Zauberschwestern (Sword and Sorceress V)
Marion Zimmer Bradley 3. Juni 2000
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Zauberschwestern (Sword and Sorceress V)
Marion Zimmer Bradley 3. Juni 2000
2
Inhaltsverzeichnis 0 Eine Art Einfu ¨ hrung
1
1 Das Haustier des Zauberers
3
2 Ins gru ¨ ne Land
13
3 Die Augen des Laemi
25
4 Kleinode
39
5 Der Tanz der Heilerin
47
6 Eine Nacht im Wirtshaus
61
7 Schlu ¨ ssel
69
8 Duell auf der Trommel
87
9 Das Auge Toyurs
99
10 Piets Braut
111
11 Der Weg der Kriegerin
119
12 Kriegsbeute
137 3
0
INHALTSVERZEICHNIS
13 Cholin von Carnel
141
14 Ritual der Rache
157
15 Blutstein
179
16 Die Schwerts¨ angerin
187
17 Sturmbringerin
195
18 Herrin der M¨ owen
205
19 Die Flu ¨ chtlinge
221
20 Das goldene Ei
233
21 Die revidierte Standard-Jungfrau
241
22 Drachenliebe
249
Kapitel 0 Eine Art Einfu ¨ hrung von Marion Zimmer Bradley Jedes Jahr wird es schwieriger f¨ ur mich, Geschichten abzulehnen — obwohl ich recht genau weiß, was ich nicht will. Doch es f¨allt mir immer schwerer, einen guten Grund f¨ ur die Ablehnung zu finden. Falls ich also Ihre Geschichte abgelehnt habe und Sie trotzdem glauben, es sei eine gute Geschichte, halten Sie sich vor Augen, daß ich nicht vom Berg Sinai auf Steintafeln herabspreche. Wenn ich Ihre Geschichte aus einem Grund ablehne, der Ihnen kein guter Grund zu sein scheint, liegt das nur an dem unmittelbaren Eindruck, den ich beim Lesen hatte — oder vielleicht dachte ich auch nur: Wie soll ich dem begabten Einsender (wahrscheinlicher: der Einsenderin) klarmachen, daß ich zwar diese Geschichte nicht kaufen kann, weil ich schon zu viele ¨ahnliche habe, aber vielleicht die n¨achste kaufen werde? Und dann muß ich Jahr f¨ ur Jahr immer wieder und wieder die gleichen Geschichten lesen; falls ich Ihre Drachen– oder Einhorn– Geschichten nicht gekauft habe — und wahrscheinlich haben Sie mir eine geschickt, ich glaube, jeder hat mir eine geschickt —, denken Sie bitte daran, wie viele ich dieses Jahr bereits gelesen habe. Nichts ist ein f¨ ur allemal abgemacht, nicht wahr? Jedes Jahr protestiert jemand in einem Brief gegen meine Politik, keine Geschichte zu kaufen, in der irgendwer sagt: Aber das ist doch keine Frauen” ¨ arbeit!“Meine feste Uberzeugung ist, daß alles Frauenarbeit(oder, was das angeht, M¨annerarbeit) ist, wenn eine Frau oder ein Mann stark genug ist und den Wunsch hat, sie zu tun. Manchmal danke ich dem Himmel, daß ich nicht dazu bestimmt worden bin, Leitungsmasten hinaufzuklettern, aber wenn Frauen es tun wollen, ist es mir ein R¨atsel, warum sie es nicht sollten. Also, ich kaufe keine Geschichten, in denen Frauen gesagt wird — f¨ ur gew¨ohnlich von den M¨annern in ihrem Leben —, daß dieses oder jenes, das Ersteigen von Leitungsmasten, das H¨ uten von Drachen oder, h¨aufiger, 1
2
¨ KAPITEL 0. EINE ART EINFUHRUNG
Schwertkampf und Zauberei keine Frauenarbeit sei. Ja, ich weiß, daß die Schlacht im wirklichen Leben noch nicht gewonnen ist, ich weiß, daß den Frauen im wirklichen Leben gesagt wird, sie k¨onnten keine Drachen h¨ uten und keine Leitungsmasten ersteigen und was es sonst geben mag — aber das ergibt keine gute Geschichte. Wir Frauen m¨ ussen wissen, daß uns das in der Dichtung nicht gesagt wird. In Erz¨ahlungen, die ich herausgebe, bekommt keine Frau zu h¨oren, sie k¨onne keine Drachen h¨ uten. Obwohl es mir immer noch ein R¨atsel ist, warum Frauen es wollen. Was ist u ¨brigens schlecht daran, h¨ ubsche Kleider zu tragen? Ich, ein Kind der Depression, w¨are selig gewesen, welche zu haben! (Das spielt nat¨ urlich auf die Stelle in ,THE FEMALE MAN´ an, wo jemand sagt, M¨anner m¨ ußten dieses oder jenes tun und Frauen m¨ ußten h¨ ubsche Kleider tragen.) Ich habe keine getragen — und ich h¨atte es so gern getan. Sei dem, wie ihm wolle, ich sehe die Fantasy nicht als eine M¨oglichkeit, Schlachten zu schlagen, die l¨angst gewonnen sein sollten. Deshalb erfinden Sie in Ihrer Geschichte das Rad nicht von neuem. Es mag notwendig sein, zu sagen, daß Frauen Drachen h¨ uten (oder mit Drachen k¨ampfen) k¨onnen, aber nicht in der Dichtung, außer indem sie es tun. Und das tun sie. Und sie werden es weiterhin tun. Zumindest in den von mir ausgew¨ahlten Beitr¨agen zu dieser Anthologie.
M.Z.B.
Kapitel 1 Das Haustier des Zauberers von Margaret L. Carter Jedes Jahr schließt die erste Geschichte, die ich kaufe, ein Dutzend anderer m¨oglicher Geschichten aus. Kritiker sagen zuweilen, ich z¨oge Schwert“–Geschichten denen vor, die von Magie handeln. ” Hier ist nun eine, in der es um beides geht. In gewisser Weise ist sie typisch“, weil die Heldin eine ” S¨oldnerin ist, und sie ist insofern durchschnittlich“, als jede Fantasy durchschnittlich sein kann. ” Aber sie enth¨alt zudem eine Menge anderer Dinge, einschließlich Gestaltwandlung und Zauberei. Wir er¨offnen also eine weitere Anthologie mit dieser Geschichte von Margaret Carter, die auch an die Darkover-Anthologien eine verkauft hat.
Die große, magere Frau mit dem rostbraunen Haar schreckte aus dem leichten Schlaf neben der Glutasche des Lagerfeuers hoch. Ihre Hand flog an den Dolchgriff. Ihr Blick ging zu den B¨aumen, von wo das Rascheln kam, das sie geweckt hatte. Die Schatten der D¨ammerung fielen schr¨ag durch die dunkelgr¨ unen und bl¨aulich-purpurnen Bl¨atter. In dem Unterholz neben ihr regte sich etwas, und ein Tier kam zum Vorschein — ein zottiges Tier mit Reißz¨ahnen, dessen graues Fell unregelm¨aßige Flecken von der Farbe alten Weins zeigte. Es trug ein totes Schlappohr im Maul. Die Frau entspannte sich, nahm die Hand vom G¨ urtel. Von allen unverantwortlichen...“ ” Das Tier ließ das fette Schlappohr fallen und schlug mit dem Schwanz nach ihr. Seine leuchtenden T¨ urkisaugen hatten einen flehenden Ausdruck. Die Tiergestalt waberte wie eine Spiegelung auf Wasser und l¨oste sich zu einer S¨aule gr¨aulich-braunen Rauchs auf. An ihre Stelle trat sodann der nackte K¨orper eines noch nicht zwanzigj¨ahrigen Jungen. Rotblond und schlank, war er ebenso groß wie die Frau, aber sein Umriß hatte sich noch nicht zu dem eines Mannes ausgef¨ ullt. Die blauen 3
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KAPITEL 1. DAS HAUSTIER DES ZAUBERERS
Augen, unver¨andert, sahen mit sp¨ottischem Schimmer in ihre violetten. Dachte, du h¨attest vielleicht ” gern frisches Fleisch zum Abendessen statt dieser z¨ahen getrockneten Streifen.“ Kriechendes Chaos, Bronn! Ich schlafe f¨ ur ein paar Minuten ein, verlasse mich darauf, daß du ” Wache h¨altst´ und du stellst so etwas an! Ich weiß nicht, warum ich dich mitgenommen habe.“ Grinsend hockte sich der Junge neben seinen Rucksack und nahm Hose und Jacke heraus. Weil ” auch eine m¨achtige Kriegerin wie du eine Aufgabe wie diese nicht allein erf¨ ullen kann.“ Oh, halt den ” Mund und bring das Feuer wieder in Gang! Ich werde das Ding inzwischen abh¨auten. Es sieht aus, als sei es zart, aber trotzdem ist es nicht wert, eine Wandlung darauf zu verschwenden. Wenn ich Mutter und Vater erz¨ahle, wie du dich benommen hast...“ Na, Laenie´ was werden sie deiner Meinung nach dann tun? Ich bin schon ein bißchen zu alt, um ” ohne Essen ins Bett geschickt zu werden. Reg dich nicht auf, ich habe immer noch zwei Wandlungen u urte das Feuer an. Seine Jacke stand immer noch offen. ¨brig.“Er kn¨opfte sich die Hose zu und sch¨ Er hatte gerade erst seine Lehrzeit als Gestaltwandler hinter sich gebracht und war unm¨aßig stolz auf die eine Form, die er beherrschte: die des Rauhzahns. Deshalb ließ er keine Gelegenheit aus, damit anzugeben. Und mit den zwei Wandlungen mußt du bis morgen fr¨ uh auskommen“ erinnerte Laenie ihn und ” schlitzte dem Schlappohr w¨ utend den Bauch auf. Zum erstenmal habe ich einen Job ergattert, der ” ¨ aufregender ist als das Ubliche; Leibwache f¨ ur Reisende zu spielen, die zu faul oder zu ungeschickt sind, sich selbst zu verteidigen. Ich lasse ihn mir von dir nicht versauen.“ Bronn bedachte sie mit einem listigen L¨acheln. Ich weiß, was Meister Osswen dazu sagen w¨ urde, ” daß du f¨ ur Meisterin Moraya arbeitest. Hat er nicht immer behauptet, sie sei korrupt?“ Laenie weidete das Schlappohr mit einer einzigen Drehung der Klinge aus. Was weiß Meister ” Osswen von der Welt? Er verbringt sein Leben in dieser Villa, die zwei Stunden vom n¨achsten Dorf entfernt ist. Wie Vater liest er die H¨alfte der Zeit f¨ ur Lords und F¨ ursten und gutbetuchte Kaufleute die Zukunft aus einer Kristallkugel, die andere H¨alfte vergr¨abt er sich in Tor-Experimente, um die Geheimnisse des großen Jenseits oder so etwas auszuloten. Er hat kein Verst¨andnis f¨ ur Leute wie uns, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen m¨ ussen.“ Du warst an dem großen Jenseits eine Weile recht interessiert.“ ” Laenie hatte nicht ganz ein Jahr als Lehrling bei Meister Osswen verbracht, bis sie zu dem Schluß kam, die Zauberei sei dem wirklichen Leben zu fern, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie bewahrte dem alten Mann, ihres Vaters Blutsbruder seit der Kinderzeit, ihre Zuneigung, aber sie bereute es nicht, daß sie zu dem Beruf der Kriegerin u ¨bergewechselt war. Meister Osswen sagte, ich h¨atte ” einen scharfen Verstand und k¨onne mir schnell etwas merken, aber die Tiefe der Auffassung, die eine Zauberin haben muß, fehle mir. Und wenn das bedeutet, ich verst¨ande die Philosophie der Magie nicht, hat er recht.“
5 Sie bereitete das Schlappohr f¨ ur den Bratspieß vor und dachte dabei an die Hunderte von Stunden, die sie Osswens Predigten u ußen ¨ber magische Ethik zugeh¨ort hatte. Sie hatte zu seinen F¨ ged¨ost, w¨ahrend er endlose moralische Probleme w¨alzte, unter deren mannigfachen L¨osungen sie keinen Unterschied von Haaresbreite erkannte. Was hatten das Numerieren der Existenzebenen oder das Anlegen von Karten f¨ ur die Schnittpunkte zwischen der Schattenwelt und der materiellen Welt mit gut“und b¨ose“zu tun? Osswen hatte versprochen, sie werde es verstehen, sobald sie genug ” ” Wissen aufgesaugt habe, aber sie hatte die Geduld nicht besessen zu warten. Deshalb nahm sie seine omin¨osen Bemerkungen u ur Osswen mochte korrupt“nichts ¨ber Meisterin Moraya mit Skepsis auf. F¨ ” weiter bedeuten, als daß die Frau die Worte irgendeines uralten Zauberspruchs ver¨anderte oder in ihrer Kristallkugel Reptilienblut anstelle von Vogelblut benutzte. Moraya hatte Laenie wegen ihres kurzen Studiums bei Osswen f¨ ur diese Aufgabe ausgew¨ahlt. Du ” weißt gerade genug u ¨ber Magie, um dich vor ihr in acht zu nehmen“ hatte die Zauberin gesagt, aber ” nicht genug, um herumzupfuschen und die Zielperson zu warnen. Anders als die meisten Kriegerinnen, die ich kennengelernt habe, hast du wahrscheinlich so viel Verstand, daß dir die Schwerthand nicht mit dem Gehirn davonl¨auft.“ Obwohl sie f¨ ur ihre Auftraggeberin pers¨onlich ebensowenig Sympathie empfand wie Osswen´ hatte Laenie ihr die Beschimpfung der Kriegerinnen durchgehen lassen. Ein Job war ein Job. Laut Morayas Aussage hatte sich Gelvon, ihr fr¨ uherer Partner, mit ihr gestritten und sich, statt die Verm¨ogenswerte ehrlich mit ihr zu teilen, mit dem von Moraya h¨ochstgesch¨atzten Besitz davongemacht. Halte nach ” einem K¨afig Ausschau. Darin befindet sich ein — ein Tier, an dem ich sehr h¨ange.“Laenie hatte ihr innerliches Hohnl¨acheln hinter einem freundlichen Gesicht verborgen. Glaubte Moraya tats¨achlich, als ehemaliger Lehrling eines Zauberers sei sie so naiv, daß sie Tier“nicht mit Schutzgeist“gleichsetzen ” ” w¨ urde? Sicher, weibliche Magier, die einen Schutzgeist benutzten, waren selten, da diese Art der Zauberei im Stil eher maskulin ist, aber es kam durchaus vor. Laenie hegte den Verdacht, dieser Gelvon habe ein ebenso großes und gr¨oßeres Anrecht auf das Tier“ aber es stand ihr nicht zu, u ¨ber ” die Rechte an okkultem Eigentum ein Urteil zu f¨allen. Ihre Loyalit¨at geh¨orte dem Auftraggeber, der sie bezahlte. Die Geschwister zerteilten das heiße, fetttropfende Fleisch, und Bronn fragte Laenie nach ihren Pl¨anen. Sobald es dunkel wird“ antwortete sie, steigen wir den Berg hinunter, damit wir n¨aher ” ” an Gelvons Haus herankommen.“Wie die meisten Angeh¨origen seines Berufs zog Gelvon es vor, abseits anderer Behausungen zu leben, um sowohl seine Privatsph¨are vor Eindringlingen als auch seine Nachbarn vor seinen Experimenten zu sch¨ utzen. Du wirst Rauhzahngestalt annehmen und ” auf Erkundung ausgehen. Ich m¨ochte, wenn m¨oglich, wissen, wo er den K¨afig stehen hat, bevor ich ins Haus st¨ urme. Und unterlaß diesmal deine Sp¨aße!“ Ja, Schwester“ erkl¨arte Bronn mit sp¨ottischer Unterw¨ urfigkeit. ” Etwa eine Stunde nach Einbruch der D¨ammerung meinte Laenie, die Schatten seien jetzt tief genug, daß Bronn in seiner vierbeinigen Gestalt unbemerkt bis ans Haus kriechen k¨onne. Sie sah ihm zu, wie
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KAPITEL 1. DAS HAUSTIER DES ZAUBERERS
er sich verwandelte und den Hang hinuntersprang, und dann verbarg sie sich bis zu seiner R¨ uckkehr zwischen den B¨aumen. Es kam ihr sehr lange vor, bis sie ihn herankeuchen h¨orte. Was auch seine Fehler sein mochten, ihre Eltern w¨ urden ihr nie verzeihen, wenn sie zuließ, daß er ernsthaft verletzt w¨ urde. Er floß in seine menschliche Gestalt zur¨ uck. Der K¨afig ist da, das stimmt. Die Werkstatt ist der ” große Raum gleich hinter der Diele, und der K¨afig steht mitten auf dem gr¨oßten Tisch. Ich konnte ihn mir nicht genau ansehen. Er — er gl¨ uht irgendwie. Es tat meinen Augen weh.“ Wahrscheinlich liegt ein Zauber darauf, die Nebenwirkung eines magischen Schutzes“ meinte Laenie. ” Aber hast du genug gesehen?“ ” Ja, ersieht genauso aus, wie Moraya ihn dir beschrieben hat eine Kugel aus Gitterwerk, ein bißchen ” gr¨oßer als ein M¨annerkopf.“ Aus polierten Knochen hergestellt, und an jeder Kreuzung der Gitterst¨abe sitzt ein weißer Kristall“ ” rief sich Laenie ins Ged¨achtnis zur¨ uck. Und sie sagte, er sei sehr zerbrechlich. Deshalb m¨ ussen wir ” vorsichtig sein, wenn es mit Gelvon in diesem Raum zu einem Kampf kommt.“ Als es vollst¨andig dunkel geworden war, drangen sie bis in Sichtweite von Gelvons H¨auschen vor. Mehr als ein H¨auschen war es nicht, keine so große Villa wie die Osswens. Allerdings brauchte Laenies fr¨ uherer Meister den Raum f¨ ur Sch¨ uler; vielleicht nahm Gelvon keine auf. Von dem, was Laenie u uckgezogener als ein ¨ber ihn in der n¨achsten Stadt geh¨ort hatte, lebte Gelvon noch zur¨ durchschnittliches Mitglied seines Berufs. Bei einem der Fenster fiel ein Lichtschimmer durch die L¨aden. Es war ganz gut, dachte Laenie´ daß Gelvon wach und bei der Arbeit war, denn sie hatte nicht vor einzubrechen. Das Haus war umgeben von magischen Sicherungen — der Grund, warum Moraya nicht einfach ihre eigenen Kr¨afte benutzt hatte, um den K¨afig zur¨ uckzugewinnen -, und es w¨ urde auch gegen die K¨ unste eines gew¨ohnlichen Diebes gesch¨ utzt sein. Die Anwendung von Werkzeugen bei T¨ ur oder Fenster l¨oste den Alarm bestimmt ebenso aus wie der Geruch nach Magie. Laenie hoffte, es mit einem Trick zu schaffen, daß der Eigent¨ umer ihr die T¨ ur ¨offnete. Sie hatte sich entschlossen, die Rolle einer von der Nacht u ¨berraschten Reisenden zu spielen, die von einem Raubtier verfolgt wurde. Sollte Gelvon, was wahrscheinlich war, kein Mitgef¨ uhl f¨ ur eine junge Frau in Not haben, w¨ urde ihn hoffentlich die Neugier veranlassen, nachzusehen, was der L¨arm bedeu¨ tete. Oder vielleicht f¨ uhrte ihn auch nur der Arger dar¨ uber, daß er in seiner Zauberei gest¨ort wurde, hinaus. Bronns Gestaltwandlung w¨ urde bei Gelvon trotz seines okkulten Wahrnehmungsverm¨ogens keinen Argwohn hervorrufen. Denn das war keine echte Magie, sondern eine angeborene Begabung (seine blauen Augen waren ein Zeichen daf¨ ur), die nur hatte entwickelt werden m¨ ussen. Laenie merkte, daß sie den Plan aus nerv¨oser Unentschlossenheit immer wieder von neuem durchging. Sie winkte Bronn, die Gestalt zu wechseln. Als er fertig war, stieg sie den Hang zur Eingangst¨ ur des H¨auschens hinunter. In H¨orweite angekommen, stimmte sie ein durch Mark und Bein gehendes
7 Geschrei an, wie es eine Trag¨odienspielerin auch nicht besser fertiggebracht h¨atte. Sie rannte zur T¨ ur und h¨ammerte mit beiden F¨austen dagegen. Bronn spielte seine Rolle mit Eifer, zwickte sie in die Fersen und sabberte schon fast zu realistisch. Bis die T¨ ur endlich aufflog, hatte Laenie einen rauhen Hals. Unaussprechlicher Name! Was ist das ” f¨ ur ein Schwachsinn?“ ¨ F¨ ur einen Augenblick brachte das Außere des Magiers sie aus dem Konzept. Sie hatte einen Graubart wie Osswen erwartet. Gelvon erwies sich jedoch als ein schlanker, muskul¨oser Mann im besten Alter. Sein Gesicht war glatt bis auf die F¨altchen um die Augen. Er trug eine knielange, ¨armellose Robe mit einem G¨ urtel. Schnell gewann Laenie ihre Geistesgegenwart zur¨ uck. Sie fiel auf die Knie und umklammerte einen seiner Kn¨ochel, als sei sie vor Angst von Sinnen. In Wirklichkeit hielt sie die Beine so, daß sie sofort aufspringen konnte. Gelvon, immer noch eher ver¨argert als beunruhigt, versuchte, sich von ihr loszumachen. Laß los, ” du dummes M¨adchen!“ Bronn — als Rauhzahn — schleuderte sich in einem geschmeidigen Bogensprung gegen die Brust des Zauberers, der flach auf den R¨ ucken fiel, und sprintete an ihm vorbei ins Haus. Laenie sprang auf und folgte ihm, bevor Gelvon wieder zu Atem kommen konnte. Auf die kleine Diele, die sie durchquerte, warf sie nur einen fl¨ uchtigen Blick — sie war leer bis auf das u ¨bliche Wasserbecken in der einen Ecke, besetzt mit Blitzfinnen. Hinter sich h¨orte sie Gelvons in weichen Schuhen steckende F¨ uße die Verfolgung aufnehmen. Dann war sie in der Werkstatt. Sie war ganz ¨ahnlich eingerichtet wie das Laboratorium Osswens oder sonst eines Magiers. Mehrere grobe Holztische und St¨ uhle standen ohne bestimmte Anordnung umher, Regale bedeckten die W¨ande, und ein Durcheinander von Ger¨ uchen, muffig, stechend und s¨ uß, erf¨ ullte die Luft. Auf dem Tisch in der Mitte stand der K¨afig“ genau wie Bronn ihn beschrieben hatte. Mit Magie vertrauter ” als Bronn, konnte Laenie das Objekt besser erkennen als er. Die Sph¨are war mit einer schillernden rosa Substanz gef¨ ullt, die wie von einer inneren Flamme leuchtendes Fleisch aussah. Nein, nicht wie Fleisch, denn je l¨anger sie hinsah, desto weniger fest kam sie ihr vor. Sie wogte wie ein Klacks Gelee, der von einem zu n¨arrischen Streichen neigenden Zauberlehrling animiert worden ist. Sie brauchte nur Sekunden, um dieses Bild in sich aufzunehmen und zu erkennen, was die Substanz war. Es war kein Glanz, um den Bewohner der Sph¨are zu verbergen. Laenie hatte erwartet, das ,Haustier´ werde ein Reptil oder ein Nager sein, darauf dressiert, dem Zauberer zu dienen. Statt dessen war dieses sich kr¨auselnde Gelee selbst das Tier, eine Lebensform, wie sie in der Natur nicht vorkommt. Sie und Bronn fuhren herum und sahen sich dem w¨ utenden Gelvon gegen¨ uber. Der waffenlose Magier strebte einem Tisch zu, auf dem ein Ritualdolch mit d¨ unner Klinge lag. Bronn sprang ihm in den Weg. Gelvon gelang es, das Messer zu ergreifen, bevor der Rauhzahn ihn packte. Bronn warf sich auf Gelvon, wurde jedoch von der Klinge abgewehrt, die dicht vor seinen Augen hin und her fuhr.
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KAPITEL 1. DAS HAUSTIER DES ZAUBERERS
Dem Plan entsprechend h¨atte Bronn den Zauberer niederwerfen und festhalten sollen, damit Laenie ihn fesseln konnte. Doch das Blitzen von Gelvons Messer beschr¨ankte das Tier darauf, an seinen Beinen zu zerren, um ihn wom¨oglich umzureißen. Gelvon hielt sich mit mehr Behendigkeit, als Laenie jemandem von seinem Typ zugetraut h¨atte, auf den F¨ ußen. Der Magier konzentrierte sich darauf, nach den Augen des Rauhzahns zu stechen. Augen — es war nur eine Sache von Minuten, bis Gelvon einen guten Blick auf sie erhaschte. Sein Zusammenzucken verriet Laenie, daß er etwas gemerkt hatte. Kein richtiges Tier besaß blaue Augen. Gelvon wußte jetzt, daß Bronn ein verwandeltes menschliches Wesen war. ¨ Zu Laenies Uberraschung ließ Gelvon das Messer fallen und kr¨ ummte die Finger wie Klauen. Aus seiner Kehle sprudelte ein Sturzbach unverst¨andlicher W¨orter. Die kehligen Laute ließen die Luft knistern, als sei ein Gewitter im Anzug. Der Zauber wirkte auf der Stelle; Bronn stand als nackter Junge vor seinem Gegner. Bronn, du T¨olpel!“schrie Laenie. Verwandele dich zur¨ uck!“Er warf ihr einen kl¨aglichen Blick zu. ” ” Sie erinnerte sich, daß er seine drei Umwandlungen pro Tag verbraucht und keine mehr u ¨brig hatte. Als Tier war Bronn großartig. Als Mensch hatte er an Kampfausbildung nicht mehr genossen als jeder durchschnittliche junge Mann seines Alters. Er sah kurz zu der offenen T¨ ur hin¨ uber. Doch statt zu fliehen hob er die Arme in einer amateurhaften Pose und drang auf Gelvon ein. Laenie r¨ uckte n¨aher. Den Dolch in der Hand, wartete sie auf eine Bl¨oße, durch die sie angreifen konnte, ohne ihren Bruder zu verletzen. Gelvon war kein schwacher Gelehrter. Er zielte mit dem Fuß nach Bronns Lenden. Bronn fiel auf die Finte herein; er duckte und kr¨ ummte sich. Gelvon drehte sich und rammte dem Jungen die Handkante gegen den Hals. Bronn fiel zu Boden und schlug auf dem Weg nach unten mit dem Kopf an einen Tisch. Mit einem Wutschrei warf sich Laenie auf Gelvon. Er intonierte einen weiteren tiefkehligen magischen Spruch. Sofort erstarrten ihre Glieder in l¨ahmender K¨alte. Ihre Finger ¨offneten sich und ließen die Waffe fallen, ihre Beine knickten ein. Gelvon schob ihren unbeweglichen K¨orper auf einen Stuhl und fesselte sie, die H¨ande hinter dem R¨ ucken, die Kn¨ochel an die Stuhlbeine. Bronn, der immer noch bewußtlos war, band er da, wo er lag, H¨ande und F¨ uße zusammen. Nach einigen tiefen Atemz¨ ugen sprach der Zauberer Laenie zum erstenmal an. Wer bist du, ” M¨adchen? Keine gew¨ohnliche Diebin — die hiesige Bev¨olkerung h¨atte eine solche vor einem Versuch bei mir gewarnt. Hinter was bist du her? Wer hat dich geschickt ?“ Laenie antwortete nicht. Du wirst dich weniger hartn¨ackig zeigen, wenn du siehst, welchen Gebrauch ich von deinem — was? ” ¨ Nicht Liebhaber, glaube ich. – Ich erkenne eine gewisse Ahnlichkeit um das Kinn. Zweifellos ist es dein Bruder. Er wird eine gute Mahlzeit f¨ ur mein Haustier abgeben.“
9 Laenie konnte ein Keuchen nicht unterdr¨ ucken. Gelvon l¨achelte. Siehst du diese Kreatur?“Er legte seine Hand auf den kugelf¨ormigen K¨afig. Dieser ” ” Gegenstand ist eine Matrix, die das Wesen von seiner Welt in unsere zieht. Besser gesagt, teilweise hereinzieht. Es ist kaum zu glauben, daß sich innerhalb dieser Sph¨are eine Tasche des Schattenreiches befindet, ein Tentakel, in unseren Raum hinausgestreckt und hier durch meine Macht festgehalten. Man stelle sich vor, daß eine zerbrechliche Konstruktion wie dieses Netzwerk eine solche Kraft gefangenhalten kann. Wenn man das kristalline Muster zerst¨orte, kehrte das Wesen augenblicklich in seine eigene Welt zur¨ uck. Erstaunlich, nicht wahr?“ Er sah Laenie in die Augen, als erwarte er tats¨achlich, von ihr bewundert zu werden. Dann hob er den Ritualdolch vom Boden auf und stach sich in den Finger. Er quetschte ein paar Blutstropfen auf die Oberfl¨ache des K¨afigs. Sie verschwanden, wurden sofort aufgesaugt. Der Geschmack meines ” Blutes erh¨alt mir seine Treue“ sagte er. Aber es braucht viel mehr Nahrung, um zu gedeihen und ” stark zu werden. Eines Tages wird es stark genug sein, daß es selbst¨andig f¨ ur mich handeln kann, statt st¨andig von meinen Gedanken geleitet werden zu m¨ ussen. Laß mich dir zeigen, wie es frißt. Es wird dich faszinieren, wie dein Bruder von innen nach außen verzehrt wird, als sei er ein von Larven befallener K¨ urbis.“ Er wandte ihr den R¨ ucken zu und begann zu singen. Im Gegensatz zu den harten Ausrufen der beiden vorigen Spr¨ uche war dieser Zauber ein leises Lied. Allerdings war es deshalb nicht angenehmer. In Laenies Ohren klang es mehr nach dem Summen eines Insekts als nach einer menschlichen Stimme. Das gl¨ uhende Wesen sickerte durch die Zwischenr¨aume dc Sph¨are wie ein zerschmetterter Wurm. Einmal draußen, wirkte es noch weniger stofflich. Es sank wie schwerer Rauch auf dei Fußboden ¨ Das Ding kroch auf Bronn zu. Laenie verfluchte und schl¨angelte sich dar¨ uber hin wie verf¨arbtes Ol. stumm ihre L¨ahmung. Das Ding zog sich auf den K¨orper des Jungen und bedeckte seine Brust. Dann entsprossen ihm geschwollene, pulsierende Finger, die nach seinem Gesicht tasteten. Einzelne Tentakel legten sich auf seine Augen und bohrten sich in seine Nasenl¨ocher, seine Ohren und seinen Mund. Laenie drehte sich der Magen um. Sie biß die Z¨ahne zusammen. Erst jetzt merkte sie, daß die Bet¨aubung nachließ. Sie konnte Finger und Zehen ein bißchen bewegen. Jetzt, da der L¨ahmzauber sie nicht mehr festhielt, u ¨berlegte sie, ob sie Gelvons Fragen beantworten sollte. Sie hatte keine Skrupel, Moraya zu betr¨ ugen, um Bronn ¨ zu retten. Was sie zur¨ uckhielt, war die Uberzeugung, daß Gelvon mit ihnen beiden spielte. Hatte er einmal die Informationen, nach denen er verlangte, w¨ urde er sie beide trotzdem t¨oten. Laenie sah, daß Bronn ,jeder zu sich kam. Verzweifelt spannte sie die Armmuskeln an. Aus seiner Brust drang ein tiefes St¨ohnen. Sie h¨orte Qual aus diesem St¨ohnen heraus und erkannte, daß er nur deswegen nicht schrie, weil das Ding ihm die Luft absaugte. Bronn war manchmal unbedacht, aber er hatte daf¨ ur nicht den Tod verdient. Und als er h¨atte fliehen k¨onnen, war er geblieben und hatte sich Gelvon mit bloßen H¨anden zum Kampf gestellt. b es nichts,
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KAPITEL 1. DAS HAUSTIER DES ZAUBERERS
was sie f¨ ur ihn tun konnte? Sie sprach ein stummes Gebet. Als erhalte sie darauf Antwort, erinnerte sie sich pl¨otzlich an die eine Fertigkeit, die sie w¨ahrend ihrer Zeit bei Osswen gr¨ undlich erlernt hatte: Sie hatte ihr Talent entdeckt, kleine Gegenst¨ande zu bewegen. Ihr Meister sah darin eine Spielerei, aber ihr hatte es die endlosen Lehrlingsarbeiten erleichtert, das m¨ uhselige Sortieren, Fegen und Schrubben. Sie begann zu fl¨ ustern; es war kaum mehr als ein Vibrieren in ihrer Kehle. Gelvon hatte sich so vollst¨andig konzentriert, daß er nichts merken w¨ urde, solange sie vorsichtig war. Am leichtesten waren Gegenst¨ande zu animieren, die irgendwie mit ihr in Verbindung standen — zum Beispiel ihr Dolch, der in Armesl¨ange von ihr entfernt auf dem Fußboden lag. Sie wob ein Netz aus geheimen Lauten und lockte den Dolch zu sich. Er glitt u ¨ber die Dielen wie eine zahme Schlange und zerschnitt die Stricke, die ihre Kn¨ochel fesselten. Die Schneide w¨ urde sp¨ater neu gesch¨arft werden m¨ ussen, aber im Augenblick fuhr die Klinge durch die Fasern wie durch weichen K¨ase. Laenie setzte ihr einschmeichelndes Wispern fort. Das Messer schob sich an den Stuhlbeinen zu ihren H¨anden hoch. Innerhalb von Sekunden waren die Bande zertrennt. Laenie faßte nach dem Dolch und wechselte dann den Griff, daß er ihr richtig in der Hand lag. Nun noch ein anderes kleines Kunstst¨ uck. Nichts Extravagantes wie das Heraufbeschw¨oren von ¨ etwas aus nichts, nur eine leichte Verzerrung und Ubertreibung von etwas, das bereits existierte. Sie konzentrierte sich auf eine Nuߨol-Lampe, die an einem Brett nicht weit von dem mittleren Tisch brannte. Ihre Lippen bewegten sich beinahe tonlos. Die Lampe begann zu zittern, als werde sie von den Vibrationen erfaßt, die einem Erdbeben vorausgehen. Die Flamme darin wuchs. Das Vibrieren wurde schneller. Laenie spannte die Kniegelenke zum Sprung Die Lampe explodierte in einem Regen von Tonscherben. Die Flamme schoß im Bogen wie eine Sternschnuppe auf den Saus von Gelvons Robe. Knurrend fuhr er herum. Laenie schleuderte dem Feuer eine letzten Befehl zu. Es loderte auf und verzehrte die halbe Robe des Magiers in einem Atemzug. Gelvon warf sich auf den Boden und rollte umher, um die Flammen zu ersticken. Dann sprang er auf. Sein Gesicht verzerrte sich in dem Versuch, einen weitere Zauber auszusprechen. Bevor er die Worte bilden konnte, fetzt ihm Laenies Dolch waagerecht u ummte sich, faßte nach dem Schnitt. Blut quoll zwischen ¨ber die Mitte. Er kr¨ seinen Fingern hervor. Laenie wechselte den Griff und stieß mit dem Dolch nach oben. Er traf Gelvons Kehle und durchschnitt die große Ader dort. Laenie ließ das Heft los und trat zur¨ uck, aber nicht schnell genug, um dem Blut zu entgehen, das u ¨ber ihr Handgelen str¨omte. Schwer atmend blickte sie auf die Leiche des Zauberers nieder. Sie hatte nicht vorgehabt, ihn zu t¨oten. Der Zorn hatte den Verstand u ¨bermannt. Das war nun das erste Mal gewesen, ging ihr durch den Sinn, und es hatte so schludrig und un¨ uberlegt geschehen m¨ ussen. Ihre Waffenhand an der Hose abwischend, drehte sie sich zu Bronn um. Sobald Gelvons Aufmerksamkeit abgelenkt wurde, war das Wesen wie von einem Miniatur-Wirbelwind in den K¨afig zur¨ uckgesaugt
11 worden. Es knallte laut, als sich der leere Raum wieder mit Luft f¨ ullte. Bronn o¨ffnete die Augen. Erleichtert stellte Laenie fest, daß das Licht des Bewußtseins darin schimmerte. Sie half ihm auf die F¨ uße. Obwohl die Beule an seinem Kopf und die Quetschung an seinem Hals scheußlich aussahen, schien er, abgesehen von seiner Schw¨ache, ganz er selbst zu sein. Auf Zehenspitzen schlich Laenie zu dem Tisch, auf dem der K¨afig stand. Bl¨od, dachte sie, als ob das Ding sie h¨oren k¨onne! Da ist deine Beute!“stieß Bronn heiser hervor. K¨onntest du — k¨onntest du ” das Ding f¨ ur die Reise einwickeln? Ich mag es nicht sehen.“ Laenie stieß den angehaltenen Atem aus. Erst als sie ihren Entschluß aussprach, wurde ihr bewußt, daß sie ihn l¨angst gefaßt hatte. Ich nehme es nicht mit.“ ” Was? Dein Auftrag... “ ” Ich hatte unrecht“, sagte sie, und Meister Osswen hat recht. ist schlecht, ein Ding wie dieses ” ” in unsere Welt zu bannen.“Gelvons Worte fielen ihr ein — eine zerbrechliche Konstruktion – wenn ” man das kristalline Muster zerst¨ort.“ Ihr Blick u ¨berflog das Durcheinander auf dem Tisch. Sie ergriff einen facettierten Steinbrocken, etwa doppelt so groß wie eine Faust, und schmetterte ,In auf die Sph¨are nieder. Das zarte Netzwerk aus Knochen brach sofort. Drei weitere Schl¨age machten ein H¨aufchen Splitter und tr¨ uber Kristalle daraus. Von dem Wesen aus dem Schattenreich war keine Spur mehr zu sehen. Bronn sch¨ uttelte den Kopf und strich sich das Haar zur¨ uck, als kl¨are sich jetzt erst seine Sicht. Was ” ist mit deinem Ruf als Kriegern? Ganz zu schweigen von deinem Honorar?“ Das laß meine Sorge sein.“ ” Moraya wird das nicht gefallen.“ ” “,Ich werde ihr sagen, Gelvon habe das Ding im Augenblick seines Todes zerst¨ort, um es nicht in andere H¨ande fallen zu lassen“sagte Laenie. Bronn seufzte. Ich glaube, ich war dir keine große Hilfe.“ ” Laenie dachte an seinen un¨ uberlegten, hoffnungslosen Angriff auf Gelvon. Sie zog sich Bronns Arm uni die Schultern, um ihn zu st¨ utzen. Du hast deine Sache gut gemacht, kleiner Bruder. Gehen ” wir.“
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KAPITEL 1. DAS HAUSTIER DES ZAUBERERS
Kapitel 2 Ins gru ¨ ne Land von Charles de Lint Charles de Lint, ein geb¨ urtiger Holl¨ander, der augenblicklich in Kanada lebt, ist in diesen Sammlungen kein Fremder. In dem Jahr, seitdem er das letzte Mal hier erschien, hat er zwei Preise ft Fantasy erhalten — und zwar wohlverdiente. In dieser Zeit habe ich ihn auch pers¨onlich kennengelernt und seine Fertigkeit auf der Gitarre entdeckt. Manche Leute, pflegte der vor kurzem verstorbene Ted Sturgeon zu sagen, benutzen ihre Gitarre auch dazu, ein Kanu zu paddeln, und das k¨onnten die meisten Folk“–S¨anger von mir aus auch getrost tun. Aber de Lint ließ das Instrument eher wie ” eine irische Harfe klingen. Ich verabscheue Volksmusik und die ganze sogenannte Folk“–Musik, ” die mir immer vorkommt, als ob Leute, die keine Musik machen k¨onnen, so tun als ob; aber sein Musik ist die wahre. (Warum m¨ochte jemand schreiben, wenn er singen kann?) Ich finde, wir haben einfach Gl¨ uck gehabt, daß Charles Zeit und Kraft hatte, beides zu tun. Steinw¨ande halten eine Kesselflickerin fest, kaltes Eisen bindet eine Hexe, aber die Musik einer Musikantin kann nicht in Band geschlagen werden, denn sie lebt zuerst in ihrem Herzen und ihrem Kopf. Die Harfe wurde Garrow genannt. Geboren aus einem alten Leid, machte sie m¨ ude Herzen froh. Es war eine kleine Schoßharfe, leicht zu tragen, mit einer Resonanz, die die Musik bis in die hintersten Ecken des u ullten Gastzimmers trug. Die langen Finger der rothaarigen Frau konnten ihren ¨berf¨ Saiten Tanzrnelodien entlocken, beschwingte Gigues und Dreher, die die F¨ uße tappen ließen, bis die Dielenbretter bebten und die Dachbalken klangen. Aber in manchen N¨achten kehrte die Erinnerung an da alte Leid zur¨ uck. Es lag auf der Lauer wie Sumpfnebel, und wenn es kam, bew¨olkte es ihre Augen. In diesen N¨achten war die Musik, die sie aus Garrows metallenen Saiten zog, eher 13
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¨ KAPITEL 2. INS GRUNE LAND
bitter als s¨ uß, langsame Weisen, die Bedauern in den Herzen wachriefen und zur Qual der Zuh¨orer unerw¨ unschte Erinnerungen aufsteigen ließen. Jetzt reicht es!“ sagte der Gastwirt. Die Melodie stockte, und Angharad blickte in sein ¨argerliches ” Gesicht hoch. Sie legte ihre H¨ande u ¨ber die Saiten und brachte klagende Singen der Harfe zum Verstummen. Ich habe gesagt, du k¨onntest Musik machen“, schalt der Gastwirt, nicht, daß du meine G¨aste ” ” vertreiben sollst.“ Angharad brauchte ein paar Augenblicke, um von jenem Ort in ihrem Ged¨achtnis, an den die Musik sie gef¨ uhrt hatte, in die Wirtschaft zur¨ uckzukehren, wo ihr K¨orper saß und Musik aus den Seiten der Harfe zog. Das Gastzimmer war halbleer und merkw¨ urdig still, w¨ahrend zuvor jeder Tisch besetzt gewesen war. Schulter an Schulter hatten M¨anner an der Theke gestanden, Witze gerissen und sich immer u uckte Geschichten erz¨ahlt. Die wenigen, die jetzt sprachen, taten es mit ¨ppiger ausgeschm¨ ged¨ampften Stimmen; noch weniger wollten ihrem Blick begegnen. Du wirst gehen m¨ ussen.“ Die Stimme des Wirtes war jetzt nicht mehr so barsch. Angharad sah in ” seinen Augen, daß auch er an ein vergessenes Leid erinnerte. Es...“ ” Wie sollte sie ihm erkl¨aren, daß das Leid in N¨achten wie diesen kam, ob sie es wollte oder nicht? Daß sie, wenn sie die Wahl gehabt h¨atte, es auch lieber vergessen w¨ urde? Aber die Harfe war ein Geschenk von Jacky Lanterns Sippe, und die Musik, die sie den Saiten entlockte, war es auch. Angharad benutzte sie auf ihren Reisen durch die K¨onigreiche der Gr¨ unen Inseln, um das Sommerblut zu wecken, wo es in Leuten schlief, die gar nicht wußten, daß sie Hexen waren. Auf diese Weise u ¨berlebte das Mittlere K¨onigreich — durch Erinnerungen, durch seine kleinen Zaubereien, durch den Austausch von Weisheit und Klatsch zwischen den Menschen und jenen, mit denen sie die Welt teilten. Manchmal waren die Erinnerungen, die die Musik erweckte, nicht so fr¨ohlich und bezaubernd. Sie taten weh. Doch auch sie dienten einem Zweck, wie die Musik sehr wohl wußte. Sie halfen, die Kreise der Geschichte zu brechen, damit Fehler nicht wiederholt wurden. Aber wie sollte sie all das diesem hochgewachsenen, grimmig dreinblickenden Wirt erkl¨aren, der nichts weiter als eine abendliche Unterhaltung f¨ ur seine G¨aste gewollt hatte? Wie sollte sie in Worte fassen, was nur die Musik ausdr¨ ucken konnte? Es . . . es tut mir leid“, sagte sie. ” Er nickte. Dann wurden seine Augen hart. Geh!“ Sie erhob keinen Einwand. Sie wußte, was sie ” war — Kesselflickerin, Hexe und Harfnerin. So weit s¨ udlich von Kellmidden erlaubte ihr allein die letztere Eigenschaft, Kontakt mit denen aufzunehmen, die eine Straße bereisten, nur um von hier
15 nach da zu kommen, nicht um des Reisens selbst willen. Um der Straße willen, die ins gr¨ une Land f¨ uhrt, wo Poesie und Harfenspiel sich treffen, um von dem Mittleren K¨onigreich zu singen. Angharad stand auf. Sie schwang sich die Harfe auf die eine und ein kleines Reiseb¨ undel auf die andere Schulter. Ihr rotes Haar war in zwei langen Z¨opfen zur¨ uckgezogen. Sie trug den Faltenrock und die weiße Bluse der Kesselflickerin und dar¨ uber die Lederweste eines J¨agers. An der T¨ ur ergriff sie ihren Stab aus weißem Ebereschenholz. Hexenholz. Erst als die T¨ ur hinter ihr zugefallen war, kehrte das u uck. ¨bliche Maß an Unterhaltung und Gel¨achter in das Gastzimmer zur¨ Aber die Leute w¨ urden sich erinnern. An sie. An ihre Musik. Da war dieser Mann, der sie aus einer Ecke beobachtet hatte, das Gesicht dunkel vom Gr¨ ubeln. Sie wollte fort sein, bevor sie sich. an noch anderes erinnerten. Bevor der eine oder andere sich lau fragte, ob die Haut einer Hexe tats¨achlich verbrennt, wenn man sie mit kaltem Eisen ber¨ uhrt — wie es bei dem Kowrie-Volk der Fall ist. Angharad trat von der T¨ ur weg. Eine große, dunkle Gestall erhob sich da, wo sie an einem Fenster gekauert hatte. Angharad¡ Puls h¨ammerte schneller, als sie sah, daß es ein Mann war — ein mißgestalteter Mann. Seine Brust war massig, seine Arme und Beine glichen kleinen B¨aumen. Aber ein Buckel erhob sich vo seinem R¨ ucken, und sein Kopf stieß fast schon von seiner Brust is einem merkw¨ urdigen Winkel vor. Seine Beine waren krumm, als sei sein Gewicht zuviel f¨ ur sie. Mehr schlurfend als gehend durch. querte er den geringen Raum zwischen ihnen. Licht aus den Fenstern fiel u uge. Ein Auge saß h¨oher in dem breiten Gesicht als das ¨ber seine Z¨ andere. Die Nase war gebrochen — ¨ofter als einmal. Sein Haar war ein verknotetes Dickicht, sein Bart ein Vogelnest aus verfilzten Str¨ahnen. Angharad f¨ uhrte ihren Stab zwischen ihn und sich. Das weiße Ebereschenholz konnte ein Hexenfeuer entz¨ unden, das f¨ ur wenig mehr taugte, als am Lagerplatz feuchtes Holz auffiammen zu lassen, aber es konnte erschrecken. Das mochte reichen, daß ihr die Flucht gelang. Der monstr¨ose Mann streckte die Hand nach ihr aus. Schsch¨on“, sagte er. ” Bevor Angharad reagieren konnte, kam eine Gestalt schnell um die Seitenwand des Gasthauses. Geh weg!“ rief sie. Es war das Schankm¨adchen aus dem Gasthaus, eine schlanke Blau¨augige, deren ” blondes Haar ihr in einem dicken Zopf u ¨ber die Brust hing. Der Wirt hatte sie Jessa gerufen. Geh ” weg von ihr, du großer L¨ ummel!“ Sie machte eine scheuchende Handbewegung. Der Mann drehte sich um, und Angharad sah in seinen Augen etwas kurz aufflackern. Ein strahlendes Licht. Ein Aufblitzen des Bedauerns. Jetzt erkannte sie, daß er von ihrer Musik gesprochen hatte, nicht von ihr. Er hatte die Hand ausgestreckt, um die Harfe zu ber¨ uhren, nicht sie. Angharad wollte ihn zur¨ uckrufen, aber das Schankm¨adchen dr¨ uckte ihr ein Paket in die Hand, das in ungebleichte Baumwolle eingewickelt war. Der Mann war davongeschlurft und in der Zeit, die Angharad brauchte, um von dem Paket zu der Stelle zu sehen, wo er gestanden hatte, in der Dunkelheit verschwunden. Etwas f¨ ur unterwegs“, sagte Jessa. Es ist nicht viel — etwas K¨ase und Brot.“ ” ”
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Ich danke dir“, antwortete Angharad. Dieser Mann... ?“ ” ” Oh, achte nicht auf ihn. Das ist nur Pog — der Dorftrottel. Fael l¨aßt ihn f¨ ur das an Arbeit, was ” er rund um das Wirtshaus tun kann, in der Scheune schlafen.“Sie l¨achelte pl¨otzlich. Er hat das ” Kowrie–Volk gesehen, weißt du. Wie er erz¨ahlt — und man w¨ urde die Geduld eines von Daths Priestern brauchen, um die ganze Geschichte anzuh¨oren -, tanzen sie in N¨achten wie dieser um die Steine.“ Was f¨ ur eine Nacht ist es denn?“ ” Vollmond.“ Jessa zeigte nach Osten. ” Dort erhob sich der Mond geschwollen und rund u ¨ber die B¨aume. Angharad fiel ein, daß sie auf der Straße, die sie zu dem Wirtshaus gef¨ uhrt hatte, an einem Kreis von alten Langsteinen vorbeigekommen war. Sie standen von der Straße entfernt auf einem H¨ ugel, etwa drei Meilen westlich des Dorfes. Wie stumme W¨achter blickten sie auf das Graue Meer hinaus. Ein Ort, wo Kowries tanzen w¨ urden, dachte Angharad, wenn sie Lust dazu hatten. Du gehst besser“, sagte Jessa. ” Angharad sah sie fragend an. Das Schankm¨adchen nickte zu dem Wirtshaus hin. Da drin reden sie ” u ¨ber Hexen und Zauber, der mit Musik bewirkt wird Es sind keine b¨osen M¨anner, aber jeder Mann, der trinkt...“ Angharad nickte. Eine harte Tagesarbeit, und dann wurde den ganzen Abend getrunken. F¨ ur manche gen¨ ugte das als Entschuldigung f¨ ur jede Tat. Schließlich waren sie anst¨andige Leute. Keine Kesselflicker. Keine Hexen. Sie ber¨ uhrte Jessas Arm. Ich danke dir.“ ” Wir sind beide Frauen“, meinte das Schankm¨adchen einem L¨acheln. Wir m¨ ussen zusammenhalten, ” ” nicht wahr?“Gesicht, halb im D¨ uster versteckt, wurde ernster. Halte dich der Straße fern, wenn du ” kannst“, setzte sie hinzu. So wie die Dinge laufen . . . Da gibt es welche, die haben Pferde. ” Angharad dachte an einen mißgestalteten Mann und einei Kreis stehender Steine, an Mondschein und tanzende Kowries. Das werde ich tun“, sagte sie. ” Jessa l¨achelte ihr noch einmal schnell zu, dann schl¨ upfte sie im die Ecke des Wirtshauses und lief in die K¨ uche zur¨ uck. Anghara¡ lauschte ihren leisen Schritten nach. Mit einem nachdenklichei Blick auf das Wirtshaus stopfte sie das Essenspaket in ihr Reis b¨ undel und wanderte, den Stab in der Hand, die Straße hinunter. Von den Menhiren und Steinkreisen, mit denen die K¨onigreiche der Gr¨ unen Inseln u ¨bers¨at sind, werden viele Geschichtei erz¨ahlt. Die Zauberer nennen sie heilige Orte, dem Sommerherrn geweiht,
17 Becken, in denen die alten Kr¨afte von H¨ ugel und Mond durch die Rituale der Druiden und a¨hnlichem Volk gesammelt werden k¨onnen. Die Priester Daths nennen sie b¨ose und warnen die vor ihrem Einfluß. Das gemeine Volk nimmt sich nur vor ihnen in acht — sieht in ihnen weder Gutes noch B¨oses, sondern Orte, wo die Geheimnisse f¨ ur gew¨ohnliche Leute zu tief liegen. Und sie bergen tats¨achlich Geheimnisse, dachte Mgharad. Von da, wo sie stand, konnte sie die Umrisse der hohen Steinfigur vor dem Himmel sehen. Dichter Nebel umiagerte ihren H¨ ugel — heraufgezogen von der See, die einen Steinwurf oder entfernt murmelte. Der Mond stand jetzt h¨oher; die Nacht war so still wie ein angehaltener Atem. Erwartungsvoll. Anghad verließ die Straße und ging auf den Steinkreis zu, wo die Kowries, wie Pog behauptete, in Vollmondn¨achten tanzten. Es waren die N¨achte, in denen ihre Harfe ¨altere Melodien spielte, als kannte, und es war, als r¨ uhre der Wind die Saiten. Der Stechginster unter ihren F¨ ußen war feucht. Im Nu waren re bloßen Beine naß. Sie umging zwei Felsbl¨ocke und gelangte hließlich von der Seite nach oben, die dem Meer zugewandt Das Gemurmel seiner Wellen war jetzt sehr deutlich zu sehen. Der scharfe Geruch seines Salzes hing in dem Nebel. arnd konnte in diesem Nebel nicht tiefer als zu ihrer Taille aber der Gipfel war klar. Der Kreis der Steine auch. Grau und verwittert ragten sie vor ihr auf, viermal so hoch wie selbst. Bevor sie den Kreis betrat, legte sie ihr Reiseb¨ undel ihren Stab auf die Erde. Aus einer Scheide an der Innenseite Jacke zog sie ein kleines Messer und ließ auch das zur¨ uck. dies ein Ort war, an den die Kowries kamen, w¨ urden sie rnanden willkommen hießen, der kaltes Eisen bei sich trug. £ letztes kn¨opfte sie ihre Schuhe auf und stellte sie neben ihr B¨ undel. Erst dann betrat sie den Kreis, barfuß, nichts als die Harfe in der Hand. Es u ¨berraschte sie nicht, den Buckligen aus dem Dorf innerhalb Kreises zu finden. Er hockte auf dem K¨onigsstein und ließ seine kurzen Beine baumeln. Hallo, Pog“, sagte sie. ” Ohne jede Angst vor ihm durchquerte sie den Kreis bis zu der , wo er saß. Sie waren miteinander n¨aher verwandt als mit irgend jemandem außerhalb dieses Kreises. Ihr Sommerblut band sie. Ha-ha-ha . . .“ Sein ganzer K¨orper verkrampfte sich unter der Anstrengung, das Wort auszuspre” chen. Hal-lo . .“ ” Angharad trat n¨aher und legte ihm die Hand an die Wange. Welche Lieder wurden von dieser stammelnden Zunge gefangengehalten? fragte sie sich. Denn sie sah Poesie in seinen Augen, die seiner Stimme versagt blieb. Eine Sehnsucht, die keine Erf¨ ullung fand. Willst du f¨ ur mich singen, Pog?“ bat sie. Willst du mir helfen, die Steine zum Tanz zu rufen?“ ” ” Der Eifer, mit dem er nickte, brachte sie beinahe zum Weinen. Aber nicht aus Mitleid war sie heute nacht hier, sondern um mit einer verwandten Seele zu kommunizieren. Er faßte ihre Hand, und sie
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dr¨ uckte die seine, bevor sie ihre Finger sanft befreite, sich unten an den Stein setzte und die Harfe auf ihren Schoß zog. Unbeholfen kletterte Pog von seinem hohen Sitz, um sich einen Platz zu suchen, von dem aus er sie beobachten konnte. Finger an die Saiten. Einmal, leise, einen nach dem anderen, um zu pr¨ ufen, ob die Harfe gestimmt war. Und dann begann sie zu spielen. Es war die gleiche Musik, die das Instrument in dem Wirtshaus erzeugt hatte, aber an diesem Ort schwebte sie so frei dahin, daß es keinen Vergleich gab. Hier gab es nichts, was den Klang der Saiten d¨ampfen konnte. Keine Steinw¨ande, kein h¨olzernes Dach. Keine metallenen Einrichtungsgegenst¨ande und Zierate. Keine Herzen, die u ¨berlistet werden mußten, zuzuh¨oren. Der Mond stand jetzt genau u ugel ¨ber ihnen, und die Musik hallte zwischen ihm und dem heiligen H¨ des Steinkreises wider. Sie erweckte Echos wie das Pfeifen von Dudels¨acken, wie das Donnern von Hufen auf Grasboden. Sie erweckte Lichter in den alten grauen Steinen — ein flackerndes Leuchten, das von einem der hohen Menhire zum anderen sprang. Sie erweckte in Angharads Brust einen so hellen Klang, daß ihr die Brust weh tat. Sie erweckte einen Tanz in ihrem Gef¨ahrten, so daß er sich auf die F¨ uße stellte und zwischen den Steinen umherschlurfte. Pog sang dabei ein tonloses Lied, das seltsame Harmonien mit Angharads Harfenspiel ergab. Gegen den Mondschein ihrer Har fent¨one war es das Ger¨ausch sich verlagernder Erde, schleifender Steine. Als es eine Baßf¨arbung wie das R¨ohren eines Hirsches annahm, glaubte Angharad´ ein Geweih aus seiner Stirn sprießen zu sehen, und die Enden zeigten himmelw¨arts zum Mond wie die Menhire. Der R¨ ucken des Tanzenden war gerade, der Buckel verschwunden. Das ist Hafarl, dachte Angharad, von Ehrfurcht u ¨berw¨altigt. Er ist von dem Sommerherrn besessen. Die Musik steigerte sich zu einem wilden Frohlocken, das von den Steinen hin und her geworfen wurde. Die Lichtf¨ unken bewegten sich so schnell, daß sie wie flatternde B¨ander waren, hell wie der Mondschein. Der Nebel wogte herein und wirbelte umlier, so daß Angharad nur noch gelegentlich einen Blick auf den mit einem Geweih gekr¨onten T¨anzer erhaschte. Seine Bewegungen waren fl¨ ussig, sie gaben jedes Steigen und Fallen der Musik wieder. Angharads Herz flog ihm entgegen. Er war. Etwas traf sie am Kopf. Die Musik stockte, taumelte und erstarb, als ihr die Harfe aus den H¨anden geschlagen wurde. Eine Hand packte einen ihrer Z¨opfe und zog sie auf die Fuße. Habt ihr es gesehen? Habt ihr es geh¨ort?“ fragte eine harte Stimme. ” Angharad erkannte sie jetzt — M¨anner aus dem Wirtshaus. Ihre Stiinmen waren laut in der pl¨otzlichen Stille. Ihre Gestalten wirkten im Nebel u ¨berm¨aßig groß und bedrohlich. Wir haben es gesehen, Macal.“ ” Der, den sie Macal nannten, war es, der sie geschlagen hatte. Der sie im Gastzimmer des Wirtshauses so scharf beobachtet hatte. Der sie an ihrem Zopf festhielt. Der sie von neuem schlug. Er stank nach Schweiß und Alkohol. Und nach Angst.
19 Sie hat einen Fluch auf uns herabgerufen!“ rief Macal. Und was k¨onnte es einen besseren Ort ” ” daf¨ ur geben als diese verdammten Steine?“ Andere M¨anner faßten nach ihr. Sie fesselten ihre Handgelenke mit kaltem Eisen und zogen sie mit einer Kette, die an diesen Fesseln hing, aus dem Kreis. Sie fiel auf die Knie und blickte zur¨ uck. Da war kein Zeichen von Pog, kein Zeichen von irgend etwas außer ihrer Harfe, die auf der Seite neben dem K¨onigsstein lag. Die M¨anner zerrten Angharad in die H¨ohe. Endlich fand sie ihre Stimme wieder. Laßt mich in Ruh´...“ begann sie. ” Macal schlug sie zum dritten Mal. Du wirst nicht mehr sprechen, Hexe. Nicht, bis der Priester dich ” verh¨ort. Verstanden?“ Sie rissen Streifen von ihrem Rock und knebelten sie damit. Sie rissen ihr die Bluse auf und betasteten und kniffen ihre Br¨ uste, w¨ahrend sie sie ins Dorf zur¨ uckf¨ uhrten. Sie stießen sie in den kleinen Lagerraum der M¨ uhle. Vier Steinw¨ande. Eine T¨ ur, die von außen durch einen Holzbalken verrammelt wurde. Zwei Betrunkene, lachend und singend, als Wachposten davor. Angharad brauchte lange Zeit, um ihren verletzten K¨orper von dem Steinboden aufzurichten und den Knebel zu entfernen. Sie bem¨ uhte sich, ihre Bluse einigermaßen zu schließen, indem sie die Enden zusammenband. Sie h¨ammerte mit ihren gefesselten F¨austen gegen die T¨ ur. Es kam keine Antwort. Schließlich sank sie auf die Knie und legte den Kopf gegen die Wand. Sie schloß die Augen, versuchte, sich den Augenblick zu vergegenw¨artigen, bevor dieser Schrecken begann. Aber alles, an was sie sich erinnerte, war der Weg von dem Steinkreis zu diesem Gef¨angnis. Die grausamen M¨anner und die Freude, die ihnen ihr Schmerz machte. Dann dachte sie an Pog. . . Hatten sie ihn auch gefangen? Als sie sich seine Z¨ uge ins Ged¨achtnis zur¨ uckrufen wollte, erschien nichts als das Bild eines Hirsches auf einem H¨ ugel, der den Mond anr¨ohrte. Sie sah... Den Hirsch. Pog. Von der Musik zu einem Bild Hafarls verwandelt. Als Hirsch in dem Steinkreis zur¨ uckgeblieben, weil die M¨anner aus dem Wirtshaus fluchend und betrunken gekommen waren, eine Hexe zu fangen. Die M¨anner hatten ihn nicht gesehen. Aber w¨ahrend Angharad weggezerrt wurde, traten graugekleidete Gestalten aus den Steinen, wo die Zeit sie festhielt, außer in N¨achten wie dieser, wenn der Mond voll war. Es waren Kowries, d¨ unn und drahtig, mit schmalen, dunkelh¨autigen Gesichtern und wilden Augen. Ihr dunkles Haar war mit Muscheln und Federn durchflochten; ihre Jacken, Hosen, Stiefel und M¨antel hatten die graue Farbe der Steine. Einer nach dem anderen traten sie in den Kreis, bis so viele von ihnen da waren, wie es Steine gab. Dreizehn Kowries. Der Hirsch r¨ohrte den Mond an, ein trompetender Ton. Die Kowries ber¨ uhrten Angharads Harfe mit Fingern, d¨ unn wie Ebereschenzweige. Fort jetzt“, sagte eine, ihre Stimme ein heiseres Fl¨ ustern. ” Ein anderer zupfte einen klagenden Ton aus Angharads Harfe. Musik gestohlen, Mondschein ver” dorben“, sagte er.
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Eine dritte legte ihre schmalen H¨ande auf die zitternden Flanken des Hirsches. F¨ uhre uns zu ihr, ” Sommergeborener“, bat sie. Weitere Kowries traten zu dem Tier. Das kalte Eisen schließt uns aus ihren Wohnungen aus“, sagte ” einer. Eine zweite nickte. Aber nicht dich.“ ” F¨ uhre uns zu ihr.“ ” ¨ Offne uns ihre Behausungen.“ ” Wir erwachten gerade.“ ” Wir sind um unseren Tanz betrogen worden.“ ” Hundert Monde ohne Musik.“ ” Wir konnten ihre Harfe h¨oren.“ ” Wir wollten unserer Sippe folgen.“ ” Ins gr¨ une Land.“ ” Das gr¨ une Land, wo sich Poesie und Harfenspiel treffen und eine T¨ ur in das Mittlere K¨onigreich o¨ffnen. Der Hirsch scharrte den Boden, h¨orte die Not in ihren Stimmen. Er hob seinen mit dem Geweih gekr¨onten Kopf, schnaubte den Himmel an. Die M¨anner. Wohin hatten sie sie gebracht? Der Hirsch erinnerte sich an einen Ort, wo Menschen in H¨ausern wohnten, die dicht bei dicht standen. Es war Schmerz an diesem Ort ... Angharad ¨offnete die Augen. Was hatte sie gesehen? Einen Traum? Pog mit den Augen voller Poesie war zu einem Hirsch geworden, umgeben von wild¨augigen Kowries. ... Sie stieß sich von der Wand ab, setzte sich auf die Fersen und hielt die gefesselten Handgelenke vor sich auf dem Schoß. Die Steinw¨ande ihres Gef¨angnisses banden sie. Die kalten Ketten beschwerten sie. Trotzdem, ihr Herz schlug, ihre Gedanken waren ihre eigenen. Die Stimme hatte man ihr nicht genommen. Sie begann zu singen. Es war die Musik von H¨ ugel und Mond, eine herabrufende Musik, klagend und wild. Es klang das R¨ohren eines Hirsches darin, das Murmeln der See gegen das Ufer. Es klang der Mondschein darin und das langsame Mahlen von Erde gegen Stein. Es klang Harfenspiel darin und das Ger¨ausch des Windes, der u ugel fegt. ¨ber die ginsterbewachsenen H¨ In einer Nacht wie dieser, dachte Angharad, kann eine solche Musik nicht erstickt werden. Weder W¨ande noch Fesseln k¨onnen sie halten. Sie l¨auft frei aus ihrem Gef¨angnis, aus dem Dorf, in die Nacht, in die H¨ ugel. Sie wird dort geh¨ort, von Kowrie und Hirsch. Sie wurde auch in gr¨oßerer N¨ahe geh¨ort.
21 An dem weit entfernten Ort, zu dem die Musik sie entf¨ uhrt hatte, h¨orte Angharad den Tumult vor ihrem Gef¨angnis. Der Holzbalken scharrte u ur, wurde zur¨ uckgezogen. Die T¨ ur flog auf, ¨ber die T¨ und in der kleinen Kammer, wo ihr K¨orper singend saß, wurde es hell von brennenden Fackeln. Aber sie war kaum noch dort. Sie war draußen auf den H¨ ugeln, lief mit dem Hirsch und den Kowries, f¨ uhrte sie mit ihrem Lied zu sich, war eine weitere geisterhafte Gestalt in dem Nebel, der ins Dorf hinunterwallte. H¨or auf damit, du“, sagte einer der W¨achter. Sein Unbehagen offenbarte sich in Stimme und ” Haltung. Wie auch sein Gef¨ahrte, war er pl¨otzlich n¨ uchtern geworden. Angharad h¨orte ihn, aber nur aus großer Entfernung. Ihre Musik schwankte keinen Augenblick. Die beiden W¨achter hielten sich an der T¨ ur, starrten sie an, wußten nicht recht, was sie tun sollten. Dann kam Macal mit seinem Haß auf Hexen, und sie folgten seiner F¨ uhrung. Er schlug Angharad, bis sie verstummte. Die Musik jedoch t¨onte weiter von ihrem Herzen in die Nacht, unh¨orbar f¨ ur diese M¨anner, aber lauter und lauter, als sie sie hinauszerrten. Die Erde unter ihnen dr¨ohnte von ihrem stummen Lied wie ein Paukenfell. Der mond-helle Himmel u ¨ber ihnen erbebte. Holt Holz!“ rief Macal und schleifte Angharad an ihren Ketten u ¨ber den Boden. Wir werden sie ” ” gleich verbrennen.“ Aber der Priester...“, protestierte einer der M¨anner. ” Macal sah ihn finster an. Wenn wir auf ihn warten, wird sie uns alle verzaubern. Wir tun es gleich.“ ” Keiner r¨ uhrte sich. Nun erwachten andere Dorfbewohner – Fael, der Gastwirt, und das Schankm¨adchen Jessa, der M¨ uller, der von Angharads Gesang aus dem Schlaf gerissen war und nachsehen kam, was Macal in seiner M¨ uhle anstellte, Fischer, m¨ urrisch, denn es war noch Stunden bis zum Morgengrauen, wenn sie aufzustehen und ihre Netze hinter den Sandb¨anken auszulegen pflegten, die Hausfrauen des Dorfes. Sie betrachteten die rothaarige Frau, die zu Macals F¨ ußen auf dem Boden lag, die H¨ande gefesselt, die Ketten in Macals H¨anden. Seine fr¨ uheren Anh¨anger zogen sich von ihm zur¨ uck. Bist du wahnsinnig geworden?“wollte der M¨ uller von ihm wissen. ” Macal wies auf Angharad. Dath verdamme dich, bist du blind? Sie ist eine Hexe. Sie belegt uns ” alle mit einem Zauber. Kannst du den Gestank in der Luft nicht riechen?“ Laß sie laufen“, sagte der Gastwirt ruhig. ” Macal sch¨ uttelte den Kopf und zog sein Schwert. Feuer ist am besten — es brennt die Magie aus ” ihnen heraus -, aber ein Schwert kann die Sache ebensogut erledigen.“ Der Nebel drang jetzt in das Dorf ein, wallte die Straßen hinunter, gef¨ ullt mit geisterhaften rennenden Gestalten. Angharad hob den Kopf vom Boden und erkannte die Kowrie´ erkannte den Hirsch. Sie
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sah ihren Feind an und verstand pl¨otzlich, was ihn zu seinem Hexenhaß trieb. Auch er hatte das Sommerblut in den Adern. Das ist . . . das ist nicht notwendig“, sagte sie. Wir sind verwandt...“ ” ” Aber Macal h¨orte sie nicht. Er starrte in den Nebel. Er sah die flackeniden Gestalten der Kowries. Und sie alle u ¨berragte der Hirsch. Sein vielendiges Geweih schimmerte im Mondschein, und die Poesie in seinen Augen brannte wie Feuer. Macal ließ die Ketten fallen. Sein Schwert mit beiden H¨anden schwingend, lief er auf das Tier zu. Die Dorfbewohner rannten herbei, um ihn aufzuhalten, aber sie kamen zu sp¨at. Macals Schwert stieß tief in die Kehle des Hirsches. Das Tier brach in die Knie. Blut spritzte. Macal hob die Klinge zu einem zweiten Streich, aber starke H¨ande entwanden ihm das Schwert. Als er aufzustehen versuchte, schlugen die Dorfbewohner ihn mit den F¨austen. M¨order!“rief der M¨ uller. ” Er hat dir nie etwas getan!“ ” Es war ein Tier!“schrie Macal. Ein D¨amonentier — von der Hexe gerufen!“ ” ” Jetzt ließen sie ihn aufstehen, damit er erkannte, wen er erschlagen hatte. Pog lag dort, sein letzter Atemzug verr¨ochelte, die Poesie starb in seinen Augen. Nur Macal und Angharad mit ihrem Sommerblut hatten einen Hirsch gesehen. F¨ ur die Dorfbewohner hatte Macal den Dorftrottel get¨otet, der niemals etwas B¨oses getan hatte. Ich. . .“, begann Macal und machte einen Schritt vorw¨arts, doch die Dorfbewohner stießen ihn weg. ” Der Nebel wirbelte dicht um ihn. Nur er und Angharad konnten die flackernden grauen Gestalten sehen, die sich darin bewegten. Die wilden Augen leuchteten, die schlanken Finger kniffen und zwickten seine Haut. Er floh, rannte Hals u ¨ber Kopf zwischen die H¨auser. Der Nebel ballte sich um ihn zusammen, als er den Rand des Dorfes erreichte. Ein heftiger Wind fegte von den H¨ ugeln herunter. Hafarls Atem, dachte Angharad. Der Wind fegte den Nebel weg. Angharad sah die Kowries mit ihm fliehen, dreizehn schlanke Gestalten, die in die H¨ ugel rannten. Wo Macal hingefallen war, lag jetzt nur ein viereckiger Stein, f¨ ur alle Welt wie ein sich duckender Mann aussehend, der Arme und Beine dicht an den K¨orper gezogen hat. Er war vorher nicht dagewesen. Die Dorfbewohner schlugen das Zeichen des Horns, um sich zu sch¨ utzen. Angharad hielt dem Gastwirt ihre gefesselten Arme hin. Schweigend ließ er sich von einem der Gef¨ahrten Macals den Schl¨ ussel geben. Ebenso schweigend zeigte Angharad auf die M¨anner, die sie in dem Steinkreis angegriffen hatten. Sie sah einem nach dem anderen in das besch¨amte Gesicht. Dann zeigte sie auf die Stelle, wo Pog lag.
23 Die M¨anner holten eine Planke und rollten Pogs Leiche darauf. Angharad wartete, bis sie damit fertig waren. Dann ging sie ihnen voran zum Dorf hinaus bis zu dem Steinkreis. Erst als die M¨anner ihre B¨ urde zu den Steinen oben auf dem H¨ ugel getragen hatten, sprach sie. Geht jetzt.“ ” Sie rannten davon. Angharad blieb stehen, bis sie außer Sicht waren. Dann sank sie langsam neben der Leiche auf die Knie. Sie legte den Kopf auf die faßf¨ormige Brust und weinte. Die Kowries h¨ohlten den Boden unter dem K¨onigsstein aus und legten Pog in die Grube. Und die Kowries dr¨ uckten Angharad die kleine Harfe in die H¨ande und baten sie zu spielen. Sie konnte keine Freude in der Musik f¨ uhlen, die ihre Finger den Saiten entlockten. Der Zauber war verschwunden. Aber sie spielte trotzdem, den Kopf u ¨ber das Instrument gebeugt, w¨ahrend die Kowries sich in einem langsamen Tanz zwischen den Steinen bewegten, um den Toten zu ehren. Der Nebel verdichtete sich von neuem. Angharad h¨orte Hufgetrappel und hob den Kopf. Ihre Musik stockte. Der Hirsch stand da und sah sie an, und die Poesie in seinen Augen lebte. Bist du wirklich da? fragte sie das Tier. Oder bist du nur ein Phantom, das ich gerufen habe, um meinem Herzen Linderung zu verschaffen? Der Hirsch trat vor und dr¨ uckte seine feuchte Nase an ihre Wange. Sie streichelte seinen Hals. Die Haare waren grob. Es gab keinen Zweifel, daß das unter ihrer Hand Fleisch und Muskeln waren. Als der Hirsch zur¨ ucktrat, begann sie von neuem zu spielen. Die Musik wuchs aus eigener Kraft unter ihren Fingern, diese wilde, frohlockende Musik, die bitter und s¨ uß war, alles gleichzeitig. Zwischen ihrer Musik und der Poesie in den Augen des Hirsches sp¨ urte Angharad, wie die Scheidewand, die diese Welt von den Mittleren K¨onigreichen der Kowries trennt, d¨ unn wurde. Ganz d¨ unn. Wie Nebel. Einer nach dem anderen tanzten die Kowries hindurch, dreizehn Gestalten in grauen M¨anteln. Lachelnd traten sie von dieser Welt in die andere, und die Z¨ahne schimmerten in ihren dunklen Gesichtern. Als letzter ging der Hirsch. Er sandte ihr noch einen Blick, die Poesie leuchtete in seinen Augen, dann verschwand er. Die Musik verklang in Angharads Fingern. Die Harfe verstummte. Sie waren jetzt fort, Pog und seine Kowries. Fort von diesem H¨ ugel, von dieser Welt. Gegangen. Ins gr¨ une Land. Die Harfe an die Brust gedr¨ uckt, wartete Angharad darauf, daß diee aufgehende Sonne ihre Strahlen u uhlen. ¨ber den alten Steinkreis sandte, und versuchte, sich nicht so allein zu f¨
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Kapitel 3 Die Augen des Laemi von Janet Fox Janet Fox ist seit dem ersten dieser B¨ande nicht mehr bei uns gewesen; sie war zu sehr damit besch¨aftigt, anderes zu schreiben. Doch dann schrieb sie eine Scorpia–Geschichte, und ich freue mich, daß sie sie uns anbot...
Die Landschaft bestand aus kahlen, alten, erodierten H¨angen und grobem Gras, gebleicht von der Sommersonne. Scorpia saß l¨assig im Sattel des kleinen, in den Bergen aufgewachsenen Pferdes, das mit dem Terrain wie mit ebenem Land fertig wurde. Sie hatte es f¨ ur ein altes Tier gehalten, als sie es auf dem Marktplatz betrachtete — ein u urste in die ¨bergroßer Kopf, eine M¨ahne, die wie eine B¨ H¨ohe stand, und ein barbarisches dunkles Muster auf dem zottigen braunen Fell. In den Sonnenglast hineinsp¨ahend versuchte sie, irgendeine Landmarke zu entdecken. Ihre Kehle war trocken. Den letzten Schluck lauwarmen Wassers hatte sie schon vor Meilen getrunken. Weit weg erkannte sie das Glitzern, mit dem weißget¨ unchte W¨ande die Sonnenstrahlen reflektieren. Im N¨aherreiten sah sie, daß die Stadt in den Berghang hineingebaut war. Weiße W¨ urfel dr¨angten sich so dicht zusammen wie Waben in einem Bienenstock. Leitern lehnten an den Mauern, denn der Zugang war oft von oben. Hier und da umschloß eine ausgedehnte Villa einen gr¨anenden Garten, in diesem kargen Land ein unbezahlbarer Luxus. Die Straßen waren eng und stellenweise von ehrgeizigen Konstruktionen beinahe u ¨berdacht. Sie ritt eine von ihnen entlang und kam zu einem offenen Platz, auf dem sich ein o¨ffentlicher Brunnen befand. Um ihn herum saßen alte M¨anner in kleinen Gruppen und schwatzten, und gelegentlich 25
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KAPITEL 3. DIE AUGEN DES LAEMI
kamen Hausfrauen, ,im ihre Wasserkr¨ uge zu f¨ ullen. Kinder mit scheuen Augen folgten ihnen oder hingen an ihren R¨ocken. Scorpia glitt aus dem Sattel und u ur seine Art vorgesehenen Trog zu ¨berließ es ihrem Tier, den f¨ finden. Sie beugte sich u ¨ber die Mauerkappe des Brunnens, streckte die Arme weit nach unten, sch¨opfte mit den zusammengelegten H¨anden Wasser und f¨ uhrte sie gierig an den Mund. Als sie sich sattgetrunken hatte, f¨ ullte sie ihre H¨ande von neuem und ließ sich das Wasser u ¨ber den Kopf rinnen. Es klebte ihr das ungeschnittene lohfarbene Haar an den Sch¨adel, lief ihr in k¨ostlicher Frische den Hals hinunter und unter das einem Chiton ¨ahnliche Kleidungsst¨ uck aus weichem Leder, das sie im letzten Basar gekauft hatte. Langer Ritt?“ ” Sie sch¨ uttelte sich das Wasser aus den Augen. Ein alter Mann stand vor ihr, gest¨ utzt auf einen Knotenstock. Er hatte vor langer Zeit eine schwere Verwundung davongetragen; eine schartige Narbe lief ihrn u ¨ber das Gesicht und verdunkelte ein Auge. Scorpia nannte ihren letzten Halt, und der alte Mann pfiff durch sein l¨ uckenhaftes Gebiß. Seine Freunde hinter ihm tuschelten und kicherten untereinander wie Kinder bei einem Spiel. Achtet nicht auf sie. Sie sind nie aus diesem Dorf hinausgekommen, wo die Frauen sich an ihrem ” K¨ uchenfeuer besch¨aftigen oder mit bedeckten Gesichtern ausgehen. Ich aber habe solche, wie Ihr seid, schon gesehen.“ Er erw¨ahnte eine Schlacht, die f¨ ur Scorpia etwas aus einer Sage war. Da habe ich mir das hier ” geholt“, berichtete er. Eine rothaarige Frau mit einer Axt. Aber gegen Euch habe ich nichts, ” obwohl ich sehe, daß Ihr von ihrer Art seid.“ Wie nett von ihm, dachte Scorpia ironisch. Damals war sie noch gar nicht geboren gewesen. Ihr habt jedoch u uhr er fort, auch wenn Ihr ein ¨bel daran getan, durch diese Berge zu reiten“, f¨ ” ” Schwert an der H¨ ufte tragt. Hier treiben sich immer R¨auber herum, und, wie manche sagen.. . D¨amonen.“ Ich habe nichts als Steine, eine d¨ unne Erdkrume und verkr¨ uppelte B¨aume gesehen“, antwortete ” Scorpia mit leisem Lachen. Oh, sie lassen sich nicht sehen, es sei denn, sie wollen gesehen werden.“Der alte Mann hustete und ” spuckte einen Schleimklumpen in den Staub der Straße. Scorpias Au nerksamkeit wurde vor¨ ubergehend durch eine Gestalt abgelenkt, die auf den Brunnen zuglitt. Der Sonnenglast machte sie zu einem in die L¨ange gezogenen, verzerrten Wesen, und dann erkannte Scorpia, daß es eine der Dorffrauen war, in schwere Schleier geh¨ ullt. Nur ein Gaukelspiel des Lichts hatte sie so seltsam erscheinen lassen.
27 Der alte Mann hatte inzwischen weitererz¨ahlt und war sich ihrer Geistesabwesenheit gar nicht bewußt geworden. Bluttrinker, heißt es st¨arker als jeder Mann — und jede Frau“, berichtigte er sich, ihre ” Statur zur Kenntnis nehmend. Ich bin weit herumgekommen, und anscheinend hat jedes Land seine Schreckgespenster, mit denen ” man kleine Kinder ¨angstigt — und Reisende.“ Es ist aber die Wahrheit. Schon mehr als einer ist in dieser Gegend ums Leben gekommen. Der ” D¨amon h¨angt sich an die Leute und saugt sie Nacht f¨ ur Nacht aus. Es heißt: Sieh einem Laemie nie in die Augen.“ Er geriet in Verwirrunng. Ich habe nur vergessen, warum.“ ” Ich werde es vermeiden, wenn das u ¨berhaupt m¨oglich ist“, versicherte Scorpia. ” Pl¨otzlich gab es Unruhe auf der Straße, Staub wirbelte auf. Eine Gruppe Berittener st¨ urmte auf den Marktplatz, vertrieb die M¨ ußigg¨anger´ die Schwatzenden. Macht Platz, der Zug!“ rief ein ” korpulenter, rotgesichtiger Mann. Er lenkte sein wild¨augiges Tier genau auf Scorpia zu, um sie wie die anderen Leute in die Flucht zu jagen. Mit der einen Hand faßte sie den ihr n¨aheren Z¨ ugel, und mit der anderen zog sie das Schwert. W¨ahrend das Pferd wie verr¨ uckt um sie herumtanzte, gab sie dem Reiter einen scharfen Schlag u ucken — mit der flachen Klinge, obwohl sie die Waffe ¨ber den R¨ ebensogut im Ernst h¨atte benutzen k¨onnen. Der Rotgesichtige faßte nach seiner eigenen Waffe, gerade als der Zug den Platz erreichte. Vier M¨anner trugen eine Bahre, auf der ein mit Blumen u ¨berh¨aufter schm¨achtiger K¨orper lag. Schnell steckte Scorpia das Schwert in die Scheide, trat zur¨ uck und hob heide Handfl¨achen zum Zeichen des Friedens. Sie hatte nicht gewußt, daß es sich um einen Leichenzug handelte. Nicht etwa, daß der Tod sie besonders erschreckte; auf etwas in dieser Art hatte sie gewartet. Die Bahre wurde vorbeigetragen. Das ist Lady Leliah“, fi¨ u sterte der alte Mann. Der Leichnam war ” nur unvollkommen mit einer Gazedrapierung und Haufen von Blumen bedeckt. Scorpia sah, daß die Tote zwar d¨ unn und ausgemergelt, ihr ruhiges Gesicht aber immer noch von. hinreißender Sch¨onheit war. Es gab eine weitere St¨orung, als jemand sich durch die verschleierten Frauen und sch¨ongekleideten M¨anner des Leichenzuges dr¨angte — ein hagerer Mann mit zerw¨ uhltem schwarzem Haar und hektischen Flecken auf den Wangen. Seine halbge¨offnete Kleidung war zerknittert und beschmutzt. Wie ein Wahnsinniger st¨ urzte er sich auf die Bahre, und bevor man ihn daran hindern konnte, riß er die Leiche in seine Arme. Wohin bringt ihr sie?“ schrie er. Sie ist nicht tot. Sie ist noch gestern abend zu mir gekommen. ” ” Sie hat mit mir gesprochen.“ Der Dicke, den Scorpia verh¨ohnt hatte, erreichte ihn als erster. Mit einer beinahe sanften Ber¨ uhrung und beruhigenden Worten zog er den jungen Mann von der Leiche weg.
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Das ist es, wovon ich Euch erz¨ahlt habe“, bemerkte der alte Mann. Leliah soll einen ” ” D¨amonenliebhaber gehabt haben — den Laemi. Der junge Mann ist Lord Peri, ihr Verlobter. Ein trauriger Tag.“ Peri lehnte am Brunnenrand. Die dunkelgekleidete Frau, die Scorpia vorhin schon gesehen hatte, ging mit diesem scheinbar m¨ uhelos gleitenden Schritt unter dunklen R¨ocken an ihm vorbei. Da ist ” sie!“rief Peri. Leliah, Leliah, komm zur¨ uck!“Seine Gef¨ahrten hielten ihn fest, und als die Aufregung ” sich gelegt hatte, war die Frau verschwunden. Bald war der ganze Leichenzug vor¨ ubergezogen. Der Brunnen lag verschlafen unter der Mittagssonne, als sei nichts geschehen. Von neuem stieg das Stimmengesumm der alten M¨anner auf, die sich gegenseitig neckten und von l¨angst vergangenen Ereignissen plauderten. Liebe bringt manchmal Leiden“, bemerkte der alte Mann. Die Augen gingen ihm u ¨ber. Grob ” wischte er eine Tr¨ane weg. Davon weiß ich wenig“, antwortete Scorpia, außer daß das, was manche Liebe nennen, nichts als . ” ” . . Begehren ist.“Sie holte ihr Tier und sprang leichtf¨ ußig in den Sattel. Denn sie wußte, wenn sie zu lange wartete, kam der Zug ihr zu weit voraus und mochte ihr in den H¨ ugeln verlorengehen. Zieht in Frieden“, sagte der alte Mann. Scorpia gr¨ ußte ihn in der Art ihres eigenen Volkes. Es ” u ¨berraschte sie, daß ihr die Geste wie von selbst kam. Dann fiel das Pferd in Galopp. Scorpia hatte gleich hinter einem Grat gewartet, bis sich die Teilnehmer an dem Leichenzug, dem sie gefolgt war, zu zweit und zu dritt langsam auf den R¨ uckweg machten. Jetzt lenkte sie ihr Tier auf den Kamm und u ¨berließ es ihm, sich vorsichtig einen Weg bergab u ¨ber gebrochenen schwarzen Fels, der durch eine d¨ unne Erddecke drang, zu suchen. Dieses Land war zu nichts anderem gut als zu dem Gebrauch, der von ihm gemacht wurde, dachte sie, aber dazu eignete es sich sehr gut. Schon in weiter Entfernung von der Stelle sah sie die langsam kreisenden Geier. Eckig vor dem Horizont erhoben sich die Gestelle, auf die die Dorfbewohner ihre Toten legten. Das Pferd roch den Ort, noch bevor Scorpia die schwarzen Schwingen bemerkte, aber der frische, k¨ uhle Wind auf diesem freien Hang trug den gr¨oßten Teil des Gestanks nach verwesendem Fleisch davon, und die Geier waren eifrig bei der Arbeit. Zwei der V¨ogel gerieten auf einem h¨olzernen Ger¨ ust in Streit. Ein Sch¨adel, sauber von allem Fleisch entbl¨oßt, fiel herab und rollte dem Pferd vor die F¨ uße. Es schnaubte und trat erschrocken zur Seite. Wenn die Knochen ges¨aubert waren, so hatte Scorpia es geh¨ort, kamen die Verwandten und holten das Skelett ab, das feierlich unter dem Fußboden ihres Hauses beerdigt wurde. Sie wußte, das war nichts als vern¨ unftig, aber der Anblick dieser dunklen, zustoßenden Schn¨abel, der glitzernden Augen und der schwebenden Schwingen machte sie schaudern. Sie zog den Gedanken an Feuer vor — in ihren Augen war das der einzige zivilisierte Brauch. Sie sah sich kurz um, bevor sie eine Bahre ausw¨ahlte. Aus einiger Entfernung erkannte sie die Stelle, die der Ruheplatz Lady Leliahs sein mußte, denn die Blumengirlanden waren noch frisch, aber sie entschied sich statt dessen f¨ ur ein h¨oheres, kunstvolleres Ger¨ ust. Daran hingen ein sch¨on bemalter
29 Schild und andere kostbare Artefakte — Zeichen, daß der Verstorbene eine gewichtige Pers¨onlichkeit gewesen war. Scorpia l¨achelte schief bei dem Gedanken; jetzt tummelte sich ein Schwarm Geier kreischend und flatternd dar¨ uber. Das Erklettern der primitiven, leiterartigen Konstruktion entlang der einen Seite war nicht das Angenehmste, was sie je getan hatte, aber sie war zu kampferprobt, um aus Zimperlichkeit zu zaudern, und an den Anblick von Leichen war sie l¨angst gew¨ohnt. Sie hatte gehofft, die Aasv¨ogel w¨ urden davonfliegen, doch das taten sie nicht. Schließlich war dies seit Jahrhunderten ihr Herrschaftsgebiet. Scorpia sah sich einem riesigen alten K¨onigsvogel gegen¨ uber. Er hielt den Hals ausgestreckt, so daß man die Schlange unter den Federn sah. Ein Fetzen Haut hing ihm aus dem Schnabel, die Klauen hielten einen teilweise abgefleischten Brustkorb, als sei er sein rechtm¨aßiges Eigentum. Scorpia zog das Schwert und kam sich dumm dabei vor. Da erhielt sie einen bet¨aubenden Schlag mit dem Fl¨ ugelknochen, der sie beinahe auf den Boden geworfen h¨atte, und sie st¨ urzte sich mit ganzem Herzen in den Kampf. Sie schickte ein paar Federn himmelw¨arts, bevor sich der Geier mit zornigem Kr¨achzen in die L¨ ufte erhob. Schnell machte sich Scorpia an die Arbeit, zog goldene Ringe von den steifen und eingeschrumpften Fingern, entfernte eine schwere Goldkette mit Rubin-Anh¨anger, die wie ein glitzerndes Herz innerhalb des Brustkorbs hing. Es war keine ehrliche Arbeit, dachte sie. Sie war nicht besser als die Aasgeier, die jetzt mit aufgeplusterten schwarzen Federn dasaßen und sie mit b¨osartiger Geduld beobachteten. Aber sie hatte fr¨ uhzeitig entdeckt, daß sie keine verk¨auflichen Talente besaß, falls sie sich nicht als Schwertk¨ampferin verdingte, und um dem zu entgehen, hatte sie ihr eigenes Land u ¨berhaupt verlassen. Ein Ruf von unten riß sie aus ihren Gedanken. Dieser Ort war so abgelegen und galt bei den Dorfbewohnern als tabu — bestimmte Zeiten und bei Beachtung bestimmter Rituale ausgenommen —, daß sie die M¨oglichkeit, entdeckt zu werden, nicht ernsthaft in Erw¨agung gezogen hatte. Ein sonnengebr¨auntes Gesicht mit struppigem Bart blickte zu ihr hoch. Sie h¨orte schwere Laufschritte und weitere Rufe. Ohne eine Sekunde zu verschwenden, sprang sie von dem Ger¨ ust und griff den Eindringling mit dem Schwert an. Er wich zur¨ uck, dummerweise, dachte sie, denn das bedeutete seinen Tod. Sie brauchte einen Augenblick, um ihre Klinge zu befreien, einen Augenblick zu lange, denn etwas traf sie mit bet¨aubender Kraft von hinten. Sie brach in die Knie, versuchte immer noch, ihr Schwert ins Spiel zu bringen, aber wer es auch sein mochte, schlug sie von neuem, und sie verlor das Bewußtsein. Ihr war, als erwache sie gleich darauf wieder, doch es mußte einige Zeit verstrichen sein, weil die Sonnenstrahlen jetzt in einem anderen Winkel einfielen. Als Scorpia versuchte, ihre Augen vor ihnen zu beschatten, konnte sie es nicht. Beide Arine ließen sich nur ein St¨ uckchen bewegen. Es tat weh,
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KAPITEL 3. DIE AUGEN DES LAEMI
den Kopf zu drehen. Sie drehte ihn trotzdem und sah, daß ihre Handgelenke und Kn¨ochel mit Stricken gefesselt und an Stangen festgebunden waren. Sie lag an einer freien Stelle; die Sonne brannte auf sie hernieder. W¨ahrend sie bewußtlos war, hatte man sie ausgezogen, und in kurzer Zeit w¨ urde das Sonnenlicht m¨oglicherweise nicht nur schmerzen, sondern t¨odlich sein. Zuerst glaubte sie, man habe sie allein gelassen, aber jetzt h¨orte sie n¨aher kommende Schritte. Zwei Gestalten ragten u ¨ber ihr auf, schwarz vor der Sonne. Der eine Mann war nicht so groß wie der andere und hatte ein fettiges, dicklippiges Gesicht mit Tr¨anens¨acken unter den kleinen Augen, die immer wieder zu ihrem K¨orper zur¨ uckkehrten. Ich finde immer noch, wir h¨atten . . .“, sagte er zu seinem Gef¨ahrten, einem eckigen Mann ” mit zerfurchtem braunem Gesicht und pr¨atenti¨osem Benehmen. Beim Sprechen machte er nerv¨ose Bewegungen, als wasche er sich die H¨ande. Bist du nicht bei Verstand, Mann? An diesem Ort, wo die Diener der G¨otter u ¨ber uns schweben? ” Ebenso k¨onnte man die Toteng¨otter ins Gesicht hinein verfluchen. Nein, wir haben es gehalten, wie der Brauch es verlangt. Wer in das Heiligtum der Toten eindringt, soll sich ihnen beigesellen.“ Der kleinere Mann sah mit zusammengekniffenen Augen zu dem Spiralmuster schwarzer Fl¨ ugel hoch. Der Wille der G¨otter geschehe“, meinte er, aber wenn wir nicht auf heiligem Boden w¨aren, h¨atte ” ” ich eine bessere Verwendung f¨ ur ... H¨or auf mit deinen Blasphemien“, sagte der andere, und dann gingen sie. ” Nach einer Weile sp¨ urte Scorpia, daß ihre Haut Blasen zu werfen begann, obwohl die mattgoldene Farbe ihrer Rasse ihr einen Vorteil gegen¨ uber helleren Menschen gew¨ahrte. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren. An der Sonne w¨ urde sie wahrscheinlich doch nicht sterben; sie hatte die V¨ogel vergessen. In einiger Entfernung von ihr hatten sich Geier niedergelassen, die anfangs von ihren Versuchen, sich zu befreien, zur¨ uckgehalten worden waren. Jetzt warteten sie bloß, umherstolzierend und sich putzend, und ihre Federn schillerten bronzefarben in der Sonne. Sobald sie von ihrem Kampf ersch¨opft war oder die Sonnenhitze sie u urden sie n¨aher kommen. ¨berw¨altigt hatte, w¨ M¨oglicherweise erwachte sie davon, daß sie Streifen aus Haut und Fleisch von ihr abrissen. Sie mochte unter diesen Umst¨anden sogar noch einige Zeit am Leben bleiben. Bei diesem Gedanken zerrte sie mit aller Macht an den Stricken und f¨ uhlte, wie die Haut sich abscheuerte und ihr das Blut u ¨ber die Handgelenke lief. Von Anfang an hatten ihr die Fesseln ein bißchen Spielraum gel sen, und sie hatte ihn durch das Ziehen und Reißen etwas erweitert, aber die Knoten erreichte sie immer noch nicht. Obwohl ihre Handgelenke jetzt gef¨ uhllos waren, sp¨ urte sie, daß etwas tief in ihr Fleisch eindrang, und sie sah einen glitzernden, dunklen Felsauswuchs unter ihrem linken Arm. Sie begann, den Strick daran zu reiben. Es schien eine unl¨osbare Aufgabe zu sein, und dabei versengte die Sonne ihren ganzen K¨orper. Doch Scorpia f¨ uhr fort, den Strick u ¨ber den Stein zu ziehen, und jede Faser, die riß und hochschnellte, gab ihr neuen Mut. Der Schweiß brannte ihr in den Augen, und manchmal konnte sie nichts mehr sehen, nur das trockene Gleiten des Stricks u uren. ¨ber ihr rohes Fleisch sp¨
31 Sie erwachte. Sie h¨orte rauhe Schreie, Schwingen verdunkelten die Sonne. Aus dieser geringen Entfernung konnte sie weiße Parasiten sehen, die u ¨ber die bronzenen Brustfedern krochen. Die Gr¨oße des Geiers sagte ihr, daß es der alte K¨onigsvogel war, dem sie die Beute weggenommen hatte. Die Haut seines Halses war grau und schuppig, der schwarze Schnabel f¨ uhr auf ihr Auge zu. Sie wich ihm aus, und er traf ihren Wangenknochen. Der Schlag ersch¨ ut terte ihren Sch¨adel. Beinahe h¨atte sie von neuem das Bewußtsein verloren. Von Panik erfaßt, zerrte sie an den Stricken, und der an ihrem linken Handgelenk riß. Bevor der Vogel von neuem zuschlagen konnte, gelang es ihr, mit ihrer linken Hand einen ausgestreckten Fl¨ ugel zu fassen. Der Geier schlug wie verr¨ uckt um sich, die klauenbewehrten F¨ uße k¨ampften um das Gleichgewicht. Scorpia h¨atte sich von ihm befreien k¨onnen, einfach indem sie ihn losließ, aber sie dachte nicht mehr klar. Sie hob den schweren Geier u ¨ber ihren Kopf, daß die Muskeln an ihren Armen hervortraten, und schmetterte ihn auf die Erde, wo er liegenblieb. Wieder versank sie in Bewußtlosigkeit, sosehr sie auch dagegen ank¨ampfte. Sie f¨ urchtete sich, die Augen zu ¨offrien (daß sie ihre Augen noch besaß, f¨ uhlte sie). Ger¨ausche waren zu h¨oren — nicht die rauhen Schreie und das Scharren der Aasfresser, sondern Schritte. Kamen die Dorfbewohner zur¨ uck? Wie durch ein Wunder war der Mond aufgegangen. Zwischen ihr und seinem k¨ uhlen, blassen Licht stand eine schmale Gestalt, eingeh¨ ullt in einen grobgewebten Mantel mit einer Kapuze um das Gesicht. Scorpia war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Sie wollte sprechen, um dem Fremden zu danken, daß er die Geier verscheucht hatte, denn bestimmt w¨aren sie andernfalls u ¨ber sie hergefallen. Und doch war im Mondschein etwas irgendwie Verkehrtes, Mißgestaltetes an dem Mann. Er war zu groß, zu schlank, und die eine freie Hand war von einem kreidigen Weiß. Er kniete neben ihr nieder, und pl¨otzlich merkte sie, daß sie frei war. Sie entdeckte, daß man ihr ihre eigenen Kleider wieder angezogen hatte. Nichts konnte sie daran hindern, schnell zuzuschlagen und davonzulaufen. Ein Arm legte sich um sie, stark bei aller Magerkeit, und aus einem Wasserschlauch wurde ihr kaltes Wasser in den Mund getr¨opfelt. Das w¨ urde ein Feind nicht tun. Sie h¨orte auf, sich ohnm¨achtig zu stellen, w¨ urgte und schob das Wasser f¨ ur einen Augenblick beiseite, bis sie es ohne Gefahr trinken konnte. Danke“, sagte sie dann. ” Mit einer anmutigen Bewegung wurde die Kapuze zur¨ uckgeworfen. Scorpia hielt aus Angst, im Mondschein werde sich ein fremdartiges, nichtmenschliches Gesicht zeigen, den Atem an. Seine Augen waren riesig, sie gl¨ uhten beinahe, doch als sie in sie hineinblickte, beruhigte sie sich. Abgesehen von dem etwas unirdischen Ausdruck seiner Augen sah er recht gut aus. Ohne Bart, nicht mehr ganz jung, aber auch nicht alt. Braunes Haar legte sich ihm schr¨ag u ¨ber die Stirn und lockte sich an den Schl¨afen. Sie fragte sich, warum sie ihn f¨ ur blaß gehalten hatte, denn er war sonnengebr¨aunt, sogar an den H¨anden. Ich entschloß mich, Euch zu befreien“, sagte er; als ich Zeuge wurde, was Euren Feinden wi” ”
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KAPITEL 3. DIE AUGEN DES LAEMI
derf¨ahrt.“Er wies auf den toten Geier, ein schlaffes B¨ undel schwarzer Federn, jetzt ebenso Aas wie seine Beute. Fliegen sammelten sich um ihn in einer scheußlichen Wolke. In Scorpia stieg der unbehagliche Gedanke auf, er habe sie vielleicht stundenlang beobachtet, bis er schließ lich zu der ¨ Uberzeugung gelangt war, sie sei es wert, daß er ihr helfe. Sie wollte sich erheben und schrie auf; die Sonne hatte sie schlimm verbrannt. Ihr Retter machte eine schnelle Bewegung und stellte sie m¨ uhelos auf die F¨ uße. Wir k¨onnen hier nicht bleiben“, meinte er ” beinahe entschuldigend. Wenn jene, die Euch gebunden haben, zur¨ uckkommen, um nachnisehen, ” wie die Dinge stehen, w¨are es ihnen eine besondere Freude, mich gleichfalls zu u ¨berraschen.“ Seid Ihr eine Art von Grabr¨auber?“ begann Scorpia und konnte gerade noch das Wort auch“ ” ” hinunterschlucken. Sie schritten rasch aus, haupts¨achlich weil er so dr¨angte. Er paßte aber auf und hielt sie fest, als sie stolperte. Eine Art von R¨auber“, antwortete er mit diesem L¨acheln, das ihr anfangs merkw¨ urdig vorgekommen ” war, einem Zucken der Lippen, das Geheinmisse vermuten ließ. Ihre Reise endete am Eingang einer H¨ohle oben auf einem steinigen Hang. Er f¨ uhrte Scorpia hinein. Aber das sieht wie der Unterschlupf eines Tieres aus“, protestierte sie. ” Mein Unterschlupf, wenn Ihr so wollt“, erkl¨arte er mit einem Lachen. In Wandnischen standen ” Lampen und verbreiteten einen stetigen Schein. Der Boden war mit w¨ urzig duftenden Tannenzweigen bestreut. Nun, eigentlich ist es kein. . .“, begann sie. ” Kein was?“ ” Nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Es ist beinahe wohnlich.“ ” Mein Unterschlupf, Euer Unterschlupf.“Er b¨ uckte sich und baute eine Liege aus dem Berg von ” Zweigen und dem herrlichen Pelz irgendeines Tieres. Scorpia setzte sich hin, und der scharfe Geruch der Tannennadeln stieg um sie auf. Sie teilten ein k¨argliches Mahl aus getrocknetem Fleisch, Brot und Wein — einfache Kost, aber sie hatte einen pikanten Geschmack´ f¨ ur den Seorpia ebensowenig eine Erkl¨arung fand wie f¨ ur die Tatsache, daß ihr das Gesicht des R¨aubers irgendwie bekannt vorkam. Mauchnial sah sie ihn von der Seite an und meinte, gleich werde ihr der Name einfallen, und dann flackerte das Lainpenlicht, und er war ein Fremder. Als sie ihn fragte, wie er heiße, schwieg er einen Augenblick, bevor er Zaer“antwortete, so daß sie u ¨berzeugt war, das sei ein Deckname. Doch als sie ” ihm ihren Namen anvertraute, sah sie sich gezwungen, die Silben ihres wahren Namens auszusprechen — des Namens, den ihr ihre Mutter gegeben hatte und den sie an ihre eigene Tochter weitergeben konnte (falls sie eine haben sollte). Sie riß sich zusammen. Scorpia.“Er sprach das Wort aus, als pr¨ ufe er seinen Geschrnack. Das klingt nach Feindseligkeit.“ ” ”
33 Es ist mein Kriegsname“, erkl¨arte sie etwas steif. Sie wußte nicht, warum, aber sie hatte das Gef¨ uhl, ” er habe im vorhinein gewußt, was sie sagen wollte — ja, vielleicht kannte er in diesem Augenblick schon ihren Geburtsnamen. Ihr m¨ ußt verzeihen, die M¨ udigkeit gibt mir seltsame Gedanken ein“, sagte sie in der Hoffilung, ihren ” Kopf von dem zu kl¨aren, was doch gewiß eine T¨auschung war. Ihr habt mir gar nicht erz¨ahlt, was Ihr auf dem Feld der Toten getan habt“, sagte Zaer. ” Vermutlich das gleiche wie Ihr.“Sie war zu m¨ ude, um zu l¨ ugen. ” Ein Dieb k¨onnte Schlimmeres tun, als die Toten zu bestehlen.“Er stand auf und ging in den Hin” ¨ tergrund der H¨ohle, und dabei fuhr er in seinen Uberlegungen fort. Schließlich brauchen sie ihre ” Schmuckst¨ ucke nicht mehr und schreien nicht, wenn man sie ihnen wegnimmt.“ Er kam mit einem herrlichen Onyx und einem goldenen Kragen zur¨ uck. Ich selbst habe wirklich keine Verwendung ” daf¨ ur, also k¨onnt Ihr es ebensogut haben.“ Bevor sie antworten konnte, befestigte er den Kragen an ihrem Hals und ber¨ uhrte sie mehr, als notwendig war, um ihn auf ihrer Brust anzulegen. Es heißt, ” Onyx sch¨ utze vor den Laemi oder anderen D¨amonen der Finsternis. Aber ich glaube nicht, daß Ihr den Schutz brauchen werdet“, setzte er hinzu, beugte sich vor und k¨ ußte sie. Nur diese eine Nacht ” — ich verspreche es.“ Als seine Arme sich um sie legten, schoß es ihr durch den Kopf, daß sein Versprechen irgendwie verkehrt klang. Lautete der Schwur nicht: F¨ ur immer?“ Seine H¨ande waren k¨alter, als sie h¨atten ” sein sollen. Sie dr¨ uckte sie an sich, um sie zu w¨armen. Sanft ¨offnete er ihr Gewand und zog es auseinander. Scorpia zuckte zusammen und schrie auf (es war beinahe, als m¨ usse sie die rote Entz¨ undung ihrer Haut sehen, um sich zu erinnern, daß sie schwer verbrannt worden war). Entschlossen umarmte sie ihn von neuem. Die Sache war schon zu weit gegangen, um jetzt noch damit aufzuh¨oren, aber sie wußte: Verbrannt, wie sie war, w¨are nur ein Akrobat f¨ahig gewesen, es zu etwas anderem als einer schmerzhaften Erfahrung zu machen. Sie erwachte ohne eine Erinnerung daran, irgendwann eingeschlafen zu sein. Apathisch und ersch¨opft lag sie auf dem duftenden Bett, und dann kehrte ihr die Erinnerung wieder. Aber es war ein Durcheinander, die Gedanken sprangen wie verr¨ uckt zu anderen M¨annern und anderen Gelegenheiten zur¨ uck. Irgendwie war es ihm gelungen, ihr keinen Schmerz zu bereiten, ganz im Gegenteil. L¨achelnd drehte sie sich auf die Seite und erwartete, in Zaers Gesicht zu sehen. Sie sah jedoch nur, daß sie sich allein in der H¨ohle befand, daß alle Lampen leergebrannt waren und daß blasses Morgenlicht durch den Eingang sickerte. Vielleicht war er hinausgegangen, um Wasser zu holen oder einem Ruf der Natur zu folgen, sagte sie sich. Matt ließ sie sich zur¨ ucksinken. Es lohnte sich, zu warten. Erst jetzt merkte sie, wie sich ihr die Zweige, aus denen das Bett gebaut war, in R¨ ucken und Schultern gruben. Die Luft war dick vom Geruch irgendeines Tieres. Das mußte von dem modernden Fell kommen, auf dem sie lag, oder. . . Merkw¨ urdig, daß ihr diese Unbequemlichkeiten gestern abend
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gar nicht aufgefallen waren. Scorpia hatte gerade erst begonnen, dar¨ uber nachzudenken, da h¨orte sie Schritte. Als sie erkannte, daß es die von mehr als einem Mann waren, sich aufsetzte und nach etwas Ausschau hielt, das sich als Waffe benutzen ließ, war es bereits zu sp¨at. Im n¨achsten Augenblick war die H¨ohle voll von bewaffneten M¨annern. Einer von ihnen hielt ihr eine Schwertspitze unter das Kinn, bevor sie irgend etwas unternehmen konnte. ¨ Uberrascht erkannte sie den schieferblauen Stahl ihrer eigenen Waffe und gleich darauf den korpulenten Mann, der sie hielt. Er hatte an dem Leichenzug teilgenommen. Weg“, sagte eine Stimme, und sie erkannte den jungen Edelmann namens Peri. ” Dieses Schwert geh¨ort mir“, erkl¨arte Scorpia. Woher habt Ihr es?“ ” ” Das mag wohl sein“, antwortete der Dicke. Ich dachte doch gleich, die Gossenratte, die es mir ” ” verkaufte, k¨onne nicht auf ehrliche Weise darangekommen sein. Du bist bei dem Leichenzug gewesen.“Die Augen in dem teigigen Schweinsgesicht zwinkerten. Ja, wahrscheinlich ist es deine Waffe, ” weil du ohne sie nackt wirkst.“ Peri b¨ uckte sich, hob Scorpias Gewand auf und warf es ihr mit einem leisen Fluch zu. Laß sie in ” Ruhe, Jul, laß sie sich bedecken´ obwohl sie sein Zeichen tr¨agt, so daß alle es sehen k¨onnen, ebenso wie Leliah es getragen hat. Ihr G¨otter, wenn ich es nur rechtzeitig erfahren h¨atte!“ Ein anderer Mann kam mit einer Handvoll von Anh¨angern, Ringen und Armb¨andern. Seht her, er ” z¨ogert nicht einmal, die Toten zu berauben!“ Und seine Hure in die Beute zu kleiden“, bemerkte Jul. Scorpia k¨ampfte sich in das zerknitterte ” Gewand. Sie erinnerte sich, daß sie immer noch den goldenen Kragen trug, faßte mit den Fingern danach und entdeckte eine rauhe Stelle an ihrer Kehle wie einen Ausschlag. Das ist Tand im Vergleich zu dem, was er mir geraubt hat“, sagte Peri. Aber ich schw¨ore, wir ” ” werden ihn finden und ihm das Herz herausschneiden.“ Er blickte in diesem Augenblick beinahe ebenso wahnsinnig drein wie bei dem Leichenzug, und Scorpia durchf¨ uhr es wie ein Stich, daß Zaer das Leben eines gejagten Tieres f¨ uhren mußte. Ich glaube nicht, daß ihr ihn finden werdet“, sagte ” sie. Er ist irgendwann in der Nacht gegangen. Er kann jetzt schon weit von hier sein.“ ” ¨ Uberlaßt sie mir, und ich werde herausfinden, wohin er gegangen ist.“Jul leckte sich die dicken ” Lippen. Ich habe eine bessere Idee“, erwiderte Peri. Wir nehmen sie mit — als K¨oder.“ ” ” Scorpia stand auf einem engen Balkon. Die D¨ ufte von dichtem Blattwerk und exotischen Blumen stiegen aus dern Garten unten auf. Peris Haus war eins von denen, die sie auf dem Weg in die Stadt gesehen hatte, umgeben von einem pr¨achtigen Garten, den eine Mauer aus weißget¨ unchtem Stein abschloß. Sie sah die Silhouette einer Schildwache auf der Mauerkrone. Wie immer wanderte ihr Blick zu dem Ast eines Baumes, der vor dem Balkon wuchs, nicht nahe genug, um ihn fassen zu
35 k¨onnen, auch wenn sie auf das Gel¨ander hochstieg. Aber sie konnte ihn mit einem Sprung erreichen. Dann w¨ urde ihr Gewicht den Ast nach unten ziehen, bis sie den Boden erreichte. Jedenfalls hoffte sie das. M¨oglich war es immerhin, es sei denn, sie sprang zu kurz und st¨ urzte in die Tiefe. Mattigkeit befiel sie, eine immer wiederkehrende Schw¨ache, die sie sich nicht erkl¨aren konnte. Wie sie es schon ein paar Dutzend Male getan hatte, riß sie den Blick von dem verlockenden Ast los. Es wurde dunkel, aber Scorpia konnte noch gut genug sehen, um einen Mann zu erkennen, der sich zwischen den B¨aumen bewegte. Sie wußte, daß es Peri war, den sie oft nach Sonnenuntergang bei Spazierg¨angen im Garten beobachtet hatte. Heute abend war er nicht allein; eine mit einem Mantel verh¨ ullte Gestalt hielt mit ihm Schritt. Als sie eine Lichtung erreichten, einen Ring von B¨aumen um einen Zierteich, der im Mondschein flimmerte, sah es beinahe so aus, als umarmten sich Peri und die fremde Gestalt. Aber es wurde schnell dunkel, und es mochte eine T¨auschung von Licht und Schatten gewesen sein. Scorpia strengte ihre Augen an. Doch dann fuhr sie zusammen. Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah in Juls kleine Augen. Was tut Ihr hier?“ ” Ich habe diese Wache u ¨bernommen. Ich habe mich gefragt, ob. . . ob du dich vielleicht einsam ” f¨ uhlst.“ Scorpia sch¨ uttelte seine Hand ab. Nicht so einsam.“ Sie musterte ihn, und ihre Augen blieben an ” dem Griff ihres eigenen Schwertes h¨angen, das an seiner fetten H¨ ufte schaukelte. Wahrscheinlich wog er doppelt soviel wie sie, aber . . . Er packte sie und versuchte, ihr Gesicht an seines heranzubringen, und als sie sich wehrte, merkte sie, daß Muskeln unter all dem Fett lagen. Euer Herr ist in H¨orweite, ” sollte es mir einfallen, zu schreien!“ Sie wies auf die Lichtung im Garten. Ich bezweifle, daß er dich h¨oren w¨ urde; er ist in letzter Zeit sehr besch¨aftigt“, erwiderte Jul, ließ sie ” jedoch los. Ich habe ihn dort sp¨at am Abend herumspazieren sehen, als warte er auf jemanden. Wahrscheinlich ” auf eine Dirne aus der Stadt. Soviel f¨ ur seine Treue zu Leliah“, spottete Scorpia. Du weißt nichts von seiner Oual. Er hat mir anvertraut, daß er Leliahs Schatten gesehen und sie ” nach ihm rufen geh¨ort hat. Sicher glaubt er jetzt, dort mit ihr zu wandeln.“ Großartig. Ich bin die Gefangene eines Wahnsinnigen.“ ” Und ebenso meine.“Ein Seuizer ließ Juls Wanst erzittern. Was mir das auch n¨ utzen mag.“Er ” ” stolzierte davon, um vor ihrer T¨ ur Posten zu beziehen. Sie brachte ihr Nachtgewand wieder in Ordnung, das wie die gesamte Kleidung, die man ihr gegeben hatte, aus zartem Stoff oder unpraktisch oder beides war. Warum legte sie sich nicht hin? Schließlich konnte sie nur eine bestimmte Zeit in der Kammer hin und her gehen, ohne es satt zu bekommen, die Fresken an den W¨anden zu betrachten. Einige Zeit sp¨ater erwachte sie von einem Ger¨ausch, das sie nicht gleich identifizieren konnte, und blieb still wartend liegen. Jemand durchquerte die Kammer. Zuerst dachte sie an Jul, aber diese
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Gestalt bewegte sich leichtf¨ ußig und sicher. H¨atte sie doch eine Waffe! So blieb ihr nichts u ¨brig, als die F¨auste zu ballen und sich schlafend zu stellen. Als der Eindringling sich u urte jedoch den erwarteten ¨ber das Bett beugte, boxte sie nach ihm, sp¨ Treffer nicht, weil ihr Handgelenk eingefangen und in einem eisenharten Griff festgehalten wurde. Deine Begr¨ ußung ist enthusiastisch wie immer“, sagte Zaer. Seine Augen spiegelten das Mondlicht ” wider wie die eines Tieres. Unerkl¨arlicherweise empfand Scorpia Angst, doch gleich darauf beruhigte sie sich. Auch wenn er sprach, war es, als st¨ore nichts die Stille. Sie sagte sich, er m¨ usse wohl ganz leise fl¨ ustern. Du h¨attest nicht kommen sollen.“ ” Ich habe versucht, wegzubleiben.“ Er legte sich in der Dunkelheit neben sie. Ich handle eben ” ” impulsiv.“ Sie wollte ihm sagen, dies sei eine Falle, aber sobald er sie ber¨ uhrte, war es ihr unm¨oglich, nicht darauf zu reagieren. Ihre n¨achste deutliche Erinnerung war, daß sie aus dem Bett geworfen wurde und mit einem Schmerzenslaut auf den gefliesten Boden fiel. Es sah aus, als sei eine Armee in ihr Schlafzimmer eingedrungen. Die Wachposten dr¨angten Zaer, der waffenlos war, mit dem R¨ ucken gegen die Wand. Scorpia schlug dem Mann, der ihr am n¨achsten war, beide F¨auste in den Nacken. Er brach zusammen, und als sei dies ein Signal, sprang Zaer zwischen die Angreifer. Scorpia sah ihn die Hand schwingen. Ein Mann ging zu Boden, ein anderer faßte nach seinem Gesicht. Blut, schwarz im Mondschein, tr¨opfelte durch seine Finger. Zaer ging durch seine Feinde wie ein Schnitter durch ein Kornfeld. Er mußte einen Dolch an sich versteckt gehabt haben, u ¨berlegte Scorpia. Seine Gestalt, grotesk durch die Schatten der windgezausten B¨aume, schwang sich auf das Balkongel¨ander und war verschwunden. Hatte er den Sprung getan, den sie so oft in Erw¨agung gezogen hatte? fragte sich Scorpia. Mit den beiden Wachposten, die noch auf den F¨ ußen waren, rannte sie auf den Balkon und blickte nach unten. Sie kam noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er eine freie, vom Mond beschienene Stelle u ¨berquerte und zwischen den B¨aumen verschwand. Der Ast war da, wo er immer gewesen war; er schwankte nur ein bißchen im Wind. ¨ Am n¨achsten Morgen trat zu Scorpias Uberraschung Peri in ihre Kammer. Sie hatte ihn, solange sie hier gefangengehalten wurde, nur von weitem gesehen. Laßt mich gehen“,. bat sie. Macht der ” ” Sache ein Ende. Ihr habt bereits einen Mann verloren.“ Zwei. Aber das beweist nur, daß ich recht habe. Ich werde den K¨orper dieser Schlange ausbluten ” lassen, und Leliah wird ger¨acht sein. Ja, ich habe jeden Abend von meinem Balkon aus gesehen, wie Ihr ihr Andenken ehrt.“ ”
37 Ein Teil von mir wird ihr immer treu bleiben.“ ” Ich weiß, welcher Teil ihr nicht treu bleiben wird.“Peri trat n¨aher, hektische Flecken auf den Wangen. ” Etwas fiel Scorpia an ihm auf: eine entz¨ undet aussehende Spur wie von Nadelstichen an seiner Kehle, die bis in seinen Kragen lief. Treibe es nicht zu weit. Ich brauche dich nur, um dieses Tier anzulocken.“ Er ist zweimal der ” ” Mann, der Ihr seid, trotz Eurer Armeen. Nennt ihn bei seinem Namen, wenn Ihr von ihm sprecht.“ Nun gut“, antwortete Peri mit langsamem L¨acheln. Ich werde ihn bei seinem Namen nennen. ” ” Laemi!“ An diesem Abend betrachtete Scorpia den nahen Ast und machte sich daran, den Saum von ihrem Nachtgewand abzureißen; der u ussige Stoff sollte sich nicht um ihre Beine wickeln und ihr im ¨berfl¨ Weg sein. Sie versuchte, nicht an Zaer zu denken, denn wenn sie es tat, w¨ urde sie auf ihn warten wollen, obwohl es, logisch betrachtet, nicht gerade ein Akt der Liebe war, wenn sie als K¨oder in Peris Falle hierblieb. Sie stellte sich mit zitternden Muskel auf das Gel¨ander, duckte sich und sprang. Dunkelheit flackerte vorbei, die zackigen Umrisse von Bl¨attern, und dann wurden ihre H¨ande zu Klauen, die sich um die ranhe Rinde klammerten, und ihr Gewicht zog den Ast nach unten. Sie hatte dabei ein gutes Gefiihl; es ist sinnlos, endlose Spekulationen u ¨ber eine Situation anzustellen, bei der man einfach nicht das richtige Gef¨ uhl hat. Immer noch mehr oder weniger auf den F¨ ußen, kam Scorpia unten an. Da h¨orte sie einen Ausruf hinter sich und f¨ uhr herum. Jul rannte auf sie zu. Wahrscheinlich hatte immer eine Schildwache im Garten gestanden, sagte sie sich. Jul mußte sich im Schatten des Balkons gehalten haben und f¨ ur sie außer Sicht gewesen sein. Sie lief los, denn sie traute es Jul nicht zu, ihr l¨anger als f¨ ur ein paar Meter auf den Fersen zu bleiben. Eine schimmernde weiße Gestalt tauchte vor ihr auf. Scorpia schwenkte zur Seite ab und erkannte zu sp¨at, daß es nichts als eine Statue war. Ihr Umweg f¨ uhrte sie auf die Lichtung, wo sie Peri und die Hure, die er sich f¨ ur den Abend bestellt hatte, u ¨berraschte. Peri war still wie der Tod; er hatte den ¨ Kopf zur¨ uckgeworfen, seine Augen blickten leer. Das Etwas, das ihn festhielt, hatte eine kalkweiße Haut, die langen H¨ande endeten in dunklen, klauenartigen N¨ageln, der Kopf war eine sich w¨olbende haarlose Kuppel. Der Teil des Gesichts unterhalb der sch¨onen dunklen Augen besaß keinen Mund, sondern ein starrendes Durcheinander von d¨ unnen, durchscheinenden Tentakeln, dunkel jetzt und geschwollen, da sie an Peris Kehle hingen. F¨ ur einen Augenblick stand Seorpin vor Schreck wie gel¨ahmt da. Peri hatte recht gehabt — der D¨amon, der Laemi. Das Krachen im Unterholz kundete Jul an; auch er sah es, und Scorpia h¨orte ihn nach Luft schnappen. Er trug das Schwert — ihr Schwert — vor sich her, und in diesem Augenblick des Schocks nahm sie ihm die Waffe aus der keinen Widerstand leistenden Hand. Das Ungeheuer hatte sie gesp¨ urt oder gesehen. Es drehte sich um, und Scorpia fiel die Warnung des alten Mannes ein: Sieh einem Laemi nie in die Augen.“Die Augen fest geschlossen, schwang sie ”
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blindlings das Schwert. Sie hoffte, Peri nicht zu verletzen, aber ihr Abscheu vor dem Wesen war so groß, daß sie das Risiko einging. Der vertraute Ruck, mit dem die Klinge tief eindrang, sagte ihr, daß sie etwas getroffen hatte. Feuchtigkeit spritzte ihr ins Gesicht. Als sie die Augen wieder ¨offnete, sah sie Blut in einer satten Purpurfarbe aus einer tiefen Wunde im Hals des Ungeheuers str¨omen. Sie beugte sich mit erhobener Waffe vor, um es ganz zu t¨oten, und wurde von dem Schimmer dieser Augen gefangen. Zaer“, st¨ohnte sie voller Qual, ich wußte nicht, ” ” daß du es warst.“ Das Gesicht bewegte sich, verschwamm, und ihr wurde klar, daß sich in ihm die Gesichter aller M¨anner mischten, die sie gekannt hatte. Und trotzdem konnte sie nicht anders, als dem Ungeheuer zu versichern, wie leid es ihr tue. Wie aus weiter Ferne h¨orte sie das rasselnde Gurgeln seiner letzten Atemz¨ uge, aber es hob ihr eine lange Hand entgegen, und ihr Geburtsname fiel in ihr Ged¨achtnis zur¨ uck, als wisse es, daß er etwas Kostbares sei, und als wolle es ihn ihr zur¨ uckgeben. Ich hatte Mitleid mit dir, und die ganze Zeit ” hielt das Ding mich in seinem Bann“, sagte Peri. Gib mir das Schwert — gib es mir. Es wollte uns ” beide umbringen.“ Einen Augenblick hielt sie ihn auf Armesl¨ange fern, bis Jul kam und ihn wegzog. Auch Scorpia ging. Sie wußte, wenn diese dunklen Augen glasig wurden, w¨ urde sie einem Horror ins Gesicht blicken. Es brauchte uns.“ Scorpia sagte es in sachlichem Ton. Sie w¨ unschte, sie k¨onnte das Bild Zaers aus ” ihren Gedanken vertreiben, doch auf gewisse Weise w¨ urde sie niemals aufh¨oren, ihn zu lieben. Wenn Liebe eine Illusion war, dann eine m¨achtige. Ein Ungeheuer“, schiinpfte Peri. ” Es hatte nur... Hunger.“ ”
Kapitel 4 Kleinode von Linda Gordon Noch eine Geschichte aber eine S¨oldnerin — aber sie k¨onnte sich von der ersten Geschichte in diesem Band nicht st¨arker unterscheiden.
Deinen Sohn f¨ ur das Kleinod.“ Die lavendelblauen Augen des grauhaarigen Mannes wanderten u ¨ber ” Schwarzholzens Gestalt, sprangen von ihren wohigeformten Beinen zu ihren geschwungenen H¨ uften, den breiten Schultern, der u ¨ppigen Brust, den kr¨aftigen Armen, dem Schwert an ihrer Seite. Mit auffiammendem Begehren begegnete er ihrem dunklen Blick. Schwarzholz kniff die Augen zusammen. Eine Brise tanzte u ¨ber den Balkon und ließ eine Str¨ahne ihres kohlschwarzen Haars flattern. Ich brauche Geld.“Und meinen Sohn, dachte sie. Wie notwendig ” ” brauchst du dein Kleinod?“ Geld?“Der Mann lachte. Seine verrunzelten H¨ande umfaßten seinen Stock. Ich habe vor langer ” ” Zeit gelernt, daß es wichtigere Besitzt¨ umer gibt als das.“Seine Lustigkeit verging, und er hustete. Deinen Sohn f¨ ur das Kleinod“, forderte er entschlossen. ” Schwarzholz knirschte mit den Z¨ahnen. Ich werde Ausgaben haben, Hexer.“ ” Der Zauberer blickte in die Ferne und dachte nach. Schließlich willigte er ein. Gut, Kopf¨agerin, du ” sollst das Geld f¨ ur deine Ausgaben haben.“Er zog eine B¨orse unter seinem dunklen Man tel hervor und warf sie ihr zu. Die Frau fing sie auf, wog sie absch¨atzend in der Hand, nickte. 39
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Die Zeit spielt eine Rolle dabei.“Wieder hustete der Zauberer. Ich brauche das Kleinod, sonst ” ” werde ich bald ...“ Er brach ab und zuckte die Schultern. Ja“, erwiderte Schwarzholz eisig, du hast dich ihm verschrieben.“Ihre Lippen verzogen sich zu ” ” einem sp¨ottischen Grinsen. Deine Seele f¨ ur die Kr¨afte. ” “Sein L¨acheln wirkte fast entschuldigend. Ihre dunklen Augen wurden kalt. Und du hast deine Kr¨afte mißbraucht, hast sie zu etwas B¨osem ” gemacht.“ Mit leicht gebeugtem R¨ ucken st¨ utzte er sich auf den Stock und kehrte von dem Balkon ins Innere zur¨ uck. Ein Feuer prasselte in dem Kamin, der die eine Wand einnahm, und der Mann stellte sich davor. Die Flammen flackerten, tanzten und spiegelten sich in seinen nach unten gerichteten Augen. Schwarzholz folgte dem Zauberer und blieb ebenfalls vor dem Feuer stehen. Oder“, f¨ uhr sie fort, ” deine Kr¨afte haben dich b¨ose gemacht.“Sie forschte in seinem Gesicht nach einer Reaktion. ” Man spricht von mir, wie ich sehe.“ ” Ja, Zuriel.“Ihr Blick verlagerte sich von ihm auf das Feuer. Die Dorfbewohner f¨ urchten sich vor dir. ” ” Sie k¨onnen keinen daf¨ ur bezahlen, daß er dir in die N¨ahe kommt, abgesehen von deinen kostbaren Opfergaben!“Die letzten W¨orter spie sie beinahe aus. Sie haben dich gefunden.“Zuriel drehte sich ihr rasch zu, das Gleichgewicht mit Hilfe des Stocks ” bewahrend. Es sind nicht meine Opfergaben! Ich verlange nichts dergleichen.“ Sein Unterkiefer ” arbeitete vor Zorn und gab seinem gealterten Gesicht ein eigenes Leben. Schwarzholz trat n¨aher an den Zauberer heran, die Hand auf dem Schwertgriff. Ich sollte dich auf ” der Stelle erledigen.“ Er l¨achelte d¨ unn. Dann w¨ urdest du deinen Sohn niemals finden. ” “Schwarzholz zwang sich, die Hand von der Waffe zu nehmen. L¨ ug mich nicht an.“ ” L¨ ugen?“ Er zuckte die Schultern. Ich bin u ugen hinaus, Frau.“ ¨ber das L¨ ” ” Warum hast du das Feuer draußen, wenn du keine Opfergaben w¨ unschst?“Ihre Augen verengten ” sich. Ist es kein Signal f¨ ur die Leute im Dorf, daß du welche verlangst?“ ” Ich—“, er stieß sich mit dem Finger gegen die Brust, — ich habe niemals eine Opfergabe verlangt. ” ” Das war dieses elende Kleinod.“ Nat¨ urlich.“Sie hielt inne, die Stirn gef¨ urcht. Das ist der Grund, warum du das Kleinod zur¨ uckhaben ” ” m¨ochtest.“ Sie ballte die F¨auste, dann ¨offnete sie sie wieder. Der Grund, warum du meinen Sohn ” f¨ ur die Wiederbeschaffiing des Steins festh¨altst. “Zuriel stand ruhig da, die Hand auf den Kaminsims gelegt. Ich bedaure, daß der Junge hineinge” zogen werden mußte.“
41 Schwarzholz gab ein ungl¨aubiges Knurren von sich. Und die anderen Jungen hast du ebenso bedau” ert. Alle Nachkommen der Leute da unten, die dir geopfert wurden, damit es dem Dorf wohlergehe.“ Es war ihre Entscheidung, nicht meine.“ ” Wo ist mein Sohn?“Schwarzholz kreuzte die Arme vor der Brust. Die dunklen Augen sahen den ” Zauberer durchbohrend an. Meine ...“ ” Diener?“unterbrach sie ihn w¨ utend. ” Meine Diener“, best¨atigte er, haben ihn sicher eingeschlossen.“ ” ” Sicher?“Ihre Haut kribbelte. Wo? In einem deiner dunklen, feuchten Verliese? An die Wand ” ” gekettet?“ Ihre Hand glitt an den Schwertgriff. Zuriel lachte am¨ usiert. Und du glaubst, er werde bei jedem Sonnenuntergang gefoltert?“ Die ” Fr¨ohlichkeit verließ ihn. Ich besitze das Kleinod nicht mehr. Denk dar¨ uber nach, Frau!“ ” Schwarzholz schnaubte. Darauf kommt es nicht an. Sobald du einmal mit dem B¨osen zu schaffen ” hast, wirst du f¨ ur immer Teil von ihnen. Mein Sohn...“ Hat er seines Vaters Augen?“ ” Was!“Sie runzelte die Stirn. Du hast ihn nicht gesehen?“ ” ” Der Zauberer wandte sich wieder dem Feuer zu. Ich habe keine Zeit, solche Dinge zu betrachten.“ ” Nat¨ urlich. Solche Unschuld zu betrachten w¨ urde bestimmt in dir zum Vorschein bringen, was ” menschlich ist. Falls du noch etwas davon u ¨brig hast. Wo ist mein Sohn?“ Hat er sie?“ ” Was? Seines Vaters Augen?“ Sie nickte. Ja.“ ” ” Zuriel l¨achelte, und die tanzenden Flammen spiegelten sich in sein n Augen wider. Ah.“ ” Er hat auch das dichte blonde Haar und die breiten Schultern seines Vaters.“ ” Er muß drei, vielleicht vier Jahre alt sein. Kann er seinem Vater so ¨ahneln?“ ” Ja. Er zeigt sogar die Intelligenz, die sein Vater einst hatte.“ ” Der Zauberer sah Schwarzholz an, und ihr Blick hielt den seinen fest. Der Mann, den ich damals kannte, ist jetzt fort. Es wird nur einen wie meinen Sohn geben.“ ” Ja.“ ” Hexer, wo ist er?“ ” Zuriel lachte. Ich s ge es dir, und dann gehst du dorthin, und ich bekomme mein Kleinod nicht ” wieder.“Er grinste. H¨altst du mich f¨ ur dumm?“ ”
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Wieviel Zeit bleibt dir, bis du das Kleinod wiederhaben mußt?“Scbwarzholz musterte den K¨orper ” des Zauberers. Schwindet er sichtlich dahln? Die Dunkelheit um seine Augen ist tiefer geworden; er wirkt ¨alter und gebeugter als zu Anfang. Der Zauberer hustete, und seine Stimme hatte jetzt einen rasselnden Klang. Ich sterbe langsam vor ” deinen Augen. Das Kleinod, Frau, finde es und bring es her! Schnell!“ Woher soll ich wissen, daß mir mein Sohn unverletzt zur¨ uckgegeben wird, wenn ich dir den Stein ” bringe?“ Du hast mein Wort.“ ” Schwarzholz wandte sich dem Feuer zu. Dein Wort?“Sie grunzte. Damit und mit etwas Geld ” ” k¨onnte ich mir eine m¨annliche Hure kaufen.“ Mein Wort!“Er drehte sich um und ging langsam zur T¨ ur, den R¨ ucken auff¨allig gebeugt, sein Gewicht ” auf den Stock st¨ utzend. Schwarzholz wartete, sah ihm nach und folgte ihm dann. Mein Wort ist gut, Hexer.“ ” Der Magier ging stumm weiter, f¨ uhrte sie durch den von Fackeln beleuchteten Gang zu der großen, dicken Holzt¨ ur. Dort blieb er stehen. Du bist eine Kopfl¨agerin, eine, die menschliche Beute jagt.“ ” Er wies auf sich selbst. So etwas habe ich niemals getan.“Dann winkte er zudem großen Metallring ” in der T¨ ur hin. Schwarzholz faßte ihn widerwillig und zog die T¨ ur auf. Ich jage nur solche, die Uurecht getan haben. Keine anderen.“Sie folgte ihm nach draußen. Die ” T¨ ur schloß sich langsam von selbst. Warum solltest du auch jagen, wenn dir die Beute vor die F¨ uße ” gelegt wird? Wenigstens fordere ich keine Opfer.“ Und du hast nie get¨otet?“Der Zauberer ging einen Steinweg zu dem großen Außenhof entlang. Seine ” F¨ uße schlurften u utze. Mit zitternder Hand ber¨ uhrte ¨ber den Boden, der Stock war jetzt eine echte St¨ er im achtsamen Vor¨ ubergehen sanft hier eine Blume, dort eine Ranke. Nat¨ urlich habe ich get¨otet. Manche verdienen es.“ ” Man billigt die eigenen Taten immer bereitwilliger, als es ein anderer tun wird.“ ” Warum hast du mich, die nichts als eine Kopfj¨agerin ist, dann kommen lassen?“Zuriel blieb stehen ” und drehte sich ganz langsam zu ihr um. Da machte auch Schwarzholz halt. ¨ Eine Kop ¨agerin kennt nur wenige Angste. Die anderen ... Er zuckte die Schultern. Sie f¨ urchten ” ” ” die Ger¨ uchte und wollten nicht kommen, auch dann nicht, als ich sie rufen ließ.“ Ger¨ uchte!“Ihr Blick wanderte zu dem großen Feuer, das in einiger Entfernung brannte. Die Opfer ” ” sind kein Ger¨ ucht, Hexer. Die Dorfbewohner versammeln sich in diesem Augenblick, um dir wieder einen Jungen zu bringen.“
43 Abergl¨aubisches Pack.“Zuriel sah in Richtung des Dorfes. Irgendwer da unten hat den Stein. Aus ” ” Gr¨ unden, die du nicht zu wissen brauchst, war ich im Dorf, und da hat ihn mir jemand gestohlen.“ Wie? Worin hast du ihn getragen? In einem Beutel an deinem G¨ urtel?“Sie grinste, als sei der ” Gedanke so unvorstellbar, daß er komisch war. Ja.“Der Zauberer ging weiter auf das Feuer zu. Er bewegte sich vorsichtig, als bereite jeder Schritt ” ihm Schmerzen. Die W¨arme tut meinen Knochen gut.“ ” Schwarzholz dachte fl¨ uchtig daran, ihn mit dem Schwert zu durchbohren, aber das war nicht ihre Art. Er mußte ihr das Gesicht zukehren, und sie wollte erst erfahren, wo ihr Sohn war. Sie standen vor dem riesigen Feuer und wirkten klein im Vergleich zu den hochlodernden Flammen. Schwarzholz trat zur¨ uck; die Hitze war mehr, als sie ertragen konnte. Du hast diesen kostbaren ” Stein in einem Beutel getragen! Das kann ich nicht glauben.“Sie sch¨ uttelte den Kopf. Einer wie du ” ist vorsichtig, sollte ich meinen.“ Die Dorfbewohner f¨ urchten mich, das stimmt, aber der, der mir den Stein gestohlen hat, ist neu ” hier. Er wußte nicht, welche Stellung ich bei den anderen einnehme.“ Also hat er Vorteil aus den Beutelschn¨ uren gezogen.“ ” Das hat er.“ ” Sie kniff mißtrauisch die Augen zusammen. Er? Du weißt, daß es ein Mann war, der dir den Stein ” gestohlen hat?“ Zuriel wandte sich von ihr ab, betrachtete den Himmel, die B¨aume, das Feuer. Nur eine Vermutung, ” Frau.“ Sie kreuzte die Arme und sah ihn mit ihren dunklen Augen scharfan. Sag mir, nach wem ich ” Ausschau halten muß.“ Ich weiß es nicht. Geh einfach ins Dorf und frage. Irgendwer wird es dir sagen.“ ” Sie werden es mir sagen, dir aber nicht?“Sie lachte. Hier stimmt etwas nicht, Hexer.“ ” ” Finde das Kleinod, und bringe es mir zur¨ uck.“Er sah sie an. Deinen Sohn f¨ ur das Kleinod.“ ” ” Mein Sohn ist kostbarer als irgendein dummer Stein von dir!“Sie r¨ uckte n¨aher an ihn heran. Wo ” ” ist er?“ Hier. Er ist hier, Frau. Eingeschlossen, wo ihn nicht einmal die Sonne finden kann, wo es nichts ” gibt außer Dunkelheit und Einsamkeit, wo die dunklen Geister warten.“ Du Schurke!“Schwarzholz zog das Schwert und hielt dem Magier die Spitze an die Kehle, wodurch ” sie ihn zwang, sich ein bißchen aufzurichten. Wenn ihm etwas zust¨oßt, wirst du zu deinem Gott um ” die S¨ uße des Todes beten.“
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KAPITEL 4. KLEINODE
Versuche, mich zu t¨oten!“forderte er sie heraus. ” Die Versuchung, zuzustoßen, war groß, aber sie zog die Klinge zur¨ uck. Nein. Jede Sekunde, die ” ohne deinen kostbaren Stein vor¨ ubergeht, leidest du. Du bist seit meiner Ankunft gealtert.“ Ja“, r¨aumte er ein, aber ich werde ab einem bestimmten Punkt nicht weiter altern.“Er l¨achelte ” ” schief. Schwer zu glauben, daß ich im selben Jahr wie du geboren wurde, nicht wahr?“ ” Ja.“Schwarzholz senkte das Schwert. ” Wir verschwenden Zeit. Dein Sohn wird blaß in der Dunkelheit, die ihn umgibt.“Zuriels Stimme ” nahm einen h¨amischen Ton an. Es gibt viele Wesen der Finsternis, Frau, viele, die in eben diesem ” Augenblick von der W¨arme seines K¨orpers angelockt werden. Er..“ H¨or auf!“Schwarzholz stieß dem Zauberer die Schwertspitze u ¨ber dem Herzen in die Brust. Fang ” ” an zu beten!“Ihre Lippen zogen sich zur¨ uck, entbl¨oßten die Zhhne. Beeile dich, Hexer...“ ” Ja, und er ist an die kalte, feuchte Wand angekettet; er wimmert Tag und Nacht und verweigert ” das Essen, das ich ihm bringe. Er beklagt sich u ¨ber das Ungeziefer, das im Brei herumkriecht. Weiß er nichts u ber den Wert von Essen, ganz gleich, aus welcher Quelle es kommt?“ ¨ Schwarzholz trat n¨aher an den Magier heran, druckte mit dem Schwert ein bißchen st¨arker zu. Ihre Augen funkelten. Und er heult, seine Arme t¨aten ihm weh, weil seine F¨ uße den Boden nicht ber¨ uhren“, h¨ohnte Zuriel. ” Ich kann nichts daf¨ ur, daß die Ketten in der H¨ohe eines Mannes angebracht sind.“ ” Nein!“Schwarzholz k¨ampfte gegen den Drang an, mit ihrer ganzen Kraft zuzustoßen. ” Das Wasser, das ich ihm bringe, kommt frisch aus dem Abwassergraben, aber er beschwert sich u ¨ber ” den Geruch und will es nicht trinken.“ Genug!“Schwarzholz zwang sich, von dem Zauberer zur¨ uckzutreten und das Schwert wegrustecken. ” Sie zog einen kleinen Beutel aus ihrer Jacke. Hier, hier ist dein verdammter Stein!“Sie zerrte so an ” dem Beutel, daß der Lederriemen riß. Dein Kleinod, Hexer, hier in meiner Hand.“Sie achtete nicht ” auf den brennenden Schmerz rings um den Hals, der vom Zerreißen des Riemens kam. Zuriel trat n¨aher ans Feuer und zog Schwarzholz zu sich. Er streckte die Hand aus. Gib es mir.“ ” Wie du gesagt hast, meinen Sohn f¨ ur das Kleinod.“Sie umklammerte den Beutel, daß die Kn¨ochel ” weiß hervortraten. Wie kommst du dazu, mein Kleinod. . . Er hielt kurz inne. Ah, die Dorfbewohner.“ ” ” ” Ja“, zischte sie, die Dorfbewohner. Sie wußten, du w¨ urdest jemanden anheuern lassen, der deinen ” ” Stein suchen und dir zur¨ uckbringen sollte. Sie brauchten nur zu warten.“ Und wenn ich Rache auf sie herabbeschworen h¨atte?“ ”
45 Sie hatten den Stein und wußten, daß deine Kraft in dem Stein war.“ ” Ich verstehe. Sie warteten also nur auf den Augenblick, in dem ich anderswohin sah, um meinen ” Beutel zu stehlen.“ Schwarzholz runzelte verwirrt die Stirn. So mochte es tats¨achlich gewesen sein. Ja, vielleicht.“Sie ” folgte dem Zauberer, der n¨aher an das Feuer herangetreten war. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Haut. Es war unvorsichtig von dir, einen Gegenstand von solcher Bedeutung in einem Beutel ” mit Schn¨ uren zu tragen.“Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. Sehr unvorsichtig.“Sie musterte ” sein Gesicht. Tiefe Furchen zogen sich durch seine Haut, und es traten Flecken von weißblauer Farbe hervor. Sie wissen, daß man mich nur t¨oten kann, wenn man das Kleinod in ein Feuer wirft.“ ” Schwarzholz warf den Beutel in die Luft und fing ihn wieder auf. Ich werde es ins Feuer werfen, ” wenn du mir meinen Sohn nicht zeigst, Zuriel.“Sie machte eine Bewegung, als wolle sie werfen. Nein!“Der Magier hob die H¨ande. Warte!“Er hustete. Wenn du das tust, werde ich umkommen.“ ” ” ” Ja.“ Wieder fintierte sie. ” Warte!“Er grinste h¨ohnisch. Deinem Sohn bleibt nur noch wenig Zeit. Er hat bereits Bißwunden ” ” erlitten, und auf seinen H¨anden hat sich die schwarze Haut gebildet. Gib mir das Kleinod.“ Mit zornig flammendem Blick warf Schwarzholz den Lederbeutel mit aller Kraft ins Feuer. Er verschwand irgendwo tief in den Flammen. Ihr Gesicht war rot von der Hitze. Der Schweiß lief ihr zwischen den Br¨ usten hinunter und rief dunkle Flecken auf der Vorderfront ihrer Jacke hervor. Zuriel zuckte, als winde sich sein ganzer K¨orper in Kr¨ampfen, und kr¨ ummte sich. So blieb er f¨ ur eine Weile, dann richtete er sich langsam wieder auf. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, den Schwarzholz nicht zu deuten wußte. Es war, als f¨ uhle er sich erleichtert. Dein Sohn ist frei.“ ” Was?“Schwarzholz bemerkte weitere Ver¨anderungen am K¨orper des Magiers. Die blaue Farbe auf ” der Haut vertiefte sich, es erschienen weitere Runzeln, das Haar wurde schneeweiß. Sein Blick traf den ihren, aber anstclle von Zorn lag in dem seinen nichts als Mitgef¨ uhl. Nicht ” einmal ich konnte die Kraft finden, das zu tun, was du eben getan hast.“ Schwarzholz stand mit offenem Mund da. Das Feuer — das Opfer. Du!“ ” Geh zu deinem Sohn.“Zuriel l¨achelte herzlich. ” Ein schmerzliches Schuldbewußtsein mischte sich mit einem qualvollen Gef¨ uhl der Einsamkeit und f¨ uhr Schwarzholz wie ein Messer durchs Herz. Du m¨ochtest sterben.“ ” Das Kleinod gab mir Kr¨afte, aber es machte mich auch zu etwas, das ich nicht war: b¨ose.“Er hustete. ” Es war ein b¨oses Ding, und ich merkte das nicht, bis es zu sp¨at war.“ Er sah sie mit seinen violetten ”
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KAPITEL 4. KLEINODE
Augen an. Ich freue mich, jetzt davon frei zu sein.“ Eine Weile blickte er schweigend ins Feuer. ” Hast du den Vater deines Sohnes geliebt?“ fragte er leise. ” Schwarzholz faßte in ihre Tasche und holte das echte Kleinod hervor. Sie betrachtete es kurz mit ihren dunklen feuchten Augen. Ich liebe ihn noch.“Sie warf es ins Feuer. ” Pl¨otzlich ber¨ uhrte etwas ihr Bein. Schwarzholz f¨ uhr herum, blickte nach unten. Ihr Gesicht verzog sich vor Freude zu einem breiten L¨acheln. Der kleine blonde Junge streckte die H¨ande nach ihr aus. Schwarzholz stellte fest, daß die H¨andchen von der gleichen Farbe wie fr¨ uher waren, nicht schwarz, wie Zuriel gesagt hatte. Sie hob den Jungen hoch und dr¨ uckte ihn fest an die Brust. Ich f¨ urchtete, ” ich w¨ urde es nicht mehr erleben, daß du das Alter erreichst, in dem du einen eigenen Namen w¨ahlen kannst.“ Mir hat es hier gefallen, aber du hast mir gefehlt, Mutter.“ Holz-Sohn schlang Schwarzholz die ” Arme um den Hals und dr¨ uckte sie. Es hat dir hier gefallen?“Schwarzholz runzelte die Stirn. ” Ja, Zuriel hat mir ,Lieder beigebracht und mir Geschichten erz¨ahlt.“ ” Er hat dir´ nichts getan?“ ” Holz-Sohn sch¨ uttelte den Kopf, dann zog er an einem d¨ unnen Lederriemen um seinen Hals. Sieh ” mal!“Er zog einen Gegenstand aus der Jacke, der an dem Riemen hing. Das hat er gemacht.“ ” Schwarzholz sah sich das kleine geschnitzte Holzst¨ uck am Ende des Lederriemens an. Linien und Kreise waren in die Oberfl¨ache eingegraben. Ist das ein Zauber?“ ” Holz-Sohns violette Augen richteten sich erst auf den Gegenstand, dann auf Schwarzholz. Ja! Er ” sagte, es werde mich immer besch¨ utzen.“ Irgendwie glaubte Schwarzholz das. Er hat es wirklich f¨ ur dich gemacht?“ ” Ja, und er sagte, es sei f¨ ur mich, damit ich mich immer an ihn erinnere.“ ” Von neuem umarmte Schwarzholz ihren Sohn. Erinnere dich gut an ihn.“ ” Wenn ich alt genug f¨ ur meinen Namen bin, darf ich ihn dann ausw¨ahlen?“ ” Das sollst du sogar.“ Dann m¨ochte ich Zuriel heißen.“ ” ” Ja.“ Schwarzholz dr¨ uckte Holz-Sohn rasch. Das ist ein guter Name.“ ” ” Wo ist Zuriel?“ ” Die dunklen Augen der Frau richteten sich auf das Feuer. Sie meinte, die dunklen, ungleichm¨aßigen Umrisse eines Mannes tief in den Flammen stehen zu sehen, aber es war zu schnell vorbei.
Kapitel 5 Der Tanz der Heilerin von M.R. Hildebrand Jedes Jahr versuche ich, wenigstens eine erste Geschichte“ von einem neuen Schriftsteller zu pra” sentieren. Und diese hier hat mir sehr viel Vergn¨ ugen bereitet — nicht nur, weil sie gut ist, sondern auch, weil die Autorin eine alte Freundin ist. Hildy — so ist sie bei den Fans im Phoenix-Gebiet weit und breit bekannt — ist die Ehefrau des Fans und Autors B.D. (Bruce) Arthurs. Er, wie Hildy Mitglied einer lokalen Schriftsteller–Gruppe, gegr¨ undet von Jennifer Roberson (die an anderer Stelle in diesem Band erscheint), hatte sein Deb¨ ut auf diesen Seiten mit Death and the Ugly Woman“. ” Hildy organisiert außerdem (und das vom Rollstuhl aus) eine Reihe von Cons und so weiter, die einen starken Mann erbleichen lassen w¨ urden. Jetzt hat sie es dazu noch fertiggebracht, mir eine Geschichte zu schicken.
Sherlin ging durch die dunklen Straßen, und die funkelnden Sterne am Himmel leisteten ihr stumme Gesellschaft. Das einzige Ger¨ausch war das stetige leise Klicken der Meditationsperlen, die sie durch die Finger gleiten ließ. Eine lange und schwierige Entbindung hatte effolgreich mit einer gesunden Mutter und einem gesunden Kind geendet. Sie f¨ uhlte sich befriedigt, doch ebenso stark war eine reine k¨orperliche M¨ udigkeit. In der ersten Zeit war sie in Heracilis zweimal von Straßenr¨aubern angegriffen worden. W¨ahrend sie sie auf Verletzungen untersuchte und ihre gebrochenen Knochen einrichtete, hatte Sherlin ihnen erkl¨art, was eine T¨anzerin ist und was das bedeutet. Seit damals hatte sie die Gewohnheit angenommen, in der Nacht die Perlen leise klicken zu lassen und so ihre Gegenwart anzuk¨ undigen. Vor ihrem Haus stellte Sherlin fest, daß etwas nicht stimmte. Cermis, ihr Lehrling, h¨atte ein Licht f¨ ur sie brennen lassen sollen. Nicht schon wieder. . . Sie schob den sich aufdr¨angenden, angsterregenden 47
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KAPITEL 5. DER TANZ DER HEILERIN
Gedanken beiseite, glitt mit einer fließenden Bewegung durch die T¨ ur und ins Zimmer und knallte die T¨ ur gegen die Wand zur¨ uck. Nichts bewegte sich. Sie lauschte. Nichts atmete. Vorsichtig umging sie den Tisch und andere Gegenst¨ande, die auf dem Fußboden verstreut waren. Am Kamin angekommen, nahm sie eine Kerze herunter und steckte sie an. Das Licht zeigte sie als eine Frau von mehr als mittlerer Gr¨oße, kr¨aftig gebaut, in einem langen, engen, bis zu den H¨ uften geschlitzten Oberkleid. Als sie sich drehte, flatterte das Oberkleid ein wenig und verriet, daß das Unterkleid in Wirklichkeit eine weitgeschnittene Hose war. Da war kein Zeichen von Germis — ausgenommen vielleicht die Blutspuren, die auf dem Fußboden zu erkennen waren. Das Blut konnte durchaus von den Leuten stammen, die Germis angegriffen hatten; Sherlin hatte ihren Lehrling f¨ unf Jahre lang in den T¨anzen des Lebens und des Todes sowie in denen der Heilkunst und der Meditation unterrichtet. Essen und Geschirr waren von dem umgekippten Tisch auf den Fußboden gefallen. Sherlin b¨ uckte sich und f¨ uhlte ein St¨ uck Brot. Was auch geschehen sein mochte, es hatte gestern am fr¨ uhen Abend stattgef¨ unden. Die Heilerin ging zu ihrer Werkbank hin¨ uber. Ihre dunklen Augen u uften die ¨berpr¨ Vorr¨ate. An der gegen¨ uberliegenden Wand ¨offnete Sherlin eine große Truhe und betastete schnell den Inhalt. Stirnrunzelnd richtete sie sich auf. Ihre H¨ande begannen, mit den Perlen an ihrem G¨ urtel zu spielen, w¨ahrend sie in Gedanken versunken dastand. Dann ging Sherlin zur T¨ ur und stieß einen auf– und abschwellenden, durchdringenden Pfiff aus. Die T¨ ur angelehnt lassend, kehrte sie zum Kamin zur¨ uck und z¨ undete das Feuer wieder an. Ehe sie damit fertig war, schl¨ upfte eine kleine Gestalt, formlos in Schichten von schmutzigen Lumpen, ins Zimmer. Was ist los, T¨anzerin?“ piepste sie, die Unordnung im Raum betrachtend. ” Germis ist verschwunden.“ Sherlins leise Stimme behielt ihre u ¨bliche Ruhe und verbarg die Angst, ” die sie empfand. Wahrscheinlich wurde sie gestern abend entf¨ uhrt, etwa eine Stunde nach dem ” Dunkelwerden. Weißt du etwas dar¨ uber?“ Nein. Ich war da in der Straße der Fische, in Merliks Torweg. Ich habe sie gestern nicht gesehen, ” aber ich dachte, sie sei mit dir zusammen.“ Danke, Kaninchen.“ Sherlin h¨angte den Wasserkessel u ¨ber das jetzt knisternde Feuer. Geh und ” ” suche mir Schlange. Sag ihm, ich brauche ihn.“ Schlange kam, als die ersten Sonnenstrahlen die T¨ ur trafen. Seine dunklen Locken waren zerzaust, seine Kleidung hing etwas schief an seinem schlanken, eben heranwachsenden K¨orper. Seine Stimme bebte leicht trotz seines Bem¨ uhens, unbesorgt zu wirken. Kaninchen sagte, Germis sei verschwunden ” — entf¨ uhrt worden!“ Sherlin blickte von ihrer Teetasse hoch. Im fr¨ uhen Morgenlicht wirkte ihr ruhiges, goldenes Gesicht wie eine exotische Maske. Sie wurde etwa um die zweite Stunde nach Dunkelwerden gewaltsam von ”
49 hier entf¨ uhrt.“ Sie betrachtete den Jungen mit ihren dunklen Schlitzaugen und sah, wie betroffen er war. Was machen wir jetzt?“ ” Ich werde schlafen gehen.“ Die Heilerin erhob sich, nahm einen kleinen Beutel aus der Truhe und ” reichte ihn dem Jungen. Du wirst alle deine F¨ahigkeiten und Nachrichtenquellen benutzen, um ” herauszufinden, wer Germis entf¨ uhrt hat und wohin.“ Instinktiv wog Schlange den Beutel in der ¨ Hand. Uberraschung malte sich auf seinem Gesicht. Du wirst vielleicht alles brauchen.“ Sherlin faltete ihre Schlafmaue auseinander. Du wirst nat¨ urlich ” ” die Bordelle und Sklavenkarawanen u ufen, aber ich f¨ urchte, so einfach wird es nicht sein.“ Sie ¨berpr¨ ließ sich auf der ausgebreiteten Matte nieder und f¨ uhr fort: Dieser Beutel blieb unangetastet, ebenso ” meine Vorr¨ate. Einiges davon ist sogar noch wertvoller.“ Die Stimme der Heilerin klang ruhig, aber ihre H¨ande betasteten nerv¨os die Perlen. Halte nach allem Ausschau, was vom Normalen abweicht. ” Heute ist Neumond und die l¨angste Nacht des Jahres.“ Schlanges Gesicht war blaß vor Furcht. Er nickte wortlos und ging. Im Echo der zuschlagenden T¨ ur h¨atte ein scharfes Ohr h¨oren k¨onnen: M¨ogen die G¨otter mit dir gehen. Kind, oh Kind...“. ” Der Gestank toter Fische, der zu dem u ¨blichen Geruch der Stadt nach Holzrauch und Abw¨assern kam, verriet Sherlin, daß ihr kleiner F¨ uhrer sie zum Flußufer brachte. Dieses Viertel kannte sie nicht gut; dort war man, falls das m¨oglich war, noch weniger gesetzestreu als in ihrer eigenen Nachbarschaft. Eine pl¨otzliche Kehre, und sie kamen an Lagerh¨ausern vorbei, großen verwitterten Schuppen, die diesen Teil des Flusses s¨aumten. Kaninchen, bist du sicher, daß dies der Ort ist, an dem wir Schlange treffen sollen?“ Sherliri ” eilte der voraustrippelnden Gestalt nach, und der Mantel klatschte ihr um die Beine. Sie hatte das Versteck eines Magiers erwartet, nicht das eines Kaufmanns. Die Entf¨ uhrung Germis´ kurz vor der einflußreichen Konjunktion von Neumond und Sonnenwende war ein zu bedeutungsvolles Zusammentreffen, als daß man es h¨atte iguorieren k¨onnen. Ja, und er sagte, wir sollten uns beeilen. Es sei keine Zeit zu verlieren.“ Die Beinchen stampften ” noch schneller. In dem Sack, der auf dem kleinen R¨ ucken h¨ upfte, zappelte es. Eine Biegung der Straße enth¨ ullte pl¨otzlich ein altes, verwittertes Haus. Seine Mauern hielten Abstand zu denen seiner Nachbarn — eine Seltenheit in diesem u ullten Viertel. Die l¨anger wer¨berf¨ denden Schatten ließen das alte Haus noch d¨ usterer wirken. Auf der anderen Straßenseite stand Schlange und betrachtete den Himmel. Was hast du herausgef¨ unden, Schlange?“ fragte Sherlin. ” Ich hoffe, das ist der Ort, wo Germis ist“, antwortete der Junge leise mit etwas schwankender ” Stimme. Ich konnte nichts Bestimmtes finden, aber dieses Haus hat einen schlechten Ruf. Hier ”
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KAPITEL 5. DER TANZ DER HEILERIN
soll ein Schwarzer Magier leben. Der alte Nimian meint, es verschw¨anden regelm¨aßig Huren.“ Er zuckte die Schultern. Ger¨ uchtweise verlautet, sie wurden dazu benutzt, das Leben des Magiers zu ” verl¨angern. Man behauptet, der Magier sei u ¨ber hundert Jahre alt. Die Tore sind st¨andig verschlossen, und es kann niemand hineingelangen.“ Schlange sah Sherlin herausfordernd an. Jopa der Dieb hat versucht, u ¨ber die Mauer zu klettern, aber irgend etwas hielt ” ihn auf. Er kann sich nicht erinnern, was es war — aber er ist seitdem auch nicht mehr n¨ uchtern geworden.“ Wieder richtete der Junge den Blick zum Himmel, weg von den Augen der Heilerin. Vielleicht ” bin ich verr¨ uckt, aber wenn ich dicht an die Mauer oder das Tor herangehe, prickelt meine Haut. Noch etwas: Ich habe beinahe eine Stunde aufgepaßt und keinen Vogel gesehen, der dem Haus nahe gekommen w¨are. Sie fliegen den Fluß hinauf und hinunter. Sie landen auf anderen D¨achern. Aber sie meiden das Haus und die B¨aume im Garten. Ich m¨ochte etwas ausprobieren, aber du solltest erst hier sein, am es zu sehen.“ Er wandte sich Kaninchen zu. Hast du die Ratten mitgebracht?“ Kaninchen grinste und hielt ihm ” den sich windenden Sack hin. Sherlin sah genau zu, wie Schlange eine zappelnde Ratte an der Mauer in die H¨ohe warf. In der H¨ohe der Krone wurde das Tier mitten in der Luft angehalten. Quiekend vor Schmerz fiel es auf die Straße zur¨ uck und blieb bewußtlos liegen. Versuche es noch einmal“ bat Sherlin nachdenklich. Kaninchen wollte in den Sack fassen. Nein, ” ” nein“, wehrte sie ab. Nimm wieder die hier.“ Die Heilerin nickte zu der bewußtlosen Ratte hin. ” Diesmal segelte die Ratte ungehindert u ¨ber die Mauer. Nachdem mehrere andere Ratten nicht u ¨ber die Mauer hatten gelangen k¨onnen, falls sie nicht bewußtlos oder tot waren, sagte Sherlin zu Schlange: Ich brauche eine Decke und ein paar kr¨aftige ” Leute.“ Was soll es Germis n¨ utzen, wenn du auf der anderen Seite der Mauer, aber bewußtlos bist?“ fragte ” der Junge. Er sch¨ uttelte den Kopf. Wir wissen nicht einmal sicher, ob sie drinnen ist.“ ” Dieses Haus ist von einem starken Zauber umgeben, der aus zehn Schritt Entfernung nicht mehr zu ” erkennen ist. Es geh¨ort große Macht dazu, einen so starken und so genau abgegrenzten Bann auszusprechen.“ Sherlin sah dem Jungen gerade ins Gesicht. Ein Zauberer, der heute nacht eine Jungfrau ” opfert, besonders wenn es eine ist, die die T¨anze des Universums gelernt hat, wurde unglaubliche Macht gewinnen.“. Schlange starrte mit vorgeschobenem Unterkiefer zur¨ uck. Ich weiß, du kannst besser heilen als ” irgendwer´ von dem ich je geh¨ort habe, aber was vermagst du gegen einen so guten Zauberer auszurichten? Es wird Gern¨ us nichts helfen, wenn du auf der Stelle umgebracht wirst.“
51 Ich kann nicht sagen, daß ich nicht ums Leben kommen werde, Schlange, aber v¨ollig hilflos werde ” ich auch nicht sein. Nicht alle T¨anze des Universums sind so einfach wie die T¨anze des Lebens und des Todes.“ Sherlin sah sich die kriechenden Schatten an, das Gesicht angespannt vor Angst. Die ” Sonne geht bald unter, und ich m¨ochte lieber nicht im Dunkeln u ¨ber die Mauer gehen.“ Offensichtlich war Sherlin entschlossen, ins Haus zu gelangen, und das bald. Schlange sagte zu Kaninchen: Klettere auf das Dach da dr¨ uben, und sieh nach, welches f¨ ur sie die beste Stelle ist, ” u ¨ber die Mauer zu kommen. Ich will sie nicht auf etwas werfen, das ihr den Hals brechen wird.“ Dann wandte sich Schlange der Heilerin zu. Ich mag nicht viel u ¨ber Magie wissen, aber dieses lange ” Oberkleid eiguet sich nicht dazu, in ein Haus einzubrechen. Zieh lieber das schwarze Zeug an, das du tr¨agst, wenn du Gernais im Tanzen unterrichtest.“ Die Sonne ber¨ uhrte gerade den Horizont, als Sherlins in Trance versetzter K¨orper u ¨ber die Mauer flog. Nur ein leichtes Muskelzucken markierte das Durchqueren der Barriere. Sie ist unten. Sieht nicht aus, als h¨atte sie sich etwas gebrochen!“ rief Kaninchen vom Dach des ” Lagerhauses herunter. Die Straßenbewohner, die sie hin¨ ubergeworfen hatten, blickten erleichtert drein. Auf diese Versicherung hin begann Schlange, Sherlin von der Straße aus leise zu bitten, aufzuwachen und Germis zu helfen. Kaninchens Schweigen informierte ihn, daß Sherlin nicht reagierte. Es wurde dunkel, und Schlange hielt f¨ ur einen Augenblick inne. Dann rief er sich sorgf¨altig Sherlins Anweisungen ins Ged¨achtnis zur¨ uck und schrie: Sherlin, linbao mun Chieu-li!“ ” Sie zuckt!“ quiekte Kaninchen. ” Dieser Schrei war der erste bewußte Eindruck, den Sherlin empfing. Der zweite war das pl¨otzliche Erinnern: Chieu-li brauchte sie nicht mehr, Chieu-li war tot . . . aber Germis lebte noch. Das Ged¨achtnis kehrte zur¨ uck. Sherlin o¨ffnete die Augen und stellte sich auf die F¨ uße. Kaninchen verk¨ undete es mit triumphierendem Quietschen. Ich bin wach, Schlange.“ Die Heilerin verwandte ein paar Minuten auf verschiedene schwierige ”¨ Ubungen, die ihre steifen Muskeln lockerten. Dann bat sie: Wirf meine Ausr¨ ustung her¨ uber. Ich ” bin bereit, ins Haus zu gehen.“ Sie fing das sperrige B¨ undel vorsichtig auf, entnahm ihm eine Fackel und legte diese auf den Boden. Mit schnellen Bewegungen steckte sie mehrere P¨ackchen in Taschen, die in ihrem knappsitzenden Gewand verborgen waren. Schließlich ergriff sie das silberne Messer, auf dessen Mitnahme Schlange bestanden hatte, und schob es in ihre Sch¨arpe. Sie nahm die nicht angez¨ undete Fackel auf und durchquerte den Garten. Ihre schwarzen LederSlipper glitten lautlos durch Gras und trockene Bl¨atter. Die Frau war sich ihrer Furcht bewußt, war sich bewußt, daß sie dies tat, weil sie etwas tun mußte. Sie durfte nicht noch einmal eine junge Freundin verlieren. Nicht, wenn es irgendeine M¨oglichkeit gab, sie zu retten.
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KAPITEL 5. DER TANZ DER HEILERIN
An der T¨ ur angekommen, streckte die Heilerin einfach die Hand aus und o¨ffnete sie vorsichtig. Warum eine T¨ ur verschließen, wenn ein so starker Zauber die Mauer um das Grundst¨ uck bewachte? Drinnen sondierte Sherlin sorgf¨altig ihre Umgebung. Staub und Schalheit lagen in der Luft, die schwer und still war wie in einem Grabmal. Ein schwaches blaues Gl¨ uhen von W¨anden und Decke zeigte, daß sie sich in einem breiten Flur befand. Er lief an der Vorderseite des Hauses entlang und setzte sich anscheinend um die Ecken herum fort. Dunkle Stellen an der inneren Wand deuteten auf T¨ uren hin. Kein physischer Laut war zu h¨oren, aber Zauber, die jetzt oder in der Vergangenheit existierten, hallten auf magische Weise in dem Haus wider. Innerhalb dieses psychischen L¨arms war kein einzelner Zauber zu unterscheiden. Lautlos, vorsichtig bewegte sich Sherlin, alle Sinne angespannt. Der erste Eingang zeigte nur schwarze, muffige Stille. Sie z¨ undete die Fackel an. Der Raum war leer bis auf ein paar schwere dunkle M¨obel und ein fest verrammeltes Fenster gegen¨ uber der T¨ ur. Die Heilerin wollte den Flur weiter hinuntergehen, als eine schwache Luftbewegung sie alarmierte. Sie fuhr herum. Zwei große, menschen¨ahnliche Gestalten st¨ urmten auf sie zu. Als das erste Wesen etwas mehr als eine Arml¨ange von ihr entfernt war, handelte Sherlin. Sie stieß ihm die pechgeladene Fackel ins Gesicht, w¨ahrend sie, sich drehend und windend, schnell an ihm vorbeitanzte. Die Drehung setzte sich mit einem Tritt nach oben in den Rumpf des zweiten Ungeheuers fort. Augenblicklich wandte Sherlin sich wieder dem ersten Wesen zu. Es wimmerte vor Schmen und schlug nach dem brennenden Pech. Zwei schnelle Tritte in die Kniekehlen schickten es zu Boden. Ein Schlag mit beiden F¨austen brach den dicken als mit h¨orbarem Knacken. Zu dem zweiten Wesen herumwirbelnd, fand sie es mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Eine dunkle Fl¨ ussigkeit sickerte aus seinem leblosen Mund. Sherlin nahm die tropfende Fackel auf, p¨appelte die Flamme wieder hoch und paßte auf, ob nicht ein zweiter Angriff aus dem Dunkel kam. Vorsichtig sah sie in den anderen R¨aumen an diesem Teil des Flurs nach. Alle waren leer. Sie bog um die Ecke und fand sich im Dunkeln wieder. Die Hitze der Fackel konnte sie immer noch auf der Haut sp¨ uren, aber nichts in ihrem Licht sehen. Sie kehrte um, und immer noch war sie von Finsternis eingeschlossen. Ranken aus Zauberei legten sich um den Verstand der T¨anzerin und versuchten einzudringen. Sie wehrte sie mit einem planm¨aßigen Gedankenmuster ab. Die Ranken zogen sich abrupt zur¨ uck, nahmen sichtbare Gestalt an und flossen zu einem hellen facettierten Spiegel zusammen, in den Sherlin hineingezogen wurde. Sie wollte fliehen und sah, daß sie von Spiegeln umringt war. Sie war nackt, und ihr Bild wurde aus jedem m¨oglichen Winkel zur¨ uckgeworfen, sogar von unter den F¨ ußen. Sherlin schlug gegen die Spiegel, zuerst physisch, dann psychisch, doch ohne Ergebnis. Sie erkannte, daß sie außerhalb ihres K¨orpers erwischt worden war. Die Spiegel existierten nicht auf einer physischen Ebene. Aber wenn ihr die Flucht nicht gelang, w¨ urde ihr K¨orper entweder get¨otet werden oder aus Mangel an Essen und Wasser sterben.
53 Sherlin setzte sich mit untergeschlagenen Beinen in Meditationshaltung hin. Ihr Geist wurde ruhiger, und ihr fiel eins ihrer Gespr¨ache mit Meister Hu ein, der so viele Jahre und Meilen fern von ihr war. Er hatte gesagt, die am weitesten fortgeschrittenen Adepten k¨onnten nicht nur ihren Geist, sondern auch ihren K¨orper bewegen, indem sie die neue Umgebung so vollst¨andig in sich aufnahmen, daß sie das Universum t¨auschten“ und dort waren. Sherlin war nicht weit genug gekommen, um dies auf ” der physischen Ebene fertigzubringen, aber vielleicht... Die T¨anzerin stand auf und legte die Hand gegen einen der Spiegel. Sie schloß die Augen und beschwor das Bild ihrer selbst außerhalb der Spiegelkugel herauf. Aber als sie die Augen o¨ffnete, sah sie sich immer noch bis in alle Ewigkeit widergespiegelt. Sherlin ließ sich gegen das Glas fallen. Sie durfte nicht verzagen. Es stand nicht nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel, sondern ebenso Germis´ Leben. Von neuem schloß sie die Augen, beruhigte ¨ ihre Atmung und begann mit der mentalen Ubung, die der Tanz des Vergessens genannt wird. Sie leitete die Einzelheiten ihres Gef¨angnisses aus ihrem Gehirn, jeden Winkel, jede Kurve sowohl der Spiegel als auch ihrer Bilder in ihnen. Dann baute sie den Korridor neu, seine Muffigkeit und seine finsteren Tiefen. Pl¨otzlich ver¨anderte das Universum sich. Ihre Augen flogen auf, als ihr Geist in ihren K¨orper zur¨ uckkehrte. Sie erhaschte eben noch einen Blick auf die Spiegelsph¨are, die wie eine Seifenblase platzte. Schnell u ufte die T¨anzerin ihre Umgebung. In dem dunklen Flur hatte sich nichts ver¨andert bis ¨berpr¨ auf die Helligkeit ihrer Fackel. Sherlin stand auf, die tropfende Fackel in der Hand, und betrachtete ihren K¨orper. Der schlaffe Fall hatte den blauen Flecken von ihrem Flug u ¨ber die Mauer neue hinzugef¨ ugt, aber eigentlich war sie noch in guter Verfassung. Sie schritt vorsichtig weiter den Korridor entlang und sah in jedem Zimmer nach. Sie waren alle leer. Es war zu leicht. Keine der beiden Fallen war un¨ uberwindlich gewesen. Sherlin wußte, sie war nicht außergew¨ohnlich stark in Magie; sie hatte den Tempel verlassen, ohne ihre Ausbildung abgeschlossen zu haben. Auch war sie k¨orperlich nicht unbesiegbar, trotz ihres Geschicks in den T¨anzen. Warum kamen keine weiteren Angriffe? Das machte ihr Sorgen. Sie ging um die n¨achste Ecke des Flurs und blieb abrupt stehen. Vor ihr erstreckte sich eine schwarze Wand von einer Seite zur anderen und von der Decke bis zum Boden. Sherlin versuchte es mit der Fackel und stellte fest, daß sie die Oberfl¨ache nicht ganz ber¨ uhren konnte. Auch wurde das Licht der Fackel nicht reflek tiert, sondern verschwand in der Schw¨arze. Sherlin dachte nach. Langsam schob sie ihre Hand vor und hielt an, als sie die schreckliche K¨alte der Schw¨arze sp¨ urte. Eine so hef¨ uge K¨alte konnte ebenso schlimm verbrennen wie Feuer. Dies war die eigentliche Mauer um dert Magier, unber¨ uhrbar sowohl durch materielle Werkzeuge als auch durch Fleisch und Blut. Sie roch nach scheußlichen Zaubereien.
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KAPITEL 5. DER TANZ DER HEILERIN
Sherlin kehrte um und betrat einen der leeren R¨aume. Sie schob den Riegel vor, bevor sie ihre Fackel ¨ in einen Wandhalter steckte. Eine schnelle Uberpr¨ uf¨ ung des Schrankes und des muffigen Bettes mitsamt seinen Vorh¨angen brachte nichts Gef¨ahrlicheres zum Vorschein als Staub und zwei oder drei tote Motten. Befriedigt zog sie einen der Beutel aus einer Tasche und entnahm ihm eine kleine Handvoll geschmtzter flacher Steine. Sie hielt sie f¨ ur einen Augenblick an die Stirn. Dann legte sie in jede Ecke einen Stein mit der geschnitzten Oberfl¨ache nach außen. Vom Mittelpunkt des Raumes aus zeigte Sherlin auf jeden der Steine und sprach eine kurze Silbe.. Die Silbe langsamer sprechend, zog die T¨anzerin einen Bogen diagonal u ¨ber ihren Kopf, drehte sich und wiederholte den Vorgang, bis der Raum von oben und von unten her gesch¨ utzt war. Sherlin legte sich hin und begann ein Atmungsmantra. Der Tanz war kompliziert, und sie hatte ihn nicht mehr ausgef¨ uhrt, seit sie den Tempel verlassen hatte. Ms sie das notwendige Niveau der Ruhe erreicht hatte, leitete sie ihren Geist in die vorgeschriebenen Muster. Ihr drittes Auge — das Auge zur Erfassung der nichtphysischen Welt — o¨ffnete sich. Sherlin stand auf einer nebligen grauen Ebene. Ihre schwarze Kleidung war jetzt weiße Seide, und jeder Kn¨ochel war von einem leichten schwarzen Band umwunden. Ein schwarzer Turm erhob sich in der N¨ahe, h¨oher, als das Auge reichte. Ihr astrales Ich bewegte sich so frei und schnell wie ein Gedanke, umkreiste den fensterlosen, konturlosen Turm. Irn N¨aherkommen sp¨ urte sie von neuem die K¨alte. Sie schloß die Augen und nahm die Muster des Tanzes von neuem auf. Als sie die Augen wieder ¨offnete, war es auf der Ebene ein bißchen heller, und die Kn¨ochelb¨ander waren ein bißehen schwerer, aber der Turm stand noch — stark, schwarz und kalt. Wieder und wieder tanzte sich die Adeptin auf eine h¨ohere Ebene hinauf. Jede war heller und deutlicher als die vorige, und die Graut¨one verwandelten sich in Farben. Immer noch standen die Turmmauern ungebrochen. Bei jeder h¨oheren Ebene erh¨ohte sich auch das Gewicht der B¨ander. Das Gewicht wurde in den Mustern des Tanzes reflektiert, bis sie nur noch langsam und mit Anstrengung zu vollf¨ uhren waren. Sherlin erkannte, daß sie nicht h¨oher tanzen konnte. Sie ¨offnete die Augen. Wieder stand der Turm da. Sie hatte verloren. Die T¨anzerin schlug in zorniger Verzweiflung gegen die Mauer. In pl¨otzlichem Erkennen richtete sie sich auf. Sie hatte die Mauer ber¨ uhrt! Die Barriere wurde schw¨acher! Der Turm war noch fest, aber schw¨acher wurde er doch. Sie mußte h¨oher hinauf. Meister Hu hatte gesagt, die schwarzen B¨ander w¨ urden von ihr selbst erzeugt. Sie wurden aus Selbstt¨auschung geformt, und je n¨aher sie der Essenz des Universums k¨ame, desto schwerer w¨oge die Falschheit, einfach weil ein Teil von ihr wisse, daß sie falsch seip m¨ usse. Konnte sie die B¨ander loswerden? Meister Hu hatte ihr versichert, das k¨onne sie, aber wiederholte Versuche waren fehlgeschlagen.
55 Um sich von den B¨andern zu befreien, h¨atte sie sich an die schmerzlichsten Zeiten ihres Lebens erinnern m¨ ussen. Nicht einfach erinnern, sondern sie und die Gef¨ uhle, die sie damals gehabt hatte, von neuem durchleben. Nur so h¨atte sie ihre Schuldgef¨ uhle u ¨berwinden k¨onnen. Da hatte sie den Tempel lieber verlassen, hatte das Studium der Magie aufgegeben und war eine einfache Heilerin geworden. Sie hatte die Welt durchstreift, bis sie eine Heimat in Herarilis fand, weit weg von jeder Erinnerung an die Vergangenheit. Jetzt war die Vergangenheit Germis´ einzige Hoffnung. Sherlin nahm die Lotushaltung ein und begann. Sie war acht Jahre alt und sah aufgeregt zu, wie Mutter ein Teetablett f¨ ur Vater und seinen wichtigen Gast hernchtete. Der Mandarin Ling-Po war der reichste und wichtigste Mann in der Stadt. Vater sollte eine Karawane f¨ uhren, die Ling-Po und dessen Geschenke f¨ ur den Kaiser eskortierte. Sherlin konnte es kaum erwarten, ihren besten Freundinnen davon zu erz¨ahlen! Sie ging langsam, balancierte das Tablett mit großer Sorgfalt und voller Stolz. Leise betrat sie das Zimmer. Dann geschah das Entsetzliche: Die gestikulierende Hand des Mandarins traf das Tablett. Heißer Tee ergoß sich u ¨ber sie und die. Robe des Gastes. Ungeschicktes M¨adchen!“ schimpfte ihr Vater und schlug ihr ins Gesicht. Heb die Schweinerei ” ” auf, und entferne deine elende Person!“ Verwirrt und zornig b¨ uckte Sherlin sich, um die Scherben der Teekanne aufzuheben. Geh, Kind!“ ” Von ihr unbemerkt war ihre Mutter eingetreten, ein Tuch in der Hand. Sherlin eilte in die K¨ uche. Erst dort ließ sie ihren stummen Tr¨anen freien Lauf. Nachdem ihre Mutter den M¨annern ein neues Tablett gebracht hatte und zur¨ uckgekehrt war, fragte Sherlin: Warum war es meine Schuld, daß die Kanne zerbrochen und der Tee versch¨ uttet wurde? ” Lord Ling-Po hat gegen das Tablett gestoßen.“ Ihre Mutter sch¨ uttelte traurig den Kopf. Kind, du mußt die schickliche Demut lernen. Wir leben ” unter Barbaren, aber zivilisierte Menschen in unserer Heimat im Osten machen es der Frau zur Pflicht, die Schuld auf sich zu nehmen. Wir m¨ ussen das Gesicht unserer V¨ater und Gatten wahren, wo immer es m¨oglich ist.“ Das interessiert mich nicht“, murmelte Sherlin vor sich hin. Es ist ungerecht. Ich hasse sie beide! ” ” Ich hoffe, ich werde sie niemals wiedersehen.“ Der Gedanke ging ihr an diesem Tag viele Male durch den Kopf. Ihr Vater verließ das Haus mit Ling-Po, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, und als er heimkam, schlief Sherlin schon. Als sie am n¨achsten Morgen erwachte, war die Karawane aufgebrochen. Drei Wochen sp¨ater kam ein Mann und verlangte Sherlins Mutter zu sprechen. Einige Zeit, nachdem er gegangen war, rief die Mutter sie vom Spielen herein. Das Gesicht ihrer Mutter war so gelassen wie immer, aber Sherlin merkte, daß etwas Schlimmes geschehen war.
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KAPITEL 5. DER TANZ DER HEILERIN
Sherlin, dein Vater ist tot. R¨auber haben ihn ermordet.“ Ihre Mutter hielt inne, um ihr zu erlauben, ” das Gesagte zu verstehen. Sherlins erster benommener Gedanke war: Ich werde ihn niemals wiedersehen. Niemals mehr w¨ urde sie zu ihrem Vater laufen und von ihm in die Arme genommen werden. Niemals mehr w¨ urde sie seine lustigen Geschichten von anderen Orten und seltsamen Dingen h¨oren. Kummer u ¨berw¨altigte sie. Dann kam der Gedanke: Vielleicht war es meine Schuld.“ ” ur eine so Ihre Mutter strich ihr u ¨ber das Haar. Dein Vater besaß nicht genug Yaks und Maultiere f¨ ” große Karawane wie die Ling-Pos, deshalb mietete er sich welche von Taj Singh. Dein Vater mußte Singh ein Papier geben, auf dem stand, wenn dein Vater die Tiere nicht zur¨ uckbringe, w¨ urden Singh unser Haus und unsere M¨obel geh¨oren. Die R¨auber hatten nichts zur¨ uckgelassen; jetzt geh¨ort alles Taj Singh. Wir m¨ ussen morgen fort.“ Sherlin wurde von echter Furcht gepackt. Wohin sollen wir gehen?“ fragte sie. ” Ich weiß es nicht“, antwortete ihre Mutter in stiller Verzweiflung. ” Am n¨achsten Morgen aßen Sherlin und ihre Mutter das bißchen an Nahrung, das im Haus war, nahmen ihre Kleider und gingen. Wohin gehen wir, Mutter?“ fragte das ver¨angstigte M¨adchen und ” versuchte, nach außen hin ruhig zu scheinen. Wir gehen zum TempeL“ Die rotger¨anderten Augen der Mutter straften das unbewegte Gesicht ” L¨ ugen. ”
Werden wir von nun an da wohnen?“
Nein.“ Sherlins Mutter blieb stehen und sah ihrer Tochter ins Gesicht. Ich kann mir durch keine ” ” andere Weise Geld verdienen, als indem ich koche, putze oder einem Mann gef¨allig bin. Das ist alles, was ich an F¨ahigkeiten besitze. Ich habe hier keine Freunde oder Verwandten, die mir helfen w¨ urden, eine Stellung als Dienerin zu finden; deshalb muß ich in ein... Freudenhaus gehen.“ Ein Ausdruck der Bitterkeit huschte bei dem letzten Wort u uge. ¨ber ihre gewohnheitsm¨aßig ruhigen Z¨ Sie fuhr fort: Ich kann dich nicht mit mir nehmen. So jung du noch bist — man w¨ urde in dir einen ” weiteren K¨orper zum Verkaufen sehen. Ich bringe dich in den Tempel, damit du dort zur Magierin oder Heilerin ausgebildet wirst und niemals diese Wahl treffen mußt.“ Sherlin verstand von dem, was ihre Mutter sagte, nur, daß sie zum Tempel gebracht und dortgelassen werden sollte. Sie war benommen, unf¨ahig zu verstehen, wie oder warum ihre Welt so pl¨otzlich zusammengebrochen war. Sie konnte an nichts anderes denken, als daß sie Spielgef¨ahrten sagen geh¨ort hatte, b¨ose Kinder bringe man in den Tempel und lasse sie dort. Sie mußte b¨ose gewesen sein. Sie hatte den Tod ihres Vaters verursacht, und jetzt verließ ihre Mutter sie. Sherlin holte erschauernd Atem. Tr¨anen str¨omten ihr u ¨bers Gesicht. Der Schmerz u ¨ber den Verlust ihres Vaters wurde aufgewogen von der neuen Einsicht, wie sehr ihre Mutter sie geliebt, wie gut sie
57 sie verstanden hatte. Sherlin h¨atte sich in einem Bordell niemals angepaßt. Sie blickte nach unten. Es war nur noch ein Kn¨ochelband u urzte sich Sherlin von neuem ¨brig. Ihre Atmung kontrollierend st¨ in die Vergangenheit. Hallo, Sherlin! Was studierst du so eifrig?“ Chieu-li kam in die Zelle. Als einzige andere Person ” aus dem Osten hatte sie Sherlin als ihre ¨altere Schwester adoptiert. Ihre strahlende Fr¨ohlichkeit hatte sie dem ernsteren, fleißigen M¨adchen teuer gemacht. Die Positionen fur den Tanz des Feuerrufens“, erkl¨arte Sherlin stolz und legte die Schnfirolle auf ” die Seite. Meister Hu sagt, jetzt, da ich die Elementargeister von Luft und Wasser gerufen habe, ” daif ich anfangen, Feuer zu studieren. Es ist einer der gef¨ahrlichsten T¨anze und ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, Meisterin zu werden.“ Dann ist es abgemacht? Du wirst zur Meisterin ausgebildet?“ Es lag ein neckender Ton in Chieu-lis ” Stimme. Ich glaube schon. Meister Hu sagt, vor mir liege noch viel Selbstpr¨ ufung, bevor ich voll qualifiziert ” bin, aber er meint, ich habe das Talent.“ Ein dunkler Kopf lugte um die T¨ ur. Sherlin, komm schnell! Auf der Krankenstation gibt es eine ” Steißgeburt, und da Yirna krank ist, ist keiner da, der das Baby drehen kann.“ Schon gut, Namling. Nur keine Panik. Ich bin in einer Minute dort.“ Sherlin rollte die Schriftrolle ” zusammen und legte sie auf ein Regal. Faß die Rolle nicht an“, sagte sie, sich zum Gehen wendend, ” und fuhr Chieu-li durch das seidige schwarze Haar. Und mach keinen Unsinn, kleiner Affe.“ ” Es war nicht nur eine Steißgeburt, sondern auch noch ein großes Kind. Sherlin und Namling arbeiteten die ganze Nacht, m¨ uhten sich ab, das Baby zu drehen und der Mutter ihre Aufgabe zu erleichtern. Schließlich kam das Kind unbeschadet zur Welt. Sherlin gl¨ uhte innerlich vor Gl¨ uck, als die Morgend¨ammerung den Weg zu ihrer Zelle erhellte. Sie trat ein und blieb wie angewurzelt stehen. Brandgeruch hing in der Luft, und ein kleiner schwarzer Klumpen lag mitten auf dem Fußboden. Ihr Blick wanderte hoch zu dem Tisch, auf dem eine lose Schriftrolle lag. Sie begann zu schreien, und alles ging ganz weit weg... Sherlin fand sich in ihrem eigenen K¨orper wieder, und von neuem flossen die Tr¨anen. Heftiges Schluclizen sch¨ uttelte sie. Diesmal gestattete sie sich, eine Weile zu weinen, bevor sie sich beruhigte. Es war nichts als richtig, daß sie Tr¨anen um die, die sie liebte, vergoß. Das hatte sie sich nie zuvor erlaubt. Jetzt erinnerte sie sich, was Meister Hu ihr gesagt hatte: Von den siebenundzwanzig Posen und neun ” Mustern beim Tanz des Feuerrufens sind nur zwei in der richtigen Reihenfolge eingenommene Posen
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KAPITEL 5. DER TANZ DER HEILERIN
notwendig, um den Elementargeist zu rufen. Alles u ¨brige dient der Kontrolle und Entlassung.“ Ja, sie war mitverantwortlich f¨ ur Chieu-lis Tod. Es war unachts¨am gewesen, die Rolle in ihrem Zimmer zur¨ uckzulassen. Aber es hatten sowohl Chieu-lis Ungehorsam als auch reines Ungl¨ uck dazukommen m¨ ussen, um die Trag¨odie zu vollenden. Sie stand auf, streckte sich und begann zu tanzen. Auf immer h¨ohere Ebenen erhob sie sich, bis ihre eigene Essenz mit der des Universums verschmolz. Von diesem Gesichtspunkt aus war der schwarze Turm kein unzerbrechlicher Monolith mehr, sondern ein Tunnel, der in sich selbst f¨ uhrte. Sherlin tanzte hinunter und konzentrierte sich auf die Innenseite der Verteidigungen. Als sie sich der materiellen Ebene n¨aherte, wurden ihre Bewegungen langsam und fließend, damit sie andere Verteidigungen, die der Zauberer aufgestellt haben mochte, nicht st¨orte. Sherlins astrales Ich erreichte die materielle Ebene, und sie sah, daß ihre Vorsicht unn¨otig gewesen war. Der Zauberer hatte den D¨amon bereits gerufen. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Wesen gerichtet, das in einem großen, mit Kreide gezogenen Pentagrarun festgehalten wurde. Der D¨amon nahm von Sherlins Ankunft mit einem schnellen, anerkennenden Blick Notiz, ließ sich aber sonst nichts anmerken. Cermis´ be´uußtloser K¨orper lag in einem zweiten Pentagramm auf der Seite. Sherlin ging zu ihr. Ich will volle f¨ unfzig Jahre“, feilschte der Zauberer. Schließlich ist sie nicht nur Jungfrau, sondern ” ” noch dazu ein Zauberlehrling.“ Das k¨ ummert mich nicht“, erwiderte der D¨amon. Ich habe die Zeit beinahe tausend Jahre lang ” ” von dir zur¨ uckgehalten. Ganz gleich, was man sich erz¨ahlt — es wird jedesmal schwieriger. Zehn Jahre ist alles, was ich fertigbringe.“ Jetzt hatte Sherlin es bis an diesen Ort geschafft, aber was sollte sie tun? W¨ahrend der Handel weiterging, sah sie sich um. Außerhalb der Pentagramme waren auf jeder zur Verf¨ ugung stehenden Fl¨ache Notizen und Schriftrollen ordentlich aufgestapelt. Es erinnerte sie an die Tempel-Bibliothek und an ihre letzten Unterrichtsstunden bei Meister Hu. Es w¨ urde gef¨ahrlich sein, Elementargeister in diesen Raum zu rufen, aber besser das, als zuzulassen, daß der Zauberer Cermis´ Seele verschacherte. Sherlin begann den Tanz des Wasserrufens. Als der Wasser-Elementargeist sich zu materialisieren begann, brach der Zauberer mitten im Satz ab und sah sich um. Na gut, zwanzig Jahre“, sagte er hastig. Irgendwer greift mich an, und ich ” ” habe keine Zeit, mich noch weiter mit dir zu streiten. Ich brauche schnell Macht.“ Er fing mit dem Ritual an, das den D¨amon an die Vereinbarung binden sollte. Sobald der Wassergeist vollst¨andig materialisiert war, h¨orte Sherlin mit dem Tanz auf und ließ ihn tun, was er wollte. Dann vollf¨ uhrte sie den Tanz des Luftrufens. Der Wassergeist bewegte sich durch den Raum, und um die Papiere und Pergamente bildeten sich Pf¨ utzen aus dunklem, tintigem Wasser. Der Zauberer hetzte durch seine Beschw¨orung, in der merkw¨ urdige Pausen entstanden, wenn er scharf auf das immer st¨arker durchweichte Manuskript in seiner Hand niederblickte.
59 Der Luftgeist begann sich zu materialisieren, erst als eine leichte Brise und dann als starker Wind. Die nassen Stapel kippten auf den Fußboden. Der Wassergeist wanderte an einem Kohlenbecken vorbei, das daraufhin dichten Rauch aussandte; der Luftgeist peitschte den Rauch um den belagerten Zauberer. Einer der nassen Stapel kippte u ¨ber eine Ecke des Pentagramms, das den D¨amon festhielt, und verschmierte die sorgf¨altig gezogene Linie. Mit einem schnellen Sprung u ¨berquerte der D¨amon das Pentagramm und packte den Zauberer. Dessen Schrei erstarb, als sich ihm Z¨ahne in die Kehle senkten. Sein dunkles Haar wurde weiß, und sein Fleisch verdorrte, w¨ahrend der D¨amon sein Blut trank. Wie toll sang der D¨amon: Am ” Ende f¨allt alles mir zu, o ja. Die M¨adchen und das Blut, das Blut, o ja, das Blut.“ Der Wind und das Wasser tobten weiter im Raum umher und schufen eine unheimliche Begleitung zum Lied des D¨amons. Sherlin erschauerte und gab sich M¨ uhe, nicht hinzusehen und nicht zuzuh¨oren. Der D¨amon war fertig und ließ den eingeschrumpfen K¨orper fallen, der beim Aufschlag zu Staub zerfiel und sich in den schwarzen Pf¨ utzen tintigen Wassers aufl¨oste. Mit einem bedauernden Blick auf das intakte Pentagramm und seinen Inhalt verschwand der D¨amon. In einer Woge der M¨ udigkeit sp¨ ulte Erleichterung u ¨ber Sherlin hin. Bed¨achtig tanzte sie die Entlassung f¨ ur beide Elementargeister. Dann kehrte sie in ihren K¨orper zur¨ uck. Mehrere Stunden der Unt¨atigkeit hatten ihn steif werden lassen. Langsam und unter Schmerzen schleppte Sherlin sich zu Cermis. Jetzt hielt keine schwarze kalte Wand sie auf. Die Verteidigungen des Zauberers waren mit seinem Tod verschwunden. Sherlin hielt Cermis Hirschhornsalz unter die Nase, und das M¨adchen erwachte. Los, komm, ich ” will nach Hause.“ Sherlins Stimme klang scharf vor Ersch¨opf¨ ung. Was ...? ” ” Das erkl¨are ich dir morgen. Laß uns im Augenblick nur nach Hause gehen.“ Als sie das Haus ” verließen, taumelte die Heilerin. Germis legte den Arm um sie. Morgen, dachte Sherlin, wollte sie allen berichten, was geschehen war. Es w¨ urde ein langer Brief an Meister Hu werden, aber ein notwendiger. Sie w¨ urde auch mit Cermis reden und entscheiden m¨ ussen, ob sie versuchen sollte, in den Tempel zur¨ uckzukehren. F¨ urs erste wollte sie zu Bett gehen. Der Nachthimmel zwinkerte zustimmend.
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KAPITEL 5. DER TANZ DER HEILERIN
Kapitel 6 Eine Nacht im Wirtshaus von Millea Kenin Etwa die H¨alfte der Geschichten, die ich erhalte, handelt von dem u ¨blichen Konflikt — zumindest in B¨anden wie diesem —, daß eine Frau entweder eine Schwertfrau oder eine Zauberin sein m¨ochte und Talent nur f¨ ur das jeweils andere hat. Solche Geschichten treffen so h¨aufig ein, daß sie, wie ich vermute, etwas sehr Wichtiges u ¨ber Frauen aussagen. Andernfalls bek¨ame ich vielleicht alle zwei Jahre eine statt ,anfzehn oder zwanzig in jedem Jahr. Millea Kenin, verheiratet mit einem Enterrainer, ist eine alte Freundin. Sie hat zwei Kinder, Rohana und Leon, die ungef¨ahr im Alter meiner eigenen j¨ ungeren beiden sind. (Es u ¨berrascht mich immer wieder, daß ihre Kinder — wie meine — erwachsen sind, aber ich glaube, das h¨ort niemals auf eine Mutter zu u ¨berraschen.)
Ich habe sagen geh¨ort, jede Gastwirtin in der Gegend von Aldery sei eine Schwertfrau´ die sich zur Ruhe gesetzt hat. Meine Mutter bildete gewiß keine Ausnahme. Seit sie die Wunde empfing, die sie hinken machte, war sie die Wirtin des Goldenen Hahns“ gewesen. (Grinst nicht. Ich sehe, ihr kennt ” die Geschichte. Die ganze Nachbarschaft kannte sie ebenfalls.) Das Bild auf dem Wirtshausschild zeigte einen Gockel und hatte schon jahrelang dort gehangen, bevor sie den Betrieb u ¨bernahm. Sie h¨atte den Namen gern ge¨andert, aber die Leute h¨atten noch mehr gelacht, wenn sie das ohne triftigen Grund getan h¨atte. Den bekam sie aber nicht — bis zu der Nacht, von der ich euch erz¨ahlen will. Meine Mutter wollte, ich solle auch den Beruf einer Schwertfrau ergreifen, und ließ mich das niemals vergessen. Im Lehrlingskorps von Lord Rakellys Leibgarde ist immer ein Platz f¨ ur meine Tochter, ” und meine alten Kameradinnen w¨ urden dich anst¨andig behandeln.“ Stirnrunzelnd betrachtete sie 61
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KAPITEL 6. EINE NACHT IM WIRTSHAUS
das offene Kontobuch, das vor ihr auf dem K¨ uchentisch lag, dann sah sie mich an und strich sich das Haar zur¨ uck. Aber du mußt bald anfangen, wenn du es u ¨berhaupt tun willst, Velle; du bist schon ” vierzehn.“ Wie du auf den Gedanken kommst, jemand, der jedesmal blutet, wenn er eine M¨ohre schrappt, ” w¨ urde auch nur eine einzige Schlacht u ¨berleben...“ Ich wickelte einen Lappen um meinen Finger. Nein, Mutter, ich will nicht. Moranne ist bereit, mich als Lehrling zu nehmen, das hat sie mir ” gesagt.“ Als ob ich das Lehrgeld bezahlen k¨onnte, das sie verlangt! Nein, Velle, in dieser Fanlille hat es bis ” heute keine Zauberer oder Zauberinnen gegeben, und ich w¨are gl¨ ucklicher, wenn es niemals welche geben w¨ urde. Oh, daß die s¨ ußen Br¨ uder dieses Kontobuch verdammen!“ Sie knallte das Buch zu, legte es auf ein Wandbrett und r¨ uhrte die Tagessuppe um. Sie war nicht in der Stimmung, Spott zu vertragen, aber ich fragte tollk¨ uhn: Und wie sieht es auf ” der Seite meines Vaters aus?“ Dein Vater war ein wandernder Musiker, wie ich dir bereits erz¨ahlt habe, und die Br¨ uder m¨ogen ” den Tag seguen, an dem er sich entschied, weiterzuwandern! Aber wenn du irgendwelche Zeichen musikalischer Begabung verraten h¨attest, h¨atte ich alles zusammengekratzt, um dir eine Ausbildung zu erm¨oglichen.“ Ich kann pfeifen . . ” Wage das bloß nicht! Wer weiß, was du herbeipfeifen k¨onntest.“ ” Moranne. Und sie k¨onnte mich unterrichten.“ ” Meine Mutter schnaubte. Eine Stunde lang redet sie zu dir u ¨ber Kr¨auter, und du glaubst, du weißt ” schon alles.“ Sie probierte die Suppe und r¨ umpfte die Nase. Du hast doch nicht schon wieder ” Zaubertr¨anke in der K¨ uche gekocht?“ Nein, Mutter. Nicht mehr, seitdem ich es dir versprochen habe.“ ” Und das ist gut. Was w¨ urde aus dem Dach u ¨ber unseren K¨opfen werden, wenn es sich herumspr¨ache, ” daß unsere G¨aste dazu neigen, am Tisch einzuschlafen oder Visionen zu haben — oder tot umzufallen?“ Die Sonne ging unter, und die Gaststube f¨ ullte sich. Die meisten G¨aste waren Einheimische, die auf ein Glas Bier und einen Plausch kamen, aber es waren auch ein paar Reisende da, die eine herzhafte Mahlzeit und ein Zimmer f¨ ur die Nacht brauchten. Kep, der ¨altere Hausknecht, f¨ uhrte ihre Pferde in den Stall, ich brachte ihnen Sch¨ usseln und Teller, und Mutter zapfte Bier und Ale aus den F¨assern und goß Wein ein. Pl¨otzlich wurde die T¨ ur so heftig aufgestoßen, daß der Rahmen barst. Einer nach dem anderen schoben sich drei ungeschlachte Kerle herein und rissen ihn weiter entzwei. Der letzte duckte sich nicht tief genug, stieß sich auch noch den Kopf am T¨ ursturz und fluchte.
63 Bring uns etwas zu trinken, M¨adchen!“ Die Stimme des ersten R¨ upels dr¨ohnte, daß das ganze ” Geschirr klirrte. Er donnerte mit der Faust so heftig auf die Theke, daß Splitter aus dem Hartholz flogen. Meine Mutter stellte ihnen drei große volle Kr¨ uge hin. Jeder leerte den seinen mit einem Zug und hielt ihn zum Nachf¨ ullen hin. Jetzt, da der erste Durst gestillt war, nahm der Anf¨ uhrer einen Schluck, spuckte ihn auf den Boden und warf den Krug hinterher. Habt ihr nichts Besseres als diese ” Ziegenpisse?“ r¨ohrte er. Einer seiner Gef¨ahrten probierte sein Bier, runzelte nachdenklich die Stirn und tat es dem ersten dann im Spucken und Hinterherwerfen des Kruges nach. Hundepisse, keine Ziegenpisse“, erM¨arte ” ¨ er nach heftigem Uberlegen. Der dritte hatte seinen zweiten Krug geleert, doch nun warf auch er ihn auf den Boden und br¨ ullte angewidert: H¨ uhnerpisse!“ ” H¨ uhnerpisse, du Arsch?“ schnaubte einer der anderen. ” Arschpisse!“ ” Derjenige, der geschnaubt hatte, schlug dem dritten auf den bereits wunden Kopf. Dieser wiederurn zielte einen wilden Schwinger nach seinem vormaligen Kameraden und fegte all unser kostbares Glas auf den Boden. Nach ihrer Gr¨oße, ihrer Gestalt und ihrem Geruch wie auch nach dem v¨olligen Fehlen von Anstand konnten diese drei nichts anderes als Riesenbergtrolle sein. Was sie in unserer Gegend taten, hatten sie nicht gesagt, und ich konnte es mir nicht vorstellen. Trolle — zumindest große — reisen f¨ ur gew¨ohnlich nur selten, weil sie jeden Tag zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang eine Stelle finden m¨ ussen, die ger¨aumig genug als Versteck ist. Wenn meine Mutter ihres Hinkens wegen auch keinen aktiven Dienst in der Garde mehr tun kann, ist sie doch sehr gut imstande, einer normalen Wirtshausschl¨agerei ein Ende zu bereiten. Mit drei Trollen h¨atte sie es auch in ihrer besten Zeit allein nicht aufnehmen k¨onnen, aber ich glaube, einen Augenblick lang h¨atte sie das beinahe vergessen. Sie sah zu ihrem Schwert hoch, das als Schmuck an der Wand hing – dann wandte sie den Blick schnell ab. Sicher hoffte sie, ebenso wie ich, die Trolle w¨ urden das Schwert nicht bemerken. Einer von ihnen h¨atte jemanden damit t¨oten k¨onnen, bevor er es zerbrach. Was die anderen G¨aste betraf, so war von ihnen keine Hilfe zu erwarten. Keiner von ihnen war bewafftiet, keiner sah wie ein K¨ainpfer aus, und inzwischen hatten sie sich alle in der Ecke zusammengedr¨ uckt, die von der Theke am weitesten entfernt war. Kep steckte den Kopf in die T¨ ur und zog sich lautlos in Richtung Stall zur¨ uck. Was sollen wir tun?“ murmelte meine Mutter und f¨ uhr sich mit den Fingern durchs Haar. Ich ” ” kann Kep schicken, die Wache von Rakellys Feste zu holen, aber wie schnell die Leute auch kommen,
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KAPITEL 6. EINE NACHT IM WIRTSHAUS
die Wirtschaft wird bis dahin in Tr¨ ummern liegen. Meine alten Kameradinnen wurden mir einen Gefallen tun, wenn sie k¨onnten, aber Lord Rakelly, der alte Geizhals, wird mir f¨ ur ihre Zeit einen Arm und ein Bein abfordern. Und sprich jetzt nicht von Moranne! Ihr Haus ist weiter entfernt als Rakellys Feste, und sie berechnet mehr!“ Ich erw¨ahnte Morannes Namen nicht, aber ich fing an zu u ¨berlegen, was sie ,in dieser Situation tun w¨ urde. Wahrscheinlich eins von tausend Dingen — aber da war eins, das ich auch fertigbrachte. Mach dir keine Sorgen, Mutter“, sagte ich. Ich werde schon damit fertig.“ ” ” Die Trolle hatten in ihrer Schl¨agerei lange genug Pause gemacht, um von neuem nach etwas Trinkbarem zu br¨ ullen ,md die Theke kaputtzuschlagen. Sag ihnen, ich sei gegangen, das Beste zu holen, das wir im Hause haben, und es gehe auf Ko” sten des Hauses“, grinste ich. Meine Mutter stieß einen sorgenvollen Seufzer aus und versuchte zur¨ uckzugrinsen. Ich weiß nicht, warum sie glaubte, ein Tr¨opfchen von einem meiner Zaubertr¨anke auf dem falschen L¨offel werde zwar ungeahnte Wirkungen zeitigen, aber ein ganzer Topf voll nicht gen¨ ugen, drei Trolle ruhig zu machen. Jedenfalls eilte ich in die K¨ uche. Ein paar Minuten sp¨ater kam ich zur¨ uck und gab mir M¨ uhe, so verf¨ uhrerisch dreinzublicken, wie es mir nur irgend m¨oglich war, w¨ahrend ich unter dem Gewicht unseres gr¨oßten Kessels schwankte, der als Punschbowle zweckentfremdet war. Ich stellte ihn auf einen Tisch und lud die Trolle ein, daran Platz zu nehmen. Der erste nahm einen Stuhl, der unter seinem Gewicht zusammenbrach. Eine Sekunde lang f¨ urchtete ¨ ich, er werde aus Arger dar¨ uber die Punschbowle umkippen, was alles verdorben h¨atte. (Ich hatte alles verbraucht, was ich von den speziellen Ingredienzen besaß, abgesehen von dem Jungfrauenblut — einem Tropfen aus einem Schnitt in meinen Finger —, aber auch davon wollte ich lieber nichts mehr zusetzen.) Der Troll erkannte, daß der Tisch die richtige H¨ohe hatte, wenn er auf dem Fußboden saß. So fegte er großm¨ utig die anderen beiden St¨ uhle aus dem Weg und befahl: M¨adchen, hol uns ” ein paar Kissen!“ Das tat ich und bediente sie mit einer ersten Runde von meinem speziellen Punsch. Nicht schlecht“, r¨aumte der Anf¨ uhrer ein und f¨ ullte seinen Krug von neuem. ” Nicht halbschlecht.“ Der zweite stieß ihn mit dem Ellenbogen aus dem Weg und platschte Punsch ” teils in, teils neben seinen Krug. Hoffentlich, dachte ich, versch¨ utten sie nicht so viel, daß die Dosis, die sie abbekonunen, keine Wirkung mehr hat. Elefantenpisse“, sagte der dritte, f¨ ullte sich jedoch ” ebenfalls nach. Einer der anderen hob die Faust, um ihn zu schlagen. Die Punschbowle wackelte, und die beiden u ¨brigen faßten zu und retteten sie. Die erhobene Faust hielt mitten in der Luft an und ¨offnete sich. Die Finger wackelten. Der Troll sah sie mit seinen Schielaugen an und begann zu kichern. Was ist so komisch an deinen Wurstfingern?“ knurrte der Anf¨ uhrer. ” Der schiel¨augige Troll lachte noch lauter. Du bist auch komisch“, erkl¨arte er. ” Mit den Augen eines Schweins betrachtet“, rumpelte der erste, doch dann brach auch er in Gel¨achter ” aus.
65 Schweinepisse“, sagte der dritte Troll, leerte seinen Krug aber wiederum. ” Mit deinen Augen“, sagte der erste Trotl, und jetzt br¨ ullten sie alle vor Lachen. H¨ore, M¨adchen“, ” ” wandte sich der Anf¨ uhrer an mich, gib davon unseren Freunden!“ Seine Handbewegung schloß die ” ganze in der Ecke zusammengedr¨ uckte Gesellschaft ein. Auf unsere Rechnung.“ Er wog einen Beutel ” mit Goldm¨ unzen in der Hand und fing an, sie in die Gegend zu werfen. Nicht von dem Spezialgetr¨ank des Hauses“, antwortete ich. Das ist alles, was ich davon habe, und ” ” es langt kaum f¨ ur euch drei große Menschen.“ Menschen? Wir sind Trolle — die h¨ochste Lebensform, M¨adchen, merk dir das! Aber gib unseren ” guten Freunden eine Runde Hundepisse oder was immer sie getrunken haben.“ Mutter und ich beeilten uns zu gehorchen. Dann vergewisserte ich mich, daß die L¨aden an allen nach Osten gehenden Fenstern zur¨ uckgeschlagen waren. Warum . . . oh“, sagte Mutter. Die Trolle ” widmeten den anderen G¨asten keine Aufmerksamkeit mehr und erz¨ahlten sich bl¨odsinnige Witze. Nach und nach schl¨ upften die Einheimischen leise aus dem gesplitterten Eingang. Meine Mutter brachte die Reisenden, die u ¨ber Naqht bleiben wollten, in ihre Zimmer hinauf. Ich blieb, um ein Auge auf die drei zu halten, aber notwendig w¨are es nicht gewesen. Klopf-klopf“, sagte einer. ” Wer . . . ¨ah, wer ist da?“ fragte der zweite langsam. ” Menschenpisse“, brummelte der dritte. ” Verpiß dich“, schimpfte der erste, du bringst mich ,raus. Ach ja . . . es ist . . . ¨ah, Ida. ” ” Klopf-klopf, wer ist da, Ida?“ Ida . . . wer?“ ” Ida . . . ¨ah, Ida weiß, wer.“ ” Ich aber nicht.“ ” Das ist. das ist die Antwort, Bl¨odmann. . . Ida. weiß... wer.“ ” Oh.“ Er dachte heftig nach und setzte hinzu: Ist noch . . ist noch etwas zu trinken da?“ ” ” Der Anf¨ uhrer hob bed¨achtig den ganzen Kessel hoch und kippte ihn, sodaß ihm der letzte Rest in den Mund lief. Dann ließ er den Kessel mit einem Krach fallen. Es war noch etwas da“, erkl¨arte ” er. Ich sollte . . . ich sollte dich . . . daf¨ ur verpr¨ ugeln.“ Laß sein. Warum . . . warum tut das ” ” Huhn?“ Warum tut das. . . a¨h. . . Huhn. . . was?“ ” Ich werde dir keine . . . a¨h, Hinweise geben!“ Ihr Lachen wurde nach und nach immer langsamer. ” Meine Mutter kam herunter, und wir setzten uns in eine Ecke, die Arme umeinander geschlungen. Uns beiden war nicht nach Schlafen oder Reden zumute. Stundenlang war kein anderes Ger¨ausch zu
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KAPITEL 6. EINE NACHT IM WIRTSHAUS
h¨oren als gelegentliche Ausbr¨ uche von langsamem, polterndem Lachen. Die Kerzen waren verl¨oscht, und das Feuer war heruntergebrannt. Aber die drei Wesen der Dunkelheit achteten nicht darauf. Weniger typisch war, daß sie ebensowenig darauf achteten, wie es allm¨ahlich heller wurde. Dann fiel der erste Sonnenstrahl ins Fenster. Die drei Riesen stießen einen einzigen gr¨aßlichen Schrei voller Qual aus – dann herrschte v¨ollige Stille. Das st¨arker werdende Licht zeigte sie bewegungslos und grau – drei h¨aßliche steinerne Statuen. Erz¨ahle mir nicht, was du in den Punsch getan hast, Velle“, sagte meine Mutter — und ich dachte ” gar nicht daran! Die Br¨ uder m¨ogen dich segnen, daß du auf diesen Gedanken gekommen bist. Es ” ist kein allzu großer Schaden angerichtet worden, und was die Steinbrucharbeiter daf¨ ur verlangen werden, sie zu zerschlagen und wegruschaffen, wird nicht ein Viertel soviel kosten, als wenn wir die Garde gerufen h¨atten.“ Außerdem haben wir das Gold der Trolle“, bemerkte ich. ” Ach ja? Du weißt nat¨ urlich, wie man es vom Fluch reinigen kann.“ ” Nein, aber Mor . . . Ich biß mir auf die Lippe. ” ” Meine Mutter grinste. Moranne weiß es. Dann kann sie es als Honorar daf¨ ur haben, daß sie mir ” dich abnimmt.“ So schickte sie Kep aus, Moranne zu bitten, sie m¨oge so schnell wie m¨oglich in das Wirtshaus kommen (all dieses Gold lag herum, das immer noch verflucht war). Ich bin mir nicht sicher, ob Kep einleuchtend erkl¨aren konnte, warum ihr sofortiges Erscheinen notwendig sei. Schließlich hatte er sich fast w¨ahrend des ganzen aufregenden Teils versteckt gehalten, und Mutter und ich hatten uns nicht die Zeit genommen, es ihm zu erkl¨aren. Jedenfalls, als Moranne hereinkam, wurde ihr blasses Gesicht noch blasser, und sie keuchte: Was ist denn hier passiert?“ ” Also erz¨ahlte ich ihr die ganze Geschichte und erwartete, den Kopf gestreichelt zu bekommen. Was ich bekam, glich eher einem schnellen Tritt in den Hintern. O nein! Nein, Jolynne, das kann ich nicht annehmen — das heißt, nichts bis auf die u ¨blichen zehn ” Prozent Entfluchungshonorar. Ich schulde es den Br¨ udern und meinem Gewissen, Velle auf meine eigenen Kosten zu unterrichten, bevor es zu sp¨at ist, falls es nicht bereits zu sp¨at ist.“ Meine Mutter blickte ebenso eingesch¨ uchtert und verwirrt drein, wie ich mich f¨ uhlte. Was meinst ” du mit ,zu sp¨at´?“ Nun, im Namen der s¨ ußen Br¨ uder, Jolynne, l¨aßt du deine menschlichen G¨aste umbringen, wenn sie ” sich nicht anst¨andig benehmen?“ Aber das waren Trolle!“ entfuhr es mir. ” Moranne sandte mir einen Blick zu, bei dem ich am liebsten im Fußboden versunken w¨are. Doch bevor ich auf einen Einfall kam, wie ich das bewerksterngen sollte — wer kam eilig durch die zerbrochene
67 T¨ ur herein? Niemand anders als der alte Lord Rakelly. Sein weißer Schnurrbart str¨aubte sich. Er hatte die letzten paar Worte mitbekommen. Ganz richtig!“ rief er. Der einzige gute Troll ist ein steinerner Troll, das sage ich immer. H¨orte von ” ” eurem kleinen Abenteuer hier, Jolynne, und fragte mich, was du mit diesen Burschen vorh¨attest.“ Er wies auf die drei großen sitzenden Steinfiguren. Ich werde sie wohl zu Schotter zerschlagen lassen“, seufzte meine Mutter und strich sich das Haar ” aus der Stirn. Nein, tu das nicht ich werde zwei von ihnen kaufen und sie zu beiden Seiten meines Tores aufstellen.“ ” Sofort besserte sich Mutters Stimmung, und sie begann zu feilschen. Aber ich horchte nicht auf die Einzelheiten, weil Moranne mich auf die Seite nahm und mir mit leiser Stimme eine Lektion erteilte, die sich mir seitdem nur allzu genau eingepr¨agt hat. Sie sagte, daß Trolle und Gnomen und Kobolde und so weiter schon hier in Mdery lebten, bevor wir Menschen kamen, und daß kleine Vorf¨alle wie dieser das Risiko eines Krieges zwl schen unseren Rassen erh¨ohten und. ... Aber das wollt ihr alles ja gar nicht wissen. Ihr wollt wissen, wie das jetzt mit dem Namen des Wirtshauses war? Ach ja, ich war gerade dabei, es zu erz¨ahlen. Mutter hat immer noch den gr¨oßten und h¨aßlichsten Troll im Hof, und er ist eine richtige Attraktion. Ich habe bei Moranne zuviel zu tun, als daß ich Mutter oft besuchen k¨onnte, aber beim letzten Mal stellte ich fest, daß Mutter das Wirtshausschild neu hat malen lassen. Es zeigt alle drei Trolle, und darunter steht: Die versteinerten Trolle“ ”
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KAPITEL 6. EINE NACHT IM WIRTSHAUS
Kapitel 7 Schlu ¨ ssel von Mercedes Lackey Misty Lackey schickte mir mit dieser Geschichte einen Begleitbrief, der (in roter Tinte) begann: Ich sagte, ich w¨ urde keine weitere Tarma-und-Kethry-Geschichten mehr f¨ ur Sword and Sorceress ” schreiben. Da habe ich gelogen.“ Wie kann man eine Geschichte danach noch ablehnen? Vor allem, wenn Tarma und Kethry seit ihrem ersten Aufireten hier die speziellen Favoriten der S&S-Leserschaft gewesen sind. Misty ist außerdem Autorin einer sehr guten Trilogie: ARROWS OF THE QUEEN, ARROW´S FLIGHT und ARROW´S FALL, ebenfalls bei DAW erschienen. Es geht darin um ein besonderes Elite-Korps von Boten. Mir zumindest hat es gefallen, und es ist nicht mehr einfach f¨ ur mich, etwas zu finden, das ich gern lese. Nicht gepaßt haben mir eigentlich nur die intelligenten Pferde. Im Widerspruch zu der Tradition neige ich dazu, Mißfallen an Pferdegeschichten zu finden, weil ich ein Farm-M¨adchen war und keine sentimentalen Gef¨ uhle f¨ ur Pferde kannte. F¨ ur mich waren Pferde nichts als große Tiere, die zuviel Heu fraßen (das ich heranschaffen mußte) und auch in anderer Beziehung zuviel Arbeit erforderten.
Sie stand ganz allein auf dem hohen, aus rohem gelbem Holz erbauten Ger¨ ust, bewegungslos wie eine Statue. Ungeachtet der Sommersonne, die den ganzen Tag erbarmungslos auf sie herabgesengt war, fror sie; sie fror unter dem Eishauch der Furcht. Begonnen hatte sie ihre Wache, als die Sonne in ihrem R¨ ucken aufging. Jetzt warf das letzte Licht einen roten Schein u ¨ber ihr weißes Gewand und ihr ebenso weißes Gesicht und verlieh ihren blassen Wangen falsche Farbe. Die, Luft war schwer und 69
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heiß und roch nach nichts als versengtem Gras und schwitzenden K¨orpern, aber trotzdem holte sie tief Atem. Bald jetzt, bald Bald w¨ urde das letzte Sonnenlicht sterben und sie mit ihm. Schon h¨orte sie das Keuchen der M¨anner, die o¨lgetr¨ankte Zweige und Reisigb¨ undel unter ihrer Plattform aufstapelten. Schon gab der Herold in seinem scheckigen Kleid dem gelangweilten, m¨ uden Trompeter in der gr¨ unen Livree ihres Gatten das Zeichen zum letzten Aufruf. F¨ ur sie war es die letzte Chance, Hilfe zu bekommen. Zum letzten Mal schmetterten die drei ansteigenden T¨one des Aufrufs u ¨ber die Menschenmenge unter ihr hin. Zum letzten Mal rief der Herold seine Worte auf ein Meer von mitleidigen oder sensationsl¨ usternen Gesichtern hinaus. Mle wußten, dies war das letzte Mal, der letzte farcenhafte Aufruf, und warteten auf den H¨ohepunkt der sinnlosen Warterei dieses Tages. Wisset alle, daß die Lady Myria der gemeinen und ungerechtfertigten Ermordung ihres Gatten ” Lord Corbie von Felwether angeklagt ist. Wisset, daß sie eine Entscheidung durch einen Zweikampf verlangt, wie es ihr Recht ist. Wisset, daß sie keinen Streiter f¨ ur ihre Sache nennt sondern auf die G¨otter vertraut, einen zu senden, der als Zeichen ihrer Unschuld in ihrem Namen k¨ampfen wird. Ist deshalb ein solcher hier, fordere ich ihn auf, vorzutreten und ihre Ehre zu verteidigen!“ Nicht einer sah zum Tor hin außer Myria. Sie mußte notgedrungen hinsehen, weil sie mit Hanfseilen, so dick wie ihr Daumen, auf der Plattform festgebunden war. Den ganzen Tag hatte sie jedesmal, wenn die Trompete ert¨onte, ihre Augen angestrengt auf diesen leeren Bogen gerichtet, aber kein Retter war erschienen. Und jetzt hatte sogar sie die Hoffnung verloren. Die Schwertfrau namens Tarma trieb ihr graues Shin´a´in-Streitroß noch einmal mit Hand und Stimme zur Eile an (nicht mit Sporen — niemals mit Sporen), als werde sie von den Schakalen der Dunkelheit verfolgt. Ihre langen ebenholzschwarzen Z¨opfe flatterten hinter ihr drein. Dicht genug hinter ihr, um einen von ihnen zu fassen, ritt ihre bernsteinhaarige Partnerin, die Zauberin Kethry. Kethrys Stute hielt sich eine knappe L¨ange hinter ihrer Herdenschwester. Kethrys Geas-Klinge, Not genannt, hatte sie heute morgen beinahe noch vor Sonnenaufgang geweckt und die Zauberin (und so auch ihre Bluteid-Schwester¿ den ganzen Tag in diese Richtung getrieben. Anfangs war es ein einfaches Ziehen gewesen, wie sie es schon oft erlebt hatten. Kethry und Tarma wußten beide aus Erfahrmg, daß Kethry, wenn Not einmal rief, keine Wahl blieb, ob sie dem Ruf folgen wollte oder nicht. Deshalb hatten sie ihr Lager abgebrochen und sich auf den Weg zur Quelle gemacht. Im Lauf der Stunden war der Ruf dringender geworden, bis er am Nachmittag bei Kethry heftige mentale Schmerzen hervorrief. Sie hatten Tarmas Gesellschaftstier Warrl auf sein Reisekissen gesetzt und ihre Pferde erst in schnellem Schritt, dann im Trab und dann, kurz vor Sonnenuntergang, in vollem Galopp laufen lassen. Kethry war durch die Qual, die sie auszuhalten hatte, beinahe blind. In einem solchen Fall mußten sie Not gehorchen; Kethrys Seele war an das Schwert gebunden — es verlieh ihr u urliches Geschick im Kampf, es hatte bei beiden Wunden geheilt, die sie andernfalls ¨bernat¨ wahrscheinlich nicht u ur diese Gaben war ein Preis zu zahlen. Kethry (und ¨berlebt h¨atten—, aber f¨
71 deshalb auch Tarma) war verpflichtet, jeder Frau zu helfen, die innerhalb der Sp¨ urweite des Schwertes in Gefahr war. Und es hatte den Anschein, als sei eine solche Frau jetzt in großer Gefahr. So, wie das Schwert Kethry vorantrieb, in Lebensgefahr. Auf der Straße, der sie folgten, ragte vor ihnen ein ummauertes Dorf auf, Bestandteil einer Ritterburg, wie es in dieser Gegend h¨aufig vorkam. Die Tore standen offen, die Felder ringsumher waren leer von Arbeitern. Das war sehr seltsam. Es war Hochsommer, und es h¨atten Leute auf den Feldern sein m¨ ussen, die Unkraut j¨ateten und die Bew¨asserungsgr¨aben warteten. Sonst gab es kein Zeichen, daß etwas nicht stimmte. Aber als sie sich dem Tor n¨aherten, erkannten sie, wer die Frau war, die sie sachten. Eine junge dunkelhaarige Frau war hoch genug, daß man sie durch das offene Tor sehen konnte, auf einem Ger¨ ust angebunden. Sie war in Weiß gekleidet, beinahe wie ein Opfer. Die letzten roten Stahlen der untergehenden Sonne ber¨ uhrten sie — und ebenso das aufgeh¨aufte Holz unter der Plattform, auf der sie stand. Es sah aus, als brenne ihr Scheiterhaufen bereits. Um die lehmverputzten Mauein des Turmes und auf dem Platz innerhalb des Tores dr¨angten sich Menschen aller Klassen und St¨ande, stnm, wartend. Tarma gab keinen Pfifferling um das, worauf sie warteten, obwohl man ziemlich sicher sein konnte, sie warteten, um die Frau brennen zu sehen, nicht aus Mitgef¨ uhl. Noch einmal schmeichelte Tarma ihrer m¨ uden Stute einen Galopp ab. Ein St¨ uck vor Kethry passierte sie das Tor und hielt dich vor der Plattform an. Ihre Stute H¨ollentod in einem engen Kreis herumlenkend, zog sie das Schwert und placierte sich zwischen die Frau auf dem Ger¨ ust und den M¨annern mit den Fackeln, die den Scheiterhaufen anz¨ unden wollten. Sie war sich bewußt, einen imposanten Anblick zu bieten, auch wenn sie mit Schweiß und Straßenstaub bedeckt war: ein Habichtsgesicht, einsch¨ uchternd, eisblaue Augen, herausfordernd flammend. Ihre Kleidung war offensichtlich die einer S¨oldnerin: einfache braune Ledersachen und Schuppenpanzer. Ihr Schwert reflektierte das sterbende Sonnenlicht, so daß es aussah, als halte sie eine lodernde Flamme in der Hand. Sie sprach kein Wort; ihre Haltung sagte alles f¨ ur sie. Nichtsdestotrotz trat einer der M¨anner vor, eine Fackel in der Hand. Das w¨ urde ich nicht tun“, sagte Kethry hinter ihin. Der Torbogen bildete einen Rahmen um sie; ” ihr Umriß hob sich vor dem feurigen Himmel ab; ihr Reittier stand wie ein Fels, ihre H¨ande gl¨ uhten vor magischer Energie. Wenn Ihr nicht von Tarmas Klinge fallt, dann von meiner.“ ” Frieden.“ Ein m¨ uder, grauhaariger Mann in einer einfachen, staubig-schwarzen Robe l¨oste sich aus ” der Menge, breitete beschwichtigend die Arme aus und winkte den Fackeltr¨ager zur¨ uck. Ilvan, geh ” wieder an deinen Platz! Fremde, was bringt Euch gerade zu dieser Zeit hierher?“ Kethry hob die Hand. Ein d¨ unner Strahl schoß aus ihrem Finger und ber¨ uhrte die Stricke, die die Gefangene auf der Plattform fesselten. Sie l¨osten sich und fielen ab, glitten an ihrem K¨orper
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herunter und blieben zu ihren F¨ ußen liegen. Die Frau schwankte und w¨are beinahe gefallen. Im letzten Augenblick faßte sie mit einer Hand den Pfahl, an dem sie festgebunden gewesen war. Ein kleiner Teil der Menschenmenge — zumeist Frauen — trat vor, wie um zu helfen, wich jedoch wieder zur¨ uck, als Tarma sich ihnen zudrehte. Ich weiß nicht, welches Verbrechens ihr diese Frau anklagt, aber sie ist unschuldig“, sagte Kethry ” zu dem grauhaarigen Mann, die Anwesenheit aller anderen iguorierend. Das ist der Grund, der uns ” herf¨ uhrt.“ Ein gemeinsamer Seufzer stieg bei diesen Worten von der Menge auf. Tarma sah wachsam von einer Seite zur anderen, aber es schien eher ein Seufzer der Erleichterung als der Erregung zu sein. Sie hatte ihr Schwert so fest in der Hand, daß die Kn¨ochel weiß hervortraten. Jetzt lockerte sie den Griff ein klein wenig. Lady Myria ist angeklagt, ihren Lord get¨otet zu haben“, erkl¨arte der Mann in der Robe ruhig. Sie ” ” berief sich auf das alte Recht, einen Streiter zu ihrer Verteidigung aufzurufen, als die Beweise gegen sie u ur ¨berw¨altigend wurden. Ich, der ich Priester von Felwether bin, frage euch: Fremde, wollt ihr f¨ die Lady in den Kampf ziehen, um ihre Unschuld zu beweisen?“ Kethry setzte zu einer zustimmenden Antwort an, aber der Priester sch¨ uttelte den Kopf. Nein, Ma” gierin. Ein altes Gesetz verbannt Euch aus dem Feld. Bei einer Entscheidung durch einen Zweikampf d¨ urfen weder Zauberei noch Zauberwaffen, die Ihr, wie ich sehe, tragt, benutzt werden.“ Dann . . ” Er m¨ochte wissen, ob ich k¨ampfen werde, she´enedra“, schnarrte Tarma. Mit teuflischem Vergn¨ ugen ” sah sie den Priester beim Klang ihrer harten Stimme zusammenzucken. Ich kenne eure Gesetze, ” Priester, ich bin schon einmal diesen Weg gekommen. Jetzt frage ich Euch: Wenn meine Partnerin Euch durch ihre Kunst die Unschuld der Lady beweisen kann, werdet Ihr sie dann freilassen und den Kampf abbrechen, ganz gleich, wie weit es dabei gekommen ist?“ Das gelobe ich bei den Namen und den M¨achten.“ Der Priester nickte beinahe eifrig. ” Dann werde ich f¨ ur diese Lady k¨ampfen.“ ” Etwa die H¨alfte der Zuschauer st¨ urmte jubelnd vor. Drei ¨altere Frauen schoben sich an Tarma vorbei, um die Frau, die kaum noch bei Bewußtsein war, in den Turm zur¨ uckzutragen. Die u ¨brigen zogen mit Ausnahme des Priesters langsam und widerstrebend ab, wobei sie nachdenkliche und abw¨agende Blicke auf Tarma warfen. Ein paar sahen aus, als seien sie ihr wohlgesonnen — die meisten nicht. Was ...“ ” Was hatte das alles zu bedeuten?“ hatte Tarma fragen wollen, doch soweit kam sie nicht, denn der ” Priester stellte sich zwischen die Partnerinnen.
73 Verzeiht, Magierin, aber von diesem Augenblick an d¨ urft Ihr mit der Streiterin nicht mehr sprechen. ” Jede Botschaft, die Ihr f¨ ur sie habt, m¨ ußt Ihr durch mich ausrichten lassen . . O nein, noch nicht, Priester.“ Tarma lenkte H¨ollentod vorw¨arts an seiner ausgestreckten Hand ” vorbei. Ich sagte doch, ich kenne Eure Gesetze. Der Bann beginnt bei Sonnenuntergang. Gr¨ unauge, ” paß auf, ich muß schnell sprechen. Du wirst ausfindig machen, wer der wirkliche Schuldige ist. Ich werde mein Bestes tun, dir Zeit zu verschaffen. In dieser Sache heißt es Kampf bis zum Tod f¨ ur den Verteidiger — ich brauche meine Geguer nur zu besiegen, aber sie m¨ ussen mich t¨oten. Und je l¨anger du brauchst, desto wahrscheinlicher wird das.“ Tarma, du bist besser als jeder einzelne hier!“ ” Aber nicht besser als zwanzig — oder dreißig.“ Tarma l¨achelte sarkastisch. Die Spielregeln, ” ” she´enedra, gehen dahin, daß ich k¨ampfe, bis niemand mehr bereit ist, gegen mich anzutreten. Fr¨ uher oder sp¨ater werde ich ersch¨opft sein und zu Boden gehen.“ Was?“ ” Still, ich wußte, in was ich mich einließ. Du bist in deinem Handwerk so gut wie ich in meinem — ” ich wollte dich nur ein bißchen anfeuern. Nimm Warrl mit.“ Das große wolfsartige Tier, das sich mit den einziehbaren Klauen auf seinem Kissen hinter Tarma festgehalten hatte, sprang herunter. Er ” mag dir von einigem Nutzen sein. Tu dein Bestes, veshta´cha, von dir h¨angen zwei Leben ab...“ Wieder unterbrach der Priester sie. Sonnenuntergang, Streiterin“, stellte er entschieden fest und ” legte die Hand auf Tarmas Z¨ ugel. Tarma neigte den Kopf und erlaubte ihm, sie und ihr Pferd wegzuf¨ uhren. Kethry sah ihnen sprachlos nach. Gut, fangen wir ganz beim Anfang an.“ ” Kethry befand sich in Lady Myrias Frauengemach, einem weichen und farbenpr¨achtigen Eckchen einer ansonsten trostlosen Feste. Fenster gab es nicht. Kein Luftzug bewegte die leuchtenden Wandbeh¨ange oder ließ die Flammen der Bienenwachskerzen flackern. Die W¨ande waren aus verputztem dickem Stein, warm im Winter, k¨ uhl im Sommer. Dicke Federkissen bedeckten die M¨obel aus hellgelbem Holz. In einer Ecke stand eine Wiege, bewacht von der in Gr¨ ubeleien versunkenen Lady selbst. Es duftete angenehm nach Kr¨autern und Blumen. Kethry fragte sich, wie ein so verh¨atscheltes Wesen sich in eine solche Klemme hatte bringen k¨onnen. Es war vor zwei Tagen. Ich wollte mich am Nachmittag hier hinlegen. Ich war — m¨ ude. Ich werde ” seit Syrtins Geburt schnell m¨ ude. Ich schlief ein.“ Aus der N¨ahe betrachtet erwies sich die Lady um mehrere Jahre j¨ unger als Kethry; sie konnte kaum a¨lter als f¨ unfzehn sein. Ihr dunkles Haar war glatt und glanzlos, ihre Haut blaß. Kethry sah es mit Stirnrunzeln und machte mit einer Geste und zwei gefl¨ usterten Worten einen kleinen Zauber,
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w¨ahrend Myria sprach. Das Wesen der a¨therischen Ebene, das sich einverstanden erkl¨art hatte, ihnen als Pfadfinder zu dienen, war noch bei ihr — es w¨are ein bei weitem wilderer Ritt n¨otig gewesen, als sie ihn gemacht hatten, um es zu verlieren. Die Antwort auf ihre Frage kam schnell. Eine d¨ unne Stimme wisperte sie ihr ins Ohr. Kethry verzog zornig das Gesicht. Bei den Augen der lieben Frau, Kind, ich wundere mich gar ” nicht, daß Ihr schnell m¨ ude werdet. Ihr seid immer noch zerrissen von der Geburt! Was f¨ ur einen kl¨aglichen Ersatz f¨ ur einen Heiler habt ihr hier u ¨brigens?“ Wir haben u ¨berhaupt keinen Heiler, Lady.“ Eine der drei ¨alteren Frauen, die Myria in den Turm ” zur¨ uckgetragen hatten, erhob sich von ihrem Platz hinter Kethry und stellte sich in herausfordernder Haltung zwischen sie. Sie hatte ein freundliches, aber vergr¨amtes Gesicht; ihr grau und braunes Kleid war aus gutem Stoff, aber altmodisch im Schnitt. Kethry vermutete, daß sie Myrias Gesellschafterin war, vielleicht eine ¨altere Verwandte. Der Heiler starb, bevor mein T¨aubchen ins Kindbett kam, ” und ihr Lord hielt es nicht f¨ ur n¨otig, ihn zu ersetzen. Wir h¨atten keine Verwendung f¨ ur einen Heiler, so behauptete er, da er keine große Zahl von Kriegern halte, und das Geb¨aren sei ein v¨ollig normaler Vorgang, der die teuren Dienste eines Heilers gewiß nicht erfordere.“ Katran, bitte . . ” Das ist nichts als die Wahrheit! Er hatte mehr f¨ ur seine Pferde u ur dich! Als der Hufschmied ¨brig als f¨ ” wegging, wurde er schnell genug ersetzt!“ Seine Pferde waren von gr¨oßerem Nutzen f¨ ur ihn“, sagte das M¨adchen bitter. Dann biß sie sich auf ” die Lippe. Da, seht Ihr wohl, das hat mich in diese Lage gebracht — eine unvorsichtige Bemerkung ” zuviel ist an die falschen Ohren gekommen.“ Kethry nickte. Sie mochte das M¨adchen; das Kind war nicht die verh¨atschelte Sch¨one, f¨ ur die sie es anfangs gehalten hatte. Keine Fenster in dieser Kammer, nur der eine Eingang — das sah eher nach einer Zelle als nach einem Frauengemach aus, schoß es ihr durch den Kopf. Mit einer unbewußten Bewegung strich sie ihr braunes Gewand glatt und zog das Schwert. Lady, was . . . Katran erschrak u ¨ber die Geste. ” ” Frieden, ich habe nichts B¨oses im Sinn. Hier.“ Kethry beugte sich u ¨ber Myria und legte die Klinge ” in die H¨ande des u berraschten M¨ a dchens. Haltet das eine Weile.“ ¨ ” Myria nahm das Schwert mit aufgerissenen Augen. Ein Ausdruck der Verwirrung brachte ein bißchen mehr Leben in ihr Gesicht. Aber . . ” Frauenmagie, Kind. Wenn auch die Klinge im allgemeinen eine Waffe des Mannes ist, Not hier ist ” stark in weiblichen Zauberk¨ unsten. Sie dient nur Frauen, und es war ihre Kraft, die mich herrief, Euch zu helfen. Wenn Ihr sie eine Stunde lang haltet, wird sie Euch heilen. Nun erz¨ahlt weiter. Ihr schlieft ein.“
75 Myria nahm die Klinge vorsichtig, dann legte sie sich das Schwert u ¨ber die Knie und holte tief Atem. Ein Ger¨ausch, als falle etwas, weckte mich, glaube ich. Ihr seht, daß dieser Raum mit der kammer ” meines Lords in Verbindung steht. Es gibt nur einen Weg hinein und hinaus, und der f¨ uhrt durch seine Kammer. Ich sah eine Kerze brennen, deshalb stand ich auf, um nachzusehen, ob er etwas brauche. Er — er war u ¨ber seinem Schreibtisch zusammengebrochen. Ich dachte, vielleicht sei er eingeschlafen.“ Du dachtest, er sei betrunken, wolltest du sagen“, warf die ¨altere Frau sarkastisch ein. ” Kommt es darauf an, was ich dachte? Was ich sah, war nichts Außergew¨ohnliches, weil er immer ” dunkle Farben trug. Ich wollte ihn sch¨ utteln — und hatte die Hand voll Blut!“ Und dann schrie sie s¨amtliche Hausbewohner zusammen“, erg¨anzte Katran. ” Und als wir kamen, mußte sie uns die T¨ ur aufschließen“, sagte die zweite Frau, die bis jetzt ge” schwiegen hatte. Beide T¨ uren in jenem Raum waren verschlossen — die zum Flur mit dem Schl¨ ussel ” des Lords´ die zum Zimmer des Seneschalls von der anderen Seite. Und der blutige Dolch, mit dem er erstochen worden war, lag unter ihrem Bett.“ Wem geh¨orte er?“ ” Mir nat¨ urlich“, antwortete Myria. Und ehe Ihr fragt — es gab nur einen einzigen Schl¨ ussel f¨ ur die ” ” T¨ ur zum Flur. Sie konnte nur mit dem Schl¨ ussel ge¨offnet werden, und der Schl¨ ussel lag unter seiner Hand. Es ist ein verzaubertes Schloß. Selbst wenn man einen Zweitschl¨ ussel machen w¨ urde, k¨onnte dieser die T¨ ur niemals aufschließen.“ Warrl?“ Das große Tier erhob sich aus dem Schatten, in dem es gelegen hatte, und trottete zu ” Kethry. Myria und ihre Frauen wichen bei seinem Anblick ein bißchen zur¨ uck. Es mag notwendig sein, daß ich meine Kr¨afte spare. Du kannst entdecken, an welchen Stellen ich ” einen Zauber brauchen werde. Sieh bitte nach, ob magische R¨ uckst¨ande auf dem Riegel an der anderen T¨ ur sind. Dann u ufe, ob an der Verzauberung des Schlosses herumgepf¨ uscht worden ¨berpr¨ ist.“ Das dunkelgraue, fast schwarze Tier trabte auf lautlosen Pfoten aus dem Zimmer. Myria erschauerte. Ich begreife, daß die Beweise gegen Euch u ¨berw¨altigend sind, auch ohne an die falschen Ohren ” gelangte Bemerkungen.“ Ich hatte bei dieser Heirat keine Wahl“, erwiderte Myria und schob das Kinn trotzig vor, aber ich ” ” bin meinem Lord eine treue und loyale Frau gewesen.“ Loyaler, als er es verdiente, wenn du mich fragst“, brummte Katran. Ja, das ist das Problem, ” ” Magierin. Meine Lady ist diese Ehe widerstrebend eingegangen, und das ist allgemein bekannt. Es ist allgemein bekannt, daß er ihr nicht viel Achtung erwies. Und nicht wenige Leute haben gesagt, ihrer Meinung nach wolle Myria selbst die Herrschaft f¨ uhren, wenn der Lerd nicht mehr sei.
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Warrl kam ins Zimmer zur¨ uckgetappt und ließ sich zu Kethrys F¨ ußen nieder. Nun, Pelzbruder?“ ” Er sch¨ uttelte verneinend den Kopf, und die Frauen machten bei diesem Beweis menschen¨ahnlicher Intelligenz große Augen. Weder der Riegel noch das Schloß? Und wie kommt man ohne Schl¨ ussel in einen verschlossenen ” Raum? Immerhin — Lady, ist in dem anderen Raum alles geblieben, wie es war?“ Ja — der Priester war als einer der ersten an der T¨ ur und ließ nicht zu, daß auch nur ein ” Staubk¨ornchen ver¨andert wurde. Er erlaubte nur, daß die Leiche weggebracht wurde.“ Der G¨ottin sei gedankt!“ Kethry sah das M¨adchen neugierig an. Lady, warum wolltet Ihr Eure ” ” Unschuld auf diesem Weg beweisen?“ Magierin. ...“ Kethry wunderte sich u ¨ber den Ausdruck von Schuldbewußtsein und Kummer, der ” sich auf dem Gesicht des Kindes malte. Wenn ich gewußt h¨atte, Fremde w¨ urden sich in diesem ” Netz verfangen, h¨atte ich es nicht getan. Ich dachte, meine Verwandten w¨ urden kommen, mich zu verteidigen. Ich bin diese Ehe eingegangen, weil es ihr Wille war. Ich dachte, wenigstens einer von ihnen w¨ urde es zumindest versuchen. Niemand hier w¨ urde es wagen, den Zorn der Familie auf sich zu laden, indem er einen der S¨ohne t¨otete — auch wenn die meisten von ihnen die Tochter f¨ ur wertlos halten.“ Langsam rollte ihr eine Tr¨ane u usterte die letzten Worte. Mein ¨ber die Wange, und sie fl¨ ” j¨ ungster Bruder, ich glaubte, wenigstens er habe mich gern.“ Der Zauber, den Kethry in Gang gesetzt hatte, war noch wirksam. Sie fl¨ usterte der kleinen LuftWesenheit, die sie gerufen hatte, eine weitere Frage zu. Diesmal brachte die Antwort sie zum L¨achein, obwohl es ein trauriges L¨acheln war. Euer j¨ ungster Bruder, Kind, ist zu Fuß hierher unterwegs, nachdem er sein Pferd in dem Bestreben, ” Euch rechtzeitig zu erreichen, zuschanden geritten hat, und verpestet die Luft mit seinen Fl¨ uchen.“ Myria stieß einen kleinen Schrei aus und begrub das Gesicht in den H¨anden. Ihre Schultern zuckten in lautlosem Schluchzen. Katran ging zu ihr, um sie zu tr¨osten. Kethry stand auf und ging in das andere Zimmer. Nots Zauber war von der Art, daß das M¨adchen das Schwert halten w¨ urde, bis sie seine Kraft nicht mehr brauchte; es w¨ urde nichts tun, um Kethrys magische F¨ahigkeiten zu verst¨arken; deshalb war es da, wo es sich befand, gut aufgehoben. Im Augenblick war ein Geheimnis zu l¨osen — und zwei Leben hingen davon ab, ob es Kethry gelang, sich die Sache zusammenzureimen. Sie sah sich den ¨außeren Raum an. Wie mochte es Tarma ergehen? Tarma saß still neben dem Fenster einer kleinen, kahlen Zelle mit Steinw¨anden. In wenigen Augenblicken w¨ urde das Licht des aufgehenden Mondes hereinfallen — erst durch das o¨stliche Fenster, ¨ dann durch das Oberlicht. Vorerst war das einzige Licht im Raum das der Offiamme, die auf dem
77 niedrigen Tisch vor ihr brannte. Es lag noch etwas anderes auf diesem Tisch — die langen, groben Z¨opfe aus Tarmas Haar. Sie hatte sich das Haar auf Schulterl¨ange abgeschnitten und dann ein schwarzseidenes Stiruband umgebunden, um es zur¨ uckzuhalten. Das war die letzte Vervollst¨andigung des Kost¨ ums, das sie angelegt hatte, als kleide sie sich f¨ ur eine Zeremonie. Die Sachen waren lange nicht mehr ber¨ uhrt worden und hatten sorgf¨altig gefaltet unten in ihrem Packen gelegen. Sie waren schwarz; von den niedrigen weichen Stiefeln bis zu dem Kettenhemd, von dem Stiruband bis zur Kniehose zeigten sie das vollst¨andige Schwarz einer Shin´a´in-Schwertschwester, die in einen rituellen Kampf zieht oder dem Ruf der Blutrache folgt. Jetzt saß sie mit untergeschlagenen Beinen vor dem improvisierten Altar und wartete geduldig ab, ob sie auf ihre Vorbereitungen eine Antwort erhielt. Der Mond ging hinter ihr auf. Das Viereck matten weißen Lichtes kroch langsam die nackte Steinwand ihr gegen¨ uber hinunter, bis es zuletzt die Flamme auf dem Altar ber¨ uhrte. Und ohne Ank¨ undigung, ohne Fanfarengeschmetter war Sie da, stand zwischen Tarma und dem Altarplatz. Shin´a´in nach ihrer goldenen Haut und ihren scharfen Z¨ ugen, genauso gekleidet wie Tarma — nur Ihre Augen verrieten Sie als nicht menschlich. Diese Augen — die gestirnte Dunkelheit des HinimeIs um Mitternacht, ohne Weiß, Iris oder Pupille — konnte nur einem Wesen geh¨oren, der Shin´a´in-G¨ottin des S¨ udwlndes, bekannt als die Sternen¨augige oder die Kriegerin. Kind.“ Ihre Stimme Mang ebenso melodisch, wie die Tarmas hart klang. ” Lady.“ Tarma beugte ehrerbietig den Kopf. ” Du hast Fragen, Kind? Keine Bitten?“ ” Keine Bitten, Sternen¨augige. Mein Schicksal — interessiert mich nicht. Meine eigenen F¨ahigkeiten ” werden entscheiden, ob ich leben oder sterben werde. Aber Kethrys Los...“ Die Zukunft ist nicht leicht zu erkennen, Kind, nicht einmal f¨ ur eine G¨ottin. Der morgige Tag kann ” dir Leben oder Tod bringen; beides ist gleich wahrscheinlich.“ Tarma seufzte. Und was wird aus meiner sh´enedra werden, sollte es der zweite Weg sein?“ ” Die Kriegerin l¨achelte, und Tarma empfand ihr L¨acheln wie eine Liebkosung. Du bist deiner Klinge ” w¨ urdig, Kind. Dann h¨ore. Wenn du morgen f¨allst, wird deine sh´enedra — sie hat weniger Bedenken als du und h¨atte es bereits getan, h¨attest du dich nicht zu diesem Kampf verpflichtet — einen Zauber wirken, der sie und Lady Myria an einen Ort meilenweit von hier entfernt versetzt. W¨ahrenddessen wird Warrl H¨ollentod und Eisenherz losmachen und aus dem Tor treiben. Wenn sich Kethry von diesem Zauber erholt hat, werden sie zu unserem Volk gehen, zu den Liha´irden. Lady Myria wird dort einen Mann finden, der ihr gef¨allt. Dann werden sie mit Waisen von anderen Claus fortziehen, und Tale-sedrin wird wieder u ¨ber die Ebene reiten, wie Kethry es dir versprochen hat. Die Klinge wird sie freigeben und in andere H¨ande u ¨bergehen.“
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Tarm¨a seufzte und nickte. Dann, Lady, bin ich zufrieden, wie es morgen f¨ ur mich auch ausgehen ” mag. Ich danke dir.“ Wieder l¨achelte die Kriegerin. Zwischen dem einen Herzschlag und dem n¨achsten war sie verschwunden. Tarma ließ die Flamme niederbrennen, legte sich auf den Strohsack und schlief ein. Schlaf war das letzte, an das Kethry dachte. Der Raum, der Lord Corbie geh¨ort hatte, besaß einfache Steinw¨ande, drei Eing¨ange, keine Fenster. An einem der Eing¨ange lag immer noch der Riegel vor der T¨ ur. Die beiden anderen f¨ uhrten in Myrias Frauengemach und in den Flur draußen. In dem einfachen Holzf¨ ußboden gab es keine Geheimt¨ uren. In den nackten Steinw¨anden konnten sich nat¨ urlich auch keine befinden; auf der anderen Seite lag der Hof. Die M¨obel waren ein Tisch, ein Sessel, eine an der Wand stehende reichverzierte Bettstatt, ein B¨ ucherschrank, haibgef¨ ullt, vier Lampen. Ein paar bunte Teppiche. Kethry war, als sei ihr Kopf so leer wie die W¨ande. Fang am Anfang an“, sagte sie zu sich selbst. Folge den Ereignissen. Das M¨adchen kam allein — ” ” der Mann folgte, nachdem sie eingeschlafen war — und dann was?“ Er wurde an seinem Schreibtisch gefunden, erklang eine Stimme in ihrem Kopf und erschreckte sie. Wahrscheinlich ist er hereingekommen und hat sich ohne Verzug hingesetzt. Liegt etwas auf dem Schreibtisch, womit er sich besch¨aftigt haben k¨onnte? Immer, wenn Warrl von Geist zu Geist mit ihr sprach, u ¨berraschte er sie. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie er es fertigbrachte´ sich verst¨andlich zu machen, wenn sie doch keine Spur dieser besonderen G¨abe besaß. Tarma akzeptierte das blind; wie sie sich je daran gew¨ohnt hatte, war der Zauberin unverst¨andlich. Tarma — die Zeit entfloh. Auf dem Schreibtisch waren ein Weinglas mit einem klebrigen Rest am Boden, ein Tintenfaß mit Feder und ein Stapel aus mehreren Kontob¨ uchern zu sehen. Die beiden oberen waren in Unordnung geraten. Kethry nahm sie in die Hand und bl¨atterte die letzten paar Seiten durch. Sie fl¨ usterte der unsichtbaren Pr¨asenz an ihrer Schulter einen Befehl zu. Die Antwort kam prompt; in beiden B¨ uchern war die Tinte auf den letzten drei Seiten frisch genug, um noch D¨ampfe abzugeben, die ein Wesen der Luft wahrnehmen konnte. Die Zahlen waren erst vor zwei Tagen geschrieben worden. Kethry ging ein paar Seiten zur¨ uck und bemerkte, daß die Handschrift von Zeit zu Zeit wechselte. Wer hat außer Eurem Lerd sonst noch die Konten gef¨ uhrt?“ rief sie ins Nebenzimmer. ” Der Seneschall; darum hat sein Zimmer einen Eingang in dieses“, antwortete Katran und trat in ” das Zimmer des Lords. Ich kann mir nicht vorstellen, warum die T¨ ur verriegelt war. Lerd Corbie ” hat das so gut wie nie getan.“
79 Damit hat er eine Menge Vertrauen in einen Mietling gesetzt ...“ ” Oh, der Seneschall ist kein Mietling, er ist Lord Corbies Bastard-Bruder. Seit Lord Corbie Felwether ” erbte, ist er seine rechte Hand gewesen.“ Die Sonne ging auf. Tarma war lange vorher erwacht. Falls der Priester sich dar¨ uber wunderte, daß sie andere Kleidung angelegt hatte, zeigte er es nicht. Er brachte eine einfache Mahlzeit aus Brot und K¨ase und mit Wasser gemischten Wein mit, wartete geduldig, w¨ahrend Tarma aß und trank, und winkte ihr dann, ihm zu folgen. Tarma u ufte ihre Waffen, vergewisserte sich, daß s¨amtliche Verschl¨ usse an ihrer Kleidung in ¨berpr¨ Ordnung waren, und trat hinter ihm auf den Platz, so lautlos wie sein Schatten. ¨ Er f¨ uhrte sie zu einem kleinen Zelt, das in einer Ecke des Ubungsplatzes aufgeschlagen worden war. Die Mauern des Turmes bildeten zwei seiner Seiten, die Außenmauer die dritte, die vierte Seite war ¨ offen. Der Ubungsplatz bestand aus festgestampftem Lehm und war relativ sauber. Ein Platzwart besprengte ihn mit Wasser, damit der Staub sich setzte. Als sie vor dem kleinen Pavillon standen, sprach der Priester endlich. Der erste Herausforderer wird innerhalb weniger Minuten hier sein. Zwischen den K¨ampfen k¨onnt ” Ihr Euch in das Zelt zur¨ uckziehen und Euch so lange ausruhen, bis der n¨achste sich fertig gemacht hat, oder f¨ ur eine Kerzenmarke, was jeweils l¨anger ist. Man wird Euch zu Mittag und wieder bei Sonnenuntergang Essen bringen.“ Sein Gesicht verriet deutlich, daß sie das letztere seiner Meinung nach nicht mehr brauchen w¨ urde. Und frisches Wasser steht Euch innerhalb des Zeltes jederzeit zur ” Verf¨ ugung. Ich bleibe bei Euch.“ Nun bat sein Ausdruck um Entschuldigung. Um meine Partnerin daran zu hindern, mir irgendwelche magische Hilfe zuzuspielen?“ fragte Tarma ” sarkastisch. H¨ollenfeuer, Priester, Ihr wißt doch, was ich bin, auch wenn diese Dreckbuddler es nicht ” wissen!“ Ich weiß es, Schwertschwester. Es dient ebenso Eurem Schutz. Hier gibt es solche, die keine ” Bedenken h¨atten, die Hand der G¨otter ein wenig zu lenken.“ Tarmas Augen wurden hart. Priester, ich werde verschonen, wen ich kann, aber es ist nur fair, Euch ” zu sagen, daß, sollte ich jemanden bei einem hinterlistigen Trick erwischen, ich ihn ohne Z¨ogern t¨oten werde.“ Ich verlange nicht von Euch, anders zu handeln.“ ” Sie sah ihn von der Seite an. Hier geht mehr vor, als man auf den ersten Blick sieht, nicht wahr?“ ” Er sch¨ uttelte den Kopf und bedeutete ihr, sich neben die Zeltklappe auf den Platz des Streiters f¨ ur ¨ die Angeklagte zu setzen. Auf der anderen Seite des Ubungsplatzes herrschte gesch¨aftiges Treiben.
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¨ KAPITEL 7. SCHLUSSEL
Ein dunkler Mann mit dichtem Bart, gefolgt von mehreren Jungen, die Waffen und R¨ ustung trugen, verschwand dr¨ uben sofort wieder in einem genau gleichen Zelt. Allm¨ahlich versammelten sich Zuschauer entlang der offenen Seite und den Mauerkronen. Leider kann ich Euch dazu nichts sagen, Schwertschwester. Ich habe rnir meine Gedanken gemacht, ” mehr nicht. Aber ich bete, Eure kleine Partnerin m¨oge kl¨ uger sein als ich. . Oder ich werde heute abend kaltes Fleisch sein“, beendete Tarma den Satz f¨ ur ihn. Ihr erster ” Gegner trat aus dem Pavillon des Herausforderers. Kethry war nicht m¨ ußig gewesen. Der klebrige Stoff im Weinglas war nicht nur der Rest eines Getr¨anks gewesen, er hatte ein starkes Bet¨aubungsmittel enthalten. Ungl¨ ucklicherweise deutete auch das wieder auf Myria; sie benutzte seit der Geburt ihres Sohnes ein solches Mittel, um einschlafen zu k¨onnen. Trotzdem — so schwer ¨ konnte es nicht sein, sich das Zeug zu verschaffen, und Kethry hatte noch eine Trumpfkarte im Armel — eine, von der ein gew¨ohnlicher Magier nichts gewußt h¨atte, eine, die sie benutzen w¨ urde, falls es ihr gelang, die zweite Flasche mit dem Narkotik¨ um zu finden. Ermutigender war, was sie bei der Durchsicht der Kontob¨ ucher entdeckt hatte: Der Seneschall hatte Eink¨ unfte f¨ ur sich abgezweigt, nie viel auf einmal, aber fortlaufend. Mittlerweile mußte es sich zu einer h¨ ubschen Summe addieren. Wenn er nun den Verdacht gehabt hatte, Lord Gorbie werde ihn dabei erwischen? Und weiter — wenn Lady Myria tats¨achlich f¨ ur schuldig befunden und hingerichtet werden w¨ urde? Der Besitz fiel dann an ihren kleinen Sohn, und wer kam eher als Vormund des Kindes in Frage als sein Halbonkel, der Seneschall? Und Kinder sterben leicht. Jetzt hatte Kethry einen wahrscheinlichen Verd¨achtigen und fand, es sei an der Zeit, Nachforschungen in dieser Richtung zu betreiben. Als erstes untersuchte sie die verriegelte T¨ ur. Und auf dem Riegel fand sie einen seltsamen kleinen Kratzer im Anstrich. Er sah neu aus; ihr Luftgeist best¨atigte das. Nachdem Kethry sich den Riegel noch sorgf¨altiger angesehen hatte, hob sie ihn, fand jedoch keine anderen Male daran als die abgenutzten Stellen, wo er gegen die Klammern stieß, die ihn hielten. Sie ¨offnete die T¨ ur und pr¨ ufte jeden Zoll von T¨ ur und Rahmen. Und fand ziemlich weit obeij ein einziges St¨ uckchen Hanf. Es sah aus, als habe sich ein Bindfaden im Holz der T¨ ur verfangen. Eine weitere Untersuchung der T¨ ur ergab nichts. Deshalb wandte Kethrv ihre Aufmerksamkeit dem dahinterliegenden Raum zu.
81 Er sah in vielen St¨ ucken aus wie der des Lords, nur enthielt er mehr B¨ ucher und eine weniger auff¨allige Bettstatt. Sie rief Warrl herein und hieß ihn nach Spuren von Magie schn¨ uffeln. Bei diesem Trank war ein bißchen Zauberei n¨otig, um ihm volle Wirksamkeit zu verleihen, und wenn irgendwo eine zweite Flasche herumiag, w¨ urde Warrl sie finden. Sie selbst nalun sich den Schreibtisch vor. Tarmas erster Gegner war gut gewesen und hatte ehrlich gek¨ampft. Es erf¨ ullte Tarma mit großer Erleichterung — besonders nachdem sie eine angstvoll dreinblickende Frau mit drei kleinen Kindern am Rock gesehen hatte, die jede seiner Bewegungen mit den Augen verfolgte —, daß es ihr gelang, ihn zu entwaffnen, ohne ihn ernsthaft zu verwunden. Der zweite war nichts weiter als ein Junge gewesen; er hatte hier eigentlich u ¨berhaupt nichts zu suchen. Tarma vermutete mit Recht, er sei dazu u ¨berredet worden, nur damit ein weiterer K¨ampfer in der Reihe sie m¨ ude mache. Statt sich irgendwie anzustrengen, t¨andelte sie herum, bis er ersch¨opft war. Dann gab sie ihm mit dem Heft ihres Messers einen kleinen Klaps auf den Sch¨adel, daß er sich flach auf den R¨ ucken legte und Sterne sah. Der dritte Gegner war von ganz anderem Format. Er war schlank und geschmeidig, und f¨ ur Tarma roch er so deutlich nach Meuchelm¨order“, als habe sie Warrls gute Nase. Als der Kampf begann, ” best¨atigten seine ersten Bewegungen ihre Vermutung. Sein Stil bestand aus lauter Finten und schnellen Angriffen, ohne daß er jemals zu nahe an sie herankam. Das war ein echtes Problem. Behauptete sie ihren Platz, war sie leichter von dem vergifteten Pfeil oder einem anderen Trick, den er an seinem ¨ K¨orper verbarg, zu treffen. Doch wenn sie sich von ihm u ¨ber den ganzen blutgetr¨ankten Ubungsplatz treiben ließ, w¨ urde er sie m¨ ude machen. So oder so mußte sie verlieren. Nat¨ urlich konnte es ihr gelingen, ihn zu u ¨berlisten. Bisher hatte sie einen rein defensiven Kampf geliefert, ihm ebenso wie ihren ersten beiden Gegnern. Ergriff sie die Offensive, wenn er es am wenigsten erwartete, erwischte sie ihn vielleicht auf dem falschen Fuß. Sie ließ es zu, daß er begann, sie zu jagen, und erkannte sofort, daß er versuchte, sie zum Umdrehen zu zwingen, damit ihr die Sonne in die Augen schien. Sie knurrte innerlich. Sollte er ruhig glauben, daß es ihm gelingen w¨ urde, und dann w¨ urde sich u ¨berraschend das Blatt wenden. Sie griff ihn mit beiden Waffen in einer Bewegungsfolge an, die sie in die Zeit auf der Ebene und zu ihrem ersten Lehrer zur¨ uckf¨ uhrte, einem alten Mann, von dem sie nicht im Traum geglaubt h¨atte, er k¨onne sich so schnell bewegen, wie er es tats¨achlich tat. Sie hatte die Bewegungsfolge nicht damals gelernt, sondern erst, als der alte Mann und ihr Clan vier Jahre tot waren und sie seit beinahe drei Jahren als Kethrys Partnerin durchs Land zog. Sie hatte sie von einer Schwertschwester gelernt, einer, die schon hundert Jahre vor Tarmas Geburt gestorben war.
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¨ KAPITEL 7. SCHLUSSEL
Der Angriff warf ihren Gegner aus dem Gleichgewicht. Er strampelte verzweifelt r¨ uckw¨arts, um den schimmernden Kreisen aus Stahl, dem gr¨oßeren und dem kleineren, die ihr Schwert und ihr Dolch waren, zu entrinnen. Und als er aufh¨orte zu rennen, fand er sich mit dem Gesicht zur Sonne wieder. Tarma sah ihn eine leichte Bewegung mit der linken Hand machen. Als er mit seinem Schwert einen ¨ Uber-und-unter-Hieb vollf¨ uhrte, schenkte sie seiner Schwerthand nur geringe Aufmerksamkeit. Auf die Linke paßte sie auf. Unter der Deckung seines Scheinangriffs stieß er mit der behandschuhten Linken nach Tarmas Oberarm. Sie entging einem Treffer gerade noch rechtzeitig – sp¨ater brach ihr bei diesem Gedanken der Schweiß aus – und schlug mit einer Drehbewegung zu, die ihm die Hand vom Gelenk trennte. W¨ahrend er den Stumpf, aus dem das Blut sprudelte, noch im Schock anstarrte, zog sie ihre Klinge im Bogen zur¨ uck und schlug ihm auch den Kopf ab. Die Zuschauer standen bewegungslos, still vor Schreck. Tarmas bisherige Leistungen hatten sie auf dieses blitzschnelle Abschlachten nicht vorbereitet. Tarma schritt w¨ahrenddessen zu der Stelle, wo die behandschuhte Hand lag, und hob sie mit ¨außerster Vorsicht auf. In die Spitzen der Finger eingebettet waren vier t¨odliche kleine Nadeln, die durch leichten Druck auf die Mitte der Handfl¨ache zur¨ uckgezogen oder losgelassen werden konnten. Zweifellos waren sie vergiftet. Tarma gedachte, dies zu ihren Gunsten auszunutzen. Sie marschierte zum Pavillon des Herausforderers, wo sich weitere Kandidaten versammelt hatten, und warf ihnen die Hand vor die F¨ uße. Die Tricks von Meuchelm¨ordern, edle Lords?“ Die Worte trieften vor Verachtung. Versteht man in ” ” Felwether das unter Ehre? Lieber k¨ampfe ich gegen Schakale — sie sind wenigstens ehrlich in ihrer Heimt¨ ucke! Setzt ihr kein Vertrauen in die Urteilsf¨ahigkeit der G¨otter — und in ihre Streiterin?“ Das mußte ein bißchen Zweifel bei den Ehrlichen unter ihnen erwecken — und ein bißchen Furcht in den Herzen der anderen. Steifbeinig stolzierte Tarma zu ihrem eigenen Pavillon zur¨ uck. Drinnen warf sie sich auf die Liege und hoffte, wieder zu Atem zu kommen, bevor die da draußen neuen Mut faßten. Ganz hinten in einer der Schubladen fand Kethry ein sehr seltsames Ger¨at. Es war eine Schlinge aus einem haufenen Bindfaden, eigentlich aus zwei Bindf¨aden, an deren Ende ein schwerer Angelhaken ohne Widerhaken von der Art angebracht war, wie sie Hochseefischer bei der Jagd auf Haie und den großen Seelachs benutzen. Aber die K¨ uste lag Wochen von hier entfernt. Was in aller Welt konnte der Seneschall mit einem so merkw¨ urdigen Souvenir vorgehabt haben? In diesem Augenblick bellte Warrl scharf. Kethry drehte sich um und sah seinen Schwanz unter der Bettstatt hervorragen. Unter den Brettern hier ist ein Geheimfach, teilte er ihr eifrig mit. Ich rieche Gold und Magie — und frisches Blut.
83 Kethry versuchte, das Bett zur Seite zu r¨ ucken, aber es war bei weitem zu schwer, worauf der Seneschall sich wahrscheinlich verließ. So quetschte sie sich neben Warrl, der au der fremdartig riechenden Stelle des Holzfußbodens scharrte. Sie nieste mehrmals von dem Staub unter dem Bett. Dann tastete sie die Bretter ab — vorsichtig, denn es konnte eine Falle sein. Sie fand den Haken, und ein ganzer Abschnitt des Fußbodens hob sich. Und darinnen. Gold, ja, sorgf¨altig unten hineingepackt — aber obenauf eine blutbefleckte wattierte Jacke und eine leere Flasche. Jetzt mußte sie nur noch dahmterkommen, wie er ohne den passenden Schl¨ ussel in einen verschlossenen Raum gelangt war. Da war kein Hinweis, kein Bodensatz irgendeiner Art von Magie. Und kein Schl¨ ussel f¨ ur die T¨ ur, vor der der Riegel lag. Wie gelangt man in einen verschlossenen Raum? Man geht hinein, bevor er verschlossen wird, sagte Warrl in ihren Gedanken. Und pl¨otzlich erkannte sie, welchem Zweck der Angelhaken diente. Kethry wand sich unter dem Bett hervor. Das Geheimfach ließ sie unber¨ uhrt. Katran!“ rief sie. Einen Augenblick sp¨ater erschien Myrias Gesellschafterin und blickte ganz ver” dutzt, als sie die mit Staub bedeckte Zauberin neben dem Bett des Seneschalls sah. Holt den Priester“, sagte Kethry zu ihr, bevor sie Gelegenheit fand, eine Frage zu stellen. Ich ” ” weiß, wer der M¨order ist — und ich weiß, wie und warum er es gemacht hat!“ Tarma stand ihrem ersten ernstzunehmenden Gegner des Tages gegen¨ uber — einem mageren, finsteren Burschen, der Zwillingsschwerter benutzte, als seien sie Verl¨angerungen seiner Arme. Er war ebenso flink auf den F¨ ußen wie sie — und er war frischer. Der Priester war kurz vor Beginn dieses Ganges verschwunden, und Tarma hoffte inbr¨ unstig, dies bedeute, Kethry habe etwas gefunden. Andernfalls war dieser Kampf wahrscheinlich ihr letzter. Der G¨ottin sei Dank, daß der hier ein ehrenhafter Krieger war; wenn sie unterlag, w¨ urde sie einem ¨ Gegner unterliegen, der Achtung verdiente. Ubrigens h¨atte sie sich auch in diesem Fall gar nicht schlecht gehalten. Nicht einmal unter den Schwertschwestern konnten sich viele r¨ uhmen, an einem einzigen Vormittag zw¨olf Gegner geschlagen zu haben. Sie tat ihr Bestes, um das Seitenstechen zu ignorieren, und sie atmete hart und keuchend. Die Sonne war eine Strafe f¨ ur jemanden, der von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war; Schweiß rieselte ihren R¨ ucken und ihre Flanken hinunter. Sie tanzte zur Seite, einem blitzschnellen Schwerthieb aus dem Weg, und erkannte, daß sie ihm genau in die zweite Klinge lief. Verdammt!
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¨ KAPITEL 7. SCHLUSSEL
In der letzten Sekunde gelang es ihr, sich fallen zu lassen und wegrurollen, doch ah sie aufsprang, war er praktisch wieder u ¨ber ihr. Sie sank auf ein Knie nieder und fing seine erste Klinge zwischen Dolch und Schwert ein — aber die zweite fuhr auf sie zu... Halt!“ ” Und Wunder der Wunder: Die Klinge hielt ein paar Zoll vor ihrem ungesch¨ utzten Hals an. Der Priester schritt mit wehender Robe auf das Feld. Die Zauberin hat den wahren M¨order unseres ” Lerds gef¨ unden und das zu meiner Zufriedenheit bewiesen“, verk¨ undete er der wartenden Menge. Sie ” w¨ unscht, es auch euch zu beweisen.“ Dann begann er, die Namen interessierter Parteien aufzurufen. Tarma sank in den Staub, schlapp vor Erleichterung und kurz davor, aus Ersch¨opf¨ ung das Bewußtsein zu verlieren. Schwertschwester, soll ich jemanden rufen, der Euch in Euren Pavillon bringt?“ Der Priester beugte ” sich besorgt u ¨ber sie. Tarma fand noch ein winziges bißchen unerwarteter Kraft. Um nichts in der Welt, Priester. Ich m¨ochte das auch sehen!“ ” Es befanden sich vielleicht ein Dutzend Adlige in der Gruppe, die der Priester in das Schlafzimmer des Lords f¨ uhrte. An ihrer Spitze ging der Seneschall, und der Priester behandelte ihn mit besonderer Aufinerksamkeit. Tarma war zu m¨ ude, als daß es ihr aufgefallen w¨are; sie sparte ihr bißchen Energie, um in das Zimmer zu gelangen und sich drinnen gegen die Wand zu lehnen. Sicher werdet ihr mir verzeihen, wenn ich ein bißchen dramatisch bin, aber ihr solltet alle genau ” sehen, wie diese Tat begangen wurde.“ Kethry stand hinter dem Schreibtischsessel, und in diesem Sessel saß eine ¨altere Frau in Braun und Grau. Katran hat sich freundlicherweise bereit erkl¨art, die ” Rolle Lord Corbies zu spielen. Ich bin der M¨order. Der Lord ist soeben in diesen Raum gekommen. Die Lady befindet sich im Nebenzimmer. Sie hat ein Schlafmittel genommen, um ihre Schmerzen zu lindern, und der gewohnte Klang seiner Schritte kann sie nicht wecken.“ Kethry hielt ein Weinglas hoch. Etwas von dem gleichen Schlafmittel wurde in den Wein gemischt, ” der in diesem Glas war, aber es kam nicht aus der Flasche, die Lady Myria benutzte. Hier ist Myrias Flasche.“ Sie stellte das Weinglas auf den Schreibtisch, und Myria kam mit einer Flasche und stellte sie daneben. Hier“, Kethry brachte eine zweite Flasche zum Vorschein, ist die Flasche, die ich ” ” gefunden habe. Der Priester weiß, wo, und kann die Tatsache verb¨ urgen, daß sie, bis er kam, von keiner Hand als der ihres Eigent¨ umers ber¨ uhrt wurde.“ Der Priester nickte. Tarma bemerkte, daß der Seneschall zu schwitzen begann. Der Zauber, den ich jetzt bewirken werde, wird das Weinglas und die Flasche, die das Gift enthielt, ” das hineingegossen wurde, ergl¨ uhen lassen. Euer Priester, der selbst kein geringer Kenner der Magie ist, wird es euch best¨atigen.“
85 Kethry st¨aubte etwas u uhten ¨ber das Glas und die beiden Flaschen. Vor den Augen der Zuschauer ergl¨ der Bodensatz im Glas und der Rest des Tranks in Kethrys Flasche in einem merkw¨ urdigen gr¨ unlichen Licht. Tarma h¨orte einen der Adligen mit ged¨ampfter Stimme fragen: Ist das ein echter Zauber, Priester?“ ” Der Priester nickte. So echt, wie ich je einen gesehen habe.“ ” Hm“, machte der Mann nachdenklich. ” So — Lord Corbie ist gerade hereingekommen. Er arbeitet an den Kontob¨ uchern. Ich gebe ihm ein ” Glas Wein.“ Kethry reichte Katran das Glas. Er nimmt es dankbar. Er denkt sich nichts B¨oses bei ” dieser ihm erwiesenen H¨oflichkeit; ich bin ein alter Freund, der sein Vertrauen genießt. Er trinkt — ich verlasse das Zimmer — er schl¨aft ein.“ Katran ließ den Kopf auf die Arme sinken. Ich nehme den Schl¨ ussel unter seiner Hand weg und verschließe leise die T¨ ur zum Flur. Ich lege ” den Schl¨ ussel zur¨ uck. Ich weiß, der Lord wird sich nicht bewegen, nicht einmal aufschreien, denn der Schlaftrunk ist stark. Ich ergreife Lady Myrias Dolch, den ich zuvor an mich genommen habe — ich ersteche ihn.“ Kethry spielte den M¨order; Katran r¨ uhrte sich nicht, doch Tarma konnte sehen, daß sie sardonisch l¨achelte. Ich nehme den Dolch und schiebe ihn unter Lady Myrias Bett — und ich ” weiß, daß auch sie wegen des Schlaftrunks nicht erwachen wird.“ Kethry ging in Mvrias Kammer und kehrte mit leeren H¨anden zur¨ uck. Ich habe nicht aufgepaßt — habe etwas Blut auf meine Jacke bekommen. Aber was soll´s? Ich ” ¨ werde sie zusammen mit der Flasche verstecken. Ubrigens, der Priester hat diese blutige Jacke, und er weiß, daß erst seine H¨ande sie aus dem Versteck genommen haben — ebenso wie die Flasche. Jetzt kommt der wichtige Teil . . Sie zog einen riesigen Angelhaken aus ihrer G¨ urteltasche. Der Priester weiß, wo ich das hier gef¨ unden habe — seid versichert, daß es nicht in Myrias Besitz war. ” Oben auf dieser T¨ ur hat sich an einer rauhen Stelle des Holzes eine Hanffaser von diesem Bindfaden verfangen. Ich werde sie holen. Dann werde ich einen weiteren Zauber bewirken — und wenn die Faser von diesem Bindfaden stammt, wird sie an die Stelle zur¨ uckkehren, von der sie gekommen ist.“ Sie ging an die T¨ ur, zupfte eine Faser ab und brachte sie zum Schreibtisch. Wieder st¨aubte sie etwas u ¨ber den Bindfaden an dem Haken und die Faser — diesmal sang sie außerdem dabei. Ein goldener Schein wanderte an ihren H¨anden herunter und ber¨ uhrte erst den Bindfaden, dann die Faser. Und das winzige St¨ uckchen schoß wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil auf den Bindfaden zu. Jetzt werdet ihr den Schl¨ ussel sehen, mit dem man einen verschlossenen Raum betreten kann — ” jetzt, da ich bewiesen habe, daß dies der Mechanismus ist, mit dem der Trick bewerkstelligt wurde.“
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Sie trat an die T¨ ur zum Zimmer des Seneschalis. Sie trieb den Haken unter dem Riegel in die T¨ ur und senkte den Riegel, so daß er nur noch von dem Haken festgehalten wurde. Der Haken wiederum wurde von dem Bindfaden gehalten, der u ur lief. Den zweiten Bindfaden f¨adelte Kethry ¨ber die T¨ unter der T¨ ur her. Dann schloß sie die T¨ ur. Der zweite Bindfaden ruckte, der Haken l¨oste sich, und der Riegel rastete ein. Und die ganze Vorrichtung wurde von dem ersten Bindfaden nach oben und durch die Ritze u ur gezogen. ¨ber der T¨ Aller Augen wandten sich dem Seneschall zu — dessen weißes Gesicht als Gest¨andnis gen¨ ugte. Lady Myria hat sich wirklich als sehr dankbar erwiesen.“ ” Ohne deinen Einspruch h¨atte sie uns alles gegeben, was der Seneschall gestohlen hatte“, erwiderte ” Kethry und winkte den fernen Gestalten auf der Burgmauer zu. Ich bin froh, daß du es ihr ausgeredet ” hast.“ Gr¨ unauge, was sie uns gegeben hat, war reichlich. Wir m¨ ussen einen Gutteil davon der Bank in ” Liha´irden schicken, daß sie es mit den u umern des Clans aufbewahrt. Mir ist gar ¨brigen Besitzt¨ nicht wohl zumute, wenn ich mit soviel Geld in den Satteltaschen unterwegs bin.“ Wird sie zurechtkommen? Was meinst du?“ ” Ich meine, jetzt, da ihr Bruder hier ist, braucht sie sich um nichts mehr Sorgen zu machen. Sie ” hat die ganze Loyalit¨at der Leute ihres Lords zur¨ uckgewonnen, und mehr. Sie hatte nur noch einen starken rechten Arm n¨otig, um alle unwillkommenen Freier abzuwehren, und den hat sie nun! Auf meinen Eid als Kriegerin — ich bin froh, daß dieses Ungeheuer nicht einer der Herausforderer war. Ich h¨atte nicht einmal die erste Runde u ¨berstanden!“ Tarma. . ” Die Schwertfrau hob bei Kethrys ungewohnt ernstem Ton eine Augenbraue. Wenn du — wenn du das alles getan hast, weil du glaubst, du schuldest mir . . ” Ich habe ,das alles´ getan, weil wir she´enedran sind“, antwortete Tarma, und ein leichtes L¨acheln ” milderte den normalerweise strengen Ausdruck ihres Gesichts. Einen anderen Grund brauchte es ” nicht.“ Aber . . ” Kein ,Aber´, Gr¨ unauge! Außerdem weiß ich zuf¨allig, du h¨attest alles, was ich h¨atte tun k¨onnen, ” u uckgezahlt. L¨ose dieses R¨atsel, oh Entdeckerin von Schl¨ usseln!“ ¨berreichlich zur¨
Kapitel 8 Duell auf der Trommel von Gerald Perkins Gerald Perkins reichte diese Geschichte auf meine Bitte hin fr¨ uhzeitig f¨ ur Band V ein. Er hatte sie mir im Vorjahr f¨ ur Band IV geschickt, und sie hatte mir gefallen, aber die Anthologie war voll. Aber da diese Anthologie zu einem j¨ahrlich wiederkehrenden Ereignis geworden ist, kann ich darum bitten, daß etwas, das mir besonders gefallen hat, im n¨achsten Jahr von neuem eingereicht wird. Und wenn ich mich ein Jahr sp¨ater an die Geschichte erinnern kann, bevor ich sie von neuem lese, weiß ich, daß ich eine gute Geschichte bekommen habe.
Ich f¨ urchte, wir stecken in Schwierigkeiten, Renaya“ sagte Yin leise u ¨ber dem Ger¨ausch der Trom” meln. Er ließ den T¨ urvorhang ihrer G¨asteh¨ utte fallen. Otu glaubt, ich wisse u ¨ber die Waffe Bescheid, ” die aus der Ferne t¨otet, ohne Spuren zu hinterlassen.“ Renaya band die silberweiße Seidensch¨arpe fest, die ihr als Brustband diente, und zupfte daran, damit der Knoten sich besser zwischen ihre Br¨ uste schmiegte. Sie hob eine Augenbraue und ber¨ uhrte ihr Ohr: Lauscher? Yin zuckte die Schultern und nickte: M¨oglich. Wo bist du gewesen?“ fragte sie. Wir werden zum Festmahl zu sp¨at kommen.“ ” ” Ich bin auf dem Trommelberg spazierengegangen.“ Yin warf die grau-gr¨ une Robe eines Drachen” priesters ab. In Lendenschurz und Sandalen ging er auf seine Seite der H¨ utte. Der Spiegel, ein wertvolles St¨ uck vom Festland, gab sie f¨ ur einen Augenblick beide wieder. Der Gegensatz zwischen ihnen verbl¨ uffte und reizte Renaya. Yin war klein, mager und hart. Hef¨ uge 87
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KAPITEL 8. DUELL AUF DER TROMMEL
Attacken der Seekrankheit hatten ihm alles u ussige Fleisch geraubt, aber ihn absolut nicht ¨berfl¨ daran gehindert, seinen Anteil an Arbeit auf der Reise zu leisten. Sein rasierter Kopf gab ihm ein altersloses Aussehen. W¨ahrend Yin klein war, war Renaya groß. Seine leicht gelbliche, sonnengebr¨aunte Haut wirkte fahl im Vergleich zu der tiefen roten Mahagonifarbe der ihren. Sie ber¨ uhrte die silbernen K¨amme, die die Massen ihres silberweißen Haars von ihrem Nacken fernhielten. Ihr Schwertg¨ urtel und die flachen, bis zum Oberschenkel reichenden Stiefel hingen an der Wand. Sie f¨ uhlte sich nackt ohne sie. Yin wandte den Kopf und folgte der Richtung ihres Blicks. Er wußte von den Wurfnadeln im Futter des Bandes unter ihren Br¨ usten, den harten Scheiben, die ihre Hinterbacken unter dem Lendenschurz dr¨ uckten, und wahrscheinlich hatte er den Verdacht, daß Gift in den K¨animen war. Deshalb also kommst du so sp¨at“, sagte sie. Hast du die Aussicht genossen?“ ” ” Frieden, Renaya. Ich brauche etwas zu tun, w¨ahrend du und N´deas Truppe versucht, euch gegensei” tig umzubringen. Die Aussicht war herrlich, wie man es vom zentralen Berg einer vulkanischen Insel wie dieser erwartet. Es u ¨berraschte mich, daß der Gipfel flach ist und nichts die Aussicht verstellt als ein niedriges Rundm¨auerchen aus losen Steinen und ein Bambusstapel unter einem Schutzdach. Otus Mann sagt, daß dort bestimmte Rituale abgehalten werden.“ Renaya grinste bewundernd. In wenigen desinteressierten, belehrenden S¨atzen hatte Yin ihr mitgeteilt: Ihm war das eine Gebiet der Insel gezeigt worden, das ihnen bislang verboten gewesen war; er hatte das Ding, das sie suchen sollten, nicht gef¨ unden, und der Oberpriester der Insel habe seinen Meuchelm¨order Nummer eins ausgeschickt. Yin brachte es sogar fertig, gelangweilt zu sprechen. Gehen wir!“ Renaya hielt den T¨ urvorhang zur¨ uck. Sie trommeln die G¨aste herbei.“ Die G¨aste“ ” ” ” waren H¨auptlinge von k¨ urzlich eroberten Inseln des Archipels. Yin ging dicht an ihr vor¨ uber. Sie murmelte: Noch kein Gl¨ uck damit gehabt, H¨auptling Hansa zu einer friedlichen Regelung zu ” u ¨berreden?“ Nein. Er steht vollst¨andig unter dem Bann Otus. Hat N´dea dir irgend etwas erz¨ahlt?“ ” Noch nicht.“ Sie gingen auf die Feuer und die sie erwartenden M¨anner zu. Ich verstehe Otu nicht.“ ” ” Bist du bei all deinen Reisen auf dem Drachen und den Meeren der Umgebung niemals einem Mann ” mit einer Botschaft von ,h¨oheren Geistern´ begegnet?“ fragte Yin. Sei vorsichtig, Renaya. Ich ” werde gef¨ uhrt, w¨ahrend du zur¨ uckgehalten wirst. Heute abend wird etwas passieren.“ Dann trat ihre Eskorte zu ihnen. Rennyn trank aus dem K¨ urbis mit Palmwein, den sie mit Yin teilte. Sie hielt ihren Daumen u ¨ber dem Loch, so daß sie mehr zu trinken schien als in Wirklichkeit. Yin ließ die farblose Fl¨ ussigkeit u ¨ber seinen Arm in einen Schwamm unter seiner Robe rinnen.
89 Ein Schwall feuchter Luft traf Renaya, und sie war froh, sp¨arlich bekleidet zu sein. Die Inselbewohner trugen nur Lendenschurze und Schmuck aus Muscheln und Federn. Ihre dunklen, einge¨often K¨orper schimmerten im Fackellicht. Yin war f¨ ur den Sommer auf den Hochebenen im Drachenherzen gekleidet, viel zu warm in dieser heißen Nacht. Schweißperlen standen auf seinem Kopf und bildeten dunkle Flecke auf seiner Robe, wodurch der Weinfleck verborgen wurde. Man unterhielt sich nur ged¨ampft auf der Plattform. Hansa versuchte vergeblich, die anderen H¨auptlinge aufzuheitern. Otu verhielt sich still. Er war jung f¨ ur einen Mann in der Stellung des spirituellen F¨ uhrers einer der m¨achtigsten Inseln der Konf¨oderation. Renaya sp¨ urte seinen Blick im Nacken. Keiner sprach Yin oder sie an, obwohl sie auf den Ehrenpl¨atzen saßen. Yin faßte an ihr vorbei und l¨offelte Wurzelbrei von dem Teller, den sie teilten. Verflixt, ich weiß ” einfach nicht, was mich an dem Trommelberg so fasziniert“, sagte er. Immer, wenn ich dar¨ uber ” nachdenke, kommt es mir vor, als sei da etwas ganz Offensichtliches, etwas, von dem ich bereits weiß, das zu erkennen ich aber zu dumm bin.“ Renaya zuckte die Schultern. Gel¨achter klang von einer Stelle her¨ uber, wo viele der Trommeltanzerinnen saßen. So wenige Frauen auf dem Drachen folgten dem Weg des Schwertes, daß es ein erfrischendes Erlebnis war, diese privilegierten Kriegerinnen zu sehen. Renaya l¨achelte im Gedanken an die erz¨ahlten Geschichten und ausgetauschten Prahlereien, die manchmal in Handgreiflichkeiten ausarteten. Aber ein Bad im Meer und ein Sonnenbad verbannten Kr¨ampfe und blaue Flecken. N´dea, die erste Tanzerin, hatte sich angew¨ohnt, Renaya wegen ihrer Gewohnheit, noch lange in der Sonne liegen zu bleiben, nachdem die dunklen Inselbewohner schon vor dem tropischen Gleißen Zuflucht gesucht hatten, Sonnenfreundin“ ” zu nennen. N´dea stellte sich auf die F¨ uße. Ihre Freundinnen machten ihr Platz. Sie stampfte einen kurzen, komplizierteri Rhythmus in den Staub, dann setzte sie sich zur Begleitung weiteren Gel¨achters wieder. Als sei das ein Signal gewesen, begannen Trommeln auf der Seite des Dorfzentrums, die den Kochgruben gegen¨ uberlag. Die ersten T¨anzer waren M¨anner, die Keulen, Speere und Schilde tn gen. Wenig” stens sind sie so h¨oflich, daß sie nicht sagen, wie sie eine hiesige Insel erobert haben“, kommentierte Yin. Sie wurden von Frauen abgel¨ost, die Aufgaben des t¨aglichen Lebens tanzten. Die M¨anner kehrten mit einer akrobatischen Darbietung zur¨ uck, die reichlich Gelegenheit zu Solo-Anstrengungen bot, um die zusehenden Frauen zu beeindrucken. Der zweite Tanz der Frauen war langsam und sinnlich und wurde von ged¨ampften Trommelschl¨agen begleitet. Eine der j¨ ungeren Trommelt¨anzerinnen bat N´dea um Erlaubnis, sich dem wilden, unverh¨ ullt erotischen Tanz von M¨annern und Frauen anzuschließen. N´dea l¨achelte und nickte. Als die jungen Paare in der Nacht verschwunden waren, normalisierte sich der Ger¨auschpegel der Unterhaltung. Einer der zu Besuch weilenden H¨auptlinge hatte sich dem Gruppentanz angeschlossen. Jetzt sprachen die anderen freier. Eine Trommelt¨anzerin erz¨ahlte eine Geschichte, die bei den anderen
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lautes Gel¨achter hervorrief. Sie sprang auf die F¨ uße, um den H¨ohepunkt darustellen, dann brach sie unter dreckigem Lachen zusammen. Grinsend schl¨ upfte Renaya von der G¨aste-Plattform. Vielleicht bewirkte ein Witz etwas, das sie mit einer Woche der Diplomatie und des Spionierens nicht geschafft hatte. N´dea begr¨ ußte sie mit erhobener Hand und strahiendem L¨acheln. Die anderen T¨anzeririnen machten ihr Platz. Kennt ihr die Geschichte von der Tochter des H¨andlers?“ fragte Renaya. Auf dem ” H¨ohepunkt tanzte sie das Doppelrumpf-Kanu des H¨andlers, das an seinem Anker schaukelte, wobei T¨opfe und Werkzeuge klapperten. Yin ließ eine leere Sch¨ ussel u ¨ber die Plattform kollern. Das brachte die T¨anzerinnen in Stimmung. Loorsh, zweite T¨anzerin, erz¨ahlte eine unm¨ogliche Geschichte u ¨ber eine Nixe und eine Kriegerschar. Renaya folgte mit der Geschichte von einem Paar auf einem Berghang, das im kritischen Augenblick vom Ausbruch des Vulkans u ¨berrascht wurde. Um das langsame Schwanken und Rollen des Bodens zu verdeutlichen, tanzte sie wie auf einer elastischen Oberfl¨ache. Als sie mit dem Witz fertig war, herrschte Totenstille. Auf der Trommel kann man das viel besser erz¨ahlen“, sagte Otu. ” N´deas Gesicht wurde ausdruckslos, dann traurig. Oh, Sonnenschwester, ich w¨ unschte, du h¨attest ” das nicht getan.“ Renaya wandte sich dem Inselpriester zu. Otu stand auf der G¨asteplattform, die Arme gekreuzt, und blickte u ¨ber die Versammlung hin. In drei Tagen soll das Treffen zwischen der Leibgarde des ” Drachen und der Dienerin der Trommel stattfinden.“ ¨ auf die H¨ande. Renaya, es soll bis zum Tod gehen“, fl¨ usterte Yin und goß sich Ol ” Nat¨ urlich.“ Renaya rieb sich das parf¨ umierte Palmen¨ol u uste hinun¨ber die Schultern und die Br¨ ” ¨ ter. Die drei Tage, die sie in die G¨asteh¨ utte eingesperrt gewesen war, hatte sie mit Ubungen und Meditation verbracht. N´dea, Schwertfreundin, ich wollte nicht, daß es dahin kommt. Nachdem Yin ihre Bef¨ urchtungen best¨atigt hatte, nahm ihre Umgebung pl¨otzlich eine fast schmerzliche Klarheit an. Hier ging es um mehr als um Ehre oder das Suchen nach verlorenem Wissen f¨ ur die Drachen-Priester. Hier ging es um ihr Leben! Sie schnaubte leise. Ging es darum nicht immer? Yin war mit dem Ein¨olen ihrer Beine fertig und begann, ihren R¨ ucken zu bearbeiten. Diese Leute ” ahnen nicht, wieviel von dem hiesigen Dialekt ich verstehe. Renaya, N´dea hat mehr als ein Dutzend Gegnerinnen im Trommel-Duell get¨otet.“ Ich bin unbewaffnet.“ ”
91 Nicht einmal mit diesen kleinen Wuffscheiben´ die du so intim versteckst?“ Yin brachte ein zitteriges ” L¨acheln zustande. Sie w¨ urden aus meinem Lendenschurz springen. Aber ich habe das hier.“ Renaya zog eine lange ” Nadel mit mattem Silberkopf aus ihrem Nackenknoten. Sie rollte das Haar fester zusammen und steckte die Nadel wieder hinein. Vergiftet?“ ” Ja, aber das Gift hinterl¨aßt unverkennbare Spuren. Hast du eine Fluchtroute vorbereitet?“ ” Nat¨ urlich. Ich habe unsere Vorr¨ate ins Boot geschafft und das Boot unter dem Vorwand, ich wolle ” fischen, an eine andere Stelle gebracht. Ich bin sehr dreist und sehr beschr¨ankt.“ An diesem Abend war es auf dem Trommelberg k¨ uhler als beim Festmahl. M¨anner stellten im Licht lodernder Fackeln die letzten waagerechten Bambus-Barrieren zwischen den Wettk¨ampfern und den Zuschauern auf. Hohle Bambusst¨abe´ die zu B¨ undeln, etwas u ¨ber Mannsh¨ohe, zusammengebunden waren, kennzeichneten einen Platz zwischen der Trommel und dem grasbewachsenen Mittelpunkt des Berggipfels. Renaya musterte N´dea, die in einem Lichtkreis nahe dem Eingang stand. Sie drehte sich auf der Stelle, w¨ahrend auch sie von ihren Begleiterinnen einge¨olt wurde. Loorsh gab ihr in einem Becher zu trinken. Hinter Renaya stand die Trommel. Riesig — ihr Durchmesser betrug leicht die L¨ange von sechs großen M¨annern, ihre Oberfl¨ache erhob sich auf halbe Mannsh¨ohe u ¨ber dem Boden. Bedeckt mit der nahtlosen Haut eines Leviathans der See, wurde sie u ¨ber einer Grube von Pfosten und transportablen Steinbl¨ocken gest¨ utzt. Der Wind drehte sich f¨ ur einen Augenblick. Renaya roch den schaffen Gestank der Menge, die tropische Nacht, ihren eigenen Schweiß, den s¨ ußen, ¨oligen Qualm der Fackeln, die den Schauplatz erhellten. Interessant, keiner der eroberten H¨auptlinge war anwesend. Loorsh brachte Renaya denselben Becher, aus dem N´dea getrunken hatte. Yins Ber¨ uhrung sollte ihr sagen, daß das Getr¨ank ungef¨ahrlich sei, aber sie war auch so sicher, man hatte nichts hinzugef¨ ugt. Der Inhalt roch nach Erde und schmeckte wie alter Speichel. Renaya nahm drei Schlucke. Sie sp¨ urte deutlich den Wind auf ihrem K¨orper; ihre Brustwarzen wurden kurz hart, bevor sich eine prickelnde Taubheit von ihrem Magen aus verbreitete. Sie probierte ihre Glieder. Sie f¨ unktionierten mit gewohnter Geschmeidigkeit. Sie kniff sich. Ah! Der Schmerz war abget¨otet. Warum, wenn die T¨anzerinnen waffenlos k¨ampften? Yin, wie t¨otet man bei einem Trommelduell?“ ” Mit der Trommel; aber verflixt, ich weiß nicht, wie. Du kannst nur N´deas F¨ uhrung folgen und ” versuchen, sie in dem, was sie tut, zu u ¨bertreffen. Bist du soweit?“
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Ja.“ Es war Zeit zu gehen. Yin legte die H¨ande zusammen. Renaya trat hinein und auf die rauhe ” Oberfl¨ache der Trommelhaut. Die Trommel gab ein Ger¨ausch wie ferner Donner von sich, als Renaya mit gleitenden Schritten zur Mitte ging. Auf der Bespannung waren abgenutzte glatte Stellen. N´dea bevorzugte sie. Warum? Auf den rauhen Stellen ging es sich besser. Das Publikum stand an der Abgrenzung auf dem Gras außen am Eingang und sah durch die hohlen Bambusst¨abe. Haupts¨achlich waren es bewaffnete M¨anner. Hansa und Otu besetzten die Mitte der Seite, die zum Hauptdorf lag. Hinter ihnen illuminierte ein Gewitter die n¨achste Insel mit geisterhaften Blitzen. Yin folgte N´deas Begleiterinnen durch den Zickzack-Eingang. Dieses Kopfsch¨ utteln bedeutete, daß er versuchte, sich etwas ins Ged¨achtnis zur¨ uckzurufen. Wahrscheinlich das, woran die Trommel ihn erinnerte. N´dea drehte sich in der Mitte der Trommel um. Ihr Gesicht tauchte im Fackellicht auf und verschwand wieder. Es tut mir leid, meine Schwester im Geist“, rief sie, aber das ist, wie es sein muß! ” ” Kennst du einmal unser Geheimnis, darfst du die Insel nicht mehr verlassen.“ Was soll ich kennen?“ Renaya h¨atte am liebsten gebr¨ ullt. ” N´dea begann zu tanzen; in einem einfachen Zweier-Rhythmus entfernte sie sich langsam. Die Spannung des Trommelfells ver¨anderte sich mit ihren Bewegungen. Das Ger¨ausch war so tief, daß man es fast nicht mehr h¨oren konnte. Renaya f¨ uhlte es in ihren Knochen. Sie folgte N´deas Rhythmen und begann dann, sie zu variieren. Rum tum. Rum tum. Ruum rum, tuum rum. Rurmum ruumrum, runnum, tuumrum. Tuum rum, ruum rum. N´dea hatte nicht damit gerechnet, daß Renaya ihr den Rhythmus so schnell wegnehmen w¨ urde. Die Spielregel lautete: Passe dich dem Rhythmus der anderen an, und nimm ihn ihr dann weg! N´dea riß die F¨ uhrung wieder an sich. Es h¨atte lustig sein k¨onnen, anstrengend, aber lustig, wenn N´dea es nicht auf ihr Leben abgesehen h¨atte. Doch wie wollte sie sie t¨oten? Wie? Herrlich war N´dea, wie sie sich im Tanz drehte. Sie zeigte sich Renaya als Schatten und als Schimmer, die ihre triefende ebenholzfarbene Haut reflektierten. Bekleidet war sie nur mit einem Lendentuch, das ebenso schwarz war wie ihr kurzes Haar. Ihre großen, flachen Br¨ uste bewegten sich beim Tanz kaum. Eine weiche Masse fiel Renaya den Hals herunter und zwischen die Schultern. Wo war die Nadel? Sie stampfte und sah sie auf halbem Weg zum Rand h¨ upfen. Zwei Schritte sp¨ater verschwand sie u ¨ber der Kante. N´dea nutzte Renayas Unkonzentriertheit dazu, den Rhythmus zu beschleunigen.
93 Rum ruum, rum TUUM! Manchmal versanken die Zuschauer halb außer Sicht, wenn die T¨anzerinnen im gleichen Takt in die Mitte der Trommel sprangen, oder schwebten unter ihnen, wenn die Trommel reagierte und die beiden T¨anzerinnen in die Luft flogen. Merkw¨ urdig, wie leise die Trommel war. Sie erm¨ udeten sich gegenseitig nur durch die Bewegungen auf dem Fell. Eigentlich h¨atten sie die Insel mit dem L¨arm ersch¨ uttern ni¨ ussen. Wohin ging all diese Anstrengung? Und warum zog sich N´dea st¨andig auf best¨ uunte Stellen der Trommel zur¨ uck? Renaya stolperte u ¨ber einen komplizierten Rhythmus N´deas, und das Publikum zuckte zusammen. Renaya wurde es heiß, ihr schwindelte, sie war m¨ ude. Sie schaffte es nicht mehr, sich N´deas Rhythmus anzupassen. Sie warf den Kopf zur¨ uck, um das Haar aus den Augen zu bekommen. Die Nadel war l¨angst verschwunden, und nun hatte sie nichts mehr als ihre bloßen H¨ande und den Tanz. Jeder Schritt von N´deas unerm¨ udlichen Beinen sandte einen stechenden Schmerz durch Renayas K¨orper. Sie glitt aus. N´dea bevorzugte in den immer komplizierter werdenden Mustern ihres Tanzes weiterhin die abgenutzten Stellen der Bespannung. Konnten sie wichtig sein? Renaya war, als setze sich jedes Stampfen in ihr fest und trage zu dem sich aufbauenden Druck bei. Es w¨ urde sie zerreißen, wenn sie noch mehr aufnehmen mußte! Seele des Welt-Eis! So also t¨otete eine Trommelt¨anzerin! Sie fand den Rhythmus, der die tiefen, nicht mehr h¨orbaren T¨one in den K¨orper der Gegnerin goß, bis sie platzte! Brich den Rhythmus! Brich den Rhythmus! Schaffe einen anderen! Der Drache hole das unzuverl¨assige Ged¨achtnis! Sie kannte einen Weg, wenn er ihr nur einfallen wollte. Aber die Zeit, oh, die qualvolle Zeit! Ja! Wann? Was? Dieser t¨orichte, wirbelnde Tanz, den sie gelernt hatte, um die Bergleute von Eisenstadt zu unterhalten? Sie ging in die Knie, bis ihr Hinterteil die Bespannung ber¨ uhrte, flog hinauf, machte eine Rolle und landete im Mittelpunkt. TU-TUUM! Fast h¨atte sie N´dea damit von der Trommel geschleudert. W¨ urde das als Sieg gelten? Ruum, ruum, tuum. Ruum, tuum, tuum. Ruum, tuurn, tuum. Ruum, tuumtumm. Ruum, tuum TUUM. Ruumruum TUUM. Ruumruum TUUM. RUUM tuumtuum. Das war´s! Zumindest verschaffte es ihr eine Atempause. N´dea hatte offensichtlich bisher noch nie einen Rhythmus getanzt, der nicht auf dem Herzschlag aufbaute. Konnte sie N´deas Zerreißpunkt durch einen Dreiertakt finden, und das, bevor N´dea den Rhythmus aufnahm? N´dea blieb wie angewurzelt stehen. Die abrupte Unterbrechung des Tanzes ersch¨ utterte sie, riß sie aus ihrer Trance. Keuchend stand sie da, saugte die Luft in langen Z¨ ugen ein, versuchte, diesen neuen Rhythmus zu begreifen. Sie konnte es nicht. N´dea schrie und sprang. Renaya wich aus, aber N´dea gelang es noch, ihr die Fingern¨agel durch das Gesicht zu ziehen. Das Auge verfehlte sie nur knapp. Das war also legal? Jetzt befanden sie
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sich auf Renayas Boden. Renaya verzog das Gesicht zum L¨acheln der Kriegerin. Beim Drachen, sie w¨ urde es auf ihre Weise tun! Eins, fallen lassen, springen. Auf die Seite, anhocken, treten. Verdammt, das hatte N´dea vorausgesehen. Schlechte Landung, hoch, drei. Hand steif, Ellenbogen, Ferse. N´dea war im Kampf Mann gegen Mann ebenfalls gut. Eins, hoch. Au, das Bein! Herum, zwei. Wegfallen von N´deas gegen das Knie gezielten Tritt. Herum. Zuschlagen. Verfehlt. Wegspringen. Sie gerieten von neuem in den Zweiertakt. Wo war N´dea? Auf der anderen Seite der Trommel; sie tanzte wieder. Es mußte ein Ende nehmen. Es mußte. Renaya sprang von ihrer Seite der Trommel zur Mitte. Ihre H¨ande machten sich an ihrer Taille zu schaffen, w¨ahrend sie von ihrem Purzelbaum aufstand. N´dea bewegte sich um einen Sekundenbruchteil zu sp¨at. Renaya landete fast genau im Mittelpunkt und richtete sich bereits auf, als N´dea ihre ganze Kraft in den Sprung legte. Statt von der Trommel geschleudert zu werden, flog Renaya senkrecht nach oben, drehte sich in der Luft und landete auf N´deas R¨ ucken. Sie schlang die seidene W¨ urgeschnur, die ihr Lendentuch festgehalten hatte, um N´deas Hals und zog rasch an. Das leise Knacken war in ein paar Schritten Entfernung nicht mehr zu h¨oren. Sie fing N´deas fallenden K¨orper auf und verbarg dabei den gebrochenen Hals vor den Zuschauern. Die Schnur ließ sie neben ihr Lendentuch fallen. Als sie sich auf die F¨ uße stellte, drang Yin durch die Zickzack-Barriere zu der Arena durch. Die Trommelt¨anzerinnen folgten ihm dicht auf den Fersen. Kannst du noch ein Kunstst¨ uck machen, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken, w¨ahrend wir hier ” verschwinden?“ signalisierte er. Renayas Beine drohten nachimgeben, als sie N´deas Leiche an den Rand zog und behutsam niederlegte. Sie sah zu der Stelle zur¨ uck, wo Yin stehen mußte, holte tief Atem und sprang ein Drittel des Weges bis zur Mitte der Trommel, schlug einen Salto und traf den Mittelpunkt mit voller Kraft. TU-WUUM! Die Luft strich u ¨ber ihren schweißbedeckten K¨otper, zerrte an ihrem Haar. Sie breitete die H¨ande aus, die Beine leicht gegr¨atscht. Ah, Liebe mit der Nacht zu machen! Yin stand am Rand und drehte ihr den R¨ ucken zu. Renayas F¨ uße trafen knapp vor den St¨ utzen der Trommel auf. Sie machte eine Rolle vorw¨arts u ber den Rand und landete auf Yins Schultern. Yin ¨ grunzte. Ihre langen Beine schl¨angelten sich um ihn und verschr¨ankten sich hinter seinem R¨ ucken. Einen Augenblick blieb er vor der in sprachlosem Schweigen verharrenden Menge stehen und ging dann langsam zum Ausgang. Du kitzelst, Renaya“, murmelte er. ” Renaya h¨atte beinahe gelacht. Glatzkopf, dazu ist jetzt kaum der richtige Zeitpunkt.“ Trotzdem ” wackelte sie, froh, am Leben zu sein, ein bißchen mit den H¨ uften.
95 Wenn ich deinetwegen falle, sind wir tot“, brummte Yin. Winke der Menge zu, sei die Siegerin!“ ” ” Sie tat wie geheißen. Die Trommelt¨anzerinnen warteten auf sie am Ausgang. Du hast gut gek¨ampft“, sagte Loorsh, und ihr brach die Stimme. D– du wußtest nichts, u–und ” ” doch hast du u ¨ber die beste von uns triumphiert. Wir werden euch zu eurem Boot bringen.“ Inmitten der Trommelt¨anzerinnen trug der Drachenpriester Renaya davon. Die wimmelnde Menschenmenge tat nichts, um sie aufzuhalten. Otu war gescheit genug, sich still zu verhalten. Hundert Schritte weiter bergab begann Yin zu keuchen. Ein loser Stein auf dem Weg brachte sie beinahe beide zu Fall, aber er taumelte weiter. Renaya st¨ohnte, als er seine Finger in harte Muskelknoten grub. Ich kann dich nicht weitertragen“, sagte er. ” Ai-¨ ue!“ Der Schrei hing in der k¨ uhlen Nachtluft. Sie ist tot! Ihr ist der Hals gebrochen worden.“ ” ” Loorsh gab ein Zeichen. Die anderen T¨anzerinnen entfernten sich. N´dea hat ihre Ehre verletzt, als ” sie den Tanz brach. Wir werden sie nicht aufhalten.“ Sie nickte seitw¨arts zu der br¨ ullenden Menge hin. Aber wir werden ihnen auch nicht helfen.“ Die T¨anzeririnen verschwanden im Unterholz. ” Yin faßte nach Renaya. Du mußt noch etwa dreihundert Schritte tun. Dann kommen wir an einen ” Bach. Er m¨ undet in den Fluß, der sich in die Bucht ergießt, wo ich das Boot festgebunden habe. Der einzige hohe Wasserfall ist der, zu dem alle Angeber gehen, um ihre Liebsten zu beeindrucken. Weißt du, welchen ich meine?“ Ja.“ ” Gut. Denke daran, nach links zu springen. Von da ist es leicht, zum Boot zu schwimmen. Paß ” unterwegs auf Stromschnellen auf.“ Am Bach angekommen, legte Yin seine Robe und seine Sandalen ab. Die Sandalen warf er ins Wasser. Die Robe folgte ihnen, nachdem er einen Streifen des dunklen Stoffes abgerissen hatte, um Renayas weißes Haar damit zu bedecken. Knapp vor den Verfolgern st¨ urzten sie sich in den schnell ffießenden, seichten Bach. Der Rest der Reise war ein Alptraum. Sie wurden u ¨ber Steine gezerrt, gegen Felsen geschmettert, st¨ urzten kleine Wasserf¨alle hinunter und ertranken fast in den Teichen darunter. Renayas verkrampfte Beine trugen sie kaum noch durch die seichten Stellen. Mehr als einmal dachte sie, wenn sie durch die Stromschnellen wirbelte, sie habe sich Knochen gebrochen. Ab und zu liefen Su htrupps vorbei, und sie hielten sich am Ufer fest oder duckten sich hinter Steinbl¨ocken. Der Sprung den hohen Wasserfall hinunter war fast eine Erl¨osung. Renaya saß an der Ruderpinne und genoß die strahlende Morgensonne. Das kleine Boot war ein Punkt auf einer unendlichen Fl¨ache aus gekr¨auselten Blau– und Gr¨ unt¨onen. Kurz nach Sonnenaufgang hatte ein auffrischender Wind den Inselbewohnern bewiesen, daß nicht einmal ihre besten Kriegskanus ebensogut gegen den Wind fahren konnten wie ein ordnungsgemaß getakeltes Schiff, und sie hatten
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die Verfdlgung aufgegeben. Renaya streckte sich faul, erfreute sich der Sonne auf ihrer Haut und des salzigen Windes, der ihr das Haar um das Gesicht peitschte. W¨ urgende Leute aus der Kabine riefen ein mitf¨ uhlendes L¨acheln bei ihr hervor. Wie geht es dir, Yin?“ rief sie. ” Als habe mir der Drache die Klauen in die Ged¨anne geschlagen und drehe sie um. Wie sonst soll ” es mir gehen?“ lautete die Antwort. Wenn ich so lange am Leben bleibe, daß ich auf den Drachen ” zur¨ uckgelange, werde ich das Festland nie mehr verlassen. Das schw¨ore ich; K¨orper, Geist und Seele; ich schw¨ore es.“ Komm an Deck. Vielleicht wird dir an der frischen Luft nicht besser, aber du verst¨ankerst dann ” wenigstens die Kabine nicht l¨anger. Bring mir etwas zu essen mit, wenn du schon einmal unterwegs bist. Ich bin halb verhungert.“ Yins blasses Gesicht erschien in der Luke. Wie du essen kannst, begreife ich nicht. Oh, um des ” Drachen willen, du bist ja immer noch nackt!“ Die Sonne . . . , begann Renaya. ” ” Ich weiß, die Sonne ist dein Freund. Sogar die Inselbewohner wissen genug, um sich vor deinem ” ,Freund´ in diesen Gew¨assern zu sch¨ utzen. Hier.“ Er warf ihr ein leichtes Baumwollhemd mit Kapuze zu und folgte ihm mit einem Paket Schiffszwieback. Das ist leider alles, was wir haben, bis wir die ” K¨ uste erreichen“, verk¨ undete er und u ¨bernahm die Ruderpinne. Was, frage ich dich, tue ich hier?“ rief er mit theatralischer Geste zu dem rollenden Horizont hin ” aus. Ich bin Priester und Wissenschaftler. Ich sollte sicher und gem¨ utlich in der Bibliothek zu ” Drachenherz sitzen.“ Das Thema wechselnd, fragte Renaya: Hast du gefunden, was Abt Lorn haben wollte?“ ” Ich w¨ unschte, ich w¨ ußte genau, was das ist“, erwiderte er. Wenn ich es habe, bin ich mir nicht ” ” sicher, ob ich es ihm erz¨ahlen werde. Jedenfalls habe ich das, weswegen wir hergeschickt worden sind. Hast du mich geh¨ort, w¨ahrend du tanztest? Dieser Wechsel vom Zweier– zum Dreiertakt war ein Geniestreich.“ Yin, ich habe dich nicht geh¨ort. Ich hatte nur das Gef¨ uhl, dieser Rhythmus h¨ammere in mir, bis ” ich kurz davor war zu platzen. Kann das auf weite Entfernung t¨oten? Wenn ja, warum hat es die Zuschauer nicht umgebracht? Oder N´dea?“ Yins Augenbrauen wanderten erstaunt in die H¨ohe. Er betrachtete Renaya mit großem Respekt. Dann beugte er sich u ¨ber Bord und versuchte, Essen auszuspucken, das in seinem Magen nicht vorhanden war. Als er sich erholt hatte, sagte er: Ich glaube, die Rohre l¨oschen das Ger¨ausch ” irgendwie aus. Die Forscher in Drachenkopf werden sich damit besch¨aftigen m¨ ussen. Aber ich kann verstehen, wie die Bewohner der Trommelinsel zu ihrem Ruf gekommen sind. Wenn sich Angreifer n¨ahern, werden die Rohre, die auf diese Bucht zeigen, entfernt, und die T¨anzerinnen beginnen.
97 Wußtest du, daß Soldaten ohne Schritt marschieren, wenn sie eine Br¨ ucke u ¨berqueren? Sie k¨onnte sonst einst¨ urzen. Ich glaube, die Wirkung ist die gleiche. Das Ger¨ausch, das den Strand erreicht, braucht nicht sehr laut zu sein, aber es baut im K¨orper eine Spannung auf. Eine feindliche Truppe k¨onnte schon halbtot sein, bevor sie auf die Bewohner der Trommelinsel trifft, und das nicht einmal wissen. Nat¨ urlich haben sie Krieger, die den eigentlichen Kampf ausfechten. Otu erkannte, daß die Bestandteile der Trommel leicht transportiert werden k¨onnen. Die Tiommelinsulaner pflegten mit den Frauen und der Trommel zu erscheinen. Niemand schenkte ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit, weil die Krieger beider Seiten ihre Drohungen zu tanzen pflegen. Dann wurde der rituelle Kampf zu Eroberung. Ich glaube nicht, daß sie ein langes Leben haben, die Trommelt¨anzerinnen. Die Droge hilft, und sie wissen, wo sie sich hinstellen m¨ ussen, um so wenig Ger¨ausch wie m¨oglich zu empfangen, aber...“ Das ist der Grund, warum der Tanz bis zum Tod gehen sollte“, fiel Renaya ein. Sobald wir die ” ” Trommel einmal in Betrieb gesehen hatten, konnten wir uns zusammenreimen, wie sie f¨ unktioniert. Wir m¨ ussen aufpassen, daß wir nicht in einen Hinterhalt geraten, bevor wir nach Drachenherz kommen.“ Der Wind drehte, und Renaya zog das Segel ein. Was wird wohl mit den Trommelinsulanern ” geschehen?“ Wahrscheinlich nichts. Otu hat zum Duell herausgefordert und gegen den Drachen verloren. Ich ” nehme an, die Trommel wird wieder zu einer Verteidigungswaffe werden.“ Renaya sah ihn scharf an. Sie h¨atte mich geschlagen, weißt du. Wenn es N´dea gelungen w¨are, ” schnell genug zum Tanz zur¨ uckzukehren, h¨atte sie mich get¨otet. Ich mußte den Tanz verlassen, um am Leben zu bleiben.“ Es schmerzt dich, daß du eine Frau t¨oten mußtest, die dir so ¨ahnlich war, eine ,Schwertschwester´, ” nicht wahr?“ fragte Yin sanft. Wie Loorsh sagte, hat N´dea ihre Ehre als erste verletzt. Außerdem ” erstreckt sich deine Ehre weit u ¨ber die eine Insel hinaus.“ Nach einer Weile erwiderte Renaya: Ich w¨ unschte, wir h¨atten meine Stiefel und mein Schwert retten ” k¨onnen.“ Oh, habe ich dir das nicht erz¨ahlt? Sie sind unten in deiner Truhe.“ ” Renaya wollte Yin umarmen, doch ehe sie das tun konnte, bekam er einen neuen Anfall der Seekrankheit.
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Kapitel 9 Das Auge Toyurs von Diana L. Parson Es ist angenehm, jedes Jahr ein Manuskript zu bekommen, von dem ich weiß, bevor ich es gelesen habe, daß es ungef¨ahr das sein wird, was ich haben m¨ochte. Diana Parson schreibt seit dem ersten Erscheinen dieser Anthologien u ¨ber Shanna, und ich kann mich darauf verlassen, daß ihre Geschichten immer ausgezeichnet sind. Mehr brauche ich wirklich nicht zu sagen, um die Geschichte einzuf¨ uhren, aber diejenigen unter Ihnen, denen Dianas Arbeiten gefallen, freuen sich vielleicht zu h¨oren, daß sie drei weitere Romane geschrieben hat — zwei in ihrer Westria-Serie (SILVERHAIR THE WANDERER und THE EARTHSTONE) und eine Art Fortsetzung zu BRISINGAMEN (es kommen einige der dortigen Personen darin vor) mit dem Titel PARADISE TREE. Sie hat auch einen umfangreicheren Roman u ¨ber Tristram geschrieben, den ich noch nicht gelesen habe. Da ich Diana kenne, bin ich u ucher. ¨berzeugt, er wird so gut sein wie alle ihre anderen B¨
Das Falkenweibchen hing inmitten des Himmels — ein schwarzes Kreuz vor dem Glanz der untergehenden Sonne. Shanna holte in der reinen Luft tief Atem, und als sie ihn wieder ausstieß, entließ sie damit die Anstrengung eines weiteren Reisetages. Von der Senke, wo sich die Karawane f¨ ur die Nacht niederließ, klangen Rufe zu ihr, aber sie sah nicht hinunter. Eine kleine Bewegung der Fl¨ ugelspitzen ließ Chai seitlich u uttelte ein ¨ber den Himmel gleiten. Sie r¨ bißchen, hielt ihre neue Position, wartete abermals darauf, daß irgendein kleines Lebewesen auf der Heide unten die Friedlichkeit des Abends falsch einsch¨atzte und sich verriet. Das Ger¨ausch von der Karawane wurde lauter. Eine Hexe! Es ist eine Hexe in der Karawane! Die Geister haben mir mitgeteilt. . . Eine schrille ” ” Stimme durchdrang das Gemurmel. 99
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KAPITEL 9. DAS AUGE TOYURS
Das Falkenweibchen faltete die Schwingen und fiel wie ein Bolzen vom Himmel nieder. Shanna h¨orte ein ersticktes Quieken, als es zuschlug. Ein Fetzen Fell trieb in der stillen Luft. Dann drehte Shanna sich um und sah zu der Karawane hinunter. M¨anner liefen zum Mittelpunkt des Kreises aus abgestellten Wagen. Dort stand schwankend und murmelnd eine hagere Gestalt, u ¨bergl¨anzt von der Pracht des Erzpriesters Toyurs. Hexe“ war eine Bezeichnung, die im Reich von Bindir viele Bedeutungen hatte, aber im Mund von ” Kriegspriestern war damit Magie der schw¨arzesten Art gemeint — oder was immer sie als Zauberei definierten. Chais scharfer Schnabel riß an Fleisch und Fell. Shanna u ¨berließ das Falkenweibchen seinem Mahl und stieg mit langen Schritten den Hang hinab. ¨ Ich wußte, mit den beiden w¨ urde es Arger geben — schon auf der allerersten Meile wußte ich es. ” Habe ich dir das nicht gesagt?“ Damit kam die Karawanenherrin aus ihrem Zelt. Shanna grinste. Die breite, ergrauende Frau mit dem roten Gesicht, gefurcht und verwittert von Jahren auf der Straße, hatte von dem Augenblick an, als sie Otey verließen, Unheil vorhergesagt. Kein Wunder, wenn eine ihrer Prophezeiungen sich schließlich erf¨ ullte. Besonders diese hier — Shanna hatte ein wachsames Auge auf den Erzpriester und auch seine Lieblingshexensucherin gehalten. Die G¨otter haben gesprochen. . . Die sonore Stihime des Erzpriesters rollte u ¨ber das Gemurmel ” ” der Menge hin. Wir m¨ ussen die Schuldige herausfinden!“ ” Bercy stemmte mit finsterem Blick die F¨auste in die H¨ uften. Es waren große F¨auste, durchaus imstande, einen betrunkenen Treiber mit einem Schlag zu Boden zu schicken, aber gegen die M¨achte der Finsternis waren sie von keinem großen Nutzen. Shanna merkte, daß sich ihre eigene Hand auf den Falkenkopf-Griff ihres Schwertes gelegt hatte, und zwang sich, ihn loszulassen. Eine Klinge konnte hier auch nicht mehr ausrichten als F¨auste. Hast du mir nicht einen leichten Dienst versprochen?“ grinste sie, und nach kurzem Zaudern brachte ” Bercy ein schiefes Antwortl¨acheln zustande. ¨ Jeder Uberlebende der Seuche in Otey war bestrebt gewesen, die Stadt zu verlassen, sobald die Tore wieder ge¨offnet worden waren. Bercy h¨atte wahrscheinlich alles versprochen, um die Wachen zu ersetzen, die sie verloren hatte, und Shanna war es m¨ ude, allein zu reisen. Außerdem hatte sie sofort Sympathie f¨ ur diese große Frau empfunden, die mit der Hilfe ihrer drei S¨ohne das Transportgesch¨aft fortf¨ uhrte, mit dem sie und ihr Mann begonnen hatten. Aber in einem hatte die Hexensucherin recht — sie waren auf der Reise vom Ungl¨ uck verfolgt worden. Einer der neuen Treiber war ein Unruhestifter, und es war ein bindiranischer Kaufmann dabei, der sich einbildete, sein Reichtum gebe ihm das Recht zu st¨andigen Beschwerden. Es ist wahr, daß wir keine Schwierigkeiten von außerhalb der Karawane hatten, aber die Reise selbst ”
101 Die Karawanenherrin h¨orte nicht zu. Der Kreis aus Menschen schwankte, und ein weizenblonder Strubbelkopf dr¨angte sich durch. Er geh¨orte Awrdin´ Bercys j¨ ungstem Sohn. Dieser Junge! Er wird uns ruinieren — lauter Muskeln und kein Gehirn — bei Hieras Kopfschmuck! ” Warum passiert so etwas immer gerade mir?“ Bercy setzte sich von neuem in Bewegung, als Awrdiu die Mitte des Kreises erreicht hatte, und Shanna folgte ihr. Jetzt seht her!“ Die Stimme des Jungen kippte u ¨ber, und irgendwer kicherte. Dieses Gerede von ” ” Hexen ist . . . ist l¨acherlich! Wenn ihr dieser Kreatur glaubt, seid ihr ebenso verr¨ uckt wie sie! Ihr k¨onnt diese Karawane nicht durcheinanderbringen...“ Sei ruhig, B¨ urschchen, wenn du nicht willst, daß der Speer Toyurs auf dich zeigt!“ ” So f¨ uhr der Erzpriester Awrdin an, und dem Jungen blieb der Mund offenstehen. Dann sah er seine Mutter n¨aher kommen und err¨ utete. Awrdin, verschwinde! Hast du nichts zu tun?“ Bercy stellte sich zwischen den Jungen und den ” Priester, und er eilte dankbar davon. Um was geht es eigentlich?“ Sie betrachtete den Kreis ” fanatischer Gesichter. Shanna blieb einen halben Schritt hinter ihr und hielt sich zum Kampf bereit, obwohl die meisten Leute in der ersten Reihe allm¨ahlich dreinblickten, als fragten sie sich, was sie hier zu suchen h¨atten. Der Erzpriester stand in majest¨atischem Schweigen da und betastete die Amulettk¨asten´ die an sein Wehrgehenk gen¨aht waren. Sein Medium zuckte zu seinen F¨ ußen. Die Besessenheit war anscheinend so weit fortgeschritten, daß sie der Sprache nicht mehr m¨achtig war. Sie sagt, es ist ein Zauberer da, Herrin — und das k¨onnte stimmen!“ informierte einer der Treiber ” Bercy schließlich. Es ist nat¨ urlich, wenn ein Ochsenjoch auf einer Reise zerbricht, aber gleich drei, ” bevor wir zwei Wochen unterwegs sind?“ Wenn jemand an der Ausr¨ ustung herumpfuscht, werden wir ihn uns vorkn¨opfen.“ Bercy runzelte ” die Stirn. Was hat all das Gerede von Hexen zu bedeuten?“ ” Ochsenjoche sind nichts . . . Der Erzpriester machte eine ver¨achtliche Handbewegung. Aber ” ” ” wenn das B¨ose unter uns wandelt, muß es mit den Wurzeln ausgerissen werden, bevor es w¨achst!“ Und was genau bittest du uns zu tun?“ erkundigte sich Bercy voller Unbehagen. ” Ich bitte?“ Der Erzpriester sch¨ uttelte den Kopf, als bemitleide er sie. Sein Blick glitt an ihr vorbei, ” verweilte angewidert kurz auf Shanna und wanderte weiter. Frau, ich berufe mich auf das Gesetz ” Toyurs; ich herrsche jetzt hier. Wir werden diesen Ort nicht verlassen, bevor die Zauberer gef¨ unden worden sind!“ Aber welchen Grund k¨onnte der Erzpriester haben, einer Hexenjagd wegen haltzumachen? Ich ” dachte, er sei in Eile, zu irgendeiner Synode in Bindir zu kommen. . . Shanna stellte ihren Bierkrug ” ab.
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KAPITEL 9. DAS AUGE TOYURS
Nun, er wird wegen der Seuche sowieso zu sp¨at kommen antwortete Bercy. Er muß verzweifelt ” ” gewesen sein, daß er sich einer Karawane anschloß, die von einer Frau geleitet wird. Ich habe gemerkt, daß ihm das nicht paßt!“ Shanna dachte daran, wie der Erzpriester sie angesehen hatte. Eine Kriegerin war sogar im Norden eine Anomalie, und Shanna hatte den Verdacht, das Vorurteil gegen sie werde um so heftiger werden, je n¨aher sie Bindir kamen. Sie hatte bereits den Fluch der Dunklen Mutter zu tragen — sollte sie auch noch mit dem Gott in Konflikt kommen? Wie ein Echo ging ihr Bercys Ausruf durch den Kopf: Warum passiert so etwas immer gerade mir? Vielleicht rechnet er damit, Punkte zu sammeln, wenn er als Ausgleich f¨ ur die Versp¨atung ein paar ” Troph¨aen vorzuzeigen hat!“ Bercys bl¨ uhendes Gesicht wurde noch r¨oter. Troph¨aen?“ ” Zauberknochen — du wirst sehen. Und, verdammt noch mal, ich kann nichts dagegen tun!“ Bercy ” stampfte durch das Zelt, blieb stehen, als ihre Nase die ausgeblichene Plane streifte, und drehte sich um. Wegen des Krieges?“ fragte Shanna. ” Heutzutage geh¨ort Bindir beinahe dem Speertempel. Die Dorische Allianz kann Dard gern haben. ” Hieras heiliger Ellenbogen, das ist es nicht, was dem Handel schadet! Es ist die Bruderschaft, die die Hundert dr¨angt, im Namen des Notstands immer weitere Einschr¨ankungen zu befehlen. Sie werden damit aufh¨oren, sobald es ihnen selbst weh tut, aber bis dahin ist es aus mit uns kleinen Leuten — du wirst es sehen!“ Sie hielt inne, um Atem zu sch¨opfen. Der Kaiser kontrolliert sie nicht?“ Shanna streckte den Arm aus, und Chai h¨ upfte von ihm auf ” ihre Stange an einem Packsattel. Dann soll er sich sch¨amen, wie, Chai? Er bricht sein Wort!“ Das ” Falkenweibchen streckte den Hals und gab ein ver¨achtliches Kr¨achzen von sich. Shanna´ manchmal k¨onnte ich schw¨oren, der Vogel antworte dir!“ sagte Bercy, f¨ ur den Augenblick ” abgelenkt. Es ist ein Wunder, wie du ihn ohne Kappe und all das herunilaufen laßt.“ ” Sie ist sehr zahm“, erkl¨arte Shanna rasch. ” Das war ein Fehler gewesen. Es w¨are schon schlimm genug, wenn irgendwer herausbekam, daß es sich bei Shanna um diejenige handelte, die in Otey von der G¨ottin u ¨berschattet worden war. Sie konnte sich vorstellen, was die Hexenj¨ager sagen w¨ urden, wußten sie, daß Chal eigentlich kein Vogel war. Toyur war der Gott der Gerechtigkeit ebenso wie der des Krieges. Shauna wunschte, dasselbe ließe sich von all seinen Dienern sagen. Es war Zeit, das Thema zu wechseln. Sie blickte zu Bercy hoch.
103 Wo sollen wir heute abend die Wachen aufstellen?“ Das Licht der Fackeln flackerte irnd schwand ” und loderte wieder auf; Licht jagte Schatten wie wahnsinnig durch den Ring. Trommeln ließen das Herz rasen; die Erde erschauerte unter den Tritten bestiefelter F¨ uße. Die Leute stampften einen Kreis aus. Chal zappelte auf Shannas Schulter. Die Kriegerin streichelte das glatte Gefieder. Mir gef¨allt das auch nicht“, sagte sie leise. Sie war froh, daß ihr Dienst es ihr erlaubte, voll bewaffnet ” außerhalb des Ringes Wache zu stehen. Aber es gibt nichts, was wir dagegen unternehmen k¨onnten.“ ” Bercy hatte recht gehabt mit dem, was sie u ¨ber die Macht des Tempels sagte. Seit die Gesetze gegen Zauberei erlassen worden waren, hatte das religi¨ose Recht Vorrang. Keiner der Kaufleute in der Karawane w¨ urde protestieren; Shanna konnte nicht einmal auf Bercys eigene Leute z¨ahlen. Sie waren zuverl¨assig, wenn es darum ging, R¨auber abzuwehren oder Schl¨agereien im Lager ein Ende zu bereiten. Aber nicht einer wagte es, sich dem Gott des Krieges zu widersetzen. Chai zirpte ¨argerlich. Shanna drehte sich um und sah die goldenen Augen des Falkenweibchens im Fackellicht brennen. Wieviel, fragte sie sich, verstand Chai tats¨achlich? In ihrem eigenen Tal konnten Chais Leute nach Belieben Vogel— oder Menschengestalt annehmen, aber als sie sich bereit erkl¨art hatte, den Falken nach Bindir mitzunehmen, hatte Shanna nicht daran gedacht, sich zu erkundigen, welche geistigen Prozesse in gefiederter Form m¨oglich waren. Der Ring aus Fackeln schließt sich dicht. ” Es naht des Gottes gerechtes Gericht! Keiner weiche aus diesem Rund, Bis der Schuldige ist kund!“ Ein halbes Hundert von Stirumen fiel in den Gesang ein, und wenn einige Anwesende nicht aus voller Kehle sangen, so wurde ihre Schw¨ache von dem hypnotischen H¨ammern der Trommeln zugedeckt. Der Erzpriester schritt majest¨atisch in die Mitte des Kreises, umh¨ ullt von einem blutroten Chorrock, der als Wappenschmuck die Kette und den Speer Toyurs trug. Er hob seinen Stab, und die Ornamente auf seinem Wehrgehenk klingelten. Das Trommeln verstummte. Ein bißchen holperig endete der Gesang ebenfalls. Die G¨otter haben gesprochen!“ t¨onte der Erzpriester. B¨oses wandelt unter uns. Es muß ausge” ” brannt werden, bevor wir in Bindir ankommen!“ Er winkte, und sein Diener f¨ uhrte die Hexensucherin heraus. Sie trug ein phantastisches Kleidungsst¨ uck aus Tierh¨auten, die mit klappernden Eisenst¨ ucken besetzt waren, und sie taumelte, als sei sie bereits halb in Trance. Ihr Widerstreben erweckte den Eindruck, sie f¨ urchte sich vor den Menschen und dem Feuer. Der Priester beugte sich fl¨ usternd u ber sie. F¨ u r einen Augenblick verbarg ¨ sein umfangreicher K¨orper sie vollst¨andig vor allen Blicken.
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Shanna preßte die Lippen zusammen. Sie hatte gedacht, das Medium habe die Anschuldigungen vielleicht nur erhoben, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher. Offensichtlich hatte der Erzpriester die Kontrolle u ¨ber das Geschehen hier. Schlagt die Trommel, singt den Bann, ” Sucht die Hexen, ob Frau, ob Mann!“ Die Anwesenden fielen in den neuen Gesang ein. Die Trommeln h¨ammerten beharrlich, und der Rhythmus bem¨achtigte sich der zuckenden Bewegungen des Mediums. Lauter sangen die Menschen, immer schneller tanzte das Medium entgegen dem Uhrzeigersinn im Kreis herum. Durch den K¨orper und den Knochen ” hat Toyur zu uns gesprochen!“ Die M¨anner stampften den Rhythmus mit, so daß Shanna die Erde vibrieren f¨ uhlte. Fackellicht flackerte. Sie blinzelte, k¨ampfte gegen die Faszination an. Sogar außerhalb des Kreises geriet sie in den Bann des Rituals — sie sah vor ihrem geistigen Auge dunkle Schwingen flattern und widersetzte sich der Macht des Marigans, die sie an sich ziehen wollte. Nicht schon wieder!“ fl¨ usterte sie. Sie soll mich nicht bekommen!“ Shanna ballte die F¨auste, bis ” ” ihr die N¨agel in die Handfl¨achen schnitten. Dann brachte ein heftigerer Schmerz sie ins Bewußtsein zur¨ uck. Sie blinzelte, f¨ uhlte die feuchte W¨arme von Blut auf ihrem Arm und erkannte, daß Chal sie gepickt hatte. Zitterig holte sie tief Atem. Hatte sie den Vogel ge¨angstigt, oder hatte Chai alles begriffen und den Schmerz benutzt, um sie abzulenken? Dann schrie die Hexensucherin. Der Trommelschlag schwoll an. Den Schmerz in ihrem Arm ignorierend, schob sich Shanna neben Bercy in die Reihe, um zu sehen, was los war. Hier — hier! Der D¨amon l¨achelt hinter seinen Augen!“ Die Hexensucherin faßte pl¨otzlich nach einem ” der Treiber. Im Nu hatten die Wachen des Erzpriesters ihm die H¨ande gefesselt. Seine Gef¨ahrten wichen auf beiden Seiten zur¨ uck, als f¨ urchteten sie eine Ansteckung. Der Mann war ein Dr¨ uckeberger und streits¨ uchtig; es u ¨berraschte nicht, daß ihn niemand verteidigte. Ein h¨aßliches Gemurmel lief um den Ring. Shanna hatte dieses Ger¨ausch schon einmal geh¨ort, als Menschen das Seuchen-Hospital in Otey verbrennen wollten. Und die Kriegsg¨ottin war gekommen, es zu verteidigen — aber Unschuldige w¨ urden ebenso sterben wie Schuldige, wenn Shanna es zuließ, daß der Marigan wieder Besitz von ihr ergriff.
105 Ai — der Zauberknochen — seht!“ Das Medium sank r¨ uckw¨arts in die Arme des Erzpriesters und ” schwenkte etwas, das im Fackellicht bleich schimmerte. Shanna sch¨ uttelte den Kopf, wies das rote Pulsieren der Gewaltt¨atigkeit außen und innen zur¨ uck. Das Trommeln und Singen ging weiter. Die Hexensucherin rasselte und flatterte in schwankenden Kreisen. Gleich darauf schlug sie von neuem zu. Diesmal war es ein Kaufmann — aber nachdem die Menge der ersten Anschuldigung ihren Segen gegeben hatte, wurde sie jetzt in diesen Wahnsinn hineingezogen. Und von neuem wirbelte sie im Kreis herum, und diesmal pfl¨ uckte sie den Zauberknochen aus der Brust von Bercys Sohn Awrdin. Shanna sp¨ urte, daß ihre Freundin sich in Bewegung setzte, und preßte ihr die Hand auf den Mund. Gleichzeitig faßte ihr ¨altester Sohn sie von der anderen Seite. Bercy, sei still!“ zischte Shanna. Sonst werden sie dich ebenfalls ergreifen! Wir werden ihn retten, ” ” das verspreche ich dir...“ Bercys Muskeln entspannten sich. In diesem Augenblick schwankte die Hexensucherin und fiel um. Die M¨anner des Erzpriesters trugen erst die Gefangenen, dann sie fort. Shanna ließ Bercy los, denn jetzt wurde es keine weiteren Anschuldigungen mehr geben. Toyur hat uns die B¨osen gezeigt“, intonierte der Erzpriester. Morgen wird Seine Gerechtigkeit ” ” geschehen...“ Es war Mitternacht, und die Karawanen-Herrin war endlich mit Hilfe eines Bet¨aubungsmittels eingeschlafen. Shanna schritt den Rand des Lagers ab, Trost in der k¨ uhlen Nachtluft suchend. Die Zelte der Kaufleute und die in ihre Decken eingerollten Treiber neben den ersterbenden Feuern waren undeutliche Urnrisse in der Dunkelheit, und das wellige Heideland wirkte wie eine unbestimmte Masse aus Schatten, die zu den fernen Bergen hin anstieg. Nicht die Gerechtigkeit Gottes, sondern die Habgier der Menschen!“ hatte Bercy gemurmelt, als sie ” in Schlaf sank. Und das war die reine Wahrheit. Die Festnahme des Treibers hatte den Weg f¨ ur die Festnahme des Kaufmanns geebnet, die wahrscheinlich das eigentliche Ziel des Erzpriesters gewesen war. Der Tempel erbte den Besitz jener, die der Gott f¨ ur sich gefordert hatte. Und Awrdin? Diese Anschuldigung war vermutlich reine Bosheit gewesen. Der arme Junge! Und ich habe seiner Mutter versprochen, er werde nicht sterben — oh, Chal, ” war es falsch, daß ich mich still verhalten habe?“ Der Falke verlagerte nerv¨os das Gewicht auf ihrer Schulter, und Shanna seufzte. Sie hatte keine M¨oglichkeit gesehen, dem Treiben Einhalt zu gebieten, aber eine innere Stimme klagte sie der Feigheit an. Auch wenn Chal es verstand — in Vogelgestalt konnte sie nicht helfen. Aber hatten noch andere gezweifelt? H¨atten sie sich Shanna angeschlossen, wenn sie so k¨ uhn gewesen w¨are, zu erkl¨aren, hier geschehe Unrecht?
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Wie dem auch sein mochte — der Augenblick f¨ ur einen Protest war vorbei. Ihre Wanderung hatte sie bis zur Latrine gef¨ uhrt. Sie machte kehrt und sah jemanden den Pfad heraufkommen. Vom Mantel beschattet, waren die Gesichtsz¨ uge nicht zu erkennen, aber es war etwas an diesem stolpernden Gang. Shanna wartete, und als die Gestalt an ihr vorbeiging, faßte sie pl¨otzlich nach ihr. Tu mir nichts!“ Es war ein fadend¨ unner Laut. Shanna griff fester zu und zog die Hexensucherin ” mit sich vom Pfad herunter. Sei still! Ich m¨ochte mit dir reden.“ ” In dem Dickicht hinter ihnen lag ein gefallener Baumstamm. Sbanna dr¨ uckte die Frau darauf uieder. Ja, Herrin. . . Ihre Kapuze war zur¨ uckgefallen, und Shanna sah verkniffene Z¨ uge, die weiß im ” ” Mondschein schimmerten. Wie lange stehst du schon im Dienst Toyurs?“ fragte Shanna barsch. ” Die Frau zuckte die Schultern. Lange. Meine Eltern warfen mich hinaus, als die Geister begannen, ” mich zu besuchen. Ich w¨are in den Straßen von Straith gestorben, wenn die Priester mich nicht aufgenommen h¨atten.“ Und der Gott spricht durch dich?“ ” Der Priester sagt es, und er muß es wissen!“ Das Lachen der Hexensucherin klang ein kleines bißchen ” nach Wahnsinn. Ich weiß nur, daß ich mich schwer f¨ uhle, wenn der Gott sich n¨ahert, und daß mein ” K¨orper hinterher schmerzt. Bitte, tu mir nichts. . . Ihre Stimme schlug pl¨otzlich um, und sie ” blickte mit ¨angstlichen Augen zu Shanna hoch. Tut er dir etwas?“ fragte Shanna behutsam. Die Frau wiegte sich auf dem Baumstamm vor und ” zur¨ uck und wandte ihr Gesicht ab. Man konnte unm¨oglich sagen, wie alt das Wesen war — ihr K¨orper war krumm vor Alter oder Krankheit, aber ihre Augen waren noch die eines Kindes. Als ich ¨alter wurde, kamen die Geister nicht mehr. Jetzt l¨aßt mich der Priester heiligen Rauch ” einatmen, und der Gott kommt, aber er ist zu schwer, als daß ich ihn tragen k¨onnte . . . Sie ” beugte sich vorn¨ uber, bis ihre Stirn auf ihren Knien ruhte, und blieb zitternd in dieser Haltung. Shanna unterdr¨ uckte aufquellendes Mitleid. Auch sie hatte erfahren, was es bedeutete, von einem Gott besessen zu sem. Was ist der Zauberknochen?“ ” Die Frau richtete sich auf und kicherte los. Wenn ich einen h¨atte, w¨ urde ich ihn dir zeigen! Die ” Geister reden manchmal immer noch mit mir, weißt du. Sie erz¨ahlen mir jetzt von dir, Kriegerin — sie sagen, daß du nach Magie riechst!“
107 Meinst du, wenn ich irgendwelche magischen Kr¨afte h¨atte, w¨ urde ich zulassen, daß du diese Un” schuldigen, die du angeklagt hast, verbrennst?“ rief Shanna aus. Die Augen der Hexensucherin f¨ ullten sich mit Tr¨anen. Es sind die Priester, die sie verbrennen. ” Wenn der heilige Rauch mich ergreift, weiß ich nicht, was ich sage. Du bist wie ich — es ist ein Schatten zwischen dir und der Kraft, die in deiner Seele pulsiert.“ Shanna f¨ uhr zur¨ uck und starrte die Hexensucherin an. Sie besaß keine anderen magischen Kr¨afte als ihre Geschicklichkeit mit dem Schwert. Wenn sie glauben mußte, etwas in ihr lenke die Aufmerksamkeit der G¨ottin, die sie verfolgt hatte, auf sie, w¨ urde ihre Welt zusammenbrechen. Wenn du es nicht glaubst“, sprach eine leise Stimme in ihrem Innern, muß Bercys Sohn sterben.“ ” ” Das erste Mal, als Shanna sich f¨ ur jemandes Kind in Gefahr begeben hatte, war ihr Lohn der Fluch Saibels gewesen. Welchen Preis w¨ urde sie diesmal zahlen m¨ ussen? Ich kann es nicht, und selbst wenn ich wollte, w¨ ußte ich keinen Weg! Laß mich gehen“, wimmerte die Hexensucherin. ” Es war keine Kraft mehr in Shannas H¨anden oder in ihrem Willen. Ihre Finger l¨osten sich, und die Frau eilte davon. Die Kriegerin blieb jedoch, wo sie war. Chai breitete die Schwingen aus und segelte durch die Luft, um auf einem toten Ast aufzubaumen. Shanna sp¨ urte die Frage in ihren goldenen Augen. Such-Schwester“, fl¨ usterte Shanna, was soll ich tun?“ ” ” Da war ihr, als bildeten sich Worte in ihrem Bewußtsein. Aber von woher kamen sie? Falkenaugen ” sehen alles ...“ Das Trommeln klang am Morgen anders — es war nicht das hypnotische H¨ammern, das die Menschen am gestrigen Abend zur Raserei aufgepeitscht hatte, sondern ein unheilverk¨ undender langsamer Herzschlag, der den Willen lahmte. Hohe Wolken bedeckten den Himmel, filterten ein blasses, mitleidloses Licht, das nur zu deutlich die Spuren der Ersch¨opfung und der Furcht zeigte. Shanna sah Schatten wie Wunden um Bercys Augen und wußte, ihr eigenes Gesicht war ebenso ausgeh¨ohlt. Wir sehen alle aus, ais seien wir auf dem Weg zur Hinrichtung ...“, dachte sie bitter. Chals Klauen gruben sich in ihre Schulter, und sie begr¨ ußte den Schmerz. Und wenn die Unschuldigen sterben, wird in jedem von uns, die wir es zugelassen haben, ebenfalls etwas sterben. Ihr kam zu Bewußtsein, daß sie irgendwann w¨ahrend der Dunkelheit eine Entscheidung getroffen hatte. Die Hinrichtungen mußten verhindert werden, auch wenn sie ihren Willen von neuem der blinden Wut des Marigan zu opfern hatte. Die Pf¨ahle waren bereits aufgestellt. Der gr¨aßliche Zug wand sich auf sie zu, die Wachen des Erzpriesters und die Opfer, mit Ketten beschwert. Die Hexensucherin, bleich und zitternd, hockte zu F¨ ußen des Erzpriesters. Der leise Gesang ging Shanna durch Mark und Bein.
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KAPITEL 9. DAS AUGE TOYURS
Toyur, Toyur, gerechter Gott...“ ” Bercys ergrauter Kopf bewegte sich vor und zur¨ uck wie ein verw¨ undetes Tier. Angesichts der ¨ Qual, die die Altere durchlitt, ging es Shanna durch den Sinn, daß ihre eigene Unfruchtbarkeit vielleicht ein Segen war. Kinder machten einen zu verwundbar. In einer einzigen Nacht war die Karawanen-Herrin alt geworden. Jetzt band man die Gefangenen an die Pf¨ahle und schichtete Holz um sie auf. Shanna holte tief Atem, ließ ihre Wahrnehmung nach innen sinken, suchte die rote Flut der Kraft. Aber dieses kaltbl¨ utige T¨oten war das Gegenteil des Blutrausches, der die Dame der Raben herbeigerufen hatte. Shanna fand nur Leere und reichte in ihrer Panik tiefer hinab, als sie es je zuvor gewagt hatte. Toyur, Toyur, der Gott ist nah...“ ” Ihr Geist schwebte in einem prek¨aren Gleichgewicht, und langsam wurde sie sich einer ewigen wachsamen Geduld bewußt, deren Pr¨asenz immer st¨arker wurde, w¨ahrend sie, Shanna, in den Brennpunkt ihrer leidenschaftslosen Aufmerksamkeit r¨ uckte. Nun kam es ihr vor, als stehe sie in einer weiten Halle vor einem Thron. Andere warteten entlang der Wand, aber sie waren still. Es war der Eine auf dem Thron, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Shanna sp¨ahte durch die Schatten, versuchte, etwas zu sehen, aber die Gestalt ver¨anderte sich. Erst dachte sie, dort sitze ein Wolf, aber der Wolf verschwamm. Dann erkannte sie, daß es ein Krieger mit nur einer Hand war. Sie ging n¨aher heran. Trug er einen Helm? Nein, auf menschlichen Schultern erhob sich der Kopf eines Falken, und er drehte sich, um sie mit einem bernsteinfarbenen Auge anzusehen. Herr, siehe, wie Dein Priester Deine Gerechtigkeit entweiht!“ rief Shannas Geist. ” Die Vision hatte sich in einem einzigen Augenblick aufgebaut. Mit doppelter Sicht sah Shanna das Leuchten des falkenk¨opfigen Gottes und das blasse Flackern der Fackel, mit der der Erzpriester in seinem ganzen Staat zum ersten seiner Opfer schritt. Toyur, Toyur, der Gott ist hier!“ sangen die W¨achter. ” Der Wille Tovurs geschehe!“ rief der Erzuriester und hob seinen Brand. Und im selben Augenblick ” sprach eine Stimme in Shannas Seele: Das Auge Toyurs sieht alles!“ ” Das Auge! Das leuchtende Auge des Falken! Shanna machte einen Schritt, stieß den Arm vor, damit der Falke daran herunterlaufen konnte, warf Chal in die Luft. H¨oher und h¨oher flog sie wie ein geschleuderter Speer, und sogar der Er:zpriester blickte nach oben, um sie in den Himmel steigen zu sehen. Sie stieß einen durchdringenden Schrei aus, und dann, schneller, als das menschliche Auge folgen konnte, schlug sie zu.
109 Ein Wutschrei, ein Donnern klatschender Fl¨ ugel. Der Erzpriester fiel um sich schlagend auf den R¨ ucken, die Fackel flog ihr aus der Hand. Dann ließ Chal ihn los. Sie hielt etwas in den Klauen, das sie im Hochsteigen aufrerrte, so daß der Inhalt sich u ¨ber das Gras verteilte. Shanna sprang hin, griff zu, hielt ihre Beute in die H¨ohe. Was ist das?“ — Was ist passiert?“ wurde ringsum gefragt. Einige lachten u ¨ber den Erzpriester, ” ” der st¨ohnend versuchte, sich aufzusetzen. Seine W¨achter r¨ uckten mit gezogenen Schwertern n¨aher, aber die zur Karawane geh¨orenden M¨anner stellten sich ihnen entgegen. Das Medium war zu einem Lumpenhaufen zusammengebrochen und weinte leise. Sehet die Gerechtigkeit Toyurs!“ rief Shanna und zeigte, was sie in der Hand hielt — ein St¨ uck ” Knochen, in das magische Zeichen eingeritzt waren. Ein Zauberknochen!“ stellte einer der M¨anner fest. Ich verstehe nicht ...“ ” ” Sie waren in einem der K¨asten am Wehrgehenk des Erzpriesters“ antwortete Shanna. Er schickte ” ” seine Hexensucherin mit den Knochen zu dem Beschuldigten, und sie brachte sie mit einem Taschenspielertrick zum Vorschein!“ Sie ist die Hexe!“ keuchte der Erzpriester und zeigte auf Shanna. Sie hat den Vogel verzaubert, ” ” damit er mich angriff...“ Toyur selbst hat den Vogel inspinert, und dies ist der Beweis! Scharlatan, der Gott sagt sich von ” dir los!“ erwiderte Shanna. Verbrennt ihn!“ rief jemand. Verbrennt die Hexensucherin und ihren Herrn!“ Dumpfe Hirinalime ” ” hatte sich in Zorn verwandelt, der sich so hef¨ ug gegen den Erzpriester richtete wie vorher gegen die von ihm Beschuldigten. M¨anner dr¨angten auf ihn zu, aber seine W¨achter umgaben ihn; sie wollten die Hexejisucherin greifen, aber dort stand Shanna. Laßt sie in Ruhe — er hat ihr ein Rauschmittel eingegeben — sie war nur ein Werkzeug!“ Shanna ” zeigte mit dem Schwert. Ihr wollt doch den Mann — seht, er flieht!“ ” Der Erzpriester hatte die Ablenkung gut zu nutzen gewußt. Er saß bereits zu Pferde, und zwei seiner M¨anner schwangen sich in den Sattel. Br¨ ullend lief die Menge ihnen nach. Die Sonne brannte die Wolken weg, und das Licht wurde immer heller. Jemand hatte die Opfer des Erzpriesters losgebunden, und Bercy dr¨ uckte ihren j¨ ungsten Sohn, w¨ahrend seine Br¨ uder zusahen und grinsten. Die Hexensucherin lag imlner noch zusammengekr¨ umint im Gras. Sie sah jetzt alt aus, aber Shanna stellte fest, daß ihre Reserven an Mitleid gef¨ahrlich knapp waren. Steh auf, Frau“ sagte Shanna, und verschwinde! Wenn der Er:zpriester den Treibern entkommt, ” ” bezweifle ich, ob ich dich noch einmal retten kann. In diesem Beutel ist genug Silber, daß du eine Weile davon leben kannst. Nennen wir es ein Honorar daf¨ ur, daß du mich gelesen hast...“ Sie warf ihr den Beutel zu.
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KAPITEL 9. DAS AUGE TOYURS
Shanna sp¨ urte das Rauschen verdr¨angter Luft und bot der niederschießenden Chal den Arm dar. Du hast mich also verstanden, meine Freundin“, sagte sie leise, w¨ahrend das Falkenweibchen seinen ” u ¨blichen Sitz auf Shannas Schulter erklomm. Und ich glaube langsam, daß ich lernen werde, dich ” zu verstehen.“ Sie stand ganz still, ¨offnete ihr inneres Ohr, ließ ihre Gedanken frei treiben. Endlich . . .“ Der glatte Kopf drehte sich und richtete ein leuchtendes bernsteinfarbenes Auge auf ” sie. Shanna grinste. Die Hexensucherin hatte sich davongemacht, und Bercy war mit ihrer Familie auf dem Weg zu ihrem Zelt. Die u ¨brigen M¨anner waren dunkle Punkte auf der Heide. Immer noch l¨achelnd wanderte Shanna u ¨ber den Rasen und trat die Fackel aus, die im taufeuchten Gras quahnte.
Kapitel 10 Piets Braut von Dana Kramer-Rolis Dana Kramer-RolIs ist eine weitere Autorin, bei deren Geschichten ich mich darauf verlassen kann, daß sie v¨ollig professionell geschrieben sind. Die erste, die sie dieses Jahr einsandte, war zu lang f¨ar mich. (F¨ ur diese Anthologie sind zwar theoretisch Geschichten bis zu 10000 W¨ortern zugelassen, aber in der Praxis kaufe ich selten eine, die mehr als 4500 hat, und anscheinend glaubt jeder, bei seiner Geschichte m¨ ußte ich eine Ausnahme machen.) Ich finde es sch¨on, wenn ich einem Profi sagen kann, die Geschichte sei gut, nur zu lang, und dabei weiß, ich werde keine scharfe Antwort, sondern eine k¨ urzere Geschichte bekommen. Das ist der Unterschied zwischen einem Profi und einem Amateur, oder, wie jemand einmal gesagt hat: Die Amateure saßen in der einen Ecke und sprachen u ¨ber KUNST und die Profis in einer ” anderen und sprachen u ¨ber Vertr¨age.“ Dana ist von Anfang an Profi gewesen; sie begann ihre Karriere rnit dem Schreiben von Spielen und Teilnahme-Abenteuern“ — die ich nicht lese und an denen ich nicht teilnehme. Aber sie nimmt ” sich auch hin und wieder die Zeit, eine kunstvolle kleine Geschichte wie diese hier zu schreiben, die beweist (das mußte einmal gesagt werden), daß eine professionelle Arbeit sich nicht von vornherein disqualifiziert, was das K¨ unstlerische betrifft.
K¨onnen wir immer noch keine Pause machen?“ st¨ohnte Gorah. Der Karren, an den sein großer, ” zottiger K¨orper geschirrt war, rumpelte u ¨ber die unebene Straße. H¨or auf zu jammern, Gorak“, fertigte Miera ihn m¨ ude ab und wischte sich den staubigen Schweiß ” mit dem Handr¨ ucken vom Gesicht. Sie zupfte noch einmal hoffnungslos an ihrem Lederhemd, aber es klebte an ihrem R¨ ucken fest und rieb ihr weiter den Hals auf. 111
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KAPITEL 10. PIETS BRAUT
Wenigstens k¨onntest du absteigen und zu Fuß gehen“, wimmerte das Tier. ” Die endlose N¨orgelei eines so robusten Tieres kam Miera komisch vor. Sie grinste, zuckte die Schultern und sprang von dem weiterrollenden Karren. Außerdem hatte sie ihren Gef¨ahrten wirklich sehr gern, wenn er auch manchmal eine f¨ ur ein Zugtier geradezu erschreckende Intelligenz an den Tag legte. Gedankenverloren brach sie einen Zweig von dem duftenden Bl¨ utenstrauch am Wegrand ab. Autsch!“ Sie zog ihre Hand von dem Busch zur¨ uck, als stehe er pl¨otzlich in Flammen. ” Dann f¨ uhr sie herum und schrie Gorak an: Verdammt noch mal, laß das! Dein Sinn f¨ ur Humor wird ” dich noch einmal in die Leimfabrik bringen...“ Was soll ich lassen?“ protestierte das Tier, drehte ihr den zottigen Kopf zu und blieb so pl¨otzlich ” stehen, daß der Karren gef¨ahrlich kippte. Du meinst, du hast nichts gesagt?“ ” Nein!“ entr¨ ustete sich Gorak. ” Autsch! Hilfe, so helfe mir doch jemand!“ erschallte die Stimme von irgendwo hinter dem Busch. ” Miera legte vorsichtig den Kopf schief. Du wartest hier mit dem Karren. Ich gehe nachsehen.“ Sie ” nahm ihren Stab vom Karren, machte sich Mut und st¨ urzte sich ins Unterholz. Huuuuaaaaaa!“ Fast sofort rutschten ihr die F¨ uße weg, und sie sprang und glitt den steilen, sandigen ” Hang hinunter. Sie stieß den Stab in den Boden und faßte nach allem, was sich als Vegetation betrachten ließ; aber der einzige Erfolg war, daß sie schmerzhalt auf den Hintern fiel. Schließlich blieb sie liegen, blinzelte sich den Dreck aus den Augen und blickte gerade noch rechtzeitig in die H¨ohe, um Gorak und den Karren am Rand der Rutschbahn zu sehen. Nicht, Gorak, zur¨ uck . . ” Sie kroch der Lawine von Tier und Karren bei ihrer unvermeidlichen Reise nach unten aus dem Weg. Großartig!“ schnaubte sie, hievte ihren blaugeschlagenen K¨orper in die H¨ohe und ließ Gorak eine ” von sehr wenig Mitgef¨ uhl getragene medizinische Untersuchung angedeihen. Sieh dir das an! Nun ” sieh dir das an!“ rief sie und schwenkte den Arm u ¨ber dem zerschmetterten, umgekippten Karren. Das ist alles, was wir besitzen.“ Sie nahm eine zerbrochene Flasche mit Zaubertr¨anken nach der ” anderen auf und ließ sie wieder fallen. Wie sollen wir uns unseren Lebensunterhalt verdienen? ” Crones H¨olle, wie sollen wir hier wieder hinauskommen?“ O bitte, helft mir!“ Miera drehte sich der Richtung zu, aus der die Stimme kam. Sie hatte ihn ganz ” vergessen, aber jetzt richtete sich ihr Zorn auf den schlaksigen jungen Mann, der keine zehn Fuß von da, wo sie stand, an einem Baum festgebunden war. Dir helfen? Du. . . Was machst du da, an einen Baum gebunden?“ Ihre Neugier war doch gr¨oßer ” als ihr Zorn.
113 Ja, weißt du, damals, zur Zeit K¨onig Condols . . . , begann er. ” ” Fasse dich kurz!“ verlangte Miera energisch. ” Schon gut. Aber, nun, es ist peinlich. Ich bin das Opfer f¨ ur einen Drachen.“ ” Du bist was. . .? unterbrachen Miera und Gorak ihn. ” ” Der junge Mann err¨otete. Also, sie brauchten eine Jungfrau, und jungfr¨auliche M¨adchen sind schwer ” zu finden.“ Paß bloß auf!“ f¨ uhr Miera ihn hitzig an. ” Es ist ja ein kleines Dorf und — na, nichts f¨ ur ungut!“ rief er kl¨aglich. Laßt mich einfach hier. ” ” Geht weiter. Aber“, setzte er hinzu und blickte hoffnungsvoll auf, k¨onntet ihr mir wenigstens diesen ” verdammten Zweig vom R¨ ucken nehmen, bevor ihr geht? Das Mittagessen f¨ ur einen Drachen zu sein ist schon schlimm genug, aber...“ Ach, halt den Mund“, knurrte Miera. Du bist ebenso schlimm wie Gorak.“ ” ” Ich bin keine Jungfrau!“ protestierte das ochsen¨ahnliche Tier. Sie ignorierte es und f¨ uhr fort: ” Außerdem´ Junge, wie stellst du dir vor, daß wir hier rauskommen? Sollen wir fliegen? Falls du es ” nicht wissen solltest: Flugzauber wachsen nicht auf B¨aumen.“ Sie setzte sich mit einem Plumps auf die Erde und wandte dem Jungen und Gorak den R¨ ucken zu. Achte gar nicht auf sie“, riet das Tier fr¨ohlich. So ist sie manchmal. In Wirklichkeit ist Miera ein ” ” nettes K¨atzchen. Mein Name ist Gorak. Und wie heißt du?“ Piet. Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte der gefesselte Junge h¨oflich. Oh, jetzt geht es schon ” ” wieder los . . Seine Worte hingen noch in der Luft, als das große Schuppentier u ¨ber die Gruppe hinfegte. Seine gewaltigen Schwingen schlugen heißen Rauch, der nach Schwefel roch. Miera blickte hoch. Die Augen traten ihr aus den H¨ohlen, und ihre Niedergeschlagenheit war vergessen. Ist er das?“ ” Sie“, korrigierte Gorak sie beil¨aufig. ” Gut, also sie. Woher weißt du das?“ murmelte Miera. ” Das ist leicht. Wenn du all diese B¨ ucher lesen w¨ urdest, die du mich durchs ganze Land ziehen l¨aßt. ” . Fang nicht wieder damit an, Gorak. Bitte. Wie kommen wir hier raus?“ fragte sie verzweifelt. ” Oh, uns bleibt ein bischen Zeit. Ich glaube, er — ¨ah — sie will mich erst einmal taxieren. Das tut ” sie schon den ganzen Vormittag. Wir haben noch eine halbe Stunde. Nat¨ urlich, wenn sie nicht heikel ist, was Jungfrauen betrifft — u ¨brigens, bist du Jungfrau...?“
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Miera hob ihren Stab vom Boden auf und st¨ urzte sich auf den Jungen. Verzeihung, es war nur eine Frage“, stammelte er. ” Laß es sein!“ fauchte sie. ” Sie ist keine“, fl¨ usterte Gorak´ den frostigen Blick Mieras nicht beachtend. ” Sie wenigstens will mich.“ Sehns¨ uchtig starrte der Junge dem schnell verschwindenden Fleck am ” blauen Himmel nach. Ihr wißt nicht, wie schrecklich es ist, in einem kleinen Dorf der letzte Dreck ” zu sein. Wollen wir wetten?“ zischte Miera wie im Selbstgespr¨ach. ” Warum holst du das Zauberbuch nicht heraus und siehst nach, ob wir irgend etwas tun k¨onnen, um ” hier hinauszukommen, bevor sie zur¨ uckkehrt?“ fragte Ciorak mit dick aufgetragener Geduld. Wenn du mich losbindest, werde ich helfen“, schlug der Junge hoffnungsvoll vor. ” Wenn ich dich losbinde, wirst du in den Wald rasen und mich und Gorak als ersten und zweiten Gang ” zur¨ ucklassen. Du bleibst, wo du bist.“ Miera tauchte in das Wrack ihres wandernden Zauberladens. Wenn du mich losbindest“, bemerkte Gorak kalt, k¨onnte ich die Tr¨ ummer auf die Seite r¨aumen ” ” und es dir so erleichtern, etwas N¨ utzliches zu finden.“ Sie zerschnitt das Geschirr des Tieres, und nun st¨oberten sie beide im Schutt. Hier, zieh, Gorak!“ ” Miera gestikulierte aufgeregt. Bald darauf brachte sie einen zerfetzten W¨alzer zum Vorschein, der in mattem Gold den Titel trug: Alte Zauberspr¨ uche f¨ ur alle Gelegenheiten. Pater Omnes muß etwas N¨ utzliches haben“, murmelte sie. ” Vater Alles, in der Tat!“ brummte Gorah. Ihr Menschen seid so leichtgl¨aubig. Ich w¨ urde vorschla” ” gen, daß du Gregorius den Eremiten ausgr¨abst Oh, sei still. Was ist das? Sieh mal, Gorak. Die Stelle hier.“ Sie hielt dem Tier das Buch zum ” Lesen hin. Was h¨altst du davon?“ ” Was? Was?“ schrie Piet mit verzweifelter Ungeduld. ” Ruhig!“ riefen die beiden anderen im Chor. ” Ja, Miera, f¨ ur mich sieht das nach einem Wandlungszauber aus. Aber man braucht dazu eine Menge ” Zeug... Ich weiß nicht, ob wir auch nur die H¨alfte davon hatten, bevor wir abgest¨ urzt sind.“ Wir sind abgest¨ urzt? Wir!?“ explodierte sie. ” Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“, beschwor Piet sie. ”
115 Miera und Gorak sahen wieder ins Buch, dann einander an, und beide brachen in Lachsalven aus. Denken wir das gleiche?“ fragte sie, und die Tr¨anen st¨ urzten ihr aus den Augen, w¨ahrend sie den ” Heiterkeitsausbruch unter Kontrolle zu bringen versuchte. Ich glaube schon“, meinte der große Ochse und schwankte vor und zur¨ uck wie ein riesiger Heuhaufen ” aus braunem Fell. Gut, Piet, wir haben es. Das hier ist ein Wandlungszauber, was bedeutet, er kann Dinge in andere ” Dinge verwandeln, zum Beispiel Prinzen in Fr¨osche. Aber f¨ ur gew¨ohnlich braucht man eine Jungfrau dazu. Oder zumindest geht es dann leichter, aus Gr¨ unden, die dich nichts angehen.“ Sie liegen auf der Hand“, erkl¨arte Piet. Jungfrauen sind eher zu beeindrucken.“ ” ” Miera hob bewundernd eine Augenbraue. Gut. Zu schade, daß wir uns nicht unter anderen ” Umst¨anden kennengelernt haben. Aus dir h¨atte ein Zauberer werden k¨onnen. Hast du jemals in dieser Gegend Baby-Drachen gesehen oder von ihnen geh¨ort?“ Kann ich nicht sagen“, antwortete der Junge. ” Ich auch nicht — seit ewigen Zeiten nicht mehr. Ich wette, die alte Dame Feuermund da oben hat ” dich noch nicht weggeputzt, weil sie verliebt oder in Brunst oder etwas in der Art ist. Es muß einsam f¨ ur sie sein“ ,setzte die Zauberin mit Gef¨ uhl hinzu. Du willst mich in einen Drachen verwandeln?“ kreischte Piet. Nun, es ist entweder das oder. . ” ” . Gorak beendete den Satz mit einem anschaulichen Mahnen der Z¨ahne. ” Was hast du dagegen, ein Drache zu sein?“ fragte Miera. Was hast du da unten?“ Sie sch¨ uttelte ” ” den Kopf in die Richtung, in der, wie sie vermutete, das Dorf lag. Denke dar¨ uber nach. Du k¨onntest ” der Vater einer ganzen Rasse neuer Drachen werden.“ Ja?“ keuchte Piet. Ihm ging die Ungeheuerlichkeit des ihm unterbreiteten Angebots auf, und der ” Unterkiefer klappte ihm herunter. Wir sollten lieber anfangen“, mahnte Gorak in einem Ton, den er im allgemeinen f¨ ur kleine dumme ” Kinder reservierte. Miera sch¨ uttelte ihr langes, rabenschwarzes Haar aus und legte das Buch auf ein Regal aus zerbrochenen Kanenteilen. Wenn ihr mich losb¨andet, k¨onnte ich helfen. Bitte!“ fiehte Piet, und diesmal schnitt Miern ihn ab. ” Gorak´ sieh zu, ob du mir ein paar Warzenbuschbl¨atter bringen kannst. Ich bin sicher, ich kann ” da dr¨ uben welche riechen“, befahl sie, und das Tier trampelte davon. Versuche, sie nicht alle zu ” essen!“ rief sie ihm nach. Piet, irgendwo in diesem Abfallhaufen ist eine Phiole mit rosa Zeug. Falls sie noch heil ist! Sie ” m¨ ußte in einem Beutelchen aus weißem Threepfell stecken.“ Miera hielt ihre beiden Assistenten
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auf Trab damit, genug Ingredienzen f¨ ur eine k¨onigliche Hochzeitstorte zusammenzubrin n, die sie in gewissem Sinne ja auch zubereiten wollte. Sie stellte den Dreifuß und den Kessel auf, der mit einer neuen Delle geziert war, goß den letzten Rest Wasser aus einem Lederbeutel hinein und beschwor ein kleines, aber ausreichendes Feuer herauf. Schließlich war sie mehr oder weniger zufrieden (emige der Pflanzen waren Ersatz, und das machte sie nerv¨os, aber es ließ sich nichts daran ¨andern). Da kommt sie wieder!“ rief der angehende Br¨autigam aus, stellte sich aufgeregt auf die Zehen und ” zeigte auf die sich ihnen n¨ahernde Rauchspirale. Miern zog einen kurzen Zeremonienmantel aus purpurner Wolle, gef¨ uttert mit T´hreepfell, u ur ¨ber. F¨ die Jahreszeit war er ein bißchen zu warm, aber sie hatte ihn bei der Hand. Sie hob ihren Stab und begann zu singen, unterbrach sich jedoch wieder und murmelte: Verdammt!“ Dann w¨ uhlte sie sich ” von neuem in den Haufen aus Karrentr¨ ummern und warf mit Gegenst¨anden um sich. Vorsichtig!“ rief Gorak. ” Beeil dich!“ rief Piet. ” Da!“ rief Miera und tauchte triumphierend mit einem silbernen Filigran-Helm auf, der an der ” Stelle u uckt war. Er war ihr liebstes ¨ber det Stirn mit einem riesigen goldenen Sonnenauge geschm¨ Besitzst¨ uck. Sie dr¨ uckte ihn sich auf den Kopf, richtete sich auf und begann von vorn. M¨achte der Erde, von Gesicht und Form“, intonierte sie und warf eine Handvoll Bl¨atter ins Wasser. ” M¨achte des Feuers, des Geistes und der Liebe“, sprach sie weiter und ließ drei Tropfen des kostbaren ” rosa Stoffes hineinfallen. Sie fuhr mit der Beschw¨orung fort. Gorak schankelte vor Ungeduld vor und zur¨ uck. Da fiel der Schatten des riesigen Wesens u ¨ber die Lichtung. Piet stand irn Mittelpurikt´ zitternd vor Angst und Erwartung. M¨achte der Luft . . .“ Miera beeilte sich mit dem Zauber, so sehr sie es nur wagte. Atem des ” ” Lebens . . .“ Sie hoffte, sie machte alles richtig, und zerkr¨ umelte ein paar Bl¨atter des gleichen duftenden Strauches, der die Ursache von allem gewesen war. M¨achte des Wassers“, endete sie und murmelte die eigentliche Formel, die sie vorsichtshalber aus ” dem Zauberbuch ablas. Dann pustete sie dreimal in die Mischung und sch¨ uttete sie u ¨ber dem ahnungslosen Piet aus. Nichts geschah. Der Kopf der Drachendame war bereits u ¨ber dem Rand der bewaldeten Senke erschienen. Sie konnten das Klatschen ihrer Schwingen und ihren heiseren Schrei h¨oren. Mentu kaxon greebe nunt, verdammt noch mal!“ rief Miera von neuem und stieß das Ende ihres ” Stabes auf den Boden.
117 Sie ist sch¨on“, sagte Piet. Sein Gesicht strahlte vor Bewunderung. Langsam bildete sich ein Schim” mer um den Jungen. Miera hielt den Atem an. Gorak hielt den Atem an. Der magere Junge wuchs deutlich, seine Kleider fielen ihm in Fetzen ab. Und ihm sprossen kleine Fl¨ ugel. Die große Drachendame kreiste oben, mehr als neugierig. Jetzt war Piet mit gl¨anzenden goldenen und gr¨ unen Schuppen bedeckt, die in herrlichem Kontrast zu den goldroten, leicht mit Purpur durchschossenen seiner Partnerin standen. Er wandte Miera seinen verl¨angerten Kopf zu und sagte: Ich danke dir vielmals, Miera. Lebewohl, Gorak. Ich kann euch ” beiden niemals genug danken . . . krah, krah . . . Dann war es vorbei. Der neugebildete Drache ” erhob sich zitterig auf seinen neuen Schwingen. Seine Dame leitete ihn z¨artlich, und so schwebten sie zu ihrem Hochzeitstanz in den fernen Bergen davon. Gorak schnaubte sentimental. Miera wischte sich eine Tr¨ane ab. Du w¨ urdest dir wohl nicht die M¨ uhe machen, mich in einen Menschen zu verwandeln?“ fragte Gorak ” und warf sie mit einem liebevollen Schubs beinahe zu Boden. Ich werde dar¨ uber nachdenken“, antwortete sie nicht allzu barsch und kratzte dem Tier den wolligen ” Kopf. Aber in der Zwischenzeit wollen wir sehen, daß wir diese Schweinerei aufr¨aumen und einen ” Weg hinaus finden“, kommandierte sie in ihrer gewohnten Art. Schließlich wachsen Flugrauber ” nicht auf den B¨aumen. Auch keine Kr¨ uge mit Ale“, setzte sie hinzu und nahm die Schultern zur¨ uck. Sie war mit ihrer Tagesarbeit sehr zufrieden.
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KAPITEL 10. PIETS BRAUT
Kapitel 11 Der Weg der Kriegerin von A. D. Overstreet Ich werde immer wieder gefragt, warum ich gelegentlich eine Krieger-Geschichte kaufe, aber die sehr ¨ahnliche Samurai-Geschichte ausnahmslos ablehne. Das ist einfach. Fantasy ist EskapistenLiteratur, und ich lehne jede Geschichte ab, die einen bestimmten Raum oder einer bestimmten Zeit zu fest verhaftet ist. Ich selbst bin keine Anh¨angerin der asiatischen Kampfsportarten und vermute, wenn ich eines von beidem sein m¨ ußte, w¨ urde ich eher Zauberin als Schwerthampferin sein wollen. Gl¨ ucklicherweise brauche ich diese Wahl nicht zu treffen. Und die verschiedenen Abenteuergeschichten u ur Jahr bei mir ein, und die Leute kaufen ¨ber Schwertk¨ampferinnen treffen weiterhin Jahr f¨ weiterhin die B¨ ucher, so daß ich annehme, daß viele an den kriegerischen K¨ unsten interessiert sind. Aber vor allem Autorinnen sind anscheinend der Meinung, daß eine Geschichte u ¨ber eine Kriegerin unvollst¨andig ist, falls sie nicht auch u ¨ber Zauberei triumphiert. Fragen Sie mich nicht, warum — ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich weiß nur, daß diese Geschichten besser funktionieren als andere. Vielleicht liegt es daran, daß in einem Tagtraum — und wenn man es recht bedenkt, sind alle Geschichten geteilte Tagtr¨aume — nichts extra berechnet wird. Deshalb kann der Autor das Beste aus beiden Welten haben. Ich schreibe seit rund vierzig Jahren, und ich habe nie festgestellt, daß der, der mehr als ein Leben lebt, mehr als einen Tod sterben muß ...“ ” Der Schnftsteller ist meines Wissens der einzige Mensch, der mehr als ein Leben leben kann.
Der Blinde w¨ urde den Klang nat¨ urlich erkennen. Kwannon ließ f¨ uuf Goldm¨ unzen — eine nach der anderen — auf den kleinen Holztisch fallen. Sie legte ihr sympathisches Aussehen in ihre Stimme: Herr, sage mir, was du u ¨ber das Auge Dhyanas weißt.“ Der grauhaarige Weise faßte nach den ” 119
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KAPITEL 11. DER WEG DER KRIEGERIN
M¨ unzen. Die a¨ußeren Winkel seiner leeren Augenh¨ohlen kr¨auselten sich, und ein schwaches Grinsen flackerte u ¨ber seine Lippen. Im Land der Githrodi, hoch in den Bergen der Sonne, im Tal des ” Windflusses, in einem alten Tempel ruht das heilige Auge Dhyanas.“ Dort ist es gewesen, Meister Keane.“ Die Ungeduld nagte an ihr mit scharfen Z¨ahnen, aber die ” Githrodi-Kriegerin machte sich nicht die M¨ uhe, dem Weisen von Rotstein zu erz¨ahlen, daß das, was er einen Tempel nannte, eher ein Heiligtum als eine St¨atte der Anbetung war. Es wurde gestohlen, ” und ich bin seiner Spur bis hierher gefolgt.“ Der Alte nickte ernst. Zweifellos bestand die Spur aus Toten Ich habe von dem Fluch geh¨ort.“ ” Die Kriegerin lachte, und der Laut war ebenso hart wie ihre eigenen durchtrainierten Muskeln. Eine ” Spur, gut sichtbar f¨ ur jeden, der bei jedem Tod nach einer Bedeutung sucht.“ Vor dem kleinen, h¨ ubschen H¨auschen stampfte Kwannons falbe Stute Jahael. Auch wenn ihre Aufmerksamkeit f¨ ur kurze Zeit geteilt war, hielt die Frau den Blick unverwandt auf den alten Weisen gerichtet. Der Fluch ” besteht jedoch nur in der Gier der Menschen nach einem zwei Zoll großen, fehlerfreien Smaragd.“ Keane lachte ebenfalls, und der zarte Klang paßte zu seiner zerbrechlichen Gestalt. Aber du bist ” keine Diebin.“ Wenn ein Diebstahl notwendig ist, um das Auge zur¨ uckzugewinnen, dann bin ich eine.“ F¨ unf weitere ” M¨ unzen klingelten auf die Holzplatte. Der Weise legte den Kopf zur¨ uck, als lausche er einer fernen Stiinme. Das Auge sieht kalte H¨ande ” um sich, doch die H¨ande sind jetzt da, wo niemand sie sehen kann.“ Du sprichst in R¨atseln. Du meinst, jene, die es gestohlen haben, sind tot. Das weiß ich.“ ” Auch jene, die es hierherbrachten. Ich spreche ebenso davon, wo es jetzt ist.“ Keane erhob sich ” steif und ging sicheren Schrittes quer durchs Zimmer zu einem Schrank. Er ¨offnete ihn, legte seine Hand um eine Karaffe aus Bleikristall, die mit einer dunklen Fl¨ ussigkeit gef¨ ullt war, und hielt sie der Kriegerin hin. Auch wenn es noch fr¨ uh am Tag ist, m¨ochtest du ein Schl¨ uckchen?“ ” Kriegerinnen trinken keine solchen Gifte, aber Kwannon sagte sich, wenn sie die Gastfreundschaft des Weisen ablehnte, werde der frustrierend langsame Informationsfluß ganz versiegen. F¨ ur mich bitte ” Wasser.“ Mit dem angeborenen Anstand der Edelfrau nahm Kwannon auf dem ihr angebotenen Stuhl Platz, so daß sie dem Weisen von Rotstein gegen¨ ubersaß. Der saure Geruch des blutroten Weins stieg ihr in die Nase. Schließlich stellte Keane seinen Krug ab. Er hatte den Wein nur zur H¨alfte ausgetrunken. Alle, ” die das Auge bei sich trugen, waren von Anfang an zum Untergang verurteilt. Er, der es holen ließ, sorgte daf¨ ur. Ihr Blut macht den Roten Fluß noch r¨oter.“ Die nun folgende Pause kam Kwannon endlos vor, doch sie blieb ruhig und, obwohl sie saß, in Kamplhaltung. Weise haben ihre eigenen Zeitbegriffe; sie wurde ihn nicht dr¨angen. Er nahm einen
121 weiteren Schluck Wein, der ihm anscheinend schmeckte, und Kwannon wand sich innerlich. Auch vor einem Blinden w¨ urde sie ihren unersch¨ utterlichen Gesichtsausdruck nicht ver¨andern. Sie wußte, wie gut Blinde ihre Welt wahrnehmen. Da sie nichts sehen, werden sie oft selbst nicht gesehen und h¨oren so Dinge, die man vor Sehenden nicht ausspricht. Ihre Geduld nutzte sich ab. Als habe er Augen, wandte Keane ihr den Kopf zu. Das Auge Dhyanas ist zwischen Himmel und ” Erde, zwischen Wind und Wasser.“ Weitere R¨atsel.“ ” Seine Stimme war so br¨ uchig wie billiges Glas. Eine Kriegerin der Githrodi sollte beide R¨atsel ” verstehen.“ Langsam setzte Kwannon ihren Krug ab. Ihr Blick schoß hierhin und dahin. Woher wußte er das? Hatte er es aus dem Klang ihrer Stimme oder ihrer Schritte effaten? Oder war der Weise von Rotstein u ¨ber ihre Ankunft informiert worden? Geschmeidig stand sie auf. Meinen Dank, Meister Keane.“ ” Auch der Weise erhob sich und streckte die Hand aus. Ich w¨ unschte, du k¨onntest l¨anger bleiben. ” Deine Stimme klingt so angenehm: kr¨aftig und doch ruhig und entschlossen. Von der Art h¨ore ich so wenige.“ Kwannon nickte. Es war also in der Tat ihre Stimme, die sie verriet. Oder doch nicht? Ein anderes ” Mal vielleicht. Sag mir bitte noch eins: Woher weißt du, daß ich eine Githrodi-Kriegerin bin?“ Deine Stimme ist sicher, dein Gang kr¨aftig und selbstbewußt, und du riechst zu frisch f¨ ur eine ” St¨adterin. Du bist eine Kriegerin, und nur die f¨ urchtlosen Githrodi tragen keine R¨ ustung.“ Kwannon ging um den Tisch und ergriff die Hand des Alten. Wirklich, die Blinden sehen mehr. Manch einer im Tiefland erkannte sie nicht als Kriegerin -und hatte es zu bereuen. Sie sah sich noch einmal in dem halbdunklen Raum um und fand ihren ersten Eindruck best¨atigt. Keane stellte weder in seiner eigenen Person noch durch irgendwelche m¨oglichen Verbindungen zu dem, der das Auge jetzt in seinem Besitz hatte, eine Gefahr f¨ ur sie dar. Sie wollte dem freundlichen Weisen mehr als Gold geben. Weißt du, daß der Windfluß kein Fluß ist?“ ” Sein schnelles Grinsen verriet ihr, daß er ein Geschenk, das in Wissen bestand, zu w¨ urdigen wußte. So?“ ” Er ist Wind, der so stetig u ¨ber die Talsohle weht, daß es wie das Fließen von Wasser ist. Das ” Heiligtum Dhyanas liegt am oberen Ende des Tales, wo der Wind beginnt. Manche sagen, Dhyana schicke den Wind, aber es ist nur Luft, die von den hohen Gipfeln f¨allt und ins Tal bl¨ast. Das Tal bildet einen Kanal f¨ ur den Wind.“ Wie immer holte die Githrodi-Kriegerin vor dem H¨auschen tief Atem. Sie erstickte. Drinnen war die Luft stickig gewesen, aber draußen war sie noch weniger frisch. Alle Tiefl¨ander-St¨adte stanken; ihre Bewohner konnten unm¨oglich wissen, daß ein Zusammenhang zwischen Sauberkeit und Gesundheit
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KAPITEL 11. DER WEG DER KRIEGERIN
besteht. Auf ihrer Reise von den Bergen der Sonne herunter hatte Kwannon viel Krankheit gesehen. Sie schnaubte. Tiefl¨ander! Und uns nennen sie Wilde. Ihre Stute schnaubte ebenfalls, aber diesmal wollte sie Kwannon damit nicht antworten. Sofort schwang sich die Kriegerin in den Sattel. Die Stute drehte den Kopf nach der St¨orung auf der anderen Seite der unbefestigten, von Furchen durchzogenen Straße. Mit zusammengepreßten Lippen sah Kwannon, wie ein in Leder gekleideter Kerl u ¨ber eine junge Frau herfiel. Eine kleine Gruppe von Tiefl¨andern, die in der N¨ahe der Kriegerin standen, wandte sich an sie. Einer — nach seiner selbstgef¨alligen Haltung und seinen feinen, nicht zerrissenen Kleidern ein Kaufmann — hob beide H¨ande zu ihr auf. Du hast Waffen. Hilf ihr!“ ” Kwannon h¨atte bereits den Gesichtsausdruck der sich vergeblich wehrenden Frau bemerkt. Nein“, ” erkl¨arte sie fest. Ich mische mich nicht ein. Sie hat den Weg des Opfers gew¨ahlt. Und ihr habt ” es ebenfalls getan, wenn ihr euch einem Gewaltt¨ater in eurer eigenen Stadt nicht entgegenstellt.“ Ohne zur¨ uckzublicken ritt die Kriegerin an beiden Gruppen vorbei. Nur ihr scharfes Geh¨or blieb auf Gefahr im R¨ ucken eingestimmt. Sie ignorierte die Beschimpfungen der Tiefl¨ander: Feiges Gewurm ” aus den Bergen!“ Abschaum des Hochlands!“ ” Sollten sie doch die eigenen Leute besch¨ utzen, wenn es notwendig war. Frauen sind nur verwundbar, wenn sie es sein wollen. Alle Githrodi glauben, daß nur eine einzige Klasse wirklich Gefahren ausgesetzt ist, und zwar die Kinder. Wenn ein Erwachsener den Weg des Opfers w¨ahlt, h¨atte er — oder sie — ebenso einen anderen Weg w¨ahlen k¨onnen. Die Kriegerin ritt mit erhobenem Kopf und ungefurchter Stirn. Die Augen hatte sie ein wenig zusammengekniffen. Ihre Gesichtsz¨ uge waren entspannt. Kraft floß in den Linien ihres K¨orpers, sogar im Haaransatz. An ihrer linken Seite hingen, durch den G¨ urtel geschoben, ihr leicht gekr¨ ummtes langes Schwert und das kurze Zweitschwert, beide mit der Schneide nach oben in feinen ElklederScheiden, die sie selbst angefertigt hatte. Ihre auch im Sattel kamplbereite Haltung war ihr beinahe unbewußt; sie hatte sie so lange trainiert, daß sie sich jetzt st¨andig so hielt. Sie dachte u usse sie ver¨ber Meister Keanes R¨atsel nach. Sein Hinweis, eine Githrodi-Kriegerin m¨ stehen, leitete sie. Der Himmel war Feuer, die sch¨opferische Kraft, und die Erde die Strategie oder die nachgebende Substanz, durch die die Sch¨opfung sich manifestiert. Das Wasser war der Geist des best¨andigen Flusses das mochte die Leere sein. Dort konnte man nichts sehen. Die Leere war einer der f¨ unf Aspekte des Lebens, der letzte, der, den sie noch nicht begriff. Die Leere war nichts, war Was-nicht-ist. Kwannon trieb die Stute an, denn sie wollte den Gestank der Stadt Rotstein loswerden. Der immerw¨ahrende L¨arm war so h¨ollisch, daß es ihr schwerfiel, einzelne Ger¨ausche voneinander zu unterscheiden. Rotstein war kein gesunder Ort f¨ ur eine Kriegerin aus den Bergen. Bald wurden die H¨auser weniger, und sie standen weiter auseinander. Auf einer Bodenerhebung in einiger Entfernung sah sie einen Turm. Oben brannte ein großes Feuer, und die Flammen wurden von einem Wind gepeitscht,
123 der auf der Straße nicht zu sp¨ uren war. Um den Fuß des Turmes wiegten sich große Eichen im gleichen Rhythmus wie die windbewegten Flammen. Rechts floß der Rote Fluß. Es war also doch ein einfaches R¨atsel gewesen! Das Auge Dhyanas befand sich in jenem Turm. Kwannon lehnte sich zur¨ uck, nur geringf¨ ugig ihr Gewicht verlagernd. Die Stute blieb stehen. Was f¨ ur eine Stadt ist das?“ ” rief die Kriegerin Arbeitern auf dem Feld zu ihrer Linken zu. Das verhutzelte Weiblein, das der Straße am n¨achsten war, richtete sich auf und rieb sich den R¨ ucken. Schwarzturm.“ ” Herrschte bei diesen vetarmten Tiefl¨andern auch Mangel an Phantasie? Jede Stadt, durch die Kwannon gekommen war, hatte irgendeinen dunklen Turm, f¨ ur gew¨ohnlich von einem ebenso dunklen Praktizjerer der Schwarzen Kunst bewohnt. Wieder sah sie zu dem hochaufragenden Turm hin¨ uber. Er mochte aus einem dunklen, vielleicht schwarzen Stein erbaut sein. Ich danke dir, Großmutter. ” Wer lebt dort?“ Jemand, den du nicht wirst sehen wollen.“ Die Alte spie ger¨auschvoll aus. Und er wird dich nicht ” ” sehen wollen. Aber wenn du einen Namen h¨oren m¨ochtest: Er i´st als Edan Eblis bekannt.“ Schnell schlug sie mit der Rechten irgendein Zeichen. Kwannon bemerkte, daß andere in H¨orweite ebenso veiuuhren. Ein Magier?“ ” Das veirrirrte Schielen sagte Kwannon, daß die Leute den Ausdruck nicht kannten, aber die Alte fl¨ usterte: Ein Todeszauberer. Laß ihn in Ruhe, junge Frau. Ich habe sagen geh¨ort, daß er nach ” frischem Blut Ausschau h¨alt. Nach jungem Blut.“ Jetzt war Kwannon u ¨berzeugt, daß sich das Auge Dhyanas in dem dunklen Turm befand. Alte Sagen berichteten von Blutopfern, um Dhyanas sanftes Mitgef¨ uhl zu perverrieren. Die Magier im Helligtam hatten den Verdacht, ein Nekromant habe den heiligen Stein der Meditation entwendet, denn seine verborgenen Kr¨afte waren gr¨oßer als der ihm innewohnende Wert. Von nun ab mußte sie vorsichtig sein. Trotzdem: Sie war f¨ahig, zehn Gegner allein mit ihrem Geist zu zermalmen — sollte sie einen einzigen Nekromanten nicht mit Geist und Schwert u ¨berwinden k¨onnen? Danke, Großmutter. Dein Tag sei gesegnet.“ Die Kriegerin verlagerte ihr Gewicht ein bißchen nach ” vorn, um Jahael anzutreiben. Das falbe Pferd tat drei Schritte und blieb stehen, als ihrn ein kleines Kind in den Weg lief. Die kampferprobte Stute h¨atte niemals ein Kind zertreten, denn auch sie war nach Geburt und Erziehung Githrodi. Komm zur¨ uck, du wertloses Dreckst¨ uck!“ Der Mann in dem feinen Tuchmantel und den Leder” stiefeln schwang eine geflochtene Peitsche. Feldarbeiter sprangen vor ihrn zur Seite. Kwannon´ die ruhig auf dem stehengebliebenen Pferd saß, wandte den Kopf und saii ihn sich an. Er blieb dicht am Rand der Straße stehen und schluckte ger¨auschvoll. Das ist mein Eigentum.“ Er konnte sein ” angstvolles Stottern kaum beherrschen. Dieser Mann erkannte, wer sie war.
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KAPITEL 11. DER WEG DER KRIEGERIN
Nur Kwannons Augen blickten auf das Kind nieder. Ist das dein Vater?“ ” Eine kleine zerkratzte Hand faßte nach der Stute. Das Kind sch¨ uttelte den Kopf. Habe keinen Vater ” und keine Mutter. Das ist mein Herr.“ Frische rote Striemen bedeckten das verkniffene Gesicht unter wirrem, verfilztem, dunkelfarbenem Haar. Die Kleidung war ebenso unordentlich und dungfarben; durch Risse zeigten sich ¨altere Flecke und Striemen. Der Metallkragen saß so eng, daß er die blasse Haut zusammenschob. Das kleine androgyne Gesch¨opf klammerte sich an Jahael und starrte zu Kwannon empor. Bitte, hilf mir.“ ” Mit der festen Stimme der Kriegerin sprechend, ignorierte Kwannon — f¨ ur den Augenblick — den brutalen Menschen mit der Peitsche. Weißt du nicht, was ich bin, Kind? Ich bin eine Githrodi” Kriegerin. Hast du keine Angst vor nur? Er hat Angst.“ Nicht soviel vor dir wie vor ihm.“ Das ” Kind packte Kwannons Stiefel. Bitte. Laß nicht zu, daß er mich wieder schl¨agt.“ Er (sie?) zog am ” Bein der Kriegerin. Bitte, Dame aus den Bergen, inun mich mit.“ ” Da Kriegerinnen auch die kleinsten Einzelheiten sehen, bemerkte Kwannon die winzigen Rostspuren auf dem Kragen. Sie beugte sich nieder und tastete den metallenen Ring ab, bis sie den Verschluß fand. Mit einer Hand zerbrach sie das geschw¨achte Eisen, dann warf sie den Kragen zu dem Mann hin¨ uber. Hast du etwas dagegen?“ Der Ausdruck seiner Augen und die winzige Gewichtsverlagerung ” sagten Kwannon, daß in ihm die Absicht aufstieg, die mit einer Metalispitze versehene Peitsche gegen sie zu gebrauchen. Bevor er zu dem naheliegenden Schluß kommen konnte, daß so etwas unklug w¨are, bewegte Kwannon sich beinahe unmerklich. Jahael b¨aumte sich auf; ihre Vorderhufe durchschnitten die Luft. Als sie den Boden wieder ber¨ uhrten, befand sich Kwannon genau vor dem Mann. Sie zog keins der beiden Schwerter, denn sie hatte nicht vor, den Dummkopf niederzustechen. Er war kein Krieger, nicht einmal ein K¨ampfer, nur ein einfacher Bauer. Hast du etwas dagegen?“ wiederholte ” sie. Er quietschte etwas, das sich nach einer Verneinung anh¨orte. Danach schenkte die Kriegerin dem Tiefl¨ander keine Beachtung mehr. Mit weithin schallender Stimme rief sie: Hat sonst jemand etwas ” dagegen? Dem Kind steht es frei, mit mir zu kommen oder hierzubleiben.“ Niemand antwortete ihr mit Worten, aber wie die K¨orperhaltung der Arbeiter deutlich verriet, hatte kein einziger den Wunsch, dagegen Einspruch zu erheben, daß sie das Sklavenkind rettete. Kind, geh neben meinem ” Pferd her. Ich will dich nicht hier oben haben, damit sich deine Fl¨ohe und L¨ause nicht u ¨ber mich und Jahael ausbreiten.“ Und damit diese Tiefl¨ander mich nicht der Kindesentf¨ uhrung beschuldigen. Um das magere Dingelchen nicht zu ersch¨opfen, hielt Kwannon ihre Stute zur¨ uck. Die feurige Jahael t¨anzelte seitw¨arts, trabte beinahe auf der Stelle. Sie warf heftig den Kopf. Oft wieherte sie, so sehr brannte sie darauf, eine bequemere, raumf¨ordernde Gangart einzuschlagen. Obwohl es offenbar unter Schmerzen hinkte, l¨achelte das Kind pl¨otzlich strahlend. Er ist nett.“ ” Wer?“ ” Dein Pferd. Er ist einfach . . . echt fein.“ ”
125 Sie. Jahael ist eine Stute.“ ” Oh. Ja, Herrin. Sie.“ ” Das mochte zwar der ideale Zeitpunkt sein, das Geschlecht des Kindes festzustellen, aber Kwannon fand, eine solche Frage k¨onne verletzend sein. Dem Kind war schon genug weh getan worden. Ich ” bin Kwannon. Und du?“ Mein Name ist Druce, Herrin.“ ” Diese Tiefl¨ander fingen wahrhaftig fr¨ uh an, den Kleinen das Gef¨ uhl pers¨onlicher Identit¨at abzuerziehen! Die Githrodi kannten wie alle Hochl¨ander sehr genau die Verbindung zwischen dem, wer du bist, und dem, was du genannt wirst. Wenn ein Hochl¨ander heranreifte, erhielt er einen Namen, der seiner Pers¨onlichkeit entsprach. Namen bedeuten etwas; so bedeutete Kwannons Name Barmherzigkeit. Wie viele Jahre z¨ahlst du?“ ” Die Kriegerin anglotzend, runzelte Druce die Stirn. Was, Herrin?“ ” Verw¨ unscht seien die Tiefl¨ander-Dialekte! Wie alt bist du?“ Das Kind blieb stehen, dachte offen” sichtlich angestrengt nach. Sein Mund arbeitete. Zehn, Herrin. Glaube ich.“ ” So alt! Und noch so klein. Ein Githrodi-Kind w¨are mit sechs so groß gewesen, h¨atte aber mehr Fleisch auf kr¨aftigeren Knochen gehabt. Kwannon gl¨ uhte in gerechter Entr¨ ustung. Jahael, die ihre Spannung sp¨ urte, bereitete sich zur Attacke vor. Ruhig, meine Freundin“, murmelte die Kriegerin. ” Druce bemerkte keine Ver¨anderung an der Frau oder an der Stute. Kwannon hielt eine Weile an, um das am Straßenrand zusammengesunkene Kind ausruhen zu lassen, und w¨ahrenddessen u ¨berwand sie ihren Zorn. Vielleicht erzeugte die allgegenw¨artige Armut im Tiefland´ Vernachl¨assigung, aber auch in mageren Zeiten gaben die Githrodi ihren Kindern zuerst zu essen. Tats¨achlich w¨ urde kein Hochl¨ander es zulassen, daß ein Kind so schlecht ern¨ahrt und so schlecht behandelt wurde. Im Verlauf der n¨achsten Stunde machte Kwannon noch dreimal halt, um Druce ausruhen zu lassen. Endlich n¨aherten sie sich dem Fluß, und die Kriegerin bemerkte einen Seitenweg, der zum Ufer hiuunteri¨ uhrte. Obwohl die Sonne beinahe den Zenit erreicht hatte, bestand Kwannon darauf, daß das Kind vor dem Essen badete. An einer Biegung hatte sich ein kleines Stauwasser gebildet, das stromabw¨arts strudelte. Es sah dort ganz ungef¨ahrlich aus. Nimm das hier.“ Kwannon gab Druce ” eine irdene Phiole. Wasch dich damit. Auch das Haar. Alles. Tauche ja mit dem ganzen K¨orper ” unter Wasser!“ Die Kriegerin zog die Stiefel aus und stellte sich f¨ ur den Fall, daß das Kind in dem Fluß in Gefahr geriet, dicht ans Wasser. Jenseits des gesch¨ utzten T¨ umpels trug die schnelle Str¨omung Tr¨ ummer mit sich. Das Kind watete voll bekleidet ins Wasser. Halt! Zieh erst deine Sachen aus!“ Druce ” gehorchte eilends und ließ das widerliche Zeug neben Kwannon fallen. Jetzt sah Kwannon, daß das ehemalige Sklavenwesen ein M¨adchen war. Das Kind duckte sich unter das Wasser.
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KAPITEL 11. DER WEG DER KRIEGERIN
Nach einer Weile tauchte Druce spuckend wieder auf. Noch l¨anger kann ich nicht unten bleiben.“ ” Nicht notwendig. Sieh nur zu, daß du u ¨berall naß wirst.“ Kwannon mußte beinahe lachen, als sich ” das Kind mit der Phiole selbst u ¨ber die schmutzige Haut fuhr. Ich werde dir helfen.“ Die Kriegerin ” watete ins Wasser und goß fl¨ ussige Seife in die kleine Handfl¨ache. Schließlich mußte sie Druce genau erkl¨aren, wie man badet; das M¨adchen gestand, nicht zu wissen, wie man sich w¨ascht, weil sie es noch nie getan habe. Kein Wunder, daß die Tiefl¨ander so schlecht rochen! Kwannon hob die zerlumpte Kleidung auf, tauchte auch sie ein und schrubbte sie eigenh¨andig. Sich selbst abseifend sagte sie: Diese Seife wird deinen K¨orper und deine Kleider von Parasiten befreien.“ Sie sah, daß Druce das ” nicht verstand, und setzte hinzu: Von deinen Fl¨ohen und L¨ausen.“ ” Nun breitete die Kriegerin die Hose und die Jacke aus sch¨abigem hausgewebtem Stoff auf dem grasigen Ufer aus, um sie im Sonnenschein trocknen zu lassen, und gab Druce ihren grauen Wollmantel, damit sie nicht kalt wurde. W¨ahrend die Hochl¨anderin es hier sogar im Herbst heiß fand, war die Lufttemperatur viel zu niedrig f¨ ur das M¨adchen aus dem Tiefland. Iß!“ Kwannon reichte ” Druce ein St¨ uck Brot mit einer Scheibe K¨ase darauf und dazu ein bischen Pemmikan. Druce hatte Schwierigkeiten beim Kauen des Trockenfleisches, und so gab die Kriegerin ihr noch etwas Brot und K¨ase. Bald schlief das Kind im Sonnenschein, und Kwannon betrachtete es aus dem Schatten einer alten Eiche. Nach einer Weile lachte die Kriegerin. Was habe ich da angestellt!“ Um das mißhandelte Kind ” zu retten, hatte die Githrodi-Kriegerin ebenso spontan eingegriffen, wie sie es abgelehnt hatte, der St¨adterin zu Hilfe zu kommen. Was sollte sie mit Druce anfangen? Es lag eine Aufgabe vor ihr, bei der das M¨adchen ihr nur hinderlich sein konnte, und doch hatte Kwannon sich die ganze GithrodiVerantwortung f¨ ur ein Kind aufgeb¨ urdet. Mit einemmal seufzte die Kriegerin. Ihre Augen weiteten sich. Eine solche Verwirrung schickte sich nicht f¨ ur Kriegerinnen. Gedanken verlangsamen nur die Taten. Sich neben das M¨adchen hockend, strich Kwannon ihm das Haar aus der verletzten Stirn. Alles hat seinen eigenen Zeitplan, und der des Kindes st¨ort den meinen. Druce wimmerte im Schlaf; sie drehte sich Kwannon zu und schmiegte sich an ihre Beine. Die Flecken auf ihrem Hals wurden dunkler, aber das teigige Aussehen war verschwunden. Kwannon sp¨ urte ein Stechen an den Innenseiten ihrer Augenlider und eine pl¨otzliche Flut von Mitleid. Abrupt stand sie auf und ging zum Fluß. Was geschah da? War etwas mit dem Zeitplan schiefgegangen, dem sie als Kriegerin folgen mußte? Ihr Weg f¨ uhrte doch bestimmt noch nicht abw¨arts. Sie war noch nicht alt, noch keine dreißig. Kwannon ber¨ uhrte durch ihre Kleidung die winzige Narbe auf ihrem Bauch, zur¨ uckgeblieben von der Ber¨ uhrung des Heiler-Magiers, den die Kriegerimien aufzusuchen pflegen. Ich habe auf Kinder verzichtet“, sagte sie zu dem rosenroten Wasser. Ich habe ” ” auf eine eigene Familie verzichtet. Ich biete den Feinden keine Handhabe.“
127 Nachdem sie die Stiefel angezogen hatte, nahm Kwannon entschlossen wieder Kampfhaltung ein. Sie fixierte das Kind, bis es erwachte. Es ist Zeit, Druce. Zieh dich an.“ ” Ja, Herrin. Wohin gehen wir?“ ” Ich werde dich irgendwo unterbringen. Ich habe weder Zeit noch Neigung, dich zu besch¨ utzen.“ ” Bitte, Herrin, nicht zu nahe. Er wird mir nachkommen.“ ” Dann also auf zu den Bergen der Sonne! Dorthin wird er dir nicht folgen.“ Im Namen Dhyanas, ” warum hatte sie das versprochen? Nat¨ urlich w¨ urde jede Githrodi-Familie Druce aufnehmen und gut erziehen, aber die Kriegerin hatte keine Zeit — das Auge war zu nahe. Oh, schon gut, danach konnte sie beide, Auge und Kind, ins Tal bringen. Du mußt auf dich selbst aufpassen. Tu genau, was ich ” dir sage.“ Ja, Herrin!“ Druce l¨achelte und gab Kwannon den dicken Mantel zur¨ uck. ” Das Herz der strengen Kriegerin pochte schneller und setzte dann f¨ ur drei Schl¨age aus. Sie stieg in den Sattel und hielt ihre Hand nach unten. Reite jetzt hinter mir.“ ” Der Himmel bew¨olkte sich. Eine k¨ uhle Brise rauschte von dem blutroten Fluß heran. Kwannon f¨ uhlte das Erschauern hinter sich, band ihren Mantel vom Sattel los und schlug ihn um sie beide. Obwohl Druce nicht hinaussehen konnte, war sie es anscheinend ganz zufrieden, sich eng an die Kriegerin zu kuscheln. Die W¨arme an ihrem R¨ ucken war Kwannon angenehm, und sie lockerte ihre zu steife Haltung. Sie nickte. Die Anspannung w¨ urde ihre Bewegungen verlangsamen. Die Anwesenheit des M¨adchens schuf und erleichterte die Anspannung. Kinder! Wie frustrierend sie sind! Der Turm bestand tats¨achlich aus schwarzem Stein, stumpf und glatt, sah Kwannon aus der N¨ahe. Sie kannte diese Gesteinsart nicht. Es. waren keine Meißelspuren zu sehen, und die Bl¨ocke Waren ohne M¨ortel nahtlos zusammengef¨ ugt. Ein schmaler Pfad f¨ uhrte von der Straße zum Fuß des H¨ ugels, wo eine aus dem Fels gehauene Treppe zum Turm selbst hinanstieg. Kwannon schwang das rechte Bein u ¨ber Jahaels Hals und glitt zu Boden. Du, Druce. Rutsche in den Sattel. Tu, was ich dir sage. ” Warte hier auf mich. Bleibe auf Jahael sitzen. Sollte irgendwer versuchen, dich herunterzuholen, reitest du fort oder l¨aßt sie k¨ampfen. Ich werde dich sp¨ater finden.“ Wie lange wirst du fort sein?“ ” Das weiß ich nicht.“ ” Darf ich mitkommen? Ich k¨onnte helfen.“ ” Das k¨onntest du nicht. Gehorche mir.“ ” Das kleine M¨adchen schluckte. Ja, Herrin.“ ” Die Githrodi-Kriegerin schritt zum Fuß der langen Treppe. Im Turm mußte man bei dem guten Blick von oben bereits von ihrer Ankunft wissen. Langsam, entschlossen stieg sie die Stufen hinauf. Ihr Blick war nach vorn gerichtet, und doch nahm sie alles um sich wahr. Stille umgab sie. Sogar das Rauschen des Flusses klang ged¨ampft. Kein Vogel sang, kein Eichh¨ornchen raschelte in den sich
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KAPITEL 11. DER WEG DER KRIEGERIN
herbstlich veff¨arbenden Eichenbl¨attern. Der Wind sang schwach. Nur das w¨ utende Prasseln des Feuers oben auf dem schwarzen Turm klang normal. Ein scharfer Geruch nach Rauch durchdrang alles. Am Kopf der ausgetretenen Steintreppe kam sie auf einen Absatz, sechs Fuß im Geviert. Die T¨ ur war aus dem gleichen schwarzen Material wie der Turm; sie hatte keine Klinke. Auf der linken Seite stand sie um einen Zoll offen. Kwannon l¨achelte innerlich. Er erwartet mich also. Damit h¨orte ihr bewußtes Denken auf. Die Gedanken, die sie f¨ ur die n¨achsten paar Augenblicke brauchte, waren bereits durchgedacht; alles, ¨ was sie in Jahren der Ausbildung und Ubung gelernt hatte, stand ihr zur Verf¨ ugung. Mit einer glatten, bewußt ruhigen Bewegung legte sie die Rechte an den Griff des Schwertes, die Linke folgte in einem vorherbestimmten Rhythmus an das Zweitschwert. Beide H¨ande faßten die Waffen m¨ uhelos, leicht mit Daumen und Zeigefinger, fester mit den anderen Fingern bis hin zum kleinen. Der rechte Fuß schoß hoch und trat die T¨ ur auf. Mit einem Kriegsruf sprang Kwannon ins Innere. Bevor ihr linker Fuß den Steinfußboden traf, hatte Kwannon sich die Halle genau angesehen. Den ganzen Innenraum des Turmes einnehmend, prunkte sie mit einem Kamin der T¨ ur genau gegen¨ uber. Rechts schmiegte sich eine steinerne Treppe an die Außenmauer. Ein Tisch mit vier St¨ uhlen nahm die Mitte ein, Schr¨anke s¨aumten das Rund der Wand links. F¨ unf M¨anner warteten in dem runden Raum. Direkt zu Kwannons Linker war einer zum Zuschlagen bereit. Ein Mann mit einer Axt und einem Schild hielt sich am Fuß der Treppe auf, und zwei Schwertk¨ampfer duckten sich in seiner N¨ahe. Ein anderer, seiner bis zum Oberschenkel reichenden Kettenr¨ ustung nach offenbar der Anf¨ uhrer, stand mit dem R¨ ucken zum Feuer, und in seiner Rechten baumelte ein schweres Schwert. Der Schwertk¨ampfer zu Kwannons Linker holte aus. Kwannons linker Fuß ber¨ uhrte den Boden. Sich auf dem Absatz drehend, kehrte sie ihm den R¨ ucken zu. Sie hob den rechten Arm nach hinten u ¨ber den Kopf; das Schwert ruhte auf dem linken Arm, zum Parieren bereit. Der junge Mann war einen Kopf gr¨oßer als sie und viel schwerer. Die Wucht seines Schlages schleuderte Kwannon gegen den T¨ urpfosten, aber sie lenkte sein zweischneidiges Schwert mit ihrer Klinge ab, so daß es ihr u urde, ¨ber den Kopf pfiff, ohne ihr Schaden zu tun. Voraussehend, wie er sich bewegen w¨ um sie zu enthaupten, stieß sie die linke Hand zur¨ uck. Das schlanke Zweitschwert schmtt durch seine schwere Lederr¨ ustung und drang ihm in den Unterleib. Das Handgelenk nach unten drehend, zog sie die Klinge aufw¨arts, zwei Drehungen zur Seite durchtrennten gr¨oßere Arterien. Obwohl es ein ¨ schwacher Schlag gewesen war, hob der Schock der Uberraschung den Mann auf die Zehenspitzen. Er war mit offenen Augen tot, bevor Kwannon die Klinge herauszog. Schon nahte der zweite Schwertk¨ampfer mit einem nach unten gef¨ uhrten Hieb, der ihren K¨orper h¨atte spalten sollen. Das Schwert immer noch in der Position zum Parieren, trat sie vor. Ihre Klinge schnellte sich um sein langes Schwert, das der Schwung weiter nach unten trug, und drang ihm in die Kehle. Der dritte Mann hielt in seinem von der anderen Seite gef¨ uhrten Hieb inne und stellte sich
129 mit gespreizten Beinen zum Kampf. Kwannon schlug die auf sie geric tete Waffe beiseite, sprang nach links, schwang ihr langes Schwert herum und schnitt ihm die Kehle durch. Schon in vollem Lauf, schlug der Mann mit der Axt unter Gebr¨ ull mit seiner massigen Waffe zu. Kwannon konnte u uhenden Augen sehen. Sie glitt vorw¨arts, ihr Schwert flog zu seinem ¨ber dem Schild nur seine gl¨ Handgelenk hoch. Die Wucht seines Angriffs half ihr, Muskeln und Knochen mit der scharfen Klinge glatt zu durchschneiden. Er hob den Schild, um sich vor dem erwarteten Schlag zu sch¨ utzen, aber die kleinere Githrodi-Kriegerin setzte ihre langsame Drehung im Uhrzeigersinn fort. Als sie den linken Fuß aufsetzte, schnitt ihm ihr Zweitschwert durch den Unterbauch und die lederne R¨ ustung. Dann drang das lange Schwert unterhalb seiner Rippen ein und durchbohrte ihn beinahe bis zum R¨ uckgrat. W¨ahrend der f¨ unf Phasen ihres Blitzangriffs sah Kwannon den Anf¨ uhrer um den Tisch kommen — offenbar mit der Absicht, den Kreis zu schließen, den die anderen vier um sie gebildet hatten. Jetzt verlangsamte er den Schritt. Kwannon tat es auch, doch das Schwert hielt sie bereit. Der zusammenbrechende Mann mit der Axt war noch nicht tot, aber endg¨ ultig aus dem Kampf ausgeschieden. Der Anf¨ uhrer blieb stehen, einen Humpen in der linken Hand, den er nicht warf, wie er urspr¨ unglich vorgehabt hatte. Kwannon wartete, ob er sie u urde. Dann sah ¨ber den Tisch hinweg anspringen w¨ sie, daß er sich nicht in die N¨ahe der Leichen und des schl¨ upfrigen Blutes wagte, das den Boden bedeckte, und gab ihin keine weitere Zeit mehr, ihre Bewegungen zu seinem Vorteil zu analysieren. Sie sprang auf den Tisch und auf der anderen Seite wieder hinunter und stand ihin nun direkt gegen¨ uber. Er hob den Humpen in sp¨ottischem Salut. Sie wischte ihr Zweitschwert am Hosenbein ab und steckte es zur¨ uck in die Scheide. Die Spitze des anderen Schwertes richtete sie auf seine Brust. L¨assig senkte er sein eigenes sehr langes Schwert. Gleichzeitig schlug er ihre Schwertspitze nach außen. Statt ihm n¨aher zu r¨ ucken, drehte Kwannon sich in die andere Richtung und sprang u ¨ber seine tief unten zuschlagende Klinge. Sie landete auf der Kariinplatte und schlug von oben nach seinem Hals. Die metallene Halsberge oberhalb ¨ seiner Kettenr¨ ustung milderte ihren Schlag, jedoch nicht seine Uberraschung u ¨ber ihre blitzschnelle Bewegung. Sie duckte sich unter seinem fortgef¨ uhrten Schlag und kehrte den Leichen den R¨ ucken. Aus voller Lunge seinen Kriegsruf br¨ ullend, st¨ urmte der massige Schwertk¨ampfer mit hocherhobener Waffe auf sie zu. Kwannon blockierte sie, den rechten Arm u ¨ber dem Kopf und das Schwert auf den linken Arm gest¨ utzt. Sie schwankte unter der ungeheuren Wucht seines mit beiden H¨anden gef¨ uhrten Hiebes. L¨achelnd schwang er das Schwert im Bogen, um diesmal von der anderen Seite zuzuschlagen. Kwannon nahrn ihr Schwert in beide H¨ande und fing seine Klinge hoch oben ab. Seine große Kraft zwang sie beinahe in die Knie; sogar in der Hitze des Gefechts sp¨ urte sie die Ersch¨ utterung in ihren Handgelenken. Da sie den Schlag nahe dem Griff aufgefangen hatte, bewahrte sie ihr Schwert davor, entzweizubrechen. Er setzte die Bewegung nach unten und oben und herum fort. Der dritte Hieb war eine Wiederholung des ersten. Kwannon trat zur Seite, schoß vorw¨arts und trieb ihm die Spitze ihrer Klinge durch den offenen Mund ins Gehirn. Schnell trat sie zur¨ uck und riß die Klinge heraus,
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bevor der Leichnam auf den Tisch krachte. Das dicke Holz barst. Die Humpen flogen in die Luft und versch¨ utteten die Reste eines bitter riechenden Biers. Kwannon kniete sich neben den sterbenden Mann mit der Axt. Er hatte noch lange Augenblicke zu leben; die Qual seines gewaltsamen Todes sprach ihrn aus den Augen. Die Githrodi–Kriegerin zog ihr kurzes Zweitschwert und zog es ihm schnell u ¨ber die Kehle, um seinen Schmerzen ein Ende zu berejten. Das bewußte Denken kehrte zur¨ uck, als Kwannon beide Klingen sorgf¨altig abwischte. Ihr Atem wurde langsamer. Vom Blockieren der brutalen Hiebe tat ihr alles weh, aber sie hatte keine Wunde davongetragen. Das waren gute Fechter gewesen, sogar der j¨ ungste an der T¨ ur. Diese Schwertk¨ampfer verließen sich auf ihre l¨angeren Klingen, und alles hing von ihrer kolossalen Kraft ab. Doch sie waren wesentlich im Nachteil gewesen, weil Kwannon ihre Kampftradition gekannt hatte, sie die ihre dagegen nicht. Mit dem R¨ ucken zur Außenmauer schob sich die Kriegerin langsam die Treppe hinauf, fort von dem starken Geruch nach Tod. Sie pr¨ ufte jede Steinstufe, bevor sie ihr Gewicht darauf verlagerte, und mit ihrem langen Schwert u ufte sie den Weg nach Stolperdr¨ahten. Die Stille innerhalb des Turmes ¨berpr¨ war fast greifbar. Sosehr sie ihre Ohren anstrengte, die Kriegerin h¨orte nichts außer dem ganz leisen Ger¨ausch ihrer eigenen Schritte und ihres Atems. Auf jedem halbdunklen Treppenabsatz fand sie eine T¨ ur. Sie lauschte jedesmal, ehe sie die Klinke dr¨ uckte, aber sie waren alle verschlossen. Weiter und weiter tastete sie sich in der stillen Dunkelheit in immer w¨armere Luft. Schweiß brach ihr aus, sammelte sich und lief ihr die Seiten, den R¨ ucken und zwischen den Br¨ usten hinunter. Das gerollte Band um ihre Stirn wurde feucht, hielt jedoch den salzigen Strom aus ihren Augen. Kurzvor dem sechsten Absatz flackerte Licht auf die Treppe. Der widerliche Geruch nach Verfall zog dem Licht voran. Die Schwerter in den H¨anden, betrat Kwannon den h¨ochsten Raum des Turmes. Er erwartete sie. Das fahle Gesicht des Nekromanten war glatt rasiert, seine edlen Z¨ uge waren von ebensolcher Sch¨onheit wie die eines Hochl¨anders´ aber sein Ausdruck war verkniffen. Er trug Jacke und Hose in Schwarz und braune, kniehohe Stiefel. Der Zobelmantel, der von seinen Schultern fiel, reichte bis auf den Fußboden. Seine Z¨ahne waren weiß und gerade, ungew¨ohnlich f¨ ur einen Tiefl¨ander. Willkommen in meiner Werkstatt, große Kriegerin der Githrodi.“ Ein d¨ unnes Kichern ert¨onte. ” Niemand sonst h¨atte meine f¨ unf Wachen u ¨berw¨altigen k¨onnen. Obwohl du eine große Menge Blut ” vergießest, arbeitest du viel zu schnell. Es macht dir kein Vergn¨ ugen, Glieder abzutrennen und deine Gegner sterben zu sehen.“ Seine Stimme klang matt und flach. W¨ahrend Kwannon ihn betrachtete, nahm sie gleichzeitig in sich auf, was sich in dem kreisrunden Raum befand. Die Teile einer zerst¨ uckelten Katze lagen auf einem fleckigen Holztisch. Daneben flatterte ein ausgeweideter Vogel im Sterben mit seinen beschnittenen Fl¨ ugeln. Flaschen und Phiolen standen in genauer Ordnung auf Regalen. Ein Kreis kleiner rechteckiger L¨ ucken im Dach zeigte das oben lodernde Feuer. Durch die Schlitze tr¨opfelte geschmolzenes silbriges Metall; Hitzezungen leckten
131 an den Fallinien. So schwarz war der umschlossene Raum, daß es war, als fließe Licht hinein, aber nicht heraus. Wenn sie den Blick in die Leere richtete, sah die Kriegerin gar nichts, nicht einmal Dunkelheit. Wandte sie die Augen wieder dem Nekromanten zu, nahm sie am ¨außersten Rand ihres Gesichtsfelds im Mittelpunkt der Leere ein gr¨ unliches Flimmern wahr. Zwar trug der Nekromant keine Waffen, aber Kwannon wußte, wer mit u urlichen Dingen ¨bernat¨ umgeht, ist niemals ohne Verteidigung. Er hatte ihr bereits gesagt, daß er M¨oglichkeiten hatte, zu sehen, wo er nicht war. Du bist Edan Eblis.“ Sein kurzes Nicken best¨atigte, was sie wußte. Ich ” ” bin Kwannon. Ich habe keine Freude am T¨oten. Du weißt, daß ich eine Githrodi-Kriegerin bin. Du weißt ebenfalls, daß ich komme, um das Auge Dhyanas zu holen, das aus unserem Heiligtum im Tal des Windflusses gestohlen wurde.“ Der ergrauende Zauberer machte große Augen. Ein solcher Gegenstand wurde gestohlen? Wenn du ” ihn hier findest, kannst du ihn mitnehmen.“ Kwannon regte sich nicht. Das Auge ist in der Leere.“ ” Er musterte sie lange und eingehend mit seinen kalten grauen Augen. Dann hob er die H¨ande mit den langen Fingern¨ageln bis auf Brusth¨ohe. Die Handr¨ ucken waren Kwannon zugekehrt; ihr fielen die langen braunen Haare auf, die sich unter den zweiten Kn¨ocheln kr¨auselten. Er stieß den Kopf nach vorn. Nimm es, wenn du es wagst, Hure.“ ” Du wirst es nicht zulassen.“ Sie blieb stehen. ” Da hast du recht.“ Das Verziehen seines Mundes sollte ein L¨acheln darstellen, aber ohne Mitwirkung ” der Augen war die Wirkung ein scheußliches Grinsen. Du wirst bei dem Versuch sterben. Wie traurig ” f¨ ur dich, Kriegerin. Im Versagen sterben macht deinen Tod sinnlos f¨ ur dich. Tats¨achlich war dann ja auch dein Leben sinnlos.“ Innerlich immer noch entspannt, behielt Kwannon ihre Kampfhaltung bei. Ihr langes Schwert wies nach unten, das Zweitschwert lag an der R¨ uckseite ihres linken Arms. Du bist dumm oder verr¨ uckt, ” wenn du das denkst.“ So?“ Er verließ seinen Platz nicht. Nichtsdestotrotz ist nur bekannt, was ihr den Weg der Kriegerin ” ” nennt. Ihr handelt aus Sorge f¨ ur andere.“ Langsam hob sich die Schwertspitze. Seine Waffen waren ebenso Worte wie Magie. Aber sein Wissen u ¨ber Kriegerinnen war unvollst¨andig. Kriegerinnen handeln jenseits von Liebe und Leid; sie denken nicht an Erfolg oder Versagen. Der Tod ist der Weg der Kriegerin“, h¨ohnte er. Du bist schon so gut wie tot, und deshalb bist du ” ” an den richtigen Ort gekommen, an dem sich dein Geschick erf¨ ullen wird.“ Kwannon zeigte die Andeutung eines L¨achelns. Seine Vorstellungen waren unreif. Sie hatte sich vor langer Zeit entschieden, den Tod zu akzeptieren, und das war nicht dasselbe. Du f¨ urchtest dich ”
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jedoch, dich denen beizugesellen, die du liebst.“ Der Todeszauberer f¨ uhlte sich weder vom Tod noch vom Sterben angezogen; die Toten lockten ihn. Es war, als werde er ein bißchen gr¨oßer. Sein Kopf hob sich wieder. Du wirst es unm¨oglich finden, ” mich zu t¨oten.“ Beide H¨ande flogen vorw¨arts. Blaue Funken sprangen von einer Finger-. spitze zur anderen und str¨omten. dann von seinen H¨anden. Kwannon fiel auf ein Knie und kreuzte beide Schwerter u uhrten, schlug ¨ber dem Kopf. Wo sie sich ber¨ der Blitz ein. Der Schock traf ihre Schultern wie Schl¨age. Bevor der Zauberer seine Kr¨afte sammeln konnte, um von neuem anzugreifen, sprang die Kriegerin pl¨otzlich vor und drang mit den Schwertern auf ihn ein. Edan Eblis riß unter seinem weiten Pelzmantel ein Kind hervor, dessen H¨ande mit einem rauhen Strick gefesselt waren. Kwannon blieb wie angewurzelt stehen. Druce starrte sie an. Es ” tut mir leid, Kwannon! Ich habe getan, was du mir gesagt hast, ehrlich. Ich bin auf Jahael sitzen geblieben, aber er hat irgend etwas mit ihr gemacht, und da hat sie angehalten, und er hat mich gepackt.“ H¨or auf mit dem Geschw¨atz, Kuhfladen!“ Der Nekromant umklammerte den Hals des kleinen ” M¨adchens mit seiner knochigen, langflngrigen Hand. Du siehst, Kriegerin, ich kenne dich besser, ” als du meinst. Du hast doch etwas zu verlieren. Paß auf.“ Er zielte mit dem linken Zeigefinger auf ein großes Becken aus schwarzem Mannor. Das rote Wasser darin wirbelte links herum und wurde dunkel. Sieh, was ich heute gesehen habe.“ ” Kwannon sah in das Becken, die Aufmerksamkeit zwischen dem Bild und dem Zauberer geteilt. Das Wasser kl¨arte sich und zeigte das Flußufer, wo sie mit dem Kind stand. Sie ber¨ uhrte die befreite Sklavin z¨artlich. Gib auf, Kriegerhure. Du liebst diesen elenden Kothaufen. Von dir h¨angt ihr Leben ab.“ ” Die Zuneigung, die Kwannon gegen ihren Willen f¨ ur Druce empfand, b¨ urdete ihr ein zweites Leben zu ihrem eigenen auf, das ausgel¨oscht werden konnte. Gedanken drangen auf sie ein. Seine WortWaffen waren wirksam; sie war nicht f¨ahig, sich in den nichtdenkenden Zustand zur¨ uckniversetzen. Die Unentschiedenheit dr¨ uckte ihre Schultern nieder. Der Nekromant hatte vor, Druce zu foltern und zu t¨oten, ganz gleich, welche L¨ ugen er vorbrachte. Was war jetzt wichtiger — das Leben eines einzigen kleinen Kindes oder das Auge Dhyanas mit seinen unz¨ahligen Kr¨aften? Sollte sie versuchen, ihre kleine Schutzbefohlene zu retten, oder sollte sie sie im Stich lassen und das Auge den b¨osen Absichten des Todeszauberers entziehen? Die Schwerter hingen locker in ihren H¨anden, nutzlos in den Qualen der Unentschiedenheit. Doch ein Gedanke kam ihr u ¨berhaupt nicht: Sie dachte nicht daran, ihr eigenes Leben zu retten. Ihr Sinn war auf weit H¨oheres gerichtet als die Sorge um ihr eigenes Wohlergehen. Nein! Kwannon war nicht vom Weg abgekommen, denn das war der Weg der Kriegerin. Beinahe instinktiv nalun ihr K¨orper von neuem Kampfhaltung an, und die Schwerter bewegten sich in die richtige Stellung, als h¨atten sie einen eigenen Willen. Sie w¨ urde sowohl das Auge als auch Druce retten. Schon legte sich ihre
133 Verwirrung und verschwand im Reich des Nichtdenkens, da kam ihr eine Ahnung, sie k¨onne versagen. Der Zauberer zehrte bereits von den Kr¨aften des Auges. Kwannons Kriegsruf f¨ ullte die Kammer. Eblis schleuderte das Kind gegen die Wand, wo es bewußtios liegenblieb, trat zur Seite und w¨olbte die H¨ande. Ein roter Dolch flog aus seiner Rechten auf Kwannon zu, die nach rechts auswich. Die Zauberwaffe durchdrang ihre linke Lunge und verschwand. Schmerz versengte ihr die Brust. Jeder Atemzug erneuerte die Pein. Wieder stieß sie ihren Kiiegsruf aus, einen kehligen Laut, um in den richtigen Rhythmus zu kommen. Als sie sicher war, den Mann zu treffen, war er pl¨otzlich nicht mehr da, sondern einen Fuß weiter links. Ein zweiter roter Dolch verschwand in ihrem Unterleib. Mit erhobenem Schwert st¨ urmte Kwannon vor und schlug nach unten. Eblis wich der Klinge aus und erschien zu ihrer Rechten. Kwannon hob das Schwert von neuem und verfehlte ihn wieder. Ein dritter roter Dolch flog von seiner Hand in ihre rechte Achselh¨ohle. Ihr Schwertarm wurde schwach. Sie ballte die Linke zur Faust und schlug nach seinem Gesicht. Wieder war er nicht da, sondern zu ihrer Linken, die H¨ande ausgebreitet. Sie rammte, im Ausatmen schreiend, seine Brust mit der linken Schulter, und diesmal erwischte sie ihn. Er sprang ungef¨ahr zehn Fuß zur¨ uck. Sein Gesicht verdunkelte sich zu Purpur, die Adern an seinem Hals und seinen Schl¨afen traten hervor. Kwannon stellte sich zwischen ihn und das am Boden liegende Kind. Um einem weiteren roten Pfeil auszuweichen, mußte sie sich auf ein Knie fallen lassen. Der Pfeil fuhr durch ihren rechten Oberschenkel. Die unsichtbaren L¨ocher, die die a¨therischen Waffen hinterließen, raubten ihr die Kraft. Wieder sah Eblis sie mit seinem gr¨aßlichen Grinsen an. M¨ ude, M¨adchen? Wie lange wirst du das ” durchhalten k¨onnen? Mit bloßem k¨orperlichem Stehverm¨ogen ist man der Kraft, von der ich zehre, nicht gewachsen.“ Mit bebenden N¨ ustern schritt er auf sie zu. Stirb jetzt, Kriegerin, durch eben ” die Kraft, die du gekommen bist, nur zu stehlen.“ Seine H¨ande gegen die Schw¨arze kehrend, sprach er Worte, die Kwannon fremd waren. Ein Schattenfaden stieg auf und wanderte auf die gew¨olbten H¨ande des Nekromanten zu. Langsam erhob Kwannon sich. Mit Schwertern konnte sie ihn nicht besiegen. Seine Magie war auf ihre Klingen abgestimmt. Sie warf beide auf den Steirfußboden. Das Klirren lenkte den Todeszauberer f¨ ur einen Augenblick ab. Als er zu ihr hinsah, zog sich der dunkle Faden zur¨ uck. Ob du dich ergibst oder nicht, Frau aus den Bergen, du stirbst. Dann werde ” ich das Kind St¨ uck f¨ ur St¨ uck auseinanderreißen, als Opfer.“ Kwannon hatte alle Kraft verloren und stolperte. Niemals, B¨oser!“ Unter qualvoller Anstrengung ” schleppte sie sich einen Schritt auf die Leere zu. Der Schattenfaden erschien von neuem und n¨aherte sich den H¨anden des Zauberers. Noch ein Schritt Kwannons´ und er schloß die H¨ande u ¨ber dem d¨ unnen Gebilde. Noch ein Schritt, und Kwannon wurde immer schw¨acher, w¨ahrend der Nekromant st¨arker wurde. Energie flutete durch seine w¨achserne Haut, leuchtete aus seinen Augen. Beim
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n¨achsten Schritt traf das vom Dach abschmelzende Metall ihre rechte Schulter. Beim wieder n¨achsten brannte das fl¨ ussige Silber sich bis auf den Knochen durch, dann in den Knochen hinein. Der hohle Schrei des Zauberers hallte von den Mauern wider. Bei der Macht Dhyanas, Hure, du ” bringst dich um!“ Kwannon erreichte den tr¨ uben Horizont der Leere. Sie hielt weder inne, noch bedachte sie ihr Handeln. Sie schritt vom Was–ist ins Was–nicht–ist hin¨ uber. Sie war so blind wie der alte Weise von Rotstein, aber wie er wußte sie, wohin sie ging. Sie streckte die H¨ande aus. Sie fror, sie erschauerte von einer Eisesk¨alte, die schlimmer war als der h¨arteste Winter in den Bergen der Sonne. M¨ udigkeit zerrte an ihren Gliedern, w¨ahrend ihre H¨ande sich um einen facettierten Edelstein von zwei Zoll Durchmesser schlossen. Die t¨odliche K¨alte, die von ihm ausging, durchdrang ihr Fleisch und ihre Knochen. Sie hob das Auge mit beiden H¨anden u ¨ber den Kopf. Die Leere lichtete sich zu durchscheinendem Rauch. Kwannon drehte den Kopf zu Edan Eblis um. Er sah gr¨oßer aus; er hatte viel Kraft an sich gezogen, bevor sie seine Quelle abschnitt. Stirb, t¨orichte Kriegerin! Du weißt nicht, wie du das Mana des Auges kanalisieren mußt.“ Mit ” verschlungenen H¨anden richtete der Nekromant den linken Zeigefinger auf sie. Kwannon war durchpulst von Entschlossenheit. Die Kraft kehrte zur¨ uck. Jetzt f¨ uhlte sie keinen Schmerz mehr, ob von k¨orperlichen oder von mystischen Wunden; sie f¨ uhlte nichts als die Richtigkeit und die F¨ ulle ihres Weges, des Weges der Kriegerin, den Geist, zu siegen, wie auch die Waffe aussehen mag. Ein Schatten wuchs von Edan Eblis´ Fingerspitzen und streckte sich auf sie zu. Dein Weg ist der meine, Dhyana“, sagte die Kriegerin. Gebiete durch mich dem B¨osen Einhalt, ” ” das dich benutzen wollte, um Leben zu vernichten.“ Die nebelartige Kraftlinie drang in die Leere ein und ber¨ uhrte Kwannon. Ohne heiß zu sein, verbrannte sie ihr Fleisch schlimmer, als das geschmolzene Silber es getan hatte. Unsichtbares Feuer kroch an ihren H¨anden entlang. Dunkle Gewalt und Schmerz umgaben Kwannon. Die schwarze Lmie der Qual verließ den Finger des Zauberers und dr¨angte sich in das feurige Feld ihres gefolterten Geistes. Er war jetzt in Hochstimmung, seine Augen waren groß vor Leidenschaft. Noch langsamer ” und schmerzvoller als du soll das Kind sterben, als unschuldiges Blutopfer der Unendlichkeit von Dhyanas Macht da gebracht.“ Schmerz d¨ urchflutete sie. Jedes einzelne Gelenk h¨ammerte unter dem Gef¨ uhl, auseinandergerissen zu werden. Das immaterielle Feuer buk ihre Nerven, versengte ihre Muskeln und w¨ utete in ihren Organen. Ihre Sicht verschleierte sich, und ihr Kopf schmerzte von der wilden, unwirklichen Hitze. Da das Auge seinem eigenen Zeitplan folgte, w¨ urde sie es ebensowenig zur Eile dr¨angen wie Meister Keane. Laß es los“, artikulierten die Lippen des Zauberers. Dein Schmerz wird enden.“ ” ”
135 Ja. Ja, er hatte recht. Das Auge Dhyanas war die Quelle ihrer Pein. Ein feiner Schmerz zog an ihren Sehnen und senkte ihre H¨ande. Jetzt, auf Augenh¨ohe, bebte der glitzernde Stein in ihren schwach werdenden H¨anden. Kwannon kannte Schmerz aus ihren vielen K¨ampfen, aber kein menschliches Wesen sollte diese Folter ertragen m¨ ussen, ohne das Bewußtsein zu verlieren. Ihre Finger ¨offneten sich. Das Auge wackelte, rollte. Nein! rief sie sich selbst voller Zorn zu. Nicht denken! Handeln! Sie richtete ihre Konzentration auf den Smaragd und stieß ihren Kriegsruf aus. Edan Eblis schrie. Sein Fleisch verdorrte, und seine Knochen brannten. Bei ihm, der sich außerhalb des Was-nicht-ist der Leere befand, war das Reißen und Brennen real. Bei Kwannon innerhalb der Leere hatten die Energien keine echte Existenz. Seine Glieder trennten sich vom Rumpf, sein brennender K¨orper zerriß. Er schrie pausenlos. Als letztes gingen seine Augen in Flammen auf. Die Kriegerin beobachtete den Todes-Orgasmus des Nekromanten, bis die weißen Knochen schwarz wurden und die einzelnen Teile als k¨ornige Asche auf den Steinfußboden rieselten. Sie stieß ihren Siegesruf aus, und ihre Knie knickten ein. Schmerz und Bewußtsein verließen sie gleichzeitig. Als Kwannon erwachte, war das Feuer auf dem Dach ausge gangen. Eine kleine Kerze erhellte den dunklen Raum. Druce kniete mit zugelmiffenen Augen neben ihr; beide H¨andchen umklammerten den Smaragd. Das Kind schluchzte, st¨ohnte inmier wieder: Stirb nicht!“ Vor Kwannons Augen ” schloß sich die klaffende Wunde an ihrer rechten Schulter, Knochen und Fleisch. Sie drehte den Kopf, um deutlicher zu sehen, und die Bewegung r¨ uttelte Druce auf. Oh, Kwannon, du lebst! Ich ” hatte so Angst, du w¨ urdest sterben.“ Ich sterbe nicht.“ Die Githrodi-Kriegerin erhob sich und schloß ihre H¨ande um die F¨austchen der ” Kleinen, die das Smaragd–Auge hielten. Wenn Druce jetzt schon, ohne Anleitung eine so b¨osartige Knochenwunde heilen konnte — was w¨ urde sie durch das Auge mit einer gr¨ undlichen Ausbildung in der Meditation vollbringen? Du bist dazu bestimrnt, es zu tragen.“ Kwannon zog einen seidenen ” Beutel aus dem Ausschnitt ihres Hemdes. Stecke das Auge Dhyanas hinein.“ Damit band sie Druce ” die langen Lederriemen um die Taille. Kwannon sah nach dem ausgeweideten Vogel und stellte fest, daß er den Geist bereits aufgegeben hatte. Sie nahin ihre Schwerter auf und s¨auberte sie sorgf¨altig, bevor sie sie wieder in die Scheiden steckte. In ihrem Nachdenken war sie ebenso gr¨ undlich. Das Auge Dhyanas hatte, indem es sich stehlen ließ, seinen eigenen Weg verfolgt, um eine Githrodi-Kriegerin und dieses kostbare Kind zusammenzubringen. Kwannon sah das M¨adchen an, dessen Blick so unveiwandt an ihr hing, und erkannte, daß sie auf dem Weg der Kriegerin hinab– und einen anderen, selteneren und schwierigeren Weg hinaufstieg. Ich werde u ¨ber dich wachen, Druce. Ich habe mich entschlossen, die W¨achterin ” deines Lebenswegs zu werden. Komm! Wir wollen nachsehen, was er Jahael angetan hat. Dann reiten wir zu den Bergen der Sojine.“ Sanft und mit großem Respekt f¨ uhrte Kwannon, die Githrodi– W¨achterin, die zuk¨ unftige Heiler-Magierin die Treppe hinunter und aus dem schwarzen Turm der Toten.
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KAPITEL 11. DER WEG DER KRIEGERIN
Kapitel 12 Kriegsbeute von Jennifrr Roberson Bei der Arbeit einiger Autoren, von denen ich jedes Jahr kaufe, weiß ich von vornherein, daß ich die Geschichte annehmen kann, weil sie ihre eigene Anhangerschaft haben. Die erste in dieser Kategorie ist Jennifer Roberson. Ich freue mich vermutlich ebensosehr wie die Fans darauf diese neuen Geschichten zu lesen. Aber geht es beim Schreiben nicht aberhaupt darum?
Rings um sie sangen die Pfeile. Es kam ihr vor wie ein zischendes Todeslied, winselnd, summend, sirrend. . . der Aufschlag von Eisen auf Holz . . . das Kreszendo menschlicher Schreie. Aber die Melodie gefiel ihr nicht. Das Holz lebte in ihren H¨anden. Es´ zu ber¨ uhren bedeutete Sicherheit, bedeutete die namenlose Vorstufe der Befriedigung. Es war nicht angenehm, einen Menschen zu t¨oten, aber wenn sie ihn verfehlte, t¨otete er vielleicht sie. Sorgf¨altig legte sie die Finger um den Ledergriff. Vor vier Jahren waren diese Finger schwielig gewesen, die H¨ande einer falu.”gen Bogensch¨ utzin. Jetzt ,waren sie weich und weiß, die H¨ande der Lady eines Berglords. Mit der rechten Hand legte sie den rot beflederten Pfeil auf. Der Schaft war mit Schwarz-auf-Rotauf-Weiß geb¨andert, den Farben des Lords. Die Pfeile, die an ihr vorbeizischten, waren weiß befiedert und trugen drei schwarze Streifen. Das waren die Farben des Feindes, der die Burg erobern wollte. Vier Jahre. Aber sie hatte es nicht verlernt. 137
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KAPITEL 12. KRIEGSBEUTE
Mauerzacken sch¨ utzten beide Seiten und schnitten die Winkel ab. Aber um zu zielen, brauchte sie Platz; um zu t¨oten, mußte sie zielen. Und so trat sie von den Zacken weg und stellte sich vor die Schießscharte, die ihr bis an die H¨ uften reichte, nicht weiter. Jetzt war sie in der dreifachen Jacke ihres Lords ein leicht zu treffendes Ziel. Schwarz-auf-Rot-auf-Weiß. Rings um sie sangen die Pfeile. Ohne zu l¨acheln, w¨ahlte sie ihr Ziel: einen Mann in Schwarz und Weiß. Ohne zu l¨acheln, ließ sie den Pfeil fliegen . . und er sang, wie er sang, als er den Himmel zerschnitt . . . Sie h¨orte das ferne Kreszendo, h¨orte den Schrei des Bogensch¨ utzen. Sie nahm einen Pfeil aus dem K¨ocher, legte ihn auf, zielte, schoß, h¨orte das Singen und h¨orte den Schrei, ohne daran Freude zu haben. Sie wußte, daß der Tod auch nur eines Feindes das Leben eines Freundes retten mochte. Vielleicht das Leben ihres Lerds. Ein Schritt. Sie kannte ihn. Sie kannte die Hand, die sich auf ihre legte, als sie nach einem neuen Pfeil faßte, die Finger, die sich um ihr Handgelenk schlossen und sie hinter eine Zacke zogen. Und sie kannte auch die Stimme; im Bett fl¨ usterte sie Liebesworte. Genug“, sagte er. Genug. Hier ist nicht der richtige Ort f¨ ur dich.“ ” ” Rot-auf-Schwarz-auf-Weiß. Aber die Seide seines Rocks war zerrissen und legte das Kettenhemd bloß. Sie blickte ihm ins Gesicht und sah Blut und Schmutz und ausdauernde Kraft, Entschlossenheit in dunklen Augen. Er hatte die Haube der Kettenr¨ ustung abgelegt, und sie sah schweißfeuchtes Haar, flach gegen den Sch¨adel gedr¨ uckt, außer da, wo das Geflecht der Stahlringe ein Muster gebildet hatte. Finger verweilten auf ihrer Hand. Genug“, sagte er noch einmal. Ich sehe, was es dir antut.“ ” ” Ihre Hand schloß sich fester um den Bogen. Schickst du mich von der Mauer hinunter?“ ” Er war grimmig, aber auch sanft. Ich muß. Um meinerwillen ebenso wie um deinetwillen. Ich ” f¨ urchte, daß ich dich verlieren k¨onnte.“ Ein Pfeil sang an ihnen vorbei und prallte gegen den Stein. Keiner von beiden zuckte zusammen. Willst du mir die Ehre nehmen?“ ” Jetzt zuckte er zusammen; ihr Ton traf genauer als der Pfeil. Das ist keine Frage der Ehre . . . es ” ist eine Frage von Leben und Tod.“ Du setzt dein eigenes Leben aufs Spiel.“ ” Er war so gescheit, darauf zu schweigen, denn er hatte einmal geantwortet und daf¨ ur leiden m¨ ussen. Und doch wußte er ebenso wie sie, daß es nicht notwendig war, zu sprechen. Zwischen ihnen lagen die Worte: Der Krieg ist /ar M¨anner gemacht. Geh nach unten“, sagte er. Vergiß nicht, daß ich dein Lord bin.“ ” ”
139 Sie r¨ uhrte sich nicht, doch sie f¨ urchtete, der Bogen werde zerbrechen. Willst du mir die Ehre ” nehmen?“ Die Spannung zwischen ihnen schwirrte. Seine dunklen Augen waren bodenlos. Ich m¨ochte dich nicht verlieren.“ ” Wenn du mich hinunterschickst, wirst du mich verlieren.“ Er konnte barsch sein, aber jetzt war er ” es nicht. In seinem Gesicht sah sie Bedauern, gemischt mit Bewunderung. Du bist eine eigenwillige ” Frau.“ Das weißt du seit vier Jahren.“ ” ¨ Zu ihrer Uberraschung lachte er. O ja, das stimmt . . . Aus dem Grund wollte ich dich haben.“ ” Und jetzt f¨ uhrst du einen Krieg.“ ” Grimmig erkl¨arte er: Ich behalte, was mein ist: Vieh, Burg, Frau.“ Ihr Gesicht bemerkend, l¨achelte ” er. Ohne bestimmte Reihenfolge.“ ” Sie zog einen Pfeil aus dem K¨ocher. Ich werde diese Mauer nicht verlassen.“ ” Er sp¨ahte u ¨ber die Mauerzacke nach dem Feind. Und dann sah er seine Frau an. Ich werde dich ” deine Ehre behalten lassen, wenn du versprichst, dein Leben zu behalten.“ Ohne zu l¨acheln, legte sie den Pfeil auf die Sehne. Vor seinen Augen ließ sie ihn fliegen und lauschte seinem Gesang. Bei Sonnenuntergang kamen sie zu ihr und sagten, der Krieg sei vorbei. Sie meldeten ihr, der Lord sei tot. Der Feind hatte gesiegt. Ja“, sagte sie. Ihr K¨ocher war leer. F¨ ur sie war der Krieg tats¨achlich vorbei. ” Sie f¨ uhrten sie zu seiner Leiche. Andere M¨anner standen um sie im Kreis und sch¨ utzten ihren Lord vor Pfeilen. Aber einer hatte gen¨ ugt. Er war durch ein Auge ins Gehirn gedrungen. Sie kniete nieder. Zum ersten Mal seit Sonnenaufgang legte sie ihren Bogen hin. Sie ber¨ uhrte sein Gesicht und erkannte, daß er nicht mehr da war; sein Geist war davongeflogen. Stumm schloß sie sein anderes Auge, und dann erhob sie sich und sprach seine M¨anner an. Der Lord ist tot. Der Krieg ist vorbei. Der Feind hat gesiegt.“ Sie sah ihnen in die Gesichter. Legt ” ” die Waffen nieder, und o¨ffnet die Tore; der Sieger ist jetzt der Lerd.“ Ein Mann regte sich. Lady´ was wird mit Euch?“ ” Sie l¨achelte nicht. Ich bin Teil der Beute; so ergeht es im Krieg den Frauen.“ ” Wie ein Mann richteten sie die Augen auf ihren Lord. Und gingen, die Tore zu ¨offnen. Der Sieger trat in der Halle des Burgturms vor sie. Jetzt seine Halle, nicht mehr die ihres Gatten. Sie erwartete ihn auf der Estrade. Rings um sie brannten die Kerzen.
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Er war noch nicht alt, aber er war auch nicht mehr jung. Jahrelange Kriegsz¨ uge mit allem, was dazugeh¨ort, hatten ihm das Haar oben auf dem Sch¨adel geraubt, so daß er jetzt eine graue Kappe trug, wo die Sturn¨ahaube ihn kahlgescheuert hatte. Seine Kettem¨ ustung glitzerte, sein Rock war schwarz und weiß. Schweigend wartete sie. Sie war keine dem¨ utige Frau und zeigte ihm jetzt auch keine Demut. Stolz wartete sie. Sie betrachtete den Mann, der ihren Gatten get¨otet, der Vieh, Burg, Ehefrau genommen hatte. In genau dieser Reihenfolge. Er blieb vor der Estrade stehen. Er war bewaffnet, wie es einem Sieger zusteht, und stolz. Er hat ” gut gek¨ampft.“ Seine Stimme war ein heiseres Grollen; das Br¨ ullen von Befehlen ruiniert die Kehle. Ja“, erwiderte ” sie, das hat er. Es k¨ ummerte ihn nicht, ob er mich verlieren w¨ urde.“ ” Etwas bewegte sich in seinen Augen. Ich habe dich auf der Mauer gesehen.“ ” Ohne zu l¨acheln, hob sie das Kinn. Wie viele habe ich get¨otet?“ ” Wie viele Pfeile hast du verschossen?“ ” Dreißig“, antwortete sie pr¨azise, mit Streifen in Schwarz und Rot und Weiß.“ ” ” Er nickte einmal Dreißig meiner M¨anner.“ ” Es freute sie nicht, einem einzigen Mann das Leben zu nehmen, aber wenn es sein mußte, w¨are sie bereit, es wieder zu tun. Im Krieg war das nichts als vern¨ unftig; die Unvern¨ unftigen u ¨berlebten nicht. Der Lord ist tot“, teilte sie ihm formell mit. Diese Burg und alles, was sie enth¨alt, einschließlich ” ” der Bewohner, sind dein, um damit zu tun, was du willst.“ Er bewegte sich nicht, aber er sah sie an. War er freundlich, oder war er grausam?“ ” Beides und keins von beidern“, antwortete sie, wie alle M¨anner sind. Das h¨angt davon ab, was sie ” ” wollen.“ Hast du Kinder?“ ” Keine, mein Lord“, sagte sie ruhig. Das war sein gr¨oßter Kummer.“ ” ” Und hat er dich daf¨ ur geschlagen?“ ” Nein, mein Lord. Das hat er nicht getan.“ ” Seine Stimme klang ganz leise. Hast du deinen Mann geliebt?“ Sie schluckte heftig. Einst habe ” ” ich ihn gehaßt, als er mich meinem Vater stahl, der mich lehrte, was Ehre ist. Doch mein Vater hatte mich ebenso gelehrt, daß im Haß keine Ehre ist, und so h¨orte ich auf damit. Ich haßte meinen Lord nicht mehr, aber ich liebte ihn auch nicht.“ Vier Jahre“, sagte er heiser, und sie sah die Tr¨anen in den Augen ihres Vaters. ” Sie ging zu ihm. Sie nahm seine vom Kampf vernarbten H¨ande in die ihren und k¨ ußte sie z¨artlich. Ich schw¨ore, es spielt keine Rolle mehr. Ich wußte, du w¨ urdest eines Tages kommen.“ ”
Kapitel 13 Cholin von Carnel von B.A. Rolis Ais ich diese Geschichte las, dachte ich, die farbige Sprache und die An, in der sie gestaltet ist, k¨onne den Lesern zeigen, was ich meine, wenn ich von Fantasy spreche. Sie ruft in meinem Geist Bilder hervor, die mich aus irgendeinem Grund an meine fr¨ uheste Fantasy-Lekt¨ ure erinnern — nachdem ich ein langes Leben damit verbrachte, eine Menge Fantasy zu lesen. Das ist der Grund, warum ich sie mit meinen Lesern teilen m¨ochte. Ich kenne viele Geschichten u ¨ber dieses lhema, und sie haben mich u ¨berhaupt nicht bewegt. Hier ist dagegen eine, die in meinen Augen erz¨ahlt, worin es in der Fantasy geht — es ist die Kunst, unsere Tagtr¨aume zu teilen. B.A. Rolis ist Britin und, soviel ich weiß, nicht mit Dana Kramer-Rolis verwandt.
Am Zusammenfluß von Olsen und Vital unterhalb der Connamin-Berge steht der Aldorit. Der Name bezieht sich auf den ganzen Komplex wie auch auf den Tempel selbst: Reihe auf Reihe von Kolonnaden und geschwungenen Balustraden in weißem Marmor, geschm¨ uckt mit hellgr¨ uner Jade und Chalcedon, erheben sich unvermittelt aus der flachen, alluvialen Ebene. Cholin stand neben der weißen Straße, der Abendk¨ uhle wegen den Mantel um sich geschlagen. Die niedrig stehende rote Sonne warf seinen Schatten weit u ¨ber die Piazza. Er ignorierte die argw¨ohnischen Blicke aus den Reihen der Bittsteller, die vor den ¨offentlichen Zellen warteten. Der hochgewachsene, schmale junge Mann war wie ein Adliger oder zumindest wie ein Gelehrter gekleidet, trug jedoch weder Schwert noch Schreibtafel. Er war ein R¨atsel, eine Quelle der Irritation. Cholin faßte einen Entschluß. Ohne auf das Murren zu achten, schritt er ungeduldig an den Schlangen entlang, ließ die Zellen hinter sich und betrat den eigentlichen Aldoriten. 141
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Ja?“ Cholin, der sich so sehr um Selbstbeherrschung bem¨ uhte, f¨ uhr nichtsdestotrotz zusammen. ” Er blinzelte. Seine Augen hatten sich dem D¨ammerlicht noch nicht angepaßt. Ein Priester in hierarchischer Robe stand wenige Schritte von ihm entfernt. Ich suche Rat und Hilfe.“ ” Die ¨offentlichen Zellen sind draußen. Sie sind gut besucht, aber auch die l¨angste Wartezeit endet ” einmal.“ Mein Problem ist nicht von der Art, daß es durch einen vern¨ unftigen Rat oder einfach durch ein ” Arzneimittel gel¨ost werden k¨onnte“, antwortete Cholin. Auch w¨ unsche ich nicht, Akoluthen zu ” konsultieren, deren F¨ahigkeiten sich auf die Beschw¨orung von Elementargeistern und anderer Wesenheiten beschr¨ankt. Ich suche Rache.“ Du kannst f¨ ur dein Anliegen bezahlen?“ Cholin faßte in seinen Beutel und ließ den Smaragd in die ” Hand des Priesters fallen. Es war einer der sch¨onsten Edelsteine, die das Haus von Carnel besessen hatte. Durch Zufall hatten die R¨auber ihn u ¨bersehen. Der Priester warf einen Blick darauf und sagte dann: Warte!“ Seine Robe rauschte, und er war verschwunden. Gezwungenermaßen wartete Cholin. In ” dem h¨ohlenartigen Tempel rings um ihn war es niemals still: Von den Alt¨aren entlang dem riesigen Schiff gl¨ uhten Streifen orangefarbenen und roten Lichtes auf Wandteppichen in Grim, Rost und Silber, begleitet von halblauten Beschw¨orungen und anderen Ger¨auschen. Das Portal, erhellt von den letzten sterbenden Strahlen der Sonne, bekam pl¨otzlich eine große Anziehungskraft. Komm!“ Cholin folgte dem Priester durch das widerhallende Gew¨olbe des Schiffes in einen Irrgarten ” von Korridoren, eng und schwarz wie eine Krypta. Dann, bevor er sich eingeschlossen f¨ uhlen konnte, tauchten sie in einem Raum auf, der von hoch an der Wand angebrachten Laternen hell erleuchtet war. Der Schein ines Kohlenbeckens flackerte u ¨ber das schw¨arzliche Gesicht eines Priesters, der Cholin ausdruckslos musterte. Setz dich!“ Er winkte Cholin zu einer Bank. Lege die Natur deines Anliegens dar.“ Cholin ” ” bemerkte, daß sich diese Priester im Gegensatz zu den Akoluthen in den ¨offentlichen Zellen weder einer hochtrabenden Sprache bedienten noch unnahbar geb¨ardeten. Ihre Kr¨afte mußten so gewaltig sein, daß D¨ unkel unter ihrer W¨ urde war. Ich bin Cholin — fr¨ uher von Carnel. Mein Vater war Galmer, leitender Kaufmann und Seyyid ” dieses Hauses.“ Ah.“ Der Priester beugte sich vor. Das Haus von Carnel.“ Er winkte einem Akoluthen, der ein ” ” ge¨offnetes Buch vor ihn hinlegte. Der Aldorit unterh¨alt einen leistungsf¨ahigen Nachrichtendienst. ” Ach ja, Galmer, H¨andler in Edelsteinen, Handwerksmeister, Witwer, zwei Kinder: Cholin, von Hauslehrern und an der Elstern-Akademie ausgebildet, Petra, im Konvent von Chieves ausgebildet.“ Er
143 blickte aus verschleierten Augen zu Cholin auf. Ich erinnere mich, daß Galmer einen gesellschaft” lichen Ehrgeiz entfaltete, der den Unwillen des Adels erregte. Als das Haus gepl¨ undert und die Mitglieder des Haushalts erschlagen wurden, fiel der Verdacht nat¨ urlich auf die Himmelsgeborenen. Und nun suchst du Rache.“ Cholin nickte schweigend. Ich verstehe.“ Der Priester schloß das Buch. Erlaube mir, ein paar Punkte zu kl¨aren, die mir ” ” entgangen sein m¨ogen. Du bist offensichtlich nicht ohne Mittel, und Gold kauft M¨anner. Warum ¨ Zuflucht zum Ubernat¨ urlichen nehmen? Es sei denn, du hast den Verdacht, dein Feind habe m¨achtige Zauberer in seinem Dienst oder besitze Sekretionen von u ¨berragender Wirksamkeit.“ Ich verstehe deinen Standpunkt“, antwortete Cholin. Ich k¨onnte die Identit¨at der M¨anner ent” ” decken, die die Streiche gef¨ uhrt haben, und nat¨ urlich m¨ochte ich sie zur Rechenschaft ziehen. Aber solche M¨anner handeln nicht allein. Ein Adliger oder mehrere Adlige haben die Morde befohlen. Ich m¨ochte meinen wirklichen Feind, die Himmelsgeborenen´ mit einer furchtbaren Rache treffen. Beziehungsweise die unter ihnen, die sich weigern, den Unbewaffneten als menschlich anzusehen.“ Der Priester nickte. Du bist allein? Keine Gefolgsleute, keine S¨oldner?“ ” Eine Armee liegt jenseits meiner M¨oglichkeiten, und ein Dutzend M¨anner ist nicht besser als ein ” einziger.“ Du hast andere Wege erkundet, Gerechtigkeit zu finden?“ ” Das Kolleg des Heiligen Willens? Ich habe mir verschiedene Moralpredigten anh¨oren m¨ ussen, daß ” es eine Tugend sei, den Willen zu akzeptieren, der sich dadurch manifestiere, daß er die Himmelsgeborenen u ¨ber uns gestellt habe. Die Arkone vom Gerichtshof des Gottkaisers? Welcher Richter w¨ urde einen Fall u ¨bernehmen, in den ein Adliger verwickelt sein k¨onnte?“ Du wendest dich also, zur¨ uckgewiesen von den Vertretern des Himmels, an jene der H¨olle. Nun, wir ” vom Aldoriten haben f¨ ur den Adel nichts u ¨brig. Wir werden dir helfen. Doch zuerst eine Warnung: Wir geben keine Garantien.“ Mit erhobener Hand wehrte er Cholins Protest ab. Oh, wir erf¨ ullen unseren Teil der Abmachung, aber die M¨achte jenseits des Netzes sind ” bestenfalls unberechenbar und schlimmstenfalls gef¨ahrlich. Sollte die d¨amonische Manifestation die Hilfe verweigern, gibt es kein h¨ohere Instanz, an die wir appellieren k¨onnten. Bitte, entferne jetzt alle Gegenst¨ande aus Eisen und alle Sekretionen 1 von deiner Person. Mein Kollege wird sie in Verwahrung nehmen.“ Cholin legte Messer, Schnallen und eine Sammlung von Sekretionen in Ringen und Armreifen ab. 1
Als die Energien jenseits des Netzes auf die Welt trafen, bildeten sich oftmals an Strudeln Lagerst¨atten aus Materie, die aus dem Limbus oder vieUeicht aus der Essenz des Netzes selbst stamrnten. Sekretionen bergen verschiedene spezifische oder allgemeine Kr¨ afte, die magische Aktivit¨aten entdecken oder abwehren; einige vermitteln sogar paranormaie F¨ ahigkeiten. Gef¨alschte Sekretionen sind ebenfalls Weit verbreitet.
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KAPITEL 13. CHOLIN VON CARNEL
W¨ahrend er damit besch¨aftigt war, traten zwei weitere Priester ein. Sie f¨ uhrten einen die F¨ uße nachschleppenden Mann mit leerem Gesichtsausdruck, der offensichtlich von irgendeiner Droge bet¨aubt war. Bevor Cholin etwas sagen konnte, murmelte der Priester: Der Mann ist ein verurteilter M¨order aus den Zellen von Duval. Er wird auf jeden Fall sterben, ” und sein Tod wird hier weniger gr¨aßlich sein als von den H¨anden des ¨offentlichen Erw¨ urgers. Das Netz kann normalerweise nicht vom Willen allein durchdrungen werden; es ist dazu Lebenskraft erforderlich.“ Entschlossen zwang sich Cholin zum Zusehen. Der Priester ergriff ein Messer aus vulkanischem Glas und hob es. Teile dich, Substanz des Netzes!“ rief er. H¨ort uns, ihr M¨achte jenseits des Netzes. Nehmt unsere ” ” Opfergabe an und manifestiert euch.“ W¨ahrend er sprach, wurde das Licht der Laternen matter und ¨ gl¨ uhte rot. Abrupt stieß er dem Ubelt¨ ater das Messer ins R¨ uckgrat. Ein dumpfes Grollen erklang, wie unterirdischer Donner. Der Streich war schnell und gn¨adig gef¨ uhrt worden; der Mann brach lautlos zusammen. Cholin, dessen ganzer K¨orper angespannt war, starrte vorbei an dem Kohlenbecken, in dem Harze rauchten und flackerten, zu der Stelle, wo der Raum neblig, dann rot wurde und sich schließlich kl¨arte. Cholin und die Priester sahen sich keiner Steinmauer gegen¨ uber, sondern einem Schauplatz der H¨olle. Sie hatten den Pfad ge¨offnet, das Netz durchdrungen und die d¨amonischen Kr¨afte beschworen. Auf einer mit H¨auten belegten Estrade saß der D¨amon, schw¨arzer als eine sternenlose Nacht, mit Augen wie gelbe Zwillingslampen des B¨osen. Um ihn lagerten geringere Bewohner der h¨ollischen ¨ Regionen, manche von menschlicher Erscheinung, andere von abstoßendem Außeren. Allen Naturgesetzen Hohn sprechend, floß ein spiralf¨ormiger Blutstrom aus dem Loch im R¨ ucken des Toten in eine geschw¨arzte Sch¨ ussel, die der D¨amon in den H¨anden hielt, und ließ die Leiche weiß und schlaff zur¨ uck. Der D¨amon ber¨ uhrte die Sch¨ ussel mit den Lippen und hielt sie dann seinen Dienern hin. Wie eine entsetzliche Flut krochen sie vor und langten nach dem rauchenden Gef¨aß. Sch¨one junge M¨anner und Frauen balgten sich mit scheußlichen Kreaturen, aber Cholin fiel auf, daß sie achtgaben, keinen einzigen Tropfen zu versch¨ utten. Der D¨amon richtete die Augen auf die Priester. Das Netz ist zerrissen“, sagte er. Raakuk ist erschienen. Er und seine treuen Gef¨ahrten haben ” ” gespeist. Was ist euer Begehr?“ Der Priester trug Cholins Beschwerde und seinen Wunsch nach Rache vor. Als er fertig war, lachte de? D¨amon, wobei das Innere seines Mundes gl¨ uhte wie ein Schmelzofen, und winkte Cholin. Cholin n¨aherte sich ihm, und er sp¨ urte die Hitze des Landes jenseits des Netzes auf der Haut von Gesicht und Armen. Er war sich bewußt, daß der Hof des D¨amons ihn genau musterte, aber er sah unverwandt in die gelben Augen.
145 Du zeigst keine Furcht“, knurrte Raakuk. Das gef¨allt mir. Deine Motive sprechen mich an, Cholin ” ” von Carnel. Ich habe es satt, mir kleinliche Z¨ankereien anzuh¨oren; es ist erfrischend, bei einem Angeh¨origen deiner weichen Rasse einmal echten Haß anzutreffen. W¨aret ihr weniger f¨ ugsam, g¨abe es bei euch l¨angst keine Adligen mehr. Die Schafe m¨ ussen den Wolf akzeptieren oder lernen, selbst W¨olfe zu sein. Die Opfergabe war gut: reich mit S¨ unden beladenes Blut. Ich hin geneigt, großz¨ ugig zu sein, und will dir helfen. Nicht zu sehr, denn die Entfernung jedes Hindernisses w¨ urde nur das Am¨ usement an der Farce schm¨alern, die ihr Sterblichen Leben nennt.“ Er wandte sich einem Bediensteten zu. Wirf dem Sterblichen Sternenfeuer zu.“ Ein schuppiger Horror suchte in einer Truhe und f¨orderte ” ein in Lumpen geh¨ ulltes B¨ undel zutage, das er Cholin zuwarf. Der Gegenstand gl¨ uhte kurz auf, als er die Grenze zwischen den beiden Welten passierte. Cholin l¨oste die Umh¨ ullung und fand ein schweres Schwert mit Kreuzgriff aus gut getempertem Metall. Trotz seines Gewichts lag es angenehm in der Hand. Sternenfeuer ist von D¨amonen geschmiedet“, berichtete Raakuk ihm. Es wird keine Felsbl¨ocke ” ” spalten oder ¨ahnliche Albernheiten vollbringen, aber es wird sich im Vergleich zu sterblichen Klingen als zuverl¨assiger erweisen. Nat¨ urlich ist es frei von Eisen und daher durch Thaumaturgie nicht zu entdecken.“ Cholin murmelte seinen Dank und hoffte, die Gefahren, die das Annehmen von D¨amonen-Geschenken angeblich barg, seien reine Propaganda seitens des Kollegs vom Heiligen Willen. Du dienst hieinen Zwecken ebenso wie deinen eigenen“, f¨ uhr der D¨amon fort. Der Druck des Kollegs ” ” auf den Aldoriten nit t¨aglich zu. Ich sage dir dies, damit du meine uncharakteristische Großz¨ ugigkeit verstehst, die niemals von desinteressierter Menschenliebe herr¨ uhrt. Außerdem bin ich bereit, dir einen Schutzgeist zu gew¨ahren.“ Cholin fuhr zusammen. Ein ” d¨amonischer Schutzgeist w¨ urde ihn auf gleichen Fuß mit den gr¨oßten Zauberern stellen. Und doch, sein Leben mit einer h¨ollischen Kreatur zu verbringen, sie mit seinem Blut zu ern¨ahren. . . Aber er hatte keine Wahl: Wenn frgendein Kurs noch gef¨ahrlicher war als das Annehmen eines D¨amonenGeschenks, so war es seine Ablehnung. Raakuk sah sich unter seinem Gefolge um, und von Zeit zu Zeit warf er Cholin einen Blick ironischer Belustigung zu. Endlich sprach er. Ailuah.“ Unter allgemeinem Schweigen n¨aherte sich ein Wesen aus der Gesellschaft der Estrade. ” Cholins erste Reaktion war Erleichterung, daß es zumindest menschlich war. Ailuah“, schnurrte Raakuk, bist du einverstanden, diesem Sterblichen zu dienen, sein Blut zu ” ” nehmen und dat¨ ur die Energien des Netzes zu seiner Hilfe zu lenken?“
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Das Wesen hob den Kopf, und Cholin bemerkte, daß die D¨amonenfrau sch¨on war — auf eine d¨ ustere Art und Weise. Dichtes schwarzes Haar umgab ein Gesicht, aus dessen dunklen Augen der Haß brannte, und trotzdem war es fesselnd. Dich zu z¨ahmen war eine Herausforderung, Ailuah“, sagte der D¨amon, aber unterhaltsam. Nun?“ ” ” Die Frau sah Cholin an. Ich bin bereit, Herr.“ Raakuk l¨achelte. Dann faßte er mit einer Bewegung, der das Auge nicht ” folgen konnte, die Frau beim Arm u d schleuderte sie Cholin zu. Beim Passieren des Netzes gl¨ uhte ihr K¨orper kurz auf, und ihr Schmerzensschrei hallte noch wider, als sie vor ihm niederfiel. Raakuk nickte dem Priester zu, der das Opfer dargebracht hatte. Das Glasmesser blitzte auf und hinterließ eine rote Linie auf Cholins Unterarm. Sterblicher“, sagte der D¨amon, dein Schutzgeist ist jetzt Teil von dir, bis der Tod euch scheidet. ” ” Ailuah, nimm deinen neuen Herrn an.“ Die Frau blickte mit nicht zu deutendem Gesichtsausdruck zu Cholin hoch. Dann beugte sie sich nieder und legte die Lippen auf den Kratzer. Ihre Zunge strich u ur einen Augenblick geriet sein Entschluß ins Wanken. Rechtfertigte selbst ¨ber sein Fleisch, und f¨ seine hingemetzelte Farllie diese Verbindung mit dem B¨osen? Sie wird dir gut dienen“, sagte Raakuk. Sie hat ihre eigenen Gr¨ unde, die Himmeisgeborenen zu ” ” hassen. Bringt mir bald mehr Blut, Priester. Laßt das Netz zur¨ uckkehren.“ Seine Stimme verklang, und als Cholin aufsah, hatte er wieder die Steinmauer vor sich. Aber es war keine Illusion gewesen. Auf dem Boden lagen Sternenfeuer und die blutleere Leiche des Verbrechers, und neben ihm kniete das D¨amonenm¨adchen. In einem Vorzimmer sah sich Cholin die Frau, die ihn argw¨ohnisch betrachtete, genauer an. Sie trug nichts als ein grobes Hemd, ihre F¨ uße waren bloß. Cholin wandte sich an den Pnester. So kann sie hier nicht weggehen.“ ” Ich werde Kleider holen“, antwortete der Mann, dazu Wasser, Salben und andere Dinge, die Frauen ” ” brauchen.“ Er hielt inne. Die Hilfe, die Raakuk gew¨ahrt, geht u ¨ber meine Erwartungen hinaus, ” aber ich bin mir nicht sicher, ob man dir gratulieren soll.“ Cholin nickte kurz. Der Priester hatte ausgedr¨ uckt, was er selbst empfand. Ein Akoluth trat mit Kleidung und Toilettenartikeln ein und legte alles vor Ailuah hin. Ein zweiter reichte Cholin eine gef¨alschte Lizenz, Sternenfeuer zu tragen. Ein dritter stellte das Paket mit Eisen und Sekretionen ab. Die Priester gingen hinaus. Cholin und die Frau waren allein. Er f¨ uhlte sich verlegen, wußte nicht, wie er sie behandeln sollte. W¨are es dir lieber, wenn ich mich zur¨ uckz¨oge?“ ” Sie zuckte die Schultern. Es gibt keine Dem¨ utigung, die mir nicht widerfahren ist.“ Ihre Stimme ” war leise und angenehm, der Ton enth¨ ullte keine Emotion. Cholin schloß einen Kompromiß, indem er
147 ihr den R¨ ucken kehrte und seine Besitzt¨ umer wieder an sich nahm. Dann kam sie um ihn herum und stellte sich vor ihn. Er war u un gekleidet, das Haar ¨berrascht. So wie jetzt, gewaschen, in Dunkelgr¨ frei von Zotteln, w¨are sie eine Zierde f¨ ur jede Zusammenkunft von Adligen, Kaufleuten oder Gelehrten gewesen. Sie kam n¨aher, als er die Sekretionen ¨offiiete und mit dem Zeigefinger hineinpiekte. Das da — und das — sind von beschr¨anktem, wenn auch unspezifischem Nutzen. Die u ¨brigen Dinge ” sind F¨alschungen, obwohl dieser Ring eine gewisse ¨asthetische Wirkung hat.“ F¨ ur alle besitze ich Garantien des Kollegs, und sie waren sehr teuer“, protestierte Cholin. ” Trotzdem ist es so.“ Ailuah verlor das Interesse. ” Kannst du Sekretionen anfassen und die N¨ahe meines Stahlmessers ertragen?“ ” Nat¨ urlich bin ich gegen solche Dinge etwas empfindlich, aber wir Schutzgeister haben die Eigen” schaften normaler Sterblicher, obwohl wir k¨orperlich sehr stark sind. Die Situation ist anders, wenn wir die Kr¨afte jenseits des Netzes verwenden.“ Komm“, sagte Cholin, gehen wir!“ Im Augenblick nicht an ihren Ursprung denkend, legte er ihr ” ” die Hand auf die Schulter. Sie l¨achelte zu ihm auf, und er sah, daß ihre Eckz¨aline lang und scharf waren. Instinktiv riß er seine Hand zur¨ uck, und sie wandte sich ab. Ihr L¨acheln war verschwunden. Ein Anpassungsprozeß“, sagte sie. Keiner von beiden sagte mehr ein Wort, w¨ahrend sie dem ” wartenden Priester durch die Korridore folgten und den Aldoriten durch eine Seitent¨ ur verließen. ¨ Draußen in der Abendd¨ammerung fand Cholin Worte f¨ ur seine Angste. Was die Natur unseres Vertrags angeht — stimmt es, daß du zu deiner Ern¨ahrung auf mein Blut ” angewiesen bist?“ Nun, nur zum Teil“, antwortete Anuah. Ich brauche Essen wie jeder Sterbliche — in den meisten ” ” Beziehungen bin ich eine normale Sterbliche —, aber allen, die jenseits des Netzes gewesen sind, mangelt etwas, das wir nur aus menschlichem Blut gewinuen k¨onnen. Die Mengen sind gering; ich k¨onnte mich ja nicht allein von deinem Blut ausreichend ern¨ahren, ohne dich zu t¨oten. Vielleicht h¨atte die Wissenschaft der Biochemie kl¨aren k¨onnen, um was es sich bei dem uns mangelnden Stoff ¨ handelt, aber diese Kennrnisse sind vor Aonen verlorengegangen.“ Wissenschaft?“ fragte Cholin belustigt. Dann bist du wohl anderer Meinung als die modernen ” ” Gelehrten, die solche Dinge f¨ ur Mythen halten.“ Es hat sie tats¨achlich einzual gegeben“, erkl¨arte Aiiuah´ als die Erde noch jung und die Zau” ” berei ein Mythos war. Wissenschaft war das systematische Studium von Wissen, neutral, ohne Abh¨angigkeit von Willensanstrengungen oder u urlichen Kr¨aften. H¨atten wir heutzutage Wis¨bernat¨ senschaft, k¨onnten wir das Netz kontrollieren.“ Woher weißt du das?“ Cholin scherzte nicht mehr. Wer bist du?“ ” ”
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Sie zuckte die Schultern. Eine nicht bemerkenswerte Tochter des Adels, die nichts Besseres erwarte” te, als zum dynastischen Vorteil an einen Ehemann verschachert zu werden. Aber mein Vater hatte viele T¨ochter; deshalb wurde nur erlaubt, das Weltliche Kolleg in Albdrovah zu besuchen. Dort studierte ich die Fragmente des Wissens, die aus der fernen Vergangenheit u ¨briggeblieben sind. Die Physik, das ist die Lehre von den Kr¨aften, die wirken, ob der Mensch sie beobachtet oder nicht, die seltsamen Beziehungen der Physiologie, die Geheimlehre der Mathematik, die es uns erm¨oglicht, Modelle der Welt in Zeichen auf einem Blatt Papier zu bauen. Mein Haus ignorierte mich, und ich war gl¨ ucklich. Aber meinen Vater ¨argerte das, was er als nutzloses B¨ ucherwissen ansah, und er sagte sich, der Preis, den er f¨ ur mich vom Aldoriten erhalten k¨onnte, sei mehr wert als irgendwelche zweifelhaften Heiratsaussichten.“ Cholin schwieg eine Weile. Die Besch¨aftigung mit alten Lehren wurde an der Elstern-Akademie ” nicht gef¨ordert, aber ich habe nur oft gew¨ unscht, mehr zu wissen. . Und heute, Herr?“ fragte Ailuah. Was ist dein gegenw¨artiger Wunsch?“ ” ” Wir reisen s¨ udw¨arts, um in meiner weiteren Heimat in Erfahrung zu bringen, was wir k¨onnen. Ich ” werde f¨ ur Reittiere sorgen— falls du nicht u ugst.“ ¨ber alternative Transportmittel verf¨ In dieser Welt bin ich an ihre Gesetze gebunden“, sagte Ailuah. D¨amonische Kr¨afte d¨ urfen nicht ” ” f¨ ur kleine Bequemlichkeiten losgelassen werden.“ Die erste Aufgabe der beiden war es, diejenigen zu identifizieren, die das Haus von Carnel gepl¨ undert hatten. In der N¨ahe der Ruinen seines Heinis stellte Cholin diskrete Fragen und erfuhr, einer der H¨ausler habe die R¨auber vorbeireiten sehen. Sie lauerten diesem Ungl¨ ucklichen auf, aber er erkannte Cholin und weigerte sich zu sprechen. Vielleicht glaubte er wie die meisten Bauern, was die Hinimelsgeborenen tun, d¨ urfe nicht in Frage gestellt werden; vielleicht f¨ urchtete er Vergeltungsmaßnahmen. Cholin bot ihm Gold, dann faßte er, außer sich geratend, nach ,einer Klinge, aber eine Hand ber¨ uhrte sein Handgelenk. Ailuah trat vor, hielt die Augen des Mannes mit den ihren fest, f¨ uhr mit der Zunge vielsagend u ¨ber die langen Eckz¨ahne. Du magst den Tod nicht f¨ urchten. F¨ urchtest du die H¨olle? Soll ich dein Blut trinken und deine ” Seele den M¨achten jenseits des Netzes u ¨berantworten?“ Der Bauer wimmerte, sprach in großer Hast. Es war TaifeIs Thippe; ich habe ihr Abzeichen erkannt. ” Heiliger Wille, vergib mir meine Schw¨ache.. . Er schluchzte immer noch, als sie ihn verließen. ” Eine Weile ritten sie schweigend dahin. Dann fragte Cholin: Kannst du das tun?“ ” Ailuah sch¨ uttelte den Kopf. Ich habe es nur gesagt, um ihm Angst einzujagen.“ ” In einem nahe gelegenen Wirtshaus nahmen sie ein Zimmer und entfernten alle Spuren von Eisen daraus. Ailuah kniete auf dem Fußboden nieder, die Augen geschlossen. Bei der Willensanstrengung, die notwendig ist, das Gewebe der Realit¨at zu verzerren und sie zu zwingen, die gesuchte Information
149 herauszugeben, bedeckte sich ihr Gesicht mit Schweiß. Dann fielen ihre Schultern pl¨otzlich herab, und sie w¨are umgefallen, h¨atte Cholin sie nicht aufgefangen und auf einen Strohsack getragen. Herr“, fl¨ usterte sie. Taifels Truppe ist in der Provinzhauptstadt Albdrovah.“ Als Cholin sich ” ” aufrichten wollte, hielt sie seinen Arm fest. Es tut mir leid, aber ich brauche . . . Tr¨anen der Schw¨ache rannen ihr aus den Augen. ” ” Mein Blut?“ Sie nickte. Nun gut, was muß ich tun?“ ” ” Leg dich einfach hin.“ Cholin beobachtete sie mißtrauisch, dann packte er ihr Handgelenk, und ein ” Keramik-Messer klirrte zu Boden. Ich habe nicht vor, dir etwas zu tun“, protestierte Ailuah. Meine Z¨ahne w¨ urden dein Fleisch ” ” quetschen. Ein Messer verursacht weniger Schmerz, und die Wunde heilt schneller.“ Raakuk hat uns nur gebunden, bis der Tod uns scheidet.“ ” Ein Schutzgeist kann seinem Herrn nichts tun. Außerdem ...“ Cholin wartete, aber sie sprach ” nicht weiter. Sich seines Verdachts sch¨amend, hob er das Messer auf und legte es ihr in die Hand. Tats¨achlich war es weniger unangenehm, als er es sich vorgestellt hatte: Ihr warmer K¨orper neben ihm war beinahe tr¨ostlich. Ailuah“, fragte er freundlich, wie ist das f¨ ur dich?“ Sie drehte den Kopf. Das dunkle Haar verbarg ” ” ihren Gesichtsausdruck. Stell dir vor, du ißt so u ¨ppige Speisen, daß dir schlecht davon wird, aber du kannst nicht auffi¨oren. ” Aber Schutzgeister ziehen Trost aus der N¨ahe ihrer Herren, auch wenn diese sie verabscheuen.“ Ich verabscheue dich nicht“, sagte Cholin. Meine arme Ailuah. Als k¨onnte ich den Tugendbold ” ” spielen, nachdem ich die Hilfe des Aldoriten gesucht habe.“ Sie murmelte: Wenigstens versuchst du, deine Gef¨ uhle zu verbergen.“ ” In dieser Nacht wurde Cholin von Tr¨aumen heimgesucht, in denen er die panikerf¨ ullten Schreie seiner Schwester h¨orte, die vergewaltigt und in die Flammen geworfen wurde. Er stellte sich das alles nur vor, denn er war in Elstern gewesen, und als er heimkam, war die Asche des Hauses schon kalt. Er schrie auf, schlug nach immateriellen Angreifern. Er f¨ uhlte Ailuahs Ber¨ uhrung und erwachte, klammerte sich an ihre Hand, bis er sich schließlich seiner Schw¨ache sch¨amte und sie losließ. Als erkenne sie seine Stimmung, kehrte sie schnell auf ihren Strohsack zur¨ uck. Sie kamen nach Albdrovah. Die Straßen waren u ullt, denn die Zeit des Festes n¨aherte sich, an ¨berf¨ dem die jungen M¨anner der Himmelsgeborenen in die Welt der Erwachsenen aufgenommen werden. Zeremonien im Heiligen Kolleg wechselten mit Mutpro ben ab, bei denen mehr als ein EmbryoAdliger ums Leben kommen sollte. Wahrscheinlich w¨ urde auch eine große Zahl von Unbewafiheten get¨otet werden, aber diese pflegte niemand zu z¨ahlen. Nichtsdestotrotz hoffte jeder Kaufmann und jeder Gaukler, das Mißfallen oder die Ausgelassenheit der Himmelsgebore nen werde ihn nicht treffen.
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Ailuah zeigte ihm, wo sie als Studentin, ignoriert von ihrem adligen Haus, gelebt hatte, und ihr Gesichtsausdruck wurde dabei weich. Die Stadt war ziemlich altert¨ umlich mit engen, kopfstein gepflasterten Straßen. Die aus Stein erbauten H¨auser trugen hohe Giebeld¨acher, die mit dunkelroten Ziegeln gedeckt waren. Bald hatten sie herausgefunden, daß Taifels Truppe sich in einein großen Gasthof am Rand der Stadt einquartiert hatte. Der Wirt, der sie als weder an Geld noch an Einfluß reich eins tufte, zeigte ihnen ein finsteres Gesicht. Ich nehme an, ihr stellt keine großen Anspr¨ uche. ” Die Staats gem¨acher sind von Taifels Truppe besetzt, und die Garten-Suite ist f¨ ur Seine Erlaucht, den Himmelsgeborenen Surthal reserviert. Wir haben nur noch Dachkammern frei, und f¨ ur diese verlange ich den Wochentarif, zahlbar im voraus.“ Deine Bedingungen sind recht zufriedenstellend.“ Cholin ¨offnete seinen Beutel. Der Wirt grunzte ” und rief seine Tochter, die neuen G¨aste zu bedienen. Sie hieß Mylena und war ein dickes, tr¨ages M¨adchen, h¨ ubsch auf eine leere Art. Cholin war nicht entgangen, daß Ailuah zusammengezuckt war, als der Name des Adligen fiel. Du ” weißt von diesem Surthal“, sagte er, als Mylena das G¨astebuch aufschlug. Er ist nicht gerade der humanste der Himmeisgeborenen zu nennen“, antwortete sie indirekt, doch ” ” sind die Unbewaffneten in seinen Augen seiner Aufmerksamkeit nicht w¨ urdig. Ein solches Massaker paßt eigentlich nicht zu ihm.“ Mylena machte einen geistesabwesenden Eindruck; beim Eintragen der Namen zitterte ihre Hand, und Cholin mußte sie auffordern, sich die Lizenz anzusehen, die ihm, einem Mann aus dem Volk, erlaubte, Waffen zu tragen. Vielleicht war sie an dem Verdienst, den Surthal ihnen brachte, weniger interessiert. In ihrem Zimmer sagte Cholin: Bleib du hier, ich werde versuchen, u ¨ber Taifel herauszufinden, was ” m¨oglich ist. Diese Mylena k¨onnte allerhand wissen.“ Ich dachte, wir seien hergekommen, um nach Taifels Truppe zu suchen, nicht, um hinter Frauen ” herzulaufen“, bemerkte Ailuah gereizt. Tats¨achlich fand Cholin die stumpfsinnige Mylena wenig anziehend, aber er f¨ uhlte sich ungerecht beurteilt und gab scharf zur¨ uck: Wir m¨ ussen erfahren, wie groß ihre Zahl ist und was sie vorhaben. Vielleicht kannst du mich nicht ” direkt t¨oten, aber wenn du mich u ¨berreden willst, alle Vorsicht fahrenzulassen, ist das kaum ein Unterschied.“ Dann laß dich ohne meine Hilfe umbringen“, fauchte Ailuah. Wenigstens habe ich ... Sie brach ” ” ” ab, schniefte, lief aus dem Zimmer und knallte die T¨ ur hinter sich zu. Kurze Zeit sp¨ater starrte Cholin mißmutig in sein Bier. Mylena hatte ihm bereitwillig mitgeteilt, was sie wußte, aber es war deprimierend gewesen. Taifels Truppe bestand aus etwa zwanzig erfahrenen M¨annern. Sobald der Adlige und sein Sohn da waren, w¨ urden sie alle bei der Hand bleiben. Zumindest vorerst wurde also nichts aus seinem Plan, sie einzeln oder zu zweit zu u ¨berfallen.
151 Er versuchte, sich einzureden, Ailuah benehme sich unvern¨ unftig, aber er war sich zu seinem Unbehagen bewußt, daß er sie schlecht behandelt hatte. Er hatte fast ebensowenig Einf¨ uhlsamkeit bewiesen wie ein Adliger, der glaubt, die Unbewafineten sp¨ urten keinen Schmerz. Er stellte den Bierkrug hin. Von den strengen Elstern–Schulmeistern darin ge¨ ubt, seinen Appetit zu beherrschen, war er zu enthaltsam in seinen Gewohnheiten, um sich dem Trunk hinzugeben. Stimmen klangen aus dem Vorraum herein, und er blickte hoch. Meine Ehrerbietung, Hauptmann Taifel“, begr¨ ußte der Wirt den Neuank¨ommiing kriecherisch. Eu” ” er Erlaucht, welche Ehre, daß Ihr und Euer edler Sohn meinen armen Gasthof besucht.“ Cholin, unbemerkt im Schatten sitzend, spannte die Muskeln an. Vielleicht war es gut, daß Sternenfeuer oben in. seinem Zimmer war, denn andernfalls h¨atte er versucht sein k¨onnen, die M¨anner auf der Stelle anzugreifen. Er l¨achelte schief. Eine solche Tat w¨ urde Ailuahs abf¨allige Meinung u ¨ber sein Urteilsverm¨ogen best¨atigert. Den Wirt ignorierend, winkte der Himmelsgeborene Mylena, die z¨ogernd n¨aher kam. Er drehte ihr Gesicht dem Licht zu. Du solltest beginnen, deine Vorrechte wahrzunehmen“, sagte er zu seinem Sohn, einem blassen, ” reizbaren J¨ ungling. Du kannst die hier benutzen, wenn wir vom Kolleg zur¨ uckkehren.“ ” Aber ich soll nach dem Fest verheiratet werden“, stammelte Mylena unter Tr¨anen. Heiliger Wille, ” ” Schlampe!“ bellte Surthal. Sprich nicht noch einmal von der Brunst unter euch Niedrigen in ” Verbindung mit dem Wunsch eines Himmelsgeborenen!“ Das M¨adchen entfloh. Cholin wurde von Mitgef¨ uhl f¨ ur sie u ¨berw¨altigt, aber schließlich war er nicht einmal imstande, seine eigenen Interessen zu vertreten. Er schob seinen unber¨ uhrten Bierkrug beiseite. Es hatte keinen Sinn, die Tatsachen zu verdrehen. Die gute Meinung des D¨amonenm¨adchens war ihm wichtiger, als er sich hatte eingestehen wollen. Er mußte zu ihr gehen und sich entschuldigen. Was Taifels Truppe betraf, fand sich vielleicht eine bessere Gelegenheit nach dem Fest. Bevor er aufstehen konnte, schl¨ upfte Mylena in den Schankraum zur¨ uck. Sie blickte nerv¨os u ¨ber die Schulter. Hauptmann Taifel hat erfahren, daß du Fragen u usterte sie ihm zu. Ich ¨ber ihn gestellt hast“, fl¨ ” ” h¨orte ihn sagen, er werde dich lehren, weniger neugierig zu sein.“ Sie faßte unter ihre R¨ocke und brachte Sternenfeuer zum Vorschein. Ich dachte, das k¨onnte helfen.“ ” Wo ist Ailuah?“ ” Im Garten. Sie weint, aber sie will nicht sagen, warum.“ ” Cholin schloß kurz die Augen. Richte ihr von mir aus, sie solle fliehen, um sich zu retten. Sag ihr ” auch noch — nein, sonst nichts. Geh schnell, ich h¨ore Stimmen.“ Taifel f¨ uhrte etwa zwanzig M¨anner herein; wahrscheinlich war es die ganze Truppe. Kein einziger Mann hatte einen Blick f¨ ur Mylean u ¨brig, die hmauseilte.
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S¨oldner“, sagte Taifel, du hast unversch¨amte Fragen gestellt.“ ” ” Ich bin ohne Dienst“, antwortete er h¨oflich. Ich hatte auf eine freie Stelle gehofft. Komm, laß dich ” ” zu einem Krug Bier einladen.“ Taifel ignorierte das. Er wies auf einen seiner M¨anner. Gessner, erteile diesem Flegel eine Lektion.“ Cholin blieb bewegungslos sitzen, doch seine Gedan” ken wirbelten. Wenn er sich nicht wehrte, geschah vielleicht nichts Schlimmeres, als daß sie ihn zusammenschlugen — nein, er wollte nicht l¨anger ein Schaf sein. Er umfaßte den Griff Sternenfeuers, der unter der Tischkante verborgen war. Die besten Fechtmeister hatten ihn unterrichtet; jetzt w¨ urde sein Geschick auf die Probe gestellt werden. Er sprang auf die F¨ uße und stieß Gessner das Schwert, das in der tr¨ uben Beleuchtung schimmerte, in den Hals. Bevor der Tote umfallen konnte, st¨ urmte er vor, zerschnitt einem anderen Mann das Gesicht und zog die Klinge im Aufschwung einem dritten u ¨ber die Schulter. Inzwischen hatten die Krieger ihre Schwerter gezogen, aber die Tische der Gaststube behinderten sie in ihren Bewegungen. Einer stolperte u ¨ber eine Bank; Sternenfeuer stanzte ein Loch durch seine R¨ ustung. Raakuk mochte sagen, was er wollte — dies war keine gew¨ohnliche Klinge. Taifel trieb seine M¨anner mit Fl¨ uchen zur¨ uck. Dann stellten sie sich in einer Reihe mit großen Zwischenr¨aumen auf und umgingen die Tische beim Vorr¨ ucken. Cholin war klar, hatten sie ihn einmal an die Wand gedr¨angt, war er verloren. Wie viele hatte er ausgeschaltet? Vier? F¨ unf? Einerlei, es waren immer noch zu viele. Nur in Heldensagen u urde sein Rachezug ¨berwindet ein einziger Mann viele ausgebildete Krieger. Nun w¨ ruhmlos auf diesem blutdurchweichten Fußboden enden. Er hoffte, Ailuah war weit weg, wenn es Taifels Leuten einfiel, ihre Verluste an seiner Gef¨ahrtin zu r¨achen. Die T¨ ur krachte auf, und Ailuah stand im Rahmen. Ein Krieger lachte. Da ist unsere Unterhaltung f¨ ur sp¨ater. . . Er faßte nach ihr, aber mit einer ” ” kleinen Bewegung entschl¨ upfte sie ihm und sprang ihm auf den R¨ ucken. Ihre d¨amonisch verst¨arkten Muskeln hielten ihn einen Augenblick fest, dann fuhr sie ihm mit den Z¨ahnen blitzschnell an die Kehle. Aschfarben im Gesicht taumelte der Mann vorw¨arts. Blut sickerte durch die Finger, mit denen er seinen Hals umfaßte. Die Ablenkung nutzend, schleuderte Cholin einen Schemel auf einen Mann, stieß nach einem zweiten, der unter dem Krachen von R¨ ustung und splitternden B¨anken zu Boden ging. Ein Wirbelwind von Streichen, und er war durch. Er zog sich dahin zur¨ uck, wo Ailuah reglos stand. Ihre H¨ande hingen lose herab. Lauf´, fl¨ usterte Cholin. Ich werde versuchen, sie aufruhalten.“ ” ” Nein.“ Es war, als wecke Ailuah sich selbst aus ihrer Trance. Sie hob die H¨ande wie Klauen ” gekr¨ ummt u ullte die Lungen, daß ihre Bluse sich u usten spannte. ¨ber den Kopf und f¨ ¨ber den Br¨
153 M¨achte des Netzes“, schrie sie, herbei!“ ” ” Ein Grollen war zu h¨oren, und der Raum hinter Cholin und Ailuah verdunkelte sich zu einem d¨ usteren Rot. Silberne F¨aden liefen Ailuahs H¨ande entlang und funkelten an ihren Fingerspitzen. Ihr Gesicht verzerrte sich unter der Anstrengung, in Gegenwart von so viel Eisen magische Handlungen vollziehen zu m¨ ussen. Und doch war Eisen auf einzigartige Weise gegen¨ uber d¨amonischen Kr¨aften verwundbar. Die aufblitzenden Energien sprangen von Ailuahs Fingern und benutzten die Kettenhemden der Krieger als Erdung. Geschw¨arzte Gestalten wurden durch den Raum geschleudert und blieben zuckend auf dem Fußboden liegen. Der Rest war ein Abschlachten. ie M¨achte des Netzes und Sternenfeuer r¨aumten unter den Kriegern auf, bis schließlich nur noch Talfel u ¨brig war. Ailuah fiel ausgelaugt und ersch¨opft auf die Knie nieder. Das Knistern der Energie war verstmnsnt. Taifels weißes Gesicht starrte in das Cholins. Warum?“ kr¨achzte er. ” Ich bin Cholin von Carnel“ sagte Cholin. Begreifen und Verzweiflung zuckten u ¨ber Taifeis Gesicht. ” Heulend sprang er vorw¨arts und lief in die D¨amonenklinge. Cholin kniete sich neben Ailuah und dr¨ uckte ihre Lippen auf eine Schnittwunde in seinem Unterarm. Da ¨ofinete sich die T¨ ur, und beide sahen sich um. fm Eingang stand der l¨achelnde Surthal und hielt eine Armbinde in die H¨ohe, die mit einer milchigen, durchscheinenden Kugel verziert war. Unversch¨amter Empork¨ommling!“ sagte er. Die Armbinde vor sich herstreckend, trat er in die ” Schankstube. Ailuah wimmerte. Ein unertr¨aglicher Schmerz drang tief in Cholins Seite em. Je n¨aher Surthal kam, desto weiter breitete sich die Qual u ufte und Wirbels¨aule aus. ¨ber H¨ Eisen“, ¨achzte Ailuah. Cholin kam ein ungef¨ahres Verst¨andnis. Der Adlige hielt eine Sekretion, die ” durch das Agens des Eisens wirkte. Cholin verbiß den Schmerz und schlug mit der Hand nach unten. Das Messer fiel aus seinem G¨ urtel und glitt u ¨ber den Fußboden. Der Schmerz ließ nach. Cholin dankte dem Schicksal, daß er alles andere Eisen mit R¨ ucksicht auf Ailuahs Empfindlichkeit abgelegt hatte. Er hob Sternenfeuer, und der Adlige, der das elnfach nicht glauben konnte, stieß die Sekretion nach dem Schwert. Sternenfeuer enth¨alt kein Eisen“, teilte Cholin ihm mit. Er schlug zu, die Sekretion zerbrach, die ” Matrix, die ihre Kraft enthalten hatte, war f¨ ur immer zerst¨ort. Bevor er von neuem zuschlagen konnte, schl¨ upfte Ailuah vor ihn. Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Hallo“, sagte sie, lieber Vater.“ ” ”
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KAPITEL 13. CHOLIN VON CARNEL
Surthals Angst verwandelte sich in Entsetzen. Er lief davon, die Gesichtsz¨ uge schlaff vor Panik. Auf der anderen Seite des Vorraums stolperte er und fiel die Treppe hinunter. Cholin sprang ihm nach. Kurze Zeit sp¨ater kehrte er langsam zur¨ uck. Tot“, sagte er zu Ailuah. Hat sich den Hals gebrochen. ” ” Er war also dein — der Mann, der dich an Raakuk verkaufte.“ Sie nickte und holte m¨ uhsam Atem. Als ich jenseits des Netzes war, pflegte ich zu schw¨oren, ich wolle alles erdulden, wenn ich es Surthal ” eines Tages heimzahien k¨onne. Und du — du hast deine Familie ger¨acht.“ Ich glaube schon.“ Unwillk¨ urlich machte Cholin eine Bewegung, als wolle er seine Klinge wegwerfen. ” Er bezwang den Impuls jedoch und begann, sie zu s¨aubern. Ich empfinde nichts als Ekel dar¨ uber, ” daß ich diese M¨anner erschlagen habe. Zweifellos waren sie schlimmer Verbrechen schuldig, und das nicht nur an dem Haus von Carnel. Jetzt liegen sie tot da, andere jedoch, deren Verbrechen ebenso groß sind, stolzieren unversehrt urnher. Und h¨atte es mich gek¨ ummert, wenn die Opfer nicht meine Familie, meine Freunde, meine Gefolgsleute gewesen w¨aren?“ Ailuah trat n¨aher zu ihm. Es spricht f¨ ur dich, daß du das T¨oten nicht liebst. Doch u ¨bertreibe nicht. ” Sicher, die Rechtsprechung sollte in den H¨anden unpartelischer Staatsdiener liegen, nur — wo sind sie? Wenn du nicht alle Verbrechen bestrafen kannst, sollst du dann nicht da Vergeltung u ¨ben, wo es in deiner Macht liegt? Auch ich hatte die Augen geschlossen und akzeptierte, was Reichtum und Macht bieten k¨onnen. Aber ich lasse nicht zu, daß mir Schuldgef¨ uhle die Kraft nehmen; ich arbeite willig mit dir zusammen, nicht nur, weil du es mir befehlen kannst.“ Cholin drehte sich ihr mit einem Ruck zu. Ailuah, warum bist du zur¨ uckgekommen? Ich hatte deine ” Hilfe nicht verdient. Du hattest wieder zu Raakuk gehen und ihn bitten k¨onnen, dich freizugeben.“ Sie bewegte den Kopf auf diese ihm nun schon Nertraute Weise so, daß ihr Haar ihr Gesicht verbarg. Warum? Vielleicht, weil ich auf dein Blut eingestimmt bin, ,und hier ist es besser als jenseits des ” Netzes. Vielleicht, weil du versucht hast, freundlich zu mir zu sein, als sei ich kein Gesch¨opf des B¨osen. Aber vor allem — erinnerst du dich, daß ich sagte, Schutzgeister seien in vieler Beziehung normale Menschen? Nun, ich bin eine Frau gewesen, bevor ich ein Schutzgeist wurde. Ich glaube, Raakuk sah voraus, daß ich als Ergebnis unseres intimen Kontakts an dir h¨angen w¨ urde, auch wenn ¨ ich dir Ubelkeit erregen sollte. Das w¨ urde seinem Sinn f¨ ur Humor entsprechen.“ Dieses eine Mal“, sagte Cholin, ist Raakuk zu raffiniert gewesen.“ Er streckte die Arme nach ihr ” ” aus, zog sie an sich. Sie verkrampfte sich f¨ ur einen Augenblick, dann entspannte sie sich. Pl¨otzlich f¨ uhr Cholin zusammen. Heiliger Wille, ich habe den Sohn vergessen.“ ” Pienet ist hier? Wir m¨ ussen ihn finden, bevor er Hilfe herbeiruft.“ ” Sie hatten die T¨ ur noch nicht erreicht, da flog sie auf, und der weibische J¨ ungling zerrte Mylena u ¨ber die Schwelle. Die Kleider des M¨adchens waren zerrissen, ihre Lippen geschwollen und blutig.
155 Unbewaffnete Schlampe“, keifte er, du brauchst eine Lektion. ... Er blieb angesichts des Schlacht” ” ” felds stehen, den Mund weit ge¨offnet. Cholin schlug die T¨ ur zu. Ailuah blockierte den anderen Ausgang. Mylena riß sich los und wich zur¨ uck. Was hat diese Ungeheuerlichkeit zu bedeuten?“ verlangte Pienet mit nasaler Stimme zu wissen. ” Immer noch war er anscheinend unf¨ahig zu begreifen, daß er sich in Gefahr befand. Cholin sprach mit leiser Stimme, die gepreßt klang vor Drohung. Ich bin Cholin von Carnel; meine Esche 2 ist Ailuah. Jetzt h¨or zu: Wenn du am Leben bleiben ” willst, sag uns, warum Surthal die Vernichtung meines Hauses befahl!“ Pienet sah zu Ailuah hin und riß die Augen auf, als er sie erkannte und ihm gleichzeitig ihr ver¨andertes Aussehen bewußt wurde. Ich habe nicht vergessen“, sagte Ailuah, mit welchem Eifer du auf den Verkauf ,des M¨adchens, ” ” dessen Kopf mit wertlosem Wissen vollgestopft ist´, gedr¨angt hast. Du w¨arest t¨oricht, wolltest du Mitgef¨ uhl von mir erwarten.“ ¨ Der J¨ ungling zitterte. Seine Selbstsicherheit, sein Uberlegenheitsgef¨ uhl — alles war vernichtet. Ich weiß nur, daß ein Abgesandter vom Kolleg in Tsenelan zu Surthal kam, beauftragt vom Pontifex ” pers¨onlich. Sie schlossen sich f¨ ur vielleicht eine Stunde ein; ich war bei ihrem Gespr¨ach nicht anwesend. Dann ließ Seine Erlaucht Taifel kommen und gab ihm den Befehl.“ Ihm brach die Stimme. Mehr weiß ich nicht; das schw¨ore ich. Du hast mir dein Wort gegeben.“ ” Cholin z¨ogerte. Das B¨ urschchen laufenzulassen war gef¨ahrlich. Doch es stimmte, daß er ihm zumindest indirekt ein Versprechen gegeben hatte. Er sah zu Ailuah hin¨ uber, die die Schultern zuckte. Da senkte er Sternenfeuer und trat zur Seite. Ein hoher Schrei wie von einem Tier erklang. Mylena rannte durch den Raum, in der Hand das Messer, das Cholin von seinem G¨ urtel gerissen hatte. Pienet starrte sie an, zu erschrocken, um sich zu verteidigen; und Mylena stieß ihm den Dolch einmal, zweimal, dreimal in den K¨orper, bis er mit dem Gesicht nach unten u ¨ber einer Bank zusammenbrach. In der nun folgenden Stille trat Ailuah zu dem M¨adchen und nahm ihm das Messer aus der Wo ist dein Vater?“ fragte sie sanft. ” Tot. Bis zum letzten versuchte er, mich zu sch¨ utzen. Vergebens. Es ist vergebens, den Himmeisge” borenen Trotz zu bieten. Jetzt werden wir alle sterben.“ ¨ Partner (Partnerin), auch Kosewort, ungef¨ ahre Ubeisetrung: Liebster (Liebste). Tats¨achlich eine Zusarnmenziehung des derelischen Ausdrucks essiente tarache, gelieher Gefahrte (geliebte Gef¨ahrtin). Die Terrninologie spiegelt die Ansicht der alten Derelier wider, dall emotionale und intellektuelle Kompatibilit¨at von gr¨oßter Bedeutung ist. Sexuelle Anpassung betrachteten sie all zuf¨ allig und von keiner großen Tragweite. 2
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KAPITEL 13. CHOLIN VON CARNEL
Unsinn!“ erkl¨arte Ailuah. Den Himmelsgeborenen ist bereits Trotz geboten worden. Wasch dir ” ” ¨ das Blut von den H¨anden, nintm alles Geld, das vorhanden ist, fliehe mit deinem Liebhaber. Andert eure Namen und sucht einen fernen Ort; niemand wird euch mit den Ereignissen hier in Verbindung bringen.“ Die junge Frau richtete sich auf. Sie reagierte automatisch auf den aristokratischen Befehlston in Ailuahs Stimme. Als sie gegangen war, wandte sich Ailuah an Cholin. Was nun, Herr?“ ” Ailuah“ sagte Cholin, laß uns Schluß machen mit dem Gerede von Herr und Sklavin. Wir haben ” ” als Kameraden gegen die Himmelsgeborenen gek¨ampft, als Krieger und Zauberin.“ Ailuah sch¨ uttelte sich das Haar aus dem Gesicht und l¨achelte. Nach Tsenelan, Esche?“ ” Cholin gab ihr das L¨acheln zur¨ uck. Wohin sonst?“ ”
Kapitel 14 Ritual der Rache von Deborah Wheeler Jedes Jahr erhalte ich viele Geschichten u ¨ber dieses allgemeine Thema. Warum nehme ich sie fu r gew¨ohnlich an, wenn sie von Deborah Wheeler geschrieben sind, und lehne sie ab, wenn sie von :Iemand anders kommen? Es ist die Art des Schreibens; sie versteht es wahrhafig, eine gute Geschichte aufzubauen. Abgesehen davon, daß sie eine ausgezeichnete Schriftstellerin ist, ist Deborah auch noch eine sehr gute Chiropraktikerin.
Tyr Schwertschwester fluchte laut und brachte ihr erschrockenes Schiachtroß wieder unter Kontrolle. Der schwarze Hengst bog den Hals und b¨aumte sich auf, daß der lose Schiefer unter seinen Hufen nach allen Seiten flog. Sie richtete die Spitze ihres besten Schwertes auf die Hexe, die pl¨otzlich um eine Biegung des Pfades gekommen war. Ein Trick, Hexe, und du bist tot.“ ” Keine Tricks“, versicherte die andere Frau mit sanfter Stimme. Sie schob die Kapuze ihres langen ” silbrigen Gewandes zur¨ uck und enth¨ ullte ein blasses, ziemlich unscheinbares Gesicht, umrahmt v¨on eisengrauem Haar. Sie trug ein kupfernes Stimband und an der linken Hand einen Ring, an dem ein Blutstein schimmerte. Ha!“ Tyr ließ ihrem Temperament freien Lauf. Wer, zum Teufel, bist du, daß du allein in diesem ” ” Land reisest?“ 157
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Wenn ich dich nach deinem wahren Namen fragte, w¨ urdest du ihn mir sagen? W¨ urdest du solche ” Macht in die H¨ande einer Fremden legen — und das auf der Schwelle zur Djenne-W¨ uste? Du kannst mich Elarra nennen.“ Die Hexe trat vor und legte eine Hand auf den Hengst, der unter ihrer Ber¨ uhrung zitterte. Ich bin ” nach Norden unterwegs.“ In das Herz der W¨ uste?“ ” Elarra sah auf das Schwert, das Tyr immer noch auf ihr Herz gerichtet hielt. Ich w¨ urde mit dir ” reisen, wenn wir den gleichen Weg haben, Tyr Schwertschwester.“ Woher weißt du, wer ich bin?“ Pl¨otzlich schimmerte Schweiß auf den Muskeln von Tyrs Unterarmen. ” Wie viele schwerttragende Frauen kennt unsere Welt? Und wie viele von diesen reiten einen schwar” zen Hengst — H¨ollenroß wird er genannt, nicht wahr?“ Tyr konnte nicht umhin zu l¨acheln. Es gibt nicht viele, die verstehen k¨onnen, warum ich ihn so ” genannt habe.“ Ein Reittier, das dich bis in die Tiefe der H¨olle tragen kann . . . und dann wieder zur¨ uck.“ Elarra ” streichelte dem Hengst die Nase. Welchen Weg reitest du jetzt?“ ” Die Kriegerin steckte das Schwert in die Scheide. Nach Norden, wie du. Du suchst Gesellschaft?“ ” Denkst du, wir h¨atten uns zuf¨allig getroffen?“ ” Ich denke, daß dem Zufall nachgeholfen werden kann“, sagte Tyr. Sie trieb den Hengst mit den ” Knien an. Die Hexe schritt mit schmerzhafter Langsamkeit den engen Pfad entlang. Ich weiß nichts ” von deinen Zielen, und du weißt nichts von meinen.“ Bis zum Abend k¨onnen wir ein kleines Dorf erreichen. Es sind arme Leute, die im Schatten der ” Djenne leben. Am besten u ¨bernachten wir dort.“ Das h¨ort sich an, als ob du diese Gegend kennst. Bist du schon hier gewesen?“ ” Ja“, antwortete Elarra und beschleunigte den Schritt. ” Das Dorf war herzzerreißend arm, wenig mehr als eine gewundene Straße, v¨on H¨ utten ges¨aumt, die nur einen einzigen Raum hatten. Die H¨alfte von ihnen stand leer. Kinder lugten mit gehetzten, hungrigen Blicken heraus, bevor ihre M¨ utter sie zur¨ uckscheuchten. Tyr nahm Wasser und ein Obdach an, wollte jedoch kein Essen nehmen. Pferd und Reiterin waren gemeinsam in einer verlassenen H¨ utte untergebracht. Verflucht sollen sie sein“, murmelte Tyr und verteilte Korn aus ihrem mageren Vorrat auf H¨ollenroß´ ” Decke. Sie haben diesen Leuten nichts gelassen!“ ” Elarra hatte sich an das scheibenlose Fenster gesetzt. In deiner Stimme liegt ein solcher Haß, wenn ” du von den Djenne sprichst.“
159 Sofort versteifte Tyr sich. Ich habe niemals Djenne gesagt . . ” Du bist zu deiner Ausbildung nicht durch Zufall gekommen, Tyr. Du mußt zehn oder zw¨olf gewesen ” sein, als die Djenne- R¨auber durch Arkadien fegten und die Schwertschwester-Clans hinmetzelten. Vielleicht bist du ihnen durch Gl¨ uck entronnen, oder du wurdest als Sklavin verkauft und hast dich sp¨ater selbst befreit. Was ich in deinem Herzen sp¨ ure, ist die Einsamkeit, wo dein Clan sein sollte — und die Tiefe deiner Bitterkeit.“ Im Schatten glitzerten Tyrs trockene Augen. Sie setzte sich neben ihrem Sattel nieder und griff nach ihren beiden Schwertern und einem Wetzstein. Ich habe dich schon einmal gefragt, was, zum Teufel, ” hast du vor, wenn du hier an ihrer Hintert¨ ur herum- sclin¨ uffelst?“ Wie du m¨ochte ich, daß Unrecht wiedergutgemacht wird.“ ” Durch Djenne-Blut?“ ” Nein.“ ” Tyr erwachte. Der Raum war von Mondlicht u uttelte unruhig ¨berflutet. Der schwarze Hengst sch¨ ¨ den Kopf und scharrte in den Uberresten seines Strohs. Elarra war fort. Ger¨auschlos kroch Tyr ans Fenster. Im Dorf war es still, aber es lag ein Zittern in der Luft, das von Tyrs u urlich empfindlichen ¨bernat¨ Ohren gerade noch wahrge- nommen werden konnte. Ein Zittern, wie es von Pferden erzeugt wird, die u ugel im Norden galoppieren. Ein Ger¨ausch, wie es sie in ihren Alptr¨aumen ¨ber die kahlen H¨ verfolgte. Mit steifen Bewegungen kroch Elarra in die H¨ utte. Ihre graue Robe war im Mondlicht beinahe unsichtbar. Tyr. . . , fl¨ usterte sie, aber die Kriegerin sattelte bereits ihr Pferd. ” ” Hexe, kannst du k¨ampfen?“ ” Tyr, hier ist nichts zu holen. Es werden nur wenige sein. ” Der Hengst t¨anzelte und schwitzte vor Erwartung, als die Krie- gerin ihn hinausf¨ uhrte. Sie schwang sich in den Sattel und f¨ uhlte sein Verst¨aiidnis und seinen Eifer zwischen den Schenkeln. Die Dorfbewohner str¨omten aus ihren H¨ utten und sammelten sich in kleinen verschreckten H¨aufche i Sie sahen Tyrs Schwert, sahen das Feuer in den Augen ihres Schlachtrosses. Ein Baby fing an zu weinen. Sie sprengten den letzten sanften Hang herunter, f¨ unf oder sechs M¨anner auf kleinen schnellen Pferden von kaum Pony- gr¨oße. Tyrs Z¨ahne blitzten im Mondschein. Sie wartete, bis die R¨auber alle in dem Engpaß am Fuß der H¨ ugel waren. Ihre Fak- keln leuchteten wie ein Widerschein der H¨olle, in die sie sie gleich senden wollte. Sie ber¨ uhrte den Hengst mit den Fersen. Wie ein Bolzen, der von einer Armbrust abgeschossen wird, st¨ urrute er dem vordersten Reiter entgegen und dr¨ uckte das Pony, einen Braunen mit gestutzter M¨ahne, mit der Schulter beiseite. Das Pony taumelte. Die Lanze des R¨aubers schwankte, doch
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bevor er sich erholen konnte, stand Tyr aufrecht in den Steigb¨ ugeln und f¨ uhrte mit beiden H¨anden einen Hieb nach unten. F¨ ur einen hilflosen Augenblick wandte er ihr das unheimlich bemalte Gesicht zu, dann traf ihre Klinge auf Knochen, und sie riß sie heraus. Der kupferige Geschmack von Blut f¨ ullte die Luft. Der Schrei des Mannes erstarb pl¨otzlich. Die anderen Reiter str¨omten an der Kriegerin vorbei und wendeten ihre Tiere. H¨ollenroß sprang auf das n¨achste ein, die Ohren flach an den Sch¨adel gelegt und die Zhhne entbl¨oßt. Arkadien! Arkadien!“ gellte Tyrs Schlachtruf, als ein zweiter Reiter unter ihrem blutigen Schwert ” fiel. Sie und der Hengst waren jetzt eine einzige Kampfeinheit und schlugen auf den gesichtslosen Feind ein. Wahnsinn raste durch ihre Adern. Pl¨otzliche Stille sammelte sich um Tyrs letzten triumphierenden Schrei. Sie faßte nach unten, um den Hengst zu beruhigen. Sein Fell war glatt und heiß. Zwei der Djenne-Ponies waren noch auf den Beinen und liefen ziellos urnher, bis sie eingefangen wurden. Die Dorfbewohner scharten sich um die Leichen und murmelten unteremander. Tyrs Ohren fingen das St¨ohnen auf, das nur von einem Ver- wundeten kommen konnte. Sie sprang vom R¨ ucken des Hengstes und bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg. Ihr Schwert sehnte sich danach, seine Arbeit zu vollenden. Der R¨auber, des- sen Gesicht unter der schwach leuchtenden Farbe verzerrt war, wand sich auf dem Boden. Brust und Schulter waren mit Blut bedeckt. Tretet zur¨ uck!“ befahl Tyr den Dorfbewohnern. ” Nein!“ Elarra tauchte aus der Menge auf und kniete unbehol- len neben dem Mann nieder. Ich ” ” glaube, ich kann ihn retten.“ Bist du verr¨ uckt, Hexe? Das ist ein Djenne-Teufel, von dem du redest. Die Welt wird besser daran ” sein ohne ihn. Außerdem, willst du, daß er zur¨ uckrennt und von uns beiden berichtet? Was werden die Djenne mit dem Dorf machen, wenn sie h¨oren, daß seine Bewohner Widerstand geleistet haben?“ ¨ Dies war kein ernsthafter Uberfall, nur eine Kinderei. Das konnte jeder Dummkopf sehen. Noch ” keiner dieser Jungen hat sein Mannheitszeichen verdient . . Ich soll also diesen hier am Leben lassen, damit er seins verdient — durch das Blut dieser Leute?“ ” fragte Tyr. Elarra stand auf. Ihr Ausdruck war im flackernden Fackellicht nicht zu erkennen. Wenn er am ” Leben bleibt, wird er mit einer Geschichte u ¨ber eine D¨amonenkriegerin nach Hause hinken, die ein u urliches Pferd reitet und eine unbesiegbare Klinge f¨ uhrt. Sein Stolz wird nicht zulassen, daß ¨bernat¨ er sich mit weniger begn¨ ugt. Bis die R¨auber die Geschichte h¨oren, werden sie glauben, daß er allein durch das Eingreifen des Lendgeistes pers¨onlich davongekommen ist.“ Tyr stand eine Weile nur da, und dann siegte der gesunde Menschenverstand. Sie zuckte die Schultern. Auf dich komme es, wenn du dich irrst und diese Leute daf¨ ur leiden m¨ ussen.“ ”
161 Das will ich ja gerade verhindern“, sagte Elarra und widmete sich wieder dem verwundeten Djenne. ” Tyr setzte sich sp¨ater an diesem Abend in der H¨ utte mit dem R¨ ucken an die Wand aus getrocknetem Lehm. Sie hatte die ringf¨ ugigen Schnittwunden und Muskelzerrungen behandelt, sie und der Hengst erlitten hatten; aber sie war immer noch zu aufgedreht, um zu schlafen. Nun wartete sie, daß das Adrenalin aus ihrem K¨orper wich, und ging derweilen ihren Angriffsplan durch. Sie wollte sich dem Djenne-Lager heimlich n¨ahern und verborgen bleiben, bis sie nahe genug f¨ ur diesen ¨ selbstm¨orderischen Uberfall war. Es k¨ ummerte sie nicht, was aus ihr wurde, wenn sie nur Chandros mit sich ins Grab nahm. Aber sie konnte nicht gut Verst¨andnis f¨ ur diese Besessenheit erwarten. Chandros... Chandros der Kriegsherr. Er ganz allein hatte die Djenne aus einer locker organisierten Bande nomadischer R¨auber, die ihren Nachbarn das Leben ungem¨ utlich machten, aber sonst nicht viel Schaden anrichteten, in diese blutgierige Horde verwandelt, die ihren Clan und viele andere ermordet hatte. Chandros ... w¨ urde jetzt ¨alter sein und langsamer. Dick viel- leicht oder zumindest selbstzufrieden. Seit seinem Aufstieg zur Macht hatte niemand den Djenne-R¨aubern Trotz geboten. Sie ritten, wohin sie wollten, nahmen, was sie wollten — Besitz, Skla- ven, Leben. Bis jetzt. Bis Tyr. Das Licht des Mondes durchtr¨ankte den kleinen Raum, kalt und steril wie ihr Herz. Tyr trat in die kleine H¨ utte, die Elarra als Krankenstation einge- richtet hatte. Die Hexe blickte hoch. Auf der Wange der Kriege- rin gl¨ uhte ein b¨oses Rot, wo eine Djenne-Lanze sie gekratzt hatte. Es w¨ urde eine Narbe hinterlassen. Ist er imstande zu reiten?“ fragte Tyr. ” Er wird am Leben bleiben, aber ich hatte gehofft . . . die n¨achsten paar Tage noch nicht.“ ” Wir haben keine paar Tage mehr Zeit.“ Tyr zog den Jungen mit einer Hand auf die F¨ uße, die Finger ” um seine Kehle geklam- mert, so daß er gezwungen war, ihr in die Augen zu sehen. H¨or zu, Djenne-Schwein! Ich habe vor, deinem Heimatlager einen Besuch abzustatten, und du sollst ” mir dabei vorangehen. Ob du so lange am Leben bleibst, daß du es zu sehen bekommst, ist deine Sache.“ Sie schob ihn auf die T¨ ur zu. Draußen rief Tyr den Dorfbewohneru zu, sie sollten eins der eingefangenen Ponies bringen. Gerade wollte sie den Djenne- Jungen auf den R¨ ucken des Ponys heben, als Elarra dazwischen- trat. Laß ihn hier! Laß mich statt dessen mitkommen!“ rief die Hexe. ” Dich? Was k¨onntest du mir nach gestern abend noch n¨ utzen?“ Du suchst den Kriegsherrn ” ” Chandros und willst der Djenn Tyrannei ein Ende bereiten. Das will ich auch.“ Indem du diesen Welpen verschonst, damit er von neuem t¨oten kann?“ ” Du kannst mich an den Djenne-Wachen vorbeibringen. . ”
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Tyr ließ den Kragen des Jungen los und starrte die Hexe an, die ganz bestimmt den Verstand verloren hatte. Tyr, es kann dir nicht gelingen, Chandros auf deine Art zu besiegen, ob du diesen Jungen bei dir ” hast oder nicht. Du bist eine m¨achtige Kriegerin, aber du bist nicht unbesiegbar. Seiner Schwarzen Kunst bist du nicht gewachsen.“ Chandros. . . ich will Chandros.“ Das Feuer des Hasses loderte in Tyr, wenn sie nur seinen Namen ” fl¨ usterte. Dann h¨or mir zu! Vereine deine Kr¨afte mit den meinen! Laß dieses Kind hier. Dann wollen wir ” zusammen ins Herz der Djenne vorstoßen. W¨ urden wir nicht ein gutes Team abgeben?“ Es widersprach all den Jahren der Bitterkeit, auch nur einem einzigen Djenne Gnade zu erweisen, selbst wenn er hilflos und verwundet wie dieser war. Grob schob sie ihn Elarra zu. Behalte ihn“, grollte sie. F¨ uttere ihn, verarzte ihn. Mir ist es gleichg¨ ultig, solange er mir aus ” ” dem Weg bleibt. Und das gilt auch f¨ ur dich, Hexe. Ich habe genug von deinen Einmischungen. Der n¨achste Streich, den du mir spielst, wird dein letzter sein.“ ¨ Die Djenne rechneten nicht mit irgendwelchem Arger. Die Wachen waren lasch und hatten sich mehr gegenseitig im Blick als die H¨ohen. Spuren ihres nomadischen Erbes waren u ¨berall zu sehen, aber die Anordnung der Zelte, die nicht gen¨ ugend Zwischenraum f¨ ur einen schnellen Abbruch hatten, sprach von einer Entwicklung in andere Richtung. An der westlichen Grenze stand etwas, das den R¨aubern ein Greuel h¨atte sein m¨ ussen . . . ein steinernes Ge- b¨ande. Ein Tempel, dachte Tyr, den in etwa pyramidenf¨ormigen Bau betrachtend, doch in Anbetracht der Djenne-Mentalit¨at konnte sie nicht sicher sein. Sie hatte nie einen Hinweis darauf gef¨ unden, daß sie irgend etwas verehrten. Tyr versenkte sich in den Rhythmus des Lebens da unten. Der Wind, der durch ihr kurz geschnittenes Haar f¨ uhr, wurde k¨ uhl. Stunden vergingen. Sie zog etwas Trockenfleisch aus der Tasche, kaute es langsam, bis es zu schlucken war, und trank schales Wasser aus ihrem Lederbeutel. Es wurde Nacht, und man z¨ un dete Fackeln an. Die Aufstellung der Wachposten ver¨anderte sich, aber da war kein Zeichen von Unruhe wegen der fehlenden Jugendlichen. Vielleicht verschwanden die jungen Heißsporne oft, und ihr Schicksal wurde f¨ ur ihre eigene Angelegenheit ge- halten. Um Mitternacht kroch Tyr an die Stelle zur¨ uck, wo sie ihren Hengst gelassen hatte. Sie f¨ uhrte ¨ ihn h¨oher in das Odland zu einer gut versteckten, trockenen H¨ohle, die sie von fr¨ uher her kannte. Die Djenne-R¨auber mochten mit der Zeit und durch ihre unun- terbrochenen Erfolge sorglos geworden sein, aber Tyr beabsich- tigte nicht, irgendein Risiko einzugehen, bevor der Augenblick des Zuschlagens gekommen war.
163 Es lag eine ironische Gerechtigkeit in ihrem Plan, denn es war Nacht gewesen, als die Djenne u ¨ber den Sitz ihres Clans hereinge- brochen waren. All ihre Jahre des Kampfes, in denen sie im Blut gewatet war, um sich zur Rache vorzubereiten, verblaßten immer noch neben der Erinnerung an jene Nacht. Obwohl ihre Reittiere nur Ponies waren, hatten die R¨auber u ¨berlebensgroß gewirkt, ihre bemalten Gesichter wie die Masken von D¨amonen, denen kein menschlicher Krieger standhalten konnte. Und Chandros....... Sie sah Chandros vor sich, auf einem riesigen Tier sitzend, das nach Blut stank und mit unnat¨ urlichen Zeichen beh¨angt war. Ein Halsband aus gekr¨ ummten, gegabelten Z¨ahnen schwang sich von den dicken Schultern des Tieres. Hinter dem Kriegsherrn schwebte ein Phantom aus rotem Staub, etwas mit einem langen, gegliederten Hals, der sich wie die Peitsche eines Sklaventreibers schnellte, etwas, von dessen lauernden F¨angen Gift in die Seele tropfte... etwas, vor dem auch der erprobteste Krieger erbleichte und erstarrte ... und starb. Ausgenommen ein paar ver¨angstigte Jugendliche, Tyr unter ihnen. Ich darf jetzt nicht daran denken, außer als Mahnung, was meine Sache angeht, ich muß mich an die Wut erinnern, nicht an die Furcht, Es war sowieso alles nur die Phantasie eines Kindes, die nat¨ urliche Folge einer Nacht des Horrors, redete sie sich selbst zu und pr¨ ufte zum dritten Mal die Sch¨arfe ihres besten Schwertes. Heute nacht wird es anders sein. Sie waren vom ¨außersten Rand des Lagers ein gutes St¨ uck ins Inuere vorgedrungen, ehe sie entdeckt wurden. Der Wachposten stieß einen scharfen Pfiff aus und griff sie mit seinem Speer an. Tyr ließ H¨ollenroß eine saubere Drehung auf der Vorderhand vollf¨ uhren und gab ihm die Hilfen zur Kapriole. Aufgeregt schnaubend schlug der schwarze Hengst mit den Hinterbeinen aus, gerade als der Djenne in Reichweite kam. Der Mann bekam die Hufe voller Wucht gegen die Brust. Tyr h¨orte das Krachen zerschmetterter Rippen. Dann zog sie den Hengst herum und trieb ihn zu einem kurzen Galopp an. Der Marm war gegeben, und die Djenne st¨ urzten aus ihren Zelten. Jahre leichter Siege mochten ihre Wachsamkeit einge- schl¨afert haben, konnten jedoch Generationen st¨andiger K¨ampfe am Rand des ¨ Uberlebens nicht ausl¨oschen. Die Jungen, die das Dorf hatten u ¨berfallen wollen, waren im Vergleich zu den grim- migen Kriegern, die jetzt auf sie eindrangen, Kinder gewesen. Die Djenne brauchten nur wenige Augenblicke, um die eingeris- sene Bequemlichkeit abzusch¨ utteln und ihre wahre Wildheit zu zeigen. Tyr ließ die Z¨ ugel auf den Hals des schwarzen Hengstes fallen und benutzte die von ihr bevorzugte zweih¨andige Schwerttechnik, treffend Grash¨ upfer des Todes genannt. Der Rausch des Kampfes stieg wie ein Nebel hinter ihren Augen auf. Den Atem anhaltend; stieß sie die Klinge einem Mann durch die Halswirbel, und dann h¨orte sie auf zu denken. Zack! — und mit t¨auschender Lahgsamkeit flog die Klinge herum —jetzt schwirrte ihr das Schwert an den Ohren vorbei, sang ein Lied der Vernichtung —
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Zack! Ein weiterer Djenne ging zu Boden, nur verwundet, bis die eisenbeschlagenen Vorderhufe des Hengstes ihn erwischten. Tyr hielt in der Orgie der Schlacht nicht inne, um sich zu u ¨berzeu- gen, ob er wirklich tot war — er und die anderen. Einige sah sie, andere sp¨ urte sie nur, bevor ihr Schwert ihr Fle sch zerschlitzte. Die Angriffe verdoppelten sich, sobald sie in Sichtweite der Pyramide kam. Offenbar warf das Lager, verzweifelt bem¨ uht, sein Herz zu sch¨ utzen, seine gesamte Kriegsst¨arke gegen sie. licht str¨omte von dicht bei dicht lodernden Fackeln, die von Djenne-Sklaven gehalten wurden. H¨ollenroß, der jetzt aus kreuz und quer verlaufenden oberfl¨achlichen Wunden blutete, wieherte und trat nach den M¨annern aus, die hinter ihn krochen, um ihm die Sehnen durchmschneiden. Die Pyramident¨ ur ¨offnete sich. Das Djenne-Kriegsgeschrei erstarb pl¨otzlich, sogar das Rufen der Sklaven. Die Menge wich zu eineni Halbkreis zur¨ uck, gut außer Reichweite. H¨ollenroß hob sich zur Levade und schrie seine Herausforderung. Schwer atmend wechselte Tyr zum einh¨andigen Eisenfaust- Griff u ¨ber und legte ihre andere Handfl¨ache auf den heißen Hals des Hengstes. Sie hielt die Augen auf die leere Schwelle gerichtet, die kaltes, blaues Licht verstr¨omte. Eine gekr¨onte Gestalt hob sich als Umriß auf der steinernen Schwelle ab. Sie hob die Arme in einer befehlenden Geste, und Tyr erkannte, daß sie in der einen Hand einen Kramms¨abel und ein Zepter in der anderen hielt. Hebe dich hinweg, der du den heiligen Boden der Djenne entweihst!“ dr¨ohnte die Stimme, gespen” stisch unmenschlich in ihrer Verzerrung. Tyr erkannte sie, und ihr Magen verkrampfte sich. Das Licht hinter der Gestalt sch¨oß pl¨otzlich in die H¨ohe und erstarb dann in einer Kaskade gr¨ unlicher Funken, die sich u ¨ber den Boden ver- teilten. Der Gestank schn¨ urte ihr die Kehle zu. Dann stand er vor ihr, beinahe unter der Nase des schwarzen Hengstes. In dem unsicheren Fackellicht wandelte sich seine Maske von der Parodie eines menschlichen Gesichts zu etwas D¨amonischem. Die H¨orner und anderen Gegenst¨ande, die seine Krone bildeten; gl¨ u´hten und bewegten sich. Tyr konnte seine Augen in den dunklen H¨ohlen der Maskenl¨ocher nicht sehen. Ehe ihr die Kehle ganz austrocknete, schrie sie: M¨order von Arkadien, bereite dich auf deinen Untergang vor!“ ” Sie dr¨ uckte H¨ollenroß die Knie in die Flanken, legte ihre freie Hand auf das Schwert und wechselte zu dem subtilen, t¨odlichen Griff u ¨ber, der Schwarrer Komet heißt. Sie hatte Jahre verbisse- nen ¨ Ubens gebraucht, um ihn zu meistern, den Angriff zu Pferde, gegen den keiner ihrer Lehrer eine Verteidigung wußte. Der Hengst sp¨ urte, daß Tyr zuschlagen wollte, und sprang vorw¨arts, seinen K¨orper in die richtige Position bringend.
165 Aber Chandros war nicht mehr da. Einen Schritt hinter dE Stelle, wo der Kriegsherr gestanden hatte, entbl¨oßte statt dessen ein h¨ollenschwarzer Drache seine schwefligen F¨ange und stie giftige D¨ampfe aus. Er u ¨berragte Tyrs Kopf um eine Pferdeh¨ohe Die Djenne Menge murmelte und zog sich zur¨ uck. Tyr sp¨ uri den schwarzen Schauder der Furcht. Dann wurde sie wieder vo Wut gepackt, und sie preßte die Fersen fester an. Bin Hieb von der riesigen Tatze des Drachen warf H¨ollenro aus dem Galopp. Er taumelte, rang um sein Gleichgewicht, un schon schleuderte ihn der n¨achste gewaltige Schlag zu Boden. Ty zog die F¨ uße aus den Steigb¨ ugeln und rollte sich bereits weg, al der K¨orper des Hengstes mit markersch¨ utternder Wucht di´ gestampfte Erde traf. Sie drang auf den Drachen ein, die rasier messerscharfe Spitze ihres Schwertes auf seinen ungesch¨ utzter Bauch gerichtet. Hoch ragte das Monster u ¨ber der Kriegerin auf Seine Ausd¨ unstung f¨ ullte ihre Lungen. Sie stieß ihren Kriegsrul aus, und die Klinge zuckte nach oben. Doch es kam nicht soweit, daß ihr Schwert in das unreine Fleisch des D¨amonendrachen eindrang. Bevor es ihn ber¨ uhrte, l¨oste er sich in Nebel auf, und ein Dutzend smaragdener Augen umgab sie im Fackellicht. Tyr sah sich mitten in einem Nest von Riesenschlangen, die die Luft rnit ihrem w¨ utenden Zischen f¨ ullten. Ihre Handgelenke waren von kaltem, gesprenkeltem Fleisch gefesselt. Andere Schlangen peitschten ihr um die F¨ uße und drohten sie aus dem Gleichgewicht zu werfen. Die gr¨oßte der Schlangen richtete sich vor ihr auf, so hoch wie ein Mann. Die in ihren gr¨ unen Zwillingsaugen brodelnde Bosheit fand einen Widerhall in einem dritten Auge, so rot wie vergosse nes Blut, das inmitten der fliehenden Stirn saß. Die Schlange schwankte und betrachtete die Kriegerin, als finde sie ihre Hilflo- sigkeit appetitanregend. Dann schlug sie zu. Tyr sah das leichte Anziehen der Schlangenmuskel , das einem Angriff vorausgeht, und warf sich gegen ihre lebenden Ketten. Die F¨ange der Riesenschlange bissen nur in Luft, aber sie fing sich mit d¨amonischer Geschwindigkeit und ringelte sich Tyr um die Taille. Die Kriegerin wartete nicht auf den erbarmungslosen Druck, der ihrem K¨orper erst die Kraft und dann den Atem nehmen w¨ urde, sondern vollf¨ uhrte eine geschmeidige Drehung. Die kleineren Schlangen, die von der blitzartigen Bewegung u ¨berrascht wurden, ließen los. Ihr Arm war frei! Ohne anzuhalten oder den Griff zu wechseln, attackierte sie die K¨onigsschlange mit einem Holzhacker–Hieb. Tyrs Klinge ber¨ uhrte die Schuppenhaut, aber bevor sie in den Knochen eindringen konnte, um das Gehirn des Reptils abzutrennen, stieß die Schlange einen unheimlichen Schrei aus und warf sich auf sie. Sogar Tyrs trainierte Reflexe waren zu langsam f¨ ur diese u urliche Geschwindigkeit. ¨bernat¨ Die Schlange schlug ihre F¨ange in Tyrs Brust. Schmerz und sengende Hitze sch¨ uttelten sie, und sie fiel auf die Knie. Die kleineren Schlangen verdoppelten ihr Zischen und l¨osten sich von ihr, um sich ihrem Anf¨ uhrer beim Todesstreich anzuschließen.
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Die Verzwefflung trieb Tyr wieder auf die F¨ uße. Sie wußte, wenn sie auch nur einen Augenblick z¨ogerte, war sie verloren und alle ihre Hoffnungen auf Rache mit ihr. Sie keuchte, ihre Lungen rangen nach Luft. Ihre Augen nahmen nur noch Graut¨one wahr. Das Schwert glitt ihr aus den gef¨ uhllos werdenden Fingern. In diesem Augenblick sprang H¨ollenroß in das Nest sich win- dender Schlangen. Er trompetete vor Wut und Angst. Seine eisenbeschlagenen Hufe zertrampelten die kleineren Schlangen, und mit den entbl¨oßten Z¨ahnen langte er nach ihrem gr¨aßlichen Anf¨ uhrer. Tyr hob eine Hand, aber da sie nicht f¨anig war zu sprechen, konnte sie dem Hengst nicht befehlen, sich in Sicherheit zu brin- gen. Durch die sich ausbreitende L¨ahmung in ihrer Brust f¨ uhlte sie ein Ziehen. H¨ollenroß packte die Riesenschlange hinter dem Kopf und zerrte mit der ganzen Kraft seines starken Nackens. Die Schlange ließ los und drehte sich dem neuen Angreifer zu. H¨ollenroß stieg in die H¨ohe, schlug mit den Vorderhufen aus. F¨ ur einen Augenblick baumelte die Schlange hilflos und schlaff aus seinem Maul. Dann peitschte ihr Schwanz auf die Schultern des Hengstes zu. Es war nicht mehr der allm¨ahlich spitz zulaufende Schwanz einer Schlange, sondern der giftige Stachel eines riesigen Skor pions. Die Z¨ahne des Hengstes glitten von dem harten Panzer des l¨owengroßen Insekts ab. Die Scheren kniffen und zerrissen sein glattes Fell und hinterließen Blutstreifen. An den Grenzen seines Mutes angelangt, warf sich das Pferd in Panik r¨ uckw¨arts. Der Skorpion schlug noch einmal mit seinem Stachel zu, verfehlte H¨ollenroß aber, da dessen kampferprobte Reflexe ihn außer Reichweite klettern ließen. Dann richtete der Skorpion seine glitzernden Facettenaugen auf sein menschlicbes Opfer. Tyr schluchzte vor hilflosem Zorn. Die kleineren Schlangen lagen schlaff zu ihren F¨ ußen, das Schwert war in ihrer Reichweite, der Feind deutlich zu erkennen vor ihr. Aber die K¨alte des Schlangengifts schlich sich in ihr Herz und nahm ihr rasch die letzten Kr¨afte. Tyr war klar, daß sie den Skorpion niemals auf Schwertl¨ange erreichen konnte. Sie ließ sich zusammensinken und zwang f¨ ur eine letzte Anstrengung Luft in ihre Lungen. Dann nahm sie ihr Schwert und hielt es sehr tief, bereit, es dem Insekt in den verwundbaren Bauch zu stoßen. Doch mit einer blitzartigen Bewegung ergriff der Skorpion das Schwert mit seinen Scheren und riß es Tyr aus den erschlaffenden H¨anden. Knack! Das Vibrieren der zerbrochenen Klinge f¨ ullte Tyrs Sch¨adel. Wenn das Insekt ein St¨ uck getemperten Stahls, das schon zahllose Schlachten u berstanden hatte, entzweibrechen konnte, welche ¨ Chance hatte dann irgendeine andere Klinge? Welche Chance hatte sie selbst? ¨ es nun hoffnungslos war oder nicht — Tyr besaß immer noch eine Waffe, abgesehen von ihren Ob bloßen H¨anden und F¨ ußen. Sie zog den Dolch aus dem einen Stiefel und hielt ihn sorgf¨altig verborgen. Mit h¨anamerndem Herzen wartete sie auf den ent- scheidenden Streich.
167 Obwohl sie darauf vorbereitet war, erstaunte die Pl¨otzlichkeit des Angriffs sie. Sie dachte nicht mehr. Jahrelanges Tralning hielt ihre Hand ruhig bis zum letzten Augenblick, als sie zwischen die gr¨aßlich schnappenden Scheren sprang, genau unter den t¨odli- chen Stachel. Tyr trieb die Spitze ihres Dolchs zwischen die Chitinplatten am Hals des Skorpions. Das Metall drang m¨ uhelos in die flexible R¨ ustung ein, und sie brauchte nur zu dr¨ ucken, um die lebenswich- tigen Nerven zu durchtrennen. Der Skorpion warf sich nach oben. Die gekr¨ ummte Klaue am Ende seines Schwanzes peitschte die Luft und verstreute Gifttro fen, die verbrannten, was iminer sie trafen. Tyr wurde der Dolch aus den Fingern gerissen, doch sie sp¨ urte den Schmerz kaum. Sie empfand nichts als den wachsenden Teich der Ruhe, als das Insekt sich in die Nacht zur¨ uckzog und die Djenne murmelnd n¨aher kamen, um sie zu t¨oten. H¨ollenr. . .“ Tyr zwang die Leute aus ihrer wunden Kehle. Der schwarze Hengst drehte sich um. ” Er hielt den Schwanz immer noch in einem herausfordernden Winkel, obwohl er die Ohren dicht an den Kopf gelegt hatte. Das Weiße seiner Augen war zu sehen, mit Blut vermischter Schweiß tr¨ankte sein Fell. Er erschauerte und senkte den Kopf. Die letzten Reste ihrer Kraft zusammennehmend, faßte Tyr den ihr n¨aheren Steigb¨ ugel mit beiden H¨anden. H¨ollenroß, darauf trainiert, einem Reiter, der auf seinen R¨ ucken springen wollte, zu helfen, stand ganz still, aber es gab nichts, was er sonst noch h¨atte tun k¨onnen. In weni gen Sekunden w¨ urden die Djenne dasein. Vor Anstrengung st¨ohnend, streckte Tyr die H¨ande nach dem Sattel aus — er war zu hoch, und das Gift der Schlange sang in ihren Ohren. Die vordersten R¨auber mußten sie gleich packen. Sie holte tief Atem, um es ein letztes Mal zu versuchen, da galoppierte H¨ohen- roß los. Der Ruck riß ihr die F¨ uße unter dem Leib weg. Tyr hielt sich krampfhaft fest, hob die Oberschenkel und zog die Unter- schenkel nach vorn. Sie ber¨ uhrte den Boden und legte ihre letzte Kraft in einen letzten Sprung, der den Unterschied zwischen einem blutigen Tod und einer Fluchtchance bedeutete. Es war, als hebe sich die Erde unter ihr. Tyrs F¨ uße flogen nach oben und kratzten die Flanke des Hengstes. Am h¨ochsten Punkt des Bogens hakte sie ihr rechtes Knie u ¨ber den Sattel. H¨ollenroß raste wie ein D¨amonenpferd auf die sicheren H¨ ugel zu. Tyr hievte sich in den Sattel, verflocht die Finger in die M¨ahne. Der Hengst sprang den steinigen Hang hinauf. Weiter und weiter stolperte er durch die Nacht. Die Hitze seines angestrengten K¨orpers h¨ ullte die Kriegerin ein. Kaum noch bei Bewußtsein, schwankte sie im Sattel. Sie erfuhr nie, ob die Djenne sie verfolgt hatten. Zu h¨oren war nichts, aber ihr Gesicht und Geh¨or schwankten, vermischten alles zu einem alptraumhaften Kaleidoskop. Schließlich blieb der Schwarze Hengst ersch¨opft stehen, und Tyr ließ seine M¨ahne los.
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Sie glitt aus dem Sattel, bereits bewußtlos. Durch Wellen aus Schmerz und Hitze kam gesegnete, beruhigende K¨ uhle — anfangs nur ein Faden, dann strich eine Liebkosung immer wieder und wieder u ¨ber ihre Wange, ihre Beine, ihre Brust. die eine Stahikassette aus Dunkelheit war. Schließlich ¨offnete Tyr die Augen, und da saß die Hexe. Was, zum Teufel, tust du hier? dachte Tyr, aber ihr Mund gab nur sinnlose Laute von sich. Elarra legte das mit Kr¨autern durch tr¨ankte Tuch hin, mit dem sie Tyrs Wunden gewaschen hatte. Beinahe h¨atte ich dich verloren“, sagte sie. Was ist das f¨ ur eine Dummheit, allein in Chandros´ ” ” Lager zu reiten!“ Tyr l¨achelte schief und brachte ein Kr¨achzen zustande. Ich war verdammt nahe daran, ihn zu ” erledigen. H¨atte er seine Magie nicht, w¨are er jetzt tot.“ Du wolltest ja nicht auf mich h¨oren.“ Elarra blickte drein, als h¨atte sie Tyr am liebsten bei den ” Schultern gepackt und etwas Vernunft in sie hineingesch¨ utteln. Ich habe dir schon im Dorf gesagt, ” was passieren w¨ urde.“ Du wolltest nur umsonst mitgenommen werden.“ Tyr r¨ausper- te sich und f¨ uhlte sich u ¨berraschend ” fit. Die Hexe kannte ihre Heilmittel, was man auch sonst von ihr sagen mochte. Ich habe dir gesagt . . . Oh, was hat es f¨ ur einen Sinn, mit dir Zu streiten!“ Elarra schob Tyr einen ” Reiseteller in die H¨ande. Tyr setzte sich hoch und betrachtete seinen Inhalt. Gew¨ urzte Bohnen und Blattgem¨ use? Ist das ” ein Essen f¨ ur eine Kranke?“ In deiner Lage kannst du keinen Einspruch erheben. Oder soll dir beschreiben, in welchem Zustand ” ich dich gefunden habe? Wenn dein Pferd nicht soviel Verstand gehabt h¨atte, dem Weg zur¨ uck ins Dorf zu folgen, w¨are ich zu sp¨at gekommen.“ Du bist mir also gefolgt. Warum?“ ” Hast du u ¨berhaupt nicht geh¨ort, was ich zu dir gesagt habe? Chandros muß entfernt werden, bevor ” er noch mehr B¨oses tut.“ Tyr sah von ihrem Essen auf. Ihr Gesicht verriet Neugierde und Berechnung. Sag mir, warum du ” sein Fell willst.“ Du bist in Arkadien groß geworden; du kannst dich an die W¨ uste, wie sie vor Chandros´ Zeit war, ” nicht erinnern. Die Djenne waren R¨auber, sicher, aber keine Geißel der Menschheit. Sie sind kein richtiger Clan, weißt du. Es wird kein Mann als Djenne geboren. Sie kommen aus D¨orfern und Hirten-Clans im ganzen Land — wilde Burschen, die alles zerreißen m¨ochten, f¨ ur das ihre Eltern gek¨ampft haben. Also laufen sie weg und zu den Djenne und tun verr¨ uckte, dumme Dinge.“
169 Du sprichst, als seist du damit einverstanden!“ ” Fr¨ uher kosteten sie die D¨orfer etwas, das ist wahr, aber der Schaden war geringer, als wenn die ” Dorfbewohner die Burschen bei sich gehabt h¨atten. Manche Djenne wurden nach ein paar Jahren erwachsen und kehrten zu einem Leben schwerer Arbeit nach Hause zur¨ uck. Sie bemalten ihre Gesichter, um nicht erkannt zu werden. Dann brauchten sie sich sp¨ater dessen, was sie in ihrer Jugend getan hatten, nicht zu sch¨amen. Andere blieben, bis die W¨ uste ihr Leben forderte. So war es vor Chandros.“ Chandros“, sagte Tyr nachdenklich. Er hat sie ver¨andert, nicht wahr? Sie sind nicht das Sicher” ” heitsventil f¨ ur Unruhestifter geblieben.“ Elarra nickte. Ihre grauen Augen blickten tr¨ ube. Sie schlugen in immer weiter von der W¨ uste ” entfernten Gegenden zu, pl¨ under- ten und zerst¨orten, statt nur zu schrecken. Sie vernichteten deinen Clan.“ Deinen auch?“ ” Du hast nicht erraten, wieso ich so viel u ¨ber die Djenne weiß? Ich bin eine gewesen.“ ” Eine Frau? Aber ich habe keine . . ” Anders als ihr Arkadier geben die Djenne nicht zu, daß eine Frau mit den besten der M¨anner reiten ” und k¨ampfen kann. Ich habe sehr aufgepaßt, daß sie nichts merken. Das war leicht, bis Chandros mit seiner Magie ...“ Ihr Gesicht bew¨olkte sich in deT Erinnerung. Du hast vor Angst den Verstand verloren?“ ” Meinst du, Dummheiten wie diese Illusionen k¨onnten jeman- dem Angst einjagen, der mit den ” Djenne-R¨aubern geritten ist und ein Geheimms wie das meine bewahrt hat? Selbst wenn kein Hexenblut in meinen Adern fl¨osse, h¨atte ich das B¨ose in ihm wahrgenommen. Er arbeitet nicht mit symbolischer oder nat¨ urli- cher Magie, wie echte Hexen es tun. Er benutzt elementare Kr¨afte, die seinen Attacken K¨orper verleihen.“ Der schwarze Drache, die Schlangen, der Skoppion... Ein alavistischer Schauder lief Tyr das R¨ uckgrat hinunter, als sie erkannte, wie tief Chandros ihre Ur¨angste angezapft hatte. Ja, das alles; aber er tut noch Schlimmeres. Er beschw¨ort die Geister des Landes und des Himmels ” herauf, benutzt ihre Kr¨afte, um seine Kontrolle auszudehnen, vergiftet langsam ihr Wesen.“ Die W¨ uste . . . ein Geist?“ ” Trocken, wild — wie eine drahtige alte Mutter mit Staub auf den bloßen F¨ ußen und Unkraut ins ” Haar geflochten. Sauber, kompromißlos — sie t¨otet dich, oder sie z¨ahmt dich. Sie zwingt dich, herauszufinden, wer du bist und was du willst — und zwar schnell. Die W¨ uste war kein schlechter Ort zum Leben. Aber ..... Sp¨ urst du, wie sie sich ver¨andert hat, aufgeschwollen ist vom Lebensblut der Opfer Chandros´?“
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Tyr sch¨ uttelte den Kopf. Ich habe sie gesp¨ urt“, fl¨ usterte Elarra. Ich habe sie noch in weiter Ferne gesp¨ urt, in Riley He” ” xenherz, wo ich nach meiner Flucht vor dem, was die Djenne geworden waren, mein Leben wieder zusammenfiickte. Wir m¨ ussen ihn aufhalten, bevor es zu sp¨at ist.“ Zu sp¨at?“ rief Tyr bitter. Es war schon an dem Tag zu sp¨at, als er in Arkadien einfiel!“ ” ” Jedesmal, wenn er sie mit Blut f¨ uttert, entfernt sie sich weiter und weiter von ihrem wahren Selbst. ” Bald wird sie sich erheben - nicht als der reine Geist, der die W¨ uste zu einem Hafen f¨ ur die Wildheit machte, sondern als raubgieriger Todesd¨amon.“ Tyr blieb stumm. Sie stellte sich vor, daß die Kraft hinter chandros´ K¨ unsten Gestalt annahm — eine auf obsz¨one Art weib- liche Gestalt, die nach Blut d¨ urstete. Jeder Tropfen, der auf das Land fiel, w¨ urde ihre Gier vergr¨oßern. Ich habe versucht, ” Chan- zu t¨oten. Ich glaube, zum Schluß habe ich ihn ber¨ uhrt, mehr aber auch nicht. Und wenn du und H¨ollenroß mich nicht gerettet hattet...“ Ich kann ihn aufhalten“, erkl¨arte Elarra mit großer Bestimmt- heit. Aber ich k¨onnte niemals an ” ” seinen Wachen vorbei zu ihm gelangen.“ Du, die du mit den Djenne geritten bist? Hat dein Hexenwissen dich in einen weiblichen Eunuchen ” verwandelt?“ fragte Tyr sp¨ottisch. Elarra zog ihren langen grauen Rock hoch. Das eine Bein war normal, muskul¨os und gerade unter gekr¨auseltem feinem Haar. Das andere endete oberhalb des Knies in einem Stumpf mit abgescheuerter Haut, aus dem Blut durch den Verband sickerte. Eine Kr¨ ucke st¨ utzte es. Tyr schluckte. Sie erkannte, was es die Hexe gekostet hatte, ihr zu Hilfe zu eilen. Nicht einmal Magie kann mir zur¨ uckgeben, was Chandros mir genommen hat“, sagte Elarra. ” Tageslicht, Monddunkel — es macht nicht viel Unterschied“, bemerkte Elarra. Die beiden Frauen ” hockten zusammen in Tyrs Beobachtungsstand u uhr- ten ¨ber dem Djeune-Lager. Ihre K¨orper ber¨ sich. Der Wind zerw¨ uhlte das graue Haar der Hexe. Des Nachts w¨ urden sie auf mich warten“, meinte Tyr. ” Ausgeschlossen. Sieht das nach einem Lager in Alarmbereit- schaft aus? Sie sind h¨ochst zufrieden ” mit sich selbst, daß ihnen ein weiterer Sieg zugefallen ist, ohne daß sie daf¨ ur k¨ampfen mußten.“ Und wir? Wie schwer werden wir k¨ampfen m¨ ussen?“ ” War es ein gl¨ ucklicher Zufall, daß du bis zu der Pyramide gelangt bist, oder k¨onntest du es noch ” einmal schaffen?“ Elarra machte sich vorsichtig an den Abstieg. Die Worte der Hexe hatten die Macht verloren, Tyr zu verlet- zen. Sogar mit meinem zweitbesten ” Schwert.“
171 Dann ist das alles, was du zu tun hast. Bring mich hin. Wir werden ein gutes Team abgeben, das ” verspreche ich dir.“ Was hast du vor?“ fragte Tyr mit echter Neugier und folgte ihr. Willst du ein magisches Duell ” ” mit ihm ausfechten?“ Als Elarra nicht antwortete, nahm Tyr an, sie m¨ usse sich zu sehr auf den f¨ ur sie schwierigen Abstieg konzentrieren, um sprechen zu k¨onnen. Erst sp¨ater erkannte sie, daß es einen anderen Grund gegeben haben mochte. Trotz seiner doppelten Last durchbrach H¨ollenroß die ¨außeren Verteidigungen der Djenne, wie ein Messer durch Butter schneidet. Tyr, die ihn mit den Knien lenkte, schlug die Posten nieder, die nicht wachsamer waren als in jener schicksalhaften Nacht. Es geschah ger¨auschlos. Alle Kampfesfreude wurde von der Furcht ,ertr¨ankt, was sie in der Pyramide erwarten mochte. Der Widerstand der Djenne wurde massiver, bis ihr Fortschritt einem Waten durch einen giftigen Sumpf glich. Diesmal hatten die R¨auber eine Chance, zu Pferde zu steigen und zum Gegenangriff u ur Tyrs Schwert machte das keinen Unterschied. Die Djenne-Ponies stolperten an¨berzugehen. F¨ gesichts des schwarzen ,Hengstes, quietschten vor Panik, wenn er seine großen gelben Z¨ahne in ihr ¨ Fleisch schlug. Sie waren ausgebildet, ihre Herren zu einem blitzartigen Uberfall zu tragen, nicht dazu, selbst Opfer zu sein. Chandros stand vor der Pyramide, und seine Krone glitzerte wie eine Beleidigung des Sonnenlichts. Tyr hielt H¨ollenroß auf einem kleinen freien Platz zu seinen F¨ ußen an. Die Djenne zogen sich wie vorher von ihnen zur¨ uck, zufrieden, ihren Kriegsherrn f¨ ur sich k¨ampfen zu lassen. Hebt euch hinweg, stinkende Eindringlinge!“ rief er. Ihr k¨onnt den heiligen F¨ uhrer der Djenne ” ” nicht ber¨ uhren.“ Du Schurke, hast du geglaubt, ich sei leicht umzubringen?“ ” Arkadien ist Staub unter der Macht der Djenne. Es war ein Fehler; von dieser Brut etwas u ¨berleben ” zu lassen, aber ein Fehler, der leicht zu korrigieren ist.“ Chandros hob die Arme u utete sich ¨ber den Kopf. Diesmal hielt er nur das Zepter in der Hand. Tyr h¨ davor, die Ornamente im bellen Tageslicht zu genau anzusehen. Was sie von seiner Krone erkennen konnte, reichte, den st¨arksten Magen umzudrehen. andros begann einen langsamen Gesang in einer fremden, pitturalen Sprache. Seine fließende Robe umwirbelte ihn, als bcsi.tze sie eigene Lebenskraft. Los, Hexe!“ zischte Tyr u uck. ¨ber die Schulter zur¨ ” Es ist noch zu fr¨ uh. Wir m¨ ussen ihn zwingen — kannst du ihm Zepter wegnehmen?“ ” Damit er sich in etwas verwandelt, mit dem ich nicht fertig werde, wenn ich so nahe an ihn her” angehe? Ich habe meinen Teil getan, mdem ich dich hergebracht habe; jetzt bist du an der Reihe. Oder l¨aßt du deine Arbeit immer von anderen erledigen?“ Nein!“ Elarra lockerte ihren Griff um Tyrs Taille und glitt auf den Boden. Ihr Holzbein gab nach, ” und sie taumelte, aber dann fing sie sich wieder und trat vor.
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Bei dem Wind, der unser Geist ist, bei dem Salz, das unsere Kraft ist. . .!“ rief Elarra mit klarer, ” klingender Stimme aus. Die Menge der Djenne wich zur¨ uck, als habe sie sie k¨orperlich geschlagen. Chandros unterbrach seinen Gesang. Seine Robe h¨orte auf zu flattern. Ich fordere dich zum Kampf, Chandros Ausl¨ander!“ ” Eine Frau — aber sie kennt die Schl¨ usselworte!“ erhob sich eine Stimme aus der Menge. ” Du bist nicht dazu berechtigt!“ Chandros´ sonore Stimme klang pl¨otzlich rauh. Du bist kein ” ” Djenne!“ Du bist nicht einmal dazu berechtigt, hier zu sein“, gab Elarra zur¨ uck. Hast du zehn Tage in ” ” der W¨ uste verbracht, allein, nur mit den Geiern als F¨ uhrern? Hast du dein Mannbarkeitszeichen gewonnen? Wer unter den Djenne tr¨agt das Brudermesser, an dem dein Blut haftet?“ Sie wandte sich den Djeune-R¨aubern zu, die unruhig geworden waren und ihre Zustimmung murmelten. H¨ort, O Djenne, h¨ort und entscheidet ob ich das Recht zur Herausforderung habe! Ich habe ” den Mond zehnmal u ¨ber den Kahlen Gipfeln aufgehen sehen! Ich habe mir das rituelle Zeichen in die eigene Brust geschnitten! Und wo ist Pauce, der das Messer ars tr¨agt?“ Ein hochgewachsener Djenne trat vor. Chandros ist unser Kriegsherr. Er f¨ uhrt uns zu Siegen, von ” denen wir uns fr¨ uher nie haben tr¨aumen lassen. ar ist ein Kr¨ uppel, falls er noch lebt. Warum sollte ich auf die Worte einer Frau h¨oren?“ Mit langsamen Bewegungen, so daß einzig Tyr ihre Steifheit bemerkte, n¨aherte Elarra sich dem R¨auber. Er beugte den Kopf, um die Worte zu verstehen, die sie zu leise f¨ ur die Ohren der anderen sprach. Dann zog sie etwas aus einer verborgenen Tasche und legte es ihm in die Hand. Tyr sah ihn blaß werden und zustimmend nicken. Er hob die Stimme, w¨ahrend Elarra auf ihren Platz vor Chandros zur¨ uckkehrte. Sie hat das Recht!“ ” Aber, Pauce, eine Frau!“ wurde protestiert. Seit wann geste- hen die Djenne Frauen das Recht ” ” zu?“ Mit rotem Kopf, die Stirn in Falten gelegt, wandte sich Pauce dem Fragesteller zu. Seit wann sind ” die Djenne zu feige, eine Herausforderung anzunehmen? Chandros ist entweder ein Djenne´ oder er ist tot!“ Die Djenne jubelten ihm zu. Chandros sch¨ uttelte sein Zepter und rief laut: ;,Dann komm und sieh, welches Schicksal du dir selbst bereitet hast!“ Im selben Augenblick wirbelte eine Wolke aus stinkendem gelbem Rauch um den Kriegsherrn. Undeutliche Gestalten waberten darin, und die Umrisse von Chandros´ K¨orper began- nen zu verschwimmen. Bei dem Gedanken an das Grauen, dem sie nur um Haaresbreite entronnen war, stieg Tyr bittere Galle die Kehle hoch.
173 Doch Elarra sang ebenfalls. Sie hatte die H¨ande zum Himmel erhoben, und der Blutstein an ihrem Ring erwachte zum Leben. Der gelbe Rauch l¨oste sich zu Petzen auf. Chandros rief ihr eine unfl¨atige Beschimpf¨ ung zu. Sie lachte. ¨ Du kannst meine Angste nicht gegen mich verwenden, Schwindler! Ich bin kein Stammeskind, das ” sich durch ein bißchen Trivial-Magie einsch¨ uchtern l¨aßt! Bringst du um der Ehre der Djenne willen nichts Besseres zustande?“ Tyr erkannte, was Elarra vorhatte, und ihr Herz frohlockte. Die Hexe mußte ihn tiefer in seine Verteidigungen hineintreiben, wo sie an seiner Quelle zuschlagen konnte. Die Luft zwischen den Duellanten wurde dick, kr¨auselte sich von Wellen u urlicher Energien. ¨bernat¨ Chandros sch¨ uttelte sein Zepter. Die Knochen und die scheußlichen geschnitzten Gegen- st¨ande klapperten wie die Ketten des Verh¨angnisses. Elarras Ring verstrahlte ein tiefrotes Licht, das wie frischvergossenes Blut auf ihren Gesichtern lag. Ihre Stimnfe erhob sich u ¨ber die dr¨ohnen- den Zauberspr¨ uche des Kriegsherrn. Patt, dachte Tyr. Mit einem gr¨aßlichen Schrei riß sich Chandros von dem toten Punkt los. Er zog ein b¨osartig gekr¨ ummtes Messer aus den Falten seiner Robe und richtete die Spitze gegen seine eigene Brust. Nein! Halte ihn auf, Tyr!“ schrie Elarra in echter Panik. Tyr grub dem Hengst die Fersen in die ” Weichen, und er schoß voran, aber sie kamen zu sp¨at. Kein menschliches Mittel h¨atte Chandros´ Hand zur¨ uckhalten k¨onnen. Blut lief seine Robe hinunter und spritzte auf den Staub zu seinen F¨ ußen. Donner ersch¨ utterte den wolkenlosen Himmel. Mehrere der R¨auber fielen auf die Knie und heulten vor Entsetzen. Tyr hielt H¨ollenroß an. Der Boden bebte unter ihm. Sie sprang von seinem R¨ ucken und beruhigte ihn auf die Art der Kriegerin. Chandros trat zur¨ uck. Sein Gesichtsausdruck war hinter seiner rituellen Maske nicht zu erkennen. Der Boden, wo er gestanden hatte und wo sein Blut wie verstreute M¨ unzen des Todes lag, w¨olbte sich nach oben. Aus Djenne-Kehlen stieg neues Gejam- mer auf, und dann wurde ihnen jeder Laut von den Lippen gerissen. Der Buckel wuchs zur Gr¨oße eines H¨ ugelgrabs, dann zu der eines kleinen H¨ ugels. Tyr brauchte den Hengst von der wachsen- den W¨olbung nicht erst fortzuzjehen. Er zitterte und t¨anzelte nach hinten und hatte die Ohren f¨ urchtsam angelegt. Chandros war auf die Steinschwelle der Pyramide zur¨ uckgewichen, und die Djenne waren ein gutes St¨ uck aus dem Weg. Nur Elarra stand noch an derselben Stelle, und die Erdwoge trug sie h¨oher und h¨oher. Ihr Gesicht war ruhig, ihre Stimme beherrscht. Die H¨ande hielt sie vor der Brust verschr¨ankt. Tyr erkannte, daß nicht nur das Licht des Blutstein-Rings die Erde rot machte. Sie nahm tats¨achlich eine rote Farbe an, als werde sie mit menschlichem Blut durchtr¨ankt.
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Da teilte die W¨olbung sich zu Elarras F¨ ußen mit ohrenbet¨an bendem Krachen. Die Erde unter Tyr bebte, aber sie hielt die Augen auf den Gipfel des unnat¨ urlichen H¨ ugels gerichtet. Eine riesige, mißgestaltete Hand reckte sich unter einer Lawine aus losem Boden und Steinen aus dem Riß. Ai-iie! Die Erdmutter will uns fressen!“ ” Gef¨ahrten.
kreischte ein R¨auber durch das Geschnatter seiner
Tyr grub die Finger in das dicke Leder der geflochtenen Z¨ ugel und betete darum, nicht in Ohnmacht zu fallen. Eine zweite Hand kam zum Vorschein, so groß wie der Rumpf der Kriegerin, dann zwei Arme, die zu schmalen Schultern und einem vierschr¨otigen Nacken f¨ uhrten. Der Kopf hob der entsetz ten Menge blinde Augen entgegen. Die Djenne lagen auf den Knien, hatten die Gesichter in den H¨anden verborgen. Nur Tyr, die zu ver¨angstigt war, um sich zu bewegen, Elarra oben auf dem H¨ ugel und Chandros Kriegsherr standen noch auf den F¨ ußen. Der H¨ ugel zerbr¨ockelte, als die monstr¨ose, blutgetr¨ankte Gestalt herauskletterte. Tyr sah, daß sie beinahe unanst¨andig weiblich war, eine Perversion des ern¨ahrenden Landgeistes, den Elarra beschrieben hatte. Chandros begann zu lachen. Erst langsam mit einem kaum zu erkennenden Grummeln, dann lauter bis hinauf zu einem hysteri- schen Kreischen. Sie wird dich fressen! Dich, Hexe!“ schrie er. ” Die Erdgestalt b¨ uckte sich zu Elarra nieder, die klein und zart vor ihr stand. Der Mund, der nichts weiter war als ein von Z¨ahnen besetzter Schlitz, ¨offnete sich weit, um sie zu verschlingen. Elarra wirkte wie bet¨aubt, erstarrt, hilflos vor der elementaren Blutgier, die von der Riesin ausging. Tyr schloß die Augen, k¨ampfte um den Mut, sich zu bewegen. Elarra hatte dies als ihre Verb¨ undete gewagt — sie konnte sie nicht allein sterben lassen, nicht auf diese Weise . . . Tyr ließ die Z¨ ugel fallen und zwang sich, die H¨ande auf den Griff ihres zweitbesten Schwertes zu legen. Doch bevor sie die Klinge ziehen konnte, stolperte Elarra von dem Ger¨oll weg und geriet f¨ ur einen Augenblick außer Reich- weite dieser massigen H¨ande. Auf ebenem Boden angelangt, drehte sie sich von neuem ihrer Gegnerin zu. Sie hob die H¨ande hoch u ¨ber den Kopf. Das Licht, das von ihrem Ring ausstrahlte, verwandelte sich mit der ganzen Pracht des Regenbogens von Rot zu Orange und das Spektrum hinunter bis zu tiefem Violett. Funken stoben von dem Ring. Sie landeten zischend zu den F¨ ußen der Erdriesin, die stehenblieb und Drohungen br¨ ullte. Tyr konnte Elarra nicht mehr deutlich sehen, so eingeh¨ ullt war die Hexe von schimmerndem purpurfarbenem Licht. Sie schien gr¨oßer und d¨ unner zu werden, indem die Purpurfarbe zu Flieder und dann zu Silbergrau verblaßte. Ein k¨ uhler Wind, der Salzge- ruch aus der W¨ uste mitbrachte, fegte durch das Lager. Jetzt war nicht mehr daran zu zweifeln, daß Elarra gewachsen war, und zwar fast zu der H¨ohe der monstr¨osen Gestalt ihr gegen¨ uber.
175 Der Wind sang sein wildes Lied und preßte Tr¨anen aus Tyrs Augen. Er zog Elarras Haar zu einem Nimbus von ungez¨ahmter Glorie auseinander. Er verzerrte ihr Fleisch, hobelte ihre Kurven zu harten, knochigen Kanten ab. Die kreischende Stimme des Windes f¨ ullte Tyrs Kopf, ließ ihre Hand auf dem Schwert erstarren, bet¨aubte sogar ihre Gedanken. Dann war es nicht mehr die Stimme des Windes, es war die Stimme Elarras oder vielmehr des Wesens, zu dem Elarra gewor- den war. Nicht mehr Elarra . . . der Landgeist der Djenne. Die Djenne selbst, ein Spiegel dessen, was sie gewesen war, was sie sein sollte. Sauber und wild stand sie vor der aufgedunsenen Scheußlichkeit, die Chandros erschaffen hatte. Sie sang, rief die Erinnerung wach, erweckte die Wahrheit. Die blutgetr¨ankte Gestalt schwankte, ihre Gier schmolz in Elarras reinem Lied. Unter unzusammenh¨angendem Gebr¨ ull st¨ urmte Chandros auf sie los. Tyr ließ ihr Schwert fallen und rannte los, so schnell sie konnte. Bevor Chandros die Erdgestalt erreichte, faßte sie ihn um die Mitte und schleuderte ihn mit Wucht zu Boden. Er wehrte sich gegen sie mit wahnsinniger Kraft, und sie brauchte alle ihre Ringkampf-Tricks, um ihn unten zu halten. Geh weg, misch dich nicht ein, du Schlampe!“ ” Damit du dieses Ding mit noch mehr Tod f¨ uttern kannst?“ schrie Tyr zur¨ uck und hielt ihn um so ” fester. Ihre Aufmerksam- keit brauchte nur f¨ ur einen Augenblick zu den beiden elementa- ren Wesen abzuschweifen, und er konnte sich losreißen. Sie schloß die Ohren vor dem wilden Gesang der Djenne, vor der Blutgier in dem Grollen der Erdgestalt. Endlich sackte Chandros in ihrem Griff zusammen. Seine Muskeln wurden schlaff, dann wie Papier im Vergleich zu ihren eisernen. Tyr wagte es, aufzublicken... Und sah zwei Djenne-Landgeister´ der eine das Spiegelbild des anderen, beide singend, beide im Wirbelwind ihrer eigenen wil- den Natur schwankend. Aber welcher war Elarra, welcher der wirkliche Landgeist? Die n¨ahere Gestalt drehte sich um. Ihre Gew¨ander wirbelten in einer Mischung aus Silber und Violett und staubigem Braun. Das Haar umfloß ihren K¨orper wie gesponnener Stahl, wie Seide. Ihre Augen waren blind, weiß wie Wolken oder die Krusten auf den Sahneen. Ohne einen Blick zur¨ uck schritt sie auf das Herz der W¨ uste zu. Ihre F¨ uße wanderten durch die Zelte der Djenne, ohne die Spur einer Besch¨adigung zur¨ uckzulassen, aber als sie den massiven Steintempel ber¨ uhrten, zerbr¨ockelte er zu Staub. Die zur¨ uckbleibende Gestalt schwankte in der Stille, die nach dem Weggang der anderen herrschte, und schrumpfte ein biß- chen. Elarra!“ rief Tyr. Elarra´ du hast gesiegt. Komm zu uns zur¨ uck!“ ” ” Der Djenne-Geist, der Elarra gewesen war, sank auf die Knie, und Tyr sah Tr¨anen auf seinem Gesicht schimmern. Aber aus seinem Gesicht sahen sie Elarras Augen an.
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Elarra?“ ” Menschliches Fleisch ... , erklang eine Stimme, leise pfei- fend wie der W¨ ustenwind ... kann nicht ” ” ” zur¨ uckkehren...“ Du hast dich diesem Ding hingegeben — um Chandros aufzu- halten?“ keuchte Tyr und k¨ampfte ” gegen ihre Tr¨anen an. Langsam nickte der Djenne-Geist. Seine Farbe verblaßte schnell, zuerst das Braun und Purpur, und zur¨ uck blieb Grau, Tonin Ton. Ich hatte gedacht, niemand k¨onne ihn so hassen wie ich... Elarra, gefangen in der Gestalt eines Landgeistes und f¨ ur immer von ihrer Art abgetrennt, f¨ uhrte willentlich die eigene Aufl¨osung herbei. Nein! Es muß einen anderen Weg geben!“ Tyr stellte sich auf die F¨ uße. Irgendwo unter den ” Djenne-R¨aubern wieherte H¨ollen- roß als Echo auf ihre Qual. Wo ... ist jetzt noch ... ein Platz f¨ ur mich?“ ” An meiner Seite.“ ” Tyr meinte, die Spur eines L¨achelns u ¨ber das Gesicht der Gestalt huschen zu sehen, bevor sie zur Seite wich und zu Staub zerfiel. Da f¨ uhlte Tyr etwas in sich zerreißen, etwas, das nicht einmal die Vernichtung ihres Clans durch die Djenne hatte bre- chen k¨onnen. Im Lauf der Jahre hatte sie ihre Seele der Rache geweiht, und jetzt hatte nicht ihre Geschicklichkeit mit dem Schwert Chandros ein Ende bereitet, sondern das Heldentum der verkr¨ uppelten Hexe. Sie vergrub das Gesicht in den H¨anden und sank auf die Erde — die Erde, der Elarra sich geopfert hatte, um sie zu reinigen. H¨ollenroß´ Wiehern erreichte sie durch Schichten von Schmerz. Er b¨aumte sich auf und schlug um sich, als ein R¨auber versuchte, seine Z¨ ugel zu ergreifen. Tyr zwang sich zu handeln. Ihr Schwert lag im Staub; sie hob es auf. Die Djenne teilten sich vor ihr, wichen zur¨ uck. Sie schwang sich auf den R¨ ucken des Hengstes, drehte ihn im Kreis, suchte in der Menge nach einem Zeichen, daß ein Angriff beabsichtigt war. Pauce hob die Stimme. Der Kriegsherr ist tot.“ ” Und die Djenne sind frei, zu sein, was sie waren“,.erwiderte Tyr. ” Er hob die Hand, um das Brudermesser zu zeigen, das Elarra ihm zur¨ uckgegeben hatte. Ein anderer R¨auber untersuchte den Boden an der Stelle, wo der Landgeist der Hexe sich aufgel¨ost hatte, und reichte ihm einen kleinen Gegenstand. Ihn vor sich haltend, n¨aherte er sich Tyr. Geh in Frieden“, murmelte er und ließ ihr Elarras Blutstein- Ring in die Hand fallen. ” Tyr erschrak, als das Metall ihre Haut ber¨ uhrte, aber sie ließ sich nichts anmerken und lenkte das schwarze Schlachtroß mit ihrem grimmigsten Kriegerinnengesicht aus dem Lager. Erst ein gutes St¨ uck weiter bergauf begann sie, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, der in ihr aufgestiegen war,
177 als die konzen- trierte Energie des Blutsteins sie u ¨berflutete. Die Worte hatten ganz den Klang von Elarras Stimme. Wir geben ein gutes Team ab, nicht wahr?“ ”
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KAPITEL 14. RITUAL DER RACHE
Kapitel 15 Blutstein von Mary Frances Zambreno Unter normalen Umst¨anden w¨ urde mir die Erw¨ahnung eines Vampirs gen¨ ugen, um eine Geschichte auf der Stelle abzulehnen. Vampir-Geschichten sind mittlerweile ziemlich abgedroschen, oder? Nun, eine solche wie diese ist es nicht!
Eine gute Diebin sollte besser darauf achten, was sie stiehlt, dachte Aeres in ihrer Zelle. Ein blaues und ein haselnußbraunes Auge betrachteten philosophisch die gegen¨ uberliegende Wand. Eine gute Diebin sollte besonders darauf achten, nicht geschnappt zu werden, nachdem sie zuf¨arng den Blutstein eines Vampirs gestohlen hat. Schlimm genug, daß sie hier warten und dar¨ uber nachdenken mußte, ob der Richter ihr f¨ ur das Stehlen wohl die rechte oder die linke Hand abhacken ließ. Doch noch schlimmer war das Gr¨ ubeln, wie lange der Vampir brauchen w¨ urde, um sie aufzusp¨ uren, und was er machen w¨ urde, wenn er sie gef¨ unden hatte. Was war besser — wenn einem die Kehle vor oder nach der vom Richter verordneten Verst¨ ummelung aufgeris- sen wurde? In der Zelle wurde es pl¨otzlich sehr kalt. Sie f¨ uhr zusammen, dann zwang sie sich, die Augen halb zu schließen. Dunkeiheit sammelte sich um sie. Der Vampir stand unmittelbar vor ihrer Zellent¨ ur. Lautlos wie — wie der Mond war er gekommen. Leiser als ein Dieb. Sein wildes L¨acheln enth¨ ullte spitze Z¨ahne. Aeres schluckte und setzte sich schnell auf. Ich habe ihn nicht“, sagte sie. Ihre einzige Chance war, schnell zu sprechen. Ich kann ihn dir ” ” zur¨ uckstehlen. Aber das hat einen Preis.“ 179
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KAPITEL 15. BLUTSTEIN
Seine Hand ber¨ uhrte die Zellent¨ ur. An drei der langen Finger saßen Ringe: Saphir, Smaragd, Opal. Oh, warum hatte sie nicht einen von diesen gestohlen? Wo ist er?“ fragte er leise. Seine Stimme klang kalt und gleichm¨ utig. Distanziert. ” Im Tabernakel der Stadt-Kathedrale“, teilte sie ihm ohne Umschweife mit. Wenn du bis auf ” ” hundert Schritt herangehst, wirst du schmelzen wie Talg.“ Die langfingrigen H¨ande ballten sich. Er knurrte tonlos, und Aeres wich an die Wand zur¨ uck. Du — hast das Auge Roms — der Kirche gegeben?“ ” (Der große rote Stein besaß einen Namen? Interessant.) Nun, meine Idee war es nicht.“ Sie sprach schneller. Ich wurde damit erwischt, und nat¨ urlich ” ” erkannte man, was es war. Ich k¨onnte den Stein jedoch zur¨ uckstehlen — wenn du mich aus dieser Zelle herausholst.“ Flache, leere Augen sch¨atzten sie durch die Gitterst¨abe der Zelle ab. zur¨ uckgestohlen h¨attest, w¨ urdest du ihn mir bringen?“
Und sobald du ihn ”
Warum nicht?“ Sie wischte sich die schweißnassen Handfl¨a- chen an der Jacke ab. Schließlich ist ” ” es doch deiner! Du k¨onntest mir folgen, wohin ich ihn auch br¨achte — es sei denn, es w¨ urde mir gelingen, dich zu t¨oten. Was nicht wahrscheinlich ist, oder? Wenn ich gewußt h¨atte, daß es ein Blutstein ist, h¨atte ich ihn gar nicht erst genommen — ganz gleich, wie groß und wie pr¨achtig er war! Jetzt ist alles, was ich will, meine Freiheit, und die kannst du mir geben.“ Sie redete zuviel, aber es funktionierte. Er h¨orte ihr zu. Sie hielt den Atem an. Das ist alles sehr wahr“, erkl¨arte die kalte Stimme schließlich voller Verachtung. Und sehr sch¨on. ” ” Du kannst ihn stehlen - heute nacht.“ Nat¨ urlich; man w¨ urde jetzt nach dem Eigent¨ umer des Blut- steins suchen, und er mußte aus der Stadt fliehen. Ihr Diebstahl hatte ihn verraten. Das kann ich“, sagte sie, obwohl er eigentlich keine Frage gestellt hatte. Heute nacht wird man ” ” nicht damit rechnen.“ Er dr¨ uckte gegen die T¨ ur; sie schwang auf. Bring ihn mir ins Haus des Tuchh¨andlers am Fluß. ” Frage nach Lord Porphyro.“ Aeres stellte sich auf die F¨ uße. Mein Lord — da ist immer noch das kleine Problem mit den ” Gef¨angnisw¨artern.“ Sie werden dich nicht bel¨astigen.“ Abermals l¨achelte er, und sie erschauerte. Die armen W¨arter. ” Bring mir das Auge Roms morgen vor Sonnenaufgang, kleine Diebin, oder du wirst w¨ un- schen, du ” w¨arest wieder in deiner Zelle und wartetest auf die Bestrafung.“
181 Die Dunkelheit wirbelte. Fast ehe sie denken konnte, war er verschwunden und hatte nichts zur¨ uckgelassen als die K¨alte in der Luft und in ihrem Magen. Sie verschwendete zwei volle Minuten damit, sich zu vergewissern, daß er tats¨achlich fort war, bevor sie es riskierte, in den Gef¨angnisflur hinauszuschl¨ upfen. Bis morgen vor Sonnenaufgang — das war nicht viel Zeit. Behutsam stieg sie u ¨ber den einen W¨arter, der ihr im Weg lag. Er schnarchte, also waren sie wenigstens nicht alle tot. Und sie hatte wenigstens die Chance, um die sie gebetet hatte. Die Kathedrale war beinahe leer und nicht besser bewacht als u ¨blich. Aeres wartete im Schatten der Apsis, daß sich ihre Augen an das Kerzenlicht gew¨ohnten. S¨anger probten auf dem Chor f¨ ur den Morgengottesdienst´ und zwei Priester warteten hinten dar- auf, sp¨ate Beichten zu h¨oren, aber keiner war in der N¨ahe des Altars. Gut. Das vom Tabernakel reflektierte Licht fiel als matt- goldener Schein den rechten Gang hinunter. Wie kam sie jetzt nahe heran? Im Umkleideraum an der R¨ uckseite der Kirche hingen Akolu- then-Roben. Aeres eignete sich eine lose Kutte mit Kapuze und einen kleinen Besen an und fegte sich ihren Weg das Mittelschiff hinauf. Eine gute Diebin arbeitete mit dem Material, das zur Hand ist, und es war nicht wahrscheinlich, daß man sie zur Rede stellen w¨ urde, wenn sie den Kopf senkte und die Kapuze aufbe- hielt. Sie fegte sorgf¨altig, blieb hier und da stehen, um Abfall in dunkle Ecken und unter Teppiche zu schieben, wie es ein fauler Diener tun w¨ urde. Am Altargel¨ander seufzte sie h¨orbar — nicht etwa, daß irgendwer nahe genug gewesen w¨are, um es mitzube- kommen, aber eine gute Diebin f¨allt niemals aus der Rolle -, bevor sie widerwiffig ihre Verbeugung machte und mit dem Fegen der Stufen begann. In wenigen Augenblicken war sie im Seitenaltar. Mit klopfen- dem Herzen st¨ utzte sie sich auf ihren Besen — wie es aussah, um den Umfang der Arbeit zu bedenken, die noch vor ihr lag. Vorn lag ein Teppich auf dem Boden, so daß sie einen Vorwand hatte, hinten anzufangen. Mit gesenktem Kopf verdr¨ uckte sie sich in den Schatten. Dabei tastete sie mit einer Hand in der gestohlenen Kutte nach ihrem Taschentuch. Sie war kein Priester, daß sie einen Blutstein ohne weiteres angefaßt h¨atte. Lieber vorsichtig sein. Ein Arm glitt hinter die goldene Tabernakel-T¨ uren, tastete zwischen juwelenbesetzten Platten und anderen Artikeln umher. Zu schade, daß sie nicht wagen durfte, mehr als den Blutstein zu nehmen. Ah! Da war er. Schade auch, daß sie ihn dem Vampir zur¨ uckbringen mußte. Sie hatte noch nie zuvor etwas so Herrli- ches gestohlen. Der Stein war das Risiko wert, auch wenn sie dabei erwischt worden war. Bruder, was machst du da?“ ” Sie erstarrte, die Finger immer noch innerhalb des Tabernakels fest um den in ein Tuch gewickelten Stein gelegt. Ein Priester stand am ¨außersten Rand ihres Gesichtsfelds und betrachtete sie mißtrauisch. Ich wische Staub, Vater.“ Sie versuchte, mit rauher, tiefer Stimme zu sprechen. ”
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KAPITEL 15. BLUTSTEIN
Innerhalb des Tabernakeis?“ ” Auf allen Fl¨achen sammelt sich Staub, Vater“, erwiderte sie und bewegte den Arm mit der goldenen ” T¨ ur, als sch¨ uttele sie Staub davon ab. Ihre Fingerspitzen glitten u ¨ber eine glatte Facette; ein kleiner Schlag lief ihr zur Schulter hinauf, und sie zuckte zusammen. Was h¨altst du da in der Hand, Bruder?“ Der Priester packte ihren Arm und zog ihn heraus. ” Nat¨ urlich h¨atte sie die Faust, solange sie noch verborgen war, o¨ffnen und den Stein fallen lassen sollen, aber irgendwie konnte sie es nicht. Ihr ganzer Arm kribbelte. Der Priester ¨offnete ihre Finger mit Gewalt. Der Stein lag matt gl¨ uhend auf ihrer Handfl¨ache, an ihre bloßen Finger geschmiegt, und besch¨amte die Kerzen. Der Priester keuchte. Der Stein des Vampirs! Was ...“ Ohne ihren Arm loszulas- sen, zog er ihr mit der freien Hand die ” Kapuze vom Kopf. Die Diebin mit den verschiedenfarbenen Augen! Aber die Wache hatte dich ins ” Gef¨angnis gebracht!“ Ihrer Augen wegen war sie schon immer zu leicht zu identifizie- ren gewesen, aber Aeres war jetzt dar¨ uber hinaus, es zu bedau- cm. Ihre Aufmerksamkeit war auf den Stein fixiert, der zwischen ihrem K¨orper und dem des Priesters wie eine fette untergehende Sonne saß. Sie glaubte nicht, daß sie ihn loslassen k¨onnte, selbst wenn sie es versuchte. Nehmt ihn, Vater“, sagte sie unsicher. Er brennt ...“ ” ” Nat¨ urlich brennt er dich“, f¨ uhr er sie an. Du bist voller S¨ unde und eine Frau nach obendrein. Los, ” ” gib ihn mir!“ So nicht, versuchte sie zu sagen. So brennt er nicht. Es ist kein Schmerz dabei, u ¨berhaupt keiner. Aber er zieht an meiner Seele. Kaltes Feuer... Die dicke Hand des Priesters bedeckte den Stein. Aeres h¨atte beinahe aufgeschrien, als ihr der Anblick entzogen wurde. Erst glaubte sie sogar, es getan zu haben. Aber es war der Priester, der laut schrie. Auweh!“ jammerte er, wedelte mit der rauchenden Hand und sprang umher. Aeres sah ihm be” nommen zu. Feuer! Feuer! Das brennt!“ ” Nat¨ urlich brennt er dich, sagte ein Teil ihres Verstandes kalt zu ihm. Du bist ein Feigling und ein Heuchler und durch und durch dumm. Der Stein gl¨ uhte in einem flackernden Blau wie das Herz einer Flamme. Fasziniert betrachtete Aeres den Priester in diesem Licht. Sie sah bis in den innersten Kern seiner schmuddeligen kleinen Seele hinab. Ihr blaues Auge gl¨ uhte mit dem Edelstein, ihr braunes Auge verdunkelte sich, schw¨arzte sich, brannte. Hin- gerissen sah sie zu, wie er durch das Schiff zu einem Weihwasser- becken rannte und seine brennende Hand hineinstieß. Dampf- wolken stiegen auf. Eine Stimme fl¨ usterte: Er war
183 schwach. Das Juwel belohnte Kraft und Mut und Intelligenz, erkannte sie, und von all dem besaß der Priester offensichtlich wenig. Und sie hatte genug? Ihr tat der Stein nicht weh. Aeres hob den Stein auf. Etwas sang in ihrem Blut. Ja, dieser Stein konnte benutzt werden, um einem Menschen das Leben und den Willen auszusaugen, wie der Vampir es tat; aber es steckte mehr darin, viel mehr. Wieder rief der Stein, er rief sie, und jetzt sah sie deutlich ... Der Priester jammerte hysterisch: Wache! Die Frau! Die Hexe! Wache!“ ” Aeres steckte den Stein in ihre Jacke und sprang u ¨ber das Altargitter. Die Akoluthen-Robe behinderte sie; deshalb zog sie sie beim Laufen aus. Links war der Altarraum, und dorthin rannte sie, schlitterte um die B¨anke wie ein Wasserfloh auf einem ruhigen Teich. Wenn es ihr gelang, auf die Straße zu kommen... Die T¨ ur des Altarraums war verschlossen. Aeres machte kehrt, aber der Weg wurde ihr bereits von dem Priester verstellt. Seine verbrannte Hand war schwarz und tropfte, und seine Augen blickten wild. Hinter ihm f¨ ullte sich die Kirche mit Wachen. Hexe!“ zischte er sie an. Untote, Unreine...“ ” ” Er hielt sie f¨ ur den Vampir? Ja, nat¨ urlich — sie hatte den Stein ber¨ uhrt. Schwer atmend duckte sie sich vor dem Priester. Der Edelstein war ein großes brennendes Gewicht zwischen ihren Br¨ usten. Mit Hilfe des Steins sah sie all die kleinen Adern im K¨orper des Priesters, sah sein Herz pulsieren und schlagen, sah die Gedanken durch sein schwaches kleines Gehirn laufen. Sie studierte ihn, dann langte sie mit ihren Gedanken hinaus und gab ihm einen kleinen Schubs. Er brach zusammen. Tot? Nein — er umklammerte st¨ohnend seinen Kopf. Sie gab ihm eine Vision, die sie in einem Winkel seiner Seele fand, und er wand sich sabbernd. Dann war sie an ihm vorbei und draußen auf der Straße, unter- wegs zu den verborgenen Winkeln, die jede gute Diebin kennt. Der Edelstein brannte immer noch und zeigte ihr allerlei. Bei- nahe w¨are sie gestolpert: Ihre Verfolger waren kleine Flammen in der Dunkelheit hinter ihr, ver¨angstigte kleine Flammen. Die Stadt um sie gl¨ uhte vor Leben. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als eine der kalten und leeren Stellen aufzusuchen und sich zu verstecken. Es war beinahe zu leicht. An einer der leeren Stellen ruhte sie sich kurz aus. Sie zog den Stein aus ihrer Jacke, um ihn sich anzusehen. Was war dieses Auge Roms nur? Sicher kein gew¨ohnlicher Blutstein. Und kein Wunder, daß der Vampir so großen Wert darauf legte! Das T¨oten mußte einfach sein, wenn man diesen Stein als Waffe besaß. Er war gut eingewickelt gewesen, als sie ihn zum erstenmal gestohlen hatte — wußte der Vampir, daß sie f¨ahig war, das Ding zu ber¨ uhren? Nein, sonst h¨atte er es bestimmt nicht riskiert, sie es f¨ ur ihn zur¨ uckstehlen zu lassen. Oder doch? Er konnte selbst nicht in die Kathedrale gelangen, und der Stein war auf seine Weise immer noch an ihn gebunden. W¨ urde er, k¨onnte er u ¨berhaupt in Betracht ziehen, sie laufenzulassen,jetzt, da sie so viele seiner Geheimnisse kannte? Das war die Frage.
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KAPITEL 15. BLUTSTEIN
Den Rest des Weges auf den Straßen der Stadt zur¨ uckzulegen, war nicht schwieriger, als es das Verstecken gewesen war. Aller- dings achtete Aeres darauf, sp¨aten Passanten aus dem Weg zu gehen. Sie ignorierte die T¨ ur, an der sie nach dem Vampir h¨atte fragen sollen. Statt dessen kletterte sie zu dem einen offenen und erleuchteten Fenster im Haus des Tuchh¨andlers hoch. Sie ver- steckte sich hinter den Vorh¨angen in der Fensternische und sp¨ahte durch die Risse im Stoff. Das Auge Roms ließ sie, wo es war, unbedeckt. Ja, sie konnte den Vampir sehen. Er bestand ganz aus dunkelrotem Blut, das tr¨age pulsierte. Sein Geist war ungeduldig, mit Pl¨anen besch¨af¨ ugt. Er glaubte also nicht, daß sie es schaffen w¨ urde? Nun, sie w¨ urde ihn eines Besseren belehren. Aeres nahm allen Mut zusammen und schob einen Samtvorhang zur Seite. Guten Abend, mein Lord“, gr¨ ußte sie f¨ormlich. Oder sollte ich besser sagen: guten Morgen?“ ” ” Er f¨ uhr herum; sie hatte ihn u ¨berrascht. Gut. Ich hatte dir gesagt, du solltest an der T¨ ur nach mir fragen, kleine Diebin.“ Langsam richtete er ” sich auf. Vor ihm auf dem Tisch standen eine Flasche Wein und ein volles Glas. Das traf sich gut. Du kommst fr¨ uh.“ ” Nicht sehr fr¨ uh“, sagte sie, den ersten Satz ignorierend. Was sollte sie ihm auch erz¨ahlen, daß ” sie sich erst einmal hatte umse- hen wollen! Sollte er sich ein Weilchen den Kopf zerbrechen. Es ” d¨ammert fast schon.“ Ach ja. Es d¨ammert.“ Er l¨achelte tr¨age, bezaubernd, f¨ urchter- regend. Hast du den Stein?“ ” ” Ja, hier“, antwortete sie. Es war nicht leicht . . ” ” Gib ihn mir!“ Seine Stimme brach. ” Gewiß, Lord. Deswegen bin ich ja gekommen.“ Sie bewegte sich n¨aher an den Tisch heran und ” faßte in ihr Hemd. Der Stein blitzte auf ihrer Handfl¨ache. Und nun?“ ” Er sprang in dem Augenblick los, als er sie den Stein ber¨ uhren sah, aber Aeres war darauf vorbereitet. Sie sch¨ uttete ihm den Inhalt des Weinglases ins Gesicht. Er riß den Kopf zur¨ uck, schloß instinktiv die Augen und gab seine Kehle preis, und sie dr¨ uckte ihm die Handfl¨ache mit dem Juwel dagegen. Er stieß heftig mit den H¨anden nach ihrem Arm, aber sie hielt fest, dr¨ uckte nach vorn, nach unten. Sein Atem kam in St¨oßen. Ah, Vampir!“ lachte Aeres. Hast du wirklich geglaubt, ich w¨ urde dir brav vertrauen? Ich habe ” ” gesagt, ich w¨ urde dir den Stein bringen, und das habe ich getan, aber das Auge Roms geh¨ort mir!“ Die Augen sprangen ihm fast aus den H¨ohlen. Du – Hexe...“ ” Wer, ich? Nicht die Bohne. Der Stein hat die ganze Macht, Lord´ und einen eigenen Verstand. ” Alles, was ich habe, ist die Kraft, ihn zu benutzen, und meiner Kraft wegen hat er mich gew¨ahlt. Damit habt Ihr nicht gerechnet, was?“
185 Das Juwel flammte jetzt und w¨armte ihren Arm bis zur Schul- ter. Das Blut brannte in ihren Armen, und Porphyro sank auf die Knie, ohne zu verstehen. Du — kannst nicht — du hast nicht . . ” Von neuem ein frohlockendes Lachen. Warum nicht? Dieser Blutstein f¨allt dem St¨arksten zu.“ ” Sie dr¨ uckte fester, er verdorrte. Die Welt verschwamm um sie, wurde zum Echo der wundersamen blauen Flamme des Steins. Sie h¨orte jetzt andere Stimmen in seinen Tiefen, die nach Rache schrien. Der m¨achtige Geist des Vampirs k¨ampfte gegen den ihren, wollte sich freimachen, aber sie war st¨arker. Er hatte sie untersch¨atzt, nicht wahr? Das taten die meisten Leute, doch der Stein wußte es besser. Die arme kleine Diebin, die sie war, mit gerade genug Witz und Willen, um am Leben zu bleiben.. Es war genug. Als die Flammen ihren Geist verließen, war Aeres allein im Zimmer. Der Stein gl¨ uhte noch schwach in ihrer Hand. Automa- tisch steckte sie ihn in ihr Hemd — versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Das war geschallft. Und als n¨achstes? Sie hatte Hunger und war m¨ ude, aber sie mußte Pl¨ane machen. Sie mußte irgend- wohin gehen, um herauszufinden, was der Stein war und was er tun konnte. Das sp¨ater. Porphyros Geist befand sich in dem Stein, gefangen zusammen mit denen, die er get¨otet hatte. Machte sie das zu einem Vampir? Sie glaubte es nicht — sie hatte kein durch den Stein fließendes Blut geschmeckt-, aber sie w¨ urde es herausfinden m¨ ussen. Am wichtigsten war jedoch f¨ ur den Augenblick die rein praktische Frage, wie sie mit ihrer Beute ungef¨ahrdet aus der Stadt gelangte. Alles der Reihe nach: Essen und Vorr¨ate f¨ ur eine Reise. Nun, Porphyro?“ fragte sie laut und sah sich in dem Gemach um. Was sollen wir heute abend ” ” essen? Oder hast du keinen Hunger?“ Der unh¨orbare Wutschrei eines Geistes antwortete ihr. Sie l¨achelte. Zweifellos brauchte er eine Weile, bis er sich einge- w¨ohnt hatte. Wenn es soweit war, w¨ urde es Spaß machen, seinen Geist zu erkunden, und ebenso, dieses Haus und seine m¨oglichen Sch¨atze zu erkunden, bevor sie die Stadt verließ. Tats¨achlich, die ganze Welt verwandelte sich in einen durch und durch interessan- ten Ort. Jetzt, da sie ein Auge hatte, um damit zu sehen.
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KAPITEL 15. BLUTSTEIN
Kapitel 16 Die Schwerts¨ angerin von Laura J. Underwood Beim Lesen der Einsendungen f¨ ur diese Anthologie erhalte ich immer eine Menge Beweise daf¨ ur, daß Sie keinen zu langen Begleitbrief schreiben sollten, denn so gut wie alles Notwendige m¨ ußte ¨ sowieso auf Seite eins Ihres Manuskripts stehen. Uberfl¨ ussig ist es, Ver¨offentlichungen außerhalb des Genres, in dem Sie Ihre Einsendung verkaufen wollen, zu erw¨ahnen. So schrieb diese neue Autorin, daß Arbeiten von ihr in Horse and Horseman“ und in verschiedenen Zeitungen erschienen seien ” und daß sie Gedichte geschrieben habe. Ich brauche jedoch absolut nichts weiter zu wissen als Ihre fr¨ uheren Verk¨aufe auf dem Gebiet der Fantasy. Nebel kroch die Straße entlang, die sich durch das Moor schl¨angelte. Er wallte um die Beine des eisengrauen Hengstes, der unter dem Dr¨angen seines Reiters nerv¨ose Schritte machte. Der Mann war in einen Mantel geh¨ ullt, der ihn weniger vor dem Wetter sch¨ utzen sollte als davor, erkannt zu werden. Trotzdem strahlte er Herrenhaftigkeit aus, wie er stolz im Sattel saß und das Tier zwang, der alten Straße zu folgen. Endlich gelangte er zu einer bauf¨alligen H¨ utte, die von Nebengeb¨auden flankiert war. Er stieg von dem nerv¨osen Hengst, zog ein Schwert mitsamt der Scheide von seinem Sattelpack und betrachtete beides voller Ehrfurcht. Das scharfe Kreischen eines Sumpfvogels in den nahen B¨aumen riß ihn aus seinen Gedanken und scheuchte irgendein kleines Tier aus dem Unterholz. Es lief dem Pferd zwischen die Beine und erschreckte es, so daß es sich aufb¨aumte und vor Furcht stampfte. Fast h¨atte es dem Mann auf den lederbeschuhten Fuß getrampelt. Er fluchte, zog an den Z¨ ugeln, um den Hengst wieder unter Kontrolle zu bringen, und schlug das Tier als Dreingabe zornig mit der flachen Hand. Immer noch schimpfend, band der Mann den Hengst an eine Pumpe. Dann wandte er sich der T¨ ur der H¨ utte zu. 187
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¨ KAPITEL 16. DIE SCHWERTSANGERIN
Licht drang durch die Ritzen um das Holz. Er roch den beißenden Rauch eines Holzfeuers und den Duft eines kochenden Eintopfs. Schwert und Scheide an sich dr¨ uckend, warf er einen fl¨ uchtigen Blick auf den Nebel und die Dunkelheit, bevor er an die T¨ ur klopfte. Die T¨ ur bebte, als jemand den Riegel zur¨ uckzog. Sie ¨offnete sich, und eine sehr junge Frau lugte durch den Spalt. Sie hatte sanfte braune Augen und ein h¨ ubsches Gesicht. Ihr Haar war dunkel und fiel ihr in Z¨opfen den R¨ ucken hinunter bis zur Taille, aber er erkannte den silbernen Streifen, der, die satte Kastanien- farbe unterbrach — das Zeichen ihrer Art. Bekleidet war sie mit einer Jacke und einer ledernen Hose. Kann ich Euch helfen?“ fragte sie mit einer melodischen Stimme, die die Worte beinahe sang. ” Seid Ihr die Schwerts¨angerin namens Marta?“ erkundigte er sich. ” Ja“, antwortete sie. ” Ich habe Arbeit f¨ ur Euch“, sagte er. ” Der Schmied ist nicht da“, teilte Marta ihm mit. Er ist ins Dorf zum Einkaufen gegangen, und ich ” ” erwarte ihn nicht vor morgen zur¨ uck.“ Ich brauche keinen Schmied“, versicherte er ihr, sondern Eure Dienste.“ ” ” Marta runzelte die Stirn. Wollt Ihr mir sagen, um was es sich ” Darf ich hineinkommen?“ fragte er zur¨ uck. ” Ich soll mich in der Abwesenheit meines Vaters nicht mit G¨asten unterhalten.“ ” Der Mann seufzte. Ich habe all diese Meilen nicht zur¨ uckge- legt, um mich von einem M¨adchen ” unterhalten zu lassen, das nach Schwefel und Stahl riecht.“ Es klang grimmig. Kennst du mich ” nicht, M¨adchen?“ Marta sch¨ uttelte den Kopf. Damit machte sie ihn nur noch w¨ utender. Ich bin Brak Wolfssohn, Kriegsherr der Nordhalle!“ donnerte er. Ich brauche eine Schwerts¨angerin, ” ” keinen Bettw¨armer!“ Marta zuckte zusammen und schluckte eine Entgegnung hinunter. Sie hatte von diesem Brak Wolfssohn und seiner barbarischen Nordhalle erz¨ahlen geh¨ort. Gutes war es nicht gewesen, und seine Anwesenheit hier machte ihr Angst. Ihr habt einen schrecklich weiten Weg zur¨ uckgelegt, nur um eine Schwerts¨angerin aufzusuchen?“ ” Sie wich seinem grausamen Blick aus. Gibt es keine in den Schmieden der Nordhalle?“ ” Bist du so reich, M¨adchen, daß dein Vater es gutheißen w¨ urde, wenn du mir den verlangten Dienst ” verweigerst?“ Brak wies auf die heruntergekommenen Baulichkeiten.
189 Ich tue nur das, was alle meiner Art tun.“ Marta gab sich M¨ uhe, ihre Stimme nicht beben zu ” lassen. Ich singe dem Schwert vor, w¨ahrend es geschmiedet wird, und da mein Vater nicht vor ” morgen zur¨ uckkehrt. . Und ich habe dir gesagt, daß ich keinen Schmied brauche!“ unterbrach Brak sie heftig. Nur die ” ” Schwerts¨angerin!“ Dann braucht Ihr mir nur zu sagen, was f¨ ur eine Aufgabe es ist, und ich werde Euch wissen lassen, ” ob ich sie erf¨ ullen kann“, verlangte sie nochmals. Sein Gesicht erstarrte zu einer Maske der Best¨ urzung. Nun gut“, sagte Brak. Manche ” ” Schwerts¨angerinnen k¨onnen die Makel einer schlecht geschmiedeten Klinge beseitigen. Ich habe keine in meiner Halle, die dies so gut kann, wie ich es von Euch habe erz¨ahlen h¨oren, Marta. Man sagt, Ihr h¨attet die Macht, eine gebrochene Klinge zu heilen.“ Sie sch¨ uttelte den Kopf. Nur wenn ich die S¨angerin bin, deren Stimme es geschmiedet hat. Hat ” eine andere dem Schwert beim Schmieden ordnungsgem¨aß vorgesungen, kann ich es nicht.“ Das ist hier nicht der Fall“, versicherte er ihr. Das Schwert ist schlecht geschmiedet worden und ” ” ohne daß das Lied einer Schwertsangenn ihm geholfen h¨atte. Es tr¨agt einen Makel in seinem Stahl.“ Wie k¨onnt Ihr sicher sein, daß ihm beim Schmieden nicht vorgesungen worden ist?“ ” Ich war dabei“, antwortete Brak. ” Marta seufzte. Dieser Kriegsherr war wie so viele seiner Art hartn¨ackig und grob. In Anwesenheit ihres Vaters h¨atte es ihr nichts ausgemacht, ihm zu sagen, er solle in seine Nordhalle zur¨ uckkehren, aber so f¨ uhlte sie sich unsicher. Ihr Instinkt riet ihr, schnell die T¨ ur zu verriegeln und ihn gar nicht erst hereinzu lassen. Er war ein großer starker Mann, und sie z¨ahlte erst sechzehn Winter. Nicht etwa, daß sie nicht imstande gewesen w¨are, sich zu verteidigen. Schließlich war sie Schwerts¨angerin. Sie hatte die beste Lehrerin gehabt — ihre eigene Mutter. Diese war einst Schwert– S¨angerin bei einem Schmied der Nordhalle gewesen und Martas Vater dessen Lehrling. Sie verliebten sich ineinander, aber der Schmied war von der eifers¨ uchtigen Sorte und verweigerte ihnen die Erlaubnis zur Heirat. Sie hatten keine andere Wahl als durchzubrennen, und sie ließen die Grenzen der Nordhalle in ihrem Wunsch, dem Zorn des alten Schmieds zu entrinnen, weit hinter sich. Martas Vater machte seine eigene Schmiede auf, und das war keine leichte Sache gewesen. Der alte Schmied schickte eine Zeitlang Sucher aus und zwang das junge Paar, sich weitab vom normalen Verkehr niederzulassen. Hier draußen im Moor hatten sie Gesch¨afte mit Reisenden gemacht, bis die neue Handelsstraße angelegt wurde. Der Weg war weiter, aber nicht so h¨aßlich wie der durch den Sumpf. Mit der Zeit war das Gesch¨aft auf beinahe nichts zur¨ uckgegangen. Doch sie hatten die harten Zeiten durchgestanden. Dann war Martas Mutter vor ein paar Jahren krank geworden und gestor- ben. Um sie trauerten der
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Gatte, der Sohn und die Tochter, die mit dem Kuß des Schwertes“ geboren war, dem Silberstreifen, ” der sie als Schwerts¨angerin kennzeichnete. Marta wollte schon ihrem Instinkt folgen und die T¨ ur schließen, als Brak schnell einen Beutel aus dem G¨ urtel zog. Er ließ ihn vor ihren Augen klimpern. Marta keuchte beinahe auf. Sie kannte das Klingen von Gold, und der Beutel war schwer davon. Das“, erkl¨arte Brak und sah sie kalt an, wird alles dir geh¨oren - wenn du meinem Schwert vorsingst ” ” und seinen Fehler heilst. Es m¨ ußte genug Gold darin sein, um davon eine ganze neue Schmiede zu kaufen.“ So viel“, stammelte Marta. Warum?“ ” ” Das ist meine Sache, M¨adchen. Alles, was ich von dir will, ist, daß du den Fehler aus meinem ” Schwert heraussingst.“ Brak l¨achelte, und Marta erkannte die Bosheit hinter dem L¨acheln. Sie h¨atte sich gern zur¨ uckgezogen — aber all das Gold! Ihres Vaters Amboß war geborsten — der Hauptgrund, warum er ins Dorf gegangen war. Er hoffte, von dem Bauernvolk genug Auftr¨age zusammenzukratzen, um einen neuen bezahlen zu k¨on- nen. Braks Gold w¨ urde ein Segen sein. Nun?“ fragte Brak halb neckend und sch¨ uttelte den Beutel. ” Marta nickte trotz ihrer unheimlichen Ahnungen. Brak schob sie beiseite und fegte in die H¨ utte hinein. Leise schloß Marta die T¨ ur. Er sah sich in dem Raum um. ‘Dein Vater l¨aßt dich also allein, und du bist noch so jung“, stellte er u ussigerweise fest. ¨berfl¨ Daran bin ich gew¨ohnt, seit meine Mutter tot ist“, erwiderte sie. Aber ganz allein bin ich nicht. ” ” Mein Bruder wird bald zur¨ uckkommen.“ Eine L¨ uge, schalt sie sich in Gedanken. Sie hatte keine Ahnung, wann ihr ¨alterer Bruder Hanson zur¨ uckkommen w¨ urde. Da er wußte, ihr Vater konnte nicht vor morgen wieder dasein, war er die Dame besuchen gegangen, der er insgeheim den Hof machte. Vater billigte das nicht. Die Dame war mit einem alten, fetten Kaufmann verheiratet, der oft auf Reisen war. Brak nickte. Wir m¨ ussen schnell arbeiten, damit ich mich wieder auf den Weg machen kann. Hier ” ist das Schwert.“ Er hielt ihr die Scheide hin. Marta nahm sie und bemerkte die. kunstvolle Handwerksarbeit an dem Leder. Sie faßte den verzier- ten Griff. Das brachte die gef¨ urchtete K¨alte zur¨ uck. Langsam zog sie das Schwert aus der Scheide. Marta hielt beinahe den Atem an, als sie die perfekteste Klinge erblickte, die ihr je vor die Augen gekommen war. Ihr Vater war ein ausgezeichneter Schmied, aber nichts, was er je hergestellt hatte,
191 ließ sich mit diesem Schwert vergleichen. Sie konnte ein- fach nicht glauben, daß ein Schmied eine so feine und scharfe Klinge fertigbrachte, ohne daß eine Schwerts¨angerin ihr mit ihrem Lied Kraft verlieh. Sie wandte sie in den H¨anden und versuchte, die t¨odliche K¨alte zu ignorieren, die von ihr ausging. Wo ist der Fehler?“ wollte Marta wissen. ” Innen“, antwortete Brak. ” Marta runzelte die Stirn. Woher wißt Ihr das?“ ” Ich habe das Schwert pr¨ ufen lassen, nachdem es geschmiedet war, weil mit seinem Gleichgewicht ” etwas nicht stimmte. Die Schwerts¨angerin in meiner eigenen Schmiede fand den Fehler, aber nicht f¨ahig, ihn zu heilen.“ Und Ihr erwartet, daß ich dazu f¨ahig bin?“ fragte Marta. ” Das sollte einer, die eine zerbrochene Klinge heilen kann, nicht schwerfallen“, behauptete Brak. ” Das hat meine eigene Schwerts¨angerin auch gemeint.“ ” Marta war sich nicht sicher. Sie seufzte und trug das Schwert die T¨ ur, die in die Schmiede f¨ uhrte. Dicht neben dem Feuer war ihr magischer Kreis. Brak folgte ihr. Er blieb im Schatten zur¨ uck und beobachtete, wie Marta die Vorbereitungen zu dem Ritual traf, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte. Sie legte das Schwert auf die einge¨atzten Zeichen in der Mitte des Kreises und nahm ihren Platz am n¨ordlichen Ende ein. Mit untergeschlagenen Beinen sitzend, holte sie mehrmals tief Atem und schloß die Augen. Als sie sich innerlich ruhig f¨ uhlte, stimmte sie ein Lied an, las sie innerhalb des Kreises sch¨ utzen und b¨ose Einfl¨ usse draußen ilalten sollte. Sie sp¨ urte den Energiefluß hereinstr¨omen und die Luft um sich leise den Kreis schließen. Marta ging zu einer anderen Melodie u ¨ber und richtete sich damit an das Schwert. Ihre Magie zwang das Schwert, sich aufzurichten. Es begann zu gl¨ uhen. Seine Spitze richtete sich von selbst auf die Erde, die sein Metall geboren hatte. Mit ihrem Lied rief Marta den Geist des Schwertes an, und er antwortete ihr. Wellen aus K¨alte gingen von aus. Martas Gesicht verfinsterte sich, aber sie sang weiter. Es war, als z¨ogere der Stahl, seinen Makel zu enth¨ ullen. Sie intensi- vierte ihren Gesang zu einem Lied des wahren Sehens, und als sie das tat, gab das Schwert sein Geheimnis preis. Mit ihrem geistigen Auge erkannte sie die Stelle, wo der Fehler saß. Die K¨alte nahm zu. Der Fehler war nicht von gew¨ohnlicher Art. Er ging tief in das Metall hinein, ein Haarriß vom Griff bis zur Spitze, als habe der Schmied dem Metall absichtlich etwas angetan. Marta erschauerte. Warum sollte jemand so etwas tun? sang weiter das Lied des wahren Sehens und ließ dabei ihr geistiges Auge u ¨ber die ganze L¨ange der Klinge wandern. Jetzt wurden Zeichen sichtbar, gl¨ uhten dort, wo vorher nichts gewesen war. Marta sah Runen unbekannter Art. Anscheinend ging die K¨alte von ihnen aus.
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Vorsichtig wechselte sie zu dem besonderen Lied des Heilens u ¨ber. Bei der Spitze des Schwertes beginnend, bewegte sie sich immer ein paar Zoll auf einmal den Riß entlang und benutzte das Lied, um das Metall neu zu schmelzen. Fast ihre ganze Konzen- tration richtete sie auf ihre Arbeit. Ein sehr kleiner Teil ihres Ichs blieb losgel¨ost und neugierig. Wozu dienten diese Runen? Wie kam es zu einem solchen Riß? Was hatte die K¨alte zu bedeuten? Warum schob sich Brak immer n¨aher heran? Warum... Zu viele Fragen!“ schalt eine Stimme. Heile mich, und mach voran! Ich habe selbst noch Arbeit ” ” zu tun!“ Marta hatte die Augen geschlossen gehalten, aber jetzt ¨offnete sie sie und richtete sie genau auf das Schwert. Eine Wesenheit wand sich um die Klinge. B¨osartige Augen sahen sie aus den Steinen im Griff an. Das Schwert war lebendig! Ja, Kleine, fl¨ usterte es. Ich lebe tats¨achlich. H¨or jetzt auf, kostbare Zeit zu verschwenden! Auf ” ” mich wartet Arbeit!“ Was f¨ ur Arbeit?“ fragten Martas Gedanken, w¨ahrend ihr Lied mit der Heilung fortfuhr. Sie war ” zur H¨alfte damit fertig. Was f¨ ur Arbeit gibt es f¨ ur ein Schwert?“ erwiderte es. Ich wurde durch Zauberei geschmiedet, um ” ” einen Mann zu t¨oten, der nicht durch nat¨ urliche Miael umzubringen ist. Welchen Mann?“ verlangte Marta zu wissen. ” Was geht das dich an, M¨adchen?“ gab das Schwert grob zur¨ uck. ” Ich muß das wissen, wenn ich imstande sein soll, dich vollst¨an- dig zu heilen.“ ” Dann beteilige dich am Hochverrat, M¨adchen, denn indem du mich heilst, machst du dich zur ” Mitwirkenden an der Ermordung des Hochk¨onigs!“ Martas Gesang stockte. Der Hochk¨onig war der magische Herrscher des Reiches. Es ging das Ger¨ ucht, er habe den Zorn mehrerer Kriegsherren erregt, indem er verlangte, sie sollten h¨ohere Steuern zahlen, die ¨armsten Bauern dagegen gar keine. Aber er war gut bewacht und von vielerlei Magie gesch¨ utzt. Ja, sie sp¨ urte die Kraft in diesem Schwert, und sie kannte jetzt die Bedeutung der Runen. Es waren Todeszeichen, begabt mit der Macht, eine bestimmte Person zu t¨oten. Ja, ein solches Schwert konnte den Hochk¨onig ermorden und das Reich der Tyrannei u ¨berantworten, w¨are da nicht der Fehler in seinem Stahl. Das machte seine b¨ose Magie zunichte. Marta beendete ihr Lied und ließ das Schwert fallen. Seine Spitze bohrte sich tief genug in den Fußboden, daß es aufrecht stehen blieb. Die Augen f¨ unkelten b¨ose. Verr¨ater!“ rief Marta laut und stellte sich auf die F¨ uße. ”
193 Brak st¨ urmte bereits in den Kreis und vernichtete den magi- schen Schutz mit seinem Zorn. Er riß das Schwert aus dem Boden. Marta versuchte, zur T¨ ur zu laufen, aber der Kriegsherr schnitt ihr den Fluchtweg ab und richtete das Schwert auf sie. Angstvoll wich sie zur¨ uck. So“, sagte er. Du hast die Wahrheit erfahren — genau wie die letzte Schwerts¨angerin.“ ” ” Ihr habt es durch Zauberei schmieden lassen, um den Hoch- k¨onig zu ermorden!“ platzte sie heraus. ” Ja — und damit wird es jetzt Erfolg haben, denn du hast seinen einzigen Fehler geheilt. Der ” Dummkopf, der es schmiedete, war dem Hochk¨onig treu. Er gab ihm insgeheim den Makel mit, w¨ahrend der Zauberer ihm Leben und Willen verlieh. Nur fand ich das erst heraus, als es fertig war und der Zauberer es auspro- bierte. Das verdammte Schwert t¨otete den Zauberer aus eigenem Antrieb, und da wußte ich, daß etwas schiefgegangen war.“ Die Fehler verkehren die Bestimmung des Schwertes“, sagte Marta und dr¨ uckte sich zwischen die ” Teile des geborstenen AmSehr klug“, lobte Brak. Die letzte Schwerts¨angerin fand es viel schneller heraus und drohte, mich ” ” zu verraten. Ich nahm ihr Leben mit diesem Schwert — ebenso wie ich jetzt deins nehmen Nein!“ schrie Marta. ” Er hob das Schwert, um ihr den Todesstreich zu versetzen. Marta reagierte aus Furcht. Sie warf sich u uhr. Auf dem Fußboden gelandet, f¨ ullte sie ihre Lungen, ¨ber den Amboß, als das Schwert niederf¨ warf den Kopf zur¨ uck und sang einen einzigen langen, m¨achtigen Ton. Das Schwert kreischte, als der Laut den noch u uhrte. ¨brigen Zoll scines Fehlers nahe dem Griff ber¨ Sein Schrei u ¨berraschte Brak mitten in der Bewegung. Das Schwert riß sich ihm buchst¨ablich aus den H¨anden und traf die Oberfl¨ache des Ambosses. Die Klinge zerbrach. Große und kleine St¨ ucke flogen in alle Richtungen. Marta duckte sich und bedeckte den Kopf mit den Armen. Ein paar Metailnadeln stachen sie, und sie schrie auf, aber ihr Schmerz wurde von einem rauhen Geheul voller Qual u ¨berschat- tet. Sie hob noch rechtzeitig den Kopf, um Brak urnkippen zu sehen. Ein großes St¨ uck von der Klinge stak ihm in der Brust. ¨ M¨ uhsam kam Marta wieder auf die F¨ uße. Die Tr¨anen liefen ihr u lagen St¨ ucke ¨bers Gesicht. Uberall des Schwertes. Ein paar kleine steckten ihr in Arm und Schultern. Schluchzend zog sie sie heraus. Ihre H¨ande zitterten von der schmerzhaften Arbeit. Rings um sie durchdrang die K¨alte die Luft. Sie wirbelte dicht an sie heran, dann entfloh sie, als sei die Wesenheit, die deni b¨osen Schwert Leben verliehen hatte, befreit worden. Dummer Brak. Er h¨atte es sich denken k¨onnen. Eine Schwert- s¨angerin, die so gut ist, daß sie eine zerbrochene Klinge heilen kann, besitzt auch die Macht, eine Klinge zu zerbrechen.
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Kapitel 17 Sturmbringerin von Steve Tymon ¨ F¨ ur gew¨ohnlich lehne ich eine Geschichte ohne weiteres Uberlegen ab, wenn der Autor nicht weiß, wie man Sorcerer“ (Zauberer) schreibt. Denn ich sage mir, dann weiß er auch u ¨ber Zauberei so ” wenig, daß seine Arbeit sicher nicht viel wert ist. Doch ich kann alle meine Regeln brechen, wenn die Geschichte iuch richtig packt. Warum dann u ¨berhaupt Regeln aufstellen? Nun, sie sollten so manches von dem Zeug sehen, das ich bekomme. Wenn sich also jemand die M¨ uhe nicht machen konnte, die grundlegenden Regeln f¨ ur das Einreichen von Manuskripten zu lernen, warum soll ich mir dann die M¨ uhe machen, seine Geschichte zu lesen? Es ist ja nicht so, als seien die Regeln schwer zu lernen; jede High School, die das Salz in der Suppe wert ist, verlangt heutzutage, daß die Sch¨ uler ihre Semesterarbeiten auf der Schreibmaschine mit Doppelabstand geschrieben abgeben. Wenn ich eine Anthologie herausgebe, lese ich mehr als die meisten Lehrer, und das, was von meinem Sehverm¨ogen noch u ur mich ¨brig ist, hat f¨ einen hohen Wert. Diese Geschichte packte mich von der ersten Seite an.
Ihr Name war Winter, und sie kam mit dem Sturm — eine Frau in einer R¨ ustung aus dem dunkelsten Schwarz, auf einem Fl¨ ugelroß wie ein Schatten u ¨ber den Blitze schleudernden Wolken reitend, w¨ahrend ringsumher der Donner widerhallte. Sie brachte ihre magischen Waffen mit — ein Schwert aus reinstem Licht und einen Stein von großer Macht, der warm zwischen ihren Br¨ usten verborgen lag. Sie besaß auch einen Dolch aus gescharftem Glas, der jedweder Magie ermangelte, der aber d¨ unn und tansparent und sehr scharf war, und er steckte unter der R¨ ustung des einen Arms. Und 195
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schließlich brachte sie Licht in die Dunkelheit — ein einfacher Zauber, das leichte Gl¨ uhen, das sie umgab—, denn dies war ein Ort unaufh¨orlicher Nacht, wo die Sturmwinde ihren Namen riefen: Tote Seelen, von denen sie manche als Freunde gekannt hatte, riefen ihr Warnungen zu, rieten ihr, zu laufen, sich zu verstecken, sich von der gr¨oßeren Dunkelheit, die vor ihr lag, abzuwenden, aber das wollte sie nicht. Dazu war es viel zu sp¨at. Er wußte bereits von ihrem Kommen, davon war sie u ¨berzeugt; und soritt sie durch die Dunkelheit und den Regen zu der großen Festung von Akmar und dem Zauberer-K¨onig, der sie dort erwar- tete. Nach zehn langen Jahren kam sie nach Hause. Der Usurpator sah sie nat¨ urlich. Er hatte sie immer gesehen. Das erstemal, als er seine Stieftochter ber¨ uhrt hatte, war die Vision gekommen — etwas u ¨ber einen dunklen Kampf zwischen ihnen, mehr nicht; aber er hatte keine Angst. Er war einer der gr¨oßten Zauberer in einer Zeit großer und m¨achtiger Zauberer, er war Merikor, und er wußte nur zu genau, daß ein bloßes Kind ihn niemals schlagen konnte. Und in diesem Wissen, ohne Angst vor der Vision, beging er damals die Ungeheuerlichkeit, die alles ausgel¨ost hatte. Und jetzt fiel es endlich auf ihn zur¨ uck, nahte sich auf Schattenschwingen, ein heller Fleck am Rand eines Sturmes, brachte magische Waffen mit. Voller Selbstvertrauen machte er sich zum Kampf bereit, um seinen Preis einzufordern, stellte Falle auf. Und oben kreiste die Sturmbringerin und zwang den Regen und die Wolken zur¨ uck, damit sie die ¨ Festung unten konnte. Was sie sah, hatte wenig Ahnlichkeit mit dem, was si einst gekannt hatte: Die Mauern waren geborsten und zerfalle und dick mit Schlingpflanzen u ¨berwachsen, die bi Steine waren viel dunkler, als sie sie in Erinnerung hatte, uncl im Hof, war ein kleines Grabmal, ein neuer und unpassender Zusatz zu den Ruinen ringsumher. Auch ohne die darauf stehen- den Runen zu lesen, wußte sie, wer dort lag; doch sie verEoß keine Tr¨anen — sie hatte ihre Mutter schon lange vor ihrer verloren, lange vor dieser h¨aßlichen Nacht, und die Tat hatte nur best¨atigt. Sie hatte von ihrer Mutter f¨ ur das, was geschehei war, statt Mitleid oder Hilfe nichts als Vorw¨ urfe bekommen, un noch heute, nach all den Jahren, sp¨ urte sie die Wut und da Entsetzen des Augenblicks, den ganzen Schmerz de s Venats Aber ihre Wut hatte ihr die Kraft zum Leben und den Mut gegeben, die Wege der Zauberei zu suchen und zu lernen, und darin war sie erfolgreich gewesen. Sie nahm zu an Macht und Wissen, und sie wußte dabei, ihm w¨ urde sie niemals gleich sein, auch wenn sie tausend Leben darauf verwendete. Aber nat¨ urlich wurde ihr mit der Zeit klar, daß das der Schl¨ ussel war. Sie lenkte Abraxas nach unten. Die Hufe des Hengstes schlu- gen Funken aus dem kalten Stempfiaster des Hofes, und dann hielt er an, faltete die Schwingen, sch¨ uttelte Kopf und M¨ahne und wartete auf ihren Befehl. Sie stieg ab, fl¨ usterte ihm ein Wort ins Ohr — er w¨ urde bis zu ihrer R¨ uckkehr bleiben oder bis zu ihrem Tod, was von beiden eher eintrat — und wandte sich dann dem Turm zu, den schweren, verschlossenen T¨ uren. Bei ihrem Weg ber den Hof fiel der Regen um sie nieder, doch ber¨ uhrte sie nicht. Vor den T¨ uren blieb sie stehen und machte eine leichte Bewegung mit der einen Hand. Die dicken h¨olzernen Planken gingen in Flammen auf und verschwanden. Sie trat ins Innere. Es war u ¨berhaupt nicht so, wie sie erwartet hatte.
197 Drinnen war eine weite Halle, fr¨ohlich erleuchtet von vielen Fackeln und einem lodernden Feuer im Kamin. Kostbare Gobe- ,ins hingen an den W¨anden, und nach dem Licht von den Fenstern h¨atte man annehmen k¨onnen, draußen sei ein heller und sonniger Tag statt der st¨ urmischen Dunkelheit, die in Wirklichkeit Unter ihren Stiefeln lag ein dicker Teppich, und vor ihr langer, kunstvoll geschnittener Tisch, auf dem sich feine Speisen und Fr¨ uchte auf Silberplatten h¨auften. Da war Wein in Kristallkaraffen, da waren Kelche aus reinstem Gold, ihn daraus zu trinken, und sogar das Tischtuch war aus der feinsten Seide gewebt, durchsetzt mit Goldf¨aden und hier und da einem Edelstein. Alles in allem war die Halle f¨ ur eine ganz besondere Gelegenheit hergerichtet, f¨ ur ein Fest oder eine Feier. Es mag das eine oder das andere sein“, erklang die Stimme eines Mannes. Am hinteren Ende der ” Tafel ballte sich Nebel zusammen, nahm Gestalt an und wurde ein b¨artiger, dem ischein nach junger Mann, der es sich in dem hohen, thron¨ahnlichen Sessel dort bequem machte. Ihr Stiefvater l¨achelte ihr honigs¨ uß zu. Man k¨onnte es eine Feier nennen, denke ich“, fuhr er fort, denn du bist zur¨ uckgekehrt, und ich ” beabsichtige, dich von neuem zu nehmen, wie ich es damals getan habe. Gewiß ein Anlaß zum Feiern.“ Krankhaft wie immer“, antwortete sie und trat n¨aher an die Tafel heran. Sie schirmte ihren Geist ” gr¨ undlicher ab, dann winkte sie mit der Hand. Es blitzte, und ihr Schwert erschien in ihrem Griff. Sein Licht wurde von der Magie in der Luft seltsam ged¨ampft. Aber hier, ich werde das Krebsgeschw¨ ur ” heraus- schneiden.“ Sein Lachen rief in der weiten Halle ein Echo hervor. Winter“, sagte er, ihren Namen aussprechend, nach all die- sen Jahren bist du noch immer so t¨oricht ” ” wie damals. Glaubst du im Ernst, du k¨onntest mich in irgendeiner Art des Kampfes besiegen, sei es durch Stahl oder durch Zauber?“ Er stand auf und strich seine rote Seidenrobe glatt. Nein“, antwortete er an ihrer Stelle, du wirst nicht siegen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du ” ” u ¨berhaupt auf die Idee gekommen bist, es w¨are m¨oglich.“ Sie sch¨ uttelte den Kopf. Du stinkst immer noch vor Arr ganz“, stellte sie fest. Ich bin nicht so ” ” schwach, wie du an- nimmst.“ Dazu nickte er leicht. Das mag sein.“ ” Er sah an ihr vorbei und machte eine Bewegung, als werfe er etwas. Irgendwo hinter ihr blitzte es kurz auf. Ohne sich umzu drehen, wußte sie, daß die T¨ ur verschwunden und durch Wand aus solidem Stein ersetzt worden war, die sie einschloß. gab keinen Fluchtweg mehr. Du meinst vermutlich den Sturm.“ Er sah sie an. So sag mir, welchen Gegenstand hast du ” ” mitgebracht, der eine solche Macht besitzt, solche magischen Kr¨afte, daß er die Elemente durch sein Erscheinen in Aufruhr bringt.“
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Das ist mein Geheimnis.“ Sie l¨achelte leicht. ” So?“ Er zuckte die Schultern. Macht nichts. Du kannst mich kaum u ¨berraschen, Kind, und was ” ” die Geheimnisse angeht, hast du keine vor mir, nicht einmal deinen K¨orper.“ Sie faßte das Schwert fester, und ihre Lippen wurden schmal. Ja“, f¨ uhr er fort, ich sehe, du erinnerst dich. Du hast immer besser ausgesehen als deine Mutter, ” ” und bestimmt warst du im Bett unterhaltsamer. Sollen wir es von neuem versuchen?“ Sie schlug mit dem Schwertgriff heftig auf die Tafel. Tischtuch, Holz, Silber und Speisen verschwanden in einem Lichtblitz. Zwischen ihnen war nichts mehr als ein St¨ uck Fußboden und ein Teppich. Wir werden etwas versuchen, ja“, stimmte sie zu, aber es wird nicht ganz das sein, was du erwar” ” test.“ Er erstickte ein gelangweiltes G¨ahnen. Wie du willst“, sagte er, und dann bewegte er eine Hand vor seinem K¨orper. Dabei verwandelte sich ” seine Robe in Metall, blutrot von Farbe, und in der einen Hand erschien ein Schwert aus dunkelstem Schatten — eine Todesklinge, deren bloße Ber¨ uh- rang t¨otete. Du hast immer noch eine Chance, dich zu ergeben“, warnte er sie. Schließlich ziehe ich dich ” ” lebendig vor. Aber wenn der Kampf einmal begonnen hat... Wenn der Kampf einmal begonnen hat“, fiel sie ein, werde dich meiner Mutter nachschicken.“ ” ” Wieder lachte er. Kleiner Dummkopf!“ Seine Worte klangen merkw¨ urdig laut, fast wie Donner. ” Wie sie w¨ahlst du den Tod. Dann sei es so.“ ” Die Fackeln gaben einen letzten Lichtblitz ab, und dann waren verschwunden, ebenso die Gobelins und der Kamin, sogar die tungsmauern. Sie standen auf einer weiten und leeren Ebene nter einem von Sternen besetzten Himmel. Und dann, in der ternenfurkelnden Dunkelheit, kam er auf sie zu. Sie zog sich zur¨ uck, machte die schnellen Gesten, die zus¨atzli- Licht erzeugen sollten, mehr als das Licht, das ihr Schwert ihr spendete. Um sie beide entstand ein gr¨ unliches Gl¨ ulien. Aber vas es enth¨ ullte, war nicht l¨anger menschlich. Was sie da aus der R¨ ustung mit h¨ollischen roten Augen atarrte, war ein Sch¨adel, ein Sinnbild des Todes. Die R¨ ustung selbst wirkte jetzt alt und rostig, und durch die L¨ ucken waren Knochen zu sehen. Die R¨ ustung hob das Schwert zum Zuschlagen. Und sie brachte das ihre mit blendender Geschwindigkeit nach vorn. Die beiden Klingen trafen sich mit Donnerschall. Feuer sprang ihnen hoch, und pl¨otzlich flammten Blitze um sie, umgaben sie mit gleißendem Licht. Keiner von beiden wich. Sie standeti bewegungslos, die Klingen inmitten der Flammen gebunden. F¨ ur einen Augenblick sah es aus, als seien sie gleichwertige Gegner. Dann zwang er ihre Klinge unausweichlich nach unten.
199 Nein!“ rief sie, dann ließ sie ihr Schwert sinken. Das andere krachte zu Boden. Winter f¨ uhr herum ” und schlug nach unten — zu sp¨at. Donnernd traf ihre Klinge die Erde, der Boden bebte von dem Aufschlag, aber er war bereits verschwunden. Du bist st¨arker, als ich es in Erinnerung hatte“, stellte er fest, sie aus n¨achster N¨ahe beobachtend. ” Auch schneller. Offensicht- lich ziehst du Kr¨afte aus einer anderen Quelle.“ ” Sie antwortete nicht, wandte ihm nur das Gesicht zu, das Schwert erhoben und kampfbereit. Dann schweige“, f¨ uhr er fort. Doch laß uns gerecht sein. Ich werde mehr von meiner eigenen Kraft ” ” einsetzen.“ Und dann st¨ urmte er auf sie zu, ein verwischter Fleck in der Dunkelheit. Die Schwerter klirrten, Schatten gegen Licht, und von neuem hallte der Donner um sie wider. Obwohl Winter die Attacke blockierte, steckte solche Gewalt dahinter, daß sie durch die Luft. geschleudert wurde und in einiger Entfernung zu Boden st¨ urzte. Er ließ ihr keinen Augenblick Zeit, sich zu erholen, lief ihr nach, das Schwert zum Todesstreich erhoben; aber diesmal war sie es, die sich duckte und ihre Klinge hochbrachte. Die Sch¨arfe traf auf die blutrote R¨ ustung ihres Stiefvaters u ¨nd schnitt tief hinein. Er stieß einen nichtmenschlichen Schrei aus, und tiefe Dunkel-. heit floß aus der Wunde. Aber zu Winters Schrecken setzte er . seinen Angriff fort, und seine Kraft und seine Geschwindigkeit waren ungebrochen. Die Klingen trafen sich von neuem, und die Flammen loderten u uck, ¨ber ihnen auf. Winter fiel zur¨ ¨ sowohl vor Uberraschung als auch durch die Wucht des Hiebes, und der Usurpator nutzte die Gelegenheit, seinen Angriff zu verst¨arken. Er schlug immer wieder zu, und jedesmal wich sie vor der Wut des Angriffs zur¨ uck. Ihre Gegenschl¨age hatten keine Wirkung, und zum erstenmal seit ihrer Ankunft begann sie sich zu f¨ urchten und ihren Plan in Zweifel zu ziehen. Verzweifelt rief sie einen Todeszauber herab — den, der Welten ersch¨ utttern konnte, eine ihrer st¨arksten Waffen — und schleuderte ihn auf ihren Feind. Ihr Stiefvater blieb unverletzt und begann zu lachen. Wir greifen also endlich zu Zaubern.“ Er warf die schwarze Klinge beiseite. Sie drehte sich aufw¨arts, ” f¨ unkelte und verschwand. Ganz wie du willst.“ ” Die Skeletth¨ande hebend, rief er die Dunkelheit vom Himmel herab, von den leeren Stellen zwischen den Sternen. Und die Schatten kamen herunter wie Klauen, schwarz und lang, bedeckten den ganzen Himmel oben und spreizten sich, als wollten sie sie vom Boden pfl¨ ucken. Winter wich zur¨ uck und zentrierte sich mit all ihrer Kraft darauf, Licht herbeizurufen, das weit u une Leuchten ringsum hinausging. ¨ber das gr¨
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KAPITEL 17. STURMBRINGERIN
Es gab eine Lichtexplosion von blendender Helle, und die sandte sie hinauf — eine Gegenkraft, einen Strahl reinster Energie. Er traf auf die sich herabsenkenden Schatten — jetzt voller Schuppen wie die Klauen eines großen Drachen -, und sie l¨osten sich in einem Feuerwerk aus Funken und Flammen auf. Doch ihr Stiefvater, inmitten der fallenden Flammen stehend, lachte nur. Ausgezeichnet, Tochter, f¨ ur einen ersten Zug.“ Er hob die rme u ¨ber den Kopf, als ziehe er etwas ” vom Boden hoch. Aber was willst du dagegen machen?“ ” Und der Boden hob sich in Tentakeln aus Eisen und Stein. Sie schlossen sich dicht u ¨ber Winter, bevor sie sich bewegen konnte, und einen Augenblick sp¨ater war nur noch ein Steinhaufen da, wo vorher eine Frau gestanden hatte. Er nalim seine wirkliche Gestalt wieder an und seufzte. Sein verdammtes Temperament. Er dachte, wie s¨ uß ihr K¨orper einmal gewesen war, und bedauerte, daß er sie nicht noch einmal w¨ urde ber¨ uhren k¨onnen. Zu schade“, fl¨ usterte er. Ein tragischer Verlust.“ ” ” Er setzte zu der Geste an, die ihn zur¨ uck in seine Festung, zur¨ uck in seine Welt bringen w¨ urde. Da stachen pl¨otzlich Flam- men vom Himmel herab, den Myriaden Sternen und Sonnen entzogen, und Feuer explodierte u ¨ber ihm. Von irgendwoher erklang Winters Lachen. Hast du geglaubt, es w¨ urde so leicht enden?“ kam ihre spottende Stimme aus den Flammen. F¨ ur ” ” wie schwach du mich halten mußt!“ Er antwortete nicht. Statt dessen machte er schnelle, verzwei- felte Gesten, doch das Feuer h¨orte nicht auf zu brennen. Schon gl¨ uhte es weiß. Es wird nicht so leicht ausgehen“, sagte Winter, oder hast du das schon entdeckt?“ ” ” Genug!“ br¨ ullte er. ” Und die Welt war verschwunden. Ebenso die Flammen und scgar die Sterne. Sie waren an einem dunklen Ort, wo Licht spielte wie Wind, wo keine Substanz unter ihren F¨ ußen war. Sie waren an einem Ort noch bar des Lebens, ungefonmt, einem Ort ohne Zeit und Gren- zen — einem Universum vor ihrem Beginn, in einer anderen zeit Winter war nichts als ein Schatten unter Schatten, und sie nahm auch ihn wahr. Und dann erschallte sein Gel¨achter, diesmal widerhallend wie in einem großen und leeren Raum. Wir duellieren uns also in urt¨ umlicher Dunkelheit“, sagte er, ohne sich sehen zu lassen. Und diesen ” ” Ort, Tochter, wird keiner von uns beiden verlassen, bevor es entschieden ist. Denn dies ist alles, was es gibt — f¨ ur dich, f¨ ur mich, f¨ ur diesen Augenblick. Dies ist alles.“ Winter z¨ogerte und traf dann eine Entscheidung. Sie zog du Juwel hervor, das ihr um den Hals hing, ein Ding aus hellem Licht. Es hatte sie viel gekostet, den Stein zu finden, die Lebe vieler, um ihn
201 zu erringen, aber´ f¨ ur seinen Preis gab es bessere Waffe. Sie faßte mit ihren Gedanken hinein, sp¨ urte dic Macht des Lebens, des Lichtes und der Sch¨opf¨ ung, und daraus zog sie neue Kraft, das beschwor sie herauf, damit bewirkte sie ihren gr¨oßten Zauber. ¨ Die Dunkelheit ballte sich schnell zusammen, die Jahre ten in Sekunden vorbei, Aonen waren in bloßen Augenblicker vergangen. Das erste Feuer glomm auf. Nein!“ h¨orte Winter ihren Stiefvater kreischen. Nein!“ Und doch ging es weiter. Eine gewaltige ” ” Explosion f¨ ullte Dunkelheit mit Millionen von Lichtern, die sich ausdehnte wuchsen. Die ersten Sterne waren geboren, ihnen folgten wes tere. Galaxien bildeten sich und Welten in ihnen. Winter sp¨ urte die Uranf¨ange des Lebens — tats¨achlich war sie es, die sie hervor- rief-, und der ganze Kosmos bl¨ uhte auf wie eine Blume im ersten Fr¨ uingsregen. Die Dunkelheit wurde beiseite geworfen, und wo nichts gewesen war, dort war jetzt Substanz. Und es ging immer noch weiter. Andere Welten traten ins Sein, die Feuerfunken flogen u ¨ber die große Dunkelheit und formten sich zu Spiralen und Sph¨aren wid unregelm¨aßigen Gebilden, und die Zeit rauschte immer schneller dahin. Und sie war die Sch¨opferin, die Duellantin, die G¨ottih, die Licht und Leben brachte und die Winde der Zeit herabrief. Es war ihr gr¨oßter Zauber, es bildete die Antithese zur Dunkelheit, zum Tod, zu ihm, und sie freute sich nicht dar¨ uber, denn es sah aus, als k¨onne er sie nicht aufhalten. Und dann wurde ihr klar, daß er nicht wollte. Winter h¨orte das sp¨ottische, triumphierende Lachen ihres Stief- Vaters. Stu´m sah sie zu, wie sich die Falle um sie schloß, die Sterne rot wurden. Alles, was sie getan, alles, was sie geschaffen hatte, wurde von dem Gift der Entropie befallen. Mit der Zeit w¨ urde alles zusammenbrechen, und um zu siegen, brauchte er ioß abzuwarten. Und das tat er, w¨ahrend die Sterne explodier- ßn, yerschwanden oder einfach schwarz und kalt wurden. Die ,it verrann, Jahrtausend auf Jahrtausend rauschte vor¨ uber, und dann war es vorbei, der Zauber war verbraucht, zerst¨ort, und iles war wie zuvor, leer und leblos und dunkel. Und immerzu schallten sein Lachen und die Echos dieses Lachens, bis die letzten Sterne verblaßten. Das Duell war zu Ende, die Waffen waren ersch¨opft. Weitere gab es nicht. Ein Licht blitzte auf. Sie waren wieder in der großen Halle, die Tafel kehrte zur¨ uck, ebenso die Gobelins und die anderen Dinge. Es war so, wie es zuvor gewesen war, außer daß Winter sich von Anstrengung schwach f¨ uhlte, w¨ahrend der Kampf ihrem Stiefter anscheinend u ¨berhaupt nichts hatte anhaben k¨onnen. Er trat vor und riß ihr das Juwel vom Hals. Es vor seinen in die H¨ohe haltend, l¨achelte er. Ein Sch¨opfungsjuwel“, stellte er fest. Außerordentlich selten. Es u ¨berrascht mich, daß du es ” ” gefunden hast und daß du wußtest, wie es zu benutzen ist.“ Sie schwieg. Besiegt senkte sie den Kopf, starrte auf den Boden.
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KAPITEL 17. STURMBRINGERIN
Ah“, fl¨ usterte er und ber¨ uhrte ihr Kinn. Seine H¨ande waren eiskalt. So viel Kummer, so viel ” ” Verlust in deinem Blick.“ Er zwang sie, ihn anzusehen. Aber falls es dir ein Trost ist“, f¨ uhr er fort, ich wußte von Anfang an, daß du das Juwel besaßest. ” ” Ich erkannte seine Kraft, obwohl du versuchtest, es vor mir zu verbergen, und so stellte ich die Falle auf. Du hast es dir selbst zuzuschreiben, daß du hinein- gelaufen bist.“ Er machte eine Pause. Sein L¨acheln war nicht angenehm. Und jetzt sieht es ganz so aus, als w¨ urde ” ich dich von neuem vergewal- tigen, meine Tochter.“ Er packte ihre R¨ ustung. In seinen H¨anden zerriß sie wie Sei- denpapier, entbl¨oßte eine Brust. Er griff nach ihr. Und da bewegte sie sich. Ihr schlanker Dolch, klar wie Eis, sch¨arfer als das sch¨arfste Rasiermesser, glitt aus seinem Versteck in ihre Hand, und bevor er reagieren konnte, senkte sie ihn tief in sein Herz. Er starrte sie an, versuchte zu sprechen und konnte es nicht. Sein Mund bewegte sich, aber nur Blut sprudelte hervor, und dann fiel er auf die Knie. Sie kniete sich neben ihn. Ich hatte gar nicht die Absicht zu siegen“, sagte sie und sah kalt seinem Sterben zu, nicht mit ” ” Zauberei. Ich wußte, das konnte ich nicht, nicht gegen dich. Doch ich wußte auch, daß du davon ausgingst, du werdest mich auf diesem Feld schlagen.“ Er zitterte jetzt, bebte. Es gelang ihm, den Kopf zu sch¨ utteln Die Frage stand in seinen Augen. Ich war deine Schw¨ache“, antwortete sie. Das und deine eigene Arroganz. Ich wußte, du w¨ urdest ” ” dein Verbrechen wieder- holen wollen.“ Pl¨otzlich riß sie den Dolch aus der Wunde. Das Blut str¨omte. Und ich wußte, du w¨ urdest niemals ” mit etwas so Einfachem wie einem Messer rechnen“, sagte sie, das so offensichtlich eine Waffe ohne ” Magie ist. Das war meine Falle.“ Sie hielt inne und setzte mit kaltem L¨acheln hinzu: Du hast es dir selbst zuzuschreiben, daß du ” hineingelaufen bist.“ Und schlitzte ihm die Kehle auf. Es war eine besondere Klinge, aus besonderem Glas gemacht. Sie teilte Fleisch wie Luft, Knochen wie Wasser. Der Schnitt trennte ihm beinahe den Kopf ab. Auf jeden Fall beendete er sein Leben. Er fiel vorw¨arts in ihre Arrne, und einen Augenblick sp¨ater waren da nur noch Staub und seine leere Robe. Sie hatte immer den Verdacht gehabt, er habe weitaus l¨anger gelebt, als es einem Sterblichen zusteht — einer der Vorteile der Zauberei-, und jetzt hatte sie die Best¨atigung, denn die Jahrhunderte hatten ihn end- lich eingeholt.
203 Langsam hob sie das Juwel auf. Dann warf sie das Messer weg. Es zerschellte mit kristallenem Klingen auf dem Fußboden. Sie drehte sich um, winkte mit der Hand, und die T¨ ur kehrte zur¨ uck. Draußen wartete Abraxas, den Kopf unter einen schwarzen Fl¨ u- gel gesteckt, als wolle er sich vor dem niederfallenden Regen verstecken. Er blickte hoch, als sie aus der T¨ ur trat. Sie wollte auf ihn zugehen, hemmte jedoch den Schritt an dem kleinen Grabmal dort im Hof. Sanft ber¨ uhrte sie den regennassen Stein — er war schrecklich kalt -, und f¨ ur einen Augenblick, nur eine Augenblick gab sie sich endlich den Tr¨anen hin. Mit ihnen kehrten ferne Erinnerungen zur¨ uck — an ein Kind, an eine gl¨ uck- lichere Zeit, an jemanden, den sie nur undeutlich erkannte, eine Fremde. Sie fragte sich: Konnte sie das sein? Und dann, immer noch weinend, wandte sie sich schnell ab und zog sich auf den gefl¨ ugelten Hengst, trieb ihn vorw¨arts und hinauf in die Nacht, bis sie nur noch ein Lichtp¨ unktchen waren, das einmal, zweimal kreiste ... Und dann in dem tobenden Sturm verschwand, um niemals wiederzukehren.
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KAPITEL 17. STURMBRINGERIN
Kapitel 18 Herrin der Mo ¨wen von Dave Smeds Herrin der M¨owen“ war eine jener Geschichten, die f¨ ur die Anthologie zu lang waren, aber ich ” wußte, der Autor ist professionell genug, um sie zu k¨ urzen. Schließlich hatte er die ausgezeichnete Geschichte Gullrider“ f¨ ur SWORD AND SORCERESS IV beigesteuert. ” In diesen Einf¨ uhrungen hacke ich vielleicht ein bißchen viel auf dem Professionalismus herum; ich habe so viel mit Amateuren und ihren amateurhafien Erg¨ ussen zu tun, daß es eine Erleichterung bedeutet, etwas zu bekommen, das durch und durch professioni ist. Was ist der große Unterschied zwischen dem Profi und einem Amateur? Ich habe viele Kriterien geh¨ort, aber meines ist, daß der Profi weiß, was er tut, und wenn der Amateur es richtig macht. es ein gl¨ ucklicher Zufall.
Gan fand das Baby im Schnee, wo seine Mutter es zur¨ uckgelassei hatte. In ein d¨ unnes Tuch gewickelt, schrie und zitterte das klein M¨adchen und erschreckte die Dohlen in den schneeschwer´ Zweigen der Kiefern. Wenn die V¨ogel auffiogen, rieselte auf ihr Gesichtchen — weiße Spuren, die sofort schmolzen una in wie Tr¨anen u ¨ber die Wangen liefen. Gan hob das Kind auf. Nicht sicher, wie er es halten sollte dr¨ uckte er es unbeholfen gegen seinen K¨orper. Neugebores Zwei oder drei Tage alt. Ein bißchen blau um die Lippen und Nasenspitze, aber nicht so kalt, daß es Schaden genommen hati Er kehrte dem Wind den R¨ ucken, wickelte es schnell aus, unt´ suchte es und deckte es wieder zu. Keine Deformierungen. sch¨ones, gesundes Kind. Es war also nur weggeworfen worde weil es das Hexengl¨ uhen hatte. 205
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An Gans Brust geborgen, h¨orte die Kleine auf zu schreien.. nbus aus Energie schwebte in der Luft um ihr K¨orperchen, ein sses lavendelblaues Strahlen, das im Tageslicht beinahe unsichtbar war. Von ihr str¨omte Magie ebenso un¨ ubersehbar aus, von den Geysiren in den nahe gelegenen H¨ ugeln die Dampfwolken in der frischen Winterluft aufstiegen. Der Zauberer hatte seine H¨ utte einfach verlassen m¨ ussen, so rauh das Wetter war, um nach der Quelle dieser Energie zu suchen. Dieses Kind sollte nicht sterben, schwor Gan. Eine solche Begabung durfte nicht vergeudet werden. Er wollte es aufziehen, wenn es das Ende seines Junggesellenlebens bedeuten sollte. Aber das Wichtigste zuerst. Sie brauchte eine Amme. Und vorher noch einen Namen; bekanntlich stehlen die Waldgeister Kinder, die keinen Namen haben. Kari“ murmelte er und schmeckte den Laut ab. Zufrieden ging er den Weg zur¨ uck, den er gekommen ” war. Kari h¨ upfte den Pfad zu ihrem Haus hinunter bis zu dem kleinen Teich, der an der H¨ utte vorbeipl¨atscherte. Hier zog ihr Vater Flußwurz und Goldlauch f¨ ur seine Tr¨anke. Sie tanzte u ¨ber die Schrittsteine und steckte den bloßen Zeh spielerisch ins Wasser. Dann segelte sie in die Werkstatt ihres Vaters hinein. Gan sah von vergilbten Pergament auf dem Tisch hoch und hob eine zottige, grau werdende Augenbraue. Du siehst aus wie der Austernfischer, der gerade eine seltene blaue f¨ ur seinen Kochtopf gefangen hat“, stellte er fest. Es ist nichts“, wehrte sie ab. Es war nur ein sch¨oner Tag.“ ” ” Er markierte die Stelle, die er gelesen hatte, mit einer Schneckenmuschel als Briefbeschwerer. Bist ” du oben bei den Eichen gewesen und hast Flachpilze gesammelt, wie ich es dir gesagt habe?“ ¨ Bei diesem Ton schwand Karis Ubermut wie ein Herdfeuer, mit Sand bestreut wird. Nat¨ urlich. ” Hier.“ Sie hielt ihm ihren Korb hin. Er sah hinein. Das sind l¨angst nicht genug f¨ ur das Elixier. Du h¨attest sie in einer halben Stunde ” sammeln k¨onnen. Was hat dich so lange aufgehalten?“ Kari seufzte. Sie war beinahe achtzehn. Warum bestand er darauf, sie wie ein Kind zu behandein? Ich habe im Dort haltge- macht.“ ” Ah. Um dich wieder mit diesem Jungen von Ortor zu treffen?“ ” Sein Name ist Ren. Und ja, ich habe mich mit ihm getroffen.“ ” Gans Gesicht verd¨ usterte sich. Setz dich!“ ” Den Schemel verschm¨ahend, ließ sich Kari auf den Fußboden plumpsen, zwischen allem, was in den letzten Monaten beim Zaubertrankbrauen, Weihrauchverbrennen und Beschw¨oren ah Abfall u ¨briggeblieben war. Ich sitze.“ ”
207 Das muß aufh¨oren. Du hast den ganzen Sommer dein Studium zu einer Farce gemacht.“ ” Ich wußte noch gar nicht, daß man im Z¨olibat leben muß, wenn man Zauberer werden will“, gab ” Kari zur¨ uck. Soviel ich geh¨ort habe, war das zu der Zeit, als du in meinem Alter warst, noch nicht ” so.“ Er sah sie a¨rgerlich an. Ich habe all diese Jahre nicht daf¨ ur geopfert, daß du mit dem ersten jungen ” Burschen davonl¨aufst, der dir sch¨one Augen macht.“ Nicht schon wieder. Wie oft hatte sie das Wort Opfer“ schon geh¨ort? Pa! Ich liebe Ren.“ ” ” Du kannst von dem Sohn eines gew¨ohnlichen Fischers nicht erwarten, daß er Verst¨andnis f¨ ur deine ” Beruf¨ ung aufbringt. Er will dich doch nur daf¨ ur haben, daß du seine Kinder zur Welt bringst und ihm den Haushalt f¨ uhrst.“ Das w¨are dann ja meine Sache, oder?“ ” Ich will es nicht haben!“ erkl¨arte Gan. Du bist zu H¨oherem berufen.“ Er wies auf den Korb. ” ” Jetzt geh und hol mir mehr Pilze!“ ” Kari ¨ofhiete den Mund und schloß ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Mit h¨angendem Kopf schlurfte sie hinaus. Kari strolchte am Strand uniher. Sie achtete nicht auf die herein- kommende Brandung, nicht einmal, als sie ihr um die Kn¨ochel sp¨ ulte und den Saum ihres Hemdes durchweichte. Die K¨ uste lag verlassen da. Die meisten gesunden Erwachsenen aus den nahen Weilern waren f¨ ur zwei Wochen draußen auf den Tiefen und ernteten den j¨ahrlichen Zug der Schellfische ab. Einschließlich Ren. Einen Tag, nachdem sie den Streit mit ihrem Vater gehabt hatte, war er hinausgefahren. Vierzehp Tage lang hatte sie keinen Anlaß zum Ungehorsam, und es herrschte ein ungem¨ utlicher Friede. Gan hatte immer viel von ihr erwartet. Aber warum sollte sie sich abplagen und Beschw¨orungen auswendig lernen, wenn ihr die Magie so m¨ uhelos zufiel? Sie hatte nur einen Monat gebraucht, um zu lernen, wie man Eisen aus seinem Erz lockt. Schon beim zweiten Versuch war es ihr gelungen, die Fl¨ohe aus ihrem Bettzeug wegzuzaubern, und beim zehnten konnte sie sie ins Herdfeuer springen lassen. In wenigen Jahren w¨ urde sie Gan u ugelt haben. Warum mußte sie so viel pauken, daß ¨berfl¨ sie gar kein Leben außerhalb der Zauberei mehr hatte? Du hast das Potential, Dinge zu tun, die seit Menschengeden- ken kein Zauberer mehr fertiggebracht ” hat“, pflegte ihr Vater zu sagen. Aber er erkl¨arte nie genauer, was das f¨ ur Dinge waren. Als sie ¨alter wurde, hatte sie erkannt, daß er die Antwort selbst nicht wußte, außer daß er ihr versichern konnte, sie habe diese Dinge bisher noch nicht getan. In einer Beziehung hatte er recht: Sie hatte ihr Studium ver- nachl¨assigt. Sie hatte die Verzauberung eines Angelhakens ver- dorben, einfach weil sie vergessen hatte, ihn in Salzwasser zu sp¨ ulen, bevor sie den Bann erneuerte. Den Vorgang hatte sie im Alter von zehn Jahren gelernt; f¨ ur einen solchen
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¨ KAPITEL 18. HERRIN DER MOWEN
Fehler gab es keinen anderen Grund als Mangel an Aufinerksamkeit. Und im letzten Jahr waren ihr hundert ¨ahnliche Schnitzer passiert. Auch was Rens Charakter betraf, hatte Gan recht. Andernfalls h¨atte seine Schelte sie nicht so getroffen. An der Landspitze erstieg sie die Klippe, stand zwischen Suk- kulenten und Stachelheide und blickte aufs Meer hinaus. Die Brandung schwappte ruhig ans Ufer. Mildes Wetter. Die Schellfi- sche w¨ urden in Scharen kommen. Der Wind preßte ihr das Hemd eng an die Waden, trocknete den feuchten Saum, spielte u u- tig damit. ¨berm¨ Die Sandkrabben und Riementangschoten leisteten ihr wenig- stens Gesellschaft, ohne sie zu kritisieren. Aber das war nicht genug. Sie w¨ unschte, der Wind w¨ urde sie mitnehmen. Sie w¨ urde so gern wegfiiegen. Ein Schatten zog u ¨ber sie dahin. Sie duckte sich. Eine große M¨owe nutzte den Aufwind, der von der Klippe hochstieg — ein großer, milchweißer Vogel. Zwei weitere M¨owen folgten, zu unterscheiden, weil ihre Fl¨ ugelkanten mit grauen Federn ges¨aumt waren. Sie landeten ein paar hundert Schritt oberhalb der Bucht. Kari sah ihnen fasziniert zu. Große M¨owen besuchten das Festland normalerweise dann, wenn St¨ urme sie hintrieben. Selten hatte sie Gelegenheit gehabt, sie an einem sch¨onen, klaren Tag mit Muße zu beobachten. Die drei V¨ogel hockten im Sand, die Schn¨abel nach oben gerichtet, und pr¨ uften die Brise auf Ger¨ uche. Gelegentlich taten sie ein paar Schritte oder schnappten gereizt nach den verh¨altni m¨aßig kleinen Seem¨owen, die sich dort herumtrieben. Aber die meiste Zeit standen sie strn, als wollten sie ihre Herrschaft u uste proklamieren. ¨ber die K¨ In Sagen hieß es, Persu aus dem s¨ udlichen K¨onigreich sei auf einer großen M¨owe zu seiner Wolkenstadt geritten, wo er fortan mit der K¨onigin der Nebel lebte. Andere Geschichten erz¨ahlten von k¨ uhnen M¨annern oder klugen Zauberern, die die V¨ogel einfingen und ritten. Der alte Onkel des Schiffszimmermanns behauptete, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie ein Mann an einem st¨ urrnischen Nachmittag auf einer M¨owe am Dorf vor- belritt. Wenn sie nun auf einer M¨owe ritte? Das w¨ urde Gan beeindruk- ken. Außerdem konnte eine große M¨owe sie wahrscheinlich zu den Tiefen hinaustragen, wo sie Ren zuwinken w¨ urde, und zur¨ uckbringen, bevor die Sonne unterging. In Augenblicken entschloß sie sich, es zu versuchen. Sie hatte einmal eine Eule aus ihrem Nest gelockt, damit sie sich eine Schwanzfeder nehmen konnte. Alle V¨ogel waren gegen- u ¨ber der gleichen Art von Zauber verwundbar. Kari nahm ihren Halsschmuck ab. Die frisch polierte Silberkette mit dem Auh¨an- ger aus blauem Quarz schinunerte im Sonnenlicht. Keine M¨owe, ob groß, ob klein, wurde einer solchen Verlockung widerstehen, wenn man sie ihr auf die richtige Weise nahebrachte.
209 Sie schritt zum Strand hinunter, ohne irgendwie Deckung zu nehmen. Die M¨owen legten die K¨opfe schief und be¨augten sie mit einer Vorsicht, die bei so einsch¨ uchternden Kreaturen u ¨bertrie hen wirkte. Kari sprach den Bann zuerst u ¨ber den reinweißen Vogel aus. Die M¨owe reagierte auf den Zauber langsamer, als es Eulen und Hausgefl¨ ugel getan h¨atten, aber allm¨ahlich richtete sie ein Auge auf das blitzende Schmuckst¨ uck. Ihr K¨orper wurde steif. Ihre Gef¨ahrten rutschten im Gegensatz dazu immer nerv¨oser umher. Als Kari in die ersten der Fußabdr¨ ucke trat, die die M¨owen im Sand hinterlassen hatten, schwangen sich die beiden V¨ogel mit den grauen Fl¨ ugelkanten kreischend in die Luft. Der weiße wartete gelassen. Am Rand seines Schattens z¨ogerte Kari eingesch¨ uchtert. Sie schwenkte die Halskette in einem Oval. Anfangs drehte die M¨owe den Kopf synchron mit dieser Bewegung, dann wurde sie still. Kari stieß den angehaltenen Atem aus und legte sich das Schmuckst¨ uck wieder um den Hals. Wenn der Bann f¨ unktic- nierte, hatte sie die M¨owe vollst¨andig hypnotisiert. Sie leckte sich die trockenen Lippen, beruhigte sich und rannte los. Sie kletterte hinauf und setzte sich auf den Schultern der M¨owe zurecht. Der schnelle Vogelpuls h¨ammerte gegen ihre Beine. Sie umklammerte mit jeder Hand ein dickes B¨ uschel Federn und hielt sich fest. Jetzt kam die eigentliche Herausforderung. Damit die M¨owe fliegen konnte, mußte Kari einen kleinen Teil des Banns zur¨ uck- nehmen. Andernfalls w¨ urde die M¨owe unbeweglich bleiben. Sie schw¨achte den Zauber. Die M¨owe wartete ruhig. Kari runzelte die Stirn und nahm noch ein bißchen weg. Die M¨owe blinzelte nur. Kari wollte den Zauber nicht noch weiter vermindern. Statt dessen ohrfeigte sie den Vogel und schrie ihn mit voller Lungen- kraft an. Als das keine Wirkung zeigte, lockerte sie den Schenkel- schluß und trat ihm mit den Fersen gegen die Kehle. Pl¨otzlich schoß der Vogel mit wilden Fl¨ ugelschl¨agen aufs Wasser zu. Kari konnte sich gerade noch rechtzeitig festhalten, um nicht mit einem Purzelbaum hinunterzufliegen. Jetzt war ihre Selbstsicherheit ersch¨ uttert, und sie verlor die Kontrolle u ¨ber den Bann. Die M¨owe stieg, von Aufwinden getr¨agen, in die H¨ohe und stieß ein ohrenbet¨aubendes Kreischen aus. Kari klammerte sich verzweifelt fest. Wie konnte ein so großes Wesen sich so schnell bewegen? Sie versuchte, den Zauber von neuem aufzubauen, aber der Vogel war viel zu aufgeregt, als daß mit Tricks etwas bei ihm zu erreichen gewesen w¨are. Die M¨owe flog landeinw¨arts, bockte. Eins von Karis Beinen glitt ab. Sie stiegen immer noch h¨oher hinauf, st¨ urzten dann pl¨otzlich hinab. Federn l¨osten sich in Karis H¨anden. Sie schwankte, begann abzurutschen. Die Furcht machte sie ganz ruhig. Keine Zeit, irgendwoanders Halt zu gewinnen. Statt dessen suchte sie in ihrem Inneren nach einem bißchen Zauberei, nach einer Inspiration, die sie oben halten w¨ urde.
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¨ KAPITEL 18. HERRIN DER MOWEN
Etwas explodierte in ihr, eine Flut von Kraft, wie sie sie noch niemals gesp¨ urt hatte. Einen Augenblick lang glaubte sie, das Mittel zu ihrer Rettung gef¨ unden zu haben. Aber ihr Sturz setzte sich fort, nach außen, von ihrem Reittier hinunter. Als sie sich vollst¨andig von der M¨owe gel¨ost hatte, drehte der Vogel den Kopf herum und hackte nach ihr. Die Schnabelspitze f¨ uhr ihr an der Seite des Unterleibs hinunter. Blut breitete sich f¨acherf¨ormig in der Luft aus. In all dem Schmerz spr¨ uhten Funken. Ein Ausbruch unheimli- cher Energie str¨omte w¨ utend summend u ¨ber der Wunde zusam- men. Dann ging das Ger¨ausch in Karis Schrei unter. ¨ Die Zeit blieb stehen. Unten wartete ein dichtes Tannenw¨ald- chen. Uber ihr zeichnete sich die M¨owe vor dem Himmel ab, Weiß auf Blau, den Kopf triumphierend zur¨ uckgeworfen. Dann fiel Kari der Erde zu, und der Wind riß an ihrem Hemd. Die Luft stieß mit kalten Messern in ihr offenes Fleisch, aber sie f¨ uhlte den Schmerz nicht l¨anger. Ihr fehlte die Zeit, ihm Auf- merksamkeit zu widmen. Sie brauchte einen besonderen Zauber, und sie mußte sich auf Anhieb genau daran erinnern. Sie wirkte den Zauber. Darauf verwoben sich die Zweige der Tannen und bildeten im Weg ihres Sturzes eine Reihe von Netzen. Sie traf die obersten Zweige. Sie wirkten kaum auf ihren Fall ein. Die zweite Ebene hielt sie f¨ ur einen Augenblick fest, die dritte ein bißchen l¨anger. Die vierte verringerte ihre Geschwin- digkeit auf die H¨alfte Das f¨ unfte und unterste Netz fing sie auf, wiegte sie und legte sie sanft auf ein Bett von Tannennadeln. Ihre Halskette, die sie w¨ahrend des Falls verloren hatte, landete neben ihrem Ohr. Der Schmerz kehrte zur¨ uck. Sie verlor das Bewußtsein. In Karis Traum erhob sich ein großer Krake aus dem Ozean und schnappte sie. Je mehr sie sich wehrte, desto fester quetschten sie die Tentakel und desto mehr mußte sie leiden. Wie seltsam, daß ich Schmerz empfinden kann, wenn ich doch tot bin, dachte sie. Das sagte ihr, daß sie tr¨aumte, und sie wachte auf. Bis hinunter zum Steiß tat ihr alles weh. Verb¨ande liefen genau u ¨ber die Stellen, wo der PhantomKrake sie festgehalten hatte. Ihre Kopfhaut juckte, als sei ihr Haar viele Tage lang nicht gewaschen worden, und sie stank nach Fieberschweiß. Schwaches Morgenlicht sickerte an den Kanten der Fensterl¨aden ein. Ihr Vater saß neben dem Bett. Als sie sich regte, blickte er hoch und zeigte ihr blutdurchschossene Augen. Er hatte noch nie so alt ausgesehen. Du hast mich gefunden“, murmelte sie. Du hast mich ge- heilt.“ ” ” Ja.“ ” Wie lange?“ fragte sie. ”
211 Vier Tage.“ ” Mehr brauchte er nicht zu sagen, um sie wissen zu lassen, daß er in dieser Zeit Schlachten geschlagen hatte. Sie wollte den Kopf heben, aber ihr fehlte die Kraft. Schlaf!“ sagte Gan. Zum erstenmal fiel ihr der gehetzte Aus- druck seines Gesichts auf. ” Was ist los? Hat die Heilung nicht geklappt?“ ” Doch, du bist außer Gefahr.“ Er schluckte. Kari“, begann er. Gerryjill ...“ ” ” ” Letzteres war ihr Erwachsenen-Name, den sie erhalten sollte, wenn sie vollj¨ahrig wurde. Noch nie hatte er sie damit angeredet. Sie k¨ampfte eine Welle der Ersch¨opf¨ ung nieder, denn jetzt mußte sie zuh¨oren. Das Leben ist zu kurz“, sagte er. Doch lebe deins, wie du willst. Als Magierin, als Fischersfrau — ” ” wie immer du dich ent- scheidest. Ich werde mich dir nicht in den Weg stellen.“ Drei N¨achte sp¨ater konnte Kari dem Impuls nicht widerstehen, aus dem Bett zu schl¨ upfen, obwohl ihr K¨orper jedesmal prote- stierte, wenn sie ihn drehte oder streckte. Sie tr¨aumte von dem Strand, von Wogen, die sich an Felsen brachen und sie mit salzi- gem Schaum k¨ ußten. Ein Sturm war im Anzug. Das wußte sie ganz genau, obwohl Magier f¨ ur gew¨ohnlich einen solchen Wettersinn erst erwerben, wenn Nebel, St¨ urme und feuchte Sommer ihre Knochen mit den Geheimnisse¨ u der Natur durchtr¨ankt haben. Ein guter Grund, im Bett zu bleiben. Als ob das Gesundwerden nicht als Rechtferti- gung gen¨ ugte! Aber nachdem ihr Vater sich zur¨ uckgezogen hatte, stand Kari auf und k¨ampfte sich in ihre Kleidung. Schmerz breitete sich von der gen¨ahten Wunde in einer messerartigen Welle aus. Kari erschauerte, blieb still stehen, bis der Schmerz nachließ, und gli dann verstohlen aus der T¨ ur. Graumond stand im Zenit, nahezu voll, und u ustenlandschaft mit seinen k¨ uhlen Strahlen. ¨bergoß die K¨ Weiter westlich f¨ ugte ein zunehmender Perlmond seinen bescheidenen Glanz hinzu. Sein von Kratern bedecktes Gesicht wurde teilweise von den herankommenden Wolken verdunkelt. Der Pfad zum Strand ließ sich m¨ uhelos erkennen. Bei jedem Schritt bebte Karis K¨orper — nicht vor Schmerz, obwohl sie Schmerzen litt. Vielmehr kribbelten ihre Glieder, als k¨onne sie die Energien darin nicht zur¨ uckhalten. Ihre Arme und Beine bekamen Auftrieb; die M¨ udigkeit der Rekonvaleszenz war vor¨ ubergehend gebannt. Wenn sie sich umdrehte und versuchte, in der anderen Richtung zu gehen, kehrte die M¨ udigkeit zur¨ uck. So langsam und m¨ uhselig sie auch vorankam, sie konnte sich dem Ruf nicht widersetzen. Da wartete etwas auf sie am Rand des Meeres. Mit trockenem Mund, mit pochender Wunde schob sie sich um die letzte Biegung und hatte den ganzen Strand vor sich liegen. Die weiße M¨owe stand auf dem Sand, die Federn vom Wind gezaust, und leuchtete beinahe vor dem Hintergrund von dunk- lem Wasser.
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¨ KAPITEL 18. HERRIN DER MOWEN
Ihr Blick hielt Kari fest. Kari zweifelte nicht, daß es der Vogel war, auf dem zu reiten sie versucht hatte. Sie trat zur¨ uck, einge sch¨ uchtert von seiner ehrturchtgebietenden, k¨oniglichen Haltung, aber der Vogel bewegte ich nicht. Ein Windstoß traf sie, und sie empfand wie ein Vogel den Drang, hochzusteigen, zu fliegen, dem nahen Sturm vorauszueilen. Es war, als sei es ihr eigenes Gef¨ uhl. Doch war es offenbar das der M¨owe. Karis Angst verdoppelte sich. Die Zunge der M¨owe schoß hervor, als schmecke sie von neuem das Blut, das sie ihr vor ein paar Tagen abgezapft hatte. Wieder empfing sie eine subtile Botschaft, wieder ausgespro- chene Vogel-Gedanken, vage, aber verst¨andlich. Der Vogel fragte, warum er da sei. Kari erkannte, daß er nicht aus eigenem Willen gekommen war. Als der Sturm ihn einmal aufs Festland getrieben hatte, war er ebenso wie sie vom Strand angezogen worden. Kari wußte darauf keine Antwort, aber die kl¨agliche Frage beseitigte ihre Panik. Sie z¨ogerte, dann hlelt sie ihre Halskette hoch. Hallo“, murmelte sie und versuchte, den Gruß auf die M¨owe zu proji” zieren. Noch ein Gedanke kam ihr, und sie illuminierte den Anh¨anger mit einem bißchen harmlosen HexenfeueF. Der Vogel trat zur¨ uck, lebhafte Unruhe in den tiefen schwar- zen Augen. Kari rief ihn von neuem, versuchte, ihn zu beschwich- tigen, aber er schwang sich kreischend himmelw¨arts und flog eilends die K¨ uste hinunter. Ein mentales Eackern von Angst und Verwirrung verweilte, lange nachdem er physisch verschwunden war. Mit ihm verschwand Karis u urliche Kraft. Die Anstren- gung des Ganges machte sich pl¨otzlich ¨bernat¨ bemerkbar, knickte ihr die Knie ein. Sie w¨are gefallen, h¨atte nicht ein Paar Arme nach ihr gegriffen. Sie drehte sich u ¨berrascht um. Es war ihr Vater. Er begegnete ihrem Blick mit dem gleichen stillen, gedankenverlorenen Aus- druck, den er seit ihrem Uufall st¨andig hatte. Was tust du hier?“ fragte Kari. ” Ich hatte einen Zauber auf dein Bett gelegt, damit ich infor- miert w¨ urde, wenn du es verließest.“ ” Sie riß die Augen auf. Du wußtest, dies w¨ urde geschehen? Warum hast du es mir nicht erz¨ahlt?“ ” Sie unter einem Arm st¨ utzend, geleitete er sie sorgsam zur H¨ utte zur¨ uck. Es war besser, daß du ” es selbst herausfandest. Das Ereignis, auf das ich all diese Jahre gewartet habe, ist eingetreten. Du hast einen Weg gef¨ unden, den Kern der Zauberei anzuzapfen, den ich in dir als Baby gesehen habe.“ Er seufzte. Ich h¨atte nie gedacht, daß du die Kraft f¨ ur einen Bindezauber benutzen w¨ ur- dest.“ ” Der Sturz!“ staunte sie. Als die M¨owe mich abwarf...“ ” ” Du sahst dem Tod ins Gesicht“, nickte Gan. Ein guter Grund f¨ ur deine tiefe Kraft, zu erwachen. ” ” Du versuchtest, dich selbst an den Vogel zu binden. Und es f¨ unktionierte, wenn auch nicht in der Weise, die du beabsichtigtest. Als ich dich heilte, wollte ich die Wirkung aufheben, aber es ging
213 nicht. Diese Magie geht u ¨ber meine F¨ahigkeit, Einfluß zu nehmen, hinaus. Das Band wird bis zum Tod bestehen, falls du nicht selbst einen Weg entdeckst, es loszuwerden.“ Der Wind begann in den Fichten zu heulen. Er war kalt und beladen von Nebel. Kari erholte sich schnell — schneller, als daß man es dem Heilzan- ber h¨atte zuschreiben k¨onnen. Eine Umwandlung fand statt. Zau- berei bewegte sich duich sie auf seltsame neue Weise. Gan sagte, er sehe deutliche Netze in ihrer Aura. Sie spielte mit der Energie, lernte allm¨ahlich, sie zu organisieren. Jeden Tag floß sie ein bißchen z¨ ugiger, kam ein bißchen mehr unter Kontrolle. Es mochte Jahre dauern, bis sie die Energie manipulieren konnte, wie sie wollte, aber in der Zwischenzeit d¨ unkte ihr gew¨ohnliche Magie ein Kinderspiel zu sein, und sie f¨ uhlte sich wie berauscht von M¨oglichkeiten zum Studium. Es reichte beinahe, ihre Furcht zu d¨ampfen. Sie f¨ uhlte die Pr¨asenz der M¨owe irgendwo draußen vor den K¨ usteninseln. In seltenen Augenblicken ertappte sie sich dabei, daß sie vom weiten Meer tr¨aumte oder von Nebelb¨anken, von oben gesehen. Dann erkannte sie das als von außen kommende Gedanken. W¨ahrend die Tage vergingen, geschah es immer ¨ofter. Am Ende der Woche begann ihre Narbe zu jucken. Ein Sturm kam. Mit ihm w¨ urde die M¨owe kommen. Sie ging zu ihrem Vater. Es ist Zeit“, sagte sie. Er nickte, nahm seinen Zauberbogen und die Pfeile ” und begleitete sie zum Ufer. Der Herbst malte die Gr¨aser braun und grau. Der starke, fruchtbare Geruch nach faulender Vegetation mischte sich mit der Salzluft der K¨ uste. Kari atmete tief ein. Sie liebte diese Jahreszeit. Vor einem Jahr war es an einem Tag wie diesem gewesen, daß sie und Ren ihre Liebe entdeckten. Die Erinnerung erschreckte sie. Seit ihrem Unfall hatte sie kaum noch an Ren gedacht. F¨ ur ihn w¨ urde es eine b¨ose Zeit werden, auf See w¨ahrend eines Sturmes; und das war nun schon der zweite, den die Schellfisch-Flotte u ¨ber sich ergehen lassen mußte. Kari hoffte, seinem Schiff werde nichts passieren. Alle Gedanken an ihn verschwanden, als sie den Strand erreichten. Die M¨owe wartete auf einem Felsen im Wasser. Sie senkte den Schnabel, als sie Kari sah, und betrachtete sie argw¨ohnisch, sich der F¨aden aus Zauberei bewußt, die den Abgrund zwischen ihnen u uckten. Gan legte einen Pfeil auf. ¨berbr¨ Kari widerstand dem Drang, sich in die Brandung zu st¨ urzen und sich dem Vogel beizugesellen. Das Gef¨ uhl war stark, fast wie ein Sirenenruf. Sie versuchte, den Fluß der Magie abzuschw¨a- chen, doch es gelang ihr nicht. Da ihr keine andere Wahl blieb, akzeptierte sie vorerst, daß es ihn gab. Der Vogel breitete die Schwingen aus und kreischte wie in einem Echo dieser Entscheidung. Er ist sch¨on, dachte Kari, seine glatten weißen Linien, seine starke Muskulatur, seine hellen, intelligenten Augen betrachtend.
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Seine. Versp¨atet kam ihr zu Bewußtsein, daß sie aufgeh¨ort hatte, an ihn als geschlechtslos zu denken. Er hatte sie irgendwie wissen lassen, daß er m¨annlich war. Szenen erschienen in ihrem Kopf. Sie sah eine große felsige Insel, viele Meilen vom Festland entfernt, wo große M¨owen in einem chaotischen Tanz kreisten. Als n¨achstes sah sie zwei Indivi- duen, die sich gegenseitig das Gefieder putzten. Schließlich kam das Bild eines Nestes. Eine der M¨owen legte ein Ei. Kari mußte lachen. Gan sah sie fragend an. Er h¨alt mich f¨ ur ein M¨owenm¨adchen!“ sagte sie. ” Der Zauberer sah krank aus. Dann schlage ich vor, daß du seinen Eindruck berichtigst!“ ” Der arme Vogel, dachte Kari. Er verstand den Grund nicht, aus dem sie zueinandergezogen wurden. Deshalb versuchte er, es sich mit anderen Banden zu erkl¨aren — solchen, wie sie zwischen ihm und seiner Gef¨ahrtin bestanden. Kari formulierte ihre Ant- wort vorsichtig. Sie hielt ein ¨ahnliches Bild f¨ ur das beste, deshalb stellte sie sich eine Frau mit einem Baby an der Brust vor. Der M¨owenmann reagierte, indem er den Kopf sch¨ uttelte, bis Federn flogen. Aber anscheinend begriff er die Botschaft. Seine Erwiderung bestand in kurzen Blicken auf junge Seehunde, die an ihrer Mutter tranken. So weit, so gut. Er verstand, daß sie weiblich und ein S¨augetier war. Was als n¨achstes? Namen nat¨ urlich. Ihr Name bedeutete Quelle“ in der alten Sprache — so ” u ¨bermittelte sie das Bild von reinem klarem Wasser, das aus der Erde sprudelte. Zu ihrem Entz¨ ucken antwortete er sofort und ganz deutlich: Er zeigte seinen eigenen Fl¨ ugel und betonte die milchweiße Farbe. Perlfl¨ ugel!“ rief Kari. ” Wie bitte?“ fragte Gan. ” Sie lachte vor sich hin. Wir haben uns einander gerade vorge- stellt.“ Sie gab ihm ein Zeichen, den ” Bogen wegzulegen. Nicht etwa, daß Perlfl¨ ugel aufgeh¨ort hatte, sie zu ¨angstigen, aber es war Zeit f¨ ur ein Gespr¨ach, nicht f¨ ur eine Konfrontation. ¨ Ren fand Kari auf den Uberresten eines alten Kais, der letzten Spur eines Herrenhauses an der K¨ uste. Vor einem Jahrzehnt war es von Seer¨aubern niedergebrannt worden. Dunkle Wolken hin- gen unheilverk¨ undend am Himmel, aber Kari stand unger¨ uhrt an den letzten Pf¨ahlen und beobachtete das Treiben von zehn großen M¨owen, die sich im Flutwasser tummelten. Es ist also wahr“, sagte er. ” Sie fuhr zusammen. Die Flotte war erst gestern abend von den Tiefen zur¨ uckgekehrt, un der Klang seiner Stimme, die sie vier- zehn Tage lang nicht mehr vernommen hatte, brachte Ereignisse und Gef¨ uhle zur¨ uck, die lange zur¨ uckz¨ uiegen schienen. Sie sprang u ¨ber eine verrottende Planke und fiel ihm um den Hals. Er erwiderte die Umarmung fl¨ uchtig.
215 Was ist los?“ fragte sie stirurunzelnd. ” Er wies mit dem Kinn nach den M¨owen. Die da. Mein kleiner Bruder hat dich letzte Woche gesehen, ” von der Klippe aus. Du redest mit ihnen!“ Sie trat auf Armesl¨ange zur¨ uck. Mit einem von ihnen. Manch- mal hat er interessante Dinge zu ” sagen.“ Ihr Liebster sah an diesem Morgen sehr h¨ ubsch aus. Sie bemerkte, daß er etwas in der Hand trug. Was ist das?“ ” Es war ein Pelz in schimmerndem Azur, und mit der Hand dar¨ uber zu streichen war ein sinnliches Erlebnis. Blauer Seeot- ter“, sagte Ren. Einer verfing sich in den Netzen. Wenn das Fell gegerbt ” ” ist, wird es einen sch¨onen Muff oder ein Paar Hand- schuhe f¨ ur dich geben.“ Es ist sch¨on“, sagte sie und wurde durch einen Gedanken Perffl¨ ugels abgelenkt. Eine graugespren” kelte M¨owe war ange- kommen. Offenbar billigte Perm¨ ugel ihre Anwesenheit. Kari ertappte Ren dabei, daß er sie anstarrte. Die M¨owen sind sehr freundlich, wenn man sie einmal ” kennengelernt hat“, erkl¨arte sie. Wie Hunde.“ Obwohl Hunde ihrer Meinung nach l¨angst nicht so ” intelligent waren. Sie greifen Schiffe an“, sagte Ren. ” Selten. Wenn sie sich tats¨achlich vorn¨ahmen, menschliche Wesen zu jagen, w¨ urden wir uns nicht ” mehr trauen, Segel zu setzen.“ Er wies auf den Strand. Sieh sie dir an! Sie benehmen sich sogar gegen ihresgleichen b¨osartig.“ ” In diesem Augenblick waren die meisten M¨owen dazut besch¨aftigt, in Tr¨ ummern herumzupicken, die die Brandung angesp¨ ult hatte. Drei Individuen zankten sich um ein großes St¨ uck Treibholz. Das ist ihre Art zu spielen“, sagte Kari. Man kann sie leicht dazu bringen, daß sie damit aufh¨oren.“ ” ” Sie sprach mit Perffl¨ ugel. Die weiße M¨owe kreischte. Das Trio stellte seinen Streit ein, sah ihn an und begann, das zerzauste Gefieder wieder in Ordnung zu bringen. Sie sind zu vielem f¨ahig“, berichtete Kari. Sie machen sich nur nicht oft die M¨ uhe, es uns zu ” ” zeigen.“ Sie wies auf Perffl¨ ugel. Er hat es mich gelehrt.“ ” Ren trat einen Schritt zur¨ uck. Er starrte sie an, als habe er bei den vielen Gelegenheiten, die sie zusanmengewesen waren, in ihr nichts als eine junge Frau gesehen und sehe jetzt nichts als eine Hexe. Geh nicht!“ bat sie beunruhigt. ” Fr maß ihren K¨orper mit einem verlangenden Blick, als sei es zun letzten Mal. Es wird bald regnen. ” Komm mit mir in die Stadt zur¨ uck!“ Der Sturm wird erst in etwa einer Stunde losbrechen. Ich m¨ochte bleiben.“ Er seufzte, sah voller Argwohn zu Perlfl¨ ugel hin¨ uber und wandte sich ab. Wie du w¨ unschst.“ ”
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Als er fort war, sp¨ urte Kari eine zaghafte Frage von Perlfl¨ ugel. Es hat nichts zu bedeuten“, sagte ” sie und gab sich M¨ uhe, ihre Gef¨ uhle nicht zu stark durchblicken zu lassen. Aber der Schmerz in ihrer Narbe versch¨arfte sich und blieb so, lange nachdem die Wolken ihre Regenlast ausgesch¨ uttet hatten. Ich werde Perlfl¨ ugel reiten“, sagte Kari. ” Gan zitterte, obwohl er entschlossen war, seiner Tochter zu vertrauen, was ihre Beurteilung der eigenen F¨ahigkeiten anging. Er h¨atte dich beinahe umgebracht. Ist euer Rapport so stark geworden?“ ” Sie runzelte die Stirn. Ich h¨atte gern mehr Zeit, aber ein l¨angeres Abwarten kann ich mir nicht ” leisten. Dieser Bindezauber - mich h¨alt er nachts wach, Perlfl¨ ugel verwirrt und ¨argert er. Wenn ich Perlfl¨ ugel nicht reite, wird die Sache außer Kontrolle geraten.“ Gan nickte widerstrebend. Das paßt zu dem, was ich beobach- tet habe. Aber es gibt eine andere ” L¨osung. T¨ote die M¨owe!“ Sie sah ihn kalt an. Besser das, als daß du selbst stirbst“, gab Gan zu bedenken. Ich habe nicht die Absicht zu sterben. ” ” Ich werde Vorsichts- maßnahmen treffen.“ Zum Beispiel?“ ” Ich habe einige deiner alten B¨ ucher gelesen. In Evids Helden steht eine Geschichte von einem Mann, ” der eine M¨owe ohne irgendwelche Magie z¨ahmte. Wie es heißt, war er sehr stark.“ Das trifft kaum auf dich zu.“ ” Nein, aber er machte sich eine Methode zunutze, auf die ich nicht gekommen w¨are: Er band sich ” auf den Schultern seines Reittiers fest und verwendete Zaum, Gebiß und Z¨ ugel, als reite er ein Pferd zu.“ Gans Besorgnis nahm ein bißchen ab. Willst du mir helfen, Zaumzeug anzufertigen, das groß genug f¨ ur eine große M¨owe´ ist?“ fragte ” Kari. Kari sandte ihre sondierenden Gedanken aufs Meer hinaus. Sie merkte nichts von der steifen Brise, die versuchte, ihr den Schal vom Hals zu wickeln. Gan lief auf dem Sand hin und her. Er trug das Z¨aumzeug. Perlfl¨ ugels charakteristische psychische Signatur erreichte sie, schwach und immer wieder unterbrochen, u ¨ber eine weite Strecke der sonnenbeschienenen Wellen. Kari konzentrierte sich auf die Quelle und rief von neuem. Es war ein Test. Noch nie zuvor hatte sie versucht, den M¨owenmann zu rufen. Wenn er jetzt kam, bei klarem Wetter, w¨are es ein Zeichen, daß er ihr auch in anderer Beziehung gehorchen mochte. Perlfl¨ ugel antwortete beinahe sofort. Er sprach sie mit ihrem Namensbild an.
217 Er komint“, sagte Kari zu Gan. ” Der Zauberer zog sich zu einem Spalt zwischen zwei Felsbl¨ok- ken zur¨ uck, damit das M¨adchen Perlfl¨ ugel allein begr¨ ußen konnte. Sie w¨ahlte eine Stelle weit weg von der Klippe, wo der Sand nach der Ebbe dunkel, schwammig und mit Tangst¨ ucken bestreut dalag. Der Vogel kam in Sicht. Kari hob ihren Anh¨anger. Perlfl¨ ugel erkannte das Glitzern, kreischte, glitt herab und landete ein paar Meter entfernt. Der dabei entstehende Luftzug h¨atte Kari bei- nahe umgeworfen. Perlfl¨ ugel be¨augte sie neugierig. Sie machte ihr Gehirn leer, verbarg ihre Absicht. Irritiert durch ihren R¨ uckzug, kratzte er im Sand. Kari schluckte, holte tief Atem und schwenkte noch einmal die Halskette. Eigentlich war es ein Witz: Diesmal war es schwierig, ihn mit dem Bann zu belegen. Doch sie wußte jetzt, wie stark Perlfl¨ ugel war und was es f¨ ur eine M¨owe bedeutet, frei und unbeschwert dahinzugleiten. Er klappte laut mit seinem Schnabel. Kari zit- terte, war sich v¨ollig klar dar¨ uber, wie schnell sie sterben w¨ urde, sollte er zuschlagen. Irgendwie gelang ihr die notwendige Konzentration. Das aufge- regte Flattern h¨orte auf, der Bann beherrschte ihn. Kari ließ den Anh¨anger fallen. Langsam wie ein arthritischer alter Mann senkte Perlfl¨ ugel seinen K¨orper auf den Sand. Karis Vater erschien. Die M¨owe ragte immer noch u ¨ber seinen Kopf auf, war jetzt aber niedrig genug, daß er ihr das Zaumzeug anlegen konnte. Kari achtete sorgf¨altig darauf, ihren Zauber unter Kontrolle zu halten, w¨ahrend Gan den Zaum u u- gels Schnabel schob und das Gebiß einsetzte. Die ¨ber Perlfl¨ Z¨ ugel bogen sich u ¨ber den riesigen Kopf. Kari ließ sich von ihrem Vater hinaufhelfen. Er zog den dicken Sicherheitsgurt um den K¨orper der M¨owe und reichte Kari die Enden. Der Schweiß brach ihr aus. Sie schnallte sie an ihren eigenen Gurt. Sie hatte das beste Leder benutzt, das aufzutreiben gewesen war, und es mit wirksamen Zauberformeln verst¨arkt. Ihr R¨ ucken w¨ urde weitaus eher brechen als die Gurte — ein unerfreulicher Gedanke, den sie aus ihrem Gehirn verbannte. Als sie festgezurrt war, winkte sie Gan zur Seite. Sie war soweit. Perlfl¨ ugels mentale Proteste wurden immer heftiger. Kari hatte geplant, ihn unbeweglich zu halten, ¨ bis sie seine Angste beschwichtigt hatte, aber jetzt machte sie sich Sorgen, jede wei- tere Verz¨ogerung werde ihn in Panik treiben. Sobald ihr Vater in Sicherheit war, l¨oste sie den Bann. Perlfl¨ ugel kreischte und raste in den Himmel hinauf. Kari f¨ uhlte, wie seine furchtbaren Muskeln sich unter ihrem Rumpf bewegten, und sie verlor alle Sicherheit. Die Verbindung war durchtrennt. Was sie aus Perlfl¨ ugels Gedanken lesen konnte, war nichts als Entr¨ ustung. Sie hatten kaum Gleitflugh¨ohe erreicht, als er sich drehte und bockte. Ihr Sicherheitsgurt zog sich straff und riß sie auf ihrem Sitz zur¨ uck.
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Sie zerrte an den Z¨ ugeln, zog in der Richtung, in der Perlfl¨ ugel sich drehte, hoffte, ihm die Initiative abzunehmen. Er ruckte einmal mit dem Kopf zur anderen Seite und riß ihr die Z¨ ugel v¨ollig aus den H¨anden. Sie flatterten u ¨ber die Wellen dahin. ¨ Schon sanken Karis Arme kraftlos nieder. Ihre Narbe schmerzte von der Uberanstrengung der Bauchmuskeln. Ob mit oder ohne Z¨ ugel — ihr fehlte die Kraft, mit ihm fertig zu werden. Ihr einziges Hilfsmittel war die Magie. Die Mauer aus Angst und Zorn, die Perlfl¨ ugel aufgerichtet hatte, wich nicht. Kari sandte ihm ein Bild zu, das heitere Gelas- senheit vermittelte, und begann gleichzeitig eine Beschw¨orung, die die Heftigkeit seiner Reaktionen d¨ampfen mochte. Perlfl¨ ugel wurde nur noch gewaltt¨atiger. Er kippte nach links, dann nach rechts. Kari gelang es, die Z¨ ugel zu ergreifen, gerade als er zum Sturzflug ansetzte. Sie zog mit aller Kraft, unterst¨ utzte ihre Bem¨ uhungen mit etwas Zauberei. Schließlich hob sich sein Kopf wieder. Perlfl¨ ugel zischte ein bischen herum und ging knapp u ¨ber den Wellen zum Horizontalflug u ¨ber. Kari keuchte. Ein Aufwind trug sie in wolkenlose H¨ohen. Perlfl¨ ugel schwenkte hierhin und dahin und sch¨ uttelte sich. Die Z¨ ugel drohten ihr trotz der dicken Handschuhe in die Handfl¨a- chen zu schneiden. Die Beschw¨orung hatte keine Wirkung. Er wehrte ihre Kon- trollversuche ab, als sei er ein MeisterMagier. Er war einfach zu groß und zu stark, als daß sie ihn h¨atte beeinflussen k¨onnen. Kari empfand die aufsteigende Panik wie einen kalten Knoten, der sich um ihre Narbe konzentrierte. Das hatte sie nicht vorher- gesehen. Perm¨ ugel hatte sich dem Bann so widerstandslos erge- ben, daß sie u ugig erweisen. ¨berzeugt gewesen war, er werde sich auch bei ihren anderen Zaubereien gef¨ Ihr Griff um die Z¨ ugel lockerte sich; die Finger hielten die Spannung nicht l¨anger aus. Sie ließ los und packte H¨andevoll Federn, dr¨ uckte sich an den Hals des Vogels, so eng sie konnte, und gab alle Bem¨ uhungen auf, seinen Flug zu lenken. Perlfl¨ ugel reagierte auf die Freiheit, indem er aufs Meer hinaus- flog. Die K¨ uste wurde zu einer schwarzen Linie. Kari st¨ohnte. Die M¨owe sch¨ uttelte sich wie ein nasser Hund, der aus dem Regen hereinkommt. Karis Z¨ahne schlugen zusammen und zer- bissen die Zunge. Wieder rettete nur der Sicherheitsgurt sie davor, abgeworfen zu werden. Die M¨owe sch¨ uttelte sich wieder und wieder. Beim vierten Mal schlugen Karis Glieder hoffnungslos um sich. Sie griff nach Federn, hielt sich fest, verlor den Halt von neuem. Die Ersch¨ utte- rungen nahmen ihr den Atem. Blaue Flecken entstanden auf ihrem Rumpf und ihren Oberschenkeln. Jetzt k¨ampfte sie nur noch darum, bei Bewußtsein zu bleiben. Ein u ullte ¨bler, bitterer Geschmack f¨ ihren Mund, ebenso wie an dem Tag, als sie abgest¨ urzt war, in den Sekunden, als die B¨aume zu ihr hochrasten.
219 Sie gab auf. Sie hing nur noch vom Sattel, ließ Perlfl¨ ugel tun, was er wollte, war kaum noch f¨ahig, ihr Entsetzen zu verbergen. Sie war u ussen. ¨berzeugt, sterben zu m¨ Hilf mir. Diese kl¨agliche Botschaft rang sie sich ab. Sofort stellte Perlfl¨ ugel das Sch¨ utteln und Bocken ein. Benom- men, fast im Schock reagierte Kari auf sein sanftes Dahingleiten erst mit Verwirrung, dann mit Unglauben. Eine Frage kam von Perlfl¨ ugels Verstand. Sie blinzelte. Er machte sich Sorgen um sie! Kari fluchte. Endlich d¨ammerte es ihr — das Mittel, Perlfl¨ ugels Barriere zu durchbrechen, war nicht Gewalt. Ihre Versuche, ihm zu befehlen, waren die Ursache seiner heftigen Reaktion gewe- sen. Sie h¨atte Vertrauen zu ihm haben sollen. Eine große M¨owe war niemandes Sklave. Jetzt, da sie aufgeh¨ort hatte, eine Dro- hung darzustellen, hatte er seine Verteidigungen mit Freuden fallengelassen. Bilder eilten von seinem Geist zu ihrem. In der ersten Szene flogen sie beide zu einer großen Insel am Horizont, die zweite zeigte sie u ¨ber offenem Meer dahingleitend, und die dritte schil- derte ihre R¨ uckkehr zur K¨ uste. Kari war u ¨berw¨altigt. Er wollte mit ihr fliegen. Sie konnte das Ziel ausw¨ahlen. Benommen bat sie ihn, das Festland anzusteuern. Die M¨ uhelosigkeit und Klarheit ihrer Kommunikation erstaunte sie. Aber als sie nachdachte, sah sie auch den Grund: Der Bindezauber hatte seine Wirkung getan. Sie waren jetzt, wenn man so sagen durfte, wie eine Hexe und ihr Schutzgeist. Nach und nach tauchte sie aus ihrer Benommenheit auf, beugte sich vor und griff wieder nach den Z¨ ugeln. Die M¨owe hatte nichts dagegen einzuwenden. Kari starrte die Lederriemen in ihren H¨anden an, ohne zu wissen, was sie damit machen sollte. SchileB- lich zog sie nach rechts. Nichts geschah. Sie verst¨arkte den Zug. Perlfl¨ ugel antwortete mit Ver¨argerung. Sie korrigierte sich. Wieder zog sie, aber diesmal projizierte sie gleichzeitig ein Bild von ihm, wie er nach rechts schwenkte. Perlfl¨ ugel tat es. L¨achelnd lehnte sich Kari zur¨ uck und sandte ein Bild, wie er langsamer wurde. Er gehorchte. Beide Male vollzo- gen sich seine Bewegungen nicht ganz synchron mit den Hilfen der Z¨ ugel, aber er hatte es begriffen. Er trillerte ihr seine Begei- sterung zu. Es war ein Spiel f¨ ur ihn geworden, diese Aufgabe, einen Reiter zu tragen. Er machte ihr Vorschl¨age, was sie im Lauf der Zeit alles tun k¨onnten — Bilder von der Jagd auf junge Kraken zum Essen in den Wassern der Tiefe oder vom Fliegen durch Wolken, wobei der Nebel sich als Perlen auf die Federn setzte wie Tautropfen auf ein Spinnennetz. Kari lachte. Ja, das alles wollten sie tun, versicherte sie ihm. Aber f¨ ur den Augenblick war sie ersch¨opft. Jetzt wußte sie, daß es getan werden konnte, und sie hatte eine Menge Zeit, das Reiten an einem anderen Tag zu u uste raste heran. Ihr Vater kam oben auf der Klippe in Sicht. ¨ben. Die K¨ Sie lenkte Perffl¨ ugel nach unten. Gan verzog das Gesicht, als er sah, wie steif Kari abstieg, aber seine Sorgen verflogen unter dem triumphierenden Schimmer in ihren Augen. Sie sah anders aus, hatte ein erwachsenes Auf- treten.
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¨ KAPITEL 18. HERRIN DER MOWEN
W¨ urdest du gern eine M¨owe reiten?“ fragte sie. ” Jetzt?“ entfuhr es ihm, und er warf Perm¨ ugel einen rnißtraui- schen Blick zu. ” Nein. Dies ist meine M¨owe. Aber ich k¨onnte dir helfen, eine andere zu z¨ahmen. In den Sagen wird ” davon berichtet. Wenn wir nun eine ganze Gruppe von Leuten zu M¨owenreitern heranbilde- ten?“ Die Worte u urzten sich. Wir k¨onnten die zahmsten, kooperativsten, intelligentesten M¨owen ¨berst¨ ” aussuchen. Vielleicht k¨onnten wir sie z¨ uchten, eine Rasse entwickeln, die Reiter akzep- tiert, wie es Pferde tun.“ Zu welchem Zweck?“ ” Kari wies mit den H¨anden auf das bekannte Land und das weite Meer hinter ihr. Um in nur einem ” Tag Botschaften vom Haus des K¨onigs zu den Lords der Provinzen zu transportieren. Um in Seenot geratene Schiffe zu finden und Hille f¨ ur sie zu holen. Um Heiler zu den Schwerkranken zu bringen. Da gibt es tausend Dinge!“ Es gibt Menschen, die einer großen M¨owe niemals trauen w¨ urden.“ Doch noch w¨ahrend er sprach, ” wurde Gan von Begeisterung gepackt. Hier war eine Herausforderung, die eines großen Magiers w¨ urdig war. Wir wissen es besser“, sagte Kari. ” Gan l¨achelte. Es war freundlich von Kari, im Plural zu sprechen, aber er wußte sehr genau, die Geschichte w¨ urde ihm nur einen kleinen Platz reservieren. Die Berichte w¨ urden von Gerryjill der Zauberin sprechen, der Frau, die die M¨owen z¨ahmte. Das Kind in der Schneewehe war erwachsen. Endlich sah er die Erf¨ ullung seiner Prophezeiung klar vor sich.
Kapitel 19 Die Flu ¨ chtlinge von Josepha Sherman Um eine ganz andere Definition des Wortes Amateur“ zu benut- zen, ist hier eine von einem Ama” teur geschriebene Geschichte - und ich meine damit jemanden, der etwas aus Liebe zur Sache tut und nicht unbedingt, um sich damit den Lebensunterhalt zu verdie- nen. Wir w¨aren alle Amateure, wenn wir k¨onnten, aber wenn man etwas lange genug tut, wird man auf jeden Fall zum Profi. Ihrer Technik nach ist Josepha Sherman nat¨ urlich ein Profi; ich habe ihre Geschkhte The Ring of Lifan.“ ” f¨ ur SWORD AND SORCE- RESS IV gekauft.
Zerah erstarrte, die Hacke in der Hand, und beobachtete das pl¨otzliche wilde Flattern der V¨ogel. Dann warf sie die Hacke hin und griff statt dessen nach ihrem Bogen. Jemand k¨ampfte sich durch den dichten Wald herauf. . . ein M¨adchen! Ein schlankes, junges, heilh¨autiges Ding in Seidenkleidern, die kaum f¨ ur die Wildass geeignet waren. Sie rannte, und eine Wolke hellen Haars flatterte hinter ihr her. Zerah betrachtete die Erscheinung ungl¨aubig und fragte sich, ob die Einsamkeit ihr nun doch den Verstand geraubt habe. Unsinn. Das junge Ding war wirklich. Außerdem war es offen- sichtlich allein und unbewaffnet, und Zerah ließ den Bogen sin- ken. Das M¨adchen kam stolpernd, Entsetzen in den Augen, zum Stehen, als es Zerah erblickte. Bin ich tats¨achlich so furchterre- gend geworden? dachte die Frau n¨ uchtern. Sie machte sich keine Illusion dar¨ uber, was das M¨adchen sah: Bestimmt keine große Sch¨onheit, sondern eine magere, kr¨aftige Gestalt in Wildleder, das kastanienbraune, mit Grau durchsetze Haar zu einem dicken Zopf geflochten, ein wettergegerbtes Gesicht, auf dessen Stirn die komplizierte blaue T¨atowierung noch deutlich zu sehen war. Nie hatte sie jemand sch¨on gefunden außer Raned, und Raned war... 221
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¨ KAPITEL 19. DIE FLUCHTLINGE
Aber jetzt stammelte, flehte das M¨adchen: O bitte, bitte, helft mir! Ich — Terach — Terach ist ” verletzt, ich kann ihn nicht weiter- bringen, und ich — wir... Warum starrt Ihr mich so an? Er ist verletzt! Er braucht Hilfe! Begreift Ihr das nicht?“ O Doch.“ Zerah h¨orte, wie rostig ihre eigene Stimme heraus- kam, rauh vom langen Nichtgebrauch. ” Habe nur lange keinen solchen Sturzbach von Worten mehr geh¨ort, das ist alles.“ Sie musterte ” das aufgeregte s¨ uße Gesicht kurz und wunderte sich, wie das M¨adchen es fertigbrachte´ trotz seiner Angst irgendwie k¨ uhl und makellos zu wirken. Eine Dame. Wer bist du?“ ” Das M¨adchen blinzelte. Ailetha, Tochter von ... Bitte, dar- auf kommt es jetzt nicht an! Terachs ” Wunde ist von neuem aufgerissen, und ich glaube, er weiß nicht einmal, was vor sich geht, und — und ohne Obdach wird er sterben!“ Wundersch¨one blaue Augen f¨ uhren wild in der kleinen Lichtung umher. Ist hier jemand?“ ” Ja, ich.“ ” Aber — aber diese H¨ utte?“ ” Meine.“ Zerah z¨ogerte. Sie w¨are lieber allein geblieben, doch... Kommt! Ich will mir Euren Terach ” ” ansehen.“ Er lag da, wo er zusammengebrochen war — auf halber H¨ohe des Berges, ein Haufen zerlumpter Seide. Terach“, schmeichelte das M¨adchen, ahh, Terach ...“ ” ” Das war ein Junge, mehr nicht, dem noch kaum der Bart sproß. Das braune Haar verfilzt´ die Augen geschlossen, die Atmung zu schnell, die Wangen zu rot. Wundfieber, daran gab es keinen Zweifel. Zerah zog vorsichtig die Fetzen dessen, was einmal eine teure Jacke gewesen war, beiseite, gespannt darauf, was sie fin- den w¨ urde. Tats¨achlich. Eine Speerwunde. Ein klaffender Spalt lief schr¨ag nach oben u ¨ber die Rippen. Das war die Arbeit eines Speers, der von unten und aus einiger Entfernung geworfen wqr- den war. ,Alles in allem betrachtet war es keine allzu schwere Verletzung, kein Zeichen einer Vergiftung, kein Geruch nach Tod. Aber Alletha hatte recht: Eine Nacht im Freien w¨ urde den Jungen wahrscheinlich das Leben kosten. Wer verfolgt euch?“ ” Ailetha blickte ruckartig hoch. Was meint Ihr?“ ” Junge Leute in Seide laufen nicht zum Spaß im tiefen Wald umher. Es werden ihnen auch keine ” Speere nachgeworfen. Wer verfolgt euch?“ Das M¨adchen kniff den Mund zusammen. Bringt Terach erst ins Haus. Dann werde ich alles ” erz¨ahlen, das verspreche ich.“ Von daheim durchgebrannt — das war klar. Zerah seufzte. Sie sah zornige V¨ater auf einer Verfolgungsjagd und ein Ende ihres Friedens vor sich. Nun, ihr Friede hatte bereits ein Ende gef¨ un- den, wenigstens vorerst. Ich will nicht schuld sein an dem Tod des Jungen. Bringen wir ”
223 ihn hinein.“ Sie bedachte Alletha mit einem grimmigen Blick, der einst, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, Feinde bezwungen hatte. Und dann, M¨ad- chen, wirst du mir alles erz¨ahlen.“ ” Terach, dessen Wunde ges¨aubert und verbunden war, sank auf Zerahs Bett in Schlaf. Ailetha beugte sich sch¨ utzend u ¨ber ihn und sprach murmelnd auf ihn ein. Zerah schnaubte. So jung Terach noch war — eine leichte B¨ urde war er nicht gewesen. Sie selbst schwitzte noch von der Plackerei. Und doch wirkte das M¨adchen immer noch so frisch und makellos wie zuvor. M¨adchen. Ailetha. Du kannst ihn im Augenblick ruhig allein lassen.“ ” Die blauen Augen sahen sie kalt an. Aber dann irrten sie ab, und Ailetha sah sich in dem einzigen Raum der H¨ utte um, als nehme sie ihn erst jetzt richtig wahr: die Feuerstelle, u ¨ber der Schwert und Dolch in Scheiden hingen, Tisch und Stuhl und sonst nicht viel auf dem gestampften Lehmboden. Eine Andeutung von etwas, das Verachtung sein mochte, huschte u ¨ber ihr Gesicht. Ich weiß, es ist einfach!“ Zerahs Stimme klang tonlos. Aber es ist sauber. Er wird sich hier kein ” ” Fieber einfangen.“ Ailetha zuckte zusammen. Verzeiht mir.“ Behutsam l¨oste sie sich von dem unruhig schlafenden ” Jungen und kam n¨aher, blieb aber außer Reichweite wie ein mißtrauisches Tier. Sie sah Zerah ins Gesicht. Ich habe Euch unsere Geschichte versprochen.“ ” Das hast du.“ ” Es gibt nicht viel zu erz¨ahlen. Ich — Kennt Ihr Lord Ereian? Nein? Ich ... bin seine Tochter. ” Terach ... ist nicht von hoher Stellung. Aber wir lernten uns kennen und — und verliebten uns ineinander und...“ Ihre Augen flehten. Mein Vater w¨ urde ihn umbringen, wenn er uns einfinge! Wir ” mußten fliehen. Er w¨ urde Terach t¨oten!“ Wer hat den Speer geworfen?“ ” Oh, das weiß ich nicht! Ich glaube, irgendein Bauer sah uns rennen und hielt uns f¨ ur R¨auber. Ich ” weiß es nicht! Terach...“ Er wird wieder gesund werden.“ ” Ahh!“ Das M¨adchen lief wieder zum Bett, beugte sich besitz- ergreifend u ¨ber ihn, wilde Entschlos” senheit im Gesicht. Terach...“ ” Zerah sch¨ uttelte den Kopf. Mit einemmal kam ihr die H¨ utte viel zu klein vor, da sie mit so vielen Leben gef¨ ullt war. Sie ging nach draußen, atmete die Irische Luft und die sauberen, wilden D¨ ufte ein. Aber die Waldv¨ogel flatterten schon wieder hoch. Die Muskeln der Frau spannten sich. Aus der Ferne klang Hufgetra pel her¨ uber. H¨atte ich mir denken k¨onnen. Der zornige Vater. Ailetha! ” Komm her!“
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Ich — ich h¨ore sie.“ Die Stimme des M¨adchens klang scharf vor Angst. Ihr m¨ ußt uns verstecken! ” ” Sie werden Terach t¨oten!“ Zerah ballte die H¨ande zu F¨austen. Ihr G¨otter, nicht noch mehr Blutvergießen, nicht hier! Komm ” wieder hinein.“ Sie r¨ uckte den Tisch zur Seite und scharrte mit dem Fuß u ¨ber die Erde, bis sie es gefunden hatte... Hier.“ ” Eine — eine Fallt¨ ur.“ ” Mein Keller. Und Hinterausgang. Keine Bange, ich habe ihn groß genug gebaut, daß man Luft ” bekommt. Ersticken kann man nicht.“ Terach...“ ” Ihr verschwindet beide nach unten. He, danke mir nicht. Hilf mir nur, deinen Jungen hinunterzu” schaffen. Puh, ist der schwer. So. Jetzt bleib, wo du bist, und verhalte dich ruhig.“ Sie schloß die Fallt¨ ur, scharrte schnell Erde dar¨ uber, rieb sie hastig so glatt wie den Rest des Fußbodens, sah sich dann in der H¨ utte um. -.Ah. Sie zog die Bettdecke zurecht. Dann nahm sie ihren Bogen und ging nach draußen, wo sie vorausschauend ein halbes Dutzend Pfeile mit der Spitze nach unten in den Boden steckte -,nahe zur Hand, falls sie sie in aller Eile brauchen sollte. Und dann wartete Zerah, einen Pfeil auf der Sehne und den Bogen halb gespannt. Da kamen sie. Acht....neun....zehn Reiter auf keuchenden, schweißbedeckten Pferden. Es war kein leichter Aufstieg f¨ ur die Tiere gewesen. Neun gutbewaffnete Wachen, Vertrauensleute. Sie erkannte den Typ auf der Stelle, durch ihre Ehre gebundene M¨anner, die ihrem Herrn treu sind. Und ihr ¨ Herr? Uber die erste Jugendbl¨ ute hinaus, ja, aber immer noch kr¨aftig und breit von Schultern. Haar und Bart in ergrauendem Schwarz wie ihr eigener Zopf, kantige Z¨ uge und k¨ uhle dunkle Augen. Eben blickte er u ¨berrascht drein, denn er bemerkte die Stirnt¨ato wierung, die Ailetha u ¨bersehen hatte, und erkannte sie. Seine M¨anner erkannten sie nicht. Einer von ihnen be¨augte den schußfertigen Bogen und schloß die Hand bedeutungsvoll um seinen Speer. Wirf nur!“ forderte Zerah ihn auf. Du wirst eher tot sein als ich.“ ” ” Das ist ihr Ernst“, sagte der Schwarzhaarige ruhig. Komm, Mann, siehst du nicht, daß du eine ” ” Chenri-Kriegerin vor dir hast?“ Er verbeugte sich h¨oflich im Sattel. Wir m¨ochten Euch nicht st¨oren, ” Lady.“ Dann unterlaßt es.“ ” Ah. Es war ein langer Anstieg, der durstig macht.“ ” Sie ruckte mit dem Kopf. Da ist der Brunnen. Haltet die Pferde aus meinem Garten heraus.“ ”
225 Er glitt aus dem Sattel, eine unerwartete H¨oflichkeit, da es sie beinahe auf eine H¨ohe brachte, und reichte einem Gefolgsmann die Z¨ ugel. Dabei hielt er die ganze Zeit die Augen auf Zerah gerichtet. Wir jagen einen Jungen und ein M¨adchen, Lady. . ” Um sie zu t¨oten?“ ” Nein!“ Sein Schreck mochte echt sein. Lady, ich bin Liern na Serai, der Bruder Lord Ereians. Sein ” ” Sohn wird vermißt, Terach, mein Neffe.“ Ereians Sohn? Zerah zuckte nicht mit der Wimper, aber ihr schoß die Frage durch den Kopf: Warum hatte Ailetha gelogen? Und das M¨adchen?“ ” Liern z¨ogerte. Ahh´ sie ist im Grunde niemand“, antwortete er endlich. Wenigstens in meinen ” ” Augen. Ein Dienstrn¨adchen oder jemandes Hofdame. Ehrlich gesagt, ich erinnere mich nicht, das M¨adchen jemals gesehen zu haben, aber offenbar war sie am Hof meines Bruders, und offenbar hat sie Terach kennengelernt, und ...“ Er zuckte die Schultern. Jetzt sind sie davongelaufen, ” wie es romantische junge Leute tun.“ Seine Augen trafen die ihren und forderten sie auf, seinen sarkastischen Humor zu teilen. Mein Bruder durchsucht die T¨aler nach ihnen, ich habe die H¨ ugel ” u ¨bernommen. Lady, auf halber H¨ohe des Berges sind Spuren, daß dort ungeschickte Menschen in aller Eile vorbeige- kommen sind. Ich bezweifle, daß es Eure Spuren sind.“ Sind sie auch nicht. Doch der Berg ist groß.“ ” Dann . . . dann habt Ihr sie nicht gesehen? Terach ist von mittlerer Gr¨oße, hat braunes Haar und ” die Anf¨ange eines Bartes, das M¨adchen ist, soviel man h¨ort, eine h¨ ubsche Blondine.“ Ein M¨adchen ohne den Schutz einer Familie. Oh, jetzt ergab Allethas durchsichtige Geschichte Sinn! Als Tochter eines Lords konnte sie Schutz verlangen. Als ein Niemand mußte sie um ihr eigenes Leben f¨ urchten, um das schnelle, ruhige Ersticken eines keimenden Skandals. Nicht auf meinem Land! dachte Zerah ent- schlossen. Ich nehme keine Fremden bei mir auf“ ” Ihre Augen bohrten sich mit dem alten, vielge¨ ubten Nachdruck in die seinen, und nach einer Weile wandte Liern mit der Andeu- tung eines Seufzers den Blick ab. Nun, dann danke ich Euch, Lady. ” Wir wollen Euch nicht l¨anger st¨oren.“ Aber er z¨ogerte, sah von neuem zu der blauen Stirnt¨atowierung hin, und sein kr¨aftiger K¨orper wirkte pl¨otzlich unbeholfen vor Unentschlossenheit. Ich ...“ Er brach ab, ¨argerlich u ¨ber sich selbst. Dann ” begann er von neuem. Lady, es gibt da etwas, das ich gern mit Euch diskutieren w¨ urde. Wenn ich ” darf.“ Sprecht!“ ” Er streifte seine wartenden M¨anner mit einem Blick. Vor so vielen Ohren zum Zuh¨oren? K¨onnen ” wir drinnen miteinander reden?“
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Versuchte er, herauszufinden, ob sie Terach drinnen versteckt hatte? Oder ging es um etwas anderes? Zerah stellte belustigt fest, daß sie ihre Neugier noch nicht ganz abgelegt hatte. Nun, die Kellert¨ ur war gut versteckt; sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, daß er die jungen Leute finden k¨onnte. Und sie war ja gewiß kein dummes kleines M¨adchen, das sich f¨ urchtet, mit einem fremden Mann allein zu sein. Tretet ein!“ ” Seinen schnellen Augen entging nichts, und ihr ehrlicher Blick sagte, daß in ihm weder Verachtung noch Herablassung wohnte. Liern trat vor die Feuerstelle, sah zu Schwert und Dolch hoch, die dar¨ uber hingen, ließ ein verbl¨ ufftes kleines Lachen h¨oren und streckte eine Hand nach dem Griff des Dolches aus. Laßt das!“ ” Aber — ein Steindolch? Ihr kennt die alten Geschichten, in denen es heißt, steinerne Messer k¨onnten ” t¨oten, was von Metall nicht umzubringen ist?“ Ich kenne sie.“ Blitzartig stieg ein Bild von Raned vor ihr auf, dem lachenden, goldenen Raned, der ” ihr mit einer halb scherzen- den kleinen Verbeugung den Dolch reichte und sagte, jetzt sei sie gegen jedes Unheil gut bewaffnet . Gegen jedes Unheil bis auf das Leid. Ihr wolltet mit mir sprechen. Sprecht !“ ” Ah. Ich weiß etwas u ber den Chenri-Clan, Lady, sein Geschick mit den Waffen, seine Ehre und daß ¨ ” seine Mitglieder sich nur von jemandem anheuern lassen, dessen Sache sie f¨ ur gerecht halten.“ Das ist allgemein bekannt.“ ” Warum Ihr den Clan verlassen habt, geht mich nichts an. Aber ich weiß, daß es in Ehren geschehen ” ist. Andernfalls w¨aret Ihr nicht mehr am Leben.“ Er hielt inne. Ihr ausdrucksloses kaltes Starren schuf ihm Unbehagen. Es geht mich ebensowenig etwas an, warum Ihr dieses Exil gew¨ahlt habt. ” Aber...“ Was versucht Ihr zu sagen? Daß eine Chenri ein zu wertvolles Werkzeug ist, um es verrosten zu ” lassen? Daß ich mit Euch den Berg hinabziehen sollte, um wieder eine Kriegerin zu sein, diesmal f¨ ur Euch und Euren Bruder?“ Sie hielt inne, erschrocken u ¨ber ihren eigenen Ausbruch. Ich habe die ” Chenri verlassen“, erkl¨arte Zerah, weil ich des Todes m¨ ude geworden war.“ ” Sie h¨atte schw¨oren k¨onnen, in den dunklen Augen Sympathie aufblitzen zu sehen. Es gibt andere ” Dinge im Leben als den Krieg, Lady! Mein Bruder w¨ urde Euch in jeder Stellung, die Ihr w¨ahltet, willkommen heißen. Als Lehrerin im bewaffneten Kampf vielleicht, im Bogenschießen, im Heilen — was auch immer. Ihr w¨ urdet niemandes Dienerin sein. Niemandes Werk- zeug.“ Ihr geht großz¨ ugig mit dem Willkommen Eures Bruders um. Warum?“ ” Ich kenne ihn. Er empfindet hohe Wertsch¨atzung f¨ ur die Chenri, ebenso wie ich. Und... er haßt ” Verschwendung ebeuso wie ich.“ Liern trat einen Schritt n¨aher, musterte sie. Es beunru- higte
227 Zerah, daß sie sich der W¨arme seines K¨orpers, des gesun- den M¨annergernchs so stark bewußt war — und des Mitleids. Um wen Ihr auch trauert“, murmelte er, er war Euer w¨ urdig. Aber, Lady, ich ” ” glaube nicht, daß es sein Wunsch gewesen w¨are, Ihr solltet seinetwegen auf die Welt der Lebendigen verzichten.“ Geht!“ ” Wie Ihr wollt.“ Liern hielt sich noch lange genug auf, um einen Ring von seiner Hand zu ziehen. ” Er tr¨agt mein Siegel. Behaltet ihn. Denkt dar¨ uber nach, was ich gesagt habe. Und solltet Ihr Euch ” jemals entscheiden, Euren Berg zu verlassen, werdet Ihr bei uns einen ehrenvollen Platz finden.“ Er hielt ihr den Ring hin, aber Zerah hielt die Arme steif an den Seiten und machte keine Bewegung, ihn zu nehmen. Nach einer peinlichen Pause legte der Mann ihn statt dessen auf den Tisch. Ich ” muß meine Suche fortsetzen, Lady, guten Tag.“ Er verbeugte sich und ging. Zerah trat an die T¨ ur, sah ihm nach, haßte ihn daf¨ ur, daß er die unter so viel Schmerzen errun- gene Ruhe gest¨ort, daß er vergangenes Leid von neuem heraufbe- schworen und daß er sie an die Welt erinnert hatte. Sie wartete, bis die erschrockenen Waldv¨ogel sich alle wieder niedergelassen hatten und ihrso mitteilten, daß Liern und seine M¨anner endg¨ ul- tig fort waren. Dann riß sich Zerah grimmig zusammen und ging im Haus, um Terach und Ailetha wieder ans Tageslicht zu holen. Mit der Genesung des Jungen ging es nicht recht vorw¨arts. Seine Wunde heilte anscheinend gut, aber das Fieber wollte nicht wei- chen. Er nahm nur Ailetha wahr und rief nach ihr. Zerah sch¨ uttelte den Kopf, dachte an das Schlachtfeldfleber und innere Infek- tionen. Wenn das noch lange so weiterging, w¨ urde sie die Wunde wieder ¨offnen und den Eiter abziehen m¨ ussen. Was das M¨adchen anging... st¨andig kringelte sie sich um ihn wie eine Katze mit nur einem Jungen. Zerah sprach ihren Gedan- ken laut aus. Du hilfst dem Jungen bestimmt nicht, wenn du ihn erstickst.“ Das trug ihr einen Blick reinsten ” Abscheus ein. Das versteht Ihr nicht! Ich liebe ihn, ich liebe ihn so! Wenn er stirbt, werde ich auch ” sterben!“ Wer hat etwas vom Sterben gesagt?“ ” Er darf nicht sterben! Ich lasse es nicht zu!“ ” Sei nicht dumm!“ Das kam zu scharf heraus; Allethas Beses- senheit ging Zerah allm¨ahlich auf die ” Nerven. Ach, Raned, habe ich mich deinetwegen auch einmal so aufgef¨ uhrt? G¨otter, bin ich jemals so. . . jung gewesen? seufzte Zerah. Komm“, sagte sie, diesmal beinahe sanft. Laß ihn in Ruhe. ” ” Schlafe. Es n¨ utzt ihm doch nichts, wenn du zusammenbrichst.“ Ich bin nicht m¨ ude.“ ”
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Man konnte es ihr glauben. Irgendwie wirkte ihre helle Sch¨onheit so frisch wie immer. Unzerknittert, Ungezeichnet. Und f¨ ur einen Augenblick witzelte Zerah in Gedanken mißmutig mit sich selbst u ¨ber Bluttrinker, f¨ ur immer jung... Geschmacklos. Geschmacklos, wenn Terach trotz Allethas Flehen an der Schwelle des Todes stand. Eifers¨ uchtig! schalt Zerah sich. Du bist eifers¨ uchtig auf sie! Komm, ” Ailetha, es ist sp¨at. Nun komm schon, M¨adchen. Das hilft keinem von euch beiden. Laß Terach jetzt schlafen, und leg dich hin.“ Als Ailetha kein Zeichen von sich gab, daß sie es auch nur geh¨ort hatte, nahm Zerah das M¨adchen bei den Schultern, ganz: sanft, aber Ailetha entzog sich schnell ihren H¨anden und fuhr sie w¨ utend an: Laßt mich in Ruhe! Laßt uns beide in Rnhe!“ ” Zerah zuckte die Schultern. Sie ¨offnete die T¨ ur der H¨ utte, stellte sich in den Eingang, blickte in den Wald, der hell war von kaltem Mondschein, und dachte an Raned, so weh es ihr tat. Doch dann riß sie pl¨otzlich den Kopf hoch. In die Erinnerungen an Raned hatte sich... was gemischt? Was war ihr vorhin selt- sam vorgekommen, als sie Allethas Haut ber¨ uhrte? Was war an dieser sauberen, k¨ uhlen Sch¨onheit, zu sauber, zu k¨ uhl... O nein, nein. L¨acherlich! Die Eifersucht vernebelt ” mir den Ver- stand!“ Und doch, und doch... Leise kehrte Zerah in die H¨ utte zur¨ uck, unbemerkt von der Koseworte murmelnden Alletha. Leise nahm sie den Dolch mitsamt der Scheide von der Wand. Sie zog die d¨ unne, sch¨one Feuersteinklinge, die warm im Licht des Feuers schimmerte. Ailetha.“ ” Der blonde Kopf wandte sich ihr scharf zu. Und dann sprang Ailetha weg von Terach, weg von Zerah, die Augen vor Entset- zen aufgerissen. Was macht Ihr da? Seid Ihr verr¨ uckt geworden? Nehmt ” dieses — dieses Ding von mir weg!“ O nein“, seufzte Zerah. Durchaus nicht verr¨ uckt. Und auch nicht im Irrtum, oder?“ ” ” Was meint Ihr? Terach ...“ ” Nein. Ich lasse dich nicht wieder in seine N¨ahe.“ ” Ihr seid tats¨achlich verr¨ uckt! Verr¨ uckt!“ ” Ailetha schoß auf den Jungen zu, aber Zerah war schneller. Die d¨ unne Steinklinge schimmerte zwischen ihnen. Ailetha stieß einen scharfen, unartikulierten Schrei aus und wich zur¨ uck. Irre! ” Vertrocknete, nutzlose alte Irre! Ich — ich werde dich t¨oten!“ Kannst du nicht. Du hast deine ” ganze Kraft an Terach gebun- den. Wenn du stirbst´ ist er frei. Aber wenn er durch etwas anderes als deinen Willen stirbt — stirbst du auch. Ha, deshalb jagte dir die Speerwunde ein solches Entsetzen ein! Habe ich recht? Du sahst deinen eigenen Tod darin.“ Nein! Du — nimm das weg!“ ”
229 Bevor Zerah sie fangen konnte, war sie draußen auf der kleinen Lichtung, keuchte in der k¨ uhlen Nachtluft. Laß mich gehen. Ich habe nichts B¨oses getan.“ ” Mir nicht. Aber Terach . . ” Ich habe ihn nicht verletzt!“ ” Du hast ihm St¨ uckchen f¨ ur St¨ uckchen seinen Willen gestoh- len, und dann sagst du, du habest ihn ” nicht verletzt? Du ern¨ahrst dich von seiner Essenz — kein Wunder, daß er sich von dem Fieber nicht erholt! Du hast ihm dazu keine Kraft u ¨briggelassen!“ Das — das ist nicht wahr!“ ” Oh, M¨adchen, du verletzt ihn nicht, du t¨otest ihn!“ ” Nein! Ich — ich liebe ihn!“ ” Wie das Raubtier seine Beute liebt.“ ” Nein!“ ” Was bist du, Ailetha? Nicht menschlich, soviel weiß ich.“ ” Was f¨ ur ein l¨acherlicher ...“ ” Aber eine gute Imitation. Du hast sogar mich get¨auscht. Die Leute am Hof zu t¨auschen, muß leicht ” gewesen sein, weil da immer welche kommen und gehen. Wo Damen keinerlei Arbeit tun, bei denen ihnen der Schweiß ausbrechen k¨onnte.“ Das ist doch sinnloses Gerede!“ ” Wirklich? Denke nach. Kein Schmutz, keine Andeutung von Schweiß, nicht einmal, nachdem du ” mir geholfen hattest, Terach den halben Berg hochzutragen. Anfangs kam ich nicht darauf. Aber eben, als ich versuchte, dich von dem Bett wegzuziehen, bin ich dir das erste Mal nahe gekommen. Ich habe einen sehr schar- fen Geruchssinn. Und weißt du was? Du riechst nach gar nichts, Ailetha, nach absolut gar nichts. Du bist eine Serenin, nicht wahr?“ Nein!“ ” Du kennst das Wort? Seltsam. In dieser Gegend sind sie nicht h¨aufig, die schlauen, hungrigen ” Dinger.“ Und — und wieso weißt du von ihnen?“ ” Ach, die Chenri sehen auf ihren Reisen alles m¨ogliche.“ Und da hatte es einmal einen gegeben, vor ” langer Zeit, als sie noch schmerzhaft jung gewesen war, einen mit dem Aussehen eines Menschen, glatt und sch¨on und ganz geruchlos. Raned hatte ihn erschlagen, bevor er ihr wirklichen Schaden zugef¨ ugt hatte, vor ihren verwirrten Augen erschlagen. So hatten sie sich kennenge- lernt, und Raned
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war voller Zorn u ¨ber eine Chenri gewesen, die sich von einem Essenz-Stehler hereinlegen ließ. Komm ” schon. Habe ich recht?“ Pl¨otzlich sackte Ailetha zusammen. Das verstehst du nicht“, murmelte sie. Es war nie meine ” ” Absicht, ihn zu lieben. Aber Terach war so s¨ uß, so sauber. Er verlockte mich so sehr, daß ich mich sogar an seines Vaters Hof wagte. Ahh´ es war so einfach, mich als eine von ihnen unter die Leute zu mischen, unter all diesen ahnungslosen Seelen zu jagen, bis ich den einen fand, den ich haben mußte!“ Und du behextest den Jungen, damit er mit dir durchbrannte. Du wolltest ihn ganz f¨ ur dich, nicht ” wahr? Deine s¨ uße Beute. Bis dieser Bauer und sein Speer dir den Spaß verdarben.“ Nein, du verstehst das falsch! Ich liebe ihn!“ ” Ich will dir etwas sagen, Serenin. Dies ist deine Chance, es zu beweisen. Du behauptest, Terach zu ” lieben? Dann bringe seinet- wegen ein Opfer: Laß ihn gehen. Verlasse ihn.“ Ailetha holte unter Schluchzen Atem. Nein, o nein! Hast du nicht zugeh¨ort? Hast du nicht ein ” Wort verstanden? Terach geh¨ort rnir, mir! Ich liebe ihn, und ich werde niemals von ihm lassen, und wir werden auf immer und ewig gl¨ ucklich sein...“ Bis du ihn t¨otest.“ ” Nein!“ ” Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Serenin. Du saugst Terach aus, einfach indem du bei ihm bleibst. ” Du wirst ihn t¨oten.“ Das werde ich nicht! Das werde ich nicht!“ Die blauen Augen flehten. Gib mir eine Chance! Bitte! ” ” Laß mich in Ruhe!“ Wie leicht war es, nichts als ein verangstigtes junges M¨adchen zu sehen! Wie leicht war es, die Wahrheit zu vergessen. Zerah seufzte. Du weißt, das kann ich nicht tun“, sagte sie leise. Gib dem ” ” Jungen sein Leben zur¨ uck. Verlasse ihn.“ Nein, ahh nein! Was stimmt nicht mit dir? Warum bist du so — so kalt? So herzlos? Du haßt ” schon den Gedanken an Liebe, nicht wahr? Ja, nat¨ urlich, das ist es! Du haßt schon den Gedanken an Liebe und an Liebende! Alles nur, weil dein eigener Mann tot ist!“ Zerah erstarrte. Woher... wie kannst du das wissen?“ ” Ich weiß es, es strahlt von dir aus! Darum haßt du mich, nicht wegen Terach. Terach bedeutet dir ” nichts! Du haßt mich, weil du — mich beneidest!“ L¨acherlich!“ ” So ist es! Deine Liebe ist tot, und deshalb bist du fortgerannt, um dich hier oben zu verstecken! ” Aber mein Liebster lebt! Und du wirst ihn mir nicht wegnehmen!“
231 Die blauen Augen fingen sie ein, hielten sie fest. Die blauen Augen waren pl¨otzlich sehr groß, sehr kalt, sehr fremdartig. Dummkopf! schrie Zerah sich an, doch es war bereits zu sp¨at. Sie sah nichts anderes mehr als diese Bl¨aue, diese kalte, kalte Bl¨aue und dahinter eine Spur der Leere... Aber jetzt... Raned, ahh Raned! Der Schrei war nicht weniger qualvoll, weil er stumm war. Denn da war er, vor ihrem geistigen Auge durch ihre Erinnerung oder einen Serenin-Trick ganz deutlich heraufbe schworen, so warm, so liebevoll, so lebendig, wie er es damals gewesen war. Raned, Raned, die langen goldenen Tage, wir beide zusammen, lachend durch Schlachten, unrerer selbst sicher, unver- wundbar, unbesiegbar. Bis zu dem pl¨otzlichen Pfeil und dem Ende der Freude. Zerah zwang sich, sich auch daran zu erinnern, und kehrte mit einem schmerzhaften Ruck in die Wirklichkeit zur¨ uck. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, in die Vergangenheit zu wandern, und verdammt wollte sie sein, wenn sie es noch einmal zuließ, daß Ailetha ihre Erinnerungen gegen sie verwandte! Ich habe ihn in Wahrheit sterben gesehen. Wie kann mich etwas, das du heraufbeschw¨orst, schlimmer verletzen als das? Aber wieso konnte eine Serenin mit Emotionen spielen? Sie hatte wegen Terach geschluchzt und gefleht — konnte eine Serenin denn u ¨berhaupt etwas empfinden? Zerah erschauerte in pl¨otzli- chem Begreifen und widerwilligem Mitleid. Ailetha war eine Aus- gestoßene. Als die einzige, die sich der Leere im Innern bewußt war, gab sie sich so schreckliche M¨ uhe, die atmenden, f¨ uhlenden Menschen nachzu¨affen! So schreckliche M¨ uhe, daß sie glaubte, es sei Liebe. G¨otter, das war l¨acherlich! Ebensogut konnte sie Mit- leid mit einer Schlange haben! Und doch... Die Trance hatte, so kurz sie gewesen war, der Serenin Zeit gegeben, sich ihr Schwert anzueignen! Ihren Chenri- Instinkten folgend, tat Zerah, als gebe sie sich immer noch ihren Erinnerun- gen hin. Sie h¨orte Ailetha nerv¨os murmeln: Jetzt habe ich sie. Ich — ich werde sie mit ihrer eigenen Klinge t¨oten. Ich werde sie t¨oten, und ” dann ist Terach ... Aber — aber wenn sie recht hat? Wenn er stirbt, und ich mit ihm?“ Die Serenin zitterte, verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, leckte sich die trockenen Lippen. Nein, nein, ich weiß! Es gibt einen Weg! Ich selbst werde ihm das Leben nehmen! Ich werde ihn ” nicht t¨oten, ich werde seine ganze Essenz auf einmal in mich einziehen! Ich werde mich um seine Seele wickeln und sie zum Teil von mir machen, Terach zu einem Teil von mir, der mich niemals mehr verlassen wird, mein Liebster auf immer und ewig!“ Sie schwang das Schwert unbeholfen zur¨ uck. Ja!“ ” Nein!“ sagte Zerah grimmig und sprang sie an. Sie h¨orte Ailetha keuchen, als die Steinklinge sie ” traf. Sie h¨orte ihr eigenes Schwert fallen. Ihr von Angesicht zu Angesicht gegen¨ uberste- hend, sah Zerah die blauen Augen groß und leer werden. Dann ließ sie schnell den Griff des Dolches los, denn die Serenin sank langsam zu Boden. Rasch wich die Farbe aus Haar, Augen und Haut. In einem kalten, leblosen Weiß lag die schm¨achtige Gestalt unter dem Licht des Mondes.
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Der Scheiterhaufen hatte nach nichts anderem gerochen als nach Feuer und Holz. Und als sie die abk¨ uhlende Asche vorsichtig mit dem Fuß bewegte, war von Ailetha nichts u ¨briggeblieben als das im Feuer br¨ uchig gewordene Messer. Zerah empfand keinen Triumph bei dem Anblick, nichts als dieses traurige, unfreiwillige Mitleid. Aber als Zerah ging, nach Terach zu sehen, stellte sie fest, daß das Fieber endlich gewichen war und der Junge friedlich schlief, und zum ersten Mal in dieser Nacht l¨achelte sie. Ihr seid sicher, daß Ihr nicht mitkommen wollt? Mein Vater w¨ urde sich dankbar erweisen, das wißt ” Ihr.“ Ach, du brauchst mich nicht, Junge. Du hast dich v¨ollig erholt. Los, ab mit dir!“ ” Aber Terach blieb stehen und blickte sch¨ uchtern zur¨ uck. Ich dachte, sie ... liebte mich.“ ” Das tat sie auch.“ ” Wir haben niemals... Ihr wißt schon. Aber ich mußte ihr folgen. Ich konnte nichts dagegen tun.“ ” Er verstummte, biß sich auf die Lippe. Ms ich erwachte und feststellte, daß sie fort war, ich meine, ” aus meinen Gedanken fort war, da war auch diese erstickende W¨arme verschwunden, und ich konnte wieder den- ken... Ich danke Euch. Danke.“ Nach einem weiteren kurzen Z¨ogern stieg der Junge den Berg- pfad hinunter. Zerah hatte die H¨ande in die H¨ uften gestemmt und sah ihm nach. Dann sch¨ uttelte sie den Kopf und ging in die H¨ utte. Lange Zeit stand die Frau da und genoß die pl¨otzliche Wiederkehr der Stille. Aber etwas glitzerte auf dem Tisch, zog ihren Blick auf sich... Lierns Ring lag noch da, wo er ihn hingelegt hatte. Zerah zischte ¨argerlich, nahm den Ring und wollte ihn wegschleudern, um ihn ein f¨ ur allemal los zu sein. Und doch... Ich glaube nicht, daß es sein Wunsch gewesen w¨are, Ihr solltet seinetwegen auf die Welt der Lebendigen verzichten. Zerah dachte an Liern und Ereians Hof und das Leben und schloß nachdenklich die Finger um den Ring. Vielleicht“, sagte sie laut und l¨achelte. ”
Kapitel 20 Das goldene Ei von Morning Glory Zell Ich habe es wohl schon erw¨ahnt, daß die Geschichten f¨ ur diese Anthologie dazu neigen, in Zyklen aufzutreten. Im ersten Jahr schrieben alle u ¨ber Vergewaltigung und Rache, im zweiten Jahr entschieden sie sich aus irgendeinem Grund fi£ r die auserw¨ahlte Jungfrau. Dieses Jahr, das f¨ unfte der S&S-Reihe, hat mir jeder ¡und seine Schwestern, seine Kusinen und seine Tanten) eine Drachengeschichte geschickt. Nun schicke ich sie fi£r gew¨ohnlich zur¨ uck, sobald ich sie als solche identifizien habe. Meiner Meinung nach hat Anne Mc Caffrey das Drachen-Thema mit einem Schleifenband darum gestaltet, und ich habe wirklich keine Lust, mit ihr zu konkurrieren. Aber ich habe dieses Jahr so viele gute Drachengeschichten erhalten, beginnend mit dieser hier. In einer Gruppe sagen sie vermutlich etwas u ¨ber den Drachen in der Fantasy aus, das auf keine andere Weise gesagt werden kann. Deshalb pr¨asentiere ich eine Gruppe von Drachengeschichten. Und dann wollen wir die Drachen ein paar Jahre ruhen lassen.
Die Hexe war sehr zornig. Valla sah sie n¨aher kommen, sich als Silhouette vor dem Eingang der kleinen Felsenh¨ohle abheben. Vallas Schwertband, purpurn von getrocknetem Drachenblut, schloß sich fester um den Griff ihres Rapiers, und sie beugte sich sch¨ utzend u ¨ber das Drachen-Ei, das sie gestohlen hatte. Jetzt konnte Valla die blitzenden gr¨ unen Augen der Hexe und das Pulsieren des violetten Zaubersteins sehen, der ihr am Hals hing. Trotz aller Schreckensgeschichten, die Valla u ¨ber Hexen geh¨ort hatte, dachte die rothaarige Schwertfrau bei sich, der Kopf dieser hier werde ebenso leicht von ihrem sch¨onen weißen Hals springen wie der des Drachen, den sie eben erst mit einem 233
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einzigen saube- ren Hieb ihrer Klinge get¨otet hatte. Doch sie w¨ urde sich schnell bewegen m¨ ussen, bevor sich die Augen der Hexe an das D¨am merlicht gew¨ohnten und Valla der Vorteil verlorenging. Valla sprang ger¨auschlos auf die F¨ uße, schob sich um das große Dra- chen-Ei, hob ihr Rapier und sprang die Zauberin an, die immer noch am Eingang stand. Aber irgendwie war die Hexe nicht mehr dort. Vallas Klinge begann in ihrer Hand zu vibrieren, drehte und wendete sich und griff ihre Eigent¨ umerin an. W¨ahrend Valla mit der sich windenden Waffe karnpfte, schlossen sich lange, kalte Finger dicht am Nacken um ihre Schulter. Danach sp¨ urte sie nichts mehr. Das Nichts wurde endlich zu einem dunstigen violetten Pulsie- ren, das sich langsam kl¨arte. Valla stellte fest, daß sie mit dem R¨ ucken am Stamm einer riesigen Blau-Eiche lehnte. Sie wollte nach ihrer Klinge fassen, aber die Arme waren ihr an den Seiten festgebunden. Wenn sie den Kopf drehte, pulsierte die Welt immer noch, aber ihre Augen nahmen jetzt das Gr¨ un und Gold sonnenbeschienener Bl¨atter wahr. Sie h¨orte, daß ein großer K¨or- per sich bewegte, und sah einen großen weiblichen Drachen n¨aher kommen. Wie die Hexe war diese Drachenfrau sehr zornig. Tellergroße, karmesinrote Schuppen hatten sich wie die Nacken- haare eines Hundes den ganzen Hals und R¨ ucken hinunter hoch- gestellt. Ein schillernder Kehlfleck pochte wie eine durchtrennte Arterie, und die d¨ unne Haut zwischen den Ohrstacheln zuckte. Die Drachenfrau peitschte mit dem stacheligen Schwanz und klsirschte mit den schimmernden Z¨ahnen. Sie senkte den Kopf (von Pferdegr¨oße), o¨ffnete die Kiefer und gab eii Ger¨ausch von sich wie ein zischender Teekessel. Dann trat die Hexe neben die zornige Drachenfrau. Tarragon und ich wissen, daß du wach bist, Wilddiebin, und wir wollen Informationen.“ ” Ich bin keine Wilddiebin!“ antwortete Valla hitzig. Mein Name ist Valla, und ich bin eine ehren” ” werte Schwertfrau in der Leibgarde der K¨onigin von Lorth.“ Nun, Valla, oder wer immer du sein magst, ich weiß nicht, welche Bezeichnung Ihre K¨onigliche ” Hoheit f¨ ur Leute hat, die in ein Naturschutzgebiet eindringen, um das Mitglied einer gef¨ahr- deten Spezies zu t¨oten und seine Jungen zu stehlen. Aber hier in Verdeveldt nennen wir solche Leute Wilddiebe.“ Valla wurde so rot wie ihre Haaawurzeln. Sie war in ihrer Verzweiflung u ¨berhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, sie k¨onne etwas Illegales oder vielleicht Unmoralisches tun; sie ver- suchte nur, ihr eigenes Leben zu retten. Ich . . . ich . . . habe das nicht so gesehen. Ich mußte ein Drachen-Ei ” haben.“ Die Hexe sch¨ uttelte ihr langes Haar zur¨ uck — es hatte die Farbe von Pfeffer und Salz und legte eine Hand auf die Haut des zitternden Drachen. Du und alle anderen, ihr ,m¨ ußt´ einfach ein Drachen-Ei ” haben. Was glaubst du, warum die Drachen beinahe ausgestorben sind? Was wird geschehen, wenn es gar keine mehr gibt? Es sind nur noch ein paar Dutzend auf der ganzen Welt u ¨brig, alle in Naturschutzgebieten wie diesem hier, alle an einem Zuchtprogramm beteiligt. Der Orden von Artemet hat Dutzende loyaler H¨ uter eingesetzt und viele Jahre auf den Versuch verwen- det, die letzten der
235 mythologischen Wesen vor der v¨olligen Aus- rottung zu retten, und irgendein selbsts¨ uchtiger, kurzsichtiger Schwachkopf hat immer einen ,dringenden Bedarf´ und eine gute Entschuldigung. Aber wir haben sie hier alle schon geh¨ort, und ein Wilddieb ist ein Wilddieb. Wir haben unsere eigenen Strafen f¨ ur solche wie dich.“ Mittlerweile f¨ uhlte Valla sich beunruhigt und mehr als nur ein bißchen schuldig, doch ihre Stimme klang verdrossen, als sie sich verteidigte: Was interessieren mich eure Regeln! Mach schon voran, ” keine Strafe kann schlimmer sein, als es mein Geschick bereits war. Ich habe mir von einem reisenden Harfher die Schwundkrankheit eingefangen, und der k¨onigliche Arzt sagte, das einzige Heilmittel sei ein Drachen-Ei. Ohne das bin ich sowieso tot.“ Die Hexe runzelte die Stirn und blinzelte den Drachen an, der seinen massigen Kopf senkte, um die gefesselte Schwertfrau ein- gehend zu mustern. Die Augen des Drachen waren groß und golden mit sternf¨ormigen Pupillen; es war, als schwimme in ihren Tiefen etwas wie Mitleid und Verst¨andnis. Nun sag deinem Haustier schon, daß es mich fressen soll! Aber wahrscheiniich wird es sich bei ” mir mit der Schwundkrank- heit anstecken, und was willst du dann machen?“ Valla bem¨ uhte sich, kriegerisch zu sprechen. Die Hexe unterdr¨ uckte ein L¨acheln. Tarragon ist durchaus kein Haustier! Sie ist meine Lehrerin ” — und es sieht aus, als k¨onntest du ebenfalls ein paar Unterweisungen brauchen, Wild- diebin. Niemand, der auch nur halb bei Verstand ist, w¨ urde sein Leben aufgrund der Diagnose eines einzelnen Arztes riskieren, und sei der noch so ber¨ uhmt. Außerdem werden Drachen niemals krank. Sie w¨aren buchst¨ablich unsterblich, wenn die Menschen sie nicht bis an den Rand der Ausrottung jagen w¨ urden. Tarragon hier ist vierhundert Jahre alt und immer noch in der Bl¨ ute der Jugend. Absinthe, ihr Partner, den du ermordet hast, war u ¨ber sechshundert Jahre alt und erinnerte sich an Wissen aus der Zeit, bevor der Große Kometenschwarm die Jahreszeiten ver¨anderte.“ Die Zauberin holte Atem. Es ” tut mir leid um dich. Selbsterhal- tung ist die ultimate Motivation und kann sogar die anst¨andigsten menschlichen Wesen zu Schurken machen. Doch geht es hier nicht um die Menschheit, ob anst¨andig oder nicht, denn man kann sie nicht gerade eine gef¨ahrdete Spezies nennen, und es steht mehr auf dem Spiel als ein einzelnes Leben. Als vereidigte H¨ ute- rin des Verdeveldt-Naturschutzgebiets und Dienerin von Arte- met, unserer Dame der Tiere, kenne ich meine Pflicht.“ Wenn du das Leben eines Tieres u ¨ber das eines menschlichen Wesens stellst“, gab Valla ihrer Wut ” und ihrer Verachtung Worte, dann mach voran, du scheinheiliges Hexenweib, und t¨ote mich, damit ” wir es hinter uns bringen!“ Dich t¨oten?“ Die Augen der Hexe schimmerten in dem Gr¨ un von Schmetterlingsfl¨ ugeln und schienen ” pl¨otzlich ebenso groß wie die des Drachen zu sein. Wir werden dich nicht t¨oten; wir werden dich ” ver¨andern.“ Der amethystene Zauberstein gl¨ uhte auf und begann, im glei- chen Rhythmus wie Vallas Herz zu pulsieren. Sie f¨ uhlte sich von neuem in der violetten Leere versinken und k¨ampfte mit ganzer Wil-
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lenskraft dagegen an. Zu ihrem Erstaunen und ihrer Ver- zweiflung nahmen ihre Bem¨ uhungen den Rhythmus auf und wur- den zum Tanz. Sie h¨orte das Echo eines Gesangs: Sie ver¨andert alles, was ” sie ber¨ uhrt; alles, was sie ber¨ uhrt, ver¨andert sich . . Valla war es, als werde sie in einen großen schwarzen Strudel mit Regenbogenschleiern, Sternen und Schneeflocken gezogen. Sie hatte das Gef¨ uhl, von innen nach außen umgest¨ ulpt, auf den Kopf gestellt und wieder ausgespien zu werden. Der Schlund wirbelte um sie, lautlos schreiend, mit einer Bedeutung schwanger, die sich ihrem Begreifen gerade eben entzog. Sie meinte, ein Teil von ihr werde durch zertr¨ ummerten Raum gespritzt, oder vielleicht war sie es, die zertr¨ ummert wurde. Und dann verstummte das lautlose Gebr¨ ull, und die kristallinen Scherben des Universums fielen zu seltsam gl¨ uhenden Mustern zusammen. Valla versuchte, das alles zu verstehen, und gab auf. Sie lauschte dem Ger¨ausch ihres Atems. Er klang ihr hart in den Ohren; sie zuckte mit ihnen, und die H¨aute raschelten. Sie erschauerte und f¨ uhlte das Rasseln von Schuppen. Ihre Sicht kl¨arte sich, war nicht l¨anger zertr¨ ummert, und sie sah gr¨ unes Gras, bestirnt mit leuchtenden, purpur-weißen Bl¨ uten. Das Licht der Sonne selbst schien eine neue Dimension dazugewonnen zu haben. Die Luft war voller fremder D¨ ufte, aber sie alle u ¨berlagerte der fade Geruch nach Blut. Das Blut sprenkelte ein Paar Arme mit glatten Muskeln und befleckte den uniformierten K¨orper einer Frau, die an einen alten Baum gebunden war. Das Blut war getrocknet und viel dunkler als der Schopf wirrer roter locken, die u ¨ber das Gesicht der Schlafenden fielen ... Es war ihr eigenes Gesicht! Valla entrang sich ein erstickter Schrei, der nach einem Nebelhorn klang. Sie schlug die H¨ande vor ¨ das Gesicht. Ihre H¨ande hatten immer noch f¨ unf Finger, doch da endete die Ahnlichkeit. Sie waren mit feinen kupferroten Schuppen bedeckt, und die Daunien waren von lan- gen, krummen Klauen geschm¨ uckt. K¨ urzere Klauen zierten die n¨achsten beiden Finger, die zus¨atzliche Glieder besaßen, und die letzten beiden Finger verschwanden in scharlachroten H¨auten. Als sie die Arme ausstreckte, entfalteten sich Fl¨ ugel an ihren Seiten. Valla st¨ohnte, und ihre Stimme klang immer noch wie ein Nebelhorn. Sie sah, daß die Hexe zu ihr hochstarrte, und ver- suchte zu sprechen, sie anzuschreien: Was hast du mir angetan?“ Das ehizige Resultat ihrer Bem¨ uhungen war ein blechernes Krei- schen. ” Doch anscheinend verstand die Hexe ihre Frage trotzdem. Ich fand, du solltest einmal f¨ ur eine Weile sehen, wie es ist, ein Drache zu sein. Unsere Strafe f¨ ur ” einen Wilddieb ist, daß er drei Mondzyklen im K¨orper eines der Wesen verbringen muß, die er zu t¨oten pflegt, um die Lebenskraft des anderen zu erfahren und durch seine Augen zu sehen. Jede Spezies ist einzigartig und hat ihren unersetzlichen Beitrag zum Gewebe des Lebens zu leisten. Vielleicht bekommst du Gelegenheit, dar¨ uber von einem ... ¨ah, sagen wir, einem anderen Gesichtspunkt aus zu meditieren. Vallas Gedanken strahlten qualvolle Verwirrung aus: Ich ver- stehe nicht.“ Ihr Herz klopfte wie ” eine große Trommel. Die Zauberin sch¨ uttelte ihren nachtgekr¨onten Kopf. Ich habe dich durch die Macht unserer Dame ” Artemet ver¨andert. Alle Tiere sind ihre Kinder, sogar die Menschen, obwohl viele es vorziehen, diese
237 Verwandtschaft zu vergessen. Was dich betriffi, so wird deine Seele f¨ ur drei Monde im K¨orper der Drachenfrau Tarragon leben, deren Partner du get¨otet hast. Ist der Zyklus vollendet, mußt du zu diesem Bann zur¨ uckkehren und mir berich- ten, was du gelernt hast.“ Aber was wird aus meinem .... K¨orper?“ Vallas Herz schlug so laut, daß sie die Antwort der Hexe ” kaum noch h¨orte, aber die Worte erklangen lautlos innerhalb ihres Kopfes: Dein K¨orper enth¨alt die schlafende Seele Tarragons. Im Tem- pel der Dame wird man f¨ ur ihn und ” Tarragons Ei sorgen. Geh jetzt!“ Aber... aber ich weiß nicht, wie man ein Drache ist. Ich weiß nicht, wie Drachen fliegen, und nicht ” einmal, was sie essen!“ erkl¨arten Vallas f¨ urchtsame Gedanken. Nun, vielleicht wirst du etwas u ¨ber die Wesen lernen, an deren Ausrottung du gearbeitet hast, bevor ” es zu sp¨at ist f¨ ur sie ... und f¨ ur dich.“ Eine Kr¨ahe flog herab und setzte sich auf die Schulter der Hexe. Andere Tiere traten aus dem Wald hervor. Die Zaube- rin hob den K¨orper der Schwertfrau auf den R¨ ucken eines großen Hirsches. Valla wollte auf ihren K¨orper zugehen, aber die Kr¨ahe flog ihr kr¨achzend entgegen, und andere Kr¨ahen kamen — Dut- zende, Hunderte, die die Luft schwarz machten und mit L¨arm erf¨ ullten. Sie schossen anf ihren Kopf zu. Da wanderte die Dra- chenfran davon, blind vor Tr¨anen. Ein alter Weiser hat einmal bemerkt: Die Zeit fliegt, wenn man nicht weiß, was man tut.“ ” Die Drachenfrau, die einst Valla gewesen war, lehnte sich in den umspringenden Wind und zog ihre Schwingen zum Landen an. Sie brachte ihren schweren K¨orper so leicht hinunter wie ein Schmetterling. Der Wind trug ihr jetzt Botschaften zu, Ger¨ausche aus Meilen in der Runde und D¨ ufte von Tieren und Blumen. Aber das gr¨oßte Wunder von allen war ihr gesteigertes Sehverm¨o- gen. Drachen sehen im ultravioletten und im infraroten Bereich. Das gibt allen Farben eine vibrierende gl¨ uhende Tiefe, die fast wie Bewegung ist. Sich daran zu gew¨ohnen war am schwersten“, dachte Valla, aber ” ” es war auch die lohnendste Anstrengung... beinahe.“ Sie hatte im K¨orper der Drachenfrau Tarragon gelebt, w¨ahrend der Mond zweimal zunahm und abnahm, und jetzt stand er im letzten zunehmenden Viertel vor dem Vollmond. Sie hatte ihre Strafe fast abgeb¨ ußt, und sie hatte so viel gelernt, daß es sie u ¨berw¨altigte. Zum Beispiel betrachtete sie ihre Umwandlung nicht mehr als schreckliche Katastrophe, als eine dem¨ utigende R¨ uckf¨ uhrung von der u ¨berlegenen menschlichen Gestalt auf die eines dummen Tieres. Statt dessen erkannte sie jetzt durch direk- ten Vergleich, daß Drachen gr¨oßere Gehirne als Ged¨achtnisspei- cher besitzen und daß sie beinahe ewig leben. Sie verf¨ ugen u ¨ber Sinne, die den Menschen fehlen. Sie fliegen mittels Levitation und sind f¨ahig, die Gef¨ uhle anderer Wesen wahrzunehmen. Doch sind sie keine echten Telepathen und sprechen nicht von Geist zu Geist, einige bestimmte F¨alle ausgenommen wie bei den Hexen- priesterinnen von Arte met. Ihre Stimmen sind wie Musikinstru- mente, und ihre einzige Sprache besteht aus langen, komplizier- ten Ges¨angen, die
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u ¨ber weite Entfernungen zu h¨oren sind. Aber das kostbarste Wissen von allem war das Geheimnis um die Heilkr¨afte der Drachen. Die Hexe wird feststellen, daß ich ein paar eigene Geheimnisse besitze, von denen sie nichts weiß.“ ” Valla lachte vor sich hin, denn sie hatte der Zauberin l¨angst verziehen, daß sie sie verwandelt hatte. Doch es war eine schmerzliche Lektion gewesen. Sie dachte an die Bruchlandungen und den Hunger, doch dann waren Tarragons Instinkte in Aktion getreten. Valla hatte einen unsi- cheren Frieden mit ihrem Drachen-Ich geschlossen, bis sie zu meditieren und die vorgezeichneten Instinktmuster zu absorbie- ren begann. Drachen sind tats¨achlich die weisesten Gesch¨opfe auf der Welt. Das wußte sie jetzt, und jetzt verstand sie auch, warum sie erhalten werden m¨ ussen. Und ich habe meine eigenen Drachen zu erhalten“, grinste Valla, rieb einen Augengrat mit der ” Daumenklaue und setzte sich auf dem Moosnest zurecht, das sie innerhalb eines Kreises von Steinbl¨ocken gebaut hatte. Es waren drei Eier — jeden Monat hatte sie eins gelegt -, und die anfangs weichen Schalen hatten sich zu einem vielfach facettierten Goldhort geh¨artet. Sie r¨ uckte sorgsam ihren K¨orper zurecht, bis das St¨ uck nackter roter Haut, der Brutfleck, das mittlere Ei ber¨ uhrte. Gl¨ ucklich summte und brummte sie in der Kehle. Was wird die Hexe staunen!“ ” Pl¨otzlich fingen ihre ungeheuer empfindlichen Ohren ein Ger¨ausch auf, das sie beinahe vergessen hatte: das Zischeln einer gezogenen Schwertklinge. Valla richtete sich auf; ihr Kopf schnellte herum. Sie sah die geduckte Gestalt eines Schwertk¨amp- fers´ der auf sie zukroch. Vorsichtig erhob sie sich von dem Nest, schrie: , Nein!“ mit Trompetenstimme. Zu ihrem ¨außersten Ent- setzen kannte Valla den Mann. Es war Corvis, ihr alter Freund, ein Kamerad in der Leibgarde der K¨onigin — und er war offen- sichtlich gekommen, um Drachen-Eier zu stehlen. Nur war sie jetzt der Drache, und die Eier geh¨orten ihr. Vallas Herz raste mit der Angst einer Drachenmutter, aber was menschlich an ihr war, sch¨atzte den n¨aher kommenden Mann ab. Sie mußte schnell denken: Wie konnte sie mit ihm kommunizieren? Als erstes mußte sie ihn von den Eiern weglocken. Sie sprang ihm in den Weg, und er trat einen Schritt zur¨ uck. Sie st¨ohnte und b¨ uckte sich, um mit der Klaue sein Namenszeichen in den Staub zu schreiben. Sein Schwert f¨ uhr nieder. Sie riß die Hand zur¨ uck. Der abgetrennte Daumen blieb, sich windend, auf der Erde liegen. Dunkles Drachenblut sprudelte aus ihrer ver- wundeten Hand. Sie sprang dem Mann aus dem Weg und benutzte ihren starken Stachelschwanz, um ihn umzuwerfen. Mit einem Purzelbaum kam er wieder auf die F¨ uße. Dame der Tiere, besch¨ utze ” mich“, dachte Valla, Ver ist einfach zu schnell, und er wird nicht warten, bis ich ihm gezeigt ” habe, daß ich Vernunft besitze.“ Sie flog von seinem erneuten Angriff weg, doch als sie landete, erkannte sie, daß er sich jetzt zwischen ihr und dem Nest befand. Welchen Nutzen hat diese ” umfassende Drachenweisheit, die ich mir errungen habe, wenn ich mich nicht einmal vor diesem verdammten Eierdieb retten kann?“ dachte Valla und suchte ver- zweifelt in ihrem Ged¨achtnis. Dann erinnerte sie sich an ein M¨archen der Menschen und f¨ ugte es mit einem bißchen Drachen- erfahrung zusammen. Es k¨onnte fi£nktionieren“ betete sie, es muß funktionieren.“ Damit st¨ urmte sie ” ”
239 anf ihn los, vermied die blitzende Klinge, donnerte gegen den Mann und dr¨ uckte ihn mit ihrem Gewicht zu Boden. Er zog seine Klinge herum, doch da hob sie die verletzte Hand und schob ihm den blutenden Stumpf des abgetrennten Daumens in den Mund. Er w¨ urgte und schluckte im Reflex. Dann traten ihm die Augen aus den H¨ohlen. Schreck und Staunen standen in ihnen geschrieben. Duu — ffft!“ sagte er und ließ sein Schwert fallen. Valla nahm ihre Hand aus seinem Mund. Du ” ” bist es“, wiederholte er, dies mal verst¨andlicher. Valla dachte stumm. Ja, Corvis, ich bin es wirklich — deine Freundin Valla. Eine Hexe hat mich ” in diese Drachengestalt ver- wandelt. Bitte, t¨ote mich nicht!“ Wie kann ich sicher sein, daß du es bist und es sich nicht um einen weiteren Hexentrick handelt?“ ” fragte er mißtrauisch, und Valla sandte ihm einen Gedanken zu, der sein abgebr¨ uhtes Gesicht err¨oten ließ. Okay´ M¨adchen, jetzt glaube ich dir. Aber warum hast du mir das nicht gleich gesagt, bevor ” ich dich verletzt habe?“ Valla dr¨ uckte auf die Arterie in ihrem Handgelenk, und das Blut floß in dem Daumenstumpf langsamer. Ihre lange, gelbe gegabelte Zunge schoß hervor und leckte die aussickernden Trofen ab. Ich ” habe versucht, es dir zu sagen, aber du konntest meine Sprache nicht verstehen, und dann fiel mir ein, daß der Genuß von Drachenblut die Gabe verleiht, die Sprache aller Tiere zu verstehen, auch die der Drachen selbst.“ Also deswegen hast du mir deinen blutigen Daumen in den Mund gesteckt.“ Er nickte ihr zu. ” Das war sehr klug gehandelt“, erklang eine Stimme hinter den Felsen, und die Hexe trat mit ihrem ” Kr¨ahen gefolge hervor. Valla zul¨achelnd, fuhr sie fort: Und was hast du sonst noch f¨ ur kleine Tricks ” gelernt, w¨ahrend du in deinem ausgeliehenen K¨orper stecktest?“ Die Drachenfran zeigte ihr das Gelege, und die meergr¨ unen Augen der Hexe wurden feucht.´ Und ” das ist nicht einmal das wichtigste“, teilte Valla ihr mit. Die Heilkraft der Drachen ist so stark, ” daß sie nicht nur in dem Embryo, sondern auch in den Eierschalen steckt. Wenn die kleinen Drachen ausschl¨ upfen, k¨onnte man die zerbrochenen Schalen zu einem Pulver mahlen, das menschliche Krankheiten heilt. Die Menschen brauchten nie wieder einen Drachen zu t¨oten.“ Corvis unterbrach ihre Gedanken. Aye´ ich war f¨ ur die K¨oni- gin pers¨onlich auf der Suche nach ” einem Drachen-Ei, denn auch sie hat die Schwundkrankheit. Willst du ihr die Schalen nicht bringen und mit mir nach lorth zur¨ uckkommen?“ ¨ Valla zeigte ihr breites Drachenl¨acheln und antwortete zu sei- ner Uberraschung: Nein, Corvis. Ich ” werde dir die Schalen schik- hen, wenn die Kleinen ausgeschl¨ upft sind; aber nachdem ich mei- nen K¨orper zur¨ uckerhalten habe, m¨ochte ich hierbleiben.“ Sie sah zu der Hexe hin¨ uber. Das heißt, falls ” ich mich darum bewerben darf, eine H¨ uterin von Verdeveldt zu werden.“
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Die Hexe legte die langfingrige Hand anf eine von Vallas scharlachroten Bauchschuppen. Schwester“, ” sagte sie freund- lich, du kannst mich Andred nennen. Wenn du dich von der Umwandlung erholt ” hast, werden wir mit deiner Ausbildung beginnen. Aber den ersten Schritt auf dem Pfad der Weisheit hast du getan, als du erkanntest, daß du den Drachen nicht zu t¨oten brauchst, um das goldene Ei zu erlangen.“
Kapitel 21 Die revidierte Standard-Jungfrau von Rick Cook Hin und wieder, wenn ich eine Geschichte ablehne, weil sie zu durchsichtig oder vielen anderen, die ich dieses Jahr gelesen habe, zu ¨ahnlich ist, zitiere ich die alte Karikatur: Ein Schriftsteller sieht verzweiflungsvoll seine Schreibmaschine an, und ein Ablehnungs- schreiben teilt ihm mit Wir ” w¨ unschen frische, originelle Geschichten, die sich streng an unsere Schemata halten.“ Schemata? Ja, ich benutze Schemata, die schließlich seit vorge- schichtlichen Zeiten die Grundlage f¨ ur eine gute Geschichte bilden. Der erste existierende Roman, die Odyssee, erz¨ahlt die Geschichte eines sympathischen Helden, der trotz beinahe un¨ uberwindlicher Hindernisse durch eigene Anstren” gungen ein erstrebenswertes Ziel erreicht”. Und falls jemand meint, es gebe nichts Neues mehr u ¨ber das bekannte Thema zu sagen, daß ein M¨adchen einem Drachen geop- fert werden soll, fordere ich ihn auf diese Geschichte hier zu lesen.
Ich wachte frierend und nackt auf einer strohgef¨ ullten Matratze auf. Draußen kr¨ahte ein Hahn und verk¨ undete der Welt seine L¨ usternheit. Es war zu dunkel, um etwas zu sehen. Deshalb f¨ uhr ich mit den H¨anden u ¨ber meinen K¨orper. Schlanke H¨ uften, knospende Br¨ u- ste, haupts¨achlich aus Brustwarzen bestehend, und ein leichter Haarflaum, der eben begann, sich zwischen meinen Beinen zu kr¨auseln. Ich hatte das Gef¨ uhl, ungef¨ahr vierzehn zu sein. Die Mutter lasse sie verfaulen! Weiter zu wichtigeren Dingen. Ich bog versuchsweise den Arm ab und sp¨ urte Bizeps und Unterarm. Viel an Muskeln war nicht da, aber das, was da war, war fest und hart. Gut. Ich war weder 241
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ein halbverhungertes Waisenkind noch die verh¨atschelte Tochter eines Adligen — nicht etwa, daß letzteres sehr wahrscheinlich gewesen w¨are. Ich schwang meine F¨ uße u ¨ber den Rand des Strohsacks und staud auf. Eine schnelle Erkundung zeigte, daß der Raum, in dem ich mich befand, etwa zwei Armspannen in jeder Richtung maß. Der Boden war aus Lehm, und die W¨ande bestanden aus entrin- deten Baumst¨ammen. Ich begann mit meiner Gymnastik, sowohl um meine Kr¨afte zu erproben als auch, um warm zu werden. W¨ahrend des Streckens und Keuchens wurde das verriegelte Fensterchen u ¨ber dem Strohsackheller und heller, und die Dunkelheit verwandelte sich in das Grau vor Sonnenaufgang. Ich h¨orte ein Kratzen draußen, und die T¨ ur ¨ofinete sich. Ich sprang auf den Strohsack zur¨ uck. Ein magerer alter Mann mit langem weißem Haar und Bart erschien. Er trug die weiße Robe und den goldenen Halsring eines Priesters des All-Vaters. Komm, mein Kind.“ Er streckte mir die Hand entgegen. Es ist Zeit.“ ” ” Sanft f¨ uhrte er mich in den Nebenraum, wo drei Frauen warte- ten. Im Licht rauchender, stinkender Talglampen zogen sie mir ein neues Gewand aus weißem Leinen mit weißer Plattstickerei an. Dann verschwanden die Frauen, sich verbeugend, und der Priester f¨ uhrte mich in die k¨ uhle, frische Morgend¨ammerung hinaus. Alle warteten sie auf mich. Die Dorfbewohner dr¨angten sich außerhalb des Kreises aus Fackellicht, die Krieger innerhalb des Kreises mit dem Gesicht nach außen. Dazu kamen die Priester und Akoluthen, der alte K¨onig, der diesen Misthaufen regierte, und neben ihm sein Sohn, blond, fleischig und auf leere Art h¨ ubsch. Mein Vater war da, durch Sondererlaubnis innerhalb des Fak- kelkreises. Sein geg¨ urteter Kittel und seine groben Hosen waren frisch gewaschen und geflickt, und seine Augen waren rot vom Weinen. Er umarmte mich rauh und trat dann zur¨ uck. Erspare mir deine Tr¨anen, du alter Schwindler, dachte ich. Du hattest nichts einzuwenden, wenn es die Tochter von jemand anders war. Aber trotzdem flog ihm mein Herz zu. Komm, mein Kind“, sagte der alte Priester. Sei tapfer.“ Verdammter alter Schurke, dachte ich. ” ” Du weißt nicht einmal meinen Namen. Krieger faßten mich bei den Armen. Dann stell- ten wir uns hinter zwei M¨annern mit gewundenen Bronzeh¨or- nern, die sie um den K¨orper geschlungen trugen, zu einer Proze sion auf. Ein Mann mit einer Trommel nahm den Platz hinter mir ein. Andere Krieger schlossen sich an, und der Priester und seine Akoluthen setzten sich an die Spitze vor die Hornisten. Der Priester winkte mit seinem Stab; die Soldaten machten uns einen Weg durch die Menge frei. Mit T¨ater¨a und Bumbumbum mar- schierten wir los. Als die großen h¨olzernen Torfl¨ ugel in der Wand aus Baumst¨ammen aufschwangen, sah ich die Sonne blutrot u ber den Horizont lugen. ¨ Ich fragte mich, ob ich sie auch untergehen sehen w¨ urde.
243 Nach dem Passieren des Tores folgten wir einem Fußweg, vorbei an betauten Feldern, die im ersten Morgenlicht glitzertßn. Es ging auf eine dunkle Linie aus B¨aumen zu. Der Pfad wand sich zu einem tief in den Fels eingeschnittenen Wasserlauf hinunter, auf dessen sandigem Grund die Prozession flußabw¨arts zog. Die H¨orner bliesen, und der Trommler hinter mir schlug mit aller Kraft auf sein Instrument ein. Wir kamen an eine Stelle, wo es steil nach unten ging. In der Regenzeit mochte hier ein Wasserfall sein; jetzt war es nur eine Klippe. Stufen, abgenutzt von Zeit und Wasser, waren neben´ dem Fall in den Fels gehauen. Rauhe H¨ande f¨ uhrten mich die Treppe hinunter. Mutter, dachte ich, wie lange geht das schon so? Wie viele M¨adchen haben diesen Weg genommen? Das Flußbett vertiefte und erweiterte sich zu einem kleinen, d¨ usteren Caflon. Links und rechts standen B¨aume, und zwischen ihnen rieselte ein seichter Bach. Die Krieger, die sich bem¨ uhten, ungezwungen zu wirken, lockerten die Schwerter in den Schei- den, oder sie warfen ihre M¨antel zur¨ uck, wobei sich das rote Futter zeigte, und machten ihre Arme frei. Die ganze Gesell- schaft dr¨angte sich enger zusammen, und zweimal w¨are mir der Trommler beinahe auf den Saum meines Gewandes getreten. Schließlich kamen wir um eine Biegung und an eine Stelle, wo der Canon ein nat¨ urliches Amphitheater bildete. Eine große Sandbank f¨ ullte den gr¨oßten Teil des Areals, und das B¨achlein staute sich vor einer nackten Klippe aus rosenrotem Sandstein zu einem Teich. Die aufgehende Sonne verwandelte die Klippe in Ilarumen, und wie eine Schallmuschel warf sie metallische Echos der Trommel und der H¨orner zur¨ uck. Am Fuß der anderen Wand, immer noch in tiefem Schatten, lag ein Durcheinander von Felsbl¨ocken. Den gr¨oßten in der Mitte hatte man mit Handschellen an Ketten versehen. Sie waren mit eisernen Krampen befestigt, die tief in den Stein getrieben waren. Scheiße. Manchmal bringt man das Opfer einfach zu der bestimmten Stelle und l¨aßt es dort. Meistens wird es mit Stricken gefesselt. Es w¨ urde mich Zeit kosten, aus diesen Armb¨andern zu kommen. Dann sah ich mir die Sache genauer an: Die Handschellen waren nicht von dem Dorfschmied aus weichem Raseneisen angefertigt. Sie waren aus Stahl und hatten raffinierte Schl¨osser. Das war offensichtlich die Arbeit eines Spezialisten. Es gab keine M¨oglichkeit, mich von etwas Derartigem zu befreien. Okay, gehen wir zu Plan B u ¨ber. Ich trat dem Soldaten, der meinen rechten Arm hielt, fest auf den Fuß. Er heulte auf bei dem unerwarteten Schmerz und lok- kerte den Griff. Ich riß meinen Arm los, drehte meinen K¨orper irnd stieß den Handballen gegen das Kinn des Mannes zu meiner linken. Er fiel um wie ein Sandsack, und ich schl¨ upfte an ihm vorbei aus der Reihe, wobei ich im Vor¨ ubergehen seinen Speer
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KAPITEL 21. DIE REVIDIERTE STANDARD-JUNGFRAU
Die Prozession geriet in Verwung. Der Trommler stand mit Difenem Mund da, die St¨ocke in der Luft. Einer der Hornisten erstickte beinahe. Die Krieger r¨ uckten gegen mich vor und blien stehen, als ich den Speer schwang. Mein Kind ...“, begann der alte Priester. Er versuchte, zu sprechen, war aber offensichtlich u ¨ber ” die Unterbrechung ¨argerlich. Nicht dein Kind, du Sohn einer verseuchten Hure“, knurrte ich. ” Er kniff die Augen zusammen, behielt aber seine onkelhafte bei. Komm, das entehrt dich in den ” Augen des All-Vaters. Es tut dir nicht gut.“ Es tut mir auch nicht gut, von einem Drachen gefressen zu werden!“ fuhr ich ihn an. Aus dem ” Augenwinkel sah ich M¨anner zu beiden Seiten ausschw¨armen. Bevor sie mich einkreisen konnten, stach ich mit einem schnellen Ausfall nach dem Priester, legte mein ganzes Gewicht hinein und brachte meine Schafthand nahe an die vordere Hand heran. Der Priester quiekte und sprang zur¨ uck. Ich drehte mich, wirbelte den Speer u ¨ber meinem Kopf herum und trieb dem Mann zu meiner Rechten den Schaft in den Magen. Er ging kotzend zu Boden. Bevor die u ¨brigen reagieren konnten, erschreckte ich die Menge mit einer Finte und nahm mir den Mann zu meiner Linken vor, der gerade den ersten Schritt in meine Richtung tat. Ein schneller Aufw¨artshieb mit dem Schaft traf ihn im Schritt, wo sein geteiltes Ochsenhaut-Hemd keinen Schutz bot. Er fiel um. Ich stampfte auf seine Schwerthand und f¨ uhlte die Knochen brechen. Ich nahm sein Schwert und sprang r¨ uckw¨arts, um mehr Raum zwischen mich und die anderen zu legen. Ein paar M¨anner sahen aus, als wollten sie stiftengehen. Der alte Priester schlug das Zeichen gegen den b¨osen Blick. Beses- senheit!“ pustete er. Sie ist besessen.“ ” ” Ich bin alles, was du m¨ochtest“, keuchte ich. Wollt ihr jetzt abhauen, oder soll ich eure elenden ” ” K¨orper als Drachenspeise aufschlitzen?“ Der Priester o¨ff¨ uete den Mund. Von weiter flußabw¨arts war ein Klatschen zu h¨oren, als springe ein großer Fisch in dem stillen morgendlichen Wasser. Packt sie! Schnell!“ br¨ ullte der Priester. Drei M¨anner r¨ uckten n¨aher, um seinem Befehl zu gehor” chen. Von hinten aus der Menge kamen zwei Speere geflogen, mit dem Schaft voraus, um mich zu bet¨auben. Ich wich dem einen aus, wehrte den zweiten mit meinem Speer ab und blocklerte einen Hieb des vordersten Kriegers mit dem Schwert. Beeilt euch!“ Der Priester tanzte vor Ungeduld. ” Ich schl¨ upfte zur Seite, als die M¨anner kamen. Der n¨achste schlug nach mir, und dann schrie er auf und ließ sein Schwert fallen, weil ich pariert und ihm mit einer Konterparade den Arm aufgeschlitzt hatte. Ich duckte mich unter der Klinge seines Gef¨ahrten weg und schlug ihn mit dem Speerschaft nieder.
245 F¨ ur einen Augenblick stand ich dem dritten Mann gegen¨ uber. Dann riß er die Augen nf., und sein Gesicht wurde blaß. DER DRACHE!“ rief jemand, und die Gesellschaft l¨oste sich zu einem verwirrten Mob auf. Vor ” Angst schreiend, floh alles zur¨ uck nach oben. Die Verwundeten hinkten hinterher, und bis sie um die Kurve waren, hatte der alte Priester schon beinahe wieder die Spitze der Prozession gewonnen. Die weiße Robe flatterte ihm bei jedem Schritt um die spindeligen Beine. Ich lachte laut. Dann drehte ich mich nach dem Ger¨ausch um, mit dem etwas flußaufw¨arts geplatscht kam, und das Lachen erstarb. Es gibt so ´ne und solche Drachen. Der hier war ein Drache. Bis zum Kamm war er doppelt so groß wie ich, und er war leicht viermal so lang. Er war nicht der gr¨oßte Drache, von dem ich je geh¨ort hatte, aber der gr¨oßte, den ich je gesehen hatte. Er war nicht alt, und schwach schon gar nicht. Das o¨lige Schillern der schwarzen Schuppen und der federnde Gang u ¨ber den Sand ver- rieten mir, daß er in der Bl¨ utezeit seines Lebens stand. Wenn er es erleben sollte, alt zu werden, w¨ urde er ein Weltrekord-Drache sein. Im Augenblick war er ein Weltrekord-Problem. ¨ Der Trick bei diesem Spiel ist die Uberraschung. Entweder greift man den Drachen aus dem Hinterhalt an, oder man spielt die ver¨angstigte Jungfrau, bis man nahe genug heran ist, um zuzuschlagen. Aber f¨ ur beides war es zu sp¨at. Jetzt mußte ich mich mit einem Drachen in einen Nahkampf einlassen. Mir war w¨ahrend der Ausbildung eingeh¨ammert worden, das um jeden Preis zu vermeiden. Das Tier blieb stehen und legte den Kopf schief. Es wirkte beinahe menschlich in seiner Verwirrung. Die Bartf¨aden um seine großen Kiefer zitterten, als er die Luft pr¨ ufte, und seine Augen verengten sich zu b¨osen gelben Schlitzen. Dann knirschte er zum Ufer. Ich wich zur¨ uck, um Raum zum Man¨ovrieren zu gewinnen, und der Drache folgte ein bischen schneller, ein bißchen zuversichtli- cher. Keine Zeit mehr, zwischen die Felsbl¨ocke zu gelangen. Ich stemmte den Speer auf die Erde, den Schaft dicht an meinem Faß, und richtete die Spitze anf die Kehle des Drachen. Das Schwert hielt ich mit der Spitze nach oben auf dem R¨ ucken. Dann schrie ich in gespieltem Entsetzen — na ja, jedenfalls in zur H¨alfte gespieltem Entsetzen. Im Gegensatz zu ihrem Ruf sind Drachen nicht besonders helle. Zum gr¨oßten Teil sind sie Gewohnheitstiere. Die Trommel und die H¨orner hatten ihn gerufen, und der Schrei einer Jungfrau bedeutete, daß das Essen serviert war. Mit offenem Maul st¨ uu ¨nte der Drache heran. Ich zielte mit der Speerspitze in sein Maul, aber er schlug sie beiseite. Da zog ich Arme und Beine an und rollte mich so dicht unter dem Hieb seines großen Klauenfußes weg, daß ich den Luftzug sp¨ urte. Das Zuschnappen der Drachenkiefer hallte von dem Felsen wie eine Explosion wider. Gerade richtete ich mich auf ein Knie hoch, als der Drache zu mir herunifuhr und dabei eine Menge Sand hochwarf. Wieder wollte er sich auf mich st¨ urzen, und wieder blickte ich in diesen roten Schlund,
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besetzt mit Reihen elfenbeinweißer Z¨ahne. Ich duckte mich und stieß zu, als der Drache vor¨ uberkam. Der Speer kratzte u ¨ber die Schuppen des Drachen und rutschte ab. Den Z¨ahnen und den Klauen entging ich, aber nicht seiner anderen Waffe. Das Tier schlug mit seinem großen Schwanz zu, und ich flog durch die Luft. Der weiche Sand und mein Training darin, mich wie eine Kugel abzurollen, retteten mich, aber ich lag bet¨aubt auf der Erde und spuckte Sand, und das Ungeheuer r¨ uckte schon wieder an. Ich sah alles verwischt und doppelt, aber ich sah, daß der massige K¨orper das Tageslicht blocklerte, daß eine gewaltige Tatze in die H¨ohe stieg, die Klauen spreizte und niederfuhr, um mich zu zermalmen. Mehr aus Instinkt als einem Plan folgend stieß ich das Schwert nach oben. Die Spitze traf auf die sich wie eine Ramme senkende Tatze, und mein Arm wurde in den Sand geschmettert. Die Wucht des großen Beins trieb die´ Spitze durch den Fuß des Drachen. Vor Wut und Schmerz br¨ ullend, zuckte das Tier zur¨ uck, wobei es mich mit einer Klaue zur Seite warf. Es w¨alzte sich immer wieder herum, wand sich und schnappte nach dem verletz- ten Glied. Der Caflon hallte von seinen Schreien wider. Ich rollte mich in die andere Richtung, sch¨ uttelte den Kopf, um ihn zu kl¨aren, und hob den Speer auf. Vorsichtig begab ich mich auf die blinde Seite des Drachen. Er widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Versuch, sich das Schwert aus der Tatze zu beißen wie eine Knatze, die sich einen Dorn eingetreten hat. Er lag auf dem Bauch, den Kopf auf die verletzte Tatze gebeugt, so daß die Nackenschuppen auseinanderklafften. Ich schlich mich auf Zehenspitzen n¨aher, bis ich beinahe l¨angsseits war, und stieß den Speer mit aller Kraft in den Spalt zwischen den Schuppen und in den Hals. Heißes, stinkendes Blut spritzte u ull des Drachen wurde zu einem hohen, tril¨ber mich. Das Gebr¨ lernden Schrei. Schnappend und um sich schlagend drehte er sich mir zu, erwischte meinen Speer und brach ihn entzwei. Ich sprang zur¨ uck, fiel auf den Hintern und rollte und rollte, w¨ahrend der f¨ urchterliche L¨arm in meinem Kopf widerhallte. Schließlich stieß ich gegen einen Fels- block am Rand des Cafons, blieb bewegungslos liegen und sah dem Drachen zu. Er kam nicht wieder auf die F¨ uße, aber er brauchte lange Zeit zum Sterben. Als es endlich wieder still war, ruhte ich mich am Rand des Teiches aus, versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und sah mir meine Wunden an. Kratzer und blaue Flecken, aber abgesehen von der Rißwunde an der Seite nichts Ernsthaftes. Ich zog das zerrissene und blutbefieckte Kleid aus und wusch die Wunde im Bach. Das Wasser war so eiskalt, daß ich zusammenzuckte. Dann benutzte ich die Speerspitze dazu, den´ Saum abzutrennen, ver- band die Wunde damit und zog an, was von dem Kleidungsst¨ uck u ¨brig war. Es war immer noch fr¨ uher Morgen. Die Sonne schien knapp halbwegs u ¨ber den Sand, der Kadaver des Drachen lag teilweise im Schatten. Zu Hause im Tempel wurden meine Schwestern einem sehr
247 ver¨angstigten Beinahe-Opfer erkl¨aren, wieso sie sich im K¨orper der leitenden Kampf-Instruktorin aus der Elite-Garde der Mutter befand statt im Magen eines Drachen. Wenn sie Gl¨ uck hatten, gelang es ihnen, ihr auch noch ein paar andere Dinge zu erkl¨aren und vielleicht ihre Denkprozesse in Gang zu setzen, bevor wir in unsere angestammten K¨orper zur¨ uckkehrten. Irgendwann im Lauf des morgigen Tages w¨ urde die Stimme der Mutter das Dorf erreichen und erkl¨aren, was geschehen war und wem sie f¨ ur ihre Befreiung zu danken hatten. Ich w¨ urde bis dahin ¨ fort sein; der Ubertragungszauber wirkt nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Du siehst grauenhaft aus“, sagte ich zu meinem Spiegelbild. Aber innerlich war ich voller Freude, ” daß ich meine Aufgabe so gut erf¨ ullt hatte — und schwindelig vor Erleichterung, daß ich noch am Leben war. Wie oft war ich schon als jungfr¨auliches Opfer zu einem dieser unheiligen Alt¨are gef¨ uhrt worden? Sechsmal? Siebenmal? Nach dem heutigen Erlebnis mußte meine Gl¨ ucksstr¨ahne bald zu Ende sein. Nun, meine Nachfolgerin entwickelte sich sehr gut. Sie w¨ urde soweit sein, wenn die Zeit gekommen war. Inzwischen machten wir u ¨berall in den Acht K¨onigreichen Schluß mit der Ermordung von Jungfrauen. Es sprach sich all- m¨ahlich herum, daß Drachen von den H¨anden ihrer Opfer“ gestorben waren, und ” so kam es jedes Jahr zu weniger Greueln. Diese Misthaufen-Adligen w¨ urden lernen, daß sie, wenn sie Mon- ster bestechen wollten, es mit K¨ uhen oder Schafen tun mußten, nicht mit kleinen M¨adchen. Ich seufzte und hob den Speerschaft auf. Ihn als Stock benut- zend, kletterte ich den Canon hoch. Ich brauchte mich nur noch im Dorf zu zeigen und zu berichten, daß der Drache tot war. Dann war meine Arbeit getan. Der Prinz wartete am Kopf der Steintreppe auf mich. Er hatte sich hastig zum Kampf angekleidet, ohne Kappe unter dem Helm und den Schild u ¨ber den Arm geh¨angt. Der Drache?“ fragte er mit aufgerissenen Augen. ” Tot, Euer Hoheit.“ ” Man sagt, ein D¨amon . . ” Kein D¨amon. Nur die Gnade der Mutter.“ ” Ah“, st¨ohnte er. Dann l¨achelte er. ” Du hast deinem K¨onig einen großen Dienst erwiesen, und zweifellos steht dir eine h¨ ubsche Belohnung ” zu.“ Nicht mir, Euer Hoheit“, antwortete ich mit Kleinm¨adchen- stimme. ”
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O doch.“ Er kam n¨aher. Mein Vater wird erfreut sein.“ Er l¨achelte breiter. Ebenso wie ich ” ” ” erfreut bin. Ich sagte meinem Vater heute morgen, es sei zu schade, daß ein so h¨ ubsches M¨ad- chen wie du f¨ ur einen Drachen verschwendet werden solle.“ Besitzersreifend le te er mir den Schildarm um die Taille und zog mich an sich. Seine rechte Hand fuhr u ¨ber meinen K¨orper, streichelte mein Kinn und meinen Hals, umfaßte meine Brust, zog die Linie meines Bauches nach und endete, indem sie sich gegen meine Lenden dr¨ uckte. Innerlich seufzte ich. Nun, war es nicht wirklich ein z¨aher Drache gewesen, hatte ich es mir nicht verdient, mich ein bißchen zu am¨ usieren? Man besteht doch schließlich nicht vollst¨andig aus Pflichterf¨ ullung. Also l¨achelte ich sch¨ uchtern, err¨otete beschei- den und spreizte meine Schenkel ein bißchen unter dem Druck seiner sich vortastenden Hand. Dann brach ich ihm den verdammten Arm.
Kapitel 22 Drachenliebe von Cynthia Drolet Auch diesmal versuche ich, die Anthologie mit etwas Lustigem zu beenden — Lasse das Publikum ” immer lachend zur¨ uck“ —, und den Menschen muß ich erst noch kennenlernen, der diese Geschichte liest und nicht herzlich dar¨ uber lachen kann. Wenig- stens ist sie einmal etwas anderes; ich habe noch nie eine Drachen- totschtagegeschichte gelesen, in der behauptet wird, ein Drache habe etwas mit der Spinne gemeinsam, die man die Schwarze Witwe nennt.
Das wegm¨ ude Pony stand geduldig am Tor und schlug sich mit dem Schweif u ¨ber die staubigen Flanken. Ein Berg-Pony, dachte der Baron angewidert, nicht einmal ein richtiges Pferd. Ein Sherka — wie seine Eigent¨ umerin Nur ungern wandte der Baron seine Aufruerksanikeit wieder der Mesha zu, die ruhig vor ihm stand. Ihr Mantel und ihre Hose waren wie ihr Pony staubig von der Reise, aber sie saßen ausge- zeichnet und waren in gutem Zustand. Ihre Stiefel w¨ urden, war einsual der Lehm von ihnen abgekratzt, fast neu sein. Ihr weizen- blondes Haar war vern¨ unftig in zwei Z¨opfe geflochten, damit es ihr beim Reiten nicht ins Gesicht flog. Also eine Dame aus dem geringeren Adel, vermutete der Baron. Was es schwieriger f¨ ur ihn machte, sie einfach wegzuschicken. Sie war klein, und unter der grobgewebten Jacke zeichneten sich nur andeutungsweise die Rundungen einer Frau ab. Aber immer wieder wanderten die, Augen des Barons zu einem Punkt oberhalb ihrer Schulter, denn u ucken geschlungen trug sie ein ¨ber den R¨ Kurzschwert mit breiter Klinge. Es war nicht l¨anger als der Arm des Barons, sah aber immer noch zu groß f¨ ur die kleinen H¨ande der Mesha aus. 249
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Ihr seid also gekommen“, der Baron gab sich keine M¨ahe, die Verachtung in seiner Stimme zu ” verbergen, um mit Diadom, dem Seelenfresser, zu k¨ampfen.“ ” Den Ton des Barons ignorierend´ antwortete die Mesha: Wenn Ihr immer noch eintausend in Gold ” f¨ ur den Kopf des Drachen bietet, dann ja, darum bin ich hier.“ Der Baron h¨ohnte: Und auf welche Weise wollt Ihr ihm den Kopf nehmen? Mit Eurem M¨ausestecher ” da?“ Er wies beleidi- gend auf ihr Schwert. Ich wußte nicht, daß es darauf ankommt, wie der Drache erschlagen wird.“ Die gleichm¨ utige Stimme ” der Mesha verriet nichts. Dann zieht Ihr eine bestimmte Methode vor, Exzellenz?“ ” Mesha“ erkl¨arte der Baron langsam, von ihrer Haltung ver¨ar- gert, habt Ihr jemals einen Drachen ” ” gesehen? Habt Ihr eine Vorstellung von der Gr¨oße eines Drachen? Diadom ist daf¨ ur bekannt, daß er Mastochsen von der Weide wegtr¨agt. Mit nicht mehr als einem Sherka als Reittier und einem Schnitz:messer als Waffe werdet Ihr niemals auf ein. Dutzend Schritte an das Tier herankommen! Falls Ihr Selbstmord begehen wollt, M¨adchen, tut das anderswo. Ich will Euer Blut nicht auf meinem Land haben!“ Er bezwang den Impuls, das M¨adchen zu schlagen, ihr ein biß- chen Vernunft einzubleuen. Statt dessen machte er scharf auf deni Absatz kehrt. Exzellenz.“ Ihre ruhige Stimme zwang ihn, stehenzubleiben. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, ” verfinsterten sich seine Augen. Welcher Weg f¨ uhrt zu Diadoms H¨ohle?“ ” Der Baron hatte solche M¨ uhe, seinen Zorn zu beherrschen, daß seine Stimme bebte. Ich finde, eine ” kluge Drachent¨oterin wie Ihr sollte imstande sein, ihre Beute selbst aufzusp¨ uren. Oder nicht?“ Er lachte grausam. Doch das Lachen erstarb ihm in der Kehle. Das Gesicht der Mesha verschwamm. Ihr K¨orper verschwamm. Der Boden und die´ Luft um sie verschwammen. Vor den Augen des Barons erschienen Schwanz und Klauen und hefteten sich an die Gestalt, die jetzt keine zarte Frau mehr war, sondern ein ansehnlicher und sogar f¨ urchteinfl¨oßender Drache. Gestaltwandlerin!“ Das Wort kam wie ein Hauch u ¨ber die Lippen des Barons. ” Die Drachen-Mesha gew¨ohnte sich mit ein paar kl¨affenden lauten an ihre Stimme und ließ dann ein Gebr¨ ull los. Von den gr¨ unen H¨ ugeln im Norden kam ein antwortender Schrei. Die Drachen-Mesha stampfte in dieser Richtung davon. Das kleine Bergpony sah ihr eine Weile nach. Dann ließ es den Kopf h¨angen und machte sich auf eine weitere lange Nacht ohne Gef¨ahrten gefaßt. Der kleine Spinnenmann balancierte vorsichtig u ur Schritt ¨ber die F¨aden des fremden Netzes. Schritt f¨ von einem Instinkt vorangetrie- ben, gegen den er machtlos war, drang er bis zum Mittelpunkt vor,
251 wo das glatte schwarze Weibchen ihn erwartete. Das M¨annchen z¨ogerte, aber die Spinne fiel schnell u ¨ber ihn her. Sie umschlang ihn mit ihren Beinen, zwang ihn, sich mit ihr zu paaren, bewegte sich an seinem K¨orper mit einer grimmigen und unverkennbaren Freude. Dann, noch bevor der Akt beendet war, klammerten sich die Beine der Spinne fester um den kleinen K¨orper zwischen ihnen, der heftig zappelte und bald darauf still wurde. Seelenruhig begann sie, an seinem Kopf zu knabbern. Der Baron erwachte schweißgebadet. Aus der Ferne klang das R¨ohren und St¨ohnen und Quietschen von Drachen her¨ uber, und die fremdartigen und unheimlichen Laute in Verbindung mit sei- nem abstoßenden Traum ließen ihn erbeben. Gegen Tagesanbruch h¨orte er ein lautes und zorniges Br¨ ullen, das abrupt verstummte, als die ersten Sonnenstrahlen die gr¨ unen- den H¨ ugel ber¨ uhrten. Das Traumbild der letzten Nacht von einem Spinnenweibchen, in dessen Maul der beinahe abgetrennte Kopf des M¨annchens steckte, schoß dem Baron durch den Sinn. Sp¨ater fand der Baron die Mesha in seinem Hof stehen. Auf dem Boden neben ihr lag Diadoms großer blutiger Kopf. Dankbar dr¨ uckte der Baron einen Beutel mit Goldst¨ ucken in die kleine Hand. Meine Dame, vergebt ” mir, was ich gestern gesprochen habe. Ich habe die ganze Nacht die Schreie des Dra- chen geh¨ort. Es muß. . . f¨ urchtbar gewesen sein!“ Nein, Exzellenz.“ Ein zufriedenes L¨acheln umspielte die Lip- pen der Mesha. Ich glaube, Ihr habt ” ” das v¨ollig mißverstanden. Das Vergu¨ ugen ist ganz auf meiner Seite gewesen. Wirklich. Ich habe in der Tat eine h¨ochst befriedi nde Nacht verbracht.“ Ihr Blick wanderte kurz in die Ferne. Aye´ eine ” h¨ochst befriedi- gende Nacht. Und im Vertrauen“, sie beugte sich vor und d¨ampfte die Stimme zum Fl¨ ustern, es braucht eine Menge, um mich zu befriedigen.“ ” Grinsend bestieg sie ihr Sherka. Oh, in einem Punkt hattet Ihr recht, Exzellenz“, rief sie u ¨ber die ” Schulter zur¨ uck. Ich wußte wirklich nicht, wie groß ein Drache sein kann.“ Mit den Knien trieb sie ” ihr Pony an. Aber jetzt weiß ich es. Ah, ihr s¨ ußen und gesegueten G¨ottinnen, und ob ich es weiß!“ ” Die Zufriedenheit in ihrem L¨acheln verst¨arkte sich, und so ritt die Mesha hinein in den Morgen.