Bruno Jonas
Bin ich noch zu retten
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Bruno Jonas
Bin ich noch zu retten
scanned by unknown corrected by u77 Eigentlich will Bruno Jonas die unglaubliche Geschichte um einen Tiefgaragenplatz erzählen, um den er sich mit einem Wohnungseigentümer streitet. Doch es will ihm nicht recht gelingen. Immer kommt etwas dazwischen - eine Flasche Riesling, eine Sonnenfinsternis, Dieter Hildebrandt, die Nachbarn oder die Kinder. Da sich die Störungen meistens aus dem Tagesablauf ergeben, geht er gleich satirisch auf das aktuelle Tagesgeschehen ein. Auf die befriedigende Außenpolitik zum Beispiel oder die geglückte Steuerreform. Aber irgendwann gelingt es ihm doch, die Geschichte um den Tiefgaragenplatz zu Ende zu erzählen. ISBN 3-442-15126-0 Juli 2001 Wilhelm Goldmann Verlag Umschlaggestaltung: Design Team München (Foto: Isolde Ohlbaum)
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Der Ärger um seinen Duplextiefgaragenstellplatz, der Papierkrieg um angebliche Ansprüche von Nachbarn mit finsteren Rechtsverdrehern - eigentlich wollte Bruno Jonas nur diese skurrile Geschichte zum Besten geben. Sagt er. Doch dann gibt es immer wieder Anlass zu realsatirischen und sonstigen Abschweifungen: Debatten mit einer TV-Anstalt über ein neues »Satireformat«, Vaterpflichten rufen, Dieter Hildebrandt ruft an, der Lektor drängt, und auch Edmund Stoibers Zirbelstube, die »Neue Mitte« des Kaschmir-Kanzlers und die »verehrenwortete« Republik der schwarzen Koffer wollen ihr Fett abbekommen. Und zum Schluss findet auch der Streit um den »Doppelduplex« ein verblüffendes Ende.
Autor Bruno Jonas, 1952 in Passau geboren, ist seit 1975 als Autor und Schauspieler für Kabarett und Theater tätig, darunter viele Jahre lang als Mitglied der Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Seit Anfang 2000 ist er Dieter Hildebrandts ständiger Partner im »Scheibenwischer«.
Für Franzi und Michi
Zumindest hatte ich anders anfangen wollen. Ganz anders. Aber dieser Anfang wurde abgelehnt, von meinem Lektor Cy. Er heißt mit vollem Namen Rolf Cyriax, aber alle nennen ihn Cy. Die Geschichte ist nicht komisch. Cy und ich geraten uns dann und wann in die Haare. Nicht wirklich, aber doch so weit, dass wir uns beide als schwierig empfinden. Neulich meinte er, ich sei schwierig, und ich gab zurück, dass er auch nicht einfach sei. »Sieht so aus, als wären wir beide schwierig!« fasste Cy die Lage zusammen und schaute mich dabei über seine goldgeränderte Brille zustimmend an. »Gut«, nickte ich, »sind wir eben beide schwierig, doch was hilft's.« »Ich bin dein Lektor, du kanns t dich auf mich verlassen.« Wollte er mich trösten oder sollte das eine sanfte Drohung sein? »Ich bin der Autor«, antwortete ich trotzig, »und ich möchte mich wohl fühlen mit dem, was ich hinschreibe.« »Das ist es ja gerade, du willst nichts hinschreiben, sondern mit einem Gedankenstrich beginnen.« »Logisch!« bestätigte ich. Bevor sich die Fronten zu verhärten begannen, verabredeten wir uns lieber zum Essen. Selbstverständlich im »Hippocampus«, wo es nicht nur sehr wohlschmeckende Speisen gibt, sondern auch wunderbare Weine. Wir trinken beide gerne »Terre di Tufi«, einen nicht allzu schweren fruchtigen Weißen aus der Toskana! Und schon waren wir uns einig. Es ging um folgenden Streitpunkt. Ich wollte das Buch mit einem Gedankenstrich beginnen. Einfach, um klarzumachen, dass ich, bevor ich überhaupt irgendetwas zu Papier bringe, darüber nachdenke, was ich hinschreibe. Das ist ungewöhnlich, das will ich gerne zugeben, aber auch spannend. Ich will gerne eingestehen, dass ich manchmal auch etwas schreibe, was ich nicht wollte. Erst wenn ich es hingeschrieben habe, merke ich, dass es das nicht ist, was ich schreiben wollte. Ich staune über die Worte, die ich vor mir sehe, und muss feststellen, dass ich -5-
genau das, was ich gedacht habe, nicht in Worte fassen konnte. Liegt es an mir oder an der Sprache? Selbstverständlich liegt es an der Sprache. Ich will damit sagen, ich schreibe manchmal etwas hin und merke erst danach, dass ich es anders schreiben wollte, aber gerade nicht die richtigen Worte zur Verfügung hatte und deshalb mit Worten formulieren musste, die nicht genau das ausdrücken, was ich hatte sagen wollen. Ich will damit sagen, dass die deutsche Sprache zwar sehr ausdrucksstark ist, aber dennoch nicht ausreicht, all das auszudrücken, was ich im Kopf und in der Seele habe, wenn ich schreibe. Der Leser soll wissen, dass ich mir sehr genau überlege, was ich ihm zu lesen anbiete. Deshalb die Idee, mit einem Gedankenstrich zu beginnen. Nach diesem ersten Gedankenstrich wollte ich einen zweiten setzen, um deutlich zu machen, dass ich nicht nur darüber nachgedacht habe, was ich erzählen will, sondern auch darüber, ob es erzählenswert ist. Ich wollte also darauf hinweisen, dass ich nicht nur nachgedacht habe, sondern auch darüber noch einmal reflektiert habe, ob ich es dem Leser zum Lesen überlassen will. Ob es den Leser unteroder überfordert, ob er damit etwas anfangen kann und ob er daraus einen literarischen Genuss ziehen könnte. Ich mache mir sehr viele Gedanken um den Leser und sorge mich um seine Verfassung. Der Leser will aufgeregt werden, will Spannung, Humor und auf das Angenehmste unterhalten werden. Er will vom Buch gefesselt werden, denke ich. Obwohl man zu gegenteiliger Auffassung gelangen kann, wenn man so genannte Bestseller liest. Nach diesen beiden Gedankenstrichen wollte ich nun ein Ausrufungszeichen setzen, um die Bedeutung der beiden Striche zu unterstreichen. Cy hatte dafür kein Verständnis. Und ich habe kein Verständnis für Cys Haltung. Was ist los mit Cy? Hat er Probleme? Will er vielleicht, dass ich nicht verstanden werde? Oder bekommt er Anweisungen, gegen seine eigene -6-
Überzeugung zu handeln? Ich konnte die Fragen bisher nicht endgültig klären. Cy weicht mir aus. Alle Antworten, die er mir auf obige Fragen gab, waren unbefriedigend. Und so fand ic h mich leicht depressiv gestimmt an meinem Schreibtisch wieder und ertappte mich beim Tippen. Jeder, der mich kennt, weiß, dass mich so schnell nichts aus der Ruhe bringen kann. Nun kennen mich viele, die das nicht wissen, deshalb muss ich es hier einmal sagen: Im Grunde meines Herzens bin ich ein ausgeglichener, ruhiger Mensch. Es gibt welche, die mich für einen aufbrausenden Choleriker halten. Das ist einfach nicht wahr. Ich bin die Ruhe selbst. Es muss viel passieren, bis ich aus der Haut fahre. Die Geschichte aber, die ich Ihnen jetzt erzählen möchte, brachte mich an den Rand des Wahnsinns. Und ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich da wieder heil rausgekommen bin. Aber ich will nicht lange rumreden, lieber beginne ich mit meinem Bericht. Also, von vorne. Alles fing damit an, dass ich mir irgendwann mein erstes Auto gekauft habe. Mancher wird fragen, ob das nicht etwas zu weit vorne ist, aber wir wollten ja an der Wurzel des Übels beginnen. Und diese liegt vielleicht noch weiter vorne! (Ist die deutsche Sprache nicht merkwürdig? Man sagt vorne und meint hinten in der Vergangenheit. Nur, wenn mit vorne die vorderste Zukunft gemeint ist, wäre dies noch merkwürdiger, denn über das, was noch gar nicht geschehen ist, kann ich schlecht berichten. Außer ich denke es mir aus. Nur, dann stimmt es halt nicht. Weder hinten, noch vorne! Und diese Geschichte hier stimmt! Also, zurück zu ganz hinten, da, wo alles ganz vorne angefangen hat.) Ich hatte die Führerscheinprüfung bestanden. Das ist wichtig, denn ohne Führerschein wäre ich nie auf die Idee gekommen, mir ein Auto zu kaufen. Und die Erfahrung lehrt, wer einmal ein Auto sein Eigen nannte, will immer wieder eines haben. Der Mensch will mobil sein und seine Freude am Fahren haben. -7-
Schließlich leben wir in einer mobilen Gesellschaft. Der mobile Mensch braucht ein Auto, und ein Auto braucht vor allen Dingen einen Stellplatz, denn wenn es nicht fährt, steht es. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Autos mehr stehen als fahren. Und wenn sie fahren, dann nur, um einen Stellplatz zu finden. Es gibt sogar Autos, die nur bewegt werden, um einen Stellplatz einnehmen zu können. Ich kenne Menschen, die nur deshalb bis zum nächsten Stau fahren, um im Auto sitzend stehen zu können. (Schon wieder so eine sprachliche Merkwürdigkeit! Im Auto kann der Mensch sitzen und gleichzeitig stehen!) Allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass Autos mehr stehen als fahren. Logisch, ein stehendes Auto ist ja auch viel ungefährlicher als ein fahrendes. Wichtig dabei ist aber nach wie vor, dass auch ein stehendes Auto über möglichst viel PS und Hubraum verfügt. Die Möglichkeit, schnell zu fahren, muss unbedingt gegeben sein und ist höher einzuschätzen als die tatsächliche Höchstgeschwindigkeit. Ideal wäre eine Höchstgeschwindigkeit im Stehen, sitzend selbstverständlich, bei minimalem Spritverbrauch. Drei Liter auf hundert Kilometer bei 240 km/h. Volle Pulle immobil, mit Airbags vorne und hinten. Das wäre es. Daran arbeitet die Autoindustrie, und Politiker von Schröder bis Stoiber sind dafür. Jeder vernünftige Mensch muss dafür sein. Diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Ganz ohne Zweifel entwickeln wir uns hin zur immobilen Gesellschaft. Die wichtigste Frage dabei ist: Wann steht er? Wo steh ich? Was nur bedeuten kann, wo steht mein Auto? Diese Frage ging mir jahrelang durch den Kopf. Ich wusste, wo ich wohnte, schlief, wachte, schrieb, ich lebte in München. Aber ich wusste so gut wie nie, wo mein Auto stehen sollte. Am liebsten wäre mir eine kuschelige Lücke direkt vor der Haustür gewesen. Aber selten war eine zu finden. Oft bin ich nachts stundenlang um den Block gefahren, in der Hoffnung, irgendwo einen passenden Stellplatz zu erspähen, wo ich stehen -8-
könnte. Aber selten gab es einen. Oft musste ich auf dem Bürgersteig bleiben oder im Halteverbot stehen, wenn ich nicht die ganze Nacht fahrend im Auto verbringen wollte. Sicher, es gab immer die Möglichkeit, an den Stadtrand zu fahren, dort zu parken und sich mit einem Taxi nach Hause bringen zu lassen, aber mein innigster Wunsch war immer ein Parkplatz direkt vor der Haustür. Und obwohl ich wusste, dass dafür so gut wie keine Chance bestand, gab ich die Hoffnung nicht auf. Was blieb mir auch anderes übrig? Sie können sich deshalb vorstellen, wie glücklich ich war, als ich im Haus nebenan einen Tiefgaragenplatz mieten konnte. Ein Traum ging in Erfüllung. Es war zwar kein einzelner Stellplatz, sondern ein so genannter Doppelduplexplatz, also mit zwei Stellplätzen übereinander mit Hebebühnenmechanismus, von denen ich den unteren der beiden bekommen sollte, aber es war ein sicherer Ort, an dem ich mein Fahrzeug, wann immer ich wollte, abstellen konnte. Es gab selbstverständlich außer mir noch eine Reihe anderer Bewerber für diesen Doppelduplexstellplatz, da ich mich aber bereit erklärte, freiwillig mehr dafür zu bezahlen, ließ sich der nette Makler der »Edmina-Grundstücksverwaltungsund Immobilienverwertungsgesellschaft mbH« nach Überreichen einer großzügigen Provision erweichen. Er schloss mit mir einen Mietvertrag für den Doppelduplexgaragenstellplatz Nummer 20. Dieser Doppelduplexplatz mit der Nummer 20 war zwar nur mit einigem Fahrergeschick zu erreichen, da ich aber beim ADAC bereits einen Schleuderkurs hinter mich gebracht hatte, absolvierte ich bei einem ADAC-Parklehrer schnell noch einen Tiefgarageneinfahrkurs mit speziellem Schwerpunkt für Doppelduplexgaragenstellplätze unten. Das war auch bitter nötig, denn die Platzverhältnisse in dieser Tiefgarage waren vom Architekten optimal gestaltet und genutzt worden. Mein Doppelduplexp latz lag, nachdem man in die Tiefgarage eingefahren war, gleich rechts neben der Einfahrt und war nur -9-
durch dreimaliges Rangieren zu erreichen. Man musste zunächst in die Tiefgarage einfahren, rechts vor bis zur Wand, links zurück, wieder rechts vor, wieder links zurück, und dann konnte man, falls die Hebebühne grade oben war, was aber meines Wissens nie der Fall war, weil mein Stellplatznachbar über mir immer grade raus oder reingefahren war, in den unteren Bereich der Hebebühne einrollen, wo sich der mit der Nummer 20 bezeichnete und von mir rechtmäßig angemietete Doppelduplexstellplatz befand. Mit der Zeit hatte ich eine gewisse Routine im Einfahren in dieser Parkgarage, und in mir begann sich das stolze Gefühl eines Doppelduplextiefgaragenstellplatzbesit zers auszubreiten. Ab und zu befiel mich nach einem Aufenthalt in der Tiefgarage ein leichter Kopfschmerz, der wahrscheinlich durch die mit Kohlenmonoxid und Blei angereicherte Atemluft in der Tiefgarage hervorgerufen wurde. Den aber nahm ich freudig in Kauf, weil er, verglichen mit dem seelischen Schmerz, nicht zu wissen, wo man sein Auto stehen lassen kann, fast eine Wohltat war. So weit so gut. Ich muss das Fenster zumachen! Heute stinkt's wieder rein von draußen, nicht zum Aushalten. Mir persönlich ist ein kühler Gestank lieber als ein warmer. Am schlimmsten ist der heiße Gestank. Wenn es aus den Gullys rausdämpfelt, möchte man davonlaufen. Ich bin neulich im Stau über so einem Gully gestanden, das war ein olfaktorischer Hochgenuss. Habe sofort reagiert und die Klimaanlage voll aufgedreht. Leider kam dadurch der ganze Gestank ins Auto. Ich habe wirklich gedacht, ich sitze in der Scheiße! Vorsichtshalber habe ich mir jetzt zwei Riechbäume ins Auto gehängt. Tannenduft! Nun habe ich im Auto immer das Gefühl, ich fahre durch den Wald. Wenn ich fahre. Meistens steh ich ja. Aber ich steh lieber im Wald als im Gestank. Mit dem Gestank wird es weltweit immer schlimmer. Es ist -10-
wirklich ein Problem. Und es wird immer wärmer auf der Erde. Die Temperatur der Erdatmosphäre steigt jedes Jahr um ein bis zwei Grad. Dadurch verändert sich das Klima. Aber jetzt wird das Problem angegangen. Regelmäßig werden Weltklimakonferenzen abgehalten, auf denen Verschmutzungsziele abgesprochen werden. Es gibt Länder, die eine Menge zur Luftverschmutzung beitragen, und Länder, die überhaupt nicht verschmutzen! Die sozusagen ihr Verschmutzungskontingent nicht ausschöpfen. Das sind Entwicklungsländer, die nichts haben außer Luft und Liebe. Weil sie keine Industrie haben, sind sie unfähig zur Luftverschmutzung. Aber sie haben das Recht zur Verschmutzung. Und weil sie sonst nichts haben, verkaufen sie dieses Luftverschmutzungsrecht an Staaten, die richtig Dreck in die Atmosphäre raushauen. An die Amerikaner zum Beispiel. Mancher rümpft jetzt vielleicht die Nase und denkt: Schweinerei! Aber dem ist nicht so. Das ist ein Entwicklungshilfemodell der modernen Art, von dem alle etwas haben. Von dem Geld nämlich, das die armen Staaten von den reichen für ihre Verschmutzungsrechte bekommen, können sich die Armen auch mal eine Industrialisierung leisten, mit Kaminen, durch die sie ihren Dreck in die gute Luft entlassen können. Ein ganz neuer Markt mit ungeheurem Zukunftspotenzial könnte entstehen. Man muss das Modell auch auf anderen Feldern konsequent umsetzen. Im Gesundheitsbereich beispielsweise, in dem die finanziellen Probleme immer größer werden, bietet sich dadurch ein Ausweg an. Die Nichtraucher verkaufen ihre Lungenkrebsrechte an die Raucher. Oder, anderes Beispiel aus dem Umwelt- und Energiebereich: Staaten ohne Atomkraftwerke verkaufen ihre Restrisikorechte auf einen Atom- GAU an kernenergiefreudige Staaten. Die Österreicher, die kein Atomkraftwerk betreiben, kommen auf diese Weise mit den Japanern ins Geschäft. Dadurch rücken die -11-
Völker enger zusammen. Schon lange, bevor die Strahlen in Österreich ankommen. Wenn uns die Ukraine das Risikorecht auf einen GAU vor Tschernobyl abgekauft hätte, wir hätten doch den Niederschlag viel leichter verkraften können. Man muss den Handel mit Verblödungsrechten selbstverständlich auch auf den wissenschaftlichen Bereich ausweiten und das Verblödungs-Knowhow vermarkten. Kluge Menschen verkaufen ihre Verblödungsrechte, also das Recht, sich blöd zu verhalten, an verblödungswillige Menschen. Auf der Basis der Menschenrechtscharta müsste das doch zu machen sein. Die Chance zur Verblödung ist ein Menschenrecht, das im Naturrecht wurzelt. Dummheit fördert die Kommunikation, weil sie ja in jedem Fall zurückkommt. Der finanzielle Aspekt ist auch interessant. Ich darf gar nicht daran denken, wie viel Geld man allein von der Fernsehbranche nachfordern könnte. Das ist ein unendlicher Markt. Es gibt so viele kluge Leute, bei denen der intelligente Bereich völlig ungenutzt auf Anwendung wartet, weil sie ihre Intelligenz in ihrem Beruf nicht einsetzen können. Beispielsweise Politiker. Der Schröder könnte sein Verblödungsrecht an die Opposition abtreten. Da wäre schon viel gewonnen. Hochqualitative Dummheit kostet selbstverständlich mehr. Auf der Klimakonferenz in Bonn haben wir es mit der Luxusausführung zu tun. Dort wird der Kaviar der Blödheit verhandelt: Luftverschmutzungsscheine! Ich glaube, man muss jetzt schnell clever handeln, um sich das Patent für die Vermarktung der Dummheit zu sichern. Andernfalls gibt es ein böses Erwachen. Moment mal, wie bin ich auf Luftverschmutzungsscheine gekommen? Ja, richtig, ich habe das Fenster geschlossen. Mit solchen Gedankensprüngen müssen Sie bei mir immer rechnen. -12-
Mittendrin fällt mir etwas ein, und ich muss es hinschreiben. Eines Tages wurde ich aus meiner Doppelduplextiefgaragenstellplatzidylle jäh herausgerissen. In meiner Post befand sich ein Brief eines Herrn Schaufler aus Kaiserslautern. Ich hatte bis dahin noch nie von einem Herrn Schaufler gehört und vermutete zunächst, dass das ein Kabarettveranstalter sei, der möchte, dass ich in Kaiserslautern auftrete. Ich riss den Brief mit wenig Interesse auf und las im Briefkopf, dass der Herr Schaufler eine Elektrohandlung in Kaiserslautern betreibt. Aha, dachte ich, der möchte, dass ich bei seinem Geburtstag ein paar kabarettistische Einlagen mache oder zum Jubiläum seiner Elektrohandlung die Geschichte seiner Firma kabarettistisch nachspiele. Ich sah mich schon spielerisch mit einem Phasenprüfer Steckdosen auf Saft abchecken. Aber weit gefehlt! Der Herr Schaufler hatte seine Sekretärin beauftragt, mir einen, wie man sagt, geharnischten Brief zu schreiben. In dem stand, ich solle sofort von meinem Tiefgaragenplatz verschwinden. Von meinem geliebten Tiefgaragenplatz! Ich würde dort unverschämterweise stehen, und sein Mieter, der Herr Stockmann, könnte deshalb nicht mit seinem Fahrzeug auf seinen Tiefgaragenstellplatz, weil ich da mit meinem PKW stünde. Falls ich nicht sofort..., dann rechtliche Schritte...! Wie bitte? Wie heißt der? Schaufler? Elektrohändler! Der hat doch einen Schlag! Zu oft in die Steckdose gefasst, was? Nach Stil und Inhalt dieses Schreibens zu schließen, steht der Mann ganz ohne Zweifel unter Strom. Aber die Versorgung scheint nicht ausreichend zu sein, sonst wäre er oben ein wenig heller, denn eigentlich müsste er doch wissen, dass er den Tiefgaragenstellplatz an den gewerblichen Zwischenmieter... wie heißt der noch gleich? Ich hole mir den Ordner vor und blättere hastig nach dem Mietvertrag. Doch ich finde diesen Mietvertrag nicht. Schlamperei! Der muss doch da sein! Wo ist denn der? Ich schaue noch mal auf den Briefkopf -13-
von diesem Elektrohändler. Da steht ja eine Telefonnummer. Ich ruf ihn einfach an und kläre die Sache sofort. Es klingelt. Eine Frauenstimme. Mit Pfälzer Akzent. »Hallo, Jonas hier. Sie haben mir da einen Brief geschrieben...« »Ja. Sie stehen auf einem Platz, auf dem Sie nicht stehen dürfen...« »Ich habe einen Mietvertrag.« »Mit uns haben Sie keinen Mietvertrag, das wüssten wir.« »Entschuldigen Sie, aber ich habe einen Mietvertrag, und ich überweise Monat für Monat die Miete für die Garage...« »Das mag ja sein! Nur Herr Schaufler hat Ihnen diesen Stellplatz nicht vermietet, und an wen Sie die Miete überweisen, ist Ihre Sache. Sie haben diesen Stellplatz sofort zu verlassen, ansonsten sehen wir uns gezwungen, die Sache einem Anwalt zu übergeben. Der Herr Schaufler will keinen Ärger mit seinen Mietern.« »Ich will auch keinen Ärger mit dem Herr Schaufler.« »Der Herr Stockmann hat uns einen Brief geschrieben, in dem er sich darüber beschwert, dass Sie auf seinem Stellplatz Ihr Auto abstellen.« »Der Herr Stockmann behauptet, ich stünde auf seinem Stellplatz? Ich glaub', ich spinne!« »Stellen Sie Ihr Auto nicht mehr auf den Platz, und die Sache ist in Ordnung.« »Ist sie nicht. Ich habe einen Mietvertrag mit der Edmina.« »Edmina kennen wir nicht. Herr Schaufler hat einen Mietvertrag mit Herrn Stockmann, und zu dieser vermieteten Wohnung gehört der Tiefgaragenplatz, auf dem Sie stehen.« »Ich stehe da seit über zwei Jahr en, und es hat nie ein Problem gegeben.« -14-
»Es gibt jetzt auch kein Problem, wenn Sie von diesem Platz verschwinden.« »Wieso soll ich von einem Platz verschwinden, für den ich monatlich Miete bezahle.« »Warum zahlen Sie denn Miete für einen Platz, der Ihnen gar nicht gehört?« »Jetzt drehen Sie mir nicht das Wort im Mund um!« »Schicken Sie uns doch mal diesen Mietvertrag!« »Ja, das werde ich tun.« »Auf Wiederhören!« Nach einem beunruhigenden Anflug von Wut - ich bin ja, wie schon erwähnt, normalerweise die Ruhe selbst - wollte ich zuerst den Mietvertrag suchen und zusammen mit einem ebenso geharnischten Brief an diesen Schaufler schicken, aber dann dachte ich: Soll sich der Glühbirnenheini doch selber darum kümmern, wem er seine Stellplätze vermietet. Was geht das mich an! Ich hab wirklich Wichtigeres zu tun. Das war schon immer eine meiner Stärken, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Damals wie heute. Ich habe mir angewöhnt, immer zuerst das Unwichtige zu erledigen, damit das Wichtige in aller Ruhe erledigt werden kann. Die Ruhe ist dabei allerdings das Wichtigste. Ruhe, verdammt noch mal! Was ist das für ein Geräusch in der Wohnung über mir? Es brummt. Aber rhythmisch. Hört sich an, als würde jemand Bass spielen. Ich glaub', ich spinne! Sicher, Elektrobass muss man in einer gewissen Lautstärke spielen, um das spezielle Feeling für Musik zu bekommen. Aber was da über mir stattfindet, ist unerträglich laut. Ich habe das Gefühl, ich sitze direkt unter dem Bassverstärker. Die Schwingungen gehen durch mich hindurch. Ich habe viel Verständnis, habe selber einmal Musik gemacht und hatte auch keinen Übungsraum, aber -15-
das geht zu weit. Es klingt geil und groovy, echt professionell. Aber muss der wirklich über meinem Arbeitszimmer üben, in dem ich verzweifelt versuche, die Geschichte des Doppelduplexkomplexes zu erzählen? Jetzt singt der auch noch dazu. Starke Stimme! Jetzt gehe ich rauf und schau nach, was da los ist. Ich klingle. Es öffnet ein dunkelhäutiger Mensch, der sich seiner Schönheit voll bewusst ist. Er mustert mich mit einer Miene, die mir zeigen soll, dass ich einen großen Künstler bei seiner immens wichtigen Probenarbeit gestört habe. Er legt seinen schönen kaffeebraunen Kopf zur Seite, taxiert mich von oben bis unten und wieder von unten bis oben, spielt den Überraschten und haucht mit amerikanischem Akzent ein deutsches »Yeah« in den Hausflur. »Kann es sein, dass du Bass spielst und dazu singst?« Noch einmal schenkt er mir sein großzügiges Yeah, das in mir das Gefühl auslöst, eine enorm blöde Frage gestellt zu haben. Ich merke, wie allmählich ein Zorn in mir aufsteigt. Ich nehme mich zusammen, will auf keinen Fall provokant wirken, versuche jegliche Ironie aus meinem Tonfall herauszuhalten und sage so sachlich wie möglich: »Es ist zu laut.« Worauf der schöne Schwarze sofort beleidigt ist, die Tür bis auf einen Spalt zuzieht, den Kopf vorreckt und zickig zischt: »Ich habe verstanden.« Und zu war die Tür. Ich will noch etwas Versöhnliches sagen, aber ich komme nicht mehr dazu! Jetzt bin ich aber wirklich sauer. Er stört und ist beleidigt, wenn man ihn darauf aufmerksam macht. Ist das eine Art! Ich läute sofort noch einmal. So geht's doch nicht! Der sensible Künstler rührt sich nicht. Ich lege wieder den Finger auf den Klingelknopf und läute etwas länger. Jetzt kommt er an die Tür, öffnet sie einen Spalt, hat ein Mobiltelefon am Ohr und wirft mir einen wütenden Blick zu. »Hey...!«, versuche ich es so cool wie möglich, weiter komme ich nicht, weil er sofort giftig sagt: »Sie stören mich, ich muss jetzt telefonieren« und mir die Tür vor der Nase zuhaut. -16-
Verdammt, jetzt habe ich eine Scheißwut und weiß nicht, wohin damit. Ich gehe am besten runter in den Hof und lasse aus den Reifen seines Fahrrads die Luft raus. Im Treppenhaus kommt mir Filippo entgegen, voll bepackt mit Taschen und Koffern. »Ciao, Bruno«, grüßt er mich. »Mirella macht mich wahnsinnig! Wenn die zu ihre Eltern fährt, ist immer wie Umzug. In Holland gibt's wahrscheinlich keine Windeln. Mit mir kann sie das machen. Ich blöder Italiener mache alles mit. Was ist los? Du schaust so... bist du sauer?« »Kennst du den Amerikaner im dritten Stock, der da eingezogen ist?« »Ah, Ausländer!« lacht er verächtlich. »Du, ich hab mit Mirella gesprochen, wir müssen mal Essen gehen.« Und weg ist er. Ach was, dem Ami lasse ich die Luft später raus, jetzt gehe ich wieder schreiben. Ich lese die letzten Zeilen, die ich gerade geschrieben habe. Zeitlich befinden wir uns, ab jetzt, wieder in der Vergangenheit. (Schon wieder ein Sprachphänomen: Man kann jetzt in der Vergangenheit sein. Also ein gegenwartlicher Aufenthalt im Vergangenen.) Ich bekam einen denkwürdigen Anruf. »Jonas? Spreche ich mit dem Bruno Jonas?« fragt mich aufgekratzt eine männliche Stimme. Der Sprecher ist für meinen Geschmack viel zu gut drauf. »Ja«, sage ich freudlos und bedauere, überhaupt abgehoben zu haben. »Mit dem Kabarettisten aus dem Fernsehen?« Der will es aber genau wissen. »Ich kann es nicht leugnen«, sage ich etwas ungeduldig. »Ist ja schön, dass ich Sie gleich drankrieg! Endlich erreiche ich Sie. Sie sind ja nicht leicht zu erwischen.« -17-
»Ja. Tut mir leid. Um was geht es? Kann ich Ihnen helfen?« Er lacht: »Mir ist nicht zu helfen.« Ich bin etwas kurz angebunden und sage: »Ich stecke mitten in der Arbeit.« »Versteh ich natürlich, Sie haben wahnsinnig viel zu tun. Immer unterwegs. Hätte ich mir eigentlich denken können, aber nun habe ich Sie ja erreicht.« Was ist das denn für einer? Ich überlegte, ob ich einfach einhängen sollte. So tun, als würden wir auf Grund einer Störung unterbrochen. Seine Stimme klang künstlich. Der Ton war nicht echt, war verstellt. Ja, das war es. Er verstellte sich. Wollte mich am Ende jemand auf den Arm nehmen? Versteckte Kamera? Vielleicht steckt hinter dem ominösen Anrufer auch der Kabarettkollege Mathias Richling. Ja, der macht so was öfter. Er ruft aus Jux Kollegen mit verstellter Stimme an und erfindet irgendwelche Geschichten. Und freut sich diebisch, wenn sein Gegenüber auf ihn reinfällt. Ich überlegte kurz, ob ich dem Scherz ein Ende setzen sollte, war aber doch zu neugierig, was der Anrufer noch zu bieten hatte. »Mein Name ist Robert Schlapp-Winsel. Sie werden mich nicht kennen, aber ich kenne Sie natürlich. Ich bin hier Redakteur. Ist das nicht komisch?« »Eine Pointe ist es gerade nicht«, dachte ich. Für ihn war es eine. Er reagierte darauf so, als wäre es ein Brüller. Ich musste etwas nicht mitbekommen haben. Er schüttete sich laut aus vor Lachen, lief förmlich über vor Spaß und demonstrierte Frohsinn. Nein, ausgeschlossen, so übertreiben konnte nicht einmal der Mathias. In mir keimte die Ahnung, dass dieser Typ wirklich der war, der er vorgab zu sein. Ich nahm mir vor, gleich einzuhängen, und wollte dazu eine günstige Gelegenheit abpassen. Mein Entschluss, das Gespräch zu beenden, war aber -18-
halbherzig. Ich war zu neugierig, was der von mir wollte. Im Hintergrund meldete der Wäschetrockner mit einem drängenden schnarrenden Geräusch, einem kleinen Alarm, der penetrant durch die Wohnung hallte, dass die eingestellte Trockenzeit abgelaufen war. Immer wieder das gleiche drängende Signal nach wenigen Sekunden. Wer hatte dieses Intervall eingestellt? Es ging mir auf die Nerven. Das war ja nicht auszuhalten! Warum öffnete nicht endlich Rosi den Trockner? War sie schwerhörig geworden? Wo steckte sie nur? Oder war sie am Ende gar nicht in der Wohnung? Wollte sie nicht die Kinder aus dem Kindergarten holen? Könnte sein, dass sie schnell zum Bäcker gegenüber gelaufen ist, um Milch oder Brot zu holen. Ich ging mit dem Hörer am Ohr vor zum Fenster meines Arbeitszimmers und schaute auf die gegenüberliegende Straßenseite zum Bäckerladen hinüber. Rosi verließ eben das Geschäft in angeregter Unterhaltung mit einer Bekannten. Die beiden blieben auf dem Gehsteig vor dem Schaufenster der Bäckerei stehen und schwatzten. Der Wäschetrockner schnarrte wieder bedrohlich. Ich hatte gar nicht mehr richtig gehört, was dieser Robert Schlapp-Winsel mir ohne Unterlass ins Ohr quatschte. Hatte er schon gesagt, was er von mir wollte? »Mensch, Jonas«, sagte er gerade bewundernd, »ich habe Sie gesehen, mit Ihrem Programm. Hat mir gut gefallen. Sehr gut! Phantastisch! Also, wie Sie das machen! Also, einfach bewundernswert. War nämlich in der Theaterfabrik. War ja ausverkauft. Wie viel Leute waren denn da drin? Man bekam ja überhaupt keinen Platz! Wie hieß es noch einmal, das Programm?« »Wirklich wahr.« »Ja, wirklich wahr. Schöner Titel. Wirklich wahr? Hieß das wirklich wirklich wahr?« -19-
Irgendwie hatte ich den Eindruck, er hatte mein Programm gar nicht gesehen. Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, dass er vielleicht einen anderen Kabarettisten gesehen hatte und meinte, ich wäre es gewesen. »Sagen Sie mal, ist das immer so, dass die Leute bei Ihnen so lachen? Das war ja eine Stimmung wie auf einem Volksfest!« Der Wäschetrockner mit seiner alarmierenden Tröte gab die Antwort. Unten auf dem Gehsteig lachte Rosi mit einer Flasche Milch und Brot unter dem Arm. Es schien eine lustige Unterhaltung zu sein. Wo sind eigentlich die Kinder? Hatte Rosi nicht gesagt, dass sie heute nicht in den Kindergarten gingen, weil dort Scharlach ausgebrochen sei? Wenn sie nicht im Kindergarten waren, dann mussten sie in der Wohnung sein. Ich lauschte in die Wohnung, um ein Kindergeräusch zu empfangen, aber es war still. Verdächtig still. Leider reichte das Telefonkabel nicht, um einen Kontrollgang durch die Wohnung zu machen. Der Wäschetrockner blökte wieder. »Herr Jonas? Sind Sie noch dran?« »Ja.« Ich wollte das Gespräch jetzt möglichst schnell beenden. »Kann ich Sie vielleicht zurückrufen, Herr äh...« Ich hatte seinen Namen vergessen. Wieso habe ich mir seinen Namen nicht gemerkt? »Robert Schlapp-Winsel«, drang es überdeutlich an mein Ohr. »Robert Schlapp-Winsel. FFB! Freies Fernsehen Bayern.« »Ach«, entfuhr es mir spöttisch, »freies Fernsehen! Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht verwählt haben?« »Ich weiß, Ihr Verhältnis zum Haus war bisher nicht gerade von Harmonie geprägt. Mich stört das nicht. Ich bin völlig unvoreingenommen. Bin erst seit vier Wochen beim Sender. Verstehen Sie? Ich will gute Sendungen machen. Weiter nichts.« -20-
»Das wird nicht leicht bei dem Arbeitgeber!« unkte ich vorlaut. »Schwierigkeiten gehören dazu«, sagte er mutig. »Man muss es versuchen. Also, ich will von den alten Querelen nichts wissen.« »Was heißt Querelen?« »Man hat mich gewarnt vor Ihnen. Sie seien nicht einfach.« Wieder dieses joviale Lachen. »Ich bin auch nicht einfach.« »Na, dann wird das ja nicht einfach für Sie in diesem Haus!« »Wissen Sie, das Einfache ist oft das Langweilige. Vorbei ist vorbei.« »Schön, diese Einstellung erlebt man nicht oft.« »Das soll jetzt alles anders werden. Ich habe in der Konferenz vorgeschlagen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, um über eine mögliche Zusammenarbeit zu sprechen. Was halten Sie davon?« Der Wäschetrockner brüllte vor Schmerzen, wie eine Kuh, die mit prallem Euter auf den säumigen Melker wartet. So kam es mir vor. Ich hörte in der Küche etwas scheppern und klappern. Unsere Kinder, Franzi und Michi, spielten vermutlich mit Kochtöpfen und Pfannen. Kinder soll man in ihrer Kreativität auf keinen Fall bremsen! »Ja«, sagte ich, »ich muss jetzt erst einmal den Wäschetrockner aufmachen. Ich bin momentan mit den Kindern allein.« »Ja, was können wir da machen? Ich muss jetzt gleich in eine Sitzung. Vielleicht können Sie mit meiner Sekretärin einen Termin ausmachen. Zum Essen! Schöner Italiener, da spricht man gleich ganz anders miteinander. Wissen Sie was, nächste Woche, Dienstag, Mittag. O.k. 12 Uhr 30. Suchen Sie sich ein schönes Lokal raus, und geben Sie mir über meine Sekretärin Bescheid. Sie, ich muss in die Sitzung. Schöne Zeit! So long! -21-
Alles Gute bis dahin! Vielleicht können Sie schon mal ein Exposé mitbringen, damit wir eine Grundlage haben. So long!« Eingehängt. So long, erwiderte ich verdattert den Gruß. So long? Er verabschiedete sich auf Englisch, aber die Aussprache stimmte nicht. Was machte dieser Mensch mit Vokalen? Es klang nach a, aber gleichzeitig auch nach o. Jeder Vokal suggerierte unterschwellig Enttäuschung. Er konnte, wenn ich richtig gehört hatte, überhaupt nur einen einzigen Vokal sprechen, den er zwangsläufig immer einsetzte. Und jetzt wusste ich plötzlich, woher er kam. Aus dem Osten. Er war Sachse. Er musste einer von denen gewesen sein, die über die ungarische Grenze geflüchtet waren. Er war beim Fernsehen untergekommen. In seiner überschwänglichen Art dachte er, er musste mich engagieren. Dieser naive Mensch glaubte, er befände sich in einer Demokratie. Warum hatte ihm niemand mitgeteilt, dass er nach Bayern gekommen war. Man engagierte hier vielleicht einen linken Satiriker für einen kurzen Beitrag vo n drei oder fünf Minuten, aber niemand im Sender dachte damals ernsthaft daran, einem linken Kabarettisten eine satirische Reihe anzubieten. Trafen sie einen jener Kabarettisten, die für ein Engagement nicht in Frage kamen, so beeilten sie sich, ihm nachhaltig und eindringlich zu versichern, wie unendlich schade es wäre, dass einer wie er nicht im Programm vorkäme. Aber die politische Lage im Land sei nun mal momentan leider ungünstig. Es kämen hoffentlich wieder einmal andere Zeiten, und dann sähe es ganz anders aus. Sie trösteten sich und mich und alle, die des Zuspruchs bedurften, mit solchen und ähnlichen Sätzen und machten sich aus dem Staub, wendeten sich wieder ihren eigenen Problemen zu. Meist ihrer Karriere, was ich ihnen nicht verübeln konnte, denn sie wollten ja vorwärts kommen. Sie drehten sich im Weggehen noch einmal um und zeigten mit dem Daumen aufmunternd nach oben. Kopf hoch, Junge, bedeutete -22-
das. Ich finde dich gut, aber mehr kann ich für dich nicht tun. Vielleicht tat ich diesem armen Menschen Unrecht? Pflegte ich bloß wieder meine Vorurteile gegenüber dem Freien Fernsehen Bayern? Vielleicht war dieser Schlapp-Winsel wirklich ein netter, engagierter Mensch, der tatsächlich eine neue Ära einleiten wollte? Oder aber war die Zeit der Betonköpfe vorbei? Taute das Eis? Begannen etwa Glasnost und Perestroika auch in Bayern Einzug zu halten? Nach dem plötzlichen Tod des großen bayerischen Staatenlenkers und Milliardenkreditgebers Franz Josef Strauß versuchte Max Streibl seinem Vorgänger nachzueifern und musste bereits in seiner ersten Amigo-Affäre das Feld für Edmund Stoiber räumen. Kam mit ihm die bayerische Variante eines Michail Gorbatschow? Schön wär es schon. Gab es vielleicht schon eine Anweisung der bayerischen Staatskanzlei, das als positives Zeichen der Vereinigung nun verstärkt ehemalige DDR-Bürger beim Freien Fernsehen Bayern eine Anstellung finden sollten? Man musste in diesen Zeiten auf alles gefasst sein. Nichts war mehr unmöglich. Wenn die Mauer in Berlin über Nacht fallen konnte, warum sollte dann nicht auch von einem Tag auf den anderen in Bayern ein neues, offenes Zeitalter beginnen? Stoiber war zwar unter Strauß groß geworden und hatte daher nicht nur Einblick in das Straußsche Machtsystem, sondern wirkte tatkräftig darin mit. Ganz sauber konnte er also nicht sein. Aber er war vermutlich zu einem Teil sogar selber ein Opfer Straußscher Machtfülle und hatte unter ihm gelitten. Möglicherweise war in ihm immer ein guter Kern verborgen, der nur darauf wartete, sich entfalten zu können. Da er nun an der Macht war, spekulierte ich, konnte er eventuell gar nicht anders können und würde mehr Toleranz und Demokratie demonstrieren als sein Vorgänger. Wenn er auf Dauer Erfolg haben wollte, musste er der Zeit seinen eigenen Stempel aufdrücken. Er würde dem Land zu mehr Freiheit verhelfen. Er -23-
hatte nur eine Chance, wenn er die starre stalinistische Linie seiner Vorgänger, die den Staat als Instrument persönlicher egoistischer Interessen missbrauchten, aufgab, um eine gemäßigtere freiheitliche Politik zu verfolgen. Er würde sich als Neuerer und Modernisierer der bayerischen Zukunft feiern lassen. Die alten Zöpfe würde er nach und nach abschneiden und als Erlöser über Bayern kommen. Die in den Jahren der absolutistisch handelnden Strauß-Administration entstandenen verkrusteten Machtstrukturen würde Stoiber lösen und dem Land eine neue Liberalitas Bavariae zurückgeben. Er selbst wird sich läutern, sich wandeln vom Mitläufer und Handlanger seines Ziehvaters Strauß hin zum warmherzigen modern denkenden Staatenlenker, der humorvoll auch Andersdenkende nicht nur toleriert, sondern sogar in ihrer Kritik mit der Begründung bestärkt, dass es zur bayerischen Lebensart gehört, scharf kritisiert zu werden. Stoiber wird selbstbewusst auftreten und eigene Schwächen souverän eingestehen, sich sogar öffentlich zu den Fehlern seines Vorgängers bekennen und versprechen, Bayern in eine moderne Zukunft zu führen. Bayern wird ein neues Image bekommen, weit entfernt von Bierdimpfltum und Rückständigkeit. Stoiber wird sich regelmäßig mit den Intellektuellen des Landes in der bayerischen Staatskanzlei im Zirbelstüberl zum Gedankenaustausch treffen. Mit Gerhard Polt, Herbert RiehlHeyse, Dieter Hanitzsch, Dieter Hildebrandt, Konstantin Wecker, Sigi Zimmerschied, der Biermösl- Blosn und vielen anderen bayerischen Dichtern, Sängern und Wissenschaftlern wird er beim Weißbier zusammensitzen, Weißwürste zutzeln und die aktuellen Probleme besprechen. Ich sah die Szene plastisch vor mir. Ich selbst saß mittendrin in der Runde, und als mir der Edmund Stoiber gerade das Du anbot, holte mich der Wäschetrockner in die Wirklichkeit zurück. Fast gleichzeitig ging die Klingel an unserer Wohnungstür. -24-
Ich öffnete, und Rosi stand leicht verärgert mit Brot und Milch in den Händen im Hausflur. »Hast du mich nicht gehört? Ich habe dreimal geklingelt.« Sie ging an mir schnurstracks vorbei in die Küche und blieb wie angewurzelt stehen. Ach, du meine Güte! Ich dackelte hinterher und sah das Malheur. Unser kreativer Nachwuchs hockte am Boden inmitten von Töpfen und Tellern und schaute uns triumphierend an. Die beiden Kleinen hatten ganze Arbeit geleistet. Mehl, Zucker, Getreide, Eier und einiges mehr an Lebensmitteln, an die sie rangekommen waren, hatten sie mit Milch und Wasser spielerisch zu einer wenig konsistenten Masse verarbeitet und auf dem Küchenboden optimal verteilt. »Wir haben einen Kuchen gebacken«, sagten sie stolz und warteten in der Gewissheit auf Anerkennung ihrer Arbeit auf ein Sonderlob. Rosi lachte: »Ja, grüß Gott herein!« Ich hätte auch gern gelacht, aber mir war nicht danach. Rosi schaute mich an und erkannte sofort, dass ich deprimiert war. Ich schüttelte resigniert den Kopf. »Ist doch kein Problem. Müssen wir halt wieder putzen«, versuchte sie mich neu zu motivieren. Der Wäschetrockner gab immer noch keine Ruhe. Ich ging ins Bad und öffnete ihn wütend. »Alles nur, weil mich dieser Idiot vom Fernsehen mit seinem Scheiß belabert hat«, murmelte ich und trottete in die verwüstete Küche zurück. »Sieh es mal so«, versuchte es Rosi noch einmal, »für ihre kreative Entwicklung ist so etwas ganz wichtig.« »Ich durfte in meiner Kindheit nie auf diese Weise kreativ sein und habe mich auch entwickelt.« »Deshalb bist du ja Kabarettist geworden.« »Wenn ich so was angestellt hätte...« »Ich weiß schon«, sagte Rosi, »dann hättest du den Arsch voll -25-
gekriegt. Schau mal, wie glücklich sie sind!« Wir schauten irgendwie zufrieden auf unsere beiden Sprösslinge, die selig in ihrer angerührten Pampe hockten und kneteten. »Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?« »Ich? Im Arbeitszimmer. Hab' telefoniert. Mit einem Redakteur vom Fernsehen. Merkwürdiger Typ! Stell dir vor, er will sich mit mir zum Essen treffen wegen einer neuen Sendung. Ich kann mir das Lokal aussuchen.« »Schön«, sagte Rosi. »Möchte wissen, warum die immer zum Essen gehen, wenn sie kreativ sind?« »Die arbeiten eben viel aus dem Bauch raus!« »Die sollten mehr mit dem Hirn arbeiten!« »Da hast du Recht. Aber vermutlich wird beim Essen die Phantasie am besten angeregt. Man sitzt entspannt bei einem leichten Weißen, und schon sprühen die Ideen.« »Gar nichts sprüht. Schau dir das Programm an. Wenn die Ideen dazu beim leichten Wein entstanden sind, kann der nicht gut gewesen sein. Und hat bestimmt Kopfschmerzen verursacht.« »Hast du auch wieder Recht.« »Und was soll das für eine Sendung werden?« »Das wissen wir noch nicht. Aber auf jeden Fall satirisch.« »Ach so, es gibt noch gar keine Idee? Das hätte ich mir denken können.« »Nein, die Idee soll erst noch entwickelt werden.« »Und du sollst sie beim Italiener entwickeln.« »Er hat gemeint, ich soll mir schon mal ein paar Gedanken machen und ein Exposé ausarbeiten.« »Na, dann arbeite mal schön aus. Aber vorher könntest du mir noch hier beim Saubermachen helfen.« -26-
»Ja, eine Idee habe ich schon«, sagte ich. »Ein junges Elternpaar erörtert die Frage, was mehr Energieaufwand benötigt: Ordnung herstellen oder Unordnung anrichten.« Übrigens eine Frage, die uns im Laufe unserer Beziehung immer wieder beschäftigen sollte. »Was meinst du, Rosi?« »Hol doch mal die Schaufel aus der Abstellkammer!« »Moment noch, Rosi. Ich habe da gerade eine interessante Idee.« Ich beobachtete Rosi beim Kehren des Küchenbodens. Gerade die einfachen Tätigkeiten lösten in mir oft tiefgründige philosophische Überlegungen aus. Mir wurde plötzlich klar, dass Ordnung und Unordnung eine signifikant differente Menge an menschlichem Energieaufwand erforderten. Unordnung entsteht fast von alleine, sozusagen spielerisch. Ordnung dagegen muss immer wieder unter enormem Aufwand von Energie, gegen starke innere Abwehrkräfte hergestellt werden. Warum empfinden wir Unordnung als unangenehm? Warum begegnen wir dem Zustand der Unordnung mit dem Wunsch nach Ordnung? Warum löst Ordnung ein beruhigendes Gefühl in uns aus, Unordnung aber Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit? Es könnte doch auch umgekehrt sein. Es gib Menschen, die Ordnung depressiv macht, dachte ich laut, weil sie sich dadurch eingeschränkt fühlen in ihrem kreativen Gestaltungsdrang von Wirklichkeit. Wirklichkeit will geformt werden, der Stoff der Wirklichkeit drängt nach schöpferischer Form. Die Form könnte wiederum eine Kategorie der Ordnung sein. Betrachten wir einen Zustand der Unordnung. Beispielsweise nicht erledigte Arbeit. Arbeit macht sich der Mensch ja selber. Ordnung machen ist Arbeit. Der Zustand der Unordnung ruft uns auf zur Arbeit, Ordnung zu schaffen. Aber dafür brauchen wir eine Vision von Ordnung. Wir müssen wissen, wie es aussehen soll, in welchem Idealzustand das Heim glänzen soll, -27-
wenn aufgeräumt ist. Andernfalls ist Ordnung schaffende Arbeit richtungslos und führt nur zu einer anderen Form von Unordnung. In einem solchen Fall ist es besser, gar nichts zu tun. Das Märchen von den Heinzelmännchen in Köln ist ein gutes Beispiel. Die Menschen wissen in diesem Märchen genau, was sie von den Heinzelmännchen erwarten. Die Heinzelmännchen wiederum machen deren Arbeit gerne, aber sie wollen dabei nicht beobachtet werden. Ich war grade zu großer Form aufgelaufen in meinem Referat, als Rosi plötzlich innehielt. In meinem Denken stellte sich eine kleine Irritation ein, die ich aber nicht bereit war, weiter zu ergründen. Sie stellte den Besen in die Ecke und ging stumm, ohne mich anzuschauen, an mir vorbei über den Gang zur Abstellkammer und kam mit der Schaufel zurück in die Küche. »Warum empfinden wir Unordnung als Chaos und beginnen sofort mit Ordnung schaffenden Aktivitäten, wenn wir uns darin wiederfinden?« fragte ich mehr mich als sie mit neugierigem Forschungsinteresse. »Wir? Vielleicht könntest du jetzt auch allmählich mit Ordnung schaffenden Aktivitäten beginnen!« sagte Rosi unwirsch. »Die Unordnung ist in jedem Fall der mächtigere Zustand«, fuhr ich fort, »denn jede Ordnung hat die Tendenz zur Unordnung.« Rosi stellte plötzlich alle Tätigkeiten ein und schaute mich lange neugierig und forschend an. Mit einem Blick, der bedeutete: Ist das dein Ernst? Ohne ein Wort der Erklärung verließ sie die Küche. Offensichtlich war sie jetzt verärgert. Sie ist eben ein sehr praktisch orientierter Mensch, und ich kümmere mich mehr um den Überbau. Ich betracht ete mit großer Gelassenheit, wie sich durch Kinderhände der erreichte Ordnungszustand allmählich wieder in Unordnung auflöste. -28-
Dieser Prozess faszinierte mich. Was wir als Ordnung empfinden, hängt von der subjektiven Einstellung des Betrachters ab. Ein Blick auf meinen Schreibtisch mag für den einen unordentlich-chaotisch erscheinen und für den anderen stringent-ordentlich. Einen Beweis für die Richtigkeit meiner Überlegungen lieferten immer wieder aufs Neue unsere Kinder. Sobald sie sich unbeobachtet fühlten, ließen sie ihrer Kreativität freien Lauf und brachten ganze neue Formen von Unordnung hervor, die bei uns Eltern wieder den dringenden Wunsch nach Ordnung auslösten. Mit den Jahren ließ zwar nicht der Wunsch nach Ordnung nach, aber die Kraft zur Durchsetzung erlahmte zeitweise. Im Rückblick kann ich sagen, die kreative Entwicklung unserer Kinder war stärker als jeder Ordnungsgedanke. In kreativen Spitzenphasen hatten sie mit unglaublicher Geschwindigkeit unsere gesamte Wohnung phantasievoll zum künstlerischen Gesamtkunstwerk umgestaltet. Sowohl Wände als auch Möbel waren mit Farbe bemalt. Auch Bleistiftarbeiten auf weißer Tapete waren lange zu besichtigen. Rosi und ich fanden den künstlerischen Werdegang unserer Kinder beachtlich und waren stolz auf die Werke, die überall in der Wohnung zu bestaunen waren. Die Wohnung war ein Atelier geworden und hatte ihre eigene Ordnung. Atelier? Kunst? Malerei? Ich habe zugesagt, eine Ausstellung zu eröffnen. Wo ist der Terminkalender? Ach, du meine Güte, das ist ja heute Abend. Ich habe mit dem Eröffnen von Ausstellungen überhaupt keine Erfahrung. Ich habe noch nie eine Ausstellung eröffnet. Ich wollte auch nie eine Ausstellung eröffnen. Nicht im Traum habe ich je daran gedacht. Ich weiß deshalb auch nicht genau, wie man so etwas macht. Ich weiß nur, es gibt Fachleute, die wissen, wie man eine Ausstellung eröffnet. Warum ausgerechnet -29-
ich heute eine Ausstellung eröffnen soll, weiß ich auch nicht. Vermutlich, weil sich die Verantwortlichen gesagt haben, wir nehmen mal einen, der keine Ahnung hat von der Kunst. Vielleicht. Jeder sucht heute die Herausforderung und bringt sich in Situationen, die ihn über sich hinauswachsen lassen. Vielleicht liegt hier der Grund begraben, warum ich zugesagt habe, diese Ausstellung zu eröffnen. Ich weiß es nicht mehr so genau. Zunächst wollte ich es nämlich nicht machen. Aber dann passierte etwas, das meinen ursprünglichen Entschluss umwarf. Und das kam so: Der Maler Z. schrieb mir einen Brief, in dem er mich bat, seine Ausstellung in der Kreissparkasse in München zu eröffnen. Darauf reagierte ich nicht. Der Maler Z. war mir bisher nicht bekannt. Die Kreissparkasse schon. Der Maler Z. kam zu mir in die Vorstellung. Vorher war er noch nie in einer meiner Vorstellungen. Wo er da war, weiß ich nicht, aber er wird schon irgendwo gewesen sein. Wahrscheinlich daheim in seinem Atelier. Wo sonst ist ein Maler, wenn nicht im Atelier. Aber jetzt war er in meiner Vorstellung. Nach der Vorstellung hat er sich mir als der Maler Z. vorgestellt und mir nochmals gesagt, er könnte sich vorstellen, dass ich seine Ausstellung in der Kreissparkasse eröffnen könnte. Ich glaube nicht, dass ich das kann. Sagte ich ablehnend. Doch, hat er gemeint. Nein, habe ich gesagt. Weil wir uns gar nicht kennen. Ach, das ist nicht so schlimm. Das geht schon. Das geht nicht, habe ich wiederum gesagt. Weil ich nur etwas über einen Menschen sagen kann, wenn ich weiß, was er für einer ist. Mei, ich bin halt einer, der malt. Ich bin Porträtmaler. Hat mir Z. gesagt. Und er fing an zu erzählen, was er alles macht und dass er mich auch malen würde. Das auch noch, habe ich mir gedacht. Na ja, und nachdem er überhaupt nicht aufgehört hat und immer wieder gesagt hat, dass es halt sein sehnlichster Wunsch wäre, wenn ich die Ausstellung eröffnen würde, habe ich halt irgendwann Ja gesagt, weil mir diese Ausdauer, diese konsequente -30-
Wunscherfüllungssehnsucht so unwiderstehlich zugesetzt hat, dass ich zugesagt habe, weil ich nicht anders konnte. Und er konnte auch nicht anders. Es ist bei Künstlern oft so, dass sie nicht anders können. Der Z. hat gemeint, ich müsste halt mal zu ihm kommen und sitzen. Modell »sitzen« im Atelier. Also das habe ich gemacht. Er ist hinter der Staffelei gesessen und ich vor ihm, und er hat mich angeschaut, und zwar genau. Immer wieder. Wie mich der Z. angeschaut hat, so hat mich überhaupt noch nie einer angeschaut. Und da sind wir an einem ganz wichtigen Punkt. Er nimmt es ganz genau. Er sieht etwas, ein Gesicht, einen Menschen, und will das, was er sieht, auf seiner Leinwand genauso wieder sehen. Wenn aber das, was er auf der Leinwand vor sich sieht, nicht genauso ausschaut, ist er nicht zufrieden. Das ist übrigens in der Malerei immer so. Wenn ein Maler nicht das sieht, was er sich vorstellt, ist er nicht zufrieden mit sich. Es gibt aber Maler, die sehen etwas und malen das auf die Leinwand, und der Betrachter sieht etwas ganz anderes. Also in dem Fall sehen wir - der Maler und der Betrachter - etwas Verschiedenes, obwohl es sich um dasselbe Bild handelt. Es gibt auch Maler, die nichts sehen - und das auch noch malen können! In diesem Fall sieht der Betrachter genau das, was der Künstler nicht sieht. Das ist eine der spannendsten Richtungen in der modernen Malerei. Das sind Bilder, die nichts zeigen, und der Betrachter hat die Möglichkeit »etwas hineinzuschauen«. Der kreative Akt verlagert sich dabei weg vom Maler hin zum Betrachter. Dieser wird selber zum Künstler. Am gelungensten sind diese Bilder, wenn nur der Rahmen aufgehängt wird. Aber auch schwarze Flächen sind dafür sehr geeignet. Und schließlich gibt es Maler, zu denen auch der Z. gehört, die diese wahnsinnige Absicht verfolgen, dem Betrachter ein Bild zu -31-
zeigen, das genau das zeigt, was der Betrachter sieht. Das ist ziemlich phantasielos, für den Betrachter - weil dieser nicht anders kann, als das zu sehen, was ihm der Maler hingemalt hat. Wir können hier von der Diktatur des Malers sprechen. Warum aber malt ein Maler genau das, was er malt, und nicht das, was er malen könnte? Kann er vielleicht nicht, was er können könnte? Z. hat mir versichert, er male immer nur genau das, was er sähe. Manchmal male er auch »aus der Phantasie raus«. Wenn er das Bild vollendet habe, können auch andere sehen, was er schon gesehen hat. Am liebsten aber sei ihm der Realismus. Er selber neige zum Überrealismus. Seine Bilder seien realistischer als die Realität. Das ist tragisch. Obwohl es der Maler genau nimmt, kann er nie so genau sein wie die Wirklichkeit. In diesem Dilemma steckt er. Er hängt zwischendrin, nämlich zwischen der Unmöglichkeit, die Wirklichkeit so abzubilden, wie sie ist, beziehungsweise wie er glaubt, sie subjektiv sehend wahrgenommen zu haben, und der Wirklichkeit selber, die den Maler anschaut und nicht verstehen kann, warum er sich so bemüht. Die Wirklichkeit bedauert die Kunst. Klingt nicht schlecht, aber kann ich das sagen? Auf einer Vernissage treffen sich kunstverständige Menschen, die sich in der Kunstszene auskennen, die wissen, was gut ist, und die wissen, was ein Scheiß ist, und es gibt auch welche, die wissen, was Avantgarde ist. Und es gibt Leute, die den Adorno kennen und die ihn auch zitieren können. Ich kann ihn auch zitieren: »Kunst hat ihren Begriff in der geschichtlich sich verändernden Konstellation von Momenten; er sperrt sich der Definition.« Das ist doch schon mal beruhigend. Und dann folgt wirklich ein tröstender Satz: »Der Versuch, die historische Genese von Kunst unter ein supremes Motiv ontologisch zu subsumieren, verlöre notwendig -32-
sich in so Disparates, dass die Theorie nichts in Händen behielte, als die freilich relevante Einsicht, dass die Künste in keiner bruchlosen Identität der Kunst sich einordnen ließen!« Genau das sage ich auch, aber es fällt mir nicht immer ein. Jetzt habe ich doch glatt den Faden verloren. Sehen Sie, so ist das: Man will etwas erzählen und schon wird man gestört. Oft irritieren mich die eigenen Gedanken schlimmer als alles andere. Die kommen und gehen, wie sie wollen. Besetzen mein Hirn und hindern mich am wirklich Wichtigen festzuhalten. Jetzt aber aufgepasst! Ich hatte überhaupt nicht mehr an den Elektrohändler aus Kaiserslautern gedacht, bis er sich mit einem Brief in Erinnerung brachte. Er hatte ihn nicht selber geschrieben, sondern schreiben lassen, und zwar von Rechtsanwälten, deren klingende Namen auf dem Kuvert prangten: Hackstock, Böck und Böck-Lahm. Neugierig riss ich den Brief auf: Sehr geehrter Herr Jonas, wir zeigen an, dass wir Herrn Egon Schaufler, Saturnstraße 43, 67509 Kaiserslautern, vertreten. [Der arme Kerl, was hat der denen getan?] Unser Mandant ist Eigentümer der Wohnung Nummer 20 in der Wagensteinstraße 6, München 7. Laut Nachtrag zur Teilungserklärung mit Gemeinschaftsanordnung vom 13.11.1994 gehört zu der vorerwähnten Wohnung mit der Nummer 20 das Recht auf ausschließliche Benutzung des im Aufteilungsplan mit der Nummer 20 bezeichneten KfzStellplatzes in der Doppelduplexgarage. Vermietet ist die Eigentumswohnung unseres Mandanten einschließlich des vorerwähnten Garagenstellplatzes an die Eheleute Alois Stockmann, Wagensteinstraße 6, München. Herr Stockmann führt nunmehr Klage darüber, dass Sie Ihren PKW auf seinem -33-
Stellplatz abstellen. Telefonisch teilten Sie zwischenzeitlich auf ein entsprechendes Abmahnungsschreiben unseres Mandanten vom 06.02. mit, Sie hätten einen Mietvertrag für Stellplatz Nummer 20 mit der Edmina Grundstücksverwaltungsgesellschaft. Die von Ihnen in Aussicht gestellte Kopie des behaupteten Mietvertrages ist bis dato bei unserem Mandanten nicht eingegangen. Letztlich dürfte es auf den vorerwähnten Mietvertrag jedoch ankommen, nachdem die Edmina Grundstücksverwaltungs- und Immobilienverwaltungsgesellschaft mbH keinen Stellplatz vermieten kann, der ihr nicht gehört. Wir haben Sie daher aufzufordern, zukünftig jegliche Benutzung des Garagenstellplatzes unseres Mandanten zu unterlassen, insbesondere den Mieter Stockmann an der Benutzung dieses Platzes nicht zu hindern. Für den Fall, dass Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen bzw. sich hieran nicht halten, müsste eine gerichtliche Klärung erfolgen, was allerdings für Sie mit nicht unerheblichen Kosten verbunden wäre. Hochachtungsvoll Rechtsanwalt Es ging nicht anders, ich musste ein Antwortschreiben formulieren. Betreff: XY-ungelöst-doppel-duplex-Komplex Liebe Kollegen von der Jurisprudenz! Nach der Lektüre Ihres Schreibens war mir sofort klar, dass hier die Spitzenanwälte von Kaiserslautern das Recht pflegen. Der schlichte Briefkopf findet seine Entsprechung im Stil des Schreibens. Ich freue mich, dass sich drei Staranwälte bemühen, den vorliegenden Fall zu bewältigen. Wahrscheinlich handelt es -34-
sich um eines der grausamsten und hinterhältigsten Verbrechen, die je im Zusammenhang mit Doppelduplexgaragenstellplätzen begangen wurden. Sie teilten mir freundlicherweise mit, dass Herr Schaufler Eigentümer der Wohnung Nummer 20 in der Wagensteinstraße 6, München 80379, ist. Das freut mich für ihn. Hoffentlich hat er noch viel Spaß an seinem Eigentum. Er hat ja auch einen sehr liebenswürdigen Mieter. Das ist der Herr Stockmann. Der Herr Stockmann steht nun seit Jahren auf dem Stellplatz Nummer 1 in jener Tiefgarage. Und er sagte mir, dass er zu Beginn seines Mietverhältnisses auf den Platz Nummer 20 verzichtet habe, weil ihm der Stellplatz Nummer 1 besser gefallen würde. Nun stand der Herr Stockmann jahrelang auf dem Stellplatz Nummer 1, der wohl nicht zu seiner angemieteten Wohnung gehörte. Dennoch herrschte bis vor kurzem in der Tiefgarage eine freundliche Doppelduplexstellplatzatmosphäre. Und nun schreiben Sie, geehrte Rechtspfleger, dass Herr Stockmann Klage darüber führe, dass ich meinen PKW auf seinem Stellplatz Nummer 20 abstelle! Nun fragen wir uns alle, warum macht der Jonas das? Will er dem Herrn Stockmann Böses? Hat er sich gar mit seinem PKW in jene Tiefgarage eingeschlichen, um sich dort frech auf einen Doppelduplexstellplatz zu stellen, der ihm nicht zusteht? Was ist das für ein übler Rechtsbrecher? Möglicherweise handelt es sich bei diesem Jonas um ein dem terroristischen Umfeld zuzurechnendes Subjekt? Ist das der Beginn einer neuen Terrorwelle? Vielleicht soll über das Abstellen von rechtmäßig zugelassenen PKWs auf rechtmäßig angemieteten Doppelduplexgaragenstellplätzen der Rechtsstaat an seiner empfindlichsten Stelle getroffen werden? Ist der arme Herr Stockmann eines der ersten Opfer des neuen Tiefgaragenterrors. Einige Fragen sind noch ungeklärt: Wie kommt der Jonas zu dem Schlüssel, der ihm den Zugang -35-
zur Tiefgarage öffnet? Wie konnte er jahrlang unbemerkt auf dem Platz Nummer 20 seinen PKW abstellen? Wieso brauchte Herr Stockmann über fünf Jahre, um zu bemerken, dass er auf dem falschen Doppelduplexstellplatz steht? Und wieso überwies der Jonas jahrelang 70,- DM Miete pro Monat für diesen Stellplatz Nummer 20? Ganz nebenbei gesagt: Bei 70,- DM Monatsmiete ergibt sich ein fetter Streitwert, nach dem sich ja Ihr Honorar berechnet. Na ja - Kleinvieh macht auch Mist. Falls Ihr Mandant den Fall gerichtlich klären lassen möchte, so kann das nur für ihn mit nicht unerheblichen Kosten verbunden sein. Für die Staranwälte von Kaiserslautern und Ihren Mandanten aber kann es mit nicht unerheblichem Gelächter verbunden sein, wenn ich bei meinem Auftritt in Kaiserslautern in der Kammgarn-Halle diesen komplexen Rechtsfall im Rahmen meines Kabarettprogramms der Öffentlichkeit als Beispiel für vorbildliche, engagierte Rechtspflege vorführen werde. Die örtliche Presse ist bereits eingeladen. Ich hoffe doch, dass Sie, als die Hauptdarsteller, auch kommen. Mit doppelfreundlichen Duplex-Grüßen (Bruno Jonas) Ich habe Rosi nach dem Mietvertrag gefragt. Mit einem Griff holte sie den Leitzordner aus dem Regal und blätterte zielstrebig. Mietvertrag Wohnung, einige andere Verträge, alles fein säuberlich und ordentlich abgeheftet. Nur dieser verdammte Mietvertrag für den Doppelduplexplatz war nicht da. »Das gibt es doch nicht!« rief ich zerknirscht. Ich nahm den Ordner selber in die Hand und blätterte Seite für Seite alles durch. Es waren Mietverträge von Wohnungen da, in denen ich schon längst nicht mehr wohnte. -36-
Ich hatte, nachdem ich nach München gezogen war, in einer Wohngemeinschaft gewohnt, in einer linken Wohngemeinschaft mit festen Abspülreglement, Besendienst, Kehrwoche und einmal die Woche Skat mit reichlich Augustiner Edelstoff aus der Flasche. Meine Mitbewohner waren Beatrice und Karl-Josef, genannt Trixi und Kajo.Trixi und Kajo waren ein richtiges Ehepaar mit Trauschein. Sie hatten die blauen Bände von Friedrich und Karl im Regal und waren streng kommunistisch orientiert. Im Gegensatz zu mir hatten sie Das Kapital von Karl Marx gelesen und, wie mir schien, auch verstanden. Sie waren aktiv als Maoisten-Leninisten und schleppten ständig Tapeziertische durchs Treppenhaus. Tapeziert wurde damit allerdings nie. Sie dienten als mobile Ablage. Wenn sie einen ihrer politischen Aktionsstände auf Straßen und Plätzen der Landeshauptstadt aufstellten, lag auf dem Tapeziertisch das politische Material. Revolutionäre Schriften, Flugblätter, Fibeln und Manifeste. In einem ehemaligen Lebensmittelladen in der Maistraße, den sie Zentrum nannten, befand sich eine Druckmaschine, mit der sie ihre ›Papers‹ und ›Dokus‹ selber herstellten. Ihr Leben war ausschließlich vom revolutionären Kampf für eine bessere, kommunistische Gesellschaftsordnung nach dem Modell Chinas bestimmt. Neben den vordringlichen Aufgaben, welche die Revolution von ihnen abverlangte, wie Flugblätter verteilen und mit den arbeitenden Massen am Fabriktor diskutieren, gingen manche Mitglieder des Kaders auch noch einem Beruf nach. Denn die Revolution warf finanziell noch nicht so viel ab, dass sie als Berufsrevolutionäre davon hätten existieren können. Der Lebensunterhalt musste schließlich auch irgendwo verdient werden. Trixi hatte eine Anstellung als Anwaltsgehilfin in einer linken Kanzlei, deren Anwälte im Kollektiv »Rote Hilfe« organisiert waren. Kajo hatte soeben das erste Staatsexamen in Jura bestanden und freute sich auf die Referendarzeit in Bayern. Vorerst bezog er noch BAFÖG. Die Aussicht, als -37-
Rechtsreferendar zukünftig vom Freistaat Bayern entlohnt zu werden, nahm er verschmitzt zur Kenntnis. Kajo und Trixi waren ein ungleiches Paar. Er war relativ klein, schmal und schmächtig und rauchte pausenlos Rothhändle ohne Filter. Auf der markanten Nase saß eine Goldrandbrille, die jedem sofort signalisierte: Vorsicht, scharfer Denker! Er argumentierte streng dialektisch und konnte ziemlich ätzende Kommentare ins Gespräch streuen. Für mich stand fest, nach der Revolution würde er im Politbüro als Chefideologe die Richtung vorgeben. Er hatte alles von Tucholsky gelesen und war gerade dabei, Seite für Seite Die Fackel von Karl Kraus in sich aufzunehmen. Und es bestand überhaupt kein Zweifel daran, dass er nicht eher aufhören würde, bis er den letzten Band der zwölfbändigen Ausgabe in seinem Kopf eingelagert haben würde. Diese akribische Lesewut schüchterte mich ein, und so begann auch ich mühsam Die Fackel zu lesen. Doch mir war schon nach wenigen Seiten klar, dass ich das nicht lange durchhalten würde. Kajo war anders, aber es gab doch einige Berührungspunkte, die einer Freundschaft nicht im Wege standen. Er stammte aus einem streng katholischen Elternhaus und hatte sich im Laufe der Zeit zu einem ruhigen, aber gnadenlosen Zyniker entwickelt. Da ich auch auf den zweifelhaften Ruhm einer katholischen Kindheit verweisen konnte, verstanden wir uns in diesem Bereich ausgezeichnet und hatten uns viel zu erzählen. Wenn seine Eltern in unsere WG zu Besuch kamen, was ich einmal miterleben durfte, übernahm Kajos Mutter resolut das Kommando, und alle hörten auf sie. Widerstand war zwecklos. Es klang wie eine Entschuldigung, als mir Kajo schon im Vorfeld des Besuchs mit einem distanzierten Lachen gestand, dass beim Essen gebetet würde. Er teilte mir verbissen grinsend mit, er sei, ebenso wie Trixi, längst aus der Kirche ausgetreten, aber gegen die katholischen Rituale seiner Mutter sei kein Kraut -38-
gewachsen. Es gebe einfach keine Gegenwehr. Und als ich sah, wie sie in der Küche waltete, wie sie durch die WG fegte und schnell einmal durchwischte, konnte ich Kajo verstehen. Diese Frau war Ehrfurcht erregend. Ich betete übrigens vor dem Essen auch mit. »Segne, o Herr, was du uns bescheret hast...« Kajos Kölsche Mutter ließ uns keine Chance. Es hat uns aber auch nicht geschadet. Trixi reagierte auf ihre Weise. Sie betete zwar auch, grinste aber mit gesenktem Kopf still in sich hinein. Sie war einen ganzen Kopf größer als Kajo und wirkte stämmig und kräftig, fast ein wenig bäuerlich von der Statur. Nicht nur in den Hüften, auch in den Armen. Sie hatte halblanges, blondes, engelgelocktes Haar, blaue Augen und kam, wenn ich mich recht erinnere aus Kärnten. Wie andere Frauen ihre Handtasche, so führte Trixi ständig ihren Tapeziertisch bei sich. Entweder schleppte sie ihn die vier Treppen in die WG hoch oder grade wieder mal runter, um irgendwo in der Stadt einen revolutionären Aktionsstand aufzubauen, auf dem sie Infomaterial ausbreitete, das die Massen in Aufruhr versetzen sollte. Immer sprach sie von den unterdrückten Massen, die im falschen Bewusstsein nicht einmal merkten, wie unterdrückt sie wären. Deshalb standen an Trixis Stand oft nur einige wenige Menschen, die für Trixi zweifels frei zu jenen Massen gehörten. Und man brauchte schon ein wenig Phantasie, um glauben zu können, dass sie sich irgendwann den revolutionären Massen anschließen würden, um »das faschistische repressive System in der BRD« per Revolution zu beseitigen. Trixi hatte diese Vorstellungskraft. Ihr Leben gehörte dem Klassenkampf. Eines Tages sollte sie aus der Bundesrepublik ausgewiesen werden. Die Behörden des Freistaates Bayern wollten Trixi am Klassenkampf in Bayern nicht mehr teilnehmen lassen. Im Laufe ihrer revolutionären Laufbahn ließ sich eine Konfrontation mit dem Kapitalismus selbstverständlich nicht vermeiden. Das lag in der Natur der Sache. War normal. Nicht -39-
normal wäre gewesen, wenn sie durch ihr politisches Engagement nicht mit den »repressiven Organen des faschistischen Staates« in Konflikt geraten wäre. Trixi kam also des Öfteren - wie sie sich auszudrücken pflegte - mit den »faschistischen Schweinen« der Polizei in Berührung. Und so viel ich mitbekam, verstieß sie gern gegen das Versammlungsgesetz. Sie stellte halt immer häufiger ohne Genehmigung irgendwo in der Stadt ihren Tapeziertisch auf und bot darauf Mao-Bibeln, Manifeste und Broschüren an, die von den Massen in schöner Regelmäßigkeit verschmäht wurden. Es gab aber immer auch einige Interessenten, die Trixis Schriften mitnahmen. Unter ihnen waren selbstverständlich auch professionelle Leser, das heißt solche, die sich von Amts wegen damit befassen mussten. Offiziell hießen und heißen sie auch heute noch Verfassungsschützer. Für Trixi waren es Spit zel und Agenten des »repressiven, faschistischen Systems«. Diese armen Menschen mussten Trixis schwere Lesekost, die von ideologischen Formeln nur so strotzte, im Auftrag des Staates lesen. Verständlich ist das schon, dass die irgendwann genug davon hatten. Man muss sich das vorstellen, sie mussten von Berufs wegen Schriften lesen, die ihnen zutiefst zuwider waren und deren Thesen sie nur schwer nachvollziehen konnten. Wenn man kapieren wollte, um was es da ging, musste man eigentlich Philosophie studiert haben. Aber es waren in der Mehrzahl einfache Beamte, die sich damit quälen mussten. Sie werden geseufzt haben: Jetzt reicht's! Und so fügte es sich, dass Trixi immer öfter eine Einladung zu einer Verhandlung vor einem deutschen Gericht ins Haus flatterte. Sie beschwerte sich nie darüber, sie war fast stolz darauf und nahm eine Anklage als Beweis für die Richtigkeit ihrer revolutionären Aktivitäten. Trixi vor Gericht, das war normal. Die Mühlen der Justiz mahlten schon damals langsam, aber stetig. Und plötzlich bekam Trixi einen Bescheid, in dem stand, dass sie die Bundesrepublik zu verlassen hatte. Große -40-
Aufregung! Die Revolutionäre trafen sich im Zentrum in der Maistraße und beratschlagten, wie man auf diesen hinterhältigen Winkelzug des faschistischen Systems reagieren sollte. So viel stand fest: Nachgeben kam nicht in Frage, man konnte auf Trixi im revolutionären Kampf nicht verzichten. Man ging alle Möglichkeiten durch. Hungerstreik, Sitzstreik, Broschüre und Doku des Falls könnte man auf jeden Fall mache n. Trixi, so wurde als letzte Ultimata Ratio überlegt, könnte in den Untergrund gehen und von dort aus den Kampf weiterführen. Schließlich hatte einer in der Runde eine ungewöhnliche Idee. Falls jemand die Trixi ehelichen würde, könnte sie ganz legal in der BRD bleiben. Den Feind mit den eigenen Mitteln schlagen, das war es. Einwände, die Ehe wäre ganz und gar unrevolutionär und etwas vom Spießigsten, was es überhaupt gäbe, wurden in den Wind geschlagen. Man musste nur noch einen passenden Mann für Trixi finden. Da sich niemand freiwillig meldete, ließ man das Los entscheiden. Kajo war der Glückliche. Die beiden haben mir ihre eheliche Zusammenführung mal während einer unserer Skatabende nach drei Bock- und drei Ramschrunden lachend erzählt. Ob es einen tieferen Grund hatte, ihre Ehegeschichte nach der Ramschrunde zum Besten zu geben, habe ich nicht zu fragen gewagt. Ich studierte damals noch ziemlich ernsthaft Politologie, Germanistik und Philosophie, stand aber auch schon als Kabarettist auf der Bühne. Kajo lernte ich nach einer Vorstellung bei einem Bier kennen. Er sei ein Kabarettfan und schriebe auch satirische Texte. Wir freundeten uns an, und als ich eines Tages klagte, ich müsste aus meiner alten WG ausziehen, meinte er, das träfe sich gut, denn in seiner WG sei gerade ein Zimmer frei. Also zog ich bei ihm ein. Ich wohnte schließlich zwei Jahre bei Kajo und Trixi und musste dann raus, weil die beiden mehr Platz brauchten. Trixi wurde nämlich schwanger. Ihre Beziehung war also doch nicht nur rein -41-
revolutionär. Schuld an der Ehe waren letztlich die deutschen Behörden. Die beiden sind ein Beweis für die als überholt geltende Ansicht unserer Großeltern, dass die Liebe schon käme, wenn man erst verheiratet sei. Aber ob es wirklich Liebe war, wissen wir nicht. Egal. Tatsache ist, ich war dadurch wieder einmal auf Wohnungssuche. Es herrschte zu dieser Zeit in München Wohnungsnot. Ich habe viele Leute gefragt, an der Uni, in Kneipen, in der U-Bahn, überall wo es sich ergab, ob sie eine Wohnung wüssten, und die meisten antworteten, nein, aber sie würden einige kennen, die auch eine Wohnung suchten. Trixis Bauch wurde größer, und ich hatte immer noch keine neue Bleibe. Mir fiel ein, dass eine Schwester meiner Oma, die Tante Tini, in München-Sendling in einem Einfamilienhaus lebte. Als die Oma noch lebte, war der Kontakt enger. Aber nachdem die Oma gestorben war, hatte ich sie längere Zeit nicht gesehen. Ich wusste aber, dass sie Zimmer vermietete - an Zimmerherren. Nun war ich bestimmt kein Zimmerherr, sondern Student, und große Hoffnungen hatte ich auch nicht, aber einen Versuch war es wert. Ich bat meine Mutter, die Tante Tini anzurufen und sie zu fragen, ob sie mir helfen könnte. Sie konnte. Alle Zimmer waren zwar vermietet an Zimmerherren »vom Siemens«, aber es gab für mich im Souterrain einen ausgebauten Wohnraum, in dem ich vorübergehend eine Bleibe finden konnte. Die Tante Tini und ihr Mann, der Jakob, den sie liebevoll Vatl nannte, haben mich herzlich aufgenommen. Oft hat mich die Tante gefragt, ob ich zum Mittagessen raufkommen will, und ich habe die Einladung gern angenommen, denn sie kochte hervorragend. Ihr Schweinebraten mit Semmelknödeln und Kartoffelsalat gehört zu den besten, die ich je verzehrt habe. Sie war eine herzensgute Frau, und ich mochte sie sehr. Außerdem erinnerte sie mich an meine Großmutter, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten war. Die Tante Tini war die jüngste von insgesamt zwölf Kindern. Meine Oma war die älteste. Sie konnte logischerweise viel von -42-
ihrer Familie und dem Leben auf dem Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen war, erzählen. Und da war ich ein neugieriger Zuhörer. Einige der Geschichten, die sie erzählte, kannte ich, aber sie erzählte sie aus ihrer Sicht. Dadurch konnte ich mir ein vollständigeres Bild von den Ereignissen mache n. Ein Vierteljahr war ich bei den beiden, beim Vatl und bei der Mutti, sehr gut aufgehoben, dann zog ich ins Schlachthofviertel, in die Wohnung Wagenstraße Nummer 3. Zuerst allein, dann mit ständig wechselnden Untermieter/n/Innen. »Und, wie schaut's aus? Hast du die ersten hundert Seiten fertig?« fragt mich Cy am Telefon. Ich setze zu einem kleinen Lachen an und hole ein bisschen Luft. »Ehrlich?« bohrt er nach. Natürlich ehrlich, was sonst. Also ziehe ich ein wenig überzeugendes Ja vom Gaumen. Und es ist nicht einmal gelogen. Aber ganz wahr ist es auch nicht. Die Wahrheit liegt dazwischen. Beziehungsweise, es lässt sich nicht so einfach beantworten. Aber kann ich sagen: Das lässt sich nicht so leicht beantworten? Ich könnte das sagen, aber es würde nicht viel bringen. Cy würde nachfragen: »Wieso? Warum? Hast du nun oder hast du nicht?« Wie kann er mir auch eine so schwer wiegende Frage am Telefon stellen? »Hast du die ersten hundert Seiten?« Wenn die Frage darauf zielt, ob ich schon fertig sei damit, dann hätte ich eher verneinen müssen. Aber falls sich die Frage darauf bezieht, ob ich überhaupt schon angefangen habe mit dem Buch und dem, was ich vorhabe zu schreiben, dann wäre ein einfaches Ja viel zu schwach gewesen. Natürlich habe ich angefangen. Zum Beispiel habe ich angefangen, darüber nachzudenken, warum ich die hundert Seiten noch nicht fertig geschrieben habe. Schließlich waren sie so gut wie fertig. Im Kopf war das ganze Buch fast vollendet. Ich habe nur noch nicht angefangen, es aus dem Kopf aufs Papier beziehungsweise in den Bildschirm meines Computers zu laden. Die Konfiguration meines Kopfes mit dem Computer -43-
scheint nicht in Ordnung zu sein. »Bruno - was ist? Hast du oder hast du nicht? Ja oder nein?« reißt mich Cy aus meinen Gedanken. Ja oder nein! Wenn es so einfach wäre. Seit Monaten denke ich an nichts anderes, wenn ich nicht gerade an etwas anderes denke. Ich muss auch mal an etwas anderes denken. Kein Mensch denkt nur an das eine, an das er denken soll. Oft ist es sogar so, dass ich an etwas denken muss, ohne es zu wollen. Dies ist immer der Fall, wenn mich ein Gedanke nicht loslässt. Auch wenn ich mich zwinge, an etwas anderes zu denken, zwingt mich eine andere starke gedankliche Vorstellung in ihre Gedankenwelt zurück. In solchen Fällen lohnt es sich nicht, gedanklich woanders zu siedeln. Ich habe das schon versucht. Ich fühle mich dabei wie an einem elastischen Gummiband, das sich dehnt, wenn ich die obsessiven gedanklichen Kreise verlasse. Doch je weiter ich mich von meinem zentralen gedank lichen Ort entferne, desto stärker nimmt die Rückspannung im Band zu, und irgendwann ist der Punkt erreicht, wo mich das Band an meinen Ausgangsort zurückschnellen lässt. »Cy«, sage ich schließlich, »ich brauche noch eine Woche.« »Mehr wollte ich ja auch nicht von dir wissen. Lass dich nicht aufhalten. Bis dann.« Er legt auf. Cy kann einem das Leben manchmal verdammt schwer machen. Wie kann er so desinteressiert an meinen ersten hundert Seiten sein? Gleich rufe ich ihn zurück und frage, warum er nicht darauf besteht, dass ich den Termin einhalte. Will er das Buch am Ende gar nicht mehr? Ich glaube, langsam verliere ich den Blick für die Realität. Dieses Buchprojekt hüllt mich und mein Leben ein wie eine große dichte Nebelwolke. Ich weiß, diese Nebelschwaden werden sich erst auflösen, wenn ich das Buch geschrieben habe. Durch das Schreiben wird es sich lichten. Bei dem Nebel kann -44-
doch kein Mensch arbeiten. Zurück zum Doppelduplexkomplex. Ich blätterte also in dem Ordner mit den Verträgen. Alles war da. Versicherungsverträge, Kaufverträge, nur kein Mietvertrag für einen Tiefgaragenstellplatz. Ich war tief deprimiert. Stand ich denn tatsächlich rechtlos auf dem Doppelduplexplatz? Hatte dieser Herr Schaufler vielleicht Recht? Nein! Ich war ganz sicher, dass er nicht Recht hatte. Es musste ein Missverständnis vorliegen. Denn monatlich wurde per Dauerauftrag von meinem Konto die Miete für diesen Stellplatz an die Edmina Grundstücksverwaltungsund Immobilienverwertungsgesellschaft überwiesen! Ein schrecklicher Gedanke schoss mir durch den Kopf. Habe ich vielleicht jahrelang jemandem Geld überwiesen, dem es gar nicht zustand? Wieso hat der sich nie gerührt? Klar, warum sollte er? Er hat sich gefreut und gedacht, wenn der Jonas so blöd ist, mir Geld zu überweisen für eine Garage, die ich gar nicht vermieten darf, selber schuld! Man liest ja öfter von solchen Mietbetrügereien. Kann nicht sein! Bin doch nicht blöd! Ist bei uns vielleicht eingebrochen worden? Hat ein Dieb den Mietvertrag geklaut? Möglich war alles. Aber warum haben wir von dem Einbruch nichts mitbekommen? Der Kampf um Parkplätze wird immer härter und nimmt allmählich ungeahnte Formen an. Nein, das konnte nicht sein. Ich erinnerte mich noch gut an den jungen, netten Mann im vornehmen Zwirn, der mir den Doppelduplextiefgaragenplatz vermietet hatte. Er war das reine, das keusche Vertrauen selbst, freundlich und offen. Ausgeschlossen, dass der mich reingelegt hatte. Ich rufe ihn an, diesen Makler von der Edmina! Wie hieß der noch mal? Vergessen! Wieso eigentlich hat dieser Stockmann jahrelang nichts zu mir gesagt und mich im Unrecht stehen lassen? Da stimmte -45-
doch was nicht. Geheime Mächte? Hexerei? War Stockmann vielleicht Mitglied in einer geheimen Loge? Keine Ahnung: Ich kannte ihn nicht, hatte ihn zwar schon öfter in der Tiefgarage getroffen, aber er redete nicht viel. War wenig mitteilsam. Er hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Seine Frau hatte Rosi erzählt, dass er strikter Antialkoholiker sei und sehr ordentlich. Er habe zu Beginn ihrer Ehe darauf bestanden, dass sie alle seine Socken durchnummeriere. Er wäre bei der Bahn und sechs Jahre lang immer nur die Strecke Erding- Tutzing gefahren. In letzter Zeit sei er unausstehlich, weil sie ihn auf eine andere Linie versetzt hätten, was seinen ganzen Lebensrhythmus durcheinander gebracht habe. Zum Ausgleich müsse sie nun täglich den Ficus benjamina im Wohnzimmer abstauben, und zwar Blatt für Blatt. Sie habe sich schon überlegt, den Baum einfach abzusägen, aber dann würde ihr Mann total durchdrehen, und das möchte sie auf keinen Fall riskieren. Warum um alles in der Welt will dieser zwanghafte Mensch jetzt den Tiefgaragenplatz wechseln? Das muss ihn doch völlig aus der Bahn werfen. Da muss etwas Schreckliches geschehen sein. Über mir scheint auch etwas Schreckliches zu geschehen. Da ist die Hölle los. Einer schiebt die Möbel durch die Wohnung. Gleich geh ich rauf und schrei den Ami in Grund und Boden. Soll der ruhig mal hören, dass wir in Bayern auch schöne Schimpfwörter haben... So ein Glück! Ich treffe Filippo auf der Treppe, wie er eine Stehlampe in den Keller transportiert. Während er die Treppen weiter nach unten geht, ruft er mir noch schnell zu: »Weißt du, Mirella macht mich noch verrückt. Gestern wollte sie die Lampe im Wohnzimmer haben, und heute gefällt sie ihr nicht mehr. Muss ich sie wieder in den Keller stellen. Aber mit mir kann sie es ja machen. Frauen! Weißt du schon, dass der Ausländer auszieht? Jetzt hast du wieder Ruhe. Sonntag spielen wir -46-
Fußball!« Und schon ist er im Keller verschwunden. Na, wenn das keine gute Nachricht ist. Endlich ist Ruhe im Haus, und ich kann mich meiner Geschichte widmen. Rosi meinte, ich solle zu Stockmann rübergehen und mit ihm die Sache von Mann zu Mann regeln. »Kommt gar nicht in Frage! Wie komme ich dazu! Und was mache ich, wenn er mich nach dem Mietvertrag fragt?« »Dann sagst du, dass du ihn nicht da hast!« »So! Und weißt du, was er sagen wird? Zeigen Sie mir mal den Vertrag, ich geh mit Ihnen rüber. Und was sage ich dann?« »Dann gehst du eben nicht rüber!« »Vielleicht treffe ich ihn morgen zufällig in der Tiefgarage, dann werde ich ihn fragen, wie er dazu kommt, seinem Vermieter in einem hinterhältigen Brief zu schreiben, ich stünde unrechtmäßig auf seinem Stellplatz!« Ich und unrechtmäßig! In Bayern! Undenkbar! Das ist ein Widerspruch in sich, eine Contradictio in adjectu per se! Kann nicht sein! In Bayern sind wir auf der sicheren Seite. Im »Bayernkurier« habe ich erst neulich eine Statistik gelesen über die Kriminalitätsentwicklung in Bayern. Die Straftaten haben im ersten Halbjahr um 1,2 Prozent abgenommen. Das heißt, die Polizei hat 1,2 Prozent weniger zu tun gehabt, weil sich von den Straftätern keiner mehr traut, etwas anzustellen. Die wissen, dass sie in Bayern keine Chance haben. Gleichzeitig aber hat die Aufklärungsrate um 1,2 Prozent zugenommen. Das kann ich nachvollziehen. Die Wirtschaftskriminalität dagegen, also Banken, Versicherungen, LandesWohnungs-AufbauImmobiliengesellschaft Bayern, Krauss-Maffei, Waffenhandel, also Aktivitäten der Strauß-Branche, haben zugenommen, um 71 -47-
Prozent! Und das obwohl die Strauß-Kinder nachweislich nichts damit zu tun haben. Wie kann es das in Bayern geben? Vielleicht kommt das daher, dass die Bundesregierung die steuerliche Absetzbarkeit von Schmiergeldern abgeschafft hat. Dadurch schnellt die Kriminalität in die Höhe. Aber so sind sie, die Sozis und die Grünen! Sorgen für mehr Kriminalität! Das ist logisch! Wenn es das Gesetz nicht gäbe, könnte keiner straffällig werden. Raffiniert! Seien wir doch mal ehrlich. Bescheißen ist normal. Jeder nimmt, was er kriegen kann! Das beginnt mit der fingierten Taxiquittung und hört mit schwarzen Geldkoffern noch lange nicht auf. Alles andere wäre außerdem unmenschlich. Wer an den Sitten und Gebräuchen eines Landes rüttelt, der handelt nicht human. Es muss auch noch eine Lücke geben, in welcher der Mensch ganz Mensch sein darf! Aber wir haben nicht nur eine Gerechtigkeitslücke, wir haben auch eine enorme Sicherheitslücke! In Bayern weniger, mehr in den anderen Bundesländern. Leider kann Bayern nicht überall sein, obwohl... Ich habe mir wirklich Gedanken gemacht. Oft fahndet die Polizei nach Verbrechern und erwischt sie nicht. Woran liegt das? Ist die Polizei vielleicht zu dumm, oder sind die Verbrecher zu intelligent? Ab und zu gibt es bei der Polizei auch kriminell begabte Talente, die leider sofort vom Dienst suspendiert werden. Das ist ein Fehler! Gerade diese Polizisten könnten sich mit ihrem kriminellen Potenzial in den Straftäter hineinversetzen. Mit ihrer Hilfe würde die Aufklärungsrate eklatant in die Höhe schnellen. Der Grund für die relativ geringe Aufklärungsquote liegt also im strategischen Denken der Führungsebene. Ich habe mich mal in einen Verbrecher hineinversetzt. Wenn der auf der Flucht ist, dann muss er auch einmal aufs Klo. Da muss jeder einmal hin. Ich würde deshalb alle öffentlichen -48-
Toiletten überwachen. Vielleicht verdeckte Toilettenermittler einsetzen. Die gehen aufs Klo, obwohl sie gar nicht müssen. So genannte Tarnbiesler (Tarnpinkler)! Man müsste das Kontrollnetz sogar noch enger knüpfen. Den Urin sammeln, Zwischenlagern und den genetischen Fingerabdruck nehmen. In allen öffentlichen Toiletten würde ich das der Firma McClean übertragen, die jeden Toilettenbesucher mit einem Ausscheidungsraster erfasst. Noch besser wäre na türlich, wenn es die Polizei in eigener Regie machen würde und das gesamte Toilettenwesen in polizeilicher Obhut stünde. Dann wäre auch ein für alle Mal der Stuhlgang gesichert. Auf diese Weise bekäme man ganz nebenbei ein umfassendes Bild über die Verdauungssituation im Lande und könnte über die Untersuchung der Ausscheidungen die Krankenkassen entlasten. Vorausgesetzt die Daten würden kostenlos den Urhebern zur Verfügung gestellt. Möglicherweise kommen hier neue juristische Probleme auf uns zu. Meines Wis sens sind menschliche Ausscheidungen durch das gültige Urheberrecht noch nicht voll abgedeckt. Hier besteht also Handlungsbedarf! Die darauf folgenden Tage habe ich Stockmann komischerweise nie getroffen. Wo war er? Offensichtlich war er nicht da. Verreist? Einmal bin ich aus lauter Neugier mitten in der Nacht in die Tiefgarage hinuntergestiegen, um nachzusehen, ob Stockmanns Toyota auf seinem Platz stand. Und es hat mich fast der Schlag getroffen, als ich ihn da stehen sah. Ich befühlte die Motorhaube. Noch warm. Ich ganz nachdenklicher Detektiv. Wie Columbo vergrub ich die Hände in den Manteltaschen und kombinierte: Er kann noch nicht lange hier stehen. Ich schaute hinüber zu unserem Auto. Es war nicht zu sehen. Die Hebebühne war unten. Ich ging rüber, um die Hebebühne nach oben zu fahren. Vielleicht stand er ja schon gar nicht mehr da. Das quietschende Hydraulikgeräusch setzte ein, und ganz langsam kam unser Auto in kühlem Metallicblau zum -49-
Vorschein. Ein schönes und befriedigendes Bild. Während die Bühne ganz nach oben fuhr, ließ ich meinen Blick vorsichtig durch die Garage schweifen. Ich bewegte mich wie einer, der weiß, dass jeden Moment etwas Schlimmes passieren kann. Mein Pulsschlag erhöhte sich ein wenig. Eine Gänsehaut krabbelte mir den Rücken hoch. Stell dich nicht so an! Ermahnte ich mich. Um mich zu beruhigen, begann ich eine Melodie zu pfeifen. Ich erkannte sie nicht, das beunruhigte mich. Egal, sie klang irgendwie spannungsgeladen und passte zu dem Krimi, in dem ich mich gerade befand. Es passierte nichts, aber ich dachte, es könnte jeden Moment etwas Lebensgefährliches geschehen. Das war ungeheuer aufregend. Ich pfiff immer noch vor mich hin, hatte aber die Melodie gewechselt. Jetzt war es ein Schlager. Deine Spuren im Sand... Nichts in der Garage deutete auf eine Gefahr hin, und doch spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich wurde das mulmige Gefühl nicht los, das mich jemand beobachtete. Blitzschnell drehte ich den Kopf herum, aber es war niemand zu sehen. Alles war bedrohlich ruhig. Tiefgaragenstille! Ein Auto gab ein knackendes Geräusch von sich. Irgendwo tropfte eine Flüssigkeit. Ich entdeckte beim besten Willen nichts Ungewöhnliches. Im Heckfenster eines VW Jetta lag eine behäkelte Klorolle, am Heck eines Opel befand sich ein Aufkleber: »Nicht hupen! Fahrer träumt von Bayern München.« Ich ging zu unserem Auto, sperrte die Tür auf, setzte mich hinein und freute mich, dass alles in Ordnung war. Plötzlich ein Geräusch hinter mir. Ich erstarre vor Schreck. Die schwere Eisentür ins Treppenha us geht auf, und eine Person nähert sich dem Garagenplatz Numero 1. Stockmann! Um Gottes willen, den will ich jetzt unter gar keinen Umständen treffen. Ich rutsche vor, drücke mich ganz tief in den Sitz und ziehe den Kopf ein. Ich will auf keinen Fall entdeckt werden. Wenn ich mich vorsichtig umdrehe, kann ich hinter der Kopfstütze -50-
hervorlugen. Stockmann öffnet die Heckklappe seines Toyota. Was hat er denn da für einen länglichen Gegenstand? Sieht aus wie ein Gewehr. Hat er sich bewaffnet? Oder ist er Jäger? Zutrauen würde ich es ihm. Aber müsste er als Waidmann nicht einen Hund haben? Einen Dackel oder einen Pudel? Nein, er hat keinen Hund und ist kein Jäger. Und selbst wenn er Jäger wäre, ginge er nicht abends zur Jagd. Außer er wildert. Die kriminelle Energie dazu hat er. Das beweist sein unverschämtes Vorgehen mir gegenüber! Er schließt die Heckklappe und macht sich wieder auf den Weg ins Haus. Merkwürdig. Dieser Stockmann legt Waffen ins Auto und geht wieder nach oben. Was hat der vor? Vielleicht kommt er gleich wieder. Wahrscheinlich habe ich nicht viel Zeit, hier rauszukommen, ohne ihn anzutreffen. Ich will gerade aus unserem BMW aussteigen, da öffnet sich erneut die feuersichere Eisentür und ein Pärchen kommt eng umschlungen in die Garage. Bernd Eckmann vom vierten Stock. Mit seiner Freundin. Die haben sich aber rausgeputzt! Donnerwetter! So wie die aussehen, sind sie bestimmt irgendwo auf ein Fest eingeladen. Die Tür fällt zu, und die beiden beginnen sich leidenschaftlich zu küssen. Beim Anblick dieser zärtlichen Aktionen weiß ich, dass die beiden einen Fehler gemacht haben, als sie sich entschlossen, ihre Wohnung zu verlassen, um mit dem Auto wegzufahren. Na ja, vielleicht ging es nicht anders. Sie können kaum voneinander lassen. Wie soll das weitergehen? Wenn die Leidenschaft einmal dieses Stadium erreicht hat, in dem sich die beiden jetzt ganz ohne Zweifel befinden, ist ein abrupter Abbruch der Liebkosungen vor Gott und den Menschen kaum noch zu verantworten. Der erotische Zustand, in den sich das Pärchen durch eigene Schuld hineinmanövriert hat, gewinnt immer mehr an Fahrt und wird sich allem Anschein nach nicht mehr bremsen lassen. Das, was die zwei an diesem unwirtlichen Ort angefangen haben, drängt machtvoll zur Vollendung! Die von sündiger Lust ge speiste Dynamik des Geschehens wird unberechenbar. Sie wollen und -51-
können nun nicht mehr voneinander lassen. Und ich muss es mit ansehen. Das sieht alles sehr unanständig aus. Ich wende mich ab. Es dauert aber auch! Ich halte es nicht mehr aus. Ich muss wieder hinschauen. Am liebsten würde ich sie anfeuern. Los jetzt! Macht schon! Liebt euch! Die Situation ist prekär. Jeden Moment könnte jemand in die Tiefgarage kommen und die beiden überraschen. Aber vermutlich gibt ihnen genau diese Furcht, dabei entdeckt zu werden, den ultimativen Kick! Ich könnte ihnen den Gefallen tun. Ich steige einfach aus und gehe lässig an ihnen vorbei, halte die Daumen hoch und drücke ihnen damit meine Hochachtung aus. Sage vielleicht: Klasse! Das hat Stil! Weiter so! Lieber nicht, es wäre mir peinlich. Also bleibe ich sitzen. Am Ende kommt mir womöglich noch der Stockmann im Treppenhaus entgegen. Kommt nicht in Frage, da schau ich lieber den beiden zu. Klug können sie nicht sein. Wenn mich die Wollust anfällt, bleibe ich doch zu Hause! Die Gefahr, hier gestört zu werden, wäre mir zu groß. Wenn sie schlau wären und die drohende Frustration vermeiden möchten, die durch einen plötzlich ernüchternden Stopp einer heiß lodernden und wild entfachten Begierde unweigerlich eintreten muss, machen sie auf der Stelle kehrt und rennen in ihre Wohnung zurück, um dort ihren körperlichen Lüsten hemmungslos zu frönen. Aber sie tun es nicht. Sie gehen weiter durch die Tiefgarage direkt auf meinen Doppelduplexplatz zu. Doch weil sie nicht voneinander la ssen können, bleiben sie plötzlich stehen und beginnen wieder intensiv und noch wilder zu züngeln, triebhaft und lüstern einander zu verlangen. Beide werden willenlos und zu Sklaven ihrer Lüste. Jetzt ist alles zu spät. Es gibt kein Zurück. Es muss jetzt sein. Er zieht sie schnell auf die Kühlerhaube eines Passat, der rückwärts auf einem Doppelduplexplatz abgestellt ist, schiebt ihr den Rock hoch und - es kommt zum Äußersten. Die -52-
beiden treiben es heftig miteinander und haben ihren Spaß. Die Szene ist filmreif. Ich kann überhaupt nicht mehr wegschauen. Ich bin entsetzt! Finde es sittenwidrig! Endlich hören sie auf. Erschöpft lassen sie voneinander ab. Sie lächeln sich glücklich an, machen sich ein wenig zurecht und kommen direkt auf meinen rechtmäßig angemieteten Stellplatz zu. Eckmann von der Girokontenabteilung der Sparkasse am Baldeplatz, hätte ich ihm nicht zugetraut! Er betätigt die Hebebühne. Sie fährt nach unten und ich auch. Bevor ich etwas sagen kann, verschwinde ich mit meinem Auto in der Dunkelheit. Ich war wie gelähmt. Hätte ich mich bemerkbar machen sollen? Mich als unfreiwilligen Spanner zu erkennen geben? Nein, es war eine vertrackte Situation, in der ich egal, was ich auch getan hätte, blöd ausgesehen hätte. Ich höre, wie die beiden nun ihr Fahrzeug direkt über mir besteigen und aus der Tiefgarage fahren. Ich sitze unten fest. Eiskalter Schweiß läuft mir den Rücken runter. Das halte ich nicht aus. Ich kriege Platzangst! Ich muss hier raus. Ich könnte hupen. Nein. Am Ende kommt Herr Stockmann und befreit mich. Er wird mich überrascht anschauen. Herr Jonas, was machen Sie denn da? Was soll ich dann sagen? Die Wahrheit? Das will ich auf keinen Fall. Lieber bleibe ich hier. Rosi wird sich schon irgendwann fragen, wo ich denn bleibe, und nachsehen kommen. Sie wird sich Sorgen machen und überlegen, wo ich sein könnte, und sich auf die Suche nach mir begeben. Hoffentlich. Ein bisschen Geduld muss ich allerdings aufbringen. Es war eine Extremsituation, die man mit ein wenig Willenskraft und Selbstdisziplin schon durchstehen konnte. Es ist eine Erfahrung, die man einmal gemacht haben muss. Beruhigte ich mich. Ich werde daran wachsen und gereift an Seele und Geist daraus hervorgehen. Nimm es an, forderte ich mich auf, beklage dich nicht, nimm es als Chance! Ich sprach mir Mut zu. Du schaffst es! Glaub an dich! Und schon glaubte ich an mich und glaubte gleichzeitig, dass ich hier nie wieder -53-
rauskommen werde, und wollte es nicht glauben. So ging das eine Weile. Suchen wir nicht alle die Grenzerfahrung? fragte ich mich. Die kontrollierte Katastrophe? Andere machen Freeclimbing, Housewalking und Bungeejumping, und ich mache eben Doppelduplexprisoning. Sonntagnachmittag. Es geht auf halb vier zu. Gleich wird Michi mit zwei Trikots ins Arbeitszimmer reinkommen und mich fragen, welches ich heute überziehen will. Leonardo oder Vieri? Es hilft nichts, ich muss mich für unseren Sonntagskick fertig machen. Der Mensch will spielen. Entweder will er aktiv allein spielen oder mit anderen bei Spielen mitmachen oder passiv - solo oder in der Gruppe - bei Spielen mitfiebern und zuschauen. Es gibt Menschen, die in ihrer Freizeit Fußball spielen und viel Freude daran haben. Es gibt auch immer welche, die ihnen dabei zuschauen. Dabei gibt es welche, die Fußball als Arbeit betreiben und wenig Anlass zur Freude geben, und es gibt auch immer welche, die gar nicht richtig Fußball spielen können, aber sehr viel Freude dabei haben. Zu denen gehöre auch ich. Ich freue mich sogar, wenn ich ausgewechselt werde. Aber oft werde ich gar nicht erst eingewechselt. Dann sitze ich auf der Bank und schaue mir die Könner an. Auf der Bank gehöre ich zu den Besten. Wir spielen immer sonntags am späteren Nachmittag auf einem Handballfeld im Kustermann-Park zum Zeitvertreib und zur Gaudi. Wir sind eine internationale Truppe und wohnen, bis auf zwei, alle im selben Haus. Filippo, der aus Rom kommt, trägt selbstverständlich die Farben seines Clubs Lazio Rom. Er kann Fußball spielen, spielt aber sehr italienisch. Wenn er in der Abwehr arbeitet, fallen kaum Tore. Das Spiel nach vorne gestaltet er in der Hauptsache sprachlich, und zwar, obwohl er sehr gut deutsch spricht, auf -54-
Italienisch, was den Vorteil hat, dass ihn die meisten aus der Mannschaft nicht verstehen. Gelegentliche Fehlpässe sind daher nur logisch. Davon profitieren in erster Linie seine italienischen Freunde, Denis und Gaetano. Gaetano beherrscht zwar italienisch perfekt, versteht aber, für jeden erkennbar, Filippo nicht. Seitdem wir miteinander spielen, rätseln wir, woran das liegen mag. Gaetano, der im Tor steht, hält eisern an dem Glauben fest, wir spielten nicht Fußball, sondern Handball. Auch wenn wir ihn flehentlich bitten, uns den Ball flach zuzuspielen, wirft er ihn dennoch hoch über unsere Köpfe zur gegnerischen Mannschaft. Filippo und Denis haben das Problem mit ihm in ihrer Landessprache erörtert, aber aus unerfindlichen Gründen verstehen sie sich nicht. Obwohl Gaetano zugesagt hat, es nicht mehr zu tun, macht er es immer wieder. Filippo kann darüber lachen, Denis weniger. Ich kann überha upt nicht darüber lachen, und wenn ich Gaetano in der Hitze des Gefechts wegen seiner Spielweise laut beschimpfe, lacht zumindest Gaetano. Ist ein lieber Italiener, tröstet mich Filippo, aber ich versteh ihn auch nicht. Ist nicht normal! Seine Frau versteht ihn. Ich versteh seine Frau auch nicht. Und während wir miteinander unseren nächsten taktischen Spielzug planen, kassieren wir ein Tor, und Gaetano wirft den Ball hoch hinaus - zum Gegner. Aber Broderik aus Nottingham, der im zinnoberroten Trikot von Nottingham Forest in unserer Mannschaft die englische Spielweise pflegt, kann seinen Gegenspieler mit einem harten, aber fairen Trittangebot auf den Knöchel zur freiwilligen Herausgabe des Balls überreden. Ein weiterer Spieler weicht angesichts Brods gnadenloser Entschlossenheit freiwillig aus, sodass Brod das Leder zu Michi A., unserem zwar mit zwölf Jahren jüngsten, aber technisch und vor allem theoretisch stärksten Flügelstürmer weitergeben kann. Michi, der im blauen Inter-Mailand-Trikot von Vieri den Gegner erfolgreich einschüchtert, schlägt blitzschnell einen rechten Haken, und lässt dabei den Rasen nicht gut aussehen, er tunnelt seinen -55-
Gegenspieler, und der Ball gelangt zu Markus, der im Trikot der Löwen auf der rechten Flügelbahn wie eine Rakete abgeht, sodass der Ball Schwierigkeiten hat, das Tempo mit ihm mitzuhalten, und kläglich außer Atem hinter ihm zurückbleibt. Das Leder kommt dadurch wieder in den Besitz des Gegners, der mit technisch unfairen Mitteln an mir vorbeizieht. Er spielt mich nämlich einfach aus und lässt mir nicht einmal die Chance zu einem Foul. In einem irrsinnigen Tempo stürmt er in Richtung unseres Tors, in dem Gaetano wild mit den Händen fuchtelnd Gesprächsverhandlungen anbietet, die der Heranstürmende lächelnd ablehnt. Der Rest der Mannschaft hat die aussichtslose Lage erkannt und betrachtet demoralisiert das Geschehen, als sich dem Stürmer plötzlich Andrew, der freiwillig, ohne Ablösesumme, aus Manchester zu uns kam, in den Weg stellt. Andrew, der wegen seines ungewöhnlichen Laufstils auch »The duck« genannt wird, irritiert mit seinen flügelschlagenden Handbewegungen den heranlaufenden Stürmer dermaßen, dass dieser plötzlich stehen bleibt und zu lachen beginnt. Andrew schnappt sich das Leder, läuft mit einer Dynamik, als wollte er sich mit Hilfe des thermischen Auftriebs gleich in die Lüfte erheben, in die Mitte des Platzes und schiebt die Kugel weiter zu Denis, der die eben angerauchte Zigarette ob der sich bietenden Torchance in die Wiese feuert und sofort zwei Gegner ausdribbelt. Er passt zu Michi, der das Leder zwar nicht richtig trifft, aber den Ball trotzdem unhaltbar im leeren Tor versenkt. Jubel! Grenzenlose Freude! Gratulationen. Abklatschen. Wir liegen nur noch sechs Tore hinten. Während wir uns noch zu diesem raffinierten Spielzug gratulieren, schießt die Gegenseite schon wieder ein Tor. In unserem Team kommt es dadurch zu professionellen Taktikgesprächen, die von der Ausdrucksweise her mit bayerischen Spitzenmannschaften durchaus mithalten können. -56-
Michi verweigert plötzlich die Mitarbeit auf dem Platz und beschimpft mich grob unsportlichen Verhaltens, weil ich zu wenig Engagement an den Tag legen und nur rumquatschen würde. Er geht beleidigt zu seinem Rad, um nach Hause zu fahren. Als er gerade abfahren will, erscheint Peter auf dem Platz und überredet ihn zu bleiben. Peter ist Holländer, lebte lange in den USA und spricht deshalb Englisch mit stark amerikanischem Akzent. Er hat sich, was uns immer wieder erstaunt, nur wenige Vorurteile über den deutschen Fußball gebildet. Er hält unvermindert an der Meinung fest, jeder müsste beim Fußballspielen ständig den Platz rauf und runter laufen. Seine Kondition ist eine Unverschämtheit. Der läuft hin und her und kommt überhaupt nicht außer Atem. Der soll bloß froh sein, dass wir ihn mitspielen lassen. Meistens lassen wir ihn laufen. Er sollte sich ein Beispiel an Andi nehmen. Der ist Arzt und raucht uns zuliebe eine nach der anderen, damit er körperlich mit den Älteren schon in jungen Jahren gleichziehen kann. Wenn er spielt, ist er unser Spielmacher im zentralen Mittelfeld. Er ist gerade mal dreißig, aber in ein paar Jahren, vorausgesetzt er bleibt dem Nikotin treu, wird er ein brauchbarer Standfußballer geworden sein. Das Zeug dazu hat er auf jeden Fall. Im Hinterhaus wohnen noch zwei hoffnungsfrohe Talente, die sonntags unsere Mannschaft verstärken. Michael F. entwickelt sich schwierig. Von den spielerischen Anlagen passt er sehr gut zu uns, denn er hat große Probleme am Ball. Der will nicht dahin, wo er hin will. Aber er hat gerade das Rauchen aufgegeben und will sich mit joggen fit halten. Wir haben ihm davon abgeraten. So einer passt nicht in die Mannschaft. Mit seinem Gesundheitsfimmel stört er den Teamgeist. Wir haben ihn erst einmal für zwei Spiele ausgeschlossen, damit er sich besinnen kann. Sein Mitbewohner Benny ist klüger. Er raucht und trinkt ordentlich Alkohol, bringt aber leider immer noch -57-
eine vor Kraft strotzende Vitalität auf den Platz. Wir können das nur tolerieren, weil er diese Power zu enorm wuchtigen Schüssen am Tor nutzt. Er ist derjenige, der hundertprozentige Chancen nicht verwertet und von daher alles für eine gute Stimmung tut. Wir haben neulich nach dem Spiel bei ein paar Bieren überlegt, wie wir unseren Verein taufen sollten. Ein Vorschlag war F.C. Nikotin Haidhausen! Wurde abgelehnt. Wir einigten uns auf Eintracht Edelstoff. In der Tür zu meinem Arbeitszimmer steht Michi. Ich darf heute das Trikot von Leonardo tragen. Na dann kann ja nichts mehr schief gehen! Eine Nacht im Auto zu verbringen, war nichts Neues für mich. Im Urlaub war es schon mal vorgekommen, dass ich im Auto übernachtete. Auch sonst hatte ich im Auto schon so genannte Nachteinsätze. Vor allem in der auslaufenden Pubertät habe ich das Auto gern als Begegnungsstätte genutzt, sodass mir der Innenraum eines Fahrzeugs mit seinen speziellen Möglichkeiten durchaus vertraut war. Neu war diesmal allerdings die Aussicht auf eine Nacht allein im Auto. Noch dazu an einem so aufregenden Ort wie einem unteren Doppelduplextiefgaragenstellplatz. Sicher, auch das hatte einen gewissen Reiz. Dennoch wär mir eine Nacht in meinem Bett lieber gewesen. Ich wusste, dass schlafen sehr schwierig werden würde, und hatte ehrlich gesagt auch keine Lust dazu. Ich saß auf dem Fahrersitz und drehte langsam die Rückenlehne zurück. Ich schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. Es roch nach Knoblauch. Wieso riecht unser Auto nach Knoblauch? Wir essen doch gar nicht so viel Knoblauch. Woher kommt dieser penetrante Geruch? Oder bilde ich es mir nur ein? Egal, es riecht nach Knoblauch. Ich schnüffelte an den Schonbezügen der Sitze. Es kam vom Beifahrersitz. Tatsächlich, -58-
ihm haftete der Geruch von Knoblauch an. Was war da passiert? Wer hat da zuletzt gesessen? Es muss jemand gewesen sein, dessen Kleidung komplett mit Knoblauch imprägniert war. Ein stark transpirierender Mensch, der über die Poren der Haut Knoblauchdünste an die Kleidung abgab, die diese an den Stoff des Beifahrersitzes weitergab. Es wurde immer schlimmer. Je länger ich darüber nachdachte, desto intensiver roch es nach Knoblauch. Immer noch besser, dachte ich, als wenn es nach jener Frischluft stinken würde, die mich gelegentlich in Taxis belästigt. Am Innenspiegel baumelt bisweilen ein Riechbaum, der die zweifelhafte Duftfrische eines WC-Steins verströmt. Dann lieber Knoblauch. Sonst gab das Auto wenig Gerüche ab. Zumindest konnte ich in der Knoblauchwolke keine anderen Düfte ausmachen. Als es neu war, hat es neu gerochen. Nur was heißt neu? Autos riechen eigentümlich neu. Ich habe immer versucht rauszubekommen, nach was ein neues Auto riecht. Es ist mir nie gelungen. Eine Mischung aus vielen Nasenreizen fängt sich beim Neukauf im Innenraum eines Fahrzeugs. Man kann die Kühle vulkanisierten Gummis schnüffeln, ein wenig Radiergummi, viel Plastik und Kunststoff, eine Brise Elektrosmog verfeinert den Geruch und ergibt das typische Wageninnenklima. Mit der Zeit kommen die persönlichen Noten der Fahrer und Beifahrer dazu, sodass sich allmählich ein individuelles Gemisch herausbildet. Nur dieser Knoblauch deckte alles Individuelle zu. Wenn ich hier je wieder rauskommen sollte, dachte ich, werde ich fürchterlich knofeln. Nur wie? Ich konnte nichts tun. Jemanden zu Hilfe rufen kam nicht in Frage. Ich hätte mich ja lächerlich gemacht, wenn ich hätte erklären wollen, aus welchen Gründen und durch welche Umstände ich hier unten in meinem Auto gelandet war. Ich musste warten. Es klingelt an der Wohnungstür. Soll jemand anderes aufmachen. Ich bin jetzt grade mitten drin im Schreiben. Es -59-
klingelt noch einmal. Bin ich allein in der Wohnung? Sieht so aus. Also gehe ich an die Tür. Draußen steht ein Typ in einem schäbigen Anorak. Die halblangen Haare wohl länger nicht mehr gewaschen. Er wirkt schlaff und verströmt kalten Zigarettenrauch. Hält ein Schreibbrett in der Hand und sieht mich von unten an. Was will der denn? Er labert etwas von einer Umfrage. Ich höre nicht richtig zu, mein Kopf befindet sich noch in der Tiefgarage. Doch er attackiert mich bereits mit der ersten Frage: Haben Sie Vorurteile gegenüber ehemaligen Strafgefangenen? Auf was will der raus? Der will, dass ich darauf mit Nein antworte. Ich antworte vorsichtig mit Nein und frage, ob er ein ehemaliger Strafgefangener sei? Ja. Er notiert meine Antwort auf seinem Fragebogen. Scheiße, denke ich, jetzt ist der auch noch ehrlich. Er fragt weiter. Würden Sie ehemalige Strafgefangene einstellen? Ich zögere. Ein Nein ist nun nicht mehr möglich, denn in dem Fall würde ich mir selber widersprechen, weil ich auf seine erste Frage bereits mit Ja geantwortet habe. Ich hätte also gelogen. Auf was habe ich mich hier eingelassen? Also sage ich Ja und fühl mich clever, denn ich habe keine Arbeitsplätze zu vergeben. Füge aber einschränkend hinzu, dass ich einen ehemaligen Strafgefangenen genau unter die Lupe nehmen würde, bevor ich ihn einstellte. Würde ich auch, sagt er grinsend und hakt die Antwort auf seinem Bogen ab. Bevor er die nächste Frage stellt, beginne ich ihn zu fragen: »Für wen arbeiten Sie?« »Ich bin arbeitslos.« Schon wieder kann er auf der Mitleidskala einige Pluspunkte verbuchen. »Ich komme von der Gefangenenhilfe ehemaliger Strafgefangener e.V.« »Sie wollen, dass ich spende, warum sagen Sie das nicht -60-
gleich?« Ich zücke meinen Geldbeutel. »Nein«, wehrt er ab. »Ich will keine Spende. Wären Sie denn bereit, eine Zeitschrift zu abonnieren?« Ach, du meine Güte. »Nein, ich komme ohnehin schon nicht dazu, all das Zeug zu lesen, was ich abonniert habe.« Ich drücke ihm einen Zehnmarkschein in die Hand und wünsche ihm weiterhin viel Glück. Auf dem Rückweg in mein Arbeitszimmer nehme ich mir vor, beim nächsten Mal, wenn mich einer nach Vorurteilen fragt, diese sofort zu bestätigen. Über zwei Stunden war ich nun in der Tiefgarage gefangen. Eigentlich müsste sich Rosi allmählich fragen, wo ich so lange bleibe. Hoffentlich! Sicher konnte ich nicht sein. Bei mir kann es schon mal drei bis vier Stunden dauern, bis ich vom Brotholen zurückkehre. Ich treffe auf der Straße alle Meter einen Bekannten, vielmehr trifft mich einer. Da kann ich doch nicht einfach weitergehen. Ich bin ein freundlicher Zeitgenosse und bespreche die jeweils gerade anstehenden Themen ausführlich mit meinem Gegenüber. Da werden schnell die Füße schwer, und wir müssen im nächsten Café eine kleine Sitzpause einlegen. Manchmal mache ich deshalb schon lange Umwege, um möglichst keinen zu treffen. Aber es gelingt mir nicht immer. Nikos und sein Bruder Fortis haben eine Ouzofalle in der Metzstraße aufgestellt. Die beiden betreiben eine griechische Taverne, das Kaiami, wo man ein hervorragendes Gyros bekommen kann. Ich komme an ihnen nicht vorbei, ohne mindestens einen Ouzo getrunken zu haben. »He Bruno,Yassu, ti canis? Trinken wir einen Ouzo.« »Ich muss arbeiten«, winke ich ab. »Ach, einen Ouzo!« -61-
»Nein, ich kann nicht.« »Ach, einen Ouzo, dann kannst du arbeiten.« »O.k. Einen Ouzo.« Und dann lachen sie, dass es in der Straße hallt. »Du hast immer viel Arbeit?« »Ja, ich muss schreiben.« »Was schreibst du?« »Ein Buch.« »Ein Buch, komm wir trinken noch ein Ouzo.« »Nein!« versuche ich mich zu wehren. Und schon sind die Gläser wieder gefüllt. Ich schlage immer wieder neue Routen ein, um ja nicht in die Ouzofalle zu tappen. Aber Nikos ist schwer zu umgehen, denn er steht oft vor seiner Taverne und hält Ausschau nach Gästen und Freunden. Ich gestehe es, ich muss hin zu ihm, wenn ich ihn sehe. Er ist ja auch ein guter Freund. Er kommt zu mir in die Vorstellung und hört sich alles an, auch wenn für ihn das Bayerische nicht einfach zu verstehen ist. Dafür muss ich mir dann seine Börsentipps anhören. Er hält mir eine griechische Börsenzeitschrift unter die Nase und erklärt mir die Aktienkurse. »Griechische Aktien musst du kaufen. 2004 Olympiade in Athen! Das treibt die Papiere in die Höhe!« Das leuchtet mir ein. Er habe Yahoo gekauft. Wären unheimlich gestiegen. Über 100 Prozent. Er hält sein Glas hoch. Yassu! Wir trinken. Aber er habe zu früh verkauft. Wenn er nicht verkauft hätte... Alles sei wieder weg. Ich schüttle den Kopf und tröste ihn. »Nikos, sei froh«, sage ich. »Du hast nur verloren, was dir nie gehört hat.« »Ist trotzdem Scheiße!« jammert er. »Aber ich habe gekauft einen Fonds, griechische Fonds! -62-
Musst du kaufen!« Und er deutet auf lange Zahlenreihen in einer griechischen Zeitung. Ich sehe zwar nur irgendwelche griechischen Schriftzeichen, die ich nicht entziffern kann, aber ich gla ube ihm alles. Und wenn irgendeine seiner Aktien gestiegen ist, dann muss er seine Freude darüber mit Freunden teilen, und schon gibt's einen Ouzo mehr. Jetzt wäre ich gern bei ihm in der Kneipe, anstatt hier am Computer zu sitzen. Kleinen Ouzo trinken, Za ziki essen. Aber nein, ich sitze hier an meinem Schreibtisch und arbeite an diesem Buch. Wo war ich gerade? Ich saß immer noch in der Tiefgarage in meinem Auto, das nach Knoblauch stank, und die Zeit verging, und nichts tat sich. Die Zeit läuft und arbeitet ständig gegen mich! Und ich arbeite gegen die Zeit. Aber die Zeit ist unaufhörlich. Sie kümmert sich vermutlich nicht um mich. War es nicht Einstein, der behauptete, man könne die Zeit überwinden, wenn man etwas fände, das schneller als das Licht ist? War er nicht derjenige, der in die Zukunft geschaut hat und die Vergangenheit sah? Ist mal was anderes! Du denkst, du schaust nach vorn und siehst etwas, was schon längst vorbei ist. Oder du schaust nach hinten und merkst, dein Blick ist weit in die Zukunft gerichtet. So was kann auch sehr aufregend sein! Ich stand neulich auf unserem Balkon und betrachtete bei klarem Himmel die Sterne. Das Licht der Sterne ist Lichtjahre unterwegs, bis ich es hier sehen kann. Ich sehe also das Licht, das ein Stern vor hunderten von Lichtjahren einmal ausgesandt hat. Unter Umständen sehe ich heute einen Stern, den es nicht mehr gibt, der schon längst verglüht ist. Aber ich kann das jetzt noch nicht sehen. Ich blicke also, wenn ich die Sterne betrachte, in die Vergangenheit. Warum sollte nicht auch der Blick nach -63-
vorne in die Zukunft möglich sein? In Sciencefictionfilmen hat man das mittels Zeitmaschinen schon probiert. Man müsste nur etwas finden, was schneller ist als die Lichtgeschwindigkeit. Gedanken sind schneller als das Licht und überwinden Raum und Zeit. Zumindest meine. Ich kann an drei Orten gleichzeitig sein. Ich sitze jetzt hier am Schreibtisch und schreibe, sitze aber gleichzeitig in der Vergangenheit im Auto, und während ich im Auto sitze, sehe ich mich schon in der Zukunft bei Rosi im Wohnzimmer sitzen. Sollte Rosi vor dem Fernseher sitzen und gerade einen spannenden Film sehen, kam sie vielleicht gar nicht dazu, sich um mich Gedanken zu machen. Aber auch der spannendste Film müsste ja irgendwann zu Ende sein, und dann würde sie auf jeden Fall überlegen, was mit mir los sei. Ich überlegte, wie lange solche Filme dauern. Im Höchstfall zwei Stunden. Das war schon irgendwie auszuhalten. Die andere Möglichkeit war, dass Herr Wölpl, der seinen Stellplatz neben dem unseren hatte, noch mal wegfuhr. Nur, das war unwahrscheinlich. Es war ja mitten in der Nacht. Der Herr Wölpl fuhr erst wieder morgen früh raus. Und die beiden, die mich mit ihrem ausschweifenden Auto-Verkehr in diese missliche Lage manövriert hatten, würden keinen Anlass haben, die Hebebühne hochzufahren, wenn sie ihre Fahrzeuge eingestellt hätten. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Entweder Herr Wölpl kam, um wegzufahren, oder Rosi kam, um mich zu befreien. Dass Herr Wölpl kam, war eher nicht zu erwarten. Also blieb mir nur Rosi als letzte Hoffnung. Zwei Stunden waren inzwischen vergangen, doch Rosi kam nicht. Ich hatte von telepathischen Versuchen gehört, bei denen zwei Personen miteinander über eine Entfernung von mehreren Kilometern miteinander Nachrichten austauschten. Ich dachte, ein Versuch könnte nicht schaden und versuchte es. Ich stellte mir Rosis Gesicht vor, wie sie vor dem Fernseher saß und einen spannenden Film anschaute. Ich hatte die Situation in unserem -64-
Wohnzimmer klar vor Augen und begann mit der Übermittlung meiner Nachricht. Bitte Rosi, komm in die Tiefgarage und befreie mich. Doch Rosi reagierte nicht. Ich sah sie angespannt vor der Glotze sitzen, wie sie gebannt einen Sciencefictionfilm verfolgte. Der Film war stärker als meine telepathische Nachrichtenübermittlung. Ich muss zugeben, der Film war auch spannender. Als alles nichts nützte, begann auch ich, den Film anzuschauen. Den Film erreichte ich, sie aber nicht. Es war wirklich eine aufregende Geschichte, die mich alles um mich herum vergessen ließ. Der Film hieß Total Recall, und Schwarzenegger, unser Arnie, spielte die Hauptrolle. Natürlich steht er auf der Seite der Guten und kämpft gegen die Bösen, die einen ganzen Planeten unterdrücken und versuchen, die Widerstandsorganisation, die Schwarzenegger anführt, zu vernichten. Es war ihnen gelungen, Schwarzenegger gefangen zu nehmen und ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Er bekam eine völlig neue Identität, doch war es ihnen nicht gelungen, alle Daten des ursprünglichen Ichs zu löschen. Ein kleiner Rest seiner ursprünglichen Persönlichkeit war noch vorhanden und wurde zu Arnies Ausgangspunkt für die Suche nach seinem wahren Selbst. Seine Erinnerung nimmt allmählich wieder zu, und schließlich findet er zurück zu seiner Widerstandsgruppe. Was er nicht weiß: Damit ist er zum Werkzeug der Bösen geworden. Die hatten ihm diesen Rest Erinnerung nämlich nur zu dem Zweck gelassen, dass er sie auf der Suche zu seinem wahren Ich mitnahm, um auf diese Weise an die gesamte Widerstandsorganisation heranzukommen. Raffiniert! Der Film war echt gut, und ich vergaß darüber ganz, wo ich mich befand. In meinem Auto auf dem unteren Doppelduplextiefgaragenplatz Nummer 20. Als der Abspann lief, meinte Rosi, dass sie nun schlafen ginge, und drückte mir die Fernbedienung in die Hand. Ich sagte »gute Idee«, switchte den Fernseher aus und ging ebenfalls schlafen. -65-
Ich träumte, dass Rosi von Arnie Schwarzenegger träumte, während ich von Stockmann träumte: Stockmann ging in die Tiefgarage und betätigte die Hebebühne. La ngsam bewegte sie sich quietschend nach oben. Er ging zur Fahrertür und öffnete sie. Mir blieb die Luft weg. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht. Ich konnte mich nicht bewegen, ich war steif und starr. Stockmann hatte sein Gewehr auf mich gerichtet und sagte: »Das ist mein Platz, Fremder. Verschwinde!« Dann lud er durch. Ich konnte nicht antworten. Brachte den Mund nicht auf. Die Muskeln verweigerten sich mir. Mein Sprachzentrum war lahm gelegt. Es war teuflisch. Irgendwie gelang es mir dann doch, den Mund aufzumachen und zu schreien: Nein!!!! Ein Schmerz fuhr mir ins rechte Knie. Ich war damit ans Lenkrad geknallt. Mit einem Schlag war ich hellwach. Die Hebebühne war nach oben gefahren. Wölpls Auto war weg. Es war kurz vor halb neun am Morgen. Ich war gerettet. Ich stieg aus, um in unsere Wohnung zu gehen. Als ich zum Rolltor ging, drückte hinter mir jemand die schwere stählerne Feuerschutztüre auf. Herr Stockmann ging zu seinem Stellplatz Nummer 1, nickte mir kurz zu und murmelte: »Morgen.« Ich war unfähig, diesen Gruß zu erwidern. Ging sofort in unsere Wohnung hinauf, wo sich Rosi gerade eine Tasse Kaffee eingoss. Sie schaute mich fragend an und rümpfte die Nase. »Warst du beim Griechen?« Ich ganz naiv: »Was? Beim Griechen? Nein.« »Du stinkst nach Knoblauch!« »Ich war nicht beim Griechen. Ich war in unserem Auto.« »Willst du etwa behaupten, du hast die Nacht in unserem Auto verbracht?« »Ja! Das heißt, haben wir nicht gestern zusammen Total Recall angeschaut?« »Ich schon, ich hab' den Film gesehen!« -66-
»Ich auch!« »Quatsch! Ich war allein vor dem Fernseher! Das weiß ich ganz genau, weil nämlich keiner da war, der dämliche Kommentare abgegeben hätte, und das war gut so. Also! Wo warst du???« »Im Auto!« »Du hast also demnach in unserem Auto einen Film angeschaut?« »Ja.« »Du warst im Autokino?« »Nein.« »Und warum stinkst du so nach Knoblauch?« »Das war das Auto.« »Demnach war das Auto beim Griechen, hat Hunger gehabt und sich ein Zaziki bestellt, und danach hatte das Auto Lust auf einen Film.« »Rosi, nein, bitte lass es dir erklären. Ich war im Auto gefangen, und dann habe ich versucht, dich telepathisch zu erreichen, aber du hast dir gerade Total Recall im Fernsehen angesehen. Du warst einfach nicht auf Empfang. Dann habe ich auch in den Film reingeschaut und habe mitgeguckt...« »Du und Telepathie! Mei, Jonas, des hätt' ich dir gleich sagen können, dass das bei dir nix wird. Ich brauch' jetzt auf alle Fälle das Auto, ich fahr' zum Seebauer und hol' Blumenerde.« »Du willst mit dem Auto fahren?« »Ja, logisch.« »Das ist irgendwie nicht gut, weißt, wenn dann der Stockmann den leeren Garagenplatz sieht, dann denkt sich der vielleicht, dass er ihn jetzt benutzen kann, und stellt sich einfach drauf, und dann haben wir keinen Platz mehr.« »Jonas, ich glaub', jetzt kommt deine misstrauische -67-
Komponente wieder durch. Glaub an das Gute im Menschen, dann geht's dir gleich wieder besser. Ich fahr' mit dem Auto und damit basta.« »Aber sei vorsichtig, heut' ist irgendwie ein schlechter Tag. Schau lieber nach, ob die Mondphase he ute Blumenholen zulässt.« »Verarschen kann ich mich auch allein.« »Na, du, wirklich! Mach dir doch noch schnell ein Horoskop für heute. Vielleicht steht der Merkur grad retrograd. Der John Lennon wär' an so einem Tag nie aus dem Haus gegangen. Wenn ihm die Yoko an dem Tag, an dem er gestorben ist, ein Horoskop gemacht hätte, würd' er wahrscheinlich heut' noch leben.« »Jonas!« »Okay, ich sag nichts mehr. Aber sag nachher nicht, ich hätt' dich nicht gewarnt.« »Musst du immer das letzte Wort haben?« »Im Buch schon.« Sie erwiderte noch etwas, das schreibe ich aber hier nicht hin. Einmal will ich das letzte Wort haben, zumindest in meinem Buch. Unser Nachbar Andreas holt mich von meiner Werkbank weg. Er klingelt und fragt, ob wir Eier haben und ob wir ihm mit ein paar davon aushelfen könnten. Natürlich können wir. Er wäre gerade beim Kochen, und Bernadette hätte vergessen, Eier mitzubringen. Ich überreichte ihm zehn Eier, und er fragt mich, wie weit ich mit dem Buch sei. »Geht so«, antworte ich. »Du, am Wochenende gehe ich in die Partnachklamm paddeln, willst du mitkommen?« »Nee, du, ich bin hier schon am rudern. Mir steht das Wasser bis zum Hals.« -68-
Etwas Schreckliches musste passiert sein. Rosi kam aus der Tiefgarage zurück in die Wohnung und machte einen sehr verstörten Eindruck auf mich. Sie war leichenblass, brachte kein Wort heraus und zitterte am ganzen Leib. Ich konnte ihr Herz bis zum Hals schlagen sehen. Sie brauchte Hilfe. Und zwar schnell. Ich setzte ohne Zögern ein beruhigendes Bachblütenkonzentrat aus Vanille- und Zitronendüften an und stellte die Duftlampe direkt vor ihrer Nase auf. Schon nach wenigen Augenblicken beruhigte sie sich. Als das Zittern nachließ, fragte ich: »Hast du Stockmann getroffen? Hat er dir was getan?« Sie schüttelte den Kopf. Gott sei Dank, Stockmann war nicht die Ursache. Stockend begann sie zu erzählen, was geschehen war. Sie habe den Hebemechanismus unserer Doppelduplexhebebühne betätigt, weil diese unten gestanden sei. Danach sei sie ins Auto gestiegen und habe den Motor angelassen. Sie habe die Kupplung durchgetreten und den Gang eingelegt. Doch als sie rausfahren wollte, habe sich der Wagen nicht bewegt. »Das versteh ich nicht«, sagte ich. »Wenn man den Gang einlegt, lässt man die Kupplung kommen und fährt raus.« »Das habe ich auch gedacht. Ich habe es so gemacht, wie ich es immer mache, aber diesmal ging's nicht.« Ich äußerte den Verdacht, dass Stockmann am Wagen war und die Kupplung sabotiert hatte. Jetzt ging also der Terror los! »Nein, nein! Es war ganz anders«, korrigierte sie mich. »Ich habe den falschen Gang erwischt.« »Wie?« »Ich habe nicht den Rückwärtsgang eingelegt, sondern den ersten Gang.« »Ist doch kein Problem«, sagte ich. »Doch. Ich habe versucht, mit dem ersten Gang rückwärts -69-
rauszufahren.« »Das geht doch gar nicht!« »Das habe ich auch gemerkt. Als ich die Kupplung langsam kommen ließ und gleichzeitig Gas gegeben habe, hat sich das Auto nicht bewegt. Vorne am Stellplatz ist doch diese Schwelle«, belehrte sie mich, »damit das Auto nicht auf die Wand rollt.« »Klar, deshalb lege ich ja immer den Rückwärtsgang ein.« »Ja. Ich habe also immer mehr Gas gegeben, bis plötzlich der Wagen mit einem Satz auf die Wand vor mir geschossen ist.« »Und?« »Die ganze Schnauze ist eingedrückt.« Ich blieb ganz ruhig und schaute Rosi eine Weile an, bis ich realisiert hatte, was passiert war. Ich stand auf und ging in die Tiefgarage, um den Schaden zu begutachten. Das sah nicht gut aus. Die Kühlerhaube wölbte sich kräftig nach oben. Rosi hatte Recht. Die gesamte Schnauze war hin. Ich hoffte nur, dass durch den Aufprall der Rahmen nicht verzogen worden war. Für den Fall stünde jetzt ein Totalschaden auf unserem Doppelduplextiefgaragenplatz. Ich stieg ein, um den Motor zu starten. Ohne Erfolg. Der Anlasser jammerte ein wenig, als wollte er weinen. Mir ging es ähnlich. Aber ich riss mich zusammen. Es war nicht leicht für mich. Es ist immer ein harter Schlag für einen Mann, wenn sein Auto den Geist aufgibt. »Es gibt Schlimmeres«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme. Als ich mich wieder gefasst hatte, überlegte ich, was zu tun war. Das Leben musste irgendwie weitergehen. Ich sprach mir Mut zu. Es wird schon wieder werden. Irgendwann trifft es jeden! Irgendwann geht alles Vergängliche seinen irdischen Weg und muss dran glauben. Ich wehrte mich dagegen, es zu glauben, aber es half nichts. Das Auto musste so schnell wie möglich hier raus. Die Schande, einen Totalschaden auf einem Doppelduplexplatz zu parken, -70-
war mir unerträglich. Was würden die anderen Doppelduplexparker in der Tiefgarage denken? Schau dir den an, fährt an die Wand! Weiß nicht, wo der Rückwärtsgang ist! Dabei spielt das überhaupt keine Rolle. Wenn die Richtung stimmt, kann man auch mit dem Rückwärtsgang vorwärts fahren. Die Regierung Schröder beherrscht dieses Prinzip perfekt. Die ist nach allen Richtungen beweglich. Einmal geht's vorwärts, dann merken sie auf einmal, dass es vorwärts nicht geht, dann geht's rückwärts, aber da geht's auch nicht, dann geht's vorbei, in jedem Fall aber geht's weiter. Linie halten! Die Rentenlinie, die Steuerreformlinie, mit am schönsten ist die Sparlinie. Ich habe immer gedacht, sparen würde bedeuten, weniger Geld auszugeben, als man vorher ausgegeben hat. Das ist falsch. In der Politik ist damit gemeint, weniger von dem auszugeben, was man ursprünglich mehr ausgeben wollte. Nicht weniger, sondern mehr, aber deutlich weniger, als ursprünglich mehr geplant war, davon aber weniger. Man spart von dem, was man nicht hat, aber davon mehr. Und das legt der Finanzminister Gewinn bringend an. Mit den Zinsen, die er daraus bezieht, baut er die Staatsschulden ab. »Wir müssen nach vorne blicken«, sagen sie immer, legen den Rückwärtsgang ein, lassen die Karre einfach laufen und stehen unversehens an der Wand. Das Auto musste so schnell wie möglich aus der Tiefgarage. Nur wie? Der ADAC musste herkommen. Aber da tauchte ein weiteres Problem auf. Ich, oder besser: wir waren aus dem ADAC ausgetreten. Rosi hatte mich irgendwann davon überzeugt, dass man nicht mehr reinen Gewissens Mitglied bei diesem größten deutschen Verein sein könne. Ich erinnere mich dunkel an eine herbe Tempo-100Debatte, die vor Jahren in diesem Land tobte und deutsche -71-
Familien in zwei verfeindete Lager trennte. Die einen waren für Natur und Tempolimit und die anderen für freie Fahrt und den ADAC. Der ADAC war für Natur und freie Fahrt. Ich war gespalten. Ich war für Natur und ADAC, aber auch für freie Fahrt und Tempolimit. Den ADAC brachte ich bis dahin immer in Verbindung mit Hilfe und Pannen. Der ADAC hilft, wenn man mit dem Wagen irgendwo liegen bleibt. Man wählt eine Nummer, und es kommen die gelben Engel. Dieser ADAC war bei mir im Kopf positiv abgespeichert. ADAC ist gut und hilft dir aus der Klemme. Holt dich aus dem Ausland nach Hause, wenn du mit deiner Karre nicht mehr weiterkommst. Und nun sollte ich plötzlich die Schutzbriefheiligen verteufeln? Ich muss zugeben, es fiel mir nicht ganz leicht, in diesem Punkt umzudenken. Der Mensch ist nicht sehr beweglich, wenn er etwas, was bisher positiv besetzt war, negativ bewerten soll. Und so ging es auch mir. Man muss sich in diesem Fall selber einen Fehler eingestehen und zugeben, etwas jahrelang falsch beurteilt zu haben. Meine Meinung über den ADAC war festgefahren. Aber Rosi machte mich wieder flott. »Wie die sich aufführen«, rief Rosi mit vorwurfsvollem Blick in den Fernseher, sodass Ulrich Wickert noch eine Nuance tugendhafter dreinschaute, »ist unmöglich!« Und dann traf mich der gleiche Blick, der eben noch Wickert verunsichert hatte. Nur dieser hatte Zeit, wieder die Fassung zu finden. Ich hingegen hatte keine Zeit. Ich musste sofort reagieren, andernfalls drohte eine ziemlich tief greifende Diskussion über den Autoverkehr im Allgemeinen, den Autofahrer und die Männer! Denn ich war sicher, dass beim ADAC nur die Männer das Sagen hatten und nur die Männer hinter der Tempo-100-Weigerung standen und es, wie überall, die Männer seien, die stur und uneinsichtig, zerstörerisch und eigennützig, egoistisch und aggressiv die Welt zu Grunde richteten. Diese Diskussion wollte ich um alles in der Welt vermeiden. Ich sah nur eine Möglichkeit, mich zu retten. -72-
Ich musste etwas Vernichtendes über den ADAC rauslassen. »Diese Vollgasidioten«, rief ich so laut, dass Wickert kurz die Augen schloss und verstört »das Wetter« ansagte. »Jetzt reicht's!« sagte ich etwas ruhiger, aber immer noch geladen, und dann brach es aus mir heraus: »Ich trete aus!« Schon als ich es aussprach, war mir klar, dass ich im Begriff war, einen folgenschweren Fehler zu begehen. Aber jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Rosi pflichtete mir sofort bei und so nahm das Unheil seinen Lauf. Ich verließ den ADAC und war fortan ganz allein mit meinem Auto auf mich gestellt. Sollte ich einmal auf der Straße Hilfe benötigen, würde ich nicht auf den ADAC hoffen dürfen. Auf Dauer konnte das nicht gut gehen. Nun war es geschehen. Schutzbrieflos stand ich mit einer schweren Panne auf einem Doppelduplextiefgaragenplatz, und niemand half mir. Die hilfreiche ADAC-Hand, die mir jetzt hätte helfen können, hatte ich wütend zurückgeschlagen. Ich sah mich in der dunk len Tiefe der Tiefgarage stehen, einsam und verlassen, mitten in der mit Kohlenmonoxid angereicherten Abgasluft, und ganz weit oben, irgendwo in der Nähe Gott Vaters, thronte auf einem goldenen Kotflügel ein gelber ADACSchutzbriefheiliger und winkte mit der Helferhand hämisch aus der Ferne. »Unsinn!« sagte ich laut zu mir und holte mich damit aus diesem Horrortraum zurück auf den Boden der Tatsachen. Es gibt auch noch andere Abschleppfirmen, die meinen Blechschaden aus der Tiefgarage rausholen. Ich rief also bei einem dieser privaten Abschlepper an. Als ich aber erzählte, dass es darum ging, einen Wagen von einem Doppelduplextiefgaragenplatz wegzuschleppen, lehnte dieser den Auftrag mit der Begründung ab, er könne mit seinem Abschleppwagen nicht in die Tiefgarage einfahren, da diese »in der Regel zu flach und nicht hoch genug« seien. »Da werden Sie wenig Glück haben!« meinte er lachend. Ich versuchte es noch -73-
bei zwei anderen Firmen, aber überall musste ich mir dasselbe anhören. »Rufen Sie doch den ADAC an!« hieß es immer wieder! Das hatte mir noch gefehlt. Was sollte ich machen? Es half nichts, ich musste in den sauren Apfel beißen. Ich rief beim ADAC an. Dort fragte man mich als Erstes, ob ich Mitglied sei. Als ich verneinte, sank die Lust zu helfen spürbar. Die Stimme am anderen Ende klang enttäuscht. »Aha« meinte der ADAC. Ich fühlte mich gedemütigt. Sofort bekräftigte ich, dass ich auf der Stelle bereit sei, wieder Mitglied zu werden. Das Wörtchen »wieder« hätte ich besser weggelassen. Denn prompt kam die Frage: »Wieso wieder? Waren Sie schon mal Mitglied?« Schmach, lass nach! Ich beichtete. Dann wurde ich wieder Mitglied. Ich würde Ärger mit Rosi bekommen. Ich hörte sie schon: Du bist nicht konsequent! Beim geringsten Problem kneifst du! Aber das war mir egal. Während ich also auf den Abschleppwagen wartete, überlegte ich weitere Schritte und Maßnahmen. Ich konnte ja den Doppelduplextiefgaragenplatz nicht unbeaufsichtigt lassen. Die Gefahr, dass sich jemand drauf stellte, war viel zu groß. Es boten sich mehrere Möglichkeiten an. Die erste, die mir durch den Kopf ging, war, eine Obstkiste auf dem Tiefgaragenplatz zu parken. Ich habe schon des Öfteren Obstkisten in Parklücken stehen sehen, die dort als Platzhalter für Autos dienten. Dabei finde ich es immer wieder faszinierend, dass niemand auf die Idee kommt, die Obstkiste wegzunehmen, um sein Fahrzeug in der Lücke abzustellen. Im Gegenteil, jeder akzeptiert die Obstkiste als Parkverbotszeichen. Jeder hält sich daran und respektiert, dass dort nicht geparkt werden darf. Es gibt offensichtlich einen Obstkistenkonsens in diesem Lande. Die Obstkiste als freilich illegales Zeichen für »Parken verboten«. Die Parklücke als rechtsfreier Raum? In Tiefgaragen allerdings hatte ich dieses -74-
Obstkistenphänomen bisher nicht beobachten können, sodass ich diese Möglichkeit wieder verwarf. Ich machte mich mit dem Gedanken vertraut, selbst den Stellplatz rund um die Uhr zu bewachen. Ich dachte daran, ein Tiefgaragenbiwak zu errichten, mit Schlafsack im kleinen Sauerstoffzelt, um die angereicherte Atmosphäre in der Tiefgarage leichter überleben zu können. Dann fiel mir ein, dass ein Tiefgaragenabstieg ohne Sauerstoffgerät sicher reizvoller wäre und hervorragende Chancen hätte, neben Messners Himalaja-Erstbesteigungen ohne Sauerstoffgerät ins Buch der Rekorde einzugehen. Während ich mich schon in den Schlagzeilen der Zeitungen als Ersttiefgaragenabsteiger sah, der überall auf der Welt seine Vorträge hält zum Thema »Extremsituation Tiefgarage«, fasste ich den Entschluss, einen Leihwage n zu mieten, um ihn auf meinem Doppelduplextiefgaragenplatz so lange zu parken, bis ich entweder ein neues Fahrzeug gekauft oder das alte repariert wiederbekommen hätte. Ich nutzte also die Zeit, bis der Schutzbriefheilige kam, um bei Autofirmen einen blauen BMW 520 zu mieten. Es sollte exakt das gleiche Fahrzeug sein, das wir in der Garage stehen hatten. Keiner unserer Doppelduplexnachbarn sollte bemerken, welch schändliches Missgeschick uns widerfahren war. Doch es war wie verhext, keiner hatte einen blauen BMW 520 Baujahr 87 zu vermieten. Ich kannte auch niemanden, der einen blauen BMW 520 fuhr, und den ich hätte bitten können, mir sein Auto zu leihen, um es auf unserem Doppelduplextiefgaragenplatz einzustellen. Aber selbst wenn ich jemanden mit einem bla uen BMW 520 gekannt hätte, wäre ich nicht sicher gewesen, ob ich ihn angesichts der zu erwartenden Gegenfrage, warum er mir seinen blauen BMW 520 leihen sollte, wo ich doch selber genau den gleichen Wagen dieses Typs führe, gebeten hätte, mir seinen blauen BMW 520 zu leihen. Wenn ich ihm dann noch den Grund dafür genannt -75-
hätte, dass ich nämlich seinen BMW nur zum Zwecke des Parkens auf unserem Doppelduplextiefgaragenplatz benötigte, so hätte er, vermute ich, mir die Bitte mit der Begründung, ich sei verrückt, abgeschlagen. Nachdem ich all diese Überlegungen angestellt hatte, kam ich zu dem Schluss, es sei wohl am besten, irgendeinen Mietwagen auf den Doppelduplextiefgaragenplatz zu stellen. Einerseits war damit sicher zu verhindern, dass sich der liebe Herr Stockmann auf meinen Doppelduplexplatz breit machte, und andererseits ergab sich damit die Möglichkeit, einen gewissen Irritationseffekt in der Tiefgarage zu erzielen. Entweder würden alle denken, wir hätten ein neues Auto gekauft, oder aber ein anderer, ein Unbefugter, hätte sich auf unseren rechtmäßig angemieteten Tiefgaragenplatz gestellt. Ich könnte dann meinerseits beginnen, mich bei meinem Vermieter zu beschweren und Anzeige zu erstatten gegen unbekannt. Ich hatte das natürlich nicht vor, aber es war gut zu wissen, im Kampf um einen Doppelduplextiefgaragenplatz einen weiteren Trumpf im Ärmel zu haben. So was stärkt das Selbstbewusstsein! Ich dachte daran, einen Mercedes der S-Klasse anzumieten. Es machte mir Spaß, mir das dumme Gschau des Herrn Stockma nn vorzustellen, wenn er plötzlich einen nagelneuen Daimler auf meinem Tiefgaragenplatz strahlen sähe. Er würde platzen vor Neid! Er würde grübeln und nicht mehr schlafen können, weil ihn ständig die Frage beschäftigen würde, wie wir zu dieser Nobelkarosse gekommen waren. Jawohl, ein Mercedes musste her! Egal wie teuer das werden würde. Geld durfte jetzt keine Rolle spielen. Einen Mercedes zu mieten war kein Problem. Das Problem ergab sich ganz woanders. Momentan parkte noch ein Schrotthaufen auf unserem Doppelduplextiefgaragenplatz. Aber dann kam der Schutzbriefheilige. Ich brachte ihn an den Ort des Geschehens. Er begutachtete den Schaden und fragte: -76-
»Was isn da bassiert?« Ich dachte, ich hör nicht richtig, er war Sachse. Zurzeit waren die wirklich überall. In diesem Moment ging die schwere Brandschutztür, die vom Haus in die Tiefgarage führt, auf, und Rosi kam auf uns zu. Ich wagte nicht zu erzählen, dass sie es war, die unser Auto mit Vollgas auf die Betonwand der Tiefgarage gesteuert hatte. »Da muss sisch aber eener ganz schlau angschdelld haben!« Ich schwieg. Der Schutzheilige nicht. »So was sieht man nicht alle Daache.« Ich schwieg beharrlich. Er weiter: »Ja, ja, Audofaahn is nisch leischt.« Er meinte mich. Ganz klar. Er hielt mich für einen Trottel, der zu blöd ist, den Rückwärtsgang einzulegen! »Das wird nisch billisch werden!« Ich dachte, von mir wirst du kein Wort hören. Ich fühlte mich wie ein Märtyrer und sprach mich heilig. »Wenn der Rahmn verzoochen ist, ist des ein Dodalschaden!« Ich schaute Rosi Hilfe suchend an. Ich wusste, was sie dachte: Sachse! Ich sah es ihr an. Sie dachte nur eins: Sachse. Ich hoffte, dass auch sie die Kraft dazu aufbrachte zu schweigen. Dann mussten wir beide lachen. Gott sei Dank verstummte der Schutzheilige irgendwann und schleppte unseren verbeulten BMW aus der Tiefgarage nach oben und von dort in eine Autowerkstatt. Endlich war der Weg frei für den Mercedes. Stockmann fragt sich vermutlich bis heute, wem der Mercedes wohl gehört haben mag. Ich wollte pünktlich sein bei meinem Treffen mit dem Redakteur Schlapp-Winsel vom FFB und hatte deshalb das Taxi schon eine Stunde vorher bestellt. Ich stieg hinten ein und machte es mir auf dem Rücksitz bequem. Während der Fahrt -77-
gingen mir wüste destruktive Gedanken durch den Kopf. So einen wie mich können sie beim Fernsehen im Grunde genommen gar nicht brauchen. Was mache ich denn hier? Fahre zu einem Termin, der, wenn ich es mir recht überlege, unnötig ist wie ein Kropf. Schade um die Zeit! Was will ich denn beim Freien Fernsehen Bayern? Ich passe doch dort gar nicht hin! Beim Fernsehen arbeiten in den Unterhaltungsredaktionen nur hoch qualifizierte Kräfte. Promovierte Akademiker, von denen jeder Einzelne weiß, wie man eine erfolgreiche Unterhaltungssendung gestalten muss. Und wenn sie einmal scheitern, liegt es nie an ihnen, sondern immer nur an den Versagern vor der Kamera! Welcher Teufel hat mich denn geritten, dass ich diesen Gesprächstermin zugesagt habe? »Das bringt doch nichts!« sagte ich eindringlich und laut zu mir selber. »Wos? Ha? Wie bitte?« fragte mich der Taxifahrer angegriffen, »woin S' anders fahrn? Oba, i sag's Eahna glei, dös is de kürzeste Streck'!« »Nein!« beruhigte ich ihn, »ich habe nur vor mich hingeredet.« »I fahr', wia Sie woin. Wer zahlt, schafft an!« insistierte er, noch immer leicht aggressiv. »Sie fahren schon richtig«, sagte ich und hing wieder meinen Gedanken nach. Er schaute mich ungläubig über den Rückspiegel an. Ich nickte ihm aufmunternd zu. »Ich red' oft mit mir selber. Das ist ganz normal bei mir.« Er konzentrierte sich wieder voll auf den Verkehr. Bestimmt hielt er mich nicht für ganz richtig im Kopf. Es war mir egal. »Ham Sie sowas öfter?« fragte er, den Blick stur auf die Straße gerichtet. -78-
»Ich bin Kabarettist!« »Geh' weiter! - Wo denn?« fragte er, ehrlich überrascht, so ein seltenes Exemplar im Auto zu haben. Ich hatte überhaupt keine Lust, jetzt Auskunft über meinen beruflichen Werdegang zu geben, und schwieg in der Hoffnung, er würde nicht weiter nachfragen. Fehlanzeige. Er war neugierig geworden. »Kabarettist san Sie?« versuchte er das Gespräch wieder aufzunehmen. »Ja, schon. Aber, san S' mir bitte nicht bös, ich muss mich jetzt no a bissl konzentrieren. Ich hab' nämlich glei einen wichtigen Termin.« »Alles klar! Bin schon staad! Kann i ja net wissn!« schmollte er. »Sowas muas oam ja gsagt werdn!« Wir fuhren eine Weile schweigend dahin, und meine Gedanken waren wieder bei dem bevorstehenden Gespräch mit Schlapp-Winsel. »Ich seh' mich da nicht«, sagte ich trotzig und schaute nach vorne in den Rückspiegel. Prüfend schaute der Taxifahrer ebenfalls in den Spiegel, verzichtete aber netterweise auf weitere Kommentare. »Ich seh' mich da nicht«, wiederholte ich mich. Das klang gut. Das würde ich nachher sagen. »Ich seh mich da nicht, Herr Schlapp-Winsel. Und, machen wir uns nichts vor, Sie sehen mich da auch nicht.« Nein, das war weniger gut. Natürlich sah er mich da, sonst hätte er doch den Termin mit mir überhaupt nicht ausgemacht. »Herr Schlapp-Winsel, ich bin schwierig. Tun Sie sich mich nicht an. Ich bin unberechenbar.« Das klang wieder gut. »Ich will Ihnen wirklich keine Schwierigkeiten machen.« Das war es! Ich würde ihm zeigen, dass ich mir Sorgen um ihn machte. »Herr Schlapp-Winsel, was machen wir, wenn ich -79-
störrisch werde? Wenn ich beispielsweise die katholische Kirche aufs Korn nehme oder die CSU?« Ich würde ihn dabei ernst anschauen. »Was machen wir in einem solchen Fall? Haben wir dann ein Problem, Herr Schlapp-Winsel?« Nein, das klang zu provokant. Sei bescheidener. Warne ihn vor dir! »Ich habe Schwierigkeiten, mich einzufügen. Ich bin einfach nicht fähig, die einfachsten Regeln menschlichen Zusammenseins zu akzeptieren. Es ist immer das Gleiche mit mir, Herr SchlappWinsel. Anfangs komme ich mit allen prima aus, interessiere mich für die Geschichten, für die Sorgen und Ängste meiner Mitmenschen. Ich bin ein aufmerksamer und verständnisvoller Zuhörer, und auf einmal geht es los. Ich betrachte plötzlich die Dinge mit zunehmender Skepsis, äußere grundsätzliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit einzelner Mitarbeiter des Teams, säe Misstrauen, sage rücksichtslos meine Meinung, neige dazu, Wahrheiten auszusprechen, und hinterfrage penetrant alle Angelegenheiten, mit denen die Produktionsgemeinschaft befasst ist.« Zu allgemein! Stauchte ich mich zusammen. Konkreter! Beispiele! »Herr Schlapp-Winsel, Sie kennen doch den F. C. Bayern München und seine Querelen? Die Ursache dafür bin ich.« Der Taxifahrer spitzte die Ohren. »Gleich nachdem ich im Verein Mitglied geworden war, habe ich angefangen, die Lunte zu legen. Ein kleines Gerücht da, eine Unwahrheit dort, eine Intrige. Ja, da staunen Sie, Herr Schlapp-Winsel, was?« Jetzt hielt mich mein Chauffeur für absolut übergeschnappt. »Ich mische jede Gruppe, jeden Verein, jede Gemeinschaft auf, in die ich hineingerate. Hetze alle gegeneinander auf.« So ist es auch heute noch. Warum, glauben Sie, hat Lafontaine alles hingeschmissen? Nicht wegen Schröder und seinen Intrigen! Nein, meinetwegen. Von meinem kleinen Ortsverein aus habe ich die ganze Partei aufgemischt. Habe alle angesteckt und aufgehetzt. Der Riss geht mitten durch die Partei. Wenn einmal der Funke übergesprungen ist und ein Eck der -80-
Partei Feuer gefangen hat, breiten sich die Flammen schnell aus, brennen alles nieder. Es verselbstständigt sich und lodert immer weiter. Ich zünde alles an. Ich bin eine Gefahr für das Land. »Jetzt stellen wir uns einmal vor, ich gerate in eine heile gesellschaftliche Gruppe wie die der Fernsehschaffenden hinein. Herr Dr. Schlapp-Winsel.« Oder hat er gar keinen Doktor? Ich gebe ihm einen, wenn er keinen hat. »Und nun komme ich und vergifte mit meiner egoistischen, kompromisslosen Art die Atmosphäre.« Genauso würde ich mit ihm reden, und er würde mich verstehen. Nachdem wir beim Italiener angekommen waren, bezahlte ich das Taxi, stieg aus und machte mich auf den Weg ins Lokal. Andererseits, so ging es mir durch den Kopf, konnte ich nicht immer nur klagen und jammern, dass beim Bayerischen Fernsehen alle Türen zu seien, und das Desinteresse beklagen, wenn ich selbst nicht bereit war, auf Gesprächsangebote einzugehen. Und nun war es soweit, also ging ich hin. Ich blieb zwar skeptisch, aber was vergab ich mir, wenn ich den Termin wahrnahm? Es war einer der ersten wirklich warmen Sommertage in diesem Jahr. Ich steuerte deshalb einen Tisch im Freien an und ließ mich in froher Erwartung daran nieder. Leider befand sich das italienische Lokal an einer stark befahrenen Straße in Altbogenhausen. Schlapp-Winsel hatte das »Lupara« vorgeschlagen, um mögliche Konzepte mit mir durchzugehen. Um ehrlich zu sein, ich hatte überhaupt keine Idee, geschweige denn ein Konzept, ich hatte gar nichts. Ich schaute auf die Uhr. 12 Uhr 30 war ausgemacht, und das war es jetzt. SchlappWinsel war bisher nicht eingetroffen. Der schmale Kellner mit dichten, tiefschwarzen, ein wenig speckig nach hinten gekämmten Haaren hatte mir desinteressiert die Karte vorgelegt und gefragt, was ich zu trinken nähme. Als ich keinen Wein bestellte, sondern ein Pellegrino orderte, reagierte er höflich und verließ ein wenig beleidigt den Tisch in Richtung Theke. Mit -81-
dem Bestellen des Essens würde ich noch warten, bis mein Gesprächspartner eingetroffen ist. Auf dem Nebentisch lag eine Süddeutsche Zeitung, die ich mir schnappte, um mir die Wartezeit ein wenig zu vertreiben. Ich blätterte und stieß auf einen Artikel im Bayernteil, dessen Überschrift mich neugierig machte. Gespaltene Schädel zeugen von Tragödie. Archäologen waren in der Nähe von Ingolstadt auf Gräber aus dem 8.Jahrhundert gestoßen. Die Wissenschaftler hatten Skelette ausgegraben, deren Schädel offensichtlich durch Schwerthiebe gespalten worden waren. Einer der Männer sei sogar skalpiert worden, stand da zu lesen. Diese Methode, dem Feind die Haare samt der Kopfhaut abzuziehen, konnte doch nur heißen, dass im 8. Jahrhundert, zur Zeit Karls des Großen, Indianer in Bayern siedelten. Nun stellte sich die Frage: Auf welchem Weg kamen sie nach Bayern? Nahmen sie die Route über die Beringsee, oder haben sie mit ihren Kanus den Atlantik überquert? Nicht Kolumbus hätte demnach Amerika entdeckt, sondern umgekehrt die Indianer Bayern. Waren etwa die ersten Agilolfinger Indianer? Bis heute konnte wissenschaftlich nicht geklärt werden, woher diese Agilolfinger kamen. Ich war von dem Bericht fasziniert. Schon immer haben mich archäologische Themen interessiert. Der Archäologie galt und gilt bis heute meine besondere Aufmerksamkeit, und ich selbst forsche mit ernsthaftem Interesse auf diesem Gebiet. Ich hatte auch schon einige bedeutende Funde gemacht. Mancher wird sich vielleicht noch an die Gsengeter Schweineblase aus dem vorkeltischen Neolithikum erinnern, die mit großem Aufsehen durch die Presse ging und monatelang für Gesprächsstoff sorgte. Ich habe sie der prähistorischen Sammlung des bayerischen Nationalmuseums als Dauerleihgabe vermacht, wo sie bei den Museumsbesuchern große Beachtung findet. Ich hatte auch einige wissenschaftliche Arbeiten in archäologischen Fachzeitschriften veröffentlicht, die freilich nur -82-
in der Fachwelt großes Aufsehen erregt hatten. Und nun spielte mir der Zufall diesen Artikel in die Hände. Spontan überlegte ich, ob es nicht an der Zeit wäre, auch im Fernsehen archäologische Themen locker-unterhaltsam für ein breites interessiertes Publikum aufzubereiten. Ich winkte den Kellner heran und bat ihn um Schreibzeug. Wenig erfreut lehnte er ab und meinte, es gäbe kein Schreibpapier. Stattdessen brachte er mir Stoffservietten, auf denen ich die groben Umrisse des Konzeptes für eine archäologische Forschungsreise durch Bayern skizzierte. Mit diesem neuen Sendeformat ergab sich endlich die lang ersehnte Möglichkeit, meine archäologischen Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit nahe zu bringen. In der barocken Bibliothek des Marienklosters zu Fürstenzell sollte es losgehen, dort, wo ich zufällig - ich habe das bisher bescheiden für mich behalten - auf uralte, fast schon zu Staub zerfallene Bücher gestoßen war. Als ich während meines ersten Aufenthalts in der Bibliothek des Klosters sensationelle Buchfunde machte, war ich zutiefst erschrocken, mit welch geringer Sorgfalt man dort mit den wertvollen Bänden umging. Sie lagen oder standen wenig beachtet schutzlos unter vielen anderen Büchern in der einmalig schönen Bibliothek. Die Vernichtung durch Pilze, Bakterien und Feuchtigkeit konnte ungehindert voranschreiten. Auf mein Drängen hin wurden die Bücher luftdicht verpackt und tiefgekühlt in den Kellern des Klosters in speziellen Glasvitrinen eingelagert. Der gesamte Bereich wurde zum philologischen Hochsicherheitstrakt erklärt. Ich darf in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, dass ohne mein beherztes Eingreifen die Bände für die Menschheit verloren gegangen wären. Heute ist es einzelnen ausgesuchten Persönlichkeiten gestattet, in eigens dafür entwickelten Schutzanzügen, den so genannten Literatur-Overalls, die den Anzügen von Astronauten nicht unähnlich sind, diese Aufbewahrräume zu betreten. Wegen lebensgefährlicher Pilze, -83-
mit denen Archäologen bereits in ägyptischen Grabkammern schlechte Erfahrungen gemacht hatten, können diese Räume nur unter Beachtung höchster Sicherheitsvorkehrungen aufgesucht werden. Trotzdem kam es vor einigen Jahren leider zu einem schweren Unfall, zu einer Art Bücher-GAU im philologischen Hochsicherheitstrakt in der Klosterbibliothek, der den schmerzlichen Verlust einiger der wertvollsten und ältesten Bücher zur Folge hatte. Die Sache wurde damals, wie in solchen Fällen üblich, vertuscht. Es war nun an der Zeit, diesen Vorfall ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Aus bis heute nicht geklärten Gründen kam es zu einem Druckabfall in den als absolut luftdicht geltenden Bücherbehältnissen. Sauerstoff drang ein und innerhalb von Sekunden zerfielen die Bücher vollständig zu Staub. Immens wichtige Zeugnisse menschlichen Denkens waren für alle Zeiten vernichtet. Ich sage waren, denn die Wissenschaft hat sich weiterentwickelt. Mit neuen Rekonstruktionstechniken ist es heute möglich, aus den Staubüberresten von Büchern das Buch vollständig wiederherzustellen. So wie wir schon seit geraumer Zeit aus einem Gehörknöchelchen eines ausgestorbenen Dinosauriers das gesamte gigantische Tier rekonstruieren und wieder auferstehen lassen können, so erlaubt uns heute eine ähnliche Methode, aus Bücherstaub wieder Bücher herzustellen. Ich selbst habe an der Entwicklung dieses Verfahrens mitgewirkt. Natürlich verfüge ich nicht über die wissenschaftlichen Fähigkeiten, eine solche Methode bis ins Kleinste auszuarbeiten, aber ich habe die entscheidenden Ideen und Anstöße dazu gegeben. Es handelt sich bei diesem Verfahren um die SGA, die Staubgenanalyse, mit deren Hilfe man den genetischen Baukasten des gesamten Buches aus einem einzigen Staubkorn gewinnen kann. Ist das nicht sensationell? Es gibt also nicht nur eine biologische DNS, welche die Bausteine des Lebens trägt, -84-
sondern auch eine MNS (materielle Nukleinsäure) in der die Informationen für scheinbar leblose Materie wie Bücher gespeichert sind. Ich würde in meiner Forschungsreise mit Wissenschaftlern zum ersten Mal im Fernsehen den Vorgang einer Staubgenanalyse mit anschließender kompletter Buchwiederherstellung vorführen. Die Zuschauerquote würde mit Sicherheit gigantisch sein. Vielleicht ist die Wissenschaft bis zur Produktion der Sendung sogar so weit, nicht nur das Buch, sondern auch den längst verstorbenen Autor aus dem Buchstaub zu rekonstruieren. Man kann nämlich vom Schreibdruck, mit dem der Autor den Federkiel auf das Papier gesetzt hat, Rückschlüsse auf die Stärke seiner Muskeln und von da weiter auf die Anatomie seines gesamten Körpers ziehen, sodass am Ende der SGA das komplette Bild des Schreibers entsteht. Irgendwann wird es sogar möglich sein, mich aus meinen Servietten zu reanimieren. Um meine Wiederbelebung sicherzustellen, spuckte ich einmal kräftig meinen genetischen Code auf die Servietten. Ich hatte sämtliche Servietten bereits voll geschrieben, als mir der Kellner mitteilte, ich solle ans Telefon kommen. Schlapp-Winsels Assistentin Frau Hüttner war dran und teilte mir mit, dass Schlapp-Winsel den Termin leider nicht wahrnehmen könne, es habe sich einiges verschoben, weil im Sender die Hölle los sei. Es brenne an allen Ecken und Enden. Ich dachte, sieh mal an, und alles ohne mein Zutun. Es musste also außer mir beim Sender noch jemanden geben, der ähnlich destruktiv wirkte wie ich. Herr Schlapp-Winsel würde sich aber, so Frau Hüttner, sobald er etwas Luft habe, bei mir melden, um einen erneuten Termin für ein Gespräch mit mir abzustimmen. Ich heuchelte Verständnis für die nun mal leider traurige, aber -85-
offensichtlich nicht zu verhindernde und deshalb hinzunehmende Situation und bedauerte ebenfalls, so gut ich konnte, was zu bedauern war, nämlich die schreckliche Arbeitsfülle, der sich die Herren im Sender ausgesetzt sähen. Obwohl ich sauer war, sagte ich, dass es für mich kein Problem wäre. Wirklich kein Problem! Wiederholte ich mehrmals. Ich versprach, es mit Humor zu nehmen. Es wäre ja nichts verloren. Ich hätte auf diese Weise eine geschenkte arbeitsfreie Zeit bekommen, die ich ohne diesen Termin nie und nimmer gehabt hätte. Frau Hüttner lachte auf und meinte noch, Herr SchlappWinsel würde mir an einem der folgenden Tage einen Brief zukommen lassen, in dem er mir seine Idee des Projekts treatmentartig schildern würde. Ich könne mir dann bis zum nächsten Treffen schon ein paar Gedanken machen... Ich legte den Hörer auf und murmelte: »Arschlöcher!« Die Herren haben keine Zeit! Dass ich nicht lache. Sie sitzen ständig am Telefon und machen Termine, die sie nachher nicht einhalten können. Rund um die Uhr sind sie eingespannt. Sie schlafen wenig, denn schlafen, sagen sie, kann ich, wenn ich tot bin noch lang genug, aber solange ich lebe, habe ich keine Zeit dazu. Hätten sie Zeit, würde ihnen etwas fehlen - nämlich das Gefühl, keine Zeit zu haben. Dieses Gefühl muss geil sein, das Gefühl, keine Zeit zu haben. Und deshalb gibt es heutzutage immer mehr Menschen, die sich dieses Gefühl gönnen. Oder sollte ich lieber sagen »leisten können«? Denn wie heißt noch einmal der kluge Spruch? Zeit ist Geld! Sie haben alles, was sie brauchen, oder sind gerade dabei, es sich anzuschaffen. Eine Villa mit italienischem Marmor im Bad und Terrakottafliesen im Carport. Selbstverständlich mitten in einem parkähnlichen Garten mit altem Baumbestand, direkt am See. Unerlässlich sind natürlich mindestens zwei Autos der Luxusklasse, damit man die beiden Feriendomizile in den Alpen und am Meer bequem erreichen kann. Neben der netten Familie, -86-
mindestens zwei Frauen und zwei Kindern, haben diese Menschen noch eins: keine Zeit. Weder für die Villa, noch für die Feriendomizile, noch für die nette Familie, denn sie haben Termine, die ihnen die Zeit nehmen und dafür sorgen, dass sie sich das alles leisten können. Denn Zeit ist Geld und wer keine Zeit hat, hat logischerweise kein Geld? Moment, habe ich da vielleicht etwas nicht ganz richtig verstanden? Bestimmt! Es verhält sich umgekehrt. Wer kein Geld hat, der hat keine Zeit! Das stimmt wohl auch nicht ganz. In jedem Fall ist damit gemeint, dass niemand Zeit hat für Dinge, die nichts bringen. Also: Wer keine Zeit hat, hat keine Zeit für Dinge, die kein Geld bringen. Die Tür geht auf, meine Tochter Franziska kommt ins Zimmer und teilt mir mit, dass das Spiel aufgebaut sei. »Kommst du?« »Geht nicht, ich hab' jetzt keine Zeit. Ich bin noch nicht fertig«, sage ich. »Fangt schon mal an, ich komme dann gleich!« »Du hast es versprochen!« »Ja, ich habe es gleich. Es dauert nicht mehr lange!« »Das sagst du immer!« Sie macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet schmollend. Die Zeit ist schon ein merkwürdiges Phänomen. Jeder weiß, es gibt Menschen, die zu spät kommen und dafür vom Leben bestraft werden. Zu langsam geschaltet, Gelegenheit verpasst, aus und vorbei. Wenn es ganz schlimm kommt, gehen diese Schlafmützen als Versager in die Geschichte ein. Aber es gibt auch Menschen, die zu früh kommen und vom Leben dafür bestraft werden. Im Nachhinein, Pech, zu früh geboren. Krieg, Vertreibung und andere nette Ereignisse, die das -87-
Leben für manche in diesem Jahrhundert bereithielt, sind damit gemeint. Deshalb hat ein großer deutscher Philosoph und Staatenlenker von der Gnade der späten Geburt gesprochen. Tja, so ist das: für den einen ist alles zu spät und für den anderen alles zu früh. Aber immer ist es die Zeit. Einmal die gute alte, und dann wieder die schlechte. Grad wie es passt. Aber immer ist es die Zeit! Es soll in der Weimarer Republik und auch danach, im Tausendjährigen Reich, Menschen gegeben haben, die von sich behauptet haben, sie hätten für den Hitler und seine Politik keine Zeit gehabt. Wie das? fragen wir uns heute. Gab es tatsächlich Menschen, die den Termin an der Front verweigerten? Haben die im Sportpalast auf die Frage: »Wollt ihr den totalen Krieg?« gebrüllt: »Ja, aber wir haben keine Zeit!«? Natürlich nicht. War das vielleicht eine Zeit, in der die Zeit die Menschen hatte? Da könnte etwas dran sein. Ich kann mich erinnern, dass meine Großmutter, falls die Rede auf diesen Zeitabschnitt kam, seufzte: »Das war die Zeit!« Sie meinte damit, dass sich ihr niemand entziehen konnte. Jeder sei da mit hineingezogen worden. Und nach dem Zusammenbruch sei die schlechte Zeit gekommen mit Hunger und Währungsreform. Es klingt absurd. Aber die Zeit hatte die Menschen und nicht sie hatten die Zeit. Denn es gab da einen, der die Termine für ein ganzes Volk gleichgeschaltet hatte. Der oberste Terminator hieß Führer, und der bestimmte zu seiner Zeit alles. Deshalb gab es Menschen, die eine Vergangenheit hatten, von der sie in der darauf folgenden Gegenwart nichts wussten, weil sie vermutlich keine Zeit gehabt hatten, es sich zu merken. Beziehungsweise es bestand kein Anlass dazu, denn jene Vergangenheit war damals die Gegenwart, und der Rest war tausendjährige Zukunft, die bis heute bereits Vergangenheit ist. Nur, was ich auch nicht wusste und erst neulich irgendwo gelesen habe: Die Gegenwart gibt es gar nicht! Sie sei nur die Grenze einer »unendlichen Teilung«. Ein Punkt ohne Ausdehnung! Das ist jetzt vielleicht ein bisschen -88-
sehr abstrakt, aber durchaus einleuchtend. Warum sind wir da nicht schon längst drauf gekommen? Gegenwart kann es gar nicht geben, denn zwischen Vergangenheit und Zukunft ist überhaupt kein Platz. Alles drängt zur Vergangenheit. Eine Gegenwart würde dabei ungeheuer aufhalten und Zeit kosten. Zukunft aber, das scheint festzustehen, gibt es nicht. Das klingt kühn, dennoch gibt es keinen Zweifel, Zukunft ist als potenziell zukünftiges »Jetzt« ein »Nichts«! Durch das zeitliche Prinzip der Vergänglichkeit wird das »Nichts« gegenwartlich, täuscht uns ein punktuelles »Jetzt« ohne Ausdehnung vor, um schließlich als vergängliches »Nichts« Vergangenheit zu werden. Stellt sich die Frage, wie aus einem zukünftigen »Nichts« ein vergangenes »Nichts« werden kann. Während ich darüber nachdenke, ob sich diese Frage stellt, kommt mein Sohn Michi herein und fragt, ob ich jetzt endlich dieses neue Spiel »Think« mitspielen würde. Ich antworte: »Gleich! Jetzt habe ich keine Ze it!« »Nie hast du Zeit!« seufzt er und trottet traurig aus dem Arbeitszimmer. »Später!« rufe ich ihm nach, aber er hört es nicht. Es klingelt, Rosi öffnet die Tür und unterhält sich mit jemandem. Ich bin neugierig und lausche. Es ist Andreas, er braucht Milch, Bernadette hat vergessen, welche zu kaufen. Rosi gibt ihm einen Liter, und er erzählt, dass er paddeln war. Es sei herrlich gewesen. Ich müsse unbedingt mal mitfahren. Es geht nicht, das Buch... Noch jemand kommt dazu, hört sich nach Filippo an. »Stellt euch vor, Mirella will unseren Keller räumen und alles auf dem Flohmarkt verkaufen. Die Frau ist so geschäftstüchtig.« Das interessiert mich, ich gehe auch an die Tür. Filippo trägt zwei dick gepackte Koffer nach unten. Ich frage, ob er verreist. -89-
»Nein, alte Klamotten von Mirella. Will sie verkaufen. Muss ich jetzt in den Keller schaffen.« Und weg ist er. Andreas schwärmt mir von seiner Paddeltour vor, so was würde mir auch gut tun. Später mal... Während wir an der Tür stehen und uns unterhalten, klingelt es erneut. Rosi drückt auf den Türöffner und von unten hallt ein lautes: »Post!« durch das Treppenhaus. Das ist wie immer der Befehl, die drei Stockwerke nach unten zu laufen und die Post in Empfang zu nehmen. Unser Postbote ist schon etwas älter und tut sich mit dem Treppensteigen schwer. Ich renne also nach unten und nehme die Briefe in Empfang. Einschreiben! Von wem? Ich wende das Kuvert hin und her und lese den Absender. Ein Schreiben von der Polizei. Zentrale Bußgeldstelle. Schlechtes Gewissen! Habe ich wieder falsch geparkt, bin ich zu nah aufgefahren, oder habe ich nur jemanden beleidigt? Werde ich vorgeladen, wann habe ich zu erscheinen? Jetzt lese ich: Es ist mir eine Parkuhr abgelaufen. Ob ich mit einer Verwarnung einverstanden wäre. Immer! Ich schaue die weitere Post durch. Die Süddeutsche Klassenlotterie schreibt außen auf das Kuvert, dass die höchste Gesamtgewinnsumme aller Klassenlotterien der Welt - über eine Milliarde Mark jetzt bei ihr, der SKL, ausgespielt wird. Ich will mich nicht ausspie len lassen, denke ich, und lese weiter, dass ich persönlich eingeladen werde, dabei zu sein bei dieser gigantischen Gewinnausspielung und bis zu zehn Millionen gewinnen kann. Darüber hinaus wird bestätigt, es handle sich um kein Privatunternehmen, sondern um eine Anstalt des öffentlichen Rechts. Die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern und noch einige mehr garantieren die Gewinnausspielung. Natürlich, bei den ganz großen Gaunereien sind die Bundesländer immer dabei. Bayern darf da nicht fehlen! Stoiber garantiert also, als Vertreter des bayerischen Volkes, zu dem ich gehöre, also in meiner Vertretung, dass das Geld, dass die SKL den -90-
glücksgewinnsüchtigen Menschen aus der Tasche zieht, dass dieses Geld nach Abzug der Steuern und den Aufwandsentschädigungen für das Betreiben der Lotterie einigen wenigen Glücksgewinnsüchtigen ausbezahlt wird. Je mehr Mitspieler sich verarschen lassen, desto höher ist die Gewinnsumme, welche die Bundesländer garantieren! Da muss ich mitmachen. Ich muss mich, glaube ich, entschuldigen, dass ich da bisher nicht mitgespielt habe. Dauernd bekomme ich liebe Briefe von der Lotterie, die ich einfach nicht beachte und in den Papierkorb schmeiße. Es wird Zeit, dass ich endlich mitmache beim großen Verlustspiel. Um eine Milliarde ausspielen zu können, müssen doch vorher mindestens drei Milliarden eingespielt werden. Man muss beim Einspielen mitmachen, um beim Gewinnspiel dabei zu sein. Beim Verlust ist man in jedem Fall dabei, wenn man mitspielt. Bloß nicht ärgern lassen! Dabei sein ist alles. Post bekommem ist ein klein wenig wie Weihnachten. Die bange Frage: Schreibt mir heute einer? Wer schreibt mir? Was steht in dem Brief? Ist es etwa Unangenehmes vom Finanzamt? Unser Briefträger muss immer genau dieselbe Geschwindigkeit beim Verteilen seiner Post haben, denn jeden Tag um die gleiche Zeit höre ich von meinem Schreibtisch aus das Geräusch der klappernden Briefkästen. Dieser Briefträger ist wirklich spitze! Man kann die Uhr nach ihm stellen. Ganz im Gegensatz zu unserem Briefträger damals. Jeden Tag wartete ich gespannt auf sein Erscheinen. Er kam immer später! Wahrscheinlich stand er wieder im Eduscho und trank ein Tässchen Kaffee verdünnt mit Cognac. Wo bleibt er denn? Es war bereits halb drei Uhr mittags. Was war denn heute schon wieder los? Ich hatte ihn im Verdacht, dass er zuweilen gar nicht kam, denn an manchen Tagen kam keine Post, und am nächsten Tag war der Kasten voll. Vielleicht -91-
nahm er die Post über Nacht mit nach Hause und brachte sie erst am nächsten Tag. Gegen halb fünf klingelte es endlich, der Postbote war da. Sichtlich verärgert, dass er die fünf Stockwerke hatte hochsteigen müssen, überreichte er mir unwirsch ein Einschreiben mit der gleichzeitigen Aufforderung: »Da... unterschreibn!« Es war von meinen Pfälzer Anwälten. Ich überlegte, ob ich spaßeshalber die Annahme verweigern sollte. Worauf der Briefträger drohte: »No amoi trag i eahna den fei ned auffa! Den kennans fei dann am Postamt selba abhoin, des sog i eahna fei glei. Dort werd dann des Schriftstück per Postzustellungsurkunde niedaglegt. Und dann kennans do fei selba hilaffa.« Diesen freundlichen Argumenten konnte ich mich nicht verschließen. Ich nahm den Brief an. Die Herren Anwälte schickten mir einen Schriftsatz, der gar nichts mit meinem Fall zu tun hatte. Vielleicht wollten sie mich darüber informieren, was sie sonst noch so treiben in ihrem Rechtsladen, dachte ich. Ich war und bin beeindruckt. Es handelte sich zwar auch um eine Geschichte, die in einer Tiefgarage spielt, aber doch etwas anders gelagert war als mein Doppelduplexkomplex. Ich nahm an, dass die Kaiserslauterer Rechtsgelehrten der Einfachheit halber zwei Rechtsfälle zu einem zusammengelegt hatten. Sie dachten wahrscheinlich, dass mir das nichts ausmacht, ich war ja nun schon mal in die Materie eingearbeitet, und von daher war es nur logisch, mir auch andere Doppelduplexfälle anzulasten. Ich begutachtete das Schreiben sehr genau und kam zu dem Schluss, dass es sich dabei tatsächlich um ein ähnlich geschliffenes Schriftsätzchen handelte wie jene mir bereits zugesandten juristischen Edelschriftstücke. Es war von der gleichen Güte und Klasse. Ich war begeistert. Schon die Anrede bezauberte mich: »Sehr geehrter Herr Stockmann.« Ich war mit dieser, mir bisher nicht bewussten Identität als »Herr -92-
Stockmann« sofort einverstanden und nahm sie an. Dr. Hackstock, Böck, Böck-Lahm Rechtsanwälte Im Wald 1b, 67509 Kaiserslautern Wenzel X Stockmann - Az: BL - W123/95 Ansprüche wegen Unterlassung und Schadensersatz Anlage: 1 Arztrechnung in Kopie Sehr geehrter Herr Stockmann, hiermit zeigen wir an, dass Ihr Nachbar, Herr August Wenzel, Isarwinkel 3, 81667 München, uns mit der Wahrnehmung seiner Rechte beauftragt hat und wir ihn vertreten. 1. Unsere Mandantschaft ist Eigentümerin einer Eigentumswohnung in o. g. Anwesen; zu diesem Objekt gehört auch der Doppelduplexstellplatz 112, Vögelinstraße 3. Sie sind ständiger Benutzer - glaublich der Mieter - des Doppelduplexstellplatzes 113, der über dem unserer Mandantschaft liegt. Sie betätigen häufig den Hebemechanismus der Doppelduplexgarage, auch wenn Sie Ihren PKW nicht dort geparkt haben. Das hat zur Folge, dass unsere Mandantschaft ihren Stellplatz nicht verlassen kann, ohne vorher den Hebemechanismus erneut zu betätigen. Als selbstständiger Versicherungskaufmann muss unser Mandant häufig auswärtige Termine wahrnehmen, er verliert folglich wertvolle Arbeitszeit, wenn Sie den Hebemechanismus ohne sachlichen Grund betätigen. Aber nicht nur den Verlust von Arbeitszeit muss unser Mandant hinnehmen, sondern er ist durch den längeren -93-
Aufenthalt in der mit Kohlenmonoxid kontaminierten Parkgarage auch in seiner Gesundheit beeinträchtigt. Dies alles, obwohl er bei einem Unterlassen Ihrer Verrichtung seinen Stellplatz ohne weiteres verlassen könnte und es nicht zu den genannten Beeinträchtigungen kommen würde. Ihre Handlungen stellen einen Eingriff in seine Rechte am Eigentum, insbesondere am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, einen rechtswidrigen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit sowie eine empfindliche Besitzstörung dar. Unser Mandant hat bereits erhebliche Vermögensschäden erlitten: Er musste sich infolge des länger als notwendigen Aufenthalts in der Tiefgarage wegen eines Atemleidens in ärztliche Behandlung begeben, die noch nicht abgeschlossen ist. Die Gesundheit ist auf Dauer bedroht, da bisher nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Leiden eine chronische Symptomatik zeigt. Bisher sind Arztrechnungen in Höhe von 2.500,- DM fällig geworden. Seine private Krankenversicherung hat bereits eine Überprüfung seiner Beiträge angekündigt. Wegen der entstandenen Zeitverluste - jeweils 3 Minuten pro Hebevorgang - verkürzt sich nicht nur seine tägliche Arbeitszeit - wichtige Termine sind schon geplatzt -, sondern auch die Lebensarbeitszeit. Hier droht auch die Nichterfüllung rentenrechtlicher Pflichtbeitragszeiten. Sie werden daher aufgefordert, a) es künftig zu unterlassen, den Hebemechanismus der Doppelduplexgarage zu bedienen, wenn der PKW unserer Mandantschaft auf dem Stellplatz 112 abgestellt ist, ohne dass gle ichzeitig Ihr PKW auf dem Stellplatz 113 geparkt ist, b) die Schadensersatzforderung unserer Mandantschaft dem Grunde nach anzuerkennen, c) vorab einen Pauschbetrag auf künftige Schadensersatzforderungen in Höhe von 5.000,- DM zu bezahlen d) sowie die Arzt rechnung unserer Mandantschaft in Höhe von 2.500,- DM zu begleichen. -94-
2. Zudem fordern wir Sie auf, die Blicke auf das Gesäß der Ehefrau unserer Mandantschaft zu unterlassen. Dies ist eine Beleidigung auf sexueller Basis. Wir behalten uns ausdrücklich vor, namens unserer Mandantschaft Strafantrag zu stellen und diesbezüglich des Angriffs auf die Ehre der Ehefrau unseres Mandanten zivilrechtliche Schmerzensgeldforderungen zu stellen. Wir fordern Sie auf, bis zum 15. Mai die o. g. Beträge zu bezahlen, hilfsweise die Forderungen anzuerkennen. Sollte bis zu diesem Termin keine Zahlung auf unser Konto eingehen, ist Klage geboten. Der gesamte Forderungsbetrag ist ab diesem Zeitpunkt in Höhe von 10 % zu verzinsen, da unsere Mandantschaft in Höhe der Forderung ständ ig Bankkredite in Anspruch nimmt. Hochachtungsvoll Rechtsanwältin Böck-Lahm (nach Diktat verreist) Nach diesem Brief überkam mich einer meiner gefürchteten Lachanfälle, gegen die ich nichts machen kann. Es schüttelt mich, das Zwerchfell verkrampft sich, ich bekomme Atemnot, die Tränen schießen mir aus den Augen, und ich gerate in einen Zustand, den ich nicht mehr kontrollieren kann. In solchen Fällen hat sich das Ansehen von Musikantenstadel-Sendungen mit Karl Moik bewährt. Schon nach wenigen Minuten kommt es zu einem wohltuenden Abklingen der Krämpfe. Ich habe daher eine komplette Sammlung von Musikantenstadeln. Die Krönung meiner Sammlung ist der China-Stadel aus Peking. Der wirkt garantiert. Ich kann ihn aber nur vorsichtig anwenden, denn zu -95-
hohe Dosen stürzen mich in eine tiefe Depression. Ich lachte vor mich hin und kam allmählich wieder zur Ruhe. Da schau her, der Stockmann! Er, der zwanghafte Eisenbahner. Wirft unsittliche Blicke auf fremde Gesäße. Das werde ich ihm bei nächster Gelegenheit in der Tiefgarage unter die Nase reiben. Bei genauerem Hinsehen musste ich allerdings feststellen, dass dieser Stockmann mit meinem Nachbarn und Tiefgaragenstellplatzkontrahenten nichts zu tun hatte. Er war ein völlig anderer. Die Krone der Anwaltszunft hatte in ihrer Kanzlei ein Kuvert an mich fälschlich mit dem Brief an diesen Stockmann bestückt. Wahrscheinlich wunderte sich umgekehrt dieser Herr Stockmann über einen Brief an einen gewissen Herrn Jonas. Ich las das Schreiben zweimal und entschied spontan, es auswendig zu lernen. So hingerissen war ich von dieser Jurapretiose! Ein Kleinod feinster, deutscher Rechtsliteratur war mir zugesandt worden, und ich war auserwählt, darauf zu antworten. Sofort begann ich mit der Ausfertigung meiner Replik. Sehr geehrte Rechtsanwälte, sehr geehrter Herr Hackbock, lieber Herr Stock, liebe Frau Bock-Lahm, oder wie Sie sich nennen mögen! Ich hoffe doch sehr, dass Sie tatsächlich diejenigen sind, die sich mit diesen Namen schmücken. Ich frage Sie also, wo hackt der Böck, wo lahmt der Stock? So überzeugend Ihre Namen sein mögen, so wenig stichhaltig sind Ihre Legitimationen. Der Briefkopf allein genügt nicht! Schließlich kann sich jeder den Kopf zulegen, der ihm gefällt! Bitte legen Sie bei weiteren Schreiben eine amtlich beglaubigte Fotokopie Ihrer Personalausweise bei, andernfalls kann ich Ihre Schreiben nicht mehr akzeptieren. Es besteht nämlich der begründete Verdacht, dass Sie nicht die sind, die Sie vorgeben zu sein. Die Vermutung liegt nahe, dass Sie sich nur für diejenigen ha lten, die Sie gern sein möchten. Übrigens ein weit verbreitetes Phänomen. Ich -96-
frage Sie also: Gehören Sie zu den Namen? Heißen Sie wirklich so? Ich an Ihrer Stelle hätte mich längst umtaufen lassen. Seien Sie aber versichert, dass ich grundsätzlich nichts dagegen habe, Herrn Stockmann anwaltschaftlich zu vertreten, zumal der Herr Stockmann auch über einen Doppelduplexgaragenstellplatzkomplex verfügt und mir von daher schon sympathisch ist. Außerdem befindet er sich, genau wie ich, in einer Rechtsauseinandersetzung mit Ihnen, was als ein weiteres Plus für Herrn Stockmann zu Buche schlägt. Außerdem hat er einen ähnlich netten Nachbarn wie ich, sodass ich auf Grund dieser Gleichheiten, wenn auch noch mit Vorbehalt, bereit bin, die Stockmannsche Verteidigung anzunehmen. Besonders freudig habe ich zur Kenntnis genommen, dass Herr Stockmann Blicke auf das Gesäß Ihrer Mandantschaft wirft. Ich gestehe, auch ich bin nicht abgeneigt, Blicke auf Gesäße zu werfen, falls es sich bei diesen Gesäßen um blickwürdige Gesäße handelt. Um diese Blickwürdigkeit beurteilen zu können, bitte ich um Zusendung einiger Gesäßfotografien der Ehefrau Ihrer Mandantschaft. Bitte bedenken Sie dabei, dass eine fundierte Beurteilung eines Gesäßes nur bekleidet und/oder unbekleidet beziehungsweise eng berockt oder eng behost möglich ist. Die Frage einer durch diese Blicke evozierten Beleidigung auf sexueller Basis verlangt nach einer genaueren Darstellung der Situation, in der diese meinem Mandanten unterstellten Blicke auf das Gesäß der Ehefrau Ihrer Mandantschaft geworfen wurden. Falls sich nämlich herausstellen sollte, dass der Blick meines Mandanten durch die sexuelle Aufreizbarkeit des Gesäßes der Ehefrau Ihrer Mandantschaft vergewaltigt wurde, so läge eventuell ein gar nicht so seltener Fall von Nötigung vor. Es wäre nämlich denkbar, dass der Anblick des Gesäßes der Ehefrau Ihrer Mandantschaft meinen Mandanten in seinem ästhetischen Empfinden bedrohlich störte. Es könnte sich ja um ein ästhetisch total unansehnliches Gesäß handeln, das -97-
sozusagen dem Auge missfällt. Dieses bisher nur hypothetisch angenommene Missfallen entspräche, falls dies der Fall wäre, wie bisher nicht auszuschließen, aber auch nicht zu beweisen, dem Inaussichtstellen eines künftigen Übels durch den möglichen Vollzug einer sexuellen Handlung am Gesäß der Ehefrau Ihrer Mandantschaft. Sollte dem so sein, läge Nötigung nach § 240 StGB vor! Außerdem wäre zu prüfen, ob nicht infolge des Anblicks des Gesäßes der Ehefrau Ihrer Mandantschaft das Recht meines Mandanten auf informationelle Selbstbestimmung verletzt wird. Es könnte ja auch infolge des Anblicks des Gesäßes der Ehefrau Ihrer Mandantschaft ein Krampf im Augenmuskel auftreten, der eine Inanspruchnahme ärztlicher Not- und Erstversorgung angeraten erscheinen ließe, sodass ernstlich Gefahr für das Augenlicht des Gesäßblickers bestünde. Vorbeugend schlage ich deshalb vor, dass immer, wenn die Ehefrau Ihrer Mandantschaft ihr Gesäß auf der Basis sexueller Beleidigung bei sich führt, ein augenärztlicher Notdienst in der Tiefgarage anwesend sein sollte, um eventuelle Verletzungen des Augapfels beziehungsweise basissexuelle Beleidigungsblicke medizinisch sofort versorgen lassen zu können. Vielleicht liegt aber auch auf Grund des Gesäßanblicks der Ehefrau Ihrer Mandantschaft eine Diktatur des Bildes vor. Jeder hat das Recht am eigenen Bild und möchte sich sein eigenes Bild von einem Gesäß machen. Wenn aber nun der Blick lediglich auf ein Gesäß in der Tiefgarage möglich ist, und dieses Gesäß entweder sexuell aufreizend, oder aber im anderen Fall sexuell abreizend ist, so ist das sowohl im einen als auch im anderen Fall eine gehörige Blickeinschränkung auf sexueller Basis mit eventuell nach sich ziehender Phantasieschädigung! Nun zum Punkt 1 Ihrer Ausführungen. Ich habe den Eindruck, dass Sie gar nicht wissen, was in einer Tiefgarage los ist. Es kann natürlich auch so sein, dass Ihre Mandantschaft nicht weiß, was in der Tiefgarage los ist, oder unfähig ist, Ihnen zu schildern, was dort vor sich geht, oder aber durchaus fähig ist, -98-
zu schildern, um welche Vorgänge es sich in einer Tiefgarage mit Doppelduplexplätzen handelt, und Sie Ihrerseits sind nicht in der Lage, die Lage in ein klares und verständliches, die Vorgänge in einer Tiefgarage mit Doppelduplexplätzen betreffendes Deutsch zu bringen. Damit Sie halbwegs auf der Höhe der Diskussion sind, will ich Sie nun darüber in Kenntnis setzen, was los ist in einem Land, in dem der Kampf um Doppelduplextiefgaragenstellplätze tobt und täglich neue Opfer fordert. Die Frage, die uns alle bewegt, ist doch, wer steht wo? Wer steht links, wer steht rechts, wer steht oben und wer steht unten? Wer ärgert wen wo? Feststeht, wenn Herr Stockmann, also ich, unten steht, muss er, um rauszufahren, den Hebemechanismus des DDTGSP (Doppelduplextiefgaragenstellplatzes) betätigen, wenn Herr Wenzel, der oben steht, gerade rausgefahren ist, da Herr Wenzel nur rausfahren kann, wenn seine Stellfläche unten ist. Falls er rausfahren sollte und seine Stellfläche oben ist, so müsste er rausfliegen, was bei Herrn Wenzel nicht ausgeschlossen werden kann! Warum aber sollte Herr Stockmann, der wie gerade geschildert unten steht und soeben rausgefahren ist, den Hebemechanismus nochmals betätigen? Falls er dies täte, würde die Stellfläche des Herrn Wenzel wieder zur Einfahrt bereitstehen. Dies wäre also eine Höflichkeit des Herrn Stockmann, und wir würden nicht verstehen, was Herr Wenzel daran auszusetzen hat! Wenn Herr Wenzel aber nun unten steht und Herr Stockmann oben, dann muss Herr Wenzel den Hebemechanismus betätigen, wenn Herr Stockmann grade rausgefahren ist. Das wäre aber normal! Es kann natürlich sein, dass der Herr Wenzel das Normale ablehnt. So was kommt vor, kann aber heute schon geheilt werden. Interessant ist der Fall, wenn beide rausgefahren sind und einer der beiden zurückkommt, um den Hebemechanismus zu betätigen. Ich überlasse es Ihrem logischen Denkvermögen, -99-
diesen Grenzfall zu durchdenken. Wenn Sie dann schon mal dabei sind, können Sie auch gleich den nicht uninteressanten Fall durchspielen, wenn beide eingefahren sind und keiner rausfahren will. Wer betätigt wann welchen Hebemechanismus, und wann ist Vollmond? Die Frage nach dem Vollmond wurde bisher überhaupt nicht untersucht, wird aber immer wichtiger. Dazu empfehle ich den Mondphasenkalender. Darin ist genau aufgeführt, wann es günstig und weniger günstig ist, den Hebemechanismus zu betätigen! An Tagen mit retrogradem Merkur sollte die Tiefgarage überhaupt nicht verlassen werden. (Begründung: siehe Seite 80) Sie schreiben, dass Ihre Mandantschaft bereits erhebliche Vermögensschäden erlitten hat und sich »infolge des länger als notwendigen Aufenthalts in der Tiefgarage... wegen eines Atemleidens... in ärztliche Behandlung begeben hat, die noch nicht abgeschlossen ist.« Das begrüßen wir ausdrücklich und hoffen auf Besserung. Mit Kollegengrüßen Bruno Stockmann Unten auf der Straße direkt unter meinem Fenster wird heftig gestritten. Ich verstehe kein Wort. Die Stimmen giften. Hört sich ziemlich aggressiv an. Um was geht es da? Soll ich mal kurz aus dem Fenster schauen? Nein, ich lasse mich jetzt nicht ablenken! Ich kann es mir vorstellen. Seitdem das Viertel verkehrsberuhigt wurde, ist es lauter geworden. Durch die Neuregelung wurde die Verkehrsführung geändert. Experten haben ein ausgeklügeltes Einbahnstraßennetz ausgearbeitet. Eine ehemalige Hauptverkehrsader wurde mittels »Stöpsel« total gesperrt. Nicht einmal Anlieger dürfen da noch durch. Obwohl an den Rändern des Viertels große Schilder aufgestellt wurden, die anzeigen, wie man »am besten« fährt, gibt es immer wieder Autofahrer, die sich selbst ein Bild machen wollen von den neuen -100-
Regelungen und ihren Wagen durchs Viertel chauffieren. Mitunter versucht auch ein Lastwagen durch die engen Straßen seinen Weg zu finden. Meist vergeblich. Es wird rangiert und gehupt. Es geht nichts mehr vor und nichts mehr zurück. Die nachdrängenden Wagenlenker machen ihrer Ungeduld ebenfalls durch heftiges Hupen und Absondern von Verbalinjurien Luft. Aber so etwas scheint es diesmal nicht zu sein. Ich höre nur Stimmen. Verstehe wenig. Sprachfetzen. Einzelne Wörter. Bei allem, was ich so raushören kann von meinem Schreibtisch aus, geht es wohl um einen Parkplatz. Es wird diskutiert. Was soll's? Ich konzentriere mich auf meine Arbeit! Aber irgendwie lässt es mich nicht los. Es geht mich schließlich etwas an, wenn unter meinem Fenster gestritten wird und ich dadurch in meiner Ruhe gestört werde. So habe ich mir die Verkehrsberuhigung nicht vorgestellt. Alle, die für die Verkehrsberuhigung im Viertel gekämpft und gestritten haben, gingen davon aus, dass es dadurch ruhiger wird. Ich habe mich schon am Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer gesehen, und kein Auto hupt mir in die Schreibarbeit. Stattdessen höre ich Vogelgezwitscher, Amseln, Finken, Meisen und Rotkehlchen. Aus der Ferne vernehme ich den Klang einer Kirchenglocke, die zur vollen Stunde schlägt. Und das alles mitten in Großbussitown München. Ich hatte also eine Spitzwegidylle im Kopf, und nun habe ich dieses Gezeter wegen eines Parkplatzes im Ohr. Himmel, Arsch und Zwirn, wie soll sich denn bei diesem Lärm ein Mensch konzentrieren können! Ruhe! Das ist ja das Letzte. Auf der Straße ist es ruhiger geworden. Die Diskussion scheint beendet zu sein. Oder ist das nur die Ruhe vor dem Sturm? Egal. Ich muss mich wieder auf mein Buch konzentrieren. Aber irgendwie lenkt mich diese Ruhe genauso ab wie der Lärm. Das ist fatal! Ich mache mir lieber mal einen Kaffee zur Beruhigung. -101-
Ich frage mich, wie absolute Ruhe wohl aussehen mag? Absolute Ruhe kann man gewiss eher sehen als hören. Man müsste Ruhe hören können. Nur was hört man dann? Und wenn man etwas hört, ist es nicht absolut ruhig. Die absolute Abwesenheit von Geräuschen ist sicher nicht wünschenswert. Aber wie hört sich Stille an? Ich glaube, so komme ich in den Wald hinein. Vielleicht kann man Stille sehen? Sehen vielleicht. Aber wie sähe sie aus? Dazu müsste man eine Vision haben. Ein Maler bringt sie vielleicht auf die Leinwand, aber kein Kabarettist auf das Papier. Jetzt höre ich etwas unter meinem Fenster. Gott sei Dank! Da sind sie wieder, die gewohnten lauten Geräusche: Autos. Motorräder. Kindergeschrei. Sehr angenehm. Und ein sehr auffälliges Geräusch. Ich kann es nur schwer decodieren. Vielleicht Bierkästen, die aufeinander gestapelt werden. Ja, das könnte sein. Für die Kneipe nebena n wird einmal die Woche Bier angeliefert. Das kann ich mir vorstellen. Ein Bier könnte ich mir jetzt sehr gut vorstellen. Ich habe die Vision eines schönen kühlen Bieres! Aber manchmal möchte ich wissen, ob das, was man sich vorstellt, auch wirklich so ist, wie man es sich vorgestellt hat. Also jetzt will ich wissen, was da unten los ist. Ich öffne das Fenster und schau runter: Die Verkehrsberuhigung ist schuld an dem Radau. Ein Laster versperrt die Straße. Im Fall der Verkehrsberuhigung schaut die Vision, also das, was wir uns unter Beruhigung vorgestellt haben, ganz anders aus, als die Realität jetzt zurückschaut. Wir hofften, nein, wir glaubten fest daran, wir waren felsenfest davon überzeugt, dass es ruhiger werden würde durch die Verkehrsberuhigung. War das nun eine Vision oder nur ein Wunsch? Oder eine sehr vage Vorstellung? Ein Plan? Vielleicht sogar schon eine Utopie? Mein Gott, man kommt ja ganz durcheinander mit diesen vielen Begriffen! Wir sollten erst einmal klären, was eine Vision ist. -102-
Wer hat Visionen? Wir alle. Ich habe auch eine - von mir. Ich sehe mich immer in totaler Gelassenheit verweilen. Ich sehe die Welt untergehen und ich verharre in stoischer Ruhe. Liege sozusagen im Ozonloch und lass mir den Arsch herbrutzeln! Ja, ich träume vom totalen Leck- mich-am-Arsch-Gefühl. Ich glaube nämlich, wir sind auf dem Weg in die »konkrete Utopie Arsch«. Irgendwann wird Mutter Erde als riesiger Arsch ihre eliptische Bahn um die Sonne ziehen. Und die Außerirdischen - wo immer sie sind - werden sich wegwerfen vor Lachen und sagen: »Seht, dieser Arsch, der da seine Bahn um die Sonne zieht, war früher Mutter Erde, aber irgendwann war sie total im Arsch!« Davon träume ich manchmal. Es beginnt mit dem Träumen. Alle träumen von einer »besseren Welt«, ohne Schmerzen, ohne Angst, ohne Selbstentfremdung. Wir alle wollen woanders hin. Wir träumen uns weg aus der Gegenwart in eine Welt ohne Mangel! Immer fehlt uns etwas; an Mangel besteht kein Mangel. Der Traum ist oft noch vage. Wird er konkreter, wird er schnell zum Wunsch. Kommt zum Wunsch der Wille, taucht die Frage der Realisierung auf. Ein Plan zur Realisierung des Wunsches wird skizziert, schließlich entsteht ein genauer Plan. Plan und Wille allein reichen aber noch nicht aus. Fehlt die konkrete bildliche Vorstellung, wie es sein soll, wird es nichts. Also visualisiert man, hat eine Vision, und macht sich daran, das Bild in die Realität umzusetzen. Ich hätte doch Filosof (schreibt man das nach der Neuen Deutschen Rechtschreibung so?) werden sollen. Also: Eine Vision ist ein von der Gegenwart aus durch Träume und Wünsche hervorgerufener, in die Zukunft gerichteter Blick auf einen Zustand, der möglicherweise eintreten könnte oder sogar sollte. Besteht keine Aussicht auf Realisierung der Vision, so bleibt sie Illusion, aber dennoch als Vision bestehend. -103-
Entweder ist eine Vision positiv mit Hoffnung besetzt, dann antizipiert sie einen Zustand, der die Menschen in eine verbesserte Lage versetzen soll, oder aber sie ist mit Angst verbunden, dann ist die Vision negativ besetzt und entwirft ein Bild einer katastrophalen, apokalyptischen Zukunft. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die etwas sehen konnten, was andere Menschen nicht sahen. Diese Seher konnten im Voraus sehen, was eintreten wird. So wie der Mühlhiasl, ein berühmter bayerischer Seher. Der hat nur Katastrophen vorausgesehen. Meist handelt es sich aber um Visionen, bei denen die positiven Aspekte gesehen werden, die negativen hingegen nicht. Das ist ja auch verständlich. Wer mag schon dauernd die sich anbahnende Klimakatastrophe vor Augen haben. Hie und da liest man unter »Vermischtes«, dass große Teile der Antarktis schmelzen. Klimaforscher prophezeien ein Ansteigen der Meere. Wird diese Entwicklung nicht gestoppt, wird die norddeutsche Tiefebene zum Meer mit Köln als Nordseehafen. Man kann das natürlich auch positiv sehen. Man kann immer alles sowohl positiv als auch negativ sehen. Man kann auch alles sehen wie der Bundeskanzler. Obwohl das auch nicht jeder kann. Der Bundeskanzler Kohl und seine Partei hatten immer eine Vision, an die viele nicht glauben wollten, und viele sogar als »illusorisch« abtaten. Und auf einmal war sie Realität geworden - die Wiedervereinigung Deutschlands. Auf eine merkwürdig ironische Weise der Geschichte hat sich hier utopisches Denken, vo n dem man immer glaubte, es sei nur bei der Linken anzutreffen, auf konservativer Seite verwirklicht. Seien wir Realisten, fordern wir das Unmögliche! Rosi kommt herein und fragt, ob ich den Michi zum Kindergeburtstag nach Unterföhring fahren könne. »Unmöglich!« antworte ich. »Das bringt meine ganzen Visionen -104-
durcheinander.« »Schade! Dann scheinen unsere Visionen nicht kompatibel zu sein. Ich hatte gerade die Vision, dass du begeistert zustimmst, wenn ich dich frage.« Sie geht einfach wieder aus dem Zimmer. Ich finde das unmöglich von ihr! Eine verständnisvolle Frau hätte jetzt gesagt, dass sie selbstverständlich meine Gedankenflüge nicht bremsen wolle und dass ich nur ja weiterschreiben solle, und ob sie mir als Trost für die Störung einen Kaffee machen könne und ob sie mir einen Kuchen mitbringen dürfe, wenn sie den Michi zum Geburtstag gefahren hätte. Aber nein, sie geht einfach, sagt nichts und lässt mich mit meinem schlechten Gewissen allein. Jetzt muss ich den Michi schnell zu diesem Kindergeburtstag fahren, sonst fällt mir den ganzen Nachmittag nichts mehr ein, weil ich dauernd überlegen muss, warum ich den Michi nicht zum Kindergeburtstag gefahren habe. Also sage ich zum Michi, dass ich ihn schnell hinfahre und er solle sich beeilen, ich hätt's eilig. Aber von wegen schnell hinfahren! Diese rot-grünen Deppen (Jonas, was ist das für eine Ausdrucksweise? fragt mich meine innere Stimme. Ich bin im Auto, da hört es keiner! antworte ich) bauen schon wieder einen Fahrradweg. Am Stachus! Das ist doch viel zu gefährlich für die Radler. Die sollen mit dem Münchner Verkehrsverbund MVV fahren! Diese Trottel. Jaja, des tät dir so passen, rechts vorfahren und dann links rüber, aber net mit mir, da geh her! Arschloch! (Meine innere Stimme hat kapituliert.) Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht, aber im Auto mutiere ich zur zwanghaften, rechthaberischen Bestie. Deshalb fahre ich auch am liebsten allein. Dann kann ich mich nach Herzenslust ausschimpfen. Wenn jemand mitfährt, muss ich immer aufpassen, dass es nicht zu schlimm wird. Besonders, wenn Kinder dabei sind. Ich schaue fragend zum Michi hinter, -105-
aber der sitzt grinsend da und winkt aus dem Fenster. Zwei nette Damen in einem Wohnmobil winken einladend zurück. Oha, wenn die nicht vom MVV sind, vom öffentlichen Nahverkehr, dann weiß ich es aber auch nicht. Wohnmobil! Fahrbare Dienstwohnung. Ganz klar, die fahren zur Arbeit. Die sind von der mobilen Abteilung. Vom GD - vom geilen Dienst. Das ist eine wichtige Dienstleistung. Die sollen jetzt besser gestellt werden, die Huren. Die rotgrüne Regierung will den Beruf der Nutte weitgehend anerkennen. Per Gesetz. Also ich verstehe das. Wenn ein Politiker allein in einer großen Stadt ist, mag er nicht immer sittenwidrig auffallen, der mag es auch mal legal. Obwohl dann der Kick wegfällt. Der Reiz des Verbotenen fehlt. Aber wenn es ein normaler Beruf ist, kann die Hausfrau auch mal nebenbei und legal sich was dazuverdienen, auf 630-MarkBasis, und der Fiskus hat auch was davon. Momentan läuft viel am Eichel vorbei. Gerade aus dem Osten drücken immer mehr Damen rein und machen mit Dumpingpreisen den Markt kaputt. Man muss da unsere Mädels schützen. Ich verstehe schon, dass der Staat da eingreifen möchte. Der Graubereich wird ja immer größer und unübersichtlicher. Nur der schwarze Bereich, der bleibt konstant. Auf den schwarzen Bereich kann man sich verlassen. Mittendrin in diesem schwarzen Bereich befindet sich der Tuntenhausener Kreis, wo die Moral gehütet wird. Einer von der CSU hat schon gesagt, dass es nicht moralisch ist. Der Busengrapscher war es nicht, und der Mann mit dem Telefonsex auch nicht. Die haben aber noch mehr von der Sorte. Ist schon wichtig, dass einer auf die Moral schaut. Bei den Schwarzen schaun sie moralisch schon genauer hin. Und dass die Rot-Grünen eine unmoralische Bande sind, wissen wir auch. Rot und Rotlichtmilieu - das liegt eben ganz nah beieinander. Wichtig für den Beruf der Nutte wäre natürlich eine richtige -106-
Ausbildung. Selbstverständlich mit Diplom. Voraussetzung: Abitur und Fremdsprachenkenntnisse. Griechisch, Französisch fließend! Und man sollte ihnen auch die Möglichkeit zur Fortbildung geben. Einen Zusatztitel bieten: Psychotherapie. Den hat ja heute jeder. Ich sehe bereits die Schilder an den Häusern, zwischen Ärzten und Rechtsanwälten: Ramona, Dipl.Prost. Massagen und Psychotherapie. Eine Gewerkschaft, die ihre Interessen wahrnimmt und für sie kämpft, brauchen sie selbstredend auch. Die IG Druck und Papier könnte sich für sie wieder öffnen, die gibt's ja leider nicht mehr, nachdem sie sich mit der Mediengewerkschaft vereinigt hat. Die IG Medien wäre zuständig. Das passt. Wenn die nicht wollen, dann bleibt noch der ÖTV- öffentlicher Nahverkehr. Als Vorsitzenden könnte ich mir einen vom Tuntenhausener Kreis vorstellen, den niederbayerischen Landtagsabgeordneten Wallner. »Papa! Papa!!« reißt mich Michi aus meinen Gedanken. »Was redest du denn da die ganze Zeit vor dich hin? Pass lieber auf, wo du hinfährst, sonst komme ich wieder als Einziger eine Stunde zu spät.« »Wir sind eh gleich da. Und abholen muss dich nachher die Rosi, oder du kannst mit einem Kumpel mitfahren.« Insofern hatte diese Fahrt zum Kindergeburtstag doch etwas Gutes: Das Buch ist dadurch um zwei Seiten länger geworden. Man muss einfach nur die nahe liegenden Dinge erkennen und zu Papier bringen. Die Rosi sagt sowieso immer: »Jonas, da muss was Aktuelles rein. Jetzt schreib endlich mal was Aktuelles. Muss ja nicht lang sein, nur so eine Seite oder zwei.« Ich höre schon ihren Kommentar: »Na also, geht doch.« Mir raucht der Kopf. Kann nicht mehr denken. Muss etwas anderes tun. Bloß weg hier von diesem Computer. Irgendwas anderes machen. Ich brauche einen Ausgleich. Ich gehe von meinem Büro in die Wohnung rüber. An der Garderobe liegt -107-
Michis Basketball. Das wär's jetzt. Habe ich während der Schulzeit sehr gerne gespielt. So ein Spiel macht den Kopf frei. Du interessierst dich nur noch für das Spiel, du hast nur noch einen Gedanken: Wie kriege ich den Ball in den Korb da oben rein. Schafkopf, Watten, Neunerln, auch Halma, Schach, Mühle, Dame und das gute alte Mensch ärgere dich nicht spielte ich sehr gerne. Ich war überhaupt sehr verspielt. Diese Spiele habe ich über die Jahre immer weniger gespielt. Die Sprachspiele sind dafür immer mehr geworden. Die Spiele für Erwachsene haben zugenommen. Psychospiele. Es gibt ein sehr erfolgreiches Buch mit dem Titel »Spiele der Erwachsenen«. Es geht darin um psychische Transaktionen, die der Autor als Spiele beschreibt, weil erwachsene Menschen sie immer wieder mit ähnlichen Effekten wiederholen. Diese Spiele sind nicht erholsam und entspannend, sondern eher nervenaufreibend. Bleiben wir lieber bei den echten zeitvertreibenden Angeboten. Auf diesem Sektor hat es in den letzten Jahren einige rasante Entwicklungen gegeben, die ich nur schwer mitmachen konnte. Schon lange ist der Gameboy auf dem Markt, und inzwischen gesellte sich der Gameboy colour hinzu. Es gibt das System Nintendo und die Playstation. Bei allen diesen Dingern handelt es sich um Spielmaschinen, die Spiele in allen Variationen ermöglichen. Autorennen, Kampfspiele, Suchspiele, Lernspiele, Jump-andrun-Spiele, Adventure-Spiele, Strategiespiele. Oft verlangen sie vom Spieler Spielfertigkeiten, die er sich erst mühsam antrainieren muss. Zum Leidwesen meiner Familie zeige ich daran wenig Interesse. Wenn ich sage, ich lese lieber »ein gutes Buch«, sagt meine Tochter ganz cool: »Ja ja, Papa, das ist auch einfacher.« Da könnte sie Recht haben. Sonst müsste ich ja nicht dauernd irgendwas lesen. »Du hast ja gar keine Ahnung! Du lehnst die PlaystationSpiele doch nur ab, weil du das nicht kannst. Du hast doch noch nie eines gespielt.« Da hat sie schon wieder ein Argument -108-
gebracht, das mich als Ignoranten überführt. Vielleicht sollte ich doch mehr Interesse an diesen neuen Spielen zeigen. Es gibt eines, das heißt »Tomb Raider«. Lara Croft, eine aufgeblasene Barbie-Puppe, die Xena der Playstation, ist allein im Dschungel und in Tempelruinen unterwegs und schießt jeden über den Haufen, der ihr begegnet. Eine Heldin, die nichts fürchtet und unbesiegbar scheint. Ich kann mich mit dieser Heldin nicht anfreunden. Bei uns hießen die Helden früher Sigurd und Falk. Das waren noch richtige Männer. Die sprachen noch miteinander: »Nimm dies, du Schurke!«, und sie bestiegen ihre Schlachtrösser, zückten die Lanze und dann wurde gekämpft, aber richtig, Mann gegen Mann. Das waren Vorbilder. Aber eine Frau! Nie zu Hause, immer auf Abenteuerreise, hat keinen Mann, nur ihre Waffen, isst nicht, schläft nicht, muss nie aufs Klo. Was sollen die Kinder denn dafür ein Frauenbild bekommen? Ich habe meinen Kindern deshalb alle Karl-MayBücher gekauft. Bevor sie an die Playstation dürfen, müssen sie zehn Seiten darin lesen, damit sie auch ein richtiges Heldenleben kennen lernen. Die Lektüreliste nach Winnetou und Old Shatterhand habe ich auch schon festgelegt: Mutter Courage und Superman. Als ich noch Student war, stand ich zur Entspannung gerne mal an einem Flipper und versuchte Freispiele zu holen. Wenn ich mich dabei auch oft geärgert habe, ich habe gern geflippert. Die ersten dieser Apparate, die jeden erreichten Punkt mit Klingeln hörbar machten, fand ich damals neu und aufregend. Von heute aus betrachtet, waren das harmlos einfache Teile. Schon die darauffolgende Generation dieser Automaten traktierte dich mit sphärischen Sounds und kommunizierte zum Teil sogar verbal mit dir. Und wie oft habe ich in der Wut über eine verloren gegangene Kugel der Kiste einen Tritt verpasst und ein »Game over« kassiert. Die schiefe Ebene Flipper, über welche die Kugel gnadenlos nach unten rollt, die Chance nie zu gewinnen, die absolute Sicherheit zu verlieren, denn ein -109-
Freispiel verlagert nur die Qual in der Gewissheit, da irgendwann die Kugel unten durchläuft, hat mich eine Zeit lang in einen merkwürdigen Bann gezogen. Wer spielt heute noch Flipper? Heute spielt man Playstation. Playstation? Sie wissen schon, was das ist? Wenn nicht, es ist ein elektronisches Gerät, ein besonderer CD-Player für Spiele, die auf CD-ROM abrufbar sind. Dieser Apparat wird an das Fernsehgerät angeschlossen, und auf dem Bildschirm erscheint dreidimensional die Spielwelt. Man nimmt einen Controller in die Hand, eine Art Fernbedienung, auf der sich mehrere Druckknöpfe befinden, über die das Spiel gesteuert wird. Wir haben so eine Playstation. Ich weiß nicht, warum. Dummes Gerede, ich weiß natürlich schon, warum wir eine haben. Nein, nicht nur wegen der Kinder, auch Rosi ist eine leidenschaftliche Playerin. Nur ich fühle mich auf diesem Gebiet, wie gesagt, ein wenig ausgeschlossen. Wann immer ich gespielt habe, war ich der »Loser«. Das machte mir nicht so viel aus, weil ich das Gefühl vom Flippern kannte. Nur, dort war es leichter zu ertragen, denn man konnte erfolgreicher verlieren. An der Playstation verliert man einfach, und das Spiel ist aus. (Anmerkung Rosi: »An dieser Stelle merkt man, dass du keine Ahnung hast!«) Ich gehe ins Wohnzimmer. Franzi sitzt vor dem Fernseher, an dem die Playstation angeschlossen ist, und spielt, ja was eigentlich? Kenne ich das Spiel? Ich bin unsicher, ob ich jetzt stören darf. Sie ist voll auf das Spiel konzentriert. Mein Gott, wenn sie bloß genauso konzentriert Lateinvokabeln lernen würde! Am Ende darf ich jetzt gar nichts sagen, sonst bringe ich sie raus, und ich bin schuld, wenn ihr eine Aktion nicht gelingt. Ich versuche es leise und frage höflich: »Franzi, entschuldige, wie heißt das Spiel?« »Crash bandy coot«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. -110-
»Sag jetzt nichts, Papa«, fordert mich Franzi in scharfem Ton auf. Nein, ich werde mich hüten, etwas zu sagen. Ich schau ein bisschen zu. Aber ci h bin nicht sicher, ob das erlaubt ist. Ich sehe einen Fuchs. Ein lustiger Typ ist das. Und schnell ist er. Offensichtlich ist das ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem der Spieler einen Fuchs über Hindernisse dirigieren muss. Franzi macht das sehr souverän. Sie hat ihren Fuchs im Griff und kommt erfolgreich ins Ziel. Ich gratuliere: »Toll gemacht, Franzi.« Dann habe ich allerdings einen Fehler gemacht. Ich fragte zaghaft, ob ich mitspielen dürfte. Da meinte Franzi keck: »Papa, das ist nichts für dich, da hast du nicht den Level.« Mir blieb der Mund offen stehen. Ich fühlte mich sofort minderwertig, und sagte: »Ich habe das große Latinum!« »Das reicht nicht, Papa!« Am liebsten hätte ich sie sofort lateinische Vokabeln abgefragt und einen Text von Cicero übersetzen lassen. Aber das wäre für mich auch nicht gut ausgegangen, denn ich würde heute sicherlich scheitern. Aber redet man so mit seinem Vater? Ich ärgerte mich. Aber so schlimm war es eigentlich auch wieder nicht. Wenn ich den autoritären Papi gespielt hätte, Respekt einfordernd, so wie ich das von meinem Vater kenne, ich hätte mich lächerlich gemacht, und sie hätte mit Recht über mich gelacht. Ich schaute ihr beim Spielen zu. Es war schon faszinierend, mit welchem Tempo sie diesen Fuchs durch eine arktische Phantasiewelt über alle möglichen Klippen und Fallen hinwegjagte. Ich kam mit dem Schauen nicht nach, so schnell vollzogen sich die Abläufe. Am liebsten hätte ich ihr erzählt, wie wir uns in ihrem Alter die Zeit vertrieben haben. Als ich fünfzehn war, gab es noch keine Playstation. Wir haben andere Spiele gespielt. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mit fünfzehn eine schwächere Spielperiode. Das heißt, wir spielten damals sehr gerne Kicker in einer Boatzn (ist bayerisch und bedeutet -111-
heruntergekommene Kneipe). Unsere Eltern sahen das gar nicht gern, und wenn sie uns fragten, wo wir hingingen, behaupteten wir, wir würden mit Freunden zum Mopedfahren gehen und machten eine Handbewegung, als ob wir Gasgeben würden. Untereinander wussten wir, dass mit Mopedfahren und Gasgeben Kickern gemeint war, denn die Hand bewegt sich beim Kickern genauso, als würde man am Handgas eines Mopeds drehen. Ich war schon immer ein sehr verspielter Typ. Ich spiele immer noch leidenschaftlich gern. Wenn meine Kinder gefragt werden, wo der Papa gerade sei, antworten sie oft: »Der ist nicht da, der spielt heut.« Ich meine, wie viele Kinder können das von ihrem Vater sagen? Aber mein Spiel schaut halt anders aus. Ich spiele auf der Bühne, vor Menschen für Menschen, mit Menschen. Ich brauc he die Resonanz aus dem Publikum, nur dann macht es mir so richtig Spaß. Die unerwartete Interaktion während der Vorstellung, die unterschiedlichsten Reaktionen aus dem Publikum geben jedem Abend seinen besonderen Reiz, und es ist für mich jedes Mal eine Herausforderung, das Publikum in den Griff zu kriegen. Manchmal schaffe ich es allerdings nicht. In einer Generalprobe im Fernsehstudio von Radio Bremen bin ich einmal fürchterlich aufgelaufen. Die Redaktion sorgte schon in der Generalprobe für ausreichend Publikum, damit ich unter Live-Bedingungen proben konnte. Es gab immer viele Briefe an den Sender, in denen Zuschauer darum baten, einmal im Studio bei der Sendung dabei sein zu dürfen. Wir haben dieser Bitte immer gern entsprochen, weil es für einen Kabarettisten nichts Schlimmeres gibt, als in einem leeren Saal Pointen abzuliefern. Man wartet nach dem Gag auf den Lacher und schaut auf leere Stühle. Das ist öde. Die Generalprobe geht los, ich komme raus, die Leute klatschen brav, und ich beginne mit einem Solo. Setze die erste Pointe - keiner lacht. Ich denke, Mist, hast einen Fehler gemacht, warst zu schnell, hast genuschelt, die haben dich nicht -112-
verstanden! Bei der nächsten Pointe machst du es besser. Ich spreche deutlich, lasse die Pointe nebenbei lässig fallen, mache eine kleine Pause, blicke so, als wäre nichts, und erwarte einen dicken Lacher - und nichts passiert. Ich werde nervös. Was mache ich falsch? Taugen meine Witze nichts? Ich mache weiter und merke, dass die Leute sich umdrehen und anfangen, sich miteinander zu unterhalten. Hier stimmt doch etwas nicht! Ich breche ab, gehe zu den ersten Sitzen und frage, was los ist. Stellt sich raus, dass die jungen Leute, die dort Platz genommen haben, gar nicht richtig deutsch können. Es handelte sich um eine französische Austauschklasse. Das beruhigte mich einerseits, andererseits war ich auf die Redaktion sauer. Sie hätten mir ja sagen können, dass ich diesmal das Programm auf Französisch machen muss, um verstanden zu werden. Beim Fernsehen gibt es lustige Leute, die wissen, wie man Spannung erzeugt. Jetzt ist mir die Birne durchgeknallt. Kein Licht mehr in der Schreibstube. Die Birnen sind auch nicht mehr das, was sie früher einmal waren, oder die Stadtwerke haben wieder zu viel Strom durch die Leitung gejagt. Vielleicht will sich auch nur jemand aus dem Jenseits mit mir in Verbindung setzen. Das habe ich jetzt schon öfter gehört, dass Tote sich bemerkbar machen, indem sie das Licht aus- und einschalten. Man weiß aber noch nicht, was sie damit sagen wollen. Strom ist mir ein Rätsel. Ich habe im Physikunterricht gelernt, dass er einen Leiter braucht. Was heißt das? Ich verstehe es heute noch nicht. Angeblich werden Teilchen in eine Richtung gebracht, und dann fließen sie irgendwohin. Warum fließen die Teilche n nicht aus der Steckdose raus, wieso hören sie genau an den Löchern in der Dose auf zu fließen? Die Stadtwerke haben mir einen Brief geschrieben, in dem sie mir einen günstigeren Stromtarif ab Januar 2000 anbieten. Sie starten eine Versorgungsoffensive. In dem Brief steht, dass »Sie -113-
alle Vorteile auf Ihrer Seite haben«. Also auf meiner, weil Sie und Ihre großgeschrieben ist. Jetzt rufe ich an und sage ihnen, dass ich das nicht möchte, wenn alle Vorteile auf meiner Seite sind. Das heißt ja, dass sie nur Nachteile auf ihrer Seite haben. Das ist keine gute Basis für eine Strompartnerschaft. Wenn nämlich der Strompreis sinkt, sinken logischerweise auch die Einnahmen aus der Ökosteuer, und es kommt weniger Geld in die Staatskasse. Mit dem Geld aus der Ökosteuer sollen aber die Renten finanziert werden. Damit stimmt die Rentenrechnung wieder nicht! Die Stadtwerke torpedieren also die Renten. Vielleicht will man dadurch auch die Rentner, quasi durch die Steckdose, in den Wahnsinn treiben, in der Hoffnung, der eine oder andere schließt sich selbst ans Stromnetz an. Aber man kann sich's selber aussuchen, mit wem zusammen man die Renten torpedieren möchte. Die Freiheit hat man. Man muss es nicht mit den Stadtwerken zusammen machen, es gibt auch andere Anbieter. Demnächst herrscht freie Stromwahl. Die Stromanbieter liefern sich deshalb jetzt einen Preiskampf. Das wird so ähnlich werden wie beim Telefonieren. Da soll es Anbieter geben, bei denen man noch Geld zurückbekommt, wenn man über sie telefoniert. Vor dem eigentlichen Gespräch muss man sich aber eine halbe Stunde Werbung anhören. So könnte es beim Strom auch kommen. Wir kriegen alle neue Steckdosen mit eingebauten Bildtelefonen, die Multimediaelektricitybox 2000, im Prinzip nichts anderes als eine weiterentwickelte Mehrfachsteckdose, und bevor man das Licht einschalten kann, muss man zehn Minuten Werbung anschauen. Dafür erhält man eine Stunde Strom umsonst. Wenn man zehn Stunden vor der Steckdose sitzt und Werbung anschaut, hat man anschließend einhundert Stunden ununterbrochen fließenden Strom - frei! Das heißt, zukünftig muss man neben dem Waschtag einen Werbungstag einplanen. Sonst wirst ja narrisch, wenn du für einmal elektrisch Rasieren die Werbung von »always ultra« anschaun musst. Aber das kann -114-
jeder machen, wie er will. Die Stadtwerke schreiben, man soll beim Vergleich der verschiedenen Anbieter auf den Preis, den Service und die Sicherheit achten. Preis kann ich nachvollziehen, aber welchen Service bieten die Stromhändler? Kommt demnächst einer bei mir vorbei und fragt, ob er mir das Licht einschalten darf? Neuer Beruf. Ihr persönlicher Stromverbraucher kommt zu ihnen nach Hause und berät sie individuell, mit welchen neuartigen Geräten sie noch mehr günstigen Strom verbrauchen können. Vielleicht kommt auch einer und legt mir 'ne Heizdecke unter den Hintern? Das wäre ein Service! Jetzt weiß ich es, was sie unter Service verstehen. Sie meinen damit sicherlich, dass sie das Geld im Voraus abbuchen. Auf die Sicherheit soll man auch achten, schreiben die Stadtwerke. Gibt es denn auch unsicheren Strom? Wechselstrom, Gleichstrom, Starkstrom, Schwachstrom kenne ich. An Qualitätsstrom sind wir schon interessiert. Also wenn ich wählen kann, möchte ich in meiner Steckdose nur deutschen Strom aus deutschen Landen. Heimatstrom aus deutschen Atomkraftwerken. Da weiß man, was man hat. Der TÜV kontrolliert, dass alles seine Ordnung hat und die Sicherheitsstandards eingehalten werden. Der Atomstrom hat keinen guten Ruf, weil er angeblich zu gefährlich ist. Ich bin aber der Meinung, grad weil er so gefährlich ist, ist er besonders sicher, weil dadurch immer alle Angst haben, es könnte etwas passieren, und aus diesem Grunde besonders achtsam sind. Ich möchte keinen Strom aus Windkraftwerken, weil ich nicht vom Winde abhängig sein möchte. Einmal weht er, ein andermal weht er nicht. Das ist mir zu unsicher. Mit der Sonne haben wir das gleiche Problem. Man kann sich nicht auf sie verlassen. Einmal scheint sie, und dann scheint sie wieder nicht. Strom aus Wasserkraftwerken würde ich zur Not nehmen, wenn der Atomstrom einen Engpass hat. Merkwürdig, jetzt geht das Licht wieder an, aber es flackert geheimnisvoll. Also entweder will -115-
mir wirklich jemand aus dem Jenseits etwas mitteilen (aber leider beherrsche ich sein Morsealphabet nicht), oder aber das Feng-Shui in meinem Arbeitszimmer stimmt nicht. Vielleicht flackert der Laotse in meiner Birne. Ich hatte längere Zeit nichts vom FFB gehört. Weder SchlappWinsel noch dessen Sprachrohr Frau Hüttner hatten sich bei mir gemeldet, um einen neuen Termin abzusprechen. Zwischenzeitlich hatte ich meine Notizen von den Servietten zu einem Konzept ausgearbeitet und mit Hilfe grafischer Lösungen, die mein Computer für solche Fälle bereithielt, zu einem optisch ansprechenden Exposé gestaltet. Die inhaltliche Seite war schnell fertig gestellt, aber für das Design benötigte ich doch mehrere Tage. Immer wieder druckte ich das Ergebnis meiner grafischen Gestaltungen aus, um eine neue, noch bessere Variante zu erstellen. Hunderte von Seiten Druckpapier wanderten auf diese Weise in den Papierkorb. Sollte ich das Exposé durchgängig linksbündig oder doch lieber rechtsbündig halten? Oder war die zentrierte Variante, die den Text im strengen Blocksatz erscheinen ließ, nicht doch bestechender? Ich schwankte lange zwischen den Schrifttypen »Arial« und »Times New Roman« hin und her und war zeitweise davon überzeugt, dass auch ein Kursivsatz ästhetisch zu überzeugen wusste. Für einen Tag war »Bookman old Style« mein Favorit. Schließlich entschied ich mich doch für eine sachliche Schrift und legte mich auf »Courier« fest. Aber die Schriftgröße warf noch einige Probleme auf. Sollte ich ein eher kleines Schriftbild wählen, um damit Bescheidenheit zum Ausdruck zu bringen, oder doch lieber mit selbstbewusster Größe, sozusagen mit einer gewissen Potenz klotzen, die sich eben auch im Schriftbild niederschlägt? Die Entscheidung war nicht einfach. Den Ausschlag gab schließlich die Überlegung, dass Extreme in diesem frühen Stadium nur abschrecken konnten. Ich wählte deshalb eine mittlere Buchstabengröße, die mir zwar persönlich -116-
zu unentschieden wirkte, aber beim Empfänger wohl eine gewisse Offenheit nach oben wie nach unten signalisierte. Der Leser konnte somit über die Buchstabengröße unterbewusst eine Basis erkennen, auf der man gemeinsam weiterarbeiten konnte. So kann aber wirklich kein Mensch weiterarbeiten. Dieser Lärm im Treppenhaus. Zieht da jemand aus? Ich lausche ein wenig. Schwere Dinge werden bewegt. Ja, das hört sich nach Möbelschleppen an. Man trägt von oben nach unten. Kann es sein, dass Oliver auszieht? Das wäre ja wirklich ein freundlicher Beitrag zur Hausgemeinschaft. Die netteste Aktion seit langem von seiner Seite. Oliver ist der Nachmieter des schönen schwarzen Bassisten, er ist in der Werbebranche tätig, Marketing. Fährt einen dunkelblauen BMW Panther und zähmt das schnelle Gefährt grundsätzlich vor der Hofeinfahrt, nimmt gern die Poleposition. Immer freundlich, aber rücksichtslos und schwul. Ich habe nichts gegen Schwule, wirklich nicht, aber wenn Schwulsein bedeutet, dass man nachts lautstark seine Sexualität demonstrieren muss, dann hab ich etwas dagegen. Schwul kann man doch auch leise sein, oder? Zimmerlautstärke! Die gilt für jeglichen sexuellen Austausch, ob schwul oder hetero, mit Katzen oder Hunden, ganz ega l! Olli bewohnte also die Wohnung über mir und machte sich ständig durch irgendwelche Geräusche bemerkbar. Mit Geräuschen ist Ollis Sound vielleicht noch etwas zu ungenau beschrieben. Es war immer ein schlecht abgestimmter Mix aus Popmusik, Bade- und Duschgeplätscher, Schnäuzen und Stöhnen, Husten und Klönen. Unglaublich, Oliver zieht aus. Muss ich mir nicht mehr seine Liebesgeräusche anhören. Es war - wie gesagt - immer ziemlich laut, aber vermutlich sehr lieb. Laut und lieb. Hauptsache, es war schön. Für die beiden. Für mich weniger, ich hatte immer Angst, die Decke könnte einstürzen. Es hörte sich manchmal auch ziemlich brutal an. Ich befürchtete einmal sogar, es könnte etwas Ernsthaftes passiert -117-
sein. Ich war mir sicher, dass da ein Mensch vor Schmerzen geschrien hatte, und ich überlegte schon, ob ich nicht raufgehen sollte, um nachzufragen, wie ernst die Verletzungen seien, ob ein Pflaster genüge oder es besser wäre, wenn ich den Notarzt riefe, aber ich habe mich damals nicht dazu durchringen können. Am Ende hätten mich die beiden Liebesspieler nur ausgelacht oder gar beschimpft, weil ich ihr Liebesspiel gestört hätte. Auch Möbelstücke mussten dabei einmal zu Bruch gegangen sein. Was haben die Schwulen bloß für raffinierte Praktiken? Sex mit Möbeln. Das möchte ich mal ausprobieren! Nicht mit schwachen Männern, nein mit starken Frauen. Einmal, als es mir zu bunt wurde, die Musik war im ganzen Haus zu hören, ging ich nach oben und läutete an seiner Tür. Er hörte das Klingeln nicht. Die Musik war zu laut, und ich hörte die Dusche rauschen. Olli war im Bad und putzte sich. Aber weil er im Bad auf die Musik nicht verzichten wollte, musste er sie logischerweise etwas lauter stellen. Ich läutete also noch einmal, aber nichts tat sich. Vielleicht nahm er das Klinge ln sogar wahr, aber er wollte seinen Reinigungsprozess einfach nicht unterbrechen. Verstehe ich, wer lässt sich schon gern aus der Dusche an die Wohnungstür holen, um Lärmbeschwerden entgegenzunehmen. Gut, habe ich mir gesagt, ich werde mit Olli darüber reden, wenn ich ihn das nächste Mal im Haus treffe. Als ich ihn einige Tage später auf seine Beschallungs- und Reinigungsriten ansprach, lächelte er sehr freundlich, ja lieb, warf das fast kahle Haupt beleidigt zurück, süßelte nur: »Tuut miir leiheid!« und hüpfte weiter, die Treppen runter, zu seinem Panther, den er stolz bestieg. Er ließ ihn kurz auffauchen, um ihn sogleich in den Anliegerverkehr zu jagen. Das dumme Ding, das Dumme! Und nun hat er den Möbelwagen bestellt, der jetzt dort steht, wo sonst der Panther ruht, wenn er faul ist. Nur, wer wird für Olli einziehen? Er wird doch hoffentlich keinen Nachmieter besorgt haben? Egal, ich werde mich auf neue Geräusche einstellen müssen, die mich beim Arbeiten an -118-
meinem Buch stören werden. Alte Geräusche sind gewohnte Geräusche, die man schon gar nicht mehr wahrnimmt. Erst, wenn sie nicht mehr da sind, hört man sie. Ja, wirklich, ich höre das Fehlen der Geräusche, und das empfinde ich als ebenso störend, wie wenn sie sich lautstark aufdrängen. Das Schlimmste sind leise Geräusche, die ich gerade noch hören, aber nicht richtig zuordnen kann. Ich muss dann bewusst hinhören und überlegen, durch was das Geräusch hervorgerufen wird. Das ist Psychoterror. Heute Nacht beispielsweise hat jemand im Haus gegenüber immer das selbe Musikstück gespielt. Ich kannte es auch, aber ich kam nicht auf den Titel. Ich lag im Bett und konnte nicht einschlafen, weil ich immer mithören musste. An Schlafen war nicht zu denken. Ich war kurz davor, aufzustehen, mich anzuziehen und hinüberzugehen, um mich für die selbstlose Beschallung zu bedanken, als jemand unwirsch über den Hof rief: »Mach sofort die Musik aus, du Arschgeige!« Andreas hatte die Situation von seinem Balkon aus voll im Griff. Der Effekt war gleich null. Ich begab mich ebenfalls auf den Balkon, bot Andreas spontan zehn Eier vom Biobauern als Wurfgeschosse an und schleuderte ein herzhaftes »Du hast wohl den Arsch offen!« zum Haus gegenüber. Null Effekt. »Vielleicht ist der tot? Sollen wir die Polizei anrufen?« fragte ich zu Andreas hinauf. »Besser für ihn, wenn er tot ist, ich geh' da jetzt rüber«, drohte Andreas. »Kommst du mit?« »Nee, Andreas, geh alleine, ich bin nicht so schlagfertig wie du.« Plötzlich schallt es über den Hof: »Schnauze! Könnt ihr euch nicht tagsüber unterhalten? Gleich komm ich rüber, dann setzt's was!« Eine zarte Frauenstimme mischt sich ein: »Könnten Sie bitte etwas leiser sein, meine Kinder wachen sonst auf!« -119-
Und siehe da, es kehrte Ruhe ein. Es war eine sternenklare Nacht und ich konnte nicht mehr schlafe n. Also schenkte ich mir ein Glas hervorragenden Riesling aus dem Rheingau ein, setzte mich auf den Balkon und betrachtete den Himmel. Wir hatten Vollmond. »Ist ja kein Wunder, wenn alle verrückt spielen«, dachte ich bei mir. Der Mond bestimmt nicht nur die Gezeiten, er nimmt auch Einfluss auf unser Leben. Was hat uns die Erforschung des Mondes, die Raumfahrt überhaupt alles gebracht: die Teflonpfanne und was noch? Bestimmt noch vieles mehr. Die NASA wird nicht müde, für die Zukunft der Menschheit den Weltraum zu erforschen. Dabei gewinnt sie immer wieder Erkenntnisse, die uns weiterhelfen, um den Herausforderungen der kommenden Jahrtausende gewachsen zu sein. Heute habe ich in der Zeitung gelesen, dass die NASA die Raumsonde luna prospector mit der Asche des Astronomen und Geologen Eugene Shoemaker an Bord zum Mond geschickt hat und sie auf der Oberfläche des Erdtrabanten aufprallen ließ. Dabei erhofften sie, den Nachweis von Wasser auf dem Mond zu erbringen. Aber es hat nicht geplatscht! Dennoch war die Mis sion offenbar sinnvoll, wobei sich mir der Sinn bisher voll entzieht. Zwei Erkenntnisse könnte die NASA aus diesem Experiment in jedem Fall ziehen. Erstens: Eine Urnenbestattung auf dem Mond ist möglich. Zur Feuer-, Erd- und Seebestattung kommt nun, als weitere Möglichkeit der Endlagerung menschlicher Überreste, die Mondbestattung hinzu. Die Beisetzungsbranche wird frohlocken. Halleluja! Zweitens: An der Stelle, an der die Sonde aufschlug, gibt es kein Wasser auf dem Mond. Man konnte also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Bei der Auswertung der Versuchsergebnisse stehen die Wissenschaftler nun allerdings vor der Frage: Lag es an der Asche, oder war es der falsche Trabant? Man sollte die Versuchsreihe unbedingt fortsetzen. Mit -120-
Aschen anderer Persönlichkeiten! Und beim nächsten Mal einen Kanister Wasser an Bord der Sonde mitnehmen und beim Aufprall zerschellen lassen. Dann könnte man mit Sicherheit behaupten, dass es Wasser auf dem Mond gibt. Starker Harndrang zwang mich auf die Toilette. Der wunderbare Rheingau Riesling Kabinett wollte mich wieder verlassen. War nicht so schlimm, ich hatte noch ein paar Flaschen davon. Ja, mich hatte sie auch erwischt, diese Weinkultur, die sich epidemieartig sogar im Bierland Bayern immer weiter ausbreitet. Ich war auch schon auf Weinproben und habe erste Gewächse gekostet. Nur erste crus aus ersten Chateaux des Bordeaux, wie man mir ehrfürchtig mitteilte. Es war gar nicht so viel davon in den Gläsern. Bei den meisten Weinverkostern hatte ich den Eindruck, dass sie den Wein nicht vorhatten zu trinken, sondern lieber vor der Nase verdunsten lassen wollten. Sie hielten ihren Riechkolben lange ins Glas und gaben merkwürdige, mir bis dahin völlig unbekannte Genusslaute von sich. »Aahh«, stöhnte einer von Zeit zu Zeit. Aahh, immer wieder aahh, und dann verkündete er plötzlich die Erkenntnis: »Der ist ja schon voll da!« Ich betrachtete meinen Schluck Wein im Glas und überlegte, wie lange er wohl noch da sein würde, und kippte ihn vorsichtshalber mit einem Schluck die Kehle runter. War ja ohnehin nicht viel. Ich sagte ebenso überrascht: »Leute, meiner ist weg. Habt ihr noch einen da?« Man warf mir einen verächtlichen Blick zu. Ein anderer aus der Runde sagte unverhofft: »Kinder, der Körper, im Abgang, voll da.« Man nickte zustimmend. »Kinder, ich kann mir nicht helfen«, teilte wieder ein anderer mit, »aber der hat was von Minze! Ich rieche da Minze!« Ich konnte ihm behilflich sein und sagte: »Depp, nimm den Kaugummi raus!« Es ist wirklich erstaunlich, wie diese neue Weinkultur um sich -121-
greift. Jeder, der auf sich hält, hat heute schon einen Wein entdeckt. Neulich war ich bei Weinentdeckern eingeladen. Ich komme zur Tür herein und bekomme gerade noch mit, wie der Herr des Hauses eine Flasche entkorkt. Noch ehe er mich begrüßt, hält er mir den Korken unter die Nase und fordert mich auf: »Riech!« Ich frage ihn spontan, ob er auch ein Weißbier hätte. Damit war die Stimmung auf dem Siedepunkt. Ich werde bald zur Weißbierverkostung laden. Mit ausgewählten Hefen, ersten Holledauer Hopfenlagen, würziger, handverlesener Gerste aus dem niederbayerischen GerstenMedoc und vollmundigen Malzaromen. In der Sudpfanne von Meisterhand hinter dicken Klostermauern gebraut und in dunklen, kronenkorkenverschlossenen Flaschen gelagert. Nachdem das Exposé fertig vorlag und bereits mehrere Wochen seit dem geplatzten Termin vergangen waren, erwartete ich eigentlich, dass entweder Schlapp-Winsel oder Frau Hüttner den Kontakt mit mir suchten. Aber es tat sich nichts. Ich selbst wollte auf keinen Fall anrufen und um einen Termin nachsuchen. Das kam nicht in Frage. Als Bittsteller wollte ich nicht auftreten. Nein, die Initiative musste von denen kommen. Aber wenn sie nicht kam, wie sollte ich mich verhalten. Hatte nicht Schlapp-Winsel darum gebeten, dass ich mir Gedanken machen sollte? Habe ich da etwas falsch aufgefasst? Vielleicht ging es denen beim FFB umgekehrt wie mir. Sie warteten auf mein Papier. Überlegten, was los sei, warum ich nicht endlich mit dem Exposé rüberkäme. Da sie mich aber nicht unnötig unter Druck setzen wollten, riefen sie nicht an. Sie wollten auf keinen Fall als Drängler erscheinen. Locker und lässig wollten sie wirken. Bloß nicht den Eindruck erwecken, sie würden konkret etwas wollen. Unverbindlich interessiert sollte ihre Haltung sein. Nur, wie sollte ich es am geschicktesten anstellen, ohne dass es so aussah, als hätte ich es nötig? -122-
Ich schickte also das Exposé mit der Post und schrieb in dem Begleitschreiben, dass ich anbei meine Gedanken zu dem Projekt übersende, über das wir bei unserem Treffen wegen unvorhersehbarer Ereignisse nicht sprechen konnten. Ich entschuldigte mich dafür, dass es so lange gedauert habe, aber auch ich sei in letzter Zeit sehr eingespannt gewesen. Nichtsdestoweniger würde ich mich freuen, wenn wir demnächst einen telefonischen Vereinbarungsversuch für einen erneuten Gesprächstermin angehen könnten. Mein Telefon dudelt. Ich werde nicht rangehen! Aber mithören, wer dran ist, will ich doch. Ich stelle den Anrufbeantworter lauter. »Hallo, Bruno, hier ist Dieter.« Jetzt gehe ich doch ran. »Hast du eine Idee, was wir im ›Scheibenwischer‹ machen könnten?« fragt mich Dieter. »Nein, ich habe ehrlich gesagt noch nicht darüber nachgedacht, ich stecke mitten im Schreiben meines Buches.« »Wie weit bist'n?« »Schon weit. Bisschen mehr als hundert Seiten noch und ich bin fertig.« Dieter lacht. »Du, Renate winkt mir gerade, ich muss mit den Hunden raus. Wir telefonieren nachher. In zwei Stunden bin ich zurück.« »O. K. Aber dann werde ich auch noch keine Idee für den ›Scheibenwischer‹ haben.« »Vielleicht habe ich eine! Bis nachher, Bruno.« Seitdem Renate und Dieter die Hunde haben, ist er oft mit den Hunden unterwegs. Sie auch, aber öfter er. Dieters Hundewissen ist immens. Mit großem Erfolg hat er ein Hundeseminar besucht, und er hat, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, er hat sogar das große Hundediplom. -123-
Nur, das ist kein Thema für den »Scheibenwischer«. Wir brauchen einen aktuellen Aufhänger. Rückblick machen wir bestimmt nicht, wird Dieter sagen, das machen alle, das machen wir nicht. Vorausblick? Da wird er nachdenklich die Luft durch die Zähne blasen. Kann man machen. Was ebenfalls heißt: Machen wir lieber nicht. Nichts Ungewöhnliches. Das gehört zum normalen Planungsablauf. Ich erinnerte mich, dass wir uns schon einmal im Laden in der Lach- und Schießgesellschaft getroffen hatten, um ebenfalls über eine Grundidee zum nächsten »Scheibenwischer« zu sprechen. Wir haben über sehr viel gesprochen, und ganz zum Schluss, bevor ich die Runde verlassen musste, schlug Dieter als Bühnenbild einen Sektkeller mit hunderten von Flaschen vor und dazwischen wir. Das gefiel uns spontan sehr gut. Endlich mal ein Bühnenbild, das zu uns passt. Wir könnten von jedem Jahrgang eine Flasche rausnehmen und überlegen, ob wir sie aufmachen. Und wir lassen sie schließlich alle zu, weil wir vermuten, dass alle korken. Es ist der letzte »Scheibenwischer« in diesem Jahrtausend. Jahresrückblick bietet sich an. Jahrhundertrückblick, Jahrtausendrückblick? Ob da fünfundvierzig Minuten ausreichen? Oft reicht uns die Zeit nicht einmal, um die letzten vier Wochen kabarettistisch zu würdigen. Dieter glaubt, es liegt an uns, er glaubt immer, wir sind zu lang. Ich sage immer, wir sind nicht zu lang. Und nach der Generalprobe kuckt er mich über die Brille an, und ich weiß, wir sind zu lang. Und er will immer was rausnehmen bei sich. Ich bitte ihn immer, nichts rauszunehmen, weil er immer, wenn er vor der Sendung eine Passage rausgenommen hat, sie während der Live-Sendung spontan wieder reinnimmt. »Scheibenwischer« macht Spaß. Wir sind immer im selben Hotel, im »Seehof am Lietzensee«. Ohne dieses Hotel ist der »Scheibenwischer« nicht denkbar. -124-
Dieses Hotel gehört mit allem, was es zu bieten hat, zur Grundvoraussetzung des »Scheibenwischers«. Ohne »Seehof« ist die Sendung nicht möglich. Die Küche ist immer wieder eine Prüfung wert und fordert ein wenig Mut zum Risiko. Das so genannte belegte Brot ist ein kleines Kunststück. Ich glaube, der Koch hat damit einmal einen Architekturwettbewerb gewonnen. Es erreicht in seinen vollen Ausmaßen eine lichte Höhe vom untersten Brot bis zur Spitze des schräg eingestochenen Plastikspießes gut zehn bis fünfzehn Zentimeter. Farblich wirkt es modern expressionistisch. Die verschiedenen Signalfarben der Spieße und Gäbelchen raten vom Verzehr ab, aber man sollte sich dadurch nicht abschrecken lassen, denn sonst verzichtet man auf den Spaß, der bei der mundgerechten Stückelung dieser informellen Installation entsteht. Ist aber auch kein Thema für die Sendung. Ich würde ja sehr gern mal im »Scheibenwischer« mit Dieter auftreten und feststellen müssen, wir sind im falschen Bild. Dann rauskommen und sagen: »Ich glaube, wir sind hier nicht richtig, Dieter! Sag du!« Und auch er stellt fest: »Du hast Recht, sie haben uns in die falsche Deko laufen lassen.« Da eine andere Bühnenausstattung abgesprochen war, weigern wir uns weiterzumachen, bis wir unseren Willen durchgesetzt haben. Bis dahin reden wir selbstverständlich über richtige und falsche Bilder, über Vordergründe und auch Hintergründe, und wenn wir alle Themen besprochen haben, die wir in der anderen Deko besprechen wollten, sind wir mit der Sendung zu Ende. Das könnte Dieter gefallen. Solche Situationen reizen ihn. Das Unerwartete, die Brechung findet er spannend. In einer ähnlichen Situation habe ich ihn kennen gelernt. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie das war, als ich Dieter Hildebrandt zum ersten Mal persönlich begegnet bin. Es war 1977, in Schwabing in der Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Das Programm hieß »Wie abgerissen« oder »Keine Fragen mehr«. Auf der kleinen Bühne spielten Werner -125-
Schneyder und Dieter Hildebrandt. Ich fand's toll. Es muss im Herbst gewesen sein, denn ich erinnere mich, an der Garderobe meinen Mantel abgegeben zu haben. Nach der Vorstellung bildete sich eine Schlange vor der Garderobe, und gerade als ich dran sein sollte, klingelte im Hintergrund das Telefon, und das Garderobenmädchen bat mich, einen Moment zu warten. Hildebrandt steckte den Kopf um die Ecke und gab den Mann an der Garderobe. Unglaublich, dachte ich, der Hildebrandt hilft an der Garderobe aus. Ich reichte ihm meinen Garderobenzettel, und er verschwand zwischen den Kleidungsstücken auf der Suche nach meinem Mantel. Was danach passierte, weiß ich nicht mehr so genau. Aber es passierte noch was. Nur was? Ich erinnere mich nicht, obwohl ich genau weiß, dass noch was war. Da wird eines klar: Alles Wissen ist Erinnerung. Dieser Satz stammt von Thomas Hobbes. Ich hätte das nicht gewusst. Aber Dieter Hildebrandt weiß so was. Hat er neulich erst zitiert. Vielleicht sollten wir doch einen Rückblick machen. Wir machen ohnehin nie etwas anderes. Man kann als Kabarettist nur über das schreiben und reden, was passiert ist. Wir sind angewiesen darauf, dass etwas geschehen ist, das besser nicht geschehen wäre. Wenn beispielsweise ein Ministerpräsident sich seine Reisen von einem großen Reiseveranstalter sponsern lässt und er nicht weiß, warum er keine Rechnung dafür bekommen hat, dann können wir überlegen, warum er mit dem Rücktritt so lange warten musste. Weil er erst eine Firma finden muss, die den Rücktritt finanziert. Wenn man darüber lachen will, muss man sich daran erinnern können. Dazu muss man es gewusst haben. Dieter erinnert sich an sehr viel. Deshalb muss er oft und viel lachen. Eben weil er auch sehr viel weiß. Er ist voll mit Erinnerungen aus seinem Leben, das nicht immer zum Lachen war, aber so wie er darüber berichtet, ist es zumindest im Nachhinein schon sehr komisch. Beispielsweise die Geschichte vom kleinen, gerade mal sieben Jahre alten Dieter, der an der Hand seines Vaters auf dem -126-
Bunzlauer Marktplatz steht und ein wieherndes Gelächter nicht versteht. Die Geschichte hat er uns einmal abends im Hotel beim Essen erzählt. Der Kreisbauernführer berichtet den umstehenden Personen, er habe alle Adligen des Landkreises wegen des Verdachts der Komplizenschaft zur SA einfangen lassen und in seinen Keller gesperrt. Darüber wurde laut gelacht. Auch Hildebrandts Vater stimmte ein in das Lachen. Wie mag er da geschaut haben, der kleine Dieter, durch seine erste Brille? Ein Kind, dessen Blick von einem lachenden Gesicht zum andern wandert, und der sich nicht erklären kann, warum gelacht wird. Ein kleiner schlesischer Bub, der von unten nach oben auf lachende Münder schaut. Den Blick hat er nie wieder verloren. Immer hat er Ausschau gehalten von unten nach oben. So wie Hildebrandt sich erinnert, erinnern wir uns alle mehr oder weniger. Die meisten wohl weniger. Hildebrandt mehr. Mehr oder weniger. Manchmal denkt ein Kabarettist auch darüber nach, warum ein Ereignis nicht eingetreten ist, obwohl es eigentlich längst überfällig ist. Beispielsweise ein Wahlsieg der SPD in Bayern. Das wären Erinnerungen, die uns auch in der Zukunft erhalten bleiben würden. Schön, wenn man sich auf Erinnerungen verlassen kann, die Ereignisse betreffen, die noch gar nicht eingetreten sind. Ich glaube, wir machen doch einen Jahresrückblick! Mein Gott, was der Dieter alles gelesen haben muss! Es ist unheimlich viel drin in diesem Kopf. Logisch, der Mann ist ein Leben lang im Training. Ich habe ihn oft beobachtet beim »Scheibenwischer«, wie er im Studio auf- und abtigert, immer Text repetierend, in voller Konzentration. Auch wenn um ihn herum Lärm ist, wenn Kameras justiert, Scheinwerfer eingestellt, Mikrofone getestet werden - er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er kann immer alles auswendig. Und das, was -127-
er nicht auswendig kann, ruft er spontan in letzter Minute ab. Er ist ein »last minute man«, wie er mir selbst einmal sagte. Er liefert seine Texte immer auf den letzten Drücker. Immer hat er einen Abgabetermin. Eine neue Sendung, ein neues Programm, ein neuer Text für eine Lesung. Immer steht was an. Termine kommen immer näher. Dazu kommen noch jede Menge anderer Texte, die im täglichen Kabarettistenleben anfallen. Dieter Hildebrandt steht im Daueranfall. Zeitungen verlangen Statements zu irgendeinem aktuellen Anlass, eine Glosse da, ein satirischer, selbstverständlich möglichst witziger Kommentar dort. »Herr Hildebrandt, Sie schütteln doch so was aus dem Ärmel!« Wie oft mag er diesen Satz schon gehört haben? Und da Hildebrandt immer höflich und hilfsbereit ist, schüttelt er und schüttelt er. Er sagt zu oft Ja und zu wenig Nein. Er weiß das. Und sagt Ja, und dann geht's oft nur auf den letzten Drücker. Mir gefällt das. Kann der Dieter eigentlich zornig werden? Habe ich mich oft gefragt. Und wie würde er seinen Zorn äußern? Er würde ihn lächelnd unter Kontrolle bringen. Für mich ist Hildebrandt einer der wenigen Menschen, die lächelnd zornig sein können. Meist lässt ihn sein Humor versöhnlich lächeln. Wenn ihn der Humor aber mal verlässt, wird er traurig. Ganz selten zeigt er seine Wut. Am schönsten ist seine Wut, wenn er sie in literarische Formen gießt. In Kabarettsoli. Er kann dann sehr ruhig und bestimmt werden, beispielsweise wenn sich im Lande am rechten Rand etwas tut. Jetzt habe ich den Faden verloren. Um was geht's hier eigentlich? Was wollte ich erzählen? Mit zum Angenehmsten gehört, zusammen mit Dieter den Faden zu verlieren. Wer einmal mit Dieter eine Kabarettnummer gespielt hat, weiß, was ich meine. Nun bin ich auch nicht gerade das, was man textsicher nennt. Ich lerne sinngemäß, und Schauspieler, die mit mir »arbeiten« mussten, haben oft verzweifelt auf das Stichwort gewartet. Ich steche wortgemäß gern früher oder später. Das hat -128-
mir den Vorwurf der Unberechenbarkeit eingebracht. Mit Dieter war das nie ein Problem. Man kann sich auf ihn verlassen. Er weiß einfach, wann er dran ist. Bei uns beiden war das manchmal genau dann der Fall, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Mit ihm nicht weiterzuwissen im Text, macht großen Spaß. Denn Dieter improvisiert gern. Das gibt es bei ihm nicht, dass es nicht weitergeht, nur weil er oder sein Partner nicht weiß, wie's weitergeht. Besonders schön wird es immer, wenn beide nicht wissen, wer hängt, und es trotzdem weitergehen muss. Und so viel ich mich erinnern kann, ist es immer weitergegangen. Weitergehen kann es aber nur, wenn es angefangen hat. Halt, ich wollte doch die Geschichte mit dem Mantel an der Garderobe zu Ende erzählen. Dieter kann mir auch nicht draufhelfen, denn er kann sich wahrscheinlich nicht mehr an die Situation erinnern. Ich leider auch nicht. Wir beide haben nie über unsere erste Begegnung gesprochen. Aber er hat mir auf jeden Fall den Mantel zurückgegeben, das weiß ich ganz ge nau, immerhin das, und er fragte: »War's der?« »Ja, danke«, sagte ich ergriffen. Ich hätte auch jeden anderen genommen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mit einem wichtigen Menschen gesprochen zu haben. Ich streifte den Mantel über und bin gegangen. Wahrscheinlich weniger gegangen als vielmehr geschwebt. Es war unfassbar! Dieter Hildebrandt hatte mir den Mantel zurückgegeben! Irgendwie, denke ich, müsste die Geschichte eine Pointe haben. Bestimmt hat sie auch eine, doch sie fällt mir nicht ein. Vielleicht kennt der Dieter die Pointe. Und wenn nicht, würde er schnell eine erfinden. Das Telefon klingelt. Dieter ist dran. » Was hältst du davon, wenn wir einen Jahresrückblick machen?«
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Bei unserer Doppelduplexgeschichte, liebe/r Leser/in, reicht ein Jahresrückblick nicht mehr, wir müssen ein bisschen weiter zurückschauen. Die Herren Anwälte mischten sich wieder in den Fortgang der Geschichte ein. Auch diesmal wieder mit einem wahren Prachtexemplar juristisch-präziser Formulierungskunst. Sehr geehrter Herr Jonas, aus unserem Schreiben vom 27. 6. ist Ihnen bereits bekannt, dass wir Herrn Schaufler, Saturnstraße 43, 67509 Kaiserslautern, vertreten. Im Nachgang zu unserem vorerwähnten Schreiben erhalten Sie in der Anlage eine Fotokopie des Schreibens des Mieters unseres Mandanten, Herrn Stockmann, vom 24. 9. d. J., wonach Ersatzansprüche angekündigt werden für den Fall, dass der Parkplatz nicht unverzüglich zur Verfügung steht. Wir haben Sie daher nochmals aufzufordern, den Garagenstellplatz der Eheleute Stockmann unve rzüglich zu räumen und nicht mehr zu benutzen. Falls entsprechend der Ankündigung des Mieters Stockmann Ersatzansprüche an unseren Mandanten herangetragen werden, werden wir diese an Sie weitergeben. Wir wollen hierauf rechtzeitig hingewiesen haben. Mit freundlichen Grüßen Anwälte Die beigelegte Fotokopie enthielt tatsächlich Forderungen meines Kontrahenten Herrn Stockmann. Er würde für den Fall, dass er sein Auto nicht auf meinem Stellplatz, der eigentlich zu seiner Wohnung gehörte, abstellen könnte und er demzufolge einen Stellplatz in einer Fremdgarage anmieten müsste, was wiederum Kosten verursachen würde, diese an Herrn Schaufler herantragen, der diese wiederum, über seine Anwälte -130-
weiterleitend, mir gegenüber zur Geltendmachung brächte. Unterfertigter nach Diktat verreist. Ja, leck mich doch am Arsch! Auf so etwas antwortet man gern. Betrifft: Ihren Nachgang zum Vorerwähnten... Sehr geehrte Kollegen von der schreibenden Zunft, Sie überraschen mich ein zweites Mal. Sie sind ja richtige juristische Tausendsassa. Leider wiederholen Sie sich. Wiederholungen langweilen grundsätzlich und sind wenig witzig. Schon wieder schreiben Sie, dass Sie Herrn Schaufler vertreten. Das habe ich inzwischen verstanden! Aber wenn Sie wollen, können Sie gerne auch im nächsten Schreiben mitteilen, dass Sie Herrn Erich Schaufler vertreten. Darüber hinaus könnten Sie auch noch eine Vollmacht von Herrn Schaufler über Ihren Vertretungsauftrag mitschicken. Aber auf die Dauer werden Sie mit der Mitteilung, dass Sie Herrn Erich Scha ufler vertreten, nicht auskommen. Allmählich wären ein paar zutreffende Argumente wünschenswert. Wäre nicht jener Satz in Ihrem Schreiben: Im Nachgang zu unserem vorerwähnten Schreiben usw. blablabla... ich hätte das Schreiben gelangweilt abgelegt. Klasse! Ah! Diese drei Genitive in Folge! Das ist süffig formuliert! Meine Gratulation! Ich entnehme Ihrem germanistischen Textcorpus formulieren Sie so was eigentlich allein? -, dass der liebe Herr Stockmann Ersatzansprüche angekündigt hat für den Fall... usw. blablabla. Dazu stelle ich fest: Der liebe Herr Stockmann kann ankündigen, was er will. Auch für den Herrn Stockmann gilt bis -131-
zur Ausarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung das Provisorium Grundgesetz. Er kann daher Artikel 5 nach Belieben anwenden. Selbstverständlich hat jeder Deutsche das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild zu äußern. Aber nirgendwo steht, dass man alles ernst nehmen muss, was der liebe Herr Stockmann so rauslässt. Warum Sie allerdings, als Gelehrte der Jurisprudenz, darauf einsteigen, ist mir ein Rätsel. Für den Fall, dass der liebe Herr Stockmann tatsächlich Ersatzansprüche an Ihren Mandanten heranträgt - damit ist beim lieben Herrn Stockmann zu rechnen , so empfehle ich Ihnen, ihn zu fragen, auf welche gesetzliche Grundlage er diese Ersatzansprüche stellen möchte. Sollte er diese mit dem Alten Testament begründen wollen oder irgendwelche bisher verborgenen Schriften des Doppelduplextiefgaragenstellplatzkomplexes ins Feld führen, so bitte ich Sie, dahingehend auf ihn einzuwirken, dies zu unterlassen. Ich fürchte aber, dass Ihnen das nicht gelingen wird, wenn Ihre Argumente nicht stärker werden als jene in Ihrem letzten Schreiben. Außerdem ist zu fragen, worin ein möglicher Schaden für den Herrn Stockmann bestehen könnte. Der liebe Herr Stockmann steht nach wie vor auf dem Stellplatz Nummer 1. Ich vermute, dass der Herr Stockmann wenigstens in der Tiefgarage mal auf Platz 1 stehen wollte, als er auf den Stellplatz Nummer 20 verzichtete. Man sollte deshalb überlegen, ob der Herr Stockmann psychisch überhaupt in der Lage ist, auf dem Platz Nummer 20 zu stehen. Vielleicht kommt es dadurch zu schweren neurotischen Zwangshandlungen beim lieben Herrn Stockmann? Falls entsprechend der Ankündigung des lieben Herrn Stockmann Ersatzansprüche an Ihren Mandanten herangetragen werden und Sie diese an mich weitergeben möchten, so werde ich diese Ansprüche wieder an Sie zurückgeben, damit Sie diese an Ihren Mandanten und dieser wiederum diese an den lieben -132-
Herrn Stockmann weitergeben kann. Darauf wollte ich rechtzeitig hingewiesen haben! Außerdem werde ich prüfen, welcher Schaden mir durch diesen Doppelduplexkomplex entstanden ist. Mögliche Ersatzansprüche werde ich dann über Sie an Ihren Mandanten herantragen, und ich stelle es Ihnen anheim, diese Ansprüche an Herrn Stockmann weiterzugeben. Die Weitergabe von Ansprüchen scheint ja ohnehin so etwas wie Ihr Spezialgebiet zu sein. Darüber hinaus werde ich von einem Anwalt prüfen lassen, inwieweit der Tatbestand der falschen Anschuldigung/Verleumd ung gegeben ist. Ich fordere Sie hiermit auf, Gründe für die Anschuldigung, ich würde unrechtmäßig auf dem Stellplatz Nummer 20 stehen, schriftlich zu benennen und unter Angabe konkreter Tatsachen zu belegen. Frist bis: übermorgen früh, 6.10 Uhr, täglich donnerstags, außer mittwochs, in vier Wochen. Bei fruchtlosem Ablauf dieser Frist werde ich einen Anwalt beauftragen, bei der Staatsanwaltschaft München I Antrag auf Strafverfolgung nach § 186, 187 StGB zu stellen und Unterlassungsklage zu erheben bzw. Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zum Amtsgericht zu stellen (bei einem Streitwert unter 5.000,- DM). Bei einem Streitwert über 5.000,- DM selbstverständlich zum Landgericht. Ich überlasse es Ihrem juristischen Feingefühl zu überlegen, ob Sie den Doppelduplexkomplex beim BGH in Karlsruhe vortragen wollen. Hilfsweise verweise ich vorsichtshalber auch noch auf den § 859 Abs. 1, Abs. 2 BGB. Bei Beeinträchtigung meines Besitzrechts werde ich mit Gewalt dagegen vorgehen. Sollte also der liebe Herr Stockmann sein Auto unrechtmäßigerweise auf den Stellplatz Nummer 20 positionieren wollen, drohe ich hiermit umgehend die polizeiseitige Beseitigung im Nachgang des Vorgangs des Autos an. Die Kosten einer Abschleppbewegung des o. a. Stellplatzes Nummer 20 hat selbstverständlich der Ihrerseits ausgewiesene Mandant zu -133-
tragen. Das Ansinnen ihrer Mandantschaft gereicht zur Verärgerung des Unterfertigten. Mit freundlichem Auge um Auge, Zahn um Zahn! Ihr Duplex-Fan B. J. (Unterfertigter nach Diktat noch da) Jetzt war ich doch sauer, Karl Moik war nicht angesagt. Eher traf mich die Wut der sieben schwarzen Presssäcke, die mir mein Vater auf geheimnisvolle Weise vererbt haben muss. Die Geschichte hatte sich in der Wurschtküche meines Vaters zugetragen, die sich im Anbau hinter unserem Haus befand, in dessen Erdgeschoss meine Mutter die Waren zum Verkauf anbot, die mein Vater in der Wurschtküche mit zwei Lehrlingen und einem Gesellen herstellte. Ich war noch der kloane Metzgerbua, der Jonas-Wurschtl. Es war die Zeit, als mich die Oma »Buali« rief und mich manche meiner Spielkameraden »Wurschtl« nannten, wenn sie mich hänseln wollten. Es muss an einem Dienstag gewesen sein, denn Dienstag war immer Schlachttag. An einem Dienstag also, nachdem mein Vater, die beiden Lehrlinge und der Geselle sieben Säu gestochen hatten. Selbstverständlich müsste es richtig heißen sieben Säue, denn der Plural von Sau lautet Säue, aber mein Vater benutzte, obwohl von Haus aus Ostpreuße, zum Teil nicht nur die bayerische Grammatik, sondern auch die bayerische Aussprache. Er wollte halt nicht immer nur als Saupreiß gelten, sondern zeigen, dass er bereit war, sich dem bayerischen Sprachraum anzupassen. Was ihm übrigens über weite Strecken gut gelang. Am frühen Nachmittag des Dienstags, nachdem die Schweinsköpfe im Wurschtkessel ausgekocht, auf dem Arbeitstisch abgefieselt und das Material aus Schweinsbackerln mit scharfen Messern zerkleinert worden war, stand ein Sud aus Schweineblut, Essigessenz, durch den Fleischwolf gedrehten -134-
Schwarten und künstlichem Aspik bereit, der mit den Backenstücken vermengt die Füllung für den schwarzen, beziehungsweise roten Presssack ergab. Die Mägen der am frühen Morgen des selben Tages geschlachteten sieben Schweine waren unter häufigem Spülen mit heißem Wasser und äußerster Genauigkeit gereinigt, von den beiden Lehrlingen gefüllt und mit dem großen Spachat zugebunden worden. Sieben prall gefüllte Schweinemägen, die als sieben schwarze Presssäcke verarbeitet worden waren, schwammen nun träge im großen dampfenden Wurschtkessel. Sie mussten nach einer von meinem Vater genau bestimmten Kochzeit herausgenommen werden, denn bei längerer Verweildauer würden sie unweigerlich platzen, und wir hätten - wie mein Vater in solchen Fällen zu sagen pflegte - eine Bluadssauerei im Kessel. Deshalb beauftragte er beide Lehrlinge, die Uhr zu beobachten und Bescheid zu sagen, wenn die Zeit abgelaufen sei, um die Presssäcke aus dem kochenden Wasser zu holen. Es war aber natürlich nicht so, dass die beiden nichts anderes zu tun gehabt hätten, als vor dem Kessel zu stehen und die Uhr zu beobachten. Die Arbeit ging weiter. Es wurden beispielsweise Regensburger oder Knacker gefüllt und abgebunden. Und immer musste man ein Auge auf die Presssäcke im Kessel haben. Die beiden Lehrlinge bemühten sich. Aber an jenem Dienstag hatten sie die Zeit übersehen, und einer der schwarzen Wurstkolosse platzte im Wurschtkessel. Die Füllung schwamm bröckerlweise im kochenden Wasser. Mein Vater kriegt das Malheur mit und kocht ebenfalls vor Wut. »Ja, Kruzifix, Kreizsakrament, Bluadssauerei verfluchte!« schreit er, dass die Lehrlinge sofort in Deckung gehen. »Zu dumm, um die Uhr zu beobachten.« Ein großer unberechenbarer Zorn ließ ihn alles vergessen, sich und alles um ihn herum, sodass keine Freude mehr in ihm war und auch der letzte Rest versöhnlichen Humors mit der kochenden Wut aus ihm verraucht war. Nur noch Zerstörung -135-
und Vernichtung war in ihm. Er griff sich einen Selchstecken und hieb in blinder Wut auf die noch heilen restlichen sechs schwarzen Presssäcke ein, und hörte nicht auf, bis auch der letzte geplatzt war und das bereits Vollendete, das Gefestigte, wieder jegliche Form verlor und sich mit dem kochenden Wasser im Kessel zu einer einzigen roten Presssackbrühe vermischte. Er fetzte den Selchstecken vor sich in eine Ecke und wandte sich wutschnaubend ab. Er suchte den Blick der verängstigten Lehrlinge und schrie: »Ihr Mistkrippl!« Ging hin und gab jedem mit der Rückhand eine Ohrfeige. Eine preußischbayerische Vertriebenenbockfotzen, wie sie nur selten ze lebriert wurde. Mein Gott, was für ein Schlag steckte in dieser Metzgermeisterhand. Beiden riss es durch die Kraft des Schlages den Kopf zur Seite, und sie hielten sich die Backen vor Schmerz. Und jetzt befahl er scharf: »Holt mit dem Seiher das Zeug aus dem Kessel. Aber schnell!« Und sie taten, wie ihnen befohlen. Mit einer Prophezeiung schloss er die Züchtigung ab. »Für die Fotzen werdet ihr mir später noch einmal dankbar sein! Ihr Mistkrippl, ihr verfluchten«, und, nun wieder ganz Ostpreuße, »ich wärd aich schon auf Vordermann bringen!« Danach gab er Ruhe. Dichter Wasserdampf stieg aus dem Kessel. Der Geselle öffnete soeben eine der Selchen, um die Wiener aus dem Rauch zu holen. Beißender Buchenrauch vermengte sich mit den übrigen Dämpfen der Wurschtküche zu einer milchigen, undurchsichtigen Wolke. Blutiger Nebel, bildete ich mir ein, zog durch den Raum und verformte die Lehrbuben, den Gesellen und auch meinen Vater zu unwirklichen Gestalten, zu Wurschtgeistern und Metzgerperchten. Ich aber, der bei diesem großen Zornesausbruch anwesend und ebenfalls von einem großen Schrecken erfasst worden war, -136-
musste auf einmal lachen. Die zornunterlaufenen Augen meines Vaters erfassten mich, und aus der Mitte seines Blickes traf mich ein giftiger Strahl. Ich befürchtete Unheil und suchte das Weite. Und so rannte ich, so schnell ich konnte, hinaus ins Freie, um der Wut und dem Zorn der sieben schwarzen Presssäcke zu entgehen. Muss die Wohnungstür aufmachen gehen... Wer stört jetzt wieder? Filippo? Mirella? Markus? Amanda? Brod? Andreas ist da, er braucht dringend Mehl, weil Bernadette wieder mal vergessen hat einzukaufen. Ich gebe ihm eine Packung. Von unten kommt eine Matratze herauf, die sprechen kann. Filippo trägt dieses Riesenteil in den fünften Stock und erzählt uns im Vorbeigehen, dass Mirella auf dem Flohmarkt ein Bett gekauft habe. »Die Frauen machen heute, was sie wollen! Aber mit mir kann sie es ja machen.« Andreas erzählt mir noch, dass er zusammen mit Freunden irgendeine Klamm durchpaddeln wollte, aber wegen Niedrigwasser sei es unmöglich gewesen. Sie hätten sich dann kurzfristig entschlossen, mit Boot und Paddel die WatzmannOstwand zu besteigen. Mit Schwimmweste, aber ohne Sauerstoffgerät. Ob ich nicht mal Lust hätte mitzukommen. Es würde wirklich viel Spaß machen. Mensch, bin ich froh, dass ich an dem Buch arbeiten muss. Aber was mache ich, wenn das Buch fertig ist? Ich werde sofort ein neues schreiben müssen! Die Wut der sieben schwarzen Presssäcke packte mich langsam auch beim FFB. Ich hatte das Exposé längst abgeschickt, aber immer noch keine Reaktion. Weder von Frau Hüttner noch von Herrn Schlapp-Winsel. Sie werden einfach noch nicht dazu gekommen sein, versuchte ich mich zu trösten. -137-
Haben zu viel am Hals. Die Arbeit wird sie erdrücken. Bestimmt sind sie überlastet. Die Ärmsten! Sie klagen sich gegenseitig ihr Leid, wenn sie sich zufällig begegnen auf dem langen Gang zum Klo, um sich zu entleeren. Bis über beide Ohren mit Arbeit eingedeckt! Konferenzen! Koordinationssitzungen! Raus aus dem Flieger, rein in den Flieger. Hamburg, München, Berlin, Frankfurt, Köln, Bremen, Saarbrücken und nun durch die Vereinigung auch Leipzig, Dresden, Schwerin und dann wieder von vorne. Überall wo ein Sender steht, findet im Turnus die Konferenz statt. Sie befinden sich mehr oder weniger dauernd in der Luft. Schweben hoch über den Wolken, die sie selber produzieren. Und wenn sie gelandet sind, steigen sie gemeinsam in das Verantwortungsbad. Ziehen ihre langen Bahnen, möchten gerne eine Spur hinterlassen im Wasser, doch die kleinen Wellen beruhigen sich immer wieder und haben kein Erbarmen mit dem Schwimmer. Gut, dass er hinten keine Augen hat, sonst würde er sich vielleicht grämen ob der schnellen Ruhe, die einkehrt, wenn er weitergezogen ist. Die Schwächeren werden von den Stärkeren ein wenig getaucht und schnappen ängstlich nach Luft. Andere machen sich stark und üben Schmetterling und schmettern kurz, schlagen mächtige Wellen, um sogleich erschöpft in die Rückenlage zu gehen und kräftig mit den Füßen zu stampfen, dass es nur so schäumt. Die Augen schmerzen ein wenig vom vielen Schauen nach oben in der Hoffnung, weiter oben könnte für sie ein Platz frei werden. Winkt dort ein Ministerpräsident? Ja, aber er winkt ab. Programmdirektor, Intendant, das sind die Posten, von denen sie träumen. Die Verantwortung für den Zuschauer, der Sendeauftrag lässt sie nach vorne schauen in das kleine Rechteck, wo die Welt kleinquadriert wird, und sie bestimmen, was wann kommt. Sie suchen nach Lösungen für den Samstagabend und für den Montagabend, Lösungen für jeden Tag. Sie platzieren Reihen und Formate. Teilen ein und teilen aus. Verschieben -138-
Sendezeiten. Planen den Abend, den Morgen, den Nachmittag, den Vorabend, den frühen Nachmittag, den Tag, sie planen durch. Und sie besprechen sich. Sie tagen und vertagen sich. Das System ist ineffektiv, sagen sie traurig und schütteln das Haupt, aber es fällt nichts raus außer Unverständnis und Inkompetenz. Denn fürs Fernsehen fühlt sich jeder zuständig. Hauptsache, man ist in der Partei, die einem weiterhilft. Und immer wieder Sitzung. Morgens eine, mittags eine, nachmittags auch eine, und abends beginnt die Arbeit. Das mühsame Begutachten der Sendungen, die sie zu verantworten haben. Trotzdem würde ich gerne wissen, was los ist mit meinem Exposé. Ich muss meine Termine planen. Die Kabarettveranstalter möchten mich buchen, und ich vertröste sie mit dem Hinweis, dass ich mit dem Fernsehen in Verhandlung stehe wegen einer neuen Sendung. Ich halte sie hin. Bitte um Geduld. Sie halten mir Termine frei, ich halte Te rmine frei fürs Fernsehen, das Fernsehen bittet mich um Geduld und hält mich hin. Wir halten uns, aber hat das etwas mit Haltung zu tun? Meine Veranstalter verstehen mich. Fernsehen geht immer vor, sagen sie. Aber wenn ich das Fernsehen vorgehen lasse und es doch nichts wird, habe ich keine Auftrittstermine und möglicherweise viel Zeit, in der ich dann darüber nachdenken kann, warum ich das Fernsehen vorgehen ließ. Ich möchte aber andererseits vermeiden, dass das Projekt an mir scheitert, nur weil ich keine Zeit habe. Ich rufe Frau Hüttner einfach an. Donnerwetter, sie ist gleich selber dran. Ich sage nur schlicht: »Jonas«, und sie stoppt mich mit einem sachlichen: »Ja bitte?« Ich denke, sie müsste doch eigentlich wissen, warum ich anrufe. »Ich wollt' nur fragen... weil äh...«, stottere ich los. -139-
»Hat Herr Krampfl mit Ihnen noch nicht gesprochen?« »Herr Krampfl? Ich kenne einen Herrn Krampfl gar nicht.« »Herr Krampfl betreut nun das Projekt Forschungsreise.« Ich sehr überrascht: »Aha.« »Nach Rücksprache mit Herrn Dr. Schlapp-Winsel waren wir der Meinung, dass sie bei Herrn Krampfl besser aufgehoben sind. Da die Forschungsreise sehr bayerisch angelegt ist, fanden wir es klüger, wenn Sie mit einem Redakteur die Sache angehen, der sich mit Ihnen im selben sprachlichen Code austauschen kann. Herr Schlapp-Winsel ist in die Abteilung Dokumentarfilm gewechselt, betreut zurzeit ein Projekt in Weißrussland.« Da sie Code wie Kot ausgesprochen hatte, hätte ich gern noch einmal nachgefragt, aber sie war schneller als ich. »Ich verbinde Sie mal mit Herrn Krampfl!« und drückt mich weiter durch die Telefonanlage zu dem Redakteur Krampfl. »Schöne Zeit!« wünschte sie noch. »Krampfl«, klang es langsam, gemütlich und ruhig an mein Ohr, und der Tonfall teilte mir mit, wir haben alle Zeit der Welt. Krampfl wollte wohl eine stressfreie Zone sein in der ohnehin eher ruhigen, zeitverstreichenden Atmosphäre seines Senders. Ich weiß nicht warum, aber ich sah ihn in einer größeren Anzahl von Blumentöpfen sitzen, die er liebevoll um sich geschart hatte. Er schien nur wenig überrascht zu sein, dass ich in der Leitung war, die Freude, dass ihn jemand sprechen wollte, überwog. Es war die Freude eines Kindes, das noch staunt über die Technik des Telefons und sich fragt, wie das sein kann, dass die Stimme eines Menschen durch eine enge Leitung geschickt wird. »Herr Jonas«, begann er kraftvoll, um sofort eine bedeutende Sprechpause einzulegen. »Herr Jonas«, wiederholte er meinen Namen noch einmal, so als wollte er ganz sicher sein, dass ich es auch wirklich bin. Ich war es tatsächlich. -140-
»Das ist aber schön, dass Sie mich anrufen. Sie haben meinen Brief bekommen...« Ich unterbrach ihn: »Ich habe keinen Brief bekommen.« »Oh, dann wird er noch auf dem Weg zu Ihnen sein.« Und er fügte einige selbstbestätigende Jas in seinen gemächlichen Redefluss ein. »Ich habe ihn gestern in die Post gegeben. Jajaja. Nun, so kann ich Ihnen hier am Telefon gleich den Inhalt wiedergeben. Ich habe ihr Konzept zur Forschungsreise gelesen und ich finde es gut. Jaja.« Wieder diese Überraschung. Hatte er erwartet, es wäre nicht gut? »Genauso etwas brauchen wir im Programm.« Dabei fächelte er noch einige schwächer werdende Jas in den Hörer, so wie der Schlauch eines Gebläses, bei dem der Druck nachlässt. Jajajajaja. Ein Luftballon, der schwächer wird. Und er schnaufte tief ein. »Ich habe mich ohnehin schon gewundert, dass Sie bei uns noch nicht im Programm auftauchen. Also, Herr Jonas, ich freue mich.« »Ich freue mich auch«, beeilte ich mich und fragte, wie es jetzt weitergehen würde. »Jajaja«, und diesmal klangen diese Jas ein bisschen gehüstelt, zu viel Druck war aufgekommen, Herr Krampfl schnorchelte ein wenig im Hals und musste sich räuspern. »Herr Jonas«, setzte er neu an, »ich möchte übers Wochenende Ihr Exposé in aller Ruhe noch einmal durchgehen.« »Also«, fragte ich vielleicht schon zu ungeduldig, »dann meinen Sie, dass es etwas werden könnte?« Und nun schickte er mir ein großes staunendes Jaaa durch die Leitung, in dessen tieferen Regionen ein Zweifel hauste, den Krampfl aber nicht aufkommen lassen wollte. »Wir sind alle frohen Mutes. Jajaja«, stieß er hervor, »Sie als Bayer gehören doch zu uns.« -141-
»Ja«, brachte ich nun hervor. Es war ein Ja, das Herr Krampfl ironisch aufgefasst haben musste, denn er bekräftigte nochmals, dass ich zu ihnen gehören sollte. »Wirklich, Herr Jonas. Es ist unsere feste Absicht. Also, jajajaja, ich melde mich dann.« Nach diesem Gespräch ging ich davon aus, dass sie mit mir eine Sendung beim FFB planten, und sagte meinen Veranstaltern ab. Die Sache wurde konkret, und ich wollte den Kopf absolut frei haben für dieses Projekt. Dazu gehörte auch, dass ich den Doppelduplexkomplex endlich vom Tisch bekam. Seit dem Brief aus Karlsruhe ließ mich der Doppelduplexkomplex nicht mehr los. Ich schlief schlecht ein, sah dauernd den Brief vor mir und überlegte, welche Gemeinheiten ich noch in ihn hätte schreiben können. Jetzt hatten sie mich so weit, ich war zornig, und das war ganz schlecht für meine Kreativität. Der Zorn der sieben schwarzen Presssäcke überlagerte alle anderen Gedanken. Schon wieder klingelt jemand. Was kocht denn Andreas heute? Gerade wollte mir einer von der Obdachlosenhilfe einen Glasreiniger für dreißig Mark verkaufen. Ich bot ihm zwanzig Mark an, aber nur wenn ich den Glasreiniger nicht nehmen müsste. Er weigerte sich: »Leg noch zehn Mark drauf, dann hast du den Glasreiniger.« »Ich brauche aber keinen Glasreiniger.« »Das weiß ich.« »Nimm die zwanzig Mark!« drängte ich ihn, aber er blieb hartnäckig. »Nein, ich muss das abrechnen. Das kann ich nicht machen.« »Du, der Glasreiniger kostet im Geschäft wahrscheinlich zwei fünfzig, den brauche ich wirklich nicht.« »Das weiß ich, aber ohne Glasreiniger darf ich kein Geld annehmen.« -142-
»Mit Glasreiniger gibt's bei mir aber kein Geld. Tut mir leid.« Er kam ins Grübeln, schließlich nahm er traurig den Zwanzigmarkschein und stieg die Treppe hoch zu Andreas. Ich gestehe, ich habe bei angelehnter Tür gelauscht. Andreas öffnete, der Typ von der Obdachlosenhilfe sagte sein Sprüchlein auf und behauptete, ich hätte den Glasreiniger für dreißig Mark genommen. »Okay, dann nehm ich die Putztücher. Was kosten die?« »Vierzig Mark. Ist aber eine Spende dabei, ich muss mein Zimmer davon zahlen. Ich habe vierzehn Stunden Rennerei am Tag.« Andreas muss ihm das Geld gegeben haben, der Typ gab ihm die Tücher und sagte: »Da, den Glasreiniger bekommst du gratis dazu.« Darauf Andreas: »Nee, danke, verkauf den mal Filippo unterm Dach, der hat großflächige Fenster.« Jetzt bin ich in der richtigen Stimmung, um meine Geschichte weiterzue rzählen. Es war passiert. Ich hatte es getan. Immer habe ich gewusst, dass ich einmal einen Menschen umbringen würde. Ich habe es gewusst. Solange ich denken kann, habe ich es gewusst. Irgendwann würde ich es tun. Tief drin in mir saß diese unausweichliche, immer wieder verdrängte Gewissheit, dass ich es tun würde. Es würde mich jemand bis aufs Blut reizen, und ich würde keine Sekunde zögern, ihn ins Jenseits zu befördern. Auch damals klingelte es schon öfters an der Wohnungstür. Ich war allein in der Wohnung. Ich saß am Schreibtisch und schrieb an einem Text fürs Kabarett. Es ging um Kohl und »Geschichte«, also ein ziemlich anspruchsvolles Thema. Ich ging an die Tür, um zu öffnen. Im Treppenhaus stand ein -143-
Mann Mitte fünfzig, schlank, athletisch, grau meliert. Auf der Nase eine Brille mit Goldrand, die ihm eine gewisse Seriosität verlieh. Jetzt, wo ich diesen Menschen beschreibe, fällt mir auf, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Lektor Cy hatte. Mir kommt der unangenehme Gedanke, dass er vielleicht seit damals den Beruf gewechselt haben könnte und Lektor geworden ist. Vielleicht rächt er sich auf diese Weise an mir für das, was an diesem Taggeschehen ist? Vielleicht hat er an diesem Tag das Gedächtnis verloren und sich eine neue Existenz aufgebaut? Muss Cy unbedingt mal darauf ansprechen, was er vor zehn Jahren gemacht hat. Damals jedenfalls kannte ich Cy noch nicht. Kann es sein, dass ich vor zehn Jahren schon ein Cy-déjàvu-Erlebnis hatte? Also ein vorweggenommenes Wiedererkennen? Kann man etwas wieder erkennen, das man vorher noch gar nicht gesehen hat? Sozusagen ein previewdéjàvu? Vielleicht habe ich hellseherische Fähigkeiten? Bin ich ein Visionär? Wie der Mühlhiasl, unser berühmter BayerwaldNostradamus, der Kuhhirte aus dem unteren Bayerischen Wald, der seine Visionen beim Blick aufs Euter hatte? Er sah, dass im 19. Jahrhundert ein Weltkrieg ausbrechen werde, und zwar, wenn bei Schalding an der Donau eine große Brücke gebaut würde. Die Brücke wurde in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts gebaut, der Krieg lässt seitdem auf sich warten. Hoffentlich hat er sich verschaut, der Mühlhiasl. Oder aber der Krieg hat längst stattgefunden, und wir haben es nicht mitbekommen, weil im Fernsehen nicht darüber berichtet wurde. Man kriegt ja nur etwas mit, wenn es im Fernsehen kommt. Kommt etwas nicht im Fernsehen, ist es meist auch nicht vorgekommen! Oder aber es ist vorgekommen - nur nicht im Fernsehen. -144-
Sind wir nicht alle Seher? Sind wir alle nicht Gefangene der Television? Auch eine Vision! Oder etwa nicht? Schon, aber wir sehen im Rechteck nur das, was andere schon für uns vorgesehen haben. Egal, wie es ist, wir sehen immer Visionen, wenn auch nur aus zweiter Hand. Secondhandvisionen. Aber bevor das Fernsehen Wirklichkeit werden konnte, war es wohl selber mal eine Vision. Irgendeiner hat sich mal vor einem rechteckigen Kasten sitzen sehen und gesehen, dass darin bewegte Bilder waren, die von einem Ort kamen, der vom Ort des Betrachters weit entfernt lag. Und diese Vision fand dieser Seher so aufregend, dass er daranging, sie in die Realität umzusetzen. Seitdem sieht der Betrachter etwas, das er unter normalen Umständen nicht sehen könnte. Denn bis dahin war es im fernsehfreien Zeitalter so, dass man nur sah, was man selber sehen konnte, wenn man sich am Ort des Geschehens befand. Durch das Fernsehen war es möglich, etwas zu sehen, obwohl man nicht dabei war. Für Zweifler war und ist das Fernsehen daher nichts. Denn man musste und muss schon glauben, was man sieht. So entstand der Glaube an das Sehen. Das Fernsehen war also eine Vision eines Sehers, der sah, wie man sehen könnte, was man sähe, wenn man nicht dabei wäre. Und die Folgen dieses Zustands beschreibt man heute als Einschaltquote! Von einer hohen Einschaltquote spricht man, wenn viele Menschen ve reinzelt an einem Ort sitzen und einen Vorgang beobachten, bei dem sie nicht dabei sind, aber glauben, sie seien dabei. Zur Vision gehört wohl der Glaube an das Sehen. Beziehungsweise, der Visionär sieht, was er glaubt. Gehört zum Sehen wirklich der Glaube? Religiöse Visionen legen die Vermutung nahe, dass nur der Gläubige sehen kann. Wer an die heilenden Kräfte der Atomkraft glaubt, sieht sie. Wer an die klassenlose Gesellschaft glaubt, sieht sie. Wer an die -145-
Unsterblichkeit des Menschen glaubt, sieht sie. In jedem Fall müssen wir dran glauben! Ich glaube, dass ich rechtzeitig zum Abgabetermin dieses Buch fertig geschrieben haben werde. Ich sehe mich schon den letzten Punkt machen. Und Punkte mache ich gerne - vor allem, wenn ich fertig bin. Ich habe einen Abgabetermin, der unaufhörlich näherrückt. Ich sehe ihn vor mir, den Abgabetermin. Rot und bedrohlich. Ich habe ihn letzte Woche schon vor mir gesehen und mir vorgestellt, dass ich letzte Woche fertig geworden bin. Jetzt sitze ich immer noch dran. Und Cy schwebt über mir wie Damokles mit seinem Schwert. Der Mensch an der Tür sah also damals schon aus, wie mein Lektor heute aussieht. Er stand vor mir, und ich dachte: Versicherungsvertreter oder Zeuge Jehova? Letzteres verwarf ich, denn die kommen ja bekanntlich immer zu zweit und der war allein. Also blieb ich in meiner Vorstellung beim Versicherungsvertreter. »Schaufler«, sagte er ernst und legte bei seiner Namensnennung einen merkwürdigen Ton in die Stimme, so als sollte mir bei seinem Namen sofort ein Licht aufgehen. Bei mir ging aber nichts auf. Noch nicht. Ich zweifelte. Doch eher Zeuge Jehova und kein Versicherungsheini, überlegte ich. Schaufler? Er sei aus Kaiserslautern und habe heute geschäftlich in München zu tun. Nun dämmerte es mir. Er habe den Ärger nun satt. Ich solle schleunigst von dem Tiefgaragenplatz verschwinden, andernfalls müsse er meine Rostlaube entfernen lassen. Und ich solle aufhören, den Querulanten zu spielen und vernünftig werden. »Vernünftig werden«, murmelte ich. »Aha.« Und ich fragte ihn betont ruhig, denn die Wut der sieben Presssäcke stieg erstaunlich schnell in mir auf: »Sie meinen also, ich sollte -146-
vernünftig werden?« Und lächelte freundlich, was natürlich ein Fehler war, denn nicht jede Situation verträgt Freundlichkeit. In manchen kritischen Situationen kann gerade Freundlichkeit als enorme Provokation empfunden werden. Prompt wurde er pampig. »Verschwinden sollen Sie so schnell wie möglich von diesem Stellplatz«, sagte er in einem, wie ich fand, reichlich unangemessenen Ton. »Warum so aufgebracht?« fragte ich betont ruhig. »Geht's nicht ein bisschen höflicher?« Er wurde ziemlich zornig. Was sage ich, er kochte. Hochroter Kopf. Also versuchte ich, ihn zu beruhigen, und sagte: »Mir scheint, Sie sind ziemlich aufgeregt. Das tut Ihnen und Ihrer Gesundheit nicht gut.« Er reagierte lauter: »Machen Sie sich mal keine Sorgen um mich!« »Doch, mache ich mir schon. Wie schnell hat man einen Herzinfarkt«, sagte ich mit der besorgten Miene eines Arztes. »Ich möchte auf keinen Fall den Notarzt rufen müssen.« »Ich brauche keinen Arzt«, sagte er trotzig. »Außerdem stimmt doch da irgendetwas nicht«, versuchte ich das Gespräch in ruhigere Bahnen zu lenken. »Sie fordern mich auf, dass ich von meinem Tiefgaragenstellplatz verschwinden soll. Aber warum sollte ich das tun, wo er mir doch rechtmäßig zusteht?« »Das ist nicht Ihr Platz, das ist meiner.« »Mein, dein, unser, wer weiß das schon so genau.« »Reden Sie hier nicht lang rum!« Mir schien, als hätte sich dabei seine Stimme überschlagen! »Ganz ruhig«, sagte ich. »Das Beste wird sein, Sie gehen jetzt erst mal wieder nach Hause, trinken eine beruhigende Tasse Tee, und dann sehen wir weiter!« -147-
Worauf er mich einen Querulanten heißt! Und ich sagte, was ich eben so sage, wenn mir einer blöd kommt. Ich kam ihm auch blöd. Er könne mich am Arsch lecken, sagte ich trocken und wollte ihm die Tür vor der Nase zuwerfen. Die ersten Drähte meines Sicherungssystems waren bereits durchgeschmort. Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie hier einen falschen Eindruck von mir gewinnen. Ich habe auch noch andere Möglichkeiten, auf derartige sprachliche Entgleisungen meiner Mitmenschen zu reagieren. Ich möchte sogar behaupten, dass ich über eine breite Palette von Reaktionsmöglichkeiten verfüge. Mein emotionales Spektrum reicht von sanft wie ein Lamm, verständnisvoll, mild, einfühlsam, psychologisch nachspürend, versöhnlich, über desinteressiert, beratungsresistent, gleichgültig, kühl, bis hin zu gerecht, strafend, wütend, ungerecht, aufbrausend zornig, vernichtend. Nur in diesem Fall griff ich, ohne zu überlegen, im Affekt spontan auf ein bewährtes Programm zurück. Ich sagte also: »Lecken Sie mich doch am Arsch!« Und was macht er? Anstatt die sich zuspitzende Lage zu entschärfen, stellt er einen Fuß in die Tür. Sagen Sie selber, was hatte ich da noch für eine Wahl? »Nehmen Sie ihren Käsefuß aus meiner Wohnung!« forderte ich ihn eindringlich auf. Und er feuerte zurück: »Von Ihnen lasse ich mir das nicht sagen!« Ich glaubte ein »linkes Arschloch« vernommen zu haben. »Haben Sie Arschloch gesagt?« versuchte ich nach wie vor sachlich die Lage zu ergründen. »Linkes Arschloch«, korrigierte er mich und wiederholte es noch einmal. »Sie linkes Arschloch!« Und ich sagte: »Hat mich also mein Gehör nicht getäuscht?« Wie Sie meinen Schilderungen unschwer entnehmen können, war ich die Ruhe selbst und nur auf Ausgleich und Harmonie bedacht. All mein Reden hatte nur ein Ziel: Entspannung, Ausgleich und die Wiederherstellung zwischenmenschlicher Harmonie. Aber was nützen alle einfühlsamen Operationen, -148-
wenn der andere nicht will. Ich riet ihm, einen Psychiater aufzusuchen, auch gebe es bereits sehr hilfreiche krampflösende Mittel. Kaum hatte ich diese meine letzten, von tiefer Sorge um seine Gesundheit getragenen Worte gesprochen, überschlugen sich die Ereignisse. Aus ebendiesem Grunde kann ich den genauen Hergang nicht in allen Einzelheiten schildern. Alles geschah, wie in solchen Fällen üblich, wahnsinnig schnell und gleichzeitig. Das Geschehen vollzog sich weniger linear nacheinander, als vielmehr akkumulativ übereinander. Die Abläufe stürmten tumultartig durcheinander. Ich war nicht mehr ich selbst und Herr meiner Aktionen. Nicht ich bestimmte den Fortgang der Ereignisse, sondern die Ereignisse bestimmten mich und mein Handeln. Normalerweise löse ich Konflikte auf der rein verbalen Ebene. Zu meiner eigenen Überraschung wählte ich in diesem Fall die körperlichaktive Variante, also den Nahkampf nach den Regeln der uralten bayerischen Selbstverteidigungskampfsportart hautzu. (Kaum noch jemand weiß, dass die fernöstlichen Spielarten der Selbstverteidigung wie Karate, jiujitsu, taitschi, aikido, fengshiu und die anderen Abarten auf das bayerische hautzu zurückgehen!) Ich verwirrte ihn, indem ich einen bayerischen Purzelbaum antäuschte und dann pfeilschnell eine Rolle rückwärts ausführte, die in einen Handstandüberschlag überging, wobei ich ihm mit den Zehen einen Stüber unters Kinn versetzte, sodass sein Gebiss wackelte. Dabei setzte ich aus den Zwischenräumen meiner Zehen mein berühmtes Narkotikum frei, das ihn schlagartig zurücktaumeln ließ. Die Pilzkultur, die in dem optimalen Feuchtbiotop meiner Filzpantoffeln stets auf Vorrat gezüchtet wird, reizte seine Schleimhäute, ließ seine Augen überlaufen und führte zu einem Niesanfall, der ihn kurzfristig in einen Schockzustand versetzte. Ich setzte zum alles entscheidenden Schlag an, stieg ihm auf die Zehen und rief: »Lass dir das eine Lehre sein! Leg dich nie mit einem Bayern -149-
an, der die voralpenländischen Selbstverteidigungskünste beherrscht!« Angesichts dieser unerwarteten Attacke schaute er mich völlig perplex an und wich zurück. Ich setzte mit einem gezielten Stoß meines rechten, infolge einer frühen Verletzung in der Metzgerei meines Vaters verkürzten Zeigefingers auf seine Brust nach und brachte ihn endgültig zu Fall. Er taumelte nach hinten weg ans Treppengeländer, bekam Übergewicht und fiel kopfüber nach unten in den Hausflur. Dumpf schlug sein Körper auf dem harten Steinboden auf. Das hatte er nun davon! Kann der nicht aufpassen? In der Ferne hörte ich Schweine quieken, Lämmer blöken und Rinder brüllen. Todesschreie. Furcht erregende Todesschreie. Na, das passte ja. Ich ging an das Treppengeländer und schaute interessiert nach unten. Von oben betrachtet war das ein friedliches Bild. Mein Magen knurrte, und ich verspürte eine unheimliche Lust auf eine Semmel mit warmem Leberkäs. Ich dachte noch: merkwürdig, dass ich in so einer Situation Hungergefühle bekomme, aber es war so. Mir fiel ein, dass die Metzgerei über Mittag geschlossen hatte. Wir hatten kurz vor halb zwei, bis drei würde ich mich noch gedulden müssen. Ich warf noch einmal einen nachdenklichen Blick nach unten. Es gab schon Fälle, wo Leute einen Sturz aus dem zehnten Stock überlebt hatten, aber nein, dieser untrainierte Sack natürlich nicht, er war tot. Da lag er nun, ein Mann zwischen Fahrrädern. Mountainbikes und Rennrädern, Stadträdern mit Kindersitzen vorne und hinten. Wer hatte denn da wieder seine Umzugskisten nicht in den Keller geräumt? Eine Unordnung ist in diesem Haus eingerissen. Unmöglich. In der Ferne blökten wieder die Viecher. Die Lämmer. Die Schweine quiekten. Die Rinder brüllten. Eine merkwürdige Geräuschkulisse. -150-
Sein Finale hatte er sich wahrscheinlich auch anders vorgestellt. Aber so ist das Leben beziehungsweise der Tod. Der Tod tritt überall ein. Er achtet nicht auf die Umgebung, nicht auf das Ambiente, nicht auf Stimmungen und nicht auf Atmosphäre. Auch farbliche Abstimmungen lassen ihn kalt. Es ist ihm alles egal. Der Tod ist überall zu Hause. Und ich konnte überhaupt nichts dafür. Es war Notwehr. Er ging auf mich zu und griff mich an. Ich fühlte mich bedroht. Plötzlich bückte er sich und wollte in mein Knie beißen, da musste ich mich doch wehren! Was muss er auch so aggressiv sein? Dumm gelaufen. Das wird jeder Richter einsehe n. Und da fragte mich die Stimme aus dem Jenseits: »Musste das sein?« Ziemlich blöde Frage, finden Sie nicht? Wieso fragt der Allwissende mich, den Unwissenden? Ich fand die Frage unpassend. Nach all den Jahren, in denen er nichts von sich hatte hören lassen. Aber rein gar nichts. Kein Wort, kein Zeichen, kein Traum, einfach nichts. Und nun wollte er auf einmal wieder mitquatschen. So geht's doch nicht! Ist das eine Art? Ich habe deshalb so getan, als hätte ich ihn nicht gehört und kehrte zu meinen Gedanken zurück. »Und jetzt?« fragte er sanft. »Wieso hast du ihn nicht gewarnt?« fragte ich. »Du als Allmächtiger hättest doch alle Möglichkeiten dazu gehabt. Also warum bist du nicht eingeschritten?« Und ich bekam einen müden, wenn auch göttlichen Seufzer, was so viel heißen sollte wie: Denke selber darüber nach, dann wirst du schon draufkommen. Diese Tour kannte ich bei ihm schon von früher. Immer, wenn er keine Antwort hatte, lächelte er sanft und gütig, und ich sollte selber eine Antwort finden. »Mein Gott«, flüsterte ich, »wieso hast du mich verlassen?« »Du hast mich verlassen!« stellte er fest. -151-
»Aber du hast es zugelassen.« »Natürlich, ich habe dir die Freiheit gegeben, selbst zu entscheiden.« »Rede du dich nicht raus jetzt! Du hättest es in deiner allmächtigen Hand gehabt, mich zurückzuhalten! Ich hatte keine andere Wahl in dem Moment.« »Also hast du dich entschieden!« »Aber warum so und nicht anders?« Keine Antwort. Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Selber schuld, hörte ich mich murmeln. Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt, einen Menschen umzubringen. Vor allen Dingen von der psychischen Seite her betrachtet. Ich hatte erwartet, dass mich ein Mord in der Seele belasten würde. War nicht der Fall. Seelisch war ich relativ ruhig. Ich fühlte mich zwar nicht gerade fröhlich, aber auch nicht übermäßig gefordert. Ich könnte nicht behaupten, dass ich sonderlich aufgewühlt war. Schuldgefühle kamen deshalb nicht auf. Ein wenig enttäuscht war ich wegen des Tathergangs. Zu gewöhnlich, zu profan war alles abgelaufen. Er war ja fast ohne mein Zutun ums Leben gekommen: kein Gift, keine Kettensäge, keine Schusswaffe, kein Sprengstoff. Eine Aktion mit einem Küchenmesser wäre zwar auch noch relativ unspektakulär gewesen, aber die Tat wäre klarer, definierter hervorgetreten aus dem allgemeinen Strom der Ereignisse. So, wie die Dinge nun einmal lagen, hätte man auch einen Unfall zumindest nicht ausschließen können. Nein, mit dem Hergang der tödlichen Ereignisse war ich unzufrieden. Es war mir zu einfach. Der Fall hatte keine Qualität. Ich hatte von mir mehr Raffinesse in der Ausführung erwartet. Jemanden die Treppe hinunterstoßen, was war das schon? Das kann doch jeder. Ich als Mörder war enttäuscht von mir. Wo war denn meine Kreativität geblieben? Erst kürzlich hatte ich in einer Zeitung von einem Mann gelesen, der seine Frau mit einem Druckluftnagler ermordet hatte. Dieser -152-
leidenschaftliche Hobbyhandwerker hatte seiner angetrauten Frau zwei neun Zentimeter lange Nägel mit dem Druckluftnagler von hinten direkt ins Herz getrieben. Das war etwas Besonderes. So mordete nicht jeder. Der Druckluftnagler geht in die Kriminalgeschichte ein. Dieser Mörder verdiente Respekt. Dagegen war mein Tathergang geradezu lächerlich. Zu wenig Affekt, zu wenig Vorsatz und zu wenig Leidenschaft, stellte ich betrübt fest. Ich bedauerte mich ein wenig und warf nochmals einen letzten Kontrollblick auf den Toten. Er war weg! Dann bin ich aufgewacht. Lag quer im Bett wie ein Embryo. Schaute doof aus der Wäsche. Mich fröstelte. Es war kalt im Zimmer. Fenster gekippt. Von draußen hörte ich die Kälber klagen, Schweine schreien und die Rinder brüllen. War das ein blöder Traum! Rosi war längst aufgestanden. Hatte Michi und Franzi in den Kindergarten gebracht und saß nun vermutlich in der Küche bei einer Tasse Pfefferminztee und blätterte in der Zeitung. Was ist denn heute für ein Tag? Dienstag? Ja. Ein trüber, kalter Dienstagmorgen im Münchner Schlachthofviertel. Es nieselte. Ich überlegte, ob ich aufstehen oder lieber noch ein wenig vor mich hinmümmeln sollte. In Gedanken versunken. Dieses Gefühl der Unentschlossenheit wertete ich als schlechtes Omen. Normalerweise kann ich es nicht erwarten, das Neueste aus der Zeitung zu erfahren, um es fürs Kabarett zu nutzen. Ja, so bin ich tatsächlich drauf. Alles, was ich lese, lese ich unter dem Aspekt der satirischen Verwertbarkeit. Ich bin ständig am Pointendrehen. Begierig nach den neuesten Meldungen hält es mich morgens kaum im Bett. Was macht das gewählte Personal? Wo vergnügt sich die Prominenz in München? Wer hat wo mit wem ein Glas hochgehalten? -153-
Was ist in der bayerischen Staatskanzlei los? Ist was rausgekommen, was nicht hätte rauskommen sollen? Mit solchen Fragen stehe ich auf. Die Politiker lassen selbstverständlich immer etwas raus. Aber an den Dosierunge n kann man erkennen, wie viel zurückgehalten wird. Was wird vermutet, was wird dementiert? Was wird aus Berlin gemeldet? Was wird eingeräumt? Sind die Rot-Grünen oder die Schwarzen wieder in einen Fettnapf reingetapst? Nachdem die Rot-Grünen an die Regierung gekommen waren, haben ständig Journalisten angerufen und gefragt, ob jetzt die Zeit des Kabaretts vorbei sei, ob man als linker Kabarettist gegen diese linke Regierung überhaupt noch satirisch arbeiten könne. Diese neue Regierung war in gewissen Kreisen von Anfang an zur Anbetung freigegeben. Zum ersten Mal gibt es sogar einen Staatsminister für Kultur im Bund. Intellektuelle und Theatermacher haben einen Kommunikator gefordert, der ihnen die aktuellen Themen kommunizieren solle. Das habe ich im »Spiegel« gelesen, und auch mich hat das sofort überzeugt. Wir brauchen einen Bundeskulturmann, der sich um die Buchpreisbindung kümmert, der auch einmal eine Ausstellung eröffnen und für das Kabinett Opernkarten besorgen kann. Naumann, das begleitende Kulturprogramm! »Guten Tag, ich bin der Buchpreisbinder, fragen Sie mich was, ich sage was dazu.« »Herr Naumann, was sagen Sie zu Ihrer Aufgabe?« »Ich halte Kontakt.« »Mit wem?« »Mit mir und meinem Amt.« »Wollen Sie noch etwas sagen, Herr Naumann?« »Ja... nein.« »Danke für das Gespräch.« -154-
Das Dumme ist, ich habe sie auch gewählt. Weniger wegen ihres Programms und des Buchpreisbinders, schon gar nicht wegen Schröder, sondern einzig und allein wegen des Dicken. Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Wenn ich mir jetzt allerdings den Schröder anschaue, wünsche ich mir manchmal den Dicken zurück. Aber hinterher ist man immer klüger. Damit will ich nicht sagen, dass ich vorher blöder war; das heißt, ich weiß es nicht. Wenn ich es wüsste, wäre ich klüger. Eins weiß ich: Der Dicke hatte und hat noch immer die besseren Gags. Helmut Kohl soll im Bundesvorstand der CDU sein Ehrenwort angeboten haben. Doch alle haben sofort abgewunken und gerufen: »Helmut, sag lieber die Wahrheit!« Als ich hörte, Helmut Kohl habe irgendwelchen Spendern sein Ehrenwort gegeben, ihre Namen nicht preiszugeben, bekam ich Angst um ihn. Er wird sich doch nichts antun, seufzte ich. Ehrenwörter können tödlich sein. Es gab schon mal einen, der nach einem öffentlichen Ehrenwort in einer Badewanne tot aufgefunden wurde. Doch damals lag der Fall anders. Erzählte man uns jedenfalls. Barschel hatte gelogen, dass sich die Balken bogen, und hatte als die Wahrheit nicht mehr zu verhindern war, den letzten Ausweg in einem Badezimmer gesucht. Doch glaube ich nicht, dass unser Helmut zu einem solchen Schritt fähig wäre. Passt nicht zu ihm. Einer wie Kohl steht eine Affäre durch. Der macht sich nicht davon. Dazu war er immer zu unbeweglich. Kohl bleibt standhaft beziehungsweise sitzen. Schon bald nachdem er Kanzler geworden war, mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass es zum Wesen seiner Charakters gehörte, sitzen zu bleiben, was ihn nicht daran hinderte, immer höher zu steigen. Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter, hat er nicht nur einmal grinsend getönt und damit seine Dickfelligkeit unterstrichen. Einmal in den achtziger Jahren hätten sie ihn beinahe erwischt. In einem Untersuchungsausschuss zur Flick-Affäre -155-
war er der Lüge bereits überführt. Doch Helmut bekannte mutig einen Blackout gehabt zu haben und war gerettet. Das öffentliche Eingeständnis, einen geistigen Totalausfall gehabt zu haben, wurde zwar belacht, hat ihm aber nicht geschadet. Niemand fragte ernsthaft, ob ein Mann mit solch mentalen Defekten für das Amt des Bundeskanzlers geeignet sei. Im Gegenteil, es brachte ihm noch mehr Sympathien. Das Volk liebte ihn dafür. Man musste den Eindruck gewinnen, das Wählervolk wünschte sich einen besonders gewieften Mann im Kanzleramt. Mit Recht. Das Volk war offenbar cleverer als so mancher Moralapostel im Land. Nur wenige waren wegen Kohls partiellem Gedächtnisverlust empört und forderten seinen Rücktritt. Die breite Masse aber hielt zu ihm. Kohl gewann souverän seine Wahlen. Wie sollte man das verstehen? Wünschte man sich einen Gauner an den Schalthebeln der Macht? Zumindest kamen solche Gedächtnisausfälle beim Wähler gut an. Die Fähigkeit zu lügen, Intrigen gegen unliebsame Kritiker einzufädeln, politische Gegner, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei, abzusägen, fallen zu lassen und politisch zu erledigen, gehören offenbar für viele in diesem Land zur Grundausstattung eines Politikers. Wie sonst ist es zu erklären, dass dieses Volk immer wieder die größten Bazi in höchste Ämter wählt? Große Gauner finden beim Volk immer Anerkennung. Woran liegt das? Vielleicht hängt es damit zusammen, dass viele von uns in ihren geheimsten Träumen selbst gern ein wenig so wären wie diejenigen, die sich mutig über Gesetze hinwegsetzen, selbstverständlich nur zum Wohle aller, lässig und cool den Helden geben, der sich gegen eine ungerechte und letztlich böse Welt durchsetzt. Da muss man auch einmal Gesetze brechen zum Wohle einiger weniger. Aber konnte Kohl für so ein ehrenwertes Handeln ein Vorbild abgeben? Eher nicht. Wie saß er oft unsicher, an der Krawatte zupfend, in seinem Sessel auf der Regierungsbank, verlegen -156-
lächelnd, tapsig, blinzelnd, mitleiderregend. Er war nun wirklich nicht der christliche Held, dem wir nacheifern wollten. Er tat uns leid. Nicht sofort, aber je länger er regierte. Zunächst lachten wir über ihn ohne Ende, nannten ihn Birne. Und er war ja auch komisch. Er brachte wunderbare Sätze hervor. Jeder weiß einen auswendig. Ich auch. »Wichtig ist, was hinten rauskommt.« Endlich wissen wir, was damit gemeint war. Für ihn war immer das Ziel der Weg. Oder: »Wir wollen die Arbeitslosen halbieren.« Das haben die glatt abgelehnt. Der Dicke war einfach lustig. Viele mussten schon wegen seines Pfälzer Dialekts lachen. Wenn er das Wort Famillje aussprach, prusteten wir schon los. Doch irgendwann konnten wir nicht mehr lachen. Das Zwerchfell schmerzte. Die Lacher wurden weniger. Manche begannen sogar, ihn ernst zu nehmen und zollten ihm Respekt. Hie und da schrieb einer in seiner seriösen Zeitung, dass Helmut Kohl nicht zu unterschätzen und zum Staatsmann gereift sei. Wir hatten uns an ihn gewöhnt. Und irgendwann hatten wir Mitleid mit ihm. Er wurde immer dicker. Regelmäßig fuhr er nach Sankt Gilgen an den Wolfgangsee und versuchte abzuspecken. Mit wenig Erfolg. Er konnte einem wirklich nur noch leid tun. Wurde er etwa aus Mitle id gewählt? Bestand darin das Geheimnis seines Erfolges? Oder konnten wir uns mit ihm zusammen selber ein wenig bemitleiden? Es war so schön, das Gefühl, sich gemeinsam wegen dieses Kanzlers bedauern zu können. Ja, wir waren arm dran mit ihm. Ganz zu Anfang seiner Regierungszeit versprach er uns die geistig- moralische Wende. Wir haben gerätselt, was er uns damit sagen wollte. Heute wissen wir es. Es kam die Wiedervereinigung, und wir waren nicht mehr allein in unserer Armseligkeit. Ein Volk schrie: »Wir sind das Volk!« und machte sich auf den Weg zu uns. Kohl ging ihnen entgegen und predigte die Einheit. Der Dicke schwitzte für -157-
Deutschland mit Jelzin in der Sauna. Da ging es heiß her. Die Abkühlung ließ nicht auf sich warten. Die Kosten der Einheit überstiegen die Erwartungen. Was soll's! Geschichte hat ihren Preis. Der Wind der Geschichte pfiff uns um die nationalen Ohren. Kohl selbst streifte der Mantel der Geschichte. Er war halt ein Pechvogel der späten Geburt, aber ein Ehrenmann! Und es fiel ihm immer etwas Lustiges ein. Er versprach den Ossis blühende Landschaften, Wohlstand, Milch und Honig. Sie wählten ihn. Klar, das Volk übte sich in Bescheidenheit. Hatten sie in der DDR gelernt. Helmut sprach von der Verantwortung vor den Menschen und der Geschichte. Wobei er »Gechichte« sagte. Er wird eingehen in die Geschichte als Kanzler der Einheit und des eisernen Ehrenwortes. Es gab schon mal einen eisernen Kanzler, der auch in die Geschichte einging. Noch heute stehen im ganzen Land Bismarck-Türme, die an ihn erinnern. Es gibt Bismarckheringe und einen Korn, der seinen Namen trägt. Wie wird man einst Helmut Kohl gedenken? Was wird man nach ihm benennen? Türme wohl kaum. Schon eher Koffer. Handliche schwarze Koffer. Und Lücken und Löcher. Tiefe schwarze Löcher wird man im ganzen Land bohren und sie Kohllöcher nennen. Und er hat dem Kontokorrent eine neue Bedeutung gegeben. Zukünftig wird man vom Kohlkonto sprechen. Ob man einen Fisch mit seinem Namen verbinden wird, wagen wir nicht zu hoffen. Auch ein Kohl-Korn drängt sich nicht auf. Ein Klarer war er nie. Schon eher ein Trüber. Dennoch bleibt seine Lebensleistung unbestritten, auch wenn er ehrenverwortet schweigt. Für ihn wiegt ein gegebenes Ehrenwort ethisch mehr als das geschriebene Gesetz. Er weiß, dass er eine n Gesetzesbruch begangen hat, fühlt sich aber einer höheren Moral verpflichtet. Einer wie er, der die wahren Werte wie Ehre und Freundschaft über das kalte, herzlose Recht stellt, gehört neben anderen großen Moralisten wie Berlusconi, Max Strauß, Wolfgang Schäuble und last but not least Manfred -158-
Kanther zu den großen Ehrenmännern Europas. Damit hat sich Helmut Kohl einen festen Platz in unseren Herzen erobert. Es wird nicht mehr lange dauern, und eine Welle der Solidarität wird unserem Kohl entgegenschwappen. Das Magazin Focus wird eine Bekenneraktion starten, wie sie wieland bisher nur im Stern stattgefunden hat. »Ich bekenne: Auch ich habe mein Ehrenwort gegeben.« Peter Boenisch, Berti Vogts, Rudolf Mooshammer mit Daisy und viele andere werden sich anschließen und öffentlich kundtun, dass auch sie schon einmal die Ehre über das Recht gestellt haben. Schließlich wird sich herausstellen, dass die Republik flächendeckend verehrenwortet ist. Und es wird ein großer moralischer Halt im Lande sein. In den Leitartikeln werden sie sich wundern, wie viel Ehre im Lande verborgen ist. Man wird frohlocken und sich auf das Gute im Menschen berufen. Im Bundestag wird ein Gesetz vorbereitet werden, das Ehre in Ausnahmefällen - wenn die Interessen des Staates es verlangen - ein Gesetz außer Kraft setzen kann. Der Begriff des ehrengesetzlichen Notstands wird als besondere Form des bereits vorhandenen übergesetzlichen Notstandes eingeführt. In jedem Fall wirkt die Lebensleistung des ehrengesetzlichen Notständers Schuld auflebend. Im Fall Kohl steht die Lebensleistung ohnehin außer Frage. Wer außer ihm kann eine geschichtliche Tat wie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten aufweisen? In weniger eindeutigen Fällen wird man andere Kriterien heranziehen müssen, um eine Verfehlung im Amt ausgleichen zu können. In Bayern konnte man als positive Lebensleistung beispielsweise eine CSU-Mitgliedschaft werten. Entlastend könnte auch ein mindestens fünfjähriger Aufenthaltsnachweis in Bayern wirken. Besondere Pluspunkte können im Freistaat Männer und Frauen aus der engsten Umgebung des verstorbenen Ehrenmannes Franz Josef Strauß für sich verbuchen. Wer durch seine Schule der Moral gegangen ist, darf -159-
sich einiges leisten, bevor über Verfehlungen überhaupt gesprochen wird. Für Kohl kommt das weniger in Frage. Man weiß um das besondere Verhältnis der beiden Männerfreunde. Der Moralist Strauß hielt nicht viel von ihm. Franz Josef jedenfalls hatte seine Ehre nie einsetzen müssen, er ist immer ohne sie ausgekommen. Das ist der Unterschied zu einem wirklich großen Bazi. Dennoch wollen wir Kohl nicht kleiner machen, als er ist. Er hat sein Bestes gegeben. Sein Ehrenwort! Eines wird bei dieser ganzen Spendengeschichte immer vergessen. Der Dicke hat das Geld nicht für sich persönlich genommen, sondern für die Partei, damit diese ihre Aufgaben optimal erfüllen konnte. Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit, so steht es im Grundgesetz. Dazu benötigen sie Geld, das sie unter anderem auch durch Spenden einnehmen. Kohl hat das Geld also für unsere politische Bildung eingesetzt. Die Millionen kamen uns zugute. Aber ganz offensichtlich waren es noch viel zu wenig. Sonst wären wir ja schon klüger und würden Kohl besser verstehen. Und wir hätten auf keinen Fall Rot-Grün gewählt. Ja, die Wahl der Rot-Grünen hat die gesamte Kabarettszene sehr nachdenklich gemacht. Sollten wir aufs Arbeitsamt gehen und uns auf irgendeinen anderen Beruf umschulen lassen, bei dem wir unsere komischen Talente nutzen konnten? SAP-Berater, Versicherungsvertreter, Pfarrer oder Taxifahrer? Taxifahrer ist ein schöner Beruf, den in Zukunft immer mehr Menschen ergreifen werden, weil er ideale Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Ein Taxifahrer wird zukünftig nicht nur Fahrgäste von einem Ort zum anderen bringen. Die Fahrtzeit wird man nicht mehr nur beschaulich vergehen lassen, sondern sie entweder als Arbeitszeit nutzen oder sich mit privaten Angelegenheiten beschäftigen. Zum Teil macht man das ja heute schon. Das Berufsbild des Taxifahrers wird sich wandeln. Fahren -160-
heutzutage häufig Studenten, Hausfrauen und Rentner, um nebenbei ihr Gehalt aufzubessern, so werden zukünftig nur noch akademisch gebildete Fahrer hinter dem Steuer sitzen. Ärzte beispielsweise werden das Taxi als mobile Praxis nutzen, um ihren Patienten während der Fahrt zum Flughafen den Blutdruck zu messen, Spritzen zu geben und über den Bordcomputer Differentialdiagnosen zu stellen. Kommt der Patient von seiner Reise zurück, holt ihn der Taxiarzt am Flughafen ab und teilt ihm die Ergebnisse seiner Untersuchungen mit. Das ist die Praxis der Zukunft. Voraussetzung sind zwei Ausbildungsgänge. Taxiführerschein und Medizinstudium. Für Apotheker, Psychologen und Juristen gilt das Gleiche. Die neuen Berufsbilder des mobilen Apothekers, des chauffierenden Psycho logen und des gasgebenden Rechtsanwalts werden sich durchsetzen, weil der Fahrgast damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Die katholische Kirche wird auf diesen Trend reagieren und Sünden- und Bußtaxis anbieten, in denen ein Priester auf der Fahrt zum Bahnhof dem Fahrgast den Ablass gewährt. Die großen Mineralölkonzerne haben es uns vorgemacht. Nur wegen Benzin fährt heute keiner mehr zu einer Tankstelle. Benzin gibt es dort selbstverständlich nebenbei. Das Hauptgeschäft liegt aber im Shop. Jeder Tankstellenbetreiber jammert, dass er vom Benzin allein nicht leben könnte. Ohne die Verkaufsumsätze in seinem Shop wäre er längst pleite. Was den Tankstellenbesitzern recht ist, sollte anderen Berufsgruppen ein Beispiel sein, dem sie nacheifern sollten. Viele Ärzte klagen, dass sie von den Einnahmen ihrer Praxis nicht mehr ordentlich existieren können. Was liegt da näher, als in der Praxis eine weitere Dienstleistung anzubieten? Beispielsweise ein Bistro mit Imbiss! Arzt bekocht seine Patienten und untersucht sie anschließend. Er könnte damit auf die Grundlagen der Krankheiten einwirken, die ihm die Nachfrage in der Praxis sichern.
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An jenem Morgen, nach dem schrecklichen Albtraum, war alles anders. Es war mir alles egal, ich möchte sogar sagen scheißegal, und deshalb drehte ich mich noch mal um. Hatte keine Lust aufzustehen, wollte noch einmal abtauchen in das Meer meiner Gedanken, die wie ruhige Wellen allmählich von weit draußen kamen und auf dem Strand meines Bewusstseins versandeten. Durch das gekippte, großflächige Fenster drangen Gerüche vom Schlachthof ins Zimmer. Ein Aroma, das mir seit meiner frühesten Kindheit vertraut war. Dieser klassische SchlachthofHautgout war im Wesentlichen ein feuchtes, schweres Luftgemisch aus Tierexkrementen, Blut, Innereien und Dieselabgasen, die in rußigen Wolken die Auspuffe der durchs Viertel donnernden Tiertransporter verließen. Bilder von frisch geschlachteten Tieren, an denen kräftige Metzgerarme hantierten, liefen wie in einem Film vor mir ab. Mit Lumpen geblendete Stiere wurden von unerbittlichen Gesellen und Viehtreibern an Nasenringen über den Hof des städtischen Schlachthofs von Passau vom Stall in die Schlachthalle geführt. Manche gingen gemächlich ergeben ihrer Bestimmung entgegen, andere wurden störrisch, blieben stehen und wollten ausbrechen. Erfahrene Viehtreiber redeten ihnen gut zu, murmelten beruhigende Worte, letzte Mantras, und streichelten sie mit einem Treibstock. Weniger geübte Metzger verzweifelten an der Sturheit der Tiere und stießen wilde Flüche aus. »Da geh her, du, Sakra, di kriag i scho, Kruzifix bleds Viech, bleds!« - Muh. An einem der Schlachtplätze wurden von Fleischbeschauern in blutverschmierten, ehemals weißen Schürzen Schussapparate auf die Stirnplatte wuchtiger Rinderschädel zwischen den Hörnern angesetzt und sofort ausgelöst. Ein Knall ging durch die Halle. Mit einem dumpfen Aufprallgeräusch knickte der zentnerschwere Bulle ein und fiel auf die Kniegelenke. Der -162-
Bolzen hatte sich mit tödlicher Wucht tief ins Hirn gebohrt. Eine Art Degen mit einer Kugel an der Spitze, der so genannte Rückenmarkszerstörer, wurde in den Schusskanal eingeführt und mehrmals ruckartig hin- und herbewegt, um die Nervenbahnen zu zerstören. An einem der Hinterläufe des toten Tieres wurde die Kette eines Flasche nzugs angelegt, mit dessen Hilfe der Koloss in luftige Höhe gezogen werden konnte. Träge bewegte sich die schlaffe Körpermasse nach oben, bis der Stier frei in der kühlen Luft hing. Ein Metzger setzte an der Gurgel ein langes Schlachtmesser an und trennte in einer scharfen Schnittbewegung den Kopf ab. Das Blut floss armdick, warm und dampfend auf den Steinboden. Ich öffnete die Augen und ließ den Blick einmal durchs Zimmer schweifen, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. In der Ferne hörte ich das Todesgequieke der Schweine. Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor halb neun, und draußen war es bestimmt saukalt. Ich wollte noch ein bisschen weiterschlafen und zog die Bettdecke enger an mich ran. Es ist schon merkwürdig, dass ich in München - genau wie in meiner Heimatstadt Passau - ganz in der Nähe des Schlachthofs eine Wohnung bekam, in der ich es genau zehn Jahre aushielt. Die Nacht von Montag auf Dienstag war immer eine der lautesten und unangenehmsten. Denn am Dienstag war Schlachttag, und die Viecher spürten natürlich, dass es ihnen an den Kragen gehen würde, und reagierten wie alle Lebewesen, wenn sie umgebracht werden sollen: sie schrien vor Angst und flehten um Erbarmen. Der Mensch, sagt man, gewöhnt sich an alles, aber ich verstehe einfach nicht, warum ich mit diesen Todesschreien in den Ohren nicht so toll schlafen kann. Ich esse gern Schnitzel und Filetsteaks, auch bei einem Tafelspitz werde ich schnell schwach, aber die Vorbereitungen dazu finde ich schlafstörend, und die Dämpfe und Gerüche, die dabei entstehen, halte ich für unappetitlich. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin in einer Metzgerei -163-
aufgewachsen. Ich habe es mir nicht aussuchen können. Aber es war außer dieser Metzgerei nichts im Angebot. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, dann hätte ich vielleicht eine andere Kindheit genommen. Ich weiß nicht welche, aber bestimmt hätte ich eine bevorzugt, die nicht so fettig gewesen wäre. Ich hätte eine Kindheit gewählt, in der man nicht ständig gehänselt wurde für das, womit der Vater sein Geld verdiente. Die dummen Witze, die sie über mich und unsere Familie machten. »Habt ihr Schweinshaxen?« »Ja schon.« »Da müsst ihr aber mal was dagegen tun. Hahaha.« Sehr witzig. Mütter, die bei uns kauften, zogen mich schon im Sandkasten für die Produkte meines Vaters zur Verantwortung. »Der Leberkäs war wieder gscheit versalzen, des kannst deim Papa sogn. Und fett war er aa wieder.« Ich war offenbar für meine Eltern verantwortlich. Aus dieser Zeit rührt mein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl für Dinge, für die ich nichts kann. (Rosi meint, dies sei ein psychologischer Halbsatz, der nichts bringe! Ich solle ihn streichen. Ich: »Kommt nicht in Frage. Der Satz bleibt drin! Cy, was meinst du?« Cy: »Ich verstehe ihn nicht. Also lass ihn drin.«) »Gell, dei Papa tuat vui Wasser eini in die Wurscht? Ja de Metzger wissens scho, wia sie's macha miassn!« Solche Reden habe ich mir anhören müssen. Als Kind war ich bei der Kundschaft unserer Metzgerei zuständig für Beschwerden. Sag's nur deinem Papa! Ich habe es meinem Vater erzählt. Er bekam meist nur einen kleinen Zorn. Er brummte und grollte ein wenig und meinte, sie könnten ihn am Arsch lecken. Dennoch verwünschte er manchmal mit böser Gelassenheit alle, die mit seinen Wurstwaren unzufrieden waren. Für ihn hatten sie einfach keine Ahnung. »G'selchte Österreicher« schimpfte er sie, was zu -164-
dieser Zeit seine Standardverunglimpfung war für Leute, die seiner Ansicht nach geistig unterbelichtet waren. Besonders unangenehme, zickige, »ausg'schamte« Kundschaften waren für ihn »Mistgurgeln«. »Denen geht's doch allen zu gut! Müssen mal wieder schlechte Zeiten kommen, dann werden sie froh sein, wenn sie ein Fett kriegen! Nach dem Krieg, da konnte nix fett genug sein. Mit den Milchkannen sind sie gekommen und wollten die fette Wurschtbrüh aus dem Kessel haben. Das, was wir heut wegschütten, um das haben sie damals 45/46 gebettelt. Schlechte Zeiten müssen wiederkommen, dann werden sie fressen, was sie kriegen!« Die schlechten Zeiten waren für ihn immer die guten Zeiten, weil die Menschen im Zustand des Mangels genügsamer waren. Die heiklen und wählerischen Kunden konnte mein Vater auf den Tod nicht ausstehen. Und alle, die das Fette ablehnten, waren für ihn nicht ganz zurechnungsfähig. Für die hatte er nicht viel übrig. Nur Spott und Schimpf. Das Fette war für ihn immer das Beste! Er hatte überhaupt kein Verständnis für Menschen, für die das Fette nichts war, nichts weiter als eine Schicht, die er wegschneiden sollte, weil die dumme Kundschaft es wünschte. Alles, was nicht fett war, war nichts für ihn, war trocken, zäh, einfach »nicht zu packen und nicht zu fressen«. Jawohl, nicht zu fressen, so drückte er sich aus. »Was gibt es mittags zu fressen?« fragte er. Und wenn kein Wammerl beim Schweinebraten war, dann war das nichts Ordentliches zu fressen. »Ich will ein ›fetts Wämml‹«, forderte er beim Versuch, bayerisch zu sprechen. Sein Leben lang wollte er Wammerl sagen und sagte Wämml. Und wie oft haben wir ihn korrigiert und darauf hingewiesen, dass es Wammerl heißen muss, und er gab nur lapidar zurück: »Das ist doch mir wurscht, wie das heißt, nur fett muss es sein, das Wämml.« Also das gab es nicht, dass einmal das Wammerl gefehlt hätte. Und auch ein Ripperl war immer dabei, wenn es bei uns zu Hause Schweinebraten gab. Nie war der Schweinebraten von der Schulter. »Nicht zu fressen, nicht zu -165-
packen, viel zu trocken.« Ein durchwachsenes Halsgrat war es immer. Ohne Ausnahme! Dazu Semmelknödel und Gurkensalat und für meinen Vater extra einen grünen Salat, der gezuckert wurde. Jawohl, Zucker auf dem grünen Salat! Freitags war Fasttag, der immer eingehalten wurde, weil, außer meinem Vater, alle katholisch waren in der Familie. Deshalb kam einmal die Woche kein Fleisch auf den Tisch, sondern Mehlspeisen. Milchreis, Pfannkuchen, Fingernudeln und seltener auch Fisch. »Ich fress ein Stück Presssack!« beschied er das Angebot ablehnend und blieb in seinem Reich zwischen den Kesseln und Selchen. Rosi öffnete vorsichtig die Tür zu unserem Schlafzimmer. Sie fragte: »Schläfst du noch?« »Ich mag heute nicht aufstehen.« »Bist du krank? Geht's dir nicht gut?« Draußen fährt gerade ein Krankenwagen mit jaulendem Martinshorn vorbei. Auweh, die Krankheit auf Rädern ist unterwegs. Der Mensch neigt zur Krankheit. Das geht schon bei der Geburt los, das packt er nicht allein. Er braucht einen Doktor, eine Hebamme und Pflege. Das ganze Leben lang ist der Mensch auf Hilfe angewiesen, ganz besonders, wenn er krank ist. Wenn er nicht krank ist, könnte er krank werden. Er geht zum Onkel Doktor und fragt diesen, was er machen soll, dass es nicht dazu kommt. Der Doktor sagt: Kommen's nächste Woche wieder. Diese Krankheit wird im Laufe der Zeit immer schlimmer. Und je älter der Mensch wird, desto kränker wird er. Wie sagt mein Arzt immer: »Es gibt keinen gesunden Menschen, sondern nur Patienten, die schlecht untersucht wurden.« Verstehe ich doch! Die Ärzte müssen ja schließlich auch von etwas leben. Man hat festgestellt, je mehr Ärzte es gibt, desto mehr -166-
Patienten gibt es, die immer länger krank sind. Könnte das an den Ärzten liegen? Die Ärzte haben festgestellt, dass das Leben an sich schon eine Krankheit ist. Und dagegen haben sie noch kein Mittel gefunden. Aber das ist ja das Gute an dieser Krankheit, weil davon wiederum die Ärzte und Apotheker leben. Diese Berufsgruppen brauchen die Krankheit. Doch die Finanzierung wird immer teurer. Es gibt nur einen Ausweg. Wir müssen nicht auf die Gesundheit achten, sondern auf die Krankheit. Was es bringt, wenn wir auf die Gesundheit achten, wissen wir doch: den Kollaps des Gesundheitssystems. Deshalb müssen wir den Schwerpunkt auf die Krankheit legen. Ich stelle mir eine Werbekampagne der Ärzteschaft vor: »Neuer Grippevirus eingetroffen. Fieber bis zu 42 Grad möglich. Exitus auf Wunsch.« Krankheit als Chance. Die Krankheiten müssen effektiver werden. Kurz und prägnant. Die Krankheiten der Zukunft müssen kostengünstig verlaufen. BSE. Der Rinderwahnsinn bietet eine ideale Chance und passt in dieses Konzept. Kurzer Verlauf, aber effektiv im Ausgang. Dafür müssen wir den Briten dankbar sein, denn sie haben mit dieser Krankheit einen schönen Beitrag für die Gesundheitsentwicklung in der EU geleistet. Die Krankheit ist schmackhaft, man kann sie kulturell angemessen zu sich nehmen, und der Verlauf ist kurz und schmerzlos. Auch der Gourmet kann da am Tisch sitzen bleiben. Was habe ich gelesen? Bis zum 15. Oktober 1999 sind in England 1.567 Fälle von BSE festgestellt worden. Seit kurzem ist das Einfuhrverbot für britisches Rindfleisch aufgehoben. Aber es gibt bei uns Rindfleischverweigerer, die dieser Krankheit in Deutschland keine Chance geben wollen. Der Engländer ist da anders. Der besteht auf seinem Recht auf Krankheit und versteht nicht, warum der Rindfleischliebhaber auf dem Kontinent nicht auch seine Chance bekommen soll. Vielleicht könnte man mit England eine Kooperation -167-
dahingehend anstreben, dass deutsche Rinderwahnsinnpatienten in England kostenlos behandelt werden, wenn sie nachweisen können, dass sie in Deutschland britisches Rindfleisch verzehrt haben. Das wäre ein für beide Seiten akzeptabler Kompromiss. Rosi dachte also, ich sei krank. Ich überlegte, ob ich sie in dem Glauben lassen sollte. Sie wird dann immer selbstlos fürsorglich und bringt ihre ärztlichen Kenntnisse zum Einsatz. Ich will immer Medikamente, harten Stoff. Aber sie vermiest mir die stärksten Hämmer, indem sie mir sämtliche Nebenwirkungen vorliest. Das genügt oft, um mich von einer Minute auf die andere gesunden zu lassen. Schließlich will ich mich nicht von ihren homöopathischen Dosen langsam vergiften lassen. Ich hatte also meinen Vermieter umgebracht! Zwar nur im Traum, aber immerhin! Das war zu viel des Guten. Eine Lösung musste her. Ich brauchte den Mietvertrag! Entschlossen stand ich auf und wühlte noch mal alle Aktenordner durch, sortierte die Ablagen, räumte den Schreibtisch aus. Kein Mietvertrag weit und breit. Na ja, dann würde ich eben bei der »Edmina« eine Fotokopie besorgen. Ich suchte also nach der Telefonnummer dieser Firma. Aber es gab keine Firma mit diesem Namen. War es wirklich die Edmina, begann ich zu zweifeln. Die Telefonnummer von diesem Makler musste her. Ich war ganz sicher, dass ich mir seine Visitenkarte aufgehoben hatte. Alle Visitenkarten, die ich überreicht bekomme, hebe ich fein säuberlich in einem Schuhkarton auf. Ich wühle und finde viele Visitenkarten, nur diese nicht. Gerade will ich aufgeben, da liegt sie vor mir: Herr Manfred Mühlenbach. Na, wer sagt's denn? Ich rufe sofort an. Es klingelt, aber keiner geht hin. Wieso hebt bei einer Grundstücksimmobilienverwaltungsgesellschaft (Das ist ein Wort mit 55 Buchstaben! Mein Ehrgeiz ist, ein Wort zu -168-
kreieren, das 60 Buchstaben hat, also genau einer Zeile in diesem Buch entspräche.) keiner ab? Und wieso läuft kein Band? Merkwürdig. Auf Herrn Mühlenbachs Karte steht auch seine Privatnummer. Da rufe ich doch gleich an. Es klingelt. Eine freundliche Dame hebt ab und erklärt mir, dass der Herr Mühlenbach schon lange nicht mehr hier wohne. »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich ihn jetzt erreichen kann?« »Mei«, sagt sie, »er hat, glaub' ich, das Häusermakeln aufgeb'n. Sovui ich weiß, hat der geheiratet und verkauft jetzt Fisch am Viktualienmarkt.« Ich denke, ich habe mich verhört, und frage noch mal nach: »Was verkauft er jetzt am Viktualienmarkt?« »Fisch«, sagt die Dame, »in einem Fischgeschäft.« Ich gehe also in die Tiefgarage, lasse die Hebebühne nach oben, steige ins Auto, rangiere und fahre aus der Tiefgarage raus. Oben kommen mir Zweifel, ob das jetzt nicht ein Fehler wäre, sozusagen taktisch unklug, den Doppelduplexplatz zu verlassen. Der Herr Stockmann könnte die gü nstige Gelegenheit nutzen und sich mit seinem PKW auf meinen Doppelduplexplatz stellen. Ich fahre also wieder rein in die Tiefgarage, wo gerade mein Doppelduplexpartner, der Herr Eggert von oben drüber, die Hebebühne nach unten gefahren hat, um selbst raus zufahren. Ich fahre wieder aus der Tiefgarage rückwärts raus, für zwei Fahrzeuge wäre es zu eng da unten, warte, bis er rausgefahren ist, fahre wieder runter, lasse die Hebebühne nach oben fahren und rolle wieder auf meinen Stellplatz. Beim Verlassen der Tiefgarage sehe ich auf dem Stellplatz Nummer 1 schräg gegenüber den Toyota von Herrn Stockmann stehen. Er hat doch einen Stellplatz, denke ich, warum will er jetzt vom Einser auf den Zwanziger wechseln? Ich kann mir keinen Reim drauf -169-
machen. Ich verlasse zu Fuß die Tiefgarage und bestelle mir ein Taxi, um zum Viktualienmarkt zu fahren. Es klappt wunderbar, das Taxi kommt schon nach zwanzig Minuten, und wir erwischen auch gleich einen Stau. Ich vermute, dass alle Stauteilnehmer auf der Suche nach einem Parkplatz sind und nur deshalb der Stau entsteht. Der Taxifahrer kann mir nicht folgen und meint trocken, dass hier sowieso alle narrisch seien. »A jeder hat an Karrn und fahrt damit! I dads' alle mitnand' nausschmeiß'n aus der Stadt. Bei mir derfaten nur Taxi und Bus fahr'n! Aber im Rathaus spinnens' ja alle. Am schlimmsten san de Grünen. Aber irgendwann bricht sowieso alles z'amm, und dann hamma an Dreck im Schachterl. I woaß a Abkürzung, is aber a bissl weiter!?« Ich schau skeptisch. Meint er: »Geht aber schneller!« Ich nicke, und der Taxler beginnt eine großräumige Umfahrung. Wir fahren, aber es kostet halt doppelt so viel wie üblich. Macht nichts, denke ich mir, Hauptsache ich komme zum Viktualienmarkt und finde meinen Herrn Mühlenbach, der jetzt Fisch verkauft. Ich gehe an den Fischgeschäften vorbei und schaue durch die Scheiben nach innen. Und tatsächlich, schon im zweiten Geschäft steht der Herr Mühlenbach in einem Gummischurz mit hochgekrempelten Ärmeln und bringt grade einen prächtigen Donauwaller um. Ich gehe rein, grüße freundlich, und der Herr Mühlenbach erinnert sich auch gleich an mich. Er stellt mir seine Frau vor, wegen der er aus dem Immobiliengeschäft aus- und in den Fischhandel eingestiegen ist. Ich gratuliere und schildere mein Problem mit dem Herrn Schaufler aus Kaiserslautern. Dann erzählt er mir, dass es die Edmina nicht mehr gäbe. Die sei in Konkurs gegangen und von der Edmira übernommen worden. Er meinte, dass dort die Unterlagen gelandet sein müssten. Ich solle doch bei Frau Sommerey nachfragen, und falls ich mal einen -170-
schönen Fisch bräuchte, dann würde er mir den gerne umbringen. Am Freitag hätten Sie auch manchmal Huchen. »Sie meinen den Bayern-Lachs?« »Ja, haben wir nur für ausgesuchte Kundschaften.« Das beruhigte mich und half mir schon mal weiter. Papa, kannst du mir mal helfen? Weißt du, was ›Harisliz‹ ist?« fragt mich mein Sohn Michael. Ich sage, ich habe keine Ahnung, was Harisliz ist. Haribo kenne ich. »Harisliz, was soll das sein?« frage ich ein wenig genervt. »Ist das was zum Essen oder ein neues Spiel für die Playstation?« Er lacht. »Nein, Papa, das ist Geschichte.« Und er hält mir sein Geschichtsheft hin. Sie nehmen die Zeit Karls des Großen durch. »Du könntest ein bisschen sauberer schreiben«, ermahne ich ihn. »Du musst es ja nicht lesen können, Papa. Hauptsache, ich kann es lesen«, sagt er. Seine Schrift ist für einen Zwölfjährigen schon sehr schwungvoll, aber dieser Hefteintrag lässt das Wort Geschmier in einem völlig harmlosen Licht erscheinen. »Sag mal, lässt euch der Lehrer keine Zeit in der Schule?« »Doch, aber es geht immer so schnell.« Und da steht tatsächlich Harisliz. » Was ist damit gemeint?« Er schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Der K. hat das an die Tafel geschrieben.« »Er muss doch erklärt haben, was es bedeutet.« »Ich weiß es nicht.« »Du weißt es nicht!« -171-
»Du weißt es ja auch nicht.« »Ich muss es auch nicht wissen. Ich weiß aber, wann die Schlacht bei...« »Poitiers war. Ja, ja, die war 732. Ich weiß, Karl Martell und seine Hausmeister. Papa, das ist doch jetzt scheißegal.« »Das ist eben nicht scheißegal. Wenn nämlich der Karl Martell nicht 732 nach Christus in der Schlacht bei Poitiers die Araber abgewehrt hätte, würden wir wahrscheinlich mit dem Turban rumlaufen, weil wir nämlich alle Moslems wären.« Er zuckt mit den Schultern. Ich komme in Fahrt. »Das ist verdammt wichtig«, sage ich eindringlich. »Wenn wir heute Moslems wären, dann gäbe es keinen Schweinebraten und kein Oktoberfest und auch keinen Starkbieranstich auf dem Nockherberg.« Er schaut ungläubig. »Ich bin überhaupt nicht getauft. Ich geh' in Ethik.« »Wenn wir Moslems wären, würdest du nicht in Ethik gehen! Weißt du, wo du dann hingehen würdest?« »In Religion!« »Ja, aber in die Koranschule.« »Papa, das ist doch scheißegal. Ich muss wissen, was Harisliz ist. Morgen schreiben wir eine Ex.« »Schau halt im Buch nach. Ich weiß es auch nicht. Im Buch muss es doch stehen.« Er holt das Geschichtsbuch, und wir suchen beide. Es steht nicht im Buch. »In welchen Zusammenhang hat denn der Lehrer Harisliz gebraucht?« Schulterzucken. »Es muss etwas mit dem Tassilo zu tun haben.« Herzog Tassilo von Bayern, überlege ich. Ganz dunkel -172-
erinnere ich mich an meine Geschichtsstunden am Gymnasium. Tassilo - war das nicht ein Agilolfinger? Ich verspreche ihm, nach diesem Harisliz zu forschen, wenn ich mit diesem Kapitel meines Buches fertig bin. »O.K.«, sagt er bedrohlich, »dann komme ich später wieder«, und zieht erst einmal ab. Nun bin ich draußen aus meiner Doppelduplexgeschichte und finde mich zurückversetzt in meine Schulzeit. Wir hatten einen Geschichtslehrer, der uns Geschichtszahlen pauken ließ. »Ein paar Zahlen müssen schon hängen bleiben«, pflegte er süffisant zu fordern, wenn wieder einmal jemand über das sture Auswendiglernen der Zahlen klagte. »Chlodwig merken wir uns um 500.« Ab Chlodwig aufwärts fragte er in jeder Stegreifarbeit und bei jeder mündlichen Prüfung Geschichtszahlen ab. So kommt es, dass ich heute noch weiß, dass Chlodwig um 500 regierte. Warum und wie Chlodwig regierte, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass danach ein Pippin kam und es zwei davon gab, den jüngeren und den älteren, und einer von den beiden dem Papst Land schenkte und der Papst ihn dafür zum Kaiser krönte. Karl Martell war ein mächtiger Hausmeier, aber welche Funktion hatte ein Hausmeier? Da müsste ich glatt nachschauen. Karl der Große wurde 800 in Rom zum Kaiser gekrönt. Soll aber eine Geschichtsfälschung sein. War gar nicht 800. War früher oder später, aber sie haben es auf 800 gelegt, damit wir es uns besser merken können. Klar, darum habe ich es mir gemerkt. Warum fragt mich mein Sohn nicht nach Karl dem Großen? Da wüsste ich wenigstens noch wann er regiert hat. 762 bis 814. Manchmal glaube ich, sie unterrichten in der Schule absichtlich Sachen, die keiner von den Eltern wissen kann, damit die Kinder die Eltern alt aussehen lassen können. Es gibt eine Theorie, nach der es Karl den Großen überhaupt nie gegeben hat. Über 350 Jahre des Mittelalters sollen frei erfunden sein. Ich habe einen Verdacht: Vielleicht hat Michi -173-
mich reinlegen wollen und dieses Harisliz erfunden, um zu sehen, ob ich darauf reinfalle. Oder der Geschichtslehrer hat es erfunden, um die Schüler auf die Probe zu stellen. Oder aber der Lehrer ist schon auf diesen Schmarren reingefallen. Das bin ich noch am ehesten bereit, für wahr zu halten. Harisliz? Ich schaue mal in der »Bayerischen Geschichte« nach. Ich gehe ans Bücherregal. Weit und breit keine »Bayerische Geschichte«. Sie ist nicht da. Ich geh' erst mal aufs Klo. Vielleicht liegt der Band dort. Michi kommt mir im Gang entgegen. »Ich weiß jetzt, was Harisliz ist.« »Und?« »Harisliz bedeutet Fahnenflucht, Verlassen des Heeres«, sagt er triumphierend. »Der Herzog Tassilo war dem Pippin, dem Kurzen - oder war es der lange oder der jüngere oder doch der ältere? - der dicke, der dünne? -, verpflichtet, ihn bei seinen Kriegen zu unterstützen. Wenn der Pippin zum Krieg geblasen hat, musste Tassilo, der Bayer, mit seinen Raufbolden anrücken. Nachdem sie schon drei Schlachten für den Pippin gewonnen hatten, meinte der Tassilo, der Pippin könnte doch eigentlich einen Krieg auch mal ohne ihn auskommen. Mitten in der Schlacht bei Nevers gegen die Aquitanier dachte er sich: Ich mag nicht mehr, immer diese Rauferei, ich gehe jetzt heim! Er entschuldigte sich mit Krankheit. Vielleicht hat er Kopfweh gehabt. Der Pippin hatte dafür viel Verständnis und ließ ihn gehen, vermutlich auch deshalb, weil der Tassilo die Tochter des Tangobarden Desiderius heiraten wollte.« »Sag, muss das nicht Langobarden heißen?« fragte ich unsicher. »Tangobarden kann ich mir besser merken!« »Aha, und jetzt komm endlich mal auf den Punkt und erkläre mir, was es mit diesem Harisliz auf sich hat.« »Das habe ich dir grade erklärt«, sagt er streng. »Papa, du musst besser zuhören, wenn man dir etwas erklärt.« Sagt er -174-
überlegen und verschwindet in seinem Zimmer. Trotzdem interessiert mich, warum Harisliz Fahnenflucht heißt und warum der Herr Lehrer möchte, dass die Kinder wissen, was Harisliz ist, anstatt ihnen den Vorgang, was man darunter zu verstehen hat, beizubringen. Ich glaube, ich muss mit diesem Lehrer einmal ein ernstes Wort reden. Geschichte ist halt immer das, was man sich nicht merken kann. Und wie komme ich jetzt wieder in meine Doppelduplexgeschichte rein? Am Ende kriege ich vom Leser noch Vorwürfe wegen Geschichtsharisliz unerlaubtes Verlassen der Geschichte. Völlig unerwartet meldete sich Herr Krampfl vom FFB wieder. »Herr Jonas, ich habe es nun noch einmal durchgearbeitet und ich bin angetan. Jajaja.« Heute ist der Ballon prall gefüllt. Deshalb verlassen die Worte seine Mundhöhle mit etwas zu viel Druck. »Ich habe auch noch mal mit Herrn Schlapp-Winsel darüber gesprochen, und wir fanden es beide schön, wenn Sie noch ein wenig mehr ausarbeiten könnten. Ein komplettes Buch wäre sehr hilfreich, damit wir uns ein umfassenderes Bild machen können. Wenn die Forschungsreise in Serie gehen soll, und das soll sie ja, brauchen wir auch noch einen Themenaufriss von sagen wir sechs Folgen. Kleine Kurztreatments, jajajaja. Hervorragend wäre, wenn wir das ausgearbeitete Konzept in sagen wir vierzehn Tagen vorliegen hätten. Wir könnten dann in der Programmplanungskommission bereits Nägel mit Köpfen machen. Und dort werden ja die Gelder bewilligt, und ohne Geld können wir nichts machen. Wir täten uns in der Entscheidungsfindung viel leichter, wenn wir etwas besser von ihnen gebrieft werden, wenn ich das mal so neuhochdeutsch sagen darf.« Selbstverständlich durfte er das. Das klang sehr viel versprechend. -175-
Also habe ich mich an die Arbeit gemacht und einen Themenaufriss erarbeitet und ein Buch für die erste Folge ausformuliert. Am liebsten hätte ich eine Folge über das freie bayerische Fernsehen geschrieben. Habe aber davon abgelassen, weil es doch eine gewisse Portion Humor bei den Betroffenen vorausgesetzt hätte, den ich gleich zu Anfang lieber nicht auf die Probe stellen wollte. Ich habe mich daher doch lieber für das Thema bayerische Gerechtigkeit entschieden. Ich hatte den Verdacht, dass es im bayerischen Wesen, unabhängig von Polizei und Justiz, einen bayerischen Gerechtigkeitskern geben müsse, aus dem sich die spezielle bayerische Gerechtigkeit herleiten ließ. Ich wollte mit Außenaufnahmen bayerischer Gefängnisse beginnen. Das ehemalige Zuchthaus Straubing sollte mein erster Drehort sein. Dort wollte ich von außen nach innen schaue n. Diese bayerische Justizvollzugsanstalt liegt wirklich idyllisch in der niederbayerischen Gäubodenstadt an der Donau. Ein Blick auf das mächtige Areal sagt einem: Einbrechen ist hier ein Problem. Und so viel ich weiß, wurde dort auch noch nicht eingebrochen. Der umgekehrte Weg, gegen den Willen der Anstaltsleitung von drinnen nach draußen zu gelangen, wurde schon einige Male versucht. Mit erstaunlich geringem Erfolg. Ich hätte gern von drinnen nach draußen geschaut durch vergitterte Fenster. Hätte zu gern gewusst, wie sich bayerische Freiheit drinnen anlässt im Unterschied zur bayerischen Freiheit draußen im Freistaat. Denn Freiheit gibt es auch im Knast, sie nimmt nur eine andere Gestaltungsform an als die Freiheit außerhalb von Gefängnismauern. Manchmal nimmt sich einer das Leben in einem Gefängnis und nimmt damit der Gesellschaft die Freiheit, ihn einzusperren. Diese Freiheit bleibt einem immer, auch wenn es nicht so gern gesehen wird, wenn einer freiwillig - wie es so schön heißt - aus dem Leben scheidet. Logisch, die Justiz sperrt lieber lebende Straftäter ein als Tote. Tote sind auch schlechte Arbeiter. In den Gefängnissen wird -176-
nämlich gearbeitet. Zu günstigen Tarifen. Tüten werden schon lange nicht mehr geklebt. Nein, in den Gefängnissen wird richtige Arbeit geleistet. Gefängnisse sind Unternehmen. Wirtschaftlich und profitorientiert! Es gibt beispielsweise Druckereien, die wesentlich günstiger arbeiten als vergleichbare Unternehmen in Freiheit. Es gibt sogar schon Klagen von der freien Druckwirtschaft, die diese Praxis nicht mehr dulden will. Denn auf dem freien Markt entstehen ganz andere Arbeitskosten als auf dem unfreien Arbeitsmarkt im Knast. Feststeht: Im Knast wird günstiger produziert. Die Knackis sind wettbewerbsfähiger. Aus dieser Erkenntnis kann es doch nur einen Schluss geben. Der Standort Deutschland braucht mehr Straftäter und als Folge davon mehr Gefängnisse. Jede Stadt, jede Gemeinde könnte ihren eigenen Knast betreiben. Voraussetzung sind schärfere Gesetze und härtere Strafen. Schon Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr sollten mit Gefängnis bestraft werden. Dadurch würde zweierlei erreicht: Solange der Straftäter sitzt, kann er nicht Autofahren und entlastet dadurch den Verkehr; und außerdem arbeitet er zu einem günstigen Tarif im gefängniseigenen Betrieb. Solche Überlegungen wollte ich in die erste Folge der Serie einbringen. Ich schrieb ein ausführliches Treatment, schickte es mit einem freundlichen Begleitschreiben an Herrn Krampfl und wartete, bis er sich mit meinem Werk auseinander gesetzt hatte. Wer stört schon wieder? Bernadette, die Frau von Andreas, steht im Hausgang und stellt eine große Umzugskiste voll Lebensmittel vor mir auf den Boden. »Bruno, wir fahren eine Woche auf den Bauernhof. Wir haben unsere Vorräte durchgesehen und festgestellt, dass wir alles doppelt und dreifach haben. Ich weiß gar nicht, wo das alles herkommt. Jetzt wollte ich euch fragen, ob ihr davon etwas gebrauchen könnt.« Ich schaue in die Kiste und entdecke Milch, Eier, Mehl und einiges mehr. -177-
Filippos Frau Mirella kommt ebenfalls mit einer Kiste auf den Armen an unserer Tür vorbei. Sie ist auf dem Weg in den Keller. »Stellt euch vor, Filippo hat sich eine Kiste Glasreiniger andrehen lassen. Dreißig Flaschen! Sagt mal, wollt ihr ein paar Flaschen davon haben?« »Putztücher könnt ihr von uns haben. Davon hat Andreas fünfzig Stück gekauft«, bemerkt Bernadette. »Gerne! Sagt mal, hat Amanda mit euch auch schon über das Millenniumsfest gesprochen?« fragt Mirella. »Wir sind leider nicht da«, sagt Bernadette bedauernd, »Andreas will unbedingt ins neue Jahrtausend paddeln. Ihr kennt ihn ja, er ist Extremsportler. Punkt Mitternacht will er das neue Jahr mit zwölf Eskimorollen begrüßen. Das ist mir zu kalt. Ich fahre mit den Kindern nach Hamburg zu Freunden.« »Das ist bestimmt auch aufregend. Silvester muss man etwas Besonderes machen. Millennium ist schließlich nicht jedes Jahr«, sagt Mirella. Ich schiebe die Kiste mit Bernadettes Lebensmitteln in die Wohnung und schließe die Tür. »Tut mir leid, Mädels, aber ich muss weiterschreiben. Mein Lektor drängt mich. Ich soll noch in diesem Jahrtausend mit meinem Buch fertig werden.« »Tschau.« In der Kiste befanden sich unter anderem zwei frische Forellenfilets und Sahnemeerrettich. Wenn ich jetzt noch ein Stück Zitrone hätte, würde ich es glatt essen. Nein! Jetzt wird gearbeitet. Der Fischhändler-Makler hatte mir also die Adresse der Edmira gegeben. Ich ging zum Taxistand und ließ mich in die Boschetsrieder Straße 109 fahren. Die Edmira -178-
Immobilienverwertungsund Grundstücksverwaltungsgesellschaft mbH befand sich in einem repräsentativen Betonbau, der an Hässlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Verwaltungsästhetik vom Feinsten. Im selben Gebäude residierten im Parterre eine Filiale der Firma Schlecker, in den höheren Etagen Anwälte, ein Dentallabor und, ich juchzte vor Glück, die Edmira Immobilienverwertungs- und Grundstücksverwaltungsgesellschaft mbH. Ich drückte auf den Klingelknopf der Edmira, und es wurde mir geöffnet. Es war also doch jemand da. Freudig bestieg ich den Lift nach oben. Dann stand ich endlich vor der Tür, hinter der sich mein Mietvertrag befinden musste. Gerade kam ein seriöser Herr heraus, gefolgt von mehreren ebenfalls seriösen Herren, alle bepackt mit Akten und Kisten, die sie im Begriff waren, nach unten zu bringen. Die Edmira ist, so dachte ich spontan, offensichtlich dabei umzuziehen. Deshalb kein Anschluss unter dieser Nummer. Alles klar. »Ach, entschuldigen Sie«, sprach ich den Ersten an, der sich nur sehr widerwillig ansprechen ließ, »ich suche Frau Sommerey.« »Gehen Sie mal rein«, meinte dieser abweisend, aber durchaus noch fürsorglich, »und sprechen Sie mit dem leitenden Staatsanwalt!« »Staatsanwalt? Wieso Staatsanwalt? Ich brauche keinen Staatsanwalt, ich brauche meinen Mietvertrag.« Meine Fragen erreichten ihn nicht mehr. Er war schon weg. Ich betrat den Gang, wo mir noch mehr seriöse Herren mit Kisten voll Akten entgegenkamen. Schließlich traf ich auf eine große, blonde, sehr attraktive Frau, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Sharon Stone besaß. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig und vergaß für einen Moment, warum ich überhaupt hier war. Sie roch nach van Cleef, einem Duft, der mich wahnsinnig macht. »Sagen Sie, dieses Parfüm, das Sie da aufgelegt haben, ist das der neue Duft von van Cleef?« -179-
»Nein!« »Ich dachte, es könnte der neue Duft von van Cleef sein?« »Must de Cartier!« kam es kühl zurück. »Hätte ich jetzt nicht gedacht, rieche ich aber auch sehr gern!« Dabei schnupperte ich noch ein wenig in ihre Richtung! Sie lächelte, ich auch. »Sind sie zufällig Frau Sommerey?« »Nein, ich heiße Babette Wiendl.« »Babette«, wiederholte ich ihren Namen voller Überraschung und eine Idee zu französisch prononciert. »Und Sie?« »Ich?« »Ja, Sie? Wer sind Sie? Sollen Sie hier mithelfen? Sind Sie Kollege?« Irgendwo im Büro fiel einem seriösen Herrn eine Aktenkiste zu Boden. »Weder noch. Ich bin Kabarettist! Und wer sind Sie?« »Ich bin die leitende Staatsanwältin!« Das tut mir leid! wäre mir beinah rausgerutscht. Ich begann zu erklären, dass ich auf der Suche nach Frau Sommerey sei. Ich hätte gehört, sie sei im Urlaub gewesen, und wähnte sie zurück. Ich sei hier, um eine Fotokopie eines Mietvertrages für einen Doppelduplextiefgaragenplatz abzuholen. Ich merkte, dass die Art, wie ich die Wortkombination Doppelduplextiefgarage nstellplatz aussprach, auf Babette erotisch aufregend wirkte. Sie schlug die Augen nieder. Als ich aber vorsichtig die Bitte vortrug, ob es nicht möglich wäre, diese Fotokopie jetzt und sofort hier und gleich anzufertigen, kam von Babette ein kühles, apodiktisches »unmöglich«. Auch als ich unterwürfigst darum bat und dabei wie ein treuer Dackel schaute, war sie nicht zu erweichen. -180-
Damit waren alle meine Hoffnungen auf eine Fotokopie dieses Mietvertrages zerstört. Ich redete mit Engelszungen auf Frau Dr. Babette Wiendl ein, aber sie blieb hart. Erst nach Abschluss der Ermittlungen in einem halben bis dreiviertel Jahr könne ich über einen Anwalt einen Antrag auf Akteneinsicht und Herausgabe einer Fotokopie stellen. Ich erfuhr, dass Frau Sommerey aus ihrem Urlaub nicht zurückgekehrt und international zur Fahndung ausgeschrieben sei. Es bestünde hinreichender Tatverdacht, dass sie in betrügerischer Absicht Mieteinnahmen in beträchtlicher Höhe veruntreut habe. Kurz und gut, die Edmira sei pleite, habe überhöhte Mietgarantien versprochen und sei nun im Zuge der fallenden Mieten nicht mehr in der Lage gewesen, den Forderungen nachzukommen. Es sei ein Schaden in Millionenhöhe entstanden, und falls ich zu den Geschädigten gehöre, solle ich meine Forderungen schriftlich, am besten über einen Anwalt, geltend machen. Mir war elend zu Mute. Es sah so aus, als müsste ich eine Niederlage hinnehmen. Hackstock, Böck, Böck-Lahm und Partner in Kaiserslautern würden triumphieren. Eine große Ungerechtigkeit bahnte sich an. Alles in mir widersetzte sich. Außerdem müsste ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, einen neuen Parkplatz für unseren wiederauferstandenen BMW 520 Bj. 87 zu suchen. Im Geiste formulierte ich schon die Anzeige: »Kabarettist sucht für seinen rostfreien BMW 520 Bj. 87 neuen Stellplatz. Am liebsten in Tiefgarage. Bevorzugt Doppelduplex. Fahrzeug ist äußerst geräusch- und lärmarm. Verfügt über einen Katalysator. Fahrer versöhnlicher Typ.« Ich verabschiedete mich von Frau Babette Stone sehr traurig, nahm zum Abschied noch eine Nase ihres Parfüms und fuhr deprimiert nach Hause. Dort erwartete mich Rosi, roch nach Schinkennudeln und Kinderpuder. -181-
Bei Schinkennudeln fällt mir ein, dass ich heute noch gar nichts gegessen habe. In meinem Magen befindet sich ein großes Lo ch, das jetzt auf der Stelle gefüllt werden möchte. Ich könnte die Forellenfilets essen. Nein, lieber nicht, dann befällt mich wieder die postprandiale Müdigkeit, und ich kann den ganzen Nachmittag nichts mehr denken. Jetzt lieber leichte Kost, am besten gar nichts essen, nur trinken. Ich mache mir mal einen Pfefferminztee. Gerade bin ich mit meiner Tasse Pfefferminztee zurück ins Büro gegangen. War es Zufall oder eine metaphysische Macht, keine Ahnung, aber irgendeine Kraft ließ mich vor dem Bücherregal siehen bleiben. Ich streifte mit den Augen über die Buchrücken und stoppte bei den philosophischen Bänden: Bloch, Kant, Hegel, Habermas, Plato, Aristoteles, das Übliche halt. Sofort fühlte ich mich klein und unzureichend. Ein Gefühl des Mangels und Versagens breitete sich schnell in mir aus. Wie viele dieser großen Denker hatte ich angefangen zu lesen und nach wenigen Seiten lustlos zur Seite gelegt. Mit Grausen dachte ich an die Lektüre von Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Dümmer habe ich mich nie gefühlt. Ich sah mich als Student auf dem Weg in die Uni zu einem Seminar schlendern. Ich war gut gelaunt und freute mich an den vielen schönen Mädchen, die mir auf den Gängen begegneten. Aber dann saß ich zusammen mit einigen Kommilitonen in einer Arbeitsgruppe, und die hübsche Dunkelhaarige saß gar nicht bei mir im Seminar. Wir lasen die Einleitung der »Phänomenologie des Geistes« Satz für Satz und versuchten uns gegenseitig klarzumachen, was sich Hegel gedacht hatte. Ich fühlte mich entsetzlich blöd. Himmel noch mal, ich hatte doch ein bayerisches Abitur, mit großem Latinum, und nun sollte ich schon an Hegel scheitern? Als ich mich für die Philosophie entschied, war ich mir sicher, eine große Karriere als Philosoph vor mir zu haben. Ich war bereit, das abendländische Denken zu -182-
revolutionieren. Ich wollte die Philosophie entrümpeln, sie befreien vom idealistischen Ballast. Mein Hauptwerk sollte den schlichten Titel tragen: »Wagnis Mensch. Eine Kritik des Scheiterns.« Den zweiten Band wollte ich überschreiben: »Das Prinzip Skepsis. Ein Lob der Unfähigkeit.« Den Titel des dritten Bandes überlegte ich mir noch. Und nun war mein Geist nicht fähig, Hegels Geist zu folgen. Dabei analysierte Hegel doch auch meinen Geist. Nur wenn mein Geist sich selbst phänomenologisch als Geist betrachtete, blickte er nicht durch. Ironie des Schicksals? Schon leicht in Trance griff ich nach einem schmalen Bändchen von Martin Heidegger: »Einführung in die Metaphysik«. Das hat mir grade noch gefehlt. Davon hatte ich auch nur ein paar Seiten geschafft. Warum war denn Philosophie nur so kompliziert, wo doch andererseits alles so einfach war? Auch so eine Frage, die mich immer wieder traktiert. Die Grundfragen der Metaphysik bedrängen mich unaufhörlich. Vor allem eine Frage attackiert mich mit ungeheurer Wucht: Was soll das eigentlich alles? Der Gedanke schiebt sich immer wieder ins Leben und lässt mich nicht los. Was soll ich machen? Ich weiß, was Sie sagen wollen: die Geschichte vom Garagenplatz zu Ende erzählen. Schon gut, nur stellt sich eine noch gewichtigere Frage, die Grundfrage der Metaphysik schlechthin: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts? Heidegger wollte das mal wissen. Und ich möchte es auch wissen. Sie müssen zugeben, darüber kann man nicht einfach hinwegsehen. Man kann schon, nur wenn man darüber hinwegsieht, bleibt das Problem trotzdem. Ich habe mir deshalb angewöhnt, solche Fragen nicht mehr aufzuschieben. Wir erledigen so was auf der Stelle. Also, warum gibt es überhaupt etwas, egal was es auch ist? Kann doch nicht so schwer sein, oder? Und ist das, was ist, das, was ich sehe, oder etwas, das ich glaube zu sehen? Oder anders -183-
gefragt: Ist das, was ist, so wie es ist oder anders? Und wenn es anders ist, warum juckt mich das? Wie kommt mir denn die Welt vor? Als Welt an sich, oder ist die Welt für sich, und ich mache sie mir so, wie ich sie mir vorstelle? Jetzt kommen wir der Wahrheit schon näher. Die Dinge, die Sterne, die Tiere, die Menschen, kurz: Ist das Seiende so, wie es mir scheint, oder scheint es mir nur so? Wenn es nur so scheint, wie ist es wirklich? Wenn es so ist, wie ich es seh, und daran besteht kaum ein Zweifel, dann ist es so und damit Ende! Wenn es aber nicht so ist, wie es scheint, dann muss es anders sein. Nur, warum scheint es dann nur zu sein und ist nicht sofort so, wie es ist? Und wie kann ich durch den Schein hindurch die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind? Und wer garantiert mir, dass für den Fall, dass die Dinge wirklich so sind, wie sie sind, sie auch so sind und nicht doch wieder anders? Und mit welchem Röntgengerät sehe ich die Dinge so, wie sie wirklich sind? Und was bringt's? Ich sehe beispielsweise meine Tasse mit Pfefferminztee und merke, sie ist gar nicht so, wie ich sie sehe. Sie scheint nur eine Tasse mit heißem Pfefferminztee zu sein. Sie gibt also vor, eine Tasse zu sein. Sie erscheint als Tasse mit Pfefferminztee. Wir können deshalb von einer Tassenerscheinung sprechen! Warum aber gibt die Tasse vor, etwas zu sein, was sie nicht ist? Sie verbirgt uns ihr wahres Wesen. In Bayern würde man fragen, was die Tasse will, wenn sie so hinterfotzig ist und zwei Gesichter hat. Eines, das sie mir zur Anschauung anbietet, und eines, das sich dahinter versteckt? Wir wissen es nicht. Vielleicht macht sie freundlicherweise ein Wahrnehmungsangebot, und wir sind nur in der Lage, sie so zu sehen, wie sie nicht ist. Es läge dann eindeutig an uns. Vielleicht ist sie aber auch hässlich und will uns diesen Anblick nicht zumuten. Das wäre nett, und man könnte sich darüber freuen. Wenn es aber an uns läge, so müssten wir überlegen, was mit unserem Wahrnehmungsapparat los ist. -184-
Warum sehen wir Dinge, die in der Substanz anders sind? Wir müssten uns selber überprüfen. Aber wenn wir schon wissen, dass unser Wahrnehmungsapparat mangelhaft ist, wie können wir dann wissen, ob die Überprüfung unserer Wahrnehmung einwandfrei ist? Müssen wir nicht vielmehr davon ausgehen, dass wir unfähig sind, zu richtigen Wahrnehmungsergebnissen zu kommen? Sie merken schon, es ist aufregend und spannend, und man weiß nie, wo man hindenkt. Heidegger ist es vermutlich ganz ähnlich ergangen. Nur so kann er auf die Frage gekommen sein: Warum gibt es überhaupt Seiendes und nicht viel mehr nichts? Die Frage ist total und umfasst alles, was es gibt, und stellt sogar noch einen Bezug her zu dem, was nicht ist und lässt die Möglichkeit offen, dass es auch nichts gibt. Es tut mir leid. Ich würde auch lieber mit der oben begonnenen Geschichte fortfahren, aber durch diese Frage befinde ich mich in einer Art Belagerungszustand. Ich weiß schon, ich bin selber daran schuld und frage mich auch, warum ich mich frage, warum es überhaupt Seiendes gibt und nicht viel mehr nichts? Ich frage mich auch, was los wäre, wenn ich nicht darüber nachdenken würde? Dann gäbe es immer noch viele Menschen, die sich fragen, warum denkt denn da keiner drüber nach? Jetzt fragen sich auch viele, warum denkt der drüber nach? Wenn es jetzt angenommen gar keine Menschen gäbe, frage ich mich, ob die Dinge sich fragen würden, warum keiner über sie nachdenkt. Und es wäre scheißegal, ob die erscheinen, wie sie sind, oder nur lediglich erscheinen. Aber kann man das den Dingen antun? Das ist nicht die Frage. Es gibt ja Menschen, die sich die Dinge philosophisch vornehmen. Heidegger hat sich gefragt: Warum ist etwas? Warum nicht? Der eine möchte wissen, ob es regnet, und ein anderer möchte nichts anderes als eine befriedigende Antwort auf die Frage:Warum ist etwas? Und daran anschließend: Warum ist dieses etwas nicht nichts? Ist das nicht etwas, worüber es sich -185-
lohnt, bei einer schönen Tasse Pfefferminztee nachzudenken? Und wenn das Nichts etwas ist, kann ich es meiner Familie zu Weihnachten schenken oder brauche ich es selber? Zumindest würde ich es gerne mal vierzehn Tage zur Ansicht mit nach Hause nehmen. Bekomme ich es beim Kaufhof am Marienplatz oder doch eher bei Hertie am Bahnhof? Karstadt soll es im Angebot haben. Auch McDonald's hat dem Nichts schon Rechnung getragen. Demnächst gibt es »Nothing weeks«. Aber was ich unbedingt noch wissen möchte: Ist das Nichts verderblich? Und wie lange hält es sich im Kühlschrank? Wer möchte das nicht wissen! Am Ende ist es die wesentliche Substanz, das absolut Unvergängliche. Raum und Zeit können ihm nichts anhaben. Falls es unvergänglich sein sollte, möchte ich es auf jeden Fall haben. Aber warum gibt's keine Werbung dafür? Am Ende umgibt es uns schon, und wir können es nur nicht wahrnehmen, eben weil das Nichts nichts ist. Wovon rede ich eigentlich die ganze Zeit? Antworten bitte an http://www.brunojonas.de Vielleicht sollte ich doch wieder in die Kirche eintreten und an den einen Gott glauben, der die ganze Welt in sieben Tagen geschöpft hat. Woraus? Natürlich aus dem Nichts! Aber der redet nicht mit mir, oder zumindest gibt er keine vernünftigen Antworten auf meine Fragen. Es steht geschrieben: Am Anfang war das Wort. Aber welches? Es spricht einiges dafür, dass es das Wort »nichts« war. Und das war ihm eindeutig zu wenig. Dann wäre das Nichts der Stoff, aus dem Gott die Welt erschaffen hat. Das Nichts ist demnach nichts für Menschen, sondern den Göttern vorbehalten, um daraus Welten zu schöpfen. Gott ist ohne Nichts nichts. Nur am Nichts kann sich seine göttliche Schöpfungskraft voll entfalten. Er braucht nicht viel. Nur ein Nichts muss sein, sonst fehlt Gott die Grundlage. -186-
Nur, welcher Sinn ist im Nichts verborgen? Ist das Nichts nicht sinnlos? Sicher hat es zumindest den einen Sinn, dass man darüber nachdenken kann. Na bitte, ist das vielleicht nichts? Gott macht aus nichts etwas und der Mensch aus etwas nichts. Die Aufgaben sind gerecht verteilt. Na also, mit Gott kommt man gleich weiter. Nämlich zu der Frage: Warum schöpft Gott überhaupt? Warum tut er sich das an? Hat er nichts Besseres zu tun? Vermutlich muss er, weil er nicht anders kann, weil es seinem Wesen entspricht. Gott erfährt sich im Schöpfen, so wie der Gärtner beim Gärtnern, der Schäfer beim Schäfern, der Maler beim Malen und sofort. Man könnte sagen: Gott muss immerzu »gotten« und aus dem Nichts etwas schöpfen. Auch der Dichter muss immerzu dichten, wenn er nicht gerade durch das Philosophieren über eine Tasse Pfefferminztee völlig aus dem Rhythmus geworfen wird. Krampfl brauchte sichtlich lange zum Lesen. Wieder hörte ich nichts von ihm. Keine Reaktion. Ich wartete. Sagte mir: Keep cool! Es half nichts. Langsam wurde ich doch unruhig. Was, wenn sie es sich wieder anders überlegt hatten, dann hätte ich meine Termine abgesagt und würde keine müde Mark verdienen. Ich bekam Existenzängste, schlief schlecht und war mies gelaunt. »Jetzt ruf endlich an«, sagte Rosi eines Tages, »das ist ja nicht mehr auszuhalten mit dir.« Also griff ich wieder zum Telefon und wählte die Nummer von Frau Hüttner. »Ja, Frau Hüttner...« »Ja, Herr Jonas, ich wollte Sie gerade anrufen... warum rufen Sie denn an?« »Ich wollte mal nachfragen, ob der Herr Krampfl mein Treatment gelesen hat.« »Ja, genau deswegen rufe ich Sie an. Ist das nicht komisch?« -187-
»Äh, Frau Hüttner, ich habe Sie angerufen.« »Ja, genau. Der Herr Krampfl lässt Ihnen ausrichten, dass er das Treatment gelesen hat und dass er sich gern mit Ihnen treffen würde.« »Das ist prima, wann passt's denn?« »Ja, stimmt, Sie bräuchten ja jetzt einen Termin mit dem Herrn Krampfl. Mei, ich weiß gar nicht, wo ich Sie da reinschieben soll. Weil er ist so voll!« »Ich möchte eh nicht so gern reingeschoben werden«, sage ich. »Und schon gar nicht, wenn er so voll ist.« Sie hat nicht zugehört. Gott sei Dank hat sie meine freche Bemerkung nicht registriert, weil sie intensiv nach einer Lücke im Kalender Ausschau gehalten hat, wo sie mich reinschieben könnte. »Herr Jonas, in vierzehn Tagen, da könnt's gehen. Wie schaut es denn am Sechzehnten aus um 11 Uhr 30, wieder beim Italiener, weil der Herr Krampfl vorher eine Sitzung hat, und da hat er nachher bestimmt Hunger.« »Das geht bei mir.« »Allerdings hat er nur eine Stunde Zeit, danach muss er zum Flughafen.« »Aha, gut, ich habe es mir aufgeschrieben, und dann telefonieren wir.« »Wissen Sie, er hat zurzeit sehr viel um die Ohren. Weil das Haus wird grad umstrukturiert. Die Unterhaltung wird getrennt in zwei Abteilungen. UI Spiel/Quiz und UII Show, wobei die UII auch Spiel/Quiz mitmacht. Das wird fließend. Und, stellen Sie sich vor, der Herr Schlapp-Winsel übernimmt die UII, dafür muss aber die Stelle für die Dokumentationen neu besetzt werden.« »Und was macht der Krampfl?« »Der leitet die beiden Abteilungen und koordiniert und plant -188-
und gibt die Richtung vor.« »Das hört sich ja alles sehr hoffnungsfroh an!« sage ich. »Ja, wir sind hier alle guten Mutes. Ach, Herr Jonas, beinahe hätte ich es vergessen. Ich soll Ihnen einen schönen Gruß ausrichten vom Herrn Krampfl und Sie fragen, ob Sie nicht noch sechs weitere Folgen ausschreiben könnten. Dann hätte der Herr Krampfl wirklich was Handfestes, das er dem Direktor Schnabel vorlegen könnte.« »Ja...« »Auf Wiederhören.« Sie hatte einfach aufgelegt. Sechs weitere Folgen ausschreiben. Das klang gut, meine Pilotsendung hatte ihm also gefallen. Ich war wieder gut drauf und meine Familie zufrieden. Ich habe mich also ans Werk gemacht und sechs Folgen thematisch entwickelt und an Krampfl geschickt. Kaum waren die Drehbücher auf dem Weg, kamen mir wieder große Zweifel, ob für mich eine Zusammenarbeit mit dem FFB wirklich gut ist. Ich lamentierte: Nein, ich passe da nicht hin. Ich bin zu individuell strukturiert, um mich beim Fernsehen verwirklichen zu können. Ich bin dafür bekannt, dass ich eigene Vorstellungen entwickle und diese auch kompromisslos durchsetzen will. In den Redaktionen des Fernsehens suchen sie Leute, die zwar Ideen haben, aber bereit sind, diese von Redakteuren »bearbeiten« zu lassen. Damit hatte ich immer Schwierigkeiten. Ich bin eben stur und lass mir ungern reinreden. Dabei erfährt doch erst durch den kreativen Zugriff eines Fernsehredakteurs eine Rohidee ihren Edelschliff. Der Redakteur bereitet die Idee fernsehgerecht zu. Das bedeutet, er macht sie sendefähig. Sendefähig wiederum bedeutet publikumswirksam. Publikumswirksamkeit findet in der Quote ihren Niederschlag. Ein Redakteur hat ein Gespür für das große Publikum. Er weiß, was der Zuschauer sehen will. Redakteure sind lebende Quotenbarometer. Sie kennen das Publikum genau. -189-
»Die Leut' sind ja so blöd! Mei, wenn du wüsstest, wie blöd die Leut' sind! Ich würd' auch viel lieber intelligente Sendungen machen, aber die Leut' sind so blöd. Geh mal ins Olympiastadion und scha u dir die Leut' an. Genau dieselben, die da rumgröhlen, sitzen abends vor dem Fernseher!« Mit solchen Worten beenden sie ihre scharfen Analysen. Man sieht, sie haben eine hohe Meinung von den Leuten, für die sie Programm machen dürfen. Und was mache ich? Ich komme ihnen mit provokanten Fragen. Ich habe einmal laut gedacht, dass möglicherweise auch das Programm, das man den Zuschauern verabreicht, die Leute verblöde. Worauf mich der Redakteur fragte, wie ich mir erklärte, dass die Leute das Programm wie blöd anschauen. »Sie können ja nur anschauen, was ihr ihnen vorsetzt«, erwiderte ich frech. »Also sind sie doch blöd«, schloss der Redakteur messerscharf, »sonst würden sie ja abschalten!« Dagegen konnte ich nichts mehr sagen. Was weiß ein Autor vom Publikum? Nichts. Er denkt sich zu Hause im stillen Kämmerlein etwas aus und glaubt, dass sein Geschreibsel irgendjemand draußen im Volk interessiert. Das ist jetzt gar nicht abwertend gemeint. Ein Autor hat gar keine andere Chance, als an sich und sein Werk zu glauben, sonst würde er ja gar nicht schreiben. Aber wenn seine Ergüsse erfolgreich sein sollen, so braucht er dazu eine begleitende kritische Instanz, eben einen Redakteur. Ein guter Redakteur hat selten Ideen, und wenn doch, so hält er sie zurück, um den Autor nicht unter Konkurrenzdruck zu setzen. Wenn ein Redakteur eigene Ideen hat, so ist das nur von Nachteil für das Projekt. Denn er schüchtert damit den Autor nur ein und hindert ihn an der vollen Entfaltung seiner Phantasie. Die besten Redakteure haben deshalb keine eigenen Ideen. Ihre Kreativität beschränkt sich auf den Vorgang des -190-
begleitenden Überarbeitens. Sie lassen sich durch Autoren anregen zu kreativen Beimischungen. Ihre Phantasie findet Eingang in bereits Geschaffenes und wertet das vorliegende Konzept auf. Routinierte Redakteure treten gönnerhaft als Macher auf und vergeben großzügig Aufträge. Sie sehen sich als Förderer und Initiatoren, welche die Stärken eines Autors mit sicherem Gespür erkennen und ihnen zur optimalen Geltung verhelfen. Redakteure wollen akzeptiert werden als Producer, die bedingungsloses Vertrauen in ihre Spürnase verdienen. Sie erschnuppern zielsicher im Zeitgeistnebel den richtigen Stoff, erkennen auf Anhieb den zurzeit angesagten Inhalt und wissen immer um den passenden dramaturgischen Zugriff. Nur selber schreiben können sie halt nicht. Und das ist gut so. Wenn die auch noch schreiben würden, kämen noch mehr Bücher auf den Markt. Wer soll denn das alles lesen? Niemand. Es reicht, wenn sie gekauft werden. Die meisten Bücher werden gekauft, um sie zu verschenken. Ich habe auch schon einige geschenkt bekommen, die ich bestimmt nie lesen werde. Es gibt eben Mitmenschen, die einen mit einem Buch ärgern wollen. Ich verschenke grundsätzlich Bücher, die Reich-Ranicki verrissen hat, die sind immer super angekommen. Ich machte häufig die Erfahrung, dass ich die von ihm empfohlenen Bücher stinklangweilig fand. Bestimmt habe ich auch da nicht das richtige Level. Vielleicht sollte ich doch lieber an der Playstation spielen. Sehr angenehm finde ich, wenn ein Buch verfilmt wird. Oskars linkes Herz soll jetzt auch verfilmt werden. Wenn der Film so lang wird, wie seine Amtszeit als Finanzminister, wird's ein Riesenerfolg. Wim Wenders soll sich schon als Regisseur angeboten haben. Ihm liegt vor allen Dingen an den langen Dialogen, in denen Oskar mit seiner Frau die Weltwirtschaft neu ordnet. Das wird uns menschlich sehr nahe gehen. Das ist doch ein Thema, das uns allen am Herzen -191-
liegt. Das Buch soll ja ein Roman sein, in dem es um zwei Freunde geht. Zwei dicke Freunde wollten sie sein. Kein Blatt sollte zwischen ihnen Platz haben, jetzt ist es ein ganzes Buch geworden. Sie haben sich viel versprochen. Der eine von den beiden verspricht sich heute noch viel, der andere lässt das Herz links schlagen und verspricht sich davon viel. So ein Buch muss verschenkt werden, an liebe Menschen, die damit etwas anfangen können. Ich wünsche mir schon lange ein Buch von Helmut Kohl: »Meine Ehrenwörter« und von Edmund Stoiber: »Die ganze Wahrheit«. Das wird ein dünnes Büchlein, das liest man in einem Satz durch. Aber er hat ja keine Zeit zum Schreiben, er muss regieren und den Österreichern Ratschläge zur Regierungsbildung geben. Nein, Stoiber kennt sich aus, der weiß Bescheid und ist immer bereit, jeden an seine r Kompetenz teilhaben zu lassen. Auch Personalentscheidungen beim FFB werden von ihm abgesegnet. Ich sitze also zur vereinbarten Zeit beim Italiener, bei dem ich mit Wolfgang Krampfl schon einmal verabredet war. Derselbe Kellner heißt mich willkommen, geleitet mich zu einem Tisch und demonstriert mir, dass er ein ausgezeichnetes Gedächtnis hat. »Signore, certo, Sie nehmen heute un Pellegrino und ein paar Servietten?« »Sehr aufmerksam«, sage ich ebenso freundlich, »aber heute nehme ich nur Servietten«, und grinse ihn frech an. »Servietten Sie können haben, so viel Sie wollen, ganz frisch gekommen heute.« Schlagfertig ist er. Ich gehe nicht weiter darauf ein und bestelle ohne Umschweife ein Viertel Wein. »Ich nehme einen Grauburgunder!« sage ich und hoffe, dass er nicht weiß, um welche Traube es sich dabei handelt. Und prompt schüttelt er den strähnigen Kopf und bietet mir stattdessen einen Pinot Grigio an. -192-
»Wir nur haben vino italiano auf die Karte«, und legt sie mir sogleich vor. »Da schau her! Nein, Pinot Grigio mag ich nicht, Grauburgunder würde ich nehmen.« Und weil ich einen boshaften Tag habe, will ich auf einmal gar keinen Wein mehr. »Ich nehme dann lieber ein Weißbier!« sage ich plötzlich und schließe die Karte. Er zieht lässig ab und hält mich wahrscheinlich für einen stronzo tedesco. Als er mir das Weißbier hinstellt, stellt er trocken fest: »Pinot Grigio und Grauburgunder ist dieselbe!« Ich schaue ihn erstaunt an und sage nur: »Geh weida! Hab' ich nicht gewusst.« Aber jetzt habe ich schon das Weißbier. Man lernt halt nie aus. »Und wo bleiben die Servietten?« frage ich provokant. Jetzt lacht er breit und gesteht, dass er mich vom Fernsehen kennt, und behauptet, jede Sendung mit mir angeschaut zu haben und immer lachen müsse, weil ich so komisch sei. »Auweh«, jammere ich, »da haben Sie sich aber bisher gut verstellt.« Er lacht laut auf, aber ich sehe ihm an, dass er nicht verstanden hat, was ich gemeint habe. Egal, die Atmosphäre wird dadurch spürbar besser zwischen uns, und das ist die Hauptsache. »Tut mir leid«, sage ich, »dass ich Sie auf den Arm genommen habe.« Er wehrt ab. »Iste keine Problem! Was essen Sie heute, Professore?« »Das, was ich letztes Mal gegessen habe.« »Ist gewesen kleine Porzione. Heute wir haben pesce fresco. Dorade.« »Dorade«, wiederhole ich, »nicht schlecht, esse ich gern, aber ich möchte mit der Bestellung noch warten, bis mein Gesprächspartner eingetroffen ist.« -193-
»Bitte, selbstverständlich«, fällt er wieder in den leicht arroganten Ton zurück, den ich schon kenne, und gewährt mir generös Aufschub. Ohne mich weiter zu bedrängen, dreht er ab. Ein hoch gewachsener, dunkelblonder junger Mann in Bluejeans und einem blauen Blazer mit goldenen Knöpfen und einer extrem auffälligen Krawatte kommt mit entschlossenen Schritten ins Lokal. Das heißt, eigentlich trabt er. Seine schwarzen Schuhe sind mit Eisen beschlagen und klacken bei jedem Schritt, den er tut. Ich muss spontan an ein Pferd denken und frage mich, wer den wohl zugeritten hat. Er hält am Eingang kurz an, scharrt einmal mit den Füßen und lässt den Blick suchend durchs Lokal schweifen. Als er mich sieht, trabt er zügig auf mich zu. Ohne zu schnauben spricht er mich an. »Hallo, Herr Jonas! Mein Name ist Peter Vegesack«, näselt er. Für mich war sofort klar, dass er aus Hamburg stammen musste. »Ich komme von Wolfgang Krampfl, mit dem Sie hier verabredet sind. Er lässt sich vielmals entschuldigen. Ist was dazwischen gekommen, Trouble im Sender. Ich kann Ihnen sagen, die Hütte brennt, aber das soll uns nicht interessieren. Wir beide können alles besprechen!« Aha. Verdutzt fragte ich: »Wieso?« »Wolfgang Krampfl ist ja nun aufgestiegen zum Abteilungsleiter. Drei Fenster im Büro! Sie wissen, was ich meine. Plant nach unten durch und leitet nach oben weiter, und was von oben kommt, reicht er nach unten durch. Wir verstehen uns. Der Kollege ist eine Etage höher getragen worden.« War das eben Ironie? fragte ich mich still. Kann nicht sein! Das war ehrfürchtiger Ernst, gepaart mit der Hoffnung, irgendwann auch mal nach oben getragen zu werden in ein Büro mit drei Fenstern! Er hatte längst weitergequatscht, und ich sagte lustlos: »So«, dieses trockene bayerische, feststellende, die Lage begutachtende So. Das irritierte ihn, und ich sah ihn blitzschnell -194-
überlegen, was dieses So in diesem furztrockenen Ton wohl zu bedeuten hatte. Einen Moment lang beobachteten wir uns ratlos. In diese Stille hinein knurrte mein Magen. »Wir sollten vielleicht etwas essen«, sagte ich. »Gute Idee.« Er winkte weltmännisch den Kellner heran, und ich nahm die bereits anvisierte Dorade. Obwohl ich dachte, ihm würde eine Portion Hafer mit Karotten gut tun, ließ er sich von mir anstecken und nahm auch eine Dorade. »Und Sie machen jetzt den Job vom Krampfl?« fragte ich ihn direkt. Bevor er antwortete, scharrte er unter dem Tisch mit den Hufen. »Kann man so nicht sagen, ich bin Krampfl als Producer beigeordnet, als eine Art redaktioneller Libero.« »Spielen Sie Fußball?« »Nicht mehr. Früher beim HSV in der Jugend. Jetzt nur noch gelegentlich.« Er kam wieder auf das Thema zurück. »Krampfl will aber auf jeden Fall bei Ihrem Projekt dabeibleiben. Nur das Producing am Set würde ich managen.« Von der Taktik her, überlegte ich, dürfte am besten sein, wenn ich das Tempo aus dem Gespräch nehmen würde. Lass ihn laufen, dann wird er von alleine langsamer. Ich sagte fast überhaupt nichts mehr, wurde sehr einsilbig. Dafür redete er umso mehr. Der Fisch, den uns mein Freund, der Kellner, lässig serviert hatte, forderte meine ganze Aufmerksamkeit. Während der Fischkopf mir gegenüber immer weiterquasselte, entgrätete ich hochkonzentriert meine Dorade. Diese Tätigkeit half mir, den Desinteressierten zu spielen. »Auch wenn viel Trouble ist, und zurzeit haben wir jede Menge Trouble, kann ich Ihnen sagen, darf es keine Probleme geben. Wolfgang Krampfl hat alles im Griff!« Ich ließ ab und zu ein nichts sagendes Aha in sein näselndes Gelaber fallen und hie und da ein staunendes So dazutropfen -195-
oder ein lustloses Hm vernehmen. Diese sprachliche Zurückhaltung meinerseits verunsicherte ihn zunehmend. Die Hufe kamen in Bewegung. Er stampfte ein wenig und versuchte wieder die Gesprächsgeschwindigkeit zu erhöhen. »Also Krampfl hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, dass wir Ihr Konzept ausgezeichnet finden.« Ich kullerte ein staunendes Aha über den Tisch und stoppte seinen Redefluss mit einem freudlosen, schwachen Schön, das mir in der Färbung beinah traurig geriet. »Obwohl ich ein Saupreiß bin«, versuchte er es auf die komische Art, »ein Füschkopp, wie ihr Bayern sagt, und ich meine Schwierigkeiten beim Lesen Ihrer eingereichten Unterlagen hatte, muss ich sagen, dass es mir echt gut gefallen hat.« »Ach so!« sagte ich distanziert. »Die Grundidee ist wirklich erste Sahne! Muss man Ihnen lassen. Ist top. Wolfgang Krampfl gab nur zu bedenken, dass die Location Justizvollzugsanstalt, also Knast, vielleicht doch nicht so glücklich gewählt sein könnte.« »Hm?« »Und ich muss zudem gestehen, dass auch ich nicht weiß, was an einem Gefängnis komisch sein soll. Das kann natürlich an meiner Herkunft liegen.« »Ja. Hm.« Dieses Ja rutschte mir viel zu schnell heraus. Aber er hatte es gar nicht wahrgenommen. »Knast find ich eher tragisch. Mich macht so eine Location depressiv. Ich hab' mal in Fuhlsbüttel gedreht. Santa Fu! Während meiner Zeit beim NDR. Ich war happy, als wir wieder draußen waren!« Ich hatte eine größere Gräte im Mund, die mir beinah in den Hals gerutscht wäre. Ich musste mich räuspern, schob sie mit -196-
der Zunge vor an die Lippen, nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie nachdenklich, bevor ich sie auf dem Tellerrand ablegte. »Uns war selbstverständlich klar, dass Sie Knast als Metapher einführen wollten, um gesellschaftliche Zustände zu spiegeln. Aber wir, Krampfl und ich, waren und sind der Ansicht, dass dieses Bild nicht stark genug ist, um bayerischer Gerechtigkeit, äh, äh, gerecht zu werden. Wir wünschten uns, dass sie optisch aufmachen, also vom Bild her, und Knast macht ja eher zu. Stellen Sie sich mal vor, wie das auf den Zuschauer wirken muss, wenn Sie mit der Kamera aus einer Zelle durch die Gitterstäbe nach draußen auf die Natur blicken.« »Hm.« »Und dann wollten Sie im Bild sagen, draußen ist Bayern und hier drin ist auch Bayern, da muss doch der Eindruck entstehen, dass Bayern im Knast ist. Wir wollen doch kein reduziertes Bayernbild entstehen lassen.« »Mir tät das gefallen! Es ist ja als Überhöhung gedacht.« »Herr Jonas, das müssen wir dem Zuschauer sagen. So was weiß der nicht! Der kriegt in so einem Fall Trouble. Der sitzt zu Hause und versteht gar nix mehr! Verstehen Sie mich richtig, grundsätzlich finden wir die Idee super, aber wir müssen auch ans Umfeld denken. Wir haben eine Verantwortung!« »Ja ja... schon... das ist natürlich hart!« »Sie dürfen mich jetzt um Himmels willen nicht falsch verstehen!« »Bestimmt nicht!« versicherte ich ihm. Ich war mit dem Fisch fertig, legte das Besteck zusammen, stützte die Ellbogen auf, faltete die Hände und schob sie unter mein Kinn. »Aber, Herr Jonas, wäre es nicht viel schöner, wenn wir, wenn Sie, die Sendung mit einer Bayerntotale beginnen würden? Eine malerische Landschaftsaufnahme, Berge, Seen, Wälder, -197-
was weiß ich. Krampfl hat gemeint, ein Bild, in dem die Seele baden kann und der Zuschauer ein Heimatgefühl entwickelt. Und dann Sie aus'm Off, mit so einem richtig schönen bissigen Kommentar, wie das ja auch so typisch ist für Sie und wie wir Sie alle mögen. Mit so einer Intro fangen wir ihn ein, den Zuschauer. Und wenn wir ihn haben, können wir ihm auch mal was einschenken und eine mitgeben.« Der Kellner schenkte grade Wein nach. Vegesack scharrte wieder unterm Tisch. Ich konnte meine Enttäuschung nicht mehr verbergen. Er muss gespürt haben, dass ich verärgert war. »Herr Jonas, wir wollen doch kein Trouble! Sie nicht und wir auch nicht, haben wir doch alle nix von. Aber Sie sollen wissen, wir wollen mit Ihnen arbeiten. Krampfl will, dass Sie beim FFB eine Heimat haben. Er hat mich ausdrücklich gebeten, Ihnen das zu versichern.« »Ja«, begann ich vorsichtig, »aber ich weiß nicht, ob das geht. Nach allem, was Sie sagen, bin ich skeptisch!« »Vielleicht war es das falsche Thema«, versuchte er mich zu trösten. »Gerechtigkeit und Bayern, das ist halt auch ein sehr schwieriges Thema. Wir waren da zu ehrgeizig! Ich würde da auch scheitern! Lieber einfach, sag' ich immer. Hast du weniger Trouble! Wenn das Konzept steht, so wie wir uns das vorstellen, haben Sie vollkommen freie Hand!« »Das hört sich gut an!« Er zog ein Kuvert aus seinem blauen Sakko und überreichte es mir. »Das soll ich Ihnen von Wolfgang Krampfl überreichen. Er hat sich Mühe gegeben und alles noch mal zusammengeschrieben. Ich muss mal auf die Werft!« Er stand auf und trabte auf die Toilette. Als er weg war, überlegte ich, wie ich ihm am diplomatischsten sagen könnte, dass er mich am Arsch lecken kann. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, sondern es ihm -198-
schonend beibringen, sonst heißt es am Ende wieder, der Jonas ist schwierig. Er kam festen Hufs und sichtlich erleichtert vom Klo zurück und setzte ohne Umschweife seinen Redeschwall fort. Der Aufenthalt am Urinal hatte ihn geistig beflügelt. »Herr Jonas, die Erwartungen von unserer Seite sind nach wie vor positiv gestimmt. Das gilt bezogen auf die Grundidee immer noch. Krampfl und ich sind der Meinung, dass wir einen gemeinsamen Weg über die inhaltlichen Hürden finden.« Nichts deutete darauf hin, dass er sich die Hände gewaschen hatte. »Herr Jonas, ich weiß, was wir machen. Wir entwerfen ein völlig neues Konzept. Ich weiß noch nicht was, aber Ihnen fällt da bestimmt was Flockiges ein, so ganz in unserem Sinn, nich? Ich hab da eine Idee: Was halten Sie von einem ornithologischen Ansatz?« »Ha? Wos war des?« »Ist meines Wissens noch nicht gemacht worden. Die bayerische Farbe als roter Faden, die Welt der Singvögel in der bayerischen Heimat. Amseln, Meisen, Finken. Und irgendwo sehen wir einen einsamen roten Specht hämmern, aber wir hören ihn nicht - verstehen Sie? Das is 'ne Metapher, damit spielen wir voll die bayerische Farbe. Und dann ziehen wir auf, Panoramaschwenk vom Olympiaturm zu den Bergen, bei Föhn. Föhn«, jubelt er, »das is was typisch Bayerisches und verursacht diese typisch bayerischen Kopfschmerzen. Da kann sich jeder identifizieren. Wieder Metapher - verstehen Sie?« »Ich glaub', langsam versteh' ich Sie vollkommen.« »Schön, dass wir da Einigkeit erzielen konnten. Damit hat das Gespräch ein Ergebnis.« Er schaute auf die Uhr. »Herr Jonas, ich muss. Rechnung zahlt selbstverständlich der Gebührenzahler. Hahahaha.« -199-
Vegesack zahlte, verabschiedete sich schnell und ging. Er ließ mich einfach sitzen. Der Kellner hatte wohl das Gefühl, mich aufmuntern zu müssen, brachte mir einen Grappa und sagte: »Grappa ist gut für die Seele und hilft bei Verdauung. Nächste Mal wir machen Fisch ganz ohne Gräten.« Ich stieg ins Auto und mischte mich unter die mobile Gesellschaft. Stehender Verkehr. Eine rote Ampel nach der anderen. Im Auto neben mir war der Mann hinterm Steuer mit sich beschäftigt. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Befriedigung und Glückseligkeit. Mit einem Zeigefinger suchte er in der Nasenwand die Ideallinie nach oben. Nach Erstbesteigung sah das nicht aus, da war ein Routinier unterwegs. Mit der Sicherheit des Geländekundigen arbeitete er sich selbstbewusst vorwärts. Hindernisse wurden aus dem Weg geräumt, auch wenn es schwierig war, der Mann gab nicht auf, blieb hartnäckig! Fasziniert behielt ich ihn im Auge und hoffte, die Ampel möge nie wieder auf Grün schalten. Obwohl rings um ihn herum viele Menschen in ihren Autos saßen, die ebenfalls auf Grün warteten und mehr oder weniger freien Blick auf die leidenschaftlichen Verrichtungen hatten, fühlte er sich unbeobachtet. Merkwürdig, dachte ich, und war beinahe versucht, selber einen Finger in die Nase einzuführen. Warum hat der Mensch keine Angst, beim Popeln im Auto beobachtet zu werden? Es müsste ihm doch eigentlich peinlich sein? Wenn man ihn dabei ertappte, bestimmt! Nur, er hat das Gefühl, allein zu sein. Es hat den Anschein, dass dieses menschliche Gefühl des Alleinseins mit sich und seinen Öffnungen, das bei vielen Menschen in eigens dafür eingerichteten Räumen aufkeimt, sonst nur noch im Innenraum eines Autos zur vollen Entfaltung gelangt. Wer aufmerksam am fließenden und stehenden Verkehr teilnimmt, kann ähnliche intime Vorgänge Tag und Nacht beobachten. Woran mag das -200-
liegen? Vielleicht daran, dass die Blechhülle des Wagens, obwohl befenstert nach allen Seiten und damit Einblick gewährend auf das Geschehen im Innern, wie die Tarnkappe des Zwergs Alberich aus der Nibelungensage wirkt. Doch im Gegensatz zur Tarnkappe, die den Träger tatsächlich unsichtbar machen konnte, gaukelt die Hülle eines Autos Unsichtbarkeit nur vor. Oder aber der Insasse weiß um seine Sichtbarkeit, verliert aber jegliche Scham, sobald er im Inneren eines Autos Platz nimmt. Dies würde bedeuten, dass der Mensch im Inneren eines Autos das Gefühl einer besonderen Geschütztheit erfährt, die wir als eine Art paradiesischer Schamlosigkeit begreifen können, vergleichbar jener von Adam und Eva, die sich ihrer Nacktheit erst bewusst wurden, nachdem sie aus dem Paradies vertrieben worden waren. Im Paradies gab es kein Gefühl des Nackten, sodass eine Unterscheidung zwischen bedeckt und unbedeckt, bekleidet und nackt nicht nötig war. Es war ganz einfach paradiesisch. Könnte es sein, dass der Mensch, sobald er im Auto sitzt, sich ähnlich glücklich fühlt wie im Paradies? Viele von uns fühlen sich jedenfalls im Auto in besonderer Weise aufgehoben. Manche werden sogar zu anderen Menschen. In jedem Fall haben wir es mit einem besonderen Raum zu tun, in dem eigene, von anderen Räumen stark abweichende Gesetzmäßigkeiten gelten. Einem Raum, in dem Menschen Dinge tun, die sie sonst gar nicht oder zumindest nicht auf jene Art betreiben wie im Auto. Im Auto wird gestritten, versöhnt, geliebt, gezeugt, gelebt und natürlich auch gestorben. Alle Grunderfahrungen menschlichen Daseins finden heute auf vier Rädern statt. Der mobile Lebensraum Auto macht das Glück vollkommen und bringt Bewegung ins Leben. Endlich springt die Ampel auf Grün. Der Wagen vorn fährt aber nicht sofort an. Man hupt. Er fährt immer noch nicht. Der Motor scheint abgestorben zu sein. Es wird heftiger gehupt, aber -201-
der Motor will trotzdem nicht anspringen. »Wo hast denn du den Führerschein gemacht? Hast du den im Lotto gewonnen?« ruft ein Taxichauffeur aus einem Daimler. Die Ampel springt auf Gelb und dann wieder auf Rot. Keiner ist weitergekommen. Weiter vorne steigt jemand aus, um nachzusehen, was da los ist. Links im Fahrzeug neben mir dirigiert einer sein Radio, rechts neben mir schimpft jemand mit seiner Frau, nur der Nasenbohrer bleibt ruhig und scheint fast froh um ein paar weitere Minuten, die ihn an seinem Werk arbeiten lassen. Allgemeines Kopfschütteln. Gesten, nonverbale Sprachäußerungen. Die Leute reden im Auto mit anderen Menschen in anderen Autos, und keiner hört den anderen. Was ist das für ein glücklicher Zustand! Kommunikation im besten Sinne des Wortes! Gleichzeitiges Reden aller, ohne störende Redegeräusche. Ein Idealzustand! Kommunikation kommt in Gang, Menschen tauschen sich aus. Und damit sind wir bei einem für unsere heutige Zeit grundlegenden Bereich angelangt. Unser Leben ist heute durchdrungen von Kommunikation. Jeder ist zu jeder Zeit an jedem Ort auf dieser Welt erreichbar. Die Techniken der modernen Telekommunikation lassen uns noch schneller zusammenkommen. Der moderne Erfolgsmensch sitzt deshalb heutzutage nicht nur zu seinem Vergnügen im Auto, sondern nutzt die Fahrtzeit, die er braucht, um von einem Ort zum anderen zu kommen, um zu arbeiten, das heißt zu telefonieren, um Kontakt zu halten zu seinen Mitarbeitern im Team, kurz, um zu kommunizieren. Immer wieder können wir erleben, wie es zu spontanen Kontakten von Auto zu Auto, von Fahrer zu Fahrer kommt. Von vorne, von hinten, von allen Seiten. Man nimmt sich wahr. Gibt es etwas Schöneres als gegenseitiges Wahrnehmen aus einem bewegten Fahrzeug heraus? Dies lässt mich fragen: Ist vielleicht der Mensch erst vollkommen Mensch im Auto? Philosophisch gefragt: Ist Menschsein gleichbedeutend mit Autosein? Ist nicht auch in -202-
jedem Auto ein Stück Mensch und umgekehrt? Vieles spricht dafür. Das würde auch erklären, warum ma nche Menschen auf die Frage: »Wo stehst du?« antworten: »Ich stehe dort drüben«, und auf ihr Auto zeigen. Zweifellos hebt der Mensch, der so spricht, die Trennung zwischen sich und seinem Auto auf. Dadurch wird das Auto Mensch, und der Mensch überschreitet - wenn auch zunächst nur sprachlich - sich als bloßer Mensch und wird Blech, Zylinder, Vergaser und Auspuff. Der Mensch erfährt durch sein Auto eine Entwicklung gleichsam hin zu einer höheren Stufe seines Menschseins. Zum vollkommen bewegten Wesen, zum homo auto. Wieder wird gehupt. Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Diesmal bin wohl ich gemeint. Der Nasenbohrer fährt triumphierend an mir vorbei. Ich lege sofort den Gang ein und gebe Gas. Als ich über die Linie fahre, schaltet die Ampel gerade auf Rot. Es blitzt. Jetzt bin ich im Bild. Dabei fühlte ich mich ganz unbeobachtet. Hoffentlich habe ich nicht in der Nase gebohrt. »Papa!« umschmeichelt mich meine Tochter Franzi. Sie ist fünfzehn und würde gern auf die Wiesn gehen. Ich ganz verständnisvoller Vater: »Ja, meinetwegen, gehen wir auf die Wiesn.« »Nein, nicht wir, ich mit Freunden. Du nicht!« »Was heißt mit Freunden? Wer ist das?« »Die Marlene und ihre Freunde.« »Okay, aber um acht bist du wieder zu Hause.« »Wir wollten eigentlich bis zehn bleib en. Wegen der Lichter, und außerdem wird's da erst lustig.« »Das ist zu spät. Da ist es ja schon dunkel. Lustig hängt nicht -203-
vom Tageslicht ab. Du kannst auch am Tag lustig sein.« »Aber wenn doch die anderen erst um sechs rausgehen, da kann ich doch nicht um acht heimgehen.« »Zwei Stunden lustig, ist doch gut, das langt. Was sagt denn die Rosi?« »Die sagt, sie ist einverstanden, wenn du Ja sagst.« »So einfach möchte ich's auch haben. Mir die ganze Verantwortung zuschieben. Meine Eltern hätten mir in deinem Alter nie erlaubt, auf die Wiesn zu gehen.« »Ja, du, in Passau, ihr habt da auch keine Wiesn.« »Aber eine Maidult.« »Und wir haben die Wiesn, und da will ich hin, bis zehn Uhr. Ich bin doch alt genug.« »Das glaub ich nicht. Ich mach mir da Sorgen. Weißt, so ein hübsches Mädchen allein auf der Wiesn. Des ist nicht ungefährlich mit den Besoffenen.« »Papa, ich bin ja nicht alleine. Die Marlene hat ihre Freunde aus dem Basketballverein dabei. Das sind alles Riesen, und die sind alle älter als wir. Achtzehn oder sechzehn.« »Kommt nicht in Frage!« Jetzt ist sie beleidigt. Ich gehe auch gern auf die Wiesn. Man trifft dort gemütliche Leute aus allen möglichen Nationen. Italiener, Engländer, Australier, Amerikaner, Neuseeländer und Japaner. Sogar Bayern kann man treffen. Aber sie sind sehr schwer zu erkennen, weil alle auf der Wiesn in Tracht gehen. Die einen sind wirklich Trachtler, die anderen nur verkleidet. Die Wiesn ist ein multikultureller Superrausch. Manche übertreiben es. Nach vier oder fünf Maß sollte man schon einmal eine Pause einlegen. -204-
Am schönsten ist es auf dem Oktoberfest, wenn man ein paar Maß Bier intus hat und irgendwas fährt. Ein Karussell macht manchen wieder nüchtern, und der Hintermann hat oft auch etwas davon. Ich fahre auf der Wiesn fast nur Autoscooter, weil ich eine große Freude dabei habe, wenn ich jemand hinten rauffahren kann. Das ist die höchste Gaudi für mich. Schade ist nur, dass sie zu wenig Autos auf der Fahrfläche haben. Auf ein Stauerlebnis muss man daher verzichten. Die Anzahl der Autos steht im richtigen Verhältnis zur Fahrfläche. Außer Autoscooter fahre ich Achterbahn, Geisterbahn und zum Schluss als Höhepunkt Wiesnwache. Die Wiesnwache ist eigentlich kein ausgesprochenes Fahrgeschäft, aber die Beamten bemühen sich dennoch, die Kundschaft voll zu befriedigen. Auf der Wiesnwache ist noch jeder auf seine Kosten gekommen. Wer einmal mitgenommen wurde, hat meistens ein Erlebnis, das er bestimmt nicht mehr vergessen wird. Kenner behaupten, die Wiesnwache wäre das Toperlebnis überhaupt auf dem Oktoberfest. Aber so ohne weiteres kommt man nicht in den Genuss dieser Wiesnattraktion. Man muss Glück haben. Ein Rausch ist nicht unbedingt erforderlich, um das Erlebnis Wiesnwache mitmachen zu können, aber die Erfahrung lehrt, es ist leichter mit Alkohol zu ertragen. Auf der Wache ziehen die Beamten alle Register ihres Könnens. Die bieten wirklich etwas. Nicht nur das übliche Verhör. Die Beamten sprechen mit ihren Besuchern auch in der Amtssprache. Sagen zum Beispiel: »Halts Maul!« und Ähnliches. Das hört man sonst nicht so oft aus dem Freund- und Helfermund. Aber sie zeigen nicht nur verbal, dass sie die Würde des Menschen achten, sie stellen auch ihre nonverbalen Fähigkeiten unter Beweis. Wiesnwachenbesucher berichten begeistert von Einführungen in den Distanzstockgebrauch. Das muss recht aufregend sein. Auch Stiefeleinsätze sollen schon gezeigt worden sein. Der -205-
Wiesnwachebesucher liegt dabei auf dem Boden der Wache, und Beamte stellen ihm einen Polizeistiefel an den Hals. Auch südamerikanische Tendenzen beherrschen sie. Intern nennen sie diese Variante die Sambasicherheit auf der Wiesn. Ist aber selten zu erleben. Dazu müssen sie gut gelaunt sein. Und Leute, die sie wieder rausgelassen haben, schwören, es hätte alles seine Ordnung. Das glaube ich unbesehen. Die Polizei steht für Ordnung. Die wissen genau, wo sie hinschlagen dürfen und oft auch müssen. Ich empfehle einen Besuch auf der Wiesnwache nur im betrunkenen Zustand der Gemütlichkeit. Nur so ist der volle Genuss möglich. Wiesn ist schon einmalig. Also sage ich zu meiner Tochter: »Franzi, ich versteh' dich, du kannst auf die Wiesn gehen. Du bist alt genug, ich vertrau' dir.« Franzi ist tatsächlich gegangen. Ich habe den Trenchcoat angezogen und bin mit Sonnenbrille und dem Hut tief in der Stirn hinter ihr her. Habe sie den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen. Columbo auf der Wiesn! Nur einmal wurde meine Überwachungsaktion schwierig: als die Mädchen aufs Damenklo gingen. Ansonsten hat sich Franzi wirklich tapfer geschlagen. Sie hat auf die riesen Basketballer aufgepasst und sie vor den Gefahren des Alkohols gewarnt. Nächstes Jahr darf sie allein gehen. Beim Doppelduplexkomplex ging einfach alles schief. Er hatte unser gesamtes Leben in Beschlag genommen. Das Schlimmste war, dass dieser Mietvertrag nicht aufzufinden war. Rosi und ich haben die Wohnung auf den Kopf gestellt. Wir kehrten das Unterste zuoberst und umgekehrt. Die Schränke haben wir nicht nur durchsucht, sondern auch zerlegt, weil wir vermuteten, der Vertrag könnte in einen Zwischenraum gerutscht sein. Wir durchsuchten wirklich alles. Alle Bücher wurden systematisch Seite für Seite durchgeblättert. Wir -206-
schauten auch hinter der Spüle nach. Wir fanden viel. Photos, Geldscheine, Ansichtskarten, Briefe, einzelne Spielkarten, Knöpfe, Kugelschreiber, Kekse, Nadeln, Schrauben, Fäden, alles, nur nicht diesen Mietvertrag, der uns das Recht auf einen Doppelduplexplatz sicherte. Rosi und ich waren immerzu gereizt und gerieten oft in Streit, machten uns üble Vorwürfe und bezichtigten uns der Unfähigkeit, Ordnung halten zu können. Gegenseitig erklärten wir uns für schlampig. Was wir selbstverständlich beide weit von uns wiesen. Rosi warf mir vor, an der aussichtslosen Lage die alleinige Schuld zu tragen, weil ich schließlich den Vertrag unterschrieben hätte und deshalb auch für die Aufbewahrung zuständig gewesen wäre. Im Gegenzug machte ich sie zur Alleinverantwortlichen der eingetretenen Situation, weil sie das Büro managte und für die Abheftung aller Unterlagen zuständig war. Immer wieder behaup tete ich, sicher zu sein, den Vertrag in der Ablage zwischengelagert zu haben, in der Annahme, dass sie ihn von dort in den dafür vorgesehenen Leitzordner einheften werde. Das brachte sie auf die Palme. Wenn ich, wie ich behauptete, den Vertrag dort zwischengelagert hätte, so hätte sie ihn mit Sicherheit im dafür vorgesehenen Leitzordner auch abgeheftet. Da er dort aber nicht abgeheftet sei, und dabei hielt sie mir den Ordner unter die Nase, könne sie nur davon ausgehen, dass ich den Vertrag nie und nimmer in der Ablage abgelegt hätte, denn sonst wäre er ja da! Wie man sieht, verzichteten wir auf bloße Beschimpfungen und ließen uns bei unserer Auseinandersetzung von den Gesetzen der Logik leiten. Erst als der Streit und der Ton schärfer wurden, gingen wir beide zu nadelstichigen Beleidigungen über, die ich aber hier für nicht erwähnenswert erachte. Kurz und gut, dieser verlustige Mietvertrag gefährdete unsere Beziehung. Als wir die Wohnung zum zweiten Mal ohne Erfolg komplett durchsucht hatten und wir uns eingestehen mussten, dass unsere -207-
Bemühungen vergeblich waren, sanken wir erschöpft nieder und ergaben uns. Wir dachten tatsächlich an eine Kapitulation. Aber diese Niedergeschlagenheit dauerte nicht lange an. Als wir uns ganz unten fühlten, regten sich wieder Widerstandskräfte. Diesem Elektrohändler und seinen Anwälten einzugestehen, dass wir den Mietvertrag nicht mehr finden können, kam natürlich nicht in Frage. Den hämischen und schadenfrohen Brief der Gegenseite konnten wir uns ausmalen. Nein! Diesen Genuss konnten wir ihnen nicht gewähren! Rosi und ich wollten um unser Recht kämpfen. Im Recht waren wir, ob mit oder ohne Vertrag. Nur, ohne Vertrag waren wir verloren. Ratlosigkeit breitete sich aus. Waren wir wirklich diesem Unrecht hilflos ausgeliefert? Unsere Hirne wendeten und drehten den Fall immer wieder hin und her. Was haben wir nicht alles versucht, um uns davon abzulenken. In der Hoffnung auf Entspannung gingen wir ins Kino, ins Theater, in die Oper, aber mittendrin brachte uns ein Detail der Aufführung wieder auf unsere unselige Garagengeschichte. Im Kino und im Fernsehen kamen ständig Filme, in denen Menschen mit Autos durch die Gegend fuhren, die oft genug auch in Tiefgaragenplätzen abgestellt wurden. Auf uns wirkten diese Szenen wie eine hämische Provokation. Im Theater saßen wir neben Leuten, die das Ticket für ihren Tiefgaragenplatz nicht mehr finden konnten. Der Mann behauptete, seine Frau hätte die Karte, sie war der Meinung, er wäre doch für das Auto zuständig. Die Welt war angefüllt mit Garage nproblemen. Wir gingen in die Oper, weil wir sicher waren, dort Ruhe und Zerstreuung zu finden. Doch der Regisseur ließ Don Giovanni in einem offenen Sportwagen auf die Bühne fahren. Egal, was wir unternahmen, alle Dinge gaben einen Hinweis auf unseren Fall. Unser Leben war doppelduplexartig reduziert und bestand nur noch aus den nötigsten Aktivitäten. Essen und Schlafen. Die Wohnung verließen wir nur noch, um Lebensmittel einzuholen. Den Rest -208-
der Zeit verbrachten wir brütend und grübelnd zu Hause. Tag und Nacht gab es nur ein einziges Thema: Doppelduplex. Wir träumten von Tiefgaragenplätzen mit und ohne Hebebühnen. Alle Entscheidungen des täglichen Lebens standen unter dem Aspekt der aktuellen Doppelduplexlage. An Urlaubsplanung war nicht zu denken. Solange das Verfahren nicht entschieden war, kam eine Reise nicht in Frage. Rosi und ich diskutierten immer wieder die Sachlage, wiederholten immer wieder die gleichen Argumente. Daneben gab es nichts mehr. Die Kinder hatten unter der misslichen Situation besonders zu leiden. Auch sie wurden in Mitleidenschaft gezogen und spürten die schwere Depression, die diese Angelegenheit über die Familie gebracht hatte. Als die Lage immer hoffnungsloser wurde, kam der Brief eines ehemaligen Studienkollegen, mit dem wir eng befreundet waren. Er schrieb, er habe des Öfteren versucht, bei uns anzurufen, aber nie sei jemand ans Telefon gegangen. Er versuche es hiermit nun brieflich. Er habe einen Job in Berlin an der Uni bekommen und suche einen Nachmieter für seine Wohnung. Und da uns die Wohnung doch immer gut gefallen habe, wollte er uns fragen, ob wir sie nicht übernehmen möchten. Ausziehen? Umziehen? Er hatte eine schöne, toll geschnittene Jugendstilaltbauwohnung in Haidhausen. Wolkenheimerstr. 28. Hundertvierzig Quadratmeter! Das war die Lösung. Ich rief ihn sofort an und versicherte ihm mehrmals eindringlich, dass wir als Nachmieter zur Verfügung stünden. Er reagierte verwirrt und fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei, ich würde alles fünfmal sagen. Ich fragte, ob zur Wohnung ein Garagenplatz gehören würde, und unser Freund bejahte es. Da er kein Auto besitze, habe er diesen bisher nicht gebraucht. Die Hausverwaltung habe ihn weitervermietet. Aber wir könnten ihn als Nachmieter selbstverständlich beanspruchen. Der Tiefgaragenplatz befinde -209-
sich aber nicht im Haus, sondern etwa fünfhundert Meter davon entfernt in einem anderen Mietshaus, das demselben Eigentümer gehöre. Das ließe sich bestimmt regeln. Die Sache war schnell abgemacht. Wir zogen um. So ein Umzug ist mit viel Aufregung verbunden. Die Wohnung war bereits leergeräumt, als ich in den Keller ging, um die Ski zu holen. An einer der Stahlkanten schnitt ich mir in den Finger. Wo jetzt ein Pflaster herholen? Hausapotheke war nicht mehr im Haus. Mir fiel der Verbandskasten im Auto ein. Ich ging in die Tiefgarage ans Auto, öffnete das Nothilfeset und fand oben aufliegend ein gefaltetes DIN-A4-Blatt. Ich denke, das ist die Gebrauchsanweisung für Erste-HilfeMaßnahmen und lege es achtlos zur Seite. Mit einem Pflaster verarzte ich meinen blutenden Finger. Danach räume ich alles wieder fein säuberlich in das Köfferchen und schließe es. Das gefaltete Blatt bleibt neben dem Verbandskasten liegen. Ich falte es auf - es ist der Mietvertrag für den Doppelduplexplatz! Jetzt fiel mir wieder ein, warum ich ihn damals zur Aufbewahrung in den Verbandskasten gelegt hatte. Mühlenbach, der Makler, händigte mir den Vertrag in der Tiefgarage aus. Mühlenbach hatte sich am Garagentor die Hand aufgerissen und bat mich um ein Pflaster. In der Eile habe ich den Vertrag in dem Nothilfekoffer deponiert. Mir schien das für die Aufbewahrung dieses Dokuments ein geeigneter Ort zu sein. Auf diese Weise lag er immer im Auto, zu dem er ja gehörte. Normalerweise hätte ich den Vertrag wahrscheinlich ins Handschuhfach gelegt, aber diesmal war es anders. Zugegeben, das ist merkwürdig. Ich habe aber nun mal einen Hang zu kuriosen Aufbewahrungsorten. Falls ich gezwungen bin, wichtige Papiere sicher und immer griffbereit aufzuheben, quäle ich mich mit verschiedenen Möglichkeiten und schleiche auf der Suche nach dem geeigneten Ort durch die Wohnung. Dabei werde ich von einem merkwürdigen Ordnungstrieb geleitet, dessen Logik ich nicht einmal selber nachvollziehen -210-
kann. Ich habe beispielsweise schon Zweitschlüssel »absolut sicher« hinter Bodenleisten deponiert und total vergessen, hinter welcher Leiste der Schlüssel »griffbereit« liegt. Auf diese Weise besitzen wir einen fest verschlossenen Koffer, den wir nicht mehr öffnen können, weil ich nicht mehr weiß, wo ich den Schlüssel hingelegt habe. Wir hoffen aber, dass es mir eines Tages wieder einfällt. Selbstverständlich habe ich Papiere und Geldscheine in Büchern zwischengelagert. Dieses Verhalten ist eher normal. Weniger harmlos aber war, dass ich Geld im Spülkasten der To ilette eingelagert hatte. Irgendwie hatte sich die Plastiktüte mit den Scheinen, die ich mit einem Klebeband befestigt hatte, gelöst, und war wohl mit einem kräftigen Ruck ins Klo gespült worden. Es war Gott sei Dank kein hoher Betrag, und es passierte auc h nur einmal. Aber durch solche Erfahrungen wird man klug. Ich habe diese Marotte, Dinge sicher aufzubewahren, von meinem Vater geerbt. Auch er pflegte ihm wichtige Sachen an todsicheren Orten zu hinterlegen, die er dann mit schöner Regelmäßigkeit vergaß, weshalb er immer auf der Suche nach etwas war. Und es kam ja nichts weg. Irgendwann tauchte alles wieder auf. Nun hatte ich also den Mietvertrag wieder und überlegte, ob ich jetzt nicht doch den Elektrohändler ärgern sollte, indem ich ihm den rechtmäßigen Mietvertrag vorlege und auf Einhaltung einer fristgemäßen Kündigung bestehe. Aber ich wollte nicht mehr. Meine Seelenruhe war mir wichtiger. Sollten sie doch in ihrem Rechtsladen mit ihrem Mandanten glücklich werden. Ehrlich gesagt, war ich auch ein wenig traurig, denn die Auseinandersetzung mit den Anwälten hatte Spaß gemacht. Ich faltete den Vertrag wieder zusammen und überlegte, ob ich das kostbare Stück Papier sofort in den Müll werfen oder es doch noch als Andenken an einen aufregenden Rechtsstreit behalten sollte. Rosi musste ich ihn auf jeden Fall noch zeigen, also steckte ich ihn ein. Ich habe ihn ihr aber dann doch nicht -211-
gezeigt. Vielleicht hatte sie heimlich Zweifel, ob es nicht doch sie war, die den Mietvertrag verschlampt hatte. Und diese Unsiche rheit könnte ich in einem kritischen Moment gegen sie ausspielen. Post ist gekommen. Ich muss runter, weil ich unseren alten Postboten davor bewahren will, dass er sich die Treppen heraufschleppen muss. Im Treppenhaus treffe ich Amanda, Brods Ehefrau. Sie parliert mit einer mir unbekannten Frau englisch. Als sie mich sieht, sagt sie: »Ohh, look, Becki, this is our promi, Bruno. He's not a dog.« (Sie hatte mir schon mal erzählt, dass in England kein Mann Bruno heißt, weil das ein Hundename ist.) »He's a German comedian.« Beide Frauen lachen schallend. Ich bin etwas irritiert. War das ein Gag auf meine Kosten? Sicherlich habe ich hier die Arschkarte. »Hey, Bruno. This is my friend Becki. But don't speak to her, she's got her period.« Kann es sein, dass ich hier etwas richtig verstanden habe? Diesem englischen Humor bin ich immer noch nicht gewachsen. Ich übe zwar fleißig, aber Amanda erwischt mich immer wieder. Brod weniger, er spricht so schnell, dass ich ihn sowieso nicht verstehen kann. Amanda dagegen spricht schönes, deutliches Englisch. Und sollte ich es nicht verstehen, übersetzt sie es perfekt ins Deutsche. »Bruno, bist du geschockt? It's normal, wir sprechen immer so zusammen. Sie ist meine beste Freundin. Becki kann aber nicht deutsch. Du musst englisch mit ihr sprechen. Aber es reicht, wenn du zuhörst, sie redet.« »This is not normal«, sage ich, »but I'll try my very -212-
best.«Alles weitere übersetzt Amanda für Becki schnell ins Englische. »Habt ihr euch schon überlegt, ob ihr mitmacht bei unserem Millenniumsfest? Hey, wir müssen etwas machen. Ich setz' mich nicht mit Brod allein hin, warte bis es zwölf ist, give him a kiss and say ›Happy New Year, Darling‹. Ich will was machen.« Und wir haben ein Fest gemacht, bei uns im Hof, im Freien, bei Minusgraden. Es war ein Fest, das ich bestimmt nie vergessen werde. Ständig stand jemand an der Tür und fragte mich irgendetwas zum bevorstehenden Fest. Rosi entwarf Eintrittskarten, die sie zusammen mit Franzi und Michi grafisch gestaltete. Dazu blockierte sie vier Tage lang den Computer. Dann gab der Drucker den Geist auf, und ich musste neue Kartuschen besorgen. Das Fest stand unter dem Motto »Himmel und Hölle« und das Haus wurde entsprechend dekoriert. Um verkrustete Denkstrukturen aufzubrechen, schlug ich vor, den Himmel in den Keller und die Hölle ins oberste Stockwerk zu verlegen. Leider hat sich die konservative Denkschule durchgesetzt. Die Hölle kam in den Keller. Ich wurde dazu verdonnert, einen Jahresrückblick zum Besten zu geben. Zunächst hatte ich die Idee, das Jahrtausend in dem bewährten Medienformat von einer Minute dreißig zu reflektieren. Von Otto dem Großen über Kohl zu Schröder. Das sollte reichen. Es wurde dann während des Schreibens allmählich mehr, und ich hub an zu einer großen Rede, die mein Publikum allerdings kaum wahrgenommen hat, weil es bereits sturzbesoffen in der Hölle lallte. Dabei hatte ich mir so schöne Gedanken zurechtgelegt: Nur wer viel weiß, kann viel vergessen. Ich vergesse viel, obwohl ich gar nicht so viel weiß. Vergessen aber kann ich nur, was ich einmal gewusst habe. Deshalb muss ich wissen, was ich -213-
vergessen kann. Ich weiß beispielsweise nicht, was 1999 für ein Jahr war. Ich bin aber ziemlich sicher, die Ornithologen haben es nicht versäumt, dem Jahr einen Vogel zu geben. Bisher hatte noch jedes Jahr einen Vogel. Vögel sind beliebte Jahrestiere. War es vielleicht das Jahr des Grünfinken oder doch eher das Jahr des Rotkehlchens? Ich weiß es nicht. War 1999 das Jahr des Schafs oder ein Schweinejahr? Kenner des chinesischen Horoskops wissen so etwas auf Anhieb. Es war in jedem Fall ein Mondjahr, denn wir hatten eine Sonnenfinsternis, die aber viele wegen Wolkenbildung nicht sehen konnten. Es ist auch guter Brauch, die Jahre mit einer botanischen Zuordnung zu versehen. Möglicherweise ha tten wir das Jahr des Pfifferlings! Politisch war es für mich das Jahr der Pusteblume! Auch die UNO drückt jedem Jahr ihren besonderen Stempel auf. Nur was war es dieses Mal? Das Jahr des Friedens war es nicht, oder doch? Nein, so viel Ironie traue ich denen in New York nicht zu. Leider gibt mein ansonsten durchaus brauchbares Gedächtnis diesbezüglich nichts frei. Solange ich auch grüble und in meinen Erinnerungsdateien suche, es scheint in meinem Datenspeicher darüber keinen Eintrag zu geben. Ich weiß es einfach nicht. Habe ich es je gewusst? Hätte ich es wissen müssen? Habe ich es vergessen? Keine Ahnung. So ein Jahr bietet eine Vielzahl an wichtigen und auch unwichtigen Ereignissen, die man sich leider nicht alle merken kann. Obwohl manches schon verteufelt wichtig wäre zu wissen. Zum Beispiel wer 1999 deutscher Fußballmeister wurde. Das weiß ich! Wer es nicht weiß, liegt mit der Vermutung, es könnte sich dabei um die Ballarbeiter des F.C. Bayern München handeln, richtig. Das bringt mich auf eine Idee: Vie lleicht war es das Jahr des Sports? Bestimmt sogar. Viele Spitzensportler haben wieder ins Röhrchen gemacht, und manche haben nicht gewusst, was in ihnen steckt und womit sie sich die Zähne putzen. Es war ein Höchstleistungsjahr! Auch wenn es die UNO -214-
nicht dazu erklärt hatte. Aber wann war das Champions-League-Finale? Im Juni oder im Juli? Oder doch schon im Mai? Es war im Olympiastadion in München. Da bin ich ganz sicher! Manchester United gegen Bayern München. Erinnert sich noch jemand an Mario Basler, den suspendierten Weißbiertrinker? Mann, war das ein Tor! Nach Ablauf der regulären Spielzeit stand es nach einem genialen Freistoß von Mario Basler 1:0 für den F.C. Bayern München. Wir wähnten uns schon als Sieger. Dann kam die Nachspielzeit, und Bayern verlor 2: 1. Aus der Traum. War 1999 vielleicht das Jahr der Nachspielzeit? Lässt die Geschichte etwa auch nachspielen? Nein. Ab und zu spielt sie noch etwas rein, was schon früher angefangen hat und noch nicht abgeschlossen ist. Das ist der Lauf der Dinge. Aber sonst braucht die Geschichte keine Nachspielzeit, sie geht einfach weiter. Ich bin grundsätzlich gegen Nachspielzeiten. Es können in ihr Dinge passieren, die nicht passieren dürfen, und danach ist dann oft alles anders. Es ist immer besser, pünktlich Schluss zu machen. Das ist das Angenehme am Jahreswechsel. Um Mitternacht ist das alte Jahr zu Ende, und das neue schließt nahtlos an. Und jeder weiß, jetzt kommt das Jahr des Haubentauchers oder der Rohrdommel oder der Sumpfdeckelschnecke, die zusammen mit der Amerikanischen Bohrmuschel längst ein Jahr verdient hätte! Nur ich weiß es nicht. Ist wahrscheinlich auch gar nicht so ausschlaggebend. Ich habe es wieder mal vergessen. Für mich war 1999 jedenfalls ein Jahr des Vergessens. Aber nicht nur für mich. Immer mal wieder gab es - wie viele Jahre zuvor auch - einige wenig überzeugende Vergessensversuche, die aber allesamt durch öffentliche Erinnerungsakte zunichte gemacht wurden. Man hat auch in diesem Jahr heftig darüber nachgedacht, wie wir Deutschen uns angemessen an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnern sollten, müssten, dürften. Dabei haben einige keine Möglichkeit zum -215-
Missverständnis ausgelassen. Ich kann mich, ehrlich gesagt, nicht mehr so genau daran erinnern. Ich glaube, dass diese Erinnerungsdebatte im Herbst 1998 auf der Frankfurter Buchmesse ein Thema war. Gehört also gar nicht in dieses Jahr. Ein Ergebnis dieser Debatte allerdings schon: Der Bundestag hat in diesem Jahr endgültig beschlossen, dass in Berlin ein Fußballplatz großes Erinnerungsfeld errichtet werden soll. Der Vergleich mit dem Fußballplatz stammt nicht von mir, ruft aber den Gedanken der Nachspielzeit wieder in mein Gedächtnis zurück. Irgendwie scheint sich das in meinem Kopf verfestigt zu haben. Erinnern, egal in welchen Dosen, findet immer in einer Nachspielzeit statt. Das merke ich mir jetzt aber ein für alle Mal! Auf jeden Fall aber war 1999 ein Jahr der Ungeduld. Denn so schnell wollte man noch kein Jahr hinter sich bringen. Schon in der Silvesternacht von 1998 auf 1999 haben wir über das Ende des soeben begonnen Jahres nachgedacht. Und das war ja ganz logisch, weil es von Anfang an das Ende dieses Jahres/Jahrzehnts/Jahrhunderts/Jahrtausends war. Vier Enden in einem Jahr! Und das, bevor es angefangen hatte. Das ist das Absurde dabei. Denn eigentlich kann etwas nicht zu Ende sein, bevor es begonnen hat. Aber was das Jahr 1999 angeht, war es so. Gute Vorsätze wurden gar nicht erst gefasst, es hätte sich nicht rentiert. Dieses Jahr musste so schnell wie möglich rum. Die Ausblicke auf das neue, heraufziehende, das kommende, noch Ungewisse, das magische Jahr 2000 beherrschten von Anfang an die Gedanken. Ängstlich umarmten wir uns unterm Feuerwerk und hoben den frohen Neujahrswünschen düstere Befürchtungen unter. Bange fragten wir: Was machen wir bloß an Silvester 2000? Zwar hatte auch uns der kühle Millenniumshauch in aufgeregte Erwartung versetzt, nur hatten wir überhaupt keine Idee, wie wir diesen Tag rumkriegen sollten. Immer wieder seufzten wir uns an: Was machen wir bloß zu Silvester? Sollen wir mit Freunden -216-
auf einer Berghütte in luftiger Höh ohne Fernseher den Jahrtausendwechsel begehen oder doch lieber mit Fernseher am Meer ohne Freunde. Gott sei Dank ließ man uns mit dieser Frage nicht allein. Die Medien standen uns mit Trost und Rat zur Seite. Unzählige Jahrtausendfeiern wurden schon im Januar '99 des noch jungen Jahres angekündigt und waren kurz darauf restlos ausgebucht. Tickets für Flugzeuge, die in der Neujahrsnacht um die Erde flogen, um dem Jahr 2000 entgegen zu fliegen, fanden reißenden Absatz. Tausende von fortpflanzungswilligen Paaren arbeiteten wild entschlossen daran, ein Millenniumsbaby zu zeugen, das exakt zu Neujahr 2000, Punkt 0 Uhr 00, das Licht der Welt erblicken sollte. Im Frühjahr wurden demzufolge Millionen von Spermien in Gebärmütter katapultiert und das nur, weil ein Jahr mit drei Nullen anstand! Das war nun nicht so unser Ding, weshalb wir weiter auf der Suche waren nach dem ultimativen Kick. Eines jedenfalls war klar: Zur Jahrtausendwende wollten wir einen unvergesslichen Höhepunkt von nie da gewesener Intensität erleben. Egal wo und mit wem! Wir stellten uns einen Millenniumsevent vor, der an Endgeilheit nichts zu wünschen übrig ließ. Verzückung, Rausch, Ekstase waren das Mindeste, was wir dabei von uns forderten. Ein endkrasses Fest mit endoriginellem Verlauf! Und so ähnlich lief es dann auch ab. Abzüglich Verzückung und Ekstase, aber dafür umso mehr Rausch. Irgendwann war uns endlos übel. Sozusagen endübel. Vielleicht täusche ich mich, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass das Lebensgefühl am Ende dieses Jahrtausends unsere Sprache um einige neue Wortverbindungen bereichert hat. Ich kann mir das nur so erklären, dass das Endfeeling, beim Vollzug des letzten Jahres eines Jahrtausends mitzumachen, sich endgültig in diesen endsprachlichen Wortschöpfungen niedergeschlagen hat. Das Präfix end kann grundsätzlich mit jedem Wort eine Verbindung eingehen, um damit eine weitere -217-
Steigerung des Superlativs zum Ausdruck zu bringen. Unsere Kinder werden nicht müde, uns mit immer wieder neuen Wortkreationen dieser Endlage zu überraschen. So ist die Schule, die sie täglich besuchen, endöde, einige Lehrer, die dort unterrichten, sind enddoof, und das Leben im Allgemeinen ist sowieso endkrass. Schulfreunde sind schon mal endcool oder endblöd. Je nachdem, Hauptsache end-. Endgefühle breiten sich aus. Es scheint eine Kontinuität des Endlichen zu geben, die mir bisher verschlossen blieb. Wenn ich gelegentlich einfließen lasse, dass das gesamte Leben von Anfang an ziemlich endig sei, so bewege ich mich damit am Rande des Endkomischen. Die existenzielle Tatsache, dass alles vergänglich sei und mit dem Tod ende, ist in den Augen unserer Kinder absolut endverbraucht. Ich erwarte eigentlich täglich eine Wortschöpfung, die den endgültigen Anfang endsprachlich auf den nicht mehr zu toppenden - auch so eine Formulierung Endpunkt bringt. Steht uns vielleicht mit dem Jahr 2000 der Endanfang ins Haus? Sieht so aus. Endanfängliches Fühlen und Denken beherrschen bereits unser Leben. Die Magie der Zahl 2000 lässt manche Mitmenschen Schlimmes ahnen. Es sind diese drei Nullen hinter der zwei, die viele Zeitgenossen beunruhigt in die Zukunft haben blicken lassen. Das muss doch etwas bedeuten! Aber was? Die Null bedeutet doch wohl, dass nichts mehr kommt. Und drei Nullen heißt, dass wir uns auf ein absolutes Nichts einstellen können. Aber schlagen wir nach bei einem, der es wissen muss. Was meinte denn der alte Nostradamus? Na bitte, ich hätte es mir denken können. Weltuntergang, immer wieder Weltuntergang. Das ist nun wirklich endgähnendlangweilig! Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, der endgültige Endevent wurde herbeigesehnt. Und auf dem Weg dorthin sollte es schon mal quasi als Vorgeschmack einige endeventige Ereignisse ins Leben hageln. Es gab am Ende dieses Jahres 1999 die Hoffnung -218-
auf die unendliche Endgeilheit, die sich bitteschön mit der Jahrtausendwende einstellen sollte. Woher aber rührt diese Sucht nach dem Besonderen? Gibt es vielleicht noch zu wenig Anlässe, um außergewöhnliche Gefühle entwickeln und erleben zu können? Bietet das Leben zu wenig? Das Gegenteil ist der Fall. Es stimmt schon, es gibt nur noch herausragende Höhepunktsveranstaltungen. Der Dauerevent lässt die Angst wachsen, unter den Events den eventigsten Event zu versäumen. Wer hilft uns da raus? Die Kirche? Zu Fuß über die Alpen ins Rom 2000? Der Millenniumsrosenkranz? Der Papst mit Beratungsverweigerung? Obwohl es solche Organisationen wie Opus Dei, den BND und die CIA gibt, die nicht aufhören, uns in dieser Not beizustehen, fühlen sich viele allein gelassen und wissen nicht mehr ein noch aus. Orientierungslosigkeit breitet sich aus. Die Einschaltquoten für die täglichen Seelenmüllshows steigen, das »Wort zum Sonntag« bricht den Zuschauerrekord. Aber das reicht nicht mehr aus. Hilfe, ich blicke nicht mehr durch, rufen einsame Stimmen. Wohin soll ich mich wenden? Ins Internet selbstverständlich. Da gibt es Hilfe. Yahoo, die Suchmaschine, findet immer einen place. Also, den PC an und den Browser brausen lassen. Verbindung aufbauen zu mitfühlenden PC-Seelen, chatten mit hinter Code-Namen versteckten Nichtgestalten. Egal, Hauptsache »drin«! Und dann kam mir die Idee! Silvester im Internet! Vernetzt mit der ganzen Welt. Alles live, mit Millionen, ach was - Milliarden, am PCBildschirm, chattend durch die Silvesternacht. Anstoßen per Mausklick mit Amerika, Afrika, Indien, China, Usbekistan. Das wäre wirklich ein würdiger Jahrtausendwechsel geworden. Zukunftsweisend, eine Utopie der Völkerverständigung. Leider hat meine Familie bei dieser sensationellen Eventidee nicht mitgespielt. Sie bestand auf der bewährten Variante mit Sekt im Glas und Bussi auf die Silvesterbacke. Das war natürlich auch eine Idee: die totale Langeweile als -219-
absolutes Gegenerlebnis zum kurzweiligen Topevent. Das Nichts der drei Nullen als ultimativer Superevent! Der Weltuntergang? Sollte Nostradamus doch Recht gehabt haben? Falls Sie jedoch diese Zeilen lesen können, hat der Weltuntergang nicht stattgefunden. Aber die letzten Tage sind zweifellos angebrochen. Das Ende der Geschichte haben wir bereits hinter uns. Es kann also nicht mehr lange dauern. Wir sollen uns ja ohnehin schon in der Posthistorie befinden. Habe ich irgendwo gelesen. Wirklich wichtige Dinge bleiben also doch in meinem Gedächtnis haften. Jetzt weiß ich, was '99 für ein Jahr war. Es war ein verlorenes Jahr für Deutschland. Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat, aber ich habe es im Kopf behalten. Wir hatten noch nie so viele Schulden wie in diesem Jahr, teilt Herr Eichel, unser oberster Buchhalter, bei jeder Gelegenheit mit. Alles nur, weil die deutsche Geschichte 1989 ihre Kontinuität verloren hatte. Seitdem sucht sie nach neuen Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie sich weiter vollziehen kann. Und so lange sie keine brauchbaren gefunden hat, geht sie schlicht weiter. Nur so ist doch erklärbar, dass einer wie Gerhard Schröder Kanzler werden konnte. Das deutsche Jahr '99 startete also, rein zeitlich gesehen, pünktlich im Januar, inhaltlich aber begann es sich - zumindest was die innenpolitischen Belange betraf - bereits im Oktober '98 zu füllen. Die Regierung Schröder hastete hurtig mit ihren Tätigkeiten zum Wohle des Volkes ins Jahr. Kanzler Schröder ging mutig voran, bewies Offenheit und blieb neugierig auf das, was er morgen sagen würde. Gesetze wurden flink entworfen, rasch zugeschnitten und ebenso rasch wieder verworfen. Was gerade noch galt, war am nächsten Morgen schon im Eimer. Schröder verpasste dem Prinzip Vergänglichkeit einen Turbolader. Nur die Regierung hielt sich tapfer. Sie verschrieb sich radikal dem Prinzip Veränderung. Nur sich selbst nahm sie aus dabei, und mancher -220-
fühlte sich ausgenommen. In flotter Folge kamen Gesetze auf den Markt der öffentlichen Meinung, die so keiner haben wollte. Das so genannte 630-Mark-Gesetz für geringfügig Beschäftigte wurde in immer wieder neuen Varianten angeboten, bis es endlich vom Tisch war. Mit dem gleichen Verfahren machte sich die Regierung mit neuen Unternehmenssteuergesetzen beliebt. Die Sympathie für die neue Regierung war kaum noch zu bremsen und schlug sich in den Landtagswahlergebnissen nieder. Schröder behauptete nach der verlorenen Hessenwahl, er habe verstanden. Leider hat er nicht gesagt, was. In der Atompolitik versuchte ein grüner Minister die Industrie zum Ausstieg aus der Kernenergie zu zwingen und wurde dafür von seinem Kanzler öffentlich abgewatscht. Der Finanzminister der Regierung Schröder, Oskar Lafontaine, kümmerte sich um die Globalisierung der Konzerne und begann zusammen mit seiner Frau die Weltwirtschaft neu zu ordnen. Nachdem ihm sowohl die Weltwirtschaft als auch die deutsche Wirtschaft viel Spaß bei seinem Vorhaben gewünscht hatten, trat er ohne Angabe von Gründen zurück. Die Börse reagierte darauf mit steigenden Kursen. Als die Regierungsshow zum Spaßevent auszuarten drohte, kam ein Krieg und gab den Regierenden die einmalige Chance, international Verantwortung zu tragen. Militärische Sachlichkeit regierte ab sofort auf allen Ebenen der Politik. Die moralischen Rechtfertigungen für Deutschlands Eintritt in den Krieg mit Jugoslawien überzeugten auf der ganzen Linie. Der mit Bedacht gewählte Vergleich: »Kosovo ist ein Auschwitz«, den sowohl Außenminister Fischer, als auch Verteidigungsminister Scharping ins Feld führten, um die Gräuel der serbischen Bevölkerung und deren Führer Milosevic an den Kosovaren der deutschen Öffentlichkeit nahe zu bringen, ließen auf profundes Geschichtswissen der beiden Politiker schließen. Vielleicht wollten sie damit auch nur dem Dichter Martin -221-
Walser nachträglich Recht geben, der von der moralischen Auschwitz-Keule sprach, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit herausgeholt werde. Der Verteidigungsminister, so war zu hören, sei durch die deutsche Kriegsbeteiligung sogar zur Persönlichkeit gereift. Jedoch nicht alle hatten 1999 so viel Glück wie der Verteidigungsminister. Die Grünen, moralische Instanz, ausgerechnet die Grünen, die auf ethisch einwandfreies Handeln geeicht waren, diese modernen Heiligen der Ökologie, der Natur und des Friedens, die Hüter der allerheiligsten Friedensmoral, die sie immer in einer sonnenblumenartigen Monstranz unter dem grünen Baldachin der Verantwortung vor sich her trugen, sie öffneten auf dem grünen Kriegsparteitag von Bielefeld ihren pazifistischen Tabernakel und schauten in die grüne Leere. Der Hohepriester Joschka Fischer hatte im Namen der Menschlichkeit den grünen Pazifismus geopfert und ihn aus einem deutschen Tornado über Belgrad abgeworfen. Der Krieg wurde gewonnen, und Deutschland war endlich wieder einmal auf der Seite der Sieger! Damit war das Jahr auf Touren gekommen, und die Geschichte gönnte sich eine Sommerpause. Im Herbst, der uns einen selten schönen Altweibersommer bescherte, ging es weiter mit der Gesundheits- und der Rentenshow, die aber an Dramatik und Unterhaltung leider nicht das Niveau der vorangegangenen Nummern und Einlagen erreichte. Lediglich Walter Riester, der Arbeits- und SozialRivel, konnte als Rentenclown Lachsalven für sich verbuchen. Einmal wollte er alle mit sechzig in Rente schicken, dann wieder nicht. Einmal war das Modell zu finanzieren, dann doch wieder nicht. Einfach großartig war das. Die Senioren hatten nichts zu lachen. Moment! Jetzt fällt mir ein, was die UNO mit diesem Jahr im Schilde führte. Sie hatte 1999 zum Jahr der Senioren erklärt. -222-
Deshalb war der Riester so hoch motiviert. Mit Andrea Fischer, der Gesundheitsministerin, hatte er eine starke Konkurrentin, die auf verbissen charmante Art zu überzeugen wusste. Die Reform im Gesundheitswesen war ebenfalls ein Dauerbrenner in diesem Jahr. Diese Bundesregierung der neuen Mitte setzte Maßstäbe. Sie erkannte die Zusammenhänge zwischen Energie, Rente und Krankheit und brachte diese Bereiche mit der Einführung der Ökosteuer virtuos zueinander in Beziehung. Denn mit den Einnahmen aus der Ökosteuer werden die Renten bezahlt. Wer also zukünftig mehr Energie verbraucht, wer beispielsweise mehr Auto fährt, hilft den Alten in unserer Gesellschaft auf mehrfache Weise: Er zahlt mit dem Benzinpreis die Renten und verpestet die Luft, sodass die Zukunft des Rentensystems gesichert is t. Die Förderung von Atemwegserkrankungen dämpft einerseits die Lebenserwartung und hat andererseits den erfreulichen Nebeneffekt, dass mancher Rentner gar nicht mehr in den Genuss seiner Rente kommt. Diese Regierung laberte nicht nur, sie machte ernst mit sozialer Gerechtigkeit und Solidarität. Nachzutragen bliebe, dass das Jahr 1999 an Selbstverständlichkeiten nichts zu wünschen übrig ließ. Hier nur eine kleine Auswahl: Korruption, Bestechung, Waffenhandel, Kriege, humanitäre Katastrophen, Arbeitslose, Rinderwahnsinn, Klimaschutzkonferenzen inklusive Handel mit Luftverschmutzungsgutscheinen, Globalisierung, Lawinenabgänge, Hochwasser, Erdbeben, Hurrikans, Nobelpreise, und selbstverständlich die große Abteilung »Lüge und Wahrheit«. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, gesellte sich zu all den anderen Nöten in diesem Jahr auch noch der Browsermangel! Jessas, Maria und Josef! Sonst war, so viel ich weiß, nicht viel los in diesem Jahr. Falls Sie dennoch einiges vermisst haben sollten, Ereignisse, die Sie -223-
für erwähnenswert gehalten hätten, so müssen Sie mehr wissen als ich und über ein wesentlich besseres Gedächtnis verfügen. Trösten Sie sich damit, dass Sie mehr vergessen können als ich. Oder auch nicht. Ganz wie Sie wollen. Falls sich nach dieser Lektüre bei Ihnen ein Gefühl des unvollständigen Wissens einstellen sollte und Sie sich unsicher fragen, war es das nun? - so möchte ich mit einem schlichten Ja antworten. Sollten Sie hingegen das Gefühl haben, dass hier einiges fehlt, das unbedingt hätte angeführt werden müssen, so darf ich Ihnen sagen, man behält nur das im Gedächtnis, was man persönlich für erinnernswert hält. Geschichte ist halt immer nur das, was nicht vergessen worden ist. Es gibt allerdings Geschichten, die man einfach nicht vergessen kann! Nach unserem erfolgreichen Umzug in unsere neue Wohnung hatten wir den Doppelduplexkomplex zu einem glücklichen Ende gebracht. Jetzt musste nur noch die Geschichte mit dem Freien Fernsehen Bayern klappen. Krampfl hatte endlich Zeit für mich. Vor dem Bürokomplex, in dem Krampfl sein Redaktionsquartier hatte, fand ich überraschenderweise sofort einen Parkplatz. Ich war überpünktlich. Sein Büro befindet sich im Untergeschoss eines wenig einladenden Bürobaus aus den Siebziger Jahren. Die Sekretärin lässt mich sofort zu ihm. Im Büro stehen tatsächlich Blumentöpfe, in denen halb vertrocknete Grünpflanzen vor sich hin welken, und Herr Krampfl kann einen Blick auf die abgeböschte Natur vor seinem Fenster genießen. Die Sekretärin bringt Kaffee, und Krampfl sagt, er müsse nur noch schnell ein Telefonat erledigen. Er habe mit seinem Hauseigentümer Probleme. »Die Vermieter werden immer verrückter!« sagt er. Das kann ich bestätigen! Er wählt, aber es ist belegt. Ohne Umschweife kommt er auf die »Forschungsreise« zu -224-
sprechen. Er habe mit Schlapp-Winsel noch einmal gesprochen, und sie seien zu dem Ergebnis gekommen, dass das vorliegende Konzept... Die Sekretärin kommt rein und legt Krampfl ein Schreiben auf den Tisch, das dieser sofort zu lesen beginnt. Es scheint nichts Gutes zu beinhalten. Je länger er liest, desto ärgerlicher wird Herr Krampfl. Er legt das Papier wütend zur Seite, steht auf und ruft seine Sekretärin herein. »Entschuldigen S', Herr Jonas, aber das duldet keinen Aufschub.« Ich höre, wie er im Vorzimmer seiner Sekretärin eine Antwort auf den eben erhaltenen Brief diktiert: Sie fordern mich auf, den Stellplatz 112 der Tiefgarage im Anwesen der Wolkenheimerstraße 8 in München unverzüglich zu räumen, da ich mich angeblich unrechtmäßig darauf befände. Ich haben Ihnen bereits mehrmals schriftlich mitgeteilt, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Ich habe einen gültigen Mietvertrag mit der Edmira Immobilienverwertungs- und Grundstücksverwaltungsgesellschaft. Ich bestehe daher auf der vertraglich zugesicherten Kündigungsfrist von drei Monaten. Hochachtungsvoll... Als ich die Adresse Wolkenheimerstraße 8 und Stellplatz 112 hörte, dachte ich zunächst, ich hätte mich verhört. Aber nein, er hatte tatsächlich die Adresse unserer neuen Tiefgarage und unsere Stellplatznummer genannt. Schlagartig wurde mir bewusst, was vor sich ging. Der Krampfl, also sein Auto, stand bisher auf dem Stellplatz, der zu unserer neuen Wohnung gehörte. Durch unseren Einzug musste er nun diesen Tiefgaragenplatz räumen, den er nur mieten konnte, weil unser Vormieter kein Auto hatte. Als mir der Sachverhalt klar wurde und damit die Konsequenzen - das hieß nämlich nichts anderes, als dass ich die nächsten drei Monate keinen Stellplatz haben -225-
würde -, befürchtete ich zunächst, dass die Wut der sieben Presssäcke über mich hereinbrechen würde, und zog deshalb in Erwägung, durchs Fenster zu flüchten oder mich mit dem Vorwand, mir sei plötzlich schlecht geworden, zurückzuziehen. Aber es kam ganz anders. Ich bekam keine Wut, sondern einen Lachanfall, dass mir die Tränen kamen. Ich fragte Herrn Krampfl, ob er ein ordentlicher Mensch sei und ob er seine Verträge immer sauber und korrekt abheften würde. Wenn nicht, so solle er sich schon mal nach einer neuen Wohnung umsehen. Herr Krampfl und seine Sekretärin schauten mich forschend an. Krampfl fragte, ob ich narrische Schwammerl erwischt hätte. »Nein«, grinste ich, »Entschuldigung, aber das überkommt mich manchmal einfach so. Könnten Sie vielleicht eine Karl-MoikKassette für mich auftreiben und in den Videorecorder einlegen?« Leider war keine zur Hand, so dass ich mich eilig verabschiedete, um nach Hause zu fahren. Zwei Tage später bekam ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass das Projekt »Forschungsreise« im Programmausschuss gescheitert war. Man hielt es für wenig Erfolg versprechend. Und wenn sie nicht gestorben sind, so planen sie noch heute. Gerade hat das Telefon geklingelt. Als ich abhob, meldete sich ein Georg Bauderer, er sei vom FFB, und wir sollten doch endlich mal was miteinander machen. Er hätte schon eine tolle Idee für eine Serie und möchte sich mit mir mal treffen. Am besten beim Italiener. Da könnten wir die Sache dann angehen. Ich weiß nicht, was ich ihm geantwortet habe, auf alle Fälle brauche ich jetzt mein Notfallset. Wo ist die Karl-Moik- in-Peking-Kassette?
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