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Edda I<.apsch
Verstehen des Anderen Fremdverstehen im Anschluss an Husserl, Gadamer und Derrida
PARODOS
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.deabrutbar.
© Parodos Verlag Berlin 2007 Alle Rechte vorbehalten Umschlag: cb-buchgestaltung, Berlin Druck: Zeitdruck, Dortmund Printed in Germany
ISBN: 978-3-938880-11-1 www.parodos.de
für Margaret
"Wie läßt sich anders schreiben als darüber, worüber man nicht oder nur ungenügend Bescheid weiß?" Deleuze Differenz und Wiederholung
Inhalt
I.
Von der Schwierigkeit, den Anderen zu verstehen
11. Fremderfahrung und Fremdverstehen (Husserl)
11 17
1. Husserls phänomenologischer Ansatz 2. Fremderfahrung in den Cartesianischen Meditationen 3. Fremdverstehen als Motivationsverstehen in den Ideen 11 4. Konzept des Fremdverstehens im Anschluss an Husserl
74
111. Hermeneutischer Aspekt des Fremdverstehens (Gadamer)
87
1. Gadamers Kritik an der traditionellen Philosophie 2. Hermeneutischer Prozess des Fremdverstehens 3. Moral und Fremdverstehen 4. Hermeneutische Erweiterung des Fremdverstehenskonzepts
IV. Skepsis gegenüber dem Fremdverstehen (Derrida) 1. Verzerrung des Fremdverstehens 2. Moralisch aporetische Struktur des Fremdverstehens 3. Grenzen des Fremdverstehens
18 27 49
89 94 112 123
125 127 136 140
V. Möglichkeit und Grenze, den Anderen zu verstehen
143
VI. Ausblick. Interkulturelles Fremdverstehen
149
Literatur
157
9
I.
Von der Schwierigkeit, den Anderen zu verstehen
"Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren." 1 So lautet Dantons Antwort auf seine Gattin Julie, nachdem diese gesagt hat, er würde sie kennen. Er kenne, fügt er hinzu, an Julie das, was man gemeinhin als ,Kennen' bezeichne: ihre Augen, ihre Haare, ihren Teint, und zudem wisse er, dass sie ihn ihren liebsten nenne. Danton kennt also Julies äußerliche Erscheinung und weiß um ihre Rolle als Liebende. Er gibt sich pessimistisch: Um mehr als das über seine Liebste zu wissen bzw. um ein tieferes Verständnis von ihr zu haben, bedürfte es eines gewaltsamen Akts. Ihr Schädel müsste aufgebrochen und ihr Denken bloßgelegt werden. Georg Büchner formuliert durch seine Figur Danton (schon) im Jahre 1835 eine Schwierigkeit, die seit dem 20. Jahrhundert mehr und mehr Beachtung fIndet und die sich heute vielfach in philosophischen, aber auch in kultur-, literatur- oder sozialwissenschaftlichen Debatten fIndet. Die Schwierigkeit, wie das Verhältnis Ich-Anderer zu bestimmen ist, und damit ferner die Frage, wie ein Anderer oder eine Andere verstanden werden kann. 2 Und genau diese Frage nach der Möglichkeit und der Grenze des Fremdverstehens steht im Zentrum der folgenden Untersuchung. Um sie zu beantworten, wird im Weiteren versucht, im Anschluss an Edmund Husserl, Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida ein Konzept des Fremdverstehens zu entwickeln. Die Rede vom Anderen oder vom Fremden genießt in den Geisteswissenschaften gegenwärtig große Popularität, wobei unter dem Anderen sowohl der nahe stehende Mitmensch als auch der Mensch einer fernen Kultur, also der ,kulturell Fremde'
Georg Büchner: Dantons Tod. Ein Drama. In: ders.: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. 8. Aufl. München 2001; S. 67-133; S. 69. Dieses Buch verfolgt keine geschlechts spezifische Fragestellung. Dem philosophischen Jargon nach ist es üblich, von dem Anderen zu sprechen, wobei die im Deutschen mit der maskulinen Form gleichgesetzte geschlechtsneutrale Bedeutung des Worts gemeint ist. Der Übersichtlichkeit wegen wird hier dieser gängige Sprachgebrauch beibehalten.
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verstanden wird. Die Debatten der verschiedenen Disziplinen verfolgen eine Fülle unterschiedlicher Themen, die von der ganz basalen Frage nach einer grundlegenden Fremderfahrung oder nach der Differenz von Eigenem und Fremdem bis hin zum komplexen Umgang mit kulturell ,Fremden' oder Phänomenen wie Fremdenhass reichen. In der Philosophie beschäftigt sich vor allem die Phänomenologie ausführlich mit dem Thema. Bezogen auf das Fremdverstehen wird gegenwärtig zu Recht vielfach die Gefahr betont, den Anderen im Verstehen anzueignen, ihn seiner Andersheit zu berauben. Aus dieser Gefahr entwickelt sich die mittlerweile prominent gewordene und nicht ganz unpathetische Forderung, dass die ,Andersheit des Anderen bewahrt werden müsse'. Wird diese Forderung, die ihren Ausgangspunkt in den Arbeiten von Uvinas haben dürfte, radikal vertreten, ist das Verstehen des Anderen aus erkenntnistheoretischer, vor allem aber aus moralphilosophischer Perspektive abzulehnen. Aber verhält es sich wirklich so? Bleibt nicht mehr, als Danton Recht zu geben und festzuhalten, dass am Anderen nicht mehr verstanden werden kann als sein Äußeres und seine verschiedenen gesellschaftlichen Rollen? Das Phänomen des Fremdverstehens wird hier auf basaler Ebene verhandelt als Frage nach dem Verstehen des Anderen. Es steht im Gegensatz zum Selbstverstehen, dem Verstehen des eigenen Ich, und betitelt demnach nicht vorwiegend das Verstehen eines kulturell ,Fremden' (dies wird Kapitel 6 skizziert). Das Verstehen des Anderen ist problematisch, insofern alles Verstehen prinzipiell aneignenden Charakter besitzt. Gadamer hebt die Ichbezogenheit des Verstehens hervor und sagt, dieses sei ,,[...] Aneignung des Gesagten, [in dem Sinne,] daß es einem selbst zu eigen wird."3 Verstehen ist, wie im Laufe der Untersuchung expliziert wird, eine Art Übersetzungsleistung des Ich. Und damit ist es in gewisser Weise ein gewaltsamer Akt, weil es durch seine Tendenz zur Aneignung die Andersheit des Anderen immer schon ein Stück weit negiert. Diese Schwierigkeit führt zu den zwei Leitfragen der Untersuchung. Zum einen wäre zu klären, ob _ gesetzt, das Verstehen hat tatsächlich diesen aneignenden ChaHans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke. Bd. 1. 6. erw. Aufl. Tübingen 1990; S. 402. - Im Weiteren abgekürzt mit WM.
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. rakter - überhaupt in einem emphatischen Sinne davon gesprochen werden kann, einen Anderen zu verstehen. Bleibt das Verstehen nicht vielmehr in der der eigenen Projektion stecken? Wie sind die Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens zu bestimmen? Zum anderen stellt sich jenseits dieser erkenntnisorientierten Frage die normative Frage, ob das Fremdverstehen, wenn es solchen Schwierigkeiten unterliegt, aus moralischen Gründen vielleicht sogar abzulehnen ist. Ist der Verzicht auf das Fremdverstehen möglicherweise sogar moralisch wünschenswerter als sein Versuch? Der Begriff Fremdverstehen wird als Verstehen der individuellen Eigenheit des Anderen durch das Ich defmiert. Mit Köhler müsste die vorliegende Fragestellung als "kognitiv" bezeichnet werden, insofern in einem weiteren Sinne danach gefragt wird, wieweit das Ich um die individuelle Eigenheit des Anderen wissen kann. 4 Fremdverstehen ist dabei eine in philosophischen Diskursen durchaus übliche Bezeichnung für das Verstehen des Anderen. 5 Die individuelle Eigenheit eines Subjekts ist ein komplexes Gefüge aus (relativ) stabil bleibenden charakterlichen Eigenschaften, habituellen Verhaltensweisen, fundamentalen Überzeugungen oder grundlegenden Fühlweisen einerseits und kontingenten, bruchigen, veränderlichen Eigenschaften andererseits. Vorausgesetzt und nicht weiter verhandelt wird, dass sich Ich und Anderer im alltäglichen Umgang verhältnismäßig einfach verstiindigen 6
Köhler unterscheidet diese "kognitive" Verstehensweise von zwei "nicht-kognitiven" Formen des Fremdverstehens: dem praktischen Verstehen (das Sich-miteinander-Verstehen) und dem emotionalen Verstehen (das Neigung-zu-jemanden-Haben). Köhler behandelt in Personenverstehen genau diese drei Typen des Fremdverstehens, wobei seine Analysen andere Richtungen einschlagen als meine. - Vgl. Wolfgang R. Köhler: Personenverstehen. Zur Hermeneutik der Individualität. Frankfurt/M 2004. Vgl. ebd.; S. 8. - Der Begriff ,fremd' wird damit in Husserlscher Terminologie verwendet. Die Untersuchung verhandelt demnach nicht die Möglichkeit eines Äußerungsverstehens (dass und weshalb (sprachliche) Äußerungen verstanden werden können). Sprachphilosophische Fragestellungen, wie sie vorwiegend in der analytischen Tradition, z.B. bei Frege, Wittgenstein, Searle oder Davidson gestellt werden, spielen hier keine Rolle. - Zum Äußerungsverstehen vgl. Emil Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik. Weilerswist 2003; S. 61ff.
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können und dass es vergleichsweise leicht möglich ist, den Anderen in seiner sozialen oder gesellschaftlichen Rolle zu verstehen. 7 Das vorliegende Thema wird im Anschluss an Busserl, Gadamer und Derrida entwickelt. Die aufgrund ihrer Beterogenität vielleicht überraschende Auswahl der Autoren hat ihren guten Grund. Die unterschiedlichen Konzeptionen ergänzen sich bezogen auf das Verstehen des Anderen vortrefflich. Durch die Auseinandersetzung mit Busserl (vorwiegend mit den Ideen I1) kann eine solide Basis für ein Konzept des Fremdverstehens entwickelt werden. Dieses Konzept bleibt jedoch deutlich erweiterungs- und korrekturbedürftig und so bedarf es der Miteinbeziehung anderer Autoren. Mit Gadamer lassen sich wesentliche und bei Busserl zu kurz kommende hermeneutische Aspekte des Fremdverstehens entwickeln und mit Derrida kommt eine bis dorthin vernachlässigte verstehensskeptische Perspektive in den Blick. Mit diesen Vorbemerkungen ist angedeutet, dass die folgende Untersuchung zum Ziel hat, ein Konzept des Fremdverstehens im Anschluss an die genannten Philosophen zu entwickeln und nicht etwa drei verschiedene. Daraus folgt ferner, dass ein systematisches Interesse im Vordergrund steht und es nicht darum gehen kann, die drei philosophischen Richtungen für sich stehend zu erläutern bzw. dem Verhältnis der Autoren untereinander nachzugehen. Das Buch strukturiert sich folgendermaßen: Das iJVeite, umfangreichste Kapitel stellt die Auseinandersetzung mit Busserl dar. Nach einleitenden Bemerkungen zu Busserls phänomenologischem Anspruch werden seine Intersubjektivitätstheorie der Cartesianischen Meditationen und seine Erörterungen zum Fremdverstehen in den Ideen II kritisch diskutiert. Anband dieser Auseinandersetzung wird unter anderem versucht, ein geeignetes Verständnis von Subjektivitä,t als Grundlage für das Fremdverstehen zu entwickeln. Außerdem werden erste grundlegende Bestimmungen eines Konzepts des Fremdverstehens erarbeitet. Schließlich werden die gewonnenen Ergebnisse diskutiert sowie die Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens in den
Blick genommen. Das dritte Kapitel stellt eine Auseinandersetzung mit Gadamer dar. Hier wird unter anderem versucht, das im Anschluss an Busserl erarbeitete Konzept aus hermeneutischer Perspektive zu erweitern und zu korrigieren. Außerdem kommt mit Gadamer das Problem des normativen Gehalts des Fremdverstehens in den Blick. Das Thema der Moralität des Fremdverstehens wird im vierten Kapitel bei der Auseinandersetzung mit Derrida genauer beleuchtet. Zudem werden mit Derrida bisher unberücksichtigte verstehensverzerrende Momente des Fremdverstehens ~rörtert. Das ftinfte Kapitel widmet sich erneut den eingangs gestellten Fragen und resümiert die aus den Analysen gewonnenen Ergebnisse. Im sechsten Kapitel wird schließlich in Form eines Ausblicks nach den Konsequenzen der Untersuchungsergebnisse für ein interkulturelles Fremdverstehen gefragt. Terminologisch sei vorangestellt, dass in dieser Arbeit der Übersichtlichkeit halber en gros in der Auseinandersetzung mit allen drei Philosophen die Begriffe Ich, Anderer und Subjekt Verwendung finden. Der Gebrauch der Begriffe Ich und Anderer liegt nahe, weil sowohl Busserl als auch Gadamer und Derrida sie verwenden. Vom Subjekt zu sprechen ist hingegen aufgrund der subjektkritischen Perspektive Gadamers und vor allem Derridas nicht selbstverständlich bzw. nicht unproblematisch. Vorläufig stellt der Begriff Subjekt hier nur den das Ich und den Anderen umfassenden Terminus dar. Welches Subjektverständnis der vorliegenden Untersuchung genauer zugrunde liegt, wird in der Beschäftigung mit Busserl erörtert.
Das vertritt auch Jauß. Er sagt, schwierig ist das Verstehen des Anderen allem voran ,,[...] als fremdes, kontingentes Individuum". - Vgl. Hans Robert Jauß: Probleme des Verstehens. Das privilegierte Du und der kontingente Andere. In: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.): Kontingenz. München 1998; S. 457-488; S. 459.
14
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11.
Fremderfahrung und Fremdverstehen (Husserl)
Die Auseinandersetzung mit Husserl soll dazu dienen, erste Ergebnisse zu liefern auf die Frage, wie sich das Fremdverstehen als Verstehen eines Anderen vollzieht. Die Husserlforschq.ng ging dieser speziellen Frage meines Wissens bisher nicht systematisch nach. Dies zu tun erscheint aber durchaus lohnend, da sich aus Husserls Entwürfen zum Fremdverstehen aufschlussreiche Thesen für die hiesige Fragestellung entwickeln lassen. Dazu müsste Husserls Theorie allerdings modifiziert werden, denn er hat im engeren Sinne keine Theorie des Fremdverstehens verfasst, sondern sich über dieses Problem nur an verstreuten Stellen seines Werks (in den Ideen 11, aber auch den Cartesianischen Meditationen, sowie in einzelnen Passagen der drei Bände zur Intersubjektivität) 8 geäußert. Die vorliegende Auseinandersetzung versucht anhand ausgesuchter Lektüren ein Konzept des Fremdverstehens im Anschluss an Husserl zu entwickeln. Die Beschäftigung mit Husserl geht in vier Schritten vonstatten. Erstens werden einige für die Erörterung wesentliche Voraussetzungen und Grundbegriffe Husserls geklärt, zweitens werde ich die Intersubjektivitätstheorie der Cartesianischen Meditationen darstellen und diskutieren, drittens wird in Auseinandersetzung mit den Ideen II das Fremdverstehen als Motivationsverstehen herausgearbeitet, was viertens in der Erarbeitung erster allgemeiner Bestimmungen des Fremdverstehens im Anschluss an Husserl mündet.
Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie H. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Den Haag 1952 (Hua IV). - Im Weiteren abgekürzt mit ID Ir. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Den Haag 21963 (HUA I). - Im Weiteren abgekürzt mit CM. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Zweiter und dritter Teil. Den Haag 1973 (HUA XIV, XV). - Im Weiteren abgekürzt mit INT Hund INT IH.
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1. Busserls
phäno~enologischer Ansatz
Im Folgenden wird Husserls phänomenologischer Ansatz grob skizziert, um die Annahmen und Begrifflichkeiten, auf denen die weitere Auseinandersetzung aufbaut, zu klären. Das Unterkapitel dient also vornehmlich der Einführung in die Husserlsche Terminologie und wird dem kundigen Leser in diesem Sinne nur begrenzt Neues bieten. Die Husserlsche transzendentale Phänomenologie versteht sich als konsequente Ausformulierung eines subjekt- bzw. bewusstseinsphilosophischen Ansatzes und ließe sich sogar als eine "verspätete VollendungsJorm suijektphilosophischen Denkens"9 bezeichnen. Dieser Ansatz kann mit Husserl auch als idealistisch bezeichnet werden, insofern in der transzendentalen Einstellung, welche die Ausgangsbasis für Husserls Philosophie darstellt, die gesamte Welt ins Bewusstsein verlegt wird: Das Ansich-Sein der Welt ist bloßes Erscheinen für das Bewusstsein. 10 Damit vertritt Husserl eine Art des Philosophierens, die vielfacher Kritik unterliegt.11 Die heute gängige und plausible Infragestellung der ,Allmacht' des Bewusstseins und der damit einhergehende eminente Zweifel daran, dass der Rekurs auf das
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Hans Bernhard Schmid: Subjekt, System, Diskurs. Edmund Husserls Begriff transzendentaler Subjektivität in sozialtheoretischen Bezügen. Dordrecht/Boston 2000; S. 1. Vgl. dazu z.B. Klaus Held: Einleitung. In: Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte 1. 2. erw. Ausg. Stuttgart 1998; S. 5-51; S. 39f. - Husserl bezeichnet seine Philosophie selbst als Idealismus (CM 176). Mittlerweile wird vielfach gerade die heteronome Bestimmtheit von Subjekten hervorgehoben, so z.B. durch d..le Abhängigkeit des Subjekts von der Gesellschaft. - Vgl. zu dieser heterogenen, schier unüberschaubaren und die philosophischen Richtungen übergreifenden Debatte über die Stellung von subjektphilosophischen Ansätzen exempl. die Sammelbände: Manfred Frank/Gerard Raulet/Willem an Reijen (Hg.): Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt 1988; Herta Nagl-Docekal/Helmut Vetter (Hg.): Tod des Subjekts? Wien/München u.a. 1987. Dezidiert für die Aufrechterhaltung des Subjektsbegriff plädiert prominenterweise Frank, vgl. .etwa: Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. RefleX10nen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ,postmodernen' Toderklärung. Frankfurt/M 1986. Er wendet sich gegen postmoderne, subjektkritische Denker wie Derrida, Deleuze, ~yota~d., Butler oder a~ch Foucault. - Dezidiert zu Husserl und aus subJektkntlscher Perspektlve vgl. Schmid: Subjekt.
Bewusstsein oder auf das Subjekt die Grundlage philosophischen Denkens sein kann oder soll, fand ihren Anfang nicht erst bei den ,postmodernen' Denkern wie Derrida oder Deleuze, die das subjektkritische Philosophieren auf seinen Höhepunkt gebracht haben dürften. Vielmehr kann man zumindest auf drei wichtige Denker des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts verweisen, die bereits die Idee eines selbstbestimmten, autarken, vernünftigen Subjekts auf unterschiedlichste Weise in Zweifel zogen: Freud, Nietzsche und Marx. Ob durch die ,Entdeckung' des Unbewussten, durch den Verweis auf die (triebgesteuerte) Leiblichkeit oder auf die Vergesellschaftung bzw. Verdinglichung des Menschen, jeder der drei Denker konstatierte die Brüchigkeit von Subjektivität. 12 Demnach ist es alles andere als selbstverständlich, dass der Husserl der dreißiger Jahre am Paradigma seiner Subjektphilosophie als "transzendentaler Egologie" mit großer Vehemenz festhält. Eine kurze, notwendig schematisch bleibende Darstellung soll plausibel machen, warum und auf welche Weise Husserl seinen bewusstseinsphilosophischen Ansatz entwickelt. Inwiefern dieser Ansatz für eine Theorie der Intersubjektivität oder des Fremdverstehens fruchtbar ist, wird noch zu diskutieren sein. Husserls phänomenologischer Ansatz basiert auf seinem sehr anspruchsvollen Verständnis von Philosophie. Philosophie, mit Husserl verstanden als ein Streben nach Erkenntnis, sollte nach für jedermann und für immer geltenden Wahrheiten (CM 52f) suchen, auch für den Fall, dass diese absoluten Erkenntnisse nur ein Ideal bleiben sollten. 13 Zu diesem Zweck bedarf es eines theoretischen Ansatzes, der alle bezweifelbaren Meinungen und
12 Ich belasse es bei diesen spärlichen Andeutungen. Weiterführend ver13
gleiche exempl. Schmid: Subjekt; v.a. S. 1-9. Dass das Auffmden ewiger Wahrheiten nicht die Aufgabe der gegenwärtigen Philosophie sein kann, vertritt hingegen der mir in diesem Punkt näher stehende Foucault, der nur etwa dreißig Jahre nach Erscheinen der Cartesianischcn Meditationen in einem Interview sagt, die Aufgabe der Philosophie sei die Diagnose: "Der Philosoph will heute in der Tat nicht mehr sagen, was ewig existiert. Er hat die sehr viel schwierigere und flüchtigere Aufgabe zu sagen, was geschieht." Michel Foucault: Die strukturalistische Philosophie gestattet eine Diagnose dessen, was ,heute' ist. In: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften. Erster Band. Übers. v. Michael Bischoffu.a. Frankfurt/M 2001; S. 743-749; 745.
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Vorurteile, die die Suche nach solchen Wahrheiten (bzw. nach "vollkommenen Evidenzen") verstellen würden, ausschaltet. Da er in der philosophischen Tradition keinen Ansatz zu fInden glaubt, der einem solchen Anspruch gerecht werden könnte, entwickelt er seine eigene, (transzendental-)phänomenologische 14 Methode. Fundamentale Erkenntnisse können laut Husserl nicht in der "natürlichen Einstellung" erarbeitet werden, da diese immer schon mit Vorurteilen besetzt ist. Unter natürlicher Einstellung versteht Husserl die Sphäre des alltäglichen Lebensvollzugs eines Ich, also die Sphäre des unreflektierten In-die-Welt-Hineinlebens, in welcher die Welt mitsamt ihren Phänomenen unproblematisch als seiend vorausgesetzt wird. Die natürliche Einstellung ist von der phänomenologischen Einstellung zu unterscheiden, die durch die so genannte "transzendental-phänomenologische Reduktion" oder "transzendentale Epoche" (CM 60f) gewonnen wird. Der Vollzug der phänomenologischen Reduktion lässt sich als aktiv geübte (Vor-)Urteils-Enthaltung beschreiben. Der Philosoph soll sämtliches Vorwissen und sämtliche Selbstverständlichkeiten der natürlichen Einstellung ausklammern, wie z.B. die Forschungsergebnisse der Wissenschaften oder den naiven "Weltglauben", dass die Welt so ist, wie das Ich sie erfährt, ja sogar, dass die Welt überhaupt existiert. In dieser Einstellung behält allein das "transzendentale Ego"15 mitsamt seinen Phänomenen und seinen Erlebnissen Geltung. Die Rolle des Phänomenologen bestehe darjn, in dieser Haltung quasi als unbeteiligter Zuschauer "zu sehen und adäquat zu beschreiben" (CM 73). Wie das Sehen und Beschreiben in dieser reduktiven Einstellung vor sich geht, lässt sich gut an Husserls Paradebeispiel, der äußeren Wahrnehmung, darstellen. Der Phänomenologe ist reflektierend und intentional 16 auf die wahr14 Transzendental ist sie, da der phänomenologische Ansatz die Bedingung
15 16 20
der Möglichkeit von Erkenntnis sei. Granke bezeichnet das Wort transzendental als einen "Methodenbegriff für ein (subjektphilosophisch konzipiertes) Verfahren zur Aufdeckung absoluter Erkenntnisse" - Horst Granke: Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg 1999; S. 20. Als transzendentales Ego kann vorläufig ein identischer Ichpol verstanden werden, in welchem sich alle Erlebnisse und Akte eines Ich bündeln. Mit Intentionalität bezeichnet Husserl die Einsicht, dass alles Bewusst-
genommenen Gegenstände gerichtet. Dabei versucht er alles Vorund Mitgemeinte der Wahrnehmung auszuschalten. Das bedeutet, der Phänomenologe behauptet nicht, einen Gegenstand zu ,sehen', sondern stellt fest, dass ihm nur eine bestimmte Seite eines Gegenstandes (z.B. die Häuserfront) in der äußeren Wahrnehmung "originär" und damit tatsächlich evident gegeben ist, während die Häuserrückseite oder der Sinn ,Haus' nur "horizonthaft" mitgemeint ist. In diesem Sinne sagt Husserl, ein Gegenstand sei nur in "Abschattungen" gegeben. Als "originäre" oder "originale" Erfahrung bezeichnet Husserl die evident gegebenen, direkt zugänglichen Erfahrungen des Ego. "Evidenz" wiederum lässt sich mit Husserl umschreiben als die "ganz ausgezeichnete Bewußtseinsweise der Selbsterscheinung, des Sichselbst-darstellens, des Sich-selbst-gebens einer Sache, eines Sachverhaltes, einer Allgemeinheit, eines Wertes usw. im Endmodus des Selbst da, unmittelbar anschaulich, originaliter gegeben."17 (CM 92f) Mit der Horizonthaftigkeit des intentionalen Bewusstseins beschreibt er wiederum, dass das Wahrgenommene einem gegenständlichen Auffassungssinn unterliegt: Zwar sehen wir kein Haus, aber das Bewusstsein vollzieht eine synthetisierende Leistung 18 , so dass mit dem Sehen der Vorderseite eines Hauses ebenso die Rückseite (und alle anderen Seiten) mitvergegenwärtigt wird (werden). Diese Vergegenwärtigung bezeichnet Husserl wiederum
sein ,Bewusstsein von etwas' ist (s.u.). Das bedeutet im Weiteren: "Was je original präsentierbar und ausweisbar ist, das bin ich selbst bzw. gehört zu mir selbst als Eigenes." (CM 144). Originär, demnach unmittelbar anschaulich gegeben, ist dem Ego also allem voran sein Selbst und im Weiteren dasjenige, was in seinen Bewusstseinshorizont gehört. - Diese Unterscheidung zwischen originärer und nicht originärer Gegebenheit ist sehr wichtig für das Fremdverstehen, insofern die ,Innerlichkeit' des Anderen laut Husserl niemals auf originäre Weise erfahren oder verstanden werden kann (s.u.). 18 Der Begriff Leistung mag hier in die Irre führen, weil damit kein aktiver Vollzug gemeint ist wie z.B. ein Denkakt oder ein Schluss. Ist der Sinn eines Gegenstandes erstmals konstituiert, vollzieht sich jedes weitere gegenständliche Wahrnehmen des Dings in passiver Synthese. - Die erstmalige Konstitution wird von Husserl im Übrigen als "Urstiftung" bezeichnet. Urstiftung vollzieht sich z.B., wenn ein Kind das erste Mal den Sinn einer Schere begreift. Hat diese Urstiftung einmal stattgefunden, braucht das Kind keine Leistung im Sinne eines Denkaktes oder Schlusses zu vollziehen, um weitere Scheren als solche zu erkennen. 17
21
als "Appräsentation"19. Dass die Häuserfront auf die Häuserrückseite verweist, bezeichnet Husserl als "Innenhorizont". Der "Außenhorizont" eines Gegenstandes wäre hingegen sein Verweisungscharakter über sich selbst hinaus: So verweist ein Gegenstand z.B. auf denjenigen, der ihn hergestellt hat. Zwar ist ein Gegenstand der äußeren Wahrnehmung immer auf die Weise gegeben, dass er erst durch Appräsentation zu einer Einheit synthetisiert wird, jedoch kann das Appräsentierte durch Veränderung der Wahrnehmungsperspektive zur "Präsentation" (also zur originären Anschauung) gebracht werden, indem man z.B. um den Gegenstand herumgeht und die mitvergegenwärtigten Seiten originär wahrnimmt. Das Einzige, was in dieser reduktiven Einstellung als unbezweifelbar vorausgesetzt wird, ist das eigene Ich. Das ist für die weiteren Untersuchungen sehr wichtig, insofern diese Vor:entscheidung klarmacht, wie unumgänglich die nach Husserl einzig mögliche Philosophie eine egologische Subjekt- bzw. Bewusstseinsphilosophie ist. Die Epoche schaffe eine "einzigartige philosophische Einsamkeit"20, in der nur noch das Ich Geltung behält. Kultur oder Sozialität (also auch die Existenz Anderer) alles reduziert sich zu bloßen Phänomenen des Ich: Als radikal meditierende Philosophen haben wir weder jetzt eine für uns geltende Wissenschaft noch eine für uns seiende Welt. Statt schlechthin seiend [...] ist sie uns nur ein bloßer Seins anspruch. Das betrifft auch die umweltliche Existenz aller anderen Iche, so daß wir rechtmäßig eigentlich nicht mehr im kommunikativen Plural sprechen dürfen. Die anderen Menschen und Tiere sind für mich ja nur Erfahrungsgegebenheiten vermöge der sinnlichen Erfahrung ihrer körperlichen Leiber, deren Gültigkeit, als mit in Fragen stehend, ich mich nicht bedienen darf. (CM 58)
Das gilt es noch zu spezifizieren. In Anlehnung an Descartes 21 kommt Husserl also zu dem Schluss, dass allein das philosophierende Ich den Ausgangspunkt aller Erkenntnis bilden kann, weil 19 Dieser Begriff ist, wie sich zeigen wird, für die Fremderfahrung und für das Fremdverstehen besonders relevant.
20 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
21
22
transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Den Haag 1954 (HUA VI); S. 187. - Im Weiteren abgekürzt mit K. Zum Verhältnis Husserl-Descartes vgl. Gronke: Denken; S. 30-37.
nur die Existenz des Ich als ,Ich bin' nicht sinnvoll bezweifelt werden könne. Jeder mögliche Sinn konstituiert sich allein innerhalb des Horizonts des transzendentalen Egos. Wir täuschen uns also möglicherweise über Andere und über die Dinge in der Welt. Sogar die Welt selbst sei nicht unbezweifelbar, schon allein aufgrund unserer täuschungsanfilligen Sinnesorgane. Unbezweifelbar seien hingegen allein das Ich und die Phänomene, die ihm erscheinen (das Phänomen Anderer, die phänomenale Erscheinung der Anderen, der Dinge, der Welt). Das Ich ist sich selbst ursprünglich 'zugänglich in der "transzendentalen Selbsterfahrung".22 Dass zu der Unbezweifelbarkeit des eigenen Ich auch die Phänomene des Ich zählen, also sein gesamter Erlebnisstrom, hat seinen Grund in der intentionalen Struktur des Bewusstseins. Husserl konstatiert, dass es kein ,leeres' Bewusstsein gibt, sondern jedes Bewusstsein ist stets "Bewußtsein von etwas"; genau das bezeichnet Husserl mit Intentionalität. 23 Daraus erklärt sich, dass laut Husserl das Ego immer die Struktur Ego-cogitocogitatum besitzt: Zum "Ich denke" gehört also korrelativ und untrennbar immer schon das Gedachte. Und so kann Husserl sagen: "Nur sich selbst, als reines Ego sein~r' cogitationes, behält der Meditierende als absolut zweifellos, als unaufhebbar, auch wenn diese Welt nicht wäre." (CM 45) Unbezweifelbar ist nach Husserl jedoch nicht das (Menschen-)Ich der natürlichen Einstellung, sondern vielmehr das Subjekt in der transzendental-phänomenologischen Einstellung, genauer gesagt, das "reine Ich" sowie das sich aus ihm bildende "transzendentale Ego". Während "Ich" und "Subjekt" bei Husserl als allgemeine Begriffe Synonyme sind, operiert Husserl mit einer verwirrenden Vielzahl von spezifischen Ichbegriffen. 24 Unter dem reinen Ich versteht er den "Pol der Evidenz ist bei Husserl stets an Erfahrung geknüpft. In der momentanen Erfahrung sind dem Ego Sachen selbst gegenwärtig und damit evident (CM 55) gegeben. - Der Begriff der Erfahrung ist damit ein wesentlicher Begriff bei Husserl. Vgl. exempl. Ludwig Landgrebe: Der Weg der Phänomenologie. Das Problem der ursprünglichen Erfahrung. Gütersloh 1963. 23 So sagt Husserl: "Bewußtseinserlebnisse nennt man auch in t e n ti 0 n ale, wobei aber das Wort Intentionalität dann nichts anderes als diese allgemeine Grundeigenschaft des Bewußtseins, Bewußtsein von etwas zu sein, als cogito sein cogitatllm in sich zu tragen, bedeutet." (CM 72) 24 Da die unterschiedlichen Begriffe nicht einmal bei ihm selbst scharf 22
23
Identität": In ihm sind die vollzogenen Akte und Erfahrungen oder, ganz allgemein gesprochen, das strömende Bewusstseinsleben zu einem Ich gebündelt. Während Husserl das reine Ich in den Ideen I noch als leeren Identitätspol (also gänzlich ohne inhaltliche Bestimmung) bezeichnet 25 , vertritt er in den Cartesianisehen Meditationen hingegen, dass dieses Ich ein geschichtlich (wie er sagt "genetisch'') gewordenes Ich ist (CM 100). In ihm bündeln sich nicht einfachhin immer wieder neue Erlebnisse, sondern das bereits Erlebte manifestiert sich in diesem Ich in Form von "Habitualitäten", als bleibende Eigenschaften. Das versteht Husserl unter dem Ich als "Substrat von Habitualitäten" (ebd.): Das Ich gewinne, nach den Regeln der "transzendentalen Genesis" durch seine verschiedenen Akte hindurch eine (relativ) stabil bleibende Charakteristik. Das dürfte durch ein Beispiel leicht zu erklären sein: Wenn das Ego beispielsweise in einem Urteils akt zu einer gewissen Überzeugung gelangt, dann vergeht zwar der Aktmoment selbst, die im Akt gewonnene Überzeugung jedoch bleibt bestehen. Und zwar bleibt diese Überzeugung so lange bestehen, bis das Ego durch einen weiteren Akt diese Überzeugung "durchstreicht", sie also zurückweist und gegebenenfalls
25
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voneinander getrennt oder widerspruchsfrei und konsistent ausgearbeitet sind, ist eine klare Zusammenfassung dieser Begriffe kaum möglich. Allein auf der transzendentalen Ebene unterscheidet Husserl das "reine Ich", das mit ihm mehr oder minder synonym gebrauchte Ich als "Identitätspol", das "habituelle Ich", das "transzendentale Ich" und das Ich als "Monade". Auf mundan-empirischer Ebene fügt er noch das "seelische Ich", das "personale Ich" oder die "Person" hinzu. - Ich verwende diese Begriffe nur, soweit sie nicht vermeidbar sind. - Ausführlich zu Husserls komplexen Ichbegriffen vgl. Eduard Marbach: Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls. Den Haag 1974. - Zum Begriff des "transzendentalen Egos" vgl. Klaus Held: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl. Den Haag 1970. - Zum Begriff der Person siehe exempl. Hiroshi Goto: Der Begriff der Person in der Phänomenologie Husserls. Ein Interpretationsversuch der Husserlschen Phänomenologie als Ethik im Hinblick auf den Begriff der Habitualität. Würz burg 2004; aber auch Römpp oder Iribarne. - Allgemein zu den polyvalenten Begriffen Subjekt, Person, Individuum vgl. exempl. Frank, etwa: Frank: Unhintergehbarkeit. Zum Personen begriff vgl. den einen guten historischen Überblick liefernden Sammelband: Dieter Stunna (Hg.): Person. Philosophiegeschichte - Theoretische Philosophie - Praktische Philosophie. Paderborn 2001. Vgl. dazu auch Marbach: Problem des Ich; S. 303ff.
durch eine neue ersetzt. Zwar ist dieses Ego unbezweifelbar, jedoch nicht uneingeschränkt: Unbezweifelbar sei dieses Ich allein in "lebendige[r] Selbstgegenwart" (CM 62), also im jeweiligen ,Jetzt' des Vollzugs. Auch über vergangene Erfahrungen kann das Ich sich täuschen, insofern Erinnerungen trügen oder verblassen können, nicht aber über das gegenwärtige Ego im momentanen Bewusstseinsvollzug. Dieses erfasse die Phänomene unmittelbar und unbezweifelbar. 26 Die Unbezweifelbarkeit des Ich ist der Grund dafür, dass Husserl die Sphäre des Bewusstseins als die Sphäre der "Immanenz" bezeichnet. Wie sich nun das transzendentale Ego von diesem Begriff des reinen Ich scheiden lässt, ist nicht leicht festzustellen. Vielleicht ließe sich sagen, dass das transzendentale Ego die Eigenschaften des reinen Ich aufweist, jenes aber eine umgreifendere Bedeutung hat als dieses. Die transzendentale Subjektivität ist der Kosmos allen möglichen Sinnes. Als identischer Pol des "strömende[n] Bewußtseinsleben[s]" (CM 70) umfasst das transzendentale Ego nach Husserl das Ich samt all seinen Aktvollzügen, seinen Phänomenen. Als transzendental kann es bezeichnet werden, weil es die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis darstellt. Dass sich jeder mögliche Sinn innerhalb der transzendentalen Subjektivität konstituiert, zeitigt eine wichtige Konsequenz. Auch wenn die vom Ego wahrgenommenen Gegenstände dem Bewusstsein deshalb transzendent sind, weil sie sozusagen transzendente ,Leitfaden' für die Bewusstseinsakte darstellen und nicht mit dem Bewusstsein zusammenfallen, so sind sie laut Husserl bloß "immanent transzendent" (oder auch "ideell immanent''), insofern ihre Geltung in der phänomenologischen Reduktion
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Eine solche Behauptung ist, entbehrt sie auch nicht einer gewissen Plausibilität, keinesfalls unangreifbar. Derrlda z.B. weist eine solche Position, die er als "Metaphysik der Präsenz" tituliert (z.B.: Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Übers. v. Rodolphe Gasche. 7. Aufl. Frankfurt/M 1997; S. 425), klar zurück, insofern er die Möglichkeit eines sich selbst-präsenten Subjekts generell in Zweifel zieht und viel mehr auf eine konstitutive ,Verspätung' im Selbstbezug hinweist. Allerdings richtet er den Vorwurf des Präsenzdenkens nicht nur an Husser!, sondern glaubt dieses in der gesamten abendländischen Philosophie tradition vorzuftnden. - V gl. dazu exempl. und mit explizitem Verweis auf Husserl Jacques Derrida: Die differance. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Übers. v. Gerhard Ahrens. 2. erw. Aufl. Wien 1999; S. 31-56; S.; S. 45.
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bewusstseinsabhängig ist. Theunissen sagt, die Transzendenz der egologisch konstituierten Welt ist immanent, da "sie unablösbar zu je meiner konkreten Subjektivität gehört, als jene intentionale Gegenständlichkeit, ohne die je meine Subjektivität eben nicht konkret sein könnte."27 Genau diese Bewusstseinsabhängigkeit der vom transzendentalen Ego konstituierten Welt macht nun die Intersubjektivitätstheorie notwendig. Das hat folgenden Grund: Wie erwähnt, geht es Busserl in seiner Phänomenologie um die Erkenntnis objektiv und immer geltender Wahrheiten. Gilt jedoch allein das eigene Ich oder das eigene Bewusstsein als unbezweifelbar und ist die Welt mitsamt ihren Phänomenen letztlich ein Korrelat des eigenen Bewusstseins, so fragt sich, warum die von dem Phänomenologen herausgefundenen Erkenntnisse objektive Geltung besitzen und nicht vielmehr solipsistischsubjektive Behauptungen bleiben. Damit eng zusammenhängend ist die Frage, wie das solipsistisch verfasste transzendentale Ego den Schritt aus der eigenen. Bewusstseinssphäre machen kann hin zur objektiv geltenden Welt. Aufgrund dieser ungeklärten Fragen, die sich im Anschluss an Busserls transzendentale Phänomenologie, die er selbst als "Egologie" (CM 69) bezeichnet, ergeben, sieht Busserl sich genötigt, auf einen hieraus möglicherweise resultierenden - und durchaus gerechtfertigten - Solipsismusvonvutj zu reagieren. Busserl will zeigen, dass die Konstitution der objektiven Welt trotz seines subjektzentriert-egologischen Ansatzes möglich ist. Da er davon ausgeht, dass der erste Schritt zur Objektivität über den Aufweis des Existenz anderer transzendentaler Egos erfolgt, entwickelt er seine Intersubjektivitätstheorie, in welcher er v.a. der Leitfrage nachgeht, wie das transzendentale Ego den Anderen (als anderes transzendentales Ego) wahrnehmen bzw. - müsste man mit Busserl richtigerweise sagen- "konstituieren" kann. Der Andere als ein anderes transzendentales Ego ist laut Busserl die erste wirkliche "transzendente Transzendenz", also das erste, was das eigene Bewusstsein gänzlich überschreitet. Während das eigene Ich immanent gegeben ist und originär sowie unmittelbar erfahren werden kann, und während auch die Gegenstände äußerer Wahrnehmung bloß immanent-transzendent
27 Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. 2. erw. Aufl. Berlin/N ew York 1977; S. 51.
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sind, ist der Andere nach Busserl die erste wahre Transzendenz, weil er sich dem Bewusstsein des Egos entzieht: Der Andere kann nicht unmittelbar oder originär (und damit bewusstseinsimmanent) erfahren werden, sondern nur auf eine wesentlich vermittelte und appräsentative Weise (s.u.). Theunissen verweist in diesem Zusammenhang auf eine aufschlussreiche Fußnote in Busserls Erste 'Philosophie II: Was sich in der Subjektivität nur durch Appräsentation, nicht aber durch Wahrnehmung konstituieren kann, das ist ihr auch nicht mehr immanent, weder reell immanent [wie das eigene Bewusstsein] noch ideell immanent [= immanent transzendent, wie Dinge der äußeren Wahrnehmung]. All solche Transzendenz, all solches Überschreiten und Hinausgehen einer Subjektivität über sich selbst beruht auf Einfühlung, auf ursprünglicher Interpretation. Hier ist die allein eigentlich so zu nennende Transzendenz, und alles, was sonst noch Transzendenz heißt, wie die objektive Welt, beruht auf der Transzendenz fremder Subjektivität. 28
2. Fremderfahrung in den Cartesianischen Meditationen Nach dieser Beranführung an das Thema und einer ersten Klärung grundlegender Busserlscher Begriffe kann Busserls Intersubjektivitätstheorie 29 dargestellt werden, wie sie der Philosoph in der V. Cartesianischen Meditation entwirft. Ich beschränke mich dabei auf die für das hiesige Thema relevanten Punkte. 30 Busserl
Edmund Husserl: Erste Philosophie H. Theorie der phänomenologischen Reduktion. Den Haag 1959; S. 495. 29 Von der Intersubjektivitätstheorie Husserls zu sprechen ist indessen nicht unproblematisch, da die Rede von einer Theorie eine Homogenität von Husserls Entwürfen zur Intersubjektivität suggeriert, die im Grunde nicht gegeben ist. Die Intersubjektivitätstheorie in den Cartesianischen Meditationen ist nicht durchweg kompatibel mit den Entwürfen in den Ideen 11, der Krisis oder in den drei Intersubjektivitätsbänden. - Das vertritt auch Theunissen: Der Andere. - Das Bestehen einer solchen Homogenität behauptet hingegen Julia Iribarne: Husserls Theorie der Intersubjektivität. Übers. v. Menno-Arend Herlyn. Freiburg/München 1994. 30 Ausführlich zum Stufenmodell der Intersubjektivitätstheorie in den Cartesianischen Meditationen vgl. Gronke: Denken; Theunissen: Der Andere. - Für eine knappe Zusammenfassung der drei Intersubjektivitätsschriften vgl. Gerd Brand: Edmund Husserl. Zur Phänomenologie der 28
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geht dort v.a. der Frage nach der Möglichkeit einer fundamentalen Fremderfahrung nach, also der Frage, ob und wie das Ich einen Anderen als Anderen überhaupt konstituieren kann und ob es ihn nicht vielmehr z.B. als Ding wahrnimmt. Wichtig ist diese Auseinandersetzung für die Frage nach dem Fremdverstehen zunächst aus dreierlei Gründen: Erstens baut das Fremdverstehen auf der Fremderfahrung auf, letztere kann damit nicht einfach ausgeblendet werden. Zweitens erlaubt diese Auseinandersetzung eine mögliche Antwort auf die Frage, inwiefern ein solch subjektzentrierter Ansatz die Basis für Fremdverstehen bilden kann. Drittens ist diese Beschäftigung aufschlussreich, weil die in den Cartesianischen Meditationen dargestellte Fremderfahrung Parallelen aufweist zum Fremdverstehen in den Ideen 11. Wie oben erwähnt, geht es Husserl in seiner Intersubjektivitätstheorie vorwiegend um die Frage, wie das transzendentale Ego einen Anderen als anderes transzendentales Ego konstituieren kann. Er verhandelt diese Frage als Frage nach der Möglichkeit einer ersten, fundamentalen "Fremderfahrung" bzw. "Einfühlung". Fremderfahrung und Einfühlung sind bei Husserl synonyme Begriffe, wobei hier ersterer Terminus vorgezogen wird, was allein schon deshalb sinnvoll ist, weil Fremderfahrung im Husserlschen Sinne, wie sich im Laufe der Untersuchung zeigen wird, nicht primär mit ,Fühlen' zu tun hat. 31 Fremderfahrung ist ein sehr allgemeiner, von Husserl unterschiedlich verwendeter Terminus und benennt grob gesagt alle Erfahrungen, die ein Ich von einem Anderen macht. Er bezeichnet damit sowohl "niederstufige" (den Leib betreffende) als auch "höherstufige" (die Psyche betreffende) Erfahrungen, wobei die Unterscheidung "niederstufig" und "höherstufig" hier nur einen Verweis auf die gesteigerte Komplexität der Fremderfahrung im
psychischen Bereich darstellt und keine Wertung Husserls meint. 32 Der Terminus Fremderfahrung umfasst nach Husserl also das ganz fundamentale Phänomen, den Leib des Anderen überhaupt als Leib (also als "beseelten" und nicht als unbelebten Körper, s.u.) wahrzunehmen bis hin zu so komplexen Phänomenen wie die Erfahrung der Psyche des Anderen. Auch das, was in dieser Arbeit als Fremdverstehen bezeichnet wird, also das Verstehen der individuellen Eigenheit des Anderen, verhandelt Husserl unter diesem Begriff. 33 Da Husserls Hauptinteresse jedoch darin besteht, die Konstitution der objektiven Welt plausibel zu erklären, und da er in diesem Sinne nur ein vermitteltes Interesse am Anderen zeigt, schenkt er dem Verstehen des Anderen in seiner Andersheit verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit. 34 Von der Plausibilität seiner Entwürfe zur Intersubjektivität hängt im Grunde das Gelingen oder Misslingen von Husserls transzendentalphänomenologischem Ansatz ab. Demnach ist Husserls Intersubjektivitätstheorie äußerst zentral, selbst wenn sie quantitativ gesehen in seinem Werk keinen großen Raum einnimmt. 35 Seit den neunziger ] ahren schenkt die Husserlforschung der Intersubjektivitätstheorie vermehrt Aufmerksamkeit. 36 Es 32
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Intersubjektivität. In: Philosophische Rundschau 26 (1978); S. 54-80. Husserl endehnt den Einfühlungsbegriff aus der psychologisch-philosophischen Tradition seiner Zeit. Seine Intersubjektivitätstheorie ist als Antwort auf diesen Begriff zu verstehen. In seinem Spätwerk vermeidet Husserl diesen Terminus jedoch zusehends. - Vgl. dazu exempl. Richard Kozlowski: Die Aporien der Intersubjektivität. Eine Auseinandersetzung mit Husserls Intersubjektivitätstheorie. Würzburg 1991; S. 92f. - Nähere Erläuterungen zum Einfühlungsbegriff von Upps und anderen siehe: Matthias Schloßberger: Die Erfahrung des Anderen. Gefühle im Miteinander des Anderen. Berlin 2005; S. 77-96.
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Die Psyche wird bei Husserl also nicht über den Leib gesetzt. Die leibliche ist die erste, fundamentale Stufe der Fremderfahrung, auf ihr bauen psychische, immer komplexer werdende Fremderfahrungen auf. Schon allein in der breiten Verwendung des Begriffs Fremderfahrung Husserls ist angelegt, dass Verstehen und Erfahren keinen strikten Gegensatz bilden, sondern vielmehr ineinandergreifen. Ein solcher Gegensatz will hier nicht behauptet werden. Zur Nähe von Erfahren und Verstehen vgl. exempl. Schloßberger: Erfahrung; S. 77-96. Die Auffassung, dass Husserl am Phänomen des Anderen oder der Intersubjektivität nur ein vermitteltes Interesse hat, vertreten auch andere Forscher, vgl. z.B. Gronke: Denken; S. 19. Diese These - die Zentralität der Intersubjektivität - ist mitderweile Konsens in der Husserlforschung. Vgl. exempl. Arkadiusz Chrudzimski: Intentionalität, Zeitbewußtsein und Intersubjektivität. Studien zur Phänomenologie von Brentano bis Ingarden. Frankfurt 2005; S. 161; Kozlowski: Aporien; S. 3 - Ein relativ früher Beitrag, der die Wichtigkeit der Husserlschen Intersubjektivitätstheorie betont, ist: Kathleen M. Haney: The Necessity of Intersubjectivity. In: Hugh Silverman/Algis Mickunas u.a. (Hg.): The Horizons of Continental Philosophy. Essays on Husserl, Heidegger and Merleau-Ponty. Dordrecht/Boston 1988; p. 32-61. Mitderweile sind viele umfangreichere Werke zu diesem Thema erschienen. Neben den angeführten Forschern Gronke! Kozlowski, Iribame
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werden unterschiedlichste Aspekte dieser Theorie diskutiert, die Potentiale und Grenzen des phänomenologischen Ansatzes hinterfragt und Vergleiche Zu anderen philosophischen Ansätzen gezogen. 37 Bei aller Pluralität der Auseinandersetzung herrscht eine kritische Beurteilung von Busserls Intersubjektivitätstheorie der Cartesianischen Meditationen vor. Gängigerweise wird darauf hingewiesen, dass Busserl den Ausweg aus dem transzendentalen Solipsismus nicht plausibel zu zeigen vermag. Besonders virulent ist dabei der erste Schritt des Ego zum Anderen, denn falls dieser nicht gelingt, ist der Begründungsversuch der Objektivität bereits an der Basis gescheitert. Dies gilt es im Folgenden darzustellen und zu prüfen. Für Busserl stellt sich die Frage nach der ersten, fundierenden Fremderfahrung als Frage nach der "Konstitution" des Anderen durch das transzendentale Ego. Was genau unter dem Begriff der Konstitution in Busserls Spätwerk zu fassen ist, ist umstritten. Kozlowski fasst zusammen, dass Konstitution üblicherweise entweder als Stiftung eines Sinnes oder als Kreation von Seiendem interpretiert wird. Ohne dies hier weiter begründen zu wollen, schließe ich mich der gängigeren Interpretation an, die unter anderem Theunissen vertritt, nämlich dass Konstitution Sinngebung meint. 38 Beld fasst den Begriff der Konstitution folgendermaßen und verzichtet dabei auf den Terminus der Sinngebung: Es gehe der Phänomenologie darum, aufzuklären, wie "das originär erlebende Bewußtsein es ,macht', daß sich vor
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und Chrudzimski wären noch zu nennen: Ichiro Yamaguchi: Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Husserl. Den Haag 1982; Georg Römpp: Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität. Und ihre Bedeutung für eine Theorie intersubjektiver Objektivität und die Konzeption einer phänomenologischen Philosophie. Dordrecht/Boston 1992. Dan Zahavi: Husserl und die transzendentale Intersubjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik. Dordrecht/Boston 1996. So behandeln die genannten Werke z.B. die Frage nach der Objektivität und ihre Stellung zur Intersubjektivität (Römpp), die Verbindung der Intersubjektiyität zur Anthropologie (Kozlowski), zur Sozialphilosophie oder Dialogphilosophie (Waldenfels, Theunissen), die Frage nach sozialen Akten, Sympathie und Liebe (lribarne) oder die Stellung der Intersubjektivitätstheorie zu sprachpragmatischen Ansätzen (Zahavi, Gronke). - Ausführliche Forschungsberichte liefern Kozlowski und Iribarne. Vgl. Kozlowski: Aporien; S. 16f; Theunissen: Der Andere; S. 24.
ihm ein Bestand von Gegenständen aufbaut, die ihm als etwas an sich Seiendes erscheinen. Die durch die Analyse sichtbar gemachte Aufbauleistung des Bewußtseins nennt Busserl [...] ,Konstitution~"39 Die Frage nach der Fremderfahrung als eine Konstitutionsfrage aufzufassen ist von Busserls egologischem Standpunkt aus gesehen durchaus konsequent, da ja allein das transzendentale Ego Unbezweifelbarkeit für sich bean$pruchen kann und alles dem Bewusstsein Transzendente (und damit auch der Andere) erkenntnistheoretisch dem eigenen Ich nachgeordnet ist. Diese Auffassung Busserls gilt es noch zu diskutieren. Um die Frage nach der Konstitution des Anderen entwickeln zu können, sucht Busserl nach einem philosophischen Ausgangspunkt, der den Anderen in keiner Weise voraussetzt. Zu diesem Zwecke unterzieht er die Ebene der weiterhin vorausgesetzt bleibenden phänomenologischen Reduktion einer zusätzlichen Abstraktion. In der transzendentalen Einstellung ist dem transzendentalen Ego eine einheitliche Erfahrungsschicht der Welt gegeben, Dinge in gleicher Weise wie Andere, jedoch mit der Einschränkung, dass Dinge und Andere Korrelate des eigenen Bewusstseins sind: Sie sind Phänomene des Ich. Das bedeutet, dass auch dem transzendental-reduzierten Ego die Welt ihrem Sinn nach als intersuijektiv (also als eine gemeinsame Welt von Ich und Anderen, eine Welt des "Fürjedermann-da" (CM 124)) erscheint, selbst wenn "jeder Sinn, den irgendein Seiendes für mich hat und haben kann [...] Sinn ist in bzw. aus meinem intentionalen Leben [...]." (CM 123) Die Theorie der Fremderfahrung hat ihren Beginn in der Frage, wie die Anderen für das Ich gegeben sind, Busserl bezeichnet dies als die Frage nach dem "Fürmich-da" (CM 124) der Anderen. Die intersubjektive Geltung der transzendentalen Einstellung muss dazu in einem weiteren Reduktionsschritt verabschiedet werden, so dass die Intentionalität auf alles Fremde und damit auch auf das, wie Busserl es nennt, "erste Fremde" 40 , nämlich den Anderen, ausgeschaltet ist. Eine solche Ebene bezeichnet Busserl dann als "Eigenheitssphäre ((
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Vgl. Klaus Held: Einleitung. In: Edmund Husserl: Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte 11. Stuttgart 1986; S. 5-54; S. 10. "Also das an sich erste Fremde (das erste Nicht-Ich) ist das andere Ich." (CM 137)
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oder als "Primordialsphäre (~41 Sie ist eine eigentümlich künstliche Sphäre 42 , die allein aus dem eigenen, "psychophysischen" Ich samt seinen Akten bzw. Erfahrungen und der zum Ich gehörigen "Natur" (CM 129) besteht. Mit dem Begriff psychophysisch betitelt Husserl die untrennbare Verbundenheit von Leib (verstanden als belebter oder "beseelter" Körper) und Psyche (vgl. exempl. CM 123). Der Begriff der Natur bezeichnet in den Cartcsianischen Meditationen eine Sphäre unbelebter Gegenstände, in der allein das transzendentale Ich lebendig ist und ein Bewusstsein hat. Nichts des primordial Erfahrenen weist auf Sozialität hin. Kulturelle Objekte, wie Bücher oder Werkzeuge, die wesentlich sozialen Charakter haben und auf andere Subjekte und deren "aktiv konstituierende Intentionalität" (CM 124) verweisen, haben in dieser "Natur" keine intersubjektive Bedeutung. Nicht einmal der primordial reduzierte Andere wird vom Ich als lebendig wahrg~ nommen, sondern erscheint als bloß lebloser Körper (CM 128). So kann Husserl sagen, dass der Andere in dieser Sphäre nur "Bestimmungs stück meiner selbst" (CM 140) ist. Damit einhergehend ist der eigentlich transzendente Andere hier bloß immanent transzendent. - Die Sphäre des Eigenen, auf der die Intersubjektivitätstheorie wie behauptet aufbauen kann und muss, wäre damit gewonnen. Nun stellt sich die Frage, wie von dieser Sphäre aus der Andere konstituiert werden kann. 43 Ausgehend von der Primordialsphäre gilt es, zu zeigen, dass die ,,[...] Intentionalität [der Fremderfahrung] meine Eigenheit 41
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Allerdings verwendet Husserl an wenigen Stellen in den Cartesianischen Meditationen auch einen schwächeren Begriff von Primordialität, der im Prinzip nur die Sphäre originärer Erfahrbarkeit des Ego von der nichtoriginären scheiden will. So nennt Husserl die eigene Kultur im Gegensatz zu fremden Kulturen die primordiale, im Sinne von originär zugänglicher Kultur (CM 162.). Die bisher dargestellte Bedeutung von Primordialität ist jedoch für die weitere Untersuchung weitaus wesentlicher. - Zu der doppelten Bestimmung von "primordial" vgl. auch Rudolf Bernet/Iso Kern/Eduard Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. 2. verb. Aufl. Hamburg 1996; S. 145-149. Auf die Künstlichkeit der Husserlschen Konstruktion, den Anderen dinglich wahrzunehmen, verweist unter anderem auch Gadamer. - Vgl. Hans-Georg Gadamer: Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person. In: ders.: Hermeneutik im Rückblick. Gesammelte Werke. Bd. 10. Tübingen 1995; S. 87-99; S. 95. Zur Plausibilität von Husserls Begriff der Primordialsphäre vgl. Kap. 2.2.
transzendiert, daß also mein Ego in sich ein anderes Ego, und zwar als seiendes konstituiert. "44 (CM 152f) Wie aber ist Fremderfahrung möglich, wenn der Andere in der primordialen Sphäre als unbelebter Körper erscheint? Um eine vorläufige Antwort zu geben: Die Möglichkeit jeglicher Fremderfahrung liegt nach Husserl in der Analogie des Anderen zum Ich und, allem voran, in der Ahnlichkeit des Leibes des Anderen zum eigenen Leib. Husserl setzt unkommentiert voraus, dass der Wortsinn ,Anderer' "anderes Ich" bedeute. Die Betonung liegt dabei klar auf dem Ich: Der Andere ist sozusagen ein zweites Ich, eine Art Spiegelung des Ich. 45 Das ist von Husserls egologischem Standpunkt aus durchaus schlüssig, aber nicht unproblematisch: Wird der Ichbezug bei der Definition des Anderen zu stark betont, besteht die Gefahr, dass die Andersheit des Anderen verloren geht und der Andere auf eine Dublette des Ich reduziert wird. Der Andere, so müsste man gegen Busserl sagen, ist zwar ein anderes Ich, jedoch besitzt er eine irreduzible Alterität. 46 In dieser Bestimmung des Anderen deutet sich schon an, dass Busserl das analogische Verfahren als die (einzige) geeignete Vollzugs form der Fremderfahrung ansieht. Auch der erste Schritt des Ego zum Anderen wird durch die Ahnlichkeit des Leibes des Anderen mit dem eigenen Leib motiviert. Der Leib ist nach Busserl ein belebter (oder wie er sagt "beseelter'') Körper, das Ich kann mit seinem Leib in der Welt handeln, sich ausdrücken. In der primordialen Sphäre ist mein Leib das einzig Lebendige. Tritt nun ein Anderer in das Gesichtsfeld des Ich, erscheint dieser in der primordialen Welt zunächst als unbelebter Körper. Die äußere Ahnlichkeit 44
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Husserl ist sich darüber im Klaren, dass er hier (ihm zufolge scheinbar) Widersprüchliches zu beweisen sucht, nämlich die Möglichkeit des Bewusstseins, etwas zu konstituieren, was ihm selbst gänzlich transzendent ist; was also dem Zugriff des Bewusstseins entgleitet. Der Andere ist das alter ego: ,,[...] und das Ego, das hier impliziert ist, das bin ich selbst [...]" (CM 140). Der ,Denker des Anderen' Levinas lehnt die Rede vom anderen sogar gänzlich ab. Er spricht von einer "absoluten Andersheit des Anderen". Ferner konstatiert Uvinas, dass der Andere nicht verstanden werden kann. Er sagt: "Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd" (S. 278), er sei "nicht Gegenstand meines Verstehens. Er steht 11nter keiner Kategorie." (S. 93). - Vgl. Emmanuel Uvinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übers. v. Nikolaus Krewani. Freiburg/München 32002.
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meines Leibes mit dem Körper des Anderen bzw. die Ähnlichkeit im leiblichen Gebaren motiviere jedoch zu einer ersten Fremderfahrung: Der Körper würde nicht mehr als bloßer Körper, sondern vielmehr als Leib aufgefasst. Der Grund dafür liegt nach Busserl in einer "apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her" (CM 140). Dabei expliziert Busserl kaum, was er darunter versteht. Jedenfalls lässt sich sagen, dass ihm zufolge der wahrgenommene· Körper des Anderen über die bestehende Ähnlichkeit Zu meinem eigenen Körper "in ursprünglicher Paarung"47 (CM 142) gegeben ist, so dass es zu einer Art Sinnüberschiebung kommt: Dem wahrgenommenen Körper wird vom Ich der Sinn ,Leib' unterstellt. Wichtig ist, dass es sich hierbei um keinen aktiven, intellektuellen Schluss oder Denkakt des Ich handelt. Vielmehr vollzieht sich die Paarung bzw. die apperzeptive Übertragung auf einer dem aktiven Bewusstsein zugrunde liegenden passiven Schicht, als "passive Synthesis". 48 Das lässt sich über eine kurze Klärung des Apperzeptionsbegriffs erläutern. Mit "Apperzeption" meint Busserl den Sachverhalt, dass Empfmdungs komplexionen stets einem gegenständlichen Auffassungssinn unterliegen. Das Empfundene wird also nicht in diffus einzelnen Empftndungsdaten aufgefasst, sondern immer schon Zu einem Gegenstand synthetisiert. (So werden auf niedriger Stufe z.B. die wahrgenommene Farbe und Form eines Gegebenen im Bewusstsein zu einem Gegenstand synthetisiert). Eine solche Synthese vollzieht sich auf passiver Ebene und muss nicht erst aktiv eingeleitet werden. Ganz ähnlich verhält es sich nun bei
der Paarung: Existiert die Ähnlichkeit von eigenem Leib und Fremdleib, tritt auf passiver Ebene eine assoziative Paarung auf. 49 Wichtig ist, dass (auch) diese erste Fremderfahrung einen konstitutiven Charakter besitzt. Es ist das Ich, das dem als bloßen Körper wahrgenommenen Anderen den Sinn ,Leib' (und damit auch die Psyche; s.u.) unterstellt, nicht aber zeigt sich die Andersheit des Anderen etwa unmittelbar oder vom Anderen selbst her. Was unmittelbar erfahren wird, ist allein das äußerliche Gebaren des anderen Leibes, nicht aber seine Innerlichkeit. Diese ist dem Ich nicht originär zugänglich. Das Ich kann die innerliche Entsprechung des leiblichen Ausdrucks (z.B. Tränen bedeuten Trauer) nur setzen, nicht aber unmittelbar erfahren. 50 Eine solche Setzung wiederum geschieht durch Analogisierung: Dem Anderen wird eine analog verlaufende Innerlichkeit unterstellt, wie sie das Ich von der Selbsterfahrung her kennt (s.u.). Diese Andeutungen liefern einen ersten Anhaltspunkt, weshalb laut Busserl mit der Klärung der ersten fundamentalen Fremderfahrung (in welcher der Körper des Anderen als Leib aufgefasst wird) alle weiteren, höherstuftgen Fremderfahrungen möglich werden. Der Leib ist der Schnittpunkt von Physischem und Psychischem, er bildet eine nicht aufzulösende "psychophysische" Einheit. Gerade diese Einheit von Psychischem und Physischem im Leib ist nun der Grund dafür, dass mit der Setzung der Leiblichkeit des Anderen gleichzeitig die Setzung seiner Fremdpsyche einhergeht. Auf der Setzung der Psyche wiederum basieren die höherstuftgen Fremderfahrungen. Wenn der Andere als Leib mit dazugehöriger Innerlichkeit konstituiert ist, bedeutet das im Weiteren, dass dem 49 Ferner weist jede Apperzeption (so auch die Paarung) dabei auf die
47 Zur Paarung schreibt Theunissen auf Busserl rekurrierend: "Im primitivsten Falle sind zwei (in höherstufigen Fällen mehr als zwei) Daten in Abgehobenheit als ähnliche bewußt: die rein passiv aufgenommene Ähnlichkeit der Daten motiviert deren Assoziation als Paar, d.h. ein ,wechselseitiges, überschiebendes Sich-überdecken nach dem gegenständlichen Sinn' (CM 142).'~ Theunissen: Der Andere; S. 62. - Theunissen sieht aber ein Ptoblem in Busserls Paarungs begriff bei der Fremderfahrung, denn die Paarung sei etwas strikt Wechselseitiges, die Sinnüberschiebung in der Fremderfahrung geht aber einseitig vom Ich aus (ebd.). - Vgl. zur Paarung auch Iribarne: Intersubjektivität; S. 100ff. 48 Das Verhältnis von passiver Synthesis und Intersubjektivität hat Yamaguchi detailliert verhandelt in: Passive Synthesis.
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"Urstiftung" (CM 141) zurück, "in der sich ein Gegenstand ähnlichen Sinnes erstmalig konstituiert hatte." (ebd.) Charakteristisch für die Paarung ist, dass das urstiftende Original- nämlich der eigene Leib - bei der Fremdwahrnehmung immer mitgegeben ist. Von der Scheidung der unmittelbaren äußerlichen und nur mittelbaren innerlichen Erfahrung spricht auch Theunissen: "Negativ aber enthüllt sich diese Erfahrung als eine bloß mittelbare: wir geben ohne weiteres zu, daß wir, wo wir einen Anderen erfahren, doch nicht ihn selbst erfahren, nicht sein Ich, seine Erlebnisse, seine Erscheinungen. Vor alldem baut sich gleichsam sein Leib auf; er allein scheint unmittelbar erfahren zu werden. Er ist es, der uns den Anderen offenbart und zugleich verhüllt, und das eben dadurch, daß er uns den direkten Zugang zur Innerlichkeit des Anderen verwehrt." Theunissen: Der Andere; S. 59.
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Anderen eine eigene Originalitätssphäre zuerkannt wird: Der Andere besitzt wie das eigene Ich eine eigene ,Sphäre' evidenter Erfahrungen. Diese Originalitätssphäre verläuft wiederum analog zu derjenigen des Ich, dennoch decken· sich die Sphären nicht. Das zeigt sich laut Husserl an der Konstitution einer ersten gemeinsamen "räumlichen Natur" (CM 146), also der Konstitution eines gemeinsamen räumlichen Bezugsfelds. Der eigene Leib ist der "Nullpunkt der Orientierung", er befindet sich im Modus des "Hier" und von diesem Hier aus handelt das Ich, lebt es, nimmt es wahr. Der Fremdleib hingegen ist dem Ego gegenüber stets im Modus des "Dort" gegeben. 51 Das Ego kann zwar in der Weise des ,als ob' imaginieren, welche Erlebnisse der Andere hat, auch kann es seine Stellung im Raum verändern und die eigene Wahrnehmung, perspektivisch gesehen, der Wahrnehmung des Anderen annähern, faktisch aber ist es unmöglich, dass Ich und Anderer gleichzeitig den selben Gesichtspunkt einnehmen können. Das Ich unterstellt dem Anderen damit nicht die ihm deckungsgleiche Originariätssphäre, sondern eine Sphäre mit Erscheinungsweisen, ,,[...] wie ich sie selbst in Gleichheit haben würde, wenn ich dorthin ginge und dort wäre."52 (CM 146) Motiviert durch die Ähnlichkeit des primordialen Leibes mit dem Fremdleib und durch die sich auf die gerade dargestellte Weise vollziehende Analogisierung ist laut Husserl also der erste (und schwierigste) Schritt zum Anderen getan. Husserl behauptet zu Recht, dass die weitere Konstitution der objektiven Welt unproblematisch verläuft, wenn dieser erste Schritt bewiesen ist. Da die Frage nach dem weiteren Verlauf der Konstitution der objektiven Welt für die vorliegende Fragestellung keine wesentliche Rolle spielt, werde ich ihr nicht weiter nachgehen. 53 Für diese Untersuchung ist es jedoch wichtig, noch einmal herauszustrei-
chen, dass sich nicht nur die leibliche, sondern jegliche Fremderfahrung (und auch das Fremdverstehen) nach Husserl über eine Ich-Analogie vollzieht. Der Andere wird vom Ich stets als die ,,Modifikation meines Selbst" (CM 144) erfahren, die Frdnderfahrung hat ihren Ausgangspunkt in den Erfahrungen des Ich. Die Tatsache, dass alle Fremderfahrung analogisch verlaufen muss, mündet in Husserls These vom notwendig appräsentativen Verlauf aller Fremderfahrung. 54 Auf die zwdte grundlegende Bestimmung jeglicher Fremderfahrung (ob leiblich oder psychisch) wurde bisher nur marginal verwiesen: Alle Fremderfahrung ist nach Husserl mittelbar und vollzieht sich über "Appräsentation". Es wurde oben dargestellt, was Husserl unter der Appräsentation in Bezug auf die äußere Dingwahrnehmung versteht: Sie bedeutet das Mitvergegenwärtigen dessen, was gerade nicht in unmittelbarer Anschauung gegeben ist. Allgemein lässt sich mit Husserl sagen, dass das intentionale Bewusstsein ständig "Seinssetzungen" vollzieht. Diese ,leeren' oder ,vagen' Intentionen, die das Bewusstsein hat, werden im Weiteren durch Bewährung oder Enttäuschung entweder als richtig gesetzt und damit beibehalten oder als korrekturbedürftig zurückgewiesen. 55 Jede durch Bewährung geprüfte Intention eröffnet neue Horizonte für weitere Intentionen. Auf ganz ähnliche Weise vollzieht sich das Appräsentieren bei der
54 Mehrmals parallelisiert Husserl die analogisierende Fremderfahrung (auf
51 Ausführlich zu den hier unrelevanten Modi "Hier" und "Dort" vgl. exempl. Iribarne: Intersubjektivität; S. 79ff.
52 In diesem Sinne sagen Bernet: "Es ist also die primordiale Unverträglichkeit der durch den dortigen Körper appräsentierten subjektiven Situation mit der eigenen Situation, die jene als fremde konstituiert. Der Andere ist also nicht nur dadurch Anderer, daß seine Erlebnisse mir nicht original gegeben sein können,· sondern primär dadurch, daß er in einer subjektiven Situation erfahren wird, die prinzipiell nicht die eigene sein kann: Er ist ein anderer ,Gesichtspunkt'." (Bernet: Husserl; S. 153) 53 Zur näheren Erläuterung siehe Gronke: Denken.
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leiblicher, aber auch auf psychischer Ebene) mit der Erinnerung des Ich. So sagt er: "Wie meine erinnerungsmäßige Vergangenheit meine lebendige Gegenwart transzendiert als ihre Modifikation, so ähnlich das appräsentierte Sein [der Andere] das eigene [...]" (CM 145). (Vgl. dazu auch K 189 und INT III 487). - Diese Kurzschließung der Erinnerung mit der Fremderfahrung, also die Behauptung, das Erinnerte stelle auf ähnliche Weise eine Modifikation des gegenwärtigen Ich dar wie der Andere sie darstelle, ist jedoch bedenklich. In diesem Vergleich zeigt sich deutlich, wie wenig Raum Husserl dem Anderen bzw. auch dem positiven Gehalt der Fremderfahrung letztlich zugesteht. - Theunissen setzt sich ausführlich und auf sehr kritische Weise mit diesem Thema auseinander und sieht in Husserls Parallelisierung der Fremderfahrung mit der Erinnerung die endgültige "Überwältigung der transzendenten Transzendenz [des Anderen] durch die Immanenz" des eigenen Ich gegeben. - V gl. Theunissen: Der Andere; S. 145ff; Zitat S. 151. So z.B. auch Held: Einleitung I; S. 32.
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die sich im weiteren Verlauf der Fremderfahrungen nicht halten lässt, weil der Andere sich unkompatibel zu dem Verstehensentwurf verhält) bringt einen Erkenntnisgewinn. Die fehlgedeutete Fremderfahrung wird zurückgewiesen, eröffnet in der Zurückweisung jedoch neue Horizonte für eine richtige Deutung. Das meint Husserl, wenn er von "Durchstreichung" spricht. Die enttäuschte Erwartung lenkt die weitere Fremderfahrung schon allein deshalb, weil die gleiche Fehleinschätzung (potentiell) nicht noch einmal begangen wird. Der Selbstbezug ist nach Husserl unvermittelt, die eigenen Erfahrungen sind dem Ich originär zugänglich. Die Fremderfahrung hingegen unterliegt immer einer Mittelbarkeit und damit einer Grenze der evidenten Überprüfbarkeit. Diese Einsicht ist auch für das Fremdverstehen im Sinne dieses Buches sehr wichtig. Denn auch hier ist davon auszugehen, dass das Ich nie evident sicher sein kann, ob es den Anderen in seiner individuellen Eigenheit richtig versteht, ob es z.B. tatsächlich weiß, wie der Andere sich fühlt oder wie er (anders) erfährt (vgl Kap. 2.4).
Fremderfahrung. Hier nimmt dieses Mitvergegenwärtigen eine herausragende Stellung ein. Schon die erste fundamentale Fremderfahrung als Erfahrung des Fremdleibes hat einen appräsentativen Charakter, da dem erfahrenen Leib eine Innerlichkeit unterstellt wird, die das Ich nicht originär erfahren kann. Ist es bei der äußeren Wahrnehmung möglich, die appräsentierten Perspektiven des Gegenstandes zur konkreten Anschauung Zu bringen, indem das Ich z.B. um den Gegenstand herumgeht, gibt es diese Möglichkeit bei der Fremderfahrung trivialerweise nicht: Dem Ich ist die Innerlichkeit des Anderen, z.B. sein Erfahren, Denken oder Fühlen, niemals unmittelbar oder in originärer Weise gegeben. Diese Feststellung hat wesentliche Konsequenzen. Denn durch die Unmöglichkeit der unmittelbaren Erfahrung des Anderen kann das Ego nur (analogisch verfahrend) setzen (mitvergegenwärtigen), wie der Andere erlebt oder fühlt, nie aber kann das Ich evidenterweise um das Erfahren des Anderen wissen. In diesem Sinne spricht Husserl von dem "originaliter Unzugängliche[n] des Anderen" (CM 143). Das Ego setzt ausgehend von der eigenen Erfahrung, von dem Wissen um die eigenen Erfahrungs.:., Denkens- oder Fühlweisen, die Erfahrungen des Anderen, wodurch sich die Fremderfahrung jedoch der einfachen Bewährung entzieht. Wenn das Ich sich nie evidenterweise sicher sein kann, auf welche Weise der Andere tatsächlich erfährt, denkt oder fühlt, dann kann sich das in der Fremderfahrung Gesetzte nur durch weitere Fremderfahrungen bewähren. Die Fremderfahrung hat damit einen entwuifshaften Charakter. Ausgehend von der eigenen Erfahrung vergegenwärtigt das Ich die Erfahrungen des Anderen mit. Mit dem Entwurf, wie sich die Erfahrung des Anderen vollzieht, sind gewisse Erwartungen des Ego verbunden, wie sich der Andere im Weiteren verhalten wird. Werden diese Erwartungen bestätigt, bestätigt das Ich seinen Entwurf, und damit eröffnet sich Raum für weitere, differenziertere Fremderfahrungen: ,,[...] jedes gelungene Einverstehen in den Anderen [wirkt] als neue Assoziationen und neue Verständnismöglichkeiten eröffnend." 56 (CM 149) Doch auch eine enttäuschte Fremderfahrung (also eine, 56
Am Ende der Cartesianischen Meditationen kommt Husserl zu dem Schluss: "Der Schein des Solipsismus ist aufgelöst, obschon der Satz die fundamentale Geltung behält, daß alles, was für mich ist, seinen Seinssinn ausschließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre schöpfen kann." (CM 176) Es wird jedoch von der Husserlforschung stark in Zweifel gezogen, ob es Husserl tatsächlich gelingt, den Vorwurf des Solipsismus plausibel zurückzuweisen. 57 Die Kritik an Husserls Thesen zur Intersubjektivität ist dabei weit gestreut, sie betrifft, um nur die hier wesentlichen Punkte zu nennen, den Konstitutionsbegriff, damit einhergehend die Bestimmung der Phänomenologie als Egologie, den Begriff der Primordialität, die mangelnde Gleichursprünglichkeit von Ich und Anderem, die Parallelisierung der Fremder57
Ich halte diese Beschreibung Husserls zwar für durchaus richtig, jedoch funktioniert die Struktur der Bewährung in der Appräsentation erst, wie sich herausstellen wird, wenn die Existenz des Anderen bereits vorausgesetzt ist.
So z.B. von Heidegger, Scheler, Plessner, A. Schütz, Sartre, Uvinas oder Merleau-Ponty. Zu den Interpreten, die das Gelingen der Husserlschen Intersubjektivitätstheorie bezweifeln, gehören z.B. aus dialogphilosophischer Perspektive Waldenfels und Theunissen, aus sprachpragmatischer Perspektive Gronke, aus sozialtheoretischer Perspektive Kozlowski oder aus phänomenologischer Schloßberger. Allerdings gibt es auch differenzierte, aber nur bedingt überzeugende Gegenstimmen, die Husserl gegen den Solipsismusvorwurf zu verteidigen versuchen, so z.B. lribarne.
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fahrung mit der Erinnerung und die Thesen, Fremderfahrung vollziehe sich über Analogie (der Leiber) und über Appräsentation. 58 Ich stimme diesen Kritikpunkten en gros zu. Zumindest für ein Konzept des Fremdverstehens halte ich aber Husserls Thesen zur Analogie und zur Appräsentation für produktiver, als es gemeinhin vertreten wird. 59 Im Weiteren sollen für die Frage nach dem Fremdverstehen die wesentlichen Punkte von Husserls Entwürfen zur Intersubjektivität diskutiert werden. Befragt wird, ob eine primordiale Reduktion überhaupt sinnvoll durchgeführt werden kann (1), ob Husserl den Ausweg aus der Primordialsphäre zu zeigen vermag (was die Frage nach der Konstitution berührt) (2), ob es gelungen ist, jegliche Fremderfahrung analogisierend zu denken (3) und schließlich, wie tragfähig Husserls Appräsentationsbegriff ist (4).60 Die Schwierigkeiten, denen Husserls Intersubjektivitätstheorie in den Cartesianischen Meditationen unterliegt, wurzeln, so meine These, allesamt in seinem stark subjekt- bzw. bewusstseinszentrierten Ansatz. 61 Zumindest zwei fundamentale Probleme ergeben sich aus dem egologischen Modell. Zum einen ist es zweifelhaft, ob ein solches von allen Fremderfahrungen bereinigtes primordiales Ego überhaupt sinnvoll gedacht werden kann. Zum anderen ist es nicht einsichtig, wie das primordiale Ego aus der solipsistischen Sphäre wieder herausftndet. Husserls Konzept der Primordialität unterliegt damit einem inneren Widerspruch. Für eine gute Zusammenfassung der verschiedenen Kritikpunkte vgl. Kozlowski: Aporien; S. 12-58. 59 Theunissen lehnt Husserls Appräsentationsbegriff nachdrücklich ab, vgl. exempl. Theunissen: Der Andere; S. 136ff. Siehe auch Kozlowskis Kritik: Aporien; S. 104ff. - Vgl. hierzu Kap. 2.4. 60 Die hier unberücksichtigte Frage, ob es sich bei Husserls Analyse um eine statische oder genetische Konzeption handelt, diskutiert Kozlowski. Husserl bezeichnet seine Intersubjektivitätstheorie als statische Analyse (CM 136), verwendet aber immer wieder genetische Begriffe. Es liegt hier also eine Spannung vor (Kozlowski: Aporien; S. 185). Bei einer genetische Analyse wird mitbedacht, "daß der Sinn von jedem erfahrenen Gegenstand sich in der Zeit konstituiert", (ebd.; S. 183), die statische blendet den Zeitfaktor aus. - Die selbstverständliche Miteinbeziehung von genetischem Vokabular lässt vermuten, dass eine Intersubjektivitätstheorie nicht ohne genetische Aspekte auskommt. 61 Auf jeweils eigene Weise vertreten diese These z.B. auch Theunissen, Waldenfels oder Kozlowski.
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Einerseits kann Husserl nicht plausibel machen, wie dieser abstrakte Schritt hin zur Primordialsphäre zu denken ist, andererseits vermag er nicht zu zeigen, wie diese Sphäre überwunden werden kann. Erstens betont Husserl an mehreren Stellen seines Werks, dass das Ego in der natürlichen Einstellung notwendig sozial situiert ist. Für das lebensweltliche Subjekt sind die Existenz einer gemeinsamen Welt sowie die Existenz Anderer völlig unstrittig. Ich und Anderer leben miteinander in Gemeinschaft, stehen miteinander in einem Wechselverhältnis, beeinflussen einander. Genau das will Husserl wohl unter dem Lebensweltbegriff, den er in seiner Spätschrift Krisis entwickelt, verstanden wissen: Die "Lebenswelt" ist die für menschlichen Subjekte im alltäglichen Lebensvollzug passiv vorgegebene, unbezweifelte und evident gegebene Umwelt, die durch die Subjekte immer weiter ausgestaltet wird. Sie ist also die Sphäre der selbstverständlichen intersubjektiven Erfahrung. 62 Dabei verweist nicht nur die konkrete menschliche Gemeinschaft auf die Sozialität des Egos, sondern auch die dingliche Umwelt, und zwar in Form von kulturellen Objekten jeglicher Art, wie Bücher oder Werkzeuge. Nun ist diese Bestimmung des Ich als soziales Wesen von sehr großer Bedeutung und kann - hierin wende ich mich gegen Husserl auch nicht abstrakt auf transzendentaler Ebene ausgeblendet werden. Denn Sprachfähigkeit, Denken, Werten, Handeln, aber auch das körperliche Gebaren eines Ich, all dies weist auf die soziale Situiertheit des Subjekts hin, insofern z.B. die Sprache trivialerweise nur durch Andere erlernt wird oder Werte und Urteile des Ich vom sozialen Umfeld geprägt sind. Ein Subjekt unterliegt vielfachen, in ihrer Komplexität kaum aufschlüsselbaren umweltlichen Einflüssen, so dass sich hier nur eingeschränkt feststellen lässt, was die Sphäre des ,Eigenen' scharf von der des ,Fremden' trennt. Schlichtweg unmöglich erscheint es in diesem Sinne, das Ego abstrakt zu reduzieren auf eine Primordialsphäre, in der jegliche Andersheit ausgeblendet sein soll. Die von mir hier formulierte Kritik lässt sich aus anderer Perspektive auch mit Waldenfels explizieren. Dieser schreibt knapp und tref62
Vgl. K 105-193, z.B. S. 130; 136; 183. - Zum Lebensweltbegriff vgl. exempl. den Sammelband: Elisabeth Ströker (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls. Frankfurt/M 1979.
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fend: "Da die Dinge und das leibliche Ich dem fremden Zugriff ausgesetzt sind, läßt sich Busserls Annahme einer nur mir zugehörigen primordialen Natur und eines primordialen Leibes einfach nicht halten. "63 Auf ähnliche Weise wie Waldenfels argumentiert wiederum Kozlowski. Er konstatiert, die Selbstreflexion des Bewusstseins bzw. die Reflexion auf die eigenen Erlebnisse sei unmöglich, wenn Sozialität ausgeschlossen würde (wie es der Fall wäre in der Primordialsphäre), da "alles Selb~ter lebte, auf das reflektiert werden kann, immer in der eigenen sozialen Umgebung entsteht."64 Es ist von Busserl phänomenal auf jeden Fall richtig beschrieben, dass die eigenen Erfahrungen dem Subjekt unmittelbar gegeben sind, während ihm die Erfahrungen Anderer nur mittelbar zugänglich sind. Das ändert jedoch nichts daran, dass auch die Erfahrungen des Ich notwendig intersubjektiv geprägt (und damit nicht gänzlich auf eine Eigenheitssphäre zu reduzieren) sind. Es liegt hier vielmehr eine nicht aufzulösende Spannung vor: Einerseits ist das Subjekt in gewisser Weise ,enteignet'65 (also nicht autonom, sondern heteronom bestimmt), insofern sich das Selbst
63 Bernhard Waldenfels: Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophi64
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sche Untersuchungen im Anschluß an Endmund Husserl. Den Haag 1971;S.128. Kozlowski: Aporien; S. 97. - Aus sprachpragmatischer Perspektive ergibt sich ein ähnlicher Kritikpunkt. Diese Richtung vertritt, grob gesagt, die These, dass eine einheitliche Natur in der Primordialsphäre nicht konstituiert werden kann, weil einem primordialen Ego notwendig die Sprachverfasstheit fehlt, die für eine solche Konstitution notwendig wäre. Eine gute Zusammenfassung der sprachpragmatischen Kritik liefert Gronke: Denken; S. 229f. Dabei unterliegt das Subjekt noch einer weiteren ,Enteignung': Auf Freuds ,Entdeckung' des Unbewußten rekurrierend, wird heute in einigen Diskursen von der Fremdheit des eigenen Subjekts gesprochen. Waldenfels etwa bezeichnet das als "intrasubjektive Fremdheit". Das Subjekt ist sich selbst mitnichten gänzlich transparent. Auch die Selbsterfahrung oder das Selbstverstehen unterliegt gewissen Grenzen, insofern dem Subjekt keinesfalls all seine eigenen Motivationen, Gefühle, Urteile oder z.B. Verhaltensweisen transparent sind. Solche unverständlichen Momente im eigenen Selbst werden durch Selbstreflexion nicht notwendigerweise plausibler. - Vgl. exempl. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt/M 1997; v.a. S. 27-33.
nur in Sozialität ausbildet. 66 Andererseits hat es zu sich einen privilegierten Zugang. Anders gesagt: Das Ich bildet sich in der Sozialität heraus, erlebt sich jedoch gleichzeitig in Differenz zu ihr, insofern es sich selbst unmittelbar und originär erfährt, wohingegen es Andere nur vermittelt und appräsentiert wahrnehmenkann. Wenn man die These von der sozialen Verfasstheit des Subjekts (die Busserl auf empirischer Ebene ja selbst eingesteht) nicht bestreitet, lässt sich die Position nicht halten, dass das (transzendentale) Ich abstrahierend auf eine Primordialsphäre reduziert werden kann. 67 Dies hat seinen Grund darin, dass das strikt ,Eigene' eines Ich gar nicht auszumachen ist, es existiert kein Ich vor oder außerhalb der Sozialität. Damit ist jedoch letztlich Busserls transzendentaler, bewusstseinsphilosophischer Ansatz insgesamt in Zweifel zu ziehen. Sein subjektzentriertes Konzept scheint in einer Sackgasse zu münden. - Und nicht nur ein solches primordiales Ego ist undenkbar, auch die Möglichkeit einer primordialen "Natur" ist fraglich. Es scheint für ein solch abstrakt verkürzt erfahrendes Ich unmöglich, noch eine zusammenhängende Natur erfahren zu können, da die Umwelt des Ich, wird sie entsozialisiert, ihrem Sinn nach derartig verzerrt wird, dass sie auseinanderbricht. 68 Zusammenfassend bedeutet das also, dass sich die Sphäre des Primordialen und mit ihr ein primordiales Ego nicht sinnvoll denken lassen. Zweitens vermag Busserl den Ausweg aus der Primordialsphäre nicht einleuchtend zu zeigen. Er kann letztlich nicht schlüssig darstellen, dass das primordial reduzierte Ego befähigt ist, den Schritt zum Anderen zu vollziehen. Zum einen erscheint es eher unklar, warum eine körperliche Paarung zwischen dem eigenen Körper und dem Körper des Anderen und damit einhergehend eine assoziative leibliche Übertragung zwischen eigenem Leib und 66 Waldenfels z.B. verweist auf Freud Bezug nehmend auf die konstitutive Rolle der Identifizierung bei der Ichwerdung: "Identifizierung bedeutet, daß ich ich selbst werde durch die Einbeziehung anderer." (ebd.; S. 22) 67 Theunissen konstatiert, dass Husserl damit auf empirischer Ebene etwas zugesteht, was er transzendental letztlich nicht zu begründen weiß - eben die Sozialität des Subjekts. - Vgl. Theunissen: Der Andere; S: 111. 68 Wird der soziale Charakter von Kulturobjekten, wie z.B. einem Buch, ausgeblendet, verändert das den ,Sinn' des Gegenstands derart konstitutiv, dass er in primordialer Sphäre im Prinzip unverständlich sein müsste.
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Fremdleib stattftnden kann. In der abstrahierten Sphäre kann das Ich im Grunde kein (auch kein passives) Verständnis vom eigenen Leib als bloßen Körper haben. Der eigene Leib ist in dieser Sphäre nicht als Körper gegeben, denn Körper ist der Leib vorwiegend durch den Blick eines Anderen. Insofern scheint mir eine körperliche Paarung und damit auch die übertragende Leibapperzeption nicht möglich, es fehlt schlichtweg die behauptete Ahnlichkeit zwischen dem eigenen Leib und dem fremden Körper. Zum anderen ist Husserls Versuch, die Frage nach der ersten Fremderfahrung als Konstitutionsproblem aufzufassen, problematisch: Ausgehend von einem solipsistischen Ich kann das Ego dem Anderen seine Innerlichkeit und damit seine Originalitätssphäre nur unterstellen, aber letztlich nicht eifahren. Das bedeutet im Weiteren, dass die Originalitätssphäre, die eigene Erfahrungswelt des Anderen, stets eine Hypothese des Ich bleibt. Damit ist der Ausweg aus dem Solipsismus nicht gezeigt bzw. nicht bewiesen, dass das Ich den Anderen tatsächlich eifiihrt. 69 Zum dritten und vierten Diskussionspunkt lässt sich Folgendes sagen: Nach Husserl vollzieht sich die Fremderfahrung analogisch und appräsentativ. Ausgehend von seinem stark subjektzentrierten Ansatz sind auch diese beiden Bestimmungen problematisch. Ein solipsistisch verfasstes Subjekt scheint durch analogisierende Erfahrung nicht zum Anderen gelangen zu können: Da die vermeintliche Fremderfahrung vielmehr eine hypothetische Setzung des Ich bleibt und weniger eine tatsächliche Erfahrung ist, lässt sich nicht einsehen, weshalb die Ich-Analogie tatsächlich zum Anderen führen kann. Die solipsistisch fundierte
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Theunissen verweist mehrfach darauf, dass durch Husserls Festhalten an der konstitutiven Nachrangigkeit des Anderen die fundamentale Gleichursprünglichkeit von Ich und Anderem geleugnet würde: "Ich habe eben den Anderen schon dadurch degradiert, daß ich das Ich, welches sich von ihm konstituieren läßt, zu einem abkünftigen Modus meiner selbst degradiere und ihm gegenüber mich als ursprüngliches Ich behaupte. Damit aber entziehe ich mich der Gleichursptünglichkeit [.. .]." Theunissen: Der Andere; S. 153. - .Ähnlich auch Waldenfels: Zwischenreich; S. 28. Hinter diesem Kritikpunkt steht bereits eine Behauptung, nämlich die von der Gleichursptünglichkeit von Ich und Anderem. Aufgrund der Einsicht in die soziale Verfasstheit von Subjekten schließe ich mich dieser These Theunissens an.
,Fremd'erfahrung bleibt eine abkünftige Ich-Erfahrung, der Andere ist eine Projektion des Ich. In Husserlscher Terminologie und gegen Husserl gerichtet könnte man sagen, der Andere ist keine transzendente Transzendenz, sondern bleibt bloß immanent transzendent. - Ein ganz ähnliches Problem stellt sich bei Husserls These zum appräsentativen Verlauf der Fremderfahrung. Wenn die Sozialität des Subjekts nicht vorausgesetzt ist, bleibt - wie gerade erwähnt - die Innerlichkeit des Anderen bzw. seine Originalitätssphäre eine bloße Hypothese des Ich. Zwar soll sich das Wtvergegenwärtigte durch weitere Fremderfahrung bewähren und durch die Erfüllungs- (oder Enttäuschungs-)struktur zu einer differenzierten und tatsächlichen Fremderfahrung werden, aber das löst das hypothetische Moment der Fremderfahrung nicht auf. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die erste fundamentale Fremderfahrung mit Husserls egologischem Ansatz nicht zufriedenstellend beschreiben lässt. Somit ist aber an dieser Stelle keine wirkliche Basis für eine Theorie des Fremdverstehens im hiesigen Sinne gefunden, denn damit die Individualität des Anderen verstanden werden kann, muss er allem voran als Anderer begriffen werden. Insofern ist Husserls transzendentaler Ansatz schließlich abzulehnen. Die Existenz Anderer ist immer schon vorauszusetzen, und die Sozialität von Subjekten kann nicht sinnvoll negiert werden. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass sämtliche Thesen Husserls zurückgewiesen werden müssen oder sollten. Konträr zur gängigen Kritik an der Intersubjektivitätstheorie des Philosophen halte ich gerade Husserls Auffassung vom analogischen und appräsentativen Verlauf der Fremderfahrung (und, v.a. im Weiteren, des Fremdverstehens) für sehr zutreffend.7° Problematisch werden sie allein durch Husserls subjektzentrierten Ansatz. Wenn man daran festhält, dass dem Ich seine eigenen Erfahrungen
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Zu de~ gängigen Kritikpunkten vgl. exempl. Kozlowski: Aporien; S. 104ff oder Theunissen. Letzterer konstatiert, durch die Appräsentation werde der Andere verdinglicht, da die entwerfende Fremdwahrnehmung parallel zur Dingwahrnehmung verlaufe. Die (behauptetermaßen nur negative) Unterscheidung zur Dingwahrnehmung, nämlich die Unmöglichkeit originärer Bewährung, sei nicht ausreichend, um der Verdinglichung zu entgehen. - Theunissen: Der Andere; S. 136ff.
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unmittelbar und originär gegeben sind, das Innenleben des Anderen dem Ich jedoch originär verschlossen bleibt (das Ich kann niemals genau wissen, wie sich der Andere fühlt, wie er erfährt etc.), bedarf das Fremdverstehen eines gewissen analogischen und auch appräsentativen Moments. Anders gesagt: Was auf transzendentaler Ebene problematisch ist, ist auf empirischer Ebene durchaus fruchtbar und adäquat beschrieben. Die Erfahrungen des Anderen, sein Erleben, Fühlen, Denken etc. werden vom Ich appräsentativ gesetzt und durch die Bewährungsstruktur entweder beibehalten, vertieft und differenziert, oder auch als korrekturbedürftig zurückgewiesen. Dass diese Bewährung dabei nie gänzlich evident sein kann, erscheint auf empirischer Ebene als eine richtige und auch wesentliche Einsicht: Das Ich kann nie genau wissen, ob es die Innerlichkeit des Anderen so erfährt, wie der Andere selbst sie erfährt (s.u.). Nach dieser Darstellung und Diskussion von Husserls trans zendentalphänomenologischem Ansatz und seinen Entwürfen zur Fremderfahrung als Frage nach der Konstitution des Anderen durch ein Ich kann im Weiteren dem Fremdverstehen im engeren Sinne nachgegangen werden. Während Husserl in der V. Cartesianischen Meditation sein Hauptaugenmerk auf die erste, fundamentale Fremderfahrung legt, entwickelt er das, was in dieser Arbeit als Fremdverstehen bezeichnet wird, ausführlich v.a. in den Ideen II. Zwar behandelt Husserl auch in den Cartesianischen Meditationen das Fremdverstehen, allein, seine Ausführungen bleiben hier mehr andeutender Natur. Vor einer detaillierteren Analyse der Ideen 11 werden zunächst die zentralen Thesen der Cartesianischen Meditationen zum Fremdverstehen zusammengefasst. Das Fremdverstehen wird in diesem Werk dort umrissen, wo Husserl von der "Einfühlung" "von bestimmten Gehalten der hö'heren psychischen Sphiire" (CM 149) spricht. Das Fremdverstehen nimmt hier - als Vorstufe zur Konstitution der intersubjektiven Gemeinschaft - eine bloß periphere Zwischenstufe ein auf dem Weg zur gesuchten Konstitution der objektiven Welt. Nach Husserl funktioniert das Fremdverstehen dabei im Prinzip wie die niederstufigere, auf den Leib gerichtete Fremderfahrung, nämlich als Assoziation, die ihr Fundament in der Analogie des Anderen (nun der psychischen Verfasstheit des Anderen) zum eigenen
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Ego hat. Gegenüber der passiv verlaufenden paarenden Assoziation der leiblichen Sphäre erweist sich das Verstehen allerdings als aktiver. Das Ich macht sich klar, dass der Andere einer ist, der ,wie ich' handelt, denkt, wertet etc.: Die höheren psychischen Vorkommnisse [...] haben [...] ihren Stil der synthetischen Zusammenhänge und ihrer Verlaufsformen, die für mich verständlich sein können durch assoziative Anhalte an meinem eigenen, in seiner ungefähren Typik mir vertrauten Lebensstil [1]. Dabei wirkt auch jedes gelungene Einverstehen in die Anderen als neue Assoziationen und neue Verständnismöglichkeiten eröffnend [2]; wie es umgekehrt, da jede paarende Assoziation wechselseitig ist, das eigene Seelenleben nach Ähnlichkeit und Andersheit enthüllt, und durch die neuen Abhebungen für neue Assoziationen fruchtbar macht [3]. (CM 149)
Dieses Zitat lässt sich gut in drei Teilthesen unterteilen, die ich im Weiteren getrennt voneinander interpretieren möchte. Um erstens erläutern zu können, dass und inwiefern Husserl hier von einem "Lebensstil" sprechen kann, ist es sinnvoll, noch einmal zu einem von Husserl eingeführten Ich-Begriff zurückzukehren, nämlich dem "habituellen Ego". Wie früher erläutert, zeichnet sich das habituelle Ego laut Husserl dadurch aus, dass es durch seine kontinuierlichen Erfahrungen hindurch eine relativ stabil bleibende Charakteristik besitzt. Zwar vergeht der vollzogene Urteils akt des Ich, das gewonnene Urteil hat jedoch so lange Bestand, bis es vom Ich aktiv zurückgewiesen wird. Auf diese Weise bildet das geschichtlich verfasste Ich mannigfaltige habituelle Eigenschaften heraus, wie z.B. Überzeugungen, Werte, oder Charaktereigenschaften, die aber variabel bleiben, insofern sich das Ego zu seinen Habitualitäten stets verhalten und sie verändern kann. Das ist nach Husserl der Grund dafür, dass sich ein "personales Ich"71 (CM 101) herausbildet, also ein Ich, das durch vereinzelte Veränderungen hindurch einen "bleibenden Stil, einen personalen Charakter" besitzt. 72 Von hier aus sollte klar werden, 71 Der Begriff des "personalen Ich" ist für die Ideen 11 äußerst wichtig, dort
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hat er aber eine etwas andere Bedeutung als in den Cartesianischen Meditationen. An dieser Stelle tun sich mehrere Schwierigkeiten auf. Unklar bleibt hier unter anderem, wie es mit Husserl zu erklären ist, dass habituelle Überzeugungen etc. zwar immer nur relativ bleibende sind, aber dennoch von einem ,bleibenden Stil' des personalen Ich gesprochen werden kann. Wie
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wie Husserl von einem "Lebensstil" des Ego sprechen und diesen als Grundlage für das Fremdverstehen annehmen kann. Das habituelle Ich hat durch seine verschiedenen Akte hindurch einen kontinuierlichen Erfahrungs schatz, der dem Ich in Form des eigenen Lebensstils gegeben ist. Von diesem Horizont aus ist es laut Husserl möglich, andere Egos zu verstehen, insofern der Lebensstil Anderer analog zum eigenen Lebensstil verlaufe. Wenn Husserl ~eitens meint, jedes gelungene Verstehen führe zu weiteren Assoziationen und eröffne den Raum für neue Verständnismöglichkeiten, spielt er damit auf den entwerfenden, appräsentativen Charakter des Fremdverstehens an: Analog zu meinem eigenen Lebensstil assoziiere bzw. appräsentiere ich einen ähnlichen Lebensstil beim Anderen. Das erweckt im Ich gewisse Erwartungen, z.B. wie sich der Andere dem Ich gegenüber in einer bestimmten Situation verhalten wird. Deckt sich die Erwartung des Ich im Weiteren mit dem Verhalten des Anderen, ist das Verstehen geglückt, und durch das Verstandene eröffnen sich weitere Assoziationen bzw. weitere (differenziertere) Erwartungen, die ebenfalls durch Erfüllung oder Enttäuschung verifiziert oder falsifiziert werden. - Drittens meint Husserl schließlich, dass das Fremdverstehen auch einen Bezug zum Selbstverstehen habe. Durch die Differenzen, die sich dem Ego beim Fremdverstehen auftun, weiß es sich selbst letztlich differenzierter zu bestimmen. Diese letzte Bestimmung spielt bei Husserls Begriff des Fremdverstehens jedoch eine marginale Rolle. Die Ausformulierung dieser These wäre dennoch interessant. So ließe sich z.B. überlegen, ob das Ineinandergreifen von Fremdverstehen und Selbstverstehen nicht zu einem differenzierteren verhalten sich also Veränderung und Stabilität der habituellen Eigenschaften zueinander? Ebenfalls problematisch ist Husserls implizite Voraussetzung, dass das habituelle Ego anscheinend durch aktive Akte selbstgesetzt und -bestimmt ist. Der Umstand, dass sich Charaktereigenschaften, aber auch Überzeugungen und Werte keinesfalls allein durch das Akdeben eines einzelnen Ich herausbilden, sondern vielmehr einer::' seits in Verbindung mit dem sozialen Umfeld, und andererseits zu einem nicht geringen Teil überhaupt unbewusst entstehen, wird von Husserl in den Cartesianischen Meditationen nicht angedacht. Dass dem Ego in der transzendentalen Sphäre nur seine eigenen Akte zugänglich sind und demnach von der Prägung des sozialen Umfeldes abgesehen werden muss, schwächt dieses Problem nicht ab, sondern lässt vielmehr an der Sinnhaftigkeit der transzendentalen Einstellung zweifeln.
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Fremdverstehen führen würde oder zumindest führen könnte. Versteht sich das Ich durch den Anderen besser, kann es wiederum in differenzierterer Abgrenzung den Anderen verstehen. 73 Die Tragfähigkeit dieser Entwürfe wird im Folgenden anhand von Husserls Ideen 11 diskutiert.
3. Fremdverstehen als Motivationsverstehen in den Ideen 11 Hat Husserl sich dem Fremdverstehen in den Ideen 11 zwar ausführlicher zUgewandt als in den Cartesianischen Meditationen so wäre es dennoch übertrieben, von einer Theorie des Fremdverstehens bei ihm zu sprechen. Das Fehlen einer solch expliziten Theorie mag wohl auch der Grund dafür sein, dass sich die Husserlforschung mit diesem Thema meines Wissens noch nicht detaillierter auseinandergesetzt hat und somit kaum Forschungsliteratur dazu existiert. Im Weiteren wird versucht, ein solches Konzept des Fremdverstehens anhand ausgesuchter Lektüren einiger Passagen der Ideen 1[74 sowie der Intersubjektivitätsbände zu rekonstruieren. - Dieses Kapitel beschäftigt sich dabei zuerst mit dem Subjektbegriff (dem "personalen Ich''), welcher dem Fremdverstehen in den Ideen II zugrunde liegt. Darauf aufbauend wird rekonstruiert, wie sich das Fremdverstehen nach Husserl vollzieht. Im Anschluss an diese Beschäftigung werden schließlich im nächsten Kapitel die gewonnenen Resultate der Analysen aus den Cartesianischen Meditationen und den Ideen 11 diskutiert und erste Ergebnisse für die Frage nach dem Fremdverstehen festgehalten. Voranzustellen ist, dass mit dem Fokus auf die Ideen 11 ein ,Einstellungswechsel' vollzogen wird. In den Cartesianischen Meditationen führt Husserl seine Analysen ausschließlich auf transzendentaler Ebene durch. In den Ideen 11, deren Untertitel Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution lautet, versucht Husserl über die Schritte der Konstjtution der "materiellen Natur", der "animalischen Natur" und schließlich der "geistigen Welt" eben-
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D~eses angedeutete Wechselverhältnis wird bei der Auseinandersetzung ffilt Gadamer noch eine Rolle spielen. V.a. Die Konstitution der geistigen Welt (ID II 171-280), sowie Paragraphen des 2. Abschnitts.
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so grundlegende Konstitutionsanalysen durchzuführen wie in den Cartesianischen Meditationen. Diese Analysen operieren aber nur teilweise mit dem transzendental-phänomenologischen Vokabular. Im Vordergrund steht hier vielmehr das lebensweltlich situierte, persönliche Subjekt (s.u.), das laut Husserl mit dem reinen Ich der transzendentalen Ebene nicht zu verwechseln und vielmehr auf einer, wie Theunissen sagt, "mundan-empirischen Ebene"75 angesiedelt ist. Das Fremdverstehen in den Ideen 11 wird also in der natürlichen Einstellung abgehandelt. 76 Das Ich kann den Anderen über einzelne Handlungen, Denk-, Fühl- oder Wertweisen verstehen, aber auch den Anderen als ,Ganzes' in seiner individuellen Eigenheit. Das Verhältnis zwischen dem Verstehen der einzelnen Teile einerseits und dem Verstehen des Ganzen andererseits wird von Husserl jedoch nicht weiter beleuchtet. Diese Momente sind bei ihm auch nicht immer scharf voneinander getrennt. 77 Über seine einzelnen Handlungen etc. wird der Andere vorwiegend dann verstanden, wenn das Ich die Motivationen des Anderen versteht. Parallel dazu wird die individuelle Eigenheit des Anderen verstanden, wenn dessen Motivationsstruktur erfasst wird. Diese Prozesse des empirischen Fremdverstehens lassen sich mit Husserl als Akte des "einseitigen Hineinverstehens" (ID II 194) bezeichnen. 78 Jedoch
75 Theunissen: Der Andere; S. 147. 76 In diesem Sinne sagt Busserl: "Wir sind und bleiben in der Einstellung, in der materielle Natur eben wirklich da ist [...]." (lD 11 142) - Indessen bleibt die transzendentale Ebene en gros vorausgesetzt. Das ist natürlich einerseits sinnvoll, da die weiteren Analysen auf den transzendental gewonnenen Begriffen aufbauen sollen. Allerdings führt das andererseits zu einigen Schwierigkeiten, weil die in den beiden Einstellungen gewonnenen Ergebnisse teilweise miteinander in einem Spannungsverhältnis stehen. - Vgl. dazu Theunissen: Der Andere; z.B. S. 110ff. 77 Dieses Verhältnis zwischen dem Teilverstehen und dem Verstehen der individuellen Eigenheit als ,Ganzes' wird in der Auseinandersetzung mit Gadamer geklärt. 78 Dieses einseitige Verstehen unterscheidet Busserl ausdrücklich von wechselseitig verlaufenden Akten, die er als "soziale Akte" oder "kommunikative Akte" bezeichnet; vgl. exempl. ID 11 192-198 oder INT 11 166-191. In INT 11 spricht Busserl mitunter auch von der Ich-Du~ Beziehung, von Sympathie und Liebe. - Dem Thema der sozialen Akte sowie Busserls Ausführungen zur Sympathie haben sich mehrere Interpreten gewidmet. - Vgl. z.B. Iribarne: Intersubjektivität; v.a. S. 115-130.
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verwendet Husserl statt dieses Terminus auch hier häufig den Begriff Fremderfahrung bzw. Einfühlung. Das zeigt noch einmal die bereits erwähnte breite Verwendung dieser Begriffe. In ähnlichem Sinne schreibt Kozlowski: Husserl verwendet den Ausdruck ,Einfühlung' im doppelten Sinne. Einerseits begegnet ,Einfühlung' als Grundbegriff der transzendentalen Intersubjektivitätstheorie, um die Erfahrung des anderen transzendentalen Ego zu erweisen. Zugleich spielt sie eine fundamentale Rolle bei der Auslegung der Sinnkonstitution des [empirischen] Menschen. 79
Nach diesen einleitenden Bemerkungen wird nun Husserls Begriff des "personalen Ich" erläutert, sodann wird dargestellt, wie dieses Ich motiviert wird und ferner, wie es sich selbst verstehend auslegt.80 Voranzustellen ist, dass das Ich wie der Andere die Eigenschaften des personalen Ich tragen. Es sind Beschaffenheiten eines jeden ,Ich', des eigenen wie des anderen. Anders gesagt: Es sind Beschaffenheiten eines jeden empirischen Subjekts. Die Klärung dieses Begriffs ist erforderlich, weil sich erst ausgehend von dem hier verhandelten Subjektverständnis die Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens herausarbeiten lassen. Das personale Ich der empirischen Ebene ist v.a. durch zwei wesentliche Eigenschaften ausgezeichnet: durch seine soziale Situiertheit einerseits und durch seine Autonomie bzw. Freiheit andererseits. Das personale Ich bezeichnet nach Husserl, ganz allgemein gesagt, die "Individualität" des Subjekts (INT II 18f). Es weist Parallelen zum habituellen Ich 81 der transzendentalen
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Kozlowski: Aporien; S. 93.
80 Auch in den Ideen 11 operiert Busserl mit einer Vielzahl nicht leicht
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voneinander zu scheidenden und teilweise miteinander inkompatiblen Ich-Begriffen. Auf transzendentaler Ebene führt Busserl auch hier das reine Ich oder das Ich der Babitualitäten ein. Auf empirischer Ebene erscheint v.a. das personale Ich von Wichtigkeit. Ich werde mich auf diesen Begriff beschränken und die anderen empirischen Subjektbegriffe (wie Person, Mensch, seelisches Ich) ausklammern. - Neben dem Begriff personales Ich findet die von Iribarne eingeführte dualistischen Unterscheidung weltliches/r Ich/ Anderer vs. transzendentales/r Ich/Anderer Verwendung. - Vgl. Iribarne: Intersubjektivität; S. 42. Das habituelle Ich wird in den Ideen II auf sehr ähnliche Weise wie in den Carlesianischen Meditationen eingeführt. Neu daran ist Busserls dezidiert
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Sphäre auf, da auch das personale Ich ein geschichtlich verfasstes Ich mit habituellen Eigenschaften darstellt, jedoch handelt es sich darüber hinaus um ein sozial verfasstes Ich. Es ist das konkrete, lebensweltliche Ich, das durch seine gemachten und noch zu machenden Erfahrungen bestimmt ist, das persönliche, charakterliche Eigenheiten oder Gewohnheiten hat oder z.B. (relativ) bleibende Urteile oder Werte vertritt. Das bedeutet auch, dass das personale Ich sich nicht beliebig, sondern auf für es charakteristische Weisen (zu Urteilen, Handlungen etc.) motivieren lässt. Mit dem Hinweis, dass ein personales Ich bestimmten Motivationsstrukturen unterliegt, deutet sich bereits die Möglichkeit des Fremdverstehens an: Verständlich ist die motivationale Verfasstheit des Subjekts. Während das solipsistisch verfasste Ich der transzendentalen Sphäre die Selbstkonstitution wie gesagt solitär vollzieht, bedarf es zur Konstitution des personalen Subjekts der Fremderfahrung: Der Ursprung der Personalität liegt in der Einfühlung und in den weiter erwachsenden sozialen Akten. Es genügt nicht zur Personalität, daß das Subjekt seiner selbst innewird als Pol seiner Akte, sie konstituiert sich erst, indem das Subjekt in soziale Beziehung tritt zu anderen Subjekten [...].82 (ID II 175. Vgl. auch ebd.; S. 200)
Die intersubjektive Sphäre ist für das personale Ich konstitutiv: Ein empirisches Ich entwickelt seine Individualität im Umgang mit Anderen. Zu diesem sozial verfassten personalen Ich gehört unabtrennbar eine es umgebende Umwelt. 83 Der Umweltbegriff teilt sich dabei in zwei Bedeutungen. Er bezeichnet einmal eine subjektiv für das jeweilige personale Ich geltende Umwelt ("egoistische Umwelt") sowie zum anderen eine intersubjektiv
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vertretene Auffassung, ein Ich behalte seine habituellen Eigenschaften so lange bei, bis sich die auf die jeweilige Babitualität gerichtete Motivation des Ich ändere. Welch große Bedeutung Busserl der motivationalen Verfasstheit von Subjekten in den Ideen 11 beimisst, wird noch gezeigt. In dieser Formulierung steckt bereits, dass Busserl auch in den Ideen II von einem Primat der "vor sozi al en Sub j e k ti vi tä t" (ID II 199) ausgeht (s.u.). Sommer konstatiert, dass Busserls Ausführungen zur Umwelt bzw. zum "S u b je k tein e rUm wel t" (ID II 185) eine Parallele haben zu seinen später entwickelten Thesen der "Lebenswelt". Vgl. Manfred Sommer: Einleitung. Busserls Göttinger Lebenswelt. In: Edmund Busserl: Die Konstitution der geistigen Welt. Bamburg 1984; S. IX-XLII; S. IX.
geteilte Umwelt ("kommunikative Umwelt''). Die kommunikative Umwelt ist eine intersubjektiv erfahrene Welt, in der mehrere erfahrende Subjekte in einem, wie Husserl sagt, "personalen Verband" (lD 11 191) leben bzw. in einem Wechselverhältnis stehen. In einem solchen Verband teilen die Subjekte einen gewissen Erfahrungsschatz oder gewisse Interessen, wie z.B. religiöse, kulturelle oder freundschaftliche Werte. Der Umweltbegriff ist in diesem Sinne vom Begriff der objektiven Welt zu scheiden, weil er in gewisser Weise (inter)subjektrelativ ist. Die objektive Welt ist die. eine für alle Subjekte in gleicher Geltung stehende Welt. Hingegen gibt es nicht nur eine geltende Umwelt, sondern viele: Die Umwelt zerfällt in Teilwelten, die personenrelativ strukturiert sind durch verschiedene personale Gemeinschaften. Von diesem personenrelativen Umweltbegriff scheidet Husserl nun noch einen gänzlich subjektrelativen Umweltbegriff. Diese subjektrelative Welt ist schlichtweg eine "Welt ,für mich'" (lD 11 186). Sie ist die Welt, wie sie dem personalen Ich bewusst ist, wie sie ihm erscheint, wie das Ich sie z.B. wahrnimmt, erinnert oder im Denken erfasst und zu welcher es sich mitunter handelnd, wertend oder urteilend verhält (lD 11 185). Die Subjektabhängigkeit ist auch der Grund dafür, dass diese Umwelt für das personale Ich keine feststehende ist, sondern sich immer wieder ändert: Im Fortlaufen immer neuer Erfahrungen eröffnen sich dem personalen Ich stets weitere Horizonte, die ihm ein anderes Erschließen seiner Umwelt erlauben (lD 11 186/195).84 Auch auf dieser empirischen Ebene hält Husserl damit an der Unterscheidung von originärer und nicht-originärer Erfahrung fest: Die egoistische Umwelt ist die originär, auf mir-eigene Art erfahrene Welt des Ich, die sonst kein Subjekt auf diese Weise erfährt. Damit erfahren die Subjekte in der kommunikativen Welt dieselbe Umwelt, ,,[...] doch hat jeder die ihm ausschließlich eigenen Erlebnisse. Diese erfährt nur er in ihrer leibhaften Selbstheit, ganz originär."85 (lD 11 198) Wie schon in den Cartesianischen Meditationen besteht Husserl auch hier darauf, dass die Erlebnisse
84 So gehört die Physik z.B. erst dann zur egoistischen Umwelt des perso85
nalen Ich, wenn es im Laufe seiner Erfahrungen ein Verständnis von physikalischen Zusammenhängen gewonnen hat. Busserl spricht hier auch von Erfahrungen, die in "Urpräsenz" (originär) oder ,,Appräsenz" (nicht-originär) gemacht werden (ID II 162ff).
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Anderer hingegen nur mittelbar, durch Appräsentation erfahren werden, ohne dass das Appräsentierte dem Ich jemals originär präsent werden kann (ID II 199).86 Des Weiteren unterliegt das personale Ich nach Husserl einer dichotomischen Bestimmung. Es ist einerseits ein von ,Fremdeinflüssen' und seiner Umwelt abhängiges Ich und andererseits ein freies, selbstbestimmtes, vernünftiges Ich. 87 Husserl konstatiert, dass das personale Ich nicht nur mannigfach auf seine Umwelt bezogen ist, sondern durch sie in seiner Entwicklung auch vielfach geformt wird (ID II 268f). Das weltliche Ich wird in seinen Einstellungen, Denk- oder Handlungsweisen geprägt durch Werte, Urteile oder Handlungsweisen weltlicher Anderer und unterliegt zudem Beeinflussungen durch gesellschaftliche Institutionen wie Kirche und Staat oder durch Normen, Traditionen und kulturelle Sitten. Diese Beeinflussung findet statt, unabhängig davon, ob sieh das personale Ich dessen bewusst ist oder nicht. Dabei ist die Stärke der einzelnen Fremdeinwirkungen auf das personale Ich variabel, von der eigenen ,Disposition' abhängig, wie Husserl meint. Gerade aufgrund dieser Einsieht Husserls in die vielfache faktische Abhängigkeit des Ich von seiner Umwelt (also in seine heteronome Verfasstheit), mag es etwas verblüffen, dass er im Weiteren auf der Freiheit und Autonomie des personalen Ich besteht. Nach Husserl muss das Ich diesen Fremdeinflüssen, die es als aufgezwungene ,Zumutung' erfährt, nicht einfach passiv nachgeben, sondern es kann sieh frei dazu verhalten. Das personale Ich kann demnach aktiv Stellung beziehen und entscheiden, ob es die von außen an es herangetragenen Fremdeinflüsse ahnehmen will oder nicht. "Die Autonomie der Vernunft, die ,Frei-
Ein weiteres wesentliches Merkmal des personalen Ich ist, dass es vielfachen Motivationen unterliegt, passiv-assoziativen auf der einen, aktiven auf der anderen Seite. 90 Letztere werden von Husserl als "Ich-Motivationen" (ID II 223) oder auch als "Vernunftmotivationen" bezeiehnet. 91 Herrschen in der physischen Natur nach Husserl v.a. Kausalbeziehungen vor, so auf personaler Ebene hingegen "Motivationsbeziehungen" (z.B. ID II 190).92 Das personale Subjekt und seine Umwelt stehen in motivationaler Beziehung, insofern das Ich sowohl durch verschiedene Gegenstände der Umwelt als auch durch andere Subjekte zu gewissen Handlungen, Denkweisen, Urteilen, oder, ganz allgemein gesagt, zu gewissen Reaktionen ,gereizt', motiviert wird. Motivationen haben dabei einen horizonthaften Verweisungscharakter; eine auftretende Motivation eröffnet in bestimmte Richtungen gelenkte neue Motivationsmöglichkeiten. Das personale Ich ist wesentlich durch die verschiedenen Weisen, auf die es sich motivieren lässt, bestimmt. Unterliegt ein Subjekt Motivationen, verhält es sieh diesen gemäß. Anders gesagt, die Motivationen bestimmen seine Handlungen, Denkweisen oder Gefühle. Da Motivationen
86 Damit ist angedeutet, dass auch das empirische Fremdverstehen nur
88 Husserl verweist mehrfach auf die Freiheit des personalen Ich, so z.B.
mittelbar erfolgen kann (s.u.). 87 . Damit berührt Husserl ein Thema, das unterschiedliche gegenwärtige philosophische Richtungen (wie z.B. sozialphilosophische oder politische) vielfach beschäftigt. Ganz unterschiedliche und viel diskutierte Antworten auf die Frage, inwieweit das Subjekt intersubjektiven Abhängigkeiten unterliegt und z.B. durch die Gesellschaft und ihre Institutionen determiniert ist, liefern unter anderem Foucault, Butler, Taylor oder Honneth. Sehr vereinfacht ließe sich dabei sagen, dass es mittlerweile eine allgemeine Tendenz gibt, die Kraft der intersubjektiven Beeinflussung bei der Subjektgenese hervorzuheben.
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heit' des personalen Subjekts besteht also darin, daß ieh nicht passiv fremden Einflüssen nachgebe, sondern aus mir selbst mich entscheide."88 (ID II 269). An anderer Stelle spricht Husserl auch davon, dass sieh das Ich durch die Abhängigkeiten von seiner Umwelt hindurch als ein "seine Individualität durchhaltendes Wesen" (ID II 141) behauptet. - Auch wenn das personale Ich durch die Sozialität geformt wird, steht die Autonomie des Subjekts und damit eine selbstbestimmte, kontinuierliche Subjektgenese nach Husserl dennoch im Vordergrund. 89
auch in INT II 21.
89 Das ist wichtig, weil Husserl die Möglichkeit des Fremdverstehens auf dieser behaupteten Autonomie des Subjekts aufbaut. Die Plausibilität dieser These wird unten diskutiert. Zu den Motivationsbegriffen vgl. ID II 221-236.
90 91 Sommer weist darauf hin, dass die Motivation bei Husserl weitgehend
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mit der Intentionalität gleichgesetzt werden kann (Sommer: Einleitung; S. XXXII). Zutreffen kann das nur auf die aktive Ich-Motivaiton. Deshalb bezeichnet Husserl die Motivation als "Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens" (ID II 220).
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nach Husserl nicht einfach beliebig auftreten, sondern eben (durch den horizonthaften Verweisungscharakter) kontinuierlich und nachvollziehbar verlaufen, kann man mit Husserl sagen, dass sich im Zusammenwirken der verschiedenen Motivationsstrukturen in der Genese des Ich der habituelle Charakter und damit die individuelle Eigenheit eines Ich zeigt. Im Anschluss an diese Ausführungen zur grundlegenden Beschaffenheit von Subjekten stellt sich die Frage, warum das Fremdverstehen nach Husserl ein Verstehen der Motivationen bzw. der motivationalen Verfasstheit des Anderen darstellt, auch wenn er selbst das nicht klar herausstellt: Versucht das Ich die individuelle Eigenheit eines Anderen zu verstehen und lässt sich diese Eigenheit über die motivationale Verfasstheit des Anderen aufklären, versteht das Ich einen Anderen dann, wenn er die Motivationsstruktur des Anderen versteht. Auch um z.B. einzelne Handlungen oder Urteile des Anderen verstehen zu können, bedarf es des Wissens um die Motive des Anderen, denn erst durch das Verstehen der Motive verlieren die Handlungsweisen des Anderen ihre Kontingenz und werden verständlich, nachvollziehbar (s.u.).93 Voraussetzung für die Möglichkeit des Fremdverstehens als Verstehen der Motivationen Anderer ist, dass das Subjekt als Motivationssubjekt eine "verständliche Einheit"94 darstellt: Ich als Person bin nicht ein momentanes Bestandstück ,ego' des Aktes, sondern das Ich, das all seine bisherigen Akte vollzogen hat und in diesen Akten insofern seine Art zeigt, sich motivieren zu lassen; für dieses Ich ist jede seiner Motivationen in den jeweiligen Motivationsverflechtungen nichts Zufalliges und Unverständliches wie das Eintreten einer Farb emp findung, sondern ein Notwendiges und ,Verständliches'. (INT II 18)
welcher "Kraft") ein Subjekt durch bestimmte Motivationen motiviert wird. 95 Der Grund dafür ist, dass das Subjekt durch immer neue Erfahrungen stetig neue Einstellungen, Werte oder Denkweisen gewinnt. Die Modifikation der habituellen Verfasstheit des Ich ändert eben auch die Weisen, auf die es motiviert wird. Auch solche motivationalen Veränderungen sind nach Husserl jedoch verständlich, zum einen, weil sie nur relativ seien (ein bleibender "Charakter" zöge sich durch diese Anderungen durch), und zum anderen, da sie kontinuierlich und nachvollziehbar verlaufen würden. Das personale Ich unterliegt, wie gesagt, passiven wie aktiven Motivationen (und Motivationsänderungen). Während Husserl sein Augenmerk v.a. auf die aktiven Motivationen richtet, scheint mir ein Blick auf die von Husserl eher peripher verhandelten passiven Motivationen für das Thema des Fremdverstehens mindestens ebenso aufschlussreich. Vernunftmotivationen sind vom Ich selbst gesteuerte,· aktiv gestaltete Motivationen, wie z.B. ein aktives Stellungbeziehen gegenüber einem in der Erfahrung auftretenden Sachverhalt. Passiv-assoziative Motivationen sind hingegen ungelenkte, unterschwellig wirkende und vom Ich nicht einmal notwendig bewusst wahrgenommene Motivationen. Damit könnte man sagen, die Sphäre der passiven Motivationen deckt sich zumindest partiell mit der Sphäre des Unbewussten nach Freud. Passive Motivationen sind nach Husserl Motivationen, die entweder von solchen [Erlebnissen], die ,Niederschläge' aus früheren Vernunftakten, Vernunftleistungen sind oder nach ,Analogie' von solchen als apperzeptive Einheiten auftreten, ohne von der Vernunftaktion wirklich gebildet zu sein, oder von solchen, die völlig vernunfdos sind: die Sinnlichkeit, das sich Aufdrängende, Vorgegebene, das Getriebene in der Sphäre der Passivität. (ID II 222)
Dabei unterliegt die Motivationsstruktur eines Ich relativen Schwankungen. Im Laufe der (nach Husserl einstimmig verlaufenden) Genese des Subjekts ändern sich bestimmte Motivationen, bzw. ändert sich, wie stark (Husserl würde sagen: mit
Passive Motivationen bauen also entweder auf einmal durch Vernunft gestiftete Erlebnisse auf, oder es handelt sich um Motivationen der gänzlich passiven, unbewussten Sphäre. Die gänzlich
93 Damit ist angedeutet, dass das Verstehen der einzelnen Motive des
95 Nach Husserl gibt es individuell verlaufende kderungen in der moti-
Anderen und das Verstehen seiner motivationalen Verfasstheit im Sinne seiner individuellen Eigenheiten ineinandergreifen. Zu diesem Verhältnis von Teil und Ganzem vgl. die Auseinandersetzung mit Gadamer. 94 Die Schlüssigkeit dieser These wird im nächsten Kapitel diskutiert.
vierten Verfasstheit, aber auch allgemein personale. Ein Beispiel für Letzteres sind die verschiedenen Lebensalter, die unterschiedliche Motivationen mit sich bringen: Laut Husserl motiviert z.B. die Sinnlichkeit stärker die "Jugend" als das ,,Alter" (ID II 266).
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passiven Motive sind nach Busserl "dunkel", sie sind dem Ich unzugänglich und wirken, ohne dass es Wissen davon hätte, unterschwellig weiter. Assoziativ werden sie von Busserl deshalb genannt, weil die Assoziationsapperzeption ein wichtiges Motivationsgesetz darstellt: Motivierte etwas in einer bestimmten Situation A auf eine bestimmte Weise und träte eine der Situation A ähnliche Situation erneut auf, entstünde durch eine passive, verähnlichende Assoziation die gleiche motivationale Wirkung (ID II 223). Diese Assoziation wird nur dann verhindert, wenn sich das Subjekt aktiv zur Situation verhält. Mit Verweis auf das Assoziationsgesetz erklärt sich auch, wie sich passiv verlaufende Gewohnheiten eines Subjekts ausbilden. Busserl vollzieht in Bezug auf die Motivationen dabei eine ähnliche gedankliche Wendung wie schon in Bezug auf die Frage nach der Autonomie oder Beteronomie des personalen Ich. Konstatiert Busserl zwar, dass das personale Ich vielfach passiven, ihm selbst dunklen Motivationen unterliegt, so besteht er auch hier auf der Freiheit des Subjekts und auf der Möglichkeit, sich aktiv zu motivieren. Das personale Ich konstituiert sich in der ursprünglichen Genesis nicht nur als triebhaft bestimmte Persönlichkeit, von Anfang an und immerfort auch von ursprünglichen ,Instinkten' getriebenes und ihnen passiv folgendes, sondern auch als höheres, autonomes, frei-tätiges, insbesondere von Vernunftmotiven geleitetes, nicht bloß gezogenes und unfreies Ich. (ID II 255)
Doch Busserl geht einen Schritt weiter als bloß zu behaupten, das Subjekt sei auch ein autonomes, frei-tätiges Subjekt. Auch wenn seine Ausführungen hier nicht immer eindeutig sind, müs'ste man interpretieren, dass Busserl letztlich der Auffassung ist, auch passiv verlaufende Motive könnten durch aktive Motivationen gelenkt bzw. überwunden werden. Das lässt sich gut an einem Beispiel von Busserl verdeutlichen, nämlich der Überwindung (passiver) Triebe. Eine motivationale Gewohnheit bildet sich durch Wiederholung aus. Diese Gewohnheit lässt sich nach Busserl durch aktives Einschreiten in die Situation lenken. Gebe das Ich einem bestimmten Trieb (der Triebmotivation) nicht nach, sondern entscheide sich bewusst gegen den Trieb und für die eine aktive Vernunftmotivation, so könne dieser Trieb überwunden werden. Anders gesagt, erst ,,[e]inem Triebe nach[zu]geben begründet den Trieb des Nachgebens: gewohnheitsmäßig." 58
(ID II 255) Zum personalen Ich gehört wesensmäßig der Modus des "Ich kann" (ID II 253-57). Es kann sich zu seinen verschiedenen Motivationen verhalten und zwar auch zu den passiven und durch dieses Verhaltenkönnen kann es die Triebe auch beherrschen. Es ist davon auszugehen, dass die von Busserl konstatierte Überlegenheit aktiver Motivationen über passive mitunter eine Grundlage darstellt für die Möglichkeit des Fremdverstehens. Auch wenn Bu~serl es nicht klar ausspricht, ist anzunehmen, dass laut Busserl v.a. das personale Subjekt als vernünftiges, freies Motivations-Subjekt (als "Subjekt der Vernunftakte" (ID II 269)) verstanden werden kann (vgl. nächstes Kapitel). Dieses vernünftige Subjekt ist verständlich, weil es sich in bestimmten Situationen nur auf bestimmte, seinen aktiven Motiven entsprechende Weise verhalten kann und verhalten wird. Eine bestimmte Motivationsweise führt zu einem motivational klar nachvollziehbaren Verhalten. Erst wenn sich die Motivationslage ändert, ändert sich auch das Verhalten des Subjekts (ID II 112).96 Angemerkt sei, dass Busserls phänomenologisch orientierten Ausführungen hier einen normativen Charakter bekommen: So besitzt für ihn dasjenige Subjekt, das sich von seinen vernünftigen und hingegen nicht von seinen passiven Motivationen leiten lässt, den höchsten Wert: "Den höchsten Wert repräsentiert die Person, die habituell dem echten, wahren, gültigen, freien Entschließen höchste Motivationskraft verleiht."97 (ID II 268) Dieser sehr fragwürdigen These wird aufgrund ihrer fehlenden Überzeugungskraft nicht weiter nachgegangen. Die Frage nach der sozialen Situiertheit des personalen Ich sowie nach seiner Motivationsweise mündet schließlich in der Frage 96 ,,[A]uf Grund derselben Motive kann ich, das stellungnehmende Ich, nicht anders mich verhalten." (ebd.)
97 Mit Sätzen wie diesen (die etwas an Kant erinnern mögen) präsentiert sich Husserl als Kind der Aufklärung. - Die unproblematisierte Verwendung von Begriffen wie ,wahres' oder ,freies' Entschließen, sowie das Hochhalten der Vernunft als oberstes Gut ist wenig überzeugend. Sowohl die Gültigkeit des Vernunftwerts als auch die Möglichkeit eines "wahren" (was immer das sein mag) oder "freien" Entschließens wurde zu Recht vielfach in Zweifel gezogen, z.B. durch so unterschiedliche Denker wie Adorno und Horkheimer oder Foucault.
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nach der Möglichkeit des Selbstverstehens. Sie wird im Folgenden exkursartig erläutert. Husserl zufolge ist das Selbstverstehen relativ leicht möglich. Mit Selbstverstehen lässt sich nach Husserl das VerstehenOernen) des eigenen Charakters bzw. der eigenen individuellen Eigenheit und damit der Weisen, sich habituell Zu verhalten, zu denken, zu urteilen oder werten bezeichnen. 98 Ganz knapp gesagt, vollzieht es sich nach Husserl durch Reflexion auf die fortwährende empirische Erfahrung seiner selbst, sowie durch das (sich ebenfalls durch Reflexion vollziehende) Kennenlernen der eigenen motivationalen Verfasstheit (ID II 248).99 Durch die einstimmig verlaufende Ich-Erfahrung gewinnt das Ich ein "Selbstbewußtsein": "Ich kenne mich aus Erfahrung, ich weiß, was für ein Charakter ich bin: ich habe eine Ich-Apperzeption, ein empirisches ,Selbstbewußtsein'." (ID II 265) Möglich ist das Selbstverstehen zum einen aufgrund der behaupteten Einheit der Erfahrung, die ein durch seine Genese hindurch kontinuierlich erfahrendes Ich aufweist,100 und zum anderen dank der Fähigkeit des Subjekts, seine eigenen (Vernunft-) Motivationen oder motivationalen Strukturen zu verstehen. Das Verstehenlernen der eigenen motivationalen Verfasstheit sei wiederum der Grund dafür, dass das Subjekt auch um sein potentielles oder zukünftiges Verhalten oder Werten wissen kann. Nach Husserl ist es dem Subjekt durch das Wissen um die eigene Motivationsstruktur möglich zu imaginieren, wie es sich in einer gewissen Situation verhalten würde (auch wenn die besagte Situation noch zukünftig ist) (ID II 267). Darin könne sich das Subjekt zwar faktisch täuschen, insofern die dem Ich eigene motivationale Verfasstheit in der aktuellen Situation möglicherweise von überraschend auftretenden, nicht einkalkulierten Motiven übermannt wird 101, das sage aber nichts über die prinzipielle Möglichkeit einer solchen
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Zum Selbstverstehen vgl. exempl. ID II 247-253; S. 265-268.
99 Die Tatsache, dass sich das Wissen um sich selbst in Reflexionen vollzieht,
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führt Husserl dazu, auch das intentionale Selbstverstehen als in gewisser Weise "vermittelt" (ID II 250) (nicht unmittelbar) zu bezeichnen. Beispielsweise verhält sich ein Subjekt in ähnlichen Situationen auf ähnliche Weise. So imaginiert sich das Ich z.B. als wach, ist in der konkreten Situation aber müde, was eine veränderte Motivationslage und damit evtl. ein verändertes Handeln mit sich bringt.
,Als-ob-Imagination' aus. Indem das Ich um seine Veränderungen in seinen Motivationsstrukturen weiß und seine jetzige Motivationslage kennt, kann es sich vorstellen, wie es in einer Situation, in der es früher auf eine bestimmte Weise gehandelt hat, heute reagieren würde. 102 Husserl spricht im Zuge dieser Auseinandersetzung auch von Selbstkonstitution und konstatiert, dass das personale Ich durch aktive, aber auch durch passive Prozesse konstituiert ist. Konsequent stellt Husserl auch hier die aktive Konstitution (die Ichreflexion) in den Vordergrund. Schließlich hält Husserl in Bezug auf die Selbstkonstitution in den Ideen 11 an seinem egologischen Standpunkt fest: Nach Husserl gibt es etwas wie eine "pure und eigentliche Selbstwahrnehmung" (ID II 249), in welcher nur noch "mein sich in meiner puren (naturalen, dinglichen) Umwelt geregelt verhaltendes Ich und eine beschränkte persönliche Apperzeption" (ID II 250) übrig ist. Die Möglichkeit des Selbstverstehens existiere also noch vor jedem Bewusstsein des Subjekts, dass es für andere Subjekte einen Anderen darstellt. Beschränkt ist die Selbstkonstitution deshalb, weil die Komponenten, die das Ich als soziales Ich ausmachen, ausgeblendet bleiben. 103 Damit sind wesentliche Bestimmungen des personalen Ich bzw. des empirischen Subjekts gewonnen und so können die Vorzüge wie die Probleme des Husserlschen Ansatzes diskutiert bzw. die bisher gewonnenen Ergebnisse beleuchtet werden. Der eben dargestellte empirische Subjektbegriff bildet eine weitaus tragfähigere Grundlage für das Fremdverstehen als das transzendentale Ego. Vor allem drei Aspekte dieses Begriffs sind für die hiesige Argumentation relevant. Erstens ist mit Husserl an der sozialen Situiertheit des personalen Ich festzuhalten und damit an den mannigfachen Einflüssen durch die Umwelt und Andere, denen es unterliegt. Zweitens trifft zu, dass (auch) dem empirischen personalen Ich nur seine eigenen Erfahrungen originär gegeben sind, wenngleich es ein soziales Subjekt ist, das mit anderen in einer 102 Beispielsweise würde das Subjekt durch Zuwachs an Willensstärke seinen Trieben weniger nachgeben.
103 Dass dies nicht möglich ist, braucht nicht mehr diskutiert zu werden, weil auf die Unmöglichkeit des Selbstbezugs ,vor' dem Wissen um Andere schon im letzten Kapitel verwiesen wurde.
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gemeinsamen Umwelt lebt. Drittens erscheint es richtig, dass das personale Ich verschiedenen Motivationen bzw. Motivationsstrukturen unterliegt, die es (zumindest partiell; s.u.) reflexiv auslegen kann und die das Selbstverstehen sowie das Fremdverstehen ermöglichen. Allerdings muss auch der Begriff des personalen Ich einer Korrektur unterzogen werden, denn er bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, die in Husserls Festhalten an der Autonomie des Subjekts wurzeln. Hier zeigt sich eine Parallele zu den Cartesianisehen Meditationen: Auf transzendentaler Ebene hält Husserl an einem allmächtigen und solipsistischen Ego fest. Auf empirischer Ebene ist zwar die Sozialität des Subjekts vorausgesetzt, dennoch steht die autonome Selbstbestimmung des Subjekts auch hier im Vordergrund. Husserl behält also auf empirischer Ebene seinen subjektzentrierten Ansatz bei. Sein Bestehen auf der Überlegenheit der Autonomie des Subjekts ist jedoch überraschend, insofern das personale Ich ja gerade durch seine soziale und damit heteronome Bestimmtheit ausgezeichnet ist und zudem passiven, unbewussten Motivationen unterliegt. Das Kernproblem des empirischen Subjektbegriffs liegt in Husserls Versäumnis, eben dieses Verhältnis zwischen heteronomer und autonomer Subjektgenese zu klären. Diese Spannung zeigt sich bereits dort, wo Husserl das personale Ich als einerseits heteronom (durch Andere und durch gesellschaftliche Institutionen mannigfach beeinflusst und von ihnen abhängig), andererseits als autonom (sich Zu diesen Einflüssen aktiv und frei verhalten könnend) bestimmt. Zwar ist es zweifelsohne richtig, dass sich das Ich zu gewissen an es herangetragenen Einflüssen verhalten kann. Unplausibel ist jedoch, dass sich dieses ja nur teil-autonome Ich über seine heteronomen Bestimmungen gänzlich erheben können soll. Es wäre bereits diskussionsbedürftig, wie weit das Subjekt sich zu ihm bewussten Fremdeinflüssen aktiv verhalten kann. Vollends verliert die Behauptung der autonomen Bestimmtheit des personalen Ich jedoch ihren Boden, wenn das Ich sich gegenüber ihm nicht bewussten Fremdeinflüssen aktiv verhalten können soll. Die Tatsache, dass das Subjekt jedoch nicht (auch nicht in Selbstreflexion) alle Fremdeinflüsse als solche erkennen kann bzw. sie ihm nicht alle bewusst sind oder sein können, weil es sich selbst ja erst in der Sozialität entwickelt und in diesem Sinne ,Fremdes' 62
und ,Eigenes' stets unauflösbar ineinander greifen, wurde schon festgestellt. Wenn die Entwicklung des weltlichen Ich von Fremdeinflüssen durchzogen ist und es damit letztlich (auch) fremdbestimmt konstituiert wird, wie soll es dann möglich sein, dass sich das Ich selbstbestimmt, autonom ,zurückgewinnt'? Husserlliefert hierauf keine befriedigende Antwort. Er stellt die Autonomie, die Selbstbestimmtheit und die Vernünftigkeit des personalen Ich in den Vordergrund, ohne dies ausreichend begründen zu können. Akzeptiert man die These der heteronomen Bestimmtheit von Subjekten, wird des Weiteren fraglich, ob Subjekte wirklich stets einer kontinuierlich und einheitlich verlaufenden Genese unterliegen, wie Husserl es annimmt. Die Kontingenz der Subjektgenese wird von Husserl unterschätzt. Gerade durch die mannigfachen äußeren, kontingenten Einflüsse verläuft die Entwicklung des Subjekts, seiner individuellen Eigenheit, teilweise sprunghaft und (für sich selbst wie für andere) unverständlich. Diese Unverständlichkeit schränkt die Möglichkeit des Fremdverstehens ein und müsste mitreflektiert werden. Ganz ähnlich verhält es sich mit den passiven und aktiven Motivationen des Ich. Wieder sei es Husserl unbenommen, dass das Ich gewisse Möglichkeiten besitzt, seine Motivationen zu steuern (sowohl aktive wie auch passive), und vielleicht auch, dass bestimmte Motivationen hauptsächlich aus aktiven Entscheidungen heraus entstehen. Ungeklärt ist jedoch, wie sich das Ich zu Motivationen verhalten können soll, die ihm selbst nicht offen zu Tage liegen. Anders gesagt: Es ist nicht schlüssig, dass das personale Ich über seine passiv verlaufenden Motivationen Herr werden kann, zumindest wenn sie ihm nicht bewusst sind. Schließlich wird damit auch in Bezug auf die Motivationen fraglich, inwiefern sich die These vom motivational einheitlich verlaufenden und nachvollziehbaren Charakter des personalen Ich vertreten lässt. Husserl hat selbstverständlich Recht, wenn er davon ausgeht, dass das Ich sich und seine Motivationen kennenlernen kann, dass es sich selbst als Subjekt mit bestimmten individuellen Eigenheiten erfährt. Dennoch muss hinzugefügt werden, dass dieses Selbstverstehen gerade deshalb immer wieder an seine Grenzen kommt, weil das Ich eben nicht Herr ist über all seine Fremdeinflüsse im oben genannten Sinne oder über alle seine passiv verlaufenden Motivationen.
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Das führt zum letzten Punkt: Da mit Husserl demnach nur ungenügend geklärt wird, inwieweit das Subjekt in Bezug auf sozialen Einfluss und auf passive Motivationen autonom oder heteronom bestimmt ist, bleibt auch die Frage nach dem Selbstverstehen letztlich problematisch. Gerade weil das Subjekt im oben genannten Sinne doppelt ,enteignet' ist, lässt sich nicht leicht feststellen, bis zu welcher Grenze das Selbstverstehen möglich ist, oder, anders gesagt, wieweit es möglich ist, die eigene motivationale Verfasstheit zu verstehen. Auf diesen Einwänden aufbauend, sollte klar geworden sein, dass Husserls Festhalten an einer autonom verlaufenden Subjektkonstitution, die er auch in den Ideen II vertritt, zurückgewiesen werden muss. Zusammengefasst hieße das, dass Husserl mit dem Begriff des personalen Ich einen differenzierten Subjektbegriff entwickelt, der zum großen Teil eine tragfähige Grundlage für die Frage nach dem Fremdverstehen bilden kann. Eine Grundlage bildet er jedoch nur unter der Bedingung, dass Husserls Festhalten an der autonomen Bestimmtheit des personalen Ich zurückgewiesen wird (vgl. folgendes Kapitel). Ausgehend von dieser grundlegenden (kritischen) Auseinandersetzung können nun Bestimmungen des Fremdverstehens sowie dessen Vollzug im Anschluss an Husserl erarbeitet werden. Nach Husserl vollzieht sich das Fremdverstehen hauptsächlich als Verstehen der Motivationen 104 (ID II 228f) des Anderen durch das Ich. In seinen einzelnen Handlungen, Urteilen, Gefühlen oder Werten wird der Andere verstanden, wenn die Motive zu diesen Handlungen usw. verstanden werden, ergo, wenn das ,warum' des Verhaltens des Anderen verstanden wird. So verstehe ich z.B. die Urteilsweise des Anderen, wenn "ich verstehe, warum der Andere sich so entschlossen, warum er dieses Urteil gefillt hat." (ID II 230) Die individuelle Eigenheit des Anderen wird verstanden, 104
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In Abgrenzung zu den Naturwissenschaftlern, die "Kausalforschung" betreiben würden, sieht Husserl die Aufgabe der Geisteswissenschaftler darin, Motivationen offenzulegen: Der Geisteswissenschaftler, wie z.B. der Historiker, Soziologe oder Kulturforscher, "will verständlich machen, wie die betreffenden Menschen ,dazu kommen', sich so und so zu verhalten, welche Beeinflussungen sie erfahren und ausgeübt haben, was sie in der und zu der Gemeinsamkeit des Wirkens bestimmt hat usw." (lD 11 229) - Zum motivationalen Verstehen vgl. auch INT 11 131ff.
wenn die motivationale Verfasstheit des Anderen verstanden wird, also wenn das Ich die habituellen Eigenschaften des Anderen verstehen lernt oder, wie Husserl sagt, dessen charakterlichen "Stil". Bei genauer Lektüre der Ideen 11 wie auch der Texte Zur Phänomenologie der Intersuijektivität lassen sich jedoch noch zwei weitere Formen des Fremdverstehens bei Husserl finden, die er nur am Rand erwähnt. Diese beiden Formen des Fremdverstehens dürften die alltäglichsten und damit auch gängigsten Verstehensweisen darstelle,n, die allerdings deutlich schneller an ihre Grenzen gelangen als das motivationale Verstehen, das den Schwerpunkt der weiteren Analyse bilden wird. Die folgende knappe Rekonstruktion dieser beiden alternativen Verstehensweisen kann verdeutlichen, wie sich ein Fremdverstehen selbstverständlich und unreflektiert vollziehen und gleichzeitig in seiner fehlenden Sicht auf die Motivationslage des Anderen leicht einem (vermeidbaren) Missverstehen unterliegen kann. Gerade ein alltägliches Fremdverstehen, so ließe sich anlehnend an Husserl interpretieren, fragt nicht immer nach motivationalen Gründen, sondern vollzieht sich zum einen induktiv (1) und zum anderen intuitiv (2). - (1) In der umfangreichen Materialsammlung der Intersubjektivitätsschriften fIndet sich ein kurzer Text, in dem Husserl ein Fremdverstehen skizziert, das sich über eine "äußere, assoziativinduktive" Bekundung (INT II 19f) vollzieht. Das Ich operiert Husserl zufolge aufgrund bestimmter, passiv verlaufender Assoziationsregeln 105 beim äußerlich verbleibenden Verstehen induktiv. Husserl erläutert das kaum; der Sachverhalt ließe sich jedoch folgendermaßen ausdeuten: Reagiert ein Anderer in einer Situation A auf eine bestimmte Weise B, so erwartet das Ich assoziativ, dass der Andere, tritt erneut eine A ähnliche Situation auf, wiederum auf Weise B reagiert. Bewahrheitet sich diese Annahme, verhärten sich die jeweiligen Vorerwartungen des Ich. Wenn nun ein Anderer aus dem erwarteten Verhaltens schema ausbricht, stößt dieses äußerlich-induktive Fremdverstehen an seine Gren-
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Das wurde schon in Bezug auf die allgemeine motivationale Verfasstheit des Subjekts erläutert: Wirkt ein Motiv auf ein Subjekt in einer Situation A auf eine bestimmte Weise, wird dieses Motiv (ist die Motivlage dieselbe geblieben) in einer der Situation A ähnlichen Lage passiv-assoziativ auf ähnliche Weise wirken.
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zen. Das Sich-anders-Verhalten des Anderen bleibt für das Ich unverständlich. Man könnte sagen, dass genau an dieser Stelle ein motivationales Fremdverstehen einsetzt: Versucht man die Gründe für den Bruch mit dem Erwarteten nachzuvollziehen, indem man die motivationale Verfasstheit des Anderen in den Blick nimmt, erklärt sich (eventuell) das Verhalten des Anderen. Das führt nicht nur zum besseren Verstehen der vorliegenden Situation, sondern kann überhaupt erst zu einem differenzierterem Verstehen der individuellen Eigenheit des Anderen führen. Zudem müsste man sagen, dass das induktive Fremdverstehen nicht nur schnell an seine Grenzen kommt, indem es leicht an Unverstehbares stößt, sondern dass es auch zum (vermeidbaren) Missverstehen einlädt. Auch wenn Husserl sich dazu nicht weiter verhält, kann man sagen, dass ein solch assoziativ-induktives Verstehen gerade durch die unhinterfragte Verhärtung von Vorerwartungen Gefahr läuft, beim Ich vorschnelle Urteile gegenüber dem Anderen auszulösen. Und zwar eben dadurch, dass sich das Ich ein Bild vom Anderen macht, das auf einer vielleicht nur zuHillig wiederholten Handlung des Anderen beruht, die aber eigentlich nicht seiner individuellen Eigenheit entspricht. 106 (2) In den Ideen 11 spricht Husserl davon, dass sich das empirische, unreflektierte Fremdverstehen häufig als "intuitives" Verstehen vollziehe. "Intuition" (ID II 273) besagt hier eine "Vorahnung" oder ein "leeres Vorausfassen" (ID II 274), das seine Grundlage sozusagen in der "Menschenkenntnis" (ID II 272) (s.u.) hat: Ausgehend von der eigenen Erfahrung, aber auch ausgehend von denjenigen Fremdverstehensvollzügen, die das Ich bisher schon getätigt hat, versteht das Ich den Anderen intUitiv. Das will heißen, das Fremdverstehen vollzieht sich vorahnend, indem es eine Verstehensmöglichkeit entwirft, und zwar nicht bewusst reflektierend, sondern auf ,einen Schlag'. Dieses intuitive Verstehen liefert einen ersten (häufig korrekturbedürftigen) Leitfaden für ein tiefergehendes Fremdverstehen.
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Wenn jemand z.B. wiederholt nicht Zu einer Verabredung kommt, wird das Ich den Anderen als unzuverlässig bezeichnen. Wenn die motiv:ationalen Gründe des Nichtkommens nicht mitbedacht werden, bleiot das Verstehen jedoch oberflächlich und ist anfaIlig für Täuschung: Möglicherweise hatte der Andere gute Grunde nicht zu kommen und ist nicht per se unzuverlässig.
Der Mensch [...] hat eine individuelle Art, jeder eine andere. Dem allgemeinen nach ist er Mensch, aber seine charakterlogische Art, seine Persönlichkeit, ist eine in seinem Lebensgang konstituierte Einheit als Subjekt der Stellungnahmen, die Einheit vielfältiger Motivationen auf vielfältigen Voraussetzungen ist, und sofern man analoge Linien aus der Erfahrung an verschiedenen Menschen kennt, kann man die besondere und eigenartige Komplikation, die hier in Frage ist [...] ,intuitiv' erfassen und darin einen Leitfaden haben, die Intentionen durch Auseinanderlegung der wirklichen Zusammenhänge in der Anschauung zu erfüllen. (ID II 274)
Ein differenzierteres Fremdverstehen muss über solche äußerlich-assoziativen oder nur intuitiven Fremdverstehensvollzüge hinausgehen und nach den Motivationen fragen. Ein tiefergehenderes Fremdverstehen liegt vor - und damit wende ich mich der Hauptbedeutung des Fremdverstehens zu wenn die Motivationen des Anderen bzw. dessen Motivationsstrukturen verstanden werden. 107 So wie das Ich seine eigene individuelle Eigenheit verstehen kann, indem es seine motivationale Verfasstheit zu verstehen sucht, so versteht das Ich auch die individuelle Eigenheit des Anderen, wenn es versteht, welchen Motivationsstrukturen der Andere unterliegt. Was zeichnet dieses motivationale Verstehen aus und wie vollzieht es sich? Aus Husserls verstreuten Entwürfen in den Ideen 11 lässt sich eine Antwort mit zumindest fünf Teilaspekten rekonstruieren. lOB Allem voran gilt es mit Husserl ein allgemeintypisches vom individualtypischen Fremdverstehen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung hilft zu klären, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Fremdverstehen überhaupt möglich ist (1). Zum einen hält Husserl daran fest, dass das Fremdverstehen analogisch (2) verfährt, also dass jedes Fremdverstehen vom Ich und vom Selbstverstehen ausgeht. Zum anderen setzt Husserl voraus, dass jedes Fremdverstehen appräsentativ (3) verläuft, also mitvergegenwärtigend: Dem Ich sind allein sein eigenes Ich, seine eigenen Erfahrungen bzw. seine eigene motivationale Verfasstheit originär
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lOB
In diesem Sinne sagt Husserl an anderer Stelle, das Ich täusche sich über andere, aber nur, wenn die tatsächliche Motivationslage nicht richtig herausgestellt worden sei (vgl. INT II 17). Die folgenden Bestimmungen spielten teilweise auch schon in den Cartesianischen Meditatiol1Cn eine Rolle und werden deshalb zum Teil nur knapp erläutert.
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gegeben, die Innerlichkeit der Anderen hingegen kann nur über Appräsentation verstanden werden. Aus dieser Einsicht heraus lässt sich die eigentliche Frage nach dem Verstehensvollzug klären: Das Fremdverstehen vollzieht sich als (stets korrekturbedürftiger) Entwuif(4). Schließlich lässt sich mit Husserl sagen, dass das Fremdverstehen als Verstehen des Anderen in seiner individuellen Eigenheit im Grunde ein unendlicher Prozess ist, insofern es die Genese des Subjekts im Ganzen im Blick haben müsste, diese aber einerseits niemals abgeschlossen ist und andererseits nicht gänzlich aufgedeckt werden kann (5). Diese Punkte gilt es nun auszuführen. Mit einer kurzen Darstellung des ersten Punkts soll die Voraussetzung erläutert werden, die nach Husserl allgemein gegeben sein muss, damit das Ich einen Anderen verstehen kann. Die Möglichkeit des Ich, einen Anderen überhaupt zu verstehen, beruht unter anderem darauf, dass Subjekte (Husserl sagt hier "Personen'') einen "typischen Charakter" (ID II 171) haben. Das wurde auf ähnliche Weise schon durch den Verweis auf die motivationale Verfasstheit des empirischen Subjekts erläutert. Gäbe es nicht so etwas wie bleibende ,Charakteranlagen' eines Subjekts und formten sich aus den Erfahrungen eines Subjekts nicht bestimmte, zumindest relativ bleibende individuelle Eigenschaften, gäbe es keine Möglichkeit, überhaupt die Motivationen eines Anderen zu verstehen. Dies begründet sich dadurch, dass die Motivationen eines Subjekts, welches nicht durch seine Erfahrungen geprägt wäre, demnach keine habituell-individuellen Eigenheitenausformen und somit auch keine individuell verlaufende Motivationsstruktur besitzen würde, schlichtweg kontingent wären. "Typisch", oder, wie Husserl mit einem etwas irreführenden Begriff präzisiert, "indi~dualtypisch" meint in diesem Fall also nicht ein allgemein Geltendes und bei allen Subjekten gleich Verlaufendes, sondern eben vielmehr die Einsicht in einen sich durchhaltenden je individuellen "Stil" bei Subjekten.
In diesem Sinne sagt Husserl das Ich sei in seinem Typus eine "verständliche Einheit" (ID II 273), was, wie oben verhandelt, nicht unproblematisch ist. Diese Typik ist also individuell, verläuft bei jedem anders und kann sich im Laufe der Zeit durch neue Erfahrungen ändern (ID II 271).109 Von diesem Individualtypischen scheidet Husserl das "Allgemeintypische". Letzteres stellt die Grundlage für ein individualtypisches Fremdverstehen dar. Husserl versteht darunter z.B. die leibliche Verfasstheit von Subjekten oder grundlegend,e Eigenschaften oder Strukturen, die alle personalen Subjekte miteinander teilen. Ein Beispiel wäre laut Husserl die Tatsache, dass eine einmal gemachte Erfahrung auf ein Subjekt eine bleibende Wirkung ausübt. In die Sphäre des Allgemeintypischen gehörf~auch die schon erwähnte "Menschenkenntnis" (ID II 272). Sie ist ein empirisch erworbenes Wissen des Ich, wie sich personale Subjekte allgemein betrachtet - d.h. jenseits ihrer subjektiv-individuellen Eigenheiten - verhalten. 110 Auch wenn Husserl es nicht thematisiert, lässt sich in diesem Sinne sagen, dass alles Fremdverstehen zwischen Bekanntem und Fremdem balanciert. 111 Der eigene, vertraute Verstehenshorizont, folglich die eigenen Erfahrungen sowie die eigens erworbene Menschenkenntnis, werden beim Fremdverstehen vorausgesetzt und erfahren beim näheren Verstehen des Anderen eine Irritation durch das Fremde, Unbekannte. Ähnlich sagt Kozlowski: Die Anschauung des Menschen ist durch einen Doppelhorizont gekennzeichnet. Im Horizont der Bekanntheit verläuft regel- und erwartungsgemäß das Verstehen dessen, was das Individuum tut, wie es sich verhält, wie es sich sprachlich, mimisch usw. ausdrückt. Dieser Horizont des vorstellenden Verstehens ist durch die phänomenale Sphäre der Fremdheit ,umhüllt'. Die Menschenerfahrung ereignet sich an der Grenze beider Bereiche als ein Zusammenspiel zwischen ihnen. Man versteht immer in gewisser Weise das Individuum; zugleich ist man nie sicher, wie es sich verhalten wird und
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Jeder Mensch hat seinen Charakter, wir können sagen, seinen Lebensstil in Affektion und Aktion, hinsichtlich der Art, durch die und die Umstände motiviert zu sein; und er hatte ihn nicht bloß bisher, sondern der Stil ist ein mindestens relativ in Lebensperioden Bleibendes und dann im allgemeinen wieder charakteristisch sich Veränderndes, aber so, daß sich infolge der Änderungen wieder ein einheitlicher Stil erweist. (lD II 270).
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"Individualtypus" bezeichnet demnach im Grunde das, was in den Cartesianischen Meditationen "Lebensstil" hieß. Ein sehr basales Beispiel dafür wäre, dass Subjekte etwas trinken (wollen), wenn sie durstig sind. Dass der ,Ort' des Fremdverstehens zwischen Vertrautem und Fremdem ,anzusiedeln ist, vertritt, wie noch expliziert wird, dezidiert Gadamer. Er führt diese Bestimmung bei seiner Explikation des "hermeneutischen Zirkels" aus.
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was es unternimmt. Diese Fragen bleiben in seiner Erfahrung pnn~iel/ offen. 112
Zweitens baut nach Husserl jedes Fremdverstehen (ähnlich wie schon die erste, fundamentale Fremderfahrung) auf einer "IchAnalogie U auf (ID II 272). Das Ich versteht den Anderen als einen, der auf die gleiche Art verfasst ist wie es selbst, der also analoge Eigenschaften hat, analoge Erfahrungen macht, analogen Motivationsstrukturen unterliegt wie das Ich. Das personale Ich kennt seinen eigenen Charakter und weiß darum, weshalb und welche Dinge es wie stark motivieren. Dieses Wissen überträgt es im Verstehensprozess auf andere. 113 Eine weitere allgemeine Bestimmung des Fremdverstehens, die ebenfalls schon eine wichtige Rolle bei der ersten fundamentalen Fremderfahrung auf transzendentaler Ebene spielte, ist drittens die Bestimmung des Fremdverstehens als appräsehtatives, also als mitvergegenwärtigendes Verstehen. Auch in den Ideen II unterscheidet Husserl eine "Urpräsenz" von einer "Appräsenz". Dem weltlichen Ich ist in Urpräsenz es selbst gegeben, sowie alle Objekte der äußerlichen Wahrnehmung inklusive der Leib des Anderen. In "Appräsenz" hingegen ist die Innerlichkeit des Anderen gegeben: ,,[...] die äußerlich mir gegenüberstehenden Leiber erfahre ich wie andere Dinge in U rpräsenz, die Innerlichkeit des Seelischen durch Appräsenz." (ID II 163f) Auch auf intersubjektiver Ebene existiert nach Husserl also die erkenntnistheoretische Präferenz des "absolute[n] Subjekt[s] mit seinen Erlebnissen" (ID II 171). Das Ich kann die Innerlichkeit des Anderen (und damit seine Erfahrungen oder seine Motivationsweisen) nicht originär erfahren, sondern nur appräsentativ setzen. Diese Setzung vollzieht sich durch ein komplexes Ineinanderspiel von dem in Präsentation Gegebenen (z.B. dem leiblichen Gebaren des Anderen) und dem vom Ich appräsentativ Gesetzen. Mitvergegenwärtigt wird die mögliche innerliche Entsprechung zu dem äußeren Gebaren des Anderen. 114 Ausgangspunkt für die Setzung ist der 112
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Kozlowski: Aporien; S. 202. Husserl sagt: "Ich verstehe das Denken und Handeln eines Anderen gemäß den gewöhnlichen meiner Verhaltungsweisen und Motivationen [...]." (lD 11 273) - Da diese Bestimmung durch mehrfachen Verweis bereits deutlich geworden sein sollte, widme ich mich ihr hier nicht weiter. Die Setzung könnte z.B. lauten: Das Gebaren ist eine Geste der Trauer.
eigene Erfahrungsschatz, der zum einen aus den eigenen IchErlebnissen und zum anderen aus der "Menschenkenntnis" besteht, also aus vorhergehenden intersubjektiven Erfahrungen, die dem Ich ein breiteres Spektrum verschiedener Verhaltens- oder Motivationsweisen Genseits der eigenen) eröffnen. Das Mitvergegenwärtigte kann, so wurde schon gesagt, nicht zu originärer Anschauung gebracht werden. Ob das Verstehen ,geglückt' ist, weiß das Ich nur durch voranschreitende, auf den bisherigen appräsentativen Setzungen aufbauenden Fremdverstehensvollzüge. 115 Aus. dem oben Dargestellten kann viertens gefolgert werden, dass stch das Fremdverstehen über einen Verstehensentwurf'6 vollzieht. Ausgehend von Husserls Ausführungen zur Appräsentation lässt sich behaupten, dass sich ihm zufolge das Fremdverstehen nicht vollständig vorurteilsfrei vollzieht und sich ausschließlich von dem lenken lässt, was der Andere ,präsentiert'. Vielmehr muss daran festgehalten werden, dass das Fremdverstehen seinen Ausgangspunkt in der eigenen Erfahrung und der eigenen motivationalen Verfasstheit hat, und dass von dieser Erfahrung aus verschiedene Verstehensentwürfe vollzogen werden. Diese werden durch eine Bewährungsstruktur entweder verstärkt oder zurückgewiesen. Durch die Bewährungsstruktur bekommt das Fremdverstehen ferner einen hermeneutischen Charakter. 117 Die Bewährungsstruktur ist konstitutiv für den Ver-
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Bewährt sich diese Setzung im weiteren Verlauf des Fremdverstehens kann der Versuch unternommen werden Zu verstehen, was zur Traue; motiviert, was diese Trauer für ihn bedeutet etc. Diese indirekte Erfüllungsstruktur hat zur Konsequenz, dass sich das Ich nie, sicher sein kann, ob es den Anderen richtig versteht. Ich halte das für eine wichtige und gute Beschreibungsweise des Fremdverstehens. Husserl benennt ferner noch eine andere Vollzugsweise des Fremdverstehens, die mit der hiesigen in Spannung steht. In ihr steht weniger der Verstehensentwurf als vielmehr das Sich-in-den-Anderen-Hineinversetzen im V.ordergrund. Da Husserl diese Form des Fremdverstehens jedoch an kerner Stelle näher erläutert und sie somit unklar bleibt und da ~ie ~~~~m keine .wirklic~e Stütze fmdet durch seine sonstigen ~tersub J~kt1V1tat~theoret1schen Uberlegungen, wird dieser zweiten Vollzugsweise mcht welter nachgegangen. - Einschlägige Stellen bei Husserl finden sich in .ID 11 274f, INT 11 188 oder INT 111 462f. - Zur Spannung dieser belden Entwürfe vgl. Sommer: Einleitung; v.a. S. XXX. Die hermeneutische Komponente des Fremdverstehens wird bei Gadamer verhandelt.
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stehensvollzug, weil der Verstehensentwurf nur durch sie überprüft werden kann, und weil einzelne Verstehensentwürfe letztlich kontingent bleiben. 118 Bewährung tritt ein, wenn die Erwartungen des Ich dadurch bestätigt werden, dass die weiteren Verhaltensweisen etc. des Anderen den Annahmen des Ich entsprechen. Korrigiert wird der Verstehensentwurf, wenn der Andere das Erwartete durchbricht. Sowohl jeder zutreffende als auch jeder zurückgewiesene 119 Verstehensentwurf bringt nach Husserl einen Erkenntnisgewinn und macht ein sich immer weiter differe~zierendes Fremdverstehen möglich. Daraus ließe sich ferner Genseits des Husserljargons) folgern, dass das Fremdverstehen durch ein Dijftrenzverständnis ausgezeichnet ist: Im Verstehensvollzug wird das ich-analoge Appräsentieren immer wieder durch die Bewährungsstruktur hindurch zurückgewiesen und korrigiert. Der Ausgangspunkt des Fremdverstehens ist das eigene Ich und sein Erfahrungshorizont. Das Verstehen des Anderen vollzieht sich jedoch zu einem großen Teil durch das Verstehen der Dijftrenz zwischen dem eigenen Verstehensentwurf, den eigenen Erwartungen und dem, was der Andere präsentiert. Die erfahrene Inkompatibilität zwischen der eigenen motivationalen Verfasstheit und der motivationalen Verfasstheit des Anderen, zwischen der eigenen individuellen Eigenheit und der des Anderen zeichnet das Fremdverstehen wesentlich aus (vgl. Kapitel 3). Schließlich lässt sich mit Husserl fünftens sagen, dass das Fremdverstehen als das Verstehen des Anderen in seiner individuellen Eigenheit unabschließbar ist. Die Motivationen, denen der Andere unterliegt, kann das Ich nur im Versuch, die Genese, die subjektiv geschichtliche Entwicklung des Anderen zu verstehen, erfassen. Das Verstehen der Motive von aktuellen Verhaltenweisen des Anderen vollzieht sich nur im Kontext. Für ein differenziertes Verstehen bedarf es eines Kennenlernens des
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Ahnlich sagt Kozlowski: Aporien; S. 235: "Eine einifllne Erscheinung kann auf verschiedene Weise aufgefaßt werden und ist im Grunde entweder unverständlich oder läßt mannigfache, oft willkürliche Interpretationen zu." Denn in diesem Fall wird zum einen eine mögliche Variante des Missverstehens ausgeschlossen; zum anderen eröffnet das Missverstehen neue Verstehenshorizonte.
Anderen als historisch verfasstes Subjekt. Das kontextuelle Wissen um die bisherigen Erlebnisse des Anderen oder um die Umwelt, in der er aufwuchs (ID Il 275), um nur zwei Beispiele zu nennen, ist notwendig für ein differenziertes Fremdverstehen. 12o Um zu wissen, was ein Mensch ist oder was ich selbst als menschliche Persönlichkeit bin, ich in die Unendlichkeit der Erfahrung eintreten, in der ich mich von immer neuen Seiten, nach immer neuen Eigens~haften und immer vollkommener kennenlernen kann: nur sie kann mein Sosein, ja selbst schon mein Dasein ausweisen, ev. auch abweisen. (ID II 104)
muß
Zwar weist das personale Ich, wie dargestellt, etwas wie einen bleibenden Charakter auf, jedoch ist dieser nur von relativer Konstanz, insofern sich gewisse Eigenschaften, auch Urteile oder Werte im Laufe der eigenen Genese durch neu eintretende Erfahrungen und durch (eventuell) aktive Stellungnahmen zu diesen Erfahrungen verändern. Das bedeutet zum einen, dass ein Subjekt nur verstanden werden kann, wenn seine Genese mitbeleuchtet wird (erst über die persönliche Geschichte lassen sich verschiedene Motivationen des Subjekts wirklich verstehen). Zum anderen folgt daraus, dass das Fremdverstehen nach Husserl im Grunde faktisch unabschließbar ist (INT III 631f). Da die Genese des Subjekts nie endet, das personale Ich also in fortlaufender Erfahrung stets Änderungen unterliegt, ist ein abschließendes Verständnis der individuellen Eigenheit eines Anderen (man müsste hinzufügen, auch des eigenen Ich) nicht möglich. Die Unmöglichkeit, einen Anderen (und mit Einschränkung auch sich selbst) gänzlich verstehen zu können, liegt allerdings nicht nur am offenen Zukunftshorizont, sondern auch an der nur partiellen Zugänglichkeit der Vergangenheit des Anderen (und auch der eigenen). Die individuelle "Historizität" (!NT III 631), die Gesamtheit der genetischen Konstitution des Subjekts, ist nicht gänzlich zu entschlüsseln. t21 Zudem unterliegt das Subjekt nach
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Unverständlich, weil unmotiviert, bleiben nach Busserl hingegen gewisse "Charakteranlagen" des Subjekts. So sei es z.B. nicht zu verstehen, sondern vielmehr einfach zu registrieren, dass das eine Kind Freude an Musik habe, das andere nicht. Ob dasjenige, was er als "Charakteranlagen" bezeichnet, nicht ebenso bereits sozial geformt sein könnte, überlegt Busserl nicht. Denn die Genese verläuft natürlich viel zu komplex und vielschichtig.
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Husserl auch passiven Motivationen, die dem Ich selbst verschlossen sind, was es ebenso unmöglich macht, die Genese des Subjekts gänzlich zu verstehen. Dennoch scheint die Unabschließbarkeit des Fremdverstehens nach Husserl überraschenderweise V.a. quantitativer Natur zu sein. Er stellt, wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, weniger die prinzipielle Grenze des Fremdverstehens in den Vord~rgrund, die sich aus der heterogenen Subjektstruktur ergeben wurde, als vielmehr die Unmöglichkeit des abschließenden ,Kennenlernens' des Subjekts.
4. Konzept des Fremdverstehens im Anschluss an Husserl Damit sind die wesentlichen Bestimmungen des Fremdverstehens die sich aus Husserls Entwürfen zur (transzendentalen) Fre~derfahrung und zum (empirischen) Fremdverstehen generieren lassen, erörtert. Im Weiteren werden die aus der Auseinandersetzung gewonnenen Resultate noch einmal aufgenommen und kritisch diskutiert. Ausgehend von dieser Diskussion sollen erste allgemeine Bestimmungen des Fremdverstehens gewonnen werden. Folgende Fragen werden behandelt: Welches Verständnis von Subjektivität bildet eine geeignete Grundlage; für das Fremdverstehen? Inwieweit ist das Fremdverstehen ein Verstehen der motivationalen Verfasstheit des Anderen? Welche Rolle spielt der "Typus" beim Fremdverstehen? Wie tragfähig ist ~e These, dass sich das Fremdverstehen analogisch, appräsentattv, entwerfend vollzieht? Wie lassen sich die Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens bestimmen? Welche Folgerungen können aus den Verstehensgrenzen gezogen werden? . ..' Da die kritischen Einwände gegen Husserls SubJektverstandrus in den Cartesianischen Meditationen und den Ideen 11 schon verhandelt wurden werden diese en gros nur zusammengefasst. Durch die erneute' Auseinandersetzung mit Husserls Subjektbegriffen soll ein angemessenes yerständnis von Subjektivität als Grundlage für das Fremdverstehen erarbeitet werden.
Schon die eigene Genese ist dem Subjekt keineswegs dem vollen Umfang nach gegeben.
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Der Ausgangspunkt für die erste fundamentale Fremderfahrung in den Cartesianischen Meditationen bildet das solipsistisch verfasste Subjekt. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich eine erste fundamentale Fremderfahrung mit einem solch egologisch aufgefassten Ich nicht klären lässt. Durch die starke Zentrierung auf das eigene Ich und die Auffassung von der Fremderfahrung als Konstitutionsproblem gelingt es Husserl nicht, zu zeigen, dass es tatsächliche Andersheit im Sinne einer dem Ego transzendenten Transzendenz wirklich gibt. Außerdem wurde deutlich, dass ein solch s()lipsistisches, vorsoziales Subjekt gar nicht sinnvoll gedacht werden kann. Subjekte sind wesentlich sozial situiert, und es lässt sich keine (auch nicht abstraktiv) strikte Eigenheitssphäre des Ich ausmachen. Damit wurde jedoch Husserls trans zendentalphänomenologischer Ansatz insgesamt in Frage gestellt. Anders verhielt es sich in den Ideen 11. Auf mund anempirischer Ebene erkennt Husserl die Sozia1i~äj: des personalen Ich an und konstatiert, dass ein. Subjekt wesentlich durch Andere und durch seine Umwelt mitgeformt wird. Außerdem sagt er hier, das empirische Ich habe nicht nur aktive Motivationen, sondern unterliege auch passiven, teilweise unbewussten Motivationen. Damit ist das empirische Subjekt zumindest zweifach heteronom bestimmt. Mit den Hinweisen Husserls auf die doppelte ,Enteignung' des Subjekts liefert das empirische Ich eine adäquatere Grundlage für ein Fremdverstehen, da hier die komplexe heterogene Genese des Subjekts mitbedacht wird. Dennoch ergab sich auch beim Begriff des personalen Ich eine Schwierigkeit: Husserl hält auch hier letztlich am Primat einer vorsozialen Sphäre fest und stellt die Autonomie, Freiheit und Vernunft des Subjekts in den Vordergrund. Indessen blieb ungeklärt, weshalb die Autonomie des Subjekts bei Husserl Herr über die Heteronomie werden kann. Das personale Ich bildet dann eine geeignete Grundlage für das Fremdverstehen, wenn man (im Gegensatz zu Husserl) die heteronome Bestimmung des Subjekts in den Vordergrund stellt. Mit und gegen Husserl muss daran festgehalten werden, dass das Subjekt durch seine soziale Umwelt und durch seine passiven Motive heteronom bestimmt ist. Indem Husserl an dem Begriff eines autonomen, selbstbestimmten Subjekts festhält, kann er das Subjekt als "verständliche Einheit" bezeichnen. Das Ich ist (für sich und für andere) verständlich, insofern es sich autonom, aktiv und vernünftig konsti75
tuiert und seine Motivationen oder Motivationsstrukturen lenkt. Wenn es aber nicht schlüssig ist, dass die Autonomie des Subjekts im Vordergrund steht, wird auch Husserls These von der verständlichen Einheit des Subjekts fragwürdig. Die Kontingenz der Subjektgenese, die sich aus der heteronomen Bestimmung von Subjekten ergibt, muss mitreflektiert werden. Die Subjektgenese verläuft durch die vielfach heterogenen Einflüsse nicht notwendigerweise kontinuierlich oder verständlich, sondern vielmehr partiell sprunghaft, brüchig und damit auch unverständlich. Das gilt für das Verstehen der eigenen Subjektgenese wie für die des Anderen. Will ein Konzept des Fremdverstehens die bestehende Komplexität der Subjektgenese nicht verkürzen, muss es die wesentlich heteronome Bestimmtheit von Subjekten ernst nehmen und sie nicht durch eine behauptete Übermacht der Autonomie relativieren, und zwar auch, wenn dies die Frage nach dem Fremdverstehen im oben genannten Sinne verkompliziert. Indessen bedeutet die Anerkennung der heteronomen Bestimmtheit von Subjekten nicht nur eine Verkomplizierung für das Fremdverstehen, sondern allem voran ihre Ermijglichung. Gerade weil das Ich auch immer schon ,Fremdes' in sich trägt, so meine These, kann es überhaupt Fremdes, kann es Andere verstehen. Das Ich konstituiert sich nicht dm'ch sich selbst, sondern es bildet ein (nicht notwendig homogenes) Selbst aus durch seinen Bezug zur Umwelt. Es wird mannigfaltig beeinflusst durch Andere, wobei diese Beeinflussungen entweder unbewusst oder bewusst ablaufen. Sind sie bewusst, kann sich das Subjekt die an es herangetragenen Gedanken, Lebensweisen oder Werte Anderer aktiv aneignen oder sie ablehnen. Dabei lassen sich die Sphären des aktiv Angeeigneten und des unbewusst Übernommenen nicht scharf voneinander abtrennen. Gerade durch diese heteronome Bestimmtheit, aufgrund der Tatsache, dass das Ich erst durch Andere seine individuelle Eigenheit herausbildet, hat das Ich die Möglichkeit, Andere zu verstehen. Durch seine weltliche, soziale Verfasstheit bleibt das Ich nicht in seiner vermeintlichen Eigenheit eingeschlossen (wie es beim transzendentalen Ego der Cartesianischen Meditationen der Fall ist), sondern ist offen für die Andersheit des
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Anderen. 122 Das hat seinen Grund mitunter darin, dass dieses heteronome Subjekt viel facettenreicher ist und ihm damit auch ein viel breiteres Verständnis der individuellen Eigenheiten von Subjekten unterstellt werden kann, als es ein solipsistisches Subjekt je sein bzw. tun könnte. 123 Auch wenn das Subjekt heteronom bestimmt ist, muss mit Husserl daran festgehalten werden, dass es zu sich, bzw. zu den Erfahrungen, die es macht, einen privilegierten, unmittelbaren Zugang hat, wohingegen ihm die Erfahrungen Anderer nur mittelbar gegeben sind. Es ist phänomenal richtig beschrieben, dass die Innerlichkeit eines Anderen nicht auf gleiche Weise originär, evident erfahren werden kann wie die eigene. Diese Unmittelbarkeit besteht, auch wenn viele Erfahrungen des Ich intersubjektiv bzw. heteronom geprägt sind und man so annehmen könnte, dass gerade diese Prägung das Privileg der eigenen Erfahrung einschränken oder sogar aufheben müsste. Dies könnte man annehmen, insofern - zumindest nach Husserlscher Sicht - dem Ich nur originär das mir ,Eigenste', das nicht durch andere Geprägte, das Un-soziale gegeben ist. Der Grund für die dennoch bestehen bleibende Unmittelbarkeit liegt darin, dass auch intersubjektiv geprägte Erfahrungen als originär eigene aufgefasst werden und nicht etwa als veranderte, fremdbestimmte. Zusammengefasst wird also folgendes Subjektverständnis in diesem Buch vertreten: Subjekte sind wesentlich sozial und heteronom bestimmt und unterliegen zumindest einer doppelten ,Enteignung': Sie werden durch ihre Umwelt in ihrer Entwiclclung geformt und unterliegen auch passiven, unbewussten Motivationen, die die Möglichkeiten des Verstehens von Subjekten allgemein (des eigenen Ich wie des Anderen betreffend) einschränken, aber auch allererst ermöglichen. Die Möglichkeit eines eingeschränkten Fremd- wie Selbstverstehens hat ihren Grund zudem
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Ähnlich (wenn auch in etwas andere Richtung weisend) sagt Waldenfels, dass die Fremdheit, die dem eigenen Ich innewohne, der Grund dafür sei, dass das ,,[...] Leben [des Ich] durchlässig wird für die Welt und Mitwelt." - Vgl. Waldenfels: Zwischenreich; S. 66. Damit ist angedeutet, dass auch Husserls Auffassung vom analogisierenden und appräsentativen Vollzug des Fremdverstehens nur dann problematisch ist, wenn das Ich nicht als immer schon wesentlich fremdbestimmt charakterisiert wird (s.u.).
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in der motivationalen Verfasstheit von Subjekten und damit in der Tatsache, dass Subjekte zumindest eingeschränkt einen verständlichen charakterlichen "Stil" aufweisen. Schließlich wird an Husserls These festgehalten, dass die eigenen Erfahrungen dem Subjekt unmittelbar und originär gegeben sind, wohingegen ihm die Erfahrungen anderer Subjekte nur mittelbar gegeben sind. Nach der Diskussion von Husserls Subjektverständnis können die konkreten Bestimmungen des Fremdverstehens im Anschluss an Husserl untersucht werden, nämlich die· Frage nach dem Motivationsverstehen, der Typologie, der Analogie, der Appräsentation, damit dem Verstehensentwurf und der Unabschließbarkeit des Verstehens. Mit Husserl ist es schlüssig, das Fremdverstehen als Verstehen der motivationalen Verfasstheit des Anderen zu fassen, da er davon ausgeht, dass sich die individuelle Eigenheit des Subjekts über seine motivationale Verfasstheit zeigt: Durch die verschiedenen habituellen Motivationsweisen entwickelt sich die individuelle Eigenheit des Anderen. Dass einzelne Verhaltensweisen des Subjekts nicht rein kontingent, sondern durch den relativ stabil bleibenden charakterlichen "Stil" des Subjekts motiviert sind 124, erscheint phänomenal richtig beschrieben und ist eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit des Fremdverstehens: Ein völlig kontingent verfasstes Subjekt bliebe gänzlich unverständlich. Allerdings geht Husserl, wie erläutert, entschieden einen Schritt zu weit, wenn er das Subjekt als "verständliche Einheit" bezeichnet. - Ein wesentliches Merkmal des motivationalen Fremdverstehens ist seine Kontextbezogenheit. Einzelne Verhaltensweisen, Denk-, Fühl- oder Wertweisen werden nicht abgelöst und zusammenhanglos verstanden; vielmehr wird versucht, anhand der Genese des Anderen zu verstehen, was den Anderen zu seinen Verhaltensweisen, Denkweisen etc. bewegt. Das Verstehen einzelner Handlungen, Aussagen, Urteile etc. des Anderen wird also im Kontext seiner individuellen Eigenheit, die sich durch das Miteinbeziehen seiner individuellen Subjektgenese zeigt, verstanden. Das Fremdverstehen als kontextuelles Verstehen zu begreifen ist wesentlich, da ein kontextloses Verstehen den Anderen auf 124
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Dieser entwickelt sich, wie ausgeführt, über die verschiedenen Erfahrungen des Subjekts, die es prägen und auf bestimmte Weise zu Verhaltensweisen, Urteilen, Werten etc. motivieren.
seine konkreten Handlungen, Urteile etc. verkürzt und ein differenzierteres Verstehen verunmöglicht. Ferner scheint es zutreffend, das Fremdverstehen als Motivationsverstehen zu begreifen, um es, wie man über Husserl hinausgehend feststellen könnte, von einem Sachverstehen zu unterscheiden. Ein nicht motivationsorientiertes Verstehen ist vorwiegend ein sachorientiertes Verstehen. Diese These lässt sich gut am Teilverstehen des Anderen explizieren, Z.B. beim Verstehen eines fremden Standpunktes. Bekundet der Andere dem Ich einen gewissen Standpunkt, so vermag der nicht motivational Verstehende den sachlichen Gehalt dieses Standpunkts begreifen. Ferner erfährt das Ich auch ein Stück weit etwas von der Eigenheit des Anderen, sofern diese sich auch über dessen Standpunkt bekundet. Die Individualität des Anderen steht jedoch beim nichtmotivationalen Verstehen nicht im Vordergrund. Der Andere kann aus vielerlei Gründen zu diesem Standpunkt gekommen sein. Werden diese nicht mitreflektiert, wird der Andere möglicherweise auf diesen Standpunkt verkürzt und schließlich missgedeutet. Die Frage nach dem Status der Typik im Fremdverstehen muss nicht ausführlich diskutiert werden: Mit Sicherheit bedarf das verstehende Subjekt einer gewissen "Menschenkenntnis", verstanden als Kenntnis allgemeiner personaler Verhaltensweisen, um weiterführend die individuelle Eigenheit des Anderen verstehen zu können. Das Fremde erscheint am Boden des Vertrauten. Die im Anschluss an Husserl herausgearbeitete These, dass das Fremdverstehen analogisch, appräsentativ und damit entwerfend vonstatten geht, werden als erste allgemeine Bestimmungen des Fremdverstehensvollzugs festgehalten. Problematisch werden sie allein durch Husserls egologischen Subjektbegriff. Das zeigt sich schon beim ersten Punkt: der Analogie. Es wurde erläutert, dass das solipsistische Ego in der transzendentalen Sphäre den Anderen nicht zu konstituieren vermag. Ein Ego, das gänzlich selbstbestimmt ist, und versucht, die Andersheit des Anderen analogisch über) das eigene Ich zu erschließen, schlägt fehl, denn es kommt über die eigenen Bestimmungen des Ich nicht hinaus. Auch auf der in den Ideen II verhandelten empirischen Ebene existiert diese Schwierigkeit in gewisser Weise. So bleibt dort z.B. weitgehend ungeklärt, ob und wieweit es möglich ist, ausgehend von einem autonomen Subjekt mit dem analogischen Modell
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Sachverhalte zu verstehen, die den Erfahrungsschatz des Ich transzendieren. Möglicherweise geht Husserl sogar davon aus, dass das Ich nur graduell Verschiedenes, nicht aber qualitativ Verschiedenes verstehen kann. Als Beispiel führt Husserl in den Ideen 11 an, dass das verstehende Subjekt charakterlich eher phlegmatisch sein kann, aber auch fröhliche Gemütszustände kennt. Versucht dieses Ich nun einen Anderen zu verstehen, der generell einen fröhlichen Charakter hat, ist das Ich eben deshalb dazu in der Lage, weil es aus seinem eigenen Erfahrungsschatz weiß, was Fröhlichkeit bedeutet und es sich im weiteren - sozusagen durch eine graduelle Verschiebung - imaginieren kann, was es bedeuten muss, nicht nur in ausgesuchten Momenten, sondern generell fröhlich zu sein (ID II 275). In diesem Sinne konstatiertHusserl in der zweiten Intersubjektivitätsschrift: ,,[D]er Andere ist für mich nur bestimmt durch das, was ich als gemeinsam finden kann." (INT II 188) Verstanden wird das, was das Ich und der Andere miteinander teilen. An verstreuten Stellen seines Werks ist das analogisierende Verstehen sogar so weit auf die Spitze getrieben, dass der Andere als "meine intentionale Wiederholung" (INT III 489) bezeichnet wird. 125 Das Fremdverstehen so extrem analogisch zu fassen, ist von einem egologischen Subjektbegriff aus konsequent, insofern dem Ego ja nur seine ihm gänzlich eigenen Erfahrungen zugänglich sind. Letztlich ist dieser Standpunkt jedoch nicht haltbar. Denn es kann nicht plausibilisiert werden, dass tatsächlich der Andere und nicht nur ein zweites Ich verstanden wird. In entschärfter Version halte ich die These der Analogie jedoch durchaus für fruchtbar und richtig. Insofern dem Ego allein
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An dieser Stelle parallelisiert Busserl die Fremderfahrung mit der Erinnerung. Das unterstreicht noch zusätzlich den immanenten Charakter der Fremderfahrung bzw. des Fremdverstehens. Er sagt: "So wie in meinen Vergangenheiten und Zukünftigkeiten Ich und das Meine sich wie der holt und mein gegenwärtiges ,primordiales' Sein ,sich' wiederholt, das Wiederholende und Wiederholte ist, so ähnlich in den ,Wiederholungen' der für mich seienden Anderen." (INT III 488) - W~den fels spricht zu Recht davon, dass der Andere eine "Quelle der UberraschI/nt' sei. Diese Tatsache würde in Busserls transzendentaler Analogiekonzeption (nicht in der Deskription), in der der Andere nur eine modifizierte Wiederholung des Ich darstellt, geleugnet. (Waldenfels: Zwischenreich; S. 48).
seine eigenen (wenn auch intersubjektiv geprägten) Erfahrungen originär gegeben sind, hat jeder Verstehensentwurf seinen Ausgangspunkt in der Analogie zur eigenen Erfahrung: Die Eigenschaften, Werte, Denkweisen etc. des Anderen, letztlich auch die individuelle Eigenheit des Anderen werden vom eigenen Erfahrungsschatz und der eigenen Individualität her ausgelegt. Die Tatsache, dass das Ich den Anderen trotz Analogisierung (zumindest in Grenzen s.u.) verstehen kann, und dieser nicht bloß als Wiederholung des Ich verstanden wird, liegt an seiner sozialen Verfasstheit: Durch die heterogene Bestimmtheit des Ich ist das, was in Analogie gesetzt werden kann, relativ facettenreich. Das Ich wird erst durch andere zu dem, was es ist, und genau in dieser Bezogenheit und der damit einhergehenden Unmöglichkeit, das ,Eigene' vom ,Fremden' strikt zu trennen, liegt die Möglichkeit, den Anderen zu verstehen. Ähnlich verhält es sich mit Husserls Ausführungen zur Appriisentation. Problematisch werden auch sie durch Husserls solipsistischen Subjektbegriff. Aufbauend auf dem hier entwickelten Subjektkonzept erweist sich das Appräsentationsmodell jedoch als zutreffende Beschreibungsweise für den Fremdverstehensvollzug. So ließe sich interpretieren: Das Verstehen hat seinen Ausgangspunkt in der Analogie und vollzieht sich laut Husserl als Verstehensentwurf, als mitvergegenwärtigendes, appräsentatives Verstehen. Versucht das Ich, den Anderen in seiner individuellen Eigenheit zu verstehen, entwirft es zuallererst eine Verstehensmöglichkeit. Dieser Entwurf ist vom eigenen Erfahrungshorizont bzw. der eigenen motivationalen Verfasstheit und den eigenen Erwartungen geprägt. Erst durch das Differenzverhältnis, das sich im fortlaufenden Verstehensprozess zeigt (insofern der Entwurf sich im weiteren Verlauf Bewährung erfährt oder enttäuscht wird), vollzieht sich das Verstehen (siehe 3. K.apitel). Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Jauß zum Entwurfscharakter des Verstehens. Er konstatiert, jedoch aus einer eher sozialphilosophischen Perspektive und fern jedes Hussserijargons: Auch das Fremde, Unvertraute kann erst im Verhältnis zum Vertrauten in seiner Andersheit erkannt werden. Die Fremdheit des Anderen steht im Horizont eines Vorverständnisses, das die Begegnung zumeist überhaupt erst bewußt werden läßt - im Horizont von Erwartungen, in denen sich frühere Erfahrung niederschlug. Solche Erwartungen pflegen sich im persönlichen Umgang zu bil-
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den und normativ zu verfestigen. Sie können aus der Beobachtung physiognomischer Züge gewonnen oder vom sozialen Rollenverhalten abgeleitet werden. Sie können aber auch einem auferlegte~ Verstehen entstammen, in Gestalt religiöser Gebote, [...] ethischer Systeme, [...] der Verhaltens normen von Altersstufen, sozial~n Schichten [...] und der Nationen. Das Verstehen des Anderen m seinem kontingenten Selbst entspringt nur scheinbar unmittelbarer Einfühlung. Es erfordert das Erkennen der Differenz des Andern zu mir selbst, die Erprobung des normativen Vorverstä~dnisses, seine Preisgabe, wenn es sich als unangemessen erwe!st, und schließlich die Anerkennung des Singularen, das dabeI zutage tritt. 126
Das Fremdverstehen kommt ohne einen solchen entwurfshaften Charakter nicht aus, was auch bedeutet, dass es kein vorurteilsfreies Verstehen gibt. 127 Mit Sicherheit liegt in einem solchen Verstehensentwurf ein gewisser aneignender, auch gewaltsamer Zug, insofern er Gefahr läuft, im bloßen Entwurf stecken zu bleiben, und der Andere damit im Verstehensprozess zur Projektion des Ich verkommt. Allerdings kann nicht allein aufgrund dieser Gefahr zurückgewiesen werden, dass das Fremdverstehen sich de facto auf diese Weise vollzieht. Im Gegenteil kann gerade aus dem Wissen um den aneignenden Zug des Fremdverstehens eine gewisse Vorsicht in Verstehensprozessen erwachsen. Das lässt sich auch durch einen erneuten Verweis auf Husserls Appräsentationsbegriff explizieren. Husserl hält ja stets daran fest, dass das Verstandene dem Ich niemals originär, evident gegeben sein wird: Das Ich kann sich niemals wirklich sicher sein, ob es tatsächlich versteht, wie der Andere denkt, fühlt, erfährt etc., und es kann nicht wissen, ob es den Anderen in seiner individuellen Eigenheit 126 127
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Jauß: Probleme; S. 467. Auch dieser Punkt wird später erneut aufgenommen, sowohl bei Gadamer als auch bei Derrida. Bedenkenswert ist z.B. Folgendes: Es wurde angedeutet, dass es nicht möglich ist, sich selbs~ im Verstehen ,auszuschalten', sondern dass der eigene Erfahrungshonzont das ~remd:.er~te hen prägt. In diesem Sinne ist vorurteilsfreies Verstehen mcht ~ogli~h. Eine andere Richtung"i1immt die Diskussion, wenn man darauf hinweIst, dass das Fremdverstehen auch eine intentionale (nicht im Husserlschen Sinne gemeinte) Komponente besitzt: Es wird auch dadurc~ ge~rägt, dass der Verstehende möglicherweise und vielleicht üblicherweise em bestimmtes Interesse im Verstehensprozess verfolgt (z.B. wird ein Anderer implizit oder explizit auf eine Weise verstanden, die dem Ich angenehm oder nützlich ist).
richtig erfasst. Daraus ließe sich schließen, dass das Verstehen zu keinem Abschluss kommen kann. So bedarf es immer der Offenheit für mögliche Korrekturen: Wenn das Ich nie wissen kann, ob das dem Anderen gegenüber Mitvergegenwärtigte, der Vers tehensentwurf tatsächlich zutreffend ist, muss es bereit sein, die eigenen Entwürfe stets als korrekturbedürftig zurückzuweisen. Mit diesen Einsichten ist eine verstehensskeptische Perspektive gewonnen (die Husserl in dieser Weise allerdings nicht vertritt). Diese Ausführungen führen zur letzten Frage, die hier verhandelt werden soll: Wie sind die Möglichkeiten und Grenzen des .Fremdverstehens im Anschluss an diese Auseinandersetzung mit Husserl zu verorten? Auf diese Frage lässt sich erstens eine husserlinterne Antwort geben, zweitens eine externe, die auf den bisherigen Ergebnissen der Husserlanalyse aufbaut. Husserl äußert sich nicht konkret zu den Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens. Aufgrund seiner changierenden Thesen unter anderem zur Heteronomie und Autonomie des Subjekts lässt sich auch keine ganz eindeutige Antwort auf diese Frage fmden. Letztlich scheint der Philosoph in den Ideen II jedoch zu vertreten, dass das Fremdverstehen ohne größere Schwierigkeit möglich ist und nur quantitativen Grenzen unterliegt. Husserl legt den Akzent auf die autonome Verfasstheit des personalen Ich, auf seine Selbstbestimmtheit und Vernünftigkeit. So ließe sich nach Husserl interpretieren, ein Subjekt ist verstehbar, wenn und insofern es seinen Vernunftmotivationen nachgeht und seinem Leben damit einen einheitlichen und verständlichen Rahmen verleiht. Das personale Ich ist in diesem Sinne ein "Prinzip der Verständlichkeit, also Rationalität" (INT II 17). Verhielte es sich wirklich so, dass Subjekte als Prinzip der Verständlichkeit angesehen werden können, kann das Ich nicht nur sich selbst, sondern auch den Anderen verstehen, da auch die individuelle Eigenheit des Anderen durch dessen rationale Motivationsstruktur verstehbar wäre. Dennoch ist das Fremdverstehen nach Husserl unabschließbar und unterliegt in diesem Sinne einer quantitativen Grenze. Der Grund dafür liegt v.a. darin, dass es dem Ich möglich sein müsste, in einen unendlichen Verstehensprozess einzutreten, wollte es den Anderen verstehen: Um die individuelle Eigenheit des Anderen gänzlich verstehen zu können, müsste dem Ich die Genese des Anderen lückenlos gegeben sein, d.h. sowohl dessen vorangegangene Entwicklungen als auch seine
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zukünftigen, da Subjekte sich im Laufe ihrer Erfahrungen immer weiter (wenn auch nur relativ) verändern. 128 Ganz anders fillt hingegen die externe Antwort aus, die sich im Anschluss an die hiesige kritische Analyse ergibt. Es erscheint richtig, dass das Ich die individuelle Eigenheit des Anderen bis zu einem gewissen Grad durch ein kontextuierendes Verstehen erfassen lernen kann, wobei das Verstehen einer steten Bewährungsstruktur unterliegt. In seiner heteronomen Bestimmtheit hat das Ich die Möglichkeit, den charakterlichen "Stil" des Anderen durch immer weitergehende Fremdverstehensvollzüge differenzierter zu erschließen, auch wenn das Fremdverstehen in Husserls Sinne unabschließbar ist. Jedoch ergibt sich aus der hiesigen Analyse eine verstehensskeptischere Perspektive als dies aus husserlinterner Sicht der Fall ist: Das Fremdverstehen ist nicht nur quantitativ unabschließbar, sondern unterliegt einer doppelten qualitativen Grenze. Die erste Grenze bezieht sich auf das Verstehen von Subjekten allgemein (das Ich wie den Anderen betreffend), die zweite Grenze betrifft genuin das Fremdverstehen. Die erste Grenze ergibt sich aus dem oben entwickelten Verständnis von Subjektivität: Es wurde darauf hingewiesen, dass das Subjekt einer doppelten ,Enteignung' unterliegt. Aus der heteronomen Bestimmtheit des Subjekts folgt, dass die Genese des Subjekts nicht kontinuierlich und stets verständlich verläuft und dass sich in diesem Sinne nicht von einer gänzlich einheitlich verlaufenden Motivationsstruktur sprechen lässt. Vielmehr ist die Genese auch kontingent und entzieht sich in diesem Sinne dem Verstehen. Anders gesagt: Die individuelle Eigenheit von Subjekten ist nicht in jeder Hinsicht verständlich. Damit unterliegt schon das Selbstverstehen Grenzen: Das Subjekt ist sich nicht gänzlich transparent. 129 Die ~eite, genuin das Fremdverstehen betreffende Vetstehensgrenze hat ihren Ursprung in den im Anschluss an Husserl gewonnenen Bestimmungen des Fremdverstehensvollzugs. Das
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Zwar weist Husserl in den Ideen 11 auf unverständliche Momente des Subjekts hin (wie "Charakteranlagen''), die auf eine quantitative Grenze im Fremdverstehen hinweisen, dennoch schenkt er diesen nur bedingt Aufmerksamkeit. Diese These wird bei der Auseinandersetzung mit Derrida noch einmal expliziert (vgl. Kap. 4).
Fremdverstehen verläuft analogisierend, appräsentativ und in diesem Sinne entwerfend. Besonders wesentlich erscheint Husserls These der Appräsentation. Ein wesentliches Merkmal des appräsentativen Fremdverstehens ist, dass die vom Ich getätigten Verstehensentwürfe niemals zur Evidenz gebracht werden können. Dem Ich ist nur seine eigene Innerlichkeit, nicht aber die des Anderen originär gegeben, und so kann es sich niemals sicher sein, dass es den Anderen bzw. seine Motivations struktur wirklich versteht. Was lässt sich aus dieser doppelten qualitativen Grenze des Fremdverstehens folgern? Ausgehend von einem transzendentalsolipsistischen Subjekt, sowie ausgehend von einem stark autonom verfassten empirischen Subjekt, bleiben Husserls Bestimmungen des Fremdverstehens problematisch. Gerade die Schwierigkeit der flusserlschen Thesen (mitunter von der Analogie und Appräsentation) wurden von der Forschung vielfach betont. Im Anschluss an diese kritische Analyse erscheinen Husserls Bestimmungen des Fremdverstehens in Modifikation jedoch als sehr zutreffend. Aufbauend auf einem solipsistischen Subjektbegriff weist Husserls Konzept des Verstehens stark aneignende Züge auf. Durch die hier vorgeschlagene Umdeutung scheint das Verstehenskonzept, das sich im Anschluss an Husserl rekonstruieren lässt, den prinzipiell aneignenden Zug des· Fremdverstehens 130 jedoch weniger zu stützen als ihn vielmehr zu verhindern. Die nur indirekt mögliche Bewährung und damit das Wissen um die Grenze des Verstehens verlangt vom verstehenden Ich eine gewisse Vorsicht ab: Da das Ich nie wissen kann, ob es den Anderen tatsächlich so verstanden hat, wie es diesem entsprechen würde, muss das Ich in seinem Verstehensprozess stets für Korrekturen offenbleiben. Fremdverstehen kann nach dieser Interpretation also nicht bedeuten, die Andersheit des Anderen evidentermaßen zu verstehen. Vielmehr ergibt sich aus dieser Interpretation ein eher negativer, verstehensskeptischer Bescheid: Ein angemessenes Fremdverstehen kann nur eines sein, dass sich seiner Grenzen und seiner Korrekturbedürftigkeit bewusst ist. Durch das Aufzeigen von Grenzen im Fremdverstehen und der möglicherweise daraus resultierenden Vorsicht und Offenheit
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Zum prinzipiell aneignenden Zug des Fremdverstehens vgl. auch Kap. 3.
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für Korrekturen im Verstehensvollzug ist ferner ein normativer Aspekt des Fremdverstehens berührt. Denn um dieser Einsicht in die Grenze des Verstehens Rechnung zu tragen, muss das Ich den Anderen überhaupt verstehen wollen. Dieser Wille ist jedoch weniger eine Deskription als vielmehr eine moralische Forderung. Unter anderem diese These wird im Folgenden in der Auseinandersetzung mit Gadamer und Derrida zur Diskussion gestellt.
111. Hermeneutischer Aspekt des Fremdverstehens (Gadamer)
Um das Fremdverstehen genauer fassen zu können, muss die Husserlauseinandersetzung um eine Diskussion anderer Autoren erweitert werden. Diese folgende Erörterung hat also ergänzenden Charakter und dient vorwiegend dazu, einige offene Fragen im Anschluss an Husserl zu klären bzw. das bisher erarbeitete Konzept auszubauen oder auch zu korrigieren. Bei Husserl war mitunter die Rede von dem im Fremdverstehen stets präsenten Verstehensentwuif, der' notwendig an eine Bewährungs struktur geknüpft ist. Mit dem Hinweis auf die indirekte Bewährungsstruktur, die die stete Korrekturbedürftigkeit des Verstandenen impliziert, wurde ein hermeneutischer Aspekt des Fremdverstehens berührt. Diesem ging' Husserl jedoch nicht nach, und so blieb ungeklärt, wie das Verhältnis von dem Teilverstehen des Anderen in seinen einzelnen Handlungen, Urteilen etc. und dem Verstehen des Anderen als ,Ganzes' in seiner individuellen Eigenheit zu bestimmen ist. Damit wurde der PrOzess des Fremdverstehens noch ungenügend expliziert. Außerdem wurde zum Schluss der Husserlauseinandersetzung ein normativer bzw. moralischer Aspekt des Fremdverstehens berührt und die Frage aufgeworfen, warum das Ich einen Anderen in seiner individuellen Eigenheit überhaupt verstehen will. Es sind unter anderem diese beiden Fragen, die in der folgenden Auseinandersetzung mit Gadamer gestellt werden: Die Frage nach dem hermeneutischen Aspekt des Fremdverstehens und nach der Moral beim Fremdverstehen. 131 Zusätzlich wird die Wechselseitigkeit des Fremdverstehens erarbeitet und des Weiteren eine kritische Auseinandersetzung mit Gadamer gesucht, da dieser der Frage nach dem Fremdverstehen im hiesigen Sinne nicht nur keine Aufmerksamkeit schenkt, sondern sie implizit sogar ablehnt. Im Folgenden wird versucht, einige allgemeine Aspekte von Gadamers Hermeneutik umzudeuten und fruchtbar zu machen für das hier bisher erarbeitete Kon-
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Letzteres wird auch bei Derrida verhandelt (vgl. Kap. 4). - Für die Untersuchung werden Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode sowie eine Vielzahl von Aufsätzen herangezogen.
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zept des Fremdverstehens. 132 Einer Umdeutung bedarf es eben, weil Gadamer sich dem Fremdverstehen im hiesigen Sinne kaum zuwendet, sondern ein übersubjektives, geschichtliches Vers tehensgeschehen im Auge hat und nicht ausgehend von einer subjektorientierten Perspektive nach der Möglichkeit des Verstehens fragt, wie es hier der Fall ist. Hermeneutik ist, grob gesagt, die Kunst (bzw. eine Methode) 133 des Auslegens, des Übersetzens, des Erklärens. Es geht ihr um das Verstehen von ,Sinn'.134 Der Gegenstand der Hermeneutik ist sehr breit gefächert. Ausgelegt werden können z.B. alle Arten von Texten 135, Kunstwerke, aber auch mündliche Aussagen von Subjekten oder deren Handlungen. Die Hermeneutik hat dabei eine vermittelnde Funktion. Ausgehend von der Annahme, dass der Sinn von Texten, Aussagen etc. nicht einfachhln gegeben ist, sondern erst auslegend erarbeitet werden muss, geht es ihr darum, ein Deutungsangebot zu liefern, einem nicht offen darliegenden Sinn zum Ausdruck zu verhelfen. Dies tut der Hermeneutiker, indem er Sinngebilde in die eigene Begrifflichkeit transformiert, indem er das ,Fremde' in den Horizont des ,Eigenen' integriert. Hermeneutik ist in diesem Sinne immer Übersetzungsarbeit. Verstanden wird etwas, wenn man es auch ,in eigenen Worten' sagen kann, es für sich und andere übersetzt. 136
- Bereits aus diesen knappen Bestimmungen ergibt sich implizit, dass das Verstehen einen prinzipiell aneignenden Charakter hat, insofern etwas dann verstanden wird, wenn es in den eigenen Horizont integriert wird. Es gibt eine Ichbezogenheit des Sinns (vgl. WM 477), Verstehen ist immer das Verstehen des Ich. 137 In dieser aneignenden Tendenz läuft das Verstehen Gefahr, das zu verstehende Fremde (den oder das Andere) aufzulösen, es gewaltsam auf das Eigene zu reduzieren. Auch Gadamer spricht von dieser aneignenden Tendenz des Verstehens 138, jedoch meint er das (häufig) mehr neutral beschreibend denn skeptisch. 139
1. Gadamers Kritik an der traditionellen Philosophie Gadamer entwickelt in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode in Abgrenzung von ,traditionellen' Hermeneutiken sein eigenes Hermeneutikkonzept. Sein Hauptinteresse liegt dabei beim hermeneutischen Verstehen bzw. Auslegen von Kunstwerken und Texten aller Art in ihrer geschichtlichen Überlieferung. Ziel allen Verstehens ist bei Gadamer das "Einverständnis in der Sache" (vgl. nächstes Kapitel). Ausgangspunkte seiner Philosophie sind v.a. die Kritik an bestimmten traditionellen Formen des (hermeneutischen) Verstehens sowie eine Kritik an ,der' Bewusst-
132 Aufgrund der spezifischen Fragestellung müssen wesentliche Aspekte
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der Gadamerschen Hermeneutik außer Acht gelassen werden, so z.B. deren "Universalitätsanspruch", die Rolle der Sprache oder die der "Horizontverschmelzung". Die Grundzüge der Gadamerschen Hermeneutik wurden von der Forschung vielfach nachgezeichnet. Einen guten Überblick liefert unter anderem Jean Grondin: Einführung zu Gadamer. Tübingen 2000. Eine Zusammenfassung der kritischen Einwände gegen Gadamer liefert ferner Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit inder philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer. Hildesheirh/ Zürich 2001; S. 102-121. Gerade gegen den methodischen Charakter der Hermeneutik jedoch verwehrt sich Gadamer (s.u.). Zum Zusammenhang von Verstehen und Sinn vgl. exempl. Angehrn: Interpretation; z.B.: S. lHf oder S. 33ff. So z.B. theologische, juristische, philosophische oder literarische Texte. In diesem Sinne sagt Grondin, man könne den Verstehensvollzug ,,[...] als ein Übersetzen fassen: Verstehen heißt, einen (prinzipiell sprachlichen) Sinn in meine Worte einigermaßen übersetzen können." - Grondin: Einführung; S. 197 f. - Ich belasse es bei dieser schematischen
Zusammenfassung. Für einen guten Überblick zu den Bestimmungen der Hermeneutik vgl. exempl. Erwin Hufnagel: Einführung in die Hermeneutik. St. Augustin 2000. 137 Auf den aneignenden Zug des Verstehens wurde bereits bei Husserl verwiesen. Er zeigte sich (auch) dort in der Ichbezogenheit des Verstehens sowie in der Entwurfshaftigkeit des Verstehens. 138 Verstehen sei ,,[...] Aneignung des Gesagten, [in dem Sinne,] dass es einem selbst zu eigen wird." (WM 402). 139 Kogge vertritt zu Recht, dass dieser aneignende Zug des Verstehens problematisch ist und nimmt diese Auffassung zum Ausgangspunkt seiner Frage nach der Rolle des Nichtverstehens in der Hermeneutik. Vgl. Kogge: Verstehen. - Dezidiert zum Nichtverstehen vgl. auch: Robert Schurz: Negative Hermeneutik. Zur sozialen Anthropologie des NichtVerstehens. Opladen 1995. - Auch aus der Perspektive von Uvinas wäre ein hermeneutisches Verstehensmodell zu kritisieren. Eine Vermittlung von Levinas und Gadamer versucht Nicole Ruchlak: Das Gespräch mit dem Anderen. Perspektiven einer ethischen Hermeneutik. Würz burg 2004.
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seinsphilosophie. Deren Darstellung bietet eine gute Grundlage für die weitere Untersuchung. Gadamers Hermeneutik basiert erstens auf seiner Skepsis gegenüber ,der' Bewusstseinsphilosophie bzw. gegenüber dem "subjektiven Idealismus"140, wie ihn letztlich auch Husserl vertritt. Gadamers Subjektkritik knüpft an Heideggers Skepsis gegenüber Subjektivität an, sie hat jedoch eine andere Stoßrichtung. 141 An Heideggers Subjektkritik kritisiert Gadamer ihre Radikalität, die dazu führe, dass der "Andre überhaupt nicht zum Problem werden kann."142 Diese Kritik mag etwas verwundern, da viele Gadamerkritiker genau diesen Vorwurf Gadamer machen (s.u.). Gadamer hält die Idee eines autonomen, selbstreflexiven Subjekts, das die Grundlage für Erkenntnis bilden soll, für einen "Zerrspiegel" (WM 281). Das zeigt sich unter anderem auch in seiner Kritik an Husserl, die der hier vertretenen nicht unähnlich ist. Gadamer wirft Husserl vor, dass dieser trotz der Rede von der "Lebenswelt", die ein weltliches, sozial verfasstes Ich zur Voraussetzung haben müsste, paradoxerweise an der These eines solipsistischen Subjekts festhält (WM 252). Hingegen ist es laut Gadamer phänomenal unzutreffend, dass ein Selbstbewusstsein vor dem Weltbewusstsein existiert. 143 Dem Primat des Subjekts setzt Gadamer (nun allerdings in andere Richtung weisend als meine Argumentation) dabei den Primat der Geschichte entgegen: In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören
ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesell-
140 Hans-Georg Gadamer: Zwischen Phänomenologie und Dialektik Versuch einer Selbstkritik. In: ders.: Hermeneutik 11. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 1993; S. 3-23; S. 8. 141 Gadamer ist von Heidegger stark geprägt. Zum Verhältnis GadamerHeidegger vgl. exempl. Kogge: Verstehen. 142 Gadamer: Subjektivität; 96. - In seiner in Heideggers Subjektkritik wurzelnden Skepsis gegenüber Subjektivität unterhält Gadamer ferner eine Nähe zu postmodernen Denkern wie Derrida, mag er auch sonst mit ihnen in Spannung stehen. - Das vertritt auch Frank, jedoch in klar kritischer Absicht. - Vgl. Manfred Frank: Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. München 1984; S. 181-213; S. 188. 143 Vgl. dazu auch Michael Hofer: Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit. Verstehen und Anerkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher. München 1998; S. 174.
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schaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbestimmung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. (WM 281)
Subjekte leben in dieser Geschichte oder dem geschichtlichen Geschehen und können sich aus diesem nicht "herausreflektieren". Geschichte ist "Wirkungsgeschichte"144 (WM 305ff), auch in dem Sinne, dass sie im Subjekt weiterwirkt und es prägt, sei es sich dessen bewusst oder nicht. Trotz aller Kritik am Bewusstseinsbegriff benutzt Gadamer den Terminus "wirkungsgeschichtliches Bewußtsein", worunter er versteht, dass das Subjekt sich in Grenzen ein Bewusstsein dieser Wirkungsgeschichte bzw. der eigenen hermeneutischen "Situation" (WM; S: 307) erarbeiten kann. Laut Gadamer ist es nicht möglich, sich in objektive Distanz zur Geschichte zu stellen. Parallel dazu ist die Distanznahme zu sich selbst bzw. das eigene Selbstverhältnis oder Selbstverstehen mannigfach durch die Geschichte bedingt. 145 Gadamers Subjektkritik ist um einiges radikaler als die in dieser Arbeit vertretene. Sie mündet in einer Ablehnung von Subjektivität als philosophischer Grundlage, was wichtige Konsequenzen für sein hermeneutisches Verstehenskonzept hat. Diese Radikalität zeigt sich darin, dass Gadamer die Idee eines subjektiven Verstehens aufgibt und gegen ein übersuijektives Wahrheitsgeschehen in der Geschichte eintauscht. Er sagt, Verstehen sei ,,[...] nicht so sehr als eine Handlung der 5 u,?jektivitiit Zu denken} sondern als Einrücken in ein Überliejerungsgeschehen." (WM 295), in dem Subjektivität oder die Individualität des Subjekts keine Rolle spiele. Näher ließe sich das anhand von Gadamers Begriff des "Spiels" (WM 107116) erläutern. Er geht davon aus, dass das eigentliche ,Subjekt' des Spiels das Spiel selbst sei und die Spielenden Akteure seien, deren Individualität für das Spiel nicht weiter von Bedeutung ist. Das kann hier nicht weiter nachverfolgt werden, jedoch sollte 144 Zum Begriff "WirkungsgeschiChte" vgl. exempl. Grandin: Einführung; S. 144-152, und Kogge: Verstehen; S. 73-80.
145 Vgl. Gadamer: Zum Problem der Intelligenz. In: ders.: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Aufsätze und Vorträge. Frankfurt/M 1993; S. 65-83; S. 75f. - Zum Selbstbewusstsein und Selbstverstehen bei Gadamer vgl. exempl. Hofer: Nächsenliebe; S. 174ff; Kogge: Verstehen; S. 62f; sowie Petra Plieger: Sprache im Gespräch. Studien zum hermeneutischen Sprachverständnis bei Hans-Georg Gadamer. Wien 2001; S. 208ff.
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diese knappe Erörterung ausreichen, um die folgenden Ausführungen verständlich zu gestalten. Angemerkt sei, dass Gadamer von der Forschung vielfach für einen fehlenden Begriff von Subjektivität bzw. für sein Ablehnen der Bedeutung von Subjektivität (für das Verstehen) kritisiert wurde. 146 Zweitens verwehrt sich Gadamer gegen einen rein theoretischen, methodischen Begriff des Verstehens (WM 295), und in diesem Zusammenhang auch gegen einen erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Dualismus. Das hat zu tun mit Gadamers These vom Verstehen als (geschichtlichem) Geschehen. Da das Verstehen nach Gadamer immer schon in ein Überlieferungsgeschehen eingebettet ist, von dem sich der Verstehende nicht befreien kann, kann das Verstehen nicht als ein theoretisches Verhältnis des Verstehenden (Subjekt) zum zu Verstehenden (Objekt) beschrieben werden. 147 Der Verstehende ist an seinen Standort gebunden und steht mit dem zu Verstehenden in unauflösbarem Zusammenhang. Verschärft müsste man mit Gadamer sogar sagen, das "Dasein" ist immer schon verstehend, das Verstehen ist "die Seinsweise des Daseins selber."148 Jedem konkret 146 Zur Subjektivität bei Gadamer vgl. exempl. Bernet. Bernet versucht in seinem überzeugenden Aufsatz ausgehend von Wahrheit und Methode zwei "Minimalbegriffe" von Subjektivität bei Gadamer zu rekonstruieren, das "Subjekt des Spiels" und das "gebildete Subjekt". - Vgl. Rudolf Bernet: Das Subjekt ohne Eigenschaften (im Anschluß an Gadamer). In: Phänomenologische Forschungen (2002); S. 11-26. - Vgl. auch Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog. Eine Auseinandersetzung mit dem Denken Hans-Georg Gadamers. Frankfurt/M 1984; S. 45-105. - Aus stärker kritischer Perspektive vgl. exempl. Hofer: Nächstenliebe; z.}3. S. 14, und v.a. Frank. Letzterer plädiert in scharfem, polemischem Ton für ein Verständnis von Subjektivität gegen die laut ihm alles überstülpende Wirkungsgeschichte. Zum Spielbegriff sagt Frank, das Spiel,subjekt' ,,[...] degradiert die an ihm Beteiligten zu bloßen Ausführungsorganen. " - Vgl. Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher. Frankfurt/M 1985; S. 20-38; S. 29. - Zum Spiel vgl. auch Hans-Herbert Kögler: Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty. Stuttgart 1992; S. 39ff. 147 Gegen die Subjekt-Objektspaltung vgl. z.B. Hans-Georg Gadamer: Text und Interpretation. In: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 1993; S. 330-360; S. 331. 148 Hans-Georg Gadamer: Vorwort zur 2. Auflage. In: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 1993; S. 440. - Auch hier lehnt sich Gadamer an Heidegger an. Dieser bezeichnet
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eintretenden Verstehen geht immer schon ein Vorverständnis des Verstehenden voraus, ein verstehender Sinnzusammenhang. 149 Statt einem theoretischen Verstehen müsste nun der praktische Aspekt des Verstehens in den Vordergrund geruckt werden. Verstehen ist kein kognitiver, reflexiver Akt, sondern vielmehr ein Können. Mit der These vom praktischen Aspekt des Vers tehens lehnt Gadamer sich erneut an Heidegger 150 an, vertritt aber gegen diesen die Auffassung, dass das Verstehen nicht ein Sichauf-etwas-Verstehen sei, wie Heidegger meint, sondern vielmehr ein Sich-mit:-jemandem-Verstehen (vgl. nächstes Kapitel). Ausgehend von diesen zwei kritischen Ansatzpunkten entwickelt Gadamer seine Hermeneutik. Neben der schon angedeuteten praktischen Auffassung vom Verstehen und seinem Geschehnischarakter ist wichtig, dass das Verstehen laut Gadamer auf Vorurteilen aufbaut, dass es dialogisch verläuft, auf einen Sachverhalt gerichtet ist und sich als zirkulärer Prozess vollzieht. Diese Aspekte werden im Weiteren mitunter verhandelt. - Bereits anhand dieser Ausführungen zeigt sich, dass Gadamer von ganz anderen Prämissen ausgeht als Husserl. Wo nach Husserl allein das Subjekt Träger der Erkenntnis sein kann und die Frage nach dem Verstehen eine theoretische ist, vertritt Gadamer hingegen einen praktischen Verstehensbegriff, der übersubjektiv zu fassen ist. Auch lehnt Gadamer die Möglichkeit eines "einseitigen Hineinverstehens" ab (s.u.). Dennoch gibt es einige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Positionen, so z.B. die These vom entwerfenden Verstehen, von einer notwendigen Bewährungsstruktur und von der Standortgebundenheit beim Verstehen.
das Verstehen als eine Grundstruktur des Daseins: Das Dasein ist immer schon verstehend. - Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. 17. überarb. Aufl. Tübingen 1993; S. 142ff. - Eng im Zusammenhang mit der These steht der von Gadamer vertretene Universalitäts anspruch der Hermeneutik. Vgl. dazu etwa: Jean Greisch: Der Streit der Universalitäten. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte. München 1984; S. 115-129. - Aus kritischer Perspektive vgl. die Beiträge in: Jürgen Habermas/Dieter Henrich (Hg.): Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt/M 1971. 149 Vgl. dazu auch exempl. Plieger: Sprache; S. 102f. 150 Heidegger schreibt z.B. in Sein; S. 143: "Im Verstehen liegt existenzial die Seinsart des Daseins als Sein-können."
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2. Hermeneutischer Prozess des Fremdverstehens Im Folgenden werden drei Aspekte von Gadamers Herme~euti~ vorgestellt, die für eine produktive Erweiterung bzw. Modifikation des Fremdverstehenskonzepts, wie es bisher erarbeitet wurde, dienen können. Anschließend wird versucht, das Explizierte für die Frage nach dem Fremdverstehen fruchtbar zu machen. Laut Gadamer baut alles Verstehen auf Vorurteilen auf, ja er bezeichnet sie sogar als eine Bedingung des Verstehens (1). Weitergehend habe das Verstehen Geschehnischarakter bzw. sei es mehr Erfahrung als Erkennen (2). Und schließlich hat laut Gadamer alles Verstehen dialogischen Charakter (3). Erstens muss mit Gadamer gesagt werden, dass alles Verstehen auf Vorurteilen aufbaut (WM 270-290). Vorurteile sind Urteile, die ein Subjekt fillt, ohne sie auf ihre Vertretbarkeit hin zu prüfen (WM 275). Es sind von der Geschichte überlieferte und teil:ve~se unbewusst übernommene Urteile. Die Sphäre der Vorurteile 1st mit Gadamer sehr breit anzusetzen, sie umfasst im Grunde das gesamte Vorverständnis des Verstehenden, seine "Vormeinungen" und "Voreingenommenheiten" (WM 273). Das Vorverständnis des Interpreten hat Ahnlichkeit mit Husserls Rede vom Erfahrungshorizont des Ich. Neu ist jedoch bei Gadamer, dass dieser dezidiert von "Urteilen" und demnach von einer Werlebene spricht: Das Vorverständnis ist nicht nur in dem Sinne nicht neutral, dass der Verstehenshorizont des Ich beim Verstehen vorausgesetzt ist. Es wird vielmehr in einem stärkeren Sinne nicht neutral verstanden: Der Verstehende besitzt (Vor)urteile und Werte, die er implizit oder explizit für richtig hält und die er in das Verstehen hineinträgt. Diese Vorurteilshaftigkeit des Vers tehens ist laut Gadamer jedoch keine Schranke des Verstehens, sondern vielmehr ihre Bedingung. So bemüht sich Gadamer, die positive Bedeutung der Vorurteile herauszustreichen: Vorurteile sind nicht notwendig unberechtigt und irrig, so daß sie die Wahrheit verstellen. In Wahrheit liegt es in der Geschichtlichkeit unserer Existenz, daß die Vorurteile im wörtlichen Sinne des Wortes die vorgängige Gerichtetheit all unseres Erfahren-Könne~s ausmachen. Sie sind Voreingenommenheiten unserer Weltoffenhelt,
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die geradezu Bedingungen dafür sind, daß wir etwas erfahren, daß uns das, was uns begegnet, etwas sagt. 1St Es bedarf immer schon eines Vorverständnisses (des Horizonts des Vertrauten), von dem sich das zu verstehende Andere (Fremde) abheben kann. Wodurch jedoch werden die eigenen Vorurteile dem Verstehenden bewusst, wodurch geraten sie ins Wanken? Laut Gadamer werden die Vorurteile bewusst 152 und auch fraglich durch die Begegnung mit dem Anderen, der in eben diesen Vorurteilen nicht aufgeht. Die Irritation durch das Fremde setzt das Verstehen in Gang (z.B. WM 272) (s.u.).153 Gadamers Thesen zur Rolle der Vorurteile sind soweit gut nachvollziehbar, bleiben an manchen Stellen jedoch etwas unklar oder auch problematisch. Fraglich ist vor allem, wie unbewusst verlaufende Vorurteile (Gadamer sagt selbst, dass es sie gibt (vgl. z.B. WM 301» als solche erkannt werden können und weshalb genau sie des Weiteren revidiert werden. 154 Zudem ist in Frage zu stellen, ob die verstehensmotivierende Kraft des Anderen tatsächlich ausreicht, die eigenen Vorurteile abzulegen oder ob das Ich nicht viel mehr häufig gegen diese Kraft (etwa um sich selbst zu stabilisieren) Widerstand leistet. Schließlich gelte es zu reflektieren, wie es möglich sein soll, positive von n~gativen Vorurteilen zu unterscheiden. 155 Bezogen auf den zuletzt genannten Einwand, der sich auch in der Forschung häufig fmdet, herrscht Konsens darüber, dass Gadamer diese Frage
151 Hans-Georg Gadamer: Die Universalität des hermeneutischen Problems. In: Ders.: Hermeneutik H. Wahrheit und Methode H. Ergänzungen, Register. Tübingen 1993; S. 224. 152 So z.B. Gadamer: Zwischen; S. 9. 153 Kögler fasst dies wie folgt zusammen: "Erst durch die Konfrontation mit anderem Sinn [...] erhält des Bewußtsein sozusagen die Chance, durch die Erfahrung der Differenz nun vordem unbemerkt im Spiele seiende Vorurteile als solche bewußt zur Abhebung - und das heißt zunächst einmal: zu Bewußtsein - zu bringen." Kögler: Macht; S. 25. 154 Auf diese Schwierigkeit verweist auch Grondin: Einführung; S. 39ff. 155 Gadamers (vielfacher Kritik unterliegende) Antwort hierauf ist für die hiesige Fragestellung nicht zielführend. Er sagt, man könne gute von schlechten Vorurteilen durch den "Zeitenabstand" zwischen dem zu verstehenden Kunstwerk in geschichtlicher Überlieferung und dem Interpreten (WM 301) scheiden. 95
nicht ausreichend zu beantworten weiß. 156 Dennoch konstatiert Gadamer mit Entschiedenheit, dass es auch positive, beibehaltungswürdige Vorurteile gibt, z.B. bestimmte durch Tradition oder Autorität entwickelte Vorurteile (WM 281ff). Gerade für den letzteren, tatsächlich problematischen Punkt, nämlich seine Stützung von Autorität und Tradition, wurde Gadamer vor allem von ideologiekritischer Seite scharf kritisiert. 157 Für das Fremdverstehen im hiesigen Sinne sind Gadamers Thesen zu den Vorurteilen hauptsächlich in einer Hinsicht interessant: Verstehen verläuft prinzipiell nicht wertfrei und so auch nicht das Fremdverstehen. Es baut auf für (implizit) richtig gehaltene (Vor-)Urteile des Ich auf. Zwar scheint es richtig, dass es eines allgemeinen Vorverständnisses (eines eigenen Erfahrungshorizonts) bedarf, damit überhaupt etwas als fremd erscheinen kann. Gegen Gadamer sollte jedoch festgehalten werden, dass dezidierte Werturteile verstehensverzerrende Funktion haben. In Bezug auf das Fremdverstehen ließe sich das folgendermaßen explizieren: Wenn das Verstehen der individuellen Eigenheit des Anderen (implizit) Wertungen durch das Ich unterliegt, wird dies verzerrenden Einfluss auf das Fremdverstehen haben. Denn es ist offensichtlich, dass das Verstehen eines wertenden Ich durch diese Werte wesentlich gelenkt wird und dass sich das Ich so z.B. ein vorschnelles, verzerrendes Bild vom Anderen macht. Zweitens ist Verstehen laut Gadamer mehr Erfahrung als Erkenntnis. 158 Gadamers Erfahrungsbegriff zeichnet sich durch drei 156
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So z.B. Bertram: Hermeneutik; S. 49f; Philippe Forget: Leitfaden einer unwahrscheinlichen Debatte. In:. Ders. (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte. Mlinchen 1984; S. 7-23; S. 11; Jürgen Habermas: Zu Gadamers ,Wahrheit und Methode'. In: Ders./Dieter Henrich (Hg.): Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt/M 1971; S. 45-56; S. 48ff. Vgl. dazu den Band Hermeneutik und Ideologiekritik, u.a. mit der Kritik Habermas'. Dagegen verteidigt Grondin Gadamers Ausführungen zur Tradition: Grondin: Einführung; S. 153ff. Jedoch erscheinen Habermas' kritische Bemerkungen hier überzeugender. Laut Gadamer haben seine Ausführungen zur Erfahrung eine "systematische Schlüsselstellung" in Wahrheit und Methode. Gadamer: Vorwort; S. 445. Zur Erfahrung vgl. WM 352-368. - Vgl. zur Erfahrung auch James Risser: Re-Reading Gadamer's Philosophical Hermeneutics. New York 1997; S. 83-116, oder Axel Honneth: Von der zerstörerischen Kraft des Dritten. Gadamer und die Intersubjektivitätstheorie Heideggers. In:
wesentliche Merkmale aus: Erfahrung ist unkontrolliert/ sie geschieht (1), sie ist wesentlich negativ (2), und sie ist mehr Erleiden als Tun und führt zu einer nicht revidierbaren Einsicht (3). Erstens hat die Erfahrung Geschehens- bzw. Ereignischarakter. Eine Erfahrung passiert mehr, als dass sie hervorgerufen werden könnte, und ist in diesem Sinne weniger eine aktive Tat oder ein Wille des Subjekts, sondern mehr ein Geschehen, dessen niemand wirklich "Herr" ist (WM 358). Sie ist überraschend und bringt wesentlich Neues. Zweitens ist Erfahrung "negativ": Dieser Prozeß ist nämlich ein wesentlich negativer. Er ist nicht einfach als die bruchlose Herausbildung typischer Allgemeinheiten zu beschreiben. Diese Herausbildung geschieht vielmehr dadurch, daß ständig falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt, für typisch Gehaltenes gleichsam enttypisiert werden. (WM 359)
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Erfahrung bedeutet immer Bruch mit der eigenen Erwartung. Falsche Verallgemeinerungen werden durch die konkrete Erfahrung korrigiert. Dieser negative Prozess hat nach Gadamer einen positiven Sinn: Durch diese die eigenen Erwartungen korrigierende Erfahrung wird ein Wissen erworben. Dies vollzieht sich als "dialektisches" Geschehen: Die konkrete Erfahrung, die ein Wissen über einen einzelnen Sachverhalt erzeugt, wirkt zurück auf das Verständnis der "Allgemeinheiten". Das führt zur dritten Bestimmung der Erfahrung: Erfahrung ist mehr Erleiden als Tun und löst beim Erfahrenden eine Einsicht aus, die, wie Grondin sagt, ,,[...] uns trifft [...] und die uns dauerhafter und entschiedener prägt als jedes [...] analytisch sein wollende Argument, das man bald vergißt. "159 Erfahrung verändert, prägt den Erfahrenden auf wesentliche Weise. So hat die Erfahrung auch einen Bezug zur Selbsterkenntnis: Die "eigentliche" Erfahrung, die aller Erfahrung zugrunde liegt, ist laut Gadamer die Erfahrung der eigenen Endlichkeit. "Die eigentliche Erfahrung ist diejenige, in der sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt wird. An ihr findet das Machenkönnen und das Selbstbewußtsein seiner planenden Vernunft seine Grenze." (WM 363) Denn indem das Subjekt durch Erfahrungen immer wieder sein bisheriges Wissen als fehlerhaft
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Günter Figal (u.a.) (Hg.): Hermeneutische Wege. Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten. Tübingen 2000; S. 307-324; S. 309ff. Grondin: Einführung; S. 28.
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zurückweisen muss, erkennt es seine prinzipielle Fehlbarkeit, Endlichkeit (an). Da jedes ,Wissen' endlich ist, liegt die eigentliche Vollendung der Erfahrung laut Gadamer in der "Offenheit für die Erfahrung" (WM 361).160 Laut Gadamer muss eine gewisse Offenheit bestehen, damit überhaupt erfahren werden kann und hierin liegt der aktive Teil der Erfahrung -, gleichzeitig ergebe sich diese Offenheit aus der Einsicht in die eigene Fehlbarkeit. Diese zirkulär erscheinende These ist nicht leicht aufzuschlüsseln. Es ließe sich dem entgegenhalten, dass Subjekte auch ohne solche Offenheit notwendig Erfahrungen machen, dass jedoch diese (passiv) geschehenden Erfahrungen, die die eigenen Erwartungen korrigieren, zu einer prinzipiellen Offenheit für Erfahrung führen (man müsste gegen Gadamer sagen: führen kiinnen). Auch der Erfahrungsbegriff Gadarners kann übertragen werden auf das Fremdverstehen und erweist sich als seine produktive Erweiterung. Es scheint plausibel, dass das Verstehen des Anderen Erfahrungscharakter im obigen Sinne hat, gegen Gadamer gerichtet müsste man spezifizieren, zumindest haben kann. Das Ich muss sich nicht immer notwendig dazu entschließen, zu versuchen, den Anderen zu verstehen, dieses Verstehen kann Geschehenscharakter haben, es kann sich mehr als passiv auftauchende Einsicht vollziehen denn als aktive Tat. Wesentl1cher scheint noch der Gedanke, dass das Fremdverstehen grundlegende Einsichten beim verstehenden Ich auslösen kann. Im Verstehen des Anderen kann das Ich Änderungen unterliegen und damit auch ein anderes Selbstverhältnis entwickeln, wobei diese Veränderung wieder auf das Fremdverstehen zurückwirkt. Diese beiden Thesen können anband von Gadamers Ausführungen zur Dialogik ausformuliert werden. Mit dieser Erfahrungsstruktur ist drittens der dialogische Charakter des Verstehens eng verbunden. 161 Laut Gadamer ist der Dia160
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Bormann konstatiert hier zutreffend die grundlegende Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung. Denn einerseits ist für Erfahrung Offenheit konstitutiv, wie Gadamer sagt, andererseits wird diese Offenheit gerade durch die eigene Endlichkeit eingeschränkt. - Vgl. Claus von Bormann: Die Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung. In: Jürgen Habermas/Dieter Henrich (u.a.): Hermeneutik und Ideologiekritik. Franfurt/M 1971; S. 83-119. Zum Dialog im Verstehen vgl. exempl. Plieger: Sprache und Bettendorf: Hermeneutik.
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log ein Grundphänomen des Verstehens. Alles Verstehen vollziehe sich dialogisch, sowohl das Verstehen zwischen Ich und Anderem als auch das Verstehen von Kunstwerken oder Texten. 162 Das dialogische Verstehen ist zumindest durch vier essentielle Merkmale ausgezeichnet: Es hat die logische Struktur der Frage (und Antwort) und kennt in diesem Sinne keinen Anfang (1). Es verläuft wechselseitig (2), ist wesentlich ein Sachverstehen (3) und hat sein Ziel im Einverständnis (4).163 - Das dialogische Verstehen hat nach Gadamer erstens die logische Struktur der Frage (z.B. WM 375). Damit will Gadamer sagen, dass das Verstehen seinen Beginn nicht in einern aktiven Subjekt hat, sondern dass der Einsatz des Verstehens geleitet ist durch etwas oder jemandem, das oder der dem Subjekt fraglich wird. Die Tatsache, dass etwas fraglich wird, ist demnach jedoch weniger ein Tun als ein Erleiden (WM 372), bzw. man müsste sagen, das dialogische Verstehen steht (ähnlich wie die Erfahrung) zwischen Aktivität und Passivität. Passiv ist es, weil das Fraglichwerden Geschehenscharakter hat, aktiv ist es, insofern es einer Offenheit für den Anderen oder für Anderes bedarf, damit überhaupt etwas fraglich werden kann. Dieser Vorrang der Frage zeigt sich besonders deutlich in der Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen: Der Andere spricht das Ich an und gibt ihm etwas zu verstehen auf. Der vertraute Horizont erfahrt durch das Fremde Irritation, wie schon bei der Vorurteilsstruktur festgestellt wurde: Es ist der " [...] Andere, der meine Ichzentriertheit bricht, indern er mir etwas zu verstehen gibt. "164 Das bedeutet jedoch nicht, dass der Andere zum Ursprung des Verstehensgeschehens erhoben wird. Ich und Anderer stehen in einern Wechselverhältnis bzw. jedes
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Vgl. z.B. WM 383f. Die Behauptung, dass auch Texte durch ein dialogisches Verfahren verstanden werden, erklärt sich aus Gadamers These von der Untrennbarkeit des Verstehenden mit dem zu Verstehenden. Die Erläuterung dieses Gedankengangs von Gadamer würde zu stark v~m vorliegenden Thema wegführen. Klar ausgeführt hat der Philosoph diese These unter anderem in: Gadamer: Text. Der Dialog vollzieht sich dabei wesentlich sprachlich. Zum sprachlichen Dialogverhältnis vgl. z.B. Plieger: Sprache; oder auch Ruchlak: Gespräch. Ausgesprochen kritisch zu Gadamers Sprachuniversalismus äußern sich z.B. Habermas: Gadamers, und Kögler: Macht. Gadamer: Zwischen; S. 8.
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Ich ist schon ein Anderer für den Anderen. 165 So ließe sich folgern, dass es für das Subjekt immer eine frühere Auße~ng .des Anderen gibt, der es antwortet. 166 Aus dem Gesagten ergtbt SlC~, dass das Verstehen nach Gadamer immer Antwortcharakter hat, m diesem Sinne keinen Anfang kennt und Geschehenscharakter besitzt. Gewiß muß die Auslegung irgendwo einsetzen. Aber ihr Einsatz ist nicht beliebig. Er ist überhaupt kein wirklicher Anfang. [".] Nur weil der Text es fordert, kommt es also zur Auslegung und nur s,o, wie er es fordert. Der scheinbar thetische Beginn der Auslegung 1st in Wahrheit Antwort, und wie jede Antwort bestimmt sich auch der Sinn einer Auslegung durch die Frage, die gestellt ist. Die Dialektik der Auslegung ist immer schon zuvorgekommen. Sie ist es, die das Verstehen als ein Geschehen bestimmt. (WM 476)
Zweitens und eng damit zusammenhängend ist Gadamers These dass das Verstehen wechselseitig, dialogisch verläuft. 167 Es hat d;namischen Charakter und basiert nic~t a~~ einer. e~seitigen Verstehensrelation (dem Husserlschen "emselt1gen Hinemverstehen''), sondern auf einem wechselseitigen Prozess. Diese Wechselseitigkeit hat ihren Grund in Gadamers Au~fassung vom Verstehen als Geschehen, aber auch und vor allem m der Betroffenheit des Ich durch den Anderen. Auch das wurde schon bei der Erfahrung angedeutet: Im Verstehen können sowohl das Ich als auch der Andere wesentlich Veränderung erfahren, z.B. was Urteile oder Ansichtsweisen anbelangt. Diese Veränderungen haben wiederum Auswirkung auf das Selbstverhältnis oder Selbstverstehen. Da das Selbstverhältnis Einfluss auf das Fremdverstehen hat kann durch dessen Veränderung auch der Andere auf modifizierte Weise verstanden werden. Angehrn sagt pointiert: Das heißt aber auch, daß wir, indem wir uns in einen Di~og ~t fremden Lebensformen und Weltdeutungen einlassen, gle1chzeltlg unsere eigenen Sichtweisen ins Spiel bringen, ~ufs Spiel setzen: I~ dem wir uns versehend mit dem Fremden ausemandersetzen, arbe1-
ten wir implizit auch an unserer eigenen Selbstbeschreibung, setzen wir uns reflexiv mit unserem Selbstverständnis auseinander. 16B
Laut Gadamers praktischem Verstehensbegriff bedeutet Verstehen ein Sich-mit-dem-Anderen-Verstehen in Bezug auf sachliche Standpunkte (s.u.). Verstehen ist nun in diesem Sinne dialogisch, als dass die Standpunkte des Anderen auf die Standpunkte des Ich zurückwirken. Drittens ist das dialogische Verstehen bzw. das "wahre" Gespräch laut Gadamer ein Sachverstehen. Im Gespräch verständigen sich Ich und Anderer, und zwar wesentlich über einen Sachverhalt (WM 384).169 Darin zeigt sich der praktisch bestimmte Verstehensbegriff Gadamers, wie er oben erläutert wurde. Fremd:. verstehen hieße bei Gadamer sich miteinander zu verstehen, nicht jedoch die individuelle Eigenheit des Anderen zu verstehen. Im V ordergrund des Verstehens steht nicht die Individualität der Subjekte; diese spielt für ihn im Verstehensgeschehen gar keine Rolle. Im Geschehenscharakter des Verstehens soll sich vielmehr gerade die übersubjektive Komponente des Verstehens ausdrücken: Verstehen sei ein Wahrheitsgeschehen, in welchem sachliches Einverständnis gesucht wird. Damit ist angedeutet, dass das Ziel des dialogischen Verstehens bzw. der Hermeneutik insgesamt viertens das "Einverständnis" und, wie gesagt, "Einverständnis in der Sache" (WM 297) ist. Alles Verstehen hat zum Ziel, ein "gestörtes" oder "ausbleibendes" Einverständnis wiederzuerlangen (ebd.). Das Ziel des Dialogs ist also dezidiert ein gemeinsam formuliertes Ziel zwischen Ich und Anderem. Ein gelungenes Gespräch führt zur Aufhebung der unterschiedlichen Standpunkte in eine höhere Allgemeinheit (WM 310). Gadamer schreibt: "Verständigung im Gespräch ist nicht bloßes Sichausspielen und Durchsetzen des eigenen Standpunktes, sondern eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war."170 (WM 384) 168
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Gadamer: Subjektivität; S. 95. Das vertritt auch Angehrn: Interpretation; S. 110. . ,,[D]ie Dialektik von Frage und Antwort, die ~r aufweisen, läßt das Verhältnis des Verstehens als ein Wechselverhältrus von der Art des Gesprächs erscheinen." (WM 383)
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Ebd.; S. 119. Es wurde von der Forschung mehrfach darauf hingewiesen, dass Gadamer nirgends näher erläutert, was unter "Sache" zu verstehen sei. - Vgl. exempl. Kogge: Verstehen; S. 66. Vgl. auch Hans-Georg Gadamer: Destruktion und Dekonstruktion. In: Ders.: Hermeneutik im Rückblick. Tübingen 1990; S. 369. Dort heißt es: "Im-Gespräch-Sein heißt aber Über-sich-hinaus-Sein, mit dem Anderen
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Im Verstehensgeschehen entwickelt sich ein neuer, gemeinsamer Horizont. 171 Zu dieser Suche nach Einverständnis bedarf es eines platonischen Dialogverständnisses. Im Dialog, aufgefasst als Wechselspiel von Frage und Antwort (WM 272f) , wird der Standpunkt des Anderen durch das Ich so plausibel wie möglich gemacht.l72 Dem zugrunde liegt eine notwendige Offenheit des Ich für den Anderen, nämlich die Offenheit, dass der Andere Recht haben kann. Diese Offenheit wiederum hat ihre Wurzel, wie erläutert, in der Erfahrung der eigenen Endlichkeit. 173 Gadamers Ausführungen zur Dialogik bieten einen interessanten Konfrontationspunkt mit dem hier erarbeiteten Konzept des Fremdverstehens. In zumindest zwei Punkten kann das hiesige Modell durch Gadamers Thesen produktiv erweitert bzw. modifiziert werden. In zwei anderen Punkten steht es mit Gadamers dialogischem Verstehensbegriff in Spannung. Bisher wurde erstens denken und auf sich zurückkommen als auf einen anderen." Überraschenderweise haben Gadamers Ausführungen zum Dialog mehrere Parallelen zu Merleau-Pontys "Rede". In seinem Aufsatz Die Wahrnehmung des Anderen und der Dialog spricht auch er, wenngleich aus anderer Perspektive, von der produktiven Kraft des Dialogs, die die Gesprächspartner verwandelt. Die Rede ist auch laut ihm ein übersubjektives Geschehen, das Antwortcharakter besitzt und in welchem Aktivität und Passivität ineinandergreifen. Schließlich konstatiert auch er ein Wahrheitsgeschehen im Dialog.: "Er [der Andere] kann sich mir gegenüber geltend machen, sofern auch ich Rede bin, das heißt, sofern auch ich dazu imstande bin, mich durch die Bewegung des Diskurses zu einer neuen Erkenntnissituation führen zu lassen [I]. [...] Ich bin nicht nur aktiv, wenn ich spreche, sondern ich eile meiner Rede im Zuhören des Anderen voraus; ich bin nicht passiv, wenn ich zuhöre, sondern ich spreche gemäß dem ... was der Andere sagt [I]. Sprechen, d~s is~ ~~ht nur meine eigene Initiative, Zuhören, das heißt nicht nur, die Irutlatlve des Anderen über sich ergehen lassen, da wir ja schließlich als sprechende Subjekte ein und dasselbe Bestreben, das älter ist als wir,fortsetzen und wieder aufnehmen, ein Bestreben, auf dem wir, der eine wie der andere, aufgepfropft sind und -welches die Offenbarung und das Werden der Wahrheit p.] darstellt." Maurice Merleau-Ponty: Die Wa~nehmung des Anderen und der Dialog. In: Ders.: Die Prosa der Welt. Ubers. v. Regula Giuliani. München 21993; S. 147-161; S. 158. 172 Zur Bestimmung der platonischen Dialogik vgl. exempl. Plieger: Sprache; S. 62-112. Plieger berücksichtigt in ihrem Text auch Gadamers Habilitationsschrift über die Platonische Ethik. 173 Interessanterweise hält Gadamer diese Ausführungen mehr für eine Deskription als für eine moralische Forderung. Die Schlüssigkeit dieser These wird weiter unten diskutiert.
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noch nicht ausreichend geklärt, wo der ,Anfang' des Fremdverstehens anzusiedeln sei. Abgelehnt wurde in jedem Fall Husserls Begriff der transzendentalen Fremderfahrung, der den Anfang der Fremderfahrung eindeutig in das Ich verlegt: Die Fremderfahrung ist nach Husserl ein Konstitutionsproblem - das Ich sucht von sich ausgehend den Anderen zu konstituieren. Beim Fremdverstehen im hiesigen Sinne spielte diese Frage im Anschluss an Husserl keine bedeutende Rolle. Es scheint nun zutreffend, den Beginn des Verstehens nicht in das verstehende Ich zu verlagern, sondern vielmehr auf den Antwortcharakter des Verstehens zu bestehen. Daraus folgt, dass der Beginn des Fremdverstehens nicht notwendigerweise als aktiver Verstehenswille des Ich ausgelegt werden muss. Der Andere gibt durch seine Präsenz, durch seine Handlungen, Ausdrucksweisen etc., die das Ich sozusagen ansprechen bzw. auffordern, etwas zu verstehen auf. Zu diskutieren bleibt noch, inwiefern die Offenheit für den Anderen, die im Verstehensprozess gegeben sein muss, eine moralische Komponente aufweist oder nicht (vgl. nächstes Kapitel). Zweitens und eng damit zusammenhängend scheint es sinnvoll, mit Gadamer auf die Wechselseitigkeit alles Verstehens hinzuweisen. Zwar wird hier gegen Gadamer an der im Prinzip einseitigen Fragestellung nach dem Fremdverstehen festgehalten, nämlich an der Frage nach dem Verstehen der Individualität des Anderen durch das Ich. Dennoch muss mit Gadamer und gegen Husserl gesagt werden, dass es gar kein "einseitiges Hineinverstehen" im engeren Sinne gibt. Die Wechselseitigkeit des Verstehens zeigt sich darin, dass das Verstandene auf das Ich zurückwirkt, es in diesem Sinne (potentiell) verändert und damit zu einem anderen Selbstverstehen führt (oder zumindest führen kann), was schließlich wiederum zu einem erneuten und anderem Fremdverstehen motiviert. Das Verstandene wirkt also auf das verstehende Ich zurück. Das ließe sich zwar in abgeschwächter Form auch mit Husserls Rede von der Horizonterweiterung vertreten, dort spielt es aber anders als bei Gadamer keine wesentliche Rolle. Das Fremdverstehen ist also dynamischer, als es im Anschluss an Husserl erscheint. Ferner ließe sich behaupten, dass das Fremdverstehen, beachtet man dessen dynamischen Charakter, nicht nur, wie es sich bei Husserl zeigte, subjektrelativ ist, sondern auch ,intersubjektrelativ' (die konkrete Konstellation von Ich und Anderem betreffend), dass also der Verlauf des Fremdverstehens 103
wesentlich von der Dynamik des wechselseitig verlaufenden Verstehens getragen ist. Je mehr die Offenheit für Veränderung durch Verstehensprozesse gegeben ist (von beiden Seiten), desto produktiver dürfte das Fremdverstehen verlaufen. Schwierig hingegen erscheinen drittens und viertens die zwei anderen Bestimmungen des dialogischen Verstehens: das Sachverstehen und das Einverständnis als Ziel des Verstehens. Sie fmden zum einen für das Fremdverstehen im hiesigen Sinne keine wirkliche Übersetzung und sind zum anderen an sich kritikwürdig. Das Fremdverstehen wurde in dieser Arbeit von einem Sachverstehen geschieden. Zwar zeigt sich die individuelle Eigenheit des Anderen auch über gewisse Sachverhalte (wie z.B. über Urteile des Anderen), jedoch steht weder der sachliche Gehalt noch das Einverständnis über diesen im Vordergrund. Wesentlich kann es beim hier entwickelten Fremdverstehen nicht um das Einverständnis zwischen Ich und Anderem gehen. Zutreffend. scheint zwar die mit Gadamer zu vertretende These, dass alles Verstehen auch wertenden Charakter hat, und dass in diesem Sinne das Verstandene implizit vom Ich wertend angenommen oder abgelehnt wird. Den Anderen in seiner individuellen Eigenheit zu verstehen kann aber gerade nicht heißen, mit ihm zu einem Einverständnis gelangen zu wollen und dadurch zu versuchen, im Verstehensvollzug den Anderen in seinen Urteilen oder in seiner individuellen Eigenheit insgesamt zu billigen (oder abzulehnen). Die Suche nach Einverständnis lässt sich von der impliziten Wertigkeit des Verstehens zu sehr leiten, und so läuft sie Gefahr, das Verstehen Zu verzerren. Es gälte vielmehr, sich der wertenden Komponente des Verstehens bewusst zu sein und zu versuchen, den Anderen auf distanziertere Weise Genseits von Zustimmung oder Ablehnung) zu verstehen. Damit ist eine normative Komponente des Fremdverstehens angesprochen, die im folgenden Kapitel verhandelt wird. Problematisch erscheinen die Bestimmungen des reinen Sachverstehens und das Verstehen als Einverständnis auch an sich. Aus moralischer Perspektive wird dies im nächsten Kapitel diskutiert. Aus erkenntnistheoretischer Sicht ließen sich zwei Einwände mit Hilfe von Köglers pointierter Kritik an Gadamer
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anbringen. 174 Kögler konstatiert, dass es problematisch ist, das Verstehen auf ein Sachverstehen zu reduzieren: Der "Individualität des Sprechers" werde im reinen Sachverstehen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Frage nach der subjektiven Individualität erübrigt sich für Gadamer, weil er das Verstehen als übersubjektives Geschehen beschreibt, in dem die Individualität der Subjekte keine Rolle spielt. Das ist insofern problematisch, als es eine individuelle Weise gibt, Sinn zu rezipieren. Das Verstehen ist durch die Individualität des Subjekts wesentlich geprägt. Letzteres steht jedoch Gadamers Bestimmung eines übersubjektiven und rein sachlichen Wahrheitsgeschehen entgegen. Auch das Ziel des Einverständnisses im Verstehen ist problematisch. Der Wille zum Einverständnis scheint einem stark aneignenden Zug zu unterliegen. Verstanden wird nicht der Andere, vielmehr wird die Andersheit des Anderen im gesuchten Einverständnis aufgehoben. 175 Kögler konstatiert zu Recht, dass das Verstehen zum "eingeschlossene[n] Zirkelgang"176 zu werden droht, wenn Verstehen und Einverständnis, also Sinnebene und Geltungsebene, vermischt werden. Denn wenn das Verstehen immer schon auf Einverständnis ausgerichtet ist und in diesem Sinne die Argumente des Anderen im Verstehensprozess selbst gestärkt werden sollen, wird der Andere im Verstehen immer schon "unbemerkt durch die eigenen impliziten Hintergrundannahmen verstanden, gestärkt, beurteilt". 177 Nach dieser Darstellung und Diskussion e1n1ger wesentlicher Aspekte des Gadamerschen Verstehensbegriffs kann nun der Prozess des Verstehens näher erläutert werden, und zwar über den "hermeneutischen Zirkel"178 im Gadamerschen Sinne.179 174 Kögler: Macht; S. 66ff. - Zur Kritik am Sachverstehen vgl. ferner auch Ruchlak: Gespräch; S. 107ff. Vgl. nächstes Kapitel. Diese Kritik wurde (ausgehend von Derridas Einwänden) mehrfach gegen Gadamer angebracht. - Für das Einverständnis plädiert hingegen Bertram: Hermeneutik; S. 68ff. 176 Kögler: Macht; S. 122. 177 Ebd. 175
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Zum hermeneutischen Zirkel vgl. unter anderem WM 270ff/296ff oder Hans-Georg Gadamer: Vom Zirkel des Verstehens. In: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tiibingen 1993; S. 57-65.
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Dadurch soll das Verhältnis von Teilverstehen und Verstehen des Anderen im ,Ganzen' in seiner individuellen Eigenheit erhellt werden. Nach einer allgemeinen Beschreibung des hermeneutischen Zirkels werden die Spezifika des Gadamerschen Verständnisses dieser Zirkel struktur hervorgehoben. Anschließend werden diese auf die Frage nach dem Fremdverstehen im hiesigen Sinne übertragen. Vorangestellt sei, dass der hermeneutische Zirkel im traditionellen Sinne und nach Gadamer den Prozess eines Sachverstehens beschreibt (also z.B. das Verstehen eines Sinngebildes wie eines Textes bzw. seiner Aussage). Gadamer vertritt einige Thesen, die schon im Anschluss an Husserl erarbeitet werden konnten, so z.B. die These vom Entwurfscharakter des Vers tehens , vom ,Ort' des Verstehens zwischen Vertrautheit und Fremdheit oder von einer notwendigen Bewährungsstruktur. 18o Diese Thesen können anhand der Auseinandersetzung mit Gadamer teilweise noch schärfer gefasst und/ oder genauer diskutiert werden. Ein dezidiert neues Moment stellt die These von der zirkulären Struktur alles Verstehens dar. Der hermeneutische Zirkel" beschreibt die Weise des V erstehensvoll~ugs und ist in diesem Sinne als phänomenologischer Zirkel (nicht als logischer) aufzufassen. 181 Ganz allgemein gesprochen wird darunter die unermüdliche Hin- und Herbewegung des Verstehens zwischen dem Teilverstehen und dem Verstehen des Ganzen verstanden. Um die Teile eines Sinngebildes (z.B. eines Textes) verstehen zu können, bedarf es bereits einer SinnantizipaGadamer verweist darauf, dass der hermeneutische Zirkel aus der. griechischen Antike herrührt. Die Zirkelstruktur erfuhr durch die Jahrhunderte verschiedene Ausformulierungen. Einen Vergleich der Zirkelstruktur, wie sie bei Schleiermacher, Heidegger und Gadamer zu finden ist, liefert z.B. Bertram: Hermeneutik; S. 42-56. - Zur Kritik am entwerfend verlaufenden hermeneutischen Zirkel bei Gadamer vgl. Bettendorf: Hermeneutik; v.a. 127f. 180 Analogisierung spielt bei Gadamer keine Rolle. 181 So auch Grondin: Einführung; S. 126. Die irreführende Bezeichnung ,Zirkel' mag dazu verleiten, einen logischen Fehler in diesem Modell zu sehen, da dieses Modell dasjenige vorauszusetzen scheint, was ~rst b.ewiesen werden soll, nämlich das Verstehen des Ganzen durch die Teile und des Teils durch das Ganze. Grondin sagt aber zu Recht, der Zirkel betitle keine logischen Fehler, sondern die Zirkelstruktur beschreibe ,,[...] den ständigen Revisionsprozeß der Verstehensantizipation im Licht eines vertiefenden Verständnisses des Ganzen und seiner Teile." Ebd. S. 129. 179
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tion auf das Ganze dieses Sinngebildes hin (z.B. auf die Aussage eines Textes). Dies begründet sich dadurch, dass einzelne, unkontextuierte Äußerungen kontingent bleiben: Sie können auf so beliebig verschiedene Weisen ausgelegt werden, dass sie letztlich unverständlich bleiben. Insofern bedarf es zum Verstehen des Teils immer schon eines Entwuifs auf das Sinngebilde als Ganzes. Der Verstehensentwurf aufs Ganze hin lenkt das Verstehen der Teile, was wiederum zu einem differenzierteren Verstehen des Ganzen führt usf. Gadamer sagt: "Wer einen Text verstehen will, vollzieht imm.er ein Entwerfen. Es wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest."182 In dieser Weise pendelt das Verstehen unermüdlich zwischen einem Teilverstehen und einer Sinnantizipation auf das Ganze hin und her. Durch die immer weiter getätigten Verstehensversuche, die sich von dem zu verstehenden Sachverhalt lenken und korrigieren lassen, werden die Verstehensentwürfe stets ein Stück adäquater. Dem traditionellem Verständnis des hermeneutischen Zirkels nach (das Gadamer in diesem Punkt nicht teilt (s.u.)) kommt dieser zirkuläre Prozess zum Stillstand, wenn das Unverstandene durch die Zirkelbewegung aufgelöst wurde. Das geschieht, wenn das Teilverstehen und das Verstehen des Ganzen kohärent miteinander zusammenstimmen, ineinander aufgehen. Dieser "hermeneutische Zirkel" als Verstehensprozess ist laut Gadamer eine nicht zu durchbrechende hermeneutische Regel" anders gesagt: Alles Verstehen weist die:~ zirkuläre Struktur zwi~ schen Verstehen des Teils und des Ganzen auf (WM 296). Gadamer übernimmt das oben dargestellte Modell des Zirkels und präzisiert bzw. modifiziert es in dreierlei Hinsicht, und ZWar in Bezug auf dis Vorverständnis (1), auf die Standortgebundenheit und damit die Endlichkeit alles Verstehens (2), sowie auf den "Vorgriff auf Vollkommenheit" (3). - Gadamer erweitert die allgemeine Zirkelstruktur, indem er erstens konkretisiert, dass der Verstehensentwurf im zirkulären Prozess nur aufgrund seines Vorverständnisses (im oben genannten Sinne) möglich ist. Das Verstehen hat laut Gadamer seinen Ort zwischen Vertrautem und 182 Gadamer: Zirkel; S. 59.
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Fremdem: Das Fremde erscheint erst auf dem Boden des Bekannten und ,,[i]n diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik." (WM.300) Der Verstehensentwurf erfolgt - und hierin zeigt sich eine Parallele zu Husserls appräsentativem Verstehensmodell vom eigenen Erfahrungshorizont aus und dieser Entwurf erfährt Korrektur durch das Fremde. Das Dynamische in dieser Zirkelstruktur liegt in der jeweiligen Differenz des eigenen Entwurfs zu der zu verstehenden Sache. 183 Der zirkuläre Verstehensprozess ist also wesentlich von der zu verstehenden Sache geleitet, und der Entwurf muss sich anhand der zu verstehenden Sache bewähren. 184 Aus der Zwischenstellung des Verstehens zwischen Vertrautem und Fremden folgt ferner, dass ein radikal Anderes oder ein radikal Anderer der Hermeneutik nach eine, wie man mit Hofer sagen könnte, "Abstraktion" darstellt. 18s Die Tatsache, dass das Verstehen vom eigenen Erfahrungshorizont ausgeht und entwerfenden Charakter hat, mündet ~eitens in einer weiteren essentiellen Bestimmung des Gadamerschen Zirkels: Das Verstehen ist und bleibt wesentlich durch das Vorverständnis des Verstehenden geprägt (z.B. WM 379). Im Anschluss an Heidegger 186 vertritt Gadamer die These, dass alles Verstehen immer standortgebunden ist und in diesem Sinne endlich, korrekturbedürftig. Demnach wendet er sich gegen ein traditionelles Verständnis der Zirkelstruktur, das die Abschließbarkeit des Verstehens behauptet. Laut Gadamer gibt es kein endgültig ,richtiges' Verstehen, sondern vielmehr nur ein Adäquationsverhältnis. Kogge sagt pointiert, dass ,,[...] die Vorgriffe des Interpreten, sein ,Eigenes' aus dem Verstehen nie heraussubstrahiert [...]"187 werden können. Alles Verstehen ist in diesem Sinne immer eine Verstehensrelation, in der der Verstehende seine 183 184
18S 186
187
So z.B. auch Bertram: Hermeneutik; S. 72ff. Im Anschluss an Heidegger sagt Gadamer, "es gilt, den Blick auf die Sache durch die ganze Beirrung hindurch festzuhalten. " - Vgl. Gadamer: Zirkel; S. 59. Hofer: Nächstenliebe; S. 12. - Zur Diskussion dieser These s.u. Es gibt einige Parallden zwischen dem hermeneutischen Zirkel bei Gadamer und dem Heideggers. Diese Parallelen, vor allem aber auch Unterschiede, hat Grondin übersichtlich herausgearbeitet. - Grondin: Einführung; S. 125-133. - Zu Heideggers Zirkelverstehen siehe Heidegger: Sein; S. 150ff. Kogge: Verstehen; S. 71.
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eigenen Vormeinungen mitbringt. Diese Relation macht es unmöglich, zu einem letztgültigen Verstehen zu gelangen. Das Verstehen verhält sich also relativ zur (mit Gadamer geschichtlichen) Situation des Verstehenden, und so ließe sich mit Gadamer sagen, ,,[...] daß nach uns andere immer anders verstehen werden." (WM 379) Das letzte Spezifikum des Gadamerschen Zirkelmodells, das hier genannt werden soll, liegt drittens in Gadamers These vom "Vorgriff auf Vollkommenheit" (WM 299). Sie wird der Vollständigkeit wegen knapp dargestellt, jedoch nicht weiter diskutiert, da sie keine Übersetzung für das Fremdverstehen im hiesigen Sinne fmdet. - Wenn ein Sinn auf das Ganze hin entworfen wird, muss lalit Gadamer ein Vorgriff auf Vollkommenheit erfolgen. Darunter versteht er die Annahme des Interpreten, dass das zu Verstehende eine "vollkommene Einheit von Sinn" (ebd.) darstelle. 188 Die Adäquatheit des Verstandenen zeigt sich in der Kohärenz des Verstehens des Teils mit dem Verstehen des Ganzen. Gadamer geht noch ein Stück weiter. Es bedürfe zum zirkulären Verstehen nicht nur des Vorgriffs auf Vollkommenheit im gerade genannten Sinn, sondern auch insofern, als dass das zu verstehende Sinngebilde eine "vollkommene Wahrheit" (ebd.) aussagt. Zumindest muss davon ausgegangen werden, dass das zu Verstehende etwas "besser" weiß als der Verstehende selbst. Das erklärt sich aus dem von Gadamer angesetzten Ziel des Verstehens, was ja letztlich Ziel des hermeneutischen Zirkels ist, also aus der Suche nach Einverständnis. Es wurde bereits herausgearbeitet, dass das Fremdverstehen im hiesigen Sinne keine Suche nach Einverständnis darstellt und in der Auseinandersetzung mit Husserl wurde erläutert, dass Subjekte keine "verständliche Einheit" bilden. Insofern scheint der "Vorgriff auf Vollkommenheit" hier keine Übersetzung zu finden. Nach dieser Darstellung kann versucht werden, die Zirkelstruktur für die Frage nach dem Fremdverstehen zu übersetzen, wobei dieses wesentlich kein Sachverstehen ist. Allgemein gesagt 188
Hier darf man nicht vergessen, dass Gadamer von einem Sachverstehen ausgeht. Gadamer würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht behaupten wollen, dass Subjekte vollkommene Sinneinheiten sind. Allerdings wäre es bereits diskussionswürdig, ob es sich bei Texten so verhält. Mit Derrida z.B. müsste man Gadamers These eindeutig zurückweisen.
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erscheint es sinnvoll, auch das Fremdverstehen als ein zirkuläres Verstehen im oben genannten Sinne zu beschreiben: Die individuelle Eigenheit des Anderen kann selbstverständlich nicht ,auf einen Schlag', sondern nur über einzelne Handlungen, Denkweisen, Fühlweisen, Werte, Urteile, Motivationen etc. des Anderen verstanden werden. Auch wenn die individuelle Eigenheit des Anderen immer (und weit aus) mehr ist als bloß die Summe dieser einzelnen ,Teile', kann die Eigenheit nur über diese Teile erschlossen werden, da sich die Singularität des Anderen in diesen Teilen' wie etwa in einzelnen fundamentalen Überzeugungen, Fühlweisen oder Verhaltensweisen des Anderen zeigt. Im Gegenzug sagen die einzelnen Handlungen etc. des Anderen über ihn hauptsächlich im Kontext etwas aus, also dann, wenn seine individuelle Eigenheit berücksichtigt wird. Einzelne, unkontextuierte Handlungen sagen über den Anderen nur bedingt etwas aus, weil sie für sich genommen kontingent sind. Sie können auf zu viele verschiedene Weisen ausgelegt werden. In diesem Sinne bleiben einzelne Handlungen, die nicht schon durch einen Entwurf auf die motivationale Verfasstheit des Anderen kontextuiert werden, unverständlich. So also erweist sich auch das Fremdverstehen als ein ineinander greifendes Verstehen von Teil und Ganzem. Durch die zirkuläre Hin- und Herbewegung, in der das immer wieder einer Korrektur Zu unterwerfende Verstehen des Einzelnen auf das Ganze zurückwirkt und umgekehrt, kann der Andere immer differenzierter verstanden werden. Ahnliches ergab sich auch bei Husserls indirekter Bewährungsstruktur. Der Verweis auf den hermeneutischen Zirkel erlaubt nun aber, den Verlauf dieser Bewährungsstruktur viel genauer zu fassen. 189 Für das Fremdverstehen im hiesigen Sinne produktiv erscheinen auch Gadamers Thesen von der Entwurfshaftigkeif des Verstehens, von der Endlichkeit des Verstehens und vom Ort des Verstehens zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Die für die vorliegende Fragestellung relevanten Punkte zum Verstehensentwurf wurden schon in der Auseinandersetzung mit Husserl erarbeitet und können damit an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. In Gadamers Ausführungen zur Endlichkeit des Verstehens liegt
die These, dass es kein endgültig ,richtiges' Verstehen gibt. Es wurde schon im Anschluss an Husserl auf die mehrfachen Gren~ zen des Fremdverstehens verwiesen. Mit Bezug auf Gadamer 190 könnte man nun dezidiert sagen, dass jedes Ich im Versuch, den Anderen zu verstehen, derartig in die Verstehensrelation IchAnderer verstrickt ist, dass das Fremdverstehen auch in diesem Sinne (inter)subjektrelativ und deshalb korrekturbedürftig ist und bleibt. Zum Ort des Verstehens zwischen Vertrautheit und Fremdheit lässt sich Folgendes sagen: Die Tatsache, dass alles Verstehen ~uf einem eigenen Vorverständnis aufbaut, zeigt sich bei Husserl wie bei Gadamer. Unkommentiert blieb bisher eine Folgerung aus dieser Behauptung, nämlich, dass ein ,radikal' Anderer nach einem solchen Konzept eine Abstraktion darstellt: Kein Anderer ist gäni!ich fremd. 191 Diese These scheint durchaus zutreffend. Ich wie Anderer teilen bestimmte basale Eigenschaften miteinander, die ein Verstehen ermöglichen. Das zeigte sich mitunter bei Husserls Thesen zum "Allgemeintypus" von Subjekten, worunter er grundlegende Strukturen fasst, die alle Subjekte miteinander teilen (vgl. Kap. 2.3). Von diesem allgemeinen Verständnis von Subjekten und von ihrem individuellen Erfahrungsschatz, der dem des Anderen zumindest teilweise ähnelt, hebt sich die individuelle Eigenheit des Anderen ab. Dennoch scheint es, über Husserl und Gadamer hinausgehend, sinnvoll, unterschiedliche ,Grade' von Fremdheit oder Andersheit zu unterscheiden. So zeigt sich z.B., dass das Fremdverstehen im hiesigen Sinne in Nöte gerät, wenn große kulturelle Unterschiede von Subjekten der Analogisierung und dem Verstehensentwurf Schranken setzen. Das Problem der Aneignung im Verstehen oder· die .Fehlerhaftigkeit des Verstehensentwurfs sind hier besonders dringlich mitzureflektieren. Auch wenn versucht werden kann, ausgehend von einem noch so kleinen Boden des Vertrauten einen Anderen zirkulär besser und besser zu verstehen, mag ein sehr hoher Fremdheitsgrad das Fremdverstehen in konkreten
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191 189
Dabei wird an Husserls These festgehalten, dass das Ich sich nie ganz sicher sein kann, ob es den Anderen tatsächlich zutreffend verstanden hat, sowohl im Teil als auch in seiner individuellen Eigenheit insgesamt.
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Gadamer würde jedoch von einer weniger subjektiven Perspektive ausgehen und vom geschichtsrelativen Verstehen sprechen. Eine solche These ist z.B. für Uvinas, der von der "absoluten Andersheit des Anderen" spricht, eine Provokation. Zur Ausarbeitung dieses radikalen Verständnisses von der Andersheit des Anderen, das über das hier vertretene weit hinausgeht, siehe exempl. Uvinas: Totalität.
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Situationen sehr erschweren oder sogar verunmöglichen (vgl. Kapitel 6). - Überlegenswert wäre zudem, ob nicht gerade auch das Gegenteil, nämlich ein (vermeintlich) sehr geringer Grad von Fremdheit das Fremdverstehen erschweren kann. Der Grund liegt darin, dass das zu vertraut Wirkende zu Projektionen einlädt: Wenn die individuelle Eigenheit des Anderen dem Ich zu bekannt erscheint, mag das dazu verleiten, die Analogisierung und den Entwurf zu wenig durch die faktische Andersheit des Anderen zu korrigieren. Insofern die Nähe zwischen Ich und Anderem sehr groß ist, mag das Ich schnell dazu verleitet werden, anzunehmen, verstanden zu haben und aufgrund dessen die tatsächlich bestehenden Differenzen zu übersehen.
Laut Gadamer wollen sich auch unmoralische Wesen verstehen. Deutlich spricht er das in einer Ausein~dersetzung mit Derrida aus. 192 In dem Aufsatz Text Imd Interpretation, seinem Einstiegsvortrag für ein Symposion mit Derrida, spricht Gadamer vom "guten Willen" des Verstehens. 193 Derrida unterstellt Gadamer, dass dieser gute Wille zu verstehen zum einen eine moralische Komponente' besitze und zum anderen eine Geste der Macht darstelle. 194 Derridas Einwände gegen Gadamer scheinen verfehlt, insofern sie auf dem Kantischen Willensbegriff1 95 aufbauen, Gadamer jedoch vom platonischen Willens begriff spricht. Dennoch wäre es etwas übereilt, Derridas Einwand einfach von der Hand zu weisen (s.u.). Gadamer kontert auf Derrida mit folgenden Worten: Guter Wille meint das, was Plato ,eumeneis elenchoi' nennt. Das will sagen: man ist nicht darauf aus, Recht Zu behalten und will deshalb die Schwächen des anderen aufspüren; man versucht vielmehr, den anderen so stark wie möglich zu machen, so daß seine Aussage
3. Moral und Fremdverstehen Mit dieser Darstellung und Diskussion von einigen für das hier verhandelte Thema relevanten Bestimmungen des Verstehens bei Gadamer und der Präzisierung des Fremdverstehensprozesses durch die kritische Erläuterung des hermeneutischen Zirkels wird die Frage nach den Bestimmungen des Fremdverstehens vorerst abgeschlossen. Im Weiteren wird die bislang immer wieder aufflammende, jedoch nicht weiter explizierte Frage nach dem moralischen Gehalt des (Fremd-)Verstehens verhandelt. Sie hat einen ihrer Ausgangspunkte in der Frage, warum das Ich einen Anderen verstehen will. Auch wenn sich mit Gadamer zeigte, dass zumindest der Beginn des Verstehens nicht notwendig im (Willen des) verstehenden Ich zu suchen ist, ist dennoch bisher ungeklärt, ob das Verstehenwollen eine moralische Komponente besitzt oder nicht. Falls sich dies tatsächlich so verhält, ist die hier entwickelte Form des Fremdverstehens eine moralisch wünschenswerte Form des Verstehens (auch wenn Gadamer sie eher abzulehnen scheint; s.u.)? - Diese Fragen lassen sich im Anschluss an Gadamer (und Derrida; vgl. 4. Kapitel) gut explizieren. Nach Gadamer ist das hermeneutische Verstehen bzw. das Verstehenwollen nicht notwendig moralischer Natur. Jedoch vertritt er die These, dass das von ihm entwickelte hermeneutische Verstehen eine moralisch wünschenswerte Form des Verstehens ist.
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Diese Diskussion zwischen Gadamer und Derrida (1981 in Paris) wurde in dem Band: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutschfranzösische Debatte. München 1984, festgehalten und kommentiert. Auch der englischsprachige Band Diane P. Michelfelder/Richard E. Palmer (Hg.): Dialogue and deconstruction. The Gadamer-Derrida encounter. New York 1989 dokumentiert diese Auseinandersetzung und liefert interessante Beiträge zu der (eher gescheiterten) Auseinandersetzung. Vgl. ferner auch Plieger: Sprache; S. 44ff. - Während Derrida außerhalb dieses Zusammentreffens nur einen philosophischen Nachruf zu Gadamer verfasst hat (Jacques Derrida: Der ununterbrochene Dialog. Zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht. In: ders./Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog. Übers. v. Friedrich A. Kittler. Frankfurt/M 2004; S. 7-50), setzt sich Gadamer in verschiedenen Aufsätzen mit Derridas Positionen und dessen Einwänden gegen Gadamer , auseinander. - Vgl. exempl. Gadamer: Destruktion oder Hans-Georg Gadamer: Dekonstruktion und Hermeneutik. In: ders.: Hermeneutik im Rückblick. Tübingen 1995; S. 138-147. 193 Gadamer: Text; S. 343. 192
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Vgl. Jacques Derrida: Guter Wille zur Macht 1. Drei Fragen an HansGeorg Gadamer. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte. Text übers. v. Friedrich A. Kittler. München 1984; S. 56-58. - Zur Machtvgl. Kap. 4. Das einzig unbedingt moralisch Gute ist nach Kant bekanntermaßen der "gute Wille". "Es ist'überall nichts in der Welt [...] was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als ein guter Wille." Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg 1999; S. 11.
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etwas Einleuchtendes bekommt. Solches Verhalten scheint mir für jede Verständigung wesentlich. Das ist eine pure Fes~stellung. und hat nichts mit einem ,Appell' zu tun, und am allerwerugsten tnlt Ethik [~. Auch unmoralische Wesen bemühen sich, einander zu verstehen [I]. [...] Wer den Mund auftut, möchte verstanden werden. 196
Gadamer begründet die These, dass auch unmoralische Wesen einander verstehen wollen, an dieser Stelle nicht weiter. Sie lässt sich aber interpretierend anhand seines hermeneutischen Verstehensbegriffs explizieren. Erstens wurde erläutert, dass das Verstehen nach Gadamer mehr ein Geschehen denn eine aktive Tat eines Subjekts ist. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass zumindest der Beginn des Verstehens kein aktiver Wille des Subjekts ist, sondern dass dem Subjekt vielmehr etwas durch den Anderen fraglich wird. Zwar muss mit Gadamer datan festgehalten werden, dass das Ich einer gewissen Off~nheit f~r den Anderen bedarf. Doch auch diese ist nicht notwendig moralischer Natur. Sie hat vielmehr ihre Wurzel in der Erfahrung der Endlichkeit und Fehlbarkeit des Subjekts. Subjekte sind offen für die Standpunkte Anderer, weil sie um die Falsifizierbarkeit der eigenen Standpunkte wissen. 197 Wenn das Ich jedoch offen ist für den Anderen, wird es laut Gadamer in der Verständigung versuchen, die Argumente des Anderen so einsichtig wie möglich zu machen (das ist der "gute Wille" zu verstehen). Gadamer konstatiert, dass derjenige, der spricht, verstanden werden will. Das lässt sich unter anderem durch seine These von der universalen Sprachlichkeit von Subjekten begründen. 198 Dieser Aspekt wurde bisher nicht berührt und kann nur knapp wiedergegeben werden. Sprache ist in einem wesentlichen Sinne sozial, .sie richtet si~h an den Anderen und nicht an das eigene Ich. In dieser sprachlichen Verfasstheit stecke bereits eine Offenheit für Andere(s): "Als
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Hans-Georg Gadamer: Und dennoch: Macht des guten Wille~s: In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-franzosische Debatte. München 1984; S. 59. Vgl. auch Grondin: Einführung; S. 189. "Da wir uns endlich und ~e grenzt wissen, öffnen wir uns für andere Horizont~." - Ga~amer :er~ltt, dass die "bloße Präsenz des anderen" schon ausreIchen wurde, die eIgene Beengtheit aufzudecken. Gadamer: Text; S. 335. Das sieht ähnlich Mirko Wischke: Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers. Köln/Weimar 2001; S. 234f.
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sprachlich verfaßte ist eine jede solche Welt von sich aus für jede mögliche Einsicht und damit für jede Erweiterung ihres eigenen Weltbildes offen und entsprechend für andere zugänglich" (WM 451). Einander verstehen zu wollen, ist nach Gadamer ein wesentliches Gesetz der Sozialität von Subjekten und in diesem Sinne mehr eine Deskription denn eine moralische Forderung. Trotz dieser Argumente ist es aber letztlich wenig überzeugend, dass sich auch unmoralische Wesen verstehen wollen, zumindest im emphatischen Sinne. Es scheint von Gadamer zwar zutreffend b~schrieben, dass das Verstehen Geschehenscharakter haben kann, v.a. im Hinblick darauf, dass der ,Anfang' des Verstehen immer schon Antwort auf jemanden ist und weniger eine aktive Tat des Ich. Auch ist es plausibel, dass aus der Erfahrung der Endlichkeit von Subjekten eine gewisse Offenheit für Andere entstehen kann; und vielleicht ist diese Erfahrung sogar die Bedingung für eine mögliche Offenheit für den Anderen. Dennoch scheint die Behauptung euphemistisch, dass ,unmoralische' Subjekte den Anderen im emphatischen Sinne verstehen wollen oder, wie Gadamer sagen würde, dass sie nach Einverständnis suchen. Vielmehr müsste bedacht werden, dass das Verstehen, wie mehrfach erwähnt, aneignenden Charakter hat. Ein einfachhin geschehendes Verstehen, das nicht durch eine normative Komponente geleitet ist, wird dieser aneignenden Tendenz bzw. dieser möglichen Gewalt im Verstehen nichts entgegensetzen und nicht von einem "guten Willen" geleitet sein. Auch sollte in Erwägung gezogen werden, dass alles Verstehen einem latenten Interesse des Ich unterliegt, wie sich in der Derridaauseinandersetzung noch zeigen soll. Ein "unmoralisches Wesen" wird weniger versuchen, den Anderen in seiner Andersheit zu verstehen oder nach Einverständnis mit dem Anderen zu streben, sondern vielmehr wird es versuchen, den eigenen Standpunkt durchzusetzen und/oder den Anderen so zu verstehen, wie es für das Ich nützlich ist. Gadamer scheint die Interessegeleitetheit im Verstehen zu marginalisieren. Derrida behält mit seiner These vom moralischen Appell des guten Willens zu verstehen also Recht. Dieser gute Wille ist eine moralische Forderung, keine Deskription. Die moralische Komponente des Verstehens in Gadamers hermeneutischem Konzept sowie seine Unterschätzung des Interesses im Verstehen wird aus anderen Blickwinkeln heraus auch von der Gadamerforschung mehrfach betont. Forget z.B. kriti115
siert Gadamers Unterschätzen des Oatenten) Interesses allen Verstehens 199, Plieger sagt, Gadamer vernachlässige, dass es "zum Wesen des Menschen gehör[e], sich Grunderfahrungen im Beharren auf den eigenen Standpunkt zu verstellen" 200, und Schurz wendet gegen Gadamer ein, dass Subjekte allem voran ihre "Anwesenheit" kundtun würden, wenn sie sich äußerten. Sie äußern sich nicht primär, um verstanden zu werden 201 . Ausführlich widmet sich Wischke dieser Frage. 202 Er kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und konstatiert, Gadamer würde die Voraussetzungen für das dialogische Gespräch ungenügend explizieren und den moralischen Gehalt der Offenheit für den Anderen marginalisieren. Die "erkenntnisweckende Qualität der Dialogform"203 sei nicht unabhängig von der moralischen Haltung des Interpreten, die Neugier und Aufgeschlossenheit gegenüber dem zu Verstehenden seien moralischer Natur. Diese Einsicht kann ferner auch auf die Frage nach der Anerkennung der Grenzen des Fremdverstehens angewandt werden, wie sie am Schluss des 2. Kapitels erläutert wurde: Es ist nicht selbstverständlicherweise so, dass das Ich den Anderen auf emphatische Weise zu verstehen sucht. Wenn es ihn außermoralisch Zu verstehen sucht, wird die Einsicht in die Grenzen des Verstehens nicht notwendigerweise in einer Vorsicht dem Anderen gegenüber münden, wie es der Fall sein könnte. Es scheint plausibler, dass ein "unmoralisches Wesen" den Anderen mehr aus Eigeninteresse heraus verstehen wird 204, nicht aber, um die individuelle Eigenheit des Anderen per se zu verstehen. Auf den Punkt gebracht hieße das: Der Andere fordert zum Verstehen auf, und in diesem Sinne kann das Verstehen Geschehenscharakter haben. Als Geschehen werden jedoch die aneignenden Tendenzen des Verstehens nicht eingedämmt. Die Forderung der Anerkennung der Grenzen des Verstehens und mit ihr der Ap199 200 201 202
Forget: Leitfaden; S. 11. Plieger: Sprache; S. 167. Schurz: Negative; S. 44. Wischke: Schwäche; S. 224-270. Wischke weist auch auf das Durchsetzen des eigenen Standpunkts hin; S. 253. 203 Ebd.; S. 228f. 204 Das Ich könnte z.B. versuchen, den Anderen zu verstehen, um ihn zu berechnen und diese Berechnung für sich nutzbar machen.
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pell, eine gewisse Vorsicht im Fremdverstehen walten zu lassen ist eine moralische Forderung. ' Obgleich Gadamer das hermeneutische Verstehen also nicht für notwendig moralisch motiviert hält, erachtet er nichtsdestotrotz sein eigenes Verstehenskonzept für moralisch wünschenswert. Honneth sagt treffend, laut Gadamer führe ein erkenntnismäßiger Fehler zu einem moralisch fragwürdigen Verhalten. 205 Positiv formuliert: Das erkenntnismäßig richtige Verstehen, welches nach Gadamer sein eigens entworfenes hermeneutisches Verstehen darstellt, ist auch das moralisch wünschenswerte. Das zeigt sich bei Gadamers Ausführungen zu den drei Erfahrungsweisen des Du (WM 364-368).206 Dieser Abschnitt von Wahrheit und Methode hat dezidiert moralphilosophischen Anspruch. Er behandelt im Prinzip eine Form des Fremdverstehens Gedoch nicht im hier vorliegenden Sinne), da er nach den möglichen Weisen fragt, wie das Ich das Du (in hiesiger Terminologie den Anderen) verstehen (erfahren) kann. Da der Philosoph von der Dialogik alles Verstehens ausgeht, versucht er diese drei Du-Erfahrungen auf die hermeneutische Situation der Auslegung von Kunstwerken in geschichtlicher Überlieferung zu übertragen, was jedoch nicht durchweg unmittelbar einleuchtend ist. 207 - Die erste Erfahrungsweise des Anderen stellt eine genuin unmoralische Erfahrungsweise dar. Der Andere wird zum Mittel zum Zweck des Ich degradiert: Das Ich erwirbt Menschenkenntnis, indem es typische Verhaltensweisen des Anderen kennen und berechnen lernt und bedient sich dieses Wissens, indem es den Anderen zum Mittel 205 Honneth: Von der zerstörerischen; S. 314. - Honneths Ausführungen sind en gros kritischer Art. Er wirft Gadamer unter anderem vor die moralische Ebene auf einem Ich-Du-Verhältnis unter Ausschluss :ines generalisierten Anderen" (S. 323) zu verhandeln. Dies sei schon auf :iner Intimebene zwischen Subjekten kaum möglich, erkläre aber in keiner Weise die Achtung vor anonymen Subjekten. 206 Die von Gadamer beschriebenen drei Arten von Erfahrungen wurden vielfach von der Forschung behandelt. Vgl. unter anderem Hofer: Nächstenliebe: S. 186ff (er geht auf das Anerkennungsptoblem ein), Plieger: Sprache; S. 164ff, Honneth: Von der zerstörerischen; S. 311ff, Kögler: Macht; S. 123ff, Risser: Hermeneutics; S. 92ff. 207 Es würde zu weit führen, die Schlüssigkeit dieses Übertragungsversuchs zu diskutieren. Zur Problematisierung dieses Versuchs vgl. exempl. Honneth: Von der zerstörerischen.
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für eigene Zwecke einsetzt. Gadamer verweist hier auf Kant, der bekanndich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vertritt, der Mensch müsse ,jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mitter gebraucht werden. 208 Das hermeneutische Äquivalent zu dieser ersten Du-Erfahrung sei der Versuch, das Verstehen als bloße Methode aufzufassen, mit deren Hilfe subjektive Momente im Verstehen ausgeschaltet werden sollen und anband der die objektive Erkenntnis erreicht werden soll.209 In dieser (unmoralischen) Verstehensweise liegt ein erkenntnismäßiger Irrtum, weil ein solch objektivierendes Verstehens (aufgrund der Standortgebundenheit des Verstehens) laut Gadamer gar nicht möglich ist. Die iJIleite Erfahrung des Anderen wird von Gadamer positiver bewertet als die erste, ist aber dennoch weder erkenntnis mäßig haltbar noch moralisch wünschenswert. Sie hat ferner gewisse Parallelen zu der hiesigen Fragestellung (s.u.) und stellt demnach einen impliziten Einwand gegen diese dar. In dieser zweiten Erfahrungsform werde der Andere zwar als "Person anerkannt" (WM 365), dennoch sei sie moralisch nicht wünschenswert, weil sich das Ich den Anspruch des Anderen vom Leibe halte. Diese Erfahrungsweise zeichnet sich durch ein Reflexionsverhältnis aus; Gadamer bezeichnet dieses Verstehen auch als "Herausreflektieren". Das Ich blendet seine eigene Bedingtheit aus und nimmt an, den Anderen verstehend einholen zu können und dessen Ansprüche zu kennen. 210 Im Glauben, den Anderen zu verstehen, fangt das Ich die faktisch bestehenden Ansprüche des Anderen jedoch ab: "Es [das Du] wird verstanden, d.h. aber vom Standpunkt des anderen aus antizipiert und reflektierend abgefangen."211 (WM 365) In dieser Erfahrung sei die wechselseitige 208 Kant: Grundlegung; S. 55. Diese Forderung ist Teil einer Formulierung des "kategorischen Imperativs": "Handle so) daß du die Menschheit [...]jederzeit zugleich als Zweck) niemals bloß als Mittel brauchest." (Ebd.; S. 54f) 209 Dieses Modell entspräche dem Verstehensideal im 18. Jahrhundert. 210 Hier zeigt sich schon eine Differenz zu dem hiesigen Konzept des Fremdverstehens, da in dieser Arbeit ja von den mannigfachen Grenzen des Verstehens gesprochen wird, die nicht übersehen werden dürfen. 211 Als Beispiel für diese reflektierende Weise der Du-Erfahrung nennt Gadamer die Fürsorge: Hier würden die Ansprüche des Anderen vorweggenommen. Das Ich würde sich auf ihm adäquat erscheinende Weise um den Anderen kümmern, ohne dass dessen Ansprüche wirklich beachtet würden (WM 366).
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Beziehung von Ich und Anderem zerstört. Auf prägnante und scharfe Weise vertritt Gadamer diese These bereits in einem frühen Aufsatz. Dort heißt es: [NJichts steht einer echten Verständigung von Ich und Du mehr im Wege, als wenn jemand den Anspruch erhebt, den anderen in seinem Sein und seiner Meinung zu verstehen. ,Verstehend' aller Gegenrede des anderen voraus zu sein, dient in Wahrheit zu nichts anderem, als sich den Anspruch des anderen vom Leibe zu halten. Es ist die Weise, sich nichts sagen zu lassen. 212
Dieser Einwand führt Gadamer zu seiner These, dass ein moralisch wünschenswertes Verstehen zwischen Ich und Du nur ein Sachverstehen sein kann (s.u.). Verstanden wird nicht die Individualität des Anderen, sondern nur das, was er (Wahres) sagt. Diese Erfahrungsweise entspräche dem "historische[n} Bewußtsein" (der Aufklärung) (WM 366). Das historische Bewusstsein erkennt zwar die Singularität eines geschichdich überlieferten Sachverhalts an, behandelt diesen aber als rein vergangenes Phänomen, dem man sich mit reflektierendem Blick zuwenden (und so entziehen) kann. Der eigenen Vorurteilshaftigkeit im Verstehen bzw. der Wechselseitigkeit zwischen dem Interpreten und dem zu Verstehenden, werde nicht Genüge getan. Die dritte, "höchste" (WM 367) Erfahrungsweise des Anderen vollziehe sich hingegen als Offenheit für den Anderen. Diese Erfahrung entspricht dem dialogischen Verstehensvollzug zwischen Ich und Anderem. Das Ich sei offen für die Ansprüche des Anderen und dafür, dass der Andere (sachlich) Recht haben kann. Hier würde der Wechselseitigkeit zwischen Ich und Anderem sowie der eigenen Bedingtheit Rechnung getragen. - Die Entsprechung dazu ist nun das hermeneutische Verstehen in Gadamers Sinne. Es ist durch das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein gekennzeichnet, das um die eigene Bedingtheit weiß und das offen ist für das Überlieferungsgeschehen. Ziel des Verstehens ist das Einverständnis mit zu Verstehendem. Das hermeneutische Verstehen, das der Bedingtheit des Ich Rechnung trägt und offen ist für die Ansprüche des Anderen, stellt also laut Gadamer das moralisch wünschenswerte Verstehen 212 Hans-Georg Gadamer: Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie. In: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 1993; S. 27-36; S. 35.
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dar. Moralisch wünschenswert ist nicht das (im groben in dieser Arbeit vertretene) Nachgehen der Frage, was das 'Ich vom Anderen wissen kann bzw. wie es ihn in seiner Andersheit verstehen kann (hier würde die sittliche Verbindlichkeit aufgehoben). Vielmehr sei es die Offenheit für die Anspruche des Anderen, die sich in der Suche nach sachlichem Einverständnis mit dem Anderen verwirklicht, in der Aufhebung der einzelnen Standpunkte in einer höheren Allgemeinheit. 213 Das Verstehen ist laut Gadamer, wie mehrfach erwähnt, wesentlich sachorientiert. In diesem Sinne schreibt er im Vorwort zur zweiten Auflage von Wahrheit und Methode, er ,,[...] glaube richtig gezeigt zu haben, daß solches Verstehen gar· nicht das Du versteht, sondern das, was es uns Wahres sagt."214 Nicht die individuelle Eigenheit des Anderen steht im Vordergrund, sondern dasjenige, was er sachlich vertritt. - Mit diesen Thesen wendet sich Gadamer also implizit gegen eine Frage nach dem Fremdverstehen, wie sie hier erörtert wird. Der implizite Einwand Gadamers trifft die hiesige Fragestellung, weil hier dezidiert nach dem Verstehen der individuellen Eigenheit des Anderen gefragt wird und nicht, wie Gadamer es' bevorzugt, nach einem sachlichen Einverständnis. Der Einwand trifft jedoch insofern auf die hier verhandelte Problematik nicht zu, weil diese Arbeit ja v.a. die mannigfaltigen Grenzen des Verstehens betont und somit nicht behauptet, der Andere könne gänzlich verstanden werden (oder das Ich könnte einfachhin um die Anspruche des Anderen wissen). Er trifft weiterhin nicht zu, weil hier dezidiert nicht behauptet wird, dass das Verstehen von einem nicht bedingten oder vorurteilslosen Standpunkt aus geschieht. - Es stellt sich nun die Frage, ob Gadamer mit seinem impliziten Einwand gegen ein auf die Individualität des Anderen gerichtetes Verstehen Recht behält und die hiesige Fragestellung aus morali213 Das zeigt sich auch deutlich bei Gadamers dezidiert moralphilosophischen Aufsätzen. Vgl. z.B. Hans-Georg Gadamer: Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft. In: ders.: Das Erbe Europas. Beiträge. Frankfurt/M 21990; S. 7-34. - Hier spricht Gadamer davon, dass Ich und Anderer aneinander teilgewinnen sollen und der Andere als "Anderer unserer selbst" (S. 29) zu erkennen ist. Ziel des Verstehens ist bei Gadamer dezidiert der gemeinsame Konsens. - Zu den moralischen Ansprüchen bei Gadamer, v.a. im Hinblick auf Solidarität und Freundschaft, vgl. exempl. Hofer: Nächstenliebe; S. 186-195. 214 Gadamer: Vorwort; S. 445.
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schen Gründen zurückgewiesen werden und gegen eine Frage nach sachlichem Einverständnis zwischen Ich und Anderem eingetauscht werden sollte. Meine These ist, dass Gadamers Verstehenskonzept aus moralischer Sicht größeren Schwierigkeiten unterliegt als das hier entwickelte Konzept des Fremdverstehens. Tatsächlich scheint Gadamers Modell des Verstehens als sachliches Einverständnis moralischen Schwierigkeiten zu unterliegen, über die er sich nicht oder nur bedingt bewusst ist. Gerade ein solch integratives Verstehensmodell ist aus moralischer Perspektive zumindest aus zwei Gründen problematisch, und zwar in Bezug auf das sachorientierte Verstehen (1) und auf das Ziel des Verstehens als Einverständnis (2). Erstens scheint aus moralischer Perspektive das sachorientierte Verstehen problematisch zu sein. In Gadamers Verstehensmodell kommt der Andere selbst gar nicht wirklich in den Blick. 215 Gesucht wird nach einem sachlichen Konsens mit dem Anderen, und in diesem Sinne werden auch die Ansprüche des Anderen nur über Sachverhalte wahrgenommen. Jedoch erscheint es fraglich, ob die Ansprüche des Anderen wirklich wahrgenommen werden können ohne ein Wissen von dessen Individualität. Der Andere geht in einem konkret formulierten Anspruch nicht auf. Möglicherweise steht hinter dem konkret geäußerten Anspruch ein tiefergehenderer Anspruch, der in der konkreten Situation nicht in den Blick kommt. Zu einem solchen ,hintergründigen' Verstehen des Anspruchs des Anderen bedarf es des Versuchs, die Individualität des Anderen zu verstehen: Ein solches kontextuierendes und die Motivationen des Anderen mitreflektierendes Fremdverstehen scheint wesentlich für das Verstehen der Ansprüche des Anderen, denn ohne dies' können die konkret geäußerten Anspruche des Anderen auf zu viele beliebige Weisen ausgedeutet und nur oberflächlich ,verstanden' werden. Gerade im Kennenlernen oder Einschätzenlernen des Anderen, das Gadamer ablehnt, scheint ein moralisch positives Moment zu liegen: Das Ich erkennt durch das Verstehen der individuellen Eigenheit des Anderen immer adäquater und differenzierter dessen Standpunkte und Ansprüche. 215 Ähnlich sagt Ruchlak, Gadamer stelle in seiner Hermeneutik gar keine wesentlichen Überlegungen zum Anderen an. Vgl. Ruchlak: Gespräch; z.B. S. 122.
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Zweitens scheint es problematisch, das Verstehen als Streben nach Einverständnis zu betiteln, da der Andere hier reduziert wird auf ein gemeinsames Ziel. Die Andersheit des Anderen bekommt in Gadamers Modell gar keinen Raum. 216 So liegt in der Suche nach Einverständnis die Gefahr, dass die Andersheit des Anderen und dessen Ansprüche im Zuge des Verstehens angeeignet und zugunsten des Einverständnisses geopfert werden. In scharfer Kritik konstatiert Kögler, in einem solchen Verstehenskonzept werde der Andere nur soweit anerkannt, ,,[...] als wir mit ihm zu einem inhaltlichen Konsens [...] zu gelangen vermögen. "217 Verstehen und moralische Anerkennung müssen, so lautet zu Recht seine Folgerung, voneinander getrennt behandelt werden. - Gadamer reagiert auf diese das Einverständnis betreffenden von der Forschung mehrfach geübten Kritiken, insofern er in späteren Texten verstreut auf die Gefahr der Aneignung des Anderen hinweist. So fügt Gadamer z.B. in einer späteren Auflage von Wahrheit und Methode an einer problematischen Stelle folgenden Satz in eine Fußnote ein: "Hier droht beständig die Gefahr, das Andere im Verstehen ,anzueignen' und damit in seiner Andersheit zu verkennen." (WM 305) Jedoch scheint er en gros seinen Standpunkt beizubehalten, insofern die Eigeneinwände eher rhetorischer Natur zu bleiben scheinen. 218 Das Fremdverstehen im hiesigen Sinne, das nicht das Einverständnis mit dem Anderen zum Ziel hat, scheint auch auf dieser Ebene moralisch wünschenswerter zu sein. Noch vor aller Suche nach Einverständnis wird versucht, die Andersheit des Anderen zu verstehen. Es wird dezidiert nicht angestrebt, diese Andersheit in einem Konsens aufzuheben. Möglicherweise wäre jedoch sogar für die Suche nach Einverständnis das hier entwickelte Vers tehenskonzept geeigneter. So ließe sich überlegen, ob Standpunkte, die sich auf rein sachlicher Ebene dem Ich argumentativ nicht 216 217
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Das vertreten auch mehtere Gadamerkritiker, wie z.B. Derrida oder Frank, aber auch Kögler oder Ruchlak. Kögler: Macht; S. 125. Das zeigt sich mitunter auch im Aufsatz Gadamer: Dekonstruktion; S. 142. Dort stellt Gadamer (ausgehend von den Einwänden Derridas) die Frage, ob dem Einverständnis nicht zu viel Raum gewährt und der Andere hier nicht angeeignet werde. Auch wenn er diese Frage stellt, beantwortet Gadamer sie nicht wirklich, und behält stattdessen seine Thesen bei.
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erschließen, durch ein Wissen um die individuelle Eigenheit des ~nderen plausibler werden. Zusammenfassend hieße das: Das hier vorgeschlagene Modell des Fremdverstehens scheint, entgegen Gadamers These, moralisch wünschenswerter zu sein als ~adamers stark integratives Verstehenskonzept. Erstens können dte Ansprüche des Anderen durch das Wissen um dessen Individualit~t .differenziert~r verstanden werden. Zweitens unterliegt das hiestge Modell ficht so stark aneignenden Zügen wie Gadamers Konzeption.
4. Hermeneutische Erweiterung des Fremdverstehenskonzepts Die Auseinandersetzung mit Gadamer diente dazu, das im Anschluss an Husserl erarbeitete Konzept des Fremdverstehens zu erweitern, zu korrigieren, aber auch gegen ein Verstehen als Suche nach Einverständnis abzugrenzen. Erweitert wurde das Konzept des Fremdverstehens v.a. durch eine Konkretisierung des Verstehensvollzugs als zirkuläres Verstehen zWischen Teil und Ganzem. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass das Verstehen Geschehnis- bzw. Erfahrungscharakter haben kann und dass der ,Anfang' des Verstehens bereits Antwort auf den' Anderen ist Das bisher erarbeitete Konzept des Fremdverstehens wurd~ zudem in Bezug auf den nach Husserl einseitig verlaufenden Verstehensvollzug dahingehend korrigiert, dass mit Gadamer die Wechselseitigkeit alles Verstehens vertreten werden muss. Im Zuge dieser Auseinandersetzung zeigte sich auch, dass das Fremdverstehen wesentlichen Einfluss auf das Selbstverstehen nehmen kann und damit im Weiteren wiederum auf das Fremdverstehen zurückwirkt. Es existiert ein dynamisches Verhältnis. ~ußerdem wurde angesprochen, dass sich das (Fremd-)Verstehen ficht wertneutral vollzieht, und dass dieses wertende Verstehen (entgegen Gadamers These) verstehensverdeckenden Charakter hat. Schließlich wurde die Frage nach dem moralischen Gehalt des Fremdverstehens diskutiert. Es zeigte sich, dass Gadamers Verstehensmodell nicht ohne eine moralische Haltung des Verstehenden auskommt, aber es wurde auch deutlich dass Gadamers in~egrati:.es ~erstehensmodell, das das Ziel d~s gemeinsamen Etnverstandrusses verfolgt, aus moralischer Perspektive mehreren
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Schwierigkeiten unterliegt. Indessen wurde festgestellt, dass das hier vorgestellte Konzept des Fremdverstehens moralisch wünschenswerter scheint, unter anderem weil es nicht einem so stark aneignenden Zug unterliegt. Mit dieser Diskussion wurde ferner versucht, der hiesigen Fragestellung eine Legitimität zu verleihen, die sie nach Gadamers Auffassung nicht besitzt. Es wurde ausdrücklich nicht versucht, ein Konzept des Fremdverstehens bei Gadamer zu erarbeiten, da die Gadamerauseinandersetzung allein erweiternden Charakter besaß. Verkürzt ließe sich dazu sagen, dass das Fremdverstehen (als Einverständnis) für Gadamer immer möglich ist 219 und nur quantitativen Grenzen unterliegt, die sich aus der Endlichkeit der Subjekte ergeben. Im Anschluss an Husserl wurde in dieser Arbeit eine verstehensskeptischere Perspektive herausgearbeitet, die in der folgenden Auseinandersetzung mit Derrida noch verschärft wird.
IV. Skepsis gegenüber dem Fremdverstehen (Derrida) Die Auseinandersetzung mit Derrida ist kurz wie unkonventionell. Sie dient nicht dazu, neue Einsichten in den Prozess des Fremdverstehens zu liefern und schon gar nicht soll einer vermeintlichen Theorie des Fremdverstehens bei Derrida nachgespürt werden (man würde nicht fündig). Stattdessen soll der folgende Abschnitt dazu verhelfen, eine verstehensskeptische Sicht auf das Fremdverstehen zu verstärken. In diesem Sinne wird im Weiteren versucht, dasjenige schärfer zu fassen, was das Verstehen des Anderen verhindert oder verzerrt. Diese Perspektive wurde in der Husserl- wie Gadamerbeschäftigung vorbereitet, kann aber erst mit Derrida genauer gefasst werden, da sie zu weit über Husserl und Gadamer hinausführte, um sie dort näher zu erläutern. Im Zuge dieser Erarbeitung wird zudem erneut die Frage nach dem moralischen Gehalt des Fremdverstehens gestellt; ich möchte noch einmal auf den Prüfstand stellen, ob das (hier erarbeitete) Fremdverstehen moralisch wünschenswert ist oder nicht. 220 Derrida widmet sich dem (Fremd-)Verstehen nicht auf systematische Weise. Es wird versucht, anband einiger Überlegungen Derridas interpretierend auf die Frage nach den Grenzen des Fremderstehens einzugehen. Dazu bedarf es einer knappen Erörterung seiner prinzipiellen Skepsis gegenüber der Möglichkeit zu 220
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Deutlich vertritt er das z.B. in Hans-Georg Gadamer: Sprache und Verstehen. In: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 1993; S. 184-198; S. 188.
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Das komplexe Verhältnis zwischen Derrida und Husserl bzw. Gadamer wird im Weiteren nicht berücksichtigt, weil dies für die vorliegende Fragestellung nicht hilfreich wäre. - V gl. dazu exempl. die umfangreichen Arbeiten zur Hermeneutik und Dekonstruktion: Angehrn: Interpretation; Bertram: Hermeneutik; Richard Shusterman: Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus. Übers. v. Barbara Reiter. Wien 1996, oder Hugh Silverman/Don Ihde: Hermeneutics & Deconstruction. New York 1985. - Zum Verhältnis Derrida-Husserl vgl. exempl. Stephan Strasser: Von einer Husserl-Interpretation zu einer Husserl-Kritik. Nachdenkliches zu Jacques Derridas Denkweg. In: Phänomenologische Forschungen 18 (1986); S. 130-169; oder Rudolf Bernet: Dertida - Husserl- Freud. Die Spur der Übertragung. In: Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens. Z"ur Philosophie von Jacques Dertida. Test übers. v. Hans-Dieter Gondek. Frankfurt/M 1997; S. 99.123.
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verstehen. Der Philosoph vertritt eine äußerst verstehensskeptische Perspektive, die sich sowohl in seinem stärker sprachphilosophisch orientierten Frühwerk als auch in seinem mehr politischen, sozialen und moralischen Themen zugewandten Spätwerk zeigt. Im Vordergrund steht hier der ,späte' Derrida, weil er dem hiesigen Thema näher steht. Vor allem ein kürzerer Text des Philosophen wird für die Analyse herangezogen, nämlich Passionen. ,Die indirekte Opforgabe'221. In diesem Text verhandelt Derrida die Fragen, ob und inwieweit es möglich ist, und in weiterer Folge, ob es moralisch wünschenswert (wie er sagt: "verantwortlich") ist, einen Anderen zu verstehen (zu versuchen) bzw. einem Anderen zu antworten. 222 Genauer gesagt: Derrida spricht in Passionen zwar teilweise auch vom Verstehen des Anderen, hauptsächlich aber fragt er nach der Möglichkeit und der Moralität der Antwort auf den (philosophischen) Diskurs des Anderen. Derrida macht sich hier die Doppeldeutigkeit des französischen Wortes repondre zunutze, das sowohl antworten (repondre :1) als auch verantworten/Verantwortung übernehmen (repondre de) heißen kann. Sach- und Fremdverstehen sind in Passionen nicht scharf voneinander getrennt. In diesem Sinne vermischt Derrida teilweise die Frage nach der Möglichkeit, einen Anderen oder den Diskurs des Anderen zu verstehen. Es bedarf daher auch bei dieser Auseinandersetzung einer Konkretisierung bzw. einer Übersetzung hinsichtlich des Themas der vorliegenden Untersuchung. Dies scheint unter anderem deshalb gut möglich, da Antworten und Verstehen in Passionen nah beieinander liegen: Derridas Skepsis gegenüber der Möglichkeit, zu antworten, wur221
222
Jacques Derrida: Passionen. ,Die indirekte Opfergabe'. In: ders.: Über den Namen. Drei Essays. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 2000; S. 15-62. - Im Weiteren abgekürzt mit P. - Dieser kurze Text Derridas berührt verschiedene Themen seiner Spätphilosophie, so z.B. Gabe, Gastfreundschaft, Gerechtigkeit, Ethik, Tod oder Geheimnis. Ich beschränke mich auf die für das Fremdverstehen unverzichtbaren Thesen Derridas. Der Text stellt eine indirekte Antwort auf elf kritische Beiträge zu Derrida dar, die ausgehend von einem Symposion, welches sich auf kritische Weise mit Derridas Philosophie auseinandersetzte, 1992 in dem Sammelband A critical reader versammelt wurden. Derrida sollte auf diese elf Texte antworten, entschied sich jedoch, nicht inhaltlich auf die Beiträge einzugehen, sondern vielmehr nach der prinzipiellen Möglichkeit, zu antworten, zu fragen. - Vgl. David Wood (Hg.): Derrida. A critical reader. Oxford u.a. 1992.
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zelt in seiner Skepsis gegenüber der Möglichkeit, zu verstehen. Ferner dürfte Derridas Skepsis gegenüber dem Verstehen des Diskurses· eines Anderen sogar in verschärftem Maße zutreffen für das grundsätzliche Verstehen des Anderen als Anderen weil ' dieses offef!sichtlich noch komplexer ist als jenes.
1. Verzerrung des Fremdverstehens Der Analyse wird eine knappe und schematisch bleibende Darstellung von· Derridas prinzipieller Skepsis gegenüber dem Vers.tehen vorangestellt, die die weiteren Ausführungen verständ~cher gestalten s~ll. Derridas Verstehensskepsis wird exemplansch anband zweler Punkte vorgestellt, nämlich anband seiner sprachphilosophischen Verstehensskepsis gegenüber einem ein~e~~chen Sinn (1) und anband seiner Skepsis gegenüber Subjekt1Vlt~t (2). Derridas philosophischer Ausgangspunkt ist, sehr veremfacht gesagt, eine kritische Haltung gegenüber bestimmten Idealisierungen ,der' traditionellen Philosophie. Pointiert fasst Angehrn zusammen, Derrida wehre sich gegen "die bewußtseinsphilosophische Idee eines sich transparenten, souveränen Subjekts, die s?rachphilosophische Idee einer reinen Bedeutung, die hermeneu~sche Idee eines vollendeten Verstehens, die ontologische Bestimmung absoluter Gegenwart. "223 Diese ineinander greifenden skeptischen Ansichten Derridas zum Verstehen zu der reinen Bedeutung, der Subjektivität und dem, wie der PhlIosoph es nennt, "Präsenzdenken" bilden die Grundlage seiner Dekonstruktion. (1) In Bezug auf das Verstehen zeigt sich Derridas Verdacht in seiner sprachphilosophischen Skepsis gegenüber einem einheitlichen Sinn. 224 Derridas Dekonstruktion, wie er sie beispielsweise
223
224
Angehrn: Inte~retation; S. 299f. - Allgemein zur Philosophie Derridas vgl. . exempl. die Sammelbände: Gondek: Einsätze und Andrea Kern/ Chrlstoph Menke: Philosophie der Dekonsttuktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis. Frankfurt/M 2002. Zur .näheren Ausformullerung der sprachphilosophischen Einwände Demdas gege~ das Verstehen sowie zur genauen Begriffsklärung grundlegende~ Dett1da~c~er Begriffe wie "differance" oder "Spur" vgl. exempl. die oben Zltierten Werke zum Verhältnis von Hermeneutik und Dekonsttuktion. Dort werden auch die Konsequenzen von Derridas
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in Die Schrift und die Differenz oder in Die differance entwickelt, stellt unter anderem, sehr vereinfacht gesagt, ein bestimmtes Lektüreverfahren von philosophischen oder literarischen Texten dar, das jedoch von deutlich anderen Prämissen ausgeht als z.B. eine hermeneutische Textauslegung. Mit Derrida wäre es unmöglich, wie Gadamer von einer kohärenten Sinneinheit von Texten zu sprechen, die verstanden werden soll. Derrida widmet sich in seinen Werken nicht dezidiert der Frage nach dem Verstehen, er stellt die Möglichkeit des Verstehens jedoch durch seine dekonstruktive Lektürepraxis implizit radikal in Frage. Der Philosoph vertritt entgegen der traditionellen Sprachphilosophie die Polyvalenz der Zeichen und behauptet eine Aufspaltung und Vervielfältigung des Sinns, die das Verstehen eines Texts, das Herausillterns von einem bestimmten, geschlossenen Textsinn verhindern. 225 Das Textverstehen unterliegt einer strukturellen Unabschließbarkeit; jedes vermeintliche Verstehen eröffnet unendlich viele neue Verstehensmöglichkeiten. Gessmann bringt in diesem Sinne auf den Punkt, der Dekoristruktion ginge es ,,[...] letztlich darum, die Bodenlosigkeit all unseres Verstehens in der prinzipiellen Zwei- oder Vieldeutigkeit der Zeichen vor Augen zu führen."226 Und er fügt hinzu, dieses unabschließbare Verstehen bezeichne Derrida als [...] eine ,disseminale' Lektürepraxis, weil sie jede Interpretation ~ur als den ,Keim' neuer Interpretationen nimmt, in denen zugletch immer auch neues Nicht-Verstehen ans Licht gebracht wird, dessen Auslegungen wiederum neue, mehr und mehr wuchernde Interpretationen nach sich zieht. "227 Ein wesentliches Merkmal dieser dekonstruktiven Lektürepraxis ist, dass das Augenmerk der Texdektüre nicht unbedingt auf dem liegt, was der Text auszusagen vorgibt. Vielmehr achtet sie
Sprachphilosophie für das Auslegen von Texten hinterfragt. 225 Vgl. exempl. Derrida: Schrift; z.B. S. 422-442 oder Derrida: differance. Zu Derridas "Sinnsubversion" vgl. den aufschlussreichen und kritisch gehaltenen Aufsatz von Christoph Menke: ,Absolute Interrogation'. Metaphysikkritik und Sinnsubversion bei Jacques Derrida. In: Philosophischesjahrbuch 97 (1990); S. 351-366. 226 Martin Gessmann: Nachwort. In: Jacques Derrida/Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog. Frankfurt/M 2004; S. 97-110; S. 100. 227 Ebd.; S. 102.
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auf das, was der Text meint, ausschließen zu können: Sie richtet sich z.B. auf verdrängte, marginalisierte Aspekte in einem Text, die sich durch die dekonstruktive Lektüre aufzeigen lassen sol228 len. - In dieser knappen Darstellung zeigt sich bereits, dass die Frage nach de~. Verstehen im engeren Sinne für Derrida wenig zielführend ist. Uberträgt man diese These des Sinnüberschusses ferner auf das Fremdverstehen, so wird deutlich, dass die Sinnaufspaltung beim Versuch, einen Anderen zu verstehen, aufgrund der Komplexität der Subjektstruktur (mitunter weil Subjekte nicht wie Texte abgeschlossene Gebilde sind) noch viel eklatanter sein müsste als beim Textverstehen. Außerdem müsste ein Fremdverstehen versuchen, seine Aufmerksamkeit (auch) auf dasjenige zu lenken, was der Andere, ob absichtlich oder unabsichtlich von sich zu verdecken versucht (s.u.). Folgt man diesem Geda~ken, deutet sich eine weitere Verkomplizierung des Fremdverstehens an, insofern dieses durch eine vom Anderen getätigte Ausblendung oder Verschleierung bestimmter Aspekte seiner individuellen Eigenheit gelenkt und in die Irre geleitet werden kann. (2) Im Weiteren soll Derridas Verstehensskepsis anband seiner Skepsis gegenüber Subjektivität grob skizziert werden. In den Blick genommen wird hier nicht Derridas schon auf sprachphilosophischer Ebene geübte Subjektkritik 229 , die um einiges radikaler ausfallt als die in dieser Arbeit praktizierte Zurückweisung eines traditionellen Subjektbegriffs, und deren Ausformulierung vom Thema wegführen würde. Vielmehr werden seine Einwände gegen das Selbstverstehen herangezogen, wie er sie unter anderem in dem hier im Vordergrund stehenden Text Passionen konstatiert. Auch diese sind jedoch radikaler als die in dem vorliegenden Buch vertretenen Einwände, da mit Derrida mehr von einer Unmöglichkeit des Selbstverstehens gesprochen werden müsste als wie hier von einer eingeschriinkten Möglichkeit. Geprägt durch die Denker Marx, Nietzsche, Freud, aber auch Heidegger verwahrt sich Derrida gegen die Vorstellung eines autarken, 228 Vgl. dazu z.B. Angehrn: Interpretation; S. 238f. 229 Kritisch rekonstruiert dies ausführlich Frank. Vgl. Manfred Frank: Was ist Neostrukturallsmus. Frankfurt/M 1984; v.a. S. 286-366. - Frank meint, Derrida hätte auf überzeugende Weise den Selbstbewusstseinsbegriff/Subjektbegriff zurückweisen können, jedoch fehle es Derrida an einem plausiblen Gegenmodell. Vgl. S. 331 f.
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selbstgewissen, transparenten Subjekts. Mit Derrida lässt sich nun das explizit vertreten, was in Abgrenzung zu Husserl im 2. Kapitel herausgearbeitet wurde: Es gibt keine schlechthinnige ,Identität' des Subjekts, keine bruchlose und kontinuierlich verlaufende Subjektgenese. Das Subjekt unterliegt mannigfachen heteronomen äußeren Einflüssen sowie inneren ,Schranken' wie dem Unbewussten. Da das Subjekt sich selbst nicht transparent gegeben ist, unterliegt schon das Selbstverstehen mannigfachen Grenzen. Das Subjekt ist keine kontinuierlich verlaufende Einheit, es lässt sich nicht zu einer Synthese versammeln und verfügt auch nicht über ein vollständiges Wissen um sich, seine Verhaltensweisen, Denkweisen etc. In Passionen schreibt Derrida, wenn ein Ich annimmt, einen Anderen verstehen zu können oder auf den Diskurs eines Anderen antworten zu können, dann, weil er [der Antwortende] zunächst einmal in der Lage ist, sich und all das, was er gemacht hat, gesagt, geschrieben hat, zu verantworten [...]. Sich zu verantworten, das hieße hier, alles zu wissen [!], was man getan, gesagt oder geschrieben hat, es in einer signifikanten und kohärenten Synthese [I] zU versammeln, es mit ein und demselben Siegel zu signieren [...], zu postulieren, daß dasselbe ,ich denke' alle ,meine' Repräsentationen begleitet, die selbst wiederum ein systematisches, homogenes und subjektivierbares Gewebe [I] von Thesen' Themen' Gegenständen', ,Erzählungen', ,Kritiken' oder :Bewer~gen' bild~~, von denen irgendein ,ich' [...] ein vollständig intaktes Gedächtnis hätte [I], deren Prämissen und Folgen und so weiter es allesamt kennen würde [I] [...]. (P 35)
von diesen Überlegungen ließe sich überdies behaupten, dass in dieser mangelnden Möglichkeit (oder laut Derrida Unmöglichkeit), sich selbst zu verstehen, auch Phänomene wie Selbstwidersprüchlichkeit oder Selbsttäuschung ihren Platz Hnden. So können beispielsweise verschiedene konkret bestehende Eigenschaften des Subjekts in Konflikt geraten mit dem, wie das Subjekt selbst sein oder wie es sich selbst verstehen möchte. Als mögliche Konsequenz verdrängt das Subjekt bestimmte Eigenschaften von sich und entwirft damit (und nicht notwendig gewollt) ein korrekturbedürftiges Bild nach außen. Das Subjekt ist nicht seiner selbst ,Herr', es weiß sich schließlich auch in dem Sinne nicht gänzlich zu verstehen, als es sich nicht immer sicher ist, was es z.B. will oder tut. Aus ganz anderer Perspektive als Derrida spricht Köhler von der Problematik dieser Phänomene für das Fremdverstehen. Er sagt: [...] Fremdverstehen kann unvollständig bleiben, weil die zU: verstehende Person aufgrund [...] konkurrierender Lebensentwürfe diffus bzw. aufgrund permanent wechselnder Selbstzuschreibungen [...] inkohärent sein kann [...]. In diesem Falle scheiterte das kognitive Fremdverstehen an der Brüchigkeit ihrer lebensgeschichtlichen Identität, also an der für andere Personen unverständlichen Verständigung der Person mit sich selbst, inklusive Selbstmißverstehen bzw. Selbsttäuschung. 231
Durch Miteinbeziehung der genannten Phänomene unterliegt ein Konzept des Fremdverstehens zusätzlichen Komplikationen
Ein solches "vollständig intaktes Gedächtnis", ein Subjekt, das um die Prämissen und Folgen z.B. der eigenen Motivationen oder Verhaltensweisen genau weiß, existiert nicht. In dieser These liegt ferner auch die (über den Rahmen dieses Buchs hinausweisende) Behauptung Derridas, dass das Subjekt nicht in jeder Hinsicht moralische Rechenschaft über sich geben kann. 230 Ausgehend 230
Hieran schlösse sich die umfangreiche Diskussion zum ethischen Potential ,der' Dekonstruktion an. Während Kritiker der Dekonstruktion dieser Amoralität vorwerfen (vgl. exempl. die Beiträge im Sammelband: Nagl-Docekal/Vetter (Hg.): Tod), gibt es mittlerweile im Anschluss an Derridas Spätwerk vermehrt Stimmen, die von einer dekonstruktiven Ethik sprechen (so z.B. Hetzel oder Wetzel). Indessen scheinen beide Positionen etwas einseitig, da sich zwar in Derridas Spätwerk mehrere ethische Momente finden lassen, Derrida aber gleichzeitig nie von einer Skepsis gegen Ethik abrückt. Vgl. z.B. Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit
130
231
geben 1. Übers. v. Andreas Knop/Michael Wetzel. München 1993; S. 190. - Von einer "Ethik der Gabe" spricht z.B. Andreas Hetzel: Die Gabe der Gerechtigkeit. Ethik und Ökonomie bei Jacques Derrida. In: Phänomenologische Forschungen 2002; S. 231-250. Oder Michael Wetzel: En revanche. Unterwegs zu einer Ethik der Gabe bei Jacques Derrida. In: Das Andere Denken. Zur Ethik der Psychoanalyse. Fragmente _ Schriftenreme zur Psychoanalyse 39/40 (1992); S. 249-263. - Ferner kann hier auf Butler verwiesen werden. Sie versucht gerade in einem heteronom verfassten Subjekt die Möglichkeit von moralischer Verantwortung zu verorten: Das heteronome Subjekt, das sich seiner Inkonsistenz bewusst ist, würde gegenüber der Inkonsistenz des Anderen Geduld aufbringen und sich nicht vorschnelle Urteile bilden. - Vgl. Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Übers. v. Reiner Ansen. Frankfurt/M 2003; z.B. S. 54f. Köhler: Personenverstehen; S. 208. - Zur näheren Erläuterung vgl. ebd. S. 207ff; Angehrn: Interpretation; S. 93ff.
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bzw. Grenzen. Je polyvalenter oder widersprüchlicher sich der Andere zeigt, desto schwieriger wird es, ihn in seiner (brüchigen) Individualität zu verstehen. - In etwas andere Richtung weisend könnte ferner überlegt werden, dass der Andere auch aktiv auf bestimmte Weise verstanden werden möchte und er demnach gezielt versucht, gegenüber dem Ich ein anderes Bild von sich zu entwerfen als es ihm eigentlich entsprechen würde. Dabei stünde dann weniger die Selbsttäuschung im Vordergrund als vielmehr die Täuschung anderer. Das Subjekt kann sich, etwa aus Eitelkeit oder aus irgendeinem Eigeninteresse heraus, zunutze machen, dass keine Evidenz des Fremdverstehens existiert und dass der Andere auf dasjenige angewiesen ist, was das Subjekt ihm gegenüber präsentiert. In eben diesen verschiedenen angedeuteten Hinsichten müsste ein Fremdverstehen, um sich nicht fehlleiten zu lassen und misszuverstehen, versuchen, seine Aufmerksamkeit auch auf dasjenige zu richten, was der Andere zu verbergen versucht. Diese skeptischen Einwände, die sich im Anschluss an Derrida entwickeln lassen, weisen allesamt auf verstehensverzerrende Momente hin und stellen die Schwierigkeit des (Fremd-) Verstehens in den Vordergrund. Zurückkehrend zu Passionen müsste nun mit Derrida (v'orläufig) gesagt werden, dass es nicht nur erkenntnismäßig schwierig (oder laut Derrida unmöglich) ist, den anderen zu verstehen, sondern dass es auch moralisch nicht wünschenswert ist, vorzugeben, einen Anderen zu verstehen: Aufgrund der mangelnden Transparenz des Subjekts bzw. des unmöglichen Selbstverstehens konstatiert Derrida in Passionen einen anmaßenden und aneignenden Zug des (Fremd)Verstehens bzw. des Antwortens. Unmöglichkeit und Unmoralität des Verstehens (und Antwortens) greifen hier ineinander. Derrida sagt, es sei ein "Mangel an Achtung" (P 34) vor dem Anderen oder vor dessen Diskurs 232 , es sei eine "anmaßende Vermessenheit" (P 35), "Arroganz" oder "Selbstherrlichkeit" vorzugeben, den Anderen verstehen bzw. ihm antworten zu können. Die Arroganz liege in eben der Annahme, zu einer solchen Antwort auf den Anderen überhaupt befähigt Zll sein (P 34). Bezogen auf das Fremdverste232
Derrida sagt hier, vor dessen "Opfergabe", womit er konkret dessen philosophischen Beitrag meint. - Zum Begriff der Opfergabe vgl. ferner exempl. Derrida: Falschgeld; z.B. S. 173ff.
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hen: Wenn schon das Selbstverstehen mannigfachen Grenzen unterliegt, so ist es eine Anmaßung anzunehmen, einen Anderen verstehen zu können. In der Annahme zu verstehen liegt auch deshalb immer schon eine Aneignung des Anderen, weil dieser auf etwas zu Verstehendes verkürzt wird. Mit der Zurückweisung eines sich selbst gewissen Subjekts und damit einhergehend mit der Unmöglichkeit des Selbstverstehens zieht Derrida die Möglichkeit des Verstehens des Anderen oder seines Diskurses sowie dessen Moralität stark in Zweifel. Seine Skepsis zeigt sich noch in anderer Hinsicht. Sie betrifft den Willen zum Verstehen. Noch einmal gilt es, die Frage zu stellen: Warum versucht das Ich den Anderen, bzw. konkret mit Derrida, dessen Diskurs zu verstehen? Es wurde schon bei der Auseinandersetzung mit Gadamer darauf hingewiesen, dass der Wille zum Verstehen nicht selbstverständlich ein ,altruistischer' Wille oder wie Gadamer es sagt, ein "guter Wille" zum Einverständnis ist. "Unmoralische Wesen", so ergab sich, würden eher aus Eigeninteresse heraus den Anderen zu ,verstehen' suchen. Im Anschluss an Derrida müsste prinzipieller gesagt werden, dass das Verstehen einen Willen zur Macht darstellen kann (1) und stets einem (implizitem) Interesse unterliegt (2); beides hat (wiederum) verstehensverzerrenden Charakter. (1) Mit Derrida ist zu vertreten, dass der Wille zum Verstehen ein Wille zur Macht sein kann. Das vertritt er dezidiert in der Auseinandersetzung mit Gadamer. In Guter Wille zur Macht I konstatiert Derrida nicht nur, wie im 3. Kapitel erwähnt, dass Gadamers Verstehenswille als Wille zur Verständigung eine moralische Forderung darstelle, sondern auch, dass der Wille zum Verstehen ein Instrument zur Bemächtigung des Anderen sei. 233 Der Verstehende versucht laut Derrida, wie Flieger treffend formuliert, ,,[...] des Anderen habhaft [zu] werden [...], indem er ihn
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Derrida: Guter; S. 56. - Außerdem wirft Derrida Gadamer eine Metaphysik des Willens" (S. 57) vor, er verwehrt sich gegen Gadame:~ Ausführungen zur Psychoanalyse und stellt dem Willen zum Einverständnis den notwendigen "Bruch des Bezuges" (S. 58) bei der Begegnung zwischen Ich und Anderem gegenüber (ebd.; S. 56f.f) - Zur näheren Ausformulierung vgl. die Bände: Forget: Text, Michelfelder: Dialogue, sowie ferner Plieger: Sprache; S. 44f.
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auf einen gemeinsamen Grund der Verständigung festmacht. "234 Der Andere wird im Verstehensversuch angeeignet bzw. gewaltsam auf die Verständigung reduziert. Die Gefahr zur Bemächtigung scheint auch beim Fremdverstehen im hier verwendeten Sinne (also nicht als Verständigung mit dem Anderen) gegeben: Der Wille, einen Anderen zu verstehen und ihn einschätzen zu lernen, könnte z.B. geleitet sein von dem Versuch, den Anderen durch das Wissen über ihn zu beherrschen. Das Verstehen wäre in diesem Sinne nicht moralisch wünschenswert und würde zudem durch diesen Willen zur Macht, der das Verstehen immer in eine gewisse Richtung lenkt, verzerrt. Bei der Auseinandersetzung mit Gadamer wurde hingegen auf das moralische Potential des Einschätzenlernens verwiesen, insofern sich über dieses Kennenoder Einschätzenlernen die Ansprüche des Anderen zeigen können. Die Zweiseitigkeit dieser These ist durchaus beabsichtigt. Wie sich zeigen soll, kann das Einschätzenlernen in beide Richtungen ausgelegt werden (s.u.). (2) Eng damit zusammenhängend müsste man mit Derrida prinzipieller von der (impliziten) Interessegeleitetheit allen Verstehens ausgehen. Mit Derrida ist in Zweifel zu ziehen, ob das Ich einen Anderen (oder dessen Diskurs) tatsächlich im emphatischen Sinne zu verstehen sucht, ob es sozusagen etwas wie einen ,altruistischen' Verstehenswillen gibt. Vielmehr müsste man von einem egoistischen, berechnenden, taktierenden Willen zum Verstehen ausgehen. Diesen Verdacht hegt Derrida in Bezug auf Gadamer, er zeigt sich aber auch in Passionen. Konkret bezogen auf das Antworten auf den (philosophischen) Diskurs des Anderen mutmaßt Derrida, dass es weniger um das emphatische Verstehenwollen des Diskurses geht als vielmehr darum, den eigenen Diskurs zu stärken und den Diskurs des Anderen polemisierend zurückzuweisen (vgl. P 21).235 Allgemein formuliert: Am Beispiel von akademischen Diskursen zeigt sich, dass die Diskutanten die Argumente des Anderen häufig nicht per se zu verstehen suchen. Vielmehr versuchen sie nur soweit zu ,verstehen', wie es (zu ihrem eigenen Nutzen) erforderlich ist, um die 234 235
Plieger: Sprache; S. 48. Derrida nimmt an, dass die Mitdiskutanten des dem Passionen zugrundeliegenden Symposions implizit das Scheitern der Auseinandersetzung wünschen.
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konkurrierenden Thesen des Mitdiskutanten außer Kraft setzen zu können. Auch dieses Eigeninteresse verzerrt das Verstehen. Verstehen hat also nicht nur deshalb eine aneignende Tendenz, weil es immer auch Übersetzen in den eigenen Horizont bedeutet und weil es droht, das Unverständliche im Verstehen aufzulösen, sondern auch, weil es durch ein Eigeninteresse geleitet ist. Dieser Einwand Derridas lässt sich ebenso auf das Fremdverstehen übertragen. Auch beim Verstehen des Anderen müsste davon ausgegangen werden, dass es durch (implizite) Interessen des Ich mitgeleitet wird. Vorstellbar ist beispielsweise, dass das Ich nur dasjenige am Anderen zu ,verstehen' vorgibt, was ihn selbst nicht in Frage stellt oder etwa, dass bestimmte wahrgenommene Eigenschaften des Anderen ignoriert werden, die dem Ich nicht gelegen kommen, die Ansprüche an es stellen etc. Sowohl der Wille zur Macht als auch das (ökonomische) Interesse des Ich beim Verstehen des Anderen haben verstehensverzerrenden Charakter und unterliegen zudem moralischen Schwierigkeiten. Hier kommt eine Grenze des Fremdverstehens in den Blick, die bisher noch nicht expliziert wurde: Das Fremdverstehen kann auch dadurch fehlgeleitet werden, dass es sich von einem eigennützigen Verstehenswillen leiten lässt. Ausgehend von diesen Überlegungen wird es problematisch, von der Moralität eines Willens zum Verstehen zu reden. - Offen bleibt, ob es nicht auch ein Verstehen (oder Antworten) jenseits des kalkulierenden Eigeninteresses gibt. Anders gefragt, gibt es nicht vielleicht auch einen rein ,altruistischen' Willen zum Verstehen, der schlichtweg auf den Anderen gerichtet ist? Derrida zumindest äußert sich nicht konkret auf diese Frage, jedoch ist anzunehmen, dass man sie mit ihm bzw. ausgehend von seiner Philosophie verneinen müsste. Es führe zu weit, die Argumentation für diese Hypothese auszuarbeiten. Als Ausblick sei jedoch auf Derridas prinzipiellen Vorbehalt gegenüber Ethik verwiesen sowie auf seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit, "ökonomische" Strukturen 236 , in denen das Eigeninteresse vorherrscht, zu durchbrechen. Diese Zweifel Derridas zeigen sich in Passionen, ließen sich aber vor allem anhand von Derridas Werk über die "Gabe"
236
Zur Ethik vgl. z.B. Derrida: Falschgeld; S. 190. Zur "Ökonomie" bei Derrida vgl. ebd.; z.B. S.16f.
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Falschgeld Zeit geben I schärfer ausarbeiten. Dort erörtert Derrida unter anderem den Zusammenhang von ökonomischem Eigeninteresse und Tausch. 237 Der Tausch stellt laut Derrida die Paradefigur des ökonomischen Raums dar. Dem Tausch entgegen steht die (vermeintlich altruistische und gleichzeitig moralisch hochgehaltene) "Gabe", die anökonomisch bleiben muss und nicht retourniert werden darf. Denn eine Gabe, die zurückgegeben wird, verwirkt sich zum Tausch. 238 Derrida versucht in Falschgeld nun zu zeigen, dass auch die zunächst aniikonomisch vorgestellte Gabe der Ökonomie nicht entkommt. 239 Selbst die üblicherweise als altruistisch angesehene und moralisch hochgestellte Gabe unterliegt in diesem Sinne also einem egoistischen Zug: Gegeben wird, um zu bekommen. Pointiert hieße das: Ethische Handlungen vollzieht man (auch) immer ein Stück weit für sich selbst.
2. Moralisch aporetische Struktur des Fremdverstehens Im Anschluss an diese Ausführungen zu Derrida ist festzuhalten, dass das Fremdverstehen zum einen unmöglich (bzw. moderater als Derrida müsste hier gesagt werden: nur beschränkt möglich) ist aufgrund der heteronomen Subjektstruktur und dass es zum anderen verstehensverzerrenden Kräften unterliegt, nämlich einem Willen zur Macht und Eigeninteresse. Außerdem hieße 237 238
238
239
Zum Zusammenhang von Ökonomie und Tausch vgl. ebd. Beispielsweise sagt Derrida: "Die Gabe darf nicht zirkulieren, sie darf nicht getauscht werden, auf gar keinen Fall darf sie sich, als Gabe, verschleißen lassen im Prozeß des Tausches [".]. Wenn die Figur des Kreises für die Ökonomie wesentlich ist, muß die Gabe anii/eonomisch bleiben." (ebd.; S. 17) Zum Zusammenhang von Ökonomie und Tausch vgl. z.B. Derrida: Falschgeld; S. 16f. Vgl. ebd. 23ff. - Aus diesem Grund spricht Derrida von der Unmöglichkeit der Gabe oder auch von der Aporie der Gabe (z.B. S. 22/161). Dieses Thema wurde von der Forschung mehrfach behandelt. Eine gute zusammenfassende Darstellung von Derridas Gabe-Konzept liefert z.B. Bernhard Waldenfels: Das Unding der Gabe. In: Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida. Frankfurt/M: Suhrkamp 1997; S. 385-409. - Sehr ausführlich zum Thema der Gabe bei Derrida (wie auch Uvinas, Heidegger, Mauss und Bataille) vgl. Kathrin Busch: Geschicktes Geben. Aporien der Gabe bei Jacques Derrida. München 2004.
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das, dass es aus besagten Gründen nicht moralisch wünschenswert bzw. "verantwortlich" ist, zu versuchen, einen Anderen zu verstehen, oder mit Derrida, einem Anderen zu antworten: "Es ist besser, es ist gerechter, es ist geziemender, auch moralischer, nicht zu antworten, respektvoller gegenüber dem Anderen [...]." (P 36).240 Doch was ergäbe sich aus dem Verzicht, den Anderen zu verstehen, oder, nach Derrida, aus dem Verzicht der Antwort auf den Diskurs des Anderen? Derrida fragt nach den Konsequenzen dieses Verzichts und kehrt im Zuge dessen seine bisherigen Argumente gegen die Moralität der Antwort um. Ein Verzicht auf die Antwort dem Anderen gegenüber unterliegt laut Derrida sogar noch einer größeren "Gefahr" (ebd.) als das Antwortenwollen. Drei Schwierigkeiten dieses Verzichts sollen hier expliziert werden: Erstens kann der Verzicht auf die Antwort vom Anderen als Geste der Gleichgültigkeit interpretiert werden (ebd.). Hinter der Behauptung, aus moralischen Gründen dem Anderen nicht zu antworten, da man nicht anmaßend sein möchte und nicht vorgeben will, angemessen antworten zu können, könnte sich schlichtweg Indifferenz gegenüber dem (Diskurs des) Anderen verbergen. - Das lässt sich gut auf das Fremdverstehen im hiesigen Sinne übertragen: Auch hier kann man aufgrund der mannigfachen Grenzen, denen das Fremdverstehen unterliegt, nicht einfach das Nicht-Verstehen als moralisch höher stehend werten: Hinter dem vermeintlich verantwortungsvollen Verzicht zu verstehen, könnte sich mangelndes Interesse am Anderen verbergen. Man könnte noch ein Stück weitergehen und erwägen, ob sich nicht aus der behaupteten Unmöglichkeit des Verstehens faktisch sogar Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen entwickelt. Aus dem Verzicht des Verstehens würde ein Verzicht auf die Auseinandersetzung mit dem Anderen folgen. Derrida fragt in Bezug auf die Antwortverweigerung, ob diese ,,[...] nicht theoretisch wie praktisch den Begriff der Verantwortung, in Wahrheit das Wesen des socius selbst" (P 36) unterminiere. .Ähnliches könnte man vom Verstehensverzicht sagen: Wird davon ausgegangen, dass der Andere radikal anders und so in keiner Weise zu verste-
240 Die folgenden Argumente Derridas betreffen eindeutig die Moralität der Antwort auf den Anderen oder seinen Diskurs und bedürfen somit für das Thema des Fremdverstehens einer Übersetzung.
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hen ist und unterlässt man deshalb den Verstehensversuch, entzieht sich das Ich dem Anderen (und seinen Ansprüchen). Zweitens kann die Nichtantwort wie die Antwort einem strategischen Eigeninteresse unterliegen: Sie kann laut Derrida als Waffe eingesetzt und zur "beißendsten Ironie" (ebd.) werden. Man meint zwar, verstehen zu können, schweigt aber aus strategischen Gründen. Übertragen auf die vorliegende Fragestellung würde das bedeuten: Auch das Nichtverstehen kann aus eigennützigen Motiven getätigt werden. Oben wurde gesagt, dass das Kennen- oder Einschätzenlernen als Mittel zur Bemächtigung des Anderen eingesetzt werden kann. Andererseits liegt in diesem Versuch, den Anderen einschätzen zu lernen, wie in der Auseinandersetzung mit Gadamer erörtert wurde, auch ein moralisches Moment: Durch das Kennenlernen des Anderen können dessen Ansprüche verstanden werden. Der Verzicht auf das Verstehen des Anderen könnte nun strategisch dazu benutzt werden, eben diese Anspruche zu negieren. Drittens enthüllt sich auch der nicht getätigte Antwort- bzw. Verstehensversuch als eine Geste der Macht: Anstatt zumindest einen vorläufigen, zwar notwendig korrekturbedürftigen Vers tehens- oder Antwortversuch zu tätigen, entzieht sich das Ich und erhebt sich selbst in die Position, behaupten zu können, dass allgemein nicht verstanden bzw. geantwortet werden kann. Konkret sagt Derrida, es stelle eine ,,Anmaßung der Beherrschung oder des Überblicks/Überflugs" (P 37) dar, eine wenn auch noch so korrekturbedürftige Antwort auf den Anderen in einen unendlichen Diskurs zu verschieben. 241 Es ist besser, auf den Diskurs des Anderen zumindest korrekturbedürftig zu antworten als gar nicht. Oder, dem zugrunde liegend, es ist moralisch wünschenswerter, das Verstehen zumindest zu versuchen, als sich in eine Metaposition zu setzen, von der aus behauptet wird, dass Verstehen nicht möglich ist. Im Anschluss an Husserl wurde ferner vertreten, dass genau im Wissen um die Korrekturbedürftigkeit des Fremdverstehens ein positives Moment liegt, insofern daraus eine gewisse Vorsicht dem Anderen gegenüber erwachsen kann. 241
"Nichts wäre schlimmer, als an die Stelle einer gewiß ungenügenden, doch immer noch von einer ernsthaften bescheidenen, endlichen, resignierten Bemühung zeugenden Antwort einen endlosen Diskurs zu setzen." (P 37)
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Gleichgültigkeit, Eigeninteresse, Bemächtigung wären also die Konsequenzen eines Verzichts zu verstehen bzw. zu antworten. Ausgehend von diesen Argumenten postuliert Derrida die (moralische) ,,Aporie" der Antwort: Der Wille/Versuch zu antworten oder zu verstehen ist zugleich moralisch wünschenswert wie moralisch verwerflich und das führe in eine "Aporie", die uns "lähmt" (P 37). Es mag so sein, dass das Ich den Anderen nur sehr korrekturbedürftig verstehen kann und es mag auch so sein, dass jeder Verstehenswille interessegeleitet ist und der Gefahr anheim fällt, ein Wille zur Macht zu werden. Daraus kann allem zum Trotz dennoch nicht gefolgert werden, dass das Nichtverstehen oder die Nichtantwort moralisch wünschenswerter ist als der Versuch zu verstehen oder zu antworten. Aber ist diese Aporie unauflösbar? Auf diese Fragen lassen sich zwei Antworten fmden - eine derridainterne und eine externe, auf das hiesige Thema bezogene. Bei Derrida liegt die Beobachtung nahe, dass er durch seinen Text Passionen, der ja antwortenden Charakter besitzt (mit dem Text soll Derrida auf andere Diskussionsbeiträge antworten), performativ versucht, die Aporie der Antwort zu umgehen, die unmögliche Antwort zu ermöglichen. 242 Indem Derrida indirekt, anhand vieler Umwege und Einschübe, nicht thetisch oder thematisch auf die Diskurse oder Texte der Mitdiskutanten antwortet, antwortet er zwar einerseits und verzichtet demnach nicht einfach auf die Antwort, andererseits versucht er dem anmaßenden Zug der Antwort oder ihrem Versuch der Bemächtigung zu entgehen, indem er nicht
242
Das Spätwerk Derridas wurde von Gondek/Waldenfels als "performative Wende" beschrieben (vgl. Gondek/Waldenfels: Einsätze; S. 7f) - Die performative Wende in Derridas Werk kann so verstanden werden: Oft vollzieht Derrida in seinen späteren Texten performativ das, was er theoretisch erarbeitet. Auf ähnliche Weise versucht er, wie Bernasconi konstatiert, die unmögliche Gabe durch bzw. in seinem Text über Uvinas Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich performativ zu ermöglichen. - Vgl. Robert Bernasconi: Ethische Aporien: Derrida, Uvinas und die Genealogie des Griechischen. In: Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida. Text übers. v. Petra Gehring/Hans-Dieter Gondek. Frankfurt/M 1997; S. 345-384; S. 363. - Jacques Derrida: Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich. In: Michael Mayer/ Markus Hentschel (Hg.): Uvinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie. Text übers. v. Elisabeth Weber. Gießen 1990; S. 42-83.
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vorgibt, den Diskurs seiner Mitdiskutanten gänzlich verstehen und auf ihn in aller Einzelheit antworten zu können. Welche Konsequenz hat diese moralische Aporie für das Fremdverstehen? Auch dieses ist aufgrund seiner aneignenden Tendenz und seiner Interessegeleitetheit nicht moralisch wünschenswert. Gleichzeitig wurde zu zeigen versucht, dass die Lösung dieser Probleme aus moralischer Sicht nicht schlichtweg ein Verzicht auf das Verstehen darstellen kann. Es ließe sich überlegen, dass die Moralität des Fremdverstehens eben genau in diesem Zwischenbereich zwischen Verstehen und Nichtverstehen anzusiedeln ist: Zwar sollte das Ich aus moralischer Perspektive versuchen, den Anderen Zu verstehen, doch es darf die Grenzen des Verstehens nicht ignorieren. Mit Busserl wurde gesagt, dass das Ich niemals wissen kann, ob es den Anderen auf adäquate Weise verstanden hat. Mit Derrida müsste hinzugefügt werden, dass das Fremdverstehen durch das Eigeninteresse mitgeleitet wird und dass der Wille zu verstehen zudem Gefahr läuft, ein Wille zur Macht zu werden. Ausgehend von dieser Einsicht im Anschluss an Busserl und diesem Verdacht im Anschluss an Derrida bedarf es einer stetigen Wachheit gegenüber verfehlenden, aneignenden oder bemächtigenden Verstehensversuchen. Gerade das Wissen um die Unmöglichkeit, hier tatsächlich adäquat zu verfahren, so meine These, könnte die eigene Kritikfahigkeit offen halten und dazu beitragen, dass ein vermeintlich moralisch richtiger Verstehensversuch selbstverherrlichend zum Stillstand kommt. Damit ist zwar noch immer offen, ob es etwas wie einen altruistischen Wunsch zu verstehen gibt oder geben kann. Aber zumindest lässt sich festhalten, dass auf den Versuch zu verstehen nicht verzichtet werden sollte und wie ein moralisch wünschenswertes Verstehen aussehen könnte.
es durch ein implizites Interesse geleitet ist und auf einem Willen zur Macht beruhen kann. Sowohl das Eigeninteresse als auch die Bemächtigung stellen verstehensverzerrende Komponenten dar und verweisen auf die moralische Schwierigkeit eines Willens zu verstehen. Damit wurde drittens noch einmal die Frage nach der Moralität des Fremdverstehens aufgeworfen. Es zeigte sich, dass trotz der aneignenden Tendenz des Verstehens, trotz der Interessegeleitetheit und der Gefahr der Bemächtigung nicht geschlossen werden kann, dass der Verzicht auf das Verstehen moralisch wünschenswert ist. Statt hierin eine unauflösbare Aporie zu sehen, wurde vorgeschlagen, den moralischen Gehalt des Fremdverstehens genau in einem ,Zwischen' zu suchen: Im Versuch, den Anderen zu verstehen, sich aber gleichzeitig der Grenzen des Verstehens und der steten Korrekturbedürftigkeit des Verstehens bewusst zu sein. Mit Derrida kamen somit hauptsächlich weitere Grenzen des Verstehens in den Blick. Von einer Möglichkeit zu verstehen im positiven Sinne kann mit Derrida hingegen kaum gesprochen werden. - Nach diesem Schritt können nun die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung expliziert werden. Noch einmal stellt sich die eingangs gestellte Frage: Wie sind die Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens im Anschluss an Busserl, Gadamer und Derrida zu verorten?
3. Grenzen des Fremdverstehens Zusammenfassend lieferte die (unorthodoxe) Auseinandersetzung mit Derrida en gros drei Einsichten: Erstens konnte im Anschluss an den Philosophen verdeutlicht werden, dass das Selbstverstehen des Subjekts mannigfachen Grenzen unterliegt, was wiederum das Fremdverstehen verkompliziert. Zweitens wurde konstatiert, dass das Verstehen mitunter in dem Sinne aneignend ist, dass
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V. Möglichkeit und Grenze, den Anderen zu verstehen
Kann das Ich den Anderen in seiner individuellen Eigenheit verstehen? Gibt es eine Evidenz des Fremdverstehens? Die Untersuchung ergab, so ließe sich grob zusammenfassend sagen, das Ich kann den Anderen verstehen, jedoch nur in Grenzen und nicht evidentermaßen. Diese These begründet sich in den Ergebnissen der vorliegenden (kritischen) Auseinandersetzung mit Husserl, Gadamer und Derrida. In der Untersuchung wurde im bescheidenen Rahmen ein Konzept des Fremdverstehens entwickelt, das im Weiteren anhand von vier Bemerkungen resümiert werden soll. In der Auseinandersetzung mit Husserl wurde versucht, ein Subjektverständnis zu entwickeln, das eine geeignete Grundlage bilden kann für das Fremdverstehen. Mit und gegen Husserl wurde konstatiert, dass das Subjekt heteronom bestimmt ist und einer doppelten ,Enteignung' unterliegt: Es ist wesentlich sozial verfasst und unterliegt zum einen mannigfachen äußeren Einflüssen und zum anderen passiven, unbewussten Motivationen. Das bedeutet, das Subjekt ist mehrfach kontingent bestimmt und entzieht sich in diesem Sinne dem Verstehen. Andererseits ist das Subjekt nicht gdn~ich kontingent bestimmt, sondern zeichnet sich auch durch (relativ) stabil bleibende charakterliche Eigenschaften, Grundüberzeugungen, Motivations-, Verhaltens- oder Fühlweisen aus. Gerade aufgrund seiner Eigenschaft, einen relativ gleich bleibenden charakterlichen "Stil" zu haben, kann das Subjekt verstanden werden. Die Mijglichkeit des Fremdverstehens (wie auch seine Grenzen; s.u.) erhellt sich also aus der Beschaffenheit von Subjekten allgemein. Insofern der Andere einen (relativ) stabilen Charakter aufweist und so nicht gänzlich kontingent ist, ist er verständlich. Außerdem wurde die Möglichkeit des Fremdverstehens durch die soiJale Verfasstheit von Subjekten begründet: Gegen Husserl wurde die Sozialität des Subjekts konstatiert und festgehalten, dass sich in diesem Sinne die Sphäre des Eigenen nicht strikt von der des Fremden trennen lässt. Und gerade weil das Ich auch ,Fremdes' in sich trägt, kann es den Anderen verstehen, insofern dieses Insichtragen von Fremden eine grundlegende Offenheit für den Anderen mit sich bringt und das Ich ein viel
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breiteres Verständnis von unterschiedlichen Eigenschaften, Motivationen etc. entwickelt, als dies ein solipsistisch konstituiertes Subjekt jemals haben könnte. Im Anschluss. an Gadamer kann schließlich als ein weiterer Grund für die Möglichkeit des Fremdverstehens angegeben werden, dass der Andere kein radikal Anderer ist. Das Fremdverstehen ist zwischen Vertrautem und Fremdem angesiedelt: Der Andere teilt bezogen auf die Subjektstruktur grundlegende Eigenschaften mit dem Ich und ist nicht gänzlich fremd. Eine weitere Frage dieses Buchs lautete, auf welche Weise das Ich den Anderen verstehen kann. Diese Frage ließ sich anhand des Prozesses des Fremdverstehens erhellen, wie er vor allem im Anschluss an Husserl und Gadamer erarbeitet werden konnte. Mit Gadamer wurde darauf verwiesen, dass das Verstehen nicht im Ich seinen Anfang hat, sondern dass es der Andere ist, der etwas zu verstehen aufgibt. Zudem zeigte sich der wechselseitige Verlauf des Fremdverstehens, dieses ist kein "einseitiges Hineinverstehen", wie Husserl es behauptet. Im Verstehensprozess kann das Ich durch den Anderen Veränderungen erfahren, was wiederum zurückwirkt auf das Verstehen des Anderen. Ausgehend vor allem von Husserl, aber auch von Gadamer, ließ sich das Verstehen als an den eigenen Erfahrungshorizont gebunden und demnach als subjektrelativ bestimmen. Der eigene Erfahrungshorizont umfasst das ganze Vorverständnis des Ich samt seiner "Menschenkenntnis" im Husserlschen Sinne. Gadamer spricht im Zuge des Vorverständnisses dezidiert von 0lor-) Urteilen. Daraus konnte der Vollzug des Fremdverstehens als von Werten des Ich mitgeleitet gefolgert werden. Verschärft musste mit Derrida auf die Lenkung des Prozesses durch das Eigeninteresse des Ich hingewiesen werden (s.u.). - Wie geht nun der Prozess des Fremdverstehens vonstatten? Ausgehend von Husserl wurde erarbeitet, dass das Fremdverstehen ein Motivationsverstehen (und kein Sachverstehen) darstellt. Es vollzieht sich analogisierend, appräsentativ und somit entwerfend. Das Ich kann die Innerlichkeit des Anderen nur appräsentativ setzen, nicht aber unmittelbar erfahren, es tätigt Verstehensentwürfe. Damit ist implizit die Tendenz des Verstehens zur Projektion oder auch zur Aneignung aufgezeigt, insofern das Fremdverstehen droht, in diesem Entwurf stecken zu bleiben. Der Verstehensentwurf wird ~usgehend vom eigenen Erfahrungshorizont analogisierend getä144
tigt: Das Ich versteht den Anderen zunächst als einen, der ähnlich motivational verfasst ist wie es selbst. Genauer wurde der Prozess des Fremdverstehens im Anschluss an Gadamers Ausführungen zum "hermeneutischen Zirkel" erörtert. Das Fremdverstehen vollzieht sich als hin- und herpendelndes und immer differenzierter werdendes Verstehen von ,Teil' und ,Ganzem'. Die individuelle Eigenheit des Anderen kann nur über seine einzelnen Verhaltensweisen oder z.B. Wertweisen erschlossen werden. Gleichzeitig sagen die einzelnen Verhaltensweisen hauptsächlich im Kontext seiner individuellen Eigenheit etwas über den Anderen aus. Im Laufe der Untersuchung stellte sich mehrfach die Frage nach den mannigfachen Grenzen des Fremdverstehens. Diese wurden hauptsächlich bei der Beschäftigung mit Husserl und Derrida deutlich. Es lassen sich drei Arten von Grenzen unterscheiden: Erstens ergaben sich aus der Beschaffenheit von Subjektivität eine quantitative und eine qualitative Grenze des Fremdverstehens. Mit Husserl wurde auf die quantitative Grenze des Fremdverstehens verwiesen: Das Fremdverstehen ist unabschließbar, da dem Ich die Subjektgenese des Anderen lückenlos gegeben sein müsste, um diesen umfassend zu verstehen, was jedoch unmöglich ist. Fundamentaler ist die qualitative Grenze des Fremdverstehens, die sich aus der Beschäftigung mit Derrida und dem in der vorliegenden Arbeit entwickelten Subjektverständnis ergibt: Insofern das Subjekt doppelt ,enteignet' ist (durch seine Sozialität und durch unbewusste Motivationen), ist es auch kontingent bestimmt. In dieser Kontingenz unterliegt das Subjekt bereits mehrfachen Grenzen des Selbstverstehens; es ist sich keineswegs gänzlich transparent. Gerade in seiner Kontingenz entzieht sich der Andere ein Stück weit dem Fremdverstehen. Zweitens unterliegt das Fremdverstehen einer Grenze, die genuin dem Vollzug des Fremdverstehens geschuldet ist. Diese Grenze zeigte sich in einer externen Husserlinterpretation: Das Ich hat einen privilegierten Zugang zu seinen Erfahrungen. Die Innerlichkeit des Anderen kann das Ich nur appräsentativ setzen; das Verstehen vollzieht sich als Entwurf, der nicht zur Evidenz gebracht werden kann. Die (indirekte) Bewährung des Verstehensentwurfs vollzieht sich allein durch immer weitergehende Verstehensentwürfe. Und so kann das Ich nie wissen, ob es den Anderen auf die Weise versteht, wie es diesem entsprechen wür145
deo Einen Anderen zu verstehen, kann also nicht bedeuten, ihn evidentermaßen zu verstehen. Drittens wurde mit Derrida auf Grenzen des Verstehens verwiesen, die auf der Wertigkeit des Verstehens beruhen: Schon bei Gadamer zeigte sich, wie das Verstehen auf Urteilen des Ich beruht. Gegen Gadamer wurde konstatiert, dass diese Urteile, diese Werte das Verstehen mitlenken und es so verzerren können. Mit Derrida müssen die verstehensverzerrenden Momente, die in der Wertigkeit des Verstehens ihren Grund haben, mit Nachdruck hervorgehoben werden. Es wurde erörtert, dass das Fremdverstehen mitgeleitet (und verzerrt) wird durch das Eigeninteresse des Ich, und zudem, dass der Wille zu verstehen ein Wille zur Bemächtigung des Anderen sein kann. An diese erkenntnis orientierten Fragestellungen schloss sich viertens die Frage nach der Moralität des Fremdverstehens an. Diese ergab sich hauptsächlich ausgehend von Gadamer und Derrida. Angestoßen wurde diese Frage durch die Beschäftigung mit Gadamer. Hier wurden zwei Stoß richtungen verfolgt: Zum einen wurde gegen Gadamer bezweifelt, dass auch "unmoralische Wesen" einander verstehen wollen. Für die vorliegende Fragestellung hieß das: Der Wille, den Anderen möglichst adäquat zu verstehen, ist moralisch motiviert. Zum anderen wurde versucht, der Fragestellung dieses Buchs aus moralischer Perspektive eine Legitimation zu verleihen, die sie laut Gadamer nicht besitzt. Die Frage nach dem Verstehen der Individualität des Anderen wurde als moralisch wünschenswerter bestimmt als Gadamers Frage nach dem sachlichen Einverständnis. Die Gründe dafür fanden sich einerseits allgemein im vorliegenden Konzept des Fremdverstehens, insofern es weniger aneignende Züge aufweist als Gadamers Modell, und andererseits in der Möglichkeit, die Ansprüche des Anderen durch ein Wissen um dessen Individualität besser erschließen zu können, als dies bei einem reinen Sachverstehen möglich wäre. Mit Derrida kamen die dennoch bestehenden moralischen Schwierigkeiten des hier erarbeiteten Fremdverstehenskonzepts in den Blick. Diese begründen sich durch den prinzipiell aneignenden Zug des Verstehens sowie durch die Mitlenkung des Fremdverstehens durch das Eigeninteresse und schließlich durch die Gefahr des Verstehens, ein Wille zur Bemächtigung des Anderen zu sein. Indessen wurde konstatiert, dass daraus nicht der Verzicht zu verstehen folgen kann, dieser ist 146
nicht moralisch wünschenswerter als sein Versuch. Vielmehr sollte aus moralischer Sicht stets daran festgehalten werden, den Anderen zu verstehen zu versuchen. Das moralische Potential des Fremdverstehens im hier vorgelegten Sinne liegt, so lautete meine These, gerade im Zwischenraum zwischen dem Verstehensversuch einerseits und andererseits dem Wissen um die Gefahr, den Anderen im Verstehen anzueignen, bzw. dem Wissen, ihn nur bedingt verstehen zu können. Denn aus diesem Wissen lässt sich die notwendige Korrekturbedürftigkeit allen Fremdverstehens folgern und daraus kann eine Vorsicht gegenüber dem Anderen erwachsen. Am Schluss dieser Auseinandersetzung mit dem Verstehen des Anderen in seiner individuellen Eigenheit mögen viele Fragen offenbleiben, ist manches nur angedeutet. Aber was wäre ein Text, der von mannigfachen Verstehensgrenzen handelt und der selbst beansprucht oder vorgibt, alles verstehen, erklären oder einholen zu können.
147
VI. Ausblick. Interkulturelles Fremdverstehen
Das Fremdverstehen im basalen Sinne, defmiert als das Verstehen des Anderen in seiner individuellen Eigenheit, unterliegt, so zeigte es sich, mehrfachen, nicht zu überschreitenden Grenzen. Wenn aber auf dieser grundlegenden Ebene festzuhalten ist, dass das Fremdverstehen stets neuer Überprüfung bedarf, es notwendig aneignend, mangelhaft und täuschungsanfällig ist und bleibt, welche Konsequenzen ergeben sich dann bezogen auf das Verstehen' von kulturell Fremdem, vom (inter)kulturell Anderen? Diese abschließende Frage, die sich gut an die vorliegende Untersuchung anschlösse, kann hier nur in Form eines Ausblicks verhandelt werden. Dabei wäre es vermessen, stichhaltige Antwortvorschläge Zu machen, es geht vielmehr darum, ein paar weiterführende Denkhorizonte zu öffnen. Interkulturelles Fremdverstehen wird hier nicht defmiert als Verstehen der individuellen Eigenheit des ,kulturell Anderen'. Das wäre wenig sinnvoll, denn dieses Fremdverstehen weist keine strukturelle Neuerung im Verhältnis zum generellen Verstehen des Anderen auf. Jenes verläuft auf die in der Untersuchung dargelegte Weise, mit der bereits angeführten Besonderheit, dass das Fremdverstehen mit wachsendem Fremdheitsgrad immer schwieriger wird (vgl. Kap. 3.2). In diesem Sinne müsste das Verstehen eines Anderen mit differentem kulturellem Hintergrund noch problematischer verlaufen als das Verstehen eines Anderen aus dem eigenen Kulturkreis. Das interkulturelle Fremdverstehen bezeichnet hier vielmehr das Verstehen von kulturellen Identitäten. ,Eigenes' und ,Fremdes' defIniert sich jetzt also nicht über das Paar Ich/Anderer, sondern über die ,eigene' und ,fremde' Kulturzugehörigkeit. Der ,kulturell Fremde' ist ein Träger der dem ,eigenen' Kulturkreis fernen Werte, Normen, Praktiken etc. Voranzustellen wäre, was unter kultureller Identität zu verstehen ist. Schematisch ausgedrückt, lassen sich (zumindest) zwei Weisen, kulturelle Identität zu bestimmen, unterscheiden. Eine starke Bestimmung (1) und eine schwache (2), wobei ich letztere bevorzuge. (1) Die starke Auffassung von kultureller Identität geht von einer mehr oder minder geschlossenen Einheit der verschiedenen Kulturen aus, in der der Einzelne Träger der kulturellen Werte, Normen und Praktiken ist, durch die er wesentlich 149
bestimmt ist. Die kulturelle Identität ist in diesem Sinne etwas relativ Feststehendes und defIniert einen Einzelnen im großen Maße. Theoretiker, die ein solch starkes Verständnis vertreten, beharren nicht selten auch auf der Wahrung kultureller Eigenheiten bzw. auf dem Aufrechterhalten und Pflegen von Traditionen. Kulturelle Identität wird positiv bewertet und ,Fremdheit' als bewahrungswürdig beurteilt. Nun hat dieses starke Verständnis jedoch seine Kehrseite. Eine zu ausgeprägte Betonung der Andersheit kulturell Fremder sowie die Hervorhebung einer mehr oder minder geschlossenen kulturellen Identität kann dazu führen, Differenzen zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen und kulturelle Identitäten als Stereotypen festzuschreiben. 243 Man müsste sogar so weit gehen, zu sagen, dass die zu deutliche Betonung von Fremdheit für rassistische Diskurse missbraucht werden kann. Erel etwa vertritt in ihrem aufschlussreichen Aufsatz Paradigmen kultureller Differenz und Hybriditiit in Anlehnung an Bhabhas Konzept der Hybridität entschieden, dass zu starre Formen von Fremdzuschreibungen rassistischen Ursprungs sind - wobei sie ferner diese starke Fremdzuschreibung für ein auffilliges Phänomen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart hält: Die Zuschreibung kultureller Differenz zu eindeutig identifizierbaren ethnischen Gruppen und die Behauptung, dass die kulturellen Differenzen transhistorisch und unassimilierbar sind, ist ein wichtiger Baustein neorassistischer Diskurse, die insbesondere im Zuge der politischen Entwicklung und der Kriege nach dem 11. September 2001 an Auftrieb gewonnen haben. 244
(2) Statt eines solch starken Verständnisses von kultureller Identität bzw. Fremdheit wird hier (wie bei Erel) eine schwache Form vertreten. Kulturen beÜnden sich im steten Wandel und vor allem kann nicht angenommen werden, dass die Wertvorstellungen oder Praktiken von Einzelnen bzw. Gruppen stereotypen Kulturvorstellungen entsprechen. Es gibt im strengen Sinne gar
243
244
Diese Gefahr der Festschreibung kultureller Stereotypen betont auch Bhabha mehrfach. Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Übers. v. Michael Schiffmann/Jürgen Freudl. Tübingen 2000; S. 97. Umut Erel: Paradigmen kultureller Differenz und Hybridität. In: Martin Sökefeld (Hg.): Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz. Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei. Bielefeld 2004; S. 35-51; S. 36f.
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nicht ,die' zu bewahrenden Kulturen oder Traditionen. Wenn es darum geht, kulturelle Identitäten zu verstehen, muss diese Inkompatibilität zwischen stereotypen Kulturvorstellungen und verschiedenen, heterogenen und wandelbareren Praktiken Einzelner mitreflektiert werden. Kulturelle Werte oder Normen werden auf unterschiedliche Weise vertreten, Subjekte rezipieren sie, leben sie individuell aus, verändern sie. Kulturelle Identitäten sind also wesentlich dynamisch, wobei gerade in dieser Dynamik das Potential der Annäherung zwischen Kulturen zu liegen scheint. In den gegenwärtig so mannigfachen wie kontroversen philosophischen, soziologischen, kultur- oder auch literaturwissenschaftlichen Debatten zum kulturell Fremden steht häufIg weniger dezidiert die Frage nach dem Fremdverstehen im Vordergrund als vielmehr die Frage des Zugangs zu oder des Umgangs mit kulturell Fremden - wobei ich vertreten würde, dass der Versuch zu verstehen die Voraussetzung darstellt für die Frage nach dem Umgang mit Fremdem. Es werden unterschiedliche Phänomene in den Blick genommen, wie etwa Multikulturalität, Migration, Integration oder Rassismus. Die Palette der Auseinandersetzungen reicht von (philosophischer) Grundlagenforschung bis hin zu empirischen soziologischen oder kulturwissenschaftlichen Detailstudien wie beispielsweise über türkische Einwanderer in Deutschland. 245 So unterschiedlich die Debatten sind, so lässt sich doch sagen, dass sehr oft das Phänomen der Aneignung des Fremden von zentraler Bedeutung ist. Überdeutlich ist das in den Diskussionen über Assimilation, wo die Frage gestellt wird, auf welche Weise und wie weit etwa kulturelle Minderheiten sich in die Kultur des Landes, in dem sie leben, zu integrieren haben.
245
Vgl. exempl. aus soziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive Julia Reuter: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld 2002; Bhabha: Verortung; den Sammelband Ulrich Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg 1998; sowie Martin Sökefeld (Hg.): Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz. Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei. Bielefeld 2004. In der Philosophie bzw. der Phänomenologie hat sich beispielsweise Waldenfels ausführlich mit dem Thema beschäftigt: Bernhard Waldenfels: Topographie; ders.: Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4. Frankfurt/M 1999.
151
Die Forschung betont hier oft und zu Recht, wie stark Assimilationsdebatten - z.B. in der Politik - vom eigenen Horizont her geführt werden und wie sehr kulturelle Identitäten an der ,eigenen' Kultur gemessen, sie von diesem Gesichtspunkt aus bewertet und angeeignet werden. Waldenfels bezeichnet die Aneignung des Fremden als beste Form der Abwehr des Fremden. Und er schreibt: "Der Umgang mit dem Fremden ist so sehr durch das Ziel der Aneignung bestimmt, daß ,Aneignung' vielfach als das Synonym für ,Erkennen', ,Erlernen' oder ,Befreiung' gebraucht wird."246 Letzteres lässt schon vermuten, dass auch beim interkulturellen Fremdverstehen im hier verwendeten Sinne das Problem der Aneignung von besonderer Relevanz sein dürfte. Was lässt sich über das interkulturelle Fremdverstehen sagen? Die Untersuchungsergebnisse des Buchs lassen sich gut auf das interkulturelle Fremdverstehen abbilden, da sich die grundlegenden Bestimmungen des Fremdverstehens nicht gewichtig verändern. Sein Prozess verläuft parallel zum basalen Fremdverstehen: Auch das interkulturelle Fremdverstehen ist angewiesen auf Analogisierung und Appräsentation und ein tieferes Verstehen von kulturell Fremden kann nur durch immer weitergehende und zu korrigierende hermeneutische Verstehensvollzüge erlangt werden. Darin liegt bereits, dass auch das interkulturelle Fremdverstehen keine Evidenz für sich beanspruchen kann. Und so sind auch die Grenzen des Verstehens, die im Weiteren im Vordergrund stehen, ähnlich zu bestimmen. Das interkulturelle Fremdverstehen bleibt stets korrekturbedürftig, es fIndet unumgänglich ausgehend von einem eigenen CWerte-)Horizont statt, es hat aneignende Tendenzen und unterliegt Eigeninteressen, was zur Verzerrung des Verstehen führt. Die die Verstehensgrenzen betreffenden Punkte scheinen auf das interkulturelle Fremdverstehen im Vergleich mit dem basalen sogar in verschärftem Maße zuzutreffen. Sofern Verstehen erstens immer bedeutet, ausgehend vom eigenen Horizont aus zu erfassen, und es zudem wesentlich analogisierend verfährt, ist das Verstehen von kulturell Fremdem besonders schwierig, weil die Möglichkeit zur Analogisierung aufgrund mangelnder Parallelen hier schnell an ihre Grenzen gelangt. Das potentielle Missverstehen oder Nichtverstehen ist beim interkul-
246
Waldenfels: Topographie; S. 48f.
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turellen Fremdverstehen damit besonders groß. In der Standortgebundenheit des Verstehens liegt noch eine iJVeite Schwierigkeit. Interkulturelles Fremdverstehen fmdet auf dem Boden der eigenen kulturellen Werte und Normen statt. Da dieser eigene Horizont im starken Sinne moralisch aufgeladen ist, müsste er, um das Verstehen nicht zu verzerren, besonders dringlich mitreflektiert werden, was jedoch sehr häufIg nicht der Fall ist. Der eigene Horizont wird nur allzu schnell als der ,normale' und ,neutrale' Horizont begriffen. Ein gutes Beispiel für das Abstreiten des eigenen Standpunkts oder des eigenen Wertehorizonts bei der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen fmdet sich in der in den achtziger Jahren prominent gewordenen Debatte zwischen Liberalisten und Kommunitaristen. 247 .Die Liberalisten nehmen, sehr vereinfacht gesagt, klassischerweise n dieser Diskussion den Standpunkt ein, dass liberale Werte neutral genug seien, um als allgemeingültig gelten zu können. Liberale Werte seien kulturübergreifend und könnten demnach von allen Kulturen angenommen und als Grundlage für Gesellschaften akzeptiert werden. Taylor formuliert als prominenter Vertreter des Kommunitarismus in Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung den stichhaltigen Einwand, dass die behauptete Neutralität liberalistischer Ansichten nicht gegeben ist. Auch der Liberalismus unterliege einem starken Wertehorizont und stelle letztlich eine kämpferische Haltung dar. 248 So sei etwa die im Liberalismus vorausgesetzte Trennung zwischen Politik und Religion für manche Kulturkreise schlichtweg inakzeptabel. Dn'ttens wäre - ebenso in Anlehnung an die Standortgebundenheit des Verstehens - festzuhalten, dass sich auch die Vorurteile, die jedes Verstehen prägen, beim interkulturellen Fremdverstehen als besonders hartnäckig herausstellen dürften. Dies zeigt sich in gesellschaftlichen, medialen und politischen Diskussionen, wo kulturelle Stereotypen geboren und verfestigt werden, wo Verunsicherungen
247 Zum Streit zwischen Liberalisten und Kommunitaristen vgl. exempl.
248
Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt/M 1993; sowie ~harles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Ubers. v. Rainhard Kaiser. Frankfurt/M 1992. - Die starke Auffassung von Kultur der Kommunitaristen ist an dieser Stelle nicht relevant. Charles Taylor: Kampf; S. 56ff.
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formuliert und Ängste vor dem ,Unbekannten' bzw. dessen Abwehr angesprochen oder gar geschürt werden. Schließlich scheint das interkulturelle Fremdverstehen viertens besonderen Schwierigkeiten zu unterliegen, weil in ihm die Interessegeleitetheit, das Eigeninteresse eine besonders große Rolle spielt: Politische, ökonomische und moralische Interessen stehen bei der Auseinandersetzung mit kulturell Fremden im Vordergrund. Verstehen wird zugunsten des Durchsetzens eigener Vorteile in den Hintergrund gedrängt bzw. durch die Orientierung auf den Selbstnutzen verzerrt. Auch wenn hier nur wenige Punkte angesprochen und diese wiederum nur sehr verknappt skizziert werden konnten, eines sollte dennoch deutlich geworden sein: In allen vier Punkten zeigt sich die starke Tendenz des interkulturellen Fremdverstehens zur Aneignung und damit zur Negation des kulturell Fremden. Es erweist sich also als noch problematischer als das basale Fremdverstehen. Aber selbst wenn sich das so verhält, scheint gleichwohl auch beim interkulturellen Fremdverstehen eines sicher: Aller Gefahr der Aneignung zum Trotz kann der Verzicht auf das Verstehen aus moralischer Sicht nicht wünschenswerter sein als sein Versuch. Um produktiv die Frage danach stellen zu können, wie der Zugang zu oder der Umgang mit kulturell Fremdem auszusehen hat, bedarf es des interkulturellen Fremdverstehens. Der Versuch zu verstehen, reflektiert er seine Grenzen mit, stellt die Grundlage für eine produktive Auseinandersetzung zwischen den Kulturen dar, denn durch die nicht endenden und ihrer Korrekturbedürftigkeit bewussten Verstehensversuche ist es möglich, vorschnelle Urteile zurückzuhalten, Vorurteile abzubauen, die eigene Standortgebundenheit klarer zu sehen und Offenheit zu entwickeln für Werte, Normen und Praktiken Anderer. Wie ist am Ende der Untersuchung auf die eingangs zitierte Forderung, die Andersheit des Anderen müsse bewahrt werden, zu reagieren (vgl. Kap. 1)? Die Antwort fällt beim basalen wie beim interkulturellen Fremdverstehen gleich aus. Wir können die Andersheit des Anderen gar nicht bewahren, sofern wir die Auseinandersetzung mit ihm suchen, und wir sollten es auch nicht. Die Grundlage des Einander-Begegnens ist der Versuch zu verstehen, auch wenn in Verstehensprozessen immer schon Aneignung des Anderen stattftndet. Ein sich seiner Grenzen bewusstes, vorsichtig verfahrendes Fremdverstehen ist aus moralischer Sicht 154
unverzichtbar, selbst wenn es stets korrekturbedürftig und unabschließbar bleibt und selbst wenn es immer wieder tendenziös, verzerrend, ja ungerecht sein, wenn das Missverstehen häuftg Oberhand behalten mag. Gerade und nur im Versuch zu verstehen liegt die Aussicht auf Nähe.
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Weitere Programmtitel Dirk Quadflieg Das Sein der Sprache. Foucaults Archäologie der Modeme 164 Seiten, 15,00 EUR, ISBN 978-3-938880-04-3 Lars Gertenbach Die Kultivierung des Marktes. Foucault und die Gouvernementalität des Neoliberalismus 188 Seiten, 17,00 EUR, ISBN 978-3-938880-09-8 Lars Distelhorst Umkämpfte Differenz. Hegemonietheoretische Perspektiven der Geschlechterpolitik mit Butler und Lac1au ca. 320 Seiten, ca. 23,00 EUR, September 2007 ISBN 978-3-938880-12-8 Stephan Uhlig (Hg.) Was ist Hass? Anthropologische, philosophische und kulturwissenschaftliche Studien ca. 200 Seiten, ca. 18,00 EUR, Oktober 2007 ISBN 978-3-938880-14-2 Mit Beiträgen von Hartmut Reese, Rolf HaubI, Rudolf Heltzel, Udo Tietz, Lorenz Böllinger, Margit Brückner, Volker Caysa, Katharina Liebsch und Klaus Neumann- Braun Thomas Fuchs, Kai Vogeley und Martin Heinze (Hg.) Subjektivität und Gehirn ca. 300 Seiten, ca. 22,00 EUR, November 2007 ISBN 978-3-938880-15-9 Mit Beiträgen von Klaus Brücher, Hinderk Emrich, Manfred Frank, Thomas Fuchs, Wolfgang Gaebel,Jürgen Zielasek, Uwe Gonther, J ann Schlimme, Andreas Heinz, Martin Heinze, Ludger Honnefelder, Paul Hoff, Kai Vogeley, Tilo Kirche, Christian Kupke, Christoph Mundt, Hans-Peter Krüger, Friedel Reischies, Günter Schiepek und Henrik Walter
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Christian Kupke (Hg.) Levinas' Ethik im Kontext 192 Seiten, 15,00 EUR, ISBN 978-3-938880-00-5 Mit Beiträgen von Emmanuel Levinas, Hans-J oachim Lenger, Bernd Heiter, Elisabeth Weber, Christian Lotz, Rudolf Süsske, Andreas Spohn, Brigitte Gensch, Christian Kupke und Saito Yoshimichi Martin Heinze, Thomas Fuchs und Friedel M. Reischies (Hg.) Willensfreiheit - eine Illusion? Naturalismus und Psychiatrie 256 Seiten, 20,00 EUR, ISBN 978-3-938880-07-4 Mit Beiträgen von Michael Pauen, Peter Bieri, Thomas Fuchs, Christian Kupke, Christian Kupke und Kai Vogeley, Friedel M. Reischies, Thomas Görnitz und Brigitte Görnitz, Christoph Mundt, Klaus Brücher und Uwe Gonther, J ann E. Schlimme, Bernhard Küchenhoff, Henrik Walter, Clemens Cording Martin Heinze, Christian Kupke und Isolde Eckle (Hg.) Sagbar - Unsagbar. Philosophische, psychoanalytische und psychiatrische Grenzreflexionen 204 Seiten, 16,00 EUR, ISBN 978-3-938880-01-2 Mit Beiträgen von Christina von Braun, Hinderk M. Emrich, Thomas Fuchs, Martin Heinze, Udo Hock, Wolfram Hogrebe, Christian Kupke, Frank Werner Pilgram, Louis A. Sass, Matthias Waltz und Osborne Wiggins Martin Heinze, Dirk Quadflieg und Martin Bührig (Hg.) Utopie Heimat. Psychiatrische und kulturphilosophische Zugänge 248 Seiten, 19,00 EUR, ISBN 978-3-938880-02-9 Mit Beiträgen von Rudolf Bernet, Ian Prenelle, Hinderk M. Emrich, Helmut Haselbeck, Susanna Kahlefeld, Uwe Gonther, Karen J oisten, Martin Heinze, Klaus Leferink, Christian Kupke, Johann Pfefferer-Wolf, Dirk Quadflieg, Andreas Kriwak, Franz Anton Cramer, Inge Buck und Martin Bührig
Christoph Braun Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse 352 Seiten, 23,00 EUR, ISBN 978-3-938880-08-1 Christian Kupke (Hg.) Lacan - Trieb und Begehren 268 Seiten, 17,00 EUR, ISBN 978-3-938880-06-7 MitJacques Lacans Text "Über den 'Trieb' bei Freud und das Begehren des Psychoanalytikers" in deutscher Erstveröffentlichung und Beiträgen von Jacques-Alain Miller, Tobias Finis, Dirk Quadflieg, Philippe Despoix, Andreas Cremonini, Andreas Kriwak, Christoph Braun, Christian Kupke u. Robert Krokowski Klassische Texte Parodos Ulf Heuner (Hg.) Klassische Texte zur Tragik (KTP 1) 156 Seiten, 10,00 EUR, ISBN 978-3-938880-03-6 Mit Texten von Aristoteles, Schelling, Hegel, HöIderlin, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Scheler und Simmel Ulf Heuner (Hg.) Klassische Texte zum Raum (KTP 2) 148 Seiten, 10,00 EUR, ISBN 978-3-938880-05-0 Mit Texten von Platon, Aristoteles, Euklid, Descartes, Pascal, Leibniz, Newton, Kant, Mach und Scheler
Verena Thielen / Katharina Thiel (Hg.) Klassische Texte zum Glück (KTP 3) 156 Seiten, 12,00 EUR, ISBN 978-3-938880-10-4 Mit Texten von Epiktet, Platon, Aristoteles, Epikur, Seneca, Descartes, Pascal, La Mettrie, Kant, Schiller, Fichte, Schopenhauer, Nietzsche und Scheler
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