Zwei schöne Welten sind eine zuviel
Rudolf Wolter erzählt Kindern vom Glauben
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Rudolf Wolter Zwei schöne Welten sind eine zuviel
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littera scripta manet
Zwei schöne Welten sind eine zuviel Was ist nur mit den Kindern los, sie schlagen sich schon wieder. Warum müssen Bruder und Schwester nur immer streiten? Können sie sich nicht vertragen? Nein, sie können sich nicht vertragen. Nein, sie dürfen sich nicht vertragen. Noch nie war ihr Streit so wichtig und nötig wie heute. In der Sandkiste fing es an. Christine hatte die Idee. Wir bauen eine Welt, sagte sie, und schon war sie dabei. Sie schaufelte Berge und Täler, sie grub einem Fluß seinen Lauf, sie pflanzte einen grünen Wald und setzte ihre Tiere hinein, der Bauer bekam sein Haus, der Fischer sein Boot, der Ritter seine Burg, der Lehrer seine Schule. Unter ihren Händen wuchs eine wunderschöne Welt. Andy, ihr Bruder, sah zu. Er sah den Bergbach und den Wasserfall, das Reh und sein Kitz, er sah die Kühe weiden und das Pferd des Bauern, das den Pflug zog. Da hatte Andy eine Idee. »Und meine Autos?« sagte er. »Meine Autos müssen mitspielen!« Und schon hatte er seine Kiste mit Autos heruntergeschleppt und suchte sich Platz – doch, wohin er auch sah, alles war belegt von Christianes Welt, den Wäldern, Bergen, Tälern und Flüssen. Da nahm
Andy sich ein breites Brett und zog, quer durch Christianes schöne Welt ein glattes breites Band, quer über Berg und Tal, durch den Wald, und über den Fluß – da baute er mit seinem Brett eine Brücke. Den Bauernhof, den schob er beiseite. Eine richtige Rennbahn hatte er nun für seine vielen Autos. Als er seine Autos auf der Rennbahn verteilte, sah er gar nicht, daß Christiane weinte. »Einen Flugplatz brauche ich auch noch!« rief er, begeistert, als er seine Modellflugzeuge fand, und im Nu hatte er den Wald herausgerissen, die Tiere an den Rand gestellt und Berg und Tal glattgetreten. Ein großer Platz entstand für die Flugzeuge. Nicht einmal sah Andy hoch zu seiner Schwester, die neben der Sandkiste hockte, und Tränen liefen über ihr Gesicht. Andy war begeistert und ließ seine Flugzeuge starten und landen und ließ sie Bomben werfen auf die Ritterburg und die Fischerboote. Und das war’s. Christiane stürzte sich auf ihn, schrie, schlug, trat, kratzte und biß. Und Andy wehrte sich. Es dauerte lange und kostete viele Schrammen, blaue Flekken und Kratzer, bis Vater die beiden trennte. Und es dauerte noch länger, bis Vater verstanden hatte, worum es ging. »Ihr wolltet also eine Welt bauen, ihr beide,« sagte er. »Ja, eine schöne!« schluchzten die beiden. »Du hast damit angefangen, Christiane?« Christiane nickte. »Und war die Welt schön?« fragte Vater.
Christiane nickte wieder, und sie erzählte von den Bergen und Tälern, Flüssen und Seen, von dem Wald, den Tieren, dem Bauernhof und der Burg. »Und du, Andy,« fragte Vater, »fandst du die Welt von Christiane auch schön?« Andy nickte und schüttelte den Kopf fast gleichzeitig. »Aber meine Autos und Flugzeuge!« sagte er. »Es war ja kein Platz mehr!« »Du magst deine Autos und Flugzeuge, nicht wahr?« fragte Vater ihn. Andy nickte heftig. »Das ist wirklich ein großes Problem,« sagte Vater und strich Andy und Christiane über den Kopf. Er schimpfte gar nicht, sondern nahm seine beiden Kinder in den Arm. Und dann saßen sie zu dritt auf dem Rand der kleinen Sandkiste und Vater fing an zu erzählen. Vater erzählte die Geschichte, wie den Menschen am Anfang der Zeit die Welt gegeben wurde, die Welt als wunderbarer, wunderschöner Garten. Aber Gott wußte, was er tat, als er die Menschen in diesen Garten setzte. Er verschenkte seine schöne Welt nicht an die Menschen. Er hat sie ihnen nur geliehen. Und das ist dann wie mit einem schönen Buch, das man sich leiht. Man darf es lesen, ansehen, aber man darf es nicht kaputtmachen. Denn man muß es ja zurückgeben, sauber und heil. »Aber meine Autos und Flugzeuge,« unterbrach Andy, »die hatten doch keinen Platz!«
Vater zeigte auf die Tiere, die Andy an den Rand geworfen hatte, und auf die Wälder, die er herausgerissen hatte, und Vater sagte: »Nun haben aber diese Tiere keinen Platz und die Bäume nicht. Ich denke, ihr müßt euch einigen. Ihr müßt behutsam vorgehen. Vielleicht hast du zu viele Autos. Vielleicht brauchst du gar nicht alle Flugzeuge. Ihr beide dürft nie vergessen: die Sandkiste hier, sie gehört weder dir, Andy, noch, Christiane, dir. Ihr habt sie nur geliehen. Und wenn ihr beide darin spielen wollt, dann müßt ihr euch einigen, miteinander reden und beraten. Es gibt nur diese eine Sandkiste …« Danach ging Vater weg, und die beiden, Christiane und Andy, saßen noch lange am Rand der Sandkiste …
Das schwere und das leichte Gepäck Zweimal noch schlafen, dann geht’s in Urlaub zu Frankreich. Franzi war schon ganz zappelig. Sie half der Mami auch beim Kofferpacken. Sie half so lange, bis ihre schmutzigen Regenstiefel auf Papas weißen Hemden lagen. Da wurde Mama ganz rot im Gesicht und schrie »Franzi!« mit langem i am Ende, etwa so: »Franziii« und warf die Stiefel wieder aus dem Koffer und das Hemd, obwohl doch beide mitmußten in Urlaub zu Frankreich. »Pack’ lieber deine Sachen,« rief Mama, und: »Vergiß nichts, sonst ja heulst du wieder, weil wir etwas vergessen haben!« Franzi packte ihre Sachen für den Urlaub: Die Legosteine, den Baukasten und die Eisenbahn, Puppenwagen, Puppenstube, Anna und Rosanna, Ernie und Bert und das Krümelmonster Kaufmannsladen und Einkaufswagen, Kasse und Babystuhl, den Kuschelhund Roberto und den Bär mit braunen Augen. Der Puppenherd war auch nicht schlecht. Tragekorb und Babybett, Arztkoffer und Kinderpost, den großen und den kleinen Ball, das Sandspielzeug und Quietscheente, Schwimmreifen und Klettermaxe, das Puppenzeug und den Bollerwagen. Franzi kam ins Schwitzen. Man brauchte so viel im Urlaub. Nun
hätte sie doch beinahe die Bücher vergessen. Die waren schwer! Der Stapel war fast so hoch wie Franzi: Schultafel und Kreide wäre auch nicht schlecht im Urlaub. Franzi war fleißig wie noch nie und Papa sagte: »Das geht doch nicht!« und Franzi fing an zu weinen. »Du kannst doch nicht deinen ganzen Haushalt mitnehmen,« schimpfte Papa und Franzi weinte noch lauter. Papa schmiß die Tür zu, rief noch was vom Irrenhaus und die Lampe wackelte und Papa war den ganzen Abend draußen beim Auto. Am nächsten Abend war das Auto vollgepackt, vollgepackt bis oben hin. »Wo soll ich sitzen?« fragte Franzi: »Dein Platz im Auto ist hinten,« sagte Papa, »auf deinem Kindersitz!« Franzi sah ihn durch die Scheibe. »Und Mama?« fragte sie. Auf Mamas Platz türmte sich Franzis Spielzeug. Franzi erkannte Puppenwagen und Puppenherd und Ernie und Bert. »Mami hat keinen Platz mehr. Mama bleibt hier. Du hast ja deine Sachen mit,« sagte Papa. Franzi erschrak. Mami … bleibt … hier. Meine liebe Mami! »Du hast ja deine Sachen mit,« sagte Papa. Weinte Franzi nun? Nein. Sie riß die Tür des Autos auf und zerrte und zog an den Sachen, warf sie alle hinaus, Puppenwagen, Puppenkind, Ernie und Bert, den braunen Bär und den Babystuhl, den Kaufmannsladen und den Kuschelhund, alles, alles warf sie aus dem Auto. Nur Rosanna hielt sie fest, ihre Puppe ohne Arm und Bein, die hielt sie fest. Für Mama war nun Platz genug. Und ihr Spielzeug? Franzi dachte nicht mehr daran. Sie hatte Mami lieb und Mami kam mit und im Urlaub gab es
Stöcke und Steine, Blumen und Gras, Wasser und Sand. Das gab es überall. Papa stand da und sah seine kleine Tochter an. Als Franzi schon schlief, trug Papa ein schweres Paket vom Auto ins Haus. Das war der Fernseher.
Der Gedankenvogel Das Glasfenster hinter dem Altar hat 347 kleine Scheiben. Kerstin hat sie alle gezählt. 347 Scheiben, vorwärts und rückwärts, 347 Scheiben. Der Pastor redet immer noch. Soll Kerstin noch einmal durchzählen? Nein, der Pastor ist jetzt fertig. Gott Vater, Sohn und heiliger Geist, sagt er gerade. Was ist denn das schon wieder, denkt Kerstin, Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist? Geister kennt sie ja, nicht persönlich natürlich, aber sie kennt Geister. Geister leben in dunklen Gemäuern alter Königsburgen, tragen ihren Kopf unter’m Arm und rasseln mit Ketten. Geister irrlichtern im Moor und locken Menschen in den Matsch. Gute Geister verlassen kleine Kinder, wenn sie dummes Zeug machen, deswegen ruft Mama: »Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen!« wenn Kerstin ihre Gardinen kürzer schneidet, weil ihre Puppe ein Brautkleid braucht. Überhaupt: wieso Gott Vater? Vater sieht immer Sportschau, wenn Sesamstraße ist, trinkt Bier und riecht nach Rauch. Mama riecht besser. Riecht Gott etwa schlecht? Und wieso eigentlich: Sohn? Kerstin ist eine Tochter und
die Jungen ärgern die Mädchen immer. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist – das versteht Kerstin nicht. Weil der Gottesdienst noch nicht zu Ende ist, ruft Kerstin den Gedankenvogel, steigt auf seinen Rücken und fliegt davon. Ach ja, der Gedankenvogel: der ist immer da, wenn Kerstin sich langweilt. Dann steigt sie auf und fliegt davon. Hoch über die Kirche hinaus, wo die Sonne scheint, die Häuser werden klein wie Legosteine, weich gebettet leuchten sie aus dem Grün der Bäume bunt hervor, die Straße ist sauberes, stilles graues Band, und der Fluß blendet silbern. »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt«, dieses Lied singt Kerstin auf dem Rücken des Gedankenvogels hoch über Stadt und Land, und sie sieht die blaue Kette der Berge und die Schiffe im Hafen, sieht die Schornsteine der Fabrik rauchen, und die Kühe sind klein wie Ameisen. Das muß Spaß gemacht haben, das alles zu schaffen, denkt Kerstin und fühlt sich auf dem Rücken ihres Vogels wohl. Sie schaut ihm zu, dem Gott, wie er an seiner Welt baut und schafft und dies verändert und das umstellt. Den Bahnhof näher zum Hafen, das Schwimmbad als blauen Diamant neben das rote Dach der Schule. Die Welt ist schön, denkt Kerstin, und sie fühlt sich plötzlich ganz zu Hause, wo es auch so schön ist, wenn Vater von der Arbeit kommt, und alles stimmt. Kerstin ist mit Gottvater einverstanden.
Da trägt der Gedankenvogel die kleine Kerstin davon, zieht Kreise über einem kleinen Haus und senkt sich dann herab auf den spitzen Dachfirst. Kerstin schaut sich um. In einem silbergrauen Stuhl mit großen glänzenden Rädern sitzt ein kleines Mädchen und liest. Sie sieht gar nicht hoch, sondern nur manchmal schnell um. Im winzigen Hofgarten ist auch nicht viel zu sehen. Wäsche im Wind, gelbe Blümchen auf schwarzer Erde, ein alter Eimer und ein Reisigbesen, buckelige Steine im Quadrat verlegt, eine Mauer grünblättrig verkleidet. Kerstin kennt das Mädchen. Sie heißt Christine oder besser: Christine, die vom Auto überfahren wurde, so sagt jeder, der von ihr erzählt. Christine, die vom Auto überfahren wurde, kommt in den Kindergarten. Christine, die vom Auto überfahren wurde, kommt jetzt zur Schule. Und: Christine, du weißt ja, die vom Auto überfahren wurde, hab ich gestern beim Einkaufen getroffen im Rollstuhl mit ihrer Mutter. Kerstin sieht lange auf Christine herab. Kerstin wird traurig, weil Christine nicht aufstehen kann und laufen, tanzen, springen. So traurig ist Kerstin auch, wenn sie in der Kirche das Jesuskreuz sieht, und er kann da nicht mehr ’runter, und das muß doch wehtun, am Kreuz hängen und die Dornenkrone. Der Christus und die Christine, denkt Kerstin und möchte am liebsten weinen. »Steig doch herunter von meinem Rücken,« sagt der Gedankenvogel, »steig doch herunter und tu etwas,« sagt der Gedankenvogel. Das ist eine gute Idee, denkt Kerstin
und weiß, was sie will: Sie will mit Christine ausfahren, in den Park will sie mit ihr, zum Ententeich und in den Zoo und Blumen pflücken auf der Wiese. Kerstin läßt sich vom Gedankenvogel zurücktragen in die Kirche. Bevor sie von seinem Rücken heruntersteigt auf ihren harten Stuhl, streicht sie dem Gedankenvogel dankbar über’s Federkleid. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, sagt der Pastor, und Amen sagt er. Schön ist die Welt, denkt Kerstin, auch für Christine soll sie schön sein, groß, weit und bunt, lustig und voll Lachen, und als dann die Orgel mit ihren Tönen den Raum ganz ausfüllt, streicht Kerstin noch einmal ihrem Gedankenvogel über die Flügel und sagt ihm »Danke!« für eine gute Idee.
Der große Berg Julia war sauer. Julia war stinksauer. Stinksauer auf ihren Vater, stinksauer auf ihre Mutter, stinksauer auf ihren großen Bruder, stinksauer auf die Rotznase von kleiner Schwester. Wenn die Schule nicht so blöd wäre, hätte sie lieber Schule gehabt, statt in diesem Miefauto zu sitzen in dieser Affenhitze, und es geht noch nicht einmal ein Fahrtwind, weil sie auf der Autobahn stehen, stehen und warten, und dann wieder zehn Meter vor, und Mama schreit: Mach das Fenster zu, was kommt da für ein Gestank herein! Die kleine Brüllsuse von Schwester roch verdächtig nach vollen Windeln und heulte Rotz und Wasser, der Ochse von großem Bruder nervte unglaublich mit seinem Gameboy, außerdem hatte er schon die dritte Coladose leer gesoffen und nun war keine mehr da, und der Vater verstank das ganze Auto mit seinen ätzenden Zigaretten und brummte ständig etwas über die besch… Autofahrer vor ihnen und weil sie ihren Abfall im Wagen verstreut hatten. Das nennt sich nun Ferien, und im Radio hat er gerade gesagt, Stau bis Flensburg über vierzig Kilometer.
Das kann ja noch heiter werden. Fernsehen gibt es auf dem Campingplatz in Dänemark auch nicht. Aber irgendwann muß Julia eingeschlafen sein. Jedenfalls hatte sie einen wüsten Traum, der sie noch lange später beunruhigte. Sie saß am Fuß eines himmelhohen Müllbergs. Beißender Rauch brannte in ihren Augen. Schwarze Krähenvögel krächzten unheimlich. Es stank faulig. Ein heißer Wind wehte Papierfetzen auf. Ratten spielten mit scheppernden Coladosen. Oben auf dem Berg von Unrat standen zwei ausgediente, abgewetzte Sessel mit hohen Rückenlehnen. In ihnen saßen ihre Eltern. Aber wie sahen die aus! Uralt waren sie, Vater hatte einen weißen Rauschebart fast wie ein Weihnachtsmann, aber sein Kopf trug eine spiegelnde Glatze. Zwischen seinen Beinen stand ein Gehstock, auf den er müde Hände stützte. Mama neben ihm war grau und faltig geworden. Auf ihrer Nasenspitze wackelte eine dicke Brille. Mama winkte mit einer welken Hand nach ihr. Es half nichts, sie mußte diesen ekligen Berg hinaufklettern. Über verrostete Kühlschränke, alte Radiorecorder, kaputte Autos, verbeulte Kochtöpfe, über angeschimmelte Joghurtbecher und Puddingpackungen mußte sie diesen Berg hinauf. Als sie der Ratte auf den nackten langen Schwanz trat, entschuldigte sie sich hastig. Empört quiekend stob die Ratte davon. Julia verjagte die dicken blauschwarzen Brummer, die ihr Gesicht umbrummten.
Sie mußte da hoch und wollte ihr schönes blendend weißes Kleid nicht zerreißen oder beflecken. Tränen liefen ihr über die Wangen. Endlich hatte sie es geschafft. Sie war oben. Ein grau verhangener Himmel wölbte sich ringsum. Papa und Mama sahen sie ernst an. Sie wollte auf die beiden zugehen, aber da sprach ihr Vater. Seine Stimme klang wie ein Donnergrollen, ganz traurig und schwer. »Schön, daß du da bist, mein Glück!« So nannte ihr Papa sie immer, wenn er gute Laune hatte oder mit ihr schmusen wollte. »Wir haben so auf dich gewartet, mein Herzchen.« Die Stimme ihrer Mutter zitterte wie ein kleines schwaches Bimmelglöckchen. »Du mußt uns jetzt helfen, mein Glück!« sprach ihr Papa weiter. »Wir schaffen es nicht mehr. Wir sind nun betagt und müde geworden. Bevor wir unsere Augen schließen, möchten wir so gerne noch einmal die Sonne sehen. Uns ist so kalt. Uns friert. Aber die gute Sonne wird erst wieder scheinen, wenn wir diesen Berg hier abgetragen haben. Wir müssen die Welt aufräumen, bevor die Sonne wieder strahlt. Nur du kannst uns helfen. Du mußt uns erlösen.« Die Stimme des Vaters hallte lange nach. Ihre Mutter sagte noch: »Wir verlassen uns auf dich, mein Kindchen!« Julia sah auf die beiden alten Leute, die ihre Eltern waren, sie dachte an das Aufräumen ihres Zimmers, zu dem ihre Mutter sie immer erst antreiben mußte, fast jedesmal gab es einen fürchterlichen Krach darum, sie sah den riesigen Berg hinab, auf dem sie stand. Das könnt ihr nicht
machen, dachte sie, das könnt ihr mit mir nicht machen, dachte sie, mit mir nicht, aber da wußte sie schon, daß sie es doch versuchen würde … Julia erinnerte sich nicht mehr, wie sie den Berg hinunter gekommen war, sie sah sich nur noch, wie sie mühsam eklige Müllstücke aufnahm und in einen großen Eimer schaffte, ekliges Stück um ekliges Stück. Dann wachte sie auf. Ihr Auto stand nicht mehr im Stau. Sie fuhren langsam, aber sie fuhren. Papa hatte sein Fenster herunter gekurbelt. Warmer Wind roch nach Sommer. Die Kleine spielte versonnen mit ihrem einarmigen Teddy und kaute an seinem Glasauge. Ihr doofer Bruder hatte die Kopfhörer seines Walkman auf den Ohren und zuckte mit seinem Oberkörper vor und zurück. Julia wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn und suchte nach der Abfalltüte. Sorgfältig und langsam sammelte sie Papierreste und leere Dosen ein. Zuerst wollte sie mit ihrem Bruder meckern, weil es auch seine Dosen waren, aber er hatte diesen Traum ja nicht gehabt, und sie wollte noch nicht davon erzählen. Außerdem würde er gar nichts hören. Er hörte nie etwas, wenn er die Kopfhörer auf den Ohren hatte. Als sie endlich auf dem Campingplatz angekommen waren, ging Julia mit ihren Eltern in die Dünen. Sie wollten zusammen den Sonnenuntergang ansehen. Stumm standen sie nebeneinander, sahen auf die brandenden Wellen, die rot ins Wasser sinkende Sonne. Auch jetzt
traute sich Julia nicht, von ihrem Traum zu erzählen. Als aber Papa achtlos seine Zigarettenkippe in den Sand warf, bückte sie sich, hob sie auf und sagte: »Das ist nicht deine Welt, Papa!« Papa legte den Arm um sie: » Gib her, mein Glück, du hast recht. Dies ist immer noch Gottes schöne Welt.« Aber auch Mama drückte ihre Hand und meinte: »Du bist richtig groß geworden, mein Engel.« Da dachte Julia, ihre Eltern kennten ihren schlimmen Traum schon lange …
Die lebendigen Steine (zu 1. Petrus 2,4 ff)
Steine sind tot, toter geht’s gar nicht. Aber es gibt auch lebendige Steine und aus ihnen kann man sogar auch Häuser bauen, ganz bestimmt. Angefangen hat es mit Hedu. Eines Mittags saß er auf der Bank, war schwarz, trug ein Käppi wie die Amerikaner und weiß-bunte Turnschuhe, saß auf der Bank und tat nichts. Bianca fuhr mit ihrem neuen Rad – fünf Gänge, obwohl sie doch erst sieben ist, und einem roten Wimpel an himmelhoher Schwingstange – an ihm vorbei und sagte »He du!«. Der schwarze junge Mann lachte mit so heller Stimme, daß Bianca einfiel, sie könnte doch mal wieder ihre Blockflöte hervorholen. Jedesmal, wenn sie ihre Runde drehte, sagte sie »He du«, dachte an ihre Blockflöte und lachte. Irgendwann bot sie ihm auch ein Kaugummi an, ein neues, und er nahm es, und immer wieder lachte er. Am nächsten Tag saß noch ein anderer Afrikaner neben Hedu, mit gelber Jacke, und sie taten nichts, und Bianca drehte wieder ihre Runden auf dem neuen Rad mit fünf Gängen, und sie sagte wieder: »He du!« und Hedu lachte.
Wenige Tage später saßen und standen da ganz viele junge Leute, Hedu darunter, und sie lachten und schwatzten, daß Bianca es schon von weitem hören konnte. Bianca drehte ihre Runden, grüßte Hedu, und einmal verteilte sie auch Weingummi, das sie sich von ihrem Taschengeld kaufen durfte. »Bei uns trifft sich schon die ganze Welt,« sagte Papa, und Mama meinte, weil da eine Bank steht und Aldi ist gleich gegenüber, und die Bushaltestelle ist auch nicht weit. Die ganze Welt, das waren vier Afrikaner, zwei Weiße, drei Braune und ein Gelblicherer, sie sprachen eine Sprache, die Bianca nicht verstand, mochten Weingummi, lachten viel, schwatzten und lärmten, waren nett zu Bianca und ihren Freundinnen, die nun immer zu fünft um den Block fuhren. Aber kein Rad war so schön und neu wie Biancas. Dann kam das mit dem Höhlenbauen. Schöne Frühlingstage sind in Hamburg schnell vorüber, und dann regnet es wieder und regnet und regnet. Der Himmel ist grau, der Wind pfeift durch den Pullover und die Mamas sagen, man soll eine Jacke anziehen. Die ganze Welt war nun nicht mehr von weitem zu hören, sie standen um die Bank herum, machten verdrossene Gesichter, nur Hedu lachte Bianca noch mit heller Stimme an, sie hatten alle die Schultern hochgezogen und redeten ganz leise. Bianca hat Mitleid mit Menschen, die im Regen stehen und im Wind frieren. Leoni war auch dafür, eine Höhle zu bauen für die ganze Welt, damit sie nicht mehr
naß werden. Sie brachte auch die Bretter mit, jedes Brett einzeln aus ihrem Keller, denn Bretter sind ganz schön schwer, Vanessa hatte die Idee mit den Kartons als Dach, Kartons gibt’s bei Aldi nämlich mehr als genug, Laura holte das Band ihres Drachens, und Viola kam auf den Gedanken mit den Reißzwecken und dem Stein. Rund um die Bank entstand eine Höhle, ein wenig niedrig, ob Hedu darin wohl aufrecht stehen konnte? Ein wenig wakkelig, ob sie wohl den Wind überstand? Der Dauerregen der nächsten Nacht war stärker als die dickste Pappe. Schon auf dem Schulweg sah Bianca, was passiert war. Die schöne Höhle war nur noch ein Müllplatz und zwei alte Frauen sagten: »Hamburg wird immer dreckiger, es sieht hier schon aus wie in New York.« Bianca hatte auf den Einfall mit den Schirmen. Durch die regennassen Scheiben sah sie Hedu mit seinen Freunden um die Bank stehen und frieren, und Papa war so stolz auf seinen großen Schirm für 5 Mark und Vanessas Vater hatte auch so einen Schirm, und die anderen fanden es auch ganz lustig. Da zogen also fünf Mädchen mit fünf Schirmen, die Räder blieben zu Hause, wer kann schon mit Schirm auf dem Fahrrad fahren, da zogen sie also zu der Bank und zu Hedu und der ganzen Welt. Bianca sagte wieder »He du!« Hedu lachte mit heller Stimme, und die fünf Mädchen mit den Schirmen stiegen auf die Bank, bauten eine Wand aus lebendigen Steinen, und ein Dach war auch da. Die jungen Männer lachten. Biancas Vater
fragte: »Was macht ihr denn da?«, als er aus dem Bus stieg, und Bianca sagte: »Wir sind ein lebendiges Wetterhaus!« Am Abend, als der Papa sie ins Bett trug, das tat er immer noch, obwohl sie doch schon sieben war, sprach Bianca noch etwas länger mit ihm. Das Haus aus lebendigen Steinen ging Papa nicht aus dem Kopf. »Wenn ich bei Regenwetter mein Auto auf der Straße parke und nicht unter dem Dach des Carports, ob dein Hedu wohl mit seinen Freunden sich da unterstellen kann?« »Aber die Bank fehlt doch,« meinte Bianca. »Unsere Gartenbank ist doch auch nicht schlecht, ich kann sie doch unter den Carport stellen, da steht sie trokken,« sagte Papa. Von diesem Tage an war bei Regenwetter in Biancas Vorgarten unter dem Carport die ganze Welt versammelt. So kann aus lebendigen Steinen doch ein ganzes Haus werden, zumindest bei Regenwetter. Fünf kleine Mädchen haben das geschafft, weil eine von ihnen Mitleid hatte, eine Idee und zwei Hände. So einfach ist das.
Gute Gedanken sind wie ein Wind … Wenn die Sonne aus ihrem Wolkenbett steigt, kitzelt sie Ann-Kristin an der Nase. Dann ist es mit dem Schlaf vorbei. Früher schlich Ann-Kristin sofort in Mamas Zimmer und kroch zu ihr unter die Decke. Das war so warm und kuschelig, und Mama kann so schön lachen und so wunderbare Geschichten erzählen. Aber das geht nun nicht mehr. Wenn die Sonne Ann-Kristin jetzt an der Nase kitzelt und Ann-Kristin aufwacht, die Beine in die kühle Morgenluft steckt und durch den stillen Flur tappt, dann steht die Tür zu Mamas Zimmer schon offen. Und das Bett ist leer und kalt. Keine Mama legt schlaftrunken den Arm um sie und sagt: Komm her, mein Sonnenschein! In der Küche steht eine einsame Schale, eine dicke Tüte mit Milch und daneben die Haferflocken und der Zucker und der Löffel, und Ann-Kristin muß sich das Morgenmüsli allein auffüllen. Es ist sehr schwer, Milch aus einer dicken Tüte in die Schale zu gießen. Meist gibt es einen weißen See auf dem Tisch. In der ganzen Wohnung ist es totenstill, nur die Uhr macht Tick – Tack, Tick – Tack. Kein Lachen und kein Wort. Keine Mama setzt sich zu
ihr. Mama geht jetzt putzen. Sie geht zu Dr. Gutbrodt und putzt. Sie putzt gar nicht so gerne, aber sie braucht Geld und Dr. Gutbrodt gibt ihr welches. Seit Mama morgens oder in der Nacht zu Dr. Gutbrodt geht, damit er ihr Geld gibt, weiß Ann-Kristin, was einsam bedeutet. Einsam ist, wenn nur eine da ist. Keine sonst zum Spielen und Erzählen. Einsam ist ganz leise und sehr traurig. Nur die Uhr macht Tick – Tack, Tick – Tack. Einsam bedeutet warten, warten und nie ist es soweit. Gestern hat Ann-Kristin noch eine Einsame gesehen. Auf dem Spielplatz war das. Viola war da, Nele war da, Katarina war da und die Einsame. Viola, Nele, Katarina und Ann-Kristin waren gerade eine Familie und mußten für ihre Kinder kochen und backen, zum Arzt gehen und einkaufen, mußten sie schlafen legen und spazieren gehen, na, eben alles, was eine gute Mutter so machen muß. Die Einsame saß derweil drüben am anderen Ende der Sandkiste auf dem Rand, saß und schaute, saß und schaute, schob mal den Sand mit dem Fuß hin und her und saß und schaute. Sie hatte schwarzes Haar und komische schmale Augen. Ann-Kristin sah sie sitzen und schauen, und sie dachte: die ist ja ganz traurig. Sie versuchte einen ganz besonders schönen Kuchen zu backen, schob den Zuckersand weg, grub ein tieferes Loch, wo der Sand kühl und naß war, füllte ihre Form und klopfte leicht mit dem Finger darauf – ein schöner Kuchen! Die andere war immer noch ganz einsam, saß und schaute, saß und schaute.
Und da geschah ein Wunder. Ein Wunder ist, wenn man sich wundert, und Ann-Kristin wunderte sich sehr. Ein Wunder ist auch wie ein Zauber, ein guter Zauber. Ein Wunder ist, wenn keiner etwas sagt, und dann passiert es. Ann-Kristin füllte gerade ihre Form zum zweiten Mal mit dem dunklem feuchten Sand und stand auf, da nahm Viola ihre Puppe, die mit den schwarzen Haaren und den Schlafaugen und balancierte auf dem Rand der Sandkiste, Nele griff sich ihren Arztkoffer und machte ihr wichtiges Gesicht, Katarina schob ihren Puppenbuggy um die Sandkiste, und keine von ihnen hatte auch nur einen Ton gesagt, ehrlich, nicht ein Wort war gefallen, noch nicht einmal angesehen hatten sie sich, und doch gingen sie alle, wie an unsichtbaren Fäden gezogen, als ob sie jemand bei der Hand genommen hätte, alle vier, sie gingen auf die Einsame zu. Ann-Kristin klopfte neben dem fremden Mädchen den Kuchen aus der Form, Viola setzte vor der Einsamen die Puppe in den Sand – was sie sonst nie tat, denn die Puppe war neu und hatte so schönes schwarzes Haar und eben diese strahlenden, blauen Schlafaugen mit langen Wimpern, Nele klappte ihren Arztkoffer auf vor der Traurigen und Katarina schob den Buggy heran. Das wurde ein schneller Nachmittag, so schön wie lange nicht. Jetzt haben alle vier eine neue Freundin. Sie heißt Shihiro und kommt aus Japan, das ist sehr weit weg. Shihiro kann noch kein Deutsch, aber das macht nichts. Sie
kann sehr gut spielen und ganz lustig lachen. Ann-Kristin wundert sich immer noch. Wie kam das nur, daß sie alle vier zur gleichen Zeit und ohne ein Wort zu sprechen und ohne sich anzuschauen den gleichen Gedanken hatten, das gleiche getan haben? Mama sagt, gute Gedanken sind wie ein Wind …
Hanna Wenn es Morgen ist und Zeit für den Kindergarten, dann wird die kleine Hanna nicht geweckt, wie die anderen Kinder. Zu Hanna kommt nicht die Mama und kuschelt: »Mulemusch und Huschkatusch, aufstehen, Kindergarten gehen!« Zu Hanna kommt nicht der Papa und gibt ihr den Dornröschenkuß und sagt: »Hannamanna, nun steh doch mal auf!« Bei Hanna sagen Papa und Mama etwas anderes. Wenn Hanna die kleinen Augen aufmacht, steht Papa am Bett und drückt sie lieb und flüstert: »Schön, daß es dich gibt!« Oder die Mama streichelt mit warmer Hand und sagt: »Hanna, schön, daß du da bist!« Immer, wenn Hanna das hört, jeden Morgen, wird sie groß und stark, mutig und fröhlich und für sie scheint die Sonne, auch wenn es regnet. Am schönsten findet es Hanna am Wochenende. Dann frühstückt die ganze Familie zusammen, und niemand fehlt, weil er schon zur Schule mußte oder zur Arbeit. Dann ist es ganz voll am großen Tisch, alle reden durcheinander und lachen, denn Hanna hat viele Geschwister. Die Brötchen mit Honig schmecken gut, der Kakao ist
süß, und alle mögen Hanna. Hanna ißt ihr Brötchen und trinkt den Kakao und schaut von einem zum anderen. Sie ißt und trinkt ganz langsam, denn das Frühstück soll lange dauern. Es soll nie aufhören. Eines mag Hanna gar nicht. das ist, wenn zwei sich streiten. Und ehrlich, wo kommt das nicht vor, wenn Geschwister zusammen leben. Wenn zwei sich streiten, wird Hanna traurig, und manchmal laufen wasserklare Tränen ihre Wangen herunter, so traurig ist sie. Und sie läuft von einem zum anderen, um ihn zu trösten, sie schenkt ihm Teddybär und Kaufmannskasse, damit er wieder lacht, sie setzt sich die lustigste Mütze auf und macht die komischsten Sprünge. Hanna kann gut trösten. Hanna hat manchmal auch selbst Streit, vor allem mit ihrer Schwester, und meistens, weil die große nicht tun will, was Hanna will, vorlesen etwa, oder Mutter und Kind spielen. Dann schimpft Hanna: »Doof bist du, du bist doof!« – Und manchmal, ich bin ganz ehrlich, schlägt Hanna auch. Aber kaum hat der Streit angefangen, weint Hanna und sagt: »Na gut! Wollen wir uns vertragen!« Abends nach der Sesamstraße sieht ihr Papa seine Sesamstraße, das sind die Nachrichten im Fernsehen. Dabei darf Hanna nur ganz leise sein, nicht dazwischen reden und nicht toben im Wohnzimmer und nicht vor dem Bildschirm stehen, weil sie etwas sagen will, das ganz wichtig ist. Hanna mag Papas Sesamstraße gar nicht. Da reden nur ernste Leute, und es gibt Bilder vom Krieg.
Kinder im Krankenhaus werden gezeigt und Flugzeuge, die Häuser zerbomben. »Kommen die auch hierher?« fragt Hanna. Papa sagt nicht: »Pscht!«, sondern sagt: »Nein, Hanna, hierher kommen die nicht.« »Schade,« sagt Hanna. Papa macht ganz große Augen und ruft: »Aber das wäre doch ganz schlimm, Hanna, wenn die hierher kämen! Die machen doch alles kaputt, unser Haus, deinen Kindergarten, meine Arbeit, und stell dir vor, all die kleinen Kinder …« Hanna aber sagt: »Trotzdem. Schade.« Jetzt fragt die Mama: »Aber, Hanna, warum denn?« Hanna denkt nach, wie sie das sagen soll. »Weil sie dann hier sind,« sagt sie. »Dann kann ich mit ihnen reden, weißt du. Dann schenke ich ihnen meine ganzen Puppen und sag, sie sollen aufhören. Dann zeig ich ihnen meine Bilderbücher und sag, sie sollen vorlesen.« »Komm mal her!« sagt Mama, und sie drückt ihre Hanna ganz fest und sagt wieder: »Schön, daß es dich gibt!« Hanna lacht und fühlt sich groß und stark. Neulich in der Stadt habe ich viele Leute gesehen, die haben demonstriert gegen den Krieg. Mitten zwischen den Leuten ritt ein kleines Mädchen auf den Schultern ihres Papas und rief ganz laut: »Die Soldaten sollen nie mehr schießen, auch nicht im Krieg!« Ich wette, das war die kleine Hanna.
Kein Kind wird vergessen Krischi ist stark. Krischi kann kratzen, treten, beißen, schlagen und kneifen, kneifen kann er auch. Auch wenn Größere auf den Spielplatz kommen, Angst hat Krischi nicht. Außerdem hat sein Papa ihm Tricks beigebracht, richtig gute Tricks. Papa kann Judo und muß vor niemandem Angst haben. Krischi ist stark. Aber er kennt auch das schöne warme Gefühl, wenn er abends in seinem Kuschelbett liegt und nichts, aber auch gar nichts passieren kann. Er liegt unter seiner weichen Decke, durch den Türspalt schimmert das Licht aus dem Flur und der Stube, von ganz fern hört er das leise Reden und die Musik aus dem Fernseher, manchmal sagt Mama etwas, manchmal hört er Papas ruhige Stimme, und in seinem Bett ist er warm und sicher. Mama sagt, das ist gar kein Bett. Das ist ein Traumschiff. Krischi hört dann auch das leise Plätschern des Wassers und der Wellen an seiner Bettkante, er hört das Singen des Windes in den Seilen des Mastes, er ist in die Kajüte gekrabbelt, liegt in einer Koje und läßt sich schaukeln. Auf Schiffen ist das so. Schlafzimmer heißen
da Kajüte und Betten heißen Kojen, und die Küche heißt Kombüse. Onkel Ernst hat so ein Schiff. Und auf diesem Schiff ist es auch passiert. Die Großen saßen hinten im Schiff – auf einem Schiff heißt das nur nicht hinten sondern Heck – und tranken Whisky. Wenn die Großen zusammensitzen, dann reden sie und reden, lauter langweiliges Zeug reden sie, wollen nicht spielen, nicht baden, sondern nur reden. Krischi saß vorne im Schiff; Bug heißt es vorne, schwitzte in seiner Schwimmweste – auf einem Schiff müssen Kinder immer eine Schwimmweste tragen, auch wenn es noch so warm ist – und er langweilte sich. Die Großen redeten. Niemand sah auf Krischi. Mama nicht und Papa nicht. Sie redeten. Und unter Krischi flog das Wasser davon, kühl und naß. Ob er seinen Fuß hineintauchen konnte? Das war ein kitzliges Gefühl, wenn das Wasser um seinen Fuß strömte. Die Erwachsenen redeten. Ob er das Bein bis zum Knie …? Es platschte gar nicht laut, als Krischi ausrutschte. Krischi sah nur noch grünes Wasser und bekam keine Luft. Er mußte Wasser schlucken. Aber bevor Krischi noch Angst haben konnte, war er schon in Mamas Armen. Mama kann schwimmen und tauchen wie ein Fisch, sagt Papa. Und das stimmte. Mama schwamm mit ihm zur Bordwand und hob ihn hoch. Die Großen redeten nicht mehr. Sie sahen ziemlich erschrocken aus. Hinterher sagte Krischi: »… ich dachte, du hättest mich vergessen …«
Bei dem Feuer war es genauso. Krischi kann schon Streichhölzer anzünden ohne sich zu brennen. Er macht das auch gerne. Papa sagt, das darfst du, wenn ich dabei bin. Aber nur, wenn ich dabei bin. Diesmal war Papa aber lange im Keller. Im Keller ist Papas Werkstatt, und Mama sagt, Papa verkriecht sich in seiner Werkstatt. In seiner Werkstatt vergißt Papa Gott und die Welt. Und Krischi. Die Streichhölzer lagen auf dem Tisch im Wohnzimmer. Die Kerze war in der Schublade. Weil Kerzenlicht so viel schöner ist, es erinnert immer an Weihnachten, ganz anders als das Lampenlicht, und weil es schon dunkel wurde, wollte Krischi es ganz schön machen. Er konnte nichts dafür, daß die Gardine in die Flamme wehte. Er konnte auch nicht wissen, daß Gardinen so schnell brennen und daß Flammen so schnell so groß werden, und Papa war im Keller, wo er Gott und die Welt vergißt. Und Krischi. Bevor Krischi aber laut schreien konnte, war er schon pudelnaß. Papa hatte das Feuer gelöscht mit einem Eimer voll Wasser, das Wasser traf die Gardine und Krischi. Das Feuer war aus, und Krischi sagte: »… ich dachte, du hättest mich vergessen …« Beim Einkaufen war das nicht anders. Heute sind wohl alle Leute in der Stadt und kaufen ein, sagte Mama. Krischi fühlte sich von allen Seiten gestoßen und geschubst. Er konnte auch kaum etwas sehen von den Schaufenstern und den Verkaufstischen. Er sah nur dicke Mäntel und Jacken, Hosen und Röcke, und wurde hin
und her gedrängelt. Und schon war es passiert. Papa und Mama sahen sich irgend etwas an, die Menschen drängten weiter, Krischi sah noch den kleinen Hund, der fast zertreten wurde, und Papa und Mama waren weg. Nur fremde Leute. Nur fremde Gesichter über dicken Jacken und Mänteln. Kein Papa. Keine Mama. Mitten in einem Kaufhaus voller fremder Leute, weit weg in der Stadt, sie waren mit der U-Bahn gefahren, kein Papa, keine Mama, nur lauter Leute. Krischi fühlte, wie sich in seinem Bauch ein dickes Knäuel zusammenballte, wie es hinter seinen Augen heiß und feucht wurde, er spürte sein Herz ganz schnell schlagen. Doch bevor noch die ersten Tränen über seine Wangen laufen konnten, hörte er Mama rufen. Krischi! Krischi! Und da war auch schon Mamas Hand und alles war gut. Krischi sagte: »… ich dachte schon, du hättest mich vergessen …« Krischi liegt gerne in seinem Traumschiff, warm und sicher kuschelt er sich ein. Auch wenn er nicht gerne ins Bett geht, wer will schon gerne, daß ein schöner Tag zu Ende ist, das Bett ist doch sein liebster Platz. Er hört dann die Wellen an die Bordwand plätschern, denkt sich ein leises Schaukeln dazu und träumt. Er hat auch keine Angst, wenn Papa und Mama noch einmal zu den Nachbarn ’rübergehen. Wenn Krischi weiß, daß er allein in der Wohnung ist, dann hört er wie jedes Kind das Knacken der Möbel, manchmal auch Schritte oder ein Kratzen an der Tür. Er gruselt sich auch, aber Angst hat er nicht.
Erstens ist Krischi stark. Er kann kratzen, treten, beißen, schlagen und kneifen. Zweitens weiß Krischi: er ist nie allein. Papa und Mama vergessen ihn nicht. Auch wenn’s manchmal so aussieht. Sie vergessen ihn nicht. Und wenn sie nicht da sind, sagt Mama, dann ist da ein Schutzengel oder der liebe Gott. Und die vergessen keinen. Keinen im Wasser und keinen im Feuer und keinen, der allein ist.
Kleine Kinder sind nicht dumm »Kinder sind dumm,« sagt Thomas. Thomas ist zehn Jahre alt. »Wetten, Kinder sind dumm!« Nils will das nicht glauben. »Doch, Kinder sind dumm! Ich zeig’s dir!« Thomas ruft seine kleine Schwester. Nicola ist drei Jahre alt. Thomas stellt sich vor Nicola: »Nicola, ich schenk dir was. Was willst du haben? Das hier?« Thomas hält ihr einen Geldschein hin. Zwanzig Mark. Oma war gestern da und hat jedem zwanzig Mark geschenkt. »Oder das hier?« In der anderen Hand hat Thomas eine Banane. Nicola liebt Bananen. Nicola überlegt nicht lange. Nicola greift nach der Banane, macht den Reißverschluß auf und beißt hinein. »Siehst du,« sagt Thomas, »Kinder sind dumm.« Abends versucht Thomas es noch einmal. »Papa, soll ich dir mal zeigen, daß Kinder dumm sind?« Papa will es nicht glauben. Seine Kinder sind nicht dumm. »Doch,« sagt Thomas. Er ruft Nicola, fragt sie: »Nicola, was willst du haben, das hier: zwanzig Mark? Oder das hier, diese Banane?« Nicola kennt das Spiel. Sie greift nach der
gelben Banane. Große Brüder sind nett, denkt sie. Dauernd schenken sie mir Bananen. Papa nimmt Thomas auf seinen Schoß. Nicola kaut ihre Banane. Sie schmatzt. »So dumm ist Nicola gar nicht,« sagt Papa. »Du erlebst doch gerne richtige Abenteuer, nicht wahr? Ich war früher genau so. Einmal ohne Eltern, nur mit meinem Freund um den großen See laufen, durch den Wald, über die Felder – das war mein Traum. Endlich mal niemand, der schimpft und meckert, wenn man Feuer macht oder auf Bäume klettert. Erst wollte Oma es nicht erlauben, aber dann gab sie doch nach. Wieviel Scheiben Brot soll ich dir schmieren, fragte sie. Guck mal, ich hab hier schönen Schinken und Käse. Äpfel kannst du auch mitnehmen. Aber das war nichts für mich. Abenteuer im Wald mit geschmierten Broten? Außerdem hätte ich dann eine Tasche oder einen Rucksack mitnehmen müssen, das wollte ich nicht. Nein, kein Brot! rief ich. Morgens hatte ich meinen Spartopf geplündert. So einen Geldschein und ein paar Markstücke, die konnte ich in die Hosentasche stecken. So gingen wir los. Beide Hände frei, ohne Gepäck. Ich kann dir sagen, das war ein toller Tag. Ganz allein im Wald – wir beiden Jungen auf Abenteuer. Aber dann wurde es Mittag. Wir hatten Hunger. Ach, nicht schlimm, dann holt man sich etwas zu essen. Doch im Wald gibt’s keine Läden. Auch nicht schlimm. Am See gibt es gibt es eine Gaststätte. Pommes mit Mayo mochte ich für mein Leben gern. Das Geld klingelte in meiner Hosentasche. Wir liefen zum See. Cola und
Pommes – das wäre jetzt genau richtig. »Montags Ruhetag« stand auf dem Schild. Sch… ! riefen wir, es war ja keiner da, der uns das verbieten konnte. Sch… ! In unserem Bauch grummelte es. Hunger tut ganz schön weh. Nun, ich will’s kurz machen. Am späten Nachmittag trafen wir auf andere Leute, die zelteten am See. Schon von weitem sahen wir den Rauch. Sie hatten Feuer gemacht und kochten etwas. Weißt du, was das war? Pellkartoffeln waren das. Sie waren nett, die Leute. Sie luden uns ein zum Essen. Pellkartoffeln mit Butter und Salz. Ich hab noch nie etwas besseres gegessen als diese Pellkartoffeln mit Salz. Und eines habe ich damals verstanden bei unserem Abenteuer: Geld kann man nicht essen. Es klingelte in meiner Hosentasche. Aber Geld kann man nicht essen.« Thomas muß nachdenken. Vielleicht sind Kinder gar nicht dumm. Vielleicht ist die kleine Nicola auch gar nicht dumm. Immerhin hat sie heute schon drei Bananen gegessen. Und Bananen sind ihre Lieblingsspeise.
Menschen hinter dem Zaun Opa möchte schlafen, aber er kann nicht schlafen. Bei Katharina ist das anders. Jeden Abend. Katharina muß ins Bett, aber sie will nicht schlafen, Sie will lieber aufstehen, mit den Großen fernsehen oder spielen. Papa sagt: Bleib im Bett, und wenn du nicht schlafen willst, dann liegst du einfach im Bett und machst dir schöne Gedanken. Katharina will sich keine schönen Gedanken machen. Immer, wenn sie sich schöne Gedanken macht, schläft sie ein. Opa aber kann nicht schlafen. Die da drüben machen abends so viel Lärm, die halbe Nacht hindurch. Sie feiern, singen, lachen, rufen die halbe Nacht hindurch da drüben. Da drüben durfte Katharina früher nicht spielen, obwohl da so viele schöne Büsche waren und kinderhohes Gras. Es gibt eine Menge böse Menschen, sagte Oma, Mitschnakker und Kinderentführer. Deswegen durfte Katharina da drüben nicht spielen. Nun sind die Büsche weg und das Gras auch, das kinderhohe. Nun stehen da Container. Opa sagt: Blechdosen mit Fenstern. In diesen Containern leben Menschen.
Asylanten, sagt Opa. Katharina findet das lustig: Menschen in Blechdosen. Katharina möchte zu gerne einmal in so eine Blechdose hineinschauen. Aber da ist ein Zaun um die Container, und hinter dem Zaun sind die Asylanten. Asylanten sind schwarze und braune Menschen, dachte Katharina lange Zeit, aber nun sind auch hellere dabei, doch auch die waren zu lange an der Sonne gewesen, denn sie sind dunkler, brauner als Katharina, und Opa kann nicht schlafen. Die Asylanten feiern nachts und machen Lärm. Opa sagt, sie nehmen auch Autos weg. Opas Auto ist geklaut worden. Aber Katharina weiß, daß die Asylanten das Auto nicht haben. Hinter dem Zaun hat sie es nie gesehen, und in eine Blechdose geht es nicht ’rein. Opa sagt, man müßte die Blechdosen anzünden, dann wäre wieder Ruhe. Aber Blechdosen brennen nicht. Katharina weiß das. Katharina mag die Menschen hinter dem Zaun und schaut ihnen immer zu, wenn sie bei Opa ist. Katharina hat schon einmal so ein kleines schwarzes Baby auf dem Arm gehabt. Da war alles dran, und gelacht hat das Baby mit den braunen Augen. Katharina kennt auch ein Geheimnis. Die braunen Babys haben weiße Hände, innen sind die Hände ganz hell. So ein Schwesterchen möchte Katharina haben, aber Mama sagt, das geht nicht, weil Papa zu weiß ist. Was jetzt geschehen ist, hat Katharina gar nicht mitbekommen. Das muß passiert sein, als Katharina schlief.
Mama sagt, das war so: Katharina stand am Zaun bei den Containern. Das weiß Katharina auch noch, aber dann weiß sie nichts mehr. Sie ist über die Straße gelaufen, das Auto war da, Katharina flog durch die Luft, und nun hat sie ein Bein ganz steif in einem weißen harten Verband und auf dem Kopf einen weißen Turban. Das Auto ist weggefahren. Nur die Menschen aus den Blechdosen waren da. Sie haben den Krankenwagen gerufen und die Polizei. Sie haben Katharina auf die Seite getragen und auf eine Decke gelegt. Wenn Katharina wieder aus dem Krankenhaus kommt, dann will Opa mit ihr zu den Menschen hinter dem Zaun gehen und mit ihnen feiern. Das hat er versprochen. Und er sagt auch gar nicht mehr, daß er nicht schlafen kann. Er sagt, es gibt solche Menschen und solche. Er sagt, braune Menschen haben auch ein Herz. Katharina freut sich. Endlich wird sie einmal so eine Blechdose von innen sehen. Opa sagt, die sollen Häuser bauen für die Menschen hinter dem Zaun. Aber Katharina hofft, daß sie gesund wird, bevor die Häuser fertig sind. Denn sie möchte zu gerne einen Container von innen sehen. Opa sagt auch, sie sollen den Zaun wegmachen, das wäre eine Schande. Katharina findet das auch, und wenn sie ein Schwesterchen bekommt, dann soll es braun sein.
Paß doch auf! »Paß auf, wenn du dir die Milch eingießt, damit du nichts verschüttest!« sagt die Mama zu Mirjam. »Paß auf, daß du dein Glas nicht umstößt, wenn du am Tisch so hampelst!« sagt der Papa zu Mirjam. »Paß auf, daß du nicht das Geld verlierst, wenn du dir ein Eis kaufen gehst!« sagt Oma zu Mirjam. »Paß auf, daß du dir die Jacke nicht zerreißt, wenn du auf den Baum kletterst!« sagt Opa zu Mirjam. Mirjam paßt auf, als Papa noch zur Arbeit ist, und Mama ist einkaufen gegangen, und Mirjam ist allein zu Haus. »Paß schön auf,« hat Mama noch gesagt, bevor sie die Tür ins Schloß zog. Aber Mirjam hat Durst. Mirjam geht in die Küche zum Kühlschrank. In der Kühlschranktür steht die Milch. Ich brauche eine Tasse, denkt Mirjam. Die Tassen sind im Küchenschrank. »Paß schön auf,« hat Mama gesagt. »Wenn mir nun die Tasse herunterfällt?« denkt Mirjam. »Wenn mir nun die Milchtüte aus der Hand rutscht?« denkt Mirjam. »Wenn nun beim Eingießen gleich ein großer Schwung kommt?« denkt Mirjam. Mirjam hat Durst. Aber Mirjam paßt auf und
macht die Kühlschranktür wieder zu. Sie steht in der Küche und paßt auf. Sie ist durstig und paßt auf. Am nächsten Morgen liegt Mirjam im Bett und steht nicht auf. Mama hat schon zweimal gerufen. Mirjam liegt im Bett und denkt: »Wenn ich jetzt aufstehe und ausrutsche und brech mir ein Bein? Wenn ich jetzt frühstücke, und meine Milch fällt um? Wenn ich jetzt zum Kindergarten gehe, und es regnet? Wenn ich nun im Kindergarten Streit kriege mit den Jungen? Wenn ich mir beim Basteln in den Finger schneide?« Mirjam liegt im Bett und steht nicht auf. Mama ruft, aber Mirjam steht nicht auf. Mama kommt, und Mirjam weint. Mirjam bleibt den ganzen Tag im Bett. Abends kommt Papa von der Arbeit und schaut sich seine Tochter an, die nicht aufstehen will. Mirjam weint. Papa sitzt am Bett und will sie füttern. Aber Mirjam will nicht essen. Papa sagt: »Iß doch ein wenig!« Aber Mirjam ruft: »Und wenn ich mich nun verschlucke?« Mirjam will auch nicht trinken. »Wenn ich mir nun den Mund verbrenne?« ruft sie. Papa sieht sein Mädchen an und fragt: »Warum willst du nicht aufstehen, nicht essen und nicht trinken?« Da weint Mirjam und erzählt ihre ganze Angst. Papa hört zu und denkt nach. Papa denkt lange nach. Dann nimmt Papa sein Mädchen in den Arm und geht mit ihr ins Wohnzimmer. Sie stehen am Fenster und schauen hinaus in den Garten. Vögel sitzen im Kirschbaum und hüpfen von Ast zu Ast. Sie zwitschern und singen. Sie fliegen auf den Boden und picken. Im Abendwind
nicken die Blumen mit ihren bunten Köpfen. Sie leuchten in letzten Strahlen der Abendsonne. Lange stehen die beiden am Fenster und blicken hinaus, Mirjam auf Papas Arm. »Ist das nicht schön?« fragt Papa. Mirjam nickt. Es ist warm und gemütlich auf Papas Arm. Papa sieht Mirjam an und sagt: »Weißt du eigentlich, kleine Mirjam, daß du schöner bist als Blumen dieser Welt? Weißt du eigentlich, daß du der süßeste Spatz der ganzen Welt bist? Da kann kommen, was will, wir haben dich lieb!« Papa drückt sein kleines Mädchen ganz fest. Die beiden schmusen noch lange im Wohnzimmer. Als die Sonne untergegangen ist, tobt Mirjam noch mit Papa durch die Wohnung. Sie spielen Kriegen und Versteck und Zirkus. Eine Vase fällt herunter und zerspringt. Papa nimmt Mirjam auf den Arm, und dann räumen sie auf. Die umgekippte Milch wischt Mirjam selbst weg. Den Stuhl will Papa morgen kleben. Der Riß im Nachthemd ist auch nicht so schlimm. Mama sagt: »Das Nachthemd ist sowieso schon alt.« Heute darf Mirjam neben Papa und Mama schlafen, und Angst hat sie keine mehr.
Väter machen alles
(zu Markus 11,1 - 11: Einzug in Jerusalem) Das war eine größere Aufregung als vor einem Jahr. Vor einem Jahr war Piefke in ihre Wohnung gekommen und bellte nun fröhlich durch alle Räume, schlief in Ninas Bett und mußte morgens vor der Schule auf die Straße an seinen Baum geführt werden. Aber diese Aufregung war viel größer. Diesmal sollte ein Mann ins Haus kommen, ein richtiger, leibhaftiger Mann! Nun, natürlich gibt es in vielen Wohnungen Männer. Aber nicht bei Nina, Chris und Patrick. Früher einmal, ganz früher, Nina und Chris konnten sich schon nicht mehr erinnern, da hatten sie auch einen Vater gehabt. Aber der war dann weggegangen mit einer anderen Frau als Mama. Mama hatte er bei ihnen gelassen, damals. Seitdem war kein Mann mehr in ihrer Wohnung gewesen. Mama ging in die Gärtnerei zum Geld verdienen, Mama kochte, wusch und putzte, Mama schimpfte und brachte Schokolade mit vom Einkaufen. Aber Mama fuhr bloß mit dem Fahrrad. Väter fahren große Autos. Nina, Chris und Patrick wußten das. Sie
sahen das ja vor dem Kindergarten oder vor der Pro. Väter tun viele Sachen, die Mama nicht tut. Väter spielen Fußball und sehen Sportschau, sagt Patrick. Vater reparieren Räder, sagt Patrick. Auf Vätern kann man reiten, sagt Nina, seit ihre Freundin bei ihrem Papa auf die Schulter durfte, um dem Zauberer auf dem Markt zuzuschauen. Väter fangen Einbrecher, meint Chris, der immer Angst im Dunklen hat und nur bei Licht einschläft. Väter basteln bunte Drachen, sagt Nina, die so gerne einmal einen Drachen gehalten hätte im wilden Wind. Väter verdienen viel Geld, sagt Patrick, der schon lange Taschengeld haben wollte, aber Mama hatte keins. Morgen kommt ein Mann ins Haus. Mama hat es beim Abendbrot gesagt. Ibrahim heißt er, hat sie gesagt, und Patrick dachte: so heißt kein Vater. Nina hat dann Blumen gepflückt und einen Strauß gemacht aus Schneeglöckchen und Krokussen, ein kleiner Strauß war es, weil plötzlich der Hausmeister kam, aber Nina war stolz. Patrick legte sein Fußballalbum ganz oben in die Schublade, damit er es schnell holen konnte. Chris hatte in einer Hand Salmis vom letzten Sonntag noch und in der anderen Hand sein Funkauto, das nicht mehr lief. Väter können auch so was heilmachen, oder etwa nicht? Und dann kam Ibrahim. Mama lachte ganz fröhlich, als sie ihn zur Tür ’reinschob. Sie mußte ihn reinschieben,
denn erstens standen Nina, Chris und Patrick in der Tür, und zweitens saß Ibrahim im Rollstuhl. Es wurde trotzdem ein schöner Abend. So fröhlich war Mama schon lange nicht mehr. Mama erzählte von Ibrahims Heimat in Kurdistan, vom Krieg in Kurdistan erzählte sie, und daß Ibrahim nun hier in Hamburg wäre, weil hier nicht geschossen wird und weil er hier gesund werden will. Ibrahim blieb nicht lange. Noch bevor er Patricks Fußballalbum angesehen hatte, bevor er nach Chris Funkauto repariert hatte, war Ibrahim wieder verschwunden. Er mußte in seine Heimat zurück, sagte Mama. Ich konnte ihn doch nicht heiraten, sagte sie, ich brauch doch das Geld von eurem richtigen Papa, sagte sie. Nina, Chris und Patrick erzählen sich jetzt abends oft, was Väter alles können. Vielleicht findet Mama ja mal wieder einen, sagt Chris. Vielleicht, sagt Nina, und Patrick meint: Hoffentlich. Aber dann muß der Tennis spielen können. Tennis ist schöner als Fußball.
Thomas möchte in einer verkehrten Welt leben, aber nicht in einer so verkehrten Wenn die Mutti das Essen im Kühlschrank kocht, wenn der Weihnachtsmann die bunten Eier bringt, wenn die Bäume fliegen und sich auf die Vögel setzen, wenn wir essen, um hungrig zu werden, und die Suppe mit dem Messer schneiden, dann ist die Welt verkehrt und Thomas findet das lustig. »Schneid mir doch bitte ein Stück Suppe ab, ich bin so satt,« würde er zur Mutter sagen, und am Morgen hieße es: »Zieh dich an, damit du ins Bett kommst, es ist schon ganz früh.« Und mitten im Sommer würde er Schlitten fahren, bestimmt! Thomas stellt sich das lustig vor. Aber dann wurde die Welt wirklich verkehrt und Thomas bekam einen Schreck und hielt das gar nicht mehr für gut. Es fing ganz langsam an. Ihr wißt doch, was ein Abfalleimer ist? Was wir nicht mehr gebrauchen können, lassen wir hineinfallen, Alles, was abfällt, kommt da hinein. Die Kartoffelschale und das hart gewordene Brot, die Reste von Thomas’ Teller, Spielzeug, das kaputt
ist: hinein in den Abfalleimer. Ein Abfalleimer ist zum Hineinwerfen da. Aber neulich, es ist gar nicht lange her, neulich sah Thomas eine alte Frau, die beugte sich tief über den Abfalleimer und wühlte mit den Händen darin. Und immer wieder fischte sie etwas heraus und steckte es in ihren Beutel. Altes Brot und Obst mit faulen Stellen, gelesene Zeitungen und eine angeschlagene Tasse waren dabei. Mutti sagte: Das ist eine arme alte Frau. Ein Abfalleimer, aus dem man etwas herausholt, verkehrte Welt! Wenig später ging es weiter. Es war an einem Montag. Montags morgens gehen die Väter zur Arbeit und verdienen Geld. Das ist immer so, dachte Thomas. Aber an diesem Montag war Sonntag. Als Thomas zum Frühstück kam, saß Vati noch immer am Tisch. Thomas fand das toll. Ein Vati, der nicht zur Arbeit muß, das ist ein Vati, der Zeit hat, mit dem man spielen kann und Ausflüge machen. Aber Vati war gar nicht so lustig, wie sonst. Vati mochte gar nicht spielen, »Vati ist arbeitslos,« sagte Mutti. Das war eine richtig verkehrte Welt, meinte Thomas. Ein Vati, der nicht mehr zur Arbeit geht, der keine großen Schiffe mehr baut, denn das hatte Thomas Vater bis dahin getan, ganz riesig große Schiffe gebaut, aber solche Schiffe will niemand mehr haben, sagt Mutti, ein Vati, der den ganzen langen Tag zu Hause ist, Zeitung liest und fernsieht, der nie mehr weg ist, das ist eine verkehrte Welt!
Aber das ist jetzt anders: Früher sagte Mutti manchmal: »Ich hab gar kein Geld mehr. Ich muß zur Bank gehen und mir Geld holen!« und Thomas kam gerne mit, weil es da so viele Zettel gibt, auf denen man schreiben kann, Zauberzettel; du malst einen Kreis auf das oberste Blatt und schau: auf jedem Blatt darunter, drei, vier, fünfmal findest du den gleichen Kreis. Und außerdem gab’s hinterher immer ein Eis. »Weil ich Geld geholt hab’,« sagte Mutti dann. Das war früher. Diesmal sagte Mutti: »Zieh dich an, Thomas, wir müssen zur Bank gehen. Die wollen Geld von uns, und wir haben doch nichts, weil Vati keine Arbeit mehr hat!« Es gab auch kein Eis diesmal. Und am Ende der Woche hat Thomas mit Vati sein Sparschwein geschlachtet, weil sie kein Geld mehr hatten. Stellt euch das vor: ein Spartopf, aus dem man die Groschen herausholt, statt sie hineinzutun. Und was haltet ihr von Läden, in die man die Sachen hineinträgt, statt sie herauszuholen? Zuerst hat Vati sein Auto ins Geschäft zurückgebracht. Den neuen Fernseher haben die Leute vom Laden selbst abgeholt. Thomas hat genug von der verkehrten Welt. Er hat genug von der verkehrten Welt, in der Väter nicht arbeiten dürfen. Ja, Thomas ist klüger geworden. Thomas weiß jetzt: in einer richtigen Welt muß niemand arbeiten. In einer richtigen Welt darf jeder arbeiten. Selbst Thomas, der kleine Thomas, der gerade erst zur Schule gekommen ist, darf arbeiten. Jeden Tag geht Thomas zur alten Frau Schneider, die nicht mehr richtig laufen kann, bekommt
einen Zettel und kauft ein für sie. Vielleicht habt Ihr ihn schon einmal getroffen, wenn er Brötchen, Milch und Zeitung zur alten Frau Schneider trägt. 50 Pfennig bekommt er dafür von der alten Frau Schneider, und für 50 Pfennig kann er fünf Brötchen kaufen, von den billigen, und fünf Brötchen, das ist ganz schön viel. Das reicht für Vati, Mutti und für ihn. Wenn Ihr Thomas trefft, dann hört ihr ihn singen. Denn Thomas freut sich, daß er arbeiten darf. Und Thomas möchte, daß die Welt für alle Menschen wieder ganz richtig wird, auch für seinen Vati. Denn der ist immer ganz traurig, wenn Thomas so seine 50 Pfennig auf den Küchentisch legt, weil er nichts dazu tun kann.