David Chotjewitz
Das Abenteuer des Denkens Roman über Albert Einstein
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David Chotjewitz
Das Abenteuer des Denkens Roman über Albert Einstein
CARLSEN
Veröffentlicht im Carlsen Verlag Copyright © 2004, 2005 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg
Umschlagbild: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Umschlaggestaltung: Kerstin Schürmann, formlabor Corporate Design Taschenbuch: Dörte Dosse Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 3-551-35500-2 Printed in Germany Alle Bücher im Internet: www.carlsen.de
Vorbildlich unvorbildlich – Der Physiker Albert Einstein, der unsere Sicht auf das Universum für immer veränderte, ist so etwas wie eine Metapher für Menschlichkeit und Eigensinn geworden. In David Chotjewitz’ Roman erscheint das „Jahrhundert-Genie“ auf einmal sehr nah, in seiner Freude, seiner Launenhaftigkeit, seiner Lust an der Provokation im Umgang mit Freunden und Kollegen, in seinem Einsatz gegen den Krieg. David Chotjewitz, geboren 1964 in Berlin und aufgewachsen in Rom, arbeitete u. a. als Schauspieler und Übersetzer. Zuletzt erschien bei Carlsen sein Roman Crazy Diamond. Chotjewitz lebt heute als freier Schriftsteller und Regisseur in Hamburg.
»Das ewig Unbegreifliche an der Welt ist ihre Begreiflichkeit.« Albert Einstein
Prolog
Princeton, New Jersey Mittwoch, 13. April 1955 Helene Dukas war eine geduldige, ruhige Frau und als Privatsekretärin Albert Einsteins Aufregung gewohnt. Sie hatte mit Staatsmännern in dringenden Angelegenheiten verhandelt und Horden von Journalisten gebändigt. Aber nach dem dritten vergeblichen Versuch, Dr. Dean zu erreichen, legte sie den Hörer auf den unförmigen Telefonapparat und lief durch den dunklen Flur, wo sie beinahe über einen Stapel aussortierter Zeitschriften stolperte. Dann eilte sie die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Nachdem sie die weiße Holztür zur Veranda aufgestoßen hatte, begann sie zu rennen. Ihr enges Wollkostüm riss unter den Knien auf. Sie durchquerte den kleinen Vorgarten, blieb stehen und zog sich, während sie sich mit einer Hand an der Gartentüre festhielt, die Sandaletten mit den schweren Absätzen aus. Barfuß lief sie die Mercer Street hinunter, ohne den verwunderten Dr. Shenstone, der gegenüber seine Gartenhecke stutzte, zu grüßen. Dr. Dean legte gerade auf, als erst Helene Dukas und dann seine Sprechstundenhilfe in das Arztzimmer stürzten. Helene Dukas war so außer Atem, dass sie nur ein gepresstes »Entschuldigen Sie bitte« hervorbringen konnte. Dr. Dean war sofort klar, um was es sich handeln musste. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«, fragte er. Helene Dukas schüttelte den Kopf. »Kommen Sie bitte«, sagte sie. »Schnell.«
Das Haus Mercer Street Nr. 112 war ein schmales, zweistöckiges Reihenhaus im amerikanischen Kolonialstil, in einer ruhigen, fast ländlichen Nachbarschaft. Die leuchtend weiße Holzfassade war durch sehr dunkle Fensterläden klar gegliedert. Rundherum alte Bäume, Ulmen, Ahorn, eine Trauerweide. Davor eine Veranda mit schlanken weißen Säulen, an denen sich Efeu hochrankte; wie geschaffen, um im Schaukelstuhl das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Fünf schon ausgetretene Stufen führten hoch zur Veranda. Eine Diele gab es kaum, gerade Platz, um die Mäntel abzulegen. Im nicht eben geräumigen Wohnzimmer standen überall kleine Figuren aus Bronze, Ton oder Holz. Die stammten von Margot, Einsteins Adoptivtochter. Immer schien Dämmerlicht in dem Raum zu hängen, wie zäher Nebel, der sich nicht auflösen wollte. Man hätte die Büsche draußen vor den Fenstern stutzen müssen, damit das Tageslicht hereinkommt, aber das wollte Einstein nicht. Helene Dukas saß auf einem der falschen Biedermeiersessel. Sie hatte ihn dicht an die Wand geschoben, um ihren Kopf an die Tapete lehnen zu können. Hin und wieder hörte sie von oben, aus Einsteins Schlafzimmer, die tiefe Stimme von Dr. Dean. Sie wusste, wie die Diskussion enden würde. »Ärzte sollten das Leben verlängern, nicht das Sterben«, hatte Einstein ihr schon oft genug erklärt, anschließend bekam er meist einen seiner Lachanfälle. Dass für ihn die Zeit zum Sterben noch nicht gekommen sein musste, dass die moderne Medizin auch eine Hauptschlagader ersetzen konnte, interessierte ihn gar nicht. Helene Dukas hatte die Augen geschlossen und die Hände auf dem Schoß gefaltet. Jetzt, da sie Angst und Erschöpfung fast überwältigten, entspannte sich ihr Gesicht für einen Moment.
Sie war wie abwesend und dachte wieder über diesen Mann nach, von dem die Leute sagten, er sei »das größte Genie des 20. Jahrhunderts«. Er war einfach hoffnungslos unvernünftig. Steif und fest hatte er geschworen, sich keine großen, aufreibenden Arbeiten mehr aufzuhalsen. Doch dann kam vor wenigen Tagen ein Telegramm aus Tel Aviv. Man bat ihn, zum Gründungstag Israels eine Erklärung zu verfassen, die über Radio und Fernsehen verbreitet werden sollte. Und schon stürzte sich der alte Mann, verzweifelt über den Bruderzwist zwischen Juden und Arabern, in die Arbeit. Wegen der dort aufeinander treffenden Großmachtinteressen konnte der lokale Konflikt schnell zu einem Dritten Weltkrieg eskalieren. Damit mochte er Recht haben, aber gab es nicht Jüngere, Gesündere für diese Aufgaben? Das Haus hatte sich einmal mehr in einen Hühnerstall verwandelt. Der israelische Botschafter, der Konsul, Leute vom Radio und Fernsehteams gingen ein und aus. Einstein arbeitete bis spät in die Nacht. Als der israelische Botschafter einmal meinte, dass Millionen Menschen auf der ganzen Welt seine Erklärung hören würden, sagte Einstein: »Dann werde ich ja doch noch berühmt.« Gegenüber Freundinnen nannte sich Helene Dukas das »Kindermädchen eines Genies«. Kein leichter Job. Erst an diesem Morgen war der israelische Konsul erneut im Hause gewesen. Kaum war er gegangen, klagte Einstein über starke Unterleibsschmerzen. Unterhalb der Galle hatte sich an der Hauptschlagader ein Aneurysma gebildet, eine krankhafte Schwellung, vor Jahren schon. Eines Tages würde die Ader an dieser Stelle platzen, und dann würde Albert Einstein innerhalb weniger Minuten tot sein. Helene Dukas schüttelte unwillkürlich den Kopf und strich eine Strähne ihres glatten, glänzend schwarzen Haares aus dem Gesicht. Dann hörte sie oben Schritte. Eine Tür wurde
vorsichtig eingeklinkt. Dr. Dean kam langsam die Treppe hinunter, mit gesenktem Kopf, als fürchte er, sich an der etwas zu flachen Decke zu stoßen. »Ich habe ihm ein Schmerzmittel gegeben. Er ist dann ziemlich schnell eingeschlafen.« »Ist es die Aorta?«, fragte Helene. Dr. Dean nickte. »Ja. Vermutlich ein kleines Loch in dem Aneurysma.« Helene setzte sich mühsam auf. »Heißt das…« »Eine ganz schwache innere Blutung. Es gibt Menschen, die jahrelang damit leben«, sagte Dr. Dean. Aber er sagte das nur, um sie und auch sich selbst zu beruhigen. »Was sollen wir jetzt tun?« »Sie müssen sofort Dr. Bucky informieren. Und wir brauchen einen Herzspezialisten, der mit Professor Einstein spricht. Ich kann ihn jedenfalls zu nichts überreden. Selbst die Einlieferung ins Krankenhaus verweigert er. ›Ich kann auch ohne Arzt sterben‹, hat er gesagt.« Helene Dukas nickte.
Dr. Gustav Bucky hatte genug Menschen sterben gesehen, um zu wissen, was er von solchen Sätzen zu halten hatte. Am Ende hat noch jeden die Angst überwältigt. Schon in Berlin, in den zwanziger und dreißiger Jahren, war Bucky Einsteins Arzt und Freund gewesen. Auch er war Jude und hatte mit seiner Familie nach Hitlers Machtergreifung 1933 aus Deutschland fliehen müssen. Er kannte die Einstellung seines Freundes aus zahlreichen Diskussionen. Erst vor kurzem hatte ihm Einstein ins Gesicht gesagt, dass er von einem Leben nach dem Tode nichts wissen wolle. »Das ist doch eine jämmerliche Vorstellung. Man sollte froh sein, wenn dieses individuelle Dasein mit all seinen Sorgen und Problemen ein Ende findet.«
»Zum Glück«, hatte Bucky geantwortet, »gibt es noch Menschen, die an alldem so hängen, dass sie einen Arzt aufsuchen, damit er ihre Sorgen und Probleme etwas verlängert.« Bucky hatte auch mehrfach versucht, Einstein wenigstens das Rauchen abzugewöhnen. Nun spielte dies alles keine Rolle mehr. Einstein musste operiert werden, und zwar so schnell wie möglich. Und es gab in New York nur einen Arzt, der dafür geeignet war: den Herzchirurgen Dr. Frank Glenn. Bucky machte sich auf den Weg, um mit dem Mann zu sprechen. Einsteins Arbeitszimmer lag im rückwärtigen Teil des Hauses, im ersten Stock. Die hintere Wand bestand fast vollständig aus einem großen, langen Fenster, so dass der Schreibtisch scheinbar mitten zwischen Bäumen stand. Das Licht fiel schräg von oben in den Raum, und die Schatten der Blätter tanzten wie aufgeregte Fische auf dem hellen Teppich. An den Wänden standen kaum geordnete Bücherregale; die Tische und Stühle waren übersät mit losen Blättern, Notizblöcken voller Formeln, Bleistiften und Tabakspfeifen. Auf einem der Tische stand ein Globus, neben einem Bücherregal hing, etwas in die Ecke gequetscht, ein gerahmtes Foto. Es zeigte einen jungen Mann mit dichtem, wirrem Bart, einer Halbglatze und kleinen, traurigen Augen, die von dunklen Ringen umrandet waren. Nach der Kleidung zu urteilen, musste das Foto ungefähr hundert Jahre alt sein. »Wer ist das?«, fragte Dr. Glenn, der sich bislang recht befangen umgesehen hatte. »Karl Marx?« Gustav Bucky brach in ein herzliches Lachen aus. »Wieso sollte er ein Foto von Marx an der Wand haben? Einstein ist Physiker.«
»Sicher«, sagte Dr. Glenn entschuldigend. Wieder sah er sich ehrfurchtsvoll um. »Hat er… hat er in diesem Raum auch die Relativitätstheorie entwickelt?« Gustav Bucky legte ihm die Hand auf die Schulter. »Junger Mann, das Relativitätsprinzip ist erstens keine Theorie mehr, und zweitens wurde es vor ziemlich genau 50 Jahren in einer Stadt in der Schweiz, deren Namen Sie sicherlich noch nie gehört haben, von Ihrem zukünftigen Patienten entwickelt.« »Oh.« Dr. Glenn war ehrlich erstaunt. »Und uns haben sie noch vor zehn Jahren auf der Universität weisgemacht, Einsteins Relativität sei so neu, dass sie noch niemand verstanden hätte.« Bucky hatte inzwischen eine der langstieligen Pfeifen Einsteins in der Hand. »Aus dieser Pfeife ist noch vor wenigen Tagen geraucht worden«, sagte er kopfschüttelnd. Da ging die Tür auf. Helene Dukas’ Kopf schaute zum Zimmer herein. »Er ist aufgewacht«, sagte sie. Die unzähligen, tief eingeschnittenen Falten, die Einsteins Gesicht mit den Jahren überzogen hatten, wirkten glatter, so sehr war das Gesicht eingefallen. Die schweren Tränensäcke waren von einem wie angesengten Braun, das in große, violette Ringe überging, die bis hinunter zu den Wangen reichten. Die weißen Haare, die stets wild in alle Richtungen abstanden und für die Einstein fast ebenso berühmt war wie für seine wissenschaftlichen Theorien, lagen nun kraftlos und verklebt um seinen großen Schädel herum. Und doch blinkten Einsteins Augen fröhlich auf, als er den alten Freund Bucky wiedersah. Mühevoll richtete er sich im Bett halb auf. Sofort eilte Bucky zu ihm. »Sie müssen jetzt aber liegen bleiben, lieber Herr Professor.« Damit setzte er sich an die Bettkante und drückte Einsteins Kopf sanft, aber nachdrücklich auf das Kissen.
»Das ist das Schöne am Sterben«, sagte Einstein. »Bald kann mir kein Arzt mehr Vorschriften machen.« Bucky schaute betont gelassen zum Fenster hinaus. »Meinen Sie das, wenn Sie sagen, der Tod sei die endgültige Erlösung?« Einstein holte tief Luft. Sein Gesicht brach für Augenblicke völlig in sich zusammen. Dann hob er wieder den Kopf und lächelte verschmitzt. »Jawohl. Die endgültige Erlösung.« »Wie wollen Sie das wissen?«, wandte Bucky ein. »Vielleicht leben wir alle weiter, nur in einer anderen Daseinsform. Beispielsweise als mathematische Formeln, die den Wissenschaftlern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind.« »Ich glaube nicht, dass es so schlimm kommt«, sagte Einstein. Bucky sah nun zu Glenn hinüber. »Lieber Professor Einstein«, begann er dann. »Darf ich Ihnen Professor Glenn vorstellen, Herzchirurg in New York.« »Guten Tag, Professor Glenn.« Einstein nickte dem jungen Mann freundlich zu. »Haben Sie vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich bin froh, auf meine alten Tage eine solche Kapazität wie Sie kennen zu lernen. Aber wie Sie sehen, ist es für die Autopsie noch zu früh. Ich lebe ja noch.« Glenn trat hastig einen Schritt nach vorn. »Ich…« »Dr. Glenn ist hier, um den chirurgischen Eingriff zu erläutern, mit dem Ihr Problem möglicherweise gelöst werden kann«, erklärte Bucky. »Bei einem Aneurysma im Bereich der Bauch-Aorta…«, begann Dr. Glenn – doch er hielt inne, als Einstein langsam seine große weiße Hand hob. »Entschuldigen Sie«, sagte Einstein leise. »Sagen Sie mir bitte ehrlich, welche Chancen die von Ihnen vorgeschlagene Operation in meinem Alter und angesichts meines Zustandes hat. Ich möchte eine klare Auskunft.«
»Nun, man kann natürlich nichts garantieren«, sagte Glenn, »aber…« »Ich habe Sie um eine offene Antwort gebeten«, sagte Einstein. Diesem noch jungen Arzt winkte internationale Anerkennung, wenn er den berühmtesten Wissenschaftler des Jahrhunderts, einen lebenden Mythos, erfolgreich operierte, darüber war sich Einstein im Klaren. Seine Augen, die unter den buschigen weißen Brauen in tiefen Höhlen fast verschwanden, sahen Glenn so unvermittelt und klar an, dass der junge Chirurg alle ärztliche Rhetorik vergaß und verlegen vorbrachte: »In Ihrem Fall würde ich die Erfolgschancen auf ungefähr 50 zu 50 schätzen.« Bucky sah Glenn entsetzt an. »Die Operationsmethode ist noch sehr neu«, fuhr der fort. »Wir haben inzwischen große Fortschritte gemacht. Es besteht eine realistische Chance, dass die Operation in Ihrem Fall glückt.« Eine Pause entstand. Helene Dukas trat von einem Bein aufs andere, ihr Blick wanderte von Bucky zu Glenn und wieder zurück zu Einstein. »Was soll das Rumgeschneide«, sagte Einstein schließlich. »Seid lieber froh, dass ihr mich alten Kracher endlich los seid.« Damit richtete er sich erneut halb auf und ließ ein rasselndes Lachen hören.
Dr. Glenn fuhr unverrichteter Dinge wieder nach New York. Am Donnerstag, dem 14. April, wachte Albert Einstein nach einer ruhigen Nacht mit starken Schmerzen im Unterleib auf. Zusätzlich zur Schwellung der Aorta war nun eine Fehlfunktion der Galle eingetreten. Erneut war er nicht zu einer Operation zu bewegen.
Unter dem Einfluss starker Schmerzmittel verbrachte er den Tag meist schlafend. Auch am Freitag hielten die Schmerzen an. Zudem war sein Körper stark ausgetrocknet, er war nicht mehr fähig, Flüssigkeiten über den Mund aufzunehmen. Noch am selben Tag wurde er ins Krankenhaus gebracht, wo sich sein Zustand rasch besserte. Am Samstagnachmittag traf sein Sohn, Hans-Albert, mit dem Flugzeug aus Berkeley ein. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war schwierig, seit sich Einstein vor über 40 Jahren von seiner ersten Frau, Hans-Alberts Mutter, getrennt hatte. Vor einigen Jahren jedoch war es den beiden gelungen, sich zu versöhnen. Auch Hans-Albert versuchte zunächst, seinen Vater zu überreden, sich operieren zu lassen. Doch bald sah er ein, wie sinnlos das war. Und so saßen sie lange zusammen, meist schweigend. Schließlich kam auch Margot, Einsteins Adoptivtochter, die seit fast 35 Jahren mit ihm zusammenlebte und ihm näher war als sonst ein Mensch. Sie lag wegen einer schweren Lungenentzündung im selben Krankenhaus. Als sie das Zimmer betrat, hätte sie ihren Vater beinahe nicht erkannt, so hatte sich das Gesicht durch Totenblässe und Schmerz verändert. Einstein aber sagte nur: »Schau doch nicht so bestürzt. Jeder muss einmal sterben.« So saßen sie zu dritt beisammen. Einstein wartete auf seinen Tod wie auf ein Naturereignis, das man mit Neugier beobachtet. Er fürchtete nur, dass die Schmerzen noch schlimmer werden könnten. Am Sonntag, dem 17. April, schien sich sein Zustand zu bessern. Die Ärzte hofften, die Blutung würde von selbst aufhören. Einstein fühlte sich munter wie lange nicht mehr, machte Scherze mit Besuchern und den Schwestern. Er bat um seine Brille und seine letzten Berechnungen und Notizen, und er sprach noch einmal mit seinem Assistenten und »Rechner« Otto Nathan, dem er sagte, er fühle sich einem großen Fortschritt auf der
Suche nach einer allgemeinen Feldtheorie sehr nahe. Doch als er zu arbeiten versuchte, wurden die Schmerzen wieder sehr stark. So legte er die Unterlagen zur Seite und meinte zu der Schwester, die ununterbrochen in seiner Nähe war: »Dann muss ich mich eben weiter langweilen.« Kurz vor Mitternacht schaute Dr. Dean noch einmal nach dem Patienten, er fand ihn tief und friedlich schlafend. Am Montag, dem 18. April, kurz nach ein Uhr morgens, wachte Einstein auf. Er begann, etwas auf Deutsch zu murmeln. Die Krankenschwester verstand kein Wort. Sie blieb neben dem Bett stehen. Gegen ein Uhr fünfzehn riss die Wand der Hauptschlagader. Einstein atmete zweimal tief aus und ein. Dann starb er.
Das Ende der Kindheit
Im Jahre 1894 ist München noch eine friedliche Kleinstadt. Nur einige Pferdekutschen und die erst vor wenigen Jahren eingeführten Straßenbahnen fahren auf den breiten Alleen, die sonst ganz den Fußgängern gehören: jungen Damen in langen Kleidern, die einen zierlichen Schirm im Ellenbogen tragen, Herren im Gehrock mit Stock und Hut, Kindern, die an den Hauseingängen mit Murmeln oder Würfeln spielen. Viele Uniformen: ein Polizist mit silbern leuchtendem Pickel auf der Haube, die Verbindungsstudenten und Soldaten der königlich bayerischen Regimenter mit ihrem farbenprächtigen, fast übertrieben prunkvollen Aufzug. Dazwischen schlendern jugendliche Künstler und adelige Bohemiens mit lockeren Krawatten, eine Zeitung in der Jackentasche, die den jungen Damen nachsehen. Vogelgezwitscher, Gänsegeschnatter, Musik aus offenen Fenstern, das Geklapper der behäbigen Droschken – kein Geräusch, und ist es noch so fein, geht hier verloren. Noch geht es auf den Plätzen und Märkten eher ländlich zu. Aber nun wird überall gebaut, und auch die Dörfer und Felder der Umgegend werden langsam Teil der Stadt. In Sendling, südwestlich der Münchner Altstadt, lassen sich die Fabrikanten und großen Kaufleute Villen errichten, die aussehen wie zu klein geratene barocke Lustschlösschen, Raubritterburgen oder gotische Kapellen.
Das Kronprinz-Luitpolt-Gymnasium nahe dem Sendlinger Tor, ein eckiger, lang gestreckter Kasten, hätte man auch für eine
Kaserne halten können, krönte nicht weithin sichtbar eine Messingglocke das ausladend gewölbte Dach. Die Glocke hatte einen schönen, stets leicht vibrierenden Klang – vor allem mittags, wenn sie zum Schulschluss läutete. Nach dem Läuten trat für kurze Zeit eine seltsame Stille ein, wie sie einer Explosion vorhergeht. Dann sprang die schwere, eichene Schultüre auf, und fünfhundert Schüler in grauen Schuluniformen platzten wie Wasser durch einen gebrochenen Damm auf den breiten Kiesweg, der zur Straße führte. Für Minuten entstand ein wildes Getümmel von Aufziehmännchen der unterschiedlichsten Größe und Statur. Dann war der Schulhof wieder so gut wie leer, und die letzten Nachzügler traten durch das einem griechischen Tempel nachempfundene Portal auf den Hof hinaus. Einer von ihnen war Albert Einstein, der vor wenigen Wochen fünfzehn Jahre alt geworden war. Wie alle Schüler trug er eine dunkelgraue Jacke mit aufgesetzten Taschen, darunter ein weißes Hemd mit Stehkragen. Die ebenfalls dunkelgrauen Hosen waren gut knielang und unten mit drei Zierknöpfen versehen. Darunter, sommers wie winters, die kratzigen wollenen Kniestrümpfe. Albert war in letzter Zeit in die Höhe geschossen und schlaksig geworden. Nur sein Gesicht war noch etwas rund und wirkte eher kindlich. Die sehr kurz geschnittenen Haare waren braun wie die stillen, leuchtenden Augen. Seine rechte Augenbraue war etwas höher gewölbt als die linke und gab dem Gesicht einen ironischerstaunten Ausdruck. Albert hatte seinen Lederranzen auf dem Knie abgestellt und durchsuchte ihn mit einer Hand. Dann brachte er eine schwarze Schirmmütze hervor, die so genannte Gymnasiasten-Mütze. Die musste jeder Schüler in der Öffentlichkeit tragen, an ihr konnte man jederzeit erkennen, welche Schule er besuchte und sogar welche Klasse. Auf der Straße wie gesagt musste man
diese Mütze tragen, im Unterricht selbst war das untersagt und zu Hause auch. Es war keine Mütze im militärischen Stil der Zeit, schon gar keine der albernen Matrosenmützen, wie sie selbst kleinen Kindern aufgesetzt wurden, sondern einfach eine gerade aufsteigende Kappe mit festem Schirm. Zu Hause hatte Albert sie ein paarmal trotzig beim Essen aufbehalten, als Verwandte zu Besuch waren. Der Vater nannte sie deshalb die »Stänker-Mütze«. Albert zog die Mütze fest über den Kopf, dann ging er los. Und wieder spielte er mit dem Gedanken, morgen mit dieser Mütze auf dem Kopf im Unterricht zu erscheinen. Der Schultag war gewesen wie jeder andere, also schrecklich. Der Klassenlehrer Degenhart, Ordinarius genannt, hatte sie mit monotonen Lateinlektionen traktiert, um ihnen anschließend ein Kapitel griechischer Grammatik einzutrichtern. War etwas Stupideres denkbar? Aber der Ordinarius vertrat die allgemein anerkannte Ansicht, das Erlernen zweier komplizierter Grammatiken sei eine unentbehrliche Schulung für den Geist und gewährleiste die Disziplin des Denkens. Nicht weniger ärgerlich war die Mathematikstunde verlaufen. Hier wurde mit quälender Langsamkeit ein Gebiet bearbeitet, das Albert bereits als Zwölfjähriger bis in die letzten Winkel erforscht hatte. Das Schlimmste aber war der Sportunterricht. Er begann stets damit, dass sich die Knaben streng der Größe nach in eine Reihe stellen mussten. Es folgten Exerzierübungen. Danach hatten sie die gleichförmigen Barrenübungen nach Turnvater Jahn durchgeführt. In den Latein- und Griechischstunden brauchte man nur den Rücken gerade und die Augen irgendwie offen zu halten, um nicht weiter belästigt zu werden. Im Sportunterricht aber achtete Turnlehrer Wüchner stets besonders auf Albert Einstein, den einzigen Juden in der Klasse. »Nun ja«, sagte sich Albert, »Böses muss mit Bösem enden.« Dies war die
Überschrift, zu der sie zu Hause einen Aufsatz über Herders Versepos »Der Cid« schreiben sollten. Wenigstens wurde nicht verlangt, das ungefähr 40 Seiten lange Gedicht auswendig zu lernen. In der Garnisonsstadt München gab es, mitten in den Wohnvierteln, große Kasernen. An einer kam Einstein jeden Tag auf seinem Schulweg vorbei. Auch heute konnte er durch das große schmiedeeiserne Tor auf den Hof schauen, wo die Soldaten, zitternd wie frierende Hunde, die Arme starr an die Seite gedrückt, die gebrüllten Befehle entgegennahmen. Albert war in den vergangenen Monaten zu der Überzeugung gelangt, dass die Jugend vom Staate mit Vorbedacht belogen wurde. Man wollte gute deutsche Männer aus ihnen machen, und das Beste, was ein deutscher Mann sein konnte, war ein guter Soldat. Ein guter Soldat aber hatte nur einen Zweck: Menschen zu töten. Als er beim Metzger am Kapuzinerplatz vorbeikam, fiel ihm ein, dass er noch ein paar Pfennige in der Tasche hatte. So kaufte er sich eine Semmel mit Wurst. Die hob seine Stimmung augenblicklich. Etwa nach der halben Semmel erblickte er die Villa in der Adlzreiterstraße 14. Alberts Vater hatte sie 1880 bauen lassen, als sie nach München gezogen waren. Es war ein schlichtes, leicht wirkendes Haus, ein wenig ländlich-bayerisch gehalten, mit einem regelrechten Park dahinter. Gleich nebenan wohnten Alberts Onkel Jakob und Tante Ida, man teilte sich den riesigen Garten und lebte praktisch gemeinsam. An der Ecke Lindwurmstraße saß ein junges Mädchen in einem abgetragenen, bunt gestreiften Kleid, das »wilde Blumen« verkauft. Albert hatte sie schon öfter hier gesehen, wahrscheinlich stammte sie aus einem der kleinen Dörfer, die nur wenige Kilometer entfernt lagen. Sie war hübsch und hatte ihre dicken blonden Zöpfe wie große Schnecken hinter den
Ohren aufgerollt. Feld- und Wiesenblumen zu kaufen war eine ganz neue Mode, die gerade von Berlin nach München gelangt war, und man sah dieses Jahr die Stände mit frisch gepflückten Anemonen, Margeriten und Stiefmütterchen auf allen Märkten und Plätzen. Albert blieb stehen, doch als er merkte, dass ihn das Mädchen unverwandt anstarrte, murmelte er ein »Auf Wiederschaun« und ging etwas hastig weiter.
Schon als er die kleine Holztür zum Vorgarten öffnete, überkam ihn das Gefühl, dass zu Hause etwas nicht stimmte. Kein Laut drang aus dem Haus. Um diese Zeit herrschte doch sonst aufgeregtes Treiben. Sein Vater und Onkel Jakob kamen mittags aus der Fabrik, die nur wenige hundert Meter entfernt lag. Alberts Schwester Maya kam von der Schule, und in der Küche bereitete die Köchin, unterstützt von Alberts Mutter und dem Hausmädchen, das Mittagessen zu. Die Stille hatte etwas Unheimliches. In solchen Situationen überkamen Albert manchmal seltsame Fantasievorstellungen. Vielleicht waren sie alle tot? Seine geliebte Schwester Maya, seine Mutter, der Vater, Onkel Jakob und dessen Frau – vielleicht waren sie in der Fabrik gewesen, um eine neue Maschine zu besichtigen, die Onkel Jakob konstruiert hat, und dann war die Maschine explodiert und alle umgekommen… Albert wusste genau, wie unsinnig diese Vorstellung war. Er wusste, dass Onkel Jakob in letzter Zeit keine neue große Maschine konstruiert hatte, die Firma bekam nicht genug Aufträge. Aber seine Angst war keine wirkliche Angst, so schrecklich sie auch sein mochte, sie war nicht von besonderen Gefühlen begleitet. Sie kam über ihn, und er ließ es geschehen, auch wenn er anschließend das Gefühl hatte, etwas nicht ganz Richtiges getan zu haben. Auf eine merkwürdige Art liebte er den inneren Kitzel solcher Fantasien.
Er stand noch immer neben der kleinen Gartentür, in sich und seine Gedanken versunken. Plötzlich riss ihm jemand die Schirmmütze vom Kopf und rannte über die Wiese und am Haus vorbei. Alles, was Albert noch sah, war der Zipfel eines bunten Mädchenkleides. Das konnte nur Maya sein, die Landplage. Er stürzte los. Wenig später hörte er hinter sich Mayas helles Lachen. Erschrocken drehte er sich um. Maya stand hinter ihm, unter dem Balkon, mitten zwischen blühenden Sträuchern. Er kam auf sie zu. »Wo hast du meine Mütze?« Sie zuckte nur die Achseln. »Spiel jetzt nicht die Taubstumme«, sagte er. Sie sah ihn, mit gespitztem Mund, fragend an. »Du bist eben noch ein kleines Kind.« Er tat, als wolle er sich abwenden. »Das bin ich nicht«, rief sie. »Na gut, du bist zwölf Jahre alt und könntest also schon meine Großmutter sein. Und jetzt gib mir die Mütze.« Wieder hob sie unwissend die Achseln. Warum leugnete sie so hartnäckig? Hatte sie vielleicht eine Verbündete? Sie konnte überhaupt unmöglich so schnell um das große Gebäude herumgekommen sein, um sich dann noch unauffällig zwischen diesen Sträuchern zu verstecken. »Na gut«, sagte er endlich. »Dann gibt es eben nächsten Sonnabend keine Lakritzstange.« Er hatte vorausgesehen, dass dieses Argument ziehen würde. Maya zeigte mit Unschuldsmiene hinauf zum Balkon, wo die Mütze, gut sichtbar, zwischen den Blumen hing. »Das gibt es doch gar nicht«, sagte er. »Wie kommt die Mütze da hinauf?« Plötzlich konnte Maya wieder sprechen. »Ich wollte nur deine Reaktionsgeschwindigkeit testen«, sagte sie.
»Woher willst du wissen, was man unter Reaktionsgeschwindigkeit versteht?«, fragte er, ohne sich seine Überraschung anmerken zu lassen. Sie brachte eine Stoppuhr zum Vorschein. »Du hast genau 4,5 Sekunden gebraucht, bis du das Fehlen der Mütze bemerkt hast. Und es dauerte 7 Sekunden, bis du dich entschließen konntest, hinter mir herzulaufen.« »Ich habe eben nachgedacht«, sagte Albert. »Wieder über Geometrie?« »Nicht ganz«, sagte er. »Wo hast du die Stoppuhr her?« »Vom Onkel«, sagte sie und gab sie ihm. Albert betrachtete sie fasziniert. »Die ist ja phänomenal. Damit kann man Sekunden und Zehntelsekunden messen.« »Ich weiß«, sagte Maya. »Du kannst sie haben.« »Wirklich?« Albert sah sie mit fassungsloser Dankbarkeit an. »Ich glaube, sie ist sowieso für dich.« »Wieso? Onkel Jakob hat sie doch dir gegeben?« Maya kletterte aus den Sträuchern heraus, ohne auch nur eine Blüte abzureißen. »Wie kommst du darauf?«, fragte sie. »Ich habe sie mir genommen. Er hat heute ganz viele Instrumente aus der Fabrik mit nach Hause gebracht. Du wirst staunen.« »Dann gehe ich am besten gleich rüber zu ihm«, sagte Albert begeistert. »Ist nicht zu Hause«, hielt ihn Maya zurück. Da erschien ihre Mutter, Pauline, auf der Veranda. »Was macht ihr denn da im Gebüsch?« Albert ließ die Stoppuhr schnell in der Hosentasche verschwinden. Dann gingen sie ins Haus.
Sein Zimmer im ersten Stock war nur eine längliche Kammer, aber er hatte sie ganz nach seinem Geschmack einrichten dürfen. Die Klassenkameraden, deren Zimmer meist eher wie
Antiquitätenläden voller kitschiger Ware aussahen, beneideten ihn darum. Neben seinem alten Kinderbett, das nun wirklich zu kurz wurde, stand ein Bücherschrank, in dem sich Bücher über Physik, Geometrie und Chemie stapelten, alle zerlesen und voller Anmerkungen. Rechts, neben dem großen Fenster, das auf den parkähnlichen Garten hinausblickte, war die MusikEcke. Hier stand seine Geige, die er sorgsam pflegte, der Geigenbogen und das Bogenfett, daneben die Notenblätter. In einer Ecke lagen samtbezogene Kissen, so dass man sich gemütlich auf den Boden setzen konnte. Auf dem Schreibtisch hatte er allerhand nützliche und unnütze Gegenstände gesammelt: Messinstrumente von Onkel Jakob, stehen gebliebene Uhren, teilweise bei dem erfolglosen Versuch, sie zu reparieren, aufgeschraubt, Lineale und rechte Winkel, größere und kleine Zirkel, Bleistifte, von denen einige nur noch wenige Zentimeter lang waren. Hinten auf dem Tisch, etwas an den Rand gedrückt, stand ein kleiner Globus, fast die Hälfte aller Landfläche darauf war weiß: Dorthin war noch kein Kartograph vorgedrungen. Albert ließ den Ranzen von seinem Rücken gleiten und beförderte ihn mit der Ferse unters Bett. Dann ließ er sich in die Ecke mit den Kissen fallen, streckte die Füße von sich und holte die Stoppuhr aus der Hosentasche. Das war allerdings etwas. Mit diesem Instrument konnte man ja ganz minimale Geschwindigkeitsunterschiede feststellen. Damit ließe sich messen, ob die Lichtwellen tatsächlich mit 300000 Sekundenkilometern durch den Äther rasen. Man bräuchte nur zwei Spiegel und einen sehr großen, vollständig abgedunkelten Raum. Die große Aula in der Schule wäre dafür geeignet. Auch Mayas Idee, mit der Uhr die Reaktionsgeschwindigkeit zu messen, war gar nicht so übel. Man konnte zum Beispiel messen, wie lange Opa Julius brauchte, um zu bemerken, dass
er mit dem Suppenlöffel aus der Soßenschüssel aß. Man konnte auch messen, wie lange es dauerte, bis Onkel Jakob und Vater niesten, nachdem sie eine Prise Schnupftabak genommen hatten. Neulich hatte der Onkel gleich nach dem Essen, sehr zur Empörung der Mutter, eine Prise geschnupft. Darauf musste er so dringend niesen, dass er die Hände nicht rechtzeitig vor die Nase bekam und den braunen Tabak über die ganze Tischdecke trompetete. Albert begann, einzelne geometrische Beweise in seinem Kopf zu begründen, und wollte die Zeit stoppen, die sein Gehirn dafür brauchte. Aber da er sich auf die Uhr konzentrierte, konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Selbst als er die Uhr hinter seinen Rücken hielt und nur den Daumen auf den Stopp-Knopf legte, konnte er keinen der geometrischen Sätze konsequent durchdenken. Wie kam das? Warum konnte er nicht mehr klar denken, nur weil er darauf achtete, mit dem Daumen rechtzeitig einen kleinen Knopf zu drücken? Da hörte er draußen eine Pferdedroschke halten. Unten wurde die Haustür aufgestoßen. Zwei Männer gingen eilig durch die Diele ins Wohnzimmer. Sie sprachen kein Wort und grüßten niemanden. Dennoch wusste Albert, dass es sein Vater und Onkel Jakob sein mussten. Seltsamerweise gingen sie in die Küche. Nach wenigen Minuten kamen die beiden Männer wieder in den Flur, diesmal zusammen mit der Mutter, die Albert an ihren klackenden Hauspantinen erkannte. Er hörte, wie sie ins Wohnzimmer gingen und die Türe hinter sich schlossen. Alberts Zimmer lag direkt über dem Wohnzimmer, und so konnte er Gespräche mithören, wenn er wollte. Diesmal aber war kein Wort zu verstehen. Entweder schwiegen sie, oder sie flüsterten. Wahrscheinlich hatten sein Vater und Onkel Jakob mal wieder Schwierigkeiten
in ihrer Fabrik, und Großvater Julius, Paulines Vater, musste um einen weiteren Kredit gebeten werden. Albert hatte die Stoppuhr auf seinen Schreibtisch gelegt und sich vors Bett gehockt, um den Ranzen wieder hervorzuziehen. Da hörte er plötzlich sehr laut die Stimme des Onkels. »Mit eurem Opa Julius hättet ihr das Geschäft auch nicht lange über Wasser halten können«, rief er. »Es gab eben keine andere Lösung.« Dann sprach die Mutter, aber so leise, dass sich kein klarer Sinn ergab. Dann wieder der Onkel: »Wie lange willst du deine Unternehmungen vom Geld deiner Großtanten und Schwiegereltern finanzieren? Wird es nicht langsam Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen?« Alberts Vaters, Hermann Einstein, war eine gütige und lebensfrohe Natur, liberal und freiheitsliebend, aber leider kein besonders guter Geschäftsmann – und risikofreudig bis zur Naivität. Mit der gesamten Aussteuer, die Pauline in die Ehe gebracht hatte, und mit zusätzlichen Mitteln ihres Vaters Julius hatte er mit Jakob eine Firma gegründet. Ihr erstes großes Projekt, die Entwicklung einer kompletten Telefonanlage, hatte viel Zeit und Mühe und Geld gekostet. Aber die Vorstellung beim Münchner Post- und Telegraphenamt wurde ein Reinfall. Der königliche Oberpostdirektor persönlich bescheinigte den beiden Unternehmern, dass sie in eine vollkommen unsinnige Einrichtung investiert hatten. »Ein solches Gerät«, meinte er, »wird sich in einem kultivierten Land niemals durchsetzen.« »Aber in Berlin gibt es seit Jahren ein Fernsprechnetz«, hatte Onkel Jakob einzuwenden versucht. »In Berlin«, erwiderte der Oberpostdirektor, »werden viele Modetorheiten erdacht. Und was bleibt nach ein paar Jahren? Nur Schall und Rauch.«
Durch die geschickte Vermittlung von Großvater Julius bekam man 1888 doch einen großen Auftrag: die Elektrifizierung der Kleinstadt Schwabing vor den Toren Münchens. Aber Jakobs Pläne gingen höher. Er hatte einen neuartigen Dynamo erfunden, nun plante er dessen Produktion im großen Stil. Dafür musste eine viel größere Fabrikanlage errichtet werden, man brauchte erhebliche Finanzmittel. 200 Arbeiter wurden eingestellt. Aber schon damals wurde die Elektroindustrie von wenigen Großunternehmen, vor allem der Siemens AG, beherrscht.
Albert hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und ein paar Strichmännchen gekritzelt, da ihm zu Herders dramatischem Gedicht »Der Cid« nichts einfiel. Dann ließ er den Federhalter sinken und schaute ausdruckslos auf das weiße Papier vor sich. »Verkaufen, du redest immer nur von verkaufen«, hatte der Vater gerufen und war mit schweren Schritten aus dem Wohnzimmer marschiert. Wieso verkaufen, dachte Albert. Der Vater blieb im Flur stehen. Mit feierlichem Tonfall erklärte er: »Ich werde die Leitung dieser Fabrik nie aufgeben.« Der Onkel folgte ihm in den Flur. »Und wer leitet die Geschäfte in Italien?« Albert stand auf. Was hatte es mit den »Geschäften in Italien« auf sich? Er wusste, dass die Firma ihre Dynamos mit gutem Erfolg auch in Italien verkaufte. Aber es gab dort keine Zweigstelle. Obwohl der Vater nun die Stimme senkte, hallten seine Worte durch den ganzen weiten Flur und das Treppenhaus. »Jakob«, begann er. »Du hast als einziger von uns fünf Brüdern studieren können.«
»Ja«, sagte der Onkel. »Gut. Du hast das gesamte Erbe von Vater bekommen, für deine Firma hier.« »Ja.« »Dann bin ich in dein Geschäft eingestiegen und habe dir die gesamte Aussteuer meiner Frau gegeben.« Der Onkel antwortete nicht mehr. Der Vater fuhr fort: »Als auch dieses Geld verbraucht war, bin ich zu meinem Schwiegervater gegangen. Das war kein Vergnügen. Ich habe mich vor ihm völlig entblößt. Und auch dieses Geld ist dahin, dahin mit deinen großen Plänen.« »Aber warum ist es denn dahin?«, fiel ihm Onkel Jakob ins Wort. »Weil du niemandem etwas abschlagen kannst. Weil du nicht einen Arbeiter entlässt, und wenn er noch so fehl am Platze ist. Weil du unter krankhaftem Mangel an Entschlusskraft leidest.« Da entglitt dem Vater die Stimme. »Schluss jetzt«, schrie er, marschierte wieder ins Wohnzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Nach einer Atempause folgte Jakob seinem Bruder ins Wohnzimmer. Er sprach jetzt leiser, gefasster: »Wir alle haben Fehler begangen. Nun müssen wir die Konsequenzen ziehen. Das Angebot von Siemens ist fair. Dann haben wir genug Geld, um in Italien neu anzufangen. Garrone ist ein guter Partner und hat die nötigen Verbindungen. Dort stehen uns alle Türen offen. Wir können heute noch…« »Ich weiß«, rief der Vater. Dann sagte er, so leise, dass es Albert kaum hören konnte: »Das ist doch das Schlimme. Ich weiß doch längst alles. Es ist eine große Chance. Eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen darf.« Die beiden Männer gingen wieder in den Flur. »Am Goetheplatz finden wir eine Droschke«, sagte der Vater. Dann
trat die Mutter in den Flur. »Und wer spricht mit Albert?«, fragte sie. »Ich habe wirklich andere Sorgen«, sagte der Vater. »Du wirst mit ihm sprechen.« »Aber was soll ich ihm sagen?«, fragte die Mutter. Die beiden Männer verließen das Haus. Die Mutter ging wieder in die Küche. Wenig später kam das Hausmädchen hoch: Albert möge ins Esszimmer kommen. Albert fühlte sich elend, als er das Esszimmer betrat. Tausend Gedanken und Bilder rasten in seinem Kopf hin und her: Er machte den Eltern Vorwürfe und nahm sie gleichzeitig in Schutz, er überdachte neue Rettungsmöglichkeiten für die Firma des Vaters und war zugleich froh, dass der endlich eine Quittung für seine geschäftliche Unfähigkeit bekam, er schmiedete verschiedene Fluchtpläne und hätte sich gleichzeitig am liebsten der Mutter an den Hals geworfen und hemmungslos geheult. Aber das ging am allerwenigsten. Pauline Einstein saß einen Moment still da. »Hermann und ich, wir haben über dich gesprochen«, begann sie schließlich. Das ist ja hochinteressant, sagte eine höhnende Stimme in Alberts Kopf. Über mich? Andere Probleme existieren zurzeit wohl nicht. »Es ist keine leichte Situation«, fuhr die Mutter fort. »Für uns alle nicht.« Weiter höhnte die Stimme: Das ist ja das Allerneueste. Wann habt ihr das denn festgestellt? Die Mutter holte tief Luft. Dann sagte sie: »Ich möchte, dass du eines weißt. Was auch immer in den nächsten Tagen und Wochen passieren wird, wo auch immer wir sein werden: Wir haben dich lieb, dein Vater und ich, du bist unser geliebter Sohn.«
Die höhnende Stimme in seinem Kopf war augenblicklich verstummt. Panik erfasste ihn. Was hatte diese Ankündigung zu bedeuten? Wieder holte die Mutter tief Luft, als brauchte sie große Kraft, um diese Sätze auszusprechen. »Mein lieber Albert. Es sieht in der momentanen Situation so aus, als ob… Hermann muss die Fabrik liquidieren.« Albert setzte sich und ließ die Arme schlaff auf dem Tisch liegen. »Liquidieren« – das war ein anderes Wort für Pleite machen. »Wir müssen die Fabrik liquidieren und anderswo unser Glück versuchen.« Albert sah seine Mutter ungläubig an. »Was heißt das, anderswo?« »Hör zu, Albert. Das wissen wir jetzt alles noch nicht. Zunächst muss die Fabrik hier… liquidiert werden. Dann…« »Ihr wollt sie verkaufen? Unsere Fabrik?« »Nein… ja…« Die Mutter strich ihre Küchenschürze glatt. »Wir wollen…« »Und wo soll eine neue Fabrik gebaut werden?« »Vielleicht keine neue Fabrik. Aber… wie du weißt, laufen die Geschäfte in Italien recht gut. Unser Vertreter, Herr Garrone, hat den Vorschlag gemacht, die Firma nach Italien zu verlegen. Eine Reihe von kleinen Städten müssen mit elektrischem Strom ausgestattet werden, und…« »Und was wird aus mir?« Die Mutter sah ihn schweigend an. »Ihr habt über mich gesprochen, sagst du?«, rief er, verletzt und wütend zugleich. »Dann sag mir wenigstens endlich, was dabei herausgekommen ist.« Die Mutter stand auf. »Dein Vater…«, begann sie, »ich und dein Vater, wir beide glauben – was auch immer in den nächsten Wochen passieren wird… Für dich ist es das Beste,
wenn du in München bleibst und weiter auf das Gymnasium gehst und dein Abitur machst, damit du später einmal studieren kannst.« »Egal, wohin ihr geht«, sagte Albert, »ich möchte mitkommen.« »Albert, ich und dein Vater…« »Dann möchte ich auch mit ihm sprechen«, sagte Albert. »Er ist nicht hier«, sagte die Mutter. »Dann gehe ich in die Fabrik.« »Albert, ich weiß nicht, ob er jetzt…« »Ich werde ja sehen, ob er dort ist.« Damit stand er auf und ging. Während er an dem Blumenmädchen vorbeilief, hörte er die Mutter, sie stand an der Gartentür und rief ihm nach. Er überquerte die Lindwurmstraße und lief Richtung Theresienwiese. Die Straße war hier nicht gepflastert, links und rechts standen schmucklose Industriebauten. Er blieb stehen, um Atem zu holen. Dann zog er seine Jacke zurecht und ging mit schnellen Schritten auf die Fabrik der Gebrüder Einstein zu. Der Pförtner, ein alter, rundlicher Mann, begrüßte ihn wie immer freundlich. »Der junge Herr Einstein!«, rief er, die Daumen unter die Hosenträger geklemmt. »Dass Sie uns auch mal wieder beehren…« Albert ging, kaum dass er ihn grüßte, vorbei. »Wo wollen S’ denn hin?«, rief ihm der Pförtner nach. Das konnte man sich doch denken, dass er nicht einfach so die Fabrik besichtigen wollte. Der Pförtner kam ihm nachgelaufen. »Junger Herr Einstein, wo wollen S’ denn hin?« »Ins Büro«, sagte Albert, ohne stehen zu bleiben. »So warten S’ doch«, sagte der Pförtner. »Ins Büro, das geht jetzt nicht so einfach, weil…«
Albert bog scharf in einen engen Flur, der nach rechts führte, und nahm mit zwei weiten Schritten die kleine Treppe, die hinauf zum Ingenieurbüro führte. In die Tür waren auf milchigem Glas die Namen der Gebrüder Einstein eingraviert. Albert öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. Im Büro standen zwei fremde Männer. Einer trug einen grün karierten, englisch wirkenden Anzug. Hinter ihm stand ein schlanker, unscheinbarer junger Mann. Mitten im Zimmer aber, auf dem Drehstuhl des Vaters, saß, mit übereinander geschlagenen Beinen, in lässiger Haltung, ein großer Mann in einem langen, eleganten hellbraunen Mantel. Er hatte seinen Zylinder auf dem Schreibtisch abgelegt und überflog eine Reihe von Papieren. Der Mann hatte einen tiefen Schmiss in der linken Wange. Er schaute auf und sah Albert amüsiert an. »Du bist also der Bürogehilfe?« »Nein…«, stammelte Albert. »Ich möchte…« »Ja, was möchtest du denn?« Der elegante Mann setzte ein schmales Lächeln auf. »Ich möchte mit Herrn Einstein sprechen.« Nun trat der Mann in dem karierten Anzug vor. »Hier gibt es keinen Einstein mehr«, sagte er. »Er hat die Fabrik verkauft.« »Der Jude hat sich verrechnet«, sagte der elegante Herr. Lächelnd wandte er sich wieder den Papieren zu. Albert ging rückwärts den schmalen Flur zurück. Dann drehte er sich um und rannte. Er rannte aus der Fabrik hinaus, über die Lindwurmstraße, am Haus vorbei, vorbei am alten Südfriedhof bis hinunter zur Isar. Dann setzte er sich auf die Wiese neben einen Baum, der direkt am bröckeligen Ufer seine Wurzeln geschlagen hatte, und sah in den Strom.
Das Kartenhaus
Diesmal half es nicht, am Fluss zu sitzen und dem Treibgut nachzuschauen, wie es gen Norden wanderte. Es half nicht, den Kopf zwischen den Händen zu vergraben oder die geschlossenen Augen auf die geballten Fäuste zu drücken. Er musste mit dem Vater sprechen. Wieder und wieder spielte er sich, wie auf einer inneren Bühne, das bevorstehende Gespräch vor. Wie lange plante man schon, nach Italien zu ziehen? Warum sagte man den Kindern nichts, warum sagte man ihm nichts? Er sah die Mutter vor sich, er sah den Portier, der ihn freundlich grüßte, er sprach sogar mit dem eleganten Herrn im hellen Mantel. Früher, als kleines Kind, hatte er Anfalle von Jähzorn gehabt. Sein Gesicht war dann gelb geworden, die Nasenspitze aber weiß, Schweiß war über seine Handflächen und seinen Rücken gelaufen, und er war nicht mehr Herr seiner selbst gewesen. Einmal hatte er in einem solchen Ausbruch einen Stuhl ergriffen und damit nach der Klavierlehrerin geschlagen, die sich gegen den kleinen Jungen kaum hatte wehren können. Und der geliebten Schwester Maya hatte er einmal, als sie ihn geneckt hatte, im rasenden Zorn mit der Kinderhacke ein Loch in den Kopf geschlagen. Nun brachen die Gefühle nicht mehr so unvermittelt aus ihm heraus. Zu oft hatte er bei Opa Julius beobachten können, wie hilflos solche Wutanfälle wirkten. Wie sollte man einen Menschen noch ernst nehmen, der wegen kleiner Vorfälle am ganzen Körper zitterte, die Arme in krampfhaften Zuckungen; der mit sich überschlagender Stimme unzusammenhängende
Sätze von sich stieß, das Gesicht lächerlich und hässlich verzerrt… Ihm wurde eng in seiner Haut, so grässlich eng, als müsse er augenblicklich in tausend Stücke zerspringen. Um ihn herum spazierten die Menschen am Fluss entlang, Dienstmädchen, die jetzt ihre freie Stunde hatten, Mütter mit ihren Kindern – aber alles kam Albert unwirklich vor, als liege etwas zwischen ihm und dieser Welt, in der sich die Menschen und Dinge weiterbewegten. Ihm war so übel, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen. Endlich stand er auf und ging zurück nach Hause.
Er schlich leise durch den Flur und die Treppe hinauf. In seinem Zimmer packte er die Geige aus. Er stimmte sie kurz durch und fettete den Bogen ein. Er zog ein Notenheft unten aus dem Stapel: Mozart. Die Geige war nicht ganz sauber gestimmt, aber er hatte nicht die Geduld, sich damit zu beschäftigen. Es gelang ihm nicht, den Bogen mit der richtigen Spannung zu führen, und ein paarmal gab das Instrument hässliche Quietschgeräusche von sich. Er verspielte sich in jedem zweiten Takt, bei jedem zweiten Triller, aber er spielte einfach weiter, er spielte die lyrische Anfangsphase, so leise er konnte, er spielte ganz langsam, doch steigerte er gleich das erste Crescendo, als dirigiere er eine Wagner-Oper, er schloss die Augen, wiegte sich im Takt und versank immer tiefer in der Musik. Sonst ließ er meist die Wiederholungen im ersten Satz aus, aber diesmal spielte er nur den ersten Satz, wieder und wieder, ein drittes und viertes und fünftes Mal, und immer tiefer drang die einfache, leichte Melodie in ihn ein, bis er nur noch eine elastische Hülle war, in der die zarte Pflanze aus Mozarts Musik aufblühte.
Er hatte jedes Gefühl für die Welt, die ihn umgab, verloren. Er hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war. Zehn Minuten, eine Stunde, ein halber Tag? Wo lag der Unterschied? Er setzte die Geige ab. Sein Unterkiefer schmerzte, so fest hatte er ihn auf die Geige gepresst. Ihm war, als würde Sand in ihm zu Boden rieseln. Er schlug die Augen auf, schloss sie wieder, öffnete sie, aber er bekam kein wirklich klares Bild vor Augen. Langsam erwachte er. Lange saß er im Schneidersitz auf dem Boden seines kleinen Zimmers. Er wusste, dass er über etwas nachdachte, aber er konnte nicht genau spüren, über was. Endlich wurde ihm klarer, worum es ging. Wie viele wohlhabende jüdische Familien hatten die Einsteins einem armen jüdischen Studenten einen so genannten Freitisch eingeräumt: Einmal die Woche kam der angehende polnische Mediziner Max Thalmey in das Haus der wohlhabenden Fabrikanten, um sich satt zu essen – und den Abend vor dem Anbruch des Sabbats durch interessante Gespräche zu beleben. Albert hatte sich gleich mit ihm angefreundet, und Thalmey hatte den Jungen mit Lektüre versorgt, die sie dann gemeinsam besprachen. So hatte Albert mit zwölf die Schriften Immanuel Kants kennen gelernt, dessen Philosophie selbst seinem Vater ein unentwirrbares Rätsel blieb. Der Vater, ein durchaus gebildeter Mann, hatte erstaunt bemerkt, Kants erkenntnistheoretische Werke seien doch einem normal Sterblichen kaum fasslich. Albert schienen sie beeindruckend klar und verständlich. Schon als Kind waren ihm komplizierte Geduldsspiele die liebsten gewesen. Stundenlang konnte er Kartenhäuser bauen, und es gelang ihm, bis zu vierzehn Stockwerke zu errichten. Albert war gerade fünf, als ihm der Vater einen Taschenkompass zeigte. Man konnte ihn drehen, wie man wollte, die Kompassnadel zeigte stets nach Norden. Als Albert
fragte, wie das kam, erklärte ihm der Vater, dass jeder Raum von einem unsichtbaren magnetischen Kraftfeld erfüllt war. Auch zwischen Sonne, Mond und Erde und allen anderen Sternen und Planeten bestand ein unsichtbares Kraftfeld. Dieses Ereignis sollte Albert nie vergessen: Es gab im leeren Raum etwas, das man nicht sehen oder hören oder riechen konnte und das stark genug war, um einen ganzen Planeten auf seiner Umlaufbahn zu halten. Als er dreizehn wurde, machte ihn dann sein Onkel mit Geometrie und höherer Mathematik bekannt. Er zeigte ihm den pythagoreischen Lehrsatz. Dieser Satz besagt, dass bei einem rechtwinkligen Dreieck die Summe der Kathetenquadrate gleich dem Hypothenusenquadrat ist. Der Onkel versprach Albert: Wenn es ihm gelänge, für diesen Satz einen eigenen Beweis zu finden, schenke er ihm ein Lehrbuch der euklidischen Geometrie. Stundenlang vertiefte sich Albert in das Problem, verschob die Formeln immer wieder und kam schließlich auf rein mathematischem Wege zu der Folgerung, dass a2 + b2 stets gleich c2 sein musste. Als dieser Beweis vor ihm lag, überkam ihn ein Glücksgefühl. Die Formeln auf dem Papier vor ihm bewiesen unzweifelhaft die Eigenschaften eines rechtwinkligen Dreiecks, und dieser Beweis war nur aus einem Stoff entstanden: aus seinen Gedanken. Nun gab es kein Halten mehr. Das Lehrbuch der Geometrie hütete er wie ein Heiligtum, und täglich setzte er sich dran. Während die anderen Jungen draußen herumtollten und Räuber und Gendarm spielten, saß er über den euklidischen Sätzen. Es war atemberaubend. Er hatte nicht gewusst, dass es auf der Welt etwas so Köstliches, etwas so klar Beweisbares gab. Es war so rein und einfach wie die Sonaten von Mozart. Euklid war seine erste große Liebe. Nun hatte ihn Thalmey auf Leibniz aufmerksam gemacht. Dieser große deutsche Gelehrte der Barockzeit hatte,
unabhängig von Newton, die Differentialrechnung ein zweites Mal erfunden und sie erheblich verbessert; er hatte eine Formel für die Bewegungsenergie entwickelt und erkannt, dass ihre Quantität im Weltall immer dieselbe bleiben musste. Leibniz war, was Albert besonders faszinierte, ein universeller Geist gewesen: Er beschäftigte sich mit Bergbau und Geologie, erfand verbesserte Taschenuhren und Schiffe, die unter Wasser fahren konnten, verfasste politische Denkschriften, bemühte sich um die Stiftung gelehrter Gesellschaften und begründete seine berühmte Monadenlehre. Danach bestand die Materie in ihren letzten, kleinsten Einheiten nicht wiederum aus Materie, sondern aus Monaden, kleinen, individuellen »Welteinheiten« – wenn man so will: aus Ideen. Jede dieser Monaden ist eine Welt für sich, sie ist ein Spiegel, der das Bild des Universums hervorbringt. In Onkel Jakobs Bibliothek hatte Albert ein Buch über Leibniz und einen anderen Forscher, Johann Herbart, gefunden. Dieser hatte versucht, an Leibniz anknüpfend, die psychischen Vorgänge, so wie die physikalischen, in mathematische Formeln zu fassen. Dabei wurde dann schlussendlich gefolgert, dass man durch keine noch so feine Analyse zu den tatsächlich kleinsten Einheiten alles Seienden gelangen könne. Es ging um die These, dass die letzten Teile der Materie keine Materie sein könnten. Der Beweis lautete wie folgt: Wenn man einen Klumpen Materie teilen will, liegen, noch ehe der erste Schnitt durchgeführt wird, unendlich viele Möglichkeiten zutage, den Schnitt auch anders durchzuführen. »Hiermit ist wirklich die ganze unendliche Theilung auf einmal vollzogen; und man hat die letzten Theile erreicht, nämlich in Gedanken, worauf es allein ankommt. Diese letzten Theile können keine Materie sein.« Damit war Albert nicht einverstanden. Einfach nur weil tatsächlich der eine Schnitt nur einer von unendlich vielen
möglichen war, war nicht zu beweisen, dass auch die Materie unendlich oft geteilt werden konnte. Es ist eben falsch, sagte er sich, aus der Unvollkommenheit unseres Denkens auf die Unvollkommenheit der Welt zu schließen.
Beim Abendessen fiel ihm gleich auf, dass der Vater und der Onkel noch immer nicht da waren. Pauline, Maya, Opa Julius und Ida, Jakobs Frau, saßen schon am Tisch, und das Mädchen war dabei, aufzutragen. Es gab Sauerbraten. Einsteins waren keine gläubigen Juden. Die komplizierten jüdischen Bräuche und Speisegesetze wurden nicht beachtet, und der Vater hatte für sie nur Spott übrig. Sprach der Großvater über die heiligen fünf Bücher Moses oder Gottes unergründlichen Willen, so warfen sich Jakob und Hermann Blicke zu, als hätte man es mit einem Schwachsinnigen zu tun. An diesem Tag wirkten alle bedrückt. Nur das Klappern des Bestecks und die Schritte des Mädchens unterbrachen die Stille im Esszimmer. Als der Großvater, der in letzter Zeit altersschwach geworden war, einen Hustenanfall bekam, dauerte es scheinbar eine Ewigkeit, bis die Mutter aufstand, ihm den Rücken klopfte und mit der großen Serviette, die er umhängen hatte, den Mund abwischte. Er bedankte sich nicht einmal und schob einfach den nächsten Bissen in den Mund hinein. Wenig später kamen der Vater und Onkel Jakob. Beide wirkten abgekämpft, erschöpft. Als die Mutter das Essen aufwärmen lassen wollte, widersprachen sie und ließen es sich halb abgekühlt reichen. Auch sie aßen schweigend, doch der Vater und die Mutter wechselten angestrengte, vielsagende Blicke. Opa Julius schob seinen Teller, nachdem er ihn bis auf den letzten Rest leer geputzt hatte, von sich und zog die Serviette
mit einer abgehackten Bewegung vom Hals. Er wischte sich gründlich den Mund ab und fragte mit zu lauter, knarrender Stimme: »Wie viel habt ihr denn nun für den Schuppen bekommen?« Hermann Einstein hätte fast seine Gabel fallen gelassen. Mit offenem Mund sah er seinen Schwiegervater an. Onkel Jakob räusperte sich. »Entschuldigen Sie, Herr Koch…« Opa Julius fiel ihm ins Wort: »Ihnen haben wir die ganze Bredouille doch zu verdanken, mit Ihren großen Erfindungen. Wie heißt es so schön: Ein Genie kann zerstören, was zehn Arbeiter aufgebaut haben.« Daraufhin trat wieder allgemeines Schweigen ein. Nach wenigen Minuten erhob sich der Großvater. »Na, wenn man hier nicht mit mir reden will«, sagte er und ging schwerfällig hinaus. Der Vater hatte ebenfalls die Serviette abgenommen und sich den Mund und den Schnurrbart abgetupft. »Albert?«, sagte er. Albert sah auf. »Kommst du mit ins Wohnzimmer? Ich möchte mit dir sprechen.« Albert nickte. Albert hatte sich mit geradem Rücken auf das samtbezogene Sofa gesetzt. Der Vater ging auf und ab. »Ich weiß nicht, inwieweit dich deine Mutter informiert hat«, begann er. »Wir mussten die Fabrik und alle dazugehörigen Anlagen verkaufen. Der Auftrag, die Straßenbeleuchtung der Münchner Innenstadt zu installieren, war uns bereits fest zugesagt. Dann folgte ein widerwärtiges Spiel um…« »Das weiß ich alles schon«, sagte Albert. Der Vater hatte Manschetten und Stehkragen abgelegt. »Gut. Wir, das heißt dein Onkel Jakob, deine Mutter, Tante Ida und ich, wir haben nach sehr ausführlichen Gesprächen
und nach Beratungen mit unserem italienischen Vertreter und Geschäftspartner Garrone, der ein ehrenwerter und zuverlässiger Mann ist…« Damit hatte der Vater den Faden verloren. Er sah Albert an, als erwarte er Hilfe. Albert sah das Bärenfell an, das mit weit aufgerissenem Maul auf dem Boden lag. Der Bär starrte ihn mit seinen Glasaugen an. Dieses Fell war, wie der Vater zu sagen pflegte, ein Zugeständnis an den schlechten Geschmack. Das war ironisch gemeint, dennoch kam es Albert immer vor, als habe Maya Recht, wenn sie sagte: Der Bär musste trotzdem sterben. Albert nahm seinen ganzen Mut zusammen und stellte zum zweiten Mal die Frage, die zu stellen ihm selbst am meisten wehtat: »Und was wird aus mir?« Am liebsten hätte er sich verkrochen oder wäre aus dem Zimmer gerannt. »Das deutsche Abiturzeugnis ist auf der ganzen Welt Gold wert«, sagte der Vater. Damit begann er, während er im Zimmer auf und ab ging, eine Rede über das deutsche Gymnasium und Universitätswesen, der man sofort anmerkte, dass er sie sich lange zurechtgelegt hatte. Diese Rede war in ihrer Hilflosigkeit schon fast rührend. Normalerweise war der Vater ein Grantier, der polternde Witze machte, gerne auch nicht ganz anständige Bemerkungen. »Auf den italienischen Schulen, mein Junge, zählen nur Beziehungen. Da werden selbst die Pausenbrote als Bestechungsmittel abgegeben. Ein deutsches Abiturzeugnis hingegen…« Er unterbrach sich erneut. Das Schlimmste für Albert war, dass ihm der Vater im Grunde Leid tat. Er wirkte erschöpft, von ununterbrochenen Sorgen gequält. Er hatte keine innere Ruhe mehr. Er versuchte seiner Rede mit unbeholfenen, dramatischen Gesten
nachzuhelfen und verlor mitten im Satz den Faden. Albert merkte, dass ihnen eigentlich beiden zum Weinen zumute war. »Ich würde trotzdem lieber in Mailand weiter zur Schule gehen«, sagte er. »Aber du kannst kein Italienisch.« »Maya doch auch nicht.« »Deine Schwester ist noch ein Backfisch. Sie hat noch genug Zeit bis zum Abitur. Aber du bist ein junger Mann. Du stehst mit beiden Beinen fest auf dem Boden…« Endlich ließ sich der Vater in einen Sessel fallen. Er hatte die Augen geschlossen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Albert sah, dass seine Finger zitterten. Der Vater öffnete die Augen, und ihre Blicke trafen sich. So saßen sie sich eine Weile gegenüber und schauten sich an. Die Stille wurde immer bedrückender. Und plötzlich hatte Albert nur noch einen Wunsch: Der Vater sollte befehlen. Ja, vielleicht war es recht so, dass er in Deutschland blieb, schließlich stand fest, dass er in Deutschland Mathematik studieren wollte. Aber er konnte und wollte diese Entscheidung nicht treffen. »Was denkst du jetzt?«, fragte der Vater. »Ich habe Angst«, sagte Albert.
Er hatte den Vater abgöttisch geliebt. Der Vater hatte immer Zeit gehabt, anders als die Mutter, die oft schlecht gelaunt war von der vielen Arbeit und weil alles auf ihr lastete. Schon als Albert ein kleiner Junge gewesen war, hatte der Vater ihn sehr ernst genommen. Als Albert an diesem Abend im Bett lag und das Licht gelöscht hatte, stieg eine Erinnerung in ihm auf. Er war fünf Jahre alt gewesen. Die Mutter war mit Maya unterwegs, vielleicht bei ihren Eltern, vielleicht, um Einkäufe in der Stadt zu erledigen. Albert und der Vater hatten vor dem
brennenden Kamin gesessen. Hin und wieder durfte Albert einen Holzscheit aufs Feuer werfen. Dann stoben Funken, und es knisterte und knackte. Es war nicht sehr hell gewesen, und ihre Gesichter wurden vom weichen, gelben Licht des Feuers beschienen. An diesem gemeinsamen Abend hatte ihm der Vater den Taschenkompass gezeigt, die zitternde, blitzschnell ausschlagende Kompassnadel, und ihm von den Rätseln der unsichtbaren Kraftfelder erzählt. Der Vater hatte bequem zurückgelehnt auf dem Sessel gesessen und Albert auf seinem Schoß. Diesen Moment, das Lächeln des Vaters, seine warme Hand, das Gefühl, mit dem Vater eins zu sein, das Gefühl einer unerschütterlichen Geborgenheit, diese ganze wohlige Erinnerung überflutete Albert, während er einschlief.
In den folgenden Tagen ging alles ganz schnell. Die Einrichtung wurde in Holzkisten verpackt und verschwand. Man zog zu Verwandten von Tante Ida, die schräg gegenüber, nur ein paar hundert Meter entfernt, neu gebaut hatten. Offensichtlich war auch das Haus an den eleganten Mann verkauft worden, dem Albert im Ingenieurbüro begegnet war; er sah ihn mehrfach in ihrem ehemaligen Garten. Schon zwei Wochen später fuhr der Onkel nach Italien, um dort alles zu verhandeln und vorzubereiten. Täglich trafen Telegramme ein, und kurz darauf fuhr auch der Vater. Einen wirklichen Abschied gab es nicht. So wie es aussah, galt es wohl als abgemacht, dass Albert zu Verwandten in die Innenstadt ziehen würde, um weiter das Luitpolt-Gymnasium zu besuchen. Gesprochen wurde darüber nicht mehr. Dann begannen Bauarbeiter, die Villa der Einsteins abzureißen. Albert und Maya konnten mit ansehen, wie die alten Bäume umgehauen wurden und der Boden ausgehoben.
An einem Tag im Juni 1895 begleitete Albert seine Mutter, Maya und Tante Ida zum Zug nach Mailand. Die Mutter hatte ihm die neue Adresse auf einen Zettel geschrieben: Via Berchetti 2, Milano. »Und schreib uns bitte«, hatte sie gesagt. Auch Opa Julius und andere Verwandte kamen mit zum Bahnhof. Alle hatten sich herausgeputzt, als gäbe es ein Familienfest zu feiern. Anschließend ging Albert alleine zu Onkel Gottfried und Tante Bärbel, die versprochen hatten, ihm Vater und Mutter und die ganze Familie zu ersetzen. Bis zum Abitur standen ihm noch drei Jahre in München bevor.
Das Reich der Wunder
Anfang November hatte der Föhn den ersten Schnee innerhalb weniger Stunden weggeschmolzen, dafür herrschten nun strahlender Sonnenschein und Temperaturen wie im Spätsommer. Die Wiesen im Englischen Garten dampften vor Feuchtigkeit, die Sandwege waren aufgeweicht. Behutsam, als fürchte er einzusacken, ging Albert über den Rasen und stieg den Hügel hinauf zum Monopteros, dem kleinen runden Tempel, der nur aus hohen, massigen Säulen und einem grünen Kupferdach bestand. Albert setzte sich auf den Sockel des Tempels und genoss den Ausblick. Zwischen den Baumwipfeln hindurch konnte er die Doppeltürme der Liebfrauenkirche mit ihren grünen Zwiebeldächern sehen und die Zeit auf den goldglänzenden Kirchturmuhren ablesen. Aber er konnte noch viel weiter sehen. Bei Föhn schienen wie durch Geisterhand alle Entfernungen aufgehoben, und plötzlich waren selbst die vierzig Kilometer entfernten schneebedeckten Gipfel der Alpen zum Greifen nah. Natürlich hatte Albert über dieses seltsame Phänomen Erkundungen eingeholt. Offenbar war vor allem die extrem niedrige Luftfeuchtigkeit für die gute Fernsicht zuständig. Deshalb hatte die Mutter bei solchem Wetter Kopfschmerzen gehabt. Nun war sie in Italien, genau wie Onkel Jakob. Und die Freunde und Klassenkameraden, mit denen er früher gespielt hatte, waren wie Fremde. Nur die Verwandten der Mutter sah er jeden Donnerstag; eingeladen zum Abendessen, löffelte er schweigend seinen Teller leer und war froh, wenn man ihn nicht ansprach. Sogar
Opa Julius hatte bemerkt, wie Albert zumute war, und bemühte sich, seinen Enkel »auf andere Gedanken zu bringen«, wie er sich ausdrückte. Er lud Albert eines Sonntags zum Spazierengehen ein und hielt ihm eine Rede: dass sie nun die Überbleibsel der Familie wären, die man aus Gründen der Bequemlichkeit hier abgeschoben und vergessen habe. »Ich bin ja nur ein altes Stück aus Haut und Knochen, das nichts Besseres verdient«, sagte er. »Aber du… In deinem Alter tut so was weh.« Obwohl er sich beklagte, dass man erst sein Geld verpulvert habe, um sich dann aus dem Staub zu machen, bot er Albert für die Zukunft finanzielle Unterstützung an und steckte ihm gleich ein paar Groschen zu. »Wenn du mal etwas brauchst«, sagte er, »weißt du ja, wo es zu holen ist. Ich möchte nichts davon mit ins Grab nehmen, damit ich wenigstens dort meine Ruhe habe.« Albert sah noch einmal auf die Kirchturmuhr. Für zwei war er mit Max Thalmey, dem polnischen Medizinstudenten, verabredet gewesen. Ein paarmal hatten sie sich, seit die Eltern weggezogen waren, noch getroffen und ihre für Albert so wichtigen Gespräche geführt. Es war zwanzig nach zwei. Thalmey würde wohl nicht mehr kommen. Im Gespräch mit Opa Julius war Albert auch klar geworden, was nach der Schule auf ihn zukam: der Militärdienst. Mit Opa Julius darüber zu reden war natürlich zwecklos, er war ein Veteran von 1870/71 und hielt das deutsche Militär für die wertvollste Einrichtung zur Erziehung eines jungen Menschen.
Während Albert am Rand des Tempels saß, fielen ihm die Gespräche ein, die der Onkel und der Vater geführt hatten. »Am Ende wird ganz Deutschland ein einziger Kasernenhof sein«, hatte Onkel Jakob zu sagen gepflegt.
Der Vater war in solchen Momenten dazu übergegangen, die Namen der Schlachtfelder zu verkünden, auf denen das Deutsche Reich, »aus Blut und Eisen«, wie der frühere Reichskanzler Bismarck gesagt hatte, geschmiedet worden war. »Leipzig, Königgrätz, Sedan«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger, »da geschahen große Taten der Deutschen, nicht minder wertvoll als Goethes ›Faust‹ und Beethovens Symphonien.« Er war kein Militarist, aber beeindruckt von dem entschlossenen, martialischen Auftreten des neuen Kaisers, der verkündet hatte: »Schwarzseher und Nörgler dulde ich nicht in meinem Reich. Wem es hier nicht gefällt, der möge den deutschen Staub von den Sohlen schütteln und auswandern!« »Gottesgnadentum«, höhnte Onkel Jakob. »Dieser Kaiser liebt Kostüme wie ein kleines Kind. Vormittags tritt er als Leibgardehusar auf, zum Tee erscheint er als friderizianischer Offizier, und dann abends, in der Oper, wenn der ›Fliegende Holländer‹ gegeben wird, ist er ein Admiral. Und überhaupt – was soll diese sinnlose Flottenrüstung? Damit machen wir uns auch noch England zum Feind.« »Deutschland verlangt nur seinen Platz an der Sonne«, sagte der Vater. »Wenn ich des Kaisers Reden höre«, fuhr Onkel Jakob erbarmungslos fort. »Schimmernde Wehr, gepanzerte Faust, Nibelungentreue. Hohle Fassade und dabei unberechenbar, ständig von neuen Ideen besessen.«
Nichts vermisste Albert so sehr wie diese Gespräche. Besonders spannend war es donnerstags gewesen, wenn Max Thalmey zu Besuch war. In der Schule bekamen sie nur die glorreichen Daten der deutschen Geschichte eingepaukt. Von der Revolution, die 1848 ganz Europa erfasst hatte, sagten die
Lehrer nichts. Der Onkel, der Sympathien für den Sozialismus hegte, hatte es Albert spannend geschildert: wie sich, nach den Frühjahrsaufständen von Paris, die Revolte über Deutschland, Italien, Österreich bis nach Ungarn ausbreitete, wie in Frankfurt, in der Paulskirche, ein Parlament der Dichter und Gelehrten zusammentrat – und wie dieses Parlament dann doch nichts Besseres zu tun wusste, als dem König von Preußen die deutsche Kaiserkrone anzutragen. Der lehnte ab. Der Vater war nicht viel besser als die Lehrer in der Schule. Er bekam feuchte Augen, wenn er den erfolgreichen Feldzug von 1870/71 schilderte. Wenn auch noch Opa Julius dabeisaß, der gerne patriotische Lieder anstimmte, wurde es unerträglich. Max Thalmey zitierte in solchen Situationen Nietzsche, der geschrieben hatte: »Strenge Kriegszucht, natürliche Tapferkeit und Ausdauer, Überlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam unter den Geführten, kurz, Elemente, die nichts mit der Kultur zu tun haben, verhalfen uns zum Siege.« Gegen Nietzsche, den deutschen Denker, der damals gerade berühmt wurde, konnte natürlich niemand etwas sagen.
Das Schönste an diesen oft sehr langen Abenden war, dass es immer Zeit gab. Wollte jemand einen Punkt erklären, so ließ man ihm alle Zeit, die er brauchte. Vor allem der Onkel und der Vater liebten es, nach einer anstrengenden Arbeitswoche einfach nur zusammenzusitzen, Zigarren zu rauchen, einen Kognak zu trinken. Max Thalmey hielt manchmal regelrechte Vorträge. Er kündigte dies einige Wochen im Voraus an, und der Vater und der Onkel luden ein paar Freunde ein. An den letzten dieser Vorträge konnte sich Albert gut erinnern. Thalmey hatte einen weichen, slawischen Akzent. Er legte stets Wert darauf, dass seine Vorträge rhetorisch ausgefeilt
waren. »Das Wissen der Menschen«, verkündete er, »schien in den letzten hundert Jahren keine Grenzen zu haben. Täglich neue Entdeckungen: Man drang ins Innere der Materie ein und stieß auf Moleküle, auf sichere Beweise für die Existenz von Atomen. Seelenforscher drangen in die Tiefen der menschlichen Seele ein und stießen auch hier auf Regelmäßigkeit und durchschaubare Gesetze. Man erforschte das Weltall und entdeckte neue Planeten. Und angesichts des Fortschritts ist es nicht ausgeschlossen, dass schon bald Raketen konstruiert werden, mit denen eine Expedition dorthin unternommen werden kann. Und dann könnten die Menschen mit etwaigen Bewohnern in Kontakt treten.« An dieser Stelle hätte Albert den Vortrag am liebsten unterbrochen, um mehr darüber zu erfahren. Aber er hatte sich an diesen Abenden nie getraut, etwas zu sagen, und auch diesmal war er schweigend sitzen geblieben. Und so fuhr Max Thalmey fort: »Es sieht so aus, als hätte die menschliche Erfindungsgabe auf ganzer Linie gesiegt. Und doch – oder gerade deswegen? – hat in den vergangenen fünfzehn Jahren eine gewisse Müdigkeit um sich gegriffen. Junge Intellektuelle wenden sich von der Fortschrittsgläubigkeit ab. Ein Wiener Arzt namens Sigmund Freud veröffentlichte letztes Jahr eine Studie über die Hysterie. Sein Bild von der menschlichen Seele ist kein mechanisches, wie es die Naturwissenschaftler zu konstruieren versuchten. Für Freud sind die Menschen von unbewussten, tief eingewurzelten Trieben gelenkt, nicht von kühler Vernunft.« Da wurde Thalmey unterbrochen. »Was hat denn dieser Freud mit Wissenschaft zu tun?«, rief der Hausarzt der Familie. Thalmey schaute verwirrt auf. »Nun, er ist ein anerkannter…« »Quacksalber und Hypnotiseur«, ergänzte Dr. Wunderlich.
»Wollen wir unseren jungen Freund nicht fortfahren lassen?«, schlug Alberts Vater gutmütig vor. »Nur wenn nicht weiter von diesem Antichrist gesprochen wird«, sagte der Arzt. »Das Kapitel war sowieso abgeschlossen«, sagte Thalmey. »Zufrieden?«, fragte der Vater. Dr. Wunderlich hatte sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt. Er nickte missmutig. »Es wurde offenbar«, begann Thalmey, »dass der wissenschaftliche Fortschritt weder das wirtschaftliche Elend der Massen beseitigen konnte noch die individuellen Leiden der menschlichen Seele. Ein Weltbild brach zusammen, und weite Kreise ersetzten das Ideal des denkenden, forschenden Wissenschaftlers durch das Ideal des Tatmenschen. Diese Bewegung fand besonders starken Zuspruch in Deutschland, wo man sich auf den Standpunkt stellte, der mehr intuitivahnende deutsche Geist sei dem bloß sammelnden und katalogisierenden der Franzosen und Engländer überlegen. Dem entschlossen handelnden nordisch-deutschen Tatmenschen wurde auch das angeblich kraftlose, vergeistigte Judentum gegenübergestellt. Dabei beruhten Behauptungen, die menschliche Seele und die Kräfte, die im Raum wirkten, ließen sich nicht ›verstehen‹, auf der unausgesprochenen Voraussetzung, dass ›verstehen‹ stets bedeute: etwas nach mathematischen oder physikalischen Gesetzen zu erklären. Nur Dinge, die man nach der Newtonschen Mechanik erklären konnte, galten als verständlich.« An dieser Stelle hatte Thalmey seinen Vortrag unterbrochen. Vor dem zweiten Teil standen zunächst Mokka und Kognak auf dem Programm – und dann ein Stück für Violine und Klavier, das Albert und seine Mutter geben sollten. Albert war über die letzten Worte Thalmeys so erregt, dass er an nichts anderes denken konnte. Am liebsten wäre er zu ihm
hingegangen, um ihn auszuquetschen. Aber Thalmey musste natürlich einigen Freunden des Vaters Rede und Antwort stehen. Ja, dachte Albert. Die Gesetze Newtons sind eben gar keine Gesetze. Wieso auch sollte die Natur Gesetzen gehorchen, die der Mensch sich ausgedacht hat? Durch Newtons Bewegungsgesetze war es möglich geworden, die physikalischen Vorgänge auf der Erde zu verstehen und auch zu berechnen, wie sich die Planeten im Sonnensystem bewegten. Die Newtonsche Mechanik hatte in allen Bereichen der Technik und der Wissenschaft so gute Dienste geleistet, dass ihre Gesetze zu feststehenden Dogmen geworden waren, die nicht mehr bezweifelt wurden. Man betrachtete sie als etwas tatsächlich in der Natur Enthaltenes. Nun aber waren elektromagnetische Erscheinungen entdeckt worden, die sich mit dem mechanischen Weltbild nicht mehr erklären ließen. Viel wusste Albert noch nicht darüber. Aber er hoffte, dass Thalmey darüber sprechen würde, und war so gespannt, dass er sich nicht auf die Musik konzentrieren konnte und sich ständig verspielte. Endlich setzte Thalmey seinen Vortrag fort: »Die Bekanntheit der Newtonschen Gesetze setze ich voraus«, sagte er. »Es gibt dabei einen kritischen Punkt: die Idee einer augenblicklich und ohne jede Vermittlung wirkenden Schwerkraft. Schon Newton selbst hat geschrieben: ›Die Behauptung, die Materie besitze eine eingeborene Schwerkraft, so daß der eine Körper eine Fernwirkung auf den anderen ausüben kann, und zwar durch ein Vakuum, ohne die Vermittlung von irgend etwas, ist für mich eine derartige Absurdität, daß sie meines Erachtens einem fähigen Philosophen niemals in den Sinn kommen kann.‹ Das, meine Herren, hat Newton selbst gesagt. Michael Faraday beschäftigte sich, von dieser Aussage angeregt, vor ungefähr neunzig Jahren mit Magnetismus und stellte fest, dass sich
Eisenspäne, die man um einen Stabmagneten herum streut, in einem Linienmuster anordnen, ähnlich wie Wasserwellen um einen Punkt herum. Im Raum um den Magneten schienen sich Kraftlinien zu befinden. Faraday gab die Vorstellung einer Fernkraft, die über Abstände wirkt, auf. Er suchte die Ursache für die Erscheinungen in Ereignissen, die zwischen den Körpern stattfinden. Dann kam der Schotte James Clerk Maxwell. Er behauptete, dass auch ein veränderliches elektrisches Feld ein Magnetfeld hervorrufe. Damit waren elektrisches und magnetisches Feld zum elektromagnetischen Feld vereinigt. Maxwell stellte weiter fest, dass sich die elektromagnetischen Wellen mit Lichtgeschwindigkeit bewegten, und er schloss daraus, dass Licht selbst eine elektromagnetische Erscheinung in der Form von Wellen ist. Er sagte voraus, dass es möglich sein müsse, mit rein elektrischen Mitteln Wellen in unbekanntem Frequenzbereich zu erzeugen und nachzuweisen. Neun Jahre nach seinem Tod gelang es Heinrich Hertz zum ersten Mal in der Geschichte, Radiowellen zu erzeugen. Damit war Maxwells Theorie bestätigt. Plötzlich war die Welt, die nach Newton einfachen Hebelgesetzen gehorcht hatte, von elektromagnetischen Erscheinungen erfüllt. Noch gelang es den Forschern, diese Erscheinungen in die Newtonsche Physik einzugliedern, auch wenn hierzu ein überall anzutreffender Äther angenommen werden musste, in dem sich die elektromagnetischen Wellen, ganz nach mechanischen Regeln, bewegen konnten. Nur konnte man leider diesen Äther durch nichts beweisen. Und so kommt es, dass das ordentlich eingerichtete Gebäude der Physik, auf dem die Bewegung der europäischen Aufklärung seit zweihundert Jahren basiert, kurz davor steht, wegen Einsturzgefahr geschlossen zu werden.
Die mechanistische Weltsicht hat zur Folge gehabt, dass man auch den Menschen wie eine Maschine betrachtete, bis in die Tiefe seiner Seele. Nun bahnt sich eine neue Physik an. Aber wie«, fragte Thalmey, »wird diese Physik aussehen? Und wer wird sie schaffen?«
Schulflucht
Vor einigen Wochen war Albert beim Stöbern in einem Antiquariat auf ein Buch über Maxwell und das elektromagnetische Feld gestoßen. Wie gerne hätte er mit Max Thalmey darüber gesprochen! Aber es hatte keinen Sinn, länger auf ihn zu warten. Albert ging an den Rand des Tempels, hüpfte mit einem weiten Sprung auf die Wiese und lief den Hügel hinunter in einen Eichenhain. Er ging am Chinesischen Turm, einem vielstöckigen, pagodenartigen Holzbau, vorbei, bog in den nächsten größeren Weg ein und schlenderte auf und ab, die Hände in den Taschen. Manch missbilligender Blick wurde ihm nachgeworfen. Es hatte tatsächlich seine guten Seiten, so auf sich gestellt zu leben. Alles war im Sonntagsstaat, aber er lief in seiner abgetragenen Schuluniform herum, die gerade richtig bequem geworden war, und hatte die Mütze in den Nacken geschoben. Keine Eltern, nicht einmal seine, hätten diesen Aufzug zugelassen. Er pfiff zwischen den Zähnen hindurch und sah sich gut gelaunt um. Drei Mädchen lächelten ihn an und brachen gleich darauf in Gekicher aus. Als Albert nach wenigen Schritten kehrtmachte, begegneten sie ihm erneut. Diesmal warfen sie ihm bedeutungsvolle Blicke zu.
Als er an die Leopoldstraße kam, marschierten die Soldaten des Königlich Bayerischen Leibregiments in ihren bunten Uniformen auf. Schon klirrten Pflaster und Fensterscheiben vom Stampfen der Pferdehufe. Alles blieb am Straßenrand stehen, selbstzufrieden und stolz nickend sah man dem Zug
hinterher. Begeistert schlossen sich kleine Jungen an. Sie versuchten, mit stolzgeschwellter Brust und ernsten Gesichtern, dem Marschrhythmus zu folgen, mancher hielt ein hölzernes Spielzeuggewehr an die Schulter gepresst. Albert wandte sich ab. Da hörte er dicht neben sich eine schnarrende Stimme: »Imposant, was?« Albert drehte sich um. Wer hatte ihn angesprochen? Erneut die schnarrende Stimme: »Schätzen wohl Militärparaden nicht sonderlich, junger Herr?« Vor ihm stand ein großer, etwas aufgeschwemmter Mann mit enormem Backenbart. Er trug einen glänzenden schwarzen Mantel mit sehr breitem Pelzaufschlag, hatte einen Zylinder auf und hielt einen Stock mit goldenem Knauf unter den scharf angewinkelten Arm geklemmt. Albert kam der Mann bekannt vor. Aber woher? »Junger Herr Einstein«, fuhr der Mann fort, »darf ich Ihnen zwei meiner Töchter vorstellen?« Hiermit deutete er auf zwei Mädchen mit Gesichtern wie aus chinesischem Porzellan und fast durchsichtiger, weißlicher Haut. Albert dachte noch immer verzweifelt darüber nach, woher er den Herrn kannte. Wenn es ihm nicht augenblicklich gelang, sich an den Namen zu erinnern, wäre das eine ungeheure Unhöflichkeit. Der Mann schien Alberts Verlegenheit zu erraten und bog die Lippen zu einem schmalen, nicht uncharmanten Lächeln. In diesem Moment fiel Albert auch die tiefe Narbe auf, die von dem Backenbart fast verdeckt worden war. Unverkennbar ein Schmiss, wie ihn sich die Studenten der schlagenden Verbindungen gegenseitig schlugen. Und da wusste Albert wieder, woher er diesen Mann kannte: Er hatte ihn im Ingenieurbüro in der Fabrik getroffen; damals war er noch glatt rasiert gewesen. Später hatte er ihn auch auf dem Grundstück gesehen, auf dem einmal ihr Haus gestanden hatte. Man hatte
dort innerhalb weniger Monate eine neue Villa hochgezogen, fast doppelt so groß wie die der Einsteins. Es musste also Herr von Schichau sein, die Mutter hatte den Namen einige Male mit Widerwillen genannt. Albert war wie vor den Kopf geschlagen und konnte noch immer nicht reagieren. Der Mann aber lächelte beharrlich und wiederholte: »Darf ich Ihnen zwei meiner Töchter vorstellen?« Albert räusperte sich und trat einen Schritt vor. »Selbstverständlich«, sagte er und machte eine ungelenke Verbeugung mit dem Kopf. »Das ist Marie«, sagte Herr von Schichau, »und das Sieglinde. Meine Frau ist eine Wagner-Verehrerin«, erklärte er. Sieglinde lächelte tapfer, und Albert reichte beiden Mädchen die Hand. War er nun bereits vorgestellt, oder musste er selbst seinen Namen nennen? Albert konnte sich nicht daran erinnern, ob er das bereits getan hatte. Nachdem sie einige Sekunden schweigend zusammengestanden hatten, sagte Herr von Schichau: »Und das ist der junge Herr Einstein.« »Ach so?«, fragte Sieglinde. Wieder entstand eine Pause. Herrn von Schichau schien das nicht zu stören. Er hielt weiterhin den Stock unter dem scharf angewinkelten Arm und fuhr sich mit den Fingern durch den Backenbart. Die ältere Tochter, Sieglinde, schaute in die Ferne, aber Marie musterte Albert neugierig. Sie war wahrscheinlich nicht älter als Maya, wirkte aber schon sehr erwachsen. »Nun, junger Mann«, sagte Herr von Schichau schließlich, »wie wäre es, wenn man gemeinsam eine heiße Schokolade trinken würde? Es gibt doch hier einige hübsche Kaffeestuben. Selbstverständlich sind Sie eingeladen.« Albert wusste, dass er unmöglich ablehnen konnte.
Auf dem Weg zum Café erklärte von Schichau, gönnerhaft um sich blickend: »Es ist doch eine wohlanständige, bürgerliche Welt. Wer hier ohne Stock ausgeht, gilt schon als Künstler, wer sich gar ohne Hut auf der Straße blicken lässt, der ist sicher ein Bohemien, vielleicht gar ein russischer Revolutionär oder ein Scheckbetrüger…« Er unterbrach sich, als habe der Satz nicht die geringste Bedeutung. Und diese Menschen, dachte Albert, leben jetzt da, wo wir gelebt haben, und verdienen ihr Geld mit der Fabrik, die uns gehört hat. Herr von Schichau konnte unmöglich von altem Adel sein, er musste zu den Industriellen gehören, die innerhalb kurzer Zeit solche Reichtümer angesammelt hatten, dass sie sich, durch Heirat oder schlicht durch Kauf, einen Adelstitel erwerben konnten. Wie viele Töchter er wohl noch haben mochte? »Noch immer in München?«, erkundigte sich Herr von Schichau im Café. »Hieß es nicht, die Familie sei nach Italien übergesiedelt?« Es klang, als wolle er sagen: Am besten, alle jüdischen Familien würden das tun. »Doch, doch«, sagte Albert. »Wie?« Herr von Schichau war sehr erstaunt. »Und schon wieder zu Besuch in München?« »Hier ist es immer noch am schönsten«, sagte Marie plötzlich. Was wollte die denn wissen, wo es am schönsten ist? »Also, wie nun?«, fragte Herr von Schichau. »Ja«, sagte Albert. »Die Familie ist in Italien. Aber ich bin in München geblieben.« »Ganz alleine? Das klingt ja aufregend.« »Ich lebe bei Verwandten. Ich besuche hier das LuitpoltGymnasium.« Herr von Schichau schüttelte den Kopf. »Im Ernst. Sie sind ganz alleine in München, junger Mann?«
Albert nickte. »Da müssen Sie aber doch wenigstens einmal zu uns zu Besuch kommen. Vielleicht zum Tee?« Albert holte Luft. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. Warum, fragte er sich, sage ich dem Herrn von Schichau nicht ins Gesicht, was ich von ihm halte. Was hatte der Herr damals im Büro gesagt: »Der Jude hat sich verrechnet.« Mit wie viel Verachtung er das gesagt hatte. Und jetzt dieses Schauspiel. Plötzlich sagte Sieglinde, die Albert die ganze Zeit über keines Blickes gewürdigt hatte: »Lass uns bitte gehen, Vater.« Sie sprach weder besonders bestimmt noch bittend, doch lag in ihrem Tonfall etwas, das keinen Widerspruch duldete. Zu Alberts großer Überraschung nickte Herr von Schichau nur und stand auf, um den Kellner zu rufen. Der Sonntag war verdorben. Was sich dieser Schichau einbildete, nur weil er ein »von« im Namen hatte. Albert musste an die letzte Geschichtsstunde denken, wo der Ordinarius, Dr. Degenhart, mit ihnen die Entstehung des deutschen Rittertums im frühen Mittelalter durchgenommen hatte. Dr. Degenhart nutzte solche Gelegenheiten gerne, um allgemeinere philosophische Vorträge zu halten. Die Schüler hatten fünfzig Minuten lang stockgerade sitzen müssen, während Dr. Degenhart darüber dozierte, warum jede Gesellschaft von Natur aus eine Aristokratie bildet. »Die Masse wird immer Masse bleiben müssen«, sagte er. »Es gibt keine Kultur ohne Dienstboten. Es versteht sich doch von selbst: Wenn nicht Menschen da wären, welche die niedrigen Arbeiten verrichten, so könnte die höhere Kultur nicht gedeihen. Millionen müssen die einfachen Arbeiten verrichten, damit einige Tausende forschen, malen und dichten können.«
Was aber hatte Dr. Degenhart erforscht oder gedichtet? Sein ganzes Talent bestand darin, jungen Menschen jede Freude am Forschen oder Dichten auszutreiben. Albert bleibt vor einer Metzgerei stehen. Aus dem Schaufenster schaute ihn das Porträt Ludwigs des Zweiten an, in Schweineschmalz modelliert. Dieser König war offensichtlich geisteskrank gewesen, hatte das Land in den wirtschaftlichen Ruin getrieben und Unsummen für seine romantischen Schlösser verschwendet, die märchenhaft schön sein mochten – was war das für ein Märchenland, in dem die Menschen hungerten und sich zu Tode schufteten? Und dennoch liebten die Bayern diesen »Märchenkönig«, der sich vor neun Jahren im Starnberger See ertränkt hatte. Albert ging an der Isar entlang bis zur Maximilianbrücke, überquerte den Fluss und stieg den steilen Hang hinauf nach Haidhausen. Es wäre doch besser gewesen, dachte er, Max Thalmey zu treffen. Seitdem er das Buch über Maxwell an einem Nachmittag verschlungen hatte, wollte er alles über Elektromagnetismus lesen, was er auftreiben konnte. Leider gab es die Bibliothek Onkel Jakobs nicht mehr. In dem Buch hatte Albert eine kurze Lebensbeschreibung des schottischen Forschers gefunden: Maxwell, ein Einzelkind, war ganz anders gewesen als die anderen Kinder. Schüchtern und mit einem Sprachfehler, wurde er in der Schule ein Außenseiter, eine beliebte Zielscheibe des Spottes und der Hänseleien seiner Klassenkameraden. Mit Widerstandsgeist und Humor stand er es durch und entwickelte eine unersättliche Neugier und ein ungewöhnliches Gedächtnis. Später hat er bemerkt: »Sie verstanden mich nie, aber ich verstand sie.« Beharrlich arbeitete Maxwell an seinen Theorien, dabei galt der Elektromagnetismus zu seiner Zeit als suspekt und wurde eher mit spiritistischen Gruppen oder hypnotischen Beschwörungen in Verbindung gebracht. Er ließ sich davon
nicht beirren und war der Erste, der sich gegen die Annahme eines Lichtäthers wandte, der damals als physikalische Tatsache galt. Und obwohl er starb, bevor seine Theorien experimentell bestätigt werden konnten, hat er den Sinn seines Lebenswerkes nie angezweifelt. Diese Haltung gefiel Albert. Der Abend, an dem ihm sein Vater den Taschenkompass gezeigt hatte, stieg wieder in ihm auf. Der Gedanke, die ganze Welt sei von Kraftfeldern erfüllt, faszinierte ihn. Maxwell hatte nicht wie Hertz ein neues Phänomen im Laboratorium nachgewiesen; er war kein Erfinder gewesen wie Edison, der neue, nützliche Apparate ersonnen hatte. Er hat nur das betrachtet, was allgemein bekannt war, dafür neue Begriffe geschaffen und die alten Begriffe neu gedeutet. Aber es sind die Begriffe, dachte Albert, mit denen wir begreifen, mit denen wir die Welt verstehen. Und während er durch die engen, absteigenden Gassen Haidhausens zurück zur Isar wanderte, nahm er sich vor, mit derselben Beharrlichkeit und Sicherheit seinen eigenen Weg zu gehen, wohin er ihn auch führen mochte. In aufgelockerten Linien zogen sich dunkelrote Wolken über den Himmel. Albert schaute kaum auf. Vielleicht, dachte er, werde auch ich, wie Maxwell, etwas erklären können, das noch kein Mensch vor mir geahnt hat, obwohl es schon immer da gewesen ist. Und die wohlgenährten Barockengel an den Hausfassaden sahen lächelnd auf ihn herab.
Die Schulglocke war verklungen, die letzten Schwingungen ihres hellen Läutens lagen wie dünne Fäden in der Luft. Man brauchte nur nach ihnen zu greifen. Aber das fiel nur Albert auf. Er hatte seinen Stuhl zurückgekippt und die Fußspitzen unter den Tisch gehakt, um nicht nach hinten zu fallen.
Seine Mitschüler redeten halblaut durcheinander. KarlWilhelm, der Klassenprimus, der das Vorrecht genoss, nach jeder Stunde die Tafel mit Schwamm und Seifenwasser gründlich zu reinigen, stand mit zusammengepressten Hacken an der Tür. Er blickte scharf nach rechts, um Dr. Degenhart zu erspähen, sobald er um die Ecke bog. Dann ging ein Ruck durch seinen mageren Körper, die Hände rutschten an die Hosennaht, er drückte den Brustkorb so weit vor, dass der Kopf nach hinten wegknickte, und mit geschlossenen Augen und seligem Lächeln wartete er auf den Ordinarius. Im selben Augenblick verstummte die Klasse wie auf ein Wort, ein geflüsterter Satz klang vielleicht in der Stille noch aus, dann nichts mehr. Die Lehrbücher und Schulhefte wurden peinlich genau ausgerichtet, und dann saß alles bolzengerade, mit geschlossenem Mund und zusammengekniffenen Augen. Nur Albert lehnte noch immer auf dem zurückgekippten Stuhl. Er zählte die schnellen, hart gesetzten Schritte des Ordinarius draußen im Flur. Noch zehn Schritte, dann würde der gerötete, birnenförmige Kopf in der Tür erscheinen. Noch fünf, drei, zwei – in diesem Moment ließ Albert seinen Stuhl mit lautem Knall nach vorne kippen und saß ebenso gerade wie seine Klassenkameraden. Karl-Wilhelm zuckte zusammen und wäre fast gegen den Bauch Dr. Degenharts gestoßen, der eben an ihm vorbeimarschierte. Die Köpfe der Schüler drehten sich nach allen Seiten, mit verstörten Blicken suchten sie die Ursache des Schlages, der noch immer durch den Raum hallte. Hastig zog Karl-Wilhelm die Tür zu. Jetzt erst, entscheidend verspätet, sprangen seine Kameraden von den Stühlen und riefen, nicht in der gewohnten Ordnung, »Guten Morgen, Herr Dr. Degenhart!« Dr. Degenhart holte seine Lehrbücher unter dem Pult hervor und erwiderte den Gruß, ohne aufzuschauen. Die Schüler setzten sich.
»Hausarbeiten zu heute?«, fragte Dr. Degenhart. Der Klassenprimus sprang erneut auf. Seine Stimme klang gepresst und atemlos. »Kasuslehre nach EngelmannRottmanner«, sagte er. Der Ordinarius hatte seine Schüler noch immer nicht angeschaut. Er blätterte in einem kleinen Heft und murmelte: »Einstein. Bitte aufsagen.« Seit zwei Wochen begannen die Griechischstunden jedes Mal mit diesem Ritual. Schwerfällig erhob sich Albert. Da schoss Degenharts Gesicht in die Höhe. Seine kleinen Augen hinter der Zwickerbrille waren vor Wut leicht nach innen verdreht. »Kannst du nicht einmal wie ein deutscher Junge aufstehen!«, herrschte er ihn an. »Doch, Herr Professor.« »Setzen!« Und, nachdem sich Einstein gesetzt hatte: »Einstein!« Erneut erhob sich Albert. Auch Dr. Degenhart stand jetzt auf. Er klemmte die Daumen unter die Achseln und sagte: »Wir können das so lange wiederholen, bis es klappt. Und anschließend wirst du die Strophen aus der Odyssee aufsagen.« »Aber das hat keinen Sinn«, sagte Albert. »Ich kann Ihnen die Strophen nicht aufsagen.« Dr. Degenhart stockte der Atem, so überrascht war er. Es war nicht üblich, dass ein Schüler sprach, ohne dass ihm das Wort erteilt worden war. »Habe ich dir das Wort erteilt?«, fragte er, bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Nein«, sagte Albert. Da begann der Ordinarius knatternd zu lachen. Es war ein falsches Lachen, das abrupt endete. Albert wusste nicht, was nun geschehen würde. Dann sagte der Ordinarius: »Einstein! Vortreten!« Also das gewohnte Programm. Albert kam vor zur Tafel. Degen-hart holte einen Stab aus seinem Pult hervor. Albert
musste beide Hände nebeneinander gerade vor sich ausstrecken. Dann schlug Degenhart zehnmal mit dem dünnen, harten Stab auf die Fingerspitzen. Albert presste die Augen fest zu und ließ sich nichts anmerken. Dr. Degenhart legte den Stab sorgfältig wieder unter das Pult. Schweißperlen waren ihm auf die Stirn getreten, und seine kleinen Augen waren noch weiter nach innen verdreht. Er baute sich vor Albert auf. »Bedank dich, Einstein.« »Vielen Dank, Herr Ordinarius«, sagte Einstein. Auf Dauer, dachte er, kann das nicht gesund für die Hände sein. »Einstein, du schreibst bis morgen einen Aufsatz: Über den Sinn der Strafe.« Albert lächelte. »Auf Griechisch?« Da begann die ganze Klasse lauthals zu lachen. Die ganze aufgestaute Spannung entlud sich in einem völlig übertriebenen Anfall von Heiterkeit. Dr. Degenhart wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Auf Deutsch«, sagte er dann. »Und nun nimm wieder Platz.« Damit war die Griechischstunde für Albert ausgestanden. Die restlichen vierzig Minuten würde ihn Dr. Degenhart in Frieden lassen und sich lernwilligeren Schülern widmen. Das Ganze hatte vor zwei Wochen begonnen. Damals hatten sie mehrere Strophen der Odyssee auswendig lernen sollen. Albert gefiel Homers Dichtung sogar – in der deutschen Ausgabe. Er fand es auch interessant, sie einmal ein wenig mit dem griechischen Original zu vergleichen – aber gleich ganze Strophen dieser Zungenbrecher auswendig lernen? Schließlich wollte er Mathematiker und Physiker werden, nicht Altphilologe oder Archäologe. Als er versucht hatte, dies dem Ordinarius in aller Ruhe darzulegen, hatte er natürlich auf Granit gebissen. Also hatte er beschlossen, sich lieber einem täglichen Bestrafungsritual zu unterziehen, das nur die Finger quälte, aber nicht das Gehirn.
Als Albert vor dem Friseur in der Blumenstraße stehen blieb, holte ihn Adrian ein. Im Schaufenster des Geschäftes wurde für eine Bartbinde geworben, mit der sich die Bartzipfel zum Kaiser-Wilhelm-Bart aufzwirbeln ließen. Daneben gab es eine Creme, die den Barthaaren die nötige Festigkeit verleihen sollte. Darüber stand in großen Lettern: »Deutsche Barttracht«. Die Creme hieß sinnigerweise »Es ist erreicht!« »Was willst du damit?«, fragte Adrian. »Vielleicht Degenhart schenken«, sagte Albert, »um ihn zu versöhnen.« »Das kannst du leichter haben«, sagte Adrian. »Außerdem hat er keinen Bart.« Gemeinsam gingen sie weiter. Adrian, der nicht weit von Alberts neuem Zuhause wohnte, war ein lustiger Kerl. Von seinem Vater, Schauspieler am Residenztheater, hatte Adrian schon so manchen interessanten Trick gelernt. Zurzeit brachte er Albert bei, mit den Ohren zu wackeln, aber Albert war, wie Adrian resignierend feststellte, nicht sehr begabt. Adrian konnte in jedem beliebigen Tempo mit den Ohren wackeln, und sogar von oben nach unten. »Was ist los mit dir?«, fragte Adrian. Sie überquerten den Viktualienmarkt. Spätestens hier, im bunten Marktgetreibe, besserte sich sonst Alberts Laune. Doch heute war nichts zu machen. »Was ist los?«, fragte Adrian noch einmal. »Nichts ist«, sagte Albert. »Komm schon«, sagte Adrian. Albert blieb stehen. »Was soll schon groß sein«, brach es aus ihm hervor. »Seit zwei Wochen quält mich dieser Fleischkloß jeden Morgen. Jeden Morgen Homer aufsagen, jeden Morgen vortreten, jeden Morgen Hände ausstrecken…« Wütend ging er weiter. Adrian versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Aber Albert. Das ist doch alles völlig unnötig.«
Wieder blieb Albert stehen. »Natürlich ist es unnötig. Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich habe mir diesen Unsinn nicht ausgedacht.« »Aber du bräuchtest nur die paar Strophen aus der Odyssee zu lernen. Noch kannst du mit Degenhart Frieden schließen. Und das wäre das Klügste.« »Was soll daran klug sein?«, fragte Albert. Adrian sah ihn besorgt an. Sein Gesicht mit der Zahnlücke, dem Stoppelhaarschnitt, den abstehenden Ohren sah umso komischer aus, je ernster er wurde. Seine Stirn legte sich in Falten wie die Haut eines Elefanten, und seine großen Hände kneteten gründlich die Schirmmütze, die er abgenommen hatte. Plötzlich wurde Albert klar, dass er kurz vor einem Jähzornanfall gestanden hatte, kurz davor, vollkommen die Kontrolle zu verlieren. Vielleicht hätte er auf Adrian oder auf sonst jemanden eingeschlagen, der nichts für seine Probleme konnte, oder hätte einen der Marktstände zertrümmert. Er hatte zu viel geschluckt in letzter Zeit. »Nun red doch, Albert«, sagte Adrian. »Es ist immer besser, wenn man redet.« Wozu? Adrian war ein netter Kerl, konnte ihn aber auch nicht verstehen. Dass die Eltern und die Familie in Mailand waren – das sei doch toll, meinte er. Und natürlich, auf eine Art war es toll, so auf sich gestellt zu leben. Aber wenn er nachmittags mit Tante Bärbel Tee trank, dann überkam ihn Sehnsucht nach dem Vater und der Mutter und nach Maya und dem Onkel. Und wenn er abends in seinem Zimmer lag und zu müde war, um weiterzulesen, dann war er oft kurz davor zu weinen. Wie sollte man das jemandem wie Adrian klar machen, dem die Mutter die Fusseln vom Hemd zupfte, bevor sie ihn auf die Straße ließ? Für die philosophischen Grübeleien, mit denen sich Albert vergnügte oder herumschlug, hatte Adrian schon gar keinen Sinn. Und seine Angst vor dem Dienst in der Armee
konnte er am allerwenigsten teilen. In der deutschen Armee dienen zu dürfen war doch eine Ehre. Krieg hatte es seit 25 Jahren nicht mehr gegeben und würde es auch so bald nicht geben. Tante Bärbel stand, eine schmutzige Schürze umgebunden, mit aufgekrempelten Ärmeln in der Küche. »Das Essen ist gleich fertig. Es gibt dein Leibgericht.« Albert wusste nicht, welches sie meinte. Dann hörte er das Zischen aus der Pfanne; gleich darauf verbreitete sich der Duft von gebratenem Leberkäse in der Wohnung. War das tatsächlich sein Leibgericht? Jedenfalls nicht zu verachten. Er ließ sich im Wohnzimmer in einen Ohrensessel fallen und legte die Beine über die Armlehne. Onkel Gottfried und Tante Bärbel hatten für die Einrichtung ihrer Mietwohnung alles versammelt, was an Kitsch zu bekommen war. An den Wänden hingen schlechte Kopien alter Gemälde in verschnörkelten Rahmen, über dem Prunksofa thronte sogar ein Hirschgeweih. Das leckere Fruchtarrangement im Tafelaufsatz war aus Wachs, und die prächtige Gutenberg-Bibel auf der Kommode entpuppte sich als Nähkästchen. In der Luft lag stets der Geruch von Staub und alten, mottenzerfressenen Stoffen. Albert traute sich nie, die bestickten schweren Vorhänge vor den Fenstern aufzuziehen, da er fürchtete, sie würden auseinander fallen. Doch das wollte er nicht, denn Tante Bärbel hing an jedem Stück. Sie hatte wirklich ein großes Herz und gab sich jede erdenkliche Mühe, Albert eine Freude zu bereiten. In ihrer Vorstellung war jeder Tag in seinem Leben ein Fest. Schließlich gab es jeden Tag schon morgens Kakao, in dem der Löffel stehen konnte, und Schulbrote, mit denen die halbe Klasse versorgt gewesen wäre, mittags große Portionen
Fleischgerichte, zudem Sahnetörtchen zum Tee und Wurst fingerdick zum Abendbrot. Für Onkel Gottfried war Tante Bärbel nur das »Frauchen«. Mit den Jahren hatte sie sich angewöhnt, sich selbst auch »Frauchen« zu nennen. Und so saßen die beiden zusammen, Albert vor einem großen Teller, reichlich gefüllt mit Leberkäse und Bratkartoffeln, und seine Tante, die ihm aufmerksam beim Essen zusah. Sie trank mittags nur ein Glas Wasser, da sie einen kranken Magen hatte. Auf dem Tisch stand ein kleiner gläserner Dackel, aus dessen Schnauze man Salz streuen konnte. Tante Bärbel lächelte unaufhörlich und sagte: »Ja, Frauchen mag es gern, wenn der Albert Appetit hat. Willst du noch eine Portion?« »Mein Teller ist doch noch voll«, antwortete Albert. Doch dann nahm er noch eine Portion, um wenigstens einen Menschen glücklich zu machen.
Sein Bett war eine durchgesessene Couch. Er streckte sich darauf aus. Es hat keinen Zweck, dachte er. Ich muss studieren, und um zu studieren, brauche ich das Abitur. Und um das Abitur zu bekommen, muss ich es eben drei Jahre auf diesem Gymnasium aushalten. Und um es in diesem Gymnasium auszuhalten, muss ich diese verdammten fünfzehn Strophen aus Homers Odyssee lernen. Adrian hatte doch Recht. Es war nicht so viel, was von ihm verlangt wurde. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schlug das Buch auf. Wie oft hatte er in den letzten Wochen diese Seiten angestarrt. Er konnte die griechischen Buchstaben flüssig lesen. Wenn er hörte, wie andere die Zeilen aufsagten, erkannte er sie sofort. Selbst in seinen Träumen waren sie schon aufgetaucht. Doch wenn er versuchte, sie auswendig zu
lernen, schweifte sein Geist unwillkürlich ab. Und am Ende hatte er wieder nichts behalten. Das konnte doch nicht sein. Der letzte Dummkopf in der Klasse hatte es geschafft, diese griechischen Sätze in seinem Gehirn zu verstauen. Es musste doch auch ihm möglich sein. Doch während er, langsam im Zimmer auf und ab gehend, die Sätze laut las, begann sein Gehirn, sich interessanteren Fragen zuzuwenden: Wenn sich die Erde, genau wie alle anderen Planeten, tatsächlich durch einen Äther bewegte, dann musste es einen gewissen Widerstand geben, eine Art Ätherwind. Und es musste möglich sein, diesen Ätherwind nachzuweisen. Darauf hatte schon Maxwell aufmerksam gemacht. Ob solche Versuche angestellt worden waren? Denn wenn es keinen Äther gab, dann musste man… In diesem Moment unterbrach Albert seinen Gedanken. Er hatte das Buch sinken lassen und nicht mehr die Strophen aus der Odyssee rezitiert. Ohne das Buch anzuschauen, versuchte er einen Satz, wenigstens eine Folge von Worten, aus dem griechischen Text aufzusagen. Nicht ein Wort fiel ihm ein. Verzweifelt schaute er hoch zur Decke. Dann schloss er die Augen. Mit aller Anstrengung durchsuchte er sein Gehirn. Tausend Bilder und Begriffe purzelten da durcheinander. Aber nicht ein Satz aus Homers Odyssee war zu finden. Er warf das Buch aufs Bett. Er würde es nie auswendig lernen, er würde jeden Morgen, in jeder Griechischstunde, vor Dr. Degenhart stehen, ohne auch nur einen Satz aufsagen zu können. Er kannte sich in der ganzen höheren Mathematik aus und studierte die Meister der modernen Physik; er hatte sich auch schon der Chemie zugewandt. Er wusste genug, um zu studieren und sein Leben mit spannenden Forschungen zu verbringen, und vielleicht würde es ihm gelingen, etwas ganz Neues zu finden. Stattdessen musste er sich von einem Gymnasialprofessor gängeln lassen.
Etwas musste er tun, er musste eine Entscheidung finden, das war ihm heute klar geworden, während der Unterhaltung mit Adrian. Nicht viel hatte gefehlt, und er hätte wild um sich geschlagen und einen guten Freund angegriffen. Erneut dachte er seine Möglichkeiten durch. Die erste: Zähne zusammenbeißen und in München bleiben. Die zweite: Nach Mailand zu den Eltern fahren, ein Jahr Italienisch büffeln, dann dort das Abitur machen. Aber auch in Italien würde er Latein und Griechisch lernen müssen, und dazu noch in allen anderen Fächern italienisch sprechen. Und Sprachen waren doch gerade sein Problem. Die dritte Möglichkeit: In Zürich gab es eine angesehene Hochschule, die auch Schüler ohne Abitur aufnahm. Doch wovon sollte er in Zürich leben? Dort gab es keine Verwandten, und es war fraglich, ob die Eltern ihn weiter unterstützen würden. In Deutschland konnte er auf keinen Fall bleiben, schon weil man mit zwanzig unweigerlich zum Militär musste. Kriegsdienstverweigerung war undenkbar. Wer das versuchte, der hatte nur noch die Wahl zwischen Irrenhaus oder Tod durch Erschießen. Spätestens dann musste er ins Ausland. Es war also sinnlos, das deutsche Abitur zu machen. Mit einem Mal fiel die ganze Last von ihm. Er hatte eine Entscheidung getroffen – und er war entschlossen, sie durchzusetzen. Aber so war das schon öfter gegangen. Spätestens abends, wenn er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, fielen ihm tausend Gründe ein, die gegen die Entscheidung sprachen. Gab es nicht andere Wege, dem Militärdienst zu entgehen? Wie sollte er die Aufnahmeprüfung in Zürich bestehen, bei seinen schlechten Leistungen in den alten Sprachen, in Geschichte und Französisch? Sollte er überhaupt studieren? War es überhaupt richtig, Wissenschaftler zu werden?
Irgendwann in diesen dumpfen, nur mühsam verstreichenden Tagen stieß er beim Stöbern im Antiquariat auf einen Satz Schopenhauers: »Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.«
Schon der folgende Morgen sollte die Entscheidung bringen. Albert hatte sich, spät in der Nacht, noch hingesetzt, die drückende Müdigkeit bekämpft und unter Magenkrämpfen zwei Seiten »Über den Sinn der Strafe« geschrieben. Er hatte sie noch vor der ersten Stunde Degenhart auf den Tisch gelegt, der darauf nicht weiter einging. Auch sonst nahm der Schultag seinen gewohnten Lauf. Mit dem Religionslehrer hatten sie über die unvergängliche Schönheit der biblischen Psalmen gesprochen. Auch Dr. Degenhart war im Deutschunterricht in lyrischer Stimmung gewesen und hatte ihnen ein Gedicht Herders über »Die Jugend-Freundschaft« vorgetragen: »Bruder! Du meiner Seele beßre Seele, Heilige Blüte meines Jugendfrühlings! Lern in diesen Gärten, die um uns her blühn, Was Dir ein Freund sei.« Sollte man da lachen oder weinen? Was für Gärten waren es, die hier um sie herum blühten, in denen sie die Freundschaft erlernen sollten? Nun waren vier Stunden vorüber, und Albert erwartete den Griechischunterricht, mit Resignation und einer gewissen Spannung, ob sich auch heute das gewohnte Ritual wiederholen würde. Doch es kam anders. Karl-Wilhelm, der Primus, hatte noch wie gehabt die Hacken zusammengeschlagen und die Brust gereckt, und alles hatte sich kerzengerade hingesetzt – aber dann war nicht der Ordinarius in die Klasse getreten, sondern Dr. Pützner, die rechte Hand des Direktors.
Das war in ihrer Klasse noch nie geschehen, und man wusste nicht, was es bedeutete. Dr. Pützner sagte: »Der Schüler Albert Einstein begibt sich umgehend ins Direktorat.« Albert stand auf. Als er durch die erwartungsvolle Stille in der Klasse ging, konnte er die 30 Augenpaare, die ihm nun folgten, förmlich spüren. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, hörte er, wie Dr. Pützner sagte: »Der Rest der Klasse stille Beschäftigung unter meiner Aufsicht.«
Der Direktor, Professor Dr. Markhauser, lehnte bequem in seinem Arbeitssessel, Dr. Degenhart stand, die Hände hinterm Rücken gefaltet, am Fenster. Albert blieb vor dem massigen, dunklen Schreibtisch stehen. Er hatte nach all den Züchtigungen durch Dr. Degenhart geglaubt, in solchen Situationen keine Angst mehr zu haben. Aber nun hatte er das Gefühl, die beiden Männer würden ihn gleich zur Guillotine führen. Der Direktor setzte sich auf und nahm mit spitzen Fingern die beiden Seiten, die Albert heute Morgen Dr. Degenhart auf den Tisch gelegt hatte. »Über den Sinn der Strafe…« Der Direktor ließ jedes Wort langsam über die Lippen rollen. Dann zog er mit halb geöffnetem Mund kurz und scharf Luft ein. Er ließ die Blätter wieder sinken. »Ohne darauf weiter eingehen zu wollen«, begann er, »möchte ich dir eine besondere Intelligenz attestieren, Einstein.« Dr. Degenhart drehte sich ruckhaft um. Er trug keine Brille, was sein Gesicht noch nackter wirken ließ. »Eine besondere Intelligenz«, fuhr der Direktor fort. »Aber man unterscheidet zwischen Intelligenz und Klugheit. Wenn du Kant gelesen hast…« – wieder hob er den Aufsatz – »dann
solltest du auch wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen theoretischer Vernunft und praktischer Vernunft. Weißt du, was deinen Fall so schlimm macht? Du bildest dir auf deine Intelligenz zu viel ein. Es ist eine hohe Gabe, jedoch eine hohe Gabe, die verlangt, dass wir sie veredeln… mit hohen Werten.« Es entstand eine kurze Pause. Der Direktor schien dem, was er eben gesagt hatte, noch nachzuhängen. Dann fuhr er fort: »Dr. Degenhart, als Ordinarius, hat mich gebeten, dich aus seiner Klasse zu entfernen. Deine bloße Anwesenheit verdirbt ihm den Respekt in der Klasse. Außerdem verliert er zu viel Zeit mit den nötigen Züchtigungen. Hast du etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?« Albert fühlte, dass ihn ein Schwindelgefühl anfiel, als er sagte: »Wahrer Respekt kann so leicht nicht verdorben werden. Und über Züchtigungen habe ich in meinem Aufsatz alles gesagt.« Dr. Degenhart schien beinahe zu explodieren. Aber hier durfte auch er nur sprechen, wenn er gebeten wurde. »Es gibt seit ungefähr dreitausend Jahren in Europa höhere Schulen«, fuhr der Direktor fort. »Keine dieser Schulen« – und mit einem Mal wurde seine Stimme schneidend – »keine dieser Schulen konnte auf Strafen verzichten. Es liegt nämlich im Wesen des Menschen, des jungen Menschen zumal, die wahren Autoritäten zu verachten und sich selbst über sie zu stellen. Wir kennen die Anmaßungen des jungen, noch nicht gereiften Geistes. Die Anmaßung aber, die du dir in diesem Aufsatz leistest, ist an dieser Schule ohne Beispiel.« Wieder wurde es still. Albert wusste nicht, ob die Rede damit beendet war. Ihm war inzwischen vollkommen gleichgültig, was geschehen würde. Sollten sie Strafen über ihn verhängen, so viel sie wollten. Hauptsache, er kam aus diesem Zimmer heraus. Der Direktor hob erneut den Blick. Die Worte, die er
dann sagte, hörte Albert zwar – doch er war nicht mehr in der Lage, ihren Sinn zu erfassen. »Du kannst dir morgen dein Entlassungszeugnis abholen«, sagte der Direktor. »Ich wünsche dir alles Gute für den weiteren Lebensweg. Auf Wiedersehen.« Einen Moment lang stand Albert benommen da. Automatisch murmelte er: »Auf Wiedersehen«, drehte sich um und ging, steif wie eine aufgezogene Blechpuppe, aus dem Raum, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Erst als er draußen unter den alten Bäumen über den Schulhof ging und den Kies unter seinen Schuhen knirschen hörte, begann er wieder die Welt um sich herum und sich selbst, seinen Atem, seinen Körper, seine Muskeln, wahrzunehmen. Er musste sich ganz schnell setzen. Er schaffte es gerade bis zur Straße. Dort ließ er sich auf einen Mauervorsprung sacken. Wieder kam der Schwindel über ihn. Er musste tief Luft holen, um bei sich zu bleiben. Er hatte das panische Gefühl, ihm wäre die Brust zusammengebunden. War nun alles vorbei?, fragte er sich, und dann hämmerte dieser Gedanke sinnlos in seinem Kopf: Es ist alles vorbei. Alles vorbei. Lange saß er so. Dann spürte er etwas Feuchtes, sehr Kaltes über seinen Nacken rutschen. Er griff mit der Hand danach. Da landete eine Schneeflocke auf seinem Knie. Er sah um sich. Der ganze Himmel leuchtete weiß. Die ersten fetten Flocken landeten auf dem Bürgersteig, wo sie augenblicklich schmolzen. Er streckte die Hände aus und versuchte, die Schneeflocken zu fangen. Und dann musste er aufstehen. Ihn überkam eine unbändige Freude. Mit ausgestreckten Armen und aufgerissenem Mund lief er durch die Schneeflocken. »Ich bin frei«, rief er. »Frei!«
Die große Freiheit
Bald hatte der Zug die Stadt hinter sich gelassen. Die Nadelwälder, die rötlich braunen Felder, die grauen Wolkenfetzen am Himmel, Dörfer und allein stehende Bahnhöfe, Kinder, die an den Bahndämmen standen und winkten – die ganze Welt war nur noch ein Band aus vorbeifliegenden Farbtupfern. Im Fenster spiegelte sich blendend die Nachmittagssonne. Oben, im Gepäcknetz, hüpfte der kleine Koffer, in den Albert nur das Allerwichtigste gepackt hatte: das Buch über Maxwells Elektromagnetismus, sein zerlesenes Geometriebüchlein, die Stoppuhr, die ihm Maya gegeben hatte, ein paar Erinnerungsstücke. Bei sich in der Tasche trug er: ein ärztliches Attest, dass er aufgrund einer Nervenzerrüttung einen halbjährigen Erholungsurlaub von der Schule brauche, einen Brief von Onkel Gottfried, der als Erziehungsbeauftragter bestätigte, dass die Auslandsreise des Jungen rechtens sei, und ein Zeugnis seines Mathematiklehrers, dass seine Kenntnisse in der Mathematik außergewöhnlich seien und die Zulassung zum Mathematikstudium rechtfertigten. Aber würde dieses Zeugnis in Italien oder in der Schweiz anerkannt werden? Würde er eine Aufnahmeprüfung bestehen können? Täglich wurden Albert seine Bildungslücken drängender bewusst: Maxwell und seine »elektromagnetischen Felder« gaben ihm immer neue Rätsel auf. Die bloße Tatsache, dass man Formeln hatte, mit denen sich die elektromagnetischen Kräfte berechnen ließen, erklärte doch noch nicht, wie diese Kräfte sich überhaupt übertrugen.
Schließlich wirkten sie im leeren Raum ebenso wie in Flüssigkeiten oder festen Körpern. Auch in der Philosophie fühlte er sich wie ein blutiger Anfänger: Wenn es stimmte, dass die Kausalität, das Prinzip von Ursache und Wirkung, nur eine Idee war, die nicht aus der Erfahrung stammte und möglicherweise nichts mit der Natur zu tun hatte, wie sollte man dann noch Physik betreiben können? Physik untersuchte doch stets nur Ursachen und Wirkungen. Warum musste alles so entsetzlich kompliziert sein? Hatte Spinoza nicht gelehrt, alles sei göttlich? Wenn das stimmte, und der junge Albert Einstein hoffte von ganzem Herzen, es möge stimmen: Wieso hatte Gott dann alles so kompliziert eingerichtet?
Tagelang hatte er sich nach dem Verweis von der Schule in seinem Zimmer eingeschlossen, nur zu den Mahlzeiten war er herausgekommen. Das erste Hochgefühl war rasch verflogen. Auf die Straße hatte er sich nicht mehr getraut. Als er, Ende der Woche, erstmals wieder das Haus verließ, war er wie ein geprügelter Hund durch die Straßen geschlichen, voller Angst, jemandem zu begegnen. Er hätte keinem Menschen mehr in die Augen sehen können. Er hatte die Schule gehasst, aber sie hatte ihm eine Richtung gegeben, etwas, wogegen es sich aufzulehnen lohnte. Nun gab es nichts mehr. Bis an sein Lebensende konnte er in seinem Zimmer sitzen und die Physiker und Philosophen studieren. Das, wovon er geträumt hatte, war nun wie ein Gefängnis. Er las jeden Tag, acht, zehn Stunden, er las dieselben Kapitel wieder und wieder, aber es tauchten nur immer neue Fragen in ihm auf, die er nicht beantworten konnte. Die ganze Woche hatte er es vor sich hergeschoben, den Eltern zu schreiben. Zweimal hatte er einen Brief begonnen,
die Worte klangen verlogen, er zerriss das Papier wieder. Wenige Tage vor Weihnachten wollte er kurzerhand nach Mailand fahren. Er ging zu seinem Mathematiklehrer und dem alten Hausarzt des Vaters, besorgte das Zeugnis und das Attest. Doch dann sah er, mit welcher Mühe Tante Bärbel und Onkel Gottfried das Fest für ihn vorbereiteten. Und ihn beschlich eine schreckliche Angst: Was, wenn er am Weihnachtsabend in Mailand eintreffen würde, die Adresse nach langem Suchen endlich gefunden hätte – um dann in entsetzte Gesichter zu schauen, die ihn wie einen Fremden anstarrten? So verbrachte er den Weihnachtsabend im gutbürgerlichen Wohnzimmer von Tante und Onkel. Es war schon seltsam, dachte er, dass die jüdischen Familien ganz selbstverständlich den christlichen Brauch übernommen hatten. Er erinnerte sich an eine Religionsstunde in der Volksschule. Damals hatte der Lehrer zwei lange, eckige Nägel mitgebracht, um anschaulich zu machen, welche Qual die Juden Jesus Christus beigebracht hatten.
Der Zug fuhr auf einer Strecke, die Albert von manchem gemeinsamen Sonntagsausflug der Familie kannte. Damals hatten sie zu siebt oder acht in einem solchen Abteil gesessen, der Vater hatte die Beine gestreckt und den Arm um die Mutter gelegt, die dann immer protestierte. »Wir sind doch hier unter uns«, pflegte der Vater zu sagen. Hier, bei Rosenheim, kannte Albert jeden Hügel, jedes Wäldchen. Dann waren sie gewandert, hinauf zum Wendelstein oder ins Aiblinger Moor. Einmal waren sie, mitten auf einer weiten Wiese, auf ein steinernes Kreuz gestoßen. Auf der oberen Hälfte war Christus abgebildet, der schwer gebeugt ein sehr großes Kreuz trug. Albert erinnerte sich genau, wie der Vater und der Onkel, die Jacken unterm Arm, mit hochgekrempelten Ärmeln, die
verwitterte Inschrift entziffert hatten. Leise hatte der Onkel gelesen: Hier starb Johannes Steib aus Münsing durch die Hand von Obstdieben. Seine Frau. Nach der Grenze zu Österreich-Ungarn kamen sie in die Berge. Links stiegen die Gipfel der Kitzbüheler Alpen auf, rechts das Karwendelgebirge. Hinter Innsbruck schlich der Zug keuchend die steile Strecke auf den Brennerpass zu. Meterhoch türmte sich der Schnee zu beiden Seiten. Alle paar Kilometer musste der Zug an einer Wasserstation halten. Und dann hatten sie den Brenner überquert. Nun konnten die Heizer verschnaufen, doch mussten die Bremsen umso schwerer arbeiten. Laut pfeifend fuhr der Zug bergab. Als sie Südtirol erreicht hatten, stand Albert noch immer am Fenster und starrte nach draußen, als dürfe er nicht einen Augenblick versäumen. Burgen und Festungen waren in die Berge hineingebaut, Brücken führten sie über entsetzliche Schluchten. Immer schroffer und abenteuerlicher wurden die Hänge. Schließlich kamen sie in die seltsame Endmoränenlandschaft nördlich des Gardasees. Die Gletscher der Eiszeit hatten hier ungeheure Felsbrocken vor sich hergeschoben, nun lagen sie wie Spielzeug, das Riesen liegen gelassen hatten, übereinander. An der italienischen Grenze wurde sein Gepäck aufmerksam durchsucht. In Verona musste er umsteigen. Auf dem Bahnsteig stand eine Allee zierlicher Orangenbäume, um den Reisenden im Sommer Schutz vor der Sonne zu bieten. Albert musste zu einem Schalter, um einen Fahrschein zu lösen. Wie sollte er sich in diesem Gewimmel von südländischen Menschen zurechtfinden? Er hätte stundenlang nur schauen können, alles mit den Augen aufsaugen. Doch er musste sich beeilen, wenn er seinen Zug bekommen wollte. Und dann saß er in einem überfüllten Abteil, mit einer vielköpfigen Familie, Bauern, die mit Hühnern und Gänsen
vom Markt kamen, und herausgeputzten Jugendlichen. Alles redete durcheinander, jeder Satz wurde von einer Geste unterstrichen. Eine großbusige Bäuerin mit Kopftuch begann, auf einem Taschentuch eine komplette Brotzeit auszupacken. Als sie Alberts neugierigen Blick bemerkte, bot sie ihm von dem frisch duftenden Brot an, doch er schüttelte heftig den Kopf. Dann betrat der Schaffner in einer straff sitzenden, eleganten Uniform mit blinkenden Aufsätzen das Abteil und kontrollierte die Biglietti. Mit Alberts Fahrschein gab es Probleme. Zunächst wendete der Schaffner ihn hin und her. Dann legte er die Stirn in Falten. Dann entwertete er ihn mit seinem Knipser, behielt ihn aber, schaute Albert streng an und sagte etwas von »Supplemento«. Albert verstand, dass er einen Zuschlag zahlen sollte. Doch weshalb? Der Beamte in Verona hatte versichert, das Billett gelte bis Mailand. Er hatte auch kaum italienisches Geld, nur was man ihm in Verona an Wechselgeld gegeben hatte. Immer heftiger redete der Schaffner auf ihn ein. Einer der Bauern ergriff Alberts Partei. Der Schaffner gestikulierte wild mit dem Billett in der Hand. Auch der mutmaßliche Familienvater, ein gesetzter, bürgerlicher Mann mit silberner Uhrkette, mischte sich nun ein. Wilde Gesten flogen durch das überfüllte Abteil. Plötzlich drückte der Schaffner Albert das Billett in die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und verließ mit hoch erhobenem Kopf das Abteil. Die Frauen und Männer riefen ihm noch einige laute, sicher unfreundliche Bemerkungen nach. Dann begann eine der Bäuerinnen zu lachen, und bald stimmte das ganze Abteil ein. Der Bauer legte Albert den Arm um die Schulter und redete auf ihn ein, Albert verstand kein Wort. Dann begann eines der Mädchen mit österreichischem Akzent zu dolmetschen. Wieder wurde ihm Brot angeboten, aber diesmal ließ die
Bäuerin nicht locker, bis er angenommen hatte, und es gab auch scharfen Käse dazu und ein Wasserglas voller Wein. Das wollte er aber in keinem Fall annehmen. Er hatte noch nie Alkohol getrunken, nicht einmal zu Silvester. Schließlich leerte der Bauer das Glas selber. So vergingen die letzten Stunden der langen Zugfahrt wie im Flug, und Albert war in Mailand. Die regennassen Straßen glänzten von den zahllosen Straßenlaternen. Luxuriöse geschlossene Kutschen fuhren über die breiten Boulevards. Albert verließ, in der einen Hand seinen Koffer, in der anderen den Geigenkasten, die gigantische, nur aus schimmerndem Marmor bestehende Bahnhofshalle. Nach nicht allzu langer Zeit überquerte er den Domplatz. Er sah sich kaum um. Müde und unendlich glücklich ging er weiter.
Die ersten Wochen in Italien waren ein Rausch. In den Wintermonaten ist auch Mailand grau und verregnet, doch wie farbenfroh und lebendig waren die Menschen, verglichen mit den behäbigen Münchnern! In allen Winkeln der großen Stadt erklang Musik, Essensgerüche stiegen aus allen Fenstern, an den Straßenecken hockten die Verkäufer vor ihren Öfen und boten Maronen an. Stundenlang konnte Albert auf dem Platz vor dem weißen Marmordom stehen oder durch die glasüberdachte Galleria mit ihren Bodenmosaiken und der hohen Kuppel schlendern und den Menschen zusehen. Jeder verstand es, sich mit schwungvollem Gang und gekonnter Gestik zu bewegen. Und es gab junge Mädchen von solcher Schönheit, dass ihm der Kopf rauschte. Er besichtigte Säulenreihen aus der Römerzeit, prächtige Renaissancepaläste, romanische und gotische Kirchen,
zauberhafte, verwilderte Gärten mit kleinen Brunnen und von Efeu überwucherte Kreuzgänge. Und im düsteren, feuchten Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie sah er Leonardo da Vincis berühmtes Wandgemälde des »Abendmahls«. Nach einem ersten Schock hatte sich die Familie mit Alberts Anwesenheit abgefunden. Er schlief in einem Dienstbotenzimmer auf der Couch, tagsüber erkundete er die Stadt und ließ sich nur zu den Mahlzeiten blicken. Der alte Zusammenhalt der Familie war verschwunden. Vater und Onkel hatten sich dem hektischen Tempo der Mailänder Geschäftswelt angepasst, sie trugen elegante, exakt geschneiderte Anzüge und rauschten zusammen mit Lorenzo Garrone, dem italienischen Teilhaber der Firma, durch die Wohnung. Eben war man dabei, eine Fabrik in Pavia aufzubauen und ein Büro in Turin zu eröffnen, Verhandlungen um einen Großauftrag, die Installation einer Wasserkraftanlage, fanden statt. Die Mutter hingegen hatte sich dem gesellschaftlichen Leben zugewandt, ging mit dem Vater in die Oper und auf die Empfänge der reichen Nachbarschaft. Mit großem Aufwand bereitete sie eigene repräsentative Empfänge vor. Das war, so sagte man Albert, absolutes Muss in dieser Stadt. Und ein Muss war auch, dass die Kinder des Hauses, in unbequeme Anzüge gepresst, wie kleine Statuen herumstanden. Zu diesen Empfängen kamen hohe Beamte, Adlige und Künstler, ein Konzertpianist wurde engagiert, dem aber niemand zuhörte. Man plauderte, nippte an den Gläsern und zeigte jenen Gesichtsausdruck, den die Erwachsenen Lächeln nannten. Junge Adlige küssten der Mutter so ausgiebig die Hand, als wollten sie hineinbeißen, während der Vater mit wichtiger Miene und steifer Positur sein holpriges Italienisch zum Besten gab.
Dem ganzen Familienleben hatte man einen falschen Glanz verliehen. Glaskristallkaraffen, die ein Vermögen gekostet haben mussten, standen herum, exklusive Teppiche lagen bereit, und um den Parkettboden wurde ein wahrer Kult getrieben; stets roch es nach frischem Bohnerwachs. Das alles musste ungeheure Geldsummen verschlingen, und Albert sah nicht, wo sie erwirtschaftet wurden. Nur bei Maya war sofort die alte Freundschaft wieder da. Sie war dabei, eine junge Frau zu werden, behielt aber ihre lustige Art und nutzte jede Gelegenheit, um Albert zu ärgern. Vor allem hatte sie auf dem Klavier große Fortschritte gemacht, und die Geschwister konnten gemeinsam musizieren. An sonnigen Tagen gingen sie manchmal zusammen in einen der Parks und saßen einfach still nebeneinander. Eines Abends, nach einem der Empfänge, hielt der Vater Albert eine Rede: Mit dem Landstreicherleben müsse Schluss sein, und mit dem philosophischen Unsinn auch. Albert war klar, dass hier jede Verteidigung sinnlos war. Er lebte nicht wie ein Landstreicher, und er beschäftigte sich nicht mit Philosophie, sondern mit Physik. Als ob der Vater den Unterschied nicht kannte! »Du wirst eine Ausbildung als Elektrotechniker absolvieren. Ich habe gestern mit einem Geschäftsfreund aus Turin gesprochen, es gibt dort eine Technische Hochschule, an der du aufgenommen wirst.« »Einfach so?«, fragte Albert, »ohne Aufnahmeprüfung?« »Mein Geschäftsfreund kennt dort einen Professor«, sagte der Vater. Man hatte also wieder über seine Zukunft entschieden. »Und wieso fragt mich niemand? Vielleicht will ich gar nicht Techniker werden.« Offensichtlich wollte der Vater dieses Gespräch so schnell wie möglich beenden. Bis jetzt hatte er bemüht streng
gesprochen. Nun änderte er den Tonfall. »Es ist nicht abzusehen, wie sich die Dinge hier entwickeln«, erklärte er. »Möglicherweise müssen wir die Firma bald wieder auflösen. Dass wir hier noch über die Runden kommen, verdanken wir Tante Julia.« »Wie bitte? All der Budenzauber hier wird von Tante Julia finanziert? Die Dienstmädchen? Die Empfänge? Die teuren Kleider und Anzüge?« »Ohne Repräsentation ist nichts zu erreichen. Wir leben von öffentlichen Aufträgen. Signore Garrone…« »Ich werde kein Techniker«, unterbrach ihn Albert. »Die Erfindungskraft auf Dinge zu verwenden, die das Arbeitsleben noch mehr rationalisieren, nur mit dem Ziel, Geld zu schinden, das ist doch jämmerlich!« »Ich kann dich nicht auch noch über Wasser halten«, sagte der Vater. »Es geht nicht darum, ob ich deine Ansichten teile. Aber niemand wird dir für deine Ansichten Geld zahlen. Du brauchst einen Brotberuf.« »Gut«, sagte Albert. »Dann werde ich Gärtner.« Der Vater ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. »Was du wirst, ist mir vollkommen gleichgültig!«, sagte er gepresst. Albert stand auf. »Dann kann ich wohl gehen«, sagte er und wandte sich ab. Der Vater hielt ihn am Arm fest. Er umschloss seinen Arm so fest, dass es wehtat. Sein Gesicht war hochrot geworden. »Nein!«, rief er. »Es ist mir nicht gleichgültig, was aus dir wird! Ich liebe dich! Du bist mein Sohn.« Er kam jetzt ganz nah an Albert heran. »Du kannst nicht einfach so Philosoph werden. Philosoph ist man. Und es ist sicher nicht besonders angenehm, die Welt verstehen zu müssen.« »Ich glaube, ich muss es«, sagte Albert. Auch in den folgenden Tagen blieb Albert standhaft. Es kam zu weiteren erregten Auseinandersetzungen. Einmal erklärte
der Vater heftig, er werde es nicht zulassen, dass sein Sohn auf Kosten der Verwandtschaft lebe. Dann schien ihm selbst bewusst zu werden, wie lächerlich diese Feststellung angesichts seiner eigenen Lage war. Schließlich erzählte Albert von seinem Wunsch, in Zürich zu studieren, am Polytechnikum. Er versprach, sich intensiv auf die Prüfung vorzubereiten. Der Vater schien einlenken zu wollen. Die Mutter erklärte sich bereit, Tante Julia einen Brief zu schreiben und um finanzielle Unterstützung für Alberts Studium zu bitten. Endlich stimmte auch der Vater den Plänen zu.
Als Albert am 14. März 1895 sechzehn Jahre alt wurde, war er noch immer Bürger des Königreichs Württemberg und damit des Deutschen Reiches. So galt für ihn noch immer die militärische Dienstpflicht, und er konnte in Deutschland jederzeit als fahnenflüchtig festgenommen werden. Er musste aus der deutschen Staatsbürgerschaft entlassen werden, dafür war ein kompliziertes bürokratisches Verfahren notwendig. Gleichzeitig trat er auch aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus. In Formularen bezeichnete er sich von nun an als »Sohn deutscher Eltern«. Schon im Mai wurde es in der Stadt unerträglich heiß. Im Juni beschloss Albert, über die Berge nach Genua zu wandern, um Tante Julia und ihren reizenden Töchtern einen Anstandsbesuch abzustatten. Er schnallte seinen Geigenkasten mit einem Lederriemen hinten auf den Rucksack und fuhr mit dem Zug über Pavia und Casteggio nach Voghera, wo die Ausläufer der Ligurischen Alpen beginnen. Er war in den letzten Monaten gewachsen und in der ganzen Erscheinung breiter geworden. Kein Gymnasium zwang ihn mehr, die Haare kurz zu halten, und er ließ die Locken über die Ohren und in die Stirn fallen. In seinem Blick lagen nun
Verträumtheit und Reste kindlicher Naivität, manchmal aber auch kühle Distanz und die Entschiedenheit, sich nichts vormachen zu lassen. Mit dem Rucksack und den knielangen Wanderhosen sah er wie ein junger Mann aus, der die Welt auf eigene Faust erforscht. Nachts schlief er unter freiem Himmel, in Scheunen oder preiswerten Landgasthöfen, oft gewährten ihm auch Bauern Unterschlupf. Tagsüber wanderte er, vom Taschenkompass des Vaters geleitet, über schmale Eselspfade, durch Weinberge und Olivenhaine, vorbei an längst verlassenen Weilern und alten Wehrtürmen, auf denen Bäume Wurzeln geschlagen hatten. In den kleinen Bergdörfern, die in die Felsen hineingebaut waren, erinnerte nichts daran, dass es draußen in der Welt große Fabriken gab, dass das elektrische Licht die Nacht zum Tag machte, Telefone und Telegraphen die Entfernungen aufhoben. Die einzigen Verkehrsmittel hier waren Esel und Maulesel, die ohne Hast mit dünnen Ästen angetrieben wurden. Und in jedem dieser Bergdörfer gab es eine Schenke mit einem einzigen, halb verwitterten Tisch, wo man dem jungen Fremden ein Glas kühler Milch reichte, während sich die Alten und die Kinder um ihn versammelten und ihn mit Fragen überschütteten: Wo er herkam? Aus Deutschland, antwortete Albert. Etwa zu Fuß?, fragte einer der Alten, und alles brach in Gelächter aus. Abends, wenn die Sonne unterging, setzte sich Albert oft unter einen Baum, packte seine Geige aus und spielte für die Landschaft ein Stück von Mozart oder eine freie Improvisation. Er schloss die Augen und spürte den warmen Abendwind auf seiner heißen, verschwitzten Haut. Sein Weg nach Genua führte über den Giovipass. Der Aufstieg begann harmlos durch reizvolle, hügelige Landschaft. Es war ein heißer Tag, und Albert hielt nach einem Bergbach oder einem kleinen Teich Ausschau, jedoch ohne Erfolg. Dann
begann der Weg in steilen Serpentinen aufzusteigen. Wieder und wieder blieb Albert stehen, um die atemberaubende Aussicht hinunter ins Tal zu genießen. Schließlich überkam ihn Hunger, und er bereute, im letzten Dorf kein Frühstück gekauft zu haben, obwohl er am Vorabend seine Vorräte aufgegessen hatte. Es war zweifelhaft, ob er bis zur Passhöhe noch etwas finden würde. Auf dem Weg zum Pass gab es keine Bäume mehr, die Schatten spendeten. Schweiß lief ihm über den Rücken und die Beine. Er brauchte eine Pause, aber ebenso dringend brauchte er auch etwas zu trinken. Sicher würde es am Pass eine kleine Hütte geben, vielleicht auch eine Wirtschaft für Reisende. Also trieb er sich weiter. Doch dann überkam ihn regelrechter Heißhunger, der bald seinen Kreislauf ins Wanken brachte. Er hatte das Gefühl eines gähnenden Loches im Magen. Es war unerträglich heiß. Endlich kam der Pass in Sicht, er schien schon greifbar nah, doch der Weg zog eine weite Kurve. Albert ging vom Weg ab und begann, den steilen Berg hinaufzuklettern, direkt auf den Pass zu. Die Steine saßen locker, und es gab kaum Pflanzen, an denen er sich festhalten konnte. Fast ohnmächtig vor Hunger und Durst, rutschte er ab und riss sich die Hose auf. Schließlich schleppte er sich, wieder auf dem Weg, die letzten 500 Meter hinauf. Doch oben, auf dem Pass, gab es nichts außer einem verlassenen Wächterhäuschen. In sich zusammengesunken saß er da. Eine herrliche Aussicht bis hinunter zum Mittelmeer breitete sich vor ihm aus. Er hatte nicht mehr die Kraft weiterzugehen. Nur sein Gehirn trieb ihn an. Es hat keinen Sinn, hier auf Reisende zu warten, machte er sich klar. Seit Stunden hatte ihn kein Wagen überholt. Seine Beine fühlten sich an wie Gummi, der ganze Körper war wie taub. Er sah den Abhang hinunter.
Schnell wandte er sich ab, bevor er den Boden unter den Füßen verlor. Kalter Schweiß lief ihm aus allen Poren. Er stotterte nur »Hunger! Durst!«, als er den Wirtsraum des kleinen Landgasthauses betrat. Die Wirtsfrau war ihm sogleich entgegengelaufen und beförderte ihn jetzt auf die Holzbank, die an der kühlen Wand lehnte. Der Wirt brachte einen Tonkrug mit frischem, kühlem Wasser, das Albert mit großen Zügen trank. Gleich darauf erschien ein junges Mädchen und brachte eine Schüssel mit wunderbarer fetter Fleischbrühe. Dazu gab es Weißbrot und Oliven. Er aß und trank, ohne aufzuschauen, begleitet vom einladenden Zuspruch der Wirtsleute. Als er sich wieder aufrichtete, sah er ihre braun gebrannten, lächelnden Gesichter. Sie nickten ihm freundlich zu. Das Mädchen machte eine Bemerkung, vermutlich über seinen Bärenhunger, er verstand sie nicht, so stark war ihr Dialekt. Der Wirt brachte ihn zu einer einfachen Kammer. Dort legte sich Albert auf die fest gepackte Strohmatratze und schloss die Augen. Lange lag er in der kühlen, dunklen Kammer und hörte nur seinem Atem zu. Irgendwann schlief er ein. Als er erwachte, fühlte er sich ausgeruht und mit neuer Kraft erfüllt. Er stand auf und schaute durch das kleine Fenster nach draußen. Es war schwarze Nacht. Er wollte sich wieder hinlegen, da hörte er Plätschern von Wasser. Vielleicht gab es eine Zisterne, die das Regenwasser sammelte? Er war durstig und trat hinaus ins Mondlicht. Erneut hörte er das Plätschern. Er folgte dem Geräusch über den Hof. Dann sah er das große steinerne Becken. Wahrscheinlich war es Quellwasser, das hier gestaut wurde. »Komm nicht näher«, sagte eine Mädchenstimme. Überrascht blieb er stehen. Es war die Stimme der Wirtstochter. Aber er konnte sie nicht sehen. »Wo bist du?«, fragte er.
Er hörte erneutes Plätschern. Er trat dicht an das Wasserbecken heran. Sie stand bis zu den Schultern im Wasser. Mehr konnte er nicht von ihr sehen, im Becken war es zu dunkel. »Was tust du hier?«, flüsterte er. »Was denkst du denn?«, flüsterte sie zurück und lächelte. »Ich wollte gerade rauskommen.« »Ich helfe dir«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. »Das wirst du nicht«, sagte sie entschieden. »Du drehst dich um.« Eine Weile stand er und schaute in die Dunkelheit. Schließlich wagte er einen kurzen Blick über die Schulter. Das Mädchen stand mit dem Rücken zu ihm vor dem Becken, sie schüttelte ihr Tuch aus. Ihr nackter Körper schimmerte im Mondlicht. Er spürte seine Erregung und wandte sich ab. Sie hockte sich auf eine Mauer neben ihn. Sie hatte sich in das Tuch eingewickelt, nur ihre Waden und Füße schauten unten heraus. Er lächelte sie an. »Wie heißt du?«, fragte sie ihn. »Albert. Und du?« »Lina«, antwortete sie. »Erzähl mir von dort, wo du herkommst.« »Lieber nicht.« »Ich habe nie etwas anderes gesehen als diese Berge hier«, sagte sie. »Warst du noch nie in Genua?«, fragte er überrascht. »So weit?« »Genua ist nicht weit.« »Für einen jungen, fremden Mann mag Genua nicht weit sein«, sagte sie. »Aber für ein Mädchen von hier…« Sie ließ den Satz verklingen. Sie fühlte mit ihrer kühlen, noch feuchten Hand seine Wange. »Du glühst«, sagte sie.
Albert schluckte. Ein Kribbeln wie von tausend Ameisen blieb an der Wange, die sie berührt hatte. Er versuchte, sich zu kontrollieren. Ihre Hand berührte seinen Rücken, wo das Hemd vor Schweiß festklebte. »So wirst du nie einschlafen«, sagte sie. »Warum steigst du nicht auch ins Wasser?« »Meinst du, das geht?« Wieder lachte sie leise. Ihre weißen Zähne leuchteten im Mondlicht. »Sicher«, sagte sie. »Alle tun das hier, wenn sie keinen Schlaf finden. Du solltest auch baden.« Mit einem Ruck stand er auf. »Ja… Vielleicht sollte ich das.« Er ging an ihr vorbei, zog sich aus, kletterte über die Mauer und ließ sich vorsichtig hinuntergleiten. Fast hätte er aufgestöhnt, so überraschte ihn die Kälte des Wassers, das ihm bis zur Brust reichte. Langsam ging er in die Knie, bis er mit dem Kopf untertauchte. Dann kam er hoch und schüttelte sich das Wasser aus den Locken. Schweiß und Staub der letzten Tage waren von seinem Körper gespült worden. Es war wunderbar. Sie stand am Becken und schaute ihm zu. Dann ließ sie das Tuch hinter sich fallen und krabbelte auf die Mauer. Sie war nackt und sie lächelte. Es war hell genug, um ihre kleinen Brüste zu sehen und wie schön sie war. Ihr glänzendes, schwarzes Haar fiel bis auf den Rand des Beckens. Mit einer leichten Bewegung zur Seite ließ sie sich ins Wasser gleiten. Albert stand bewegungslos, während sie langsam auf ihn zukam. Dann berührte ihre Hand seinen Arm und wanderte langsam hinauf, bis sie auf seiner Schulter ruhte. Er ließ seinen Kopf auf ihre Hand sinken, ihre Gesichter waren sich ganz nahe. Er beugte sich vor, und sie küssten sich. Plötzlich spürte er, dass er beide Arme fest um sie geschlungen hatte. Sie ließ sich von ihm hochheben und schlang die Beine um seine Hüfte.
Am nächsten Morgen erreichte Albert nach wenigen Stunden die breite Straße nach Genua. Er stoppte einen Pferdewagen, der ihn mit in die Stadt nahm. Tante Julia war einer Ohnmacht nahe, als der junge, braun gebrannte Mann in zerrissener Kleidung, einen Rucksack und einen Geigenkasten auf dem Rücken, mit breitem Gang in ihre Wohnung trat.
Der Weg des Lichts
Am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich lasen damals berühmte Professoren, und es gab zahlreiche modern eingerichtete Laboratorien. Ein Abiturzeugnis wurde nicht verlangt, es reichte, eine Aufnahmeprüfung abzulegen. Allerdings musste man mindestens achtzehn Jahre alt sein. Ein Freund der Familie aus Zürich legte ein gutes Wort beim Direktor ein, und der war bereit – trotz seiner Bedenken gegenüber so genannten Wunderkindern –, den erst sechzehnjährigen Albert Einstein zu den Aufnahmeprüfungen zuzulassen. Die Aufnahmeprüfungen begannen am 8. Oktober 1895. Sie bestanden aus zwei Teilen. Im ersten wurden Fachkenntnisse geprüft, Arithmetik und Algebra, Geometrie, Physik, Chemie und technisches Zeichnen. Im zweiten Teil wurde Allgemeinbildung getestet: freier Aufsatz sowie mündliche Prüfung in den Bereichen Literaturgeschichte, politische Geschichte, Zoologie und Botanik. Das Ergebnis des Aspiranten Albert Einstein war niederschmetternd. In Mathematik und Physik hatte er die meisten Mitbewerber weit überflügelt. Aber obwohl er sich gründlich vorbereitet hatte, reichten die anderen Leistungen, vor allem in Botanik und Zoologie, nicht aus. Und: Er empfand dieses Ergebnis als vollkommen berechtigt. Die Professoren hatten mit viel Geduld Eselsbrücken gebaut und Winke gegeben, da sie von seinen Ergebnissen in Mathematik und Physik so beeindruckt waren. Doch Albert, vor Prüfungsangst und Scham wie gelähmt, hatte nicht rechtzeitig reagieren können.
Was sollte nun werden? Zurück nach Italien? Niemals. Bald würde der Winter kommen, mit den Wanderungen war es vorbei. Und bei der bloßen Vorstellung, wieder Monate als ungeliebter Gast in der Mailänder Wohnung zu verbringen, bekam er Magenkrämpfe. Nach Deutschland? Jetzt, wo er die Staatsbürgerschaft abgelegt hatte? Ging das überhaupt? Da passierte etwas Unerwartetes. Der Physikprofessor vom Polytechnikum, Heinrich Weber, war von Alberts physikalischer Begabung begeistert und schlug vor, er könne trotz der missglückten Aufnahmeprüfung seine Vorlesungen besuchen. Nun schaltete sich auch der Direktor persönlich ein. Er riet von solchem Vorgehen ab. Es gebe einen besseren Weg. Er kannte eine sehr moderne, liberal geführte Kantonsschule. Sie lag in Aarau, einem kleinen Städtchen auf halber Strecke zwischen Zürich und Bern. Dort konnte Albert beim Lehrer Winteler wohnen, der gerne auswärtige Schüler in Pension nahm, und in einem Jahr das Maturitätszeugnis erlangen. Damit sei dann auch eine weitere Aufnahmeprüfung überflüssig, und er könne schon nächsten Herbst seine Studien am Polytechnikum beginnen. Albert schrieb einen Brief an die Eltern und einen Brief an Tante Julia, um ihnen die neue Situation mitzuteilen. Mit gebrochenem Stolz, aber neuer Hoffnung fuhr er mit der Bahn nach Aarau.
Schule kann eine quälende, jede Lebenslust zermahlende Maschine sein – aber auch ein Paradies auf Erden, in dem junge Menschen gemeinsam die Welt und ihre Geheimnisse entdecken, Freundschaften schließen, diskutieren. An der Aarauer Schule herrschte kein militärischer Drill. Ein Mitschüler Einsteins, Hans Byland, hat später in
überschwänglichem Ton darüber berichtet: »In der Kantonsschule wehte in den neunziger Jahren ein scharfer Wind der Skepsis, worauf schon die Tatsache hindeutet, daß aus unserer Klasse, wie auch aus den zwei nächsten, kein Theologe hervorging. In diese Atmosphäre paßte der kecke Schwabe nicht übel, dessen originelle Selbstherrlichkeit ihn schon vor allen anderen auszeichnete.« Der kecke Schwabe – damit war Albert Einstein gemeint. Im Deutschunterricht wurden nicht langatmige Gedichte auswendig gelernt. Stattdessen spannende Lektüre: Lessings »Emilia Galotti«, Goethes »Egmont« und »Götz«, Schillers »Maria Stuart«. Außerdem wurde der freie Aufsatz geübt. In Mathematik, darstellender Geometrie und Physik konnte Albert nicht viel Neues erfahren, doch hatte der Rektor, August Tuchschmid, der einst Assistent am Polytechnikum in Zürich gewesen war, ein exzellentes Physiklaboratorium mit elektrotechnischen Anlagen eingerichtet. Dort konnten die Schüler selbständig experimentieren. Außerdem gab es so interessante Fächer wie Feldmessen, Mineralogie und Geologie. Der Lehrer, Professor Mühlberg, unterrichtete unkonventionell und mit Begeisterung, er hatte sogar ein kleines Museum für Naturkunde eingerichtet. Meist wurde der Unterricht nach draußen verlegt, wo sich die Gegebenheiten der Natur am besten untersuchen ließen. Auf einer dieser Exkursionen fragte Mühlberg, auf eine geologische Formation deutend: »Nun, Einstein, wie verlaufen hier die Schichten: von unten nach oben oder von oben nach unten?« Antwort: »Das ist mir ziemlich egal, Herr Professor.« Unter seinen Mitschülern fand Albert viel mehr Freunde als in München. Vor allem mit Hans Frösch, genannt »Fröschlein«, der Arzt werden wollte und mit echter Leidenschaft über dem Mikroskop saß, um die kleinsten Organismen zu erforschen, konnte Albert stundenlang
spekulieren. Außerdem war Robert Koch, ein gleichaltriger Cousin Alberts, ebenfalls nach Aarau gekommen, um dort sein Maturazeugnis zu erlangen, und auch er wurde bei den Wintelers einquartiert. Jost Winteler, der an der Kantonsschule Griechisch und Geschichte lehrte, war ein humorvoller Pessimist, der bei jeder Gelegenheit verkündete: »Der große Kladderadatsch, der kommt bestimmt.« Damit meinte er einen apokalyptischen Krieg, der die ganze europäische Kultur in den Abgrund reißen sollte. Zu einer Zeit, da Wilhelm II. noch als »Friedenskaiser« gefeiert wurde, ahnte er, dass die preußische Sucht nach Unterordnung und Autorität in einem Blutbad enden würde. »Das Preußentum«, dozierte er, »braucht diese starre, leblose Maske aus militaristischem Gehabe, sonst müsste es untergehen. Das alles ist längst obsolet. Aber anstatt freiwillig abzudanken, wird Preußen lieber Deutschland und ganz Europa in einen grausamen Krieg ziehen.« Vom frühen Nachmittag an war er meist leicht angetrunken. Sein ganzes Wesen war von düsteren Prophezeiungen erfüllt, doch er sagte auch: »Die Romantiker irren. Das Leben ist kein Traum, das Leben ist ein Spiel.« Dieser Mann war mit einer Sächsin namens Pauline verheiratet, die stets herumlief, als habe sie gleich mehrere Besenstiele verschluckt. Wenn sie den Mund aufmachte, gab sie knochentrockene Bemerkungen auf Sächsisch von sich. Doch hatte sie ein großes Herz, und sie nahm Albert wie einen Sohn auf. Sie hatte sieben Kinder großgezogen, drei Töchter und vier Söhne, der jüngste dreizehn Jahre alt. An vielen Abenden kam die Familie zum Musizieren zusammen. Man spielte Sonaten und Kammermusik in größeren Besetzungen und hielt ständig nach neuen Talenten Ausschau. Sonntags dann ausgedehnte Familienspaziergänge, auf denen Albert mit »Papa Winteler« philosophierte oder seine
physikalischen Überlegungen besprach. Sie sprachen auch über ein Problem, das Albert in letzter Zeit heftig umtrieb: Man dachte sich die Ausbreitung des Lichtes damals in Wellen, die sich in einem feinen Äther fortsetzten, ähnlich wie eine Welle im Wasser. Dann musste es aber, wenigstens theoretisch, auch möglich sein, sich genauso schnell wie diese Welle zu bewegen – so wie ein Boot auf einer Welle mitschwimmen kann. Dann würde man den Eindruck haben, die Welle stünde still. Aber war das denkbar, ein stillstehender Lichtstrahl? »Warum auch nicht?«, fragte Papa Winteler und sah sich gut gelaunt um. »Alles kann stillstehen. Wenn der Wind nicht weht, bleiben sogar die Wolken stehen.« »Aber Licht ist etwas Besonderes«, sagte Albert. »Licht ist immer in Bewegung. Das ist seine Natur. Es kann nie zum Stillstand kommen.« Albert wurde klar, dass sein eigentliches Interesse weder der Technik noch der Mathematik galt, sondern der theoretischen Physik. Diese versucht im Gegensatz zur experimentellen Physik nicht, durch exakte Messungen neue Fakten zu erfahren. Die theoretische Physik versucht, durch logische Verknüpfung und mathematische Methoden, unser Wissen von der Natur zu einem einheitlichen Bild zu formen. Albert war fasziniert von der Idee, dass hinter der unendlichen Vielfalt der Erscheinungen klare, einfache Gesetze stünden – und dass es dem Menschen gegeben war, diese Gesetze zu verstehen. Diese Idee erfüllte ihn mit einem neuen, rauschhaften Gefühl innerer Stärke und Sicherheit. Allerdings war er unsterblich verliebt in eine der drei Töchter des Hauses. Und dies erfüllte ihn mit einer Unsicherheit, die an panische Angst grenzte. Marie war einige Jahre älter als er, die Drittälteste in der Familie und eine gute Pianistin, die den entfesselt aufspielenden Albert liebend gern begleitete. Sie
besuchte das Lehrerinnenseminar und würde schon in einem Jahr kleine Aargauer in die Geheimnisse des Einmaleins und der Rechtschreibung einweihen. Sie hatte sich bereits eine strenge Lehrerinnenart angewöhnt, wirkte erwachsen und erfahren. Täglich zum Abendessen musste Albert ihr begegnen. Den ganzen Tag über sehnte er sich nach dieser Begegnung. In ihrer Nähe zu sein, sie sehen zu dürfen, das war die Erfüllung aller Wünsche. Dann aber saß er ihr schweigend gegenüber und schluckte mühsam das Brot hinunter. Marie hatte blonde, weiche Locken und Augen wie ein Reh. Den Kopf leicht geneigt, wirkte sie immer, als wolle sie etwas fragen. Alles, was sie machte, ob sie ihrem Vater Tee nachschenkte oder einem der Brüder das Salz reichte – jede ihrer Gesten hatte eine Zartheit, als stamme sie nicht aus dieser Welt, als käme sie, immer ein wenig verspätet, erst durch einen Zeittunnel hindurch in unsere Wirklichkeit. Albert saß nur da, aß kaum und sah zu ihr hinüber. Manchmal schaute er sie minutenlang an, er bemerkte nicht, wie die Zeit verging. Wenn sie, seinen Blick bemerkend, zurücksah, senkte er beschämt die Augen oder schaute durch sie hindurch. Sie lächelte, als ob sie alles wüsste. Seine Freunde, allen voran Cousin Robert, hatten ihn schnell durchschaut und trieben erbarmungslos ihren Spott. Wenn sie abends im Stadtgarten zusammensaßen, wurde die Angelegenheit wieder und wieder besprochen. Hans Frösch vertrat einen rein naturwissenschaftlichen Standpunkt. Die Hormone, so erklärte er, überschwemmten den Geist des jungen Menschen und erzeugten in ihm Gefühle, die er dann Liebe nenne. »In Wirklichkeit gehorchen wir dem Trieb.« Albert hörte gar nicht hin. Robert Koch hingegen hatte sich der Romantik verschrieben. »Wenn wir träumen, daß wir träumen, sind wir im Begriff zu erwachen«, zitierte er Novalis.
»Was soll das damit zu tun haben?«, erkundigte sich Frösch. »Die menschliche Seele ist kein Chemielabor«, sagte Robert mit schwermütiger Miene. Er saß, die Ellbogen auf die Knie gestützt, in gebeugter Haltung auf dem Brunnenrand. »Die menschliche Seele, sie ist…« Er hob den Kopf und sah an den Büschen vorbei in die Ferne. »Die menschliche Seele ist…« Ihm schien nichts Rechtes einzufallen. »… etwas Großes«, beendete er schließlich den Satz. Albert stand, ein Bein locker angewinkelt, an den Brunnenrand gelehnt und fing mit den Fingerspitzen Wassertropfen. Es wurde wieder Frühling, und es war das erste Mal, dass sie abends ohne Mantel hier draußen stehen konnten. »Ich werde mir jedenfalls einen Bart wachsen lassen«, gab Frösch bekannt. »Das macht die Mädchen ganz wild.« »Glaubst du wirklich?«, fragte Robert neugierig. Diese Idee gefiel Albert. »Ha«, sagte er und schwang sich auch auf den Rand des Brunnens. »Ich werde mir einen Schnurrbart stehen lassen. Dann kann sie meiner Ausstrahlung nicht mehr widerstehen.« »Ihr habt es gut«, meinte Robert niedergeschlagen. »Bei mir kommt noch kein Bart.« Frösch klopfte ihm so heftig auf die Schulter, dass er beinahe heruntergefallen wäre. Dann saßen sie schweigend nebeneinander. Robert und Frösch hingen ihren Gedanken nach, und Albert träumte von Marie. Der nächste Tag brachte eine entsetzliche Nachricht. Albert saß mit Robert wieder im Stadtgarten. Frösch, der am Vormittag wegen angeblicher Krankheit gefehlt hatte (er war ein Spezialist für simulierte Gebrechen), kam gesund und munter die Allee hinunterspaziert. Er war, so berichtete er, am Vormittag am Rößliberg gewesen und zufällig am
Lehrerinnenseminar vorbeigekommen. »Und wen sehe ich da?« »Red schon!«, sagte Albert gereizt. »Die Dulcinella unseres Don Quichotte«, sagte Frösch lachend. Robert war ganz in die Betrachtung seines eigenen Spiegelbildes im Wasser versunken gewesen. »Welcher Don Quichotte?«, fragte er verdutzt. »Er spricht von mir«, sagte Albert. Er ahnte schon, worauf diese Geschichte hinauslief. Er fuhr Frösch regelrecht an. »Und, was ist mit ihr?« »Na, rat mal«, sagte Frösch und lehnte sich bequem gegen den Brunnen. Albert schwieg grimmig. Robert flüsterte: »Erzähl’s lieber jetzt. Sonst gibt’s böses Blut.« »Sie kommt also hübsch herausgeputzt aus ihrer Schule spaziert, und freundlich, wie ich bin, will ich sie grüßen. Aber sie sieht mich gar nicht. Denn da wartet so ein Knabe auf sie. Er versteckt sich etwas hinter einem Wägelchen, damit’s niemand merkt, sonst zerreißt sich ja die halbe Stadt das Maul. Aber sie hat ihn gleich gesehen und ist auf ihn zu. Du hättest ihre Augen sehen sollen. Wie sie geleuchtet haben!« »Schluss«, zischte Albert. Er packte Frösch am Jackett. »Stimmt das auch?« Die Kirchenglocke läutete acht Uhr. Das Zimmer lag im Halbdunkel, Albert hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Licht anzustellen. Er saß vor dem aufgeschlagenen Buch, inzwischen war die kleine Schrift kaum noch zu entziffern. Draußen setzte das abendliche Frosch- und Grillenkonzert ein. Ein paar verspätete Vögel zwitscherten noch eine Abendunterhaltung, eine Krähe krächzte, ein Storch klapperte. Die Geräusche des Tages verstummten mehr und mehr. Albert saß, ohne sich zu rühren. Die Hunde, die bei den Nachbarn
gegenüber in einem Zwinger gehalten wurden, schlugen alle paar Minuten an. Vor seinem inneren Auge sah Albert die großen, schlanken Tiere, wie sie kraftvoll, die Mäuler weit aufgerissen, gegen die Käfigwände sprangen. Halb neun. Auf seinem Schreibtisch war nur noch das helle Papier des Buches zu unterscheiden, alles andere verschmolz mit dem Schwarz der Tischplatte. Der Abendhimmel zeigte alle Schattierungen vom sanften, dunklen Blau bis zu einem schweren, gräulichen Schwarz. Albert wusste, dass er allein mit Marie im Hause war. Mama und Papa Winteler waren mit den anderen Kindern in ein Konzert gegangen, Robert übers Wochenende nach Zürich gefahren. Drei Wochen waren vergangen, seitdem Frösch von Maries Liebhaber erzählt hatte. Er wurde nicht offiziell vorgestellt, dennoch gab es unübersehbare Zeichen. An den gemeinsamen Musikabenden nahm Marie kaum noch teil, häufig blieb sie länger aus. Ihre Eltern machten einerseits anzügliche Bemerkungen über das Glück der Jugend, andererseits drang manche halb geflüsterte, spätabendliche Standpauke durchs Haus. Albert spürte mit jedem Tag drängender das Bedürfnis, Marie seine Gefühle mitzuteilen. Aber wie? Er konnte nicht einmal sich selbst erklären, was in ihm vorging. Er liebte seine Eltern, seine Schwester Maya, aber das war immer einfach gewesen, man hatte sich in den Arm genommen, man hatte miteinander geredet, er hatte gespürt, wie nah man sich innerlich war. Er wollte auch Marie in die Arme nehmen, er wollte auch ihr nah sein, und doch war es etwas vollkommen anderes. Er konnte ihre Anwesenheit im Haus regelrecht spüren. Sie saß, nur wenige Schritte entfernt, in ihrer Kammer und lernte für die Prüfungen. Er hatte solche Sehnsucht, ihr nahe zu sein, dass es wehtat. Vor ein paar Tagen war er ihr auf der Treppe begegnet. Sie hatte einen Strohhut getragen mit einer blauen Schleife und
eine weiße Bluse, vorne ziemlich offen. Mit wiegendem Gang und leicht abwesendem Ausdruck war sie Albert entgegengekommen. Der hatte sich mit dem Rücken an die Wand gedrückt, um sie vorbeizulassen. »Hallo, Albert«, hatte sie gegrüßt. Wenn sie lächelte, bog sich ihre Oberlippe auf der einen Seite etwas höher. »Hallo, Marie«, hatte Albert geflüstert. Dann hatte sie ganz nah vor ihm gestanden. Er hatte sie angeschaut, ihr helles Gesicht im dunklen Treppenhaus, und am Ende hatte er nur noch ihren Mund gesehen, die lächelnden Lippen… Daraufhin hatte er drei Nächte wach gelegen und an diesen Mund gedacht. Schon begannen die Lehrer über seine Konzentrationsschwäche und Müdigkeit zu klagen. In wenigen Tagen würde Maries Ausbildung am Seminar enden, und dann würde sie fortziehen, nach Olsberg, um an einer Elementarschule zu unterrichten. Und auch Albert würde im Oktober nach Zürich gehen. Und dann würden sie sich vielleicht nie Wiedersehen. Er musste etwas unternehmen. Er musste mit ihr reden. Doch wie? Seit Wochen wollte er eine scheinbar zufällige Begegnung arrangieren. Beispielsweise beim Lehrerinnenseminar vorbeikommen und sie treffen. Sie würden ins Gespräch kommen… Doch was, wenn ihr Verehrer auch erschien? Sie würde ihm in die Arme fallen, mit leuchtenden Augen, und er, Albert, würde hinter einer Ecke stehen und ihnen zuschauen. Nein, rief es in ihm. Lieber sterbe ich! Er konnte einfach hinübergehen und an ihre Tür klopfen. Doch beim bloßen Gedanken daran bekam er Krämpfe in den Kniekehlen. Mühsam zwang er sich auf die Beine. Dann verließ er sein Zimmer und ging über den Flur. Minutenlang stand er vor ihrer Tür. Er begann, die Holzmaserung zu studieren. Nach einer Weile hörte er von drinnen ein Knarren der Dielen. Sie musste aufgestanden sein. Sie würde gleich zur
Tür kommen. Vielleicht würde sie die Tür öffnen. Er würde dort stehen wie ein Idiot. Er würde etwas sagen müssen. Panik erfasste ihn. Eilig schlich er rückwärts durch den engen Flur zurück in sein Zimmer. Er blieb im Türrahmen stehen und horchte. Ihre Tür öffnete sich nicht. Vielleicht war sie nur aufgestanden, um ein Buch zu holen. Es war nur eine Frage des Mutes. Also zog er sich in sein Zimmer zurück, legte sich aufs Bett und begann, den notwendigen Mut zu sammeln. Er schloss die Augen. Es war, als sei er nicht mehr auf dieser Welt. Sein Körper wurde ihm fremd. Von einem weichen Gefühl durchströmt, stand er auf, ging zu ihrer Tür und klopfte. Er bemerkte, dass er dermaßen zaghaft geklopft hatte, dass sie auch glauben konnte, ein Käfer sei gegen die Tür gesprungen. Er hob die Hand, um erneut zu klopfen. Da ging die Tür auf. Das helle Licht aus ihrem Zimmer blendete ihn. Wie erstarrt blieb er, mit halb erhobener Hand, stehen. »Was gibt’s denn?« Sie hielt ein Buch zwischen den Fingern aufgeschlagen. Offensichtlich übte sie für das Abschlussexamen. »Oh«, sagte er. Er musste mehr sagen. Für Sekundenbruchteile war er entschlossen, ihr einfach seine Liebe zu gestehen. Dann sagte er sich: Nicht gleich von Liebe sprechen, Zuneigung ist auch gut. Dann sagte er sich: Zuneigung klingt so förmlich. Sympathie ist etwas Schönes. All dies überschlug sich in seinem Kopf blitzschnell. Schließlich beschloss er, ihr zu sagen, sie sei ihm sympathisch. Er schluckte und sagte: »Hast du vielleicht einen Radiergummi für mich? Ich muss meinen verlegt haben.« »Aber natürlich.« Ihre Stimme klang müde, und sie hielt den Kopf etwas schiefer geneigt als sonst. Sie legte das Buch ab und holte Albert einen kleinen Radierer. Er strahlte sie an. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen«, sagte sie. Wieder in seinem Zimmer, feuerte er den Radierer an die Wand. Er war definitiv ein Versager. Das war eine ganz schlechte Komödie gewesen. Auf seinem Schreibtisch lagen gleich drei halb verbrauchte Radiergummis. Mit schlaffen Bewegungen packte er seine Geige aus, steckte das Kissen unters Kinn und begann, unkonzentriert einige Melodien zu streichen. Moll-Tonarten lagen ihm augenblicklich besonders. Endlich fand er eine Tonfolge, die ihm eine gewisse Befreiung verschaffte. Es war der Anfang eines SchubertLiedes. Behutsam tastete er sich an neue harmonische Übergänge heran, improvisierte um gebrochene Akkorde herum. Er hielt die Augen geschlossen, sein Spiel wurde immer langsamer, melancholischer. Er fühlte den Druck auf den geschlossenen Augenlidern, gleich würden die Tränen kommen. Seine Läufe führten ihn zu immer höheren Tönen, immer leiser wurde er. Und da hörte er die vorsichtig angeschlagenen Töne des Klaviers, die von unten, aus dem Wohnzimmer, zu ihm heraufklangen. Albert versuchte, ein Gefühl für sein eigenes Spiel zu behalten und doch auch zu hören, was dort unten auf dem Klavier geschah. Da wurde ihm klar, dass derjenige – oder diejenige – versuchte, ihn zu begleiten, und seine sentimentalen Läufe mit ebenso sentimentalen Akkorden unterlegte. Er begann lauter zu spielen. Und auch unten im Wohnzimmer wurde fester in die Tasten gegriffen. Und plötzlich wusste Albert, wer dort unten spielte. Es musste Marie sein. Er merkte, wie ihr Kontakt immer besser wurde. Ohne das Spiel zu unterbrechen, ging er zur Tür und die Treppe hinunter. Marie saß im grauen Kleid am Klavier. Sie hatte eine schwarze Wollstola über die Schultern gelegt, und viel mehr
war zunächst nicht von ihr zu sehen, denn sie hatte den Kopf gesenkt. Vorsichtig, die Töne erahnend, glitten ihre Hände über die Tasten. Albert ging auf sie zu. Nachdem er die Geige abgesetzt hatte, sah sie auf. »Ich hoffe, es hat dir nichts ausgemacht, dass ich einfach mitgespielt habe«, sagte sie. »Du hast so verträumt und melancholisch geklungen…« »Doch«, sagte er lächelnd. »Es hat mir sogar sehr viel ausgemacht.« Marie wollte sich entschuldigen, aber er ergänzte: »Es war wunderschön. Vielen Dank.« Als sie bald darauf im Mondlicht durch den Stadtgarten gingen, war ihm jede Lust vergangen, von seiner großen Liebe und seiner unstillbaren Sehnsucht zu reden. Wie lächerlich all das klang. Er wollte nur neben ihr hergehen, hin und wieder unter einer Linde stehen bleiben, die klare Luft einatmen, horchen, wie der Wind durch die Blätter fuhr. Vor dem kleinen Haus der Familie Winteler hockten sie sich beide auf die Stufen. Das weiche Licht der Straßenlaterne fiel auf ihr Gesicht. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Arm. Durch den leichten Baumwollstoff ihrer Bluse konnte er ihre warme Haut spüren. Er war so glücklich, ihm war, als müsse er augenblicklich vom Boden abheben, verrückt werden, in tausend Stücke zerspringen, lachen oder weinen oder am besten alles gleichzeitig. Dann senkte sie ihren Kopf und küsste ihn auf die Hand. Albert gestand ihr eines Abends doch, wie verliebt er gewesen war. Es brachte ihn völlig aus der Fassung, als sie sagte, ihr sei es genauso ergangen. »Aber du hast es mir nie gezeigt«, sagte er.
»Du mir auch nicht«, antwortete sie. »Ich war so unsicher. Was hätten deine Eltern gesagt, wenn die Tochter des Lehrers ihren braven Sohn verführt?« Das gefiel Albert – mit Ausnahme des »brav«. Sie schliefen nie zusammen, und einmal, nach einem besonders innigen Kuss, sagte sie: »Wir sind wie Bruder und Schwester, die sich ineinander verliebt haben. Was wir tun, ist etwas Verbotenes.« Mit geschlossenen Augen ließ sie ihre Hand langsam über sein Gesicht gleiten, über seine Augen, die Wangen, die halb geöffneten Lippen. Sie saßen nebeneinander. Marie schaute verträumt in den Sternenhimmel und stellte die Frage, die Hunderttausende Verliebte auf der ganzen Welt schon gestellt haben: »Meinst du, ob es dort oben irgendwo Leben gibt?« »Ziemlich wahrscheinlich«, sagte Albert. »Unsere Milchstraße besteht aus rund 200 Milliarden Fixsternen. Jeder dieser Sterne ist eine Sonne, die vermutlich von Planeten umkreist wird. Es gibt Tausende solcher Milchstraßen, und es werden immer neue entdeckt. Auf einem dieser Zigmilliarden Planeten wird sich wohl Leben entwickelt haben.« »Ob das All wohl bis ins Unendliche weitergeht?«, fragte Marie. »Unmöglich«, sagte Albert. »Sonst würde es nie Nacht werden. Es wäre immer taghell.« Als ihn Marie zweifelnd ansah, fuhr er fort: »Wenn das Weltall unendlich groß wäre, dann müsste es auch unendlich viele Sterne darin geben. Und diese unendlich vielen Sterne würden unendlich viel Helligkeit produzieren.« »Tatsächlich?« Sie lehnte sich an ihn. Nach einer Pause sagte er: »Selbst wenn es dort oben Leben gibt. Es ist nicht gesagt, dass es noch lebt.« »Was soll das heißen?«
»Das Licht braucht Tausende von Jahren, bis es bei uns ankommt. Es kann sein, dass ein Stern vor Jahrhunderten explodiert ist, aber noch Hunderte von Jahren an unserem Himmel leuchten wird. Dann erst kommt das Licht der Explosion bei uns an.« Er nahm eine ihrer blonden Locken und ließ sie durch seine Finger gleiten. »Nun stellt sich die Frage: Wann explodiert der Stern? Wenn das Licht bei uns ankommt oder schon vorher?« Marie kratzte sich an der Stirn. »Der Stern explodiert, wenn er explodiert. Nicht vorher, nicht nachher.« »Aber wenn jemand das Licht überholen könnte, dann würde er die Explosion bereits vorher sehen«, wandte Albert ein. Marie legte die Stirn in Falten und sah ihn an, als zweifle sie an seinem Verstand. »Mit dir kann man über solche Dinge nicht reden«, sagte sie schließlich. Am 21. September 1896 bestand Albert Einstein die Maturitätsprüfung in Aarau. Wenige Tage bevor er nach Zürich aufbrechen sollte, um sein Physikstudium zu beginnen, saß er allein in seinem Zimmer. Er wollte seine Sachen packen, doch waren seine Gedanken abgeschweift zu einem grundsätzlichen Problem, das mit Maxwells Feldgleichungen verbunden war. Er hatte schon wiederholt darüber nachgedacht: Nach Newtons Bewegungsgesetzen hätte es möglich sein müssen, einen Beobachter auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen – und der müsste dann das Licht als stillstehend empfinden. Ein solcher stillstehender Lichtstrahl wäre ein von der Zeit unabhängiges Wellenfeld – und das war in Maxwells Gleichungen nicht vorgesehen. Albert war vollkommen in seine Gedanken versunken, so tief, dass er am Ende seine eigenen Gedanken selbst nicht mehr wahrnahm. Plötzlich sagte er leise vor sich hin: »Dann müsste ja eine Uhr, die sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit bewegt, stillstehen, und ein Mensch, der den Lichtstrahl
einholt, müsste unendlich viel Masse haben. Das wäre eine verkehrte Welt.« Er hatte still und unbewegt gesessen. Nun erschrak er vor seiner eigenen Stimme. Er schüttelte mehrmals den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Er wusste, dass er eben einen Gedanken gehabt hatte. Er hatte mit dem Licht begonnen und mit den Sätzen geendet, die er halblaut vor sich hin gesprochen hatte. Doch was war dazwischen passiert? Wie war er auf den Gedanken gekommen, ein Mensch, der sich so schnell bewegte, müsse unendlich viel Masse bekommen? In seinem Gehirn war nur ein gähnendes Loch, von dem eine Sogkraft auszugehen schien. Es verschluckte jeden Gedanken, der sich ihm näherte. Aber er musste diesen Gedanken doch wiederfinden können! Er war wie ein Traum, von dem man nach dem Aufwachen nur noch einen Zipfel erhaschen kann. Zieht man an dem Zipfel, ist es, als ob man im Kopf das Licht anschaltet und die letzte Ahnung zerfällt. Wie er auf die Idee gekommen war, ließ sich also nicht mehr rekonstruieren. Aber von diesen beiden Enden – den Maxwellschen Feldgleichungen und den Bewegungsgesetzen Newtons – musste er seine Suche beginnen, um das Rätsel des Lichtstrahls zu lösen.
Sinnkrise
»Und dann Anita Augspurg, die Schauspielerin«, sagte Einstein begeistert und marschierte mit großen Schritten los. »Eine radikale Frauenrechtlerin. Sie tritt betont männlich auf, in Hosen, Zigaretten rauchend.« »Und so jemand verkehrt in einer Studentenpension?« »Ja, sie besucht den Kunststudenten Ächtler. Ein ziemlich degenerierter Bayer. Hat aber Geld. Und erst die Russen, alles Revolutionäre, Männer wie Frauen. Sehen mehr oder weniger so aus, wie man sich slawische Nihilisten vorstellt.« »Also ungefähr wie du?« Marie, im einen Arm die Blumen, mit denen er sie begrüßt hatte, im anderen den zierlichen Schirm, musste über den Züricher Bahnhofsplatz rennen, um ihn einzuholen. Albert Einstein sah an sich hinunter. Er trug einen Anzug, hatte die Flecken gerade erst entfernen lassen, und auch der Hemdkragen war frisch. Er ging auf ihre Bemerkung nicht weiter ein. »Meine Pension ist leider etwas bürgerlich. Aber es gibt hier Studentenheime, von reichen Russen errichtet, um ihre armen jungen Landsleute unterzubringen. Da züchten sich die russischen Kapitalisten ihre eigenen Henker.« »Wie bitte?«, erkundigte sich Marie. »Kommunisten.« »Was ist das denn schon wieder?« »Ein bunter Haufen von Weltverbesserern. Den ganzen Tag wird diskutiert. Ein Russe ist angeblich in geheimer Mission verschwunden.«
»Was soll schon dahinter stecken?«, meinte Marie geringschätzig. »Er soll einen Großfürsten umbringen.« Einstein drehte sich plötzlich zu ihr und packte mit beiden Händen ihren Hals. Mit grimmiger Miene starrte er sie an. »Quatschkopf!«, rief sie und befreite sich mit einem Tritt gegen sein Schienbein. Jaulend hüpfte er zurück. Beinahe wäre er vor einen Pferdeomnibus geraten. »Sie, machen Sie keinen Unsinn hier auf dem Fahrweg«, rief der Kutscher. Sie bummelten am Limmatquai entlang, Richtung Zürichsee. Marie erzählte von ihrer Stelle als Lehrerin, von den dreißig kleinen Knaben, für die sie nun Verantwortung trug. »In der ersten Reihe sitzt ein kleiner Bube, der einen lieben Zug von dir hat, im Gesicht, und denk dir, er heißt auch Albert. Manchmal, wenn er mich ansieht, glaube ich, du bist es…« »Ach ja?« Einstein stand am Geländer und schaute auf den See, er hörte kaum zu. Plötzlich ärgerte er sich über den vertanen Nachmittag, aber er zeigte es nicht. Er hätte lieber gelesen. Gemeinsam gingen sie die Unionsstraße hinauf zu seiner Pension. Dort löste sich Albert aus ihrem untergehakten Arm. »Da wären wir.« Die Pension von Frau Henriette Hägli in der Unionsstraße war in einem der kleinen, zweistöckigen Züricher Stadthäuser untergebracht. Albert öffnete die Haustüre und ging auf die Treppe zu. Frau Hägli trat aus der Küche und trocknete sich die Hände an der Schürze. »Grüetzi, Herr Einstein«, sagte sie mit gezwungenem Lächeln. »Grüetzi, Frau Hägli«, sagte Einstein. »Darf ich Ihnen Fräulein Winteler vorstellen?«
»Sehr erfreut«, sagte Frau Hägli und trat mit vorgebeugtem Oberkörper einen Schritt vor. Sah sie nicht, dass ihr Marie die Hand entgegenstreckte? Einstein und Marie wandten sich ab. »Wo wollen Sie denn hin?«, rief Frau Hägli etwas zu laut. Albert blieb stehen. Wohin sollte es wohl gehen? »Na, auf mein Zimmer«, sagte er. »Ich möchte Frau Winteler ein paar Bücher zurückgeben, die ich mir in Aarau geliehen hatte.« Das stimmte – aber schon ärgerte er sich, dass er der Wirtin überhaupt Auskunft gab. Was ging sie das an? Frau Hägli kam hinter ihnen die Treppe hinauf. »Herr Einstein«, sagte sie mit einer Stimme, die wie ein Korkenzieher gewunden war, »es ist nicht gestattet, Damen mit aufs Zimmer zu bringen.« Einstein holte tief Luft. Marie flüsterte er zu: »Darauf gehen wir gar nicht ein.« Sie gingen weiter. Da schob sich Frau Hägli an ihnen vorbei und stellte sich, mit ausgestreckten Armen, vor die Zimmertür. Sie starrte Einstein an, als sei er der Teufel persönlich. »Hier nicht«, rief sie beschwörend. »Dies ist ein sauberes Haus!« »Wir wollen uns nur unterhalten.« »Unterhalten Sie sich sonst wo!«, keifte die Pensionswirtin. Albert stand einen Moment unschlüssig. Dann sagte er, sehr leise: »Jawohl, das werden wir auch. Für das Zimmer können Sie einen neuen Mieter finden. Sowieso überteuert und ungepflegt.« Frau Hägli war außer sich. »Ungepflegt?«, rief sie immer wieder. »Und das von Ihnen? Von so einem Russen?« Einstein holte seine Koffer aus dem Schrank und begann, seine Sachen hineinzuwerfen.
Professor Heinrich Friedrich Weber hatte in Zusammenarbeit mit Siemens das hochmoderne physikalische Institut
aufgebaut. Er hatte ein kantiges, geradliniges Gesicht mit stürmisch vorstehenden Brauen und dichtem, nach unten spitz zulaufendem Bart. Er trug einen dunklen Anzug, und sein weißer Hemdkragen mit der schwarzen Krawatte saß so eng, dass er ihm den Hals abzupressen schien. Albert Einstein lehnte, in wenig angestrengter Haltung, am Türrahmen. Auch im zweiten Studienjahr trug er noch immer den wollenen Anzug, dem inzwischen einige Knöpfe fehlten. Er fuhr sich über den Schnurrbart, der nun lang genug geworden war, dass er beim Denken über ihn streichen konnte. Es gab allerdings wenig nachzudenken, und er suchte auch gar nicht nach Ausflüchten. Ja, er hatte das Praktikum bei Pernet regelmäßig geschwänzt, er hatte, wenn er doch einmal anwesend gewesen war, das Skriptum mit den vorgeschriebenen Lösungswegen in den Papierkorb geworfen, um nach eigenen Wegen zu suchen. Bei einer Explosion hatte er sich die rechte Hand verletzt. Weber blätterte im Berichtsheft. »Es geht doch schließlich um Ihr Studium«, sagte er. Einstein schwieg und schaute noch immer an Weber vorbei aus dem Fenster. Das Physikgebäude der Eidgenössischen Hochschule lag am Stadtrand, gleich dahinter stieg der Zürichberg auf, auf dessen Gipfel schon Schnee lag. Einstein verlagerte das Gewicht vom linken Bein aufs rechte. Weber lehnte sich zurück. »Was soll denn nun werden?«, fragte er. »Dann setzen Sie mir eben einen Verweis ins Jahreszeugnis.« »Damit ist nichts erreicht.« Schließlich fuhr Einstein auf. Er hatte sich zusammengenommen, so gut er nur konnte. »Ich werde jedenfalls nicht um Gnade bitten«, sagte er. Es schien lange zu dauern, bis diese Worte Weber erreicht hatten. Dann sagte er: »Gut. Gehen Sie jetzt, bitte.«
Einstein stand noch immer an den Türrahmen gelehnt. »Sie sind entlassen«, sagte Weber. »Gehen Sie.« Einstein spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Was sollte das heißen? War er damit von der Hochschule verwiesen? Tausend Gedanken brachen wie eine Flutwelle über ihm zusammen. Er besaß nichts. Die Zahlungen der Tante waren vom Fortgang des Studiums abhängig. Ebenso die Aufenthaltserlaubnis in Zürich. Von all seinen Zukunftsplänen ganz abgesehen. Weber sah ihn kühl an. »Ja, Sie bekommen Ihren Verweis ins Jahreszeugnis«, sagte er. »Aber passen Sie gut auf.« »Danke«, sagte Albert halblaut, wie zu sich. Er wandte sich ab und ging. Das Physikalische Gebäude war ein nicht gerade zierlicher Backsteinbau, die runden Fensterbogen das Einzige, was die Fassade auflockerte. Von dem flachen Dach hinter dem Säulengeländer schauten allegorische Statuen auf die strebsamen Studenten herunter. In diesem Gebäude, in der Vorlesungshalle, den Laboratorien und Seminarräumen, hatte Einstein nun eineinhalb Jahre verbracht. Mit wie viel Hoffnung er sich zuerst ins Studium geworfen hatte! Die Vorlesungen über Geologie bei Heim, über Differentialgeometrie bei Geiser, über höhere Mathematik bei Hurwitz: ein Fest! Webers Vorlesungen über die Wärme und die dynamische Gas-Theorie waren exzellent, Einstein fertigte detaillierte Aufzeichnungen an. Andere Lehrer, wie Fiedler, der über projektivistische Geometrie las, schreckten ihn ab. »Er ist ein Meister, aber leider auch ein arger Schulmeister«, schrieb er Marie. An der Hochschule wirkte damals auch der junge Hermann Minkowski, ein gebürtiger Russe, der als einer der originellsten Mathematiker seiner Zeit galt. Zehn Jahre später sollte Minkowski das mathematische Gerüst für Einsteins spezielle Relativitätstheorie schaffen und eine große Rolle bei
ihrer Durchsetzung spielen. Doch damals glaubte Einstein noch, es genüge für einen Physiker, die elementaren mathematischen Begriffe erfasst zu haben. Alles andere waren unnötige Details. Wirklich interessierten ihn die revolutionären Neuerungen, die sich in der Physik überall ankündigten. Doch an der Hochschule tastete man sich nur langsam vorwärts; die Professoren wichen abenteuerlichen neuen Theorien gerne aus. Einstein vergrub sich in die Werke von Helmholtz und Boltzmann, die das thermodynamische Prinzip begründet hatten. An diesem Privatstudium beteiligte sich gelegentlich Mileva Marie. Sie war die einzige Frau im Jahrgang und ebenso verschlossen und eigensinnig wie Einstein. Das Studium verlangte aber, dass man sich mit aller Kraft auf das konzentrierte, was gelehrt wurde. Man musste alles systematisch niederschreiben und wiedergeben. Doch dieser Fleiß fehlte Einstein. Er war noch immer nicht in der Lage, sein Gedächtnis zu dressieren. Dinge, die ihn nicht interessierten, konnte er sich nicht merken. Er saß in seiner engen Stube und starrte die geblümte Tapete an. Sie war an manchen Stellen so vergilbt, dass man an einen in der Vase vergessenen Blumenstrauß denken musste. Für heute wollte er den Rest der Vorlesungen ausfallen lassen. Ein Brief von Maya war gekommen. Er hatte den Umschlag schon geöffnet, konnte sich aber noch nicht entschließen, ihn zu lesen. Da klopfte es an der Tür. Auf sein »Herein!« schob Frau Markwalder, die neue Pensionswirtin, ihr ausgetrocknetes Gesicht durch die Tür. »Ich würd dann gern das Zimmer herrichten, Herr Einstein.« Schwerfällig erhob er sich. »Können Sie das nicht erledigen, solange ich unterwegs bin?« »Sie waren doch nur so kurz weg. Fallen die Vorlesungen aus?«
Einstein antwortete ihr nicht und ging hinaus. Im Flur begegnete ihm Dr. Licht. »Sind Sie aus Ihrem Zimmer vertrieben worden?«, fragte er lachend. Als Einstein nickte, ergänzte er: »Das Leben ist gnadenlos.« Dann brach er in ein heiseres Lachen aus und bat Einstein auf sein Zimmer. Dr. Licht, ein alter jüdischer Professor, war bei einem Pogrom in Russland misshandelt worden, viele seiner Angehörigen hatte man umgebracht. Zusammen mit seiner Frau war er in die Schweiz geflohen. Er wirkte intellektuell, sehr zerbrechlich, fast gänzlich ohne Körper. Seine Frau, die im Zimmer nebenan wohnte, hatte nachts Alpträume, dann schrie oder weinte sie. Einstein hörte oft, wie Dr. Licht über den Flur zu seiner Frau trottete, um sie zu beruhigen. Dr. Licht beschäftigte sich mit Astronomie und Mathematik, mit Zahlenmystik, Kabbala, sozialistischer Politik und Zionismus, er besuchte sogar noch Vorlesungen an der Hochschule. Wenn es nach Vorträgen zu Diskussionen kam, nahm er voller Leben, voller Humor daran teil. »Endlich schwänzen Sie einmal«, sagte er zufrieden zu Einstein. Der ließ sich, ohne zu antworten, in den Lehnstuhl fallen. Dr. Licht sprach Deutsch zwar korrekt, betonte aber immer einige Wörter falsch. »Sie sind ja gar kein richtiger Student, weil Sie die Freuden der Jugend nicht genießen. Sie sollen singen und trinken und gefühlvoll sein!« Albert hielt vom studentischen Bierkomment gar nichts, er verkehrte nur in nicht alkoholischen Speisegaststätten. Da erblickte Dr. Licht den Brief in Alberts Hand. Sein Gesicht hellte sich auf. »Jetzt verstehe ich!«, rief er. »Das ist sicher ein Liebesbrief!« »Von meiner Schwester.« »Oh!« Dr. Licht stockte einen Moment. »Das ist natürlich kompliziert. Geschwisterliebe…«
Obwohl es offensichtlich war, dass Dr. Licht gerne ein Gespräch entwickelt hätte, begann Albert, den Brief zu überfliegen. Halb las er ihn, halb war er mit den Gedanken woanders. Maya berichtete, dass auch die Firma in Mailand hatte liquidiert werden müssen. Die Verhandlungen um den Bau eines Wasserkraftwerks mit dazugehörigem Elektrizitätswerk waren gescheitert. Die Firma Einstein & Garrone hatte sich selbst ausmanövriert: Zunächst hatte man eine Gesellschaft zur Förderung der Wasserkraft gegründet und sich daran mit viel Geld beteiligt. Während diese Gesellschaft noch um eine Konzession verhandelte, hatten die Einsteins die Konzession kurzerhand gekauft. Diesmal hatte ein Cousin des Vaters, der Textilfabrikant Rudolf Einstein, Kredit gegeben. Dies führte natürlich zum Konflikt mit der gegründeten Gesellschaft, die nun gegen die Einsteins stimmte. Ein politischer Skandal bahnte sich an. Plötzlich war Garrone, der die Verhandlungen geleitet hatte, mit einem Großteil des Barvermögens verschwunden. Hermann verkaufte das Werk, um zu retten, was noch zu retten war. Onkel Jakob hatte endgültig seinen Humor verloren, wie ein Ausgestoßener verließ er die Familie. Man hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört. Einstein faltete den Brief zusammen. Er hörte, wie Frau Markwalder sein Zimmer verließ. »Bis bald«, murmelte er und ging. Maya hatte geschrieben, der Vater leide unter Herzbeschwerden, er gönne sich keine Ruhe. Es schmerzte Albert, dass er als erwachsener Mensch zusehen musste, ohne helfen zu können. Er war ja selbst nur eine Last. Er wusste sehr wohl, dass die Mutter mehrmals im Jahr Besuche bei Tante Julia in Genua abstattete und sich vor dieser Frau demütigte. Tante Julia war ein wirkliches Ungeheuer. Aber von den 100 Franken, die sie ihm monatlich zukommen ließ, war er
abhängig. Zwanzig Franken davon musste er gleich zur Seite legen, um später die Schweizer Staatsbürgerschaft erwerben zu können, was 400 Franken kostete. Er schrieb einen langen Brief an Maya, in dem es auch hieß: »Es wäre wahrlich besser, wenn ich gar nicht lebte.«
Fast täglich kam Post von Marie, sie konnte es nicht glauben, dass er sie nicht mehr sehen wollte, dass er nicht mehr schreiben wollte. Aber Einstein fühlte sich von ihr bedrängt, und er hatte ihr verboten, ihm weitere Besuche abzustatten. Es kam ihm verlogen vor, Gespräche zu führen, die ihn eigentlich langweilten. Marie hatte zur theoretischen Physik herzlich wenig zu sagen. Und jedes andere Thema überzuckerte sie, sie sprach nur in Verniedlichungen und seufzte gefühlsselig an den unpassendsten Stellen. Einstein fühlte sich beengt, wenn sie nahe an ihn heranrückte oder sich bei ihm unterhakte, obwohl er sich auch nach der glücklichen Zeit in Aarau zurücksehnte. Wenn er in seiner tristen Kammer saß, die Frau Markwalder mit sinnlosem Plunder voll gestellt hatte, und aus dem Nebenzimmer hörte, wie Dr. Licht mit seiner weinenden Frau flüsterte, dann dachte er an die langen Abende in Aarau, wie er mit Marie im Wohnzimmer gesessen hatte, wenn alles schon schlief und das Schnarchen Papa Wintelers durch das Haus hallte – sie hatten auf der roten Couch gesessen, Hand in Hand, und Marie hatte zärtlich seine Gelehrsamkeit verspottet und ihren Lockenkopf auf seine Schulter gelegt. Er erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Spaziergang. Da hatten sie unter den blühenden Lindenbäumen im Stadtgarten von Aarau gestanden, es war dunkel gewesen, es war ihm vorgekommen, als ob ein Schleier fiel, der über der Welt, über den Dingen,
über ihm und ihr gelegen hatte, und plötzlich schien alles klar und einfach. »Mein liebes, liebes Herz«, hatte Marie in ihrem letzten Brief geschrieben, »wann hat die traurige Verbannungszeit ein Ende, wann kommst Du endlich endlich wieder einmal zum Musizieren, Du mein lieber Böser…« Sie hatte angekündigt, ihn am Samstagnachmittag zu besuchen. Er hatte sofort geantwortet, das ginge nicht, sie solle nicht kommen. Er spürte, dass er an einer Schwelle stand. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war seit einer Woche nicht mehr an der Hochschule gewesen. Er brauchte Ruhe. Er konnte sie unmöglich sehen. Der Samstagvormittag verstrich. Was, wenn sie trotzdem kam? Wenn Frau Markwalder klopfen würde: »Da ist eine junge Dame für Sie…« Er ging hinaus. In seinem schäbigen Anzug, die Hände starr und hart in die Taschen gestemmt, lief er kreuz und quer durch Zürich. Die Menschen drängten sich an diesem Samstag auf den Einkaufsboulevards in der Innenstadt. Überall war zu sehen, dass Zürich vor allem eine Stadt des Geldes ist. Man fuhr in geschlossenen Kutschen oder flanierte. Selbst Kinder liefen in teuren Pelzmänteln umher, manche Frau hatte ein komplettes Fuchsfell über die Schultern gelegt. Albert kam an dem berühmten Glaspalast in der Bahnhofsstraße vorbei. Das war ein prunkvolles Warenhaus in einem ganz neuen Stil. Auf vier Stockwerken bekam man hier alle Artikel des gehobenen Bedarfs. Die feingliedrige, klassizistische Fassade bestand bis in den vierten Stock hinauf fast ausschließlich aus Glas. Er blieb stehen. Eben verließ eine sechsköpfige Familie das Hauptportal, der Vater, im offenen Pelzmantel, eine Zigarre im Mund, voran.
Von dieser Stadt, die im Wohlstand zu ersticken schien, hatte Albert Einstein gerade eine Bußverfügung erhalten, da er es versäumt hatte, sich von der Pension Hägli zu Frau Markwalder umzumelden. Für dieses schwere Vergehen hatte er nun zehn Franken aufzubringen. Das war für ihn ein großer Betrag. Für andere Leute war es nur ein Trinkgeld. Wenn er nicht innerhalb von vierzehn Tagen zahlte, wurde ihm mit polizeilicher Ausschaffung gedroht. Vielleicht wäre es das Beste. Er hatte verlernt zu denken. Er drehte sich im Kreis. Vielleicht weil er zu große Wissenslücken hatte, vielleicht weil ihm die Disziplin fehlte. Er wusste es nicht, und es gab keine Möglichkeit, es herauszufinden. Denn sobald er darüber nachdachte, stürzte er nur in eine noch tiefere Verwirrung. Es war bitterkalt, und er war viel zu dünn angezogen. Vielleicht wartete Marie jetzt vor der Pension auf ihn? Vielleicht war sie gar nicht gekommen? Dann fror er hier ganz umsonst.
Als er spätabends wieder vor dem Haus von Frau Markwalder stand, suchte er in seinen Taschen vergebens nach dem Schlüssel. Er zitterte vor Kälte. Wie schon so oft stand er, im Schein der Straßenlaterne, unschlüssig vor der Haustür. Endlich rief er mit lauter Stimme nach der Wirtin: »Hier ist Einstein. Ich habe wieder den Schlüssel vergessen.« Doch an diesem Abend schien ihn Frau Markwalder nicht hören zu wollen. Er rief wieder und wieder. Auch Professor Licht und seine Frau hatten ausgerechnet heute einen tiefen Schlaf. Zu wem sollte er gehen? Zu Mileva Marie, seiner Mitstudentin? Im Moment konnte er sich keinem weiblichen Wesen nähern. Außerdem war es ausgeschlossen, um diese Uhrzeit bei einer jungen Frau in der Pension zu erscheinen, sie
hätten höchstens beide die Nacht auf der Straße verbringen können. Einer der wenigen Menschen, zu denen er noch in Kontakt stand, war der Historiker Alfred Stern, ein Professor, über dreißig Jahre älter, in dessen Villa am Zürichsee er gelegentlich an Kammermusik-Abenden mitgewirkt hatte. Sterns Vater, ein berühmter Mathematiker, hatte als erster ungetaufter jüdischer Professor in Göttingen gelehrt. Stern selbst hatte nicht nur Geschichte bei Ranke, Mommsen und Droysen studiert, sondern auch Jura und Physik bei Kirchhoff und Helmholtz. Er hatte Biographien über Mirabeau und den großen englischen Mystiker und Dichter John Milton verfasst und arbeitete nun, nach einer Geschichte der englischen Revolution, an einer zehnbändigen Geschichte Europas. Sein Gesicht war voller Falten, der Oberkörper tief gebeugt, die noch vollen, langen Haare waren, wie der Bart, schon ganz grau, er hatte sie nach hinten gekämmt und einfach hinter die Ohren geschoben. Seine Stimme war mehr ein Hauchen. Aber seine warme Ausstrahlung erfüllte sofort das große Empfangszimmer mit dem offenen Kamin. Er saß Albert gegenüber und schaute ihn mit vorgestrecktem Kopf an. Albert wurde augenblicklich ruhig. Das Gefühl, dem viel beschäftigten Mann Zeit zu stehlen, stellte sich gar nicht erst ein. Einstein schilderte Stern alles – die verfahrene Situation an der Hochschule, die familiären Probleme, die innere Unruhe, die ihn trieb, das Gefühl, eingeengt zu sein, von allen bedrängt zu werden. Eine Stunde redete er wie ein Wasserfall. Dann trat Stille ein. Sie saßen in dem großen Zimmer, vor dem knisternden Kaminfeuer. Stern hatte Wein einschenken lassen. Nun hob er zum ersten Mal sein Glas und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck.
»Entschuldigen Sie«, brach Einstein das Schweigen. »Das kommt Ihnen vielleicht alles sehr verstiegen vor…« Stern nickte freundlich. »Aber nein. Das sind die Probleme, die wir alle haben.« Wieder kehrte Stille ein. Dieser einfache Satz, aus dem Munde dieses klugen, erfahrenen Mannes, beruhigte ungeheuer. Ja, dachte Einstein. Wenn das die Probleme sind, die wir alle haben… »Und können Sie mir sagen, was ich tun soll?« Stern nippte wieder an dem Weinglas. Dann befeuchtete er mit der Zunge vorsichtig die Lippen. »Haben Sie schon einmal eine Katze beobachtet«, fragte der alte Mann, »die ihren eigenen Schwanz fangen will? Sie erkennt nicht, dass dies ein Teil von ihr ist, deswegen läuft sie ihm vergeblich hinterher. So schnell sie sich auch dreht – der Schwanz dreht sich mit. Aber sie will ihn doch zu fassen kriegen, und so dreht sie sich immer schneller – bis ihr schwindelig wird.« Das kam Einstein bekannt vor. Stern fuhr fort: »Dabei ist sie durchaus in der Lage, ihren Schwanz zu erreichen – sie muss nur daran denken, dass das ein Teil ihres Körpers ist. So ist das auch mit dem, was Sie Ihre Probleme nennen. Solange Sie glauben, dass diese Probleme außen liegen, können Sie nichts verändern. Dann sind Sie hilflos.« »Das könnte mein Vater sagen.« »Dann danken Sie Gott. Ihr Vater ist ein kluger Mann. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Sie beschweren sich über das Studium, über die Professoren. Aber Sie könnten das Studium durchaus genießen. Sie haben zum Teil vorzügliche Lehrer. Weber und Hurwitz kenne ich persönlich, sie lesen mit echter Leidenschaft. Minkowski ist vermutlich ein Genie. Er beschäftigt sich mit Fragen über Raum und Zeit, die das Vorstellungsvermögen des Menschen sprengen. Aber selbst
wenn Ihnen diese Lehrer keinerlei Anregungen mehr geben könnten, so haben Sie doch an der Hochschule die besten Laboratorien, um eigene Forschungen durchzuführen. Und es gibt genügend junge Menschen, die Ihnen interessante Gesellschaft leisten können. Doch Sie setzen einfach voraus: Es ist schrecklich. Und so wird es dann auch.« Einstein rebellierte mit seinem ganzen Inneren gegen diese Sätze. Aber gleichzeitig spürte er, wie sehr Stern Recht hatte. Er richtete sich auf. »Dann sagen Sie mir, was ich tun soll.« Sofort wurde ihm klar, dass er diese Frage schon einmal, vor wenigen Minuten, gestellt hatte. Als Stern diesmal aufsah, lächelte er verschmitzt. »Sie sind doch ein lustiger Fink und haben ohne einen verdorbenen Magen gar kein Talent zu melancholischen Stimmungen«, sagte er. »Und jetzt trinken Sie endlich von Ihrem Wein, sonst verklage ich Sie wegen Schmähung meiner Gastfreundschaft.« Nach wenigen Minuten und einem weiteren Glas spielten sie sich bereits gegenseitig die Eigenheiten der Züricher Professoren vor und lachten, bis der Staub aus den Polstern flog.
Mileva
»Außer mit Dir bin ich mit allen allein.« Einstein im Oktober 1900 in einem Brief an Mileva Marie. Die Straße lag im Sonnenlicht. Albert schob seinen Filzhut lässig auf den Hinterkopf, überquerte die Straße und ging in die Bäckerei, wo er seine schweizerischen Sprachkenntnisse erprobte. Die junge Verkäuferin mit den langen blonden Zöpfen verstand kein Wort, doch da der junge Mann auf den Apfelkuchen zeigte, gab sie ihm ein Stück. Vor dem Geschäft verschlang er den Kuchen mit wenigen Bissen. Dann wischte er sich die Krümel aus dem Schnurrbart. Er bog in die Augustinergasse mit ihren geschnitzten und bemalten Erkern, die in sanftem Bogen hinunter zum St.-PeterHofstatt führte. Auf dem schattigen Platz blieb er stehen und holte den zusammengefalteten Briefumschlag aus seiner Brusttasche. Mileva hatte nicht sehr ausführlich geschrieben: Mei liebs Johonzel! Da ich dich so gern hob und du so weit bist, daß ich dir keins Busserl kann geben, schreib ich dir jetzt dieses Brieferl und frag dich, ob du mich auch so gern host wie ich dich? Antworte mir sofort. Tausend Küsserline von deins Doxerl Sofort hatte sie dreimal unterstrichen. Doch da sie sich in wenigen Stunden sehen sollten, blieb keine Zeit für eine
Antwort. Er küsste das Papier, schaute auch die Kirchturmuhr an und ging mit solchem Tempo, dass er fast schon rannte. Sie ist klug wie ein Buch, dachte er, während er die Rathausbrücke überquerte. Und dabei doch ein richtiger Gassenjunge, immer ein Lächeln im Gesicht. Vor zwei Monaten waren sie zum Du übergegangen, vor zwei Wochen zum Küssen. Seitdem konnte er nicht genug bekommen. Am Freitag hatte er sich einen Kuss am Eingang zum Seminarraum stibitzt, und keiner hatte es gemerkt. Und wenn sie gemeinsam experimentierten, im Labor, brauchte er alle zwei Minuten einen Kuss. Er hieß jetzt nur noch »Johonzel«, nur sie allein wusste, was das bedeuten sollte. Sie hieß entweder Doxerl, das bedeutete: Pupperl, oder einfach Mitza. »Wir verstehen uns so gut auf unsere schwarzen Seelen«, hatte er ihr neulich geschrieben, »und daneben aufs Kaffeetrinken und Würstelessen etc…« Er hatte den Winter über zu viel Bücherstaub geschluckt. Tagelang hatte er im Labor gearbeitet, denn er war überzeugt, dass eine physikalische Theorie nur dann etwas wert war, wenn sie sich experimentell belegen ließ. Den Laborplatz teilte er mit Mileva, und damit hatte alles angefangen. Sie war so in ihre Versuche vertieft, dass sie nicht merkte, wenn ihr die schwarzen Haarsträhnen ins Gesicht fielen. Las sie in einem der wissenschaftlichen Nachschlagewerke, drückte sie den Zeigefinger auf die Oberlippe oder fuhr sich mit der Hand über die Haare. Und Einstein ertappte sich dabei, wie er die Mitstudentin ansah. Manchmal sah sie auf. Dann sprachen sie über Physik. So was hatte er noch nie erlebt. Sie war mitunter erheblich weiter als er, vor allem in der Mathematik. Sie hatte sich bereits mit Poincaré und der positivistischen Schule Machs auseinander gesetzt, die behauptete, in der Physik müssten alle Begriffe und Aussagen, die sich nicht empirisch beweisen ließen, abgeschafft werden. Sie machte sich über den Äther und seine Folgen für das Relativitätsprinzip Gedanken.
Einmal vergaßen sie vollkommen die Zeit und saßen bis zum Einbruch der Nacht gemeinsam im Labor. Er gestand ihr seine Einsamkeit, seine Verzweiflung. Im Halbdunkel des Labors blinkten die Lämpchen der Versuchsinstrumente wie bunte Sterne. Plötzlich merkte er, dass er verliebt war, dass er sie begehrte, und er hatte kaum an sich halten können. Sie, die spürte, was hinter den Worten vorging, hatte es plötzlich eilig gehabt aufzubrechen. In dieser Nacht waren sie zusammen den steilen Berg vom Institut zur Stadt hinuntergegangen. Es war noch mitten im Winter, die Trottoirs waren spiegelglatt gewesen, und sie hatte sich bei ihm untergehakt. Er hätte sie am liebsten nie mehr losgelassen. Seit zwei Wochen sahen sie sich jeden Tag. Einstein ging in der teuren und angesehenen Pension der Familie Engelbrecht, wo Mileva wohnte, ein und aus. Man musizierte, man sang, debattierte, oft »unversöhnlich«. Manchmal saß er nur in ihrer guten Stube und redete ununterbrochen über Physik und über seine Pläne, während sie schwieg. Sie gingen Schlittschuh laufen oder Schlitten fahren, sie kletterten gemeinsam auf den Ütliberg, den höchsten Punkt in Zürichs Umgebung. Draußen sang Mileva manchmal mit ihrer weichen Stimme Volkslieder aus ihrer serbisch-ungarischen Heimat. Anschließend gab es in der Pension Engelbrecht einen heißen Tee und lange, schweigende Blickwechsel. Mileva wohnte mit zwei serbischen Freundinnen zusammen, Milana und Ruzika. Anfangs hatte es Einstein tödlich verunsichert, wenn er mit den drei Mädchen zusammen war, die ständig serbisch redeten und in hemmungslose Lachanfälle ausbrachen. Später freundete er sich auch mit Milevas Freundinnen an. An einem dieser Abende, nach einer langen Wanderung auf den Zürichberg und einer vergnügten Diskussion in der Pension, hatte sie ihn noch auf die Straße begleitet. Wie üblich
trug er nur seinen verbeulten Anzug, dabei war es doch so kalt. Am liebsten hätte sie ihn in der Pension Engelbrecht behalten. Ihr Abschiedskuss war nur eine flüchtige Berührung der Lippen. Sie standen vor der Haustür und sahen sich an. Sie konnten noch spüren, wo sich ihre Lippen so kurz berührt hatten. Dann nahm sie seine Hand und legte sie auf ihr Herz. Mileva Marie humpelte nicht wirklich. Es war eher ein leichtes, eigentlich kaum sichtbares Nachziehen des linken Beines aus der Hüfte heraus, was ihren Gang etwas geduckt und verhalten wirken ließ. Wie viele Menschen mit einem angeborenen Hüftschaden aber schien sie, wenn sie ging, eine ganz besondere Konzentration auszustrahlen. Sie ging nicht einfach daher, wie die meisten Menschen, das war sichtbar, selbst wenn sie, wie an diesem Vormittag, ohne Hast über die Züricher Bahnhofsstraße spazierte und die luxuriösen Auslagen der Schmuck- und Uhrenhändler betrachtete. Für mittags war sie mit ihrem »Johonzel« Einstein im alten Botanischen Garten am Schanzengraben verabredet, es blieben noch fast zwei Stunden, die sie irgendwie verbummeln musste. Das war kein Problem. Man konnte ja einfach die ganze Zeit an den Geliebten denken, an diesen seltsamen Menschen, man konnte in Gedanken mit ihm zusammen diese Schaufenster betrachten. Er hätte bitteren Spott über die Luxusartikel vergossen und beteuert, niemals etwas so sinnlos Teures zu tragen. Ja, er war ein bitterernster Komiker, ein trauriger, einsamer, schrecklich lieber Mensch. Manchmal, wenn sie Hand in Hand in der kleinen roten Zahnradbahn saßen, die hinauf zum Polytechnikum fuhr, und sich die Leute nach ihnen die Hälse verrenkten; manchmal, wenn sie gleich nach den Vorlesungen hinauf auf den Zürichberg spazierten, wo jetzt die Bäume Blüten trugen und tausend Blumen leuchteten; und manchmal, wenn sie am Monatsanfang im Metropol saßen und Eiskaffee tranken (am
Monatsende saßen sie nie dort, dann wartete alles auf den neuen Scheck von Eltern oder Tante), und manchmal, wenn Einstein im halbdunklen Labor saß, im Stuhl zurückgelehnt, und mit geschlossenen Augen nachdachte, wobei er am Vorderkopf eine Locke um den Finger drehte; manchmal, wenn er beim Teeumrühren wie ein Kind staunte, weil sich die Teeblätter stets in der Mitte der Tasse sammelten, und wenn er, während alles um ihn herum schwatzte, eine physikalische Erklärung dafür suchte und fand; und manchmal, wenn er sie nur ansah, sein Gesicht schien dann stets zu glühen, und seine Augen leuchteten, und seine Stimme war warm wie ein Celloton – manchmal war sie so glücklich, dass sie Angst hatte, Angst, den Boden zu verlieren. Sie war doch aus Ungarn nach Zürich gezogen, weil sie Wissenschaftlerin werden wollte. Schon als kleines Mädchen hatte sie, ganz von selbst, das Reich der Zahlen entdeckt, sie hatte, wenn sie krank im Bett lag, stundenlang gerechnet, addiert, multipliziert, immer höhere Zahlen, immer kompliziertere Rechnungen. Damals konnten Frauen in Österreich-Ungarn nicht studieren, und so hatte sie ihr Vater schweren Herzens in das kleine Land inmitten der Alpen ziehen lassen. Und nun war dieser Mensch in ihr Leben getreten, der alles durcheinander brachte. Es war schwer für eine junge Frau, ihr Diplom zu bekommen, sie musste in allen Bereichen gute Leistungen zeigen; nun kam sie kaum noch zum Arbeiten. Sie hatte gespürt, dass es so kommen würde, und sie war letztes Jahr davor geflohen, nach Deutschland, hatte in Heidelberg bei dem Experimentalphysiker Lenard studiert. Doch Einstein wohnte bereits tief in ihrem Herzen, tiefer noch, als sie geahnt hatte. Dazu das Bombardement mit Briefen. Sie hatte vorsichtig angedeutet, wie einsam sie sei. Er hatte
geantwortet: Komm zu mir, wann immer du willst. Ich werde stets für dich da sein. Und so war sie an einem nebligen Morgen aus Heidelberg aufgebrochen, war kurzerhand zu ihm gefahren, in die Pension Markwalder. Er hatte in seinem Zimmer gesessen und gerechnet. »Moment, ich rechne gerade«, mehr sagte er nicht, als sie eintrat. Sie setzte sich still hin. Nach fünf Minuten schien er sie völlig vergessen zu haben, er ging auf und ab, sprach halblaut vor sich hin. Mileva hatte versucht, auf sich aufmerksam zu machen: »Entschuldigen Sie, Albert, ich…« Er hatte durch sie hindurchgesehen, als ob sie Luft sei, drehte sich plötzlich um, ging zu seinem Tisch, kritzelte. War sie dafür von Heidelberg zurück nach Zürich gekommen? Sie merkte, dass sie das Schluchzen nicht mehr länger unterdrücken konnte, und rannte raus. Da kam er hinterhergelaufen. Auf der Gasse holte er sie ein, hielt sie fest, bombardierte sie mit Formeln, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen waren. Er mochte schlampig sein, doch er war besessen wie ein religiöser Fanatiker. Er zählte weitere Formeln auf, er schrie sie regelrecht an. Sie erkannte nur eins: O Gott, das war ja ein völliges Durcheinander. Sie begleitete ihn aufs Zimmer und rechnete mit ihm alle Formeln erneut durch. Seine Rechnungen waren voller Flüchtigkeitsfehler, dadurch war er auf die aberwitzigsten Resultate gekommen. Vor ein paar Tagen hatte er zu ihr gesagt: »Ich liebe dich so, wie ich bin.« Ihre Freundinnen spotteten über diesen feinen Verehrer, niemals wären sie mit ihm auf der Bahnhofsstraße spazieren gegangen. Er sah ja nicht aus wie ein Student, mit seinen wirren Locken und den abgetragenen Anzügen. Mileva ging noch immer gemächlich an den Schaufenstern entlang. Nun musste sie innerlich lachen. Ihr fiel eine Episode
ein, die sich vor wenigen Wochen bei ihr, in der Pension Engelbrecht, ereignet hatte: Einstein war zum Musizieren gekommen. Kaum hatte er das Wohnzimmer betreten, zog er, wie üblich, Kragen, Krawatte und Manschetten aus. Er wollte gerade die Geige auspacken, da hörte er aus einem Nachbarhaus eine Klaviersonate von Mozart. Er horchte verzückt. »Wer spielt dort?«, erkundigte er sich. Es war das betagte Fräulein Wegelin, eine Klavierlehrerin, doch ehe man Einstein antworten konnte, stürmte er schon, die Geige unterm Arm, davon. Kurz darauf fiel die Gartentüre ins Schloss, und wenig später hörte man zur Mozart-Sonate sein leidenschaftliches Spiel. Als er zurückkam, rief er begeistert: »Das ist ja eine reizende alte Dame!« Das besagte Fräulein sprach einige Stunden später im schwarzen Seidenkleid vor und erzählte, wie erschrocken sie gewesen sei, als der unbekannte Musiker mit dem Ruf »Spielen Sie nur weiter« einfach in ihr Zimmer gestürmt sei. Im alten Botanischen Garten blühten große Beete mit lilafarbenen Märzveilchen, umgeben von gelben Ginsterstauden. Die Wege waren gesäumt von Heckenrosen, die ihre ersten zartrosa Knospen zeigten, es blühten die Apfelbäume, Bienen summten, Schmetterlinge flatterten umher, bunt wie Farbtupfer, die von einer Leinwand geflohen waren. Auf einer Bank, die fast verschwand in einem großen Busch voller leuchtend gelber Blüten, saß Albert Einstein. Er sah Mileva entgegen, die verträumt, nach jedem Schritt innehaltend, an den blühenden Beeten vorüberging. Hatte sie nicht ein entzückendes kleines Gesicht? Der Mund immer leicht spöttisch, die Lippen spitz, die Nase etwas breit und schmuseweich und die dunklen Augen tief unter den starken Brauenknochen. Wenn er sie so sah, fein eingepackt im hochgeschlossenen Kleid mit großer Schleife, dann wurde ihm
warm ums Herz. Doch wenn sie die streng zusammengebundenen schwarzen Locken löste und über die Schultern fallen ließ und die Schleife abnahm und wenn die spitzen Lippen zu reden begannen, dann war sie eine Frau, die ihn wirklich herausforderte. Er saß so tief in dem Busch, dass sie an ihm vorüberging, ohne ihn zu sehen. »Fräulein Marie«, rief er. Sie drehte sich erschrocken um. Wenig später saßen sie Hand in Hand auf der Bank zwischen den blühenden Büschen. Ja, sie waren ein ganz normales Liebespärchen – nur dass sie ständig über höhere Physik sprachen. Wenn sie eine Weile geschmust hatten, wandten sie sich ihren Lieblingsthemen zu: Elektromagnetismus, Äthertheorie, Michelson-Morley-Experiment. Dann sahen sie sich mit ernsten Gesichtern an. Einstein wölbte seine rechte Augenbraue, sie biss sich mit den Vorderzähnen auf die Unterlippe. Und dann kamen sich ihre Gesichter wieder näher, und er liebkoste ihre Wangen mit seinen Lippen. »Erzähl mir mehr von dem Räuberländchen«, sagte Einstein. »Räuberländchen« war seine Bezeichnung für ihre Heimat. Mileva kam aus Neustadt, einer serbischen Kleinstadt an der Donau, die damals zu Ungarn gehörte. »Die Donau ist ein wunderbarer Fluss«, begann sie. »Da gibt es gesunkene Schätze und verschwundene Schiffe, und die Alten erzählen gern davon, an den Sommerabenden, wenn die Frauen Bänke und Stühle vors Haus tragen und die Straße besprengen, um den Staub zu binden und die Hitze zu mildern. Ich lag oft stundenlang im hohen Gras am Fluss und schaute dem Wasser nach. Mein Vater nannte mich Mitza, und wir nannten ihn Onkel Klipan, das heißt Flegel. Und dann wurde musiziert. Ich liebte es, mich zur Musik im Kreis zu drehen und zu tanzen wie ein junger Vogel.«
Sie strich über seine weichen Locken. Er saß still da, mit geschlossenen Augen, als ob er schliefe. »Du kommst in meinen Träumen vor«, sagte sie, »nicht erst seit wir uns begegnet sind.«
Sie hätten ewig so leben können – doch die Diplomprüfungen waren so nahe, dass kein Leugnen mehr half. In wenigen Wochen musste Einstein seine Abschlussarbeiten schreiben. In letzter Zeit hatte er wenigstens die Vorlesungen besucht. Er war zwar auf einigen Gebieten der theoretischen Physik hoch spezialisiert, doch ansonsten war sein Wissen sehr lückenhaft. Wie sollte er alles aufholen? Zudem war klar, dass er bei einigen Professoren unbeliebt war. Es musste also doppelt gut sein. Die Prüfungstermine rückten näher, die Angst wuchs. Die Rettung verdankte er nur einem Studienfreund, Marcel Großmann. Der hatte alle Vorlesungen mitgeschrieben und alles gründlich ausgearbeitet. Seine Aufzeichnungen waren druckreif. Mit verzweifelter Anstrengung zwang Einstein den Stoff in seinen Kopf. Er schloss mit der schlechtesten Note seines Jahrgangs ab. Die Entscheidung fiel knapp aus. Am 27. Juli des Jahres 1900 beschloss die Konferenz, Albert Einstein das Diplom zu erteilen.
1900
Albert Einstein an Mileva Marie: Melchtal, Sonntag früh Mein liebstes Doxerl! Vorgestern kam ich also planmäßig mit der Schauertante an; Mama, Maya und ein Wagen erwarteten uns. Darauf wurde ich abgebusselt. Dann fuhren wir, doch bald stiegen Maya und ich ab, um etwas nebenher zu wandeln. Bei der Gelegenheit sagte mir Maya, sie habe es nicht gewagt, die »Doxerl-Affäre« anzusprechen. Damit warst Du gemeint. Sie bat mich, Mama zu »schonen« – das soll heißen: nicht mit der Türe ins Haus zu fallen. Wir kommen im Kurhaus-Hotel an, ich auf Mamas Zimmer (unter vier Augen). Zuerst muß ich ihr vom Examen erzählen, dann fragt sie recht harmlos: »Was wird denn nun aus dem Doxerl?« »Meine Frau«, antworte ich ebenso harmlos. Die Szene kam postwendend. Mama warf sich auf ihr Bett, verbarg den Kopf in den Kissen und weinte wie ein Kind. Als sie sich erholt hatte, ging sie sofort in die Offensive über: »Du vermöbelst dir deine Zukunft, du versperrst dir deinen Lebensweg!« Und: »Die paßt doch in gar keine anständige Familie.« Ich hörte interessiert zu. »Wenn sie ein Kind bekommt, dann sitzt du in der Tinte.« Bei diesem letzten Ausbruch brach mir endlich die Geduld. Ich wollte gerade tüchtig schimpfen, als Frau Bär ins Zimmer trat, so eine Henne von der nettesten Art. Sofort sprachen wir
mit größtem Eifer vom Wetter, von neuen Kurgästen, ungezogenen Kindern etc. Nun gings zum Essen, dann musizierten wir. Beim »Gute Nacht« unter vier Augen wieder dieselbe Historie, aber »piú piano«, im Flüsterton. Die Bekehrungsversuche beruhen auf Reden wie: »Sie ist ein Buch wie du – du aber solltest eine Frau haben«, »bis du dreißig bist, ist sie eine alte Hexe«, usw. Melchtal ist ein wundervolles Flußtälchen, von hohen Bergen umgeben, nur Gletscher gibt es keine. Leben und Leute aber sind trostlos und öde, und ich begreife vollkommen Mayas Unzufriedenheit. Speziell unser Hotel ist eine vorzügliche Fütterungsanstalt; jedes Essen dauert eine Stunde und darüber, Du kannst dir denken, welche Höllenqual für mich. Wenn ich diese verweichlichten Menschen sehe, besonders die aufgeputzten faulen Frauen, denen immer was nicht recht ist, dann denke ich mit Stolz: Johonzel, dein Doxerl ist doch eine andere Maid. Außer meiner bereits genannten Tante (die gepriesene aus Genua!) mit ihren ebenso schönen wie dummen und kalten Töchtern gehört eine echte Contessa zu unseren steten Anhängseln. Allen muß ich Mama zuliebe flattern und musizieren, sonst ist sie gekränkt, zumal wegen der Affäre. Ich vermisse zwei Armchen und das glühende Mäulchen voll Zärtlichkeit und Fuzerline. Wenn ich Dich nicht habe, so ist mir gerade zumute, wie wenn ich selbst nicht ganz wäre. Wenn ich sitze, so möchte ich gehen; wenn ich gehe, freue ich mich auf daheim; wenn ich mich unterhalte, möchte ich studieren, wenn ich studiere, fehlt mir die Ruhe; und wenn ich schlafen gehe, bin ich nicht zufrieden mit dem verlebten Tag. Ich hoffe, Du vergnügst dich besser in Deinem Räuberländchen. Bitte schick mir doch von Eurem guten Tabak, damit wenigstens meine Pfeife wieder in Gang kommt.
Freundliche Grüße an Deine Eltern und Deine Schwester! Du aber seist überall abgebusselt, wo Dus erlaubst, von Deinem Johonzel Einsteins Mutter an Pauline Winteler in Aarau: Liebe Frau Professor! Wir verbringen hier unseren Urlaub in einem reizenden Alpentälchen. Das hiesige Kurhotel ist ausgezeichnet geführt, und wir haben schon angenehme Gesellschaft gefunden, zumal seit unsere Tante Julie Koch mit ihren Töchtern aus Genua eingetroffen ist. Leider fällt ein böser Wermutstropfen in diese friedliche Zeit, denn wir haben fortwährend Reibereien mit Albert. Sie haben wohl schon von seiner Verlobung mit einem Frl. Marie gehört. Wir wissen nicht, wie weit das Verhältnis der beiden geht, doch wir befürchten das Schlimmste. Er hat ihr bereits ein Heiratsversprechen gegeben. Noch hoffen wir, die Person läßt sich bewegen, darauf zu verzichten. Für uns kommt diese Verbindung überhaupt nicht in Betracht, und entsprechend frostig ist die Stimmung. Diese Frl. Marie bereitet mir die bittersten Stunden meines Lebens, läge es in meiner Macht, ich würde alles aufbieten, sie aus Alberts Gesichtskreis zu bannen. Sie ist nicht gesund, man hat mir zuverlässig berichtet, daß sie humpelt. Sie ist mir förmlich antipathisch. Aber ich habe jeden Einfluß auf Albert verloren. Sie können sich denken, liebe Frau Professor, wie mich das unglücklich macht! Mit freundlichen Grüßen verbleibe ich Ihre Pauline Einstein Mileva Marie an ihre Freundin Helene Kauffler:
Mein liebes Fräulein Kauffler! Die Kornfelder wiegen sich im Wind, die Luft ist staubig und heiß. Wir sitzen den ganzen Tag auf der Veranda, im Schatten, und fächeln uns Luft zu. Meine Schwester neckt mich, weil immer Briefe von dem deutschen Mann kommen, aber ich habe meinen Eltern noch nichts erzählt. Ich kann Ihnen kaum sagen, wie gespannt ich war auf gewisse Berichte, aber o weh!, die scheinen nicht besonders günstig für mich, denn wenn schon Sie, Liebe, Herzensgute, sich herablassen zu spotten, dann muß es arg sein. Hat Alberts Mutter arg über mich gespottet? Albert schreibt natürlich lieb wie immer, aber ich habe Nachrichten aus Melchtal bekommen, da kam ich mir so armselig vor, so ganz gründlich armselig. Seine Eltern machen ihm täglich Szenen, sie verbieten regelrecht unsere Verbindung. Es heißt, ich sei keine Frau, sondern ein wandelndes Buch, ein hinkendes zumal. Dabei kennen sie mich gar nicht. Ein angeblicher Freund hat ihnen erzählt, ich sei wenig anziehend, und niemand würde sich mit mir abgeben wollen. Wann werden Albert und ich wohl so weit sein, unsere Liebe vor der ganzen Welt bekennen zu dürfen? Mir scheint es fast, ich werde gar nicht so lange leben. Liebe Grüße, Ihre Mitza Albert Einstein an Mileva: Milano, Via Bigli 21 Liebes Schatzerl! 3/4 von der dummen Zeit ist nun vorbei, bald werd ich wieder bei meinem Schätzchen sein und es küssen, herzen, Gofferl
kochen, schimpfen, streben, lachen, bummeln, schwatzen… bis in alle Ewigkeit. Nun bin ich also im schönen Italien, um von meinem Vater das heilige Donnerwetter zu empfangen; doch der wackere Schwabe fürchtet sich nicht. Hoffentlich verschimmle ich nicht auch so, wenn ich alt werde. Es wäre schlauer gewesen, hätte ich brav mein Maul gehalten. Meine Eltern beweinen mich fast, wie wenn ich gestorben wäre. Meine Mutter hat gesagt: »Kleine Kinder treten einem auf die Füße, die Großen ins Herz.« O Doxerl, es ist zum Närrischwerden. Du glaubst nicht, wie ich leide, wenn ich sehe, wie sie mich beide liebhaben und so trostlos sind, wie wenn ich das größte Verbrechen begangen hätte. Sie betrachten eben die Frau als einen Luxus des Mannes, den sich dieser erst gönnen darf, wenn er eine gesicherte Existenz hat. In dieser Auffassung vom Verhältnis zwischen Mann und Frau unterscheidet sich die Frau von einer Dirne lediglich dadurch, daß sie sich, vermöge ihrer günstigeren Lebensumstände, vom Mann einen Vertrag fürs Leben zu erzwingen vermag. Daß eine Frau mehr sein kann als eine Zierde ihres Mannes, ist ihnen ganz unbegreiflich. Von diesen Ferien werde ich mich erst allmählich in Deinen Armen erholen können. Ich kanns nicht erwarten, bis ich Dich wiederhab, mein Alles, mein Lüderchen, mein Gassenbub, mein Frätzchen. Wenn ich jetzt an Dich denk, mein ich grad, ich wollt Dich gar nie mehr ärgern und aufziehen, sondern immer sein wie ein Engel! O schöne Illusion! Aber gelt, Du hast mich auch gern, wenn ich wieder der alte Lump bin voll von Teufeleien und launisch wie stets! Weißt Du auch schon, daß ich mich seit einiger Zeit mit bestem Erfolg selbst rasiere? Du wirst gucken, Doxerline! Das kann ich immer dann tun, wenn Du das Gofferl kochst nach dem Mittagessen, daß ich nicht, wie gewöhnlich, weiter
studier, während das arme Doxerl nadierlich gochen muß, während der faule Johonzel sich nimmer rührt. Sei herzlich abgebusselt von Deinem Albert In einem der letzten Briefe dieses langen Sommers der Trennung hatte Albert Einstein Mileva geschrieben: »Bald habe ich eine Assistentenstelle, und dann wird geheiratet. Was auch immer werden mag, wir kriegen das reizendste Leben von der Welt.« Ein Jahr später war er noch immer arbeitslos. Die reiche Tante aus Genua hatte die Zahlungen eingestellt. Der Vater hatte mal wieder Bankrott gemacht. Einstein war 21 Jahre alt, er brannte darauf, die moderne Physik umzukrempeln, er hatte ein Diplom und endlich auch die Schweizer Staatsbürgerschaft in der Tasche, aber niemand wollte ihn haben. Die Studienfreunde hatten alle längst Stellungen gefunden: Besso als technischer Experte in Italien; Ehret wurde Assistent beim Mathematikprofessor Hurwitz; Großmann Lehrer an einer Kantonsschule. Zuerst hatte er sich bei den Professoren in Zürich um eine Assistentenstelle beworben. Nun rächte sich sein Dickschädel. Sie reagierten nicht einmal. Er bewarb sich in Leipzig und Göttingen und bei Professor Kamerlingh Onnes in Leiden – schließlich sogar an einem Mädchengymnasium in Wien und bei einer Versicherungsgesellschaft. Alles umsonst. Er veröffentlichte in der wichtigsten Fachzeitschrift, den Annalen der Physik, eine Forschungsarbeit über Kapillaritätserscheinungen im molekularen Bereich. Nun musste man ihn doch wahrnehmen. Er schickte die Abhandlung an bedeutende Physiker – doch keiner reagierte. Er versuchte über seinen Studienfreund Besso einen Kontakt
nach Italien aufzubauen. Einmal schrieb er an Mileva: »Bald werde ich alle Physiker von der Nordsee bis an die Südspitze Italiens mit meinen Offerten beehrt haben.« Endlich schrieb der Vater, ohne sein Wissen, an Professor Osterwald in Leipzig, mit der Bitte, seinem Sohn eine Chance zu geben. Erneut kam keine Antwort. Es schien in der Welt keinen Platz zu geben für ihn. Er vermutete, dass Professor Weber negative Empfehlungen über ihn gab. Mit dem hatte sich Einstein heillos überworfen, als er 1899 einen Apparat hatte bauen wollen, um die Erdbewegung gegen den Äther genau zu messen. Weber sah die Notwendigkeit des Projektes nicht ein und verweigerte die Mittel. Einstein bekam einen seiner Wutanfälle. Er zog zu den Eltern nach Mailand, wo wenigstens keine Miete zu zahlen war. Schließlich erreichte ihn ein Brief aus Winterthur. Man bot ihm an, für zwei Monate einen Professor zu vertreten, der seinen Reservedienst beim Militär abzuleisten hatte. Einstein nahm erleichtert an. Anschließend konnte er als Hauslehrer in Schaffhausen arbeiten. Zunächst aber wollte er endlich seine Doxerline wieder treffen. Sie verabredeten ein Treffen am Corner See. Nachdem sie einen halben Tag durch das Bergstädtchen Como spaziert waren, fuhren sie mit dem Schiff nach Colico, das am nordwestlichen Seeufer liegt. Sie wanderten nach Cadenabbia und besichtigten die Villa Carlotta, die für ihre Azaleenzucht bekannt war. Es war Frühling, und während Mileva das Wachpersonal abzulenken hatte, stibitzte Einstein ein paar der Blumen. Kaum waren sie wieder auf der Landstraße, brachte er sie zum Vorschein. »Bleib mir vom Leib mit dem Diebesgut«, sagte Mileva, als er sie damit schmücken wollte.
»Mundraub ist kein Diebstahl. Allerdings stillt man damit nicht den Hunger des Magens.« »Einen anderen Hunger gibt es nicht«, sagte sie. Er versuchte noch immer, ihr Blüten in die Knopflöcher und die Frisur zu stecken. »Wohl gibt es den«, sagte er. »Auch die Seele…« »Das nennt sich dann Gier«, unterbrach sie ihn. »Und behalte deine Blumen. Warum musstest du sie abreißen?« Er steckte die Blumen in eine Seitentasche und ging schweigend hinter ihr her. Da riskierte er Kopf und Kragen, um ihr Blumen zu pflücken, die berühmten Azaleen von Cadenabbia, und das ist dann der Dank. Sie ging hastig, mit gesenktem Kopf, die Hände zusammengeballt. Er versuchte, sie wieder einzuholen. »Ich dachte, wir wollen spazieren gehen«, sagte er. »Ja, was machen wir denn?« »Das nenne ich spazieren rennen«, sagte er. »Ich würde mich gern ein wenig umschauen.« Er hakte sich bei ihr ein und drosselte das Tempo. Sie wehrte sich nicht. Wie ein Automat ging sie neben ihm. Er seufzte. »Wie war’s in letzter Zeit?«, fragte er. Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Da gingen sie bei strahlendstem Sonnenschein durch die schönste Alpenlandschaft, hin und wieder kam eine Kutsche vorbei, man grüßte freundlich – doch sie schaute nur die staubige Straße an. »Was ist denn los?«, fragte er. »Ich dachte, wir wollen spazieren gehen«, sagte sie. »Allerdings«, sagte er. »Du sprichst mir aus der Seele. Genau das will ich. Ich will mit meinem Doxerline zum Splügenpass marschieren, gemeinsam eine Nacht im Gasthaus verbringen und dabei über unsere fröhliche Zukunft plaudern.« Sie blieb stehen. Sie schaute ihn an. Sie zitterte.
»Was ist mit dir?« »Halt mich fest«, sagte sie. »Halt mich so fest, dass ich nicht mehr atmen kann.« Er nahm sie in die Arme. »Bald werden wir heiraten«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Das sagst du schon seit einem Jahr«, flüsterte sie zurück. Dann begann sie zu schluchzen. »Wir wollten doch wieder einmal einfach glücklich zusammen sein.« »Aber das sind wir doch«, sagte er beruhigend. »Nein«, sagte sie. »Wieso?« »Ich bin schwanger.« Seine Reaktion überraschte sie vollkommen. Er sah sie freudestrahlend an. Schon hatte er ein Taschentuch zur Hand und trocknete ihre Tränen. Er musste lachen, so glücklich war er. »Du bist schwanger?«, rief er. »Heißt das, du bekommst ein Kind?« Sie nickte. Über diese Frage musste sie auch lächeln. Die Tränen kullerten von neuem über ihre Wangen. Er sprang auf den frisch gepflügten Acker, warf die Blumen in die Luft und rief: »Ein Kind! Johonzel und Doxerline haben bald ein Kind!« Endlich blieb er vor ihr stehen. »Ja, und du freust dich gar nicht?« »Doch«, sagte sie. Und wieder überkam sie ein Heulkrampf. Er nahm sie in den Arm. »Wir können doch nicht heiraten«, flüsterte sie. »Und wieso nicht?« »Weil’s eben nicht geht«, sagte sie. »Deine Eltern werden’s nicht zulassen, meine Eltern werden’s nicht zulassen, wir haben kein Geld und keine Wohnung.« »Aber ich habe jetzt endlich eine Stelle…«
»Für zwei Monate.« »Und danach als Hauslehrer…« »Davon kannst du kaum alleine leben.« »Ja, aber…« Sie gingen schweigend nebeneinanderher. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und den Kopf an seine Schulter gelehnt. Abends, im Gasthaus, holte er ein kleines Schächtelchen hervor. »Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte er. »Eigentlich wollte ich’s dir erst zum Abschied schenken, doch nun…« Er gab ihr das kleine Schächtelchen. Es waren zwei kleine italienische Kaffeelöffel darin. »Das ist für unseren Hausstand«, sagte er leise. »Fürs Gofeerldrinken.« Sie saßen in dem warmen Gästezimmer und hatten die müden Beine hochgelegt. Sie hielt die beiden kleinen Löffel in der Hand. »Damit können wir nicht heiraten«, sagte sie. »Was die Leute sagen, ist mir egal«, sagte er. »Wir schaffen das schon.« »Ich hatte einen Traum«, sagte Mileva. »Vor drei Nächten. Ich war wieder im Land meiner Kindheit. Es war Sommer. Die Frauen hatten Stühle auf die Straße gestellt, Musikanten kamen, und alle tanzten. Ich sah ein kleines Mädchen, das etwas hinkte. Es drehte sich wie ein Kreisel zur Musik, es hüpfte wie ein Vögelchen. Das kleine Mädchen fiel hin. Es kam nicht wieder auf die Beine, und niemand half ihm, die Leute tanzten weiter, und sie traten dem kleinen Mädchen auf die Hände. Ich wollte hinlaufen und dem Mädchen helfen, doch – das kleine Mädchen war ich…« Er hatte sich neben sie gesetzt und streichelte ihre Beine. »Du bist kein kleines Mädchen mehr. Und du hast mich. Sobald ich eine feste Stelle habe, verheirate ich mich mit dir und nehme dich zu mir. Dann kann niemand mehr einen Stein auf dein liebes Haupt werfen.«
»Wenn’s nur so sein könnte«, sagte sie.
Zum Splügenpass, der in 2100 Metern Höhe liegt, führte ein gut ausgebauter Weg steil bergan. Am frühen Morgen gingen sie los. Nach der halben Strecke lag Schnee. Bald gerieten sie ins Schneegestöber, links und rechts der Straße türmten sich weiße Berge. Schon war der Weg kaum noch zu erkennen. In der Ortschaft Chiavenna schließlich mieteten sie sich einen kleinen Schlitten, auf dem gerade zwei Menschen, die sich gern haben, Platz finden und wo hinten auf einem Brett der Kutscher stand und die ganze Zeit schwatzte und sie »Signora« und »Signore« nannte. Es schneite fröhlich weiter, sie fuhren bald durch dichte Alleen, bald auf offener Straße, wo bis in die weiteste Ferne nichts zu sehen war als Schnee und wieder Schnee, so dass es Mileva manchmal vor dieser kalten Unendlichkeit schauerte. Einstein blickte mit weit geöffneten Augen begeistert um sich, und sie drückte sich fest an ihn und verkroch sich unter den Mänteln und Decken. Von der Passhöhe hinunter wollten sie es zu Fuß wagen. Sie mussten durch tiefen Schnee stapfen, aber sie lachten und scherzten in einem, und an geeigneten Stellen machten sie Lawinen, um die Welt unten so recht in Angst zu versetzen. Eines funktionierte natürlich nicht: die strenge Geheimhaltung, die Einstein gelobt hatte. Schon nach wenigen Wochen erreichte ein Brief seiner Mutter Milevas Eltern. Böse Vorwürfe: Mileva habe Einstein verführt, um ihn zur Ehe zu zwingen. Milevas Eltern waren natürlich entsetzt, und mit Recht. Es war damals ganz undenkbar, dass eine junge, unverheiratete Frau eine Universität besuchte oder überhaupt in besseren Kreisen verkehrte, wenn sie ein uneheliches Kind hatte. Es war ebenso undenkbar, dass die beiden heirateten, bevor Einstein eine Stellung gefunden hatte. Es hätte sie, ohne
materielle Sicherheiten, auch kein Standesamt gegen den erklärten Willen der Eltern getraut. Einstein arbeitete als Hauslehrer in Schaffhausen. Er musste einen wenig begabten amerikanischen Schüler auf die Matura vorbereiten. Dr. Nüesch, der Schulleiter, demütigte Einstein bei jeder Gelegenheit. »Man hat einen Hauslehrer angestellt, keinen Sokrates«, hieß es. Es gab niemanden, bei dem er Anschluss gefunden hätte. Mileva sah er nur sonntags. Inzwischen kamen auch von ihren Eltern böse Briefe. Einstein und Mileva versuchten, ihre gemeinsame physikalische Arbeit fortzuführen, aber sie kamen nicht recht zusammen, sie sahen sich doch zu selten, und Briefe konnten die Lücke nicht füllen.
»Du wirst so bald keine sichere Position erlangen«, sagte sie. »Mein Schatz, du hast ein böses Maul und bist obendrein ein Jude. Das ist eben die traurige Wahrheit.« Sie saßen seit langem wieder einmal im Aufenthaltsraum der Pension Engelbrecht. Einstein schwieg. »Ich werde also nach Ungarn fahren«, sagte sie. Ihre Stimme klang hohl und kraftlos. »Wieso?«, fragte er. Frau Engelbrecht kam herein und goss die Blumen im Wintergarten. So lange saßen die beiden schweigend. »Soll ich Ihnen noch einen Tee bringen?«, fragte sie. Mileva schüttelte den Kopf. »Du musst eben Geduld haben«, sagte er beschwörend. »Das hier hat keine Geduld«, sagte sie und zeigte auf ihren Bauch. Noch war nichts zu sehen. Doch bald konnte sie in keiner angesehenen Pension mehr leben. Dann blieben in einer gutbürgerlichen Stadt wie Zürich überhaupt nur wenige Adressen.
»Meine Freundin, die Kauffler, fahrt nächstes Wochenende nach Belgrad«, sagte Mileva, »da könnte ich mit ihr fahren. Ich möchte die lange Reise nicht gern allein unternehmen, zurzeit.« »Ich versteh schon«, sagte er. »Du möchtest das Lieserl gern in Ungarn in die Welt setzen.« Sie nickte nur. Er brauchte ja nicht die ganze Wahrheit zu wissen. Er liebte das kleine Wesen, das in ihrem Bauch heranwuchs, schon so sehr. »Ganz im Geheimen«, sagte er zärtlich, »hoff ich, dass es kein Lieserl wird, sondern ein Hanserl.« Sie sprachen dann noch über seine Bewerbungen. Einstein berichtete von einem Nachmittag, den er bei Professor Kleiner verbracht hatte, es war überraschend angenehm gewesen. Er geriet ganz außer sich, als sie Professor Weber erwähnte, bei dem sie nächstes Jahr ihre Diplomarbeit schreiben wollte. Dass sie diese Arbeit nicht schreiben konnte, wenn sie ein Kind hatte, kam ihm gar nicht in den Sinn.
Um wirklich irgendeine Stelle anzunehmen, als Schullehrer oder Versicherungsagent, dazu hing er doch auch viel zu sehr an der Physik. Wenn er an seinem Schreibtisch saß und mit höllischer Geschwindigkeit das Papier mit seinen Rechnungen füllte, wenn er wie in Trance aufsprang und im Zimmer umherlief, wenn er dann, in dem plötzlichen, nie vorhersehbaren Moment des Begreifens stehen blieb und, nur mit den Lippen, Zahlenreihen vor sich hin sprach – dann wusste sie genau, dass es hieße, diesen Menschen umzubringen, wenn man ihm die Physik nahm. Mileva wollte und konnte ihren Geliebten nicht damit belasten, sie wollte ihn nicht aus seinem Traum reißen. Und so fuhr sie zu ihren Eltern. Im Januar brachte sie ein Mädchen zur
Welt. Es wurde gleich zu entfernten Verwandten gebracht. Mileva sah das Kind nur kurz. Bevor sie wieder ganz zu sich kam, trug die Hebamme das kleine Bündel aus dem Zimmer. Albert Einstein hat sein erstes Kind nie gesehen. Mileva wusste nur eins: Sie wollte nie in ihrem Leben wieder so einsam sein wie in diesen Wochen.
Die Revolution der Physik
»Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre, ohne daß sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können.« Albert Einstein, »Autobiographisches« Als der neunzehn Jahre alte Student Max Planck im Jahre 1877 von München nach Berlin ging, um sich dort auf theoretische Physik zu spezialisieren, warnte ihn sein Professor: »Theoretische Physik, das ist ja ein schönes Fach, obwohl es gegenwärtig keine Lehrstühle dafür gibt. Aber grundsätzlich Neues werden Sie darin kaum mehr leisten können. Mit der Entdeckung des Prinzips der Erhaltung der Energie ist wohl das Gelände der theoretischen Physik ziemlich vollendet.« Dabei gab es durchaus gewisse Lücken. Man hielt diese Lücken aber für Randprobleme, für die sich bald einfache Lösungen finden würden. Eines dieser Probleme war die Strahlung erhitzter Körper – und die Folgerungen, die man daraus über den atomaren Aufbau der Materie ziehen konnte. Um die Jahrhundertwende beschrieben die Physiker das Atom als einen Kern, aus dem kleine Spiralfedern herausragen. Am Ende jeder Feder saß ein Elektron. Regte man die Atome an, indem man sie erwärmte, begannen – nach der Theorie – die Elektronen auf den Federn zu zittern (zu oszillieren). Man stellte sich vor, dass die vibrierenden Elektronen Strahlungsenergie abgaben und dass dies der Grund für das Glühen erhitzter Objekte sei. Die Physiker dachten, dass angeregte (erwärmte) Atome ihre Elektronen zittern ließen, wobei diese Licht ausstrahlten. Die Energie, die das Atom
absorbierte, wenn man es anregte, wurde von den zitternden Elektronen wieder abgestrahlt. Leider funktionierte diese Theorie nicht. Sie »bewies« Dinge, die einfach nicht stimmten. Nach dieser Theorie hätten alle erwärmten Objekte mehr hochfrequentes (blaues und violettes) Licht ausstrahlen müssen als niederfrequentes (rotes) Licht. Genau wie weiß glühende Objekte hätten auch mäßig warme Objekte Licht von intensiver weißblauer Strahlung aussenden müssen. Das trifft jedoch nicht zu. Geringfügiger erwärmte Objekte strahlen in erster Linie rotes Licht aus. Physiker nannten dieses Problem die »Ultraviolett-Katastrophe«. Ultraviolett entsprach der höchsten seinerzeit bekannten Frequenz. Max Planck untersuchte die Strahlung »schwarzer Körper«. Ein schwarzer Körper ist eine Idealvorstellung: Er reflektiert kein Licht und hat, solange er nicht erwärmt wird, keine eigene Farbe. Wenn ein schwarzer Körper in einer bestimmten Farbe glüht, dann weiß man, dass die Ursache in zugeführter Energie liegt. Stellen wir uns einen solchen schwarzen Körper vor, und zwar einen Kasten, in dem sich ein Loch befindet. Wir erwärmen den Kasten auf Rotglut und schauen durch das Loch hinein. (Er ist innen hohl.) Was sehen wir jetzt? Rot. Erwärmt man den Körper weiter, wechselt er die Farbe, bis er am Ende weiß glüht. Nach der damaligen Theorie musste diese Veränderung gleichmäßig ablaufen – da auch die Elektronen eines Atoms die Energie gleichmäßig abstrahlen. Planck entdeckte, dass genau dies nicht eintrat. Anstatt die Energie stetig und gleichmäßig zu emittieren – so wie ein Uhrwerk langsam ausläuft –, strahlen die Elektronen ihre Energie ruckartig ab und fallen nach jedem Ruck auf ein niedrigeres Energieniveau, bis sie zum Stillstand kommen. Kurz: Planck entdeckte, dass die Veränderungen sprunghaft erfolgen. Er
hatte entdeckt, dass Energie in Päckchen von bestimmter Größe auftritt. Diese Päckchen nannte er Quanten. Planck veröffentlichte seine Abhandlung in der Hoffnung, es würde seinen Kollegen gelingen, die Entdeckung mit den Begriffen der Newtonschen Physik zu erklären. Er betrachtete seine »Plancksche Konstante«, mit der man die Größe der Energiepäckchen (Quanten) für jede Lichtfrequenz berechnen konnte, selbst nur als Notbehelf. Er ahnte nicht, dass diese Konstante bald als eine der grundlegenden Naturkonstanten betrachtet werden würde. Mit seinem Versuch, eine der letzten ungelösten Fragen der klassischen Physik zu lösen, hatte er eine Tür aufgestoßen, hinter der sich ein riesiges, unerforschtes Gebiet erstreckte. Doch Plancks Entdeckung stieß zunächst kaum auf Beachtung. Es waren die Ergebnisse der so genannten Ätherdrift-Experimente, die den Physikern damals Kopfzerbrechen bereiteten.
Newton hatte angenommen, dass Licht aus winzig kleinen Partikeln besteht. Doch schon Newtons Zeitgenosse Christian Huygens dachte sich Licht als eine Wellenbewegung, und er legte seiner Theorie einen Äther zugrunde, in dem sich die Lichtwellen fortpflanzen. Zunächst blieb Newton vorherrschend: Licht besteht aus Teilchen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte Thomas Young den Begriff der Interferenz ein: Fällt Licht durch einen engen Spalt, werden die Lichtstrahlen gebeugt; sie werden von ihrer geradlinigen Ausbreitung abgelenkt. Fällt Licht durch einen Doppelspalt auf eine Fläche, entsteht ein Streifenmuster. Man nennt dieses Muster »Interferenzmuster«, und es beweist, dass sich Lichtwellen gegenseitig aufheben können. Damit war Newtons Teilchen-Theorie widerlegt. Im Jahre 1850 konnte Jean Foucault dann experimentell zeigen, dass die
Lichtgeschwindigkeit im Wasser kleiner wird – bestünde Licht aus Teilchen, müsste der umgekehrte Fall eintreten. Schließlich trat James Clerk Maxwell mit der kühnen Hypothese auf, dass Licht ein elektromagnetischer Vorgang sei. Er war zu dem Schluss gelangt, dass sich jede elektrische Energie vom Ort ihrer Entstehung aus wellenförmig mit einer Geschwindigkeit von 300000 Kilometern in der Sekunde fortpflanzt. Für die mechanistische Physik stand fest: Wo Wellen sind – sprich Schwingungen –, da muss auch etwas sein, das schwingt. Maxwell äußerte sich zu dieser Tradition wie folgt: »Äther wurden erfunden, damit die Planeten darin schwimmen können, um elektrische Atmosphäre und magnetische Ausstrahlungen zu beherbergen, um Empfindungen von einem Teil unseres Körpers zu einem anderen zu übertragen und so fort, bis der ganze Raum mit drei oder vier verschiedenen Äthern erfüllt war. Der einzige Äther, der überlebt hat, wurde von Huygens eingeführt, um die Fortpflanzung des Lichtes zu erklären. Die Eigenschaften dieses Mediums erwiesen sich als genau die, welche man zur Erklärung elektromagnetischer Phänomene benötigte.« Die Eigenschaften dieses Äthers waren wunderbar: Er musste dicht und elastisch genug sein, um die Fortpflanzung elektromagnetischer Schwingungen jeder Frequenz zu gestatten, durfte aber auf die Materie keinen Widerstand ausüben. Zwar bewegen wir uns im Äthermeer, doch das Äthermeer selbst bewegt sich nicht. Man nahm an, dass es sich in einem absoluten Ruhezustand befindet. Statt also das elektromagnetische Kraftfeld als physikalische Tatsache zu akzeptieren, schaffte man eine Substanz, auf die sich die elektromagnetischen Kräfte übertrugen. So ließen sich Elektromagnetismus und Newtonsche Mechanik vereinbaren. Die Sache hatte nur einen Haken: Der Äther ließ sich nicht
nachweisen. Schon Maxwell hatte vorgeschlagen, durch ein entscheidendes Experiment die Ätherhypothese zu prüfen. Ein entscheidendes Experiment ist ein Versuch, der über Fortbestehen oder Untergang einer wissenschaftlichen Theorie entscheidet. Die Idee war einfach: Wenn sich die Erde durch einen ruhenden Äther bewegt, dann musste der Äther die Erde umwehen. Wenn man einen Lichtstrahl gegen diesen Ätherwind aussendet, müsste er langsamer sein als ein Lichtstrahl, der quer zum Ätherwind verläuft. Durch den sich ergebenden Unterschied in der Geschwindigkeit des Lichtes ließe sich die Bewegung durch das Äthermeer messen. Im Jahre 1887 führten die amerikanischen Physiker Michelson und Morley dieses Experiment durch. Sie konnten nicht den geringsten Unterschied zwischen den Geschwindigkeiten der beiden Strahlen feststellen. Der Versuch wurde wiederholt, doch wieder ließ sich nicht der geringste Unterschied in der Geschwindigkeit der beiden Strahlen feststellen. Konnte man für dieses Ergebnis keine Erklärung finden, dann durften die Physiker nur zwischen zwei wenig beruhigenden Alternativen wählen: Entweder die Erde bewegt sich nicht (und Kopernikus hatte Unrecht), oder es gibt keinen Äther. Das Experiment zeigte aber noch etwas: Die Lichtgeschwindigkeit beträgt immer knapp 300000 Kilometer pro Sekunde (im Vakuum), ganz gleich, wie sich der Beobachter bewegt. Ob wir uns auf das Licht zubewegen oder uns vom Licht fortbewegen: Die Lichtgeschwindigkeit verändert sich nie. Angenommen, wir fahren in einem Auto mit 100 Stundenkilometern. Ein anderes Fahrzeug fährt auf uns zu, und zwar mit 300 Stundenkilometern. Fahren wir aneinander vorbei, addieren sich die Geschwindigkeiten. Wir fahren mit 400 Stundenkilometern aneinander vorbei. Wenn wir uns mit
100000 Kilometern pro Sekunde auf das Licht zubewegen, beträgt die Lichtgeschwindigkeit aber nicht etwa 400000 Kilometer pro Sekunde, sondern ebenfalls 300000. Und wenn wir uns mit 100000 Kilometern pro Sekunde vom Licht entfernen, rast das Licht noch immer mit 300000 Kilometern pro Sekunde an uns vorbei, gerade so, als stünden wir still. Die Lichtgeschwindigkeit ignoriert unsere eigene Bewegung quasi. Es ist, als ob wir für das Licht immer stillstehen würden. Das widerspricht natürlich jedem gesunden Menschenverstand. Und es mangelte nicht an Versuchen, das fehlgeschlagene Michelson-Morley-Experiment zu erklären. Der holländische Physiker Hendrik Antoon Lorentz entwickelte die Hypothese, dass der Druck des Ätherwindes die Materie in Bewegungsrichtung zusammendrückt. Ein Messstab, der gegen den Ätherwind gehalten wird, ist dann etwas kürzer als einer, der quer zum Ätherwind gehalten wird. Somit ließe sich eine Veränderung der Lichtgeschwindigkeit nicht feststellen, da sich die Strecke, die das Licht zurücklegen muss, verkürzt. Lorentz schaffte eine komplizierte mathematische Formulierung für diese Hypothese, die unter dem Namen »Lorentz-Transformationen« bekannt und allgemein anerkannt wurde. Das mag überraschen, klingt die Hypothese doch eigentlich fantastisch. Aber immerhin gestattete sie, den Äther beizubehalten. Warum waren die Physiker um die Jahrhundertwende bereit, eine so unglaublich klingende Erklärung zu akzeptieren?
Galileo Galilei hatte um das Jahr 1600 herum gesagt: »Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben.« In seinen Bewegungsgesetzen ging er von den Typen der Bewegung aus, die am einfachsten mathematisch darzustellen waren. Die einfachste ist eine gleichförmige, geradlinige
Bewegung. Gleichförmig bedeutet, dass sich ihre Geschwindigkeit nicht verändert, dass sie keine Beschleunigung erfährt. Daran schließt sich die gleichförmig beschleunigte Bewegung an, die auch in gerader Linie erfolgt. Gleichförmig beschleunigt bedeutet, dass sie zwar Beschleunigung erfährt, diese Beschleunigung aber gleichmäßig zunimmt. Alle anderen, komplizierten Bewegungen versuchte Galilei aus diesen einfachen Bewegungsformen zusammenzusetzen. Nach ihm gilt eine Bewegung in der Natur dann als verstanden, wenn sie sich auf diese einfachen Bewegungstypen zurückführen lässt. Newton widerlegte die Auffassung, dass zwischen irdischen und kosmischen Phänomenen ein wesentlicher Unterschied bestehe. Er erkannte (angeblich als er unter einem Apfelbaum ausruhte) das Prinzip der Schwerkraft. Er erweiterte Galileis Schema so, dass es für alle Bewegungen gelten sollte: 1. Wenn sich ein Objekt in gerader Linie bewegt, so wird es diesen Weg bis in alle Ewigkeit fortsetzen. (Das ist das Trägheitsgesetz: Wirken keine äußeren Einflüsse, bewegt sich ein Körper geradlinig und gleichförmig.) 2. Die umgebenden Körper haben Einfluss auf seine Bewegung. (Damit ist die Schwerkraft gemeint.) Nach diesen zwei Grundprinzipien lässt sich nach Newton jede Bewegung beschreiben. Dabei ergibt sich aber ein Problem, das typisch für die Denkweise von Wissenschaftlern ist: Bewegungen finden immer nur relativ zu einem ruhenden Punkt statt. Ein Beispiel: Angenommen, jemand sitzt im Zug. An diesem Jemand geht ein Schaffner vorbei. Ein anderer steht auf der Straße und sieht den Zug vorbeifahren. Der Jemand im Zug wird sagen: Ich befinde mich im Ruhezustand, der Schaffner aber geht vorbei, er bewegt sich. Der auf der Straße wird sagen: Ich befinde mich in einem Zustand der Ruhe, und die beiden im Zug befinden sich in Bewegung. Es kommt also
auf das Bezugssystem an. Der Zug ist ein Bezugssystem, die Erde ein anderes. Aber schließlich steht die Erde selbst auch nicht still. Sie dreht sich um ihre Achse und kreist mit einer Umlaufgeschwindigkeit von dreißig Kilometern pro Sekunde um die Sonne. Dennoch haben wir das Gefühl, die Erde befinde sich im Ruhezustand. Die Erde ist eben unser Bezugssystem. Ein Beobachter auf dem Mond sähe das ganz anders. In Wirklichkeit bewegen sich von jedem Standpunkt aus immer die anderen. Es gibt nichts, was sich eindeutig nicht bewegt. Bewegung und Ruhe sind immer relativ zu etwas anderem. Dies alles ist Teil des Relativitätsprinzips, das Galilei bereits vor über 300 Jahren schuf. Galileis Relativitätsprinzip besagt außerdem, dass die Gesetze der Mechanik in allen Bezugssystemen gelten, die sich gleichförmig zueinander bewegen. Das bedeutet: Diese Gesetze gelten im gesamten Universum, bewegt sich das Bezugssystem – zum Beispiel der Planet oder das Raumschiff – nur gleichförmig. Wenn man beispielsweise ein Buch in einem Zug fallen lässt, der sich gleichförmig bewegt, fällt das Buch gerade zu Boden, so als würde der Zug stillstehen. Ein Bezugssystem, in dem die Gesetze der Mechanik vollständig gelten, nennt man ein Inertialsystem. Zurück zum Zug. Wir beobachten den Schaffner, der durch den Zug geht. Angenommen, der Zug fährt mit 50 Stundenkilometern. Der Schaffner geht mit 5 Stundenkilometern im Zug. Von der Straße aus gesehen bewegt sich der Schaffner nun mit 55 Stundenkilometern. Wir addieren einfach die Geschwindigkeit des Schaffners zu der des Zuges. Diese Rechnung nennt man eine klassische oder Galilei-Transformation. Wir können die Geschwindigkeit des Schaffners in Bezug auf sein eigenes Koordinatensystem (5 Stundenkilometer) und in Bezug auf unser Koordinatensystem umformen. Diese Transformationsgesetze entsprechen dem
gesunden Menschenverstand – und unserer alltäglichen Erfahrung: Gehen wir auf einer Rolltreppe, kommen wir schneller vorwärts, als wenn wir stehen bleiben. Die Geschwindigkeiten addieren sich. Nach den Ergebnissen des Michelson-Morley-Versuches aber kümmerte sich das Licht nicht um diese Transformationsgesetze. (Gehen wir mit einer Taschenlampe in der Hand die Rolltreppe hoch, erhöht sich zwar unsere Geschwindigkeit, nicht aber die des Lichtes.) Die Sache hatte noch einen Haken: Wenn wir Galileis Versuche mit fallenden Körpern betrachten, stellen wir fest, dass es eine gewisse Abweichung zwischen den theoretischen Ergebnissen und den tatsächlichen Ergebnissen gibt. Diese Unstimmigkeiten sind auf die Rotation der Erde zurückzuführen. Um diesem Problem abzuhelfen, wurde die Vorstellung von einem »absoluten Raum« eingeführt, in dem die Gesetze der Mechanik absolute Gültigkeit haben. Und die Rolle dieses absoluten Raumes hatte im 19. Jahrhundert der Äther übernommen. Wurde nun der Äther abgeschafft – und mit ihm der absolute Raum –, wie sollte man dann noch festlegen, ob sich ein Körper geradlinig bewegte? Denn Newtons Trägheitsgesetz hatte besagt, dass jeder Körper, auf den keine äußeren Einflüsse wirken, sich »längs einer geraden Linie bewegt«. Doch was sollte mit einer geraden Linie gemeint sein, wenn es keinen absolut ruhenden Raum gab, auf den sich diese Linie beziehen ließ?
Die beiden Physiker, an die Einstein mit seinen ersten bahnbrechenden physikalischen Arbeiten hauptsächlich anknüpfte, waren der Österreicher Ernst Mach und der französische Mathematiker Henri Poincaré.
Mach hatte darauf hingewiesen, dass Newtons Gesetze Ausdrücke enthalten wie »absoluter Raum« und »absolute Zeit«, die nicht durch unsere Beobachtungen erklärt werden können. Der absolute Raum ist auch absolut unbeobachtbar. Mach hat gefordert, nur noch Begriffe zu verwenden, die sich aus Beobachtungen ableiten lassen. Nur solche Begriffe lassen sich experimentell prüfen. Wenn man das Trägheitsgesetz durch ein Experiment prüfen will, kann man dabei nicht die Frage stellen, ob sich ein Körper in Bezug auf den absoluten Raum geradlinig bewegt. Denn der absolute Raum lässt sich nicht beobachten. Man muss also aus dem Trägheitsgesetz den Bezug auf den absoluten Raum entfernen. Mach hat außerdem gefordert, eine Theorie solle möglichst einfach sein. Eine »einfache« Theorie versucht, möglichst viele Beobachtungen zusammenzufassen. Henri Poincaré hat darauf hingewiesen, dass die allgemeinen Gesetze der Physik freie Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. Nach Poincaré trifft dies auf alle allgemeinen Sätze der Wissenschaft zu, wie beispielsweise die Grundlehren der Geometrie. Diese Sätze sind nicht Aussagen über die Wirklichkeit, sondern willkürliche Vereinbarungen über den Gebrauch bestimmter Begriffe. Daher kann man von diesen Sätzen niemals sagen, ob sie wahr oder falsch sind. Man kann nur fragen, ob die Vereinbarungen zweckmäßig sind oder nicht. Einstein hat über diesen Sachverhalt selbst geschrieben: »Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.« Die Positionen von Mach und Poincaré sind schwer vereinbar. Mach fragt hauptsächlich, ob sich eine Theorie aus Erfahrungen ableiten lässt, Poincaré bestreitet, dass sich irgendein Gesetz aus der Erfahrung ableiten lässt. Für ihn zählt nur der folgerichtige logische Beweis. Beide haben jedoch eins gemeinsam: Sie
fragen nicht danach, ob eine Theorie dem »gesunden Menschenverstand« entspreche. Als Albert Einstein im Februar 1902 als dreiundzwanzigjähriger Hilfslehrer, fast mittellos, in abgetragenem Anzug, in Bern eintraf, hatte er in seinem kleinen Köfferchen die ersten Entwürfe einer neuen Theorie der Relativbewegungen, die das Weltbild der Physik revolutionieren sollte. Gerade hatte er die Arbeiten von Planck und Lorentz kennen gelernt. Er spürte, dass es da einen Zusammenhang geben musste zwischen dem Relativitätsprinzip, der Tatsache, dass Energie stets in Quanten auftrat, und dem Phänomen der Lichtgeschwindigkeit, die sich nie veränderte. Zunächst einmal aber musste er in der Berner Altstadt ein Zimmer finden. Denn in wenigen Monaten sollte er seine erste feste Stelle antreten: als technischer Experte im Eidgenössischen Patentamt. In der Zwischenzeit gedachte er, Privatstunden zu geben.
Beamter Nr. 42
Der Direktor des Eidgenössischen Patentamtes, Friedrich Haller, sprach den Berner Dialekt, das Bärnerdütsch, das vielfach als eine Art Halskrankheit bezeichnet wird. Aber Einstein war von Zimmerwirtinnen und Meldebeamten bereits Ärgeres gewohnt. »Unsere Aufgabe im Patentamt«, sagte Haller, »ist es, die angemeldeten Erfindungen zu prüfen. Viele Erfinder sind nämlich Dilettanten, und auch die Fachleute sind meistens nicht imstande, ihre Gedanken wirklich klar auszudrücken.« Haller hatte ein breites, leicht gerötetes Bauerngesicht, mit Patriarchen-Bart. Er begann sich umständlich eine Pfeife zu stopfen. Einstein war kurz davor, ihm Hilfe anzubieten. »Wenn Sie ein Gesuch zur Hand nehmen, dann gehen Sie davon aus, es sei alles falsch, was der Erfinder sagt. Wenn Sie das nicht tun, dann folgen Sie dem Gedankengang des Erfinders, und schon sind Sie befangen. Es gilt, kritisch zu bleiben. Wachsamkeit! Daraufhin müssen Sie klar formulieren, worin die Erfindung, die Schutz verlangt, eigentlich besteht. Nur so lässt sich prüfen, ob dieselbe Erfindung bereits ein anderer angemeldet hat.« »Verstehe«, sagte Einstein. »Irrtum«, antwortete Haller. »Aber schließlich haben Sie sich mit den juristischen Aspekten des Patentschutzes noch nicht beschäftigt. Nun…« Er holte tief Luft, als bereite er einen besonders neuen Gedanken vor. In Wirklichkeit aber unterbrach er seinen Vortrag, um mit großem Ernst mit dem Pfeifenstopfer eine Ablagerung an seiner Schreibtischkante zu
entfernen. Nachdem dies geschehen war, schüttelte er besorgt den Kopf. »Ein neuer Apparat ist nicht wirksam geschützt«, fuhr er daraufhin fort, »wenn zu weit formuliert wird. Jeder kann ihn nachbauen, ohne sich strafbar zu machen. Andererseits darf der Erfindungsgedanke auch nicht zu eng formuliert werden. Beispiel: In einer Darstellung ist von einem kupfernen Draht die Rede. Es kann aber auch ein Eisendraht denselben Dienst tun. Schon ist die Formulierung zu eng. Es braucht nur einer denselben Apparat zu bauen, bloß dass er anstatt des Kupferdrahts den Eisendraht nimmt, und niemand kann ihn belangen.« Hallers ganzes Wesen straffte sich, und mit gehobener Stimme verkündete er: »Wir brauchen strenge, logische Formulierungen. Und darum werden Sie jeden Dienstagvormittag systematisch in der Schriftsprache des Patentamtes geschult. Ich lege großen Wert darauf, dass alle Prüfer mit den gleichen Prinzipien und Begriffen arbeiten. Sie erscheinen also jeden Dienstag in meinem Büro. Außerdem findet jeden Donnerstagabend technische Fortbildung statt. Teilnahmepflicht.« »Natürlich«, sagte Einstein. »Des Weiteren möchte ich Sie auf diese Einrichtung aufmerksam machen«, sagte Haller und drückte auf einen Knopf. Man hörte, wie es in einem entfernten Büro klingelte, augenblicklich eine Tür geöffnet wurde und jemand über den Korridor eilte. Ein Beamter betrat das Büro Hallers und blieb steif stehen. Haller brach in gutmütiges Lachen aus. »Entschuldigen Sie, Herr Schlaefli, ich wollte nur Ihrem neuen Kollegen unsere Signalanlage demonstrieren.« Schlaefli machte einen halben Bückling und stimmte gezwungen in das Lachen ein. »Darf ich die Herren miteinander bekannt machen?«, sagte Haller. »Herr Einstein,
in Kürze technischer Experte dritter Klasse, und Herr Schlaefli, Kanzleigehilfe.« Einstein und Schlaefli nickten einander zu. Dann entfernte sich Schlaefli. Haller zündete sich seine Pfeife an. »Und noch etwas: Grinsen Sie nicht, wenn ich Anordnungen gebe. Einverstanden?« Einstein nickte. »Gut«, schloss Haller. »Dann wissen Sie ja das Wichtigste. Sie treten Ihre Stelle am 1. Juli dieses Jahres an. Ihr Anfangsgehalt beträgt 350 Franken. Und hier haben Sie einen Vorschuss von 150 Franken. Kaufen Sie sich einen anständigen Anzug.« In der Berner Altstadt ziehen sich zu beiden Seiten der Gassen Arkadengänge hin. Über sechs Kilometer lang sind diese überdachten Bürgersteige, weshalb man auch bei Regen von einem Ende der Stadt zum anderen gehen kann, ohne nass zu werden. Die Berner nennen diese Laubengänge »Rohr«. Im Rohr gibt es Restaurants und Cafés, teure Geschäfte und Kramläden. Die Stadt mit ihren spitzen Türmen und zierlichen Brunnen hat sich seit dem Mittelalter kaum verändert, die altersdunklen Häuser lehnen dicht aneinander, als wollten sie sich ausruhen. Einstein spazierte über die breit angelegten Gassen. Als ihm ein junger Diplomat in schnittigem, kariertem Anzug entgegenkam, fiel ihm wieder ein, dass er ja reich geworden war. Er hatte 150 Franken in der Tasche. Davon konnte er die vier Monate leben, bis die Arbeit im Patentamt begann. Aber was würde der gestrenge Direktor Haller sagen? Besser, dachte Einstein, ich sehe mich nach einem standesgemäßen Anzug um. Er blieb vor dem Schaufenster eines eleganten Herrenausstatters stehen. Das waren schöne Modelle. Aber wenn er sich in einem dieser Anzüge vorstellte, überkam ihn Unwohlsein. Es gab Leute, die ihren Hunden Seidenkleider anzogen.
Er ging weiter. Schließlich entdeckte er in einem Schaufenster einen schauderhaften karierten Anzug. Das war eine Lösung. Dieser Anzug war so korrekt, dass sich niemand beschweren konnte. Und gleichzeitig sah er so lächerlich aus, dass man ihn nicht ernst zu nehmen brauchte. Einstein beugte sich vor, um das Preisschild zu lesen. Er hätte fast laut »Wie bitte?« gerufen, so erschrak er. Immerhin richtete er sich mit einer so ruckhaften Bewegung auf, dass er einen korpulenten Herrn, der neben ihm stand, versehentlich anrempelte. »2000 Franken«, flüsterte er atemlos. »Ja, nicht billig«, sagte der korpulente Herr und stemmte die Hände in die Seiten. »Das ist eben erstklassiger Import aus Großbritannien.« »Es sieht aus wie ein Clownskostüm«, sagte Einstein. Dem korpulenten Herrn fiel beinahe die Zigarre aus dem Mund. »Ein Norfolk Jackett, die Beinkleider feinster Tweed, die allerletzte Mode…« Einstein wurde klar, dass es sich um den Besitzer des Geschäfts handeln musste, und er entschuldigte sich eilig. Der Karoanzug ließ ihm aber keine Ruhe, und er beauftragte schließlich einen billigen Schneider in der Vorstadt, aus einem ähnlichen Stoff einen Büroanzug zu schneidern. Um sich seinen Lebensunterhalt für die Zwischenzeit zu verdienen, gab er eine Anzeige in der örtlichen Tageszeitung auf:
PRIVATSTUNDEN in Mathematik u. Physik für Studierende und Schüler erteilt gründlichst ALBERT EINSTEIN, Inhaber
des Eidgen. Polyt. Fachlehrerdiploms, GERECHTIGKEITSGASSE 32, 1. STOCK Probestunden gratis Bei Frau Sievers lebte Einstein in einer einfachen Pension, aber in seinem Zimmer gab es sechs Polsterstühle und drei Schränke; man hätte eine Versammlung abhalten können. Einmal die Woche kam ein Nachhilfeschüler, sonst brütete er allein über seinen physikalischen Arbeiten. Lieserl, wie er das Kind in Milevas Bauch genannt hatte, musste nun auf der Welt sein. Er hatte Mileva oft geschrieben, von der neuen sicheren Stelle und dass sie nun wirklich heiraten und zusammenziehen konnten, dass ihr Lieserl eine gesicherte Zukunft hatte. Das letzte Mal hatte Mileva im November geantwortet. Sie sei krank, die Situation bei den Eltern bedrückend, doch sie werde schon durchhalten. Vor wenigen Tagen hatte er erneut einen Brief abgeschickt, sich nach Lieserl erkundigt: Wie sah sie aus? Wem sah sie ähnlich? Hatte sie Milevas große, schwarze Augen geerbt? Und wer gab ihr Milch? Eine Amme oder Mileva selbst? Hatte sie auch ordentlich Hunger? Und nun diese Antwort. Mileva hatte dem Brief seinen Lieblingstabak beigelegt, besten ungarischen Rachenputzer. Von Lieserl kein Wort. Nur ein paar umständliche Umschreibungen: Man habe eine Lösung gefunden, die für alle nur Vorteile biete. Es sei nun einmal das Vernünftigste, das Kind in Ungarn zu lassen, bei Menschen, die sich mit viel Liebe darum kümmern würden. Vernunft, Liebe. Er konnte in jedem Wort den Druck spüren, der dort seit Monaten geherrscht haben musste. Die Vorwürfe, die sich Mileva, wahrscheinlich jeden Tag, jede Stunde, hatte anhören müssen. Ihr Vater war schließlich Beamter in der kaiserlichen Verwaltung.
Der Brief und das Tabakpaket lagen vor ihm. Einstein saß mit angezogenen Beinen auf der großen Truhe aus hellem Holz in einer Ecke des Zimmers. Er erinnerte sich an seine Briefe, die er Mileva geschickt hatte. Seine Vorfreude auf Lieserl kam ihm nun gekünstelt vor, die Sätze klangen beschwörend in der Erinnerung. Vielleicht hatte er sich niemals wirklich auf dieses Kind gefreut. Er hatte Mileva seine Freude vorgespielt, weil er wollte, dass sie glücklich war. Neulich war er mit Frösch, dem Freund aus Aarau, der in Bern Medizin studierte, in einem Kolleg über Geburtsmedizin gewesen. War es nicht das größte Wunder von allen, dass im Körper einer Frau ein neuer Mensch heranwachsen konnte, der zunächst, medizinisch betrachtet, praktisch ein weiteres Organ der Frau war? Er versuchte sich vorzustellen, wie Mileva das Kind bekommen hatte. Geburten waren etwas ziemlich Öffentliches, niemand ging ins Krankenhaus deswegen, und viele Frauen bekamen acht oder zehn Kinder, so dass darum nicht viel Aufhebens gemacht wurde. Er hatte oft die Schreie der Frauen gehört, wenn die Wehen einsetzten. Das konnte Stunden, manchmal Tage dauern. Mileva hatte nichts davon geschrieben. Es hieß doch, die erste Geburt sei meistens schwer. Viel Blut floss dabei, und das Leben der Frau war jedes Mal in Gefahr. Mit einem Mal wurde ihm elend zumute. Ihm wurde klar, in welcher Situation Mileva sich dort in Ungarn befand, allein mit ihren Eltern, eine gefallene Tochter, die sich vor der Hochzeit mit einem Mann eingelassen hatte. Das mochten viele tun, aber die hatten eben mehr Glück oder passten besser auf. Bald würde Mileva wieder bei ihm sein. Oder? Sie hatte geschrieben, sie würde weiter studieren. Dann müsste sie aber in Zürich leben. Wollte sie denn nicht bei ihm in Bern sein? Aber natürlich, dachte er, sie muss ihr Studium abschließen. Sie will doch ihre Diplomarbeit schreiben und vielleicht sogar
eine Doktorarbeit. Diese Vorstellung erfüllte ihn mit fast kindlichem Stolz: Seine geliebte Mileva sollte einen Doktorhut tragen? So gelehrt war sie. Es klopfte an der Tür. Er fuhr aus seinen Gedanken auf und rief laut »Herein«. Als sich darauf nichts tat, sprang er von der Truhe, lief zur Tür und riss sie auf. Im dunklen Flur stand ein junger, südländischer Mann, dessen Haaransatz bereits im Rückzug befindlich war. Er hielt einen melonenförmigen Hut mit beiden Händen vorm Bauch. »Ich kaufe nichts«, sagte Einstein und wollte schon die Tür schließen. Seit wann ließ Frau Sievers Hausierer zu den Untermietern? Der junge Mann lächelte fein und sagte mit romanischem Akzent: »Aber Sie geben Physikunterricht?« Sofort leuchtete Einsteins Gesicht auf. Er öffnete die Tür sperrangelweit und rief: »Immer herein in die gute Stube!« Dann nahm er einen Bücherstapel von einem der Lehnstühle und schob ihn dem jungen Mann zu. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle«, sagte der, nachdem er sich gesetzt hatte. »Das möchte ich doch hoffen«, sagte Einstein. Er stand noch, sich in froher Erwartung die Hände reibend, im Raum. »Mein Name ist Maurice Solovine.« »Rumänien?« »Richtig. Ich habe hier begonnen, meiner Leidenschaft folgend, Philosophie zu studieren. Aber ich habe ein brennendes Verlangen, auch in die Geheimnisse der höheren Mathematik, der Geometrie und vor allem der Physik vorzustoßen.« Der junge Mann schob die Hand mit angespannter Geste durch die vollen, schwarzen Haare. Er war, wie viele Südeuropäer, nicht in der Lage, ein »h« auszusprechen, so klangen Worte wie »Geheimnis« und »Weisheit« aus seinem Mund besonders dramatisch, zumal er
diese Worte mit einer feierlichen Handbewegung unterstrich. Er stand auf und fuhr auf und ab gehend fort: »Die Physik ist die Grundlage aller Philosophie. Die Physik ist das, was alle Menschen, ja alle Wesen im Universum verbindet, das, was allen gemeinsam ist. Die Schwerkraft herrscht in Frankreich genau wie im wilhelminischen Deutschland, und sie herrscht auf dem Mond und selbst auf den entferntesten Planeten. Es ist völlig gleichgültig, welche Weltanschauung einer hat, in der Naturwissenschaft entscheidet nur das Experiment! Jedenfalls nicht die kurzsichtigen, befangenen Menschen, die ihre Vorurteile für Erkenntnis halten.« »Bravo«, rief Einstein und applaudierte leise. Solovine setzte sich wieder, legte die Fingerspitzen aneinander und sagte: »Nun, wie ist Ihr Standpunkt dazu?« Einstein wusste bereits, dass er einen neuen Freund gewonnen hatte. »Die Physik«, bestätigte er, »beschäftigt sich mit ganz konkreten Erfahrungen, mit experimentell gewonnenen Ergebnissen. Aber leider können wir die Begriffe nicht aus unseren Erfahrungen logisch ableiten. Haben Sie von Poincaré gehört?« Solovine nickte erregt: »Ich habe Kurse in experimenteller Physik belegt. Aber der Professor gefällt sich darin, abschätzig über die theoretische Physik zu sprechen. Er sagt, physikalische Theorien seien nur willkürliche Konstruktionen, die schnell von neuen Entdeckungen zum Einsturz gebracht werden, wohingegen die Fakten, experimentell gefunden und sauber analysiert, wahre Errungenschaften der Physik sind und ewig bestehen werden.« »Ihr Professor irrt. Es gibt keine Fakten, die unabhängig von einer Theorie existieren. Ohne Theorien und Begriffe können wir nicht forschen. Aber eine gute Theorie ist ebenso wenig
von den Erfahrungen unabhängig wie die Kleider von den menschlichen Leibern.« Bevor sie auch nur auf die Idee gekommen waren, die Zimmerwirtin nach einem Tee zu rufen, waren schon zwei Stunden vorbei. Solovine musste eilig aufbrechen. Einstein begleitete ihn die Treppe hinunter. Im Laubengang vor der Haustür blieben sie stehen. Draußen regnete es, und so war es unter den Arkaden ziemlich voll. Die jungen Mädchen promenierten Arm in Arm, Schuljungen zogen in lärmenden Gruppen hinter ihnen her. Aus der Patisserie drang der Geruch von frischem Gebäck, er mischte sich mit dem starken Aroma aus der Kaffeerösterei nebenan. Einstein und Solovine hatten im Treppenhaus bereits ein neues Thema angeschnitten: Spinozas Gottesbild. Um sie herum herrschte das aufgeregte Treiben kurz vor Geschäftsschluss. Einstein stand da in Hemd und Strickjacke, ohne Kragen, die Füße in grünen Pantoffeln. »Das wahre Wunder«, sagte er, »liegt gerade darin, dass wir die Welt verstehen können. Wenn auch nicht vollständig. Aber es ist doch an sich völlig unwahrscheinlich, dass das Universum für uns verständlich ist. Es gäbe doch unendlich viele andere Möglichkeiten. Ja, die Erwartung, das Universum auch nur in Teilen verstehen zu können, erscheint maßlos naiv. Und doch können wir verstehen.« Während die Geschäfte geschlossen wurden und die Ladenbesitzer die schweren eisernen Rollläden herunterzogen, standen die beiden jungen Männer, tief in ihre Unterhaltung versunken, in dem Laubengang. Bald war es dunkle Nacht, nur noch aus der nahen Weinschenke drangen vereinzelte Stimmen. Endlich kam ein Schutzmann vorbei und wollte ihre Papiere sehen. Darauf verabschiedeten sie sich, nicht ohne sich für den folgenden Tag verabredet zu haben.
Dies war die Gründung der ehrenvollen Akademie Olympia. Nach wenigen Tagen stieß Conrad Habicht, der Philosophie und Mathematik studierte, zu ihnen. Er brachte seinen Bruder mit, der gelernt hatte, schwarzen Kaffee auf türkische Art zu brauen, und damit hielt sich die Gesellschaft bis tief in die Nacht munter. Regelmäßig erschien auch Michele Besso. Er hatte Anna Winteler geheiratet, eine ältere Schwester von Einsteins Jugendliebe in Aarau. Besso war ein Übervorsichtiger, der an allem herumkritisierte, aber das konnte für solche Diskussionen gerade fruchtbar sein. Sie lasen gemeinsam Machs Mechanik, Humes Traktat über die menschliche Natur, Spinozas Ethik. Oft wurde nur eine halbe Seite, manchmal nur ein Satz gelesen; wenn ein wichtiges Problem auftauchte, wurde tagelang diskutiert. Kam Mileva an den Wochenenden aus Zürich zu Besuch, beteiligte sie sich begeistert an den Sitzungen der Akademie. Mit ihrem Studium aber hatte sie kein Glück. Es war damals nicht üblich, dass eine Frau das Diplom erhielt oder gar ihren Doktor machte. Frauen sollten sich bilden, um ihrem Mann eine anspruchsvolle Gesprächspartnerin sein zu können, um die Kinder erziehen zu können, doch es war nicht vorgesehen, dass sie ins Berufsleben eintraten. Das Frauenstudium war als solches noch neu, in vielen Ländern ganz unmöglich. Noch wurde unter Wissenschaftlern ernsthaft darüber diskutiert, ob Frauen überhaupt zu eigenständigen intellektuellen Leistungen fähig waren. Studierte eine Frau Naturwissenschaften, so war es üblich, dass sie mit einem Abgangszeugnis entlassen wurde. Mileva hatte mehr gewollt. Sie hatte sogar ihre Doktorarbeit begonnen. Ihr Professor, Dr. Weber, stand auf ihrer Seite, aber andere Lehrer waren zu konservativ. So musste sie im Sommer ihr Studium ohne Diplom beenden. Im September war der Vater in Mailand gestorben. Einstein traf die Nachricht mit unerwarteter Härte. Ein Gefühl des
Verlustes betäubte ihn für Tage. Die Geschäfte des Vaters waren zuletzt besser gegangen, aber noch immer war alles vom Geld reicher Verwandter abhängig gewesen. Bei den letzten Begegnungen hatte der Vater gehetzt gewirkt, als ob er in Gedanken stets woanders wäre, bei einem neuen Kreditgeber, mit dessen Hilfe sich eine Finanzlücke überbrücken ließ, oder bei einem alten Gläubiger, der beschwichtigt werden musste. Was hatte dieser Mann für ein Leben geführt? Einstein bedrängte Mileva nun heftiger, zu heiraten. Und so bestellten sie ihr Aufgebot. Der Termin für die Trauung wurde auf den 6. Januar 1903 gelegt, den Dreikönigstag.
Mileva richtete sie sich auf und band die schwarzen Haare zusammen. Ihr rundes Gesicht strahlte eine große Ruhe aus. Die tiefen, schwarzen Augen waren hellwach. Als sie die Schritte hörte, drehte sie sich um. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte sie. »Was?«, fragte Einstein. »Dein Anzug«, sagte sie. Sie trug ein helles Kostüm mit breitem weißem Spitzenkragen und hübschen Perlmuttknöpfen. Einstein trug den karierten Büroanzug. »Wozu habe ich den Anzug denn?« »Damit du ihn im Büro tragen kannst.« »Dafür ist er doch viel zu gut. Außerdem habe ich nichts anderes.« »Dann musst du dir eben etwas besorgen.« »Ja, was denn?« »Einen schwarzen Anzug natürlich. Dazu weißes Hemd mit Stehkragen. Wie viel Uhr?« »Wie bitte? Oh, es ist – halb elf.«
»Dann bleibt uns noch eine Stunde«, sagte sie. »Zunächst zum Frack-Verleih. An einem Wochentag wird er wohl nicht ausgebucht sein. Dann bleibt noch Zeit für den Friseur.« »Aber wieso?«, fragte Einstein. »Weil wir heute heiraten. Und ich erwarte, dass du an diesem Tag anständig angezogen und frisiert bist.« Sie stand auf, warf sich ihr dunkles Cape über die Schultern, nahm Einstein am Handgelenk und zog ihn aus der Wohnung und die Treppe hinunter. Mit einer Kutsche fuhren sie in die Innenstadt, wo sich der Bräutigam ohne weitere Gegenwehr ankleiden ließ. Die Trauung verlief ohne Zwischenfälle. Routiniert las der Standesbeamte all die heiligen Ermahnungen zu ehelicher Treue und Pflichterfüllung herunter. Hin und wieder sah er auf, und seine müden Augen schienen zu sagen: Das habe ich schon Tausenden von Brautpaaren vorgelesen – und was hat es genutzt? Habicht und Solovine, die Trauzeugen, konnten sich ein Kichern nicht verkneifen und wurden streng ermahnt. Es gab weder Konfettiregen oder knallende Sektkorken, noch Freunde, die vor dem Standesamt warteten. Die kleine Gesellschaft fuhr mit der Kutsche zurück in die Vorstadt, in der die neu gemietete Wohnung lag. Es war ein kalter Januartag, die ganze letzte Woche hindurch hatte es geschneit. Solovine und Habicht kamen noch mit bis zur Haustüre. Man plauderte unbeschwert. Da entdeckte Einstein, dass er den Hausschlüssel vergessen hatte. Obwohl das, angesichts der großen Kälte, eine dumme Situation war, mussten sie alle lachen. Die Wohnung lag im oberen Stock, unter dem Dach. Es gab einen großen Balkon. Solovine bot an hinaufzuklettern.
Einstein bezeichnete die Jahre in Bern später oft als seine glücklichste Zeit. Andere hätte es gedrängt, Karriere zu
machen, Professor zu werden, doch er war froh, einen Brotberuf zu haben. Die Verpflichtung, regelmäßig Forschungsarbeiten zu veröffentlichen, auch wenn es gerade keine neuen Erkenntnisse gibt, und die Pflicht, Vorlesungen zu halten, jedes Jahr denselben Stoff den Studenten einzupauken, verführt viele Wissenschaftler zu Oberflächlichkeit im Denken, zu Selbstüberschätzung. Einstein blieb die Abstumpfung erspart, die der akademische Betrieb oft mit sich bringt. Im Patentamt verdiente er zwar nur wenig, gerade genug, um sich und Mileva zu ernähren, dafür hatte er seine Ruhe und konnte seinen Gedanken nachgehen. Für die Arbeit hatte er eine Erfolgsformel entwickelt. Sie lautete: Erfolg (A) ist gleich Arbeit (x) plus Spiel (y) plus Maulhalten (z). Kurz: A = x + y + z. Und die Arbeit auf dem Patentamt war so langweilig nicht. Da wurden skurrile, oft verrückte Apparate vorgeschlagen, selbst ernannte Retter der Menschheit kamen ins Büro, um Maschinen vorzuführen, die niemals funktionieren konnten. Der technische Experte Einstein musste alle Patentanträge schnell und klar verstehen, und dies schulte sein Denken; er erlangte die Fähigkeit, jede vorgebrachte Hypothese schnell in ihren Hauptzügen zu erfassen. Und unter einigen Patentanträgen lag in seiner Schublade stets eine eigene Arbeit, die er hervorzog, sobald er allein im Zimmer war. Als nach einem Jahr auch sein Freund Besso am Patentamt angestellt wurde, trug er ihm – während der Arbeit oder auf dem Heimweg – die neuen Theorien vor. Besso war ein guter Zuhörer und verstand es, anderen Selbstbewusstsein zu geben. Er plagte Einstein mit allen erdenklichen Einwänden, gab sich bewusst kritisch und zwang damit Einstein, seine Begriffe zu schärfen. Aber wenn Einstein eine glänzende neue Wendung gefunden hatte, sagte Besso auch: »Wenn es eine Rose ist, wird sie blühen.«
Mileva war erneut schwanger geworden. Stundenlang hätte Einstein das Ohr an ihren prall gespannten, warmen Bauch legen können, um zu horchen, wie das kleine Wesen dort drinnen strampelte und gluckste. Manchmal hatte es sogar einen Schluckauf, dann hüpfte es mit jedem Hickser gegen die Bauchdecke. Am 14. Mai 1904 brachte Mileva einen gesunden Jungen zur Welt. Sie nannten ihn Hans-Albert. Sie waren inzwischen in eine größere Wohnung in der Altstadt gezogen, in die Kramgasse, die schönste und lebendigste von Bern. Mileva hatte es verstanden, die Wohnung auch mit wenig Geld hübsch einzurichten, mit dunklen, feingliedrigen Holzmöbeln und vielen Pflanzen. Es gab sogar eine große Standuhr. An den Wänden hatten sie Tapeten mit den leichten, farbigen Blumenornamenten des Jugendstils, der damals die behäbige Pracht der Gründerzeit ablöste. Einstein hielt das kleine Bündel etwas unbeholfen im Arm. Oben schaute ein kleines kugelrundes Gesicht heraus. Jedes Mal, wenn Einstein mit seinem Schnurrbart über die Wangen des kleinen Gesichtes fuhr, bogen sich die Lippen beängstigend nach unten, und die Augen hielten Hilfe suchend nach der Mutter Ausschau. Doch die war einkaufen gegangen. Einstein setzte seinen Sohn ab und spielte ihm ein paar Kinderlieder auf der Geige vor. Sofort begann das kleine Bündel, vor Freude zu jauchzen und mit allen vieren zu strampeln. Als Mileva mit dem voll bepackten Einkaufskorb in die Wohnung kam, rief er ihr, ohne sein Spiel zu unterbrechen, zu: »Samstag wandern wir nach Thun!« Er hatte sich mit Solovine und Habicht verabredet. Am frühen Morgen wollten sie aufbrechen und zu dem wundervollen See am Fuße des Berner Oberlandes wandern. Mileva kam ins Wohnzimmer. »Wer ist wir?«
»Solovine, Habicht und ich.« Einsteins Gesicht strahlte von Vorfreude. »Das ist ja schön«, sagte sie, nahm Hans-Albert auf den Arm und ging in die Küche. Einstein setzte die Geige ab und folgte ihr. »Was ist los?«, fragte er. »Nichts ist los.« Er stand mit der Geige in der Hand im Türrahmen. Sie hatte Hans-Albert auf den Boden gelegt, er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Ich habe einen anstrengenden Tag gehabt«, sagte Einstein. »Ich freue mich auf das Wochenende.« »Ich hatte auch einen anstrengenden Tag«, sagte sie. »Ich freue mich auch aufs Wochenende.« »Ich habe seit Monaten keinen Wochenendausflug mehr mit den Freunden unternommen«, sagte er. »Habicht zieht nächste Woche nach Schaffhausen. Das weißt du doch. Wenn du mitkommen willst, dann sag es. Dieses Herumgedruckse…« Er hielt inne. Ihm wurde klar, dass er sehr laut gesprochen hatte. Mit gesenkter Stimme fuhr er fort: »Ich kümmere mich jeden Tag um die Familie. Ich gehe mit Hänschen spazieren, ich kaufe ein, ich spiele ihm Schlafliedchen vor…« »Und ich? Dass ich auch noch in dieser Wohnung wohne, scheinst du nicht zu bemerken.« Er drehte sich um, ging ins Wohnzimmer und nahm die Geige. Sie kam ihm nach und blieb vor ihm stehen. Er setzte die Geige ab. Sie zog die Küchenschürze aus und hielt sie in den Händen. Warum redete diese Frau immer erst, wenn es gar nicht mehr anders ging, und warum nahm sie nicht ihr Leben selbst in die Hand? Ja, es stimmte, wichtig waren die Physik und die Philosophie, sonst nichts. Wenn er morgen allein leben müsste, würde ihm das nicht so viel ausmachen. Natürlich, er liebte seinen Sohn, diesen süßen Fratz, und natürlich, auch Mileva war ihm wichtig… Aber andererseits verstand er sie
einfach nicht. Sie konnte sich in ihre Melancholie so hineinsteigern, dass sie kaum noch ansprechbar war. Schon vor der Hochzeit hatte ihn einmal das Gefühl beschlichen, dass es ein Fehler sein würde, sie zu heiraten. Es ist nicht mehr wahr, hatte er gedacht, es ist nicht mehr wirkliche Liebe. Ich werde sie heiraten, weil sie wegen mir so viel durchmachen musste und weil sie mir einmal alles bedeutet hat. »Du hast nur deine Arbeit und deine Akademie Olympia im Kopf«, sagte sie. »Früher hast du auch gerne mitdiskutiert.« »Ich habe ein Kind. Abends bin ich müde.« »Du kannst einfach nicht mehr folgen«, sagte er kühl. »Aber das ist nicht meine Schuld.« Sie sah ihn an und schüttelte ganz langsam den Kopf. Sie hatte den Mund geöffnet, doch dazu fiel ihr nichts mehr ein. Nachdem sie sich eine Weile schweigend gegenübergestanden hatten, ging sie raus und brach in Tränen aus. So endeten diese Szenen. Er saß noch einige Augenblicke schweigend auf dem Sofa und spielte mit den Bommeln, die aus der Lehne kamen. Was hatte er da gesagt? »Du kannst nicht mehr folgen.« Auf einmal tat es ihm Leid. Sie war so klug, sie liebte es so, mit ihm und den Freunden zu diskutieren. Wie hatte er etwas so Bösartiges zu ihr sagen können? Es musste sie sehr verletzt haben. Er ging in die Küche. Sie hatte sich zu Hans-Albert auf den Boden gesetzt und spielte mit ihm. »Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Das ist viel wert«, antwortete sie, auch mit leiser Stimme. Er hockte sich zu ihr. Hans-Albert lachte übers ganze Gesicht. Sie wischte die Tränen ab. »Ich habe einen anstrengenden Tag gehabt«, sagte er. »Schon wieder?«, fragte sie.
Es waren zehn Jahre vergangen, seitdem er, fünfzehnjährig, in einem Münchner Antiquariat ein zerlesenes Buch über den Schotten James Clerk Maxwell und seine rätselhaften elektromagnetischen Feldgleichungen gefunden hatte. Schon damals war er entschlossen gewesen, das Werk Maxwells weiterzuführen. Inzwischen hatte er sich den entscheidenden Fragen zugewandt; er hatte die Probleme, die sich aus der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ergaben, studiert und auch die Rätsel, die Lenards Entdeckung des photoelektrischen Effekts aufgab; er wusste, dass eine Erweiterung des alten Relativitätsprinzips notwendig war. Manchmal konnte er die Lösung spüren, wie sie ganz ruhig in ihm wartete. Man musste durch die Türen gehen, die Planck, Michelson, Morley und Lorentz geöffnet hatten, statt weiter herumzurätseln, wieso es diese Lücken in der klassischen Theorie geben konnte. Man brauchte nur den Mut, zu gehen und zu sehen, wie es dort draußen aussah, in dem riesigen, unbekannten Gelände, das noch kein Mensch betreten hatte. Und doch hatte er sich noch immer nicht den entscheidenden Berechnungen zugewandt. Er vertrödelte seine Zeit, im Patentamt, mit Mileva, mit HansAlbert, mit der Akademie Olympia. Er spürte, dass er Ideen von größter Neuigkeit entwickeln konnte – nur musste er endlich mit voller Konsequenz an ihnen arbeiten. Und obwohl er mit seinem Alltag glücklich war, zog es ihn in eine andere Welt, in eine Welt des reinen Denkens, der Zahlen und Formeln. Einstein selbst hatte das einmal wie folgt ausgedrückt: So, wie sich der Stadtbewohner aus der Hektik und dem Verkehrslärm hinaus in die stille Hochgebirgslandschaft sehnt, wo der Blick weit durch die reine Luft gleitet und den festen Linien folgt, die für die Ewigkeit geschaffen scheinen, so sehnte er sich heraus aus dem persönlichen Dasein in die Welt des objektiven Schauens und Verstehens.
Einstein begann, täglich nach Feierabend bis in die frühen Morgenstunden an seinen physikalischen Theorien zu arbeiten. Um seine Augen bildeten sich gelbliche Ringe. Er wirkte aufgeschwemmt, seine ganze Erscheinung bekam etwas Linkisches, fast Kindliches. Wenn er nicht arbeitete, schien er wie erloschen. Es tat Mileva regelrecht weh, zu sehen, wie er seine ganze Lebenskraft, sein ganzes sonst so offenes, fröhliches Wesen auf die Theorien konzentrierte. Sein Gehirn wurde eine Maschine, die nie stillstand, auch nicht, wenn sie beim Essen zusammensaßen oder wenn Freunde zu Besuch waren. Was, fragte sich Mileva, ging denn in seinem Kopf vor, wenn er schlief? Andere Wissenschaftler besitzen einen »Schalter«, mit dem sie die Maschine in ihrem Kopf abstellen oder wenigstens langsamer schalten können. Doch sein Hirn besaß keinen solchen Schalter, oder er benutzte ihn nicht. Oft saß sie nur neben ihm, betrachtete sein Gesicht, das wegen der einen, etwas höher gewölbten Augenbraue stets amüsiert und verblüfft wirkte, wenn er für Sekunden von den Papieren aufschaute und hinaus aus dem Fenster sah. Wenn Mileva alle Hausarbeit erledigt hatte und auch Hans-Albert versorgt war, korrigierte sie seine Rechnungen. Oft war er so erregt, dass er Flüchtigkeitsfehler machte. Sie korrigierte alles bis tief in die Nacht hinein. Langsam nur begriff sie, woran er arbeitete. Bei seiner Untersuchung über die Relativbewegungen griff er zwar auf Arbeiten von Lorentz und Mach zurück, ging aber weit darüber hinaus. Denn während Lorentz einen nirgends messbaren Äther dafür verantwortlich gemacht hatte, dass Messstäbe bei hohen Geschwindigkeiten schrumpfen, erklärte Einstein, dass Raum und Zeit an sich nur Eigenschaften eines Koordinatensystems waren, die sich mit der Geschwindigkeit veränderten. Kurz: Die Messstäbe schrumpften, weil es in der Natur der Dinge lag. Fassungslos folgte sie seinen Gedanken. Im Grunde beschäftigte sich seine Arbeit nämlich mit der
Natur des Lichtes. Langsam wurde ihr klar: Hier arbeitete kein begabter oder auch hochbegabter Forscher, sondern ein Genie. Steif vor Müdigkeit ging sie dann in sein Arbeitszimmer. Dort saß er, tief gebeugt, noch immer über den Papieren. Bald kam der Tag, an dem er nicht mehr zum Dienst ins Patentamt gehen konnte. Er musste weiterarbeiten, es durfte keine Unterbrechungen mehr geben. Schon war die Arbeit über den photoelektrischen Effekt abgeschlossen. Noch ein letzter Korrekturgang, und er konnte sie an die Annalen der Physik schicken. Bei seinem Zustand war es nicht schwer, einen Arzt zu finden, der ihm eine Krankenbescheinigung ausstellte. Nun konnte er Tag und Nacht an der Arbeit über das Relativitätsprinzip sitzen. Er verlor jedes Gefühl für seinen Körper. Nacken, Schultern und Kopf taten schon nicht mehr weh, sie existierten nicht mehr. Ein fiebriges Gefühl hatte ihn ergriffen. Nur manchmal, wenn ihm vor den Augen alles verschwamm, legte er sich auf die Couch in seinem Arbeitszimmer. Wenn er mit einem Problem überhaupt nicht weiterkam, nahm er die Geige zur Hand. Mitunter war sein Geist wie blockiert. Dann hörte er sekundenlang einen hohen Pfeifton im Ohr. Die Welt um ihn herum schien wie eingefroren. Er begann bereits, sich an solche Ausfallerscheinungen zu gewöhnen. Eines Tages hörte er, wie sich Mileva mit Besuchern im Wohnzimmer unterhielt. Aber er konnte kein Wort verstehen. Sie mussten eine fremde Sprache sprechen, vermutlich Serbisch oder Ungarisch. Also hatte sie Besuch aus ihrer Heimat? Er unterbrach die Arbeit, um nachzusehen. Als er das Wohnzimmer betrat, saß dort Mileva mit zwei Nachbarinnen. Noch immer konnte Einstein kein Wort verstehen. Der kleine Hans-Albert kam sofort vergnügt auf ihn zugekrabbelt. Die Damen schauten auf und sahen ihn erstaunt an. Er schaute nicht weniger erstaunt. Sie sprachen ihn an. Was war das für eine merkwürdige Sprache?
Und plötzlich machte es in seinem Kopf ein kleines Geräusch, wie wenn ein Schalter umgeklickt wird, und mitten im Satz wurde aus den unverständlichen Worten der Nachbarin annehmliches Schwyzerdütsch. »Ich glaube, ich lege mich besser für eine Weile hin und ruhe mich aus«, sagte er. Als er aufwachte, hatte er Fieber. Mileva wollte einen Arzt holen. Doch er bestand darauf, dass sie ihm seine Papiere brachte. Und an diesem Abend, als er im Bett lag und die Aufzeichnungen der letzten Tage las, spürte er plötzlich, dass es einen Weg gab. Schon nach wenigen Stunden stand er wieder auf. Sie bedrängte ihn, sich hinzulegen. »Im Liegen kann ich nicht denken«, sagte er. In Wirklichkeit war er so erregt, dass er kaum noch stillsitzen konnte. Nun gab es kein Halten mehr. Schon am nächsten Tag hatte er das mathematische Gerüst fertig. Im ersten Augenblick war er beinahe erschrocken. Es war, als ob er durch die Formeln hindurchsehen konnte. Es war die große Einfachheit und Schönheit der gefundenen Formeln und logischen Beweisketten, die für ihn solche Überzeugungskraft hatten. Diese Schönheit und Einfachheit gaben ihm Sicherheit: Er hatte etwas gefunden, was schon immer vorhanden gewesen war und das noch kein Mensch vor ihm gesehen hatte. Im Mai des Jahres 1905 schickte er seine Abhandlung »Über die Thermodynamik bewegter Körper« an die Annalen der Physik. Schon wenig später sollte man diese Arbeit die Einsteinsche Relativitätstheorie nennen. Es war die vierte der Arbeiten, die er hintereinander abgeschlossen hatte. Dann legte er sich ins Bett. »Du bist krank«, sagte Mileva. »Nein, nur erschöpft, nur erschöpft.« Vierzehn Tage blieb er liegen. Dann stand er auf und trat seine Arbeit im Patentamt wieder an.
Der Geist des Anfängers
Im Jahre 1905 veröffentlichte ein vollkommen unbekannter Physiker, der als technischer Experte im Berner Patentamt arbeitete, innerhalb weniger Monate fünf Arbeiten, von denen jede für sich bedeutend war. Drei dieser Arbeiten wurden zu Marksteinen in der Geschichte des menschlichen Geistes. In den ersten beiden lieferte Albert Einstein Beweise dafür, dass Materie tatsächlich aus Atomen besteht und dass Wärme durch die Bewegung der Moleküle entsteht. In der dritten Arbeit schlug er vor, dass Licht aus Teilchen besteht, und er führte Gründe dafür an, die nicht zu widerlegen waren. Mit dieser Arbeit wurde er zu einem der Begründer der Quantenmechanik, die sich mit den Vorgängen im Inneren der Atome beschäftigt. Die vierte Arbeit erschien unter dem harmlosen Titel »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«. Sie enthielt, was bald darauf als »Relativitätstheorie« die Vorstellung von Raum und Zeit revolutionieren sollte. Noch im selben Jahr beendete er eine weitere Arbeit, die sich mit Folgerungen aus der Relativitätstheorie beschäftigte. Dabei fand Einstein eine Formel für das Verhältnis von Masse und Energie. Diese Formel lautet E = mc2. Können normal Sterbliche Einsteins Theorien verstehen? (Grundsätzliche Anmerkung: Alle diese Theorien beruhen auf einem mehr oder weniger komplizierten mathematischen Gerüst. Dieses Gerüst kann nur verstehen, wer sich mit höherer Mathematik beschäftigt hat. Aber keine Angst. Die mathematischen Formulierungen kommen in diesem Buch nicht vor.)
Ja, die Einsteinschen Theorien sind, in ihren Grundzügen, durchaus verständlich. Sie beruhen auf einfachen, für jeden nachvollziehbaren Beobachtungen und Annahmen. Dass diese Theorien die physikalische – und bald auch die allgemeine – Öffentlichkeit so verblüfften, lag gerade daran, dass sie versuchten, möglichst einfache (und nicht »einleuchtende«) Antworten zu geben. Das Wort »einfach« hat eine Doppelbedeutung: Es bedeutet nicht nur »leicht verständlich«, sondern bezeichnet auch das Einfache im Gegensatz zur »Vielheit«. Die Vielheit verwirrt uns, das Einfache verschafft Klarheit. Dieses Einfache aber muss nicht geschaffen oder erdacht werden, es ist immer schon da, um von uns entdeckt, erfunden zu werden. Die spezielle Relativitätstheorie entdeckte Einstein, weil er das, was an physikalischen Tatsachen allgemein bekannt war, einfach akzeptierte. Er ging durch die Tür, die der Michelson-Morley-Versuch geöffnet hatte. Wieso konnte sonst niemand sehen, was doch klar zutage lag? In den Jahrhunderten seit Galilei und Newton hatten die »exakten Naturwissenschaften« zahllose Einzelfakten gesammelt. Immer wieder war es den Theoretikern gelungen, diese Fakten in einem einheitlichen Weltbild zusammenzufassen. Nun hatte man sich an dieses materialistische und rationale Weltbild so gewöhnt, dass man es als etwas Selbstverständliches betrachtete. Es entsprach dem »gesunden Menschenverstand«. Als seit der Entdeckung der elektromagnetischen Erscheinungen immer mehr Fakten auftauchten, die sich mit den hergebrachten Theorien nicht mehr vereinbaren ließen, zweifelte man eher an diesen neuen Fakten und sprach von »Wundern« und »Rätseln«, anstatt die alten Denkgewohnheiten aufzugeben.
1. Licht besteht aus Teilchen Die Ergebnisse von Versuchen, die der Heidelberger Professor Philipp Lenard angestellt hatte, sind ein gutes Beispiel für solche »Rätsel« und »Wunder«. Lenard hatte den so genannten photoelektrischen Effekt untersucht: Wenn man bestimmte Metalle mit Licht bestrahlt, so lösen sich von der Oberfläche des Metalls Elektronen. Man musste nun annehmen, dass die Elektronen mit umso größerer Heftigkeit davonflogen, je intensiver das Licht war, je näher man also die Lichtquelle an das Metall brachte. Das traf aber nicht zu. Wenn man das Licht auch in noch so großer Verdünnung, also von noch so großer Entfernung auffallen lässt, werden die Elektronen doch immer mit derselben Geschwindigkeit ausgesendet. Dafür verringerte sich die Zahl der ausgesendeten Elektronen. Wenn man aber Licht mit einer höheren Frequenz, also beispielsweise violettes anstatt rotes Licht, verwendete, so wurde die Geschwindigkeit der ausgesendeten Elektronen viel größer. Versuchen wir, uns das Problem mit einem Gedankenexperiment zu veranschaulichen: Wir richten eine Windmaschine auf einen Baum mit Blättern. (Die Windmaschine entspricht nun dem Lichtstrahl – sie sendet Luftwellen aus. Die Blätter an dem Baum entsprechen den Elektronen, und wir stellen uns vor, dass alle Blätter gleich gut beweglich sind.) Nun schalten wir die Windmaschine an: Aber nicht alle Blätter, die vom Wind getroffen werden, bewegen sich. Andere Blätter fliegen dafür sofort weg. Man hätte doch annehmen müssen, dass sich alle Blätter bewegen und dass es einen Moment dauert, bis die ersten fortgerissen werden. Nun drehen wir die Windmaschine stärker auf. Die Blätter fliegen jedoch nicht schneller davon, dafür bewegen sich jetzt zusätzlich einige, die vorher stillgestanden haben. Andere bleiben aber weiterhin ruhig. Dieses Resultat ist völlig
unlogisch. Offensichtlich verhält sich das Licht gar nicht wie eine Welle. Andererseits war die Wellennatur des Lichtes doch eine gesicherte physikalische Tatsache. Man hatte genügend optische Phänomene entdeckt, die ganz eindeutig bewiesen, dass Licht aus Wellen besteht. Seit Maxwell konnte Licht als elektromagnetische Erscheinung erklärt werden, und Hertz war es gelungen, solche elektromagnetischen Wellen künstlich zu erzeugen. Dennoch stellte Einstein die Theorie auf, dass Licht aus Teilchen besteht, aus »Lichtquanten«, aus kleinsten Portionen. Um zum Gedankenexperiment zurückzukehren: Das Verhalten der Blätter wird sofort ganz selbstverständlich, wenn man sich vorstellt, dass die Windmaschine in Wirklichkeit kleine Bälle verschießt. Diese Bälle treffen die Blätter und reißen sie augenblicklich fort – während Wellen einige Zeit brauchten, um die Blätter in Bewegung zu versetzen. Und diese Bälle würden auch nicht alle Blätter gleichmäßig treffen. Stellt man sich das Licht als einen Teilchenstrom vor, so lässt sich der photoelektrische Effekt problemlos erklären. Dabei griff Einstein auf die Arbeit Max Plancks zurück, der entdeckt hatte, dass schwarze Körper Licht nur in bestimmten Portionen abstrahlen. Einstein erklärte nun kurzerhand: Das Licht selbst besteht aus solchen Portionen (Quanten). Heute hat sich diese Vorstellung so weit durchgesetzt, dass man den Lichtteilchen den Namen »Photonen« gegeben hat. Photonen hochfrequenten Lichts enthalten mehr Energie als Photonen niederfrequenten Lichts, und daher erklärt sich, warum Elektronen schneller fortgeschleudert werden, wenn hochfrequentes Licht auf das Metall fällt. Das einzige Problem war: Thomas Young hatte einhundert Jahre zuvor bewiesen, dass Licht aus Wellen besteht – und niemand konnte ihn widerlegen, auch Einstein nicht. Licht hat demnach eine
physikalische Doppelnatur: Es ist sowohl Welle als auch Partikel. Das klingt natürlich paradox. Wie kann etwas zugleich Welle und Partikel sein? Einstein interessierte nicht sehr, wie es klang. Es erklärte die Beobachtungen, darauf kam es ihm an. An das Paradox muss man sich gewöhnen. Es ist bis heute nicht gelungen, den Widerspruch zu klären. Die physikalische Welt war keineswegs begeistert von diesem neuen Erklärungsmodell. Ein amerikanischer Experimentalphysiker versuchte zehn Jahre, Einsteins unglaubhafte Theorie zu widerlegen. Stattdessen entdeckte er zu seiner Überraschung, dass alle Versuche die Theorie bestätigten. Es war diese Arbeit über die Lichtquanten, die Einstein 1921 den Nobelpreis einbrachte, und nicht seine ungleich bekanntere Relativitätstheorie.
2. Das Universum ist aus Gummi »Die Aufstellung einer neuen Theorie«, schrieb Einstein, entspricht »nicht dem Abreißen einer alten Bretterbude (…), an deren Stelle dann ein Wolkenkratzer aufgeführt wird; sie hat vielmehr eher etwas mit einer Bergbesteigung gemeinsam (…) Dabei ist der Punkt, von dem wir losmarschiert sind, natürlich nach wie vor vorhanden. Man kann ihn stets liegen sehen, wenn er auch scheinbar immer kleiner wird und schließlich nur noch einen winzigen Teil unseres weitgespannten Rundblicks ausmacht, den wir uns dadurch verschafft haben, daß wir die auf unserem abenteuerlichen Aufstieg liegenden Hindernisse unerschrocken meisterten.« Einstein hat für seine Relativitätstheorie keine neuartigen Experimente mit ungeahnten Ergebnissen angestellt. Er baute auf Fakten auf, die zum Teil seit Jahrhunderten, andere wenigstens schon seit mehreren Jahren bekannt waren.
So konnte Einstein beispielsweise auf die von Lorentz errechneten Transformationsgleichungen zurückgreifen. Tatsächlich ist gesagt worden, die Relativitätstheorie habe zu Beginn des 20. Jahrhunderts regelrecht in der Luft gelegen. Aber das kennzeichnet gerade Einsteins Leistung: Es fand nämlich keiner der vielen Wissenschaftler, die sich mit den Relativbewegungen beschäftigten, den Mut zum entscheidenden Schritt. Einstein machte gleich mehrere unerhörte, entscheidende Schritte. Erstens sagte er: »Der Äther existiert überhaupt nicht.« Das war die erste Erkenntnis auf dem Weg zur speziellen Relativitätstheorie: Es ist sinnlos, die Suche nach einem Äther fortzusetzen, der unauffindbar und nutzlos ist. Der zweite Schritt folgte sogleich: Es gibt auch keinen absoluten Ruhezustand. Die Erdoberfläche befindet sich für uns in einem scheinbar so stabilen Ruhezustand (von Erdbebenzonen abgesehen), dass wir uns angewöhnt haben, alle Bewegungen relativ zu diesem Ruhezustand zu sehen. Auch wenn wir hinaus in den Sternenhimmel schauen, scheinen die Fixsterne recht stabil zu stehen, während sich der Mond bewegt. In Wirklichkeit aber ist all dies – die Erde und die Sterne am Himmel – immer in Bewegung. Tatsächlich war die Annahme eines absoluten, ruhenden Raumes und einer absoluten Zeit durch Newton auch religiös bedingt gewesen: Wenn Gott ewig und absolut war, dann mussten es auch der Raum und die Zeit sein. (Wenn Gott überall ist und überall mächtig, dann verläuft auch die Zeit überall gleich.) Nur ließ sich der absolute Ruhezustand genauso wenig wie der Äther beweisen. Einstein bezeichnete es als »unerträglich«, dass man einer theoretischen Konstruktion (Äther) eine Eigenschaft (absoluter Ruhezustand) zuweist, die wir durch keine Experimente überprüfen können. Ohne Äther und absoluten Ruhezustand aber war alles viel einfacher.
Als Nächstes wandte sich Einstein dem Problem zu, das mit dem Michelson-Morley-Versuch entstanden war: Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Das Licht hat im Vakuum stets die gleiche Ausbreitungsgeschwindigkeit, unabhängig vom Bewegungszustand und von der Lichtquelle. Dieses Ergebnis hatte die Naturwissenschaftler zur Verzweiflung gebracht. Lorentz hatte mit seinen Transformationen, nach denen sich Messstäbe durch den Ätherwind verkürzten, zwar eine Erklärung gegeben, aber so recht befriedigen konnte sie nicht. Einstein machte aus dem Rätsel ein Prinzip. Statt weiter herumzurätseln, wie sich das Licht so über die Gesetze der Physik hinwegsetzen konnte, akzeptierte Einstein das Ergebnis einfach: Das Licht bewegt sich mit stets gleich bleibender Geschwindigkeit. Punkt. Damit löste er auch das Gedankenexperiment, das ihn schon als Jugendlichen beschäftigt hatte: Was passiert, wenn man einen Lichtstrahl einholt? Antwort: Man kann einen Lichtstrahl nicht einholen. Gleichgültig, wie schnell man sich bewegt, die gemessene Lichtgeschwindigkeit beträgt stets 300000 Kilometer in der Sekunde. Das mag unwahrscheinlich klingen. Aber viel unangenehmer wäre doch die gegenteilige Behauptung. Könnte man einen Lichtstrahl einholen, dann würde man einen »ruhenden« Lichtstrahl beobachten: Da er sich nicht bewegt, hat er keine Richtung. Er kann auf keine Fläche auffallen und daher weder gebrochen noch reflektiert werden. Einsteins Ziel war es, das von ihm verkündete Prinzip der konstanten Lichtgeschwindigkeit und das alte Relativitätsprinzip miteinander zu vereinen. Einstein hat dieses Relativitätsprinzip in einem Vortrag bildhaft dargestellt: »Wir denken uns zwei Physiker. Jeder von ihnen hat ein Laboratorium. Das Laboratorium des einen Physikers denken wir uns auf dem offenen Feld angeordnet, das des zweiten in
einem Eisenbahnwagen, der mit konstanter Geschwindigkeit in einer bestimmten Richtung dahinfährt. Das Relativitätsprinzip sagt nun folgendes aus: Wenn diese beiden Physiker unter Anwendung aller ihrer Apparate sämtliche Naturgesetze studieren: der eine in seinem ruhenden Laboratorium und der andere in der Eisenbahn, so werden sie – vorausgesetzt, daß die Eisenbahn nicht rüttelt und gleichmäßig fährt – genau die gleichen Naturgesetze herausfinden.« Kurz: Die Naturgesetze müssen für alle Inertialsysteme gelten. (Ein Inertialsystem bewegt sich gleichförmig, ohne Beschleunigung.) Zur Messung von Geschwindigkeiten braucht man eine Uhr und einen Messstab. Um die Ergebnisse des MichelsonMorley-Experimentes zu erklären, muss man annehmen, dass sich die Messinstrumente von einem Inertialsystem zum anderen irgendwie so verändern, dass die Lichtgeschwindigkeit immer gleich erscheint. Dass sich ein Messstab, wenn er sich schnell bewegt, zusammenzieht und dass eine Uhr mit zunehmender Geschwindigkeit langsamer geht, sieht nur ein Beobachter, der sich relativ in Ruhe befindet. Ein Beobachter, der sich zusammen mit der Uhr und dem Messstab bewegt, nimmt die Veränderung nicht wahr. Um das zu verdeutlichen, führte Einstein die Bezeichnungen »eigentlich« und »relativ« ein. Die »relative« Länge eines Stabes sehen wir, wenn er sich relativ zu uns sehr schnell bewegt. Die relative Länge ist stets kürzer als die eigentliche, die relative Zeit stets gedehnter. Aber ist das nicht ziemlich an den Haaren herbeigezogen? Führen wir ein weiteres Gedankenexperiment durch: das Zickzack-Experiment. Denken wir zunächst an den Physiker im Zug: Er ist durstig und hat sich in den Speisewagen begeben. Dort schenkt er sich nun Kaffee aus einem Kännchen in seine Tasse. Für ihn sieht es so aus, als ob der Kaffee gerade nach unten in die Tasse fließt. (Beschleunigt der Lokführer den
Zug in diesem Augenblick, fließt der Kaffee nicht mehr gerade nach unten – aber das brauchen wir nicht zu beachten: Die spezielle Relativitätstheorie beschäftigt sich nur mit Inertialsystemen, die sich, wie erwähnt, gleichförmig bewegen.) Der Physiker im Zug sieht also den Kaffee gerade fließen. Doch was sieht der Physiker, der von draußen zuschaut? Ihm scheint der Kaffee in einer schrägen Linie zu fließen. Der Kaffee legt in seinen Augen eine deutlich längere, schräge Linie zurück, bevor er in der Kaffeetasse landet. Dennoch kommt er gleichzeitig an. Dies ist nicht weiter rätselhaft, und die Addition der Geschwindigkeiten lässt sich mit Hilfe der klassischen Transformation berechnen. Führen wir nun aber ein ähnliches Experiment durch – nur diesmal mit sehr viel höheren Geschwindigkeiten: in einem Raumschiff, das sich sehr schnell bewegt. Diesmal beobachten wir einen Lichtstrahl, den der Physiker im Raumschiff in gerader Linie zwischen zwei Spiegeln hin- und herschießt. Wieder beobachtet ein anderer Physiker denselben Lichtstrahl von draußen, während das Raumschiff an ihm vorbeirast: Wieder läuft der Strahl aus seiner Sicht schräg. Es bildet sich, aus seiner Sicht, also eine Zickzacklinie. Der Lichtstrahl legt, wenn sich das Raumschiff bewegt, eine längere Strecke zurück. Im Gegensatz zum Kaffee aber verändert das Licht seine Geschwindigkeit nicht. Dennoch legt der Lichtstrahl die Strecke in derselben Zeit zurück wie in einem ruhenden Raumschiff. Einstein hat die dafür einzig mögliche Erklärung gegeben: Auch die Zeit ist eine Eigenschaft des Inertialsystems und von seinen Bewegungen abhängig. Weniger theoretisch: Uhren, die sich mit hoher Geschwindigkeit bewegen, gehen langsamer. Wenn aber die Zeit vom Bewegungszustand abhängig ist, dann macht es nicht mehr viel Sinn, im hergebrachten Sinn von Gleichzeitigkeit zu sprechen. (Zur Beruhigung: Alle Folgerungen aus der speziellen
Relativitätstheorie treten erst bei annähernder Lichtgeschwindigkeit ein.) Ein Ereignis kann für einen Beobachter, der sich sehr schnell bewegt, noch in der Zukunft liegen, während es für einen anderen, der sich langsamer bewegt, schon vergangen ist. Noch ärgere Folgen hat ein Gedankenexperiment, in dem zwei Raumfähren aneinander vorbeifliegen, beide mit hoher Geschwindigkeit. Beide Piloten beobachten die Explosion eines Sternes, der sehr weit entfernt liegt. Da einer aber auf die Explosion zufliegt, während sich der andere von ihr entfernt, erreichen sie die Lichtstrahlen der Explosion zu unterschiedlichen Zeitpunkten – obwohl sie sich direkt nebeneinander befinden. Auch hier ist die Zukunft des einen die Vergangenheit des anderen. »Zuerst«, »dann« und »gleichzeitig« sind ortsbezogene Begriffe, sie sind im Universum ohne Bedeutung, soweit sie nicht mit einem bestimmten Bezugssystem verknüpft sind. Mit der speziellen Relativitätstheorie jedoch können beide Astronauten ihre Daten in das Bezugssystem des anderen übertragen und Rechenoperationen anstellen. Die Gesetze für diese Rechenoperationen sind für beide gleich – und genau dies war das bescheidene Ziel Einsteins gewesen: die Naturgesetze so zu formulieren, dass sie für alle Bezugssysteme gelten, für den Physiker auf der Erde, für den Physiker im Zug und für den Physiker im Raumschiff. Im Grunde geht es bei der Relativitätstheorie nicht um das, was relativ ist, sondern um das, was absolut ist. Einsteins spezielle Relativitätstheorie brachte die Tasse zum Überlaufen: Eine am Erdäquator befindliche Uhr muss um einen sehr kleinen Betrag langsamer laufen als eine genau gleich beschaffene und auch sonst gleichen Bedingungen unterworfene an einem Erdpol befindliche Uhr – da die Geschwindigkeit der Erdumdrehung am Äquator größer ist. Und je höher die Geschwindigkeit, desto langsamer läuft die
Uhr – bis sie bei Lichtgeschwindigkeit schließlich stehen bleibt. Doch nicht nur Uhren gehen langsamer: Auch radioaktive Elemente zerfallen langsamer. Die »Atomuhr« geht langsamer: Das Elektron, das um den Atomkern schwingt, drosselt sein Tempo. Auch der Herzschlag eines Menschen, der mit annähernder Lichtgeschwindigkeit reist, würde sich verlangsamen, und der gesamte Organismus würde langsamer altern. Wenn von zwei Zwillingen einer eine Raumreise mit annähernder Lichtgeschwindigkeit unternimmt und nach zwanzig Jahren zur Erde zurückkehrt, dann wäre er knapp zwanzig Jahre jünger als sein Zwillingsbruder. Aber die spezielle Relativitätstheorie ist keine Theorie, die besagt, dass alles relativ ist. Sie besagt, dass Erscheinungen relativ sind. Was einem Physiker als Lineal von 30 Zentimetern Länge erscheint, kann einem anderen, der sehr schnell an ihm vorbeifliegt, nur 25 Zentimeter lang erscheinen. Deshalb schlug Einstein vor, nicht mehr von Länge schlechthin zu sprechen, sondern nur noch von »Länge relativ zu einem bestimmten Bezugskörper«. Ansonsten dasselbe Spielchen wie mit der Zeit: je schneller die Bewegung, desto kürzer das Lineal (natürlich gilt das nicht nur für Lineale, sondern für jeden Körper). Bei Lichtgeschwindigkeit verschwindet das Lineal. Hier drängt sich, mehr noch als bei der Zeit, die Frage auf, welches nun die »richtige« Länge des Lineals ist. Wir könnten bequem sagen: die Länge, die das Lineal hier auf der Erde hat. Besonders tolerant wäre das nicht und physikalisch korrekt auch nicht. Es gibt keine »wirkliche« Länge eines Lineales. Max Born, ein mit Einstein befreundeter Physiker, versuchte es so zu verdeutlichen: »Wenn ich mir von einer Wurst eine Scheibe abschneide, so wird diese größer und kleiner, je nachdem ich mehr oder weniger schief schneide. Es ist sinnlos, die verschiedenen Größen der Wurstscheiben als
›scheinbar‹ zu bezeichnen, und etwa die kleinste, die bei senkrechtem Schnitt entsteht, als die ›wirkliche‹ Größe.« Doch nicht nur die Länge, auch die Masse eines Körpers ist relativ. Bei sehr großen Geschwindigkeiten wächst die Masse eines Körpers an, bei Lichtgeschwindigkeit würde sie unendlich hoch werden. Daher ist es schwerer, einen schnellen Körper weiter zu beschleunigen, und es ist unmöglich, ihn ganz auf Lichtgeschwindigkeit zu bringen. Raum und Zeit sind in der Relativitätstheorie keine Dinge, die sich voneinander trennen lassen. Die Newtonsche Ansicht von Raum und Zeit ist ein dynamisches Bild: Die eindimensionale Zeit bewegt sich vorwärts im dreidimensionalen Raum. Mit der Erkenntnis, dass auch Gleichzeitigkeit relativ ist, verschmelzen Raum und Zeit zu einem Kontinuum, ähnlich wie man vorher die drei räumlichen Dimensionen als ein Kontinuum betrachtet hatte. Diese vierdimensionale Raum-Zeit sprengt unser menschliches Vorstellungsvermögen. Das heißt, sie existiert nur in der Sprache der Mathematik. Mit mathematischen Mitteln können Physiker Dinge errechnen, die in unserer Wirklichkeit tatsächlich geschehen. Nicht einmal Einstein konnte sich ein vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum vorstellen, in dem sich die Ereignisse nicht entwickeln, sondern schon »da« sind.
Zum Glück, mag nun manch einer denken, ist dies nur eine Theorie. Aber es sind inzwischen zahllose Versuche angestellt worden, die ihre Vorhersagen bestätigen. Einstein selbst hatte einen Vorschlag gemacht, wie man die Behauptung der relativen Zeit durch ein direktes Experiment prüfen könnte: Man verwendet als Uhr eine »Atomuhr«, also ein Elektron, das um den Atomkern schwingt. Wenn nun das Atom stark beschleunigt wird, so muss nach Einstein die
»Atomuhr« langsamer gehen, das Elektron langsamer schwingen und das ausgestrahlte Licht eine kleinere Frequenz haben. Dies wurde in Experimenten bestätigt. Auch mit radioaktivem Material wurden Versuche angestellt, und tatsächlich: Der radioaktive Verfallsprozess läuft bei hohen Geschwindigkeiten bis zu 30-mal langsamer ab. Ebenso ist bewiesen worden, dass die Lichtgeschwindigkeit nicht überschritten werden kann: In einem Experiment wurde ein Elektron so stark angestoßen, dass es, den alten Naturgesetzen zufolge, Lichtgeschwindigkeit hätte erreichen müssen. Es war aber nicht möglich, diese Geschwindigkeit zu erzeugen. Stattdessen wurde das Elektron schwerer, und zwar 40000mal. Alle diese Phänomene entsprechen fast exakt den Werten, die sich aus Einsteins Theorie ergeben. Das ist gemeint, wenn man sagt: Die Experimente bestätigen Einsteins Vorhersagen. Glücklicherweise gelten alle diese Vorhersagen erst bei annähernder Lichtgeschwindigkeit. Selbst die Bahngeschwindigkeit der Erde, die immerhin 30 Kilometer pro Sekunde beträgt, hat noch kaum messbare Auswirkungen. Für das tägliche Leben kann man die absurd klingenden Folgerungen aus der Relativitätstheorie also vernachlässigen. 3. E = mc2 Mit einer Ausnahme: E = mc2. Es entsprach Einsteins Naturauffassung, ein möglichst einfaches und umfassendes logisches Gebäude wie die spezielle Relativitätstheorie zu entwickeln und dann alle sich ergebenden Folgerungen zu ziehen. Die Masse eines Objektes nimmt zu, wenn das Objekt beschleunigt wird. Daraus ließ sich auf das Verhältnis zwischen Masse und Energie schließen. Nur drei Monate nachdem die Arbeit über die Relativität erschienen war, veröffentlichte Einstein schon die nächste. Sie war nur drei
Druckseiten lang. In ihr folgerte Einstein aus der Relativitätstheorie, dass sich die Masse eines Körpers, der Energie in der Form von Licht abgibt, vermindert. In Einsteins Worten: »Energie hat Masse, und Masse verkörpert Energie«, oder: E = mc2. E steht für Energie, m für Masse, c für die Lichtgeschwindigkeit. Die in einem Stück Materie enthaltene Energie ist gleich die Masse, multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Letzteres ist aber eine außerordentlich große Zahl, und so enthalten selbst kleinste Materieteilchen ungeheure Mengen Energie. So wie die Trennung zwischen Raum und Zeit aufgehoben war, um eine vierdimensionale Raum-Zeit zu schaffen, waren nun auch Masse und Energie keine unabhängigen Größen mehr. Es gibt nur Masse-Energie, und es ergibt sich der Satz von der Erhaltung der MasseEnergie: Der gesamte Betrag an Masse-Energie im Universum war immer gleich und wird immer gleich bleiben. Masse kann in Energie umgewandelt werden und umgekehrt, aber der Gesamtbetrag der Masse-Energie bleibt unverändert. Jeder Erdklumpen, jede Feder, jedes Staubkorn wurde damit zu einem gewaltigen Energiereservoir. Die Formel bot eine Methode, die Energie zu bestimmen, mit der die Bestandteile eines Atomkerns zusammengehalten werden. Nun konnte man in Regionen vordringen, die bislang ganz unzugänglich schienen. Noch war man nicht so weit. Erst 25 Jahre später konnte die Gleichung durch komplizierte Laborexperimente bestätigt werden. 40 Jahre später sollte die ganze Welt mit Entsetzen sehen, wie ungeheuer die im Inneren der Atome gebundenen Energien sind.
Es war das Verdienst Max Plancks, dass Einsteins Arbeit Beachtung fand. Bereits Ende 1905 berichtete Planck dem Berliner Physikalischen Colloquium über die
Relativitätstheorie, und er begann sofort, die Theorie weiterzuentwickeln. In einer Rede, die er 1909 an der Columbia University in New York hielt, sagte er, dass »Einsteins neue Auffassung des Zeitbegriffs an die Abstraktionsfähigkeit und an die Einbildungskraft des Physikers allerhöchste Anforderungen stellt. Sie übertrifft an Kühnheit wohl alles, was bisher in der spekulativen Naturforschung, ja in der philosophischen Erkenntnistheorie geleistet wurde.« Die »hervorgerufene Umwälzung ist an Ausdehnung und Tiefe wohl nur noch« mit der »Einführung des kopernikanischen Weltsystems zu vergleichen«. Hermann Minkowski, Einsteins ehemaliger Mathematikprofessor in Zürich, entwickelte eine mathematische Methode, in der die drei Raumdimensionen und die Zeit als vierte Dimension rechnerisch gleichberechtigt wurden. Damit ebnete er den Weg zu einer breiteren Anerkennung der Relativitätstheorie. 1908 hielt er eine Rede vor dem Kongress der deutschen Naturwissenschaftler und Ärzte, die ihrer sensationellen Einleitung wegen berühmt wurde: »Von Stund an sollen ›Raum‹ für sich und ›Zeit‹ für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.«
Prag und zurück
»Das Problem sind die Tschechen. Es liegt in der Natur des Slawen, nur unter der Knute zu gehorchen.« Der Professor für Altphilologie, der dies sagte, war von biblischem Alter, zwei Orden wiesen ihn als Veteranen von Königgrätz und Solferino aus. Ein Medizinprofessor mit vollkommen kahlem, merkwürdig eingedelltem Schädel nickte ernst. Einstein, der nur halb zugehört hatte, sah seinem Kollegen direkt in die Augen. »Schöne Stücke«, sagte er und zeigte auf die Orden. »Wo haben Sie die gekauft?« Der Altphilologe war schwerhörig. Aber der Medizinprofessor rang nach Atem. »Die Orden Seiner Majestät des Kaisers von Österreich sind käuflich nicht zu erwerben, junger Mann, und sie sind die höchste Zierde, die sich ein Habsburger Untertan verdienen kann.« Eines genoss Einstein auf diesen Empfängen im überheizten Prunksaal der deutschen Universität zu Prag: Jede Frau, die einem vorgestellt wurde, musste ihre zarte Hand zum Handkuss reichen, und man konnte sie beliebig lange an die Lippen drücken. Die strenge Beachtung der Etikette verlangte es, und die Frauen durften nicht nein sagen. So näherte er sich mit schleichendem Gang der Dame in der grünen, einem mittelalterlichen Kleid nachempfundenen Robe. Ihr junger Begleiter sah auf, als erwache er aus tiefem Schlaf. »Darf ich Ihnen meinen Kollegen, Professor Einstein, vorstellen«, sagte er in breitem Österreichisch, »die neueste Errungenschaft unserer ehrwürdigen Universität.«
Die junge Frau musterte Einstein desinteressiert. An seinem zerknitterten Anzug befanden sich noch Kreideflecken von der Vorlesung. Einstein schielte enttäuscht nach ihrer Hand, doch sie machte keine Anstalten, sie zu heben. Es hatte doch bislang bei allen Damen funktioniert. Der junge Mann, sein Kollege in der physikalischen Abteilung, hieß Anton Lampa. Er war ein lebendes Beispiel für die verrückte Situation, die in Prag entstanden war. Die Universität war die erste nördlich der Alpen gewesen, Karl IV. hatte sie im Jahre 1348 gegründet; so wie in der ganzen Stadt hatten dort Deutsche, Tschechen und Juden über Jahrhunderte friedlich zusammengelebt. Doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen die Spannungen zwischen den Sprachgruppen. Die deutsche Minderheit, überwiegend Adel und reiches Bürgertum, wurde mit der jahrelangen Unterdrückung alles Tschechischen identifiziert. Die slawenfeindliche Politik Österreichs steuerte seit der Besetzung Bosniens immer deutlicher auf einen Krieg zu, und die Tschechen hatten kein Interesse daran, gemeinsam mit Deutschen und Österreichern gegen slawische Völker zu kämpfen. Die Spannungen waren schließlich so heftig geworden, dass die Regierung im Jahre 1888 beschlossen hatte, die Universität zu teilen. Seitdem gab es eine deutsche und eine tschechische Universität. Die Beziehungen waren so eisig, dass sich selbst Professoren, die an denselben Themen arbeiteten, erst auf Kongressen im Ausland kennen lernten. Zurück in Prag, wurden solche Bekanntschaften eilig vergessen, und auf dem nächsten Kongress musste man erneut vorgestellt werden. Lampa war halb tschechischer, halb deutscher Herkunft, hatte sich für die deutsche Bildung entschieden und Physik bei Ernst Mach studiert. Doch obwohl seine Mutter und viele Verwandte Tschechen waren, äußerte er sich nun genauso slawenfeindlich
wie die anderen deutschen Professoren. Neulich hatte Einstein den Kollegen begleitet. Lampa war zum Postamt gegangen, er wollte eine Postkarte kaufen. Doch er wies die angebotene empört zurück, da auf ihr das Wort »Postkarte« in beiden Sprachen stand, und er verlangte allen Ernstes eine ausschließlich deutsch beschriftete Karte. Da der Postbeamte jedoch Tscheche war, behauptete er, diese Karten seien ausverkauft. Lampa fühlte sich schikaniert und protestierte heftig, bis sich ein lauter Streit entwickelte. Als Einstein mit Anton Lampa hinüber zur Fensterfront ging, um ein wenig über Fachfragen zu sprechen, schien es, als habe sich seine Erscheinung gestreckt. Seine Stirn wirkte höher und breiter, sein ganzes Gesicht hatte etwas Glattes, Leuchtendes. Um die Augen herum aber sah er zart und verletzlich aus, wie ein Kind. Diese Augen reagierten stets zuerst. Sie sahen etwas an und schienen zu sprechen oder zu lachen, und erst mit einer winzigen Verzögerung reagierte der Rest des Gesichtes. Dieser kleine Verzögerungseffekt gab seiner Art etwas Hypnotisches. Außerdem spürte man mit jedem Augenblick, welch tiefes Selbstvertrauen er gewonnen hatte, seit er sich über seine geistigen Möglichkeiten im Klaren war. Einstein selbst ergriff manchmal ein leichtes Schwindelgefühl, wenn er sich bewusst machte, dass ihn die Menschen bewunderten und auf eine gewisse Art fürchteten, da sie noch an seinen Arbeiten über die Relativität herumrätselten. Die Arbeit über Lichtquanten ignorierten sie dabei einfach, solange es noch ging, und davon, dass auch die Relativitätstheorie eine revolutionärere Erweiterung erhalten musste, hatten sie gar keine Ahnung. Aber Einstein hatte die erste Fassung der allgemeinen Relativitätstheorie schon fertig in der Schublade, und er wusste, dass ein junger dänischer Physiker, Niels Bohr, auf der Grundlage der Quantentheorie ein neues Atommodell entwickelte.
Er überlegte, ob er Lampa die ganze Geschichte ein weiteres Mal erklären sollte, als er spürte, dass ihn jemand am Ärmel zog. Er wusste, ohne sich umzuwenden, dass es Mileva war. Ihm war klar, dass sie als Südslawin auf solchen Empfängen einen schweren Stand hatte, und er hatte Verständnis für sie. Aber als er sich umdrehte, erschrak er. Sie hatte Alkohol getrunken. Nicht viel, aber genug, sie war schließlich nichts gewohnt. Lampa wandte sich diskret ab. »Lass uns gehn«, sagte Mileva. Ihr serbischer Akzent, sonst nicht hörbar, kam nun durch. Und, als Einstein nicht reagierte: »Was willst du denn noch hier?« »Ist doch ganz amüsant, diesen Tierchen eine Weile zuzuschauen«, flüsterte Einstein. »Ist amüsant, diesen Tierchen zuzuschauen, tatsächlich«, sagte sie, und diesmal mit Absicht so laut, dass die Umstehenden es hören mussten. Aber niemand zeigte die Spur einer Reaktion. Die Herren blieben steif, mit durchgedrückten Knien, stehen, die Frauen neigten nicht einmal den Kopf. Niemand unterbrach ein Gespräch, und doch richteten sich alle Ohren auf die slawische Frau dieses jungen Professors, der sich erdreistete, im einfachen schwarzen Anzug den Weihnachtsempfang der Universität zu besuchen. »Die Frau vom Professor Kvosky hat ganz interessante Erkenntnisse über slawische Frauen«, fuhr Mileva fort. »Willst du wissen, was sie gesagt hat?« »Um ehrlich zu sein: nein.« »Du willst es nicht wissen«, sagte Mileva, und auf einmal wurde ihre Stimme wieder leise. »Du willst es eben einfach nicht wissen.« Sie lehnte sich an ihn. »Aber mir sagen sie es ins Gesicht«, flüsterte sie. Sie roch nach Alkohol. »Komm, lass uns gehen«, sagte Einstein. »Ja, sag ich doch«, sagte sie, plötzlich wieder laut. »Sag ich doch. Wir gehen.«
Die ganze Versammlung verfolgte sie zusammengekniffene Augen, als sie hinausgingen.
durch
Prag schien im Schnee zu versinken. Langsam schwebten die Schneeflocken zwischen den Häusern hinunter. Die spitzen Türme und Türmchen ragten weiß in die dunkle Nacht, unter den Füßen lag ein knirschender Teppich. Sie gingen auf eine Droschke zu, die, halb vom Schnee vergraben, aussah wie ein merkwürdig buckliges Tier aus einer anderen Welt. »Kutscher, Trebiskeho 125«, rief Einstein. Man hörte vom Kutschbock ein Murmeln, dann machte das Pferd einen einzigen Galoppsprung und stolperte los. Das seltsam abgedämpfte Klick-Klack der Pferdehufe auf dem Pflaster war das einzige Geräusch in der Straße. Mileva ließ das klapprige Fenster herunter und atmete die Nachtluft. Sie verzog den Mund, als müsse sie etwas besonders Widerliches vollständig herunterschlucken. Einstein begann, von seiner neuen Theorie zu sprechen. Die Arbeit, das war doch immer eine gemeinsame Leidenschaft gewesen, das hatte sie noch immer versöhnt. Aber sie unterbrach ihn unvermittelt: »Ist ja auch eine schöne Spielwiese für große Kinder.« Er war mitten in einer komplizierten Erklärung gewesen. Hörte sie gar nicht zu? »Du flüchtest vor den politischen Problemen, und auch vor unseren Problemen«, sagte sie. Wie oft hatte er in den letzten Monaten versucht, mit ihr zu reden? Was sollte dieser Vorwurf? »Vielleicht solltest du sehen, dass du Freundinnen kennen lernst«, sagte er sanft. »Wo denn?«, rief sie. »Unter diesen aufgedunsenen Gattinnen von Professoren und Beamten? Die Tschechinnen
jedenfalls schneiden mich, weil ich mit einem Deutschen verheiratet bin. Die meisten Menschen hier hassen uns und sprechen erst deutsch, wenn man ihnen ein Trinkgeld gibt. Wir befinden uns mitten in der Tschechei. Die Professoren benehmen sich wie Kolonialherren.« »Sie sind eben Menschen.« »Du bist auch einer von ihnen«, antwortete Mileva.
Zunächst hatte es nicht so ausgesehen, als sollte seine Karriere Einstein weiter nach oben führen. 1907 hatte er sich an der Universität Bern beworben und seine Arbeit über die Relativität eingereicht. Sie wurde abgelehnt, Begründung: unverständlich und außerdem zu kurz. Doch die wissenschaftliche Anerkennung wuchs, und ein Jahr darauf versuchte er es erneut mit derselben Arbeit, ergänzt nur um einen Satz. Diesmal mit Erfolg. Zum Abschied vom Patentamt hielt Haller eine Rede voll großer Worte. »Sie haben den Namen des Berner Patentamtes hinaus in die Welt getragen«, sagte er. »Schon sprechen ausländische Zeitungen von dem genialen Beamten aus Bern. Etwas von diesem Glanz fällt auch auf uns, die wir berufen sind, kleinere Aufgaben zu lösen.« Doch auch Einsteins Aufgabe wuchs nicht gleich in den Himmel. Er las vor vier Hörern über die »Theorie der Strahlung«, einer davon war der Freund Besso. Im nächsten Semester erschien nur noch ein Student, Einstein schrieb ihm, der Unterricht würde ausfallen, er dürfe aber zu ihm kommen, wenn er Fragen hätte. Doch schon 1909 folgte die Berufung nach Zürich, und Einstein wurde, im Alter von 30 Jahren, erstmals Professor. Sein Vorlesungsstil war unter den Kollegen gefürchtet, bei den Studenten umso beliebter. Das ganze Manuskript, das er bei sich trug, bestand aus einem Zettel von der Größe einer
Visitenkarte, auf den er skizziert hatte, was er durchnehmen wollte. Dafür durften die Studenten Fragen stellen. Er erkundigte sich immer, ob man alles verstanden habe. Das war unüblich. Und dann, nach den Vorlesungen, ging er mit den Studenten ins Café, um weiterzudiskutieren. Dort saßen sie oft bis zur Polizeistunde, und manchmal nahm er sie noch mit zu sich nach Hause. Bald folgten Einladungen zu Kongressen, wo er die führenden Physiker seiner Zeit kennen lernte und Freundschaften schloss, besonders mit Max Planck und Max von Laue. 1909, genau ein Jahr nachdem Minkowski vor demselben Kongress verkündet hatte, Raum und Zeit für sich seien völlig zu Schatten herabgesunken, hielt er eine Rede vor dem Kongress der deutschen Naturforscher. Einsteins Vortrag, der die Grundzüge seiner Theorie erläuterte, war für viele Zuhörer eine Offenbarung. 1911 wurde Einstein bereits zum Solvay-Kongress nach Brüssel eingeladen. Dort sollten die führenden Physiker Europas zusammenkommen, in der Hoffnung, dass in fünftägigen, ungestörten Diskussionen vielleicht neue Ordnung in die durch das Quant aus den Fugen geratene theoretische Physik gebracht werden könnte. Einstein war begeistert, vor allem von H. A. Lorentz, der die Tagung leitete. Dieser zierliche Mann war ganz Zurückhaltung und Höflichkeit. Er sprach drei Sprachen fließend und begriff alle vorgetragenen Ideen schnell. Einstein lernte auch Marie Curie kennen, die Entdeckerin der Radioaktivität, den Engländer Rutherford, der das Planetenmodell des Atoms entwickelt hatte, und Poincaré. Dann kam das Angebot aus Prag. Einstein konnte Direktor eines eigenen Instituts werden, an einer der angesehensten Universitäten Europas. Hier hatte Ernst Mach gelehrt, Einsteins Vorbild. Man bot viel Geld, viel mehr als in Zürich.
Sie konnten eine große Wohnung nehmen und ein Dienstmädchen einstellen. Gerade hatte Mileva den zweiten Sohn, Eduard, zur Welt gebracht. Als Einstein ihr von Prag berichtete, sagte sie nur: »Du wirst natürlich nicht annehmen.« »Warum denn nicht?«, hatte er erwidert. Doch sie hatte ihn schnell davon überzeugt, dass er besser abwarten solle. Bald darauf hatte er ihre Argumente vergessen und das Angebot angenommen. Mileva akzeptierte die Entscheidung. Für ihn bedeutete diese Berufung viel, das war die Hauptsache.
Die beiden Pförtner, Veteranen der österreichischen Armee, die man in Uniformen mit goldglänzenden Messingknöpfen gesteckt hatte, sahen Einstein schon von weitem und bauten sich links und rechts des Eingangs auf. Ein Pförtner hätte genügt, um die Türe zu öffnen, aber sie wussten, dass dieser Mann eine der wenigen Ausnahmen war, die jedem ein Trinkgeld geben. »Er behandelt jeden gleich. Er spricht mit der Aufwaschfrau im Laboratorium nicht anders als mit unsereinem«, sagte der eine Pförtner. »Selbst für leitende Direktoren hat er stets ein freundliches Wort.« »Ein ganz feiner Mensch. Neulich hat er mir seine Relativitätstheorie erklärt.« »Und?« »Ich bin mir sicher, dass er sie verstanden hat.« »Man sieht ihm nicht an, dass er noch berühmter als Professor Mach sein soll«, sagte der eine Pförtner. »Er hat auch einen viel kleineren Bart.« »Äußerlichkeiten bedeuten solch einem Mann eben nicht viel. Ich hörte, dass er zum Empfang im Hotel Europa, den
man ihm zu Ehren veranstaltete, in einem blauen Arbeitsanzug erschien.« Als Einstein kam, rissen sie beide Flügel der Türe weit auf. Er gab jedem einen Kreuzer. Die beiden Pförtner verbeugten sich tief.
Sein Arbeitszimmer im Institut war ein heller Raum, groß genug, um darin Spaziergänge zu veranstalten. Die vier hohen Fenster gingen auf einen großen Park, dessen Bäume freundlich ins Zimmer hineinschauten. Wenn Einstein einen Gast hatte, führte er ihn stets an dieses Fenster und fragte: »Fällt Ihnen etwas auf?« Ehrenfest, ein junger Wiener Physiker, den er im vergangenen Jahr bei einem Vortrag kennen gelernt hatte, setzte die runde Nickelbrille auf. »Sehen Sie auch nur eine einzige Frau?«, fragte Einstein. »Nein«, stellte der Gast erstaunt fest. »Vormittags gehen nur Männer in diesem Park spazieren«, erläuterte Einstein, »nachmittags nur Frauen. Wie das kommt? Dieser merkwürdige Garten gehört zur Irrenanstalt des Landes Böhmen. Sie sehen dort den Teil der Verrückten, der sich nicht mit der Quantentheorie beschäftigt.« Einstein hatte Ehrenfest und seine Frau, eine russische Physikerin, erst gestern vom Bahnhof abgeholt. Schon auf dem Nachhauseweg hatten sie über Physik diskutiert und auch über die steife Art in der k. u. k. Monarchie und bald alle drei polternd gelacht. Tatjana Ehrenfest schien sich glänzend mit Mileva zu verstehen. Ehrenfest schlug sich damals nur mühsam durch, er war in einer ganz ähnlichen Lage wie Einstein Jahre zuvor, und auch er hatte eine Slawin geheiratet, was ihm in Wien nur Probleme einbrachte.
Nun war er auf der Reise nach Holland, wo er sich bei Lorentz in Leiden vorstellen wollte. »Sie werden das Angebot aus Zürich doch annehmen?«, fragte er Einstein. »Ja, ich denke darüber nach«, sagte Einstein. »Es ist schon verrückt. Vor zehn Jahren wäre ich über eine lumpige Assistentenstelle glücklich gewesen, und nun reißt man sich um mich. Das nennt man wohl Erfolg.« »Nehmen Sie die Stelle an«, sagte Ehrenfest. »Mileva geht hier ein. Versuchen Sie, sich in ihre Situation zu versetzen. Im Kreise der Professorenfrauen wird ganz offen über die Minderwertigkeit der slawischen Völker und die Überlegenheit der Deutschen gesprochen.« »Das ist doch nur die Oberfläche«, sagte Einstein. »Oft versuche ich, mit ihr über die Arbeit zu sprechen. Aber sie hört gar nicht zu. Ich erzähle ihr von einer aufregenden neuen Entdeckung, und mitten im Satz sagt sie: ›Sprich doch nicht so laut, die Kinder schlafen schon.‹« Sie standen eine Weile schweigend in dem großen Arbeitszimmer. Einstein betrachtete die Verrückten unten im Garten, nun kam ein Wärter und sammelte sie ein. »Vielleicht schätzen Sie Mileva falsch ein«, sagte Ehrenfest. »Vielleicht würde sie gerne mit Ihnen arbeiten.« »Ja, vielleicht«, sagte Einstein und fuhr nach einer Pause fort: »Wenn es bloß nicht so schwer wäre, die Gefühle eines anderen Menschen zu verstehen. Ich verstehe jeden sofort, wenn es um Logik und Gedanken geht. Aber Gefühle anderer Menschen kann ich mir nie wirklich vorstellen. Ich gehe eigentlich immer nur von mir selbst aus.« »Das machen wohl die meisten Menschen.« »Aber es führt doch zu nichts.« »Gehen Sie nach Zürich«, sagte Ehrenfest. »Dort finden Sie wieder zusammen.«
Noch im Februar schrieb Einstein an den alten Professor Stern in Zürich, der ihm einst seelischen Beistand geleistet hatte: »Vor zwei Tagen wurde ich (Hallelujah!) an das Polytechnikum nach Zürich berufen und habe schon meinen k. u. k. Abschied angemeldet. Darob bei uns allen und beiden Bärchen große Freude.« Kaum war der Entschluss gefasst, schien ein Alpdruck von Mileva und ihm zu weichen. Nach kaum einem Jahr kehrten sie nach Zürich zurück. Einstein war nun der Stolz der Hochschule, die ihm 1900 eine Assistentenstelle verweigert hatte. Die Professoren, die ihn früher bestenfalls ignoriert hatten, suchten seine Nähe. Einstein war damit zufrieden; lieber so als gar nicht, sagte er sich. Doch schon im Sommer 1913 reisten Max Planck und Walther Nernst von Berlin nach Zürich. Sie brachten ein verlockendes Angebot: Er sollte nach Berlin kommen und Direktor eines neu gegründeten Forschungsinstituts für Physik werden. Man bot das für damalige Verhältnisse enorme Gehalt von 12000 Reichsmark. Außerdem sollte er Mitglied in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften werden – dem Allerheiligsten der deutschen Naturwissenschaften. Er konnte, wenn er wollte, Vorlesungen an der Universität halten, musste es aber nicht. Berlin war damals für Physiker der Nabel der Welt. Nirgendwo sonst trafen sich so viele bedeutende Forscher. Einstein erbat sich Bedenkzeit. Die Berliner Professoren machten solange einen Ausflug in die Berge. Einstein versprach, sie vom Zug abzuholen. Sie würden schon von weitem sehen, wie er sich entschieden habe: Er würde eine Rose in der Hand halten. Eine weiße Rose hieße »nein«, eine rote »ja«. Die spezielle Relativitätstheorie hatte einen Nachteil: Sie galt nur für Inertialsysteme, für Systeme also, die sich gleichförmig entlang einer geraden Linie bewegten. Einstein versuchte, eine
Theorie zu entwickeln, die für alle Systeme galt, auch für beschleunigte oder rotierende. Schnell wurde ihm klar, dass er hierfür den Begriff der Gravitation verändern musste, denn offensichtlich veränderte sich die Wirkung der Gravitation in beschleunigten Systemen. In einem Fahrstuhl, der sehr schnell fällt, ist beispielsweise die Wirkung der Gravitation aufgehoben, und Gegenstände schweben wie in Schwerelosigkeit. Und so geriet er mehr und mehr in Teufels Küche. Als Student hatte er sich um komplizierte mathematische Methoden mit Erfolg gedrückt. Nun kam er nicht mehr darum herum. Zum Glück gab es Freunde, die halfen, vor allem Marcel Großmann, der ihm schon beim Examen geholfen hatte und bei der Bewerbung am Patentamt. »Nun heißt es, Tensorenrechnung büffeln, wenn ich weiterkommen will«, sagte er zu Tete. Eduard, genannt Tete, sah ihn mit seinen schwarzen Knopfaugen an und fragte: »Was heißt das, büffeln?« »Willst du nicht lieber fragen, was Tensorenrechnung heißt?« »Das verstehe ich noch nicht«, sagte Tete. Einstein stand auf. »So, kleiner Mann«, sagte er und nahm seinen Sohn bei der Hand. »Wir gehen jetzt ins Kinderzimmer, und da wird gespielt. Papa muss nämlich arbeiten.« Im Kinderzimmer setzte er sich vor den Haufen mit den Bauklötzen und nahm Tete auf den Schoß. Dann begann er, Stein auf Stein, ein großes Haus zu bauen. Tete sah seinem klugen Vater interessiert zu. Das konnte er also auch? »So, und jetzt kannst du weiterbauen«, sagte Einstein, nachdem er einige Stockwerke errichtet hatte. Er setzte Tete auf den Teppich und ging wieder in sein Arbeitszimmer. Er beugte sich über die Papiere. Aus dem Kinderzimmer kam kein Laut. Als er gerade wieder anfangen wollte zu rechnen, hörte er einen großen Rawums. Das Baustein-Haus war
zusammengebrochen. Darauf Stille. Dann rief Tete: »Papa, ich langweile mich.« Dein Pech, sagte Einstein für sich. Wieder Stille. Dann wieder Tete: »Papa, ich langweile mich gleich ganz doll.« Du wirst im Leben Schlimmeres durchstehen, sagte sich Einstein. Wieder Stille. Plötzlich entsetzlicher Lärm. Offensichtlich wurden die Bauklötze mit Gewalt gegen die Möbel geschmissen. Einstein sprang auf. Kurz darauf saß er wieder mit Tete im Kinderzimmer und baute an dem Haus. »Wieso hilfst du denn nicht? Jetzt brauche ich einen roten Stein. Gibst du ihn mir bitte?« Betont langsam beugte Tete sich vor und reichte ihm den roten Stein. Das wäre schneller gegangen, hätte er es allein gemacht. Als das Haus fünf Stockwerke hoch war, sagte Einstein: »So, kleiner Mann. Jetzt baust du aber alleine weiter. Einverstanden?« Tete sah ihn mit seinen großen Augen und bravem Gesicht an. Kaum saß Einstein am Schreibtisch, wieder der große Rawums. Und dann wieder Tetes Stimme: »Papa, ich langweile mich.« Und wieder saßen sie zusammen vor den Bauklötzen. »Magst du denn gar keine Bauklötze?«, fragte Einstein mit bemüht erstauntem Tonfall. »Ganz genau«, sagte Tete. »Wofür interessierst du dich dann?« »Für empirische Tatsachen.« »Wo hast du das denn aufgeschnappt?« Tete war ganz anders als Hans-Albert. Er sah fast aus wie ein Mädchen und war ungewöhnlich schön mit seinen großen Augen und den schimmernden, schwarzen Haaren. Gerade war er sehr krank gewesen, hatte Grippe, Keuchhusten und
Mittelohrentzündung zugleich gehabt, deswegen war er zu Hause geblieben, während Mileva mit Hans-Albert auf dem Züriberg wanderte. Tete behielt alles im Gedächtnis, Worte, die er aufschnappte, aber auch ganze Sätze oder Gespräche. Schon mit einem Jahr hatte er gut sprechen gelernt, nun, kaum drei, redete er wie ein Buch. Er betrachtete alles um sich herum mit großem Ernst, und wenn er eine Frage gestellt hatte, gab er nicht auf, ehe er nicht eine Antwort bekommen hatte. »Dafür bist du zu klein« akzeptierte er nie. »Empirische Tatsachen sind für sich nicht viel wert«, sagte Einstein. »Und doch wird auf ihnen das Gebäude der Wissenschaften errichtet«, antwortete Tete. War das ein Gespräch, wie man es mit einem Dreijährigen führte? Sprach Mileva so mit dem Jungen? Er musste ja verrückt werden. Was sollte man darauf noch sagen? Das war auch genau Einsteins Meinung. Aber Hans-Albert mit seinen zehn Jahren spielte noch immer gerne mit Bauklötzen, und dieser kleine Junge mit seinem feinen Gesicht kräuselte die Stirn und sah seinen Vater wissbegierig an. Wahrscheinlich habe ich es nicht besser verdient, sagte sich Einstein. Er war froh, als er die Tür hörte und gleich darauf Milevas und Hans-Alberts Stimmen. Hänschen kam, dick in Schals eingewickelt, mit gerötetem Gesicht ins Kinderzimmer gerannt. »Wir waren auf dem Ütli«, rief er begeistert. Aus dem Flur hörte man Mileva: »Zieh dir doch erst die Schuhe aus, Junge.« Sie waren voller Schneematsch. Einstein begleitete Hänschen in den Flur. »Auf dem Ütli?«, fragte er. »Wolltet ihr nicht auf den Züriberg?« Mileva stand, mit roten Wangen und roter Nasenspitze, lächelnd an der Garderobe. »Wir haben es uns unterwegs anders überlegt«, sagte sie. Einstein nahm sie in den Arm. Sie
lehnte ihre eiskalten Wangen an sein Gesicht. Ihre Haut fühlte sich glatt und frisch an. Tete kam aus dem Kinderzimmer. Hans-Albert, der auf dem Boden saß und die schweren Wanderschuhe auszog, sah zu seinen Eltern hinauf. »Stimmt’s, wir ziehen nie wieder weg von hier«, sagte er strahlend. »In Zürich ist es immer noch am schönsten.« Das hatten sie alle, auch Einstein, in letzter Zeit so oft gesagt. Einstein durchfuhr es heiß. Gestern hatte er Planck und Nernst zugesagt. Noch war nichts unterschrieben, aber seine Berufung nach Berlin abgemachte Sache. Schon gestern hatte er als Erstes mit Mileva sprechen wollen, doch er hatte es vergessen.
Als die Kinder im Bett lagen, versuchte er, es ihr beizubringen. Mileva wollte Zürich nicht verlassen. »Das ist kein Leben hier für mich«, sagte Einstein. »Es gibt hier nicht einen Menschen, mit dem ich über meine Forschungen sprechen kann. Um das wissenschaftliche Niveau am Polytechnikum zu betrachten, muss man sich tief bücken.« »Und was ist mit mir? Bin ich niemand?«, fragte Mileva. »Es hat doch keinen Sinn, sich länger etwas vorzumachen. Du verstehst einfach nicht mehr, woran ich arbeite.« Das Fensterbrett stand voller Kakteen, das war nun ihr Hobby. »Ich habe solche Hüftschmerzen«, sagte Mileva. »Wollen wir nicht lieber über Berlin sprechen?« »Wozu? Wir bleiben hier.« »Aber ich…« »Ich, Hans-Albert und Tete bleiben hier.« »Wir gehen, und wir gehen alle gemeinsam. Ich werde die Kinder nicht deinen Launen überlassen.«
Mileva drückte die Augen ganz eng zusammen, als müsse sie sich sehr anstrengen, um ihn zu sehen. Sie sah wie eine Katze aus. Leise sagte sie: »Ich habe alles für dich aufgegeben. Ich habe Lieserl weggegeben, ich habe den Haushalt gemacht, ohne ein Wort zu sagen, ich habe deine Rechnungen korrigiert, und ich habe dich gepflegt, wenn du krank warst. Gut. Du hast dich nie bedankt. Es war vielleicht mein Fehler.« Die Tür ging auf, und Tete kam, im Nachthemd, kerzengerade wie ein Schlafwandler hereingelaufen. Mileva legte die Hand auf seinen Kopf »Komm, geh wieder schlafen«, sagte sie und führte ihn aus dem Zimmer. Einstein hörte aus dem Flur, wie der Kleine fragte: »Worüber streitet ihr, Mama?« »Schlaf jetzt«, flüsterte Mileva.
Herrenabend
Obwohl erst Mitte fünfzig, wirkte Max Planck wie ein alter Mann. Was für ein prächtiger Zinken, dachte Einstein, als er Plancks Nase betrachtete. Der große Vogelkopf wackelte auf dem dünnen Hals, jedes Mal, wenn die Straßenbahn wieder anfuhr. Die Augen hinter der Zwickelbrille waren stets zusammengekniffen. Bläuliche Adern liefen wie Würmer unter der glatten Haut auf dem gewölbten Schädel. Es war unmöglich, sich Professor Max Planck als jungen Mann vorzustellen; er musste mit Glatze, Zwickel und Gehrock auf die Welt gekommen sein. Seltsam, dass er mit dem »Planckschen Wirkungsquantum« eine Größe eingeführt hatte, die die ganze Physik revolutionierte. Laue hatte Einstein erzählt, Planck wäre ein begeisterter Bergsteiger. Mit diesen steifen, leblosen Gliedern? Planck senkte nun die Stimme, neigte seinen Kopf und sagte: »Ohne den unermüdlichen Einsatz Seiner Majestät wären die Institute undenkbar. Dennoch: Die Initiative zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kam von der Industrie. Die eigentliche Gesellschaft wird von Senatoren finanziert, allesamt Großindustrielle, Kaufleute und Bankiers. Manchmal werden sie vom Kaiser zum Frühstück geladen. Das kostet sie jedes Mal viel Geld. Denn während des Frühstücks pflegt der Kaiser zu erwähnen, dass man für ein wichtiges Forschungsgebiet Geld benötige. Sie verdanken Ihre Berufung übrigens auch einem Frankfurter Bankier, Leopold Koppel. Er hat eine große Summe gestiftet, um die Gründung eines Instituts für Theoretische Physik zu ermöglichen.«
»Ich weiß«, sagte Einstein. »Ihm verdanke ich auch mein horrendes Gehalt. Ich musste ihn bereits besuchen und auf der Geige vorspielen, um zu beweisen, dass sich die Investition lohnt.« Ihre Trambahn steckte seit zwanzig Minuten fest. Berlin, wo längst mehr als zwei Millionen Menschen lebten, platzte aus allen Nähten. Überall wurde gebaut, auch am Alexanderplatz. Trams, Omnibusse, Automobile und Droschken hatten sich in ein unentwirrbares Verkehrschaos verstrickt. Nur die Hochbahnen, oben über den Straßen, kamen vorwärts. »Jeden Tag dasselbe«, sagte Planck. »Ich weiß nicht, wie lange sie hier schon bauen.« Sein Gesicht war völlig unbewegt. Nichts zeigte an, ob ihn die Warterei störte. Hier in Berlin saßen die Menschen wie erstarrt, nur Geflüster und Seufzer waren zu hören und ein älterer Herr, der alle paar Minuten mit seinem Stock auf den Boden klopfte und sagte: »Das ist ja unerhört.« »Wäre es zu Fuß nicht schneller?«, schlug Einstein vor. Sie wollten hinaus nach Dahlem, zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, wo Einstein arbeitete, solange das Institut für Theoretische Physik noch nicht existierte. »Zu weit«, sagte Planck. »Aber wir könnten ein Stück mit der S-Bahn fahren.«
Ringsherum lagen Felder, aber das Land war bereits gekauft worden, um weitere Forschungsinstitute zu errichten. Das Institut für Chemie war ein schlichtes Gebäude, auf der grünen Wiese hochgezogen. In den hellen Fluren lag noch der feuchte Geruch von Zement und Farbe, und auch die Menschen, die ihnen begegneten, schienen hier noch nicht ganz angekommen zu sein. »Seltsam, dass er nicht in seinem Büro ist«, sagte Planck.
Als sie wieder zur Eingangshalle kamen, hörten sie einen schrillen Pfiff. Verwirrt drehten sie sich um und sahen die beiden Männer, die unter dem breiten Treppenaufgang an der Wand lehnten. Es waren Max von Laue und Fritz Haber. Laue, Plancks ehemaliger Assistent, hatte bei Experimenten an Kristallen als Erster durch Röntgenstrahlen die atomistische Natur fester Körper sichtbar gemacht. Er war einige Monate jünger als Einstein und galt bereits als Aspirant für den Nobelpreis im kommenden Herbst. Laue hatte Einstein bereits 1906, kurz nach den ersten wichtigen Veröffentlichungen in den Annalen der Physik, im Patentamt in Bern besucht. Mit seinem ebenmäßigen Gesicht und dem feinen Schnurrbart sah er eher wie ein englischer Kricket-Profi aus. Er pfiff, mit bübischem Grinsen, ein weiteres Mal zwischen den Fingern. Haber stieß ihm, in gespielter Empörung, den Ellbogen in die Seite. Haber, elf Jahre älter als Einstein und Laue, war ein rundlicher Mann mit breitem, fast kahlem Schädel, eine wuchtige Erscheinung. Mit zügigen Schritten durchquerte er die Eingangshalle seines Instituts und streckte Einstein die Hand entgegen. »Willkommen in der Hauptstadt der Wissenschaften«, rief er. Wenige Minuten darauf spazierten sie zu viert über die Landstraße, die vom Institut in ein nahes Wäldchen führte. »Haben Sie sich schon eingelebt?«, fragte Haber. Einstein nickte. »Nur ein gewisser Drill in Bezug auf Kleidung, dem ich mich auf Befehl einiger Onkels unterziehen muss, um nicht zum Auswurf der Menschheit gezählt zu werden, stört etwas die Gemütsruhe.« »Aber das kann doch in Zürich nicht anders gewesen sein«, wandte Haber ein. »In Zürich gab es keine Onkels.«
»Sie haben also Verwandtschaft in Berlin?«, erkundigte sich Planck. »Neuerdings«, antwortete Einstein. »Jahrelang wollte man nichts von mir wissen. Aber seit ich Professor an der Universität bin, Direktor eines noch nicht gegründeten KaiserWilhelm-Instituts und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften…«Er betrachtete die Schrebergärten, die sich links und rechts der Straße entlangzogen. »Nun, ich hoffe, dass Sie unsere wissenschaftliche Gemeinschaft entschädigt«, sagte Haber. »An unseren Instituten arbeiten so bedeutende Forscher…« »Wie beispielsweise Fritz Haber, Erfinder der Schlagwetterpfeife«, sagte Laue. »Oder Max von Laue, der künftige Nobelpreisträger«, erwiderte Haber. »Aber im Ernst. Otto Hahn, James Franck, Walther Nernst, Lise Meitner – wir können wohl behaupten, dass unser physikalisches Kolloquium einmalig ist auf der Welt.« »Ist denn Ihre Frau bereits in Berlin?«, erkundigte sich Planck. Einstein hob überrascht den Kopf. »O Gott, das habe ich ganz vergessen!« »Was denn?« Einstein tastete seine Weste nach der Uhr ab. »Weiß jemand die Zeit?« »Zwei Uhr 27«, sagten Haber und Laue fast wie aus einem Munde. »Stimmt«, bestätigte Planck Sekundenbruchteile darauf, tief in die Betrachtung seiner goldenen Taschenuhr versunken. »Ich muss dringend zum Bahnhof«, sagte Einstein.
Mileva blieb nur wenige Tage in Berlin. Schon die Begrüßung am Bahnhof verlief kühl – wie zwischen entfernten Verwandten. Einstein hatte versprochen, sie in einer neuen Wohnung zu empfangen, aber bislang waren nicht einmal die Möbel geliefert. Nun versuchte er möglichst schnell etwas aufzutreiben. Solange musste man im Hotel wohnen. Mileva saß herum, hatte keine Lust auszugehen, kein Interesse an den Kindern, die sich langweilten. Sie bedrängte ihn, und er zog sich mehr und mehr zurück. Auch ihre fixe Idee, seine Verwandten würden gegen sie intrigieren, erhielt neue Nahrung. An dem Tag, an dem die Möbel für die neue Wohnung eingetroffen waren und sie zwischen all den Kisten und Paketen herumstanden, brach sie zusammen. »Ich kann nicht schon wieder in eine neue Wohnung einziehen«, rief sie. »Sollen wir denn im Hotel bleiben?«, fragte Einstein verwirrt. »Bern, Prag, Zürich, jetzt Berlin, nächstes Jahr vielleicht Wien oder Amerika. Kannst du dich nicht entscheiden?« »Ich habe mich entschieden«, sagte er. »Für Berlin.« »Ich kann so nicht leben«, sagte sie. »Gefällt dir die Wohnung nicht?«, fragte er und sah sich um. »Sie ist doch hübsch. Sieh einmal die Stuckdecke. Wir werden ein Hausmädchen haben und eine Köchin, neue Möbel…« »Ich kann nicht schon wieder eine neue Wohnung einrichten«, sagte sie. Er hatte das Gefühl: Ich kann und will ihr nicht helfen. Sie soll gehen, wohin sie will. Besser alleine als diese Beziehung. Er sagte: »Das wird schon.« Noch am selben Tag begann sie, Koffer zu packen. Sie war nicht mehr ansprechbar. Sie packte tagelang. Oft saß sie nur auf der Bettkante, Kleidungsstücke auf dem Schoß, und sah mit ihren großen schwarzen Augen in die Luft.
»Wohin willst du?«, fragte Einstein. »Zurück nach Zürich.« Da wurde ihm erst klar, um was es ging: Trennung, Auflösung der Familie. Eben hatte er noch widersprechen wollen, nun brachte er kein Wort mehr zustande. Lange stand er im Türrahmen und schlug den Pfeifenkopf in die offene Hand. Dann sagte er, leise und tonlos: »Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet die Trennung.« Da explodierte Mileva. »Aber davon rede ich doch seit Wochen – seit Monaten. Bist du taub? Oder denkst du, ich rede nur vor mich her? Ich habe es in Prag gesagt und in Zürich.« »Aber warum bist du dann mit nach Berlin gekommen?« »Ich wollte es selbst nicht wahrhaben.« »Lass uns noch einmal darüber nachdenken«, sagte er. Schon am nächsten Tag brachte er Mileva, Hans-Albert und Tete zum Zug. Fritz Haber begleitete ihn. Als sie den Bahnhof verließen, weinte Einstein. In seiner Antrittsrede vor der Akademie der Wissenschaften hatte er gesagt: »Sie haben es mir durch die Berufung an Ihre Akademie ermöglicht, mich frei von den Aufregungen und Sorgen eines praktischen Berufes ganz den wissenschaftlichen Studien zu widmen.« Als er am 28. Juni 1914, einem Sonntag, mit den Berliner Verwandten von einem Ausflug in den Spreewald am Bahnhof Friedrichstraße ankam, lagen überall auf dem Bahnsteig die Sonderausgaben über das Attentat von Sarajewo. Der österreichische Thronfolger und seine Gemahlin waren von einem neunzehnjährigen Serben im offenen Wagen erschossen worden. Auf den Straßen standen die Menschen in Gruppen zusammen und überflogen die Schlagzeilen. Die Empörung war allgemein. Auch die Verwandten waren entsetzt. Einsteins Onkel wurde sehr nachdenklich und sagte nach einiger Zeit: »Das ist der Krieg.«
Vier Wochen vergingen, heiße, träge Sommertage; das gutbürgerliche Berlin fuhr an die See oder in die Berge; die Arbeiter, die keinen Urlaub kannten, unternahmen sonntägliche Ausflüge und Laubenfeste. Blauer Himmel, die Gärten voller Obst, auf den Feldern reifte die Ernte. Die weltpolitischen Intrigen, von denen die Zeitungen berichteten, schienen unwirklich. Schon seit Ende Juni gab es in Berlin Massendemonstrationen, vor allem der Jugend, »Gegen die Kriegshetzer«, schließlich gab auch die SPD einen Aufruf heraus: »Der Weltkrieg droht! Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege!« Jeden Abend fanden Veranstaltungen statt. Am 28. Juli erklärte Österreich Serbien den Krieg. Wieder gab es große Demonstrationen der Arbeiterschaft gegen den Krieg. Es kam zu Auseinandersetzungen mit nationalistischen Studenten. Berittene Polizei musste die Bannmeile um das Berliner Schloss verteidigen. Am 31. Juli wurde die Erklärung des »Kriegszustandes« und die Mobilmachung auf allen größeren Plätzen des Reiches verlesen. Vor dem Berliner Schloss sang die versammelte Menge spontan einen Choral: »Nun danket alle Gott…« Wilhelm II. sprach vom Balkon des Schlosses herab. »Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche.« Am 3. August begann der Einmarsch deutscher Truppen ins neutrale Belgien, ohne Kriegserklärung. In den Berliner Arbeitervierteln kam es erneut zu Zusammenstößen zwischen Antikriegsdemonstranten und Militär. Am Abend glich die Stadt einem Hexenkessel. Kriegstaumel, Hochstimmung, Ernst und Bestürzung. Über Berlin und Brandenburg wurde der Belagerungszustand verhängt.
Bald waren die Straßen voller Soldaten, mit Eichenlaub geschmückt, sie marschierten lachend zu den Bahnhöfen. Die Bahnhöfe überfüllt mit rufenden, durcheinander laufenden Menschen, Güterzüge wurden mit Blumen und Zweigen geschmückt und mit Soldaten und Waffen beladen. Jeder rechnete damit, dass sie nach wenigen Monaten siegreich zurückkehren würden, wie 1870/71, und man reimte: »Jeder Britt – Ein Tritt«, »Jeder Russ – Ein Schuss«, »Jeder Franzos – Ein Stoß«. Die deutsche Regierung hatte das Volk dreist belogen und Meldungen veröffentlicht, nach denen französische Kompanien in Deutschland einmarschiert seien, Flugzeuge Bomben abgeworfen hätten. »Man drückt uns das Schwert in die Hand«, sagte der Kaiser. Die Sozialdemokraten, obwohl seit 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag, galten noch immer als »vaterlandslose Gesellen«. Jetzt wollten sie beweisen, dass »die ärmsten Söhne des Volkes auch seine treuesten« waren. Die Regierung hatte bereits Vorbereitungen getroffen, alle führenden Sozialdemokraten und Gewerkschafter festzunehmen, doch man schloss einen »Burgfrieden« und stimmte im Reichstag gemeinsam für Kriegskredite in Höhe von fünf Milliarden Mark. Im Ausland gab es Stimmen, die das geistige Deutschland in Schutz nahmen. Man dürfe das Deutschland Goethes nicht mit dem preußischen Militarismus gleichsetzen, hieß es. Wie reagierte das »geistige Deutschland«? Es wurde ein Aufruf »An die Kulturwelt!« veröffentlicht, den 92 Gelehrte, Schriftsteller und Künstler unterschrieben, auch Max Planck und Fritz Haber: Deutschlands Schuld am Krieg wurde bestritten und der Überfall auf Belgien moralisch gerechtfertigt. Die Identität von deutschem Militarismus und deutscher Kultur wurde beschworen. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur »vom Erdboden getilgt
worden«. Es war ein deutscher Jude, Ludwig Fulda, der das Manifest aufgesetzt hatte. Einstein wurde um seine Unterschrift gar nicht erst gebeten. Er verfasste mit dem Kardiologen Nicolai einen eigenen Appell an die Wissenschaftler Europas, sich für die Beendigung des Krieges einzusetzen. Nur zwei Kollegen waren bereit, diesen Aufruf zu unterzeichnen, keine Zeitung wagte, ihn zu veröffentlichen. Bald darauf gründete Einstein eine pazifistische Organisation, den »Bund Neues Vaterland«. Damit riskierte er eine Anklage wegen Hochverrats, doch ihn schützten die Schweizer Staatsangehörigkeit und sein Ruhm.
Am 10. Dezember wurde Max von Laue der Nobelpreis verliehen. Zwei Tage zuvor hatte der »Kriegsausschuss der deutschen Industrie«, vertreten unter anderen durch Gustav Stresemann, gefordert, das Reichsgebiet durch Annexionen zu vergrößern. Belgien und die französische Atlantikküste bis Boulogne sollten unter deutscher Oberhoheit stehen, ebenso weite Gebiete des Russischen Reiches. Teile Frankreichs sollten annektiert werden, Belgisch-Kongo an Deutschland fallen. »Die Weltgeltung steht Deutschland von Natur aus zu«, sagte Haber, als sie die Droschke bestiegen. Einstein hörte mit bedrückter Miene zu. »In Amerika herrscht die Maschine. Frankreich ist ein sterbendes Volk, vergreist und kraftlos. England kennt nur seine Macht- und Profitinteressen. Russland ist das Chaos schlechthin. Mit Italien ist ernsthaft nicht zu rechnen. Nein, es bleibt nur Deutschland. Auch wenn es ein kühner Schritt ist. Deutschland muss diese Rolle übernehmen.« »Von welchem Deutschland sprechen Sie?«, fragte Einstein. Haber streckte seine kurzen, rundlichen Arme von sich und atmete geräuschvoll aus. Dann klappte er das Fenster der
Droschke auf. »Ich weiß genau, was Sie denken«, sagte er. »Sie fühlen sich als Außenseiter, weil Sie Jude sind. Das ist aber ein Irrtum. Es wird bald keine Juden mehr geben. Wir stehen vor der vollständigen Assimilierung. Sie sind nicht weniger deutsch als jeder andere Bürger des Deutschen Reiches.« »Ich bin Bürger der Schweiz«, sagte Einstein. Haber sah ihn an und öffnete den Mund. Sein Gesicht wirkte weich, die Augen verständnisvoll und etwas erschöpft. Seine Ausstrahlung, sinnlich und sensibel, passte nicht zu dem, was er an politischen Meinungen verkündete. »Dieser Janos Plesch«, sagte Haber, »ist übrigens auch ein jüdischer Jude, aus Ungarn. Ist als Arzt hoch hinausgekommen, behandelt inzwischen sogar die kaiserliche Familie. Besitzt Landgüter und mehrere Stadtwohnungen, auch einige prächtige Limousinen inklusive Chauffeur. Ein Prototyp des eleganten Salonlöwen, etwas versnobt. Aber lassen Sie sich nicht abschrecken. Der Mann ist nicht nur ein guter Arzt, sondern auch vielseitig interessiert und wenigstens ebenso kritisch wie Sie.« »Es ist das erste Mal, dass ich zu einem ›Herrenabend‹ eingeladen werde«, sagte Einstein. »Machen Sie sich keine Sorgen. Herrenabend bedeutet nur, dass keine Ehefrauen anwesend sind. Das heißt, wir brauchen uns keine Einschränkungen aufzuerlegen, was Alkohol und Gesprächsstoff betrifft.«
Die Kutsche war vom Kurfürstendamm abgebogen und hielt vor einer Stadtvilla. Inzwischen hatte Schneeregen eingesetzt, aber noch bevor sie ausgestiegen waren, kamen ihnen zwei Diener mit Schirmen entgegengelaufen, die sie trocken bis zur Veranda brachten. Dort standen, in Smoking, von Laue, Planck
und ein dritter Mann. Einstein konnte den Gedanken nicht unterdrücken: Man sieht doch gleich, dass er kein Deutscher ist. Orangefarbenes Licht fiel durch die breite Fensterfront auf die Veranda. Janos Plesch, schwerreicher Spross einer berühmten Arztfamilie, stand da mit leicht geneigtem Kopf, eine Hand locker in der Hosentasche, in der anderen eine filterlose Zigarette, und sah Einstein mit ironischem Lächeln an. Einstein trug, was nur selten geschah, ebenfalls einen Smoking. Er stand etwas unbeholfen da und schaute sich um. »Wollen wir hineingehen und einen Mokka nehmen?«, schlug Plesch vor. Sie machten es sich in den Ledersesseln bequem. Laue erzählte von dem Besuch, den er Einstein acht Jahre zuvor im Berner Patentamt abgestattet hatte. Beim Anblick des hemdsärmligen Beamten hatte er zunächst an einen Irrtum geglaubt. Später, als sie spazieren gingen, bot ihm Einstein eine Zigarre an. »Das war ein unsäglicher Stumpen«, erinnerte sich Laue. »Er schmeckte so entsetzlich, dass ich ihn von der Aarebrücke ›versehentlich‹ hinunterfallen ließ.« Alle sahen Laue etwas pikiert an, weil er diese Geschichte in Einsteins Anwesenheit zum Besten gab. Aber Einstein begann polternd zu lachen. Er konnte sich kaum beruhigen. Ein Mädchen mit weißer Schürze kam und brachte Mokka und Kognak. »Ich trinke keinen Alkohol«, protestierte Einstein, noch immer lachend. »Wozu leben Sie dann?«, erkundigte sich Plesch. »Er lebt nur für die Wissenschaft«, sagte Laue und stimmte in Einsteins Lachen ein. »Da habe ich auch anderes gehört«, meldete sich Planck mit trockener Stimme zu Wort.
Doch Plesch hob, ohne darauf einzugehen, sein Glas und trank es leer, wobei er den Kognak langsam durch den Mund laufen ließ. Dann schenkte er sich und den Gästen nach. »Auf die deutsche Armee und ihre glänzenden Erfolge«, rief Haber, als alle die Kognakschwenker gehoben hatten. Einstein leerte sein Glas nur widerwillig. »Es hat schon etwas Großartiges, diese Tage miterleben zu dürfen«, fuhr Haber fort. »Der Ruck, der durch das ganze Volk gegangen ist…« Als er sah, wie Einstein und auch Plesch die Gesichter verzogen, sagte er ärgerlich: »Sie vergessen, dass eine tiefgreifende Umwälzung kein niedliches Ammenmärchen ist.« »Jeder Tag ein Sieg, die Stadt ständig beflaggt, die Zeitungen voller Jubelmeldungen«, sagte Plesch abfällig. »Aber in Wirklichkeit hat die deutsche Strategie längst versagt. Die Niederlage in der Marneschlacht wird vor dem Volk geheim gehalten. Und in Langemark hat man, im flandrischen Novembernebel, die Regimenter der Kriegsfreiwilligen, kaum ausgebildet, im Sturm gegen die Maschinengewehre der britischen Berufsarmee geschickt. 80000 junge Männer sind niedergemäht worden, meist noch halbe Kinder. Und aus diesem verheerenden militärischen Fiasko wird ein Mythos gemacht.« Planck beugte sich vor. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er. »Niemand ist über das erfreut, was an den Fronten passiert. Sie wissen, dass mein Sohn dort in Frankreich steht; ich fürchte jeden Tag um sein Leben. Aber dieser Krieg ist eine Bewährungsprobe der Völker, eine harte Forderung, der wir nicht ausweichen können. Und dazu muss man sich dann, wenngleich mit tiefster Sorge, mit ganzem Herzen entschließen.«
»Dieses innere Kriegsziel«, sagte Haber mit glänzenden Augen, »ist das Wertvollste. Der feige Angriff hat alle Deutschen geeint. Jetzt sind wir endlich eine einige Nation!« »Wie kommen Sie zu der unsinnigen Behauptung, dass erst der Kampf auf Leben und Tod wirklich Leben bedeute?«, wandte Einstein ein. »Das ist doch ein Rückfall in die Steinzeit. Wirklichen Mutes bedarf es, sein Leben nicht zu ›opfern‹, sondern sein Leben zu ›wagen‹!« Plesch zündete sich eine Zigarette an. Er sah Haber gerade an und sagte: »Im modernen Krieg geht es gar nicht mehr um die Bewährungsprobe des Einzelnen, wie Ihre Kriegspropaganda uns weismachen will. Die Masse der Soldaten stellt nicht einmal mehr die Zahnräder in der Kriegsmaschine dar, sondern nur noch den Treibstoff, den diese Maschine rasend schnell verschlingt. Der Mensch ist zum Material geworden.« Haber saß mit verschränkten Armen da und starrte vor sich hin. »Aber«, fragte Planck, »wie erklären Sie sich dann die allgemeine Begeisterung im Volke für diesen Krieg?« »Dieser Krieg«, sagte Plesch, »bietet dem Einzelnen die Chance, in einem größeren Ganzen aufzugehen. Er kann sein eigenes, sorgenvolles Leben beiseite tun und sich einem großen Ziel widmen. Das bedeutet für viele Menschen eine große Entspannung.« Einstein beobachtete überrascht, wie schnell diese hochintelligenten Männer mit ihrer Meinung umschwenkten. Nachdem Plesch mit Einsteins Unterstützung gegen den Krieg argumentiert hatte, schienen Planck und Laue ganz auf ihrer Seite zu stehen, und selbst Haber schimpfte über Professor Lenard, der seinen treuen russischen Assistenten nach Kriegsbeginn entlassen hatte. Doch als man wenig später auf die Schlacht von Tannenberg zu sprechen kam, wo General Hindenburg die deutsche Armee zum Sieg gegen die weitaus
zahlreicheren Russen geführt hatte, ließ sich selbst Laue wieder von der Begeisterung anstecken. Als aber Plesch schilderte, wie man sich mit der Flottenrüstung die größte Seemacht, England, zum Feind gemacht hatte, schwenkten wieder alle um.
Einstein und Plesch schlenderten, nachdem sich der Rest der Herrenrunde verabschiedet hatte, über den nächtlichen Kurfürstendamm. »Sehen Sie«, sagte Plesch, »Haber konvertierte als Vierundzwanzigjähriger, zum Entsetzen seines Vaters, zum Protestantismus. Er ist stolz darauf, ein Deutscher zu sein, und er möchte seinem Vaterland dienen. Aber für die Berliner Universität war er noch immer ein Jude, er konnte nicht Professor werden. Wäre nicht das Kaiser-WilhelmInstitut gegründet worden, er hätte in Preußen keine angemessene Stellung finden können.« Sie ließen sich treiben vom Strom der nächtlichen Passanten, vorbei an Kaffeehäusern und Kinopalästen. Leuchtreklamen und Straßenlaternen machten die Nacht zum Tag, hier war noch nichts von Kriegswirtschaft zu spüren. »Es gibt«, sagte Plesch, »in der deutschen Seele, in der Kunst, in der Gedankenwelt eine Art Unverständnis für das Lebendige. Als Arzt: Ein Deutscher fragt vor einer Operation nicht, wie hoch seine Überlebenschancen sind, sondern wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Operation gelingt. Mit einem russischen oder französischen Patienten ist das ganz anders. Die Deutschen lieben den Krieg, weil an dessen Ende das Blutbad wartet.« »In einer solchen Zeit sieht man, welch trauriger Viehgattung man angehört«, seufzte Einstein. »Wissen Sie – ein Mann wie Planck, der sich hier sehr für mich eingesetzt hat, ohne den ich wahrscheinlich noch im Patentamt versauern würde… Ich
kann ihm durch verstandesmäßige Argumente meine Meinung aufzwingen. Vom Gefühl her aber hält er immer an den Überzeugungen der preußischen Beamtenkaste fest, aus der er stammt. Er glaubt an die Sendung des deutschen Kaisers, die Welt mit seiner deutschen Kulturauffassung glücklich zu machen, und er glaubt an das Recht seiner Schicht, Deutschland die führenden Männer zu geben. Ich habe immer das Gefühl, dass es da eine Wand gibt zwischen uns. Und hinter diese Wand möchte man am liebsten gar nicht gucken.« Sie waren ziellos auf und ab gegangen. Nun standen sie vor dem Romanischen Café. Offiziere auf Heimaturlaub und Kriegsverletzte flanierten mit ihren Frauen oder Verlobten über den Boulevard, und auch in den Cafés herrschte noch reges Treiben. »Sehen Sie sich um«, sagte Plesch. »Auch hier geht das Leben weiter. Man amüsiert sich sogar – in Maßen. Die Deutschen sind nicht so furchtbar konsequent, wie sie gerne erscheinen möchten.« Einstein seufzte. »Wie kommt es, dass Menschen, die normalerweise ein friedliches Leben führen, innerhalb weniger Wochen so aufgehetzt werden, dass sie Uniformen anlegen, hinausziehen und sich gegenseitig umbringen?« Plesch sagte: »Wissen Sie, was mein Eindruck ist? Für Sie ist es nicht so unverständlich, dass sie sich umbringen. Für Sie ist es das Schlimmste, dass sie vorher Uniformen anziehen. Und dass sie sich einem Befehl unterordnen. Sie hassen allen Militarismus und alle Disziplin. Sie sind ein Anarchist.« »Ich bin vollkommen unpolitisch«, sagte Einstein. »Und was ist mit Ihrem Manifest und dieser Gesellschaft, die Sie gegründet haben?« »Ich bin einfach ein Gegner dessen«, sagte Einstein, »was die Menschen Politik nennen. Ich bin so unpolitisch, dass ich mich in die Politik mischen musste.«
Alles ist relativ
Stellen wir uns vor, wir schauen aus einem Boot hinab in einen klaren See. Wir sehen Fischschwärme, die nahe dem Grund schwimmen. Dabei beschreiben die Fische seltsame Linien. Sie bewegen sich eigentlich nie wirklich gerade vorwärts. Meistens schwimmen sie in Kurven. Dabei kann es doch im Wasser keine Hindernisse geben, denen sie ausweichen müssten. Stellen wir uns weiter vor, wir hätten den Ehrgeiz, solche Erscheinungen zu verstehen. Stellen wir uns vor, es wäre unmöglich, in den See zu tauchen und zu untersuchen, warum die Fische sich so verhalten. Unsere Sicht auf den See gibt uns, da wir ziemlich gerade nach unten schauen, nur ein zweidimensionales Bild. Wir würden vielleicht annehmen, es gäbe dort im Wasser Kräfte, die auf die Fische wirken. Wir würden Formeln aufstellen, nach denen sich diese Kräfte berechnen lassen. Nun würde ein weiteres Boot zu uns kommen. In diesem Boot sitzt Albert Einstein. Ihm gefallen die mysteriösen Kräfte, die wir annehmen, nicht. Er macht einen anderen Vorschlag: Vielleicht ist der Boden des Sees hügelig. Es gibt auf dem Grund des Sees Erhebungen, denen die Fische ausweichen. Darum schwimmen sie meist nicht gerade. Wir haben nur ein zweidimensionales Bild und können keine Erhebungen sehen. Aber aus den Bahnen der Fische können wir auf die dreidimensionale Beschaffenheit des Bodens schließen. Einstein würde auch Formeln aufstellen, nach denen sich die Bewegungen der Fische nun exakter berechnen ließen.
Natürlich ging es nicht um Fische in einem See. Es ging um die Planeten im Sonnensystem und alle anderen bewegten Objekte im Universum. Es ging darum, ein vierdimensionales Universum zu beschreiben, obwohl wir nur drei Dimensionen wahrnehmen können. Seit Newton nahm man an, dass sich die Planeten auf ihren Bahnen um die Sonne bewegen, da sie von der Sonne mit der Gravitationskraft angezogen werden. Doch schon Newton selbst war unsicher ob es eine solche unmittelbar wirkende Fernkraft wirklich gab. Einstein hat ein neues Bild vom Universum geschaffen. Einsteins Universum ähnelt einer hügeligen Landschaft. Es ist ein Raum-Zeit-Kontinuum, und dieses Kontinuum ist gekrümmt. Die Hügel werden von Ansammlungen von Materie gebildet. Je größer die Materiemenge, desto mehr krümmt sich das Raum-Zeit-Kontinuum. Bewegt sich ein Objekt durch die Raum-Zeit, so wählt es den kürzestmöglichen Weg zwischen zwei Punkten. Diese Verbindung nennt man eine geodätische Linie. Stellen wir uns eine Wanze vor, die in einer geraden Linie über eine Kugel krabbelt. Die Linie wird gekrümmt sein, da die Kugel selbst gekrümmt ist. Dennoch stellt diese Linie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten auf der Kugel dar. Genau das ist eine geodätische Linie. Sie ist nicht unbedingt eine Gerade. Die Planeten bewegen sich nach Einstein auf solchen geodätischen Linien. Sie kreisen um die Sonne, da sie der kürzesten Linie im Raum-Zeit-Kontinuum folgen. Der irische Schriftsteller G. B. Shaw hat das so dargestellt: »Als Engländer war Newton fähig, erstaunliche geistige Fähigkeiten mit einer Leichtgläubigkeit und Verblendung zu vereinigen, die einem Kaninchen Schande gemacht hätten. Als Engländer nahm er eine geradlinige Welt an, da die Engländer
das Wort gerade stets verwenden, um Ehrbarkeit, Vertrauenswürdigkeit, kurz, Geradlinigkeit zu bezeichnen. Newton wusste, dass das Universum aus bewegten Himmelskörpern bestand und dass keiner von ihnen sich in gerader Linie bewegte noch bewegen konnte. Durch solche Tatsachen war jedoch kein Engländer zu entmutigen. Um zu erklären, weshalb alle diese Linien in seinem geradlinigen Weltall gebogen waren, erfand Newton eine Kraft, Gravitation genannt, und schuf damit ein vollständiges britisches Universum, an das 300 Jahre lang andächtig wie an eine Religion geglaubt wurde (…) Aber drei Jahrhunderte nach ihrer Errichtung erhebt sich in Mitteleuropa kühl ein junger Professor und sagt zu unseren Astronomen: ›(…) Die Gravitation ist eine äußerst nützliche Hypothese und gibt in den meisten Fällen ziemlich genaue Resultate.‹ Er persönlich könne jedoch ohne sie auskommen. Nun wird er gebeten, zu erklären, wie es komme, dass sich, sofern die Gravitation nicht existiere, die Himmelskörper nicht in geraden Linien bewegen und schnurstracks aus dem Universum davonlaufen. Er antwortet, dass dafür keine Erklärung nötig sei, da das Universum nicht geradlinig und ausschließlich britisch sei. Es sei nämlich gebogen. Daraufhin stürzt das Newtonsche Universum zusammen und wird durch das Einsteinsche Universum ersetzt.« Der springende Punkt ist dabei offensichtlich, dass sich die Objekte im Weltall nicht aufgrund einer mysteriösen Kraft, der Gravitation, auf ihren Bahnen bewegen, sondern wegen der Beschaffenheit der Umgebung, durch die sie wandern. Leider ist es uns nicht möglich, uns diese Umgebung vorzustellen. Einsteins Universum sprengt unser Vorstellungsvermögen. Es ist unmöglich, das gekrümmte Raum-Zeit-Kontinuum bildlich darzustellen oder mit Worten wirklich zu erklären. Wir können
das Raum-Zeit-Kontinuum nicht sehen, denn unsere Augen können nur drei Dimensionen wahrnehmen. Wie war Einstein zu diesen überraschenden Erkenntnissen über die Natur gelangt? Wie schon bei der speziellen Relativitätstheorie stand am Anfang ein eher einfacher Wunsch: »Wir wollen eine Physik ausarbeiten, die für alle Systeme gilt.« Die spezielle Relativitätstheorie galt nur für Koordinatensysteme, die sich in Relation zueinander mit gleichförmiger Geschwindigkeit bewegen. »Was hat die Natur«, fragte Einstein nun, »mit den von uns eingeführten Koordinatensystemen und deren Bewegungszustand zu tun? Wenn es schon für die Naturbeschreibung nötig ist, sich eines willkürlich eingeführten Koordinatensystems zu bedienen, so sollte die Wahl von dessen Bewegungszustand keiner Beschränkung unterworfen sein.« Ist es nicht möglich, überlegte Einstein, die Phänomene so zu erklären, dass die Erklärung auch in beschleunigten Systemen gilt? Er stellte eines seiner berühmten Gedankenexperimente an. Dachten wir bei der speziellen Relativitätstheorie meist an Physiker, die in gleichmäßig fahrenden Zügen ihre Versuche anstellen, muss man sich nun vorstellen, die Physiker befänden sich in einem Fahrstuhl, der mit hoher Geschwindigkeit auf die Erde zurast. Tun wir einmal so, als würde der Fahrstuhl nicht nach wenigen Sekunden auf die Erde prallen. Geben wir den Physikern Zeit, ihre Experimente anzustellen. Es passiert nämlich etwas Überraschendes: Alle Gegenstände schweben in der Luft. Sie bewegen sich, werden sie angestoßen, entlang einer geraden Linie. Die Physiker im Fahrstuhl müssten annehmen, sie befänden sich in einem Inertialsystem und es gäbe kein Gravitationsfeld in der Nähe. Sie befinden sich in Schwerelosigkeit. Deshalb müssen sie annehmen, dass sie keinem Schwerefeld unterliegen, obwohl sie die Gravitationskraft der Erde mit großer Geschwindigkeit anzieht.
Auch der umgekehrte Fall ist denkbar. Die Wissenschaftler befinden sich in einem Raumschiff, das stark beschleunigt. Obwohl sich in ihrer Nähe diesmal kein Gravitationsfeld befindet, fallen Gegenstände auf den Boden. Es entsteht der Eindruck eines Schwerefeldes. Tatsächlich besteht keine Möglichkeit, zwischen einer gleichförmig beschleunigten Bewegung und einem Schwerefeld zu unterscheiden. Dies ist, in anderen Worten, das Einsteinsche Äquivalenzprinzip – die Äquivalenz von schwerer und träger Masse. Die spezielle Relativitätstheorie hatte gezeigt, wie Beschleunigung die Länge eines Messstabes beeinflusst. Wenn aber Beschleunigung und Gravitation identisch sind, dann muss auch eine starke Gravitationskraft einen Messstab verkürzen. Und dementsprechend wäre ein regelmäßiges Koordinatensystem dort verzerrt, wo eine starke Gravitationskraft auftritt. Die Grundbegriffe der euklidischen Geometrie, wie »Gerade« und »Ebene«, verlieren damit ihre universelle Gültigkeit. Denn die Körper befinden sich nach der allgemeinen Relativitätstheorie in einer unentwegt wirksamen Deformation. Einstein hat das Universum einmal als »Molluske« bezeichnet. Eine Molluske ist ein Weichtier.
Zehn Jahre lang hatte Einstein an der allgemeinen Relativitätstheorie gearbeitet. In dieser Zeit gab es kaum jemanden, mit dem er sich hätte verständigen können. Die physikalische Welt hatte seine spezielle Relativitätstheorie noch längst nicht verdaut, und an eine Erweiterung dachte noch niemand. Wie sollte er wissen, ob die Vorstellungen, an denen er arbeitete, keine Sinnestäuschung waren? Während sich die spezielle Relativitätstheorie mit Problemen beschäftigte, an denen zahllose Wissenschaftler arbeiteten, war die allgemeine Relativitätstheorie Einsteins ureigene Idee, sie
entsprach zutiefst seinem Wesen und seiner Naturanschauung. Anders auch als bei seinen vorhergegangenen Arbeiten gab es noch keine experimentellen Ergebnisse, die einer Erklärung bedurften. Einstein sagte von Mozart, seine Musik sei so rein, dass es scheine, sie wäre schon im Universum gegenwärtig gewesen, darauf wartend, von Mozart entdeckt zu werden. Und ähnlich lässt sich wohl sein Bedürfnis erklären, die Relativitätstheorie zu verallgemeinern. Einstein begann diese Arbeit aus einem Gefühl ästhetischen Unbehagens heraus. Schön war in Albert Einsteins Augen eine Theorie des Universums, wenn sie einfach war. Was verstand er nun unter einer »einfachen Theorie«? Eine Theorie, die von möglichst wenigen Grundvoraussetzungen ausgeht. Bis zur allgemeinen Relativitätstheorie unterschied man zwischen Gravitationskraft, Bewegungsenergie und elektromagnetischen Kräften. Mit der allgemeinen Relativitätstheorie bewies Einstein die Äquivalenz von Gravitation und Bewegung. Dies war vom Standpunkt des Theoretikers eine Vereinfachung – auch wenn hochkomplizierte mathematische Operationen dazu nötig waren. Einstein wertete wissenschaftliche Theorien, indem er sich fragte, ob er, wenn er Gott wäre, das Universum auf diese Art gemacht hätte. »Zur Aufstellung einer Theorie«, schrieb er später, »genügt niemals das bloße Zusammenbringen registrierter Erscheinungen – es muß stets eine freie Erfindung des menschlichen Geistes hinzukommen, die dem Wesen der Dinge näher auf den Leib rückt. Der Physiker darf sich nicht begnügen mit der bloßen Betrachtung, sondern muß vordringen zur spekulativen Methode, welche die Existenzform sucht.« Neben Intuition, schrieb er, sei aber auch Instinkt notwendig: »Instinkt darüber, was unter Aufbietung der äußersten Anstrengungen gerade noch erreichbar ist.«
Die allgemeine Relativitätstheorie mit ihrer hochkomplexen mathematischen Grundlage hatte Einstein bis an den Rand der Erschöpfung getrieben. Doch im Dezember 1915 konnte er an Michele Besso schreiben: »Die kühnsten Träume sind nun in Erfüllung gegangen. Perihelbewegung des Merkur wunderbar genau. Letztere ist vom astronomischen Standpunkt vollkommen gesichert.« Er hatte eine erste Bestätigung für seine neue Theorie gefunden – bei der neuen Berechnung der Umlaufbahn des Planeten Merkur um die Sonne. Nach Newtons Gravitationsgesetz konnte man die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne erfolgreich berechnen – mit einer Ausnahme: dem Rätsel des MerkurPerihels. Die Planeten kommen auf ihrer Umlaufbahn der Sonne näher und entfernen sich wieder. Das Perihel ist der sonnennächste Punkt in der Umlaufbahn eines Planeten. Das Rätselhafte am Perihel des Merkur – des sonnennahesten Planeten – war die Tatsache, dass es sich verschiebt. Die Umlaufbahn des Merkurs kreist selbst um die Sonne. Vor Einstein wurde diese Abweichung einem unentdeckten Planeten in unserem Sonnensystem zugeschrieben. Zu der Zeit, da Einstein die neue Theorie veröffentlichte, war die Suche nach dem mysteriösen Planeten in vollem Gange. Als Einstein nun Berechnungen anstellte, zeigte sich, dass sich der Merkur genau so bewegte, wie er es aufgrund der allgemeinen Relativitätstheorie auch tun musste. Der Merkur folgt seinem Weg durch das Raum-Zeit-Kontinuum, das so nahe an der Sonne besonders gekrümmt ist. Einstein schlug eine zweite Methode vor, seine Theorie zu bestätigen. Lichtstrahlen mussten durch die Raum-ZeitKrümmung stärker abgelenkt werden als nach den Gravitationsgesetzen. So musste Sternenlicht, wenn es sich nahe an der Sonne vorbeibewegte, eine Kurve beschreiben. Er
hatte auch den genauen Grad der Ablenkung berechnet. Schon vor Kriegsausbruch war eine deutsche Expedition aufgebrochen, um bei einer Sonnenfinsternis in Sibirien entsprechende Versuche durchzuführen. Doch nun hatte die russische Regierung die Forscher verhaften lassen. Europa versank im Krieg, und man hatte andere Probleme, als Beweise für eine Theorie zu beschaffen.
1917
»Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde. Diesen Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen. Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und die leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen als mich an einem so elenden Tun beteiligen! Ich denke immerhin so gut von der Menschheit, daß ich glaube, dieser Spuk wäre schon längst verschwunden, wenn der gesunde Sinn der Völker nicht von geschäftlichen und politischen Interessenten durch Schule und Presse systematisch korrumpiert würde.« Albert Einstein, »Wie ich die Welt sehe« Seit dem Februar 1915 regelte ein Erlass des preußischen Kultusministers die Gestaltung der Feiern, die nach amtlichen Siegesmeldungen an den Schulen stattzufinden hatten. Die Kriegseuphorie unter den einfacheren Menschen hatte sich gelegt, die Soldatenfrauen mussten sich und ihre Kinder mit Unterstützungsgeldern durchbringen, die weit unter dem letzten Arbeitslohn der eingezogenen Männer lagen. Bereits im Februar 1915 wurden Lebensmittel knapp. Als erste Stadt führte Berlin Brotkarten ein. Die Zuteilungen wurden von Woche zu Woche geringer, bald reichten sie nicht mehr zum Sattwerden, das Brot wurde immer schlechter, und vor den Geschäften bildeten sich lange Schlangen.
Ende 1916 gab es in Berlin für jeden Erwachsenen »amtliche Tagesrationen«: 270 Gramm Brot, 35 Gramm Fleisch, 25 Gramm Zucker, 11 Gramm »Streichfett«, dazu alle zwei Wochen ein Ei, und, soweit vorhanden, 10 Pfund Kartoffeln. Das Brot bestand überwiegend aus Rübenschnitzeln, die Fleischration zur Hälfte aus Knochen und Knorpel, die Margarine enthielt vielerlei, hauptsächlich aber Wasser. Die Milchversorgung war zusammengebrochen, seit August 1916 gab es keinen Käse mehr, anstelle von Kartoffeln wurden Kohlrüben ausgegeben. Im »Steckrübenwinter« 1916/17 kam zum Hunger die Kälte, eine Versorgung mit Brennstoffen gab es nicht mehr, selbst die Rüstungsbetriebe konnten kaum noch heizen. In ganz Deutschland herrschten sibirische Temperaturen, in Berlin sank das Thermometer unter 20 Grad minus. Schulen und öffentliche Gebäude wurden bis April geschlossen. Seuchen brachen aus. Nachdem schon 1916 eine Grippeepidemie zahlreiche Opfer gefordert hatte, grassierten nun Typhus und Ruhr, wieder gab es massenhaft Todesfälle, vor allem in der unterernährten Arbeiterschaft. Als die Brotrationen nochmals um ein Viertel gekürzt wurden, traten in Berlin über 220000 Arbeiter und Arbeiterinnen in Streik. Sie forderten sofortigen Frieden ohne Annexionen, Versorgung mit Lebensmitteln, demokratisches Wahlrecht in Preußen. In Russland hatte die Revolution das Zarenreich bereits beseitigt. Doch in Deutschland wahrte die Gewerkschaftsführung den »Burgfrieden«, der Streik wurde abgebrochen. Aber es kam immer häufiger zu Zusammenstößen mit Polizeibeamten, besonders vor Lebensmittelläden und auf Wochenmärkten. Die Schutzleute schossen dabei rücksichtslos in die Menge, beinahe täglich gab es Tote und Verletzte.
»Die Menschen«, sagte Margot, »sind so ausgehungert, dass sich die Gesichtshaut in Falten legt. Die Kinder wie kleine Erwachsene, graue Haut, manchen fallen sogar die Haare aus.« Alles hörte schweigend zu. »Typhus und Ruhr sind noch immer nicht eingedämmt«, fuhr Margot fort. »Jeden Tag, früh am Morgen, fahren geschlossene Möbelwagen durch die Arbeiterviertel und sammeln die Leichen ein, da die Bestattungsinstitute längst überfordert sind.« »Margot!«, sagte Elsa empört. »Lass sie reden«, sagte Rudolf Einstein mit heiserer Stimme. »Diese schwere Prüfung muss das deutsche Volk bestehen.« Rudolf Einstein war ein Cousin zweiten Grades von Albert Einsteins Vater, er war es gewesen, der die fehlgeschlagenen Unternehmungen in Italien finanziert hatte. Seine Frau, Fanny Einstein, war die Schwester von Einsteins Mutter. Beide waren bereits über sechzig, mit grauen Haaren und gebeugtem Rücken. Ihre Tochter Elsa war Einsteins Cousine, sowohl ersten wie auch zweiten Grades; Albert und sie hatten in München schon als Kinder zusammen gespielt. Elsa war verwitwet und einige Jahre älter als Einstein, sie hatte zwei Töchter, Margot und Ilse. Nur der Wellensittich war mit niemandem verwandt.
Die Einsteins lebten in einem großbürgerlichen Mietshaus im bayerischen Viertel. Unten, in der marmorbelegten Empfangshalle, saß ein Portier in Uniform; den Fahrstuhl, mahagonigetäfelt, schloss ein fein ziseliertes Eisengitter. Die Wohnung hatte 12 Zimmer, Dienstboteneingang separat. Hier fehlte es an nichts, denn zu entsprechenden Preisen war alles zu bekommen. Auch für diesen Sonntag hatte Fanny wieder einen Kalbsbraten auftreiben können. Deshalb kam
Albert Einstein gern zum Essen, auch wenn ihn die Gespräche im besten Fall langweilten. »Wollte er nicht schon um halb kommen?«, fragte Elsa. Ein Lorgnon in der Hand, da sie stark kurzsichtig war, sah sie zur Standuhr. »Ach, unser Täubchen kann es gar nicht erwarten«, sagte Fanny. »Wieso?«, erkundigte sich Rudolf. Er war ebenso schwerhörig wie seine Tochter kurzsichtig. »Was wartet?« »Du sollst mich nicht Täubchen nennen«, sagte Elsa. »Das ist albern. Ich bin über vierzig.« »Deswegen gehörst du doch noch nicht zum alten Eisen«, sagte Margot. Ihr schlankes, fast mageres Gesicht wirkte immer sehr ernst. »Davon habe ich auch nicht geredet«, sagte Elsa. »Außerdem ist er verheiratet.« »Ja, der Eiserne Kanzler«, seufzte Rudolf. Elsa sah ihren Vater verblüfft an. »Wir sprechen über Albert!« Rudolf lächelte versonnen. Dann sagte er, entschuldigend: »Ihr wisst ja, ich bin schwerhörig. Es wäre übrigens schön, wenn Elsa und Albert wieder zusammenfinden könnten. Ihr habt schon als Kinder so schön miteinander gespielt.« Elsa schüttelte resignierend den Kopf. »Aber er ist verheiratet.« »Oh«, sagte Rudolf empört. »Wo hast du das erfahren?« »Ach«, sagte Elsa. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es hat ja keinen Sinn, mit dir darüber zu reden.« »Er soll ja ein berühmter Mann sein«, sagte Fanny. »Sogar in die Akademie ist er berufen worden. Obwohl er nicht so aussieht.«
Margot sah ihre Großmutter streng an. »In die Akademie wird man nicht wegen des Aussehens berufen«, sagte sie. »Ja, aber diese Hosen!«, meinte Fanny. »Immer sind sie etwas zu kurz.« Da klingelte es. Das Dienstmädchen eilte zum Fahrstuhl, um den Gast heraufzuholen.
Zur Nachspeise gab es Birnen nach Regentenart. Einstein griff bei allem beherzt zu, denn er hatte die ganze Woche über kaum etwas Gehaltvolles zu sich genommen. Der Onkel berichtete begeistert von der sechsten Kriegsanleihe über 15 Milliarden Reichsmark, mit denen der unbegrenzte U-Boot-Krieg finanziert werden sollte. »Bei einem Ausgabepreis von 98 Mark bringt das Papier 5,1 Prozent«, sagte er, während er sich bemühte, mit der Obstgabel sein Birnenstück sauber zu zertrennen. »Das ist schon eine Verzinsung, wie sie vor dem Krieg kein auch nur annähernd so sicheres Wertpapier aufweisen konnte.« »Woher, lieber Onkel«, erkundigte sich Einstein mit einem ironischen Lächeln, »willst du denn wissen, dass diese Anleihen so sicher sind?« »Wenn der Krieg zu Ende ist, muss Frankreich Reparationen zahlen«, sagte Rudolf triumphierend. »Oder Deutschland«, sagte Einstein. Rudolf schüttelte nur den Kopf und ließ die Kiefer entrüstet aufeinander klappen. Dann hob er die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Die französische Armee zerbricht wie vor kurzem die russische. Die Offensive der Franzosen an der Somme ist gescheitert. Unsere neue Waffe, Granaten mit giftigem Gas, trifft den Feind unvorbereitet. Die vorrückenden Deutschen treffen keinen Widerstand mehr an.«
Tante Fanny war aufgestanden. Sie nahm Rudolf die Serviette vom Hals und wischte ihm den Mund ab. Einstein, der bislang innerlich lächelnd hatte zuhören können, fielen die Bilder aus Zeitungen ein, die er letztes und vorletztes Jahr auf seinen Reisen in die Schweiz gesehen hatte. Solche Bilder wurden hier in Deutschland nicht veröffentlicht. Soldaten, denen das halbe Gesicht fehlte, Kolonnen von Franzosen, die in deutsches Giftgas geraten waren und qualvoll erblindeten. Einstein merkte, dass er dringend herausmusste, an die frische Luft. Er spürte, wie Ilse und Margot, Elsas jugendliche Töchter, ihn interessiert musterten. Er verabschiedete sich eilig. Bereits Anfang 1915 hätte Deutschland kapitulieren müssen, denn die deutsche Heeresleitung hatte nur mit kurzer Kriegsdauer gerechnet und sich nicht ausreichend mit Schießpulver eingedeckt. Die Lieferungen organischen Salpeters aus Chile aber waren durch die englische Blockade unterbrochen, ein anderes Verfahren zur Gewinnung von Ammoniak kannte man noch nicht. Die Herstellung von Schieß- und Sprengstoffen musste unterbrochen werden. Außerdem fehlte der für die Landwirtschaft dringend benötigte Stickstoff-Dünger. Da gelang es Fritz Haber gemeinsam mit dem Chemiker Carl Bosch, diesen wichtigen Rohstoff buchstäblich aus der Luft herzustellen: Sie entwickelten ein Verfahren, synthetisches Ammoniak aus Luftstickstoff zu gewinnen. Die Wissenschaftler dachten noch nicht an eine militärische Nutzung, sie glaubten, die Menschheit mit ihrer Entdeckung zu beglücken, Kunstdünger aus der Luft zu gewinnen. Doch die Heeresleitung erkannte sofort den Wert der Erfindung. Auf den Sanddünen von Leuna wurden innerhalb weniger Wochen unter Beteiligung der gesamten deutschen chemischen
Industrie große Fabrikanlagen hochgezogen. Haber wurde zum wichtigsten Organisator der Kriegswissenschaft. Als Jude war ihm eine Karriere im Heer versagt gewesen, nun wurde er, gegen den Widerstand der Militärs, auf persönliche Anordnung des Kaisers zum Hauptmann befördert. Er genoss den militärischen Rang und den Zugang zu höchsten Regierungsund Armeestellen, und er trieb seine Untergebenen wie sich selbst rastlos an. Bald hatte sein Institut 1500 Mitarbeiter, davon 150 Wissenschaftler. Haber hatte sich, auf der Suche nach Insektenvertilgungsmitteln für die Landwirtschaft, mit Giftgasen beschäftigt. Nun interessierte sich die Militärverwaltung für diese Stoffe. Haber war nicht der Mann, der sich einer solchen Bitte verweigert hätte. Mit all seiner Energie und seinem Organisationstalent trieb er die Entwicklung von Kampfgasen voran. Er überwachte die ersten Anwendungen und zog sich selbst Vergiftungen zu. Gleichzeitig entwickelte sein Freund Willstätter Filter für Gasmasken, die die deutschen Soldaten schützen sollten. Der Krieg wurde zum Experimentierfeld der Wissenschaftler; ihre Entdeckungen wurden systematisch zum Massenmord benutzt. Und die Wissenschaftler waren sich darüber vollkommen im Klaren. Aus den Memoiren des Chemikers Otto Hahn: »Haber teilte mir mit, daß er den Auftrag habe, eine Spezialtruppe für den Gaskampf aufzustellen. Außer mir wurde auch eine Reihe meiner früheren Kollegen abkommandiert. Wir bildeten das neue Pionierregiment 36 und erhielten in Berlin die erste Spezialausbildung im Umgang mit Gaskampfstoffen… Ende April wurde unser Regiment nach Galizien verlegt… Am 12. Juni stand der Wind günstig, und wir bliesen eine Mischung aus Chlorgas und Phosgen, einem sehr giftigen Gas,
ab. Bei der zum Angriff bereitstehenden Infanterie gab es dabei kurze Zeit eine Panik, als ein Teil der Gaswolke in die eigenen Reihen getrieben wurde. Um dieser Situation Herr zu werden, ging ich mit einigen Kameraden unbewaffnet, aber mit angelegter Gasmaske, gegen die feindlichen Stellungen vor. Es fiel kein Schuß, und die Truppe folgte. Der Angriff wurde ein voller Erfolg, die Front konnte auf sechs Kilometer Breite um mehrere Kilometer vorverlegt werden. Beim Vorgehen trafen wir auf eine erhebliche Anzahl gasvergifteter Russen, die vor der Wolke nicht hatten fliehen können. Sie waren ohne Schutzmaske vom Gas überrascht worden und lagen oder hockten nun in bejammernswertem Zustand herum. Dem einen oder anderen versuchten wir mit unseren Rettungsgeräten das Atmen zu erleichtern, ohne jedoch ihren Tod verhindern zu können. Ich war damals tief beschämt und innerlich sehr erregt, denn schließlich hatte ich doch selbst diese Tragödie mit ausgelöst… Das wind- und wetterabhängige Abblasen wurde durch Verschießen von Gasgranaten ersetzt. Daneben wurden auch andere neue Gase, Grünkreuz und Blaukreuz, entwickelt. Die Wirkung beider Kampfstoffe war unterschiedlich. Das Blaukreuz war ein starker Reizstoff, der Gasmasken zum Teil durchdrang. Das Grünkreuz war ein typisches Giftgas, dem Phosgen ähnlich. Bei gleichzeitiger Verwendung beider Stoffe, dann Buntkreuz genannt, wurde der Angegriffene zunächst gezwungen, seine Gasmaske abzureißen, danach war er dem Giftgas schutzlos preisgegeben. Der ständige Umgang mit diesen starken Giftstoffen hatte uns so weit abgestumpft, daß wir beim Einsatz an der Front keinerlei Skrupel hatten. Die Gegenseite hatte sich zudem inzwischen auch angepaßt…«
Fritz Haber war an sich ein sensibler, auch sentimentaler Mensch. Die ungerechte Behandlung als Jude hatte ihn tief gekränkt, zumal er zum Christentum übergetreten war und sich als assimiliert betrachtete. Seine Offenherzigkeit wurde viel bewundert, doch dahinter verbarg er, auch vor sich selbst, eine große Traurigkeit. Er war nach dem Tod seiner Mutter als Halbwaise aufgewachsen, und 1916 hatte seine Frau Selbstmord begangen, auch weil sie verzweifelt über die Arbeit war, der er sich widmete. Haber war nicht nur ein herausragender Chemiker, sondern vor allem ein Organisationstalent, ein Genie in praktischen Fragen. In einem Brief sagte er einmal über sich: »Ich freue mich über alles, was mein Können übersteigt, und bin glücklich, wenn ich bewundern kann.« Für Einstein, der in Berlin selbst einsam war und nichts hatte, außer seiner Arbeit, war Haber ein Mensch, bei dem er Zuflucht fand, wenn er nicht mehr weiterwusste. Haber umsorgte Einstein regelrecht, er kümmerte sich um seine Wohnung, um seine Bezahlung. Vor allem nachdem Einstein 1915 und 1916 in Zürich gewesen war, wo er Mileva und die Kinder getroffen hatte, suchte er Rat und Trost. Haber vermittelte zwischen Einstein und Mileva, er sagte Einstein, wie viel Geld er Mileva zu senden habe und wie er das bewerkstelligen solle. Er versuchte Einstein beizubringen, wie die Situation von Mileva und den beiden Kindern empfunden wurde.
Mileva lebte in Zürich in ärmlichen Verhältnissen. Wenn Einsteins Überweisungen unpünktlich kamen, und das geschah oft, blieb nicht einmal genug, um die Pension zu bezahlen. 1915, als Einstein in Zürich gewesen war, hatte sie ihm geschildert, was es für ein Spießrutenlaufen war, wenn sie am
Vermieter vorbeimusste. Sie gab Mathematikstunden und Klavierunterricht, nahm Pensionsgäste auf und machte Schulden. Einstein hatte versucht, sich zu verteidigen. Die deutsche Mark wurde entwertet, Überweisungen wurden immer schwieriger. Einstein war länger als geplant in Zürich geblieben, mit den beiden Jungen hatte er weite Spaziergänge unternommen, mit Hans-Albert auch Reisen bis nach Süddeutschland. Sie reisten mit dem Rucksack und stiegen in billigen Gasthöfen ab. Sie führten lange Gespräche, doch als der Sohn den Vater fragte, ob sie bald wieder zusammenwohnen würden, antwortete Einstein nur ausweichend. 1916 war er erneut nach Zürich gekommen, und nach dieser Begegnung hatte er entschieden, Mileva nie wiederzusehen. Hans-Albert weigerte sich, auch nur ein weiteres Wort mit seinem Vater zu wechseln. Einstein reiste ab und schickte einen Brief, in dem er die Scheidung forderte. Mileva brach zusammen, sechs Wochen lag sie mit schweren Herzanfällen im Bett. Die Kinder lebten bei einer Freundin. Einstein wusste von alldem. Schon auf der Rückreise nach Berlin bekam er kaum erträgliche Magenschmerzen. Zurück in Berlin, stellte Plesch ein Magengeschwür fest. In dieser Situation war Haber ein wichtiger Freund gewesen, doch bald spürte Einstein, wie sich ihre Wege trennten. Einmal trafen sie sich zufällig, gingen lange in dem kleinen Park der Universität spazieren, doch rasch begann bei Haber wieder die alte Leier: Wie dieser Krieg das deutsche Volk reinigen würde. »Reinigen?«, hatte Einstein gefragt, »von was?« Haber sprach beinahe fanatisch gegen die Demokratie, die man Deutschland aufzwingen wolle, obwohl sie dem deutschen Geist nicht entspreche. Dann schilderte Haber die letzten, »erfolgreichen« Gaseinsätze an der Westfront. Er sprach mit Begeisterung davon, wie der Wind diesmal ihr
Verbündeter gewesen sei und das Gas ganz flach weit in die französischen Reihen hineingetrieben habe; wie dann Panik beim Gegner ausgebrochen sei und wie Tausende von Franzosen im deutschen Trommelfeuer gestorben seien. Einstein war stehen geblieben, und Haber stockte plötzlich in seiner Erzählung. Die grausigen Worte schienen in der Luft widerzuhallen. Einstein hatte das dringende Verlangen, Haber zu verletzen. Er musste etwas sagen, so scharf, dass es Haber aus seinen Horrorfantasien aufweckte. Einstein sagte: »Es muss etwas in der Biologie des männlichen Geschöpfes sein, ein Trieb zur Vernichtung, zur Selbstvernichtung.« Haber sah ihn entsetzt an. Einstein hatte Angst, diesen Freund zu verlieren, aber er fuhr fort: »Ich hoffe auf eine deutsche Niederlage. Das ist die einzige Hoffnung, die ich für Deutschland noch habe.« Eisiges Schweigen, kaum dass sie sich verabschiedeten.
Nach dieser Bemerkung lief Einstein ziellos durch Berlin. Ohne es zu merken, kam er nach Wilmersdorf, wo er wohnte. Er ging die Witteisbacherstraße hinauf, obwohl ihn nichts in sein Zimmer lockte. Und plötzlich gingen die Straßenlaternen und alle Lichter in den Häusern auf einen Schlag aus. In letzter Zeit häuften sich die Stromausfälle. Noch war es nicht ganz dunkel, doch die Nacht hockte schon schwarz in den Toreinfahrten und Hauswinkeln. In den Fenstern sah man gelbes Kerzenlicht. Eine Frau mit zwei Kindern ging, eine Öllaterne in der Hand, über die Straße. Der Ausfall der Elektrizität versetzte die Welt in eine andere Zeit, in eine andere Realität. Erst als ein Auto dröhnend in die Straße einbog, erwachte Einstein aus der merkwürdigen Stimmung, die ihn eingefangen hatte.
Der Wagen hielt direkt vor ihm. Heraus sprangen drei Männer in feldgrauen Uniformen. Einen erkannte Einstein an dem breiten, kahlen Schädel sofort. Fritz Habers Stiefel klackten laut auf dem Pflaster. Im Lichtkegel der Limousine blieb er vor Einstein stehen. »Es geht wieder an die Front«, sagte Haber. »Ich wollte nicht fahren, ohne mich mit Ihnen versöhnt zu haben.« Einstein sah ihn unsicher an. »Ich bin doch genauso ein einsamer Hund wie Sie, Einstein«, sagte Haber. Einsteins erster Impuls war, sich umzudrehen, wegzugehen. Doch gleichzeitig wurde ihm klar, wie viel ihm dieser Mann bedeutete. Haber sah ihn mit seinen sanften, traurigen Augen an. So standen sie sich schweigend gegenüber. Die Umarmung kam für beide ganz unerwartet. Haber ging einen Schritt auf Einstein zu, Einstein ging einen Schritt auf Haber zu, und dann lagen sie sich in der Armen. »Wir brauchen uns doch«, sagte Haber. Einstein spürte Habers stacheligen Schnurrbart an seinem Hals. »Ja«, sagte Einstein. »Wir brauchen uns.«
Am Ende
Am nächsten Tag weckte ihn das graue Licht eines trüben Spätvormittags. Es gab heute keine Vorlesungen, keine anderen Verpflichtungen, und er beschloss, im Bett zu bleiben, da war es wenigstens warm. Er schob sich das Kissen unter den Kopf, bis das Kinn auf der Brust lag, und langte neben das Bett, wo die Blätter mit den Berechnungen lagen, die er am Abend durchgeführt hatte. Dann spitzte er den Bleistift, wischte die Holzspäne hinunter auf den Bettvorleger und überflog die Formeln. Sofort nach Abschluss der allgemeinen Relativitätstheorie hatte er sich darangemacht, ihre Folgen für die Vorstellung vom Universum zu untersuchen. Dabei war er zu dem Schluss gekommen, dass es im Universum keine unendlichen Distanzen geben konnte. Bislang hatte man das angenommen; außerhalb der Milchstraße sollte ein unendlicher leerer Raum beginnen. Wenn man im Weltall immer geradeaus reiste, würde man sich immer weiter vom Ausgangspunkt entfernen und nie zurückkehren. Einstein ging davon aus, dass der Raum überall, wenn auch teilweise nur spärlich, mit Materie angefüllt sei und daher auch überall gekrümmt ist. Der Raum ist nicht unendlich ausgedehnt, sondern »gekrümmt und geschlossen«, er ist zwar grenzenlos, aber nicht unendlich, so wie die Oberfläche einer Kugel. Und so wie die Oberfläche einer Kugel hat er kein Zentrum, und alle Punkte sind einander im Prinzip gleich. Die Krümmung der Raum-Zeit hatte Einstein in zehn hochkomplizierten Gravitationsfeldgleichungen bestimmt. Er benutzte dazu die noch neue mathematische Methode der
Tensorrechnung. Vollständig ausgeschrieben, würden die Gleichungen ein ganzes Buch mit komplizierten Symbolen füllen. Doch mit den kosmologischen Berechnungen kam er nicht vorwärts. Er verwirrte sich immer tiefer in einem Gestrüpp von Formeln und hypothetischen Größen. Auch an diesem Morgen konnte er keine neuen Lösungen finden. Er bewegte sich längst auf einem Gebiet, von dem kaum experimentelle Daten vorlagen. Er folgte nur seinem Gefühl, seinem Sinn für mathematische Gleichmäßigkeit. Das Weltall musste sich in klar strukturierten Formeln ausdrücken lassen, das war seine Überzeugung. Es ist einfach, einen Gedanken zu entwickeln, aber manchmal schwer, mit dem Denken wieder aufzuhören. Ein Gedanke kann, wenn man ihn intensiv verfolgt, wie ein eigenes Wesen werden, das lebt und wächst. Solch einen Gedanken einfach fallen zu lassen – das geht nicht. Vielleicht kann man sich für Stunden oder Tage ablenken, doch plötzlich ist der Gedanke wieder da, größer, drängender als zuvor. Es gibt kein Ausweichen. Man muss ihn zu Ende denken. Man muss ihn in die Welt bringen. Nur wenn man den Gedanken veröffentlichen kann, beginnt er sein eigenes Leben, begegnet er anderen Menschen – und diese Menschen werden ihn verändern. Doch diesmal gelang es Einstein nicht, seine Idee abzuschließen. Sie war ein lebenswichtiges Organ geworden und blieb doch halb ein Fremdkörper, sie verschlang all seine Kraft, sein ganzes Wesen. Es war noch längst keine Lösung in Sicht. Aufgeben konnte er nicht. Diesen Gedanken sterben lassen – das wäre, als ob man ein Körperteil amputiert. Er hatte den ganzen Morgen gemütlich im Bett verbringen wollen. Doch es gab keine Gemütlichkeit. Es war, als herrschte in seinem Gehirn drückende Enge, als wäre in seinem Kopf ein
Spiegelkabinett, in dem sich die Gedanken tausendfach spiegeln – wollte er sie ergreifen, dann rutschte seine Hand an dem glatten Glas ab. Die Mittagszeit ging vorüber, ohne dass er aufgestanden wäre. Wenn er seinen Blick von den Blättern hob, wurde ihm schwindelig. Dann kamen die stechenden Magenschmerzen wieder. Endlich ging er ins Bad. Er hielt den Kopf unter den Hahn und ließ das kalte Wasser über den Schädel laufen. Doch als er den Kopf hob, sah er sein Bild im Spiegel nur unscharf wie durch milchiges Glas. Er ging ganz nahe an den Spiegel heran. Er war unrasiert, der Schnurrbart, lange nicht mehr gestutzt, hing über die Lippen. »Das bin ich?«, fragte er halblaut. Die Haut war grau und schwammig, die Augen verquollen. Die kleinen Pupillen wirkten unecht, leblos. Dann saß er im Morgenmantel am Küchentisch und starrte mit leerem Blick in den Hinterhof, wo die Frauen die Wäsche aufhängten. Schließlich nahm er eine Konserve mit Fleischersatz, die er gestern Abend gekauft hatte, und öffnete sie. Der stechende Geruch der stark gesalzenen Masse stieg ihm in die Nase. Mit der Gabel versuchte er, Stücke herauszulösen. Ohne hinzusehen, aß er den mehligen Fleischersatz. Schon nach wenigen Bissen revoltierte der Magen, diesmal so heftig, dass er mit gekrümmtem Oberkörper aufstehen musste. Beide Hände auf den Unterleib gedrückt, atmete er tief aus und ein. Kalter Schweiß brach ihm aus. Langsam ließ der Krampf nach. Er setzte sich wieder und aß noch einige Gabeln. Er sah sich in der Küche um. Ja, er brauchte Brot, Streichfett, etwas Vernünftiges zu essen. Heute oder morgen, spätestens übermorgen musste Elsa kommen. Sie räumte auf und brachte Essen. Am Wochenende würde er wieder zu ihrer Familie essen gehen. Auch wenn die Gespräche dort schlecht waren – das Essen war gut.
Der Wunsch, er solle Elsa zur Frau nehmen, wurde inzwischen ganz offen geäußert. Es hieß bereits, er würde Elsa »hinhalten«. Natürlich, sie kümmerte sich um ihn, und er hatte nichts dagegen, aber er hatte sie nie darum gebeten, von irgendwelchen Versprechungen ganz zu schweigen. Auch seine schwer kranke Mutter würde diese Verbindung wünschen, hieß es, sie könnte nicht ruhig sterben, ohne ihren Sohn in guten Händen zu wissen. Zuletzt hatte es eine schauderhafte Szene gegeben. Fanny und Elsa hatten weinend das Zimmer verlassen, nachdem er klargestellt hatte, dass er für Elsa keine Gefühle hegte. Außerdem: Er hatte von Mileva ja bereits die Scheidung verlangt. Das hatte sie fast ins Grab gebracht. Nun hatte er ihr und auch Hans-Albert feierlich versprochen, nicht mehr davon zu sprechen. Mileva war krank, sie war depressiv, in der Atmosphäre, die sie verbreitete, konnte kein Mensch atmen, man sah es an beiden Kindern. Er überlegte, Hans-Albert nach Berlin zu holen. Aber jetzt, im Krieg? Ausgeschlossen. Der Junge konnte auch zu seiner Schwester Maya ziehen, die in Zürich lebte. Aber wie das finanzieren? Schon jetzt schickte er Mileva über die Hälfte seines regulären Gehalts. Letztes Jahr hatte er 12000 Mark nach Zürich überwiesen. Es war eine Schraube ohne Ende. In solchen Momenten war er fest entschlossen, sich von Mileva und den Kindern ganz zu trennen. Dieser Schwebezustand half weder ihm noch ihnen. Er war jung genug, um eine neue Familie aufzubauen. Ja, und warum sollte er Elsa nicht heiraten? Sie war zwar rundlich, aber wenigstens nicht depressiv. Etwas musste geschehen, aber er wusste nicht, was. Vor kurzem hatte er geträumt, er hätte sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchgeschnitten. Seit Tagen überfielen ihn die stechenden Magenschmerzen. Diesmal ließen sie nicht nach.
Er kroch wieder ins Bett und fiel in unruhigen Schlaf. Traumbilder überschlugen sich. Dann lag er halb wach und schaute aus dem Fenster. Draußen dämmerte es bereits wieder. Obwohl er noch wie benommen vom Schlaf war, krochen die Gedanken wie Würmer in seinem Gehirn durcheinander. Er führte eine Diskussion mit dem Germanisten Rhoete, der im Aufenthaltszimmer der Universität patriotische Reden schwang, er verfolgte die Gedanken zur kosmischen Relativität, er rechnete einzelne Gleichungen nach, er sprach mit Mileva und Hans-Albert – die Gedanken fraßen sein Gehirn auf. Er konnte sie nicht abstellen. Die politische Weltlage, Haber an der Front, Onkel Rudolf, Elsa, Margot… Endlich nahm er wieder seine Papiere auf. Er musste sich auf etwas konzentrieren. Wieder rechnete er einige Stunden, ohne brauchbare Ergebnisse. Dann fiel der Strom aus. Er lag im Dunkeln, er wollte nicht aufstehen, er konnte nicht einschlafen. Die Schmerzen waren gewichen, doch dann überkam ihn Übelkeit. Er schaffte es noch bis in die Küche, dort musste er sich übergeben. Kaum saß er zusammengekrümmt am Küchentisch und hielt sich mit den Händen an der Tischkante fest, da begann die Gedankenmaschine in seinem Kopf erneut zu rattern. Diesmal war es die gescheiterte Beziehung zu Mileva, die sein Kopf systematisch und maschinenhaft durchkaute. Bald war er bei seinen generellen Kontaktproblemen angelangt, bei seiner Furcht vor innerer Nähe. Die Szenen in Zürich und Prag mit Mileva spielten sich vor seinem inneren Auge ab. Er versuchte verzweifelt, sich auf seine kosmologischen Überlegungen zu konzentrieren, das komplizierte Gebäude aus Hypothesen und Formeln aufrechtzuerhalten. Doch er merkte, wie er den Boden unter den Füßen verlor, wie sich sein Magen erneut zusammenkrampfte. Wellen von Krämpfen zuckten durch seinen Körper, während er sich erneut übergab.
»Aber er muss doch etwas essen.« Margot fand es lächerlich, einem erwachsenen Mann Brot und Margarine, Obst und Gemüse zu bringen. Sie war überzeugt, dass Elsa einen kleinen Muttertick hatte und deswegen Einstein wie einen Jungen behandelte. »Leider«, sagte Elsa, »ist es wahr, dass er noch ein Kind ist. Er schläft, bis man ihn weckt, er bleibt wach, bis man ihn ins Bett schickt, er kann hungern, bis man ihm zu essen gibt, und essen, bis man ihn zum Aufhören zwingt.« »Stimmt«, lachte Margot. »Vor allem, wenn es Süßspeisen gibt.« »Also bitte: Erschrick nicht«, erklärte Elsa. »Es kann sein, dass er noch im Bett liegt. Oder dass er noch immer nicht ins Bett gegangen ist.« Es war zehn Uhr vormittags. Elsa hatte einen Schlüssel zu Einsteins Wohnung, und nachdem sie mehrmals geklopft hatte, schloss sie die Tür auf. Sie fanden ihn in der Küche, er lag zusammengekrümmt auf den Fliesen. Es roch nach Erbrochenem. Sie brachten ihn sofort in Pleschs Privatklinik. Das Magengeschwür war erneut aufgebrochen. Elsa kam jeden Morgen in seine Wohnung, sie saß an seinem Bett, alle drei Stunden kochte sie etwas, das er leicht verbittert »Hühnerfutter« nannte. Sie räumte auf und putzte, sogar die Fensterscheiben. Sofort wurde es merklich heller und freundlicher. Oft kamen auch Ilse und vor allem Margot, die sich gerne mit Einstein unterhielt. Margot studierte Kunst und fertigte kleine Plastiken aus Ton oder Holz, und manchmal brachte sie etwas Material mit, um es zu bearbeiten, während sie Einstein Gesellschaft leistete. Nach wenigen Tagen stand er auf, um sich an den Schreibtisch zu setzen, aber Elsa verbot es strikt. Er musste im Bett bleiben und durfte höchstens Romane lesen.
Ein paar Tage versuchte er es mit den »Brüdern Karamasow« von Dostojewski, dann wurde es ihm zu langweilig. Er versuchte, ohne Unterlagen, seine Berechnungen zu rekonstruieren, doch das war nicht möglich. Elsa blieb streng und duldete keine Papiere und Bleistiftstummel im Krankenbett. So gewöhnte er sich an, tagsüber, wenn Elsa für ihn kochte, zu schlafen und sich abends, wenn sie gegangen war, an den Schreibtisch zu setzen. Er rechnete fieberhaft an den kosmologischen Gleichungen, ohne einer Lösung näher zu kommen. Schon nach wenigen Tagen war sein Zustand wie vor dem Zusammenbruch. Erschöpfungszustände traten ein, oft nickte er in den frühen Morgenstunden im Stuhl ein und wachte erst auf, wenn Elsa an die Tür klopfte. Dann wühlte er schnell das Bett auf, zog den Morgenrock an und öffnete ihr. Bald schon kamen die Magenschmerzen wieder. Da sein Rhythmus auf dem Kopf stand, geriet der Kreislauf durcheinander. Immer häufiger hatte er Déjà-vu-Erlebnisse. Dann wusste er kaum mehr, wo und wann er lebte. Manchmal, wenn er mitten in der Nacht am Schreibtisch saß, zogen Erinnerungsbilder auf, so greifbar echt, dass er sie schmecken und riechen konnte. Doch Elsa bemerkte, dass das Bettzeug, wenn sie es aufschüttelte, kalt war, der Lehnstuhl am Schreibtisch hingegen aufgewärmt. Manchmal lagen glühende Zigarrenstummel im Aschenbecher, obwohl Plesch das Rauchen kategorisch verboten hatte. Einstein gab sich auch gar keine Mühe, den Schreibtisch am Morgen aufzuräumen, und als sie ihn schließlich direkt fragte, ob er nachts arbeite, bejahte er ohne Zögern. Da packte sie schweigend seine Unterlagen in eine Kiste. »Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte er und riss ihr die Kiste aus den Händen.
»Gut«, sagte Elsa. »Tu, was du willst. Aber such dir eine Krankenschwester. Ich rackere mich hier nicht ab, damit du dich dann selbst ruinierst.« Er merkte, dass sie es ernst meinte, und er wusste, dass er es sich im Augenblick nicht mit ihr verderben durfte. Er musste einsehen, dass sie, wenn sie einmal aus der Wohnung hinaus war, nicht so schnell wiederkommen würde. Und so legte er sich wieder ins Bett und schaute zu, wie die Kiste mit seinen Berechnungen aus der Wohnung geschafft wurde. Alles, was er tun konnte, war, Elsa mit hilflosem Hass zu verfluchen. Doch schon wenige Stunden nachdem die Unterlagen verschwunden waren, überkam ihn eine Ruhe, wie er sie seit Monaten nicht mehr empfunden hatte. Er unterhielt sich lange mit Margot, dann schlief er ein. Er schlief zwei Tage und zwei Nächte durch. Als er aufwachte, sah er die Welt wie in einem frischeren, klareren Licht. Selbst die Luft schien einen anderen, kühleren Geschmack zu haben. Elsa war in der Küche, sicher kochte sie das Hühnerfutter. Er stand auf und setzte sich auf den Hocker, neben dem seine Geige lag. Wie lange hatte er das Instrument nicht mehr ausgepackt? Auf dem Geigenkasten hatte sich eine Staubschicht gebildet. Er nahm das Instrument und strich mit den Fingern liebevoll über das fein gemaserte Holz. Er stimmte die Geige sorgfältig, fettete den Bogen mit viel Geduld. Zunächst wollten die Finger den Melodien, die er im Ohr hatte, kaum folgen. Doch langsam fanden die Gelenke ihre alte Geschmeidigkeit.
Revolution
In Einsteins Vorlesungsnotizen des Jahres 1918 steht neben dem 9. November: »Fiel aus wegen Revolution.« Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg hatte die See-Blockade nicht brechen können; dafür erklärten auch die Vereinigten Staaten Deutschland den Krieg, und seit Frühjahr 1918 erschienen die frischen amerikanischen Truppen an der Front. Als die Alliierten die neue Waffe, den Tank, auf die Schlachtfelder brachten, war die deutsche Kriegsindustrie nicht in der Lage, etwas Vergleichbares herzustellen. Sogar die Oberste Heeresleitung befand, dass eine Fortführung des Krieges aussichtslos sei. Ludendorff und Hindenburg forderten zum Entsetzen der Zivilregierung den sofortigen Waffenstillstand. Den ganzen Sommer hindurch war die deutsche Propagandamaschine auf Hochtouren gelaufen und hatte der Bevölkerung die gescheiterten Offensiven und den Rückzug der Truppen als glänzende militärische Erfolge verkauft. Die Deutschen hatten geglaubt, von Sieg zu Sieg zu schreiten, und nun endete diese Kette von Erfolgen mit einer Niederlage. Da beschloss Ende Oktober die deutsche Seekriegsleitung, die Hochseeflotte auslaufen und bis in den Ärmelkanal vorstoßen zu lassen. Die Matrosen wollten nicht für eine verlorene Sache ihr Leben lassen und meuterten in Kiel. Der Aufstand griff bald aufs ganze Reich über; in München wurde bereits am 7. November die bayerische Republik proklamiert. Am Morgen des 9. November begann auch in Berlin die Revolution. Alle Betriebe streikten; von bewaffneten Matrosen begleitet, zogen die Arbeiter in großen Zügen zur Innenstadt.
»Schluß mit dem Krieg!« stand auf ihren Schildern und: »Brüder! Nicht schießen!« Noch war ungewiss, wie sich die Soldaten in den Garnisonen verhalten würden. Doch die Regimenter gingen zum Volk über und bildeten, nach dem Vorbild der Arbeiterschaft, Soldatenräte. Nun verkündete der Reichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig die Abdankung des Kaisers und übergab sein Amt als Reichskanzler an Friedrich Ebert, den Führer der Sozialdemokraten. Schon eine drei viertel Stunde später veröffentlichte die BZ am Mittag die Nachricht. Philipp Scheidemann rief die deutsche, Karl Liebknecht die sozialistische Republik aus.
In der Universität bildeten die Studenten ebenso wie die Soldaten und Arbeiter Räte. Der Rektor sowie einige Professoren wurden verhaftet. Die Stimmung war so aufgeheizt, dass man um ihr Leben fürchten musste. Einstein entschloss sich, etwas zu unternehmen. Er rief zwei Freunde an, den Soziologen Max Wertheimer und den jungen Physiker Max Born. Zu dritt machten sie sich auf den Weg. Ganz Berlin brodelte. Jugendliche mit roten Abzeichen und zerlumpte Soldaten saßen in Gruppen zusammen, führten politische Diskussionen und reichten Zigaretten und Bierkrüge herum. Lastwagen mit Matrosen, die rote Fahnen schwenkten, ratterten durch die Straßen. Das Reichstagsgebäude, wo der Studentenrat tagte, war von einer aufgeregten Menge umgeben. Einstein, Born und Wertheimer drängten sich vor, doch dann wurden sie von schwer bewaffneten Revolutionsgarden aufgehalten. Wertheimer versuchte, mit den Bewaffneten zu verhandeln, doch seine Worte gingen im allgemeinen Tumult unter.
Autos fuhren vor, wichtig aussehende Leute stiegen aus; einige wurden von der Menge mit Jubel empfangen. Einstein erblickte unter ihnen einen Freund, den sozialistischen Schriftsteller und Journalisten Holitscher. Sofort standen ihnen alle Wege offen. Nach langen Märschen durch endlose Korridore führte man sie in ein kleines Konferenzzimmer, in dem der neu gegründete Studentenrat seine erste Versammlung abhielt. Auch hier wurde Einstein erkannt. Er galt unter den Studenten als Pazifist und Linker, man bat ihn und seine Begleiter, am Tischende Platz zu nehmen. Ein junger Mann verkündete pathetisch neue Statuten für die Studentenschaft. Der ganze Studienbetrieb sollte reguliert und sozialistisch gelenkt werden. Einstein wurde um seine Meinung gebeten. Er stand auf. Nur langsam legte sich die Aufregung in dem überfüllten Raum. »Sie wollen neue Freiheiten für die Studentenschaft«, begann er und wurde sofort von jubelnder Zustimmung unterbrochen. »Aber Freiheit kann man nicht durch ein Reglement schaffen«, fuhr er fort. »Freiheit kann nur entstehen, wenn man auf ein Reglement verzichtet.« Ein Stimmengewirr brach aus. Einige versuchten, sich durch Schreie Gehör zu verschaffen. Ein junger, fanatisch aussehender Mann stand auf und hob wie ein Priester die Hände. Langsam kehrte Ruhe ein. »Wir wollen Professor Einstein doch ausreden lassen«, sagte er. »Nun«, sagte der, »ich bin eigentlich nur gekommen, um Sie um die Freilassung einiger Professoren und des Rektors der Universität zu bitten, die gestern gefangen gesetzt wurden.« Ein Student war aufgesprungen. »Diese Männer haben vier Jahre für den Krieg und gegen jeden Frieden gehetzt, sie haben junge Männer wie uns an die Front geschickt, wo
Hunderttausende elend verreckt sind. Nun werden sie zur Rechenschaft gezogen. Die revolutionäre Gewalt ist eine wichtige Waffe der Befreiung.« Und er schloss seine Rede mit dem Ruf: »Hoch die revolutionäre Gewalt!« Der ganze Saal stimmte wie aus einem Mund mit ein. Einstein hatte noch nie in seinem Leben vor einer Menschenmenge geredet, außer bei physikalischen Vorträgen. Eine kaum kontrollierbare Nervosität stieg in ihm auf. Er hatte Schwierigkeiten, überhaupt einen Satz zu beginnen. »Gewalt bleibt Gewalt«, sagte er, »Krieg bleibt Krieg. Wir haben gerade vier Jahre Krieg und Gewalt hinter uns. Sie glauben, mit Gewalt ein neues, besseres Deutschland schaffen zu können. Aber mit Gewalt können Sie gar nichts aufbauen. Mit Gewalt kann man nur vernichten.« Wieder brach ein mittlerer Tumult aus. Schließlich antwortete ein Student: »Die alte Ordnung weicht nicht freiwillig. Nur mit harten Mitteln kann der Sozialismus geschaffen werden.« »Sie wollen mit dem Knüppel gegen die Unterdrückung, die Ungerechtigkeit kämpfen«, sagte Einstein. »Aber Sie vergessen, dass dabei nur wieder neue Unterdrückung und Ungerechtigkeit entsteht. Denn der Knüppel ist die Macht, und wer die Macht hat, der tut alles, um diese Macht zu behalten, und verrät seine Ideale.« Nachdem sich Einstein gesetzt hatte, rief erneut alles durcheinander. Ein Student war aufgestanden und hatte ihn bei der Jacke gepackt, andere versuchten, den Studenten fortzuzerren. Schließlich mischte sich Born ein, und ein Handgemenge entstand. Einstein stand erneut auf. Er wartete lange, bis sich die Aufregung gelegt hatte. Dann sagte er: »Man braucht keinen Marx und keinen Lenin zu lesen, um zu begreifen, dass wir eine Neuordnung der Gesellschaft brauchen. Wer seinen Kopf
aus dem Fenster steckt und dabei nicht sieht, dass die Zeit für den Sozialismus reif ist, der läuft wie ein Blinder durch dieses Jahrhundert. Aber vergessen Sie nicht, was schon Rosa Luxemburg gesagt hat: Ohne Freiheit hat der Sozialismus keinen Wert. Die Freiheit braucht der Mensch wie die Luft zum Atmen.« Diesmal brach allgemeine Begeisterung aus, Born und Wertheimer sahen Einstein überrascht an. Er hatte wie ein Volkstribun geklungen. Woher, fragte sich Born, kennt er das Luxemburg-Zitat? Oder hat er es erfunden? Die Studenten jedenfalls waren auf Einsteins Linie umgeschwenkt. Der erkannte den günstigen Moment und forderte erneut die Freilassung der Professoren. Nach einer kurzen Abstimmung war der Antrag angenommen. Allerdings war unklar, wo sie gefangen gehalten wurden. Eine längere Debatte entstand, und endlich teilte der Sprecher des Studentenrates Einstein mit, man habe die Professoren und den Rektor bereits der revolutionären Regierung übergeben und könne nicht mehr über sie verfügen. Diese neue Regierung war im Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße versammelt. Einstein, Born und Wertheimer wurden mit Handschlag und revolutionären Hochrufen verabschiedet. Ausgestattet mit einem Passierschein des Studentenrates, machten sie sich auf den Weg. »Weiß Gott«, sagte Einstein, »mir gefallen diese Menschen, und wenn sie auch verwirrt sind und ihre Sorgen und Nöte haben. Aber die Jungen, die das erlebt haben, werden nicht so bald zu Spießbürgern.«
Im Reichskanzlerpalais standen noch die Lakaien in der alten kaiserlichen Livree an den Ecken der Korridore und Gänge.
Doch über die prächtigen Marmortreppen liefen nun Männer in einfachen, abgetragenen Anzügen, sozialdemokratische Abgeordnete oder Delegationen der Räte. Die Empfangshalle war überfüllt. Gerade war die Nachricht vom Aufstand in München eingetroffen, Jubel brach aus. Born versuchte herauszufinden, wer für Universitätsangelegenheiten zuständig war. Der Einzige, der ihnen eine wirkungsvolle Vollmacht geben konnte, hieß es, sei Ebert selbst, der Kabinettschef der neuen Regierung. Doch das Kabinett tagte, und sie mussten warten. Schließlich kam Eduard Bernstein, ein alter Kämpfer aus der Zeit der Sozialistengesetze. Er führte sie in einen kleinen Raum. Dort saß ein kurzer, gedrungener Mann mit schwarzem Spitzbart, zu dem der dunkle Anzug nicht passen wollte. Es war Friedrich Ebert, der bereits Sattler und Schuster, Redakteur, Gastwirt und Arbeitersekretär gewesen war und nun Nachlassverwalter der bankrotten kaiserlichen Politik. Er wirkte erschöpft und verärgert. Als er Einstein sah, hellte sich sein Gesicht jedoch auf. Er reichte ihm die Hand und hörte sich den kurzen Bericht an. »Leider kann ich mich um diese Angelegenheit nicht selber kümmern«, antwortete Ebert. »Ich habe soeben die Waffenstillstandsbedingungen aus Versailles erhalten. Entsetzliche Bedingungen. Doch ich werde Ihnen helfen.« Er schrieb einige Worte der Empfehlung auf eine Visitenkarte und setzte seinen Namen darunter. Damit schickte er sie zum neuen Kultusminister, und die Sache war im Handumdrehen erledigt. Als sie das Reichskanzlerpalais verließen, sagte Einstein zu den beiden Freunden: »Wir haben an einem historischen Ereignis teilgenommen. Die militärische Religion ist abgeschafft. Leider ist noch keine neue in Sicht.«
Nach vier Jahren Krieg wollten die einfachen Soldaten nur eins: nach Hause. In den Kasernen blieben Offiziere und Unteroffiziere und die Soldaten, die die Revolution hassten. Hindenburg sammelte die Reste der Armee. Am Weihnachtsabend vertrieben seine Truppen die Volksmarine aus der Reichskanzlei und besetzten die strategisch wichtigen Punkte der Stadt. Dann griffen sie mit Artillerie die Matrosen an, die sich im Marstall verschanzt hatten. Da erhob sich die ganze Stadt, Frauen und Kinder stellten sich Hindenburgs Soldaten in den Weg, aus den Betrieben rückten bewaffnete Einheiten an. So blieb Berlin über Weihnachten in der Hand der Revolutionäre. Max Born kam mit einer Freundin, Claire Goll, um Einstein am Weihnachtsabend unterm Tannenbaum Gesellschaft zu leisten. Claire Goll war, wie Einstein, in München als Kind jüdischer Großbürger geboren, Max Born und auch sie hatten später in Zürich studiert, wenn auch einige Jahre nach Einstein. Sie war Literatin und kommunistische Propagandistin, verkehrte in Adelskreisen wie unter den jungen Dadaisten. Sie sprühte vor Lebendigkeit und erzählte atemlos von ihrem aufregenden Leben im revolutionären Berlin. »Als am 9. November die Massen mit Karl Liebknecht zum Berliner Schloss marschierten, um die sozialistische Revolution auszurufen, da marschierten sie in militärischen Kolonnen vor der Siegessäule im Tiergarten vorbei«, schimpfte sie über die halbherzige deutsche Revolution. Einstein war weniger ungeduldig. »Seit die Matrosen durch die Straßen marschieren, kann man in Berlin leben. Ich hätte nie gedacht, dass überhaupt je ein freiheitlicher Hauch Deutschland berühren könnte.«
Born berichtete, in Grunewald hätten die reichen Bürger ihren wertvollen Besitz in Kisten gepackt und versteckt. Aber nichts geschah, bei niemandem wurde geplündert. Plötzlich wurde Claire Golls Gesicht schwermütig. Sie schien weit weg zu sein. »Ich werde Berlin verlassen«, sagte sie, und ihre Stimme klang, als habe sie Berlin bereits verlassen und nun schon Heimweh. »Diese Stadt lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.«
Im Januar 1919 trat die Friedenskonferenz in Versailles zusammen. Fritz Haber, der neben Kaiser Wilhelm II. und Ludendorff auf der Liste der Kriegsverbrecher stand, setzte sich in die Schweiz ab. Max von Laue schloss sich einem konservativen Freikorps an, nicht ohne vorher beim Unterrichtsministerium nachzufragen, ob ihm dies gestattet sei. Der Sozialdemokrat Gustav Noske wurde von Ebert zum »Volksbeauftragten« für Militärangelegenheiten ernannt. Noske sammelte die rechtsradikalen Freikorps. In drei Tagen wurde die Revolution in Berlin zusammengeschossen. Am 15. Januar ließ Noske den Berliner Westen und die Innenstadt besetzen. Schon am selben Tag wurden die Führer der Sozialisten, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, verhaftet und ermordet. Damit begann die »Säuberung« und Entwaffnung der Arbeiterschaft. Bald war die Revolution auch im Ruhrgebiet, in Thüringen und in München niedergeschlagen. Die vom Volk gewählte Nationalversammlung beriet in Weimar über eine Verfassung für die erste deutsche Republik. Einstein beschloss, nach über zwanzig Jahren, wieder Bürger des deutschen Staates zu werden.
Die Sonnenfinsternis
Am 22. September erreichte Einstein ein Telegramm von H. A. Lorentz aus Holland: Die englische Expedition nach Äquatorial-Afrika, die Einsteins Vorhersage über die Ablenkung des Lichts prüfen sollte, war erfolgreich verlaufen. Einstein war bis dahin in Fachkreisen angesehen, öffentlich aber kaum bekannt gewesen. Nun wurde er schlagartig ein Star. Sein Name wurde zu einem Synonym für unverständliche, geradezu abenteuerliche Erkenntnisse über die Natur und das Universum. Bereits 1911 hatte Einstein berechnet, dass von den Sternen kommendes Licht in der Nähe der Sonne abgelenkt werden musste. Diese Ablenkung sollte ungefähr 80 Bogensekunden betragen, und entsprechend sollte die Stellung der Sterne verschoben wirken. Da man Sterne fotografieren musste, während sie sehr nah an der Sonne lagen, ließ sich diese Verschiebung nur während einer Sonnenfinsternis beobachten. Eine deutsche Expedition war 1913 nach Sibirien aufgebrochen, nach Kriegsbeginn von den russischen Behörden aber verhaftet worden. Für Einstein und seine Theorie war das eine glückliche Fügung. Denn bereits 1914 revidierte er seine Berechnungen. Nach der neuen Fassung musste die Ablenkung des Sternenlichts doppelt so groß sein, da er nun einen ebenso großen Einfluss der Raumkrümmung annahm. 1917, mitten im Krieg, beschloss der englische Astronom und Experimentalphysiker Arthur Stanley Eddington, für den 29. Mai 1919 eine Expedition vorzubereiten. Für diesen Tag war eine totale Sonnenfinsternis vorhergesagt, die besonders
günstige Bedingungen für die Prüfung der Theorie bot. Die verfinsterte Sonne würde sich inmitten einer Gruppe besonders heller Sterne, der Hyaden, befinden. Zwei Expeditionsgruppen wurden ausgerüstet, eine reiste nach Sobral in Brasilien, die andere, an der Eddington persönlich teilnahm, zur Insel Principe im Golf von Guinea. Zwei Gruppen, um das Risiko, starke Bewölkung könnte die Aufnahmen unmöglich machen, zu verringern. Aus dem Expeditionstagebuch Eddingtons: »Am Tage der Finsternis war das Wetter ungünstig. Beim Beginn der Totalität konnte man die dunkle, von der Korona umgebene Scheibe des Mondes durch die Wolken sehen, wie oft der Mond in der Nacht hinter Wolken zum Vorschein kommt, ohne dass Sterne sichtbar sind. Es blieb nichts anderes übrig, als das verabredete Programm auszuführen und das Beste zu hoffen. Ein Beobachter hatte die Aufgabe, rasch hintereinander die fotografischen Platten zu wechseln, während ein anderer jede Erschütterung des Fernrohrs zu vermeiden hatte… Ein wundervolles Schauspiel spielte sich da oben ab. Eine prächtige Protuberanz (leuchtende Gasmassen, die aus der Chromosphäre der Sonne ausströmen) wurde, wie sich nachher aus den Fotografien ergab, Hunderttausende von Kilometern über den Sonnenrand hinaus fortgeschleudert. Aber wir hatten keine Zeit, uns das anzusehen. Wir fühlten nur das unheimliche Zwielicht, in das die Landschaft getaucht war, das Schweigen der Natur, von den Rufen der Beobachter unterbrochen, und die Schläge des Metronoms, das die 302 Sekunden der Totalität auszählte. Insgesamt erhielten wir sechzehn Fotografien… Auf den ersten Waren keine Sterne zu sehen, aber die Wolken hatten sich gegen Ende der Finsternis etwas verzogen…«
Die Berechnungen ergaben eine Verschiebung von 1,61 Bogensekunden. Dies entsprach fast exakt dem Wert, den Einstein aus seiner Theorie vorhergesagt hatte.∗
Am 6. November 1919 traten in London die »Royal Society« und die »Royal Astronomical Society« zusammen, um der Welt zu verkünden, was die aus Brasilien und Westafrika zurückgekehrten Expeditionen festgestellt hatten. Joseph John Thomson, Entdecker des Elektrons, Nobelpreisträger und Präsident der Royal Society, eröffnete seine Rede mit der Feststellung, Einsteins Werk sei »eine der größten – vielleicht die größte – Leistung in der Geschichte menschlichen Denkens«. Er fuhr fort: »Es handelt sich dabei nicht um die Entdeckung einer einsamen Insel, sondern eines ganzen Kontinentes neuer wissenschaftlicher Gedanken.« Er sagte aber auch: »Ich muss zugeben, dass bis jetzt noch kein Mensch in einfachen Worten hat sagen können, was die Einsteinsche Theorie denn eigentlich ist.« Und ein Professor für Astronomie an der Columbia University schrieb eine Woche später über die »Unruhe«, die in die ganze Welt gefahren sei. Überall herrsche »Krieg und Bolschewismus« und das Verlangen, »die bewährten Formen der Regierung beiseite zu werfen«. Dieser Geist, folgerte er, sei nun auch in die Wissenschaft gefahren, und es bestehe die Gefahr, das »Gebäude der modernen Wissenschaft« werde für »metaphysische und fantastische Spekulationen« aufgegeben.
∗
Dieser Versuch ist seitdem häufig wiederholt worden. Wegen technischer Fehlerquellen weichen alle Ergebnisse leicht von der Vorhersage Einsteins ab. Aber stets liegen die Ergebnisse in der Nähe der berechneten 1,74 Bogensekunden für die Ablenkung des Lichts durch Gravitation und Raumkrümmung.
Doch diese Skeptiker setzten sich nicht durch. Bald sprachen alle englischen Zeitungen von dem Professor aus Berlin. In Deutschland wirkten die Nachrichten aus England wie ein Funken. Die nüchternen Engländer hatten die schöpferische Leistung eines Deutschen bestätigen müssen. Während Clemenceau vor der französischen Nationalversammlung den »Aufruf an die Kulturwelt« der deutschen Gelehrten von 1914 vorlas und ihn, unter Entrüstungsrufen, das »größte Verbrechen Deutschlands« nannte, »schlimmer als alle anderen Taten, von denen wir wissen«, reisten 1920 fünf Deutsche nach Stockholm, um ihre Nobelpreise entgegenzunehmen, unter ihnen, zur Empörung der Alliierten, auch Fritz Haber. Und nun hatte Deutschland einen der größten Denker aller Zeiten hervorgebracht. Wen interessierte da noch, dass Einstein die deutsche Staatsbürgerschaft aus Solidarität zur Republik gerade erst angenommen hatte? In England wurde das Problem gelöst, indem man ihn als Schweizer betrachtete. Einstein selbst schrieb: »Unter Anwendung der Relativitätstheorie auf den Geschmack der Leser werde ich heute in Deutschland ein deutscher Wissenschaftler genannt und in England als Schweizer Jude dargestellt. Wenn ich dann einmal als schwarzes Schaf gelte, wird alles umgedreht, und ich bin für die Deutschen ein Schweizer Jude und für die Engländer ein deutscher Wissenschaftler.« Einstein hörte für seine Mitmenschen auf, Mensch zu sein. Er wurde ein mystisches Wesen. Der Rummel, der bald auch im letzten Winkel der Welt um ihn getrieben wurde, erreichte groteske Ausmaße. Relativitäts-Clubs schossen wie Pilze aus dem Boden. Einsteins Fotografie war auf den Titelblättern der Illustrierten, jeder Reporter interessierte sich für seine
Ansichten über Politik und Kunst; überall Vorträge, in denen Redner seine Theorien zu erläutern versuchten.
Es bedeutete auch das Ende seines Privatlebens. Einstein wurde eine Berliner Touristenattraktion. So wie man das Brandenburger Tor besichtigte oder die Siegesallee mit den Statuen der preußischen Fürsten, so besuchte man auch das lebende Wahrzeichen Berlins. Seine Vorlesungen waren überfüllt – aber nicht von ernsthaft interessierten Studenten, sondern von amerikanischen und englischen Damen in kostbaren Pelzen, die ihn mit Operngläsern betrachteten. 1921 erhielt Einstein den bereits überfälligen Nobelpreis – nicht für die Relativitätstheorie, da darin keine neue »Entdeckung« enthalten war, sondern für die Arbeit über den photoelektrischen Effekt. Als er im selben Jahr in die USA reiste, um für eine jüdische Universität in Palästina zu werben, da begrüßte ihn der Bürgermeister von New York wie einen heimkehrenden Kriegshelden. Schon auf dem Weg zur Landungsbrücke sollte er aufgeregten Reportern sagen, wie sein Eindruck von Amerika sei, und die Relativitätstheorie in einem Satz erklären. Ein riesiges Banner war aufgespannt worden, darauf stand: »This is the famous Professor Einstein.« Aus Flugzeugen wurden Blumen und bunte Papierschlangen abgeworfen. Der Mann aber, der bescheiden lächelnd das Schiff verließ, schrieb die New York Times, sah aus wie ein Musiker – ein Künstler. In Princeton wurde ihm ein Ehrendoktortitel verliehen. Deutschland galt noch immer als feindliches Land, und so bezeichnete der Rektor Einstein mal als Schweizer Gelehrten, mal als Professor an der Universität Leiden, wo er nur selten Vorlesungen hielt. Von seinen deutschen Titeln wurde nicht gesprochen. Als man zur Verleihungszeremonie schritt, machte
Einstein, der kaum Englisch verstand, alles falsch: Als er aufstehen sollte, blieb er sitzen, als er sich wieder hätte setzen sollen, stand er auf. Schließlich blieb er, verlegen lächelnd, stehen. Als er dann den Ehrendoktorhut aufgesetzt bekommen sollte, versuchten ihn mehrere Ratgeber mit Handzeichen zu dirigieren, und am Ende wandte er, völlig verwirrt, dem Rektor den Rücken zu, und so bekam er auch den Hut aufgesetzt. Am Ende der USA-Reise gab Einstein der New York Times ein Interview. In einem längeren Gespräch sagte er dem Reporter unter anderem: Die Amerikaner seien optimistisch, hilfsbereit und begeisterungsfähig; besonders imponiert habe ihm, wie unterschiedlichste Volksgruppen friedlich zusammenlebten. Der technische Fortschritt, die Hochhäuser, die Kommunikationsmittel, alles sei weiter entwickelt als in Europa, allerdings lege man auch etwas zu viel Wert auf materielle Ziele. Die Amerikaner seien eher Gruppenmenschen, weniger individualistisch als die Europäer. Die bildenden Künste und die Musik stünden Europa nur noch wenig nach. Er kritisierte die Prohibition und die Rolle der Presse, die von Interessengruppen beherrscht würde. Heraus kam ein kurzer Artikel: Einstein hätte die Amerikaner als »total gelangweilt« und »intellektuell verarmt« bezeichnet, so sei ihr »exzessiver Enthusiasmus« für einen Wissenschaftler, dessen Arbeit sie nicht verstünden, zu verstehen. Die New York Times kommentierte: »Die Amerikaner lesen ungläubig seine Tiraden. Man hat diesen Mann falsch eingeschätzt. Er ist, obwohl von Geburt und Herkunft kein Deutscher, eben doch ganz Produkt Deutschlands. Dr. Einstein hat die Gastfreundschaft offen verhöhnt. Man wird ihm nicht vergeben…«
Einsteins kometenhafter Aufstieg scheint mit der Unverständlichkeit seiner Theorien – und auch der Unverständlichkeit seiner Person – direkt zusammenzuhängen. Die Bestätigung seiner Vorhersage durch das Licht der Sterne hatte etwas Märchenhaftes. Seine Theorie stellte das Weltbild auf den Kopf – und der Himmel selbst gab ihm Recht. Europa erlebte eine schwere Krise. Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsflaute, die Straßen voller Armut. Überall entstanden freireligiöse Gesellschaften. Man suchte nach einer neuen metaphysischen Grundlage. Und war Einsteins Arbeit nicht ein Triumph des reinen Denkens? Der Mensch selbst, betrogen und gedemütigt, schien in diesem Mann aufzuerstehen. Einstein sagte selbst, es sei ihm »stets unverständlich, warum die Relativitätstheorie mit ihren dem praktischen Leben so entfernten Begriffen und Problemstellungen in den breitesten Schichten der Bevölkerung für eine lange Zeit eine so lebhafte, ja leidenschaftliche Resonanz gefunden hat«. Wenn behauptet wurde, er hätte seine Theorien mit einer unnatürlichen »Super-Intelligenz« zustande gebracht, entgegnete er, er sei gar nicht besonders klug, er habe nur eine besonders große Nase. Er war eine Figur des öffentlichen Lebens, und die Menschen hörten auf das, was er sagte. (»Jeder Piepser wird bei mir zum Trompetensolo«, schrieb er in einem Brief.) Er sah die Welt voll von Leiden, und er meinte einige Ursachen zu erkennen. Er hatte nicht vor, sich im Elfenbeinturm der reinen Wissenschaften zu verstecken. Der Erste Weltkrieg hatte gezeigt, dass Physiker und Chemiker von Militärs und Politikern benutzt wurden. Einstein stellte sich der neuen Verantwortung.
Anti-Einstein-GmbH
Einstein drehte den Hahn bis zum Anschlag auf. Dampfend sprudelte das heiße Wasser in die Wanne und fraß eine tiefe Schneise in den hoch aufgetürmten Schaum. Einstein hielt sich mit einer Hand die Nase zu und ließ seinen Körper in der glatten Wanne nach unten rutschen, bis der Kopf unter Wasser war. Mit geschlossenen Augen horchte er auf das dumpfe Rollen dort in den Tiefen der Badewanne. Als er gerade versuchte, sich vollkommen zu entspannen, bollerte jemand heftig gegen die Badezimmertür. »Wie lange willst du denn noch baden?« Es war Elsa. In solchen Momenten bereute er es, wieder geheiratet zu haben. Andererseits hatte es vor der Heirat keine Badewanne gegeben. So hatte alles seine Vor- und Nachteile. Das Nietzsche-Zitat fiel ihm ein: »Ein verheirateter Philosoph ist eine lächerliche Figur.« Manchmal, wenn er in dem stets geputzten, plüschigen Biedermeierzimmer saß, das Elsa mit viel Liebe eingerichtet hatte, fragte er sich, ob er im falschen Theaterstück gelandet war. Wieder klopfte es an der Tür. »Wie lange willst du noch baden?«, rief Elsa. »Ungefähr 27,5 Minuten«, antwortete Einstein. Dann begann er, sich mit der langstieligen Bürste den Rücken zu massieren. Bald musste er wieder heißes Wasser nachlaufen lassen. Während er den Schaum betrachtete, die glitzernden Bläschen, in denen sich das Licht farbig brach, musste er an Niels Bohr denken. War es nicht etwas Wunderbares, dass das
Spektrum des Wasserstoffatoms aus über hundert farbigen Linien bestand? Bohr war es 1913 gelungen, eine plausible Erklärung für die Stabilität der Atome zu finden – und zwar mit Hilfe der Quantentheorie des Lichts, die Einstein 1905 entwickelt hatte und die seitdem niemand ernst genommen hatte. Vor kurzem war Bohr in Berlin gewesen. »Nach der Newtonschen Mechanik dürfte die Bahn eines Elektrons ja gar nicht stabil sein«, hatte Bohr gesagt. »Deshalb haben wir die Quantenbedingungen eingeführt, um ihnen die Stabilität zu geben. Lassen Sie mich erklären: Der Ausgangspunkt für mein Atommodell ist nicht die Annahme, das Atom sei ein Planetenmodell im Kleinen. So wörtlich habe ich das nie genommen. Jedoch ist die Stabilität der Materie vom Standpunkt der bisherigen Physik ein reines Wunder. Das Vorhandensein fester Körper überhaupt basiert auf der Stabilität der Atome. Und die ist keineswegs selbstverständlich, sondern nach der alten Physik ganz unwahrscheinlich. Wenn man den Determinismus zugrunde legt, nach dem der jetzige Zustand nur durch den jeweils vorangegangenen bestimmt sein soll, wie das die klassische Mechanik tut, dann hätten die Atome keine Stabilität, und es gäbe keinen Grund, warum ein Eisenatom, nach all den vielen Veränderungen, die durch äußere Wirkungen eintreten können, wieder ein Eisenatom mit genau denselben Eigenschaften ist.« Bohrs Atommodell, dachte Einstein, wirkte wie das Produkt einer gespaltenen Persönlichkeit. Bohr arbeitete als klassischer Physiker und fand die Umlaufbahnen der Elektronen, und dann verwandelte er sich in einen Quantenphysiker, für den es keine Umlaufbahnen mehr gibt, sondern nur wahrscheinliche Aufenthaltsorte von Elektronen. Das war ein Punkt, wo Einstein Bohr nicht folgen wollte, und er glaubte, die Physik würde in den nächsten Jahren
fortschreiten und diese unlogische Annahme überflüssig machen. Bohr, der im privaten Gespräch wie ein unbeschwerter Junge wirkte, sprach oft quälend langsam und verschluckte ganze Silben, brachte seine Zuhörer mit langen Pausen und plötzlichen Temposchüben zur Verzweiflung, und dabei hielt er sich die Hand halb vor den Mund, so dass alles gedämpft und breiig klang. Doch wenn man die Bewegungen seiner Hände sah und die Bilder und Modelle, die er zeigte, dann begriff man, dass Bohr in Bildern dachte, dass er wirklich vor sich sah, wie das Atom konstruiert ist. Einstein beobachtete, wie die Schaumberge um ihn herum knisternd zusammenschrumpelten. Bohr kannte keinen Zweifel. Für ihn war es ganz selbstverständlich, dass die Welt so war, wie der Mensch sie erkennen konnte. Wozu sollte man sich darüber Sorgen machen? Man braucht nicht viel, um zu leben, und das gibt uns die Natur im Überfluss. Man konnte glücklich in den Tag hineinleben und diese wunderbare Natur – nicht erforschen, sondern gelassen betrachten. Einstein schloss die Augen. Das Badewasser wurde langsam kühl. Er drehte den Warmwasserhahn wieder auf. Heraus kam eiskaltes Wasser. Das bedeutete, dass Elsa den Boiler in der Küche mutwillig ausgestellt hatte, um ihn aus der Wanne zu treiben. Gab es nicht schon genug Grausamkeiten dort draußen, auf der Straße? Putschisten von rechts, Arbeitslosigkeit, galoppierende Inflation. Berlin war ein brodelnder Kessel; wer diesen Kessel heizte, sah niemand. Man hasste jeden, die Schieber und Kriegsgewinnler, die Demokraten, Kommunisten und Novemberverbrecher, die Franzosen, Engländer und Amerikaner, und am meisten hasste man die Juden, die angeblich an allem schuld waren. Einstein tauchte noch einmal unter, dann stieg er aus der Wanne.
Als er nackt, nur das kleine Handtuch über die Schulter gelegt, in den Flur trat, gab Hertha, das Hausmädchen, einen erschrockenen Schrei von sich und drehte sich schnell um. Elsa stand im Flur, den Telefonhörer in der Hand, und sagte: »Albert, wo hast du denn deinen Kopf? Du hast schon wieder keinen Morgenmantel an.« Er sah an sich herunter. »Aber wieso schreit sie so? So dick bin ich nicht geworden.«
Als sie über die politische Lage gesprochen hatten, hatte ihn Bohr auf einen Unterschied zwischen Deutschen und Engländern aufmerksam gemacht: In England gelte es als besondere Tugend, ein guter Verlierer zu sein. Es stimmt, dachte Einstein, während er sich ankleidete. Die Deutschen konnten überhaupt nicht verlieren. Sie redeten sich allen Ernstes ein, den Krieg in Wahrheit gewonnen zu haben. Deutschlands Heere hätten unbesiegt in Feindesland gestanden, doch minderwertige Schichten, Juden und Kommunisten, hätten den Sieg zunichte gemacht, indem sie den Soldaten in den Rücken fielen. Dass es die Oberste Heeresleitung selbst gewesen war, die die überraschten Politiker zum Friedensschluss zwingen musste, schien man vergessen zu haben. Stattdessen suchte man sich nun einen neuen Feind, gegen den man den Krieg fortsetzen konnte, ohne eine neue Niederlage befürchten zu müssen. Die Juden boten sich förmlich an. Es waren nicht zu viele, aber doch genug, um jedem bekannt zu sein. Sie lebten in alle Welt zerstreut und waren somit geborene Internationalisten. Und sie hatten eine jahrtausendealte geistige und kulturelle Tradition. Deutsche Juden wie Karl Marx, Freud und Einstein hatten die revolutionärsten Neuerungen in der europäischen Geistesgeschichte mitbegründet. Selbst manche Juden
begannen, die Ursache für den Antisemitismus in Eigenschaften des jüdischen Volkes zu sehen. Einer von ihnen war Fritz Haber. Er spottete über die Ostjuden, die im Scheunenviertel kaum anders als in einem russischen Ghetto lebten, in großen Familienverbänden, in einer oft lächerlichen Scheinwelt aus Regeln und Bräuchen und religiösen Zeremonien. Wenn er von den chassidischen Thorastudenten sprach, den ausgemergelten Jugendlichen mit schwarzen Anzügen, schwarzen Hüten und Schläfenlocken, dann klang er wie ein deutscher Antisemit. Ein ganz anderer Fall war Plesch. Er wollte einfach eine für sich möglichst günstige Situation schaffen, und das ging nur, wenn er als Jude nicht benachteiligt wurde. Wie es anderen dabei ging, interessierte ihn weniger. Und er persönlich hatte damit auch Erfolg. Er war zu einem der Modeärzte der Berliner Gesellschaft aufgestiegen, seitdem er mit Homöopathie, Hypnose und »transzendentaler Medizin« experimentierte. Plesch war, was man einen »Salonkommunisten« nannte, er verachtete einerseits die »Proletarier« und ihre in seinen Augen unkultivierte Lebensweise, andererseits bewunderte er das kommunistische Experiment in Russland, wo gerade die große Alphabetisierungskampagne lief. Das zweite Gebiet, für das er sich begeisterte, war das neue physikalische Weltbild, und so hatte er dieselbe Runde eingeladen, die sich vor acht Jahren, kurz nach Ausbruch des Weltkrieges, bei ihm getroffen hatte. Damals hatte er noch, vergleichsweise bescheiden, in der Nähe des Kurfürstendamms gelebt.
Zunächst hielt Plesch einen kleinen Vortrag über das Schloss Johannisberg am Rhein, welches nach dem Wiener Kongress als Lehngut an den Fürsten Metternich gefallen war. Dort
wurde, exklusiv für den Kaiser von Österreich, ein unvergleichlicher Wein gekeltert, der Johannisberger Schlossabzug. Seit dem Sturz der Monarchie gab es geheime Kanäle, über die der seltene Tropfen zu sagenhaften Preisen erstanden werden konnte. Bald waren sie auf das politische Tagesgeschehen zu sprechen gekommen. Die Rechtsradikalen begannen damals eine brutale Hetze gegen Walther Rathenau, obwohl der im Kriege mit all seinem Organisationstalent die deutsche Kriegswirtschaft aufgebaut hatte und ein glühender Patriot war. »Erinnern Sie sich an den Vortrag in der Akademie vor wenigen Wochen?«, fragte Einstein. »Es ging um Leibniz. Der Redner – irgendein Anthropologe – zeigte alle möglichen Porträts von Leibniz. Dann sagte er: ›Man wird sich über manche unedlen Züge in Leibniz’ Charakter weniger wundern, wenn man bemerkt, dass auch sein Gesicht semitische Züge besitzt.‹ Habe ich etwa semitische Züge?«, rief Einstein. »Was ist das für ein Quatsch? Ludendorff mit seiner krummen Nase und dieser Hitler, wie sehen die denn aus? Aber man muss sich so etwas anhören, in der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Und was machen die jüdischen Professoren? Die tun so, als ginge sie das gar nichts an, und zum Teil stimmen sie sogar zu.« »An diesen Vorurteilen«, entgegnete Haber, »sind doch nicht die deutschen Juden schuld.« »Kommt jetzt wieder die Geschichte von den bösen Ostjuden?« Einstein lachte höhnisch. Haber leerte sein Glas auf einen Zug. »Sie werden doch nicht bestreiten, dass die Art, wie die Juden aus Russland und Polen…« »Und was ist mit den Juden aus Ungarn und aus Österreich?«, unterbrach ihn Einstein. »Wie weit westlich
muss man denn gehen, bis man auf gute Juden stößt? Ich sage Ihnen eins: Den Antisemiten ist es vollkommen gleichgültig. Sie hassen die assimilierten Juden noch viel mehr, weil sie hohe Positionen erlangen.« »Ja, aber was sollen wir denn nun tun?«, fragte Plesch ruhig. »Jedenfalls sollten wir uns nicht selbst erniedrigen. Keinem Menschen macht es Spaß, sich selbst zu erniedrigen, es sei denn, er ist seelisch krank. Dieses Versteckspiel der Juden grenzt an eine seelische Erkrankung.« Laue bemerkte, solch eine Unterhaltung sei wohl nur unter Juden möglich. »Meiner Meinung nach«, sagte Plesch, »besteht gar kein großer Unterschied zwischen Juden und Deutschen. Deshalb ist das Verlangen der Juden nach Assimilation ganz natürlich.« »Ich glaube an die weitgehende Gleichheit von allem, was zusammen Junge haben kann«, sagte Einstein. »Aber, wie gesagt: weitgehende Gleichheit. Es gibt Unterschiede, und darin liegt der Antisemitismus begründet. Tun wir doch nicht so, als ob es keinen Unterschied zwischen Deutschen und Juden gäbe.« »Mit diesen Ansichten könnten Sie bei den Nazis Karriere machen«, sagte Plesch. »Das wohl kaum. Ich glaube nämlich an die Überlegenheit des jüdischen Volkes.« Max von Laue schlug die Beine übereinander und sagte: »Damit drehen Sie den Spieß einfach um. Das ist unfair.« »Ich sage ja nicht: in allen Bereichen überlegen«, erklärte Einstein. »Aber dreitausend Jahre Hochkultur, das steckt den Leuten nun mal im Blut, und sie können nicht anders.« Nun räusperte sich sogar Max Planck ablehnend. »Die Zionisten haben Sie gründlich verdorben«, sagte Haber. »Sie kennen meine Meinung über den Nationalismus«, sagte Einstein. »Aber was den Zionismus betrifft, habe ich meine
Ansichten ändern müssen. Die Juden haben nun zweitausend Jahre lang versucht, ohne Nation, ohne Armee, ohne eigenes Land zu leben. Wenn es nach mir ginge, sollten alle Völker so leben. Aber es ist den Juden nicht gedankt worden, dass sie mit gutem Vorbild vorangegangen sind. Überall hat man sie vertrieben oder gleich ermordet. Also müssen wir uns als eigene Nation betrachten, um die Achtung der anderen Völker zu gewinnen.«
Einstein war, als Pazifist, schon so ziemlich das Schlimmste, was es für einen ordentlichen Deutschnationalen geben konnte. Nun mengte er sich auch noch in die jüdische Frage ein und schlug sich auf die Seite der Zionisten. Das war aber eine Sache, über die man im Kreise ernster Wissenschaftler am liebsten gar nicht sprach. Nur radikale Zionisten oder Antisemiten brachen dieses Schweigen. Da erschien 1920 eine »Arbeitsgemeinschaft Deutscher Naturforscher zur Erhaltung reiner Wissenschaft«. Ihr alleiniger Zweck war es, Einsteins Theorien zu bekämpfen. Selbst ernannte Fachleute, über deren Vergangenheit und Vorbildung niemand etwas wusste, schrieben Hetzartikel und hielten Vorträge. Die Organisation verfügte über große Geldmittel unbekannter Herkunft. Sie bot gute Honorare für Leute, die gegen Einstein sprechen wollten. In Einsteins Vorlesungen an der Universität erschienen erstmals eine große Zahl von konservativen Studenten, sie zischten und brüllten: »Juden haben an einer deutschen Hochschule nichts zu suchen.« Eines Tages waren die Litfaßsäulen voller Plakate, die eine Großveranstaltung in der Berliner Eissporthalle über »Wahrheit und Irrtum der Relativitätstheorie« ankündigten. Als Redner waren neben Paul Weyland, dem Führer der Anti-
Einstein-Organisation, auch ein bekannter Berliner Experimentalphysiker und ein Philosoph jüdischer Abstammung angekündigt, der beweisen sollte, dass Einsteins Theorien nur »Fiktion«, keine »Wahrheit« enthielten. Die Eissporthalle mit ihrer prächtigen Kuppel war eine Attraktion Berlins, hier fanden kulturelle Großereignisse und Konzerte statt. An diesem Abend waren die Sitzreihen und Logen voll besetzt. Schon vor dem Eingang wurden Flugblätter verteilt und Pamphlete verkauft, die sich gegen Einstein wandten. Weyland, ein dynamischer, durchaus gut aussehender Mann im Gehrock, versuchte das Publikum mit großer Hingabe aufzuheizen. »Ich weiß nicht«, rief er, »ob in der Geschichte der Wissenschaften ein ähnlicher Fall von Massensuggestion und Irreführung ernster Gelehrter in solchem Maßstabe vorgekommen ist. Es erscheint unfassbar, wie Mathematiker, Physiker, Philosophen, ja vernünftige Menschen überhaupt sich Derartiges auch nur vorübergehend einreden lassen konnten.« Leider war der jüdische Philosoph, der eigentlich ein Glanzpunkt der Veranstaltung hatte sein sollen, nicht erschienen, Freunde hatten ihn in letzter Sekunde davon abgebracht. So trat der Physiker auf. Sein mehr wissenschaftlicher Vortrag langweilte das Publikum schnell. Plötzlich wurde Gemurmel laut: »Einstein! Da sitzt ja Einstein!« Einstein hatte sich selbst eine Logenkarte gekauft. Freundlich lächelnd saß er da und hörte zu. Wenn der Redner ein Argument vorgetragen hatte, klatschte er Beifall. Schnell interessierten sich die Leute mehr für die Anwesenheit Einsteins als für den Vortrag.
Es gelang den Einstein-Gegnern, zwei bedeutende Physiker für ihre Sache zu gewinnen: Philipp Lenard und Johannes Stark. Lenard, der 1905 für die Entdeckung des photoelektrischen Effekts den Nobelpreis erhalten hatte, stellte sein ganzes Ansehen in den Dienst dieser Sache. Sowohl Lenard als auch Stark hatten Einstein bis zum Ersten Weltkrieg bewundert, ja geradezu verehrt und ihm überschwängliche Briefe geschrieben. Lenard war, in seiner nationalistischen Verblendung, ein schon fast tragischer Fall. Noch am 1. August 1914 hatte er zu seinem russischen Assistenten gesagt: »Wir wollen nun aber keinen Krieg gegeneinander führen.« Doch über Nacht ergriff ihn der Nationalismus, und er warf den russischen Assistenten hinaus. In seinen Laboratorien musste von allen Instrumenten die Bezeichnung für Stromstärke, »Ampere«, entfernt werden, um sie nach dem deutschen Physiker »Weber« zu nennen. Lenard konnte keine bedeutenden Beiträge zur Wissenschaft mehr erbringen. Er versuchte, eine »Deutsche Physik« zu schaffen, frei von allem Jüdischen, aber er konnte doch nicht die großen ‘ Fortschritte ignorieren, die Juden erreicht hatten. Im September 1920 fand in Bad Nauheim die Tagung der deutschen Naturforscher statt. Die Stimmung war auch hier aufgeheizt, bewaffnete Polizei schützte den Veranstaltungssaal. Draußen stießen Gruppen von Demonstranten aufeinander. Drinnen verteilten Assistenten und Schüler von Lenard, die mit angereist waren, Flugblätter, die vor der »jüdischen Zersetzung« durch Einsteins Lehren warnten. Lenard sprach scheinbar kühl, stellte zunächst fest, dass es einen gewichtigen Unterschied gebe zwischen deutscher Physik und jüdischer. »Dem Juden«, so erklärte er, »fehlt auffallend das Verständnis für Wahrheit, für mehr als nur scheinbare Übereinstimmung mit dem Wirklichen.« Natürlich
im Gegensatz zu »arischen Forschern mit ihrem ebenso unbändigen wie besorgnisvollen Wahrheitswillen«. Dann begann er wahllose Verleumdungen gegen die Juden auszustoßen. Er versuchte nicht einmal mehr, irgendeinen Zusammenhang zur Physik herzustellen. Planck, der die Sitzung leitete, versuchte, ihm das Wort zu entziehen. Da brüllten die Studenten antisemitische Parolen. Einstein riss die Geduld. Er stand auf und gab eine kurze, entschiedene Entgegnung: Er schätze Lenard als außergewöhnlichen Experimentalphysiker. Aber er habe als Theoretiker nichts Bedeutendes geleistet. »Ihre Einwände gegen die allgemeine Relativitätstheorie beweisen, dass Sie nicht einmal die mathematischen Methoden verstehen, mit denen sie aufgebaut ist. Sie bezeichnen meine Theorien als ›Bolschewismus in der Physik‹, und in Sowjetrussland werden sie als bürgerlich und reaktionär verdammt.« Nun drohte eine Saalschlacht auszubrechen. Doch glücklicherweise war es ein Uhr geworden, und Planck beeilte sich, die Sitzung offiziell zu schließen.
Ende März 1922 reiste Einstein auf Einladung des »College de France« nach Paris. Der Physiker Langevin und der Astronom Nordmann fuhren ihm bis zur belgischen Grenze entgegen, um ihn zu begleiten. In Frankreich war der Hass gegen Deutschland noch nicht abgekühlt. Die »Patriotische Jugend« und andere nationalistische Vereinigungen planten, dem deutschen Wissenschaftler einen unfreundlichen Empfang zu bereiten. Schon während der Zugfahrt erhielt Langevin ein Telegramm der Pariser Polizei, dass sich am »Gare du Nord«, wo der Zug eintreffen sollte, junge Leute zusammenrotteten. So wurde der Zug umgeleitet. Einstein musste auf einem Nebengleis
aussteigen und durch einen Seitenausgang auf die Straße gehen, wo ein Auto bereitstand. Auch sein Hotel wurde geheim gehalten. Die Menschen, die sich am Bahnhof »zusammengerottet« hatten, waren Studenten, die Einstein begeistert empfangen wollten. Aber sie waren die Ausnahme. Die Gesellschaft der französischen Physiker lehnte es ab, sich an den Veranstaltungen offiziell zu beteiligen. Und der Vorschlag, Einstein in die berühmte »Academie« einzuladen, löste eine erbitterte Debatte aus. Deutschland sei nicht im Völkerbund, also sei es unmöglich, ihn einzuladen. Endlich erklärten dreißig Mitglieder, sie würden sofort den Saal verlassen, wenn Einstein ihn betrete. In Paris traf Einstein seinen Freund Solovine wieder. Mit ihm und Langevin unternahm er nach den Vorträgen eine Reise zu Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. Er sah die verwüsteten Landschaften, die zerstörten Städte und Dörfer, die Schützengräben, in denen Deutsche und Franzosen sich gegenseitig vergast hatten. Er sagte zu Solovine, man müsse die Jugend, die Studenten hierher bringen, alle müssten das sehen, damit sie endlich aufhörten, sich Illusionen zu machen.
Wenig später wurde Walther Rathenau ermordet. Die Täter gehörten zu einer ultrarechten Geheimorganisation, die 1920, nach dem Scheitern des Kapp-Putsches, gegründet worden war. Bei Durchsuchungen fand die Polizei eine Liste für weitere Attentate, darauf befand sich Einsteins Name. Einstein sagte alle Termine ab und tauchte für einige Zeit unter. Im Oktober trat er zusammen mit Elsa eine Reise an, die ihn bis nach China und Japan führte.
Der schweifende Blick
Berlin, sagte man im Herbst 1923, schmecke nach Zukunft. Die Inflation hatte ihren absurden Höhepunkt und ihr Ende erreicht. Aus einer Billion Papiermark wurde eine Rentenmark. Die Stadt war ein wimmelnder Durchgangsplatz für Maler, Dichter, Musiker, nicht nur aus Deutschland, auch aus Österreich, Russland und ganz Osteuropa, dazu kamen Hunderttausende von Flüchtlingen. Jeder Tag brachte neue Ideen und Richtungen, neue Zeitschriften und politische Gruppen: Das nannte man »Das Berliner Tempo«. In den Kaffeehäusern wurde debattiert, überall blühten literarische und politische Salons, in denen sich die Reichen, die Künstler und Intellektuellen trafen. Da prallten politische Meinungen, oft leidenschaftlich, aufeinander; und jeder war eine eigene Partei.
Unentwegt kamen Bettler oder Schnorrer, Journalisten, größenwahnsinnige Erfinder und neugierige Touristen in die Haberlandstraße, die den berühmten Einstein sehen wollten. Darunter auch Menschen, die sich in ernster Not befanden. Einstein hätte alle vorgelassen. »Die Leute kommen doch nicht, weil es ihnen Spaß macht«, sagte er und: »Niemand bettelt gerne und ohne Not.« Wieder klingelte es an der Tür. Elsa öffnete einen Spalt. Eine Männerstimme rief: »Ich bin Mechtesheimer von der Vossischen Zeitung. Ich muss Professor Einstein sprechen. Wenn er nicht zu Hause ist, warte ich, bis er kommt.«
Elsa schloss die Tür und flüsterte: »Wie kommt der Kerl überhaupt hier rauf?« »Wahrscheinlich mit dem Fahrstuhl«, antwortete Einstein. Elsa sah ihn entnervt an. »Ich meine – es gibt doch den Portier, damit er solche Leute abweist.« »Das weiß doch jedes Kind, dass man keine fünfzig Pfennig braucht, um den Burschen zu bestechen.« »Aber er kann sich doch nicht bestechen lassen«, meinte Elsa empört. »Natürlich. Das gehört zu seinen Pflichten. Was wäre das sonst für ein Portier?« Elsa setzte sich schnaufend aufs Sofa. »Und was nun? Wie kommen wir ins Kino? Jetzt sind wir hier eingesperrt.« Einstein hatte den Flügel aufgeklappt und zupfte an den Saiten. »Dann nehmen wir eben den Dienstbotenausgang.« Elsa zeigte drohend Richtung Haustür. »Ich jedenfalls werde wegen dieser Person nicht durch den Dienstbotenausgang verschwinden.« Margot erschien im Wohnzimmer. »Der Reporter steht immer noch vor der Tür«, sagte sie halblaut. Einstein verfolgte mit verträumter Miene eine Melodie, die er auf den Saiten des Flügels zupfte. »Als Kind«, sagte er, »war mein liebster Platz unter dem Flügel. Ich bekam Klavierunterricht und sollte täglich üben. Das hasste ich. Aber unter dem großen Instrument konnte ich stundenlang sitzen. Wenn ich mit dem Mund Töne machte, dann hallte der ganze Resonanzkörper mit, und es entstanden merkwürdige, schaurige Geräusche.« Er legte den Kopf auf den Flügel und betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild im schimmernden schwarzen Lack. »Ich habe graue Haare bekommen«, sagte er besorgt.
»Und vor allem ziemlich lange«, sagte Elsa und hatte plötzlich eine Schere in der Hand. »Und jetzt kommt die Mähne ab!«
Als Einstein wenige Minuten nach seiner Flucht ausgehfertig im Flur stand, hatte er die Haare mit etwas Pomade nach hinten gekämmt, so dass die Frisur auf den ersten Blick gesitteter wirkte. Elsa konnte das nicht trösten, sie wusste, dass die Haare am Ende des Abends umso wilder abstehen würden. Sie setzte sich ihren runden Filzhut auf. »Der Mann steht noch immer im Flur«, flüsterte Hertha, das Hausmädchen. Sie war ein stämmiges blondes Mädchen mit breitem Gesicht. »Gut«, sagte Einstein. »Dann gebe ich ihm jetzt sein Interview.« Damit ging er zur Tür. Elsa hielt ihn am Ärmel fest. »Dann stehe ich als Lügnerin da.« Sie standen sich schweigend gegenüber. Elsa hatte sich schwer herausgeputzt. Einstein sah auf die Uhr. »In zehn Minuten kommt Pleschs Wagen. Was schlägst du nun vor?« Elsa sah ihn an, als ob das ganze Dilemma seine Schuld wäre. »Na gut«, sagte er schließlich. »Dann muss ich eben nach Hause kommen.« Damit nahm er Hut und Mantel und verschwand durch den kleinen Gang zur Dienstbotentreppe. Bald hörte man im Treppenhaus den Aufzug und dann Einsteins brummende Stimme im Flur, ganz überrascht: »Warten Sie auf mich?« »Herr Professor Einstein, entschuldigen Sie bitte meine Dreistigkeit, aber meine Existenz ist bedroht.« »Ihre Existenz?«, erkundigte sich Einstein besorgt.
Der junge Journalist holte tief Luft. »Man will mir kündigen. Es heißt, ich sei unfähig. Heute muss ja alles ein Reißer sein. Ich habe Frau und Kinder zu ernähren. Könnte ich ein Interview mit Ihnen liefern, meinte mein Vorgesetzter, sähe natürlich alles ganz anders aus.« »Aber worüber wollen Sie mich denn nun interviewen?«, fragte Einstein. »Das ist mir ganz gleichgültig«, sagte der Reporter. »Ich weiß schon, warum aus Ihnen nichts geworden ist«, sagte Einstein. »Ich habe eine ganze Menge Kollegen von Ihnen kennen gelernt, die haben von mir schon die Wahrheit über die Relativitätstheorie, die Lösung des Quantenrätsels, die Grundfragen des Pazifismus und eine Abrechnung mit dem Antisemitismus gehört.« »Wäre das nicht ein Thema«, schlug der Reporter vor, »Albert Einstein über die Presse!« In seinen glänzenden Augen konnte man die große Schlagzeile schon erahnen. »Na gut«, sagte Einstein. »Ich habe knapp zehn Minuten Zeit.« »Der Jazzsänger«, der erste Tonfilm, ganz neu aus Amerika, lief seit Wochen im prunkvollen »Gloria-Palast« am Kurfürstendamm. Die Geschichte war ergreifend: Ein frommer Jude aus New York will, dass sein Sohn, ein ausgezeichneter Sänger, Kantor in der Synagoge wird. Der Sohn aber will hinaus in die Welt und Karriere machen. Nach einem Streit verlässt er die Eltern. Er tritt, geschminkt als Neger, mit Jazzbands in teuren Nachtlokalen auf, feiert Erfolge in Paris und London. Doch er kann den Vater nicht vergessen und kehrt nach New York zurück. Er will um Verzeihung flehen, aber er kommt zu spät. Der Vater ist tot. Am Ende steht der berühmte Star in der kleinen Synagoge und singt für den Vater das alte hebräische Totenlied.
Einstein liefen, genau wie allen anderen Besuchern, die letzte halbe Stunde Tränen über die Wangen. Es war, als bewegten und unterhielten sich dort auf der Leinwand echte Menschen, echter noch als im Theater, da alles so diskret, zurückhaltend dargestellt war, sich auf Andeutungen beschränkte. Als Elsa und Albert Einstein, gemeinsam mit dem Strom der Kinobesucher, hinaus auf den Boulevard geschwemmt wurden, war es, als kämen sie aus der Wirklichkeit des Films in eine weniger reale Wirklichkeit. Man musste einen Augenblick stehen bleiben, die Augen schließen, dieses ganze Leben, das einem dort vor-, geführt worden war, sacken lassen.
»Und jetzt?«, fragte Einstein. »Das Romanische Café?«, meinte Elsa. Dort traf sich alles, was Rang und Namen hatte, Else LaskerSchüler, der »Prinz von Theben« genannt, Tucholsky, Brecht, Joseph Roth, Klaus und Erika Mann. Gleich links vom Eingang hatte der Maler Slevogt seinen Stammtisch, dort saßen Künstler und reiche Sammler, wie Einsteins Freund Janos Plesch. Eine Treppe führte hinauf zur Galerie, die den Schachspielern vorbehalten war, dort residierte der Schachweltmeister und Philosoph Emanuel Lasker. Als Professor Einstein und Frau das Romanische Café betraten, wurde sofort ein Tisch geräumt, an dem zwei undurchsichtige Gestalten mehr gehangen als gesessen hatten. Der Kellner brachte, ohne die Bestellung abzuwarten, ein Glas Likör für Elsa, für Einstein Kognak und Zigarre. Auch wenn die Haare langsam grau wurden, so hatte er doch das, was Elsa »den schweifenden Blick« nannte: Er schaute, wenn auch nicht jedem, so doch jedem zweiten Rock hinterher, und wo sich die Gelegenheit bot, flirtete er.
Leider war Elsa zu kurzsichtig, um zu sehen, was oder wen Einstein betrachtete. Aber andererseits war sie auch zu eitel, um im Café ihr Lorgnon zu benutzen, und zu eifersüchtig, um Einsteins wandernden Blick zu ignorieren. So setzte sie sich direkt vor ihren Mann. Sobald er seinen Blick auf etwas lenkte, schob sie sich dazwischen oder zupfte an ihm herum. Nur eins konnte er ungestört betrachten: den Fußboden.
Als Einstein am nächsten Morgen spazieren ging, kam er, in Gedanken versunken, in die ärmlichen Abrissgebiete nördlich des Alexanderplatzes. Hier lebten die Gescheiterten und Kranken in elenden Verhältnissen. Auch ein großer Teil der Juden, die vor den Pogromen aus der Ukraine oder Polen geflüchtet waren, wohnte hier. Es war ein Slum im Herzen Berlins, an Armseligkeit und Schmutz kaum zu überbieten. Einstein hatte den Handzettel einer merkwürdigen Splitterpartei betrachtet, der auf dem Bordstein lag. Antisemitische Parolen waren mit pseudosozialistischen Forderungen gemischt. Als Symbol diente ein altes mythologisches Zeichen, das Hakenkreuz. Hier, in den Elendsvierteln, suchten solche Splittergruppen ihre Anhänger. Als er aufschaute, sah er einen Mann, verlumpt und offensichtlich betrunken, auf die Straße torkeln. Ein Lastwagen kam mit hoher Geschwindigkeit auf den Mann zu. Einstein sprang auf die Straße und zog den Betrunkenen zurück. Der wehrte sich heftig. Beinahe wären sie beide gestürzt. Im letzten Augenblick gelang es Einstein, den Mann einen halben Meter nach hinten zu zerren. Der Laster fuhr polternd und hupend an ihnen vorbei. Erst in diesem Moment schien der Mann richtig zu sich zu kommen. Er öffnete die zugeschwollenen Augen etwas weiter, drehte verwundert den Kopf und sagte: »Mann, das war
knapp!« Zu Einstein gewandt sagte er: »Sie wären wohl auch fast druntergeraten?« Es war kein junger Mann mehr, wenn auch sein tatsächliches Alter schwer zu schätzen war. Das Gesicht war voller Falten, aber der verklebte Bart und die vollen Haare noch tiefschwarz. »Ich habe versucht, Sie zurückzuziehen«, sagte Einstein. Der Mann stützte sich auf seine Schulter. Oje, dachte Einstein. Der braucht dringend ein Vollbad. Auch ein Mittel gegen Mundgeruch wäre angezeigt. Der Mann stützte sich heftig an ihm ab, um sich vollständig aufzurichten. Er war groß und breit gebaut, muskulös. »Verdammt und zugenäht. Sie sind doch der berühmte Professor Einstein.« Er trat einen Schritt zurück, als müsse er Einstein aus einer gewissen Entfernung mustern. »Der weltberühmte Professor Einstein hat mir das Leben gerettet. Mann, das muss gefeiert werden.« Damit brachte er einen fast leeren Flachmann hervor und hielt ihn Einstein entgegen. Einstein sah ihn an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Natürlich«, sagte der Mann und nahm die Flasche wieder zurück. »So einer wie Sie, der trinkt natürlich keinen Schluck.« Er hob den Arm und schlug die Faust auf einen imaginären Tisch. »Aber so einer wie ich, der lässt sich das Trinken nicht verbieten.« Dann nahm er einen Schluck aus dem Flachmann und hustete. »Na ja, alles ist relativ«, sagte er, betrachtete das Etikett des Flachmanns und steckte die Flasche wieder in seine Jackentasche. Er torkelte zurück. Einstein machte hastig einen Schritt vorwärts, um ihn zu halten. »Kommen Sie«, sagte er. »Setzen wir uns einen Moment auf diese Bank.« An einer Hauswand lehnte eine aus einfachen Brettern zusammengenagelte Bank. Der Mann ließ sich wie ein Mehlsack darauf plumpsen.
Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Der Mann schien in eine Art Halbschlaf gefallen zu sein. Gerade als Einstein beschloss, sich besser zu entfernen, richtete der Mann sich auf und sagte, mit erhobenem Zeigefinger: »Ich komme vom Land, und ich hab nur ein paar Jahre Volksschule hinter mir. Aber ich hab manches gelesen. In unserer Kleinstadt, da waren Ihre Theorien nichts Neues. Nämlich unser Stadtarzt, der kam jeden Abend ins Wirtshaus, zündete sich seine Pfeife an und nahm seinen ersten Schluck Bier mit den Worten: ›Alles ist relativ.‹« »Das ist nicht exakt das, was die spezielle Relativitätstheorie meint«, sagte Einstein. Der Mann hob die Hand mit gebieterischer Geste, wie ein römischer Heerführer, um Einstein zum Schweigen zu bringen. Dann schaute er in den Himmel. »Die Sonne«, sagte er, »jetzt ist sie gerade nicht zu sehen, aber wenn sie zu sehen ist – dann ist mir das doch völlig egal, warum das Ding da entlangzieht, ob das irgendein Gott anstellt, Helios oder Zeus, oder ob das die Gravitation ist.« »Wahrscheinlich ist es die Raum-Zeit-Krümmung«, ergänzte Einstein. »Jawoll. Oder die Raum-Zeit-Krümmung. Ist doch völlig egal«, sagte der Mann. »Schauen Sie sich doch um, wie die Leute hier hausen. Alles voller Ratten und Müll und Kinder mit Kartoffelbäuchen, und die Mütter gehn auf den Strich, und wer noch Arbeit hat, der malocht sich zuschanden.« »Das ist aber nicht die Schuld von uns Physikern«, sagte Einstein. Doch der Mann war nicht mehr zu bremsen. »Euer mathematisches Denken«, sagte er, »das nutzt mir doch keinen Pfifferling. Ihr macht aus Scheiße Gold, das ist die ganze Geschichte. Und dann kriegt ihr Nobelpreise umgehängt und fahrt in Limousinen mit Chauffeur durch die Stadt.«
Wieder sank der Mann in sich zusammen. Schräg gegenüber, vor einer Gaststätte, lehnten breitschultrige Männer, wahrscheinlich Zuhälter. Einer, mit zerdrückter Boxernase, drängte ein Strichmädchen gegen die Wand. Niemand kümmerte sich hier darum. Ein paar Meter daneben hockten alte Ostjuden mit verfilzten Bärten auf Obstkisten, sie gestikulierten heftig, hin und wieder hörte man Fetzen von jiddischen Ausrufen. Eine Straßenecke weiter hockte eine Gruppe Jugendlicher mit kommunistischen Abzeichen an den Jacken. Aus der Kneipe kam nun ein Trupp von SA-Männern mit braunen Uniformen. Als sie an den Juden vorbeigingen, spuckten sie auf den Boden. Als sie an den Kommunisten vorbeimarschierten, wurden ein paar heftige Flüche gewechselt. Was wird aus diesem Gemisch einmal werden?, fragte sich Einstein. Die neue Welt? Oder ein Horror? Der Betrunkene schien das Gespräch nicht mehr fortsetzen zu wollen. Doch in dem Augenblick, als Einstein sich erheben wollte, richtete er sich auf, lehnte sich schwer an Einstein und sah ihn mit seinen blutunterlaufenen Augen direkt an. Er wollte natürlich Geld. Einstein gab ihm ein paar Groschen.
Alles ist nichts
»Gott würfelt nicht.« Albert Einstein So, wie die Astronomen bei der Erforschung des Weltalls auf unermessliche Entfernungen gestoßen waren, so stieß man bei der Erforschung der Atome auf unermessliche Kleinheit. Die kleinsten Objekte, die man unterm Mikroskop sehen kann, enthalten bereits Millionen von Atomen. Atome, geschweige denn Elektronen, hat noch nie ein Mensch gesehen, sie sind viel zu klein. Um die Atome eines Tennisballs sehen zu können, müsste der Tennisball die Größe der Erde haben. Doch Atome bestehen aus noch kleineren Teilchen, und zwar, wie man seit Rutherfords Entdeckungen annahm, aus einem positiv geladenen Atomkern, um den negativ geladene Elektronen kreisen. (Dies ist das PlanetenModell des Atoms.) Um den Kern des Atoms sehen zu können, müsste das Atom so groß sein wie ein vierzehnstöckiges Hochhaus. Der Petersdom im Vatikan hat ungefähr einen Durchmesser von vierzehn Stockwerken. Man stelle sich ein Körnchen Salz in der Mitte des Petersdoms vor und ein paar Staubteilchen, die am Rande des Doms kreisen. Das gibt einen Maßstab für das Innere des Atoms. Die angeblich feste Materie besteht also aus riesigen Löchern. Immerhin hatten Rutherford und dann Niels Bohr Atomkerne und Elektronen wie ganz normale materielle Objekte behandelt. Nach Rutherfords Atommodell bewegen sich die Elektronen in Bahnen um den Atomkern. Aber nach der
Newtonschen Physik konnten diese Bahnen nicht stabil sein. Die Atome hätten in sich zusammenbrechen müssen. Bohr fand eine Lösung für dieses Problem: Er erklärte, dass sich die Elektronen nur auf bestimmten, festgelegten Bahnen bewegen konnten. Sprangen sie von einer höheren Bahn auf eine tiefere, gaben sie Energie ab: Daher wurde die Energie stets in bestimmten Quanten abgegeben, und dies entsprach genau den Beobachtungen, die Planck zu seiner Quantentheorie geführt hatten. Die so genannten Quantenbedingungen sorgten in Bohrs Atommodell für die Stabilität der Atome. Es stellte sich die Frage, wie diese Bedingungen zustande kommen und wieso für Elektronen nur ganz bestimmte Bahnen erlaubt sein sollten. Nach der klassischen Physik gab es keinen Grund, warum die Natur bestimmte Bahnen wählte, während andere ausgeschlossen blieben. Vielmehr durften die Bahnen nur von der Masse und der Geschwindigkeit der Teilchen abhängen. Wieso sollten die Teilchen von einer Bahn zur anderen »springen«, anstatt sie allmählich zu wechseln? Und wieso ließ sich nicht vorhersagen, wann dieser »Sprung« stattfindet? Um Position und Geschwindigkeit eines Teilchens genau zu messen, muss man das Teilchen, weil es für unsere Augen unsichtbar ist, mit Licht bestrahlen. Will man die Position des Teilchens möglichst genau bestimmen, muss man Licht mit möglichst kurzer Wellenlänge benutzen, da weit auseinander liegende Wellenkämme das Teilchen verfehlen würden. Licht mit kurzer Wellenlänge aber enthält auch entsprechend mehr Energie. Diese Energie wiederum würde das beobachtete Teilchen sofort aus seiner Bahn werfen und seine Richtung und Geschwindigkeit unkontrollierbar verändern. Je genauer man die Position des Teilchens feststellen möchte, je energiereicheres Licht man benutzt, desto stärker ändert sich die Bewegung des Teilchens. Es ist also überhaupt nicht
möglich, Position und Bewegung eines Teilchens genau zu kennen. Heisenberg war gerade 23 Jahre alt, als er, während eines Erholungsurlaubs auf Helgoland, zu dieser Erkenntnis kam. Aus der »Heisenbergschen Unschärferelation« folgt zweierlei: Erstens kann man auf der subatomaren Ebene nicht beobachten, ohne zu beeinflussen. Man kann nicht so tun, als seien die Ergebnisse von Experimenten unabhängig von der Tatsache, dass wir experimentieren. Im Gegenteil: Durch das Experiment greifen wir in die Wirklichkeit ein. Zweitens: Da es unmöglich ist, den gegenwärtigen Zustand eines Teilchens zu bestimmen, ist es auch unmöglich, seine Zukunft vorherzusagen. Da es nicht vorherbestimmbar ist, wann die Quantensprünge im Atom – die Sprünge der Elektronen von einer Bahn zur anderen – stattfinden, kehrt plötzlich der Zufall zurück ins Reich der exakten Naturwissenschaften. Dem gesunden Menschenverstand zufolge ist etwas entweder Teilchen oder Welle, entweder an diesem oder an einem anderen Ort. Dass Teilchen gleichzeitig hier und dort sind, klingt nicht logisch. Ungefähr zur selben Zeit, als Heisenberg auf Helgoland Urlaub machte, fuhr Niels Bohr, völlig erschöpft von der jahrelangen intensiven Arbeit, für vier Wochen zum Wandern nach Norwegen. Dort fand er eine Lösung. Er ersetzte die einander ausschließenden Vorstellungen durch den Begriff »Komplementarität«. Komplementarität bedeutet: Es ist eben nicht das eine oder das andere, sondern das eine und das andere. Es ist sinnlos zu fragen, ob Licht nun Welle oder Teilchen sei. Nach Bohr ist es unmöglich, zu beschreiben, was in der Natur »wirklich« vorgeht. Man kann mit unseren sprachlichen Mitteln nicht die Natur beschreiben. Wir können nur beschreiben, was wir als Folgen der natürlichen Vorgänge an physikalischen Apparaten beobachten können. Es gibt nicht eine einzige Wirklichkeit, die
wir in Versuchen erkennen können, sondern nur verschiedene Versuchsanordnungen mit unterschiedlichen, aber gleich wirklichen Ergebnissen. Die Atomphysiker trafen sich 1927 in Kopenhagen. Sie einigten sich darauf, diesen Zustand nicht als unbefriedigende Übergangslösung zu betrachten, sondern als eine Aussage über die Wirklichkeit der Natur. Die Veränderungen in den Atomen gehen sprunghaft vonstatten, und es ist nicht möglich, sie vorherzusagen. Das ist der Kern der »Kopenhagener Deutung der Quantentheorie«. Es gibt keine echte Kausalität mehr, sondern nur noch Wahrscheinlichkeiten. Man kann die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der ein bestimmtes Ergebnis eintrifft. Aber es kann eben auch ein anderes Ergebnis eintreffen. Die Kopenhagener Deutung akzeptiert die Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnismöglichkeit. Einstein war entsetzt. Er sprach vom »Ende der Physik«. Nach der Relativitätstheorie konnte ein Ereignis für einen Betrachter noch in der Zukunft liegen, das für einen anderen schon Vergangenheit ist. Daraus musste folgen, dass die Zukunft restlos vorherbestimmt ist. Die Unschärferelation und die Unbestimmtheit des Quantensprungs mussten aus der Unzulänglichkeit der Instrumente folgen, nicht aus der Unzulänglichkeit in der Natur.
Im Herbst 1927, auf dem 5. Solvay-Kongress in Brüssel, sollte Einstein auf die Vertreter der »Kopenhagener Deutung« treffen, sollte die »Schlacht um den Zufall« stattfinden. Elsa hatte darauf bestanden, dass er mit drei voll gepackten Koffern nach Belgien reiste. Er musste zwei zusätzliche Anzüge mitnehmen und für jeden Tag frische Hemden. Zwei der Koffer hatte er gleich am Bahnhof bei der Gepäckaufbewahrung gelassen. Auch den dritten brauchte er
nicht zu tragen, ebenso wenig wie die Aktentasche mit den Notizen. Ehrenfest hatte es nicht zugelassen, dass Einstein etwas außer dem Regenschirm trug. Während sie den GrandPlace mit den von Goldstuck glänzenden flämischen Giebelhäusern überquerten, sprach Ehrenfest in noch kürzeren, atemloseren Sätzen als gewöhnlich. Er berichtete von Bohr und Schrödinger, die sich kurz vor der Konferenz getroffen hatten, um ihre Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Quantenmechanik zu klären. »Schrödinger hat sich noch nicht ganz erholt«, sagte Ehrenfest. »Er wohnte in Kopenhagen bei Bohrs, so dass sie die Gespräche vom frühen Morgen bis spät in die Nacht ohne Unterbrechung führen konnten.« »Beneidenswert«, seufzte Einstein. »Sie wissen ja, wie Bohr ist. Er gibt natürlich jedermann Recht. Und dann sagt er: Aber das beweist noch lange nicht, dass es keine Quantensprünge gibt. Es beweist nur, dass wir sie uns nicht vorstellen können.« Sie waren in eine der leicht ansteigenden Gassen der Brüsseler Altstadt eingebogen. Die kleinen Restaurants hatten Tische und Stühle aufs Pflaster gestellt, Muscheln und Fische lagen auf großen Eisblöcken in den Auslagen. Dazwischen saßen Maler vor ihren Staffeleien und Schmuckverkäufer. Sie mussten sich durch das Gedränge der Passanten wühlen. »Jedenfalls«, fuhr Ehrenfest fort, als sie auf einen breiten Boulevard gelangt waren, »nach vier Tagen ist Schrödinger am Ende und bricht zusammen. Fieber, Schnupfen, Heiserkeit, er muss ins Bett. Frau Bohr kümmert sich rührend um ihn, bringt Tee und Kuchen, aber wer sitzt auf der Bettkante und spricht unerbittlich auf den Kranken ein? Niels Bohr. ›Aber Sie müssen doch einsehen…‹ Es ist mir ein Rätsel, woher er die Energie nimmt.«
Das Begrüßungsessen fand im Café Metropole statt. Um zwei zusammengestellte Tische saßen die berühmtesten Physiker der Welt: Marie Curie, Paul Langevin, Max Planck, H. A. Lorentz, Albert Einstein, Max Born, Niels Bohr, Erwin Schrödinger. In diese Runde hatten einige noch ganz junge Männer Aufnahme gefunden: der Schweizer Wolfgang Pauli war 27 Jahre, Werner Heisenberg, der bereits als Anwärter für den Nobelpreis galt, gerade 26 Jahre alt. Bohr und Einstein hatten bereits, über Plancks Schulter hinweg, eine intensive Auseinandersetzung begonnen. Schon setzte Bohr zu einem längeren Vortrag an. Planck hatte sich seine Zigarre angezündet und paffte, halb auf dem Tisch liegend, da sich Einstein inzwischen auf seiner Stuhllehne abstützte. Lorentz brachte die Runde mit einem vorsichtigen Löffelschlag gegen seine Kaffeetasse zum Schweigen. Während die Gespräche verebbten und sich alle Blicke auf Lorentz richteten, diskutierten Einstein und Bohr, halb flüsternd, weiter. Einstein hatte inzwischen einen Salzstreuer zu Hilfe genommen und zeigte mit spitzem Zeigefinger auf einzelne Salzkörner, die er auf seine Hose fallen ließ. Bohr hatte den Zeigefinger an die vorstehenden Zähne gelegt und schwieg andächtig. »Monsieur Einstein, Monsieur Bohr«, sagte Lorentz. Die beiden schauten nicht auf. Planck richtete sich halb auf und wandte sich ihnen verstört zu. »Meine Herren«, sagte er. Bohr und Einstein sahen erstaunt auf. »Ja?«, fragte Einstein. Als Planck nicht sofort reagierte, fuhr Einstein im Flüsterton zu Bohr fort: »Da können Sie doch schwerlich behaupten, dass eine restliche, von null verschiedene Wahrscheinlichkeit bleibt. Das Salzkorn befindet sich…«
»Meine Herren«, sagte Lorentz. »Wir sind doch hier zusammengekommen, um gemeinsam zu sprechen. Wie wäre es, wenn Sie uns alle zuhören lassen.« Einstein und Bohr sahen sich verwirrt an. Für einen Moment schien es, als wollten sie Lorentz’ Vorschlag einfach ignorieren und weiterreden. Doch dann richtete sich Einstein auf und rückte an den Tisch heran. »Gerne«, sagte er. Er zog an seiner Zigarre, stellte den Salzstreuer vor sich auf die Tischdecke und begann: »Wir können in der Nebelkammer die Bahn eines Elektrons beobachten. Es handelt sich um eine klare Bahn. Es besteht kein Grund, dieser Bahn ihre Realität abzusprechen. Will man das Verhalten eines einzelnen Elektrons beschreiben, braucht man gar keine Unschärferelation.« »Moment«, unterbrach ihn Bohr. »In der Nebelkammer sehen wir nicht das Elektron, wir sehen nur die Wassertröpfchen, also den Kondensstreifen, den es hinterlässt. Diese Wassertröpfchen sind natürlich viel größer als ein Elektron.« Einstein setzte seine Argumentation fort: »Mit diesem Einwand habe ich gerechnet. Deshalb habe ich mir ein Gedankenexperiment überlegt. Bei der Demonstration kommt mir nun dieser Salzstreuer zu Hilfe.« Er hob den kleinen gläsernen Salzstreuer hoch. »Oben im Deckel des Salzstreuers befindet sich ein kleines Loch, gerade groß genug, dass ein Salzkörnchen zur Zeit hinausgelangen kann.« Die Runde nickte zustimmend. »Angenommen, die Salzkörnchen sind Elektronen, die wir durch eine kleine Öffnung schießen. Da die Öffnung sehr klein ist, können Beugungserscheinungen entstehen. Das Elektron berührt den Rand der Öffnung und wird dadurch abgelenkt. Man kann also nicht genau bestimmen, wo das Salzkörnchen aufkommen wird. Man kann nur die Wahrscheinlichkeit
angeben, mit der das Körnchen an einem Punkt landet. Das trifft im Rahmen jeder Physik zu. Wenn sich nun das Salzkörnchen für eine Richtung entschieden hat und an einem Punkt ankommt, passiert bei den anderen Punkten gar nichts. Nach Niels Bohr aber gibt es immer noch eine relevante Wahrscheinlichkeit, das Salzkörnchen könne an einem anderen Punkt ankommen. Das ist doch absurd.« Einstein nahm einen Zug von seiner Zigarre. Allgemein wurde genickt, doch die jungen Anhänger Bohrs schüttelten umso heftiger die Köpfe. »Die Quantenmechanik ist unfähig, individuelle Elektronen zu behandeln«, fuhr Einstein fort. »Sie kann sich nur mit dem Verhalten von Gruppen beschäftigen. Damit kann aber nicht behauptet werden, es sei das letzte Wort über Atome gesprochen.« Bohr hatte vollkommen vergessen, an seiner Pfeife zu ziehen. Nun brachte er eine überdimensionierte Streichholzschachtel zum Vorschein. Aber noch während er sie öffnete, begann er zu sprechen, und er behielt das Streichholz die ganze Zeit über in der Hand. »Nicht um zu kritisieren, nur um zu verstehen«, begann er. »Sie sind schon damit einverstanden, überhaupt eine Wahrscheinlichkeit zu berechnen. Sie sehen nur nicht ein, warum das Elektron, wenn es an einem Punkt angekommen ist, auch noch Auswirkungen auf einen anderen Punkt hat.« »Ganz genau«, sagte Einstein. »Oder nehmen Sie an, dass die Elektronen sich durch magische Kräfte gegenseitig beeinflussen?« »Die Elektronen, durch eine enge Öffnung geschossen, werden gebeugt«, sagte Bohr. »Das akzeptieren wir alle. Jetzt fügen wir einen weiteren Deckel hinzu, in dem sich diesmal zwei Öffnungen befinden. Und dahinter befindet sich eine fotografische Platte. Was passiert nun, wenn der
Elektronenstrahl so schwach ist, dass immer nur ein Elektron einzeln die erste Öffnung passiert? Ganz einfach: Auf der fotografischen Platte kommt immer nur ein einzelnes Teilchen an. Dennoch entsteht, wenn viele Teilchen ihren Weg gemacht haben, ein Interferenzmuster. Als hätten wir durch die Öffnungen Lichtwellen geschickt, die sich teilweise gegenseitig aufheben.« Inzwischen saß die ganze Runde vorgebeugt. Niemand zog mehr an seiner Zigarre, sie waren alle ausgegangen. Auch den Kaffee ließ man kalt werden. »Es entsteht ein Interferenzmuster«, sagte Bohr, »und solche Versuche sind bereits durchgeführt worden. Wie können sich aber Wellen aufheben, wenn nur von einzelnen Teilchen die Rede ist? – Wir müssen folgern, dass ein Elektron, das durch den Schlitz gelaufen ist, ein späteres, nachfolgendes Elektron beeinflusst. Das Elektron ist auch dort spürbar, wo es nicht erscheint.« »Aber das hieße«, sagte Planck mit schwerer Stimme, »dass sich die Elektronen absprechen. Weil ich hier gelandet bin, kannst du nun nicht mehr dort landen, denn es muss ein Interferenzmuster entstehen.« »Das sind die Versuchsergebnisse«, mischte sich Heisenberg ins Gespräch. »Das können Sie nicht ignorieren, nur weil es Ihren Vorstellungen nicht entspricht.« »Ja, aber was ist denn dann ein Elektron?«, fragte Einstein verärgert. »Es ist«, sagte Heisenberg, »vielleicht viel, viel mehr, als wir denken.« In den folgenden vier Tagen der Konferenz traf man sich schon am Frühstückstisch im Hotel. Die halbe Nacht hatte Einstein über einem neuen Gedankenexperiment gebrütet, das er nun schilderte. Jedes Mal glaubte er, die inneren Widersprüche der Kopenhagener Deutung offenbart zu haben.
Im Laufe des Tages wurden viele Gespräche geführt, und beim Abendessen war es dann so weit, dass Bohr beweisen konnte, dass auch das neue Experiment nicht im Widerspruch zur Unschärferelation stand. Jede Beobachtung eines Elektrons verursachte einen nicht berechenbaren Stoß, der den Impuls des Elektrons veränderte. Jede Methode, die Einstein vorschlug, um diesen Stoß zu messen, bedeutete eine neue Beobachtung, die wiederum von einem Stoß begleitet war. Einstein konnte zwar sachlich nichts gegen Bohrs Argumentation einwenden, wollte sich aber nicht überzeugen lassen. Er selbst hatte die Theorie eingeführt, dass Licht sowohl Welle als auch Teilchen sei. Als dann die Welle-TeilchenDualität auf die Materie ausgedehnt wurde, hatte Einstein dies akzeptiert, denn es bedeutete auch eine Vereinheitlichung. Aber Bohrs Schluss, dass man Welle und Teilchen als einander ergänzende, komplementäre Bilder akzeptieren musste, konnte er nicht hinnehmen. Dagegen bäumte sich sein Instinkt auf. Sie gingen, an einem sonnigen Oktobernachmittag, durch die Lindenalleen im Park vor dem Palais Royal. Einstein hatte es aufgegeben, Bohr noch zu überzeugen. Er stand ja doch ganz alleine. Planck und die anderen älteren Physiker waren in diesen Fragen eben einfach nicht ganz ernst zu nehmen. Die Jungen aber, die sich mit den Problemen beschäftigten, standen alle auf Bohrs Seite; abgesehen von Schrödinger, der sich auf seine Wellentheorie versteift hatte. »Der Fehler liegt beim Betrachter, nicht bei den Atomen«, sagte Einstein. Bohr nickte nur. »Gott würfelt nicht«, fuhr Einstein fort. »Und selbst wenn. Dann wüsste er vorher schon, welche Zahl fällt.«
»Und warum sollte er nicht würfeln?«, entgegnete Bohr. »Vielleicht wird dem alten Kerl langweilig, so ganz ohne Zufälle.« Es hat doch keinen Sinn, mit ihm zu reden, dachte Einstein. Er glaubt natürlich an gar nichts. »Sie wissen doch ganz genau, was ich mit Gott meine«, sagte Einstein. »Ich verstehe Sie schon«, antwortete Bohr. »Aber warum sollte das Universum Zufälle nicht lieben? Wie kommen Sie darauf, dass das Universum deterministisch ist? Haben Sie dafür irgendwelche experimentellen Beweise?« »Natürlich nicht«, sagte Einstein. »Aber es ist doch eine notwendige Annahme. Sonst brauchen wir gar keine Naturwissenschaft mehr zu betreiben. Wenn wir annehmen, dass die Vorgänge im Universum von Zufällen abhängen, wozu sollen wir dann nach Gesetzen forschen?« »Sie suchen immer das Entweder-oder«, sagte Bohr. »Die Wahrheit liegt viel tiefer.« »Die Wahrheit liegt viel tiefer«, sagte Einstein grimmig. »Und der Fehler liegt beim Betrachter und nicht bei den Atomen. Denken . Sie ans Wetter. Natürlich ist es unmöglich, das Wetter genau vorherzusagen, dafür spielen zu viele Ursachen mit. Wir können unmöglich alle Faktoren berechnen, die auf das Wetter einwirken. Aber deshalb ist die Entwicklung des Wetters doch nicht zufällig.« »Das kann wahr sein«, meinte Bohr nachdenklich. »Oder eben auch nicht. Und es gibt keine Möglichkeit, es zu überprüfen.« Das für Einstein eigentlich Frustrierende an diesen Unterhaltungen war das Gefühl, dass Bohr für seine Antworten keine Sekunde nachzudenken brauchte. Es war offensichtlich, dass sich Bohr alle diese Einwände bereits selbst gestellt hatte.
Nachdem sie eine Weile schweigend gegangen waren, sagte Bohr unvermittelt: »Ach, egal. Hauptsache, wir bleiben Freunde.« Einstein musste lachen, um nicht zu weinen. Auch Bohr ließ sich von dem Lachen anstecken. So gingen sie durch die strengen Anlagen vor dem Brüsseler Königspalais und lachten schallend. »Worüber lachen Sie?«, erkundigte sich Bohr nach einer Weile. Einstein antwortete, ohne zu überlegen. »Über Ihre Theorie. Und Sie?« »Über Ihre«, antwortete der Däne, und beide brachen sie erneut in Gelächter aus. An diesem Abend saß Einstein mit Ehrenfest im Café Metropole. Einstein wollte mit dem Nachtzug nach Berlin fahren. Er hatte sich einen Toast bestellt und konzentrierte sich aufs Essen. Ehrenfest sah ihn mit seinen tiefen, viel zu tiefen Augen an. »Ich habe mich ein paarmal für Sie geschämt in den letzten Tagen«, sagte er. »Wieso das?«, fragte Einstein. »Weil Sie sich genauso stur verhalten wie Ihre Kritiker vor zwanzig Jahren.« »Es ist nun einmal das Ziel der Physik, die Realität zu beschreiben«, sagte Einstein. »Ich verstehe gar nichts mehr«, sagte Ehrenfest leise. »Manchmal zweifle ich daran. Ich weiß nicht, was mit meinem Kopf los ist. Wenn ich so vor meine Studenten trete und ihnen die neuen theoretischen Entwicklungen erkläre, wenn ich da stehe, überkommt mich das Gefühl, dass ich selbst nichts mehr begreife.« Eine Pause entstand. Einstein legte seine Hand auf Ehrenfests Hand. Er zitterte ja. Seine Haut war eiskalt.
»Ich weiß nicht mehr weiter«, sagte Ehrenfest. »Manchmal glaube ich, ich schmeiße die ganze Physik hin.« »Und dann?«, fragte Einstein. Wie sollte er den Freund trösten? Er wusste ja selbst nicht, wie es mit den Quantensprüngen weitergehen sollte. Eine Frage, die Heisenberg irgendwann im Laufe der Tagung gestellt hatte, ging ihm durch den Kopf. Er hatte gefragt, ob die Elementarteilchen wirklich schon die letzten, kleinsten Einheiten der Materie darstellen. »Wie kann man das feststellen? Vielleicht lassen sie sich noch weiter teilen.« Er hatte geklungen, als spräche er über das Wetter. Neben ihm hatte Pauli gestanden, ein gemütlicher, rundlicher Schweizer. »Sicher«, hatte Pauli geantwortet. »Sie lassen sich teilen. Und dabei wird man erkennen, dass die Elementarteilchen alle aus dem gleichen Stoff gemacht sind, nämlich aus Energie.«
Das neue Haus
Als Einsteins erste Vorarbeit zu einer umfassenden Feldtheorie im Januar 1929 von der Akademie der Wissenschaften veröffentlicht wurde, führte das in der ganzen Welt zu Schlagzeilen. Eine Feldtheorie versucht, physikalische Erscheinungen als Folgen eines Feldes zu erklären – beispielsweise die Wirkung eines Magneten durch ein magnetisches Feld. Einstein hoffte, mit einer umfassenderen Feldtheorie die Rätsel der Quantenphysik lösen zu können. Sein Ziel war es, den Gegensatz zwischen Materie und »Kraftfeld« aufzuheben, zu beweisen, dass sie im Ursprung dasselbe sind. Diese Theorie bestand fast ausschließlich aus hochkomplexen mathematischen Formeln. Obwohl sie für den Laien völlig unverständlich waren und bestenfalls von einigen Experten gelesen werden konnten, hieß es plötzlich überall, Einstein habe mit einer sensationellen Entdeckung die Geheimnisse des Alls und der Materie entschlüsselt. Eine amerikanische Tageszeitung ließ sich die gesamte Abhandlung nach New York telegraphieren, um sie als Erste drucken zu können. Die wildesten Spekulationen waren überall zu lesen. Die Situation war vergleichbar mit dem Rummel, der Einstein 1919 über Nacht weltberühmt gemacht hatte. Diesmal jedoch handelte es sich um eine Theorie, aus der sich keinerlei praktische Schlüsse ergaben, um einen ersten, bescheidenen Schritt in eine neue Richtung. Aber das hinderte niemanden an dem Glauben, die vertrackten Formeln stellten den Schlüssel zum Universum dar. Wer das zu bezweifeln wagte, setzte sich nicht nur dem Hohn und Spott seiner Mitmenschen aus,
sondern lief auch Gefahr, als Feind der Wissenschaft beschimpft zu werden. Im März desselben Jahres sollte Einstein fünfzig werden. Nun überlegte die Regierung der Stadt Berlin, wie man den berühmten Bürger ehren könnte. Oberbürgermeister Böß hatte Einstein auf Pleschs Landgut an der Havel kennen gelernt. Im Laufe der Unterhaltung hatte Böß gefragt, ob Einstein einverstanden wäre, wenn ihm die Stadt Berlin zu seinem 50. Geburtstag ein Haus am Wasser schenkte, etwa am Havelsee. Einstein hatte nichts dagegen. Zunächst geschah nichts. Dann, knapp vier Wochen vor seinem Geburtstag, erhielt Einstein einen Brief. Der Magistrat bat ihn, ein Haus in Neu Cladow bei Berlin zu besichtigen. In den Illustrierten erschienen schon Bilder des »idyllischen Einsteinhauses«, das mitten in einem großen Park, nahe der Havel, gelegen war. Doch als sich Elsa und Albert das Haus ansehen wollten, bemerkten sie überrascht, dass dort Leute lebten. Folgendes stellte sich heraus: Die Stadt Berlin hatte das Gut Neu Cladow für einen ungeheuren Betrag gekauft, den Besitzern aber zugesichert, dass sie dort bleiben könnten. Als Einstein dies dem Bürgermeister mitteilte, erklärte der, er würde das Haus sofort räumen lassen. Das lehnte Einstein natürlich ab. Nun nahm sich die Presse des Falles an und überschüttete die Verwaltung mit Hohn. Böß machte schnell einen anderen Vorschlag: Die Stadt schenkt dem Jubilar ein Grundstück am Wasser und lässt darauf ein Sommerhaus errichten, nach Einsteins eigenen Vorstellungen. Doch als Elsa das Grundstück besichtigte, bemerkte sie, dass es keine Zufahrt gab, man musste über diverse andere Grundstücke gehen. Direkt nebenan lag ein Motoryacht-Club, und bis spät in die Nacht herrschte großer Lärm. Außerdem
war das Gelände zu klein, um ein Haus darauf zu errichten. Da lehnte Einstein das Geschenk ab. Es blieben nur noch wenige Tage bis zum Geburtstag, und Böß ließ kurz entschlossen das Haus in Neu Cladow als endgültige Geburtstagsgabe bekannt geben. Es musste dem mächtigen Magistrat doch möglich sein, das Haus schnell zu räumen. Das lehnte Einstein erneut ab. Am Geburtstag selber musste Hertha, das Hausmädchen, die Berge von Geschenken und Glückwunschbriefen entgegennehmen. Einstein war mit Elsa und ihren Töchtern für diesen Tag aufs Land geflohen. Als man am nächsten Tag zurück in die Wohnung kam, standen schon im Flur Körbe voller Post und Telegramme. Tische, Stühle, der Flügel, jeder freie Fleck diente als Ablage für Pakete. Viele, auch einfache Menschen hatten Einstein etwas geschickt, oft Kleinigkeiten, ein Päckchen Tabak, Schreibutensilien. Amerikanische Zionisten teilten mit, sie hätten ein Stück Land in Palästina gekauft und es mit Bäumen bepflanzt. Der Wald solle für alle Zukunft Einstein-Wald heißen. Und reiche Berliner Freunde hatten sich zusammengetan und eine komplette Segelyacht in Auftrag gegeben. Sie war noch nicht ganz fertig, doch es gab ein originalgetreues Modell, mit echten Segeln, einer Kajüte, von der man das Dach abnehmen konnte, und beweglichem Ruder. Auf dieses Geschenk freute sich Einstein wie ein kleines Kind. Segeln war, neben der Musik, seine große Leidenschaft.
Das nächste Grundstücksangebot des Magistrats traf wenige Tage später ein. Es war schön gelegen, aber um dorthin zu gelangen, musste man durch ein anderes Grundstück und sogar eine Scheune gehen. Und von einem Hausgeschenk war
inzwischen nicht mehr die Rede. Es hieß, man werde das Grundstück schenken, doch das Haus müsse Einstein selber bauen. Schließlich machte Böß einen Kompromissvorschlag. Einstein sollte sich ein Grundstück selbst aussuchen, die Stadt würde es dann für ihn kaufen. Schnell war ein Gelände in der Nähe des Dorfes Caputh bei Potsdam ausfindig gemacht. Es gab auch schon einen jungen Architekten, der einen interessanten Entwurf vorgelegt hatte. Doch nun ging in der Verwaltungsmaschine gar nichts mehr. Die deutschnationalen Abgeordneten im Stadtparlament interessierten sich für den Fall. Sie fragten, ob Einstein tatsächlich eines solchen Geschenks würdig sei. Die konservative Beamtenschaft tat alles, um eine Entscheidung zu verhindern. Einstein schrieb einen Brief an Böß, in dem es hieß: »Die Arbeitsweise der Behörden ist langsam, und mein Leben dürfte wahrscheinlich zu kurz sein, um mich ihren Methoden anzupassen.« Er beschloss, das Gelände bei Caputh selber zu kaufen und darauf ein Sommerhaus bauen zu lassen. So verlor das Ehepaar Einstein zwar den größten Teil seiner Ersparnisse, aber nun hatte man eigenen Grund und Boden. Im Oktober, die Bauarbeiten in Caputh hatten schon begonnen, reiste er nach Zürich, um am Zionistischen Weltkongress teilzunehmen. Einstein fuhr mit seinem Gepäck zum »Grand Hotel Dolder« am Zürichberg, wo für ihn ein Zimmer reserviert war. Obwohl erschöpft von der langen Fahrt, hielt er es dort nicht lange aus. Schon auf der Taxifahrt vom Bahnhof hatte er die Nase am Fenster platt gedrückt. Wann war er das letzte Mal in Zürich gewesen? Vor zehn Jahren? Er hatte kaum eine Erinnerung an die letzten Besuche. Da war der Streit mit Mileva gewesen, dann der Entschluss, sie
nie wiederzusehen. Inzwischen war sie mit den Söhnen mehrmals in Berlin gewesen, Hans-Albert und Tete auch ein paarmal alleine. Er ging die steile Straße hinunter ins Universitätsviertel. Hier gab es noch immer die etwas heruntergekommenen Häuser, in denen ältere Damen billige Zimmer an Studenten vermietet hatten. Er ging, ohne Richtung, durch die wohl bekannten Gassen. Etwas ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, seit er in Zürich war. Plötzlich stand er vor der Pension Engelbrecht. Er sah an der verschnörkelten Gründerzeitfassade hoch. Ihm schien, er könne Hausmusik hören. Lebten dort noch immer slawische und südeuropäische Studentinnen, Mädchen aus Budapest, Wien und Bukarest? Wie oft hatte er nachts noch mit Mileva vor dieser Haustür gestanden… 29 Jahre waren vergangen, seit er an der Hochschule sein Diplom gemacht hatte und arbeitslos geworden war. Lieserl, ihre Tochter, musste jetzt 27 Jahre alt sein, vielleicht schon eine verheiratete Frau mit Kindern. Doch er hatte sie nie gesehen, sie war bei fremden Menschen aufgewachsen. Es war bereits dunkel geworden, als er vor dem Haus stand, in dem Mileva wohnen musste. Es war jedenfalls die letzte Adresse, die sie ihm mitgeteilt hatte. Er hatte nicht vorgehabt, sie an diesem Abend zu besuchen. Aber plötzlich war er so aufgeregt, dass er kaum atmen konnte. Eilig ging er auf das Haus zu. Er spürte vor Erwartung kaum den Boden unter den Füßen. Die Treppen eilte er hinauf – dann stand er vor der Tür. Einstein-Marie stand auf dem Schild. Er hob die Hand, um anzuklopfen. Doch dann hielt er inne. Warum war er überhaupt hier? Er hatte ja nicht einmal ein Geschenk für die Buben. Sie rechnete nicht mit ihm, auch wenn sie vielleicht gehört hatte, dass er zu dem Kongress eingeladen war.
Da hörte er aus dem Flur eine Stimme. Es war ein junger Mann. Hans-Albert? Dann eine Frauenstimme. Ja, das war Mileva. Er hielt es nicht länger aus und klopfte. Die Tür ging auf. Mileva trug ein graues, einfaches Kleid. Wie klein sie war. Und nun auch rundlich. Eine Hausfrau, das Gesicht verhärtet und voller Falten, der Körper steif und abgearbeitet. Sie sah ihn mit erstaunten Augen an. Hinter ihr, im Flur, erschien ein junger, nicht ganz schlanker Mann mit lustigem Gesicht. Ja, er hatte die mandelförmigen Augen der Mutter und das breite Gesicht des Vaters, den hohen Haaransatz, der die Stirn so weit wirken ließ. »Albert?«, sagte Mileva. »Vater?«, sagte der junge Mann. Nach einer Pause: »Ja, kann ich hereinkommen?« »Natürlich«, sagte Mileva und trat einen Schritt zur Seite.
»Ich bin hier wegen des zionistischen Kongresses«, sagte Einstein. »Ich bin ja nun eine Art jüdischer Heiliger.« Eduard, den sie noch immer Tete nannten, obwohl er in diesem Jahr Matura machen sollte, hockte zusammengesunken vor dem Flügel. Hin und wieder schlug er einen Ton an. »Psst«, zischte Mileva erneut. »Es ist schon spät.« »Ich weiß doch«, sagte Tete und richtete sich auf. Er sprach, anders als sein Bruder und seine Mutter, mit ziemlichem Dialekt. »Aber ich muss doch eine Begrüßungshymne spielen, wenn mein weltberühmter Vater einmal kommt.« Die ganze Wohnung stand voller kleiner Kakteen, die Mileva liebevoll aufgestellt hatte. Manche der Pflanzen trugen farbenprächtige Blüten. In die Tapeten hatte sich der Staub und der Gilb der Jahre eingefressen. An den Türrahmen und Fenstern blätterte der Lack. Mileva schien es schwer zu fallen, sich von nutzlosem altem Plunder zu trennen, in allen Ecken
standen staubige Polstermöbel, auf allen Ablagen Nippes und Geschirr. »Was wirst du denn auf dem Kongress machen?«, fragte Tete. »Herumsitzen und schlau gucken«, sagte Einstein. Dann streckte er den Hals, hielt den Kopf etwas schief, legte die Stirn in Falten und zog den Mund in die Breite. »Und dafür wirst du bezahlt?«, erkundigte sich Tete. »Nicht einmal das«, sagte Einstein. »Er macht das nur aus Menschenliebe«, sagte Mileva. Wieder kehrte Schweigen ein. Mileva ging in die Küche, um Tee zu holen. Tete betrachtete seinen Vater mit unverhohlener Bewunderung. Wieder schlug er einzelne Töne auf dem Klavier an. Hans-Albert schien nur halb anwesend. Vielleicht ist er verliebt, sagte sich Einstein. Solange der zionistische Kongress dauerte, wohnte er bei Mileva. Es hatte sich gleich an diesem ersten Abend so ergeben, sie hatte ihm eines der Sofas im Wohnzimmer bezogen, dort konnte er bequemer schlafen als im Hotel. Einstein fühlte sich zu Hause. Morgens, noch vor dem Frühstück, improvisierte er mit aufgekrempelten Ärmeln auf dem Klavier. Vormittags ging er zum Kongress, ‘ kehrte aber meist schon zum Mittagessen zurück. Dann unterhielt er sich mit Tete. Während Einstein ruhig dasaß, ging Tete auf und ab, sprach temperamentvoll. Sein Zimmer war das schönste in der Wohnung, mit Aussicht auf die Stadt, den See und den Ütliberg, er hatte eine umfangreiche Bibliothek. Er schien ununterbrochen zu lesen und versuchte, die angesammelte Weisheit in Aphorismen festzuhalten. Mileva und Einstein benahmen sich, zehn Jahre nach der amtlichen Scheidung, wie alte Eheleute. Mileva war aufgeregt und blühte auf, wurde lebendiger, offener. Hans-Albert erzählte, dass sie sonst oft stundenlang, wie in Meditation
versunken, zwischen ihren Kakteen saß, das Gesicht leblos, erstarrt. Sie war keine Frau, die mit dem Alter schöner geworden war, man konnte die Schmerzen und die Verzweiflung in ihrem Gesicht lesen. Aber manchmal, wenn sie sich gegenüberstanden und Mileva, plötzlich sanft und gut gelaunt, ganz natürlich mit ihm sprach, dann leuchtete ihr Gesicht von innerer Schönheit. In solchen Augenblicken liebte er sie wieder. Abends, wenn Hans-Albert ausgegangen war und Tete schon im Bett lag, saßen sie im Wohnzimmer, zwischen all den Kakteen. Einstein erzählte ihr von seinen Reisen, von Japan und China, von Palästina, Südamerika und von den USA. Er spürte, dass das nicht fair war. Sie hatten die schweren Jahre miteinander geteilt, aber von seinem Ruhm hatte Mileva nicht viel abbekommen. Immerhin hatte er sie finanziell unterstützt, er hatte ihr die 20000 Goldmark für den Nobelpreis komplett überlassen. Aber es blieb ein schlechtes Gewissen, das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. »Jeder geht seinen Weg«, sagte er. »Ja, und manchmal geht man gemeinsam«, sagte sie. »Ich habe nie die Chance gehabt, meinen Weg zu gehen.« Er konnte ihren Blick nicht länger ertragen. Schweigend hing jeder seinen Gedanken nach. Ja, damals in Prag waren ihm ihre Gefühlsausbrüche auf die Nerven gegangen, die Ansprüche an Aufmerksamkeit, die sie unablässig stellte. Wie oft hatte sie geweint. Er hatte daneben gesessen, unfähig, sie zu trösten, unfähig mitzuweinen. Doch diese unangenehmen Erinnerungen verflüchtigten sich wieder. Er betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen. Solche Momente der gemeinsamen Stille waren mit Elsa unmöglich. Sie konnte nie aufhören zu reden. Wenn ihr nichts
mehr einfiel, blätterte sie in einer Illustrierten oder schlief ein. Mit Mileva hätte er stundenlang so sitzen können.
Tete sah nicht mehr aus wie eine serbische Prinzessin, er war groß und kräftig geworden. Sein Gesicht war beinahe viereckig, mit breiter Nase, vorstehenden Augenbrauen und vollen, aufgeworfenen Lippen. Und doch hatte dieses Gesicht etwas unnatürlich Glattes. Er war stets sehr nervös, nachts schlief er wenig. Er war bei der Trennung erst vier gewesen, sein Verhältnis zum Vater war merkwürdig. Fast vergötterte er Einstein und trieb einen regelrechten Kult. Doch schon am ersten Abend hatte er gesagt: »Immer sieht man in der Zeitung Fotos von dir mit deinen Töchtern. Von den Söhnen sieht man nie etwas.« Als sie nach dem Mittagessen wieder zu zweit miteinander sprachen, erzählte Tete von Milevas 102 Kakteen. »Jeden Tag ein neuer Ableger«, flüsterte er Einstein zu. Dann, mit gesenkter Stimme, sehr geheimnisvoll: »Du machst dir ja gar kein Bild, Vater. Sie schießen wie Pilze aus dem Boden.« Bereits am Morgen hatte ihm Eduard dies mit größtem Ernst geschildert. Als er nun die Geschichte schon wieder begann, musterte ihn Einstein streng. »Das erzählst du mir nun schon zum dritten oder vierten Mal«, sagte er. »Ja«, sagte Tete. »Mit den Kakteen ist es bei ihr wie eine Sucht.« Nun hob Einstein die Stimme und sagte ärgerlich: »Aber das hast du mir schon so oft erzählt.« Tete war wie vor den Kopf geschlagen. Betroffen schaute er Einstein an. »Oh, ich liebe es, wenn du so streng zu mir bist, Vater«, sagte er. Dann begann er zu weinen.
Einstein sah ihn zunächst verwirrt, dann immer besorgter an. Tat er nur so? Nein, Tete weinte, doch keine Träne floss aus seinen Augen. Er riss den Mund mit zusammengezogenen Lippen auf, sein ganzes Gesicht schien wie in einem Krampf, er schluchzte mit hohem, jämmerlichem Ton. »Es ist mein Kopf«, schluchzte er. »Es ist zu viel in meinem Kopf. Ich finde mich selbst nicht mehr darin zurecht.« Einstein hatte die Hand auf Tetes Schulter gelegt und schwieg. Tete war an einem schwierigen, vielleicht entscheidenden Punkt in seiner Entwicklung, er war besonders empfindlich, schon immer gewesen. Als er sich beruhigt hatte, zeigte Tete seinem Vater eine seiner Zeichnungen. Sie zeigte einen Kopf mit unnatürlich vergrößerter Stirn. Hinter dieser Stirn war das Gehirn offen zu sehen, und darin herrschte ein Chaos aus einzelnen Sätzen, lateinischen und griechischen Zitaten, mathematischen und chemischen Formeln, geometrischen Figuren, medizinischen Zeichnungen. Dazwischen, angedeutet, Körperteile nackter Frauen, aufgerissene Augen und ein skizzenhaftes Porträt Einsteins. »So sieht es in meinem Kopf aus«, sagte Tete.
Kaum war Einstein am nächsten Morgen im Konferenzgebäude eingetroffen, wurde er ans Telefon gebeten. Es war Mileva. Sie konnte zunächst kaum sprechen. »Eduard ist im Burghölzli«, sagte sie nur. Das »Burghölzli« war die Nervenheilanstalt der Stadt Zürich. Mileva hatte Tete wecken wollen. Normalerweise stand er von selbst auf, aber an diesem Morgen war kein Laut aus seinem Zimmer gedrungen. Als sie die Tür öffnete, lag Tete wach im Bett, ein verzerrtes Grinsen im Gesicht. Er hatte alle Wände mit pornographischen Bildern beklebt.
»Was soll das?«, hatte sie gefragt. »Stört es dich?«, fragte er zurück. »Nacktheit ist doch etwas Natürliches.« Dann kicherte er. Angewidert sah sie sich um. Wo hatte er diese obszönen Abbildungen her? Er musste sie seit Monaten gesammelt haben. »Wie dem auch sei«, sagte sie. »Du musst aufstehen und in die Schule. Das Frühstück ist schon fertig.« Damit ließ sie ihn alleine. Ein paar Minuten darauf hörte sie, wie Tete die Abbildungen von den Wänden riss. Zunächst war sie beruhigt. Ein typischer Gymnasiastenstreich, sagte sie sich. Doch dann begann Tete zu schreien, und was er nun zerriss, das konnten keine Abbildungen mehr sein. Sie lief in sein Zimmer – er hatte begonnen, seine schöne Bibliothek aus dem Regal zu zerren und Bücher zu zerreißen. Ihre Versuche, mit ihm zu reden, waren zwecklos. Er gab wütende Schreie von sich, er nahm nichts mehr wahr. Sie versuchte, ihm ein Buch zu entwenden. Er stieß sie, völlig außer sich, mit Gewalt fort. Sie prallte gegen den Schrank, hielt sich mühsam auf den Beinen. Er begann immer heftiger zu brüllen. Doch erst als plötzlich Ruhe einkehrte, spürte sie, dass er in großer Gefahr schwebte. Er begann schweigend seinen Schlafanzug in Fetzen zu reißen. Wahnsinn blitzte in seinen Augen. Dann ging er zum Fenster und öffnete es weit. »Ich mache Schluss«, sagte er. Das Fenster stand offen. Sie versuchte ihn festzuhalten. Doch er war stärker. Sie klammerte sich an ihn, er zerrte sie quer durchs Zimmer. Er kniete schon zur Hälfte auf dem Fensterbrett, sie konnte ihn kaum noch halten, als sie hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Es war Hans-Albert, der unerwartet heimkehrte und ihr sofort zu Hilfe eilte.
Sie hatte Recht, dachte Einstein. Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen. Aber wahrscheinlich war diese Entwicklung unausweichlich gewesen. Schon als Kind hatte Tete ein unerklärliches Ohrenleiden gehabt, das heftige Schmerzen im ganzen Kopf hervorrief. Dann diese Vergötterung, gemischt mit Neid und Hass, die ergreifend pathetischen Briefe nach Berlin, hilflose Versuche, sich gegen die übermächtige Vaterfigur zu behaupten. Langsam, aber unaufhaltsam, hatte Einstein es kommen gesehen, seit Tete ein Kind gewesen war. Einstein hatte vorgehabt, nach dem Kongress noch eine Weile bei Mileva und den Söhnen zu bleiben. Nun, nachdem er beschlossen hatte, sofort abzureisen, kam ihm alles falsch vor. Wieso hatte er bei ihr gewohnt, als sei nie etwas zwischen ihnen vorgefallen? Wem wollte er damit einen Gefallen tun? Den Söhnen? Mileva? Oder nur sich selbst? Welche Beziehung, fragte er sich, hatte er nach all den Jahren zu Mileva? Ein paarmal in den vergangenen Tagen hatte er den starken Wunsch gespürt, sie zu berühren, ihr nah zu sein. Während er durch eine laue Züricher Frühjahrsnacht hinunter zum Bahnhof ging, durch die engen Gassen, unter geschnitzten und bemalten Erkern entlang, überkam ihn ein Gefühl vollständiger Einsamkeit. Er hatte, in all den Jahren, nichts Neues aufgebaut. Die Beziehung zu Elsa war oberflächlich und diente praktischen Zwecken. Selbst bei guten Freunden spürte er früh eine Grenze, über die man nicht hinüberkam. »Du hast doch gar kein Herz«, hatte Eduard gesagt. »Du bist doch der Einstein. Du bist doch ein Kopfmensch.« Ein merkwürdiges Gespräch, dachte Einstein. Wieso hatte er Tetes seltsames Lächeln nicht bemerkt? »Ach, was der Kopf denkt«, hatte er geantwortet, »das ist doch gar nicht so wichtig.« »Warum lässt du uns seit vierzehn Jahren allein und kommst nur, wenn du Laune hast?«, hatte Tete gefragt.
Einstein hatte sich elend gefühlt. Was sollte er darauf antworten? »So einfach ist das nicht, Eduard«, hatte er gesagt und von Berlin erzählt, von seiner Arbeit und seiner neuen Familie. Eduard hatte nur noch gekichert und den Kopf geschüttelt. Einstein stand eine Weile auf der Bahnhofsbrücke und sah auf den Limmat hinunter. Träge schleppte sich das Wasser entlang. Dort hinten, am Zürisee, hatten sie vor vielen Jahren in den Morgenstunden an der Kaimauer gesessen und den Rentnern zugeguckt, wie sie die Schwäne fütterten. Als er sich wieder aufrichtete, sah er Hans-Albert. Er lehnte am Geländer und lächelte dem Vater entgegen. »Ich wollte nicht, dass du so ganz alleine aufbrichst«, sagte er. »Es ist doch immer traurig, wenn es niemanden gibt, der einen zum Zug begleitet.« Als Einstein am Bahnhof in das erste Geschäft lief, um HansAlbert ein Abschiedsgeschenk zu kaufen, hielt ihn der zurück. »Nein, Vater«, sagte er. »Ich brauche keine Geschenke mehr. Nicht solche Geschenke, am Bahnhof gekauft.« Dann standen sie am Bahnsteig und warteten auf den Zug. Einstein spürte, dass er etwas sagen musste, dass Hans-Albert eine Erklärung erwartete. Während er noch nachdachte, fragte Hans-Albert: »Warum hast du dich damals von Mileva getrennt?« »Weil ich sonst zugrunde gegangen wäre«, sagte Einstein. Er war über die Klarheit und Selbstverständlichkeit dieses Satzes überrascht. Aber das war es. Es hatte damals keine andere Möglichkeit gegeben. Dann fügte er hinzu: »Der einzige Mensch, dem man in diesem Leben immer wieder begegnet, dem man nie ausweichen kann, ist man selbst.«
Er fuhr mit dem Zug mitten durch die Schweizer Hochalpen. Ein befreundeter Industrieller hatte ihn in seine Berghütte eingeladen. Als er am frühen Morgen in St. Moritz ankam, fühlte er sich leer und kraftlos. Die Sonne war über den Gipfeln des Hochgebirges noch nicht aufgegangen. Im Tal war der Schnee bereits zusammengeschmolzen, aber es war eisig kalt. Nach einem kleinen Frühstück im Bahnhofsrestaurant marschierte er zu Fuß aus dem kleinen Urlaubsort, der jetzt wie ausgestorben war, hinaus. Nach einigen Kilometern war er erschöpft. Grauschwarze Wolken waren aufgezogen, und plötzlich begann es zu schneien. Er setzte den schweren Koffer ab und schaute in den Himmel. Wie eine tanzende Horde weißer Zwerge rasten die Schneeflocken auf ihn zu. Schon konnte man nur noch zwanzig, dreißig Schritt weit sehen. Er war von dem langen Marsch erhitzt und ließ die kühlen Schneeflocken auf seiner Stirn zerlaufen. Schnell entstanden Schneeverwehungen. Die Berghütte seines Gastgebers musste bald erreicht sein, aber man konnte nicht mehr weit sehen. Vielleicht hatte er eine Weggabelung übersehen? Mit jedem Schritt versank er bis zu den Knöcheln im Schnee. Längst waren Schuhe und Strümpfe nass, die Zehen eisig und taub. Dann versank er mit einem Bein bis zum Knie im Schnee. Er musste vom Weg abgekommen sein. Als er versuchte, das Bein hochzuziehen, verlor er seinen Schuh. Mit nackten Händen wühlte er im Schnee, konnte aber nichts finden. Er brauchte aber seinen Schuh. Der Fuß war schon eiskalt. Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz die linke Brustseite. Er konnte kaum noch atmen. Sein Herz begann rasend zu klopfen. Ihm wurde schwindelig. Gleich würde er den Boden unter den Füßen verlieren. Er musste weiter. Er vergaß den Schuh,
ließ den Koffer stehen und wankte bergauf. Ein schöner Erholungsurlaub ist das, sagte er sich. Das Gespräch mit Tete lief in seinem Kopf ab, das höhnische Lachen. »Ein Herz kannst du doch gar nicht haben«, hatte Tete gesagt. Ein paar Meter schleppte sich Einstein noch weiter. Dann blieb er im Schnee sitzen. Erst als er die Glöckchen eines Pferdeschlittens hörte, richtete er sich mühsam auf. Gott, dachte er, nachdem man ihn auf den Schlitten gezogen hatte. Fast wäre ich abgekratzt.
Als er wieder einigermaßen bei sich war, hatte er nur einen Wunsch: bloß nicht zurück nach Zürich. Und so reiste er, begleitet von einer Krankenschwester, im Schlafwagen über München nach Berlin. Plesch diagnostizierte akute Herzüberanstrengung und verordnete strenge Bettruhe. Schon kleinste Aufregungen verursachten rasendes Herzklopfen und starke Schmerzen. Drei Monate musste er liegen bleiben. Nun war er wirklich froh, einen so gesprächigen und gebildeten Arzt wie Plesch zu haben. Damit aber die notwendigen Briefe und Aufsätze geschrieben werden konnten, wurde eine junge Frau als Sekretärin eingestellt. Sie hieß Helene Dukas.
Sturm
Peter hatte ein weißes Fell mit grauen und schwarzen Flecken. Er trottete gemächlich über die Landstraße von Caputh zur »Villa Einstein«, wie die Dorfbewohner das Haus nannten. Nach einer anstrengenden Nacht in den Scheunen Capuths wollte er sehen, ob das Hausmädchen der Einsteins nicht etwas Milch und Fleischreste für ihn übrig hatte. Nach einer lang gezogenen Kurve kam am Waldrand ein glatter Holzwürfel in Sicht, an den ein weiterer, etwas flacherer Würfel angebaut war. Auf dem flacheren Würfel das Geländer einer Dachterrasse. Das Haus, sachlich wie eine mathematische Formel, lag zur Hälfte in der Sonne. Es roch harzig nach dem frischen Nadelholz, aus dem es gebaut war. Peter ging links an der Rückfront vorbei und kam zu einer Terrasse. Rechts führten vier breite Stufen zu einem treppenförmig angelegten Garten. Da blühte ein weiß-blauer Teppich aus Arabis und Vergissmeinnicht, dazwischen gelbe und weiße Osterglocken. Über eine schmale Treppe, ebenfalls aus dunklem Holz, konnte man hoch zur Dachterrasse steigen. Dort oben, in der Morgensonne, lagen zwei junge Frauen. Die eine, sehr schlank, dunkelblond, in einem blauen Kleid mit weißen Pünktchen, hatte die Augen geschlossen. Das war Ilse. Die andere, breiter, mit schwarzem Haar und härteren Gesichtszügen, sah Peter entgegen. Das war Margot. »Wer kommt denn da?« Sie hatte ein Buch auf den Boden gelegt und streckte dem Kater die Hand entgegen. Der ließ sich kurz den Nacken kraulen, dann maunzte er.
»Wir haben hier nichts zu essen«, sagte Margot. »Du musst hinunter in die Küche schauen.« Es gab eine Abkürzung, wenn man vom weißen Geländer schräg hinüber in ein Fenster sprang. Schon war Peter im Arbeitszimmer von Professor Einstein. Hier standen nur ein paar schmucklose Möbelstücke, auf denen achtlos Papiere lagen. Auf dem fast leeren Regal lehnte ein Bild Galileo Galileis. Der bärtige Mann schaute schräg über die Schulter hinunter auf den Schreibtisch. Peter ging durch das Zimmer, durch den engen und dunklen Flur hinunter ins Wohnzimmer. Die rundliche, erschöpfte Frau auf dem Sofa wirkte, als schliefe sie halb. Vor ihr stand ein Tischchen mit schwarzweißen Kacheln. Sie saß direkt neben dem großen, sehr geradlinigen weißen Kamin. Aus der Küche konnte man Hertha singen hören. Peter hatte es schon vorher in der Nase gehabt, nun war es eindeutig. Hier ging es um Fisch. Er maunzte Elsa kräftig an. Die schrak fast auf. »Ja, wer ist denn da!« Peter maunzte erneut. »Du hast wohl Hunger?«, fragte Elsa und beugte den Oberkörper mit besorgter Miene vor. Sie hob einen Zeigefinger und sah hinüber zur Küche. »Ich glaube, da haben wir heute etwas ganz Feines«, sagte sie. »Aber Sie werden doch der Katze nicht einen ganzen Bückling geben«, sagte Hertha empört. »Sie waren so billig«, meinte Elsa. Peter schlich schnurrend um ihre Beine. Sie hielt den großen Bückling am Schwanz. Peter sah hinauf. Dann legte Elsa den Fisch vorsichtig auf den Fußboden.
Peter schlich mit geducktem Kopf heran, machte einen eleganten Satz zur Seite und schlich unter den Küchenschrank, wo er Beobachtungsposten bezog. »Ilse, Margot«, rief Elsa. »Kommt schnell, das müsst ihr euch ansehen.« »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Hertha. »Das Ungeheuer ist schon tot.« Elsa und Hertha standen lachend in der Küche. Der Kater schlich, flach wie eine Flunder, um den toten Fisch herum. Dann endlich wagte er den entscheidenden Angriff, machte einen plötzlichen Satz nach vorne und trieb dem Bückling die Zähne in den Nacken. Auch Margot und Ilse sahen zu, wie Peter den glitschigen Fisch quer durch die ganze Wohnung bis auf die Terrasse schleifte. Elsa folgte ihm. Durch die dreiflügelige, breite Glastür konnte man über den blühenden Garten bis zum Bootsanlegeplatz sehen. Dort unten glitzerte in der Morgensonne der Templiner See. Aber vom kleinen dicken Segelschiff war nichts zu sehen.
So nannte Einstein den Jollenkreuzer. Eigentlich war er auf den Namen »Tümmler« getauft worden und schlank. Ein acht Meter langes Boot aus rotem Mahagoniholz, elegant und schnittig, mit schönen Messingbeschlägen, ovalen Bullaugen und fast vier Meter hohem Mast. Das Boot bewegte sich sanft mit den Wellen; Einstein saß hinter der Kajüte neben dem Ruder, hatte die Hände vorm Bauch zusammengelegt und die Augen geschlossen. Man konnte sehen, wie die Gedanken durch seinen entspannten Körper rieselten. Innerhalb weniger Jahre waren seine Haare beinahe weiß geworden. Er war gerade 53 Jahre alt. Sein Gesicht war noch
schlank, aber die Stirn war voller Falten, und um die Augen herum hatte sich die Haut dunkel gefärbt. Die linke und die rechte Gesichtshälfte waren deutlich verschieden. Selbst der Schnauzbart fiel auf der linken Seite flach ab, während er auf der rechten fast einen Hasken beschrieb. Die ganze linke Seite schien tiefer zu hängen. Und auch während er sich, in Gedanken versunken, von den Wellen schaukeln ließ, war die rechte Augenbraue hoch gewölbt. Er trug das kurzärmlige Hemd über der behaarten Brust offen. Eine Windböe strich durch seine Locken. Er atmete durch die Nase, tief und ruhig. Als das Geknatter eines Motorbootes lauter wurde, reagierte zunächst nur die rechte Augenbraue mit einem kleinen Zucken. Das Motorboot kam näher. Als es etwa hundert Meter entfernt war, blieb es stehen. Einstein öffnete die Augen. An Bord der großen Yacht stand eine Gruppe von Männern und Frauen in eleganter Garderobe. Sie sahen zu ihm hinüber, ein Mann hatte ein Fernrohr. Eine Frau winkte. Dann begann der Mann zu johlen: »Hallo! Einstein!« Nun holten sie einen Fotoapparat aus der Kajüte. Konnten diese wildfremden Menschen ihn denn nicht einmal beim Segeln in Ruhe lassen? Endlich ließen sie den Motor wieder an. Sie redeten aufgeregt miteinander, offenbar stolz, einem so berühmten Menschen begegnet zu sein. Ich hätte es wie Spinoza machen müssen, dachte Einstein. Spinoza hatte seine Arbeiten unter falschem Namen veröffentlicht, sich in kleinen holländischen Dörfern versteckt und sein Geld als Schleifer von Brillengläsern verdient. So hatte er seine Ruhe behalten, obwohl er einige der wichtigsten philosophischen Texte seiner Zeit publizierte. Dafür starb Spinoza mit noch nicht einmal 50 Jahren, da der feine Glasstaub seine Lungen zerstört hatte. Auch kein beneidenswertes Schicksal.
Einstein setzte das Segel und steuerte sein Boot ins Schilf. Dann legte er sich flach auf den Boden und sah in die Bäume hinauf, die fast waagrecht über den See hinweg wuchsen. Er blinzelte. Die Wolke hatte sich verzogen, und das Licht der Sonne fiel durch die jungen, hellgrünen Blätter. Zwei Eichhörnchen spielten in den Bäumen Fangen. Wenn er hier in Caputh war, begriff er gar nicht, wie er es in der großen Stadt aushalten konnte. Kein Telefon, keine Verpflichtungen, keine Zeitung. Ein halbes Stündchen barfuß herumlaufen, zwei, drei Stündchen segeln, ein Mittagsschläfchen, ein kleines Hauskonzert… Der Wind hatte aufgefrischt, und er beschloss, ein wenig zu kreuzen. Massige graue Wolken zogen hastig über den Himmel. Das Licht wechselte jeden Augenblick. Eben noch war es grau, dann wieder ganz hell. Die Sonne funkelte in hunderttausend Wellentälern. Weit hinten fiel Licht in Streifen durch Wolkenlöcher. Die Luft war mild und warm. Einstein begann, sich eine Pfeife zu stopfen. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Elsa ahnte ja nicht, welche Vorräte hier im Boot lagerten. Plötzlich kam harter Wind auf. Die Wellen klatschten heftig gegen die kleine Yacht. Schon krachten die ersten Blitze, noch in einiger Entfernung. Wie brennende Pfeile zischten sie in den See. Das Boot machte scharfe Fahrt. Die ersten Regentropfen fielen, dick und schwer. Dann kam der Regen wie eine durchsichtige Wand auf ihn zu. Innerhalb von Sekunden war er bis auf die Haut durchnässt. Alles klebte fest. Nun, Plesch hatte jede Aufregung verboten. So saß Einstein seelenruhig am Ruder. Fasziniert beobachtete er, wie die Wellen immer höher anstiegen. Er konnte die Segel kaum noch halten. Er musste sie dringend einholen. Dann schlug ein Blitz ganz in der Nähe ein. Ob sein Boot wie ein Faradayscher Käfig gegen Blitze wirkte?
Einstein überlegte einen Augenblick. Nein, sagte er dann laut. Er riss das Ruder herum und steuerte den »Tümmler« in den Schilfgürtel an der Straße zwischen Potsdam und Caputh. Dort standen einige Bäume, die höher als der Mast des Bootes waren. Er wartete, bis sich das Gewitter verzogen hatte.
Zum Abendessen gab es Spargel mit Pellkartoffeln. »Die gute Hausfrau«, verkündete Einstein, auf beiden Backen kauend, »steht meiner Meinung nach in der Mitte zwischen Drecksau und Putzteufel.« Elsa, Ilse und Margot ließen fast gleichzeitig die Gabeln sinken und sahen ihn erstaunt an. »Ja, stimmt es denn nicht?« Keine der drei hielt ihn einer Antwort würdig. »Ich bin ja nicht unfehlbar«, sagte er. »Das wissen wir«, sagte Elsa und wandte sich wieder ihrer Pellkartoffel zu. Vorsichtig zog sie die Schale ab und legte sie auf einen kleinen Teller. »Mit deinen Ansichten über Frauen wärst du im Mittelalter brandaktuell gewesen«, sagte Margot. »Ich habe nie Wert darauf gelegt, mit der Mode zu gehen«, meinte Einstein. Elsa trug ein dunkelblaues Marinekleid mit weißer Bluse und einer kleinen blauen Krawatte, Margot und Ilse waren wie elegante junge Damen gekleidet. Einstein hingegen saß in einem Wollpulli und Arbeitshosen da. In der Wohnung lief er stets barfuß. »Wisst ihr«, sagte er, »es wäre traurig, wenn der Beutel besser wäre als das Fleisch, das darin eingewickelt ist.« »Jaja. Nie um eine kluge Ausrede verlegen«, sagte Elsa. »Ich möchte nur meine Bedürfnisse möglichst gering halten. Wenn ich die Haare einfach wachsen lasse, brauche ich keinen
Friseur. Socken sind ganz überflüssig, Krawatten auch. So spare ich viel Arbeit und viel Geld. Und da ich weniger Geld brauche, brauche ich noch weniger zu arbeiten. Und da ich noch weniger arbeite, brauche ich noch weniger Dinge. Das ist die einzige Freiheit, die wir Menschen erlangen können.« Nach dem schwäbischen Kirschkuchen holte er eine Zigarre. Er genoss schon das Ritual vor dem Anzünden. Mit Sorgfalt lutschte er das Zigarrenende ab und schnitt mit dem Knipser einen Spalt heraus. Elsa beobachtete ihn grimmig. »Was ist?«, fragte er. »Eine ist offiziell erlaubt.« »Offiziell«, spottete sie. »Wir wissen doch, welche Vorräte du in deinem Zimmer hortest.« »Und wie, bitte schön, sollen die dorthin kommen?« »Deine Freunde schmuggeln sie mit durchtriebener List ein.« Seltsam, dachte er, dass sie nie auf die Idee kommt, die Zigarren könnten im Boot lagern. Der Mond war aufgegangen und spiegelte sich in den Wellen. Margot hockte auf dem Anlegesteg, Elsa auf einem wackligen Campingstuhl. Beide waren, wegen der Mücken, bis zu den Füßen in Tücher gehüllt. Langsam stiegen die Abendnebel auf. Eine späte Möwe flog hin und her. Vom Blockhaus klang Einsteins Geige herunter. Er saß jetzt in der Küche, dort spielte er am liebsten, denn die gekachelten Wände ergaben eine besondere Akustik. »Fahren wir morgen wieder in die Stadt?«, erkundigte sich Margot. »Ich hätte Lust, nach einem Kleid zu sehen.« Elsa sah aufs Wasser hinaus. »Ich habe es so satt«, sagte sie. »Seit einem Jahr geht das nun so. Jeden Dienstag fahre ich in die Stadt, damit mein Mann mit dieser…« Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Es ist einfach jedes Mal eine Demütigung. Völlig geschmacklos.«
Margot sah ihre Mutter streng an. »Jedenfalls hat es keinen Sinn, jedes Mal, wenn diese Frau kommt, ein Eifersuchtsdrama zu veranstalten.« Sie sahen auf die Wellen. »Ich tue alles für ihn«, sagte Elsa leise. »Ich bediene ihn von vorne bis hinten. Und das ist dann der Dank.« Seit letztem Sommer erhielt Einstein, wenn sie in Caputh waren, regelmäßigen Besuch von einer reichen Witwe, die am Wannsee eine millionenschwere Villa hatte. Sie fuhr in einer Limousine mit Chauffeur vor und brachte stets kostbare exotische Pflanzen aus ihrem Gewächshaus mit. Über die Pflanzen freute sich Elsa, über alles andere nicht. Seit einem Jahr hatte sich die unausgesprochene Regelung ergeben, dass Elsa an diesen Tagen schon frühmorgens in die Stadt fuhr, um »Einkäufe zu erledigen«. Sie kam erst spätabends wieder, dann waren Einstein und Toni, wie die Witwe einfach genannt wurde, schon weggefahren, ins Theater oder in die Oper. Oft genug kam Einstein erst am nächsten Tag wieder, dann hatte er in ihrer Villa übernachtet. Elsa, die die Finanzen fest im Griff hatte, bestrafte Einstein mit Taschengeldentzug, und darüber war in den letzten Wochen mehrmals Streit entbrannt, mit Tränen und Türenschlagen. »Wenn Toni die Theaterkarten bezahlt«, hatte Einstein gesagt, »dann will ich wenigstens das Geld für die Garderobiere haben.« Elsa hob den Kopf und sah auf den See hinaus. »Oft denke ich, er hat mich nur geheiratet, um Gesellschaft zu haben.« »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, sagte Margot. »Du musst ihn fragen.« »Und was ist, wenn es stimmt? Dass er mich nur aus praktischen Überlegungen geheiratet hat?« Plötzlich hörten sie Schritte, die sich von hinten näherten. Im Licht, das vom Haus herunterschien, kam eine schwarze
Gestalt auf sie zu, in einer Hand eine Geige, in der anderen den Streichbogen. »Ein traumhafter Abend«, sagte Einstein und sog tief durch die Nase Luft ein. Eine Weile stand er neben ihnen, dann setzte er sich auf den Steg und ließ die Beine herunterbaumeln. Es plätscherte, als er mit den nackten Füßen im Wasser spielte. »Kommt sie morgen wieder?«, fragte Elsa. »Hat sie keinen Namen?«, fragte Einstein zurück. Margot stand auf und zog sich unauffällig zurück. »Den ganzen Tag bist du in deinem Boot oder an deinem Schreibtisch oder du geigst, aber…« Elsa verstummte. »Aber?«, fragte Einstein. Als sie nicht antwortete, sagte er: »Was erwartest du denn?« »Ich habe das Gefühl, wir führen eine Ehe auf Zeit«, sagte Elsa. »Das halte ich nicht mehr aus.« »Geht es jetzt um Toni Mendel oder um uns beide?« »Das hängt doch wohl zusammen.« Er legte das Instrument behutsam auf die Planken des Stegs. Dann faltete er die Hände vorm Bauch und sagte ruhig: »Du weißt ganz genau, dass meine Beziehung zu Toni Mendel eine rein platonische ist. Sie ist interessant und gebildet, wir sprechen über Theater und Literatur.« »Und was ist mit unserer Beziehung?«, fragte Elsa. »Welcher Natur ist sie?« Einstein seufzte. »Aber Elsa«, sagte er dann. »Ich weiß doch ganz genau, dass du die ideale Frau bist für mich. Was wäre ich denn ohne dich? Ich würde sogar einen Fahrstuhl für unser Blockhaus kaufen.« Elsa musste lachen, auch wenn sie das gerade nicht wollte. Ja, sie kannte seine Ansichten über die Ehe, er hatte sie nie verheimlicht. Die Ehe war für ihn seelische Sklaverei, Menschen betrachteten sich aufgrund eines Papiers als
gegenseitiges Eigentum. »Fünfundneunzig Prozent aller Männer und wahrscheinlich fast ebenso viele Frauen sind von Natur aus nicht monogam«, hatte er einmal öffentlich, in einem Interview, verkündet. Wieder saßen sie schweigend zusammen. »Ich bleibe doch bei dir«, sagte Einstein dann sanft. Man konnte spüren, dass er an diesem Satz lange gefeilt hatte. »Wie konnte ich dich bloß heiraten«, sagte Elsa kopfschüttelnd. »Rudolf und Fanny haben es dir eingeredet«, sagte Einstein. »Schließlich haben wir schon im Sandkasten zusammen gespielt.« »Ich kann mich an keinen Sandkasten erinnern«, sagte Elsa. »Nur an Geometriebücher, Bleistiftstummel und Messgeräte.«
Nach Barbarien
Am Donnerstag hatte Einstein seine wöchentliche Vorlesung an der Universität zu halten. Elsa holte seinen gebügelten Anzug hervor, den er nun ohne Murren anziehen musste. Er fuhr mit dem Bus bis Potsdam, von wo die S-Bahn über den Villenvorort Wannsee bis Berlin-Friedrichstraße fuhr. Am Nachmittag traf er sich mit Haber. Haber hatte den wahnwitzigen Ehrgeiz entwickelt, Deutschland ganz alleine von den drückenden Reparationslasten zu befreien: So, wie er 1914 Salpeter aus der Luft erzeugt hatte, wollte er nun Gold aus dem Meerwasser gewinnen. Diese Idee war wie eine bösartige Form der Schwangerschaft. Sachlichen Zweifeln gegenüber berief er sich auf seine Intuition. Haber ist ein rasender Barbar, dachte Einstein. Wegen seiner zahllosen wichtigen Ämter war er andauernd von Menschen umgeben. Einstein erinnerte sich an eine Diskussion im Chemischen Institut. Ständig waren sie gestört worden, von Assistenten, Doktoranden, Mechanikern. Schließlich, als sich die Tür ohne Anklopfen öffnete, ergriff Haber ein Tintenfass und schleuderte es in Richtung Tür. Es zersplitterte an der Wand, Tinte spritzte in alle Richtungen. In der Tür aber stand Habers Frau. Sie verschwand entsetzt, und man fuhr in der Diskussion fort, als sei nichts geschehen. Die Berechnungen, auf die sich Habers Pläne zur Goldgewinnung gestützt hatten, waren um eine Dezimalstelle falsch gewesen, der tatsächliche Goldgehalt im Meer war viel geringer als angenommen. Als diese Hoffnung zerbrach, erlitt er einen Nervenzusammenbruch.
Haber fühlt sich einem Vaterland verpflichtet, das ihn gar nicht wollte, dachte Einstein. Es konnte ihm noch so oft gelingen, Deutschlands Kriegsschulden zu bezahlen. Die Deutschen würden es dem Juden Haber nicht danken. Im Gegenteil. Der Fall Rathenau hatte gezeigt: Die Deutschen würden einem Juden, der ihnen geholfen hatte, diese Hilfe nie verzeihen. Inzwischen war auch Habers zweite Ehe gescheitert, seine Frau hatte die Scheidung eingereicht. Haber litt an Schlaflosigkeit, an Schwächezuständen und Erschöpfung. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ununterbrochen schluckte er Nitroglyzerinkapseln gegen eine chronische Angina. Am quälendsten aber war ein Diabetes, der ihn zwang, täglich bis zu zwanzig Liter Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Mitten im Gespräch stand er auf und soff das Wasser in gierigen Zügen aus der Leitung. Wenn man abends zusammensaß, nahm er Unmengen von Alkohol zu sich. Er trank um sein Leben. Dieser Mann war, zu aller Ironie, gemeingefährlich kurzsichtig. Wenn er bei Einsteins zu Besuch war, kam es zu komischen Situationen mit Elsa, die inzwischen ohne ihr Lorgnon auch kaum noch sah. Einmal hatte sie Haber den Tee in die Zuckerdose gegossen, und Haber merkte es erst, als er daraus trinken wollte.
Als Einstein wieder am Bahnhof Friedrichstraße stand und auf seine S-Bahn nach Potsdam wartete, rauschten ihm die Ohren. Nach einer Begegnung mit Haber brauchte er immer ein paar Stunden Entspannung. Der Bahnhof war fast menschenleer. Gerade als der Zug einfuhr, stürmte eine Gruppe junger Männer auf den Bahnsteig. Sie trugen schicke Sommeranzüge mit scharfen
Bügelfalten. Erst als sie in dasselbe Abteil wie Einstein stiegen, sah er, dass sie das Abzeichen der Nationalsozialisten im Knopfloch trugen. Sie hatten ihn nicht beachtet, und er setzte sich, mit dem Rücken zu ihnen, ans Ende des Waggons. Die jungen Männer stammten aus besseren Verhältnissen: Bürgersöhne, die sich die Haartollen aus dem Gesicht wischten, glatt rasierte, rotwangige, offene, lächelnde Gesichter. Ihren Soldatenjargon hatten sie sich offensichtlich aus Kriegsromanen angelesen. Die Stimmen wurden künstlich aufgeraut. Absichtlich vermieden sie das korrekte Deutsch. Ein paarmal korrigierten sie sich sogar, wenn sie zu »bürgerlich« gesprochen hatten. Einen Moment lang überlegte Einstein auszusteigen. Es war fast ein Uhr nachts. Außer den Jugendlichen war er der einzige Mensch im Waggon. Aber es war die letzte Bahn. Außerdem war er neugierig auf ihre Gespräche. Und so beschloss er, sitzen zu bleiben und in den großen Zeh zu atmen. Zunächst sprachen sie – wahrscheinlich – über ihre Freundinnen. Es hörte sich aber eher so an, als ob sie über Prostituierte sprachen. Endlich meinte einer mit lauter, sich überschlagender Stimme: »Ihr habt ja nur Weiber in der Schnauze.« Danach waren Familiengeschichten dran. Einige zogen über ihre liberalen, fortschrittlichen Eltern her, als ginge es um Hochverräter. Einstein drehte sich vorsichtig um. Aus den Augenwinkeln sah er sie unbeholfen gestikulieren, offensichtlich hatten sie alle getrunken. Sie waren überdreht und gleichzeitig erschöpft, wie Kinder, die zu lange an der frischen Luft gewesen waren. Nachdem es das ganze letzte Jahr über zu heftigen Straßenund Saalschlachten zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Verbänden und der nationalsozialistischen SA gekommen war, hatte der Berliner
Polizeipräsident ein grundsätzliches Verbot aller uniformierten Aufmärsche in der Stadt erlassen. Er war einer der wenigen Juden in einem höheren Amt. Das beschäftigte die Jugendlichen. »Das Judenschwein wird’s nicht mehr lange machen«, sagte einer. Als es darum ging, was man mit dem »Juden« alles anstellen konnte, entwickelten sie eine beeindruckende Fantasie. Auch seine Frau würde an die Reihe kommen. Sie versprachen, beide nackt durch die Straßen zu jagen, und brüllten vor Lachen. Einstein kannte den Polizeipräsidenten und seine dunkelhaarige Frau mit den großen, scheuen Augen. Nun wurden die Namen anderer prominenter Juden genannt. Nach jedem Namen knallte das Wort »killen«, im Chor gebrüllt. Die jungen Stimmen überschlugen sich. Der Zug hielt in Steglitz. Hier konnte er noch ein Taxi nach Caputh nehmen. Aber er war entschlossen, sich diese Unterhaltung bis zum Ende anzuhören. Es folgte die lange Fahrt durch den Grunewald. Diesen Teil der Strecke genoss Einstein sonst besonders. Haber müsste diese Szene miterleben, dachte er. Vielleicht wäre das die Medizin, die ihn von seiner Liebe zur blonden Bestie heilen kann. Das Gespräch verstummte. Einer hatte Zigaretten verteilt, nun brauchten sie Feuer. »Frag doch den Kerl dahinten«, hieß es. Damit muss ich gemeint sein, begriff Einstein. Er zog sich den Hut tief in die Stirn. Hatte er überhaupt Streichhölzer? Er hörte die klackenden Absätze näher kommen. Dann stand ein junger Mann mit rotblonden, zurückgekämmten Haaren vor ihm. Er verbeugte sich leicht und fragte mit ausgesuchter Höflichkeit: »Mein Herr, dürfte ich Sie um Feuer bitten?«
Einstein murmelte etwas Bejahendes und kramte in seiner Manteltasche nach Streichhölzern. Er gab dem Jungen die ganze Packung und sagte: »Behalten Sie’s.« »Besten Dank«, sagte der junge Mann und sah ihm direkt ins Gesicht. Einstein erwiderte den Blick. Doch der junge Mann schaute mit verhangenen Augen durch ihn hindurch. In Berlin-Wannsee stiegen die Jugendlichen aus. Von Potsdam nach Caputh nahm Einstein, ganz gegen seine Gewohnheit, ein Taxi. 1928 war Adolf Hitler nichts weiter als ein aus Festungshaft entlassener, selbst ernannter Führer einer rechtsradikalen Splittergruppe. Doch infolge des Börsenkrachs in New York und der daraus entstandenen Wirtschaftskrise gab es im Jahr darauf anderthalb Millionen Arbeitslose. Ein junger Doktor der Literaturgeschichte, Joseph Goebbels, den Hitler 1926 als Propagandisten »mit besonderen Vollmachten« nach Berlin geschickt hatte, startete eine Kampagne speziell gegen reiche Juden, die sich angeblich auf Kosten des Volkes mästeten. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 wählten sechs Millionen Menschen die NSDAP. Über einhundert Abgeordnete der Nazis zogen in den Reichstag ein. Sie waren zum Gehorsam gegenüber ihrem Führer vereidigt, der selbst dem Reichstag nicht angehörte. Schließlich wollte er die Demokratie zerstören. 1931 erreichte die Wirtschaftskrise in Deutschland ihren Höhepunkt. Nach dem Zusammenbruch großer Banken setzte ein panikartiger Sturm auf alle Geldinstitute ein, der Zahlungsverkehr brach zusammen. Von Juli bis Dezember stieg die offizielle Arbeitslosenzahl von knapp 4 auf 5,5 Millionen. Der Zentrumspolitiker Brüning, seit 1931 Reichskanzler, regierte mit Notverordnungen: Nicht mehr das Parlament entschied, sondern der Reichspräsident von
Hindenburg, der uralte und ultrakonservative Reichsfeldmarschall. Als im März 1932 der Reichspräsident neu gewählt werden musste, unterstützten selbst die Sozialdemokraten Hindenburg, den sie 1925 noch erbittert bekämpft hatten. Darin sahen sie die einzige Möglichkeit, die Wahl Hitlers zu verhindern. Doch nach der Wahl entließ Hindenburg seinen treuesten Wahlhelfer, den Kanzler Brüning, um ein konservativdeutschnationales »Kabinett der Barone« mit dem Rittmeister a. D. Franz von Papen einzusetzen, den Reichstag aufzulösen und dem neuen Kanzler diktatorische Vollmachten einzuräumen. Papen nutzte sie sofort: Er verhängte über Berlin den Belagerungszustand, erklärte die legale sozialdemokratische Regierung Preußens für abgesetzt und drohte, wie zu Kaisers Zeiten, mit dem Militär, falls es zu Unruhen käme. Das SA-Verbot wurde aufgehoben. Dies alles sollte angeblich den Zulauf der Nationalsozialisten stoppen. Das Gegenteil trat ein. Die Reichstagswahlen im Sommer 1932 brachten einen überragenden Wahlsieg der NSDAP, sie wurde, mit knapp 40 Prozent, zur stärksten Fraktion im Reichstag, wo von nun an chaotische Verhältnisse herrschten. In der ganzen industrialisierten Welt gab es ungefähr 30 Millionen Arbeitslose, allein in Deutschland fast 6 Millionen. Die soziale Sicherung war zusammengebrochen. Hungermärsche bewegten sich auf die Hauptstädte Europas zu. Doch noch glaubte niemand wirklich, dass Hitler eines Tages an die Macht kommen könnte – niemand, außer den Führern der Nationalsozialisten. In diesem Sommer 1932 setzte Einstein sich mit dem ganzen Gewicht, das seine Meinung in Deutschland hatte, für die Demokratie ein. Er unterstützte den »Kongress gegen imperialistische Kriege«, versuchte gemeinsam mit
französischen und englischen Wissenschaftlern, eine internationale Organisation gegen Krieg und Faschismus aufzubauen. Mit Heinrich Mann und Käthe Kollwitz rief er Sozialdemokraten und Kommunisten auf, endlich eine Einheitsfront gegen die Nazis zu bilden, mit gemeinsamen Listen bei den Wahlen anzutreten. Er mischte sich in den »Fall Gumbel«: Rechtsradikale Studenten veranstalteten gegen den Heidelberger Professor eine organisierte Hetze, da er in sorgfältig recherchierten Büchern die Verbrechen der nationalistischen Verbände aufgelistet hatte. Besonders optimistisch war Einstein nicht. Innerlich begann er, sich von Deutschland zu verabschieden. Zum Glück gab es in Caputh kein Telefon, so blieben ihnen Drohanrufe erspart. Prominente Juden wurden ununterbrochen belästigt.
In den Arbeitervierteln Berlins waren ganze Straßenzüge in Mietstreik getreten. »Erst Essen – dann Miete« war in großen Lettern auf die Häuser gemalt. Aus jedem zweiten Fenster hingen Fahnen, rote Fahnen mit Hammer und Sichel, rote Fahnen mit schwarzen Hakenkreuzen. Hätten nicht Kirchen und wohltätige Gruppen Suppenküchen organisiert, wären die Menschen auf offener Straße verhungert. Aber schlimmer als der Hunger war die Hoffnungslosigkeit, die Ratlosigkeit. Es hieß, diese Wirtschaftskrise sei eine Überproduktionskrise. In den Zeitungen waren Bilder von brasilianischen Kaffeearbeitern, die ihre Ernte ins Meer schaufelten. In Argentinien wurden Mais und Weizen vernichtet. Wer sollte das noch verstehen? Nach wenigen Minuten hatte Einstein sein Kleingeld an Bettler verteilt. Selbst Arbeiterkinder bettelten jetzt, und sie bettelten nur aus einem Grund: Hunger.
Die Häuserwände waren voller halb abgerissener, schon wieder halb überklebter Wahlplakate. Was vor wenigen Jahren noch den Charme eines Armeleuteviertels gehabt hatte, war nun ein Schlachtfeld. Die Lokale waren entweder kommunistisch, oder sie gehörten den Nazis. Seit das SA-Verbot aufgehoben war, marschierten sie wieder, armselige Gestalten, in billige Uniformen gesteckt. Vor den Häusern, vor den kleinen Läden, in denen die Schaufenster auch in hebräischen Buchstaben beschriftet waren, saßen und standen noch immer die alten jüdischen Männer in den schwarzen Mänteln. Hinter ihnen, an der Wand, ein Plakat: »Fegt die Bonzen aus den Sesseln«. Es zeigte einen hässlichen, fetten Menschen mit unnatürlich brauner Haut und fetter Hakennase, der Geldsäckchen in seinen Händen wog. Ein Kriegskrüppel, den Orden am zerrissenen Anzug, kam Einstein entgegen. Er streckte die Hand aus. »Kein Kleingeld mehr«, sagte Einstein achselzuckend. »Ich nehm auch Scheine«, sagte der Mann. Einstein brachte es nicht übers Herz, ihn anzuschauen. Betroffen suchte er in seinem Portemonnaie nach einem kleinen Schein. Erst am Alexanderplatz konnte er wieder durchatmen. Er ließ sich auf eine Bank fallen und schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, hatte sich jemand neben ihn gesetzt. Schwerfällig richtete Einstein sich auf und wandte sich um. Es war ein SA-Mann in Uniform. Das Gesicht kam ihm seltsam bekannt vor. Der Mann hatte einen Flachmann aus der Tasche geholt und nahm einen Schluck. »Sie trinken doch nichts?«, sagte er. »Oder hat Sie die Verzweiflung überkommen?«
Einstein, noch nicht ganz bei sich, schüttelte nur irritiert den Kopf. Er strich die weißen Locken, die ihm in die Stirn gefallen waren, zurück und fragte: »Kennen wir uns?« »Sie haben mir mal das Leben gerettet«, sagte der Mann. »Ich frage mich immer noch, ob das eine gute Tat war.« Einstein erinnerte sich sofort. Ja, aber das Gesicht war verändert. Man sah ihm den Alkohol an, aber es war nicht mehr schmutzig und gelblich wie damals, als sie sich im Scheunenviertel begegnet waren. »Sie sehen gut aus«, sagte er. »Ja, ich mache Karriere«, sagte der Mann und zeigte auf seine Schulterklappe. »Es geht wieder aufwärts mit Deutschland.« »Ja, langsam wird es besser werden«, sagte Einstein. »Die Arbeitslosenzahlen sind bereits gesunken. Wirtschaftlich geht es aufwärts. Auch in England, Amerika…« »Ich spreche nicht von wirtschaftlichem Aufschwung. Natürlich, Sie als Jude haben keinen anderen Maßstab. Aber für Deutschland heißt Aufschwung etwas ganz anderes.« »So?«, fragte Einstein. »Ich war eben in den Arbeitervierteln. Da hatte ich den Eindruck, dass die Menschen einfach etwas zu essen brauchen.« »Das können Sie nicht begreifen«, sagte der Mann. »Sie sind eben ein Jude.« Es klang nicht weiter aggressiv, nur wie eine ganz natürliche Feststellung. »Ich habe nichts gegen Juden«, sagte der Mann. »Ein paar meiner besten Freunde waren welche. Und einmal hat mir sogar einer das Leben gerettet.« »Aber Ihre Partei sagt ganz andere Sachen«, wandte Einstein ein. »Das ist Propaganda. Die Brühe wird nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. So eine Bewegung, die braucht eben
auch ein Feindbild. Aber in ein paar Jahren, da werden wir uns schon ganz gut mit den Juden arrangieren.« Arrangiert ihr euch nur, dachte Einstein. Bevor der Mann zu einem weiteren Monolog ansetzen konnte, verabschiedete er sich.
Am nächsten Morgen in Caputh weckten ihn laute Stimmen. Es waren Elsa und Hertha, das Hausmädchen. Elsa schimpfte laut, Hertha schien zu weinen. Einstein hasste es, wenn Hausangestellte schikaniert wurden. Er schlüpfte in den Morgenrock und lief die Treppe hinunter. Aber Elsa schimpfte nicht mit Hertha, sie tröstete. »Dieser gemeine Kerl«, sagte sie. »Nehmen Sie sich das doch nicht so zu Herzen, Hertha.« Einstein erkundigte sich, was passiert war. »Der Bäcker wollte ihr kein Brot verkaufen«, sagte Elsa. »Kein Brot?«, fragte Einstein erstaunt. Nahrungsmittel waren in letzter Zeit teurer geworden, von Knappheit hatte er noch nichts gehört. »Schlampe, hat er gesagt«, schluchzte Hertha. »Die Schlampe arbeitet bei den Juden.« »Unglaublich«, sagte Einstein. Er eilte hinauf in sein Zimmer, zog sich an und ging hinaus. »Wohin willst du?«, rief ihm Elsa nach. Er stieg die Böschung zum Fahrweg hinauf und nahm die Abkürzung durch den kleinen Wald. Nach wenigen Minuten tauchte das brandenburgische Dorf vor ihm auf. Die Bäckerei lag gleich an der Hauptstraße, neben einem Lebensmittelgeschäft mit der Aufschrift »Obst und Kolonialwaren«.
Der Bäcker war ein vierschrötiger Mann mit rasiertem Schädel. Vorsichtig arrangierte er eben die Kuchenstückchen auf einem Tablett. Seine Frau bediente eine Kundin. »Guten Tag«, sagte Einstein. »Oder muss man in Ihrem Geschäft mit ›Heil Hitler‹ grüßen?« »Guten Tag, Herr Professor«, sagte der Bäcker. Er richtete sich auf und schob seinen mächtigen Bauch in den Laden. »Stimmt es, dass Sie Ihr deutsches Brot nur noch an deutsche Kunden verkaufen wollen?«, erkundigte sich Einstein. »Ich verkaufe, an wen ich will«, sagte der Bäcker. Er legte seine kleinen, fetten Hände auf den Verkaufstresen. Die Kundin und die Bäckersfrau hatten sich ihnen erstaunt zugewandt. »Und an mich möchten Sie nicht verkaufen?«, fragte Einstein. Der Bäcker stand mit pathetischem Gesichtsausdruck, die Kiefer fest aufeinander gedrückt, am Tresen. Seine Finger auf der Glasplatte ballten und entspannten sich. »Wollen Sie nun an mich verkaufen? Wenn nicht, dann sollten Sie wissen, dass Sie sich strafbar machen. Dann verstößt Ihre deutsche Bäckerei gegen deutsche Gesetze.« Der Bäcker schluckte. »Welches Brot möchten Sie?«, fragte er mit rauer Stimme.
Als Einstein mit einem frisch duftenden Laib Brot unterm Arm zurück zum Blockhaus ging, war er froh, dass sie den Winter in den USA verbringen würden, im kalifornischen Pasadena. Hoffentlich würde dieser Alptraum bis nächstes Frühjahr vorüber sein.
»Noch ungehängt«
Das Rauschen der Wellen, die an den Strand rollten. Aufgeregtes Kreischen der Möwen. Tuckern eines Fischkutters vom Hafen. Es roch nach Meer, nach Seetang und Salz. Eine Nacht ohne Mond, Frühjahr 1933 in Le-Coq-sur-Mer an der belgischen Nordseeküste. Einstein stand, die Hände in den Manteltaschen vergraben, und lehnte sich gegen den Wind, der vom Meer in die hohen Sanddünen wehte. Er ging wieder runter an den Strand, bis hinter die Flutlinie. »Also doch«, sagte er für sich. Hier, wo der Sand vom Wasser umspült ist, sackt man ein. Wie oben, in den trockenen Dünen. Dort aber, wo der Sand feucht ist, ist er fest. Wie sich das wohl physikalisch erklären lässt? Nicht weit hinter Einstein stand ein Mann in grauem Anzug und beobachtete ihn. Unter seinem Jackett zeichnete sich ein Revolver ab. Jetzt kam auch vorne, aus den Sanddünen, ein grauer Mann und blieb stehen. Die beiden Männer wirkten gelangweilt. Der eine zündete sich eine Zigarette an. Sie begleiteten Einstein auf allen Spaziergängen. Die »Königs« wollten es so. Elsa wahrscheinlich auch. Die Nazis hatten 50000 Mark auf seinen Kopf ausgesetzt. In einem kleinen Buch mit dem Titel »Juden sehen dich an« war auch sein Bild, neben kommunistischen und sozialdemokratischen Politikern, begleitet von einem genauen Steckbrief. Darunter stand: »Noch ungehängt«. Für die Nazis war er das Haupt der jüdischen Weltverschwörung, ein bestochener Verräter, voll gestopft mit dem Geld, das die Juden den armen Leuten abgenommen hätten. Es hieß, er habe »Gräuelhetze gegen Adolf Hitler und
das deutsche Volk« veranstaltet. Dabei hatte er nur gesagt: Er werde erst nach Deutschland zurückkehren, wenn dort wieder Recht und Freiheit herrschten. Sein Bankvermögen war beschlagnahmt, das Haus in Caputh von SA durchsucht worden, weil man dort, wie die Zeitungen berichteten, ein kommunistisches Waffenlager vermutete. Auch in der Haberlandstraße hatte es mehrere Hausdurchsuchungen gegeben, die SA hatte Bilder und Teppiche geklaut. Wenigstens war es Rudolf Kayser, Ilses Mann, gelungen, die private Korrespondenz zu retten und als plombiertes Kuriergepäck auf diplomatischem Weg nach Paris zu schaffen. Elsa hatte Einstein angefleht, sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Aber das kam ihm feige vor. »Ich habe nur eine Angst«, hatte er ihr gesagt, »dass sich diese Seuche ausbreitet.« Und so hatten die Königs, so nannte Einstein das belgische Königspaar, zwei Polizisten in Zivil zu seiner Bewachung gestellt. Auch ihnen, dachte Einstein, können Spaziergänge nicht schaden. Hinter aneinander gerückten Strandkörben saß eng umschlungen ein Liebespärchen im Sand. Einstein war direkt neben ihnen stehen geblieben, ohne sie zu bemerken. Nun kicherte das Mädchen. »Oje, ich störe«, sagte er leise und ging weiter. In Deutschland fand die wissenschaftliche Debatte jetzt im Völkischen Beobachter statt. Philipp Lenard mit seiner schwachsinnigen »Deutschen Physik« triumphierte. Als besonders »jüdisch« galt es, wenn eine Theorie sehr »theoretisch« war, also nur durch lange Gedankenketten mit den Beobachtungen zusammenhing. Ein angesehener Physikprofessor hatte versucht, Einsteins Theorie des Weltalls »rassisch« zu erklären: Die Juden stammten von Beduinen ab, die in Zelten wohnten und die Leinwand fortwährend vor sich
sahen. Daher konnten sie sich nur einen endlichen Raum vorstellen. Die Vorfahren der nordischen Völker hingegen pflegten zum unendlichen Sternenhimmel aufzublicken, der ihnen ein Gefühl für den unendlichen Raum gab. Semiten wie Einstein könnten nur das Endliche fassen. Es schien nicht viele Menschen in Deutschland zu geben, die neben Anstand auch noch Rückgrat besaßen. Planck, der ihm das persönliche Versprechen abgenommen hatte, so lange in Deutschland zu bleiben, wie es die politischen Verhältnisse erlaubten, verkündete, als über Einsteins Ausschluss aus der Akademie abgestimmt werden sollte: »Es ist tief zu bedauern, dass Herr Einstein selber durch sein politisches Verhalten sein Verbleiben in der Akademie unmöglich gemacht hat.« Nur Nernst und Laue hatten es gewagt, öffentlich für jüdische Freunde einzutreten.
Das kleine, rot und blau gestrichene Holzhäuschen lag zwischen hohen Sanddünen versteckt. Es gab nur ein Wohnzimmer, eine Küche und im ersten Stock drei kleine Zimmer. Seit Margot und Helene Dukas aus Berlin gekommen waren, hallte das Häuschen wie eine Muschel von all den Stimmen oben und unten, vom Knarren der Treppenstufen, dem Klirren des Geschirrs und dem Hämmern der Schreibmaschine. Alles lebte nur aus dem Koffer, niemand fühlte sich hier zu Hause, aber alle verband ein Gefühl der Gemeinsamkeit. Einsteins »Rechner«, der kleine, rundliche Dr. Mayer, war erst vor wenigen Tagen aus Deutschland gekommen. Er berichtete von dem englischen Millionär und Physikprofessor Lindemann, der im Rolls-Royce mit Chauffeur von einer deutschen Universität zur anderen reiste, um entlassenen Physikern Stellungen in England anzubieten.
»Ein Räumungsverkauf«, sagte Mayer trocken. »Beste Ware zu Tiefstpreisen. So, wie es aussieht, sitzen fast ein Drittel aller deutschen Physiker auf der Straße.« An den Universitäten fanden so genannte Säuberungen statt. Man entließ alle »nichtarischen« Professoren. Allerdings war der »Arier« eine ganz neue Erfindung. Es gab zwar einen »arischen Sprachstamm«, aber der konnte nicht gemeint sein, da auch das Jiddisch der Ostjuden eine »arische« Sprache war. Andererseits konnten Völker wie die Ungarn und die Finnen, die bei den Nazis sehr beliebt waren, demzufolge schlecht als »Arier« bezeichnet werden. Durch die anfängliche Unklarheit über die Definition des Nichtariers entstanden tragische und komische Situationen. Bald nach der Machtergreifung hielten die Lehrer der Berliner Universität eine Versammlung ab. Man wollte der neuen Regierung seine Loyalität beweisen, und ein Dozent schlug vor, eine freiwillige rassische »Säuberung« durchzuführen, ehe noch die offizielle Definition bekannt war. Bald darauf wurde der Dozent selbst zum »Nichtarier«. »Ich habe einen Brief von Haber bekommen.« Einstein stand auf und wühlte in einem Haufen Papiere. »Ein gebrochener Mann. Er ist 65, hat sich sein Leben lang für Deutschland abgerackert. Hier ist ja der Brief.« Er setzte sich wieder an seinen kleinen Arbeitstisch im Wohnzimmer und las, das Papier nah an den Augen: »Das Schweigen, das mich die letzten Tage im Amt umgab, war das Schlimmste. Wie deutsch ich gewesen bin, wird mir erst jetzt klar. Ich habe für dieses Land alles gegeben.« Einstein ließ das Blatt sinken. »Nicht einer ist zu Haber gegangen und hat ihm die Hand gereicht, als er um seine Entlassung gebeten hatte. Ich habe ja nie viel auf die Deutschen gegeben. Aber dieses Ausmaß an Feigheit… Wer hätte damit gerechnet. Wenigstens ist dadurch seine Liebe zur
blonden Bestie ein bisschen abgekühlt.« Einstein legte den Brief auf den Schreibtisch. »Sie werden es nicht glauben. Dieser Haber ist Zionist geworden und will nach Palästina ziehen.« »Haben Sie ihm geantwortet?«, erkundigte sich Mayer. »Allerdings«, sagte Einstein.
In diesem Jahr wollte der Frühling nicht kommen. Noch im Mai fegte kühler Wind über die Dünen, und das bleifarbene Meer verschmolz am Horizont mit einem ewig grauen Himmel. Doch nun war der Sommer eingekehrt und mit ihm die Badegäste. Die Frauen promenierten in ihren nach Pariser Muster gefertigten Badekostümen, die Kinder bauten große Burgen im Sand. Einstein zog sich mit Dr. Mayer ins Wohnzimmer zurück. Dort arbeitete Margot an einer großen Frauenstatue aus Holz, während Mayer und Einstein um den Schreibtisch standen. »Nein«, sagte Einstein. »Wir müssen die Sache anders anpacken.« Formeln fielen, knapp, präzise. »Ich glaube aber doch…«, begann Mayer und las eine ganze Reihe von Zahlen ab. Für Margot hätten die beiden Männer genauso chinesisch reden können. Sie betrachtete einen Moment Einsteins Gesicht. Er schaute sich im Zimmer um, doch er nahm nichts auf. Und dennoch wirkten seine Augen so konzentriert, als würde er eine rätselhafte Inschrift entziffern. Es sah aus, als würde er mit den Augen denken, als würde er sehen, was er dachte. Die Formeln, die langsam aus seinem Mund kamen, waren für ihn sichtbar, sogar greifbar. Manchmal öffnete er die Hände, zeichnete Linien in der Luft. Mayer versuchte atemlos, Schritt zu halten. Er sprach schnell, als müsse er Einstein einholen. Doch er folgte nicht blind. Er
protestierte, schüttelte den Kopf. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, obwohl es im Raum kühl war. Einstein ging zum Tisch, schrieb etwas auf. Dann hielt er inne. Minutenlang schwiegen sie beide. Einstein kaute auf der erkalteten Pfeife. Dann leuchtete sein Gesicht auf. »Ich hab’s«, rief er. Wieder kritzelte er Formeln. Mayer, über ihn gebeugt, las mit. Als sie sich wieder aufrichteten, sah Einstein wieder wie ein kleiner Junge aus. »Und?«, fragte er. »Wie gefällt Ihnen das?« Sein ganzer Körper schien sich zu entspannen, seine Augen begannen wieder zu sehen, seine Ohren zu hören. »Ja«, sagte Mayer. »Aber…« Wieder fielen Fachausdrücke und Formeln. Einstein stand noch mit angewinkeltem Bein und sah Mayer fröhlich an. Doch dann wurde auch sein Gesicht wieder ernst. »Sie haben Recht«, sagte er. Wieder verschloss sich sein Gesicht, sein ganzes Wesen. Wieder bekamen die Augen jenen nach innen gewandten Blick. Er kann überall arbeiten, dachte Margot. Egal, wo man ihn hinsetzt, er braucht nur ein paar Blatt Papier und einen Bleistift. Wenn er sich konzentriert, dann verschwindet für ihn die Welt. Einstein hatte einen Brief bekommen, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. Es ging um zwei junge Männer, die den Dienst in der belgischen Armee verweigern wollten und nun Einstein um Unterstützung in ihrem Fall baten. Kriegsdienstverweigerung war damals noch kein anerkanntes Recht. Wer so etwas tat, musste mit Gefängnisstrafen rechnen. Vor wenigen Jahren wäre das für Einstein eine eindeutige Angelegenheit gewesen. Er hatte mehrfach dazu aufgerufen, den Kriegsdienst bedingungslos zu verweigern. Doch mit dem Aufkommen des Faschismus hatte sich alles verändert. König Albert von Belgien, mit dem er gut befreundet war, hatte ihm
die schwierige Lage des kleinen Landes geschildert. Ohne Armee wäre es den Eroberungsplänen Deutschlands völlig hilflos ausgeliefert. So hatte Einstein die beiden jungen Männer eingeladen, um mit ihnen zu sprechen. Sie gingen am Strand spazieren. Der kleine Junge von nebenan rannte auf und ab und versuchte, einen Drachen steigen zu lassen. Einstein blieb stehen und schaute ihm zu. »Das haben Sie selbst geschrieben, vor gerade vier Jahren«, sagte einer der Kriegsdienstverweigerer. »Ich würde alle Kriegsdienste uneingeschränkt verweigern und würde auf meine Freunde einwirken, dasselbe zu tun, gleichgültig, welcher Grund für den Krieg auch angegeben ist.« Sie hatten tatsächlich die Zeitungsausschnitte mitgebracht, um seine Aussagen wörtlich zu zitieren. Einstein war beeindruckt. »Sie haben gesagt, dass jeder Krieg nur den Interessen der Mächtigen dient.« Wieder brachten sie einen Zeitungsausschnitt zum Vorschein. Einer las: »Ich fordere hiermit alle Männer und Frauen, bedeutende und unbedeutende, auf, zu erklären, daß sie in Zukunft keinen Krieg und keine Kriegsvorbereitungen unterstützen werden. Ich bitte sie, dies ihren Regierungen schriftlich mitzuteilen und diese Mitteilung durch Nachricht an mich zu registrieren. Ich habe der Errichtung einer Internationalen Einstein-Kriegsdienstverweigerer-Stiftung zugestimmt.« Die beiden Männer bestürmten ihn regelrecht. »Ist das denn alles Lüge? Haben Sie das niemals gesagt?« Einstein wusste, wie viel für die beiden auf dem Spiel stand. Wenn sie bei ihrem Entschluss blieben, drohten Gefängnis oder Strafversetzung in den Dschungel von Belgisch-Kongo. »Die Nazis wollen unterwerfen und zerstören«, begann er. »Und wenn sie in Deutschland damit fertig sind, werden sie
über andere Länder herfallen. Es hat keinen Zweck, mit diesen Leuten zu verhandeln. Sie verstehen nur die Sprache der Gewalt. Ich habe lange in Deutschland gelebt. Glauben Sie mir. Diesmal wird es noch schlimmer kommen als im Ersten Weltkrieg. Gegen Hitler gibt es keine andere Chance.« »Aber damit geben Sie alle Grundprinzipien des Pazifismus auf«, sagte einer der Männer betroffen. »Sie haben selbst gesagt: Nur eine radikale Einstellung kann irgendeinen Nutzen bringen, da jede Regierung genötigt ist, den Krieg als einen Verteidigungskrieg hinzustellen.« Einstein musterte den belgischen Kriegsdienstverweigerer. Ein kleiner, untersetzter Bursche mit fröhlichem Gesicht. Die Haare wurden vom Wind durcheinander gewirbelt. Ja, er wollte leben. Er wollte leben, und er wollte andere Menschen leben lassen. Er wollte nicht mit einem Gewehr hinausziehen und Menschen umbringen, die er nicht kannte. »Auch für mich«, sagte Einstein, »ist in diesem Jahr eine Welt zusammengebrochen. Eines der mächtigsten und fähigsten Völker auf unserer Erde hat sich mit Leib und Seele der Barbarei verschrieben. Wenn die Nationalsozialisten einen Krieg entfesseln, kann es keinem Menschen gleichgültig sein, wer siegt. Es heißt: Der Klügere gibt nach. Aber das bedeutet auch: Der Dümmere setzt sich durch. Ich gebe lieber den Pazifismus auf als Kultur und Menschlichkeit.« Nachdem sich die jungen Kriegsdienstverweigerer verabschiedet hatten, ging er alleine am Strand auf und ab. Ins Nachbarhaus war eine junge Familie eingezogen. Die etwa sechsjährige Tochter, eigentlich ein schüchternes Mädchen, hatte sich angewöhnt, wenn Einstein vorbeikam, laut »Idiot« zu rufen. Einstein nahm es ihr nicht übel. Wenigstens ein Mensch, dachte er, der den Betrug durchschaut hat.
Der Nachbarssohn rannte noch immer am Strand auf und ab und versuchte, seinen Drachen steigen zu lassen. Er war schon ganz außer Atem. »Der Wind reicht doch nicht«, sagte ihm Einstein. Der Junge sah ihn mit großen Augen an. »Mein Vater sagt, Sie seien der klügste Mensch auf der Welt«, sagte der Junge. »Dann hör auf mich«, sagte Einstein. »Heute ist es so heiß, dass du besser deine Badehose holst und schwimmen gehst.« Diese Familie neigt zu Extremen, dachte er. Idiot – oder klügster Mensch der Welt.
Back in the USA
Bereits im Frühjahr 1931 hatte Abraham Flexner, ein amerikanischer Wissenschaftler, Einstein in Caputh besucht, um ihn für ein neues Projekt in Princeton, New Jersey, zu gewinnen. Man wollte ein Institut gründen, in dem die bedeutendsten Forscher eines Gebietes, ohne Lehrverpflichtungen oder andere äußere Störungen, sich ganz der wissenschaftlichen Arbeit widmen konnten. Man wollte nur wenige, aber dafür ausgezeichnete und gut bezahlte Mitglieder gewinnen. Als Flexner Einstein nach seinen Gehaltsvorstellungen fragte, überlegt Einstein kurz und antwortete: 3000 Dollar. Flexner musste seine ganze Überredungsgabe aufwenden, um Einstein klar zu machen, dass 15000 Dollar im Jahr für einen Mann seiner Bedeutung das Minimum wären. Nach den Entwicklungen in Deutschland hatte sich Einstein entschlossen, das Angebot aus Princeton anzunehmen. New Jersey ist nur ein schmaler Korridor zwischen New York und Philadelphia. Südlich von New York reihen sich fünfzig Meilen Ölraffinerien, Fabrikanlagen und Industriehalden. An der Küste liegen im Sommer überlaufene, im Winter ausgestorbene Seebäder. Rundherum eine einzige, riesige Vorstadt. Aber es gibt in dem kleinen, bevölkerungsreichen Staat auch alte Universitätsstädte – wie Princeton, 1690 von Quäkern gegründet. Die Universität gehörte zur »Ivy League«, den Eliteschulen der weißen, angelsächsischen Protestanten. Die neugotische Architektur der älteren Campusgebäude erinnerte an eine alte englische Universitätsstadt. Es war, als hätte man Oxford als Ganzes
über den Ozean verfrachtet. Es gab baumbestandene Alleen und Parks, hügelige, gewundene Sträßchen und im ganzen Städtchen nicht eine Ampel. Fast alle Bürger hatten in irgendeiner Form mit der Universität zu tun. Zunächst zogen die Einsteins ins Peacock Inn, ein älteres Hotel im Stadtzentrum. Elsa suchte eine passende Bleibe. Wie so viele rechnete sie damit, bald nach Deutschland zurückkehren zu können, und so wurde kurzerhand ein möbliertes Zweifamilienhaus nicht weit von der Universität angemietet. In den ersten Tagen nach Einsteins Ankunft erlebte die stille Universitätsstadt den größten Presserummel in ihrer Geschichte. Wo immer er auftauchte, begann eine regelrechte Menschenjagd. Zu jedem Thema sollte er seine Meinung äußern. Die begeisterungsfähigen Amerikaner machten Einstein zu einem neuen Mythos ihres großen Landes. Er wurde zu einem Symbol für die Fähigkeit des menschlichen Geistes, jedes Problem, das er sich vornahm, zu durchdringen. Er hätte behaupten können, der Mond bestehe aus Käse, und man hätte ihm geglaubt. Einstein: »Zur Strafe für meine Autoritätsverachtung hat mich das Schicksal selbst zu einer Autorität gemacht.« Die konservativen Professoren waren entsetzt über ihren neuen Kollegen, den exzentrischen Juden mit langen weißen Haaren und mangelndem Interesse an Kleidung, der, an einer Eiswaffel schleckend, durch die Straßen spazierte. Auch hier gab es unterschwelligen Antisemitismus, und es wurde Wert darauf gelegt, dass der Anteil der jüdischen Professoren nicht über den Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung des Landes stieg.
Ein Botaniker hatte in der dünnen Atmosphäre auf dem höchsten Berggipfel der Kordilleren eine kleine, bisher unbekannte blühende Kaktuspflanze entdeckt. Er gab ihr den Namen »Einsteinia«. Tatsächlich wurde die Luft immer dünner. 1933, im Herbst, hatte Paul Ehrenfest seinen zehnjährigen Sohn erschossen und sich anschließend selbst umgebracht. Einstein erinnerte sich an die verzweifelten Briefe, die ihm Ehrenfest in den letzten Jahren geschrieben hatte. Dringend hatte er darum gebeten, dass Bohr und Einstein gemeinsam nach Leiden kommen sollten, um in seiner Gegenwart ihre Standpunkte zu Quantenphysik auszutauschen. Er hatte die Verwirrung und die Unsicherheit nicht mehr ausgehalten, er hatte immer zu übertriebener Selbstkritik geneigt. Als dann seine Frau erklärte, sie liebe einen anderen Mann, und als der Arzt diagnostizierte, sein Sohn müsse unaufhaltsam erblinden, war es zu viel für ihn geworden. Nachdem er die Todesnachricht erhalten hatte, fiel Einstein ein, wie er vor langer Zeit mit Ehrenfest durch England gereist war. Als der Zug durch eine Industriestadt mit viel Rüstungsbetrieben gefahren war, hatte Ehrenfest hinausgezeigt und gesagt: »Das englische Essen.« Einstein aber, der gar nicht aufgeschaut hatte, bestätigte nur: »Ja, scheußlich, die kochen hier nur mit Hammelfett.« Als Ehrenfest ihn auf das Missverständnis aufmerksam machte, hatten sie beide gelacht, bis ihnen die Tränen kamen. Seltsam, dachte Einstein, was einem in solchen Momenten in Erinnerung kommt. 1934 war Haber im englischen Exil gestorben, verlassen von seiner zweiten Frau, seinen Kindern, ein alter Mann mit gebrochenem Herzen. 1936 war aus Zürich die Nachricht gekommen, dass Marcel Großmann, dem Einstein so viel verdankte, nach Jahren im Rollstuhl gestorben war.
Eduard, den sie Tete genannt hatten, war endgültig in eine psychiatrische Anstalt gekommen, nachdem er noch einige Jahre Medizin studiert hatte. Die letzte Begegnung, 1933 in Zürich, hatte einen bitteren Geschmack hinterlassen. Von ihm und auch von Mileva hörte er nur noch über Besso. Ilse, Einsteins ältere Adoptivtochter, war 1934 in Paris an Krebs gestorben. Von näheren oder entfernteren Bekannten trafen fast täglich Todesnachrichten ein. Sie starben im – und am – Exil. 1936 wurde Elsa schwer krank. Vom Tod Ilses hatte sie sich nie erholt. Sie machte sich mit ständigen Selbstvorwürfen das Leben zur Qual. Warum war sie erst im Sommer 1934 nach Paris gereist, als Ilse schon im Sterben lag, bis aufs Gerippe abgemagert? Die Diagnose – nicht operierbarer Krebs – war wahrscheinlich falsch gewesen, aber das hatte erst der Berliner Spezialist festgestellt, den Elsa hatte einfliegen lassen – zu spät. In den USA konnte sich Elsa nicht einleben, am ehesten noch in New York, wenn sie mit den befreundeten Buckys einkaufen ging, bei Filmpremieren oder auf Wohltätigkeitsdinners. Der Alltag in Princeton aber machte sie krank, sie kannte keinen Menschen und wollte wohl auch niemanden kennen lernen. Sie stürzte sich in besinnungslose Aktivität, führte eine hektische Korrespondenz mit allen möglichen Menschen. Einstein entzog sich und konzentrierte sich ganz auf die Arbeit. Als sie starb, realisierte er, was er verloren hatte. Elsa hatte ihn gezwungen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, auch wenn er auf den Wohltätigkeitsdinners weder Gesellschaft noch Leben entdecken konnte. Nun war es damit vorbei. Das Leben in Princeton wurde friedlich bis zur Eintönigkeit. Helene Dukas übernahm die Haushaltsführung und schirmte ihn ab. Mit ihr, Margot und den wechselnden
Assistenten lebte er, innerlich kaum erreichbar für seine Mitmenschen.
Schon 1921 hatte Einstein einem Freund geschrieben: »Übrigens ist das Erfinden im großen Stile Sache der Jugend und daher für mich vorbei.« Tatsächlich gibt es in der theoretischen Physik ein ungeschriebenes Gesetz: Begabte Theoretiker erzielen ihre besten Ergebnisse, bevor sie 35 sind. Nachher stirbt die Fantasie langsam, aber sicher ab, und die Arbeit wird eine Sache der Routine und der Technik. Als Einstein 1905 seine spezielle Relativitätstheorie, die Quantentheorie des Lichtes und drei weitere bedeutende Arbeiten innerhalb weniger Monate veröffentlichte, war er gerade 26. Die meisten Wissenschaftler glauben allerdings, obwohl ihnen diese Regel bekannt ist, ihr ganzes Leben lang, eben jetzt ihre wichtigste Entdeckung zu machen. Ein Mensch, der gleich mehrfach das wissenschaftliche Weltbild revolutionierte, kann sich nicht einfach irgendeinem nebensächlichen Problem zuwenden. Aber was konnte nach der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie noch kommen? Einstein begann die Suche nach einer einheitlichen Feldtheorie – die Suche nach der Weltformel. Die allgemeine Relativitätstheorie hatte gezeigt, dass Materie das Raum-Zeit-Kontinuum verzerrt, also eine Krümmung verursacht. Nach Einsteins letzter Vision ist Materie eine Krümmung des Raum-Zeit-Kontinuums. Es besteht überhaupt kein Unterschied zwischen Materie und Kraftfeld. Die Masse eines punktförmigen Körpers ist ein Kraftfeld, das an diesem Punkt sehr stark wird. »Schwerefeld« und »Masse« existieren nicht, es gibt nicht einmal »Energie« – Energie ist Masse, und Masse ist eine Krümmung der Raum-Zeit.
In der allgemeinen Relativitätstheorie war es Einstein bereits gelungen, Gravitation und Bewegung als Eigenschaften eines Feldes zu beschreiben. Nicht in diese Beschreibung passten die elektromagnetischen Kräfte und die Erscheinungen im subatomaren Bereich. Die »einheitliche Feldtheorie« sollte nun alle bekannten Kraftfelder zu einer geometrischen Struktur des Raumes zusammenfassen. Die Feldgleichungen sollten auch die Bewegungsgleichungen enthalten und damit praktisch alle Erscheinungen im Universum mit einer Formel erklären. (Auch wenn diese Formel außerordentlich lang und kompliziert sein würde. Möglicherweise musste man nicht nur mit vier, sondern mit fünf, sechs oder noch mehr Dimensionen rechnen.) Dieses Problem ist rein abstrakt. Es ist aus prinzipiellen Gründen wichtig, auch vom philosophischen Standpunkt her ist es bedeutsam, der praktische Wert einer Lösung aber ist gleich null. Einstein hatte mehr und mehr aufgehört, in konkreten physikalischen Bildern zu denken, er wurde ein Mathematiker, der Gleichungen manipuliert. Einstein arbeitete an dem Problem die letzten 35 Jahre seines Lebens, tagein, tagaus. Sah es manchmal auch so aus, als habe er einen großen Fortschritt geschafft, so kam doch der Tag, an dem einer der Assistenten – oder Einstein selbst – einen Fehler fand, der die Arbeit von Monaten oder Jahren zunichte machte. Aber meist schon am nächsten Morgen erschien Einstein mit einer neuen Idee im Institut, und die Arbeit begann von vorn. Er schrieb an einen Freund: »Kleines gelingt, aber das eigentliche Problem bleibt unerreichbar, wenn es auch manchmal in greifbare Nähe gerückt scheint. Es ist hart, aber doch beglückend, hart, weil das Ziel zu groß ist für meine Kräfte, beglückend, weil es immunisiert gegen die Zwischenfälle des persönlichen Daseins.«
Und in einem Brief an den Studienkollegen aus Zürich, Ehret, schrieb er: »Jetzt weiß ich, warum es so viele Leute gibt, die gern Holz spalten. Bei dieser Tätigkeit sieht man nämlich sofort den Erfolg!«
Die großen Fortschritte wurden in den dreißiger Jahren in der Atomphysik gemacht. Seit James Chatwick 1932 das Neutron entdeckt hatte, bombardierten junge Forscher in Rom, Berlin, Paris und Cambridge Atomkerne und beobachteten die merkwürdigen Umwandlungsprozesse, die Freisetzung von Radioaktivität. Noch glaubte niemand an die Möglichkeit der Kernspaltung. Nicht nur Rutherford, Bohr und Einstein meinten, wer von der Freisetzung der Atomenergie spreche, rede vom Mond. In Wirklichkeit aber war es Enrico Fermi vermutlich bereits 1934 in Rom gelungen, das Uranatom zu spalten. Er glaubte jedoch, zwei neue Elemente seien entstanden. In den Jahren bis 1938 gelang es einer Reihe von anderen Forschern ebenfalls, das Uranatom zu spalten – aber sie waren sich dessen nicht bewusst. Dass Neutronen mit ihrer Stärke von weniger als einem Volt den Atomkern spalten könnten, erschien den Physikern unmöglich. Kurz vor Weihnachten 1938 dann erkannten Otto Hahn und Lise Meitner, dass einige bisher für unerschütterlich gehaltene Vorstellungen über die Kernphysik einfach nicht zutrafen. Lise Meitner, die als Jüdin bereits nach Dänemark hatte fliehen müssen, zog den Schluss, dass man keine künstlichen schweren Elemente erzeugt, sondern den Urankern in zwei fast gleich schwere Teile zerspalten hatte. Als Enrico Fermi im Januar auf einer Sitzung in Washington von den Ergebnissen Hahns und Meitners berichtete, war die Erregung der amerikanischen Physiker so groß, dass einige nicht einmal das Ende seiner Rede abwarteten. Sie eilten sofort
in ihre Labors, um die Experimente zu wiederholen. Die New York Times berichtete, 200 Millionen Volt würden bei einer solchen Kernspaltung freigesetzt. Im März 1939, während deutsche Truppen die Tschechoslowakei besetzten, entdeckten Physiker in den USA, dass bei der Zertrümmerung von Urankernen tatsächlich weitere Neutronen freigesetzt wurden, die dann weitere Kernspaltungen auslösen konnten. Es bestand die Chance, dass sich der Spaltungsprozess in eine Kettenreaktion verwandeln könnte, die zu einem Energieausbruch unvorstellbaren Ausmaßes führen würde.
Brief an den Präsidenten
Die Schatten fielen bereits lang. Aus dem dunklen Hauseingang trat eine gebeugte, weißhaarige Gestalt. Sie trug einen weißen, unförmigen Hosenanzug und hielt sich am Geländer fest, während sie die drei Stufen hinunterstieg. Gustav Bucky kam mit hektischen, kurzen Schritten hinter der Garage hervor. »Da sind Sie ja!«, rief er und eilte der Gestalt in Weiß entgegen. Plötzlich blieb er stehen. »Aber Sie sind ja Maya«, sagte er verärgert. Maya, Einsteins Schwester, sah ihrem Bruder mit dem Alter so ähnlich, dass es fast unheimlich war. Dieselben weißen, nach allen Seiten abstehenden Locken, das blasse Gesicht mit dunklen Augenringen, die gebeugte Erscheinung, der abwesende Gang. »Ja, was denn sonst?« Mayas Stimme klang komisch. Sie hatte alle ihre Zähne verloren und konnte sich nicht daran gewöhnen, ein Gebiss zu tragen. »Ich suche Ihren Herrn Bruder«, antwortete Bucky. Da kam, von der anderen Seite des Hauses, Valentin Bargmann, Einsteins junger Assistent, auf den Vorhof. »Er ist noch auf dem Wasser, ich sag’s Ihnen doch«, meinte er schulterzuckend. Kurz danach erschien Margot hinter Bargmann. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie. »Er hat ja nicht einmal einen Schwimmreifen an Bord«, schimpfte Bucky. »Wenn dem Boot was passiert, sinkt er wie ein Stein.« Einstein liebte zwar das Segeln, aber er konnte nicht schwimmen und bevorzugte zum Baden die sichere Badewanne.
Margot sah zum Himmel. Die Sonne war hinter den Hügeln im Westen bereits versunken. »Bald ist es dunkel.« »Wahrscheinlich liegt er in einer Flaute gefangen«, meinte Bargmann. Und Bucky ergänzte: »Er duldet ja keinen Hilfsmotor an Bord. Und die Ruder hat er bestimmt am Hafen vergessen.« Nun kam auch Peter Bucky, der Sohn des Hauses, auf den Hof. »Dem alten Knaben wird schon nichts passiert sein«, sagte er. »Wisst ihr noch, letztes Jahr? Das Segelunglück?« Im vorangegangenen Sommer, ebenfalls in Peconic Bay auf Long Island, hatte ein Segelunglück Einstein beinahe das Leben gekostet. Sein Boot war bei rauer See gegen einen Felsen gestoßen; es hatte sich schnell mit Wasser gefüllt und kenterte. Einstein hatte sich in den Segeln verfangen und war eine Weile unter Wasser, bis er sein Bein befreien konnte. Glücklicherweise war ein Motorboot in der Nähe gewesen. Auf die Idee, den Rettungsring zu benutzen, war er nicht gekommen. Und die Pfeife hatte er, wie er anschließend erzählte, die ganze Zeit in der Hand gehalten. Gustav Bucky biss die Kiefer noch fester aufeinander. »Wie er so schön sagt: ›Das Meer wird sich schon um mich kümmern.‹« Sie gingen über den Sandweg hinunter zum Yachthafen. Hier lagen die Werkstätten der Bootsbauer, die Einstein gerne besuchte, um Fachgespräche zu führen und bei der Arbeit zuzusehen. In dem kleinen Hafen, hinter der Kaimauer, lagen ein paar alte Segelboote und die Motorboote der Fischer. Auch hier war nichts von Einstein oder seinem Einmaster zu sehen. Gustav Bucky hatte inzwischen die Küstenwache alarmiert. Mehrere Fischer und Polizisten umringten nun die kleine Gruppe. Alles sprach durcheinander. »Wenn dem berühmten Einstein etwas passiert ist, haben wir einen Skandal«, sagte einer der Polizisten.
Da alle Küstenwachschiffe unterwegs waren, wurde eine private Rettungsaktion organisiert. Wenige Minuten später tuckerte ein Boot von Peconic Bay nordwärts. Vorne am Bug, mit durchgedrückten Knien, stand Gustav Bucky. Sein grauer Anzug und die schwarze Krawatte flatterten im Fahrwind. Die »Tinneff«, wie Einstein den kleinen Einmaster getauft hatte, trieb nicht weit vom Ufer. Das Segel hing schlaff. Kein Windhauch rührte sich. Aber er liebte das Meer, wenn es still war. Stunden konnte er so sitzen und die kleinen Wellen beobachten, wie sie gegen die Bootswand klatschten. Manchmal, wenn er stundenlang an einer Stelle gelegen hatte, kamen Delphine nahe ans Boot heran, und man konnte mit ihnen sprechen. Heute war nichts dergleichen passiert, er hatte die Sonne genossen, die den Körper mit Wärme auftankte, und die Wolkenformationen beobachtet, die sich langsam veränderten. Da er, wie üblich, den Hut vergessen hatte, hatte er ein Taschentuch verknotet und über den Kopf gespannt. Nun war die Sonne untergegangen, aber er war sicher, es würde der Windstoß kommen, der ihn an Land trieb. Man brauchte nur zu warten. Als er das Tuckern des Außenbordmotors hörte, schaute er verärgert auf. Wer fuhr denn um diese Zeit heraus? Dann erkannte er seinen Freund und Arzt, Gustav Bucky. Bald darauf blieb das Boot etwa zwanzig Meter vor ihm stehen. »Schönen guten Abend, Herr Professor Einstein«, rief Bucky. »Wollen Sie mit uns kommen? Das Abendbrot ist fertig.« »Na gut«, antwortete Einstein. »Warum schaffen Sie sich nicht wenigstens einen kleinen Motor an?«, fragte Peter Bucky. Sie saßen im Geräteschuppen, der auf einer kleinen Anhöhe lag, vor einem Metalltisch.
Einstein trug noch immer den fleckigen weißen Leinenanzug, in dem er auch gesegelt war. »Sehen Sie, das ist das Wesen des Segelns«, antwortete er. »Die totale Unabhängigkeit von künstlichem Antrieb. Nur ich, das Boot, das Meer und der Wind. Alles andere würde es zerstören.« »Aber zwei Ruder aus Holz könnten nicht schaden«, sagte Peter. Peter Bucky, der von seinem Vater die Begabung zum Tüfteln geerbt hatte, baute für Einstein eine Radiostation, mit der sie die Kurzwellen-Nachrichten aus Deutschland empfangen wollten. »Gleich müssten wir es haben«, meinte Peter Bucky. »Sollte man diesen Draht nicht besser sichern?«, fragte Einstein. Peter Bucky blickte ihm streng ins Gesicht. Er war eine in die Länge geschossene Version des Vaters. Dieselben schmalen Augen hinter Brillengläsern, dick wie Fensterscheiben. Er hob den Zeigefinger und fragte: »Was hatten wir abgemacht?« »Natürlich«, nickte Einstein und bleckte in gespielter Zerknirschtheit die Zähne. »Keine Ratschläge.« »Keine klugen Ratschläge«, verbesserte Bucky. Er nahm einen Blechdeckel und schraubte den Kasten zu. »Nun wollen wir mal die Antenne anschließen«, sagte er. Damit nahm er eine Drahtkonstruktion, die wie ein futuristischer Christbaum aussah, und hievte sich mit seiner freien Hand die Leiter zum Dachboden hinauf. Wenige Minuten später stand er wieder vor seinem Apparat und kippte einen Hebel um. Nichts passierte. Nichts war zu hören. Beide schauten sie das Gerät enttäuscht an. Plötzlich rief Peter »ah!«, nahm ein Kabel auf und steckte es in eine Buchse. Sie zuckten beide zusammen, so laut war das Piepsen, Rauschen und Stimmengewirr, das augenblicklich aus dem Lautsprecher dröhnte.
»O Gott«, rief Einstein. »Und das ist die ganze Zeit um uns herum?« Peter drehte an dem Regler. Sie hörten das zerkaute Englisch amerikanischer Sprecher, Französisch, plötzlich undefinierbare Sprachen, Chinesisch oder Japanisch. Und dann hörten sie einen deutschen Schlager. Sie hatten Berlin auf Empfang. Eine brüchige, etwas hohl klingende Männerstimme begann zu sprechen. Die Radiostimme berichtete, was sich heute Nachmittag auf dem Kurfürstendamm ereignet hatte, welche Stücke am Abend in den Berliner Theatern gespielt werden würden. Sie standen in einem nur halb beleuchteten Geräteschuppen bei Nassau Point auf Long Island, um sie herum verrostetes Werkzeug, amerikanische Reklameschilder, von denen der Lack abblätterte – und eine dieser so vertrauten deutschen Radiostimmen berichtete vom neuesten Hauptstadt-Klatsch. Dann begannen die Nachrichten. Die Berichte konzentrierten sich auf die »Krise um Danzig«. Hitler drängte darauf, die Stadt dem Deutschen Reich einzuverleiben. Einstein hörte zu und bemerkte nicht, wie Peter Bucky verschwand, um den Rest der Familie zu holen. Nach dem Ende der Nachrichten erklang eine Fanfare. Eine Stimme sagte: »Es spricht der Führer.« Nach einer kurzen Pause, in der nur das aus einer Unendlichkeit heranschwebende Rauschen zu hören war, begann der Führer des nationalsozialistischen Deutschlands, Adolf Hitler, in kurzen, halb geschrienen Sätzen zu reden. »O Gott«, sagte Einstein. »Stellen Sie aus!« Er sah auf und bemerkte erst jetzt die Versammlung, die sich in dem Schuppen gebildet hatte. Gustav Bucky hatte sich bei seiner Frau, Frieda, die ihn fast um einen Kopf überragte, eingehakt. Peter Bucky, Margot, Maya und Bargmann, der Assistent, saßen auf den staubigen Hockern. Sie schwiegen, nachdem Peter das Radio ausgestellt hatte.
»Österreich, das Sudetenland, dann die Tschechei, nun Danzig, als Nächstes Polen – dieser Hitler kriegt den Hals nicht voll«, meinte Gustav Bucky schließlich. »Wenn die Deutschen irgendetwas taugen würden, dann hätten sie Hitler schon längst aus dem Weg geräumt«, sagte Peter. »Das Schlimmste ist«, ergänzte Einstein, »dass es sich bitter rächen wird.« Schon entbrannte eine Debatte. Alle sprachen durcheinander. Vor allem der alte und der junge Bucky lagen sich, wie immer, wenn es um Politik ging, sofort in den Haaren. Bargmann und Einstein versuchten zu vermitteln. Margot und Frieda hatten bald eine separate Diskussion eröffnet. Nur Maya saß still auf ihrem Hocker. Ihre scheuen Augen huschten von einem zum anderen. Sie lebte, seit sie vor den italienischen Faschisten hatte fliehen müssen, wie in einem schlechten Traum, in dem man ständig hofft, dass man bald aufwacht und dass alles wieder wie früher ist. Mitte Juli 1939 fuhren zwei ungarische Atomphysiker, Leo Szilard und Eugene Wigner, zu Einstein nach Peconic Bay. Szilard war es an der Columbia University gemeinsam mit Enrico Fermi erstmals gelungen, in einer kontrollierten Kettenreaktion Uran zu spalten. Beide, Fermi wie Szilard, waren vor dem Faschismus aus Europa geflohen, und beiden war klar, wie fortgeschritten die deutsche Kernforschung war. Auf einem Spaziergang durch die Wälder, die sich nicht weit von der Küste entlangzogen, schilderten Szilard und Wigner Einstein die Situation. »Nach unseren Berechnungen«, sagte Szilard, »kann durch die Spaltung von 500 Gramm Uran die gleiche Energie freigesetzt werden wie beim Verbrennen Tausender Tonnen Kohle. Vor allem aber lässt sich diese Energie fast auf einen Augenblick konzentrieren. Sollte es gelingen, Uranbomben
herzustellen, würde die Vernichtungskraft das Millionenfache gewöhnlicher Sprengstoffe betragen.« »Es ist genauso, wie Sie in Ihrer Formel vorhergesagt haben«, stimmte Wigner begeistert zu. »E = mc2!« Einstein blieb stehen. Wie üblich trug er an den Füßen nur die weißen Ledersandalen. Nun war das Fußbett voller Kiefernnadeln. Er zog sie aus und ließ die Nadeln auf den Boden rieseln. »Wir müssen damit rechnen, dass in Deutschland dieselben Entdeckungen gemacht werden«, sagte Szilard. »Vielleicht sind die Deutschen auch schon viel weiter. Und wenn diese Waffe in die Hände Hitlers gerät…« Er verstummte. »Nun ist bekannt geworden«, ergänzte Wigner, »dass Deutschland die Ausfuhr von Uran aus der besetzten Tschechoslowakei gestoppt hat. Außerdem versuchen die Deutschen, den Belgiern hochwertiges Uran aus der KongoKolonie abzukaufen.« »Aber die deutschen Atomphysiker sind allesamt Gegner des Systems«, sagte Einstein. »Heisenberg ist sogar als ›weißer Jude‹ angegriffen worden.« »Kennen Sie von Weizsäcker?«, fragte Wigner. Einstein schüttelte den Kopf. »War zu Ihrer Zeit wohl noch zu jung«, sagte Wigner. »Ist inzwischen einer der hervorragendsten Physiker am KaiserWilhelm-Institut, ein begeisterter Nazi.« Nach einer Pause fuhr Szilard fort: »Als wir die entscheidenden Experimente durchführten, habe ich gehofft, dass nicht ausreichend Neutronen ausgestoßen würden. Dass die Kettenreaktion nicht eintreten würde. Aber sie ist eingetreten. Wir können das nicht mehr leugnen. Wir haben auch bereits mit der amerikanischen Marine gesprochen. Aber – Sie kennen das ja. Selbst die Relativitätstheorie hält ein durchschnittlicher Ingenieur, ob Militär oder Zivil, für eine
akademische Frage, mit der sich nur wirklichkeitsfremde Eierköpfe befassen. Und von Kernphysik hat er nicht einmal gehört. Man nimmt uns nicht ernst.« »Und was, denken Sie, ist jetzt zu tun?«, fragte Einstein. »Nur Präsident Roosevelt«, sagte Wigner, »würde uns Wissenschaftlern überhaupt zuhören. Jemand müsste sich direkt an ihn wenden. Es müsste jemand sein, der ohne Umwege zu ihm gelangen kann. Jemand, dessen Ansehen als Wissenschaftler so groß ist, dass man ihn ernst nimmt. Und jemand, der die politische Situation in Europa versteht.« »An wen hatten Sie da gedacht?«, fragte Einstein. Szilard und Wigner studierten mit gesenktem Kopf den Waldboden. »Ich verstehe«, sagte Einstein. »Aber Sie müssen auch einsehen, dass ich eine besondere Abneigung dagegen habe, in militärischen Fragen…« Er vollendete den Satz nicht. Er holte tief Luft und sagte: »Ich weiß natürlich, welche Verantwortung mir meine besondere Stellung auferlegt, aber…« Auch dieser Satz blieb unvollendet. Schweigend gingen sie durch den Wald. Ein Eichhorn-Pärchen flüchtete, als sie sich näherten. »Ich soll also einen Brief schreiben?«, sagte Einstein endlich. »Was soll denn da drinstehen?« Szilard hatte bereits mit einem Vertrauten Roosevelts gesprochen. Als sie wieder im Wohnzimmer in Peconic Bay saßen, legte er Einstein einen Briefentwurf vor. Darin hieß es: »Falls die Nazis eine solche Waffe entwickeln könnten, wäre die ganze zivilisierte Welt bedroht.« »Wir können nur noch hoffen«, sagte Szilard, bevor sie sich verabschiedeten. »Hoffen, dass es wirklich unmöglich ist, diese Waffe zu konstruieren.« Einstein antwortete nicht. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, dachte er. Und der Wille ist da.
Es dauerte eine Weile, bis sich die amerikanische Regierung entschloss zu handeln. 1940 schrieb Einstein einen zweiten, noch drängenderen Brief. Im Dezember 1941, einen Tag vor dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor, begann die Geschichte des amerikanischen Atom-Projektes. Nun ging alles umso schneller und perfekter. In Los Alamos, mitten in der Wüste von Nevada, wurde eine »geheime Stadt« hochgezogen. Am Ende beschäftigte das »Manhattan Project« 150000 Mitarbeiter. Alle bedeutenden Atomphysiker außerhalb des faschistischen Machtbereichs waren beteiligt, von Niels Bohr bis J. R. Oppenheimer. Nicht mehr die Wissenschaftler verwalteten das Projekt, sondern Militärs, an ihrer Spitze General Groves. Die Forscher hatten ihren offiziellen Leibwächter, nicht einmal die nächsten Verwandten durften auch nur andeutungsweise erfahren, woran sie arbeiteten. War ein Meinungsaustausch zwischen Mitarbeitern verschiedener Abteilungen erforderlich, so brauchten sie eine Sondergenehmigung der Militärverwaltung, bevor sie miteinander reden durften. Wer in den »geheimen Städten« lebte, unterlag einer totalen Kontrolle. Telefonate und Briefe wurden überwacht, selbst die Hotelportiers waren Agenten der Spionageabwehr. Kaum ein Dutzend Menschen durfte einen Überblick über das Ganze haben, nur der kleinste Teil des Personals wusste überhaupt, dass man an der Atombombe arbeitete. Die Menschen in Amerika und auf der ganzen Welt hatten keine Ahnung von Los Alamos. Die Möglichkeit, aus Kernkraft Energie zu gewinnen, war noch immer Stoff für Science-Fiction. Selbst die Abgeordneten, die ungeheure Summen für ein militärisches Forschungsprojekt bewilligten, wussten nicht, um was es in diesem Projekt ging.
»O weh!«
»Der Mensch erkaltet schneller als der Planet, auf dem er sitzt.« Albert Einstein, 1946 Seit den »Nürnberger Gesetzen« von 1935 war die Diskriminierung der Juden in Deutschland auch gesetzlich geregelt. Die jüdischen Mitbürger wurden systematisch schikaniert und zur Auswanderung getrieben. 1938 kam es dann in der so genannten Reichskristallnacht zu einem zentral organisierten, angeblich »spontanen« Pogrom. Schlägertrupps, überwiegend SA-Männer, zerstörten fast 8000 jüdische Geschäfte und Hunderte von Synagogen, brandschatzten, mordeten. Etwa 35000 Juden wurden vorübergehend in Konzentrationslager gesteckt. Göring forderte von den deutschen Juden Schadensersatz in Höhe von einer Milliarde Mark, da viele Geschäfte nur gepachtet gewesen waren. Die jüdische Gemeinschaft brachte dieses Geld tatsächlich auf. Nur ein kleiner Teil der Juden konnte auswandern. Manche blieben, weil sie alt waren oder arm. Doch vielen, die aus Deutschland fliehen wollten, gelang es nicht, Einreisevisa für andere Länder zu bekommen. Die USA hatten 1924 ein neues Einwanderungsgesetz erlassen, das scharfe Begrenzungen enthielt, und im Jahre 1938, als für die europäischen Juden ein Zufluchtsort dringend notwendig gewesen wäre, änderten die Briten ihre Einwanderungspolitik für Palästina. Die Zahl der jüdischen Einwanderer wurde auf 15000 jährlich beschränkt. Bereits im November wurden 10000 jüdische Kinder aus Deutschland abgewiesen.
Einstein kämpfte um jeden Emigranten. Für viele Menschen stellte er ein »affidavit of support« aus, wie ihn das amerikanische Einwanderungsgesetz verlangte, noch häufiger vermittelte er solche »affidavits«. Er sprach auf Versammlungen und besuchte so viele Wohltätigkeitsdinners, wie sein Magen aushielt. Leider, musste er feststellen, entsprachen weder sein Vermögen noch sein Einfluss seinem Ruhm. Selbst viele amerikanische Juden sprachen sich offen gegen höhere Einwandererzahlen aus, weil sie ein Anwachsen des Antisemitismus in den USA fürchteten. Einstein wunderte es, dass die jüdischen Immigranten, die in Deutschland so viel gelitten hatten, noch starke Sehnsucht nach diesem Lande empfanden. Einmal begegnete er einem deutschen nichtjüdischen Rechtsanwalt, der sich in New York nur mit Mühe durchbrachte. Auf die Frage, ob er Heimweh habe, antwortete der: »Heimweh? Ich, warum? Ich bin doch kein Jude.« Für einige Wochen wurde Schopenhauer Einsteins Lieblingsautor. Gerne zitierte er auch Hegel: »Was wir aus der Geschichte lernen können, ist, daß die Völker nichts lernen aus der Geschichte.«
In Princeton merkte man nicht viel von dem Krieg, der in der Welt tobte. Es war so friedlich, dass Einstein sich fast schämte. Nur in Träumen drang der Krieg in diese Ruhe ein. Er fuhr mit der Straßenbahn durch ein zerbombtes Berlin voller Leichen; er wurde von Nazis gejagt und musste sich verstecken. Manchmal tauchten die Freunde von damals in diesen Träumen auf: Haber, Laue, Planck. Einmal lag er zwischen Leichen und Kadavern, versteckte sich vor der SS, die ihn bereits gefoltert hatte.
Manchmal fürchtete er ernsthaft, Hitler könnte nach einem Sieg in Europa die Vereinigten Staaten angreifen. Frankreich, Skandinavien, Südeuropa und halb Russland hatten die deutschen Armeen in Blitzkriegen überrollt. Erst als der Vormarsch in Russland stecken blieb, schöpfte er neue Hoffnung. Seit den frühen Vierzigern waren immer wieder Gerüchte nach Amerika gedrungen, die niemand glauben oder auch nur begreifen konnte. Die Nazis hätten die Politik der Vertreibung aufgegeben und seien zur direkten Vernichtung des europäischen Judentums übergegangen. Man sprach von einer Konferenz am Wannsee, von Massenexekutionen in den besetzten Gebieten. Viele hielten das für typisch jüdische Übertreibungen. Dann befreiten im Sommer 1944 russische Truppen die Menschen aus den Vernichtungslagern in Treblinka und Majdanek. Bilder eines unnennbaren Grauens gingen um die Welt. Deutsche hatten perfekt arbeitende Fabriken errichtet, die nur ein Ziel hatten: Menschen zu vernichten. Die Zahl der Getöteten ließ sich zunächst nur schätzen. Aber die Nazis hatten selbst penibel Buch geführt. Es mussten, in allen Lagern, mehrere Millionen sein. Im Juli 1944 scheiterte ein letzter Attentatsversuch von hohen Militärs und bürgerlichen Oppositionellen gegen das HitlerRegime. Aber nun brachen die deutschen Fronten im Westen wie im Osten zusammen. Als die deutsche Regierung dennoch keinen Friedenswillen zeigte und stattdessen mit einer noch unbekannten »Wunderwaffe« drohte, fürchteten viele Wissenschaftler, auch Einstein, die deutsche Atombombe stehe kurz vor ihrem ersten Einsatz.
Anfang 1945 bekam Einstein erneut Besuch von Szilard. Er hatte sein Kommen in merkwürdig verschlüsselten Nachrichten angekündigt und weigerte sich, Einstein im »Institute for advanced Studies« zu treffen, wo es für solche Zwecke ein hübsches Büro gab. Szilard, an sich vernünftig und ruhig, verhielt sich wie ein Mensch, der unter krankhafter Verfolgungsangst leidet. Als ihn Einstein an einem sonnigen Nachmittag auf der Veranda des weißen Hauses in der Mercer Street 112 empfing, flüsterte Szilard gehetzt: »Lassen Sie uns bitte erst hineingehen.« Dann ergänzte er laut: »Schön, dich endlich wiederzusehen, Onkel Albert.« Als sie in dem dunklen Wohnzimmer standen, betrachtete Einstein Szilard ausführlich. Sie waren schon lange befreundet, hatten noch in Berlin gemeinsam gearbeitet. Aber seit wann war er mit Szilard auf »du«? Und seit wann nannte er ihn »Onkel«? Szilard ging sehr dicht an ihn heran. Dann fragte er mit tonloser Stimme: »Hatten Sie in letzter Zeit Handwerker hier?« »Dürfte ich fragen…«, begann Einstein. »Bitte antworten Sie mir«, flüsterte Szilard, und seine Stimme klang so dringend, dass Einstein beschloss, ihn ernst zu nehmen. Entweder der Mann war verrückt geworden, oder es musste um etwas wirklich Wichtiges gehen. »Nein, keine Handwerker«, antwortete Einstein. Ohne es zu wollen, hatte nun auch er die Stimme gesenkt. »War das Haus in letzter Zeit länger unbeaufsichtigt?« Einstein legte den Zeigefinger an die Lippen und überlegte einen Moment. »Nein«, antwortete er dann. »Seit dem Sommer war fast immer jemand hier.« »Gut«, sagte Szilard. Er entspannte sich etwas. Er legte sein Jackett und den Hut ab. »Wo können wir vollkommen ungestört reden?«
»Hier«, sagte Einstein. »Es darf niemand zuhören.« »Hier hört niemand zu. Außer Helene Dukas, Margot oder Maya.« »Das geht nicht.« Einstein führte den Gast in sein Arbeitszimmer im ersten Stock. Szilard sah sich misstrauisch um. Er blieb vor dem langen Fenster, das fast die gesamte hintere Wand ausmachte, stehen und sah auf den Garten hinaus. Dann trat er dicht an das gerahmte Foto neben dem Bücherregal heran und fragte: »Ist das Maxwell?« Einstein hatte sich in den Lehnstuhl gesetzt und stopfte sich eine Pfeife. »Ihr Vorbild?«, erkundigte sich Szilard. »Maxwell ist der größte Naturforscher in der menschlichen Geschichte«, sagte Einstein. »Und was sind Sie?« »Ich bin ein alter Kracher.« »War das Maxwell nicht auch am Schluss?«, fragte Szilard lächelnd. »Er ist jung gestorben.« Szilard setzte sich in den Ledersessel und faltete die Hände. Noch einmal sah er sich im Zimmer um. »Und hier können wir reden, ohne dass jemand…« »Nun ist aber Schluss!« Einstein schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Staub wirbelte durch die Luft. Im Arbeitszimmer herrschte noch immer strenges Putzverbot. »Was ich Ihnen zu berichten habe«, begann Szilard, »ist das bestgehütete militärische Geheimnis unserer Zeit.« Er hob die Hand, um Einsteins Einspruch aufzuschieben. »Ich würde Sie nie damit belästigen, wenn es nicht um Menschenleben ginge. Um das Leben unschuldiger Menschen, Frauen und Kinder.«
Nun trat eine Pause ein, in der Einstein angestrengt an der Pfeife saugte, um sie in Gang zu kriegen, und Szilard offensichtlich seine Argumentation im Kopf sortierte. Dann erhob er sich. »Ist Ihnen Los Alamos ein Begriff?«, fragte er. Einstein wiegte die Hand mit der Pfeife leicht hin und her. »Nichts Genaues weiß man nicht«, sagte er. »Ich möchte nicht zu viele militärische Geheimnisse brechen«, sagte Szilard. »In Los Alamos wird die Atombombe gebaut. Die Arbeit ist bereits weit fortgeschritten. Nun, seitdem amerikanische Truppen in Straßburg auf die Unterlagen von Weizsäckers gestoßen sind, steht fest, dass die Nazis nie ein ernst zu nehmendes Atom-Projekt hatten. Wie auch immer: Sie verfügen noch nicht einmal über Anlagen, in denen das für die Kettenreaktion notwendige Uran hergestellt werden kann. In Japan steckt die Atomforschung noch in den Kinderschuhen. Der angebliche ›Wettlauf um die Atombombe‹ stellt sich als amerikanischer Alleingang heraus. An sich bräuchten wir diese Waffe nicht mehr. Aber für die Militärs sieht die Sache anders aus. Mehr als zwei Milliarden Dollar sind ausgegeben worden. Die militärischen Leiter des Atom-Projekts haben seit Ende 1944 nur eine Angst: dass der Krieg früher fertig sein könnte als ›ihre‹ Bombe. Sie wollen ihre Waffe der Welt demonstrieren, und zwar nicht in irgendeinem Test in der Wüste, sondern an lebenden Menschen. Der wissenschaftliche Leiter des Projekts, Robert Oppenheimer, ist kein starker Charakter, abhängig von den Militärs. Er wird sie nicht zurückhalten können.« »Was soll das heißen: Tests an lebenden Menschen?«, fragte Einstein. »Man wird die Atombombe über einer Millionenstadt abwerfen. Damit Amerika der Welt seine neue Waffe präsentieren kann.« Szilard hatte sich in den Ledersessel fallen gelassen. »Im Sommer 1939 hätten ganze zwölf Menschen
durch gemeinsame Verabredung den Bau von Atombomben verhindern können«, sagte er. »Fermi in Rom, Heisenberg und Hahn in Deutschland, wir in Amerika… Wir waren doch einmal die internationale Familie der Atomphysiker.« Einstein nickte. »Diese Chance ist vertan. Die Wissenschaftler haben sich mit Leib und Seele an die Regierenden verkauft. Und wir haben mit unserem Brief dazu beigetragen.« Nach einer Pause ergänzte Einstein: »Was sollen wir jetzt tun?« Er brauchte nicht lange zu überlegen. »Wir müssen also einen weiteren Brief an Roosevelt schreiben.« Szilard atmete erleichtert auf. »Genau das hatte ich vorschlagen wollen.«
Bereits 1944 hatte Niels Bohr, als renommiertester Physiker beim Manhattan Project, mit Roosevelt und Churchill Kontakt aufgenommen. Er teilte den beiden Politikern Folgendes mit: Wenn es Menschen möglich war, eine solch schreckliche Waffe zu bauen, dann musste eine internationale Übereinkunft gefunden werden, eine internationale Organisation, die diese Waffe kontrollierte. Das Gespräch mit Churchill wurde ein Debakel. Für Churchill grenzte dieser Wunsch an Hochverrat. Roosevelt zeigte sich offener. Inzwischen war auch Einsteins Brief auf dem Schreibtisch des Präsidenten gelandet. Doch im April 1945 starb Roosevelt. Für seinen Nachfolger, Harry Truman, zählte nur die militärische Durchschlagskraft der Waffe. Neue Kriterien für den Einsatz der Atombombe wurden aufgestellt: Man wollte sie ohne vorherige Warnung einsetzen. Da sich die erwartete Explosionswirkung auf eine Region von ungefähr einer halben Meile Radius beschränkte, sollte als Ziel eine möglichst dicht bebaute Gegend dienen. Dieses Ziel sollte unberührt von früheren Bombardements sein, damit man die Wirkung einer einzelnen Bombe besser
feststellen konnte. Daraufhin wurden vier japanische Städte von den amerikanischen Bombern verschont. Im Juli 1945 fand in der Wüste von Nevada die erste Explosion einer Atombombe statt. Keine 35 Jahre waren vergangen, seitdem Rutherford mit seinem neuen Atommodell die moderne Atomphysik begründet hatte; keine 15 Jahre, seitdem durch die Entdeckung des Neutrons das Eindringen ins Innerste der Materie möglich geworden war. Fast genau 40 Jahre vorher hatte Einstein seine Formel E = mc2 gefunden, die die ungeheuren Kräfte im Inneren der Materie vorhersagte. Die Kernphysik hatte noch vor fünf Jahren als Spielwiese von Phantasten und Philosophen gegolten, ohne jegliche politische oder wirtschaftliche Bedeutung. Bevor die erste Bombe gezündet wurde, wusste niemand, ob die Vorhersagen eintreffen würden. Noch immer war alles nur »Theorie«. Würde die erste Bombe, »Trinity« genannt, ein Blindgänger oder ein »Erfolg« sein? Oder, wie man in Los Alamos zu sagen pflegte, ein »Mädchen« oder ein »Junge«? Was dann am 16. Juli 1945 geschah, übertraf alle Erwartungen der beteiligten Militärs und Wissenschaftler bei weitem. Keine 20 Kilometer vom Ort der Sprengung entfernt, ausgerüstet mit dunklen Brillen und Sonnenschutzcreme, erlebten sie eine Explosion mit einer Sprengkraft, die 20000 Tonnen Dynamit entsprach. Sie sahen den hellen Feuerball, der immer größer und größer wurde, spürten die harte Luftdruckwelle. Sie sahen als erste Menschen den Atompilz, der scheinbar Himmel und Erde verschlingen wollte. Nach diesem Erlebnis wandten sich viele der Wissenschaftler mit einer nun dringenden Petition an den Präsidenten, die Waffe nicht ohne vorherige Warnung einzusetzen. Die endgültige Niederlage Japans konnte nur noch eine Frage von Wochen sein. Die Lebensmittelvorräte waren fast erschöpft, es gab keinen Treibstoff für die Kriegsführung
mehr. Japanische Regierungskreise signalisierten Kapitulationsbereitschaft. Militärisch brauchte die Atombombe nicht eingesetzt zu werden. Doch in den USA hatte niemand, auch nicht der Präsident, den Mut, die Entwicklung nun noch aufzuhalten.
Am 6. August 1945 waren die Einsteins, wieder gemeinsam mit der Familie Bucky, in einem kleinen Ferienort am Saranac Lake. Helene Dukas hatte sich am Nachmittag hingelegt und hörte die Nachrichten. Es war erst die zweite Meldung. Zunächst kam ein Bericht über die Kämpfe um Okinawa. Dann hieß es, eine neuartige Bombe sei über Japan abgeworfen worden. Als Einstein zum Nachmittagstee herunterkam, berichtete sie es ihm. Einstein sagte nur: »O weh!« Als er bald darauf in Princeton wieder mit Szilard zusammentraf, sprachen sie über den Brief, den sie sechs Jahre zuvor an Roosevelt geschrieben hatten, und über die weitere Entwicklung der Waffentechnik. »Am wissenschaftlichen Menschen«, sagte Einstein, »hat sich eine Tragödie vollzogen. Wir haben gestrebt nach Klarheit und innerer Unabhängigkeit, und nun haben wir durch unsere schier unmenschlichen Anstrengungen die Mittel zu unserer Versklavung und Vernichtung geschaffen.« »Die Wissenschaftler in Los Alamos«, sagte Szilard, »sprechen bereits über eine neue, noch grausamere Waffe: die Wasserstoffbombe.« »Ja«, stellte Einstein fest. »Sie werden alles bauen.« Szilard fragte: »Hört denn die Spirale der Vernichtung nie auf? Mit welchen Waffen wird wohl der Dritte Weltkrieg geführt werden?«
»Keine Ahnung«, antwortete Einstein. »Aber ich kann Ihnen sagen, welche sie im Vierten benutzen werden: Steine.«
Der weise Mann von Princeton
»Man kommt sich vor wie ein aus Versehen übriggebliebener Ichthyosaurus.« Albert Einstein, 1952 Einstein lebte in Princeton ruhig vor sich hin. Nach dem Frühstück las er Zeitung, und gegen zehn ging er, wenn das Wetter mitspielte, zu Fuß ins Institut, oft begleitet von einem Assistenten oder dem Mathematiker Kurt Gödel. Er arbeitete ein paar Stunden. Mittags ging er zurück in die Mercer Street. Nach dem Mittagsschlaf trank man Tee, dann arbeitete er, schrieb Briefe, empfing Gäste. Oft ging es um Politik. Nach dem Abendessen arbeitete er weiter oder hörte Radio. Sonntags ging er spazieren, oder die Buckys kamen, und man fuhr in Peters Cabriolet aus der Stadt hinaus. Er wurde zur Symbolfigur im Kampf gegen die atomare Bedrohung. 1946 war er Vorsitzender des »Emergency Committee of Atomic Scientist« geworden. Leo Szilard war die treibende Kraft dieser Organisation, die die Öffentlichkeit über die Bedeutung der atomaren Rüstung aufklären wollte. Denn nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki hatten die Militärs so getan, als hätten sie eine »konventionelle«, nur eben besonders starke Waffe eingesetzt. Die Radioaktivität, die unsichtbar und geruchlos alles durchdringen und Menschen noch Jahre später umbringen konnte, hatte man verschwiegen. Im selben Jahr sprach Churchill erstmals in einer Rede vom »Eisernen Vorhang«. Der Kalte Krieg, die Konfrontation mit der Sowjetunion, bahnte sich an. Die Regierungen der USA
und Großbritanniens glaubten, das »Geheimnis der Atombombe« für sich behalten zu können und noch dreißig Jahre im alleinigen Besitz dieser Waffe zu bleiben. Die Wissenschaftler hatten den Regierungen und Militärs gesagt, dass dies ein Irrtum sei, dass die UdSSR schon bald ebenfalls Atomwaffen herstellen könnte. Die physikalischen Grundlagen waren auf der ganzen Welt bekannt. Deshalb müsse die Waffe unter internationale Kontrolle gestellt werden – unter die Kontrolle einer Art Weltregierung, an der alle Staaten, auch die kommunistischen, beteiligt werden sollten. Die Regierung der USA hatte andere Interessen. Das AtomKontrollgesetz verhinderte jeden öffentlichen Einblick in die Atom-Forschung, die weiterhin militärisch ausgerichtet blieb. Schon im September 1945 wurde nicht weit von Los Alamos eine neue Atombombenfabrik hochgezogen, in der die Sprengköpfe in industriellem Maßstab gefertigt werden konnten. Im August 1949 zündete die Sowjetunion ihre erste Atombombe, zum Entsetzen der westlichen Regierungen. Der atomare Rüstungswettlauf begann. In den USA wurde begonnen, die Wasserstoffbombe zu bauen, die noch tausendmal stärker sein sollte als die Hiroshima-Bombe. In einer Wasserstoffbombe sollten die gewaltigen Naturvorgänge, die sich im Inneren der Sonne abspielen, nachgeahmt werden. Durch Verschmelzung von Wasserstoffatomen können Energiemengen freigesetzt werden, die noch ungleich größer sind als bei der Uranspaltung. Niemand wusste, was geschehen würde, wenn man eine Wasserstoffbombe zündete. Es war möglich, dass sie eine unaufhaltsame globale Kettenreaktion auslösen würde, die in kurzer Zeit den ganzen Planeten Erde in einen flammenden Stern verwandeln müsste. Nach den Berechnungen der Wissenschaftler, die die Bombe bauten, war solch eine
Kettenreaktion ausgeschlossen. Diese Waffe sollte den USA einen uneinholbaren Vorsprung vor der Sowjetunion verschaffen. 1947 hatte Einstein einen Artikel veröffentlicht: »Kein Wissenschaftler, der sich mit Grundlagenforschung beschäftigt, darf mehr mit militärischen Projekten zusammenarbeiten. Dies muß ein grundsätzliches moralisches Prinzip für alle Forscher werden.« In einem Interview sagte er: »Wenn ich noch einmal auf die Welt käme, würde ich kein Physiker werden, sondern Handwerker.«
Seit Maya 1939 aus Italien gekommen war, hatte Einstein viel Zeit mit ihr verbracht. Oft saßen sie, wie früher, einfach nur schweigend zusammen. Maya spielte noch immer gut Klavier, und so musizierten sie häufig gemeinsam. Sie hatte Sinn für Humor, war hochintelligent, aber auch schmerzhaft schüchtern. Es dauerte lange, bis sie akzeptierte, dass die Menschen sie wegen ihres Wesens liebten, nicht nur, weil sie die Schwester des berühmten Einstein war. Sie war sanft und liebevoll und liebte Tiere so sehr, dass sie streng vegetarisch lebte. Von dieser Regel gab es eine Ausnahme: Sie liebte heiße Würstchen. Einstein half bei diesem Problem, indem er erklärte, Würstchen seien ein Gemüse. Maya hatte 1946 einen Schlaganfall erlitten und wurde bettlägerig. Einstein saß jeden Abend an ihrem Bett und las ihr vor; vor allem französische Literatur, aber auch wissenschaftliche Texte. Sie litt unter Hirn-Arteriosklerose, »auf gut Deutsch«, wie sie selbst sagte, »unter Verkalkung«. Ihr Gedächtnis wurde immer schwächer, doch blieb sie geistig wach, selbst als sie kaum mehr ein verständliches Wort herausbringen konnte. Die Sehnsucht nach Italien blieb bis zum Schluss, und jede Woche kam ein langer Brief in
Schwyzerdütsch von ihrem Mann, der in Mailand geblieben war. 1951 erlitt sie einen leichten Hirnschlag und starb nach wenigen Tagen. Einstein war bis zuletzt bei ihr gewesen. Nach ihrem Tod saß er mit Margot auf der Veranda, die nach hinten, in den Garten, führte. Lange sagten beide nichts. Nun hat sie es hinter sich, dachte er. Er musste daran denken, wie er 1902 nach Italien gereist war, um seinen sterbenden Vater ein letztes Mal zu sehen. Damals hatte er sich hilflos und einsam in der Welt gefühlt. Draußen regnete es, seit Tagen schon. Einstein saß alleine in der Küche. Tiger, ihr Kater, strich maunzend und jammernd um seine Beine. »Ich versteh schon, was dich stört«, sagte Einstein. »Aber ich weiß auch nicht, wie man das abstellt.« Margot war in New York in ihrem Atelier, und Helene Dukas hatte sie begleitet, um Freunde zu besuchen. Seinen Assistenten hatte er fortgeschickt. Angeblich weil er sich auf ein Problem konzentrieren wollte. In Wirklichkeit, alter Freund, sagte er sich selbst, willst du dich nur vor der Arbeit drücken. Eben hatte er sich kalten Pfefferminztee eingeschenkt. Die Kanne stand auf dem Tisch. In dem bräunlichen Porzellan sah er das verzerrte Spiegelbild des Küchenfensters mit dem grauen, wolkenverhangenen Himmel. Ganz unten, noch an den Rand gedrückt, war ein heller Streif, der langsam wuchs. Einstein richtete sich auf. »So, nun muss ich aber endlich mein Opfer an Gehirnschmalz darbringen«, erklärte er dem Kater. Im Arbeitszimmer war es etwas heller. Einstein setzte sich im Schneidersitz auf die Couch und breitete seine Papiere vor sich aus. Er sprach leise mit sich selbst, wie jemand, der die Gedanken in seinem Kopf sortieren will: »Dies sind also die
Lösungen, die wir letzte Woche gefunden haben. Das sind die zusätzlichen Variablen, die Bargmann vorgeschlagen hat…« Er sortierte die Blätter um. Er hob mit dem Fuß einige Papiere vom Boden auf. »Aha«, sagte er. »Hochinteressant.« Er sortierte weiter. »Sehr aufschlussreich.« Dann stand er auf und ging zum Schreibtisch, wo weitere Papierstapel lagen. Die Hände auf die Blätter gelegt, blieb er stehen. Er sah zum Fenster und betrachtete die Regentropfen, die in Zickzacklinien herunterliefen. Mit großer Spannung beobachtete er, wie sich die Regentropfen vereinigten und breitere »Straßen« bildeten, auf denen sie dann schnell entlangkullerten. Er trat nah ans Fenster heran. Erst nach Minuten wurde ihm klar, dass sein Blick glasig geworden war, dass er in einen Tagtraum abgeschweift war… Lustlos ging er zur Couch zurück. Dann begann er, alle Papiere zum Schreibtisch zu tragen und dort auszubreiten. Dreißig Jahre – das sind immerhin 109 Sekunden, überlegte er – mühte er sich nun an der Feldtheorie ab – ohne Ergebnis. Seit fünfzig Jahren grübelte er über die Lichtquanten – ohne einer Antwort auch nur näher zu kommen. Manchmal bewunderte er sich selbst. Welche Ausdauer! Welche Selbstverleugnung! Welche Demut vor den ewigen Geheimnissen der Natur! Ein Ausspruch Oppenheimers fiel ihm ein. »Einstein ist ein Wahrzeichen, aber kein Leuchtturm.« Obwohl er zuerst über diesen Satz gelacht hatte, fühlte er sich verletzt. Als er sich mit diesen düsteren Gedanken quälte, fühlte er sich plötzlich zurückversetzt in seine möblierte Wohnung in Berlin, Weihnachten 1918. Berlin war in der Hand der Spartakisten gewesen. Er hatte mit Claire Goll, der jungen Dichterin, Weihnachten gefeiert. Die junge Frau in dem schlanken, langen Kleid hatte in seinem chaotischen Arbeitszimmer gestanden und mit blitzenden Augen
gesprochen: »Ich habe sie alle gekannt, die großen Männer, die Genies, die Schriftsteller, Philosophen, Künstler, Wissenschaftler. Alle sind sie verschlossen und eiskalt. Unnahbar wie arktische Fische. Sie riskieren nichts. Sie liefern sich niemandem aus, sondern errichten ihr Denkmal für die Ewigkeit.« Ein Denkmal für die Ewigkeit, aus kaltem Stein. Ich habe mir mein Gefängnis selbst gebaut, dachte Einstein, und nun komme ich nicht mehr heraus. Er ging hinunter, er wollte irgendetwas anderes tun, nur nicht weiterrechnen.
Eine Weile stand er auf der hinteren Veranda und schaute dem Regen zu. Ohne zu merken, was er tat, ging er wieder hinein, ins Wohnzimmer, und nahm den Geigenkasten auf. Schon lange hatte er nicht mehr gespielt. Er hatte immer um seine Fehler und Schwächen auf diesem Instrument gewusst, er war nie ein guter Techniker gewesen, dafür hatte die Zeit gefehlt. Und manchmal hatte ihn Neid erfasst, wenn er gute Violinisten gehört hatte. Seine Bogenführung war nie wirklich ausgewogen, aber immerhin hatte er stets einen klaren Ton gefunden. Nun waren die Finger steifer geworden. Zunächst hatte ihn das wenig gestört, und er ließ sich weiter vom eigenen Spiel mitreißen. Doch nun versagten die Finger schon bei einfachen Melodien, von der Teufelstriller-Sonate Tartinis ganz zu schweigen. Er packte das Instrument aus und begann es sorgfältig zu stimmen. Dann nahm er eines der alten Notenhefte zur Hand. Manche stammten noch von seiner Mutter, sie hatten die halbe Welt gesehen, waren halb auseinander gefallen und wieder geklebt worden, sie waren voller Fettflecken, voller Falten wie sein eigenes Gesicht. Er baute den Notenständer auf. Mit viel
Geduld fettete er den Bogen. Dann legte er das Kissen unters Kinn und begann zu spielen. Nach wenigen Tönen setzte er ab. Es war ein einziges Krächzen. Wieder nahm er die Geige auf und spielte. Er brachte kaum einen vernünftigen Ton heraus. Mitten in der Melodie rutschten ihm die Töne weg. Er hob den Bogen und feuerte ihn gegen die Wand. Dann lehnte er die Geige neben den Stuhl. Er richtete sich mühsam auf und schaute in die Zimmerecke, wo der Bogen lag. Ich habe meine treueste Freundin verloren, dachte er, meine gute alte Fiedel. Er erhob sich. Er ging in die Ecke und hob den Bogen auf. Was konnte der Bogen denn dafür? Er stellte ihn zur Geige und ging ziellos durch den Raum. Plötzlich stand er vor dem Flügel. Der stammte aus der Wohnung in der Haberlandstraße. Oft hatte Planck darauf gespielt, und Einstein hatte ihn auf der Geige begleitet. Auf dem Instrument lagen Notenhefte, ganz obenauf seine liebste Geigensonate von Mozart. Er klappte den Deckel auf. Er schlug das Heft auf und begann die Töne zaghaft anzuschlagen. Bald wurde er sicherer. Er spielte die Sonate, Note für Note, unbeholfen auf dem Flügel, aber er hörte das raue Singen einer Geige, seiner eigenen Geige. Als er wenig später im Bad sein eigenes Spiegelbild betrachtete, sagte er halblaut zu sich selbst: »Jeder Augenblick, den du leben darfst, ist ein Geschenk. Sei nicht immer so undankbar.« Das Gesicht war natürlich schauderhaft. Die Nase schien jedes Jahr ein paar Millimeter zu wachsen. Na ja, sagte er sich. Die dümmsten Bauern haben die größten Kartoffeln. Vor einigen Tagen, als er abends mit Helene Dukas im Wohnzimmer saß, hatte sie vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen, diese faltige Haut berührt. »Es sind schöne Falten«, hatte sie gesagt.
Seit 1928, als er schwer krank im Bett gelegen hatte, war Helene Dukas bei ihm. Damals war sie ein junges Mädchen mit romantischen Augen gewesen, von denen eines hinter einer tiefen Haartolle fast verschwand. Sie hatte, das wusste er, einen deutschen Verlobten gehabt, der nach 1933 nichts mehr von ihr hatte wissen wollen. Seit Elsas Tod lebten sie zusammen wie Eheleute. Einstein wusste, dass Helene Dukas ihn verehrte, vielleicht liebte. Aber nie waren sie sich so nahe gekommen wie an jenem Nachmittag. Am Ende hatten sie, wie junge Verliebte, halb verlegen, halb verzaubert, Hand in Hand gesessen. Es war Nacht geworden. Nur das Surren des Kühlschranks war zu hören. Er ging ins Wohnzimmer und betrachtete Margots Plastiken, die überall herumstanden, kleine Figuren aus Ton, Bronze oder Holz. Auf dem Klavier stand ein kleiner Leierkastenspieler aus Seidenpapier, den sie ihm letztes Weihnachten geschenkt hatte. Er trat ans Fenster und schaute hinauf. Die Wolken hatten sich aufgelockert, und manchmal war der Mond zu sehen. Da stand er eine Weile. Vergangenheit, Zukunft – alles Illusionen, sagte er sich. Dann wandte er sich ab. »Nun bellst du schon wie ein alter Hund den Mond an«, murmelte er. Bald darauf hörte er das Taxi, das Margot und Helene Dukas nach Hause brachte.
Alle Menschen müssen sterben
Die Kinder von Princeton erkannten Einstein an den weißen Haaren, die verzottelt in die Luft standen, an dem breiten, weißen Schnurrbart, der fast den ganzen Mund bedeckte. Sein Gesicht war schmaler, feiner geworden, die Wangen und Schläfen waren eingefallen, ein Gewirr aus Falten und Runzeln, in dem zwei dunkle Augen warm leuchteten. Es gab eine Fähigkeit, die ihn mit Eitelkeit erfüllte: Er konnte mit den Ohren wackeln, und er liebte es, dies den Kindern vorzuführen. Die Tatsache, dass er keine Socken trug, hatte sich unter den Kindern schnell herumgesprochen. Warum durfte er etwas, das nicht einmal dem Schuldirektor erlaubt war? »Warum trägst du keine Socken?« Diese Frage war unvermeidlich, wenn Einstein einer Gruppe von Kindern begegnete. Er antwortete: »Ich habe jetzt ein Alter erreicht, in dem ich nicht mehr gehorchen muss, wenn mir jemand sagt, ich solle Socken anziehen.« Ein Mädchen warnte ihn: »Wenn du eine Erkältung bekommst, dann wird sich deine Mutter Sorgen machen.«
Auch Adelaine wohnte in der Mercer Street. Sie war zehn Jahre alt, mit Sommersprossen auf der Nase und einer großen Zahnlücke. Adelaine ging in die vierte Klasse, und sie hatte ein großes Problem: Mathematik. In diesem Fach war sie sehr schwach. Nun hatte der Vater zu ihrer Überraschung erklärt, der komische alte Mann, der ein paar Häuser weiter lebte, sei der berühmteste Mathematiker der Welt. Als Adelaine mal wieder ziemlich schwierige Rechenaufgaben hatte, beschloss
sie, den berühmten Professor zu besuchen. Er musste ihr doch bei den Lösungen helfen können. Das weiße Haus war zugewuchert. Ringsherum Bäume und Büsche, die niemand schnitt, und an den zierlichen Säulen der Veranda kletterte Efeu. Adelaine klopfte erst zaghaft an die Tür, dann bemerkte sie die Klingel. Nachdem sie geläutet hatte, stellte sie ihre Schultasche ab und schaute sich um. Die Tür wurde geöffnet. »Was willst du denn?«, fragte eine ältere Frau. Sie hatte lange, etwas wirre schwarze Haare und dunkle Augenringe. Ob das seine Frau ist?, überlegte Adelaine. Der Professor hatte immer so nett ausgesehen. Adelaine nahm ihren Mut zusammen. »Wohnt hier Professor Einstein?« »Ja«, sagte die Frau. »Und was willst du?« »Ich möchte mit ihm sprechen«, sagte Adelaine. »Hm«, sagte die Frau. Sie hielt die Tür noch immer halb geschlossen. »So einfach geht das nicht«, sagte sie dann. »Weißt du, Professor Einstein ist viel beschäftigt. Er arbeitet, und…« »Wer erzählt da solche Lügen?«, erklang eine brummige Stimme. Adelaine sah sich um. Dann erblickte sie in dem Fenster links neben der Tür das Gesicht mit den weißen Haarbüscheln und dem großen Schnurrbart. Einstein hatte das Fenster geöffnet und schaute heraus. »Professor Einstein würde sich über so netten Besuch bestimmt freuen«, sagte er. »Na, wenn das so ist«, sagte die Frau und öffnete die Tür. Nachdem sie sich einander vorgestellt hatten, standen sie einen Moment etwas verlegen in dem dämmrigen Wohnzimmer. Dann sagte Einstein: »Wie wäre es, wenn wir
unserem Gast eine heiße Schokolade anbieten?« Damit verschwand er in der Küche. Margot lief ihm nach. »Lass doch, Vater«, sagte sie. »Ich mach das schon.« Einstein kam schulterzuckend zurück. »Magst du überhaupt heiße Schokolade?«, fragte er. Adelaine nickte heftig. Er bot ihr einen Stuhl an. »Und was verschafft mir die Ehre deines Besuches?« Adelaine hatte ihre Schultasche aufgeklappt und kramte darin. »Wir haben da in letzter Zeit Rechenaufgaben bekommen, die ich einfach nicht verstehe«, sagte sie. Dann holte sie ein Schulheft hervor, schlug es auf und reichte es Einstein. Der nahm sein Brillenetui und schob die Brille auf die Nase. Er hielt das Heft sehr nah vor die Augen und las schweigend. Nach einer Weile ließ er es sinken und nickte anerkennend. »Alle Achtung«, sagte er. »Das ist harter Stoff.« »Das können Sie sich sparen«, sagte Adelaine. »Ich weiß, dass solche Aufgaben für Sie ein Witz sind.« Einstein legte das Heft auf den Tisch und hob den Zeigefinger. »Da irrst du dich aber gründlich. Mir fällt es bis heute schwer, solche Aufgaben zu lösen. Deswegen habe ich immer einen Mitarbeiter, der für mich rechnet.« Adelaine begann wieder in ihrer Schultasche herumzukramen. »Na gut«, sagte sie. »Ich erwarte nicht, dass Sie mir umsonst helfen. Ich habe Bonbons mitgebracht.« Damit legte sie eine Reihe Bonbons in glitzerndem Papier auf den Tisch. Einstein beugte sich vor und begutachtete sie. Dann kraulte er sich das Kinn. »Hmm«, murmelte er. »Ich glaube, da kann ich nicht nein sagen.« Adelaines Gesicht leuchtete.
»Also, komm mal her«, sagte er und schob das Rechenheft in die Mitte. »Du möchtest also 2568 durch 4 teilen. Zunächst musst du…«
Als Adelaine zu Hause erzählte, der berühmte Professor habe alles viel besser erklärt als die Mathematiklehrerin, erschrak ihre Mutter und lief zu Einsteins, um sich zu entschuldigen. Einstein aber wehrte ab. »Ich habe bei den Gesprächen mit Ihrer Tochter sicher mehr gelernt als sie von mir.« Adelaine kam nun öfter zu Besuch, nicht nur, wenn sie schwierige Rechenaufgaben hatte. Manchmal wurde sie von Margot oder Helene Dukas abgewiesen, und ein paarmal schlich sie sich dann durch den Garten und hinauf in Einsteins Arbeitszimmer, um ihn mit Fragen zu löchern. »Warum bist du so berühmt geworden?« – »Wieso gehen Uhren in einer schnellen Rakete langsamer?« – »Hast du die Atombombe gebaut?« – »Warum müssen alle Menschen sterben?« – »Gibt es Menschen auf dem Mond?« – »Wie weit ist der nächste Stern entfernt?« Nicht alle Fragen konnte Einstein beantworten. Die Relativitätstheorie – die spezielle – erklärte er ihr mehrmals. Am Ende schien sie es in etwa zu verstehen. Der nächste Stern, Proxima Centauri, erklärte er, ist 23 Millionen Millionen Meilen – oder vier Lichtjahre – entfernt. Der Abstand von der Erde zur Sonne beträgt nur acht Lichtminuten. Die Atombombe hatte er nicht gebaut. Er war auch froh darüber. »Aber die Atombombe schützt uns vor den Kommunisten«, sagte sie. »Die Atombombe beschützt niemanden«, antwortete er. »Sie bedroht alle.« »Warum ist das alles so schwer zu verstehen?«, fragte sie einmal. Sie saßen vor dem großen Fenster in seinem
Arbeitszimmer. Gerade hatte er versucht, ihr den Aufbau der Atome zu erklären. Einstein wiegte den Kopf. »Gute Frage«, sagte er. Dann holte er seine Taschenuhr aus der Schublade. »Siehst du, diese Uhr habe ich 1902 geschenkt bekommen. Damals habe ich geheiratet.« Adelaine schaute ihn fragend an. »Warum ist das alles so schwer zu verstehen?«, wiederholte er. »Nun, du siehst diese Uhr. Du siehst die Zeiger, und du hörst das Ticken. Stimmt’s?« Adelaine hielt das Ohr ganz dicht an die Uhr. Dann nickte sie. »Wie können wir herauskriegen, warum die Zeiger sich bewegen?«, fragte er. »Wir können die Uhr aufschrauben«, sagte sie. »Stell dir vor, wir könnten die Uhr nicht aufschrauben. Stell dir vor, sie sei fest verschlossen.« Er legte die Uhr auf den Tisch. 342 »So ist das in der Physik«, sagte er. »Wir sehen zwar, was in der Natur passiert – aber wir können nie das Innere sehen, wir können die Uhr nicht aufschrauben. Wir können nur das Äußere betrachten und verschiedene Annahmen machen. Wir können annehmen, dass in der Uhr ein kleines Tierchen sitzt, das den Zeiger bewegt und tickt.« Adelaine überlegte. »Und wovon sollte das Tierchen da leben?« »Wer weiß«, sagte Einstein. »Vielleicht braucht es nichts zum Essen. Genau werden wir es nie erfahren. Denn wir können nicht hineinschauen. Und deshalb denken wir uns manchmal sehr komplizierte Sachen aus, um das, was wir sehen, zu erklären.«
Zum Glück waren nicht alle Gespräche so philosophisch. Oft alberten sie nur herum, und manchmal holte Einstein seine alte Geige hervor und spielte dem Mädchen vor. Er hatte geglaubt, das Instrument nie wieder anzufassen, doch nun ging es nicht darum, Mozart-Sonaten zu spielen, sondern einfach darauf herumzuklimpern. Er machte mit der Geige Tierlaute nach, oder er ließ sie klingen wie eine quietschende Tür. Einmal trampelten sie gemeinsam durch das Haus, Einstein spielte ein Kinderlied, und Adelaine sang dazu. Sie waren die Treppen runter- und wieder hochmarschiert. Plötzlich ließ sich Einstein auf einen Stuhl fallen und setzte die Geige vorsichtig ab. Sein Gesicht war ganz grau. Sein Atem rollte wie ein fernes Gewitter. »Stirbst du jetzt?«, fragte Adelaine besorgt. Er schüttelte nur, mit geschlossenen Augen, den Kopf. Später, als er sich erholt hatte, sprach er von Zürich und Prag, von Kaffeehäusern und Alpenwanderungen, vom alten k. u. k. Österreich und dem jüdischen Ghetto. Das Licht fiel durchs Fenster und strahlte sein weißes Haar an. Adelaine hörte ihm zu, doch nach einer Weile bemerkte sie, dass sie nichts behielt. Er sprach, doch es war, als gingen die Worte durch sie hindurch. Sie sah ihn an. Sie konnte ihn kaum sehen. Er schien sich im heller werdenden Licht fast aufzulösen.
Auch in den letzten Jahren wurde seine Ruhe gestört. Anfang 1950, nur wenige Monate nach dem ersten sowjetischen Atombombenversuch, gestand ein Physiker aus Los Alamos, seit Jahren für die Sowjets spioniert zu haben. In den USA brach eine regelrechte Hysterie aus. Die Überzeugung, die UdSSR hätte die Atombombe aufgrund eines Verrats bauen können, war allgemein.
Ein noch unbekannter Senator aus Wisconsin, Joseph McCarthy, hielt eine Rede, in der er behauptete, er besitze eine Liste amerikanischer Regierungsangestellter, die Mitglied in der Kommunistischen Partei seien. McCarthy sah überall kommunistische Spione und kommunistische Tarnorganisationen am Werk. Alle sozialistischen oder kommunistischen Bestrebungen wurden mit der sowjetischen Politik gleichgesetzt. Die Kommunistische Partei Amerikas, eine winzige Splittergruppe, wurde zu einer nationalen Bedrohung aufgeblasen. Jeder, der einmal zu ihr in Kontakt gestanden hatte oder zu einer Organisation, an der sich Kommunisten beteiligten, galt als möglicher Landesverräter. Die »Ausschüsse für unamerikanische Umtriebe« wurden eingerichtet. Wer vorgeladen wurde, hatte schon verloren. Wenn er die Aussage verweigerte, wurde er schuldig gestempelt. Sagte er aber aus, begann eine gnadenlose Schnüffelei in seinem Privatleben. Bald galt jede liberale Gesinnung als unamerikanisch. Einstein hatte seine sozialistische Einstellung nie verheimlicht. Und er hatte bei vielen Organisationen mitgearbeitet und zahllose Aufrufe unterstützt. Im Februar 1950 hatte er im nationalen Fernsehen eine Rede gegen die Wasserstoffbombe gehalten und prophezeit, der Rüstungswettlauf würde zur Vernichtung der Menschheit führen. Er sprach sich deutlich gegen staatliche oder militärische Kontrolle der Wissenschaft aus. Ein Naturwissenschaftler hatte in seinen Augen stets Internationalist zu sein. Der FBI begann sich für ihn zu interessieren. Bereits zu Kriegszeiten hatte man Material über ihn gesammelt und festgestellt: Dieser Mann war nicht zuverlässig. Er durfte an militärischen Projekten nur beteiligt werden, wenn sie nicht geheim waren,
und so war er auch für Los Alamos ausgeschieden. Die »Akte Einstein« beim FBI war bald 1200 Seiten dick. McCarthys Hexenjagd nahm derweil krankhafte Züge an. Sämtliche Lehrer, die kommunistischer Kontakte verdächtigt wurden, lud man vor die Komitees. Da entschloss sich Einstein zu einer deutlichen Stellungnahme. Er veröffentlichte in der New York Times einen Brief unter der Überschrift: »Neuzeitliche Inquisitionsmethoden«. Darin hieß es: »Es ist den reaktionären Politikern gelungen, durch Vorspiegelung einer äußeren Gefahr das Publikum gegen alle intellektuellen Bemühungen mißtrauisch zu machen. Auf der Basis dieses Erfolges sind sie daran, die freie Lehre zu unterdrücken und die nicht Gefügsamen aus allen Stellungen zu verdrängen, d. h. auszuhungern. Was soll die Minderheit der Intellektuellen gegen dieses Übel tun? Ich sehe offen gestanden nur den revolutionären Weg der Verweigerung der Zusammenarbeit im Sinne von Gandhi. Jeder Intellektuelle, der vor ein Komitee geladen wird, müßte jede Aussage verweigern, d. h. bereit sein, sich einsperren und wirtschaftlich ruinieren zu lassen, kurz, seine persönlichen Interessen den kulturellen Interessen des Landes zu opfern. Diese Verweigerung dürfte aber nicht gegründet werden auf den bekannten Trick der möglichen Selbstinkriminierung, sondern darauf, daß es eines unbescholtenen Bürgers unwürdig ist, sich solcher Inquisition zu unterziehen, und daß diese Inquisition gegen den Geist der Verfassung verstößt. Wenn sich genug Personen finden, die diesen harten Weg zu gehen bereit sind, wird ihnen Erfolg beschieden sein. Wenn nicht, dann verdienen die Intellektuellen dieses Landes nichts Besseres als die Sklaverei, die ihnen zugedacht ist.« Als Einstein am folgenden Tag zusammen mit Kurt Gödel vom Institut nach Hause ging, wurde er von Kamerateams und Reportern umzingelt. Er verweigerte jeden Kommentar, und in
der Mercer Street begannen die Journalisten, auf ihn einzudringen und ihn gegen die Hecken zu drängen. Einstein und Gödel waren hilflos. Glücklicherweise sah Helene Dukas, was sich abspielte. In ihrer Küchenschürze lief sie hinaus und rief schon von weitem: »Nichts sagen, es sind Reporter, nichts sagen!« Dann bahnte sie sich einen Weg durch das Gedränge und zog Einstein heraus und ins Haus. Die Reporter folgten ihr durch den Garten. Sie schlug die Tür zu und stellte die Klingel ab. Einsteins Brief löste, vor allem im Ausland, heftige Reaktionen und Debatten aus. Im amerikanischen Fernsehen begründete Einstein seine Meinung. Zu einer Welle von Verweigerungen, wie er es vorgeschlagen hatte, kam es nicht, aber die Stimmung wendete sich langsam, und McCarthy wurde gestürzt.
Schon 1948 war Einstein so krank gewesen, dass er an ein baldiges Ende glaubte. Er wurde operiert, und dabei entdeckte man, dass sich an der Bauch-Aorta, der Hauptschlagader, eine Schwellung gebildet hatte. Damals gab es noch keine Möglichkeit, das zu operieren. Seit 1950 wuchs die Schwellung, und seitdem stand fest, dass die Hauptschlagader eines Tages an dieser Stelle platzen würde. Dann musste er innerlich verbluten und sterben. Inzwischen gab es Operationsmethoden, aber Einstein behauptete, er habe kein Interesse daran, sein Leben durch chirurgische Eingriffe zu verlängern. Als Anfang April 1955 starke Unterleibsschmerzen einsetzten, wusste er, dass es nicht mehr lange dauern würde. Er sollte eine Fernsehansprache zum 7. Unabhängigkeitstag Israels halten, und täglich gingen Diplomaten und Fernsehleute bei ihm ein und aus. Aber so, fand er, war es eigentlich besser.
Warum sollte er sich ins Bett legen und sich langweilen, nur weil er bald sterben musste? Als ihn seine Assistentin Bruria Kaufman am 12. April fragte: »Ist alles in Ordnung?«, da antwortete er: »Ja, alles ist in Ordnung. Nur ich nicht.« Am nächsten Tag, nachdem er erneut mit dem israelischen Konsul gesprochen hatte, wurden die Unterleibsschmerzen so stark, dass er sich hinlegen musste. Dr. Dean, sein Hausarzt in Princeton, diagnostizierte ein kleines Loch in dem Aneurysma, aus dem Blut austrat. Auch als Dr. Bucky und ein New Yorker Herzspezialist kamen, verweigerte Einstein eine Operation. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Dort starb er am Montag, dem 18. April, kurz nach ein Uhr morgens. Zu Margot hatte er wenige Stunden vorher gesagt: »Ich habe meine Sache hier getan.« Kurz vor seinem Tod wachte er auf. Die Nachtschwester trat an sein Bett und sprach ihn an. Er konnte sie nicht sehen. Er sagte etwas, doch er sprach deutsch, und sie verstand nur Englisch, und so verstand sie nichts. Wie er in seinem Testament verfügt hatte: Die Leiche wurde eingeäschert; was mit der Asche geschah, wurde nicht bekannt gegeben. Er wollte wenigstens im Grab seine Ruhe haben.
Botschaft an die Nachwelt
1936 hatte sich ein amerikanischer Großverleger an Einstein gewandt. Er wollte sein Landhaus um einen Bibliotheksflügel erweitern lassen und im Eckstein einen luftdichten Metallbehälter unterbringen, in dem Dokumente mit besonderem Interesse für Menschen in einer fernen Zukunft enthalten sein sollten. Zum Beispiel ließ er ein Exemplar der New York Times auf Papier drucken, das mindestens 1000 Jahre halten sollte. Auch Einstein schickte er ein Blatt Spezialpapier und bat um einen Beitrag. Einstein schrieb:
»Liebe Nachwelt! Wenn Ihr nicht gerechter, friedlicher und überhaupt vernünftiger sein werdet, als wir es sind bzw. gewesen sind, so soll Euch der Teufel holen. Diesen frommen Wunsch mit aller Hochachtung geäußert habend, bin ich Euer (ehemaliger) Albert Einstein«