Ian Watson
Zur anderen Seite des Mondes Science-Fiction-Roman Deutsche Erstausgabe
DROEMER KNAUR
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Ian Watson
Zur anderen Seite des Mondes Science-Fiction-Roman Deutsche Erstausgabe
DROEMER KNAUR
Printed in Germany • 1 • 12 • 981 ISBN 3-426-05739-5 1. Auflage Deutsche Erstausgabe Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München/Zürich
Copyright © by Ian Watson 1978 Titel der Originalausgabe »Miracle Visitors« Ins Deutsche übertragen von Bernd Holzrichter Umschlagillustration W. Siudmak Satz IBV Lichtsatz KG, Berlin Druck und Bindung Mohndruck, Gütersloh
Als der Student Michael Peacocke sich dem Psychologen Deacon für Hypnoseexperimente zur Verfügung stellt, ahnt er nicht, daß dieser aus seinem Unterbewußtsein Erstaunliches zutage fördern wird: Michael hatte in seiner Kindheit offensichtlich Kontakt mit Außerirdischen. Deacons Entdeckung löst eine Serie seltsamer Ereignisse aus, die alle im Zusammenhang mit dem UFO-Phänomen stehen. Der Psychologe kommt zu der Überzeugung, daß dieses Phänomen schon seit Jahrhunderten existiert – früher in magischem und religiösem Gewand, heute unter einer »außerirdischen« Maske. Während ihn sein Wissensdrang zu einer religiösen Gruppe nach Ägypten führt, trifft Michael auf einen bizarren Besucher von einem 18 Lichtjahre entfernten Sonnensystem, der ihn zur anderen Seite des Mondes mitnimmt… Ian Watson wurde 1943 geboren, studierte in Oxford und schreibt seit 1969 Science Fiction. Innerhalb weniger Jahre stieß er mit Romanen wie »The Embedding« (1973), »The Jonah Kit« (1974, deutsch »Der programmierte Wal«) und »The Martian Inca« (1977, deutsch »Das Mars-Koma«, Knaur Science Fiction, Band 5721) in die Spitzengruppe der englischen ScienceFiction-Autoren vor. In dem Roman »Zur anderen Seite des Mondes« gibt er dem UFO-Thema eine neue, faszinierende Wendung.
Pour Bertrand Méheust, qui m’enthousiasma pour le problème…
…Entgeistert standen die Menschenkinder Auf der endlosen Erde und sahen die Himmelsvisionen… Doch still standen viele, mit Privatem befaßt. Und viele sagten: »Wir sehen keine Visionen in der Finsternis. Meßt die Bahn jenes Schwefelsterns, der die Düsternis erhellt; Setzt Basen auf die erwachsende Erde und überlaßt uns unseren Geschäften.« Gewaltig war die Kraft der Leere, alles hineinzuziehen. William Blake Vala oder Die vier Zoas
Prolog
In den Pedalen stehend jagte der Schuljunge sein Fahrrad über die Viehwege. Vor ihm breiteten sich im schwächer werdenden Licht verschwommen die düsteren, zerrissenen Umrisse des SwaleMoor aus. Der schmale Weg, der hinunter nach Goosedale führte, war verlassen, Regenwolken trieben rasch nach Osten fort und enthüllten einige wenige glitzernde Sterne; die Venus strahlte schon ziemlich hell, und der Mikrowellen-Relaisturm am Rand von Garth Rigg warf rote Warnlichter wie zwei Perlenschnüre in den Himmel von Yorkshire. Als ein Schaf aus den Ginsterbüschen trottete, trat er in die Bremse und beschleunigte dann wieder. Noch zehn Minuten, und er würde zu Hause in Neapstead sein. Ein helles, violettes Licht über dem Mikrowellenturm, zu intensiv, um von einem Stern oder einem Planeten zu stammen, erregte seine Aufmerksamkeit. Das seltsame Licht schwang wie das Gewicht eines Pendels hin und her, machte eine scharfe Kehre um den Turm und bewegte sich über dem Moor in seine Richtung. Der Junge bremste und beobachtete es verblüfft. Das Licht schwoll an, wurde blau, dann weißglühend. Ein Luftschiff aus brennendem Gras, das sich hinter einer Anhöhe einige hundert Meter vor ihm zur Erde senkte. Es kann nicht sein; aber es könnte doch sein! dachte er. Er jagte sein Fahrrad auf die Anhöhe zu. Unterhalb der Ginsterbüsche saß ein flügelloser metallener Ellipsoid, so groß wie ein Milchtankwagen. Er glühte nicht mehr, sondern pulsierte, als ob er atmete: eine metallene
Lunge, die ein bienenartiges Summen von sich gab. Während er das Ding beobachtete, verfestigte es sich. Licht strömte aus einer Luke. Eine ovale Klappe öffnete sich, eine wunderschöne Frau mit langem weißem Haar tauchte in ihr auf. Es war ziemlich spät, als er nach Hause kam, aber er hatte keine Vorstellung von dem, was ihn aufgehalten hatte. Am nächsten Tag schmerzten seine Augen, und seine Haut juckte. Sein ganzer Körper hatte eine rosige Färbung angenommen. Wenn er mit Wasser in Berührung kam, fühlte er ein brennendes Kratzen; aber aus Scham erzählte er nichts davon – nach einiger Zeit verschwanden die eigenartigen Symptome. Eine Zeitlang – warum, wußte er nicht – nahm er den Bus zur Schule nach Swale, statt die kürzere Strecke zu radeln. Immer wenn er danach mit dem Rad übers Moor fuhr, schien es, als fehlte etwas – ein Loch in der Straße oder ein Steindamm, der, wie er meinte, dort sein sollte, aber nicht dort war.
Erster Teil
1
»Nehmen Sie den grünen Sessel.« John Deacon winkte seinen Studenten ins Zimmer. Ein hübscher Junge, Michael Peacocke, ein dunkler Cherubim mit strahlenden Augen, dichten Brauen, einer feingeschnittenen Nase. Und er hatte auf der StanfordHypnose-Empfänglichkeitstabelle eine beachtliche Zwölf erreicht. Michael setzte sich. Nervös kreuzte er die Beine und stellte sie sofort wieder gerade. Als Deacon ihn gebeten hatte, ihm bei seiner Forschungsarbeit für sein in Arbeit befindliches Werk Der hypnotisierte Verstand zu helfen, hatte er so erfreut gewirkt, als hätte er einen Preis gewonnen. Aber jetzt, da der Augenblick da war, schien er fahrig und nervös. »Heute nachmittag«, erklärte Deacon zwanglos, »möchte ich Sie lediglich mit der sogenannten Erweiterten North-CarolinaSkala näher vertraut machen. Das ist die Skala, mit der man die subjektive Tiefe der Trance mißt, erinnern Sie sich? Nachdem ich Sie hypnotisiert habe, werde ich Sie auffordern, in regelmäßigen Abständen Ihr ›Stadium‹ zu nennen. In Ihrem Kopf wird eine Zahl auftauchen. Wir werden gleich kurz erläutern, was diese Zahlen aussagen. Machen Sie sich keine Gedanken, wie die Zahl dorthin kommt. Das wird seine Richtigkeit haben. Das ist stets so – auch wenn es Sie und mich überrascht.« Deacon fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Jetzt, da sein buschiges, sandfarbenes Haar immer rascher zurückging, war sein Schädel mit Sommersprossen gefleckt und sah ein wenig wie ein Hühnerei aus, an dem flachsgelbe Federn klebten und
das durch diesen Flaum eine eilige Auslieferung und seine offensichtlich ländliche Herkunft verriet. Seine Augen waren hellblau, seine Lippen wirkten humorvoll, aber auch ein bißchen traurig. Die frühe Herbstsonne machte sein Zimmer freundlichgolden. Der Blick zur Südseite der Universität Granton fiel auf Weideland, in das neue Industriezonen hineinschnitten. Entfernter Rauch von einem brennenden Stoppelfeld trübte den Himmel. Man konnte das Summen einer Motorsäge hören, die an kranke Ulmen gelegt wurde… Und wo war er wirklich? Ursprünglich hatte er seine derzeitige Arbeit mit der Zuversicht begonnen, daß er die verschiedenen Stadien des Bewußtseins tabellieren und mit dieser Tabelle in seine eigene Seele eindringen und die dort verborgenen Schätze entdecken konnte. Jetzt schienen Tabellen und geheime Protokolle das einzige zu sein – ein geistiger Aktenschrank, der den Schränken und grafischen Darstellungen in diesem Zimmer entsprach. Er war ein Anthologist, verirrt an einer Kreuzung mit hundert Hinweisschildern. Doch auf seinem Schreibtisch lagen die Zeitungsausschnitte mit Rezensionen des Sammelbandes, den er im Vorjahr herausgegeben hatte – Bewußtsein: früher und heute –, und alle stimmten darin überein, wie erkenntnisreich und anregend die Beiträge waren. Die Bewußtseinsforschung steckte noch in den Kinderschuhen; noch wußte niemand, was Bewußtsein überhaupt war… Der Fehler lag irgendwo anders als in seinem Werk. Er schwebte außerhalb. Der Fehler – anziehend, wie ein Magnet. Deacon erklärte Michael die North-Carolina-Skala. Null stellte den normalen Wachzustand dar. Von eins bis zwölf fühlte ein Individuum, wie es sich mehr und mehr entspannte. Bei über zwanzig konnte es starke Empfindungen, wie beispielsweise Benommenheit, erwarten; über fünfundzwanzig
intensive traumgleiche innere Gefühle. Bei mehr als dreißig konnte eine Person in die Vergangenheit zurückgehen, einen suggerierten Geschmack oder Geruch erleben, tatsächlich vorhandene Gegenstände wie Stühle oder sogar Menschen total aus seiner bewußten Wahrnehmung streichen. Bei vierzig und mehr konnte eine überzeugende falsche Realität vorgespielt werden… »Wo liegt die Grenze?« fragte Michael. »Wie weit kann man kommen?« »Es gibt Berichte über kurze Bewußtseinsstadien von hundertunddreißig. Etwa von fünfzig bis siebzig liegt der Bereich, den ich die ›Scherzgefühl‹-Phase nenne. Das Ego verflüchtigt sich. Man hat das Gefühl, man müßte nicht diese eine Person, sondern könnte ebensogut jemand oder etwas anderes sein. So etwas wie ein losgelöster Beobachter – ein ›höherer‹ Aspekt des Ich – scheint vom dem, was geschieht, höchst amüsiert… Und danach gibt es eine Art passiver buddhistischer Leere. Reine Bewußtheit, eine Art Nichtsein. Das ist in der Tat ein sehr interessanter Zustand des Geistes! Für mich ist es der faszinierendste Aspekt der geistigen Trance. Die Leere. Aber so tief werden wir anfangs nicht gehen. Heute handelt es sich nur um eine Erkundigungssitzung, um Sie mit den Abläufen vertraut zu machen. Wir brauchen – äh, mindestens ein halbes Dutzend, vielleicht ein Dutzend Sitzungen bis dahin.« Nachdem er das Telefon abgestellt hatte, damit kein Anruf sie stören konnte, schaltete Deacon das Tonbandgerät ein und setzte sich neben Michael auf die Schreibtischkante, um die Trance einzuleiten. Er sprach Routineworte. Einen Moment legte er die Hände auf Michaels Augen… »Stadium?« »Dreizehn«, sagte Michael prompt und erstaunte Deacon. Reichlich verfrüht. »Gehen Sie ein wenig tiefer… Stadium?«
»Fünfundvierzig«, kam die monotone, ausdruckslose Antwort. (»Sie machen Witze!«) Aber er sprach es nicht aus. Das war eine Farce. Der Junge war überhaupt nicht hypnotisiert… Aber er schien es doch, das konnte er an der Stimme erkennen. »Sind Sie sicher, Michael? Bleiben Sie, wo Sie sind! Stadium?« »Siebzig.« Ganz automatisch, teilnahmslos. »Gehen Sie nicht tiefer, hören Sie?« »Ja, ich höre«, sagte der Junge prompt. »Ich verbiete es Ihnen. Kehren Sie auf fünfundvierzig zurück, jetzt! Auf fünfundvierzig. Wo sind Sie jetzt? Stadium, bitte!« »Fünfundsiebzig.« »Zurück, verdammt noch mal!« befahl Deacon. »Ich kann nicht, ich bin auf dem Moor. Es ist direkt vor mir. Es ist stärker als Sie.« Was war los? Er hatte die Kontrolle über die Trance verloren. Es war, als hätte ihn ein äußerer Einfluß beiseite geschubst – eine Suggestion, die unter Tiefhypnose eingepflanzt worden war. Aber Michael hatte ihm versichert, daß er noch nie hypnotisiert worden war. Verschüttetes, unterdrücktes Material also? Das durfte doch wohl nicht wahr sein! »Wo sind Sie, Michael?« »Auf dem Swale-Moor, in der Nähe meines Heimatortes. Ich sehe das Licht am Himmel. Es kommt runter und landet. Ein Metallei mit Luken. Es kann nicht sein, aber es stimmt tatsächlich. Es ist eine fliegende Untertasse!« »Wie alt sind Sie?« »Ich bin sechzehn. Acht Tage nach meinem Geburtstag.« Die pedantische Präzision eines Hypnotisierten… »Eine schöne Frau mit langem blondem Haar steht in der Luke. Sie zieht mich an. Ich höre eine Stimme in meinem
Kopf, die mich ermutigt. Obwohl sie nichts sagt. Sie… stimmt mich ein. Kann ich das sagen?« »Ja, ja, das können Sie sagen.« Laß alles sich entwickeln. Es muß eine sexuelle Phantasie sein, die dem Jungen jahrelang enorm viel bedeutet hat. Die er immer wieder durchgespielt hat, bis sie zu einer Bandschleife in seinem Geist wurde und dort ungelöscht im verborgenen wartete. »Sie hat zwei Männer mit. Sie sind in Skianzüge gekleidet, genau wie sie, und sie haben ebenfalls langes blondes Haar. Einer von ihnen schreit, daß es ungefährlich ist. Ob ich an Bord kommen möchte? O ja – sie stimmt mich darauf ein. Ich muß durch die Luke springen. Ich darf die Erde und ihr Fahrzeug nicht gleichzeitig berühren. Also folge ich ihren Anordnungen. Ich springe in eine halbkreisförmige Kabine mit leuchtender Decke. Eine gepolsterte Couch ist darin, sonst nichts. Ich kann in einen anderen Raum mit normalen Sitzen, mit Bildschirmen und Kontrolltafeln sehen – das muß der Kontrollraum sein. Einer der Männer schließt eilig die Tür, die dort hineinführt…« Die stumme Frau, die ihn ›einstimmte‹, mußte eine Phantasiegestalt unterdrückter Libido sein – und die beiden Männer waren die Überich-Zwillinge, Schuldbewußtsein und Angst, ihre Stimme war die Stimme des Gewissens. Und nun hatten sie die Tür zu den ›Kontrollen‹ geschlossen… »Er spricht am meisten. Sein Name ist Tharmon, sagt er. Ich habe Angst, weil…« (Michael begann zu schwitzen) »…ich die Luke nicht mehr sehen kann, dort ist nur noch der glatte Rumpf. Der andere Mann reicht mir ein Glas Wasser. Er sagt, ich würde mich besser fühlen, wenn ich es trinke. Jedenfalls halte ich es für Wasser. Es hat einen merkwürdig metallischen Geschmack und läßt meine Zähne knirschen… Es muß etwas da drin gewesen sein. Ich fühle mich jetzt viel fröhlicher. Die Frau heißt Loova, sagt mir Tharmon…«
»Sie sagen, sie sind blond?« unterbrach Deacon. »Sie meinen nordische Typen, wie Skandinavier?« »Nein! Ihre Haut ist gelb. Ihre Augen sind wie Chinesenaugen, fast ohne Lider. Sie sind viel länger als normale Augen. Sie gehen fast bis zu den Schläfen, als seien ihre Augenhöhlen anders als unsere geformt. Was für lange Finger sie haben! Ihre Fingernägel sind glatt und rosa wie Kunststoff… Und Loova lächelt nur. Vielleicht kann sie mich nicht einstimmen und gleichzeitig sprechen.« (Aber Michael Peacocke hat keine Angst vor Frauen. Er hat ein prima Verhältnis zu seiner Freundin, der attraktiven Suzie Meade – jedenfalls scheint es so.) »Sie sind von den Sternen gekommen, von den Plejaden. Von einem Planeten namens Ulro, sagt Tharmon. Der Name bedeutet in ihrer Sprache ›Erde‹ oder ›Welt‹. Sie sagen, die menschliche Rasse ist wegen unserer bösartigen Nuklearwaffen in Gefahr. Das Volk von Ulro will uns retten. Aber sie können sich nicht zu erkennen geben. Das widerspricht ihrer Morallehre. Zum Glück unterscheidet sich ihre Biologie geringfügig von der unseren. Ihre Frauen können sich selbst befruchten, wenn ihre Drüsen ein bestimmtes Hormon produzieren. Es versetzt die Eier der Frau in die Lage, die Anzahl der Chromosomen in der Keimzelle zu verdoppeln, so daß sich das Ei selbst befruchtet. Tharmon erklärt mir das alles. Die Menschen von Ulro haben ein Hormon gefunden, das bei dem Sperma, welches das Ei befruchtet, das gleiche bewirkt. Das Ei kopiert die Chromosomen in dem Sperma und verdoppelt sie, ohne selbst etwas beizufügen. Es entsteht ein Baby ganz aus den männlichen Chromosomen. So bekommt man ein Kind, das rein gar nichts von der Mutter hat, auch wenn sie es austrägt. Es stammt allein vom Vater. Sie können dieses Hormon bei einer ulronischen Frau verwenden, wenn sie sich mit einem Menschen paart, und
sie trägt Babies, Jungen und Mädchen, aus, die völlig menschlich sind. Tharmon nennt es die Parthenogenese des Männlichen. Eine jungfräuliche Geburt – aus den Lenden des Spenders… wie ich! Junge Spender sind am besten, sagt er.« Eine Masturbationsphantasie. Genau das wird es sein. Der Bezug auf sich selbst wurde noch dadurch betont, daß der Name der ›fremden‹ Welt tatsächlich ›Erde‹ ist. »Wenn wir uns selbst vernichten, können sie auf diese Weise immer noch einen kleinen Kern reinrassiger Menschen retten. Sie werden auf Ulro zur Welt kommen und unsere Rasse weiterführen. Sie haben eine besondere Gemeinschaft vorbereitet.« »Und was geschieht jetzt?« »Sie lassen mich mit Lover, ich meine Loova, allein…« Aha! »Und schließen sich im Kontrollraum ein…« Der Junge grinste einfältig vor lauter Erregung. »Sie fährt mit einem rosa Fingernagel über die Vorderseite ihres Skianzugs. Er öffnet sich wie eine Erbsenschale. Ihre Haut ist von cremigem Trübgelb wie alter Elfenbeinschmuck, aber nirgendwo sind Haare, nicht einmal…« Nein, weil du bis dahin noch kein weibliches Schamhaar gesehen hast, oder? Du wußtest nicht, was du dir vorstellen solltest. »Sie hat Brüste wie kleine Boviste, die man im Herbst auf dem Feld findet. Sie sind ganz rund und wirken…so neu, als wären sie gerade erst gewachsen. Als sie mich berührt, ist es, als hätte sie vorher noch nie einen Menschen nackt gesehen…« In Wahrheit ist es genau andersherum! »Sie zieht mich auf der Couch in sich hinein. Und es tut mir weh! Es gefällt mir, aber in meinen Hoden ist ein kalter Schmerz, als würden sie in einen Eimer mit Eis getaucht. Ich habe nie gewußt, daß es einem Mann beim ersten Mal weh tut! Jetzt gibt sie zum erstenmal einen Laut von sich: wie ein sanft
knurrender Hund, eine knurrende, läufige Fähe…« Haß gegen die Phantasiegestalt. Ekel. »Als es vorbei ist, zieht sie sich an, ohne mich anzusehen, und öffnet dann die Tür. Tharmon kommt aus dem Kontrollraum zurück. Sie streichelt über ihren Bauch. Er grinst. Dann ist es neblig, ich fühle mich übel und leer im Kopf. Sie öffnen wieder die Außenklappen, und da ist das Moor, dunkel und schwarz… Ich springe hinaus. Sobald meine Füße den Boden berühren, habe ich Angst und renne weg. Ich spüre ein Prickeln. Überall am Körper spüre ich winzige Nadelstiche. Ich habe zuviel Angst, um mich umzuschauen, bevor ich bei meinem Fahrrad bin. Nun ist das Schiff ein hellroter eiförmiger Nebel. Plötzlich steigt es hoch und schnellt über das Moor – als hüpfe es über Wellen dahin. Ich kann in meinem Kopf Geräusche hören, die wie das gurgelnde Morsen auf dem Kurzwellenband klingen. Ich versuche, darüber nachzudenken, was geschehen ist und was sie mir erzählt haben. Aber… ich radle ganz einfach über die Straße nach Hause. Wieso ist es so spät?« »Sie können jetzt zurückkommen, Michael. Kehren Sie auf fünfundvierzig zurück.« Er zögerte. »Stadium?« »Fünfundvierzig.« Er zählte ihn in großen Sprüngen durch die dreißiger und zwanziger Bereiche. Michael folgte fügsam. Von zwölf auf null zählte Deacon Zahl für Zahl zurück. Michael wachte auf. Er stöhnte und faßte sich an die Stirn. »Haben wir schon angefangen? Ich habe ganz fürchterliche Kopfschmerzen.« Fieberhaft suchte Deacon im Schreibtisch nach Paracetamol. »Wir sind sogar schon fertig. An wieviel erinnern Sie sich?« fragte er beiläufig. Er klopfte zwei Tabletten heraus. »Nun, Sie sagten ›Stadium?‹, dann sagte ich ›dreizehn‹, weil diese Zahl in meinem Kopf auftauchte, und dann… haben Sie
mich bis null hinuntergezählt. War ich nicht gut?« Er erinnerte sich an nichts. »Schauen Sie auf die Uhr; eine halbe Stunde ist vergangen. Sie waren prima. Tut mir leid wegen der Kopfschmerzen. Sie haben wohl zu verkrampft gesessen… Das kommt nicht wieder vor. Ich hole etwas Kaffee, um die Dinger runterzuspülen…« Deacon kam mit dem Kaffee zurück, als auf dem Tonbandgerät gerade die letzten Bandzentimeter abliefen. Mit einem Klicken schaltete sich das Gerät ab. »Kann ich es hören?« »Ich habe gleich eine Vorlesung… Nächsten Montag werden wir eine längere Sitzung haben. Bevor wir anfangen, werde ich das Band abspielen. In Ordnung?« Als Michael gegangen war, stellte Deacon das Telefon wieder an, dann drückte er die Rücklauftaste des Tonbandgeräts. Während das Band zurücklief, läutete das Telefon. Er hob den Hörer ab und vernahm ein schrilles, kratzendes Geräusch. Das Kratzen eines Fingernagels über Schiefer. Das knirschende Geräusch hörte sich an wie das vielfach verstärkte Pfeifen eines Bands, das mit hoher Geschwindigkeit durch das Gerät lief. Verwirrt legte er den Hörer wieder auf, dann stoppte er das Band und drückte die Abspieltaste. Seine eigene Stimme fragte: ›Stadium?‹ – ›Dreizehn‹, antwortete Michael. Eine Pause. ›Gehen Sie ein wenig tiefer. Stadium?‹ Von dieser Stelle an war alles schiefgelaufen. Das Band lief weiter – völlige Stille. Es war nichts mehr drauf. Es spulte das Band vor und machte einige Stichproben. Nicht ein Wort. Aber er hatte den Ausschlag der Aussteuerung gesehen! Und Michael konnte in den wenigen Minuten, die er nicht im Zimmer war, das Band nicht gelöscht haben – das hätte genauso lange gedauert wie der Aufnahmevorgang. Aus welchem Grund hätte er das auch tun sollen? Deacon starrte
das stumme Tonbandgerät verärgert an. Verflixter Apparat! Hastig begann er Notizen zu machen. Jetzt hatte er keinen Beweis mehr.
2
Deacon parkte in der Kieszufahrt seines pseudo-gotisch angelegten Hauses am Ende einer ruhigen Straße, die von Roßkastanien gesäumt war. Der vierzehnjährige Rob fuhr den Motormäher über den Rasen hinter dem Haus. Ein altenglischer Hirtenhund, einen Haarvorhang über den Augen, tollte um ihn herum. Deacon winkte Rob zu, trat durch die Küchentür, küßte Mary oberflächlich, goß ihr und sich einen Sherry ein und fing an, ihr über die fehlgelaufene Hypnose zu erzählen. Er unterbrach sich: »Warum läßt Rob die ganzen Pilze stehen?« Mary lachte. »Er sagt, sie seien eßbar – Schirmlinge. Ich koche allerdings keinen davon.« »Für mich sehen sie giftig aus.« Mit Schwung öffnete er das Fenster. »Rob«, rief er. Dann noch einmal lauter. Der Mäher machte zuviel Lärm. »Keine Angst, John. Ich sagte, ich habe nicht vor, sie zu kochen.« (Er war in letzter Zeit überarbeitet… Sie stellte sich vor, wie plötzlich Risse über seinen Schädel liefen. Wie komisch. Er brütete doch nicht etwa etwas aus? Was würde wohl dabei herauskommen?) »Du hast mir von diesem Jungen, von Michael, erzählt«, erinnerte sie ihn. »Ah ja. Verstehst du nicht? Es handelt sich um eine so stark unterdrückte Phantasievorstellung, daß die Abreaktion eigentlich heftiger sein müßte – ein emotionaler Ausbruch vielleicht, und energische Gegenwehr, als ich darauf stieß. Aber es strömte einfach so heraus, als wäre er auf Abspulen programmiert. Die ganze Sache wurde mir aus der Hand genommen. Er ging ohne Unterbrechung bis fünfundsiebzig.« »Hat Freud nicht gesagt, Fliegen sei ein sexuelles Symbol? Daher die fliegende Untertasse.«
»Sicher, es ist eindeutig sexuell«, stimmte er zu. »Zum Beispiel das Verschließen des Kontrollraums. Dann die Strafe durch das Stechen hinterher. Die quasi künstlichen Brüste der Frau – er hatte vorher noch nie die Brüste eines Mädchens gesehen und sie erfunden. Die Haarlosigkeit. Die Tatsache, daß sie nicht reden konnte – weil er nicht wußte, was er sagen sollte. Ich weiß, er stammt vom Land, aber er ist ein Einzelkind, und seine Mutter war Italienerin. Möglicherweise sind sie ein bißchen prüde.« »Du hast eine merkwürdige Vorstellung vom Land! Knechte und Melkerinnen, die sich im Heu tummeln… Sagtest du nicht, die Frau aus dem All hieße Luvah? Und einer, der Männer Tharmon?« »Es klang wie ›Loova‹, aber ich weiß, was er meinte.« »Nein, das weißt du nicht, John. Du bist nicht sonderlich belesen. Jetzt fällt es mir ein. Es sind beides Charaktere aus Blakes Prophetischen Gedichten. Luvah ist ein Mann, keine Frau. Er ist ein Halbgott, der sich um die noch junge Menschheit kümmert. Später wird er in Ulro eingeschlossen – eine Art unterirdischer Hölle. Enitharmon, nicht einfach ›Tharmon‹, ist ein anderer Halbgott, der Feind Luvahs.« »Bist du sicher?« »Natürlich bin ich sicher. Als ich noch auf dem College war, habe ich Blake verschlungen. Er schien so… magisch, voller Phantasie!« »Also Luvah ist in Wirklichkeit männlich? In seiner Phantasie hat Michael einen Mann gebumst. Ich vermute, das erklärt die aufgesetzten Brüste. Der arme Junge muß innerlich ganz schön verdreht sein. Unterdrückte Homosexualität – die er nicht akzeptieren kann… Verdammt! Was soll ich tun?« »Wahrscheinlich nur eine kurze päderastische Episode, als er noch zur Schule ging. Das macht ihn noch längst nicht zu einem Sonderling. Er hat doch eine feste Freundin, oder?
Wenn du dich darin vertiefst, wirst du ihn nur verwirren.« Mary betrachtete Homosexualität nicht als verdorben, sondern als leicht absurd. Sie schien so restriktiv. Sie war eine dunkelhaarige, geschmeidige Frau, die in letzter Zeit ein wenig in die Breite ging. Ihr kräftiges schwarzes Lockenhaar hatte sie an beide Kinder, Rob und Celia, vererbt. Mit der energischen Kieferpartie, der langen Nase und den braun gesprenkelten, tiefliegenden und eng zusammenstehenden Augen erinnerte sie (sich selbst) an die schwarz-weißen Collies ihrer Jugend in den Schafzuchtgebieten von Wales: gut ausgebildet und herrisch, für die blökende Herde gottgleiche Blitze aus schierer Energie, aber mit einem stark entwickelten Gespür für die Tiere. Sie besaßen einen Instinkt, die Schafe auch in äußerst kritischen Situationen sicher in den Pferch zu treiben. Das verspielte Tier, das draußen im Garten herumtollte, war nur eine Parodie auf diese Art von Hirtenhund – es war eher ein Schaf und hieß auch entsprechend. »Faszinierend, eine so beeindruckende psychische Struktur! Wenn nur das verdammte Tonband nicht ausgesetzt hätte! Nun ja, ich muß die ganze Sitzung wohl wiederholen. Ich muß wissen, wie einem die Hypnose so vollständig aus der Hand gleiten kann. Ich vermute, Mary, daß ich womöglich auf einen neuen verborgenen Bewußtseinszustand gestoßen bin, der sich von der gewöhnlichen Trance unterscheidet. Ein unabhängiges Subsystem. Kurz gesagt: ein VBS…« Freudsche Interpretationen waren nicht nur aus der Mode, sondern auch wirklich zu vereinfachend. »VBS?« »Ein verändertes Bewußtseinsstadium. Eines, das mittels Hypnose erforscht werden kann, da es einige Parallelen in den geistigen Strukturen gibt, das aber nicht durch Hypnose kontrolliert werden kann. Sehr merkwürdig. Ich kann nicht einfach daran vorbeigehen. Außerdem meine Verantwortung dem Jungen gegenüber… Das ist wie ein unabhängiges,
fremdes Ich im Bewußtsein: ein Parasiten-Ego mit eigenem Willen, eigenem Antrieb, das die ›Gestalt‹ eines speziellen VBS kopiert…« Die Küchentür flog auf. Shep kam hereingesprungen und schlug seinen langen Schwanz gegen ihre Beine, ehe er sich hechelnd hinlegte. Rob folgte ihm, ein dunkelhaariger, drahtiger Junge. Wie ein kleiner Zigeunerjunge, allerdings mit Schulmütze und Blazer statt in Lumpen und mit Ohrringen, stand er dort und wartete auf sein Geldgeschenk. »Hast du gesehen, daß ich die Pilze stehengelassen habe, Dad?« (»Und hast du mich rufen hören?«) »Es sind Schwämme«, korrigierte Deacon. Das Geräusch der zuschlagenden Haustür – Celia, die sich mit siebzehn gerade an ihren eigenen Schlüssel gewöhnte – brachte Shep wieder auf alle viere. »Wir werden sie trotzdem nicht essen«, sagte Mary. »Was nicht essen?« fragte Celia – ein dunkles Mädchen mit dem üppigen Haar ihrer Mutter und dem großen ovalen Gesicht ihres Vaters. Sie balgte beim Hereinkommen mit Shep, als der Hund ihr seine Polarbärtatzen auf die Schultern legte. »Unsere Schirmlinge«, sagte der Junge. »Ich traue Schwammgewächsen nicht«, erklärte Deacon. »Vielleicht sind es Halluzinogene?« meinte Celia. »Vielleicht könntest du sie der Bewußtseinsforschungsgruppe zu essen geben und es herausfinden?« Deacon zuckte die Achseln. »Wir haben einen Vertrag mit dem Gesundheitsministerium, der uns Wirkungsanalysen von Cannabis erlaubt – Bernie Jordan arbeitet daran. Und Rossiter und Sally Pringle arbeiten in der Nervenklinik. Das ist aber auch schon alles.« »Aha, die Chemie des Irrsinns«, kicherte Celia. »Serotonin und LSD? Ich finde das so falsch: Ihr macht euch während der Arbeitszeit in euren Köpfen zu schaffen, und die Jugendlichen werden von der Straße weg verhaftet, weil sie in ihren Köpfen auf ihre eigene Weise forschen.«
»Außerhalb jeder Struktur, Celia.« Es war ein alter Streit. »In der Struktur namens Leben, Dad. Von der Geburt bis zum Tod ein großes Experiment. Und wenn du zur falschen Zeit die Straße überquerst und stirbst, dann ist auch das in Ordnung, weil du dich entschieden hast.« »Das scheint ein hervorragender Grund dafür zu sein, eine angemessene Struktur für das Überqueren von Straßen zu haben: Straßen im Kopf genausogut wie Straßen in der Stadt.« »Wirklich? Was heißt schon ›angemessen‹? Du hast in der Einleitung zu deinem eigenen Buch geschrieben, daß das, was für das Alltagsbewußtsein irrationaler Unsinn ist, in einem anderen Stadium vollkommen schlüssig und wahr sein kann, und es kann uns verdammt mehr Einblick (»Celia!« fuhr Mary auf) in die Bedeutung von Leben und Bewußtsein geben. Ich werde dir Kapitel und Zeile angeben.« Celia schlug nur Wellen – paddelte ein wenig vom Ufer weg, um danach besser zurückkehren zu können. So hoffte er; so hoffte Mary. »Ich bezweifle, daß du besser Auto fährst, wenn du von Berserkerpilzen high bist«, sagte er zu ihr. »Die meisten Leute fahren sowieso, als seien sie bedröhnte Wikinger. Die meisten Leute sind verrückt, Dad. Sie stecken in einer verrückten, sich ständig wiederholenden Trance. Das hast du geschrieben.« »Ich habe nicht gesagt, daß sie wirklich verrückt sind. Ich habe geschrieben, daß es eine sich ständig aufladende Stabilisierung von ›Gehirn-Geplapper‹ gibt, die uns die meiste Zeit in einem normalen Grundstadium des Bewußtseins festhält.« »In Trance, wie die meisten Lehrer in der Schule.« »Du willst doch nicht etwa andeuten«, fragte Mary, »daß es eine hübsche, konstruktive Idee sei, wenn du Drogen nimmst?« »Ach Mammi!« Celia nahm einen verklärten Gesichtsausdruck an. »Ich kann Heuchelei einfach nicht
ausstehen. Dad hat all diese weitschweifenden Ideen, aber…« Sie wies auf den penibel gepflegten Garten, und Mary lächelte komplizenhaft. Urplötzlich fühlte Deacon sich von Kummer übermannt.
3
Neben dem Straßenverkaufsschalter des Bunch of Grapes beobachtete Michael, wie die glitzernden Flaschen im geschliffenen Glas der Spiegel hinter der hell erleuchteten Theke reflektiert wurden, und lauschte dem Murmeln der Unterhaltung und dem Klacken des Spielautomaten. Ein Billardqueue ragte hoch in die Luft, als jemand versuchte, die Kugel zu treffen, ohne die Umherstehenden in Mitleidenschaft zu ziehen. Leicht wankend wartete Michael auf Suzie. Er war angenehm angesäuselt. Heute abend würde alles prima laufen. Nichts drängte ihn – er hatte es nicht eilig. Sie kam aus der Toilette: elastisch, in ausgefranste Jeans und einen grobgestrickten Fischersweater gekleidet. Das rote Haar fiel ihr wellenförmig auf die Schultern und erinnerte an einen rostigen Stufenturm. Er legte den Arm um sie, steckte die Hand in eine ihrer hinteren Jeanstaschen und brach mit ihr auf. Durch den Stadtpark gingen sie auf die fernen Lichter des vielgeschossigen Wohnheims zu und wiegten sich sanft um ein gemeinsames Schwerkraftzentrum, das irgendwo in ihrem Unterleib lag. Hinter ihnen zitterten Mondschatten, denn der Mond stand hoch und leuchtete hell. Es war fast Vollmond, und die Strahlen von Tycho und Kopernikus waren so glänzend, daß man keine Einzelheiten der Krater erkennen konnte. Eine Kirchenuhr schlug zehn, als sie den zentral gelegenen Teich erreichten. Außer einem Schwan, der wie ein weißes Boot auf einen Gefährten in der Nähe der kleinen Steininsel zutrieb, schien der ganze Stadtpark verlassen.
»Mike, sieh mal, da oben! Schau zum Mond!« Eine hellviolette Kugel schwebte neben dem Mond. Während sie es anstarrten, wurde das rätselhafte Objekt strahlend blau und färbte ihre Hände und Gesichter wie mit uraltem, grobem Waid. »Es ist kalt!« Suzie schmiegte sich an ihn. Sein Körper fühlte sich eisig an, als wäre der Stadtpark plötzlich hinter den Polarkreis versetzt und als ständen sie auf einem Feld aus blauem Eis. »Es ist wie ein großes blaues Auge, das uns beobachtet! Mike, ich fürchte mich.« Der falsche Mond schwoll an, konkurrierte in kaltem Glanz mit dem echten. Grüne und gelbe Streifen drehten sich schnell, ein glühendroter Fleck in ihrer Mitte: die Pupille eines Auges. Plötzlich schoß die leuchtende Kugel wie im Rösselsprung nach unten und zur Seite. Die Bewegung ließ die beiden erkennen, wie nahe die Kugel wirklich war – die jetzt in wiegender Bewegung vor ihnen schwebte wie auf einer Dünung. Der rote Fleck trieb in entgegengesetzter Richtung durch die kreisenden Farbstreifen, kam zur Ruhe, starrte sie an. Ein weißes Suchlicht blitzte auf und erfaßte sie kurz mit blendender Helligkeit. Hitze fuhr durch ihre Körper, obwohl ihre Kleidung sich noch so kühl wie zuvor anfühlte. Als sie wieder hinblickten, war das Ding fort, war nirgendwo mehr zu sehen. »Mein Gott!« rief Michael. »Heute nachmittag! Die Trance – ich erinnere mich. John Deacon weiß es. Und er hat mir nichts gesagt!« Er zog Suzie an sich und streichelte ihr Haar. »Alles in Ordnung, Liebes. Ich weiß, was das war. Sie haben mir versprochen, mich wiederzufinden. Es sind die Leute aus dem All, Suzie! Ist das nicht wundervoll? Sie haben meine Erinnerungen wiederbelebt.« Schon aus der Ferne hörten sie das Schrillen einer Sirene. Im gleichen Augenblick hielt ein Feuerwehrwagen am entfernten
Rand des Parks, sein Blaulicht rotierte wie eine winzige Kopie der seltsamen Erscheinung. Behelmte Gestalten ergossen sich aus dem Wagen und starrten über den Park. »Irgend jemand muß es für ein Feuer gehalten haben… Ich bringe dich auf dein Zimmer zurück. Ich muß ihn anrufen.« »Sollten wir ihnen nicht sagen, daß wir etwas gesehen haben?« Sie hatte überhaupt nicht begriffen, was er gesagt hatte. »Ihnen sagen?« spottete er. »Meinst du, sie würden es glauben? Als ich sechzehn war, Liebes, sind Leute aus dem All gelandet und haben mich an Bord von so einem Ding geholt.« »Was…? Du meinst, du warst in einer Fliegenden Untertasse?« Sie verwendete den Begriff nur widerwillig. »Du meinst, das gerade war so etwas? Du bist… du bist verrückt.« »Sie haben mein Gedächtnis blockiert. Aber sie haben mir gesagt, daß sie mich jederzeit wiederfinden könnten.« »Du machst Witze.« »Ist dir klar, was wir beide gesehen haben? Ein Sternenschiff von den Plejaden! Dort oben, Liebes.« Er zeigte auf das trüb funkelnde Siebengestirn. »Dort ist es. Sie haben mich sogar zu einem Flug mitgenommen.« »Zu den Sternen?« »Natürlich nicht. Komm, wir rufen Deacon an. Du hast es ja auch gesehen. Seine Hypnose hat das bewirkt. Und es gibt noch eine Menge Dinge, die er nicht gehört hat.« Michael lachte auf. »Er muß das alles für Phantastereien gehalten haben. Jetzt wird er es glauben. Wenn du ihm sagst, was wir beide gesehen haben.« Suzie war eine ehemalige Methodistin. Ihre Religion war pragmatisch, sachlich gewesen, ohne Hysterie und fast ohne Wunder. Alles war hell und schön, in einem schlichten Ziegelgebäude. Die Speisung der Fünftausend übersetzt in eine Teerunde in der Sonntagsschule. Keine Spur von Hölle, kein
Teufel, sogar kaum eine Gottheit. Der Himmel war eine weite Wiese, über die eine weißgekleidete, bärtige Gestalt mit leicht staubigen Sandalen schlenderte. Mit suchenden Blicken kamen zwei Feuerwehrleute von der Straße über den Rasen. »Du legst dir da nur eine Unsinnserklärung zurecht. Warum sollte es am gleichen Tag wie deine Trance geschehen?« »Vielleicht… vielleicht habe ich sie angezogen.« »Das ist hirnverbrannt.« Plötzlich gab sie einen würgenden Laut von sich. »Ich glaube, mir wird übel…« Einer der Feuerwehrleute winkte und schrie. »Sie würden uns nur für betrunken halten«, sagte Michael. »Komm, wir gehen.« »Vielleicht bist du betrunken«, keuchte sie. Irgendwie gelang es ihr, sich nicht zu übergeben. Sie hasteten davon, als die Feuerwehrleute auf den Teich zugingen und mit einer Taschenlampe herumleuchteten.
In ihrem schmalen Bett, eng an Michael geschmiegt, erwachte Suzie aus traumlosem Schlaf. Verkehrslärm kündigte einen neuen Tag an. Ein schmerzend-rosiges Licht überflutete ihre Lider. Sie versuchte sie zu öffnen. Vergeblich. Sich aufsetzend, betastete sie ihr Gesicht. Ihre Lider fühlten sich aufgebläht, wie mit heißem Wasser gefüllt an. Sie klebten zusammen. Blind wie sie war, schüttelte sie Michael. Am Abend vorher hatten sie Deacon nicht angerufen und auch nicht mehr miteinander geschlafen. In ihrem Zimmer angekommen, hatten sie sich beide zu schwach und verbraucht gefühlt, um noch mehr zu unternehmen, als ihre Kleider im Licht des Mondes auszuziehen, ins Bett zu schlüpfen und einzuschlafen.
Michael wachte auf. Auch seine Augen schmerzten. Aber zumindest konnte er sie öffnen. »Ich kann nicht sehen, Mike! Mein Gesicht schmerzt.« »Du hast… einen Sonnenbrand. Genau wie ich, nachdem…« »Zum Teufel, was ist mit meinen Augen?« »Sie sind geschwollen und aufgedunsen. Kannst du das Tageslicht wahrnehmen?« »Ja.« »Dann sind es nur die Lider. Zum Glück haben wir gestern abend beide die Augen geschlossen. Ich tauche ein Taschentuch in Milch und mache dir einen kalten Umschlag. Das müßte helfen.« Seine Augen glitten über ihren Körper. Er war überall rosa. Mit einem Sprung war er auf. Im Spiegel über dem Waschbecken sah er, wie sonnenverbrannt auch er war. Eine halbvolle Milchtüte stand auf dem Tisch. Als er sie nahm, blickte er über den Park. Gezielt und planlos zugleich streiften Menschen durch den Park, als suchten sie nach verlorenen Gegenständen. Einige schienen Feldstecher und Kameras zu haben; Vogelbeobachter, aber der Vogel war fortgeflogen… Suchet, so werdet ihr finden, dachte er. Das war eine Maxime John Deacons. Man muß erst eine Nadel werfen, um eine Nadel zu finden! Deacon hatte in psychologischen Seminaren ausführlich über ›zustandsbedingte Logik‹ und die Notwendigkeit gesprochen, ›zustandsbedingte Wissenschaften‹ zu entwickeln, um diese Logik festzunageln. Jeder veränderte Zustand des Bewußtseins besaß seine eigene innere Logik, die sich von der Logik des normalen Grundbewußtseins mehr oder weniger unterschied. Jeder veränderte Zustand hatte eine in sich zusammenhängende Rationalität, konnte jedoch alltäglicher Vernunft völlig fremd sein. Deshalb war es für den traditionellen ›objektiven‹ Wissenschaftler so schwer, diese
Zustände zu untersuchen. Hier bestand eine grundlegende Kommunikationsbarriere: eine Verständigungsschwelle. Selbst das Individuum, das den veränderten Zustand erlebte, konnte ihn – auch sich selber – hinterher nicht unbedingt erklären. Das lag daran, daß für jeden veränderten Zustand voneinander getrennte Gedächtnissysteme zu existieren schienen. Wann immer man wieder in diesen Bewußtseinszustand eintrat, tauchte dieses System urplötzlich wie ein guter Bekannter wieder auf: ein Gefühl, wieder dort in einer vertrauten Landschaft zu sein, die bis zu diesem Augenblick vergessen schien. Daher wurden neue psychologische Wissenschaften gebraucht, die für jeden veränderten Zustand speziell zugeschnitten sein mußten: Wissenschaften, die ihre Gesetze innerhalb des jeweiligen Zustands entwickeln mußten und die ihm zugehörige Logik benutzten – mit dem Ziel, in einem Zustand, der dem normalen Bewußtsein näher war, zu berichten; denn anscheinend konnten einige Zustände andere überlagern, während diese wiederum Züge einer eher alltäglichen Geistesverfassung aufwiesen. Sinnbildlich mußte man also eine Nadel werfen, um in die geistige Umgebung zu gelangen, in der man vorher eine Nadel geworfen – und verloren – hatte. Man mußte betrunken werden, um zu entdecken, was man (ganz logisch) verlegt hatte, als man betrunken war. Und um einer Fliegenden Untertasse zu begegnen… Deacon. Er mußte ihn treffen. Er hatte Neuigkeiten. Michael goß Milch auf sein gefaltetes Taschentuch.
4
Zwei Stockwerke tiefer dröhnte der Londoner Verkehr. Barry Shriver saß in seinem kleinen Büro und öffnete die Morgenpost, die aus Frankreich, Schweden, Amerika, Australien, Brasilien und Großbritannien kam. Bald darauf häuften sich Zeitungsausschnitte und maschinegeschriebene Berichte auf seinem Schreibtisch, die er mit einem Sarkasmus studierte, der seine treuen, ja inbrünstigen Briefpartner überrascht hätte. Die Huntsville News aus Alabama berichteten von einer votierenden Scheibe vom Aussehen einer umgedrehten Gußform, die Lkw-Fahrer in der Nähe des Marshall-Raumflugzentrums gesehen hatten. Die Gußform war in den Himmel gestiegen und mit hoher Geschwindigkeit verschwunden… Herefords Evening News schrieben über ein ›mysteriöses Flugobjekt‹, das über einem Luftwaffenlager bei Credenhill schwebte und von wachhabenden Soldaten und einem vorbeikommenden Bauern gesehen worden war. So ging es weiter. Jeden Tag neue Sichtungen, berichtet von Lokalzeitungen in der ganzen Welt. Viele hundert im Jahr. Meistens Begegnungen der Ersten Art – Dinge, die am Himmel gesehen worden waren. Eine erkleckliche Anzahl der Zweiten Art, Fälle, in denen irgendein physischer Beleg, eine sichtbare Spur zurückgeblieben war. Auch einige der Dritten Art – ein Blick auf die ›Bediener‹ dieser rätselhaften Objekte und sogar ein echter Kontakt mit ihnen… Die dritte Kategorie schien in jüngster Zeit zuzunehmen. Shriver – der die Fünfzig überschritten hatte – trug einen sorgfältig gestutzten schwarzen Spitzbart und eine ergraute
Borstenfrisur: eine Mischung aus Oberst (ein Rang, den er in Wirklichkeit nie erreicht hatte) und fixem Archäologen oder Forscher. Feuersichere Aktenschränke säumten die Bürowände. Eine IBM-Selectric stand auf seinem Schreibtisch neben einem Stapel von Apa Newsletters, dem Monatsblatt der Aerial Phenomena Association – der Vereinigung für Luftphänomene, deren Name ihm inzwischen völlig unsinnig vorkam. In den frühen fünfziger Jahren, direkt vom College zur US-Luftwaffe gekommen, steuerte Barry Shriver einen F86-Jäger im Koreakrieg. Im Juni 1952, während eines Formationsflugs in einem Geschwader aus Inchon, folgte ihnen am Himmel ein leuchtender Zylinder, so groß wie eine B-26 ohne Tragflächen. Als das Geschwader hochstieg, teilte er sich wie eine Amöbe in zwei pulsierende Scheiben mit einer Vielzahl von Luken. Indem sie das Geschwader mit hohem Tempo umkreisten, schnitten sie die amerikanischen Düsenjäger von der Außenwelt ab. Shrivers Funk fiel aus, der Kompaß rotierte, sein Antrieb setzte aus. Er ging nach unten. Shriver sah, wie die beiden Scheiben die neben ihm fliegende F-86 wie im Geleitflug umschlossen; dann schmolzen sie um die Maschine zusammen und schossen – jetzt wieder eine einzige dicke Zigarre – in den Himmel, schrumpften zu seinem Lichtpunkt und verschwanden. (Nur, daß er nicht sicher war, ob die Zigarre wirklich in die Höhe verschwunden war oder auf der Stelle zu nichts zusammengeschrumpft war…) Er und die anderen zogen nach oben. Kontrollgeräte und Antrieb funktionierten wieder. Bei der Rückkehr nach Inchon fertigten sie einen Bericht über den Verlust eines Jägers bei der Kollision mit einer beweglichen Feuerkugel an… Man gab sich große Mühe, Wrackteile zu finden, denn der Landstrich darunter war in der Hand der Vereinten Nationen; nichts wurde gefunden. Es war Krieg. Der Verlust wurde einem enormen Kugelblitz zugeschrieben.
Barry Shriver wußte, daß das eine Lüge, eine jämmerliche Kaschierung war. Nur – was wurde kaschiert? Nach dem Krieg war er in der Edwards-Luftwaffenbasis in Muroc stationiert: dreihunderttausend Morgen ausgetrockneter Seen und Ödland im Antilopental der Mojavewüste, wo 1954 die längste Start- und Landebahn der Welt fertiggestellt worden war. Am Ende der zweiten Woche hatte er im April 1954 in einem abgetrennten Teil der Basis fünf Fliegende Untertassen landen sehen. Sie waren zwei volle Tage geblieben, während deren Wissenschaftler, Militärexperten und selbst Kirchenleute von ihren humanoiden Insassen eingeladen wurden – die Menschen waren verblüfft von den Raumschiffen, die willkürlich ihre Gestalt und Größe verändern, durchsichtig, unsichtbar und sogar stofflos werden konnten, so daß man durch ihre Wände gehen konnte. Er hatte das alles aus einiger Entfernung gesehen. Aber er hatte eindeutig Dwight D. Eisenhower erkannt, der zu dieser Zeit angeblich Golfurlaub in Palm Springs machte. Er sah, wie der Präsident die Leute aus dem All traf. Er hatte Bischof McIntyre von Los Angeles erkannt. Und viele andere Gesichter. Genau dort. Und er hatte gewußt, daß Präsident Eisenhower sich innerhalb weniger Wochen an die Nation wenden würde. Dann würde Barry wissen, wohin sein Kumpel aus dem Koreakrieg verschwunden war – und warum. Aber nichts geschah. Überhaupt nichts. Die Menschen wollten später nicht über jene beiden Tage von Muroc sprechen. Es war mehr als ein Mantel des Schweigens. Es schien eine Subtraktion des Geschehenen von der Wirklichkeit – die Löschung der Tatsache, daß es jemals geschehen war…
Dann der kalte Krieg. Alarmbereitschaft. Er wurde in Deutschland stationiert. Unter einem Pseudonym veröffentlichte er ein Buch: 48 Stunden in Muroc. Als er seinen eigenen Bericht gedruckt sah, begann er sich zu fragen, ob es wirklich geschehen war. Er wußte genau, es war geschehen, aber als die Jahre verstrichen, jedes mit weiteren widersprüchlichen, paradoxen Sichtungen und nahen Begegnungen, gab es keinerlei Erkenntnisse, und je mehr er hörte, desto weniger verstand er. Er heiratete eine Deutsche, die sich später von ihm scheiden ließ. Die Subtraktion Giselas von seinem Leben leugnete nicht die Tatsache, daß sie einmal dagewesen war – so wie Muroc sich unerbittlich selbst leugnete. Er wurde wütend, dann geduldig und trotzig. Er verließ die Luftwaffe und unterstützte die Gründung der Vereinigung für Luftphänomene in London, eine Stadt, für die er während kurzer Urlaube Sympathie entwickelt hatte. Das Telefon läutete, er hob den Hörer ab. »Hier ist Norman Täte. Ich habe einen echt tollen CE-2Bericht für dich. Lokalzeitung- Granton Herald. Es würde sich lohnen, die Quelle zu erkunden. Leider Gottes habe ich in Schottland zu tun. Eine Untertasse surrte heran und verbrannte einige Studenten…« Der enthusiastische Norman – aber der Mann war ein penibler, geschäftiger Rechercheur. Während Shriver zuhörte, beobachtete er einen Jumbo, der sich auf seiner Flugroute nach Heathrow durch die Wolken senkte. Er stellte sich vor, wie ein unvorstellbarer Lichtklecks ihn verschlang und aus der natürlichen Welt löschte. Was hatte er tatsächlich in Muroc erlebt? Eine Halluzination? Oder etwas Unheilvolleres: einen Einbruch der Realität selbst? Einen Zusammenbruch der allgemein akzeptierten Gesetze der Logik, der zeitweise Hunderte von Luftwaffenoffizieren, Wissenschaftlern und Politikern erfaßt hatte? Einschließlich des Präsidenten, der – Gott segne seine Golfschläger – die
Anomalie als den trügerischen Vorgang erkannte, den sie tatsächlich darstellte: ein Loch verzerrter Realität inmitten der Edwards-Luftwaffenbasis – etwas, das seine Gefangenen nach einiger Zeit, als die Normalität sich wieder festigte, entließ. Sie vielleicht so entließ, daß sie nichts mehr wußten! Das war eindeutig etwas anderes als eine gewöhnliche… »Halluzination?« flüsterte er ins Telefon. »Was, was? Hör doch zu, echte Verbrennungen. Die Bestandteile eines klassischen Falls!« »Tut mir leid, Norman, ich dachte gerade über mein Buch nach. Gefällt dir UFO: Käufer, hüte dich! als Titel? Caveat emptor!« »Ooh nein.« Ein langgezogener Tadel. »Ehrlich gesagt, mir gefällt er nicht. Die Leserschaft könnte dich beim Wort nehmen und das Ding nie kaufen.« »Nun, ich stelle mir vor, daß es ganz spezielle Halluzinationen geben könnte, die von nicht psychisch Kranken wahrgenommen und von meilenweit entfernten Zeugen bemerkt werden…« »Das ist kaum haltbar, Barry. Wie können Fremde dieselbe Halluzination wahrnehmen? Jeder hat eine andere Belastungsschwelle. Wir sprechen alle auf verschiedene Weise an.« »Und der indische Seiltrick, ist das keine kollektive Halluzination? Es wäre so eine Art Seiltrick ohne Fakir. Die Leute betricksen sich selbst.« »Oh, ich habe den Seiltrick gesehen. In Bangalore. Ich habe ihn gesehen, aber hat meine Kamera ihn auch gesehen? Nicht sehr wahrscheinlich. Der Seiltrick ist so etwas wie übermächtige Hypno-Telepathie. Aber Kameras sehen gar nichts, weil sie keinen Verstand haben, und in Wirklichkeit geschieht nichts. UFOs, mein Junge, machen wirkliche Löcher
im Boden, wie wir alle wissen. Sie verbrennen Menschen und holen Flugzeuge vom Himmel. Peng. Greifbare Ereignisse.« »Könnte es nicht Halluzinationen geben, die zugleich in gewissem Sinne wirklich sind? Halluzinationen, die eine zeitweilige, bedingte Realität besitzen?« »Entweder etwas ist wirklich, oder es ist nicht wirklich.« »Aber muß das so sein? UFOs scheinen sich so zu verhalten, als seien sie und seien zur gleichen Zeit nicht. Als hielten sie einen Zwischenbereich besetzt.« Genau wie die MurocEpisode zugleich war und nicht war… »Es gibt so etwas wie ein Gesetz der ausgesparten Mitte, Barry. Das ist Grundlage jeder Logik. Ein Ding kann nur sein oder aber nicht sein.« »Das trifft für subatomare Teilchen nicht zu.« »Natürlich meine ich die Welt im großen – denn dort operieren die UFOs.« Shriver seufzte. »Sind UFOs logisch?« Er hörte Norman lachen; offensichtlich nahm er diese Bemerkung als einen Scherz. »Die Leute werden das Buch nicht kaufen, mein Junge.« »Okay, kannst du mir die Telefonnummer des Hospitals geben?«
5
Am Morgen ihrer Entlassung, mit einem kargen Vorrat an Kortikosteroid-Tabletten versehen, trafen sie den Amerikaner, der auf sie wartete. Er stellte sich vor und lud sie zum Essen ein. Jetzt saßen sie sonnenverbrannt in einer dunklen Frühstücksbar. Suzie war am meisten entstellt: ihre Augen schmerzten hinter der dicken Sonnenbrille, ihre Haut schälte sich in weißen, toten Streifen ab. Sie sah aus wie eine überkochte Runkelrübe, die in einen zerfetzten Haftfilm gewickelt war. Ihr Körper brannte rosarot. Sie fühlte sich unruhig, gedemütigt und wütend und spürte leichten Widerwillen gegen den Amerikaner in seiner grellfarbenen, kunststoffähnlichen Sportjacke, die er unter einem dünnen schwarzen Regenmantel trug, obwohl Michael, ebenfalls rosarot und mit sich schälender Haut, ihn schnell als ehrlichen Vertrauten akzeptiert hatte, der offensichtlich mehr als Deacon über das wußte, was er als ›Das Phänomen‹ bezeichnete. »Diese Phänomene haben ihre eigene Struktur, Mike. Obwohl nur Gott weiß, was für eine Struktur das ist.« Shriver klang nachdenklich. »Sie können nicht leichthin annehmen, daß UFOs fremde Raumschiffe sind, die nach einem uns unbekannten Prinzip arbeiten. Selbst wenn uns ihre Insassen das erzählen! Man muß das Phänomen als Ganzes sehen. Ein großer Teil ist reine Fehlinformation von seiten der angeblichen Ufonauten. Der ganze Quatsch von galaktischen Konföderationen und Hunderten von Planeten mit komischen Namen! Diesem Schwachsinn entspricht nur noch die Art, in der diese großartigen Pfadfinderschiffe ständig zu explodieren oder Ausrüstungsstücke zu verlieren pflegen. Gar nicht zu
erwähnen, daß sie offensichtlich von unterbelichteten Schmetterlingen gesteuert werden – oder die schlimmen Sachen, die sie anstellen: Kidnapping, die Leute in Angst und Schrecken versetzen, Jagd auf Autos und, ach ja, Menschen einen Sonnenbrand verpassen.« »Ich spüre, daß es mich krank macht«, meinte Suzie skeptisch. »Vielleicht dient der Sonnenbrand nur als Beweis, daß es wirklich und keine Phantasievorstellung ist.« »Ha! Was beweist das, Mike? Wie der Doktor sagte: Sie hätten es mit einer UV-Bestrahlung machen können. Es gibt nie einen Beweis. Tatsächlich läuft die ganze Sache schon seit Jahrtausenden so, ohne daß es uns gelungen ist, unser Wissen über sie zu erweitern. Sie halten das für eine Übertreibung, Suzie? Ich kann Ihnen eine vollständige Dokumentation zeigen.« »Das Lagerbier schmeckt wie Pisse«, sagte sie. »Suzie!« zischte Mike. Shriver schien unbeeindruckt. »Finde ich auch. Für mich schmeckt Lagerbier fast immer so. Nehmen Sie etwas Stärkeres.« »Brandy, bitte.« Nachdem sie am Morgen danach Suzies Augen behandelt hatten – nun war das Mädchen wieder in der Lage, sie einen Spalt zu öffnen –, waren Michael und Suzie zu einem Arzt gegangen, der eine Kliegsche Bindehautentzündung diagnostiziert hatte. Die wahrscheinliche Ursache führte er auf eine Überdosis ultravioletter Strahlen zurück. Die Morgennachrichten im lokalen Rundfunksender berichteten von merkwürdigen Lichtern, die am Vorabend über dem Stadtpark gesehen worden waren… Der Arzt hatte desinteressiert die Achseln gezuckt; allerdings brachten ihn Suzies Übelkeitsanfall und die von beiden geschilderte Erschöpfung dazu, das Krankenhaus anzurufen. Dort hatten sie
die letzten achtundvierzig Stunden auf getrennten Stationen verbracht, die Gesichter mit Kortikosteroidsalben eingeschmiert; ihr Blutbild war untersucht worden, und sie mußten sich Witze über Mondbäder anhören. Am ersten Tag, als die Nachricht irgendwie durchgesickert war, hatte ein Lokalreporter sie aufgesucht. Später kam ein Mitarbeiter des örtlichen Rundfunksenders. Als Michael endlich dazu kam, John Deacon anzurufen, hatte dieser die Geschichte schon im Granton Herald abgedruckt gesehen und sich vorgenommen, sie an diesem Abend zu besuchen. Michael wimmelte Deacon ab. Er hatte sich an die Trance erinnert, und was er jetzt sagen mußte, konnte in einem der Öffentlichkeit zugänglichen Krankenzimmer nicht gesagt werden. Bis dahin hatte Michael, außer Suzie, von seiner früheren ›Begegnung‹ nichts erzählt – und jetzt berichtete er, sehr zu ihrem Ärger, dem Amerikaner darüber… Shriver setzte sich wieder, ein Glas Brandy für Suzie in der Hand. »Das Ärgerliche ist«, fuhr er fort, »daß sich das Phänomen stets dem augenblicklichen Bezugsrahmen anpaßt. Früher war dieser Rahmen religiös bestimmt. Also gab es Engelsschlachten am Himmel, Gott, über die Erde wandelnd, brennende Büsche, Hesekiels Wagen und was nicht alles – in Israel, China, im alten Mexiko und sonstwo.« Suzie hustete nach dem ersten Schluck Brandy. »Hesekiel und Moses haben Fliegende Untertassen gesehen, was?« »Nein! Ihnen begegnete genau das, was Sie sahen – das heißt, ein je nach den Umständen manipulierbares Phänomen. Es ist sinnlos, Hesekiels Wagen als Raumschiff zu zeichnen und auszutüfteln, was für einen Antrieb es hatte. Das ist nicht der springende Punkt. Hesekiel begegnete keinem fremden Raumschiff. Er traf etwas von dieser Erde. Fremde Wesen? Keineswegs! Dies war schon immer hier gewesen. Wie sonst könnten wir die gewaltige Anzahl unerklärlicher
Beobachtungen verschiedenster Art im Lauf der Jahrhunderte erklären?« »Wie wäre es mit simpler Unwissenheit und Aberglauben?« schlug sie vor. »Nehmen Sie die Holzschnitte von rotierenden Feuerrädern, die im Mittelalter über Nürnberg gesehen wurden…« »Cohns Buch über Kulte des Goldenen Zeitalters…«, begann sie. »Das ist nicht die Antwort, Suzie. Unsere Vorfahren waren bei weitem nicht so dumm oder irregeleitet, wie wir gern annehmen. Das Leben wäre viel einfacher, wenn diese Dinger ›nur‹ fremde Raumschiffe wären! Wie können wir die gewaltige Anzahl von unterschiedlichsten Dingen erklären, die aus dem Himmel fielen – von säuberlich sortierten Schnecken, alle von derselben Art, über Eisblöcke und Stapel von Klinkersteinen bis zu Gallonen von Blut – und alles das poltergeisterte in unsere Welt hinein. Die orthodoxe Wissenschaft ignoriert diese Ereignisse selbstverständlich. Sie passen sowieso nicht in den Rahmen, also können sie nicht geschehen sein. Außer, daß sie doch geschehen sind.« »Das ist ja, wie war doch der Name… Charles Fort?« Suzie leerte ihr Glas und versuchte dann, es zum Klingen zu bringen, indem sie mit dem angefeuchteten Finger über den Rand strich. »Alles, was Charles Fort tat, um sich Ihren Spott zu verdienen, meine Liebe, war das Sammeln von Berichten aus völlig seriösen Quellen – Jahresverzeichnisse, Wetterrückblicke, meteorologische Berichte. Er hat nie auch nur das kleinste bißchen erfunden. Eben habe ich ›poltergeistern‹ gesagt, nicht wahr? Nun, Tatsache ist, daß UFOs und ihre Verwandten eine Menge mit Poltergeistern und Gespenstern gemeinsam haben – und auch mit Feen und Kobolden und den Engeln und Dämonen der Okkultisten. Es besteht in der Struktur eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen den Abkommen mit Feen und Geisterbeschwörungen
einerseits und modernen Kontaktgeschichten über die verschiedenen Arten der sogenannten Fremden und über das, was den Menschen, die ihnen begegnen, geschieht, andrerseits. Ihnen werden phantastische Entdeckungen und Goldbrocken angeboten, und dann werden sie systematisch getäuscht, betrogen und in Verruf gebracht… Wußten Sie, daß in den neunziger Jahren riesige Luftschiffe im amerikanischen Mittelwesten herumflogen – bevor solche Luftschiffe überhaupt existierten? Ganze Städte haben sie gesehen. Lokalzeitungen sind voll davon. Es gibt stapelweise beglaubigte Berichte gestandener Bürger. Die Besatzungen dieser Luftschiffe zeigten sich von Zeit zu Zeit. Um sich ein paar Tassen Wasser oder einen Schraubenzieher zu borgen. Natürlich gab es an den verdammten Luftschiffen dauernd Defekte! Diese Flieger versprachen für die nahe Zukunft sensationelle Enthüllungen – die es dann nie gab. Sie warfen rätselhafte Botschaften über Bord. Sie hievten Vieh an Bord – und die Tiere wurden später wiedergefunden, fachmännisch seziert. Einmal holten sie sogar einen jungen Burschen mit dem Schleppanker hoch! Und das entspricht interessanterweise den Berichten über die Anker von anderen Luftschiffen, die sich im Mittelalter in Kirchtürmen verfingen. Bristol, etwa um 1200, um nur einen Fall zu erwähnen – man findet ihn bei dem Chronisten Gervase von Tilbury. Was also waren diese Luftschiffe in den Neunzigern?« »Offensichtlich ein Streich, der den Leuten gespielt wurde.« »Ganz genau! Ein Streich. Aber keiner, der sich in die Technologie dieser Zeit einpaßte, auch wenn er dem Bezugsrahmen des ausgehenden Jahrhunderts entsprach. Ganz gewiß handelt es sich um einen Ulk, aber der Ulk kommt von den UFOs! Sie führen die Menschheit an der Nase herum, heute wie früher. Sie tun alles, um bizarr und unerklärlich zu erscheinen!«
Ihr Glas ließ schließlich doch noch ein schrilles Kreischen hören. »Möchten Sie noch einen Brandy?« fragte er. »Vielleicht könnten Sie eine Erklärung für die vielen hundert stummen, unmarkierten Flugzeuge versuchen, die in den dreißiger Jahren über Skandinavien gesichtet worden sind? Oder die dort herabregnenden Phantomfelsen, direkt bei Ausbruch des kalten Kriegs? Im allgemeinen verschwanden sie in Seen, nachdem sie ›fremde‹ Botschaften in gebrochenem Schwedisch ausgestrahlt hatten.« »Wie war’s mit den Russen?« kicherte sie. »Ein Stückchen psychologischer Kriegführung, vielleicht? Sie haben in Peenemünde genug Raketenexperten geschnappt.« »Niemals, Suzie. Genausowenig wie die ›Foo-Kämpfer‹ im Zweiten Weltkrieg zu den Achsenmächten oder den Alliierten gehörten…« »›Foo-Kämpfer‹? Was ist das? Das klingt nach Leuten, die unter Heuschnupfen leiden. Oder ist das Fu Manchus Luftstreitmacht?« Shriver seufzte auf. »Das war ein Teil des Pilotenjargons im Zweiten Weltkrieg. Ich schätze, es handelt sich um die falsche Aussprache von feu – Feuer. Diese UFOs sahen wie Feuerkugeln aus. Obwohl das Wort auch aus einem Smokey-Stover-Comic stammen könnte: ›Wo Foo ist, ist auch Feuer.‹« »Nie davon gehört.« »Sie sind wohl zu jung, schätze ich. Jedenfalls ist das fremde Raumschiff – das Adamski-Modell – alter Wein in neuen Schläuchen. Es paßt in unseren heutigen Bezugsrahmen – Mondflüge, Radioteleskope und die intensive Suche nach Leben im Universum. Ist Ihnen klar, daß verbatim die gleichen Botschaften von Amateurfunkern, von UFO-Kontaktpersonen und von Medien in Trance aufgenommen wurden, die glaubten, mit den Toten in Kontakt zu stehen?«
»Die gleichen Muster von Hysterie«, wandte Suzie ein. »Die Muster nehme ich Ihnen ab. Aber die gleichen Worte? Dieselben Sätze? Ich sage Ihnen, irgend etwas sendet – auf der Wellenlänge des menschlichen Gehirns, über Radios, Telefone und alle möglichen elektrischen Geräte, und auch über das sichtbare Spektrum. Es bringt sogar Materialisierungen hervorbis hin zu einer ganzen Menagerie von anscheinend lebendigen Geschöpfen. Und das ganze Phänomen, ein breites Grinsen auf dem Gesicht, vermischt ständig authentische Informationsteile und echte Prophezeiungen mit einem Wirrwarr von Unsinnigkeiten. Es spielt kindische und ziemlich komplizierte Spiele, die sich häufig als recht bösartig herausstellen – offenbar mit dem Hauptziel, sich selbst unglaubwürdig zu machen!« »Paranoia«, sagte sie. »Nichts anderes. Das ist das größte Beispiel von Verfolgungswahn, das mir je untergekommen ist…« »Bewußt herbeigeführte Täuschungen führen dorthin. Adamski und die anderen lügen nicht. Eine Menge von Kontaktpersonen glaubt wirklich, was ihnen gezeigt wird, auch wenn diese Überzeugung ihr Leben ruiniert!« »Alles hängt miteinander zusammen, von Hesekiel über Kobolde bis… bis zu…« Shriver lächelte matt. »Wie wär’s mit Uri Geller? Er ist auch eine Kontaktperson, wußten Sie das? Dient einem kosmischen Metabewußtsein. Laut Geller gibt es im Himmel einige Millionen Jahre in der Zukunft eine Art Supercomputer, der ihm bei seinen Tricks hilft.« »Paranoid, ist Ihnen das nicht klar?« »Es geschieht!« »Ich lasse mich in diesen Blödsinn nicht hineinziehen, nein danke! Auf ein angenehmes, gesundes Leben!«
Michael saß unglücklich dazwischen. Seine Begegnung mit Loova schien nicht mehr so klar. Sicher, es war geschehen; in dieser Hinsicht hatte er keine Zweifel. Die Tatsache, daß es geschehen war, besaß wesentliche Bedeutung. Aber was war es, was damals geschehen war? Shriver erkannte die Zweifel an seinem Gesichtsausdruck; er kannte ihn nur zu gut. »Auf gewisse Weise hat sie recht«, gab er zu. »Die Leute verfallen allen möglichen Wahnvorstellungen und machen sich selbst zum Narren. Das ist eine Art, auf die das Phänomen sich selbst schützt. Egal, ich habe Ihnen beiden ein Essen versprochen.« Er musterte Suzies aufgedunsene, rissige Gesichtshaut und fügte hinzu: »In einem dunklen, schummerigen Restaurant… Meinen Sie, ich könnte dabeisein, wenn Dr. Deacon Sie das nächste Mal hypnotisiert?« »Himmel, ich müßte ihn anrufen. Ich… wir haben ihm eine Menge zu erzählen.« »Ich nicht«, sagte Suzie. »Halt dich da raus, Mike, es ist Wahnsinn.« »Wir haben es versprochen, Liebes.« »Du hast es versprochen.« »Sag Deacon nur, was wir beide gesehen haben – bitte! Das schulden wir ihm. Wir hätten gar nichts gesehen, hätte es die Trance nicht gegeben und hätte ich nicht erzählt…« »Über deine Verführerin aus dem All?« »Sei doch nicht so eifersüchtig. Ich weiß bis jetzt noch nicht, was sie war.« »So ist es richtig«, nickte Shriver. »Behalten Sie Ihre neutrale Einstellung – aber lassen Sie nicht zu, daß sie sich damit aus dem Staub machen.« Suzie sah wütend aus, sagte aber nichts.
6
Suzie starrte aus Deacons Fenster auf das Durcheinander gefällter kranker Ulmen. Das Surren der Motorsäge, die das Holz in handliche Stücke zerlegte, erinnerte sie an etwas Unangenehmes, das lange zurücklag, vielleicht an den Bohrer eines Zahnarztes… Deacon erinnerte das eindringliche Geräusch an etwas anderes. Er suchte nach Assoziationen. Derselbe Raum, jawohl. Das Thema UFOs… Das war es – sein Telefon hatte geläutet, als das Band zurückgespult wurde. Er hatte im Hörer ein schrilles Geräusch vernommen. Dann war das Band leer, fast, als hätte das Geräusch es gelöscht. Aber sicherlich bestand keine Verbindung. »Mr. Shriver, wenn Sie hoffen, das Band von Michaels Trance hören zu können, muß ich Sie enttäuschen, fürchte ich.« Shriver beugte sich vor. »Das Band war anschließend leer? Habe ich recht?« Er kicherte. »Ich sehe, daß ich recht habe.« Michael fuhr Deacon an: »Sie haben es doch wohl nicht gelöscht, oder? Sie haben gesagt…« Shriver legte die Hand beschwichtigend auf den Arm des jungen Mannes. »Das hat er natürlich nicht getan. Was genau ist passiert, Sir?« Deacon erklärte die Umstände einschließlich des seltsamen Telefonanrufs, den er vorher noch für unbedeutend gehalten hatte. Shriver lächelte gezwungen. »Nichts davon war Zufall, John.« Deacon bemerkte das Umschalten auf die vertrauliche Anrede; der Amerikaner schien davon auszugehen, daß Deacon nun fest in seine Welt gehörte. »Soweit es UFOs betrifft, haben wir mit technischen
Geräten lange Erfahrungen in bezug auf Koboldtricks. Filme sind plötzlich unbelichtet. Tonbänder löschen sich selbst auf rätselhafte Weise. Als gebe es ein notwendiges Plus und Minus. Sie sind auf Mike gestoßen, die ausgewählte Kontaktperson – und Gott weiß, wie viele Tausende Menschen außer ihm noch ausgewählt worden sind! Mike gibt seine Information weiter, sie kommt ans Licht. Sofort verlieren Sie den soliden Beweis dafür. Ein Stückchen elektronischer Dunkelheit senkt sich herab.« Deacon kratzte sich den Kopf. »Was man auf der Schaukel gewinnt, verliert man auf dem Karussell?« »Das ist die Situation in einem Satz«, nickte Shriver. Michael zögerte. Er bedauerte seine Heftigkeit und wollte den Ausbruch von vorhin wiedergutmachen. »Vielleicht handelt es sich um die Verständigungsschwelle zwischen normalem und anormalem Bewußtsein?« regte er an. »Die Kommunikationsbarriere?« »Hm. Etwas anderes beunruhigt mich viel mehr. Michael, kennen Sie Blakes Dichtungen?« »Nicht sehr gut«, meinte Michael. »Ich konnte Gedichte in der Schule nicht ausstehen.« »Was ist mit Blakes Prophetischen Büchern? Sie wissen doch, diese langen Ergüsse in freier Versform über die Naturgötter. Ist es möglich, daß Sie sie einmal durchgeblättert haben?« »Ich bezweifle es. Gewöhnlich erinnere ich mich an das, was ich gelesen habe. Aber dabei klingelt’s nicht. Warum?« »Der Grund für meine Frage ist sehr einfach: Ihre Leute aus dem Weltraum und deren Planet tragen Namen, die direkt aus diesen Gedichten stammen. Dort können Sie Luvah und Tharmon finden – eigentlich Enitharmon. Und auch Ulro, ihre Welt. Ich wäre sehr überrascht, wenn Sie sie irgendwo in den Plejaden finden.«
»Das wäre auch kein sehr wahrscheinlicher Herkunftsort«, merkte Shriver an. »Die Plejaden sind ein vergleichsweise junger Sternenhaufen voller junger Sonnen. Es ist unwahrscheinlich, daß sich dort schon Leben entwickelt hat.« »Ulro ist eine Art Hölle aus der Feder Blakes. Ein ›Sitz des Satans‹. Blake nennt sie auch ›Trügerische Zunge‹, womit er wohl sagen will, daß es sich um eine Heimstatt der Lügen handelt. Falsches Zeugnis.« »Aber diese Namen haben sie mir genannt! Unter Hypnose lügt ein Mensch nicht. Sie haben gesagt, ein hypnotisiertes Individuum sei geradezu pedantisch wahrheitsliebend. In jedem Detail.« »Jedenfalls in bezug auf die Wahrheit, an die er glaubt«, sagte Deacon. »Ganz gleich, was Sie beide nachts gesehen haben, ich fürchte, daß die frühere Episode…« »Allerdings!« sagte Suzie. Shriver rieb sich die Hände. »Für mich macht das jedoch die ganze von Mike beschriebene Episode authentischer. Die Liebesepisode an Bord einer Fliegenden Untertasse – oder eine medizinische Untersuchung oder ähnliches – ist eine ganz normale Kontakterfahrung. Es muß einige Dutzend solcher Berichte geben – und dazu gehören noch nicht einmal die ganzen Sukkubus- und Inkubuspaarungen aus dem Mittelalter! Es ist eine Art Initiationsritus. Michael wurde mit Informationen gefüttert, die ihn durch eine psychologische Pubertät stoßen. Er wird verwandelt, auch wenn er sich nicht bewußt daran erinnert. Das Ereignis stellt sich in sexuellen Begriffen dar: ziemlich plausibel bei einem heranwachsenden Jungen. Aber der alte UFO-Trugfaktor ist immer noch am Werk. Der Planet Ulro ist ein Jux. Seine Weltraumlady ist ein Jux. Und warum? Kann unser verehrtes Phänomen nur dann etwas Konstruktives tun, wenn es sich als Schwindel präsentiert? Freunde aus dem All, in der Tat! Ich bin froh, daß
Sie jene Namen auf ihren irdischen Ursprung zurückbrachten, John. Und auch die Löschung des Bandes ist ein Beleg.« »Jetzt aber langsam.« Deacon schüttelte den Kopf. »Was Michael und Suzie am Abend gesehen haben und sein Gedächtnis zurückgebracht hat, geschah Stunden nach der Bandaufnahme.« »Die Bandaufnahme fand vor dem sichtbaren Ereignis statt«, stimmte Shriver zu. »Aber das Ereignis war bereits ausgelöst – durch Mike, wegen der Trance. Offenbar ist alles miteinander verknüpft: die damalige ›Verführung‹, die Trance, das Löschen des Bandes und dann das anschließende ›Erinnerungsereignis‹.« »Alles ist miteinander verknüpft – für Sie«, spottete Suzie. »Können Sie sich wirklich einbilden, John, daß die Trance und das UFO-Ereignis – das zwei Menschen betraf, von einer Vielzahl von Augenzeugen ganz zu schweigen – rein zufällig am selben Tag geschehen sind?« »Wenn es eine ausreichend starke Quelle psychologischer Störungen gibt«, überlegte Deacon laut, »eine Quelle, die auf beide beteiligten Personen wirkt…« »Und auch noch auf die Feuerwehr?« »Ich muß Ihnen etwas sagen«, platzte Michael heraus. »Weil es mit Luvah zu tun hat, und weil es tatsächlich eine psychologische Störung gibt, die uns beide betrifft. Du hast doch nichts dagegen, Liebes?« Er nahm Suzies Schweigen fälschlicherweise als Zustimmung. »Ich war vor etwa sechs Monaten beim Arzt, als Suzie und ich, nun, als wir anfingen, miteinander zu gehen.« »Mein Gott, Mike«, erregte sie sich. »Ich fürchte, auf mir lastet der Fluch vorzeitiger Ejakulation.« »Widerlich! Das ist wirklich gauche!«
»Nun hab’ ich’s gesagt. Für uns ist es nur ein kleines Ärgernis, wirklich. Wir ruhen uns ein bißchen aus, und dann ist es in Ordnung.« Er grinste verlegen. »Es ist so, als wäre der erste Schuß für die Elfen… Aber jetzt weiß ich, warum. Jenes erste Erlebnis, nicht wahr? Der Schock. Und dann die Art und Weise, wie sie es unterdrückt haben.« »Falls – es – geschehen – ist, Michael!« »Aber ich weiß, daß irgend etwas geschehen ist.« »Begegnungen haben viele körperliche Nebenwirkungen«, beschwichtigte Shriver diplomatisch. »Häufig lang andauernd.« »Ich bin sicher, es wird jetzt, da ich mich erinnert habe, in Ordnung sein.« »Vielleicht sollten wir es ausprobieren!« brauste Suzie auf. »Vielleicht könnten wir die kleine Couch hier benutzen? Hol die Stoppuhr raus! Ich bin sicher, wir brauchen ein paar objektive Zuschauer. Ich habe die Nase voll davon! Kommst du, Mike?« »Ich kann nicht. Ich muß es wissen.« Die Fenster klirrten, als die Tür ins Schloß fiel. »Das ist schade«, meinte Shriver mitfühlend. »Sie wird darüber hinwegkommen«, tröstete Deacon. Er fragte sich, wie es wohl war, wenn jemand davonlief, der einem so nahestand. Mary war ganz anders, sie war eher der gute Hirte der Herde. Wäre es auch passiert, wenn nur er selbst anwesend gewesen wäre und der Amerikaner nicht? Einen Moment lang ärgerte er sich über den Eindringling, den er auf Michaels Drängen zugelassen hatte – aber auch, das wußte er, aus reiner Neugierde auf einen ›UFO-Gucker‹, die seinen Argwohn überwogen hatte. Neugierde und die Möglichkeit einer neuen Seite der Anthologie über veränderte Bewußtseinsstadien…
Zuerst eine Spritze Natriumamytal in Michaels Arm, um die Trance besser in den Griff zu bekommen. (Deacon wußte, daß es falsch war, sein Prestige in eine Hypnosesitzung zu investieren. Aber er fühlte sich in der Falle. Herausgefordert und auf die Folter gespannt. Und über die Faszination eines möglichen neuen VBS hinaus war da die Tatsache, daß er beim letzten Mal die Kontrolle verloren hatte und daß dies eigentlich unmöglich war.) »Stadium?« fragte er. »… und Tharmon fordert mich auf, mich auf den gepolsterten Sitz neben einer der Luken zu setzen. Beide Männer sitzen vor den Kontrollen. Luvah ist nicht hier. Sie ist in die ›Antriebskammer‹ unter dem Kontrollraum gegangen…« Energie, von den Überich-Zwillingen unter die ›Oberfläche‹ verbannt… »Draußen ein heller roter Nebel. Als er sich aufklärt, sind wir schon in der Luft. Ich höre kein Geräusch und spüre keine Bewegung, aber das Moor fliegt schon unter uns dahin…« »Warum haben Sie diesen Teil beim letzten Mal nicht beschrieben?« »Er war nicht da.« »Sie meinen, es sei ursprünglich nicht geschehen? Es ist Ihnen erst in jener Nacht als neuer Bestandteil klargeworden?« »Nein! Sie haben dafür gesorgt, daß ich es vergesse! Mehr noch, als ich den Rest vergessen mußte.« Die Aussteuerungsnadel zitterte in den roten Bereich, als Michaels Stimme lauter wurde. Shriver klopfte mit dem Finger an die Stirn, das Zeichen, daß er eine Pause wünschte, und Deacon klopfte an Michaels Schläfe. »Sie werden ganz ruhig sitzen bleiben. Sie werden nichts hören, bis Sie wieder meinen Finger an Ihrem Kopf spüren.«
»Fragen Sie ihn, ob er irgendwelche Schriften, Symbole oder grafische Darstellungen im Kontrollraum sehen kann«, flüsterte Shriver. »Es ist unwahrscheinlich, daß es in dem unterdrückten Material gedruckte Darstellungen gibt! Man muß seinen Symbolismus in den ihm eigenen Begriffen herausarbeiten – wie beispielsweise der Name ›Enitharmon‹.« »Bitte!« Achselzuckend stellte Deacon die Frage. Und Michael berichtete: »Auf Tharmons Kontrolltafel ist eine Art Diagramm, ein Schaltdiagramm. Kleine Lichter flackern auf. Entweder kontrolliert Tharmon sie, indem er die Knöpfe dreht, oder aber sie zeigen ihm an, wenn er sie drehen muß…« Shriver hielt ihm einen Notizblock entgegen. »Können Sie es zeichnen?« Michael ignorierte die Frage, da es nicht Deacon war, der sie gestellt hatte. Aber als dieser sie wiederholte, nahm er den Block. Sorgfältig zeichnete er:
»Aha!« flüsterte Shriver.
Die Untertasse flog mit hoher Geschwindigkeit nach Süden über eine weitgehend im Dunkeln liegende Landschaft, bis sie
die Ausläufer von London erreichte. Langsamer werdend schwebte sie in Schräglage auf das Zentrum der Stadt zu. Die Welt unter ihm hing schief, aber ›unten‹ war immer noch eindeutig unter seinem Sitz. Der hochragende Zylinder des Fernmeldeturms stach wie ein länglicher Knauf auf einem Schild zwischen den übrigen Verwaltungsgebäuden hervor und kam ihnen ins Gehege. Von dem Turm ausgesandte Strahlen störten ihr Gefährt. Die Untertasse wirbelte davon, raste wieder nach Norden, zurück zu den Mooren von Yorkshire. »Eine recht ziellose Reise«, bemerkte Deacon. »Nicht unbedingt, John. Sie fliegen von einem Mikrowellenturm zum nächsten. Sie folgen einem Kommunikationsnetzwerk, einer Art Hauptnervenstrang unserer Technologie, erkennen Sie das?« »Hm. Geistesgestörte fürchten sich manchmal vor unsichtbaren ›Strahlen‹. Nicht, daß Michael…« »Genau. Er ist es nicht.« »Ich vermute, das ›Zurückprallen‹ von London ist ein weiteres eingebautes Verneinungssignal. Seine Phantasievorstellungen bewegen sich im Kreis, genau wie ›Ulro‹ nichts anderes als ›Erde‹ bedeutet.« Shriver schüttelte den Kopf. »Als ehemaliger Pilot muß ich sagen, daß Flüge sich nicht immer so entwickeln, wie sie vorher skizziert worden sind. Aber das ist nicht das wirkliche Ziel des Flugs, John. Er dient hauptsächlich dazu, Mike zu überreden. Ihn zu konditionieren. Er ist das Ziel, nicht London. Der Rest paßt dazu wie eine Bühnenkulisse. Tharmon und Co. jagen die Mikrowellen – zum Teufel, sie haben von der Bedrohung durch einen Atomkrieg gesprochen, und alle Ihre Radarwarnsysteme in England laufen über Mikrowellen durch diese Türme, soweit ist es also folgerichtig. Und sie haben ihm diese Geschichte über die Rettung menschlichen Genmaterials vorgesponnen. Wieder so ein plausibler Blödsinn. Die
wesentlichen Dinge dabei sind sexuelle Initiation und der paranormale Flug, so wie sie auf ihn wirken. Wie gesagt, ein Initiationsritus für den Jungen – um ihn vorzubereiten. Mit den Hexen im Mittelalter war es genau dasselbe: sexuelle Spielchen und ein Flug auf dem Besenstiel zu einer Stätte der Macht. Damals waren Magie und Teufelswerk der Bezugsrahmen – und der Effekt war: psychische Transformation. Und eure armen Hexen waren am Schluß höchstwahrscheinlich die Genasführten und endeten auf einem Scheiterhaufen. Aber ihre Erlebnisse waren keine hysterischen Wahnvorstellungen. Sie geschahen wirklich. Das Phänomen hat sie in Gang gesetzt. Heute hat sich der Bezugsrahmen gewandelt.« Shriver grinste beinahe vergnügt auf den Notizblock. Als Michael aus der Trance erwachte, erinnerte er sich an alles; und das Tonband hatte alles aufgenommen. »Schauen Sie sich bitte einmal das ›Schaltdiagramm‹ an!« drängte Shriver. »Glauben Sie immer noch, Michael hat sich die ganze Sache eingebildet? Wissen Sie, was das ist? Das hier entpuppt sich als eine vorzügliche Darstellung der Feldenergien eines Raumschiffs, das von einem bipolaren Schwerkraftfeld angetrieben wird.« »Ein was? Wovon reden Sie?« »Einverstanden, John, so etwas gibt es nicht. Aber wenn es so etwas gäbe, dann wäre es das, was Mike gerade gezeichnet hat! Schauen Sie, der obere Punkt im mittleren Kreis ist eine Schwerkraftpunktquelle, die vor das Raumschiff projiziert ist – zu der es stetig hingezogen wird. Der untere Punkt ist das gleiche umgekehrt: eine Repulsionspunktquelle, die das Raumschiff hinter sich her zieht und von der es abgestoßen wird. Das gräbt jene seltsamen Gabellöcher an den Stellen in den Boden, wo UFOs mutmaßlich gelandet sind. Ab und zu fallen Farmer dort hinein. Dann rufen sie die Armee, und alles wird als Bergwerkssenkungen abgetan oder als Blindgänger,
der irgendwie zu nichts verrostet ist. Das ist das Hauptantriebssystem der UFOs – immer vorausgesetzt, man kann Punktquellen von Schwerkraft und Anti-Schwerkraft erzeugen! Die übrigen Punkte und Striche sind sekundäre Felderreger und Stabilisierungsinduktoren, um das Schiff auszutrimmen und der Besatzung im Innern eine konstante Ein-G-Schwerkraft zu geben. Das brauchen sie, sonst würden sie plattgedrückt oder in Fetzen gerissen. Erinnern Sie sich, wie Michael erwähnte, daß ›unten‹ konstant blieb, auch als das Schiff sich zur Seite neigte? Sie brauchten nicht einmal Gurte! Ich schätze, das Raumschiff schwenkte gerade nach rechts, als Mike das zeichnete, daher ist das Schwerkraftfeld nicht symmetrisch, und die kurzen Striche entlang der Hauptachse sind alle gekippt, um die Bewegung auszugleichen. Und der rote Nebel und die Trübung des Sichtfelds sind beides Nebeneffekte dieser Felder. Es kommt zu örtlich begrenzter Kondensation – die Lufttemperatur sinkt unter den Taupunkt, und sichtbares Licht erfährt durch die Intensität des G-Feldes eine Rotverschiebung. Der Sonnenbrand wird übrigens durch die damit verbundene elektromagnetische Strahlung verursacht; das ist Induktionsaufheizung…« Der Amerikaner lachte sarkastisch. »Da haben Sie Ihre Theorie der schwerkraftgetriebenen Raumschiffe – die einzig logische Art zu fliegen. Und hier haben wir ein klassisches Diagramm eines Schwerkraftfelds! Bis ins Detail! Und doch ist es Stuß, John. Wir haben es mit der Illusion eines ›Raumschiffs‹ zu tun, erzeugt von einem oder mehreren UFOWesen. Es wird alles von einem schmalspurgelehrten ›UFOProgramm‹ fabriziert, das Gott weiß wann, warum oder wie aufgestellt worden ist, aber immer noch fröhliche Urständ feiert und immer noch angewandt wird. Wissen Sie, wer Tharmon, Luvah und Co. sein könnten? Tulpas. Haben Sie schon mal von Tulpas gehört?«
»Tibetanische… irgendwas«, nickte Deacon. Ja, er hatte davon gehört. Tulpas gehörten auf eine andere Seite der Aquarier-Anthologie. »Bestandteil der alten lamaistischen Geist-Wissenschaft, nicht? Lebendige Geschöpfe, durch einen langen Gedankenakt erschaffen.« »So ist es. Materialisierungen.« »Und sie sollen tatsächlich anfaßbar sein, nicht wie imaginäre Spielgefährten von Kindern – dabei handelt es sich ausschließlich um Anschauungsbilder oder hypnagogische Halluzinationen. Andere Menschen können sie sehen und berühren. Angeblich sind sie fähig, in der realen Welt eigenständig zu funktionieren.« »Richtig. Sie sind unabhängige, aufdringliche und verschlagene Bastarde. Sie klammern sich an das falsche Leben, das ihnen gegeben worden ist. Vorstellbar, daß die Ufonauten, und sogar die UFOs selbst, tatsächlich Tulpas sind. So verrückt ist die Idee gar nicht. Übersetzen Sie sie aus der Sprache des Mystizismus in wissenschaftliche Begriffe, und schon haben Sie etwas wie ferngesteuerte Hologramme. Solidogramme – die ihr Rohmaterial aus der Luft und dem Meer, von entführten Menschen und gestohlenem Vieh beschaffen. Aber was projiziert sie? Und von wo werden sie projiziert?« Wogende Kumuluswolken trieben nach Osten, luftige Sahneberge. Im Westen bewegten sich graue Wolken an einer schrägen, scharf abgegrenzten Trennungslinie entlang, als eine Warmfront heranzog und Regenwolken und Schauer mitbrachte. Deacon versuchte sich ein Hologramm vorzustellen, das in das Zentrum einer der mächtigen Kumuluswolken projiziert wurde, sich dort verdichtete, fester wurde, bis es eine winzige Fliegende Untertasse mit einer lebenden Besatzung war; eine Besatzung, gerade geboren und mit Geisteridentitäten programmiert: Tharmons und Luvahs
auf einem genetischen Kreuzzug im Auftrag ihrer nicht existierenden Welt Ulro. Sukkubi aus dem Raum. Ausgesandt zu welchem Zweck? Nur um Verwirrung zu stiften? Eine Verwirrung, die so groß wie ihre eigene ist? Flüchtig bedauerte er diese vermeintlichen Ufonauten – Durchreisende, aus dem Chaos gerissen, um wieder darin aufgelöst zu werden. Dann verließ ihn seine Vorstellungskraft. Er sah nur noch ein Trio heller Blumenkohlköpfe, das vor dem Sturm nach Osten trieb… Doch dieses Bild ergab auf merkwürdige Weise für ihn mehr Sinn als ein echtes blitzendes Sternenschiff, das aus den Wolken nach unten wirbelt. Die einfachste Erklärung für Michaels Erlebnis gehörte zu einem einigermaßen abgedroschenen Paradigma – dem psychosexuellen. Wenn man das Phänomen jedoch als ein neues VBS sehen könnte – ein VBS neuer Ordnung, das sich aus dem menschlichen Geist hinaus in die reale Welt erstreckte, wie es Tulpas angeblich taten…? »Was sind sie Ihrer Meinung nach wirklich, Barry?« fragte er den Amerikaner. »Oh, da habe ich mir keine Meinung gebildet. Wie ich Mike und seiner jungen Begleiterin schon gesagt habe, ist Neutralität mein Schutzanzug. Aber eins kann ich sagen: Sie sind wie subatomare Teilchen. Sobald man glaubt, sie festgenagelt zu haben, teilen sie sich, und es entsteht etwas Neues, Widersprüchliches! Ich erwarte keine endgültige Theorie über UFOs. Offen gesagt, ich würde ihr mißtrauen. Ich würde annehmen, das Phänomen hätte sie in die Welt gesetzt, um Verwirrung zu verbreiten…« »Das ist schwer zu begreifen.« »Das ist mein persönliches Empfinden. Was andere Menschen glauben… Nun, erstens« – Shriver zählte an den Fingern ab – »echte fremde Raumschiffe mit Schwerkraftantrieb, die uns erforschen, uns überfallen oder uns
aus reinem Vergnügen ganz einfach besuchen. Zweitens, auf der Erde stationierte Raumschiffe einer nichtmenschlichen Kultur, die der unseren Millionen Jahre voraus ist und in den Tiefen unserer Meere entstand. So lächerlich ist das gar nicht! Drittens: Wie wäre es mit Energie-Lebensformen, die im All existieren und ab und zu in unserer Ökosphäre auftauchen? Oder viertens uralte fremde Geistesformen, die es hierher verschlagen hat? Vielleicht mehrere verschiedene Rassen, die sich alle unter den Bannern von Gott und Satan im Krieg befinden? Hier kommen Theosophie und Atlantis ins Spiel: höhere Schwingungsebenen, höhere ›Oktaven‹ der Materie, koexistierende Dimensionen. Wir müssen annehmen, daß unsere Welt von einem anderen, bewohnten ›vibrierenden‹ Raum durchdrungen ist. Was natürlich die offensichtliche Stupidität jener Bewohner nicht erklärt! Außer ihre Logik ist gänzlich fremdartig und ätherisch, oder sie haben sich tatsächlich von einstiger Höhe zu Schwachköpfen zurückentwickelt, denen die früheren technischen Spielzeuge noch alle zur Verfügung stehen! Und wie steht es mit zeitspringenden Vernunftwesen, die aus unserer eigenen fernen Zukunft zurückkehren…? Soll ich fortfahren? Mir scheinen die Finger auszugehen.« Der Himmel hatte sich verdunkelt. Ein plötzlicher Schauer überspülte das Fenster und legte einen gekräuselten, unregelmäßigen Vorhang zwischen sie und die jetzt trüben Felder. »Wie sind Sie in die ganze Sache hineingeraten?« fragte Deacon. »Ich war Captain in der Luftwaffe. Mein Vater war ein erfolgreicher Makler – Immobilien. Er hat klug investiert. Dann wurden meine Eltern und mein jüngerer Bruder bei einem Autounfall getötet, und ich verließ die Luftwaffe. Zum Teufel, ich half dabei, Menschen zu töten. So schien es. Statt dessen machte ich mich daran, diese Plage zu jagen. Ich sage Ihnen, John, sie trifft mich zutiefst. Ich werde diese
ausgestopften Babies auflisten, denn sie bilden ein Desinformationsministerium um uns herum. Aber ich lasse mich nicht wie die Hüpf er von der Fliegende-UntertassenBrigade von ihnen an der Nase herumführen!« Also ein typisches Bekehrungsmuster. Der Schock über den Verlust der ganzen Familie. Die Suche nach einer anderen Familie, deren Bindungen nicht militärisch strukturiert waren. Ein Sehnen nach Erlösung von einer Art Gottesmacht im All. Eine im Innern lauernde Furcht, daß die äußere Ordnung irgendwie feindlich und bedrohend wäre… Obwohl der Amerikaner sachliche Objektivität vorgab, steckte er in seinem eigenen, ganz persönlichen Popanz, ohne daß es ihm bewußt wurde, dachte Deacon. »Einmal angenommen, Michael hat, wie Sie sagen, gerade ein Schwerkraftfelddiagramm gezeichnet…« »Davon können Sie ausgehen«, kicherte Shriver. »Nur existiert so etwas überhaupt nicht, wie Sie ebenfalls sagen. Woher hat er also ein Bild, das Sie so leicht interpretieren?« »Meinen Sie etwa, er hat eben meine Gedanken gelesen? Auf keinen Fall. Michael hat das damals tatsächlich gesehen. Es ist absolut echt. Mike hat es wie die Namen Blakes von irgendwoher bekommen – Höflichkeit des Phänomens. Unsere ›Fremden‹ mögen es für einen Verstoß gegen ihre Ethik halten, sich selbst zu offenbaren, oder sie haben sonst eine Ausrede dafür, ins weite blaue Jenseits zu verschwinden, wann immer wir armen Kerle ihnen näher kommen. Aber Mann, dieses Phänomen hat ganz gewiß nichts dagegen, in allen unseren Köpfen zu fischen. Eine ziemliche Anzahl von Leuten in unserer Welt beschäftigt sich intensiv mit dem Gedanken, daß die UFOs Schwerkraftfelder benutzen. Ich könnte eine Reihe von Büchern und Artikeln aufzählen – und wie viele Menschen haben sie nach Ihrer Einschätzung gelesen und sind davon
beeinflußt worden, na? Ich schätze, William Blake wirft sein Netz noch weiter aus. Er hat echte Visionen gehabt, nicht wahr? Er ist umherwandelnden Engeln und Dämonen begegnet – offenbar das gute alte Phänomen, das da am Werk war. Dann hat er es zu einer dichterischen Mythologie verarbeitet. Es ist alles vor der Öffentlichkeit ausgebreitet und liegt bereit, um von der UFO-Streitmacht abgeschrieben zu werden.« »Angenommen, UFOs sind tatsächlich diese TraumObjekte«, schaltete Michael sich ein, »und angenommen, ein Gedankenakt bringt sie hervor… Nun, die Trance schuf exakt den geistigen Rahmen, in dem ich mich beim ersten Mal befand, als Luvahs Untertasse landete – und die Geschichte hat sich an eben diesem Abend wiederholt.« Er starrte Deacon an. »Warum nicht ein weiteres Mal? Wenn Sie mich hypnotisieren? Wenn Sie mir befehlen, ein Ereignis stattfinden zu lassen?« »Eine Nadel werfen, um eine Nadel zu finden?« Deacon lächelte anerkennend. »Eine interessante Idee.« Regen prasselte nieder. Es war ein feuchter Herbst. Bäche und Gräben würden bald über die Ufer treten.
7
Drei Wochen verstrichen, ehe der Versuch gemacht werden konnte. Zwei Sitzungen wurden abgeblasen, als Michael heftige Kopfschmerzen bekam. Und Deacon hatte inzwischen eine kleine Bibliothek, empfohlen und zum Teil ausgeliehen von Shriver, über das Phänomen verschlungen. Es führte ihn an der Nase herum – und er hatte es in der Nase, daß es ein authentisches VBS war, ein verändertes Bewußtseinsstadium, das dem gewöhnlichen Bewußtsein so fremd war wie der Zustand der Hypnose, der Meditation oder eines LSD-Trips; ein Stadium, das man der Einfachheit halber ›UFOBewußtsein‹ nennen konnte: der veränderte Geisteszustand, in dem es möglich wurde, UFO-Phänomenen zu begegnen und sie sogar hervorzurufen. Wenn die Luftwaffe Zehntausende von Dollars darauf verwendete, diese Objekte zu jagen, und wenn er mit einer praktikablen Hypothese käme… Als sie anfingen, war es einigermaßen sonnig, aber schon bald zogen wieder Wolken auf und sorgten für einen weiteren feuchten Nachmittag. Das Wetter wurde zusehends schlechter, und der Himmel trübte sich. »Vier, drei, zwei, eins. Wachen Sie auf!« Michael blinzelte. »Nichts geschehen? Erinnere ich mich auch an alles?« »An alles.« Deacon schaltete das Tonbandgerät aus. »Ich habe schon wieder Kopfschmerzen.« Michael lächelte schwach. »Diesmal nur leichte. Ich hole Kaffee.« Nichts. Und auch mit Suzie war nichts passiert. Sie war wieder seine Freundin, aber nicht seine Geliebte. Sie hatte ihm deutlich gemacht, daß sie nicht die Absicht hatte, ihr Geschlechtsleben
zu einem wissenschaftlichen Experiment zu machen. Also wußte er in dieser Hinsicht immer noch nichts. Für sie war das Projekt mit John Deacon tabu; jede Erwähnung machte sie wütend. Es war eine Art Untreue, die aufzugeben Michael sich störrisch weigerte… Deacon trat zum Fenster und starrte in den Regen hinaus. Ein Gefühl nervlicher Regeneration, ein Ausbruch von Energie, die der Regen vor sich her geschwemmt hatte, war jetzt vollständig gedrosselt. Was hatte er auch erwartet? Was für eine Narretei war das? Mit diesem… diesem Chorknaben und seinem sexuellen Problem beschäftigt, seinen Kopf tätscheln und versuchen, etwas hervorzurufen – was? Als Michael mit einem dampfenden Pappbecher in jeder Hand wieder eintrat, starrte er noch immer hinaus. Durch den Regen draußen glitt ein riesiger Vogel. Aber es war eigentlich kein Gleiten, er trieb einfach dahin, ganz langsam. Viel zu langsam. Schlug nicht einmal mit den Flügeln. Deacon rieb heftig über das Fensterglas, obwohl der Regenfilm auf der Außenseite war. Die Sicht trübte sich, das Bild wankte wie ein schlecht justiertes Fernsehbild. »Mein Gott, was ist das – ein Albatros?« Michael eilte an seine Seite. »Es sieht eher wie ein Flugsaurier, ein Pterodaktylus aus«, flüsterte Michael. »Etwas Ausgestorbenes.« Der mit Kamm und Schnabel bewehrte Kopf. Der ungeschlachte Körper unter den ledrigen Fledermausflügeln, die der Vogel mit Krallenzehen ausbreitete… Dreißig Meter entfernt, schien er fast so groß wie ein Mensch. Deacon wollte das Glas mit der blanken Faust einschlagen. Nur… er wollte nicht riskieren, daß der Vogel es hörte. »Es muß ein Drachen sein«, sagte Michael eingeschüchtert. »Jemand läßt einen Drachen steigen.« »Bei diesem Wetter? Kommen Sie zu sich!«
Dann hatte das fliegende Ding seinen Kopf in ihre Richtung geschwenkt, und sie sahen seine Augen. Sie glühten grellrot, nicht viel kleiner als die Bremsleuchten eines Wagens und genauso hell. Plötzlich schoß das fliegende Ding aufwärts und löste sich in der Düsternis auf. »Eine Harpyie«, murmelte Michael. »Etwas Mythologisches. Von vor langer Zeit…« »Verdammt, wir konnten nicht richtig sehen! Es war… Es war…« »Es war eben, und wir sollten uns damit zufriedengeben.« In Michaels Stimme schwang Hysterie mit. »Es war ein Objekt. Es flog. Wir können es nicht identifizieren. Was wollen Sie mehr? Ich fürchte mich, John. War das ein UFO? Eine wilde Harpyie ohne Arme und einem winzig kleinen Gehirn!«
Suzie lag auf ihrem Bett und hörte eine Bruckner-Sinfonie. Die peristaltischen Wellen der romantischen Musik rollten in steter Bewegung. Der Himmel und ihr Zimmer waren dunkel, doch sie machte keine Anstalten, das Licht einzuschalten. Regen peitschte gegen das Fenster. Die Nadel fuhr über die letzte Rille, der Tonarm hob sich, wanderte zurück; das längste Thema in der Musik begann von vorn. Jemand klopfte an die Tür. »Bist du das, Mike?« Die Klinke bewegte sich. Erneutes Klopfen. Sie glitt von ihrem Bett und schloß auf. Zwei Männer in dunkelblauen Uniformen mit Luftwaffenabzeichen standen im Flur. Einer von ihnen trug eine schwarze Aktenmappe mit Schnappverschlüssen. Ihre Gesichter schienen von flüssiger Sonnenbräune getönt. Es waren lange, spitz zulaufende Gesichter. Ein Paar lebensgroßer
Action-Men-Puppen, dachte sie. Sie sahen fremdländisch aus: italienisch oder gar persisch. »Entschuldigen Sie die Störung, Miss«, sagte der Mann mit der Aktenmappe in freundlichem Tonfall, der eine Spur vertrauten Cockneys aufwies. »Wir sind Angehörige des britischen Luftfahrtministeriums. Ich bin Hauptmann Baker, das ist Stabsfeldwebel Jones. Wir möchten Ihnen gerne ein paar Fragen über die Fliegende Untertasse stellen, die Sie vor einigen Wochen gesehen haben.« »Nach dem, was Ihr Freund den Zeitungen erzählt hat…« schaltete sich der Mann namens Jones mit extremer Lautstärke ein. Er vollendete den Satz nicht und scharrte verlegen mit den Füßen. In der schwachen Flurbeleuchtung musterte sie die beiden Männer. Als Baker einen Fuß vorstellte, bemerkte sie, wie sauber und trocken ihre Schuhe waren. Baker hob die Aktenmappe und fummelte an den Schnappverschlüssen, als wüßte er nicht genau, wie man sie öffnete. Schließlich hatte er Erfolg. Er zog einen langen bedruckten Bogen heraus und legte ihn auf die Aktenmappe. Ebenso umständlich fingerte er mit einem Kugelschreiber herum. Krakelig bewegte er ihn über das Papier und verschmierte den Bogen. Die ganze Zeit drängte er auf die Tür zu, bis er sie mit der Aktenmappe zurückstoßen konnte. »Er interessiert sich für solche Sachen, nicht wahr? Er schnüffelt gern darin rum, oder?« »Ich habe Sie nicht hereingebeten!« protestierte sie. »O…« Baker wirkte verblüfft und lehnte sich gegen den Türpfosten. »Macht nichts, Miss. Also, wann wurden Sie geboren?« »Was hat das damit zu tun?« »Ich würde sagen, Sie sind etwa zwanzig.« Er kritzelte. »Hatten Sie irgendwelche ernsteren Kinderkrankheiten? Diphtherie, Pocken, Tb?«
»Das ist lächerlich – die sind alle schon seit Jahren ausgerottet. Genausogut könnten Sie mich fragen, ob ich die Beulenpest hatte. Was zum Teufel…?« »Ausgerottet, hä?« dröhnte Stabsfeldwebel Jones. Er blickte sie mißtrauisch an. »Glauben Sie das wirklich?« Sie atmete tief ein. »Was sollen die Scherze?« »Wir sind Beauftragte des britischen Luftfahrtministeriums«, wiederholte Baker. »Ich bin Hauptmann Baker, wir möchten Sie gern fragen…« »Sie arbeiten besser mit uns zusammen«, blaffte Jones und verstummte sofort wieder. Baker sagte: »Wir wissen, an dem Tag war Vollmond. Aber sagen Sie mir, Miss: Hatten Sie zu der Zeit auch Ihre Periode? Und stimmt Ihre Periode mit dem Mondumlauf überein? Verzeihen Sie die Zudringlichkeit. Wenn Sie uns das sagen, schwirren wir sofort wieder ab.« »Sie sind ekelhaft! Wie können Sie es wagen, solche Sachen zu fragen!« Achselzuckend drehte Baker ihr die Mappe zu. Sein Gekrakel auf dem Papier war unleserlich und schien von einem Kind zu stammen. Der gedruckte Text war zu klein, um ihn im trüben Licht lesen zu können. »Sehen Sie, Miss, wir müssen bei der Zentrale einen Bericht abliefern, weil wir wissen, daß Ihr Freund an diesen Dingen interessiert ist. Wissen Sie was, Sie setzen einfach Ihre Unterschrift hier unten auf den Bogen, dann werden wir den Rest selbst ausfüllen. Uns wird schon was einfallen.« Er zwinkerte. »Ein Papier unterschreiben, das ich noch nicht einmal gelesen habe?« Sie schaltete das Licht ein, und Baker zog den Bogen gewandt fort. »Sie stellen eine Menge Fragen«, erwiderte er in gereiztem, drohendem Tonfall. »Dann können wir das auch! Wieviel Uhr ist es?« »Zeit, daß Sie gehen!« Suzie riß an der Tür, um sie hinauszudrängen. Die Tür widerstand einige Sekunden, doch
schließlich rastete der Federriegel ein, und sie warf den Schließhaken nach unten. Sie war sich nicht sicher, wann sie gingen. Sie konnte keine Schritte hören. Sie zitterte noch immer vor Wut und Angst, als die Platte aufhörte und wieder von vorn begann.
8
Mary führte die beiden Studenten in den Salon und zog die Vorhänge auf. Braunlederne skandinavische Lehnsessel und ein Sofa standen im Zimmer; vielblättrige, blütenlose Geranien; ein Vitrinenschrank mit ihrer Porzellansammlung – hundert viktorianische Becher, Krüge und Fläschchen mit Stadtwappen darauf. Das also war der Cupido Johns, dachte sie – seine Verbindung zum Unendlichen. Wenigstens war seine Freundin dabei! Suzie starrte feindselig und zugleich auf merkwürdige Weise flehentlich zurück. Sie fühlte tiefe Abneigung gegen dieses Haus und seine Bewohner, hoffte aber, hier ein Heilmittel zu finden. »Was ist das für ein Unsinn über die Beschwörung eines ›Pterodaktylus‹?« fragte Mary. Der Junge lächelte gezwungen. Ein sprödes, geziertes Lächeln. »Ist ja auch egal. Ich hole John – er ist oben.« John war nicht oben. Als Mary zurückkam, hörte sie die Hintertür zuschlagen. Sie fand ihren Mann mit nassen Schuhen in der Küche, das Oberleder war von Feuchtigkeit dunkel. Seine Hände waren schmutzig. Er ging zum Spülbecken und wusch sie gründlich. »Shep ist ein richtiger Quälgeist. Er wollte nach draußen.« Er fingerte mit dem Handtuch herum. Erst als sie ihm sagte, daß sein Schützling im Haus wäre, wurde er lebhaft und interessiert. »Ist was passiert? Aah!« Sie folgte ihm in den Salon und beobachtete ihn aufmerksam, als Suzie Meade widerwillig vom Besuch der Luftwaffenoffiziere, von ihrem seltsamen Verhalten, ihrem
drohenden Auftreten und ihren idiotisch obszönen Fragen berichtete. »Ich habe mit dem Luftfahrtministerium telefoniert«, sagte Michael. »Dann mit dem militärischen aeronautischen Informationsdienst. Sie haben mich ans Verteidigungsministerium verwiesen. Aber natürlich gab es diese Beauftragten gar nicht. Sie haben es eindeutig in Abrede gestellt.« »Haben Sie die Polizei angerufen?« fragte Mary. »Die beiden scheinen ja ein widerliches Perversenpärchen zu sein.« »An ihnen war alles falsch«, meinte Suzie klagend. »Eine brandneue Aktenmappe, die sie anscheinend nicht öffnen konnten. Und blitzblanke Schuhe.« Sie schaute auf Deacons Füße. »Es goß in Strömen, aber ihre Schuhe waren kein bißchen feucht.« »Ein Streich«, besänftigte Mary. Sie bot Suzie einen Drink an und goß, ohne die Männer zu beachten, einen Gin ein. »Das kann kein Streich gewesen sein!« sagte Suzie schaudernd. »Warum sollte jemand so etwas tun?« Deacon schüttelte bestimmt den Kopf. »Männer in Schwarz. Das waren sie – MIS.« Michael nickte. »Ich wußte, daß sie das sein mußten. Schon als ich es zum erstenmal hörte. Ich wollte, daß Sie ihr es erklären, John. Obwohl es verteufelt schwer war, sie zum Mitkommen zu überreden.« »Was in aller Welt sollen Männer in Schwarz sein?« fragte Mary. »Ich habe in letzter Zeit einiges über sie herausgefunden. Sie sind eindeutig ein Teil des Phänomens. Sie sehen ein wenig orientalisch aus – in der Regel sind es kleingewachsene Leute mit fahler Haut. Kleidung und Ausstattung sind stets völlig neu, sie scheinen häufig nicht mit ihnen vertraut zu sein. Sie tauchen gewöhnlich paarweise im Anschluß an UFO-Sichtungen auf, wenn es einige Publizität
gegeben hat. Manchmal treten sie als Luftwaffenoffiziere auf. Sie stellen die widerlichsten Fragen. Sie jagen den Leuten Angst ein. Sie sagen ihnen, sie sollten den Mund halten. Ich wette jeden Betrag, diese beiden Figuren waren MIS. Haben wir«, flüsterte er zu Michael, »sie auch in Gang gesetzt?« »Sie waren nicht schwarz gekleidet«, protestierte Suzie. Deacon nickte. »Sie werden nur so genannt, weil sie häufig in schwarzen Autos umherfahren und schwarze Anzüge tragen – allerdings dann nicht, wenn sie uniformierte Offiziere verkörpern. Die amerikanische Luftwaffe ist aufgrund dieser Verkörperungen anscheinend ziemlich besorgt. Niemand wird ihrer habhaft. Sie fahren einfach weg und verschwinden. Das kann sehr beängstigend sein.« »Ich nehme an, sie sind in Wirklichkeit die Venusianer unter uns!« sagte Mary ätzend. »Auf der Venus herrschen fünfhundert Grad Celsius, Schatz, und der Druck würde einen flachpressen. Innerhalb von zehn Sekunden wäre man verbrüht, zerquetscht, zersetzt und vergiftet. Sie kommen gewiß nicht von irgendwo ›dort draußen‹. Sie gehören in die gleiche Kategorie wie Gespenster und Poltergeister, Engel, Dämonen und Feen. Zum Beispiel die Kreatur, die wir im Regen erweckt haben…« »Erweckt haben? Glaubst du ernsthaft, ihr beide hättet etwas anderes als einen völlig normalen Vogel gesehen?« Das Ei war ausgebrütet worden: ein Fabelmonster, ein Roch, ein Pterodaktylus… Tief im Innern hatte sie schon immer gewußt, daß John nur ein Tourist veränderter Bewußtseinsstadien, ein Reisender auf den Wendekreisen der Seele war und die vielfältigen Wunderwerke von Yoga, Tantra, Hypnose und ESP mit einer Kamera aufnahm. Er war der Bouvard und Pécuchet des geistigen Jenseits, und jetzt beging er Irrtümer, die so grotesk waren wie jene, die Flauberts kleinbürgerliches Angestelltenpaar begangen hatte, als sie
ohne Zügel gehen durften… Es war nicht einmal wahrscheinlich, daß er eine Pseudo-Wissenschaft für eine erbärmliche, peinliche Affäre mit diesem hübschen Jungen aufbaute. Aber er hatte eine kindische Beziehung zu diesem Jungen – nährte sich an dessen Unreife und führte dabei sie beide, sich und den Jungen, den seine Aufmerksamkeit natürlich begeisterte, auf die falsche Bahn. Das Schauspiel machte sie krank. »Könnten die MIS Tulpas sein, John?« (Der Junge nannte ihn John.) »Deshalb sehen ihre Kleider so neu aus, deshalb reden sie Unsinn, deshalb können sie eine Aktenmappe nicht richtig öffnen. Weil sie unvollkommen programmiert sind. Ihre Wirklichkeit hat Mottenlöcher…« »Was sind Tulpas?« Sie goß dem Mädchen noch einen Gin ein. Michael tat sein Bestes, die Frage zu beantworten. Sie hörte nur kurze Zeit zu und unterbrach dann. »Offenbar haben wir zwei Spaßvögel in der Stadt, die alles andere als witzig sind.« »Genau das ist es«, nickte Deacon – mehr in Michaels Richtung als in ihre. »Ökonomischer wäre die Annahme, daß MIS in Wirklichkeit Menschen sind, die benutzt werden, ohne daß sie es wissen. Menschen, die… infiltriert und vorprogrammiert sind. Menschen, die aktiviert werden können…« »Durch jemanden in einem UFO-Bewußtseinsstadium, meinen Sie? Haben wir das bei Suzie bewirkt?« »Die dazu gebracht werden können, Kostüme zu leihen, Wagen zu mieten, Aktenmappen zu kaufen, Telefonanrufe zu machen – ohne es überhaupt zu wissen! Ich frage mich, ob vielen Menschen solche Programme eingepflanzt sind – tief im Innern verborgen. Wie viele ›wahnsinnige‹ Attentäter – Sirhan Sirhans, Jack Rubys oder der Südamerikaner, der versucht hat, den Papst niederzustechen – behaupten, eine Stimme hätte
ihnen den Auftrag dazu gegeben? Sie konnten sich ihr nicht entziehen. Sie wußten nicht, was vor sich ging, und hatten hinterher keine Erinnerungen an den Vorfall. Sie waren in Trance, zu Robotern gemacht. Warum sollte man ihre Behauptungen von der Hand weisen? Was, wenn sie tatsächlich eine Art fortgeschrittener denkender Roboter sind, oder als solche benutzt werden? Die meiste Zeit scheinbar frei, nach eigenem Willen handelnd, können sie jederzeit für einen völlig anderen Zweck aktiviert werden. Was, wenn wir alle nur Zellen in etwas Größerem sind, in einem Kollektiv mit eigenem Willen und eigener Moral? Spüren wir Gewissensbisse, wenn wir unsere Fingernägel oder unser Haar schneiden?« Bestürzt hörte Mary zu. Suzie warf ihr einen kurzen Blick zornigen Mitgefühls zu. »Wir müssen tiefer graben«, sagte Deacon zu Michael. »Wir müssen herausfinden, ob Sie noch frühere ›Programme‹ haben – die Ihrem Flug mit sechzehn vorausgehen.« »Richtig!« »Vielleicht sollen wir darüber nicht nachdenken. Ich meine damit nicht, ›daß es Dinge gibt, die der Mensch nicht wissen sollte‹. Aber vielleicht ist dieses überlagernde Programm nicht so geschrieben, daß wir die Programmierung begreifen können. Eine Information höherer Ordnung. Aber wir haben flüchtige Einblicke – so wie wir UFOs sehen! Dann steuern der MIS-Aspekt und all die negativen Charaktere automatisch auf ein verwirrendes, beängstigendes, zerstörerisches und vernichtendes Verständnis zu. Die wahre Natur des ÜberProgramms bleibt dadurch entrückt. Also funktioniert es reibungslos – zu welchem Zweck?« »Das ist ganz schön beängstigend«, stimmte Michael zu, der – wie Mary sehr gut erkennen konnte – durch die Verrücktheit von Johns Improvisationsversuchen von dessen Erregung angesteckt war. »Hat Barry nicht gesagt, in einer der UFO-
Theorien koexistieren andere Dimensionen mit der unseren? Und wenn es nun das Denken ist, das koexistiert? Wenn es eine andere Verstandesart gibt, die mit unserem Verstand koexistiert: in ihm arbeitet, ihn bewohnt, ihn benutzt? Vielleicht liegt dort der Ursprung des ›Scherzes‹, den Sie in der Tiefhypnose gefunden haben – der verborgene Beobachter, abgetrennt von der bewußten Persönlichkeit!« Die Tür flog auf. Rob tauchte auf und rief: »Ich habe einen Schrei im Garten gehört!« Dann war er wieder fort. Als sie die Küchentür erreichten, hatte Rob draußen auf dem dunklen, feuchten Rasen die schluchzende, wimmernde Celia in den Arm genommen. Sie riß sich von ihm los und stolperte zum unteren Teil des Gartens. Sie bahnte sich ihren Weg durch verfaulende Chrysanthemen und sank im Lehm auf die Knie und gegen den Zaun. Das niedrige, lange nicht mehr reparierte Lattenwerk gab nach und kippte auf das verwahrloste Nachbargrundstück, wo zwischen Steinen Weidenröschen und junge Bäume wuchsen. »Nimm eine Taschenlampe!« rief Mary. Einen Augenblick später rannte Deacon, das schwankende Licht der Taschenlampe vor sich, über den Rasen. Michael folgte ihm. Schluchzend zerrte Celia an einer formlosen Masse, die eine Lücke im Zaun versperrte. Sie stieß ihren Bruder beiseite, als dieser sich bückte, um ihr zu helfen. »Es ist Shep, Dad«, erklärte der Junge starr. »Shep ist tot.« Deacon zog Celia fort und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Stelle. Er konnte nicht erkennen, wo Kopf und Schwanz des Hundes waren. Verblüfft starrte er hinab. »Siehst du es denn nicht – er hat keinen Kopf!« schrie Celia. »Wo ist der Kopf?« Ein Hund, zu einem Gegenstand herabgemindert, ohne Würde. Shep war ein ausgestopftes Riesenkissen mit vier geknickten Beinen, Vorder- und Hinterteil schienen identisch.
Deacon strich das lange Haar zur Seite und tastete ziellos, als könnte er den Kopf irgendwo dort noch finden – schildkrötengleich in den Körper des Tieres eingezogen. Alles, was er fand, war eine rosafarbene, kreisförmige Schnittfläche: Haut, Muskel, Knochen, Luftröhre. So sauber durchtrennt wie ein geköpftes Ei. »Da-ist-ja-gar-kein-Blut!« heulte Celia, jetzt wieder ein ganz kleines Mädchen. »Er-ist-leer!«
Michael schlüpfte davon und löschte das Küchenlicht wie ein Verschwörer, der einen Kunstgriff durchführt, während Suzie immer noch Celia an sich drückte und das Mädchen, das wie sie selbst ein Opfer geworden war, tröstete… »Seht!« schrie er. Über dem unteren Teil des Gartens hüpfte eine amorphe Kugel aus grünem Licht, tanzte langsam am Zaun entlang und wieder zurück. Ein Lichtzeichen auf einem Oszillographen, das etwas maß, vielleicht einen Herzschlag, und – ihre Reaktionen aufzeichnete. »Können Sie es beeinflussen?« flüsterte Deacon. »Versuchen Sie, es nach links wandern zu lassen. Bewegen Sie es mit Ihrer Willenskraft!« Als Deacon ein Junge war, hatte er sommers in den Feldern gelegen und in den blauen Himmel gestarrt, die Augen bis auf einen schmalen Schlitz geschlossen. Dann hatte er versucht, die in seinem Augapfel treibenden Pünktchen nach seinem Willen zu bewegen, hatte versucht, seine eigenen Körperzellen zu beeinflussen, die in jener Ausdehnung des Gehirns schwebten. Wenn an der Psychokinese etwas dran war… »Links«, zischte Michael. »Links. Links.« Mary Deacon starrte durch die dunkle Küche voller Haß auf ihren Mann und den Jungen. Die Lichtkugel tanzte nach rechts.
Im Zickzackkurs stieg sie zu den höchsten Ästen der Roßkastanie im Garten nebenan und erleuchtete schwach blattlose Zweige. Plötzlich entschwand sie ihren Blicken. »Wenn es niemand anders tut, werde ich die Polizei anrufen«, sagte Mary.
9
»Es könnte ein Schwert gewesen sein«, sagte der Wachtmeister. »Rasiermesserscharf. Ein sauberer Hieb.« Er machte eine guillotinierende Bewegung. »Womöglich einer von diesen japanischen Samurai-Schlägen. Es gibt hier ein paar. Es könnte so ein Kampfkunstnarr gewesen sein, einer, der geisteskrank ist.« Die beiden Polizisten hatten nach halbstündiger Suche keine Spur von dem Täter oder dem Kopf des Hundes gefunden. »Kendo«, schlug Deacon vor. »Japanisches Fechten. Es gibt doch Kendo-Clubs hier, oder? Vielleicht jemand, der in einem Kendo-Club ausgebildet worden ist?« »Wissen Sie über Kendo Bescheid, Mr. Deacon?« »Nicht richtig. Nur in Verbindung mit dem Zen-Buddhismus. Sehen Sie, japanische Kampfkunstarten werden als ZenDisziplinen verwendet – ich interessiere mich für Zen.« »Verstehe, Sir.« Deacon entspannte sich. Keine seiner Handlungen hätte die Wirkung eines Schwertstreichs haben können. Nachdem er Shep im Garten freigelassen hatte, war er einige Schritte über den Rasen gegangen. Der Himmel klärte sich auf. Er hatte einfach in den Himmel gestarrt. Geschaut, ob dort oben etwas war. Er hatte sich die Hände beschmutzt, als er einen im Regen liegenden Spaten ins Trockene brachte. Sie waren mit Lehm bespritzt. Könnte es das Blatt des Spatens gewesen sein? Eigentlich unmöglich. Die Greueltat, die Shep getötet hatte, wurde von außen verübt… Oder – jäh fiel ihm dieser Gedanke ein – war es das, was er glauben sollte? Daß das Phänomen
ausschließlich von außen kam? Während er doch tatsächlich gerade das Gegenteil in Erwägung gezogen hatte! Er hatte mit dem Tod nicht direkt zu tun… Außer, daß er intensiv über das Phänomen gegrübelt hatte. Außer, daß Michael, der offensichtlich wie ein Magnet wirkte, zu diesem Zeitpunkt dem Haus recht nahe gewesen war. Außer den Ereignissen an diesem Nachmittag! Konnte ein Mensch zu ein und derselben Zeit verantwortlich und nicht verantwortlich sein? Deacon fühlte, daß er in einen tiefen Schacht in seinem Innern starrte. Am Grund lauerte ein grinsendes – oder höhnisches – Gesicht, das nicht sein eigenes war und es nie gewesen war. Ein nichtmenschliches Gesicht. Einfach die Empfindung eines Gesichts. Beobachtend. Bewußt. Daß es sogar menschliche Züge trug, schien Zufall – eine reine Metapher der Wahrnehmungsfilter. Wenn er es fürchtete, blickte es finster drein. Wenn er fühlte, daß es Erlösung bedeutete, dann lächelte es. Angenommen, tief in Michaels Geist – und in dem jedes anderen Menschen – lauerte die gleiche wandelbare Kreatur, existierte nach eigenen Gesetzen, unabhängig von seinem Gastkörper? Angenommen, die Geistkreatur war gleichermaßen Teil aller menschlichen Hirne? Er merkte, daß er tatsächlich sehr müde und bereits in einem hypnagogischen Stadium war. Am Rand der Erschöpfung schlief er fast im Stehen ein, und Traumbilder tauchten auf, obwohl er noch wach war und sich zugleich halb träumend daran erinnerte, was Michael vor einer Stunde im Salon gesagt hatte. »Fühlen Sie sich wohl, Sir?« »Es ist ein schrecklicher Schock.« Deacon saß an dem Kieferntisch. Er schüttelte den Kopf. »Eine schmutzige Sache!« »Aber merkwürdig sauber, Sir. Das Fehlen von Blut ist aber doch sehr seltsam.«
Vampire…? In einem anderen Zeitalter gab es einen anderen Bezugsrahmen… Hunde und Vieh verschwanden mit Gewißheit bei UFO-Besuchen. Darüber gab es ausreichend Berichte. Aber der heutige Bezugsrahmen umfaßte fremde Raumschiffe, also gab es keine Vampire mehr. Die Besucher waren wohl dabei, die Biologie der Erde zu analysieren… Anscheinend mußten sie lebendige Materie stehlen. Warum? Um neue Tulpas zu machen? »Können wir das aus den Zeitungen raushalten?« fragt Mary den Wachtmeister. »Ich habe in meinem Leben schon genug wirres Zeug gehört.« »Wie bitte, Madam?« Widerstrebend erklärte sie, warum die beiden Studenten an diesem Abend da waren. Der Wachtmeister wirkte zunehmend perplex. »Die beiden Fremden gaben sich als Beauftragte des Luftfahrtministeriums aus und versuchten gewaltsam bei Ihnen einzudringen, weil Sie eine Fliegende Untertasse gesehen haben?« fragte er Suzie. »Sie haben eigentlich keine Gewalt angewendet, sie haben mir nur Angst eingejagt.« Er stellte Suzie weitere Fragen. Plötzlich wandte er sich an Deacon. »Sie glauben also wirklich, das grüne Licht, das Sie gesehen haben, sei eins dieser Dinger? Und es hat Ihren Hund geköpft?« Deacon spreizte seine Hände auf dem Tisch. Zehn Finger, zehn Erklärungen. »Nichts schneidet einem Schoßhund den Kopf ab und stiehlt ihn, höchstens ein wahnsinniger ekelhafter Mensch!« sagte Mary. »Für Besucher aus dem Weltraum ist das jedenfalls ein sehr merkwürdiges Benehmen. Wenn Sie das vermuten, Sir, warum haben Sie dann Kendo angesprochen?« »Nein, Sie haben zuerst von Schwertern gesprochen.« Der wahnsinnige Schwertkämpfer war als Erklärung vorzuziehen, wenn auch auf den ersten Blick erschreckender.
»Ach ja, richtig. Und was war das grüne Licht Ihrer Meinung nach wirklich?« Mary blickte ihren Mann grimmig an. »Ein Ballon«, schaltete sie sich ein. »Ein Leuchtballon. Der Täter hat ihn mitgebracht.« »Warum sollte jemand das tun?« »Warum zerstören die Leute Wartehäuschen?« fragte Mary zurück. Der Wachtmeister nickte. »Manchmal frage ich, warum die Leute das tun.«
10
»Wir werden versuchen, jeden früheren Kontakt festzustellen – nicht unbedingt mit den Leuten von Ulro, sondern jedes anormale Ereignis, das ein Vorläufer dieser Begegnung sein könnte.« Deacon injizierte Michael Natrium-Amytal und sagte das Schlüsselwort. »Ich möchte, daß Sie sich auf jeden Vorfall in Ihrem Leben konzentrieren, der Ihnen außergewöhnlich erscheint und der vor dem UFO-Kontakt mit sechzehn Jahren geschehen ist…« Der Tag war kühl und frisch. Krähen, groß wie Terrier, stapften hungrig über die leeren Felder, kreisten in die Luft hoch und landeten hüpfend wieder, auf dem Boden. Nach einer dreiwöchigen taktvollen Pause waren es nur noch acht Tage bis zu den Weihnachtsferien; also saß Michael wieder in dem grünen Sessel. Celia hatte Sheps kopflosen Körper im Garten begraben. Offiziell war der Vorfall abgeschlossen oder ruhte zumindest. Schließlich handelte es sich nur um einen toten Hund… In Trance zählte Michael eine Reihe von Zufallsereignissen auf, die eben nur so zu erklären waren: Zufälle, lokale Akausalitäten… Doch was hatte Scheich Ali Ibrahim Muradi in seinem Beitrag über Sufismus, den er zur Anthologie ›Bewußtsein: früher und heute‹ beigesteuert hatte, über solche Zufälle gesagt? Er hatte gesagt, es gäbe unsichtbare Verbindungen zwischen Ereignissen. Die Dinge geschähen in einer bestimmten Aufeinanderfolge, aber manchmal sei diese Aufeinanderfolge von anderer Art, als es den Vorstellungen der meisten Menschen entspräche. Manchmal griffe eine andere Dimension in die Ereignisse ein,
und dort läge ihre wirkliche Ursache. Wunder, so sagte der Ägypter (der auf der Fahrt nach Amerika Zwischenstation in London machte), sind in Wirklichkeit mit Problemen der Kausalität verknüpft. Wegen der inneren Zusammenhänge der Dinge können Ursache und Wirkung in einem anderen Verhältnis stehen, als generell angenommen. Wenn gelegentlich ein echter intellektueller Durchbruch stattfindet und die inneren Ursachen und Verknüpfungen aufdeckt, dann können sogenannte ›okkulte‹ Phänomene auftreten… ›Okkult‹ jedenfalls in den Augen des Alltagsbewußtseins. Aber der Geist kann sich nicht allein aus eigener Willenskraft selbst erkunden. Statt dessen muß man die Wurzeln der Wesenhaftigkeit anzapfen. Man muß verborgene Hilfe suchen. Die Hilfe würde schon kommen, und sei sie noch so unerwartet, wenn man in das rechte Bewußtseinsstadium eintrat… Plötzlich schien Scheich Muradi in Deacons Erinnerung äußerst lebendig. Er schien sogar die Stimme des Scheichs – beherrscht, gelassen und doch durchdringend – in diesem Zimmer zu hören, obwohl es in Wirklichkeit Michaels TranceStimme war, die ein weiteres triviales Zufallsereignis aufzählte. Muradis Stimme sprach über Wunder. Über Hilfe außerhalb jedes Begreifens. Über Hilfe, die quasi aus einer anderen Welt kam. Karama war das arabische Wort dafür. »Michael«, unterbrach Deacon, »ist Ihnen jemals ein Wunder widerfahren? Sind Sie jemals auf quasi wunderbare Weise gerettet worden? Wenn man Sie angewiesen hat, es zu vergessen, dann können Sie diese Anweisung jetzt ignorieren. Ich befehle es Ihnen.« »Ja! Natürlich! Der Tankwagen – er hat mich beinahe gerammt!« »Wie alt sind Sie?«
»Ich bin zwölf. Und etwas über fünf Monate… Ich radele von der Schule nach Hause. Da ist eine lange Hügelabfahrt mit einer Kurve am Ende. Ich fahre dort immer sehr schnell im Freilauf hinunter. Heute ist auf halber Strecke ein großes schwarzes Auto geparkt, ein Mann steht daneben. Er trägt eine Sonnenbrille, obwohl keine Sonne scheint. Der Himmel ist bedeckt.« »Wie sieht der Mann aus?« »Er ist klein. Seine Haut ist blaßgelb. Er hat schwarzes Haar, glaube ich – aber er trägt eine Mütze. Er ist wie ein Chauffeur gekleidet. Er winkt mir zu, anzuhalten… würde mich nicht wundern, wenn etwas mit dem Wagen ist. Er ist ziemlich alt – ein Vorkriegs-Bentley, der allerdings sehr sauber ist und glänzt. Auf dem Fahrersitz ist noch ein Mann. Er trägt die gleiche Uniform, auch eine Sonnenbrille. Seltsam – zwei Chauffeure. Ein Stückchen weiter, und sie hätten mich nicht mehr anhalten können. Dann wäre ich zu schnell gewesen. Ich steige vom Rad, und der Chauffeur packt mich beim Ellbogen. Ich nehme an, weil ein anderes Fahrzeug kommt, aber ich sehe keines. Ich kriege Angst und versuche mich loszureißen, aber er schleppt mich um den Wagen herum. ›Wenn du wegläufst, wirst du einen schrecklichen Unfall haben‹, sagt er zu mir. ›Steig ein.‹ Es klingt wie eine Drohung. Als wollten sie mir etwas antun, wenn ich weglaufe. Der Mann drinnen stößt die Tür auf, und ich werde zu ihm hineingestoßen. Das Auto ist unglaublich sauber. Es wirkt brandneu, obwohl es so ein altes Modell ist. Das Armaturenbrett ist merkwürdig- voller winziger Blinklichter in verschiedenen Farben. Sie faszinieren mich. Auch wenn ich Angst habe, ich will sie nur noch anschauen… Der Mann auf dem Fahrersitz zeigt den Hügel hinab. ›Schau‹, sagt er, ›jetzt bist du unten. Du fährst schnell, sehr schnell…‹ Plötzlich kommt ein Tankwagen um die Kurve. Er fährt mit hohem Tempo und befindet sich auf der falschen
Straßenseite, am Rand der Straße. Erde spritzt unter den. Reifen hoch. ›Genau dort bist du jetzt‹, sagt der Mann. ›Du wirst gegen den Tanker geschleudert. Du bist tot. Er gerät außer Kontrolle. Er überschlägt sich. Bumm, er explodiert. Überall Benzin.‹ Der Akzent des Mannes klingt südafrikanisch, nasal und mit verschluckten Lauten. ›Flammen!‹ Als würde er das alles tatsächlich sehen! Und ich kann ihm glauben. Genau dort wäre ich gewesen. Ich hätte dem Tankwagen nicht ausweichen können. Aber jetzt kommt er aus der Kurve und fährt den Hügel hinauf auf uns zu. Mit dröhnendem Motor fährt er an uns vorbei. Der Fahrer sieht aus, als habe er ein Gespenst gesehen… Die bunten Lichter auf dem Armaturenbrett fangen wie verrückt zu flackern an. Sie schienen in einem Morsekode aufzublitzen. Alle möglichen Botschaften. Bei den Pfadfindern habe ich morsen gelernt, aber ich war nur einige Monate dabei… Zu schnell, zu viele Botschaften gleichzeitig… Sie sind… sehr hübsch. Hübsche Lichtmuster… Der Chauffeur öffnet die Tür, um mich hinauszuziehen. Er starrt mich durch die dunklen Gläser an. Die Brille verzerrt seine Augen und vergrößert sie! Ich frage ihn: ›Haben Sie mir grade das Leben gerettet?‹ Er sagt: ›Vergiß es!‹ Und das tue ich. Das ist das Seltsame. Ich kann mich nicht an sie erinnern – hinterher. Aber ich radle diesen Hügel immer viel langsamer hinab. Auch wenn ich die Steigung dahinter die ganze Zeit schieben muß.«
Karama… Hilfe, die sich dem Begreifen entzieht. Michael hatte sie von zwei Männern in Schwarz erhalten, die in einem antiquierten, aber brandneuen Wagen gesessen hatten. (Als müßten sie aufgrund eines Kompensationsprinzips bei einer Sache völlig danebenhauen, wenn sie bei einer anderen – nämlich der auf die Sekunde genauen Vorhersage des
Zusammenpralls zwischen Tankwagen und Fahrrad – richtig liegen wollten.) In der sufistischen Lehre, sagte Scheich Muradi, brachte ein mysteriöser Heiliger namens Khidr häufig Hilfe, die sich jedem Begreifen entzog: ein verborgener Schutzengel, der den Spitznamen ›Der Grüne‹ trug. Gekleidet in schimmerndes Grün – als trüge er grünes Feuer –, erschien er in Augenblicken der Einsicht und bahnbrechenden Erkenntnis. Nachdem er seine Botschaft übermittelt hatte, löste er sich in Luft auf, verschwand aus dem normalen Wahrnehmungsbereich. War er auch eine der UFO-Gestalten – der ältere Bruder der kleinen grünen Männchen, der UFO-Kobolde? Muradis Vorlesung! Sie befand sich sogar in dem Buch Bewußtsein: früher und heute! Warum hatte er die Verbindung nicht schon früher hergestellt? Die beiden Bereiche hatten scheinbar zu weit auseinandergelegen – während sie in Wirklichkeit nebeneinanderlagen, einander so nahe wie die Innen- und Außenseite derselben Flasche. Hatten Sufi-Adepten womöglich einen Bewußtseinszustand erreicht, der dieses Phänomen, das er UFO-Bewußtsein getauft hatte, bändigte und kontrollierte? Wenn Muradi sich doch nur im Land befände! Die Wellen seiner zurückhaltenden Vorlesung – die Deacon damals für eine der unbedeutendsten gehalten hatte – breiteten sich in der Tat immer noch weiter aus. Deacon wünschte sich sehnlich, bei ihm zu sein und ihn um einen Hinweis bezüglich weiteren Vorgehens zu bitten… Er weckte Michael auf. Als er das tat, tauchte plötzlich das Wort ›Ego‹ vor seinem geistigen Auge auf. Michael erinnerte sich an das ›Wunder‹. Er spürte nach der Trance keine Kopfschmerzen – das ganze Gewicht war von ihm genommen. Deacon jedoch spürte aus einem anderen
Grund eine gewisse Erregung. »Ich habe eine Idee, Michael. Eine großartige Idee. Wenn Sie in der Trance auf eine bestimmte Ebene hinabgehen, haben Sie dann nicht das Gefühl, Ihr Alltags-Ego sei nicht mehr zugegen? Das Bewußtsein des eigenen Ich verschwindet. Sie fühlen sich, als könnten sie jeder oder alles sein. Und noch tiefer, wenn Sie in die Leere der Mystiker eintreten, dann gibt es dort sogar nichts und niemanden mehr.« »Ich… so weit haben wir es wirklich noch nicht erkundet.« »Das werden wir. Ich habe erkannt, wie. Ihr Ego ist in diesen tiefen Stadien tatsächlich abwesend – weil Ego in Wirklichkeit nur ein Etikett oder Hauch ist, der zu einigen geistigen Strukturen gehört, aber zu anderen nicht. Dieses ›Ego-Etikett‹ ist einfach kein Bestandteil der tiefen Ebenen, also haben Sie keinerlei Gefühl von Willenskraft oder Kontrollfähigkeit. Ich nehme an, das ist beim UFO-Bewußtsein der Fall. Sie fühlen sich von anderen Kräften manipuliert, nicht wahr?« Michael schauderte. »Wollen Sie damit sagen, das Ich sei nur eine Illusion? Daß es in Wirklichkeit gar kein Ich gibt?« »Oh, es ist schon real. Offenbar ist die Vorstellung vom Ich ein mächtiger Überlebensmechanismus. Es ist absolut notwendig. Und es erhält den Charakter unseres Seins aufrecht – es sorgt dafür, daß unser Wachbewußtsein abgestimmt bleibt. Aber es findet nur bei bestimmten geistigen Strukturen Anwendung – auf der alltäglichen Ebene und um sie herum –, während unser gesamter Geist in Wirklichkeit ein Bündel unterschiedlicher, koexistierender Strukturen ist. Diese Koexistenz löst sich in Tiefhypnose auf, nehme ich an. Das Ego wird zurückgelassen. Verschiedene geistige Subprogramme werden unabhängige, selbständige Geisteszustände. Könnten wir das ›Ego-Etikett‹ – diesen Hauch des individuellen Ich – einigen dieser tiefliegenden
›nicht-Ego‹-Strukturen aufpfropfen, wären wir in der Lage, sie bewußt zu kontrollieren.« »Aber ist das denn möglich? Ich meine, das ›Ego-Etikett‹ aufzupfropfen?« »Ich denke doch – indem man hypnotische Befehle verwendet. Es besteht eine Analogie zu unserem Zeitgefühl. Unsere ganzen Erinnerungen sind in unserem Denken mit dem Aufkleber ›frühere Ereignisse‹ etikettiert – sonst wären wir nicht fähig, Erinnerungen von gegenwärtigen Erlebnissen zu unterscheiden. Aber wir wissen, das dieses Zeit-Etikett verschoben werden kann. Von daher kommt es zum Gefühl des déjà vu – zu der Meinung, daß man etwas schon erlebt hat, das in Wirklichkeit gerade zum ersten Mal geschieht. Wenn das Zeit-Etikett an andere Stelle rücken kann, warum nicht auch das Ego-Etikett? Das Problem ist nur, den Nervenreiz des EgoEtiketts durch einen Entziehungsprozeß zu isolieren, wenn man tiefer in die Trance geht – man muß sie praktisch ausklammern und sie dann wieder mit einbeziehen. Wenn wir dieses ›Etikett‹ dem UFO-Bewußtsein aufstülpen können, dann werden wir in der Lage sein, diesen Bereich direkt anzuzapfen. Genau das hat letztes Mal, bei dem Pterodaktylus, gefehlt: Bewußtseinskontrolle.« Und Zuverlässigkeit. Die Sufis schienen zu wissen, wie man diesen Bereich anzapft, ohne von seinen Teufeleien, von dem Dschin, der in der »Flasche«, der Seele, eingeschlossen ist, beherrscht zu werden. »Wollen Sie diesen… Vorgang des Überstülpens mit mir versuchen?« »Ich weiß nicht genau, wie das zu machen ist – noch nicht. Es könnte immer noch das falsche Modell sein, verstehen Sie?« »Aber Sie fühlen, daß es richtig ist?« »Es weist in die richtige Richtung, jawohl.« Das Telefon klingelte.
»Ich dachte, keiner könnte uns unterbrechen, während wir…?« »Es geht auch nicht«, meinte Deacon stirnrunzelnd. »Ich habe es abgeschaltet. Ich bin ganz sicher.« »Jetzt ist es nicht abgeschaltet.« »Nein.« Er nahm den Hörer hoch und lauschte. »Kosmos und Menschengeschlecht sind eins«, sagte eine Stimme. Die Stimme erinnerte ihn an die Suzie Meades, aber was sie sagte, würde Suzie kaum so formulieren. »Jedweder Geist und jedwede Materie bilden eine Einheit…« »Wer ist das? Sind Sie es, Suzie?« (»Was?« fragte Michael. »Psst!«) »Geist erblüht, wenn der Mond am stärksten anzieht. Warum sonst sollte eine Frau ihren Leib alle dreißig Tage, im Rhythmus des Monds, leeren? Alles ist synchron: Geist und Materie! Menschen können die Schöpfung durch ihre Handlungen nicht in Mißklang bringen…« Falls es ihre Stimme war – und er begann daran zu zweifeln –, dann klang sie wie unter Drogen. Oder wie hypnotisiert. Während er zuhörte, fragte er sich, ob diese seltsame, archaisch formulierte Mischung aus Tharmons Warnungen und den intimen Fragen der MIS von grundlegender Bedeutung war? Hatte jemand – oder etwas – vor drei Wochen versucht, Suzie eine ernsthafte Botschaft zu übermitteln, wenn auch auf völlig ungeeignete Weise? Mit soviel Aufdringlichkeit, daß der Hinweis zu einer obszönen, beleidigenden Bedrohung wurde? »Wissen Sie, wer Sie sind?« unterbrach er. »Haben Sie eine reale Identität?« Michael rückte näher heran und versuchte mitzuhören. Er schüttelte den Kopf. Für ihn war das nicht Suzie. »Eine grauenhafte Zeit steht uns bevor. Die Welt wird den Embryo womöglich fehlgebären, Mensch. Denn ihr vergiftet den Leib. Dann werden andere an eure Stelle treten. Aber noch
ist Zeit. Ihr könnt geleitet werden. Nur müßt ihr genau tun, was man euch sagt. Ihr dürft nicht fragen. Dürft nicht…« »Welche grauenhafte Zeit? Welche andere?« »… dürft-keine-Fragen-stellen-über-Wesen-aus-FliegendenUntertassen. Müßt-hinnehmen…« Weit weg wurden die Worte immer zusammenhängender; als lese jemand laut in einer fremden Sprache vor, deren Aussprache er kannte, ohne den Text zu verstehen. Deacon schüttelte den Kopf wie ein Schwimmer, der aus dem Wasser steigt und die Ohren freimachen will, und legte den Hörer auf die Gabel. »Sie können also Telefonleitungen anzapfen«, murmelte er erschüttert. »Sie können Plasmawolken am Himmel materialisieren und schlecht programmierte Tulpas erschaffen – genau wie perfekte Kopien von Autos. Sie können das menschliche Hirn anzapfen. Oder sind sie schon da – ist es schon da? Und ich soll aufhören und keine Fragen stellen!« Sie hatten seinen Hund getötet, eine Art Anschauungsunterricht: ein Akt brutaler, gemeiner Einschüchterung. Wie paßte das mit der Reinheit, der Transzendenz und den weisen Eingriffen der Grünen Männer der Sufis zusammen? Überhaupt nicht. Aber es mußte zusammenpassen. Irgendwie. Aber wie? »Wir werden es nach Neujahr versuchen«, versprach er Michael. »Passen Sie bis dahin auf sich auf!«
Zweiter Teil
11
An diesem Abend stritt sich Naguib Fouad wieder einmal mit seinem Sohn über den Scheich und seinen Kreis. Im Alter von fünfzig war Naguib in der Hierarchie des Finanzministeriums im Rahmen des Erwarteten aufgestiegen; immerhin ziemlich hoch. Die Wohnung der Familie auf der Ostseite der Insel Roda – der weniger vornehmen Seite – war für jemanden, dessen Vater sein ganzes Leben lang Rinderherden in Oberägypten gehütet hatte, eine stolze Errungenschaft. Imitierte Louis-Quinze-Fauteuils mit geschwungenen Beinen, von einem ägyptischen Schreiner gefertigt, standen um den Eßtisch herum. Ein blasses Ölgemälde, auf dem Badekabinen an irgendeinem französischen Strand zu sehen waren, hing über dem wuchtigen Sofa, auf dem Frau Fouad saß und mit ihrer Schwester flüsternd ein endloses Telefongespräch über ihre derzeitige Magenverstimmung führte. Naguib, im Pyjama, entspannte sich in seinem Lieblingssessel und betrachtete stirnrunzelnd die Karikaturen in der Rosa al-Youssef. Lachhaft magere Männer in Galabiya-Gewändern sprangen auf und nieder, drehten sich umeinander und stürzten übereinander, wobei ihnen der Schweiß übers Gesicht rann und ihre Nackenmuskeln hervortraten. Als Salim von der Universität zurückkam, schob Naguib seinen Sohn die Rosa hinüber. »Gehst du heute abend wieder aus? Dorthin?« »Es ist wirklich ganz anders, Vater.« Naguib sprang auf, stelzte auf und ab und schlug die Hände immer schneller zusammen. »Hawie! Hawie! Hawie!« sang er
dazu. Dann ließ er sich verzweifelt in den weichen Lehnsessel zurückfallen. »Religion ist eine großartige Sache«, dozierte er sarkastisch. »Unser Land ist ein religiöses Land, Gott sei gepriesen. Selbstverständlich bin ich religiös. Kein Kommunist wie einige von euch Studenten, obwohl ich mir manchmal wirklich wünsche, du wärst ein Kommunist. Vielleicht braucht unser Land Wunder – aber keine von dieser Art! Ich nehme an, deins besteht in einem Anfall jugendlicher Frömmigkeit; aber es bereitet mir Sorgen. Spott und Hohn sind alles, was es bringt. Kannst du dich statt dessen nicht verlieben?« Sein Sohn trat von einem Fuß auf den anderen: ein einigermaßen ansehnlicher, ziemlich magerer Junge mit leicht abstehenden Ohren. Er trug ein frisch gebügeltes, weißes Hemd (das er auf dem Heimweg für heute abend in der Reinigung abgeholt haben mußte), und eine Lederjacke. Der Junge lächelte entschuldigend. »Ich soll mich verlieben? In wen? Ibn el-Arabi hat einmal gesagt, der Verliebte liebt ein triviales Phänomen – ›ich dagegen liebe das Wirkliche, das Wesentliche.‹ Genauso ist es mit Wundern, Vater. Auch sie sind nur ein triviales Phänomen. Wenn ein Mensch nur den Wundern nachjagt, wird er niemals das Wirkliche finden, das ihnen zugrunde liegt. Sie werden stets nur wie Wunder erscheinen.« »Wie du Vorlesungen über das Ingenieurwesen besuchen und mir gleichzeitig einen so mythischen Unsinn erzählen kannst, ist mir unbegreiflich!« »Die Antwort ist sehr einfach. Anders als der Yogi auf seinem Nagelbett arbeiten wir in der Welt. Wir erfüllen unsere Aufgabe so gut wie möglich in der Gesellschaft. Zugleich sind wir Teil einer anderen Strömung, welche die Welt leitet.« »Du bist ein Schlitzohr, mein Junge.« Salim wies auf die aufgeschlagene Zeitungsseite. »Diese Art der Selbstvergiftung ist genauso schlimm wie Trinken. Ich
weiß, daß einige Orden ihr frönen. Aber wir dürfen nicht versuchen, uns aus der Welt zu stehlen. Wir müssen uns so verhalten, als sei diese Welt real, auch wenn es eine tiefere Realität gibt. Gott will, daß wir hier sind. Aber dies erzeugt natürlich eine gewisse Achtlosigkeit Gott gegenüber…« »Ich bin nicht achtlos, mein Junge! Bringen sie dir nicht bei, deinem Vater Respekt zu erweisen?« (Konnte dieser Sohn, fragte Naguib sich, heilig sein? Er wies diese Vorstellung zurück.) »Achtlosigkeit, meine ich, weil die Welt sicherlich verschwinden würde, wenn es das nicht gäbe und es jedermann erkennen würde.« »Oh, sie würde also verschwinden? Bete zu Gott, daß solche Narretei nicht in deinem Kopf steckt, wenn du eine Brücke entwirfst, falls Gott mich diesen Tag noch erleben läßt!« »Ich verspreche, es wird die beste Brücke sein, die ich machen kann.« »Gott, nein«, murmelte Frau Fouad ins Telefon. Jetzt war sie an der Reihe, sich die Gebrechen ihrer Schwester anzuhören. Nieren, Leber, Verdauungstrakt, alles mögliche. Krankheit zog durch den Körper wie eine Nomadenschar, schlug ihr Zelt da und dort auf und hielt große Produktionsstätten für Abführmittel, Pillen und Säfte am Leben. Die Hand über die Sprechmuschel legend, bat sie Salim: »Holst du mir ein Glas Wasser?« Dann sank sie mitleidheischend tiefer in das Sofa. In der Küche war der nubische Hausjunge gerade damit beschäftigt, einen Haufen Gänseklein auf der Eisenplatte eines Tisches auszusortieren. Salim fand eine Flasche Mineralwasser, kehrte zurück und goß ein kleines Glas ein. Frau Fouad hielt inzwischen eine kleine gelbe Pille zwischen ihren Fingern. »Stimmt es, daß du nach dem Umhangzipfel deines Scheichs greifst, um das Magische zu erfassen? Reibt ihr nicht eure
Hände und euer Gesicht am Teppich, um Baraka zu erlangen?« Naguib bewegte die Hände parodistisch. »Der Segnung wegen? Unsere Vettern vom Land tun es manchmal. Es wird nicht gern gesehen. Normalerweise gibt es nur den Handkuß. Komm mit und sieh es dir an, Vater.« »Dorthin gehen? Bei Gott, nein! Ich habe eine Position im öffentlichen Leben.« »Scheich Murabi hat in Übersee unterrichtet. Er ist sehr geachtet. Er ist in Europa und Amerika gewesen.« »Pah! Amerika kann sich den Mystizismus leisten, es hat genug Geld. Worüber hat er Vorlesungen gehalten?« »Die verborgenen Strömungen…« »Tatsächlich? Nun, du kannst nicht leugnen, daß eure Leute über sein Karamat, seine kleinen Wunder prahlen. In diesem Zimmer habe ich euch über den Burschen prahlen hören, der von der Tahrir-Brücke in den Nil gestürzt ist – wie kann jemand nur so dumm sein? Und ist das eine verborgene Strömung, der Nil? Er machte sich Sorgen um das Geld für seine Miete, nicht wahr? Und als er im Wasser mit den Armen herumfuchtelte, packt seine Hand plötzlich eine durchnäßte Banknote, die weiter stromaufwärts jemandem aus der Hand gefallen sein muß. Er kommt an die Oberfläche, mit der Banknote in der Hand, und hört eures Scheichs Stimme, die ihn mahnt, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein. Nachdem er so durchgeweicht war, überrascht es mich nicht, daß er Stimmen im Ohr hört.« »Die Leute übertreiben in ihrer Begeisterung. Ich habe den gleichen Fehler gemacht, Vater. In diesem Zimmer, wie du sagst. Die Menschen lassen sich hinreißen.« »Von Brücken hinab, ha! Du glaubst doch nicht wirklich an diese verborgenen Strömungen, oder? Eine Art unsichtbarer Gemeinschaft, die das Universum beherrscht – und an ihrer Spitze eine mysteriöse Achse der Zeit, so ist es doch?«
»Vielleicht gibt es Geschehnisse, die vernunftmäßig nicht zu begreifen sind – fug al’aql, über der Intelligenz. Wenn es sie gibt, dann können wir nicht über sie reden, ohne Unsinn hervorzubringen. Aber dennoch können sie erlebt werden.« »Mir kommt es ausgesprochen blasphemisch vor, daß Gott sich mit einer Banknote befassen sollte.« »Das ist die ganze Pointe der Geschichte, Vater. Wir verstehen die Verbindungen, die solch ein Geschehen hervorrufen, nicht richtig. Aber Ereignisse greifen von anderen Ebenen auf unser Leben über. Dessen bin ich sicher. Die Wahrheit versucht ständig, sich den Menschen zu zeigen. In Gestalt einer Banknote, die im Nil treibt – ebenso wie in einem brennenden Busch. Oder sie nimmt menschliche Gestalt an. Denk an den Führer Moses, der sich so absurd zu verhalten schien. Alles, was er tat, hatte seinen Grund, aber selbst Moses wurde ungeduldig…« »Vielen Dank für den Vergleich, aber ich bin nicht Moses!« »›Wie kannst du das ertragen, was jenseits deines Wissens liegt?‹ fragte der Führer ihn. Eines Tages, wenn wir die Verbindungen erkennen…« »… fällt die Welt auseinander!« Der Geruch von gebratenem Herzen und Leber zog aus der Küche herein. Frau Fouad legte den Hörer endlich auf die Gabel. »Der Junge sagt, er mußte zweieinhalb Stunden beim Co-op anstehen, um diese… Innereien zu bekommen. Sollen wir ihm glauben? Glaubst du nicht auch, er ist in Wirklichkeit im Kino gewesen?« Naguib zuckte die Achseln. »Nehmen wir ruhig an, er habe Schlange gestanden. Wir wollen ihn doch nicht loswerden, oder?« Er blickte seinen Sohn an. »Genausogut könntest du zu einer Zaf in ein Bordell gehen – oder wie ein Küchenmädchen zu einer Seance!« »Streitet ihr beiden schon wieder?« fragte Frau Fouad. »Gott bewahre, mich macht es krank!«
Der nubische Boy brachte eine Schüssel mit gekochten Kartoffeln und Tomaten, dazu eine kleine Menge Fleischsalat als Beilage für das Gänseklein. Er lächelte schief zu dem Fernsehgerät hinüber – er hoffte, später zusammen mit den Fouads das Programm verfolgen zu können. Denn ein neues Lied war angekündigt: von Wafaa »Klangtreu« Wahbi, dem vielversprechenden Nachfolger der gewaltigen Stimme Um Kalthums.
Nachdem Abendessen nahm Salim einen Bus der Linie 8, der ihn aus der Nähe der Universitätsklinik über die Kasr-al-AiniStraße zum Befreiungsplatz brachte. Dort stieg er in einen zweiten Bus um, der die al-Bu-stan-Straße entlang nach alAzhar fuhr. Gamaliya, das alte, geschäftige Stadtviertel des GalabiyaGewands, wurde immer intensiver Salims persönliches Kairo, sein Kairo des Geistes. Jeder Besuch im Hauptquartier des Ordens war eine Reise auf zwei Ebenen: natürlich der geistigen, aber auf dem Weg entdeckte er auch verborgene soziale Quellen, die sein Vater anscheinend lieber vergaß – dörfliches Ägypten inmitten der Großstadt. Enge Straßen durchschnitten das Viertel wie tiefe Risse im ausgetrockneten Schlamm. Sie wurden von Ketten aus nackten Glühbirnen beleuchtet, die von Ladenfront zu Ladenfront hingen, von blassen Neonschriften, unter die sich gelegentlich Straßenlaternen mischten, die wie riesige Streichhölzer mit Glaskugelköpfen wirkten. Zwischen allem befanden sich ausgedehnte Zonen zischender Wachslichter. Straßen und Gassen waren flackernde unterirdische Kanäle. Töpfe, Pfannen, gebrauchte Kugellager, alte Kleider, Perlenschnüre, Weihrauch, Amulette, Gummistöpsel, aus abgefahrenen Reifen geschnitten, wurden von den Händlern angeboten. Männliche
Concierges hockten auf den Treppen balkonverzierter Mietshäuser. In den Cafés spielten die Männer Backgammon und plapperten wild gestikulierend. Irgendwo darüber erstreckten sich die Blechhütten einer zweiten, noch ärmeren Welt, die den Himmel kolonisiert hatte – Wirtschaftshöfe über der Stadt, wo Lämmer klagend in der Dunkelheit blökten. Er überquerte einen kleinen Platz vor einem Badehaus im türkischen Stil: in komplizierten Mustern verflochtene Eisengitter. Eine Menschenmenge starrte auf das dort aufgestellte große öffentliche Fernsehgerät. Auf dem Bildschirm spielte sich eine Liebesgeschichte am AssuanStaudamm ab. Ein Limonadenverkäufer zog seine Kreise und schlug seine Metalluntertassen klappernd aneinander. Ein Prediger zog ein ebenso großes Publikum an. Er geißelte den Aberglauben und prangerte die nebenan verkauften Zauberamulette an. Salim fing im Vorbeigehen einiges von den Schmähungen auf. »Habt ihr schon eine blaue Perle für eure Tochter gekauft, um sie vor dem bösen Blick zu schützen? Habt ihr schon einmal den Dschin um Erlaubnis gebeten, ehe ihr die Toilette benutzt habt? Sagt der Prophet – Gottes Segen auf ihn und seine Familie! – nicht in der Sure al-Jinn: ›Einige Menschen suchten die Hilfe der Dschins, aber diese verwirrten sie nur noch mehr.‹? Die Bedeutung dieser Worte ist eindeutig! Selbst wenn die Mehrheit der Dschins bekehrt wäre…« Die Worte erstarben, als Salim weiterging. Seine Gedanken waren nicht bei Dschins, die in Flüssen und Bächen und heutzutage sogar in Toilettenbecken hausen sollten, sondern bei dem rätselhaften übernatürlichen Führer – der Ausstrahlung und Darstellung der unsichtbaren Verknüpfungen im Universum –, dem man die Namen Khidr, Grüner, Herr der Heiligen, Patron der Orden gegeben hatte und der außerhalb der Welt der Fernsehgeräte und
hydroelektrischer Schaltpläne zu bestehen schien… Wie, so fragte Salim sich, begriff Scheich Muradi Khidr? Im gleichen Moment war ihm klar, daß diese Frage bedeutungslos war. Könnte er sie beantworten, käme sein Wissen dem des Scheichs gleich, und er hätte sie gar nicht erst zu stellen brauchen. Die Erkenntnis bereitete ihm Freude. Er kam zu einem alten Steingebäude, in dem sich eine Reihe fahl verputzter Läden befanden. Vor einem Laden hingen dunkelrote Rinderhälften, farbenprächtige Teppiche vor einem anderen. Die Fenster dieses Gebäudes waren durch dicke Eisengitter geschützt. Die eisenbeschlagenen Türen jedoch standen weit offen. Jenseits der Eingangshalle erleuchteten nackte Glühbirnen einen Hof mit einem kleinen, umzäunten Becken. Wasser sprudelte aus einer Springbrunnendüse und erzeugte sanfte, sich kreuzende Wellenkräusel. Alte, ausgebleichte Steine führten zu einer modernen Halle mit durchbrochenen Schiebetüren. Etwa fünfzig Männer waren dort bereits versammelt. Einige trugen leichte Anzüge, andere nur Hose und Hemd. Auch Kaftane waren zu sehen und lange weiße Galabiyas mit baumwollenen Turbanen darüber. Salim trat ein und nickte seinen Freunden und Brüdern zu. Als er zum ersten Mal zu dem Kreis gestoßen war, hatte er sie überschwenglich als die Freunde seines wahren Lebens angesehen. Aber jetzt nicht mehr. Die Welt des angehenden Ingenieurs mußte in jeder Beziehung so real bleiben wie diese hier, denn sonst war diese ebenfalls irreal – dann würde die Arbeit nicht richtig getan werden. Als der Scheich aus einem Nebenraum hereinkam, bildeten die Männer ein Spalier und verschränkten ihre Finger. Salim blickte auf den Scheich. Er war ein kleiner schwarzbärtiger Mann mit schmaler Adlernase und von einer mächtigen Hornbrille verdeckten Augenlidern. Doch seine Augen waren
alles andere als traurig oder müde. Die dunklen Augen glänzten. Sie nahmen wahr. Sie stellten eine Vielzahl von Fragen, wo immer sie hinblickten. Muradi trug das lange, mit geschlossenen Ärmeln versehene Gewand und einen langen Kaftan. Sein Turban war mit dem grünen Band des Ordens umwunden. Aber er trug diese Gewänder nur bei rituellen Anlässen. In seinem Haus – wie man sagte, ein sehr modernes in der mittelalterlichen Stadt, nicht weit von der großen Moschee Ibn Talun – kleidete er sich europäisch. Ebenso in seiner weltlichen Rolle als Professor für arabische und persische Sprachen in al-Azhar. Auf diese Weise unterstrich er beiläufig die Tatsache, daß es an dem Orden nichts Feudales, Reaktionäres oder Rückständiges gab. Wie unangebracht waren die Scherze seines Vaters! Selbst wenn sie für einige der volkstümlichen Orden zutrafen! Als er dies dachte, bemerkte Salim, daß die Augen des Scheichs auf ihm ruhten und ihn, wie es schien, tadelten, weil er in diesem Augenblick an etwas anderes als an Gott dachte. Er sammelte sich. Das Dhikr begann – das Gottesgedenken. Das Glaubensbekenntnis. Die Rezitation des Namens. Der Odenzyklus…
12
Die Bewußtseinsforschungsgruppe befand sich in einer Sitzung: die einundvierzigste Zusammenkunft des Lehrkörpers. Deacon hatte Michael eingeladen, sich an diesem düsteren Februarnachmittag dazuzugesellen, da er eine Näherungstheorie und eine Methode für das Stadium des UFOBewußtseins zur Sprache bringen wollte… »…Wie kann man diesen geistigen Insel-Zustand so ›egoetikettieren‹, daß die UFO-bewußte Versuchsperson sich ihrer Rolle bewußt ist? Wie drückt man der Psyche einen Visumstempel auf, wie schafft man eine zu-standsspezifische Einlaßerlaubnis für jene sehr mächtige und rätselhafte Insel?« Deacon, der sich an seinen eigenen rhetorischen Schnörkeln erfreute, lehnte sich zurück. »Einen Moment mal«, sagte Martin Bull, ein stämmiger, Rugby spielender Rotschopf; ein NervenkybernetikModellierer. »Ich dachte, die Fliegenden Untertassen existieren in der realen Welt? Sie erscheinen auf Radarschirmen. Sie werden fotografiert. Wie könnte man ein Foto von etwas aufnehmen, das ausschließlich im Geist existiert?« »Sie sind nicht ›ausschließlich‹ im Geist, Martin! Ich bin sicher, dort sind ihre Wurzeln – aber ebensogut wirken sie auf die äußere Realität. Aber da Sie gerade Fotos erwähnen – es gibt ja schließlich auch die Psychofotografie.« »Der erstaunliche Ted Serios?« »Warum nicht? Ted Serios schien in jeder Beziehung glaubwürdig. Er war gründlich untersucht worden. Er konnte Fotos von weit entfernten Gebäuden schaffen – Gebäuden, die er noch nicht einmal gesehen hatte –, indem er in die Kamera
starrte. Das bedeutet, er versetzte sich selbst in ein VBS, das die Fotoemulsion in der äußeren Welt beeinflußte.« »Aber konnte er Flugzeuge vom Himmel holen und Löcher in den Boden brennen? Ihre Fliegenden Untertassen sollen doch solche Sachen anstellen, oder?« »Dabei könnte es sich um eine mächtigere Form der gleichen Sache handeln. Ted Serios hat sich selbst in ein VBS versetzt. Er wußte nicht, was es war – mein Gott, er war nur ein halbgebildeter Hotelportier in Chicago –, aber er wußte, wie es sich anfühlte. Es gibt einen Schlüssel: die Empfindungen, die das VBS begleiten. Fangen wir damit an, diese Empfindungen einzugeben – man kann sie hypnotisch suggerieren, wenn man sie erst einmal genau kennt. Natürlich wird das zu umfangreicher interdisziplinärer Arbeit führen: VBSForschung, Bewegungslehre, Muskelgedächtnis, einzelne Körperhaltungen… nicht zu vergessen Parapsychologie und Sensitivität für das ›Übernatürliche‹. Es ist wichtig, nicht mit negativen Methoden fortzufahren. Wir dürfen nicht den Fehler all der langweiligen Kartenratespiele machen, die die PSIForschung in Mißkredit gebracht haben. Positive Verstärkung ist das Geheimnis. Wir müssen aus jedem Experiment ein Lernspiel mit entsprechenden Belohnungen machen…« »Das Übernatürliche?« hakte Tom Havelock nach. Der Professor für Ethik war von knochiger Figur, hatte ein spitzes Kinn und eine eingedrückte, rosafarbene Vinylwange, das Ergebnis plastischer Chirurgie. Beim Gehen und Sprechen versuchte er ständig die falsche Gesichtshälfte abzuwenden. »Wie?« »Gespenster könnten eine Art UFO sein, Tom. Eine Art projizierter Fotografie à la Ted Serios, nur sans Kamera. Wir sprechen über tatsächliche Gegenstände – vielleicht nur zeitweilige Gegenstände, aber dennoch Gegenstände –, die durch ein VBS in die physische Realität projiziert werden. In
Tibet, bevor die Chinesen einmarschierten – und ich nehme an, für die Mehrheit der normalen Tibetaner war es nicht von Nachteil, daß sie es taten…« »Hört, hört«, rief Andrew Rossiter, der mit der Psychiatrischen Klinik Granton in Verbindung stand. Deacon wußte, daß er dazu neigte, sich über jedes Lob elitistischer Psychologie aufzuregen, und sei es noch so indirekt. »…in Tibet jedenfalls gab es eine faszinierende geheime lamaistische Tradition zur Erzeugung eben solcher Dinge, über die ich allerdings wenig weiß. Tulpas wurden sie genannt.« Deacon schüttelte sich fröhlich. Titel von Aufsätzen tauchten in seinem Kopf auf. Induktive und deinduktive Verfahren für den Übergang in das und aus dem ›UFO-Bewußtsein‹; Stabilitätsbeschränkungen der UFO-Bewußtheit; Tiefenmessung des UFO-Erlebnisses: Testskala und empirische Karte; und dann endlich Das Auslösen des UFOErlebnisses: Techniken zur Erzeugung eines veränderten Bewußtseinsstadiums. Und das wäre nur der Anfang. Wie viele Millionen Dollar hatte allein die US-Luftwaffe bei der Jagd nach Berichten über Lichterscheinungen am Himmel ausgegeben? Sobald die ersten Forschungsberichte erschienen, wäre ein Zehntel dieser Summe für dieses Projekt ganz gewiß angemessen. Natürlich war die Entdeckung selbst weit wichtiger als die Finanzierung oder die grauenhafte Berühmtheit, die sie gewinnen würde. Wachstum des Menschen war das Hauptkriterium. Leider hatte es seit Dezember mit Michael wenig Fortschritte gegeben. Der Junge schien etwas zurückzuhalten – vielleicht nur unbewußt, weil er Suzie gegenüber ein falsches Schuldbewußtsein spürte. Könnte er nur davon befreit werden! Deacon hatte ihn zu der Besprechung eingeladen, um ihn mehr zu motivieren. Ein Durchbruch mit ihm, und er könnte sein Netz weiter nach anderen Versuchspersonen auswerfen. Aber zuerst brauchte er
diesen Durchbruch. Michael mußte es sein: Projektor des Pterodaktylus, Vektor so vieler alarmierender Ereignisse. Das Bewußtsein, sich auf dem Präsentierteller zu befinden, schien Michael irgendwie eingebildet gemacht zu haben.
»Mehrfachdimensionen sind nur mathematische Bezeichnungen zur Beschreibung eines spezifischen Verhaltens in der Raum-Zeit, deren Teil wir bereits sind«, sagte Sandra Neilstrom von der Abteilung Physik und bezog sich dabei auf eine Analogie, die Deacon gezogen hatte. Vor der Neilstrom – einer scharfsinnigen, tweedgekleideten Brünetten Anfang der Vierzig – war Deacon am meisten auf der Hut (mehr noch als vor Andrew Rossiter und seinen politischen Einwendungen!), aber ihre Kenntnisse brauchte er am dringendsten. »Ich will nicht abstreiten, daß es ›Wurmlöcher‹ im ÜberRaum geben kann – in der der Raum-Zeit unterliegenden Struktur«, fuhr sie fort, »aber es erscheint mir, milde gesagt, unwahrscheinlich, daß unabhängige Wesenheiten unsere eigenen Koordinaten mehrfach besetzen und von ›irgendwoher‹ auftauchen und wieder verschwinden können. Nein, ich vermag keine blinden Passagiere in unserem subatomaren Raum zu erkennen!« »Aber hat Charles Tart denn nicht vermutet«, unterbrach Tom Havelock, »daß Symbole tatsächlich eine objektive Realität haben können? Sie könnten Manifestationen einer spirituellen Realität außerhalb des Denkens sein. Ist das nicht das Ziel, das John ansteuert?« »Blinde Passagiere im psychologischen Raum?« Sie lachte. »Ich fühle mich nicht als blinder Passagier. Sie etwa, John?« »Ich bin nicht sicher«, murmelte Deacon und durchdachte dabei die Ereignisse des Dezembers. »Vielleicht bin ich es
doch. Was ist Denken denn überhaupt? Erschaffen wir es in unserem Gehirn – oder übertragen wir es einfach? William James hat dieses Rätsel schon vor Jahrzehnten aufgegeben, und es gibt immer noch keine Antwort. Wenn das letztere zutrifft und wir es nur übertragen, dann sind wir alle wie Empfänger oder Modulatoren in einem Meer des Bewußtseins.« »Ich biete Ihnen eine andere Analogie an, wenn Sie schon darauf bestehen müssen, daß wir nicht das sind, was wir glauben!« Sandra Neilstrom griff an ihren fest gebundenen Haarknoten; ihr bereitete die Situation Vergnügen. »Das Elektron. In seinem Kern besteht eine negative Ladung – wir nennen sie ›nackte Ladung‹ – von gewaltiger, möglicherweise unendlicher Größe. Diese Ladung erzeugt einen Ring positiver Ladung im umgebenden Vakuum, die fast, aber nicht ganz, die nackte Ladung aufwiegt. Die Differenz zwischen diesen beiden gewaltigen Ladungen ist verantwortlich für die geringe tatsächliche Ladung, die wir durch Messungen feststellen können. Also liegt hier möglicherweise etwas vor, das weitaus größer ist, als man tatsächlich messen oder beobachten kann. Konnte man im psychologischen Raum eine ähnliche Situation haben?« Lächelnd lehnte sie sich zurück. Die Anglerin, die einen Köder ausgeworfen hat. Doch Martin Bull nahm den Köder, und ein anderer Fisch wurde an Land gezogen. »Ich bin stets verblüfft, daß die Menschen sich das Denken als eine ständig fließende Wellenfront vorstellen, wo es doch in Wirklichkeit das Produkt entschuldigen Sie, John – wo es doch durch einen elektrochemischen Biocomputer übertragen wird. Warum fassen wir das Denken nicht in Be griffen von Quanten, Sandra? Als Denk-Energie, die in getrennten Einheiten existiert, obwohl sie sich statistisch als steter Prozeß präsentiert?«
»Es gibt gewiß voneinander getrennte Geisteszustände«, sagte Deacon. »Das ist schließlich das Thema zustandsspezifischer Psychologie. Deshalb ist es so verflixt schwierig, den Moment des Übergangs in ein VBS genau zu definieren. Auch unser Körper zeigt einzelne Bewegungs›Quanten‹ voneinander getrennte Stadien der Körperhaltung. Deshalb habe ich eben die Bewegungslehre erwähnt. Ein Mensch ›ruckt‹ von einem Zustand zum nächsten, und es wird verdammt unbequem für ihn, wenn er in der Mitte aufgehalten wird! Wir haben ein Körper-Vokabular von einigen hundert dieser Stadien. Natürlich reflektiert und beeinflußt die Körperhaltung die verschiedenen einzelnen Stadien des Bewußtseins… Es gibt eine Menge Arbeit zu tun.« Unverzagt warf Sandra Neilstrom ihren Köder erneut aus. »Nennen wir dieses Denk-Quantum ein Gnoon. Nehmen wir an, es erzeugt in Gestalt des menschlichen Geists einen Ring ›positiver Ladung‹. Es besitzt eine gewaltige nackte Ladung. Aber alles, was wir von seiner Energie und deren Größe kennen, ist die winzige Ladung, die übrig bleibt – das kleine bißchen, das beim Ausgleich nicht gelöscht wird. Und dieses bißchen sind wir: unser individuelles Bewußtsein.« »Unter dem sich das ganze Geistesfeld befindet!« Jawohl, dachte Deacon; deshalb kann man vielleicht die Gesamtheit des Bewußtseins nie wirklich kennen. »Das ist nur eine reichlich verwegene Analogie, John. Hoffen wir, daß Sie nicht anfangen, UFOs als diese ›nackten Ladungen‹ anzusehen, die uns irgendwie sichtbar gemacht werden.« Und wenn sie es auf gewisse Art doch waren? Deacon grübelte über diese Vorstellung nach, als Martin Bull brummte: »Der Ärger mit Ihrem ganzen Phänomen ist, daß – falls es uns eine bestimmte Information übermitteln will – das
Verhältnis Signal – Geräusch eindeutig zugunsten reiner Geräusche tendiert. Oder anders gesagt: Das Signal sagt nichts anderes als ›Ich bin ein Signal‹, aber vermittelt keinen weiteren spezifischen Inhalt. Wie unterscheiden wir es von Geräuschen?« »Warum sollte es uns eine Botschaft übermitteln«, gab Deacon zurück, »wenn es sich um einen Zustand handelt? Welche ›Botschaft‹ transportieren Hypnose oder ein LSD-Trip an sich? UFOs mögen sich als dieses oder jenes präsentieren, aber das ist es nicht, was sie sind. Was sie wirklich sind«, meinte er vorsichtig, »kann in der Tat Sandras ›nackten Ladungen‹ verwandt sein – gewaltige Energien in bloßem Zustand, die uns einiges darüber erzählen können, was der menschliche Geist ist, wenn wir das Stadium des UFOBewußtseins untersuchen könnten. Ebenso enthalten diese unmeßbaren ›nackten Ladungen‹ einen Hinweis darauf, was die Wurzel der Materie sein könnte. Ich bin sicher, der Schlüssel zu dieser Frage liegt im geistigen Bereich. Und es gibt auch eine Brücke zwischen Geist und stofflicher Realität – sonst würden wir keine Löcher finden, die sie in den Boden gebohrt haben, keine Radarbilder sehen oder Elfenringe an den Stellen, wo die Objekte landen.« »Elfenringe?« Jetzt hatte Sandra Neilstrom den richtigen Fisch am Haken. Aber er erwies sich als ungenießbar – abstoßend und bizarr. Das Gespräch war einfach zu lächerlich geworden. Und doch – Bewußtsein und Physik mußten zusammenkommen. Das hatte sie vor allem dazu bewegt, sich der Gruppe anzuschließen. Jede endgültige Theorie eines in sich logischen Universums mußte auch eine Theorie des Bewußtseins enthalten… »Elfen?« spottete sie und lehnte sich nach vorn. »Sie sind Bestandteil der gleichen Konstellation wie UFOEreignisse!« versicherte Deacon ihr. »Was tun Elfen
normalerweise? Sie entführen Menschen. Sie verschleppen sie ins Elfenland. Genau wie UFOs! Wissen Sie, wieviel Prozent von Vermißtenfällen nie geklärt werden? Wissen Sie, daß um 1590 ein spanischer Soldat von den Philippinen verschwunden ist und vierundzwanzig Stunden später in Mexiko auftauchte?« »Oh, zu Kolonistenanekdoten des sechzehnten Jahrhunderts habe ich genauso viel Zutrauen wie zur Cholera!« »Und der argentinische Arzt namens Vidal und seine Frau? Das war ‘68…« »1568?« Sie fuhr mit der Zunge über ihre Oberlippe. »Nein, natürlich nicht! 1968. Sie wurden mit ihrem Peugeot aus Argentinien ›entfernt‹. Achtundvierzig Stunden später befanden sie sich in Mexiko…« »Scheint ein beliebtes Reiseziel zu sein.« »…ohne einen blassen Schimmer zu haben, wie sie dort hinkamen.« »Vielleicht sind sie ganz schnell gefahren?« »Während des Ersten Weltkriegs verschwand in der Türkei ein ganzes Regiment. Das Vierzehner Norfolk-Regiment. Man hat gesehen, wie sie in eine braune Wolke über dem Erdboden hineinmarschiert sind. Sie sind nicht wieder herausgekommen! Die Wolke ist einfach in den Himmel gestiegen.« »Völlig richtig! Da gehören Wolken ja auch hin.« »Über diese Ereignisse gibt es Berichte, Aufzeichnungen. Sie sind geschehen. Es sind keine Phantasiegeschichten. Es sind UFO-Ereignisse.« Sie summte eine kleine Melodie. »›O Elfenland, mein Elfenland‹ – Aufzeichnungen von wem, würde ich gern wissen? Von welchem Regenbogen-Reporter? Obacht vor der schlüpfrigen Schräge der Parawissenschaft, John! Grenzwissenschaften lassen sich an einem Abhang nieder. Es scheint ein Gesetz zu geben, das sie früher oder später in die Pseudo-Wissenschaften abstürzen läßt. Facilis descensus Averno – es ist leicht, in die Hölle zu geraten.
Wieder hinauszukommen ist die Schwierigkeit! Aber jetzt ist es wohl Zeit für Tee und Biskuits.« Sie richtete einen bedeutungsvollen Blick auf einen der anwesenden Studenten, und dieser nickte und schlich hinaus. »Nachdem wir uns gestärkt haben, könnten wir vielleicht einige Ihrer Induktionsmethoden demonstrieren.« Deacon sah Michael rot werden. Vielleicht war es doch kein so guter Einfall gewesen, ihn einzuladen. Das gelbe Licht aus dem Sitzungszimmer schien fünf Stockwerke über dem gepflasterten Hofgeviert in die Schwärze der Nacht – und Deacon stellte sich selbst als schwaches gelbes Licht vor, das in einem gewaltigen, dunklen Meer glühte, ein Licht mit unendlicher negativer Ladung, das seine ganze Energie aber irgendwie, auf unbekannte Weise, aus diesem Meer zog… Ein Ring des Denkens. Andere erleuchtete Fenster auf der anderen Seite des Hofs waren weitere, vermutlich private Übermittler. Könnte er nur das Ganze wie mit einem Flutlicht erhellen! Was wäre dann wohl zu sehen? Oder… würde es ihn blenden?
Michael verabschiedete sich nach der Sitzung. Ihr Verlauf schien ihn verlegen gemacht zu haben. Auf dem Weg hinaus heftete Sandra Neilstrom sich an Deacon. »Sie arbeiten in einem Vakuum«, lächelte sie und legte tröstend eine Hand auf seinen Arm. »Vielleicht im wörtlichen Sinn! Wußten Sie, daß es ernsthafte Theorien gibt, das ganze Universum sei eigentlich nur eine VakuumSchwankung? Wenn man die positive Masseenergie des ganzen Kosmos gegen die negative Schwerkraftenergie aufwiegt, könnte die Nettoenergie von allem, was existiert, tatsächlich genau null sein. Da ist eine tiefe Leere für Sie! Auf der Quantenebene entstehen Teilchen ziemlich leicht aus dem
Vakuum. Warum nicht ein ganzes Universum? Es gibt überhaupt keinen Grund, warum es nicht so sein sollte!« »Aber… ein ganzes Universum? Alle Sterne und Galaxien?« »Solange die Nettoenergie gleich null ist – in der Gleichung Masse zu Schwerkraft. Natürlich muß das Universum seine derzeitige gewaltige Größe haben, sonst wäre niemand da, es zu betrachten, oder? Es muß ein Universum sein, in dem sich Leben und Geist entwickeln. Aber vielleicht spielt sich das ganze Universum als solches in dem Vakuum ab. Vielleicht sind Ihre UFOs ebenfalls spontane Erscheinungen in seinem Innern?« hänselte sie. »Reflexionen der Situation?« »Warum haben Sie das nicht eher gesagt?« »Ach…« Unheilbeladen ging sie in die Nacht hinaus. Rundherum Schwärze. Hier und da in Fenstern winzige Leuchtentladungen.
13
Es hatte noch nicht fünf geschlagen, aber der Stadtpark war dunkel und verlassen. Suzie zögerte und ging dann doch die von hohen Natriumdampflampen hell erleuchtete Tangentialstraße entlang. Feierabendverkehr blockierte die Fahrbahn. Die Luft begann zu stinken, als die Fahrer die kalten Motoren immer wieder hochtrieben, um ein paar Zentimeter vorwärtszukommen. Giftige Gase trieben um sie herum. Sie glaubte, ersticken zu müssen, glaubte, ihre Lungen würden verätzt. Impulsiv wandte sie sich zur Seite und ging auf den dunklen Rasen zu. Es war immer noch einigermaßen hell, als sie der Straße entkommen war. Die erste Schule, die sie besucht hatte, lag am Ende einer langen, von hohen Mauern gesäumten Gasse, die von Ulmen überragt wurde. Bei starkem Wind fielen Äste herab und übersäten die Gasse, dann kamen städtische Gartenarbeiter, um die Bäume zu stützen. Das Surren der Motorsägen, die Abdrücke von Turnschuhen im Sägemehl… Ältere Mädchen machten sich einen Spaß daraus, von Ratten in den gemauerten Außentoiletten zu erzählen – sie kamen schreiend und kichernd auf den Schulhof gelaufen und erschreckten sie… Nachts träumte sie von einem Riesen, der mit gierigen Händen und säuselnder Stimme unter den Ulmen lauerte. Das Sägemehl stammte von zermahlenen Knochen… Gefangen in diesem Traum schritt sie auf den Teich und den Ulmenhain zu. Ein kleines Mädchen, vom Straßenverkehr und seinen großen Untertassenaugen, seinem stinkenden Urinatem und seinem kehligen Surren vertrieben. Auch diese Ulmen würden, krank wie sie waren, bald von der Säge gefällt. Das Surren wollte
nicht verstummen. Sie fing zu laufen an, stellte sich vor, daß große Hände nach ihr griffen, daß sie bei lebendigem Leibe verschlungen wurde. Ein grüner Mond wurde im Teich reflektiert. Das Spiegelbild löste sich auf, als zwei Schwäne flügelschlagend das Wasser pflügten und sich auf rauschenden Schwingen in den Himmel hoben……wo der Ursprung der grünen Reflexion zwischen den Bäumen nach unten schwebte: eine helle Kugel aus grünem Licht. Sie rannte am Teichrand entlang davon. Ein blaugrüner pelziger Nebel sprudelte aus dem Wasser hoch – und der gleiche Nebel eiterte aus der mehltaukranken Rinde der Bäume, umfing sie, verzerrte den Bereich um den Teich und die Bäume in einer boshaft nach innen gekrümmten Kurve. Sie watete durch Leim. Ihre Beine waren Gelee. Sie war Atheistin, hatte der Kirche den Rücken gekehrt, aber jetzt sank sie auf die Knie und begann zu beten: »Jesus Christus, lieber Gott, rette mich!« Ein Teufel schwebte durch den Nebel aus den Ulmen heraus. Ein Kobold, der auf- und niederhüpfte, als würde der niedrige Nebel ihn wie ein dunstiger Klebstoff am Boden festhalten. Die Kreatur war grün und so groß wie ein großes Kind. Ihr Kopf war riesig; er hatte steife, schweinsähnliche Ohren, die sich zu Spitzen verjüngten, kleine Nüstern ohne Nase, einen ausdruckslosen, nach unten verzerrten Mundspalt – und zwei rote Augenkugeln, die sich an den Seiten des Kopfs nach außen stülpten. Die Augen waren wie Plastikmodelle von Spiegeleiern, die – in den falschen Farben – an den Kopf geheftet waren. Die Ohren zuckten. Die Kreatur drehte den Kopf suchend hin und her. Sie konnte Suzie nur seitwärts sehen und benutzte nur eins der Augen, als ihre großen Ohren sie lokalisiert hatten. Suzie hielt den Atem an – ihr Herz konnte sie nicht anhalten. Die Schultern des Geschöpfs waren breit, aber schief und verdreht. Ein Arm hing von der nach oben geneigten Schulter
bis zu den Knien hinab. Lange Finger liefen zu spitzen Krallen aus. Der andere Arm war dick und kräftig wie die Klaue einer Winterkrabbe und zog die Schulter durch sein Gewicht nach unten. Er hatte sich nicht zu voller Länge entwickelt, sondern war nur ein halb ausgebildeter Stumpf, jedoch von bulliger Kraft. Der Brustkorb war gewaltig, die Taille eng. Die dünnen Beine knickten ein, und die Füße verrenkten sich entenähnlich in eine Art ›Nebelschuh‹-Fuß – ein Fuß oder Schuh, um über Nebel zu gehen. War der Kobold in grünen Stoff gekleidet, oder war dieser Stoff seine Haut? Mit zuckenden Ohren und langem, ausgestrecktem Arm schwebte er näher. Der Arm bewegte sich hin und her und teilte wie der eines Schwimmers die kondensierte Luft. Suzie fühlte, wie es zwischen den Beinen feucht wurde. Sie war flüssig, schmierig und wie Gelee, löste sich fast im Nebel auf. »Liebster Jesus, ich glaube an dich…« Alle Dinge klar und schön. »Erlöse uns von dem Übel…« Sie zog ihre Schuhe aus, schwere Schuhe mit dick gerippten Sohlen. Und warf einen Schuh auf das Geschöpf. Wie ein Geschoß traf dieser die Brust. Das Wesen schwankte wie ein Wackelspielzeug nach hinten, kam aber trotzdem näher. Es lehnte sich einfach nach hinten, richtete sich langsam wieder auf und schwebte die ganze Zeit vorwärts. »Hinfort, in Gottes und in Christi Namen!« schrie sie. Der glänzende Chitinkopf wandte sich bei dem Schrei um, und ein rotes Eidotter-Auge betrachtete sie. Es streckte den langen grünen Arm weiter aus, um ihr Haar zu berühren. Drei spitz zulaufende Krallenfinger und ein langer dünner Daumen waren weit gespreizt. Die Berührung war sanft, aber das Untier stank nach faulen Eiern. Kraftlos zielte sie mit dem anderen Schuh nach der dünnen spitzen Hand und schlug den Arm beiseite. Der Kobold fuhr
herum und entblößte das andere Auge. Die kräftige, halbgeformte Krabbenklaue hob sich. Verkürzte Finger waren zusammengewachsen, ein Daumen, der fast nur aus Nagel bestand, stand ihnen gegenüber. Fleisch war geschmolzen und hatte sich zu steifen, knorpeligen Kanten verhärtet. Die Krabbenklaue packte die Spitze des Schuhs und hielt sie fest. Sie ließ den Schuh los und mußte sich anstrengen, um ihre Hand zurückzuziehen. Es war, als hielte ein Magnet ihr Fleisch fest. In Zeitlupe fiel der Schuh auf den trüb leuchtenden Nebel zu – und jetzt sah sie, daß es gar kein Nebel war, sondern die einzelnen Grashalme, die enorm vergrößert aus dem Boden wuchsen, miteinander verschmolzen, einander durchdrangen und alle schwach von innen heraus leuchteten. Als der Schuh den Nebel – oder das Gras – berührte, spürte sie, wie ihr ganzer Körper von dem Geschöpf abgestoßen, zurückgeschleudert wurde. Sie wirbelte von ihm weg und fiel langsam in das aufgeblähte, neblige und leuchtende Gras. Dann kroch sie endlich davon. Sie floh. Ziellos. Barfuß. Ohne zu wissen, wohin sie floh. Hinter ihr knackten und leuchteten die Bäume, als der grüne Nebel zwischen ihnen zurückwich… Sie floh immer weiter.
14
Ein gesungener Kontrapunkt von Rhythmen. Erst langsam und sanft, dann stakkatogleich und hämmernd, als sie schneller wurden und die Brüder in einem einzigen komplexen Atem verbanden… »Eeh! Eeh!« riefen die Brüder aus. Er. Er. Keine Musik, sondern das Wort. »Ewig!« schrien sie. »Beistand!« Die Finger nicht länger ineinander verschränkt, drehten sich Brüder auf der Stelle, im Uhrzeigersinn, gegen den Uhrzeigersinn. Arme wirbelten wie die Röcke von Tänzerinnen. Sie schwitzten, strengten sich an, erschöpften sich jedoch nicht, sondern luden sich nur auf. In dem scheinbaren Lärm fanden sie Frieden. Selbst die, die aus der Reihe tanzten und mit verzerrten Gesichtern von der Wand zurückprallten, schwitzten nur Gifte aus ihrem Blut, die die ganze Gruppe als Energie und Nahrung aufsaugte, während ihr Scheich seine Hände in immer schnellerem Takt zusammenschlug und den Rhythmus bestimmte. »Eeh! Eeh! Hayy! Hayy!« So wirbelten sie umher und schwitzten, schnippten mit den Fingern, tanzten und unterwarfen sich dem Willen. Nach einer halben Stunde rezitierte Muradi die Eingangsworte des Koran, um das Dhikr zu einem Ende zu bringen. Als er durch ihre Reihen zum Vorraum zurückschritt, hoben sich Hände zur Stirn und Brüder riefen aus: »Madad! Madad!« – Beistand! Mit einigen tauschte er Handküsse aus. Voller Wünsche und Hoffnung stand Salim dort. Muradi blickte ihn jedoch nicht an. Der Scheich ging mit einigen älteren Brüdern
durch die Privattür. Die Zusammenkunft löste sich auf. Als Salim in den Hof hinaustrat, überholte ihn einer dieser Älteren und berührte ihn am Ärmel. »Er wünscht dich zu sprechen – kommst du?«
Scheich Muradi saß mit seinem engeren Beraterstab im Halbkreis auf schlichten Rohrstühlen. (Gemurmelte Höflichkeiten: »Allah yakrimak!« »Allah yakhallik!« Möge Gott dir gewogen sein! Möge Gott dich beschützen!) Er bot Salim seine Hand dar; errötend küßte der Junge sie mehrere Male. Muradi verkündete: »Bitte taucht, wenn ihr es möchtet.« Doch niemand verspürte diesen Wunsch, am wenigsten Salim. Es war ein Symbol, keine Erlaubnis. Sie lehnten ab, und lehnten ein zweites Mal ab. »Gelobt sei Gott«, lächelte der Scheich. »Du wirktest heute abend besorgt«, sagte Muradi zu Salim. »Es ist nichts, Sidi. Jetzt nicht. Eine Auseinandersetzung zu Hause – mein Vater…« »Aha.« Sie sprachen über Salims Schwierigkeiten. Schließlich nickte Muradi einem der Älteren zu. »Ich glaube, Hagg Ahmad kennt jemanden im Büro deines Vaters.« Es gab also Hilfe. Keine Hilfe jenseits gewöhnlicher Kenntnisse – obschon es gewiß einigen Scharfblick erforderte zu merken, daß Salim sie brauchte! Einfach Hilfe, die der Situation vollkommen angemessen war. Man nahm keinen Hammer, um eine Nuß zu knacken… Doch Salims Gedanken verweilten noch immer bei verborgenen Strömungen und echten Wundern. »Ich glaube, da ist noch etwas anderes«, sagte Muradi. Salim wurde rot.
»Ja, Sidi. Khidr – wie kann es ihn geben? Woher kommt er? Wohin geht er? Kann ihm in unserem Jahrhundert ein Mensch wirklich begegnen?« Scheich Muradi strich über seinen Bart und lächelte dann. Er legte die Handflächen gegeneinander. »Wenn ein Mensch es braucht. Wenn sein Bedürfnis groß genug ist. Wenn das Ereignis eintreten muß. Siehst du, unser Vorgehen strebt danach, die Menschen fortzuentwickeln. Es schafft Verständigungsmöglichkeiten mit einer endgültigen Quelle des Wissens. Aber diese Quelle ist nicht auf direktem Wege zu erkennen. Das Ganze liegt jenseits der Erkenntnis. ›Kannst du dir einen menschlichen Geist vorstellen, der sich selbst ganz wahrnimmt? Wäre er völlig mit der Wahrnehmung beschäftigt, was würde er dann wahrnehmen?‹ Paradox! Ist es so, geliebte Freunde?« »Gelobt sei Gott!« stimmten die Älteren zu. »Tatsächlich muß es Unerkennbares geben, sonst gäbe es keinerlei menschliche Erkenntnis. Khidr ist der Unerkennbare – der nichtsdestotrotz erfahren werden kann.« »Sidi, hast du…?« »Ah, ich bin sicher, daß du die Fallen kennst, die – für dich selbst – in dieser Frage stecken. Es ist völlig richtig, daß die Meister gelernt haben, ihre eigene Befähigung zur Erkenntnis zu verändern, so daß sie Raum und Zeit, Ursache und Wirkungen auf andere Weise erfahren können. Dann können sie vom Möglichen zum Unmöglichen gelangen und wieder zurück. Ein wahres Wunder! Doch ein zufälliger Zuschauer wird es dennoch als Täuschung ansehen. Notwendigerweise. Das Wunder ist nicht erklärbar, wie sehr die Menschen sich auch um eine Erklärung bemühen. Es ist eine Metapher, eine Illustration dessen, was immer – aufgrund unserer Natur und der Natur der Welt – jenseits ist. ›Allah ersinnt Metaphern für Menschen. Er hat die Kenntnis von allen Dingen‹, wie es in der Sure al-Nur heißt.«
»Ya, Sidi!« rief einer aus und entlockte den anderen gemessenen Beifall. »Ich glaube, du studierst Ingenieurswissenschaften, Salim.« Salim nickte. »Eine praktische Kunst. Man kann keine Brücke mit unzureichenden Stützen bauen, genausowenig wie man ein Kamel mit drei Beinen reiten kann – es braucht vier. Nun, die Brücke der Wissenschaft wird von neunundneunzig Beinen getragen, was für nahezu völlige Stabilität ausreicht – für praktische Zwecke. Dennoch sollte es ein weiteres Bein geben. Oder vielleicht sind es schon neunhundertneunundneunzig Beine. Es sollte dennoch ein weiteres geben. Khidr ist dieses weitere Bein: das Wunderbein, das sich allen Erklärungen entzieht. Er ist das Bein, das in Wirklichkeit allen anderen das Gleichgewicht gibt!« »Gepriesen sei Gott!« »Wissenschaftler des ganz Großen müssen das ganz Kleine auslassen. Wissenschaftler des ganz Kleinen müssen die Kraft auslassen, die die Sterne zusammenhält, ist es nicht so? Das ist der notwendige Tribut an die Realität. Es ist nicht nur ein zeitweiliger Mangel. Wäre die ganze Welt erkannt, würde sie aufhören zu sein… Kommt, ihr seid voller Zweifel. Aber nicht zu wissen ist ein Teil des Wissens. Ihr müßt das Nicht-Wissen meistern, denn Nicht-Wissen ist Bestandteil der Realität. Der Meister des Nicht-Wissens wird wissen, wer Khidr ist. Erinnert ihr euch an die Geschichte, wie Khidr einen Mann vor dem Ertrinken rettete?« Salim erinnerte sich, wartete aber darauf, daß sie erzählt wurde, denn in diesem besonderen Augenblick schien sie ihm weit wichtiger als eine simple Erinnerung. »Einst fiel ein Mann in den Oxus«, erzählte Muradi lebhaft. »Ein Passant sah einen Derwisch sich ins Wasser stürzen, um ihm zu helfen. Auch der Derwisch bekam Probleme mit der Strömung. Plötzlich sprang ein dritter Mann hinterher. Dieser war in leuchtendes Grün gekleidet und schien sich, kaum im
Wasser, in einen Holzbalken zu verwandeln. Unsere beiden Unglücklichen klammerten sich an den Balken, bis sie sicher das Ufer erreichten. Der Balken trieb weiter flußabwärts. Sich ständig versteckend, jagte ihm unser Passant den Fluß hinab nach. Er beobachtete, wie er das Ufer berührte – und sah, wie sich der Mann in Grün vor Nässe triefend an Land zog. Unser Passant eilte zu ihm, um seinen Segen zu erbitten. Er wußte, dies mußte Khidr sein, der Herr der Heiligen. Er bemerkte, daß seine Kleider auf rätselhafte Weise schon pulvertrocken waren. Der Grüne sagte ihm: ›Ich komme von einer anderen Welt. Es ist meine Aufgabe, Menschen zu beschützen, die einen Dienst ausführen müssen, ohne daß sie etwas davon wissen. Und du hast zuviel gesehen!‹ Der Grüne war fort – wusch. Nur noch ein brausendes Geräusch in der Luft war zu hören. Später begegnete derselbe Passant dem Retter wieder. Der Retter sah nicht mehr strahlend aus, sondern wirkte völlig normal. Aber irgend etwas war an ihm. Unser Freund erkannte ihn immer noch. Erneut bat er ihn um seinen Segen und eine Erklärung. Wie konnte er ein Balken sein – und ein Mensch? Wie konnte er verschwinden – um in einem anderen Teil der Welt wieder zu erscheinen? Der Retter lachte nur. ›Geh hin und erzähle der ganzen Welt, du habest Khidr gesehen! Es wird nichts nützen. Sie werden dich als Verrückten einsperren.‹ Er hob einen ganz gewöhnlichen Kieselstein auf und streckte ihn aus. Sobald unser wackerer Passant ihn anschaute, konnte er keinen Muskel mehr rühren. Er wurde zu Stein – während der Retter davonging. Erst als er fort war, konnte unser Freund sich wieder bewegen!« Die Älteren, die die Geschichte alle kannten, ließen erstaunte Ausrufe vernehmen, so als hörten sie sie zum ersten Mal. »Nun, Salim, unser verehrter Meister Rumi – der die Entwicklung der Menschheit lange vor den Darwins der westlichen Wissenschaft verstand – hat einmal gesagt: ›Gott,
das höchste Wesen, ist in dieser Welt der Ge danken nicht enthalten. Denn wäre er in der Welt der Gedanken enthalten, würde daraus folgen, daß der Mensch, der Gedanken bildet, Gott begreifen könnte – der dann wiederum nicht der Schöpfer von Gedanken sein könnte.‹ Also: Jenseits aller Welten ist Gott.« »Er sei gepriesen!« »So ist die Wirklichkeit geschaffen, und so wird sie von Augenblick zu Augenblick erhalten. Khidr, der Lenker und Vermittler, muß fähig sein, in unsere Erkenntnisfähigkeit einzutreten und sie wieder zu verlassen, sonst wäre die Welt nicht, was sie ist. Tatsächlich würde es überhaupt keine Realität geben. Kann man ihm in unserem Jahrhundert begegnen? Ach, Salim, wieso ist es unser Jahrhundert? Ist die Zeit unser Eigentum? Erschaffen wir Zeit?« »Gottes Jahrhundert ist es«, stimmte ein Älterer zu. »Er erschafft die Welt jeden Augenblick aufs neue«, nickte ein anderer. »Ist Zeit ›wirklich‹? Dann gib mir welche! Ist die Welt in der Zeit wirklich? Nein, Wirklichkeit ist anderswo. Sie ist, wo Khidr seine Schritte lenkt. Gott erhält die Illusion der Welt für uns aufrecht. Wo ist dein Bewußtsein, Salim? Kannst du mir etwas davon zeigen?« Salim kratzte sich den Kopf. Muradi beugte sich vor und schlug ihm fest aufs Knie. Salim zuckte im Reflex. »Es ist nicht nur in deinem Kopf. Sondern auch dort – in deinem Knie! Und dort oben!« Muradi zeigte auf die Glühbirne. Salim blickte hoch und war vorübergehend geblendet. »Es ist alles, was du spürst. Das Denken ist folglich anderswo. Es hat keinen speziellen Platz unter all den Dingen, die es sich vorstellt, weil es selbst ihr Ersinner ist. Daher kann der Geist unmöglich sein ganzes Selbst untersuchen – er ist kein ›Objekt‹. Und deshalb kommt und geht Khidr – mit einem
Wunsch in der Luft. Indem er verschwindet, gibt er Zeugnis für die Struktur der Realität. Wirkliches Wissen schützt sich auf die gleiche Weise, Salim – und zwingt die Menschen gleichzeitig, neue Wahrnehmungsorgane zu entwickeln, vor denen es sich wiederum verbirgt. So wird Evolution möglich gemacht. Sie muß jedoch erfahren werden – und nicht beredet! Worte sind nicht die Metaphern, die Gott für den Menschen ersonnen hat. Unsere eigenen Leben sind es! Die Welt ist es!« »Meinst du, die Erkenntnis ist bereits in meinem Besitz, nur weil ich lebe? Weil ich denke?« Der Scheich lachte lauthals. »Wie könnte sie in deinem Besitz sein, wenn du nicht lebtest oder nicht dächtest?« Er stand auf, nahm Salim beim Arm und führte ihn hinaus, während die anderen blieben und über das kommende Fest sprachen. Die Halle war verlassen und nur von einer Glühbirne an der Tür erleuchtet. Sie traten in den Hof, der ebenfalls bis auf das Sternenlicht und ein wenig Helligkeit von der Straße dunkel war. Salim erschauerte, als der Schweiß, der sich vorher in sein Hemd gesaugt hatte, in der Nachtluft abkühlte. Ein Schulmädchen ging draußen vorbei, immer noch in dem adretten blauen Schürzenkleid. Ihm folgte eine fette Frau in formloser schwarzer Meliya, unterwegs, um einige Löffelvoll heißen Reis zu verhökern. Plötzlich brandete laute Filmmusik von einem benachbarten Hausdach herab. Abgelenkt starrte Salim auf die Dächer. Aber nur einen Moment. Als seine Augen zu dem Teich zurückwanderten, stand dort bereits ein Mann. Das Wasser glühte und funkelte, als wären Chemikalien hineingeworfen worden. Es warf einen Schimmer grünen Lichts auf das Gewand des Fremden – ein Umhang mit weiten Ärmeln, eine kurze Jacke, ein faltiger Rock und eine ausladende Fellmütze. Der Fremde trug die Kleider eines tanzenden Derwischs aus der alten Türkei, ein Kostüm wie für die Kameras der Touristen… nur war er in der falschen Stadt,
im falschen Land. Salim sah ein bärtiges, ironisches Gesicht, das dem Muradis ähnelte. Aber der Fremde war größer als Muradi, seine Augen stechender. Erstarrt blickte der Scheich auf den Fremden. Hätte nur das Radio nicht plötzlich so laut aufgebrüllt, dann hätte Salim gesehen, woher er gekommen war. Muradi kniete nieder und berührte den Umhang des Fremden. »Meister«, flüsterte er. Der Fremde lachte. »Lauscht dieser verlorenen Rohrflöte«, sang er sanft. Ich bin Zeuge eines Wunders, dachte Salim, der wie gelähmt war. Aber was sehe ich wirklich? Wenn ich nicht gesehen habe, wie es begann… Der Fremde blickte auf Salim. »Fihi, ma fihi!« sagte er knapp. »Darin ist das, was du hineinsteckst, Kind! Was dem einen Beweis ist, ist für den anderen nur verwirrend.« Er holte unter seinem Umhang ein kleines altes Buch in abgenutztem Ledereinband hervor und drückte es in Muradis Hand. »Das ist nicht für dich, sondern für einen anderen, gehemmten Sucher – der noch nicht einmal weiß, daß er sucht.« Muradi reichte das Buch weiter. »Ein Zauberbuch? In französischer Sprache… Soll ich einem Magier helfen?« »Heißt es nicht: ›Wenn du einmal einen Aberglauben überwunden hast, wirst du kaum einem anderen anheimfallen.‹ Aber in diesem Fall gibt es keinen Magier. Sorge dich nicht. Vertraue! Komme ich nicht von einer anderen Welt, wo mehr erkannt wird?« Der Fremde war wie ein Echo von Muradis eigenen Worten. Der Scheich legte eine Hand auf sein Herz. »Er wird mit dem ersten Hauch des Frühlings kommen und nicht wissen, wie und warum er kommt – wie die Menschheit selbst. Gib ihm dies, Scheich. Er wird darin finden, was – für ihn – enthalten ist. Für ihn wird es eine andere Bedeutung
haben. Du siehst, ein Augenblick kann vielen Zwecken dienen. Für dich ist die Bedeutung schon hier, jetzt, in diesem Augenblick. ›Die Ursache ist nur eine, der Wirkungen sind viele.‹« Salim fand endlich die Sprache wieder und wagte zu sagen: »Wer bist du… Meister?« Der Fremde wirkte amüsiert. »Du hast dir bereits selbst geantwortet, Kind, indem du mir Titel und Namen gegeben hast. Was bedeutet dir der Name? Fihi ma fihi! Ein Spiel ist jetzt deine beste Antwort. Ein Spiel mit Worten – ein Gedicht!« Und er rezitierte: »Stets wissend, suchen wir, wenn wir uns verbergen. Normalen Menschen erscheinen wir anders, als wir sind. In innerem Licht bewegen wir uns: lassen Wunder erscheinen. Doch niemand weiß, wer wir sind. Das bin ich. Das sind wir.« Der Fremde breitete die Arme aus, die rechte Handfläche nach oben, die linke nach unten gewandt. In seinem Umhang drehte er sich mit rascher Bewegung im Kreis. Benommen schloß Salim einen Moment die Augen. Als er sie nur wenige Sekunden später wieder öffnete, war er mit dem Scheich allein in der Dunkelheit. Der Teich war wie vorher nur schwach vom Licht des Versammlungsraums, von der Straße und von den Sternen erleuchtet. Die fette Frau in dem sackartigen Gewand kam am Tor vorbei und ging, ohne hineinzuschauen, in die andere Richtung. Sie hatte ihren Reis verkauft.
Dritter Teil
15
Ostermontag wachte Michael früh auf. Er hatte geträumt, wie er in den Pedalen stehend bergauf radelte. Suzie war auf dem Rücksitz und umklammerte seine Hüften. Sie rutschte nach hinten vom Sitz, rollte den Hügel hinab und hüpfte wie ein Gummiball. Im selben Moment sprang das Rad hoch über eine Kuppe… Jetzt fuhr er über ein Schlachtfeld, ein Melder auf dem Fahrrad. Säuregas breitete sich aus, löste den Gummi seiner Reifen auf. In einem Graben, im Brackwasser liegend, sah er Suzie wieder – ihr Haar war gebleicht. Sterbend lächelte sie ihm zu. »Fahr zu mir – zum Moor. Jetzt.« An den Traum erinnerte er sich nur vage, aber er sah, was für ein schöner Morgen es war. Vogelgezwitscher; grün-goldene Welt. Er zog sich an und ging hinunter. Im Vorbeigehen steckte er sich in der Küche ein paar Äpfel in die Tasche.
Nach ihrem Zusammenbruch – man hatte sie barfuß durch Granton irrend gefunden –verbrachte Suzie einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Sie lehnte es ab, mit Michael zusammenzutreffen. Als sie wieder zu Hause war, um einige Monate auszuspannen, ignorierte sie seine Briefe. Ihre Eltern legten sofort auf, wenn er anrief. Und die Arbeit mit Deacon brachte in keiner Weise schnelle Fortschritte… Seit seine Erinnerungen wieder geweckt worden waren, war er diese Straße einige Male gefahren. Ungeschorene Schafe fraßen das magere Gras. Ginster flammte gelb auf: Sonnentropfen. Kleine Haufen Kaninchenkot lagen wie
Anissamen auf der Erde verstreut. Er ging die Steigung an – und sah ein großes rotes Auto, ein amerikanisches Luxusmodell, nahe der Stelle, wo Luvahs Raumschiff gelandet (oder existent geworden) war. Wulstige Reifen, eine lange Haube, wuchtige Stoßstangen, mit Cinemascope-Rücklichtern und Zwillingsauspuff. Wie ein Raubtier aus öligem Stahl blockierte der Wagen die Straße. Seine Farbe: Lippenstiftrot. War das Barry Shriver, der den Landeplatz untersuchen wollte? Aber Shriver fuhr einen alten Kombi. Und außerdem hätte er Michael gebraucht, damit er ihn zu der Stelle führte… Michael rollte heran. Thunderbird. Amerikanische Nummernschilder: die Buchstaben WYO, für Wyoming; Symbol für einen Cowboy, der einen Bronco ritt… Ein großes graues Paket blockierte den Fahrersitz. Etwas Großes, Eingewickeltes. Dann erschauerte das Paket und verwandelte sich in eine Masse grauer, aufeinandergestapelter Gummireifen, und es gab überhaupt keinen Fahrersitz, nur diesen großen Reifenstapel neben dem Beifahrersitz, der den größten Teil des Raums zwischen Armaturenbrett und Fond einnahm. Die Beifahrertür schwang auf, und eine Stimme (durch einen Lautsprecher übertragen) quäkte: »Es ist gefahrlos. Es ist keiner von ihnen. Es ist etwas anderes. Komm, bitte! Es ist gefahrlos…« Strahlender Morgen, blauer Himmel, schwache Zirrusschwaden. Ungerührt grasten die Schafe weiter. »Gefahrlos. Gefahrlos. Gefahrlos. Bitte, glaub es.« Zitternd drehte sich der Reifenstapel ein wenig, und etwas blickte ihn an: durch die gewölbte Sichtscheibe eines in Segmente unterteilten, bizarren Taucheranzugs. Was auch immer sich in dem Anzug befand, war (für seine Verhältnisse) auf so engen Raum zusammengepreßt, daß es sich kaum bewegen konnte. Allein das Gefühl dieser Einengung erregte in Michael so viel Mitleid, daß er ein zweites Mal hinschaute und nicht
davonrannte. Er sah einen Kopf, geformt wie den einer Schildkröte… dann mußte er sich korrigieren: Der gesamte Kopf war eine Schildkröte. Das Gesicht mit den großen Kugelaugen, den Bohrloch-Nasenlöchern und dem hornigen Schnabel ragte elastisch aus dem gepanzerten Schädel heraus wie der gesamte Kopf einer Schildkröte aus ihrem Rückenpanzer. Der gerippte ›Hals‹, den er zuerst gesehen hatte, war alles andere als ein Hals, sondern Muskel und Schutzhülle, die Verbindung zwischen vorgestülpten Augen, Lippen und Nase zum übrigen Teil des Kopfs, in dem das Gehirn stecken mußte. Die Augen schienen ziemlich weit weg vom Gehirn. Es muß recht langsam reagieren, dachte Michael… Wie verwundbar, trotz seiner Panzerung. Zu Hause, auf dem Kaminsims, lag eine leere Schildkrötenhülle, die ein Nachbar aus Indien mitgebracht hatte. Ein winziges Loch war hineingebohrt worden, damit die Ameisen das noch lebende Fleisch des bedauernswerten Geschöpfs fressen und den Schild säubern konnten… »Friede«, hupte es. »Liebe.« »In Ordnung«, sagte Michael. »Friede.« Das Ding schien von lächerlicher Schwerfälligkeit, ja es sah fast zu komisch aus, um eine Bedrohung darzustellen. Humanoide, Zwerge, Silberriesen, geflügelte ›Mottenmenschen‹ – alle waren sie in UFO-Berichten aufgetaucht, aber das Phänomen hatte sich noch nie so fremdartig manifestiert! Das war dem Phänomen zu weit entfernt. War ihm zu fremd. Was tat es an dieser Stelle? Eingequetscht in einen Ford Thunderbird! Jedenfalls mußte es ein UFO-Ding sein… Das UFO-Programm war wohl außer Rand und Band – einen großen gepanzerten Schildkröten-Elefanten in einen Druckanzug zu packen und ihm als Gefährt nur einen Wagen im normalen ›Männer-in-Schwarz‹-Stil beizugeben. Das Wesen mußte verwirrt und in Nöten sein. Erneut bedauerte er es. Es strahlte etwas Rührendes aus.
»Ich bin nicht, was du glaubst«, sagte es. Die Stimme kam aus einem silbernen Gittergeflecht unterhalb der Sichtscheibe. Das Geschöpf stöhnte und ächzte. Der Anzug war eine Boa constrictor. Michael spürte, daß die Lösung in Sicht war: ein loser Saum des Phänomens, den man festhalten und auftrennen konnte. »Woher weißt du, was ich denke?« wollte er von dem gefangenen Schildkrötenkopf wissen. »Wir haben eine Apparatur. Eine biologische Maschine. Sie liest den Puls des Unidentifizierten. Für sie bist du hell wie ein Licht, denn das Unidentifizierte hat dich veranlaßt, hierherzukommen, um ein Ereignis zu erleben. Das Potential baut sich in diesem Augenblick um dich herum auf, obwohl wir beide noch eine kurze Zeit sicher sind.« »Du bist eine Mißgeburt, Schildkröte. Du bist selbst ein UFO-Ding! Nur, daß das UFO-Programm diesmal ganz schön durchgedreht ist, nicht wahr? Ist das eure Vorstellung von einer Fliegenden Untertasse?« »Nein!« Das Geschöpf richtete sich protestierend auf. Als es in dem Auto stand, konnte er vier stämmige Beine sehen. Die Vorderbeine waren doppelt so lang wie die Hinterbeine, obschon sie nahe beieinander angebracht waren. Der breite Rücken neigte sich steil nach hinten. Das Geschöpf hob einen einzelnen behandschuhten Tentakel, der zwischen seinen Vorderbeinen wuchs. Ein weicher Arm, der in einem Seestern aus gummiartigen Fingern endete, die es in seine Richtung schüttelte. »Ich bin kein Bestandteil des Unidentifizierten! Wir haben auch Angst vor ihm. Aber wir werden euch helfen…« »Warum bist du in diesem Wagen zusammengequetscht?« »Den Wagen haben wir gestohlen. Wir entschuldigen uns dafür. Auf diese Weise haben wir weniger Aufmerksamkeit erregt – es ist ein Gegenstand aus dieser Welt. Aber wir haben ihn überarbeitet. Er ist jetzt anders. Er kann fliegen.«
»Ach ja, tatsächlich? So wie Schweine fliegen können?« (Trotzdem näherte sich Michael ständig, als würde er von einem Magneten angezogen…) »Er nutzt jetzt die Schwerkraft. Dieser Wagen wird für dich das Mittel sein, unbemerkt in deiner eigenen Welt umherzureisen – und zu uns ins All hinaus. Wir wagen es nicht, allzulange hierzubleiben, aber du bist auf diesem Planeten geboren.« Das Geschöpf wedelte mit seinem einzelnen Arm. »Er ist sehr leicht zu fliegen. Du wirst es bald können. Wir sind nicht zweiseitig, wir haben nur einen Arm. Unsere Geräte müssen demzufolge einfach zu bedienen sein.« »Was, der Wagen ist für mich?« Wann, fragte Michael sich, würde sich das Monster in seinem Michelin-Reifenanzug in Luft auflösen und ihn (vielleicht) in einem gestohlenen amerikanischen Auto zurücklassen, das kaum fahrbar war, weil der Fahrersitz entfernt worden war? Das angebotene Geschenk entpuppte sich als das übliche nutzlose Zeug, das UFOKontaktpersonen erhielten… »Wir haben bereits fünf Menschen, die uns helfen. Wir haben ihnen allen fliegende Autos gegeben. Wir laden dich ein, die Nummer sechs zu sein.« »Aber wofür? Was wird von mir erwartet?« »Natürlich, daß du uns hilfst, das Unidentifizierte zu verstehen! Hilf uns, seinen Puls aufzunehmen und deine Kenntnisse über es zu leiten. Denn du bist ein Teil von ihm, aber du weißt nichts davon – und deine Unwissenheit macht es zu einer böswilligen, gefährlichen Kraft. Willst du es nicht verstehen?« »Ich schätze doch. Natürlich will ich das!« »Wir werden dir zeigen, was es ist, aber wir brauchen deine Hilfe. Wir fürchten hier um unser Leben.« Michael war verblüfft. War das nun ein UFO-Kontakt oder nicht? Wenn er alles richtig verstand, war hier ein fremdes
Wesen, das erklärte, daß UFOs existieren – und es wollte sie analysieren und hatte darüber hinaus Angst vor ihnen. »Wir kommen von einer schweren Welt mit hoher Schwerkraft. Daher unsere gedrungenen Körper. Um unsere Welt zu verlassen, mußten wir erst lernen, wie man die Schwerkraft überwindet. Dieses Auto erzeugt – damit du dich wohl fühlst – in seinem Innern ständig ein Ein-G-Feld. Es ist durch Schwerkraft- und Repulsionspunktquellen leicht steuerbar. Und auch ziemlich schnell! Wir können euren Mond in zwei Stunden erreichen.«
Die Zeit sprang zurück. Michael saß wieder in Deacons Büro und hörte zu, wie Barry Shriver den imaginären Entwurf einer Fliegenden Untertasse mit Schwerkraftantrieb skizzierte… Das Material steckte bereits in seinem Kopf. Shriver hatte gesagt, es sei die einzige logische Art zu fliegen. Also konnte es stimmen. »Im All ist keine Luft. Autos sind nie ganz dicht, oder?« »Es sieht nur wie ein normales Auto aus. Deshalb wird es auf euren Straßen ganz normal fahren können, angetrieben von einem Miniaturmotor, der seine Energie aus Reaktionsmasse bezieht. Vorher war die Konstruktion wenig leistungsfähig. Aber die Auspuffrohre sind abgedichtet, und der gesamte Fahrzeugkörper ist luftdicht und zum Fliegen geeignet. Er ist sogar gegen Strahlung gesichert. Die Klimaanlage enthält ausreichend Luft für einen sechsstündigen Aufenthalt von vier Menschen. Dieser Luftvorrat ergänzt sich automatisch, sobald die luftdichten Türen geöffnet werden.« Eine fremdartige Elefanten-Schildkröte als Gebrauchtwagenhändler… Sie strahlte ein Maximum an Hilflosigkeit und Vertrauen aus. Michael bemerkte, daß er jetzt
neben der geöffneten Tür stand. Plötzlich wand sich das Geschöpf in erregten Bewegungen. »Ein Ereignis steht bevor. Möglicherweise ein unerfreuliches, das mit meinem Hiersein zusammenhängt. Laß dein Fahrgerät draußen! Steig ein!« Michael blieb, wo er war. Das Geschöpf kippte zur Seite. Sein Arm schlängelte sich nach draußen, länger, als Michael erwartet hatte, und schlug die Tür weit auf. Die Seesternhand packte ihn am Unterarm und zog ihn hinein. »Tut mir leid«, blökte es, zerrte ihn auf den Beifahrersitz und zog mit rascher Bewegung die Tür zu. Seine Finger fuhren über das Armaturenbrett. Als Michael den Türgriff packte und feststellte, daß er verriegelt war, riß das Geschöpf das Lenkrad mit einem hörbaren Schnappen nach hinten. Die Lenksäule stellte sich schräg wie ein Steuerknüppel. »Bodenbetrieb auf Flugbetrieb«, sagte es erklärend. Aus dem Radio-Kassettengerät sprang ein grüner Zylinder hervor, der mit etwas gefüllt war, das wie Waldmeistergrütze aussah. Einige Knöpfe am Autoradio pulsierten rot auf, und einer der Stereolautsprecher hinten im Wagen stieß ein schrilles Alarmpfeifen aus, das ständig lauter wurde… Ein breiter Fuß trat sanft auf das Gaspedal. Der Thunderbird zitterte und summte, dann schoß er in den blauen Himmel hinauf (aber keine Schräglage war zu bemerken!). Er jagte nach oben (aber keine Beschleunigung war zu spüren!). Während der Stereolautsprecher kreischte, näherte sich ihnen eine schimmernde, rotierende Scheibe von Süden. Das Geschöpf drehte das Steuerrad, und damit verschwand die Moorlandschaft unter ihnen. Gleichzeitig zog es die Lenkung zurück und brachte den Wagen in einer engen Kurve nach oben, bis sie steil aufstiegen und die Landschaft von Yorkshire im Rückfenster auf dem Kopf stand. (Aber ›unten‹
war immer noch der Wagenboden.) Die leuchtende Scheibe schoß hinter ihnen vorbei, teilte sich dann plötzlich in immer kleinere Lichtpunkte und wurde zu einem sich zerstreuenden Regenschauer. Das pfeifende Geräusch verstummte; die roten pulsierenden Lichter am Autoradio erloschen. »Wir sind außer Gefahr«, seufzte das fremde Geschöpf. Es streichelte die grüne Glaspatrone, die in dem Kassettenrecorder steckte, wie eine Reliquie. »Kennst du Tunguska? In Sibirien? Weißt du von der großen Explosion dort? Dort haben wir unsere erste Expedition verloren. Eure Unidentifizierten haben sie vernichtet.« Michael klammerte sich an den Beifahrersitz. Wenn er die Augen einen Moment schloß, verschwand jedes Gefühl von Bewegung, genausogut hätten sie auf der Stelle stehen können. »Du bist ein… echter Außerirdischer?« flüsterte er. »Sie haben unsere Freunde im Raum angegriffen, beim Anflug – eifersüchtige, gewalttätige Energien. Jahre später empfingen wir von unserem Schiff ein Richtsignal, daher wußten wir, daß eure menschliche Technik – zum damaligen Zeitpunkt – nicht ausreichte, um es zerstören zu können. Unsere Helfer unter den Menschen berichteten uns vom Tunguska-Rätsel. Von Millionen gefällter Bäume. Von den Leuchtwolken, die drei Jahre um die Welt zogen. Bei diesem Zwischenfall haben wir unsere Freunde verloren – daran gibt es keinen Zweifel. Wir können uns auch vorstellen, wie. Das Unidentifizierte! Welche Gefahr, wenn das zutraf! Natürlich bin ich ein echter Außerirdischer!« »Wohin… wohin fliegen wir?« »Zu eurem Mond. Zur abgewandten Seite. Dort sind wir sicher, verborgen vor den Wahrnehmungsmöglichkeiten des Unidentifizierten dieser Welt. Dort ist sein toter Winkel – außer, wenn die Menschen den Mond umkreisen. Dann kann es sich sichtbar machen.« Blau verdunkelte sich zu Indigo,
dann zu Purpur und zu Schwarz. Funkelnd tauchten Sterne auf. Sonnenlicht heizte das linke Seitenfenster auf, wurde vom Glas aber sofort abgekühlt und gefiltert. Michael sah nach unten. Kumulusflocken sprenkelten England und die Nordsee. Von dieser Warte aus war der Tag nicht so hell und klar. Er sah auch Irland und die Irische See, dann den Atlantik jenseits der Insel. Die leuchtende, violett-blaue Wölbung des Erdhorizonts schwoll an, dann wurde die Krümmung Hunderte Meilen weit über dem Ozean draußen von der nebligen Dunkelheit der nach Westen wandernden Beleuchtungsgrenze abgeschnitten. Ein Hochdruckgebiet zwirbelte seine flauschige Spirale in die Luft. Dann waren sie im Raum. Gebannt starrte Michael nach draußen. Schwarze Leere, nackte Sonne, Juwelensterne ohne Funkeln. Der helle Mond war im letzten Viertel, eine Quecksilbersichel als Pokal für eine dunkle Felsenkugel. Jenseits der Fenster war Leere, Kälte und Strahlung. »Du hast gesagt, feindliche ›Energien‹ haben deine Freunde angegriffen – und diese Energien sind das, was UFOs sind?« »Es sind freundliche Energien, wenn man mit ihnen harmonisieren kann! Die Unidentifizierten deiner Welt pauschal als feindlich zu bezeichnen, wäre zu einfach. Sie bringen euch, neben Wahnsinn und Bosheit, auch Einsicht – aber eingebettet in Konfusion, und die Tendenz ist jetzt feindlich.« »Und wir Menschen verursachen die UFOs?« »Alle Lebewesen und jede lebende Zelle in der Ökologie einer Welt erzeugen die Unidentifizierten dieser Welt. Du mußt wissen, eine bewohnte Welt lebt als Ganzes. Es gibt einen Weltgeist – eine lebendige Planetenaura. Es handelt sich um eine vereinte Ganzheit, die sich über die Äonen entwickelt hat. Wir nennen sie ›Gesamtleben des Planeten‹. Das Netz aller lebendigen Verbindungen erzeugt diese höhere kollektive Existenzform. Sie ist größer als die Summe ihrer Teile, aber
ihre Teile beeinflussen ihr Wesen. Die Aura kann erkranken, wenn die Teile weitgehend ihre Harmonie verlieren.« »Ökologie – das begreife ich, aber… zu behaupten, die Welt sei ein lebendes Wesen! Ökologie hat doch damit zu tun, wie verschiedene, voneinander getrennte Dinge zueinander in Beziehung stehen? Bäume, Flüsse, die Atmosphäre… Nahrungsvorräte… Die Art und Weise, wie Städte und Industrie all das beeinflussen. Luftverschmutzung und so weiter.« »Eure mechanische Ökologie besteht nur daraus. Doch das ist von wahrer Ökologie weit entfernt. Auf einer Weltzeitskala scheinen Bäume die einzelnen Objekte zu sein, aber in größerem Zeitmaßstab ist der Wald eine sich entwickelnde Ganzheit. Großstädte entwickeln sich über die Jahrhunderte aus Dörfern und Kleinstädten, so wie Protoplasmaklumpen auf etwas Komplexeres zu wachsen. Auch Städte leben, denn sie sind genau wie Ameisenhügel oder eine Honigwabe Produkte des Lebens. Sie entwickeln Adern und Nervenbahnen – Straßen, Kanäle, Telefonleitungen, Energieverbindungen. Wenn man die bildliche Darstellung der Entwicklung einer Großstadt über ein Jahrtausend rafft und auf wenige Minuten komprimiert – dann bekommt man die richtige Vorstellung! Aber individuelle Lebewesen innerhalb des Systems können das in Wirklichkeit nicht direkt wissen. Denn ich spreche von Organisationssystemen höherer Ordnung: von Modellstrukturen höherer Ordnung. Systeme niedriger Ordnung können das Ganze, von dem sie Teile sind, nicht vollständig erfassen. Die Logik verbietet es. Ein natürliches Prinzip. Daher kommt es, daß Prozesse des Ganzen sich als unidentifizierte Phänomene zeigen – als Eindringlinge in den eigenen Erkenntnisstand, die man sehen und erleben, aber nicht rational erkennen kann – weder analysierbar noch identifizierbar. Solche Eingriffe sind von unschätzbarem Wert.
Sie sind der Antrieb in Richtung einer höheren Organisation. Sie sind es, die die Amöbe dazu bringen, sich zu einer höheren Lebensform zu entwickeln. Sie sind es, die die menschliche Vernunft anstacheln, sich aus natürlichem Instinkt zu entwickeln und höheres Bewußtsein aus einfacher Vernunft. Sie sind der eigentliche Antrieb des Universums.« »Willst du damit sagen, ihr seid auf eurem Planeten auch von UFOs geplagt?« »›Geplagt‹ ist das falsche Wort!« Der Fremde klopfte auf die grüne Glaspatrone. »Wir haben biologische Geräte, die uns helfen, das Unidentifizierte zu verstehen. Das hier ist so ein Gerät. Es ist – durch unsere Biosatelliten im Orbit – phasengleich mit der Mutter-Biomatrix in unserem Schiff auf der erdabgewandten Mondseite. Vielleicht fiel uns dieses Verständnis leichter, weil wir Pflanzen- und keine Fleischesser sind. Pflanzenleben geht dem Tierleben voraus, verstehst du? Pflanzenleben besitzt das undifferenzierte Informationsnetzwerk, von dem letztlich alle tierischen Nervensysteme abstammen. Die Pflanzenwelt besitzt Primäre Wahrnehmung. Durch sie kann das Unidentifizierte wahrgenommen werden. Dadurch befinden wir uns in Harmonie. Aber gewiß, auch auf unserer fernen Welt gibt es das Unidentifizierte.« Der Fremde kippte den Thunderbird über die Seite und brachte die Sterne zum Kreisen. »Denkt man sich eine Linie vom Andromedanebel zu eurem Polarstern, befindet sich an der Stelle, wo diese Linie die Zentralebene unserer Galaxis kreuzt und durch den dichten Sternenfluß schneidet, das Sternbild, das ihr Cassiopeia nennt. Dort ist Gebraud, unsere Heimat. Eta in der Cassiopeia – der Alphastern des Doppelsystems. Eure Sonne sehen wir in eurem Kreuz des Südens. Das Licht braucht achtzehn Jahre, um von hier aus unsere Heimat zu erreichen. Nach eurer Zeitrechnung haben wir erst 1926 von der sibirischen Katastrophe erfahren.
Wir warteten über zehn Jahre auf Erkenntnisse – auf eine Eingebung von unseren Unidentifizierten. Dann haben wir weitere vierzig Jahre im Kälteschlaf verbracht, um hierher zu gelangen.« »Ist es nicht wahnsinnig, eine zweite Expedition hierher zu schicken, wenn eure erste ausgelöscht wurde?« »Unsere Unidentifizierten rieten uns dazu.« »Du sprichst von ihnen, als seien sie Götter! Als sei ein Planet eine Art Gott!« »Und euer Gott verfällt vielleicht dem Wahnsinn… Ja, für ein System niederer Ordnung scheint das System höherer Ordnung tatsächlich ein Gott zu sein. Aber das ist nicht wirklich der Fall. Das Gesamtleben des Planeten ist einfach eine höhere Hierarchie. Darüber gibt es weitere Hierarchien, noch höhere Ordnungsebenen des Kosmos. Wir müssen die Gott-Ordnung eurer Welt untersuchen und kurieren. Wenn es fehlschlägt, sei gewarnt: eine höhere Ordnung kann euch vielleicht auslöschen! Aber vielleicht nicht früh genug! Denn die göttlichen Ordnungen der Galaxis-Wesen entwickeln sich über lange Jahrtausende. Der Schaden, der in der Zwischenzeit eintreten könnte – für euch, für uns, für andere benachbarte Welten –, könnte gewaltig und verheerend sein. Auf dem Mond wirst du das alles besser verstehen.« Michael spürte prickelnden Argwohn. Diese kaschierten Drohungen vor dem Untergang, diese halbherzigen Versprechungen auf Errettung: liefen sie nicht nur auf einen neuen Spielzug im selben alten Spiel hinaus? Flog er wirklich auf den Mond zu, oder lag er nicht doch benommen auf dem Yorkshire-Moor? War die Zeit angehalten worden, um seinen Geist mit falschen Erlebnissen zu programmieren, die nicht aus dem Bereich menschlicher Erkenntnisse stammten? Wolken verhüllten Europa. Weiter südlich lag die ockerfarbene Landmasse Nordafrikas völlig bloß. Die Erde
wurde mit jeder Minute kaum wahrnehmbar kleiner. Sie schrumpfte mit einer Geschwindigkeit, die sich mit der Bewegung des Stundenzeigers einer Armbanduhr vergleichen läßt: eine Bewegung, die so langsam ist, daß man sie kaum wahrnehmen kann, die aber ohne Zweifel stattfindet. »Du hast mir deinen Namen noch nicht gesagt«, bemerkte der Außerirdische freundlich. »Ich heiße Michael.« »Sei gegrüßt, Michael. Ich bin Gar-buur-uuid-ie.« Der Name zog sich dahin, als würde ein Tonband zu langsam abgespielt. Er klang ein wenig wie ›Garibaldi‹. Also legte Michael, die fremdartigen Betonungen außer acht lassend, sich auf den Namen des italienischen Patrioten fest. Diese Taktik erleichterte es ihm, sich den Namen zu merken und milderte den Schock der Fremdartigkeit. »Darf ich dich Garibaldi nennen? Es ist einfacher.« »Wenn du es wünschst. Wenn es eine Erleichterung ist.« »Wie schnell fliegen wir, Garibaldi?« »Zweihundertzwanzigtausend km/h«, quäkte Garibaldi munter. »Geschätzte Ankunft in einer Stunde und dreißig Minuten.« Sein Arm lag schwerfällig auf dem Lenkrad. Ganz gewiß war er Opfer einer Halluzination – der intensivsten bisher, die Luvahs simple Verführung und den anschließenden kurzen, sprunghaften Flug nach London bei weitem ausstach. Diesmal hatte das Szenario keine Lücken, keine trügerischen Abweichungen. »Wirst du mir von deiner Welt erzählen?« »Später – auf dem Mond. Du wirst einen Film aus den Erinnerungen der Biomatrix sehen. Ich bin nur dein Pilot.« Könnten die Fremden wirklich nur verhexte Marionetten des Phänomens sein? Tulpas? Teile des Phänomens, die es aus seinem eigenen Sein entsandt und mit der Aufgabe betraut hatte, es selbst zu untersuchen, sich gegen es selbst zu stellen? Strohmänner und Sündenböcke zugleich? Je näher sie dem
Mond kamen und je weiter sie sich von der schrumpfenden Erde entfernten, desto echter schien alles zu sein – als wären sie tatsächlich von einem wahnsinnig gewordenen Weltgeist in einen der Heiterkeit und Klarheit entkommen. Der Thunderbird schoß dahin.
16
Der Fluß schimmerte: braun-bronze mit einer grünen Patina. Eau-de-nil, dachte Deacon abwesend. Er saß auf einer Steinbank und blickte über ein niedriges Geländer. Die Bank war staubig. Auch er fühlte sich staubig, verschmutzt… War das die Themse? War die lange Brücke über den Fluß Vauxhall Bridge? Oder Lambeth Bridge? Ein rot-weißer einstöckiger Bus, der mit Fahrgästen überfüllt die Brücke überquerte, machte diese Möglichkeit zunichte. Was waren das für Gebäude über dem Wasser – Hotels? Am Ende der Brücke ragten Obeliske empor. Ein kleines Holzboot mit einem Lateinsegel trieb unter der Brücke hervor, der Steuermann war unter einem gewölbten Sonnendach verborgen. Gelächter schreckte ihn auf. Als er sich umwandte, sah er den knotigen Stamm… einer Palme, dann einen Fahnenmast mit einer flatternden Trikolore in Rot, Weiß und Schwarz mit grünen Sternen auf dem weißen Streifen. Zu welcher Nation gehörte diese Flagge? Er hatte keine Ahnung. Das Lachen kam von einer Familie beim Picknick, die auf dürrem Gras hockte. Sie schälten gekochte Eier im Schatten eines gewaltigen Banyanbaums, der praktisch schon einen eigenen kleinen Hain bildete, so viele Saugwurzeln hatte er zur Erde gelassen. Er sah an die zwanzig Erwachsene, alte Leute, Kinder und Jugendliche… lockiges Schwarzhaar, Schnauzbarte, von langen Wimpern überwachsene helle Augen. Blitzende Zähne und frisch gewaschene Hemden. Auf einem Gebäude der Schnörkel eines in den Himmel ragenden Werbeschilds… auf Arabisch. Eau-de-nil – Wasser
des Nils! Er blieb einige Sekunden sitzen, sah der Familie beim Eierschälen zu und wartete darauf, daß sein Gedächtnis zurückkehrte und ihm das alles erklärte. Aber nichts kam, also leerte er seine Taschen aus. Er fand ein paar Münzen (nur englisches Geld), Wagenschlüssel, seinen Hausschlüssel. Seine Brieftasche enthielt einen Führerschein, Scheckkarte, Büchereiausweise und drei englische Pfundnoten. Ein Paß? Nein. Wenn er in einem der Hotels über dem Wasser wohnte, hatten sie seinen Paß vielleicht an der Rezeption behalten, um ihn zu registrieren. Er versuchte, sich an ein Hotel zu erinnern – vergeblich. Er stand auf, ging um den Banyanbaum herum und, den Geruch fauligen Fischs wahrnehmend, auf die Brücke zu. Und zum ersten Mal bemerkte er Soldaten. Zwei von ihnen standen vor einem hölzernen Schilderhaus, gekleidet in grobe graue Uniformen und zerknitterte Mützen auf dem Kopf. Ihr Gewehr hatten sie lässig am Lauf gepackt, den Schaft aufs Pflaster gestützt. Die beiden Wachtposten musterten ihn interesselos. Er zögerte, da er fürchtete, es könnte verboten sein, an ihnen vorbeizugehen. Die Brücke stand für den Verkehr jedoch offen, Fußgänger überquerten sie. Plötzlich schrillte ein heulender Ton aus Lautsprechern über die Dächer. Sirenen. Krieg… Die Wachtposten lehnten ihre Gewehre gegen das Brückengeländer und entrollten abgewetzte Matten auf dem Pflaster. Sie knieten sich darauf, verbeugten sich im Gebet. Mit einem leichten Schuldgefühl eilte er an ihnen vorbei. Die Wachtposten mochten beten, aber der Verkehr machte keine Pause. Er erblickte eine Uhr: Mittag. Seine eigene Uhr stand auf Zehn. Ein Bus kam vorbei, über dem Kühlergrill war ein Schild angebracht. Auf Englisch stand dort: 16: Giza Pyramids.
Er war also tatsächlich in Kairo… Ein Linienbus zu den Pyramiden. Erwartete man, daß er sie besuchte? Wer erwartete das? Eine weitere Großfamilie zog vorbei, auch sie von faulem Fischgeruch umgeben. Als sie ihn anstarrten, tat er so, als bewundere er den Fluß. Einige Hausboote waren am Ufer vertäut, alle, bis auf eins, an dessen Deck eine Party stattfand, in verkommenem Zustand. Feuerwerk explodierte am Himmel. Kleine Jungen tollten umher. Die Soldaten beendeten ihr Gebet. Er mußte jetzt wie ein Saboteur wirken, der die Uferanlagen auskundschaftete. Eilig ging er weiter. Unendlich lang, die Brücke. Stromauf brach eine Wasserwolke aus der Flußmitte, stieg höher, als die Gebäude ragten. Keine Bombe, keine Granate. Der Springbrunnen nährte sich aus einer flachen, pilzförmigen Scheibe in der Flußmitte, die irgendwie an Bomben erinnerte, die noch nicht auf die Stadt gefallen waren… Am 24. Oktober 1593 stand ein spanischer Soldat in Manila in Südostasien auf Wache. Am nächsten Tag fand er sich angeblich auf der anderen Seite des Pazifik in Mexiko City wieder… Im Mai 1968 starteten Dr. Vidal und seine Frau in ihrem Peugeot im argentinischen Chascomiis zu einer Fahrt nach Süden. Sie fuhren in eine Nebelwand und verloren das Bewußtsein. Als sie erwachten, waren sie auf einer fremden Straße – in Mexiko. Zwei Tage waren vergangen… Deacon erinnerte sich an Barry Shrivers Berichte und vergaß den Spott Sandra Neilstroms. Er erschauerte in der warmen Luft. Wie viele Tage fehlten in seinem Leben? Welches Jahr schrieb man? War das die Folge der Grübeleien über Hilfe, die sich dem Begreifen entzog? Dieses absurde Geschehen? Dieser Scherz? Hilfe und Hemmnis, die sich dem Begreifen entzogen… Das Rätsel löste sich auf.
Ali Ibrahim Muradi, Autor von Bewußtsein: früher und heute, lebte hier in Kairo. Deacon hatte sogar einen Wunsch geäußert: in seinem eigenen Zimmer an der Universität! Wäre Scheich Muradi nur noch im Land! Allerdings: der Prophet und der Berg… Er war hierhergekommen, um ihn zu treffen.
Gegenüber der Corniche erstreckten sich die langgezogenen Balkone des Semiramis-Hotel. Weiter nördlich ragte das NilHilton empor, die Rückseite dem Fluß zugewandt. Deacon überquerte die Corniche und ging zum Haupteingang des Hilton. Ein weiter Säulengang mit Blumenmosaiken ragte in den großen, belebten Vorplatz hinein. Der Angestellte am Informationsschalter war klein, muskulös und in einen knapp sitzenden schwarzen Anzug gekleidet. Er sah aus, als diente er nebenbei als Wachtposten oder arbeitete sogar für die Polizei. »Bitte, Sir?« »Ich… ääh… muß mit einem Professor in al-Azhar Kontakt aufnehmen. Ali Ibrahim Muradi. Scheich Muradi. Er ist der Führer des Sufi-Ordens hier in Kairo. Er heißt Fihi’iya…Ich fürchte, ich habe seine Privatadresse verloren, und ich kann das Telefonbuch nicht lesen.« »Heute könnten Sie in al-Azhar nicht anrufen, Sir. Wissen Sie nicht, daß heute Feiertag ist?« Also war es doch noch Ostern. Gestern war Ostersonntag gewesen… Aber Ostern war kein moslemischer Feiertag… »Weil es Ostermontag ist?« »Ein koptisches Fest, Sir. Heute ist Sham-el-Nessim – ›der Duft des Windhauchs‹. Der erste Tag des Frühjahrs.« Daher die Picknick-Gruppen. »Wenn in al-Azhar niemand ist, können Sie für mich den Orden anrufen? Bitte. Es ist sehr wichtig.« Ein Notizblock tauchte aus dem Nichts auf.
»Wenn Sie mir sagen würden, worum es sich handelt, Sir? Ich werde es am Telefon erklären müssen. Welcher Name und welche Zimmernummer?« »John Deacon. Eigentlich wohne ich nicht hier.« Er legte eine der drei Pfundnoten auf den Tisch. »Kann ich das Gespräch damit bezahlen?« »Oh, ich kann keine ausländische Währung wechseln. Unmöglich. Sie müssen die Kassiererin fragen. Dort drüben. Sehen Sie das Schild?« »Würden Sie wenigstens die Nummer nachschauen?« »Während Sie Ihr Geld wechseln.« Die Augen der Kassiererin waren tief schwarz. Ihr schwarzes üppiges Haar war zu einem dicken Knoten zusammengebunden. Ein stämmiges Mädchen in blauem Twin-Set. »Wollen Sie nicht mehr wechseln, Sir?« »Ich reise bald ab. Ich brauche nur Geld für ein Taxi«, sagte er und fragte sich, wie weit der Flughafen entfernt sein mochte. »Wir haben einen eigenen Minibus-Service vom Hotel zum Flughafen.« »Ah… Vielleicht fahre ich nicht vom Hotel ab.« »Wie Sie wünschen. Haben Sie Ihren Paß zur Hand?« »Ich habe ihn nicht dabei… nein. Wieso?« »Weil Sie Devisen eintauschen.« »Mein Gott, doch nur ganz wenig. Nur Banknoten, keine Schecks.« Das Mädchen seufzte auf. »Vorschriften, Sir. Wechselkontrolle. Ich muß die Nummer Ihres Passes im Formular eintragen.« »Auch für drei Pfund?« »Auch für drei Pfund.« »Das ist ja lästig…« »Tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich muß meinen Paß holen.« Vielleicht könnte ein Taxifahrer das Hauptquartier des Ordens finden. Ein
Taxifahrer würde die Devisen sicher nicht zurückweisen! Aber vielleicht verstand er ihn nicht, vielleicht würde er ihn nur herumfahren und ihn bei einer kleinen Polizeistation abliefern, weil er die Fahrt nicht bezahlen konnte… An die Eingangshalle grenzte eine Frühstücksbar. Er ging hinein – in einen großen hohen Raum, unterteilt durch Papyrussäulen mit wuchtigen Glockenkapitellen. Ein Raum, auf dem die Stille eines MGM-Gongschlags kurz vor dem Auftreffen des Schlegels lastete, voll mit poliertem Messing, in das Flachreliefs mit Sonnenmotiven, Flügeln und Augen des Horus eingeprägt waren. Eine dicke Messing-Fußstange führte rund um die Theke. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte einen schwarzen Kaffee. Als der Kellner kam, legte er die drei Pfundnoten auf das Tablett. »Sie können mir das doch sicher wechseln. Ich habe mein ganzes ägyptisches Geld im Hotel gelassen.« Der Kellner zögerte, dann verschwanden die Banknoten in seiner Hand. Eine Viertelstunde später brachte er schließlich einen Stapel winziger, abgenutzter brauner Scheine. Deacon nahm sie alle und ging schnell hinaus, zurück zum Informationsschalter. Der Angestellte wirkte verärgert. »Ich habe die Nummer für Sie rausgesucht. Sie hatten es doch eilig.« »Ich mußte eine Tablette nehmen – ein Aspirin gegen meine Kopfschmerzen.« Die Entschuldigung besänftigte den Angestellten unerklärlicherweise. Er ließ ein mitfühlendes Schnalzen hören und zauberte den Notizblock wieder hervor. Deacon legte zwei zerfetzte Geldscheine auf den Tisch. »Sagen Sie, bitte, ich müßte den Scheich dringend sehen. Es täte mir leid, daß es ohne Vorankündigung geschieht, aber ich möchte ihn sofort treffen. Und die Adresse – die brauche ich.«
Der Hotelangestellte wählte, redete eine halbe Minute auf Arabisch, wählte dann eine andere Nummer. Schließlich legte er den Hörer auf die Gabel. »Ich habe mit Scheich Muradis Assistenten gesprochen. Der Scheich erwartete Sie. Er wird so schnell wie möglich einen Wagen schicken. Wenn Sie warten möchten…?« »Sagten Sie, er erwartete mich? Oder erwartet er mich jetzt?« Der Angestellte wirkte verärgert, als würden seine Sprachkenntnisse in Zweifel gezogen. »Ein Wagen kommt hierher, Sir. Warten Sie nur.«
17
»Wie können wir bei diesem Tempo überhaupt landen?« Michael bekam panische Angst, als der Wagen auf den Mondhorizont zuraste. Garibaldi drehte das Lenkrad, ein Fuß trat aufs Bremspedal. »Du wirst es lernen. In einer Lehrstunde – mit Hypno.« »Keine Hypnose! Nein, danke!« »Statt vieler Lehrstunden?« lockte der Pilot. »Du wirst selbst zurückfliegen. Ich werde dich nicht fliegen. Es ist die einzige Möglichkeit der Rückkehr. Also! Besprich es in Ruhe mit den anderen Menschen. Sei hilfreich!« Der Wagen flog jetzt langsamer – wenn auch anscheinend noch viel zu schnell – in Schräglage um den Mond und überquerte in niedriger Höhe einen gewaltigen doppelten Gebirgsring, der ein kreisförmiges graues, pockennarbiges Steinmeer einschloß. Michael starrte zur Erde zurück – zu spät. Der Heimatplanet war bereits hinter dem Mondhorizont verschwunden. Garibaldi drehte den Wagen wieder in Normalposition. »Unsere Basis ist im Ziolkowski. 20 Grad Süd, 130 Grad Ost. Er hat eine ziemlich charakteristische Form. Er ist nicht zu verfehlen.« Zwei Minuten vergingen, während derer eine zerklüftete, von Kratern übersäte Einöde unter ihnen dahinflog. »Vor uns – dort. Siehst du ihn?« Der Ziolkowski-Krater prägte einen tiefen, schaufeiförmigen dunklen Fleck in die hellerleuchtete, pockennarbige Ebene. Der Krater schien eher aus sich heraus als durch den Schattenwurf so dunkel zu sein. Gerunzelte, narbige Wände umgaben ihn. Aus seiner Mitte ragte eine weiße
Pyramidenspitze hoch. Als sie, nun deutlich langsamer, über dem Krater einschwebten, erspähte Michael einen hohen, schwarzen Pilzturm, der sich südlich der zentralen Spitze erhob. Ein dunkler Metallpilz, ein hoher Stamm mit einer aufgeblähten, kuppelartigen Kappe, der durch drei große, gespreizte Landegestelle mit dem Kraterboden verwurzelt war. Der Raum zwischen jeweils zwei Landestützen beherbergte eine lange, ovale Kuppel, drei insgesamt, die sich über den Kraterboden erstreckten. Das Sternenschiff überragte diese Kuppeln etwa um das Zehnfache. Der Wagen landete sanft inmitten eines erstaunlichen Mondstaubgestöbers. Garibaldi drückte die Kontrollen und ließ das Lenkrad wieder nach vorn in die Stellung ›Bodenbetrieb‹ einrasten. Der Staub fiel schnell zu Boden und auf den Wagen. Garibaldi säuberte die Scheibe mit dem Scheibenwischer und schaltete dann die Scheinwerfer ein. »Die äußeren Schwerkraft-Punktquellen sind jetzt abgeschaltet. Wir müssen auf konventionelle Weise in die Kuppel fahren.« Der Pseudo-Motor des Wagens surrte leise. Der Thunderbird rumpelte auf den nächstgelegenen Kuppelbau zu. Das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt, starrte Michael an dem mächtigen Raumschiff hinauf. Die Unterseite der kuppelförmigen Kappe war wie bei einem Pilz lamellenartig gefächert. »Siehst du die Metallflügel unter der Haube dort oben?« fragte Garibaldi. »Sie dienen dazu, die überschüssige Hitze abzustrahlen. Das Schiff muß kalt sein, wenn wir zwischen den Sternen schlafen.« »Oh.« Ein dreieckiger Einlaß öffnete sich am Ende der Kuppel, der sie sich näherten. Sie fuhren in die dunkle Öffnung, erhellten mit ihren Scheinwerfern einen kurzen röhrenförmigen Tunnel und hielten an. Hinter ihnen schloß sich die Öffnung. Garibaldi wartete einen Moment, dann schaltete er die ›Heizung‹ – die in diesem umgebauten Wagen keine Heizung mehr war – ab. Die
›Tür geöffnet‹-Warnlampe blinkte grün. Im gleichen Moment verlor Michael fast sein ganzes Gewicht. »Die innere Schwerkraft ist jetzt aufgehoben, und die Luftschleuse wird auf Erdatmosphäre gebracht. Dann werden sich unsere Wagentüren wieder öffnen. Aber warte.« Vor ihnen öffnete sich ein weiterer dreieckiger Einlaß und gab den Blick frei auf einen kleinen Wagenpark. Drei Autos standen vor einer transparenten Wand, die zum gebogenen Dach der Kuppel hochragte. Ein Pontiac, ein Mercedes und ein Volvo, mit amerikanischen, deutschen und schwedischen Nummernschildern. Eine zweite transparente Wand teilte die gesamte Kuppel an der Längsachse in zwei getrennte Räume. Die Halle auf der linken Seite, in hellem Gelb erleuchtet, war weniger geräumig als die andere und durch Abschirmungen und Zwischenwände unterteilt. In der größeren Halle auf der rechten Seite, von giftgrünem, ins Blau spielendem Licht erhellt, hing ein demontierter Peugeot an Ketten zwischen vielen, großen Geräten. Der Motor des französischen Wagens lag ausgebaut daneben. Einige der Fremden, alle ohne Anzug, arbeiteten an dem Peugeot. Zum ersten Mal sah Michael die Fremden im Naturzustand, während Garibaldi neben den anderen Wagen anhielt. Ihre Beinhaut war grau und faltig, ihre Füße kurz und stämmig mit hornigen Zehen. Die gepanzerten Rücken neigten sich steil nach hinten, ein Knochenschirm, unter dem das Rüsselgesicht vorsprang, lag über dem Gehirn. Der einzelne, kräftige, biegsame Tentakel wuchs aus dem Brustkorb, als wäre ein Elefantenrüssel an die falsche Seite gerutscht… Jeder der Fremden trug einen Instrumentengurt um das rechte Bein. An das andere Bein war eine beutelartige Tasche gebunden, in der ein grüner Glasblock steckte, der identisch mit dem in dem Autoradio war. Solche abstrusen Geschöpfe sollten ein Sternenschiff gebaut haben! Aber sie bewegten sich behutsam, als sie in den Eingeweiden des
Peugeot wühlten und den Wagen sorgfältig für den Flug durchs All präparierten… Zwei der Fremden blickten auf. Ihre schmalen Gesichter wirkten rührend und sanft. Ins Gespräch mit einem Außerirdischen vertieft, stand eine Frau am diesseitigen Ende der gelb erleuchteten Halle neben einer Luftschleuse. Der Außerirdische trug einen Anzug. Garibaldi klopfte Michael aufs Knie. »Ich stecke schon zu lange in diesem Anzug. Gehst du, bitte, dort hinüber? Deine und meine Leute werden dir alles erklären.« Der Pilot stieß Michaels Tür auf und knuffte ihn freundschaftlich in die Rippen. Michael stieg aus. Wie leicht er sich auf seinen Füßen fühlte, wie beweglich und elastisch! Die Frau sah ihn und winkte ihm zu. Sie ließ den Außerirdischen stehen und hüpfte in die durchscheinende, kreisförmige Luftschleuse. Auf beiden Seiten der Schleuse mußte irdische Luft sein, aber die größere Halle enthielt offensichtlich eine fremde Atmosphäre. Sie schien Ende zwanzig zu sein. Sie war ziemlich häßlich, ihr Körper auf merkwürdige Weise fehlproportioniert: ein magerer Rumpf, dann Känguruhhüften und pralle Beine. Sie trug weite Hosen und eine alte Wildlederjacke. Ihr Haar, als Bubikopf geschnitten, war braun. Ihr Kinn sprang hervor. Die Luftschleuse drehte sich. Sie sprang heraus. »Hallo, ich bin Helen Caprowicz.« Ihr Akzent war amerikanisch. Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Willkommen bei uns. Ist das nicht eine tolle Sache? Eine ganz schöne Verantwortung.« »Hallo, Helen. Ich bin Michael Peacocke. Wie viele Leute seid ihr?« »Sechs. Du kommst aus England, schätze ich. Ich komme aus der Umgebung von New York. Du bist der letzte Ankömmling, Mike. Das macht sechs, wenn man dich mitzählt. Das muß
man sich mal vorstellen: nur wir sechs, um die ganzen Biosensoren zu verteilen!« »Die ganzen was?« »Ach, das haben sie dir noch nicht erzählt? Komm mit!« Als die Luftschleuse sich drehte, flüsterte er: »Ich habe gedacht, das sei alles nicht wirklich. Ich habe es für eine Halluzination gehalten.« »Mike, wenn das nicht wirklich ist, dann bin ich es auch nicht! Und ich fühle mich ziemlich wirklich! Soll ich dich treten, um es dir zu beweisen?« »Nein, nein, das würde gar nichts beweisen…« Aber sie wandte sich tatsächlich um und trat ihm gegen das Schienbein. Als er zurückfuhr, verlor er einen Moment den Boden unter den Füßen. »Oder soll ich einen Gebraudi holen, damit er dich in den Hintern tritt?« »Nein… Ich sehe schon, du existierst wirklich!« Sie führte ihn zu den wartenden Männern. »Darf ich dir Boon-ap-aat-oo vorstellen, Mike. Ich glaube, so spricht man es aus. Er ist unser Instrukteur.« Garibaldi – und… und?… Bonaparte! Der Fremde streckte seinen Arm aus. Er nahm Michaels Finger in seinen Handschuh und schüttelte sie leicht auf und ab, als untersuche er sie auf Bruchstellen. »Willkommen«, brummte er. »Wir begrüßen dich. Bitte folgt mir.« Bonaparte führte sie zu einem provisorischen, durch freistehende Trennwände abgeteilten Zimmer. Eine milchige Glaswand von der Größe eines sehr großen Fernsehbildschirms stand auf dem Boden. Der Fuß bestand aus einem dunklen Prisma, auf dem Tasten mit fremden Symbolen angebracht waren. Helen Caprowicz setzte sich sofort auf den Boden und streckte ihre plumpen Beine aus. »Mach’s genauso, Mike, sie haben keine Stühle für uns.« Michael hockte sich hin. Bonaparte ließ sich auf einem Reifenstapel neben dem Glasschirm nieder.
Er holte die grüne Glaspatrone aus seinem Beinsack und steckte sie in einen Spalt in dem Prismenfuß. Dann drückte er die Tasten. Der Schirm wurde hell. Ein Bild erschien – ein Zeichentrickfilm, der zwei Sterne zeigte, die, weit entfernt voneinander, um ein gemeinsames Schwerkraftzentrum kreisten. Einer der beiden Sterne war größer als der andere. »Zuerst muß ich über unsere Heimat, unsere Herkunft berichten«, sagte Bonaparte belehrend. »Ich liebe diese Filmvorführung«, flüsterte Helen. »Ich habe sie schon zweimal gesehen. Jedesmal sieht man etwas Neues.« »Unsere Heimatsonne ist Teil eines binären Systems. Diese beiden Sterne sind im Durchschnitt sechs Milliarden Kilometer voneinander entfernt – die dreifache Entfernung eurer Sonne vom Saturn. Das genügt, damit beide Sonnen ihre eigenen Planeten haben können. Ein wesentlicher Anreiz zur Entwicklung des Raumflugs! Stellt euch vor, ihr hättet eine zweite Sonne mit einer Planetenfamilie dort, wo der Planet Pluto ist. Folglich waren unsere Unidentifizierten von der Hoffnung besessen, im Bereich der zweiten Sonne könne es planetares Gesamtleben geben. Sie spornten uns zur Raumfahrt an. Wie sich aber herausstellte, gab es im System der zweiten Sonne kein Leben.« Der Außerirdische hielt einen Moment inne. »Wie würdest du den Begriff ›Unidentifizierte‹ erklären, Helen?« »Ich nehme an, sie sind wie symbolische Wesenheiten«, flötete sie. »Bruchstücke der Symbolsprache des kosmischen Programms, die wir, die Programmierten, wahrnehmen. Das Programm ist allerdings nicht von einem Großen Programmierer im Himmel geschrieben. Es ist Bestandteil der Natur der Realität. Daher können wir einen Teil von ihm erkennen.« »Oder auch nicht«, brummte Bonaparte. »Und dann wird es ins Böse umschlagen.«
Das Bild wechselte auf den größeren der beiden Sterne. Eine Planetengruppe umkreiste ihn. Es gab drei kleine mondlose Welten, einen größeren Planeten an vierter Stelle, der Zwillingsmonde besaß, eine fünfte kleine Welt und dann einen Gasriesen mit vielen großen Monden. »Gebraud ist Nummer vier.« Sie beobachteten die Witterungsstrukturen der vierten Welt, während diese sich im Raum drehte. Dichte Wolken bildeten Wirbelstürme und Hochdruckgebiete, brodelten und zerflossen, verschwanden ständig im Zeitraffertempo hinter der Krümmung des Planeten. Jetzt löste das Bild die Wolken auf und zeigte den unverhüllten Planeten; und ein einziger Weltkontinent erschien. Die Meere waren, im Gegensatz zur Erde, alle von Landketten umgeben. Das Auge der Kamera schwebte über diesen Weltkontinent – und das Bild sprang von Zeichentrickformat auf reale Szenen über. Es gab nur einige wenige, ziemlich niedrige Berge. Das Licht war schwach und trübgrün, in der Luft trieben Sporen, Nebelfetzen und Schauerfronten. Eine sumpfige Ebene, von flachen Erdhügeln übersät. Schwammbäume wuchsen auf diesen Erhebungen: Tassen, Glocken, Sonnenschirme, verzwirbelte Turbane, Korallenäste, Boviste, Morcheln, Pfifferlinge. Große Gliederwürmer lebten in diesen Schwämmen, fraßen sich durch sie hindurch und gruben sich in den Boden ein, wenn die Schwammgewächse zu einer breiigen Masse verfaulten. Die Würmer fraßen sumpfigen Tunnel in die Erde, verspritzten Dreck und Eier hinter sich, ertranken in ihren eigenen Tunneln, verfaulten. Tiere grasten auf den Sümpfen. Sie beobachteten ein stummelbeiniges, gepanzertes Schnabeltier mit einem Schaufelschnabel, das monoton Wasser schlürfte und es nach Pflanzen durchsiebte. Auf seinem Rücken wuchsen Schwämme in einer gummiartigen Matte. In dem Schwamm
brüteten Würmer. Sich auflösend, ließ der Schwamm die Knochennähte des Panzers verrotten, die Würmer bohrten sich in den Körper des Tiers. Mit zuckenden Gliedmaßen verendete das Schnabeltier; dann verfaulte es. Andere Schnabeltiere paarten sich schwerfällig am Rand eines Erdhügels. Der Samen des Männchens rann über den Strom von Eiern, die aus dem Körper des Weibchens fielen. Diese Eier kristallisierten, wurden glasig, sobald der flüssige Samen über sie hinwegspülte. Sie rollten in Wurmlöcher und reiften dort heran. Ausgebrütet, watschelten weichhäutige Schnabeltierjunge schnell unter Wasser (jedenfalls diejenigen, die so weit kamen), und im Wasser wuchsen die Panzerschuppen heran, die sie vor Sporen, Würmern und anderen Parasiten schützte… Sie beobachteten ein vierbeiniges, dickhäutiges Tier mit einem flachen, knochenbedeckten Schädel. Unter dem Schädel zuckte ein ledriges Gesicht vor und zurück. Ein einzelner Arm wand sich schlangengleich zwischen Bovistgewächsen, brach Schwammstücke ab und führte sie in sein Maul. Während es kaute, zog es den Arm zwischen die Beine in den Schutz seiner Hautfalten, das Gesicht wurde unter die Schädeldecke eingezogen und bestand für die Außenwelt nur noch aus hartem Leder. Auf dem Rücken des Tiers wuchs Schwamm, fiel hinab und schlug Wurzeln. Stürme tränkten das Land. Regen stürzte wie ein Wasserfall den schrägen Rücken hinunter und wusch ihn sauber. Schlamm fiel vom Himmel. Ein riesiger Pfifferling entsprang auf dem massigen Nacken. Mühsam legte das Tier den Arm über die Schulter und stieß gegen das Gewächs, bis es abriß und hinabfiel. Es brach den Schwamm auf und fraß ihn. Als das Tier einem Weibchen begegnete, schlangen die beiden ihren Arm um den des anderen und stießen röhrende Laute aus. Auge in Auge paarten sie sich. Das Männchen streichelte die Geschlechtsöffnung des
Weibchens, bis sie sich öffnete, und das Weibchen drückte den ledrigen Hodensack des Männchens, bis es seinen Samen ausspritzte. Sie führte den Samen mit der Hand ein, indem sie ihn in die Öffnung strich, die das Männchen aufgedrückt hatte. Dann schloß sie sich rasch. »So machen es die Kraken«, flüsterte Michael Helen zu. »Glaube ich jedenfalls. Es wird alles mit der Hand gemacht.« Sie legte den Finger auf die Lippen. Jetzt grasten die beiden Tiere nebeneinander und versorgten sich gegenseitig mit Futter. Das trächtige Weibchen begann anzuschwellen. Schließlich brachte sie, mit gespreizten Beinen über Wasser stehend, das Junge zur Welt. Das Männchen befreite es aus seiner embryonalen Hülle und drückte dann die Nachgeburt dem Weibchen ins Maul, das sich daraufhin träge ihre körpereigenen Substanzen wieder einverleibte. »Wo haben sie nur diese Filme her?« »Das wirst du schon sehen. Schau nur zu.« Das Weibchen wurde krank und starb. Ihr Körper zerfiel, Würmer und Schwamm wuchsen auf ihm. Indessen nährte das Männchen das Junge – die saugenden Lippen entlockten den männlichen Brustwarzen Milch. Jetzt schwenkte das Bild auf eine simulierte Landschaft. Als der imaginäre Blickpunkt sich entfernte, verschmolz das binäre System von Eta Cassiopeia zu einem einzigen Lichtfleck, der zwischen anderen langsameren und schnelleren Sternen durchs All trieb. Plötzlich flammte einer dieser Sterne in gleißender Helligkeit auf. Lichtkreise strahlten von ihm ab und tauchten die Nachbarplaneten ein. Ihnen folgte ein deutlich langsamerer Halo ionisierten Gases, der sich ständig ausbreitete. »Ganz in unserer Nähe, wenn man es in kosmischen Maßstäben sieht, gab es eine Supernova. Wir glauben, daß sie auch eure Welt beeinflußt hat, aber nicht so intensiv. Vor siebzig Millionen Jahren befanden sich die Sterne in ganz anderen relativen Positionen.« Erneut
betrachteten sie die sumpfigen Ebenen. Doch jetzt krümmten sich die Raubwürmer und die anderen weichhäutigen Parasiten im Strom kosmischer Strahlung. Das gepanzerte, dickhäutige Schnabeltier und der Proto-Gebraudi wurden krank. Einige starben, aber viele erholten sich wieder. War es möglich, daß weniger komplexes Leben starb und komplexeres Leben bestehen blieb? Auf der Erde waren es die Dinosaurier, die ausgestorben waren… Michael spürte die beiden Äpfel in seiner Tasche und merkte, wie hungrig er war. Er nahm sie heraus und bot Helen einen an. Im ersten Moment griff sie danach, dann schüttelte sie den Kopf und blickte angestrengt auf den Bildschirm. Heißhungrig aß er einen der Äpfel. Den anderen steckte er wieder in die Tasche. Auf seiner Uhr, stellte er fest, war es 21.15 Uhr. Er hatte das Haus um 18 Uhr verlassen… (Lag Helen Caprowicz möglicherweise irgendwo im Hinterland von New York im Schlaf und träumte denselben Traum wie er selbst?) Die Strahlung der Supernova veränderte das Klima drastisch. Wirbelstürme rasten über das Land. Schnee fiel. Sümpfe wurden Taiga, schmutzige Tundra. Das Schnabeltier und der Proto-Außerirdische trotteten durch weiße Wildnis, auf der Suche nach spärlich wachsenden Pflanzen. Einige starben an Hunger. Näher am Äquator war allerdings eine gemäßigtere Zone, bedeckt mit zähen grünen Pilzen. Teiche und Seen waren voller Algen. Fleckig und nebelhaft drang die Sonne durch. Das Schnabeltier graste unverändert träge vor sich hin, während der Gebraudi-Schädel sich zu vergrößern begann. Die Furchen am Ende seines Rüsselarms wurden ausgeprägter, mit der Zeit wurden sie zu rupfenden, analytischen Fingern. Schließlich entstanden die Anfänge einer Zivilisation. Haufendörfer aus unbedachten Häusern mit dicken Wänden und langgestreckten, sanft ansteigenden Rampen entwickelten
sich. Überall wuchsen Pflanzen, von schwerfälligen Gärtnern gezüchtet und gehegt. Nachts waren die kleinen Städte von phosphoreszierendem Moos und Leuchtalgen in Bewässerungsgräben trübe erleuchtet… Jahrhunderte vergingen. Schließlich tauchte einer ihrer Rasse ein Gerät aus Metallplatten und Drähten in Schüsseln mit Chlorophyll und Salzwasser. Es zuckte zurück, die Seesternfinger schmerzten nach dem Stromschlag. Ein anderer Außerirdischer entwickelte Geräte aus grünen Glaszellen, die durch Drähte mit einem Mechanismus verbunden waren – welcher sich schwankend zu drehen begann. »Hier haben wir die ersten Solarbatterien«, erklärte Bonaparte stolz. »Chlorophyll gibt Elektronen an einen metallischen Halbleiter ab. Als nächstes werdet ihr sehen, wie die ersten elektronischen Wellen erzeugt werden – Strahlen, die von Pflanzen aufgenommen werden, ihr Wachstum und Gedeihen beeinflussen.« Antennen ragten hoch über blühenden Feldern. In botanischen Werkstätten zeichneten mit Pflanzen verbundene Kabel die Reaktionen dieser Pflanzen auf Belastung und Lärm, auf Musik und Vibrationen auf… »Wir beginnen, die Natur Primärer Wahrnehmung zu verstehen: die grundlegenden Empfindungen und Energien aller lebenden Zellen. Wir lernen, wie Energiestrukturen mit Materie interagieren.« Auf dem Bildschirm projizierte ein Außerirdischer, eine Werkzeugtasche um den Schenkel gebunden, ›Aurafilme‹ der Energiefelder verschiedener Pflanzen auf milchige Glasscheiben. »Strukturen ordnen sämtliche lebende Materie, und ultraviolette Strahlen transportieren das Strukturmuster von einer Zelle zur nächsten. Doch nicht nur lebende Materie überträgt. Alle Schwingungsatome im ganzen Universum – ob in lebenden oder nichtlebenden Zellen – übertragen
Informationen. Das macht es schwierig zu entscheiden, wo die Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben liegt! Oder ob es überhaupt eine echte Grenze gibt. Hier beginnt erst wirklich unser Verständnis des lebenden Universums – eines Universums, das selbst eine lebende Wesenheit ist.« Bonaparte berührte die Tasten, und die Bilder kamen in schnellerer Folge. Kleine Städte wuchsen heran, dann große: samt und sonders grüne Städte. Neue Maschinen und Geräte wurden zusammengesetzt: eine Mischung des Organischen und Nichtorganischen. Biologische Sensoren wurden gebaut – und wuchsen. Biogedächtnissysteme entstanden: Daten, in lebende Zellen eingeprägt… »Der gesamte Kosmos schwingt – von ganzen Galaxien bis zu einzelnen Atomen. Jedes Materiemolekül sendet und empfängt auf seiner eigenen Wellenlänge. Vernunftbegabte Lebewesen können diese Sendungen wahrnehmen…« »Wie Wünschelrutengänger, meinst du?« unterbrach Helen. »Mein Großvater war Wünschelrutengänger. Ich nehme an, ich könnte selbst ein paar Rutengänger-Gene haben. Ich bin wirklich gut, wenn es darum geht, verlorengegangene Dinge wiederzufinden. Habt ihr mich so aufgespürt? Durch meine Schwingungen?« Bonaparte machte eine kreisende Handbewegung: sie signalisierte Zustimmung. »Die natürlichen Strömungen der Welt fließen durch den lebenden Körper. Die Unidentifizierten folgen diesen Weltströmungen. Auch bestimmte Beziehungsstrukturen – bestimmte Formen – können die Strömungen anzapfen…« Jetzt zeigte der Bildschirm Pyramiden, Steinkreise und große Pflanzenlabyrinthe auf Gebraud, und Kanäle in verwirrender Anordnung, randvoll mit grünem Wasser. »Heißt es nicht, die Große Pyramide in Ägypten habe eine besondere Form?« fragte Helen. »Eine Energieform? Durch
ihre Proportionen?« Die Finger des Fremden vollführten erneut die zustimmende Kreisbewegung. Pat und Patachon als kosmisches Pärchen, dachte Michael – Helen und der fremde Bonaparte. »Es gibt tatsächlich Energiemuster, die korrespondierende kosmische Energien anziehen. Wir sind damit vertraut.« »Da hast du unsere UFOs, Mike!« grinste Helen. »Diese Burschen sind uns um einiges voraus.« Michael nickte. »Das also sind die Untertassengebilde, die wir am Himmel sehen. Es sind kosmische Energiestrukturen – das schlucke ich. Aber ich habe fremd wirkende Menschen gesehen, an Bord einer Untertasse…« »Du hast Kontakt mit einem UFO gehabt! O Mann!« »Und ich habe etwas anderes gesehen, das mehr einem Flugsaurier ähnelte.« »Das ist ja gespenstisch! Aber warum eigentlich nicht? Ich habe ein bißchen über Magie gelesen, Mike. Magier haben schon immer versucht, Energien heraufzubeschwören – unter dem Namen von Dämonen. Diese Dämonen haben alle möglichen hybriden Tiergestalten angenommen. Ein starker Magier konnte ihnen befehlen, menschliche Gestalt anzunehmen, zu der man leichter Kontakt aufnehmen konnte. Aber sie haben versucht, sich zurückzuverwandeln und zu entkommen. Deshalb sind diese Energien tatsächlich Kräfte höherer Ordnung, wogegen wir…« »Wir sind Systeme niederer Ordnung. Das hat man mir gesagt, Garibaldi – ich meine den Piloten, der mich hergebracht hat – hat das gesagt.« »Wir lernen nur dann etwas von den Unidentifizierten, Mike, wenn es sich für Geschöpfe wie uns in eindeutig erkennbarer Gestalt zeigt. Wahrscheinlich erscheint es nicht in rein menschlicher Gestalt, weil es etwas Höheres ist. Jedenfalls können sie ganz spontan kommen – weil sie für uns notwendig
sind. Es ist für uns notwendig. Man muß kein Magier sein. Das hast du bewiesen. Sie kamen also zu dir und sahen wie fremdartige Menschen aus, und dann etwas wie ein Flugsaurier – ich nehme an, du konntest es nicht kontrollieren. Ich nehme an, es hat dir Angst eingejagt. Aber du bist ausgewählt worden. Deshalb haben die Gebraudi dich hergebracht.« Bonaparte quäkte: »Die Unidentifizierten, die in der Lebensaura einer Welt tätig sind, können manchmal als Energiestrukturen am Himmel gesehen werden, aber sie werden, wenn sie näher kommen, im allgemeinen die Formen dieser Welt annehmen. In der Tat, je mehr man mit ihnen harmonisiert, desto normaler mögen sie erscheinen – auch wenn sie euren Erkenntnisbereich auf außergewöhnlichem Wege betreten und verlassen.« »Wenn sie verrückt aussehen«, ergänzte Helen, »dann deshalb, weil wir verrückt sind – verdreht von Angst, Haß und Paranoia. Wir sind es, die sie unscharf sehen.« Michael tat einen tiefen Atemzug. »Willst du damit sagen, UFO-Wesen können genau wie du aussehen, Boon-ap-aa…?« Der Name verzerrte sich in seinem Mund. Bonapartes Hand kreiste. Die Bewegung hatte etwas Hypnotisches. »Auf Gebraud müssen sie ganz gewiß wie wir aussehen, wenn wir uns in wahrer Harmonie befinden«, bestätigte der Außerirdische. »Obschon ich zugeben muß, daß das eine Verallgemeinerung ist. Unidentifizierte gehören zum ganzen Leben eines Planeten, nicht nur zur führenden Gattung. So können sie manchmal als Hybriden erscheinen, wenn ihre Botschaft unsere Beziehungen zu anderen Lebensformen betrifft. Sie wählen stets die angemessenste Gestalt, wenn du für sie empfänglich bist. Normalerweise ist es eine gewohnte Gestalt – unsere eigene.« Das Eingeständnis, daß UFO-Wesen sehr wohl wie diese Fremden von Eta Cassiopeia aussehen konnten, alarmierte
Michael. Konnte das Phänomen seine eigene, perfekte Fremdartigkeit erfinden – aus all den Gedanken, die sich die Menschen im zwanzigsten Jahrhundert über außerirdische Wesen gemacht hatten? Bonaparte schien seine Erregung zu spüren. »Erzähl von deiner Begegnung mit dem Unidentifizierten«, bat der Außerirdische freundlich. Also beschrieb Michael Tharmon und Luvah und ihre Vereinigung mit ihm – Helen nickte bewundernd, während er sprach. Als er verstummte, schwenkte Bonaparte seinen Arm anerkennend. »Sie haben also vorgegeben, von einer anderen Welt in den Plejaden zu stammen – viele hundert Lichtjahre von Gebraud entfernt? Ein großartiges Alibi! Aber nach dem, was Helen und die anderen berichtet haben, ist es das Muster auf eurer Welt. Ihr Menschen braucht solche Metaphern, um die Wahrheit von Wundern zu verhüllen. Natürlich entspringen diese Besucher dem Geist eurer Welt – denn ihre Gestalt ist eure eigene, wenn auch ein wenig verzerrt. Doch selbst so haben sie dir ein bißchen weh getan, weil du dem Wunder auf eurer Welt so widerstrebend gegenüberstehst.« »Meinst du damit, sie waren keine – wie soll ich es ausdrücken – ›böse‹ UFO-Kraft?« fragte Michael verwirrt. »Die Aura eurer Welt ist krank, aber es gibt dennoch ein ständiges Kontinuum zwischen Gut und Böse. Gutes und böses Licht sind miteinander vermengt – sogar bei ein und derselben Begegnung. Eure Welt bewegt sich leider rasch auf das dunkle Ende zu, doch diese spezielle Begegnung war noch hell, scheint mir – wenn auch nicht ganz unvermischt, wie du entdeckt hast.« »Aber warum mußte ich mich mit Luvah vereinigen? War das gut – oder böse?« »Das diente dazu, einen vollkommeneren Menschen zu produzieren. Es ist eine edle Metapher. Dein Samen kommt in
eine leere Schablone und erzeugt ein anderes, vollkommeneres Du. Das ist die wahre Bedeutung dieses Vorgangs. Aber in Wirklichkeit sollst du selbst der vollkommenere Mensch sein. Offensichtlich gibt es keine Säuglingsimitation von dir irgendwo im All. Du selbst mußt die Arbeit tun.« »Ich mag Alchemie«, sagte Helen aufgeregt. »In Wirklichkeit haben die Alchemisten gar nicht versucht, Blei in Gold zu verwandeln; sie haben versucht, sich selbst zu verändern. Wenn sie sich veränderten, hätten sie Macht – Zugang zu einer Erfahrung höherer Ordnung mit scheinbar magischen Kräften –, aber das war nie das Hauptziel.« »Ein vollkommeneres Du ist das Ziel des Unidentifizierten«, stimmte Bonaparte zu. »Eine Transmutation.« »Aber wir sind zu verwirrt, Mike, zu blind. Deshalb ist es dir mißlungen und du hast alles vergessen, und deinen Körper versengt wie ein linkischer Anfänger. Du wärst allerdings nicht hier, wenn du nicht den richtigen Weg eingeschlagen hättest. Die Gebraudi können uns zeigen, wie man ihn weitergeht. Mit ihrer Hilfe können wir die Erd-Aura umformen – und uns selbst.« Während der letzten zehn Minuten hatte Michael zunehmendes Unbehagen gespürt. Er war nervös, gereizt und angespannt. Dafür gab es, wie er feststellte, eine ganz einfache Erklärung. »Entschuldige, Bonaparte – ich meine Boon-apaat… Ich muß unbedingt zur Toilette. Es tut mir leid, wenn dich das länger als nötig in dem Anzug festhält…« »Mein Anzug bildet ein autarkes System. Mach dir darüber keine Sorgen. Ich werde dir zeigen, wo du hingehen mußt. Helen, würdest du in der Zwischenzeit Essen und Trinken für euch servieren?« Polternd richtete Bonaparte sich auf und führte Michael durch ein Labyrinth von Wandschirmen zu einem weiteren provisorischen Zimmer an der Haupttrennwand. Durch sie konnte man in die blaugrüne Halle
sehen. Der Boden war mit einem Teppich aus grünem Moos ausgelegt. Auf der anderen Seite der Glaswand bemerkte er einen identischen Raum. Dort half ein Außerirdischer einem Kameraden in den Raumanzug. Ihre beiden Rüssel arbeiteten wie die beiden Arme eines Menschen zusammen. »Siehst du, wie wir uns in unserer Schwerfälligkeit gegenseitig helfen? Wie bei unserem Geschlechtsakt, so auch bei unserer Arbeit. Wir sind Krüppel. Wir müssen in Harmonie zusammenarbeiten – in Frieden und Liebe. So wird unsere Unbeholfenheit zur Freude.« »Was muß ich…?« Als hätte er angestanden, trat jetzt der unbekleidete Außerirdische des Paars auf der anderen Seite auf den grünen Moosfleck. Er spreizte die kurzen Hinterbeine, während seine Finger gedankenverloren an Werkzeugen in seinem Beingurt zogen. Eine dampfende Kaskade ergoß sich auf das Moos und wurde aufgesogen. Als Michael auf gleiche Weise das Moos gewässert hatte, roch er den Duft von Christbäumen und rieselnden Tannennadeln… Glocken klangen durch die Kuppel. Bonaparte griff nach der Glaspatrone in seinem Beinbeutel, wie es die Fremden auf der anderen Seite der Wand taten. Der Glasblock war jedoch noch in dem anderen Zimmer, er steckte im Fuß des Bildschirms. Bonaparte senkte sein Tentakel, berührte den Moosflecken und stand ganz still. Eine Weile bewegte sich keiner der Fremden. Erneut läuteten die Glocken. Bonaparte zog seinen Arm zurück. »Gemeinschaft. Harmonie«, sagte der Fremde. »Erkennst du, wie jede lebende Pflanzenmaterie als Symbol für die Biomatrix dienen kann? Helen hat jetzt sicher euer Essen vorbereitet. Findest du den Weg? Ich komme bald wieder zu euch.«
18
Der Assistent des Scheichs war ein magerer junger Mann mit drahtigem Bürstenhaar und abstehenden Ohren. Seine Augen waren groß und sanft wie die eines Hirschs, seine Wimpern wuchsen dicht und üppig. Er trug eine schwarze Lederjacke. Sein Blick ruhte auf Deacon. Berauscht lächelnd ging er auf ihn zu und stellte sich in zauderndem Englisch als Salim Fouad vor. Zur Überraschung Deacons küßte er ihm die Hand. Der Hotelangestellte starrte sie an. »Sie sind Teil eines Wunders, Professor Deacon«, sagte der Junge leise und zog Deacon nach draußen, wo ein zehn Jahre alter Mercedes unter dem Säulendach wartete. Der Fahrer trug einen langen weißen Umhang und eine Mütze. »Ein Wunder? So kann man es auch nennen! Ich weiß nicht einmal, wie ich hierher gekommen bin.« »›Nicht wissend, warum du kamst und wie – wie die Menschheit im Kindesalter.‹ Sie sind vollkommen!« Der Junge errötete. War es richtig zu sagen, daß jemand ›vollkommen‹ war? Sie fuhren in dem Moment los, als ein Blumenhändler ihnen blühende rosarote Rosen entgegenstreckte. Der Junge machte fast den Eindruck, als wollte er einen Strauß kaufen… »Das ist der Platz der Republik«, sagte Salim beflissen und nahm die einfachere Rolle eines Führers an. Sein anfängliches Zaudern war weniger ein Sprachproblem als höfliche Zurückhaltung. »An jedem 26. Juli wird hier unsere Revolution gefeiert. Tausende versammeln sich. Viele Zelte! Das ist der Abdin-Palast – jetzt ist dort das Ministerium für Landreform untergebracht. Unser Scheich ist ausgesprochen modern, müssen Sie wissen!« fügte er hinzu. Er beschrieb
Scheich Muradi wie ein Möbelstück. »Anderen Bruderschaften mißlingt es, sich den modernen Zeiten anzupassen. Es ist das Zeitalter der Wissenschaft – ich persönlich bin Bauingenieur.« Erneut wurde Salim rot. »Besser gesagt, ich will einer werden und studiere noch.« Sie bogen nach rechts in eine breite gradlinige Straße ab, die von hohen häßlichen Laternenpfählen gesäumt war. »PortSaid-Straße: Vor hundert Jahren floß hier ein Kanal.« Als sie nach links aus der Port-Said-Straße abbogen, sah Deacon in der Ferne Kuppelbauten und Minarette auf einem Hügel. »Aber es gibt noch eine andere Wissenschaft! Die dreifaltige Wissenschaft- vom Menschen. Wir sagen, sie besteht aus der Wissenschaft gewöhnlichen Wissens, und dann aus einer Wissenschaft ungewöhnlichen Wissens, die sich mit ungewöhnlichen inneren Zuständen befaßt. Das ist Ihr Spezialgebiet, nicht wahr, Professor? Deshalb sind Sie Teil des Wunders… Sidi Muradi hat Ihre Arbeit kurz erklärt, bevor er mich schickte.« Deacon nickte. »Das trifft zu. Normale Psychologie – und dann die veränderten Bewußtseinsstadien. Was ist die dritte Wissenschaft?« »Oh, das ist die Wissenschaft wahrer Wirklichkeit, die über die beiden anderen hinausgeht. Die beiden anderen sind nichtig ohne sie. Also besteht die eigentliche Arbeit darin, zu erforschen, wie alle drei Wissenschaften einander bedürfen. Ich glaube, sie nähern sich ebenfalls der dritten Wissenschaft, der Wissenschaft, die über die normalen menschlichen Kenntnisse hinausgeht.« Deacon schüttelte den Kopf, als müsse er Wasser aus seinem Ohr entfernen. Die Bewegung erinnerte ihn an eine andere Szene, die ihm im Moment aber nicht präsent war. »Der Scheich wird sehen, ob es so ist«, verhieß Salim. »Selbst wenn Sie und ich es nicht erkennen. Er wurde« – die
Stimme des Jungen wurde zu einem Flüstern – »von Khidr, dem unsichtbaren Lenker, besucht. Wissen Sie, wer Khidr ist?« »Aber gewiß! Sie meinen metaphorisch besucht?« »Das Wort kenne ich nicht.« »Was Sie sagen, ist ein Bild. Ein Symbol. Wie ein Gedicht – kein tatsächliches Ereignis.« »Nein! Ich sah, wie es geschah. Ich war dabei. Es ist das größte Ereignis meines ganzen Lebens. In dieser Richtung« – Salim wies mit der Hand: nach Norden – »liegt das Stadttor, das wir Bab Zuweyla nennen. Wo vor langer Zeit Verbrecher hingerichtet wurden. Früher hieß es Bab al-Mutawalli, nach einem Heiligen, der dort einst lebte. Er konnte sich gedankenschnell in die Luft erheben. Er konnte im Nu in Mekka oder Bagdad sein, ohne einen Übergang von hier nach dort zu spüren. Aber natürlich haben wir heute Flugzeuge, mit denen man reist«, schloß Salim. »Ja, wir haben Flugzeuge…« Und unidentifizierte Flugobjekte, die vermutlich innerhalb einer Sekunde auf zehntausend Meilen pro Stunde beschleunigen, die, wie es hieß, verschwanden und aus dem Nichts wieder auftauchten. Gab es wirklich eine ›dritte Wissenschaft‹, die das erklärte? »In der Nähe von Bab alMutawalli begegneten wir Khidr.« Durch belebte Straßen kroch der Mercedes auf die geöffneten Tore einer Moschee zu. Im Innern erblickte Deacon eine gelbe, vom Sonnenlicht versengte Zone, umgeben von schattigen Arkaden. Sie fuhren daran vorbei und gelangten in ein Wirrwarr aus uralten Häusern und gewundenen Gassen. Nach minutenlanger Irrfahrt hielt der Mercedes vor einem weißgetünchten Haus mit Fensterläden.
Die Zimmer in Muradis Haus waren schmucklos bis auf die auf Vorhänge gedruckten und in Holz geschnitzten Kalligraphien und die hellen Arabeskenteppiche, deren ineinander übergehende Muster den Eindruck erzeugten, der Fußboden führte stufenweise immer weiter nach unten. Ein üppiges Mahl wurde serviert. Es bestand aus Hammelfleisch, Reis und gewürzten Gemüsen. Scheich Muradi aß wenig, Salim fast gar nichts. »Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher kam«, sagte Deacon wieder. »Kein Paß, kein Flugschein, kein Geld. Es ist, als hätte man mich in England von der Straße geholt und hier auf der Bank am Nil abgesetzt…« »Geld ist kein Problem, John. Und was die Unterkunft angeht: Sie werden in meinem Haus wohnen. Ich bestehe darauf. Ich gebe zu, der fehlende Paß ist ein Ärgernis. Sie werden Ihre Botschaft aufsuchen müssen. Selbstverständlich werde ich bei unseren Behörden für Sie bürgen, aber einigen Ärger müssen Sie in Kauf nehmen. Wie kann man erklären, was sich jeder Erklärung entzieht?« Muradi rückte seine Brille zurecht und starrte auf einen Text auf der Wand hinter Deacons Kopf, als handele es sich um die Lesetafel eines Optikers. Vielleicht traf das im übertragenen Sinne sogar zu, und was er darauf lesen konnte, hatte keine Bedeutung für seine Sehkraft, sondern für seine Einsichtsfähigkeit. Als Deacon ihm zuletzt begegnet war – vor zwei Jahren in London während der Vorlesungsreihe –, hatte er den Scheich zwar als persönlich enthaltsamen, aber doch kultivierten Kosmopoliten kennengelernt. Seine Kultiviertheit war die innere Höflichkeit eines heimlichen, nichtpolitischen Prinzen. Sie war wie die virtù der Renaissance, eine Tugend, die keinem Staat, sondern den Verfassungen des Bewußtseins verpflichtet war. Deacon hatte sie an einen mächtigen, einflußreichen Papst des sechzehnten Jahrhunderts erinnert, aber an einen, dessen
Staatskunst ganz und gar in der Sphäre einer Beziehung zum Unendlichen wirkte – eine Beziehung, die nicht privater Natur war, sondern öffentlich und sozial, die mit allen Menschen geteilt wurde, aber dennoch nur seinen Augen sichtbar war. Muradi hatte damals gesagt, Gott schaffe Metaphern für Menschen und diese seien ihre Leben. Er schien sein eigenes Leben so zu gestalten, als sehe er das, was für die meisten Menschen Tatsachen und eindeutige Beweise waren, als Metaphern für ein andersartiges Geschehen, das auf gänzlich andere Weise eintrat. Geschehnisse des Lebens waren Schatten, die eine andere Gattung von Wesen warfen, auch wenn es sich um völlig solide Schatten handelte. Er sah, wenn er fest auf dem Teppich stand, gleichzeitig durch dessen Falltürtiefen. Als der Scheich ihn anblickte, begriff Deacon, daß er als Bedeutung hinter der Metapher erkannt wurde – als der wirkliche Inhalt seiner selbst, die verborgene Substanz, die die Schatten warf, die Deacon, da er der Schatten war, nicht sehen konnte. Die eigentliche Frage war nicht, ob ein UFO-›Ereignis‹ ihn hierhergebracht hatte, wie den legendären spanischen Soldaten von Manila nach Mexiko; oder ob er ›tatsächlich‹ an Bord eines Flugzeugs gegangen und in einer Art Trance hierhergeflogen war – in einem Bewußtseinszustand, der dem Grundbewußtsein nicht zugänglich war. Als er so dem Scheich gegenübersaß und noch den Geschmack des gegrillten, auf Minze servierten Hammels auf der Zunge spürte, wußte er, daß in gewissem Sinne beides geschehen war und eine Erklärung die andere überflüssig machte. Kein Wunder, daß er weder Flugschein noch Paß besaß, die den Zeitpunkt seiner Einreise dokumentierten! Er befand sich eben nicht an einem EreignisBlickpunkt, von dem Flugschein oder Paß gesehen werden konnten. Und so mußten alle UFO-Ereignisse mit dem sensus communis, der normalen Welt, in Verbindung stehen! Sie
entzogen ihre Bedeutung in dem Moment, in dem sie sie offenbarten. Ihre Glaubwürdigkeit verschwand stets an dem Punkt, an dem sie zu beweisen waren. Doch während er noch in einem Stadium des Nicht-Wissens war, stellte er zugleich für Muradi Wissen dar – genau das Wissen, das ihm versagt werden mußte. Muradi hob sein Glas, um von dem Eiswasser zu trinken. »Ich glaube, Sie können sehen – wieso Sie hier sind.« »Ich weiß, Sie können es sehen! Ich bin nur ein Gedanke in Ihrem Kopf, nicht wahr? Ein Gedanke, den Sie in seiner Gesamtheit erkennen können – auf objektive Weise –, weil ich leibhaftig hier bin – und gesättigt, vielen Dank! Ich brauchte das. Aber haben Sie mein Kommen irgendwie veranlaßt? Oder sind Sie für mich, den Pfeil, nur eine Art Ziel, das ich treffen muß?« »Beruhigen Sie sich, John. Sie verlieren den Augenblick. Zum Wissen gehört, den Moment festzuhalten, so wie er war, bevor Sie den Mund öffneten; die Welt durch jene Augen zu sehen, diese Vision aufrechtzuerhalten.« »Wohin steuert das alles?« Muradi schüttelte den Kopf. »Es ›steuert‹ nicht – außer aus der Welt hinaus, über die Welt hinaus. ›Steuern‹ ist eine Sache von Ursachen und Wirkungen innerhalb der Welt. Die wahre Antwort ist das Ereignis, daß Sie hier sind, nicht irgendeine Erklärung für dieses Ereignis. Das Ereignis ist bereits eine Metapher. Sie schreiten auf dem falschen Weg voran, wenn Sie es noch metaphorischer machen, indem sie ihm eine ›Erklärung‹ hinzufügen. An diesem Punkt wuchern Erklärungen endlos und sind alle gleichermaßen belanglos.« »Ich muß es wissen! Sagen Sie mir, Scheich, wieviel wissen Sie über Fliegende Untertassen? Über unidentifizierte Flugobjekte, wie man sie nennt?« Muradi lächelte.
»So viel, wie ich über fliegende Teppiche weiß.« »Ich dachte, Salim hätte gesagt, ein hier ansässiger Heiliger – wie war sein Name, Salim? Der, der angeblich fliegen konnte…« »Al-Mutawalli«, sagte der Scheich. »Also wissen Sie über ›fliegende Teppiche‹ Bescheid! Wollen Sie sagen, Sie wissen es wirklich, oder wissen Sie es nicht?« »Ich habe Ihnen in der Art geantwortet, John, wie die ›Antwort‹, die Sie auf dieses Ereignis suchen! Erkennen Sie nicht, daß das Ereignis die Antwort ist?« »Für Sie mag das so sein. Ich glaube, ich bin durch ein UFOEreignis entführt worden. Ich sage nicht, durch ein UFO entführt worden – das ist nicht dasselbe.« Deacon lachte rauh. »So interpretieren diejenigen es häufig, die solch eine Erfahrung am eigenen Leibe machen. Das ist die Geschichte, die sie sich selbst erzählen – die Metapher, die ihr Hirn ihnen vorsetzt. Es ist der Baum, den sie aus dem grünen Flimmern in der Ferne erkennen. Sie können sich ihm sogar nähern, in seine Äste steigen und Äpfel pflücken. Sie gehen davon und erzählen jedermann von diesem prächtigen Baum mit den saftigen Äpfeln. Und die Leute kommen dorthin, und dort ist nichts; sie scheinen verrückt zu sein.« »Sie haben das Talent zu einem Sufi-Geschichtenerzähler«, nickte Muradi. »Trinken wir einen Kaffee zur Feier des Tages. Oder bevorzugen Sie vielleicht Pfefferminztee?« »Das ist einmal etwas anderes.« »Daher ist es besser! Salim, würdest du bitte…?« Kaum hatte Salim das Zimmer verlassen, holte Muradi ein altes, ledergebundenes Buch aus seiner Tasche und legte es mit der Titelseite auf den Tisch. »Lassen Sie mich Ihnen etwas sagen, John. Derjenige, der das Kausalgesetz abschafft, schafft den menschlichen Geist ab
– den menschlichen Geist, den wir kennen, den Geist, der die Welt der Dinge kennt und uns auf diese Weise erlaubt, hier zu leben. Unser Geist kann nicht einfach hören, an die Dinge um sich herum zu denken. Das ist unser Handeln in der Welt. Nur Gott existiert wahrhaft – außerhalb von Ursachen. Das Außerursächliche, das Wunderbare, ist immer zugegen – in allem, denn die Welt existiert nur, solange Gott sie von einem Augenblick zum anderen mit ihrer Fracht aus Ursachen und Wirkungen, von denen unser Geist sich nährt, am Sein erhält. Die… Disparität zwischen unseren Gedanken und Seinem Denken – das unerklärliche Vakuum, das alle Ursachen und Wirkungen in sich aufsaugen würde, wären wir nicht ohne Wahrnehmung von Gott – ist es in Wirklichkeit, die uns zu höheren Entwicklungsstadien zieht. So entstehen neue Wahrnehmungsorgane – die in Ihrer Sprache, John, neue Bewußtseinsstadien heißen. Sie entstehen, weil es ein Bedürfnis für sie gibt. Daher sage ich: Vermehren Sie Ihr Bedürfnis! Ihr Bedürfnis hat sich durch das alles schon auf wunderbare Weise gesteigert. Aber unterstellen Sie keine falschen Ursachen!« »UFO-Ereignisse sollen einfach… das Bedürfnis nach Verständnis erzeugen? Nicht nach Verständnis der Ereignisse als solcher? Meinen Sie das?« Muradi schob das Buch über den Tisch. »Ein Geschenk für Sie. Von Khidr, dem Grünen. Auch seine Bedeutung ist für Sie gedacht.« »Salim sagte, Sie seien Khidr begegnet! Ich dachte, er hätte es symbolisch gemeint…« »Salim hat mit eigenen Augen genau das gesehen, was dort zu sehen war.« »Wie ist Khidr erschienen? Kam er aus dem Himmel? Aus einer…?« Deacon wurde verlegen: ein Briefmarkensammler, der am Abend der Bombe versuchte, Ersttagsbriefe aus
Hiroshima aufzugeben. »Aus einer Fliegenden Untertasse? Wieso sollte er nicht seine eigene Fliegende Untertasse sein? Warum sollte eine Fliegende Untertasse nicht er sein?« Deacon nahm das Buch und öffnete es. LE LEMEGETON ou La petite Clef du Roi Solomon Dictionnaire infernal des Esprits Paris, 1856 Tirade limité à 20 exemplaires No. 8 Die Zahl 8 war mit verblaßter roter Tinte geschrieben. Eingetrocknetes Blut? Nein, Blut würde sicher schwarz werden. Ein Blutimitat? Vielleicht. Er blätterte die Seiten durch und sah merkwürdige Diagramme. Sie erinnerten ihn an elektrische Schaltkreise mit Spiraldrähten, Kabeln, Widerständen, Abschirmungen und Weichen. Kleine symbolische. Glühbirnen sprossen aus den Schaltkreisen. Wenn sie alle in einer dreidimensionalen Apparatur auf die richtige Weise miteinander verbunden waren, all diese Bestandteile, die anscheinend Energie erzeugten… War es möglich, sie alle zusammenzuhalten? Ein Computerprogramm zu schreiben, um die ganzen Millionen und Milliarden Möglichkeiten, sie miteinander zu verknüpfen, aufzulisten…? Sein Herz hämmerte. Auf einer Seite war ein Diagramm, das er gut kannte.
Michael hatte es unter Hypnose gezeichnet! Es war das Schaltbild des schwerkraftgetriebenen Raumschiffs! Das Schaltkreisdiagramm für ein UFO! Er las: FORNEUS a l’apparance d’un monstre de mer, bien qu’il devienne humain si l’opérateur le désire. Il peut enseigner à l’opérateur tous les arts et les sciences. De plus, on peut apprendre de lui tous les langages. Das Bild, das Michael auf dem Kontrollpunkt seiner ›Fliegenden Untertasse‹ gesehen hatte, war also in Wirklichkeit eine okkulte Zeichnung, um einen Teufel namens Forneus zu beschwören, der wie ein Meerungeheuer aussah – der aber seine Gestalt entsprechend dem jeweiligen Betrachter wechseln konnte. Ein Teufel, der alle Künste und Wissenschaften und jede bekannte Sprache lehren konnte… Der Scheich schien sich physisch zurückzuziehen, Teil der Wand zu werden, ein abstrakter Text. Seine Realität verblaßte. Aus allem, was er sagte, schwand die Bedeutung. Ein ätherisches Gebäude, das sich in Deacons Geist aufgebaut hatte, löste sich in eine Fata Morgana in einer feindlichen oder, was noch schlimmer war, einer gleichgültigen Wüste auf. Die Wüste war es nicht, die die Fata Morgana erfand, die Wüste existierte einfach – und die Fata Morgana war nur Nebenprodukt der Augen der Menschen.
Ein Buch der Schwarzen Magie. Voller wertloser abergläubischer Zaubersprüche. Salim kam zurück. »Rauche nur, wenn du möchtest«, forderte Muradi auf. Salim schüttelte entschieden den Kopf, sein Gesicht drückte Ablehnung aus – und er erzielte ein Lächeln. Ein dunkelhäutiger runzliger Mann unbestimmten Alters – der Diener – folgte ihm mit einem verbeulten Messingtablett, auf dem drei Tassen mit aromatischem Pfefferminztee standen. »Die Antwort ist, daß UFOs mit Magie arbeiten…« Die Antwort war keine schlüssige Erwiderung. Es könnte sich jedoch immer noch um einen Scherz handeln. Einen lehrreichen Scherz, in aller Ernsthaftigkeit von Muradi, der das Leben ständig aus einem anderen Blickwinkel sah, in Szene gesetzt. Angenommen, Deacon bezweifelte Salims frommes Bekenntnis, daß er und Muradi dem Grünen begegnet waren, der in dieses Realitätskontinuum getreten war und es dann wieder verlassen hatte… Konnte er es bezweifeln? Hatte Muradi nicht auf seine Weise eine UFO-Begegnung erlebt? Es war möglich – und dennoch konnte das Geschenk des Buchs Le Lemegeton ein lehrreicher Scherz sein, um Deacon schlagartig zu beweisen, daß die Antwort keine schlüssige Erwiderung ist! Waren die Sufis nicht bekannt dafür, ihre Schüler mit anscheinend idiotischen Ratschlägen fortzuschicken – die dann, Jahre später, eine völlig neue Bedeutung gewannen, sobald sich die innere Verfassung des Schülers verändert hatte? Waren sie nicht bekannt dafür, Dummköpfe mit verborgenen Segnungen fortzuschicken? Waren sie nicht bekannt für absichtlich absurdes Verhalten? Für ihre Schocktherapie? Das Geschenk dieses Buchs konnte eine solche Absurdität sein, die auf ein früheres reales Erlebnis des Scheichs aufgepfropft wurde. Die Botschaft des Scheichs konnte in der Tat bedeuten, daß für ihn keine Notwendigkeit bestand, über UFOs oder unbeschreibbare Phänomene
Bescheid zu wissen – und daß ihm auch die Fähigkeit dazu fehlte. Also gab man ihm einen Kinderzauberkasten, ein Buch mit magischen Sprüchen. Außer… … daß das Diagramm exakt das gleiche war, das Michael gesehen hatte! Also war es echt. Was wiederum bedeutete, daß die Wahrheit okkulter Unsinn war. Forneus konnte… alles menschliche Wissen lehren. Forneus! ›Warum sollte eine Fliegende Untertasse nicht er sein?‹ Muradi wußte; und er wollte nicht sprechen! Grimmig steckte Deacon das Buch in seine Tasche. »Ich sollte wirklich meine Frau anrufen. Ich hätte schon eher daran denken müssen. Ich fürchte, es wird einiges kosten.« »Ein paar Pfund.« »Ich werde es zurückzahlen. Wenn ich nach England zurückkehre, werde ich das Geld telegrafisch überweisen.« »Das sagen Sie nur, weil Sie sich jetzt über mich ärgern, John.« Muradi schlürfte gleichmütig seinen Tee. »Salim wird Sie in mein Arbeitszimmer bringen und den Anruf für Sie durchstellen.« Deacon folgte Salim nach oben. Das Arbeitszimmer des Scheichs war ein großer Raum, dessen Wände mit arabischen, persischen, französischen und englischen Büchern bedeckt waren. Auf einem breiten Mahagonischreibtisch stand eine IBM-Schreibmaschine mit arabischem Schriftbild. Salim wies stolz auf sie hin – auf den automatischen Manuskriptspeicher, die vereinfachte Tastatur, die logischen Schaltungen –, um zu beweisen, wie modern der Scheich war. Auf einem kleinen dreibeinigen Rosenholztisch lag ein dickes arabisches Buch, dessen Einband mit Blumenornamenten verziert war: ein Teppich in Miniaturform. Ohne Zweifel der Koran. Ein Schwarzweißfoto (wie es schien das einzige Bild im Haus) stand auf dem Schreibtisch – es zeigte einen Sarg auf einem
Katafalk, bedeckt mit einem bestickten Tuch. Ein großer schwarzer Turban mit einem lose herabhängenden Stoffstreifen lag auf dem Sarg. »Welche Nummer in England, Sir?« Deacon nannte sie. Salim wählte und sprach eine Zeitlang. »Es kann eine halbe Stunde dauern. Sie rufen zurück. Wenn Sie sprechen, Sir, dann nur in Englisch, Französisch oder Arabisch.« »Was erwarten sie sonst von mir – Venusianisch?« »Das ist Vorschrift, Sir. Russen müssen mit Moskau in Französisch oder Englisch sprechen. Ebenso die Japaner mit Japan. Das soll Spionen das Leben schwermachen.« »Oh, ich schätze, man könnte mich für einen Spion halten! Kein Paß. Keine logische Erklärung, wie ich hierhergekommen bin.« »Aber wir wissen es, Professor Deacon. Ich weiß es. Sidi Muradi weiß es.« »Was ist das für ein Foto, Salim?« »Das ist der Schrein von Shams von Täbris! Der Derwisch, der unseren Meister Rumi anregte. Der Schrein steht in der Türkei, in Konya. Shams schien ein Wilder zu sein – aber in der Zeit zwischen seinem mysteriösen Erscheinen und seinem Verschwinden drei Jahre später inspirierte er feinsinnige Gedichte und Gedanken und veränderte das Leben unseres Meisters. Man sagt«, Salims Stimme sank zu einem Flüstern, »Shams war in Wirklichkeit Khidr…« »Khidr kommt wohl ganz schön herum. Ich glaube, ich bleibe hier, bis sie zurückrufen.« Marys Stimme klang ärgerlich und erleichtert zugleich: der Zorn einer Mutter, die ihr Kind schlägt, weil es die Treppe hinuntergefallen ist. »Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin!« protestierte er mehrmals einfältig. »Ich komme zurück, sobald ich einen Flug buchen kann.«
Das Knistern statischer Störungen, klickende Relais. Wurde das Gespräch über den Grund des Mittelmeers geleitet, oder raste seine Stimme über die Atmosphäre hinaus und wurde wieder zurückgeworfen? War auch er durch den Raum übertragen und wieder zusammengesetzt worden – durch unbekannte Hilfsmittel? »Ich habe keinen Paß und kein Geld. Vielleicht muß die Botschaft meine Heimreise bezahlen.« »Wie ein verlorengegangenes Kind, mit einem Schild um den Hals!« »Ich kann nicht allzu lange sprechen. Das ist ein Privattelefon… Grüß bitte Rob und Celia von mir?« Klickklick-klick… Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, legte er ein Blatt Papier in die Schreibmaschine ein und versuchte zwei oder drei Minuten lang vereinfachte Symbole einzutippen. Er sah zu, wie der IBM-Speicher sie zu arabischen Schriftzeichen verschmelzen ließ. Obwohl er die Sprache nicht kannte, mußten die Worte notwendigerweise absurd, bar jeden Sinns sein. Dann ging er nach unten. Jedenfalls gab ihm der Scheich eine Unterkunft. Man mußte höflich sein.
19
Ein blonder Mann mit langen Gliedmaßen und Stoppelkinn saß neben Helen Caprowicz auf dem Boden. Er trug einen Skisweater, Jeans und lohfarbene Stiefel. Sie aßen kalte Frankfurter, Gemüsesalat und eingelegte Zwiebeln mit den Fingern von Papptellern. Helen schob Michael einen Teller zu. »Das ist Axel Moller – er bringt uns das Essen. Es ist schon sein fünfter Alleinflug zum Mond. Stell dir das mal vor! Ihm gehört der Volvo, der draußen geparkt ist.« Kauend nickte Moller. »Ich komme aus Kiruna in Nordschweden«, erklärte er mit vollem Mund. »Bergwerksingenieur.« Er schluckte und entblößte grinsend große, wackelig wirkende Zähne fast ohne Zahnfleisch. »Was hältst du von unseren Freunden?« fragte er Michael. Michael lächelte gezwungen. »Ich halte es für sehr… harmonisch, daß sie uns helfen.« Der Schwede nickte. »Natürlich, für sie – und für jeden anderen in der Nachbarschaft – existiert eine langfristige Bedrohung, wenn wir in unserer derzeitigen Verfassung außerhalb des Sonnensystems loslegen. Stell dir nur vor, daß wir ein eigenes Raumschiff nach Gebraud schicken – und dann noch eins und noch eins. Was würde Gebraud für eine prächtige Kolonie abgeben! Vor allem, da sie nicht aggressiv sind. Wir würden sie behandeln, wie wir zu Hause Wale und Delphine behandeln. Und dann würden wir zu einer weiteren Welt springen, und von da wieder zur nächsten, über ihre Körper hinweg – und über ihre Seelen.«
»Aber zu ihrem Stern ist es doch ein weiter Weg«, wandte Michael ein. »Mein Pilot sagte, sie hätten vierzig Jahre gebraucht, um uns zu erreichen.« »Ich kann mir schnellere Transportmittel vorstellen. Die Gebraudi-Technologie ist großartig, aber sie hat sich stets linear entwickelt – unsere dagegen exponential. Ich spreche von den nächsten Jahrhunderten, Junge. Das nächste Jahrtausend. Unsere Aura würde sich mit der Zeit verfinstern und wie Krebsmetastasen ausbreiten, während wir ein Imperium formen – bis wir schließlich auf etwas treffen, das zu groß und zu weise ist, um sich vernichten und vergiften zu lassen. Oder bis wir schließlich wahrgenommen würden. Es gibt stolze Wesen, die dort draußen ganze Sternenhaufen durchdringen. Die gesamte Galaxis ist eine noch höhere Daseinsstufe, langsam und von gewaltigen Ausmaßen. Das sind Seins-Hierarchien, die wir kaum begreifen können! Am Ende würden wir durch einen chirurgischen Eingriff entfernt, das kannst du mir glauben, und es wäre innerhalb unserer Galaxis trotzdem nur eine winzige Tragödie, aber der Preis, der zu zahlen wäre, könnte unglaublich groß sein – ganze Welten und Rassen wären unseretwegen verloren. Und doch spielt für die Gebraudi Eigennutz kaum eine Rolle – das ist das Wunderbare. Sie kommen ebensosehr unseretwegen wie um ihrer selbst willen hierher. Nein, sogar mehr unseretwegen.« Er nahm ein Würstchen und biß ein Stück ab. »Haben sie dir berichtet, wie ihre eigenen Unidentifizierten sie angeregt haben, diese zweite Expedition zu uns zu schicken? Genau wie ein Mensch, der eine Vision hat und eine Stimme hört, die ihm aufträgt, auf Pilgerschaft zu gehen… Es liegt in der Natur der Gebraudi, zu helfen und Hilfe zu empfangen. Altruismus ist für sie eine genetisch verankerte Eigenschaft.« Helen schüttelte den Kopf. »Nicht ganz, Axel. Es liegt außerhalb der eigentlichen Gene. Es ist ein ›Gedanken-Gen‹,
eine Denkweise, die weitergegeben wird. Das kann ebenso prägend sein wie jedes DNA-Molekül, sobald eine Rasse ein bestimmtes Stadium erreicht hat. Bei ihren physischen Mängeln brauchen sie das wirklich – und so überlebt auch ihr Denken.« »Mängel!?« wiederholte Michael. »Sie scheinen nicht übermäßig funktional zu sein, oder? Daß sie Maschinen, Städte und Raumschiffe gebaut haben…« Helen wandte sich ihm zu und ritt ihr Steckenpferd weiter. »Wir verstehen die Genetik der Gedanken noch nicht richtig. Aber sie werden wie körperliche Merkmale weitergegeben. Geistige Merkmale werden vererbt. Sie mutieren und entwickeln sich – allerdings in der Gesellschaft und nicht in Keimzellen. Gottlob haben wir selbst auch so etwas wie ein Gedanken-Gen für Harmonie – sonst hätten wir nicht so lange überlebt! Wir haben nur nicht genug davon. Die Gebraudi können in unser System viel mehr davon eingeben, wenn wir sie nur lassen.« »Ich bin der Meinung, sie scheinen nicht sehr funktionell. Oder sehr realistisch.« Moller starrte ihn an. »Ich meine entwicklungsmäßig«, fügte Michael hastig hinzu. »Sie haben das absolute Minimum, nicht wahr? Einen Arm. Er scheint nicht einmal Knochen zu haben.« »Ist eine Giraffe ›realistisch‹?« fragte Moller. »War der Flugsaurier ›realistisch‹? – Sie konnten nicht einmal vom Boden abheben. Die Natur ist mit ihren Gestaltungsformen verschwenderisch.« »Giraffen und Flugsaurier bauen auch keine Raumschiffe«, sagte Michael. »Du hast den Film über ihre Entwicklung gesehen«, beharrte Helen. »Sie paßten vollkommen in die Umgebung. Dann, nach
der Supernova, als die ganzen widerlichen Schädlinge ausgelöscht wurden, wurden die Umstände viel günstiger.« »Man könnte sagen: zu günstig. Wo war die Herausforderung, um eine Entwicklung in Gang zu setzen?« »Herausforderung?« schnaubte Moller. »Die Natur ist kein Feind, gegen den man ankämpft. Das ist der Weg planetaren Selbstmords – und diesen Weg sind wir viel zu lange gegangen. Oh, einst war es anders. Der primitive Mensch fühlt sich eins mit der Natur in allen ihren Ausprägungen – den guten wie den schlechten. Deshalb war er von Energie erfüllt, und er erlebte ein physisches Einssein mit seinen Mitmenschen, das wir hochnäsigen Individualisten kaum würdigen können. Aber der Mensch wurde dieser Energie und diesem Einssein entfremdet. Er konnte, eingebettet in die Natur, mit seiner erwachenden Intelligenz nicht zurechtkommen. Er lehnte die Mutter ab und unterdrückte dann sein Schuldbewußtsein. Es war Selbstentfremdung – aber er wandte sie nach außen. Der Mensch ist der endgültige Zwangsneurotiker – und diese Entzweiung hat sich seitdem ständig vertieft, so daß die Zivilisation ein langer Kampf gegen unsagbare Übel ›dort draußen‹ ist: Teufel, andere Nationen, natürliche ›Katastrophen‹ oder der schlichte ›Trotz‹ der Natur, die uns ihre Früchte nur im Schweiße unseres Angesichts ernten läßt. Und die ganze Zeit steckt das Übel im Innern – es ist die Verleugnung der Natur der Rhythmen der Welt. Die Gebraudi jedoch haben die Natur nie verleugnet. In ihr eingebettet erwachten sie zu Intelligenzwesen und blieben die ganze Zeit Teil der Natur. Sie brauchten nicht zwei kräftige Fäuste, um die Welt zu bearbeiten, für ihre Bedürfnisse genügt ein weicher Rüssel. Auf diese Weise lenkte die Natur sie sanft und behutsam aufwärts.« In diesem Augenblick kehrte Bonaparte zurück. Der Außerirdische ging zu dem leeren Bildschirm, löste den grünen Glasblock heraus und legte ihn
vorsichtig vor Michael auf den Boden. Er bestand aus einem Wabennetz winziger durchsichtiger Zellen, die Schicht für Schicht mit einem grünen Stoff gefüllt und mit dünnen, kaum sichtbaren Drähten verbunden waren. Aus einem Ende ragte eine Kupfergabel. Michael berührte sie zögernd. »Jawohl, es lebt«, sagte der Fremde. »Es spürt die Schwingungen der umgebenden Welt. Molekular – auf Schwingungsebene – ist es höchst empfindlich. Es wird von mitschwingenden elektronischen Resonanzen aus der phasengleichen Mutter-Biomatrix in der Haube des Sternenschiffs genährt. Wir können es mit verschiedenen Instrumenten modulieren, um das Gedächtnis der Biomatrix anzuzapfen – wie eben auf dem Schirm – oder es zu einem erweiterten Wahrnehmungsorgan der Biomatrix machen, wie du es vielleicht bei Gar-boor-oold-ee gesehen hast…« »Das waren Live-Filme über eure Entwicklung?« »Sicher, außer den Aufnahmen von dem Stern und den Planetendiagrammen. Sie werden von dem Weltgedächtnis abgerufen, mit dem die Biomatrix ausgestattet ist. Auf diese Weise können wir in die vergangene Geschichte unserer Welt schauen. Alle Schwingungen werden aufgezeichnet.« »Ich habe dir ja gesagt, du würdest es erfahren«, lächelte Helen glücklich. »Es ist eine Art Rutengehen – nicht nach verlorenen Gegenständen, sondern nach allem, was in Verbindung mit ihnen früher in ihrer Geschichte geschehen ist. Steine, Orte, Werkzeuge, Skelette, Fossilien… Alle Schwingungen, die ihnen eingeprägt waren. Mein Großvater konnte eine Brosche oder einen Ring nehmen, die er vorher nie gesehen hatte, und alles mögliche über den Besitzer erzählen – Sachen, die sich später als wahr herausstellten. Wie die betreffende Person aussah. Wie sie sich fühlte – selbst wenn sie schon längst tot war. Sie haben eine richtige Kunst daraus gemacht. Lebendige Archäologie.«
Bonaparte zog die Glaspatrone zurück und steckte sie wieder in die Tastatur. »Jetzt ist es an der Zeit, euch die Biomatrix selbst zu zeigen. Durch diesen Zugang hier. Wegen der ungeeigneten Atmosphäre und des Drucks könnt ihr unser Schiff nicht betreten. Wir haben keine Druckanzüge für Menschen, und unsere eigenen Anzüge sind viel zu groß, selbst wenn wir sie mit eurer Luft volltankten…« Helen kicherte. »Und außerdem haben sie vier Beine. Wir würden aussehen wie ein Kostümpferd, in dem nur einer steckt und die leeren Hinterbeine hinter sich her zieht.« Michael kaute seinen letzten Frankfurter. Unter ihren dicken Rhino-Häuten mußten diese Gebraudi ziemlich weiche Dinger sein! Voller Därme und Eingeweide, Bänder und Kugeln grünen Futters verdauend, mit halbverdauter Nahrung, die durch Magenketten hin und her bewegt wurde. Einen Moment lang spürte er, wie er in Bonaparte hineinschaute, genau wie er einmal eine Kuh auf der Weide angestarrt und versucht hatte, in sie hineinzusehen und sie zu sein. Ihm fiel auf, daß er noch nie einen der Fremden hatte essen sehen. Aber Pflanzenfresser sind doch den ganzen Tag über hungrig, oder? Ihre Mägen mußten voll mit Halbverdautem sein. Einen Moment spürte er, daß er in den Eingeweiden des Außerirdischen lebte und von peristaltischen Bewegungen hin und her gedrückt wurde. Vage spürte er, daß er selbst, Helen und der Schwede von den Tieren verschlungen und einem schleimigen Verdauungsvorgang zugeführt worden waren… Ihn quälte die Vorstellung einer bizarren Szene: Helen, mit ihren Känguruhhüften wackelnd, barg ihren Kopf blind an seinem Rücken, damit sie einen Gebraudi-Anzug ausfüllen konnten – blind, ohne ihren Weg zu sehen. Irgendein Kompensations-Grundsatz wirkte hier. Zwei Menschen entsprachen einem ›ausgewogenen‹ Außerirdischen – doch der
Außerirdische hatte nur einen Arm… Eine seltsame Gleichung von Plus und Minus schien hier vorgegeben. Erneut fragte er sich: Waren sie überhaupt wirkliche Sternenreisende? Die Vorstellung der gemeinsamen Kostümierung mit der Amerikanerin erinnerte ihn daran, daß sie es gar nicht war, die ihn umschlingen sollte, sondern ein englisches Mädchen, mit einem Stufenschnitt im welligen Rothaar – Suzie, die ein Kobold, der ihr höllische Angst eingejagt hatte, von ihm getrieben hatte… Warum hatte das irre UFO-Geschöpf sie voneinander getrennt? Damit er ungehindert hierhergebracht werden konnte, um alles über die wahre Lebensharmonie zu lernen? Falls ja, war es wohl ein grausames Mittel. Mußte er zuerst etwas verlieren, um etwas anderes zu gewinnen? Mußte er zuerst verletzt, um dann geheilt zu werden? Wieder das Prinzip der Kompensation: Galaxien rasen davon, während wir sie mit unseren Teleskopen jagen; was wir auf der Schaukel gewinnen, verlieren wir auf dem Karussell… »Die Biomatrix liest ständig den Schwingungszustand des Schiffs und von allem, was sich in ihm befindet. So können wir das Schiff überblicken, indem wir einen Frage-Impuls durch die Matrix senden – ein Blickpunkt-›Ego‹ zur Untersuchung dieses Zustands. Man sieht nicht das Schiff direkt, sondern ihre primäre Wahrnehmung von dem Schiff: das Abbild der Realität, geträumt von der Biomatrix.« Das geträumte Abbild. Michael fühlte sich benommen und schwebend. Vielleicht lag es an der niedrigen Mondschwerkraft. Er biß noch ein Stück ab, um Ballast zuzulegen. »Wie arbeitet sie zwischen den Sternen?« fragte er zögernd. »Sicher muß auch sie in der Kälte schlafen.« »›Wach‹ und ›schlafend‹ sind für die Biomatrix keine anwendbaren Begriffe. Pflanzenzellen wachen oder schlafen nicht; sie tun stets beides. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist
primär, sie geht der Spaltung in bewußte und unbewußte Bereiche voraus. Die Matrix wartet zwischen den Sternen in einem gefrorenen Ruhezustand – das Gegenstück zu dem ruhenden Schiff. Das ist ihr Winter. Dann kommt der Stern, eure Sonne, und der Frühling.« Irgend etwas nagte an ihm. Etwas, das Bonaparte gerade gesagt hatte. Darüber, daß ein Blickpunkt-›Ego‹ durch diese fremde lebende Matrix geschickt wurde. War es nicht das, was John Deacon zu tun gehofft hatte? Ein ›Ego-Etikett‹ anzuhängen – ans UFO-Bewußtsein! Hatte Deacons Experiment hier also Erfolg? Der Bildschirm zeigte das Innere eines Schiffs, wie es von einem körperlosen Auge gesehen wurde, das durch einen Gang schwebte, der vibrierte und pulsierte, als passe er sich der Bewegung der Atome in seinen Wänden an. Das Auge drang durch eine feste Wand: ein körniges, dichtes Kaleidoskop zitternder, sich überschneidender Punkte – eine pointillistische Wand. Hinter der Wand stand ein Außerirdischer, der sich mit irgend etwas beschäftigte. Das Auge drang einfach durch seinen Körper, und auf dem Bildschirm zeigte sich ein Wirrwarr pulsierender Lichtgebilde – ineinandergedrückte fluoreszierende Ballons –, die er für Organe hielt. »Auf diese Weise kurieren sie Krankheiten«, gab Helen ihr Wissen zum besten. »Ihre Biomatrix liest die Schwingungen kranker Organe und korrigiert sie. Ganz anders als unsere Medizin – bis auf ein paar psychische Heilpraktiker.« Das Auge trieb in einen Transportschacht, eine lange vibrierende Röhre, die die Längsachse des Schiffs darstellte. Bonaparte strich über die Patrone, als das Auge nach oben schwebte. »Grundlegendes Bewußtsein ›denkt‹ nicht«, sagte er. »Nein, es weiß. Existenz ist primär, individuelle Existenzen sind sekundär. Unsere Biomatrix bringt jedes einzelne Lebewesen in Kontakt mit dem Ganzen.« Das Auge blickte
durch eine Luke über den Ziolkowski-Krater, dann hinab auf das Dach einer ledrigen, bauchigen Kuppel, vielleicht genau der Kuppel, unter der sie sich befanden. Falls es durch das Kuppeldach tauchte, dachte Michael, würde er sich selbst auf dem Bildschirm sehen, wie er sich selbst betrachtete… pulsierend, schimmernd. »Wissen ist überall. Es ist das Gewebe des planetaren Gesamtlebens. Bewußtes Denken muß nur lernen, es anzuzapfen…« Auf dem Bildschirm weideten mehrere Fremde an Tanks, die voller fleischiger, vibrierender Pflanzen waren, welche Wasserhyazinthen ähnelten. Sie schaufelten grüne Klumpen hoch und fraßen sie. Weitere Tanks waren wie in Spiegeln zu sehen, und auch Apparaturen, die eher auf einen Maschinenraum hinwiesen. Das Auge schwebte aufs Dach zu und durch es hindurch in eine Halle, die in blaugetöntem Sonnenlicht leuchtete. Das kuppelförmige Dach bestand aus einem wabenartigen, durchscheinenden Zellmosaik. Das facettenreiche Auge einer Fliege, riesig vergrößert, von innen gesehen. Das Blickpunkt-Auge tauchte hinein. »Schaut, die Biomatrix.« Michael sah Reihen von U-Röhren, Hunderte von ihnen, parallel nebeneinander angeordnet. Jede Röhre war so groß wie ein menschliches Beinpaar, und jede war randvoll mit grünem, klebrigem Schleim. Von einem Speichengitter tauchten Silberdrähte in den zähen grünen Saft. Rohre und Kabel wuchsen wie Wurzeln und Äste. Rund um die Matrix standen Bildschirme, die dem ähnelten, auf den er gerade blickte. Vor ihnen sammelten sich Gebraudi und beobachteten vibrierende Gitterwerke und die Schichten sich entfaltender komplexer Strukturen. »Wird das während der Mondnacht nicht alles eingestellt?« fragte Michael leise. »Sie dauert zwei Wochen.«
Der Schwede entblößte sein rosiges, geschrumpftes Zahnfleisch. Sein Mund sah künstlich aus, wie ein Gebiß auf dem Tablett eines Zahnarztes, als wäre er nur das Modell eines Mundes und herausnehmbar. »Vom planetaren Gesamtleben wird die Zeit auf andere Weise erspürt«, grinste er. Einen Moment stellte Michael sich vor, daß Bonaparte durch den Murid des Schweden sprach und Moller nur eine Ausdehnung des Gebraudi war, ein Pseudo-Mensch mit künstlichem Mund. Doch Bonaparte war zu massiv, zu dickhäutig und zu sehr angefüllt mit rollenden Eingeweiden und wiederkäuendem Magen, um ganz und gar unwirklich zu scheinen! Wie seltsam, daß ein Mensch weniger echt erschien als ein bizarrer Fremdling von den Sternen! Einen Moment später übernahm Bonaparte tatsächlich Mollers Führung. »Planetares Gesamtleben ist eine Ganzheit, Kind eures Sterns, so wie das unsere Kind unseres Sterns ist. Ihr seid seine Zellen. Ebenso die Fische und Vögel, die Bäume und das Gras. Eure Gemeinschaften bilden die Organe. Wie die Wälder und die Korallenriffe. Ihr jedoch seid seine Hirnzellen, seine Zentren höheren Bewußtseins. Aber euch ist der Weltbereich, in dem ihr arbeitet, nicht bewußt!« Der Bildschirm wurde blasig-grün: ein Gelee-Aquarium voller Froschlaich. Denn das Auge war in die Biomatrix selbst eingeschwebt, hatte seine Beobachtungsreise vollendet, indem es wieder in die subjektive Sicht seiner selbst eindrang – worauf alles amorph, formlos und unerkennbar wurde. Bonaparte schaltete den Bildschirm aus. »Ihr Zeitgefühl ist von dem unseren radikal verschieden. Ihr Gedächtnis beinhaltet die ganze Zeitlinie zellularen Lebens von Beginn an! So vergißt die Welt sich selbst nie. Was aber bedeutet dann der ›jetzige Moment‹ für sie? Viel mehr als dein persönlicher jetziger Moment, Mikal.« Bonaparte ließ seinen Namen wie den eines Propheten aus dem Alten Testament
klingen. »Zeit ist nur eine Konstruktion des Bewußtseins. Wie lange erscheint dir die Gegenwart – der ›Jetzt‹-Moment? Wie lange vor einem Ereignis ist ›Vergangenheit‹? Vielleicht eine einzige Minute nach deiner Uhr? Nicht viel mehr.« Michael schaute auf seine Uhr. Sie war stehengeblieben und zeigte überhaupt keine Zeit an. Er zog sie wieder auf. »Dein persönliches ›Jetzt‹ erfaßt einen Moment der Vergangenheit und einen Augenblick der Zukunft. Es muß – sonst könntest du nicht kontinuierlich denken.« »Wir haben alle an der gleichen ›scheinbaren Gegenwart‹ teil«, sagte Helen. »Das ist der beste Begriff dafür, denn sie ist nicht absolut. Sie ist dem Universum nicht aufgeprägt. Andere Standpunkte können einen anderen Zeitsinn haben. Unsere dauert höchstens wenige Minuten – nicht lange. Es ist komisch: Die persönliche Zeit ist eine Art Möbiusstreifen. Alle unsere Informationen kommen aus der Vergangenheit – der Klang meiner Stimme, das Licht eines fernen Sterns: sie sind bereits geschehen. Also leben wir stets in der Zukunft von allem anderen. So wird die Schleife der Zeit gebunden, die uns ans Hier und Jetzt bindet. Vergangenheit und Zukunft verbinden sich in unserem Geist zur scheinbaren Gegenwart. Aber dieser Möbiusstreifen hat nur eine Oberfläche, also gibt es nur eine Richtung. Wir können nur vorwärtsgehen.« »Du drückst es sehr gut aus, Helen«, sagte Bonaparte. »Wir sind stolz. Wir freuen uns.« ›Freuen‹ schien genau das falsche Wort zu sein – es klang fast hämisch. Vielleicht war es nur unglücklich gewählt. In diesem Augenblick steckte ein Außerirdischer den Kopf zwischen die Trennwände und begann, sie wegzuziehen. Als die Wände um sie herum verschwanden, konnte Michael wieder den Abstellplatz sehen. Ein anderer Gebraudi war dabei, einen neuen Benzintank in den Kofferraum des Thunderbird einzubauen.
»Das Gesamtleben eines Planeten bindet die Zeit in weit größerem Umfang«, fuhr Bonaparte fort. »Sein gegenwärtiger Moment erstreckt sich weiter als deiner oder meiner. Aus diesem Grund scheinen die Unidentifizierten – die die Mittler des Systems höherer Ordnung sind – fähig zu sein, die Zeit zu manipulieren, auf rätselhafte Weise aufzutauchen und zu verschwinden, wenn sie unseren flachen Blickwinkel durchqueren. Oder sie nehmen Lebewesen, denen sie begegnen, Zeit weg oder dehnen sie.« Wie lange war es wirklich her, seit er das Swale-Moor verlassen hatte? Eine Minute – oder einen Tag? Wie lange konnte jemand ins UFO-Stadium verschwinden? Für immer? Angst erfaßte ihn. »Was geschieht mit meinem Wagen?« »Sie erneuern die Reaktionsmasse«, sagte Helen eilfertig. »Ich weiß nicht, was es ist, vielleicht Wasser. Sie wird für das Schwerkraftfeld benötigt. Natürlich betreibt sie auch den normalen Motor. Von jetzt an ist deine Tankstelle auf dem Mond.« »Die einzelnen Teile sind versiegelt«, seufzte Moller. »Wir sind auf eine solche Technologie noch nicht vorbereitet. Wir sollen in unseren Wagen nicht zum Jupiter oder Pluto fliegen und unsere instabilen UFOs mit uns ziehen. Und aufgrund unserer zersetzenden Blindheit ständig falsches Zeugnis ablegen!« Es war alles ein Film, ein dreidimensionaler Film, in dem die Geschehnisse und die Schauspieler real, lebendig und berührbar waren – aber doch von irgendwoher projiziert. Michael mußte aufstoßen und hatte wieder den Geschmack eingelegter Zwiebeln auf der Zunge. Bei der ›Dreißig Plus‹Ebene in Trance, hatte Deacon gesagt, konnte man einen falschen Geschmack als vollkommen real erleben… Wie tief war er jetzt?
Michael starrte auf den Thunderbird – der noch auf dem Swale-Moor stehen mußte! Der Wagen war sein Transportmittel zurück in die normale Realität. Wie konnte er lernen, ihn zurückzufahren? John, wo sind Sie?
20
Es gab keine Unterbrechung, keine Pause. »Der kürzeste Moment für das planetare Gesamtleben der Erde«, fuhr Bonaparte fort, »muß sich über mindestens vierundzwanzig Stunden erstrecken, um die Rotation eurer Welt auszugleichen. Sonst würde diese Rotation alle seine anderen Empfindungen beherrschen.« »Würde seinen Kopf verdrehen«, lachte Helen. »Was wiederum bedeutet, daß Geschehnisse, die für euch als Abfolge erscheinen, für es verschwommen und vage sind. Sie haben nicht unbedingt die gleiche strenge Ordnung. Und was noch wichtiger ist: Das ist nur der allerkürzeste Moment seiner Erfahrung. Viele solcher Momente machen seine eigene scheinbare Gegenwart aus – die nach eurem Zeitmaßstab Tage oder Wochen währen kann.« Bonaparte sprach jetzt ziemlich schnell, als ob die Zeit unwiederbringlich verränne. Hinter der transparenten Wand schlug der fremde Mechaniker den Kofferraumdeckel zu und fuhr mit der Düse eines Geräts wie mit einem Handstaubsauger über die Nahtstelle; vielleicht verschweißte er sie mit Schallwellen oder Vibration… »Einen Moment«, unterbrach Michael. »Wenn wir Menschen seine höheren Denkzentren sind und wir den gegenwärtigen Moment nur als so kurze Zeit empfinden, wie kann er dann für das Gesamtleben des Planeten so lange dauern?« »Wie lange dauert es für eine eurer Hirnzellen, sich zu aktivieren, zu verharren und wieder aktivierbar zu sein?« fragte Bonaparte. »Mikrosekunden! Eine Zeit, die zu kurz ist, um von euch registriert zu werden – verglichen mit der Zeit, die ein Gedanke in Anspruch nimmt. Ihr seid alle einzelne
Hirnzellen, aber ihr seid nicht der Geist. Ihr könnt das System planetaren Gesamtlebens nicht völlig erfassen, wenn ihr nur die Gedankenzellen darin seid. Aber durch eure kollektive Haltung bringt ihr sein Gleichgewicht und seine geistige Gesundheit in Unordnung – so wie ein vergiftetes Gehirn den Verstand zur Schizophrenie bringt.« Bonaparte schwenkte bekümmert seinen Rüssel. »Nehmt eure Einstellung zum Tod. Leben und Tod sind in Wirklichkeit ein dialektischer Prozeß. Zellen müssen absterben, damit neue geboren werden. Ältere Gattungen müssen vergehen, damit höher entwickelten Spezies Platz gemacht wird. Was bedeutet Tod für ein Gesamtleben, das sich eine Milliarde Jahre zurückerstreckt? Jedenfalls die ständige quälende Angst, die er euch vermittelt. Was bedeutet Tod für ein Geschöpf, das sich in Harmonie mit dem planetaren Gesamtleben befindet? Das gejagte Opfer akzeptiert den Tod mit einer gewissen erstarrten Freude, sobald er unvermeidlich geworden ist! Aber eure elende Todesangst prägt dem Nervensystem des Planetenlebens ein virulentes Todesprogramm ein. Dieses Todesprogramm siegt über das Lebensprogramm und wird Herr über es, nicht aber sein Partner. Ihr seid Mörder! Ihr tötet und vergiftet Tiere, Wälder und Seen. Tötet euch selbst. Kein Wunder, daß so viele Unidentifizierte feindselig und schädlich sind.« Axel und Helen nickten zustimmend. Der Mechaniker hatte den Thunderbird wieder zusammengebaut, jetzt winkte er Bonaparte zu. »Ich nehme an, das ist der neue mystische Bezugsrahmen für UFOs«, sagte Michael ätzend. »Was sagst du da?« schrie Moller. »Glaubst du, wir seien keine wirklichen Menschen? Hör mir mal zu, mein Junge. Planetares Gesamtleben ist uralt und mächtig – und es wird wegen uns, seiner Gehirnzellen, und unserer Todes- und Machtwahnvorstellungen autistisch. Deshalb hat es die erste Gebraudi-Expediton mit einem Energieangriff oder so etwas
ausgelöscht. Wir konnten nicht dulden, daß die Fremden kamen. Wir sind zu egozentrisch. Wir haben die Welt infiziert. Wir haben sie mißgestaltet. Sie besteht aus einer Vielzahl schwärender Wunden. Glücklicherweise besteht das planetare Gesamtleben nicht nur aus uns. Es besteht aus allen Geschöpfen, die auf der Erde leben. Wir sind nicht einmal die einzigen höher entwickelten Gehirne. Warum, glaubst du, werden so viele UFOs gesehen, die in die Meere tauchen? Nicht etwa wegen Atlantis oder solchem Quatsch. Das geschieht wegen der Wale und Delphine – sie sind weiser als wir. Wir sind nur zufällig im Moment die dominante Rasse, weil wir geschickter Gegenstände handhaben können. Und es ist nicht immer so gewesen. Der primitive Mensch lebte in Übereinstimmung mit seiner Umgebung – daher haben wir auch noch einen Vertrauensausgleich aus unserer eigenen Vergangenheit. Das Lebensprogramm ist stark. Es wehrt sich.« »Mit seinen Erlösern!« platzte Helen dazwischen. »Mit seinen Propheten und Heiligen, seinen Wundern und Zeichen.« »Wir können euch helfen«, erklärte Bonaparte feierlich. »Zuerst werden wir untersuchen und die Diagnose stellen. In der Welt gibt es, wie in einem Gehirn, natürliche Bahnen: Netzwerke, denen das Unidentifizierte folgen wird. Das sind Linien, die Lebenszentren miteinander verbinden, wo ihr einst Pyramiden, Schreine und Tempel gebaut habt. Wir haben bereits einige Karten dieser ›Brachlinien‹. Axel und die anderen haben uns dabei geholfen. Hier müssen wir den Puls dieser Welt fühlen, auf der Primärebene. Wir werden diese Informationen unserer Biomatrix einspeisen, um ein Modell eurer Welt herzustellen. Tausende von Biosensoren müssen entworfen werden, um die Rhythmen entlang der Brachlinien zu verstehen, die der Mensch der Vorzeit kannte – bevor ihr alles wieder verlernt habt. Aber wir Gebraudi können diese Sensoren nicht selbst an den Linien plazieren. Die
Unidentifizierten würden alsbald versuchen, uns zu vernichten. Wir müssen uns auf euch verlassen.« »Es ist wie die Aufnahme eines Enzephalogramms«, sagte Helen erläuternd. »Oder das Einstechen von Akupunkturnadeln, um das Energiefeld des Körpers zu entschlüsseln. Nur, daß wir lebende biologische Geräte benutzen – Ausdehnungen der Biomatrix. Das ist keine feindselige Handlung den UFOs gegenüber, verstehst du? Wir stellen keine Fallen auf. Wir fühlen nur den Puls.« »Den Puls eines Tigers«, brummte Moller. »Aber wir können es. Wir sind auch Tiger… Wenn wir die Struktur eures Planeten verstehen, können wir damit anfangen, uns in die Seele der Erde hineinzudenken und sie zu heilen. Dann können wir durch die Sensoren, die ihr anbringt, Energie in die Weltstruktur einfließen lassen. Das wird zu freundlichem Verständnis des Unidentifizierten führen. Ihr werdet Erkenntnisse daraus gewinnen.« »Dann kann es richtige UFO-Landungen geben, Mike. Echten Kontakt. Wirkliche Visionen, die auf den rechten Weg führen. Wir werden die Möglichkeit haben, UFO-Energie positiv anzuzapfen. Eine greifbare Gotteskraft. Ein neuer Morgen.« Michael starrte Helen an. »Ist euch nicht klar, daß dies das Ende der menschlichen Wissenschaft wäre?« »Das Ende der begrenzten Wissenschaft, die wir kennen!« schnaubte der Schwede. »Es wird eine zauberhafte Zeit sein, Mike«, versicherte sie ihm. »So, wie der Mensch der Frühzeit sie kannte. Wir werden wieder das bekommen, was die frühen Menschen die Traumzeit nannten.« »Wohl eher eine neue Steinzeit, würde ich sagen!« »Du willst nicht helfen? Du willst nicht glauben?« Bonaparte winkte dem Außerirdischen zu, der neben dem Thunderbird
stand. Er betrat die Luftschleuse, schwenkte sie und holperte auf sie zu. Michael spürte Angst. Er fürchtete die erdrückende Kraft der beiden massigen Gestalten. Er wich zurück. Der zweite Gebraudi kam jedoch nicht zu ihm, sondern ging auf Bonaparte zu. »Du glaubst nicht an unsere Realität? An unsere Echtheit?« Einen Moment lang sagte Michael gar nichts. Seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen. »Nein«, sagte er schließlich. Bonaparte murmelte dem Mechaniker etwas zu, der daraufhin seinen Rüssel ausstreckte, um Bonaparte zu helfen, die Verschlüsse an Anzug und Helm zu lösen. »Schädliche, dünne Atmosphäre. Sie enthält Gift für uns, Mikal. Einen langsamen, schmerzlichen und schmutzigen Tod. Du wirst genug Schmerz sehen, um zu glauben, daß wir wirklich existieren. Du wirst genug Ausgebrochenes riechen.« Der Helm öffnete sich. Ein klebriger Schleim floß aus Bonapartes Augen. Aus der Kehle des Gebraudi drang ein schrilles Krächzen. Als die anderen Verschlüsse sich lösten, sprang der Anzug auf. Der Mechaniker zog ihn in Streifen ab, bis er wie ein Haufen von Reifen um den nackten Bonaparte herum lag. Schmerzgequält sank Bonaparte auf die Knie. »Um Gottes willen, laß das nicht zu!« flehte Helen. »Du Mistkerl! Wie kannst du das tun – obwohl sie dich ausgewählt haben?« Hilflos ballte Axel Moller die Hände zu Fäusten. »Sie sind so wunderbare Geschöpfe. Hundert von ihnen starben bei Tunguska. Trotzdem würden sie ihr Leben für uns geben – aus reinem Altruismus. Und… du… tötest… ihn!« Der Fremde übergab sich: eine zähe, stinkende, grüne Lache. Er schüttelte und wand sich. »Wenn wir dich nicht überzeugen können«, quäkte der Mechaniker, »welchen Sinn hat es dann überhaupt, daß wir hierherkamen?« Bonaparte begann mit jämmerlichen
Kriechbewegungen. Plötzlich entleerten sich seine Därme, verschmutzten seine Haut und den Boden. »Das Sterben dauert lange, Mikal«, winselte er. »Das ist nur der Anfang.« Als er fünf Jahre alt war, hatte Michael ein Vogelweibchen in einer DDT-Lache langsam sterben sehen. Zuckend hatte es zu sterben versucht. Er hatte versucht, seinem Leiden ein Ende zu setzen, indem er das Tier unter seinem Absatz zerquetschte. Sein Absatz bestand nur aus weicher Kreppsohle. Das zerquetschte Ding starb einfach weiter – nur noch verwundeter und gequälter als vorher. Es war ein belangloses Geschehen: der Todeskampf eines Vogelweibchens. Aber es hatte sich in seiner Seele eingebrannt. Von da an grauste es ihm davor, etwas zu töten. Fliegen oder Schnecken. Ein Kaninchen mit Myxomatose, das blind in der Ecke eines Feldes umherkroch. Unter seinen Händen schien keine Kreatur ihren Todeskampf beenden zu wollen. Die Zeit ihres Sterbens dehnte sich unermeßlich aus, und er war es, der es verlängerte: ein Peiniger, der solches Leiden als schlimmste Sache der Welt verabscheute. Sekunden waren jetzt Stunden. Er war wieder ein kleiner Junge, der sich verzweifelt bemühte, dem Vogel zu helfen und ihm doch nur unerträgliche Schmerzen zufügte. Der langsame Todeskampf des anderen ging ihm gehörig an die Nieren. »Pearl Harbor wäre nie bombardiert worden«, zischte Helen, »wenn wir nur vertraut und geglaubt hätten. In den dreißiger Jahren schlitzte sich ein Japaner vor der US-Botschaft den Bauch auf, um uns zu überzeugen, daß wir glauben müssen. Daß wir aufhören müssen, die Asiaten wie Dreck zu behandeln, daß wir aufhören müssen, sie aus den USA zu verbannen. Wußtest du das? Er dachte, wir würden es verstehen. Das war sein stärkstes Argument: sein eigener Tod durch Harakiri. Genauso ist es mit den Gebraudi – weil die Selbstaufopferung Teil ihres Wesens ist. Weißt du nicht, in
welcher Hölle wir schmoren werden, wenn sie uns nicht helfen? Die Gebraudi werden keine Bomben abwerfen! Die einzige Gewalttat, zu der sie fähig sind, ist, sich selbst zu verletzen. Sie setzen Gewalt nur gegen sich selbst ein. Unser eigenes UFO-Übel wird unsere Herzen und Seelen bombardieren.« Sterbender Vogel! Sterbender Gebraudi! Michael konnte dieser Trumpfkarte nichts entgegensetzen. Irgend etwas in ihm dehnte sich – und zerriß. Es stimmte alles. Er begann zu weinen. Er flehte: »Rettet ihn. Helft ihm. Laßt ihn leben.« Bonaparte war plötzlich für ihn eine wirkliche Person: real, echt und lebendig. »Unsere Freunde… sie sind schön. Ich habe es nicht erkannt!«
Der Mechaniker kam zurück. »Wie… wie geht es Boon-ap-aat-?« fragte Michael demütig. »Er ist natürlich sehr krank. Aber es wird ihm besser gehen. Jetzt muß ich dir zeigen, wie du deinen Wagen fliegst, Mikal, von der Erde.« Der Mechaniker führte die drei durch die Luftschleuse. Der weiße Vinyl-Fahrersitz des Thunderbird war wieder eingebaut worden, während der Beifahrersitz weichen mußte, um Platz für den fremden Fahrlehrer zu machen. »Es ist Zeit, daß ihr euch auf den Weg macht, Helen und Axel. Eure Biosensoren sind alle auf dem Rücksitz und dem Boden verstaut.« Helen – eine kleine Gestalt, grau, hausbacken und tapfer – ging zu ihrem Pontiac. »Paßt auf euch auf!« rief sie. Sie setzte den Wagen zurück und steuerte in die offene Röhre nach draußen. Mit einem knappen Kopfnicken zu Michael ging der Schwede zu seinem Volvo und folgte dem Pontiac. Aus keinem der beiden Wagen kamen Auspuffgase. Sie waren versiegelt; angetrieben von Reaktionsmasse – von der völligen Energieumwandlung eines Stoffs, der vielleicht
einfaches Wasser war… Das dreieckige Tor der Röhre schloß sich. Als es sich wenige Minuten später öffnete, war die Röhre leer. »Ich muß dich hypnotisieren, damit du schneller und leichter lernst. Die normalen Funktionen bleiben davon unberührt, das versichere ich. Bist du einverstanden?« Michael nickte steif. Da der Fremde, der die Bewegung nicht verstand, immer noch auf eine Antwort wartete, sagte er laut: »Ja.« Der Fremdling zog den Glasblock aus seinem Beingurt. Er steckte ihn in ein kastenförmiges Gerät auf dem Dach des Wagens, das wie ein Suchscheinwerfer aussah. »Bitte, schau hin.« Ein hellgrüner Lichtstrahl fiel auf Michaels Gesicht. Das Licht flackerte in schnellem Rhythmus, zu schnell, um es sofort zu bemerken. Doch je länger Michael hineinschaute, desto deutlicher erkannte er die Rhythmen des Lichts… Er fühlte sich munter und aufnahmefähig – wenn auch auf eine passive, willenlose Weise. Am Rande bemerkte er, wie die Bewegungen der Fremden in der blaugrünen Kammer auf der anderen Seite der Wand nicht mehr ineinanderflossen, sondern statt dessen abgehackt wie in einem alten Stummfilm wirkten. Aber das beunruhigte ihn nicht. Schon bald wußte er, wie man den Thunderbird flog.
21
Mit der VC10, die Deacon in Kairo bestieg, flog eine große Gruppe keniatischer Sportler und viele ermüdende, lärmende, heimatlose Kinder, die zu ihren englischen Internaten zurückkehrten. Während sie Rom und Paris anflogen, blätterte Deacon im Lemegeton von Salomon. Die merkwürdigen Zeichnungen in dem Buch – die angeblich Dämonen beschwören sollten – sahen für ihn immer noch wie Teile von Schaltplänen aus, die aus einer riesigen Darstellung herausgerissen worden waren – aus einer Darstellung des Verstandes. Beziehungsstrukturen, Stücke einer Landkarte des Verstandes. Jeder der ›Dämonen‹ – AGARES, AINI, ALLOGEN, AMDUSCIAS, insgesamt zweiundsiebzig bis hin zu ZAGAN und ZEPAR – stand anscheinend für einen speziellen parapsychologischen Typus: Übertragung ungewöhnlicher Kräfte in einen normalen (oder ziemlich anormalen) Bereich. Liebe, Kriegskunst, mathematische oder literarische Begabung, die Fähigkeit, Schätze aufzuspüren, die Zukunft vorherzusagen, die Sprache der Vögel und Landtiere zu verstehen, die Kenntnis von Energien in Pflanzen und Steinen, die Gabe, Feuer zu entfachen, Menschen unbewußt zu beeinflussen, sich unsichtbar zu machen, das Vermögen, in kürzester Zeit zu lernen oder Trugbilder entstehen zu lassen. Hier waren fragmentarische Skizzen eines höher entwickelten Geistes, der die Wirklichkeit direkt manipulieren konnte, indem er die ihr zugrunde liegenden Strukturen erfaßte, die Vorläufer einer Art Überbewußtsein, das die Menschen zum Guten oder Bösen erlangen konnten. Er erinnerte sich an Tom Havelocks vor Wochen ausgesprochene Mutmaßung, daß
Symbole möglicherweise eine Art objektiver Realität besaßen… Und eine dieser Zeichnungen war als Teil einer UFOSteuerarmatur in Michaels Gehirn einprogrammiert worden. Schließlich breitete sich der trübe Südosten Londons unter ihm aus. Regen klatschte gegen das Fenster. Das Flugzeug setzte auf, ließ die hinteren Motoren aufheulen, rollte aus. Grauer Beton, graue Gebäude, sogar das Gras wirkte grau. Er hatte in den letzten fünf Tagen die Kleidung nicht gewechselt. Seine letzte Rasur lag vierundzwanzig Stunden zurück. Klebrige Stoppeln schabten an seinem Kragen, aber er konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, Kragen oder Krawatte zu lockern und so noch heruntergekommener zu erscheinen. Er war ein Tramp in einem Linienflugzeug. In seiner Brieftasche steckten ein Sondervisum von Ägypten mit Fingerabdrücken und Foto darauf, eine Ausweiskarte, ausgestellt vom Konsulat in Kairo, eine Sondererlaubnis zur Einreise ins Vereinigte Königreich, eine Einwanderungsbescheinigung und fünf Pfund Sterling (die zurückerstattet werden mußten)… Sein Besuch bei der Botschaft war von solcher Peinlichkeit gewesen, daß er sich nach einer Weile wie betäubt vorkam, ein menschliches Paket, dem Stichproben entnommen wurden, das man in irgendwelchen Ecken herumstehen oder auf harten Stühlen liegen ließ, bis es schließlich mit neuen Aufklebern versehen wurde. Dem Konsul hatte er etwas über Amnesie erzählt – Überarbeitung. Er mußte seinen Paß in den Nil geworfen haben, ohne sich vorher in einem Hotel einzutragen. Er hoffte aufrichtig, die Anspannung durch seine absurde Flucht aus England aufgelöst zu haben. Die Polizei überprüfte die Angaben. Sein Paß befand sich in keinem Hotel. Die Botschaft prüfte. Ein John Deacon war in
der letzten Woche nicht von Heathrow abgeflogen, also mußte er der Fluggesellschaft einen falschen Namen angegeben haben. Seine Frau stellte eine Liste persönlicher Fragen zusammen, um ihn zu identifizieren. »Wie starb unser Hund?« war eine davon. Er wurde von einem Konsul, der vielleicht zehn Jahre jünger war als er selbst, belehrt wie ein Schuljunge von seinem Direktor. Deacon, das Paket, unterwarf sich dem allen gefügig; der Preis für die Hilfe – in einem faßbaren Rahmen. Aber als er zum Haus des Scheichs zurückkam, wo sie ihn während ihrer Nachforschungen wohnen ließen, hatte er das ReuterBüro in Kairo angerufen. An Bord der VC 10 behielt die Stewardeß ihn im Auge, als könnte er plötzlich einen der Schuljungen belästigen, rassistische Parolen schreien oder eine Flugzeugentführung versuchen.
»Mußtest du denn unbedingt die Reporter bestellen?« fragte Mary mit gepreßter Stimme, während sie den Wagen nach Norden lenkte. »Hattest du gedacht, ich würde dich in aller Öffentlichkeit verprügeln?« »Ich mußte die ganze Sache mit mir selbst ins reine bringen! In Kairo, bei der Botschaft, habe ich eine Lüge erzählt. Nur, um mit möglichst wenig Scherereien zurückkehren zu können. Du kannst dir nicht vorstellen, wie demütigend es war.« »Kann ich das nicht?« »Nur der Scheich und Salim kannten die Wahrheit. Aber wie sie sagen: Die Wahrheit verbirgt sich! Vielleicht hätte ich mutiger sein sollen… Ich wollte damit nur mein Gleichgewicht wiederfinden, ein wenig, zumindest.« »Tatsache ist, daß du zur Bank gegangen bist, John. Ich weiß das, weil ich deine Kontoauszüge geholt habe. Du hast genug
für ein Flugticket abgehoben. Zweihundert Pfund, die uns sehr fehlen werden.« »O ja, möglicherweise bin ich mit dem Flugzeug dorthin gekommen. Das spielt keine Rolle, verstehst du? Nicht, wie ich dorthin gekommen bin.« »Wie kannst du so tun, als ob dein Flug nach Ägypten eine Gefälligkeit von Fliegenden Untertassen gewesen ist, wenn du noch nicht einmal mit einer gereist bist?« »Ich bin im Stadium eines UFO-Bewußtseins geflogen. Es ist dasselbe, wie ich auch den Herren von der Presse erzählt habe.« »Mein Gott, John, du befindest dich am Rande eines Abgrunds. Ich versuche, dich am Kragen festzuhalten. Aber du ziehst ihn aus meiner Hand, als haßtest du mich! Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie das in den Zeitungen gebracht wird?« »Die Reporter kamen mir wie ein ziemlich schüchterner Haufen vor. Ich hatte immer gedacht, alle Reporter wären unverschämt und extrovertiert.« »Wahrscheinlich waren sie genauso verlegen wie ich. Unerfahrene Reporter, die man auf eine irrwitzige Geschichte angesetzt hat. Das hält sie aber nicht davon ab, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.« Den Sturz kann keiner bremsen, dachte sie bitter. Johns Schädel glänzte klebrig; aber die Fee gewährte nur einen Wunsch… Deacon klopfte zufrieden auf seine Tasche. In ihr befand sich der Kleine Schlüssel von Salomon. Muradi, davon war er jetzt überzeugt, war ein ehrenhafter Vermittler gewesen. »Tut mir leid, Liebes. Ich kann nicht aufgeben. Nicht jetzt, wo ich so nahe dran bin.« »Du bist ja total bescheuert.«
22
Genau einen Tag, nachdem er von der Erde geholt worden war, setzte Michael auf dem Moor auf. Sein Fahrrad lag nicht mehr dort. Er fuhr zu einem stillgelegten kleinen Steinbruch hinter Goosedale und versteckte den Wagen unter Rhododendronbüschen. Er mußte drei Meilen zu Fuß zurückgehen. Vergnügt schritt er aus. Er hatte so etwas wie seine Jungfräulichkeit auf dem Mond verloren, war in ein großartiges und zugleich entsetzliches Geheimnis eingeweiht worden. Überall waren unsichtbare Kraftlinien und banden die Pflanzenwelt, die Vögel in den Bäumen, die Würmer unter der Erde und alle Werke der Menschenrasse zu einem Ganzen zusammen, für das die Menschen leider halbblind waren. Es ließ gleichermaßen Wunder und Gräßlichkeiten entstehen, während es sich um Erkenntnis mühte, seine höheren Zentren verkrüppelten und verkümmerten durch das Todesprogramm. Den Orgasmus hatte man meist als ›kleinen Tod‹ bezeichnet… und er war voller Angst immer zu früh gestorben. Auch die Menschheit war vor lauter Angst verkrüppelt, erfüllt von Selbsthaß und ohne Kontakt zu den Rhythmen des Lebens. Auf diese Weise war eine epileptische Lähmung entstanden, welche Ungeheuer hervorbrachte, während gleichzeitig das Lebensprogramm Zeichen der Transzendenz an den Himmel schrieb und manchmal sogar auf die Erde hinabkam, um eine Botschaft zu überbringen: eine Botschaft des Lebens. Hin und wieder sahen die Augen der Menschen, aber die Hände konstruierten stets neue Waffen im Dienste des Todes.
Diese Freude trug ihn durch gespannte Situation zu Hause. Denn er war ohne ein Wort gegangen und über Nacht nicht zurückgekehrt. Sein Vater hatte sein Fahrzeug am Abend auf der Straße durchs Moor gefunden und die Polizei verständigt. Er war nach Swale geradelt, log Michael, und hatte sein Fahrrad abgeschlossen (jedenfalls dachte er das – offenbar hatte es jemand gestohlen); dann hatte er den Bus nach Otway und den Zug nach Sandstairs genommen. Die Nacht hatte er in einer Jugendherberge in Otway verbracht, als er den letzten Bus nach Hause verpaßte. Er hatte Suzie sehen müssen. Liebe. Ein spontaner Impuls. Auf seinem Kinn wuchsen einen Tag alte Bartstoppeln… Vorwürfe folgten. Weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, von Otway zu telefonieren. Es war ein gereizter, gräßlicher Morgen – und wenige Stunden zuvor war er noch auf dem Mond gewesen, hatte mit Fremden gesprochen und gelernt, über den Ziolkowski zu fliegen… Zwischen beiden Erlebnissegmenten bestand keine Verbindung. Sein Zuhause, Mutter und Vater wurden immer unwirklicher, je länger der Vormittag dauerte. Sie waren der Traum. Normales Leben war ein Traum. Ein greifbarer, realer Traum – aber dennoch ein Traum. Es war so schwer, das normale Leben zu verlassen, das einen mit aller Kraft wieder zurücksaugte. Was wirklich geschehen war, konnte einfach nicht ausgesprochen werden. Er hatte kein Alibi außer Suzie Meade, jugendliche Leidenschaft, Gleichgültigkeit. Mit geröteten Augen starrte seine Mutter in den sonnenbeschienenen Garten mit seinen Narzissenblüten. Für ihre traurigen Augen waren sie jetzt nur Wachs oder Plastik. Rasch schlang er das ihm zubereitete Frühstück hinunter. Das letztemal hatte er auf dem Mond von Axels Speisevorräten gegessen. Sie saß (schwarze, von Grau überlagerte Locken) so
in ihr Leid versunken, daß es undurchdringbar erschien. Eine Hand ausstrecken… Trösten… Um Verzeihung bitten. Sinnlos! Eine Lüge war zwischen sie getreten. Sie saß auf der anderen Seite, in der Falschheit des Normalen, der Illusion des Alltäglichen… Wenn er sie mit zu dem Thunderbird nahm oder den Thunderbird zum Haus brachte und… mit ihr in den Himmel entschwand – sie wäre am Ende, zerstört. Sie würde um Hilfe aus der normalen Welt schreien. Dick strich er Ingwermarmelade auf. Narzissen schwankten im aufkommenden Wind. Eine Drossel trippelte über den Rasen, versuchte einen sich windenden Wurm aus dem Boden zu ziehen und ihn mit Stilettostichen zu zerpflücken. Sein Vater kam vom Telefon zurück und legte den Arm um seine Frau. »Warum? Warum?« Die Frage hatte keine Antwort, außer einer Antwort, die so absurd war, daß sie keine Antwort war. Wenn man die Straße aus dem Elfenland heraus genommen hat, dachte Michael, zerfällt alles zu Staub, und plötzlich ist man sehr alt, wenn man den Fuß auf den Erdboden setzt… Wenn man eine Elfenbraut heiratet und Anspielungen auf ihre Herkunft macht, würde sie den Armen ihres Bräutigams entfliehen. Gold würde zu Blei, der Zauberring zu Messing, Rubine zu Glastand. Für diese Welt existierte kein Alibi, außer Suzie, die in Sandstairs am Meer ihrer Genesung entgegensah. ›Alibi‹ – Woanders. Von dort kamen die Fliegenden Untertassen und all ihre menschgewordenen Geschöpfe: von woanders – aus dem lebensnotwendigen Woanders, das Bestandteil jedes geschlossenen Systems war. So hatten es die Gebraudi erklärt. Ein System konnte sich selbst nie vollständig innerhalb seiner eigenen Begriffe erkennen. Aber es wurde dazu angetrieben, danach zu streben – wobei der eigentliche Mangel schon in der Kraft lag, die es entwickelte. Die
unidentifizierbare Quantität innerhalb des Systems wurde auf diese Weise kurzfristig sichtbar, nur um sich ständig zu entfernen. Man konnte nur lernen, indem man auch woanders hinging, zur abgewandten Seite des Mondes. In allem gab es einen Bereich des Woanders. In jedem Kessel mit kochendem Wasser waren einige wenige mikroskopisch kleine Eiskristalle; in jedem Eiswürfel im Kühlschrank waren einige wenige Atome am Siedepunkt. Sonst würde die Welt einfach nicht existieren. Sie würde sich total abschließen – und ihre Existenz verlieren. Das UFO war das siedende Atom im Eiswürfel, der Eiskern im Kessel. Es war die Unsichtbarkeit am Rande des Universums – ohne die es kein Universum geben konnte. Es war die Unbestimmbarkeit des Teilchens – ohne die es keine Materie geben konnte. Die Gebraudi verstanden das weitaus besser als die Menschenrasse. Die ganzen Bio-Bündel in seinem Thunderbird, abgestimmt auf die Biomatrix auf dem Mond, waren Sinnesorgane, um die verborgenen Rhythmen der Welt zu erkennen. Während die Menschen Bomben bauten, um sie zu zerstören. »Es tut mir sehr leid«, entschuldigte Michael sich und zupfte an seiner Lippe. »Wirklich.« Erschöpft ging er zu Bett und schlief ein. Und verletzte seine Mutter dadurch noch mehr, denn müde wie er war, konnte er die Nacht nicht in einer Jugendherberge verbracht haben.
Er träumte, wieder mit Bonaparte auf dem Mond zu sein. Er erwachte im Traum und wurde sich bewußt, daß dies ein Traum war und er immer noch schlief. Er versuchte dem Außerirdischen zu sagen, daß es tatsächlich ein Traum war, während er in seinem Bett in Neapstead, Yorkshire, lag. Bonaparte trug keinen Druckanzug, aber er starb nicht! Als Michael darauf hinwies, begann der Fremde erneut zu winseln, zu würgen und zu sterben. Immer noch im Bewußtsein, daß es
ein Traum war, befahl Michael ihm heftig, gesund zu bleiben, damit er ihn befragen konnte; ihn und sein fremdes Wissen, die Alibizone im Verstand, gegen die der Verstand vergeblich angehen muß, um zu wissen. Diese Anstrengung verwandelte sich in Bonapartes Todeskampf. Michael konnte sich im Schlaf nicht mehr wachhalten oder die Gesundheit des Fremden bewahren. Das normale Traumgeschehen strömte zurück. Helen Caprowicz in einem Paillettentrikot, das seltsame Beulen und Wülste an ihrem Körper und ihr breites, birnenförmiges Gesäß betonte, bestieg den Fremden und galoppierte auf ihm durch das vielfach vergrößerte Schlafzimmer Suzies im Wohnheim. Draußen war kein Stadtpark. An seiner Stelle sah er narbige Krater, bizarre schwarze Bergzacken und gleißende Sterne, die die Pailletten auf Helens Artistenkostüm aufblitzen ließen. Er stellte sie sich als Suzie vor, obwohl sie ihr nicht im mindesten ähnelte. Er bemerkte, daß die Erde im schwarzen, sternenübersäten Himmel hing. Helen/Suzie rief: »Fang mich, wenn du kannst!« Sie stieß Sporen in die Haut ihres schwerfälligen Reittiers, traktierte seinen Rumpf mit einer Reitpeitsche und galoppierte in einem Scherbenregen durchs Fenster. Die Luft wurde aus dem Zimmer gesogen, er drohte zu ersticken; Bücher und Schallplatten, Tassen und Untertassen und er selbst wurden wirbelnd in lunare Dunkelheit gezogen. Er glaubte zu sterben. In Wirklichkeit wachte er auf.
23
Da er Suzie als Alibi benutzt hatte, wollte er sie auch tatsächlich besuchen. Er fuhr die gut vierzig Meilen nach Sandstairs durchs Otway-Hochmoor über Scawby und Bridleby. Wie auffällig der Thunderbird war! Lippenstiftrot, so breit wie mehrere Landstraßen, Rücksitz und Boden vollgestapelt mit Biosensoren unter einer Leinwand: Warum konnten sie kein unverdächtigeres Auto stehlen? Hinter Bridleby, einige hundert Meter bergauf von der Straße, erhob sich Worm Rigg, eine zackige Felskante, von Findlingen gesäumt. Er hielt an und entfaltete die Karte, die sie ihm gegeben hatten, bevor er Ziolkowski verließ. Die Karte zeigte die alten Brachlinien, die Kraftlinien, die geweihte und geheime Stätten miteinander verbanden: heilige Steine, Erdhügel, Tauteiche, Bergspitzen, auf denen der prähistorische Mensch seinen ›Göttern‹ begegnete – jene Linien, welche die alten Chinesen Lung mei, Drachenlinien, genannt hatten. Die Karte markierte das mutmaßliche Nervensystem des planetaren Gesamtlebens, die Bahnen der als lebendes System angesehenen Erdwelt, die Stätten, an denen Unidentifizierte Ereignisse am logischsten auftreten würden. Worm Rigg war eine solche Knotenstelle: eine primitive Gottesstätte, eine Stelle, wo das Unidentifizierte erlebt werden konnte. Die Rückenlinie des Wurms: des Drachens, der Schlangenmacht-Quetzalcoatl und der LambtonWurm. Denn eine Schlange mit dem Schwanz im Maul bildete die UFO-Scheibe, das Mandala, den Kreis des Seins, von dem der Mensch ein Teil war – und aus dem der Mensch nicht heraustreten konnte, um ihn ganz zu sehen. Er konnte nur seine
Schatten am Himmel sehen oder seinen ›faßbaren‹ Echos auf dem Boden begegnen. Michael nahm den ersten Biosensor aus dem Wagen und ließ ihn in den Schlitz des umgebauten Kassettenrecorders einrasten. Pieptöne kamen aus den Lautsprechern, an- und abschwellend. Er drehte den Regler, um die Töne zu synchronisieren, während der Stationsanzeiger über die Radioskala glitt, der auf die 360 Grad der Kompaßscheibe geeicht war. Er verglich das Ergebnis mit dem Kompaß auf dem Armaturenbrett. Jawohl, Worm Rigg dort oben war eine Stelle, wo er einen Biosensor anbringen konnte. Er drückte eine der Stationstasten, und das Piepen verstummte. Kein Warnsignal heulte auf. Im Augenblick war die Möglichkeit eines UFO-Ereignisses an dieser Energiestelle, dem Akupunkturpunkt, sehr gering. Zur Zeit war diese Zone völlig ruhig. Sie war sicher. Sonst wäre es genauso, als montiere man einen Blitzableiter unmittelbar vor einem Gewitter. In Gegenwart eines höheren Gedankenzentrums des planetaren Gesamtlebens – in seiner Gegenwart – könnte der Sensor eine Entladung der UFO-Energie anziehen, die sich auf ihn einjustieren und das Planetenbewußtsein auf das ›Etikett‹ aufmerksam machen würde, das in sein Nervensystem eingepflanzt worden war. Denk an Tunguska, hatten die Gebraudi gewarnt. Und Michael erinnerte sich daran, wie Garibaldi dem leuchtenden UFO ausgewichen war, das in dem Moment auftauchte, als sie vom Swale-Moor starteten. Garibaldi konnte Michael nur dadurch ausfindig machen, daß er sich selbst an einer Stelle zeigte, wo ein Ereignis wahrscheinlich war, an dem sich eine menschliche Kontaktperson beteiligte. Doch jetzt wußte Michael, wie er solche Wahrscheinlichkeiten vermeiden konnte. Er war vorsichtig. Er drückte einen weiteren Knopf, der (so hatte man ihm erklärt) über einen Biosatelliten im All ein
Schwingungssignal zum Mond sandte und damit anzeigte, daß dieser spezielle Biosensor jetzt eingeschaltet war. Er stieg durch dorniges Gras und Heidekraut zum Worm Rigg hinauf, auf die formlosen großen Felsblöcke zu, die seine Karte als Findlinge identifizierte. Den Biosensor versteckte er in einem Karnickelloch unter einem Ginstergebüsch. Er benötigte kein Sonnenlicht, sondern wurde von Primärschwingungen von der Biomatrix auf Luna in Betrieb gehalten, hatten sie ihm gesagt. Von der Spitze des Rigg konnte er soeben noch den blauen Streifen des Meeres sehen. Eine kühle Brise fuhr durch sein Haar. Er lauschte eine Weile, um den Spuk dieses Flecks, den Klang der Energie zu hören. Aber da war nur der Wind. Er ging zum Wagen zurück und fuhr weiter nach Sandstairs. Unterwegs hielt er noch einmal an, um einen weiteren Sensor zu installieren. Er versteckte den Thunderbird zwischen Hunderten von Ausflugsautos und Campingwagen. Es war der logische Ort. Der Wagen fiel kaum auf. Er fand eine Telefonzelle. Die Ausstattung darin schien schäbig und mittelalterlich im Vergleich mit Biomatrix, Thunderbird und Sensoren, die unidentifizierte Weltstrukturen erkennen konnten, welche menschliche Religionen und Mythologien gestaltet hatten. Zu seiner Überraschung funktionierte das Telefon. Und sie war am Apparat. »Suzie? Ich bin’s, Mike. Ich bin wieder zu Hause.« Er sagte ihr jedoch nicht, daß er sich in derselben Stadt wie sie befand. Seine Formulierung legte sogar das Gegenteil nahe. Er hatte den Thunderbird versteckt und hatte nicht vor, ihn ihr zu zeigen. Er konnte es nicht. Der Wagen würde sie genauso erschrecken wie seine Mutter. Sie sprachen über Gott und die Welt.
Nach einiger Zeit fragte er beiläufig: »Es hat doch keine merkwürdigen Ereignisse mehr gegeben, oder?« Er erhielt keine Antwort. »Bist du noch da, Liebes?« Er hörte, wie sie tief einatmete. »Hast du diesen widerlichen Unsinn immer noch nicht aufgegeben?« Ja? Nein? Was könnte er sagen? »Du hast es nicht«, bezichtigte sie ihn. »Du hast etwas gesehen, Suzie. Es hat dich angerührt. Ich weiß es!« »Wie der Wahnsinn. Auch der Wahnsinn rührt Menschen an. Hexerei ebenfalls, wenn man närrisch genug ist, sich damit abzugeben.« Er dachte an Bonaparte auf der anderen Seite des Monds. An die Biomatrix, und an das Gesamtleben des Planeten… Sie sagte gerade: »Ich brauche noch nicht einmal mehr Schlaftabletten. Und die Valiumdosen werden auch immer kleiner. Ich habe eine Stellung in einer Gaststätte, kannst du dir das vorstellen? Ich mache die Tische für den Sommer sauber. Der Abfall von Ausflüglern – beim Saubermachen muß man ein ästhetisches Gefühl entwickeln. Realitätstherapie! Ich bin jetzt wieder normal, Mike, und es ist herrlich.« Er hörte, wie ihre Fingernägel auf die Sprechmuschel klopften. »Du steckst also noch immer bis zum Hals drin? Und um mir das zu sagen, hast du mich angerufen?« Wie konnte er nicht bis zum Hals drinstecken? »Tatsächlich. Mein Gott!« Es klang wie ein milder Vorwurf. Aber sie hatte eingehängt. Der Hörer summte in seinem Ohr, statisches Rauschen. Bonaparte…! Klagender Fremdling im Todeskampf. Er vertiefte sich in Routinearbeit, radelte zu dem verborgenen Steinbruch, fuhr zu den nahegelegenen Stellen der fremden Karte, verbarg Biosensoren. Zu einigen Punkten auf der Karte mußte er nachts fliegen. Zu denen, die weit entfernt lagen.
Glastonbury Tor. Dragon Hill bei Uffington. Stonehenge. Silburry Hill. Die Gebraudi hatten ihm versichert, daß Radar ihn nicht erfassen könne. Irgendwo unter der verschweißten Kofferraumhaube war ein Störgerät. Er flog, er landete, er fuhr, er stieg über verschlossene Tore und Zäune, versteckte seine Sensoren. Er führte ein verzaubertes Leben, als wäre er für die UFO-Kraft ebenso unsichtbar wie fürs Radar. In der Nähe seiner Heimatstadt gelang es ihm, nie von Freunden oder Verwandten gesehen zu werden. Alles war überraschend einfach. Vielleicht sahen späte Spaziergänger, wenn sie zum Himmel schauten, ein dunkles, rätselhaftes Objekt, lautlos und ohne Flügel. Für sie war der Wagen mit seinem menschlichen Piloten natürlich ein UFO. Er lebte irgendwie fieberhaft und begann, an Gewicht zu verlieren. Zu Hause herrschte Waffenstillstand, während seine Eltern sich der Überzeugung hingaben, seine grundlose heftige Rebellion und seine plötzliche Leidenschaft, sich zu verbergen, würden sich schon auswachsen. Seine Mutter lächelte tapfer, sein Vater vertiefte sich ins Alltagsgeschäft der Landbestellung. Er kam nicht dazu, für die Universität zu lesen; aber eines Tages gab seine Mutter ihm eine alte Zeitung, die drei Wochen zuvor ungelesen zur Seite gelegt worden war. »Kennst du ihn nicht?« fragte sie. Er las über einen Psychologie-Professor, der in einem Zustand von ›UFO-Bewußtsein‹ nach Kairo geflogen war; und er freute sich. Es war ohnehin an der Zeit, zum neuen Trimester nach Granton zurückzukehren.
24
»Carl Jung wußte genau, was er für seine Reputation riskierte, als er über UFOs sprach«, sagte Deacon. »Er tat das nicht leichten Herzens.« »Wie schade, daß Sie seine Bedenken nicht teilten«, seufzte Bruce Fraser. »Es ist ja nicht nur Ihr Ruf, den Sie aufs Spiel setzen. Es ist der Ruf der Gruppe – und der Universität.« Fraser, Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät, hatte dieses dreiundvierzigste Treffen der Bewußtseinsforschungsgruppe nur widerwillig besucht. Auch für einige andere der Anwesenden hatte es den Zweck, den Leiter der Gruppe zur Rechenschaft zu ziehen. »Jung schrieb über UFOs als psychischer Mythos«, wandte Martin Bull ein. »Aber Sie behaupten, Sie seien von ihnen nach Ägypten gegeistert worden – wo doch alle wissen, daß Sie mit einem planmäßigen Flugzeug gereist sind! Und was die Ansicht angeht, Ihr Hund sei in einer Art Tauschgeschäft mit dem Teufel getötet worden, damit Sie jetzt mit magischen Mitteln UFOs beschwören können… das ist doch reine Gefühlsduselei!« Er schüttelte den Kopf. »Ich komme mit dem, was Sie zu tun glauben, nicht mehr klar.« »Jung sprach das Thema an, weil er erkannte, daß bedeutende psychische Umwandlungen möglich waren. Damit meine ich eine Verlagerung in der gesamten Erkenntnisstruktur. Jung sah die UFO-›Himmelsräder‹ zu Rechtals Brennpunktstrukturen der Entstehung einer neuen Art von, sagen wir einmal, transzendentem Bewußtsein – einer Verschmelzung mit einer höheren Ordnung geistiger Information. Und ich versichere
Ihnen, UFOs bedeuten mehr als nur Himmelsräder! Außerdem haben die Zeitungen mich falsch interpretiert.« »Was haben Sie erwartet?« fragte Fraser. »Wenn Sie sie mit einer Sensationsgeschichte füttern, hat das in den Augen der Zeitungsleute so gut wie nichts mit der Natur von Sinneswahrnehmungen zu tun.« »Beharren Sie ernsthaft darauf, einen ›Teufel‹ beschworen zu haben?« fragte Tom Havelock. Er bedeckte die künstliche Gesichtshaut mit gewölbter Hand. Sie schien im Neonlicht rot aufzuglühen. »›Der Teufel steuert eine Fliegende Untertasse‹!« höhnte Martin Bull. »Wirklich prächtig!« »Es war kein Teufel, Tom. Es war ein UFO, das wie eine Harpyie, ein Pterodaktylus oder etwas ähnlich Teuflisches aussah. Das Phänomen paßt sich unserem Bezugsrahmen an, aber folgt noch den Phantomspuren der religiösen Vergangenheit. Wir haben alle tief verwurzelte Vorstellungen von Göttern und Teufeln. Ich bin sicher, daß das ganze Phänomen mit der Natur der Erkenntnis verbunden ist: eine Erkenntnis, die verborgen bleibt.« »Mit einem Wort: okkult!« Havelock legte den Kopf gegen seine Hand, um sein Stigma zu verbergen. »Falscher Begriff. ›Okkult‹ impliziert Teufel, Pentagramme, tanzende Hexen und solche Sachen. Nein, ich sehe es so, daß das Phänomen in der einen oder anderen Form uns schon immer begleitet hat, weil es tatsächlich mit der ›Erkennbarkeit‹ des Kosmos verbunden ist. Es ist eine Art evolutionäres Lernprogramm, das aufgrund der besonderen Beschaffenheit des Universums existiert. Es lehrte durch unbekannte Mittel. Wie auch sonst? Es verwendet immer und überall das Unerkennbare als Medium. Offensichtlich muß die Wissenschaft dafür ein sehr spezifischer Wissenschaftszweig sein.«
»Zweifellos«, sagte Sandra Neilstrom trocken. Deacons Narrheit machte sie jetzt zornig. »Eine Wissenschaft des Bewußtseins.« »Was ist mit diesem Lemegeton?« fragte Havelock nervös. All die zerstückelten Schaltdiagramme… Als könnte man eine Maschine bauen, um Gottes Denken anzuzapfen. Die neue Hybris. Etwas, das sich von wahrer Gott-Zentriertheit deutlich unterschied. »Auch Magie befaßt sich mit dem Unerkennbaren. Sie ist ein Versuch, sich ihm mit Hilfe von Symbolen und geometrischen Darstellungen, die auch Sie, Tom, für objektiv halten, zu nähern. Aber wenn man an diesem Punkt stehenbleibt und sich einbildet, tatsächlich Halbgötter – Forneus und seine Truppe – aus anderen Dimensionen herbeizurufen, ist man verloren. Aberglaube verschlingt einen. Das Programm verzehrt einen, anstatt daß man sich von ihm nährt. Schließlich war das Ziel der Alchemie, den Geist umzuformen – nicht etwa, Gold oder ein Mittel für langes Leben herzustellen! Ich möchte an Menschen wie meinen Studenten Michael Peacocke appellieren, an Menschen, die empfänglich für ›UFOBewußtseinseffekte‹ sind, wie ich sie nenne, sich an einem neuartigen Forschungsprogramm zu beteiligen.« »Mit Schwarzer Magie?« fuhr Sally Pringle auf. Sie arbeitete an der Psychiatrischen Klinik, ihr Fachgebiet waren die Erscheinungsformen der Psychose. Sie war eine hochgewachsene, dünne Brünette und trug Armbänder mit Amuletten und schwere Silberarmreife an den Handgelenken, als wollte sie jeden Eingriff in ihr Privatleben abwehren und erden. Sie selbst allerdings betrachtete ihren Schmuck nur als einen Versuch, einen Hauch persönlicher Eleganz in das trübe, trostlose Leben der Gefangenen des Wahnsinns zu bringen. »Das habe ich nicht gesagt. Wir müssen eine zustandsspezifische Wissenschaft entwickeln, die auf das
Unerkennbare zielt. Auf das Unidentifizierte. ›Gewiß existiert eine Erklärung.‹ Das hat Jung geglaubt. Ich traue mir zu, sie finden zu können. Das ist möglich, indem man das Ego-Etikett auf irgendeine Weise den psychischen Bereichen des ›NichtEgo‹ anheftet. Diese Bereiche, Sandra, sind jene, die eine Brücke zwischen dem Verstandesraum und der stofflichen Welt bilden.« Bruce Fraser räusperte sich. »An einer Universität findet so etwas einfach nicht statt. Um genau zu sein: an dieser Universität findet so etwas nicht statt. Wirklich, John, der Trubel um Sie hat seine Grenze erreicht!« »Ich mußte den Bericht direkt an die Öffentlichkeit bringen. Sonst wäre ich ein Feigling gewesen. Seltsame und bemerkenswerte Dinge sind mir widerfahren. Welchen Sinn hätte diese Gruppe, wenn wir keinen Mut bewiesen? Wir haben noch nicht einmal die nebelhafteste Vorstellung davon, was Verstand und Bewußtsein eigentlich sind. Und wir sind der Erkenntnis nicht näher gekommen.« Fraser strich sich übers Kinn, das ständig die Röte einer frischen Rasur trug, als bearbeite er es drei- oder viermal am Tag mit einem Elektrorasierer, um stets völlig gepflegt zu wirken. Eine einnehmende, stämmige Gestalt, die irgendwie den Eindruck eleganter Brutalität vermittelte – als wäre er jederzeit bereit, den Oberkörper freizumachen und sich wie ein Gentleman der alten Zeit in einen sportlichen Faustkampf einzulassen. Fraser hatte die Bewußtseinsforschungsgruppe in der Vergangenheit stark unterstützt. »Dürfte ich etwas Offizielles ansprechen, John? Den Antrag der Gruppe, einen Forschungsstipendiaten zugeteilt zu bekommen?« »Der schon vom letzten Jahr stammt! Er ist längst überfällig.« »Ach, Sie wissen doch, wie die Prioritäten miteinander konkurrieren… Normalerweise würde ich den Antrag mit allen
Mitteln unterstützen. Aber wir hatten alle den Eindruck, Sie arbeiten auf dem Gebiet der Hypnose. Und jetzt kommt das heraus! In einem dieser Zeitungsinterviews haben Sie den Eindruck erweckt, wir würden uns für ein Stipendium für Fliegende Untertassen einsetzen. Solche Sachen bringen die Leute hoch. Zum Beispiel den Akademischen Rat!« »Drohen Sie damit, daß wir keinen Stipendiaten bekommen, wenn ich nicht die Finger von dem Phänomen lasse?« »Offen gesagt, John, es müßte sogar noch ein bißchen mehr sein. Doch das ist nicht der Ort, schmutzige Wäsche zu waschen.« Er blickte auf einige studentische Mitglieder der Gruppe, die sich krampfhaft bemühten, ernst zu wirken. »Mit Ihren verwegenen Behauptungen haben Sie einige Entrüstung hervorgerufen… Ich habe das Konzept der Forschungsgruppe immer intensiv unterstützt. Als Folge davon ist Ihre Lehrtätigkeit fast auf Null reduziert worden. Das gilt auch für Tom und Andrew. Sie haben auf Ihr Wort hin eine Gruppe examinierter Studenten für die Traumforschung bekommen. Ganz zu schweigen von den vielen Hilfestellungen hinter den Kulissen: Sekretariat, Bibliothek, Räumlichkeiten… Die Forschungsgruppe war Ihr Steckenpferd – und es hat sich auch als munterer Galopper herausgestellt. Aber die Gruppe sind nicht Sie allein, John. Sie ist nicht Ihr Privateigentum.« »Richtig«, nickte Sally Pringle. »Es würde unsere derzeitigen exzellenten Beziehungen zur Klinik ganz schön vermiesen, wenn wir selbst psychiatrische Behandlung nötig hätten.« »Eine der Errungenschaften der Bewußtseinsforschungsgruppe ist ihr interdisziplinärer Charakter. Schauen Sie sich hier um: Biochemie, Physik, Computer…« »Das ist keine Errungenschaft! Das ist eine Entdeckung!« »Wenn Sie andere Disziplinen beteiligen, müssen Sie Ihre Arbeitsbeziehungen in Ihre Überlegungen einbeziehen.«
»Physik und Fliegende Untertassen sind nicht gerade die besten Bettpartner, Bruce«, sagte Sandra Neilstrom. »Um so schwerer fällt es mir, eine sinnvolle Synthese zwischen Bewußtsein und Natur anzunehmen.« »Verstehen Sie, John?« Bruce Fraser tätschelte sein Kinn. »Ich habe eben noch am Telefon mit dem Vizekanzler gesprochen…«
An diesem Abend biß Deacon nach einem ziemlich kargen Essen in eine Cox-Orange. Apfel der Erkenntnis, dachte er, als er den süßen Geschmack spürte. Schon griff die Süße des Apfels seinen Zahnschmelz an und ließ seine Zähne wie alte Sandsteingebäude erodieren, die Auspuffgasen und ätzendem Regen ausgesetzt sind. Geister-Zahnschmerzen quälten ihn. Er schnitt eine Ecke von dem weichen Wensleydale ab und saugte den Käse in seinem Mund auf, um die Zähne zu säubern. Wie war die Fäulnis aufzuhalten? Er war im Recht, verflixt noch mal! Warum also sollte Erkenntnis einen Menschen verschlingen, ihn verzehren? Es gab Menschen in der Welt, die bereits wußten. Die tausend Jahre und mehr, vielleicht noch viel länger, gewußt hatten. Die in die Zukunft geblickt hatten. Die die Erkenntnis behutsam vorangetrieben hatten. Sie bildeten eine unsichtbare Akademie, welche die Paradoxe des Unerkennbaren gewandt handhabte. Einer der letzten von ihnen war Scheich Muradi, zu dem Khidr aus der kollektiven Psyche der Menschheit gekommen war, um Deacon eine mehrdeutige, foppende Wahrheit zu übermitteln… Das Telefon läutete, dankbar verließ er den Tisch. Es war Michael Peacocke. Aufgeregt sprach er von einem Treffen. In seinem Zimmer, am nächsten Tag um siebzehn Uhr.
»Ich habe Barry Shriver gebeten, ebenfalls zu kommen. Es ist äußerst wichtig, John. Ich werde Ihnen etwas Bemerkenswertes zeigen…«
Vierter Teil
25
»Sie erwarten ein Ereignis?« fragte Shriver kichernd. »Es wird nicht stattfinden. Nicht, wenn Sie es erwarten, mein Junge. Sie sind getäuscht worden.« »Es hat keinen Sinn, daß Sie mir das vorher erzählen«, sagte Michael unerschüttert. »Gesprochen wie ein wahrer Gläubiger!« Deacon brachte die Rede auf das ›G-Feld-Diagramm‹. Aber Michael hatte sich nie mit Magie befaßt, ja noch nicht einmal von dem Kleinen Schlüssel Salomons gehört. Das Diagramm verwirrte ihn offenbar. Aber er faßte sich schnell. »Nun, es ist die einzig logische Art zu fliegen, oder?« Er wollte es nicht näher ausführen. »Und dadurch gibt das Phänomen Ihnen den Hinweis, es zu untersuchen?« grübelte Shriver. »Durch Magie? Typisch! Der alte Schwindel! Es wird darauf hinauslaufen, daß Sie sich unter Tischen vor ätherischen Dämonen verbergen, die in der hohlen Erde hausen. Sie werden die Risse auf dem Gehweg zählen. Und Sie werden nicht der erste sein.« Mit den Wagenschlüsseln klimpernd, drängte Michael sie nach unten und aus der Diele. Vorher forderte er sie rätselhafterweise auf, Blase und Därme zu entleeren, sie hätten einen weiten Weg vor sich. (»Ich kann am Straßenrand pinkeln«, sagte Shriver. »Ich bin nicht prüde.« Michael schüttelte den Kopf. »Nein, am Rand dieser Straße können Sie es nicht.«) Während sie zum Parkhaus gingen, sagte Shriver: »Angenommen, ein UFO wäre tatsächlich nach vorausgehender Vereinbarung auf einer US-Luftwaffenbasis gelandet. Angeblich war es so, nur, daß alles vertuscht wurde.
Verflixt, ich selbst wußte, daß sie es einmal getan haben! Also: wenn sie es getan haben und es dennoch keine Möglichkeit gab, zu erkennen, was sie waren, egal, was die UFO-Besatzung sagte…« »Kein hundertprozentiger Beweis«, nickte Deacon. »Es kann niemals einen geben.« »…wenn sie nur in das, was Sie normales Erkenntnisvermögen nennen, eintauchten und wieder hinaus, dann würde ich es für sehr klug von jeder Regierung halten, die Schnauze darüber zu halten. Wenn wir armen Kerls diese Irrlichter jagen und unser Leben entsprechend führen – oder ruinieren –, dann ist das eine Sache. Aber wenn eine Regierung dem nachgibt, allmächtiger Gott, dann wären wir wie eine Bananenrepublik, die von Voodoo regiert wird! Wenn ich der Berater des Präsidenten wäre, und eine ganze Flotte von UFOs würde auf einer Basis landen, würde ich ihm sagen: Glauben Sie ihnen nicht, Sir. Man kann ein Land nicht mit Wundern regieren, wir sind nicht im Mittelalter. Wenn der Präsident sich plötzlich hinstellen und verkünden würde, daß UFOs wirklich Kontakt aufgenommen hätten und vom Stern X oder aus der Dimension Y kämen, dann wäre das völlig falsch, und ich hätte höllische Angst. Leb wohl, Rationalität!« »Ich habe auch so gedacht«, sagte Michael. »Früher.« »Satan und seine Truppe würden sich in der Welt breitmachen und mit der Geschichte herumspielen. Deshalb ist Ihr Zauberspruch so verflixt gefährlich. Diesen Hinweis gibt er Ihnen.« Der Lift des Parkhauses, voller Sprühdosen-Graffiti, roch nach Urin. »Aber nehmen wir einmal an, man interpretiert diese Zeichnungen als ›Schaltdiagramm‹ einer besonderen Bewußtseinsart«, begann Deacon. Michael führte sie durch die Betondüsternis zu einem Ford Thunderbird. »Das ist Ihrer?«
rief Shriver aus. »Wieso Nummernschilder von Wyoming? Wo haben Sie den Wagen denn ausgeliehen?« »Ach, ich habe ihn von jemandem bekommen. Sie werden ihm bald begegnen.« Michael legte die Lehne des Fahrersitzes nach vorn, und Shriver stieg auf den Rücksitz. »Irgend jemand hat am Armaturenbrett herumgepfuscht«, sagte Shriver über Deacons Schulter, als dieser sich auf den Beifahrersitz setzte. »Mein Fenster klemmt«, beklagte sich Deacon. Michael schaltete die Klimaanlage ein. »Die Uhr auch, John. Sie hängt auch fest. Sie zeigt neun.« Michael steuerte den großen Wagen mit einigen Schwierigkeiten durch die engen Kurven der Parkhausabfahrt. Einmal berührte die Stoßstange die Wand. Er bremste und kurbelte das Lenkrad wild herum. An der Schranke stellte er den bemerkenswert leisen Motor ab und öffnete die Tür, um seinen Parkschein in den Schlitz des Automaten zu stecken; offensichtlich klemmte sein Fenster ebenfalls. Dann reihten sie sich in die Schlange der abendlichen Auspendler ein. Nieselregen verschmierte die Scheiben. »Wir atmen die ganzen Auspuffgase ein«, sagte Shriver zu Michael. »O nein, das tun wir nicht.« Die Luft im Wagen roch leicht metallisch, war aber rein und erfrischend. »Um zum Thema der Wunder zurückzukommen, John. Nehmen Sie das Wunder von Fatima. Portugal, 1916 bis 1917. Eine leuchtende Frau in einer schwebenden Lichtkugel erscheint einigen Kindern. Sie sagt, sie kommt vom Himmel. Das ist ein religiöser Bezug, richtig? Sie verspricht zurückzukommen. Das ist der Initialkontakt – die Phase der Vorkonditionierung. Eine kleine Menge versammelt sich zur angekündigten Zeit. Sie sehen, wie die Kinder in Trance fallen. Unsere Dame verspricht ihnen weitere Lichterscheinungen am Himmel und äußert eine geheime Prophezeiung, die niemals enthüllt wird – aber aus dem Vatikan sickert, daß sie die
Kardinäle ungeheuer entsetzt hat. Ende der Welt und solche Sachen! Sie sagt, der Erste Weltkrieg wird bald vorüber sein – was ja auch stimmt –, und spricht dann von der kommenden ›Bekehrung‹ Rußlands. Die hat bereits begonnen, obwohl die Bauernkinder davon nichts wissen – und gewiß ist es keine religiöse Bekehrung. Nein, Sir, die bolschewistische Revolution ist es, die das heilige Rußland ›bekehrt‹! Die Dame benutzt alle möglichen technischen und theologischen Ausdrücke, die diese Kinder kaum hätten kennen können. Die Menge sieht sie nicht, sie hören nur ein seltsames summendes Geräusch. Aber sie verspricht den Kindern ein wirkliches Wunder für jeden…« Ein Streifenwagen blockierte mit blinkendem Rotlicht die Fahrbahn. Ein Polizist setzte Warnkegel auf, während ein anderer Autos über die Busspur winkte. Ein Motorrad, in die Stoßstange eines Kombi verhakt, lag auf der Straße. Splitter übersäten den Asphalt. Tod und Zerstörung. Hinter der Unfallstelle floß der Verkehr wieder schneller. »Und so versammeln sich am 13. Oktober 1917 etwa siebzigtausend Menschen. Das Wunder geschieht tatsächlich. Eine große rotierende Scheibe hüpft über ihren Köpfen auf und ab. Es versetzt sie in Todesangst. Massenhalluzination? Wohl kaum. Das Ding konnte noch zwanzig Kilometer entfernt wahrgenommen werden. Die Scheibe wird wie die Sonne, eine große blutrote Sonne, die vom Himmel auf ihre Köpfe fällt! Ihre Hitze läßt die nassen Kleider der Menschen pulvertrocken werden… Zahlreiche Fotos von der Menschenmenge existieren noch – mit Leuten darauf, die Kameras zum Himmel richten. Und kein einziges Foto von der Scheibe! Waren alle Kameras defekt? Man kennt das, wenn UFOs in der Nähe sind. Vielleicht waren damals Fotoemulsion und Verschlußzeiten noch nicht sehr weit entwickelt… Oder hat sich der Vatikan aller Filme bemächtigt – genau wie sie das ganze Ereignis
verwässert haben, indem sie großes Theater um die Frömmigkeit der Kinder machten, die ganze Geschichte als heiliges Mysterium verkauften und die wesentlichsten Prophezeiungen unterdrückten? Sehr klug vom Vatikan, würde ich sagen! Nicht nur, weil es nichts einbrächte, unsere Religionen als wegen des Phänomens konstruierte und manipulierte Angelegenheit zu sehen, mit Gott auf dem Rücksitz – wenn er überhaupt einen Sitz hat! Sondern vor allem, um Wunder dort zu belassen, wo sie hingehören, in den Bereich der Frömmigkeit – und nicht in die reale Welt. Ich wette, der Vatikan konnte die Gefahr erkennen. Er hat eine Menge mehr Erfahrung als jede andere Regierung!« An der Kreisverkehrsinsel, die die Stadtgrenze markierte, steuerte Michael nach Osten und nahm die durch Felder und Gehöfte führende Umgehungsstraße. Als die Dämmerung dichter wurde, schaltete er die Scheinwerfer ein. Nach einer Meile fuhr er auf einen verlassenen Feldweg. Zweige kratzten über den Wagen. Sie waren allein. Er hielt an. »Hier?« flüsterte Shriver spöttisch. »Hier nicht.« Michael riß das Lenkrad zurück und klopfte aufs Armaturenbrett. Er kippte das Lenkrad ein wenig, sein Fuß berührte das Gaspedal. Der Wagen sprang nach vorn – und nach oben… ohne Bewegung, Beschleunigung oder Schub. Er stieg über die Hecken. Michael trat das Gaspedal durch, zog das Lenkrad scharf zurück und flog den Thunderbird steil hinauf. »O Gott!« Shriver klammerte sich an den Sitz. Er entspannte sich langsam, als er merkte, wo der Schwerkraftpunkt immer noch lag: Dann spannte er sich wieder an, als er sich bewußt wurde, was er da erlebte. Deacon starrte geradeaus, als sie in die Wolken stießen. Schweißtropfen standen wie Tränen auf seinem Gesicht. Michael lächelte scheu. »Sehen Sie, wir fliegen zum Mond.«
Der zunehmende Mond war eine Sichel. Schwarzer Weltraum. Der milchige Schein der Sterne. Die Leere. »Warum haben Sie ihn nicht einer Behörde übergeben?« protestierte Shriver. »Einer Luftwaffenstelle, britisch, amerikanisch oder sonstwas. Jemand, der den Wagen hätte nachbauen können. Schwerkraftkontrolle… Anti-Schwerkraft! Mein Gott, damit könnten wir den Mars in ein paar Tagen erreichen. Wir könnten in den Anziehungsbereich des Jupiter hineinfliegen und wieder hinaus!« »Ich habe es Ihnen doch eben gesagt. Ich mußte einiges für sie erledigen. Für uns alle! Weil unser planetares Gesamtleben…« »Das Meta-Bewußtsein«, sagte Deacon zitternd. »Das ist es.« »Es wird tödlich. Immer mehr Tiere, Fische und Wälder werden in jedem Jahr ausgelöscht, und es gibt immer mehr Menschen, mehr Städte, mehr Maschinen. Unser… ja, unser Metabewußtsein wird durch uns eine tödliche technische Apparatur, eine Art Kunststoffteufel. Deshalb habe ich die letzten Wochen damit verbracht, die Biosensoren an den angegebenen Stellen auszulegen, anstatt den Wagen aufsägen zu lassen. Wer hätte es getan, wenn nicht ich?« »Diese Fremden, diese Gebraudi, haben also ihr eigenes Metabewußtsein, ihre eigenen Götter, zurückgelassen, als sie ihr Sternsystem verließen? Das ist, als ließe man seine Seele zurück. Merkwürdige Pilger…« »O nein, es ist gefahrlos. Der ›Moment‹ des Metabewußtseins ist viel länger. Seine Gegenwart ist viel ausgedehnter als für seine einzelnen Bestandteile. Sie erstreckt sich über die Zeit. Die Gebraudi sind immer noch Teil desselben Moments. Sie gehören immer noch dazu.« »Obwohl sie zugleich nicht mehr dazugehören?« Deacon starrte hinaus ins Leere.
Das entsetzliche Vakuum hinter den Scheiben. Doch verglichen mit der Leere in noch größerer Entfernung von der Sonne war dieses Vakuum voller Atome. »Über die Unglaubhaftigkeit Ihrer Fremden könnte ich Bände vollschreiben«, sagte Shriver. »Pflanzenesser müssen fast ihre ganze Zeit zur Nahrungsaufnahme verwenden.« »Ich weiß. Ich habe sie essen sehen.« »Keine Arme, nur ein Elefantenrüssel? Auch wenn er einen ganzen Fingerkranz hat! Sie können ziehen, aber niemals kräftig schieben. Das macht aus einfachen mechanischen Gründen eine Technologie ziemlich unwahrscheinlich. Und sie ähneln keinem der UFO-Insassen, von denen ich bisher gehört habe.« »Sie sehen abstoßend aus – weil sie echt sind. Zu Anfang habe ich genau wie Sie gedacht.« »Wieso sehen sie abstoßend aus?« sinnierte Deacon. »Wenn die Zeitspanne dieses Metabewußtseins so groß ist – nun, nehmen wir einmal an, in unserer eigenen Zukunft gibt es ultraintelligente Maschinen, bewußte Computer, die wir bauen werden, um weitere, überbewußte Computer zu schaffen… und sie werden Teil dieses Metabewußtseins. Sie müßten es zwangsläufig, oder? Sie würden schon Teil von ihm sein! Sie wären komplexere Denkzentren als wir selbst! Ich frage mich, ob Ihre Gebraudi vielleicht so sind, wie diese überbewußten Maschinen der Zukunft das biologische Leben sehen würden, das sie erschaffen hat. Als bedauernswert unbeholfene, verkrüppelte und beschränkte Lebewesen?« »Nein! Sie kommen von Eta Cassiopeia. Sie wollen uns helfen. Ihre ›Götter‹ würden unsere ›Götter‹ unterstützen.« »Genausogut können sie all die verlorenen Seelen von Walen und Delphinen, von Elefant und Schimpanse sein, die Seelen der Wälder und Prärien, und von Menschen auch – all die Seelen, die vertrieben wurden. Sie könnten auch immer noch
UFO-Wesen und sterbliches Fleisch nur so weit darstellen, wie die Programmierung es zuläßt.« »Das können sie nicht«, erklärte Michael gereizt. »Weil das, worin wir uns befinden, kein UFO ist. Das ist kein Tulpa – keine Materialisierung. Dieses Auto ist in Detroit gebaut und von Fremden umgebaut worden, damit Menschen auf Sichtlinie zum Mond fliegen können.« »Eins der Lieblingsmerkmale des Phänomens«, sagte Shriver, »ist die Verwendung menschlicher Geräte. Was sollten sie sonst verwenden?« »Das dient nur der Tarnung, damit ihre Agenten – wir – sich unauffällig bewegen können.« »Rutengehen und Kästchen mit telepathischen Algen verstecken? Aber sicher. Ich erinnere mich, daß zwei Männer in Schwarz mit einem Auto Sie gerettet haben.« »Hat man je einem Menschen ein UFO in die Hand gegeben, Barry? Oder nehmen Sie etwa an, ich sei ein Tulpa, kostümiert als Michael Peacocke?« »Sie sind früher von ihnen programmiert worden, verstehen Sie das nicht? Jetzt ist Ihr ganz persönliches Fatima-Wunder geschehen.« »Auch Ihr Wunder!« Die Leere draußen. Sie ließ Deacons Kopf schmerzen. Die winzigen, weit entfernten Lichtpunkte… »Ihnen wurde die gute Nachricht überbracht, Michael. Von Boten auf der Rückseite des Mondes. Angeloi, Engel. Sie hätten den Wagen abgeben sollen! Hatten Sie Angst, er würde nicht wirklich funktionieren? Sind wir nicht hauptsächlich deshalb hier, Ihnen zu beweisen, daß es kein Traum ist? Was hätten Sie gedacht, wenn wir nicht von dem Feldweg abgehoben hätten?« »Wir haben abgehoben.«
»Sie hätten den Wagen abgeben sollen! Verdammt, mit diesem Schmuckstück könnten wir bis zum Jupiter kommen!« »Der Wagen hat nicht genug Reaktionsmasse, um so weit zu kommen.« »Dann eben zum Mars. Wir könnten den Mars kolonisieren.« »Nicht einmal bis zum Mars.« Shriver lachte schrill. »Irgendwohin, irgendwohin!« Skepsis und totale Überzeugung lagen bei ihm in heftigem Widerstreit, als er auf die gewaltige Mondsichel und den dunklen Kreis des Meeres der Stürme mit den Kratern Pierce und Picard starrte; sie waren jetzt so nah, weniger als ein Erddurchmesser entfernt. Michael drehte das Lenkrad nach rechts. Langsam zog Luna durch ihr Blickfeld.
Die reine statische Präzision jeder Falte und Welle der luftleeren Oberfläche, die Klarheit des braunen Horizonts… Der dunkle Grund des Ziolkowski tat sich vor ihnen auf, die helle Spitze warf einen tiefschwarzen Schatten. Als sie über dem Krater einflogen, suchte Michael nach dem pilzförmigen fremden Raumschiff. An seiner Stelle sah er ein flachgedrücktes Wrack.
26
Zerstörung. Das Raumschiff. Die Kuppeln. Nicht durch eine Explosion, sondern durch Druck, durch eine zerquetschende Kraft – als habe die Hand eines Riesen die Gebraudi-Expedition zu einer formlosen Masse zerdrückt. Das Schiff war ein kleiner flacher Metallhügel, nicht einmal ein Zehntel so hoch wie vorher. Der vulkanische Basalt darunter war durch den Druck geborsten und rissig geworden. Sie landeten in einem Staubwirbel. Rasch stellte Michael von Flug- auf Bodenbetrieb um. Nicht weit entfernt lag das Wrack von Helen Caprowicz’ Pontiac am Ende von Reifenspuren in einem Krater von der Größe eines Autos. Michael steuerte auf den Krater zu. Ein nackter menschlicher Arm ragte aus dem zerquetschten Metall. Helens vermutlich. Michael schluckte. »Aber wir brauchen mehr Reaktionsmasse. Die Uhr mißt nicht die Zeit, sondern den Treibstoffverbrauch. Wir sind um neun Uhr gestartet, und jetzt ist es zehn…« »In Ordnung.« Shriver war wieder als Pilot im Koreaeinsatz, ein Auge auf dem Treibstoffanzeiger, die Reserven berechnend, das andere nach MIGs spähend – oder nach einer Zigarre aus strahlendem Licht… »Wir haben zwei Stunden realer Zeit bis hierher gebraucht. Das entspricht sechzig Minuten Treibstoff. Wir haben noch eine Menge übrig. Sehen wir uns um – ich war noch nie auf dem Mond. Ich möchte gern sehen, ob hier irgendwelche Körper der Fremden sind.« »Mein Gott, sie haben Helen erwischt. Vielleicht haben sie alle erwischt.«
»Sie?« spottete Shriver. »Wer sind ›sie‹? Wir müssen uns umtun. Eins vorweg: Irgend jemand hat vergessen, die Schwerkraft zu regulieren. Sie ist noch genauso wie zu Hause.« »Oh, ich habe das innere Feld bestehen lassen. Hier – « Michael schaltete die ›Heizung‹ ab. Jetzt besaßen sie nur noch ein Achtel ihres Erdgewichts. »Wupp.« Shriver drückte sich mit den Handflächen vom Sitz ab. Michael stellte die Schwerkraft wieder her. »Okay, okay, das ist alles sehr praktisch. Mein Körper ist voll überzeugt.« »Ihr Kopf auch?« »Hätten Sie dieses verdammte Auto nur abgegeben, Mike! Dann wüßten wir es.« Michael steuerte den Wagen von dem Krater weg, in dem Helen gestorben war, auf die flachgedrückte Masse zu, die einst Kuppeln waren, und zu dem komprimierten Metallhügel, der von den Sternen gekommen war. Eingekeilt in einen Krater, der nicht größer als sein Druckanzug war, lag ein einzelner Fremdling. Die Sichtscheibe fehlte, der Rüssel-Tentakel war über den Rand gequetscht, als hätte er vergebens versucht, etwas abzuwehren. Sein totes Gesicht war deutlich zu sehen. Shriver griff spontan nach dem Türgriff und zog seine Hand schnell wieder zurück. Seinen Lippen entfuhr ein nervöser Laut. »Mein Gott, fast hätte ich es getan.« »Nein, alle Türen sind energieverriegelt, wenn ein G-Feld herrscht. Deshalb habe ich es wieder eingeschaltet. Arme Gebraudi«, klagte Michael. »Die armen, unbeholfenen, tapferen Dinger…« »Verflixt, wenn wir uns doch der Leiche bemächtigen könnten! Die NASA mit einem Körper konfrontieren und ihnen sagen, woher er kommt!«
»Aha, Sie glauben an sie!« »Verlockend, nicht wahr? Ich korrigiere mich: Wenn wir der NASA das da zeigen könnten… in das Schiff oder die ehemaligen Kuppeln kommen wir wohl nicht rein. Pulverisiert… aber wie?« »Welcher Hammer, welcher Todesgriff?« murmelte Deacon. »Ja, es wird irgendwie mythologisch. Zum Fenster hinaus mit gutem Grund, das ist die Gefahr. Nur öffnen sich die Fenster zum Glück nicht, sonst wären wir alle tot… Das war sicherlich keine Schockwelle einer über der Oberfläche gezündeten Atombombe. Keine Luft. Kein Medium, in dem sie sich ausbreiten könnte…« »Vielleicht betrachten wir es genau falsch herum«, sagte Michael. »Alles sieht flachgedrückt aus. Könnte es statt dessen nicht angesaugt worden sein? Sie haben die Schwerkraftkontrolle. Hatten sie. Angenommen, sie versagte? Angenommen, sie erzeugten zufällig eine Punktquelle von hundert oder zweihundert Schwerkrafteinheiten – oder eine Flächenquelle, wenn das möglich ist –, und das Ganze geschah, bevor der Schwerkraftgenerator sich selbst zerstörte? Es könnte ein schrecklicher Unfall sein!« Sie fuhren bis zu dem Raumschiff. Jetzt nur noch ein druckverschweißter Hügel, ein kleines Stück in den felsigen Untergrund gepreßt. Eine abgerissene Landestütze, die in den Basalt hineingetrieben war, ragte ein Stückchen aus dem Metallhaufen… Michael drückte die Nase ans Seitenfenster und starrte dort hinauf, wo die zerstörte Pilzhaube gewesen war: und auch die Biomatrix… Die Biosensoren auf der Erde mußten jetzt alle leblos sein und verrotten. Er starrte hinauf… Auf den schimmernden Schleier der Milchstraße, auf die weiße Sternenhülle dort oben… In der Hülle war ein Loch. Ein Loch, das einen Stern verschluckte, und dann noch einen, breitete sich dunkel auf dem Lichtfeld aus. Die Silhouette einer
großen Fledermaus mit gespreizten Flügeln stürzte auf den Mond hinab… »Sehen Sie, da oben, was ist das?« Sie drückten sich gegen die Scheiben. Oder der Umriß eines Pterodaktylus… Etwas Uraltes, Ausgestorbenes. Gekrümmte, schwarze Schwingen, weit ausgebreitet, stürzten hinab, stürzten hinab auf sie. Außer dem Umriß war nichts zu erkennen. Ein weiteres Dutzend Sterne verschwanden. Der Schatten dieses Dinges, das selbst wie ein Schatten schien, strich über die weiße Spitze im Ziolkowski. Die Verfinsterung begann, schwebte über den Kraterboden, hüllte die Basis der Fremden und das Auto in die Dunkelheit einer Grabstätte. Nur ihre Scheinwerfer hellten die Dunkelheit auf. »Schnell, Mike, fixieren Sie den äußeren G-Punkt über uns! Können Sie das, ohne uns in den Erdboden zu treiben? Können Sie ihn gegen das Ding da richten?« Das Auto summte. Es sang. Michael drückte das Gaspedal hinunter. Der Wagen hob sich einen Moment senkrecht vom Boden und wurde wieder hinabgedrückt. Die Stoßdämpfer quietschten. Er trat das Pedal bis auf den Boden durch. Das Quietschen hörte auf, aber der Wagen stieg nicht mehr hoch. Die Scheinwerfer leuchteten jetzt auf eine formlose feste Tinte kurz vor der Stoßstange; aber die Schwärze kam nicht näher. »Um Gottes willen, bewegen Sie den Fuß nicht«, zischte Shriver. Er sprach so leise, als verschlucke die Dunkelheit auch ihre Stimmen. Michael preßte den Fuß auf den Boden. Sein Knöchel und seine Wade zitterten schon. Knochen, bleibt starr, befahl er, Muskeln, bleibt hart. Er hielt den Fuß durchgetreten. »Großartig, Mike. Sie halten es weg von uns. Vor uns müßte der Kraterboden frei sein. Ich kann mich jedenfalls an keine Wrackteile erinnern. Wir können nicht hinausfliegen, weil es
uns niederhält. Aber es kann zugleich den G-Punkt nicht überwinden – und wir können hinausfahren.« »Können wir nicht! Wir sind auf Flugbetrieb.« »Wir können’s doch! Wir können uns vom Schwerkraftpunkt hinausziehen lassen. Kippen Sie den Punkt ein bißchen nach vorn. Nicht zuviel, sonst wird die Schwärze das Wagenende zerschmettern. Kippen Sie das Lenkrad… Jetzt festhalten. Wir bewegen uns, Mike. Wir bewegen uns. Steine kriechen vorbei, ich kann sie sehen. Wir kommen raus…« Eine Erschütterung war zu spüren, die Kühlerhaube senkte sich nach links. »Ein Reifen ist geplatzt. Nur keine Aufregung. Wir brauchen keine Reifen. Die Punktquelle zieht uns.« Erschütterung. Die Kühlerhaube senkte sich nach rechts. »Nicht nervös werden, Sie können uns rausbringen. Langsam, langsam!« Michael wollte sagen: Ich fühle mich wie eine Qualle. Aber er bekam die Zähne nicht auseinander. Er hörte ein gurgelndes Geräusch in seiner Kehle. »In Ordnung – weiter so!« drängte Shriver. Zwei Erschütterungen. Die Hinterreifen platzten. Aber Steine und die Narben winziger Krater krochen immer noch vorbei. »Das Pedal nicht lockerlassen! Nicht eine Zehntelsekunde, verstanden? Prima, Sie machen das wirklich prima.« Deacon leckte seine Lippen. Er glaubte, Blut auf ihnen zu spüren. Unendlich langsam kroch der Wagen vorwärts. Das Chassis hatte angefangen, leise zu ächzen wie ein weit entfernter Froschtümpel. Deacon sah den Minutenzeiger langsam um die Uhr kreisen. Viertel nach, sechzehn Minuten nach. »Wir verlieren Treibstoff!« schrie er. »Verbrauchen ihn, meinen Sie. Je stärker das G-Feld, desto schneller verbraucht sich die Reaktionsmasse!« Aus Shrivers Stimme klang jetzt, angesichts dieser Schwärze, dieser Negativität, absolute Überzeugung; völlige Gewißheit, daß der
Schwerkraftantrieb authentisch war – und fremd. Ihr Tod würde der gleiche sein, den die Fremden gestorben waren. »Wir bewegen uns kaum«, murmelte Deacon. Siebzehn Minuten, achtzehn Minuten nach. »Sie Narr, wir stehen unter voller Kraft. Wir können nur nirgendwohin. Noch nicht! Nur ein kleines – Stück – vorwärts. Nur – ganz – langsam. Ich kann die verdammte Uhr genausogut sehen wie Sie!« Neunzehn Minuten. »Wenn wir den Rand erreichen, Mike, müssen Sie bereit sein, uns schnell hochzubringen. Und wie!«
Endlich tat sich ein Lichtspalt in der Schwärze auf. Das Sonnenlicht existierte wieder, ein Schwert, das sich hob und die dunkle Last zur Seite stieß. Die Kühlerhaube tauchte hinein. Urplötzlich riß der Wagen sich los. Er floh aus dem Krater. Schon war er hoch darüber. Schleudernd und ruckend, während Michael sich kraftlos ans Lenkrad klammerte. Die Oberfläche des Mondes lag eine Meile unter ihnen. Fünf Meilen… Schließlich nahm er den Fuß vom Gaspedal. Er stöhnte, als die Muskeln sich verkrampften, knetete und massierte sein Bein. Schneller als mit Fluchtgeschwindigkeit flogen sie weiter. Weg vom Mond, aber auch weg von der Erde. Jetzt stieg die Erde, Weiß auf Blau, über die unregelmäßige Krümmung des Mondhorizonts. Weit hinter ihnen kam der dunkle Grund des Ziolkowski in Bewegung – und stieg auf. Ein Fledermausschatten flog westwärts über die Krater in Richtung Gagarin, Cyrano, Paracelsus. Die Quelle des Schattens jagte hinter ihnen her… »Scheiße, es folgt uns.« »Es wird uns den Weg abschneiden«, krächzte Michael. »Es wird zwischen uns und die Erde kommen.«
»Bringen Sie uns herum, unter voller Kraft! Ich werde es beobachten.« Deacon berührte seinen Mund und versuchte, über die Beschaffenheit von Tulpas nachzudenken. Tibetanische Adepten waren angeblich in der Lage, in ihren Zellen zu sitzen und autonome Gedankengeschöpfe mit unabhängigem – und häufig bösartigem – Leben zu schaffen, Geschöpfe, die um die reale Welt reisen konnten. Es hieß auch, die Tibetaner könnten Gedankenlandschaften erschaffen. In seiner Zelle konnte der tibetanische Mönch einen ganzen Wald ins Dasein denken, den er dann durchwandern konnte, und so die Oberflächlichkeit unserer Wahrnehmungen beweisen. Aber die Gedankenschöpfungen wurden trotzdem als real angesehen! Selbst Beobachter aus der westlichen Hemisphäre hatten für die Realität dieser Schöpfungen gebürgt. Wenn der Wald real war (so real, behauptete der tibetanische Lama, wie jede andere illusionäre Realität), warum sollte es dann keine Phantomreise zur Rückseite des Mondes geben, und zwar in einem geparkten Auto – oder auch in einem Auto, das in diesem Augenblick über eine Schnellstraße dahinraste? Warum sollte es keine Phantomreise geben, die eine vergleichbare Realitätskraft besaß? Eine Reise, bei der Fahrer und Passagiere auf der Mondlava zerquetscht wurden oder in der Leere des Weltraums zerplatzten – und zwar im gleichen Augenblick, in dem der Wagen irgendwo in England, auf der Oberfläche der realen Erde, mit einem Lastwagenmoloch zusammenstieß? »Haben Sie daran gedacht«, sagte Michael, »daß wir ihn selbst hierhergebracht haben? Den Zerstörer! Wir sind seine Sensoren, oder? Die Gebraudi haben das nie bedacht. Oder sie haben das Risiko in Kauf genommen. Wir haben sie ausgelöscht – ich und Helen und Axel…« Deacon suchte nach dem Einstiegspunkt dieser Tulpa-Realität, konnte ihn aber nicht finden. Er konnte sich mit völliger Klarheit an jeden Augenblick ihrer Reise erinnern, vom ersten Schritt aus dem
übelriechenden Lift in dem Parkhaus, bevor sie auch nur einen Blick auf den Thunderbird geworfen hatten. Er konnte keinen Riß im Erkenntnisvermögen feststellen, keinen Spalt im Kontinuum der Realität… Wer war die projizierende TulpaRealität? Er selbst nicht! Michael? Barry? Oder waren sie alle zusammen, ohne es zu wissen, Opfer eines tiefverborgenen Scherzes? Wenn sie hier starben, war es real… Energisch suchte er nach dem Ausstiegspunkt, starrte aus dem Fenster, zwang sich selbst, eine andere Realität zu sehen, in der sie auf einer normalen Straße fuhren. Wo würden sie wieder eintreten? London, Leicester, Leeds, irgendwo auf den Mooren von Yorkshire? In der Zwischenzeit hatte Michael das Gaspedal flach auf dem Boden gehalten, er verbrauchte ihren Treibstoff viel zu schnell. Der Amerikaner starrte durchs Rückfenster auf die kleine schwarze Gestalt, die ihnen nachjagte. Er sah sie nur, wenn sie bei ihrer Verfolgung einen Stern verdüsterte, dann den nächsten.
27
Acht Minuten bis Mitternacht. Nur noch acht ›Minuten‹ der Reaktionsmasse waren übrig. Die Nacht zog über Nordamerika – jetzt die nächstgelegene Landmasse –, als sie wieder in die Atmosphäre eintauchten. Ionisierte Luft schimmerte in einer Kugel um den Wagen, Funken und milchige Lichtstrahlen bildeten einen Meteorstreifen. Ihre Schwerkraftblase, die sie wie ein Kokon umgab, führte dazu, daß die Atmosphäre sie kaum bremste. Die unscharfe Nachtgrenze war fast an den Rocky Mountains. Sie flogen auf die Berge zu und über sie hinweg. Dann flachte ihre steile Flugkurve ab. »Ich habe das schwarze Ding, den Zerstörer, aus den Augen verloren. Ich glaube, er hat sich in den Weltraum zurückgezogen, um ein Nickerchen zu machen…« Unter ihnen dehnte sich nackter, brauner Erdboden aus: Berge, Schluchten, Hochebenen. »Brauchen wir zum Abbremsen keine Reaktionsmasse?« fragte Shriver plötzlich. »Teufel, ja!« Michael preßte seinen Fuß auf das Bremspedal. Die Zeit auf der Uhr schwand jedoch genauso schnell dahin, wie ihre Geschwindigkeit sich verringerte. Er lockerte die Bremsen ein wenig. Sie verlangsamten weniger schnell, ökonomischer. Er bremste in Intervallen. Unter ihnen war Wüste. Ödland, vor Jahrtausenden von Bergen herabgeschwemmt, bildete jetzt Sandhügel. Ein ausgetrockneter See, dessen Salzkruste glitzerte. Einzelne Gipfel ragten hoch. Breite flache Becken öffneten sich zwischen abgetragenen Bergen. Eisenbahngleise und ein
Highway tauchten kaum wahrnehmbar vor ihnen auf. Ein Aquädukt wies den Weg nach Westen. StreichholzschachtelLastwagen krochen über den Highway, unterbrachen ihre Wüstendurchquerung wegen des nahenden Sonnenuntergangs. Zwei Minuten bis Mitternacht. »Hören Sie, Mike, wir befinden uns über der Mojave-Wüste. Vor uns gibt es einen Haufen militärischer Einrichtungen. Die George-Luftwaffenbasis, etwa sechzig, siebzig Meilen südwestlich. Die Edwards-Basis liegt direkt vor uns, etwa hundert Meilen die Straße da unten entlang. Wir sind ganz nah bei Muroc! Wenn wir dort niedergehen können – wenn wir dabei gesehen werden könnten, wie wir dieses verrückte fliegende Auto auf der Hauptrollbahn runterbringen!« Es wäre eine Katastrophe, ein Erdbeben in der menschlichen Geschichte; das wußte Deacon sofort. Er wollte Shriver an dessen eigene Worte erinnern. Das Irrationale und Bizarre hervorsprudeln, wie es in diesem Jahrhundert schon einmal in Hitlers Deutschland geschehen war. Welteislehre, Hohlweltlehre. Gefrorenen Himmel und hohle Erde… Nur würde es diesmal Belege dafür geben. Würde es sie geben? Shriver war jetzt infiziert. Die Leere in seinem Leben war schließlich gefüllt worden – aus dem Vakuum des Weltraums. Aber wie konnte Deacon vor sich selbst leugnen, daß sie tatsächlich auf einem massiven, authentischen Mond gewesen waren? Jetzt, da er keine englische Landstraße unter sich sah, sondern einen Highway, der die kalifornische Wüste durchquerte – konnte er jetzt noch so tun, als wären sie ›nur‹ außerhalb normaler Wahrnehmung gewesen, außerhalb gewöhnlicher Raum-Zeit-Beziehungen und gewöhnlicher Kausalität? Aber genau das ist ja das Unfaßbare, wurde ihm klar. Es ist und doch ist es nicht; zur gleichen Zeit. Man kann es nicht mit den Begriffen der NASA erfassen, sondern nur mit Scheich Muradis Begriffen – Begriffen des Muawanat, der
magischen Zerstörung des Raums auf der Reise zum Arif, zur Erkenntnis; in Begriffen des Karamat, der Wunder. Die Reise zum Elfenland, das eben nicht irgendwo in der übereinstimmenden Raumzeit liegt, sondern irgendwie außerhalb normaler Wahrnehmung: es galten die Begriffe der Reisen auf fliegenden Teppichen nach – »Bagdad!« meinte Shriver aufgeregt. »Was haben Sie gesagt?« »Das Städtchen dort unten. Da hinten. Es heißt Bagdad. Sie haben dort Gold gesucht. Was ist los mit Ihnen, John? Ich weiß genau, wo wir sind. Als nächstes kommt Ludlow, dann Daggett und Barstow… Ich schätze, Edwards erreichen wir nicht, aber die George-Basis bei Victorville müßte möglich sein. Folgen Sie dem Highway und drehen Sie nach links ab, wenn ich es sage.« »Können sie uns hier oben sehen? Die Fahrer?« »Ich bezweifele, daß sie hinauf schauen, Mike. Die Leute schauen selten nach oben. Täten sie es, würden sie eine Menge mehr sehen.« »Von der Fahrbahn würden sie abkommen und sich blaue Flecken holen!« warf Deacon ein. »Lassen wir das, John. Wir sind fast zu Hause…« »Sie, vielleicht.« »…und wir haben ein Raumschiff mit Schwerkraftantrieb.« »Nur wenn sie uns landen sehen. Vielleicht funktioniert es hinterher gar nicht mehr – wie die alte Großvateruhr. Deshalb wollen Sie auf einer Luftwaffenbasis landen, nicht wahr? Die Straße wird nicht reichen. Sie würden sagen, die Lkw-Fahrer wären betrunken oder übermüdet oder hätten eine Fata Morgana gesehen.« Noch eine Minute blieb. Shriver achtete nicht darauf. »Wir schaffend, Mike. Wir bringen diesen Vogel prächtig runter. Jetzt nach links abdrehen, schräg zum Highway.« »Aber da ist Wüste. Dann Berge.«
»Die Ord-Berge. Wir werden sie überqueren.« »Nein, wir sollten auf der Straße landen.« »Tun Sie, was ich Ihnen sage, mein Junge! Es ist wichtig.« Michael drehte das Lenkrad vom Highway weg. Sie steuerten über das Ödland auf die Berge zu. Einen Augenblick lang fiel der Wagen, anstatt zu fliegen. Das Summen des Antriebs setzte wieder ein. Michael tippte das Bremspedal an. »Ich lande.« Erneut setzte der Antrieb aus. Sie konnten ihre Mägen fallen spüren. »Michael, ich bitte Sie!« »Ich lande!« Inzwischen waren sie acht oder neun Meilen südlich vom Highway und flogen in fünfzehn Meter Höhe über die karge Monotonie bräunlich-grüner Kreosotsträucher. Ein paar Palmlilien ragten hoch, ihre schwarzen Schatten wiesen nach Osten. Im Westen ging die Sonne der Wärme und des Lebens unter, golden, warm und still. Wieder setzte der Antrieb aus, und wieder fielen sie, bis sie nur noch einen guten Meter über dem Boden waren. Ein oder zwei Sekunden lang setzte der Antrieb ein. Michael trat auf die Bremse. Einen Sekundenbruchteil hingen sie in der Luft, ohne jede Vorwärtsbewegung. Dann fiel der Wagen den letzten halben Meter in das Kreosotgesträuch. Der Sturz rüttelte sie durcheinander. Eine Känguruhratte sprang aus dem Schatten eines Strauchs in ihr Erdloch zurück… Stille, Schweigen. Leises Quietschen von Metall. »Leer«, flüsterte Michael. Er meinte sich selbst genausogut wie den Wagen. Er legte den Kopf auf das Lenkrad und zitterte. »Er wird nie wieder funktionieren«, sagte Deacon gefaßt. »Unsinn«, schnaubte Shriver. »Bewegen Sie Ihren Hintern, John, ich will raus!«
Deacon öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Er strauchelte, seine Schritte waren unkoordiniert. Nach dem kühlen Wageninneren kamen sie sich draußen wie in einem Ofen vor. Er streifte die Jacke ab und hing sie sich über die Schulter. Während er seine Krawatte löste, streckte er die Beine mit heftigen Tretbewegungen. Einen Moment glaubte er, den Wagen wieder summen zu hören, aber es waren nur ein paar Grashüpfer im Gebüsch. Alle vier Stahlgürtelreifen waren zerfetzt: verknotete Stränge wickelten sich um die Felgen. Zerfetzt von Mondfelsen, während eine schwarze Fledermaus von der Größe eines Fußballfelds versucht hatte, sie zu Tode zu quetschen… Von Deacons Schweiß angezogen, summten Fliegen vor seinem Gesicht. Shriver fingerte an der Motorhaube, dann am Kofferraum. Er ließ seine Finger über den Stahl gleiten, bückte sich und kroch unter den Wagen. »Sauber verschweißt…« Sich wieder aufrichtend, riß er einen langen Zweig von einem Distelstrauch und steckte ihn ins Auspuffrohr. Er bog sich und zerbrach. »Unser eigenes Schwerkraft-Raumschiff! Und wir haben’s zurückgebracht!« Er klopfte den Staub aus seinen Kleidern. Die Hitze machte Deacon zu schaffen. Über den zerrissenen Hügelketten im Süden hingen dichte, bewegungslose Gewitterwolken, von der zum Horizont sinkenden Sonne rosig gefärbt. Er lehnte sich gegen den Wagen. Das Metall fühlte sich bereits warm an. Er war sich nicht sicher, ob er überlebt hätte, wenn er mittags hier abgesetzt worden wäre. Shriver schien die Hitze gar nicht zu bemerken. Wahrscheinlich hätte er ein Stück rotglühendes Metall anfassen können ohne es zu bemerken, bis es ihm die Hand weggebrannt hätte. Heiße Windböen trieben auf einmal Sand und Staub in kleinen Wirbeln durch die Sträucher. Sobald die Sonne verschwand, würde es zweifellos eisig kalt werden.
Deacon spürte das Gewicht von Salomons Lemegeton in seiner Jacke. Das Buch der Geister. Nur durch Zauberei konnten Autos fliegen. Aber was war mit Zauberei gemeint? Shriver mußte die Falle erkennen, jetzt, da der magische Ausflug außerhalb des normalen Bewußtseins zu Ende war… Als Deacon seine Jacke mit schwachem Griff festhielt, verengte sich sein Gesichtsfeld auf einen kleinen Kaktus – eine Ansammlung stacheliger Kissen, verwurzelt in grober, lockerer Erde. Er sah die Pflanze am Ende eines Sichttunnels. All die kleinen Stachelbüschel – die Widerhaken, die in Seidenpapier gehüllten Nadeln. Ein halbmondförmiger schorfiger Fleck dehnte sich über den Rand eines Kaktusarms aus. Käfer waren hier am Werk gewesen. War sich der Kaktus seiner auf einer Pflanzen-Wellenlänge bewußt? Entdeckte er in seiner Umgebung ein Netz zusammenhängender, unsichtbarer Energien? Devas, sonst als Teufel bekannt, alias UFOWesenheiten – die alle nur nichtssagende Namen waren, die ihren Ursprung in alternativen Bezugsrahmen hatten? Gab es wirklich eine primäre Realität, in welcher der Kaktus existierte, eine Realität, die jenseits all dieser menschlichen Bezugsrahmen lag? Deacon dachte, er würde der Welt nie wieder glauben, nie mehr der Tatsache trauen, daß es sie gab. Der Kaktus brauchte nicht zu glauben, er existierte einfach auf eine primäre Weise. So wie diese Wüste existierte. Aber in dieser Wüste war ein fliegendes Auto gelandet, das ihre Kreosotsträucher flachgedrückt und Reste von Mondstaub an ihnen zurückgelassen hatte. Jetzt, da dieses Auto unbeweglich und funktionsunfähig war, hatte es sich wieder zurückverändert und orthodoxe Realität angenommen? War der Staub auf seinen zerfetzten Reifen Mondstaub oder nur Wüstenstaub?
Als die Sonne unter den rauhen, öden Horizont glitt, blies der Wind stärker. Deacon schloß halb die Augen. Dornen, Kaktusarme, Seidenpapier… Michael stieg aus. Der Mond war hoch oben am Himmel zu sehen, ein Stück gesprenkelter Eierschale in sich verdunkelndem Blau. Michael zeigte hoch. »Es ist noch da! Es folgt uns immer noch!« Jetzt sahen sie es alle: die schwarzen Fledermausflügel hoch über der Wüste. »Es ist nur ein Vogel«, sagte Shriver hilflos. Die Gestalt wurde jedoch größer, als sie auf sie zu nach unten sank. Sie nahm an Größe und Dichte zu, ohne Einzelheiten erkennbar werden zu lassen. Eine enorme Dichte, wie ein Felsen am Himmel – eine aus schwarzem Lava gehauene Skulptur, mit Flügeln versehen, sank langsam hinab. Sie sah sehr viel kleiner aus als auf dem Mond. Nur ein Ausschnitt von dem Fledermausding, der die gleiche Form hatte. Wenn das tatsächlich Flügel waren, dann brauchte das Ding nicht mit ihnen zu schlagen oder flattern, um zu fliegen. Sie taten nichts, sie waren nur. Während Deacon hinaufstarrte, spürte er, daß er eine letztendliche Realität, eine Realität der Leere dort oben sah. Im Vergleich mit ihr existierten weder Michael noch der Amerikaner. Ebensowenig wie das zerstörte Auto. Und auch die Wüste nicht. Und er selbst ebenfalls nicht. Er existierte nicht, dachte er kühl. Nur jene Leere besaß Existenz. »Wir teilen uns auf! Richtung Highway – drei verschiedene Wege. Dort treffen wir uns. Das verdammte Ding muß verwirrt werden.« Shriver fuhr mit den Fingern ein letztes Mal sehnsüchtig über den Thunderbird. Seine Hand wollte für immer dort bleiben. Er zog sie zurück und entfernte sich durch das Gesträuch. Während er rannte, warf er schmerzliche Blicke zurück auf den Ford.
»Macht euch davon!« schrie er. In seiner Stimme lag ebensoviel Eifersucht wie Besorgnis. Michael floh nach Norden. Deacon folgte mit langsamerem Schritt nach Nordosten.
Am Fuß eines kleinen Hügels starrte Shriver zurück und sah die Schwärze hinabsinken. Sie besaß keinen klar umrissenen Körper, keinen Kopf, keine Schwingen. Sie bestand durch und durch aus der gleichen Substanz. Ohne Einzelheiten erkennen zu lassen, war sie ein Vernichter von Einzelheiten. Sie sank auf den Wüstenboden nieder, wo der Thunderbird stand. »Nein!« schrie er dem dunklen Ding zu. »Nicht den Wagen! Nimm mich dafür! Ich gebe mich an seiner Stelle hin!« Unter der schwarzen Masse erklang ein gedämpfter Laut. Ihre Ränder hoben und senkten sich, dann stieg sie acht oder neun Meter hoch und trieb langsam nach Nordosten. Selbst aus der Ferne konnte Shriver sehen, wie demoliert der Thunderbird jetzt war. Er weinte vor Enttäuschung. Nach einiger Zeit raffte er sich auf und setzte seinen Weg fort. Die Wüste wurde dunkler. Er mußte nur noch wenige Meilen von dem eine halbe Million Morgen bedeckenden Gelände der Wüstenstation des Marinekorps entfernt sein. Falls eine Nachtpatrouille der Marines zu einer Übung draußen war, um zu trainieren, wie man ein Ölfeld im Mittleren Osten gegen Beduinen-Guerillas verteidigt, und sie würden auf einen erwachsenen Mann, einen Ex-Luftwaffenmann treffen, der weinte – würde er sich zu Tode schämen. Öl? Das UFO-Ding, das seinen Wagen zerstörte, hatte wie ein Ölfleck ausgesehen, als es davonschwebte. Unheilvolle Energiequelle – schmutzig, giftig, erstickend…
Oder war es Tinte? Ein Rorschach-Flecken? Ein Ding ohne Bezug, ohne Definition – außer der ganz subjektiven, persönlichen? Wie es auch aussah, es war im Kopf des Betrachters. Ganz anders als die Realität des Autos! Die Luft kühlte sich ab. Irgendwo in der Ferne hörte er einen Kojoten kläglich jaulen. Etwas Unerkennbares raschelte und flüchtete, als er gerade im Begriff war, auf es zu treten. Eine halbe Stunde später kam er auf eine ungepflasterte Straße, die durch das Gesträuch nach Nordwesten führte. Auf Daggett oder Barstow zu. Er zählte fünfzig Schritte in langsamer Gangart ab, legte die nächsten fünfzig Schritte schneller zurück und verlangsamte dann wieder sein Tempo. Wenn er in einer der Werkstätten in Barstow einen Abschleppwagen mieten könnte. Oder einen Jeep samt Trailer und Winde. Dann fiel ihm ein, daß dies kaum möglich war. Die Entdeckung müßte offiziell sein, sonst würde sie gar nichts bedeuten. Würden sie alle dieselbe Geschichte erzählen? Es war unsinnig gewesen, sich zu trennen! »John!« rief er in die stumme Nacht. »Mike!« Keine Antwort. Aus Angst, etwas anderes anzulocken, lief er einige Zeit schneller. Um Mitternacht müßte er in Barstow sein…
Michael hörte das dumpfe Geräusch, hatte aber keine Vorstellung, was es verursacht hatte. Er blickte zurück, sah nichts und lief weiter, den Sträuchern ausweichend. Der Pflanzenwuchs wurde immer spärlicher und verschwand völlig, als sich das Gelände in einen ausgetrockneten See senkte. Am Rand eines seichten, etwa eine Meile breiten Beckens hielt er inne. Auf der lehmigen Oberfläche taten sich im Mondlicht labyrinthartige Risse auf, der Boden war ohne
jede Vegetation. Er hatte zuviel Angst, die flache Playa zu benutzen. Er stellte ein zu offenes Geländestück dar. Statt dessen lief er um sie herum. Als er schmerzhafte Seitenstiche spürte, wurde er langsamer. Ab und zu blickte er sich nervös um. Er bemerkte eine Gestalt, die östlich von ihm in den ausgetrockneten See hinaustrat. Sie ging ein kleines Stück, dann hielt sie an und blickte zurück. Sie stand ganz still. Aus dem Gesträuch im Süden schwebte das schwarze Ding auf die offene Playa zu; es hielt sich knapp zwei Meter hoch. Michael versteckte sich hinter einem kleinen Strauch. Auch die Gestalt in dem ausgetrockneten See beobachtete das herankommende schwarze Ding – erwartete es resignierend, fast gleichgültig. Wie ein großer Schirm hing es über ihr. Wie ein Schirm faltete es sich zusammen, umfaßte die Gestalt. Eine dunkle Säule stand auf dem dämmerigen See. Michael kroch von dem Strauch weg und rannte davon. Die Schmerzen in seiner Seite blieben. Wo bist du, Suzie? flehte er. Sei bei mir, laß mich bei dir sein! Er versuchte sich vorzustellen, in welchem Winkel eine Gerade in den Boden dringen müßte, um auf der anderen Seite des Planeten in Sandstairs wieder auszutreten. Die imaginäre Gerade wurde seine Kompaßnadel. Vergib mir, vergib mir! Er hörte, wie seine Schuhe ihren Namen quietschten; Stimme aus einem Grab, Laute der Trauer und der Sehnsucht. Liebe mich, rette mich, du bist mein Zauber! Er weigerte sich, an das zu denken, was er gesehen hatte. Endlich erreichte er den Highway. Vor Ermüdung und Kälte schwankend, brachte er winkend einen Kühlwagen zum Halten. Als der Fahrer den Wagen mit einem Zischen der Druckluftbremsen zum Stehen brachte, gaben Michaels Beine nach. Aus der Fahrerkabine ertönte Country-Music.
Ich hab’ vier Kinder Und eins braucht Schläge Und eins braucht Pflege Und eins braucht Keks Und eins ist unterwegs. Als der Fahrer sich über ihn beugte, nachdem er mit der Stablampe erst einmal geprüft hatte, ob sich niemand in den Büschen versteckte, blickte Michael in sein Gesicht, brachte es gerade noch fertig, »Suzie« zu sagen. Dann wurde er erneut ohnmächtig. John Deacon konnte nicht mehr weiter, er wollte auch nicht mehr. Er blickte zum strauchbewachsenen Rand der Playa zurück. Er hielt die Jacke immer noch in der Hand, obwohl es jetzt schon kalt war und er sie hätte anziehen sollen. Ein Ärmel schleifte über den ausgetrockneten, salzigen Lehm. Das schwarze Ding schwebte über die Sträucher. Mit aller Zeit der Welt flog es auf ihn zu. Er war nichts. Kein Individuum, keine Persönlichkeit, kein Ego – keine Identität. Das alles war ein Traum, eine Halluzination. Nur das eine war wirklich: die Leere. Er kicherte leise. Endlich verstand er den Scherz, der ihm so lange Rätsel aufgegeben hatte, die Ironie, die sich einstellte, wenn das Bewußtsein sich der Erkenntnis der tiefen Leere näherte. Die Schwärze hing über ihm, und er gab sich ihr hin. Sanft nahm die Leere ihn in sich auf.
28
Nichts war zu sehen, aber eines sah noch: Gestaltlosigkeit. Nichts zu hören, aber eines hörte noch: Stille. Nichts zu fühlen, aber eines fühlte noch: vollkommenes Gleichgewicht. Ausgeglichenheit. Die Leere war schiere Bewußtheit. Sie war sich nur ihrer eigenen Bewußtheit bewußt – es gab keine Objekte, das Denken darauf zu richten… Tod, dachte er. Ich bin gestorben. So ist es, wenn man tot ist. Als er ›ich‹ dachte, entstand sofort ein Wirbel um ihn herum: ein Strudel, der der Leere widerstand und ihr widersprach. Dieser Strudel trennte ihn von seinem früheren Zustand, der jetzt unerreichbar war – obwohl es ihn jetzt nach ihm verlangte. Der Strudel schirmte ihn ab, er besaß nur eine Innenseite. Er drehte sich, und seine Drehbewegung erschuf Zeit. Er drehte sich, und seine Drehbewegung trennte alle Rangordnungen der Existenz voneinander: Partikel, Atom, Molekül; Bakterie, Tier, Intelligenz… mit jeder Drehung eine höhere Organisationsform. Er spürte, daß dieses Miniaturuniversum das Universum an sich war: daß es alle Galaxien, alle Welten, alle Lebewesen, alle seine Erinnerungen enthielt. Sein Nabel war überall zugleich, setzte den Strudel aus der Leere in Bewegung, holte ihn wieder in sich zurück. Ständig drangen Partikel hinaus und kehrten zurück. Ebenso Gedanken: alle Gedanken erhoben sich aus derselben leeren Bewußtheit und vereinten sich wieder mit ihr… Wie lange währte dieses Universum? Es existierte im Augenblick, denn sein Ursprung und sein Endpunkt innerhalb der Leere waren dasselbe zeitlose Ereignis. Das weiße Loch des Entstehens war das schwarze Loch des Verschwindens in der Drehung der
Zeit. Aber es schloß Äonen in sich ein, gebunden an diesen Möbiusstreifen. Wie erhielt es sich? Durch Ausschluß, durch Abtrennung, durch Unzugänglichkeit. Durch die Trennung von Subjekt und Objekt, von Beobachter und Beobachtetem – die Ursache und Wirkung sowie Naturgesetze hervorriefen. Durch die Unbestimmbarkeit grundlegender Geschehnisse. Durch die Unzugänglichkeit von Lichtjahren: wodurch Licht, das Beobachtung zuließ, sie gleichzeitig leugnete. Durch die Unfähigkeit des Geistes, der die Erkenntnis der Welt hegte, sich selbst zu erkennen, es sei denn, nur in Teilen… Wie vereinigte es sich wieder mit der Leere? Durch genau denselben Prozeß. Denn all diese Unzugänglichkeiten verursachten eine heftige Saugwirkung zu ständig höheren Organisationsstrukturen, zu höherem Verständnis. So wurden Moleküle zu langkettigen Molekülen, und diese wiederum wurden zu sich verdoppelnden Zellen, die Informationen übertrugen… bis Intelligenz und höhere Intelligenz sich entwickelten. Das Universum, so wurde er sich bewußt, war eine gewaltige Simulation: seiner selbst durch sich selbst. Es nahm sich selbst wahr, eine fortschreitende Beobachtung seiner selbst von ständig höheren Blickpunkten. Jede höhere Ordnung war einer niedrigeren Ordnung nicht zugänglich, doch jede niedrigere Ordnung wurde von der höheren angezogen – erfaßt von der Saugwirkung der höheren Ordnung. Wenn das Universum sich selbst vollkommen simuliert, dann konnte es aufhören zu sein wie es in der Nicht-Zeit, welche die ganze Vakuumströmung der Existenz besetzt hielt, auch tatsächlich geschah. Die letzt endliche Erkenntnis des Universums würde das Universum selbst sein; dann wären Subjekt und Objekt eins. In der Zeit jedoch war die Saugwirkung des Unerkennbaren ein Wind, der durch die Welt
heulte, so daß die Welt sich weiter wandeln, Leben sich entwickeln konnte… Der Vortex drehte sich wie eine Untertasse um ihn herum. Eine Fliegende Untertasse. Das war das Abbild des Ganzen – das zwar nicht erkannt werden konnte, aber ständig in die Welt eindringen mußte, als Antrieb für Bakterien… und Menschen. Dieses Gebilde war ein Archetyp, tief verankert in der Natur des Seins, das Abbild der gesamten Vortex, der seinen Schatten warf. Frei von den Gesetzen der Zeit, der Logik und der Schwerkraft, denn in der Leere, aus der es kam, konnte es kein ›Gesetz‹ geben… Untertassen und ähnliche Erscheinungen, wurde ihm bewußt, dringen jedoch nicht in die Welt ein. In Wirklichkeit war die Welt in ihnen. Als ihm das bewußt wurde, verfestigte der Vortex sich zu einem Raumschiff. Er war nicht allein in dem Schiff. Ein grüner Mann stand an den Kontrollen. Sein Gesicht bestand aus Grashalmen, Blättern und Pflanzenteilen. Deacon fiel ein, daß er einen Menschen wie diesen schon einmal gesehen hatte: auf einem Ölbild des exzentrischen Giuseppe Archimboldo, der die vier Temperamente und die vier Jahreszeiten in diesem Stil dargestellt hatte; das Bild hing in Wiens Kunsthistorischem Museum… Er war Simulationsmensch, seine Aufgabe war es aufzuzeigen, wie das ganze Universum sich selbst simulieren mußte, indem es Intelligenz aus primärer Bewußtheit entwickelte – die wiederum im Leere-Bewußtsein verwurzelt war, aus dem das Universum entstand… Hier war Khidr, Pilot der Vortex-Untertasse, der Unidentifizierte. Er, der existierte und doch nicht existierte. Er, der die notwendige Saugkraft darstellte, die neue Erkenntnisorgane ins Dasein rief, denen er dann ständig entweichen würde.
Khidr war keine menschliche Gestalt. Und auch keine außerirdische. Nicht einmal ein gottgleiches Zukunftswesen von einer höheren Stufe der Spirale. Er war einfach eine Membrane: zwischen sich entwickelnder Erkenntnis und der Natur der Realität. Eine Zwischenschicht zwischen den höheren Windungen der Spirale und der Windung, die ein sich entwickelndes Lebewesen gerade besetzt hielt. »Warum bist du ein Pflanzenmensch?« fragte Deacon. Aber er kannte die Antwort bereits. Khidr wandte sich um und grinste grün. Er sagte nichts. In den Wänden des VortexSchiffs taten sich jetzt Bullaugen auf. In unregelmäßigen Intervallen flogen sie über Wüsten, Wälder, Seen und Städte – als wäre Deacons Wiedereintrittspunkt ins normale Wahrnehmungsvermögen noch nicht exakt festgelegt. Als müßte er noch ein wenig mehr verstehen, ehe er wieder bewußt in die Welt eintreten konnte. »Die Gebrauch waren eine Erfindung, oder?« fragte er. Die Gebraudi waren Wunder. Eindringlinge einer Erkenntnis höherer Ordnung in ein System niedrigerer Ordnung, nämlich den menschlichen Geist, um diesen aufwärts zu ziehen. Das Fremde war von jetzt an das Wunder: das war die Botschaft der UFOs. Und der Mensch brauchte das Bild des Fremden zur Unterstützung seiner eigenen Entwicklung, jetzt, da er seine Welt ausgefüllt hatte und es auf der Landkarte keine ›Hier sind Drachen‹-Zonen mehr gab! »Was haben sie uns gesagt? Daß das ganze Universum in sich selbst aufgezeichnet ist? Das stimmt. Sie mußten fremd erscheinen, nicht wahr? Von außerhalb. Sonst hätten sie der Welt Schaden zugefügt – hätten sie verformt. Sie mußten verkrüppelte Geschöpfe sein, drollig und unter Druck – weil wir unvollständig sind und es sein müssen. Wir können diese Erkenntnis nicht vollständig begreifen. Es mußte auch die Rückseite des Mondes sein, oder? Aus demselben Grund: dort
ist der blinde Punkt, das Bild des Unerkennbaren. Dann mußten sie verschwinden – genau, wie du verschwindest! Es gibt gar keine Wracks auf dem Mond, oder?« So viele Fragen – die eigentlich allesamt Antworten waren. »DM warst es gar nicht, der uns dorthin gebracht hat. Wir selbst waren es: unser Bedürfnis – in unserem gemeinsamen psychischen Leben. Gemeinsam, weil alle voneinander getrennten Hirne einfach Übermittler, Vortexe derselben Leere sind! Du bist kein Engel oder so etwas. Du bist wir, Khidr – die psychische Struktur, deren Teil wir alle sind.« Nun ergriff Khidr das Wort. Er sprach freundlich und mit grünem Grinsen. Seine Zähne waren Artischockenblätter. Deacon erkannte die Sprache nicht. Es konnte Persisch, Arabisch, Sanskrit oder sogar eine außerirdische Sprache sein. Es spielte keine Rolle, denn Khidr stellte Deacons Worte nicht in Abrede. Die Tatsache, daß es eine Antwort gab, war wesentlich, sie gab Sicherheit. Deacon ging noch weiter. »Ich würde dich gern als gottgleiches Wesen sehen – doch dein Gesicht besteht aus Blättern und Kohlschößlingen. Weil, ja, weil du primär bist. Du bist die Essenz der Dinge.« Zu jeder anderen Zeit wäre dieses Geschöpf mit dem Grashaar, den Blätterwangen, den durchscheinenden weinroten Augen und dem spitz zulaufenden Röhrenkinn ein Dämon gewesen. »Ich weiß, warum du grün bist! Ich weiß, warum Khidr der Grüne ist! Du stellst die primäre Wahrnehmung dar, jawohl – aber es ist noch mehr.« Deacon erinnerte sich an Michaels Beschreibung der beiden Hallen in der ›fremden‹ Kuppel im Ziolkowskikrater: die eine, für Menschen, von gelbem ›Sonnenlicht‹ erhellt, und die blaugrüne Halle der Gebraudi, von ›fremder‹ Strahlung durchflutet. Und er erinnerte sich auch an das Seminar über normale Wahrnehmung, das er einmal gegeben hatte, bevor er seine Aufmerksamkeit außergewöhnlichen Geistesverfassungen zugewandt hatte.
»Das Licht von unserer Sonne wirkt nur gelb. In Wirklichkeit hat es maximale Intensität im blau-grünen Teil des Spektrums, nicht wahr? Von dort kommt der Hauptanteil der Informationen. Dort sind unsere Augen am empfindlichsten. Das ist der wesentliche Informationskanal für die Menschen. Deshalb sehen wir dich grün oder grün gekleidet. Du bist der wesentliche Informationskanal! Und er ist jetzt geöffnet – in mir.« Khidr verbeugte sich zustimmend. Deacon streckte die Hand aus und legte sie auf den grünen Arm. Die Hand des Geschöpfs hatte eine Mangohaut, ihre Finger waren dicke Spargelstangen. Khidr bot ihm die Kontrollen an. Er übernahm sie.
29
Der fette blonde Polizist drehte einen Stuhl herum und setzte sich rittlings auf ihn. Die Rückenlehne preßte unförmige Wülste aus seinen gespreizten Schenkeln. »Ich bin Captain Carl Dorris.« Der Name kam wie ein einziges Wort heraus. Der Captain hatte nicht die Absicht, seinen Nachnamen als Frauennamen mißverstanden zu wissen, ob scherzhalber oder sonstwie. Er hatte in der Schule schon genug Hänseleien wegen seines Namens erdulden müssen, abgesehen davon, daß er ein fetter Junge gewesen war. Als er der County-Polizei beitrat, hatte er erwartet, das würde aufhören. Zu Unrecht. Jetzt fanden die Witzeleien hinter seinem Rücken statt. Noch mehr als Hänseleien haßte er scheinheilige Gesichter. Carl Dorris hatte für Michael einen Imbiß, bestehend aus knusprigem Speck, Rühreiern und gebackenen Kartoffeln, auf einem Pappteller und eine Tasse Kaffee hereingebracht. Sobald Michael etwas wacher war, aß er hungrig. Michael lag in Unterhose und T-Shirt unter einer groben grauen Decke auf einem Feldbett. Das Fenster – ziemlich groß, aber mit dünnen weißen Gitterstangen davor – gab über einige Eisenbahngleise den Blick auf die Berge frei. Pfeifend rangierte eine Diesellok. Captain Dorris rollte die Zunge in seinem Mund zwischen Zähnen und Zahnfleisch. Ein Boxer, der den Kunststoffmundschutz an die richtige Stelle schiebt. »Sie waren völlig weggetreten. Der Doktor hat Sie sich angeschaut, aber Sie brauchten nur Ruhe. Dem Lastwagenfahrer gegenüber haben Sie den Namen eines
Mädchens erwähnt.« Michael verschluckte sich an dem Kaffee. Er erinnerte sich an sein fieberhaftes Gemurmel, als er sich seinen Weg durch das Gesträuch bahnte. »Sie ist in Sicherheit. Sie ist in England.« »Was ist also passiert?« »Ich… wir, wir waren drei, hatten einen Autounfall. Wir sind abgestürzt.« »Hmm hmmm. Mr. Shriver hatte den Unfall gemeldet, nachdem Sie hergebracht worden sind. Er schläft sich im Astro-Hotel aus. Beim ersten Tageslicht haben wir einen Hubschrauber rausgeschickt, um diesen Deacon zu suchen. Bis jetzt ohne Erfolg – gerade haben wir gehört, er kommt zurück, um neuen Treibstoff zu tanken. Ich würde also gern mehr über diesen Unfall wissen.« »Was hat Barry Shriver gesagt?« »O nein.« Der Captain schüttelte den Kopf. »Was sagen Sie?« Michael atmete tief ein. »Wenn ich sage, wir sind abgestürzt, dann meine ich, daß wir tatsächlich… eine Bruchlandung gemacht haben.« »Sind Sie mit einem Flugzeug geflogen?« »Wir sind in einem Auto geflogen.« »Aber sicher. Ein Auto mit Flügeln.« »Es brauchte keine Flügel.« Captain Carl Dorris saugte wieder an seinem Zahnfleisch. »Sie haben keine Einstiche im Arm, was ist es also? LSD? Ich versuche nur, geduldig zu sein. Ich habe ein weites Herz. Aber nehmen Sie mich nicht auf den Arm, mein Junge!« »Das tue ich nicht! Das alles ist wegen… wegen der U-F-Os passiert.« Trotzig buchstabierte er das Wort. »Was ist mit denen?« Die Nasenspitze des Captains wurde weiß. Der Stuhl quietschte auf, als er die Schenkel dagegenpreßte.
Später flog ein größerer Ambulanzhubschrauber aus Victorville ein. Captain Carl Dorris eskortierte einen demütigen Michael und Barry Shriver hinaus. Der Amerikaner war aus seinem Hotel an der West Main Street gekommen. »Machen Sie sich keine Sorgen«, flüsterte Shriver. »Ich habe es einer übergeordneten Behörde mitgeteilt. Es wird der Polizei bald aus den Händen genommen sein.« »Zeigen Sie mir nur wo«, lächelte Dorris eisig. »Einen fliegenden Thunderbird, bitte.« »Suchen wir nicht nach John Deacon?« fragte Michael. »Der könnte genau da sein, wo Ihr Zauberauto ist, und wir haben noch nicht einmal das gefunden.« »Vielleicht hat der Pilot es nicht erkannt«, sagte Shriver. »Es ist zerstört worden.« »Klar. Ihr habt euch alle drübergewälzt. Ihr seid alle auf dem Mond gewesen – und ich bin der Kaiser von China! Ich würde auf illegale Einreise oder Drogenschmuggel tippen, wenn Sie sich nicht schon zweihundert Meilen nördlich der Grenze befänden. Keiner wäre so blöd, immer noch auf den Nebenstraßen zu kleben. Außer, natürlich, wenn Sie tatsächlich geflogen sind – ein kleines Flugzeug, und Sie könnten nicht mal navigieren. Aber Sie waren doch mal Luftwaffenpilot, hmm?« Der Hubschrauber flog nach Südwesten über Tankstellen, Raststätten und Wohnblöcke von Barstow hinweg in die Wüste. Nach einiger Zeit sah Shriver den ungepflasterten Weg, auf den er in der Nacht gestoßen war. Der Himmel war strahlend blau, die Wüste dunkel getönt.
Michael zeigte nach vorn. »Da ist der ausgetrocknete See. Dort…« Er schluckte und stellte sich einige der möglichen Folgen vor, wenn John Deacons Leiche tatsächlich dort gefunden würde. »Was war dort?«
»Ich habe gesehen, wie Deacon ihn durchquerte und das schwarze Ding hinter ihm her war.« »Dreh eine Runde, Tom«, wies Dorris den Piloten an. Der Captain trommelte mit den Fingern auf den Knien. Salzkristalle auf dem rissigen Lehm blinkten schwach im Morgenlicht. Ein winziger Fuchswelpe flüchtete vor dem dröhnenden Hubschrauber in seinen Bau. Windböen rollten Pflanzenbüschel über den Erdboden. Auf der Playa war niemand, weder tot noch lebendig. Sie flogen weiter in der von Shriver angegebenen Richtung, bis sie den zerstörten Wagen fanden. Auch dort war niemand. »Warum sollte jemand ein Wrack hier rausschleppen, um es dann liegenzulassen?« wunderte der Pilot sich. »Bring uns runter, Tom. Wenn es hierher geschleppt wurde, müßten wir die Spuren finden.« »Und wenn nicht, heißt das dann, daß es vom Himmel gefallen ist?« Der Pilot lachte unsicher. Sie landeten. Shriver untersuchte als erstes die beschädigte Kühlerhaube. Der Wagen hatte sich in ein zusammengequetschtes, zerknautschtes Rechteck verwandelt, als hätte man ihn durch die Rollen einer Wäschemangel gejagt oder in eine Schrottpresse geschoben. Aber es war genau auf diesem Fleck passiert, denn Kristallsplitter des Fensterglases übersäten den Boden. Es sei denn, jemand hätte das Glas extra hierhergebracht, um es zu zersplittern… Die Räder waren alle von den Achsen gesprungen. Zwei waren unter dem Wagen eingequetscht, zwei lagen daneben. Als der Pilot den Hubschrauber verließ, sprang Shriver auf ihn zu. »Haben Sie eine Brechstange? Ich muß sehen, wie der Motor aussieht.« »Mister, den Motor gibt’s nicht mehr.« Trotzdem stieg der Pilot wieder hinein und händigte ihm eine Eisenstange aus.
»Was gibst du ihm da, Tom?« Dorris’ Hand fuhr zu seiner Pistole. Der Pilot fuhr zurück, aber Shriver schrie ärgerlich. »Verdammt, ich will Ihren Hubschrauber nicht entführen. Das Auto will ich!« »Aber Sie wissen, wie man einen Hubschrauber fliegt, oder? Aus Ihrer Luftwaffenzeit.« »Klar weiß ich das. Ich bin Jagdflugzeuge geflogen. Aber mit Hubschraubern kenne ich mich auch aus.« »Lassen Sie die Stange fallen! Auf der Stelle!« Shriver ließ die Brechstange nicht fallen, aber nutzlos zwischen zwei Fingern baumeln. »Captain, Sie können ja meinetwegen die ganze Zeit die Waffe auf mich richten. Ich muß unter die Haube sehen. Bitte!« Den Blick immer noch auf Shriver, bückte Dorris sich, um ein Stück verbogenen Metalls aufzuheben: ein Nummernschild. »Ruf Barstow, Tom.« Dorris las die Nummer vor. »Laß sie in den Computer füttern.« Er warf das Schild wieder runter. »Okay«, sagte er, »Sie stemmen die Motorhaube auf. Aber packen Sie nicht rein, ich will die ganze Zeit Ihre Hände sehen. Und ich möchte gern sehen, auf was Sie da so versessen sind.« Schwitzend drückte Shriver die Brechstange hinein und bog die Motorhaube zum Teil hoch. »Ein zerquetschter Motor?« »Eigentlich nicht.« Shriver grinste. »Werfen Sie einen Blick rein.« »Zuerst ein paar Schritte zurück, hmm?« Shriver trat zurück. »Nicht zu weit!« Dorris hockte sich nieder und spähte unter die Haube. In dem Wagen, soviel war gewiß, befand sich kein Motor, aber es war kaum festzustellen, was es genau gewesen war. Zersplittertes, verschmolzenes Glas, wulstig wie ein Malachit, war zu sehen, eine dunkelgrüne zähe Flüssigkeit, vielleicht Öl, und Bündel von Kupferhaaren wie aus einer Matratzenfüllung. Dorris griff hinein und zog etwas Glas und
ein paar Kupferfasern heraus. Er schnüffelte daran, verzog die Nase und ließ es wieder fallen. »Scheiße, da drin sieht’s aus wie in einem Mülleimer.« »Das ist ein außerirdischer Schwerkraftantrieb, Captain!« schrie Shriver. Dorris’ Nasenspitze wurde weiß. »Halten Sie das für witzig? Den Motor rausholen und diesen ganzen Dreck dafür reinstopfen? Wie haben Sie den Wagen hierher gekriegt? Ich sehe keine Spuren.« Tom schaltete sich ein: »Barstow sagt, ein neuer Thunderbird mit diesem Kennzeichen wurde vor sechs Wochen in der Nähe von Cheyenne gestohlen.« »Brandneu, und jetzt schau dir das an.« Dorris schnippte eine Fliege von seinen Fingern. »Wenn es keine Spuren gibt…« begann Tom. »Von einem Hubschrauber runtergelassen? Wie soll ich das wissen? Das ist keine Drogengeschichte oder so. Eine Art Reklametrick!« Sich zusammenreißend, beharrte Shriver: »Das-war-ein-von-Außerirdischen-umgebautes-Raumschiff! Fremde, die jetzt tot auf der Rückseite des Mondes liegen. Genau in diesem Augenblick, in den Trümmern ihres Sternenschiffes.« »Ach klar, wir fliegen mal eben hoch und überprüfen das. Glaubst du, wir können mal eben zum Mond und zum Lunch wieder zurück sein, Tom? Shriver, Sie machen mich krank. Gibt es wirklich jemanden namens Deacon? Oder erfinden Sie den auch? Egal, wer von euch Witzbolden hat den Wagen gestohlen? Oh, pardon, ich hab’ ganz vergessen, den haben euch ja die Fremden gegeben. Wie heißen sie?« »Die Gebraudi – sie kommen vom Stern Eta Cassiopeia«, sagte Shriver. Er nickte in Michaels Richtung, als wäre dieser einer der Fremden. »Tom, schick mal ‘ne Fahndung raus nach ein paar Fremden, die wie Elefanten aussehen. Hast du den Namen? Ach, verflixt, ich vergesse schon wieder, daß sie auf
der Rückseite des Mondes sind. Schick die Fahndung besser gleich an die NASA.« »Alles, was sie brauchen, ist ein Mondsatellit. Die NASA könnte Filmaufnahmen machen und beweisen…« »Na klar, eine prima Methode, hundert Millionen Steuerdollar zu verschwenden! Ich habe wirklich nur gescherzt, damit Sie’s wissen! Wieviel haben sie bisher für den Beweis ausgegeben, daß Fliegende Untertassen nicht existieren?« »Die NASA hat nicht einen Penny ausgegeben, nur die Luftwaffe – das ist ja die Tragödie. Aber Astronauten haben sie gesehen! Und gefilmt. Und Luftwaffenpiloten und Polizisten! Es wird immer runtergespielt.« »Ein Jammer, wenn sie nicht auf dem Mond wären, dann müßte ich euch beide einbuchten.« »O nein, wir haben den Wagen nicht gestohlen. Ich war vor sechs Wochen in London. Genau wie Mike.« »Suchen wir denn noch nach John Deacon?« fragte Michael. »Er war die ganze Nacht draußen. Es wird wieder heiß. Seit gestern hat er nichts zu trinken gehabt.« »Mir kommen die Tränen. Keine Sorge, der andere Hubschrauber ist noch draußen und verbrennt Treibstoff. Tom, ich will Fotos von dem Wrack, und dann fliegen wir diese beiden Schlaumeier nach Barstow zurück.« Das Funkgerät machte sich wieder bemerkbar, Tom stieg ein. »Sie haben ihn gefunden, Captain Carl! Ihm geht’s gut – erstaunlich gut.« »Tatsächlich? Sag ihnen, sie sollen bleiben, wo sie jetzt sind!«
30
Deacon übernahm die Kontrollen und flog das UFO. Er steuerte es nach seinem Willen, trug es wie einen Anzug. (Wo war Khidr jetzt? Khidr war in ihm.) Wann hatten diese Geschehnisse begonnen? Als diese Frage sich wie von selbst stellte, trat er wieder in die normale Welt ein. Er jagte, in der Zeit ein wenig zurück, auf seinen eigenen Garten in Granton zu… Ein Collie sprang an ihm hoch. Er streckte die Hand aus, um den Hund freundlich zu tätscheln – und seine Hand schnitt durch den Hals wie ein heißes Messer durch Butter. »Nein!« schrie er auf. Zu spät sprang er zurück. Sheps Kopf war bereits in ihn hineingezogen und absorbiert worden. Wie? Fröstelnd wurde ihm bewußt, daß alles wirklich passierte. Es war genau das Ereignis aus jener Nacht im Garten – aber viel später erst verursacht, jetzt verursacht, als wäre das Ereignis bis zu diesem Augenblick seine eigene Ursache gewesen… Ereignisse geschehen in Abfolgen, hatte Scheich Muradi gesagt, aber die Menschen sehen nicht immer diese Abfolge. Unmöglich, Ursache und Wirkung im Ereignis selbst festzumachen; nur in einem veränderten Zustand konnte man die wahren Folgen begreifen… Anstatt ›wie‹ fragte er jetzt: warum? Und Khidr in ihm flüsterte: Wenn du von einem überlegenen Erkenntnisstand aus eingreifst, kannst du die Welt nicht unverändert lassen. Nur Unachtsamkeit ist es, die die Welt erhält! Wenn die Welt sich selbst vollständig erkennt, dann gibt es nur: Leere, den Zero-Zustand – den Zustand, von dem aus das ganze Universum der Dinge und Lebewesen sich
wirbelnd fortbewegt; den Zustand, in dem nichts festgeschrieben ist. Er wirbelte davon, quer durch die Zeit. Er spürte einen komplexen Fluß von Strukturen, nicht im Raum, sondern in der Raum-Zeit. Strukturen, die sich veränderten, Knoten bildeten, sich lösten und sich verbanden. Ereignisse existierten als Knotenpunkt dieser dynamischen Strukturen. Das Universum bestimmte sich selbst, denn alle Ereignisse waren Gedanken. Und auf diese Weise trug alles zur Aufrechterhaltung der Existenz bei – jede Mikrobe, jede Pflanze, jeder Stein. Natürlich mußten spätere Ereignisse fähig sein, frühere Ereignisse zu verursachen – sonst, so erkannte er, gäbe es keine Entwicklung, nur zufällige Kombinationen; ebensowenig gäbe es eine vereinte Raum-Zeit. Aber wenn den Intelligenzen bewußt würde, daß alle Ereignisse Gedanken waren… Die Inhaber der Erkenntnis mußten vorsichtig sein. Sie konnten Wunder bewirken. Sie konnten Tumore aus Körpern fliegen, die Zahl von Brotlaiben und Fischen vermehren, oder ein Paar Schuhe von Bagdad in die Wüste schleudern, damit es dort auf den Schädel des Räubers fiel und ihn zerschmetterte. Sie konnten die Wirklichkeit auch deformieren. Seine Kontrolle war noch unvollkommen… Wenn man etwas erforscht, verändert man die Natur des Erforschten. Unmöglich, einzugreifen ohne die Wirklichkeit zu verändern. Physiker wußten das sehr gut: sie nannten es Indeterminiertheit. Es war Beweis für das lebende Gefüge der Ereignisse und die Fähigkeit derer, die das erkannten, innerhalb ihrer Grenzen bewußte Denker der Realität zu werden. Aber hier wirkten auch ein Plus- und ein Minusfaktor, erkannte er. Wenn man Erkenntnis höherer Ordnung einführt, muß sich zum Ausgleich innerhalb der Realität niederer Ordnung etwas ändern oder ihr verlorengehen. Der Kniff
bestand darin, den Verlust möglichst niedrig zu halten – Mysterien zu schaffen, ohne Schaden zu verursachen. Nur zu oft jagten UFO-Eingriffe den Menschen schreckliche Angst ein, verstümmelten sie, töteten Tiere, entführten Lebewesen. ›Man muß den Teufel bezahlen…‹ Aber in Wirklichkeit war die UFO-Weisheit eine Bewußtheit vom Universum, das sich selbst dachte, sich selbst verursachte, sich selbst entwickelte. Einen Moment lang trauerte er um Shep. Aber Shep war nicht verloren. Seine Existenz war nur wieder in die Leere eingetreten. Deacon stellte sich eine Klein’sche Flasche im vierdimensionalen Raum vor, in einem Raum, der seine eigene Gestalt begrenzte. Vom Blickpunkt gewöhnlicher Abfolge aus überkreuzten die Ereignisse sich auf irrationale Weise… Die Zeit war zugleich innerhalb der Leere, die Zeit war zu einem Knoten verknüpft. So konnten sich die Ordnungsgesetze, die Leben und Intelligenz möglich machten, sich wiederum aus diesen später entstandenen Strukturen entwickeln. Hatte der Fremdling Bonaparte nicht genau das gesagt, als er zu Michael darüber sprach, daß UFO-Ereignisse eine andere, höhere Zeitfolge besaßen? Eine Zeitfolge, die in der niedrigeren Ereignis-Abfolge nicht belegt werden konnte? Deacon, immer noch auf der Suche nach seiner eigenen Position in diesem System, näherte sich seinem früheren Ich. Er fand sich, mit einem Tonbandgerät an einem Schreibtisch sitzend, und versuchte, sich selbst anzusprechen. Aber der Versuch, einen höheren Blickpunkt in die Ursache-undWirkung-Folge, die der Blickpunkt von Deacon damals war, zu verankern… kratzte und schabte über das Tonband, auf dem Michaels Verführung und sein UFO-Flug registriert waren und löschte so frühere Beweise. Erneut versuchte er es. Was er zu sich- damals sagte, erfuhr eine örtliche Transformation, als er von der höheren zur niedrigeren
Struktur hinabschritt. Die Information veränderte sich in Tonhöhe, Tonfall und Inhalt: »Ihr-dürft-keine-Fragen-stellen-über-Wesen-aus-FliegendenUntertas-sen. Müßt-hin-nehmen.« Die Worte versiegten. Er wurde ein fliegendes Ungeheuer, starrte durchs Fenster von draußen auf sich selbst. Er brach den Kontakt ab, flog weiter an der Zeitlinie der Verknüpfungen entlang und wurde, immer noch lernend, zum Granton-Stadtpark hinabgezogen… In Khidr-Grün gekleidet, verzerrte er seine äußere Gestalt, um dem Mädchen, mit dem er Kontakt aufnehmen würde, in angsterregender Maskerade gegenüberzutreten. Er nahm ein fremdartiges Äußeres an und verzerrte es noch mehr: um das Mädchen, dem er begegnete, zu schützen. Eine Schulter hing schräg nach unten, die andere stülpte er nach oben. Ein Arm war lang ausgestreckt, der andere knotig und kurz. Als er aus dem Gehölz schwebte, hielt er kaum Kontakt zum Erdboden. Ein Schwanenpaar floh, als wollte es nicht gefressen werden. Diesmal wagte er es nicht, Worte zu bilden – er wußte keine – und konnte nur langsame, kraftlose Bewegungen machen. Suzie Meades Gesicht verzerrte sich. Sie stürzte. Sie zog einen Schuh aus und schleuderte ihn auf ihn, um ihn abzuwehren… Er verschwand, ihm war es nur gelungen, ihr schreckliche Angst einzujagen. Aber im weiteren Netzwerk der Verknüpfungen hatte dieses Ereignis Suzie von Michael getrennt. Dadurch war Michael in der Lage, den Gebraudi zu begegnen und Deacons Geist zu öffnen. Suzie würde sich erholen, wie er sah. Seine Vorsichtsmaßnahmen waren einigermaßen erfolgreich gewesen. Michael könnte sie sogar wiedergewinnen, obschon er dafür einen Tribut zahlen müßte… Eine Zeitlang jedenfalls öffnete Suzies momentane Geistesverfassung seinen Geist. Er teilte sich in zwei Verrückte, in Luftwaffenblau gekleidete Gestalten, die sich
nach ihrer Gesundheit erkundigten. In diesem geteilten Zustand schlug seine Identität Kapriolen. Sexuelle Impulse kamen an die Oberfläche: eine Begierde nach Suzie, deren er sich bisher nicht bewußt war. Zotige Postkartengedanken machten sich in den beiden Teilen seines Geistes breit: zweideutige Anspielungen auf der einen, Bilder von Busen und weiblichen Hinterteilen auf der anderen Seite. Auf diese Weise beleidigten er/sie sie – und hätten sie vielleicht sogar vergewaltigt. Sie schloß die Tür vor ihnen. Doch im weitergespannten Netzwerk brachte dieses Ereignis sie in sein Haus, an dem Abend, als Shep starb, und trieb Michael noch weiter in den Bereich der Wunder, in dem Deacon wartete: Immer noch zweigeteilt, aber diesmal zielgerichteter, um Michael, als dieser noch jünger war, vor einem tödlichen Unfall auf einem steilen Straßenstück zu retten – ein Ereignis, das Michael vergessen mußte, damit dieses Minus in Michaels Gedächtnis das Plus des geretteten Lebens ausglich… Schließlich landete er die Untertasse auf dem Swale-Moor; Michaels bevorstehende Ankunft hatte ihn dorthin gezogen. Immer noch waren sexuelle Impulse gegenwärtig, jetzt waren sie auf Michael gerichtet. Er hatte ihm schließlich das Leben geschenkt – indem er ihn rettete. Er konnte sein Bedürfnis, Erkenntnis zu vermitteln, immer noch nur durch Hinweise und emotionale Ausstrahlung mitteilen. Jetzt wurde er dreifach geteilt, sein emotionales Ich in der stummen Luvah mit der zweifachen Hilfe von dem kuriosen Pärchen, mutiert zu schlitzäugigen Wesen aus dem All, die nun behaupteten, von den Plejaden zu sein: sie erzählten Lügen und boten ihre Hilfe an – und stellten zugleich Plus und Minus dar. Hier veränderte er das Leben des Jungen, gab und verletzte gleichzeitig – und setzte eine Abfolge in Gang, die schließlich zu höherem Verständnis führen würde. Der Junge vergaß es – minus –,
sonst wäre sein Leben zu sehr aus der Bahn geraten, um ihn und Deacon jemals zueinander zu bringen. Er flog weg von ihm, über die Wellen des dunklen Moors und dann, im plötzlichen Sonnenlicht, über die Wellen des Meeres; er wirbelte hinauf in die Dunkelheit, um sich zu verbergen… Was war mit den Fremden, denen Michael – im Netzwerk der Ereignisse kürzer zurückliegend – auf demselben Moor begegnen mußte? Was war mit den Gebraudi? Deacon steuerte auf sie zu. Sie waren genausowenig von Eta Cassiopeia, wie Luvah von den Plejaden war, das fühlte er mit Gewißheit. Trotz ihrer Behauptung, auf reinem Wohlwollen mit den ›feindlichen Unidentifizierten‹ der Erde im Kampf zu liegen, mußten sie selbst ein UFO-Ereignis sein. Aber irgendwie konnte er sie im Netzwerk der Ereignisse nicht erreichen. Aber natürlich! Sie mußten notwendigerweise ein UFO-Ereignis höherer Ordnung sein: Eine zweite Strukturebene, die die erste, niedrigere Ebene beeinflußte, sobald diese dabei war, sich in sein eigenes Bewußtsein zu integrieren! Zur gleichen Zeit, als er in die Lage versetzt wurde, in der ersten Ebene zu handeln! Sie waren Teil einer höheren Struktur, die jedoch unzugänglich war. Notwendigerweise mußten sie als von den UFOs der Erde getrennt erscheinen – unerkennbar von ihnen abgeschirmt. Natürlich mußten sie ihre Existenz aufgeben, sobald sie ihre Aufgabe erfüllt hatten. Wer lenkte sie? Wie entstanden sie? Er wußte es nicht. Und würde es auch nie wissen, vermutete er. Sie waren ein höheres Stadium des Unerkennbaren – und es war notwendig, daß es ein solches gab. Als er sie ansteuerte und zugleich erkannte, daß ihr Verschwinden notwendig war, stellte er fest, daß das UFO-Schiff sich nicht mehr in der erdnahen Dunkelheit befand. Es hatte sich von der Erde entfernt und näherte sich
dem Mond. Mit zerstörender Kraft drückte es nach unten. Er breitete seine Arme wie Flügel aus. Das elastische Raumschiff wirkte riesenhaft groß und massiv. Es hatte die Basis der Fremden praktisch schon ausgelöscht, fiel ihm ein – die Erinnerung kam von einer Ereignistangente, die er noch nicht aktiv erkundet hatte, die aber existierte. Jetzt senkte sich das Schiff erneut, um jeden Hinweis auf die Basis auszulöschen. Aber er war ein Zeuge der Basis! Er war selbst auf dem Mond, in dem Thunderbird, und starrte entsetzt auf die Wolke des Unerkannten, die herabkam. Erneut spaltete er sich auf. Er war sowohl über als auch auf dem Mond. Er mußte entfliehen – oder ausgelöscht werden. Im Raumschiff jagte er sich selbst. Und er war in dem davonfliegenden Auto… Wie ›real‹ waren der Mond und die Mondbasis? Wenn Ereignisse in der ›realen‹ Welt sämtlich Gedanken waren – Prozesse, durch die das Universum seine eigene Realität erdachte –, und man es verstand, sich diese Ereignisse als Gedanken vorzustellen; wenn man sich der universalen Gedankenprozesse bewußt wurde und sie vor die ›Ereignisse‹ stellte, die ihre Sprache waren – dann würde die Landschaft der Handlung symbolisch werden: eine ›tatsächliche‹ Landschaft, die Symbole unmittelbar manifestierte – wie Traumbilder, aber nicht in einem individuellen Bewußtsein, sondern öffentlich und kollektiv, so wie der Flug des Thunderbird zum Mond als ›tatsächliches‹ Ereignis erlebt worden war. Es konnte also trügerische Ereignisse geben (die dennoch wirksam waren), eingebildete Landschaften (die trotzdem echt waren), und Phantasiewesen, die in Wirklichkeit symbolische Wesenheiten waren, aber offenbar mit Menschen zusammen handelten… Als das ›Blickpunkt-Ego‹ durch das fremde Schiff und zu der Biomatrix hinaufgeschwebt war, hatte Michael da nach seinen Worten nicht vermutet, in einem höheren, symbolischen
Gedankenprozeß gefangen zu sein, der scheinbare Realität als seine Denkweise benutzte! Und hatte er nicht Angst gehabt, ihn als im Ganzen real zu akzeptieren… denn wie hätte er dann zu der Welt, die er kannte, zurückkehren können? Was war mit dem Schicksal Helen Caprowicz’, die in dieser symbolischen Realität in ihrem Auto zu Tode gequetscht worden war? Deacon hielt an dem Bild des zerstörten Pontiac mit dem herausragenden, zwischen Metallfetzen eingeklemmten Arm fest und erweiterte seine Wahrnehmung des Ereignisnetzwerks, das mit diesem Wagen verbunden war, reichte über die symbolische Realität hinaus zu den EreignisGedanken in der realen Welt… Während er dem fliegenden Thunderbird nachjagte, einem Auto, das über einen Highway raste, der einmal auf der Erde und auch draußen im Weltraum gewesen war, verfolgte er auch einen silberfarbenen Pontiac im Verkehrsstrom. Er sah das Gesicht des Fahrers: eine Frau. Das Kinn vorgeschoben. Braunes Haar, zu einem Bubikopf geschnitten. Sie trug eine alte Wildlederjacke und fuhr über eine Nebenstraße zwischen bewaldeten Hügeln und Bergen, vorbei an Seeuferstädten. Big Moose, zeigte ein Straßenschild an. Sie beschleunigte in einer Kurve, gerade als ein Traktor einen langen Holzanhänger aus einem Waldweg zog. Gefällte Baumstämme blockierten die ganze Fahrbahn. Sie bremste und rutschte unter die Stämme, die Motorhaube des Pontiac war eingeklemmt. Ein Stahlseil riß. Die Holzladung kam ins Rutschen, ein Stamm, dann ein zweiter, rollte auf den Wagen. Glassplitter wurden wie Eiskristalle verstreut. Ein nackter Arm kam aus dem zerstörten Wagen, der Jackenärmel war abgerissen. Die Finger vollzogen eine Greifbewegung und entspannten sich dann. (Aber Helen war nicht tot. An anderer Stelle des Netzwerks sah er sie in einem Klinikbett liegen. Noch weiter, schien sie, warm eingehüllt, auf einem
Schneehügel zu stehen, Hand in Hand mit einem blonden Mann. Sie beobachteten in der arktischen Dunkelheit, wie eine Rakete von einer Abschußrampe flammend in den Himmel jagte und Schneefelder und Tannenwälder erleuchtete…) Das Bild des ausgestreckten Arms verschmolz mit dem gleichen Bild vor dem arktischen Hintergrund des Mondes… und als es verschmolz, verschmolzen zwei Verkehrsströme miteinander; und Deacon näherte sich dem Thunderbird, der in einer Wüste in der Falle saß. Er senkte sich auf den Thunderbird – das Wundergefährt wurde in dieser Gestalt nicht länger gebraucht- um seine Form zu verändern, ihn zu zerquetschen. Er entkam durch das Gesträuch in die Nacht. Erneut jagte und fand er sich selbst; eine einsame Gestalt auf einem dunklen, ausgetrockneten See, als wollte sie übersetzen. Das Schiff schwebte. Mentale Linien trafen zusammen! Und das Schiff sprang vorwärts, von der Nacht ins Tageslicht… Er setzte das Schiff in der Wüste auf. Die Luke öffnete sich weit… in eine normale Welt. Er war sich bewußt, daß ein getrennter Khidr wieder die Kontrollen übernahm. Er überließ Khidr seiner Aufgabe und sprang in das Gesträuch neben einem kegelförmigen Hügel. Im Osten stand die Sonne schon ziemlich hoch. Tief atmete er die würzige Luft ein, als die Untertasse aufstieg und sich rasch seinem Blick entzog. Eigentlich flog sie nicht davon, sondern wurde zu einer Punktquelle, die wieder in die Welt aufgesaugt wurde. Aus ihrer Drehbewegung hatte er beträchtliche Energie aufgenommen. Er konnte nicht umfassend erkennen, die Welt ging also weiter. Ein paar Ameisen rannten durch den Staub, vielleicht nahmen sie ihn durch den Luftzug wahr. Ein Grashüpfer sprang weg. Er blickte auf seine Hand. Das Fleisch war leicht grün gefärbt, als hätte er Pflanzen ausgepreßt. So stand er, wieder in der Welt
zurück, in der Mojave-Wüste. Und die ganze Welt war eine Simulation, eine perfekte Fiktion. Ein Buch, das in Wirklichkeit leer war. Nichts schrieb es, nur das Buch selbst. Und das größte Rätsel war, wie dies so sein konnte. Denn er wußte, wenn er es richtig lesen könnte, würden alle Worte verschwinden.
31
Sie sahen den anderen Helikopter in einem trockenen Flußbett unterhalb eines mit Beifuß bewachsenen, kegelförmigen Hügels. Sie landeten kurz daneben, und Deacon kam gebückt auf sie zu. Shriver streckte die Hand aus, doch Deacon benötigte keine Hilfe. »Sie sehen prächtig aus, John! Gottlob, daß wir Sie gefunden haben. Hier draußen kann man leicht sterben. Unser Auto hat ein paar merkwürdige Dinge unter der Haube.« Deacon machte es sich in dem leeren Sitz bequem. Er grinste. »Ich fühle mich wie Zarathustra – strahlend und stark. Weil… ich es gelöst habe. Oder besser: Es hat sich selbst gelöst – sobald ich meinen Widerstand aufgab und wirklich aufnahmebereit wurde.« »Schade, daß es so schlimm zerstört ist«, fuhr Shriver achtlos fort. »Aber was soll’s, wir haben ja die Überreste.« »Natürlich ist es zerstört«, nickte Deacon. »Sie werden nicht in der Lage sein, irgend etwas zu rekonstruieren.« »So? Abwarten.« Deacon kicherte. »Ich habe gesehen. Ich habe gesehen, was Suzie geängstigt hat und wie Shep den Kopf verlor. Warum Luvah mit Ihnen geschlafen hat, Michael. Warum unsere Fremden diese Gestalt angenommen haben…« »Wollen Sie damit sagen, die Gebraudi konnten kontrollieren, wie wir sie sahen?« fragte Michael ungläubig. »Warum wählten sie dann eine so komische Gestalt?« »Warum nehmen sie einen Ford als Raumschiff?« entgegnete Deacon. »Nun, das war zur Tarnung.«
»Aha, die ganze Geschichte tarnt sich, nicht wahr? Bis hin zu den Histörchen von Tharmon und Companie, die es ablehnten, sich zu offenbaren, weil es ›gegen ihre Moral‹ war… Das war es allerdings! Es war gegen ihre UFO- Natur – Unerkennbarkeit ist alles beherrschender Bestandteil. Ich muß es wissen, ich habe den ganzen Ablauf von innen mitbekommen. Oh, nein, ich fürchte, es gibt keinen Beweis. Die UFO-Realität zeigt sich nur – eine Demonstration ihrer selbst. Ich habe bemerkenswerte Erfahrungen damit.« Mürrisch leckte Michael sich die Lippen. »Was Tharmon und Companie gesagt haben, spielt keine Rolle. Wir wissen, daß sie nicht von den Sternen waren. Sie waren irdische UFO-Wesen. Bastarde, irgendwie: zum Teil gut, zum Teil irreführend. Die Gebraudi haben das gesagt.« Captain Dorris ließ die Zunge durch den Mund wandern. Ein fetter Finger klopfte auf einen fetten Oberschenkel. »Nur weiter, meine Herren, ich bin fasziniert. Ach, übrigens, was sind UFOs eigentlich?« »Wir werden es herausfinden«, schaltete sich Shriver hastig ein. »Zuerst müssen wir diesen Thunderbird untersuchen, um das Werkzeug an die Hand zu bekommen. Wenn wir das Glas und die Haare unter ein Mikroskop legen…« »Werden sie sich als simples Glas und Haare herausstellen«, kündigte Deacon an. »UFO-Ereignisse sind, ipso facto, der Ursache-und-Wirkung-Wissenschaft einfach nicht zugänglich.« »Verdammt, der Thunderbird ist kein UFO!« »Jetzt nicht mehr. Aber eine Zeitlang war er es. Schon fast ein Wunder, daß Sie keinen Ärger mit ›feindlichen‹ UFOs hatten, Michael, als Sie Ihre nächtlichen Ausflüge unternahmen. Unterwegs mit Ihrem Thunderbird-Besenstiel, was?« Deacon lächelte listig. »Sie waren es, der in einem UFO-Zustand war. Hat nicht jemand gesagt, alles sei Bestandteil des gleichen Spektrums? Dieses Spektrum schloß
die Gebraudi ein. UFOs sind eigentlich sehr passend benannt: Es sind Objekte, die unserem Begreifen entfliegen und unidentifiziert werden, sobald ihre Arbeit getan ist. Sie sind unidentifizierte Ereignisse – genau das, was die Gebraudi jetzt sind.« Shriver warf mit ernstem Blick ein: »Überlegen Sie doch, John! Versuchen Sie sich daran zu erinnern, wo wir gewesen sind! Wir haben einen Wagen, der von fremder Wissenschaft umgebaut worden ist – als UFO-Jäger!« »Berichtigung: Wir haben einen Wagen. Genauer einen Haufen Schrott. Was wir vorher hatten, ist völlig verschwunden. Es ist unidentifizierbar geworden. Falls das ein Trost ist, Barry: Das UFO-Programm ist im Grunde ein sehr positives, lebensverbesserndes Programm – deshalb haben die Gebraudi soviel Aufhebens um ihren Altruismus gemacht…« »Helen und Axel haben soviel Aufhebens darum gemacht«, erinnerte Michael Deacon. »Ach ja, sie haben auch ihre Lektion gelernt – zusammen mit ihnen in eine UFO-Symbolrealität eingebunden. Keine Sorge, Helen ist in Sicherheit. Sie hatte einen schrecklichen Unfall, und das ist wirklich bedauerlich. Aber sie wird gesund werden.« »Mann Gottes!« schrie Michael zornig. »Wir haben sie zerquetscht in dem Krater liegen sehen!« »Wir haben etwas gesehen. Ein Abbild. Beim zweiten Mal habe ich alles etwas anders gesehen.« Deacons Augen zwinkerten. »Ich bin dem UFO-Piloten begegnet, Barry. Ich erwähne ungern die kleinen grünen Männchen – aber der Volksmund hat einen klugen Begriff gewählt. Die Araber nennen den Piloten Khidr, den Grünen.« »Aber hören Sie doch«, meinte Shriver barsch. »Die Gebraudi hatten eine echte Ausrüstung, um UFOs festzustellen – funktionierende Geräte.« Deacon hob die Hand. »Die ganze
UFO-›Feindseligkeit‹ hängt mit der schieren Unwissenheit der beteiligten Kräfte zusammen. Wir brauchen nicht zu versuchen, UFOs zu überwinden, wir müssen die Beschränkungen in uns selbst überwinden. Das haben sie auch Ihnen erzählt, Michael. Das wirkliche Ziel ist, sich selbst zu vervollkommnen. Deshalb existiert der Ansporn. Aber Ansporn schmerzt manchmal tatsächlich.« »Ja, wie er den Gebraudi Schmerzen zugefügt hat!« höhnte Shriver. Deacon schüttelte den Kopf. »Das ist alles ausgetilgt. Es wurde aus der Simulation gelöscht.« »Welche ›Simulation‹?« Shriver bewegte ungeduldig den Kopf, als wollte er eine Fliege abschütteln. »Und wir müssen einen der Biosensoren, die Michael installiert hat, in die Hände bekommen.« »Auch sie sind verschwunden.« »Ich fürchte, damit hat er recht«, sagte Michael. »Die Biomatrix auf dem Mond ist außer Betrieb, die Schwingungen von ihr bleiben aus, sie… sie werden verhungern, verrotten.« »Alles hat sich umgekehrt«, bestätigte Deacon. »Es gibt keine netten kausalen Beweise, nur Demonstrationen – und dann wusch, weg sind sie! Man kann ein System nie vollständig in der Terminologie dieses Systems bewerten, Barry. Kurt Gödel hat das in bezug auf das grundlegende Werkzeug der Wissenschaft bewiesen: einfache Arithmetik. Die gleiche Beschränkung gilt in jeder Organisationsordnung des Universums. Systeme werden nur durch höhere Systeme ›bewiesen‹. UFOs können zu unserer Wissenschaft nichts beitragen, da sie Teil einer höheren psychischen Struktur sind.« Shriver erwiderte heftig: »Sie kaufen den Gebraudi also ab, was sie Michael über die Existenz von Hierarchien erzählt haben?«
»Ein großartiger Einfall! Er war zu entdecken – aber nicht zu beweisen. Stellen Sie sich unser Universum als einen großen Wirbel vor, Barry. Das ist, was ich gesehen habe. Das Universum kommt aus einer Leere, in der es kein Subjekt und Objekt, keine Ursache und Wirkung, keine ›Gesetze‹ in unserem Sinne gibt. Sobald es ins Dasein überfließt, ist das Universum eine Ansammlung von Subjekten und Objekten. Jetzt hat es ›Gesetze‹ und eine beherrschende Kausalität. Es besitzt auf der Ebene atomare Partikel Beobachter und Beobachtete. So wird es unvermeidlich Beobachter erschaffen – lebende Zeugen seiner eigenen Existenz, Erkenntnissysteme von immer höherer Komplexität. Denn das sind diese ›Hierarchien‹ in Wirklichkeit. Die Kraft, die höhere Organisation aus niedrigerer entwickelt, ist nichts anderes als diese grundlegende Trennung des Beobachters vom Beobachteten, des Bewußtseins von dem, dessen es bewußt ist. Diese Unzugänglichkeit bildet seine Anziehungskraft! Die Kraft, die Materie, die Spiralen des Wirbels emporzieht, von der Leere in die Leere zurück.« Während er sprach, hatten Deacons Hände kreisförmige Bewegungen in die Luft gezeichnet, eine Röhrenform, die sie dann zusammenfallen ließen. Tom, der Polizeipilot, kicherte, als enthielte dieses Spiel der Hände eine erotische Bedeutung. Einen weiblichen Torso. »Ich habe in diese Leere gesehen, Barry – als das schwarze Ding mich aufgenommen hat. Ich erblickte sie einen Moment lang, bevor ich mich erinnerte, wer ich war. Jene Leere ist schieres Bewußtsein, schiere Bewußtheit: ihrer selbst, ohne andere Inhalte – dort gibt es kein Subjekt und kein Objekt.« »Mit anderen Worten, sie ist Gott.« Shriver seufzte. »Sie haben Gott gesehen.« Dorris’ Finger klopf klopf klopften. Seine Zunge spielte mit Speichel. Fliegen summten auf dem Plexiglas des Helikopters.
Über ihnen flog ein Falke, hing kurze Zeit in der Luft und stieß dann auf die Hügel hinab. »Ich habe das grundlegende Bewußtsein hinter der Realität gesehen. Ich glaube nicht, daß das Wort Gott weiterhilft. Genausowenig wie Ihr Plan zur Jagd auf UFOs weiterhilft. UFOs existieren in den Grenzbereichen der Ebenen der Wirbelspirale. Sie ziehen nach oben durch eine Art Vakuumsaugwirkung – indem sie gegenwärtig, aber unzugänglich sind. Sie sind Abkürzungen über die Realität, sie sind Brücken. Das ganze Universum ist eine Quantenströmung, also besitzt es ganz offensichtlich Undeterminiertheiten. Sie sind Teil dieser Dynamik der ›Unwissenheit‹. Dadurch tauchen die ganze Zeit nichtkausale Daten auf – immer wenn die einzelnen Gehirne, die Bewußtsein vermitteln, in das tiefere Meer tauchen. So kann höhere Organisation niedrigere Organisation aufwärtsziehen. Wir benötigen keine Batterien von UFO-›Detektoren‹, sondern eine Bewußtseins-Wissenschaft: nicht, um das Phänomen in Ursachen und Wirkungen zu zerlegen, sondern um es aus sich heraus zu erkennen! Auf diese Weise lernt man. Mit ihren paar Schnüren und dem bißchen Siegelwachs werden Sie nie ein UFO festnageln.« Der Falke war aus den Hügeln aufgestiegen, etwas Kleines zwischen den Klauen. Tote Beute. Er flog weg, um zu fressen. Shriver verzog das Gesicht. »Sie leiden unter einem Sonnenstich, John. Oder Schock.« »Sehe ich wirklich so aus?« erkundigte Deacon sich sanft. Die Hand, mit der er Khidr berührt hatte, begann jetzt zu schmerzen und zu brennen, als hätte er in einen Brennesselstrauch gefaßt. »Ich habe die gesamte Ereignisfolge noch einmal verfolgt. Aber von einem höheren Blickpunkt aus. Ich selbst war der UFO-Pilot…« »Jetzt habe ich aber genug gehört«, sagte Carl Dorris. Sekunden später funkte die Edwards-Luftwaffenbasis sie an…
»Ich bleibe nicht in dieser gottverdammten Wüste hocken!« fluchte Dorris. »›Projekt Unansehnlich‹ – Was zum Teufel ist das? Unansehnlich ist der richtige Name dafür! Wie viele Steuerdollars –? Mein Gott noch mal, kein Wunder, daß die Russen sich ins Fäustchen lachen.« »Rußland hat auch seine UFO-Probleme«, sagte Shriver schnell. »‘59 haben UFOs über Swerdlowsk Räuber und Gendarm gespielt – dort ist ein Hauptquartier für Mittelstreckenraketen. 24 Stunden lang haben sie mit den MIGs Katz und Maus gespielt. Und vor allem…« »Seien Sie still, Mister. Sie vermiesen mir den Tag.« Wenn Deacon die Ereignisse noch einmal vor sich ablaufen ließ, versuchte er nicht mehr, den Punkt zu fixieren, an dem ihr gemeinsames Erlebnis, das noch Teil der Gesamtheit gewesen war, ›anders‹ geworden war – unzugänglich für rationale Analyse. Diesen Punkt hatte er überwunden. Seine Gedanken waren jetzt anders geordnet. In gewissem Sinne, überlegte er, war er ein Außerirdischer. Er hatte die ganze Fremdheit in sich aufgesaugt, als die Pseudo-Wesen von Eta Cassiopeia ausgetilgt wurden. »Es ist wie eine Lernmaschine, Barry«, sagte er besänftigend. »Eine Kraft, hervorgerufen durch die Natur der Realität. Ihre Essenz ist, daß es außerhalb unserer sich ausweitenden Erkenntnissphäre ständig einen Bereich der Realität geben muß. Nur so kann ein Universum bestehen.« »Komisches Lerngerät – das Menschen verbrennt! Jedermann ängstigt, verwirrt und zerschmettert!« Deacon schaute auf seine Hand. Die Reizung hatte ein erträgliches Maß erreicht, obschon rohes, entzündetes Fleisch zu sehen war. »John, was ist mit Ihrer Hand?«
»Ich habe Khidr berührt. Ich habe nach der Erkenntnis gegriffen.« »Sehen Sie sich einmal die Hand an, Captain! Verbrannt! Gewebeschaden – vielleicht durch Strahlung.« »Quatsch! Das hat er selbst gemacht. Um Eindruck zu schinden.« »Es ist alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen. Ich war im Kraftfeld der Erkenntnis, das ist alles.« »Sie haben den grünen Mann angefaßt und sich den Wundbrand geholt, was?« »Sobald man die Nessel dieser Erkenntnis anfaßt, Barry…« »Sticht man sich!« »Natürlich. Eine Art Kompensationsfaktor. Wenn Sie forschen, verändern Sie sich. Wenn das Ding, das forscht, Teil des erforschten Systems ist, zerstört man die Vollkommenheit – die Ganzheit des Modells. Das Modell ist das, was wir Realität nennen. Man führt zusätzliches Bewußtsein, eine höhere Bewußtheit, ein, folglich muß etwas ausgetilgt werden – wenn man auf derselben Ebene bleibt. Sonst wäre die Realität übervoll. Man nimmt einen Teil des Programms auf, das die ›authentische Welt‹ erhält. Sie blutet aus… einige Daten, die das Leben und die Welt erhalten. Sie werden ausgeblutet und ebenso bereichert.« »UFO-Schweine!« »Wenn wir besser verstehen, wenn wir wirklich wissen, wie das simulierte Sein unseres Universums zu betreten ist, dann werden wir in der Lage sein, es mit Methoden zu handhaben, die einst als magisch gegolten haben. Von daher kommt die Magie hinein! Die ›höhere Wissenschaft der UntertassenMenschen‹ – die natürlich wir sind, Teil unseres kollektiven psychischen Lebens.« Dorris zwängte sich an ihnen vorbei zu einem Stahlkasten mit einem roten Kreuz darauf und holte eine Dose Cola heraus. Er
riß den Verschluß ab, trank und reichte die Dose an Tom weiter. Michael fixierte den Winkel, den der Fuß des Hügels mit dem trockenen Flußbett bildete – ein Wegweiser durch die Erde zu einem anderen Ort. »Ich glaube, wir sind alle verrückt«, sagte er zitternd. »Seit Tagen sind wir verrückt gewesen. Vom Wahnsinn erfaßt. Suzie hatte recht.« »Na endlich mal was Vernünftiges, mein Junge«, grinste Dorris. »Ich… ich komm’ da raus. Gott sei Dank ist alles vorbei. Zerquetscht und zerschmettert. Wir haben das Ding selbst erzeugt. Es war unser Tulpa – so etwas wie kollektive Hexerei. Wir waren nie auf dem Mond. Die Fremden waren nicht echt. Ich weiß nicht, wo wir waren oder welche Kräfte wir freigesetzt haben…« Deacon klopfte ihm mit seiner Khidr-Hand auf den Arm. »Wir waren außerhalb normaler Wahrnehmungsfähigkeit, das ist es. Jetzt sind wir zurückgekehrt. Sie haben recht, im gewöhnlichen Sinn waren wir nicht auf dem Mond – obwohl es dennoch der Mond war.« »Jetzt, wo die Luftwaffe kommt, wollen Sie Ihre Geschichte wohl ändern?« erkundigte Dorris sich. »Ganz und gar nicht«, lachte Shriver. »Was meinen Sie wohl, wer Edwards informiert hat? Ich! Gestern nacht, vom Astro. Edwards ist ein Haupttestzentrum. So eine Geschichte würden sie nicht links liegenlassen. Ich wußte allerdings nicht, daß es dort ein Projekt Unansehnlich gibt! Seltsam. Es muß geheim sein. ›Aus den Augen, aus dem Sinn.‹ Nehmen Sie keine Notiz von den beiden, Captain. Sie sind ausgebrannt. Ihre Sicherung ist durchgeschlagen.«
Als der Cayuse-Helikopter, zerbrechlich wie eine Libelle, über ihnen kreiste, brauchten sie ihn nicht mehr einzuweisen. Beide
Hubschrauber landeten neben dem Autowrack. Ein Major stieg aus, ein wuchtiger Mann mit spärlichem Haarwuchs, Anfang der Vierzig. Er trug eine blau getönte Sonnenbrille; die Augen dahinter waren klein und schweinchenhaft, forschende Augen. Sein Pilot, ein Leutnant Molinelli, fotografierte das Wrack und prüfte es dann mit einem Geigerzähler. »Normale Werte, Sir.« Major Bower stieß mit dem Fuß gegen eins der Räder wie ein Kind, das in einen feuchten Farbklecks trat, um zu beweisen, daß er wirklich feucht war. »Würden Sie bitte die Hand meines Freundes untersuchen?« Shriver zog Deacon nach vorn. Der Leutnant folgte dem Wunsch. »Ebenfalls normal!« sagte er. Er beäugte die Hand, ohne sie zu berühren. »Sieht wie eine allergische Entzündung aus. Giftiger Efeu? Hier wohl nicht. Könnte sich aber um eine Pflanze handeln.« Major Bower steckte ein Zigarillo an. »Dann erzählen Sie uns mal Ihre Geschichte, meine Herren.« Der Leutnant holte einen Recorder hervor. Die Sonne war inzwischen ziemlich heiß. Staubteufelchen tanzten. Major Bower schien von der Hitze unbeeindruckt. Auch Deacon spürte sie nicht: Er war voller Energie. Er hörte nicht zu, als Shriver sprach, sondern suchte den kleinen Kaktus, den er am Abend vorher studiert hatte. Er war noch da. Stumm setzte er seine Existenz fort, erhielt seine eigene Realität. So wie ein Stein, so wie der weiteste Stern. Doch das war nicht ganz zutreffend, überlegte Deacon. Ein Stein und ein Stern waren keine wirklich losgelösten Wesenheiten, sie waren keine vereinzelten Stätten des Seins. Stetig verschwanden in ihnen Partikel und traten aus der Leere ins Sein. Photonen von dem Stern trafen auf den Stein. Der Kaktus nahm Sonnenlicht auf und atmete Sauerstoff für tierisches Leben aus, welches sich Kaktusfrüchte und anderes tierisches Leben als Nahrung einverleibte und mineralischen Dünger für die Pflanzen im
Erdboden ausschied, während Körperzellen abgestoßen und neue aufgebaut wurden. Ein Kreislauf der Materie… Wie definierte man eine ›Wesenheit‹? War sie eine einzelne Körperzelle oder der ganze Körper? Oder war sie die gesamte Ökologie, von der dieser Körper ein Teil war? Wo zog man die Grenze? War der Stein ein einzelnes Objekt – oder die Atome, aus denen er bestand? Oder der viel größere Felsen, aus dem er gebrochen sein mußte? Oder die gesamte umgebende Wüste? Wann wurde ein Stein zu klein, um ein Stein zu sein? Auch das war gewiß die Botschaft der ›Gebraudi‹ mit ihrem Gerede über planetares Gesamtleben: Ein Mensch zog die Grenze an diesem oder jenem Punkt, aber in Wirklichkeit war das ziemlich willkürlich. In Wirklichkeit waren alle ›einzelnen‹ Wesenheiten und Objekte in der Welt eher die Amplitudenspitzen entlang einer stetigen Linie des Steins. Und auf diese Weise war die Welt dual: Sie war stetig – aber auch voller einzelner Objekte von unzählig vielen höheren und niedrigeren Blickpunkten. Ebensowenig war das Bewußtsein, das in all diesen einzelnen Blickpunkten vorhanden war, so vielfältig und einzeln, wie es schien. Es war vielmehr eins und stetig – aber mit unzählig vielen Amplitudenspitzen, den Resonanzen individueller Wesen, die jedes ein einmaliges Energiemuster besaßen, sein Muster persönlicher Bewußtheit. Bewußtheit war individuell für die Individuen – aber ebenso war es stetig. Und da es stetig war, hatte es teil am ursprünglichen Leere-Bewußtsein, aus dem es wirbelnd hervorgegangen war. So war es in dem tieferen Kontinuum des Bewußtseins des ›Nichts‹ verwurzelt, ein Kontinuum, das existierte, bevor und nachdem das Universum die Gipfelpunkte aller seiner einzelnen Objekte und Seinsformen bildete. Den Mechanismus der Vereinzelung hatte er bereits in dem Strudel gesehen. Er war Blickpunkt, Beobachter und Beobachteter, und führte unvermeidlich zum Bewußtsein
einzelner Intelligenzen. Das Potential für vereinzeltes Bewußtsein war in der grundlegenden Natur der Realität – der Natur von Subjekt-Objekt, Ursache-Wirkung – verankert. Und all diese vereinzelten, ›individuellen‹ Brennpunkte der Bewußtheit, die Existenz der einzelnen Wesenheiten, die es gab, verhinderten, daß das Universum sich selbst erkannte und verschwand, solange sie existierten. Deacon starrte weiter auf den kleinen Kaktus, seine Augen waren an die Stacheln geheftet, während Shriver seine Geschichte von den Fremden erzählte, die zur Erde gekommen waren, um sie zu heilen… Captain Dorris schwitzte heftig. Schließlich holte er ein glänzendes Waffenmagazin heraus, um sich zu zerstreuen. Nach einiger Zeit setzte Michael sich schwerfällig nieder. Er haßte den Major und seine Vernehmungsmethoden – bei dieser Hitze eine unerträgliche Belastung. Wie mittelalterlich, die Wahnsinnigen zu foltern…! »Major Bower«, sagte Shriver. »Ich habe noch nie etwas von einem Projekt Unansehnlich gehört, und eigentlich müßte ich das, weil ich mich für solche Sachen interessiere.« »Hab’ ich mir gedacht.« »Was bedeutet der Name? Bedeutet er, daß sie tatsächlich etwas wissen, es aber geheimhalten? Ich war 1954 in Muroc, Major – als Pilot. Was ich dort gesehen habe…« Shriver erzählte von Eisenhower und von der Landung. Der Major wirkte mehr und mehr belustigt. »‘54 ist in Edwards nichts passiert«, sagte der Major, nachdem er Shriver angehört hatte. »Fünf Untertassen sind gelandet? Das ist mir neu.« »Es waren in Wirklichkeit keine außerirdischen Untertassen, verstehen Sie?« flehte Shriver. »Sie waren Projektionen des Weltgeists. Die wirklichen Fremden haben erklärt…« »Vielleicht haben Sie ‘54 ein paar Lichter am Himmel gesehen. Ich kann nicht bestätigen, daß Fliegende Untertassen…«
»Keine Fliegenden Untertassen im technischen Sinne! Aber nichtsdestotrotz Phänomene, die entdeckt und nutzbar gemacht werden können, wenn man die fremde Wissenschaft verwendet! Die Wrackteile auf dem Mond warten nur auf uns.« »Mr. Shriver, wenn vor zwanzig Jahren Untertassen in einer US-Luftwaffenbasis gelandet wären, sähe die Welt dann heute nicht anders aus? Projekt Unansehnlich? Eine zweitrangige Geschichte. Und eigentlich immer noch im Teststadium. Wir überprüfen hier und da, überall im Land ein paar Fälle, um die Kosten abzuschätzen. Ich nehme an, man könnte es eine politische Sache nennen. Wahlversprechungen. Der Präsident hatte gesagt, er würde die Papiere auf den Tisch legen. Wir konzentrieren uns auf Augenzeugen genausogut wie auf das, was sie beobachtet haben.« »Jedenfalls ist das eine Verbesserung gegenüber Blaubuch! Aber dieser Fall ist anders. Wir haben hier ein Auto, das zu einem echten Raumschiff umgebaut wurde.« »Eine psychologische Annäherung«, lächelte Major Bower. »Etwas Neues. Wenn wir uns entscheiden, weiterzugehen, werden wir gewiß kein Geheimnis daraus machen. Aber erst ankündigen und dann abbrechen, weil es nicht praktikabel ist? Niemand würde uns glauben. Gebranntes Kind scheut das Feuer. In der Vergangenheit hat es wegen der ganzen Geschichte genug Verrücktheiten gegeben.« Der Major trat auf den Zigarillostummel und löschte die Glut neben Deacons Kaktus. Der Major log. Shriver wußte es. Irgend etwas ging da vor. Eine neue Organisation war aufgebaut worden. »Wir können Sie alle drei in den Cayuse packen. Er ist nur für vier gebaut, wir müssen ein wenig zusammenrücken. Wir würden uns gern in Edwards etwas ausführlicher mit Ihnen
unterhalten. Vielleicht kann unser Psychologe ein paar Tests durchführen.« Ein Psychiater. Weil sie verrückt waren, dachte Michael. Das neue Projekt war eingerichtet worden, um Geisteskrankheiten zu studieren. »Unansehnlich ist also in Edwards angesiedelt?« »Nein, wir sind in Colorado. Edwards hat Ihre Information weitergeleitet. Ich bin in der Nacht hingeflogen. Es klang einigermaßen vielversprechend.« »Wir waren wirklich schnell an Ort und Stelle«, grinste Molinelli. »Sie sind in Boulder stationiert? Wo das CondonKomittee…?« Major Bower schüttelte den Kopf. »Wir sind in der Nähe von Colorado Springs, an der Luftwaffenakademie. Sehen Sie: keine Geheimnisse.« »Was passiert mit dem Wagen?« »Ach, wir verständigen einen Chinook, der das Wrack wegschleppt. Man muß die Wüste sauberhalten. Ich bin ein großer Anhänger der Ökologie.« »Sie sagten eben, das neue Programm wäre psychologisch. Wenn das so ist, wozu brauchen Sie dann das Auto?« »Es gehört zu Ihrer Geschichte, oder? Ein materieller Beleg.« »Einen Moment mal, Major«, schaltete sich Captain Dorris ein. »Das Auto wurde gestohlen. Das ist eine Angelegenheit der Polizei.« Major Bower nahm den Captain beiseite und redete eine Weile auf ihn ein. »Es ist Hilfe«, flüsterte Deacon. »Erkennen Sie das nicht? Karama.« Shriver schüttelte enttäuscht den Kopf. Er wußte es, und die Luftwaffe wußte es. Sie würden ihm den Thunderbird wegnehmen, und eine andere Lösung gab es nicht. Hinter Major Bower und dem Piloten in den Cayuse gezwängt, flogen sie bald über das heiße Ödland nach Nordwesten zur Edwards-Basis.
32
Die Tanzkapelle der Luftwaffenakademie, »The Falconaires«, saß unter dem Coloradohimmel in der Sonne und probte Dixie auf Saxophon, Posaune, Harmonium, Trompete und Schlagzeug. Über ihnen stand, die Flügel gespreizt, ein roh modellierter Bronzeadler auf einer Granitsäulenleiste. Fontänen stiegen aus einem Graben dahinter. Das Wasser umgab eine kleine Betonfläche, auf der ein kleines weißes Flugzeug aufgestellt war. Major Bower hielt inne, um eine Zeitlang voller Nostalgie zuzuhören. Er hatte vor Jahren, als er selbst in dieser Band war, die Trompete gespielt. Als eine Gruppe Kadetten vorbeimarschierte, wanderte sein Blick zu den Turmspitzen der Kapelle, jenen siebzehn kompakten, zum Himmel gerichteten Flügeln. Dahinter stiegen tannenbestandene Hügel zu den schneebedeckten Berggipfeln auf… Unter dem Adlerschnabel war eine Inschrift in die Leiste graviert. Des Menschen Flug durchs Leben wird ermöglicht durch die Kraft seiner Erkenntnis Das Motto war für ihn schon immer dagewesen, aber eher als sachliche Gegebenheit denn als Text, den man lesen konnte. Doch jetzt blickte er zurück, um die Worte zu lesen und über sie nachzudenken. Sie hatten eine Menge über Erkenntnis geredet, die drei! Zumindest die beiden älteren. Über fremdes
Wissen, das auf dem Mond verstreut lag… und okkulte Erkenntnis… Der Junge hatte schon bald begonnen, alles zu leugnen. Zufrieden tätschelte er seine Aktenmappe und ging hinüber zum Eingang der Fairchild Hall, dem Gebäude der Akademie. Der dritte Stock beherbergte die Verhaltenswissenschaften. Er ging zum Büro des Ständigen Professors und Leiters der Abteilung, klopfte und salutierte vor Colonel Paul E. Coleman. In dem Raum befanden sich auch Honorarprofessor Lt. Col. Walter ›White‹ Sands und der außerordentliche Professor Major Leland Fischer. Im Osten, jenseits des Eisenhower-Golfgeländes, waren zwei silberne Hochleistungssegler zu sehen, die in thermischem Wind aufstiegen und ruhig über dem Falcon-Stadion ihre Spiralen zogen. Als die beiden ins Sonnenlicht drehten, schienen sie ständig ihre Form zu verändern – wurden Bumerangs, Lichtrauten und dann wieder träge Flugzeuge –, als würde der eine Segler Masse an den anderen verlieren und sie nach einer halben Drehung wiedergewinnen. »Ich bin immer noch besorgt«, wandte Sands ein, »daß Unansehnlich mit der Akademie in Verbindung gebracht wird. Unser Auftrag besteht darin, Kadetten mit dem Rüstzeug für eine Offizierskarriere auszustatten, basta! Entweder der Beratungsausschuß oder die Inspizienten werden Krach schlagen. Wir müßten die Zahl qualifizierter Minderheitskandidaten anheben, et cetera.« »Einige hundert Fakultätsmitglieder praktizierten bereits fortgeschrittene Forschung, White«, sagte Colonel Coleman. »Man erwartet das. Die akademische Elite der Luftwaffe ist hier – ihre Speerspitze. Außerdem wird das nur die öffentlich sichtbare Seite von Unansehnlich sein, das wissen Sie.« »Es ist wie der Aufbau eines neuen Waffensystems. Es ist nicht unser Auftrag.«
»Aber gewiß doch. Es ist ein intellektuelles Problem, keins für Hammer und Zange. Ich bin sicher, wir tun das Richtige. Jedenfalls sieht es der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses so…« »Weil er selbst ein UFO gesehen hat!« »… und das gibt uns Rückendeckung. Und der Oberbefehlshaber Europas unterstützt es auch. Damit ist der Beratungsausschuß schon eingebunden.« »Es ist auch ein Ausbildungsproblem«, nickte Bower. »In einem sehr handfesten Sinn.« »Für noch zweifelhafter halte ich das Vorgehen, es in den Unterricht einzubeziehen – selbst im vierten Jahr oder vor examinierten Studenten!« Bower suchte in seiner Aktenmappe. »White, es wird unter Verh. Forsch. 480 zusammen mit Psychologischer Kriegführung stehen, und Verh. Forsch. 495, Psychologische Operation. Glauben Sie mir, es gehört dazu. Es steckt in den Köpfen der Masse: ein Bild tiefer Unzufriedenheit, tiefer Hoffnungen und Ängste. Wir müssen es besser in den Griff kriegen, als es Blaubuch jemals gelungen ist. Es verschwindet nicht – sollen wir da den Vogel Strauß spielen? Wir brauchen in höheren Rängen eine bewußte Einstellung zu diesen Dingen. Was hat es für einen Zweck, über Psychologische Kriegführung zu reden und dieser Form der Psychologischen Kriegführung gegenüber, die in uns selbst schon stattfindet, blind zu sein? Ich werde Ihnen vom letzten Fall berichten, eine wirklich irre Geschichte…« »… der Junge zeigte also eindeutige neurotische Symptome – sexuell un-angepaßt, richtig? Und unser Expilot Shriver litt unter einem rückwärts gerichteten Wahnsyndrom – Kriegstrauma, Schuldgefühle, Ablehnung und Angst, virulent geworden durch den Verlust eines starken Vater-Schutzes, nämlich seiner Rolle als Pilot. Er verlor sein ganzes Rollengefühl, als sein Vater bei einem Autounfall getötet
wurde. Merken Sie, schon wieder schleicht sich ein Auto als Rettungsmechanismus ein. Der britische Professor Deacon schien der am normalsten ausgerichtete zu sein, wenn man zugrunde legt, daß er in einem äußersten Grenzbereich der Psychologie arbeitet.« »Was ist mit dem Wagen?« fragte ›White‹ Sands. »Ach ja, natürlich reiner Blödsinn! Man hatte es zu einer Art MüllkultObjekt gemacht. Eine Pferdehaarmatratze und anderer Abfall wurde in den Motorraum gestopft. Gerümpel jeder Art.« »Sie hatten wohl kaum die Zeit, an dem Wagen herumzupfuschen, oder?« »Während ihrer ›Erlebnisse‹ hatten sie alle einen drastischen Black-out. Der gute Professor beschreibt das als ›Verlassen normaler Wahrnehmungsfähigkeit‹. Lächeln Sie nicht, das ist eine gute Beschreibung. Gemeinsam stellten sie ein paar seltsame Streiche an. Ich persönlich glaube, der Wagen wurde für eine Spritztour gestohlen, und sie fanden ihn zufällig, als sie sich in diesem Zustand befanden. Irgend jemand hat ihn zu Schrott gemacht. Den Motor ausgeschlachtet, den Wagen als Mülleimer benutzt, in eine Schrottpresse gesteckt und ihn dann einfach stehenlassen. Vergessen Sie nicht, daß Shriver, unser UFO-Fan, auf einer Art Pilgerfahrt nach Edwards, dem ursprünglichen Ort seines Wahnsyndroms, war. Draußen in Adamskis Wüste! Ich halte es nicht für Zufall, daß sie alle dort auftauchten. Als sie den Schrottwagen fanden, während sie schon in höchst abnormaler Geistesverfassung waren, setzte dieser Mondflugwahn ein. Natürlich gibt es nicht den kleinsten Hinweis, daß jemand anders als die drei den Wagen jemals in England gesehen hat.« »Sie scheinen ziemlich schnell von London in die Mojave gelangt zu sein«, merkte Major Fischer an. »Ohne Papiere!« »Offenbar sind sie zum LA International geflogen und haben dann eine günstige Verbindung mit dem Greyhound oder so
bekommen. Die Zeit dazu hatten sie. Oder sie sind nach Las Vegas geflogen, um auf dieser Seite von Edwards zu sein. Nach der Mittagszeit hat sie an dem Tag, an dem sie- nach ihrem eigenen Eingeständnis – ›abhoben‹, niemand mehr gesehen, obwohl sie schwören, daß sie erst am Abend aufgebrochen sind. Greenwichzeit. Ein recht knapper Zeitplan – aber es ist möglich. Unser Professor Deacon hat den Trick schon einmal durchgespielt – auf genauso ›unerklärliche‹ Weise ist er mit dem Flugzeug nach Ägypten geflogen. Und Shriver war geistig auf die Mojave fixiert. Psychisch haben sie zusammengearbeitet – und eine dreifache folie geschaffen. Ziemlich verdreht, wie ich zugeben muß, aber nicht viel verdrehter als eine Menge sogenannter UFO-Ereignisse.« »Sind Sie sicher, daß sie das nicht wissen?« fragte Fischer. »Unser Psychiater in Edwards wollte sie unter Hypnose befragen, aber der Junge wurde hysterisch. Der Professor hatte eine großartige Ausrede; es hatte was mit dem ›Geist der Leere‹ und ›Scherzen‹ zu tun. Shriver hatte einen Wutausbruch, weil wir den Wagen in Gewahrsam genommen hatten. Sie hätten uns ohnehin nur erzählt, was sie glaubten.« »Eins muß ich sagen: Das schlägt Flugzeugentführungen um Längen.« »Eine nette Analogie, Leland. In vielerlei Hinsicht sind Entführungen eine Art geistiger Epidemie. Menschen, die sich sonst nie so verhalten hätten, werden durch Berichte über Entführungen dazu angeregt. Genau wie potentielle Selbstmörder durch Bilder von Autounfällen im Fernsehen angeregt werden. Ähnlich ist es mit dem UFO-Getue. Wir sind nicht ganz so bewußt und rational, wie wir glauben. Es ist eine traurige Wahrheit, daß der Großteil der Bevölkerung auf die eine oder andere Art falsch angepaßt ist. Unter der Oberflächentünche gibt es eine tiefliegende Irrationalität. Psychologischer Krieg? Wie gesagt, die Gesellschaft führt ihn
gegen sich selbst! Wir müssen diese irrationalen Kräfte verstehen. Wir müssen sie diagnostizieren und uns in die Lage versetzen, sie zu benutzen. Was halten wir von ›Des Menschen Flug durchs Leben‹, wenn eine Flugzeugbesatzung bei einem Einsatz in diesen Zustand des ›UFO-Bewußtseins‹ tritt? Oder, was Gott verhüten möge, Astronauten? Offenbar ist es im Kopf vieler Menschen ein sehr einflußreicher psychischer Faktor. Eines Tages ist es vielleicht notwendig, diese Kräfte zu nutzen, beispielsweise zur nationalen Motivierung, oder im Ausland. Die Russen sind nicht aus Spaß mit psychischer Forschung und UFOs beschäftigt.« »Soweit die verborgene Seite von Unansehnlich«, nickte Colonel Coleman. »Und der Professor und der Junge sind nach England zurückgebracht worden?« »Die beste Lösung. Die Einwanderungsbehörden haben dafür gesorgt. Zwei illegale Ausländer.« Bower kicherte. »Unser Professor hat uns erzählt, er fühle sich wie ein Fremder. Da hat er verdammt recht! Dieser Shriver ist immer noch ein zäher Bursche. Er glaubt, es würde alles geheimgehalten – die alten Verrücktheiten. Wir haben versucht, ihm klarzumachen, daß der Wagen ein Schrotthaufen ist, aber glauben Sie, er wollte zuhören? Ich schätze, in den Zeitungen wird eine Menge Unsinn darüber stehen. Aber das erledigt sich, natürlich, von selbst: Niemand fährt mit einem Auto zum Mond. Aus der Sicht von Unansehnlich erwarte ich die Entwicklung – allerdings mit einigem Interesse.« In dem Aufwind über dem Falcon-Stadion wechselten die beiden Segler erneut die Form. Sie schwollen an und wurden kleiner, schwollen wieder an und wurden wieder kleiner. Als sie schließlich die Spitze der Thermik erreichten, waren sie gleich groß und schwebten nach Westen davon, über die Wohnbezirke von Douglas Valley auf die Berge zu…
Fünfter Teil
33
Suzie wartete hinter der Sperre, ihr Haar war wie eine knisternde Flamme. Sie trug Jeans, eine schwarze Nadelstreifenjacke, weiße Rüschenbluse und ein grünes, um den Hals geschlungenes Tuch. Sie lächelte und winkte. Sie hüpfte auf und ab. Michael bahnte sich seinen Weg durch die Mengen von Urlaubern, die Koffer und Kinder mit sich schleppten. Der Lokführer saß hoch oben in seiner Lok und sah uninteressiert hinab. Licht drang gefiltert durch Glasdach und Qualm. Sie tauschten einen schnellen Kuß. Suzie drückte ihn fest an sich, dann zog sie ihn durch das schwarze Steingewölbe in die frische Seeluft hinaus, die in diesem Juni eher beißend und reinigend als kalt war. »Wir haben es hinter uns!« lachte sie. »Du auch, Mike. Ich bin so glücklich!« »Ja, ich habe es hinter mir.« Anders als John und Barry, dachte er. Möwen kreischten über ihren Köpfen und schossen auf die blauen Schieferdächer der Gasthäuser hinab. Fenster mit Spitzengardinen, Treppen und Mauerwerk bildeten unruhige Kontraste, verschnörkelte Straßenlaternen waren frisch in Weiß und Blau gestrichen. Die Welt war neu, erfrischt. Er begann sogar, eine Trittleiter auf dem Karren eines Fensterputzers zu bewundern, bis er sich klarmachte, daß er Karren und Trittleitern früher schon gesehen hatte. In einem kleinen Park tummelten sich kleine Jungen zwischen Begonienbeeten um den ausgebesserten Rand eines Teichbeckens und fingen Stichlinge mit Netzen, die sie an Bambusstangen befestigt hatten. Die Sonne schien durch das gerundete Glas ihrer Marmeladengläser in einen Brennpunkt, die winzigen Fische schwammen, nach Luft schnappend, an
die Oberfläche. Er sah alles wie durch ein Vergrößerungsglas, eine vergrößerte Realität – jeder Fisch, jedes Blütenblatt. »Es war Wahnsinn«, stimmte er zu. »Eine Art gemeinsamer Psychose, die ihre Saugarme wie ein Oktopus ausstreckte und uns alle hineinzog. Jetzt ist es fort, ist alles vorüber.« Für uns beide jedenfalls. »Ich habe in letzter Zeit viel über Wirtschaftspsychologie gelesen.« »Ja, das hast du geschrieben.« »Ich möchte gern einen soliden, nüchternen Beruf. Wenn ich nach dieser ganzen Geschichte noch ein Diplom bekomme.« »Im Moment macht mir das gar keine Sorgen. Ich könnte das Jahr ab Oktober wiederholen.« Sie grinste. »Oder auch nicht. Zur Zeit habe ich genug damit zu tun, glücklich zu sein. Meine Gesundheit zu genießen. Mein Gott, nicht mehr von Alpträumen gequält zu werden! Ich kann dieses Glück wie einen physischen Gegenstand spüren – das Glück, gesund und lebendig zu sein! Ich kann es genau so spüren wie das Pflaster unter meinen Füßen. Spürst du das Pflaster mit jedem deiner Schritte?« Die Häuserreihe führte zur Esplanade, die die weißen Strände von Bean Head nach Süden hin in einem Bogen umschloß. Dahinter der weiße Stummel eines Leuchtturms und wellige Grasdünen – Sandstufen, von denen Sandstairs seinen Namen hatte. Weiter nördlich lag das alte Fischerdorf Liddle Bay, heutzutage vor allem ein Treffpunkt für Wohnwagenbesitzer. Die Promenade wurde von einem Gebäude beherrscht, das wie ein gestrandeter Wal wirkte oder ein mit Zement verankerter Zeppelin. Auf ebener Erde enthielt es Vergnügungssalons, Souvenirläden, Cafés und dahinter eine Eishalle und eine Bowlingbahn. An den Enden dieses Pseudopalasts ragten Glockentürmchen ohne Glocken hoch, die an eine Kathedrale erinnerten. Die offene Rollschuhbahn dahinter lag unter angewehtem Sand, den ein kleiner Bulldozer zurück zum Strand beförderte. Ein Traktor zog eine Art Kelle
hinter sich her und durchsiebte den Sand nach Scherben und anderen Abfällen. Real. Real. »Außerhalb des Colleges bist du im Moment besser dran«, sagte Michael. »Es ist ganz schön peinlich. Reporter sind aufgetaucht, sogar ein paar Amerikaner und Franzosen – und ein japanischer Typ war da. Dieser beknackte Shriver! Und natürlich die UFO-Spinner. Eine Horde vom Fernsehen wollte eine hübsche kleine dokumentarische Rekonstruktion durchführen. Deshalb habe ich mich an diesem Wochenende dünnegemacht. Jedenfalls ist das ein Grund. Ein unwesentlicher. Der Hauptgrund…« er lächelte sie an. Zwei schnupfäugige Rentner beobachteten sie desinteressiert aus einem Bus-Wartehäuschen, als sie die Esplanade überquerten. Neben dem Häuschen stand der hellrot gestrichene Blutstropfen einer deutschen Mine aus dem Krieg auf einem Sockel. Kinder ließen Pennies hineinfallen, indem sie sich an den Dornen des Sprengkörpers festhielten. Real. Salzrost bildete unter dem frischen weißen Anstrich der Geländer kleine Klumpen. Grasstreifen führten zum Strand unter ihnen. Ein schwarzer Felskeil ragte aus dem Sand hoch. Die Felsen erstreckten sich in langen Platten ins Meer, auf ihnen ein in Beton eingemauertes Abflußrohr. Gläserne Wellenspitzen schlugen gegen die Felsen, stürzten in Spalten und Klüfte des Felsgesteins, gischteten hoch und ließen einen farbigen Schimmer zurück. Er starrte aufs Meer hinaus, wo das strömende Wasser seine Konturen unentwegt und unendlich veränderte, ohne jemals eine fest umrissene Form anzunehmen. Ein Gefühl unbeschränkter Möglichkeiten, die sich in alle Richtungen öffneten, war das Geschenk des Meeres. Deshalb kamen die Menschen hierher. Aber es besaß keinen Willen, kein ObjektBewußtsein, um die eine Möglichkeit den anderen vorzuziehen. Es war schiere Möglichkeit – ein ganzes Meer.
Das Meer schien nichts als Muskel zu sein: in Ruhe, in Bewegung, anschwellend, sich kräuselnd. Es glänzte wie ein eingeölter Ringer. Reine Muskeln ohne einen einzigen Knochen in seinem Körper, aber stärker, als wenn Knochen seine Bewegungen lenkten. Er sah zu, wie diese Muskelebene mit dem zerfressenen Rand dünner wurde, als sie den Strand hinauffloß, und dicker, wenn sie wieder zurückglitt. Menschen standen – eine unglaubliche Vorstellung – bis zu den Hüften in diesem Muskel, stürzten sich sogar kopfüber hinein, ohne die unendliche Scheibe dieses Gewebes zu beachten. »Ein Nervenzusammenbruch«, murmelte er. »Irgendwie existierte er dort draußen, nicht nur in meinem Kopf. Kollektiv für uns alle. Ein Zusammenbruch rationaler Verbindungen, der Verknüpfungen zwischen den Ereignissen – zwischen Ursache und Wirkung. Auch die Verknüpfungen zwischen Menschen waren betroffen: zu meinen Eltern, zu dir. Das war das Schlimmste. Geistige Gesundheit – die Struktur der Realität – nutzte sich ab. Ich würde sagen, es war wie eine Massenhysterie, eine Art kollektiver irrationaler Erscheinung – Nazismus auf einer niederen Rangstufe – in dieser kleinen Seifenblase unseres Lebens…« Der Anblick des Meeres beruhigte ihn. Seine Augen wanderten zum Horizont und blieben auf der gewölbten Linie dort draußen ruhen: sichtbarer Beweis der Gestaltung und Begrenzung der Welt, eine Rationalität, die die stets neu wachsenden Muskeln des Meeres einband. Eine Rauchfahne von einem hinter dem Horizont verborgenen Schiff trieb ganz langsam nach Süden. Suzie lehnte sich über das Geländer. Ihre Jacke stand offen, unter dem dünnen Stoff ihrer Bluse bemerkte er zwei feste Fäden, die bisher unter den Rüschen verborgen geblieben waren. Mit den Fingern unter ihr Halstuch fahrend, zog er ein kleines Silberkreuz hervor. »Ich dachte, du…?«
»Ich habe einen Teufel gesehen«, lächelte sie unbekümmert, »also gibt es vielleicht einen Gott, wer weiß das schon? Es ist nur ein Amulett, Mike, ein Talisman. Ich trage es, um meiner Mutter eine Freude zu machen. Sie denkt über nervöse… Verstimmungen immer noch ein wenig abergläubisch.« Er ließ das Kettchen wieder zurückgleiten. »Verglichen mit der Festigkeit dieses Pflasters oder dieses Geländers bedeutet es mir nicht viel!« Ihre Knöchel schlossen sich um das Metall. Ein Lackfetzen schuppte sich unter ihrem Fingernagel ab und legte den Rost darunter bloß. »Siehst du, das ist real… Hübsch, gut und solide. Das Kreuz ist nur ein Spielzeug – eine versilberte Kindheitslaune. Etwas von früher. Mir wäre wirklich lieber, es gäbe keinen Gott, Mike. Nur die Welt, sonst nichts. Genug! Mach dir keine Sorgen, ich werde keine Nonne. ›Alles ist klar und schön‹«, sang sie, »›es gibt sie, du kannst sie seh’n.‹ Schau, dort unten!« Ein Hund rannte in Kreisen um einen Mann, sprang an der Leine hoch, die er wie eine Peitsche schlug. Ein Hund – oder war es ein Löwe? Mit seiner weißen Mähne, den löwengleichen Flanken, der Wespentaille, dem festen, nackten, schmalen Hinterteil? Sein Herrchen hatte ihn von der Hüfte abwärts geschoren, um eine Löwenmähne um Brust und Hals wachsen zu lassen. Hüfte, Schenkel und Hinterteil glänzten glatt in der Sonne. Vielleicht war er erst an diesem Morgen von dem Löwenbändiger geschoren worden. Der Mann ließ die Peitsche knallen, ließ seinen weißen, schmalhüftigen Löwen um sich herumhetzen, springen und knurren. Verliebt in den weißen Löwen, versetzte er ihm einen Schlag auf die nackte Flanke, so daß er in die leuchtenden Wellen der Flut rannte und einen Sprühregen aus Elektrizität hervorrief. Springende Lichter, elektrische Funken, weiße muskulöse Hüften. Der Mann warf sich in die Brust, lachte und lachte mit dem riesigen Pudel.
»Und daß es sie gibt«, sagte sie entschlossen, »steht außer Frage.« Suzie trat heftig mit dem Fuß gegen die untere Geländerstange; und Michael fuhr zurück – ihm fiel eine andere Szene ein… ein Vorfall außerhalb der Zeit, außerhalb von Ursachen. Helen Caprowicz gehörte dazu, die vielleicht bei einem Autounfall irgendwo in der Nähe von New York gestorben war – deren Leben und deren Tod er, gemeinsam mit anderen, irgendwo draußen geträumt hatte. Das Meer schluckte die Erinnerung. Es war nur ein unwahrscheinlicher Vorfall, ein Vorfall, der nur tendenziell existiert hatte und nun ziemlich unwahrscheinlich geworden war. »Wenn sie zu existieren aufhören, werden sie zu Erde, Gras und anderen herrlichen Dingen«, fügte sie hinzu. Der Löwenbändiger hob den linken Arm, um auf seine Armbanduhr zu schauen. Er pfiff nach dem Hund, wandte sich um und ging vom Strand weg auf eine Steintreppe zu. Als er den feuchten Sand hinter sich ließ und über weichere Erde schritt, wurden seine Schritte mühsamer, seine Bewegungen schleppender. Er setzte sich auf die unterste Treppenstufe, um seine Schuhe zu leeren. Er wirkte jetzt entmutigt, als wären die Freude und die Energie, die er noch vor wenigen Sekunden gezeigt hatte, durch seine Fußsohlen entschwunden. Der weiße Löwe schien unbeeindruckt. Er tollte immer noch herum und ließ den Sand auf die gleiche elektrische Weise aufspritzen, auf die er eben noch die Sprühregen erzeugt hatte. Aber jetzt, da sein Besitzer kapituliert hatte, war er nur noch ein übergroßer Pudel mit bloßen zitternden Flanken und einer zottigen, bizarren Mähne… »Gehen wir in die Spielhalle«, schlug sie vor.
Sie fütterten Spielautomaten in den Räumen des weißen Zeppelin. Sie bezahlten einen lachenden Matrosen in einem
Glaskasten dafür, daß er hin und her schwankte und sie anlachte. Den Daumen auf dem roten Knopf eines Periskops, feuerten sie orangefarbene Torpedostreifen auf Handelsschiffe, die von Insel zu Insel fuhren. Auf dem Hintergrundhimmel leuchteten klingend rote Vulkane auf, um die Zerstörung eines Schiffes zu signalisieren. Sie führten einen Kran über eine sich drehende Schatzinsel mit kleinen Gewinnen, Ringen und ausgetrockneten Zigaretten und versuchten, den an einen Holzwürfel gesteckten Geldschein zu greifen; statt dessen packten sie eine Zigarette. Obwohl sie schal schmeckte und der Tabak herausrieselte, rauchten sie sie abwechselnd. Sie wagten sich ins Rummelhaus. Holzböden hoben und senkten sich unter ihren Füßen, als mechanische Muskeln sich anspannten und lockerten und dabei das Wogen des Meeres imitierten. Sie hielten das Gleichgewicht. Ein enger Gang versuchte sie auseinanderzureißen, indem die eine Seite des Bodens nach vorn ruckte, während die andere Seite sich rückwärts bewegte. Sie blieben zusammen. Ein anderes Stück drehte sich wie eine Sense seitwärts, nur eine dunkle Holzbahn in der Mitte war sicher. Sie überlebten, ungemäht. Sie lachten vor Zerrspiegeln über sich selbst: zu Ballons aufgeblasen, in der Taille wie Wespen zerteilt. Sie wurden zu siamesischen Zwillingen. Es spielte keine Rolle; die Verzerrungen waren wie die trügerischen Durchgänge nur Täuschungen, triviale Fallen, uralte Scherze. Unter Sirenengeheul blies ein Wind an ihren Beinen hoch. Suzie schnappte nach Luft und kicherte, aber sie trug keinen Rock, den der Wind um ihre Hüfte wirbeln konnte, um den Blick auf altmodische Nylons und Strumpfbänder freizugeben. Das Repertoire des Vergnügungsparks war unmodern. Schließlich trug sie ein Förderband zwischen rotierenden Trommeln nach draußen. Die Trommeln schlugen zusammen, sprangen zurück und trafen sich wieder. Es war wie die
Einfahrt in eine Waschstraße. Mit aufgerichteten Rollen, um… Autos zu zerquetschen! Michael zögerte nur kurz, bevor er, die Fäuste voran, das Band hinunterglitt und die sich drehenden Trommeln zur Seite drückte. Die Trommeln waren nicht gerade federleicht, denn er prellte sich das Handgelenk an ihnen. Er lachte so laut wie der Matrose im Glaskasten. Seht her, wir haben es hinter uns! Sie verließen den Zeppelin. Jetzt war es heiß. Der Strand bevölkerte sich. Liegestühle, Sandburgen, Transistorradios und Wasserbälle trennten die Territorien voneinander. Sie saßen vor einem weißen Hotel im Art-Deco-Stil und tranken an einem Eisentisch John Smith’s Bitter. Sie gingen weiter. Sie aßen gebackenen Schellfisch, eingewickelt in die Zeitung der letzten Woche. Sie nahmen den Bus nach Bean Head und spazierten zu dem Landstreifen zwischen den grasbewachsenen Dünen und dem Meer. So weit von der Stadt entfernt, war der Strand leer. Korken, wurmstichiges Holz, Teerstücke, vertrocknete Wasserpflanzen und grüne Glasstücke kennzeichneten die Flutlinie. Sie sammelten Strandgut. Er fand eine Scheidenmuschel, nahm seinen Kamm aus der Tasche, stocherte daran herum und ließ dann Muschel und Kamm in die Tasche gleiten. Eine warme Brise von Land ließ milchweiße Wellenkämme aufschäumen. Austernfischer fuhren hinaus. Eine Reihe von Betonblöcken führte von den Dünen gabelförmig ins Wasser. Sie sollten Panzer aufhalten, die niemals kamen. Die reale Welt.
»Ich schätze, in gewissem Sinne haben wir alle etwas daraus gewonnen. Shriver hat einen Grund gefunden, als Ein-MannLobby die NASA zu drängen, auf die Rückseite des Mondes
zu fliegen – auch wenn er nicht auf den richtigen Zug gesprungen ist, um durch die Vorlesungssäle zu dampfen… jetzt kann er den Rest seines Lebens damit verbringen, ihnen vorzuwerfen, die Wahrheit zu unterdrücken. Der besessene Deacon wurde ›erleuchtet‹ – ich nehme an, jetzt befindet er sich auf geheimer Pilgerschaft. Und du hast ein Amulett. Immerhin mehr, als ich von der Schatzinsel holen konnte.« »O nein, Mike, mir ist die ganze Welt gegeben worden – greifbarer, als ich sie seit meiner Kindheit erlebt habe! Diese Welt war langsam verschwommen, ohne daß ich es merkte. Wie eine Melodie, die ich summte, ohne darauf zu achten. Vielleicht brauchte ich einen Schock… den Aberwitz dessen, was geschieht, wenn man nicht an allem festhält, was wirklich da ist. Dieser unbemerkte Verlust hat mich zu einer Automatenpuppe gemacht – wie ein Musiker, der automatisch spielt, weil das Stück und der Dirigent ihn langweilen. Ich schwöre, daß ich von jetzt an jede einzelne Note spiele! Mein eigenes Entsetzen hat mir eine Ohrfeige versetzt und mich wieder sein lassen. Ich habe alles gewonnen. Wiedergewonnen. Die Lebhaftigkeit der Dinge. Den Sinn für Details.« Sie pfiff eine Melodie, die Arie Königin der Nacht aus der Zauberflöte. Ihre gespitzten Lippen erreichten den höchsten aller Töne. Der Wind hatte sich gedreht und zerhackte, jetzt von der Seite kommend, die Woge in lächerlich kleine Schaumkronen. Der tiefe wellenförmige Rhythmus war unter einer Zuckergußhülle verborgen, neutralisiert. »Kann es wirklich so etwas wie einen ansteckenden Nervenzusammenbruch geben? Eine ganze Gruppe von Menschen, die in ihrer Aufgabe gegenüber der Realität versagen?« fragte sie. »Es muß wohl. Und ich war anfällig, o ja. Ich war nicht richtig mit der Welt verbunden, hatte keinen richtigen Kontakt. Was hast du daraus gewonnen, Mike.
Abgesehen von…« Einen Moment lang schwand ihre Zuversicht. Sie wirkte gequält und verlegen, unfähig, den passenden Begriff zu finden. »Abgesehen von einem Ausflug nach Amerika?« sagte sie hastig. »Was hast du bekommen?« Eine Herausforderung, eine Forderung. Michael schaute Suzie an und dachte: Dich, natürlich. Er sagte nichts, aber sie lachte auch so. »Das ist wirklich kitschig.« (Er streichelte ihr Haar.) »Laß uns zusammen schlafen, Mike. Es ist keine Menschenseele in der Nähe. Wir sollten Kontakt aufnehmen… Verbindung bekommen.« Sie zwinkerte frivol. »Komm schon«, befahl sie. Sie stiegen zu einer Vertiefung in den Dünen hinauf, eine Kuhle warmen Sandes, umwachsen von Strandhafer und Farngras, geädert von purpurnem Storchschnabel. Von dem Dünenkrater aus konnten sie, wenn sie die Hälse reckten, das Meer sehen, aber Strand und einzelne Wellen waren verborgen. Er zog seinen Anorak, sie ihre Jacke aus. Sie breiteten die Kleidungsstücke aus. Diesmal war ihre zeitliche Übereinstimmung vollkommen. Nichts mehr von dem alten Problem, kein frühzeitiger Erguß. Michael liebte sie mit beinahe mechanischer Perfektion. Während er das tat, hob er einmal kurz den Kopf und starrte durch das Gras aufs Meer hinaus. Eine Kugel aus goldenem Licht tanzte weit draußen über die Wellen. Aber die Sonne war im Westen, nicht im Osten. Diese Lichtkugel war weder die Sonne noch ihre Reflexion… Er barg sein Gesicht in ihrem roten Haar. Tief einatmend, nahm er sie in Besitz – sie, die sich jetzt selbst in Besitz hatte. Es war nur eine Nachempfindung des Wahnsinns. Nicht auf der Retina, sondern in seinem geistigen Auge… Dann starb er, in Suzie, den kleinen Tod. Als er nachher wieder hinausblickte, war die Lichtkugel verschwunden. Sie würde nicht zurückkehren, dessen war er sicher.
Sie zogen sich an, wanderten am Strand entlang zurück nach Bean Head und nahmen den Bus nach Sandstairs, wo die Straßen mit Ausflüglern überfüllt waren, die sich auf den Heimweg machten.
34
Mit abwesendem Blick schloß Mary den Vitrinenschrank auf und nahm eins der zerbrechlichen Porzellanstücke heraus, ein Miniaturfläschchen mit dem Stadtwappen von Caernarvon. Sie hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ es dann fallen. Es traf, ohne zu zerbrechen, auf dem Teppich auf. Sie trat auf das Fläschchen, das sofort zersplitterte. »Bitte, nicht!« Johns Stimme schmeichelte, aber aus großer Ferne, aus einer anderen Welt. »Wenn du gewesen wärst, wo ich war…« »O ja, ich weiß, ich habe immer nur ganz normale Ferien gemacht!« Sie nahm einen winzigen Krug in Harfenform: ein viktorianisches Souvenir aus Aberstwyth. »Können die Touristen auf dem Mond so etwas kaufen?« fragte sie scharf und ließ die Harfe los. Sie traf auf das zerbrochene Fläschchen, sprang entzwei und ließ den einzigen Ton vernehmen, den sie je besaß und besitzen würde. »Es sind meine, ich tue damit, was ich will! Oh, sie haben jedes nur ein paar Pfund gekostet, sie können nicht älter als hundert Jahre sein. Was ist das schon, hundert Jahre fortzuwischen? Oder Liebe? Oder eine Familie? Oder eine Karriere? Wo ist mein Souvenir?« »Karriere?« Deacon runzelte die Stirn. »Der Vizekanzler hat nur gesagt, er will mit mir sprechen.« »Er wird dich zum Rücktritt auffordern, und das zu Recht.« »Diesmal habe ich keine läppischen Interviews gegeben…« »Dein Freund Shriver hat es getan. Und was nächstes Mal, John?« Er zuckte die Achseln. »Ich könnte etwas Freizeit brauchen. Ich muß über vieles nachdenken. Vielleicht muß ich ein Buch schreiben.«
»Um zu garantieren, daß du nie wieder eine ernsthafte Position bekommst? Wenn du schon ausbrechen mußt, warum konnte es dann nicht eine kleine, miese Affäre mit einer Sekretärin sein? Das ist viel einfacher.« »Etwas bricht in mir aus.« »Wie ein verfaulter Blinddarm?« Sorgfältig wählte Mary eine winzige Schüssel aus. »Bitte, hör auf damit.« »Oh, es macht mir Spaß. Das Spiel heißt ›brutale Zerstörung‹.« Zweifellos würde sie damit fortfahren, ihre Sammelstücke auf die gleiche beherrschte, sorgfältige Weise zu zerstören, solange er im selben Zimmer blieb. Sie tötete ihre Geiseln eine nach der anderen. Ihre eigenen Geiseln. Sie verwundete sich selbst exemplarisch, so wie Bonaparte (oder wie sein Name gewesen war) sich auf dem Mond beinahe tödlich verwundet hätte – in einer alternativen Realität, die sich jetzt wieder reguliert, normalisiert hatte. Die falsche Unendlichkeit war fort, die wirkliche Welt war wie die Flut zurückgekehrt. Außer daß… der Anblick unendlicher Küsten darunter ihn jetzt für immer begleitete. Er ging durchs Haus, durch die Küchentür nach draußen in den Garten, und starrte nach oben, vorbei an der großen Roßkastanie, die aus dem Nachbargarten herüberragte und deren Blütenkerzen sich zu verrottendem rosa Konfetti auf dem Rasen auflösten. Kumuluswolken standen am Himmel, ein kleines Flugzeug surrte über ihm. Er schloß ein Auge und sah im Glaskörper des anderen ein treibendes Pünktchen, das jene himmelblaue Leinwand wie eine Luftqualle überquerte… Ein Defekt seiner Sehkraft. Das Universum mußte sich selbst veranschaulichen, überlegte er, wenn es sich selbst auslöschen und wieder Leere werden soll. Es muß sich mit Hilfe des Lebens selbst modellieren – die Natur des Lebens war daher metaphorisch: alle Theorien,
Glaubenssysteme und Erfahrungen bewegten sich tendenziell auf jene Veranschaulichung zu, aber nur in Form von Parabeln, bestehend aus den Dingen dieser Welt. Das Leben war ein Vehikel, um der Leere-Bewußtheit näherzukommen, die das wahre Wesen der Existenz war. Sie war die Bedeutung hinter der Bedeutung – jenseits aller Begrenzung, jenseits von Objekt und Subjekt, Wirkung und Ursache. Leben war die eigentliche Bedeutung der Welt, solange die wahre Bedeutung sich dem Leben entzog. In der Zwischenzeit lebte man daher die Metapher seines Lebens. Man erhielt die Welt aufrecht. Das war der Auftrag. Wie sollte er fortfahren? Achtlos? Damit die Welt weitergehen konnte? Aber er war sehr achtsam geworden. Er starrte zum Himmel hinauf, suchte nach seinem eigenen Ich, das ihn durch außergewöhnlichen Eintrittspunkt betrachtete – von dort, wo er schon einmal gewesen war. Er fand sich nicht. Jener schwebende Punkt in seinem Auge schien plötzlich wie eine notwendige Unvollkommenheit seines Sehvermögens, die das Leben weitergehen ließ, ein Blindpunkt, den es geben mußte. Vielleicht war Achtlosigkeit schließlich doch das beste. Er ging ins Haus zurück, Mary war in der Diele. »Vielleicht könnten wir etwas völlig anderes versuchen«, schlug er vor. »Vielleicht könnten wir Obst anbauen, oder eine Gaststätte betreiben.« Seine Frau fuhr zurück wie nach einem Schlag. »Das glaube ich kaum. Das ist ja noch dümmer und grausamer.« »Ich kann nicht mit derselben Sache weitermachen. Es hat sich alles verändert, Mary.« »Wenigstens kannst du dich an meinen Namen erinnern.« Erinnerung: das Etikett der Vergangenheit im Denken… Das sich manchmal lösen konnte. Genau das war geschehen, als er zu Sheps Tod zurückkehrte, zu Suzies Martyrium und
Michaels Initiation – als er ein Fremder wurde und fähig, jeder und alles zu sein, solange der ›Khidr-Zustand‹ währte. Damals schien er wirklich durch die Zeit zu jagen, jemand anders als er selbst zu sein – aber dennoch ein Gefühl seiner selbst zu behalten. Sorgfältig überdachte er den UFO-Flug noch einmal. Er war sich bewußt gewesen, wer er war; aber er hatte sich gespalten und war sich selbst nachgejagt. Als er sich eingeholt hatte, war der Flug zu Ende, und er befand sich wieder in der normalen Wüste. Also hatte er sich auf diesem Flug nicht nur dem Zeit-Etikett entzogen, sondern auch dem Ego-Etikett, das an die Gegenwart zeitgebunden sein mußte und die Aufmerksamkeit auf die Welt heftete. Aber er hatte das ohne wirklichen Identitätsverlust getan. Es war möglich, im Netzwerk der Existenz andere Verbindungen zu knüpfen. Man konnte durch Raum-Zeit reisen. Aber das Ego ist das stabilisierende Moment – die Grundlinie. Das Ego zieht einen ständig zurück. Geistesgeplapper unter einem Dach bindet einen an den gegenwärtigen Moment; die Klischees der Existenz. Geplapper unter einem Dach… Gibt es überhaupt eine andere Art zu leben? »Ich glaube, ich gehe hinüber und spreche zu Hause mit dem Vizekanzler«, beschloß er. »Was, jetzt?« »Jetzt oder nie«, lächelte er und wußte, wie unzutreffend das Klischee war. »Ich muß raus, Mary. Ich muß nachdenken.« Sie zuckte die Achseln. »Geh nur. Du mußt mich nicht um Erlaubnis fragen, du bist erwachsen.«
Der Fremde tauchte hinter einem Briefkasten auf, als Deacon sich der Straßenecke näherte. Deacon schenkte der Straße wenig Aufmerksamkeit und hatte ihn bis dahin nicht bemerkt.
Der Mann trug einen dunklen Anzug, eine dunkle Brille, eine Krawatte mit smaragdfarbenem Buchsbaummuster. Er hielt eine Karte in der Hand. Einen Stadtplan. Sein Gesicht war sonnengebräunt, scharf geschnitten und dunkel. Irgendein Ausländer, der nach einer Wohnung suchte. »Mr. Deacon?« Woher kannte er seinen Namen? Deacon starrte ihn an. »Wir sind uns schon begegnet, John.« »Sind wir das? Wo?« Der Mann studierte die Karte. »Ich habe Sie gesucht.« »Auf der Karte werden Sie mich nicht finden.« »Das ist eine ganz besondere Karte, John, eine außergewöhnliche Karte.« In der Straße fuhr kein Auto, kein Mensch war zu sehen. Nicht einmal ein Hund oder eine Katze schlich vorbei. Kein Vogel war in der Luft. Die Zeit schien stehengeblieben oder auf Schneckentempo verlangsamt. Deacon schaute auf die Karte. Es war der Plan einer fremden Stadt. Ohne Ortsbezeichnungen, ohne Maßstab, ohne Erklärungen der verwendeten Symbole. Das Labyrinth einer Stadt. War das Kairo, oder Isfahan, oder Akhetaton? Oder eine Stadt auf einer fremden Welt? Oder eine Stadt, die nicht gebaut war? Oder eine unsichtbare Stadt, die direkt hinter einer Grenze existierte und immer existiert hatte? »Ich würde mich gern vorstellen«, murmelte der Mann, »aber ich habe keinen Namen, obschon ich unter vielen Namen bekannt bin…« Ein Mann ohne falsches Ego? Jemand, der durch das vielfältige Netzwerk von Bewußtseinsereignissen reisen konnte? So wie es Deacon sich wünschte… Der Stadtplan schien in sich alle vollständigen Schaltkreise des Lemegeton von Salomon zu enthalten; alle Kanäle und Passagen waren miteinander verknüpft, mit ganzen Vorstädten aus wechselweisen Verbindungen. Dies war eine Stadt, in der er nur zu gerne leben würde. Sie schien unendlich detailliert. Je
länger er auf sie blickte, desto mehr war zu sehen. Er entzifferte ihre Mandala-Paläste, ihre Pentagramm-Plazas, ihre kabbalistischen Schnörkel, ihre symmetrischen Höfe, die Plätze, Schriften und Ideen zugleich waren: Stätten, die sich in Ideen auflösten, die solider als Ziegel und Kacheln waren, in sich selbst erschaffende Strukturen, die die Stadt von der Idee ihrer selbst fortwirbelten. Er entzifferte ihre Wassergärten vieler Tiefen. Er entzifferte ihre sich verändernden Irrgärten: denn die Stadt war lebendig, voller Gedanken und entwickelte sich ständig. Die Stadt war das Bewußtsein höherer Strukturierung. Endlich verstand er die volle Bedeutung des kleinen Zauberbuchs, des Lemegeton, des ›kleinen Schlüssels‹. Es enthielt viele Symbole der Macht – und Symbole besaßen, wie Tom Havelock bei der Gruppenversammlung im Februar angemerkt hatte, eine eigene Existenz, fern jedes individuellen Geistes, der sie je erlebt hatte. Das mußte so sein – denn die höheren Ordnungssysteme im Universum, welche niedrigere Ordnungssysteme entstehen ließen, entwickelten sich zu den Symbolen hin und wurden schließlich selbst Symbole, machtvolle Symbol-Wesenheiten. Symbolsysteme, die den ›Ereignis-Gedanken‹ überlegen waren, welche das Netz gewöhnlicher Ereignisse bildeten, in denen die Menschheit noch lebte. Aber die einzelnen Skizzen von ›Schlüsseln‹ zu diesen Symbol-Kräften, wie der Lemegeton sie zeigte, waren wie die vielen verschiedenen Teile eines zerlegten Motors, die von allzu menschlichen Magiern nicht zusammen benutzt wurden, um ein Fahrzeug anzutreiben, sondern einzeln als stumpfe Instrumente, um zu töten und zu verstümmeln, um verborgene Schätze aufzuspüren oder Erfolg in der Liebe zu erzwingen: wie so viele Werkzeuge, um das menschliche Ego zu erhalten. Genauso* hatte Deacon sich anfangs in die UFO-
Bewußtseinsforschung gestürzt: um seinen Namen auf aufsehenerregenden Forschungsdokumenten zu sehen, um Luftwaffen-Dollars aus Amerika zu bekommen, um Macht über die UFO-Kraft zu gewinnen. Er erinnerte sich mit gezwungener Belustigung an seine kindliche Euphorie angesichts solcher Erwartungen – und an die groteske Pressekonferenz nach seiner Rückkehr aus Ägypten. Doch als er beim letzten Mal nach Granton zurückgekehrt war, hatte es so etwas nicht gegeben. Es war ihm ausgebrannt worden. Er hatte es – wie sich selbst – der Macht ausgeliefert, die ihn in der Mojave-Wüste in ihr Herz aufgenommen hatte. Das kleine Buch enthielt ein ganzes Bündel kleiner Teilschlüssel. Und Seite für Seite war es eine Auflistung von Begierden, Aggressionen, Ehrgeiz und falschen Wünschen. An Bord von Khidrs UFO war er sich dieser Eigenschaften bewußt geworden, als er versucht hatte, die Wahrheit anzusteuern; gleichzeitig hatte er Suzie begehrt und angegriffen, Michael verführt und Shep mit fehlgeleiteter Kraft getötet. Aber das war jetzt vorüber, ausgebrannt, dessen war er sicher… und die Khidr-Kraft hatte seine Exzesse im Netzwerk der Ereignisse sogar korrigiert – denn er war jetzt fast dort – und statt dessen Erwachen bewirkt… Zu guter Letzt fühlte er, daß er sich selbst unter Kontrolle hatte. »Wo ist dieser Ort?« fragte er und berührte die Karte. »Hier, John«, lächelte der Fremde. »Jetzt! Sie können ihn überall betreten. Nur können Sie nicht wieder zurückkehren – außer auf außergewöhnliche Weise.« Die Karte war eine Einbahn-Membrane, die in ein anderes Stadium führte. »Man kann die Realität nicht übermäßig verändern, John. Sonst fügt man der Welt vor ihrer Zeit Schaden zu. Das Wunder muß immer von außen kommen, von einem fremden Ort. Von dieser fremden Stadt hier.« Der Finger des Fremden lag auf der Karte, auf einem Punkt, an dem Deacon jetzt das UFO-Felddiagramm erkannte (das
angeblich das Ungeheuer Forneus erweckte, der alle Künste und Wissenschaften lehren konnte). Das Diagramm war zuletzt in die übergreifende Struktur integriert. »Auch Sie können Ihren Namen verlieren, wenn Sie es wünschen.« Der Fremde nahm ihn beim Arm. »Ich wünsche es«, sagte der, der früher John Deacon hieß. Die Karte erstreckte sich jetzt sehr weit, wurde in der Realität das, für das sie bisher nur Symbol gewesen war. Als sie für ihn völlig real geworden war, trat er mit dem Fremden – der jetzt kein Fremder mehr war – hinein… Einen Moment erscheint ein Meer. Ein leeres Meer. Ein Meer der Leere. Es ruht in vollkommenem Gleichgewicht. Nichts wühlt es auf. Es enthält nichts außer seinem eigenen Ich. Es hat keine einzelnen Bestandteile, keine Dimensionen, solche Bestandteile zu begrenzen, weder Zeit noch Raum, sie zu lokalisieren. Jeder Punkt in ihm ist derselbe Punkt; leer, wie es ist, ist es unendlich dicht… Er erkennt das Meer – und als er es erkennt: Sofort entsteht eine Welt aus Zeit und Raum aus ihm – alle Gipfel und Täler der Existenz –, als wäre ein unendlicher Pazifik in diesem einen Moment trockengelegt worden. Leben bricht in Wirbeln hervor, um diese Objekt-Welt zu erkennen: Geistesinseln, die in einem Meer von Bewußtheit treiben, sich anfangs ihres gemeinsamen Mediums nicht bewußt sind, aber in einer Bewußtseinsstruktur miteinander verknüpft, in einer flüssigen Stadt mit vielen Wagen, vielen Gebäuden. Diese Stadt. Eine sich unendlich verzweigende U-Röhre verbindet jedwedes Bewußtsein. Und sie teilt es auch auf, indem sie es in einzelnen Übermittlern aufbewahrt: hier, dort und dort… Jede Amöbe, jede Fliege, jede Katze, jeder Mensch, jedes fremde Wesen, wo immer es sein mag, ist ein Arm derselben vielverzweigten Röhre und schneidet in seiner Vereinzelung
alle einzelnen Teile der Welt ab. In der Raum-Zeit sind für den Wissenden alle Arten von Verknüpfungen möglich…
Die Stadt tut sich um ihn auf. Lebendig, denkend, sich entfaltend. Gebäude, Straßen, Labyrinthe des Geistes, mit Pforten, die in andere Leben, andere Existenzen führen. Frei von der Ego-Bindung, aber sich immer noch eines ›Ich‹ bewußt, kann er sich in ein anderes Leben versetzen. Kann ein Dinosaurier, ein Insekt, ein Derwisch werden. Das ist der eine Weg: der Weg der Unaufgeklärten, die im Meer der Leere sterben, sich freikämpfen und nach einem anderen zeitgebundenen Leben greifen. Der Weg des Karma. Wenn er einen anderen Weg wählt, kann er weit durch die Geiststadt fliegen, dorthin, wo fremde Intelligenzen irgendwo im Universum, bewußtere Intelligenzen, ihn willkommen heißen werden. Denn jetzt weiß er, daß eine höhere Bewußtseinsebene existiert. Es gibt auf fremden Planeten, die um fremde Sonnen kreisen, die in ihrem Geist Bewohner derselben Stadt, ihrer Paläste und Irrgärten sind. Die Stadt erstreckt sich so weit, wie sie es für richtig halten: sie, die die Struktur formen, die zu bewohnen sie gekommen sind. Sicher müssen solche Lebewesen wie die Gebraudi tatsächlich existieren: auf einer anderen Welt, anderswo, zu anderer Zeit. Denn die symbolischen Visionen, die Michael auf der fremden Mondbasis erlebte, und die symbolischen fremden Wesen, denen er dort begegnete, kamen gewiß von einer anderen Stelle des geistigen Netzwerks, in dem Deacon gerade die ersten Schritte tat. Ganz gewiß wußten die Gebraudi – Lebewesen irgendwo in Raum und Zeit, in ständiger Berührung mit den höheren Strukturen – von dieser Stadt. In den unendlichen Verzweigungen der U-Röhre waren sie zu
finden. Er bereitet sich darauf vor, hinaufzufliegen. Hinunterzutauchen. Sein Begleiter – der sich vor vielen Jahren befreit hat, um Teil dieses Netzwerks zu werden – nimmt ihn schnell beim Arm. »Du bist noch ungestüm. Sei nicht zu hastig. Betrete den Geist-Raum anderer Zweige noch nicht«, warnt sein Begleiter. »Das kann deinem Ich und dem ihren schaden. Du könntest dich in einer anderen Existenz verlieren. Lerne zuerst, dich zu kontrollieren. Lerne zuerst deine Pflicht deiner Welt gegenüber. Du bist jetzt Teil dessen, was der Welt unerkennbar ist. Teil der lenkenden Saugkraft. Wir müssen der Welt helfen, sich zu entwickeln. Du hast Welt genug und Zeit. Türen und Fenster führen überall hin. Wenn du bereit bist, geh zurück. Aber denk daran: du bist unerkennbar. Von jetzt an bist du ein Mysterium. Du bietest keine Beweise, sondern nur Hinweise an.« Und er nickt. Er nickt. So ist es. Gemeinsam erkunden sie, in langsamen Schritten, den nahegelegenen Abschnitt der Stadt, die im Zentrum der Welt liegt, und im Zentrum jeder Welt.
John kehrte nicht nach Hause zurück. Er galt als vermißt. Aber Mary war sicher, daß er irgendwo auf der Welt lebte. Sich unter fremdem Namen verbarg. Merkwürdigerweise spürte sie kein Bedauern. Und sie mißbilligte auch sein kindliches Versagen, seine Flucht nicht. Gelegentlich träumte sie von ihm. Und er schien dann jedesmal intensiver gegenwärtig als jemals zuvor. Das Erwachen erzeugte, so seltsam es war, kein Gefühl der Leere. Sein Fortgang löste verschiedene Angelegenheiten. Celia schien auf bittere Weise froh; sie schwamm zum Ufer zurück, verließ die Wellen, mit denen sie geliebäugelt hatte, als hätte sie nur auf eine Entschuldigung für die Rückkehr gewartet.
Rob vertiefte sich in seine Hobbies: Botanik, Geologie. Als es wieder Herbst wurde, überredete er sogar seine Mutter, die Schirmlinge der diesjährigen Ernte zu kochen. Und sie schmeckten wirklich vorzüglich.
35
Jetzt, da er sein Diplom hatte und in Tanta im Delta arbeitete, besuchte Salim das Hauptquartier des Zawiya-Ordens in Kairo weniger oft. Allerdings existierte auch in Tanta eine kleine Zawiya, eine Loge des Ordens. Er vermutete, seine Stellung in Tanta war vor allem zustande gekommen, damit er den Orden dort unterstützte. An einem Wochenende im Oktober kam er nach Kairo zurück, um seine Eltern zu besuchen. Am Abend machte er sich nach Gamaliya auf. Sein Vater murrte nur noch wenig, da Salim jetzt eine angemessene Position besaß. Spontan stieg Salim an der al-Azhar Straße aus dem Bus, um durch die alte Innenstadt zum Bab Zuweyla zu gehen. Das Tor der Hinrichtung, wo der letzte Sultan gekreuzigt worden war, ragte dunkel über abendliche Passanten, Marktstände und langsame Taxis empor; die zierlichen Minarette kontrastierten mit den wuchtigen Türmen darunter. Er sah eine alte Frau, die ein Stück Tuch zwischen das Holz und die Nägel des Tors steckte. Damit bat sie den heiligen alMutawalli um Hilfe, der von hier aus durch Gedankenkraft nach Bagdad geflogen war, nachdem das Tor keine Stätte des Todes mehr war, sondern eine des Lebens. Einige andere Stoffetzen, Tücher und sogar ein paar Papierstücke mit gekritzelten Bittschriften hingen an dem alten Holz. Ein alter weißer Mercedes fuhr heran. Salims Herz schlug schneller, als er den Fahrer erkannte, und im Fond den Scheich, mit jemandem ins Gespräch vertieft. Das war doch jener Engländer, Dr. Deacon? Er, der ein Teil des Wunders gewesen war… Gott sei gelobt, dachte Salim, als
er ihn erkannte. Er fragte sich, wieso der Engländer nach Kairo zurückgekehrt war. Aber irgend etwas ließ ihn zögern, das Gespräch zu stören. Während er noch hinsah, stieg Deacon aus dem Wagen des Scheichs. Einen Moment lang blickte der Engländer über das Dach des Mercedes, seine Augen trafen Salim. Sein Gesichtsausdruck unterschied sich deutlich von dem der Vergangenheit und sogar des Zorns, an den Salim sich von seinem ersten Besuch erinnerte. Jetzt zeigte sein Gesicht freundliche Belustigung. Ein Ausdruck, an den Salim sich gut erinnerte: der Blick des als Derwisch gekleideten Fremden im Hof. Salim winkte, aber ein mit Kartoffelsäcken beladener Lastwagen kam vorbei und versperrte ihm die Sicht. Als er vorbei war, war der Engländer fort. Scheich Muradi blickte zu dem alten Tor hinauf, während die Menschen an dem Wagen in der Mitte vorbeiströmten. Ein Taxi hupte, blendete die Scheinwerfer auf und fuhr dann vorbei. Und immer noch schaute der Scheich nach oben, als sei das Tor ein Tor der Träume. »Sidi…« Der Scheich blinzelte. Einen Moment schien er nicht zu wissen, wer ihn ansprach. »Ach, Salim – du bist es!« rief Muradi aus. »Danke. Danke, daß du mir geholfen hast, achtlos zu sein!« Das war zu freundlich ausgesprochen, um wirklich ein Tadel für die Störung seines Gedankengangs zu sein. Muradi öffnete die Wagentür, rutschte auf die andere Seite und bot Salim an, ihn nach Gamaliya zu bringen. Als Salim die Tür zuzog, blickte er zu dem aufragenden Tor hoch. Und er sah einen hellen Stern aus seiner Stellung am Himmel ausscheren und davonfliegen. Ein Düsenjäger auf Patrouille, zweifellos. »Sag mir, wie es unseren Brüdern in Tanta geht!«
»Ihnen geht es gut. Die Arbeit geht gut voran… Meister – ich habe eben Dr. Deacon gesehen, dort, wo du jetzt sitzt. Wie kommt es, daß er in Kairo ist? Ist es wie beim letzten Mal?« »Ich bin froh, daß du ihn gesehen hast. Dieses Mal, Salim, kam er in vollem Wissen.« »Er hat mich auch gesehen, als er auf der anderen Straßenseite stand. Ich dachte, er sieht aus… wie derjenige, dem wir im Hof begegnet sind. Er hatte den gleichen Gesichtsausdruck.« »Aber hast du auch gesehen, wie er davonging?« Salim schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Lastwagen versperrte die Sicht. Als er vorbei war, war Dr. Deacon fort.« Der Scheich spähte aus dem hellen Tunnel der Straße zum dunkel gesprenkelten Himmel hinauf. »Du hast es wirklich nicht gesehen?« Salim runzelte die Stirn. »Wie konnte ich das? Ich nehme an, er ist durchs Bab Zuweyla gegangen.« »Und auch kein anderer hat es gesehen. Es ist für dich noch nicht an der Zeit, Salim. Also geht die Welt weiter.« Der Scheich ließ sich in die cremefarbenen Polster zurücksinken. »Erzähl mir über deine Arbeit als Ingenieur.« Also erzählte Salim, von der Brücke, die mit seinem Zutun über einen der vielen Ströme des Nildeltas errichtet worden war. Es war eine prächtige Brücke. Er hatte ein Foto mitgebracht, um es seinem Vater zu zeigen. Und sein Vater war stolz gewesen.
Irgendwo anders lächelte Khidr.