altnis zwischen zwei Subjekten ist (,Der Tisch ist gr¨oßer als die Vase’ – das ,gr¨oßer als’ ist demnach ,am’ Tisch): ,,Das Adjektivische ist ,am’ Subjekt, wenn auch nicht wie bei der inneren Bestimmung ,in’ ihm.“ (EU 266) Vgl. auch EU § 50 zur Grundstruktur der Pr¨adikation.
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renden Urteilen. Betrachten wir zuerst die Grundform des ,beziehenden Urteils’, die Husserl in Erfahrung und Urteil anhand des Beispielfalls ,A ist gr¨oßer als B’ ausf¨uhrt (EU §§ 53–54). Dieses beziehende Urteilen unterscheidet sich vom bestimmenden Urteilen dadurch, dass hier dem Substrat nicht ein Pr¨adikat zugeschrieben wird, das ,in’ ihm liegt, sondern dass zwei Gegenst¨ande in Form von zwei Substantiven aufeinander bezogen werden, woraus sich die Pr¨adikation ergibt. ,,§ 53. Das Urteilen auf Grund der beziehenden Betrachtung. Absolute und relative Adjektivit¨at Diese Verh¨altnisse haben ihre Parallele in der a¨ußeren, beziehenden, das ist auf beziehende Betrachtung gegr¨undeten pr¨adikativen Bestimmung. Auch hier ergeben sich Urteilsformen analog einfacher Art. Nehmen wir etwa ein Vergleichungsurteil, das ist ein auf vergleichende Betrachtung sich bauendes, z. B. ,A ist gr¨oßer als B’. Selbstverst¨andlich haben wir auch hier die Gliederung in Subjekt- und Pr¨adikatseite, in der der zweigliedrige Prozeß der pr¨adikativen Synthesis zum Ausdruck kommt; aber die Pr¨adikatseite ist nun komplizierter gebaut. Das ist ohne weiteres verst¨andlich, wenn wir daran denken, ¨ daß die Bestimmung, die sich hier am A abhebt, ihm nur auf dem Grunde des Ubergangs zum B zukommt, auf dem Grund der zuerst passiv assoziativ gestifteten und dann rezeptiv erfaßten anschaulichen Einheit zwischen dem A und dem B. Wir erinnern uns, ¨ wie auf der Stufe der Rezeptivit¨at diese Bestimmung ,gr¨oßer’ zustande kam: beim Ubergang des erfassenden Blickes vom A zum B wurde A als das Bestimmungssubstrat im ¨ Griff behalten, und auf Grund des Ubergangs bereicherte es sich, so wie es im Griff behalten blieb, um die Bestimmung ,gr¨oßer als. . .’. Soll nun die sich darauf bauende Pr¨adikation erfolgen, so muß zun¨achst erneut das um die Bestimmung bereicherte A in ¨ den Griff genommen und aktiv der Ubergang zur Bestimmung vollzogen werden. Da ¨ aber zu ihrem Sinn der Bezug auf B geh¨ort, muß der Ubergang zur Bestimmung in Eins ¨ erneuter Ubergang zu B sein. Es ergibt sich als Pr¨adikat ,gr¨oßer als B’.“ (EU 265)
Die Analogie von Rechtsakt und einfachem beziehendem Urteil ist begrenzt, nicht nur, weil Husserl seinen Anfang bei der sinnlichen Wahrnehmung31 machen kann (und der Rechtsakt durch eine notwendig fertig konstituierte Norm schon ein ,Stockwerk’ h¨oher zu verorten 31
Im klassischen Fall, den auch Kelsen schildert, wird eine ,Tatsache’ aus der ,Welt des Seins’, die uns durch sinnliche Wahrnehmung zug¨anglich ist, normativ gedeutet. Die Norm ist aber keinesfalls etwas, das sinnlich erscheint. Und auch das zu beurteilende Substrat, die ,Tatsache’, kann, aber muss nicht urspr¨unglich durch die sinnliche Wahrnehmung gegeben sein. Deshalb ist in unserem Fall die passive Sph¨are nicht u¨ ber die Wahrnehmung zu lokalisieren, sondern als Assoziation von immanenten Gegebenheiten im Bewusstsein.
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ist). Zwar kommt es im normierenden Akt so wie in den beziehenden ¨ Urteilen zu dem ,,beziehende[n] Blick“ (EU 266) und der ,,Ubergangssynthesis“ (EU 267) bzw. Deckungssynthesis, die sich zwischen zwei Substantiven herstellt. Allerdings erscheinen diese beiden Substantive nicht als gleichwertig, was das Relationsverh¨altnis32 kompliziert. Eine genauere ¨ An dieser Stelle f¨uge ich einige kurze Uberlegungen zum Verh¨altnis der logischsyntaktischen Formen der Substantive im normierenden Akt und Rechtsaktan: Das Verh¨altnis des Subjekts S zu der Norm N ist generell das eines zu Messenden zu dem Maßstab, es bezeichnet das ,Unter-ein-Gesetz-Fallen’. Das bedeutet, wie wir bereits ausgef¨uhrt haben, dass die Norm das ,bestimmende’, das Substrat das ,bestimmte’ Element in Bezug auf das Pr¨adikat Rechtssinn ist. Diese Relation ist demgem¨aß auch nicht umkehrbar. S und N k¨onnen aber jeweils verschiedene Stufen logischer Komplexit¨at annehmen. S kann f¨ur einen einfachen, individuellen Gegenstand stehen, aber auch f¨ur einen Sachverhalt (Verstandesgegenst¨andlichkeit, die einem Urteil entspringt), eine Allgemeingegenst¨andlichkeit (Begriff, Wesen) etc. N steht allgemein und wesensm¨aßig immer in der Form des Sollens (bzw. hat immer den Sinn des Sollens, auch wenn die grammatikalische oder sprachliche Form dies nicht unmittelbar ausdr¨uckt), aber was gesollt wird, d. h. der Inhalt der Norm kann ebenfalls verschiedene syntaktische Formen annehmen: Auch hier kann es im einfachsten Fall ein individueller Gegenstand sein, oder ein Sachverhalt, meistens ist es jedoch eine Allgemeingegenst¨andlichkeit bzw. ein Begriff in Form eines normativen Satzes (eine Vorschrift, die ein Allgemeines vorschreibt). Werden nun die beiden Substantiva in Beziehung zueinander gesetzt, so wird ¨ dies auf der vorpr¨adikativen Sph¨are durch ein passives Ubereinanderschieben bzw. eine Deckungssynthesis im Bewusstsein vorbereitet, die dann auf der pr¨adikativen Ebene begrifflich bestimmt und artikuliert wird. Die syntaktische Beschaffenheit von S und N erfordert auf der pr¨adikativen Ebene eine entsprechende Verh¨altnisbestimmung, z. B. ob es sich um ein ,Darunterfallen’ oder um eine ,Gleichheit’ bzw. ,Deckung’ handelt. Dabei bleibt entscheidend, von der Ebene der individuellen Gegenst¨andlichkeiten bis zu den h¨ochsten Allgemeingegenst¨andlichkeiten, dass das Subjekt in Hinblick auf die Norm zur Deckung gebracht wird. Der einfachste Fall, den wir uns denken k¨onnen, ist, dass die Norm einen individuellen Gegenstand vorschreibt und das Subjekt genau dieser individuelle Gegenstand ist; die Deckungssynthesis w¨are dann tats¨achlich eine einfache Deckung des Gesollten mit dem Gegebenen und erforderte keine weitere logische Operation. Der klassische Fall ist allerdings der einer gesollten Allgemeingegenst¨andlichkeit, die einem Einzelfall gegen¨ubersteht; hier hat die Deckung eine etwas kompliziertere Struktur, da es sich bei Individuum und Allgemeinem nicht um ein ,Zusammenfallen’, sondern um ein ,Darunterfallen’, also eine Subsumtion handelt. Man m¨usste alle logisch m¨oglichen F¨alle einzeln durchspielen, was ich hier nicht durchf¨uhren kann – der Hinweis auf die unterschiedlichen logischen Leistungen in der Deckungssynthesis, die durch die Formen von Norm und Substrat erfolgen, muss an dieser Stelle gen¨ugen.
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Beschreibung des ,hierarchischen’ Verh¨altnisses zwischen dem Maßstab und dem zu Messenden ist daher notwendig, um die Urteilsart der normierenden Akte zu erfassen. Vorhanden sind zwei Substantive, wobei aber nicht ein (logisches) Subjekt im beziehenden Blick hinsichtlich eines (logischen) Objekts bestimmt wird, sondern die Norm ,im Griff ’ gehalten wird und das logische Subjekt in Hinsicht auf diese Norm bestimmt wird. Es entsteht dadurch keine ,als’-Beziehung, sondern die Norm tritt ¨ im fertigen Urteil zur¨uck, und das Subjekt erf¨ahrt in der Ubereinstimmung den Sinnzuwachs des normativen Sinns (im spezifischen Fall: des ¨ Rechtssinns). Entscheidend ist, dass nicht nur die inhaltliche Ubereinstimmung des Substrates mit dem in der Norm Vorgeschriebenen Bedingung f¨ur das Erscheinen des normativen Sinns bzw. Rechtssinns ist (und ¨ korrelativ das Nicht-Ubereinstimmen f¨ur den gegenteiligen normativen ¨ Sinn), sondern wesentlich die Auffassung dieser Ubereinstimmung als Normierung: Dass etwas der Norm gem¨aß ist, verleiht ihm den normativen ¨ Sinn. Wir k¨onnen also sagen: Das inhaltliche Ubereinstimmen (Gem¨aßSein) von etwas mit etwas, das in Form einer Normierung (eines Maßstabs) aufgefasst wird, ist die Grundstruktur f¨ur das Erscheinen eines normativen Sinns. Der Unterschied im Vergleich mit einer gew¨ohnli¨ chen Ubereinstimmung wird leicht klar: Es w¨urde sich in diesem Fall um ¨ die Feststellung einer Gleichheit oder Ahnlichkeit handeln. Wenn zwei Gegenst¨ande miteinander zur Deckung gebracht werden oder sich u¨ berschieben (wie es schon in der passiven Sph¨are der Fall ist), so geschieht ¨ dies im Hinblick auf ihre konkrete Ahnlichkeit oder Gleichheit miteinander. Die Deckungssynthesis im normierenden Akt basiert auf dieser vergleichenden Betrachtung, nur ist mit der Feststellung der Gleichheit der Akt nicht abgeschlossen, sondern er erf¨ahrt seine Besonderheit erst ¨ durch das Erfassen der Ubereinstimmung hinsichtlich der normativen und damit bestimmenden Form des Deckungspaares, d. h. durch das Erfassen der Normgerechtheit oder Normgem¨aßheit des Subjekts. Die Deckungssyn¨ thesis wird also nicht nur in Hinsicht auf die Gleichheit oder Ahnlichkeit der beiden Gegenst¨ande vollzogen, sondern vor allem in Hinsicht auf das Gem¨aß-Sein des Substrates an der Norm. Das bedeutet, dass das Verh¨altnis nicht umkehrbar ist wie in dem von Husserl beschriebenen beziehenden Urteil. F¨ur dieses gilt: ,,Es ist nicht wesensm¨aßig vorgezeichnet, welcher Gegenstand Subjekt und welcher als bez¨ugliches Objekt fungiert: das Urteil kann ebenso gut und gleich-
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urspr¨unglich lauten ,A ist gr¨oßer als B’ wie ,B ist kleiner als A’. Das ist nur von der jeweiligen Richtung des Interesses abh¨angig. Im schlicht bestimmenden Urteil Sist p findet sich nichts von solcher Aufeinanderbeziehung und demgem¨aß auch keine Umkehrbarkeit. Wesensm¨aßig muß S als urspr¨ungliches Substrat zuerst Subjekt im bestimmenden Urteil sein, bevor psubstantiviert werden kann.“ (EU 268) Husserl unterscheidet diese beiden Urteile hinsichtlich der Selbstst¨andigkeit ihrer Glieder. Der Rechtsakt bzw. die gesamte Gattung des normierenden Urteils l¨asst sich aber weder unter das bestimmende noch unter das beziehende Urteil einordnen: Denn es handelt sich nicht um ein p, das ,im’ S ist (wie im bestimmenden Urteil) und auch nicht um ein umkehrbares Verh¨altnis (wie im beziehenden Urteil), sondern um ein p, das aus der Deckungssynthesis hinsichtlich der Norm entspringt. Das Interesse, das also im beziehenden Urteil die ,jeweilige Richtung’ bestimmt und im bestimmenden Urteil wesensm¨aßig nicht anders als auf das ,urspr¨ungliche Substrat’ gerichtet sein kann, ist im normierenden Akt ebenfalls wesensm¨aßig an die Struktur ,Maß – zu Messendes’ gebunden. Es richtet sich durch die Norm hindurch auf das Gem¨aß-Sein des Substrates und bringt so eine unumkehrbare Hierarchie in das Verh¨altnis der beiden Substantiva, die oft durch die konkreten logisch-syntaktischen Gegebenheiten (Allgemeines der Norm bezieht sich auf den Einzelfall) unterst¨utzt wird, aber nicht werden muss.33 Die spezielle Deckungssynthesis, die also vollzogen wird, erfolgt nicht zwischen zwei als gleichberechtigt aufgefassten Gegenst¨anden, sondern in Form einer Hierarchie des Messens. Husserl weist in seiner Beschreibung des beziehenden Urteils weiter auf die spezielle Art der Adjektivit¨at im Pr¨adikat ,gr¨oßer als B’ hin: ,,Die Adjektivit¨at, die sich auf Grund der hinausgehenden Betrachtung im relativen Bestimmen [. . .] konstituiert, unterscheidet sich also von der im schlicht bestimmenden (auf innerer Explikation sich aufbauenden) Denken dadurch, daß sie neben dem Substrat, dem als Subjekt fungierenden Substantiv, einen Gegentr¨ager sozusagen, ein weiteres Substantiv, n¨amlich das bez¨ugliche Objekt, fordert und bewußtseinsm¨aßig mit sich vereint hat. Relativ ist jede Bestimmung eines Subjektes, die es auf Grund ¨ einer Ubergangssynthesis zu einem zweiten substantivischen Gegenstand bestimmt.“ (EU 266 f.) ¨ Ich verweise an dieser Stelle noch einmal auf die Uberlegungen zum Verh¨altnis der logisch-syntaktischen Formen in normierendem Akt und Rechtsakt in Fußnote 32.
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Demzufolge unterscheidet Husserl zwischen absoluter Adjektivit¨at (,,Jedem absoluten Adjektiv entspricht ein unselbst¨andiges Moment des Bestimmungssubstrates, sich ergebend in innerer Explikation und Bestimmung.“ (EU 267)) und relativer Adjektivit¨at (,,[. . .] sich ergebend auf Grund der hinausgehenden Betrachtung und beziehenden Ineinssetzung und des sich darauf bauenden beziehenden Urteilens“ (EU 267)). Der Rechtssinn ist zu den relativen Adjektivit¨aten zu rechnen, da er tats¨achlich in einer ,hinausgehenden Betrachtung’ gewonnen wird. Er ist nicht ,unselbstst¨andiges Moment des Bestimmungssubstrates’ (wie z. B. das ,Blau’ einer ,Vase’), sondern kann nur durch das Messen an der Norm hervorgebracht werden. Im Unterschied zum bestimmenden Urteil konnten wir den normierenden Akt also als ein Urteil charakterisieren, f¨ur das wesensm¨aßig zwei Substantiva notwendig sind. Im Gegensatz zum beziehenden Urteil wiederum handelt es sich aber bei der In-Beziehung-Setzung dieser beiden Substantiva nicht um eine umkehrbare Vergleichungsbeziehung, sondern um eine Normierung bzw. eine Messung, die ein Substantiv wesensm¨aßig als Maßstab im Griff h¨alt. Die Messung selbst wird als Deckungssynthesis antizipiert, und in der ,,anschaulichen Einheitsbildung“ (EU 267) wird das Substrat auf seine Gem¨aßheit oder Normgerechtigkeit hin beurteilt. ¨ Das Interesse richtet sich dabei auf die Ubereinstimmung in Hinblick auf die Norm, das Substrat wird also anhand der Norm beurteilt. Ergibt ¨ sich eine Ubereinstimmung, so entspringt der normative Sinn als relatives adjektivisches Pr¨adikat. Bemerkenswert ist, dass die Norm im Akt des Urteilens zur Anwendung kommt, im abgeschlossenen Urteil selbst aber zur¨ucktritt und als Sinnniederschlag nicht sichtbar ist wie z. B. in der vergleichenden Als-Beziehung. Stattdessen sind der Vorgang des Messens und die Norm indirekt im Rechtssinn enthalten, insofern er deren noematisches ,Produkt’ ist. 2. Varianten des Rechtsakts und korrelativ dazu des Rechtssinns Der Rechtsakt, der im vorigen Abschnitt nur in schlichtester Form und den allgemeinsten gattungsm¨aßigen Charakteristika nach behandelt wurde, differenziert sich in verschiedene Aktvarianten. Korrelativ dazu modifiziert sich auch der Rechtssinn, der diesem Akt als subjek-
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tive Leistung entspringt. Um sinnvoll von einem ,Recht’ sprechen zu k¨onnen, muss immer ein Akt vorausgesetzt werden. Dieser besteht im Wesentlichen aus dem spezifischen ,Zusammenbringen’ einer Norm mit einem Substrat (dem Gegenstand, der beurteilt werden soll), wobei durch die Gem¨aßheit des Substrates an der Norm der Rechtssinn entspringt. Nun ist bei genauerem Hinsehen zu bemerken, dass der je bestimmten Beschaffenheit einer Norm ein je verschiedener Rechtsakt entspricht und es damit zur Konstitution verschiedener Arten des Rechtssinns kommt.34 W¨ahrend die generelle Ausrichtung der Ausweisung gleich bleibt, richtet sie sich auf verschiedene Elemente des jeweilig Gesollten und bestimmt damit die jeweilige pr¨adikative Struktur des Rechtssinns. Es lassen sich im Wesentlichen zwei Arten unterscheiden, denen auch verschiedene sprachliche Ausdr¨ucke korrespondieren. 1. Das Sein des Gesollten: ,,S ist recht“. Direkte Gem¨aßheit an der Norm und darauf folgende Wertung Das Substrat wird hier anhand einer Norm beurteilt, welche die allgemeine Form ,x soll sein’ oder ,x soll y sein’ tr¨agt. Ist x gegeben, so ergibt sich das Urteil: ,,S ist recht“. Der Sinn des ,Rechtseins’ des Substrats ist dabei das Ergebnis der subjektiven Leistung des speziellen In-Beziehung-Setzens von Norm und Gegebenem. Das Pr¨adikat ,recht’ ist ein unselbstst¨andiges, adjektivisches Pr¨adikat, das im Falle der Gem¨aßheit aus der normierenden Deckungssynthesis entspringt. Diese Art des Rechtsakts richtet sich ausschließlich auf das ,Rechtsein’35 des ¨ Substrats, das auch als die Ubereinstimmung des Gegebenen mit dem Gesollten beschrieben werden kann (also eine reine Form der Gem¨aßheit inhaltlich ausdr¨uckt). Gleichzeitig mit der Pr¨adikation erfolgt eine Wertung, die weiter unten genauer untersucht werden soll: Die Wertungen, durch die die Norm selbst konstituiert wurde, werden auf das Beurteilte 34
Die Form der Norm ist beim Rechtsakt deshalb so wichtig, weil der Rechtssinn ja inhaltlich nur die Gem¨aßheit an und Geltung der Norm aussagt und keine Qualit¨at dar¨uber hinaus (wie ,gut’ oder ,sch¨on’). Aus diesem Grund unterscheidet sich der Rechtssinn je nach dem Aufbau der Norm, da es sich je um eine andere Gem¨aßheit handelt. 35 Vgl. im Kap. IV.A die Ausf¨uhrungen zu Rechtsein und Rechtheit bei Scheler, Husserl und Reinach.
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u¨ bertragen. Spezifisch f¨ur diese einfachste Form des Rechtsakts, die das Sein des Gesollten positiv bewertet, sind also die schlichte Anwendung der Deckungssynthesis und das Vorkommen einer Wertung. 2. Der Zuspruch der Norm bzw. die Gem¨aßheit des Anspruchs an der Norm: ,,x hat ein Recht auf. . .“, ,,x hat eine Berechtigung zu. . .“, ,,x ist berechtigt zu. . .“ Diese Form unterscheidet sich wesentlich von der ersten und hat auch eine kompliziertere Struktur. Es geht hier nicht um das bloße Sein eines Gesollten, sondern um den bestimmten Zuspruch durch eine Norm. Dieser Zuspruch weist sich im Rechtsakt als ,Recht’ (oder ,Berechtigung’) aus. Die Norm tr¨agt dabei die allgemeine Form: ,,x soll y zugesprochen werden/ zukommen“. Dies ist als ein ,Zuspruch’ bzw. als eine ,Erm¨achtigung’ zu verstehen, der nach dem Rechtsakt im S ein ,Recht’ bzw. eine ,Berechtigung’ korrespondiert. Zur Struktur im Vollzug dieser Variante des Rechtsakts: Der Rechtsakt kann von zwei verschiedenen Richtungen des Interesses her erfolgen: Entweder es handelt sich um einen reinen Zuspruch oder um das Ausweisen eines Anspruchs. a. Der reine Zuspruch: Die Richtung des Interesses im ,Ichstrahl’36 kommt von der Norm her und richtet sich auf zu beurteilende Substrate. Insofern wird an einem S die Gem¨aßheit am x gesucht (Deckungssynthesis), woraufhin es (bei vorhandener Gem¨aßheit) zu einem Zuspruch durch den Rechtsakt kommt. Erst durch die Aktualisierung im Akt des Zusprechens wird das, was vorher in der Norm pures ,leeres’ Sollen war, zu einem ,Recht’ des S. Dabei handelt es sich nicht einfach nur um einen Syllogismus, der die Form h¨atte: ,x soll y zugesprochen werden’, ,S ist x’ (Pr¨amissen) → ,S soll y zugesprochen werden’ (Schluss); dieser ist durchaus notwendig, leistet aber nicht die Transformation des normativen Zuspruchs in einen Rechtssinn. Daf¨ur ist speziell der Rechtsakt zust¨andig: Er erfasst aktiv den normativen Zuspruch und transformiert bzw. aktualisiert ihn dadurch zu einem ,Recht’: einem ausgewiesenen Zuspruch durch eine Norm, die in Geltung gehalten wird. 36
Husserl spricht vom ,Ichstrahl’ als Ichzuwendung im Gegensatz zu rein passiven Abl¨aufen im Bewusstsein. Der Ichstrahl bezeichnet ein gewisses Interesse des Ich, das aktiv verfolgt und nicht passiven Assoziationen u¨ berlassen wird.
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b. Das Ausweisen eines Anspruchs: In diesem Fall kommt die Richtung des Interesses im Ichstrahl schon vom Substrat her, das (eventuell schon auf der passiven Ebene durch Affektion und Assoziation) einen ,Anspruch’ auf y ,erhebt’. Der Hauptstrahl des Interesses richtet sich also darauf, ob das gegebene Substrat, welches beurteilt werden soll, einen begr¨undeten Anspruch auf y hat. Daf¨ur wird der in Frage stehende Anspruch mit dem Zuspruch der Norm zur Deckung gebracht. Jenem kommt bei Gem¨aßheit an diesem durch den Rechtsakt der Sinnzuwachs des Rechtssinns zu. Zur eigentlichen Konstitution des Rechtssinns kommt es dadurch, dass dem S die volle Ausgewiesenheit des vermeinten Anspruchs zugeschrieben werden kann und es als Ergebnis dieses gesamten Aktes im Rechtsmodus steht. Wieder findet eine Transformationstatt: Durch den Rechtsakt wird die Geltung der Norm auf das Substrat u¨ bertragen, wodurch dieses den Sinnzuwachs des Rechtssinns erf¨ahrt. Der Rechtsakt im Allgemeinen ist also einerseits normierend-messend und andererseits Geltung u¨ bertragend. Zu den negativen F¨allen ist zu sagen: Wenn im Fall a. keine Gem¨aßheit des S am x vorliegt, dann ergibt sich kein Recht. Wenn im Fall b. keine Gem¨aßheit des Anspruchs des S am Zuspruch der Norm vorliegt (d. h., S ist nicht x, S erhebt Anspruch auf non-y), dann ergibt sich ebenfalls kein Recht. Es ist deutlich geworden, dass sich die Zuspruch-Anspruch-Struktur der zweiten Variante des Rechtsakts wesentlich von der ersten unterscheidet, in der die bloße Gem¨aßheit des Substrats selbst in Frage stand. Dieser Unterschied kann auch bei den fertig konstituierten Urteilen (,x ist recht’; ,x hat ein Recht/eine Berechtigung’) in Bezug auf das Pr¨adikat (den Rechtssinn) herausgearbeitet und dabei die Differenzierung, die Husserl zwischen Ist-Urteilen und Hat-Urteilen macht, herangezogen werden. Husserl parallelisiert die Unterscheidung von bestimmendem und beziehendem Urteil mit der zwischen ,,Ist“-Urteilen und ,,Hat“-Urteilen. Wie er im Paragraph § 52 von Erfahrung und Urteil ausf¨uhrt, entspricht die Form des ,,Hat“-Urteils (,S hat T’) der Explikation nach selbstst¨andigen Teilen, wogegen das ,,Ist“-Urteil (,S ist p’) sich durch innere Explikation unselbstst¨andiger Teile ergibt. ,,Im Unterschied vom Ist-Urteil tritt [. . .] im Hat-Urteil nicht nur ein einziger, selbst¨andiger Gegenstand in der Kernform der Substantivit¨at auf, n¨amlich das Subjekt, sondern noch ein zweiter auf der Pr¨adikatseite als Objekt.“ (EU 262) Dabei ist zu beachten,
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dass jedes Ist-Urteil durch Substantivierung unselbstst¨andiger Bestimmungen in ein Hat-Urteil umgewandelt werden kann. Wie weiter oben besprochen wurde, l¨asst sich der Rechtsakt weder als schlicht bestimmendes noch als schlicht beziehendes Urteil erfassen, weil die Gem¨aßheit in Hinblick auf die Norm eine spezielle ,hierarchische’ InBeziehung-Setzung zweier Substantiva darstellt. Im fertigen Urteil kann jedoch hinsichtlich des Pr¨adikats eine gewisse Unselbstst¨andigkeit bzw. Selbstst¨andigkeit parallel zu den Ist- und Hat-Urteilen festgestellt werden. Wie schon allein durch die sprachliche Form37 auff¨allt, lautet das Urteil des ersten Rechtsakts: ,,x ist recht“. Das Pr¨adikat ,recht’ ist adjektivisch und unselbstst¨andig, insofern es zwar nicht allein ,im’ S selbst gelegen ist, aber in der Deckungssynthesis mit der Norm durch das bestimmte Sein des S als Gesolltes gewonnen worden ist. Die Norm verlangt in diesem Fall nach einem bestimmten Seineines Gesollten (die Form lautet stets: ,x soll sein’ oder auch ,x soll y sein’). Insofern bezieht sich der Rechtssinn u¨ ber die Norm ,direkt’ auf das S. Es ist eine Direktheit in Anf¨uhrungszeichen, weil sie nicht wie das ,Blau’ der ,Vase’ in dieser selbst liegt, sondern nur u¨ ber die Norm in das S hineingelesen werden kann. Aber es handelt sich um einen direkten Rechtssinn in dem Sinn, dass das Pr¨adikat ,recht’ direkt auf das S und seine Gem¨aßheit hinweist. Im zweiten Fall der Anspruch-Zuspruch-Struktur handelt es sich um ein selbstst¨andiges Pr¨adikat. Das ,Recht’ oder die ,Berechtigung’, die sich ergeben, haben mit dem S unmittelbar nichts zu tun, sondern entweder mit seinem Anspruch oder nur mit dem Zuspruch, der in der Norm liegt. Dies k¨onnen wir als einen indirekten Rechtssinn bezeichnen, da dem Substrat wegen seiner Gem¨aßheit an der Norm etwas zugesprochen wird, das nicht auf seine eigenen Eigenschaften zur¨uckf¨uhrbar ist. Genau diese Merkmale treffen auch auf das Hat-Urteil zu: ,,Es [das HatUrteil] hat nicht ein adjektivisches Pr¨adikat, sondern der Selbst¨andig37
Ich m¨ochte an dieser Stelle mit Husserl betonen, dass diese Unterscheidungen nicht anhand der Sprache getroffen werden, sondern anhand der verschiedenen Struktur der Akte: ,,All das sind, um es nochmals zu betonen, logisch-bedeutungsm¨aßige Strukturen, die wir freilich, wie selbstverst¨andlich, an Hand der Gliederung des Ausdrucks in unserer deutschen Sprache verfolgen, die aber beim Ausdruck in andere Sprachen ihre – wenn auch dem grammatischen Bau nach oft g¨anzlich abweichenden – Entsprechungen finden m¨ussen.“ (EU 266)
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keit des Pr¨adizierten entspricht die syntaktische Form des zum Pr¨adikat geh¨origen Objektes, das ebenso wie das Subjekt die Kernform der Substantivit¨at hat.“ (EU 262) Husserl bemerkt, dass Hat-Urteile niemals in Ist-Urteile umgewandelt werden k¨onnen, ,,es sei denn unter g¨anzlicher Modifikation [ihres] Sinnes“ (EU 263). Hingegen k¨onnen urspr¨unglich unselbstst¨andige Bestimmungsgegenst¨ande (z. B. ,S ist rot’) substantiviert werden und dann als Subjekte in neue Urteile eintreten (,S hat R¨ote’), die als Hat-Urteile ausgedr¨uckt werden. In unserem Fall trifft dies auch zu: W¨ahrend ,x hat ein Recht/eine Berechtigung’ nicht sinnvoll in ein adjektivisches Ist-Urteil umgewandelt werden kann38 , kann ,x ist recht’ in ein Hat-Urteil ,x hat Rechtheit’ umgewandelt werden39 . Zusatz: Das Zusammennehmen aller Ausgewiesenheiten in den Allgemeinbegriff ,Recht’: ,,x ist ,Recht’ (geh¨ort zum Korpus des Rechts)“ Wir f¨ugen dieser Grundunterscheidung der zwei Arten des Rechtsakts und korrelativ des Rechtssinns einen Zusatz an, der keine weitere Variante darstellt, sondern bloß ein Zusammennehmen zu einem Allgemeinoder Sammelbegriff ist. Es geht um den Ober- oder Allgemeinbegriff ,Recht’, der die Gesamtheit aller S¨atze, Urteile, Gegenst¨ande usw. ist, die durch eine Norm (eine Grundnorm, oder eine Rechtsquelle) ausgewiesen worden sind. Der Rechtssinn, der sich durch alle diese ausgewiesenen Gegenst¨ande durchzieht, wird in einem Akt zu einem Gesamtkorpus zusammengenommen: Alles, was durch eine Rechtsquelle, d. i. durch eine (Grund-)Norm ausgewiesen ist, ist ,Recht’, weil es durch sie ausgewiesen ist und daher Gem¨aßheit und Geltung hat. Damit erhalten wir den Oberbegriff oder Allgemeinbegriff ,Recht’ als alles, was der Grundnorm entspricht (parallel zum juristischen Allgemeinbegriff ,Recht’ als dem gesamten positiven normativen Korpus). Zusammenfassend kann festgestellt werden: Der Rechtsakt ist zuerst das ¨ Erfassen der Gem¨aßheit des Substrates an der Norm und dann die Ubertragung der Geltung der Norm auf das gem¨aße Substrat: Dadurch findet eine neue Sinnstiftung statt, n¨amlich die des Rechtssinns als ausgewiesene Gem¨aßheit am Gesollten bzw. als ausgewiesener An- oder Zuspruch. 38
Man soll sich nicht t¨auschen lassen durch die sprachliche Form: ,x ist berechtigt’ ist kein adjektivisches Pr¨adikat, sondern ein Passiv. 39 ,Rechtheit’ ist ein substantiviertes Pr¨adikat, ,Rechtsein’ bezeichnet einen Sachverhalt.
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3. Ausrichtung des Rechtsakts und korrelativ dazu des Rechtssinns Der Rechtssinn wird in seiner Ausrichtung danach bestimmt, worauf sich die Norm bezieht. Hier gibt es zwei normierende Einstellungen: Entweder die Norm steht im Kontext des Erkennens oder in dem des Wertens und Handelns. Ich werde dies im Folgenden als theoretische und praktisch-ethische40 Einstellung bezeichnen, die teleologisch einmal auf das ,Wahre’ und einmal auf das ,(Ge-)Rechte’ abzielt. Der Rechtsakt bleibt in beiden F¨allen stets ein pr¨adikativer Akt, der einen Gegenstand anhand einer Norm beurteilt und in diesem Sinn Akt der theoretischen, pr¨adikativen Vernunft ist41 . Ob diese Norm nun auf wahres Erkennen oder auf echte Werte und rechtes Handeln gerichtet ist, a¨ndert an der Struktur des Rechtsakts und am Rechtsmodus selbst nichts; es a¨ndert das Gesamtumfeld, den Kontext, auf den sich der Rechtssinn bezieht. So leuchtet es ohne weiteres ein, die Berechtigung eines philosophischen Begriffs vom Recht des Menschen auf Unversehrtheit zu unterscheiden. W¨ahrend es sich im ersten Fall um ein Recht handelt, das den Endzweck der Wahrheitsfindung hat, handelt es sich im zweiten Fall um ein Recht, das den Endzweck des Menschen selbst und damit eines praktischen Gegenstands hat. Im ersten Fall bildet ein erkennendes Streben den Rahmen, in dem das Konstituieren eines Rechtssinns nur eine Zwischenetappe, ein untergeordnetes Interesse ist im Fortschreiten zu einer 40
Zwischen Moral und Ethik gebrauche ich folgende g¨angige Unterscheidung: Der Begriff der Moral bezieht sich auf den konkreten Bereich normativer Regeln; insofern ist die ,Moral’ der Gegenstand der ,Ethik’, unter welcher eine philosophische ,Lehre’ oder ,Theorie’ von der Moral bzw. den Sitten zu verstehen ist. Die Ethik stellt also etwa Fragen nach der m¨oglichen Begr¨undung von Normen, nach der Quelle von Verbindlichkeiten und deren Motivationen etc. Die praktische Einstellung ist die, die auf das ¨ Handeln gerichtet ist; in ihr k¨onnen bzw. m¨ussen auch theoretisch-logische Uberlegungen statthaben, die sich auf das Handeln beziehen bzw. dem Handeln eine Richtschnur vorgeben. Die praktisch-ethische oder ethisch-praktische Einstellung ist demnach auf das gute Handeln gerichtet unter gleichzeitiger Ber¨ucksichtigung der Motivationsgr¨unde f¨ur dieses Handeln. 41 Im Kapitel IV.2 werden wir ausf¨uhrlich Husserls Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft thematisieren. Im Moment gen¨ugt der Hinweis, dass sowohl der Akt, der ein Substrat auf eine Norm bezieht, als auch die teleologische Intention auf eine unbezweifelbare Norm hin erkennende T¨atigkeiten sind.
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,,Erzeugung der Erkenntnis von einem selbstgegebenen Gegenstand, also seiner Selbsthabe als eines dauernd wieder Identifizierbaren“ (EU 235). Im zweiten Fall wird der Rechtssinn aus einem wertenden Streben heraus konstituiert und kann auch den Endzweck dieses Strebens darstellen. Der Rechtsakt selbst, gleichg¨ultig ob in theoretischer oder praktischer Einstellung vollzogen, ist stets ein ,,pr¨adikativ erkennendes Leisten“ (EU 235), und kein Werten. Denn das Aufeinander-Beziehen von Substrat und Norm ist von einem Interesse geleitet, das sich auf das Erkennen der Normgerechtigkeit richtet, das diesen Umstand zur Selbstgegebenheit bringen und ihn korrelativ voll erfassen m¨ochte. Auch wenn es sich um ein scheinbar bloß gef¨uhlsm¨aßiges Urteilen handelt, so fungiert der Rechtsakt noch immer als leer bewusster, womit das Urteil theoretisches bleibt und kein Werturteil ist. Das eigentliche Werturteil im Zusammenhang mit dem Rechtsakt findet nur in der Konstitution einer Norm statt, also im normativen, nicht im normierenden Urteil. Wenn eine solche Norm im Rechtsakt angewendet wird und eine Gem¨aßheit an ihr vorliegt, so u¨ bertr¨agt sich die Wertung auf das S und seinen Rechtssinn (so im Fall ,S ist recht’). Die Wertung findet also nur ,vor’ dem Rechtsakt in der Normstiftung statt und dann, ,nach’ dem Feststellen der Gem¨aßheit, als Wert¨ubertragung. 4. Modalisierungen des Rechtsakts und korrelativ dazu des Rechtssinns Bisher wurde der Rechtsakt im Modus der Gewissheit betrachtet und seine Wesensmerkmale hinsichtlich der Varianten (2.) und der Ausrichtung (3.) des Rechtssinns beleuchtet. Nun ber¨ucksichtigen wir dar¨uber hinaus m¨ogliche Modalit¨aten im Rechtsakt, das sind aktive Stellungnahmen des Zweifelns, Vermutens, Negierens etc. und das sich daraus ergebende Streben nach Urteilsentscheidung. Damit soll die Dynamik, die sich speziell durch die Geltungs¨ubertragung ergibt, herausgearbeitet werden – umso mehr, als wir uns in der bisherigen ,statischen’42 Untersuchung haupts¨achlich mit dem Element der Gem¨aßheit auseinanderge42
,Statisch’ ist hier ausnahmsweise nicht im Husserl’schen Sinne im Gegensatz zu ,genetisch’ gemeint (vgl. S. 15, Fußnote 8), sondern im Gegensatz zur ,Dynamik’, die durch die Modalisierungen im Rechtsakt zustande kommt.
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setzt haben. Es soll aufgezeigt werden, wie die Geltung im Rechtssinn als Frage auf die Norm zur¨uckwirkt und so den Prozess der Rechtfertigung einleitet und motiviert. Durch das Streben nach Urteilsentschei¨ dung kommt es zu einer Struktur der Uberschreitung, welche – konsequent weitergef¨uhrt – schließlich bis zu einer letztbegr¨undenden Rechtfertigung f¨uhren muss. Zuerst zu den Grundlagen bei Husserl: Sowohl in Erfahrung und Urteil als auch in den Analysen zur passiven Synthesis misst Husserl den Modalisierungen eine bedeutende Rolle in der Genesis des Urteils zu. Er geht dabei stets vom Wahrnehmungsprozess als exemplarischem Fall aus und zeichnet nach, wie die passive Vorgegebenheit in der vorpr¨adikativen Sph¨are, also das Feld, das durch die grundlegenden Leistungen der Zeitigung (Sukzession, Koexistenz), der Assoziation und Affektion gegeben ist, das pr¨adikative Urteil vorstrukturiert. Verl¨auft die Wahrnehmung in absoluter ,Einstimmigkeit’, so wird im Modus der Gewissheit geurteilt, d. i. im Grundmodus der Urdoxa (was nichts anderes bedeutet, als dass wir ,Welt’ urspr¨unglich als seiend setzen und erst auf diesem Boden Zweifel erwachsen kann). Verl¨auft der Wahrnehmungsprozess aber nicht einstimmig, tritt z. B. entgegen meiner motivierten Erwartungshaltung eine andere als die intentional antizipierte Wahrnehmung ein, so erfolgt eine Durchstreichung der fr¨uheren intentionalen Vorzeichnungen, d. h. eine Negation. Parallel dazu ist der Modus des Zweifels passiv durch den Widerstreit zweier u¨ bereinandergelagerter Wahrnehmungsauffassungen motiviert. Der Modus der M¨oglichkeit wiederum ist durch den Unbestimmtheitsrahmen intentionaler Vorzeichnung (unbestimmte M¨oglichkeit: ,es k¨onnte alles M¨ogliche sein’) bzw. durch Glaubensneigungen des Zweifels (bestimmte M¨oglichkeit: ,es ist m¨oglich, dass es dieses ist’) vorweggenommen. Entscheidend ist im Gesamtzusammenhang der Modalisierungen, dass Husserl eine Ontologie des ,nat¨urlich’ nach Erkenntnis strebenden Bewusstseins entwirft, die sich teleologisch von der passiven Sph¨are bis zur h¨ochsten Vernunftebene durchzieht. Was sich schon passiv als ,,urspr¨unglicher Trieb“ (Hua XI, 59) ank¨undigt, u¨ ber die Spannung der verschiedenen M¨oglichkeiten wieder zur¨uckzukommen in den ,,normalen Zustand der Einigkeit“ (Hua XI, 59), ist in der aktiven, pr¨adikativen Sph¨are die Grundmotivation ,,auf ein gesichertes Urteil, ein solches, das das Ich rechtfertigend begr¨unden kann, und [das] korrelativ auf wirkli-
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ches, wahres Sein gerichtet [ist]“ (EU 377). Die Modalisierungen sind also nicht nur Hemmungen im Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnisprozess, sondern gerade sie motivieren durch das durch sie ausgel¨oste ,,Unbehagen“ (Hua XI, 59) eine Sicherung und Begr¨undung der Erkenntnisse. Auf diese Weise kann Husserl auch eine direkte Linie vom passiv motivierten Zweifel in der Wahrnehmung bis zum Zweifel als movens des philosophischen Fragens ziehen: Das Begehren nach Einigkeit oder Eindeutigkeit, die jeden m¨oglichen motivierten Zweifel ausschließt, wird letztlich zur philosophischen Frage nach einem Grund der Erkenntnis selbst. Dass das Bewusstsein nicht anders kann, als sich je schon in dieser Bewegung zu finden, die ein Streben nach Einigkeit und dar¨uber hinaus ein Streben nach Sicherung der Erkenntnisse ist, dass also alles in einem motivierten intentionalen Zusammenhang auf ein Ziel hin ist, geh¨ort zur ph¨anomenologischen Grundlehre der Teleologie. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt das Fragen, eine aktive Stellungnahme des Ich, die durch den Widerstreit auf der passiven Ebene motiviert ist und das Urteil als endg¨ultige Entscheidung vorbereiten soll. ,,Das Fragen ist danach ein praktisches, auf Urteile bez¨ugliches Verhalten. [. . .] Der eigene Sinn des Fragens enth¨ullt sich durch die Antworten, bezw. in der Antwort. Denn mit ihr tritt entspannende Erf¨ullung des Strebens, tritt Befriedigung ein.“ (EU 373 f.) Die Frage bricht h¨aufig durch eine Leermodifikation des Urteils auf, d. h. dass ein Urteil nur noch in Geltung gehalten wird, ohne anschaulich vollzogen zu sein. Durch eine Kritik an den leeren Vermeintheiten, die auf Bew¨ahrung gerichtet ist, werden schließlich Urteilsstellungnahmen erzielt. Husserl unterscheidet zwischen schlichten Fragen und Rechtfertigungsfragen: W¨ahrend einfache Fragen aus einer urspr¨unglichen Zweifelslage heraus entstehen und auf eine Antwort hinzielen, ist das Streben in der Rechtfertigungsfrage auf eine endg¨ultige Begr¨undung hin angelegt. Durch die h¨aufige Erfahrung, ,,daß die hergestellte Einstimmigkeit und die durch sie erzielte innere Einigkeit des Ich mit sich selbst wieder verloren gehen kann“ (EU 376), z. B. durch Gegen-Evidenzen oder durch das Zur¨ucksinken in der Erinnerung (Leermodifikation), stellt sich ein Trieb auf ein endg¨ultig gesichertes Urteil ein. Die Frage ist nicht nur: ,Ist A?’ mit der Antwort ,ja, A ist’, sondern es wird noch einmal versichernd r¨uckgefragt; ,Ist A wirklich?’, um das Urteil zu bekr¨aftigen und zu begr¨unden. ,,Denn in der Best¨atigung ist das schon als seiend Geurteilte mit dem neuen Charakter ausgestat-
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tet: wahrhaft, wirklich so, so daß wir diese Frage auch als Wahrheitsfrage [Hervorhebung S.L.] bezeichnen k¨onnten. Die ihr entsprechende Antwort wird daher h¨aufig ein Wahrheitsurteil, ein Urteil u¨ ber pr¨adikative Wahrheit sein [. . .]. Nat¨urlich kann sich diese Aufstufung wiederholen. Das ,wirklich’ und ,wahr’ muß nicht ein ernstlich endg¨ultiges sein; es k¨onnen etwa neue Horizonte sich er¨offnen und das Bed¨urfnis nach neuerlicher Rechtfertigung entstehen lassen [Hervorhebung S.L.].“ (EU 377) So kann jede Gewissheit immer wieder der Rechtfertigungsfrage unterzogen werden, eine Wiederholung, die nicht sinnlos ist, da sie einerseits ,,Motivationsweg“ (EU 378) f¨ur Begr¨undung u¨ berhaupt ist und andererseits in notwendiger Wiederkehr immer wieder an den habituellen Besitz gestellt werden muss. ,,Alles wird wieder fraglich. Aber wir streben doch nach ¨ unfraglicher Erkenntnis, nach fraglosen Uberzeugungen.“ (EU 380) Die besondere Dynamik, die die Rechtfertigungsfrage in den vern¨unftigen Erkenntnisprozess bringt (denn hier befinden wir uns stets auf der aktiven Ebene der Pr¨adikation), wird sp¨ater noch ausf¨uhrlicher thematisiert. Die Struktur von Frage – Antwort – R¨uckfrage – Begr¨undung usw. stellt schließlich die Grundform des vern¨unftig rechtfertigenden Denkens dar; vom Rechtsakt angefangen soll diese rechtfertigende Bewegung in ihrer h¨ochsten Form, als Rechtfertigung einer vern¨unftigen Setzung, nachgezeichnet werden. Betrachten wir nach diesen allgemeinen Anmerkungen nun spezifisch die Modalisierungen des Rechtsakts. Hier handelt es sich nicht um ein Urteil im schlichten Wahrnehmungsverlauf, sondern um ein Urteil anhand einer Norm. Es k¨onnen also auf beiden Seiten des logischen Verh¨altnisses in diesem Akt Widerspr¨uche und dadurch Zweifel und Fragen aufkommen: auf Seiten des zu beurteilenden Substrates S (bei dem es sich meist um einen Sachverhalt, also das Produkt eines vorhergehenden Urteils handelt) und/oder auf Seiten des Maßstabes, der Norm. Der Zweifel bzw. die Frage kann auf zwei verschiedenen Ebenen auftreten, weshalb im Rechtsakt zwischen einstufiger und mehrstufiger Modalisierung bzw. korrelativ zwischen einfachem und u¨ bergreifendem Rechtssinn unterschieden werden muss. Die einstufige Modalisierung : Man k¨onnte die einstufige Modalisierung auch als den ,juristischen’ Zweifel oder die ,juristische’ Modalisierung bezeichnen, da sich ihre Reichweite nur bis zur richtigen Anwendung
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der vorgegebenen Norm erstreckt. Sowohl S als auch N k¨onnen fraglich werden und bewirken dadurch im Urteil des Rechtsakts einen Zweifel, eine M¨oglichkeitsbetrachtung oder eine Negation (negativer Rechtssinn). Wichtig ist, dass es sich bei dieser Ebene der Modalisierung nur um die Frage nach der Korrektheit des Messens, Zur-Deckung-Bringens und Subsumierens handelt. Wonach also gefragt wird, ist, ob die Komponenten des Rechtsakts (Norm, Substrat) tats¨achlich selbst gegeben sind und weiters, ob es sich tats¨achlich um ein Zusammen- oder Darunterfallen handelt. Zum Beispiel kann der zu beurteilende Sachverhalt durch ein Zur¨ucksinken in der Erinnerung fraglich werden, ebenso wie (bei noch nicht abgeschlossenen Sachverhalten) durch einen Fortgang in der Erfahrung, eine andere Wahrnehmung usw. Eine vermeintliche Deckung mit der Norm im Rechtsakt, die sich zuvor eingestellt hatte, kann dadurch in Zweifel gezogen werden, eine Frage motivieren, schließlich zu einer Verneinung f¨uhren. Die intentionale Erwartungshaltung auf einen gelungenen Rechtsakt hin wird dadurch entt¨auscht und durchgestrichen oder zumindest in Frage gestellt. Nat¨urlich ist auch hier analog zum reinen Wahrnehmungsurteil die vorpr¨adikative Ebene der Passivit¨at involviert: Die Grundkraft der Assoziation bereitet die Subsumtion in gewisser Weise vor, insofern jeder Gegenstand oder Sachverhalt bereits als ein ,Typus’erfasst wird, der in einem gewissen Horizont steht. Die assoziative Deckung bzw. ihre Fraglichkeit ist also je schon antizipiert, auch wenn das Anhand-einer-Norm-Beurteilen stets ein aktiver Akt ist und eine neue pr¨adikative Gegenst¨andlichkeit, n¨amlich die des Rechtssinns, erschafft. Auch die Norm kann fraglich werden. Im Fall der einstufigen Modalisierung allerdings nicht so, dass ihre Geltung in Zweifel gezogen wird, sondern dahingehend, dass ihr Inhalt unklar ist, etwa durch Zur¨ucksinken in der Erinnerung oder durch widerspr¨uchliche Angaben. Wenn der Maßstab nicht klar ist, kann nat¨urlich auch nicht gemessen werden, d. h. ein eindeutiges Urteil gef¨allt werden. Die einstufige Modalisierung betrifft also die Gem¨aßheit und ihre M¨oglichkeitsbedingung, die klare Gegebenheit von S und N. Diese Fraglichkeit kann sich passiv vorbereiten, kann aber auch aktiv an das Urteil herangetragen werden. Die Frage selbst, die eine aktive IchStellungnahme zu der unbehaglichen Situation der widerstreitenden Auf-
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fassungen ist, kann lauten: ,,Wie ist N nun beschaffen?“ oder ,,Wie ist S nun beschaffen?“ und: ,,Wie ist S in Hinblick auf N nun zu beurteilen?“ Die Frage ist angelegt auf eine L¨osung in Evidenz. Die mehrstufige Modalisierung : Sie kann auch als kritische Modalisierung oder kritischer Zweifel bezeichnet werden. Denn hier steht nicht die Gem¨aßheit des Urteils, sondern die Geltung der Norm selbst in Frage. Somit handelt es sich bei dieser Bewegung um die Bedingung der M¨oglichkeit von Kritik u¨ berhaupt. Es ist der im Rechtsakt konstituierte Sinn, der die besondere Qualit¨at dieser Frage motiviert: Durch die Modalisierungen zeigt sich, dass zu dem rein formalen Verh¨altnis Normierung – Normiertes ein Sachgehalt hinzukommt, der den Rechtssinn wesentlich konstituiert. Denn der Rechtssinn dr¨uckt im Gegensatz zum Regelsinn aus, dass auch die Norm in Geltung gehalten wird. Dies stammt aus seiner urspr¨unglichen Konstitution in schlichter Gewissheit, wo die Norm ohne jeden Zweifel in Geltung ist. Der Begriff des Rechtssinns entspringt hier, denn er kann urspr¨unglich nur konstituiert werden, wenn die Norm in Geltung gehalten wird. Als Verstandesbegriff l¨ost sich der Rechtssinn aber von diesen urspr¨unglichen Konstitutionsbedingungen im konkreten Urteil ab und erlangt eine Selbstst¨andigkeit als Allgemeinbegriff (Verstandesbegriff ) mit dem bestimmten Sinngehalt, Gem¨aßheit an einer geltenden Norm zu sein. Kommt in irgendeinem Urteil nun die Geltung der Norm in Zweifel, sei es durch bloße Leermodifikation (nicht anschauliches Vollziehen der Geltung), sei es – wie es meistens der Fall ist – durch einen Widerstreit zwischen zwei Normen, so wird dadurch eine Frage motiviert, die direkt auf Rechtfertigung abzielt. Der intentional antizipierte Rechtssinn verlangt nach einer geltenden Norm und strahlt gleichsam als Aufforderung nach Rechtfertigung auf alle zur Anwendung gekommenen Normen zur¨uck. Die intentionale Erwartung eines gelungenen Rechtsakts kann sich nicht einstellen, aber diesmal nicht aufgrund einer unkorrekten Messung, sondern weil durch den Zweifel an der Geltung der Norm der Sinn u¨ ber die Gem¨aßheit hinaus nicht erf¨ullt und keine Geltung u¨ bertragen werden kann. Die Berechtigung des Rechtes, das Rechtsein selbst wird fraglich, auch wenn das Urteil richtig (korrekt) ist. Die Frage, die gestellt wird, lautet: ,,Ist das tats¨achlich recht/ein Recht/eine Berechtigung?“, und das bedeutet, dass mit dem erf¨ullten Sinngehalt des Rechtssinns auf die Norm zur¨uckgefragt wird, die nun nicht mehr diese erf¨ullte, origin¨are Geltung
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hat. Die Norm muss ihre Geltung ausweisen, damit der intentional antizipierte Rechtssinn in diesem konkreten Urteil hergestellt werden kann, d. h., sie muss sich rechtfertigen lassen. Die Frage, die sich in der mehrstufigen Modalisierung auftut, ist also stets eine Rechtfertigungsfrage. Sie ist eine Frage, die u¨ ber den Rechtsakt hinausgeht und eine motivierte Rechtfertigung einleitet, die sich nicht in ,Richtigkeit’ ersch¨opft, sondern auf ,Wahrheit’ geht. Damit ist eine Motivationskette aufgezeigt, wie sich das Geltungsproblem im Zusammenhang mit normierenden Urteilen entwickelt und stellt.43 Die in Frage stehende Norm kann sich zwar immer durch eine weitere, h¨oher stehende Norm ausweisen lassen44 , insofern sie ihre Geltung von dieser ableitet – konsequenterweise kann sich der Zweifel aber auch mit den h¨oheren, mehrstufigen Ausweisungen fortpflanzen. In diesem Sinne sprechen wir von mehrstufiger Modalisierung und korrelativ von einem u¨ bergreifenden Rechtssinn. Denn die Frage nach der Geltung l¨asst sich nicht auf der Ebene der Gem¨aßheit kl¨aren, sondern motiviert im Gegensatz zur Beliebigkeit des Regelsinns eine Kette von R¨uckfragen. Da man sich bei Normen nicht durch ein Zur¨uckgehen in die Wahrnehmung versichern kann, m¨ussen die Urteile, die einer Norm zugrunde liegen, gepr¨uft und evident begr¨undet werden. Der Rechtssinn fordert eine volle Ausweisung der Norm. Das heißt: Der urspr¨ungliche Rechtssinn, der als Urstiftung nur u¨ ber einen Maßstab konstituiert werden konnte, wird als Allgemeinbegriff selbst zum (inhaltlich leeren) Maßstab und kann eine Frage nicht nur nach der Geltung dieser oder jener konkreten Norm, sondern dar¨uber hinaus bis zu einer letzten Rechtfertigung einer Grundnorm (sei es im theoretischen oder ethischen Bereich) einleiten. Die Frage bzw. der Zweifel entwickeln sich damit zu einer Art ,Kettenreaktion’, die sich durchg¨angig bis zu einer Letztbegr¨undung motivieren kann. Die erste Modalisierung umfasst nur die formale Richtigkeit des Urteils und nicht die Geltungs¨ubertragung des Rechtsakts. Diese Geltung, die gemeinsam mit der Gem¨aßheit den Sachgehalt des Rechtssinns konstitu43
Eine unserer Thesen ist, dass sich hier die Form und Entstehung der ,regulativen Idee’ genetisch festmachen l¨asst. 44 Im juristischen Zusammenhang zeigt dies Kelsen eindringlich durch den ,Stufenbau der Normen’ auf, der letztlich in der Grundnorm kulminieren muss (vgl. Kelsen 1960, Kap. 34. ,Der Geltungsgrund einer normativen Ordnung’ und 35. ,Der Stufenbau der Rechtsordnung’).
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iert (das Rechtsein des Rechten, das Berechtigt-Sein der Berechtigung), ist nicht am Substrat selbst gegeben (wie das ,Blau’ der Vase), sondern h¨angt von der Geltung der Norm ab. Die Norm muss also selbst gerechtfertigt sein, d. h. begr¨undet sein – und letztlich evident begr¨undet sein; dies fordert die Intentionalit¨at auf einen kritischen Rechtssinn hin. Erst durch die Modalisierungen wird die Dynamik des Rechtssinns hinreichend klar; denn insofern es zu seinem Sinn geh¨ort, voll zu gelten bzw. gerechtfertigt zu sein, l¨ost die Rechtfertigungsfrage – die Husserl auch als ,Wahrheitsfrage’ bezeichnet – einen ganzen Prozess aus, der sich stets selbst bis auf eine letzte Rechtfertigung hin u¨ berschreitet. Und da es sich dabei, anders als in der Sph¨are der Wahrnehmung, nicht um ein direktes Zur¨uckgehen auf Evidenzen handeln kann, sondern zuerst auf die Norm und schließlich auf die Gr¨unde ihrer Setzung, ist hier eine etwas kompliziertere Figur der Ausweisung zu beschreiben, die wir als ,normative Ausweisung’ bezeichnen wollen. Was also mit dem Rechtssinn ausgearbeitet werden soll, ist nichts anderes als diese Struktur der urspr¨unglichen Ausgewiesenheit durch eine Norm als Gem¨aßheit, die in ihrem Fraglich-Werden zum movens einer Kette von Rechtfertigungsfragen wird – und dies allein kraft ihres Sinnes, der sich inhaltlich aus nichts anderem als Gem¨aßheit und Geltung zusammensetzt und gerade durch seine inhaltliche oder qualitative Leerheit zur universalen Geltungsr¨uckfrage wird. Damit soll komplement¨ar zu einer Genesis der beiden Begriffe von Wahrheit im Sinne von ,Evidenz’ und ,Richtigkeit’ (als kritisch u¨ berpr¨ufte Wahrheit)45 eine Genesis der normativen Rechtfertigung in kritischer Hinsicht ausgearbeitet werden. Welche wesenhaften Schritte muss eine solche, durch den Rechtssinn (Gem¨aßheit und Geltung) motivierte, normative ¨ Rechtfertigung durchlaufen und was ist ihr Aquivalent der Evidenz? Wie sieht sie in Hinblick auf die theoretische und praktische Ebene aus? Und was kann in der Hinsicht, wie wir Welt u¨ berhaupt normativ konstituieren und rechtfertigen, von einer solchen Struktur ph¨anomenologisch ausgesagt werden? Die transzendentale Ph¨anomenologie sieht das Subjekt nicht in einer objektiv bereits vorhandenen Welt wie die Psychologie, sondern begreift ,Welt’ als Gesamtheit der Sinnkonstitutionen einer geschichtlichen Intersubjektivit¨at : 45
Vgl. Hua XVII, 132 bzw. Hua XIX/2, 645–657. Genauere Ausf¨uhrungen zu Wahrheit und Richtigkeit vgl. Kapitel III.A.
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,,Diese intentionalen Implikationen und damit die Geschichte der Welt selbst enth¨ullen, in der sich das Subjekt der Psychologie bereits als einer fertigen findet, besagt also auch R¨uckgang auf Subjektives, durch dessen intentionales Leisten die Welt diese Gestalt gewonnen hat. [. . .] So ist die R¨uckfrage auf die urspr¨unglichsten Evidenzen auch eine subjektive, aber auch ein Subjektives in einem radikaleren Sinne, als das die Psychologie jemals sein kann. Es ist ein Abbau all dessen, was an Sinnesniederschl¨agen bereits vorliegt in der Welt unserer gegenw¨artigen Erfahrung, ein Zur¨uckfragen von diesen Sinnesniederschl¨agen auf die subjektiven Quellen, aus denen sie geworden sind, und damit auf eine leistende Subjektivit¨at, die nicht diejenige des Subjektes ist, das psychologisch sich besinnend sich bereits dieser fertig gewordenen Welt gegen¨uber sieht.“ (EU 47)
Auch im normativen Bereich sind diese Leistungen eindeutig zu benennen bzw. die Struktur zu enth¨ullen, die vern¨unftiges Rechtfertigen von Normensetzungen erm¨oglichen soll. Diese Struktur soll in den n¨achsten beiden Abschnitten (III. und IV.) in theoretischer und praktischer Einstellung als Legitimationskategorie zur Ausf¨uhrung kommen, d. h., wir werden der Bewegung der Rechtfertigungsfrage in beide Richtungen nachgehen und auch die Gr¨unde f¨ur die Setzung von Normen betrachten. Damit soll eine Genesis der normativen vern¨unftigen Rechtfertigung entworfen und der Rechtssinn als durchgehend motivierende Kraft und Ziel dieses Prozesses beschrieben werden. Stellt sich der Rechtssinn nicht (in schlichter Gewissheit) ein, bleibt er als intentional intendierter doch stets pr¨asent und verursacht dadurch ein Unbehagen, bzw. ein Streben, in die Einheit des ausgewiesenen, normgerechten Urteils zur¨uckzukommen. Insofern motiviert er als nicht erf¨ullter direkt die Rechtfertigungsfrage und zeichnet sich als Ziel dieses Prozesses ab. 5. Zusammenfassung und Ausblick In der noetisch-noematischen Analyse zeigte sich der Rechtsakt als ein Akt der Gem¨aßheitsfeststellung und Geltungs¨ubertragung. Korrelativ dazu dr¨uckt der Rechtssinn die Gem¨aßheit des Beurteilten an der Norm aus und gleichzeitig, dass diese Norm gilt. Der Rechtsakt geh¨ort zur Gattung der normierenden Akte. Das sind Akte bzw. Urteile, in denen eine Norm in der Beurteilung zur Anwendung kommt. Die normativen Sinne, die diesen normierenden Akten korrelieren, lassen sich in drei verschiedene Arten einteilen, deren Aufbau gem¨aß ihren Eigenschaften stufenf¨ormig ist. An oberster Stelle ste-
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hen die normativen Sinne mit eigener inhaltlicher Qualit¨at (,gut’, ,sch¨on’ etc.), an zweiter Stelle der Rechtssinn und an dritter Stelle der Regelsinn. W¨ahrend die Struktur der Gem¨aßheit allen drei Arten zukommt, kommt das Merkmal der Geltung nur den ersten beiden Arten, das der inhaltlichen Bestimmtheit u¨ berhaupt nur der ersten Art zu. Der Rechtssinn grenzt sich also ,nach oben’ gegen die normativen Sinne mit inhaltlicher Bestimmtheit dadurch ab, dass er qualitativ nichts u¨ ber die Gem¨aßheit an und Geltung der Norm hinaus ausdr¨uckt. ,Nach unten’ hin, gegen den Regelsinn, grenzt er sich dadurch ab, dass er nicht wie dieser auf einem Urteil beruht, das anhand einer Norm vollzogen wird, deren Geltung willk¨urlich gesetzt und daher beliebig ist. Die spezifische Differenz des Rechtssinns ist also seine inhaltliche Offenheit u¨ ber die Gem¨aßheit hinaus und gleichzeitig sein absoluter Geltungsanspruch. Gerade diese spezielle Sinnstruktur stellt den Nukleus einer Genesis des normativen Geltungsproblems dar, da sie sozusagen die ,normative Urdoxa’ bildet, von deren Boden aus Zweifel und Frage ihre Rechtfertigungen fordern. Einmal als Urstiftung gewonnen, strahlt der intentional antizipierte Rechtssinn gleich der Forderung einer regulativen Idee auf s¨amtliche Normen zur¨uck und fordert ihre absolute, kritisch gepr¨ufte Geltung.46 Auf diese Weise l¨ost der Rechtssinn die Rechtfertigungsfrage im normativen Bereich aus und treibt sie als u¨ bergreifender Sinn zur¨uck bis an die Setzung der Grundnorm. Diese R¨uckwirkung der Geltungs¨ubertragung, die im urspr¨unglichen Rechtsakt stattgefunden hat, ist die motivierende Grundkraft der Rechtfertigungsfrage, bis an den Punkt, wo ihr statt einer weiteren Norm der ,reine An-spruch’ entgegensteht. Der Rechtsakt wurde nach logischen und ph¨anomenologischen Kriterien bestimmt und sein Aufbau mitsamt den Varianten, verschiedenen Vollzugsm¨oglichkeiten, generellen Ausrichtungen und dynamischen Modalisierungen beschrieben. Die Transformierung im Rechtsakt, wodurch sich der Sinnniederschlag im noematischen Korrelat ,Rechtssinn’ ergibt, wurde als Gem¨aßheitsfeststellung und Geltungs¨ubertragung dargestellt. Genetisch betrachtet l¨ost sich der Rechtssinn nach seiner Urstiftung von diesem konkreten Urteil ab, gleich einem Verstandesge46
Weder die inhaltlich bestimmten normativen Sinne k¨onnen das (weil ihre qualitative Bestimmtheit eine allgemeine Geltungsr¨uckfrage verhindert), noch der Regelsinn, da ihm die Geltungskomponente u¨ berhaupt abgeht.
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genstand, der sich von seiner vorpr¨adikativen Unterschicht abtrennt. Auf diese Weise wird der Rechtssinn zum st¨andig frei verf¨ugbaren normativen Grundbegriff (so wie die Verstandesgegenst¨andlichkeiten zu logischen Grundbegriffen werden). Von hier aus muss nun u¨ ber die Modalisierungen eine Genesis der normativen Ausweisung und Rechtfertigung in theoretischer und praktischer Einstellung aufgezeigt werden.
KAPITEL III
¨ DIE RECHTSPRADIKATION DER THEORETISCHEN VERNUNFT. EINE GENETISCHE ANALYSE
Einleitung ¨ Der Ausgang unserer Uberlegungen ist die Beobachtung, dass die Erfahrung von ,Welt’ wesenhaft durch das urteilende Zu- und Absprechen von Recht mitkonstituiert wird. In diesem Zusammenhang wird eine transzendentale Ursprungskl¨arung ,rechtlichen Denkens’ u¨ berhaupt angestrebt. Damit ist ein großer Bereich umspannt: Rechtliches Denken bedeutet Denken in ausweisenden Strukturen, die Recht begr¨unden k¨onnen; es bedeutet Urteilen anhand und Setzen von Normen, durch welche Recht konstituiert wird; es bedeutet kritisches Rechtfertigen und Begr¨unden im Lichte der Idee einer absoluten Berechtigung, welche ausgewiesen werden soll. Alle diese und noch mehr Komponenten schließen sich zusammen zu einer grundlegenden Struktur des Denkens und Erkennens, die in diesem stets unthematisch fungiert. Es muss deshalb von einem transzendentalen Verm¨ogen die Rede sein, welches Erkenntnisfindung in einer ,Rechtsform’ erm¨oglicht. Bisher wurde versucht, den Rechtssinn als ein Ph¨anomen aufzuweisen, das dem rechtlichen Denken entspringt und die Grundfigur oder den Ursinn von rechtlichen Gebilden darstellt. Korrelativ dazu wurde der Rechtsakt bzw. die normative Deutung als verborgenes intentionales Leisten thematisiert. Auf diesem Weg sollte mit Hilfe der transzendentalph¨anomenologischen Methode Husserls die M¨oglichkeit er¨offnet werden, das rechtliche Denken an seine subjektive Ursprungsquelle zur¨uckzuf¨uhren und innerhalb des Feldes des reduzierten Bewusstseins genau die Akte zu untersuchen, die das Ger¨ust einer ausweisenden Vernunft konstituieren. These dieser Arbeit ist, dass unser gesamtes Bewusstseinsleben von dieser rechtlichen Struktur durchherrscht ist und dass wir uns selbst weder in unseren Erkenntnisintentionen noch in unseren praktischen Intentionen voll verstehen k¨onnen, wenn wir nicht auf den 61
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transzendentalen Grund dieser universalen Vernunftstruktur zur¨uckgehen. Das bedeutet, dass wir auf den Evidenzstil der Urteile u¨ ber den Rechtssinn verwiesen sind und die Funktion dieses Ausweisungsstiles verstehen m¨ussen. Husserl hat mit Nachdruck auf diese Probleme hingewiesen und sowohl in der Noetik als der ,,Rechtslehre der Erkenntnis“ (Hua XXIV, 116 ff.) als auch seiner Genealogie der Logik methodisch den Weg vorgezeigt. Wir schlagen diesen Weg ein und konzentrieren uns dabei explizit auf den Blickwinkel der sich st¨andig im Vollzug befindlichen rechtfertigenden Struktur selbst. Dadurch ergibt sich ¨ eine Anderung der Denkrichtung47 in Bezug auf ,,das subjektiv gerichtete Methodenproblem“ (Hua XVII, 195), n¨amlich auf die notwendigen Bedingungen dieser methodischen Vorgehensweise selbst, die nicht nur die Selbstgebung als grundlegende Funktion im Bewusstseinszusammenhang erkennt, sondern diese auch mit normativen Funktionen umkleidet, um sie theoretisch in einem Erkenntniszusammenhang festzuhalten. Husserl hat dieses Problem in der Thematik der methodisch-philosophischen Rechtfertigungsfrage reflektiert. In der Vorlesung u¨ ber Noetik, Erkenntnistheorie und Ph¨anomenologie von 1906/07 (Hua XXIV) macht er deutlich, dass s¨amtliche Wissenschaften (inklusive der Logik) st¨andig auf subjektive Rechtsquellen rekurrieren, diese aber nicht thematisch machen: ,,Objektive Theorie bedarf der subjektiven Rechtsquellen, erforscht sie aber nicht.“ (Hua XXIV, 122) Eine ph¨anomenologische ,,Rechtswissen¨ Die ,Anderung der Denkrichtung’ ist ein wesentliches methodisches Merkmal der Ph¨anomenologie. Dabei wird der rein gegenstandsbezogene Blick auf den Akt gelenkt, der diesem Gegenstand korreliert und ihn konstituiert. In der Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie f¨uhrt Husserl die ph¨anomenologische Hinwendung zum Akt f¨ur das Problemfeld der ,subjektiven Rechtsquellen’ durch. Zwar bedienen sich die Logik und andere Wissenschaften dieser subjektiven Rechtsquellen in ihren S¨atzen, reflektieren sie aber nicht eigens. ,,Fragt man nach dem Recht, gerade solche Aussages¨atze zu behaupten und sie so aufeinander zu gr¨unden, so a¨ndert man die Denkrichtung. Man wird nun hingewiesen auf die apodiktische Evidenz, auf jene einsichtige Notwendigkeit, die unsere Axiome unmittelbar rechtfertigt [. . .], oder man wird, wo es sich um empirische Forschungsgebiete handelt, hingewiesen auf subjektive Akte, die Tatsachenaussagen als empirische Gewißheiten, als Vermutungen rechtfertigen.“ (Hua XXIV, 123) In der ¨ vorliegenden Arbeit soll die ,Anderung der Denkrichtung’ in Hinblick auf den Vollzug der Rechtsstrukturen so weit gehen, dass diese als das (rechtliche) Ausweisungssystem schlechthin konstituierend sichtbar werden. Dies schließt eine weitere Reflexion u¨ ber das ph¨anomenologische Vorgehen selbst mit ein.
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die rechtspr¨adikation der theoretischen vernunft
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schaft der Erkenntnis“ (Hua XXIV, 132) ist dementsprechend gefordert, was unmittelbar auf die Evidenzproblematik und die mit ihr verbundene Rechtspr¨adikation f¨uhrt. Husserl stellt die Weichen f¨ur eine Noetik als ph¨anomenologische Rechtslehre der Erkenntnis und bringt sie hinsichtlich der verschiedenen Typen von Evidenz und ihren korrelativen Erf¨ullungsverh¨altnissen auch zur Ausf¨uhrung. In einem weiteren Schritt, zum vollst¨andigen Ausbau dieser ,Rechtslehre’, m¨usste aber noch die genetische Frage nach dem Ursprung und Aufbau dieses Ausweisungssystems selbst gestellt werden. Die Form der ,Rechtlichkeit’, durch die Rechtscharakter erst zugesprochen werden kann, muss selbst noch einmal ph¨anomenologisch befragt werden. Wenn wir hier weiterdenken, dann erschließt sich das ansonsten unthematisierte ,rechtliche Fungieren’ als unverzichtbares subjektives48 Korrelat zur philosophischen Wahrheitsproblematik inklusive der Motivationen des kritischen Fragens, die Wahrheit anzustreben. Dieser a priori normierende Zugriff ist nicht gleichzusetzen mit der normativen Funktion, die Erkenntnissen nach geleisteter theoretischer Arbeit zukommt, wie dies z. B. bei der Logik der Fall ist:
,,[U]niversale Norm im h¨ochsten Sinne und in denkbar gr¨oßter Universalit¨at ist allein die Logik. Sie normiert aus den Prinzipien der reinen Vernunft selbst und normiert die Vern¨unftigkeit als solche. An ihren formalen Erkenntnissen ist zu messen, inwieweit pr¨atendierte Wissenschaft der Idee der echten Wissenschaft gem¨aß ist, inwieweit ihre Einzelerkenntnisse echte Erkenntnisse, die Methoden echte Methoden sind, also Methoden, die ihrer prinzipiellen Form nach den formal allgemeinen Normen der reinen Vernunft genugtun. [. . .] Aber sie selbst [die Logik] ist an sich nicht normative Disziplin, sondern eben Wissenschaft im pr¨agnanten Sinne, in dem sich auswirkender rein theoretischer Vernunft – wie alle Wissenschaften sonst. Apriorische Wissenschaf48
Die Rechtsfrage ist in der Transzendentalphilosophie eine Frage nach der Subjektivit¨at des Subjekts: ,,Die Urteile u¨ ber das Recht von Urteilen und von Erkenntnissen, von Evidenzen, sind Urteile u¨ ber den Erkennenden, Urteilenden und u¨ ber das, was er dabei urteilt, erkennt. Rechtfertigend rechtfertige ich mein oder irgendjemandes Erkennen und rechtfertige mich (oder ihn) als Erkennenden, die Erkenntnis (das Erkannte) als mein Erkanntes. In kommunikativer Rechtfertigung rechtfertigen wir ebenso unser Erkennen, Erkanntes als von uns Erkanntes und uns selbst als miteinander gemeinsam Erkennende.“ (Husserl, Ms. A I 24, 7a) Hier k¨undigt sich auch schon ein intersubjektiver rechtfertigender Erkenntnismodus an. Vgl. Kap. IV.1.
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ten, sagten wir, fungieren eo ipso best¨andig normativ-technologisch, aber sie sind darum Wissenschaften und nicht Technologien.“ (Hua XVII, 35)
Das normative Operieren der Logik ist das eines als wahr erkannten Maßstabs, der alle Erkenntnisse unter seine Normen bringt. Dies ist zus¨atzlich zur ,theoretischen Wahrheit’ eine nachtr¨aglich hinzukommende normative Bedeutung, die bereits ,technologische’ Aspekte hat. Husserl war es in diesem Sinn immer wichtig, den theoretischen Ursprung der Logik zu betonen. Was hier aber herausgearbeitet werden soll, ist ein normierendes Element im Vollzug des Theoretisierens, d. h. ein wesentliches Element in der Wahrheitssuche und im Vollzug des Erkennens selbst. Denn Methode ist nichts anderes als das Setzen einer Norm des Erkennens, mithilfe derer die Rechtm¨aßigkeit der Erkenntnisse ausfindig und u¨ berpr¨ufbar gemacht werden soll. Mit der Festlegung, dass Evidenz und korrelativ Selbstgebung ein absolutes Recht im Erkenntniszusammenhang besitzen, gibt sich die Ph¨anomenologie selbst eine Norm, eine ,Verfassung’ auf Wahrheit hin und richtet und urteilt danach. Mit der Evidenz und ihrer Anerkennung entsteht gleichzeitig ihr Rechtssinn. Und dieser setzt sich in jeder Frage intentional antizipierend oder auch kritisch fort. Das bedeutet, dass jede Vermeintheit teleologisch auf ihren Rechtssinn hinstrebt und in der kritischen Reflexion diesen Rechtssinn in unendlich m¨oglichen Iterationen ausweisen muss. Wenn man Philosophie so als ein Stellen von Rechtsfragen beschreiben kann, dann muss auch ausgelegt werden, in welcher Weise Wahrheit als Recht und Norm gebend verstanden wird. Vollzieht man diesen Blickwechsel, dann stellt sich die Frage, wie ein Erkennen strukturiert ist, das die Rechtm¨aßigkeit als Norm methodisch an den Anfang stellt und sich von da aus der Wahrheit anzumessen versucht, also ein Maß voraussetzt, zu dem die Erf¨ullung der Rechtsfrage hinf¨uhren soll. Mag dies auch, wie Husserl sagt, theoretisch ¨ vor sich gehen, so konstituieren sich diese theoretischen Uberlegungen doch im Rahmen der Idee einer letzten Norm und eines absoluten Rechtes, das nicht mehr gesetzt sein soll, sondern mit der Vernunft (oder der Sache) selbst zusammenf¨allt (so ja auch der Gedanke des Vernunftrechts). Dieser Vollzug des Erkenntnisprozesses in einem ,rechtlichen Rahmen’ ist m. E. ein wichtiger Hinweis darauf, dass wir uns immer schon in einem rechtlich gepr¨agten Vorverst¨andnis befinden, also Sein und Wahrheit immer
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schon auf Rechtm¨aßigkeit hin vorverstanden haben. Dies w¨are demnach auch der prim¨are Charakter der Vernunft, das Erkennen (und nicht nur dieses!) rechtlich zu vollziehen. Es wird von der Dynamik des Rechtssinns her zu zeigen sein, dass ein solches Denken ohne den Begriff der Selbstverantwortung nicht auskommt. Seine Bedeutung soll im Zusammenhang mit einer a¨ußersten Normsetzung herausgearbeitet werden. Dazu eignet sich am besten die ph¨anomenologische Methode selbst, die idealerweise Nicht-Norm sein m¨ochte, indem sie das ,Recht’ der Evidenz ,selbst’ sprechen l¨asst. Damit gibt sie sich aber der Fiktion einer ultimativen, normlosen Rechtm¨aßigkeit hin, anstatt der Intentionalit¨at Rechnung zu tragen, die genau diese Rechtsfrage stets schon in alle Horizonte hineintr¨agt. Der Begriff der Selbstverantwortung ist in dieser radikalen Herangehensweise nicht umsonst notwendig auf ein H¨ochstmaß gebracht, da genau durch ihn absolute Transparenz gew¨ahrleistet sein soll. Dank dieser Transparenz kann Recht nicht mehr aus irgendeiner anderen Setzung abgeleitet werden, sondern muss durch die ,Sache selbst’ garantiert sein. Recht ist aber nicht etwas, was sich zeigt, sondern etwas, wor¨uber anhand einer Norm geurteilt wird. Insofern ist eine minimalste Setzung ,nach bestem Wissen und Gewissen’ notwendig, und diese soll als Leistung einer bestimmten Intentionalit¨at enth¨ullt werden. Diese ,rechtliche’ Intentionalit¨at hat ihren eigenen Ausweisungsstil. Dar¨uber hinaus verkn¨upft sie Urteile in einem normativ bzw. rechtlich gestrickten Verweisungszusammenhang, der teleologisch vorausweist auf die n¨achste Erkenntnis und die n¨achste Erkenntniskritik. Was Husserl also nur als eine Anwendung des theoretisch Erreichten im nachtr¨aglich normativen Fungieren sieht, soll hier als wesentlicher Bestandteil und als Dynamik des Erkenntnisprozesses selbst thematisiert werden. Es geht darum, die Normen sch¨opfende Seite des Wahrheits- und Geltungsproblems zu beleuchten – nicht nur der theoretische, objektbezogene Charakter des Aufsuchens von Wahrheiten und Evidenzen soll befragt werden, sondern die ihm korrespondierende normierend-ausweisende Intentionalit¨at. Bisher wurde mit dem Rechtssinn das Ph¨anomen bezeichnet, das als noematisches Korrelat einem allgemein verstandenen rechtlichen Denken entspricht. Neben dieser einfachen, statischen Funktion zeigte sich auch
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die dynamische49 Komponente im Rechtssinn durch die Modalisierungen. Nun gilt es, mit der herausgearbeiteten Struktur in die Zusammenh¨ange einzusteigen, die wir vorher kurz als ,theoretisch’ und ,praktisch’ bezeichnet haben. Zuerst soll die Dimension des Rechtssinns f¨ur das Erkennen betrachtet werden. Damit muss es auch, wie oben angedeutet, zu einer Reflexion auf die ph¨anomenologische Methode selbst kommen. Die theoretische Einstellung, die Husserl in ihrem Anliegen und Vorgehen so genau charakterisiert, wird im Folgenden besonders von der Komponente der sie begleitenden rechtlichen Intentionalit¨at her thematisiert: Dies wird auf Probleme ihres Evidenzstiles und ihrer Genesis f¨uhren, sowie auf ihre Rolle im theoretisch-methodischen Zusammenhang. Hus¨ serl weist selbst des Ofteren auf die Problematik hin50 , was es bedeutet, 49
Auch Husserl verwendet in der VI. Logischen Untersuchung den Begriff der ,Dynamik’ im Gegensatz zur ,Statik’, und zwar in Bezug auf das Erf¨ullungs- und Identit¨atsbewusstsein. Es finden sich dabei Parallelen zur intentionalen/signitiven Struktur des Rechtssinns, die sich noch unerf¨ullt auf die Norm richtet und dadurch den Rechtfertigungsvorgang in Gang bringt. Bei Husserl ist dies allgemeiner in Bezug auf jegliche signitive Intention und ihre Deckung mit erf¨ullter Anschauung ausgef¨uhrt. Er unterscheidet zwischen ,ruhender Deckung’ (die dem erf¨ullten Rechtssinn entspricht) und ,Erf¨ullung’ (die der Dynamik des Rechtssinns entspricht). ,,Das Charakteristische dieser Erkenntnis einheit macht uns nun das dynamische Verh¨altnis klar. Zun¨achst ist dabei die Bedeutungsintention, und zwar f¨ur sich gegeben; dann erst tritt entsprechende Anschauung hinzu. Zugleich stellt sich die ph¨anomenologische Einheit her, die sich jetzt als Erf¨ullungsbewußtsein bekundet.“ (Hua XIX/2, 567) Und weiter: ,,Im dynamischen Verh¨altnis sind die Verh¨altnisglieder und der sie beziehende Erkenntnisakt zeitlich auseinandergezogen, sie entfalten sich in einer Zeitgestalt. Im statischen Verh¨altnis, das als bleibendes Ergebnis dieses zeitlichen Vorganges dasteht, sind sie in zeitlicher und sachlicher Deckung. Dort haben wir im ersten Schritte das ,bloße Denken’ (= den bloßen ,Begriff ’ = die bloße Signifikation) als schlechthin unbefriedigte Bedeutungsintention, die sich im zweiten Schritte mehr oder minder angemessene Erf¨ullung zueignet; die Gedanken ruhen gleichsam befriedigt in der Anschauung des Gedachten, das sich eben verm¨oge dieses Einheitsbewußtseins als das Gedachte dieses Gedankens, als das in ihm Gemeinte, als das mehr oder minder vollkommen erreichte Denkziel ank¨undigt. In dem statischen Verh¨altnis andererseits haben wir dieses Einheitsbewußtsein allein, eventuell ohne daß ein merklich abgegrenztes Stadium unerf¨ullter Intention vorangegangen w¨are. Die Erf¨ullung der Intention ist hier nicht ein Vorgang des sich Erf¨ullens, sondern ein ruhendes Erf¨ulltsein, nicht ein sich Decken, sondern das in Deckung-Sein.“ (Hua XIX/2, 567 f.) 50 Vgl. eine Auswahl von Textstellen: Hua III/1, 45, 51; Hua V, 153; Hua VII, 12, 14 f.; Hua VIII, 5 f., 32, 36 f.
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eine Grundnorm im philosophisch-wissenschaftlichen Denken setzen zu m¨ussen. Dabei stellt er auch die Frage, wie dies mit der geforderten ,Voraussetzungslosigkeit’ zu vereinbaren sei. Der Einstieg in das theoretische Feld ist deshalb vor allem einer mit Husserl und wird die ph¨anomenologische Methodendiskussion vom Rechtssinn her zu lesen versuchen. Damit soll diese spezielle Struktur der Rechtfertigung im theoretischen Bereich selbst ph¨anomenologisch aufgewiesen werden und gleichzeitig die M¨oglichkeit er¨offnet werden, in einer neuen Deutung von ph¨anomenologischen Grundbegriffen dem Verh¨altnis bzw. der Schwelle von Setzung und Gebung n¨aher zu kommen. Zuerst m¨ussen aber die Grundlagen der theoretischen Einstellung n¨aher betrachtet werden. Dabei werden wir (1.) auf den Begriff der Richtigkeit stoßen, der sich als strukturell enger Verwandter des Rechtssinns zeigen wird; die Unterschiede und Gemeinsamkeiten werden aufzuzeigen sein und uns direkt zum n¨achsten Bereich f¨uhren: den normativen Strukturen in der theoretischen Einstellung (2.), der Notwendigkeit einer Normsetzung und dem Zusammenhang mit dem Rechtssinn. Das Aufbrechen der Rechtsfrage soll im Folgenden durch die Infragestellung der Setzung als Setzung verfolgt werden. Gleichzeitig soll damit auf die Genesis des Rechtssinns aus dem Urmodus der Urdoxa hingewiesen werden; denn hier ist er als Pr¨atention in unaktualisierter Form vorweggenommen. An diese genetische Fragestellung schließt eine teleologische (3.) an: Wodurch und wie wird ein Rechtsgrund der Erkenntnis gesetzt und auf welche Weise ist das Erkennen immer schon in rechtliche Strukturen eingelassen? Von hier aus kann dann die Frage nach der Rechtfertigung gestellt werden, die mit der im vorigen Kapitel ausgearbeiteten Struktur des u¨ berschreitenden Rechtssinns angedacht werden soll. Schließlich zeigt sich (4.), dass es sich bei den spontan erzeugten rechtlichen Strukturen um die Bewegung der Vernunft selbst handelt. Dieses Verm¨ogen des Begreifens in rechtlichen Strukturen m¨ochten wir als Legitimationskategorie beschreiben. Die Herausarbeitung dieser transzendentalen Formgebung als einer spezifischen intentionalen Leistung verlangt nun noch (gem¨aß Husserls Weg in Erfahrung und Urteil ) nach dem R¨uckgang auf die passive Vorgegebenheit, der sie spontan antwortet. Dabei soll der motivierte R¨uckgang auf die Rechtfertigung einer letzten Norm qua Grundnorm zu der Schwellensituation f¨uhren, wo eine Rechtfertigung (als Recht-Anfertigung durch Ausweisung an einer h¨oheren Norm) nicht mehr m¨oglich ist, sondern einer vollen Gebung gegen¨uber eine Setzung zu verantworten ist.
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A. Richtigkeit 1. Der Begriff der Richtigkeit und die (erkenntnis-)kritische Einstellung In unseren allt¨aglichen Urteilen sind wir nur gelegentlich in Erkenntniseinstellung. Gew¨ohnlich urteilen wir ,,naiv-geradehin“ (Hua XVII, 126) und befragen diese Urteile nicht systematisch auf ihre Richtigkeit. Dies ist meistens nur dann der Fall, wenn es zu Modalisierungen des Zweifels, der Fraglichkeit, M¨oglichkeit oder Negation kommt und wir dadurch konkret motiviert werden, in unserem Urteil zu einsichtiger Gewissheit zu gelangen. Der Gegenstand des Urteils h¨alt sich dabei als ein und derselbe in den Modalisierungen durch und wird entweder weiterhin in Seinsgeltung gehalten oder bei Negation durchgestrichen und ein Anderes in Geltung gesetzt. Diese allt¨agliche Einstellung des ,nat¨urlichen’ Urteilens kann aber auch bewusst zu einer kritischen Einstellung gewandelt werden. Husserl nennt dies die ,,Einstellung des Wissenschaftlers“, der ,,in berufsm¨aßiger Konsequenz im ,theoretischen Interesse’“ (Hua XVII, 129) lebt und dessen Urteilen u¨ berall von Erkenntnisintentionen durchherrscht ist: ,,Sein Gebiet im strengen (einem freilich idealen) Sinne erkennen, heißt f¨ur den Wissenschaftler nichts anderes, als keine anderen Urteile als wissenschaftliche Ergebnisse gelten lassen denn solche, die durch Ad¨aquation an die Sachen selbst ihre ,Richtigkeit’, ihre ,Wahrheit’ ausgewiesen haben und die in dieser Richtigkeit jederzeit wieder urspr¨unglich herstellbar sind, d. h. durch Wiederverwirklichung der Ad¨aquation.“ (Hua XVII, 129 f.)
In der Einstellung des erkennen Wollenden scheiden sich vermeinte und wirkliche Gegenst¨ande, die in selbstgebenden Urteilen erwachsen. Bloßes Urteilen heißt ,,immerzu etwas glauben, etwas als seiend ,vor sich haben’, ob nun anschaulich oder unanschaulich. Nur ein anderes Wort ist: es in Seinsgeltung haben.“ (Hua XVII, 126) Dieses urspr¨ungliche InSeinsgeltung-Haben hat den Charakter einer naiven Evidenz. Erst in der kritischen R¨uckfrage ist die Ausweisung der Evidenz gefordert, wodurch sie zur reflektierten oder kritischen Evidenz wird. Diese Unterscheidung von naiver Gewissheit und kritisch gepr¨ufter Erf¨ullung der Intention taucht bei Husserl nicht nur im Evidenzbegriff, sondern auch im Vernunftbegriff auf, wie wir sp¨ater sehen werden. Wichtig ist f¨ur uns der
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Erkenntnisprozess, der zwischen diesen beiden Anfangs- und Endmodi liegt, und die rechtlichen Strukturen, mit denen er umkleidet wird. Kommt man also, Schritt f¨ur Schritt, Gebilde f¨ur Gebilde, zu einem selbstgebenden Urteil, so muss sich dieses im Fortgang der Erkenntnis auch bew¨ahren, d. h. immer wieder u¨ berpr¨ufen lassen. Diese reflektierte Strategie wird geleitet von der Frage51 nach der Richtigkeit: Denn der Wissenschaftler nimmt alle seine Urteile nur als vorl¨aufige, durch ihre Vermeintheit geht st¨andig eine Erkenntnisintention durch, die auf die Selbstgegebenheit oder Evidenz der Gegenst¨ande abzielt. Dar¨uber hinaus weiß der sich in Erkenntniseinstellung Befindliche, dass Evidenz nicht nur eine Frage der Gradualit¨at ist, sondern dass sie auch t¨auschende sein kann; deshalb unterscheidet er noch zus¨atzlich zwischen echter und vermeinter Evidenz. ,,Das bewirkt ein besonderes urteilendes Verhalten des Wissenschaftlers, ein Urteilen sozusagen im Zickzack, ein zun¨achst geradehin auf Selbstgebung lossteuerndes, aber dann in der Weise der Kritik auf die schon gewonnenen vorl¨aufigen Ergebnisse zur¨uckgehendes, wobei aber die Kritik selbst wieder in Kritik genommen werden muß, und aus gleichen Gr¨unden. Den Wissenschaftler leitet also die Idee einer auf dem Wege der Kritik erreichbaren vollkommenen oder in systematischen Stufen zu vervollkommnenden Evidenz mit dem Korrelat eines erzielbaren oder approximierbaren wahrhaften Seins (eine ¨ nicht Sache der positiven WisIdee, deren Sinn und Grenzen zu erforschen im Ubrigen senschaften ist).“ (Hua XVII, 130)
Es zeigt sich also ein Fortschritt gegen¨uber der naiv-geradehin urteilenden Einstellung, d. h., es fungiert in jedem Urteilen eine ,wissenschaftliche Intentionalit¨at’ mit, die auf volle Ausweisung des Erkenntnisgegenstandes hin angelegt und von einer bestimmten Idee geleitet ist. Diese kritische Einstellung ist nie abgeschlossen, sondern eine best¨andig mitge51
Das Fragen gilt bei Husserl als Streben nach einer Urteilsentscheidung. Das Ph¨anomen des Fragens hat (ebenso wie das Ph¨anomen des Zweifelns) seinen Ursprung im Bereich der modalisierten Gewissheit und ist urspr¨unglich motiviert in Vorkommnissen der passiven Sph¨are. Die Welt tut sich also von sich selbst her als fragliche, befragbare auf. Husserl charakterisiert dieses ,Aufkommen’ oder ,Aufbrechen’ einer Frage als eine Spannung, die zu einer Ichspaltung im aktiven Zweifel f¨uhrt. ,,Diese Spaltung f¨uhrt auf Grund des wesensm¨aßigen Strebens des Ich nach Einstimmigkeit seiner Stellungnahmen unmittelbar ein Unbehagen mit sich und einen urspr¨unglichen Trieb dar¨uber hinauszukommen in den Normalzustand der Einigkeit.“ (EU 372) In diesem Streben nach Einigkeit, das sich vor allem in der Frage ausdr¨uckt, liegt schon ein passiver Vernunfttrieb.
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hende Erkenntniskritik, die stets Intention auf Bew¨ahrung und WiederBew¨ahrung ist. Die Reflexion auf das Geurteilte hat dieses als ,Sinn’ oder ,Bedeutung’ im Auge: ,,Nach der Bedeutung oder dem Sinn einer Aussage fragen und ihn sich deutlich machen ist offenbar nichts anderes als von der geraden aussagend-urteilenden Einstellung, in der wir nur die betreffenden Gegenst¨ande ,haben’, u¨ bergehen in die reflektierte, in die Einstellung, in der die entsprechenden Gegenstandsmeinungen, Sachverhaltsmeinungen zur Erfassung oder Setzung kommen. Somit k¨onnen wir diese Region auch als die der Sinne bezeichnen.“ (Hua XVII, 138) Was in unserem Zusammenhang besonders von Interesse ist, ist die Struktur der ,Erkenntnisintention’. Diese reicht vom vermeinten Urteil bis zur Evidenz und bestimmt ihren Ausweisungsstil. Die Erkenntnisintention ist als Typus schon in der naiv-geradehin urteilenden Einstellung angelegt. Sie korrespondiert bzw. korreliert dem Ph¨anomen, das ,,von der unklaren Gegebenheitsweise, ihrer Verweisung als intentionaler Modifikation folgend, gegen das Klare hinstrebt“ (Hua XVII, 316). Das heißt, es ist in der unklaren Gegebenheitsweise ein Weg auf Klarheit hin vorgezeichnet. Dieser wird in der kritischen Einstellung mit einer weiteren noetisch-noematischen Struktur umkleidet, die den Weg auf Klarheit hin als solchen begreift und daher im Vollzug der Ad¨aquation den Begriff oder Sinn der Richtigkeit hervorbringt. Was im nat¨urlichen Dahinurteilen ein ,,Bed¨urfnis der Bew¨ahrung“ (Hua XVII, 127) ist, welches das Vermeinte (in der gelingenden Bew¨ahrung) durch die F¨ulle der Evidenz bloß erg¨anzt, wird in der wissenschaftlichen Einstellung ein komplexer Vorgang: Das Vermeinte wird w¨ahrend des Bew¨ahrungsvollzugs nicht in Geltung gehalten, sondern es wird als Vermeintes einer bewussten Erkenntniskritik unterzogen, d. h., seine inhaltliche Geltung wird in Frage gestellt. Nur so kann der Sinn der Richtigkeit u¨ berhaupt entspringen. Denn durch die Frage erw¨achst erst die M¨oglichkeit, dass es auch anders sein k¨onnte, das Urteil z. B. nicht gelten k¨onnte. (Genau diese M¨oglichkeit wird im nat¨urlichen Urteil nicht bewusst vollzogen, sie ist nur passiv vorgezeichnet durch eventuelle Modalisierungen.) Der Begriff der Richtigkeit ist seinem Sinn nach also von der fragenden, kritischen Einstellung her zu verstehen. Diese Einstellung k¨onnen wir genetisch wiederum auf die Modalisierungen im nat¨urlichen Urteilen zur¨uckf¨uhren: Das bewusste habituelle Einnehmen einer kritischen Haltung wird motiviert durch entt¨auschte Bew¨ahrungen in der nat¨urlichen Erfahrung. Damit w¨are – neben der Richtigkeit – auch die erste
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Variante einer Genesis des Rechtssinns vorgezeichnet.52 Betrachten wir aber zuerst die Richtigkeitsausweisung in ihrer urspr¨unglichsten Form in der kritischen Einstellung, um die genetische Ursprungsfrage nach dem Sinn der Richtigkeit kl¨aren zu k¨onnen. Zuerst ist festzustellen, dass das Bestimmungssubstrat eines Richtigkeitsurteils nur selbst ein Urteil sein kann, welches auf seine Richtigkeit hin beurteilt wird. ,,N¨amlich jedes Urteilen kann wesensm¨aßig in ein Urteilen zweiter Stufe verwandelt werden, in dem nicht mehr, was geradehin geurteilt war, also f¨ur den Urteilenden seiende Gegenst¨andlichkeit gesetzt war, gesetzt wird, sondern in einer Reflexion, das Geurteilte als solches.“ (Hua XVII, 137) Es geht also um ein kritisches Verh¨altnis zum ¨ bereits gef¨allten Urteil, um eine Uberpr¨ ufung des Geurteilten, Vermein¨ ten. Um diese Uberpr¨ ufung durchf¨uhren zu k¨onnen, muss auf das sich im Sachverhalt evident Zeigende zur¨uckgegangen und mit dem vorher Geurteilten verglichen werden. Kommt es zur Deckung (Ad¨aquation), so ist das erste Urteil ,richtig’, kommt es nicht zur Deckung, so ist es als ,falsch’ zu beurteilen und wird durchgestrichen. ,,Das Endergebnis der Kritik ist – ideal gesprochen – ,Wahrheit’ bzw. ,Falschheit’. Diese Wahrheit besagt richtiges, kritisch bew¨ahrtes Urteil, bew¨ahrt durch Ad¨aquation an die entsprechenden kategorialen Gegenst¨andlichkeiten ,selbst’, wie sie in der evidenten Selbsthabe, das ist in der erzeugenden Aktivit¨at an den erfahrenen Substraten ,selbst’, ¨ urspr¨unglich gegeben sind. Aus dieser Ad¨aquation, also aus dem erf¨ullenden Ubergang zur Selbsthabe und aus der Reflexion auf die bloße Meinung und ihre Deckung mit der Meinung in der F¨ulle entspringt der Begriff jener Richtigkeit, die den einen, den kritischen Begriff von Wahrheit ausmacht, denjenigen, wonach das Urteil wahr ist – oder falsch ist; oder auch, um nun den u¨ brigen Modalisierungen genugzutun, fraglich, vermutlich usw.“ (Hua XVII, 132)
Der Vorgang oder Vollzug der Richtigkeitsausweisung ist also folgender: Das Vermeinte wird mit dem sich Zeigenden, der ,Sache selbst’ zur Deckung gebracht. Daf¨ur muss man sich die ,Sache selbst’ zur Anschauung bringen, also zu einer erf¨ullten Anschauung und damit auch zu einer 52
Diese ,erste Variante’ der Genesis des Rechtssinns wird den gesamten theoretischen Abschnitt (III.) und auch einen guten Teil der praktisch-ethischen Betrachtung (IV.) in Anspruch nehmen: Es geht dabei um die Genesis aus der Modalisierung, aus dem Zweifel, aus der Fraglichkeit – sie ist eine Genesis aus der Reflexion u¨ ber die Sachen selbst. Die weiterf¨uhrende Frage wird sein, ob dieser Reflexion u¨ ber die Sachen selbst nicht eine Art des Angesprochen-Seins vorgeht, welche uns noch urspr¨unglicher in die Rechtfertigung bringt (IV.5, V.).
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erf¨ullten Meinung u¨ ber den Gegenstand gelangen. Ist diese Evidenz vorhanden, so kann das zuerst Vermeinte daran gemessen werden. Kommt es zu einer Deckung (Ad¨aquation), so entspringt in der Reflexion auf die gelungene Deckung von bloßer Meinung und Meinung in der F¨ulle der Begriff der Richtigkeit; kommt diese Deckung nicht zustande, entspringt in analoger Reflexion der Begriff der Unrichtigkeit bzw. der Falschheit – die Intention auf Bew¨ahrung wird entt¨auscht. Das Geurteilte wird durchgestrichen, ist nicht mehr in Seinsgeltung und wird durch das evidente Urteil ersetzt – dieses muss sich wieder bew¨ahren k¨onnen usf. In diesem Komplex von bereits vorhandenem Urteil als bloß Vermeintem, Intention auf Bew¨ahrung und Ad¨aquation ist das Richtigkeitsurteil genau dieses, welches ¨ in der Reflexion u¨ ber Deckung oder Nicht-Deckung, Ubereinstimmung ¨ oder Nicht-Ubereinstimmung mit der Selbstgebung gef¨allt wird. Aber der eigentliche Sinn der ,Richtig’-keit, das Richtig-Sein stellt sich erst dadurch her, dass das Maß, an dem gemessen wird, das tats¨achlich ,wahre’, ,origin¨are’, ,erf¨ullte’ ist. Husserl sagt selbst, dass ,,hinsichtlich der Richtigkeit [Hervorhebung S.L.]“ (Hua XVII, 133) das Richtigkeitsbewusstsein Evidenz im ersten Sinne, also Evidenz der Selbsthabe ist (Evidenz im zweiten Sinne ist Richtigkeitsevidenz). Denn die Evidenz der Selbsthabe muss die letztentscheidende ,Erf¨ullungsinstanz’ sein, sonst kann sie nicht zur Beurteilung der Richtigkeit dienen. Aus diesem Grund macht der Begriff der Richtigkeit auch (nur) einen von vier Wahrheitsbegriffen aus, die Husserl in der VI. Logischen Untersuchung auseinanderlegt:53 1. Der erste Wahrheitsbegriff betrifft Wahrheit als ,,Korrelat einer deckenden Identifizierung“ (Hua XIX/2, 651), d. h. als Identit¨at im ¨ Sinne der vollen Ubereinstimmung zwischen Gemeintem und Gege¨ benem. ,,Diese Ubereinstimmung wird in der Evidenz erlebt, sofern die Evidenz der aktuelle Vollzug der ad¨aquaten Identifizierung ist.“ (Hua XIX/2, 652) Ein weiterer Akt muss u¨ ber das Erleben in der Evidenz hinaus hinzukommen, damit sich eine aktuelle Wahrneh¨ mung der gegenst¨andlichen Ubereinstimmung ergibt, d. h. damit auf die vorhandene Wahrheit in objektivierender Auffassung hingeblickt 53
Vgl. zu diesem Thema auch Dieter Lohmars Untersuchung u¨ ber Erfahrung und kategoriales Denken (1998), die Husserls Wahrheitsbegriffe im Kontext seiner Theorie der vorpr¨adikativen Erfahrung behandelt (Lohmar 1998, 158 ff.).
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werden kann. Wahrheit ist in diesem ersten Sinn als Identit¨at ein Sachverhalt. 2. Der zweite Wahrheitsbegriff betrifft das ideale Verh¨altnis, das in der Deckung entsteht, d. h. Wahrheit als wesenhaft erfasste Idee, die zur ¨ ¨ allgemeinen Aktform des jeweilig empirisch zufalligen Aktes gehort. 3. Tugendhat bemerkt, dass, w¨ahrend der erste Wahrheitsbegriff ein Verh¨altnis zwischen zwei Gliedern beschreibt, im dritten und vierten Wahrheitsbegriff jeweils eines der beiden Glieder bevorzugt betrachtet wird (Tugendhat 1967, 93). So betrifft der dritte Wahrheitsbegriff das Korrelat des erf¨ullenden Akts, also schlechthin die Sache selbst, ,,den gegebenen Gegenstand in der Weise des gemeinten“ (Hua XIX/2, 652). Dieser ist die F¨ulle selbst, in idealer Hinsicht die ideale F¨ulle des erkenntnism¨aßigen Wesens der Intention. 4. Der vierte Wahrheitsbegriff ist f¨ur uns von besonderem Interesse, da er das Evidenzverh¨altnis vom Standpunkt der Intention auffasst: ,,Endlich vom Standpunkt der Intention ergibt die Auffassung des Evidenzverh¨altnisses die Wahrheit als Richtigkeit der Intention (speziell z. B. Urteilsrichtigkeit), als ihr Ad¨aquatsein an den wahren Gegenstand; bzw. als die Richtigkeit des erkenntnism¨aßigen Wesens der Intention in specie. In letzterer Hinsicht z. B. die Richtigkeit des Urteils im logischen Sinn des Satzes: der Satz ,richtet’ sich nach der Sache selbst; er sagt, so ist es, und es ist wirklich so. Darin ist aber die ideale, also generelle M¨oglichkeit ausgesprochen, daß sich u¨ berhaupt ein Satz solcher Materie im Sinne strengster Ad¨aquation erf¨ullen l¨aßt.“ (Hua XIX/2, 653)
In dem noetisch-noematischen Verh¨altnis von Wahrheit und Evidenz als ,,,Erlebnis’ der Wahrheit“ 54 (Hua XIX/2, 652) ist die Wahrheit als Rich54
George Heffernan hat in einem aufschlussreichen Vortrag (Husserl-Arbeitstage, K¨oln 1999), dessen Manuskript mir freundlicherweise zur Verf¨ugung gestellt wurde, gezeigt, wie Husserls Evidenzauffassung sich im Lauf der Zeit gewandelt und weiterentwickelt hat: W¨ahrend er in den Logischen Untersuchungen Evidenz als ,Erlebnis der Wahrheit’ charakterisiert, spricht der ,sp¨ate’ Husserl bevorzugt von Evidenz als der ,intentionalen Leistung der Selbstgebung’. Husserl erkannte bald, dass seine fr¨uhe Formulierung der Evidenz als ,Erlebnis der Wahrheit’ psychologistische Missverst¨andnisse heraufbeschwor, und entschied sich deshalb f¨ur die Termini ,Selbstgegebenheit’ und ,Leistung der Selbstgebung’, weil sie das aktive, dynamische Ereignis der Evidenz als Leistung des Subjekts hervorhoben und nicht den Verdacht aufkommen ließen, Evidenz sei ein Gef¨uhl. Dar¨uber hinaus trat die Betonung von Apodiktizit¨at und Ad¨aquation bei Husserls sp¨atem Evidenzbegriff immer mehr in den Hintergrund zugunsten einer relativen, inad¨aquaten und zweifelhaften Erkenntnis, die teleologisch in die Unendlichkeit weist. (Vgl. auch Bernet/Kern/Marbach 1996:6. Kapitel: Urteil und Wahrheit.)
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tigkeit der Intention die ,,Eigenschaft der Meinung [. . .], die ihr auf Grund der Identit¨at mit der Sache selbst zukommt [. . .]. Diese Wahrheit als Richtigkeit kann man offenbar auch genauso gut und wohl noch passender noetisch verstehen, als Eigenschaft des entsprechenden signitiven Aktes, und so wird sie auch von Husserl in den Logischen Untersuchungen eingef¨uhrt: der Akt ist ,richtig’, ,wahr’, wenn er sich ,nach der Sache selbst’ ,richtet’.“ (Tugendhat 1967, 93) Wollen wir Wahrheit als Richtigkeit noetisch verstehen, so ist sie die Eigenschaft des signitiven Aktes. Um diese Eigenschaft der Richtigkeit (auf beiden Seiten) aber aktuell wahrzunehmen, ist wie beim ersten Wahrheitsbegriff ein weiterer objektivierender Akt notwendig, der direkt auf den Sinngehalt dieser Richtigkeit hinblickt. Deshalb sagt Husserl sp¨ater in Formale und transzendentale Logik auch eindeutig, dass der Begriff der Richtigkeit ,,aus der Reflexion [Hervorhebung S.L.] auf die bloße Meinung und ihre Deckung mit der Meinung in der F¨ulle entspringt [. . .]“ (Hua XVII, 132). Dies ist im Besonderen beim ,,Richtigkeitsbewußtsein“ (Hua XVII, 133) der Fall, einer Art der Evidenz, die speziell das AngemessenSein des Vermeinten am Gegebenen in den Blick bringt.55 Betrachten wir also ausdr¨ucklich den Begriff der Richtigkeit f¨ur sich, so ersch¨opft er sich nicht in einem statischen, erf¨ullten Wahrheitsbegriff, sondern hat dar¨uber hinaus seine eigene Genesis im Rahmen der Erkenntnisintention. Der Begriff der Richtigkeit f¨allt nicht als solcher mit dem Wahrheitsbegriff zusammen, sondern ein Wahrheitsbegriff ist der der Wahrheit als Richtigkeit; Wahrheit hat demnach in einer Hinsicht die Eigenschaft der Richtigkeit, aber das heißt noch nicht, dass der Begriff der Richtigkeit sich allein im Wahr-Sein erkl¨art. Richtigkeit wird in der Erkenntnisintention in spezieller Weise intendiert56 und kommt in spezieller Weise zur Erf¨ullung. Dazu ist der Akt der Ad¨aquation notwendig und die Beziehung auf eine gegenst¨andliche Evidenz im dritten Sinne, welche als ausschlaggebendes Merkmal den 55
,,Dieses Verh¨altnis besserer oder schlechterer Anmessung ist daher eine Gegebenheit, die sich als eine eigene Art der Evidenz verstehen l¨asst. Es ist eine Art ,Richtigkeitsbewusstsein’, das sich nicht mit der Evidenz im Sinne der Selbstgegebenheit des gemeinten Sachverhalts gleichsetzen l¨asst.“ (Lohmar 2000, 102) 56 Die Darstellung in diesem Abschnitt h¨alt sich lose an die Entwicklung in Husserls Denken: Deshalb f¨uhren wir hier die Lehre von signitiver Intention und intuitiver Erf¨ullung aus den Logischen Untersuchungenan und gehen in sp¨ateren Kapiteln auf die genetischen Fragen ein.
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Sinnder Richtigkeit als Deckung einer Vermeintheit mit dem ,wahrhaft’ Gegebenen erst m¨oglich macht. In Formale und transzendentale Logik thematisiert Husserl dieses Bezugsverh¨altnis ausdr¨ucklich; er f¨uhrt hier auch nur zwei Wahrheitsbegriffe an, n¨amlich den dritten und vierten der Logischen Untersuchungen. Dabei gewinnt vor allem der dritte Wahrheitsbegriff einen Vorrang, wie Tugendhat bemerkt, und wird ,,als der ,an sich erste’ bezeichnet, weil er den anderen zugrunde liegt“ (Tugendhat 1967, 94). Denn: ,,der gegebene Gegenstand ist in Bezug auf die Meinung ,wahrmachender’“ (Tugendhat 1967, 94). Betrachten wir diese These vom Vollzug der Ad¨aquation bzw. vom Richtigkeitsurteil aus: Dem Richtigkeitsurteil muss die Wiederholung des Urteilens u¨ ber den in Frage stehenden Sachverhalt vorangehen und damit das Anschaulich-Machen der Sache selbst. Wir ben¨otigen ein evidentes Urteil, um mit diesem Geurteilten ein Maß f¨ur die Richtigkeitsausweisung zu gewinnen. Evidentes und Richtigkeit korrespondieren einander im Erkenntnisfortschritt also in der Weise, dass einerseits ein Evidentes vorhanden sein muss, um eine Richtigkeit feststellen zu k¨onnen, andererseits dieses Evidente sich wieder auf seine Richtigkeit hin u¨ berpr¨ufen lassen muss. Daraus ergeben sich laut Husserl zwei Wahrheitsbegriffe: ,,Neben dem kritischen Wahrheitsbegriff der Urteilsrichtigkeit aus einem urspr¨unglichen Sichrichten (oder gerichtet haben) nach der selbstgegebenen Wirklichkeit haben wir also diesen Begriff Wirklichkeit als den zweiten Wahrheitsbegriff. Das Wahre ist jetzt das wirklich oder das wahrhaft Seiende als Korrelat der selbstgebenden Evidenz. Nat¨urlich ist das Wirkliche im Sinne des Realen ein bloßer Sonderfall dieses weitesten analytisch-formalen Wirklichkeitsbegriffes.“ (Hua XVII, 133)
W¨ahrend der Wahrheitsbegriff der Wirklichkeit auf einer Selbstgegebenheit und korrelativ einem Bewusstsein von gegenst¨andlicher Evidenz beruht, st¨utzt sich der Wahrheitsbegriff der Richtigkeit zus¨atzlich auf ein Bewusstsein, das nach Erkenntnis strebt, auf eine Intention nach Bew¨ahrung. Der Wahrheitsbegriff der Richtigkeit ist sekund¨ar zu dem der Wirklichkeit, da jener ohne diesen nicht existieren k¨onnte – als intentionale Antizipation geht die unerf¨ullte Richtigkeitsintention aber der Wahrheit als Wirklichkeit (erf¨ullte gegenst¨andliche Evidenz) und der Wahrheit als Richtigkeit (zeitlich) voraus. Wird diese Wahrheit erreicht, so stellt sich
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eine eigene Evidenz der Richtigkeit ein. Demzufolge haben wir analog zu den beiden Wahrheitsbegriffen auch zwei verschiedene Evidenzbegriffe: ,,Auch das Wort Evidenz nimmt in Zusammenhang mit diesen beiden Wahrheitsbegriffen einen Doppelsinn an: neben dem der urspr¨unglichen Selbsthabe von wahrem oder wirklichem Sein auch den der Eigenschaft des Urteils als vermeinter kategorialer Gegenst¨andlichkeit (,Meinung’), an eine ihm entsprechende Wirklichkeit in urspr¨unglicher Aktualit¨at angemessen zu sein. Evidenz besagt im letzteren Falle also das urspr¨ungliche, in aktueller Ad¨aquation erwachsende Richtigkeitsbewußtsein. Dieses ist seinerseits hinsichtlich der Richtigkeit Evidenz im ersten Sinne, ein Sonderfall dieses weiteren Evidenzbegriffs der Selbsthabe.“ (Hua XVII, 133)
Husserl stellt also in Formale und transzendentale Logik ganz klar, dass ein Wahrheitsbegriff und korrelativ ein Evidenzbegriff den Vorrang haben, n¨amlich der des ,wahren oder wirklichen Seins’ und korrelativ seiner ,urspr¨unglichen Selbsthabe’. Dies entspricht dem dritten Wahrheitsbegriff der Logischen Untersuchungen. F¨ur uns ist wichtig, dass der Wahrheitsbegriff der Wahrheit als Richtigkeit eher zur¨ucktritt und einen Eigencharakter bekommt; außerdem wird er in Zusammenhang mit der kritischen Einstellung und deren Erkenntnisfortschritt betrachtet. Auf diese Weise tritt das Abh¨angigkeitsverh¨altnis der Wahrheit als Richtigkeit von der Wahrheit als Selbsthabe und Selbstgebung deutlicher hervor; denn ohne Selbsthabe kein ,wahrmachender’ Sinn der Richtigkeit. Die Evidenz, die im Richtigkeitsbewusstsein erw¨achst, gewinnt ebenfalls an Eigencharakter, da sie wohl eher die Angemessenheit der Meinung an der Selbstgebung im Auge hat (und die Meinung insofern als ,wahr’ beurteilen kann) als die daraus folgende Wahrheit dieser Meinung selbst. Wir k¨onnen uns mit Tugendhat fragen, in welchem der vier angef¨uhrten Wahrheitsbegriffe tats¨achlich der Sinn von Wahrheit liegt (Tugendhat 1967, 94 ff.). Tugendhat f¨uhrt den ersten Wahrheitsbegriff als naheliegendsten an, da dieser das spezielle Wahrheitsverh¨altnis zwischen zwei Gliedern thematisiert. Husserl favorisiert aber offensichtlich den dritten Wahrheitsbegriff, da ihm beim ersten der korrelative Evidenzbegriff Schwierigkeiten macht: ,,Der Theorie zufolge m¨usste die Evidenz ein identifizierender Akt sein, in dem die Identit¨at zwischen der gemeinten und der selbstgegebenen Gegenst¨andlichkeit erfaßt wird; im normalen Evidenzakt ist aber ein solches Identit¨atsbewusstsein nicht vorzufinden: zwar ist die gemeinte Gegenst¨andlichkeit als gegebene erfaßt, aber
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in einem schlichten Akt; sie werden nicht als zwei Gegenst¨andlichkei¨ ten unterschieden und ihre Ubereinstimmung konstatiert.“ (Tugendhat 1967, 94) Aus diesem Grund f¨uhrt Husserl in den Ideen I57 als einzigen den dritten Wahrheitsbegriff an und gibt ihm in Formale und transzendentale Logik ebenfalls den Vorzug. Von hier aus f¨uhrt nur ein Schritt dazu, die Richtigkeit in ihrer Eigenwesentlichkeit anzuerkennen. Daf¨ur sind besonders zwei Punkte entscheidend. Erstens: Husserl f¨uhrt die Richtigkeit erst im Kontext des Wahrheitsbegriffs an, man muss sie aber schon vorher als Richtigkeits intentionalit¨at (in ihrem Erf¨ullungsweg) festmachen. Zwar ist es genetisch richtig, dass der Richtigkeitsbegriff erst durch die Reflexion auf die bloße Meinung und ihre Deckung mit der Meinung in der F¨ulle entspringt, aber intentional wird dieser Begriff antizipiert, im Sinne der signitiven Intention: etwas wird vermeint und erf¨ullt sich (eventuell). Der Begriff muss sogar antizipiert werden, und damit kommen wir zum zweiten Punkt: Die kritische Einstellung, die das Vermeinte als Vermeintes in Frage stellt und somit systematisch auf seine Richtigkeit hin befragt, muss diesen Begriff schon zur Verf¨ugung haben und intentional darauf abzielen k¨onnen. Das bedeutet, dass mit der bewussten Reflexion auf das Vermeinte als Vermeintes und mit dem dadurch bewirkten Auseinandertreten von Vermeintem und Wahrheit (Selbstgegebenheit) die M¨oglichkeit entsteht, dass diese zusammenfallen oder auch nicht zusammenfallen. Der Begriff der Richtigkeit, aber auch der der Falschheit entspringen insofern schon an diesem Punkt, wenn auch nur als Leerintentionen. Erst im Vollzug der Ad¨aquation erf¨ullen sich beide Begriffe intuitiv und werden reflexiv in der vollen Deckung oder Nicht-Deckung erfasst. Obwohl die kritischen Begriffe der Richtigkeit und der Falschheit also gleichurspr¨unglich sind, ergibt sich in der Einstellung auf Erkenntnisfortschritt eine Richtigkeitsintentionalit¨at (und kein Streben auf Falschheit hin). Das bedeutet nicht, dass die kritisch befragte Meinung immer schon eher als ,richtig’ verstanden und daraufhin ausgelegt wird, sondern dass letztlich Richtigkeit der Meinung intendiert wird. Richtigkeit ereig57
Vgl. Hua III/1, 341. Hier ist der Wahrheitsbegriff in rein noematischer Einstellung gefasst, der Evidenzbegriff in rein noetischer.
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net sich nicht nur in der erf¨ullten Ad¨aquation, sie wird praktisch58 angestrebt. Genau in dieser Weise ist eine Richtigkeitsintentionalit¨at zu verstehen, welche die Erkenntnisintention begleitet. Erkenntnis, Selbsthabe von wahrem, wirklichem Sein ist nur m¨oglich, wenn die erf¨ullte Richtigkeit der Meinung angestrebt wird. Von der reinen M¨oglichkeit her, die in der Frage aufbricht, sind Richtigkeit und Falschheit also als gleichwertige M¨oglichkeiten zu begreifen, durch die Erkenntniseinstellung gewinnt die Richtigkeit aber die zus¨atzliche Qualit¨at des intendierten Zieles. Dies ist zur¨uckf¨uhrbar auf die Passivit¨at, in der Husserl ein Begehren nach Einstimmigkeit (Hua XI, 59) verortet und ein Unbehagen, aus einer Situation der widerstreitenden Wahrnehmungen herauszukommen. Auf diese basalen Strukturen des Bewusstseins ist die teleologisch angelegte Struktur, deren ,Motor’ die Evidenz ist, nach Husserl zur¨uckf¨uhrbar: ,,So ist Evidenz eine universale, auf das gesamte Bewußtseinsleben bezogene Weise der Intentionalit¨at, durch sie hat es eine universale teleologische Struktur, ein Angelegtsein auf ,Vernunft’ und sogar eine durchgehende Tendenz dahin, also auf Ausweisung der Richtigkeit (und dann zugleich auf habituellen Erwerb derselben) und auf Durchstreichung der Unrichtigkeiten (womit sie aufh¨oren als erworbener Besitz zu gelten).“ (Hua XVII, 168 f.) Diese ,durchgehende Tendenz auf Ausweisung der Richtigkeit’ ist genau die Bewusstseinsweise, die wir als Richtigkeitsintentionalit¨at beschreiben und so vom Wahrheitsbegriff der Wahrheit als Richtigkeit abheben m¨ochten. Die Richtigkeitsintentionalit¨at hat ebenso wie die kritische Frage die praktische Komponente des ,Bestand-Sicherns’ inner¨ halb des theoretischen Erkennens: Uberhaupt kann die ganze Sph¨are des 58
Die praktische Dimension des Erkennens wird vor allem in Erfahrung und Urteil herausgearbeitet, wo das pr¨adikative Leisten als ein Handeln charakterisiert wird. Es gibt den ,,Willen zur Erkenntnis“ (EU 232), in der die Erkenntnis Handlung des Ich und Ziel des Wollens die Erfassung des Gegenstandes in seiner identischen Bestimmtheit ist. Das Erkenntnisstreben hat seine Analogie mit dem begehrenden Streben, ebenso wie am pr¨adikativ erkennenden Leisten die allgemeinen Strukturen des Handelns aufweisbar sind. Der Unterschied besteht darin, dass es der praktischen Einstellung um die Erzeugung von Gegenst¨anden geht, der theoretischen um Erzeugung der Erkenntnis von einem selbstgegebenen Gegenstand durch die ,,sch¨opferische Spontaneit¨at“ (EU 233). Im erkennenden Handeln ist daher die Leistung der rechtlichen Intentionalit¨at als eine praktische Leistung innerhalb der theoretischen Einstellung zu verstehen, da sie dem Zweck der Erkenntniserzeugung dient. Vgl. EU § 48. ,Das erkennende Handeln parallelisiert mit dem praktischen Handeln’.
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Rechtlichen, die wir sp¨ater herausarbeiten werden, in diesem Sinn einer notwendig praktischen Vorgangsweise zugerechnet werden. So wie nach dem Sinn von Wahrheit gefragt werden kann, kann analog auch nach dem Sinn von Richtigkeit gefragt werden. Dieser liegt sicherlich nicht im vierten Wahrheitsbegriff, da dieser ja Wahrheit durch Richtigkeit erkl¨art. Der Sinn von Richtigkeit muss sowohl von der kritischen Frage her als auch in seinem Bezug auf eine Wahrheit in der F¨ulle der Selbstgebung verstanden werden. Denn Richtigkeit kann einerseits ohne Kritik (Frage), andererseits ohne die stillschweigende Voraussetzung einer wahren Selbstgebung nicht einmal zur M¨oglichkeit werden. Das Infragestellen der Vermeintheit als Vermeintheit und dadurch die ,,Unterscheidung von Vermeintem und Wirklichem“ (Hua XVII, 129) bringen eine Struktur in das Fragen, die zwischen Maß und zu Messendem unterscheidet. Das Maß ist dabei stets ein absolutes Maß, die Wahrheit, der Gegenstand, die Sache selbst. Dadurch entspringt korrelativ die M¨oglichkeit eines Richtig-Seins, das eben nicht nur Angemessenheit an irgendeinem Maß ist, sondern Angemessenheit am wahren Maß, also im eigentlichen Sinn Richtigkeit. Mit diesem ersten hierarchischen Auseinandertreten zwischen Maß und zu Messendem, zwischen Wirklichem und Vermeintem, zwischen der Sph¨are der Gegenst¨ande selbst und der Sph¨are bloßer Urteile, beginnt das, was wir als rechtliches Denken bezeichnen wollen. Es entsteht eine grundlegende Intention auf Wahrheit und parallel dazu auf Richtigkeit von Urteilen, die unser gesamtes Bewusstseinsleben bestimmt. Das gelungene Anmessen am Maß der Wahrheit wird zum st¨andigen Ziel des sich in der kritischen Einstellung Befindlichen. Die beschriebene kritische Einstellung erw¨achst aus der naiven Einstellung und hat ihre Wurzeln darin. Doch trotz ihrer Abk¨unftigkeit passiert in ihr etwas vollkommen Neues. Es wurde schon mehrfach mit Husserl erw¨ahnt, dass im naiven Dahinurteilen das Vermeinte nicht als Vermeintes in Frage gestellt wird, sondern dass die Seinsgeltung im Verlauf der Modalisierungen mit-modalisiert wird (Hua XVII, § 44b). Kommt es also im nat¨urlichen Urteilen zu Modalisierungen, so wird nicht zus¨atzlich auf die Meinung als Meinung reflektiert, sondern nur das ,Endprodukt’ der Selbstgebung gegenst¨andlich erfasst. Die Modalisierungen bleiben – so wie alle Aktvollz¨uge – im nat¨urlichen Fluss der Erfahrung gleichsam unbemerkt. Der Begriff der Richtigkeit und seine M¨oglichkeit k¨onnen also erst in der kritischen Einstellung auftauchen. Denn die Richtig-
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keitsausweisung ist Urteil und Evidenz zweiter Stufe, die auf der Vergegenst¨andlichung des Geurteilten der ersten Stufe beruht. Eine Reflexion muss f¨ur das Richtigkeitsurteil schon passiert sein; die Blickwendung auf die Meinung ist daher als ein Akt der Freiheit zu betrachten, wenn auch motiviert durch die M¨oglichkeit der Frage und die Modalisierungen. Kommen wir zur¨uck auf den Sinn von Richtigkeit als Ausgewiesenheit am ,wahrmachenden’ Maß der Selbstgebung und auf den Begriff der Richtigkeit, der in der Reflexion auf diese gelungene Ad¨aquation entspringt. Wie bei den Wahrheitsbegriffen ist es auch hier m¨oglich, aus dem empirisch zuf¨alligen Akt das als Idee gefasste Wesen der Richtigkeit herauszugreifen. Diese Richtigkeit steht als voll erf¨ullte der Leerintention der Richtigkeitsintentionalit¨at gegen¨uber und zeichnet ihr idealtypisch den Weg der Erf¨ullung vor. Das heißt: Wenn wir in der kritischen Einstellung Wahrheit (als Selbstgebung im ersten Sinne und Wahrheit als Urteilsrichtigkeit im zweiten Sinne) anstreben, dann ist die dazugeh¨orige Erkenntnisintention stets von einem anmessenden Sich-Richten durchwirkt. Die ,Verwandtschaft’ mit Rechtssinn und Rechtsakt liegt auf der Hand: Auch hier handelt es sich um die Struktur Maß – zu Messendes, auch hier liegt eine eigene Intentionalit¨at und Genesis vor. Der grundlegende Unterschied ist, dass bei der Richtigkeitsausweisung nicht eine Norm, sondern das Gegebene in der Selbstgebung (der Satz)59 zum Maß genom¨ men wird. Dies macht auch, trotz struktureller Ahnlichkeit, die Differenz zwischen Rechtssinn und Richtigkeit aus: Der Rechtssinn kommt einem Urteil zu, wenn es mit einer in Geltung befindlichen Norm als u¨ bereinstimmend beurteilt wird; der Richtigkeitssinn hingegen, wenn es mit der Wahrheit (als Wirklichkeit) als u¨ bereinstimmend beurteilt wird. Aber: Gem¨aßheit und Geltungs¨ubertragung sind bei beiden Aktarten wesentliche Merkmale. Denn auch im Richtigkeitsakt wird nach Feststellung der 59
,,Wir nennen nun den Satz, der selbst eine ideale Wahrheit ist, wahr, wir nennen ihn eine Wahrheit. [. . .] [I]n der aktuellen Einsicht erfassen wir seine Wahrheit nicht als etwas f¨ur sich Zugeh¨origes, sondern verm¨oge der Verifikation ihm Zuwachsendes (nur daß die Erf¨ullung ausschließlich in seinem immanenten Wesen gr¨undet). Wir sehen also: Der Satz ist wahr, weil ihm Wahrheit ,entspricht’.“ (Hua XXIV, 325). – ,,Das Spe¨ zifische des Satzes steckt schon im leeren, rein symbolischen Urteil, aber erst der Uberschuß, der auf Seiten der Einsicht vorliegt, gibt die M¨oglichkeit der Verifikation.“ (Hua XXIV, 324 f.)
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¨ Gem¨aßheit (Ubereinstimmung) die ,Geltung der Wahrheit’ auf die Meinung u¨ bertragen. Das f¨uhrt auf die Frage: Was bedeutet die ,Geltung der Wahrheit’? B. Genesis und Teleologie des rechtlichen Denkens: Evidenz als Rechtsgrund 2. Normative Strukturen und rechtliche Intentionalit¨at im theoretischen Bereich Die Kritik im Sinne der Richtigkeit ist ein integraler Bestandteil der Wissenschaften. Dar¨uber hinaus gibt es Normen, die den Gegenstandsbereich der jeweiligen Wissenschaft betreffen und sich ,aus diesem selbst’ entnehmen lassen. Dies ist freilich noch eine sehr naive, unaufgekl¨arte Rede, die wir genauer explizieren m¨ussen. Husserl sagt: ,,Jedes ,Sehen’ bzw. jedes in ,Evidenz’ Identifizierte hat sein eigenes Recht, desgleichen jedes in sich geschlossene Reich m¨oglicher ,Erfahrung’ als Gebiet einer Wissenschaft, als ihr Thema im ersten und eigentlichsten Sinne.“ (Hua XVII, 179) Mit dieser scheinbar einfachen und klaren Beschreibung des Anhebens von Wissenschaft aus dem gegenst¨andlichen Bereich, mit seinen selbst vorgezeichneten Rechten und Normen, ist schon sehr viel gesagt, das uns als Leitfaden f¨ur unsere Problematik dienen soll. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, wie es uns m¨oglich und in welchem Sinne es f¨ur uns notwendig ist, evidente als normative Strukturen zu deuten und unser Erkennen letztlich im Sinne der vern¨unftigen Reflexion von der Rechtsfrage her zu verstehen. Husserl zeigt in Formale und transzendentale Logik drei thematische Bereiche der Wissenschaft auf, wobei im dritten der richtige Sinn des ph¨anomenologischen Idealismus herausgearbeitet werden soll.60 Der erste und prim¨ar thematische Bereich ist der des Gegenstandes und der Urteile der Wissenschaft dar¨uber, so wie oben angedeutet. Daran schließt sich in einer zweiten Stufe der Reflexion ,,eine sekund¨ar thematische Sph¨are, die Sph¨are ihrer Kritik: Es ist eine Kritik der Erkenntnis in einem ersten Sinne, n¨amlich bezogen auf die idealen Erkenntnisergebnisse – die 60
Vgl. Hua XVII § 66 und Dieter Lohmars Kommentar (Lohmar 2000, 125 ff.).
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der ,Theorie’ – und in subjektiver Richtung bezogen auf das in korrelativem Sinn Ideale, n¨amlich auf das zu diesen Idealit¨aten geh¨orige Handeln (Schließen, Beweisen). Durch diese Kritik, die wir als analytische Kritik der Erkenntnis bezeichnen k¨onnen, erh¨alt jede Wissenschaft ihre Beziehung zur Analytik als universaler Wissenschaft der Theorie in formaler Allgemeinheit, und korrelativ zur entsprechend begrenzten analytischen Kunstlehre.“ (Hua XVII, 179)
In der analytischen Kritik werden die S¨atze einer Wissenschaft in formaler Allgemeinheit etwa auf Widerspruchslosigkeit u¨ berpr¨uft und m¨ussen sich so den Normen der Urteilsrichtigkeit anpassen, welche die Logik vorschreibt. Es ist Husserls Verdienst, dass diese normative Funktion der Logik als eine Folge ihrer theoretischen Erkenntnisleistungen gefasst wird und nicht mehr psychologistisch. Der Logik m¨ussen tats¨achlich Evidenzen und korrelativ Selbstgebungen zugrunde liegen, damit Wissenschaftlichkeit u¨ berhaupt m¨oglich ist; sie kann nicht urspr¨unglich Kunstlehre sein, die von einer Psychologie in praktischnormativer Hinsicht entworfen wird. Sie kann aber sehr wohl eine normative Anwendung als formale Analytik finden, d. h. als universale Wissenschaft von Theorien in formaler Allgemeinheit. Dieser m¨ussen sich alle Wissenschaften in einer ersten Stufe der analytischen Kritik unterziehen, die wir auch als Kritik im Sinne der Richtigkeit bezeichnen wollen, insofern es sich um Urteilsrichtigkeit in formaler Allgemeinheit einer Methode handelt. ,,Endlich hat aber jede Wissenschaft eine dritte thematische Sph¨are, ebenfalls eine solche der Kritik, aber einer anders gewendeten. Diese betrifft die zu jedem Gebiet und jeder mit ihm besch¨aftigten wissenschaftlichen Leistung zugeh¨orige konstituierende Subjektivit¨at. Gegen¨uber der Kritik der offensichtlich im Bewußtseinsfelde auftretenden Vorgegebenheiten, Handlungen und Ergebnisse haben wir es hier mit einer ganz anders gearteten Erkenntniskritik, der der konstitutiven Ursprungsquellen ihres positionalen Sinnes und Rechtes [Hervorhebung S.L.] zu tun, also der Kritik der im geradehin dem Gebiet zugewandten Forschen und Theoretisieren verborgenen Leistungen. Es ist die Kritik der (sei es psychologisch oder transzendental gefassten) ,Vernunft’, oder wie wir im Gegensatz zur analytischen Erkenntniskritik sagen k¨onnen, die transzendentale Kritik der Erkenntnis.“ (Hua XVII, 179)
Diese dritte thematische Sph¨are r¨uckt im Folgenden in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen, da in ihr im Vollzug der Vernunftkritik die verborgenen Leistungen einer ,rechtlichen Intentionalit¨at’ fungieren. Dieser Terminus soll aus folgenden Gr¨unden eingef¨uhrt werden: Der Begriff
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der Vernunft als zentraler Begriff der Philosophie bedarf stets aufs Neue einer Kl¨arung im Rahmen einer Selbstverst¨andigung. Dies gilt auch f¨ur den ph¨anomenologischen Vernunftbegriff. Husserl entwirft in den Ideen I eine ,Ph¨anomenologie der Vernunft’, welche einen großen Teil der Probleme anspricht, die sich auch hier stellen. Es scheint den Versuch wert, die noetischen Vernunftcharaktere des Setzungsbewusstseins, wie sie Husserl nennt, noch genauer in einzelnen Aktarten und Intentionalit¨aten zu beschreiben und damit zu einer Selbstexplikation des Vernunftbegriffes vorzudringen. Dabei zeigt sich der rechtliche, normative Charakter der Vernunft als ihr ausgezeichnetes Merkmal. Vernunftkritik ist selbstverst¨andlich nur durch Vernunft selbst m¨oglich (also genetivus subjectivus und objectivus gleichzeitig). Deshalb muss die Struktur der Frage und das Aufbrechen der Frage genau beachtet werden. Husserl spricht in der dritten thematischen Sph¨are von der Kritik der ,konstitutiven Ursprungsquellen’ des ,positionalen Sinnes und Rechtes’ der ,verborgenen Leistungen’ im Theoretisieren. Daran kn¨upfen sich folgende Fragen: 1. Wie entsteht eine solche Ebene der Kritik bzw. welche urdoxischen ,Selbstverst¨andlichkeiten’ m¨ussen auseinandertreten, damit sich dieser Fragehorizont er¨offnen kann? 2. Welche Intention tr¨agt diese Frage bzw. in welcher Weise kann sich eine Erf¨ullung der intendierten Bedeutung vollziehen? Welche passiven Vorbedingungen oder Wesensgesetzlichkeiten der Intentionalit¨at erm¨oglichen bzw. erfordern eine solche Kritik? 3. Welche verborgenen Leistungen sind selbst in dieser Kritik noch unenth¨ullt und m¨ussen als spezifische reflexive Akte der Vernunft aufgefasst werden, die eine Gesetzlichkeit oder eine bestimmte Funktionsweise der Vernunft erkennen lassen? 4. Wie ist es zu verstehen, dass die genuine Vernunftfrage oder Vernunftkritik stets die Form einer Rechtsfrage annimmt? Warum wird nach dem Recht gefragt, aber nicht mehr nach der Struktur dieses Fragens selbst? Und welche Auswirkungen hat die Form der Rechtsfrage auf die Strukturiertheit unserer Erkenntnis? 5. Inwiefern sind Evidenz und Selbstgebung in die normativ verfassten Strukturen des vern¨unftigen Denkens verstrickt? Was ist das Verh¨altnis von vern¨unftiger Setzung und Selbstgebung?
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6. Und letztlich: Inwiefern kann uns die Analyse der Rechtssinns hier n¨utzlich sein, damit wir die vern¨unftigen Strukturen der Ausweisung besser verstehen und in ihren Akten benennen k¨onnen? Aufbrechen der Rechtsfrage Husserl arbeitet besonders in den Ideen Iden Setzungscharakter der Intentionalit¨at heraus: Er bezeichnet ihn als Positionalit¨at, d. h., dass zu dem Gemeinten stets so oder so Stellung bezogen wird. Diese Stellungnahme impliziert, dass hier schon mehr gesetzt wird, als ohne weiteres in einem Akt als gegenst¨andlicher Sinn gegeben ist: ,,In der Stellungnahme geht der Akt u¨ ber den gegenst¨andlichen Sinn, wie er uns als gemeinter vorgegeben ist, hinaus. In der Setzung wird sein Sein (bzw. Nichtsein, M¨oglichsein usw.) nur behauptet, pr¨atendiert.“ (Tugendhat 1967, 43) Damit ist auch gesagt: Im nat¨urlichen Erfahren setzen wir nicht etwas erst dann als seiend, wenn wir seine Selbstgebung erfahren haben. Im Gegenteil, wir setzen von vornherein Gegenst¨ande als seiend, k¨onnen dann die Intention zu ihrer Erf¨ullung verfolgen oder nicht, k¨onnen zu Modalisierungen kommen usw. Die urspr¨ungliche Seinssetzung als Pr¨atention bleibt aber das grundlegende Wesensmerkmal der Intentionalit¨at und alle Modalisierungen finden auf diesem Boden statt, den Husserl die Urdoxa nennt. Die Pr¨atention, die nat¨urlich in der Urdoxa, aber auch in jedem anderen positionalen Akt61 vollzogen ist, kann nun in einer besonderen Art und Weise aufgefasst werden, sodass sich dadurch eine spezielle Fragerichtung ergibt: ,,Eine ,Pr¨atention’ ist wesensm¨aßig ,rechtm¨aßige’ oder ,unrechtm¨aßige’ und verweist damit in eine Dimension ihrer m¨oglichen ,Rechtfertigung’, an der sie sich ,ausweisen’ muß. Die Rechtm¨aßigkeit einer intentionalen Thesis macht nun in Husserls Terminologie ihren ,Vernunftcharakter’ aus. [. . .] [D]as eigentliche Wesen der Intentionalit¨at, die ,intentio’, wird jetzt in der ,Stellungnahme’ gesehen, und diese ist zwar nicht Vernunft, aber der Vernunft wesensm¨aßig bed¨urftig, als Pr¨atention auf Ausweisbarkeit angewiesen.“ (Tugendhat 1967, 43) Hier haben sich bereits die spezifischen Termini der Vernunftkritik verquickt. Eine Pr¨atention wird ja erst als Pr¨atention gesehen, wenn sie schon 61
Nur in der Neutralit¨atsmodifikation wird die Positionalit¨at nicht vollzogen, in allen anderen Akten ist sie stets aktualisiert. Vgl. Hua III/1, § 109 ff.
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mit dem kritischen Auge betrachtet wird; im Urmodus der Urdoxa ist dieses Setzen noch nicht in Zweifel gezogen. Betrachten wir also, analog zur Genesis des Begriffs der Richtigkeit, was hier in der Kritik auseinandertritt und dieser spezifischen Frage nach der Rechtm¨aßigkeit Raum macht. Kritik bedeutet, wie oben ausgef¨uhrt wurde, eine Einstellungs¨anderung, die zwar durch die in der nat¨urlichen Erfahrung vorkommenden Modalisierungen motiviert ist, aber letztlich in Freiheit vollzogen wird. Es ist die Blickwendung auf die Vermeintheit als Vermeintheit, in der diese in ein zu u¨ berpr¨ufendes Verh¨altnis mit der Meinung in der F¨ulle qua Selbstgebung gesetzt wird. Richtigkeit und Unrichtigkeit der Vermeintheit sind dadurch als M¨oglichkeiten gegeben, wobei eine Intention auf ¨ ein ad¨aquates, also richtiges Urteil hin vorhanden ist. Uber die Richtigkeit hinaus, die, grob gesprochen, den Inhalt einer Setzung betrifft, taucht nun aber eine weitere Dimension auf, in der die Vermeintheit als Vermeintheit kritisch befragt werden kann: in Bezug auf ihren Setzungscharakter u¨ berhaupt. Es wird also nicht das Was des Setzens, sondern das Dass des Setzens in Frage gestellt. Recht und Unrecht bzw. Rechtm¨aßigkeit und Unrechtm¨aßigkeit der Meinung in Bezug auf ihre Wahrheitssetzung treten auseinander, die negative M¨oglichkeit er¨offnet sich, dass f¨ur diese Setzung kein Recht bestehe. Es ist wichtig zu sehen, dass es sich hier um zwei verschiedene Fragen handelt, die verschieden motiviert sind: W¨ahrend bei der Richtigkeitsfrage die Vermeintheit als Vermeintheit bewusst wird, wird in der ,Rechtsfrage’ die Setzung als Setzung bewusst. Eine Setzung als Setzung, in ihrem Setzungscharakter zu verstehen, bedeutet die m¨ogliche Willk¨ur oder Grundlosigkeit zu verstehen, mit der die Setzung vollzogen wurde. Genauso wie bei der Vermeintheit er¨offnet sich pl¨otzlich ein M¨oglichkeitshorizont, der umgehend eine Frage motiviert: im Fall der Setzung die Rechtsfrage oder die Frage nach der Rechtm¨aßigkeit. Wir m¨ussen sie in ihrer bestimmten Intention auf die Setzung ph¨anomenologisch von der Richtigkeitsfrage unterscheiden. Denn nur dadurch kann das vernunftspezifische Fragen und Denken, das als ein rechtliches charakterisiert werden soll, herausgearbeitet werden. Nat¨urlich sind beide Intentionen, die auf Richtigkeit und die auf Rechtm¨aßigkeit, im theoretischen Interesse auf Wahrheit gerichtet; doch wie diese Wahrheit in verschiedenen Schichten und Stufen konstituiert und wieder der Kritik unterzogen wird, ist, wie Husserl sagt, ein ,,gewaltiges Arbeitsproblem, das auf einem eige-
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nen Boden der Sachlichkeit beruht und auf h¨ochst umfassende Untersuchungen verweist“ (Hua XVII, 208). Das vermeinte Urteil ,Dieses Buch ist gr¨un’ geht auf den Inhalt der Setzung und ist an ihm qua Meinung in der F¨ulle u¨ berpr¨ufbar als ,richtig’ oder ,falsch’. Steht allerdings der Setzungscharakter dieser Vermeintheit in Frage, dann geht es um das Urteil ,Es gilt, dass das Buch gr¨un ist’. Die inhaltliche Meinung in der F¨ulle reicht in Form der Wahrheit als Richtigkeit nicht aus, um diese Frage zufriedenstellend zu beantworten. Wird die Pr¨atention einmal als Pr¨atention erfasst, dann verlangt sie auch nach einem spezifischen Ausweisungs- bzw. Erf¨ullungscharakter. Dieser muss durch die besonderen Qualit¨aten der aufgebrochenen M¨oglichkeiten vorgezeichnet sein; es sind dies die M¨oglichkeiten einer rechtm¨aßigen und einer unrechtm¨aßigen Setzung. Probleme der Geltung und ihrer Ausweisung sind durch Termini des Rechtssinns (Rechtm¨aßigkeit, Rechtsfrage) pr¨azise formulierbar: Denn durch sie kann gleichzeitig der Anspruch miteingeschlossen werden, der sowohl das dynamische Grundwesen der Pr¨atention charakterisiert als auch die Intention auf Wahrheit qua rechtm¨aßige Setzung. Insofern also ,,jede Setzung eine Pr¨atention ist und als solche zugleich ihre Rechtm¨aßigkeit pr¨atendiert“ (Tugendhat 1967, 44), ist f¨ur jedes m¨ogliche Urteil eine auf die Rechtm¨aßigkeit gerichtete Wahrheitsfrage m¨oglich. Nur in welcher Struktur verl¨auft sie, wie ist sie zu beschreiben? Greifen wir einen Hinweis Husserls auf, ,,daß jede Rechtsfrage, die da gestellt wird und zu stellen ist, aus der jeweiligen Bewußtseinsintentionalit¨at selbst Sinn und Weg der Ausweisung vorgezeichnet erh¨alt“. (Hua XVII, 242) Zuerst muss herausgearbeitet werden, dass hier u¨ berhaupt eine spezielle Frageebene vorliegt, was ja Husserl schon selbst in der ,zweistufigen Kritik’ (analytisch und transzendental) getan hat. Daran anschließend wurde hier versucht, die spezielle Eigenart dieser transzendentalen Kritik der Erkenntnis qua ,Kritik der Vernunft’ als Rechtsfrage zu charakterisieren: das bedeutet als vorg¨angige Bewusstwerdung der Setzungen als Setzungen und damit ihrer m¨oglichen Willk¨urlichkeit und Unrechtm¨aßigkeit. Nun muss gezeigt werden, dass es eine spezielle Intentionalit¨at bzw. ein spezieller Akt ist, der Rechtm¨aßigkeit intendiert. Wenn jeder Rechtsfrage die jeweilige Bewusstseinsintentionalit¨at Sinn und Weg der Ausweisung vorzeichnet, dann muss es in jeder das Ph¨anomen voll intendierenden
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Bewusstseinsintentionalit¨at einen speziellen Zug der Rechtsausweisung geben. Die Frage nach dem Recht muss eine eigene intentionale Vorgezeichnetheit ihrer Erf¨ullung haben, mit der sie sich z. B. von der Richtigkeitsfrage unterscheidet. Husserl nennt diese Erf¨ullung an mehreren Stellen ,,im h¨ochsten Sinne Akt der ,Vernunft’“ (Hua III/1, 317), womit wiederum angedeutet ist, dass es sich hier um eine Aufkl¨arung des Vernunftbegriffes handeln soll. Weiter oben (II.) wurde der Rechtssinn als isoliertes Ph¨anomen betrachtet, um die Untersuchungen leichter durchf¨uhren zu k¨onnen. Nun sehen wir, dass jeder Meinung als Pr¨atention ein solcher Rechtssinn urspr¨unglich anh¨angt – und in besonderer Weise der Urdoxa. Dass eine Thesis ,,auch wenn sie nicht ausgewiesen ist, ihre Wahrheit immer schon ,pr¨atendiert’ [. . .], gilt deswegen notwendig, weil zum Wesen jeder Pr¨atention geh¨ort, daß das Beanspruchte schon als rechtm¨aßiges beansprucht wird. Das bedeutet in unserem Fall, daß jede Urdoxa mit dem Sein, das sie beansprucht, notwendig auch die Wahrheit mitbeansprucht.“ (Tugendhat 1967, 44) Die Beanspruchung eines ,urspr¨unglichen Rechtes’ durch die Urdoxa scheint also Urteil und Setzung vorherzugehen62 , sie geh¨ort zur urdoxischen naiven Evidenz, dem passiven Seinsglauben. Dieser ist aber im passiven Sinn doch ,Urteil’, auch wenn er jedem m¨oglichen Zweifel vorhergeht. Die urspr¨ungliche Einheit und Einigkeit der Urdoxa ist so stark, dass es genau genommen von ihrer Perspektive aus nicht heißen d¨urfte, sie beanspruche Sein und Wahrheit – denn sie ist in ihrem Vollzug Sein und Wahrheit. Die Themen von Anspruch, Recht und Rechtm¨aßigkeit gewinnen ihren Sinn erst in der kritischen Perspektive. Insofern muss der ,unmodalisierte Rechtssinn’ hier noch als nicht aktualisierter Rechtssinn gefasst werden; aktualisiert wird er erst durch die Kritik und das darauf folgende aktive Urteil, welches Urteil im eigentlichen Sinn ist. Hiermit ist eine Schwierigkeit angedeutet, die sich bei Husserl auch in einer Doppeldeutigkeit des Evidenzbegriffs einmal als naive und einmal als reflektierte Evidenz wiederfindet (wir kommen weiter unten darauf zur¨uck). 62
,,Ungebrochener Glaube berechtigt, eben weil er origin¨ar ist, n¨amlich als Charakter des eigentlichen Gegebenheitsbewusstseins und es in seiner Begrenzung erf¨ullenden. In dieser Begrenzung, solange eben nicht der Erfahrungskreis erweitert ist, ist die Erf¨ullung letzte und somit rechtgebend.“ (Hua XXIV, 346)
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Bei der Analyse des Rechtssinns (II.) wurde deutlich, dass Modalisierungen dazu f¨uhren k¨onnen, dass die Geltung der Norm, durch die er urspr¨unglich konstituiert war, in Frage gestellt wird. Die Frage nach dem Recht u¨ bertr¨agt sich dadurch auf eine n¨achsth¨ohere Ebene, sie u¨ berschreitet sich sozusagen selbst. Denn nur durch die urspr¨unglich in Geltung gehaltene Norm konnte u¨ berhaupt ein Rechtssinn konstituiert werden, und nun u¨ bertr¨agt sich dieser Rechtssinn in Form der Frage auf die Norm selbst. Soweit die Analyse des von anderen Ph¨anomenen losgekoppelten Rechtssinns. Nun befinden wir uns in einer Situation der sehr konkreten Anwendung dieser Analyse. Doxa und Urdoxa (naive Gewissheit) und damit der Urzustand von Bewusstsein und Intentionalit¨at schließen immer schon einen nicht aktualisierten Rechtssinn in ihrer Pr¨atention mit ein. Das, was wir zuvor als die in Geltung gehaltene Norm beschrieben haben, entspricht der urspr¨unglichen Seins setzung, die in der Urdoxa stets vollzogen wird. Diese Seinssetzung, die Urform der in Geltung gehaltenen Setzung, fungiert als Norm bez¨uglich des Urteils u¨ ber den Rechtssinn – ist aber kein eigentliches aktiv vollzogenes Urteil. Der urspr¨ungliche urdoxische Vollzug des Pr¨atendierens kann daher erst durch eine Bewusstmachung und Kritik ans Licht gebracht werden. Die Seinssetzung, mit der die Urdoxa ,,notwendig auch die Wahrheit mitbeansprucht“ (Tugendhat 1967, 44), wie Tugendhat sagt, kann genau mit dieser Struktur beschrieben werden: Durch die Seinssetzung in der Urdoxa wird alles, was unter sie f¨allt, ,automatisch’ und ,notwendig’, aber vorl¨aufig mit dem Rechtssinn ausgestattet, d. h. als ,rechtm¨aßig’ gesetzt. Damit ist das Aufbrechen der Rechtsfrage klarer: Wenn die Seinssetzung als Setzung erkannt und in Frage gestellt wird, dann wird auch der durch sie konstituierte Rechtssinn als Pr¨atention fraglich. Wie wei¨ ter oben gezeigt wurde, findet nun eine Uberschreitung des Rechtssinnes statt: Seine Existenz als Sinn steht und f¨allt nicht mit der Geltung der jeweiligen Seinssetzung, sondern er richtet sich als Leerintention oder signitive Intention auf diese Geltung selbst und treibt damit die Fragerichtung voran. Man k¨onnte nun sagen, dass diese Einsicht trivial ist: Eine Setzung als Setzung muss immer die Frage nach ihrer Rechtm¨aßigkeit beantworten, da in ihr die M¨oglichkeit der Willk¨ur liegt (solange sie nicht als notwendige Setzung erkannt ist). Dies ist richtig; es geht hier aber um die korrekte Erfassung des genetischen Aufbaus und damit um
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den Ursprung dieser Frage. Wie Husserl eindr¨ucklich gezeigt hat, kann nicht bei der Kritik der Anfang gesucht werden, sondern es muss auf die Urdoxa zur¨uckgegangen werden. Aus diesem Grund muss dieses erste Sich-Herausl¨osen des Rechtssinns aus dem urdoxischen Zusammenhang ¨ in der Weise der Uberschreitung beschrieben und damit einsichtig gemacht werden, wie Rechtsfrage und rechtliche Intentionalit¨at genetisch ihren Anfang haben k¨onnen. An diese genetische Ursprungskl¨arung kn¨upft sich nun folgerichtig die teleologische Frage. Denn jetzt geht es darum, wie sich Rechtssinn letztlich ausweisen soll, wie er an seinen Endpunkt kommen, wie er erf¨ullt werden soll bzw. kann. Wir haben bis jetzt nur aufgewiesen, dass eine Rechtsfrage besteht, wie sie entstehen kann durch die urdoxische Pr¨aten¨ tion und in welcher Weise sie sich in der Uberschreitung als rechtliche Intentionalit¨at entwickelt. Die Fragem¨oglichkeit in ihrem wesentlichen So-Sein ist damit umschrieben – was noch ungekl¨art ist, ist, wie es um die ideale M¨oglichkeit der Erf¨ullung dieser rechtlichen Intention steht. ,,Insbesondere blieb bisher auch offen, in welcher Weise sich die Rechtm¨aßigkeit einer Pr¨atention auszuweisen habe; wo sie ihren ,Rechtsgrund’ finden k¨onnte. Solange das nicht ausgemacht ist, bleibt nat¨urlich die Rede von der Rechtm¨aßigkeit einer Thesis und damit die von ihrer Wahrheit g¨anzlich leer.“ (Tugendhat 1967, 45) 3. Evidenz63 – Rechtfertigung – Begr¨undung ,,Rechtfertigen ist eine Weise, wie Urteile, wie Erkenntnisse im weitesten Wortsinn bestimmt werden. Geschieht es pr¨adikativ, wie in der Wissenschaft, so w¨achst der Erkenntnis ein Rechtspr¨adikat zu, und ,dieselbe’ Erkenntnis tritt nun mit diesem Cha63
Vgl. zur Frage von Evidenz und Letztbegr¨undung auch die ausgezeichnete Studie von Karl Mertens (1996): Mertens zeigt im Rahmen einer Rekonstruktion des Selbstverst¨andnisses der transzendentalen Ph¨anomenologie, wie sich diese jenseits der Alternative von Skepsis und Letztbegr¨undung als Bew¨ahrungsprozess theoretischer Geltungsanspr¨uche verstehen kann. Dabei spielt vor allem das Evidenzkonzept der genetischen Ph¨anomenologie (Mertens 1996, 199 ff.) eine entscheidende Rolle, insofern hier Evidenz nicht mehr nur statisch als Erf¨ullungs-, sondern dynamisch als Bew¨ahrungsbewusstsein begriffen wird. Die ,,Untrennbarkeit von Geschichtlichkeit und Wahrheit unserer Erkenntnis“ (Mertens 1996, 284) ist damit konstitutiv f¨ur das Vorgehen der transzendentalen Ph¨anomenologie.
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rakter, wenn auch nicht in urspr¨unglicher Weise auf – apperzeptiv. Wir werden damit aber auch zur¨uckgewiesen auf eine m¨ogliche Rekonstruktion der Rechtfertigung.“ (Husserl, Ms. A I 24, 6b)
Modalisierungen des Rechtssinns und die darauf folgende Rechtsfrage intendieren, konsequent gef¨uhrt, immer absolute Rechtfertigung (wie es die Vernunft fordert) und das heißt: eine absolute Ausweisung der Setzung einer Norm und ihres Wahrheitsanspruchs. Diese Intentionalit¨at auf absolute Geltung hin ist vergleichbar mit der Richtigkeitsintentionalit¨at auf Wahrheit als Richtigkeit (Meinung in der F¨ulle). Nun k¨onnte man sagen: Aber das ist doch im Grunde genommen dasselbe, es gibt eine Erf¨ullung in der Selbstgebung und damit sind Recht bzw. Geltung ebenso ausgewiesen wie Richtigkeit. Das stimmt aber nur zum Teil. Denn wenn man die Sachlage genauer betrachtet, dann entdeckt man, dass Evidenz in der Rechtsfrage anders aufgefasst wird, in bestimmter Weise reflektiert wird – und daf¨ur muss ein Akt zust¨andig sein. Wenn Hume nach dem Recht fragt, mit dem wir den Begriff der Kausalit¨at verwenden, dann meint er damit, dass kein evidenter Grund daf¨ur vorhanden ist, dass wir diesen Begriff setzen (Hume 1982, 41– 58). Die Setzung wird als Setzung erkannt und damit die M¨oglichkeit ihrer Beliebigkeit oder Willk¨urlichkeit. Wenn wir nun nachweisen wollen, dass der Begriff der Kausalit¨at tats¨achlich rechtm¨aßig verwendet wird, dann m¨ussen wir sein Recht in seinem Grund erfassen. Dieser Grund kann nichts anderes sein als seine m¨ogliche Evidenz. ,,Von diesen Selbstverst¨andlichkeiten wollen wir nichts preisgeben, sie haben sicherlich den Rang von Evidenzen. Aber das darf uns nicht hindern, sie einer Kritik zu unterwerfen, sie nach ihrem eigent¨umlichen Sinn und ihrer ,Tragweite’ zu befragen.“ (Hua XVII, 206 f.) In diesem Sinne soll die verborgene Leistung enth¨ullt werden, dank derer wir durch Evidenz als Erlebnis der Selbstgebung das Recht einer Sache erfassen. Wie es auch Husserl in Bezug auf den Vollzug der Epoch´e formuliert, geht es nicht darum, ,Selbstverst¨andlichkeiten’ skeptisch zu bezweifeln oder durchzustreichen (Hua III/1, § 32), sondern in einem Inhibieren der Geltung des nat¨urlichen Vollzugs eine Explikation der konstitutiven Leistungen zu erreichen. Daf¨ur muss zuerst die spezifische Form betrachtet werden, in der ein Recht sichtbar gemacht werden soll: die Ausweisung als Begr¨undung. Die Richtigkeitsfrage wird z. B. nicht mit dieser Form der Begr¨undung
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beantwortet, sondern mit einer Ad¨aquation, welche die Meinung an die Meinung in der F¨ulle in schlichter Weise heranf¨uhrt. Darauf kann sich noch eine weitere Ausweisungsdimension aufbauen, es kann ,,das Bed¨urfnis erwachsen, sich weiter zu versichern“ (EU 376), und damit entsteht das, was Husserl die ,Rechtfertigungsfrage’ nennt: ¨ ,,Jede Gewißheit, die wir haben, jede Uberzeugung, die wir wie immer gewonnen haben, k¨onnen wir in dieser Art in Frage stellen. Wir sind zwar sicher, daß es so ist, und fragen doch ,ist es wirklich so?’ Das besagt, wir fragen: wie l¨aßt es sich rechtfertigen, objektiv ¨ ausweisen? Ahnlich wie man im gerichtlichen Prozeßverfahren gewiß werden kann, daß der Zeuge A Recht hat, und im folgenden die ganze Sache innerlich f¨ur entschieden h¨alt, nicht mehr zweifelt; und doch kann man weiterfragen, die Sache noch in Frage halten, um durch objektive Kl¨arung eine ,bessere’ Entscheidung, eine Entscheidung aus Gr¨unden zu erreichen, welche die Gegenm¨oglichkeiten v¨ollig zunichte machen. [. . .] So ist die Rechtfertigungsfrage nicht auf bloße Urteilsgewißheit, sondern auf begr¨undete Gewißheit gerichtet.“ (EU 377 f.)
Husserl nennt diese Frage auch die ,Wahrheitsfrage’, da ihre Antwort ein Urteil u¨ ber pr¨adikative Wahrheit ist und sie das schon als seiend Beurteilte mit den hinzukommenden Pr¨adikaten ,wahrhaft’, ,wirklich’ ausstattet. Es handelt sich dabei um den Prototyp einer Ausweisung, sodass Husserl die ihr korrespondierende Intention ,,theoretische Intention auf Begr¨undung“ bzw. ,,theoretische Erf¨ullungsintention“ (EU 379) nennt. In der Auswirkung dieser theoretischen Erf¨ullungsintention kann sich Erf¨ullung oder Entt¨auschung einstellen, was anschließend die rechtfertigend fragende Einstellung motiviert. ,,Das theoretische Interesse im spezifischen Sinne ist Interesse an der Begr¨undung, an der Normierung, an die sich die Feststellung, die Fixierung im haltbaren Ausdruck und die Einpr¨agung der Begr¨undung anschließt. Jedes Urteil, das durch die Begr¨undung hindurchgegangen ist, hat den Charakter der Normgerechtigkeit, des orthos logos.“ (EU 379) Hat das Urteil damit sein Recht ausgewiesen? Die Frage ist mit ,ja’ zu beantworten, allerdings mit einer kleinen Einschr¨ankung: Es wurde nicht explizit nach dem Recht gefragt, es wurde danach gefragt, ob es (das Geurteilte) ,wirklich’ so ist. Hinter der Folgerung, dass sich mit diesem begr¨undeten Wirklich-so-Sein ohne weiteres sein Recht zeigt, liegt also noch eine letzte unaufgedeckte Selbstverst¨andlichkeit verborgen. Was den logos des Begr¨undens gleichzeitig zum orthos logos macht, muss schon vorverstanden sein.
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Blicken wir zur¨uck auf den Vorgang des Begr¨undens. Husserl beschreibt ihn in juristischen Metaphern als das Aufrufen von ,Zeugen’, u¨ ber das hinaus ich mich noch weiter vergewissern kann, bis ich begr¨undete Gewissheit erlange und sagen kann: ,Es kann nicht anders sein als . . . weil . . .’ Das Begr¨unden macht also etwas einsehbar von einem anderen aus. Idealerweise macht es dieses Eine zwingend einsehbar und alles Andere uneinsehbar (unm¨oglich). Wie sieht es nun mit dem Begr¨unden oder Ausweisen eines Rechts aus? F¨allt es unter die ,theoretische Intention auf Begr¨undung’, aus der die Rechtfertigungsfrage erw¨achst? Es ist wohl als ein besonderer Fall dieses theoretischen Interesses zu beschreiben. Dies einerseits wegen der Frage, die gestellt wird, der Rechtsfrage, die sich von der Frage nach der Richtigkeit dadurch unterscheidet, dass sie nicht inhaltlich auf den Sachverhalt im Urteil gerichtet ist, sondern auf seine Setzung; andererseits durch die spezielle Anforderung an dieses Begr¨unden, welches nicht einfach eines inhaltlichen Grundes, sondern eines Rechtsgrundes bedarf. Um metaphorisch zu sprechen: Zeugenaussagen sind hier keine ad¨aquate Begr¨undung, es muss das Gesetz befragt werden. So ist auch die Weise des Begr¨undens durch einen Rechtsgrund spezifisch; sie ist, wie wir in Kapitel II.1 gesehen haben, ein Rechtsakt, der die Gem¨aßheit an der Norm feststellt und eine Geltungs¨ubertragung vollzieht. Die Rechtsfrage erfordert also eine Ausweisung in Form eines Rechtsakts. Eine Rechtfertigung aus Gr¨unden, die das Recht zwingend einsehbar machen, kann in diesem Fall nur eine Rechtfertigung durch einen Rechtsgrund sein. Was bedeutet das aber? Reicht es nicht vollkommen aus, mit der inhaltlichen Einsehbarkeit eines Urteils auch sein Recht bzw. seine Geltung hinreichend zu begr¨unden? Ist es nicht ohnehin klar, dass aus dieser Einsehbarkeit ein Recht folgt? Um auf das Beispiel einer Rechtsfrage bei Hume zur¨uckzukommen: Beklagt er nicht das Fehlen von einsichtigen Gr¨unden, mit denen das Recht des Begriffs der Kausalit¨at ausgewiesen werden k¨onnte? Wozu also noch ein Rechtsgrund oder ein Rechtsakt, falls diese einsichtigen Gr¨unde vorhanden w¨aren? Wir haben in II.1 deutlich gesehen, dass ein Rechtssinn nicht ohne ein Urteil anhand einer Norm zustande kommt, dass dies also die wesensm¨aßige Bedingung f¨ur die Konstitution eines Rechtssinns ist. Gleichzeitig haben wir auch gesehen: Je mehr diese Norm habitualisiert ist, umso passiver und affektiver erfolgt das Urteil und umso ,urspr¨unglicher’ zeigt sich uns das Recht. Auch ein noch so unmittelbar empfundenes/erfahrenes
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Recht beruht stets auf dem Urteil anhand eines Maßes, welches deshalb so unmerklich und scheinbar ,Unmittelbarkeit’ ist, weil es so passiv habitualisiert ist – tats¨achlich ist der analytische Rechtsbegriff aber pure Vermittlung (vgl. S. 13). Es muss also erkl¨arbar und mit den Konstitutionsbedingungen des Rechtssinns vereinbar sein, dass zwingend einsichtige Gr¨unde f¨ur den Inhalt eines Urteils auch gleichzeitig dessen Recht begr¨unden. So geh¨ort es zu den allerselbstverst¨andlichsten Selbstverst¨andlichkeiten, dass aus Evidenz immer Recht und Geltung abgeleitet wird, wenn die Rechtsfrage gestellt wird. Diese Rechtsfrage bricht – wie oben gezeigt – erst in der Kritik durch die M¨oglichkeiten rechtm¨aßig – unrechtm¨aßig auf. Die urspr¨ungliche Urdoxa wird auf ihre Setzung befragt, der Rechtssinn entsteht als Leerintentionalit¨at und verlangt seine Ausweisung. Erst auf der Ebene dieser Kritik, in der die Setzung als Setzung befragt wird, entsteht also ein Desiderat nach einer bestimmten Ausweisung, der rechtlichen Ausweisung. Von der Richtigkeitsfrage ist diese Ebene dadurch unterschieden, dass bei jener Wahrheit qua Selbstgebung in einem ,naivgeradehin’ Urteilen h¨oherer Stufe quasi ,naiv’ vorausgesetzt wird und als Maß unbefragt angenommen wird. Die Rechtsfrage geht aber noch einen Schritt weiter. Denn sie fragt nach der Begr¨undung des Rechtes von Wahrheit und korrelativ nach der Begr¨undung des Unrechtes (der Unrechtm¨aßigkeit) von Unwahrheit.64 Daf¨ur muss Wahrheit bzw. Evidenz als Erlebnis der Selbstgebung nicht nur naiv als Maßstab der inhaltlichen Richtigkeit, sondern transzendental als Grund aller Geltungen begriffen werden. ,,Es muss also das Wesen der Evidenz u¨ berhaupt verst¨andlich gemacht werden, der Sinn der Rechtsfrage und Rechtsausweisung.“ (Husserl, Ms. A I 3, 8b) Die Rechtsfrage, die in der (transzendentalen) Kritik aufbricht, fordert letztlich die Setzung eines Rechtsgrundes, welche als eine notwendige Setzung eingesehen werden muss. Das Erlebnis der Selbstgebung muss also in bestimmter Weise aufgefasst und in einem Akt als Rechtsquelle gesetzt werden. 64
,,Aber kann und muss nicht die radikale Frage gestellt werden, was alle solche vorgegebenen Wahrheiten als Wahrheiten berechtigt, und wieder, was die Anwendung dieser Wahrheiten zur Ausschaltung von Falschheit und zum Begr¨unden neuer Wahrheiten berechtigt, n¨aher, was das Verfahren hierbei berechtigt? Muss nicht radikal gefragt werden, was berechtigt u¨ berhaupt, voraussetzungslos? Was sind die Prinzipien f¨ur mittelbare und unmittelbare Begr¨undung?“ (Husserl, Ms. A I 3, 7b)
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Einer der wesentlichen Durchbr¨uche Husserls ist es, dass er Evidenz als Akt und damit in gewisser Weise auch als ,Setzung’ begreift. ,,Evidenz bezeichnet [. . .] die intentionale Leistung der Selbstgebung.“ (Hua XVII, 166) Die Selbstgebung ist, wie jedes intentionale Ereignis, Funktion im universalen Bewusstseinszusammenhang (Hua XVII, 168). ,,Intentionalit¨at u¨ berhaupt – Erlebnis eines Bewußthabens von irgendetwas – und Evidenz, Intentionalit¨at der Selbstgebung sind wesensm¨aßig zusammengeh¨orige Begriffe.“ (Hua XVII, 168) Husserl hat diese Zusammengeh¨origkeit in den verschiedenen Erf¨ullungsverh¨altnissen von Intention und Selbstgebung beschrieben und damit auch die vier (oder sp¨ater zwei) Wahrheitsbegriffe entwickelt. In der Richtigkeitsintention erf¨ullt sich, wie oben beschrieben, der Anspruch auf Richtigkeit der inhaltlichen Vermeintheit. Die rechtliche Intention betrachtet nun dieselbe Evidenz, die die Richtigkeitsintention erf¨ullt, nur auf einer weiteren Reflexionsebene und unter einem anderen Aspekt: In der rechtlichen Intention erf¨ullt sich der Anspruch auf Rechtm¨aßigkeit der Setzung als Wahrheit. Das bedeutet auf der korrelativen Ebene: Die Evidenz weist sich in der Erf¨ullung der rechtlichen Intentionalit¨at als Norm aus und als solche wird sie in einem abschließenden Akt gesetzt. Das Norm-Sein der Evidenz ist damit die Antwort auf eine andere Frage als die der Richtigkeit. In einer Kritik, die nach dem Grund der Geltungen fragt, ist der Weg f¨ur die rechtliche Intention frei, sich zu erf¨ullen und in gewisser Weise auch sich zu vollenden, da sie selbst thematisch wird. Denn das bloße Stellen einer Rechtsfrage (das der Sache nach mit dem Philosophieren verbunden ist) heißt noch nicht, dass die naive, unthematisch bleibende Voraus-Setzung eines Rechtsgrundes schon reflektiert ist, womit Rechtssinn zwar ausgewiesen werden kann, aber die notwendigen Akte und Setzungen, die diese Ausweisung erm¨oglichen (und damit das rechtliche Denken als solches), verh¨ullt bleiben. Um diese thematisch zu machen, ist es notwendig zu erkennen, dass die Frage nach dem Recht sich nicht in einer evidenten Erf¨ullung ersch¨opft, sondern eine Setzung erfordert, die das Einleuchten der Evidenz als notwendigen, unhintergehbaren Grund begreift. Geltung wird nicht durch einfache Erf¨ullung evident, sondern im Begreifen dieser Erf¨ullung als rechtgebende Norm. Die rechtliche Intentionalit¨at terminiert also nicht in der bloßen Erf¨ullung, sondern in der Setzung dieser Erf¨ullung als Norm. Auf diese Weise ist das Erkennen auf h¨ochster Ebene in rechtliche Strukturen eingelassen, und durch sie erst erkennt
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es sich selbst im Vollziehen seiner Akte. Damit wird in der transzendentalen Ph¨anomenologie die Rechtsfrage als rechtliche Intentionalit¨at in vollem Sinne bewusst; was bei der Urdoxa als Pr¨atention und Wurzel der Rechtsfrage anf¨angt, vollendet sich im bewussten Vollzug der notwendigen Setzung eines Rechtsgrundes. Kein ,¨außerlicher’ Rechtsgrund kann mehr naiv angenommen werden, weil dieser wieder sein Recht auszuweisen h¨atte. So sagt auch Husserl eindeutig: ,,Evidenz ist in der Tat nicht irgendein Bewußtseinsindex, der an ein Urteil (und gew¨ohnlich spricht man nur bei einem solchen von Evidenz) angeheftet, uns wie eine mystische Stimme aus einer besseren Welt zuruft: Hier ist die Wahrheit!, als ob eine solche Stimme uns freien Geistern etwas zu sagen und ihren Rechtstitel nicht auszuweisen h¨atte.“ (Hua III/1, 334)65 Dass es dabei um einen ,Rechtstitel’ geht, ist f¨ur Husserl eine fast selbstverst¨andliche Aussage, so selbstverst¨andlich, dass er den gesonderten Blick auf die Intentionalit¨at vernachl¨assigt, die diese spezifische Frage aufwirft, und sich so Richtig¨ keitsintentionalit¨at und rechtliche Intentionalit¨at bei ihm des Ofteren vermischen. In der vorliegenden Analyse wurde versucht zu zeigen, dass es sich einmal um den Inhalt eines Urteils dreht, der an der Selbstgebung gemessen wird, und einmal um das Recht (die Rechtm¨aßigkeit, Geltung) des Urteils, das ebenfalls an der Selbstgebung ausgewiesen werden muss. Diese Ausweisung ist aber nur dadurch m¨oglich, dass die Selbstgebung als rechtgebende Instanz aufgefasst und damit ein Rechtsgrund gesetzt wird. Beachten wir anhand eines l¨angeren Zitats aus Formale und transzendentale Logik, wie Husserl den Sachverhalt zwar genau erfasst, aber die Intentionalit¨aten nicht auseinanderh¨alt: ,,Jedes selbstgebende Bewußtsein kann eben darum, weil es sein Gegenst¨andliches als es selbst gibt, f¨ur ein anderes Bewußtsein, f¨ur ein bloß unklares oder gar verworrenes Meinen oder f¨ur ein zwar anschauliches, aber bloß vorverbildlichendes oder ein sonstiges nicht selbstgebendes Meinen Recht, Richtigkeit [Hervorhebungen S.L.] begr¨unden; und zwar, wie wir schon fr¨uher zu beschreiben hatten, in Form der synthetischen Ad¨aquation an die ,Sachen selbst’ bzw. im Falle der Unrichtigkeit in Form der Inad¨aquation 65
So betont auch Husserl stets den Leistungscharakter der Evidenzarten: ,,Eine reine Apodiktizit¨at ist also eine kritische Leistung, ein kritisches Gebilde, das sich auf dem Grunde ad¨aquaten Erschauens vollzieht, bzw. in einem ad¨aquaten Erschauen von einer Apperzeption m¨undet, als der ,reinen’.“ (Hua XXXV, 401) – ,,Ad¨aquation ist Produkt einer Kritik der Selbstgebung.“ (Hua XXXV, 402)
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als der Evidenz der Nichtigkeit. Insofern sind die Selbstgebungen, die evidentes Recht schaffenden Akte [Hervorhebung S.L.], sch¨opferische Urstiftungen des Rechtes [Hervorhebung S.L.], der Wahrheit als Richtigkeit [Hervorhebung S.L.] – eben weil sie f¨ur die jeweiligen Gegenst¨andlichkeiten selbst als f¨ur uns seiende urspr¨unglich konstituierende, urspr¨unglich Sinn und Sein stiftende sind. Ebenso sind die urspr¨unglichen Inad¨aquationen, als Selbstgebungen der Nichtigkeit, Urstiftungen der Falschheit, des Unrechtes als Unrichtigkeit (positiv gewendet, der Wahrheit der Nichtigkeit, der Unrichtigkeit).“ (Hua XVII, 167 f.)
Die Selbstgebungen werden hier als ,evidentes Recht schaffende Akte’, als ,Urstiftungen des Rechtes’ erkannt. Doch es m¨usste noch einmal weiter gefragt werden, wie bzw. wodurch sie denn als Recht schaffend oder gebend erkannt werden. Denn dies geschieht ja nicht ohne weiteres, ebenso wenig wie die Ad¨aquation in der Richtigkeit. Die spezielle Erf¨ullung der rechtlichen Intentionalit¨at hat Husserl nicht bewusst in den Blick ger¨uckt, auch wenn auf ihr das Grundprinzip der ph¨anomenologischen Methode beruht. Denn dass die Selbstgebungen begriffen werden als Ausweisung erst m¨oglich machend, bestimmt in h¨ochstem Maße die Vorgehensweise der Ph¨anomenologie selbst: ,,Das unmittelbare ,Sehen’, nicht bloß das sinnliche, erfahrende Sehen, sondern das Sehen u¨ berhaupt als origin¨ar gebendes Bewußtsein welcher Art immer, ist die letzte Rechtsquelle [Hervorhebung S.L.] aller vern¨unftigen Behauptungen. Rechtgebende [Hervorhebung S.L.] Funktion hat sie nur, weil und soweit sie origin¨ar gebende [Hervorhebung S.L.] ist. Sehen wir einen Gegenstand in voller Klarheit, haben wir rein auf Grund des Sehens und im Rahmen des wirklich sehend Erfaßten Explikation und begriffliche Fassung vollzogen, sehen wir dann (als eine neue Weise des ,Sehens’), wie beschaffen der Gegenstand ist, dann hat die getreue ausdr¨uckende Aussage ihr Recht [Hervorhebung S.L.].“ (Hua III/1, 43)
Schließlich artikuliert sich dies auch im ,Prinzip aller Prinzipien’, der ,Verfassung’, die sich die Ph¨anomenologie gibt; darin wird ,gelobt’, nur das anzuerkennen, was als einzig rechtm¨aßig erkannt wurde, n¨amlich die origin¨ar gebende Anschauung: ,,Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede origin¨ar gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ,Intuition’ origin¨ar [. . . ] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.“ (Hua III/1, 51)
Der Rechtsgrund, den sich die Ph¨anomenologie setzt, ist kein willk¨urlicher oder beliebiger; er ist aber auch nicht urspr¨unglich als Rechts-
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grund gegeben (wie Husserl durch seine Sprechweise manchmal zu suggerieren scheint), sondern muss als solcher konstituiert werden. Die Bedeutung des Rechtsgrundes muss in ihn hineingetragen werden. Sie ist nicht da, bevor nicht die Frage nach der Geltung durch die rechtliche Intentionalit¨at aufbricht. Die Auffassung der Evidenz als Rechtsgrund wird der Evidenz erst als Ergebnis dieser h¨ochsten Ebene der Kritik zugesprochen. Erst hier wird sie im Rahmen eines ,rechtlichen Denkens’ begriffen, etwas, das ihr urspr¨unglich nicht eigenwesentlich ist. Genauso wie auch Wahrheit und Falschheit den Urteilen als Pr¨adikate zugesprochen werden, ,,aber nicht [als] eigenwesentliche, in der traditionellen Rede nicht ,konstituierende Merkmale’ derselben. Man kann sie den Urteilen nicht ohne weiteres ,ansehen’. Urteile selbstgegeben haben, ist nicht, das eine oder andere dieser Pr¨adikate selbst-gegeben haben. Es kann nicht einmal gesagt werden, daß im eigentlichen Wortsinn ein Anspruch auf Wahrheit den Urteilen eigenwesentlich ist, und es ist daher nicht richtig, diesen Anspruchsbegriff schon von vornherein zum Urteilsbegriff zu rechnen. Subjektiv gesprochen, es ist f¨ur den Urteilenden nicht notwendig, Wahrheit mit vorzustellen, ob anschaulich oder leer. [. . .] Urteil ist kategorialer Glaube (grammatisch ausgedr¨uckt pr¨adikativer) – im gew¨ohnlichen engeren Sinn unmodalisierte kategoriale Gewißheit, – also nicht schon ein Sich-¨uberzeugt-Haben durch irgendwelche Zeugen und Zeugnisse, auch nicht die letztentscheidenden: die ,Sachen selbst’.“ (Hua XVII, 203 f.)
Husserl weist hier auf einen sehr wichtigen Punkt hin: Es ist entscheidend, die rechtliche Intentionalit¨at als etwas Nachtr¨agliches zu betrachten, mit all den Sinnbildungen, die sie vollzieht. Recht erscheint nicht urspr¨unglich, sondern es muss durch eine bestimmte Frage bzw. Intentionalit¨at erst in die Erkenntnissituation hineingetragen werden. Dort wird es als Neusch¨opfung konstituiert. Sein Begriff entspringt, ebenso wie der der Richtigkeit, erst in der und durch die jeweilige Kritik. Wie Husserl klarstellt, kann Urteilen nicht einmal ein ,Anspruch auf Wahrheit’ als eigenwesentlich zugeschrieben werden; ebenso wenig kann ihnen Anspruch auf rechtm¨aßige Geltung als eigenwesentlich zugeschrieben werden. Denn das Urteilen als unmodalisierte kategoriale Gewissheit ist Glauben in einem schlichten Sinne. Das heißt: schlicht ,in Geltung haben’, ohne darauf zu reflektieren, d. h. ohne diese auf ihre Rechtm¨aßigkeit zu befragen (bzw. einfach ,etwas’ glauben, ohne seine Richtigkeit in Frage zu stellen). Es muss also stets beachtet werden, dass wir den Begriff, den wir in die Evidenz notwendig hineinlegen, aus unserer Kritik bzw.
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Reflexion gewonnen haben, als Antwort auf eine bestimmte Frage und nicht aus einer urspr¨unglichen Erfahrung von ,Recht’. 4. Vernunft als rechtliche Intentionalit¨at ,,Und ebenso geh¨oren zur Idee der theoretischen Vernunft all die Akte des urteilenden Denkens [. . .], also die Ph¨anomenologie des ,Denkens’ und speziell des richtigen und begr¨undenden Denkens [. . .].“ (Hua XXVIII, 369)
Erst im letzten Abschnitt der Ideen I er¨ortert Husserl die vernunfttheoretische Problematik. Sie geh¨ort zur h¨ochsten und letzten Stufe der ¨ ph¨anomenologischen Uberlegungen. Denn zun¨achst besch¨aftigen sich diese mit dem Hauptthema der Intentionalit¨at, ,,ohne die Fragen des Wirklich- (Wahrhaft-)seins des im Bewußtsein Bewußten in ihren Kreis zu ziehen. Daß positionales Bewußtsein mit seinen thetischen Charakteren im allgemeinsten Sinn als ein ,Vermeinen’ bezeichnet werden kann und als solches notwendig unter dem Vernunftgegensatze der G¨ultigkeit und Ung¨ultigkeit steht“ (Hua III/1, 337 f.), bleibt im Verlauf der Ideen bis zum Vernunftkapitel außer Betracht. Als grundlegende Basis ist also die Intentionalit¨at in ihrem Setzungscharakter zu verstehen. Dieses urdoxische, als seiend’ und ,als wahr’ Setzen ist der Urmodus und damit die Erm¨oglichung aller weiteren Modalit¨aten (vermutlich, wahrscheinlich. . .). Die Kritik als freie M¨oglichkeit der Blickwendung erlaubt nun das Hinblicken auf die Vermeintheit als (inhaltliche) Vermeintheit und auf die Setzung dieser Vermeintheit als Setzung, womit die M¨oglichkeiten richtig – unrichtig, rechtm¨aßig – unrechtm¨aßig aufbrechen. Die Richtigkeitsfrage bezeichneten wir als eine Kritik erster Stufe, die Rechtsfrage als eine Kritik zweiter Stufe. Erst durch die Kritik zweiter Stufe wird das urdoxische Verhalten als Setzung und als Pr¨atention – also als eine Setzung, die ihre ,Rechtm¨aßigkeit’ immer schon vorgibt – erfasst. Davor eignet dem urdoxischen Charakter das Bewusstsein der m¨oglichen Unrichtigkeit oder Unrechtm¨aßigkeit genauso wenig wie das einer ,pr¨atendierten’ Richtigkeit und Rechtm¨aßigkeit. Diese Begriffe sind der Urdoxa nicht eigenwesentlich, sie werden in sie hineingetragen, als neue Sinne gleichsam aufgestuft auf den notwendigen urdoxischen Untergrund. Im Begreifen des Wesens der Intentionalit¨at als Stellungnahme wird klar: ,,diese ist zwar nicht Vernunft, aber der Vernunft
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wesensm¨aßig bed¨urftig, als Pr¨atention auf Ausweisbarkeit angewiesen“ (Tugendhat 1967, 43). Vernunft, als das Verm¨ogen dieser Ausweisung ,,das Verm¨ogen, rechtm¨aßige Begriffe zu bilden“ (Hua XVII, 22), wird in der Kritik zum notwendigen korrigierenden Partner der Intentionalit¨at als Stellungnahme. Wie, auf welche Weise hat bzw. ist die Vernunft das Verm¨ogen der Ausweisung? Es wurde versucht, dies mit der rechtlichen Intentionalit¨at zu zeigen: Die Vernunft hat das Verm¨ogen auszuweisen, weil sie selbst den Rechtssinn urspr¨unglich konstituiert, indem sie Norm u¨ berhaupt als Instrument der Ausweisung setzt. Dies geschieht durch Anwendung v¨ollig neuer, kategorialer Gegenst¨andlichkeiten, die durch fundierte, pr¨adikative Akte auf der Basis von schlichten, vorpr¨adikativen Akten konstituiert werden. Die Vernunft ist demnach das Verm¨ogen der ,normativen Deutung’ schlechthin, sie erst stellt die operativen Instrumente und Begriffe zur Verf¨ugung, indem sie selbstgebende Evidenz als rechtgebend auffasst. Husserl vollzieht dieses rechtliche Denken, ohne explizit auf die Leistung der ,Vernunft’ als ,rechtliche Intentionalit¨at’ aufmerksam zu machen: So kommt es, dass er von ,,rechtgebenden oder selbstgebenden Evidenzen“ (Hua XVII, 171) in einem Atemzug sprechen kann. Genauso sagt er: ,,Eine Setzung, welcher Qualit¨at auch immer, hat [. . .] als Setzung ihres Sinnes ihr Recht, wenn sie vern¨unftig ist; der Vernunftcharakter ist eben selbst der Charakter der Rechtheit [Hervorhebung S.L.], der ihr wesensm¨aßig, also nicht als zuf¨alliges Faktum unter den zuf¨alligen Umst¨anden eines faktisch setzenden Ich ,zukommt’. Korrelativ heißt auch der Satz berechtigt: im Vernunftbewußtsein steht er mit dem noematischen Rechtscharakter ausgestattet da, der abermals wesensm¨aßig zu dem Satze als der so qualifizierten noematischen Thesis und dieser Sinnesmaterie geh¨ort. Genau gesprochen, ,geh¨ort’ zu ihm eine so geartete F¨ulle, die ihrerseits die Vernunftauszeichnung der Thesis begr¨undet.“ (Hua III/1, 322)
Warum ist es nun so wichtig, die Leistung der Vernunft als rechtliche Intentionalit¨at in der Neukonstitution von operativen Begriffen der Ausweisung zu verstehen? Es ist deshalb kein u¨ berfl¨ussiges Beiwerk, weil nur so herausgestellt werden kann, dass sich nicht in den ,Sachen selbst’ das ,Recht’ ,urspr¨unglich’ ,zeigt’, sondern dass es ihnen als Ergebnis einer normativen Deutung zugesprochen wird. An diesem Punkt bleibt Husserl (terminologisch) uneindeutig, insofern er das Recht auch im selbstgegebenen Satz ansetzt. ,Ph¨anomenologie der Vernunft’ ist f¨ur ihn haupts¨achlich das Aufzeigen verschiedener Wesensformen von Evidenzen
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(ad¨aquat, inad¨aquat, assertorisch, apodiktisch, formal, material, mittelbar, unmittelbar) und der sich daran schließenden Vernunftthesen (Hua III/1 § 137). Dabei bleiben aber die spezifischen Konstitutionsleistungen dessen, was als ,Vernunft’ bezeichnet wird, unthematisiert. Es soll daher ein kl¨arender Beitrag zur Ph¨anomenologie der Vernunft sein, diese als rechtliche Intentionalit¨at und damit die Konstitution ihrer operativen Begriffe zu enth¨ullen. Damit stehen wir aber erst am Anfang einer Aufkl¨arung des vern¨unftigen qua rechtlichen Denkens und m¨ussen nach dem Wesen dieser fundierten Akte und ihres Untergrundes fragen. Wenn Recht und Norm erst durch Vernunftakte (im h¨ochsten Sinne Rechtsakte als sch¨opferische Akte66 ) Sinn gewinnen, worauf fußen diese Sinnbildungen? Husserl und unsere vorherigen Untersuchungen geben uns in gewisser Weise schon die Antwort, wir m¨ussen sie nur in einer neuen, differenzierenden Begrifflichkeit fassen, die die Leistungen der rechtlichen Intentionalit¨at benennt und sie von ihrem Untergrund unterscheidet: ,,Zu jedem Leibhaft-Erscheinen eines Dinges geh¨ort die Setzung, sie ist nicht nur u¨ berhaupt mit diesem Erscheinen eins (etwa gar als bloßes allgemeines Faktum – das hier außer Frage ist), sie ist mit ihm eigenartig eins, sie ist durch es ,motiviert’, und doch wieder nicht bloß u¨ berhaupt, sondern ,vern¨unftig motiviert’. Dasselbe besagt: Die Setzung hat in der origin¨aren Gegebenheit ihren urspr¨unglichen Rechtsgrund.“ (Hua III/1, 316)
Was ist dieses eigenartige Einssein der ,leibhaftigen’ Erscheinung mit der Setzung? Was bedeutet es, dass diese Setzung ,vern¨unftig motiviert’ ist? Was bedeutet es, dass die ,,urspr¨unglich motivierte Setzung“ als Glaubensgewissheit ,,den spezifischen Charakter der ,einsehenden“ (Hua III/1, 316) Setzung hat? Und was kann mit dem ,,Urvernunftcharakter“ gemeint sein, ,,der zur Dom¨ane des Urglaubens geh¨ort“ (Hua III/1, 322)? Um alle diese Fragen anhand der rechtsetzenden und rechtgebenden (allererst Recht erschaffenden!) Leistungen der Vernunft aufzurollen, m¨ussen wir fragen, wie diese spezifisch vern¨unftigen operativen Begriffe spontan entstehen und auf welchem passiv vorkonstituierten Fundament eine solche Leistung m¨oglich ist. Welches ist die urspr¨ungliche Vorgegebenheit, die dem rechtlichen Denken als Vorgegebenheit zugrunde 66
Vgl. EU 233: Husserl spricht hier von der ,sch¨opferischen Spontaneit¨at’, welche die Verstandesgegenst¨andlichkeiten erzeugt. Die Legitimationskategorie beschreibt diese ,sch¨opferische Spontaneit¨at’ f¨ur die Verstandesgegenst¨andlichkeit ,Rechtssinn’.
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liegt und auf der sie ihre Formungen vollzieht? Das heißt: Die Frage muss noch einmal anders gestellt werden als in Abschnitt III.2. Nach der Vorgegebenheit wird jetzt nicht als Wurzel des Aufbrechens der Rechtsfrage gefragt, sondern dieses zweite Zur¨uckgehen auf die Vorgegebenheit soll kl¨aren, wie und warum Evidenz als Rechtsgrund erfasst wird und worauf rechtliches Erfassen (der Rechtscharakter) u¨ berhaupt fußt. Der genetischen Fragestellung korrespondiert somit eine teleologische. Wir kehren, um die Frage deutlicher herauszuarbeiten, zur (methodischen) Vorgehensweise Husserls in Erfahrung und Urteil zur¨uck und wollen sehen, ob sich daraus einige fruchtbare Erkenntnisse f¨ur unser Problem ergeben. Husserl untersucht in diesem Werk den Ursprung des pr¨adikativen Denkens aus der vorpr¨adikativen Sph¨are und begr¨undet damit eine ph¨anomenologische Genealogie der Logik. Dabei geht es um die vorgegebenen Gegenst¨andlichkeiten und die sie erfassenden und explizierenden Akte, bis hin zu den pr¨adikativen Leistungen, deren h¨ochste Stufe das Begreifen im Allgemeinbegriff ist. So wie in der Erkenntnist¨atigkeit die Konstitution logischer Gebilde (Verstandesgegenst¨andlichkeiten) unverzichtbar ist, so ist auch, auf dem Boden der logischen Gesetze, eine Sicherung der Erkenntnist¨atigkeit auf einer ,rechtlichen’ Ebene notwendig. Es ist m¨oglich, dies als einen praktischen Zug des theoretischen Erkennens zu beschreiben, obwohl oder weil er doch ganz zu der Vorgehensweise geh¨ort, die man ,Methode’ oder ,methodisch’ nennt. Denn Methode ist in gewisser Weise Praxis der Erkenntnis, insofern sie das Erkennen leitet und ihm von sich selbst her einen Weg weist; ,,erkennendes Handeln“ ist eine ,,Erzeugung der Erkenntnis von einem selbstgegebenen Gegenstand“ (EU 235). Dazu geh¨ort auch die Erzeugung seines Rechtscharakters. Husserl beschreibt die Vorgegebenheit von Gegenst¨anden und die auf sie aufbauenden objektivierenden Leistungen folgendermaßen: ,,Vor jedem Einsatz einer Erkenntnist¨atigkeit sind schon immer Gegenst¨ande f¨ur uns da, in schlichter Gewißheit vorgegeben. Jeder Anfang des erkennenden Tuns setzt sie schon voraus. Sie sind f¨ur uns da in schlichter Gewißheit, das heißt als vermeintlich seiend und so seiend, als uns vor der Erkenntnis schon geltende, und das in verschiedener Weise. So sind sie als schlicht vorgegebene Ansatz und Anreiz f¨ur die Erkenntnisbet¨atigung, in der sie Form und Rechtscharakter erhalten [Hervorhebung S.L.], zum durchgehenden Kern von Erkenntnisleistungen werden, deren Ziel heißt ,wahrhaft seiender Gegenstand’, Gegenstand, wie er in Wahrheit ist.“ (EU 23 f.)
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Wir lesen hier ausdr¨ucklich, dass die Erkenntnisbet¨atigung Form und Rechtscharakter hervorbringt, und zwar auf dem Grund des vorgegebenen Gegenstandes. Das erkennende Tun fasst das ,Wie’ der Vorgegebenheit und bringt es in eine kategoriale Form. Es sind hier also eine Motivation und auch ein spezifischer Charakter der Setzung der rechtlichen Intentionalit¨at festmachbar. Unsere These ist, dass Husserl genau und umsichtig die Formung der Erkenntnist¨atigkeit in den grundlegenden pr¨adikativen Leistungen beschrieben hat, insofern sie sich an der vorpr¨adikativen Gegebenheit von Individuen vollziehen. Was aber den Rechtscharakter der Erkenntnist¨atigkeit betrifft, so bedarf dieser noch einer genaueren Aufmerksamkeit und Beschreibung seiner intentionalen Leistungen. Durch den Rechtscharakter stehen die Gegenst¨ande als berechtigte da, im besonderen Sinn wird ihre Evidenz als berechtigend f¨ur ihre Setzung aufgefasst. Gewiss ist dieser Rechtscharakter ebenso als eine Formung der Vorgegebenheit zu betrachten und daher auch als eine Art der Verstandesgegenst¨andlichkeit; man k¨onnte sie als Legitimationskategorie bezeichnen, die in der Praxis der Erkenntnis zur Anwendung kommt und ebenso als Begriff der Kritik funktioniert. Das Spezielle an dieser Formung ist ihr normativer Charakter, der logische Elemente der Relationsbestimmung aufweist. Dar¨uber hinaus ist aber die besondere Genesis zu beachten, die eine andere Beziehung auf die vorgegebene Gegenst¨andlichkeit aufweist als die von Husserl aufgewiesenen Formen des Kolligierens, Disjungierens und Aufeinander-Beziehens von Gegenst¨andlichkeiten. Der Rechtscharakter ist vielmehr beim Ursprung der Modalit¨aten des Urteils anzusiedeln. Er ist, wie oben ausgef¨uhrt, ein Begriff der Kritik und deshalb verwandt mit dem Richtigkeitsbegriff. Die Erkenntnist¨atigkeit des Fragens, die durch die Modalisierungen des Urteils motiviert wird, kann in freier Blickwendung zur Rechtsfrage werden. Dies h¨angt, wie ausgef¨uhrt wurde, mit dem aktiven Erfassen der Pr¨atention zusammen, also mit der verstandesm¨aßigen Formung der Vorgegebenheit der Urdoxa als setzende und Wahrheit behauptende. W¨ahrend die logischen Kategorien also ein Begreifen des Gegenstandes als Gegenstand erm¨oglichen, vollzieht sich in der Legitimationskategorie ein Begreifen der Setzung als Setzung. Mit der Rechtsfrage entsteht die normative Struktur als leer vermeinte; durch das Auseinandertreten von Pr¨atention und rechtm¨aßiger Setzung sind die Strukturgegenst¨andlichkeiten ,rechtm¨aßig gesetztes Maß – zu Messendes’ in der rechtlichen Intentionalit¨at vorkonstituiert und dr¨angen auf ihre
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Erf¨ullung. Die Bedingungen der M¨oglichkeit von Ausweisung u¨ berhaupt werden hier durch die Leistung der Erkenntnist¨atigkeit erschaffen. Die Erf¨ullung der rechtlichen Intention vollzieht sich durch die Verstandesleistung der Setzung der Selbstgebung bzw. der Evidenz als Maß. Auch hier ist nun, wie bei den logischen Leistungen, ein Fundament in der Passivit¨at zu lokalisieren, welches diese ,Vernunftsetzung’ wesensm¨aßig motiviert. Die Genesis des Rechtscharakters ist also in der Erkenntnist¨atigkeit der Kritik anzusetzen, welche in der Rechtsfrage die normative Grundstruktur der Ausweisung auf dem passiven Untergrund der Urdoxa konstituiert. Die Erf¨ullung dieser Struktur durch die als notwendig eingesehene Setzung der Evidenz als letzten Maßstabs beruht ebenfalls auf dem vorpr¨adikativen Element der evidenten Vorgegebenheit. Als neue Verstandesgegenst¨andlichkeit ist diesem Urteil der Rechtscharakter bzw. der Rechtssinn zu entnehmen. Der Rechtscharakter bezieht sich auf das Urteilen in einem ganz pr¨agnanten Sinne, n¨amlich als Feststellung, als Entscheidung und als Setzung (EU 328 f., 348 f.). ,,In diesem spezifischen Sinne ist also das Urteilen der Ichakt der positio, der Setzung in ihrer doppelten m¨oglichen Gestalt: der Zustimmung oder der Ablehnung, der Verwerfung.“ (EU 348) – ,,Dieses urteilende Stellungnehmen, dieses Geltungerteilen und seine Wandlung ist ferner [. . .] nicht zu verwechseln mit sonstigen Ichverhaltungsweisen, die zur Urteilssph¨are geh¨oren, insbesondere nicht mit dem t¨atigen Explizieren, Kolligieren, Vergleichen, Unterscheiden u. dgl.: all den Leistungen, denen wir die logischen Formen, die der verschiedenen Sachverhalte, verdanken.“ (EU 329) Die logischen Formen und Formungen sind also als Erkenntnist¨atigkeiten zu unterscheiden vom spezifischen Setzungscharakter im Urteil; dieser wiederum ist als ,,aktive Stellungnahme des Ich“ zu unterscheiden von den ,,passiven Synthesen der Einstimmigkeit oder Unstimmigkeit “ (EU 327). Diese ,,sind modale Abwandlungen der passiven Doxa, Erf¨ullungen der passiven Erwartungsintentionen, Aufl¨osung der passiv ihnen zuwachsenden Hemmungen u. dgl. Etwas ganz anderes ist die Entscheidung im eigentlichen Sinne, d. h. die antwortende Stellungnahme des Ich im pr¨adikativen Urteilen als eine Ichaktivit¨at.“ (EU 327) Der Rechtscharakter, der durch die Erkenntnist¨atigkeit verliehen wird, besteht also in einer aktiven Stellungnahme des Ich, in der es sich bewusst (idealerweise in apodiktischer Gewissheit) f¨ur das Maß der Evidenz, an
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dem ausgewiesen wird, entscheidet. Der begr¨undende R¨uckgang auf die Selbstgebung ist ,normativer’, als Husserl sich das selbst ausdr¨ucklich klarmacht. Denn immerhin handelt es sich in diesem Erkenntnisstreben um eine Methode, um einen bestimmten Weg, der immer und immer wieder eingeschlagen wird, um zur Erkenntnis zu gelangen. Das ,Wiederzur-Einheit-zur¨uck’ oder das ,Zur-Erf¨ullung-Gelangen’ im Erkenntnisstreben bedarf eines Wie, eines abgesicherten Weges; man gelangt nicht zuf¨allig zur Erkenntnis, sondern durch eine bestimmte Vorgehensweise. Diese wird in der rechtlichen Intentionalit¨at antizipiert: Deshalb taucht die Frage auch als Rechtsfrage auf und erf¨ullt sich in der als notwendig (als in apodiktischer Gewissheit) eingesehenen Setzung einer Erkenntnisnorm.67 5. Evidenz als volles Angesprochen-Sein und die ihr korrelative Verantwortung Nun m¨ussen wir unseren Blick auf die passive Vorgegebenheit richten, welche der Erkenntnist¨atigkeit der rechtlichen Intentionalit¨at zugrunde liegt. War dieser R¨uckgang im Kapitel III.2 auf die Kl¨arung des Aufbrechens der Rechtsfrage gerichtet, so soll er nun erhellen, welcher Vorgegebenheit das Begreifen im Rechtscharakter u¨ berhaupt korrespondiert. Kapitel III.2 setzte sich mit der Genesis der Rechtsfrage aus der Pr¨atention der Urdoxa 67
Soll wie bei Husserl in Erfahrung und Urteil beim Individuum als genetischem Anfangsglied begonnen wird, so wird zuerst die Selbstgegebenheit als spezifische Gegebenheitsweise des individuellen Gegenstands aktiv in apodiktischer Gewissheit erfasst und als das Maß der Erkenntnis dieses individuellen Gegenstands gesetzt. In einer h¨oheren Stufe der Ichaktivit¨at wird durch Wesensschau schließlich die Selbstgebung als Maß f¨ur die Erkenntnis in Wesensallgemeinheit erfasst und so die rechtliche Allgemeingegenst¨andlichkeit der ,Methode’ konstituiert. Das ,Prinzip aller Prinzipien’ hat daher ebenfalls eine Genesis als Rechtfertigungsprinzip, die bei der Konstitution des Rechtscharakters einer individuellen Gegenst¨andlichkeit beginnt und in der Erkenntnisnorm als Allgemeingegenst¨andlichkeit kulminiert. Der konkrete Sinn des Urteilens als Feststellen wird so von Anfang an in der Erkenntnist¨atigkeit durch die rechtliche Intentionalit¨at in normative Bahnen gebracht, indem die Evidenz als Maß der Erkenntnis festgelegt wird. Also haben wir ein weiteres Urteilen, welches das erkenntnist¨atige inhaltliche Urteilen in Hinblick auf die Form der Erkenntnisgewinnung begleitet. Nichts anderes ist Vernunft oder rechtliche Intentionalit¨at.
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auseinander. In diesem Abschnitt wird nun noch eindringlicher danach gefragt, wie denn u¨ berhaupt etwas als rechtlich begriffen werden kann – also ¨ berhaupt als Rechtsfrage auch danach, wie und warum diese Rechtsfrage u m¨oglich ist. Bisher wurde dies durch die rechtliche Intentionalit¨at selbst erkl¨art, im letzten Abschnitt zeigte sich dieses Verm¨ogen dann genauer als transzendentales Verm¨ogen der Vernunft im Sinne einer Legitimationskategorie. Was nun hier unternommen werden soll, ist (¨uber die Genealogie der Rechtsfrage hinaus) eine Genealogie dieser ,Kategorie’ selbst. Wir finden darauf schon zahlreiche Hinweise in der bereits zitierten Passage bei Husserl: ,,Vor jedem Einsatz einer Erkenntnist¨atigkeit sind schon immer Gegenst¨ande f¨ur uns da, in schlichter Gewißheit vorgegeben. Jeder Anfang des erkennenden Tuns setzt sie schon voraus. Sie sind f¨ur uns da in schlichter Gewißheit, das heißt als vermeintlich seiend und so seiend, als uns vor der Erkenntnis schon geltende, und das in verschiedener Weise [Hervorhebungen S.L.].“ (EU 23) Husserl unterscheidet hier genau zwischen dem Dass-Sein und dem So-Sein der Gegenst¨ande in der Vorgegebenheit; das So-Sein wird in der t¨atigen Betrachtung expliziert und kategorial u¨ berformt, das Dass-Sein wird zum Thema in den Modalisierungen des Urteils und den Existenzial- und Wahrheitspr¨adikationen.68 Hierher geh¨ort auch der Rechtscharakter, der die Gegebenheitsweise der Gegenst¨ande in Hinblick auf die Erkenntnis bestimmt. Die ,schlichte Gewissheit’, mit der uns die Gegenst¨ande in der passiven Urdoxa vorgegeben sind, ist der Grundmodus aller m¨oglichen Modalisierungen: Sie ist durch ein Schon-Voraussetzen und Schon-in-Geltung-Haben charakterisiert. Mit ihr geht laut Husserl eine ,,Urvernunft“ (Hua III/1, 322) einher, die ,,zur Dom¨ane des Urglaubens geh¨ort“ (Hua III/1, 322). Um diese richtig zu verstehen, m¨ussen wir uns noch einmal den passiven Charakter der Urdoxa in Erinnerung rufen: ,,Alle Erfahrung [. . .] ruht zuunterst auf der schlichten, letzte, schlicht erfaßbare Substrate vorgebenden Urdoxa. Die in ihr vorgegebenen naturalen K¨orper sind letzte Substrate f¨ur alle weiteren Bestimmungen, sowohl die kognitiven wie auch die Wertbestimmungen und die praktischen Bestimmungen. Sie alle treten andiesen schlicht erfaßbaren auf. Aber dieser Bereich der Urdoxa, der Boden schlichten Glaubensbewußtseins, ist ein 68
Die Existenzialpr¨adikationen betreffen den Gegenstand, die Wahrheitspr¨adikationen das Urteil u¨ ber den Gegenstand. Die Wirklichkeitspr¨adikationen, die zwischen Fiktion und Realit¨at unterscheiden, m¨ussen wir hier vernachl¨assigen. Vgl. EU §§ 73–75.
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Gegenst¨ande als Substrate bloß passiv vorgebendes Bewußtsein. Seiendes als Einheit der Identit¨at ist in ihm vorgegeben. Jedoch der Bereich der Doxa ist ein Bereich des Fließenden. Passiv vorgegebene Identit¨atseinheit ist noch keine als solche erfaßte und behaltene gegenst¨andliche Identit¨at. Vielmehr ist das Erfassen, z. B. wahrnehmendes Betrachten des vorgegebenen, sinnlichen Substrates, schon eine Aktivit¨at, eine Erkenntnisleistung unterster Stufe.“ (EU 60)
Damit ist gleichzeitig ein radikalerer Begriff von Passivit¨at als der des naiven Bewusstseins gegeben, n¨amlich ,,der der rein affektiven Vorgegebenheit, des passiven Seinsglaubens, in dem noch nichts von Erkenntnisleistung ist“ (EU 61). Wenn in diesem Bereich eine ,Urvernunft’ fungieren soll, so kann dies nur in Form einer urspr¨unglichen Setzung sein, die jedem Zweifel vorhergeht. (Denn der Urglaube hat noch keine Gegenm¨oglichkeiten erfahren, nicht einmal die passiven Synthesen der Unstimmigkeit.) Sicherlich entspricht diese Bestimmung nicht dem gew¨ohnlichen Begriff von ,Vernunft’, wie wir ihn sonst verwenden. Auch Husserl sieht den spezifischen Vernunftcharakter einer Setzung als eine Auszeichnung, die ihr ,,wesensm¨aßig dann und nur dann zukommt, wenn [sie] Setzung auf Grund eines erf¨ullten, origin¨ar gebenden Sinnes und nicht nur u¨ berhaupt eines Sinnes ist“ (Hua III/1, 316). Wir m¨ussen also offensichtlich, um nicht in Verwirrung zu geraten, zwischen zwei Vernunftbegriffen unterscheiden (so wie schon vorher beim Evidenzbegriff ): Einerseits gibt es bei Husserl einen ,naiven’, unthematischen Vernunft- und Evidenzbegriff als Anfangsmodus: den der Lebenswelt, der nat¨urlichen Einstellung, der Urdoxa, auf dem sich erst jeder m¨ogliche Zweifel errichten kann, welcher auf ihn wie auf einen ,Urboden’ zur¨uckverweist. Andererseits gibt es den kritischen, reflektierten Vernunft- und Evidenzbegriff als Endmodus, der die Erf¨ullung einer Intention und somit eine spezifisch intentionale Leistung ist. Wenn nun nach Husserl jeder Vernunftcharakter auf einen Urvernunftcharakter zur¨uckweisen muss (Hua III/1, 322), so bedeutet dies, dass der urspr¨ungliche Gewissheitsmodus, wenn auch nun mit kritisch ver¨andertem und gepr¨uftem Inhalt, wieder hergestellt werden muss. Die wirklich kritisch gepr¨ufte (anteilig oder voll erf¨ullte) Gewissheit ist so stark, dass sie der urdoxischen, noch nicht in Zweifel gekommenen gleicht. Nat¨urlich haftet ihr aber ein wesentlicher Unterschied an: die zus¨atzliche Sinnanreicherung mit dem aktualisierten, erf¨ullten Rechtssinn. Denn der Sinn der Rechtm¨aßigkeit entsteht erst in
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der Kritik; ebenso der Sinn dessen, was Vernunft sein und wirklich leisten soll. In einer urspr¨unglichen Positivit¨at, die keine Unterscheidung kennt und kein Gegenteil hat, ist eine Entscheidung u¨ ber den Setzungscharakter sinnlos. Wir k¨onnen von all diesen Dingen erst r¨uckblickend und nachtr¨aglich sinnvoll sprechen. Deshalb tritt der ,Urvernunftcharakter’ in der Kritik auch als Anspruch auf, der erst ausgewiesen werden muss: ,,Eine Vermutung kann in sich als vern¨unftig charakterisiert sein. Folgen wir der in ihr liegenden R¨uckweisung auf den entsprechenden Urglauben, und machen wir uns diesen in der Form eines ,Ansetzens’ zu eigen, so ,spricht f¨ur diesen etwas’ [Hervorhebung S.L.].“ (Hua III/1, 322) Husserl spricht hier deutlich aus, dass es sich um ein ,Zu-eigen-Machen’ und um ein ,Ansetzen’ handelt, ein Pr¨ufen des Anspruchs, das darauf h¨ort, ob ,f¨ur diesen etwas spricht’. Hier haben wir gleich mehrere Elemente der rechtlichen Intention und ihrer passiven Motivation. Zuerst die aktiven Elemente: das Begreifen der Setzung im Ansetzen, der urteilende Hinblick auf ein Maß, das Pr¨ufen des Anspruchs. Wie geht dies nun vor sich? Dass ,etwas f¨ur etwas spricht’ und dies vernehmbar ist, hat den Charakter des ,,affektiven Anspruchs [. . .]. Auch dieser will gleichsam geh¨ort werden und macht mich geneigt zu glauben.“ (EU 366) Dieser affektive Anspruch kann verschieden stark bzw. intensiv sein; es kann sich um eine ,,affektive Anmutung“ (EU 366) handeln, um Gegenm¨oglichkeiten etc., die verschiedene Neigungen hervorrufen. ,,Dieses Geneigtsein als eine Aktregung, Aktneigung, als SichHingezogen-F¨uhlen so und so zu urteilen, geh¨ort zu den Ph¨anomenen des Langens, des Tendierens, Strebens im weiteren Sinne und ist zu unterscheiden von der Stellungnahme des Ich [. . .].“ (EU 366) Dass ,etwas f¨ur etwas spricht’, motiviert uns also zu einem Urteil u¨ ber die Sache, das dann freilich ein spontaner Urteilsakt im Gegensatz zum passiven Geneigtsein ist. Diese Urteile sind aber niemals willk¨urlich oder beliebig, da sie in ,,Stellungnahmen“ wurzeln, die ,,v¨ollig unselbst¨andig“ (EU 349) sind, insofern sie ihre Motivationsgrundlage in der Passivit¨at haben. Das bedeutet Folgendes f¨ur unsere Problematik: Die Setzung des Maßes, die eine Ichaktivit¨at ist und gleichzeitig notwendig eingesehen (d. h. nicht willk¨urlich) sein soll, antwortet einem affektiven An-spruch69 . 69
Vgl. Kap II., S. 34, Fußnote 27.
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Diese These kommt nicht dem Entwurf gleich, dass Evidenz ein Gef¨uhl w¨are (was Husserl gegen den Psychologismus immer bestritten hat (Heffernan 1999, 1 ff.)). Vielmehr geht es hier um die Komponente, wie und warum der Rechtscharakter als Form hervorgebracht wird. Evidenz ist eine aktive Leistung der Intentionalit¨at der Selbstgebung, sie geh¨ort sogar wesensm¨aßig mit der Bewegung der Intentionalit¨at zusammen. Evidenz aber dar¨uber hinaus in ihrer Selbstgebung als Rechtsgrund zu erfassen, korrespondiert einem An-spruch, mit dem sich diese Gebung selbst ereignet. ,,Evidenz ist das Ereignis, bei dem dasjenige, das sich selbst gibt, und derjenige, der es sich selbst geben l¨aßt, sich begegnen – und zwar nicht nur in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Von diesem Gesichtspunkt bringt Evidenz mit sich mindestens vier Aspekte, n¨amlich: das Gegebene, d. h. das, was gegeben ist; den Begebenen [. . .], d. h. denjenigen, dem es gegeben ist; das Geben bzw. das Gegebenwerden selbst; und die Gegebenheitsweise, d. h. die Art und Weise, in der das Sich-gebende sich dem Begebenen gibt. [. . .] Evidenz ist das, wor¨uber sich ,das Verh¨altnis zwischen der Subjektivit¨at des Erkennens und der Objektivit¨at des Erkenntnisinhaltes’ (Hua XVIII, 7) abspielt.“ (Heffernan 1999, 47)
Was nun in diesem Evidenzereigniszusammenhang herausgearbeitet werden muss, ist vor allem der Aspekt des Gebens, des Gegebenwerdens, der Gebung. Dieser Aspekt wird als An-spruch erfahren. Ich schreibe das Wort deshalb mit Bindestrich, um einerseits den transzendenten Charakter zu betonen, mit dem sich eine (Selbst-)Gebung ereignet; andererseits soll damit der vor-rechtliche, vorpr¨adikative Charakter beschrieben werden, der das Angesprochen-Sein des Bewusstseins in der Gebung hervorhebt. Erst durch dieses Angesprochen-Sein kann u¨ berhaupt etwas als Anspruch (ohne Bindestrich, d. h. schon im rechtlichen, normativen, ausweisenden Kontext) erfasst, begriffen werden. Dar¨uber hinaus meint der An-spruchscharakter der Gebung eine affektive Passivit¨at, auf der sich erst die intentionale Leistung der Selbstgebung errichtet. Noch einmal: Das bedeutet nicht, dass das aktive Evidenzerlebnis selbst ,Gef¨uhl’ w¨are. Was diesem Akt in der passiven Sph¨are zugrunde liegt, kann als ,affektive Kraft’ beschrieben werden, so wie wenn Husserl sagt: ,,Die Kraft jeder Erfahrungssetzung ist da, ich kann mich ihr nicht entziehen.“ (Husserl, Ms. A I 28, 6a) Dieses Sich-nicht-entziehen-K¨onnen k¨undigt auf der passiven Ebene das an, was in der Selbstgegebenheit der Selbstgegebenheit als doppelter intentionaler Leistung kulminiert, zu der noch die Erfassung
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als absoluter Rechtsgrund (im Idealfall der ad¨aquaten Evidenz) hinzukommt. Dazu Husserl: ,,Die Frage nach dem Recht f¨uhrt auf die Frage der unmittelbaren und mittelbaren Selbstgegebenheit [. . .]. Diese Frage f¨uhrt zur Selbstgegebenheit der Selbstgegebenheit selbst und der primitiven Wesensgesetze, die dazu geh¨oren [. . .].“ (Husserl, Ms. A I 3, 16b) F¨ur unser Anliegen ist wichtig, im ,,dynamischen Ereignis“ (Heffernan 1999, 46) der Evidenz die Komponente hervorzuheben, die Evidenz als Rechtsgrund erfassbar macht. Der Grund hierf¨ur liegt – so die These dieser Arbeit – in der passiven Vorgegebenheit des Dass des Gegebenseins u¨ berhaupt, welches affektiv f¨ur das Bewusstsein Angesprochen-Sein, Anspruch ist. Das Ausgezeichnete der Selbst-Gebung ist die F¨ulle des Gegebenen ebenso wie der besondere Modus der Gebung des Selbst. Diese F¨ulle kann auf der Ebene der Setzung auch als Unabweisbarkeit beschrieben werden. Die ,Leibhaftigkeit’, von der Husserl spricht, betrifft nicht nur das Gegebene, sondern ist auch eine Qualit¨at der Gebung, die als unabweisbarer An-spruch erfahren wird. (,,Woher wissen wir denn von einer Wahrheit außer und neben der Evidenz?“ (Hua XXIV, 156)) Das Erlebnis der Selbstgebung wird erlebt als volle Gebung. Dies bedeutet ein inhaltlich volles Gegebensein, sowie ein volles affektives AngesprochenSein, das keinen Raum mehr f¨ur eine Gegenm¨oglichkeit l¨asst. Hier vereinen sich teleologische und genetische Momente: Die Gebung in der F¨ulle kann deshalb als Rechtsgrund begriffen werden, weil sie voller An-spruch ist; sie kann deshalb als Rechtsgrund begriffen werden, weil sie u¨ berhaupt An-spruch ist. Evidenz als Erlebnis der Gebung in der F¨ulle hat eine starke affektive Dimension70 . Im Einsehen, wenn etwas ,einleuchtet’, ist sie so stark, dass ihr An-spruch einer und eindeutig ist und alles andere u¨ berdeckt. Es spricht nicht nur etwas daf¨ur, sondern alles spricht daf¨ur, nichts dagegen. Von der Leistung der Selbst-Gebung, die von einem vollem affektiven Angesprochen-Sein begleitet wird, zur Setzung dieses Erlebnisses als Rechtsquelle, scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein; in ihm liegt aber alle Spontaneit¨at und Ichaktivit¨at der pr¨adikativen Sph¨are. Dieser Akt, der eine aktive Stellungnahme zum affektiv erfahrenen An-spruch ist, ist die 70
Dies ist nicht als ein angenehmes oder unangenehmes ,Gef¨uhl’ oder als eine ,Befriedigung’ zu verstehen; vielmehr ist damit die affektive Kraft bezeichnet, die auch zum Erkennen, zum ,Einleuchten’ dazugeh¨ort.
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urspr¨ungliche vern¨unftige Setzung (der kritischen Vernunft, nicht der ,Urvernunft’), durch die alle Ausweisung als ,rechtm¨aßige’ erst m¨oglich wird. Es bleibt dabei: Rechtscharakter bzw. Rechtssinn wird erst durch diese Setzung und die sich an sie kn¨upfenden (normativen) Strukturen konstituiert; der vorg¨angige passive An-spruch der Gebung ist die Motivationsgrundlage, unabweisbar, aber noch nicht in die Form ,rechtm¨aßiges Maß – zu Messendes’ gebracht. Der Akt, der im Aufeinandertreffen von rechtlicher Intentionalit¨at und vollem Angesprochen-Sein die Rechtsquelle setzt, ist also ein ,fundierter’ Akt, der aber nicht auf der schlichten Anschauung eines ,Urrechts’ aufbaut, sondern dieses selbst erst als kategoriale Gegenst¨andlichkeit spontan konstituiert. Wie wir bereits o¨ fter erw¨ahnt haben: Recht ereignet sich nicht, es entsteht im Urteil. Was sich hingegen ereignet, ist Gebung als An-spruch. Der ,einsehende Charakter’ der Vernunftsetzung sieht kein urspr¨ungliches Recht selbst ein, sondern erfasst das Einsehen der Evidenz im Hinblick auf die Erkenntnis als ausgezeichnetes Erlebnis, das in verallgemeinerter Form zum Maß, zum Maßstab der Erkenntnis werden muss. Das Selbst-gegeben-Sein wird als (erkenntnis-)begr¨undend begriffen und dadurch mit Rechtscharakter ausgestattet; dem Erlebnis der Evidenz im aktiven Urteil (der Setzung) kommt so der Rechts-Grund als Sinnzuwachs zu, auf den ,methodisch’ immer zur¨uckgegriffen werden kann: ,,Selbstgebung soll f¨ur uns Maß, und ihr absolutes Optimum das letzte Maß sein, an dem wir alle Urteile, alle unsere Seinsmeinungen bew¨ahren.“ (Hua VIII, 33) Der hier vorgebrachte Vorschlag, den Charakter der Gebung als Anspruch zu erfassen, soll den vor-rechtlichen Aspekt dieses Ph¨anomens st¨arker betonen. Er soll das kritische Begreifen der Urdoxa als Pr¨atention verst¨andlich machen: Denn aus dem urspr¨unglichen AngesprochenSein folgt der Anspruch auf Geltung. Der volle An-spruch der Selbstgebung erf¨ullt den Anspruch der Pr¨atention: Rechtm¨aßig ist sie nun, weil sie durch die Norm hindurchgegangen ist; die Glaubensgewissheit ist damit eine vern¨unftig best¨atigte durch den kritischen Rechtssinn. Was in der Urdoxa passive Vorgegebenheit ohne jede Erkenntnist¨atigkeit (naive Evidenz, ,Urvernunft’) war, ist in der als Rechtsgrund gesetzten Selbstgebung h¨ochste Erkenntnist¨atigkeit (kritische Evidenz, kritische Vernunft). Der Setzungscharakter ist in beiden F¨allen ,zweifellos’, einmal durch die Vorg¨angigkeit vor allem Zweifel, der immer Zweifel an . . . sein muss, einmal durch den Durchgang durch allen Zweifel in der kritischen Pr¨ufung und Erf¨ullung der rechtlichen Intentionalit¨at. So gleichen sich Schlicht-
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heit und h¨ochste Vernunftt¨atigkeit in einem Maße, dass Husserls Rede von der ,Urvernunft’ vielleicht verst¨andlicher wird: Was sollte sonst eine ,passive Vernunft’ sein? Der Setzungscharakter in der Urdoxa ist so ,rein’, wie er es nur in der Selbstgebung sein kann – die passive Urvernunft dieses passiven Urglaubens ein Immer-schon-geh¨ort-Haben auf den An-spruch. Das heißt, weniger metaphorisch ausgedr¨uckt: Die Vorgegebenheit ist undurchstreichbar, unabweisbar und dadurch ur-vern¨unftig. Trotzdem, das Konzept der ,Urvernunft’ bleibt schwer verst¨andlich und schwierig einzuordnen. In Bezug auf Genesis und Teleologie der rechtlichen Intentionalit¨at bleibt auf jeden Fall festzuhalten: Der erste, naive Evidenz- und Vernunftbegriff wird in der rechtlichen Intentionalit¨at erfasst als Anspruch bzw. Pr¨atention (Evidenz ,auf Kredit’) im Aufbrechen der Rechtsfrage; der zweite, kritische Evidenz- und Vernunftbegriff ist die Erf¨ullung dieses Anspruchs als Recht. M¨oglich sind Erf¨ullung und Erfassung in solchen Strukturen aber nur durch eine spontane Konstitution eines Rechtscharakters, die einem vorpr¨adikativen An-spruch antwortet. Nach der vorl¨aufigen Kl¨arung dieses Verh¨altnisses bleibt nun noch ein wichtiger Nachtrag zu leisten, der die Gegebenheitsweisen und folglich auch die Evidenzstile betrifft: Evidenz ist, das betont vor allem der sp¨atere Husserl, nur in idealer Form als Ad¨aquation gegeben. In den meisten F¨allen der Erfahrung liegt gerade nicht dieser Fall der Evidenz vor, sondern relative Evidenzen. ,,In der Logik [Formale und transzendentale Logik] gewinnt [. . .] die Realit¨at der relativen, inad¨aquaten und zweifelhaften Evidenz so sehr die Oberhand gegen¨uber dem Ideal der absoluten, ad¨aquaten und apodiktischen Evidenz, daß man sogar von einer ,Relativit¨atstheorie’ der Evidenz bei Husserl sprechen kann.“ (Heffernan 1999, 14)71 Worauf Husserl schon in seiner ,Ph¨anomenologie der Vernunft’ besonders Wert legt, ist die Aufweisung verschiedener Typen von Evidenz und die sich daran kn¨upfende Vernunftsetzung: ,,Die Urquelle alles Rechtes liegt hinsichtlich aller Gegenstandsgebiete und auf sie bezogener Setzung in der unmittelbaren, und enger begrenzt, in der origin¨aren Evidenz, bzw. in der sie motivierenden origin¨aren Gegebenheit. Aus dieser Quelle kann aber in verschie71
Vgl. Heffernan 1983, 166 ff., wo der Autor die genaue Entwicklung des Husserl’schen Evidenzbegriffs von den Logischen Untersuchungen bis zur Formalen und transzendentalen Logik nachzeichnet.
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dener Weise indirekt gesch¨opft, aus ihr der Vernunftwert einer Setzung, die in sich selbst keine Evidenz hat, abgeleitet oder, wenn sie unmittelbar ist, bekr¨aftigt und best¨atigt werden.“ (Hua III/1, 326)
So liegt z. B. in der Erinnerung nur ein ,,relatives und unvollkommenes Recht“ (Hua III/1, 326), da sie auf eine aktuelle Gegenwart zur¨uckweist, diese aber nicht mehr ad¨aquat geben kann, da sich auch Nichterlebtes in ¨ die Erinnerung mischen k¨onnte. Uberhaupt gibt es Gegenstandskategorien, die prinzipiell nur in inad¨aquater Evidenz erscheinen k¨onnen, z. B. das raum-zeitlich verfasste Ding, von dem jeweils nur eine Seite origin¨ar gegeben ist. Die Vernunftsetzung muss daher ebenso ,inad¨aquat’ sein, sie ist niemals ,endg¨ultig’ oder ,absolut’, sondern sie erf¨ahrt entweder im einstimmigen Fortgang der Erfahrung ,,eine positive ph¨anomenologische Steigerung in Hinsicht auf ihre motivierende ,Kraft’ “ (Hua III/1, 320), oder sie verliert an ,Gewicht’ durch Gegenmotive. Handelt es sich also um den Grundtypus der inad¨aquaten Evidenz, so wiegt die Gradualit¨at des ,Gewichts’ als bekr¨aftigend oder entkr¨aftigend f¨ur die Vernunftsetzung. (Der Typus der ad¨aquaten Evidenz kommt ohne diese Steigerungsund Minderungsf¨ahigkeit aus.) Allerdings ist f¨ur die inad¨aquate Evidenz wesensm¨aßig zumindest vorgezeichnet, in welchen Bahnen sich die m¨oglichen unendlichen Erfahrungen abspielen; diese ,Idee im kantischen Sinne’72 , die zumindest eine wesenstypische Erf¨ullung und damit ad¨aquate Evidenz vorzeichnet, motiviert eine Vernunftthesis, die ihren Vernunftgrund in der origin¨aren Gegebenheit hat: ,,Prinzipiell entspricht (im Apriori der unbedingten Wesensallgemeinheit) jedem ,wahrhaft seienden’ Gegenstand die Idee eines m¨oglichen Bewußtseins, in welchem der Gegenstand selbst origin¨ar und dabei vollkommen ad¨aquat erfaßbar ist. Umgekehrt, wenn diese M¨oglichkeit gew¨ahrleistet ist, ist eo ipso der Gegenstand wahrhaft seiend.“ (Hua III/1, 329) Die Unendlichkeit der 72
,,Es gibt Gegenst¨ande – und alle transzendenten Gegenst¨ande, alle ,Realit¨aten’, die der Titel Natur oder Welt umspannt, geh¨oren hierher – die in keinem abgeschlossenen Bewußtsein in vollst¨andiger Bestimmtheit und in ebenso vollst¨andiger Anschaulichkeit gegeben sein k¨onnen. Aber als ,Idee’(im Kantischen Sinn) ist gleichwohl die vollkommene Gegebenheit vorgezeichnet – als ein seinem Wesenstypus absolut bestimmendes System endloser Prozesse kontinuierlichen Erscheinens, bzw. als Feld dieser Prozesse ein a priori bestimmtes Kontinuum von Erscheinungen mit verschiedenen aber bestimmten Dimensionen, durchherrscht von fester Wesensgesetzlichkeit.“ (Hua III/1, 331)
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m¨oglichen Erfahrungen kann also zumindest durch die Erfassung des Wesenstyps dieser Erfahrungen eingeholt werden, wodurch f¨ur Husserl eine sog. ,schlechte Unendlichkeit’ ausgeschlossen ist. Korrelativ dazu ist durch die Evidenz der ,Idee’ als eigenen Einsichtstypus die Vernunftsetzung gew¨ahrleistet. Dieser Typus der regulativen Idee scheint in besonderer Weise zu den Formen der rechtlichen Intentionalit¨at zu geh¨oren, insofern damit die Rechtfertigung ins Unendliche verschoben wird. Wenn die Erf¨ullung also wesensm¨aßig nicht eintreten kann, wird der Anspruch auf Rechtfertigung in dieser Form ,verunendlicht’ und gleichzeitig als ,Idee’ eingeholt. Eine weitere Differenz hinsichtlich der Evidenztypen ist die zwischen dem ,,,assertorische[n]’ Sehen eines Individuellen“ (Hua III/1, 317) und dem ,,apodiktischen [. . .] Einsehen eines Wesens oder Sachverhalts“ (Hua III/1, 318); auch deutet Husserl Unterschiede in den motivierenden Unterlagen an, die eine rein formale und eine rein materiale Evidenz unterscheiden lassen. Entscheidend ist, dass jeder Vernunftthesis eine Evidenz zugrunde liegt, sei es als ,,Motivationsbeziehung auf Originarit¨at der Gegebenheit“ (Hua III/1, 318) oder als ein anderer Evidenztypus z. B. der ,Idee’. Die einzige Evidenz, die damit nicht ,auf Kredit’ ist, w¨are die apodiktische, und selbst diese muss f¨ur ein zeitlich existierendes Bewusstsein immer wiederholbar sein, um ihren ,Kredit’ zu behalten. Alle Evidenzen sind also in gewisser Weise immer pr¨asumtiv. Fassen wir zusammen: Eine vern¨unftige Setzung ist motiviert durch die ihr zugrunde liegende Evidenz. Im Hinblick auf die rechtliche Intentionalit¨at, welche Antizipation und Erf¨ullung der Vernunftthesis vollzieht, hat sich der An-spruch der Gebung als passives Fundament f¨ur die spontane Konstitution des Rechtscharakters erwiesen. Diese pr¨adikativen Leistungen, welche den Rechtscharakter als neue Verstandesgegenst¨andlichkeit und selbstst¨andigen Sinn erst konstituieren und ihn nicht einfach dem Gegebenen entnehmen, blieben bisher verborgen bzw. verdeckt durch ein vermeintlich urspr¨ungliches Recht der Selbstgegebenheit. ,Urspr¨unglich’, also urdoxisch ereignet sich aber ,bloß’ ein vor-pr¨adikatives Angesprochen-Sein als schlichte Vorgegebenheit und korrelativ eine schlichte (grundlegende und vorl¨aufige) Setzung. Der Rechtscharakter, der vom An-spruch pr¨adiziert wird, ist wesensm¨aßig nachtr¨aglich, da sein Sinn erst in der Gegenm¨oglichkeit aufbricht, also im kritischen Verlassen der urdoxischen Einstellung. Eine signitive Intention, der sich die prakti-
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sche Intention des Erkenntniswillens anschließt, richtet sich auf Erf¨ullung der Rechtm¨aßigkeit der Setzung (wobei gleichzeitig eine Entt¨auschung m¨oglich ist). Dadurch wird eine Struktur antizipiert, welche die Setzung eines ausweisenden Maßes qua Maß, also Rechtsgrund, erfordert. Der Rechtsgrund wird nicht willk¨urlich festgelegt, er muss eingesehen werden. Dieses Einsehen bedeutet aber (ebenso wie schon die Evidenz selbst) eine spontane Leistung, welche die Norm der Erkenntnis festlegt. Die ph¨anomenologische Methode in ihrem ,Prinzip aller Prinzipien’ ist ein treffendes Beispiel f¨ur eine bewusste Setzung eines Rechtsgrundes, welche diese a¨ußerste Setzung als antwortendes Urteil auf eine a¨ußerste Gebung vollzieht. Die Erf¨ullung der rechtlichen Intentionalit¨at in der theoretischen Einstellung auf Wahrheit/Erkenntnis ereignet sich in der ,vollen’ Gebung (der Selbst-Gebung), die in einer ,leeren’ Setzung rein formal als Maß bestimmt wird. Dieser Schritt aber ist unerl¨asslich: Die volle Gebung verlangt nach einer Setzung, die notwendig (in apodiktischer Gewissheit vollzogen) ist, und doch als Setzung erkannt sein muss. Denn nicht die Passivit¨at, erst der aktive Zugriff befestigt die affektive Intensit¨at der Erscheinungsweisen in einem rechtlichen Schema, auf das es immer wieder zur¨uckkommen kann, und schafft damit die Form der Recht zu- oder absprechenden Ausweisung. Warum erweist sich die Evidenz als dieser a¨ußerste und voraussetzungslose Rechtsgrund, der in apodiktischer Gewissheit gesetzt werden muss? Sie gibt einerseits als geforderter Rechtsgrund die inhaltsleerste Norm ab (weil es um die jeweilige Evidenz einer jeweiligen Gegebenheit geht), andererseits ist ihre konkrete F¨ulle ein non plus ultra. Die F¨ulle ist nicht nur eine ausgezeichnete Gegebenheitsweise des Gegebenen, sie wird auch affektiv als volle Gebung (Gebung in der F¨ulle) erfahren – man k¨onnte auch sagen als voller An-spruch, dem das aktive Urteil als ,,antwortende Stellungnahme des Ich“ (EU 327) begegnet. Auf der passiven Ebene ist dieser volle An-spruch schlicht affektiv da, auf der aktiven, pr¨adikativen Ebene, wo es um die Freiheit der Setzung, aber geleitet von einem theoretischen Interesse, geht, wird diesem An-spruch ver-antwortlich geantwortet. Die Evidenz (die bei Husserl immer Intuition, Anschauung ist) ist die begriffene, unabweisbare F¨ulle des An-spruchs, der eine Vernunftsetzung in Formen der Legitimation antwortet. Damit kommen wir zum letzten Punkt und auch zur Konsequenz der Ausf¨uhrungen in diesem Kapitel:
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Ein rechtliches Denken, das sich der freien, spontanen Setzung der Rechtsquelle bewusst ist, ist sich auch seiner Verantwortlichkeit bewusst. Damit w¨are Verantwortung nicht nur ethisch zu fassen, sondern auch als erkenntnisleitendes Prinzip, wie es Husserl ja mit dem Begriff der ,Selbstverantwortung’ getan hat. Die theoretische, kritische Einstellung ist mehr als ein passiv-tendenzi¨oser Zug zur Wiederherstellung der Einstimmigkeit im Bewusstsein, obwohl sie durchaus auf ihm fußt. Aber gerade weil es sich um ein kritisches Urteilen handelt, muss in der Einstellung auf Wahrheit eine Verantwortung bestehen, es muss ein seiner bewusstes Setzungsverm¨ogen sein, das sich der Gebung aktiv verpflichtet und ihr nicht nur passiv Folge leistet. ,,Wir d¨urfen uns nicht auf die in der Bet¨atigung der Evidenz gef¨uhlte Erkenntnisbefriedigung verlassen. Die Evidenz, die wie haben, muß sich uns auch als Evidenz rechtfertigen [. . .].“ (Hua VIII, 33) Husserls ganzer Begriff von Philosophie st¨utzt sich auf diese absolute Rechtfertigung in absoluter Selbstverantwortung.73 Dabei darf die transzendentale Komponente nicht u¨ bersehen werden: Wenn die transzendentale Subjektivit¨at bzw. die transzendentale Intersubjektivit¨at74 als letzter Geltungsgrund erkannt und gesetzt wird, dann ist sie auch f¨ur ihre Erkenntnis verantwortlich. Wer Recht zu- und absprechen kann, muss dies auch verantworten; bzw. wer sich selbst einsieht als den Rechtscharakter setzend, der muss diese Setzung stets voll verantworten und rechtfertigen k¨onnen. Im ph¨anomenologischen ,Prinzip aller Prinzipien’ wird in der Setzung des Rechtsgrundes der Evidenz die volle Verantwortung gegen¨uber der Gebung u¨ bernommen. Dieser a¨ußerste Akt der Setzung einer (inhaltlichen) Nicht-Setzung muss erfolgen, um das Rechtsdenken, das vern¨unftige Denken in Gang zu bringen. ,,Verantwortung u¨ berhaupt ist demnach nichts anderes als das subjektive Korrelat des Anspruchs auf Wahrheitsausweisung“ (Tugendhat 1967, 190). Dennoch behauptet Tugendhat, dass Husserl einen ungekl¨arten, sich in einem ,,philosophischen Vakuum“ (Tugendhat 1967, 192) befindenden Vorbegriff von Philosophie als Idee der absoluten Rechtferti73
Vgl. dazu auch Kuster 1996, die Husserls Verantwortungsbegriff als ,Gang durch die Faktizit¨at’ auseinanderlegt. 74 Auf die transzendentale Intersubjektivit¨at als letzten transzendentalen Geltungsgrund und ihre unentbehrliche Rolle in der Konstitution von Objektivit¨at gehen wir ausf¨uhrlich im Kapitel VI. ein.
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gung hat und sich dieser ,,Voraussetzung seiner Philosophie der Voraussetzungslosigkeit“ (Tugendhat 1967, 191) erst sehr sp¨at bewusst geworden ist. Dieser Verantwortungsbegriff, so wollen wir entgegnen, ist aber keine kontingente oder unreflektierte Voraussetzung zu einer Philosophie der ,Voraussetzungslosigkeit’, sondern er geh¨ort wesenhaft zu einem auf Wahrheit ausgerichteten rechtlichen Denken. Eine l¨angere Passage aus Tugendhats Buch soll seine Position genauer darstellen: ,,Die Verpflichtung zur Rechtfertigung der Wahrheit, deren Anspruch in der Verantwortlichkeit u¨ bernommen wird, ergibt sich ja noch keineswegs aus dem allgemeinen Wahrheitsinteresse, aus dem Interesse an der Rechtm¨aßigkeit der jeweiligen Setzung. Dieses letztere geh¨ort allerdings analytisch zum Sinn jeder Wahrheitssetzung u¨ berhaupt, da jedes F¨urwahrhalten, das sein Gesetztes als unwahr erkennt, sich selbst aufhebt. Ein Wesen, das auf Wahrheit gerichtet ist, Wahrheit setzt, muß also, weil dieses Setzen durch die Differenz von Pr¨atention und Ausweisung ungesichert ist, ein Interesse haben, rechtm¨aßige Wahrheit zu setzen, da sich sonst sein Setzen und d. h. es selbst als Wahrheit setzendes aufl¨osen w¨urde. [. . .] Aber dieses Interesse l¨asst sich doch in beliebigen Kompromissen zwischen zwei entgegengesetzten M¨oglichkeiten befriedigen: man kann, um die Rechtm¨aßigkeit der eigenen Setzungen f¨ur sich zu sichern, gerade an denjenigen Setzungen, die man bereits vollzogen hat, unbedingt festhalten wollen und muß dann die Frage nach einer Rechtfertigung, in der sie sich als unwahr erweisen k¨onnten, verhindern; oder man kann, um die Rechtm¨aßigkeit der eigenen Setzungen f¨ur sich zu sichern, ihre Rechtfertigung gerade anstreben.“ (Tugendhat 1967, 191 f.)
F¨ur Tugendhat bleibt ,,die Motivation zur Philosophie letztlich ungekl¨art“ (Tugendhat 1967, 192), weil die Haltung der Unverantwortlichkeit die ,nat¨urlichere’ ist und die der Verantwortung ,unnat¨urlich’ – er sieht erst in Heideggers Begriffen der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit diese Thematik in die Philosophie miteinbezogen. Aber wird dabei nicht die Dynamik des Rechtssinns bzw. die rechtliche Intention u¨ bersehen sowie u¨ berhaupt der Sinn dessen, was Husserl als kritische Einstellung bezeichnet? Diese Einstellung wird in Freiheit eingenommen und entspringt dem passiven Bed¨urfnis nach Einstimmigkeit: Wenn man dieses allein schon ernst nimmt, dann wird Einstimmigkeit nicht vollends erreicht werden k¨onnen, wenn ein widerspr¨uchlicher affektiver Zug, eine ,St¨orung’ zwar ,da’ ist, aber unterdr¨uckt und damit eine Rechtfertigung ,verhindert’ wird. Insofern l¨asst sich die Moti¨ vation zur Philosophie schon aus dem bewussten Ubernehmen einer passiven Disposition verstehen; dessen ungeachtet besteht nat¨urlich die Frei-
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heit, das nicht zu tun, und auch die Tendenz zur ,Uneigentlichkeit’ oder ¨ zur unreflektierten ,nat¨urlichen Einstellung’. Das Ubernehmen der kritischen Einstellung hingegen treibt sich selbst stets voran, so wie der Rechtssinn, der sich nie ganz erf¨ullt einstellt und sich stets in einer weiteren Intention antizipiert, bevor er nicht absolut gerechtfertigt worden ist.75 Diese kritische Einstellung, die nach der Rechtm¨aßigkeit der Wahrheitssetzung fragt, sei schon, wie Tugendhat behauptet, analytisch im Sinn jeder Wahrheitssetzung und jedes Wahrheit setzenden, auf Wahrheit gerichteten Wesens u¨ berhaupt gelegen, in seinem Interesse an Selbsterhaltung76 . Warum sollten sich nun gerade die kritischen Fragen, die Setzungen als m¨ogliche Pr¨atentionen erkennen, so leicht durch bewusst gesetzte Pr¨atentionen niederhalten lassen? Ist die kritische Einstellung nicht schon wesensm¨aßig immer wieder im Aufbrechen begriffen? Wartet sie nicht nur auf ein aktives Nachgeben und Nachgehen dem passiven ,,Unbehagen“ gegen¨uber, um auf ,absolute Rechtfertigung’ (und sei es auch ,nur’ mittels einer Idee im kantischen Sinne) hinstreben zu k¨onnen? Es gibt also durchaus einen sinnvollen Motivationsweg des philosophischen Fragens, der von der Passivit¨at her vorgezeichnet werden kann und dem Struktur und Dynamik des Rechtssinns in der rechtlichen Intentionalit¨at entsprechen. Daher schwebt auch Husserls Begriff der Selbstverantwortung in keinem philosophischen Vakuum, sondern ist konkret an die kritischen Fragen (nach Richtigkeit und Rechtm¨aßigkeit) r¨uckgebunden, die im ,Sinn des auf Wahrheit gerichteten, Wahrheit setzenden Wesens liegen’. Das bedeutet nicht, dass diese Ausgerichtetheit eine urspr¨ungliche, vorg¨angige sein muss: Der Anspruch auf Wahrheit (n¨amlich, dass wir sie als wahr erkennen) liegt weder in den Sachen selbst noch in den Urteilen oder S¨atzen, nicht einmal f¨ur den Urteilenden ist es notwendig, Wahrheit mit vorzustellen, ob anschaulich oder leer. 75
Auch dies entspricht der allgemeinen Charakteristik der Intentionalit¨at, wie sie etwa schon in den Logischen Untersuchungen ausgearbeitet wurde (signitive Intentionen verweisen auf intuitive und diese intuitiven Intentionen weisen wieder weiter). Dar¨uber hinaus ist die Teleologie im Intentionalit¨atsbegriff schon inh¨arent enthalten. 76 Selbsterhaltung ist bei Husserl ein wichtiges Thema; wir werden auch im Zusammenhang mit der Husserl’schen Ethik auf diesen Begriff stoßen. Er zieht sich vom passiven Trieb der Erhaltung der Einheit bis zum h¨ochsten Begehren der Vernunft nach sich durchhaltenden, sich bew¨ahrenden wahren Urteilen, die ein kontinuierliches Fortschreiten erm¨oglichen. Vgl. IV. 5.
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,,Also in ihrem Eigenwesen haben Urteile nichts von einem Anspruch auf Wahrheit und Falschheit, aber es kann jedes die praktische Intention auf Bew¨ahrung [Hervorhebung S.L.], auf das ,es stimmt’, oder auf Entscheidung, ob es stimmt oder nicht stimmt, in sich aufnehmen, es kann subjektiv, als Urteil im urteilenden Meinen, in genauer zu unterscheidende intentionale Zusammenh¨ange der Best¨atigung und evidenten Bew¨ahrung treten [. . .].“ (Hua XVII, 204)
Dass wir nicht urspr¨unglich (urdoxisch) auf Wahrheit gerichtet sind, sondern sich (durch die Modalisierungen motiviert) auf dieser Basis erst die Wahrheitsfrage errichtet, ist eine Erkenntnis, die die Nachtr¨aglichkeit der rechtlichen Strukturen der Erkenntnis nur noch betont. Aber das Wahrheitsinteresse, ist es einmal aufgebrochen, als Richtigkeits- oder rechtliche Intentionalit¨at, als Intention auf eine Vernunftsetzung hin, ist gewiss wesenhaft mit der Rechtfertigung dieser Wahrheit verkn¨upft, wenn sie diesen Namen verdienen soll. Die Ergebnisse dieses Kapitels, dargestellt anhand der strukturellen Dynamik des Rechtssinns (II.), sind daher zusammengefasst folgende: Ein Recht ausweisen zu wollen setzt wesensm¨aßig eine Norm voraus. In der kritischen Einstellung, die jede Setzung als m¨ogliche Pr¨atention auffasst, ist gefordert, dass sich jede Setzung als ,rechtm¨aßig’ ausweist. Diese Forderung strahlt umgekehrt in einer Intention auf Erf¨ullung vom kritisch erfassten Rechtssinn auf die Normsetzung hin aus. Da daf¨ur wieder eine Normsetzung notwendig w¨are und so in infinitum, muss es eine a¨ußerste Setzung geben, die ihren Setzungscharakter inhaltlich ganz verl¨asst und nur formal die F¨ulle der Evidenz (die f¨ur keinen anderen Inhalt mehr Raum l¨asst) als Rechtsquelle erfasst. Anders gesagt: Die Willk¨ur oder Selbstst¨andigkeit der Setzung wird (inhaltlich) dadurch u¨ berwunden, dass sie sich verpflichtet, einem An-spruch zu antworten – und erst damit kommt sie ihrem eigenen Anspruch auf Erf¨ullung der rechtlichen Intention (Vernunftcharakter) nach. Die Notwendigkeit des ¨ Setzens bleibt bestehen; ebenso das Ubernehmen einer radikalen Ver¨ antwortung im Ubernehmen dieser Setzung. Das ,Prinzip aller Prinzipien’ steht genau an dieser Schwelle von Anspruch und Verantwortung. Aus diesem Grund kann Selbstgebung auch als volles In-Anspruch-genommen-Werden verstanden werden. Die Setzung der Selbstgebung als Rechtsquelle erzeugt den Rechtsgrund als neuen Gegenstand, insofern sie die F¨ulle eines An-spruchs sichtbar macht, wel-
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cher so in Anspruch nimmt, dass er unabweisbar ist. Die ausgezeichnete Stellung der Selbstgebung muss daher gleichzeitig als Setzung und als volle Gebung, als Ausdruck des fundamentalen Angesprochen-Seins und dessen Ver-antwortung begriffen werden. In dieser Weise wirkt sich die Verfasstheit des Bewussteins auf die ,Verfassung’ der Wissenschaft vom Bewusstsein aus. Diese ,,Erkenntnisleistung mit ihrem urrechtbestimmenden und -begrenzenden Motivationshorizont“ (Hua VIII, 30) zeigt den Prozess und die Grundsituation einer zum Urteilen verurteilten Vernunft auf, die stets in Anspruch genommen ist. In diesem Sinne ist das Angesprochen-Sein der Stein des Anstoßes f¨ur das rechtfertigende Denken u¨ berhaupt – und ihm muss es verpflichtet bleiben, um tats¨achlich rechtfertigendes Denken zu sein. Dies erfordert eine bestimmte Haltung, innerhalb derer auch Husserls Begriff von Philosophie zu verstehen ist: ,,Philosophie gilt mir, der Idee nach, als die universale und im radikalen Sinne ,strenge’ Wissenschaft. Als das ist sie Wissenschaft aus letzter Begr¨undung, oder, was gleich gilt, aus letzter Selbstverantwortung, in der also keine pr¨adikative oder vorpr¨adikative Selbstverst¨andlichkeit als unbefragter Erkenntnisboden fungiert. Es ist, wie ich betone, eine Idee, die [. . .] nur in einem Stil relativer, zeitweiliger G¨ultigkeiten und in einem unendlichen historischen Prozeß zu verwirklichen ist – aber so auch in der Tat zu verwirklichen ist.“ (Hua V, 139)
Ohne das transzendentale Verm¨ogen einer normativen Deutung ist dies nicht zu leisten. Dass das Recht der Evidenz aus der Subjektivit¨at des Subjekts kommt, scheint vielleicht eine triviale Bemerkung, da es ja einleuchtend ist, dass jeglicher Rechtsbegriff dem Subjekt und nicht der Natur entstammt. Dass aber unsere Erkenntnis, wenn sie Sinn haben soll, immer schon einer rechtlichen Struktur und Ordnung unterworfen sein muss bzw. das Erkennen immer schon als rechtliches funktioniert, holt die simple Bemerkung, dass wir die Sch¨opfer des Rechts sind, daraufhin ein, dass wir diese Sch¨opfung als notwendig in und gleichurspr¨unglich mit unserem Erkennen vollziehen. Subjektivit¨at und Intersubjektivit¨at als letzten Geltungsgrund zu begreifen, wie es die Transzendentalphilosophie tut, kann als Ausdruck dieses rechtlichen Denkens gelesen werden, aber auch als Schl¨ussel zu einer urspr¨unglichen rechtlichen Verfasstheit des Bewusstseins, die einem An-spruch antwortet. Daraus erhellt sich m¨oglicherweise der oftmals selbstreferenzielle Vernunftbegriff sowie der Begriff
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,,einer Philosophie, deren eigent¨umlicher Sinn ist, aus Selbstverantwortung begr¨undet zu sein“ (Hua V, 148). Im folgenden Kapitel wird nun zu pr¨ufen sein, ob diese urspr¨ungliche rechtliche Verfasstheit des Bewusstseins nur theoretische Auswirkungen hat bzw. was das Ethische f¨ur dieses vern¨unftige Begehren nach Rechtfertigung bedeutet.
KAPITEL IV
¨ DIE RECHTSPRADIKATION DER PRAKTISCHEN VERNUNFT: HUSSERLS POSITIONSWANDEL
Einleitung Mit der Analyse der notwendigen Setzung oder Deutung der Evidenz als Rechtsgrund wurde im theoretischen Teil eine Grundlegung der Genesis rechtlichen Denkens ausgearbeitet. Nun ist zu fragen, in welcher Weise das Rechts- und Rechtm¨aßigkeitsurteil in ethischer und praktischer Hinsicht zur Anwendung kommt. Der Bereich der Praxis, des Handelns, steht unter vern¨unftigen Normen des Sollens. Es handelt sich in diesem Bereich daher nicht um die Rechtm¨aßigkeit oder das Recht von Seinssetzungen (wie in der erkenntnistheoretischen Einstellung), sondern um das Recht von Sollenssetzungen und schließlich um den Imperativ der ,praktischen Vernunft’, das ethische Sollen u¨ berhaupt. Im Rahmen unserer prinzipiellen Fragestellung stehen im Folgenden weniger konkrete moralische Vorschriften oder Handlungsanleitungen im Mittelpunkt der ¨ Uberlegungen, sondern vielmehr die Frage, wie ein Rechtsspruch in dieser Sph¨are u¨ berhaupt m¨oglich ist und was dies f¨ur ein situiertes Handeln unter einem Imperativ des Sollens bedeutet. Das rechtliche Denken wird in ethisch-praktischer Hinsicht vor eine andere Situation gestellt als in der Einstellung des Erkennens: Denn die Forderung nach Rechtm¨aßigkeit trifft hier auf das Praktisch-Werden, d. h. auf das situative Handeln-M¨ussen unter dem Gebot der ethischen Dringlichkeit.
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Zudem ist die Welt der Ethik eine personale Welt77 . Die alter egos der Intersubjektivit¨atssph¨are, vorerst nur Mitkonstituenten einer objektiven Welt, sind in dieser Einstellung Personen78 (unter diesem Vorzeichen arbeitet Husserl auch seine Ethik aus). Wir werden uns im Laufe der folgenden Analysen zu fragen haben, ob diese ,Einstellung’ (die ja nur im erkenntnistheoretischen Meditieren eine frei gew¨ahlte ist79 ) dem Rechtssinn nicht eine entscheidende Sinndimension gibt, die sogar eine andere Genesis der rechtlichen Intentionalit¨at vom Ethischen her fordert. Doch daf¨ur m¨ussen erst die erkenntnistheoretischen Fragen im ethischpraktischen Bereich gekl¨art werden. Dieser Abschnitt gliedert sich wieder in zwei thematische Bl¨ocke A. und B., wobei A. den k¨urzeren Abschnitt und das Parallelkapitel zu III.A Richtigkeit darstellt. In IV.A Rechtheit werden drei einander korrespondierende Auseinandersetzungen mit Scheler, Husserl und Reinach gef¨uhrt, um vor allem eine These abzuwehren: dass ,das Rechte’ ein genuiner, 77
Vgl. Melle 2002, 243 ff.: Die grundlegenden Merkmale der Person bestehen erstens in einem aktiven Willensleben auf dem Grund eines passiven Affektionslebens – die Person gestaltet sich selbst in Freiheit. Zweitens ist personales Leben immer als geschichtliches Leben zu charakterisieren – die ethische Person ist um ihr Leben als ganzes besorgt. Drittens ist die Person am innerlichsten als diese Person durch ihren inneren Ruf und das ihm antwortende, liebende Werten bestimmt. Zur weiterf¨uhrenden Analyse der personalen Welt und sozialen Ontologie bei Husserl vgl. Hart 1992, der die ethische, soziale und politische Komponente der Husserl’schen Philosophie als Konstitution einer personalen Welt herausarbeitet. Sowohl auf der passiven als auch auf den h¨oher fundierten Ebenen ist eine grundlegende Form des Willens auszumachen, die ein intersubjektives Telos der idealen Menschheit intendiert. 78 Zur Ontologie der Person vgl. Melle 2004, 332–340. 79 ,,Bei genauerer Betrachtung wird sich sogar herausstellen, daß hier nicht einmal zwei gleichberechtigte und gleichgeordnete Einstellungen vorliegen [. . .], sondern daß die naturalistische Einstellung sich der personalistischen unterordnet und durch eine Abstraktion oder vielmehr durch eine Art Selbstvergessenheit des personalen Ich eine gewisse Selbst¨andigkeit gewinnt, dadurch zugleich ihre Welt, ihre Natur, unrechtm¨aßig verabsolutierend.“ (Hua IV, 183 f.) ,,Ganz anders ist die personalistische Einstellung, in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im Gruße die H¨ande reichen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind [. . .]. Es handelt sich also um eine durchaus nat¨urliche und nicht um eine k¨unstliche Einstellung, die erst durch besondere Hilfsmittel gewonnen und gewahrt werden m¨ußte.“ (Hua IV, 183)
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prim¨arer Wert sei, dem eine vergleichbare eigene, unmittelbare Wertqualit¨at wie den Werten ,gut’ oder ,sch¨on’ zukomme. Unserer These zufolge gewinnt das Rechtsein erst seinen Wertcharakter durch die Geltungs¨ubertragung im Rechtsakt, d. h. erst nachtr¨aglich und sekund¨ar ¨ durch die Ubertragung der Wertung, die in der Norm vorgenommen wurde, auf das als ,recht’ Beurteilte. Es soll gezeigt werden, dass es sich auch beim ,Rechten’ um eine formale Relation von Norm und Normiertem im Urteil handelt, die h¨ochstens auf einer sekund¨aren Ebene als Wert aufgefasst werden kann. Im Abschnitt IV.B Rechtliches Denken in der praktischen Sph¨are: Evidenzanspruch und Unverf¨ugbarkeit wird konkret auf die Fragen von Rechtm¨aßigkeit und Recht in der ethisch-praktischen Situation eingegangen: Wie sind Werte erkennbar, wie ist der Wille richtig auszurichten, wie bestimmen wir die ethische Richtigkeit einer Handlung? Die Ausgangs¨ basis bildet wieder Husserl, diesmal mit seinen ethischen Uberlegungen in den Vorlesungen u¨ ber Ethik und Wertlehre 1908–1914 (Hua XXVIII), in den ,,F¨unf Aufs¨atzen u¨ ber Erneuerung (1922–1924)“ (in: Hua XXVII) und in den Forschungsmanuskripten der sp¨aten 20er und 30er Jahre.80 Virulent werden hier die Fragen, wie Rechtssinn im Bereich des Ethischen vorliegt, wie und wodurch er pr¨adiziert wird und, vor allem, woher der Rechtfertigungsanspruch kommt. Dabei soll auch der Positionswandel Husserls im Laufe seiner philosophischen Entwicklung nachgezeichnet werden: Die fr¨uhe Ethik Husserls ist eine streng rationalistische, die eine Evidenzforderung analog zum theoretischen Bereich ausspricht. Der Husserl der 30er Jahre sieht aber selbst, dass diese rein auf Evidenz abgestellte Betrachtung dem ethischen Ph¨anomen, vor allem dem ethischen Angesprochen-Sein nicht gerecht wird. Wir gehen diesen Denkweg mit Husserl noch einmal mit und legen den Schwerpunkt dabei wieder auf die Perspektive der ,rechtlichen 80
Es liegt mittlerweile auch ein weiterer Band zu Husserls ethischen Studien vor: Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924 (Hua XXXVII), der aber in dieser Auseinandersetzung weniger Ber¨ucksichtigung finden wird, weil die wichtigsten Texte zu Rechtsfrage, Rechtspr¨adikation und Ph¨anomenologie der Vernunft bereits in Hua XXVIII herausgegeben wurden. In den Vorlesungen von 1920 und 1924 setzt sich Husserl verst¨arkt mit den verschiedenen ethischen Position der Philosophiegeschichte kritisch auseinander.
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Intentionalit¨at’. Im Nachvollziehen des Scheiterns der rationalistischen Konzeption soll versucht werden, eine andere Genesis f¨ur die rechtliche Intentionalit¨at zu entwickeln, die das Ethische dem Rechtlichen nicht unterwirft (Evidenzforderung), sondern das Rechtliche vom Ethischen her noch einmal neu versteht. ¨ Der Fokus der Uberlegungen in IV.B konzentriert sich also auf zwei miteinander zusammenh¨angende Problemkreise: 1. Der erste Problemkreis betrifft die Kompetenz der rechtsprechenden Vernunft im ethischen Bereich: Husserl versucht ab ca. 1906 das Verh¨altnis von logischer, wertender und praktischer Vernunft zu kl¨aren (Hua XXIV, Hua XXVIII). Dabei kommt er – in konsequenter Weiterf¨uhrung der ph¨anomenologischen Akttheorie81 – zu einer entscheidenden und folgenschweren Unterscheidung: Nur die logische Vernunft objektiviert, wertende und praktische Vernunft sind hingegen nicht-objektivierend. Aus diesem Grund sind wertende und praktische Vernunft stets auf die doxischen, pr¨adizierenden Akte der logischen Vernunft angewiesen, sei es, um u¨ berhaupt deren Bezugsobjekt zu konstituieren (Werttr¨ager), sei es, um letztlich ein Wert- oder Wollens- bzw. Sollensurteil f¨allen zu k¨onnen. Rechtssinn und Rechtsakt fallen folgerichtig ganz in die Sph¨are der logischen Vernunft. Diese besitzt damit eine Kompetenz, die Husserl vom ,,Vorzug der logisch-pr¨adikativen Vernunft“ (Hua XXVIII, 65) sprechen l¨asst: Dieser ,Vorzug’ liegt darin, dass zwar alle Vernunftarten unter Rechtm¨aßigkeitsideen stehen, nur eine sie aber pr¨adizieren und aussprechen kann. ,,Der Deutlichkeit halber bemerke ich, daß das Wort Vernunft hier [. . .] einen Titel f¨ur die wesensm¨aßig geschlossene Klasse von Akten und ihren zugeh¨origen Aktkorrelaten befaßt, die unter Ideen der Rechtm¨aßigkeit und Unrechtm¨aßigkeit, korrelativ der Wahrheit und Falschheit, des Bestehens und Nichtbestehens usw. stehen. Soviel Grundarten von Akten wir scheiden k¨onnen, f¨ur welche dies gilt, soviel Grundarten der Vernunft. In erster Linie kommen hier in Frage die doxischen Akte, die Akte der Glaubensgewiß81
Husserl unterscheidet unter den intentionalen Akten zwischen intellektiven Akten, f¨uhlenden Akten und Willensakten. In den intellektiven Akten erfahren wir sachliche Bestimmungen, diese Akte sind gegenstandsgebend. F¨uhlende Akte und Willensakte sind beide Gem¨utsakte, die nicht-objektivierend sind. So viele Grundarten von Akten es gibt, so viele Arten der Vernunft gibt es auch. (Vgl. zur Problematik von objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten auch Melle 2005.)
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heit mit ihren Modalit¨aten. Aber dann m¨ussen wir weitergehen. Jederlei Akt, der den Charakter eines Vermeinens, Daf¨urhaltens im weitesten Wortsinn hat [. . .], steht solchen normativen Ideen, die entsprechende Verallgemeinerungen der in der logischen Sph¨are auftretenden sind. Die logische Vernunft hat aber nun den einzigartigen Vorzug, daß sie nicht nur in ihrem eigenen Feld, sondern im Feld jeder anderen Gattung des Vermeinens, also in jeder anderen Vernunftsph¨are Recht formuliert, Rechtm¨aßigkeit bestimmt, Rechtsgesetze als Gesetze pr¨adiziert und ausspricht. Wertende und praktische Vernunft sind sozusagen stumm und in gewisser Weise blind [!]. Schon das Sehen im engeren und weiteren Sinn, also auch im Sinne des ,Einsehens’ ist ein doxischer Akt.“ (Hua XXVIII, 68)
Die folgende Untersuchung wird sich also vor allem mit den praktischen Akten des Wertens und des Wollens in Verkn¨upfung mit dem Rechtsurteil auseinanderzusetzen haben; denn genau an dieser Stelle bringt die theoretische Vernunft die anderen Vernunftarten ,,unter Rechtsbegriffe“ (Hua XXVIII, 69). Nur durch sie und ihr Urteil wird u¨ berhaupt deutlich, dass alle Akte des Vermeinens unter ,normativen Ideen’ stehen. Rechtliche Intentionalit¨at zeigt sich als ein normativer, aber formal-kategorialer Anspruch der theoretischen Einstellung. 2. Der zweite Problemkreis betrifft eine m¨ogliche Genesis der Vernunft als Legitimationskategorie. Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass im vorangehenden Abschnitt, der sich mit der logischen Vernunft befasste, das eigentliche Ursprungsfeld des Rechtssinns zu verorten w¨are. (Dies mag vielleicht erstaunlich sein, da ,Recht’ in erster Linie mit dem Praktischen assoziiert wird.) Wenn Rechtsanspr¨uche nur theoretisch pr¨adiziert werden k¨onnen, dann muss sich die praktische Vernunft zu diesem Anspruch verhalten, ihm nachkommen. Die These des vorigen Abschnitts, dass Vernunft in jeglicher Hinsicht als ein Antworten in der Legitimationskategorie zu verstehen ist, bleibt damit aufrecht. Der ethische An-spruch allerdings scheint eine andere Antwort zu fordern als das rechtm¨aßige Setzen von Geltung. Die Rechtfertigung u¨ bernimmt hier die Verantwortung des Angesprochen-Seins, ohne u¨ ber es verf¨ugen zu k¨onnen. A. Rechtheit 1. Das ,Rechte’ ist nur ein vermittelter Wert: Scheler, Husserl, Reinach Die Auseinandersetzungen in diesem Kapitel wollen vor allem eine These abwehren: dass ,das Rechte’ ein genuiner Wert sei, dem eine vergleichbare
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eigene, unvermittelte Wertqualit¨at wie den Werten ,sch¨on’ oder ,gut’ zukomme. Denn diese These verhindert das prim¨are Verst¨andnis des ,Rechten’ von der Norm und vom Rechtsakt her und macht aus einem vermittelten, sekund¨aren Wert einen prim¨aren, der sich in einer ph¨anomenologischen Schau zeigt. Unseren Ausf¨uhrungen zufolge gewinnt aber das Rechtsein den Wertcharakter erst durch die Geltungs¨ubertragung im Rechtsakt (im normierenden Akt), d. h. erst nachtr¨aglich und sekund¨ar ¨ durch die Ubertragung der in der Norm (im normativen Urteil) vorgenommenen Wertung auf das als ,recht’ Beurteilte. In der Auseinandersetzung mit Scheler, Husserl und Reinach soll diese These genauer entwickelt werden. Dabei werden wir einen Ausschnitt aus Max Schelers Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913)82 heranziehen, wo sich die Doppelstellung des Rechtseins, einmal als rein formales Element, einmal als Wert, sehr deutlich zeigt. Mit Husserl und einem kurzen Kapitel aus den Prolegomena zur reinen Logik soll anschließend die Br¨ucke zum normativen Urteil geschlagen werden, d. i. jenes Urteil, welches festlegt, was gesollt ist und was nicht, und damit Norm und Wertung bestimmt. (Dieses ist nicht zu verwechseln mit dem normierenden Urteil, dem Rechtsakt, in dem ein Substrat anhand einer Norm beurteilt wird.) Hier soll aufgezeigt werden, dass ein normatives Urteil dem Urteil u¨ ber das Rechtsein vorangehen muss und seine Wertung auf es u¨ bertr¨agt. Die Betrachtungen schließen mit Reinach, der klar zwischen ,sittlich wertvoll’ und ,sittlich recht’ unterscheidet. Eine Zusam¨ menfassung bildet gleichzeitig die Uberleitung zu der eigentlichen Frage nach Genesis und Teleologie des Rechtssinns im praktischen Bereich. Scheler Max Scheler setzt sich in Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik unter anderem auch mit ,dem Rechten’ und ,dem Rechtsein’ auseinander. Prim¨ar geht es Scheler in dem Werk um eine ph¨anomenologische Wesensbestimmung von materialen Werten und ihrer formalen Verh¨altnisse unter- und zueinander, d. h. um eine Axiologie. Nach Schelers Ansicht werden Werte unmittelbar im Wertnehmen erfahren und zerfallen wesensm¨aßig in positive und negative Werte. Werte haften nicht 82
Im Folgenden Sigle FE.
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allein an den Gegenst¨anden, ihren Werttr¨agern, sondern sie geh¨oren einer ph¨anomenal eigenen Sph¨are an. Deshalb kommt ihnen auch eine eigene Erkenntnisart zu, deren F¨uhlen und Vorziehen sich in einer Rangordnung der Qualit¨aten beschreiben l¨asst. Da das Werten und korrelativ Werte u¨ berhaupt eine eigene ph¨anomenologische Dignit¨at besitzen, h¨alt es Scheler f¨ur verfehlt, Werte durch Theorien der Beurteilung (Herbart, Brentano) oder der Pflichtgem¨aßheit (Kant) zu erkl¨aren. Denn die spezifische Qualit¨at der Werte und ihre Differenz untereinander, die nach Scheler einem (sinnlichen, vitalen, geistigen, religi¨osen) F¨uhlen korrespondieren, w¨aren durch diese Theorien nicht erfassbar. Man muss sich, so Scheler, in einem ph¨anomenologischen Apriori83 das materiale Wesen der Werte zur Gegebenheit bringen und dadurch auch die Wesensverh¨altnisse dieser Werte untereinander erkennen. Weiters gilt es, die formalen Wesenszusammenh¨ange zu beachten, die von allen Wertarten und Wertqualit¨aten unabh¨angig sind und im Wesen der Werte als Werte gr¨unden. Die Frage des Rechtm¨aßigen handelt Scheler auf zwei verschiedenen Ebenen ab und unterscheidet dabei zwei Begriffe: einerseits das ,Rechtsein’ (bzw. Unrechtsein) als formales Verh¨altnis zwischen Sein und Gesolltem; andererseits das ,Rechte’ (bzw. das Unrechte) welches den materialen Werten selbst zugerechnet wird. Diese Unterscheidung, die unserer These nach im Wesen des Rechtssinns (als Gem¨aßheitsfeststellung und Geltungs¨ubertragung) selbst liegt, wird uns im Folgenden genauer besch¨aftigen. Es soll gezeigt werden, dass der Rechtssinn unter den Werten eine Sonderstellung einnimmt, insofern sich seine Werthaftigkeit erst sekund¨ar aus dem Gem¨aß-Sein an einer Norm herleiten l¨asst. Scheler macht sich diese Sonderstellung nicht explizit bewusst. Seine These vom origin¨aren Wertnehmen trifft daher auf das ,Rechte’ nicht zu. 83
Scheler zum Apriori: ,,Als ,Apriori’ bezeichnen wir alle jene idealen Bedeutungseinheiten und S¨atze, die unter Absehen von jeder Art von Setzung der sie denkenden Subjekte und ihrer realen Naturbeschaffenheit und unter Absehen von jeder Art von Setzung eines Gegenstandes, auf den sie anwendbar w¨aren, durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Selbstgegebenheit kommen.“ (FE 67) Vgl. auch II.A. ,Apriori und Formal u¨ berhaupt’, 65–99.
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Das Rechtsein als formales Verh¨altnis zwischen Sein und idealem Sollen bzw. ideal Gesolltem Die formale Axiologie Schelers beinhaltet folgende Axiome: ,,Existenz eines positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert, Existenz eines negativen Wertes ist selbst ein negativer Wert, Nichtexistenz eines positiven Wertes ist selbst ein negativer Wert, Nichtexistenz eines negativen Wertes ist selbst ein positiver Wert.“ (FE 100) ,,Es m¨ussen weiterhin die Wesenszusammenh¨ange zwischen Wert und (idealem) Sollen hier genannt werden. An erster Stelle steht der Satz, daß alles Sollen in Werten fundiert sein muss, d. h. nur Werte sein sollen und nicht sein sollen; sowie die S¨atze, daß positive Werte sein sollen und negative nicht sein sollen. Sodann die Zusammenh¨ange, die f¨ur das Verh¨altnis des Seins und des idealen Sollens a priori gelten und deren Beziehung zum Rechtsein und Unrechtsein regeln. So ist alles Sein eines (positiv) Gesollten recht; alles Sein eines Nichtseinsollenden unrecht; alles Nichtsein eines Gesollten unrecht; alles Nichtsein eines Nichtgesollten aber recht.“ (FE 100)
Recht bzw. das Rechtsein wird in dieser ersten Hinsicht als ein formaler Wesenszusammenhang bestimmt, der das Verh¨altnis von Sein (Existenz) und ideal Gesolltem ausdr¨uckt bzw. benennt. Auch das Verh¨altnis des Sollens zu den Werten, welches uns weiter unten im Zusammenhang mit dem ,Rechten’ ausf¨uhrlicher besch¨aftigen wird, wird hier schon angedeutet: Alles Sollen muss in Werten fundiert sein – und nicht umgekehrt. Das Rechte als Wert, geh¨orig zu der Gruppe der ,geistigen Werte’ Einige Seiten nach dieser formalen Bestimmung taucht das Rechtsein substantiviert als ,das Rechte’ wieder auf, diesmal aber unter die Werte gereiht, als Wert des Rechten und Unrechten: Es gibt eine Rangordnung zwischen den Qualit¨atensystemen der materialen Werte, die Scheler als Wertmodalit¨aten bezeichnet und die das eigentliche materiale Apriori f¨ur Werteinsicht und Vorzugseinsicht bilden sollen. Scheler unterscheidet vier Wertmodalit¨aten: 1. die Werte des Angenehmen und Unangenehmen, denen die Funktion des sinnlichen F¨uhlens entspricht 2. die vitalen Werte, die dem vitalen F¨uhlen entsprechen 3. die geistigen Werte, die ein geistiges F¨uhlen implizieren 4. die Werte des Heiligen und Unheiligen
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Von Interesse ist hier die Wertmodalit¨at der dritten Gruppe, also die geistigen Werte. Diese unterteilen sich wieder in drei Hauptarten, von denen die erste die Werte von ,sch¨on’ und ,h¨asslich’ umspannt, die dritte die Werte der ,reinen Wahrheitserkenntnis’, wie sie die Philosophie zu erreichen sucht, und die zweite schließlich die Werte des ,Rechten’ und ,Unrechten’, die uns hier besch¨aftigen: ,,2. die Werte des ,Rechten’ und ,Unrechten’ – Gegenst¨ande, die noch ,Werte’ sind, und v¨ollig verschieden vom ,Richtigen’ und ,Unrichtigen’, d. h. einem Gesetze Gem¨aßen, und welche die letzte ph¨anomenale Grundlage f¨ur die Idee der objektiven Rechtsordnung bilden, welche von der Idee des ,Gesetzes’ und der Idee des Staates und der ihn begr¨undenden Idee der Lebensgemeinschaft unabh¨angig ist (erst recht von aller positiven Gesetzgebung); [. . .].“ (FE 124 f.)
Leider gibt es an dieser Stelle keine weiteren Ausf¨uhrungen Schelers zur Beschaffenheit und zu den Eigenschaften der Werte des Rechten und Unrechten. Wir m¨ussen uns also zun¨achst fragen, was der Rechtswert mit dem Rechtsein zu tun hat und worin das Charakteristikum des Rechtswertes liegt. Dar¨uber hinaus m¨ussen wir uns klar machen, was Scheler in diesem Zusammenhang unter ,richtig’ und ,Richtigkeit’ versteht. F¨ur die Analyse schlagen wir daher folgenden Weg ein: Einer ersten Darstellung des Verh¨altnisses von ,Wert und Sollen’ bei Scheler folgt noch einmal die kritische Interpretation der Thesen vom ,Rechtsein und Sollen’ und dem ,Rechten als Wert’. Schließlich wird die Verbindung von ,Rechtsein und Rechtswert’ aufgezeigt und abschließend die Relation von ,Sollen und Wert’ in Bezug auf das Rechtsein und den Rechtswert gekl¨art. Wert und Sollen Wir beginnen bei dem Verh¨altnis von Wert und Sollen (FE 211 ff.): Scheler unterscheidet zwischen ,idealem Sollen’ und ,normativem Sollen’, das eine Forderung oder einen Befehl an ein Streben darstellt. ,,Wo immer von ,Pflicht’ oder von ,Norm’ die Rede ist, da ist nicht das ,ideale’ Sollen, sondern bereits diese seine Spezifizierung zu irgend einer Art des Imperativischen gemeint.“ (FE 211) Das ideale Sollen ist ein von der konkreten Forderung (noch) unabh¨angiges Seinsollen, das urspr¨unglich nur durch einen positiven Wert begr¨undet wird.84 Denn das Verh¨altnis des idea84
Das ideale Sollen formuliert allgemein ,Es soll x sein’, w¨ahrend sich das Pflichtsollen konkret in Form des Gebots an die Zweite Person richtet: ,Du sollst x.’
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len Sollens zu den Werten ist nach Scheler durch die beiden folgenden Axiome geregelt: ,,Alles positiv Wertvolle soll sein, und alles negativ Wertvolle soll nicht sein. Der damit statuierte Zusammenhang ist kein gegenseitiger, sondern ein einseitiger: Alles Sollen ist fundiert auf Werte – wogegen Werte durchaus nicht auf ideales Sollen fundiert sind. Vielmehr ist ohne weiteres zu sehen, daß in der Gesamtheit der Werte nur diejenigen Werte mit dem Sollen in unmittelbarer Verbindung stehen, die gem¨aß unseren fr¨uheren Axiomen in dem Sein (resp. Nichtsein) von Werten beruhen. Jene Axiome lauteten: ,Das Sein des positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert’, ,Das Sein des negativen Wertes ist selbst ein negativer Wert’ usw. Werte sind in bezug auf Existenz und Nichtexistenz prinzipiell indifferent gegeben. Dagegen ist alles ,Sollen’ ohne weiteres auf die Sph¨are der Existenz (resp. Nichtexistenz) von Werten bezogen.“ (FE 214)
Schelers These nach beruht also alles Sollen auf Werten und nicht umgekehrt. Daher auch seine Ablehnung der Urteilstheorie inklusive der Position Kants, dass das, was ,gut’ sei, erst durch das Gesetz des kategorischen Imperativs bestimmbar und erkennbar w¨are. Dagegen argumentiert Scheler, dass ein Sollen niemals aus sich heraus angeben k¨onne, was die Qualit¨at eines bestimmten positiven Werts sei, sondern vielmehr immer schon das Wertnehmen von ,gut’ und ,b¨ose’ voraussetze (FE 45 ff.). Man m¨usse immer schon verstanden bzw. gef¨uhlt haben, was die materiale Eigenschaft von Werten wie sch¨on/h¨asslich, edel/niedertr¨achtig, heilig/unheilig etc. sei, um dann daf¨ur einen Maßstab oder ein Gesetz aufstellen bzw. finden zu k¨onnen. Dieses Argument verwendet Scheler auch gegen die Theorie Herbarts und Brentanos, dass sittliche Werte nur in der bzw. durch die Beurteilung gegeben seien. Gem¨aß deren These wohnt den Akten der Beurteilung ein urspr¨ungliches Gesetz inne, das ein gewisses Beurteilen als ,richtig’ charakterisiert, ein anderes als ,unrichtig’. Scheler wendet ein, dass Werte dadurch zu irgendwelchen Ergebnissen eines urteilsartigen Verhaltens gemacht w¨urden, wodurch aber die spezifische Ph¨anomenalit¨at eines Wertes nicht einholbar w¨are: ,,Auch zugegeben, es g¨abe eine besondere, von der logischen verschiedene Gesetzlichkeit der ,Beurteilungen’, auf Grund derer sie ,richtig’ oder ,nicht richtig’ sein k¨onnen, so w¨are doch diese ,Richtigkeit’ bei richtigen Beurteilungen immer dieselbe und es w¨are gar nicht angebbar, wie es dann zu den verschiedenen ethischen Wertqualit¨aten wie ,rein’, ,vornehm’, ,g¨utig’, ,edel’ usw. kommen k¨onnte.“ (FE 190 f.)
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Es muss also so sein, folgert Scheler, dass weder ein Sollen noch ein Urteil Grundlagen eines Wertes sind, sondern umgekehrt, dass alles Sollen auf einem positiven Wert beruht – dem Axiom gem¨aß, dass jeder positive Wert auch sein soll. Sollen ist immer nur das Sollen eines positiven Werts, genauer gesagt, das Seinsollen eines positiven Werts. Scheler spannt hier zwei Ebenen von Wert und Existenz (bzw. Nichtexistenz) auf, die durch das Sollen verbunden werden. Offenbar geht vom positiven Wert wesensm¨aßig solch ein starker Zug aus, dass er stets auf Verwirklichung hinstrebt und so den Modus des Sollens (vorerst den des idealen Sollens, auf dem dann das normative Sollen beruht) u¨ berhaupt erst ins Leben ruft. Sollen ist also immer Seinsollen, da es wesensm¨aßig auf die Realisierung eines Werts, also auf seine Existenz hinzielt. Die Werte selbst hingegen, sagt uns Scheler, verhalten sich Existenz oder Nichtexistenz gegen¨uber indifferent: Sie sollen sein (besser: Sie sollen existent, d. h. an einem Werttr¨ager in Raum und Zeit konkret festmachbar sein), ,sind’ aber in ihrer eigenen Wesenssph¨are als wesenhaft materiale Werte ohnehin. Das bedeutet, dass sie in der ,Wesensschau’ zur Gegebenheit gebracht werden k¨onnen, unabh¨angig von ihrer raum-zeitlichen Existenz. Dem Sollen liegt also stets ein positiver Wert zugrunde, es kann diesen allerdings selbst nie enthalten. Denn ein Sollen setzt das Nichtsein des Wertes voraus, den es erst realisieren soll: Wo immer wir sagen, es solle etwas sein, fassen wir dieses Etwas – im selben Akte – ,als’ nichtexistierend auf (FE 214). Wir kommen sp¨ater noch auf diese These Schelers zur¨uck, die ihn dazu zwingen wird, Ausdr¨ucke wie ,,So soll es sein“ als ,unangemessen’ zu bezeichnen. Vorerst sei hier festgehalten, dass Scheler das Verh¨altnis von Werten und Sollen ,umdreht’, indem er die materiale Eigenheit des Wertes aus dem Kontext des reinen normativen Gesetzes herausl¨ost, diese Wertqualit¨at als durch Normen weder beschreibbar noch herleitbar herausstellt und schließlich den der Existenz gegen¨uber indifferenten Wert als wesentlichen Grund f¨ur das Sollen seiner Realisierung angibt. Rechtsein und Sollen Wir kommen jetzt wieder auf Schelers Bestimmung des Rechtseins zur¨uck, welche lautet: ,Alles Sein eines Gesollten ist recht’ bzw. ,Das Rechtsein besteht in der Koinzidenz des Wertes, der idealiter sein soll, mit der Existenz dieses Wertes’. Diese Definition entspricht unserem Entwurf
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vom Gem¨aß-Sein an der Norm als konstitutiver Bedingung des Rechtssinnes: Das Rechtsein hat einen unmittelbaren Bezug zum Sollen und kann auch nur von ihm her verstanden werden. Schelers Unterscheidung von idealem und normativem Sollen oder Pflichtsollen ist dabei f¨ur unsere Zwecke nicht relevant. Scheler bedient sich dieser Unterscheidung, um gegen die Herkunft der Werte aus dem Pflichtsollen zu argumentieren und schließlich das ideale Sollen, das per Axiom direkt aus dem positiven Wert stammt, u¨ ber das Pflichtsollen zu setzen. In beiden F¨allen handelt es sich trotzdem um eine Norm, gleich, ob hier jemand konkret angesprochen wird oder ob es um das allgemeine Seinsollen eines Wertes geht. Ob ein ,Es soll . . . sein’ (ideales Sollen) oder ein ,Du sollst . . . tun/sein’ (Pflichtsollen) gegeben ist, hat im Grunde genommen keinen Einfluss darauf, dass das, was diesem Gesollten entspricht, recht ist. Scheler f¨uhrt in der oben zitierten Stelle dieses Rechtsein als ein strukturelles Moment in den formal-apriorischen Wesenszusammenhang von Werten, Sein und Sollen ein. Das Rechtsein bezeichnet hier ein formales Element in der Wertethik, welches sich leicht als ,Existenz eines gesollten Wertes’ beschreiben l¨asst und den ,Modus’ oder ,Zustand’ eines Wertes (als gesollter realisierter) allgemein anzeigt (FE 100). Das Rechte als Wert Kurz darauf (FE 124) taucht das ,Rechte’ aber selbst zwischen den Werten auf. Es nimmt einen nicht unwichtigen Platz in der Trias der geistigen Werte ein und bekommt auch sofort seine legitimierende und begr¨undende Funktion f¨ur die positive Rechtsordnung zugeschrieben. Was wir weiter u¨ ber die Werte des Rechten und Unrechten an dieser Stelle erfahren, ist, dass sie ,,v¨ollig verschieden vom ,Richtigen’ und ,Unrichtigen’, d. h. einem Gesetze Gem¨aßen“ (FE 124) sind. Wie k¨onnen wir das verstehen? Scheler gibt uns noch zwei weitere Hinweise zur Richtigkeit: ,,Sowenig das ideale Sollen mit der Pflicht und Norm zu tun hat, sowenig das Rechte mit dem ,Richtigen’, welch letzteres nur auf ein Verhalten geht, das so ist, wie es die Norm fordert.“ (FE 100, Fußnote 1) ,,,Richtig’ ist stets ein Verhalten, und zwar ein solches, dessen Sein recht ist.“ (FE 216, Fußnote 1)
Was wir aus diesen Zitaten schließen k¨onnen, ist, dass Scheler das ,Rechte’ mit dem idealen Sollen und das ,Richtige’ mit dem Pflichtsol-
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len verschr¨ankt, weshalb auch nur ein (normiertes) Verhalten ,richtig’ sein kann. ,Richtig’ korrespondiert bei ihm mit dem Willen des Subjekts (subjektive Seite), das durch ein Verhalten einen Wert realisieren soll, ,recht’ bezieht sich hingegen auf die Existenz des Wertes selbst (objektive Seite). Die Rigorosit¨at, mit der diese Unterscheidung eingef¨uhrt wird, ist zumindest dem u¨ blichen Sprachgebrauch nicht zu entnehmen – außerdem u¨ bersieht sie die Bedeutung von ,richtig’ als Wahrheitswert der logischen G¨ultigkeit. Bemerkenswerter ist das Verh¨altnis des Rechtseins zum Rechtswert: Es wurde weiter oben deutlich, dass sich das Recht-Sein, das spezifisch ,Rechte’ an diesem oder jenem Sein, nur aus einem Sollen heraus verstehen l¨asst. Recht ist das Sein des Gesollten. Der Rechtswert ist demnach der spezifische Wert dessen, dass das ist, was auch sein soll. Das Rechtsein geht also der Sache nach dem Rechtswert voran, denn auch wenn kein Rechtes existieren sollte, so ließe sich der Rechtswert nur aus dem m¨oglichen Existieren eines Gesollten (also wieder nur vom Sollen her) verstehen. Das Rechte selbst (das dann als Wert wertgenommen wird) ist im Grunde nichts anderes als diese Koinzidenz von Sein und Gesolltem. Das heißt, dass der Rechtswert, der Wert des Rechten, sich nur an einem Rechtsein zeigt und somit in direktem Bezug zu einem Sollen steht. Nun argumentiert aber Scheler, dass der Wert dem Sollen vorangeht und gegen Existenz und Nichtexistenz indifferent ist. Offenbar liegt es beim Wert des Rechten jedoch etwas anders: Zwar ist seine Existenz oder Inexistenz nach wie vor nicht relevant, um aber die Wertqualit¨at des Rechten u¨ berhaupt begreifen zu k¨onnen, muss man ein ,realisiertes Gesolltes’ vor Augen haben (obwohl dessen tats¨achliche Realisierung vielleicht niemals eintreten wird85 ). Zweitens scheint der Bezug zum Sollen beim Rechtswert doch ein etwas anderer zu sein als z. B. bei Werten des Sch¨onen, Angenehmen etc. Denn der Rechtswert kommt ohne ein Sollen u¨ berhaupt nicht aus bzw. u¨ berhaupt nicht zustande. Wie wir im Abschnitt weiter oben zitiert haben, meint Scheler, dass alles Sollen auf Werten fundiert ist, umgekehrt aber Werte durchaus nicht auf idealem Sollen fundiert sind. Er r¨aumt aber sogleich ein, dass es doch auch Werte gibt, die nicht ganz abgel¨ost vom Sollen sind: ,,Vielmehr ist ohne wei85
Scheler orientiert sich hier an Kant, der sagt, man m¨usse das Gute wollen, auch wenn man es niemals realisieren k¨onne (FE 215).
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teres zu sehen, daß in der Gesamtheit der Werte nur diejenigen Werte mit dem Sollen in unmittelbarer Verbindung stehen, die gem¨aß unseren fr¨uheren Axiomen in dem Sein (resp. Nichtsein) von Werten beruhen.“ (FE 214) Diese Axiome hatten die Form: ,Das Sein eines positiven Werts ist selbst ein positiver Wert’ etc. Dass es sich beim Rechtsein um das Sein eines positiven Werts handelt, ergibt sich aus dem Gesagten; ebenso, dass der Rechtswert auf dem Sein eines gesollten Wertes beruht. Was aber meint Scheler mit dem Ausdruck: ,mit dem Sollen in unmittelbarer Verbindung stehen’? Er sagt an anderer Stelle, dass das Sollen wesentlich auf die Sph¨are der Existenz von Werten bezogen ist und dass alles positiv Wertvolle sein soll. Wenn also durch das Sein eines positiven Werts selbst ein positiver Wert entsteht – nennen wir ihn ,sekund¨aren (positiven/negativen) Wert’ –, dann bezieht sich dieser sekund¨are Wert offensichtlich auf die Existenz des Werts, die gleichzeitig ,gesollt’ ist: Insofern gibt es eine unmittelbare Verbindung zum Sollen. Der Rechtswert geh¨ort nun sicherlich in diese Gruppe der sekund¨aren Werte, es gibt aber einen Unterschied, der ihn zum spezifischen Rechtswert macht: er bezieht sich nicht auf die Existenz eines positiven Werts, sondern ganz speziell darauf, dass die Existenz dieses Wertes gesollt ist. Bei Scheler selbst wird dieser Unterschied verwischt durch das Axiom, dass alles positiv Wertvolle ohnehin sein soll. Insofern besitzt alles positiv Wertvolle potenziell den Wert des Rechten, falls es (einmal) existieren sollte, und es ist recht in dem Fall, dass es existiert. Der Rechtswert selbst ist nat¨urlich nicht konkret auf seine Existenz angewiesen, aber es bleibt dabei, dass er sich speziell auf die Erf¨ullung des Sollens bezieht und ohne das Sollen gar nicht verstanden werden kann. Das Sollen geht dem Rechtsein und dem Rechtswert also der Sache nach voran. Es handelt sich beim Rechtswert um einen sekund¨aren Wert, der eben genau das Sein durch die ,Brille des Sollens’ versteht. Insofern ist sehr wohl ein Urteil notwendig, ob es sich hier um ein Rechtsein handelt oder nicht. Die Ablehnung der Beurteilungstheorie kann also speziell f¨ur den Rechtswert nicht gelten. Das Sch¨one mag vielleicht unmittelbar gegeben, wertgenommen werden, aber das Rechte ben¨otigt ganz sicher das Urteil, dass es sich hier um ein Gesolltes handelt. (Was ist gesollt? Positive Werte. Also ist ein existierender positiver Wert recht.) Wir erinnern hier an Schelers Zur¨uckweisung der Beurteilungstheorie speziell im Zusammenhang mit der Richtigkeit: Denn Scheler argumen-
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tiert ja, dass ,,diese ,Richtigkeit’ bei richtigen Beurteilungen immer dieselbe [sei,] und es w¨are gar nicht angebbar, wie es dann zu verschiedenen ethischen Wertqualit¨aten wie ,rein’, ,vornehm’, ,g¨utig’, ,edel’ usw. kommen k¨onnte“ (FE 191). Nun, genau dasselbe l¨asst sich auch vom Rechtsein und vom Rechten sagen. Wir wissen damit nur, dass die Koexistenz eines gesollten mit einem existierenden Wert vorliegt und dass hieraus wieder ein sekund¨arer positiver Wert, n¨amlich der Rechtswert, entspringt. Um welchen Wert es sich urspr¨unglich handelt und welche Qualit¨at er hat, ist f¨ur die Beurteilung des Rechtseins und des anschließenden Rechtswerts vollkommen indifferent und außerdem nicht erkennbar. Im ¨ Ubrigen k¨onnte Scheler der Richtigkeit als solcher auch einen Wert zusprechen (man kann vermuten, dass er diesen in der Gruppe 3 der geistigen Werte, der Werte der reinen Wahrheitserkenntnis, unterbringen w¨urde), so wie er das beim Rechtswert tut. Die Richtigkeit ist aber bei Scheler (wie wir bereits gesehen haben) nur dem Verhalten eines Subjekts gem¨aß einer Norm zugeordnet, welches dann die Existenz eines Wertes, also ein Rechtsein hervorbringt. Rechtsein und Rechtswert Aus diesen Ausf¨uhrungen k¨onnen wir schließen, dass das Rechtsein und der Rechtswert nur zweitrangig eigene Wertqualit¨aten sind, vorrangig eher Verh¨altnisbezeichnungen, die sich auf ein Sollen beziehen und formal auf jeden Wert angewendet werden k¨onnen. In diesem Sinn f¨uhrt Scheler anfangs das Rechtsein speziell als formales, axiologisch-operatives Element ein, welches ein Beschreibungskriterium f¨ur die Verh¨altnisse von Wert, Sein und Sollen angibt. Der Doppelaspekt, dass dieses Beschreibungs¨ kriterium (der Ubereinstimmung von gesolltem und existierendem Wert) selbst zum Wert wird, muss ausdr¨ucklich betont werden, was Scheler nicht tut. Er l¨asst allerdings eine kleine Unsicherheit erkennen, das Rechte und Unrechte ohne weiteres in die Reihe der geistigen Werte aufzunehmen: Die Werte des Rechten und Unrechten sind f¨ur ihn ,,Gegenst¨ande, die noch ,Werte’ sind“ (FE 124), wobei ich auf das ,noch’ hinweisen m¨ochte und auf die Anf¨uhrungszeichen, unter denen die ,Werte’ stehen. Zumindest am Rande ist Scheler die komplizierte Stellung des Rechten bewusst. Er m¨ochte es als Wert vom reinen Gem¨aß-Sein an einer Norm (seiner Bestimmung der Richtigkeit) abheben und behauptet sogar, dass es ,,v¨ollig verschieden“ (FE 124) davon sei. Den Zusammenhang, der
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aber zwischen der Gem¨aßheit am Sollen und der Existenz eines gesollten Werts besteht, kann er nicht leugnen. Sollen und Wert Wir kommen nun noch einmal auf das Verh¨altnis von Sollen und Wert zur¨uck. Scheler behauptet, dass das Sollen nicht den Wert bestimmen kann, sondern umgekehrt auf dem Wert gr¨undet. Das Sollen geht eigentlich auf das Nichtsein des Wertes zur¨uck, da wir immer, wo wir sagen, es solle etwas sein, dieses Etwas im selben Akt als nicht existierend auffassen (bzw. beim Nichtseinsollen als existierend) (FE 214 f.). Das bedeutet, dass das Sollen immer auf dem Grund eines Unwerts entsteht, da das Nichtsein eines Werts ja ein Unwert ist, und das Sollen darauf zielt, den noch nicht verwirklichten Wert zu realisieren. Ebenso geht auch das Nichtsollen von einem Unwert aus, da es gleichzeitig ein Existierendes mitmeint, das nicht gesollt wird. ,,Und hieraus folgt: Das Sollen kann niemals aus sich heraus angeben, was die positiven Werte sind, sondern es bestimmt sie immer nur als Gegenteile der negativen Werte. Alles Sollen (nicht etwa nur das Nichtseinsollen) ist daher darauf gerichtet, Unwerte auszuschließen; nicht aber, positive Werte zu setzen!“ (FE 216) Scheler beobachtet hier sehr genau, dass jemand, der eine konkrete Forderung ausspricht, im selben Moment den Inhalt dieser Forderung als unerf¨ullt betrachtet. Ein Befehl, dass ich etwas tun soll, erfolgt nat¨urlich vor dem Hintergrund, dass ich es gerade nicht tue. Dass Scheler daraus aber schließt, dass ,das Sollen’ aus sich heraus nicht angeben k¨onne, was positive Werte seien, ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen. Denn streng betrachtet kann das Sollen ja genauso wenig ,wissen’, was negative Werte sind und davon Gegenteile bestimmen. Scheler verwechselt ,das Sollen’ hier mit dem Subjekt, das dieses Sollen ausspricht – auf Grund der Erfahrung eines negativen Werts und der (Noch-)Nicht-Erfahrung des positiven gesollten Werts. Man muss ber¨ucksichtigen, vor welchem Hintergrund Scheler diese Argumentation verwendet. Er bek¨ampft die Theorie, dass Werte sich erst aus einem Sollen verstehen lassen, d. h., dass ein bestimmtes Sollen einen Maßstab ansetzt, aus dem sich dann erst Wert und Unwert ergeben w¨urden, z. B. die Norm: ,Du sollst deine Schuhe putzen.’ Die Folge w¨are: ,Tust du es, bist du ein reinlicher, tust du es nicht, bist du ein schmutziger Mensch.’ Scheler w¨urde ganz richtig argumentieren, dass wir immer
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schon verstanden haben m¨ussen, was ,reinlich’ und ,schmutzig’ ist, um den Sinn der Norm zu erfassen. Die Norm kann dieses Verst¨andnis von ,rein’ und ,schmutzig’ nicht setzen. Was sie allerdings kann, ist Maßst¨abe zu setzen, wann etwas als reinlich oder schmutzig zu gelten hat 86 . Scheler muss konsequenterweise die Position verteidigen, dass ein Sollen niemals aus sich heraus angeben kann, was ein Wert ist, d. h., wie dessen Qualit¨at beschaffen ist. Dass das Sollen (eines Werts) aber immer auf der Situation eines gegebenen Unwerts anhebt, l¨asst nicht darauf schließen, dass das Sollen nur Unwerte ausschließen, aber positive Werte nicht setzen kann. Was sollte denn dann Schelers Axiom ,,Alles positiv Wertvolle soll sein, und alles negativ Wertvolle soll nicht sein“ (FE 214) bedeuten? Das Sollen richtet sich ja gerade auf die Realisierung eines positiven Werts vor dem Hintergrund des existierenden Unwerts. Wir k¨onnen Scheler darin zustimmen, dass das Sollen die Wertqualit¨at nicht bestimmen kann, dass auch die Richtung des Sollens vom Unwert hin zur Realisierung des Wertes geht, aber wir k¨onnen ihm nicht darin beipflichten, dass das Sollen nur eine Beziehung zum Unwert hat. W¨are dies so, so l¨age im Sollen nicht die intentionale Kraft, der verwirklichende Zug des Sollens, von der bzw. dem Scheler ja selbst spricht: ,,Dagegen ist alles ,Sollen’ ohne weiteres auf die Sph¨are der Existenz (oder Nichtexistenz) von Werten bezogen.“ (FE 214) Eine weitere Konsequenz von Schelers Ansatz ist es, dass er dem Sollen jene positive Selbstbez¨uglichkeit nimmt, die sich gerade im Rechtsein ausdr¨uckt. So meint er z. B., ,,[n]iemals [!] kommt es vor, daß wir etwa sagen ,dies ist gut und es soll es auch sein’“ (FE 215), weil es nicht mit seiner Theorie zusammenstimmt, dass ein Sollen sich auf einen positiven Wert bezieht. Es handelt sich hier aber vielmehr um eine Best¨atigung und Bekr¨aftigung eines existierenden Werts. Dass dies m¨oglich ist, muss Scheler ablehnen und eine solche Sprechweise kurioserweise als ,unangemessen’ bezeichnen: ,,Was wir hier behaupten, ist nur, daß das Nichtsein des Wertes, auf den das Sollen zur¨uckgeht, bei allen Seinsollens¨atzen vorausgesetzt ist (resp. das Sein des Unwertes bei Nichtseinsollenss¨atzen). Auch solche S¨atze gibt es, in denen das ,so soll es auch sein’ ein 86
Es braucht kaum erw¨ahnt zu werden, dass dies von Kultur zu Kultur normativ sehr unterschiedlich bestimmt worden ist.
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bloß unangemessener Ausdruck ist f¨ur einen Satz von der Form: ,es ist recht so’. ,Rechtsein’ aber besteht in der Koinzidenz des Wertes, der idealiter sein soll, mit der Existenz dieses Wertes.“ (FE 216)
Aber was dr¨ucke ich denn mit dem Rechtsein aus? Eben genau, dass das Gesollte existiert; eben genau, dass es so sein soll. Das ,so’ birgt in sich dieselbe Unbestimmtheit in Bezug auf die materiale Wertqualit¨at wie auch das Rechtsein. Diese Unbestimmtheit ergibt sich gerade dadurch, dass es sich um formale Zusammenh¨ange in Bezug auf das Sollen handelt. Denn das Rechtsein beschreibt exakt die Erf¨ullung des Sollens unabh¨angig von der erf¨ullten Wertqualit¨at. Der Rechtswert wiederum h¨angt genau an diesem Rechtsein und ist insofern auch formal bedingt. Das heißt: Das ,Materiale’ am Rechtswert ist nichts anderes als die Erf¨ullung des Formalen. Denn es ist ganz egal, ob das Sch¨one, Angenehme, Heilige etc. gesollt wird, ist es existent, so ist es dadurch automatisch ,recht’ (resp. ,unrecht’ f¨ur beliebige nicht gesollte Werte). Das Rechte ist daher nichts anderes als eine Beurteilung des Seins vom Sollen her. Aus dem Rechtsein erst, aus dem erf¨ullten Sollen, kann der Wert des Rechten entstehen. F¨ur den Rechtswert trifft also das nicht zu, was Scheler schl¨ussig f¨ur die anderen Werte behauptet – n¨amlich dass sie nicht auf dem Sollen gr¨unden w¨urden. Aus dem Sollen allein ergeben sich strukturell erst das Rechtsein und dann der Rechtswert. Dieser Rechtswert ist deshalb auch gleichzeitig eine Best¨atigung, Bekr¨aftigung des Sollens: Es ist wertvoll, dass Werte auf Grund des Sollens realisiert worden sind und nun existieren: ,So soll es sein’. Husserl Im ersten Band der Logischen Untersuchungen widmet Husserl einen kurzen Abschnitt der Betrachtung der Eigenart von normativen S¨atzen und den aus ihnen hervorgehenden normativen Wissenschaften. Seine These ist, dass theoretische Disziplinen Fundamente normativer sind, da jeder normative Satz ,Ein A soll B sein’ in einen theoretischen Satz ,Nur ein A, welches B ist, hat die Beschaffenheiten C’ umgeformt werden kann. Dabei wird objektiv eine Beziehung zwischen Bedingung und Bedingtem ausgedr¨uckt und die Werthaltung selbst nicht vollzogen. Husserls Auffassung des Sollens beschr¨ankt sich nicht auf eine imperativische, in der das Sollen zu einem gewissen W¨unschen oder Wollen geh¨ort und sich als Forderung oder Befehl ausdr¨uckt, sondern er spricht
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auch von einem allgemeineren Sollen, ohne aber eine Trennung zwischen idealem und normativem Sollen wie Scheler vorzunehmen. Dieses Sollen, das z. B. im Satz ,Ein Krieger soll tapfer sein’ vorkommt, impliziert niemand, der fordert, und niemand, der aufgefordert ist. Dieses Sollen dr¨uckt nun, so Husserl, eine Werthaltung aus. Denn der normative Satz ,Ein Krieger soll tapfer sein’ heißt nichts anderes als: Nur ein tapferer Krieger ist ein ,guter’ Krieger. ,,Der Terminus ,gut’ dient uns hier nat¨urlich im weitesten Sinne des irgendwie Wertvollen; er ist in den konkreten, unter unsere Formel geh¨origen S¨atzen jeweilig in dem besonderen Sinne der Werthaltungen zu verstehen, die ihnen zugrunde liegen, z. B. als N¨utzliches, Sch¨ones, Sittliches u. dgl.“ (Hua XVIII, 54) Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um eine ,objektiv g¨ultige’ Wertsch¨atzung handelt bzw. ob u¨ berhaupt ein Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Wertsch¨atzung besteht: ,,Es gen¨ugt, daß f¨ur wert gehalten, daß eine Intention vollzogen wird des Inhalts, daß etwas wert oder gut sei.“ (Hua XVIII, 56) Diese Wertsch¨atzung also, die in Wertes (,Gutes’) und Unwertes (,Schlechtes’) zerf¨allt, bestimmt ihre Objekte bzw. deren Eigenschaften als wertvolle oder unwerte. ,,Um das normative Urteil ,Ein Krieger soll tapfer sein’ f¨allen zu k¨onnen, muß ich irgendeinen Begriff von ,guten’ Kriegern haben, und dieser Begriff kann nicht in einer willk¨urlichen Nominaldefinition gr¨unden, sondern nur in einer allgemeinen Werthaltung, die nach diesen oder jenen Beschaffenheiten die Krieger bald als gute, bald als schlechte zu sch¨atzen gestattet.“ (Hua XVIII, 56) Folgende Formen von normativen Urteilen sind also gleichzusetzen: ,Ein A soll B sein’ und ,Ein A, welches nicht B ist, ist ein schlechtes A’ oder ,Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes A’. Das Sollen und die dazugeh¨orige Wertsch¨atzung sind also untrennbar voneinander. Husserl best¨atigt damit in gewisser Weise auch Schelers These, dass dem Sollen ein Wertsch¨atzen vorangeht. ,,Was endlich den Begriff des normativen Urteils anbelangt, so k¨onnen wir ihn nach unseren Analysen folgendermaßen beschreiben: Mit Beziehung auf eine zugrunde liegende allgemeine Werthaltung und den hierdurch bestimmten Inhalt des zugeh¨origen Paares von Wertpr¨adikaten heißt jeder Satz ein normativer, der irgendwelche notwendige oder hinreichende, oder notwendige und hinreichende Bedingungen f¨ur den Besitz eines solchen Pr¨adikates ausspricht.“ (Hua XVIII, 56)
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Einige Beispiele: ,Ein Krieger soll tapfer sein’ (tapfer sein: notwendige Bedingung) – wenn er das ist, dann ist er ,gut’ (Wertpr¨adikat). Oder: ,Ein Messer soll scharf sein’ – wenn es das ist, dann ist es ,n¨utzlich’. Oder: ,In einem Staat soll ein jeder B¨urger vor dem Gesetz gleich sein’ – ,Wenn dies erf¨ullt wird, ist eine grundlegende Bedingung f¨ur Gerechtigkeit geschaffen.’ Die Wertpr¨adikate ,gut’, ,n¨utzlich’, ,gerecht’ werden also hinsichtlich ihres Objekts (Krieger, Messer, Staat) mit konstitutiven Inhalten (tapfer, scharf, Gleichheit vor dem Gesetz) gef¨ullt: Auf diese Weise ist es im Weiteren m¨oglich, ein normatives Urteil auszusprechen. Wir sehen, dass die konstitutiven Inhalte selbst Wertpr¨adikate sein k¨onnen (tapfer), aber nicht sein m¨ussen (scharf ). Husserl meint, dass es so vielf¨altige Arten der Rede vom Sollen gibt, als es verschiedene Arten von Werthaltungen und Werten gibt. Wie steht es nun mit dem Pr¨adikat ,recht’, dem ja unser Hauptaugenmerk gilt? Ist es ein Wertpr¨adikat, so wie ,sch¨on’, ,n¨utzlich’, ,tugendhaft’ etc.? Wir m¨ussen hier ganz genau hinschauen. Beobachten wir zuerst, wo und wie bei Husserl das Pr¨adikat ,recht’ auftaucht, und versuchen wir dann, seinen Sinn genauer einzugrenzen: ,,,Ein Drama soll nicht in Episoden zerfallen’ – sonst ist es kein ,gutes’ Drama, kein ,rechtes’ [Hervorhebung S.L.] Kunstwerk.“ (Hua XVIII, 54)
Husserl bestimmt in Folge nur seinen Gebrauch des Terminus ,gut’, ,recht’ l¨asst er unbeachtet stehen, denn dieses scheint ihm im Umfang von ,gut’ aufzugehen. Der Terminus ,gut’ dr¨uckt das ,irgendwie Wertvolle’ aus, l¨asst sich also allumfassend f¨ur den Ausdruck des allgemein Wertvollen verwenden, das dann weiter spezifiziert werden kann als das spezifisch Wertvolle des N¨utzlichen, Sch¨onen etc. ,Gut’ w¨are gewisser¨ maßen ein Uberbegriff f¨ur alle Bezeichnungen des Wertvollen. Wie ist es aber mit ,recht’? Wir haben bereits bei Scheler gesehen, dass ,recht’ kein genuines, sondern ein sekund¨ares Wertpr¨adikat ist, d. h., dass es eines Sollens, einer Norm bedarf, um u¨ berhaupt erscheinen zu k¨onnen. Es korrespondiert dem ,So soll es sein’ einer Norm und affirmiert damit die Norm und den Gegenstand, der der Norm entspricht. Sehen wir uns zuerst die mehrgliedrige Struktur des normativen Urteils bei Husserl an, um dann genauer herausarbeiten zu k¨onnen, wo der Unterschied zwischen unmittelbaren Wertpr¨adikaten und dem vermittelten Wertpr¨adikat ,recht’ liegt. Es braucht ein Bestimmungssubstrat, dazu
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eine Werthaltung, die ein spezifisches Paar von Wertpr¨adikaten meint, und dann die jeweilige wertende Bestimmung der konstitutiven Inhalte des Wertpr¨adikatenpaars. Ich muss also zuerst wertsch¨atzend einstufen, welches Substrat z. B. als ,sch¨on’ und ,h¨asslich’ gilt, um dann ein Urteil dar¨uber auszusprechen, wie das Substrat sein soll, damit es sch¨on ist. Damit aber etwas ,recht’ ist, braucht es keine vorhergehende Bestimmung der konstitutiven Inhalte, sondern es handelt sich um eine nachfolgende Bestimmung anhand der Norm. Der konstitutive Inhalt des Wertpr¨adikats ,recht’ ¨ mit der Norm. Es ist formal also immer derselbe: die Ubereinstimmung gibt keinen Wert des Rechten und Unrechten oder Nicht-Rechten, der vor der Normierung liegen w¨urde, wie etwa N¨utzliches, Sch¨ones usw. Somit f¨allt in der dreigliedrigen Struktur des normativen Urteils ,Ein A soll B sein, damit es C (wertvoll) ist’ f¨ur die Zuschreibung des Pr¨adikats ,recht’ der dritte Teil als irrelevant weg. Denn es ist ganz gleichg¨ultig, welche Werthaltung hinter dem C steht und somit das Sollen motiviert hat: Das Substrat ist stets ,recht’, wenn es die Norm erf¨ullt. Ein Beispiel: Ein normativer Satz lautet: Ein Kunstwerk soll x,y,z sein. Es ist ein rechtes Kunstwerk, wenn es x,y,z ist, denn dann ist es der Norm gem¨aß. Ob es deshalb auch gut, sch¨on, usw. ist, h¨angt von der Bestimmung ab: Ein Kunstwerk, das x,y,z ist, ist gut, sch¨on. Die Werthaltung, die also bewirkt hat, dass man sagt: Ein Kunstwerk soll x,y,z sein, weil nur ein solches ein sch¨ones, gutes etc. ist, ist f¨ur den Rechtswert selbst nicht bedeutend. Denn dieser ist nicht Grund oder Motivation eines Sollens, sondern Ergebnis eines erf¨ullten Sollens. Es w¨are nicht sehr gewinnbringend zu sagen: Ein Kunstwerk soll x,y,z sein, damit es recht ist, weil ich damit nur sage, dass ein Kunstwerk, das x,y,z ist, so ist, wie ein Kunstwerk sein soll – und ich keine weiteren Wertqualit¨aten dar¨uber hinaus meine, wie sch¨on, gut etc. Ich erfahre nicht, warum ein Kunstwerk so sein soll (weil es dadurch diesen oder jenen Wert besitzt, der ein Sollen w¨unschenswert macht), sondern einfach, dass es so sein soll und dass sich aus dessen Erf¨ullung ein positiver Wert ergibt. Die Werthaltung des Rechten verweist also immer schon auf eine Norm, die Norm selbst wiederum geht auf Werthaltungen zur¨uck. Wenn wir also sagen ,Das ist ein rechtes Messer’, dann meinen wir damit: ,So soll ein Messer sein.’ Die wertsch¨atzende Begr¨undung w¨are: denn ein solches Messer ist n¨utzlich, sch¨on, brauchbar etc. Ebenso f¨ur das ,rechte Benehmen’, das ,rechte Kunstwerk’ usw. In gewissem Maße
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hat ,recht’ mit ,gut’ die Gemeinsamkeit, dass es allumfassend f¨ur irgendwie Wertvolles verwendet werden kann: mit dem Unterschied, dass ,recht’ eine Gem¨aßheit des gegebenen Subjekts an den konstitutiven Inhalten des Wertpr¨adikats f¨ur dieses Subjekt ausdr¨uckt und damit einen Wert beschreibt, w¨ahrend ,gut’ die Werthaftigkeit des Wertpr¨adikats selbst bezeichnet. Anders gesagt: ,Gut’ dr¨uckt die Werthaftigkeit aus, ,recht’ dr¨uckt zuerst die Gem¨aßheit und dann erst die Werthaftigkeit durch diese Gem¨aßheit aus. Das Rechtsein erh¨alt seinen Wert durch sein Gem¨aß-Sein an einer Norm, gleichsam als Selbstbest¨atigung dieser Norm – das ,gut’ ist das ,irgendwie Wertvolle’ selbst, eben ein Gut. Man k¨onnte also sagen: ,Gut’ steht f¨ur das begr¨undend unmittelbar Wertvolle und ,recht’ steht f¨ur das nachtr¨aglich vermittelte Wertvolle. Denn ich muss immer wissen, wie etwas sein soll, damit ich es als ,recht’ beurteilen kann, aber nicht, damit ich es als ,irgendwie wertvoll’ beurteilen kann. Wenn Husserl also sagt: ,,,Ein Drama soll nicht in Episoden zerfallen’ – sonst ist es kein ,gutes’ Drama, kein ,rechtes’ Kunstwerk“ (Hua XVIII, 54), so meint er damit zweierlei Dinge. Erstens: Es wird f¨ur gut (wertvoll) befunden, dass ein Drama nicht in Episoden zerf¨allt, deshalb soll es das auch nicht. Zweitens: Tut es aber doch das, was es nicht soll, weicht es von der Bestimmung ab, die man ihm wertsch¨atzend zugeschrieben hat, dann ist es kein rechtes Kunstwerk. Das Urteil ,S ist recht’ ist also ein Werturteil des ,Danach’. Im Gegensatz zu den unmittelbaren Werturteilen schiebt sich hier immer ein ,So soll es sein’ dazwischen. Das Rechtsein bzw. das Angemessensein oder das Gem¨aß-Sein ist deshalb ein vermittelter Wert als Best¨atigung eines Sollens. ,Recht’ ist kein explizites, sondern ein vermitteltes Wertpr¨adikat, sein ¨ Wert ergibt sich aus der Ubereinstimmung des Subjekts mit der Norm, als Ergebnis eines Urteilens, eines Abmessens. ,,Die konstitutiven Inhalte der [. . .] Wertpr¨adikate sind [. . .] die messenden Einheiten, nach denen wir Objekte der bez¨uglichen Sph¨are abmessen.“ (Hua XVIII, 57) Stimmen diese konstitutiven Inhalte u¨ berein, ist das Substrat ,recht’, stimmen sie nicht u¨ berein, ist es ,nicht recht’. Wenn ich also sage: ,So (x,y) soll ein Tisch sein’, dann ist klar, dass dahinter eine Werthaltung steht, die ich gegen¨uber gewissen Tischmerkmalen habe: Ich finde gewisse Merkmale praktisch, sch¨on etc. Die Werthaltung des Rechten ist aber etwas Sekund¨ares, denn der Tisch ist genau dann und nur dann recht, wenn er eine schon vollzogene Werthaltung erf¨ullt. Ebenso bei dem Satz: ,So soll eine Mutter sein’. Das setzt die
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Werthaltung voraus, dass eine ,gute’ Mutter gewisse Eigenschaften haben solle. Eine ,rechte’ Mutter ist dann diejenige, die diese Eigenschaften erf¨ullt, die ,so ist, wie sie sein soll’ und dadurch besondere Wertsch¨atzung genießt. Nach diesen Betrachtungen zu Scheler und Husserl k¨onnen wir Folgendes zur Konstitution des Rechtswertes festhalten: Die Frage lautet, was und wie sich ein Bewusstsein notwendig vollziehen muss, um zu einer vollen Gegebenheit des Rechtssinnes zu gelangen. Dazu ist erstens eine Norm notwendig, die als Maßstab dient, um das zu beurteilende Objekt hinsichtlich seiner Kompatibilit¨at zu u¨ berpr¨ufen (genauer gesprochen sind es die konstitutiven Inhalte der Wertpr¨adikate, die als messende Einheiten dienen). Zweitens ergibt sich dadurch die unweigerliche Werthaltung, die einer Norm zugrunde liegen muss. Hier finden wir noch kein Rechtsbewusstsein, sondern ein wertendes Bewusstsein vor, welches sozusagen den Maßstab ,eicht’. Wir schließen uns Husserl an, dass an dieser Stelle die Frage nach der ,objektiven G¨ultigkeit’ der Wertung noch nicht wichtig ist; es gen¨ugt, dass eine Intention des Wertes vollzogen wird. Allerdings ist sehr wichtig, vorgreifend zu erw¨ahnen, dass Werthaltungen und die daraus resultierenden Normen letztlich auch einen Wahrheitsanspruch haben. Soll der Rechtssinn voll zur Gegebenheit kommen, so muss dieses Wertbewusstsein auch voll vollzogen sein. Reinach87 Reinach hat 1906 einen ebenso kurzen wie klaren Text mit dem Titel ,,Grundbegriffe der Ethik“88 verfasst, der einerseits Scheler vorgreift und ¨ andererseits hilfreich f¨ur die Husserl’schen Uberlegungen ist. Zudem 87
Adolf Reinach hat als erster Ph¨anomenologe in Die apriorischen Grundlagen des b¨urgerlichen Rechts (1913) einen sehr eigenst¨andigen rechtsphilosophischen Ansatz entwickelt. Gefragt wird nach den Wesenszusammenh¨angen, in denen rechtliche Anspr¨uche sich manifestieren. Dabei steht der ,soziale Akt’ des Versprechens im Zentrum: Ihm entspringen laut Reinach wesensm¨aßig die Ph¨anomene von Anspruch und Verbindlichkeit. Reinachs rechtsph¨anomenologischer Ansatz findet in dieser Arbeit deshalb keine Beachtung, weil er sich auf soziale Rechtsverh¨altnisse beschr¨ankt und damit den juristischen Bereich, nicht aber den vernunfttheoretischen thematisiert. Zu Reinach im systematischen Zusammenhang rechtsph¨anomenologischer Positionen vgl. Loidolt 2006a. Weitere Sekund¨arliteratur zu Reinach: Binder 1925, Dubois 1995, Konrad 1991, Kubeˇs 1982, Mulligan 1987, Schuhmann 1987, Smith 1978, Smith 1989. 88 Im Folgenden mit der Sigle der Gesamtausgabe ,S¨amtliche Werke’ SW zitiert.
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k¨onnen wir mit Reinachs pr¨azisen Formulierungen unsere Problematik des ,Rechten’ hier zu einem vorl¨aufigen Abschluss bringen. Dabei ging es um folgende Fragen: 1. In welchem Verh¨altnis steht das ,Rechte’ oder die ,Rechtheit’ zum Wert? Ist sie selbst einer oder beschreibt sie nur ein formales Verh¨altnis zum Sollen? 2. Worin liegt die Parallelit¨at zwischen Rechtheit und Richtigkeit, die wir behauptet haben? Und: L¨asst sich hier eine erste Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Einstellung festmachen? 3. Inwiefern zeigt sich hier der Rechtssinn in ethischer Hinsicht? Und wie steht es mit der Dynamik oder Teleologie des Rechtssinns? Ad 1. Das ,Rechte’ ist nur ein sekund¨arer Wert: Es ist nicht Wert in erster, sondern erst in zweiter Linie. Daher ist das Rechte nicht vorrangig vom Wert in seiner ph¨anomenalen Struktur, sondern vom Urteil, d. h. vom Rechtsakt her zu verstehen. Das Rechte erscheint nicht wie das Wertvolle in einem unvermittelten spezifischen Eigengehalt, sondern sein Sinn entsteht erst durch ein Urteil anhand einer Norm, deren immanentes Werturteil in der Geltungs¨ubertragung auf den Rechtssinn des Rechten u¨ bertragen wird. Reinach a¨ußerst sich dazu folgendermaßen: In seiner nur drei Seiten umfassenden Skizze ist er auf der Suche nach den Grundbegriffen der Ethik. Hier st¨oßt er zuerst auf das Gegenstandspr¨adikat ,sittlich wertvoll’, welches an der Spitze der Ethik steht und ihr Einheit gibt. Es wird eine kurze Erhellung dieses Pr¨adikates versucht: ,Wertvoll’ wird gleich ,gut’ gesetzt, ,unwert’ gleich ,b¨ose’; der Unterschied zu ,¨asthetisch wertvoll’, ,n¨utzlich’ wird angedeutet. Doch es stellt sich heraus, dass der Begriff des Sittlichen allein nicht gen¨ugt, um das Gebiet der Ethik abzugrenzen: ,,Die Ethik hat nicht nur mit der Frage zu tun, was sittlich wertvoll ist, sondern [wichtig ist] noch ein anderer ethischer Grundbegriff: sittlich recht und sittlich unrecht.“ (SW 335) Damit ist das zweite grundlegende Begriffspaar der Ethik genannt. ,,Beide Pr¨adikate sind nicht a¨quivalent den Pr¨adikaten wertvoll und unwert.“ (SW 335) Denn: Mut, Tatkraft usw. sind sittlich wertvoll, Neid sittlich unwert; hingegen ,dass der Sittliche ungl¨ucklich sei’ ist nicht unwert, sondern nicht recht. Dieser Unter-
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schied, so Reinach, muss in der ,Gegenstandsform’ begr¨undet sein. Er kommt zu dem Schluss: ,,Wertvoll sind Gegenst¨ande. Dagegen sind Sachverhalte das, was sittlich richtig oder unrichtig ist. [. . .] A und B sind wertvoll oder unwert. Dass A b ist, ist recht oder nicht recht. Aber es ist nicht wertvoll bzw. unwert. Nur Gegenst¨ande k¨onnen sittlich wertvoll sein, niemals Sachverhalte. Nur Sachverhalte k¨onnen sittlich richtig sein, niemals Gegenst¨ande.“ (SW 336) Nun gibt es aber, so Reinach, einen Zusammenhang zwischen ,sittlich recht’ und ,sittlich wertvoll’ durch vermittelnde S¨atze: ,,Mit dem Wert des Gegenstandes ist notwendig verkn¨upft die Rechtheit seiner Existenz“ oder ,,Es ist recht, daß dieser Gegenstand existiert, denn er ist sittlich wertvoll“ (SW 337). Diese S¨atze setzen einen Obersatz voraus: ,,Es ist recht, daß jeder sittlich wertvolle Gegenstand existiert.“ (SW 337) Durch das Durchspielen der logischen M¨oglichkeiten gelangt Reinach zu vier S¨atzen, die den Axiomen und Formalzusammenh¨angen bei Scheler gleichen. Allerdings gibt es einen Unterschied: Reinach l¨asst den Begriff des Sollens in dieser kurzen Untersuchung absichtlich aus dem Spiel, obwohl er sich bewusst ist, dass er hierher geh¨ort: ,,Daf¨ur [sagt man auch]: Ein unwerter Gegenstand ,soll’ nicht existieren, ein werter ,soll’ existieren. Rechtheit ist [aber] nicht Sollen. Zwar [sind beide] a¨quivalent, aber wie? Hier [sei] vom Sollen abgesehen.“ (SW 337) ¨ Sieht man nicht vom Sollen ab, so ist das ,Wie’ der Aquivalenz zwischen Rechtheit und Sollen klar durch das Urteil gegeben. Recht ist das, was gesollt ist (und nicht umgekehrt: Gesollt ist das, was recht ist). Ein positiver Wert ist, wie Scheler sagt, stets gesollt. Dem Rechtsakt muss also ein normatives Urteil vorangehen, das die Wertpr¨adikate festlegt. Reinach sagt selbst: ,,In gewisser Weise setzt die Frage nach der sittlichen Rechtheit der Existenz eines Gegenstandes die Frage nach dem sittlichen Wert voraus.“ (SW 337) Ist also gekl¨art, was wert ist und was nicht und damit was sein soll und was nicht, kann ein beliebiger Gegenstand auf seine Rechtheit hin beurteilt werden.89 89
Reinachs strenger Unterscheidung, dass nur Sachverhalte ,recht’ (bzw. ,richtig’ – man achte auf die analoge Verwendung!) und nur Gegenst¨ande wertvoll sein k¨onnen, wollen wir nichts entgegensetzen; es handelt sich hier vielmehr um eine Pr¨azisierung: Denn wenn ich, wie in den oben angef¨uhrten Beispielen, ein Kunstwerk als ,recht’ beurteile, so
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Ad 2. Der zweite Punkt betrifft die Parallelit¨at oder Analogie zwischen Rechtheit und Richtigkeit.90 Richtigkeit, so haben wir weiter oben aus¨ gef¨uhrt, ist die Ubereinstimmung des Gemeinten mit dem Selbstgegebenen; sie resultiert aus dem Abmessen der in Zweifel gekommenen Meinung am letztg¨ultigen Maß der Selbstgegebenheit. Die Rechtheit wiederum resultiert aus dem Abmessen des Seins am Gesollten. Wir haben bereits auf die Parallelit¨at zwischen Maß und zu Messendem hingewiesen und auch auf die Forderung nach der Geltung des Maßes durch die Dynamik des Rechtssinns. Worin sich Richtigkeit und Rechtssinn gleichen, ist, dass es sich bei ihrer Gewinnung um eine ,direkte Gem¨aßheit’ handelt: Das Substrat wird direkt auf seine Gem¨aßheit hin beurteilt. Der Unterschied von ,recht’ und ,richtig’: Das eine Mal geht es um das Sein eines Gesollten, das andere Mal um die Geltung des Wahren. Richtigkeit und Rechtheit sind also analoge Strukturen in parallelen Bereichen. Deshalb ist es bei diesen beiden Sinnen m¨oglich, durch die Richtigkeitsintentionalit¨at oder die rechtliche Intentionalit¨at auf die Geltung des Maßstabes zur¨uckzufragen. Ad 3. Unser dritter Punkt bezog sich auf den Rechtssinn in ethischer Hinsicht und seine Teleologie und Dynamik. Alle drei angef¨uhrten Autoren haben ,recht’, das ,Rechte’, die ,Rechtheit’ als zum ethisch-wertendnormativen Bereich geh¨orig angef¨uhrt, am deutlichsten wohl Reinach, der den Begriff des ,sittlich Rechten’ zusammen mit dem ,sittlich Wertbeurteile ich in Wahrheit den Sachverhalt, dass dieses Kunstwerk so oder so beschaffen ist. 90 Hierzu meint Reinach in seiner Skizze: ,,Logisch richtig ist das Urteil, nie der Sachverhalt (= richtig). Ethisch richtig ist der Sachverhalt, niemals das Urteil (= recht).“ (SW 336) Hier mag ein Beispiel zur Illustration dienen: Ich beobachte eine Szene auf der ¨ Straße und stelle urteilend fest: ,Die junge Frau hilft dem alten Mann beim Uberqueren der Straße.’ Verh¨alt sich dies tats¨achlich so, dann ist mein Urteil logisch richtig, aber keinesfalls sittlich recht (besser h¨atte ich wahrscheinlich selbst geholfen, als zu urteilen). Der Sachverhalt selbst aber (das Produkt meines Urteils), n¨amlich dass die junge Frau dem alten Mann u¨ ber die Straße hilft, ist wiederum als sittlich recht zu beurteilen und nicht als logisch richtig. Was aber, wenn ich ein Urteil u¨ ber Sittliches f¨allen muss, z. B. ob es u¨ berhaupt sittlich recht sei, alten Leuten u¨ ber die Straße zu helfen oder nicht oder z. B. ob Hilfestellung u¨ berhaupt ein Wert sei oder nicht, ist dann mein Urteil nicht sittlich recht oder unrecht? Wahrscheinlich w¨urde Reinach sagen, dass der Sachverhalt, dass ich so oder so urteile, als sittlich recht oder unrecht beurteilt werden k¨onne. Kann aber mein Urteil selbst logisch richtig oder unrichtig sein?
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vollen’ zu den zwei Grundbegriffen der Ethik rechnet91 . Dies allein schon zeigt auf, wie das rechtliche Denken grundlegend den Bereich des Ethischen aufbaut. Wir wenden uns im n¨achsten Kapitel wiederum der Charakteristik der rechtlichen Intentionalit¨at zu, n¨amlich der Dynamik des Rechtssinns, mit der sich die Frage nach der Geltung ,umdreht’ und die die Norm bzw. den Maßstab einer absoluten Rechtfertigung unterzieht. Die Wertung, die sich durch die Geltungs¨ubertragung im Rechtsakt auf den Sinngehalt ,recht’ niedergeschlagen hat, wird nun im Gegenzug fragw¨urdig. Die R¨uckfrage des Zweifelhaft-Werdens bezieht sich damit direkt auf einen Sollens-Satz, in dem diese Wertung vorgenommen wurde, d. h., sie wirkt zur¨uck auf das normative Urteil. Die Frage ist, ob diese Wertung ,evident’ sein kann und damit ihr Recht beanspruchen kann oder nicht. Durch die rechtliche Intentionalit¨at ist ein evidentes Sollen und Gesolltes (nicht ein evidentes Sein wie bei der Richtigkeit) gefordert; diese Teleologie oder regulative Idee gilt es nun im praktischen Bereich genauer zu untersuchen. B. Rechtliches Denken in der praktischen Sph¨are: Evidenzanspruch und Unverf¨ugbarkeit 2. Das Verh¨altnis von logischer (theoretischer) und praktischer Vernunft Dieses Kapitel soll die Grundkoordinaten der folgenden Auseinandersetzung mit Husserls Ethik festlegen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Rechtm¨aßigkeit von Urteilen im wertenden (axiologischen) und praktischen Bereich. Husserls Entwicklung in dieser Frage soll mitdenkend nachvollzogen werden. Am Anfang steht daher Husserls fr¨uhe Ethik, die eine starke Evidenzforderung beinhaltet. Gekl¨art werden soll, wie Vernunft im praktisch-ethischen Bereich vorliegt und was die Forderungen der rechtlichen Intentionalit¨at sind; weiters, ob diese theoretischen Forderungen der ethischen Situation tats¨achlich entsprechen, oder ob 91
Mit Reinach finden wir daher auch einen starken Bef¨urworter der Unterscheidung, die wir weiter oben bei Husserl zwischen ,recht’ und ,gut’ (= inhaltlich, prim¨ar wertvoll) gemacht haben. Vgl. S. 140 ff.
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nicht vielmehr das Rechtfertigen vom ethischen Angesprochen-Sein her neu und anders verstanden werden m¨usste. Die Dimension des Praktischen verweist einerseits immer auf ein konkretes Handeln, andererseits muss sich in diesem Zusammenhang auch erweisen, ob die geforderte rechtgebende Evidenz auch einer M¨oglichkeit innerhalb dieses Gegenstandsgebietes entspricht. Dass es verschiedene Evidenzarten f¨ur verschiedene Gegenstandsbereiche gibt, haben wir bereits weiter oben besprochen: Jene verschieben die Forderung nach ad¨aquater Evidenz in die Unendlichkeit hinein und machen sie damit zu einer regulativen Idee. Die je gegebene Evidenz bleibt somit eine ,auf Kredit’, ihr Rechtssinn ebenso. Es wird nun zu verfolgen sein, wie der Anspruch der rechtlichen Intentionalit¨at qua Vernunft in diesem Bereich vorliegt. Daf¨ur gilt es zun¨achst drei Problemgebiete anzusprechen: 1. Der Rechtssinn ist prinzipiell ein Produkt der theoretischen, pr¨adizierenden Vernunft. Wir folgen hier Husserls Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft, die er in den Vorlesungen u¨ ber Ethik und Wertlehre 1908–1914 ausarbeitet. Husserls Projekt ist die Entwicklung einer Ethik am Leitfaden der Logik: So wie diese in formale (apriorische) und materiale (aposteriorische) geschieden wird, so soll auch die Ethik – in strengem Parallelismus – in einem formalen und einem materialen Teil abgehandelt werden. Husserl bringt den formalen Teil als formale Axiologie und Praktik zur Ausf¨uhrung, wobei es sich hier um reine Gesetze der Wertvergleichung (Axiologie: Wertsteigerungsverh¨altnisse, Verh¨altnisse zwischen Wertganzem und Wertkomponenten, Wertsummation und -produktion etc.) und der Wertverwirklichung (Praktik: Willensgesetze der Wahl, Absorptionsgesetz etc.) handelt, die nur auf der Forderung der praktischen Widerspruchsfreiheit beruhen und tats¨achlich nichts u¨ ber Wertinhalte aussagen. ,,Die formale Logik mit all ihren Gesetzen kann uns nicht in den Stand setzen, die geringste Tatsachenwahrheit abzuleiten. Sie umfaßt nicht einmal alle apriorische Wahrheit, sondern eben nur die formale Wahrheit. [. . .] Genauso f¨ur die formale Axiologie und Praktik. [. . .] [D]ie Frage, was gut und besser und Bestes ist, wird uns so nicht beantwortet.“ (Hua XXVIII, 140) Deshalb sind formale Axiologie und Praktik auch nur die erste Stufe einer wissenschaftlichen Ethik, die zweite w¨are eine ,,systematische Herausstellung des gesamten materialen Apriori“ (Hua XXVIII, 141), das
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Husserl zwar weder in den genannten Vorlesungen noch an anderen Stellen zur Ausf¨uhrung bringt, aber folgendermaßen skizziert: ,,[N]un w¨aren Grundklassen von Werten zu fixieren bzw. die von praktischen G¨utern und dann theoretisch zu erforschen die zugeh¨origen Vorzugsgesetze. Wie stehen sinnliche G¨uter zu den G¨utern, die in der Vernunftsph¨are selbst liegen? Ist Einsicht als solche [. . .] nicht objektiv wertbar [. . .]? Und wie steht es mit den Werten der Pers¨onlichkeit [. . .]? Wie steht es also mit der Wertung eines personalen Wesens als Vernunftwesens? [. . .] Von da aus f¨uhren also die Linien in die eigentliche Ethik, in die individuale und soziale Ethik.“ (Hua XXVIII, 140 f.)
All diese Entw¨urfe und Ausf¨uhrungen setzen voraus, dass die Ethik so wie auch die Logik unter den vern¨unftigen ,,Ideen der Rechtm¨aßigkeit und Unrechtm¨aßigkeit, korrelativ der Wahrheit und Falschheit, des Bestehens und Nichtbestehens usw. steh[t]“ (Hua XXVIII, 68). Diese Vernunftakte und ihre Korrelate, welche die geforderte Rechtm¨aßigkeit ausweisen m¨ussen, haben aber eine jeweils verschiedene Struktur. Husserl unterscheidet unter den intentionalen Akten drei fundamentale Aktarten (Melle 2004, 333): die intellektiven Akte, die f¨uhlenden Akte und die Willensakte92 . In der ersten Klasse erfahren wir sachliche Bestimmungen, in der zweiten erf¨uhlen und erfahren wir Werte in urspr¨unglicher Weise und in der dritten entscheiden wir uns f¨ur Ziele und Handlungen. In den Bereich der Ethik (und damit auch in die personalistische Einstellung) fallen die Klassen der Gem¨uts- und Willensakte, insofern sie unter dem Rechtsurteil der Vernunft stehen. Gem¨uts- und Willensakte zeichnen sich zun¨achst dadurch aus, dass sie eine individuellpersonelle Beziehung auf ein Vorgestelltes ausdr¨ucken (also nicht nur das Urteil ,A ist b’, sondern z. B. ,Ich freue mich, dass A b ist’). ,,Die urspr¨unglichste Wertkonstitution vollzieht sich im Gem¨ut als jene vortheoretische [. . .] Hingabe des f¨uhlenden Ichsubjekts, f¨ur die ich den Ausdruck Wertnehmung [. . .] verwendet habe. Der Ausdruck bezeichnet also ein der Gef¨uhlssph¨are zugeh¨origes Analogon der Wahrnehmung [. . .].“ (Hua IV, 9) Ob diese Parallelisierung tats¨achlich u¨ berzeugend ist, m¨ussen wir hier noch offen lassen. Auf jeden Fall ist zwischen den verschiedenen Aktklassen ein unumkehrbares Fundierungsverh¨altnis festzu92
Es gibt auch noch eine vierte, weniger oft erw¨ahnte Aktklasse, die vor allem zur personalistischen Einstellung geh¨ort: die Klasse der sozialen Akte, in denen die Ichleistungen vergemeinschaftet werden. Vgl. Hua IV, 184 und Melle 2004, 335.
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stellen (Melle 2004, 333): So sind wertende Akte fundiert in objektivierenden Akten, da jeder Gegenstand, der gewertet werden soll, zuerst vorgestellt werden muss; dar¨uber hinaus sind wollende Akte in wertenden fundiert, da Wertbestimmungen f¨ur ein konkretes Wollen (ein Vorziehen, Hintanstellen etc.) unerl¨asslich sind.93 So viel Grundarten von Akten nun unterscheidbar sind, so viel Grundarten der Vernunft gibt es auch bei Husserl: eine theoretisch-logische, eine axiologische und eine praktische Vernunft. Der vern¨unftige Zugriff auf die Akte unterscheidet sich daher nach Aktarten. Genauso wie bei den objektivierenden (theoretisch-logischen) wird daf¨ur auch bei den wertenden Akten zwischen Akt und Inhalt geschieden: Der Akt des Wertens bezieht sich auf bzw. hat als Gegenstand einen objektiven Wert, ,,Werturteile [. . .] erheben [demnach] einen Erkenntnisanspruch im Blick auf objektive axiologische Gegenstandsbestimmungen“ (Spahn 1996, 66 f.). Was genau aber bringt die verschiedenen Aktarten unter das Rechtsurteil? Und wie (in welchem Bereich der Vernunft) wird das Rechtspr¨adikat tats¨achlich konstituiert? Husserl insistiert hier einerseits auf einem Primat der logischen Vernunft im Zusprechen von Rechtsurteilen und andererseits auf einem schlicht vorliegenden aber unbegriffenen ,Recht’ in axiologischer und praktischer Vernunft. Dies bringt ihn hinsichtlich der Frage nach dem vernunftm¨aßigen Zusammenhang von Evidenz und Recht in betr¨achtliche Schwierigkeiten.94 ,,Die Unumkehrbarkeit der Fundierungsordnung [. . .] wird jedoch insofern relativiert als einerseits alle Akte als Ichvollz¨uge ein zumindest geistiges Tun und somit willentliche Akte sind und als andererseits dar¨uberhinaus das Bewusstsein als Leben den Charakter des Strebens und Wirkens hat.“ (Melle 2004, 333 f.) Besonders die praktische Komponente im Rechtssinn wurde ja schon betont. 94 Schuhmann hat in seinem Aufsatz ,,Probleme der Husserlschen Wertlehre“ diesen diffizilen Punkt ebenfalls sehr deutlich angesprochen: ,,[I]n Gem¨utsakten konstituieren sich schließlich nicht Sachen, sondern eben G¨uter. Beides zusammengenommen lautet die Grundfrage ethischer Rechtfertigung, wie denn der Anspruch zu begr¨unden sei, in Gem¨utsakten ,eines wahren Wertes innezuwerden’ (250; meine Hervorhebung). Es geht, kurz gesagt, um die Sicherstellung eines irgendwie doch Objektiven und Verbindlichen, das andererseits aber nicht in gleichem Sinn objektiv sein kann, wie dingliche Eigenschaften das sind. Im Begriff des Werts liegt also zweifellos ein ,Anspruch auf ¨ die objektiven Naturpr¨adikate der Dinge hinaus scheint Objektivit¨at’ der Werte. Uber objektiv aber nichts weiter an ihnen nachweisbar zu sein als das reichlich subjektive ,Faktum eines im Wertsch¨atzen auftretenden Gef¨uhls’ (254).“ (Schuhmann 1991, 108) 93
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Zun¨achst scheint es eine reine Parallelit¨at der Rechtsprechung zu geben: ,,[W]ie Urteilss¨atze, S¨atze in theoretischem Sinn, ihre sch¨atzenden Pr¨adikate haben, Pr¨adikate des theoretischen Rechts haben (abgesehen von den Modalit¨aten wahrscheinlich, m¨oglich und dergl.), so die praktischen S¨atze parallele Pr¨adikate, die der praktischen Rechtm¨aßigkeit und Unrechtm¨aßigkeit (gleichsam praktische Wahrheit und Falschheit).“ (Hua XXVIII, 45) Ein beliebiges F¨ur-sch¨on-und-gut-Halten unterscheidet sich demnach a priori ,,von einem solchen, das eben richtiges ist, das sein ideales Ziel erreicht, das so wertet, wie gewertet werden soll“ (Hua XXVIII, 61). Um aber diese ,normative Wendung’ in den Gem¨utsakten festmachen zu k¨onnen, sind objektivierende Akte notwendig: Erst durch sie wird das wertende Gef¨uhl in eine Werterkenntnis umgewandelt. Denn ,,logische Vernunft hat [. . .] den einzigartigen Vorzug, daß sie nicht nur in ihrem eigenen Feld, sondern im Feld jeder anderen Gattung des Vermeinens, also in jeder anderen Vernunftsph¨are Recht formuliert, Rechtm¨aßigkeit bestimmt, Rechtsgesetze als Gesetze pr¨adiziert und ausspricht. Wertende und praktische Vernunft sind sozusagen stumm und in gewisser Weise blind.“ (Hua XXVIII, 68) Trotz paralleler Rechtspr¨adikate scheint also die Rechtsprechung bzw. das Rechtsurteil Sache der theoretisch-logischen Vernunft zu sein: ,,Theoretische Vernunft geht auf Richtigkeit und Unrichtigkeit, n¨amlich Wahrheit und Falschheit von Urteilen (Wirklich-sein oder Nicht-sein von Gegenst¨anden etc.). Praktische Vernunft geht auf Richtigkeit oder Unrichtigkeit (G¨ute, Schlechtigkeit) des Wollens, wertende Vernunft auf Richtigkeit oder Unrichtigkeit im Werten. In allen F¨allen ist es die urteilende Vernunft (die theoretische), welche diese Unterschiede feststellt.“ (Hua XXVIII, 366) Husserl ringt lange um die ,Demarkationslinien’ zwischen theoretischlogischer und wertend-praktischer Vernunft: Denn einerseits kommt nur im Wertnehmen ein Wert zur Gegebenheit, auf den sich ein objektivierender Akt dann richten kann; andererseits kann nur im Urteil, das eben Sache der logischen Vernunft ist, dieser Wert zum Gegenstand-Wor¨uber gemacht werden. Obwohl die Frage hinsichtlich der Wertkonstitution nicht hinreichend gekl¨art ist, so zeigt sich doch hinsichtlich der Vernunftpr¨adikationen eine ,Allherrschaft’ der logischen Vernunft, da eben sie es ist, die Urteile u¨ ber Wahrheit ausspricht, die apriorische Gel-
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tung ausweist, die begr¨undet und die so allein ,,den Werturteilen den begr¨undenden Rechtsausweis verleih[t]“ (Hua XXVIII, 281). Wie aber kann sie das leisten? Husserl gibt selbst zu: ,,[W]as das heißt, daß Gem¨utsakte origin¨are Quellen f¨ur ihnen eigent¨umliche Vernunftwerte sind, die hinterher logische Fassung und Bestimmung erfahren k¨onnen, das erfordert sehr schwierige Nachweisungen im Gebiet der allgemeinen Wesensstrukturen des Bewußtseins.“ (Hua XXVIII, 69) Und 1911: ,,[I]n welchem Sinn hier wirklich von Vernunft und objektiver G¨ultigkeit gesprochen werden darf, das f¨uhrt schon in die Ph¨anomenologie und Theorie der Vernunft selbst hinein, und das ist ein wahrer Urwald von Schwierigkeiten.“ (Hua XXVIII, 205) Die Grundschwierigkeit ist dabei folgende: Der Akt des Wertens soll nicht nur in gewisser Weise sein Objekt, den Wert, konstituieren, es soll in ihm auch ein ,Recht’ da sein ,,als Recht wertender Vernunft, wenn wertende Akte gewisser Wesensartung und -formung vollzogen bzw. vollziehbar sind. Aber bloß wertende Vernunft sieht nicht, begreift nicht, expliziert nicht, pr¨adiziert nicht.“ (Hua XXVIII, 69) Die logische Vernunft muss Husserl zufolge also ,,[h]ineinblicken in wertende Akte“ (Hua XXVIII, 281) und dort gleichsam die Werte ,wahrnehmen’, um eine notwendige Unterlage f¨ur das urteilende Feststellen der Normgerechtigkeit zu haben. ,,Die logischen Akte leuchten aber nur hinein und machen nur sichtbar, was da ist. Sie konstituieren nur die logischen Formen, nicht aber die in den Formen gefaßten eigent¨umlichen Vernunftgehalte der parallelen Vernunftsph¨aren.“ (Hua XXVIII, 69) Es ist in der Tat sehr schwierig, sich vorzustellen, in welcher Weise diese ,eigent¨umlichen Vernunftgehalte’ vorliegen, die die logische Vernunft erst erfasst und in Form bringt: Denn in ihr und durch sie wird der Rechtscharakter als solcher erst konstituiert, formuliert, begriffen. Es muss daher gefragt werden, welche ,Evidenz’ hier vorliegen soll und wie diese als Rechtsgrund begriffen werden kann. Denn: ,,Schon das Sehen im engeren und weiteren Sinn, also auch im Sinne des ,Einsehens’ ist ein doxischer Akt.“ (Hua XXVIII, 68) Eine Rechtspr¨adikation ist unm¨oglich zu leisten ohne die ,,Akte des Anschauens [. . .], in denen Gegenst¨ande gegeben werden und durch ihre Anschauungsgegebenheit letzte Gr¨unde abgeben f¨ur die Berechtigung ihres Denkens“ (Hua XXVIII, 277). Das Sehen dieser Anschauungsgr¨unde, welches Sache der logischen Vernunft ist, muss insofern auch Geltung f¨ur die Akte des Wertens und f¨ur die Akte des
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Wollens beanspruchen. Husserl bezeichnet dies als Rechtsprechung der doxischen Vern¨unftigkeit. Er bleibt aber insofern ambivalent, als er ein Vorliegen von Rechtsgr¨unden in den anderen Vernunftarten voraussetzt (Hua XXVIII, 66): ,,Wenn der logische Akt der Rechtspr¨adikation hier Rechtsgr¨unde herausholt, so holt er sie eben nur heraus, sie liegen im Willensgebiet als das ihm eigent¨umliche Willensrecht.“ (Hua XXVIII, 71) ,,Er [der Wille] bedarf logischer Akte, um zu Wort kommen zu k¨onnen, und das Resultat ist das Sollensurteil, das ein Urteil und kein Wille ist.“ (Hua XXVIII, 64)95 Der erste Problemkreis l¨asst sich also folgendermaßen zusammenfassen: Der eigentliche Akt der vern¨unftigen Rechtspr¨adikation findet durch die logische Vernunft statt, dieses ,Recht’, d. h. diese ,Evidenz’ liegt aber auf wie immer geartete, ,blinde’ Weise in der Gem¨utssph¨are schon vor. 2. Die teleologische Forderung des Rechtssinns ist eine formale. Bisher wurde im Grunde genommen nur von den Schwierigkeiten gesprochen, die sich durch die geforderte Letztausweisung als teleologischen Endpunkt ergeben. Wie entsteht diese Forderung aber im axiologisch-praktischen Bereich? Auch beim Werten und Wollen gibt es eine gewisse naive Doxa, sei es durch Habitualit¨aten oder sonstige lebensweltliche Gr¨unde (unkritisch u¨ bernommene Autorit¨at etc.). Der Setzungs- bzw. Pr¨atentionscharakter tritt hier noch viel deutlicher zu Tage, da es sich nicht um eine Seinssetzung (ohne die wir in nat¨urlicher Einstellung gar nicht auskommen), sondern um eine Sollens- (= Willens-) oder Wertsetzung handelt. Dadurch wird dieses oder jenes als ,recht’ bewertet.96 Dieses Urteil kann aber – durch Entt¨auschung, Entwertung und darauf folgende Kritik – in Frage gestellt werden: ,,Die von der95
Das Sollen ist mit dem Wollen verkn¨upft, durch das Werten aber schon in seiner Rechtm¨aßigkeit bestimmt. Melle fragt sich zu Recht, welche Rechtm¨aßigkeit die praktische Vernunft u¨ berhaupt noch bestimmen soll. (Melle 2004, 343) 96 ,,Korrelativ h¨atten wir dreierlei: Seiendes, Gutes (Wert), Seinsollendes (praktisch Gutes). Geh¨oren die beiden letzten etwa in eine Klasse? Nein. Ich werte Gegenw¨artiges, Vergangenes, K¨unftiges, ich werte Sein jeder Art als gut. Ich spreche mein willentliches ,Es soll’. F¨ur Gegenw¨artiges: Es steht schon als gut da, so werte ich es. Aber ich kann es dazu werten als recht. Es ist recht so (falls es in meiner Willenssph¨are ist, in der Willenseinstellung). Es ist so und als Gutes und Bestes bleibe es so, es ist recht so. Bei Zuk¨unftigem: Es soll so sein – durch den Willen, praktisch.“ (Hua XXVIII, 157)
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art peinlichen Entwertungen und Entt¨auschungen ausgehende Motivation ist es, die [. . .] das Bed¨urfnis nach solcher Kritik und somit das spezifische Wahrheitsstreben bzw. Streben nach Bew¨ahrung durch einsichtige Begr¨undung motiviert.“ (Hua XXVII, 30) Wir haben im Theoriekapitel beschrieben, dass sich der Bedeutungsgehalt des Rechtssinns durch den Zweifel nicht aufl¨ost, sondern sich als Leerintention gleichsam ,r¨uckbez¨uglich’ auf die Norm, durch die er urspr¨unglich als ,voller’ gewonnen wurde, richtet. Eine kritische R¨uckfrage wird eingeleitet, die f¨ur die Rechtm¨aßigkeit dieser Setzung volle Evidenz fordert. Im ethischpraktischen Kontext handelt es sich allerdings nicht um eine Seinssetzung, sondern um eine Wert- bzw. Sollenssetzung. Die Struktur dieser Setzung ist schon in der Auseinandersetzung mit Husserl im Abschnitt IV.A angedeutet worden: Husserl nennt das daf¨ur notwendige Urteil das normative Urteil, welches durch eine zu Grunde liegende Werthaltung und den hierdurch bestimmten Inhalt des zugeh¨origen Paares von Wertpr¨adikaten Bedingungen f¨ur den Besitz eines solchen Pr¨adikates ausspricht (Hua XVIII, 56) – wobei in diesem Fall noch nicht nach der Rechtm¨aßigkeit dieser Zuordnung gefragt wird. Tut man dies nun aber, dann ergeben sich zwei Frageebenen: a. Die Frage nach dem Wert als solchem: Ist der vermeinte Wert ein tats¨achlicher, ,wahrer’ (positiver) Wert? Anders gefragt: Hat dieser Wert ein Recht (auf praktische Geltung)? (Z. B.: Ist Sch¨onheit ein positiver Wert?) b. Die Frage nach der richtigen Be-Wertung: Ist die Zuordnung dieser Sache zu jenem Wertpr¨adikat tats¨achlich rechtm¨aßig (recht qua richtig)? (Z. B.: Ist A tats¨achlich gut?) W¨ahrend es in a. um das Recht des Wertes auf Geltung und korrelativ um die Einsehbarkeit des Werthaften selbst geht, ist in b. die Frage auf das Rechte oder die Rechtheit als praktisches Korrelat zur Richtigkeit gerichtet. Wie wir also sehen k¨onnen, ergeben sich Fragen nach Recht (Geltung) und Rechtheit (Gem¨aßheit am Gesollten und Werthaftigkeit durch Wert¨ubertragung im Rechtsakt). Gemeinsam ist ihnen die gleiche teleologische Forderung des Rechtssinns nach Erf¨ullung und das heißt die Forderung nach (ad¨aquater) Evidenz. Diese Forderung ist aber rein formal, da sie von der theoretischen Vernunft in die praktische als Wahrheitsund Geltungsbedingung hineingetragen wird (Werten ist kein ,Schauen’)
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und nicht die praktischen, jeweils konkreten Bedingungen des Wertens und Wollens ber¨ucksichtigt.97 Um vollkommen erf¨ullt zu sein und somit ihr telos zu erreichen, verlangt die rechtliche Intentionalit¨at als Bewegung der Vernunft eine absolute Ausweisung. Dies ist ein Anspruch der theoretischen Vernunft, der negativ-kritisch fungiert und meist als ,regulative Idee’ auftritt. Der zweite Problemkreis umfasst daher folgende Momente: Das Entstehen der Rechtsfrage inklusive ihrer teleologischen Bewegung kann nach dem Gesagten nur aus der logischen Vernunft heraus verstanden werden (da nur in ihr Erf¨ullungsverh¨altnisse der Evidenz zur Gegebenheit kommen). Daher zeigt sich die Rechtsfrage im axiologischen und praktischen Bereich als eine formale Anforderung der logischen Vernunft, die nicht von vornherein mit der besonderen Gegebenheit des Gegenstandes kompatibel sein muss. 3. Welche Bereiche der Ethik, d. h. der Gem¨utsakte des Wertens und Wollens, sind f¨ur ein Rechtsurteil zug¨anglich und wie? Wir haben gesehen, dass wir innerhalb der Husserl’schen Ethik zwischen formalem und materialem, aber auch zwischen apriorischem und aposteriorischem Gegenstandsgebiet unterscheiden m¨ussen. Parallel zur Logik behandelt der formale Teil nur formale Wahrheiten, die sich aus dem Satz des (praktischen und logischen) Widerspruchs ergeben und formal apriorisch sind. Daran schließt sich systematisch das materiale Apriori, das den Bereich der ,objektiven Werte’ behandeln soll. Als aposteriorisch ist die jeweilige Situation zu betrachten, in der geurteilt werden muss und in der eine jeweils konkrete Subjektivit¨at in ihrer lebensweltlichen Situativit¨at die ihr zur Verf¨ugung stehende Perspektive auf das in diesem Fall ethisch Beste hin ausrichtet. Neben diesen Unterscheidungen ist auch noch die Frage nach den jeweiligen Rechtm¨aßigkeiten und Rechtsgr¨unden zu kl¨aren: Hier schließen sich an die erw¨ahnten apriorischen Disziplinen (formal und material) korrelativ ,,noetisch-apriorische Disziplinen [an]; analog wie der formalen Logik, die von den S¨atzen bzw. Wahrheiten, M¨oglichkeiten, Vermutlichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, 97
Auf diese beiden Einw¨ande gehe ich weiter unten noch genauer ein: Vgl. S. 168 ff.
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Fraglichkeiten und dergl. rein formal handelt, eine Lehre von den entsprechenden Vernunftakten und ihrer normativen Regelung entspricht und die Forschung dann weiter geht in die gesamte Ph¨anomenologie des logischen Vernunftbewußtseins. Ebenso hinsichtlich der Ethik. Von der objektiven bzw. noematischen Blickstellung gehen wir u¨ ber in die Blickstellung auf die Akte und ihre Regelung, und von da aus geraten wir in systematisch vollst¨andiger Forschung in eine reine Ph¨anomenologie der wertenden und wollenden Vernunft, die sich eingliedert in die allgemeine Ph¨anomenologie des Bewußtseins u¨ berhaupt.“ (Hua XXVIII, 141)
Die Fragen der Rechtm¨aßigkeit betreffen also: die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Wert u¨ berhaupt (a), das richtige Zusprechen des Wertes im normativen Urteil (b) und, als Element der Praktik im Gegensatz zur Axiologie, die Willensrichtigkeit. Wir haben nun eine wichtige ,Einschr¨ankung’ bei der Husserl’schen Ethik im Vergleich zur Logik: Es geht in der reinen Praktik – und das ist schon apriorisch einzusehen – um das Handeln eines Subjekts in einer konkreten Situation. Dadurch haben wir auf dieser Ebene eine personal-lebensweltliche Komponente, die f¨ur die Einsehbarkeit – in diesem Fall die absolute Willensrichtigkeit – in einschr¨ankender Weise fungieren wird. F¨ur das Werten allerdings beansprucht Husserl eine unmittelbare Rechtm¨aßigkeitsevidenz, sowohl in formaler wie auch in materialer Hinsicht. Wie ist dies zu verstehen angesichts einer praktischen Vernunft, die ,blind’ ist und ihre Rechtm¨aßigkeit erst im theoretischen ,Hineinblicken’ bekommt? Oder hat das ,Praktische’ schließlich eine ganz andere Bedeutung, als bloß ein ,blindes’ Korrelat zum logischen Rechtsurteil zu sein? 3. Husserls Ethik von 1908 bis 1914: Grundfragen, Aufbau, Probleme Husserls Ethik versucht den Gegensatz zwischen dem moralischen Sensualismus Humes und dem moralischen Absolutismus Kants durch die Parallelisierung zwischen Logik und Ethik zu u¨ berwinden. Dabei betont Husserl einerseits die Notwendigkeit von formal-praktischen Prinzipien, die a priori einsehbar sind und bei ihrer Nicht-Befolgung einen praktischen Widerspruch verursachen.98 Andererseits ist f¨ur die reine, apriori98
In einen solchen praktischen Widerspruch verstricken sich nach Husserl die Skeptiker und die empirischen Ethiker: Vgl. Hua XXVIII, § 4. ,Die Widerlegung von Skeptizismus und Psychologismus’.
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sche Ethik, die Husserl anstrebt, das materiale Apriori ebenso wichtig wie in der Erkenntnissph¨are99 . Damit bringt sich Husserl in Gegensatz zu Kant: Dieser habe, so Husserl, die Wesensnotwendigkeiten in der Sinnlichkeit und damit auch in den Gef¨uhlsakten verkannt, wodurch es zu einer Vermengung von empirischer Faktizit¨at und eidetischen Gesetzen der Sinnlichkeit gekommen sei. Folglich konnte Kant auch den Sollenscharakter ethischer Normen nicht gen¨ugend begr¨unden, da ein Sollen nicht ohne ein Wollen eines begehrenden Wesens gedacht werden und dieses Wollen niemals frei von allem Werten und F¨uhlen sein k¨onne. ,,W¨are ein solches Wollen nicht genauso widersinnig wie ein Ton ohne jede Tonqualit¨at oder eine Farbe ohne jede Ausbreitung oder eine Vorstellung ohne jedes Vorgestellte?“ (Husserl, in: Roth 1960, 40) Um dieser ph¨anomenologischen Einsicht Rechnung zu tragen, m¨ussen die Gem¨utsakte des F¨uhlens bzw. des Wertens als motivierende Willensgr¨unde ber¨ucksichtigt werden, da sonst die Ethik nur eine Sache des Verstandes w¨are und den Willen unber¨uhrt ließe. Kants kategorischer Imperativ, der nicht mehr sagt als ,Handle vern¨unftig!’ (Roth 1960, 39), u¨ bersieht diese ph¨anomenologische ,Textur’ des Handelns – wobei sich bei Kant sogar eine Art Best¨atigung der Husserl’schen These findet, insofern er selbst das Gef¨uhl der Achtung (das kein sinnliches sein soll) einf¨uhren muss, um einen Bezug zum Begehrungsverm¨ogen herzustellen. Wie Alois Roth zusammenfassend bemerkt: ,,Da ein wollendes Wesen a priori zugleich auch als wertendes zu denken ist, muß, um den Sollenscharakter ethischer Verpflichtungen aufzuweisen, auf das Verm¨ogen des Gef¨uhls, dessen Inhalte den Willen motivieren, rekurriert werden.“ (Roth 1960, 41) Gef¨uhle allein k¨onnen aber keine Prinzipien sein, da diese Urteile sind. Wie sind Gef¨uhle dann an der Grundlegung der Ethik beteiligt? Ullrich Melle bemerkt in der Einleitung zu dem Band Vorlesungen u¨ ber Ethik und 99
Beispiele hierf¨ur w¨aren etwa: ,Farbe ist notwendig verkn¨upft mit Ausdehnung in der ¨ Weise der Uberdeckung’ oder ,Je drei Tonqualit¨aten haben ihre feste Ordnung’. ,,In der Sph¨are der Wahrheiten ist [. . .] zu scheiden zwischen reinen Vernunftwahrheiten, die hinsichtlich ihrer materialen Bestimmtheit v¨ollig unabh¨angig sind, und materialen Wahrheiten apriori, die uns nur durch Sinneserkenntnis gegeben sind. Aber deshalb sind nicht bloß die ersteren, die nur einen kleinen Teil im gesamten Bereich der Wahrheiten ausmachen, f¨ur jedes Vernunftwesen verbindlich, sondern alle Wahrheiten. F¨ur jedes Vernunftwesen besteht die M¨oglichkeit einer Einsicht in einen Wahrheitsgehalt als einer idealen M¨oglichkeit.“ (Roth 1960, 37)
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Wertlehre 1908–1914 (Hua XXVIII), dass Husserl eine doppelte Fragestellung unterscheidet, n¨amlich ,,die nach dem Ursprung der moralischen Begriffe und die nach dem erkenntnistheoretischen Charakter der moralischen Gesetze [Hervorhebung S.L.]. Die Gef¨uhlsmoral hat Husserl zufolge gezeigt, dass der Ursprung der moralischen Begriffe, d. i. die Anschauungsquelle, in der die Begriffe ihre evidente Berechtigung ausweisen und in welcher der Sinn der Worte evident realisiert werden kann, zumindest teilweise Gef¨uhlserlebnisse sind.“ (Melle 1988, XVIII) Wenn also nach dem Ursprung gefragt wird, muss auf die Materie der Gem¨utsakte zur¨uckgegangen werden, wenn hingegen von Gesetzen die Rede ist, dann handelt es sich dabei nicht um induktive Verallgemeinerungen, sondern um apriorische Gesetze, ,,die im begrifflichen Wesen der betreffenden Gem¨utsakte gr¨unden“ (Hua XXVIII, XIX). Eine Ausarbeitung des formalen und materialen Apriori der Gem¨utsakte des Wertens und Wollens ist daher Programm der Husserl’schen Ethik unter den Titeln ,reine Axiologie’ und ,reine Praktik’. Dazu m¨ussen zun¨achst Werten und Wollen als Akte herausgestellt werden. Diese sind (dem ph¨anomenologischen Aktbegriff zufolge) intentional auf ihren Gegenstand gerichtet, den Wert. ,,Der Wert ist zun¨achst Korrelat des wertenden Gef¨uhlsaktes, zugleich aber auch Korrelat des Wollensaktes. So fordert die Ethik als Grundlage eine Axiologie, auf der sich die Praktik aufstufen muß.“ (Roth 1960, 165) Durch die Herausstellung der Gem¨utsakte als Akte, die einen Gegenstand intendieren, soll die psychologistische und skeptische Verwechslung des Wertens mit dem Wert ein f¨ur allemal ausger¨aumt werden: Denn ebenso wie bei allen anderen Akten intendiert das Vermeinen des bloßen Gegenstandes den selbstgegebenen, d. h. den sich in erf¨ullender Evidenz als objektiv seiend ausweisenden Gegenstand (Hua XXVIII, XXXVII). Der Gegenstand ,Wert’ geh¨ort in eine ,,total neue Dimension“ (Hua XXVIII, XLI): ,,Was nun die Werte betrifft, so fallen sie Husserl zufolge ,nicht unter die prinzipielle Hauptregion Realit¨at’. Werte sind ,sekund¨are Gegenst¨ande’, die nur in sekund¨arem Sinn real oder irreal sind, je nachdem der fundierende Gegenstand real oder irreal ist. Werte scheinen so eine eigene, vom realen wie vom irrealen Sein unterschiedene eigene Seinssph¨are zu bilden.“ (Melle 1988, XL) Der Wert kommt immer nur ,an’ einer Sache vor und ist damit auf fundierende, objektivierende Akte angewiesen. Er wird an dieser Sache ,erf¨uhlt’, wof¨ur Husserl oft den
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Terminus des ,Wertnehmens’ in Analogie zum Wahrnehmen gebraucht. Diese Analogie, die aus der Parallelisierung von Logik und Ethik folgt, ist jedoch problematisch. Denn um welche Art von Akten handelt es sich bei den Gem¨utsakten? Husserl greift zu ihrer Beschreibung auf die bereits in den Logischen Untersuchungen getroffene Unterscheidung zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten zur¨uck: Objektivierende Akte konstituieren einen Gegenstand als Gegenstand, sie sind im pr¨agnanten Sinn gegenstandsgebend. Gem¨utsakte hingegen werden von Husserl den nicht-objektivierenden Akten zugerechnet, sie ,geben’ zwar den Wert, aber nicht als Gegenstand. Dies ist eine Schwierigkeit, die sich nicht ohne weiteres u¨ bergehen l¨asst und auf die Husserl auch in den Vorlesungen u¨ ber Grundprobleme der Ethik 1908/09 (Hua XXVIII, 237–381) immer wieder eingeht. Er scheint hier zu folgendem Ergebnis zu kommen (das in den Ideen I100 nur terminologisch anders formuliert wird): Nur in Gem¨utsakten, genauer: in wertenden Akten des Gefallens, sind uns Wertgegenst¨ande und Wertbestimmungen gegeben; sie sind gegenst¨andliche Korrelate und ,,keine bloßen Reflexionsbestimmungen, die aus einer Abstraktion aufgrund der inneren Wahrnehmung von Akten des Gefallens hervorgehen“ (Melle 1988, XXXVI). Rein theoretischer Erkenntnis allein sind Werte als solche nicht zug¨anglich, allerdings kann sich ein objektivierender Akt auf das Werten sowie auf den Wert selbst richten. Wir stoßen damit wieder auf das oben erw¨ahnte Spannungsverh¨altnis von theoretischer und praktischer Vernunft: Da auch f¨ur die Gem¨utsakte das Problem der sich ausweisenden, g¨ultigen Gegen100
,,Nach all dem ergibt es sich, daß alle Akte u¨ berhaupt – auch die Gem¨uts- und Willensakte – ,objektivierende’ sind, Gegenst¨ande urspr¨unglich ,konstituierend’, notwendige Quellen verschiedener Seinsregionen und damit auch zugeh¨origer Ontologien. Zum Beispiel: Das wertende Bewußtsein konstituiert die gegen¨uber der bloßen Sachenwelt neuartige ,axiologische’ Gegenst¨andlichkeit, ein ,Seiendes’ neuer Region, sofern eben durch das Wesen des wertenden Bewußtseins u¨ berhaupt, aktuelle doxische Thesen als ideale M¨oglichkeiten vorgezeichnet sind, welche Gegenst¨andlichkeiten eines neuartigen Gehaltes – Werte – als im wertenden Bewußtsein ,vermeinte’ zur Heraushebung bringen. Im Gem¨utsakte sind sie gem¨utsm¨aßig vermeint, sie kommen durch Aktualisierung des doxischen Gehaltes dieser Akte zu doxischem und weiter zu logisch-ausdr¨ucklichem Gemeintsein. Jedes nicht-doxisch vollzogene Aktbewußtsein ist in dieser Art potentiell objektivierend, das doxische cogito allein vollzieht aktuelle Objektivierung.“ (Hua III/1, 272)
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standsbeziehung gilt, stellt sich die Frage, wie wertende Akte dies leisten sollen. Objektivierende Akte sind schlichtweg notwendig, um diese Vernunftpr¨adikation der G¨ultigkeit herzustellen, und selbst wenn es sich nur um ein ,Hineinleuchten’ dieser ,logischen Fackel’ handelt101 , worauf wirft sie dann ihr Licht? Gibt es ein Analogon der Evidenz bei den nichtobjektivierenden Akten, wie Husserl, auf Brentano verweisend, meint, und wenn ja, wie w¨are es zu erfassen bzw. zu beschreiben? Wir schließen uns Melle in der Meinung an, dass ,,[d]ie Frage bleibt, wie sich der Unterschied zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten aufrechterhalten l¨aßt, wenn auch die nicht-objektivierenden Akte gegenstandsgebende Akte sind“ (Melle 1988, XXXVII) – und dies m¨ussen sie in gewisser Weise sein, wenn aus ihnen intentionale Erf¨ullungen bis zu Evidenzen ablesbar sein sollen.102 F¨ur eine Ethik im Husserl’schen Sinn, die das Gef¨uhl als Konstitutionskomponente ernst nehmen will, stellt sich also auf philosophischer Ebene genau die Frage, die wir auch im allt¨aglichen Leben erfahren: Aus einem Mangel der Analogie des Wertens mit dem logischen Denken und dem Wahrnehmen (es ist wesentlich schwieriger, sich intersubjektiv auf Werte zu einigen als darauf, dass zwei mal zwei vier ist oder dass man gemeinsam auf eine st¨adtische Landschaft blickt) stellt sich die Frage nach der m¨oglichen ,Evidenz’ des Wertens und korrelativ des Wertes. Dies ist als eine St¨arke der Husserl’schen Ethik zu betrachten. Denn Husserl pl¨adiert, wie wir noch sehen werden, f¨ur eine Evidenz des Wertens und Handelns, aber in einer konkreten Situation, die den Standpunkt des Subjekts einbezieht. Verfolgen wir zun¨achst weiter, wie Husserl die Frage nach G¨ultigkeit und Rechtm¨aßigkeit als Frage der praktischen Vernunft im Gebiet des Ethischen vorantreibt: Wir haben die wichtige Unterscheidung zwischen formalen und materialen Gem¨utsgesetzen bereits erw¨ahnt; die formalen Gesetze gr¨unden rein in der Form der Gem¨utsakte, die materialen ber¨ucksichtigen auch die Gem¨utsmaterie, analog wie materiale Wahrhei101
,,Also die Fackel der logischen Vernunft muß aufgesteckt werden, damit, was an Formen und Normen in der Gem¨uts- und Willenssph¨are verborgen ist, an das helle Licht treten kann. Die logischen Akte leuchten aber nur hinein und machen nur sichtbar, was da ist. Sie konstituieren nur die logischen Formen, nicht aber die in den Formen gefaßten eigent¨umlichen Vernunftgehalte der parallelen Vernunftsph¨aren.“ (Hua XXVIII, 69) 102 Vgl. zur Problematik von objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten auch Melle 2005.
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ten auf Erkenntnismaterien R¨ucksicht nehmen (z. B.: Farbe erscheint immer als Fl¨ache). Husserl geht streng analog zu den Logischen Untersuchungen vor: So wie er dort die logischen Gesetze aus dem begrifflichen Wesen der Denkakte gewinnt, sucht er nun die apriorischen Wertgesetze, die im begrifflichen Wesen der wertenden Gef¨uhle gr¨unden m¨ussen. Sein einf¨uhrendes Beispiel ist das formale Verh¨altnis von Mittel und Zweck, das kein logisches, sondern ein praktisches Verh¨altnis ist: Denn das praktisch-vern¨unftige Gebot, dass wer den Zweck wolle auch das daf¨ur unentbehrliche Mittel wollen m¨usse (wenn dagegen kein moralischer Grund spricht), ruft bei seiner Nichtbeachtung keinen logischen Widerspruch, sondern einen praktischen hervor: Ich verstricke mich nicht in eine Denkunm¨oglichkeit, wenn ich A will, aber B, das f¨ur A notwendig w¨are, nicht will, wohl aber verstricke ich mich in einen Widerspruch des Wollens. Deshalb spricht Husserl auch von apriorischen Motivationsgesetzen oder Konsequenzgesetzen, die von vern¨unftiger Konsequenz innerhalb einer Aktsph¨are (Werten) und zwischen verschiedenen Aktsph¨aren (Werten, Wollen) handeln. Hier kann also eine formale Einsicht vollzogen werden, die rein im Wesen des Wollens gr¨undet. Nichtsdestoweniger wird sie von der logischen Vernunft erkannt und ausgesagt, in die Form der Rechtm¨aßigkeit gebracht und als normatives Prinzip formuliert: Es ist praktisch unvern¨unftig, den Zweck zu wollen, aber nicht das dazu unentbehrliche Mittel. Bei den formalen Prinzipien der Gem¨utsakte scheint Evidenz ungleich leichter einsehbar zu sein als in der materialen Axiologie und Praktik; es liegt eine apodiktische Evidenz vor (eine, deren Gegenteil ausgeschlossen werden kann). Das bedeutet aber noch nicht, dass es eine Logik des Wollens und Wertens g¨abe, die genau parallel zu der Logik des ,Gegenstandes u¨ berhaupt’ existiert. Vielmehr sind die formalen Prinzipien der Axiologie gegen¨uber der Logik eigentlich schon wieder materiale, wie Melle ganz richtig bemerkt (Melle 1988, XLII). Denn die Gesetze der formalen Logik sind die allgemeinsten Prinzipien des ,Etwas u¨ berhaupt’; die Gesetze des Wertens als formale Ontologie der Werte sind hingegen nur Gesetze einer bestimmten Seinsdom¨ane. Sie sind gegen¨uber der formalen Logik ,material’, weil sie Gesetze einer bestimmten Seinsweise des ,Etwas u¨ berhaupt’ sind und damit die allgemeinen logischen Gesetze auf diese bestimmte Seinsdom¨ane anwenden. Nur hinsichtlich der materialen bzw. regionalen Ontologie der Werte sind sie rein ,formal’, weil sie keine
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R¨ucksicht auf Wertmaterien nehmen. Es wird nur von der praktischen Vern¨unftigkeit in der formalen Kombination von irgendwelchen positiven oder negativen Werten gesprochen. Die formale Ontologie der Werte ist also u¨ ber die formale Beschaffenheit der Gem¨utsakte und ihre formalen Widerspr¨uche einsehbar; eine direkte Analogie mit der formalen Logik ist jedoch problematisch. Die Sph¨are der Werte zeigt dar¨uber hinaus ihre formalen Eigenarten, die sie mit der Urteils- und Erkenntnissph¨are nur schwerlich vergleichbar macht: So sind erstens Werte im Unterschied zu Wahrheiten miteinander vergleichbar – deshalb widmet sich Husserl auch ausf¨uhrlich den Wertableitungen, Wertsteigerungs- und Wertvergleichungsgesetzen, also den axiologischen Konsequenzgesetzen. Zweitens gibt es Adiaphorie, Wertneutralit¨at, ,,ein Vorkommnis, das wertende Vernunft als solche festzustellen hat“ (Hua XXVIII, 84), ganz im Gegensatz zur Erkenntnissph¨are, wo S¨atze nur ,wahr’ oder ,falsch’, aber nicht ,neutral’ sein k¨onnen. Daraus ergibt sich drittens, dass in der Wertsph¨are nicht der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, sondern der Satz vom ausgeschlossenen Vierten gilt. Eine vierte, weitere fundamentale Differenz zwischen Werten und Erkenntnisurteilen wird im § 11 von Husserls Vorlesung von 1914 festgestellt: ,,Wertungen sind in ihrer G¨ultigkeit relativ auf eine Motivationslage, und positive und negative Wertpr¨adikate schließen sich nur bei gleicher Motivationslage aus. Also zwei scheinbar entgegengesetzte Wertungen k¨onnen miteinander vertr¨aglich sein, wenn ihnen unterschiedliche Motivationslagen zugrunde liegen.“ (Melle 1988, XXIX) Bei Werten kann es im Gegensatz zu Wahrheiten zu Kollisionen oder Konflikten kommen. Dazu kommt, dass es auch abgeleitete Werte gibt, z. B.: ,,Ist W ein Wertobjekt bzw. ein wertvoller Sachverhalt und ist A eine Ursache von W [. . .], so u¨ bertr¨agt sich der Wert von W auf A [. . .].“ (Hua XXVIII, 78) Es kommt nun auf die Motivationszusammenh¨ange an, wie im jeweiligen Fall gewertet wird, und so stellt es in der Wertsph¨are keinen Widerspruch dar, wenn derselbe Gegenstand einmal so und einmal so gewertet wird. Jeder Motivationszusammenhang, so Husserl, ist aber ein endlicher. Aus diesem Grund muss es erste Wertgr¨unde geben, die nicht mehr weiter deduzierbar sind: ,,So muß auch alles Wertbegr¨unden auf erste Wertgr¨unde f¨uhren, die nicht mehr sozusagen ,erschlossene’ Werte sind, also auf Werte, die nicht wieder Werte sind um anderer vorausgesetzter Werte willen.“ (Hua XXVIII, 79) Husserl setzt diese ers-
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ten Wertgr¨unde sogleich mit objektiven Grundwerten gleich, bzw. mit Werten ,an sich’. Dieser Schritt ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar: Denn erste Wertgr¨unde verweisen auf einen urspr¨unglich wertenden Akt (ohne notwendigen Wahrheits- oder Vernunftbezug), ein erster Grundwert jedoch schon auf das vern¨unftig ausgewiesene Korrelat eines ,evidenten’ Wertens (mit objektivem Inhalt). Husserl beansprucht dennoch f¨ur den Grundwert A objektive G¨ultigkeit; denn er ist sich durchaus bewusst, dass man zwar die Gesetze der Konsequenz als formal-praktische anerkennen, dabei aber gleichzeitig die Evidenz materialer Grundwerte skeptisch in Zweifel ziehen kann.103 Das jedoch soll unbedingt vermieden werden – denn damit steht und f¨allt die M¨oglichkeit objektiver Wertableitung. Husserl meint, die Frage nach der unbedingten Objektivit¨at solcher Grundwerte durch den Satz vom ausgeschlossenen Vierten entscheiden zu k¨onnen: ,,Mit diesen S¨atzen ist die Strenge und eigentliche Objektivit¨at der Geltung f¨ur die axiologische Sph¨are ausgesprochen. Es ist gesagt, daß, wenn M eine beliebige Materie ist, sie nicht bloß u¨ berhaupt Inhalt eines wertenden Verhaltens sein kann, eines Verhaltens positiven oder negativen oder gleichg¨ultigen Wertens, sondern daß dem F¨ur-Wertgehalten-Werden ein objektives Wertsein entspricht, ein im engeren Sinn objektives positives oder negatives Wertsein oder ein objektives Wertlossein.“ (Hua XXVIII, 88)
Damit w¨are folglich auch die Objektivit¨at der abgeleiteten Werte gew¨ahrleistet, weil man je nach Situation ,,nachrechnen“ (Hua XXVIII, 153) k¨onnte, ob die Wertung konsequent w¨are – ungeachtet der Situations- und Motivationsrelativit¨at, die das Werten im Gegensatz zum Urteilen mit sich bringt, w¨are also doch ein objektives Urteil m¨oglich. Aber wie gelangt Husserl zu dem Schluss, dass mit dem Satz vom ausgeschlossenen Vierten (eine Materie M muss entweder positiv, negativ oder neutral gewertet werden und korrelativ wert sein) die Wertobjektivit¨at gew¨ahrleistet ist? Was gew¨ahrleistet in der Sph¨are des Wertens 103
,,Was die Vern¨unftigkeit und Begr¨undung der Stellungnahmen betrifft, so gilt es zwischen einer relativen und einer absoluten Vern¨unftigkeit zu unterscheiden. Die erstere bezieht sich auf Konsequenz und Konsistenz der Motivationen, auf die Folgerichtigkeit der Begr¨undungskette. Aber auch wenn Stellungnahme a durch Stellungnahme b folgerichtig begr¨undet wird und insoweit vern¨unftig ist, kann sie im absoluten Sinne noch stets unvern¨unftig und falsch sein, wenn eben die begr¨undende Stellungnahme b nicht einsichtig ist, sondern z. B. einer blinden Gewohnheit entspringt.“ (Melle 2004, 338)
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die Wertevidenz, die origin¨are Gegebenheit des Gegenstandes (!), bzw. wie kann gesagt werden, dass nun wirklich ein g¨ultiges Werten eines Werts vollzogen wurde, eine ,Deckung’ von Gemeintem und Gegebenem erreicht wurde, ein Vermeinen seine intuitive Erf¨ullung gefunden hat? Dies alles sind sehr schwierige Fragen, die wieder in die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft bzw. von Gem¨utsakten und objektivierenden Akten hineinreichen. Wir werden weiter unten darauf zur¨uckkommen, wenn es um die Evidenz des materialen Wertapriori gehen soll. Zuerst noch zu Husserls Ethik (so wie er sie 1914 entwickelt) im Aufriss: Der formalen Axiologie schließt sich eine ,Ph¨anomenologie des Willens’104 an, und wieder hat Melle recht, wenn er feststellt: ,,Husserls Ausf¨uhrungen zur Willensph¨anomenologie in der Vorlesung von 1914 sind [. . .] die einzigen umfangreicheren und systematischen ph¨anomenologischen Beschreibungen einer der beiden Aktsph¨aren, in denen Axiologie und Praktik gr¨unden.“ (Melle 1988, XXX) (Die so dringend notwendigen Ausf¨uhrungen zu Akten des Wertens fehlen n¨amlich beinahe vollst¨andig.) Husserl analogisiert hier vor allem die Willens- mit der Urteilssph¨are und streicht die Parallelstrukturen in den Modalit¨aten des Wollens heraus (problematische, hypothetische, disjunktive Modifikation des Wollens). Daran schließt sich die formale Praktik an, die vom praktisch vern¨unftigen, ethisch richtigen Wollen handelt. F¨ur sie ist die ,Konvenienz’ ein entscheidendes Merkmal: das Wollen des Wertvollen (das ,richtig’ ist und dadurch selbst positiv zu werten ist). Konvenienz ist deshalb gefordert, weil sich Werten und Wollen beide auf denselben Gegenstand, den Wert, richten. Dar¨uber hinaus steht auch das Wollen (so wie das Werten) unter bestimmten praktisch-vern¨unftigen Gesetzen, die Husserl genau herausarbeitet: Zwischen den G¨utern gibt es Summationswirkungen der Wertminderung oder Wertsteigerung (die Existenz eines Guten verhindert ein anderes Gutes, oder hat es zur Folge), der Entwertung (die Existenz eines Guten verhindert die Existenz eines relativ h¨oheren Guten) und der G¨utersumme (G¨uter, die sich gegenseitig nicht 104
Vgl. zu einer genaueren Analyse des Willens als einer spezifischen Form der Intentionalit¨at Melle 1997a und Mertens 1998.
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behindern, steigern ihren Wert in ihrem ,Zusammensein’) (Spahn 1996, 102). Daraus folgen Willensgesetze der Wahl: ,,Es stehe irgendein Willenssubjekt in einer Wahl, bezogen auf irgendwelche praktischen M¨oglichkeiten, unter welchen die positiven Werte W1 und W2 vorkommen m¨ogen. Ist nun W1 < W2, so ist die praktische Entscheidung f¨ur W1 allein nicht nur schlechter als die praktische Entscheidung f¨ur W2 allein, sondern sie ist selbst schlecht; die Hintansetzung des Besseren und Vorziehung des Schlechteren, beides in eins genommen, ist unrichtig, und die Wahl ist also als schlecht zu bewerten.“ (Hua XXVIII, 130)
Daraus wiederum ergibt sich das Absorptionsgesetz: ,,In jeder Wahl absorbiert das Bessere das Gute und das Beste alles andere an und f¨ur sich als praktisch gut Zu-Sch¨atzende.“ (Hua XXVIII, 136) Husserl ist sich jedoch im Klaren dar¨uber, dass dieses Gesetz nur ein ,,relatives Sollen“ (Hua XXVIII, 136) schafft und keinen ,kategorischen Imperativ’ im Husserl’schen Sinne, der sich gerade dadurch auszeichnen m¨usste, dass er nicht absorbiert werden k¨onnte. ,,Offenbar liegt die Relativit¨at, die Geltung unter Vorbehalt, f¨ur eine beliebige Wahl darin, daß ihr, solange dar¨uber nichts N¨aheres ausgemacht ist, eine gewisse Endg¨ultigkeit der Begrenzung fehlt.“ (Hua XXVIII, 136) Das hier auftauchende Problem bzw. ph¨anomenologische Faktum ist folgendes: Wir haben es mit einem konkreten Willenssubjekt zu tun, das bestimmte praktische M¨oglichkeiten hat – es ist aber etwas Zuf¨alliges, wie weit der W¨ahlende seine Frage richtet, denn er k¨onnte in den Bereich der Frage immer neue M¨oglichkeiten hineinziehen, und ,,mit jeder Erweiterung des praktischen Bereichs wird sich, allgemein zu reden, das Optimum a¨ndern“ (Hua XXVIII, 136). Deshalb formuliert Husserl seinen kategorischen Imperativ (wie schon Brentano (Brentano 1921, § 17, 14)) als ,,Tue das Beste unter dem Erreichbaren!“105 (Hua XXVIII, 153)106 105
Hierzu kommt als weitere wichtige Komponente noch die noetische: Das Beste ist daher das einsichtige Wollen des Besten. Vgl. Hua XXVIII, § 20, 142. 106 Dabei gilt noch immer, dass, wer sich nicht an den kantischen Imperativ h¨alt, gar nicht vern¨unftig handelt. Die strenge Verallgemeinerbarkeit soll die objektive G¨ultigkeit durch Widerspruchsfreiheit garantieren. Husserl ist dies allein aber zu wenig: ,,Eine formale Regelgebung des Wertens und Wollens unter der Voraussetzung, daß die Materie des Wertens und Wollens, also die inhaltliche Besonderheit der Wert- und Willensobjekte außer Ansatz bleiben k¨onnte, ist ein Widersinn. In dieser Beziehung m¨ussen wir also unsere Wege von denen der Kantischen Lehre scharf sondern.“ (Hua XXVIII, 139)
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Der Begriff des ,Besten’ (unter dem Erreichbaren) setzt in formaler Allgemeinheit materiale Wahrheiten (d. h.: eine Erkennbarkeit von ersten Grundwerten) voraus. Daneben ist noch ein weiteres Moment relevant: Es gibt eine wesentliche Relativit¨at des Handelns auf Subjekt und Zeitpunkt, denn ,,die Objektivit¨at der praktischen M¨oglichkeit ist wesentlich gebunden an das betreffende Subjekt, und dasselbe gilt f¨ur den gesamten praktischen Bereich des Subjekts f¨ur jeden Moment seines m¨oglichen Handelns“ (Hua XXVIII, 149) – sei sich das Subjekt dieser M¨oglichkeiten angemessen bewusst oder nicht, sie sind objektiv bestimmbar. Gleichzeitig kann man ,,jedenfalls das eine apriori aussagen [. . .], daß zwei Ichsubjekte prinzipiell nicht einen identischen praktischen Gesamtbereich haben k¨onnen, nicht die identisch m¨ogliche Wirkungssph¨are“ (Hua XXVIII, 149). Dies alles bedeutet f¨ur Husserl aber nicht, dass dadurch die Objektivit¨at von Wertungen und Wollungen aufgegeben werden m¨usste. Denn in genau jedem Einzelfall gebe es ein objektiv Gesolltes und ,,jedes andere Subjekt [m¨ußte] ebenso handeln [. . .], wenn wir seinen praktischen Bereich verwandelten in denjenigen des Handelnden, und dies gr¨undet eben darin, daß ausschließlich reine Wesensgesetze die Richtigkeit vorschreiben und bloß Anwendung finden auf den faktisch gegebenen Einzelfall und das faktische Subjekt“ (Hua XXVIII, 138). Jeder k¨onnte also sozusagen ,nachrechnen’, ob diese oder jene Entscheidung die richtige gewesen sei, und m¨usste sie sich ebenso ,evident’ machen k¨onnen. Diese ,,Idee der vollkommenen Willensrichtigkeit“ (Hua XXVIII, 138) steht unter Idealgesetzen und stellt sicher, dass, wo ein Subjekt richtig handelt, ein anderes ebenso handeln m¨usste.107 Aber es lassen sich auch in der Vernunft immer nur Einzelf¨alle (re)konstruieren, selbst wenn man apriorisch eine L¨osung daf¨ur finden k¨onnte, worauf Husserl ja insistiert. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied108 zwischen 107
Es gibt vieldeutige M¨oglichkeiten f¨ur den Handelnden, wenn ,mehrere Beste’ zur Wahl stehen, wobei es beim Handelnden liegt, welches er zur Realisierung w¨ahlt. ,,Wir haben ein vieldeutig Bestes.“ (Hua XXVIII, 134) 108 Husserl bemerkt diesen Unterschied nat¨urlich selbst: ,, [Es f ]ehlt in der fraglichen Hinsicht die Analogie zwischen der h¨ochsten Willensrichtigkeit und Urteilsrichtigkeit [. . .].“ (Hua XXVIII, 149)
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Willensrichtigkeit und Urteilsrichtigkeit, die Husserl so gerne parallelisiert haben m¨ochte: Denn die Richtigkeit meines Urteils 2 x 2 = 4 h¨angt nicht in irgendeiner Weise mit meinen speziellen subjektiven Situationsbedingungen zusammen, die irgendjemand nachvollziehen m¨usste, um zu demselben Ergebnis zu kommen, sondern sind davon radikal unabh¨angig. Man sollte dies wieder durchaus als eine St¨arke der Husserl’schen Ethikkonzeption ansehen: Denn wiewohl er einerseits auf die konkreten praktischen M¨oglichkeiten des Subjekts R¨ucksicht nimmt, gibt er die objektive Richtigkeit und damit die Beurteilbarkeit der Handlung nicht auf: ,,Freilich, eine Relativit¨at bleibt bestehen, die auf Subjekt und Zeitpunkt. Trotzdem aber jedes Subjekt im allgemeinen anderes soll und ebenso dasselbe Subjekt zu verschiedenen Zeiten, so soll jedes zu jeder Zeit nur eines, und zwar ein objektiv Bestimmtes, falls es u¨ berhaupt etwas soll.“ (Hua XXVIII, 151) Husserl hat, dies sei hier vorerst nur andeutungsweise erw¨ahnt, in sp¨ateren Jahren seine Ethik immer mehr auf die verantwortliche personale Subjektivit¨at ausgerichtet. Daf¨ur mag ein Einwand Geigers, den Melle aus den Manuskripten zitiert, nicht unwesentlich gewesen sein: ,,Es ist klar, daß eine nach dem bloßen kategorischen Imperativ, wie er hier im Anschluss an Brentano zugrundegelegt worden ist, durchgef¨uhrte Ethik keine Ethik ist. [. . .] [H]at mir [doch] schon 1907 Geiger den berechtigten Einwand gemacht, daß es l¨acherlich w¨are, an eine Mutter die Forderung zu stellen, sie solle erst erw¨agen, ob die F¨orderung ihres Kindes das Beste in ihrem praktischen Bereich sei.“ (Hua XXVIII, XLVI) Also kommt Husserl in einem Forschungsmanuskript der 20er Jahre zu dem Schluss: ,,So ist die Brentanosche Regel unzureichend. Jeder hat sein absolutes Sollen, und seine Wahl vollzieht sich in der Frage, was soll ich, und wo ich mehreres soll, welches ist jetzt mein Notwendiges – nicht einfach, welches ist das in der G¨utervergleichung Bessere. Das Spielen einer Mozartschen Sonate ist sch¨oner als das Waschen des Kindes, aber das letztere ist Pflicht, wenn es jetzt eben an der Zeit ist. Alle praktischen G¨uter stehen f¨ur mich nicht in einer Ebene, auch nicht alle, die ich verwirklichen k¨onnte. Die Stimme des Gewissens, des absoluten Sollens, kann von mir etwas fordern, was ich keineswegs als das in der Wertvergleichung Beste erkennen w¨urde.“ (Hua XXVIII, XLVII)
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4. Evidenzstil: Wertevidenz und Willensrichtigkeit109 Was aber ist dieses ,Erkennen’ in der Wertvergleichung, das ja unser eigentliches Thema betrifft? Denn die rechtliche Intentionalit¨at fordert eine volle Ausweisung des normativen Urteils, und dies verweist direkt auf die Frage nach einer m¨oglichen Evidenz im Werten und Wollen. Werten und Wollen richten sich beide auf den Wert als Gegenstand: einmal als gesetzten (wertgenommenen) und einmal als gesollten. Es ergeben sich also hinsichtlich der objektiven Rechtm¨aßigkeit zwei Fragen: 1. die Vernunftfrage nach den richtigen Werten dem rechtm¨aßigen Wertsetzen; 2. die Vernunftfrage nach der Willensrichtigkeit (inklusive Konvenienz und einsichtigen Wollens des Besten). Der folgende Abschnitt wird sich am Leitfaden dieser Fragen kritisch mit Husserls Vorstellung einer m¨oglichen Wertevidenz und seiner Konzeption und Verortung der ,praktischen Vernunft’ auseinandersetzen. Diese Kritik kann sich nat¨urlich lediglich im Rahmen unseres Vorhabens bewegen und deckt Husserls umfassende Untersuchungen nur zu einem kleinen Teil ab. Es scheint zuerst wichtig, f¨ur die Sph¨are des Wertens und eine dazugeh¨orige Ph¨anomenologie noch einmal deutlich den Unterschied herauszuarbeiten, der sich durch die Doppeldeutigkeit des Wortes ,Wert’ ergibt: Einerseits ist damit die werte Sache, der werte Gegenstand gemeint, andererseits der Wert ,an sich’. Es ist klar, dass das wertende Bewusstsein einen intentionalen Gegenstand gegeben haben muss, damit eine Wertpr¨adikation erfolgen kann. Werte sind vorhanden durch Wertpr¨adikate und werttragende Substrate; Gegenst¨ande, denen Wertpr¨adikate zukommen, heißen darum Werte (Hua XXVIII, 255): ,,Wir sprechen von Werten, sofern Gegenst¨ande sind, die Wert haben.“ (Hua XXVIII, 255) In der Konstitution setzen axiologische Pr¨adikate logische voraus, Werte sind also fundierte Gegenst¨ande. Beim wertenden Akt haben wir demnach eine ,,dop109
Vgl. zu dieser Thematik den Sammelband von Hart/Embree (1997), in dem verschiedene Aspekte der Ph¨anomenologie des Wertens und des Willens behandelt werden, u. a. das Verh¨altnis von Werttheorie und Ph¨anomenologie u¨ berhaupt (Hart 1997, 1– 10), die Frage nach der Objektivit¨at von Werten (Marietta 1997, 11–28) und die Relevanz einer Ph¨anomenologie des Willens – insofern Bewusstsein u¨ berhaupt als strebendwollende Intentionalit¨at verstanden werden kann (Melle 1997a, 169–192).
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pelte intentio, ein zwiefaches Zugewendetsein“ (Hua III/1, 76), da das volle Korrelat des wertenden Aktes ,,nicht die bloße Sache, sondern die werte Sache oder der Wert ist“ (Hua III/1, 76). ,,Sind wir in einem Akte des Wertens auf eine Sache gerichtet, so ist die Richtung auf die Sache ein Achten auf sie, ein sie Erfassen; aber ,gerichtet’ sind wir – nur nicht in erfassender Weise – auch auf den Wert.“ (Hua III/1, 76) Demnach gilt: ,,Werte haben ihre Gegenstandsseite und zugleich ihre spezifische Wertseite, die erstere f¨ur die letztere fundierend, und wenn Werte selbst zu Gegenst¨anden der urteilenden Erkenntnis werden, so wird die Wertseite selbst objektiviert.“ (Hua XXVIII, 72) Wir haben also je nach Betrachtungsweise entweder einen werten Gegenstand (bzw. einen werten Sachverhalt), d. h. eine bloße Sache, die zus¨atzlich Wertcharakter, Wertheit hat; oder wir haben einen Wertgegenstand (bzw. einen Wertsachverhalt), d. i. der konkrete Wert als Wertobjektit¨at: ,,Die Wertobjektit¨at impliziert ihre Sache, sie bringt als neue objektive Schicht herein die Wertheit.“ (Hua III/1, 221) Diese Schicht der Wertheit, die weiter oben auch Wertseite genannt wurde, k¨onnen wir als den ,Wert selbst’ oder den ,Wert an sich’110 bezeichnen. Roth formuliert: ,,Von dem Wert als einem fundierten Gegenstand ist zu unterscheiden der Wert selbst. Ihm eignet keine unmittelbare Realit¨at, er ist ein idealer Gegenstand mit idealer Existenz.“ (Roth 1960, 74) Husserls Wertbegriff ist also a¨ußerst komplex111 – dies ergibt sich aus der Vielfalt der intentionalen Schichtungen, aus denen die Wertobjektit¨at aufgebaut ist. Die genaue Ber¨ucksichtigung dieser Schichtungen ist bei jedem Schritt notwendig, weil es um die entscheidende Frage geht, auf 110
Vgl. Spahn: ,,Der ,Wert’ wird von Husserl nicht nur als Eigenschaft bzw. als Pr¨adikat, das dem Gegenstand anhaftet, verstanden, sondern ebenso in seiner Bedeutung als Wert an sich.“ (Spahn 1996, 72) 111 Roth formuliert kritisch: ,,Husserls Wertbegriff fehlt doch die letzte Pr¨agnanz.“ (Roth 1960, 74, Fußnote 2) Gegen diesen Vorwurf muss man Husserl doch verteidigen. Denn Husserl ist sehr aufmerksam auf den fragilen Status eines Wert-,Gegenstands’ in Zusammenhang mit der Sache, die als werte dasteht. Deshalb verzichtet er darauf, einen bloß fingierten selbstst¨andigen ,Gegenstand’ am Ph¨anomen auszumachen: ,,Im Objekt ist nicht alles Wert, das Objekt ist Wert als die und die Bestimmtheiten gebend, und diese sind die prim¨aren Tr¨ager der Wertcharaktere.“ (Husserl, in: Roth 1960, 74, Fußnote 2)
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welche Schicht des Wertgebildes sich formale und materiale Axiologie beziehen und wo hier genau die Frage nach der Rechtm¨aßigkeit ansetzt. Wir haben innerhalb der Wertobjektit¨at (Wertgegenstand) als Ganzer unterschieden zwischen der Wertheit oder Wertseite als eigener neuer Schicht an der bloßen Sache und dieser bloßen Sache selbst, die durch die Wertschichte als ,werte Sache’ dasteht (und damit implizit auf ihre Fundierung ,bloße Sache’ zur¨uckverweist). Der ,Wert selbst’ wiederum ist das Ergebnis der Verobjektivierung der Wertseite; durch diese Verobjektivierung wird der Wert nicht mehr nur als Wertpr¨adikat eines Subjekts (Gegenstandes, Sachverhalts) erf¨uhlt, sondern als eigene, ideale Gegenst¨andlichkeit. Nun m¨ussen wir aber noch einen weiteren Aspekt betrachten, n¨amlich die Wertmaterie, was so viel bedeutet wie der gesamte Inhalt, den das wertende Bewusstsein konstituiert. Husserl bemerkt selbst: ,,Das Wort ,wert’ ist vieldeutig; es verschiebt seine Bedeutung, je nachdem wir Gegenst¨ande wert nennen und je nachdem wir Materien so bezeichnen. Auf intellektivem Gebiet beziehen wir Wahrheit auf Materie und sagen von den Gegenst¨anden, daß sie sind, von den Sachverhalten, daß sie bestehen. Auf axiologischem Gebiet haben wir die Komplikation, daß zu unterscheiden sind die Gegenst¨ande, die Wert haben und die eventuell als seiende oder nichtseiende gesetzt sind, andererseits die Werte selbst. Weiter haben wir die Materien als die axiologischen Inhalte und ihre axiologische Qualit¨at. Beides vereint ergibt den axiologischen Satz, der einerseits geltend oder nicht-geltend (axiologische Wahrheit oder Falschheit) sein kann.“ (Hua XXVIII, 89 f., Anmerkung 1)
Es ist also ausschließlich der axiologische Satz, der unter der Rechtm¨aßigkeitsforderung der Vernunft steht (denn wie auf intellektivem Gebiet werden Satz und Sachverhalt bzw. Gegenstand unterschieden). Im axiologischen Satz steht der Gegenstand zusammen mit seiner Wertung da (axiologischer Inhalt bzw. Materie), und dies alles in der axiologischen Qualit¨at112 des Gewertet-Seins im Gegensatz zum Urteil, zur Frage, zum Zweifel, zum Wunsch usw. Was aber unterscheidet die Aktqualit¨at des aktiven, ichbeteiligten Wertens, d. h. die axiologische Qualit¨at, von der des ¨ Urteilens (als ihrem Uberbegriff )? Doch dazu sp¨ater. 112
Vgl. die Unterscheidung zwischen Qualit¨at und Materie eines Aktes in den Logischen Untersuchungen (Hua XIX/1, 425 ff.). In den S¨atzen ,Das Meer ist sch¨on.’, ,Ist das Meer sch¨on?’, ,Ich w¨unsche, dass das Meer sch¨on ist’ wird die gleiche Materie in verschiedener Qualit¨at ausgedr¨uckt.
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Zuerst m¨ussen wir fragen: Was haben Husserls formale und materiale Axiologie mit dem axiologischen Satz zu tun? Welcher Forderung der (praktischen) Vernunft wird hier Gen¨uge getan? Die formale Axiologie hat offensichtlich die formale Vern¨unftigkeit im Werten zu ihrem Gegenstand. Sie ber¨ucksichtigt den Wert 1. als fundierten Gegenstand, d. h., sie achtet darauf, dass Gegenstand und Wert stets in (formal) stimmiger Weise vorkommen (Gesetze der Konsequenz, z. B.: Freut man sich u¨ ber W und weiß man, dass, weil A ist, auch W ist, so u¨ bertr¨agt sich vern¨unftigerweise die Freude auf A. (Hua XXVIII, 75) Aus der Existenz des Gegenstandes A muss also stimmigerweise die Wertung W folgen.) Korrelativ dazu k¨onnte man sagen: Wertende Akte werden mit theore¨ gebracht. Gleichzeitischen Akten in formal-logische Ubereinstimmung tig muss die formale Axiologie, um dies leisten zu k¨onnen, 2. den Wert selbst als idealen Gegenstand in seiner formalen Seite betrachten. Daf¨ur ist aber eine Einsicht in die spezifische Gegenstandsregion ,Wert’ notwendig, die hinsichtlich der bloß formallogischen Bestimmung ,Gegenstand u¨ berhaupt’ einen materialen Charakter hat (worauf ja Melle schon hingewiesen hat). Dadurch erhalten wir dann Erkenntnisse wie die M¨oglichkeit der Kollision, Steigerung und Vergleichung bei Werten, die hinsichtlich der Region ,Wert u¨ berhaupt’ formale, hinsichtlich der Region ,Gegenstand u¨ berhaupt’ materiale Einsichten sind. Kombinieren wir die Aspekte von 1. und 2., so erhalten wir den Satz vom ausgeschlossenen Vierten, der uns, ontologisch umgewendet, Wertobjektivit¨at gew¨ahren soll. Alle diese Erkenntnisse sind als apodiktische Evidenzen gewinnbar, da es sich um Wesenseinsichten handelt, die eben in der ,,allgemeinsten Idee von Wert und Wertsachlichkeit“ (Hua XXVIII, 79) gr¨unden. Die Rechtm¨aßigkeit und Vern¨unftigkeit, um die es hier geht, ist die der formalen Normen f¨ur das wertende Schließen, die axiologische Qualit¨at. Aber in keiner Weise geht es hier um den Inhalt, die Materie des axiologischen Satzes, d. h. darum, welchem inhaltlichen Gegenstand welche inhaltliche Wertpr¨adikation zugesprochen wird, und dies ist es ja, wof¨ur sich die praktische Vernunft vorrangig interessieren m¨usste. Sehen wir uns also die materiale Axiologie an, die Husserl ja nur andeutet. In dieser materialen Axiologie geht es nun ausschließlich um die materiale Komponente des Gegenstandes ,Wert u¨ berhaupt’, d. h. nur um die Materie der verobjektivierten Sinnschicht der Wertheit. Melle dazu: ,,Husserl unterscheidet in diesen verstreuten Ans¨atzen zwischen sinnli-
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chen Werten, den Lustwerten, und den geistigen Werten. [. . .] Was die Werthierarchie betrifft, so besteht zwar zwischen den sinnlichen und geistigen Werten eine eindeutige Rangordnung – die sinnlichen Werte haben eigentlich nur Mittelwert f¨ur die Erm¨oglichung geistiger Werte –, aber zwischen den geistigen Wertarten l¨aßt sich wie schon f¨ur Brentano auch nach Husserl keine eindeutige und bleibende Rangordnung festlegen.“ (Melle 1988, XXXV, Anmerkung 1) Diese Einsicht ist a¨ußerst wichtig f¨ur die Willensgesetze der Wahl: ,,In unser aller Leben sind je nach Lage der Umst¨ande bald G¨uter der einen, bald der anderen Klassen die absolut Gesollten.“ (Hua XXVIII, XXXV, Anmerkung 1) Außerdem lassen sich in der materialen Axiologie gewisse materiale Aprioris einsehen: Husserl f¨uhrt als Beispiel an, ,,daß wir eine Freude an der Einsicht haben und eine Unfreude am Irrtum“ (Hua XXVIII, 407). W¨urde man dies ausarbeiten, so k¨ame man vielleicht zu einer kleinen Gruppe von materialen Grundwerten: Werte der Erkenntnis, Werte der vern¨unftigen Selbst- und N¨achstenliebe usw. Aber wieder: Diese Evidenzen, die Husserl auch als apodiktische bezeichnet, bewegen sich auf einer Wesensebene, die uns nichts dar¨uber sagt, mit welcher Evidenz sich konkrete Gegenstandsmaterien mit konkreten Wertmaterien im Werten verkn¨upfen sollen. Und hier r¨at Husserl zu folgender Methode: ,,Wie auf rein intellektuellem Gebiet der R¨uckgang auf die Anschauung die uneigentliche, unvollkommene und indirekte Vorstellung realisieren muß, so auf dem Gef¨uhlsgebiet und in analoger Weise der R¨uckgang auf die Objektanschauung und auf das darauf sich gr¨undende eigentliche, d. i. direkte Gef¨uhl, auf das durch den wirklich gegebenen Objektinhalt fundierte Gef¨uhl.“ (Hua XXVIII, 410)
Dies besagt, vereinfacht gesprochen, nichts anderes als: Mache ich mir den zu wertenden Gegenstand in der Anschauung nur vollkommen klar, so wird auch der objektiv dazugeh¨orige Wert in einem ,urspr¨unglichen’, ,direkten’ Gef¨uhl klar werden. Dies suggeriert, dass ich mit der origin¨aren Anschauung des Gegenstandes auch eine origin¨are Wert-,anschauung’ im Gef¨uhl h¨atte. Husserl geht hier m. E. einen Schritt zu weit. Denn es ist 1. zu bezweifeln, ob eine Reduktion von Wertableitungen bis zu einem unbezweifelbaren Grundwert der Sache selbst u¨ berhaupt m¨oglich ist bzw. ob die g¨anzlich aus dem Zusammenhang gerissenen (Wert)gegenst¨ande in
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einem Bewusstsein jemals sinnhaft vorgestellt werden k¨onnten. 2. ist das ,Erf¨uhlen’ von ,Wert’ kein Anschauen und kann durch seine Wesenseigenschaften keine Evidenz im klassischen Sinn beanspruchen: Die Rede von Evidenz ist hier u¨ berhaupt h¨ochst schwierig.113 Husserls These ist, dass der Sache selbst ein Wert anhaftet, den wir erf¨uhlen, wertnehmen. Wenn wir uns nur von der Relativit¨at unserer Gef¨uhls¨ubertragungen und Wertableitungen befreien, dann k¨onnen wir auch ungehindert den ,Wert selbst’, der zur Sache geh¨ort, erf¨uhlen. Verfolgen wir zuerst den ersten Einwand gegen diese These: Eine solche Ableitungsreduktion auf einen ,objektiven’ Grundwert ist weder in personalistischer noch in transzendentaler Einstellung sinnvoll oder durchf¨uhrbar. Nat¨urlich k¨onnen Gef¨uhls¨ubertragungen und -ableitungen verfolgt werden bis zu einem gewissen Endpunkt und es ist auch sinnvoll, sich die Herkunft eines Gef¨uhls klarzumachen, um unangemessene ¨ ¨ Ubertragungen zu vermeiden. (Husserls Beispiel daf¨ur ist die Ubertragung einer Antipathie von einer unsympathischen Romanfigur auf eine Bekannte durch Namensgleichheit: ,,Was kann die arme Eulalie daf¨ur, daß ich einen Roman einmal gelesen habe, in dem ein Scheusal von Frauenzimmer Eulalie hieß?“ (Hua XXVIII, 410)) Auf einen wirklichen Grundwert kommen zu wollen, der von geschichtlicher, kultureller und personaler Situativit¨at unabh¨angig w¨are, ist aber ungleich schwieriger, wenn nicht unm¨oglich. Denn die Gegenst¨ande, um die es in unseren Wertkonflikten meistens geht, sind ebenso kulturell und geschichtlich gepr¨agt. Dass z. B. Kinderarbeit heute als Unwert wahrgenommen (wertgenommen) wird und in fr¨uheren Zeiten nicht, ist durch keinerlei Veranschaulichung des Sachverhalts (und welches Sachverhalts: ein 113
Schuhmann legt diesen Kritikpunkt ebenfalls nahe: ,,Husserl [konnte sich], um die Objektivit¨at der Werte zu garantieren, [. . .] nicht auf den objektivierenden Akt einer kategorialen Anschauung berufen [. . .], wie er das in der Frage der logischen Bedeutungen getan hatte. Denn ,das Werten ist nicht ein Schauen’ (366), eben weil es keine Gegenst¨ande vorstellig macht. Und der Wert ist mithin kein anschaubarer Gegenstand. Objekthabe ohne objektgebende Akte: das ist Husserls Problem.“ (Schuhmann 1991, 108) Und weiter: ,,Es ist nun nicht gerade wahrscheinlich, daß sie [die Wertnehmung] ebenfalls, d. h. gleich dem durch sie erf¨ullten Werturteil von spezifisch urteilsartiger Natur w¨are. Denn in welchem anschauenden Bewußtsein f¨ande sie denn ihrerseits Erf¨ullung?“ (Schuhmann 1991, 112)
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Kind bei der Arbeit? Welcher Arbeit?114 ) klarer oder verst¨andlicher zu machen. Wenn man versucht, sich aus seinem kulturell-geschichtlichen Rahmen herauszubewegen – was gerade f¨ur das Gef¨uhl unm¨oglich ist, da es etwas Praktisches, Situationsbezogenes und kein allgemeines ,Schauen’ ist –, dann stehen die meisten, wenn nicht alle Dinge pl¨otzlich wertfrei da. Dies betrifft nicht nur den ,,Wilde[n], der in abergl¨aubischer Weise einen Fetisch verehrt“ und der, in Husserls Sicht, damit etwas wertet, ,,was nicht nur in der Hinsicht wert ist und nicht nur nicht in dem Sinn positiv wert ist, den er bewußt hat, sondern was u¨ berhaupt ,wertlos’ ist“ (Hua XXVIII, 83). Auch viele unserer Werte und Wertgegenst¨ande k¨onnten durch eine solche Reduktion (wenn wir ihrer f¨ahig w¨aren) pl¨otzlich als v¨ollig sinn- und wertlos dastehen. Deshalb f¨uhrt Husserl ja eine Ethik in personalistischer Einstellung aus. Doch diese personalistische Einstellung, wie sie auch in den Ideen II vorgestellt wird, ist umso mehr ihrer jeweiligen Umwelt verpflichtet und aus ihr nicht abstrahierbar. ,,Ganz allgemein gesprochen ist die Umwelt keine Welt ,an sich’, sondern eine Welt ,f¨ur mich’, eben Umwelt ihres Ichsubjekts, von ihm erfahrene, oder sonstwie bewußte, in seinen intentionalen Erlebnissen mit einem jeweiligen Sinnesgehalt gesetzte Welt. Als solche ist sie in gewisser Weise immerfort im Werden, in stetem Sicherzeugen durch Sinneswandlungen und immer neue Sinnesgestaltungen mit zugeh¨origen Setzungen und Durchstreichungen.“ (Hua IV, 186)
Auch in diesem Zusammenhang spricht Husserl von ,,urspr¨unglicher Gegebenheit, wobei sich auf der Unterlage des bloßen anschaulichen Vorstellens ein Werten aufbaut, das, wenn wir es voraussetzen, in der 114
Auch hier tritt assoziativ sehr schnell ein geschichtlich-kulturell codiertes Bild vor ¨ Augen: etwa eine Darstellung der Ubel des Manchester-Kapitalismus im Stile eines Charles Dickens (also in einer Epoche, in der man auf Kinderarbeit als Unwert erst konkret aufmerksam wurde). Gerade aber durch solche Bilder und Werke, die in einer geschichtlichen Situation pl¨otzlich auftauchen, wird der moralische, wertnehmende Blick auf eine Situation erst geschult und sensibel gemacht. Als weiteres Beispiel mag der Roman Onkel Toms H¨utte von Harriet Beecher-Stowe gelten. Kein Autor der Antike w¨are auf die Idee gekommen, erstens: u¨ berhaupt einen Sklaven zur Hauptperson seiner Erz¨ahlung zu machen und zweitens: die Sklaverei als etwas Unmenschliches darzustellen. Angesichts der vielen verschiedenen Werthaltungen, die uns bekannt sind, ist es daher schwer zu bestreiten, dass uns geschichtlich jeweils nur ein ganz bestimmtes ,Sehen’ und Wertnehmen m¨oglich ist – dass wir f¨ur gewisse Unmenschlichkeiten blind sind, obwohl uns der ,Gegenstand’ sehr klar vor Augen steht.
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Unmittelbarkeit seiner lebensvollen Motivation die Rolle einer Wert,Wahrnehmung’ (in unserer Rede: Wertnehmung) spielt, in der der Wertcharakter urspr¨unglich anschaulich gegeben ist“ (Hua IV, 186). Sein Beispiel ist hier ein Geigenton, dessen Sch¨onheit origin¨ar gegeben wird. Aber wir wissen, wie sehr auch H¨oren kulturell gepr¨agt ist. Das ,,origin¨are Gefallen“ (Hua IV, 187) ist dadurch nicht weniger origin¨ar, aber gerade in personalistischer Einstellung muss die geschichtliche und kulturelle Situativit¨at der konstituierten Umwelt miteinbezogen werden. Einen Gegenstand oder einen Sachverhalt ganz von seinen Ableitungen frei machen zu wollen hieße letztlich, ihn aus seiner Umweltlichkeit herausnehmen zu wollen – und selbst wenn dies m¨oglich w¨are, w¨urde mit der Umweltlichkeit auch der Wertcharakter verschwinden. Der zweite Einwand betrifft den ph¨anomenologischen Status des Erf¨uhlens oder Wertnehmens. Wenn ein Gem¨utsakt etwas vermeint, ist damit noch nicht gesagt, dass sich dieses Vermeinen in der origin¨aren Anschauung des Gegenstands erf¨ullt. Das Gef¨uhlspr¨adikat ist laut Husserl dann zum Objekt objektiv geh¨orig, ,,wenn das angeschaute, wirklich in der Intuition gegebene Objekt an und f¨ur sich das Gef¨uhl tr¨agt, wenn in der ad¨aquaten Anschauung das Gef¨uhl als zu diesem angeschauten Inhalt an sich selbst geh¨orig durch ihn notwendig fundiert erscheint“ (Hua XXVIII, 410). Aber: In einer ad¨aquaten Anschauung eines Gegenstandes erscheint der Gegenstand und nicht eine Zugeh¨origkeit oder Fundierung eines Gef¨uhls. Diese ,Vermittlung’ ist in der origin¨aren Anschauung des Gegenstandes nicht gegeben. Das Gef¨uhl ist es, das sich auf den Gegenstand bezieht und ihn als so oder so werten Gegenstand vermeint – aber die bloße Anschauung des Gegenstandes deckt sich nicht mit diesem Gemeinten und kann es daher auch nicht intuitiv erf¨ullen. So k¨onnen wir z. B. einen Gegenstand sehr klar in origin¨arer Anschauung gegeben haben, und das Erf¨uhlen/Wertnehmen diesem Gegenstand gegen¨uber kann unklar und verworren sein. Klarheit u¨ ber das Gef¨uhl bekommen wir nicht durch Klarheit u¨ ber den Gegenstand – die Klarheit u¨ ber den Gegenstand kann uns sehr wohl dabei helfen, unser Gef¨uhl sch¨arfer zu erfassen, ist aber durchaus keine hinreichende Bedingung daf¨ur. Dar¨uber hinaus ist fraglich, ob man beim Wertnehmen bzw. bei Gem¨utsakten u¨ berhaupt zwischen signitiven und intuitiven Akten unterscheiden kann und wenn ja, worauf sie sich beziehen. Sollten hingegen Gem¨utsakte ihre eigene Art von selbstbez¨uglicher Gewissheit aufweisen,
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dann ist es wiederum fraglich, ob man diese Gewissheit auf die andere Sph¨are der Zugeh¨origkeit zu Gegenst¨anden u¨ bertragen kann oder ob diese Gef¨uhlsgewissheit nicht selbstbez¨uglich bleibt. Ich kann mir etwa meine Freude dar¨uber evident machen, dass A B ist. Evident ist: Ich freue mich dar¨uber, dass A B ist. Ich habe den materialen Gehalt der Freude gegeben. Aber habe ich deshalb schon die Einsicht dar¨uber, dass ich ,A ist B’ objektiv rechtm¨aßig mit Freude bewerte? Diese ,Einsicht’ liegt m. E. weder in der origin¨aren Anschauung des Sachverhalts noch im origin¨aren Gef¨uhlserlebnis beschlossen. Das Meinen des Gef¨uhls, das sich eventuell erf¨ullt, ist vielmehr ein selbstbez¨ugliches Meinen: Freue ich mich wirklich? Es meint keine objektive Zugeh¨origkeit zum Gegenstand und w¨urde auch keine Erf¨ullung diesbez¨uglich erreichen k¨onnen. Soll das Wertnehmen tats¨achlich dem Wahrnehmen parallelisiert werden, dann gibt es auch keine Rechtsfrage der Verkn¨upfung zwischen Gef¨uhl/Wert und Gegenstand. Das Recht einer Wahrnehmung steht außer Zweifel, wenn sie nur klar und deutlich ist. F¨ur das Recht einer Wertnehmung m¨usste das Gleiche gelten: Ihre Gegebenheit steht außer Zweifel und ist hinzunehmen – nur ob sie rechtm¨aßig ist, das ist eine ganz andere Frage. Husserls Entgegnung auf diese Kritikpunkte w¨are wahrscheinlich, dass er mit dem Gef¨uhlsakt etwas ganz anderes meinte: Denn er unterscheidet auch auf dieser Ebene zwischen Passivit¨at und Aktivit¨at (Melle 2004, 334 ff.). Ein Manuskript aus 1914 (Hua XXVIII, 422 f.) streicht die Analogien zwischen Erfahrungssph¨are, axiologisch-thetischer Sph¨are und praktischer (Seinsollens- und Tat-) Sph¨are heraus; wobei Husserl hier wieder die These vertritt, dass die drei Sph¨aren getrennte Bereiche mit je eigenen Vernunftformen sind: ,,Also wir h¨atten zu fragen: Haben wir verschiedene Regionen des Bewußtseins, in jeder Region Unterschiede der Passivit¨at und Aktivit¨at (Rezeptivit¨at und Spontaneit¨at)?“ (Hua XXVIII, 423) F¨ur die zweite Sph¨are g¨abe es demnach ein ,passives F¨uhlen’ und ein ,aktives Wertmeinen’: ,,Das passive F¨uhlen (Gef¨uhlssinnlichkeit) (setzt aber voraus Erfahrungssinnlichkeit, aber immer?), das aktive F¨uhlen (gefallende Zuwendung, Sich-Hingeben, mißfallende Abwendung: der Gef¨uhlsakt, der als solcher in die Sph¨are der Vernunft geh¨ort). Gefallende Zuwendung, der Gefallensakt, setzt einen objektivierenden Akt voraus. Das kann dann Unterlage eines objektivierenden, nicht nur auf die gefallende Sache, sondern auf
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ihr Wertsein Hinblickens, eines objektivierenden Meinens sein und wieder in h¨oherer Stufe eines Begreifens und logischen Fassens.“ (Hua XXVIII, 423)
Wir h¨atten also drei verschiedene Bewusstseinsregionen mit 1. Empfindungssinnlichkeit (rezeptiv) und objektivierendem Meinen mit dem darin gr¨undenden logischen Erkennen (spontan) 2. Gef¨uhlssinnlichkeit (rezeptiv) und das wertende Meinen (spontan) und 3. Begehrungs- und Wollungssinnlichkeit (rezeptiv) und das fordernde und realisierende Meinen (spontan) (Hua XXVIII, 424). An anderer Stelle, in einer Beilage zur Vorlesung 1909, ist sich Husserl u¨ ber diese Dreiteilung der Bewusstseinsregionen nicht so sicher: ,,Oder sollen wir etwa sagen: Wir m¨ussen scheiden das Denken und die unterliegenden, f¨ur die Evidentmachung und Begr¨undung in Frage kommenden Akte (aus denen das Denken seine Gr¨unde sch¨opft). Das spezifische Denken sei der theoretische Akt in einem spezifischen Sinn, was aber die unterliegenden Akte anlangt, so seien sie verschiedenartig, einmal das sinnliche Wahrnehmen und ein andermal etwa das Werten, das ein Wertnehmen sei. M¨ussen wir dann aber nicht die Ansicht preisgeben, daß das Werten etwas Grundverschiedenes sei vom Wahrnehmen und Urteilen, w¨ahrend die beiden letzteren zusammengeh¨oren?“ (Hua XXVIII, 370)
Die zweite Variante tr¨agt m. E. mehr Plausibilit¨at in sich, obwohl sie am wenigsten der generellen Stoßrichtung Husserls entspricht. Der Ursprung oder die urspr¨ungliche Quelle moralischer Begriffe w¨are demnach noch immer in den Gem¨utsakten situiert. Diese Gem¨utsakte h¨atten aber nur vorpr¨adikativen bzw. vor-vern¨unftigen Charakter und w¨aren, a¨hnlich der Urdoxa, noch frei von Rechtsfragen. Schon ein schlichtes Werturteil (das noch nicht kritisch gepr¨uft ist) w¨are damit nur unter Mitwirkung der theoretischen Vernunft zu erreichen, wie Husserl ja an mehreren Stellen selbst betont: ,,[D]ie wertende Vernunft ist notwendig mit der theoretischen verflochten.“ (Hua XXVIII, 72) F¨ur ein kritisches Werturteil, das nach Erf¨ullung des Rechtssinns strebt, also ,wahr’ sein will, g¨alte damit umso mehr, dass es nur mit den Mitteln der theoretischen Vernunft auf den Begriff zu bringen ist. Husserl spricht zwar davon, dass Wertgegenst¨ande und Wertbestimmungen keine bloßen Reflexionsbestimmungen sein k¨onnen, die aus einer Abstraktion der inneren Wahrnehmung von Akten des Gefallens hervorgehen. Aber: Wie soll denn die Position bzw. Fiktion des ,unbeteiligten Zuschau-
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ers’, von der Husserl ebenfalls spricht115 , erreicht werden, wenn nicht durch Abstraktion von meiner je eigenen Situativit¨at? Wie werden denn die Abstraktion von den un/berechtigten Ableitungen und die bewusste Einf¨uhlung in einen origin¨ar angeschauten Gegenstand erreicht, wenn nicht durch eine Vernunft, die nicht ,blind’ und ,stumm’ ist, sondern die sehr wohl weiß, welchen Weg sie zu einem intendierten urspr¨unglichen F¨uhlen gehen muss? Hier sind stets Werkzeuge der Kritik, der Reflexion, der Reduktion und Abstraktion am Werk, die zu einer Verobjektivierung des Wertens f¨uhren sollen. Und dennoch ist der Wert am Gegenstand – wenn es ihn gibt – nicht evident greifbar oder gegeben wie ein hyletisches Datum, das nur intentional ,beseelt’ werden muss. Die hyletischen Daten des Gef¨uhls, die gef¨uhlsintentional beseelt sind und einen Wert meinen, haben keinen intuitiven Akt zur Verf¨ugung, der ihnen die Zugeh¨origkeit eines vermeinten Wertes an einem Gegenstand evident aufzeigt. Was nicht heißen soll, dass u¨ ber das Wesen des Wertens und das Wesen des Wertes in formaler und materialer Hinsicht nichts gesagt werden kann! Es gibt die Vern¨unftigkeit des Wertens in Verbindung mit dem Gegenstand, der gewertet wird (formale Axiologie). Es gibt auch gewisse Einsichten in Verh¨altnisse von Wertmaterien, z. B. den positiven Wert von Wahrheit. Aber ist dadurch die Rechtm¨aßigkeitsfrage nach dem normativen Urteil (der rechtm¨aßigen Wertpr¨adikation) auch nur angeschnitten? Die material-apriorischen S¨atze wie z. B. ,Es gibt keine Farbe ohne Fl¨ache’ oder ,Wenn jemand nichts behalten kann, dann darf/kann er auch nichts versprechen’ sind auf ganz andere Weise einsehbar als normative Urteile. Es bedarf keiner Situation, keiner Einstellung, um sie nachzuvollziehen. Das Gef¨uhl gibt mir den Wert m¨oglicherweise in einer anderen Form von Klarheit, aber nicht in der des evidenten Einsehens und schon gar nicht in apodiktischer Gewissheit. Man muss sich (zur Korrektur und Gegenkorrektur) stets zwei Beispiele etwa folgender Art vor Augen halten: Einerseits die T¨otung eines Menschen (oder, weniger neu115
,,So werden wir auch gerecht der von manchen historischen Ethikern angef¨uhrten Fiktion des unbeteiligten Zuschauers. Wir handeln richtig, wenn ein beliebig unbeteiligter Zuschauer sich in unsere Lage hineinversetzend unser Handeln anerkennen m¨ußte.“ (Hua XXVIII, 138) Um mir das u¨ berhaupt vorstellen zu k¨onnen, muss ich schon von meiner pers¨onlichen Situation und der Verstrickung in meine Sedimentierungen abstrahiert haben.
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tral formuliert: Mord), ein Sachverhalt, der u¨ ber geschichtliche und kulturelle Grenzen hinweg kaum jemals als positiver Grundwert gewertet worden ist und bei dessen ,Veranschaulichung’ auch das Gef¨uhl eine deutliche Sprache spricht. Andererseits: einen Wert wie z. B. den des ,s¨akularen/liberalen Staats’ oder der ,Republik’, der nat¨urlich nur geschichtlichkulturell erfassbar ist und unabh¨angig davon keinen Sinn hat – nichtsdestoweniger aber ein Wert ist und auch von einem Gem¨utsakt erfasst werden m¨usste. Was beim ersten Wertnehmen auf eindr¨uckliche (affektive?) Weise ,klar’ erscheint, kann beim zweiten Wertnehmen in alle m¨oglichen Schichten zerlegt werden, ohne den Wert doch aufgeben zu wollen – aber bloß aus Gef¨uhlsgr¨unden? Man muss auch noch einmal die Unterschiede des Wertnehmens zum Wahrnehmen herausstreichen, welche die Lage erheblich verkomplizieren: Denn Situativit¨at, Kollisionen und evtl. rechtm¨aßige Ableitungen kommen beim Wahrnehmen nicht vor. Und so stellt sich erneut die Frage, ob Menschent¨otung durch eine ,rechtm¨aßige Ableitung’ nicht doch umwegig ,positiv’ bewertet werden m¨usste (man denke an Situationen der Notwehr oder des Kriegs oder an den ,Tyrannenmord’). Es ist schwer einzusehen, wie ein solches Wertnehmen und eine ,blinde’ praktische Vernunft f¨ur ,Einsichten’ b¨urgen sollen, die dann die theoretische Vernunft nur noch aus ihnen herausliest und auf den Begriff bringt. So w¨urde uns Husserl wahrscheinlich noch darin zustimmen k¨onnen, dass das Werten nur teilweise die Basis f¨ur moralische Begriffe bildet. Was Husserl aber mit Evidenz in der Gem¨utssph¨are meint, und woran er auch in den Ideen I und II festh¨alt, bleibt unklar: ,,Evidenz ist aber keineswegs ein bloßer Titel f¨ur [. . .] Vernunftvorkommnisse in der Glaubenssph¨are (und gar nur in der des pr¨adikativen Urteils), sondern f¨ur alle thetischen Sph¨aren und insbesondere auch f¨ur die bedeutsamen zwischen ihnen verlaufenden Vernunftbeziehungen.“ (Hua III/1, 323) Es fragt sich, ob man nicht noch mehr Gewicht auf die praktische und subjekt- bzw. situationsbedingte Komponente im Werten legen m¨usste, die Husserl im Wollen sehr stark betont. Jeder Wille muss hier als Entscheidung einer Wahl angesehen werden, und zwar a priori, mit einem praktischen Bereich und praktischen Realisierbarkeiten. Dieser praktische Bereich ist f¨ur jedes Subjekt anders gelagert, aber dennoch objektiv und nicht von seiner Beurteilung abh¨angig. ,,Der Wille geht auf Wirklichkeit, nicht ideale, sondern individuelle, reale Wirklichkeit.“ (Hua XXVIII,
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109) Man kann argumentieren, dass nicht nur die Willensrichtigkeit, sondern auch die Wertevidenz in der praktischen Lebenswelt und der personalistischen Einstellung abgehandelt werden und dadurch beide in einem geschichtlichen Kontext stehen m¨ussten. Die formale Forderung des Rechtssinns w¨are in dieser geschichtlichen Lebenswelt eine unendliche Forderung, die unter einer Limesidee absoluter Rechtm¨aßigkeit st¨unde. Ebenso w¨are der Satz vom ausgeschlossenen Vierten nur eine formale Garantie f¨ur Wertobjektivit¨at, d. h. f¨ur Husserls Standpunkt des Objektivismus, ,,daß ,Wert’ sich nicht in die Subjektivit¨at und in diesem Sinn in die Relativit¨at des Wertens aufl¨ost“ (Hua XXVIII, 88). Die materiale Wertgegebenheit und korrelativ die vern¨unftige Gef¨uhlsgewissheit w¨aren in dem Bereich des praktisch-wertenden Subjekts aber nie vollst¨andig gegeben; der Grundwert w¨are dadurch nur in idealer bzw. unendlicher Hinsicht bestimmbar. Hier dr¨angt sich ein Vergleich mit der Evidenz des raum-zeitlichen Gegenstandes auf: Dieser kann, wie wir weiter oben kurz ausgef¨uhrt haben, als transzendenter Gegenstand nur ad¨aquate Dinggegebenheit als ,Idee im Kantischen Sinne’ erreichen; denn die origin¨are Erscheinung des Dings ist immer inad¨aquat, weil stets nur eine Ansicht m¨oglich ist. ,,Aber als ,Idee’ (im Kantischen Sinn) ist gleichwohl die vollkommene Gegebenheit vorgezeichnet – als ein in seinem Wesenstypus absolut bestimmbares System endloser Prozesse kontinuierlichen Erscheinens, bzw. als Feld dieser Prozesse ein a priori bestimmtes Kontinuum von Erscheinungen mit verschiedenen aber bestimmten Dimensionen, durchherrscht von fester Wesensgesetzlichkeit.“ (Hua III/1, 331) Auch dem Wert k¨onnte man eine Dimension eines solchen Erscheinens zusprechen, das sich geschichtlich stets abschattet. Nat¨urlich wird es dann schwieriger, sich die Willensrichtigkeit exakt ,auszurechnen’ – aber ist es nicht angemessener gegen¨uber der praktischen Situation mit ihren m¨oglichen Kollisionen, eine unendliche Rechtfertigungspflicht zu fordern (jeder m¨usste in meiner praktischen Situation ebenso werten und handeln wie ich116 ) und damit die geforderte ,Evidenz’ in 116
Vgl. Hua XXVIII, 138. Hier ist die Notwendigkeit der Rechtfertigung vielleicht schon u¨ ber die notwendige Anerkennung jedes anderen vern¨unftigen Subjekts gegeben: ,,So werden wir gerecht dem allein wertvollen Gehalt der Kantischen Forderung eines praktischen Gesetzes und eines kategorischen Imperativs. Wenn jemand im gegebenen Falle so handelt, daß Verallgemeinerung zu einem allgemeinen Gesetz unm¨oglich w¨are, handelt er sicher falsch.“ (Hua XXVIII, 138)
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die Unendlichkeit und in die diskursive Rechtfertigungsnotwendigkeit zu stellen? Und muss Husserl nicht von einer ,Idee’ der vollkommenen Willensrichtigkeit sprechen, weil sich Willensrichtigkeit nur in einer je praktischen Situation realisieren kann? Nur die sp¨ateren Texte, auf die wir im n¨achsten Teil kurz Bezug nehmen werden, deuten m¨oglicherweise eine solche Richtung an. Sie f¨uhren uns auch auf einen Punkt, der bis jetzt nicht nur außer Acht, sondern auch unerschließbar geblieben ist: das Sollen selbst, das, weit wichtiger als un/m¨ogliche Wertevidenz, Grundmotor aller Ethik ist.
5. Verfehlen des Ethischen? Husserls Ethikentw¨urfe der 20er und 30er Jahre zwischen Vernunftanspruch und affektivem An-spruch Fassen wir noch einmal Anliegen und Stoßrichtung der gesamten Untersuchung des rechtlichen Denkens zusammen: Nach der analytischen Herausarbeitung des Rechtssinns und seiner Dynamik (II.) haben wir im ,Theoriekapitel’ (III.) versucht, Teleologie und Genesis einer rechtlichen Intentionalit¨at aufzuzeigen, durch die der Rechtssinn entsteht und in der auch seine Dynamik wurzelt. W¨ahrend die teleologische Komponente auf eine vollkommene Ausgewiesenheit in der Evidenz tendiert, hat uns die genetische Komponente auf einen An-spruch zur¨uckgef¨uhrt, der als vorpr¨adikative Motivation f¨ur die Konstitution einer transzendentalen Legitimationskategorie ausgewiesen werden konnte. ,Evidenz’ wurde auf dieser Ebene als volles Angesprochen-Sein charakterisiert, was pr¨adikativ zur Erfassung dieses Angesprochen-Seins als Rechtsgrund f¨uhrte. Dabei wurde die gesamte Bewegung der rechtlichen Intentionalit¨at als eine vern¨unftige und damit als eine Genesis der Vernunft aufgezeigt. In diesem Abschnitt (IV.) sollte nun die ethisch-praktische Dimension dieser rechtlichen Intentionalit¨at befragt werden. Dies beinhaltete mehrere Fragen: Zuerst musste in einem ersten Teil (IV.A) der Eindruck abgewehrt werden, dass es sich bei ,dem Rechten’ um einen Wert handelt. Es konnte in der Auseinandersetzung mit Scheler, Husserl und Reinach gezeigt werden, dass sich auch hier bloß eine formale Relation von Norm und Normiertem im Urteil zeigt, die h¨ochstens auf einer sekund¨aren Ebene als Wert aufgefasst werden kann. Rechtliche Intentionalit¨at zeigte
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sich nicht nur dadurch als ein zwar normativer, aber formal-kategorialer Anspruch der theoretischen Einstellung. Dieselbe Struktur wiederholte sich in der Husserl’schen Unterscheidung von theoretischer als objektivierender und praktischer als nicht-objektivierender Vernunft: Der ,Rechtsanspruch’ einer nicht-objektivierenden Vernunft bleibt immer den formalen normativen Anspr¨uchen einer pr¨adizierenden Vernunft untergeordnet und kann gerade in seiner Rechtm¨aßigkeit nur von dieser objektivierenden Vernunft her verstanden werden. Diese schwierige Unterscheidung f¨uhrte uns auf Untersuchungen u¨ ber das Verh¨altnis der beiden Vernunftarten in einer Ethik und Wertlehre und schließlich auf die Probleme von Wertevidenz und Willensrichtigkeit. Die Frage, die uns dabei leitete, war folgende: Wie zeigt sich der handlungsorientierte, angewendete Rechtssinn? Als Forderung der theoretischen ¨ Vernunft in ethischer Uberlegung und praktischem Handeln? Wo setzt hier die Rechtsfrage an und wie? Und von woher wird der Rechtsanspruch erhoben? Durch die Auffassung der Vernunft als das Verm¨ogen der normativen Deutung und damit das Aufbrechen der Rechtsfrage schlechthin kam (ebenso wie bei Melle) der Zweifel auf, ,,ob sich u¨ berhaupt sinnvoll von einer eigenst¨andigen axiologisch-praktischen Vernunft sprechen l¨aßt“ (Melle 1988, XXXV). Vielmehr schien diese ,praktische Vernunft’ bei Husserl, so befremdlich es klingt, einen vorpr¨adikativen Charakter zu haben, da sie doch selbst nicht pr¨adizieren kann. Bezieht man das Unverf¨ugbare der Situativit¨at des wertenden und handelnden Subjekts mit ein, so liegt die Deutung sehr nahe, von einem vorpr¨adikativen Wertnehmen zu sprechen, das erst vern¨unftig und pr¨adikativ wird durch die rechtliche Intentionalit¨at und die damit eintretende Kritik – denn durch das rechtliche Denken bleibt Evidenz stets als rechtgebend gesetzt und ihre volle Ausweisung bleibt teleologisch anzustreben. Um der r¨atselhaften nicht-objektivierenden Komponente der praktischen Vernunft nachzugehen, bietet sich aber auch noch ein anderer Weg an. Denn Husserl trifft mit dieser Unterscheidung doch einen ganz wesentlichen Kern der ethischen Erfahrung, n¨amlich dass wir durch ein Sollen, einen Ruf angesprochen sind, der niemals zum ,Gegenstand’ f¨ur uns wird. In der kantischen Terminologie ist von der Unabweisbarkeit dieser Erfahrung als dem ,Faktum der (reinen praktischen) Vernunft’ die
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Rede.117 Theoretisch bzw. in objektivierender Hinsicht ist diesem Imperativ nicht beizukommen; das Selbst kann hier nicht mehr distanziert und differenzierend betrachten; vielmehr ist es direkt betroffen und zum ¨ Handeln, zum Sich-Ubernehmen aufgerufen. Mit dem ausgewiesenen Rechtssinn bzw. der gegenst¨andlichen Evidenz als einer formalen Forderung der theoretischen Vernunft ist erstens m¨oglicherweise nur ein Teilaspekt einer umfassenden ethischen Rechtsfrage abgedeckt; zweitens scheint es, als ob uns mit der (theoretischen) Frage nach der Richtigkeit oder Rechtm¨aßigkeit gerade entgangen ist, was das Ethische der praktischen Situation eigentlich ausmacht. Der Weg der Evidenzforderung, den wir mit Husserl in Wertevidenz und Willensrichtigkeit mitgegangen sind, ist ein theoretischer, wenn auch mit den praktischen Einschr¨ankungen auf die Handlungssituation und die je praktischen M¨oglichkeiten. Diese praktischen Einschr¨ankungen bleiben aber auf eine theoretische Sichtbarkeit hin angelegt; wie die regulative ,Idee im Kantischen Sinn’ (bei Husserl) den raumzeitlichen Gegenstand zumindest in seinem Eidos sichtbar und einholbar macht, sind auch die geschichtlich-kulturellen ,Abschattungen’ der Wert- und Willensevidenzen prinzipiell in einem Unendlichkeitstelos sichtbar zu machen. Das Ethische unterscheidet sich aber in seinem Impuls – nicht in seiner Verpflichtung – vom rein gegenst¨andlichen Bestimmen. F¨ur diese Frage des ,Impulses’ bzw. der faktischen Erfahrung des Sollens interessiert sich Husserl verst¨arkt in den sp¨ateren Ausformungen seiner Ethik. Statt einer Parallelisierung von Logik und Ethik, die eher formalen Geltungszusammenh¨angen entspricht, geht es Husserl nun mehr um eine Haltung, die dem ethischen Anspruch – wiewohl unter Zuhilfenahme des theoretischen Verm¨ogens – gerecht werden soll. Wenn aber genau darin 117
,,Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft [. . .] herausvern¨unfteln kann, sondern weil es sich f¨ur sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegr¨undet ist [. . .]. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als urspr¨unglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ank¨undigt.“ (KpV, Erster Teil, Erstes Buch, Erstes Hauptst¨uck, § 7, 55 f.)
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die Wurzel einer rechtlichen Intentionalit¨at in praktischer Hinsicht liegt, dann muss die genetische Frage noch einmal neu aufgerollt werden. ¨ Haben wir also bis jetzt ,das Ethische’ in unseren Uberlegungen mit Husserl verfehlt? Husserl scheint in einer sp¨ateren Phase selbst diesen Standpunkt einzunehmen. Denn neben seiner fr¨uhen formalen ,Ethik des h¨ochsten Gutes und des kategorischen Imperativs’ arbeitet er ab den 20er Jahren eine ,Ethik der Erneuerung und Selbsterhaltung’ und noch sp¨ater (vorwiegend in den Manuskripten) eine ,Ethik der Liebe’ aus.118 Ich werde diese beiden unterschiedlichen Ans¨atze im Folgenden kurz unter Beihilfe von Ullrich Melles Aufsatz ,,Husserls personalistische Ethik“ (2004) skizzieren:119 ,,Der Gedanke einer das ganze Leben des personalen Ich umfassenden Selbstgesetzgebung und Selbstregelung ist bestimmend f¨ur Husserls sp¨atere Ethik.“ (Melle 2004, 344) So entfaltet er z. B. in den ,,Aufs¨atzen u¨ ber Erneuerung“ (in: Hua XXVII) 1922 bis 1924 den Gedanken der Erneuerung als individuelle Lebensform echter Humanit¨at und als ,,das oberste Thema aller Ethik“ (Hua XXVII, 20). Es geht dabei um ein rechtfertigendes Verhalten, das sich in freien Entscheidungen u¨ ber das ganze Leben120 erstreckt und in dieser umfassenden Haltung gem¨aß der Forderung der Vernunft immer nach Erneuerung strebt. Man kann diesen ¨ Begriff der Erneuerung als das direkte praktische Aquivalent zum Begriff der Kritik sehen. Das Vernunftproblem zeigt sich damit als praktisches in einer personalen Lebenswelt; urdoxischen Setzungen und Habitualit¨aten wird Kritik als Selbstbesinnung und Erneuerung entgegengesetzt. Auffallend ist, dass der Stein des Anstoßes f¨ur diese praktische Kritik ebenso (wie im Theoretischen) in einer ,Entt¨auschung’ liegt, die aber eine weitaus tragischere Konnotation bekommt: Es handelt sich um die ,,peinliche Erkenntnis“ (Hua XXVII, 30), dass das ethisch als ,gut’ und ,richtig’ 118
Ich schließe mich hier der von Melle vorgenommenen Einteilung der Husserl’schen Ethik in drei Phasen an und u¨ bernehme auch die Bezeichnungen ,Ethik des h¨ochsten Gutes und des kategorischen Imperativs’, ,Ethik der Erneuerung und Selbsterhaltung’ und ,Ethik der Liebe’ (Melle 2004). 119 ¨ Vgl. zu einem allgemeinen kurzen Uberblick u¨ ber Husserls Ethik auch Melle 1997b. 120 ,,Im Verm¨ogen der Person, auf ihr Leben als eine Einheit kritisch zur¨uckzublicken, ¨ ist f¨ur Husserl auch ein sinnvolles Ubernehmen von Geschichte und Geschichtlichkeit gew¨ahrleistet.“ (Melle 2004, 345 f.)
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Bewertete nur vermeintlich Gutes ist – dass also alle meine Bestrebungen nutzlos, der Einsatz daf¨ur sinnlos gewesen ist.121 Meine s¨amtlichen Meinungen werden zunichte in dieser schmerzhaften ethischen Erkenntnis, ich selbst bin es letztlich, die mit ihrem ganzen bisher gef¨uhrten Leben auf dem Spiel steht. Deshalb ist f¨ur Husserl in diesem Zusammenhang auch das Thema der Selbsterhaltung der ethischen Person so wichtig. ,Selbsterhaltung’ bedeutet, dass ich mich auf meine ethischen Setzungen, Entscheidungen und Stellungnahmen verlassen k¨onnen m¨ochte, dass ich nicht leichtfertig irgendeine Entscheidung treffe, die sich dann als verfehlt herausstellt und mich selbst zunichte macht. Die Erfahrung dieser fundamentalen Entt¨auschung l¨ost das Streben aus, zu einer h¨oheren Rechtfertigung zu kommen, ja, diese Rechtfertigung als Haltung anzunehmen in der st¨andigen Erneuerung des Pr¨ufens und Rechtfertigens. Denn letztlich muss Husserl das Ideal der Selbsterhaltung in eine Haltung hineinverlegen, da eine absolute, theoretische Evidenz u¨ ber ethische Belange nicht erreichbar zu sein scheint122 . Die Haltung der Erneuerung also, die in ein relatives Vollkommenheitsideal123 hineinf¨uhrt, tr¨agt in 121
Husserl f¨uhrt nicht umsonst immer wieder das Dilemma von Vaterlandsliebe und Kindesliebe an. Bricht die ,metaphysische Kategorie’ des notwendigen Opfers f¨ur Krieg und Nation pl¨otzlich weg, so ist der Verlust eines Kindes in einem solchen Krieg auch in Bezug auf die eigenen Wertvorstellungen eine u¨ beraus schmerzliche Erfahrung. Davon abgesehen, hat der generelle Zusammenbruch der ,alten Welt’ nach dem Ersten Weltkrieg noch viel weitere Dimensionen, auf die Husserl mit den ersten S¨atzen seiner F¨unf Aufs¨atze u¨ ber Erneuerunganspielt: ,,Erneuerung ist der allgemeine Ruf in unserer leidvollen Gegenwart und ist es im Gesamtbereich der europ¨aischen Kultur. Der Krieg, der sie seit dem Jahre 1914 verw¨ustet und seit 1918 nur statt der milit¨arischen Zwangsmittel die ,feineren’ der seelischen Torturen und der moralisch depravierenden wirtschaftlichen N¨ote gew¨ahlt hat, hat die innere Unwahrheit, Sinnlosigkeit dieser Kultur enth¨ullt.“ (Hua XXVII, 3) 122 Husserl notiert in einem Manuskript, das zwischen 1924 und 1927 verfasst wurde: ,,Stehen wir nicht in einer Relativit¨at mit relativen Evidenzen? Ist ein konsequent gutes Gewissen u¨ berhaupt m¨oglich, und wie w¨are es m¨oglich? Hat es eine Bedeutung, das fr¨uhere Leben zu enth¨ullen und seine Forderungen zutage zu bringen? Aber stehen wir damit nicht in der Endlosigkeit der intersubjektiv-historischen Zusammenh¨ange?“ (Husserl, Ms. A V 21, 84a) 123 Das absolute Ideal bleibt der Gottesidee vorbehalten: ,,Sie selbst ist das ,echte und wahre Ich’, das, wie noch zu zeigen sein wird, jeder ethische Mensch in sich tr¨agt, das er unendlich ersehnt und liebt und von dem er sich immerzu unendlich fern weiß.“ (Hua XXVII, 34)
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ihrem immerw¨ahrenden ethischen Streben ,,den Stempel der Unendlichkeit in sich“ (Hua XXVII, 34).124 Dabei a¨ndert sich auch Husserls Formulierung des kategorischen Imperativs: ,,Sei ein wahrer Mensch; f¨uhre ein Leben, das du durchg¨angig einsichtig rechtfertigen kannst, ein Leben aus praktischer Vernunft.“ ¨ (Hua XXVII, 36) Auch hier ist der Ubergang zu einer praktischen Haltung erkennbar, die das st¨andige Rechtfertigen (als theoretische T¨atigkeit) erfordert. Man kann die von mir als ,Haltung’ bezeichnete praktische Einstellung auch als ,,Willensgesetz“ (Melle 2004, 341) beschreiben, das sich u¨ ber das ganze Leben erstreckt. Die formale Formulierung dieses Willensgesetzes als ,kategorischer Imperativ’ ist schließlich die praktische Komponente der Vernunft als Wille, die als u¨ bergreifendes Gesetz ein Leben leiten soll. Obwohl Husserl in der ,Ethik der Erneuerung’ der Erkennbarkeit von Werten die Haltung vorzieht, mit der diese Erkennbarkeit antizipiert wird, bleibt er dennoch bei einem ,,uneingeschr¨ankten ethischen Rationalismus“ (Melle 2004, 346). Diese Gewichtung a¨ndert sich in der ,Liebesethik’ noch einmal. Wie Melle ausf¨uhrt, handelt es sich um eine entscheidende ,,Ver¨anderung in der Ontologie des personalen Subjekts“ (Melle 2004, 348): ,,Das Vernunftideal, so kann man Husserls eigene Kritik daran verstehen, ist letztlich zu formal, zu universalistisch, zu objektivistisch und zu berechnend, kurzum zu kalt und herzlos. Es verkennt eine Tiefendimension des personalen Seins und der personalen Individualit¨at.“ (Melle 2004, 347) In der Ethik der 20er Jahre spielen daher auch schon die Begriffe ,Ruf ’, ,Berufung’ und ,absolutes Sollen’ eine wesentliche Rolle (Melle 1998, XLVIII). Diese Begriffe lassen eine unabweisbare affektive Dimension erahnen, die das Subjekt mit einer konkret erfahrenen Sollensforderung erst zu einem spezifisch personalen Subjekt individuiert – und dies vor jeder vern¨unftigen Evidenzforderung: ,,[Der] ausgef¨uhrten Ontologie des personalen Seins zufolge besteht das tiefste Sein der Person und die tiefste Wurzel ihrer Identit¨at und Individualit¨at nicht in der Vernunft und im Vernunftstreben, sondern in der Liebe.“ (Melle 2004, 348) Inwiefern ist dieser Liebesbegriff als ,,fundamentale 124
Husserl ist sich dabei sehr dessen bewusst, dass es auch einen Moment gibt, in dem letztlich gehandelt, entschieden werden muss. Vgl. S. 189 f.
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ethische Triebfeder“ (Melle 2004, 332) zu verstehen? Es ist von ,Tiefe’, von ,Weckung des tiefsten Ich’, von ,Getroffenheit’ in dieser Tiefe die Rede; nicht nur das Vokabular der passiven Sph¨are, auch ihre unabweisbare affektive Kraft wird hier zum ,Zentrum’ der ethischen Person erkl¨art. ,Liebe’ scheint daher das individuelle Antworten auf einen unabweisbaren, affektiven, ethischen Anrufzu sein; das Selbst stellt sich in den unbedingten Dienst des erweckenden Rufs, und das u¨ ber bloße allgemeine Vern¨unftigkeit hinaus (Melle 2004, 348); erst dadurch wird es zu dieser Person, die diesem Wert folgen muss; erst dadurch entstehen u¨ berhaupt Werte, die in dieser individuellen Antwort ,absolut’ werden. ,,Ein Besonderes ist es aber, dass das Ich nicht nur polare, zentrierende Innerlichkeit ist, dabei aus sich Sinn und Wert und Tat leistende Innerlichkeit, sondern dass es auch individuelles Ich ist, das in all seinem Vorstellen, f¨uhlend Werten, Sichentscheiden noch ein tiefstes Zentrum hat, das Zentrum jener Liebe im ausgezeichneten personalen Sinne, das Ich, das in dieser Liebe einem ,Ruf ’, einer ,Berufung’ folgt, einem innersten Ruf, der die tiefste Innerlichkeit, das innerste Zentrum des Ich selbst trifft und zu neuartigen Entscheidungen, zu neuartigen ,Selbstverantwortungen’, Selbstrechtfertigungen bestimmt wird. Man kann wohl sagen, das Rufende sind schon geahnte oder erschaute Werte.“ (Husserl, Ms. B I 21, 55a)
Der Wertbegriff a¨ndert sich damit substanziell125 : Werte sind nicht in eine pure Sph¨are der Erkennbarkeit gestellt, sondern sie sind ,rufende’, sogar affektiv rufende; als ,geahnte’ entstehen sie u¨ berhaupt erst im liebenden Wertsch¨atzen (Melle 2004, 349). Was aber noch viel erstaunlicher ist, ist, dass Husserl die Individualisierung der Person an diesen Ruf als die Bedingung ihrer M¨oglichkeit zur¨uckbindet. Das ,Absolute 125
,,Husserl now distinguishes between two completely different kinds of values: objective values and values of love. The first are given in a value-reception as objective characters of the object; the second are given to the object through the love of the subject. This love is something active; in one place, Husserl calls it ,a personal decision of the active heart’, indicating that it can no longer be classified as a mere feeling, but involves ¨ an element of choice.“ (Melle 2002, 244) Uberhaupt kann man neben dieser Verschiebung im Wertbegriff beobachten, dass f¨ur Husserl das Erkennen des richtigen Werts (also das ,axiologische Gesch¨aft’) in ethischer Hinsicht zunehmend an Bedeutung verliert. In den Vordergrund r¨uckt daf¨ur das Element der Haltung und auch der Liebe, d. h. des individuellen Antwortens auf einen unabweisbaren Ruf. Damit ist auch eine Tendenz weg vom verobjektivierenden Denken und hin zum praktischen Sich-Verhalten-zu ¨ einer Erfahrung des Entzugs bzw. Uberschusses auszumachen. Vgl. S. 193 ff.
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der Pers¨onlichkeit’ wird durch die ,absoluten Sollensforderungen’ selbst konstituiert. Das Subjekt ist gleichsam gebunden in diesem affektiven Angesprochen-Sein; es kann dieses nicht verleugnen, ohne sich selbst zu verleugnen: ,,Praktisch kann das Ich, abgesehen davon, dass es, wenn es den Ruf erlebt, den Vorzug als unbedingten anerkennen muss, nicht gegen diesen Wert entscheiden, ohne sich zentral zu schaden, ohne sich preiszugeben in einem innersten Wesen. Den absoluten Sollensforderungen entspricht ein Absolutes in der Pers¨onlichkeit, ein Zentrales des Wesens; darin liegt, dass es das Zentrum ist, an das die absoluten Forderungen sich wenden und das in der Entscheidung ihnen gem¨aß sein Wesen erh¨alt.“ (Husserl, Ms. A V 21, 117a,b)
Diese Individualisierung durch den Ruf der Sollensforderung bringt erst das ,wahre Ich’ durch seine ethische Aufgabe zum Ausdruck. ,,Jedes personale Subjekt hat [. . .] seine ihm eigene ethische Aufgabe.“ (Melle 2004, 353) Die Vorstellung von der Konkretheit dieses Rufs ist f¨ur Husserl sehr wichtig (ob nun der Ruf selbst schon zu etwas ganz Konkretem aufruft oder ob es nur die Antwort ist, in der sich diese konkrete Individualisierung vollzieht, ist ph¨anomenologisch wohl nicht zu unterscheiden und entscheiden). Als Beispiele w¨ahlt er oft den Ruf zu einem bestimmten ,Be-ruf ’126 , einer Lebensaufgabe, oder die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, wo Anruf und Antwort ,instinktiv’ sind: ,,Das Ich [. . .], an das Berufungen ergehen, die seine, dieses Ich Berufungen sind, hat Individualit¨at. Es steht als dieses Ich unter absoluten personalen Normen. Es ist freies Ich, sofern es dem geh¨orten Ruf folgen oder die Nachfolge verweigern oder auch auf sie bloß nicht hinh¨oren (wegh¨oren, wegsehen) kann. Es ist dabei zu bemerken, dass dieser individuelle Ruf immer auf Werte zur¨uckgeht, aber instinktiv blind sein kann wie der urspr¨unglich blinde Mutterinstinkt. Auch in dieser Art hat er die Form des absoluten Rufes und wird erlebt als absolutes Sollen.“ (Husserl, Ms. B I 21, 55a,b)
Dieses Erleben des absoluten Sollens wirft nun das Problem der Rechtfertigung in ganz neuer Weise auf. Denn die affektive Dimension, die 126
Derrida hat diesen Gedanken in gewisser Weise wieder aufgegriffen: In der kleinen Schrift Die unbedingte Universit¨at spricht er von der ,profession’ als Berufung: Der Begriff ,Professor’ verbindet die profession (den Beruf ), die o¨ ffentliche Erkl¨arung, die profession de foi (das Glaubensbekenntnis), und die confession (die Beichte und das Bekenntnis) in einem guten ,Professor’, der seinen Beruf nicht nur konstativ, sondern auch performativ ernst nimmt (Derrida 2001a).
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Husserl mit diesem Sollen in den Blick bekommt, ist so fundamental, dass sie nicht wie das naive Werten kritisch (vern¨unftig) korrigiert werden k¨onnte, sondern jenseits des gesamten durchlaufenen rationalen Bereichs v¨ollig unabh¨angig f¨ur sich steht. ,,Es gibt ein unbedingtes ,Du sollst und mußt’, das sich an die Person wendet und das f¨ur den, der diese absolute Affektion erf¨ahrt, einer rationalen Begr¨undung nicht unterliegt und in der rechtm¨aßigen Bindung von ihr nicht abh¨angig ist. Diese geht aller rationalen Auseinandersetzung, selbst wo sie m¨oglich ist, vorher [Hervorhebung S.L.].“ (Hua XXVIII, XLVIII, Anmerkung 1)
Damit scheint die ganze Vernunftethik pl¨otzlich hinf¨allig: Denn diese ,absolute Affektion’, die die Erfahrung des unbedingten Sollens ausmacht, ist nicht nur unabh¨angig von der rechtm¨aßigen Bindung in der Legitimationskategorie, sie geht ihr auch vorher. In Dilemmata-Situationen spricht dieses ,absolute Sollen’ daher auch seine eigene, tragische Sprache, die der ratio nicht mehr zug¨anglich ist: Als Beispiel kann das bekannte Dilemma aus Der Existenzialismus ist ein Humanismus (1945) dienen, wo Sartre den Konflikt eines jungen Mannes schildert, der w¨ahrend des Zweiten Weltkriegs ,,vor der Wahl steht, nach England zu gehen und sich bei den Freien Franz¨osischen Streitkr¨aften zu engagieren – das heißt, seine Mutter zu verlassen – oder bei seiner Mutter zu bleiben und ihr leben zu helfen“ (Sartre 2002, 156). Wie entscheiden? Nach Husserls Ansicht g¨abe es wohl ein ,absolutes Sollen’, dem der junge Mann folgen m¨usste und das ihn als diese Person mit dieser Wahl individualisiert. Husserl betont die Passivit¨at in dieser Entscheidung; Sarte hingegen die absolute Freiheit, die verantwortlich u¨ bernommen werden muss, da keine Moral und keine vern¨unftige ¨ Uberlegung hier entscheiden k¨onnen. Man kann sich fragen, ob in dieser außerordentlichen Situation das H¨oren auf die ,innere Stimme’ und die ,absolute Freiheit’ nicht zusammenfallen: Denn beide Philosophen geben die Verantwortung als letzte Instanz nicht auf – und Husserl in der gleichen ,existenzialistischen Verlassenheit’ wie Sartre: ,,Aber in der absoluten Entscheidung (und absolut ist auch das ,Ich muss mich entscheiden’) entscheide ich mich im Bewusstsein absoluter Verantwortung, und eventuell der absoluten Gefahr.“ (Husserl, Ms. A V 21, 13b) ,,Jetzt ist die Stunde, der Augenblick, jetzt ,muss’ ich mich entscheiden, entscheide ich mich u¨ berhaupt nicht, so verletze ich schon ein absolutes Sollen. Ich muss als Freier.
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Aber jetzt kann ich nicht mehr meine ,Lage’ a¨ndern. [. . .] Jetzt ,kann’ ich <mich> nur f¨ur das absolute Sollen entscheiden, wie es eben im Jetzt spricht.“ (Husserl, Ms. A V 21, 14a)
Der ,Wert’ entsteht eben erst darin, ihm zu folgen. Dies geht jeder ,rationalen Rechtfertigung’, wie Husserl sagt, vorher. Dazu Sartre: ,,Was machte den Wert seines Gef¨uhls f¨ur seine Mutter aus? Eben die Tatsache, dass er f¨ur sie dablieb. [. . .] Ich kann den Wert dieser Zuneigung nur bestimmen, wenn ich eben eine Tat vollbracht habe, die sie best¨atigt und definiert. Sobald ich jedoch von dieser Zuneigung fordere, meine Tat zu rechtfertigen, werde ich in einen Teufelskreis hineingezogen.“ (Sartre 2002, 158)
Wir k¨onnen hier also durchaus eine ,existenzialistische’ Komponente in der ethischen Problemstellung des sp¨aten Husserl bemerken. Aber Husserl ist nat¨urlich kein ,Existenzialist’. Was sich hier zeigt, ist eine sehr genaue, alle philosophischen ,Richtungen’ u¨ bersteigende Beobachtung einer Dilemmasituation und ihrer Komponenten: der Konflikt der Werte und Verantwortungen; die Unm¨oglichkeit, das Problem vern¨unftig (wertend) zu l¨osen; und letztlich die B¨urde der Willensentscheidung, die in ihrer ganzen ,Freiheit’ doch nicht beliebig, sondern verantwortlich ist und damit einem Ruf folgt. Husserl respektiert die Passivit¨at, die den freien Willen zu einem verantwortlichen macht. Er respektiert damit – dies ist meine Interpretation – das ,Faktum der praktischen Vernunft’, in seinem unabweisbaren Sollen, in seiner passivsten Form, also selbst da, wo es jeder rationalen Rechtfertigung vorhergeht. Trotzdem wird sich Husserl letztlich nicht davon l¨osen, die affektive und individuelle Situation einer Liebesethik als ,irrational’ zu verstehen127 (Melle 2004, 353). Ihr ethisches Gesetz steht ,,in Spannung, wenn nicht im Gegensatz zur universalisierenden Tendenz der Vernunft und des Vernunftgebots. Husserls sp¨ate Ethik steht im Zeichen dieser Spannung, die 127
Zur Liebesethik geh¨ort auch der Begriff des Schicksals und des Tragischen bei Husserl, das eintritt, wenn Vernunft- und Liebeswerte miteinander in Konflikt treten: ,,Bei einem Konflikt zwischen absoluten Werten – Husserls Beispiel ist der Konflikt zwischen der Liebe zum Kind und der Liebe zum Vaterland – gibt es keinen rationalen Wertvergleich, es gibt keine Absorption des Guten durch das Bessere und Beste, sondern es gibt nur das tragische Opfer des einen absoluten Wertes f¨ur den anderen, ein Opfer, das auf der Seele lasten bleibt.“ (Melle 2004, 350)
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f¨ur ihn letztlich nur in einem Vernunftglauben an Gott128 gel¨ost werden kann.“ (Melle 2004, 332) Nur dadurch kann die Irrationalit¨at des individualisierten, absoluten Sollens in einer h¨oheren Ordnung aufgehen, die es mit der Vernunft vers¨ohnt. Husserls Vernunftglaube hat damit a¨hnlichen Postulatcharakter wie der kantische, wenn auch unter unterschiedlichen Voraussetzungen. Husserl gibt seine Vernunftethik auch in dieser sp¨aten Ausformung nicht auf. Was er vielmehr erkennt, ist, dass ,,Vernunft [. . .] nicht der einzige Gesichtspunkt sein“ (Melle 2004, 351) kann. Sie muss daher begrenzt werden: ,,Diese ganze Ethik des h¨ochsten praktischen Gutes, so wie sie von Brentano abgeleitet wurde und von mir in wesentlichen Z¨ugen angenommen, kann nicht das letzte Wort sein. Es bedarf wesentlicher Begrenzungen! Beruf und innerer Ruf kommen dabei nicht zu ihrem wirklichen Recht.“ (Hua XXVIII, XLVIII, Anmerkung 1) Kommen ,absolute Affektion’ und ,unbedingtes Sollen’ aber in ihrer Entgegensetzung zur Vernunft wirklich zu ihrem Recht? Oder muss man nicht vielmehr das vern¨unftige Verm¨ogen von ihnen her verstehen – so wie das f¨ur die logischen Verstandesbegriffe in Erfahrung und Urteil gilt?
Abschluss: Der Vorrang der praktischen Haltung oder: Vom rechtlichen Denken zum rechtlichen Sein Wir kehren mit dieser Frage zu unserem Thema der Rechtfertigung und der Vernunftgenesis zur¨uck. Husserls Vorst¨oße sollen dabei in einer bestimmten Interpretation geordnet werden, die u¨ ber Husserl selbst hinausgeht. Ziel dieser Interpretation ist es, eine Vernunftgenesis aus der Passivit¨at aufzuzeigen, und zwar auch in ethisch-praktischer Hinsicht. Die Begriffe des ,Theoretischen’, ,Ethischen’ und ,Praktischen’ werden damit eine ver¨anderte Bedeutung, aber auch eine gr¨oßere begriffliche Tiefe erlangen als zuvor in der Untersuchung. Zudem soll ein umfassenderes Bild der Vernunftgenesis gezeichnet werden als bisher, welches u¨ ber das ,rechtliche Denken’ hinaus ein vorg¨angiges ,rechtliches Sein’ sichtbar 128
,,Die vermeintliche Irrationalit¨at von Liebe und Schicksal kann f¨ur Husserl mit der Vernunft nur im Vernunftglauben an eine g¨ottliche Weltordnung vers¨ohnt werden.“ (Melle 2004, 353)
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macht, das auf affektiver Basis ruht, ohne damit in einem Gegensatz zur Vernunft zu stehen. Husserls Ethik ist vor allem deshalb ein so interessanter Ausgangspunkt, weil in diesem Seitengebiet (Husserl ist nicht genuin als ,Ethiker’ bekannt) f¨ur ihn Probleme aufbrechen, die von umfassender ph¨anomenologischer Bedeutung sind: so etwa die Frage einer nicht-objektivierenden Vernunft, die das ganze Gebiet jenseits der vergegenst¨andlichenden Pr¨adikation in seinem Eigenrecht bemerkbar werden l¨asst; ebenso die immer st¨arker werdende Einsicht, dass die Erfahrung, unter einem (absoluten) Sollen zu stehen, sich in keiner Vergegenst¨andlichung aufl¨osen l¨asst, weil sie eben die Person selbst trifft und sich nicht als neutrales Geschehen vor einem urteilenden Subjekt abspielt. Was die ,personale Ontologie’ beschreiben will, ist damit nicht mehr nur als eine beliebig wechselbare Einstellung des transzendentalph¨anomenologischen Subjekts zu verstehen, sondern als der fundamentale lebensweltliche Boden, der dem Entwurf einer Eidetik faktisch vorausgeht.129 Aus mehreren Gr¨unden scheint es daher fruchtbar, sich in der Lekt¨ure von Husserls ethischen Entw¨urfen weniger auf den (gescheiterten) Versuch einer Parallelisierung von Logik und Ethik zu beschr¨anken und Husserls Rationalismus zu kritisieren, als vielmehr auf die Br¨uche aufmerksam zu sein, die ihn zu mehreren Reformulierungen seiner Ethik bewegt haben. Im Hinblick auf die Frage nach einer rechtlichen Intentionalit¨at l¨asst sich in der fr¨uhen Ethik eine deutliche Ratlosigkeit erkennen, wie das vorpr¨adikative Werten seine Eigenst¨andigkeit bewahren soll, wenn es nur u¨ ber den Zugriff einer logischen Vernunft artikuliert werden kann. Hier geht es Husserl aber zuerst nur um eine Analyse der wertenden und prak129
Hier wird das Verh¨altnis von Faktum und Eidos (Hua XV, 385) relevant, das Schuhmann als ein ,,dialektisches“ (Schuhmann 1988, 197) bezeichnet: Das Sein des Eidos als Sein in eidetischen M¨oglichkeiten ist seinsunabh¨angig von aller Wirklichkeit. ,,Aber das Eidos transzendentales Ich ist undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches. [. . .] Eine volle Ontologie ist Teleologie, sie setzt aber das Faktum voraus.“ (Hua XV, 385) An dieser Faktizit¨at der Weltlichkeit, einer Urfaktizit¨at von ,,Urhyle, Urkin¨asthesen, Urgef¨uhlen, Urinstinkten“ (Hua XV, 385) und fungierendem Ichpol (,Urfaktum’), kann sich allererst eine Ph¨anomenologie errichten: Welt und Empirie sind als Fakten f¨ur Husserl Korrelate des allmonadischen Str¨omens und der in ihm waltenden Teleologie. ,,Da aber alle Objektivit¨at Sinn und Sein nur aus ihrer Relation zum absoluten Leben der Subjekte sch¨opft, ist das subjektive Leben seiner konstitutiven Funktion zufolge aller weltlichen Endlichkeit unendlich u¨ berlegen.“ (Schuhmann 1988, 161)
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tischen Akte u¨ berhaupt und noch weniger um die Vernunftfragen, wie hier ,richtig’ und ,recht’ zu bestimmen sei. Die ,Ethik der Erneuerung’ geht in dieser Hinsicht neue Wege. Die ,Haltung’ scheint hier die praktische Antwort der rechtlichen Intentionalit¨at auf einen nicht zu vergegenst¨andlichenden Anruf zu sein. Damit er¨offnet sich eine neue Dimension, n¨amlich eine genuin praktische, die die theoretische in ihre Haltung einbettet. Das ,Praktische’ hat nun folgende Bedeutung: Abstand zu nehmen von einem vergegenst¨andlichenden theoretisierenden Blick und in ein direktes Sich-Verhalten-zu u¨ berzugehen. F¨ur die rechtliche Intentionalit¨at heißt das: dem Anruf gerechtzu-werden in einem Aushalten der Spannung des Angerufen-Seins; das heißt auch: dem Drang der Objektivierung zu widerstehen; zu wissen, dass man mit diesem Anruf selbst gemeint ist. Diese praktische Form des rechtlichen Denkens als Gerecht-Werden unterscheidet sich wesentlich vom theoretischen Hintendieren auf Rechtm¨aßigkeit, auf evidente Ausweisung: Ist dieses eine vorw¨artsschreitende Bewegung (eine teleologische Bewegung), so ist jenes eine stets aufrechtzuerhaltende Haltung. Das eine schließt das andere nicht aus; vielmehr fordert uns unsere ethische Haltung sogar ab, dass alles bis in die letzte evidente M¨oglichkeit hinein kritisch gepr¨uft werde. Das theoretische Hintendieren auf Rechtm¨aßigkeit kann sich somit in einem Abk¨unftigkeitsverh¨altnis zur Haltung des Gerecht-Werdens verstehen lassen. Die Haltung w¨are schon eine prakti¨ sche Antwort der rechtlichen Intentionalit¨at, die zur theoretischen Uberlegung verpflichtet. Husserls zweiter ethischer Entwurf weist im Erneuerungs- und im Evidenzstreben diese beiden Komponenten auf. Allerdings verr¨at die Rede von einer teleologischen relativen Vollkommenheit in einem Unendlichkeitshorizont noch den Vorrang des theoretisierenden Blicks der ,Idee im kantischen Sinn’. Das Angesprochen-Sein w¨are hier letztlich doch objektivierbar in einer Entsprechung der Vollkommenheit. Genau auf diese Problematik wird aber der sp¨ate Husserl noch einmal hellh¨orig: Das Vernunftideal erscheint ihm deshalb zu objektivistisch, weil etwas in diesem Ruf, n¨amlich das Angesprochen-Sein selbst, letztlich nicht objektivierbar ist – oder zumindest nicht objektiviert werden kann, ohne den genuinen Gehalt des Ethischen zu verlieren. Die Art und Weise aber, wie Husserl den n¨otigenden Ruf in der Liebesethik in den Blick bekommt, n¨amlich als eine je konkrete Beru¨ fung, die zur rationalen Uberlegung im Gegensatz steht, verhindert,
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diesen affektiven Anstoß als movens der Vernunftausweisung zu sehen. Damit wird zwar ein vorg¨angiges ethisches Sollen als affektives und nichtobjektivierbares sichtbar, aber es steht letztlich allein, eben ab-solut, und l¨asst sich in einer fast tragischen Unverst¨andlichkeit mit der Ausweisungsbewegung der Subjektivit¨at u¨ berhaupt nicht mehr in Verbindung bringen. Dies liegt haupts¨achlich daran, dass Husserl konstant bis zu seinem Sp¨atwerk einem Konzept der Genesis aus der Entt¨auschung oder Entwertung anh¨angt: ,,Die von derart peinlichen Entwertungen und Entt¨auschungen ausgehende Motivation ist es, die, wie fr¨uher schon angedeutet, das Bed¨urfnis nach solcher Kritik und somit das spezifische Wahrheitsstreben bzw. das Streben nach Bew¨ahrung, nach ,endg¨ultiger’ Rechtfertigung durch einsichtige Begr¨undung motiviert.“ (Hua XXVII, 30)
Sind Entt¨auschung und Entwertung Grundmodi einer Konzeptionen von Genesis und Teleologie, so f¨uhrt dies erstens ganz klar auf die Thematik der Selbsterhaltungals fundamentales Problem einer Ethik130 . Zweitens leiten Entt¨auschung und Zweifel ein kritisches Verfahren ein, das vor allem formal auf absolute Rechtfertigung und Gesichertheit hinzielt: Hier bringt sich der Anspruch der Vernunft hervor. Die theoretische Vernunft wird auf den Plan gerufen, auszuweisen und sichtbar zu machen, was nur sichtbar gemacht werden kann. Da wir ebenso unabweisbar stets unter diesem Anspruch stehen, w¨urde ich hier in Analogie zum kantischen Diktum vom ,Faktum der theoretischen Vernunft’ sprechen. Diese ausschließliche Objektivierung wird aber, wie bereits ausgef¨uhrt, der ethischen Erfahrung auf ganz bestimmte Weise nicht gerecht. Ein anderer Rechtsbegriff taucht hier auf. In der ,Haltung zur Erneuerung’ wird dieser Rechtsbegriff zu einer praktischen Einstellung; im ,absoluten Sollen’ aus ,absoluter Affektion’ kommt es bei Husserl allerdings zu einer v¨olligen Entkoppelung vom ausweisenden Denken (es ist auch nicht mehr die Rede von nicht-objektivierender praktischer Vernunft). 130
Dass das movens des ethischen Sollens letztlich nicht aus einer bloßen Entt¨auschung oder Entwertung kommt, sieht der sp¨ate Husserl deutlich. Deshalb f¨allt in der Liebesethik auch die Selbsterhaltung mit der radikalen Selbsthingabe an den Ruf zusammen: Ich kann diesem Ruf nicht nicht folgen, ohne mich selbst ,zentral zu sch¨adigen’, ohne mich selbst ,preiszugeben’.
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Dies fordert m. E. die Herausarbeitung einer anderen Vernunftgenesis als der bisher vorgestellten. Denn die absolute Affektion sollte nicht als ein irrationales Gegenst¨uck zum freien Vernunftwillen betrachtet werden, in der klassischen Ansicht, Vernunft und Gef¨uhl bzw. Sinnlichkeit (Liebe) st¨unden einander nur ausschließend gegen¨uber. Vielmehr muss das Vorhergehen dieser absoluten Affektion vor ,aller rationalen Auseinandersetzung’ so gelesen werden, dass sie diese erst fordert und insofern hervorbringt. Wir haben schon vorher darauf hingewiesen, dass diese andere genetische Struktur derjenigen a¨hnelt, die Husserl in Erfahrung und Urteil f¨ur die logischen Kategorien entwirft. In unserem Fall w¨are es die Aufgespanntheit von vorpr¨adikativem Angesprochen-Sein und vern¨unftigem Anspruch. Im begrifflichen Erfassen des vorpr¨adikativen Angesprochen-Seins kommt es zur Konstitution der Legitimationskategorie als Anspruch (qua absoluter Rechtfertigungsforderung durch Evidenz): Der Anspruch der Vernunft (auf Rechtfertigung) wird als Antwort auf ein vorpr¨adikatives Angesprochen-Sein begriffen. Dieses AngesprochenSein ist im Bereich des Affektiven und damit auch des Sinnlichen zu suchen. Hier ließe sich ein positiv-affektiver (oder sinnlicher) An-spruch festmachen, der dem negativ-kritischen Anspruch der Vernunft vorausgehen w¨urde und gleichzeitig als er selbst begrifflich unverf¨ugbar, d. h. unobjektivierbar bliebe. Dadurch er¨offnet sich auch die M¨oglichkeit, einem Grundthema und einem Grundanliegen der Husserl’schen Ph¨anomenologie nachzugehen: die Vernunft, auch als praktische und, dar¨uber hinaus, auf genetischer (und nicht bloß statischer) Ebene, nicht unter Ausschluss des Sinnlichen zu denken. Konkreter gesprochen hieße das: nicht nur darauf zu insistieren, dass Gem¨utsakte f¨ur eine Ethik unentbehrlich sind (wie es der fr¨uhe Husserl tut), sondern: das Affektive, die M¨oglichkeit des Getroffen-werden-K¨onnens schlechthin, als Bedingung der M¨oglichkeit einerseits und als konkreten Anstoß andererseits f¨ur die T¨atigkeit eines rechtfertigenden Verm¨ogens herauszuarbeiten. Der rote Faden zu einer umfassenden Genesis der Vernunft w¨are hiermit gelegt. Dies ist aber, wie erw¨ahnt, nur mit einer Interpretation zu erreichen, die wesentlich u¨ ber Husserl hinausgeht. Husserls eigener verschlungener Denkweg in Sachen Ethik f¨uhrt zu einer Schwelle, wo sich die Frage nach der Weise, in der wir praktische und theoretische Vernunft haben, noch einmal vehement von diesem ,Ruf ’ her stellt: Denn hier
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scheint tats¨achlich ein ,Sollen’ vorzuliegen, welches die gesamte Rechtfertigungsteleologie motiviert. Das ,Ethische’ liegt damit nicht im schlichten Abmessen131 von und Hintendieren auf Evidenzen, sondern im Folgen auf einen Ruf und im Aushalten der Spannung, von diesem Ruf einerseits ganz individuell gemeint zu sein und andererseits unter einem allgemeinen Rechtfertigungsanspruch zu stehen (Luft 2008). In diesem Sinn m¨ussen wir aber die theoretischen Eckpfeiler dieser Untersuchung rekapitulieren: Es wurde deutlich, dass der rein formale Anspruch in Sachen Ethik nicht greift. Was ist nun ,das Ethische’? Und was ist sein Ph¨anomen, seine Erfahrung? Die Begriffe des ,Ethischen’ und des ,Theoretischen’ m¨ussen daf¨ur einer v¨olligen Revision unterzogen werden. Auf dem Denkweg, den wir mit Husserl mitgegangen sind, hat sich ,das Ethische’ im Laufe der Entwicklung immer st¨arker bemerkbar gemacht als das, was einer Objektivierung widersteht oder sich ihr entzieht. Das Selbst-gemeint-Sein als Angerufen-Werden kann letztlich nicht noch einmal einem neutralen Blick unterworfen werden. Will man diesen Zug der Unobjektivierbarkeit an einem bestimmten Ph¨anomen ausmachen, so f¨allt bei einer n¨aheren Betrachtung schnell auf, dass dies nicht an einer materialen oder eidetischen Komponente irgendeines bestimmten Gegebenen liegt, sondern im Gegeben-Sein selbst jederzeit aufbrechen kann. An dieser Stelle ist 131
Auch Husserl r¨uckt in seiner sp¨aten Ethik davon ab, das Ethische im ,Nachrechnen’ und ,Abmessen’ erfassen zu wollen: ,,Der Mensch in der Wahrscheinlichkeit, in der Berechenbarkeitssph¨are, in der wahrscheinlichen Voraussicht (wissenschaftlich, der theoretisch berechneten) des Kommenden, des Daseienden, des Gewesenen etc. – Der Mensch in der ,Verstandeserkenntnis’ ,der seienden Welt’, der Mensch die Normen des ,Guten’ berechnend, die Wertkategorien erkennend und ordnend und sich als G¨uter schaffend und das Beste erkennend und realisierend, ,berechnend’. Aber dieses Ideal w¨are nur wahr, wenn die Welt eine wirklich berechenbare w¨are und das Ich f¨ur sich selbst ein berechenbares w¨are, bzw. nach idealer M¨oglichkeit die Anderen in der menschlichen Umwelt. Was ist hier der Fehler?“ (Husserl, Ms. A V 21, 79b/80a) Und weiter: ,,Aber wenn das Gewissen spricht, mich anruft, ist nicht mein Leben enth¨ullt und ich rechne nicht aus, was da an dieser Stelle das Beste ist. Freilich, jetzt kann ich in peinlicher Wahl sein. Spricht das Gewissen nicht? Nicht in jedem Jetzt spricht es bestimmt, es kann auch unbestimmt sprechen, es kann auch zweifelndes Gewissen sein und nicht auch irrendes Gewissen, wie es sich nachtr¨aglich herausstellt – aber doch wieder im Gewissen. Wie ist das zu kl¨aren?“ (Husserl, Ms. A V 21, 84a)
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ein Verweis auf Heidegger unverzichtbar. Die Erfahrung, dass uns u¨ berhaupt etwas gegeben ist, ist die Erfahrung des Sein des Seienden; wobei dieses ,Sein’ stets verbal, d. h. als Vollzug verstanden werden muss. Besser noch: Die Erfahrung des ,Dass’ des Gegeben-Seins ist die Erfahrung der Vollzugsidentit¨at von Angesprochen-Sein und Hinnahme. Das im Konzept des Gegenst¨andlichen verstandene Korrelationsapriori erf¨ahrt damit eine Wendung ins Einfachere, aber auch ins Fundamentalere der Gebung u¨ berhaupt und ihrer Erfahrung. Dass es in dieser Gebung auch immer einen Entzug gibt, liegt daran, dass unsere Hinnahme, als die sich die Gebung ereignet, nicht noch einmal vollst¨andig objektiviert werden kann: Das Sehen vermag sich nicht selbst noch einmal zu sehen. Dieser Sachverhalt liegt in der Gebung der Ph¨anomene selbst. Insofern kann ,das Ethische’ nicht mehr im Gegensatz zum ,Theoretischen’ verstanden werden, als ginge es hier um zwei verschiedene Ph¨anomene, z. B. einmal um einen Sessel und einmal um einen Menschen. Vielmehr geht es um zwei Dimensionen der Erfahrung: einmal um die Erfahrung des Erfahrenen, einmal um die Erfahrung der Erfahrung selbst. In der Erfahrung der Erfahrung schl¨agt der objektivierende Blick in den betroffenen, den ,ethischen’ um. So wie ,ethisch’ jetzt gemeint ist, kann dies durchaus auch eine andere Haltung im ,Theoretischen’ bewirken. Das Selbst-gemeint-Sein im Angesprochen-Sein erfordert, wie oben mit Husserl ausgef¨uhrt, die praktische Haltung. Aus diesem Grund wurde auch o¨ fter von ,ethisch-praktisch’ gesprochen: Denn Anspruch und Antwort als Haltung treten stets gemeinsam in einem Vollzug auf. Die Erfahrung des Angesprochen-Seins, des Sollens, des Imperativischen, l¨asst schon nach Kant kein theoretisches Wissen mehr dar¨uber zu.132 Nur im Handeln kann diesem Anspruch nachgekommen werden. Gleiches gilt f¨ur die Forderung nach Rechtm¨aßigkeit: Diese ,theoretischteleologisch’ (der Gegenbegriff zu ,ethisch-praktisch’) einholen zu wollen, wird dem gestellten Anspruch letztlich nicht vollst¨andig gerecht. Allerdings soll hier doch der Bewegung Einhalt geboten werden, die bei Heidegger immer wieder zum Vorschein kommt: dass der theoretischteleologische, vergegenst¨andlichende Gestus immer nur ein derivativer sei 132
Vgl. Kant, KpV, Erster Teil, Erstes Buch, Erstes Hauptst¨uck, II.: ,,Von der Befugnis der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche, zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen f¨ur sich nicht m¨oglich ist“.
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und ,bloß’ den ,apophantischen Logos’ sprechen lasse, der am Eigentlichen der Erfahrung vorbeigehe. Hier muss Husserl noch einmal stark gemacht werden, besonders in dem Sinne, in dem er vom Ruf der Sachen selbst spricht. Denn der Evidenzbegriff und sein Anspruch sind durch die Haltung nat¨urlich nicht obsolet geworden, sondern, im Gegenteil, umso dringlicher gefordert. Im Angesprochen-Sein der Gebung wird uns etwas gegeben, das ebenso – als gegebene Sache – rechtm¨aßig zu konstituieren ist. Was sich uns als Gegenstand zeigt, ist auch als solcher zu beurteilen. Insofern ist die Vergegenst¨andlichungsleistung keine willk¨urliche, sondern eine transzendentale (konstitutive) und die Vergegenst¨andlichung selbst das Faktum der theoretischen Vernunft. Nur auf dieser Ebene der Vergegenst¨andlichung kann sich das Nicht-Verobjektivierbare als Entzug zeigen und somit einerseits zu neuen Objektivierungen (Erneuerung, Kritik) aufrufen und andererseits die ihm genuin entsprechende Antwort als Haltung einfordern. In diesem Gerufen-Sein oder Angesprochen-Sein als Grundverfasstheit der Subjektivit¨at liegt wiederum das Faktum der praktischen Vernunft. Der Vorrang, der in der Erfahrung des Gerufen-Seins liegt, a¨ußert sich als Dringlichkeit und als Betroffenheit. Betroffenheit im Sinne des Selbst-gemeint-Seins, Dringlichkeit im Sinne des Antworten-M¨ussens in Haltung und Handlung. Es ist eine Erfahrung, die mich n¨otigt – und keine Frage der Einstellung. W¨ahrend das Vergegenst¨andlichen der Gegenst¨ande bloß ,abl¨auft’ (kantisch gesprochen: im st¨andigen AmWerk-Sein der Kategorien am sinnlichen Material), ,bricht’ die Erfahrung des Ethischen u¨ ber mich ,herein’. Sie n¨otigt meinem Denken, Urteilen und Handeln einen responsiven Gestus ab, der im Prozess der bloßen Vergegenst¨andlichung nicht vorhanden ist. Insofern bin ich ganz gefordert in ,Theorie’ und ,Praxis’ – womit sich auch die Differenz von ,theoretisch’ und ,ethisch-praktisch’ zu einer geforderten Einheit der beiden vertieft. Denn die Rechtsfrage des ,Was soll ich tun?’ bleibt – eingebettet in die praktische Haltung – auch immer in Evidenzhinsicht aufrecht. Sie bleibt eine Verpflichtung. ,Was soll ich tun?’ impliziert demnach auch immer die Frage ,Was kann ich wissen?’ und w¨are ohne sie nicht nur unvollst¨andig, sondern auch in ethischer Hinsicht nicht voll verantwortlich u¨ bernommen. Im theoretischen Teil wurde versucht, das Erlebnis der Evidenz als Erlebnis des vollen Angesprochen-Seins zu lesen und das begriffliche
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Erfassen dieses An-spruchs als Rechtsgrundsetzung bzw. als Konstitution der Legitimationskategorie auszuweisen. Auf diese Weise u¨ berantwortet sich die (Recht-)Setzung einer Gebung und begreift (erfindet!) sich dadurch als legitimiert, dass sie sich einer Verpflichtung, einer Verantwortung dieser Gebung und ihrem Gegebenen gegen¨uber aussetzt. Mit dieser Hingabe an die Gebung ist aber gleichzeitig ein Verf¨ugbaroder Begreifbarmachen des Gegebenen in den Gradualit¨aten der F¨ulle erm¨oglicht. Das Angesprochen-Sein wurde so als Rechtsgrund interpretiert; die F¨ulle der Evidenz als Rechtsgrund, der der geforderten Setzung ihren Boden bietet. Das Antworten auf den Anspruch konstituiert sich demnach spontan als eine Verpflichtung in der Rechtfertigungskategorie. Das heißt: Ausweisen, Begr¨unden, Rechtfertigen sind immer schon in dieser Verpflichtung dem An-spruch gegen¨uber zu lesen – und dies nicht nur als einzelne Akte, sondern als transzendentale Form unseres Erfahrens von Welt u¨ berhaupt. Die Geltung des Gegenst¨andlichen und Vergegenst¨andlichten, die hier in ihrer Rechtm¨aßigkeit in Frage steht, betrifft aber stets nur die Setzung ¨ im Subjekt (und deren absolute Einsehbarkeit). Die Uberlegungen zum ethisch-praktischen Bereich haben uns gezeigt, dass eine Rechtsfrage die Subjektivit¨at noch viel direkter treffen kann; n¨amlich in einem Sollen, das u¨ ber ihre gegenst¨andlichen Setzungen hinaus ihr eigenes Sein in einem An-spruch in Frage stellt. Von einem rechtlichen Denken werden wir hier in ein rechtliches Sein gestellt, von dem her sich das rechtliche Denken verstehen muss. Der Rechtsgrund ist hier keiner mehr, der sichtbar gemacht oder verantwortlich gesetzt werden kann; vielmehr liegt er in der antwortenden Haltung des Subjekts und ist im eigentlichen Sinne nicht mehr Grund, sondern Ver-antwortung. Eine Genesis des Denkens in rechtlichen Begriffen ist damit sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht in ihren Grundz¨ugen ausgearbeitet. Die beiden folgenden Abschnitte sollen diesen Entwurf, der im Anschluss an die Husserl’sche Ph¨anomenologie entwickelt wurde, nun noch in zwei anderen theoretischen Kontexten weiterf¨uhren und der kritischen Pr¨ufung unterziehen: Die Diskussion mit der transzendentalen Sprachpragmatik (VI.) entwickelt in dieser Hinsicht einerseits die Frage nach Geltungskonstitution und Rechtfertigung im intersubjektiven Raum weiter. Die unmittelbare Ankn¨upfung an Levinas’ Alterit¨atsdenken (V.) verfolgt andererseits die soeben aufgeworfene Problematik einer ,ethischen Erfahrung’.
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Eine Genesis des imperativischen Sollens im Sinne einer ,absoluten Affektion’ wird bei Husserl nur angedeutet, aber nicht als Vernunftgenesis durchgef¨uhrt. F¨ur diesen Ansatz sollen die Gedanken eines Emmanuel Levinas kritisch in Anspruch genommen werden. Denn Levinas sprengt sowohl den Ph¨anomen- als auch den Erfahrungsbegriff, indem er der Alterit¨atserfahrung nachgeht. Nicht-Objektivierbarkeit bzw. NichtBenennbarkeit sind f¨ur Levinas nichts anderes als eine Alterit¨atserfahrung (wobei Alterit¨at jederzeit an jeder Erfahrung, d. h. in der Subjektivit¨at des Subjekts aufbrechen kann). Mit dieser Figur erreicht Levinas eine sowohl umgreifende als auch grundlegende Struktur (wie umgekehrt Husserl im Begriff der Evidenz), die eher den Ausgangspunkt einer Vernunftgenesis bilden kann als Husserls konkrete Rede vom absoluten individuellen Sollen. W¨ahrend sich Husserl mehr auf das Problem des individuellen (irrational erscheinenden) Antwortens konzentriert, er¨offnet sich f¨ur Levinas die M¨oglichkeit, die allgemeine Struktur und Verfasstheit der Subjektivit¨at von ihrem Anderen her als (Ver-)Antworten zu verstehen.133 In dieser prim¨ar strukturellen Levinas-Lekt¨ure soll aber Husserls Besorgnis nicht aufgel¨ost werden: Denn Husserl bekommt mit dem absoluten Sollen etwas in den Blick, das kein habitualisiertes und unreflektiertes ethisches Entscheiden ist, sondern ein letzter affektiver Zug, der seine individuelle Pr¨agung tr¨agt. Dass das Antworten auf das Andere und die Anderen ein Selbstgemeint-Sein ist, wird dadurch noch einmal jenseits alles ,Rationalen’ deutlich. 133
Holger Maass argumentiert, dass der bei Husserl und Reinach entwickelte ,soziale Akt’ des Sprechens immer schon ,,eine normative bzw. ethische Struktur aufweist, und dies nicht beil¨aufig und nebenher, sondern als solcher, d. h. aufgrund seiner Eigenart als kommunikativer bzw. sozialer Akt. [. . .] Dies haben sowohl Husserl als auch Reinach nicht bemerkt. Die intrinsische Normativit¨at von Kommunikation wird in der ph¨anomenologischen Tradition erst L´evinas in aller Deutlichkeit herausarbeiten. So betont er, daß das Sprechen als Ansprechen den Anderen um etwas angeht, ersucht bzw. bittet (solliciter), so daß die Sprache als solche ethisch zu charakterisieren ist.“ (Maass 2002, 224) Maass nimmt hier den Weg u¨ ber den kommunikativen bzw. sozialen Akt (statt wie wir hier u¨ ber das Erfahren schlechthin), gelangt aber zu demselben Ergebnis, dass bei Levinas die Dimension des Angesprochen-Seins erst in ihrer vollen normativen Implikation ausformuliert wird – was allerdings auch eine Reformulierung der Begriffe von Sprache und Kommunikation nach sich ziehen m¨usste.
¨ HORIZONTE VON KRITIK UND WEITERFUHRUNG: ZUR GENESIS DES RECHTLICHEN DENKENS BEI LEVINAS UND APEL
KAPITEL V
LEVINAS: DER ANSPRUCH DER ANDEREN ALS STIFTUNG RECHTLICHEN DENKENS
Einleitung Im Laufe des Entwurfs einer ,Genesis des rechtlichen Denkens bei Husserl’ sind nach und nach Fragen in den Vordergrund ger¨uckt, die innerhalb der Husserl’schen Ph¨anomenologie selbst nicht mehr herauszuarbeiten sind. So etwa die Frage nach der Beschreibung einer genuin ,ethischen Erfahrung’, in der der Verobjektivierung widerstanden wird. Weiters: die Frage nach einer m¨oglichen Genesis der rechtfertigenden Vernunft aus diesem nichtverobjektivierbaren Anspruch heraus, was die M¨oglichkeit einer nicht bloß ,irrationalen’Auslegungdes,absolutenSollens’impliziert. In diesem Abschnitt sollen die angesprochenen Fragen im Rahmen des Denkens von Emmanuel Levinas noch einmal neu und anders thematisiert werden. Dabei ist entscheidend, inwiefern Levinas durch die Beschreibung der ethischen Erfahrung zu einer Transformation der ph¨anomenologischen Methode gen¨otigt wird. In diesem von der Alterit¨at durchzogenen und durchbrochenen ph¨anomenologischen Feld stellt sich die Frage nach der Herkunft und Verpflichtung des rechtfertigenden und rechtlichen Denkens auf eine dezidiert ethische Weise. Die Rechtsfrage wird damit eingebettet in ein Begehren nach Gerechtigkeit, das Verm¨ogen der Vernunft wird prim¨ar vom Antworten134 und Verantworten her begriffen. 134
Bernhard Waldenfels hat mit seinem Werk den Begriff der ,Responsivit¨at’ gepr¨agt, dem diese Arbeit sehr verpflichtet ist. Ich m¨ochte vor allem das Buch Antwortregister hervorheben, eine genaue ph¨anomenologische, aber auch sprachanalytische Studie zu den Ph¨anomenen ,Frage und Antwort’ und ,Antwort und Anspruch’. Waldenfels versteht das menschliche Sein schon in seiner Leiblichkeit, aber auch in seinem sprachlichen Wesen als urspr¨unglich responsiv. Vgl. auch Waldenfels 1987, 1990, 1994, 1995, 1997; Critchley 2001, 46 f.; Tengelyi 2001, 278 ff.
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In diesem kurzen Abschnitt wird es nicht m¨oglich sein, der Levinas’schen Alterit¨atsphilosophie in ihrer Gesamtheit gerecht zu werden. Vielmehr ist das Ziel dieser Auseinandersetzung, unser Sachproblem in einer spezifischen Weise weiterzudenken und Horizonte aufzuzeigen, die eine Weiterf¨uhrung dieses Denkens in verschiedene Richtungen erm¨oglichen sollen. Ich werde zu diesem Zweck auch Gedanken Jacques Derridas und rechtsphilosophische Problemstellungen im Rahmen dieses Abschnitts aufgreifen. Levinas135 Der Alterit¨atsphilosoph und Ph¨anomenologe Emmanuel Levinas bietet sich f¨ur eine kritische Weiterf¨uhrung einer Theorie des rechtlichen Denkens im Anschluss an Husserl unmittelbarer als Dialogpartner an als etwa Martin Heidegger. Es ist zwar unbestreitbar, dass Heidegger schon in Sein und Zeit vom ,Ruf des Gewissens’ spricht und auch in seinem sp¨ateren Denken die Themen von ,Anspruch’ und ,Entzug’ eine entscheidende Rolle spielen. Heidegger liefert also durchaus den denkerischen Durchbruch f¨ur die Thematik von Anspruch und Entzug136 , weshalb sein Einfluss auch in der Auseinandersetzung mit Levinas sp¨urbar sein wird. Allerdings bleiben Rechtsfrage, Rechtfertigung und deren ethischer Impuls 135
Viele Anregungen und wertvolle Hinweise f¨ur meine Levinas- und Derridalekt¨ure habe ich in den Gespr¨achen mit Peter Zeillinger und Matthias Flatscher bekommen, denen ich an dieser Stelle meinen Dank f¨ur die stete Diskussionsbereitschaft aussprechen m¨ochte. Insbesondere m¨ochte ich auf Zeillingers Vorlesung ,,Der ,Mensch’ und das andere des ,sein’. Zur Aktualit¨at des Denkens des sp¨aten Emmanuel Levinas“ (Universit¨at Wien, SS 2006) hinweisen, deren Publikation in Vorbereitung ist. 136 ¨ Im Folgenden werden ,Entzug’ und ,Uberschuss’ h¨aufig zusammen genannt werden. Die beiden Begriffe sind in der Erfahrung der Alterit¨at als komplement¨ar bzw. als ,zwei ¨ Seiten einer Medaille’ zu verstehen: Ein Uberschuss ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht mehr auf oder ,in’ den Begriff gebracht werden kann, d. h., dass er das Fassungs¨ verm¨ogen der Subjektivit¨at u¨ bersteigt – dieses Ubersteigen oder Nicht-auf-den-Begriffbringen-K¨onnen wird folglich als Entzug erfahren. W¨ahrend Heidegger im ,Anruf des Seyns’ (Heidegger 1989, GA 65) st¨arker den Entzugscharakter betont, spricht Levinas ¨ beim Anderen h¨aufiger vom Uberschuss.
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bei Heidegger aus verschiedenen Gr¨unden137 stark vernachl¨assigt. F¨ur Levinas sprechen im Gegenzug drei Argumente: 1. Seine eigene N¨ahe zu Husserl und seine spezifische Auslegung gewisser Husserl’scher Grundbegriffe, 2. ein thematisches Argument und 3. ein methodisches Argument. Ad 1. ,,Levinas hat die Cartesianischen Meditationen nicht nur zu einem sehr fr¨uhen Zeitpunkt u¨ bersetzt; er hat letztlich nie aufgeh¨ort, die f¨unfte Meditation [. . .] zu u¨ bersetzen und fortzuschreiben.“ (Gelhard 2005a, 38) Dies gilt auch f¨ur die Dynamisierung und Verfl¨ussigung138 von Husserl’schen Elementarbegriffen. Levinas hat sich vor allem in einigen Aufs¨atzen, die auf Deutsch in dem Band Die Spur des Anderen zu finden sind, mit Husserl auseinandergesetzt. Diese Aufs¨atze sollen u. a. als Hintergrund f¨ur den hier gew¨ahlten Zugang dienen. Dar¨uber hinaus k¨onnte man umgekehrt einen beinahe ,levinasianischen’ Zug in der Liebesethik des sp¨aten Husserl ausmachen. Gerade Levinas legt großen Wert auf die Bestimmung der Philosophie als ,Weisheit der Liebe’ (Levinas 1995, 132 f., JdS 77, 351, 353). Indem sie das ,tiefste Zentrum der Person’ als Liebe begreifen, sind sich Husserl und Levinas n¨aher als Heidegger. Auch dass die Person bei Husserl im Antworten auf einen ethischen Ruf individualisiert wird, erm¨oglicht einen Br¨uckenschlag zur ethisch radikalisierten Auffassung bei Levinas. Der Versuch dieses Abschnitts besteht darin, Levinas und Husserl einander so anzun¨ahern, dass das Gesamtproblem von Rechtfertigung 137
Ein Grund mag darin liegen, dass Heidegger die Rechtsfrage ganz im Sinne des ,apophantischen Logos’ versteht, den es im Seinsdenken zu u¨ bersteigen gilt. Freilich u¨ bersetzt Heidegger sowohl im ,,Spruch des Anaximander“ (Heidegger 1950, 296 ff., 325 ff.) als auch in der Umdeutung des ,Lehrgedichtes’ des Parmenides und der Fragmente des Heraklit (Heidegger 1953, 126 ff.) das griechische Wort dike mit ,Fug’ und gibt ihm dadurch eine besondere Bedeutung im Rahmen seines Seinsdenkens: ,,Das Seiende er¨offnet sich nur, indem der Fug [dike] des Seins gewahrt und bewahrt wird. Das Sein ist als dike der Schl¨ussel zum Seienden in seinem Gef¨uge.“ (Heidegger 1953, 127) Allerdings wird die Bestimmung dessen, was das ,Rechtliche’ an einem rechtlichen Denken sein soll, dadurch nicht leichter; ebenso wenig wie die Bestimmung des konkreten ,Was soll ich tun?’ durch den ,,Brief u¨ ber den Humanismus“ (Heidegger 1978, 313-364) erleichtert wird. 138 Ruud Welten bezeichnet Levinas in seinem Aufsatz ,,Wer hat Angst vor der Totalit¨at?“ als einen ,,Philosophen der Fl¨ussigkeit (fluidity)“ (Welten 2005, 186) und argumentiert, dass Levinas die fixierten Begriffe der westlichen Metaphysik (besonders das Geschichtsdenken) begrifflich verfl¨ussigt und dynamisiert.
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und ethischer Erfahrung als ein ph¨anomenologisches und gleichzeitig als ein die ph¨anomenale Struktur durchbrechendes Problem in den Blick kommt. Folgendes Zitat soll die Durchbr¨uche Husserls noch einmal konzentriert zusammenfassen: ,,Jedes urspr¨ungliche absolute Sollen hat ein Irrationales. Muss das nicht scharf betont werden? Aber wird nicht jeder Mensch f¨ur jeden Thema absoluten Sollens? Also grundunterschieden als Wert von jedem außer-personalen Wert? Ich kann nicht allen zugleich mich widmen, da scheidet die praktische Unm¨oglichkeit.“ (Husserl, Ms. A V 21, 119b)
Die Grundthemen, die mit Levinas hier wieder anders aufgegriffen werden sollen, sind also folgende: die Frage nach dem Irrationalen des ,absoluten Sollens’, sein Absolutheitsanspruch vor jeder Rechtfertigung; der Mensch schlechthin als das Thema absoluten Sollens; ein ,Thema’, das auch u¨ ber die ,personalen Werte’ hinausgeht und insofern in seiner absoluten Forderung u¨ ber die ichzentrierte ,Eigentlichkeit’ hinaus; schließlich das Grundproblem der verantwortlichen Entscheidung, in der das vielschichtige Sollen in einem konkreten Urteilen und Handeln kulminiert. Ad 2. Thematisch bietet sich Levinas deshalb an, weil er den Grundbedingungen des ethischen Betroffenseins auf der Spur ist. Es ist bekannt, dass dies bei Levinas ein Getroffensein durch den Anderen ist, wobei noch zu thematisieren sein wird, inwiefern es sich um ,das Andere’ schlechthin und erst in weiterer Folge um den anderen Menschen (autrui)139 handelt. Levinas bietet eine Analyse des ,Ph¨anomens’ der Alterit¨at, die den 139
Pascal Delhom verwendet in seiner Studie Der Dritte durchg¨angig das franz¨osische ¨ Wort ,autrui’ statt der deutschen Ubersetzung der/die Andere und begr¨undet dies folgendermaßen: ,,Das franz¨osische Wort ,autrui’ wird gew¨ohnlich in moralischen und belehrenden S¨atzen angewendet. [. . .] ,Autrui’ unterscheidet sich von ,dem Anderen’ in mehreren wesentlichen Aspekten. Erstens handelt es sich bei autrui immer um eine ¨ menschliche Person. Der Andere kann auch Gott, ein Ubervater oder irgendeine fremde Entit¨at sein. Levinas, f¨ur den autruibis Totalit¨at und Unendlichkeit der absolute Andere war, unterscheidet sp¨ater zwischen autrui und dem Anderen, der kein Mensch ist, sondern das Gute, Gott oder die Illeit¨at. Autrui ist ein Mensch.“ (Delhom 2000, 78 f.) Diese verbale Differenzierung mag stimmen, dennoch muss darauf geachtet werden, dass sich der Begriff des ,Menschen’ nicht vor den der ,Alterit¨at’ schiebt. Denn folglich w¨are innerhalb einer dem Wissen zur Verf¨ugung stehenden Kategorie (,Mensch’) mit dem Aufbrechen der Alterit¨at zu rechnen – genau damit kann aber nicht ,gerechnet’ werden. ,Mensch’ muss daher stets ein nachtr¨aglicher Begriff sein. Vgl. Zeillinger 2006b und S. 217.
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herk¨ommlichen Ph¨anomenbegriff sprengt und dem klassischen Evidenzkonzept das Konzept der Verantwortung entgegenstellt. Auf der Ebene der Passivit¨at diesem Ph¨anomen des Ethischen und der Erfahrung des Anderen nachzugehen, soll das ,Antworten’ auf einen ,Anspruch’ noch einmal neu beleuchten. Dadurch wird es auch m¨oglich, anders nach dem Angesprochen-Sein zu fragen, welches nun st¨arker den Charakter der ,Sprache’ hat. Ein wichtiger Grund, Levinas ins Spiel zu bringen, ist schließlich auch, dass er einen konkreten Entwurf zu einer anderen Genesis der rechtlichen Intentionalit¨at liefert. Mit diesem anderen Entwurf einer Vernunftgenesis soll sich die genetische Rechtsfrage zur Frage nach der Herkunft des rechtlichen Denkens aus einer vorg¨angigen Verantwortung vertiefen. Ad 3. Ein methodischer Grund f¨ur diesen Perspektivenwechsel ist folgender: Wir bewegen uns mit dieser Arbeit konstant an einer Schwelle, an der die ,Spontaneit¨at’ mit Strukturen einsetzt, die nicht unmittelbar oder mittelbar aus der Rezeptivit¨at ableitbar, begr¨undbar oder gar legitimierbar sind – allein schon deshalb, weil die Struktur der Begr¨undung und der Legitimierung erst in dieser Bewegung u¨ berhaupt konstituiert wird bzw. Sinn gewinnt. Es handelt sich also um einen vorpr¨adikativen Bereich, der korrekterweise nicht mit Figuren der Legitimierung bearbeitet werden kann, wenn untersucht werden soll, was er mit den Bedingungen der M¨oglichkeit von Legitimation u¨ berhaupt zu tun haben k¨onnte. Es ist f¨ur eine philosophische Argumentation sehr schwierig, u¨ ber diese ,Sph¨are’ u¨ berhaupt zu sprechen – der Begriff der Schwelle soll daher dazu dienen, den Ort des Umschlags f¨ur das Denken zu markieren und ihn als Schwelle zu bedenken. Bisher haben wir mit Husserls Methode der ,genetischen Ph¨anomenologie’ gearbeitet, die der Vorgangsweise in den Werken Formale und transzendentale Logik, Analysen zur passiven Synthesis und vor allem Erfahrung und Urteil entspricht. Mit dieser Methode gelangt man u¨ ber die vorpr¨adikative Sph¨are an diese Schwelle, die ich versucht habe als ,An-spruch’ oder ,Angesprochen-Sein’ zu beschreiben. Die Bewegung der genetischen Ph¨anomenologie als Arch¨aologie des Aufbaus von Sinnstrukturen geht stets auf diese Schwelle zu, gelangt von ,h¨oheren Stockwerken’ (EU 233) aus zu ihr ,hinunter’ in sogenannten ,Abbauanalysen’140 . 140
Zur Analyse der genetischen Ph¨anomenologie und der Passivit¨at bei Husserl vgl. Aguirre 1970, Almeida 1972, Holenstein 1972, K¨uhn 1998, Lee 1993, Lohmar 1998, Yamaguchi 1982.
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Levinas denkt diese Schwelle vom Anderen her, von der St¨orung, mit der das Unobjektivierbare, Unidentifizierbare in die Erfahrung ,einf¨allt’. Er denkt den Sinn von Subjektivit¨at, Bewusstsein und Vernunft aus dem heraus, was jenseits dieser Schwelle liegt, ohne es integrieren oder identifizieren zu k¨onnen. Aus diesen Gr¨unden ist Levinas an diesem Punkt f¨ur unser Vorhaben ein Gespr¨achspartner, der erm¨oglichen soll, diese St¨orung der Erfahrung qua Widerfahrnis genauer in den Blick zu bringen. Das Konzept einer radikalisierten Passivit¨at sowie eines nichtintentionalen Bewusstseins l¨asst ein Angesprochen-Sein denken, das sich nicht auf die Objektivierung des Gegebenen zur¨uckziehen kann.
Eine strukturelle Levinas-Lekt¨ure Die große Doppelthematik, die ich aus dem Levinas’schen Denken herausgreifen m¨ochte, ist 1. die Erfahrung der Alterit¨at als unausweichliches und vorg¨angiges Angesprochen-Sein und 2. das Auftauchen des ,Dritten’ als dringliche Forderung nach Urteil und Gerechtigkeit (ausgef¨uhrt in den Kapiteln 1 und 2). So ,plastisch’ diese Titel auch klingen m¨ogen, so sehr verfolgt Levinas selbst damit die Strategie, daraus eine strukturelle Genesis der Subjektivit¨at und der Vernunft zu entwickeln. Mit der Figur des Dritten legt Levinas den Finger genau auf die Schwelle, an der Vernunft und Intentionalit¨at, also rechtlich-ausweisendes Denken, Bewusstsein, Sichtbarkeit etc. spontan entstehen. F¨ur ihn entspringen sie aus einer Verpflichtung zur Gerechtigkeit und im Schatten einer unendlichen Verantwortung f¨ur den Anderen. Es soll versucht werden, die beiden Themenkreise des Anderen und des Dritten im Lichte unserer Problematik kurz darzustellen und weiterzudenken. Daf¨ur gilt es zu verstehen, wie sich das (plurale) Angesprochen-Sein ereignet, das uns in die ethische Rechtfertigung n¨otigt. Aus diesem Grund wird hier verst¨arkt vom Sinnereignis die Rede sein: Die Sinnbildung ist im Angesprochen-Sein durch den Anderen keine souver¨ane Geltungskonstitution; es stellt nicht das Subjekt seine Setzungen in Frage (und produziert dadurch Rechts-Sinn), sondern
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die Gesetztheit des Subjektes selbst als Ganze steht in Frage. Aus diesem Grund kann Levinas sagen: Die Sprache des Ichs ist die der Apologie141 . Die Fragen, die aus der Analyse des Anspruchs der Alterit¨at (in Kapitel 1 und 2) folgen, betreffen erstens das m¨ogliche Sprechen, Rechtfertigen und Urteilen und zweitens den Ursprung des Rechts selbst. Kapitel 3 und 4 sollen diesen beiden Fragen Rechnung tragen. Dabei werden in Kapitel 3 Figuren des ,ereignishaften Antwortens’ bei Derrida eine Rolle spielen. Die Problematik von Urteil und Entscheidung im Rahmen einer rechtsprechenden und rechtfertigenden Vernunft wird damit im R¨uckblick auf Husserl wieder aufgegriffen. Kapitel 4 besch¨aftigt sich schließlich mit der Frage, ob sich das ,Recht’, das bisher als Zuspruch des Subjekts verstanden wurde, nicht doch beim ,Anderen’ befindet. Denn dass das Recht des Gegenstands in Hinblick auf seine rechtm¨aßige Setzung eine Leistung der rechtlichen Intentionalit¨at ist, ist ein Ergebnis der theoretischen Reflexion. Was aber bedeutet diese rechtliche Leistung im Angesicht des Anderen? Dieser Aspekt soll in Hinblick auf eine m¨ogliche Begr¨undung der Menschenrechte diskutiert werden, eine Thematik, die bei Levinas in kleineren Aufs¨atzen immer wieder auftaucht. Damit soll auch ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Diskussion von ph¨anomenologischer Seite angestrebt werden. 1. Grundz¨uge der ethischen Erfahrung als Erfahrung der Alterit¨at Die These dieses Abschnitts lautet, dass Levinas eine Genesis der Vernunft aus dem Anspruch der Alterit¨at entwickelt. Dabei wird das rechtliche Verm¨ogen als ein Antworten auf einen pluralen Anspruch verstanden. Um diesen Gedanken nachzuvollziehen, muss zuerst die ethische Erfahrung beschrieben werden, die die Subjektivit¨at mit einer vorg¨angi141
Levinas betrachtet die Apologie als die Seinsweise des Ich in der Rede. Dabei spricht dieses Ich einerseits immer schon von seinem Gl¨uck, andererseits steht es durch die Apologie wesensm¨aßig im Dialog mit dem Anderen und rechtfertigt seine Existenz vor ihm: ,,Das Ich, das spricht, pl¨adiert f¨ur das Gl¨uck, das f¨ur seinen Egoismus selbst konstitutiv ist, welche auch immer die Wandlungen seien, die dem Egoismus vom Wort widerfahren werden.“ (TU 166) ,,Eine den Gespr¨achspartnern gemeinsame Ordnung erw¨achst aus dem positiven Akt [. . .], der f¨ur den Einen darin besteht, sich vor dem Anderen f¨ur seine Freiheit zu rechtfertigen, d. h., der in der Apologie besteht. In ihrer un¨ubersteigbaren Bipolarit¨at ist die Apologie das urspr¨ungliche Ph¨anomen der Vernunft.“ (TU 367)
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gen St¨orung konfrontiert. Es muss sich dabei um ein ,Ph¨anomen’ handeln, das sich nie als Ph¨anomen zeigt, sondern dieser Vergegenst¨andlichung von sich selbst her widersteht. Levinas bezeichnet dieses ,Ph¨anomen im R¨uckzug’ als Spur. Die Spur taucht zwar in der ph¨anomenalen Welt auf, ist aber gleichzeitig Spur einer nicht erinnerbaren Alterit¨at. Sie f¨uhrt ,hinter’ die M¨oglichkeiten des Ich zur¨uck und liegt ihm auf diachrone Weise voraus. Die Erfahrung der Alterit¨at als Spur ist ethische Erfahrung, insofern sie das Ich in Frage stellt und es zur Verantwortung aufruft. Das Begehren der Alterit¨at Eine weitere Vorbetrachtung ist aber noch notwendig, um den Impetus zu kennzeichnen, durch den der Alterit¨atserfahrung u¨ berhaupt erst nachgegangen wird. Levinas sieht in der Beziehung zur Alterit¨at letztlich eine Befreiung der Subjektivit¨at. Schon in den fr¨uhen Schriften (vgl. auch Levinas 1997) wird ein Ausweg aus dem Sein142 gesucht, um der Unausweichlichkeit des Zu-Seins und Zu-sein-Habens (Heidegger 1979, 134) zu entkommen. Das reine, verbal verstandene ,Sein’, das il y a143 , wird in ¨ Ausweg aus dem Sein (Levinas 2005) lautet der Titel der deutschen Ubersetzung von De l’´evasion, das erstmals 1935 in den Recherches Philosophiques ver¨offentlicht wurde und als Grundstein des Levinas’schen Denkens gelten darf. Levinas setzt sich hier erstmals eigenst¨andig-kritisch mit der Fundamentalontologie Heideggers auseinander, indem er besonders den Lastcharakter des Daseins betont, aus dem dieses einen ,Ausweg’ zu suchen beginnt. 143 Das Levinas’sche il y a darf nicht mit dem Heidegger’schen ,Es gibt’ (Heidegger 1969, 1-26) verwechselt werden: ,,Der Ausdruck ,il y a’ bezeichnet das end- und grenzenlose Geschehen des Seins, das in jedem Erscheinen von Seiendem, in jedem Handeln des Daseins und auch in jeder m¨oglichen Spielart des Negierens immer schon am Werk ist. Das Geschehen des il y a ist – wie Husserls absolutes Bewußtsein – einer Reduktion zug¨anglich, weil es in der Vernichtung jedes denkbaren Seienden geschieht und als dieses Geschehen selbst nicht vernichtet werden kann. Entsprechend n¨ahert sich Levinas dem il y a in einem Gedankenexperiment [der Schlaflosigkeit], das ganz dem Muster von Husserls Weltvernichtung folgt.“ (Gelhard 2005b, 33) Dazu Levinas: ,,Das es gibt [il y ¨ oder die Nachbildung des deutschen Ausdrucks und a] war niemals die Ubersetzung ¨ dessen, was in ihm an Uberfluß und Großmut mitschwingt. Das es gibt, das wir in der Gefangenschaft beschrieben und in diesem nach der Befreiung erschienenen Werk vorgestellt haben, geht zur¨uck auf eine jener befremdlichen Obsessionen, die man aus der Kindheit bewahrt und die in der Schlaflosigkeit, wenn die Stille t¨ont und die Leere erf¨ullt bleibt, wiederauftauchen.“ (Levinas 1997, 12) 142
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den paradigmatischen Erfahrungen der Schlaflosigkeit oder des Ekels als Unm¨oglichkeit des R¨uckzugs und demnach in seinem unausweichlichen Lastcharakter beschrieben (Levinas 1995, 23). Hier entsteht eine Bewegung des R¨uckzugs, eines versuchten ,Auswegs aus dem Sein’, den die Subjektivit¨at in einer Selbstsetzung der Innerlichkeit bzw. einer Selbstsetzung eines ,Seienden’ im ,Sein’ (Levinas nennt dies Hypostase (Levinas 1989, 28) oder Psychismus (TU 68 ff.)) zu erreichen versucht. Damit ist aber kein endg¨ultiger Ausweg erreicht, insofern nun jegliches Erfahren und Sein an ein ,Ich’ und ein ,Sich’ gebunden ist, von dem es kein Loskommen gibt. Auch dieses Ichsein wird noch als Last erfahren, weshalb das Begehren nach einer Befreiung des Ich von sich selbst strebt, um die ,ewige R¨uckkehr’ des Selbstbezugs zu sprengen. Die ´evasion, der ,Ausweg’ aus dem Sein wird in Totalit¨at und Unendlichkeit daher zur nicht teleologisch zu verstehenden Bewegung des Begehrens (d´esir) als ,,metaphysisches Begehren“ (TU 35). Dies ist ein Begehren (nach) der Alterit¨at, das nicht gestillt werden kann (insofern k¨onnte man den Terminus im Deutschen auch mit ,Sehnsucht’ u¨ bersetzen). ,,Das metaphysische Begehren trachtet nicht nach R¨uckkehr; denn es ist Begehren eines Landes, in dem wir nicht geboren sind. [. . .] Es ist Begehren, das man nicht zu befriedigen verm¨ochte.“ (TU 36) Mit dem Begehren der Befreiung des Ich von sich ist eine Bewegung angesprochen, die weder den Gegenstand noch sich selbst im Unendlichen oder im Absoluten einholen m¨ochte. Vielmehr strebt dieses Begeh¨ ren nach einer immer gr¨oßeren ,Entleerung’ oder ,Offnung’ des Selbst, insofern es nur noch reiner Bezug zum Unendlichen sein soll. Das Begehren ist entscheidend daf¨ur, dass der Alterit¨atserfahrung als Alterit¨atserfahrung nachgegangen wird. F¨ur dieses Nachgehen erweisen sich sowohl die dialektische als auch die teleologische Methode als ungeeignet, da sie die R¨uckkehr zu einem Selbst implizieren. Die Alterit¨at w¨are dadurch zu einem Wissen des Selbst assimiliert, auch wenn dieses erst in der Unendlichkeit erreichbar w¨are. Der Erfahrung der St¨orung nachzugehen, und sie nicht assimilieren, integrieren oder nivellieren zu wollen, n¨otigt hingegen dazu, u¨ berhaupt von Alterit¨at zu sprechen (ansonsten w¨are diese St¨orung ein bloßes Vorkommnis in der Erfahrung, das restlos erkl¨art werden k¨onnte). Levinas zeigt deutlich, dass die einzige M¨oglichkeit, von der Alterit¨at als Alterit¨at zu sprechen, ethisch ist. Denn die Ethik bedeutet keinerlei wissende R¨uckkehr zu sich selbst, sondern ein Auf-
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gehen in der Verantwortung f¨ur den Anderen – ein Losgel¨ost-Sein vom Sein.144 Grundz¨uge der ethischen Erfahrung bei Levinas Levinas geht es stets darum, das ethische Ereignis zu beschreiben – wobei pr¨azisiert werden muss, dass das ,Beschreiben’ hier kein einfacher Konstativ sein kann, sondern eine eigene Weise des Sprechens von der Alterit¨at (die Alterit¨at kann nicht konstatiert werden, sonst w¨are sie keine mehr, weil wir von ihr w¨ussten). Dieses Sprechen hebt an bei der Erfah¨ rung eines Entzugs und eines affektiven Uberschusses als Getroffenheit gleichzeitig. Der/die/das Andere kann nicht als zu vergegenst¨andlichendes Ph¨anomen (Ph¨anomen als Ph¨anomen) erscheinen, sondern muss sich stets seiner Ph¨anomenalit¨at entziehen, um von sich selbst her zu bedeuten und sich zu sagen (Ph¨anomen als Spur der Alterit¨at). Die Pr¨asenz des Anderen w¨are insofern eine Absenz, die Alterit¨at – soll sie wirkliche Alterit¨at sein – kann sich nicht als Ph¨anomen sichern, nicht vereinnahmen und von allen Seiten beschauen lassen. Deshalb zeigt sie sich auch nur als Spur145 ; sie hinterl¨asst nur eine Spur, die nichts anzeigen oder bedeuten wollte, sondern nur insofern Anzeige ist, als sie schon wieder den R¨uckzug des Angezeigten best¨atigt in ein Vergangenes, Vor¨uberge¨ gangenes. Dies bedeutet ein Erfahren von uneinholbarem Uberschuss und damit gleichzeitig auch von Entzug. Das Sich-nicht-Zeigen bleibt eine bloße Spur von ,etwas Anderem’ im Bewusstsein: unerinnerbar, nicht r¨uckverfolgbar, vor-vergangen – eine St¨orung des g¨angigen Ablaufs und Verlaufs von Erfahrung. Das ,Nicht-Ph¨anomen’ der Alterit¨at kann 144
Insofern das Begehren der Alterit¨atserfahrung nachgeht, entdeckt es dieses Nachgehen als kontingent und gleichzeitig als Aufruf. Das Aufblitzen der Alterit¨at im Gesicht des Anderen zeigt daher einerseits seine Nacktheit und Verletzlichkeit, andererseits seine Erhabenheit (TU 103). 145 Der Spurbegriff bei Levinas steht f¨ur die ganze Diachronie und Unendlichkeit des Anderen. Er deutet das Nicht-Ph¨anomen schlechthin an, das Ph¨anomen, das sich immer schon zur¨uckgezogen hat, die ,origin¨are Unzug¨anglichkeit’. ,,Immer flieht es [das Unendliche]. Aber es l¨aßt die Leere zur¨uck, eine Nacht, eine Spur, in der seine sichtbare Unsichtbarkeit Antlitz des N¨achsten ist. So ist der N¨achste kein Ph¨anomen, und seine Gegenwart geht nicht auf im Gegenw¨artigen und Erscheinen. Diese Gegenwart empf¨angt ihre Ordnung von der Abwesenheit, in der das Unendliche sich n¨ahert; von ihrem Un-Ort. Sie hat ihre Ordnung in der Spur ihres eigenen Fortgangs.“ (SpA 284)
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sich zudem nicht in Evidenz u¨ berf¨uhren lassen, tendiert auch nicht darauf hin – vielmehr handelt es sich um einen konstanten R¨uckzug des Erscheinens. Das K¨onnen des Subjekts verwandelt sich an diesem Punkt der Unzug¨anglichkeit in ein Nicht-K¨onnen – seine intentionalen Akte be-greifen das Ph¨anomen nicht in spontaner Sinnbildung. Die Alterit¨at bleibt als Alterit¨at in der ph¨anomenalen Logik unbestimmt und muss als ¨ der gleichzeiErfahrung ertragen werden. Hier liegt auch der Uberschuss, tig mit dem Entzug auftritt: Die ,,bodenlose Passivit¨at“ (JdS 356), in der der Andere immer schon ,vor’ einem Sich da ist, vollzieht sich als ein Tragen und Ertragen des Anderen, das nicht in Begriffe u¨ bergef¨uhrt werden kann. Was an dieser Stelle nicht diskutiert werden kann, ist die Schwierigkeit dieses scheinbar ontologischen ,Vorranges’ des Anderen. Ph¨anomenologisch ist die Erfahrung der Alterit¨at nur im Vollzug bzw. in einer Vollzugsidentit¨at auszumachen: Das Erscheinen, besser: der Einbruch der Alterit¨at ereignet sich als mein Gest¨ort-Werden. Oder: Das AngesprochenSein ereignet sich als mein Antworten bzw. als meine Verantwortung. Die Frage, ob das getroffene Sich bzw. das Selbstaffiziert-Sein oder die Alterit¨at ,zuerst’ waren, stellt sich in dieser Identit¨at des Geschehens nicht. Der Vorrang, von dem Levinas aber spricht, ist einer, der in dieser Vollzugsidentit¨at aufbricht, insofern ich mich eben als angesprochen und als antwortend erfahre. Dieser Vorrang ist im theoretischen Blick auf die Erfahrung zumindest nicht zu entscheiden; aber er wird erlebt im Angerufen-Sein. Die Ethik bekommt damit einen Vorrang, sie wird ,Erste Philosophie’. Levinas, so k¨onnte man sagen, ist dezidiert auf der Suche nach einer ethischen Erfahrung. In dieser Suche ist von Anfang an klar, dass es keine Erfahrung geben kann, die eine Alterit¨at ,beweisen’ oder ,aufweisen’ k¨onnte. Die Alterit¨at muss ein ,Begriff ’ bleiben, der keinen ,Grund’ und keine ,Anschauung’ hat, sondern der nur ex negativo dadurch gekennzeichnet werden kann, dass er nicht gewusst werden kann, d. h. nicht Begriff sein kann, sondern nur begegnend bzw. verantwortlich u¨ bernommen werden kann. Die ph¨anomenologische Aufgabe ist einerseits, ¨ zu die notwendige Struktur einer Entzugs- oder Uberschusserfahrung beschreiben, und andererseits, in der Struktur der Subjektivit¨at selbst aufzuzeigen, dass hier eine N¨otigung besteht, von der Alterit¨at zu spre-
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¨ chen. Dies markiert innerhalb von Levinas’ Werk vor allem den Ubergang von Totalit¨at und Unendlichkeit zu Jenseits des Seins (Bernasconi 2001, 35 ff., Zeillinger 2006b): Alterit¨at wird zuerst noch als Exteriorit¨at gefasst, das Begehren bleibt unbegr¨undet. In Jenseits des Seins zeigt sich, dass das Begehren nichts anderes als eine vorg¨angige ,Besessenheit’146 der Subjektivit¨at durch die Alterit¨at ist. Die Subjektivit¨at selbst, nicht nur ,ihre Erfahrung’, ist schon durchbrochen von einer vorg¨angigen, uneinholbaren Alterit¨at.147 Denken der Alterit¨at – Sprechen von der Alterit¨at Diese Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen spiegelt sich im Denken des Anderen wider, das ein Denken des Unendlichen ist.148 Von mir – und hier steht Levinas in strenger ph¨anomenologischer Reduktion – zum ,,Im Selben vereinigt, zu Erfahrung versammelt [. . .], hat die N¨ahe ihre außerordentliche Zweideutigkeit schon verf¨alscht, die Zweideutigkeit eines durch die Differenz zwischen den Mitgliedern gebrochenen Zusammenhalts, in dem gleichwohl die Differenz Nicht-Indifferenz ist und der Bruch – Besessenheit.“ (JdS 187) ,Besessenheit’, fortan als Terminus in Jenseits des Seins etabliert, bezeichnet genau diese Differenz, die immer schon vor einer Selbstergreifung waltet und dieses Selbst immer schon durchbrochen hat bzw. ,belagert’: Denn es gibt eine affektive Dimension, in der das nachtr¨agliche Selbst von der Alterit¨at ber¨uhrt wird. ,,Das Subjekt wird affiziert, ohne daß die Quelle der Affektion zum Gegenstand der Vorstellung w¨urde. Diese auf das Bewußtsein irreduzible Beziehung haben wir als Besessenheit bezeichnet: Beziehung zu einer Exteriorit¨at, die ,fr¨uher’ ist als der Akt, der sie er¨offnen k¨onnte, Beziehung, die gerade nicht Akt, nicht Thematisierung ist, nicht Setzung im Fichteschen Sinne. Nicht alles, was im Bewußtsein ist, ist demnach durch das Bewußtsein gesetzt, was jenem Satz widerspricht, den Fichte f¨ur grundlegend hielt.“ (JdS 223) Vgl. auch JdS 187 ff., 223 ff. 147 ,,In dieser ,diastatischen’ Struktur der Subjektivit¨at, die st¨andig ,zu sich selbst in R¨uckstand ist’, liegt der Kern aller Analysen von Jenseits des Seins. Das ,im’ in der Formel ,der-Andere-im-Selben’ besagt nicht, dass sich der Andere ,in’ meinem Bewusstsein konstituiert, sondern dass sein Anspruch mich in einer Vorzeitigkeit trifft, die niemals Gegenwart war, und dass er folglich erst ,in meiner Antwort’ vernehmbar wird. Der Anspruch, auf den ich antworte, kann in meiner Antwort aber nicht in gleicher Weise ,gegenw¨artig’ sein, wie ein Thema, u¨ ber das ich spreche.“ (Gelhard 2005a, 92) Der vorg¨angige Anspruch des Anderen trifft mich wie ein Schlag, der mir in einer Anonymit¨at widerf¨ahrt – Levinas spricht daher auch vom ,Trauma’. 148 Levinas bezieht sich hier auf Descartes’ Meditationes de prima philosophia und dessen Gedanken in der dritten Meditation, dass die Idee des Unendlichen in uns hineingelegt ist (Descartes 1992, 83 ff.). 146
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Anderen f¨uhrt kein reziproker Weg, sondern den Anderen als Anderen (und nicht als Selben) zu denken braucht eine Subjektivit¨at als Quellpunkt und somit eine nicht reziproke, asymmetrische Beziehung. Die Differenz zwischen mir und der Alterit¨at ist keine Relation, aus der sich ein Maß ableitet. Das Andere/den Anderen zu denken, kann nur von einer, der einen Seite beginnen. Dieses Verh¨altnis verweigert die Korrelation oder: Es wird eine ,Korrelation’ mit der Unendlichkeit. Keine Schau gew¨ahrt mehr die Durchdringbarkeit des Erfahrenen; vielmehr dreht sich das Verh¨altnis um: Die Erfahrung wird zur Ausgesetztheit, da sie Aneignung unm¨oglich macht. Die Erfahrung der Alterit¨at transformiert die Position des Selbst: ,,Infragestellung des Bewußtseins, nicht Bewußtsein der Infragestellung“ (SpA 135). Insofern Levinas darauf besteht, dass dieser Erfahrung keine Schau mehr zur Verf¨ugung steht, kann seine Philosophie auch als eine Philosophie der Unanschaulichkeit (Gelhard 2005a, 52) bezeichnet werden. Neben der Umkehrung des teleologischen Begehrens findet sich also auch eine radikale Umkehrung des Evidenzbegriffs: Im Vergleich zur vergegenst¨andlichenden Erfahrung tritt der Andere ein, d. h., er sagt sich, indem er sich f¨ur das Subjekt verbirgt, entzieht. Dieses Eintreten steht im Gegensatz zum Verlauf und Ablauf der Erfahrung, in der etwas erscheint, sichtbar wird, mit Sinn durchdringbar und in Evidenz konstituierbar wird: das sich selbst gebende Ph¨anomen, in einem ebenfalls sich selbst gebenden Horizont des Hintergrundes und letztlich der Welt, verwoben in komplexe Sinn- und Konstitutionszusammenh¨ange. Der/die/das Andere sagt sich gerade darin, dass es sich nicht selbst gibt, dass es ¨ sich entzieht. Oder: Seine Selbstgebung ist Entzug und Uberschuss gleichzeitig. ¨ Mit der Figur des Entzugs bzw. des Uberschusses, der in keiner anschaulichen F¨ulle mehr einzuholen ist, ist ein ebenso allgemein fungierendes und strukturierendes Paradigma erreicht wie mit dem Husserl’schen Evidenzbegriff. Dies wird f¨ur die weitere Frage nach der Rechtspr¨adikation und Rechtfertigung noch wichtig sein. Denn der Rechtsgrund, der im Theoretischen in der F¨ulle der Evidenz konstituiert wurde, kann sich im Antworten auf den ethischen Anspruch nicht mehr in dieser F¨ulle ersch¨opfen.
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Was Levinas an der Stelle der ,F¨ulle’ oder des ,Grundes’ (der/die/das Andere ist An-archie149 , also Un-Grund) entwickelt, ist ein spezifischer Begriff von ,Sprache’, der in Totalit¨at und Unendlichkeit noch als eine Beziehung zwischen Getrennten charakterisiert ist, sich aber in Jenseits des Seins zum Verh¨altnis von ,Sagen’ und ,Gesagtem’ vertieft. W¨ahrend das ¨ Gesagte stets ein gewisser Gehalt einer Außerung ist, ist das Sagen nicht bloßes Korrelat des Gesagten, sondern geht dar¨uber hinaus: Es ist ein vorg¨angiges Sich-Aussetzen, das die Subjektivit¨at selbst ist; ein Betroffensein und Offensein vor jeder R¨uckkehr zu sich selbst (JdS 92 ff., 110 ff.). Der Anspruch der Alterit¨at sowie meine Antwort sind in diesem Sinne also Sprache – und kein Akt der souver¨anen Setzung eines Gegenstandes durch ein Subjekt. Diese besondere Gegebenheitsweise fordert ein anderes rechtliches Denken. Denn auch eine Antwort ist keine (rechtm¨aßige) Setzung. Der zentrale Begriff der Verantwortung bei Levinas ist genau von diesem Antworten (r´epondre) her zu verstehen. Da mich der Andere trifft, bevor ich antworten kann, bin ich schon f¨ur ihn verantwortlich, indem ich antworte (Gelhard 2005a, 98). Damit ist die Verantwortung eine Grundstruktur der Subjektivit¨at selbst in einer unabweisbaren Ausgesetztheit an den/die/das Andere(n). Verantwortung ist nicht mehr an das Verursacherprinzip zur¨uckgebunden, sie ist keine bloße Option eines souver¨an entscheidenden Ich, das diese Verantwortung annehmen oder ablehnen kann. Im Gegenteil, die Subjektivit¨at wird durch sich selbst, durch ihr Innerstes zur Verantwortung gezogen und ist diese Verantwortung, bevor sie noch ,Ich’ ist. Daher kann diese Verantwortung auch nicht abgegolten werden, sie ,,w¨achst in dem Maße, in dem sie u¨ bernommen wird“ (JdS 44). 149
Der Begriff der An-archie h¨angt wesentlich mit dem der Besessenheit zusammen: ,,[S]ie [die Besessenheit] durchquert gegenl¨aufig das Bewußtsein und schreibt sich ihm als fremd ein: als Ungleichgewicht, als Wahn, als etwas, das die Thematisierung aufl¨ost, das sich dem Prinzip, dem Ursprung, dem Willen, der arch´e entzieht [. . .]. Im urspr¨unglichen Sinne des Begriffs an-archische Bewegung.“ (JdS 224) Die An-archie (der Ungrund, die Privation eines Grundes) bezeichnet die Verfasstheit des Subjektivit¨at, die vom Anderen durchdrungen ist, bevor sie sie selbst ist: Der Andere bestimmt das Selbe fr¨uher, als sich dieses bewusst wahrzunehmen vermag, und ,st¨ort’ dadurch in einer an-archischen Weise den Selbstbezug des Subjekts. Vgl. auch JdS 222 ff., 325 f.
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Der andere Mensch (autrui) als nachtr¨aglicher Begriff Nachtr¨aglich gilt es noch zu benennen, woran sich die Alterit¨at wie zeigt. (Bewusst wurde bisher immer uneindeutig von ,der/die/das Andere’ gesprochen bzw. noch allgemeiner von Alterit¨at u¨ berhaupt.) Denn Totalit¨at und Unendlichkeit scheint in seiner Rede vom ,Gesicht’ oder ,Antlitz’150 nahezulegen, dass es sich um konkrete Gesichter konkreter anderer Menschen und ausschließlich um Menschen handelt. Dies allerdings w¨urde die Bestimmung einer Gattung voraussetzen, der wesensm¨aßig das ,Aufblitzen’ der Alterit¨at anhinge – und genau dies w¨are eine unangemessene Weise, von der Alterit¨at zu sprechen, weil ich dann schon w¨usste, was sie w¨are und wo genau sie auftr¨ate. Wenn aber etwas im Wesen der Alterit¨at liegt, dann ist es dies, dass sie mich jederzeit u¨ berall unerwartet treffen kann. Konsequenterweise muss die Rede vom anderen Menschen als dem Anderen (autrui) eine nachtr¨agliche sein (Zeillinger 2006b). Das bedeutet: Die radikale Alterit¨at, von der hier im Ausgang einer Erfahrung gesprochen werden soll, kann nicht auf eine ,regionale Ontologie’ z. B. ,Mensch’ beschr¨ankt werden, sondern muss eben ein Grundbegriff des Erfahrens selbst werden, der jedem eindeutigen Bestimmen vorangeht und es stets st¨oren kann.151 150
,,Die Unanschaulichkeit von Levinas’ Philosophie erreicht in diesem Begriff des Gesichtes ihren Gipfelpunkt. Nirgendwo sonst zeigt sich so deutlich, dass die Analyse konkreter Situationen der Existenz ihre Angemessenheit nicht dadurch unter Beweis stellt, dass sie unser intuitives Vorverst¨andnis dieser Situation best¨atigt. Denn das Gesicht ist so unaufl¨oslich mit der Vorstellung bestimmter Gesichtsz¨uge verbunden, dass es als Gewaltakt erscheinen muss, es von dieser Vorstellung zu l¨osen. Ebendas verlangt aber Levinas. Das Gesicht in dem von ihm eingef¨uhrten emphatischen Sinne ,durchst¨oßt die Form, von der es gleichwohl eingegrenzt wird’; es o¨ ffnet ,in der sinnlichen Erscheinung’ eine ,neue Dimension’. Das Gesicht – darauf laufen auch in Totalit¨at und Unendlichkeit alle Bestimmungen des Begriffs hinaus – ,spricht’.“ (Gelhard 2005a, 52 f.) 151 Nat¨urlich ist dieser Ansatz – so konsequent und korrekt er auch gedacht sein mag – keineswegs ganz unproblematisch. Denn bei Levinas h¨alt sich der andere Mensch stets auf ungekl¨arte Weise in dieser Spur einer anonymen Andersheit auf, sei es die Anonymit¨at des Todes, der Liebe, Gottes, der ,Illeit¨at’ – womit ein Gipfelpunkt an Abstraktheit erreicht ist. Es sei auf jeden Fall darauf aufmerksam gemacht, dass die Levinas’sche Alterit¨atsphilosophie von ihrem Ansatz her viel weniger ,menschzentriert’ ist, als ihr das u¨ blicherweise vorgeworfen wird. Vgl. Llewelyn 1991, Calarco/Atterton 2004.
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Radikalisierung Husserl’scher Grundgedanken Levinas hat seine Analysen nicht unwesentlich auf einer Radikalisierung Husserl’scher Grundgedanken aufgebaut; sowohl die Beschreibung der ethischen Erfahrung als auch die Aufweisung der Struktur einer Subjektivit¨at, die vom Anderen immer schon eingeholt ist.152 Abschließend sollen diese Wurzeln im Husserl’schen Denken kurz skizziert werden: Die Ph¨anomenologie Husserls, so Levinas, habe nicht nur mit ihrer Analyse der Passivit¨at und der Leiblichkeit den Weg zu dieser Auffassung gewiesen, sondern auch mit dem Konzept der Intentionalit¨at schlechthin, die immer mehr denkt, als sie denkt (SpA 137). Das bedeutet: Durch beide Bewegungen von passiver (leiblicher) und aktiver (intentionaler) Sinnbildung hat Husserl das klassische Konzept der ,Vorstellung’ verfl¨ussigt zugunsten eines lebendigen ,,Spiels der Intentionalit¨at“ (SpA 135), welches das feste Objekt immer schon als nachtr¨agliche Konstruktion, als Resultat entlarvt. Levinas sieht in den Husserl’schen Themenkomplexen der Empfindung und der Leiblichkeit sowie der Intentionalit¨at ,,eine Befreiung des Subjekts von seiner Subjektversteinerung, einen Gang, eine Freiheit, die die Struktur niederreißt“ (SpA 184). Er arbeitet bewusst die Elemente heraus, die den Identifikationsleistungen vorangehen, und bereitet damit den R¨uckgang auf eine Urstruktur der Subjektivit¨at vor, in der Alterit¨at als passive Sinnbildung, als Sinnereignis erfahren wird. Auf aktiver Ebene charakterisiert Levinas – wie bereits erw¨ahnt – diese Beziehung als das ,Begehren’ im Unterschied zum ,Bed¨urfnis’. Dieses ¨ ,Begehren’, also die Uberschreitung zur Transzendenz hin, sieht Levinas in der Intentionalit¨at schon angelegt. Alles in der Struktur der Subjektivit¨at verweise schon auf die Beziehung zur Transzendenz. Auf der anderen Seite ist der tats¨achliche Einfall des Anderen in das Bewusstsein ein Ereignis, das ,,¨uber jedes Maß hinausgeht und das Prinzip der Intentionalit¨at sprengt“ (Gelhard 2005a, 45). Die Erfahrung des Anderen ist nach Levinas nicht-intentional: Sie l¨auft auf keine Gegenstandskonstitution hinaus und kann ihr Gegebenes nicht objektivieren. In dieser Hinsicht wirft Levinas Husserl vor, er verwechsle ,,die Objektkonstitution mit der Beziehung zum Anderen“ (TU 90). 152
Zur Analyse der Levinas’schen Kritik am Husserl’schen Zeitbegriff und einer Reinterpretation der Urimpression vgl. Bernet 2002, 91 f. Zur Analyse der Fremderfahrung bei Husserl und Levinas vgl. Dodd 2009.
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Auf passiver Ebene begreift Levinas den Leib als Organ der Transzendenz schlechthin und charakterisiert dadurch das Bewusstsein als ,kin¨asthetische Transitivit¨at’ (SpA 149 ff.). Levinas bezieht sich hier auf einige Grundbegriffe der genetischen Ph¨anomenologie Husserls und transformiert sie im Sinne seiner Radikalisierung der Erfahrung des Anderen. Passivit¨at bei Levinas heißt daher: grunds¨atzliches Durchdrungen-Sein vom Nicht-Ich. Er arbeitet anhand von Husserls Analysen zur Sinnlichkeit und zu den Kin¨asthesen die Situationsbezogenheit (Situativit¨at) und Unantizipierbarkeit der Horizonte heraus, in denen das Bewusstsein mit Urimpressionen u¨ berflutet wird, die etwas anderes sind als es selbst, aber durch es erlebt. Die Urimpression wird so zum Zentralbegriff f¨ur das unantizipierbare, uneinholbare, zeitlich einzigartige Andere, das in der Rezeptivit¨at das Selbe durchdringt (SpA 173). Sie ist genesis spontanea, erf¨ullt ohne Vorzeichnung der Erf¨ullung und u¨ ber alle Voraussicht hinaus; ist daher ganz Passivit¨at, Rezeptivit¨at eines Anderen. Die Disposition des Leibes, in seinen Selbstbewegungen (Kin¨asthesen) die Urimpressionen passiv zu empfangen und damit rezeptiv auf das Andere hinzutranszendieren, nennt Levinas Transitivit¨at. Das Erlebnis ereignet sich demnach als das erlebte Andere, bzw. das Ereignis der Transzendenz ist als Erlebnis. Auch der Begriff der ,Weckung’, der bei Husserl den Umschlag von Passivit¨at in (meist vorpr¨adikative) Ichaktivit¨at durch eine starke affektive Kraft (z. B. das Aufleuchten in einer Lichterkette und die darauf folgende Aufmerksamkeit darauf ) bezeichnet, wird bei Levinas mit anderer Betonung gelesen: Die affektive Kraft ist das Andere des Selben und nur dadurch kann es dieses ,wecken’. Levinas interpretiert zugegebenermaßen die akribisch ausgearbeiteten Feinheiten der Husserl’schen Ph¨anomenologie unter dem im Vergleich etwas groben Raster von Selbstheit und Alterit¨at. Dennoch wird er vor allem im Bereich der Passivit¨at mit dieser Methode sehr f¨undig und gewinnt den Husserl’schen Begriffen in ihrer Transformation eine neue Perspektive ab. Die Interpretation der Unmittelbarkeit des Sinnlichen als ,N¨ahe’ stellt hierf¨ur ein weiteres Beispiel dar: Dieses Sinnliche zu denken, stellt stets einen Verzug dar, weshalb Levinas sagen kann: Die Bedeutung der N¨ahe erlischt im Erfassen. Levinas ist dem Vor-zustand auf der Spur, der noch nicht integriert, identifiziert, objektiviert hat; er erblickt darin den Urzustand einer Subjektivit¨at in ihrem affektiv-leiblichen AngesprochenSein, dem sie nicht entkommen kann: Sie ist von der Affektivit¨at ganz in Besitz genommen, besessen. Das aktive Bewusstsein als spontanes
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Verm¨ogen der Distanzierung und Identifizierung hat diese N¨ahe schon intentional durchdrungen und damit u¨ berwunden: ,,In allen seinen Formen – als vorstellendes, wertendes, praktisches – hat das Bewußtsein schon diese nahe Gegenwart verloren.“ (SpA 282) Die nicht-intentionale Beziehung der N¨ahe oder der Besessenheit wird also immer erst mit Versp¨atung eingeholt. Die Levinas’sche These ist, dass durch die affektive Dimension des Einfalls oder Eintretens des Anderen das Subjekt in seinem Kern und an seinem Anfang schon in Frage gestellt wird – dies geht so weit, dass sogar das ,Sich’, der passivste Ort der Identit¨at, in seiner Urspr¨unglichkeit durch die An-archie (Nicht-Urspr¨unglichkeit des Anderen) unterlaufen wird. Levinas kn¨upft, wie wir hier nur andeuten konnten, an diese Thesen viele mikroph¨anomenologische Analysen, die Zeitlichkeit und Intentionalit¨at als Verzug des Bewusstseins gegen sich selbst sowie Urimpression und Kin¨asthese als Ereignisse des Anderen weiterdeuten. Er streicht stets heraus, dass Husserl diese Stoßrichtung der Analyse selbst (mehr oder weniger bewusst) vorbereitet habe, insofern er den Entstehungsprozess von Objektivit¨at u¨ berhaupt thematisiert und der sinnlichen Erfahrung den Vorrang gegeben hat. Damit habe er dem schematisch-starren Denken ein Ende und dem genetisch-bewegten einen Anfang gemacht. ,,Ein Denken, das die Implikationen des Denkens, die vor der Reflexion u¨ ber dieses Denken unsichtbar sind, vergißt, vollzieht Operationen an den Gegenst¨anden, statt sie zu denken. Die ph¨anomenologische Reduktion gebietet der Operation Einhalt, um zur Wahrheit zur¨uckzugehen, um die vorgestellten Seienden in ihrem transzendentalen Entstehen zu zeigen.“ (SpA 131) Husserl, so Levinas, macht aufmerksam auf das Erfahren des Erfahrenen und gewinnt so die Lebendigkeit des ,transzendentalen Entstehens’. Levinas, so k¨onnte man sagen, weist in einer Radikalisierung153 dieses Gedankens auf das Erfahren der Alterit¨at als Alterit¨at hin 153
John Llewelyn charakterisiert die Levinas’sche Philosophie deshalb als ,Hypokritizismus’: ,,Wenn der Kritizismus das Zur¨uckgehen auf die Bedingungen des Wissens meint, wie es in der kritischen Philosophie Kants exemplifiziert ist, dass ist der Hypokritizismus [. . .] der R¨uckgang hinter diese Bedingungen. Um genau zu sein, geht es deshalb bei Levinas um Hypokritizismus, wenn er vom Kritizismus spricht als von einem WiederAufstieg (remont´ee) oder R¨uckgang (r´egression) jenseits, unterhalb oder diesseits (en dec`a de) der Bedingung des Wissens.“ (Llewelyn 2005, 61)
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und gebietet dadurch nicht nur der Operation an den Gegenst¨anden, sondern der Operation am Anderen Einhalt. Dies findet nicht ohne eine ethische Wende oder Kehre statt: ,,Indem sie das Antlitz154 beschreibt, kann die Ph¨anomenologie den Umschlag der Thematisierung in Ethik verfolgen. Nur die ethische Sprache ist dem Paradox, in das sich die Ph¨anomenologie pl¨otzlich geworfen sieht, gewachsen.“ (SpA 291) Der ,Umschlag’ vom vergegenst¨andlichenden Denken zur ,Haltung’, den wir bei Husserl zu beschreiben versuchten, wird von Levinas ganz bewusst und explizit vollzogen. Es ist ein wesentliches Merkmal von Levinas’ Strategie, das Husserl’sche ,Unbehagen’ in eine gewaltsame affektiv-ethische Sprache umzuformulieren und damit den radikalen Perspektivenwechsel der ,ethischen Optik’ deutlich zu machen. Tats¨achlich handelt es sich hier um ein Projekt, das das ethische Sollen in der Genesis der Subjektivit¨at verortet und die Freiheit (der Vernunft) affektiv r¨uckbindet an eine Verantwortung ohne Wahl, ein ,Angeklagt-Sein’ ohne die Vermittlung durch den Logos. Das bedeutet nichts anderes, als das ethische Sollen in der Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung einzufordern. Der Erfahrung der Alterit¨at nachzugehen, so Levinas, ruft von selbst zu diesem Umschlag auf. Dar¨uber hinaus taucht ein Desiderat einer neuen Sinngebung auf, die der affektiven Erfahrung des Anderen gerecht wird. Levinas: ,,Wo alle Sinngebung das Werk eines allm¨achtigen Ich war, konnte das Andere in der Tat nur in einer Vorstellung aufgehen. In einer Ph¨anomenologie indes, in der die T¨atigkeit der totalisierenden und totalit¨aren Vorstellung schon in ihrer eigenen Intention u¨ berschritten ist; in der die Vorstellung sich bereits inmitten von Horizonten findet, die sie zwar gewissermaßen nicht intendiert hat, auf die sie aber nicht verzichtet, dort wird eine ethische, d. h. wesentlich den Anderen ber¨ucksichtigende Sinngebung m¨oglich.“ (SpA 138 f.) 154
Das ,Antlitz’ oder ,Gesicht’ bezeichnet bei Levinas genau den Punkt des Umschlags von leiblichem Ausdruck in Erfahrung der Alterit¨at: ,,Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir u¨ berschreitet, nennen wir nun Antlitz.“ (TU 63) – ,,Das Gesicht er¨offnet in der Sph¨are des sinnlich Wahrnehmbaren eine andere Dimension: die des Ethischen. Es erscheint nicht als Ph¨anomen, sondern als Aufforderung zur Antwort. Das Gesicht spricht, ohne dass es Worte artikulieren m¨usste, es wendet sich an mich oder geht mich an.“ (Gelhard 2005a, 135) (Vgl. auch TU 63 f., 102 f., 258 f.)
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Die Levinas’schen Reflexionen sind f¨ur uns in drei Punkten wichtig: Erstens bem¨uhen sie sich um eine Bestandsaufnahme des Hervorgehens der Subjektivit¨at (und der Vernunft) aus der Passivit¨at. Es wird ein ,Zustand’ vor der Setzung eines Rechtsgrundes und vor dem Einsetzen von Legitimationsfiguren beschrieben und damit m¨oglicherweise auf deren affektive Motivationen und Bedingungen hingewiesen. Zweitens steht durch die Beschreibung der Erfahrung der Alterit¨at dem Rechtsgrund der theoretischen Vernunft als Evidenz der F¨ulle ein anderes, ethisches Angesprochen-Sein entgegen, das als ,Sprache’ (bzw. als Sagen ohne Gesagtes) beschrieben wurde. Drittens ergibt sich dadurch die M¨oglichkeit einer anderen Vernunftgenesis, spricht sich doch Levinas gerade f¨ur den Umschlag von Erkenntnistheorie in Ethik am Erfahren des Anderen aus. 2. Der ,Dritte’ als Anstoß rechtlichen Denkens Mit der Figur des Dritten155 wird die reine passive Hingabe und Verantwortung des Einen-f¨ur-den-Anderen (JdS 300 ff.) zum Problem. Sie schl¨agt um in eine Verpflichtung des gerechten Urteils den pluralen Anderen – oder: dem Anderen im Plural – gegen¨uber. Daf¨ur muss sichtbar 155
Der Dritte ist eine von drei Formen der ,Dreiheit’ oder Tertialit¨at bei Levinas: ,,Neben dem Begriff des Dritten (le tiers) finden wir den Begriff der 3. Person als jenes neutralen Beobachters, dessen Perspektive mit dem Standpunkt der universalen Vernunft u¨ bereinstimmt. Dar¨uber hinaus gibt es noch den schwierigen Begriff der Illeit¨at, der sich aus der Pronominalform der 3. Person Singular ,il’ ableitet.“ (Bernasconi 1998, 88) Die Illeit¨at steht f¨ur die Spur Gottes, der Andersheit und Gutheit jenseits des Seins, welche im Antlitz des Anderen aufleuchtet. (Vgl. zu einer genaueren Bestimmung und Beschreibung des Dritten auch Delhom 2000, 200 ff.) So wie das Auftauchen oder ¨ die Bestimmtheit des Dritten im Werk von Levinas nicht restlos zur Ubereinstimmung gebracht werden kann, so sind auch die dazugeh¨origen Thesen zur geforderten Gerechtigkeit recht unterschiedlich. Dazu Bernasconi: ,,Es scheint ein nutzloses Unterfangen ¨ zu sein, alle Außerungen Levinas’ zur Gerechtigkeit in Einklang bringen zu wollen.“ (Bernasconi 1998, 87) Ich verfolge hier bewusst eine (m¨oglicherweise einseitige) genetische Interpretation, die sich mehr auf die Entstehung des Rechtscharakters im Bewusstsein der Subjektivit¨at konzentriert als auf eine soziale oder politische Komponente. Der Dritte wird bei mir daher haupts¨achlich strukturell gelesen, die Unterscheidungen in verschiedene Tertialit¨aten konvergieren dadurch. Zu sozialphilosophischen, ethischen und politischen Aspekten des ,Dritten’ vgl. Bedorf 2003.
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gemacht werden, abgewogen werden, begr¨undet werden, Recht gesprochen werden. Eine Genesis der Vernunft hat hier ihren Ort. In Jenseits des Seins taucht die Figur des Dritten pl¨otzlich inmitten des Kapitels ,V.3. Vom Sagen zum Gesagten oder die Weisheit des Begehrens’ auf. In sehr konzentrierter Form zeigt Levinas auf den Seiten 342-353 (der deutschen Ausgabe) auf, dass der Anspruch immer schon ein pluraler ist und daher die Ordnungs- und Ausweisungsformen des Bewusstseins von der Gerechtigkeit her zu verstehen seien. Ich werde mich im Folgenden einer genaueren Lekt¨ure dieses entscheidenden Abschnitts aus Jenseits des Seins widmen. Die N¨ahe wird gest¨ort durch den Eintritt des Dritten ,,Der Dritte f¨uhrt einen Widerspruch in das Sagen ein, dessen Bedeutung angesichts des Anderen bis dahin nur in eine einzige Richtung ging.“ (JdS 343) ,,Wenn die N¨ahe mir allein den Anderen und niemanden sonst zur Aufgabe machte, ,h¨atte es kein Problem gegeben’ – nicht einmal im allgemeinsten Sinn des Wortes. Die Frage w¨are nicht entstanden, auch das Bewußtsein nicht und ebenso wenig das Selbstbewußtsein. Die Verantwortung f¨ur den Anderen ist eine Unmittelbarkeit, die der Frage vorausgeht: eben N¨ahe. Sie wird gest¨ort und sie wird zum Problem mit dem Eintritt des Dritten.“ (JdS 342) ,,Es ist nicht so, daß der Eintritt des Dritten eine empirische Tatsache w¨are und daß meine Verantwortung f¨ur den Anderen sich durch den ,Zwang der Verh¨altnisse’ zu einem Kalk¨ul gen¨otigt findet. In der N¨ahe des Anderen bedr¨angen mich – bis zur Besessenheit – auch all die Anderen, die Andere sind f¨ur den Anderen, und schon schreit die Besessenheit nach Gerechtigkeit, verlangt sie Maß und Wissen, ist sie Bewußtsein.“ (JdS 344)
Der ,Eintritt des Dritten’ ist kein zeitliches Ereignis, sondern markiert einen sachlichen Einschnitt. Der Dritte ist insofern ,immer schon da’, er ist Teil der Alterit¨atserfahrung. Andererseits bricht er der Sache nach stets aufs Neue in die N¨ahe der reinen Verantwortungsbeziehung ein. Die Grunderfahrung des Dritten ist folgende: Die Subjektivit¨at, die sich als immer schon vom Anderen besessen erf¨ahrt, kann nicht in dieser reinen ,Besessenheit’ (als ,Haltung’) verharren. Denn der Anspruch der Alterit¨at stellt sich als pluraler. Dieses Faktum des pluralen Angesprochen-Seins vor dem Hintergrund eines prinzipiellen Angesprochen-Seins l¨asst sich
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mit Begriffen aus der Husserl’schen Passivit¨atslehre analogisieren: Die reine Hingabe an die Urimpression, in der weder Urteil noch aktive Thesis stattfinden, ist der genetische ,Boden’, auf dem erst ein Zweifel bzw. ein Widerstreit entstehen k¨onnen. Das ,sinnliche Feld’, das uns vorgegeben ist (EU § 16), ist aber immer ein je schon strukturiertes, d. h. plurales. An dieser pluralen Vorgegebenheit wird Bewusstsein erst t¨atig. Im Sinne des oben ausgef¨uhrten ,ethischen Umschlags’ im Sprechen u¨ ber die Alterit¨at ist der Dritte eine weitere ,Weckung’. Man k¨onnte ihn auch als eine ,St¨orung zweiter Ordnung’ interpretieren, insofern er das aus seiner Ichgebundenheit aufgest¨orte Ich nun noch einmal st¨ort. Um der ersten St¨orung Folge zu leisten156 , gen¨ugt es also nicht, in einem quasi selbstentleerten reinen Begegnen mit dem Anderen aufzugehen, sondern es ist darin und dar¨uber hinaus noch mehr gefordert: das Selbst im Antworten neu zu u¨ bernehmen und verantwortlich zu urteilen, zu entscheiden, zu unterscheiden. Der Eintritt des Dritten ist somit, wie Levinas betont, keine ,empirische Tatsache’, sondern ein wesensm¨aßiger Zug des Erfahrens der Subjektivit¨at u¨ berhaupt. Wichtig ist allerdings der ,genetische Aufbau’, den Levinas hier verfolgt, insofern dadurch eine Doppelstruktur etabliert wird: Wir sind davon ausgegangen, dass das ,metaphysische Begehren’ die Triebkraft ist, durch welche der St¨orung u¨ berhaupt nachgegangen wird und man sich gen¨otigt sieht, von einer Alterit¨at zu sprechen. Dieses Begehren schließlich stellte sich als die Struktur der Subjektivit¨at selbst heraus, deren Innerstes von der Alterit¨at schon durchbrochen ist. Der Urgrund der Subjektivit¨at ist damit ein Un-grund; reines Sagen, das sich dem Anderen immer schon ganz hingegeben hat, bevor es sich selbst ergreifen kann. F¨ur Levinas’ Gedankengang ist es entscheidend, dass in diesem reinen Bezug der Verantwortung die Subjektivit¨at erst als Subjektivit¨at entsteht und sich diesen Un-grund auch nicht mehr sichtbar oder durchsichtig machen kann. 156
Levinas nennt dieses erste ,Folgeleisten’ Gehorsam, der dem Befehl vorausgeht: ,,Doch dieser einzigartige Gehorsam gegen¨uber dem Befehl, sich zu ergeben, ohne noch den Befehl zu vernehmen, dieser Gehorsam, der fr¨uher ist als die Vorstellung, diese Treuepflicht vor jedem Treueeid, diese Verantwortung, die dem Engagement vorausgeht, ist genau der-Andere-im-Selben, Inspiration und Prophetie, ist das Sich-Vollziehen, das Passieren des Unendlichen.“ (JdS 350)
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Der Eintritt des Dritten steht dazu in einer sachlichen Reihenfolge. Auf dem radikal passiven Un-grund der Subjektivit¨at n¨otigt der plurale Anspruch dazu, dass sich das betroffene, affizierte ,Sich’ zu einem verantwortlichen ,Ich’ erhebt. Zuerst steht also die N¨ahe, dann erst das SichErgreifen des Selbst im Angesicht des Urteilen-M¨ussens. ,,Von der Verantwortung zum Problem – so ist die Reihenfolge. Das Problem stellt sich durch die N¨ahe selbst, die ansonsten, als das schlechthin Unmittelbare, problemlos ist.“ (JdS 351) Die Genesis, die Levinas damit entwirft, ist gepr¨agt durch einen Verzug des Bewusstseins gegen sich selbst, wodurch es als antwortend, als nachtr¨aglich charakterisiert werden kann. In einer unerinnerbaren Vorg¨angigkeit dazu steht die reine Transitivit¨at, auf die es keinen ,Zugriff ’ gibt. Insofern kann Levinas sehr deutlich sagen: ,,Der Eintritt des Dritten ist so gerade das Faktum des Bewußtseins [. . .].“ (JdS 344) ,,Das Bewußtsein entsteht als Pr¨asenz des Dritten.“ (JdS 348) ,,Das Bewußtsein ist der Eintritt des Dritten.“ (JdS 342) Bewusstsein heißt hier: aktiv t¨atiges Ichbewusstsein157 , d. h. nicht mehr reines Gewahr-Sein (wie etwa in der Urimpression), sondern Aufmerken, Vergegenst¨andlichen, Fokus und Hintergrund Haben, Setzen, Urteilen. ,Bewusstsein’ ist demnach das Immer-schon-ordnen-M¨ussen, das Immerschon-unterscheiden-M¨ussen. F¨ur Levinas ist dieses Faktum ethisch nicht neutral. Es ist der Anspruch, unter dem Bewusstsein immer schon steht, 157
Das reine Gewahr-Sein, welches im Abschlusskapitel des vierten Abschnitts (Vgl. S. 197) als ,Erfahrung der Erfahrung’ beschrieben wurde, liegt tats¨achlich niemals in reiner Form vor, sondern muss immer durch eine Abbau- bzw. eine genetische Analyse als Grundstruktur des Erfahrens aufgezeigt werden. Inwiefern dieses ,Gewahrsein’ als ,ichloses Bewusstsein’ beschrieben werden kann oder vielmehr in den Levinas’schen Termini des ,absoluten Ausgesetztseins’, w¨are eine genaue Untersuchung wert. (Besonders w¨are zu fragen, ob sich diese beiden Beschreibungen widersprechen oder ob sie nur unterschiedliche Akzente setzen: Vollzugsidentit¨at auf der einen Seite und ethisches Angesprochen-Sein in dieser Vollzugsidentit¨at auf der anderen Seite.) Eine genaue ph¨anomenologische Analyse im R¨uckgang auf diese Grundstruktur des reinen GewahrSeins in der Praxis der Zen-buddhistischen Meditation hat Wolfgang Fasching herausgearbeitet. Auch hier geht es um den praktischen Versuch, die Vergegenst¨andlichung, die sonst st¨andig am Werk ist, zu inhibieren und so zum ,reinen Gewahrsein’ vorzudringen (Fasching 2008). Eine Diskussion mit dem Erfahrungsbegriff von Levinas k¨onnte hier ihren Ausgang nehmen.
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im weitesten Sinne seine ,Teleologie’, sein Tendieren auf Wahrheit hin: ,,[S]chon schreit die Besessenheit nach Gerechtigkeit, verlangt sie Maß und Wissen, ist sie Bewußtsein.“ (JdS 344) In dieser sehr strukturellen und subjektgenetischen Lesart des Dritten liegt es nicht unmittelbar nahe, darin prim¨ar die menschliche Pluralit¨at zu lesen. Ich w¨urde, wie beim Begriff des Menschen, wieder f¨ur eine nachtr¨agliche Benennung dieses Ereignisses als ,menschliche Sozialit¨at’158 pl¨adieren: Insofern Levinas das Ph¨anomen, an dem die Alterit¨at aufblitzt, ,das Gesicht’ nennt, ist dieses Aufblitzen durchaus in pluraler Weise m¨oglich. Wichtig scheint mir aber zu sein, dass es sich um keine Notwendigkeit handelt, die dem Wesen des menschlichen Gesichts anh¨angen w¨urde – denn ein Wissen darum, wo genau die Alterit¨at einbricht und wer genau zu dieser privilegierten Spezies des Menschen geh¨ort (bzw. wer nicht), w¨are geradezu eine Pervertierung eines radikalen Alterit¨atsdenkens. Der Ethik als einer ,,Optik“ (TU 23, 32) kommt es daher immer zu, dass der Spur auch nachgegangen werden muss. ,Der Dritte’, der wie ,der Andere’ nicht als empirischer ,Vorfall’ missverstanden werden darf, ist also zugleich Strukturelement eines dem pluralen Anspruch ausgesetzten Bewusstseins sowie konkret gewordene Faktizit¨at dieser Struktur als Gemeinschaft. ,,Und weil der Dritte nicht im empirischen Sinne die N¨ahe st¨ort, sondern weil das Gesicht zugleich der N¨achste und ein Gesicht unter Gesichtern – Gesicht und sichtbar – ist, deshalb ist die Verbindung zwischen der Ordnung des Seins und der N¨ahe unaufk¨undbar. Die Ordnung, das deutliche In-Erscheinung-Treten, die Ph¨anomenalit¨at, das Sein – ereignen sich in der Bedeutung, in der N¨ahe, ausgehend vom Dritten. Das Auftauchen des Dritten ist der eigentliche Ursprung des In-Erscheinung-Tretens, das heißt der eigentliche Ursprung des Ursprungs.“ (JdS 349)
Eine ethische Genesis des ,Ursprungs’ bedeutet daher, dass erstens der Grund des Sich-Ergreifens des Ursprungs theoretisch nicht eingeholt werden, sondern nur ,praktisch’, in einem Sagen, verantwortet werden kann. Zweitens bedeutet es, dass das Sich-Ergreifen ethisch nicht neutral 158
,,Die Anderen gehen von vornherein mich an. Die Br¨uderlichkeit geht hier der gattungsm¨aßigen Gemeinschaft voraus. Meine Beziehung mit dem Anderen, dem N¨achsten, gibt meinen Beziehungen mit allen Anderen ihren Sinn. Alle menschlichen Beziehungen entstehen, darin liegt ihre Menschlichkeit, aus dem Sich-l¨osen-vom-Sein.“ (JdS 346)
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ist, sondern das Verm¨ogen des Ordnens und des Urteilens immer schon unter dem Anspruch von Gerechtigkeit und Rechtfertigung steht. Genesis der Vernunft: Die latente Entstehung des Wissens aus der N¨ahe ,,Es gilt also, in der Bedeutung oder in der N¨ahe oder im Sagen die latente Entstehung der Erkenntnis und des sein, des Gesagten zu verfolgen; die latente Entstehung der Frage in der Verantwortung. [. . .] Es gilt, die latente Entstehung des Wissens aus der N¨ahe zu verfolgen.“ (JdS 342)
Statt der ersten Setzung des Selbst (von der wir im obigen Zusammenhang als Hypostase oder Psychismus gesprochen haben) ist nun eine zweite Setzung gefordert, n¨amlich die der Gerechtigkeit, des gerechten Urteils und damit die eines m¨oglichen Rechtsgrundes. Sofort f¨allt eine Parallelit¨at auf: So wie wir erste urdoxische Evidenz und zweite kritische Evidenz im Theoriekapitel zu Husserl aufzeigen konnten (vgl. S. 106 f.), so haben wir nun auch eine erste Setzung, f¨ur die die Rechtsfrage noch nicht aufgebrochen ist, und eine zweite, f¨ur die sie konstitutiv ist. Husserls movens war dabei der Zweifel bzw. die Modalisierungen. Levinas hingegen u¨ bersteigt eine ,Genesis aus dem Zweifel’, indem er das movens noch fundamentaler im ,Begehren’ ansetzt, d. h. in der riss- oder bruchhaften Beziehung, die mir die Alterit¨at abn¨otigt. Es handelt sich daher um die Verantwortung, die geteilt werden muss (und nicht um den Riss in der Erfahrung, der gegl¨attet, in Einstimmigkeit gebracht werden soll): ,,Der Dritte f¨uhrt einen Widerspruch in das Sagen ein, dessen Bedeutung angesichts des Anderen bis dahin nur in eine einzige Richtung ging. Von selbst findet nun die Verantwortung eine Grenze, entsteht die Frage: ,Was habe ich gerechterweise zu tun?’ Gewissensfrage. Es braucht die Gerechtigkeit, das heißt den Vergleich, die Koexistenz, die Gleichzeitigkeit, das Versammeln, die Ordnung, das Thematisieren, die Sichtbarkeit der Gesichter und von daher die Intentionalit¨at und den Intellekt und in der Intentionalit¨at und dem Intellekt die Verstehbarkeit des Systems und insofern auch eine gemeinsame Gegenwart auf gleicher Ebene, der der Gleichheit, wie vor einem Gericht. Das seinals Synchronie: zusammen-an-einem-Ort. Die N¨ahe erh¨alt eine neue Bedeutung im Raum, die des Aneinandergrenzens. Doch das reine Aneinandergrenzen ist nicht ,bloß nat¨urlich’. Es setzt bereits sowohl das thematisierende Denken als auch den Ort und die Einteilung der r¨aumlichen Kontinuit¨at in gesonderte Einheiten voraus – und das Ganze von der Gerechtigkeit her.“ (JdS 343)
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Levinas liefert uns hier – u¨ berspitzt formuliert – seine Genesis der ,sinnlichen Anschauungsformen’ und der ,Kategorien’. Unter der N¨otigung des pluralen Anspruchs entsteht die Notwendigkeit des Vergleichs: Insofern muss eine Synchronisierung die Gleichzeitigkeit (JdS 163) in der Subjektivit¨at herstellen und eine r¨aumliche Kontinuit¨at159 konstituiert werden: das Neben- und Nacheinander, das M¨oglichkeitsbedingung f¨ur Vergleich und Gerechtigkeit ist160 . Dar¨uber hinaus sind neben diesen sinnlichen Ordnungsformen, die letztlich auf die (,pl¨otzlich’, d. h. ,spontan’ geforderte) Einheit des Subjekts zur¨uckgehen, auch begriffliche Ordnungsformen gefordert: das, was Levinas unter den Titeln ,Ordnung’, ,Intentionalit¨at’, ,Intellekt’, ,Vernunft’ anf¨uhrt. Wir haben hier also einen gesamten ,transzendentalen Apparat’, der, wie auch der Dritte selbst, immer schon am Werk ist; nur ist ein sachlicher Vorrang, gleichsam ein sachlicher Vorzustand auszumachen, den Levinas N¨ahe nennt: eine unbegriffliche ethische Erfahrung, die jeder begrifflichen zugrunde liegt und die das Betroffen-Sein noch nicht distanzieren oder objektivieren kann (Levinas bezeichnet diese Erfahrung deshalb auch als nicht-intentional). Erst wenn dies m¨oglich wird, nach Levinas: m¨oglich werden muss um der Gerechtigkeit willen, kann von einem ,Thema’, einem ,Problem’ u¨ berhaupt die Rede sein: ,,Im Vergleich des Unvergleichlichen l¨age demnach die latente Entstehung der Vorstellung, des Logos, des Bewußtseins, der Arbeit, des neutralen Begriffs: Sein. Alles ist zusammen, man kann vom Einen zum Anderen gehen und vom Anderen zum Einen, man kann in Beziehung setzen, beurteilen, wissen und fragen, was es auf sich hat mit . . ., die Materie verwandeln. Von der Vorstellung aus entsteht die Ordnung der Gerechtigkeit, die meine Stellvertretung f¨ur den Anderen m¨aßigt oder bemißt und die das Sich der Berechnung zur¨uckgibt. Die Gerechtigkeit erfordert die Gleichzeitigkeit der Vorstellung, der Vergegenw¨artigung. Auf diese Weise wird der N¨achste sichtbar, verliert er als nunmehr Angestarrter sein Gesicht, l¨aßt sich vorstellen, und so gibt es Gerechtigkeit auch f¨ur mich. Das Sagen verfestigt sich zum Gesagten – ja, es l¨aßt sich schreiben, wird Buch, Recht und Wissenschaft.“ (JdS 345 f.) 159
Vgl. Levinas: ,,In der N¨ahe ist das Subjekt auf eine Weise impliziert, die sich nicht auf deren r¨aumlichen Sinn beschr¨ankt; den nimmt die N¨ahe an, sobald der Dritte sie dadurch st¨ort, daß er in der ,Einheit des transzendentalen Bewußtseins’ Gerechtigkeit verlangt [. . .].“ (JdS 183) 160 Umgekehrt ist die Gerechtigkeit (wie u¨ brigens auch die ,transzendentale Apperzeption’) die M¨oglichkeitsbedingung f¨ur das Neben- und Nacheinander.
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In diesem Sinn ist auch der Titel des Kapitels zu verstehen: ,Vom Sagen zum Gesagten’. Es liegt also kein unendlicher Hiatus zwischen der Selbstentleerung des Ich im reinen Erfahren (,Tragen’) des Anderen und dem Ich, welches urteilt – sondern diese urteilende Subjektivit¨at ist in einem Verpflichtungsverh¨altnis zu verstehen. Dies ist der eigentlich genetische Zug des Levinas’schen Gedankens im Hinblick auf eine ,praktische Vernunft’: Das Urteilen in seiner Sichtbarmachung, in seinem Wahrheitsund Evidenzstreben, in seiner unterscheidenden Kriteriologie hat einen ,Auftrag’, der aus der N¨ahe der Verantwortung stammt. Die Sichtbarmachung, die das Gesicht als Aufblitzen der Alterit¨at verliert und es vorstellt (,,anstarrt“ (JdS 345)), es zum Inhalt einer Intentionalit¨at macht, kann die N¨ahe des nicht-intentionalen Erfahrens nicht einholen, muss aber ,objektive’ Kriterien finden und erfinden, um den Anspr¨uchen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gerecht zu werden. Die Subjektivit¨at ist damit aufgerufen, in dieser Objektivierung nicht zu vergessen, dass diese Objektivierung umwillen eines Anspruchs geschieht, der letztlich nicht objektivierbar ist.161 Dies w¨are eine Vernunft, die sich nicht auf das ,Rationalisierbare’ beschr¨ankt, sondern die ihr Ungen¨ugen und ihre Notwendigkeit gleichzeitig einsieht. Letztlich ist damit der Gedanke entwickelt, der in der Analyse der Husserl’schen Liebesethik als Desiderat auftauchte: eine Genesis der Vernunft (als rechtlicher Intentionalit¨at), die aufgrund einer praktischen ,Haltung’ ¨ die theoretische Uberlegung und Sichtbarmachung erfordert und gleichzeitig nicht in die Dichotomie von ,Rationalem’ und ,Irrationalem’ (absolutem Sollen) f¨allt. ,,Das vor-urspr¨ungliche anarchische Sagen, das N¨ahe ist, [. . .] erfordert die Bedeutung des Thematisierbaren, formuliert das idealisierte Gesagte, w¨agt ab und urteilt in Gerechtigkeit. Das Urteil und der Aussagesatz erwachsen aus der Gerechtigkeit, die die Zusammenstellung, die Versammlung, das Sein des Seienden ist. Hier beginnt mit dem Problem die Sorge um die Wahrheit, um die Entbergung des Seins. Aber um der Gerechtigkeit willen zeigt sich all das, und u¨ ber die Ausgefallenheit der Stellvertretung legt sich, und zwar weil es die Verantwortung selbst, die Stellvertretung ist, so erfordert, eine 161
,,Die Gerechtigkeit ist unm¨oglich, ohne daß derjenige, der sie gew¨ahrt, sich selbst in der N¨ahe befindet. Seine Funktion beschr¨ankt sich nicht auf die ,Funktion der Urteilskraft’, auf die Subsumption von Einzelf¨allen unter die allgemeine Regel. Der Richter steht nicht außerhalb des Streitfalls, das Gesetz aber gilt innerhalb der N¨ahe.“ (JdS 347)
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vern¨unftige Ordnung, die dienende oder verk¨undigende Ordnung der Gerechtigkeit und von daher eben die Tatsache des Sehens, des Alles-Durchschauens und des AllesErz¨ahlens.“ (JdS 351)
Die politische Interpretation der Figur der Dritten als Einrichtung eines Staats und gerechter Institutionen m¨usste hier ihren Anschluss finden, kann aber an dieser Stelle nicht geleistet werden.162 Was hier versucht wurde zu zeigen, ist, dass Levinas in außerordentlicher Weise um die M¨oglichkeit einer wahrhaft ,selbstlosen’ Ethik und einer gerechten Politik besorgt ist und diese M¨oglichkeit in der Struktur der Subjektivit¨at selbst – und nicht außerhalb ihrer – aufzeigen m¨ochte. Philosophie als Weisheit der Liebe Mit dem Husserl’schen Begriff der Evidenz oder der ,origin¨aren Anschauung’ wurde ein ,Prinzip aller Prinzipien’ erreicht, das in seiner Abstraktheit als allgemeiner Rechtsgrund aufgefasst werden konnte. Levinas erreicht mit der Thematisierung der Alterit¨at und des Dritten eine ebenso allgemeine Struktur, die ausweisende Rechtfertigung notwendig macht, sich aber nicht im R¨uckverweisen auf einen evidenten Rechtsgrund ersch¨opfen kann. Damit sind beide Komponenten einer Vernunft als rechtlicher Intentionalit¨at angesprochen: die Ausweisbarkeit als sine qua non der Rechtfertigung sowie die Notwendigkeit einer ,Haltung’, die um das Ungen¨ugen des Verobjektivierens und Evident-Machens weiß. Dieses praktische ,Wissen’ einer Haltung hebt sich nicht in einer Teleolo162
Politisches Leben und Gemeinschaft sind mir immer schon aufgegeben (Delhom 2000, 200 ff., Bernasconi 1998, 87 ff.). Bernasconi zitiert in diesem Zusammenhang eine wichtige Stelle aus dem Aufsatz ,,Das Ich und die Totalit¨at“, den Levinas 1954 verfasst hat. Darin bringt Levinas in einer Analyse des Respekts den politisch relevanten Gedanken zur Sprache, dass der Andere nicht nur der ist, dem man Gerechtigkeit erweist, sondern mit dem zusammen man sie auch vollbringt: ,,Der Respekt bindet den gerechten Menschen an seinen B¨undnispartner der Gerechtigkeit, noch bevor er ihn an den Menschen, der Gerechtigkeit fordert, bindet. [. . .] Der Respektierte ist nicht derjenige, dem man Gerechtigkeit widerfahren l¨aßt, sondern mit dem man sie verwirklicht.“ (Levinas in: Bernasconi 1998, 93) Vgl. s¨amtliche Schriften von Robert Bernasconi (1988, 1991, 1998, 2001), der vor allem die politische Interpretation von Levinas’ Werk forciert hat; weiters: Bedorf 2003, Bergo 1999, Critchley 1999, Critchley/Bernasconi 2002, Delhom 2000, Delhom/Hirsch 2005, Llewelyn 2002.
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gie auf; was Levinas vielmehr mit dem ,Sagen’ oder dem ,Zeugnis’163 meint, ist ein radikales Offensein oder Sich-Offenhalten, nicht auf eine Erf¨ullung in der Unendlichkeit hin, sondern auf eine Entleerung eines reinen Antwortens oder Ver-antwortens. Dieser urspr¨ungliche und doch so ursprungslose Bezug wird im (durch den Dritten geforderten) Rechtsprechen, Recht-Pr¨adizieren notwendig vergessen164 : ,,Es entsteht ein Abw¨agen, Denken, Objektivieren und dadurch ein Stillstand, in dem meine an-archische Beziehung zur Illeit¨at verraten wird, in dem sie jedoch f¨ur uns zum Ausdruck kommt.“ (JdS 345) Die Philosophie ist insofern gefordert, diesen notwendigen ,,Verrat“ zu erinnern bzw. ihn dadurch zu ,,reduzieren“ (JdS 353). Die Doppelheit der Struktur, dass sich ,,die Gleichzeitigkeit der Vielen [. . .] um die Dia-chronie von Zweien [aufbaut]“ (JdS 347), fordert eine Doppelheit des rechtlichen Denkens: Das Objektivieren in der rechtm¨aßigen Pr¨adikation sowie das Widerstehen dieser Objektivierung im Gerecht-Werden. ,,Das außer-ordentliche Engagement des Anderen gegen¨uber dem Dritten appelliert an die Kontrolle, an die Suche nach Gerechtigkeit, an die Gesellschaft und den Staat, an das Vergleichen und Haben, an das Denken und die Wissenschaft, an den Handel und die Philosophie und, außerhalb der Anarchie, an die Suche nach einem ersten Grund. Die Philosophie ist das Maß, das dem Unendlichen des Seins-f¨ur-den-Anderen der N¨ahe beigebracht wurde, und ist gleichsam die Weisheit der Liebe.“ (JdS 351)
Von diesem Horizont her, in dem Levinas die Philosophie als ,Weisheit der Liebe’ bestimmt, ist es m¨oglich, den Husserl’schen Begriff der ,Liebe’ in seiner sp¨aten Liebesethik noch einmal neu zu interpretieren: 163
F¨ur Levinas ist das Zeugnis-Geben die eigentliche Seinsweise der Subjektivit¨at; die einzige M¨oglichkeit, von dem Ereignis der Alterit¨at zu sprechen, ohne sie zu konstatieren oder beweisen zu wollen. Der Zeuge steht ein f¨ur das, was er bezeugt. ,,,Hier, sieh mich’ als Zeugnis des Unendlichen, doch als Zeugnis, welches das, was es bezeugt, nicht thematisiert und dessen Wahrheit nicht Wahrheit der Vorstellung, nicht Evidenz ist. Zeugnis – diese einzigartige Struktur, Ausnahme von der Regel des Seins, irreduzibel auf die Vorstellung – Zeugnis gibt es nur vom Unendlichen. Das Unendliche erscheint demjenigen nicht, der es bezeugt. [. . .] Vom Unendlichen, das durch kein Thema, keine Gegenwart zu fassen ist, gibt also das Subjekt Zeugnis, das Subjekt, in dem der Andere im Selben ist, insofern der Selbe f¨ur den Anderen ist [. . .].“ (JdS 321) 164 Dieser Gedanke des notwendigen Sich-Entziehens bzw. Verborgen-Bleibens ist auch bekannt aus Heideggers sp¨atem Denken: Das Geben des ,es gibt’ entzieht sich zugunsten der Gabe (Sein, Zeit). Vgl. Heidegger 1969, 1-26.
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Dieses ,tiefste Zentrum’, das Husserl als ,Liebe’ bezeichnet, ist je schon getroffen durch einen Ruf, dem das Ich folgt und durch den es zu neuen ,Selbstverantwortungen’ aufgerufen wird (Ms. B I 21, 55a bzw. S. 187). Die ,Liebe’ als dieses Getroffen-Sein und Verantwortlich-Sein kann im Levinas’schen Sinne als das ,Begehren’, die ,Besessenheit’ oder die ,Stellvertretung’165 aufgefasst werden, die Levinas ja in der Tat als die ,tiefste’ Struktur der Subjektivit¨at versteht. Insofern konvergieren hier die beiden Liebesbegriffe, auch wenn Husserl die Betonung auf die Individualit¨at der getroffenen Person und folglich auf ihre individuelle Entscheidung legt (dazu gleich weiter unten). Wenn die Aufgabe der Philosophie als ,Weisheit der Liebe’ jene ist, dieses tiefste Getroffen-Sein nicht vergessen zu machen bzw. es zu bezeugen, dann hat auch eine ,Liebesethik’ hier ihren Ort. F¨ur Levinas ergeben sich daraus Konsequenzen sowohl in Hinblick auf eine Staatstheorie als auch – und vor allem – in Hinblick auf Theorie u¨ berhaupt. Aller Diskurs der Politik, des Rechts, der Wissenschaft und der Philosophie muss sich von der vorg¨angigen Verantwortung getragen wissen. Damit ist auch ein Vernunftbegriff angestrebt, der u¨ ber das bloße Berechnen und Evident-Machen hinausgeht. Levinas formuliert diese Thesen scheinbar vorsichtig; denn es handelt sich hier nicht mehr um eine ,Theorie der Theorien’ oder um eine ,Wissenschaftslehre’, sondern um den best¨andigen Einsatz eines Engagements, eines Bekennens oder eines Bezeugens: ,,Es ist infolgedessen nicht ganz unwichtig zu wissen, ob der egalit¨are und gerechte Staat, in dem der Mensch seine Erf¨ullung findet (und den es einzurichten und vor allem durchzuhalten gilt), aus einem Krieg aller gegen alle hervorgeht oder aus der irreduziblen Verantwortung des Einen f¨ur alle und ob er auf Freundschaften und Gesichter verzichten kann. Es ist nicht ganz unwichtig, dies zu wissen, damit nicht der Krieg zur 165
Alle diese Begriffe des Levinas’schen Denkens weisen auf eine Neukonzipierung der Subjektivit¨at hin. Levinas’ Ziel ist es, das innerste Wesen der Subjektivit¨at nicht als ein abgeschlossenes zu begreifen, sondern als die vorg¨angige Offenheit f¨ur und ,Besessenheit’ durch den Anderen: ,,Die Bedeutung – der Eine-f¨ur-den-Anderen – die Beziehung zur Anderheit – ist in der vorliegenden Arbeit [Jenseits des Seins] als N¨ahe analysiert worden, die N¨ahe als Verantwortung f¨ur die Anderen und die Verantwortung f¨ur die Anderen – als Stellvertretung: In seiner Subjektivit¨at, gerade in seiner Haltung als getrennte Substanz, hat sich das Subjekt als S¨uhne-f¨ur-die-Anderen erwiesen, als Bedingung oder Unbedingung der Geiselschaft.“ (JdS 392 f.)
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Einrichtung des Krieges mit gutem Gewissen wird. Es ist, was die Philosophie betrifft, auch nicht ganz unwichtig zu wissen, ob die rationale Notwendigkeit, die durch die koh¨arente Rede zu Wissenschaft verwandelt wird und deren Prinzip die Philosophie zu erfassen sucht, den Status eines Ursprungs, das heißt, eines Ursprungs in sich oder der Gegenwart oder der Gleichzeitigkeit des Aufeinanderfolgenden (als Ergebnis logischer Deduktion) oder der Manifestation des Seins, hat; oder ob diese Notwendigkeit nicht ein Diesseits, ein Vor-Urspr¨ungliches, ein Unvorstellbares, ein Unsichtbares voraussetzt und also ein Diesseits, das anders vorausgesetzt wird als ein Prinzip durch seine Folge vorausgesetzt wird, mit der es in einer Synchronie steht. An-archisches Diesseits, das – gewiß, auf r¨atselhafte Weise – in der Verantwortung f¨ur die Anderen bezeugt ist. Verantwortung f¨ur die Anderen oder Kommunikation, Ereignis, von dem aller Diskurs der Wissenschaft und der Philosophie getragen wird. Insofern w¨are diese Verantwortung gerade die Rationalit¨at der Vernunft oder ihre Universalit¨at, die Rationalit¨at des Friedens.“ (JdS 347 f.)
Eine letzte Frage, die in Bezug auf die Husserl’schen Ausf¨uhrungen noch unbehandelt geblieben ist, betrifft dessen Sorge um die konkrete Entscheidung in einer Dilemma-Situation und deren m¨ogliche Rechtfertigbarkeit. Levinas stellt sich einer solchen Frage nie in voller Konkretheit und kann auch keine ,Urteilstheorie’ oder ,Kriteriologie’ entwickeln, die diesem Anspruch gerecht werden w¨urde166 . Der existenzialistische Ansatz ¨ im Ubernehmen einer verallgemeinerbaren Entscheidung und Verantwortung bleibt hier naheliegend (die ,,Erfindung im Namen der Freiheit“ (Sartre 2002)); die Tragik des Opfers wahrscheinlich nicht l¨osbar, wenn auch nicht mehr dem vollkommen ,Irrationalen’ anheimgegeben.167 Man k¨onnte nun einerseits versuchen, das Fehlen einer eindeutigen Entscheidbarkeit als Verweis auf den Raum der intersubjektiven Rechtfertigung zu begreifen. Ein anderer Versuch wird von Jacques Derrida unternommen, die Rechtfertigbarkeit einer Entscheidung im Sinne einer ,ereignishaften Antwort’ zu antizipieren. Die Grundz¨uge dieses Versuchs sollen im n¨achsten Kapitel skizziert werden. 166
Ich habe an anderer Stelle versucht, diese Problematik in der Levinas’schen Philosophie ausdr¨ucklich zu machen und mit dem Ansatz von Hannah Arendt, die die Notwendigkeit des politischen Urteils in den Mittelpunkt stellt (Arendt 1998), zu konfrontieren und erg¨anzen (Loidolt 2006b). 167 Was Husserl in den sp¨aten Manuskripten klar sieht, ist, dass mit der ,Haltung’ die ethische Entscheidungsfrage nicht ganz zu l¨osen ist: ihr Grund, warum wir rechtliche Wesen sind – ja; ihre konkrete L¨osung aber nicht – in diesem Moment versagt der Rationalismus.
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3. Dekonstruktion als ,Haltung’? (Derrida) Die Ankn¨upfung an Derrida steht ganz im Zeichen einer Auseinandersetzung mit Levinas168 und den daraus sich ergebenden Fragen und Problemen. Dar¨uber hinaus soll, unserem Sachthema folgend, hier der Versuch unternommen werden, Derrida als ,rechtlichen’ Denker zu verstehen. Dies bedeutet, eine Untersuchung in Angriff zu nehmen, die Derridas Anliegen, sowohl den Vernunft- als auch den Urteilsbegriff zu dekonstruieren, kritisch befragt. Eine Transformation dieser Begriffe ergibt sich f¨ur Derrida – im Anschluss an Levinas – durch das Ereignis einer Alterit¨at, welches die klassische Rationalit¨at durchkreuzt. Derrida geht diesem Ereignis, das er bekanntlich die diff´erance nennt, in einer mehrfach kritischen Denkbewegung nach (Bertram 2002, 81 ff.). Diese dekonstruiert und verschiebt sich selbst und ihren Gegenstand stets aufs Neue, um die sich mit dem Denken installierenden Logiken und Hierarchien immer wieder zu durchbrechen – und so der Alterit¨at gerecht zu werden. F¨ur den hier verfolgten Gedankengang k¨onnen nur zwei ganz spezifische und von mir umgrenzte Themenbl¨ocke herausgegriffen werden, die jedoch Derridas sp¨ates Denken nicht unwesentlich in Bewegung hielten: die Frage nach der Gerechtigkeit und, damit verbunden, die nach der Vernunft.169 Analog dazu werden auch zwei Texte im Mittelpunkt stehen: der erste Teil von Gesetzeskraft. Der ,mystische Grund der Autorit¨at’ (1989)170 und der zweite Essay in Schurken. Zwei Essays u¨ ber die Vernunft (2003a)171 . Am Anfang dieser Auseinandersetzung steht zweifellos Derridas eigene Charakterisierung der Dekonstruktion als einer Denkungsart, ,,die im Grunde stets Rechtsfragen, Fragen der Rechtm¨aßigkeit und der Berechti168
Zur dekonstruktiven Lekt¨ure von Levinas vgl. Bernasconi/Critchley 1991 und Llewelyn 2002. 169 F¨ur eine weiterf¨uhrende Einf¨uhrung in Derridas politisches Denken, aus dem ich hier nur die Stichworte ,Gerechtigkeit’ und ,Vernunft’ thematisieren kann, vgl. Zeillinger 2007. 170 Im Folgenden Sigle GK. Die Zeitangabe 1989 bezieht sich auf das Jahr, in dem der Vortrag an der Cardozo Law School gehalten wurde. Die Erstver¨offentlichung erschien ¨ 1990 in englischer Ubersetzung (Deconstruction and the Possibility of Justice), 1991 folgte ¨ die deutsche Ubersetzung und erst 1994 erschien der Text in Franz¨osisch (Force de loi: Le ,Fondement Mystique de l’autorit´e’). 171 Im Folgenden Sigle SC.
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gung, Fragen, die das Recht betreffen, aufwirft“ (GK 30). K¨onnte es sein, dass es sich dabei um eine Bewegung handelt, wie wir sie mit der rechtlichen Intentionalit¨at beschrieben haben? In einer Ann¨aherung an einige von Derridas Thesen soll diese Frage er¨ortert werden. Dekonstruktion als ,Gerechtigkeit’ Derrida unterscheidet zwischen Recht und Gerechtigkeit nach dem Kriterium der Dekonstruierbarkeit: Das Recht l¨asst sich prinzipiell dekonstruieren, weil es sich konstruieren l¨asst, d. h., der Akt der Setzung von Recht (und Derrida meint juristisches Recht) wurzelt zwangsl¨aufig in einer performativen und daher deutenden Gewalt, die sich selbst als Grund und Ursprung setzen muss und im gr¨undenden Augenblick weder rechtm¨aßig noch unrechtm¨aßig ist. Kein Diskurs kann dieses Moment der Stiftung u¨ ber eine Metasprache rechtfertigen: ,,An diesem Punkt st¨oßt der Diskurs auf seine Grenze: in sich selbst, in seinem eigenen performativen Verm¨ogen, in seiner performativen Kraft oder Macht. Ich schlage vor, daß man dies hier das Mystische nennt.“ (GK 28) Das Mystische: der unentbehrliche Akt der Setzung, um Recht zu stiften, ein Akt, der sich auf nichts anderes st¨utzen kann als sich selbst. Weil sich nun diese Stiftungen von (juristischem) Recht geschichtlich in verschiedenen (Text-) Schichten vollziehen, die nicht homogen sind, sich gegeneinander lesen lassen und so ihre innere Widerspr¨uchlichkeit hervorkehren, behauptet Derrida, das Recht lasse sich durch seine Dekonstruierbarkeit charakterisieren.172 Die Gerechtigkeit hingegen l¨asst sich nicht dekonstruieren. Sie ist nichts anderes als der Motor der Dekonstruktion selbst; Derrida geht sogar so weit, die Dekonstruktion mit der Gerechtigkeit zu identifizieren. Dabei verh¨alt es sich so, dass sowohl Recht als auch Gerechtigkeit die Dekonstruktion erm¨oglichen: Das Recht fungiert sozusagen als das ,Woran’ der Dekonstruktion, da es sich seiner Struktur nach dekonstruieren l¨asst, die Gerechtigkeit erm¨oglicht das ,Dass’, den Vollzug des Dekonstruierens selbst, da sie sich nicht dekonstruieren l¨asst. ,,Konsequenz: die Dekonstruktion ereignet sich in dem Zwischenraum, der die Unm¨oglichkeit einer Dekonstruktion der Gerechtigkeit von der M¨oglich172
Aus diesem Grund gibt es auch eine Perfektionierbarkeit (oder: Perfektibilit¨at) des Rechts, d. h., es kann stets im Namen der Gerechtigkeit dekonstruiert und damit verbessert rekonstruiert werden. Damit stellt es auch ein immer weiter unendlich zu Vollendendes dar.
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keit der Dekonstruktion des Rechts, von der legitimierenden oder legitimierten Autorit¨at trennt. Als Erfahrung des Unm¨oglichen ist sie, selbst wenn es sie (noch) nicht oder nie gibt, dort m¨oglich, wo es Gerechtigkeit gibt.“ (GK 30 f.) Mit anderen Worten: Im Dekonstruieren selbst, das nichts als ein Abzielen auf und gleichzeitig Vollziehen von Gerechtigkeit ist, werden Rechtfertigungsfragen gestellt, bis alles Gesetzte dekonstruiert ist und nur das u¨ brig bleibt, was der Dekonstruktion widersteht: die Gerechtigkeit. Dieses ,Gerechte’ hat jedoch nicht den Charakter eines substanziellen Restes, der u¨ brig bleiben w¨urde, sondern ist diese Bewegung des Fragens selbst. Gefragt kann aber nur werden, wenn etwas als fraglich173 aufbricht, etwa im Rechtscharakter seiner Setzung. Dies ist das ,Recht’ (im Derrida’schen Text), das Gesetz oder das Gesetzte, das als Setzung mitsamt seinem Pr¨atentionscharakter aufbricht und so u¨ berhaupt das Fragen nach Rechtm¨aßigkeit, Recht und Berechtigung erm¨oglicht. Was bei Derrida also als Struktur des juristischen Rechts und seiner Kritik angesprochen wird, findet sich auf der Ebene der hier herausgearbeiteten ph¨anomenologischen Grundformen wieder: Das ,Recht’ im Derrida’schen Sinn entspricht den doxisch-normativen Setzungen; die ,Gerechtigkeit’ w¨are die Dynamik der rechtlichen Intentionalit¨at selbst, also genau die Bewegung, welche Setzungen immer wieder in Frage stellt, sie in diesem Moment suspendiert und in offener Verantwortlichkeit wieder eine neue Setzung sucht, die sie wieder suspendieren wird m¨ussen. Die Aporien der Gerechtigkeit Derrida besteht darauf, dass die Gerechtigkeit mit einer Erfahrung der Aporie verbunden ist, einer Erfahrung, die im Grunde genommen nicht voll gemacht werden kann, da gerade die aporia den Durchgang versperrt und so ein ,Er-fahren’ (im urspr¨unglichen Sinne des Wortes als Durchquerung) unm¨oglich macht. Gerechtigkeit muss also die Erfahrung des Unm¨oglichen sein. Warum? Die Erfahrung der Aporie, so Derrida, h¨ange mit dem ,Mystischen’, also mit der grund-losen gewaltsamen Set173
Vgl. P¨oltner: ,,Seiendes wird nicht dadurch fraglich, daß es ,in’ unsere Frage eintritt oder eine Frage nach ihm veranlaßt, vielmehr ist seine Fraglichkeit die Frage-erfahrung, die wir mit ihm machen. [. . .] Jedes Fragen entspringt einer unverf¨ugbaren Frageerfahrung, mit welcher die M¨oglichkeiten des Fragens mit grundgelegt sind. Wir sind als die Fragenden vom Fraglichen bestimmt.“ (P¨oltner 1972, 35 f.)
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zung zusammen. Es muss also das Nicht-hintergehen-K¨onnen der Setzug sein, das mit der Forderung nach der unbedingten Hintergehung dieser Setzung kollidiert. Keine Setzung kann gerecht sein, weil sie immer schon das Moment des Setzens (und daher des gewaltsamen Deutens) in Anspruch nehmen muss; gleichzeitig kommt aber die Gerechtigkeit nicht ohne Setzung aus. Aus diesem Grund ist jeder gerechte, angemessene Ruf nach Gerechtigkeit dieser Struktur einer aporetischen Erfahrung ausgeliefert. Derrida selbst beschreibt drei Aporien, um die das Denken von Recht und Gerechtigkeit kreisen muss: 1. die Epoch´e der Regel, 2. die Heimsuchung durch das Unentscheidbare und 3. die Dringlichkeit, die den Horizont des Wissens versperrt. Ad 1. Die ,gerechte’ Entscheidung erfordert einerseits, dass sie nicht anhand einer Regel ,auszurechnen’ ist (denn dann br¨auchte es keine freien und verantwortlichen Richter, sondern nur Rechenmaschinen). Andererseits erfordert sie nat¨urlich ein Vorgehen nach Regeln, sie soll nicht zuf¨allig oder improvisiert sein, sondern Gr¨unde haben. Die Regel muss also gleichsam wieder erfunden und gerechtfertigt werden, sie muss aktuell nachvollzogen, frei best¨atigt und bejaht werden. Indem dadurch aber wieder eine Setzung stattfindet, der Gr¨undungsakt wiederholt wird, ist auch das Problem der Gerechtigkeit wieder aufgeschoben, da ja diese Setzung prinzipiell dekonstruiert werden kann. Um gerecht zu sein, muss man entscheiden anhand einer gleichsam ,erfundenen’, also aktuell nachvollzogenen Regel, wiederholt aber gleichzeitig dadurch im Urteil den Setzungsakt, der die prinzipielle M¨oglichkeit in sich tr¨agt, wieder hinterfragt zu werden und also nicht ,gerecht’ zu sein. Kurz: Gerechtigkeit erfordert Setzung (Urteil), Setzung ist aber an sich eine Pr¨atention – eine Grundproblematik, die bereits in der theoretischen Reflexion mit Husserl hervorgetreten ist. Ad 2. Die zweite Aporie betrifft das Unentscheidbare. Das Unentscheidbare bezeichnet aber nicht das Schwanken zwischen zwei Regeln, sondern die Erfahrung dessen, was der Regel an sich fremd bleibt, keiner Regel unterstellt werden kann und trotzdem entschieden werden muss. Derrida behauptet, dass die Erfahrung des Unentscheidbaren der eigentlichen Entscheidung vorhergehen muss – sonst w¨are der Akt wieder nur pure Regelbefolgung und verdiente den Namen ,Entscheidung’ nicht. Das Unentscheidbare bleibt aber der Entscheidung, wenn sie auch durch seine Erfahrung hindurchgegangen ist, fremd, es wird niemals Kriterien liefern und l¨asst so die Entscheidung stets im Ungewissen u¨ ber ihre
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Gerechtigkeit; ,,die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar; sie erfordert, daß man mit dem Unberechenbaren rechnet“ (GK 34). Will man gerecht sein, muss man u¨ ber das, was keine Kriterien an die Hand gibt, urteilen, anhand von Kriterien, die man als Regel erfindet (aber eben gerade nicht wahllos). ,,Die zweite Aporie oder diese zweite Gestalt der n¨amlichen Aporie macht bereits deutlich, daß die Dekonstruktion des Glaubens an die bestimmende Gewißheit einer gegenw¨artigen Gerechtigkeit selber von der ,Idee der Gerechtigkeit’, von der Idee einer unendlichen Gerechtigkeit ausgeht: unendlich ist diese Gerechtigkeit, weil sie sich nicht reduzieren, auf etwas zur¨uckf¨uhren l¨aßt, irreduktibel ist sie, weil sie dem Anderen geb¨uhrt, dem Anderen sich verdankt; dem Anderen verdankt sie sich, geb¨uhrt sie vor jedem Vertragsabschluß, da sie vom Anderen aus, vom Anderen her gekommen, da sie das Kommen des Anderen ist, dieses immer anderen Besonderen.“ (GK 51)
Gerechtigkeit, dies wird besonders an dieser Stelle deutlich, ist gefor¨ dert, wenn der An-spruch als Uberschuss und daher als Un-maß auftritt, also ethischer Anspruch ist. Derridas gesamter Diskurs kann von diesem Anspruch ohne Maß, dem Anspruch des Entzugs verstanden werden, dem die rechtliche Intentionalit¨at qua Vernunft (qua Bewegung der Dekonstruktion) antworten muss. Eben dies bezeichnet Derrida als Wahn174 der Dekonstruktion (GK 52), insofern sie erkennt, welches unm¨ogliche Projekt hier verfolgt werden muss – es k¨undigt sich hier aber gerade damit ein neuer Vernunftbegriff an (wie ich weiter unten ausf¨uhren werde), der sich u¨ ber die Pflicht zur Entscheidung verstehen l¨asst. In besonderer Weise werden die Momente des Unmaßes, der Unentscheidbarkeit und der Dringlichkeit betont, weshalb Derrida auch einer Idee der Gerechtigkeit im Sinne der kantischen regulativen Idee gegen¨uber skeptisch auftritt. 174
Derrida spielt hier auf Kierkegaard an, der den Augenblick der Entscheidung als ,Wahn’ bezeichnet. Dies hat auch politische Implikationen: ,,Die dekonstruktive Reflexion o¨ ffnet die Augen f¨ur ein ,Sprachproblem’, das in keiner politischen, das heißt: gemeinsamen Anstrengung zu l¨osen ist, weil es eben das Problem der ,Sprache des anderen’ ist, sofern es/sie/er kein Mitglied einer Gemeinschaft, nicht einmal der verd¨unnten des Rechts ist. [. . .] Daher auch kann eine Politik der Dekonstruktion, die dem Gerechtigkeitsverlangen bis dahin folgt, wo sie ,uns’ mit dem Problem der ,Sprache des anderen’ konfrontiert, nur eine Dekonstruktion der Politik sein: sie glaubt nicht mehr, ja, sie hofft nicht einmal mehr, daß ihr Gerechtigkeitsverlangen sich je ganz stillen lasse. Ihre Treue ¨ zur Gerechtigkeit besteht nicht in einer (positiven) Uberschreitung des Rechts; die Politik der Dekonstruktion ist eine Politik der Z¨asur.“ (Menke 1994, 286 f.)
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Ad 3. ,,Die Gerechtigkeit wartet nicht. Sie ist jenes, was nicht warten darf, was nicht warten muß.“ (GK 54 f.) Die Gerechtigkeit kennt also keinen Erwartungshorizont einer regulativen oder messianischen Idee, denn eine gerechte, angemessene Entscheidung ist unmittelbar erforderlich. ,,Sie kann sich nicht zuerst eine unendliche Information besorgen, das grenzenlose Wissen um die Bedingungen, die Regeln, die hypothetischen Imperative, die sie rechtfertigen k¨onnten.“ (GK 54) Aber selbst wenn sie sich diese Zeit n¨ahme, h¨atte der Augenblick der Entscheidung immer den ¨ Charakter der Dringlichkeit und der Uberst¨ urzung – denn die Entscheidung bleibt ,,immer eine Unterbrechung der juridisch-, ethisch- oder ¨ politisch-kognitiven Uberlegung“ (GK 54). Sie bleibt, in Husserls Worten, eine Entscheidung ,,im Bewusstsein absoluter Verantwortung, und eventuell der absoluten Gefahr“ (Husserl, Ms. A V 21, 13b bzw. S. 189). Ereignishaftes Denken von ,Vernunft’ Die Gerechtigkeit als geforderte Antwort auf den An-spruch ohne Maß bleibt nach Derrida im Kommen (`a venir), sie bleibt im Modus des ,vielleicht’, sie ist die Zukunft, die ,,Dimension ausstehender Ereignisse, deren Kommen irreduktibel ist“ (GK 56). Denn diese Zukunft ist nicht gleichg¨ultig, sie ist immer dringlich. Deshalb steht bei Derrida – auf den letzten Seiten dieses Teils der Gesetzeskraft – das ,,Man muss“ im Zentrum. ,,Man muß nicht nur kalkulieren, den Bezug zwischen dem Berechenbaren und dem Unberechenbaren aushandeln – und zwar ohne Regel“ (GK 58); man muss dies auch immer wieder neu tun, von den ,,Randzonen“175 (GK 59) her. ,,Dieses ,M¨ussen’ geh¨ort eigentlich weder zur Gerechtigkeit noch zum Recht. Dem einen oder dem anderen Raum 175
Eine a¨hnliche These auf anderem Gebiet, genauer: auf der gesellschaftspolitischen Ebene, finden wir bei Judith Butler: Sie argumentiert, dass sich Universalit¨at jedes Mal neu von ,außen’ konstituiert, durch Gruppen, die Anspruch darauf erheben, einen Teil dieser Universalit¨at auszumachen – so z. B. Frauen, Homosexuelle, Schwarze usw., die das fr¨uhere Universalbild des Menschen als das des weißen heterosexuellen Mannes gesprengt haben, indem sie im Lauf der Geschichte ihre Rechte eingefordert haben: ,,The universal begins to become articulated precisely through challenges to its existing formulation, and this challenge emerges from those who are not covered by it, who have no entitlement to occupy the place of the ,who’, but who nevertheless demand that the universal as such ought to be inclusive of them. The excluded, in this sense, constitutes the contingent limit of universalization.“ (Butler 2002, 48).
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geh¨ort es nur in dem Maße an, in dem es die Grenzen des betreffenden Raums zum anderen hin o¨ ffnet.“ (GK 58) Genau am Ort dieses ,man muss’ k¨onnte man Vernunft im Sinne von rechtlicher Intentionalit¨at verstehen. Denn Derridas Denken, soweit es hier skizziert werden konnte, ist zweifelsohne ein rechtliches Denken. Man k¨onnte es sogar als Prototyp eines rechtlichen Denkens charakterisieren, das dem An-spruch des Un-maßes ausgesetzt ist.176 Derridas Werk w¨are damit von der Bewegung her lesbar, die sich immer expliziter als Antwort auf einen ethischen An-spruch versteht (Gondek/Waldenfels 1997, 10 ff ). Den Anspruch, den er an diese Antwort stellt, ist nichts weniger, als dem Sinnereignis (der Alterit¨at) ,angemessen’ zu entsprechen, d. h. selbst ereignishaft zu antworten. Dies bringt ihn, wie er selbst oft betont, auf die Themen der Gabe, der Vergebung, der Gastfreundschaft, der Gerechtigkeit – allesamt Topoi, die Aporien in sich bergen und fordern, das ,Unm¨ogliche zu tun’177 . Mit Levinas konnte beschrieben werden, wie sich das rechtliche Denken aus dem An-spruch erhebt, wie es dadurch in die Pflicht genommen ist. Es geht hier um das schlichte ,man muss’. Derridas Denken kreist nun um das Wie, um diese unm¨ogliche M¨oglichkeit dieses M¨ussens, das messen soll ohne Maß, entscheiden soll ohne Kriterium und geben soll, ohne Gegengabe zu erwar176
,,[E]s gibt keine Differenz zwischen der Gerechtigkeit, die ein dekonstruktiver, ein in der Sache der Dekonstruktion t¨atiger Text praktiziert, eben indem er dem gerecht werden will, was ihm zum Gegenstand wird, und dem Fluchtpunkt der Gerechtigkeit als jener, die in keinem gesetzten Recht aufgeht. [. . .] ,En ce moment mˆeme dans cet ouvrage me voici’, der zweite große Essai, den Derrida Levinas gewidmet hat, thematisiert und praktiziert dieses Bem¨uhen, dem anderen auch gerade da gerecht zu werden, wo er diesen Bezug selbst unter eine paradoxe Forderung stellt.“ (Gondek 1994, 324) 177 Die Rede vom ,Unm¨oglichen’ ist h¨aufig bei Derrida anzutreffen (Derrida 1990, 36; Derrida 1991, 46-59; Derrida 1993, 15, 20; Derrida 2003b). Das ,Unm¨ogliche zu tun’ bezieht sich allerdings ganz konkret auf eine Praxis, die dazu verpflichtet, der Erfahrung des Unverf¨ugbaren gerecht zu werden. Ganz deutlich formuliert dies Derrida in einem Interview mit Ulrich Raulff, erschienen in der S¨uddeutschen Zeitung vom 24. 09. 2001: ,,Der Traum w¨are zu sagen: Erfinden wir etwas anderes. [. . .] Die Freundschaft, die ich meine, ist ebenso unm¨oglich wie der Traum, von dem ich in meiner Dankesrede spreche. Eine Unm¨oglichkeit, die nicht das Gegenteil, das Negative des M¨oglichen ist. Man muss dieses Unm¨ogliche tun, man muss das Unm¨ogliche denken und tun. Wenn nur das gesch¨ahe, was m¨oglich ist, gesch¨ahe gar nichts mehr. Wenn ich nur das t¨ate, was ich tun kann, w¨urde ich gar nichts tun.“ (Derrida 2001b)
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ten. Die gerechte Entscheidung wird ein Ereignis gewesen sein178 , d. h. sie muss etwas ins Werk setzen, u¨ ber das sie nicht souver¨an verf¨ugt. Es kann hier nur angedeutet werden, dass sich diese Schwierigkeit nicht im performativen Handeln oder Sprechen aufl¨ost, sondern ihrer eigenen Logik nach weitergetrieben werden muss in das Undenkbare und Unvorstellbare einer ,,Freiheit ohne Autonomie“, bzw. einer ,,passiven Entscheidung“ (SC 207). Was soll das bedeuten? Derrida zeigt, dass das eigentliche Antworten, das kein Berechnen ist, nicht von einem Subjekt in einfacher, souver¨aner Weise ,produziert’ werden kann179 , ohne das Andere/den Anderen, dem es antworten/entsprechen soll, nicht schon wieder vereinnahmt, gewaltsam gedeutet, verdeckt zu haben. Der Diskurs, den Derrida 178
Vgl. zur Derrida’schen performativen Sprechweise im ,Modus des vielleicht’ und im ,futur ant´erieur’ den Aufsatz ,,Das Ereignis als Symptom. Ann¨aherung an einen entscheidenden Horizont des Denkens“, in dem Peter Zeillinger pr¨azise Derridas Ereignisdenken nachzeichnet: ,,Diese Temporalit¨at [des futur ant´erieur] durchzieht alle Aussagen u¨ ber das Ereignis – selbst dort, wo die S¨atze nicht in dieser grammatikalischen Form verfasst sind. Die temporale Spannung, auf die die Rede vom Ereignis herausl¨auft, ergibt sich [. . .] aus der Betonung der Unm¨oglichkeit aller Identifizierung und dem daraus resultierenden Sprechen im Modus des Vielleicht.“ (Zeillinger 2006a, 191) Zum Sprechen vom Ereignis z¨ahlt bei Derrida auch die Frage nach der Gerechtigkeit, deshalb treffen wir hier ebenfalls auf den Modus des Vielleicht: ,,Der gef¨ahrliche Relativismus, den man in dieser Aussage vermuten k¨onnte, kann dabei nur dadurch vermieden werden, dass der Satz ,Die in eben diesem Moment getroffene Entscheidung ist vielleicht gerecht’ im futur ant´erieur und damit als Bekenntnis gelesen wird [. . .]. Das dem Ereignis der Gerechtigkeit verpflichtete Urteil w¨are in diesem Sinne wie folgt zu lesen: ,Mit dieser Entscheidung hier – mit meinem Urteil – wird sich vielleicht – daf¨ur u¨ bernehme ich Verantwortung, daf¨ur engagiere ich mich – Gerechtigkeit ereignet haben.’ Das futur ant´erieur spricht also von einem Geschehen, das bereits hier und jetzt wirksam wird, dessen Bew¨ahrung aber noch aussteht. Im Sinne eines Bekenntnisses bringt es zudem nicht einfach eine konstative Aussage hervor, sondern vielmehr ein Engagement zum Ausdruck. Darin liegt letztlich der Kern der Rede vom Ereignis bei Derrida: es ist ein affirmatives Bekenntnis zu einem Nicht-Deduzierbaren in der Verantwortung seiner ausstehenden Bewahrheitung. – Das engagierte Versprechen des Unm¨oglichen im futur ant´erieur w¨are demnach der Grundmodus allen Sprechens vom Ereignis.“ (Zeillinger 2006a, 192 f.) 179 ,,In den [. . .] ethischen Ereignis-Diskursen kann es also nicht um die ,Produktion’ eines Ereignisses gehen, vielmehr w¨are mit der St¨orung/Verwirrung (d´erangement), dem R¨atsel (enigma) und dem Vielleicht insofern ernst zu machen, als darauf verzichtet w¨urde, das Ereignis positiv zu verorten (auch nicht im eigenen Engagement), und vielmehr ¨ umgekehrt das Engagement als Sich-Offnen f¨ur das Ereignis zu inszenieren [. . .].“ (Zeillinger 2006a, 194)
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¨ hier f¨uhrt, ist das Offenbar-Werden der Uberforderung, des Unmaßes auf der Seite des Antwortenden; es ist die Pflicht, die ,Wahn’ wird, wenn auch noch vern¨unftiger Wahn. Denn was bleibt, ist das ,man muss’. Auf jeden Fall macht Derrida ernst mit dem Anspruch, unter dem ein rechtliches Denken des ethischen Angesprochen-Seins steht. Aus diesem Grund ist er auch skeptisch gegen¨uber dem L¨osungsversuch einer ,regulativen Idee’, welche die angemessene Antwort, das angemessene Urteil in die Unendlichkeit hinein verschiebt. Regulative Idee, Teleologie und Architektonik neutralisieren seines Erachtens das Ereignis (SC 173). Denn in der regulativen Idee artikuliere sich erstens (SC 120) weder das Un-m¨ogliche, das gefordert ist, noch die Dringlichkeit, mit der dieses gefordert ist. Zweitens laufe diese Figur Gefahr, zu einem normativ-maschinellen Automatismus zu verkommen und damit keinen Raum mehr f¨ur wirkliche Entscheidungen und Verantwortungen zu lassen. Drittens sei die genaue kantische Architektonik zu betrachten, vor allem der unentbehrliche Gebrauch des ,als ob’, der das imagin¨are Interesse der Vernunft im regulativen Gebrauch der Ideen Welt, Seele, Gott leitet. Gewiss treffen hier einige Kritikpunkte Derridas zu; die Dringlichkeit kommt in der regulativen Idee nicht zum Ausdruck; sehr wohl aber die Pflicht zur Perfektibilit¨at und zum verantwortlichen Urteil (denn ohne dieses kommt die Bewegung der regulativen Idee gar nicht in Gang). Auch Derrida muss zugeben: ,,Es bleibt freilich, daß die regulative Idee in Ermangelung eines Besseren, sofern man mit Blick auf eine regulative Idee vom Mangel eines Besseren sprechen darf, vielleicht ein letzter R¨uckhalt bleibt.“ (SC 119) Worum es in den ph¨anomenologischen Ausf¨uhrungen dieses Buches ging, war, die Gegebenheit von rechtlichen Strukturen auf ihren Ursprung und ihre Beschaffenheit hin zu befragen. Auch Derrida nimmt ja diese rechtlichen Strukturen in Anspruch; denn die Dekonstruktion tut nichts anderes, als den Zweifel in die ,Metaphysik der Pr¨asenz’ hineinzutragen und dabei ihr Recht in Frage zu stellen; sie tut nichts anderes, als der rationalen, souver¨anen Entscheidung des autonomen Subjekts vor Augen zu f¨uhren, dass sie den An-spruch des Anderen verdeckt, dass sie nicht offen genug f¨ur St¨orungen und Unentscheidbarkeiten ist, dass sie nicht angemessen zu antworten versucht – und dass damit letztlich das, was Subjektivit¨at beansprucht zu sein, verfehlt wird.
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Da sich Rechtssinn, Berechtigung, Rechtfertigung f¨ur die Dekonstruktion nicht mehr im vollen Angesprochen-Sein der Evidenz eichen d¨urfen, da sie dieser F¨ulle programmatisch widersteht180 (obwohl sie sie gewiss bei jedem argumentativen Schritt wieder in Anspruch nehmen muss), kann sie sich als ethisches Denken des Entzugs verstehen. Damit ist ihr aber kein konstativer Satz, kein Urteil mehr erlaubt, das sich nicht schon in den Modus des ,vielleicht’ und in das ,futur ant´erieur’ zur¨uckziehen w¨urde. Man kann Derrida hier zumindest nicht einen Mangel an Konsequenz vorwerfen. Nimmt Konsequenz aber nicht eine gewisse Evidenz in Anspruch? Das Verh¨altnis zu einer Vernunft, die den An-spruch der Gegebenheit rechtlich begreift und dieses Recht auch nach den Maßen der Erf¨ullung bestimmen kann, ist in diesem Zusammenhang schwierig festzumachen. Auf jeden Fall wird Derrida nicht m¨ude zu betonen, dass, ,,[u]m diese Heterogenit¨at und diese Unzertrennlichkeit [von Recht und Gerechtigkeit] zusammenzudenken, [. . .] man eine Selbstbeschr¨ankung zur Kenntnis nehmen und bekunden [muß], welche die Vernunft spaltet [. . .]: Was man, in der einen oder anderen Sprache, Vernunft nennt, findet sich auf beiden Seiten. Im Zuge eines jedesmal neu geschlossenen, unerh¨orten Vergleichs erm¨oglicht die Vernunft den Transit und den Kompromiß zwischen der vern¨unftigen Forderung nach Berechnung oder Bedingtheit einerseits und dem intransigenten, das heißt nicht verhandelbaren Anspruch des unbedingten Unberechenbaren andererseits. Diese unverhandelbare Forderung ist u¨ ber alles Herr und muß es sein [a raison et doit avoir raison de tout]. Ob es um Singularit¨at oder Universalit¨at geht – und es geht jedesmal um beides zugleich: auf beiden Seiten bedarf es sowohl des Kalk¨uls als auch des Unkalkulierbaren. Die Verantwortung der Vernunft, die Erfahrung, die darin liegt, Vernunft zu bewahren, f¨ur eine Vernunft einzustehen, die uns als Verm¨achtnis gegeben ist, w¨urde ich genau in der extremen Schwierigkeit [. . .] zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten, dem Kalk¨ul und dem Unkalkulierbaren 180
Evidenz im Husserl’schen Verst¨andnis ist bei Derrida durch seine Betonung der Universalit¨at des Schriftcharakters gar nicht mehr gegeben, insofern dieser durch eine st¨andige Nachtr¨aglichkeit und damit durch einen Entzug von Pr¨asenz gekennzeichnet ist. Durch die Geschichtlichkeit und die Versch¨uttetheit wird auch die theoretische Frage zu einer Frage der Gerechtigkeit (weil Unentscheidbarkeit). Was aber ist dann das Berechenbare? Und was ist der Unterschied zwischen dem Berechenbaren und dem Unberechenbaren? Teleologie w¨urde nach Derrida das Ereignis nur neutralisieren. Dieser Gesamtproblematik w¨are in Hinsicht auf den theoretischen Teil noch einmal nachzugehen.
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ansiedeln.“ (SC 204 f.) — ,,Das Vern¨unftige, wie ich es hier verstehe, w¨are eine Rationalit¨at, die das Unberechenbare in Rechnung stellen w¨urde, um von ihm Rechenschaft zu geben, selbst wo es unm¨oglich scheint, um es in Rechnung zu stellen und mit ihm zu rechnen, das heißt mit dem Ereignis dessen, was kommt, oder dessen, der kommt.“ (SC 215)
Es geht also um ein Denken der Vernunft, aber um ein ereignishaftes Denken, vom Kommen oder Werden der Vernunft als Erfahrung einer Andersheit, ,,die von der Selbstheit einer souver¨anen Macht und eines kalkulierbaren Wissens nicht wieder angeeignet werden kann“ (SC 198). Diese Vernunft, von der Derrida spricht, w¨are schon die geforderte Antwort auf den An-spruch, ebenso wie die Gerechtigkeit; die Vernunft als rechtliche Intentionalit¨at ist aber vielmehr das rechtliche Begreifen des An-spruchs als Sollensforderung einer Antwort: eben das ,man muss’. Kann man aber, so vielleicht Derridas R¨uckfrage, vom An-spruch u¨ berhaupt sprechen, außer wieder performativ, in Form des Bekenntnisses? Gibt es die pr¨adikative Urteilsebene u¨ berhaupt, die dem An-spruch entspricht, muss nicht alles in Form eines Bekenntnisses gesagt werden? Dazu ist zu sagen: Gerade das vern¨unftige, rechtliche Denken versteht sich als Nachtr¨aglichkeit, als eine ,gebrochene’ und keine direkte Form (schließlich muss sie sich immer selbst ihre Norm schaffen); im rechtlichen Denken, im Pr¨adizieren in rechtlichen Strukturen findet sich die Spur des An-spruchs als vor¨ubergegangener; insofern kann man nur vom An-spruch innerhalb der rechtlichen, legitimierenden Strukturen sprechen und etwas anderes wurde hier auch nicht getan. Vernunft aber muss urteilen – auch wenn sie dem Unverf¨ugbaren in Form der regulativen Idee oder des ,vielleicht’ Rechnung tr¨agt. Es stellt sich noch die Frage, wohin das ,Recht’ im Derrida’schen Sinne geh¨ort und was das ,Kalkulierbare’ ist. Wir haben das ,Recht’ vorher als das ,woran’ der Dekonstruktion bestimmt. Dabei gab es eigentlich eine zweifache Dekonstruierbarkeit des Rechts (Bischof 2004, 161): erstens seine Perfektibilit¨at, d. h. die ewige M¨oglichkeit der Verbesserung des vorhandenen Rechts durch die rechtliche Intentionalit¨at qua dekonstruktive Bewegung; zweitens sein ,mystischer Grund’ der Setzung, der sich in jedem Urteil, jeder Verbesserung, jeder Rechtfertigung wiederholt und den Diskurs an seine eigenen Grenzen f¨uhrt – bzw. genau hier u¨ ber diese ¨ Grenzen hinausf¨uhrt, insofern an diesem Punkt die Uberlegung beginnt,
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das ,Unm¨ogliche tun’ zu m¨ussen. Das Recht aber kann nicht das Kalkulierbare, Berechenbare sein – es ist vielmehr das schon Berechnete, das der Kritik unterworfen wird. Was also kann kalkuliert werden? M¨usste hier nicht eine Ph¨anomenologie des Kalkulierbaren (und des Unkalkulierbaren) einsetzen? Wo w¨are die Unterscheidung zu treffen? Ist schließlich nicht auch das Kalkulieren etwas, das sich der Rechtfertigung und der ¨ Uberpr¨ ufung aussetzen muss? Hat hier die rechtliche Struktur der theoretischen Vernunft mitsamt ihrem Postulat der absoluten Rechtfertigung einen Platz? Oder ist mit der Rationalit¨at der Kalkulierbarkeit nur ein maschinelles Rechnen gemeint? Dies sind Fragen, die von Derridas Texten her offen bleiben m¨ussen, und es ist nicht ungef¨ahrlich, an dieser Stelle in eine Dichotomie von Banalisierung und Mystifizierung (oder Stilisierung) des Urteilens hineinzurutschen: auf der einen Seite das ,bloß Kalkulierbare’, auf der anderen Seite das stets ,Unm¨ogliche’. Nach Derrida ist die Gerechtigkeit nicht objektivierbar, und die Dekonstruktion bewegt sich in diesem ,,Zwischenraum“ (GK 30) der Dekonstruktibilit¨at von Recht und der Nicht-Dekonstruierbarkeit von Gerechtigkeit. Was sich hier durchh¨alt und worauf das Thema der ,Gerechtigkeit’ hinzielt, ist das ,Interesse’ oder ,Begehren’ der Vernunft. Derrida weist darauf hin, dass bei Husserl die unendliche Aufgabe der Philosophie als Theorie vor allem als Aufgabe und als Pflicht, d. h. als ein unbedingtes praktisches Ideal verstanden werden muss (SC 171); ebenso ist es bei Kant so, dass das Interesse der spekulativen Vernunft nur bedingt, das der praktischen aber unbedingt ist (KpV A219). Derrida stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob Wert, Begehren und W¨urde181 der Vernunft selbst noch vern¨unftig sind. ,,Der Vernunft den Vorzug zu geben, ist das rational oder, was nicht dasselbe ist, vern¨unftig?“ (SC 162) Es soll hier nicht um einen Streit von Worten gehen. Mit dem Begehren der Vernunft ist auch das Wesen der Vernunft gemeint, zu einer Einheit zu kommen – und dies heißt unter Umst¨anden auch, diese ,Einheit’ antizipieren, erwarten, ins Werk setzen zu m¨ussen. Dieses Begehren ist aber zur selben Zeit ein Begehren nach angemessener Antwort, und 181
Der kantischen Bestimmung folgend (GMdS, AA 434 f.), z¨ahlt Derrida die ,W¨urde’ zur Ordnung des Unberechenbaren (SC 180).
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die Vernunft w¨are das ausgezeichnete Verm¨ogen, f¨ur diese Angemessenheit verantwortlich zu sein, sie zu denken und auch in ihrem Namen zu handeln: Angemessenheit heißt hier nicht nur das Rationale, Logische, auch nicht nur das Gesetzm¨aßige, sondern dar¨uber hinaus das Gerechte oder das Gastfreundliche (dem Gast angemessen). Dies alles ist in einem Verst¨andnis von Vernunft als rechtlicher Intentionalit¨at, als rechtlichem Begehren zu begreifen: Denn die Form von Rechtfertigung, Kritik, Ausweisung, Dekonstruktion etc. ist immer an das Begehren eines voll ausgewiesenen Rechtssinns gekn¨upft, auch und vor allem, wenn sich dieser als unm¨oglich erweist und ein Verhalten dazu erfordert: ,,Denn woher w¨urde die Dekonstruktion ihre Kraft sch¨opfen, woher w¨urde sie ihre Gewalt nehmen, woher w¨urde sie ihren Bewegungsimpuls oder ihre Motivierung haben, wenn nicht von diesem immer unzufriedenen Ruf, von dieser nie zufriedenzustellenden Forderung, jenseits der vorgegebenen und u¨ berlieferten Bestimmungen dessen, was man in bestimmten Zusammenh¨angen als Gerechtigkeit, als M¨oglichkeit der Gerechtigkeit bezeichnet?“ (GK 42)
Vernunft als responsiv-rechtliches Verm¨ogen zu verstehen, heißt, ihre Autonomie (die als Autonomie eine verpflichtete ist) als Dreh- und Angelpunkt ihrer urteilenden Verantwortung zu verstehen. Der ,Ruf’ (der Vernunft), der an den oder die Urteilende/n geht, macht diese Verantwortung bewusst. Von An-spruch kann nur in der gebrochenen Form der ,Spur’ gesprochen werden, die eine Vorg¨angigkeit andeutet, die verpflichtet. Die Beunruhigung aus dieser Passivit¨at wurde bei Husserl schon als ,Unbehagen’ verhandelt, bei Derrida (und nat¨urlich auch bei Levinas) schließlich nimmt das Unbehagen kein Ende, wird zur Aufforderung einer Antwort, die ihrem eigenen Bed¨urfnis nach Einheit widerstehen muss. Wenn hier der Begriff des Praktischen seine eigene Relevanz bekommt, dann in einem Einstehen-f¨ur – das gleichzeitig alle nur irgendwie denkbaren rationalen ,objektiven’ Kriterien ber¨ucksichtigt. Es ¨ der Verist keine Schw¨armerei, sondern Strenge, ,,dieser Uberschuß nunft“ (SC 207), der das Urteil als verantwortliche Handlung fordert, eine ,Handlung’182 , der es sich antwortend auszusetzen gilt. 182
Die Passivit¨at dieses ,Handelns’ als Offen-Werden f¨ur ein Ereignis geht so weit, dass man den klassisch aktiv besetzten Begriff hier besser unter Anf¨uhrungszeichen stellt.
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4. Rechtsphilosophische Horizonte von Kritik und Weiterf¨uhrung I: Menschenrechte als ,Rechte des Anderen’ Den Abschluss dieses ersten Abschnitts zu ,Horizonten von Kritik und ¨ Weiterf¨uhrung’ bildet ein Versuch, aus den hier erfolgten Uberlegungen zum rechtlichen Denken einen Beitrag zur rechtsphilosophischen Diskussion zu leisten. Damit soll eine Ankn¨upfung an die ,Rechtsfrage im lebensweltlichen Kontext’ (vgl. Kap I.5) angestrebt werden, um die erarbeiteten Positionen auch außerhalb einer rein ph¨anomenologischen Zugangsweise diskutieren zu k¨onnen. Einen konkreten Ankn¨upfungspunkt daf¨ur bietet Emmanuel Levinas, der in mehreren kleinen Texten183 eine Transformation des Begriffs und der Begr¨undung der Menschenrechte durch sein Denken der Alterit¨at andeutet. Menschenrechte sollen demgem¨aß als ,Rechte des Anderen’ verstanden werden. Der Entwurf eines solchen rechtsphilosophischen Ansatzes im Sinne von Levinas’ Alterit¨atsethik soll im Folgenden kurz vor183
Im Folgenden werde ich mich vor allem auf den Text ,,Les droits de l’homme et les droits d’autrui“ beziehen, der in Hors sujet (1987) publiziert wurde und gerade eben in ¨ deutscher Ubersetzung in dem Band Verletzlichkeit und Frieden (2007) erschienen ist. ¨ Ich zitiere aus diesem Grund meine (vor dieser Erscheinung entstandene) eigene Ubersetzung auf Deutsch (mit dem franz¨osischen Originaltext in den Fußnoten und Hinwei¨ sen auf die Ubersetzungen von Delhom/Hirsch). Weitere Texte von Levinas zum Thema der Menschenrechte: ,,Droits de l’homme et bonne volont´e“ in: Indivisibilit´e des droits de l’homme, Les Editions Universitaires de Fribourg, 1985 bzw. dt. ,,Die Menschenrechte und der gute Wille“, in: Zwischen Uns, 252–256; Neu¨ubersetzung: ,,Menschenrechte und guter Wille“, in: Verletzlichkeit und Frieden, 109–114. ,,Interdit de la repr´esentation et ,Droits de l’homme’“, in: Colloque de Montpellier, Seuil, 1981 bzw. dt. ,,Bilderverbot und ,Menschenrechte’“, in: Verletzlichkeit und Frieden, 115–126. ,,Les droits de l’autre homme“, in: Les droits de l’homme en question, 1989, 43–45. ,,Nom d’un chien ou le droit naturel“, in: Celui qui ne peut se servir des mots, Fata Morgana, 1975 bzw. dt. ,,,Nom d’un chien’ oder das Naturrecht“, in: Apr`es vous. Denkbuch f¨ur Emmanuel Levinas zum 100. Geburtstag. Hrsg. von F. Miething & C. v. Wolzogen, Neue Kritik, Frankfurt a. M. 2006, 55-59. Sekund¨artexte: Eine ausf¨uhrliche Arbeit (R´eexamen ´ethique des droits de l’homme sous l’´eclairage de la pens´ee d’Emmanuel Levinas), die die Problematik einerseits von einer theologischen, andererseits von einer konkret politischen Perspektive der Situation in Afrika betrachtet, ist 1997 auf Franz¨osisch erschienen (Ndayizigiye 1997). Im deutschsprachigen Raum m¨ochte ich vor allem auf die Arbeiten von Alfred Hirsch hinweisen (Hirsch 2005a, 2005b).
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gestellt werden. Daf¨ur ist eine philosophische Vorbetrachtung erforderlich, n¨amlich ob und wie in dem herausgearbeiteten Zusammenhang u¨ berhaupt von einem ,urspr¨unglichen’ ,Recht’ des Anderen gesprochen werden kann. Bisher wurde stets nur die Erzeugung des Rechtscharakters u¨ berhaupt behandelt. Nun l¨age dieser transzendentalen Erzeugung aber noch ein ,Recht’ des Anderen voraus, das tats¨achlich als ,nat¨urliches Recht’ des Anderen verstanden w¨are. Damit fiele man allerdings in einen bloß behauptenden naturrechtlichen Diskurs zur¨uck. Vielmehr m¨usste das ,Recht’ des Anderen als aufgegebene Verantwortung verstanden werden. Vorbetrachtung: Sinnereignis184 und normatives Leisten Wo und wie ein ,Recht’ des Anderen sich genau zeigen soll, ist bei Levinas nur unpr¨azise herausgearbeitet. Es scheint, als ob einerseits ,,ein praktisch unendliches Recht“ (Levinas 1998, 12) des Anderen schon in der asymmetrischen Beziehung mit ihm vorhanden ist, andererseits steht die Ebene des Dritten f¨ur den Quellpunkt solcher Begriffe. In der ethischen Erfahrung des Anderen liegt also – auf gewisse Weise – sein Recht beschlossen. Aber: Kann man denn u¨ berhaupt von einem ,Recht’ auf der vorpr¨adikativen, ja pr¨aintentionalen Ebene des Sinnereignisses der Alterit¨at sprechen, ohne sich in unaufl¨osbare Widerspr¨uche zu verstricken? ¨ Und wie kann der Ubergang eines ,in Beschlag nehmenden’ Ereignisses zu einem normativen Urteil sinnvoll aufgezeigt werden, ohne einen plumpen naturalistischen Fehlschluss zu begehen oder zumindest, wie Levinas selbst sagt, ,,auf das Niveau von irgendwelchen ger¨uhrten Subjektivit¨aten [. . .] abzusinken“ (Levinas 1995, 256)? Der konkrete Vorstoß, die Rechte des Anderen u¨ ber das Sinnereignis zu erschließen, gibt uns also die weiter gefasste Frage zu denken auf: Wie korrespondieren Sinnereignis und (normatives) intentionales Leis184
Der Begriff des Sinnereignisses bezeichnet den Einbruch einer spontanen Sinnbildung in das intentionale Bewusstsein. Sinnereignisse sind Alterit¨atserfahrungen, die Widerfahrnischarakter besitzen. Mit dem Konzept des Sinnereignisses wird im Besonderen der Sinnbildungsprozess des Bewusstseins unter dem Blickwinkel der Alterit¨at befragt. Das folgende Unterkapitel geht auf einen Vortrag zur¨uck, den ich 2005 auf der Wuppertaler Tagung der Deutschen Gesellschaft f¨ur Ph¨anomenologische Forschung (,Ph¨anomenologie der Sinnereignisse’) gehalten habe.
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ten? Wie muss der Zusammenhang zwischen einem Ereignis, das das Bewusstsein immer schon eingeholt hat, zu einer antwortenden Konstitution dieses Bewusstseins gedacht werden? Es handelt sich hier nicht um eine Gebung, deren Sinn intentional konstituiert wird, sondern um eine spontane Sinnbildung, mit der der Andere ins intentionale Bewusstsein einbricht. Daf¨ur m¨ussen zwei Logiken, zwei Bewegungen zusammen oder besser: zueinander zu gedacht werden, die auf den ersten Blick einander widerstreiten: das Denken des Sinnereignisses und das Denken in normativen Strukturen. Diese allgemeinen und noch sehr weit gefassten Titel stehen scheinbar f¨ur zwei entgegengesetzte Paradigmen: das Sinnereignis f¨ur die Durchbrechung der Ordnung, f¨ur die Aufl¨osung der Ontologien durch Singularit¨at, Differenz, Virtualit¨at und Zeitbrechung, f¨ur die kategorial unfassbare Erfahrung und f¨ur das genetische Paradox des Strukturdenkens (R¨olli 2004, 7). Das rechtliche Denken steht f¨ur normative Ordnung, Ausweisung, Evidenz, Chronologie, Eindeutigkeit und Einheit. Ziel dieser kurzen Betrachtung ist eine Kritik, die (im Sinne des oben Ausgearbeiteten) sowohl die Grenzen der Sinnbildung im Sinnereignis als auch die Angewiesenheit der intentionalen Sinnkonstitution ausloten will. Recht ist nicht etwas, das ,von selbst’ erscheint, wie uns die Naturrechtslehren plausibel machen wollen, es ist vielmehr, wie Kelsen sagt, Ergebnis einer normativen Deutung. Das bedeutet, transzendentalph¨anomenologisch umgewendet, nichts anderes als: Recht ist nicht etwas, was Sinn einer urspr¨unglichen Gebung ist, sondern etwas, wor¨uber anhand einer Norm geurteilt wird. Es ist eine intentionale Leistung. Evidenz ist ebenfalls ein Akt, eine Leistung. Bei Husserl werden die Begriffe ,Evidenz’ und ,Recht’ oft in einem Atemzug genannt; eine genaue Analyse hat gezeigt, dass rechtliche Intentionalit¨at nichts anderes als diese Vernunft ist, welche Evidenz als Rechtsgrund begreift; dass eine weitere intentionale Leistung auszumachen ist, die origin¨are Anschauung und Evidenz als Rechtsgrund erkennt, diesen Rechtsgrund als Rechtsgrund setzt und damit die normative Grundstruktur spontan setzt. Diese pr¨adikative Leistung, die damit die normative Kategorie bzw. die transzendentale Legitimationsfigur konstituiert, macht unser gesamtes vern¨unftiges Denken zu einem ausweisenden, einem rechtlichen Denken. Wenn damit die Bedingungen der M¨oglichkeit der Rechtskonstitution
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als Rechtssinn aufgezeigt sind – was bedeutet das f¨ur das sich origin¨ar zeigende ,Recht des Anderen’? Das Sich-vorweg-Sein der Subjektivit¨at als der-Eine-f¨ur-den-Anderen ist reine Passivit¨at, die Levinas Verantwortlichkeit nennt. Anders formuliert: Das ethische Ereignis bedeutet f¨ur die Subjektivit¨at Passivit¨at im Sinne von Hingegebenheit an die Gebung und l¨asst kein Rechtsurteil zu. Recht ,erscheint’ nicht, Recht wird geurteilt, wird zugesprochen, doch der ,Besessene’ urteilt nicht und der Angesprochene spricht nicht zu, sondern antwortet. Recht kann nicht als fremde Sinnstiftung ,erfahren’ werden. Der Andere stiftet keine fertige normative Struktur, ist er doch selbst ihr Gegenteil. Von einem ,urspr¨unglichen’ oder ,vorg¨angigen’ Recht des Anderen zu sprechen heißt, ihn schon wieder eingebunden zu haben in die Ordnung, die er immer schon durchbrochen hat. Vom quasiobjektiven Recht des Anderen zu sprechen, heißt die Verantwortung zu verkennen, die der urteilenden Vernunft tats¨achlich auferlegt ist. Aus dieser Sph¨are kann kein Recht des Anderen begr¨undet werden. Das angebliche ,Recht’, mit dem mir der Andere begegnet, m¨usste vielmehr als vorpr¨adikativer (also vorrechtlicher) An-spruch gefasst werden. Wie geh¨oren das ethische Angesprochen-Sein (als Passivit¨at) und das geforderte Konstituieren des Rechtsgrundes (als kritische Aktivit¨at, Vernunftaktivit¨at) zusammen? Angesprochen-Werden stiftet das Urteilen-M¨ussen (Setzen-M¨ussen) und das Antworten-Sollen. Die normative Struktur entfaltet sich in der ¨ Ubernahme des Angesprochen-Seins in die eigene Verantwortung. Doch sie ist aufgrund des ethischen Widerstandes keine souver¨ane Struktur, keine souver¨ane Vernunft, die von einem evidenten Rechtsgrund her Geltung zu- oder absprechen kann. Dem An-spruch des Anderen muss sie in einer Rechtsetzung antworten, die ohne konstituierten Rechtsgrund, abgr¨undig, an-archisch ist. Dennoch muss sie dieses Recht setzen, es ist ihr nicht gegeben. Deshalb ist das Recht des Anderen auch kein ontologischer Begriff, sondern etwas, das in meiner Verantwortung liegt, in meiner Verpflichtung dem Angesprochen-Sein gegen¨uber, das mich u¨ berhaupt erst als rechtliches Wesen konstituiert. Recht zu konstituieren ist Sache der Subjektivit¨at. Durch eine Postulierung eines Rechtes des Anderen, das dann doch niemand ,beweisen’ kann, wird das Subjekt aus der Verantwortung entlassen, dieses Recht dem Anderen immer selbst zusprechen zu sollen, zu m¨ussen. Es ist wichtig, die Freiheit dieser Konstitution zu beto-
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nen, weil nur dann die volle Verantwortung f¨ur den Anderen u¨ bernommen wird. Statt einen W¨urdebegriff zu postulieren, der klassisch an Vernunft und Freiheit gebunden bleibt, k¨onnte man vielmehr die Vernunft und die Freiheit selbst binden, die Verantwortung f¨ur einen An-spruch, der sich unendlich ereignet, immer neu zu u¨ bernehmen. Diese Unendlichkeit muss in die Zeit hinein verantwortet werden und deshalb muss sich auch – wie Derrida gezeigt hat – die Absolutsetzung einer Norm immer der Berufung und der Revidierung aussetzen. Ich fasse zusammen: Das Zusammengeh¨oren von Sinnereignis und Sinnbildung normativer Strukturen zeigt sich als spontane Konstitution der Legitimationskategorie im Sinne einer Ver-Antwortung eines vorpr¨adikativen Anspruchs. Recht (als Produkt einer gegl¨uckten Rechtfertigung) ist seinem tiefsten Sinn und seiner Struktur nach dem Ereignis des Anspruchs, des Angesprochen-Seins verpflichtet. Das Sinnereignis allerdings kann nicht unter eine Rechtskategorie fallen und diese auch nicht begr¨unden durch fremde Sinnbildung. Bei fremder Sinnbildung kann u¨ berhaupt nicht stehen geblieben werden, wenn von Recht, Rechtssinn die Rede sein soll, der nur intentional, auf transzendentaler Ebene konstituiert werden kann. Umgekehrt aber tr¨agt genau diese transzendentale Struktur unseres normativen Denkens in ihrer Intentionalit¨at eine Spur des Angesprochen-Seins, des Anspruchs. Der Rechtssinn tr¨agt diese Spur insofern in sich, als er volle Rechtfertigung, Antwort, Verantwortung fordert, und, wo diese nicht m¨oglich ist, die Norm selbst u¨ berschreitet bzw., wo diese wesenhaft nicht m¨oglich ist, die Forderung ins Unendliche und Dringliche gleichzeitig verschiebt. Insgesamt ist die Gesamtstruktur des rechtlichen, normativen und ausweisenden Denkens im Angesprochen-Sein gestiftet. Menschenrechte als Rechte des Anderen Der Levinas’sche Entwurf zu einer Menschenrechtsethik gr¨undet nun auf diesem Verst¨andnis des ,Rechtes des Anderen’ als meiner Verantwortung. Levinas’ Kritik an der Begr¨undung und dem Grund-Verst¨andnis der Menschenrechte greift zwar einen kantischen Gestus auf, richtet sich aber schließlich doch gegen die klassische Argumentation, die sich ausschließlich auf selbstgesetzgebende Vernunft st¨utzt. Dies allein sei nicht ausreichend, so Levinas, denn eine Gerechtigkeit, die sich aus der Abgrenzung
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vieler verschiedener freier Willen ableite, die nichts weiter miteinander zu tun h¨atten, bliebe stets nur ein schlechter Kompromiss: ,,Sich in der Gerechtigkeit an die Norm des puren Maßes – oder der M¨aßigung – zu halten zwischen Gliedern, die sich ausschließen, k¨ame wieder darauf zur¨uck, die Beziehungen, die zwischen Mitgliedern der menschlichen Gattung bestehen, auf die Beziehung zwischen Wesen mit einer logischen Ausdehnung zu reduzieren, die f¨ur den Einen wie den Anderen nichts bedeuten als Negation, Addition oder Indifferenz. In der Menschheit, von Individuum zu Individuum, stellt sich eine N¨ahe her, die nicht durch die r¨aumliche Metapher der Ausdehnung eines Begriffs ihren Sinn gewinnt. Sofort sind der Eine und der Andere: der Eine im Angesicht des Anderen. Ich bin f¨ur den Anderen.“ ¨ (Ubersetzung S.L., Levinas 1987a, 168)185
Diese wenigen expliziten Texte zum Thema der Menschenrechte sind zwar meistens sehr kurz, daf¨ur umso reichhaltiger, vor allem was die Auseinandersetzung mit Kant betrifft. Ich kann hier nur andeuten, dass Levinas’ Stoßrichtung dahin geht, im guten bzw. freien Willen eine Dimension der G¨ute zu verorten, die sich nicht aus der praktischen Vernunft speist, sondern aus der an-archischen Beziehung mit dem Anderen.186 Dabei spricht Levinas der Spontaneit¨at des Wollens mehr als das bloße Verm¨ogen der Gesetzm¨aßigkeit zu: Gerade das Spontane geht noch u¨ ber das Gesetz hinaus und wendet sich dem Anderen in einer nicht zu 185
,,S’en tenir, dans la justice, a` la norme de la pure mesure – ou mod´eration – entre termes qui s’excluent, reviendrait encore a` assimiler les rapports entre membres du genre humain au rapport entre individus d’une extension logique, qui ne signifient, de l’un a` l’autre, que n´egation, additions ou indiff´erence. Dans l’humanit´e, d’individu a` individu, s’´etablit une proximit´e qui ne prend pas sens a` travers la m´etaphore spatiale de l’extension d’un concept. D’embl´ee, l’un et l’autre, c’est l’un en face de l’autre. C’est moi pour ¨ l’autre.“ Vgl. auch Pascal Delhoms Ubersetzung in Levinas 2007, 106. 186 ,,Ist es tats¨achlich sicher, dass der Wille ganz und gar praktische Vernunft im Sinne Kants ist? Hat er nicht einen nicht zu unterdr¨uckenden Teil, den die Formalit¨at des ¨ Universalismus nicht zu verpflichten w¨usste?“ (Ubersetzung S.L., Levinas 1987a, 168) (dt. Levinas 2007, 104) Dazu Hirsch: ,,Levinas liest den Text Kants wie einen, der sich seiner eigenen Großm¨utigkeit und seiner eigenen ethischen Bewegung nicht bewusst ist, der nicht ahnt, woher das Begehren einer unendlichen Universalit¨at kommt. Denn warum sollte ich u¨ berhaupt wollen k¨onnen, dass meine Maxime ein allgemeines Gesetz werden solle? Dieses ,Wollen K¨onnen’ l¨asst sich nur erkl¨aren anhand eines unstillbaren und nicht-sinnlichen Verlangens, das sich dem Gesetz der Vernunft selbst entzieht, und sich vor allem der Kontrolle durch das Subjekt entwindet.“ (Hirsch 2005b, 237)
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unterdr¨uckenden G¨ute zu. Spontaneit¨at dr¨uckt sich so aus als das metaphysische Begehren des Anderen. Dar¨uber hinaus wird in diesen Texten eine politische Dimension sichtbar, die den liberalen Staat verteidigt, auch wenn ,,die Verteidigung der Menschenrechte auf eine Berufung antwortet, die dem Staat a¨ußerlich ist und die innerhalb einer politischen Gesellschaft eine Art von ExtraTerritorialit¨at genießt [. . .]. [. . .] Die M¨oglichkeit, diese Extra-Territorialit¨at und diese Unabh¨angigkeit zu garantieren, definiert den liberalen Staat und beschreibt die Moda¨ lit¨at, gem¨aß der dies m¨oglich ist, als Konjunktion von Politik und Ethik.“ (Ubersetzung 187 S.L., Levinas 1987a, 167)
F¨ur unser Problem ist innerhalb dieser vielen Aspekte entscheidend, dass Levinas hier auf sehr konkrete Weise das ,Recht’ im Sinne des Menschenrechtsbegriffs anspricht. Seine These ist, dass man die Menschenrechte urspr¨unglich als ,Rechte das Anderen’ verstehen muss: ,,Sich origin¨ar als Rechte des anderen Menschen zu zeigen und als Pflicht f¨ur ein Ich, als meine Pflichten in der Br¨uderlichkeit, das ist die Ph¨anomenologie der ¨ Menschenrechte [Hervorhebung S.L.].“ (Ubersetzung S.L., Levinas 1987a, 188 169) Levinas nimmt hier also die Ph¨anomenologie in Anspruch, um die spezielle Perspektive dieser Rechtsauffassung zu benennen: Es ist eine ethische Rechtsauffassung, die zur an-archischen Struktur der Subjektivit¨at selbst zur¨uckkehrt und nicht einen Vertrag an den Anfang stellt, sondern das vor-urspr¨ungliche Betroffen-Sein durch den Anderen. Wie kann es nun in dieser Situation ,Rechte’ geben, die auch ein Ich beanspruchen kann? ,,[I]n ihrer urspr¨unglichen ,Inszenierung’ (mise en sc`ene) best¨atigen sich auch, im Sinne einer Manifestation der Freiheit, die Rechte dessen, der verpflichtet ist, nicht nur durch ¨ die Wirkung einer einfachen Ubertragung und einer Verallgemeinerung der Menschen,,Ce signifie aussi [. . .] que la d´efense des droits de l’homme r´epond a` une vocation ´ ext´erieure a` l’Etat, jouissant, dans une soci´et´e politique, d’une esp`ece d’extra-territorialit´e [. . .]. [. . .] La possibilit´e de garantir cette extra-territorialit´e et cette ind´ependance, ´ lib´eral et d´ecrit la modalit´e selon laquelle est, de soi, possible la conjonction d´efinit l’Etat ¨ de la politique et de l’´ethique.“ Vgl. auch Pascal Delhoms Ubersetzung in Levinas 2007, 105 f. 188 ,,Se manifester originellement comme devoir pour un moi, comme mes devoirs dans la fraternit´e, c’est l`a la ph´enom´enologie des droits de l’homme.“ Vgl. auch Pascal Del¨ homs Ubersetzung in Levinas 2007, 108. 187
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rechte, so wie sie ihm im Anderen erscheinen. Seine Pflicht gegen den Anderen, der seine Verantwortung anruft, ist die Einsetzung seiner eigenen Freiheit. In der Verantwortung, die als solche nicht ablehnbar und un¨ubertragbar ist, bin ich als Unauswechselbarer begr¨undet: Ich bin erw¨ahlt als einzig und unvergleichlich. Meine Freiheit und meine Rechte zeigen sich – bevor sie sich noch als Anfechtung gegen die Freiheit und Rechte des anderen Menschen zeigen – genau als diese Verantwortung innerhalb der menschlichen Br¨uderlichkeit. Unendliche Verantwortung, da man dem Anderen gegen¨uber nicht ¨ ,quitt’ sein kann.“ (Ubersetzung S.L., Levinas 1987a, 169 f.)189
Sich als ,Gleicher’ verstehen zu d¨urfen, geht also bei Levinas unweigerlich mit einer großen ethischen Verantwortung einher: Die ,Br¨uderlichkeit’190 kommt sachlich vor der ,Gleichheit’, die Beziehung ,Ich im Angesicht des Anderen’ vor der Struktur ,ego und alter ego’. Diese Argumentationsfigur ist einem klassischen rechtsphilosophischen Denken zutiefst fremd; geht dieses doch u¨ blicherweise von einem vern¨unftigen Gleichgewicht freier Willen aus, gleichsam aus der objektiven Dritte-PersonPerspektive betrachtet. Levinas hingegen spricht von einem origin¨aren Sich-Zeigen des ,Rechtes’ des Anderen als Vollzug eines Bewusstseins. Er steht damit in der ph¨anomenologischen Reduktion und entwirft gleichsam eine Genesis des Sinns der Menschenrechte vom einzelnen Subjekt 189
,,Mais dans leur ,mise en sc`ene’ originelle, s’affirment aussi, en guise de manifestation de la libert´e, des droits de celui qui est oblig´e, non seulement par l’effet d’un simple transfert et grˆace a` une g´en´eralisation des droits de l’homme tels qu’ils lui apparaissent en autrui. Son devoir a` l’´egard d’autrui qui interpelle sa responsabilit´e, est une investiture de sa propre libert´e. Dans la responsabilit´e qui, comme telle, est irr´ecusable et incessible, je suis instaur´e comme non-interchangeable: je suis e´lu comme unique et incomparable. Ma libert´e et mes droits avant de se montrer dans ma contestation de la libert´e et des droits de l’autre homme se montreront pr´ecis´ement en guise de responsabilit´e, dans la fraternit´e humaine. Responsabilit´e in´epuisable, car on ne saurait eˆtre quitte envers ¨ autrui.“ Vgl. auch Pascal Delhoms Ubersetzung in Levinas 2007, 108. 190 Vgl. Bedorfs Aufsatz ,,Andro-fraternozentrismus – Von der Br¨uderlichkeit zur Solidarit¨at und zur¨uck“, der eine genaue Analyse der ethischen und politischen Bedeutung des Begriffs der Br¨uderlichkeit bei Levinas beinhaltet. Bedorfs These: Levinas forciert eine ethische Br¨uderlichkeit, eine affektive Verbindung, die an die Einzigkeit des Anderen gebunden ist und sich nicht auf formale Gleichheit oder eine Gruppenform reduzieren l¨asst – gleichwohl entkommt er einer schleichenden Biologisierung nur schwerlich. Der Andro-(gallo-)fraternozentrismus (Derrida) bleibt Zwangssolidarit¨at einer exklusiven Gruppe, solange er nicht den ihm immanenten Antagonismus von Singularit¨at und Universalit¨at reflektiert (Bedorf 2005).
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aus als Verpflichtung f¨ur jedes einzelne Subjekt. Statt Recht als das Ergebnis einer radikalen Objektivit¨at zu sehen, thematisiert er das Recht des Anderen als eine noch urspr¨unglichere Erfahrung einer radikalen Subjektivit¨at. Levinas versucht, die Menschenrechte von den Rechten des Anderen her zu denken, von seinen Begriffen der N¨ahe, der G¨ute und der Nicht-Indifferenz. Sie w¨urden einen Schnittpunkt bilden, an dem ,Gott ins Denken einf¨allt’, deutet Levinas an, f¨ugt aber gleich hinzu: ,,Einer guten Philosophie steht es wohl an, die Menschenrechte nicht ausgehend von einem unbekannten Gott zu denken.“ (Levinas 1995, 256) Was kann eine ,gute Philosophie’ also versuchen zu tun? Sie muss versuchen, so wie es Levinas selbst andeutet, diese neue ,Begr¨undung’ der Menschenrechte vom Sinnereignis der Alterit¨at her zu denken. In der Vorbetrachtung haben wir gesehen, dass von einem Recht des Anderen ph¨anomenologisch nur in Bezug auf meine Verantwortung und nicht quasi-objektiv und naturrechtlich gesprochen werden darf. Der Rechtssinn bleibt Produkt eines Urteils und er bleibt auch Antwort auf einen An-spruch: Die Antwort auf den An-spruch des Anderen kann sich niemals in einem schon fertig bestimmten Maß halten, und in diesem Sinn ist Levinas beizupflichten, wenn er das Recht des Anderen als ein ,unendliches’ bezeichnet. Trotzdem ist festzuhalten: Die dringliche Verpflichtung zum gerechten Urteil und der Aufruf, Gerechtigkeit unendlich und gemeinsam miteinander zu vollbringen, stehen hier mehr im Vordergrund als ein zu ,beweisendes’ Recht des Anderen, das ontologisch nicht festgemacht werden kann. Welche Erkenntnisse, M¨oglichkeiten oder Perspektiven k¨onnte diese These f¨ur eine rechtsphilosophische Konzeption von Menschenrechten nun bringen? Ein anderer Naturzustand? Die Levinas’sche Idee, die Menschenrechte von der Br¨uderlichkeit und den Rechten des Anderen her zu verstehen, er¨offnet eine neue rechtsphilosophische Perspektive: weg vom neutralen Boden der dissoziierten freien Willen, weg von einer desinteressierten, (scheinbar) objektiven Dritte-Person-Perspektive, hin zu einem Fokus auf die verantwortliche Subjektivit¨at, von ihrer Genesis her betrachtet – also hin zu einer ph¨anomenologischen Erste-Person-Perspektive. Der Fokus auf die verantwortliche Subjektivit¨at k¨onnte so auch zu einer Neuformulierung des klassischen Naturzustandes f¨uhren, in der nicht mehr freier Wille
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gegen Wille, sondern der Eine f¨ur den Anderen steht – sozusagen ein noch a¨ lterer ,Naturzustand’ des Bewusstseins vor dem Eintritt in die Objektivit¨at. Der Naturzustand (state of nature) ist eine der geschichtsm¨achtigsten Figuren der Rechtsphilosophie und politischen Philosophie seit dem 17. Jahrhundert. Bei Hobbes als der ,,Krieg aller gegen alle“ (Hobbes 1970, 116) eingef¨uhrt, liegt ihm der Gedanke einer urspr¨unglichen ,Natur’ des Menschen zugrunde, die einmal als roh und gewaltsam (Hobbes, Locke, Kant), einmal als edel und ausgeglichen (Shaftesbury, Rousseau) beschrieben wurde. Bei Hobbes und Locke ergibt sich aus der Unertr¨aglichkeit des Naturzustandes die Notwendigkeit, in einen rechtlich-staatlichen, also b¨urgerlichen Zustand u¨ berzugehen (Hobbes 1970, 112 ff., Locke 1974, 4 ff.), eine Notwendigkeit, die bei Kant zur moralischen Pflicht erhoben wird (MdS ,Der Rechtslehre erster Teil’ §§ 41, 42). Dabei wurde nie von einer geschichtlichen Realit¨at des Naturzustandes ausgegangen, vielmehr von der ,Natur des Menschen’, die Staat und Recht der Sache nach vorangeht. Was in dieser Arbeit vor allem mit Levinas191 ausgef¨uhrt wurde, deutet auf einen anderen Naturzustand hin, auf ein anderes Denken von Subjektivit¨at, das im genannten Sinn auch ein anderes (Grund-) Rechtsverst¨andnis impliziert. Levinas versucht, gegen jede herk¨ommliche Onto¨ logie das Subjekt ohne substanzielle Ubereinstimmung mit sich selbst zu denken (JdS 252). Weit entfernt vom anthropologischen Ansatz des klassischen Naturzustands wird hier auch noch eine ontologische Zugangsweise zugunsten einer ethischen u¨ berschritten. In der Passivit¨at 191
Levinas wendet sich an mehreren Stellen selbst explizit gegen Hobbes: ,,Es ist infolgedessen nicht ganz unwichtig zu wissen, ob der egalit¨are und gerechte Staat, in dem der Mensch seine Erf¨ullung findet [. . .] aus einem Krieg aller gegen alle hervorgeht oder aus der irreduziblen Verantwortung des Einen f¨ur alle und ob er auf Freundschaften und Gesichter verzichten kann. Es ist nicht ganz unwichtig, dies zu wissen, damit nicht der Krieg zur Einrichtung des Krieges mit gutem Gewissen wird.“ (JdS 347 f.) — ,,Es ist a¨ußerst wichtig zu erkennen, ob die Gesellschaft im u¨ blichen Sinn das Ergebnis einer Beschr¨ankung des Prinzips, daß der Mensch des Menschen Wolf ist, darstellt oder ob sie im Gegensatz dazu aus der Beschr¨ankung des Prinzips, daß der Mensch f¨ur den Menschen da ist, hervorgeht.“ (Levinas 1986, 62) Vgl. auch Miguel Abensours Aufsatz ,,Der Staat der Gerechtigkeit“, in dem er den ,,Gegen-Hobbes von Emmanuel Levinas“ (Abensour 2005, 46 f.) ausf¨uhrlich und mit Zitatbelegen zur Sprache kommen l¨asst.
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des ,Sich’ sieht Levinas den ,Urzustand’ oder ,Naturzustand’ des Menschen als ein vorg¨angiges ethisches Angesprochen-Sein, welches die Subjektivit¨at erst (als verantwortliche) individuiert: ,,Warum betrifft mich der Andere? [. . .] – diese Fragen haben nur Sinn, wenn man bereits zur Voraussetzung gemacht hat, daß das Ich sich nur um sich sorgt, nur Sorge ist um sich selbst. Doch hat in der ,Vorgeschichte’ des f¨ur sich gesetzten Ich eine Verantwortung das Wort. Das Sich ist von Grund auf Geisel, fr¨uher als es Ego ist, schon vor den ersten Ursachen. Es geht f¨ur das Sich, in seinem Sein, nicht darum zu sein192 .“ (JdS 261)
Die ,Vorgeschichte’, von der Levinas spricht, ist sein Gegenentwurf zum klassischen Naturzustand, ein Entwurf, der mit einer ph¨anomenologischen Analyse des Bewusstseins anhebt und zum Umschlag ins Ethische f¨uhrt. Was auch hier – abgesehen vom Ontologischen zum Ethischen – den Perspektivenwechsel in dieser Herausarbeitung einer ,Naturzustandes’ qua ,Vor- oder Bedingungszustand des Bewusstseins’ ausmacht, ist die radikale Erste-Person-Perspektive. Im Gegensatz zu einer stets vorausgesetzten Gleichheit aller, die auf einer urspr¨unglichen Symmetrie aus einer unbeteiligten Perspektive aufbaut, betrachtet Levinas diesen ,Symmetrie-Zustand’ der Gerechtigkeit als nachtr¨aglich und stellt ihm den noch urspr¨unglicheren Zustand der Asymmetrie voran: ,,[D]ie Verantwortung, als Bedeutung der Nicht-Indifferenz, geht nur in eine Richtung, von mir zum Anderen. Im Sagen der Verantwortung – die Ausgesetztheit an eine Verpflichtung ist, in der niemand mich zu ersetzen vermag – bin ich einzig.“ (JdS 304) Die Erste-Person-Perspektive w¨are somit nicht nur ethisch, sondern auch ontologisch die erste und w¨urde sowohl dem ,Krieg aller gegen alle’ als auch der konkurrierenden Freiheit freier Willen vorangehen. Man k¨onnte pragmatisch einwenden: Im Ergebnis unterscheidet sich der andere Naturzustand aber kaum von seinen Vorl¨aufern: F¨ur den Sta192
Diese Formulierung richtet sich nat¨urlich direkt gegen die Fundamentalontologie Heideggers. ,,Auf jeden Fall ist die Frage zu stellen, ob in der Bedeutung des der-Einef¨ur-den-Anderen – die man vielleicht oder beharrlich f¨ur ein begrenztes oder sehr spezielles Problem h¨alt – so wie den ,ethischen Aspekt des Seins’ – ob sich in dieser Bedeutung nicht eine Stimme aus mindestens ebenso gewaltigen Horizonten vernehmen l¨aßt wie denen, in denen die Ontologie ihren Platz hat.“ (JdS 308)
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tus des positiven Rechts macht es scheinbar keinen Unterschied, ob es sich aus dem Vertrag oder aus der Verantwortung heraus versteht, aus einer feindlichen Grundsituation oder aus einem Urzustand, in dem der Eine dem Anderen immer schon antworten muss, bevor bzw. damit er frei ist.193 Aber hier gilt es zu bedenken: Als eine Erfahrung der (politischen) Verantwortung f¨ur die Rechtsetzung (als Rechtsetzung f¨ur den Anderen und als das gemeinsame Vollbringen von Gerechtigkeit) ist dieser andere Naturzustand vielleicht doch eine wertvolle Gegenkonzeption. Denn sie verk¨orpert den Anspruch, den Staat und seine Rechtsinstitutionen immer ,gerechter’ zu machen, ohne eine gesellschaftliche oder pers¨onliche Verantwortung dadurch aufzuheben. Und sie erinnert daran, dass die Konzeption einer urspr¨unglichen Freiheit, worauf sich das Recht st¨utzt, sich einer vorg¨angigen Verpflichtung verdankt, die nicht frei u¨ bernommen werden kann. Nur dadurch wird u¨ berhaupt verst¨andlich, was die G¨ute jenseits des Gesetzes sein kann, was also die Universalit¨at transzendiert, ohne ihr Gleichheitsgebot zu verletzen. Die ,Rechte’ des Anderen als Verantwortung verstehen Die Idee eines ,Rechts des Anderen’ k¨onnte f¨ur den Menschenrechtsdiskurs fruchtbar sein, wenn man zuerst ihre inneren Grenzen erkennt, was ¨ Ziel unserer Uberlegungen war: Dazu in philosophischer Hinsicht: Man muss den An-spruch der Anderen als Sinnereignis verstehen. Daraus k¨onnen aber keine quasiontologischen Rechte abgeleitet werden. Denn auf dieser Ebene von ,Recht’ in weitestem Sinne zu sprechen, setzt schon eine normative Struktur voraus, eine schon vollzogene normative Deutung, die der Vorurspr¨unglichkeit des Sinnereignisses ihre Spitze nimmt und es insofern verkennt. Erst im (dringlichen) Antworten auf Anspr¨uche vollzieht und konstituiert sich die transzendentale Figur der Legitimation (Begr¨undung) und dementsprechend jeder m¨ogliche Sinn von Recht. Umso mehr muss dem Anspruch als Sinnereignis in der Rechtskon193
Die Problematik, wie aus einem Levinas’schen ethischen Ansatz tats¨achlich fruchtbare Schl¨usse f¨ur eine politische Philosophie gezogen werden k¨onnen, habe ich in dem Aufsatz ,,Meine intime Fremdheit f¨ur meine intime Politik. Versatzst¨ucke f¨ur ein Gespr¨ach“ behandelt (Loidolt 2009).
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stitution Rechnung getragen werden – aber nicht auf dem klassischen Weg der direkten Begr¨undung, sondern im Bewusstsein der Schwelle, in der legitimierender und affektiv-vorpr¨adikativer Erfahrungsbegriff sich unterscheiden und gleichzeitig zusammengeh¨oren. Das bedeutet ein SichEinlassen in ein Mehr an Verantwortung in Urteil und Normsetzung: ein gemeinsames Vollbringen von Gerechtigkeit und ein Verantworten des Verm¨ogens der Legitimation selbst, durch das schließlich die Vernunft dazu verurteilt ist, zu urteilen. In rechtsphilosophischer Hinsicht: Die klassische Argumentation begr¨undet die Menschenrechte aus dem freien Willen und der W¨urde des vern¨unftigen Wesens. Es kann nicht das Anliegen sein, hinter diese Ebene zur¨uckzugehen und dann dieselbe Figur mit affektiven Begriffen zu wiederholen. Eine klassisch ontologische Begr¨undung der Menschenrechte ist mit dieser Konzeption nicht mehr m¨oglich. Aber damit vielleicht ein strengeres und n¨uchternes Verh¨altnis zum prek¨aren Stand dieses Anliegens, zur Dringlichkeit einer stets unvollst¨andigen Setzung (Satzung) und damit zur politischen Verantwortung und zum geschichtlichen Erbe. Ein (neues) rechtsphilosophisches Paradigma der verantwortlichen Subjektivit¨at sollte gut u¨ berlegt sein. Es eignet sich wohl am ehesten dazu, eine Menschenrechtsethik zu entwickeln, die die hegemoniale kulturelle Position in ihrem Verh¨altnis zu Alterit¨at und Universalit¨at reflektiert (vgl. Hirsch 2005a, Loidolt 2005c). Eine interkulturelle Menschenrechtsethik Wir fassen zum Abschluss noch einmal die wichtigsten Punkte der Levinas’schen Argumentation schlagwortartig zusammen: 1. Die ,Ph¨anomenologie der Menschenrechte’ zeigt, dass das Menschenrecht urspr¨unglich das ,Recht des Anderen’ ist, das sich dem Ich als Pflicht zeigt. Dieses Ich muss/soll eintreten f¨ur das Recht des Anderen, will es den urspr¨unglichen Sinn der Menschenrechte bezeugen. 2. In der Verantwortung f¨ur das Recht des Anderen liegt auch das eigene Recht, die eigene Freiheit beschlossen. Nach Levinas wird die Subjektivit¨at erst in der Verantwortung f¨ur den Anderen individuiert, hier tritt sie heraus aus der Gattung und ist einzig als ,der Eine’, der f¨ur ,den Anderen’ einsteht.
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3. Es ist klar ersichtlich, dass Levinas f¨ur eine rein ethische Lesart der Menschenrechte pl¨adiert.194 Er pocht damit stets auf eine Menschlichkeit, die Staat und Recht u¨ bersteigt, ja im Letzten ihrer nicht bedarf. Dies ist ein anspruchsvoller und rein ethischer Appell – f¨ur eine Argumentation im Rahmen eines ausschließlich politisch-pragmatischen und juristischen Menschenrechtsdiskurses daher wahrscheinlich keine ideale Ausgangsposition. Allerdings ließe sich dieses Verst¨andnis des Menschenrechts als ethisches Recht (als ,,Recht vor dem Recht“ (Hirsch 2005a, 39)) dazu verwenden, eine Menschenrechtsethik zu entwickeln, die Element einer neuen ,Politik der Alterit¨at’ sein k¨onnte. Alfred Hirsch (2005a) hat unter diesen Pr¨amissen einen solchen ,,Entwurf einer Politik der Alterit¨at“ (Hirsch 2005a, 5) vorgestellt und eine ,Grundlegung einer interkulturellen Menschenrechtsethik’ skizziert. Stoßrichtung und Inhalt des Essays ,,Menschenrechte des Fremden“ sind den in dieser Arbeit vorgestellten Thesen sehr verwandt und k¨onnen als eine konkrete Weiterf¨uhrung im spezifisch menschenrechtlichen Bereich betrachtet werden. So schreibt Hirsch etwa: ,,Angelegentlich einer solchen Ph¨anomenologie der Menschenrechtsgenese ließe sich [. . .] zeigen, dass die Menschenrechte bereits in der Beziehung zum Anderen und in der Begegnung mit ihm anheben. [. . .] Menschenrechte k¨onnen sich erst formieren und artikulieren im Ausgang von Anspr¨uchen und Appellen, die der Andere noch unerkannt und unbenennbar an mich richtet.“ (Hirsch 2005a, 20) Unter anderem bezieht sich Hirsch in seiner ,,ethische[n] Genese der Menschenrechte“ (Hirsch 2005a, 13) auf Bernhard Waldenfels, der ebenfalls den Versuch gemacht hat, ,,die Verbindlichkeit des Nomos aus dem Herzen eines fremden Anspruchs zu gewinnen und nicht aus einem universalen Nomos, der diesem Anspruch vorausgeht und ihm seine Einzigkeit raubt.“ (Waldenfels 1995, 313)195 Jede dieser Lesarten forciert ein Levinas’sches Verst¨andnis des Menschenrechts als sich ereignende Ethik des Rechts selbst (Hirsch 2005a, 20): ,,Dies f¨uhrt zu der paradoxen Beschreibung der Menschenrechte als das staatliche Recht gleichermaßen begr¨undende und infrage stellende, aber auch zwingend ben¨otigende ¨ Vgl. zum weiteren Uberblick u¨ ber die Thematik ,Menschenrechte zwischen Moral und Recht’ Lohmann 1998. 195 Vgl. weitere Ausf¨uhrungen zur Theorie der Responsivit¨at bei Waldenfels: Waldenfels 1987, 1990, 1994, 1997. 194
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Element. Indem die Menschenrechte in ihrer Verantwortung gegen¨uber dem Fremden jedem Gesetz vorausgehen, fordern sie dieses zugleich und geraten in Vergessenheit, wenn sich erste Strukturen von Solidarit¨at und Gerechtigkeit herausbilden. Der wahre Gehalt der Menschenrechte zeigt dann n¨amlich in letzter Instanz, dass er sich noch nicht, thematisieren und benennen l¨asst, dass er sich als ,Gabe’ jenseits des Tausches und der Berechenbarkeit stets in Entzug h¨alt. Aber gerade aus diesem Entzug und dieser Unbenennbarkeit heraus stellen die Menschenrechte eine stete Forderung nach einem Zuwachs, nach einem Mehr an Gerechtigkeit f¨ur den Anderen dar. Mit den Menschenrechten h¨alt sich die Einzigkeit und Freiheit des Menschen als Anderer wach gegen¨uber Anonymit¨at und Symmetrie des Gesetzes und des Staates. Die Besonderheit und Vielzahl der Fremden spricht uns auch in Form der Menschenrechte an und verlangt nach einer eigent¨umlichen Universalit¨at, die unabschließbar ist und immer wieder von Neuem benannt werden muss – einer ,Universalit¨at’, die nur im ,Anspruch’ durch den Fremden und die Kultur der Anderen zu gewinnen ist.“ (Hirsch 2005a, 20 f.)
KAPITEL VI
APEL: DAS APRIORI DER KOMMUNIKATIONSGEMEINSCHAFT ALS FAKTUM DER VERNUNFT
Einleitung Der zweite Teil der ,Horizonte von Kritik und Weiterf¨uhrung’ ist der Versuch eines Br¨uckenschlages zur Diskursethik und Transzendentalpragmatik, wie sie von Karl-Otto Apel entwickelt wurde. Damit soll neben der Ankn¨upfung an die Levinas’sche Alterit¨atsethik noch ein weiteres Diskussionsfeld er¨offnet werden, in dem sich eine Ph¨anomenologie des Rechtspr¨adizierens und Rechtfertigens zu positionieren hat. Die Auseinandersetzung im erkenntnistheoretischen Teil (1.) l¨auft vornehmlich u¨ ber die Thesen zu Husserl; die Apel’sche Diskursethik (2.) werde ich mit den Positionen von Levinas und Derrida konfrontieren. Dies f¨uhrt auf die Spannung, die sich zwischen vern¨unftigem Anspruch und geschichtlicher Kontingenz der Antwortm¨oglichkeiten ergibt (3.). Das Abschlusskapitel (4.) dieses Abschnitts widmet sich wieder dem Versuch einer Ankn¨upfung an den rechtsphilosophischen Diskurs: Was kann die hier entwickelte ,Genesis des rechtlichen Denkens’ zu einer ad¨aquaten Formulierung des Rechtsbegriffs beitragen? Inwiefern kann mit ihr eine Position entwickelt werden, die f¨ur ein genuines Rechtsverst¨andnis als Verh¨altnis von Inter-Subjektivit¨at und Rechtssinn pl¨adiert? Ankn¨upfungspunkt an das rechtsphilosophische Feld bietet im diskurstheoretischen Zusammenhang J¨urgen Habermas’ Entwurf in Faktizit¨at und Geltung (1992). F¨ur die Grundlagenauseinandersetzung mit einer ph¨anomenologische Theorie der rechtlichen Intentionalit¨at eignet sich Karl-Otto Apels transzendentale Sprachpragmatik in besonderer Weise. Dies einerseits, weil die transzendentale Sprachpragmatik vom Thema der Rechtfertigung zentral beherrscht wird und sich dadurch Parallelen in der Struktur, 263
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Dynamik und Einl¨osung von Geltungsanspr¨uchen ergeben. Andererseits entstehen gerade diese Struktur¨ahnlichkeiten auf einer sehr unterschiedlichen Basis, die mit ph¨anomenologischen Argumenten zu u¨ berpr¨ufen sein wird. Ein dritter wichtiger Grund f¨ur die Auseinandersetzung mit der transzendentalen Sprachpragmatik ist die explizite Einbeziehung der Komponente der Intersubjektivit¨at in eine Theorie des Rechtssinns. F¨ur diese Aufgabe st¨utze ich mich zu einem großen Teil auf Dan Zahavis ph¨anomenologische ,Antwort auf die sprachpragmatische Kritik’ (Zahavi 1996), in der bereits die fundamentalen Diskussionspunkte mit Apel aufbereitet und durchgearbeitet worden sind. Das Zentrum unserer Fragestellung wird sich um Rechtssinn und Geltungsanspr¨uche drehen. Hier ist es wiederum sinnvoll, erkenntnistheoretische und ethische Aspekte nacheinander zu diskutieren: Denn auch bei Apel h¨angen diese Bereiche fundamental miteinander zusammen. Deshalb werde ich vor allem die beiden Aufs¨atze ,,Das Problem der philosophischen Letztbegr¨undung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik“ (Apel 1976196 ) und ,,Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik“ (in: Apel 1973197 ) zur Besprechung heranziehen, da diese sowohl den erkenntnis- und geltungstheoretischen Aspekt als auch das Bedingungsgef¨uge von Ethik und Logik in besonderer Weise thematisieren. 1. Erkenntnistheoretische Aspekte: Intersubjektivit¨at und Geltungskonstitution Apels Grundthesen Apels sinnkritische Transformation der Transzendentalphilosophie ist von der These gepr¨agt, dass es Sinn ausschließlich auf der und durch die sprachlich-intersubjektive Ebene gibt. Daher k¨onnen weder Sinn noch Geltungsfragen außerhalb der Kommunikationsgemeinschaft verhandelt werden (TP 414). Diese muss vielmehr als unhintergehbare, transzendentale Bedingung aller Sinn- und Wahrheitszusammenh¨ange verstanden werden, da sie nicht ohne Selbstwiderspruch bestritten werden kann. 196 197
Im Folgenden Sigle PLS. Im Folgenden Sigle TP.
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Die Unm¨oglichkeit, Sinn- oder Geltungsanspruch jenseits der Kommunikationsgemeinschaft einl¨osen zu wollen, gilt selbst f¨ur das kantische ,Ich denke’, ,,d. h. seinen o¨ ffentlich verst¨andlichen Sinn, [der sich] prinzipiell nicht als generative (intentionale) Leistung eines prinzipiell einsamen Ich-denke rekonstruieren kann, sondern dazu bereits das Apriori der Sprache und der Kommunikationsgemeinschaft voraussetzt“ (Apel 1979, 40). Dadurch sei ein neuer ,archimedischer Punkt’ der Transzendentalphilosophie aufgedeckt: Komplement¨ar zur Subjekt-Objekt-Relation des Gegenstandsbewusstseins, welche in der Einheit der transzendentalen Apperzeption gipfelt (KpV, B 132 ff.), wird die Kommunikationsbeziehung zwischen Subjekten zum nichthintergehbaren Ansatzpunkt der transzendentalen Reflexion. An die Stelle der Einheit der Apperzeption tritt die intersubjektive Einheit der Interpretation. Auf diese Weise soll der ,transzendentale Solipsismus’ der Bewusstseinsphilosophie u¨ berwunden werden, welcher f¨alschlicherweise suggeriert habe, dass ein Subjekt allein und ohne die Vermittlung der intersubjektiven Sprache sich seine Evidenzen und Argumentationen explizieren und sie u¨ berpr¨ufen k¨onne. Hingegen verhalte es sich so: ,,Die logische Geltung von Argumenten kann nicht u¨ berpr¨uft werden, ohne im Prinzip eine Gemeinschaft von Denkern vorauszusetzen, die zur intersubjektiven Verst¨andigung und Konsensbildung bef¨ahigt sind.“ (TP 399) Auch der faktisch einsame Denker habe im kritischen ,Gespr¨ach der Seele mit sich selbst’ (Platon) die Argumentationsgemeinschaft nur internalisiert. ,,Darin zeigt sich, daß die Geltung einsamen Denkens von der Rechtfertigung von sprachlichen Aussagen in der – prinzipiell unbegrenzten – Argumentationsgemeinschaft prinzipiell abh¨angig ist. Es kann nicht ,einer allein’ einer Regel folgen und im Rahmen einer ,Privatsache’ seinem Denken Geltung verschaffen; dieses ist vielmehr prinzipiell o¨ ffentlich. So w¨urde ich in unserem Zusammenhang die bekannte These des sp¨aten Wittgenstein interpretieren.“ (TP 399)
Da also das philosophische ,Sprachspiel’ nur ein o¨ ffentliches sein kann, sei der bewusstseinsphilosophische Ansatz gescheitert. Denn im Prinzip k¨onne niemand allein denken – dies geschehe immer nur mit Anspruch auf intersubjektive G¨ultigkeit (eben nicht nur hinsichtlich der Wahrheit der Gedanken, sondern zuvor schon hinsichtlich ihres Sinnes). Die These Apels gipfelt darin, dass kein Subjekt ,etwas als etwas’ erkennen k¨onne, ohne nicht schon in den intersubjektiven Verst¨andigungsprozess
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eingebunden zu sein. Denn erst in der Sprache er¨offne sich die M¨oglichkeit der Interpretation der realit¨atsbezogenen (referenz-semantischen) Zeichen (PLS 60). Die Konsequenz, die daraus gezogen wird, ist, dass die kantische Transzendentalphilosophie einer Transformation oder Erneuerung durch die Sprachgemeinschaftsthese unterzogen wird, d. h. die transzendentale Deduktion in die Kommunikationsgemeinschaft verlegt wird. Die Frage nach den Bedingungen der M¨oglichkeit von Erkenntnis bleibt dabei zentral. Sie geht vom ,,apriorischen Faktum der Argumentation als einem nicht zu hintergehenden quasi-kartesischen Ansatzpunkt“ (TP 411) aus und vollzieht sich als eine ,,transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der M¨oglichkeit und G¨ultigkeit aller Argumentation“ (TP 406). Was die transzendentale Reflexion einsieht, kann nicht im herk¨ommlichen Sinne begr¨undet werden, da es f¨ur alle Begr¨undung immer schon vorausgesetzt wird (TP 406). Eine argumentative Leugnung dieser Bedingungen ist also ohne Selbstwiderspruch nicht m¨oglich. Auf dieser Figur baut Apel auch seine Ethik auf, auf die wir weiter unten genauer zu sprechen kommen. Die Grundlinie lautet: Wer argumentiert, nimmt immer schon eine Ethik in Anspruch, n¨amlich die Anerkennung aller Mitglieder einer potenziellen Kommunikationsgemeinschaft. Auf diese Weise kann Apel von einem ,,Bedingungsgef¨uge von Wissenschaft, Logik und Ethik der Argumentationsgemeinschaft“ (TP 403) sprechen, das als Ganzes akzeptiert werden muss, weil es nicht sinnvoll als Ganzes negiert werden kann. Ein besonders wichtiges Element neben dem kantischtranszendentalen ist das der Sprachpragmatik: Denn Apels Argument st¨utzt sich stark auf den Gebrauch und die Anwendung von Sprache. Der Einsicht von Charles S. Peirce folgend, versteht er die ,,Dreistelligkeit der Zeichenrelation und damit der zeichenvermittelten Erkenntnis und Argumentation [so], daß die innersprachlichen (syntaktischen) und realit¨atsbezogenen (referenz-semantischen) Zeichenfunktionen eine (pragmatische) Interpretation der Zeichen durch eine Interpretationsgemeinschaft voraussetzen“ (PLS 60). Ph¨anomenevidenz kann also nur in einem propositionalen Satz in der Struktur des etwas-als-etwas zum Ausdruck kommen, wobei eine jede solche Tatsachen-Aussage in der ,,pragmatischen Tiefenstruktur“ (TP 401) eine performative Erg¨anzung voraussetzt, wie etwa: ,Ich behaupte hiermit, dass. . .’ oder ,Ich fordere ¨ hiermit jeden zur Uberpr¨ ufung auf, dass. . .’. In dieser kommunikativen
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Handlung ereignet sich die intersubjektive Verst¨andigung u¨ ber Sinn und Geltung von Aussagen, die letztlich auch eine Ethik voraussetzt. Apel wendet sich also dagegen, ganz von den Sprachbenutzern zu abstrahieren und in strukturalistischer oder sprachanalytischer Manier die intersubjektive Verst¨andigung durch idealsprachliche Symbolsysteme zu ersetzen, die a priori nur intersubjektiven Sinn zulassen (TP 314). Die Subjekte, die als Sprachbenutzer und -interpreten handeln, geh¨oren wesentlich zur pragmatischen Situation. Die sich aufdr¨angende Frage nach dem Spracherwerb dieser Subjekte beantwortet Apel dahingehend, dass eine sprachlich gepr¨agte kommunikative Kompetenz aufgrund einer Internalisierung von o¨ ffentlichen Sprachnormen im Sozialisationsprozess erworben wird (TP 300). Die Kompetenz zur Sprachaneignung ist aber nicht in einem vorsprachlichen ,Ich’ vorhanden, sondern liegt nur als Disposition zum Erwerb der Kompetenz vor. Ein ,,Ichverst¨andnis“ wiederum bilde sich beim Kind ohnehin erst durch Sozialisation, Spracherlernung und ,,Identifizierung mit einer Rolle“ (TP 209) heraus. Besonders wichtig ist f¨ur uns schließlich die Frage nach Wahrheit, Geltung und Rechtfertigung. Die M¨oglichkeit und G¨ultigkeit von Erkenntnis liegt Apel zufolge in der intersubjektiven Kommunikationsgemeinschaft beschlossen; Erkenntnis kann nicht ausschließlich als eine Bewusstseinsfunktion verstanden werden, sondern funktioniert prim¨ar als ,,realer geschichtlicher Interpretationsprozeß“ (Apel 1973, 142). ,,Diese Einheit der Interpretation [qua Sinnverst¨andnis und qua Wahrheitskonsens] muß in der unbegrenzten Gemeinschaft der Argumentierenden [. . .] prinzipiell erreicht werden k¨onnen, soll Argumentation u¨ berhaupt Sinn haben.“ (TP 411) Die M¨oglichkeit der Konsensbildung fungiert also transzendental in zwei Hinsichten: Nicht nur ist sie Grund und Garant f¨ur die Richtigkeit, Geltung oder Wahrheit unserer Urteile, sie erm¨oglicht u¨ berhaupt erst eine Sinnverst¨andigung u¨ ber Gegenst¨ande, d. h., sie ist Bedingung der M¨oglichkeit einer sinnvollen Subjekt-Objekt-Relation. In diesem Sinne m¨ussen wir also die reale Kommunikationsgemeinschaft (und die mit ihr gegebenen Bedingungen) immer schon voraussetzen und anerkennen. Hinsichtlich der Wahrheitsanspr¨uche in der Sinnkonstitution kommt nun der normativ zu postulierende Konsensus der unendlichen Kommunikationsgemeinschaft ins Spiel. Denn Apel ist nat¨urlich klar, dass ein
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empirisch-faktischer intersubjektiver Konsens nicht als Geltungsfundament und Wahrheitsgarant ausreichen kann – die Argumentationsgemeinschaft k¨onnte einerseits zu vielen verschiedenen Konsensbildungen kommen, die einander widersprechen, andererseits k¨onnte sie, auch wenn sie sich einig ist, trotzdem einfach falsch liegen. Daher setzt Apel eine unendliche Konvergenz des Interpretationsprozesses an, die einerseits normativ postuliert wird, andererseits von jedem Argumentierenden kontrafaktisch schon in Anspruch genommen werden muss. Durch diese kontrafaktische Antizipation einer idealen Kommunikationsgemeinschaft sind nun gewisse ethische Normen mit vorausgesetzt, w¨ahrend die Geltungs- und Wahrheitsanspr¨uche in ein regulatives Ideal einer absoluten Wahrheit hinein verschoben werden. Dies impliziert den vollkommenen Konsens aller tats¨achlichen und potenziellen Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft: ,,Unter der Voraussetzung des definitiven Konsenses der Interpretationsgemeinschaft – dem nat¨urlich kein empirisches Faktum jemals entsprechen kann – w¨urde zun¨achst einmal die universal g¨ultige Einl¨osung der rechtfertigbaren Sinn-Geltungsanspr¨uche mit der Welt-Sinnkonstitution zur Deckung kommen (das heißt, jeder w¨urde jeden zumindest verstehen k¨onnen). Unter dieser idealen Voraussetzung der Aussch¨opfung aller der unbegrenzten Forschergemeinschaft verf¨ugbaren Wahrheitskriterien – vor allem der Evidenzund Koh¨arenzkriterien – w¨urde auch die definitive Einl¨osung der als Geltungsanspr¨uche diskursiv rechtfertigbaren Wahrheitsanspr¨uche und der normativen, ethisch rechtfertigbaren Richtigkeitsanspr¨uche der Mitglieder der in der idealen Gemeinschaft der Wahrheitssucher notwendigerweise vorausgesetzten idealen Kommunikationsgemeinschaft m¨oglich sein.“ (Apel 1989, 165 f.)
Wir k¨onnen hier bereits sehen, dass Apel f¨ur den intersubjektivsprachlichen Prozess der Wahrheitsfindung nicht auf Evidenzen verzichten kann, die im Bewusstsein einzelner Subjekte gegeben sind. Wir werden weiter unten auf diese Problematik zur¨uckkommen. F¨ur den Moment ist mit Zahavi festzuhalten, dass Apel mit einem doppeldeutigen Begriff des Konsenses arbeitet: ,,Erstens gibt es die zu erreichende intersubjektive Einheit der Interpretation, die als antizipiertes regulatives Ideal fungiert, und die sozusagen den materialen Wahrheitsgehalt betrifft. Zweitens gibt es das immer schon anerkannte formale Sprachapriori (das nach Apel u. a. sowohl eine Minimallogik als eine Minimalethik einschließt), das als M¨oglichkeitsbedingung jeder verst¨andlichen Argumentation unhintergehbar ist.“ (Zahavi 1996, 144)
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Zahavis ph¨anomenologische Antwort auf die sprachpragmatische Kritik Bevor ich auf die Kritik Zahavis an der sprachpragmatischen Position eingehe, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf seine Forschungsergebnisse zu Husserls transzendentaler Intersubjektivit¨at zu werfen. Damit soll ein Ansatzpunkt entwickelt werden, von dem aus eine Theorie der Vernunft als rechtlicher Intentionalit¨at hinsichtlich der Intersubjektivit¨atsfrage198 nochmals erweitert bzw. erg¨anzt werden muss. Zahavi macht die These stark, dass sich Husserl insbesondere f¨ur die Intersubjektivit¨at interessiert habe, um seine konstitutionstheoretischen Analysen zu vollenden (Zahavi 1996, 11), d. h., um die transzendentale Relevanz der Intersubjektivit¨at f¨ur die Konstitution von Objektivit¨at festzumachen. Dies f¨uhrt zu dem Ergebnis, dass letztlich die Intersubjektivit¨at in ihrer pluralistischen und geschichtlichen Struktur die Quelle allen wahren Seins ist (Zahavi 2003, 115 ff.). Die Objektivit¨at der Welt entsteht erst durch die Pluralit¨at der alter egos (Hua I, § 48, § 55): Nur indem ich erfahre, dass Andere dieselben Gegenst¨ande wie ich erfahren, erfahre ich diese Gegenst¨ande als objektive. Anders gesagt: Erst durch intersubjektive Evidenz kann von objektiver Geltung gesprochen werden. Das bedeutet aber gerade nicht, dass man bei der Problematik der Intersubjektivit¨at die Erste-Person-Perspektive u¨ berspringen und unverz¨uglich die eines unbeteiligten Dritten einnehmen k¨onnte: Vielmehr muss die Gegebenheit der Intersubjektivit¨at selbst ber¨ucksichtigt und nachvollzogen werden. Dies hat mit einer solipsistischen Theorie nichts zu tun – denn die Analyse der Fremderfahrung zeigt, dass der Andere in seinem Selbstsein gerade nicht auf ein Sein-f¨ur-mich reduziert werden kann. Insofern ist die Einf¨uhrung der intersubjektiven Dimension nicht eine Erweiterung der transzendentalen Subjektivit¨at, sondern dr¨uckt ihr besseres Verst¨andnis aus (Zahavi 1996, 15). Husserls Bem¨uhung um die 198
Vgl. dazu auch wichtige Arbeiten von Theunissen (1977), Yamaguchi (1982), R¨ompp (1992), Lee (1993) etc.; ebenso auch Gronke (1999), der sich im Speziellen mit der transzendentalen Sprachpragmatik auseinandersetzt und in einem a¨hnlichen Vorstoß wie Zahavi f¨ur den ,,Weg vom Subjekt zum Intersubjekt“ (Gronke 1999, 17) argumentiert, um m¨ogliche Verbindungen zwischen Husserls transzendentaler Intersubjektivit¨atskonzeption und dem Entwurf Apels aufzuzeigen. Ich beziehe mich um der K¨urze willen vorrangig auf die Zahavi-Studie, da sie die Diskussion am pointiertesten zusammenfasst und auch konkret zu den f¨ur die sprachpragmatische Kritik relevanten Fragen hinf¨uhrt.
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Erfassung einer wirklich pluralistischen Intersubjektivit¨at, die nicht nur als sinnvoll, sondern auch als notwendig begriffen werden muss, ist daher tats¨achlich als eine Transformation der strikt kantischen Transzendentalphilosophie zu verstehen, die eine Pluralit¨at von transzendentalen Subjekten leugnen muss (Zahavi 1996, 17). Mithilfe einer genauen Analyse von Husserls Ph¨anomenologie der Intersubjektivit¨at (unter Ber¨ucksichtigung der Forschungsmanuskripte) stellt Zahavi drei Formen der Intersubjektivit¨at bzw. der Fremdbeziehung heraus, welche die enge Verquickung von Subjektivit¨aten in transzendentaler Hinsicht aufzeigen: ,,Neben der anonym mitfungierenden offenen Intersubjektivit¨at, die in der Horizontstruktur t¨atig ist, und der konkreten Fremderfahrung, die direkt mit dem Wechsel unserer Geltungskategorien verkn¨upft ist, gibt es auch eine darauf fundierte, aber davon verschiedene und irreduzible Art Intersubjektivit¨at, die auf der Ebene der tradierten ¨ Normalit¨at wirksam ist und die als Bereich der anonymen Offentlichkeit von konstitutiver Bedeutung ist. [. . .] Ich bin inmitten einer Welt, die schon von Anderen mit Sinn versehen worden ist, und meine Urteilsbildung, Selbstauffassung, Wertsch¨atzung und Weltauslegung werden von einem sprachlich artikulierten Vorverst¨andnis geleitet.“ (Zahavi 1996, 81)
Die drei Arten der Fremdbeziehung decken den Bereich des passivleiblichen Fungierens, der aktiven Geltungsfrage und der Vorgegebenheit der sprachlich-geschichtlichen Wirklichkeit ab: 1. Die Horizontintentionalit¨at wird ihrem Wesen nach als intersubjektiv expliziert, insofern es in jeder echten Dingerfahrung eine implizite Beziehung auf Andere als Mitvorstellende und Miterkennende und damit auf eine offene Vielheit von Subjekten gibt. 2. Erst die konkrete Fremderfahrung ist aber notwendig mit einem Wechsel meiner Geltungskategorien verbunden – das transzendentale Ich gewinnt durch ,Veranderung’199 die thematische Erfah199
,,Das Zu-einem-unter-den-Anderen-Werden ist zugleich ein Zu-einem-AnderenWerden und [. . .] hat weitgehende konstitutive Implikationen. Sie f¨uhrt n¨amlich eine eigenartige Depotenzierung und Dezentrierung meines Ichs mit sich, insofern es nicht l¨anger als ein alleinstehendes konstitutives Zentrum angesehen werden kann. Theunissen zufolge l¨aßt sich die objektive Welt in ihrem Sinn F¨ur-Jedermann-Da nur konstituieren von einem Ich, wenn es selbst in gewisser Weise Jedermann ist. Es muß in ihm selbst und als sein Horizont schon ein Sinn von Jedermann konstituiert sein, damit es in Beziehung darauf Teil einer objektiven Welt sein kann.“ (Zahavi 1996, 42 f.) Vgl. Theunissen 1977, 84.
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rung von der Geltung-f¨ur-jedermann der Welt. 3. Schließlich muss auch einbezogen werden, dass die geschichtliche Wirklichkeit eine Art Transzendenz ist, die ich nur konstituieren kann, indem ich tradierten Sinn u¨ bernehme, dessen Urheber ich selbst nicht bin (Zahavi 1996, 81). Dies alles f¨uhrt zur Einsicht, dass in jedem ego die Universalstruktur der Intersubjektivit¨at schon apodiktisch vorgezeichnet ist (Zahavi 1996, 47) und in der gemeinsamen konstitutiven Leistung die intersubjektiv geltende Welt den Status einer intersubjektiven Pr¨asumption hat. Sie muss immer wieder zur Best¨atigung gebracht werden in stetiger Korrektur, was bedeutet, dass die wirklich und endg¨ultig wahre Welt eine Idee der Welt ist, die in der Idealit¨at endloser Offenheit konstituierender Intersubjektivit¨at herzustellen w¨are (Zahavi 1996, 82). Die volle Reduktion f¨uhrt uns also auf die irreduzible Verquickung von transzendentaler Subjektivit¨at und Intersubjektivit¨at: ,,[D]ie transzendentale Intersubjektivit¨at ist eben der Konnex der transzendentalen Subjekte; und die transzendentale Subjektivit¨at ist in ihrer vollen Konkretion a priori von ihrer Fremdbeziehung bestimmt.“ (Zahavi 1996, 68) Gleichzeitig h¨alt Husserl am Ich200 als Einheitsprinzip des Bewusstseinsstroms fest – ,,obwohl wir auf dieser Ebene nicht vom Anderen abh¨angig sind, [sind wir] schon in unserer urzeitigenden Einzigkeit gegen¨uber den Anderen in ihrer urlebendigen Mitgegenwart offen [. . .]“ (Zahavi 1996, 68). Dass diese Pluralit¨at von individuierten Subjekten gerade als Voraussetzung einer Intersubjektivit¨atstheorie gedacht werden muss, soll gegen Apel (und Habermas) verteidigt werden. Zahavis konkrete Auseinandersetzung mit der Sprachpragmatik besteht nun im Wesentlichen aus vier Argumenten: 1. der Zur¨uckweisung der sprachpragmatischen Kritik an der Husserl’schen Ph¨anomenologie, 2. der Aufweisung der Inkonsistenz in der sprachpragmatischen 200
Zahavi arbeitet vier verschiedene Ichbegriffe bei Husserl heraus, die sich in der Charakterisierung des transzendentalen Ichs kreuzen: ,,1. Ich als Einheit im Strom, d. h. Ich als Affektions- und Aktionspol. Es ist daher wichtig zu betonen, daß die Identit¨at des Ichs Husserl zufolge nicht die bloße Identit¨at eines Dauernden ist, sondern die Identit¨at des Vollziehenden, d. h. des Ichpols; 2. Ich als Objekt der Reflexion; 3. Ich als Gegen¨uberstehendes eines Du; 4. Ich als Person. – In seiner vollen transzendentalen Konkretion und Leistung l¨aßt das Ich sich nicht ohne das Du (ohne das Mitsubjekt) charakterisieren. Eine gewisse Schichtenbestimmung ist aber durchaus m¨oglich.“ (Zahavi 1996, 67)
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Betrachtung des Verh¨altnisses von Subjektivit¨at und Intersubjektivit¨at, 3. der Kritik der scharfen Trennung zwischen privater Erfahrungsevidenz und o¨ ffentlichem Sprachkonsensus und 4. dem Aufweis, dass die These von der Intersubjektivit¨at der Sprachlichkeit (oder der Sprachlichkeit der Intersubjektivit¨at) zwar korrekt ist, aber nicht als Fundament einer Intersubjektivit¨atstheorie gelten kann, weil sie viel zu sp¨at einsetzt. Ad 1. In diesem Argument wird haupts¨achlich zur¨uckgewiesen, dass Husserl einen starren Begriff von Evidenz und demgem¨aß von Welt h¨atte, wie ihm Habermas und Apel ,,in unzureichender Kenntnis der Ph¨anomenologie“ (Zahavi 1996, 153) vorwerfen. Vielmehr zeigt sich, ¨ dass es ,,gr¨oßere Ahnlichkeiten zwischen der Transzendentalph¨anomenologie und der Sprachpragmatik [gibt], als Apel und Habermas glauben“ (Zahavi 1996, 154): dies einerseits in der Analyse von Welt als intersubjektiver Pr¨asumption und andererseits in der These u¨ ber Weltgeltung als eine regulative Idee in der unendlichen Offenheit konstituierender Intersubjektivit¨at. Ad 2. Zahavi diagnostiziert einen Widerspruch zwischen der sprachpragmatischen Ablehnung des subjektphilosophischen Paradigmas und dem Gebrauch von Elementen aus genau dieser Tradition. So behauptet etwa Habermas, dass Individualit¨at das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses sei, aber Intersubjektivit¨at und Konsensus die Autonomie und Verschiedenheit von Subjekten voraussetzen w¨urden. Husserl hingegen entgeht diesem Widerspruch, indem er zwischen mehreren Ebenen der Ichstruktur differenziert: W¨ahrend das personale Subjekt in der Ich-DuBeziehung und den sozialen Akten seinen Ursprung hat, ist das Subjekt u¨ berhaupt (das Ich als Einheit im Strom, als Affektions- und Aktionspol) die fundamentale Voraussetzung f¨ur eine intersubjektiv sich aufbauende Beziehungswelt. ,,Husserl vertritt also keineswegs die These, daß die Vergesellschaftung die Quelle jeder Art Selbstbewußtsein, subjektiver Identit¨at und Individuation ist. Ganz im Gegenteil w¨urde er behaupten, daß jede konkrete Beziehung zwischen Subjekten eine vorg¨angige Pluralit¨at von verschiedenen (d. h. individuierten) Bewußtseinsstr¨omen voraussetzt.“ (Zahavi 1996, 155 f.) Die Ph¨anomenologie unternimmt damit den Versuch, Subjektivit¨at und Intersubjektivit¨at sinnvoll zusammenzudenken und sie nicht als zwei einander ausschließende Konzepte zu betrachten. Hingegen sei Habermas, so Zahavi, das eigentliche Individuationsproblem der numerischen Selbstidentit¨at des Bewusstseins-
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stroms entgangen. Es lasse sich auch durchaus nicht verstehen, warum eine Philosophie der Intersubjektivit¨at keine Subjektphilosophie sein sollte: ,,Intersubjektivit¨at ist eine Beziehung zwischen Subjekten. Sie setzt eine m¨ogliche Pluralit¨at von Subjekten voraus und kann deshalb weder der Verschiedenheit der Subjekte vorausgehen noch sie begr¨unden oder leugnen. M¨ochte man, anders formuliert, jeden Rest der Subjektphilosophie loswerden, m¨ußte man sich zwangsl¨aufig auch vom Begriff der Intersubjektivit¨at distanzieren.“ (Zahavi 1996, 156) Ad 3. Das dritte Argument unterzieht die sprachpragmatische scharfe Trennung zwischen privater Bewusstseinsevidenz und intersubjektiv geltenden, sprachlich formulierten Argumenten einer kritischen Pr¨ufung. Dazu muss zuerst die sprachpragmatische These berichtigt werden, dass es sich beim ph¨anomenologischen Evidenzbegriff um introspektive Erlebnisbeschreibungen handle. Vielmehr ist der Sinn der Intentionalit¨atsanalyse, dass meine Bewusstseinsakte auch nach der Reduktion eine Beziehung auf Weltliches (eben intentional und nicht reell Immanentes!) haben, das eine intersubjektive Seinsgeltung hat. Ph¨anomenologische Analysen werden eben nicht aus Introspektion privater Erlebnisse gewonnen, sondern beziehen sich auf jedes m¨ogliche Bewusstsein. Aus diesem Grund lassen sich diese Analysen auch von den Mit-Subjekten u¨ berpr¨ufen, individuell nachvollziehen und kritisieren. ,,Evidenz ist kein privates Gef¨uhl, sondern sie charakterisiert die [origin¨are] Gegebenheitsweise von intersubjektiven Objekten. Eben deshalb impliziert sie aber auch einen intersubjektiven Geltungsanspruch und ist dementsprechend f¨ur Kritik offen.“ (Zahavi 1996, 158) Apel gibt immerhin zu, dass ein Begr¨undungsdiskurs ohne Bewusstseinsevidenzen undenkbar ist und somit Bewusstseinsevidenz und intersubjektive Geltung von sprachlich formulierten Argumenten ,,nicht aufeinander reduzierbare Instanzen der Wahrheitsproblematik sind“ (PLS 67).201 Die Frage, die Zahavi forciert, ist aber, ob die scharfe Trennung zwischen Erfahrungsevidenz und Sprachkonsens u¨ berhaupt m¨oglich ist. Denn nach seiner – sehr treffenden – Diagnose hat diese Unterscheidung einen ,,distinkt kantischen 201
Vgl. dazu auch Becker 1993. Zum weiter gefassten Problem von (Letzt-) Begr¨undungsdiskurs und Wahrheitsproblematik in der Transzendentalpragmatik vgl. Apel 2003, Kuhlmann/B¨ohler 1993, Mancini 1993, Reese-Sch¨afer 1990, 43 ff., Skirbekk 2003, Wellmer 2003.
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Klang“ (Zahavi 1996, 160) und kn¨upft damit an die These an, dass Anschauungen ohne Begriffe blind seien. Dem steht die ph¨anomenologische Kritik, wie sie in Erfahrung und Urteil, in den Analysen zur passiven Synthesis und in Formale und transzendentale Logik entwickelt wird, diametral gegen¨uber.202 Hierzu eine l¨angere Passage von Zahavi: ,,Sinn und Geltung gibt es nicht erst auf der sprachlichen Ebene, sondern schon in der Wahrnehmung. Vorpr¨adikative Erfahrung auf das Daß des Affiziertseins zu reduzieren und Sinnlichkeit als an sich sinnlos aufzufassen, ist eine intellektualistische Abstraktion, die es unbegreiflich macht, wie das Wahrgenommene jemals als Richtungslinie oder Anhaltspunkt unserer Interpretation dienen kann. Es muß im Gegenteil eine Kontinuit¨at zwischen der vorpr¨adikativen Gegenstands- und Merkmalserfahrung und ihrer pr¨adikativen Artikulierung geben. Sinn von Sinnlichkeit zu trennen, heißt aber nicht nur, die Vermittlung zwischen begrifflichem Denken und sinnlichem Wahrnehmen unverst¨andlich und willk¨urlich zu machen (was gelegentlich die Sprachpragmatik in die Sackgasse des Sprachidealismus zu f¨uhren scheint, insofern sie der Welt u¨ ber die wir kommunizieren viel weniger Aufmerksamkeit schenkt als der Kommunikation selbst), es heißt auch, das zentrale Problem der M¨oglichkeit des Spracherlernens ungel¨ost zu lassen. Indem behauptet wird, daß jede Klassifikation und Identifikation von etwas als ¨ etwas (sei sie noch so unthematisch) und jede Ahnlichkeit sprachlich ist, daß man nicht vorsprachlich etwas als etwas erfahren kann, wird es unm¨oglich [. . .], die Entstehung und Genese des Sprachsystems zu erkl¨aren.“ (Zahavi 1996, 160)
Abgesehen von der Unm¨oglichkeit, dem Behaviorismus zu entkommen, ist es auch unverst¨andlich, wie eine Fremderfahrung (die f¨ur den Spracherwerb notwendig ist) ohne den Vollzug von Identit¨atssynthesen zustande kommen soll. Ein Subjekt muss daher die kognitive Kompetenz einer vor- oder außersprachlichen Regelbefolgung haben, sonst k¨onnte es weder sozialisiert werden noch Sprache oder Regelbefolgung erlernen. Zahavi kommt damit zu dem Schluss, dass die Sprachpragmatik niemals 202
Auf eine Kurzformel gebracht, unterscheiden sich die transzendentalphilosophischen Ans¨atze von Kant und Husserl in folgendem Punkt: W¨ahrend bei Kant (zumindest seiner Absicht nach) an der rigorosen Trennung von intuitiven und konzeptiven Kr¨aften festgehalten wird, versucht Husserl eine genealogische Verbundenheit dieser Verm¨ogen aufzuzeigen. In dem Aufsatz ,,Geburtsbriefe und Ursprungskl¨arungen. Ein Versuch zu Kants und Husserls unterschiedlichen Wegen in die Transzendentalphilosophie am Leitfaden der Begriffspaare von Spontaneit¨at/Rezeptivit¨at und Aktivit¨at/Passivit¨at“ (Loidolt 2005b) habe ich versucht, die Grundproblematik beider Ans¨atze zu thematisieren.
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,,die Analyse der Erfahrungsevidenzen des Subjekts ersetzen, sondern sie nur erg¨anzen kann“ (Zahavi 1996, 162). Schließlich macht auch die Geltungsfrage die Beziehung zur Evidenz des Einzelnen unumg¨anglich. Wie schon H¨offe (H¨offe 1976, 329) und Skirbekk (Skirbekk 1982, 68) kritisiert haben, ist die ideale Sprechsituation qua Wahrheitsgarant weder jemals erreichbar noch eindeutig identifizierbar (Zahavi 1996, 162). Andererseits hat H¨osle (H¨osle 1986, 247) argumentiert, dass das Geltungsproblem nicht durch Antizipation zu l¨osen ist, denn entweder weiß man schon jetzt, was rational ist (unabh¨angig von der idealen Kommunikationsgemeinschaft), oder man weiß es nicht (dann kennen wir aber auch nicht die im Unendlichen liegende Entscheidung der idealen Kommunikationsgemeinschaft) (Zahavi 1996, 162). Deshalb ist es notwendig, dass der einzelne Sprachbenutzer die F¨ahigkeit hat, den faktischen Konsens zu transzendieren, um nachzupr¨ufen, inwiefern etwas Ergebnis eines idealen Diskurses sein k¨onnte. Das Subjekt kann sich in dieser normativ-rationalen Antizipation zwar irren, aber es muss zumindest die F¨ahigkeit daf¨ur haben. Und letztlich kommt diese Bew¨ahrungskorrektur auch wieder nahe an den ph¨anomenologischen Evidenzbegriff heran: ,,So darf man auch nicht vergessen, daß nur diejenige Evidenz, u¨ ber die Konsensus erreicht werden kann, wirklich ihren Namen verdient. Wahres Sein besagt ja nicht nur Sein f¨ur den Einzelnen, sondern verweist a priori u¨ ber ihn hinaus in den Zusammenhang m¨oglicher intersubjektiver Bew¨ahrung und zwar schon auf der vorpr¨adikativen Ebene.“ (Zahavi 1996, 162) Ad 4. Zuletzt argumentiert Zahavi, dass die sprachphilosophische Ebene der Intersubjektivit¨at selbst wieder fundiert ist. Seine These ist, dass die Sprachpragmatik in der Betonung der Intersubjektivit¨at nicht radikal genug ist, da die Rede von Subjekten als reinen Sozialisationsprodukten in eine Aporie f¨uhren w¨urde und zudem der vorsprachliche Zustand dieser ,Subjekte’ gerade ein solipsistischer w¨are. Demgegen¨uber spricht sich die Ph¨anomenologie daf¨ur aus, dass der sprachlichen eine noch fundamentalere Art der Intersubjektivit¨at vorausgeht, indem sich das Subjekt schon vorsprachlich transzendiert. Intersubjektivit¨at entfaltet sich nicht nur sprachlich, sondern ist bedingt in einer ,,Offenheit der Subjekte f¨ureinander, und ein Verst¨andnis davon setzt dementsprechend eine Analyse der vorsprachlichen Intersubjektivit¨at des Subjekts voraus, und zwar indem die Beziehung zum Anderen in der Zeitlichkeit, Leib-
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lichkeit, Intentionalit¨at und Emotionalit¨at herausgestellt wird“ (Zahavi 1996, 16). Wird dies nicht geleistet, so l¨asst sich Intersubjektivit¨at nur durch kontingente und externe Maßnahmen (Spracherwerb) einf¨uhren, anstatt einen apriorischen intersubjektiven Bezug herstellen zu k¨onnen. Die Auseinandersetzung mit der Sprachpragmatik ist in jedem Fall fruchtbar f¨ur die Ph¨anomenologie. Zahavi betont sogar, dass seine Lesart von Husserl im Sinne einer intersubjektiven Transformation der Transzendentalphilosophie ohne die Sprachpragmatik gar nicht m¨oglich gewesen w¨are (Zahavi 1996, 164). Abschließend seien aber noch einmal die drei entscheidenden Vorz¨uge einer ph¨anomenologischen Behandlung des Intersubjektivit¨atsproblems erw¨ahnt, die Zahavi so konzis herausgearbeitet hat: ,,Erstens vermeidet sie [die Ph¨anomenologie], Subjektivit¨at und Intersubjektivit¨at als unvers¨ohnliche Alternativen zu konzipieren, und bleibt deshalb davon verschont, ihre Beziehung als widerspr¨uchlich aufzufassen. Zweitens beschr¨ankt sie die Intersubjektivit¨at nicht auf die Sprachlichkeit und u¨ bersieht deshalb keineswegs die entscheidenden vor- bzw. außersprachlichen Manifestationen der Intersubjektivit¨at. Schließlich reduziert sie die Intersubjektivit¨at nicht auf eine durch Vergemeinschaftung faktisch, d. h. kontingent sich einstellende Beziehung zwischen Subjekten, sondern stellt durch Analysen der Erfahrungsstruktur und der Seinsweise des Subjektes dessen apriorischen Bezug auf die Intersubjektivit¨at her.“ (Zahavi 1996, 164)
¨ Uberlegungen zu Rechtssinn und rechtlicher Intentionalit¨at Sowohl die Kritik der Sprachpragmatik als auch die Antwort darauf (die im Sinne einer von Husserl bereits intersubjektiv transformierten Transzendentalph¨anomenologie gegeben wurde) weisen auf Problemfelder in einer Theorie des Rechtssinns hin, die noch explizit gemacht werden m¨ussen. Einige Grundlinien sollen hier angedeutet werden. Die Aufbereitung durch Zahavi erm¨oglicht einige konkrete Hinweise, wie die Intersubjektivit¨at sowohl in passiver als auch in aktiver Hinsicht in eine Theorie der rechtlichen Intentionalit¨at hineinspielt – ich werde daher versuchen, in der Diskussion mit Apel die von Zahavi entwickelten notwendigen intersubjektiven Korrektive anzubringen. Die Argumentation wird sich auf zwei Problemkreise st¨utzen: 1. die Frage nach Geltung, (Bewusstseins-)Evidenz und Rechtfertigung und 2. die Frage nach Sinn, Sprachlichkeit und An-spruch.
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Ad 1. F¨ur Apel spielt Rechtfertigung als Geltungs- und Sinnkriterium eine prominente Rolle. Die Bewegung dieser Rechtfertigung gleicht in auff¨alliger Weise der hier herausgearbeiteten Dynamik der rechtlichen Intentionalit¨at. Sie verlangt nach absoluter Begr¨undung, in Apels Fall: nach absolutem Konsens, der nur in der Unendlichkeit in Form einer regulativen Idee angestrebt werden kann. Diese Teleologie ist auch durchaus in der ph¨anomenologischen Intersubjektivit¨at und ihrer intersubjektiven Pr¨asumption von ,Welt’ vorhanden; Zahavi hat darauf hingewiesen, dass die N¨ahe zu Husserl in der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Intersubjektivit¨at, Wahrheit und Wirklichkeit gr¨oßer ist, als Habermas und Apel vermuten (Zahavi 1996, 154). Die Intersubjektivit¨at ist f¨ur die Geltungsfrage also von großer Relevanz. F¨ur eine Theorie der rechtlichen Intentionalit¨at bedeutet das Folgendes: Die intersubjektive Komponente muss in den Wandel der Geltungskategorien, der vorher als das Aufbrechen der Urdoxa gekennzeichnet wurde, einbezogen werden. Schon in der Horizontintentionalit¨at fungiert (nach Zahavi) eine anonyme Intersubjektivit¨at, die den Gegenstand als potenziell von mehreren Seiten gesehen zeigt – es ist also schon hier ein potenzielles Aufbrechen der Rechtsfrage durch die a priori angelegte Intersubjektivit¨at vorgezeichnet; die konkrete Fremderfahrung wiederum stiftet erst die Objektivit¨at der Welt und er¨offnet damit eine gemeinsame Welt, in der auch die Geltungen gemeinsam konstituiert werden. Wie fundamental die Intersubjektivit¨at in die Entfaltung der Geltungskategorien verwoben ist, zeigt sich schließlich in der tradierten sprachlichen Konventionalit¨at und Normalit¨at, durch die mein Vorverst¨andnis von Welt geleitet wird. Rechtsfragen sind also von Anfang an nicht beschr¨ankt auf ein scheinbar solipsistisches Subjekt, sondern brechen in einer transzendentalen Subjektivit¨at auf, die immer schon als transzendentale Intersubjektivit¨at zu erschließen ist: in leiblicher, affektiver, intentionaler, zeitlicher und geschichtlicher Hinsicht. Insofern ist Apel nat¨urlich zuzustimmen, dass Argumentation ,in mir’ immer schon intersubjektive Argumentation ist und das Aufbrechen der Kritik als ein (passiver oder aktiver) intersubjektiver Prozess zu verstehen ist (passiv insofern, als durch die Horizontintentionalit¨at das Unbehagen eines Widerspruchs in meinen Wahrnehmungen aufkommt; aktiv insofern, als der konkrete Andere sich widerspr¨uchlich zu meiner Weltinterpretation verh¨alt oder mir direkt widerspricht). Sowohl in der vorgelegten Genesis der recht-
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lichen Intentionalit¨at als auch in der Geltungseinl¨osung des Rechtsanspruchs muss das intersubjektive Moment ber¨ucksichtigt werden: Es gibt dadurch Gegenm¨oglichkeiten, durch welche die Frage nach dem Rechtssinn aufbricht. In dieser eigentlichen Konstitution der Objektivit¨at k¨onnen schließlich auch nur intersubjektiv geteilte und u¨ berpr¨ufbare Evidenzen Geltung beanspruchen. Das Erfahren der transzendentalen Subjektivit¨at ist somit an keinem Punkt solipsistisch. Die Frage, die sich von unserer Perspektive im Gegenzug an Apel stellt, ist, woher in seiner Konzeption u¨ berhaupt eine Rechtsfrage aufbrechen sollte. Denn der ,Wille zur Argumentation’ ist noch nicht zwangsl¨aufig ,Wille zur Wahrheit’. Vielmehr ist daf¨ur ein Bezug auf den Gegenstand notwendig, der in der Sprachpragmatik zugunsten der Kommunikation u¨ ber den Gegenstand vernachl¨assigt wird. Dadurch bleibt aber ungekl¨art, wie und woher sich ein (Wahrheit intendierendes) Argument u¨ berhaupt aufbauen soll und schließlich auch was die Rechtfertigung eines intendierten Wahrheitsgehalts motivieren soll. Man kann ja auch argumentieren, ohne einen Wahrheitsgehalt zu intendieren. Wenn wir annehmen, dass dies alle tun und jeder Sinn, jede Geltung nur durch die Kommunikationsgemeinschaft konstituiert wird, so k¨onnen wir uns doch ohne Probleme (freilich vorl¨aufig) darauf einigen, dass es fliegende Krokodile gibt. (Aber auch wenn es Uneinigkeit in der Kommunikationsgemeinschaft geben sollte, warum nicht aus verschiedenen Interessen, sondern um der Wahrheit willen?) Freilich w¨urde Apel hier nicht zustimmen – er beruft sich ja gerade auf Bewusstseinsevidenzen, die das Argument im Diskurs st¨utzen, ebenso wie er das Bewusstsein der perzeptiven Evidenz als nichthintergehbares Erfahrungsapriori anerkennt (Apel 1990a, 21 ff., Zahavi 1996, 159 f.). Die spezifische Dynamik aber, mit der Apel einen Großteil seiner Theorie vorantreibt, liegt gerade nicht im Medium der Kommunikation, sondern eben in diesem bestimmten Bezug auf den Gegenstand. Nat¨urlich ist dieser Bezug im Argument immer sprachlich formuliert. Aber worum es im Argument ja eigentlich geht, ist nicht, dass wir uns einigen, sondern dass wir uns auf das Richtige einigen – und sollte unsere Meinung kein Recht haben, so wird ein Dritter kommen und im Namen der Sache Einspruch erheben. Dass der Rechtssinn eben genau diesen Bezug der absoluten Nicht-Kontingenz ausdr¨uckt, liegt nicht an seiner sprachlichen oder pragmatisch-appellativen Formulierung, sondern daran, dass er einen Gegenstand vermeint. Apel sagt selbst, dass es nicht
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sinnvoll m¨oglich ist, ,,einen gehaltvollen, argumentativen Begr¨undungsDiskurs auch nur zu denken ohne die Voraussetzung von bestimmten Erkenntnis-Evidenzen, welche die einzelnen Diskurs-Teilnehmer als f¨ur sie maßgebliche Wahrheitskriterien in die argumentative KonsensBildung einbringen“ (PLS 63). Aber gerade in diesen Erkenntnisevidenzen (die nat¨urlich als pr¨asumtiv und u¨ berpr¨ufbar verstanden werden m¨ussen) liegt die ganze Anspr¨uchlichkeit des Anspruchs auf Geltung! Es ist nicht zu verstehen, wie nur vom Diskurs her Wahrheit und Geltung ein Thema und damit Teleologie und Rechtfertigung eine Notwendigkeit werden sollten. Nur durch einen Gegenstandsbezug wird die Welt etwas Strittiges, das so von sich selbst her spricht, dass wir auch u¨ ber dieses Strittige im Namen der Wahrheit kommunizieren, argumentieren, uns widersprechen oder uns einigen k¨onnen. Es ist nicht so, als ob Apel diesen Punkt verleugnen w¨urde, aber er vernachl¨assigt ihn in seiner Theorie bis zu einem Ausmaß, das man als ,Gegenstandsvergessenheit’ bezeichnen k¨onnte203 . Gerade das Begreifen von Evidenzen in rechtlichen Strukturen geh¨ort aber m. E. mit zu den von Apel gesuchten Bedingungen der M¨oglichkeit der Argumentation. Das Problem ist also, dass eines der Herzst¨ucke von Apels Argumentation, der Wille zur Wahrheit, seinen Motivationsgrund nicht in der Sph¨are der Kommunikation allein hat. Da aber alles ,um der Wahrheit willen’ geschieht (die Argumentation, der Konsens, die Ethik im Sinne der Anerkennung der Argumente der Anderen und der Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft), sollte auch die Art dieses Bezugs zum Motivationsgrund (z. B. als rechtliche Intentionalit¨at) behandelt werden. Nat¨urlich wollen und m¨ussen wir Apel auch in vielen Punkten zustimmen. Eine Einsicht muss immer schon als Argument formuliert werden (PLS 74), die pragmatische Form des Argumentierens geh¨ort wesentlich zu einer rechtlichen Intentionalit¨at dazu – und vor allem zur Einl¨osung des Geltungsanspruchs! Apel argumentiert, dass ,,Bewußtseinsevidenz und intersubjektive Geltung von sprachlich formulierten Argumenten einerseits nicht aufeinander reduzierbare Instanzen der Wahrheitsproblematik sind, andererseits aber als solche Instanzen in Sprachspielen immer 203
Diesen Begriff m¨ochte ich im Gegenzug zur Logosvergessenheit ins Spiel bringen, die Apel Heidegger vorwirft (Apel 1989, 169). Vgl. Kap. VI.3.
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schon in eigent¨umlicher Weise miteinander verwoben sind“ (PLS 67). Anders formuliert: ,,Die Erkenntnis-Evidenzen sind m. E. verm¨oge der ,propositionalen Akte’ [. . .], von denen die Urteilsbildung abh¨angig ist, von vornherein mit Sprachgebrauch und T¨atigkeiten der Erkenntnissubjekte ,verwoben’ [. . .].“ (PLS 62) Dieser ,Verwobenheit’ der beiden ,Instanzen’ ist durchaus zuzustimmen – fasst man sie ph¨anomenologisch, so liegt sie genau in der Kategorie der Geschichtlichkeit, Normalit¨at, Tradition und Sprachlichkeit, die Zahavi als den dritten Fremdbezug herausgearbeitet hat. In der pragmatischen Dimension liegt auch gewiss noch mehr: Insofern sie in den Rekurs auf Evidenz involviert ist (PLS 58) und dem Rechtssinn seine intersubjektive Dimension gibt, beinhaltet sie gewisse Bedingungen, die als transzendental bezeichnet werden k¨onnen: Das Feld der Argumentation und seine Bedingungen sind unhintergehbar f¨ur die Wahrheitsfrage. In diesem Diskurs ist es aber gerade der Rechtssinn, der Subjektivit¨at, Welt und Intersubjektivit¨at ins Gespr¨ach bringt und das Urteil m¨oglicherweise in die Unendlichkeit hinein verschieben muss. Nur im Gegenstandsbezug der rechtlichen Intentionalit¨at kann die absolute Kontingenz vermieden werden, hat das Argument einen Sinn. Dieser Gegenstandsbezug ist nun nicht nur in einer Analyse der Bewusstseinsevidenz aufzuzeigen (wie wir das bisher mit Husserl getan haben), sondern auch im pragmatischen, kommunikativen Handeln im Sinne des Hinweisens (damit andere ein Urteil nachvollziehen) sichtbar zu machen. Damit zeigt sich, dass die rechtliche Intentionalit¨at f¨ur keine der beiden ,Instanzen’ kontingent ist, sondern (so wie die Bewusstseinsevidenz204 ) zu den Bedingungen der M¨oglichkeit der Argumentation geh¨ort. Denn sobald man begr¨unden wollte, dass dieser Gegenstandsbezug in rechtlichausweisenden Formen nicht vorhanden sei, m¨usste man ihn (praktisch) wieder in Anspruch nehmen. Wir k¨onnen also die Legitimationskategorie durchaus auch in Apels Sinn zu den Bedingungen der M¨oglichkeit intersubjektiver Kritik (PLS 61) z¨ahlen; denn auch Kritik muss begr¨undet sein und im Prinzip auf Evidenz zur¨uckgehen k¨onnen (PLS 65). An Apel ist immerhin ungew¨ohnlich, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Denkern den Prozess und die Dynamik der Rechtfertigung 204
Apel spricht in Bezug auf die Bewusstseinsevidenz von der ,,reflexive[n] Einsicht, daß die Existenz von Evidenz eine Bedingung der M¨oglichkeit des Argumentierens ist, die weder ohne Selbstwiderspruch bestritten noch ohne petitio principii logisch bewiesen werden kann [. . .]“ (PLS 80).
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besonders ins Zentrum der Aufmerksamkeit r¨uckt, w¨ahrend u¨ blicherweise gerade die Tatsache vergessen wird, dass eine rechtliche Auffassung unserer perzeptiven und theoretischen T¨atigkeiten stets mitfungiert (und diese als theoretische m¨oglich macht).205 Apel hat diese rechtliche bzw. rechtfertigende Dimension genau gesehen, nur leider den Grund ihres Anspruchscharakters vernachl¨assigt. So erscheint Recht bei ihm zwar in gemeinsamer Sinnbildung, aber ohne Bezugspunkt. Die Bewegung des Logos (auf absolute Rechtfertigung hin) allein reicht nicht, es muss auch ihr Motivationsgrund und ihr Bezugspunkt gekl¨art werden – und es muss gekl¨art werden, wie dieser Bezug hergestellt sein soll. Die Sprachpragmatik kann also, wie Zahavi ganz richtig festgestellt hat, eine Analyse der Erfahrungsevidenzen tats¨achlich nur erg¨anzen, nicht ersetzen (Zahavi 1996, 162). Bei genauem Lesen zeigt sich immerhin, dass Apel das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft zwischen Subjekten als ,,komplement¨ar“ (Apel 1979, 40) zur Subjekt-Objekt-Relation fasst, dass also beide Elemente in die transzendentale Reflexion miteinbezogen werden m¨ussen. Dadurch ist aber auch klar, dass die Rechtfertigungsstruktur schon subjektiv angelegt sein muss bzw. die Legitimationskategorie nicht von der kontingenten sprachlichen Sozialisierung abh¨angt. Zwar spielt sich Rechtfertigung nur sprachlich ab und wird auch sprachlich erlernt, aber der rechtliche Bezug auf den Gegenstand oder das Erfassen des Rechtes einer Begr¨undung ist nicht erlernt durch, sondern eben verwoben mit Sprachspielen. W¨are dieses Verm¨ogen nicht schon im einzelnen Subjekt vorhanden, w¨are z. B. auch eine Erlernung als Regelbefolgung nicht m¨oglich. 205
In der analytischen Philosophie hat sich John McDowell f¨ur diese Position stark gemacht, indem er die kantische Distinktion von ,Anschauung’ und ,Begriff ’ als Elemente der Erfahrungserkenntnis wieder aufnimmt und sich damit gegen die These eines ,unverbl¨umten Naturalismus’ richtet. Dieser h¨angt dem ,Mythos des Gegebenen’ (Sellars) an, kann aber nicht erkl¨aren, wie ,,die fingierten Eckpunkte der Rechtfertigung [begreifende Subjekte einerseits, andererseits Gegenst¨ande, die nicht von Begriffen verunreinigt, also ,rein empirisch gegeben’ sind] vern¨unftigerweise [einem] Subjekt als Gr¨unde f¨ur seine Urteile dienen k¨onnen“ (McDowell 2001, 91). McDowell geht es um diese ,,Empf¨anglichkeit f¨ur Gr¨unde“ (McDowell 2001, 22): ,,Wir suchen nach einer Konzeption unserer Natur, die eine F¨ahigkeit enth¨alt, empf¨anglich f¨ur die Struktur des Raums der Gr¨unde zu sein.“ (McDowell 2001, 136) Daf¨ur muss Erfahrung so gedacht werden, dass Welt immer schon begrifflich apperzipiert wird und die begrifflichen F¨ahigkeiten immer schon am Werk waren, ,,wenn einem der Inhalt verf¨ugbar ist, noch ehe man dabei eine Wahl hat“ (McDowell 2001, 34).
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Entscheidend bleibt, dass trotz der pragmatischen Dimension eine Erkl¨arung oder Gr¨undung des Rechtfertigens fehlt. (Dass ich gerade dies hier argumentierend rechtfertige und damit nicht aus dem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft hinauskann – bzw. die ideale Kommunikationsgemeinschaft kontrafaktisch antizipiere –, zeigt zwar, dass ich die Wahrheitssuche nicht argumentierend negieren kann, aber es gibt nicht ihren Beweggrund an.) Ad 2. Dies f¨uhrt auf den zweiten Problemkreis. Aus der hier entwickelten Perspektive ist es das Angesprochen-Sein als solches, das mich in die Rechtfertigung bringt. Die Gegebenheit des Gegebenen spricht uns an (in ihrer allgemeinsten Form als Welt) – und wir antworten dem An-spruch, indem wir einander, diskutierend in der Rechtfertigungskategorie, u¨ ber den Gegenstand antworten. Da wir den An-spruch als vorpr¨adikativ charakterisiert haben, besteht eine Reibungsfl¨ache zu Apel, der ja Sinn erst auf der sprachlichen Ebene zul¨asst. Wie aber Zahavi schon argumentiert hat, f¨uhrt dies auf eine intellektualistische Auffassung, die in das Fahrwasser des Sprachidealismus ger¨at (Zahavi 1996, 160). Die Ph¨anomenologie versucht vielmehr (in Auseinandersetzung mit Kant), eine Kontinuit¨at zwischen Gegenstands- und Merkmalserfahrung und ihrer pr¨adikativen Artikulation aufzuweisen. Außerdem legt sie, wie Zahavi mit Husserl gezeigt hat, die intersubjektive Verwobenheit auch auf der passiven und vorpr¨adikativen Ebene frei. Es gilt also, die intersubjektive Dimension des An-spruchs nachzuzeichnen. Dass u¨ berhaupt vom An-spruch oder Angesprochen-Sein die Rede ist, impliziert, dass das Subjekt von Anfang an nicht ,solipsistisch’ sein kann. Vielmehr er¨offnet sich dadurch ein weiterer Begriff von Sprache (wie ihn z. B. Levinas verwendet), der sich nicht in propositionalen und performativen S¨atzen ersch¨opft, sondern das apriorische Offensein der Subjekte f¨ureinander beschreiben m¨ochte206 . Es geht aber auch um 206
Vgl. z. B. Sprache bei Levinas, die f¨ur ihn eine Beziehung der N¨ahe ist, und auch Heideggers Sprachkonzeption (Heidegger 1985). Matthias Flatscher hat vor allem den Aspekt der Responsivit¨at in diesem Sprachbegriff herausgearbeitet, der nicht mehr sprechende souver¨ane Subjekte an den Anfang setzt, sondern von einer antwortenden Subjektivit¨at ausgeht, die immer schon in die Vorg¨angigkeit des Angesprochen-Seins eingelassen ist. (Flatscher 2006)
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das Gegebensein bzw. um Gegebenheit u¨ berhaupt, ohne welche weder die transzendentale Einheit der Apperzeption noch die transzendentale Einheit der Interpretation t¨atig werden k¨onnen. Unser Argument war, dass dieses Wie des T¨atig-Werdens (des Antwortens der Vernunft) seinen rechtlichen bzw. rechtfertigenden Charakter spontan entwickelt, indem es einem An-spruch antwortet und somit auch eine Setzung ver-antworten muss. Der Gegenstandsbezug ist pr¨adikativ ein rechtlicher (einer der rechtlichen Intentionalit¨at), weil einerseits die Setzung als Setzung bewusst geworden ist und andererseits das vorpr¨adikative Angesprochen-Sein begrifflich erfasst (und wiederholbar) wird als m¨oglicher Rechtsgrund. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Figur der Legitimation immer schon sprachlich verfasst ist und hinter sie auch nicht (argumentativ) zur¨uckgegangen werden kann. Aber was sie meint, ist nichts sprachlich Kontingentes, sondern die erw¨ahnte bestimmte Beziehung auf die Gegebenheitsweise des Gegenstands als Rechtsgrund (Evidenz als Recht). Damit wird ein Verstandesgegenstand konstituiert, welcher wiederholbar und als er selbst wieder thematisierbar ist: der Rechtssinn, das Produkt der gegl¨uckten Rechtfertigung. Die Verwobenheit von Spontaneit¨at und Sprachlichkeit tritt auch hier auf und tr¨agt ihren spezifisch intersubjektiven Sinn in sich. Der An-spruch ergeht an uns alle, wiewohl ¨ jeder in seinem Angesprochen-Sein vereinzelt ist. Das begriffliche Ubernehmen des An-spruchs geht immer schon so vor sich, dass es in Formen der Sprachlichkeit das intersubjektive Begr¨unden, Argumentieren, Rechtfertigen erm¨oglicht – ein Einander- oder ein Sich-Antworten u¨ ber den An-spruch, das sich auf der einen Seite seinem Angesprochen-Sein verpflichtet (in konkreter Hinsicht: den Erscheinungen, Ph¨anomenen, Evidenzen), auf der anderen Seite dieses argumentierend intersubjektiv verantwortet. Auf diese Weise ist gerade in der Legitimationskategorie der Aspekt des kommunikativen Handelns spontan-begrifflich angelegt. Die Intersubjektivit¨at ist auch hier apriorisch vorgezeichnet. Man k¨onnte pointiert sagen, dass die Einsicht in die Transzendentalit¨at (Unhintergehbarkeit) der pragmatischen Dimension miteinschließt, dass das Transzen-
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dentale pragmatisch angelegt ist207 – und dies durch die Legitimationskategorie. Trotzdem muss gegen Apel festgehalten werden, dass es zwar (sprachlich, geschichtlich, leiblich, affektiv etc.) vergemeinschaftete, aber einzelne Bewusstseinsstr¨ome sind, an die der An-spruch ergeht; dass sie in ihrem Angesprochen-Sein individuiert und gleichzeitig ins Antworten, ins Rechtfertigen gerufen sind. Eine ph¨anomenologische Theorie der rechtlichen Intentionalit¨at versucht also auch hier, Subjektivit¨at und Intersubjektivit¨at nicht gegeneinander auszuschließen oder auszuspielen (was sinnlos ist), sondern Rechtfertigung als ein plurales, intersubjektives Geschehen zu begreifen, das sich u¨ ber das je einzelne Angesprochen-Sein antwortet und so eine Welt konstituiert, die sich unendlich bew¨ahren muss. Insofern die rechtliche Intentionalit¨at als eine nachtr¨agliche Bewegung aufbricht, als Frage oder Kritik in den Erfahrungszusammenhang hineingetragen wird, muss auch dem Sinn der Sinnlichkeit (vor der Geltungsfrage) seine Rolle zuerkannt werden. An-spruch ist also nicht ein schlichtes Dass des Affiziertseins, das von sich selbst her sinnlos w¨are. Es bringt vielmehr einen fundamentaleren Aspekt des Sprachlichen, nun verstanden als das Offen-Sein schlechthin, in den Blick.
2. Ethische Aspekte: Argumentation und Anerkennung Apels Grundthesen Apels ethische Grundposition, so wie sie in dem Aufsatz ,,Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik“ (in: Transformation der Philosophie (1973)) dargestellt wird, l¨asst sich in zwei 207
Sogar die Logik ist f¨ur Apel stets schon in eine pragmatische Dimension des Rechtfertigens verwoben: ,,Wenn die Frage, ob jemand in seinen Verstandesoperationen einer Regel folgt, nur im Rahmen eines Sprachspiels sinnvoll gestellt und beantwortet werden kann, dann muß die Logik, welche die Regeln des monologischen Verstandesgebrauchs zu rechtfertigen hat, die Ebene des Dialogs betreten. Argumente sind dann nicht, wie im modernen (syntaktisch-semantischen) Logikkalk¨ul, unter Abstraktion von der pragmatischen Dimension zu verstehen, sondern immer zugleich als Sinn- und Geltungs-Anspr¨uche, die nur im interpersonalen Dialog expliziert und entschieden werden k¨onnen.“ (TP 401)
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¨ Argumente aufteilen: Ahnlich wie bei seinem Begriff des Konsens gibt es auch hier eine transzendentale und eine teleologische Komponente. Der transzendentale Aspekt, der eine Letztbegr¨undung minimaler ethischer Normen erm¨oglichen soll, liegt in den Implikationen des Argumentationsaprioris. Auf der Ebene der ,,intersubjektiven Verst¨andigung u¨ ber Sinn und Geltung von Aussagen wird eine Ethik vorausgesetzt“ (TP 401). Ethik ist nicht von einer Glaubensentscheidung abh¨angig, sondern rational letztbegr¨undet, weil der Argumentierende a priori eine Ethik impliziert und appliziert. Denn insofern er argumentiert, erhebt er Anspruch auf Sinn und Geltung, Wahrheit und Rechtfertigung und muss daher alle potenziellen Argumente und Argumentierenden anerkennen. Die notwendige und implizite Voraussetzung des Argumentierenden ist somit die Anerkennung aller potenziellen Diskussionspartner208 , wodurch sich notwendigerweise eine moralische Grundnorm ergibt. ,,Die angedeutete Grundnorm [einer Ethik der Kommunikation] gewinnt ihre Verbind¨ lichkeit nicht etwa erst durch die faktische Anerkennung derer, die eine Ubereinkunft treffen (,Vertragsmodell’), sondern sie verpflichtet alle, die durch den Sozialisationsprozeß ,kommunikative Kompetenz’ erworben haben, in jeder Angelegenheit, welche die ¨ Interessen (die virtuellen Anspr¨uche) Anderer ber¨uhrt, eine Ubereinkunft zwecks solidarischer Willensbildung anzustreben.“ (TP 426)
Jeder einzelne muss die o¨ ffentliche Argumentation als Explikation aller m¨oglichen Geltungskriterien und somit auch der vern¨unftigen Willensbildung von vornherein anerkennen – damit w¨are der ,methodische Solipsismus’ auch auf dem Gebiet der Ethik u¨ berwunden. Die notwendige Anerkennung, die um der Interpretationseinheit willen erfolgen muss, l¨asst Apel zu dem Schluss kommen, dass Wissenschaft, Logik und Ethik ein Bedingungsgef¨uge ergeben, das sich sinnvoll nicht negieren l¨asst (TP 403). Sogar die ber¨uchtigten kantischen Teufel209 m¨ussten sich pflichtgem¨aß verhalten, wenn sie der Wahrheit teilhaf208
Diese Diskussionspartner werden als ,denkende Wesen’ charakterisiert, durch den Verweis auf die Unendlichkeit und Potenzialit¨at sind aber auch Ungeborene mitgemeint. 209 Apel bezieht sich hier auf die Bemerkung Kants in der Schrift Zum ewigen Frieden, wo dieser behauptet, das Problem der Staatserrichtung w¨are selbst f¨ur ,,ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“ (Kant 1992, B 61) aufl¨osbar. Apels Argumentation zufolge w¨aren diese Teufel nun, sobald sie in einen argumentativen Prozess einsteigen, auch ethischen Prinzipien automatisch verpflichtet.
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tig werden wollten (TP 404). Ob dies ,aus Pflicht’ oder ,pflichtgem¨aß’ geschehe, sei in praktischer Hinsicht einerlei: Denn zu argumentieren bedeutet schon, der Ethik der Kommunikationsgemeinschaft zu folgen. In diesem Sinne wird schließlich, wieder in Anlehnung an Kant, das ,Faktum der Vernunft’ sprachpragmatisch reformuliert: ,,So l¨aßt sich m. E. die Kantische Rede vom ,Faktum der Vernunft’ als dem unbezweifelbaren Tatbestand der sittlichen Selbstbestimmung [. . .] als ein Ergebnis transzendentaler Selbstbesinnung auffassen, das sich in dem von uns angedeuteten Sinn einer Implikation des Argumentationsaprioris rekonstruieren l¨aßt.“ (TP 418) — ,,Die Akzeptierung der moralischen Grundnorm der kritischen Kommunikationsgemeinschaft hat, sofern sie notwendigerweise vorausgesetzt werden muß, nicht dem Charakter eines Humeschen ,Faktums’, sondern den Charakter des Kantischen ,Faktums der Vernunft’.“ (TP 417)
Der zweite, teleologische Aspekt der Apel’schen Ethik ergibt sich durch die ,merkw¨urdige Dialektik’ von idealer und realer Kommunikationsgemeinschaft: ,,Wer n¨amlich argumentiert, der setzt immer schon zwei Dinge gleichzeitig voraus: Erstens eine reale Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglied er selbst durch einen Sozialisationsprozeß geworden ist, und zweitens eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, die prinzipiell imstande sein w¨urde, den Sinn seiner Argumente ad¨aquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen. Das Merkw¨urdige und Dialektische der Situation liegt aber darin, daß er gewissermaßen die ideale Gemeinschaft inder realen, n¨amlich als reale M¨oglichkeit der realen Gesellschaft, voraussetzt.“ (TP 429)
Dadurch ergibt sich schließlich der (nicht nur ethische) Imperativ, die ideale Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen, sich f¨ur sie einzusetzen. Es sei dies eine ,,verzweifelte[. . .] und hoffnungsvolle[. . .] Situation“ (TP 429) und ergebe ,,einen Widerspruch, den man – wie Hegel sagt – aushalten muß“ (TP 430). Die Verwirklichung der idealen Kom¨ munikationsgemeinschaft beinhaltet eine ,Uberlebensstrategie’, die das ¨ Uberleben der potenziell Argumentierenden sichern, und eine ,Emanzipationsstrategie’, die f¨ur alle Argumentierenden die gleichen Voraussetzungen schaffen soll. Situationseinsch¨atzung und Situationsentscheidung schließlich kann niemand abgenommen werden, und Parteiergreifung ,,wird immer ein riskantes Engagement einschließen“ (TP 435).210 210
Zum Selbstverst¨andnis der Diskursethik als Verantwortungsethik vgl. Apel 1990b und B¨ohler/Kettner/Skirbekk 2003, 285 ff.
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Die Ethik der Kommunikationsgemeinschaft ist also eine Ethik der Anerkennung und der Rechtfertigung im Namen von Sinn und Geltung: ,,Im Apriori der Argumentation liegt der Anspruch, nicht nur alle ,Behauptungen’ der Wissenschaft, sondern dar¨uber hinaus alle menschlichen Anspr¨uche (auch die impliziten Anspr¨uche von Menschen an Menschen, die in Handlungen und Institutionen enthalten sind) zu rechtfertigen. Wer argumentiert, der anerkennt implizit alle m¨oglichen Anspr¨uche aller Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft, die durch vern¨unftige Argumente gerechtfertigt werden k¨onnen (sonst w¨urde der Anspruch der Argumentation sich selbst thematisch beschr¨anken), und er verpflichtet sich zugleich, alle eigenen Anspr¨uche an Andere durch Argumente zu rechtfertigen.“ (TP 425)
¨ Uberlegungen zu Rechtssinn und rechtlicher Intentionalit¨at ¨ Die kritischen Uberlegungen zu Apels Ethik gestalten sich strukturell a¨hnlich wie die zu den erkenntnistheoretischen Thesen: So, wie in erkenntnistheoretischer Hinsicht der Gegenstandsbezug vernachl¨assigt wird, wird in ethischer Hinsicht der Bezug zum Anderen u¨ bergangen. Dieser umfasst eine tiefere Dimension des An-spruchs, welche erstens den Apel’schen Begriff von ,Sprache’ u¨ berschreitet; zweitens leitet sich der ethische Appellcharakter der Alterit¨atsbeziehung nicht aus der wahrheitsgem¨aßen L¨osung von Sinn- und Geltungsfragen ab, sondern macht diese erst notwendig. Es f¨allt auf, dass Apel seine Ethik auf der Argumentation, d. h. auf dem Willen zur Wahrheit, aufbaut. Wenn ich also ,um der Wahrheit willen’ (d. h. aus dem Bed¨urfnis nach Sinnkl¨arung und Geltungseinl¨osung von Aussagen) die Anderen achten soll, ist dieser Motivationsgrund der allein entscheidende f¨ur mein ethisches Verhalten. Warum aber sollte der Teufel an der Wahrheit interessiert sein? Wozu argumentieren? Wenn das permanente L¨ugen den Dialog der Argumentierenden unm¨oglich macht, so kann das einer b¨osen Absicht ja nur erw¨unscht sein. In die Argumentation u¨ berhaupt einzusteigen, braucht also einen besseren Grund. Apel gibt zu, dass es m¨oglich ist, aus der Diskussion ,auszuscheiden’ (TP 421). Zwar nimmt ,,jeder, der spricht oder auch nur sinnvoll handelt, bereits an einer virtuellen Diskussion teil[. . .]“ (TP 421), er kann aber die eigentliche Diskussion etwa durch Gewalt verweigern. In diesem Fall sollte ich den Diskussionsverweigerer auffordern, aktiv an der Argumentationsgemeinschaft teilzunehmen und das, was er virtuell immer schon akzeptiert hat, n¨amlich das Prinzip der M¨oglichkeit und G¨ultigkeit
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der Argumentation, willentlich zu bekr¨aftigen. Verweigert er trotzdem, so setzt er sich laut Apel der Sinnlosigkeit aus, weil nur die Kommunikationsgemeinschaft Garant f¨ur Sinn (und Geltung) ist. Dieses Argument scheint stark u¨ berh¨oht und muss den ethischen Verweigerer tats¨achlich kaum beunruhigen. Denn in den meisten F¨allen wird die Anerkennungsverweigerung des verpflichtenden Kommunikationsaprioris keine konsequente sein, die sich in den totalen Wider- und Irrsinn zur¨uckziehen m¨usste (dies k¨ame einem Versinken im kantischen ,,Gew¨uhle der Erscheinungen“ (KrV A 111) ohne Begriffe gleich). Im Gegenteil: Die u¨ bliche Verweigerung ist meist nur eine partielle, die einen Teil des intersubjektiven Sinns anerkennt und insofern missbraucht, den u¨ brigen Selbstwiderspruch aber leicht ertragen kann. Vern¨unftig zu sein bzw. ethisch zu handeln bleibt daher eine Aufforderung; das Argument des Selbstwiderspruchs und folglich der Sinnlosigkeit ber¨uhrt nur den, der der Vernunft schon folgt. Aber bin ich als Diskussionsverweigerer nicht trotzdem einem vorg¨angigen An-spruch ausgesetzt? Bin ich, wie auch Apels Aussage u¨ ber das ,Sprechen’ und ,sinnvoll Handeln’ nahelegt, nicht schon auf einer ganz anderen Ebene als der Diskussion in einen Anspruch verwickelt, den ich nur verweigern, dem ich aber nicht ,entkommen’ kann? Ich kann vielleicht ,hinaus’ aus der Diskussion der Argumentationsgemeinschaft, aber kann ich aus dem Angesprochen-Sein ausscheiden? Es bleibt fraglich, was es f¨ur die Diskussion selbst bedeutet, wenn jemand aus ihr ausscheidet. Genauso ist unklar, ob jemand, der sich willentlich aus der Diskussionsgemeinschaft zur¨uckzieht, damit auch jeglichen Anspruch auf Verantwortung und ethische Behandlung meinerseits verliert. Damit wird deutlich, dass so wie die Wahrheitssuche auch die Ethik eines tieferen Anstoßes bedarf. Wenn es nur Bedingung der Argumentation ist, sich ethisch zu verhalten und dar¨uber hinaus kein ethischer Anspruch an uns ergeht, dann ist unsere ethische Verantwortung und Bindung den Anderen gegen¨uber nur sprach-, wahrheits- und vernunftbezogen. Eine Ethik kann aber nicht nur um Geltung und Wahrheit willen ins Werk gesetzt werden, sonst verliert sie ihren genuinen Bezugspunkt und wird zur Technik einer Erkenntnistheorie. Vielmehr muss sie einem Anspruch entsprechen, der fundamentaler, leiblicher, affektiver, passiver ist
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als das, was Apel unter ,Sprache’ versteht. Im Entwurf einer ethischen Genesis der Vernunft (und damit des Rechtfertigungsverm¨ogens) wurde versucht, das rechtliche Denken auf ein rechtliches Sein zur¨uckzuf¨uhren. Als rechtliches Sein wurde die Erfahrung der Alterit¨at als An-spruch bezeichnet, die durch den Dritten in das dringliche Urteil gerufen ist. Hier liegt der Anstoß des rechtlichen Denkens. Durch das In-die-Pflichtgenommen-Werden des An-spruchs, so lautete die These, werden wir u¨ berhaupt erst als rechtliche Wesen gestiftet. Die Frage an Apel muss also sein, ob tats¨achlich durch das Rechtfertigen die Anerkennung der Anderen gestiftet wird oder ob es nicht vielmehr umgekehrt der An-spruch der Kommunikationsgemeinschaft bzw. der Anderen ist, der die Rechtfertigung stiftet. W¨ahrend bei Apel die Ethik darin besteht, dass jeder jeden um der Wahrheit willen anerkennen muss, w¨are es bei Levinas gerade so, dass die Suche nach der Wahrheit um des gerechten Urteilens willen ins Werk gesetzt wird. Apel u¨ bersieht, dass das Rechtfertigen in seiner Theorie zur ars gratia artis wird, ohne einem Anspruch antworten zu m¨ussen. Durch das Argumentationsapriori sei Rechtfertigung gefordert – aber ist nicht eben auch das Argumentationsapriori selbst gefordert, weil wir schon in einer ethisch dringlichen Situation urteilen, entscheiden m¨ussen? Die Subjektivit¨at, die sich bei Levinas abzeichnet, hat Bewusstsein, Vernunft, Intentionalit¨at, Urteilskraft um der Gerechtigkeit willen. Nicht der Zweifel, sondern der unm¨aßige An-spruch und die dringliche Forderung nach Gerechtigkeit bringen sie ins Rechtfertigen. Diese Vernunft muss im spontanen Kon¨ stituieren der Rechtskategorie mit einem Uberschuss umgehen, der nicht in kategoriale Form zu bringen ist. Trotzdem muss sie das Unvergleichliche vergleichen, Gr¨unde anf¨uhren, Sichtbarkeit anstreben, m¨oglichst alles tun, um ein Urteil zu erreichen, das sich nicht nur auf das Messbare st¨utzen kann, sich aber gleichzeitig aus dem Messbaren heraus erreichen lassen muss. Das Sich-Verhalten zu dieser Situation wurde als der Ursprung der ethischen Haltung beschrieben, eine unendliche Rechtfertigungspflicht zu u¨ bernehmen. Ein weiterer Unterschied zwischen Apels Ansatz und dem der Alterit¨atsethik liegt in der Wahl der Perspektive: W¨ahrend Apel die Dritte-Person-Perspektive w¨ahlt, ist die Ph¨anomenologie der
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Erste-Person-Perspektive verpflichtet. Bei Levinas radikalisiert sich diese Erste-Person-Perspektive zur ethischen Perspektive schlechthin und auch Derrida hat in seiner Problematisierung des gerechten Urteils stets den Urteilenden bzw. den Richter vor Augen, der seine Verantwortung nicht an eine Kommunikationsgemeinschaft abgeben kann und dadurch vereinzelt ist. Apel verfolgt im Vergleich zu dieser ,judikativen’ Sichtweise der Gerechtigkeitsproblematik eher eine ,legislative’ Perspektive: Bei ihm hat jeder das gleiche Recht (und wahrscheinlich auch die Pflicht), an der Diskussion teilzunehmen. Alle weiteren Anspr¨uche der (potenziellen) Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft werden ausverhandelt, begr¨undet, gerechtfertigt und gehen erst als Rechte aus gerechtfertigten Anspr¨uchen hervor, d. i., wenn die Gemeinschaft sie im Konsens als solche anerkennt. Jeder hat das gleiche Recht zu sprechen und kann bzw. soll auch f¨ur Andere sprechen. An diesem Punkt, im Einsatz f¨ur die ideale Kommunikationsgemeinschaft, gewinnt die Apel’sche Ethik aber letztlich doch ein Moment der Erste-Person-Perspektive und der verantwortlichen ethischen Subjektivit¨at. Denn hier muss sie urteilen, muss sie ein ,riskantes Engagement’ eingehen. Auch geht das geforderte Engagement u¨ ber den Bereich des Messbaren hinaus, in dem sich die Apel’sche Verhandlungs- und Rechtfertigungsethik ansonsten bewegt – ein Messbares, das sich einsehen und begr¨unden, mit anderen Einw¨anden vergleichen l¨asst. Die Situation der ethisch geforderten Verwirklichung der idea¨ len Kommunikationsgemeinschaft tr¨agt hingegen ein Moment der Uber¨ forderung, des Uberschusses, der unendlichen Verantwortung in sich – Apel beschreibt die Lage als ,verzweifelt und hoffnungsvoll’. Vernunft und Urteil sind hier mehr gefragt denn je, ich muss st¨andig entscheiden, wo und wie ich mich einsetze.211 Nat¨urlich w¨are dies im Vergleich Apel hierzu: ,,An dieser Stelle [. . .] muß jeder eine nicht – oder nicht v¨ollig – begr¨undbare ,moralische’ Glaubensentscheidung auf sich nehmen. Es gibt jedoch auch in dieser Situation der einsamen Entscheidung offenbar kein besseres ethisches Regulativ als dies: im eigenen reflexiven Selbstverst¨andnis die m¨ogliche Kritik der idealen Kommunikationsgemeinschaft zur Geltung zu bringen. Dies scheint mir das Prinzip der m¨oglichen moralischen Selbsttranszendenz zu sein.“ (TP 435)
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zur Levinas’schen oder Derrida’schen212 Subjektivit¨at immer noch viel zu ,autonom’ im kantischen Sinn, aber es ist hier mehr konkrete Verantwortlichkeit sp¨urbar als in der eher steril verlaufenden Anerkennung der Argumentierenden. Aber wieso sollte ich – nach Apels Entwurf – f¨ur Andere sprechen? Steht man der Konzeption dieser Diskursethik sehr skeptisch gegen¨uber, so k¨onnte folgender Vorwurf erhoben werden: Apels ethisches Subjekt 212
Man k¨onnte argumentieren, dass mit Apel der intersubjektive Horizont im Rechtssinn sichtbar gemacht werden kann, mit Derrida hingegen der Horizont einer Vernunft, die dem Unmaß begegnet. Es soll hier nicht darauf abgezielt werden, Positionen, die ungemein unterschiedliche Ausgangspunkte haben, zwanghaft zu vers¨ohnen. So sehen z. B. Apel und Derrida das Performative in ganz verschiedener Weise: Wo Apel im argumentativen Performativ die kontrafaktische Antizipation einer idealen Kommunikationsgemeinschaft diagnostiziert, verortet Derrida im Performativen ,,die Irreduktibilit¨at der u¨ berst¨urzenden Dringlichkeit“ (GK 55) und damit die M¨oglichkeit der Gerechtigkeit, aber auch die der pl¨otzlich ausbrechenden Gewalt. Bei beiden Denken ist zumindest eine Bewegung festzustellen, die dem Performativen einen besonderen Rang vor oder gegen¨uber dem Konstativen zuspricht und die auch, wenn auch in sehr verschiedener Weise, ,Wahrheit’ in die Unendlichkeit der sprachlichen Intersubjektivit¨at oder u¨ berhaupt in die (geschichtlich-strukturelle) Verschiebung (diff´erance) selbst verschiebt. Beide Punkte sind f¨ur eine Theorie des Rechtssinns von Bedeutung, insofern das Rechtfertigen im Performativen beheimatet ist und auf Wahrheit abzielt. Apels Philosophie streicht die Unendlichkeitsdimension auch im ,Kalkulierbaren’ hervor und beschreibt sie als argumentativ-diskursive – ein Punkt, den Derrida vielleicht untersch¨atzt, insofern hier einerseits tats¨achlich auch ein Raum des Politischen aufbricht und andererseits auch die ,rationale Praxis’ der Vernunft ein ,,riskantes Engagement“ (TP 435) fordert. Derrida wiederum ist sensibler f¨ur den An-spruch des Anderen, der sich nicht in einer letztbegr¨undeten Ethik auffangen l¨asst, sondern noch viel mehr fordert: Statt aus dem vern¨unftigen Argumentieren eine Ethik abzuleiten, ist von der Vernunft selbst das Ethisch-Werden gefordert. Die ,kontrafaktische Antizipation’, die bei Apel eine pragmatische (unhintergehbare) Voraussetzung der Argumentation selbst ist (w¨ahrend Argumentation wieder Voraussetzung f¨ur Wahrheit ist), wird f¨ur Derrida zu einer ,kontrafaktischen Antizipation’ in ganz anderem Sinn, n¨amlich in dem des dringlichen InsWerk-Setzen des Ereignisses. Die Figur der regulativen Idee kann dieser Dringlichkeit nicht gerecht werden. Man k¨onnte aus diesen groben Ausf¨uhrungen den Schluss ziehen, Apel k¨ame es nur auf das Maß, Derrida nur auf das Unmaß an. Ein vorschnelles Urteil darf aber nicht gef¨allt werden, fordert doch der eine das ,riskante Engagement’ und der andere ,eine Rationalit¨at, die das Unberechenbare in Rechnung stellt’. Eine Theorie
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ist haupts¨achlich an der Verwirklichung der idealen Kommunikationsgemeinschaft interessiert. Die Anderen sprechen es nicht direkt als Andere an, und machen es dadurch verantwortlich, bzw. stiften es als verantwortliches und rechtliches. Stattdessen scheint ,die Kommunikationsgemeinschaft’ ein Geltungsproduzent und Wahrheitsgarant, eine Konsensmaschine ohne Levinas’sches ,Gesicht’ zu sein. Ethisches Interesse an den Anderen besteht darin, dass sie mitdiskutieren k¨onnen, um dem g¨ultigen Selbstverst¨andnis ein St¨uck n¨aher zu kommen. Mich deshalb frei daf¨ur zu entscheiden, die Anderen zu achten, ist eine autonome Entscheidung f¨ur Sinn und Wahrheit, aber hat nichts mit Verantwortung, dem Antworten auf einen Ruf, auf einen An-spruch zu tun, der mich wesentlich bestimmt, ja mich vielleicht sogar verfolgt. Dieser Vorwurf oder Verdacht w¨urde Apels Intentionen sicherlich nicht gerecht werden. Es w¨are daher sinnvoller und produktiver, den Versuch zu machen, Apel so zu lesen, dass die Sprache bzw. die Kommunikationsgemeinschaft selbst es ist, die das Subjekt als verantwortliches und als rechtfertigendes stiftet. Eine M¨oglichkeit der Argumentation w¨are, ,Sprache’ in einem erweiterten Sinn (wie etwa dem Levinas’schen) zu verstehen: Damit w¨aren An-spruch und Angesprochen-Sein in noch fundamentalerer Hinsicht, n¨amlich auf sinnlich-leiblicher und affektiver Ebene konstitutiv f¨ur das Subjekt selbst. Apels Ziel ist argumentative Letztbegr¨undung, unsere Fragestellung war vielmehr, wie und warum wir Begr¨undende sind. Anders gesagt: Apel weist die notwendigen Strukturen und Implikationen von Rationalit¨at auf, unser Anliegen ist es, zu zeigen, dass diese Rationalit¨at (oder: Vernunft) ihre Genesis im An-spruch hat (weil wir Wesen sind, die (auf ) Hinnahme (angewiesen) sind) und um des An-spruchs willen Strukturen der Rechtfertigung besitzt. Die transzendentale Selbstbesinnung zeigt der rechtlichen Intentionalit¨at muss von beiden Positionen lernen, um schließlich im R¨uckgang auf die Ph¨anomene und den sich konstituierenden Sinn die Unterscheidungen von ,Maß’ und ,Unmaß’ dem Gegebenen immer neu abzugewinnen. Eine Theorie der Vernunft als rechtlicher Intentionalit¨at will die Vernunft in beiden F¨allen (Maß des Gegebenen, Unmaß des Entzugs) responsiv-rechtlich verstehen, also in beiden F¨allen als einem An-spruch antwortend und dadurch gestiftet als rechtliche Struktur. Dass Aufschub und Unm¨oglichkeit dadurch auch zu Themen der Vernunft werden, ist kein irrationales Moment, sondern entspricht ganz ihrem Begehren, nur absolut Gerechtfertigtes stehen zu lassen.
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uns in ethischer Hinsicht daher nicht nur, dass wir die Anderen im Argumentieren immer schon anerkennen, sondern dass wir Argumentierende sind, weil wir Angesprochene sind. Apel selbst scheint einer solchen Interpretation nicht g¨anzlich abgeneigt zu sein. Immerhin stellt er mit Blick auf Levinas fest, ,,daß hier [in der Begegnung mit der Alterit¨at] in letzter Instanz der tiefste ph¨anomenologische Orientierungspunkt der moralischen Verpflichtung“ (Apel 2000, 45) gegeben ist.213 Auf jeden Fall birgt die Auseinandersetzung mit Apels Sprachpragmatik ein wichtiges korrektives Potenzial f¨ur einen ph¨anomenologischen Ansatz und hat auch in diesem ersten Anlauf schon zu Pr¨azisierungen gef¨uhrt, die sowohl den Bereich der Intersubjektivit¨at als auch den der Sprache betreffen. Es konnten hier nur grobe Linien skizziert werden. Eine genauere Untersuchung m¨usste zeigen, ob die Herausforderung der Sprachpragmatik f¨ur eine ph¨anomenologische Theorie der rechtlichen Intentionalit¨at erg¨anzend fungieren kann, insofern sie in transzendentalpragmatischer Hinsicht einen Anstoß gibt, die Verwobenheit von Sprache, Bewusstseinsevidenz und An-spruch ph¨anomenologisch zu untersuchen. Dem An-spruch zu entsprechen k¨onnte somit auch konkret bedeuten, in die Diskussion einzusteigen. 3. Logosvergessenheit? (Heidegger) Logos (Vernunft) und Geschichtlichkeit Die Betonung einer angesprochenen Subjektivit¨at, die versucht, diesem An-spruch zu entsprechen, darf nat¨urlich nicht die zeitliche und geschichtliche Struktur dieser Subjektivit¨at u¨ bersehen. Deutlich wird dies u. a. durch die strukturelle Verwobenheit des Subjekts in die Intersub213
Ich m¨ochte an dieser Stelle auf die Dissertation von Eva Buddeberg (2008) verweisen, die erstmals eine genaue Analyse der Diskussions- und Ber¨uhrungspunkte zwischen Apel und Levinas in Angriff nimmt bzw. die Erg¨anzungsm¨oglichkeiten von Transzendentalpragmatik und Alterit¨atsdenken in Hinblick auf die Begr¨undung moralischer Verantwortung untersucht. Eine Skizze dieses Ansatzes liegt mit dem Aufsatz ,,Warum Menschen verantwortlich sind. Apels transzendentale Letztbegr¨undung und Levinas’ Ph¨anomenologie des Anderen im Diskurs“ (Buddeberg 2009) vor. Ich m¨ochte mich auch ganz herzlich f¨ur die vielen fruchtbaren Gespr¨ache und Diskussionen bedanken, die wir in diesem Zusammenhang gef¨uhrt haben.
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jektivit¨at und ihre konstitutiven Elemente wie Normalit¨at und Generativit¨at. Normative Strukturen werden schon in einer Welt vorgefunden, in geschichtlich und kulturell konkreter Ausformung – Normatives ,f¨allt nicht vom Himmel’, und dies in zweierlei Hinsicht: erstens im transzendentalen Sinn der ,normativen Deutung’, zweitens im geschichtlichen Sinn des vorgefundenen, ,sinnhaften Aufbaus’ (Sch¨utz 1960) einer intersubjektiv-geschichtlichen Lebenswelt. Dadurch ergibt sich die wohlbekannte Spannung zwischen ,Vernunft’ und ,Geschichtlichkeit’, die Frage nach den Kriterien der Richtigkeit und der M¨oglichkeit von Kritik bei gleichzeitigem Bewusstsein der irreduziblen geschichtlichen Situativit¨at. Es ist bekannt, dass das Werk Martin Heideggers bahnbrechend und richtungsweisend f¨ur die Aufdeckung der Rolle der Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit gewesen ist. Will man das Angesprochen-Sein also weiter ph¨anomenologisch befragen, so ist es sicher unumg¨anglich, sowohl seinen fr¨uhen Entwurf zum Ruf des Gewissens (Heidegger 1979, §§ 54-60) als auch sein sp¨ates Ereignisdenken (Heidegger 1969, 1989, 2006) zu ber¨ucksichtigen. Der An-spruch und das ihm EntsprechenK¨onnen bzw. -Sollen m¨ussen zweifellos geschichtlich verstanden werden, d. h. aus einer faktischen Abh¨angigkeit und Unverf¨ugbarkeit heraus. Die Endlichkeit der Subjektivit¨at bzw. des Daseins, die sich in seinem Entscheiden-M¨ussen in einer unentscheidbaren Situation widerspiegelt, m¨usste m¨oglichst produktiv interpretiert werden: als Ergreifen einer konkreten Verantwortung und nicht als das Verfehlen einer Entscheidung, die sich in einer unendlichen Teleologie vielleicht eindeutig treffen ließe. Gleichzeitig ist es aber so, dass die rechtliche Intentionalit¨at die exakte Gegenbewegung zu dieser Einsicht darstellt und den Geltungsanspruch sozusagen ,performativ’ aufrechterh¨alt. Hier k¨onnen wir uns wieder auf Apel berufen, der den Geltungsanspruch des Logos gegen dessen geschichtliche Situiertheit stark macht: ,,In dieser kontrafaktischen Unterstellung des Ideals der konsensualen Geltungsrechtfertigung [. . .] liegt gewissermaßen die Gegeninstanz, die der Logos unserer diskursiven Geltungsanspr¨uche, der sich selbst nicht ohne performativen Selbstwiderspruch verleugnen kann, angesichts der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit der faktisch vorausgesetz¨ ten Welt-Sinnkonstitution in Anspruch nehmen und gegen die scheinbare Ubermacht der Zeit bzw. der Seinsgeschichte (und der ihr korrespondierenden unendlichen Vielfalt der faktischen Sprachspiele und Lebensformen) ausspielen kann und muß. Diese kontrafaktische Unterstellung des Ideals der konsensualen Geltungsrechtfertigung steht
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ersichtlich nicht im Widerspruch zur faktischen Abh¨angigkeit unseres Fragenk¨onnens – und insofern auch der m¨oglichen Wahrheit und Falschheit von Erkenntnisurteilen – von der zeitlich-geschichtlichen Welt-Sinnkonstitution im Medium der Sprachen. Doch sie muß darauf insistieren, daß aus der von Heidegger aufgezeigten Abh¨angigkeit keine einseitige Bedingtheit der Geltungsrechtfertigung durch die vorauszusetzende begrenzte Sinnkonstitution folgt.“ (Apel 1989, 166)
Bei allem Ernstnehmen der faktischen Bedingungen des Verstehens d¨urfe man sich nicht selbst daf¨ur blind machen, dass in der kommunikativen Verst¨andigung von Menschen (und diese nehmen auch Philosophen in Anspruch) performativ Geltungsanspr¨uche vorgetragen werden, ,,die nur unter der Voraussetzung regulativer Ideen der m¨oglichen universalg¨ultigen konsensualen Geltungsrechtfertigung u¨ berhaupt verstehbar sind“ (Apel 1989, 167). Heidegger habe, so Apel, der Zeit gegen¨uber niemals eine wirkliche Gegeninstanz im Sinne der Vernunft etablieren k¨onnen: Der Gewissensaufruf in Sein und Zeit sei zwar eine formal-universalg¨ultige, ,,aber freilich inhaltlich ohnm¨achtige regulative Idee“ (Apel 1989, 168), Heideggers Sp¨atphilosophie wiederum wolle alle normativen Maßst¨abe der H¨origkeit des and¨achtigen Denkens entnehmen. Die destruktive ,,De-transzendentalisierung“ (Apel 1989, 169) in ¨ der VorHeideggers Denken ist Apel zufolge durch ein Uberspringen struktur des verstehenden In-der-Welt-Seins bedingt. Eine Analyse dieser Vorstrukturen h¨atte zeigen m¨ussen, dass es Pr¨asuppositionen und Geltungsanspr¨uche im argumentativen Diskurs gibt, die unhintergehbar sind und daher transzendentalpragmatisch verstanden werden m¨ussen. Dadurch sei ein ,Reflexionsdefizit’ bei Heidegger eingetreten, das Apel als ,,Logosvergessenheit“ (Apel 1989, 169) charakterisiert ,,– wobei unter ,Logos’ gerade nicht der von Heidegger (und Derrida) gemeinte ,Logos’ der pr¨asentischen Verf¨ugbarmachung des Seienden im Sinne des ,Gestells’ zu verstehen ist, sondern der erheblich weitere Logos, den die kommunikative Verst¨andigung – letztlich in reflexiv unbestreitbarer Form der philosophische Diskurs selber – voraussetzen und in Anspruch nehmen muß“ (Apel 1989, 169). Aus diesem Grund pl¨adiert Apel auch f¨ur eine Wiederholung der Heidegger’schen Analyse der Vorstruktur des verstehenden In-der-Welt-Seins unter Vermeidung der Logosvergessenheit, aber auch unter der Ber¨ucksichtigung von Heideggers Entdeckung der zeitlich-geschichtlichen Hintergrund-Voraussetzungen der Lebenswelt und der sprachlichen Welterschließung im Sinne der lichtendverbergenden Welt-Sinnkonstitution.
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Eine Genealogie der Vernunft als rechtlicher Intentionalit¨at sollte den transzendentalen, aber auch den antwortenden Charakter in der Legitimationskategorie aufzeigen. Das Begreifen in rechtlichen Strukturen und die sich daraus ergebende Dynamik der rechtlichen Intentionalit¨at (als Leerintentionalit¨at) bilden die formalen Bedingungen der M¨oglichkeit der Rechtfertigung und sind Garanten f¨ur die Erm¨oglichung von Kritik. Der transzendentalpragmatische Aspekt, den Apel herausarbeitet, findet hier die Genesis seiner formalen Strukturen und auch die R¨uckgebundenheit an einen materialen Motivationsgrund. Es wurde versucht, diese Bewegung wirklich ph¨anomenologisch auszuweisen, statt nur argumentativ auf sie hinzuweisen. Dabei sollte das Begreifen in rechtlichen Strukturen auf die vorpr¨adikative Anspruchsdimension zur¨uckgef¨uhrt werden, die die Frage nach Setzung und Gebung und damit nach Geltung motiviert. Der Anspruch auf Geltung ist das Herzst¨uck einer Theorie des Rechtssinns, die – wie Apel sehr richtig festmacht – nicht im Widerspruch zu den faktischen Vorbedingungen der Lebenswelt steht. Es ist unbestreitbar (und darauf verweist uns nicht nur, aber vor allem die sprachliche Welt-Sinnerschließung), dass sich Sinnkonstitution geschichtlich vollzieht – ebenso unbestreitbar ist aber, dass in der Verst¨andigung u¨ ber diesen Sinn Geltungsanspr¨uche vorausgesetzt werden (Apel 1989, 165). Die Figur der ,regulativen Idee’ macht es m¨oglich, dass die potenziell unendliche Einl¨osung dieser Geltungsanspr¨uche gedacht werden kann – denn indem normativ-heuristische Fiktionen auf die Zeit qua unverf¨ugbare Zukunft bezogen werden, kann eine der Zeit gegen¨uber ebenb¨urtige und nicht reduzierbare Potenz der Vernunft ausgewiesen und so am Vernunftanspruch der universalen G¨ultigkeit festgehalten werden (Apel 1989, 168). Auf diese Weise versucht eine Genealogie der Vernunft als rechtlicher Intentionalit¨at den Anspruch des rechtlichen Denkens in der spontanen Legitimationskategorie festzumachen, ohne ihre responsive R¨uckgebundenheit an einen An-spruch zu vernachl¨assigen. Unrecht? Eine m¨ogliche Frage an die hier vorgelegte Untersuchung k¨onnte lauten, warum eine Ph¨anomenologie des rechtlichen Denkens die Thematik des ,Unrechts’ beiseitegelassen hat. Nach dem hier entwickelten Verst¨andnis ist ein Sinn von Unrecht nur u¨ ber das Urteil anhand einer Norm m¨oglich. Ein noch fundamentaleres Unrecht auszumachen, w¨are daher vollkommen gegen die Intentionen
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der Arbeit und w¨urde wiederum einen naturrechtlichen Gestus bem¨uhen, der Recht und Unrecht direkt in den Dingen selbst verortet. Es wurde hingegen versucht zu zeigen, dass sich der Sinn des Rechtlichen auf die Setzungen (und Urteile) bezieht, insofern sie einem An-spruch antworten. Nun k¨onnte man noch anders fragen: Wenn sich rechtliches Denken also im Antworten auf einen An-spruch stiftet oder konstituiert, was heißt dann in diesem Konzept ,Unrecht’? Darauf w¨are zu antworten: Dem An-spruch u¨ berhaupt nicht zu antworten w¨are in erster Linie gar nicht m¨oglich. Denn jedes Verweigern ist ebenso ein Antworten, eben ein negatives Antworten, das z. B. bedeuten w¨urde, seine Setzung nicht in Frage stellen zu lassen, das Unbehagen zu unterdr¨ucken, eine St¨orung nicht aufkommen zu lassen. Sich dem Angesprochen-Sein u¨ berhaupt zu entziehen, w¨are nicht m¨oglich, weil es als konstitutiv f¨ur die Subjektivit¨at begriffen wird. In dem vorliegenden Entwurf ging es um die Stiftung des rechtlichen Denkens u¨ berhaupt – also um eine transzendentale Frage, hinter die (auch nicht mit einer ,Grundsituation des Unrechts’) zur¨uckzugehen w¨are. Unrecht kann nur Sinn haben innerhalb eines bereits normativ (und hier im Besonderen: moralisch normativ) erfassten Bereiches: Eine Verweigerung des Entsprechens ist daher nur m¨oglich auf einer Ebene, die schon normativ durchwirkt ist214 – bzw. nur hier ist diese Verweigerung als ,Unrecht’ zu verstehen. Es wird eine Norm gebrochen. Der M¨oglichkeit der Freiheit als Freiheit der Willk¨ur steht nat¨urlich offen, dies jederzeit zu tun. Diese Freiheit versteht sich aber auch hier schon normativ. Denn auch genau gegenteilig als gefordert zu handeln (und dies noch mit einem ,b¨osen’ Willen) ist nur m¨oglich, wenn schon normativ festgelegt ist, was es heißt, dem Geforderten zu entsprechen. Was aber versucht wurde zu zeigen, war die Genesis einer transzendentalen Legitimationskategorie, um das rechtliche Denken u¨ berhaupt aufzukl¨aren. In dieser Theorie kann es daher auch keinen Urzustand des Unrechts geben, aus dem heraus man etwa in einen rechtlichen u¨ bergehen m¨usste – denn auch ein solcher Entwurf eines Urzustands w¨are nicht vornormativ, sondern schon normativ-rechtlich durchzogen: Normen werden schon als gebrochen empfunden (weshalb man eventuell aus diesem Ungerechtigkeitszustand ,wieder’ in den der k¨unstlichen Unversehrtheit gelangen m¨ochte). 214
Versuchte man, eine noch fundamentalere Verweigerung zu denken, so k¨ame sie wahrscheinlich einem Welt- und Sinnverlust gleich.
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Nat¨urlich ist aber die Frage von ,Recht’ und ,Unrecht’ auch nicht so einfach an den bestehenden Normen festzumachen (Recht ist das, was sich an die Norm h¨alt, Unrecht bricht die Norm). Denn wie wir gesehen haben, ist es gerade die Dynamik des Rechtssinns, im Versuch, dem Anspruch (je geschichtlich) zu entsprechen, starre und eindeutige Normgef¨uge stets von außen her aufzubrechen. Es geht ja gerade bei der rechtlichen Intentionalit¨at um die Offenheit dem An-spruch gegen¨uber, insofern er Universalit¨at von außen konstituiert und daher auch wesentlich als St¨orung zu verstehen ist (was im Levinas’schen Spurbegriff angesprochen wurde). Es gibt also auch die M¨oglichkeit, die rechtliche Intentionalit¨at willentlich zu inhibieren, indem man stur den vorgegebenen Normen folgt. In allen diesen F¨allen aber von ,Unrecht’ zu sprechen, w¨urde stets schon eine normative Deutung erfordern und damit der Situation des An-spruchs ihren reinen Gegebenheits- oder Ereignischarakter nehmen. Gibt es dennoch eine zu stark harmonisierende Tendenz in diesem Entwurf? Die St¨orung des An-spruchs k¨onnte so weit gehen, dass sie die Sinnbildung verunm¨oglicht (Bernet 2001, Staudigl 2005, Staudigl 2006). Rechtliches Denken ist damit durchaus in einer prek¨aren Situation – es steht und f¨allt mit der M¨oglichkeit zu urteilen. Nur dann kann es auch dem An-spruch entsprechen und ist ihm nicht nur ausgeliefert. In der Theorie des Rechtssinns wurde aber dem rechtlichen Subjekt weder eine Absolutheit noch eine Unversehrtheit dieser Art zugeschrieben. Sie ging nur von den Aspekten im Urteil aus, die es zu einem rechtlichen machen. 4. Rechtsphilosophische Horizonte von Kritik und Weiterf¨uhrung II: Rechtsbegriff und Rechtsverst¨andnis (Habermas) Das Verh¨altnis von Recht und Subjekt Der vorliegende Versuch einer Beschreibung der rechtlichen Intentionalit¨at zeigte einen urspr¨unglichen Bezug zwischen (Inter-)Subjektivit¨at und Rechtssinn auf. Diese Erkenntnis k¨onnte insofern rechtsphilosophisch fruchtbar gemacht werden, als man damit in der Diskussion u¨ ber Rechts-
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begriff und Rechtsverst¨andnis einen Bezug zwischen Subjekt, Intersubjektivit¨at und Recht sichtbar machen k¨onnte, der u¨ ber den Antagonismus von Naturrecht und Rechtspositivismus hinausgeht. In den großen Theorien des letzten Jahrhunderts ist die ,subjektive Komponente’ im Recht mehr und mehr zugunsten einer Systembeschreibung (Kelsen 1960, Luhmann 1993) oder einer Regellogik (Hart 1973) in den Hintergrund getreten (Horster 2002, 185 f.). Die Wirkm¨achtigkeit eines Natur- oder Vernunftrechts, durch welches ,das Gesetz’ in jedes Wesen und jede Vernunft eingeschrieben war, ist aus den rechtstheoretischen Konzeptionen beinahe verschwunden.215 Trotzdem stehen wir vor allem in unserem allt¨aglichen Rechtsverst¨andnis immer noch zwischen diesen beiden Positionen, ohne eine davon tats¨achlich aufgeben zu wollen. Das Erbe des Rechtspositivismus nimmt dabei die dominante Position ein: Es erkl¨art Recht zu nichts weiter als einer ,sozialen Technik’ (Kelsen), die in kontingenter Weise durch die jeweiligen Machtverh¨altnisse in einer Gesellschaft festgelegt wird. Diese Art von Rechtsverst¨andnis bringt das Subjekt in ein a¨ußerliches, kontingentes Verh¨altnis zum Recht. Auf der anderen Seite hat sich die Idee der Menschenrechte in unserem kulturellen Raum (und dar¨uber hinaus) als grundlegende politisch-rechtliche Kategorie durchgesetzt. Unter den in Absicht und Inhalt sehr heterogenen Diskursen zu den Menschenrechten finden sich nicht wenige, die sich auf den Menschen als eine Art metaphysische Substanz beziehen, die als Tr¨ager eines eingeborenen Rechtes fungieren soll.216 Diese Art von partikularem Rechtsverst¨andnis kreiert wiederum ein innerliches, substanzielles Verh¨altnis von Recht und Subjekt. In beiden F¨allen ist der Bezug von 215
Gewiss hat die Katastrophe des Holocaust dem radikal wertfreien Rechtspositivismus seine argumentative Ohnmacht vor Augen gef¨uhrt und vor allem in Deutschland ein rechtsphilosophisches Umdenken bewirkt (das sich nicht nur in der deutschen Verfassung, sondern eben auch in der Philosophie von Habermas niederschl¨agt). Allerdings entspricht das rechtspositivistische Paradigma einer inhaltlichen Kontingenz der Rechtsordnung den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auf so exakte Weise, dass die Idee eines ,ewigen und immerw¨ahrenden Menschenrechts’ als der letzte Rest eines Naturrechtsbewusstseins gelten kann, der teilweise auch nur noch appellativen Charakter hat. 216 Dabei denke ich vornehmlich an nicht-wissenschaftliche Diskurse u¨ ber die Menschenrechte, ihre Begr¨undung und Durchsetzung.
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Recht und Subjekt nicht erkl¨art (oder sogar verkl¨art) und ignoriert die Frage, was den Sinn von Recht f¨ur ein Subjekt u¨ berhaupt ausmacht.217 Das Problem der Rechtfertigung, das vornehmlich durch den Rechtspositivismus aus der Rechtstheorie verbannt worden ist, wurde ganz in den o¨ ffentlich-politischen Diskurs verlegt und hat den Begriff des ,reinen juristischen Rechts’ (im Sinne der Spezialisierung der Fachdisziplinen) auf einen puren Regelsinn 218 reduziert. Was also der Rechtssinn im Recht ist und was dieses Verstehen oder Begreifen eines Rechtes im starken Sinn (wie z. B. bei den Menschenrechten) ist, kann auf dieser Ebene nicht mehr gekl¨art werden. Es ist daher keineswegs unproblematisch, diese Sinndimension und -konstitution, die Verst¨andnis und Vorverst¨andnis einer Sache bestimmt, theoretisch zu vernachl¨assigen. Die Ph¨anomenologie k¨onnte sich hier einen Zugang erarbeiten, der vielleicht nicht das positive Recht in seiner Struktur neu erkl¨art, daf¨ur aber einen sinnhaften Aufbau des Rechtsverst¨andnisses f¨ur Subjektivit¨at und Intersubjektivit¨at in einem gr¨oßeren Zusammenhang neu erschließt. Was hat das Subjekt, wenn es nicht gerade Richter, Jurist oder Rechtstheoretiker ist, eigentlich mit dem ,Recht’ zu tun, außer dass es ihm wie einer kontingenten, ihm a¨ußerlichen Regel unterworfen ist oder es vielleicht auch anerkennt? M¨ussen wir zu den naturrechtlichen Theorien und Vorstellungen zur¨uckkehren, um das Subjekt mit einem bestimmten Recht (in einer bestimmten ,kosmischen Ordnung’) in Zusammenhang zu bringen, nur um dann wieder zu sehen, dass sich die Geschichtlichkeit und Relativit¨at der Auffassungen dessen, was ,R/recht’ ist, nicht einholen lassen? Oder ist es vielleicht m¨oglich, u¨ ber eine kritische Analyse des Urteils und des Verm¨ogens der Rechtfertigung eine Perspektive auf das ,Rechtliche’ als eine rein formale Disposition des menschlichen Bewusstseins, der Subjektivit¨at u¨ berhaupt, zu gewinnen? Am Horizont einer Analyse des Rechtssinns steht daher – in R¨uckbindung an die rechtsphilosophische Frage – eine ph¨anomenologische Theorie des Rechts, die weit u¨ ber den rein positivistischen Rechtsbegriff hinausgehen und die Frage nach dem Zusammenhang von Recht und 217
Vgl. den Aufsatz ,,Notes on an Ethics of Human Rights: From the Question of Commitment to a Phenomenological Theory of Reason and Back“ (Loidolt 2005c), wo ich diese Problematik n¨aher zu entwickeln versucht habe. 218 Vgl. Kap. I.1, S. 2.
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Rechtfertigung von einer ph¨anomenologischen Sinndimension her aufrollen w¨urde. These dieser Kritik w¨are, dass die Nicht-Beliebigkeit in einem umfassenden Rechtsbegriff nicht vollst¨andig durchgestrichen werden sollte, da der eigenste Sinn von Recht formal die implizite Forderung nach Rechtfertigung in sich tr¨agt. Nat¨urlich kann man die Frage nach begr¨undeter Rechtfertigung bewusst aus dem juristischen Diskurs eliminieren. Aber wenn sie im Rechtspositivismus als juristisch sinnlos durchgestrichen wird und damit immer wieder Unbehagen oder Anstoß hervorruft, dann ist dies nicht nur auf ein volkst¨umliches, unwissenschaftliches Rechtsempfinden zur¨uckzuf¨uhren; indem vielmehr ,Recht’ nur auf ein ,Regelwerk’ reduziert wird, b¨ußt es die Sinndimension ein, durch die es urspr¨unglich in einer Gesellschaft verankert ist und auf deren Basis es auch immer wieder neu verhandelt wird: als Rechtfertigung dessen, was Recht ist, und nicht als bloßes technokratisches Setzen von Regeln. In den zwei paradigmatischen Haltungen von Naturrecht und Rechtspositivismus kommen schließlich zwei Anliegen zum Tragen: Der einen Seite geht es um die Verantwortung des Rechts als gesellschaftlicher Ordnung, der anderen um eine Vermeidung der Vermengung von Recht und Moral bzw. Politik. Tats¨achlich kann man sich fragen, welchen Begriff von Recht man besser haben sollte. Daf¨ur k¨onnte es hilfreich sein, bis zum Konstitutionsgrund im Subjekt zur¨uckzugehen, um dort die Frage zu stellen, ob die Legitimationskomponente im Doppelsinn von Recht219 tats¨achlich eine unklare moralische Verbr¨amung ausdr¨uckt oder ob sich hier nicht vielmehr der maßlose Anspruch eines Begriffs ausspricht, der letztbegr¨undet sein will und muss, um er selbst bleiben zu k¨onnen.220 219
Einerseits wird mit dem Wort ,Recht’ der ,Richtigkeitsanspruch einer ethischen Norm’ bezeichnet, andererseits ist damit bloß von einer ,kontingent bzw. heteronom gesetzten Norm’ die Rede. (Vgl. Soml´o 1973, 424 f., und Kap. I.5) 220 Dass Subjektivit¨at etwas mit Recht zu tun hat, heißt allerdings nicht, dass es hier schon um ein ,naturw¨uchsiges Rechtsgef¨uhl’ gehen soll. Die rechtliche Intentionalit¨at bzw. der Rechtssinn k¨onnte vielmehr als Bedingungsgef¨uge eines m¨oglichen Rechtsgef¨uhls die transzendentale Disposition oder Basis f¨ur ein Rechtsverst¨andnis anzeigen. Denn w¨ahrend der Begriff des ,Rechtsgef¨uhls’ entweder eine psychologisch-materiale oder eine kosmisch-metaphysische Ausrichtung hat, w¨are der Rechtssinn in transzendentalph¨anomenologischer und formaler Hinsicht zu verstehen. Jenseits des kontingent bestimmten Rechtsgef¨uhls w¨are damit ein ,rechtliches Sein’ als Strukturfundament auszumachen, das es u¨ berhaupt m¨oglich macht, die Welt in rechtlicher oder rechtfertigender Weise zu deuten.
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Zu Rechtsverst¨andnis und Rechtsbegriff (Habermas) Die vorgelegte Analyse verkn¨upft das Problem der Geltung mit der Konstitution dieser Geltung in Subjektivit¨at und Intersubjektivit¨at und beschreibt diese Konstitution als rechtliche Intentionalit¨at. Damit er¨offnet sich folgende Perspektive auf einen Rechtsbegriff oder ein Rechtsverst¨andnis: Recht wird nicht nur von seiner positiven Gesetztheit her verstanden, sondern in besonderer Weise von seiner Geltung, seiner Legitimit¨at her. Auf diese Weise ist die Kontingenz, die im rechtspositivistischen Rechtsbegriff unvermittelt in Bezug auf die Setzung dasteht, u¨ berwunden bzw. an die Verantwortlichkeit des Setzenden bzw. der Setzenden r¨uckgebunden. Gleichzeitig wird gerade diese Situation der puren Setzung im Gegensatz zum Naturrecht stark gemacht, das sich auf scheinbar ungesetzte Gesetze beruft und somit nicht nur einen autorit¨aren Zug in sich tr¨agt, sondern vor allem einen starren, der die ,Perfektibilit¨at’ des Rechts verleugnet. Das hier entwickelte Rechtsverst¨andnis versucht also, die naturrechtliche Forderung nach idealer Geltung in formalisierter Form mit dem Voluntarismus der Setzung im Rechtspositivismus zu verbinden: Damit soll erstens ein sinnhaftes Verh¨altnis von Recht und Subjekt angestrebt und zweitens eine Verantwortlichkeit festgemacht werden, die im Setzen selbst liegt. In dem hier intendierten weiteren Verst¨andnis m¨usste man sagen: ,Setzung’ steht f¨ur den Gesetzgeber, auch f¨ur den Richter; und noch ausgedehnter: f¨ur jeden, der am Diskurs der Setzung von Normen in politischer Hinsicht teilnimmt. Es best¨unde die M¨oglichkeit, f¨ur den Ausbau dieser Idee die rechts¨ philosophischen Uberlegungen von J¨urgen Habermas in Faktizit¨at und Geltung einerseits kritisch zu reflektieren, andererseits fortzuf¨uhren; denn wie schon in der Einleitung erw¨ahnt wurde (I.5), wird auch hier der Geltungsaspekt im Rechtsbegriff betont und in einer intersubjektiven Diskursgemeinschaft festgemacht: ,,Das Recht entlehnt seine bindende Kraft [. . .] dem B¨undnis, das die Positivit¨at des Rechts mit dem Anspruch auf Legitimit¨at eingeht.“ (Habermas 1994, 57 f.) Nach Habermas enth¨alt das Recht also auch schon urspr¨unglich in seinem Begriff seine Legitimit¨at, die sich – dem Geltungsbegriff der Diskursanalyse zufolge – im intersubjektiven Diskurs durch Einl¨osung kritisierbarer Geltungsanspr¨uche herstellt.
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,,Die Rechtsg¨ultigkeit einer Norm – und darin besteht ihr Witz – besagt nun, daß beides zugleich garantiert ist: sowohl die Legalit¨at des Verhaltens im Sinne einer durchschnittlichen Normbefolgung, die erforderlichenfalls durch Sanktionen erzwungen wird, wie auch die Legitimit¨at der Regel selbst, die eine Befolgung der Norm aus Achtung vor dem Gesetz jederzeit m¨oglich macht.“ (Habermas 1994, 49)
Die Faktizit¨atskomponente im Recht instituiert unter Androhung von Sanktionen eine artifiziell hergestellte Faktizit¨at (Habermas 1994, 48), welche die soziale Geltung garantiert. Habermas verkn¨upft diese Faktizit¨atskomponente mit dem Geltungsanspruch und erfasst damit genau das Wesen des juristischen Rechts und seiner Geltung als Recht. ,,Im Geltungsmodus des Rechts verschr¨ankt sich die Faktizit¨at der staatlichen Rechtsdurchsetzung mit der Legitimit¨at begr¨undenden Kraft eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsverb¨urgenden Verfahrens der Rechtsetzung.“ (Habermas 1994, 46) Den Rechtssubjekten ist es dadurch m¨oglich zu w¨ahlen, ob sie sich nur unter Androhung von Strafe (also a¨ußerlich) an das Gesetz halten, oder weil sie es achten. Im Vergleich zu den g¨angigen Theorien des Rechtspositivismus oder der Luhmann’schen Systemtheorie wird der Legitimit¨at in der Habermas’schen Rechtskonzeption eine wesentliche Rolle zugesprochen. Das geht so weit, dass die ,,Legitimit¨at einer Regel [. . .] von ihrer faktischen ¨ Durchsetzung unabh¨angig“ (Habermas 1994, 48) ist. Diese Uberlegungen zur Frage der Geltung k¨onnten in unserem Sinne noch weiter vertieft werden, ohne freilich die wichtige Habermas’sche Erkenntnis aus den Augen zu verlieren, dass eine wahrhaft rechtsphilosophische Theorie die Frage nach der Faktizit¨at nicht ausklammern darf. Wie wir schon bei Apel gesehen haben, ist die Art und Weise, mit welcher Dynamik Geltung in der Intersubjektivit¨at konstituiert wird (d. h. sich immer wieder verfl¨ussigt, verschiebt und eine ,,prek¨are Art der Stabilit¨at“ (Habermas 1994, 55) gewinnt), einer ph¨anomenologischen Evidenztheorie – und auch einer ph¨anomenologischen Vernunfttheorie – a¨hnlicher, als Habermas und Apel glauben w¨urden. Ein weiterer Schritt wird in der Ph¨anomenologie allerdings noch dadurch getan, dass Intersubjektivit¨at als eine apriorische Angelegtheit im Subjekt verstanden wird und damit das Subjekt als urteilendes und sich zum Anderen verhaltendes mehr in den Blickpunkt kommt. Diesem Subjekt sind Geltungsfragen verantwortlich auferlegt; und dieser Fragehorizont ergibt sich nicht nur
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aus einem Interesse an der Wahrheit, am Konsens oder am friedlichen Leben, sondern aus einer Verantwortung, gerecht zu urteilen. Die Symmetrie, die demnach von Habermas als grundlegende Komponente des Kommunikationsverh¨altnisses angesetzt wird, ist als Ursprungssituation ph¨anomenologisch nicht haltbar; vielmehr handelt es sich um eine grundlegende Asymmetrie, aus der das Begehren der Vernunft nach Rechtlichkeit, Rechtfertigung und Gerechtigkeit entspringt. Insofern kommt auch eine Theorie der Grundrechte, die Habermas aus der symmetrischen Kommunikationssituation axiomatisch ableitet, aus ph¨anomenologischer Sicht nicht ohne eine bereits erfolgte ,Operation’ am Gegenstand aus; einer urspr¨unglichen Asymmetrie wird eine Symmetrie u¨ bergebaut, um dem Gerechtigkeitsanspruch in der Universalisierung nachzukommen: ,,Gleiche politische Grundrechte f¨ur jedermann ergeben sich also aus einer symmetrischen Verrechtlichung der kommunikativen Freiheit aller Rechtsgenossen; und diese erfordert wiederum Formen diskursiver Meinungs- und Willensbildung, die eine Aus¨ubung der politischen Autonomie in Wahrnehmung der staatsb¨urgerlichen Rechte erm¨oglicht.“ (Habermas 1994, 161) Habermas w¨urde nat¨urlich ablehnen, dass den Grundrechten eine moralische Universalisierung zugrunde liegt, betrachtet er sie doch nur als juridische Rechte, die sich gleichsam aus dem Diskursprinzip ergeben; schon Georg Lohmann (Lohmann 1998) hat aber deutlich gezeigt, dass erstens das Diskursprinzip selbst nicht ganz moralfrei ist und dass zweitens auch Habermas bei der Festlegung eines normativen Gehalts der Menschenrechte ohne moralisches Prinzip nicht auskommen kann. Die hier zum Ausdruck kommende ,Idee der Unparteilichkeit’ als das eigenste Prinzip der praktischen Vernunft (Habermas 1994, 563) ist in unserem Sinn schon eine rechtliche Antwort der Vernunft auf ein vorurspr¨ungliches (asymmetrisches) Angesprochen-Sein. Habermas und Apel sehen dieses Prinzip in der (idealen) Argumentationsgemeinschaft durch die ,kommunikative Vernunft’ am Werk: ,,Das Diskursprinzip erkl¨art nur den Gesichtspunkt, unter dem Handlungsnormen u¨ berhaupt unparteilich begr¨undet werden k¨onnen, wobei ich davon ausgehe, daß das Prinzip selber in den symmetrischen Anerkennungsverh¨altnissen kommunikativ strukturierter Lebensformen fundiert ist.“ (Habermas 1994, 140)
Dieses ,symmetrische Anerkennungsverh¨altnis’, so wurde in dieser Arbeit argumentiert, muss aber vielmehr als ein nachtr¨agliches bezeichnet
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werden, das einem rechtlichen Urteil entspringt; von ihm kann nicht ausgegangen werden, sondern es muss verantwortlich u¨ bernommen werden. Die Grundrechtsfrage geht m. E. nicht auf eine abstrakte Symmetrie der Freiheit zur¨uck, sondern auf einen Zuspruch, der einem An-spruch antwortet und in diesem rechtlichen Antworten erst das vern¨unftige Instrumentarium der Abstraktion und der Universalisierung hervorbringt. Dies macht f¨ur die Axiomatik einer rechtsstaatlichen Demokratie vielleicht keinen Unterschied, ist aber als politische Sensibilisierung f¨ur die R¨ander einer solchen Gesellschaft (denn Gleichheit ist gerade hier immer gesetzte Gleichheit) entscheidend, ebenso wie f¨ur ihre Rechtssetzung und Rechtsprechung in Bezug auf diese Randbereiche – die meist ,Alterit¨atsbereiche’ sind. Die hier vertretene Zugangsweise m¨undet damit eher in ein politisches Rechtsverst¨andnis und eine Rechtsethik, und damit in den Durchgangsoder Durchl¨assigkeitsbereich des Rechts, der aus seiner eigenen disziplin¨aren Abgrenzung hinaus in einen umfassenderen Kontext f¨uhrt. Ein Teil dieses umfassenden Kontexts ist die Einbindung in vielf¨altige Legitimationsdiskurse, die allesamt von der Struktur des Rechtssinns durchzogen sind und einem intersubjektiven Bed¨urfnis nach Rechtfertigung entsprechen.221 Das Recht systematisch innerhalb von politischen, moralischen, auch wissenschaftlich-theoretischen Legitimationsdiskursen zu ¨ verstehen und darin die Ubertragungsund Verschiebungsdynamiken von Rechtfertigung zu analysieren, w¨are eine M¨oglichkeit, Recht von einer intersubjektiven Theorie der Rechtfertigung her zu begreifen222 und damit einer fachlichen Spezialisierung und letztlich Isolierung des Recht221
Habermas hat diese Zusammenh¨ange deutlich herausgearbeitet und gezeigt, ,,daß prozeduralisiertes Recht und moralische Begr¨undung von Prinzipien aufeinander verweisen. Legalit¨at kann nur in dem Maße Legitimit¨at erzeugen, wie die Rechtsordnung reflexiv auf den mit dem Positivwerden des Rechts entstandenen Begr¨undungsbedarf reagiert, und zwar in der Weise, daß juristische Entscheidungsverfahren institutionalisiert werden, die f¨ur moralische Diskurse durchl¨assig sind.“ (Habermas 1994, 565) 222 Daf¨ur m¨usste innerhalb des juristischen Rechts die Gewichtung von Rechtssinn und Regelsinn ber¨ucksichtigt werden. Wir haben argumentiert, dass der Rechtssinn zugunsten des Regelsinns in den Hintergrund gedr¨angt worden ist; im Recht gibt es aber auch puren Regelsinn wie z. B. die juristische Festmachung von Verkehrsregeln. Man m¨usste die tragenden Bereiche identifizieren, die ohne Bezug auf den Rechtssinn nicht auskommen.
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lichen entgegenzuwirken. Auch dies kommt wieder dem Habermas’schen Entwurf sehr nahe: ,,[D]ie Legitimit¨at von Regeln [bemißt sich] in der diskursiven Einl¨osbarkeit ihres normativen Geltungsanspruchs letztlich daran, ob sie in einem rationalen Gesetzgebungsverfahren zustandegekommen sind – oder wenigstens unter pragmatischen, ethischen und moralischen Gesichtspunkten h¨atten gerechtfertigt werden k¨onnen.“ (Habermas 1994, 48)
Im Namen der rechtlichen Intentionalit¨at k¨onnte man nun noch zus¨atzlich nach der Motivation dieses Legitimisierungsprozesses und nach dem Sinngebilde ,Geltung’ u¨ berhaupt fragen, das alle diese Diskurse thematisch zusammenh¨alt – man k¨onnte das Urteil u¨ ber Geltung im Sinne einer ,conditio humana’ verstehen und dadurch u¨ ber das rationale ¨ Diskursprinzip hinaus auch die Situation von Uberschuss und ethi223 ¨ scher Uberforderung , die diesem Urteil vorangeht, sichtbar machen. Klarerweise handelt es sich hier schon um ein Gebiet jenseits des juristischen Rechts. Will man aber Wesen und Sinn von Rechtfertigung, dem Begehren der Vernunft, auf die Spur kommen, darf man die ph¨anomenologische Tiefendimension des Subjektiven und Intersubjektiven nicht erst bei der rational verhandelnden Kommunikationsgemeinschaft beginnen lassen. Auch das Rechtsgef¨uhl, der traditionell affektive Sitz des Rechtlichen im Subjekt, greift f¨ur diese Aufgabe psychologisch zu kurz. Die Grundbewegung einer Intentionalit¨at auf Legitimit¨at k¨onnte hier ein for¨ Im Gegensatz dazu versucht Habermas gerade, das Moment der Uberforderung in der kantischen Ethik durch den intersubjektiv veranstalteten Diskurs zu mildern, wenn ¨ nicht gar aufzuheben (Habermas 1991, 20 f.). Er sieht diese Uberforderung als eine bloße Folge des ,,Monologismus“ (Habermas 1991, 23) bei Kant (jeder Einzelne u¨ bernimmt die Pr¨ufung seiner Handlungsmaximen im einsamen Seelenleben): ,,Im Singular des transzendentalen Bewußtseins sind die empirischen Iche vorverst¨andigt und im vorhinein harmonisiert.“ (Habermas 1991, 20 f.) Die Diskursethik ,entlastet’ die Subjekte ¨ von dieser inneren Harmonisierung und l¨ost die Uberforderung dadurch auf, dass verallgemeinerbare Interessen im o¨ ffentlichen Diskurs (ver¨außerlichter Vernunft) als ver¨ schiedene Stimmen zu Wort kommen. M. E. greift diese Lesart der ,Uberforderung’ aber zu kurz. Es sollte nach den Ausf¨uhrungen zu Levinas klar geworden sein, dass ¨ ¨ Uberforderung und Uberschuss des ethischen Anspruchs nicht im Irrweg des Monologimus begr¨undet liegen, sondern gerade umgekehrt in der Alterit¨atserfahrung. Insofern k¨onnte man gegen Habermas einwenden, dass auch im rational gef¨uhrten Diskurs die Anderen schon vorverst¨andigt und im Vorhinein harmonisiert sind.
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males und ph¨anomenologisch gesichertes Instrumentarium an die Hand geben, verschiedene gesellschaftliche Diskurse (und unter ihnen auch das Recht) aus einer gemeinsamen Sinnwurzel heraus zu begreifen. In diesem und nur in diesem Sinn muss ein Zusammengeh¨oren von politischem, moralischem und juridischem Diskurs verstanden werden; Habermas hat diesen Zusammenhang selbst auch u¨ ber ein formales Element her- und gleichzeitig eine Differenzierung innerhalb dieser Zusammengeh¨origkeit vorgestellt: ,,Dem positiven Recht bleibt, u¨ ber die Legitimit¨atskomponente der Rechtsgeltung, ein Bezug zur Moral eingeschrieben.“ (Habermas 1994, 137) Aber: ,,Die Moralit¨at, die dem Recht nicht gegen¨ubersteht, sondern sich auch im Recht selber festsetzt, ist freilich rein prozeduraler Natur; sie hat sich aller bestimmten Norminhalte entledigt und zu einem Verfahren der Begr¨undung und Anwendung m¨oglicher Norminhalte sublimiert.“ (Habermas 1994, 568) Damit kommt er zu dem Ergebnis: ,,Das Recht selbst lizensiert und stimuliert eine Begr¨undungsdynamik, die das geltende Recht auf eine von diesem nicht determinierte Weise auch transzendiert.“ (Habermas 1994, 568) Der hier entwickelte Ansatz k¨onnte sich als daf¨ur geeignet erweisen, das Recht genau hinsichtlich dieser Begr¨undungsdynamik zu befragen, die in sich die M¨oglichkeit einer Transzendierung auf andere Legitimationsdiskurse enth¨alt. Das damit forcierte Rechtsverst¨andnis w¨are ein Verst¨andnis des Rechtlichen in menschlichen Belangen u¨ berhaupt. Um mit der Rechtsphilosophie tats¨achlich in einen echten Dialog zu kommen, bleibt es allerdings unerl¨asslich, die Faktizit¨ats- und Instituierungskomponente mit in die Analyse aufzunehmen. Gerade dies m¨usste dann verst¨arkt im Sinne eines Verh¨altnisses von Recht und Subjekt intendiert werden, um etwa der Systemtheorie (Luhmann) ein ,lebensweltliches’ Konzept entgegenhalten zu k¨onnen. Ein Rechtsverst¨andnis in diesem Kontext zu entwickeln, strebt ein umfassendes Verst¨andnis von Legitimation und Legitimit¨at aus einer subjektiv-intersubjektiven Grundsituation heraus an.
KONKLUSION
Die vorliegende Arbeit fragt nach dem Sinn von Rechtfertigungszusammenh¨angen. Die zentrale These ist, dass das Denken in rechtlichen Strukturen (Ausweisen, Begr¨unden, Rechtfertigen) keine kontingente Verhaltensweise des Menschen ist, sondern notwendig und wesentlich zu seiner Welterfassung und -erfahrung geh¨ort. Dies gilt sowohl in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht (also in wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen, aber auch in ethischen, politischen, allt¨aglichen Zusammenh¨angen). In der Analyse der Strukturen des ,rechtlichen Denkens’ zeigt sich, dass dieses als ein Antworten auf ein urspr¨ungliches Angesprochen-Sein verstanden werden muss. Dieses Grundverh¨altnis liegt in der Offenheit des Bewusstseins selbst beschlossen, insofern es erfahren kann und damit angesprochen wird – das heißt: einem vorg¨angigen An-spruch ausgesetzt ist. Was den Sinn beansprucht, ,richtig’ oder ,recht’ zu sein, kann daher nicht willk¨urlich gesetzt werden, sondern verpflichtet sich, einem An-spruch zu entsprechen und intersubjektiv rechtfertigbar zu sein. Diese Aufgabe u¨ bernimmt die Vernunft, deren rechtliche und rechtfertigende Strukturen damit vorrangig von ihrem responsiven Charakter, d. h. ihrer Ver-antwortung her verstanden werden. Aufbau und Argumentationsschritte Der Untersuchung sind pr¨aliminarisch eine Einf¨uhrung in die Fragestellung (I.) und eine Kl¨arung des logischen und ph¨anomenologischen Bedingungsgef¨uges von Rechtspr¨adikationen im Allgemeinen (II.) vorangestellt. Anschließend wird die Rechtsfrage im Kontext der erkenntnistheoretischen Fragen von Rechtsgrund und Geltung abgehandelt (III.). Dabei wird die transzendentalph¨anomenologische mit der genetischen Perspektive eng verkn¨upft: Die Entstehung der Rechtsfrage geschieht im Aufbrechen der urdoxischen Gewissheit. Die Rechtsfrage hat eine intentionale Struktur, l¨asst sich also als rechtliche Intentionalit¨at beschreiben, deren Telos auf das Er- und Begreifen eines Rechtsgrundes verweist. 309
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konklusion
Dieses Begreifen der Evidenz als Rechtsgrund ist eine intentionale Leistung, welche die F¨ulle der origin¨aren Anschauung in rechtliche Strukturen kleidet. Diese intentionale Leistung konstituiert die Legitimationsfigur als transzendentale Kategorie und macht damit Ausweisen, Begr¨unden, Rechtfertigen auf jeglicher Ebene erst m¨oglich. Im Sinne Husserls genetischer Untersuchungen zu ,Form und Rechtscharakter’ in Erfahrung und Urteil wird von hier aus weiter nach der vorpr¨adikativen Vorgegebenheit gefragt, die einem pr¨adikativen rechtlichen Verstehen in einer Legitimationskategorie vorhergeht. Es zeigt sich, dass die intentionale Leistung des rechtlichen Begreifens einem vorpr¨adikativen An-spruch (AngesprochenSein) antwortet. Der An-spruch auf vorpr¨adikativer Ebene wird auf der kategorialen Rechtfertigungsebene in den Anspruch der regulativen Idee transformiert, die vorgezeichnete Unendlichkeitsform zu erf¨ullen, wenn die momentane Anschauung allein diese F¨ulle nicht liefern kann. Dieser Genesis der Rechtsfrage im theoretischen Bereich folgt die analoge Problematisierung im ethisch-praktischen Kontext (IV.). Ausgegangen wird mit Husserl von einer logischen, einer axiologischen (wertenden) und einer praktischen Vernunft. Allein die logische Vernunft besitzt die F¨ahigkeit der Objektivation und Pr¨adikation, also auch die der Rechtspr¨adikation. Wertende und praktische Akte finden sich damit in einen ,vorpr¨adikativen’ Bereich abgedr¨angt, es stellt sich die Frage, worin ihr ,Recht’ und ihre ,Evidenz’ liegen sollen. Diese Fragestellung transformiert sich in Husserls Ethik der 20er Jahre zu einer ,Ethik der Erneue¨ rung’. Die ,Haltung’ der Erneuerung (als praktisches Aquivalent zur Kritik) ist hier die praktische Antwort auf einen nicht zu vergegenst¨andlichenden ethischen Anruf. Damit er¨offnet sich eine neue, genuin praktische Dimension, die die theoretische in ihre Haltung einbettet. Diese Tendenz verst¨arkt sich noch in Husserls ,Liebesethik’ aus den 30er Jahren, wo das ethische Sollen einen affektiven und nicht-objektivierbaren Charakter erh¨alt, welcher jeder Vernunftt¨atigkeit vorhergeht. Dies erfordert jedoch, u¨ ber Husserl hinausgehend, die Herausarbeitung einer anderen Vernunftgenesis als der im theoretischen Teil ausgearbeiteten. Darin wird die absolute Affektion des ethischen Sollens nicht als ein irrationales Gegenst¨uck zum freien rechtpr¨adizierenden Vernunftwillen betrachtet, sondern das Vorhergehen dieser Affektion vor aller rationalen Auseinandersetzung wird so gelesen, dass sie diese erst einfordert und insofern hervorbringt. Rechtliches Denken, das die Erscheinungen von
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ihrem eigenen Anspruch her in rechtlichen Strukturen begreift, erweist sich damit als zur¨uckgehend auf rechtliches Sein, das als unendliche Rechtfertigungspflicht entstanden ist. Erst auf diese Weise wird die Rechtsfrage erstens auf das Ethische hin (bzw. vom Ethischen her) verstanden und nicht das Ethische der Rechtsfrage unterworfen; zweitens ist damit eine Genesis des Rechtscharakters aus dem vorpr¨adikativen Bereich aufgezeigt. Schließlich widmen sich die beiden letzten Abschnitte den Horizonten von Kritik und Weiterf¨uhrung einer ph¨anomenologischen Genesis des rechtlichen Denkens: Dazu werden die philosophischen Ans¨atze von einerseits Levinas’ Alterit¨atsdenken (V.) und andererseits Apels transzendentaler Sprachpragmatik (VI.) kritisch befragt und auf Kompatibilit¨aten hin ausgelotet. Levinas (V.) erweist sich dabei als m¨oglicher Denker einer anderen Genesis der Vernunft, insofern er der Alterit¨atsbeziehung die Figur des Dritten hinzuf¨ugt, durch welche die Subjektivit¨at zu einem gerechten Urteil und somit zu einem Begreifen in rechtlichen Strukturen gen¨otigt wird. Mit Apel (VI.) wiederum ist es m¨oglich, auf das transzendentalpragmatische Bedingungsgef¨uge zu verweisen, durch welches ethische und logische (theoretische) Argumentation stets unter einem intersubjektiven Rechtfertigungsanspruch stehen. Am Ende der beiden Abschnitte findet sich jeweils ein Kapitel zu rechtsphilosophischen Fragestellungen, die sich aus beiden Positionen entwickeln lassen. Kernthemen und Transformationen: Genealogie des Rechtscharakters im Urteil. An-spruch als Stiftung rechtlichen Denkens Die Genesis der rechtlichen Intentionalit¨at wurde an der Schwelle von Setzung und Gebung entwickelt. So wie Husserl in Erfahrung und Urteil die Genesis der logischen Kategorien aus der vorpr¨adikativen Sph¨are nachzeichnet, so wurde in dieser Arbeit versucht, die ,Legitimationskategorie’ als das Einsetzen von spontaner Rechtfertigung an eine vorpr¨adikative Ebene zur¨uckzubinden und damit gleichzeitig die fundamentale Bedeutung dieser Kategorie f¨ur die Verfasstheit des Bewusstseins in all seinen begr¨undenden, ausweisenden und legitimierenden T¨atigkeiten herauszuarbeiten. Dabei hat sich Gebung u¨ berhaupt in ihrem Anspruchscharakter erwiesen, unabh¨angig von dem in der Gebung Gegebenen. Gebung wird als Angesprochen-Sein erfahren, fordert eine Setzung als Antwort und fordert damit Ichaktivit¨at und Spontaneit¨at heraus. Anspruch wird als Anspruch auf Rechtfertigung auf der spontanen Ebene
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begriffen, er wird ,in den Begriff gebracht’ als kritische Legitimationsnotwendigkeit, als Frage, als Problem. Die Antwort auf den An-spruch ist grunds¨atzlich formal, d. h., die Anspr¨uchlichkeit des An-spruchs wird in Formen gegossen, woraus erst der Sinn von ,Anspruch’ (und Erf¨ullung) verst¨andlich wird. Diese ,Transformation’ bzw. dieses Einsetzen von Spontaneit¨at findet an einer Schwelle statt, ein Begriff, der das Zueinandergeh¨oren der beiden Ebenen anzeigen soll, ohne von einem Kausaloder Begr¨undungsverh¨altnis zu sprechen. Das Zueinandergeh¨oren von An-spruch und Rechtssinn soll vielmehr als ein urspr¨ungliches Verh¨altnis des In-Anspruch-, In-die-Pflicht- oder In-die-Verantwortung-Nehmens verstanden werden. Nur durch dieses urspr¨ungliche Verh¨altnis werden wir u¨ berhaupt als rechtliche Wesen gestiftet. Vernunft im Sinne dieses rechtlichen Verm¨ogens erweist sich hier als eine antwortende Instanz bzw. als antwortende Selbststiftung. Dies steht im Gegensatz zu einer klassischen Vernunftkonzeption, deren Grundbegriffe absolute Autonomie und Souver¨anit¨at sind. Die ph¨anomenologische Analyse zeigt, dass die Grundverfasstheit des Bewusstseins seine Offenheit, sein Angesprochen-Sein ist; es verh¨alt sich dazu ,responsiv’ (Waldenfels) in leiblich-sinnlicher Hinsicht, aber vor allem auch in recht¨ licher und rechtfertigender Hinsicht. Das vern¨unftige Ubernehmen des Angesprochen-Seins ist das spontane Einsetzen der Legitimationskategorie, durch die Evidenz als Rechtsgrund begriffen wird. Die Erscheinungen, die ein Maß an die Hand geben, k¨onnen so im intersubjektiven Diskurs ausgewiesen, gerechtfertigt werden. Das Ph¨anomen des Ethischen hingegen, das sich durch einen Entzug charakterisiert, stellt das sich als rechtlich konstituierende Subjekt vor die Aufgabe, die ,Unvergleichbaren zu vergleichen’ (Levinas). Ein Praktisch-Werden ist hier im eigentlichen ¨ Sinne gefordert, Engagement im rechtfertigenden Diskurs, ein Ubernehmen von Situativit¨at und Geschichtlichkeit im verantwortlichen Urteil. Neuzug¨ange, Ergebnisse, Ausblicke In vier Punkten schließlich hoffe ich, einen Diskussionsbeitrag mit dieser Arbeit leisten zu k¨onnen: 1. Die allgemeine erkenntnistheoretische Problematik: Dass der Erkenntniszusammenhang von vornherein als ein rechtlicher (begrifflicher) begriffen werden muss, ist eine Position, die der analytische Philosoph John McDowell in seinem Buch Geist und Welt in der rezenten
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Diskussion vertreten hat. Es geht ihm dabei um die Fragen, ,,wie Erfahrung ein Tribunal sein kann, welches Rechtsspr¨uche u¨ ber unser Denken erl¨aßt“ (McDowell 2001, 12), und wie unsere ,,Empf¨anglichkeit f¨ur Gr¨unde“ (McDowell 2001, 22) zu erkl¨aren sei. Die vorliegende Arbeit versucht ebendiese Fragen von ph¨anomenologischer Seite aufzuarbeiten, wobei die Ph¨anomenologie Husserls den entscheidenden Vorteil besitzt, die von McDowell aufgegriffene kantische Trennung von ,Anschauung’ und ,Begriff ’ in einer ,Logik des Ph¨anomens’ zu verbinden. Mit der zus¨atzlichen Herausarbeitung einer Genesis des Rechtscharakters ist eine Behandlung des transzendentalen Begr¨undungsproblems im Sinne von Husserls Entw¨urfen zu einer genetischen Ph¨anomenologie vorgelegt. 2. Eine Neulekt¨ure von Husserls Ethik: Das in der Sekund¨arliteratur eher sp¨arlich behandelte Thema der verschiedenen ethischen Entw¨urfe Husserls wird in der vorliegenden Arbeit vor allem in einem Entwicklungszusammenhang interpretiert. Insofern die Rechtsfrage auch hier im ¨ Fokus des Interesses stand, konnten Husserls Uberlegungen unter dem Gesichtspunkt der Evidenzfrage und der Unverf¨ugbarkeit dieser Evidenz behandelt werden. Daraus ergab sich die These, dass sich Husserls Begriff der axiologischen und praktischen Vernunft mehr und mehr zur praktischen Haltung (der Erneuerung, der Liebesethik) entwickelt. Diese antwortet einerseits der Unverf¨ugbarkeit im ethischen Anspruch und stellt andererseits die Husserl’sche Variante dar, der praktischen Philosophie den Vorrang vor der theoretischen einzur¨aumen. 3. Eine Theorie der responsiven Vernunft: Das vern¨unftige Verm¨ogen von Rechtspr¨adikation und Rechtfertigung wird in dieser Arbeit als (begriffliche) Antwort einer Subjektivit¨at vorgestellt, die stets schon einem vorg¨angigen Anspruch ausgesetzt ist. Damit sollte eine ph¨anomenologisch detaillierte Ausarbeitung zur Transformation eines Begriffsfeldes vorgelegt werden, das im klassischen Diskurs dem autonomen und souver¨anen Subjekt zugerechnet wird und daher in der aktuellen Diskussion der Postmoderne und des Poststrukturalismus einigem Misstrauen ausgesetzt ist. Vernunft, Rechtspr¨adikation und vorg¨angige Verantwortung sind jedoch Begriffe, die unbedingt in einem Zusammenhang gedacht werden m¨ussen, will man nicht die M¨oglichkeit des Urteilens erheblich schw¨achen. 4. Rechtsphilosophische Ankn¨upfungspunkte: Bei den in dieser Arbeit ¨ vorgelegten Uberlegungen kann es sich nur um Vorarbeiten handeln,
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um von ph¨anomenologischer Seite zur rechtsphilosophischen Diskussion beizutragen. Es sollte u. a. gezeigt werden, dass ein besonderes Verh¨altnis von ,Recht’ und Subjekt jenseits eines rechtspositivistischen und eines naturrechtlichen Rechtsverst¨andnisses vorliegt: das ph¨anomenologisch urspr¨ungliche Urteilen anhand einer Norm, das auf Rechtfertigung und damit auf Verantwortung hin angelegt ist. Dieser Akt der normativen Deutung enth¨alt (transzendentale) Implikationen, die auch im juristischen Rechtsbegriff nicht ignoriert werden sollten. Will die Rechtswissenschaft nicht nur ,Technologie’ einer ,sozialen Technik’ sein, sondern in einer interdisziplin¨aren Analyse das lebensweltliche Ph¨anomen ,Recht’ in seiner ganzen Tiefe verstehen, dann sollte sie die formale Struktur der Rechtfertigungsnotwendigkeit nicht ganz aus dem Rechtsbegriff verbannen. Denn es ist f¨ur das Rechtsverst¨andnis nicht irrelevant, ob die Subjekte einem kontingenten Regelsinn gegen¨ubergestellt werden oder in die Verantwortlichkeit des rechtlichen Urteils hineingenommen sind. Diese Arbeit versteht sich daher als die ph¨anomenologische Grundlegung eines ersten Umreißens von Rechtssinn und rechtlicher Intentionalit¨at auf transzendentaler Ebene; eine weitere Entwicklung des Themas w¨urde auf die lebensweltliche Instituierung von Normen und die damit verbundene Verantwortlichkeit f¨uhren, wobei der Mensch dabei stets von seinem ,rechtlichen Sein’ her zu verstehen w¨are, also seinem Verm¨ogen, einem vorg¨angigen Angesprochen-Sein rechtfertigend zu antworten.
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L Levinas, E., 200, 203ff. Locke, J., 256 Luhmann, N., 307
B Bernasconi, R., 222, 230 Brentano, F., 130, 160, 165, 172 Butler, J. , 239
M McDowell, J., 281, 312f. Melle, U., 157f., 161, 164, 171, 182ff.
D Delhom, P. , 206 Derrida, J., 188, 234ff., 290f. Descartes, R., 214 H Habermas, J., 21f., 272, 298ff. Hart, H. L .A., 21 Hart, J. G., 122 Heidegger, M., 2, 17, 116, 197, 204f., 210, 231, 293ff. Held, K., 6 Hirsch, A., 260 Hobbes, T., 256 Hume, D., 90, 92 Husserl, G., 23 Husserl, E., 5ff., 29ff., 61ff., 121ff. K Kant, I., 32, 157, 197, 245, 256, 274, 286 Kaufmann, F., 30 Kelsen, H., 29f., 35, 38, 249
R Radbruch, G., 23 Reinach, A., 24, 143ff., 200 Rousseau, J.-J., 256 S Sartre, J.-P., 189f., 233 Scheler, M., 126ff. Schreier, F., 30f. Schuhmann, K., 24, 150, 173, 192 Soml´o, F., 22 T Theunissen, M., 270 Tugendhat, E., 73ff., 88, 115ff. W Waldenfels, B., 203, 206 Wittgenstein, L., 21 Z Zahavi, D., 264, 269ff. Zeillinger, P., 204, 241
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SACHREGISTER
A Ad¨aquation, 71ff., 91, 95, 111 Affektion, 189, 195, 200 Affektivit¨at, 219 Akt, nicht-objektivierender, 159f., 182, 192 Akt, objektivierender, 159f. Aktivit¨at, 176, 250 Alterit¨at, 200, 204ff., 209-222, 247-261, 289 Andere, der/die/das, 200, 206, 212ff., 249ff., 269, 290ff. Anerkennung, 266, 279, 285ff. Anspruch, 2, 5, 11, 15, 22, 45f., 86, 107ff., 125, 155, 182f., 194ff., 207, 215f., 225, 238ff., 265, 285, 289, 296, 301, 310 An-spruch, 18, 34, 58, 108ff., 181f., 195, 238ff., 250f., 282ff., 289ff., 305, 309ff. Aporie, 236ff. Argumentationsgemeinschaft, 268, 287f., 314 Assoziation, 36, 53 Axiologie, axiologisch, 126f., 148, 161, 164, 171f.
B Bedeutung, rechtliche, 29ff. Begehren, 78, 120, 210ff., 218, 224, 232, 245f., 292, 304 Bewusstsein, 3, 7f., 51, 75, 109, 119, 143, 212, 219, 225, 249, 278 Br¨uderlichkeit, 253ff.
D Deckung, assoziative, 36, 39ff., 53, 66, 71ff., 77, 164 Dekonstruktion, 234ff. Differenz, 215 Diskursethik, 263, 291 Dringlichkeit, 121, 198, 237ff., 242, 259 Dritte, der, 208, 222-233 Dritte-Person-Perspektive, 254f., 299 Dynamik, Dynamisierung, 109 E Eigentlichkeit, 116 Einstellung, erkenntniskritische, 68ff. Einstellung, nat¨urliche, 68 Einstellung, personalistische, 174, 180 Entt¨auschung, 91, 114, 153f., 184f., 194 Entwertung, 154, 164, 194 Entzug, 197f., 204, 212f., 215, 238, 243 Ereignis, 17, 212, 234, 239ff., 250, 294 Erfahrung, 32ff., 196ff., 227, 274, 281 Erfahrung, ethische, 182, 194, 198f., 203ff., 209ff., 228, 289 Erkenntnis, 2, 6, 16, 50, 63ff., 68ff., 81ff., 89ff., 98ff., 104ff., 150, 157f., 267 Erkenntnistheorie, 2, 222, 264ff., 288 Erneuerung, 184ff., 193f. Erste-Person-Perspektive, 255, 257, 269, 290 Ethische, das, 124, 183f., 196f., 257 Evidenz, 81ff., 89ff., 104ff., 123, 148, 152ff., 161ff., 172ff., 179ff., 199, 243, 273ff. Evidenz, kritische, 110f.
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Evidenz, naive, 110f. Evidenztypen (apodiktische, assertorische), 113 Existenzialismus, 189 F Faktizit¨at, 23, 157, 226, 303 Faktum der Vernunft, 182f., 190, 194, 198, 286 Freiheit, 5, 80, 85, 114, 189f., 221, 241, 250f., 254, 258f., 297, 305 G Gebung, 108ff., 114, 197ff., 249 Gef¨uhl, 108, 151, 157f., 172ff., 175ff., 195 Gegebenheitsweise(n), 3, 6ff., 105, 111, 216 Geltung, 2ff., 11ff., 54ff., 88ff., 93, 110, 154, 264ff, 277ff., 296, 302 Geltungs¨ubertragung, 14, 49, 55, 58, 80, 126, 173 Gem¨aßheit, 13, 35ff., 43ff. Genesis, 50, 58, 71, 81ff., 103f., 111, 181, 194ff., 208f., 223, 227ff., 254 Genealogie, 16f., 33, 296 Gerechtigkeit, 222ff., 237ff., 234ff. Geschichtlichkeit, 280, 293f. H Haltung, 191ff., 234ff., 116ff., 183ff., 193, 221 I Ich, 51, 103, 187f., 209ff., 259, 265, 271 Ichaktivit¨at, 103f., 107, 109 Intentionalit¨at, 65, 78, 208, 218 Intentionalit¨at, rechtliche, 11ff., 65, 81ff., 94ff., 98ff., 111ff., 125, 146ff., 244, 277ff., 287, 296 Intersubjektivit¨at, 115, 122, 264ff., 269ff.
K Kommunikationsgemeinschaft, 264ff., 278ff. Konsensus, 267, 275 Konstitution, 13, 33, 45, 54, 111, 143, 195, 249, 302 Kritik, 17, 54, 69, 81f., 86ff., 98, 107, 178, 184, 246 L Lebenswelt, 25, 106, 180, 184 Legitimation, Legitimationskategorie, 10, 17, 57, 67, 102, 105, 114, 125, 189, 195, 251, 280, 283f. Leib, Leiblichkeit, 3, 218f. Liebesethik, 181ff., 186, 190, 193, 205, 229, 231f. Logik, transzendentale, 9, 32f., 35 M Mensch, 1ff., 206, 217 Menschenrechte, 247-263 Methode, 5f., 29ff., 62ff., 66f., 96, 101, 104, 207, 211 Modalisierung, 49ff., 34, 68, 79f., 84, 105 N Nachtr¨aglichkeit, 97, 118, 244 Naturrecht, 249, 299, 301f. Naturzustand, 255ff. Norm, 12ff., 36ff., 81ff., 98ff., 125ff. normative Deutung, 29ff. O Objektivit¨at, 3, 163, 166, 255, 269, 277 Offenheit, 58, 271, 298 P Passivit¨at, 53, 78, 103, 106ff., 114, 117, 176, 190f., 207f., 213, 219, 222, 246, 250 Person, 18, 122, 185ff., 189, 192
sachregister Ph¨anomenologie, 3, 5ff., 10ff., 32, 95, 195, 218, 270 Ph¨anomenologie der Vernunft, 5, 8f., 17, 83, 99ff., 156, 195 Pr¨atention, 67, 84ff., 95, 98, 102, 110, 116ff., 153 Pr¨asumption, 217f., 277 R Rechtfertigung, 20ff., 34, 51ff., 67, 89ff., 113, 117, 180f., 185, 190f., 194f. 205, 227, 230, 233, 243ff., 251, 263, 276ff., 284ff., 290, 306 Rechtm¨aßigkeit, 65, 85ff., 106f., 116, 124f., 147, 149, 156, 170f., 193 Rechtsbegriff (rechtsphilosophisch), 22ff., 298ff. Rechtscharakter, 8f., 16, 63, 101ff., 108, 113 Rechtsph¨anomenologie, 23f., 31 Rechtsphilosophie, 24, 247ff., 298ff. Rechtspositivismus, 23, 29, 299ff. Rechtspr¨adikation, 4f., 10ff., 29ff., 61ff., 121ff., 150, 152f., Rechtsquelle, 6f., 47, 62, 93, 96, 109f., 115, 128 Rechtssinn, 11ff., 37ff., 42ff., 49ff., 74ff., 87ff., 99, 123, 148f., 182, 251, 276f., 287f. Reduktion, 3, 11, 178, 214, 220, 271 Regel, Regelsinn, 2, 14, 21, 23, 54f., 58, 237f., 300f., 305f. regulative Idee, 5, 58, 113, 148, 155, 183, 238f., 242, 272, 296 Responsivit¨at, responsiv, 298, 203, 246, 260, 282, 296 Richtigkeit, 68ff. Ruf, 18, 812, 186ff., 191, 193f., 196, 198, 204f., 232, 246, 294 S Sachn¨ahe, 6f. Sein, 8, 87, 127ff.
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Selbsterhaltung, 184f., 194 Selbstgebung, 62, 64, 69, 73, 76, 79f., 84f., 90, 93ff., 103ff., 108ff., 118 Selbstverantwortung, 11, 19, 65, 115, 117, 119f. Setzung, 8, 17, 19, 34, 52, 56ff., 65, 67, 85ff., 90ff., 98ff., 106f., 114ff., 199, 216, 227, 235ff., 283, 302 Sinnereignis, 17, 208, 218, 240, 248ff., 255, 258 Sinngebung, 17, 221 Situativit¨at, 155, 173, 175ff., 294 Solipsismus, solipsistisch, 265, 285, 269, 287f., 292 Sollen, 121, 128ff., 136ff., 139ff., 143ff., 157, 165, 181f., 189ff., 199f., 206, 221 Sollen, absolutes, 167, 186, 188ff., 200, 206 Spontaneit¨at, 100, 109, 176, 207, 252f., 283, 311 Sprache, 46, 200, 207, 209, 216, 221f., 265ff., 274, 282, 287, 292f. Sprachpragmatik, transzendentale, 263ff., 271ff., 293 Spur, 210, 212, 244, 246, 251 St¨orung, 116, 208, 210ff., 224, 242, 297f. Subjekt, 56, 119, 167, 179, 186, 188, 220, 250, 265, 272, 274, 282, 292, 299f. Subjekt, logisches, 37ff. Subjektivit¨at, 115, 119, 167, 198ff., 208ff., 214ff., 218f., 222ff., 229ff., 250, 255ff., 269, 271f., 277f., 290, 293, 300
T Teleologie, teleologisch, 15, 50, 64f., 67, 78, 81, 11, 146f., 153ff., 193f., 197, 211, 215, 226, 242, 277, 285f.
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Transzendentalphilosophie, 9, 63, 119, 264ff., 270, 276 Transzendenz, 218f., 271 U ¨ Uberschuss, 204, 212f., 215, 238, 289f., 306 Uneigentlichkeit, 116f. Unentscheidbarkeit, Unentscheidbares, 237f., 242f., 294 Unrecht, 85, 296ff. Unrechte, das, 127ff., 135, 141 Unrechtm¨aßigkeit, 85, 93, 98, 151 Unverf¨ugbarkeit, unverf¨ugbar, 147ff., 195, 244, 294 Urdoxa, 36, 50, 58, 67, 84f., 87ff., 93, 95, 98, 102ff., 110f., 177, 277 Urimpression, 219f., 224f. Urteil, Urteilen, 1, 13, 51ff., 69ff., 75, 80, 86ff., 97, 110, 114, 123, 144ff., 151, 153f., 170, 229, 237, 242, 246, 259, 280, 289f., 306 Urteil, bestimmendes, 38ff. Urteil, beziehendes, 38ff. Urteil, normatives, 21, 34f., 126, 139ff, 154, 248 Urteil, normierendes, 18, 34, 49, 126 V Verantwortung, Verantwortlichkeit, 104ff., 115ff., 189, 207f., 216, 223ff., 227ff., 232ff., 246, 250f., 252, 257ff., 288, 290 Vernunft, 98ff., 147ff., 181ff., 222ff., 239ff.
Vernunft, praktische, 147ff., 181ff., 229, 304 Vernunft, theoretische bzw. logische, 98ff., 147ff. Vernunft, wertende bzw. axiologische, 168ff. Vernunftgenesis, 191, 195, 200, 207, 222 Vernunftpr¨adikation, 151, 160 Vollzugsidentit¨at, 197, 213, 225 Vorgegebenheit, 50, 67, 100ff., 110f. vorpr¨adikativ, 18, 33ff., 99, 102, 108, 111, 177, 182, 195, 207, 259, 275, 282, 296 Verstandesgegenst¨andlichkeit, 33f., 100, 102f., 113, 283 W Wahrheit, 6, 52, 55f., 64, 71ff., 85ff., 97, 116ff., 226, 267ff., 287, 292 Welt, 3, 11, 25, 31, 56f., 122, 174, 199, 210, 270ff., 295 Wert, 125-147, 171-181, 190 Wertevidenz, 168-181 Wertnehmen, 126, 130, 151, 175ff., 179 Wertpr¨adikat, 139ff., 168 Wert¨ubertragung, 49, 123 Werturteil, 49, 124, 142, 144, 150, 152, 177 Willensrichtigkeit, 156, 166f., 168ff., 180ff. Z Zeugnis, 231