OTTO BONHOFF
Zwei retten eine Stadt
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsachenr...
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OTTO BONHOFF
Zwei retten eine Stadt
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1969 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Ingeborg Kern Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
An diesem 11. April schweigt die Stadt. Es ist, als halte sie den Atem an, mache sich ganz klein und hoffe, daß das Ende über sie hinweggehen werde. Sie erinnert so an ein Kind, das sich unentdeckbar glaubt, wenn es die Augen schließt. In der Stille kündigt sich das Ende unüberhörbar an. Es grollt in den umliegenden Wäldern mit dem Knattern von Infanteriewaffen und den vereinzelten Schlägen der Kanonen gepanzerter Fahrzeuge. Es beherrscht den Himmel mit dem auf- und abschwellenden Motorengeräusch von Aufklärungsflugzeugen, und es legt mit tausend Funksignalen ein unsichtbares und unhörbares Netz über die Häusergruppen am Fluß. Es ist nicht aufzuhalten. Die Essen qualmen nicht mehr. Die Fenster sind geschlossen, und vor den Geschäften stehen grau die Rolläden, gerade so, als wollten sie die Armseligkeiten der Auslagen verbergen. Niemand ist da, sie zu besichtigen. Strafjenpflaster und Gehwege, ein wenig staubig, liegen verödet unter der Frühlingssonne. Noch nie hat es das hier gegeben, auch in den Kriegsjahren nicht, und dieses Bild ist neu, fremd und furchtbar. Gähnende Leere . . Auf einmal sind kleine, gewöhnlich unbeachtete Dinge groß und bemerkenswert. Die Spatzen zwischen den verlassenen Häusern, die schäumende Gischt am Wehr,
ein Zeitungsfetzen, den der Wind über die Brücke treibt und an einen Pfeiler preßt... Hier sind die modernsten Autos gefahren, Maybach, Mercedes und auch Rolls Royce; hier promenierten Damen und Herren, die sich zu den „besseren Kreisen der Gesellschaft" zählten; und immer kam mit ihnen Geld in die Saalestadt und machte sie wohlhabend, behäbig und selbstgefällig. Solange die Salinen arbeiteten, solange Ärzte nicht nur in Deutschland Kuren in Bad Kosen verschrieben, solange Kranke hier Heilung suchten, hätte es so weiter gehen können nach Meinung der Hoteliers und Pensionsinhaber, der Andenken- und Postkartenhändler, der Bootsverleiher und Dampferbesitzer, die mit Fahrten nach Saaleck und Rudelsburg für Erholungsuchende und Kurschatten Abwechslung in die Zeit des Genesens brachten. Wenigstens die versprochenen tausend Jahre hätte das andauern sollen ... An diesem 11. April 1945 weiß auch der Schwerfälligste, daß diese tausend Jahre heute beendet sind. Viele fassen es nicht. Manche erwachen aus selbstgefälligen Wunschträumen. Einige ahnen zum ersten Male, daß es auch ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen gewesen ist, die die kleine Stadt nun an den Rand der Vernichtung gerückt hat, und Entsetzen und Ratlosigkeit mischen sich mit nackter Angst. Die, die Verantwortung trugen, sind fort. Die Einwohner haben sie abziehen sehen. In gebührender Entfernung luden sie ihre Akten, ihre Wertsachen und die Koffer mit Zivilanzügen auf bereitstehende Autos. Noch hatten sie die Schaftstiefel, die Breeches und Uniformröcke der faschistischen Führer nicht abgelegt, noch nicht... Natürlich fuhren sie, ehe die letzte Nachhut der Wehrmacht Bad Kosen passierte - abgehetzte,
verdreckte, zu Tode erschöpfte Soldaten mit blutigen Verbänden und müden, wie erloschenen Augen. Flüchtige ... Da verglichen die stummen Beobachter diese mit jenen, die sie als „siegreiche Truppen" in der Wochenschau sahen. Aus den „Herren der Welt" sind Gejagte geworden. Wer das Denken nicht verlernt hat in den Jahren der Sondermeldungen und Goebbelsreden, kann erkennen, daß dieses Ende folgerichtig ist. Der Krieg greift nach Bad Kosen. Er ist schon da mit den Nahaufklärern General Eisenhowers am Himmel, und er nähert sich der Stadt zu Lande von zwei Seiten her. Jenseits der Saale rücken die Panzerspitzen amerikanischer Verbände der Antihitlerkoalition, begleitet von Infanterie, geradezu gemächlich vor, obwohl sie nicht mehr auf Widerstand treffen. Wo es noch knallt, stoppen sie und fordern die Air Force an, damit sie mit Bomben und Bordwaffen den Weg ebne. Diesseits der Saale kommt ein Lastkraftwagen näher. Der Wagen ist alt, mehrfach beschädigt, nur durch die Anstrengungen einer Werkstattkompanie überhaupt noch verwendungsfähig. Dieses mit buntscheckiger Tarnfarbe gespritzte Fahrzeug rollt nach Bad Kosen. Seine Besatzung hat Befehl, die Sherman-Panzer auf der anderen Seite mehrere Stunden lang aufzuhalten, ihr Vorrücken unmöglich zu machen und auf diese Weise den Rückzug, der längst eine Flucht ist, zu decken. Zu den Insassen des Wagens gehören, den Fahrer mitgerechnet, ein Offizier und vier Mann. „Schneller, Mensch! Schneller", befiehlt der Leutnant im Fahrerhaus ungehalten. „Wir müssen vor den Yankees in der Stadt sein." „Jawohl, Herr Leutnant, schneller", erwidert der
Stabsgefreite am Steuer, aber er drückt das Gaspedal keinen Zentimeter weiter nach vorn. Das Kühlwasser des alten Motors kocht bereits; eigentlich ist es ein Wunder, daß die Kolben nicht längst festsitzen, und er, der Fahrer, ist gehalten, die vier in Bad Kosen abzuladen und sofort zurückzukehren. Hinten auf der Pritsche hocken neben Kisten zwei Mann. Obwohl die Chaussee gut einzusehen ist und obwohl die RB-26 „Invador" ihre Kreise ziehen, hat keiner der drei den Helm auf. Die Wärme, Gewohnheit und Erschöpfung haben Gleichgültigkeit erzeugt ... In diesem Kriegsjahr nehmen die Vorgesetzten daran so wenig Anstoß wie an den offenen Kragen und aufgekrempelten Ärmeln ihrer Untergebenen. Sollen sie doch, wenn sie nur mitmachen! Die Soldaten rauchen Zigaretten, deren Asche sie außenbords schnippen, sie behalten die Flugzeuge im Auge, und einer erzählt plötzlich, was ihm ein Flakfahrer berichtete. Dieser fuhr Munition, irgendwo bei Nordhausen, und eine Oberschülerin bat ihn, sie ein Stück mitzunehmen. „Na, er war nicht so, und sie ist wohl auch hübsch gewesen. Groß, blond und kräftig, hat er gesagt. Ellen soll sie geheißen haben. Sie müsse gleich 'raus und in Deckung, wenn aus dem Bomberpulk über ihnen einer 'runter käme, schärfte er ihr ein. Tatsächlich - unter den Begleitjägern ist einer gewesen, der da oben Langeweile hatte. ,'Raus!', schreit der Kumpel und bremst wie verrückt, und diese Ellen ist wie der Blitz draußen. Das Schwein von einem Piloten achtet nicht mehr auf den Wagen; er jagt das Mädchen, das zu einer Baumgruppe will, und -- erwischt sie mit seinen Schnellfeuerkanonen. Siebzehn muß sie gewesen sein... Dann hat er hochgezogen, ohne sich um den Lkw zu
kümmern. Und der wäre ebenso schön explodiert wie unser Schlitten, wenn den ..." Er schlägt mit der flachen Hand auf die Kiste, auf der er sitzt; sein Kamerad sagt: „Wo nehmen wir ein Mädchen her?" Das soll wohl ein Witz sein, denn er lacht, aber der Unteroffizier murrt: „Schnauze!" Und da schweigen sie wieder. Der Mann mit der Silberlitze blinzelt in die Sonne. Eine von den RB-26 hat diese genau hinter sich, ist kaum wahrzunehmen, und wenn der Mann im Cockpit Lust zu einem Sturzflug hätte . . . Der Lastkraftwagen trägt Sprengmaterial, das ausreicht, eine hundertzwanzig Schritte lange Straßenbrücke und einen ebenso langen Eisenbahnviadukt in die Luft zu jagen. Das sind in Bad Kosen die einzigen Übergänge über die Saale, und am Meßtischblatt errechnete ein Stabsoffizier, daß die Zerstörung der beiden Brücken den Gegner aufhalten würde, zumindest, bis dessen Pioniere eine Ersatzbrücke ... Diese Überlegung besiegelte ihr Schicksal. „Kosen", erklärt der Stabsgefreite und weist auf das Ortsschild. Er fährt jetzt sehr langsam; es könnte doch sein, daß die anderen schon ... „Halt!" befiehlt der Leutnant. Die Straßenbrücke liegt vor ihnen, und so weit sie in ihrer Verlängerung schauen können, ist alles still. Sie sind rechtzeitig hier. Der Offizier steigt aus, hängt die Maschinenpistole über die Schulter und reckt sich verstohlen. „Abladen, Männer! Keine langen Faxen! Die Zündmaschine gleich da in den Keller, und dann die Kabel vor! Ich sondiere mal das Terrain." - Er läuft auf die Brücke zu. Der Unteroffizier vollbringt die lässige Andeutung eines Hackenklappens und faßt mit zu.
„Mensch, hier ist noch alles heil", bemerkt der, der die Geschichte des Flakfahrers wiedergab. Der andere zuckt die Achseln. „Nach unserem Feuerwerk nicht mehr! Dann ist bis hierher alles weg, und auf der anderen Seite auch. Den Rest erledigen die Yankees. Sie denken in so 'nem Fall, alles stecke voll Landser, und gewöhnlich schicken sie erst 'mal ein paar Ladungen schwerer Koffer." Der erste gibt sich noch nicht zufrieden. „Ein Jammer ist es trotzdem. Und nutzen wird unsere Knallerei auch nichts. Ob wir sie ein paar Stunden früher oder später auf den Hacken haben - der Gröfaz ist hin! So 'ne Brücke kostet Millionen, und die Leute brauchen sie ..." Wieder hebt der zweite die Schultern. „Sicher! Aber hast du Lust, noch zwei Minuten nach zwölf mit der Feldgendarmerie zusammenzustoßen? Kennst doch unseren Alten! Ich hab' immer einen Bogen um die Kettenhunde gemacht. Verrückt, sich jetzt noch eine Laus in den Pelz zu setzen! Überleben, Junge, das ist die Parole! Komm, pack an!" Sie schleppen die Zündmaschine hinunter in den Kellerverschlag, den der Unteroffizier unterdessen ausgesucht hat. Eine Kellerluke weist zur Straße hin. Die Straße heißt „An der Brücke". Das Haus trägt die Nummer 10. Von hier aus rollen sie Kabel von der Trommel bis zur Straßen- und der rechtsseitig von ihr gelegenen Eisenbahnbrücke. Sie haben das hundertmal gemacht, es geht schnell. Der Leutnant, in Höhe des ersten Brückenhäuschens stehend, setzt die Stiefelspitze aufs Pflaster. „Hier, die erste!" sagt er knapp. Sie reißen das Pflaster auf. Auf Umwegen kehrt Paul Hein aus dem Haus An der
Brücke 10 nach Hause zurück, und in Sichtweite von Bad Kosen versteckt er das Fahrrad hinter einer Buschgruppe, setzt sich daneben und läßt sich Zeit. Ohne gesehen zu werden, sieht er selbst. Die Limousinen der Nazi-Größen - alle Privatfahrzeuge sind längst entweder stillgelegt oder für die faschistische Wehrmacht beschlagnahmt worden - rollen vorbei, und eine Benzinzuteilung haben offensichtlich auch die ortsansässigen Unternehmer, die Wehrwirtschaftsführer, erhalten. Kein ist lange genug in der Stadt, um zu wissen, wem die großen Wagen gehören. Auf Hochglanz poliert und sorgsam gepflegt, nehmen sie sich merkwürdig genug aus zwischen den ramponierten Kübelwagen und dreckverkrusteten Lastkraftwagen der Wehrmacht, denen eine schwache Nachhut aus Panzerspähwagen folgt. Soldaten hocken auf den Fahrzeugen, klammern sich an den Seiten fest. Bloß weg ... So folgen sie den Truppen, die in der Nacht durchmarschierten, in losen Kolonnen, schweigsam. Nur ihre Schritte waren bis zum Morgengrauen zu hören. Wenn sie nur erst zu Hause wären, hat Hein da gedacht. Es gibt viel Arbeit zu leisten nach diesem faschistischen Krieg. Je eher damit angefangen wird, desto besser. Er hat keine Angst vor dieser Arbeit. Er freut sich darauf. Paul Hein ist auf sie vorbereitet. Dieser 11. April 1945 trifft ihn nicht unvorbereitet. Dieser Tag mußte kommen, so sicher, wie auf den Dienstag der Mittwoch folgt und nicht zum Donnerstag sagen kann: „Geh du voran, ich habe wunde Füße." In der Rundfunkübertragung eines berühmten Theaterstücks hat Hein den Vergleich gehört und ihn sich eingeprägt, weil er ihm gefiel. Was am 11. April 1945 in Bad Kosen vor sich geht, gehört zu einem
historisch gesetzmäßigen Entwicklungsprozeß ... Dieses Ende des „tausendjährigen Reiches", wie es sich jetzt abzeichnet, steht für Paul Hein fest, seit die Faschisten die Sowjetunion überfallen haben. Er hat die Fäuste geballt in ohnmächtigem Zorn, als die feldgraue Walze der faschistischen Armee tiefer und tiefer in das Land der Oktoberrevolution rollte, als sie Moskau vor sich hatte, auf die Wolga zurückte, doch er ist nicht irre geworden in seiner Überzeugung, daß dieser Feldzug mit der Zerschlagung der faschistischen Herrschaft enden würde. Seit Wochen nun -in verschlossenem Raum und unter der Decke gehört - berichtet Radio Moskau vom unaufhaltsamen Vorstoß der Roten Armee zum Ausgangspunkt des zweiten Weltkrieges. Das Verderben kehrt an seinen Geburtsort zurück, nach Berlin. Vielleicht kann die faschistische Führungsclique ihr Ende hinauszögern, verhindern kann sie es nicht. Paul Hein erwartet es voller Ungeduld. Endlich verwirklichen, was in langen Jahren erträumt und geplant worden ist, das neue Deutschland ... Was für eine Stunde! Seine Blechdose mit Tabak zieht er heraus und ein Blättchen aus der Packung. Während er das Kraut ins Papier häufelt, es geradestreicht und achtsam die Klebestelle anleckt, ertappt er sich dabei, daß er es kaum erwarten kann, sich auf sein Rad zu schwingen und nach Bad Kosen hineinzufahren. Er muß sich gedulden, muß sehen, wie lange nach dem Abzug der Panzerspähwagen ein klappriger, scheckiger Lastkraftwagen in entgegengesetzter Richtung fährt und wie auf der Straße drei Männer fieberhaft an einem liegengebliebenen Opel beschäftigt sind. Die Kühlerhaube ist hochgeklappt, und
ein Mann im Pullover - vermutlich der Fahrer - und einer im weißen Trenchcoat fummeln am Motor herum. Auch der dritte trägt einen Trenchcoat, doch er hat ihn offen und darunter einen karierten Anzug mit Knickerbocker und weißen Wollstrümpfen - wie ein Tourist. Es gibt keine Touristen im blutigen Frühling 1945. Vielleicht sind die drei unabkömmliche Spezialisten aus einem Rüstungsbetrieb, Ingenieure, die der Sog der Flucht mitreißt? Bis vor ein paar Stunden, bis endloses, monotones Sirenengeheul die Annäherung fremder Truppen signalisierte, ist in allen Betrieben gearbeitet worden ... Die Hallen leerten sich schnell, und jeder machte, daß er wegkam. Auch Paul Hein. Trotzdem hat er nicht den kürzesten Weg zu seiner Wohnung gewählt. Mit Bedacht hält er sich fern. Andernorts, das ist bekannt, haben die Nazis noch in letzter Minute ihre Feinde ermordet. In Bad Kosen weiß jeder, daß Paul Hein ein Feind der braunen Verderber war und geblieben ist. Die Akten der Geheimen Staatspolizei vermerken, daß Paul Hein von 1928 bis 1933 Funktionär der Kommunistischen Partei war, daß er dann lange Jahre hinter Kerkermauern gehalten wurde und daß ihm neben anderen .Rechten, die selbst Nazideutschland seinen Bürgern zubilligt, die „Wehrwürdigkeit" aberkannt ist. Daß er arbeiten darf, verdankt er nur dem Umstand, daß die Rüstung jeden Mann braucht, besonders einen, der mit Metall umgehen kann. Und er weiß, daß die Gestapo ihn nie vergessen, ihn immer im Auge behalten hat. Vielleicht sind es der betont zivile kleine Opel P4, die Trenchcoats, überhaupt die verblüffend unmilitärische Aufmachung der drei - Greise und Kinder werden in
Uniformen gesteckt, und diese da befinden sich im besten Alter, die Hein an die Schergen des Reichssicherheitshauptamtes denken und in seinem Versteck bleiben lassen. Er ist ihnen in den vergangenen Jahren überlegen gewesen, weil er wußte, daß sie gegen ihn ermittelten, ihn überwachten und sich unbemerkt glaubten. Nun wird er nicht gerade jetzt leichtsinnig werden ... Er ist weit genug ab, um unbesorgt die Zigarette anzünden zu können. Überdies achten die drei, mögen sie nun Gestapobeamte oder freigestellte Techniker sein, nur auf den verfluchten bockigen Motor und die „Invador", die immer engere Kreise über der Stadt und dem Fluß ziehen. Irgendwo in den Wäldern flackert plötzlich wildes Feuer aus Maschinenwaffen auf. Eine versprengte Wehrmachtsgruppe, fanatische Hitlerjungen, ein Aufschrecken der Angreifer vor flüchtigem Wild? Wer weiß es ... Der Wind trägt den Lärm weit. Und noch immer ist der Vormarsch der amerikanischen Armee bloß zu ahnen. Morgen... Es sind eben die vermeintlichen Gestapoleute, die ihn daran denken lassen, daß es gelingen muß, den Neuaufbau, den wirtschaftlichen wie den politischen, zur Sache der verschiedensten Volksschichten zu machen, wobei die Arbeiterklasse die entscheidende Kraft sein wird, weil sie am meisten dazu beitrug, das faschistische System zu bekämpfen. Er denkt an den beharrlichen Kampf der Partei seit den Beschlüssen von Brüssel und Bern, seit der Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland" für den Zusammenschluß aller Nazigegner. Dieses Ringen um all jene, die guten Willens sind, den Faschismus zu überwinden und seine Wiederholung
unmöglich zu machen, wird eine der Aufgaben für den Anfang sein. Die neue Zeit braucht auch diese Menschen. Paul Hein hat erlebt, daß es sie auch in Bad Kosen gibt, und es ist vornehmlich einer, an den er frohen Herzens denkt. Er, Hein, war eben aus dem Konzentrationslager entlassen worden. Manche, die ihn vor 1933 Freund nannten, trugen nun das Abzeichen der Nazipartei und mieden ihn beflissen - er ertrug es. Er hatte sich regelmäßig bei der Polizei zu melden - dessen schämte er sich nicht. Aber als schmerzlich empfand er, daß er zunächst ohne Verbindung zu den Genossen blieb, die illegal den Kampf der Partei weiterführten. Er brannte darauf, teilzuhaben an ihrem Ringen, doch die Erfahrungen der Konspiration hatten die Genossen gelehrt, sorgsam zu prüfen, ob die Entlassung eines politischen Häftlings der Gestapo nicht dazu diente. Illegale in eine Falle zu locken, Verbindungen aufzudecken und Widerstandsgruppen zu zerschlagen. Größte Wachsamkeit war geboten. Nur manchmal konnte man die Kopfjäger der Gestapo sofort erkennen, wenn sie Trenchcoats und Knickerbocker anhatten und in kleinen schwarzen Limousinen fuhren wie die dort drüben. Es galt, den Kampf gegen den Faschismus auch gegen die brutalen und heimtückischen Menschenjäger der Gestapo zu führen. Der Tag kam, an dem Kein die Parteiarbeit wieder aufnehmen durfte, an dem er ein Glied in jener Kette von Namenlosen wurde, die in Deutschlands dunkelsten Tagen den deutschen Namen mit Ehre trugen. Es erwies sich als vorteilhaft, daß er in Bad Kosen wohnte - in dieser Stadt, in der sich viele Fremde aufhielten, konnten
sich auch Kuriere bewegen, ohne aufzufallen. Das Haus An der Brücke 10 wurde ein wichtiger Treffpunkt, eine entscheidende Kontaktstelle. Nichts deutete darauf hin, daß die Gestapo eben dies erwartet und erhofft hatte. Mit Vorbedacht war der Eindruck erweckt worden, daß jegliches Interesse an der Person des ehemaligen Funktionärs erloschen sei; mit Vorbedacht hatte seit seiner Entlassung kein Gestapomann Heins Weg gekreuzt. Ganz sicher sollte er sich fühlen, ganz ungehindert arbeiten können, um unbewußt und nichtsahnend seine Genossen der faschistischen Justiz auszuliefern. Als sie erschienen, erfuhr es nur der Fleischermeister, dessen Geschäft und Wohnung dem Haus An der Brücke 10 schräg gegenüberliegen. Sie klingelten mitten in der Nacht bei ihm, wiesen ihre Blechmarken vor, verlangten, für Wochen ein Zimmer seiner Wohnung benutzen zu können und forderten, daß er darüber gegen jedermann schweige. Der Fleischermeister sagte notgedrungen zu die Geheime Staatspolizei bat nicht um eine Gefälligkeit, sie befahl sie. So wurde er Zeuge, wie Männer, die denen am Opel glichen, hinter der Gardine ein Stativ aufbauten, wie sie eine Schmalfilmkamera, eine Siemens D vielleicht, daraufsetzten und das Teleobjektiv auf die Tür des Hauses Nummer 10 einstellten. Das Federwerk wurde gespannt, und fortan hielt einer der merkwürdigen Filmamateure neben dem Apparat Wache. Die Kopfjäger waren nicht ohne Überlegung vorgegangen - -sie wählten eine Wohnung, in der sie als Besitzer einen Mann glaubten, den sie als Verbündeten betrachteten. Der Fleischermeister hatte dem „Stahlhelm" angehört. Er galt ihnen als „nationaler
Mann". Sie bedachten nicht, daß er sich in den Reihen einer Organisation, die ehrliches Nationalgefühl und Liebe zum Vaterland ummünzte in Revanchismus und Kriegsgeschrei, noch menschlichen Anstand, eine eigene Meinung über den Amoklauf der Nazijustiz gegen Andersdenkende, und persönlichen Mut bewahrt haben könnte. Der Fleischermeister wußte es so einzurichten, daß er Paul Hein außerhalb des Blickfelds der geheimen Kamera traf. Er bat ihn um Feuer, und während er sich über das Feuerzeug des Ahnungslosen beugte, sagte er leise und deutlich: „Bei mir ist heute Nacht die Gestapo eingezogen. Sie hat eine Kamera auf Ihr Haus gerichtet." Dann straffte er sich, hob die Hand zum Nazigruß und setzte seinen Weg fort. Es gelang, die Kuriere rechtzeitig zu warnen. Die Falle schnappte nicht zu. Als dennoch einer kam, der nicht erreichbar gewesen war, machte die Filmaufnahme den Eindruck, als versuchte da ein Betrunkener, in ein fremdes Haus einzudringen und würde hinausgeworfen. Das geistesgegenwärtig aufgeführte Spiel, durch ein Stichwort ausgelöst, nahm dem Zelluloidstreifen jegliche Beweiskraft. Die so raffiniert angelegte Aktion der Gestapoleute mußte erfolglos abgebrochen werden. Der Fleischermeister ist einer von denen, die sich gewinnen lassen und andere mitreißen werden. Ein Anfang ... Der Mensch im Pullover ruft dem im offenen Mantel etwas zu, und der steigt schnell ein und startet. Der Viertaktmotor arbeitet wieder und läßt den kleinen Opel vibrieren. Die Kühlerhaube wird geschlossen, die noch Außenstehenden klettern eilig in den Wagen, und wie es sie drängt, davon zu kommen, das verraten die beim Anfahren radierenden Reifen.
Paul Hein mit seiner Tochter im Jahre 1963
Gleich danach, Paul Hein steht eben auf und drückt die Zigarette aus, kehrt der buntscheckige Lastwagen aus Bad Kosen zurück - leer nun bis auf den Fahrer - und folgt in der allgemeinen Fluchtrichtung. Bis jetzt ist Paul Hein ruhig gewesen, beinahe gelassen, und beherrscht hat ihn die Freude auf den schweren, aber sinnvollen Neubeginn. Plötzlich ergreift ein ungutes Gefühl von ihm Besitz, die Ahnung von einem möglichen Verbrechen ... Jeder weiß, daß der geschlagenen Naziarmee befohlen ist, „verbrannte Erde" hinter sich zu lassen, verwüstete Felder, in Trümmern liegende Städte, zerstörte Fabriken. Das ist der Wille der faschistischen Führer, die ihr eigenes Ende zum Ende des Lebens überall dort machen möchten, wo sie nicht mehr herrschen können. So haben sie in der Sowjetunion gewütet, als ihre Armee unter den Schlägen der Roten Armee zerbrach, so wüten sie nun auch in Deutschland. Paul Hein schiebt schon das Rad aus der Deckung heraus und schwingt sich in den Sattel. Er tritt kräftig in die Pedale. Ganz vergessen ist, daß er die letzten Minuten vorsichtig sein wollte, daß er dabeisein will, wenn die neue Zeit beginnt. Weggewischt ... Weggewischt durch die Vorstellung, daß die vier in Uniform mit Sicherheit etwas vorhaben, daß sie neuen Schrecken bringen. Vier Mann vermögen keine Armee zu bekämpfen, aber zerstören, das können sie noch. Was immer sie vernichten werden - es wird den Aufbau des neuen Lebens stören, erschweren und hinauszögern, einerlei, ob sie dafür eine Fabrik, ein Elektrizitätswerk oder eine Brücke ... Die Brücken ... Die einzigen Übergänge über die Saale... Er weiß in dieser Sekunde, weshalb der Trupp zurückkam. Paul Hein fährt, als gelte es ein
Rennen. Solch eine Brücke kostet Millionen Mark, Millionen, die morgen von anderen wichtigen Posten abgezogen werden müssen, wenn ... Und man wird mit jedem Pfennig rechnen müssen, damit das blutige Erbe der Nazis überwunden, damit das Leben wieder lebenswert wird. Er schämt sich, an sich selbst gedacht zu haben. Für viele muß er jetzt denken, auch für die, die sich gegenwärtig verkriechen, die verwirrt, verstört, verzweifelt und kopflos sind, denn auch sie werden es sein, die morgen aufbauen, umdenken und hier leben werden. Handeln muß er. Für Paul Hein steht fest, daß er versuchen muß, die Absicht der vier zu vereiteln. Die Truppen der Antihitlerkoalition halten sie nicht auf - die haben Pioniere, Brückenbaukolonnen und vorgefertigtes Material für solche Fälle. Sie bringen ihre Panzer so und so hinüber. Treffen kann der Schlag nur die Einwohner. Die Kommunisten haben vor dem Krieg gewarnt und sind deswegen erbarmungslos verfolgt worden. Aber es ist keine Genugtuung für Paul Hein, die Vorhersage jetzt auch in Bad Kosen Wirklichkeit werden zu sehen. Die Stadt steht schon auf der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Das entscheidet. „Eine anständige Achtacht", sagte der Leutnant forsch. „Und Flakkanoniere, die die Vorhaltewinkel kennen ... Wetten, daß wir alle 'runterbekämen?" Er und der Unteroffizier stehen im Brückenhäuschen und beobachten die Luftaufklärer. Wie silbrige Hornissen ziehen sie am Himmel, und ihre Schleifen und Kreise, ihr Steigen und Fallen sehen beinahe verspielt aus. Erst waren es nur zwei; drei kamen dazu. Der Leutnant betrachtet das als Beweis dafür, daß die Landstreitmacht sehr nahe ist. „Wissen Sie was?" erklärt er. „Wir lassen
unser kleines Feuerwerk los, wenn diese protzigen Helden aus Übersee schon auf der Brücke sind. Sowas mögen die nicht, da ziehen sie sich erst mal zurück, und wir können in aller Gemütsruhe zu unseren Leuten. Ohne Hast..." Er lacht ein bißchen, holt ein Päckchen Attikah heraus und bietet auch dem Unteroffizier an. Der murmelt, er sei so frei. Die Sprengladungen sind gelegt. Die Zündkabel schlängeln sich unverdeckt bis in den Keller des Hauses An der Brücke 10. Dort bewacht einer der Soldaten die Zündmaschine. Der andere lehnt in einem Hauseingang der Straße, die an der Saale entlang verläuft, und hat beide Brücken im Auge. Vollkommen ungestört haben sie arbeiten können. Die Einwohner haben die Stadt zum größten Teil geräumt und Schutz im Wald und auf dem Rechenberg gesucht. Dort, hoffen sie, werden Artilleriefeuer und Bomben sie nicht erreichen. Und ein alter Lehrer fühlt sich daran erinnert, daß die Menschen in der Vergangenheit schon einmal so Zuflucht in Schonungen und Dickichten nahmen - damals, als die Hussiten gen Naumburg zogen mit Spießträgern, gepanzerten Reitern und Streitwagen, hinter deren Planken Kämpfer mit langrohrigen Hakenbüchsen standen. Der Lehrer hat diesen Marsch liebevoll in einem Zinnfigurendiorama gestaltet und auch angedeutet, daß flüchtige Städter wie Tiere des Waldes lebten. Auf einmal hat er an dem allen keine Freude mehr; schon die Erinnerung ist verhaßt. Ein Mann läuft plötzlich auf das Brückenhäuschen zu und herein, ein Einarmiger. „Ich habe gehört, daß Sie hier sind, Herr Leutnant, und da wollte ich ..." Er sieht bei den beiden die schwarzen Pionierspiegel, sieht die
Kabel und die Erhebung im Brückenpflaster, die den Sprengsatz kaum verdeckt. „Habe ich mir gedacht..." Der Leutnant gibt ihm auch eine Zigarette und deutet auf den leeren Ärmel. „Wo ...?" „Vor Leningrad, Herr Leutnant. Sturmboot... Wir dachten, da regt sich keine Maus mehr, aber als der Angriff losging..." Er winkt ab, deutet unvermittelt nach hinten, wo gleich neben der Brücke ein Hotelbau steht und sagt hastig: „Ich denke mir. Sie wissen nicht, daß das 'n Lazarett ist. Fast vierhundert liegen da, die meisten nicht transportfähig. Ein Querschnitt durch den ganzen Haufen - Matrosen, Gebirgsjäger, Kradfahrer, Grenadiere, Flieger. Wenn Sie sprengen, gehen alle mit hoch, Herr Leutnant." Der Offizier starrt ihn an und fährt sich gedankenlos mit der Hand an den Kragen. „Schweinerei", sagt der Leutnant. „Unteroffizier, den leitenden Stabsarzt auf der Stelle zu mir!" „Den Weg können Sie sich sparen", fährt der Einarmige fort. „Ich war gerade drüben; einer von meinem alten Haufen liegt da. Das ganze Personal ist mitgetürmt. Der Oberstabsarzt hat alle Schwestern und die Sanis mitgenommen. Denen dort hilft keiner mehr." Der Leutnant hat sehr schmale Lippen, blutleere. Kaum wahrzunehmen sind sie mehr. „Säue, verfluchte", würgt er zwischen den Zähnen hervor. „Was soll ich denn machen? Ich habe meinen Befehl, da hinten verlassen sie sich auf uns." „Ein paar Stunden früher oder später, das ändert doch nichts mehr, Herr Leutnant", wirft der Einarmige leise hin. „Sie können doch nicht..." „Ich kann nichts für die Pflichtvergessenheit dieser
Feiglinge mit Äskulapstab und dafür, daß sie bloß ihre Liebchen und die Sanis mitgenommen haben", erwidert der Offizier rauh. „Da haben Sie recht, Mann. Ich verstehe, daß Sie das mitnimmt; Sie sind ja auch... Diese komische Andeutung habe ich überhört. Und nun hauen Sie ab!" „Werden Sie ...?" „Ich tue meine Pflicht. Für das da bin ich nicht verantwortlich. Ab!" Kein Wort kann der Einarmige mehr sagen. Er geht rückwärts aus dem Brückenhäuschen und dann mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf über die Saalebrücke, langsam, gerade so, als schleppe er schwere Last, und vollkommen gleichgültig sind ihm die RB-26 und daß er auf der Brücke wie auf einem Präsentierteller geht. Er scheint es vergessen zu haben. „Erinnern Sie mich, daß ich das melde", hört der Unteroffizier den Leutnant befehlen. „Was denken sich denn diese Etappenhengste!" „Ich erinnere Herrn Leutnant, jawohl", entgegnet der Mann mit der Silberlitze. Die Kehle ist ihm wie ausgedörrt. „Nehmen Sie noch 'ne Attikah", sagt der Offizier. „Wenn wir das nicht erfahren hätten, wäre es leichter gewesen. Aber was sein muß, muß sein." Das Wehr rauscht leise und trägt silberne Gischt. Auch die Kinder erleben den Wald heute anders. Keines der Spiele fällt den größeren ein, zu denen Wege und Lichtungen, brechendes Unterholz und der Schatten von Tannen sonst einluden. Doch da wurden auch nicht Koffer und Rucksäcke geschleppt, da waren die Erwachsenen fröhlich, und da gingen nicht im Flüsterton
Gerüchte und Mutmaßungen von Mund zu Mund. Nun hocken sie auf dem eilig zusammengerafften Gepäck, kleinlaut und klein, sehen die Großen an und möchten fragen, warum alles so anders ist und wie das kommt, aber sie trauen sich nicht. Im Augenblick bleibt den Erwachsenen keine Zeit zur Besinnung. Sie stehen, die Hände verkrampft, und starren in Richtung der Stadt und erwarten aufsteigenden Rauch. Es ist kein Trost, daß sie die abgezogenen faschistischen Truppen schon fern, Bad Kosen unverteidigt wissen - unter ihnen sind Flüchtige aus Städten, in denen weder Truppen noch Rüstungszentren lagen, und auf die angloamerikanische Bomber dennoch den tausendfachen Tod in tonnenschwerer Bombenlast regnen ließen. „Ich gehe noch einmal hinunter", sagt Käthe, der Schmied. „Die Ziege... Wir hätten sie mitnehmen müssen, das arme Vieh. Nicht mal losgemacht ist sie; wenn es brennt, kommt sie elend um. Ich hole sie. Wegen der Milch, und überhaupt..." Zureden fruchtet bei ihm nicht, er bricht auf. Jeder sehe ja, daß noch nichts los sei, wehrt er die Ängstlichen ab, und außerdem werde er nicht durch die Stadt laufen, sondern durch die Schrebergärten, die unmittelbar an die Uferstraße angrenzen. Da sei er hinlänglich gegen Fliegersicht gedeckt, und die paar hundert Meter, die bis zur Schmiede bleiben ... Die schafft er schon, keine Bange! Tatsächlich trifft er keinen Menschen. Er hat die Eisenbahnbrücke im Rücken und die Straßenbrücke vor sich, als er vor seiner Schmiede steht. Wenn ihre Tore geöffnet sind, sieht er auf die Saale und den Stadtteil gegenüber hinaus, und die Bauern und Fuhrleute, die
ihm ihre Wagen und Pferde brachten, sind immer gern am Ufer stehengeblieben, haben in die Saale gespuckt und sich beim Warten die Zeit nicht lang werden lassen. Jetzt... Eine Schmiede ist trostlos, wenn darin kein Feuer lodert, wenn es kein Ping-Pang von schweren Hämmern gibt, wenn statt dessen Staubkörnchen über dem Amboß tanzen. Wie zum Hohn läuft im Nachbarhaus hinter offenem Fenster ein vergessenes Radio. Filmschlager „Nur nicht aus Liebe weinen ..." Als gäbe es nichts Wichtigeres ... Gleich trennen kann er sich nicht wieder. Er steht da, breitschultrig und untersetzt, mit starkem Nacken und großen Händen, die an die Hämmer erinnern, die zu führen sie gewohnt sind; rauhe Hände voller Hornhaut und Schwielen. Sie taugen nicht zur Tatenlosigkeit. So alt sind sie noch nicht. Ganz nutzlos rückt Käthe einen Blasebalg an die Stelle, auf die er gehört, ja, er streichelt sogar über den Amboß verstohlen, obwohl es doch niemand sieht. Ein Abschiednehmen ... Der Schmied sieht die beiden vom Sprengtrupp nicht, die im Brückenhaus untergetreten sind, aber er weiß das unscheinbare Kabel richtig zu deuten, das zum Eisenbahnviadukt hinüberläuft. Er ist auch Soldat gewesen, im ersten Weltkrieg, Kavallerist, wie sich das für einen Schmied gehörte, der von Berufs wegen etwas von Pferden verstehen muß - und zeitweilig ist er mit einem Sprengtrupp geritten ... Sobald die Sprengsätze zünden, die die beiden Brücken vernichten sollen, ist seine Schmiede gewesen. Käthe nickt. So mußte es wohl kommen. Zu den Erinnerungen, die in dieser Stunde aufleben, gehört die an Hermann Firschau, den Kommunisten, den
Mitbegründer der KPD in Bad Kosen, den Teilnehmer der Märzkämpfe in Leuna. Der hat sich nicht blenden lassen, der hat gewußt, was Faschismus bedeutet und gegen ihn gekämpft, bis sie ihn abholten... Er hat das vorhergesehen, aber nicht aufgegeben. Sie stritten oft, Firschau und der Schmied, und als Käthe zum „Stahlhelm" ging, sagte Hermann: „Was willst du bei denen, Karl? Zu uns gehörst du, du schindest dich wie wir für ein paar Kröten und bist von den Herren so abhängig wie wir - ob du diese Bude hier hast oder nicht! Solche wie dich brauchen sie wieder nur zum Verheizen, und wenn dann der Gegenschlag kommt - und er kommt, sobald sie sich an der Sowjetmacht vergreifen, Karl! -, dann wird dir nicht einmal deine Schmiede bleiben. Nur ein Trümmerhaufen ..." Er, Käthe, hat es nicht wahrhaben wollen. Der Hermann wäre verbohrt, hat er gedacht, und daß sich das „Dritte Reich" doch so schlecht nicht anlasse. Bei ihrer letzten Begegnung noch packte er diese Weisheit aus. Firschau hatte ihn lange angesehen und gesagt: „Eines Tages wirst du erwachen, Karl. Hoffentlich nicht zu spät. - Ich komme heute einer anderen Sache wegen. Wie es aussieht, werde ich mich nicht mehr lange selbst um meinen Jungen kümmern können. Ich möchte aber, daß er eine anständige Lehre hat und ein guter Arbeiter wird. Leicht wird er nicht unterkommen, wenn sie mich abholen. Traust du dich, einen Kommunistenjungen ...? Sie könnten dich schief ansehen ..." - Käthe hatte gelacht und auf sein breites Kreuz verwiesen. Er brach sein Wort nicht. - Ob er noch einmal einem Jungen beibringt, Hufeisen paßgerecht...? Ob er hier je wieder glühendes Eisen im Wasser zischen hört?
Hermann Firschau -an Diskussionen mit ihm, leidenschaftliche Diskussionen, erinnerte sich der Schmiedemeister
Dort liegt das Zündkabel, still, unscheinbar, leblos. Es zieht den Schmied an. Er kann deutlich sehen, daß ein zweites auf die Strafjenbrücke führt. Über diese sind
viele seiner Kunden gekommen, durch sie sind der diesund der jenseitige Stadtteil eine Einheit. Schwer kann der eine ohne den anderen leben, nur durch Boote wäre die Verbindung unzulänglich. „Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder ..." Lilian Harvey in: „Der Kongreß tanzt" ... Über dem Fluß tanzen die ersten Mücken. Wenn man doch das verfluchte Radio abstellen könnte! Absurd eigentlich, daß noch Strom da ist... Gleich werden die Funktürme von Königs Wusterhausen einmal mehr die Meldung in den Äther jagen, daß im Führerhauptquartier kein Zweifel am Endsieg bestünde. Und bei diesem Gedanken ballt Karl Käthe die Fäuste. Welch erbärmliches Schauspiel! Die Durchhalteparolen und der Terror der Gestapo und der Feldgerichte dienen nur noch einem Zweck -das Gericht der Völker über die Hitlerclique um ein paar Tage zu verzögern ... Nur deshalb noch müssen in dieser Minute Tausende Soldaten auf allen Seiten sterben, nur deshalb noch werden Fabriken, Brücken und ganze Städte zerstört, nur deshalb noch winden sich diese Kabel durch Bad Kosen. „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen ..." Wunschträume per Schallplatte ... Der Schmied sieht die Zusammenhänge mit großer Klarheit. Das verleiht keine Befriedigung - eher hätte er nachdenken müssen, als Zeit dazu war. Wenn die Firschaus nicht allein gelassen worden wären... Ist es wirklich zu spät? Der Eisenbahnviadukt hat Truppentransporte getragen - er wird Voraussetzung dafür sein, daß Lebensmittel vom Land in die Städte kommen und aus den Städten Maschinen und Bücher aufs Land. Über die Straßenbrücke führt der Weg zur
Saline - werden nicht nach dem Krieg mehr Kranke, mehr Heilungsuchende da sein als je zuvor? Brücken sind ein Stück des Lebens, mehr als nur Gestalt gewordene Ingenieurberechnung. Deshalb haben ihre Schöpfer ihnen zu allen Zeiten Schönheit verliehen. Diese beiden da sollen bestehenbleiben. Auf einmal ist es Karl Käthe, als werde jetzt und hier, mit dem Schutz der Brücken vor der Zerstörung, darüber entschieden, wie seine Zukunft aussehen wird, ob er ihr gerade oder nur mit gesenktem Kopf entgegengehen kann. Da nimmt er eines von den Messern, mit denen er Pferdehufe vor dem Beschlag ausschneidet, und tritt hinaus - ohne Hast, als wolle er eine alltägliche Arbeit verrichten. „He, Mann! Verrückt geworden, was?" ruft ihn der Posten an. „Willst du den Fliegern 'ne Schießscheibe bieten? Ins Haus zurück, aber dalli!" Käthe gehorcht. Er hat den Soldaten vorher nicht wahrgenommen, nicht mit ihm gerechnet. Aber er ist da, und der Schmied muß ihn überlisten, wenn er überhaupt an das Kabel herankommen will. Nur wie? Er muß eine andere Möglichkeit finden. Und die Zeit rückt unaufhaltsam weiter. Marika Rökk singt mit sich selbst Duett. Eine Melodie aus „Kora Terry"; „Für eine Nacht voller Seligkeit, da geb' ich alles hin ..." Die Panzerspitze jenseits der Saale steht erneut. Vor den Sehschlitzen liegt der Ortseingang von Bad Kosen, liegt eine Straße ohne Sperren. Sie ist menschenleer, der Asphalt flimmert im Sonnenlicht. Dennoch zögern die Kommandanten. In so alten und verhältnismäßig engen Straßen sitzen die Sherman-Kolosse wie in der Mausefalle. Das haben sie öfter erlebt. Sie trauen diesem
Frieden nicht. Überdies ist das Gelände, das das Vorfeld der Stadt bildet, unübersichtlich. Bevor es nicht aufgeklärt wurde, besteht die Möglichkeit eines Flankenstoßes. Infanteristen sitzen ab, schwärmen aus; Schützenpanzer schaukeln ihnen nach, um notfalls Feuerschutz zu geben. Die GI's brechen durch Gesträuch - schweigend, mit mahlenden Kiefern, den Kolben des Schnellfeuergewehrs an der Hüfte, das aufgepflanzte Bajonett in Brusthöhe vorgehalten. An diesem Apriltag meint es die Sonne gut. Die unerträgliche Hitze veranlaßt den einen und anderen Panzerkommandanten, den Turm zu öffnen und den Kopf hinauszustecken. Die Luftaufklärung ergibt nichts Verdächtiges - die Erfahrung lehrt darauf nicht blind zu vertrauen -, und noch stoßen auch die Infanteristen auf keinerlei Widerstand. Auf der Durchfahrtkarte von Bad Kosen ist die Straßenbrücke rot angestrichen. Nach der Besetzung muß sie laut Befehl sofort durch Posten und Flak gesichert werden. Sie besitzt Bedeutung für den Nachschub, und die Möglichkeit besteht, daß sich doch noch ein Nazi-Bomber heranschleicht. Offen anfliegen kann er nicht - in Ost und West beherrschen die alliierten Luftstreitkräfte den Himmel. Dem Eisenbahnviadukt schenken die Stäbe kaum Beachtung - die Versorgung der US-Army erfolgt mit Fahrzeugen und durch die Luftwaffe. Endlich: Befehl, vorzurücken. Motoren brüllen, Ketten rasseln, der Duft verbrannten Benzins schwängert die Luft. Die Walze gerät in Bewegung, dichtauf gefolgt von vollbesetzten Schützenpanzern. Bei den ersten Häusern
stoppt das Ganze wieder. Wie auf dem Truppenübungsplatz wird das gewonnene Gebiet gesichert, sehr gründlich gesichert, ehe es erneut heißt: „Forward!" Unterdessen sitzen auf einem ehemaligen Flugplatz der faschistischen Luftwaffe Dutzende Piloten in startbereiten Maschinen und warten auf die Nachricht, daß die Truppen Feindberührung haben. Das ist für sie das Signal, zu fliegen und die Bombenschächte zu öffnen. Abermals rückt der Spitzenpanzer fünfzig Meter vor. Und erneut: Sichern ... Warten ... Die Fenster im Auge haben, die Kellerluken, die Einfahrten... Sich den Rücken frei halten ... Warten ... Und auf alles gefaßt sein ... „Bis sie an der Brücke sind, ist wenigstens die schlimmste Hitze vorbei", bemerkt der Leutnant vom Sprengkommando trocken. „Da kommen wir nachher nicht so ins Schwitzen." Er versucht, dabei ein wenig zu lachen, doch das nimmt sich ziemlich kläglich aus. Man kann formulieren, wie man will - die Niederlage ist auch mit den gewähltesten Worten nicht zu umschreiben. Der Offizier merkt das selbst und wechselt eilig den Gesprächsstoff. „Bei Pforta wartet ein Muli der Kompanie auf uns. Eines von den italienischen, Sie wissen schon ..." „Ich weiß, Herr Leutnant." Besonders beliebt sind die langsamen Transporter mit ihrem Sperrholzaufbau nicht, aber es bedeutet bereits viel, daß die Kompanie überhaupt ein Fahrzeug abzweigt. Der Unteroffizier denkt, daß sie beim Stab wohl noch eine große Zahl Sprengungen vorhaben ... „Vielleicht sollten Herr Leutnant die beiden Soldaten, die nichts mehr zu tun haben, zum Wagen voranschicken, damit das Muli nicht Versprengten in die Hände fällt. Das bißchen hier, das schaffen Herr Leutnant und ich allein."
Der Offizier nagt an der Oberlippe. Der Unteroffizier hat recht - die ausgepumpten Landser sind nicht fein in der Wahl ihrer Mittel, wenn ein Fahrzeug greifbar ist. Man hat von Kradschützen gehört, die sich mit vorgehaltener Nullacht Benzin „borgten". Nur nicht liegenbleiben... Zum Kotzen! „Na schön", sagt er. „Veranlassen Sie das, Unteroffizier! Aber vorher überzeugen Sie sich, daß die Uferstraße vollständig geräumt ist. Habe da eben noch so einen komischen Vogel in Zivil gesehen. Dann: Sie bleiben bei Ihrer Zündmaschine. Gezündet wird erst auf mein Kommando. Klar?" „Klar, Herr Leutnant." Der Offizier setzt sich auf das Steinbänkchen im Brückenhaus, legt die Maschinenpistole auf die Knie und starrt zum jenseitigen Ufer. Ein Gedanke bewegt ihn zwei Mann stoppen eine Armee; eine Ritterkreuzsituation ... Wenn nicht alles so drunter und drüber ginge ... Käthe sitzt auf seinem Amboß, die großen Hände müßig auf den Schenkeln. Der Unteroffizier sieht ihn nicht gleich, als er aus der Helligkeit in die dämmrige Schmiede tritt. „Ist jemand hier?" fragt er und fügt gleich hinzu: „Sie müssen die Straße räumen. Wir sprengen." Der Ältere steht auf. „Wirklich? Der Krieg ist doch aus. Daran änderst du auch nichts mehr. Wenn die Brücken hochgehen, ist das alles ein Trümmerfeld. Mitsamt dem Lazarett dort drüben. Aber an sich paßt das dazu - die eigenen Leute in die Luft jagen, um fünf Minuten zu gewinnen. Überleg mal. Junge!" „Das hilft nun alles nichts", erwidert der Mann mit der Silberlitze. „Seien Sie vernünftig und hauen Sie ab! Ich bin Soldat ich tue, was ich tun muß. Los! Es ist bald soweit."
Der Schmied sieht ihn an. „Und wenn du da drüben liegen würdest? Oder dein Bruder? Würdest du auch sagen: ,Noch ein Verbrechen - es kommt auf vierhundert Morde mehr oder weniger nicht an; Hauptsache, die Anstifter haben eine weitere Galgenfrist'? Würdest du so reden?" Neben Karl Käthe wirkt der Unteroffizier zierlich und klein. Er wird ganz weiß und schluckt, und seine Hand fingert nervös an der Pistolentasche. Dann würgt er hervor: „Wenn ich es nicht mache, macht's ein anderer. Das wissen Sie so gut wie ich. Meinen Sie, ich tue es gern? - Los, 'raus hier! Ich verstehe Sie ja; ich verstehe auch, daß Sie nicht wissen, was Sie reden. Aber Sie müssen gehen! Versetzen Sie sich mal in meine Lage Sie sind sicher selbst Soldat gewesen ..." Er bittet: „Machen Sie's mir nicht noch schwerer." Der Schmied nickt. Er wird den in der verblichenen Uniform nicht umstimmen. Nie war er wortgewandt, und seine Kehle ist nun von Zorn, Verzweiflung und Verachtung wie zugeschnürt. Er hat einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Den Hoheitsadler mit dem Hakenkreuz auf der Brust des verwaschenen Waffenrocks starrt er an und wird die Erinnerung an Hermann Firschau nicht los. Warum haben sie nicht auf ihn gehört, er und die anderen? Der hat das faschistische Verbrechen und seine Folgen richtig erkannt, von Anfang an. Und gesagt, sie könnten es verhindern. Daran klammert sich Käthe jetzt - es verhindern. Es gibt keine Möglichkeit mehr dazu, wenn er fortgebracht wird. So zwingt er sich, seiner Stimme einen belanglosen Klang zu geben, und behauptet: „Wenn es so ist - ich bin gleich weg. Nur die Ziege holen, wegen der Milch, wissen Sie ..."
„Natürlich", erwidert der Unteroffizier erleichtert, legt flüchtig die Hand an die Mütze und geht. Auf der Straße bleibt er noch einmal stehen. Er zögert, und es sieht aus, als wolle er etwas sagen, aber dann überlegt er es sich anders, winkt ab, befiehlt den Posten zu sich und biegt mit diesem in die Straße An der Brücke ein. Die Uferstraße ist nunmehr unbewacht. Dessenungeachtet greift der Schmied nicht neuerlich zum Messer. Zwischen den Fenstersäulen des Brückenhäuschens ist nach wie vor die Offiziersmütze des Leutnants zu sehen. Dieser besitzt eine Maschinenpistole, und Karl Käthe kommt zu dem Schluß, daß der sie auch gebrauchen wird, wenn er, der Schmied, bis zur Hauptstraße vorläuft, um beide Kabel zu unterbrechen. Das Kabel hier zu trennen, vor dem Haus, kann nur den Viadukt retten. Halbe Arbeit... Käthe wartet, so schwer es ihm fällt. Er muß bis zur Straße vor ... Auf der Treppe schon wird der Schlosser Paul Hein von zurückgebliebenen Hausbewohnern empfangen. Sie machen ihn mit der neuen Lage vertraut - halblaut, ängstlich, jede eigene Stellungnahme vermeidend. Sie hüten sich, aufzubegehren, obwohl die Wehrmacht geflüchtet ist. Nicht innerhalb von Wochen werden sie wieder lernen, eine eigene Meinung zu haben und sie zu vertreten, das war zwölf lange Jahre hindurch strafbar wie sollten sie in Stunden schon zu sich zurückfinden, in solchen Stunden der Sorge und Ungewißheit! Nur Fakten führen sie auf - daß von den beiden Brücken Kabel in den Keller dieses Hauses gehen, daß da unten ein Soldat sitzt und daß zwei andere und ein Offizier zur Straßenbrücke gegangen sind. Sie wissen von dem Mann bei der Zündmaschine, daß der Sprengmeister des
Trupps Unteroffizier und nicht aus hiesiger Gegend ist. Er spreche fremden Dialekt, und ihm könne es natürlich egal sein, ob in Bad Kosen noch eine Brücke über die Saale führe oder nicht. Kurze Pause. Schließlich sprechen sie wieder von den Brücken. Sie, bisher selbstverständlicher Bestandteil des Alltags, keiner Diskussion würdig, stehen plötzlich im Mittelpunkt des Denkens; man klammert sich an sie, entdeckt Liebe zu ihnen, kann sie nicht missen. Sie sind ein Stück des Lebens des Kurorts. Jeder, der einmal hier war, hat sie betreten oder befahren. Paul Hein könnte von seinen Nachbarn denken: Hättet ihr früher etwas getan, könnte euch heute kein Sprengkommando drohen. Er denkt es nicht. Der logische Schluß ist selbstverständlich. Hier und heute kommt es darauf an, dafür zu sorgen, daß nicht in letzter Minute noch zerstört wird, was wiederaufzubauen morgen zusätzliche Anstrengungen kosten würde - zusätzliche zu den ungeheuren und schwindelerregend großen, die vor dem vom Faschismus befreiten Deutschland stehen werden. Noch nie war die neue demokratische Republik so nahe wie jetzt, da die alten Machthaber geschlagen und ohnmächtig sind. Sind nicht alle Voraussetzungen geschaffen? Radio Moskau hat über die Dreimächtekonferenz in Jalta ausführlich berichtet. Während ihrer Beratungen vom vierten bis elften Februar beschlossen die Sowjetunion, Großbritannien und die USA, den deutschen Militarismus und Faschismus zu vernichten und Garantien dafür zu schaffen, daß Deutschland nie wieder den Frieden der Welt stören kann. Für einen Augenblick schweift Kein ab. Er überlegt mit dem Anflug eines Lächelns, daß es bald nicht mehr nötig
sein wird, den Skalenknopf des Radios zu drehen, ehe er ausschaltet. Bis heute war das ein Gesetz der Selbsterhaltung für jeden, der im Äther die Wahrheit suchte. Wenn es unterdessen an der Wohnungstür klingelte - es reichte nicht aus, den Apparat abzuschalten. Stets gingen Gestapobeamte sofort zum Radio und schalteten es ein, erst recht, wenn die Röhren noch warm waren. „Feindsender" zu hören war strafbar. - Vorbei... Ein Mann ist ihm nun nahe, und die Worte, die er Ende Januar in ein Mikrofon des Senders vom National-komitee „Freies Deutschland" sprach, klingen in ihm. Damals wandte sich Walter Ulbricht an die Bürger Berlins, aber was er sagte, könnte für Paul Hein in Bad Kosen heute gedacht gewesen sein: „... es besteht kein Zweifel, daß, wenn deutsche Soldaten weiter die Befehle der bankrotten Hitlerregierung ausführen und vor und in Berlin kämpfen, nicht nur Bomber, sondern auch Massen von Geschützen die Stadt beschießen werden, um die Nazikriegsverbrecher endgültig zu vernichten. Das deutsche Volk und vor allem die Berliner Bevölkerung können diese Katastrophe vermeiden, wenn sie selbst die Waffen gegen die Hitlerbande richten. Ich weiß, daß viele Männer, die im Wirtschaftsleben Berlins tätig sind, sich um die Erhaltung des Betriebes oder des Geschäftes sorgen. Man kann jedoch die Betriebe und sonstigen Wirtschaftsunternehmen nur erhalten, wenn man die Weiterführung des Krieges unmöglich macht, wenn man verhindert, daß die Hitler, Himmler, Goebbels und Ley auch noch in der Stadt Berlin ihren Krieg weiterführen ..." Die Weiterführung des Krieges unmöglich zu machen ... Das läßt Paul Hein nicht los.
Die Leute sehen ihn an, hilfesuchend, auch verlegen. Er spürt, daß sie ihn mit neuen Augen betrachten, mit Hoffnung und einem keimenden Vertrauen. Warum er verfolgt wurde und weshalb ihn auch manche von diesen mieden, das weckt nun Zuversicht und macht seinen Rat gewichtig. Paul Kein ist im Kampf erfahren; vielleicht weiß er... Sie bitten ihn nicht, das wagen sie nicht, und dazu finden sie sich noch zuwenig zurecht in dem allen, aber sie atmen auf, als er einfach erwidert: „Ja. Ich gehe hinunter." Deshalb kam er doch. Er tritt in den Keller. Da sitzt jetzt der Unteroffizier auf einer Kiste, schneidet Scheiben von einem Brot und Stücke von einer Dauerwurst und ißt. Dann und wann spült er mit einem Schluck aus der Feldflasche nach. Der Mann mit der Silberlitze dreht nur den Kopf. Er ist lange genug Soldat, um am Schritt des Kommenden zu erkennen, ob da ein Offizier erscheint, der Aufstehen und Hackenklappen verlangt, ein Soldat, der lässig geht, ein Untergebener, der nicht anecken will, oder ein Zivilist... „Tag", sagt Hein so unbefangen wie möglich. „Ich höre gerade, hier tut sich was. Da wollte ich einmal nachsehen." Das findet der Sprengmeister normal. „Setz dich doch", erwidert er. „Rauchst du?" Er klaubt ein Päckchen Juno aus der Brusttasche; Marketenderware gibt es noch. Der Schlosser greift zu. „Na also". Der Unteroffizier lächelt. „So ist es gleich viel gemütlicher." Aus dem Rheinland stammt er,.und es erweist sich, daß er ein geselliger Mensch und einem Schwatz nicht abgeneigt ist. Paul Hein tastet sich behutsam an ihn heran, mit belanglosen Fragen nach dem Woher und
Wohin, und er meint dann wie beiläufig: „Du hast wenigstens die Beruhigung, daß bei dir zu Hause der Krieg aus ist. Dort fallen keine Bomben mehr." Der Unteroffizier packt ohne Hast seine Verpflegung ein. „Ein Glück! Am siebenten März sind die von der anderen Feldpostnummer in Köln gewesen und haben bei Remagen einen Brückenkopf gebildet. Von da aus sind sie dann vorgerückt. Weiter oben im Norden, bei Wesel, sind Briten und Kanadier über den Rhein gegangen. Nur im Ruhrgebiet halten sich noch einundzwanzig Divisionen von uns. Aber, wie lange... Sie sitzen im Kessel, weißt du, und ob sie da 'rauskommen ... Ich glaube es nicht." Wie zur Erklärung seines Wissens ergänzt er: „Unsere Funker schnüffeln im Äther herum. Ist doch klar ..." Hein teilt seinerseits mit, was er hörte. Die beiden Armeen in Ostpreußen, die von den sowjetischen Truppen in drei Gruppen gespalten wurden, sind fast vernichtet - die Gruppe bei Heilsberg ist vor zwei Wochen zerschlagen worden, die bei Königsberg hat vorgestern kapituliert, und die Samland-Gruppierung wird sich nur noch einige Tage halten können. Ungarn ist befreit, und Wien erwartet die Rote Armee morgen, spätestens übermorgen. Polen ist frei, und nun beginnt der Sturm auf Berlin. „Schade um jeden, der noch stirbt. Nachher wird jede Hand gebraucht. Die Trümmer müssen weg, die Felder bebaut werden, Maschinen her." Der Mann mit der Silberlitze schiebt seine Mütze in den Nacken und raucht nun ebenfalls. „Kannst du dir das überhaupt vorstellen?" fragt er unvermittelt. „Du stehst morgens auf... Du hast in einem richtigen Bett
geschlafen, und wenn du die Hand ausstreckst, ist deine Frau neben dir, und sie schreckt nicht mehr hoch, weil sie selbst im Traum die Sirenen hört... Du gehst ins Werk, sagst ,Morgen' und gibst deinen Kumpels freundschaftliche Rippenstöße, wenn du sie magst - und du brauchst dich nicht mehr aufzubauen und wie eine Marionette zu tanzen, weil da einer ist, der mehr Lametta hat als du. Und schließlich das Tollste: Du bekommst Sprengsätze, Zündschnüre und den anderen Kram, der dazu gehört - das ist mein richtiger Beruf, mußt du wissen, ich war vor neununddreißig noch beim Tunnelbau -, und du nimmst das ganze Zeug und verwendest es mit Laune. Mit Laune, denn es soll nichts zerstören, was besser erhalten bliebe, sondern den Weg frei machen für etwas Neues, Nützliches. Ich frage mich manchmal, ob unsereiner überhaupt noch zu Nützlichem taugt oder ob wir zu sehr verdorben sind durch das Zerstören. Wir haben doch jahrelang nichts anderes getan." Er hebt die Schultern und starrt vor sich hin. Wie er so dasitzt und die Zigarettenasche zwischen die Stiefelspitzen schnippt, mutet er seltsam verloren an und über seine Jahre hinaus alt. Hein erzählt auch aus seinem Beruf, sagt dann: „Wir werden es wieder lernen müssen, das Nützliche. Das ist die einzige Chance, die wir haben. Vielen wird es nicht leichtfallen. Aber je eher wir damit anfangen, desto besser." Er denkt, daß es eine Menge Arbeit erfordern wird, das Umdenken. Wie sieht es in den Köpfen aus, wenn dieser da, auch ein Arbeiter, es fertigbringt, hier ruhig zu sitzen, gelassen zu essen und zu rauchen, und zu wissen, daß er mit einer Hebelbewegung an seiner Zündmaschine vierhundert hilflose Männer umbringen, zwei lebensnotwendige
Brücken und ein paar Dutzend bisher unversehrter Häuser in Trümmer verwandeln muß! Doch es ist notwendig, Menschen wie diesen zu gewinnen, der eben erkennen ließ, daß unter der Kruste eingehämmerten Nazi-Denkens ein guter Funke weiterglimmt. Nur anblasen und wecken muß man ihn. Genügt dafür die kurze Zeit, die bis zum Eintreffen der Panzerspitze an der Brücke bleibt? „Du könntest hier anfangen, Kumpel. Das Lazarett und die Brücken retten ..." Der Unteroffizier hebt den Kopf. „Die Brücken -Gott, da sind andere Werte kaputtgegangen. Das Lazarett, das macht mir zu schaffen. Die vierhundert haben schon teuer bezahlt..." Er steht auf und tritt ans Fenster, läßt die hereinhängenden Kabel durch die Finger gleiten. „Was kümmern dich die Brücken? Du bist doch kein Generaldirektor, der hier seinen Kreislauf in Ordnung bringen muß, und nach Herzverfettung siehst du auch nicht aus. Du gehst nicht auf die Kurpromenade." „Aber ich lebe hier. Ich will zur Arbeit gehen, einkaufen. Freunde besuchen. Mal ins Kino. Über die Brücken kommt Rohstoff. Ich glaube auch, daß statt der Generaldirektoren andere Kranke kommen werden, Leute wie wir, Leute, die die Saline nötiger brauchen. Wir haben es doch in der Hand. Willst du deinen Kumpels den Weg verlegen?" Nun dreht er sich um. „Das hängt doch nicht von mir ab, Mann! Du kennst meinen Alten nicht! Wenn der merkt, daß ich 'n eigenen Kopf habe, macht er mich nieder. Ohne mit der Wimper zu zucken! Ich kenne ihn - der ist wie 'n Offizier aus den Ufa-Filmen. Fanatisch, dabei persönlich kein Feigling, und deshalb gefährlich. Meinst du, er hat die MPi zum Spaß? Selbst wenn ich wollte -
ich komme nicht gegen ihn an. Der macht Kleinholz aus mir und sprengt selbst. Er kann es. Und dann ist keinem geholfen." Noch einmal bietet er Zigaretten an. „Rauch schon. Ich überlege die ganze Zeit... Ach, Quatsch! Erzähle was, damit die Langeweile vergeht. Wie stellst du dir eigentlich vor, daß es weitergehen soll, nachher ...?" Paul Hein hört das: Ich überlege die ganze Zeit, und das läßt sein Herz eine Spur schneller schlagen. Fängt der Sprengmeister, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, an, sich von den falschen Fahnen zu lösen, denen er so lange blind folgte? Der Anstoß ist stark. Das Lazarett... Vielleicht malt er sich auch zum erstenmal seit langem ein Leben in Frieden aus, die Freude an sinnvoller, aufbauender Arbeit ... „Wie es weitergehen soll... Mit den Brücken oder ohne sie?" Der Mann mit der Silberlitze fixiert ihn kurz. „Nimm mal an", sagt er knapp, „mit den Brücken." Nur zögernd, beinahe widerwillig spricht er das aus. In beiden keimt wieder das Mißtrauen, das die zwölf Jahre gesät haben. Diese Frage... Drückt sie echte Sorge aus, denkt der Unteroffizier, oder ist sie eine Provokation? Laut Befehl ist jeder „Volksgenosse" gehalten, gegen alle vorzugehen, die sich den Durchhaltebefehlen widersetzen. Wer sagt ihm, daß der da, der Schlosser, ihn nicht nur auf die Probe stellen will, daß er nicht gleich zum Leutnant gehen wird ... ? Er kann ihm viel erzählen; er, der Rheinländer, weiß nichts weiter von ihm. Diese Antwort... Will er mich aus der Reserve locken, denkt Paul Hein, um mich der Zersetzung zu überführen und mit mir zu tun, wie befohlen ist? Jetzt noch? Kenne
ich ihn denn? Er will vierhundert seinesgleichen in die Luft sprengen - was würde es ihm ausmachen, seine Nullacht zu ziehen und mich ...? Oder will er es nicht tun? Braucht er bloß noch einen kleinen Anstoß, um den Teufelsplan seiner Befehlshaber zu durchkreuzen? Dann bin ich hier und heute der einzige, der diesen Anstoß geben kann, und wenn ich es unterlasse ... Ich darf ihn nicht im Zweifel lassen. Ich muß es wenigstens versuchen. Es ist nicht Zeit, an sich selbst zu denken. Der Schlosser und Kommunist Paul Kein beginnt in dieser Stunde, das Bild des künftigen Bad Kosen zu malen. Was er in langen Jahren an Vorstellungen und Plänen formte, das spricht er jetzt aus. Paul Hein schildert das Leben in einem Bad Kosen, das eine Stadt der neuen demokratischen Republik der Zukunft ist, mit neuen Kurgästen, die Arbeiter und Bauern sind, mit einem neuen Sozialwesen, in einer Stadt auf dem Wege zu sozialistischer Demokratie. Das Bild findet in seiner klaren Schönheit einen seltsamen Kontrapunkt im andauernden Grollen ferner Artillerie und im Motorengeräusch der RB-26 „Invador"... Der Sprengmeister hört stumm zu. Er sitzt auf der Kiste und hat den Kopf gesenkt, Eine blonde Haarsträhne fällt ihm in die Stirn, ohne daß er es merkt. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und lauscht. Skizzen aus einer anderen Welt.. In den Straßen jenseits der Saale kriechen die Panzer heran. Die Schützenpanzer schließen auf. Auf ihnen pressen sich die Infanteristen eng an die Stahlwände, umklammern ihre Schnellfeuergewehre mit den bläulichen Ladestreifen, blicken mit schmalen Augen zu den Fenstern hinauf, an den Fassaden entlang, und sind
bereit, auf alles zu feuern, was sich bewegt. Es bewegt sich nichts, und die Soldaten aus Übersee bleiben allein mit ihrem unruhigen Herzschlag, mit der Spannung und dem monotonen, regelmäßigen Blubbern der FordMctore. Die Stadt ist ganz leblos und sehr still. Irgendwo in diesem Schweigen kann der Feind sein und darauf warten, daß sie sich eine Blöße geben. Ungewißheit... Sie ist schlimmer als der Kampf, in dem man weiß, wo der Gegner zu suchen ist. Wenn er sich nur zeigen würde ... Die Piloten drücken die Aufklärungsbomber noch tiefer hinab. Sie dröhnen im Tiefflug über die Brücken, folgen den Saalewindungen, sind hier und da den Schornsteinen scheinbar zum Greifen nahe. Ihre Beobachter melden, daß die Panzerspitze lediglich durch eine einzige Straßenbiegung noch von der Brücke getrennt ist... Der Leutnant steht auf. Er hört das Näherrücken der Kettenfahrzeuge seit langem, doch er zwingt sich, ruhig die jeweilige Entfernung zu schätzen, zu warten und sich nicht hinreißen zu lassen. Die Brücken sollen springen, wenn die ersten Shermans darauf stehen, nicht eher. Jetzt ist es gleich soweit - er muß hier weg und zum Haus An der Brücke 10 gehen, um den Sprengbefehl im richtigen Augenblick in den Keller geben zu können. Der Leutnant zieht die Uniform unter dem Koppel glatt, hängt die Maschinenpistole um, wirft noch einen Blick zum Himmel und - ist mit wenigen langen Sätzen aus dem Brückenhaus heraus, über die Uferstraße hinweg und in der Deckung der Häuser. Zwar züngelt aus einer Glaskanzel hoch oben Mündungsfeuer, und Querschläger pfeifen mit merkwürdig hohlem Geräusch durch die Straße, aber der Aufklärer befand sich gerade in denkbar ungünstiger Position für einen sicheren Schuß.
Um die Mundwinkel des Offiziers zuckt es nur verächtlich. Er geht in den Keller hinunter. Dort hat der Unteroffizier eben gesagt: „Ja, dazu braucht ihr solche Brücken. Unbedingt braucht ihr sie..." Und noch: „Mach dir keine Sorgen! Das geht schon in Ordnung ..." Paul Hein atmet tief. Er ist sehr glücklich. Dem Sprengmeister bietet er an, hierzubleiben; er werde ihn verstecken, bis alles vorbei sei und bis er nach Hause gehen könne. Sonst würde er morgen und übermorgen wieder seinen Hebel drehen müssen ... Da kommt der Leutnant herein. Es ist, als sei der Unteroffizier sofort ein anderer. Er klappt die Hacken, meldet die Anlage einsatzbereit. Der Offizier winkt ab. „Schon gut. Reine Formsache, das! Wir kennen uns ja schon länger, und es hat immer geklappt... Bleiben Sie jetzt dran, Unteroffizier! Kann sich nur noch um Minuten handeln. Und dann - auf und davon, zum Muli! Wir werden noch gebraucht." „Verstanden, Herr Leutnant! Wenn Herr Leutnant gestatten - letzte Überprüfung!" Er tritt an die Maschine heran und beugt sich über sie. „Ist doch bei Ihnen nicht nötig! Aber wie Sie wollen..." Der Offizier wendet sich erneut zur Treppe. „Wenn nur alle so wären wie Sie, Unteroffizier!" Er geht. Paul Hein starrt auf den Rücken des Mannes, der ihm die Zündmaschine verdeckt. Er wird nicht klug aus dem Rheinländer. Der ist tatsächlich ganz bei der Sache, hält einen isolierten Schraubenzieher -so einen, der wie ein Füllfederhalter anmutet - in der Hand und arbeitet. Der Schlosser beißt die Zahne zusammen. Nein, der da kann
sich wohl nicht loslösen von dem, was ihm so lange Gewohnheit gewesen ist; das Auftauchen eines Offiziers und dessen befehlsgeübte Stimme genügen ... In Paul Hein brennt der Haß. In diesem Keller hat er sein Feuerholz, sein Beil... Er faßt danach. Im Treppenhaus hört er den Leutnant reden. Er legt einer Frau nahe, für die nächsten Stunden lieber hinunterzugehen. „Sie sind da sicherer." Der Tonfall eines Kavaliers ... Der Unteroffizier dreht sich um. „Fertig!" sagt er laut. „Die werden sich wundern ..." Karl Käthe späht zur Straßenbrücke hinüber. Der Leutnant ist weg, und weit und breit steht auch kein Posten mehr. Das Lärmen der Panzer klingt nahe, doch zu sehen sind sie noch nicht. Der Schmiedemeister richtet sich auf. Sein Gesicht verhärtet sich. Käthe läßt das Messer liegen. Er nimmt einen Spaten. Damit läuft er, ohne nach rechts oder links zu schauen, zur Straße vor, bis dahin, wo sich die Kabel teilen. Hier faßt er das runde Holz mit beiden Fäusten, so, daß das Spatenblatt nach unten weist. Dann stößt er zu und schmettert das Blatt senkrecht aufs Kabel - mit aller Kraft, über die er verfügt. Das runde Holz splittert und birst bei diesem einzigen Stoß, aber es bedarf keines zweiten mehr -die Leitung zu den beiden Brücken ist wie mit einem Rasiermesser zerschnitten. Mit diesen Kabeln zündet keiner mehr! Karl Käthe sieht unter dem Spatenblatt Funken vom Pflaster sprühen, er hört das Kreischen des Eisens auf den Steinen, und ohne sich aufzuhalten, stürzt er behende zur Schmiede zurück und ist gleich darauf in den Schrebergärten verschwunden. Einen Augenblick
verschnauft er und tätschelt der Ziege den Hals. „Hab doch keine Angst", sagt er mit jener Selbstverständlichkeit, mit der manche Menschen zu Tieren sprechen, als könnten die jedes Wort verstehen. So redete er auch den Pferden zu, die er beschlug. „Es wird alles gut werden." Über die Funkantennen fliegt die Nachricht, daß die Luftaufklärung Soldaten gesehen und unter Beschüß genommen hat. Jenseits der Brücke ... Und nun liegen Brücke und Fluß vor den Sehschlitzen, und die Saale ist hier bemerkenswert breit, und die Anfahrt zu ihrem Übergang ist von drüben wunderbar einzusehen; ein geradezu klassisches Schußfeld. Ohne Kommando, wie von selbst, krachen die Panzerkanonen, rattern Maschinengewehre ... Dort am Ufer muß der Gegner sitzen! Dort könnte er sich behaupten. Der Fluß ist eine natürliche Festungsmauer ... Ein Wunder, daß die Brücke ... Heil und unversehrt liegt sie vor ihnen. Jeden Moment kann eine Detonation sie zerreißen und den Übergang über die Saale erschweren. Aber vielleicht ... Das Feuer ist sicher gezielt. Einschläge sind auszumachen. Flammen züngeln auf. Unter anderem brennt auch die Schmiede. Doch noch immer fällt jenseits des Stroms kein Schuß. Ein neuer Befehl, und dann... Der Führungspanzer macht einen richtigen Sprung nach vorn und schießt auf die Brücke zu, als wolle er sie mit einem einzigen Anlauf überrennen. Die anderen folgen mit gleicher Geschwindigkeit, eingehüllt in den Krach ihrer Motoren, ihrer feuernden Waffen und dem höllischen Lärm der Ketten auf dem Asphalt.
Schmiedemeister Karl Käthe An dieser Stelle lief das Kabel zum Eisenbahnviadukt (im Hintergrund) vorüber
Hinten, auf den Schützenpanzern, sind die Infanteristen absprungbereit... Im ehemaligen Hotel und jetzigen Lazarett „Der mutige Ritter" herrschen Angst und Entsetzen. An ihre Lager
gefesselt, starren die Verwundeten zur geweißten Zimmerdecke hinauf, krallen die Finger in die Laken und haben den Tod vor Augen. Wer sich fortschleppen konnte, hat sich fortgeschleppt, sobald der buntscheckige Lastkraftwagen eintraf. Nun wissen alle, daß ein Sprengkommando in Bad Kosen ist. Ein Leutnant, ein Unteroffizier und zwei Mann. Der Unteroffizier ist Sprengmeister. Es wurde beobachtet, daß die Soldaten das Pflaster auf der Straßenbrücke in Höhe des Brückenhäuschens aufrissen. Seither laufen von dort aus Kabel bis in den Keller des Hauses An der Brücke 10. „Das können sie doch nicht machen", stammelt einer. „Das können sie doch nicht machen. Das können sie doch nicht machen. Das können sie doch nicht machen..." Nur immer wieder diesen einen Satz. „Das können sie doch nicht machen." Sein Nebenmann sagt kein Wort. Er hat die Augen geschlossen und wirkt schon wie tot. Nur einmal sagt er: „Laß das! Ein kleines Lazarett... Wir haben ganz andere Menschensilos vernichtet, ohne hinzusehen ... Ganz andere... Sie machen es! Ob du schreist oder nicht. Sie machen es." „Bis zur letzten Minute warten sie", röchelt einer. „Sie jagen die Brücke erst hoch, wenn die Yankees drauf sind. Und uns mit! Das ist ihnen scheißegal!" Er brüllt plötzlich: „Ich will hier 'raus!" Auf seiner Stirn perlt Schweiß. Er hat Schaum vor dem Mund. Dann weint er. Wer achtet auf ihn? Einer hat die Hände gefaltet und betet: „Heilige Mutter, schmerzenreiche, bitte für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes ..." Keiner, der die Stunde seines Todes nicht greifbar nahe sieht. Es können nur noch Sekunden sein...
„Zünden!" brüllt der Leutnant in den Keller. „Jawohl, zünden!" erwidert der Unteroffizier und greift nach dem Drehschalter. Paul Hein will ihm in den Arm fallen, will auch das Letzte noch versuchen, doch der Rheinländer sieht ihn so vergnügt an, daß er mitten in der Bewegung innehält und jäh begreift, es müsse etwas auf sich haben, daß der Mann mit der Silberlitze so betont diensteifrig ist. Der hat wohl gesehen, daß der Schlosser dichter und dichter an das Beil herangetreten ist, doch er tut, als bemerkte er es nicht, und schon gar nicht hält er es für nötig, sich seiner Armeepistole zu versichern. Der Unteroffizier dreht den Schalter, aber dabei blinzelt er Hein zu. Unwillkürlich zuckt der Schlosser zusammen. Es geschieht - nichts! Keine Detonation! Der Niederschlag hochgeschleuderten Gesteins bleibt aus. Nur Schießen und Lärm der Panzer dringen herein. Der Unteroffizier ist mit einem Satz am Fenster. „Verflucht, Herr Leutnant", schreit er. „Die Sprengsätze ... Ich kriege sie nicht hoch! Hier bei mir ist alles in Ordnung!" Er springt zurück und betätigt wieder und wieder die Zündung. Sie bleibt tot. Der Leutnant wirft nur einen kurzen Blick zur Brücke. „Los, Tempo!" befiehlt er dann. „Nichts wie weg! Kommen Sie schon! - Beim nächstenmal klappt's wieder." Der Unteroffizier nimmt seinen Brotbeutel. „Aber klar!" Und während er die Treppe hinauf läuft, Hein immer neben ihm, flüstert er: „Ich besuche dich mal. Als Kurgast. Auf der Brücke da." Der Schlosser hält ihn fest. „Ich verstehe gar nichts. Wie kommt es, daß ..."
Der Mann mit der Silberlitze beugt sich ganz nahe zu ihm: „Vorhin, bei der Überprüfung... Ich habe die Anschlüsse falsch gepolt. Das ist alles. So kann kein Mensch zünden... Alles Gute, Schlosser! S' soll werden, wie du sagst." Oben reißt der Leutnant die Tür auf. „Avanti! Wo bleiben Sie denn?" „Bin schon da, Herr Leutnant! Ab durch die Mitte!" Dicht an den Häusern entlang, hetzen sie dem Ortsausgang zu. Der Offizier läuft hinten, die Maschinenpistole in der Hand. Er hat die bessere Waffe. Notfalls wird er versuchen, Verfolger zu stoppen, seinen Sprengmeister zu decken. Der hätte wohl am liebsten erst noch einmal die Sprengsätze überprüft! Ein brauchbarer Mann . . . Es gibt nicht sofort Verfolger. Die US-Panzer haben diesseits der Straßenbrücke wieder gehalten. Die Infanterie, abgesessen, durchkämmt die Uferstraße, das Ufer selbst, den Weg, der am „Mutigen Ritter" vorüberführt. Das Kabel ist entdeckt. Pioniere müssen heran, die Sprengsätze ausbauen. Sie sind vollkommen intakt, sie hätten gezündet. Amerikanische Soldaten steigen auch in den Keller des Hauses An der Brücke 10 hinab, holen die Zündmaschine und bringen die Leitungen weg. Der Trupp verschwindet. Paul Hein beobachtet es vom Fenster aus. Es dauert nicht lange, da sind die Panzer verschwunden, und über die Straßenbrücke rollt bereits der Nachschub der Truppen. Tagelang, nächtelang. Vorbei an Posten der Militärpolizei, vorbei an aufgefahrener Flak. Hein verschwendet nicht viel Zeit damit, den mar-
schierenden Einheiten zuzusehen. Auf ihn wartet viel Arbeit, und er überlegt schon, wie er sie am zweckmäßigsten und besten beginnt. Epilog Jahre vergingen. Längst waren die Schäden in der Uferstraße vergessen, längst hallte aus Karl Käthes Schmiede wieder das lustige Ping-Pang der schweren Hämmer, und längst auch hatte Bad Kosen unter den Bedingungen der Arbeiter-und-Bauern-Macht jenen Charakter eines Kurorts der Werktätigen angenommen, von dem Paul Hein am 11. April 1945 im Keller des Hauses An der Brücke 10 sprach. Im Jahre 1958 beispielsweise nannten die Kurlisten unter hundert Heilungsuchenden fünfundsechzig Arbeiter und Bauern. Der Kommunist Paul Hein wohnte nicht mehr in der Stadt. Neue Aufgaben, verantwortungsvolle, hatten seinen Umzug nach Naumburg erforderlich gemacht. Da hielt eines Tages ein westdeutscher Volkswagen mit rheinischem Kennzeichen in der Nähe der Eiskonditorei gegenüber dem Haus, in dem vor Jahren ein Unteroffizier der Nazi-Wehrmacht seine Sprengmaschine aufstellte, und der Fahrer fragte An der Brücke 10 nach dem Schlosser, der damals mit jenem Sprengmeister im Keller war. Die Leute, bei denen er sich erkundigte, lebten noch nicht lange in Bad Kosen. Sie konnten nur mitteilen, der Gesuchte sei verzogen und sie wüßten nicht, wohin. Der Mann aus dem anderen deutschen Staat - er sprach mit unverkennbarem rheinischem Dialekt -, bedauerte das
sehr, erklärte, er wäre vorbeigekommen, weil er in der Nähe einen Verwandten besucht habe, gab sich jedoch mit der Auskunft zufrieden. „Ich kenne ihn von früher her", sagte er bloß und: „Ich hätte ihn ganz gern einmal wiedergesehen ..." Der Rheinländer mit dem Volkswagen wurde noch an der Brücke gesehen, als er seiner Frau das Brückenhäuschen zeigte, zum Eisenbahnviadukt hinüberwies und wieder zu Heins einstiger Behausung zurückkehrte. Der kleine Wagen hatte die Stadt bereits verlassen, als heimkehrende Nachbarn von dem unbekannten Besucher erfuhren. Sie zweifelten nicht daran, daß es sich bei ihm um jenen Unteroffizier gehandelt haben müsse, den Hein dazu bewegte, sich gegen die Vernichtungsbefehle des schon geschlagenen Faschismus zu stellen und Bad Kosen seine lebenswichtigen Brücken zu erhalten. Damals, an jenem 11. April 1945, hatte er seinen Namen nicht genannt - auch jetzt war es zu keiner Vorstellung gekommen. Das bedauerten alle, die ihm gern die Hand geschüttelt, ihm gern ein spätes „Danke!" gesagt und ihm ebenso gern gezeigt hätten, daß sie gut verwalteten, was er ihnen durch seine Entscheidung für die Zukunft bewahrte. Dieser Sprengmeister blieb anonym, blieb namenlos, und namenlos wurde seiner folgerichtig auch in dem BadKösener Heimatbuch gedacht, das die Geschichte der Brückenrettung durch Paul Hein enthält. Ihr Hauptheld ist nicht der Mann, der es liebt, von sich zu sprechen. Die Brückenrettung wurde zu einem Stück Ortshistorie. Von der gleichzeitigen Rettungstat des Schmiedemeisters Karl Käthe wußte die Öffentlichkeit gar nichts,
und in diesem Punkt sind sich Hein und Käthe vollständig einig gewesen - wozu ein Aufhebens machen? Die Brücken stehen, warum noch davon reden? Da erschien am Jahrestag - am 11. April 1963 -in der Lokalpresse ein Bericht über das Wagnis des Schmieds aus der Uferstraße und brachte die Vorfälle neu ins Gespräch. Es gab Verblüffung, Unglauben, ja, Widerspruch. Vor allem aber die Frage, ob das für die Entwicklung der Stadt schwerwiegende Ereignis hinlänglich in seinen Einzelheiten erforscht worden sei. Recherchen in dieser Sache führten den Verfasser der vorliegenden Erzählung im selben Jahre nach Bad Kosen zu Karl Käthe und nach Naumburg zu Paul Hein. Beide zeigten Verständnis für das Anliegen des Autors. Dank ihrer Hilfe wurde es möglich, nicht nur zahlreiche Einzelheiten, die sich in der Erinnerung erhielten, sondern auch den vermutlichen Zeitablauf der unabhängig voneinander durchgeführten Taten zur Rettung der Brücken und des Lazaretts im heutigen Ernst-Thälmann-Heim so exakt wie möglich zu rekonstruieren. Ganz wesentliche Angaben, die in dieser Erzählung ihren Niederschlag fanden, gehen auf Hermann Firschau zurück, der in Bad Kosen die Verbindung zu Schmiedemeister Käthe herstellte und die Kontaktaufnahme leicht machte. Seine langjährige Bekanntschaft mit den Beteiligten ermöglichte es ihm, Charakteristika zu geben und Details beizusteuern, die beide - Hein wie Käthe - als belanglos nicht erwähnten. Es wäre schade gewesen, sie nicht zu kennen, weil sie dazu beitrugen, ein plastisches Bild dieser bescheidenen Männer zu entwerfen.
Seit jener Materialsammlung an der Saale sind wiederum Jahre vergangen. Den Verfasser hat sie nicht mehr losgelassen, und allmählich festigte sich in ihm der Wunsch, die Geschichte jener beiden Männer ausführlich zu erzählen, die in schwerer Stunde jenes Bündnis von Menschen der verschiedensten Herkunft und Weltanschauung vorwegnahmen, das heute in der Nationalen Front des demokratischen Deutschland Grundlage und Kraftquell unseres von der Arbeiterklasse geführten sozialistischen Staates ist. Jene Bad-Kösener Episode ist bereits Geschichte, aber sie hat nicht nur in der Stadt am Strom gute Früchte getragen und weitergewirkt. Zu einem Stück unseres täglichen Lebens ist sie geworden ...