HONORÉ de BALZAC
MYSTISCHE GESCHICHTEN
MIT ILLUSTRATIONEN VON HANS FRONIUS
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HONORÉ de BALZAC
MYSTISCHE GESCHICHTEN
MIT ILLUSTRATIONEN VON HANS FRONIUS
ÜBERTRAGUNG VON FACINO CANE, DIE ROTE HERBERGE, EIN DRAMA AM MEERESUFER, SARRASINE: ERNST SANDER; VON EL VERDUGO, EINE LEIDENSCHAFT IN DER WÜSTE, DAS UNBEKANNTE MEISTERWERK, LEBWOHL: FELIX PAUL GREVE (BEARBEITET VON ERNST SANDER)
LIZENZAUSGABE FÜR BERTELSMANN REINHARD MOHN OHG, GÜTERSLOH DIE EUROPÄISCHE BILDUNGSGEMEINSCHAFT VERLAGS-GMBH, STUTTGART UND DIE BUCHGEMEINSCHAFT DONAULAND, KREMAYR & SCHERIAU, WIEN DIESE LIZENZ GILT AUCH FÜR DIE DEUTSCHE BUCH-GEMEINSCHAFT C. A. KOCH'S VERLAG NACHF., BERLIN — DARMSTADT — WIEN DEUTSCHE RECHTE BEI DER CENFA AG., ZUG/SCHWEIZ SCHUTZUMSCHLAG- UND EINBANDGESTALTUNG SIEGFRIED KORTEMEIER UNTER VERWENDUNG EINER ILLUSTRATION VON HANS FRONIUS GESAMTHERSTELLUNG MOHNDRUCK REINHARD MOHN OHG, GÜTERSLOH PRINTED IN GERMANY • SCANNED BY REDSTARBURNER • BUCH-NR. 8790'1800
INHALT Facino Cane....................................................................5 El Verdugo....................................................................23 Die Rote Herberge.......................................................37 Gedanke und Tat..................................................41 Zweierlei Urteil.....................................................67 Ein Drama Am Meeresufer........................................83 Eine Leidenschaft In Der Wüste.............................109 Sarrasine......................................................................127 Das Unbekannte Meisterwerk.................................171 Lebwohl.......................................................................205
FACINO CANE
I
ch wohnte damals in einer kleinen Straße, die ihr schwerlich kennen werdet, nämlich in der Rue de Lesdiguières: sie beginnt in der Rue Saint-Antoine gegenüber einem Brunnen in der Nähe der Place de la Bastille und mündet in die Rue de la Cerisaie ein. Meine Liebe zur Wissenschaft hatte mich in einer Mansarde landen lassen, wo ich während der Nacht arbeitete; den Tag verbrachte ich in einer nahegelegenen Bibliothek, derjenigen Monsieurs. Ich lebte kärglich, ich hatte mich in alle Bedingungen eines klösterlichen Lebens geschickt, wie es sich für einen geistigen Arbeiter gebührt. Bei schönem Wetter unternahm ich kaum je einen Spaziergang auf dem Boulevard Bourdon. Eine einzige Leidenschaft drohte mich dem gewohnten Fleiß zu entreißen; aber gehörte nicht auch sie meinem Studienplan an? Ich unterrichtete mich nämlich über das Leben des Faubourg, seine Bewohner und deren Charaktere. Da ich genauso schlicht gekleidet war wie die Arbeiter und gleichgültig gegen alles Äußere, fiel ich ihnen nicht weiter auf; ich konnte mich in ihre Gruppen mischen, zuschauen, wie sie ihre Einkäufe tätigten und wie sie zu der Stunde, zu der sie ihre Arbeit beendet hatten, miteinander stritten. Das Beobachten war bei mir bereits intuitiv geworden, es drang bis zum Wesen vor, ohne das Äußere zu vernachlässigen; oder vielmehr, es erfaßte die äußeren Einzelheiten so trefflich, daß es augenblicklich darüber hinausging; es verlieh mir die Fähigkeit, das Leben des betreffenden Individuums, das ich beobachtete, zu leben; ich konnte mich in jenen Menschen hineinversetzen, wie der Derwisch in ›Tausendundeine Nacht‹ Leib und Seele derer annahm, über die er bestimmte Worte sprach. Wenn ich zwischen elf Uhr und Mitternacht einem mit seiner Frau vom Ambigu-Comique heimkehrenden Arbeiter begegnete, machte es mir Spaß, ihnen vom Boulevard du Pont-aux-Choux bis zum Boulevard Beaumarchais nachzugehen. Die wackeren Leute redeten anfangs über das Stück, das sie gesehen hatten, aber nach und nach –5–
kamen sie auf ihre eigenen Angelegenheiten zu sprechen; die Mutter zerrte an der Hand ihr Kind hinter sich her, ohne auf sein Jammern und Bitten zu hören; die Eheleute überrechneten das Geld, das ihnen am nächsten Tag ausgezahlt werden würde, und gaben es auf zwanzig verschiedene Arten aus. Dann kamen Einzelheiten des Haushalts dran, sie stöhnten über die übertrieben hohen Kartoffelpreise oder den allzu langen Winter und die Erhöhung des Torfpreises, sie erörterten energisch, was sie beim Bäcker schuldeten, schließlich wurde das Hinundhergerede immer giftiger, und beide enthüllten ihren Charakter in pittoresken Ausdrücken. Wenn ich dergleichen Leuten lauschte, vermochte ich in ihr Leben einzudringen, ich verspürte ihre Lumpen auf dem eigenen Rücken, ich schritt in ihren durchlöcherten Schuhen einher; ihre Wünsche, ihre Nöte durchglitten meine Seele, oder meine Seele glitt in die ihrige hinein. Es war wie ein Wachtraum. Ich erhitzte mich mit ihnen über die Vorarbeiter in den Werkstätten, von denen sie tyrannisiert wurden, oder über üble Gepflogenheiten, die bedingten, daß sie mehrmals wiederkommen mußten, ohne bezahlt zu werden. Meine Gewohnheiten abzulegen, ein anderer als ich selber zu werden durch den Rausch meiner geistig-seelischen Fähigkeiten, und dieses willkürliche Spiel zu betreiben: darin bestand meine einzige Abwechslung. Wem verdanke ich diese Gabe? Ist es eine Art zweites Gesicht? Ist es eine der Fähigkeiten, deren Mißbrauch zum Wahnsinn führen würde? Nie habe ich den Ursachen dieser Kraft nachgespürt; ich besitze sie und bediene mich ihrer, und damit basta. Ihr sollt lediglich noch erfahren, daß ich damals bereits die Grundbestandteile der ›das Volk‹ genannten heterogenen Masse zergliedert, daß ich sie analysiert hatte, um ihre guten und schlechten Eigenschaften richtig abschätzen zu können. Ich wußte bereits, wozu diese Stadtgegend nütze sein könne, diese Brutstätte der Revolutionen, die Helden in sich birgt, Erfinder, Techniker, Schurken, Verworfene, Tugenden und Laster, samt und sonders vom Elend zusammengepreßt, von der Not erstickt, vom Wein ertränkt, vom Schnaps entkräftet. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele vergeblich bestandene Abenteuer, wie viele vergessene Tragödien sich in dieser Stadt des Schmerzes abgespielt haben! Wie viele –6–
schauerliche und schöne Dinge! Nie wird die Phantasie an die Wirklichkeit heranreichen, die sich hier verbirgt und die niemand aufzudecken vermag; man muß zu tief hinabsteigen, um zu den wunderbaren oder tragischen, oder komischen Szenen zu gelangen, diesen vom Zufall gezeugten Meisterwerken. Ich weiß nicht, warum ich die Geschichte, die ich euch jetzt erzählen will, so lange bei mir behalten habe; sie gehört zu jenen seltsamen Erzählungen, die wie Lotterienummern im Sack bleiben, aus dem das Gedächtnis sie dann launisch hervorzieht: ich verfüge noch über eine Fülle anderer, genauso seltsamer wie diese es ist, und sie sind ebenfalls verborgen; aber auch sie werden drankommen, glaubt es nur. Eines Tages bat mich meine Haushälterin, die Frau eines Arbeiters, ich möge doch die Hochzeitsfeier einer ihrer Schwestern mit meiner Anwesenheit beehren. Um euch verständlich zu machen, was es mit jener Hochzeit auf sich hatte, muß ich euch sagen, daß ich dieser armen Kreatur, die mir alle Morgen das Bett machte, die Schuhe putzte, meine Garderobe ausbürstete, das Zimmer ausfegte und mir das Frühstück bereitete, monatlich vierzig Sous gab; den Rest des Tages über drehte sie an der Kurbel einer Maschine und verdiente sich durch diese harte Arbeit täglich zehn Sous. Ihr Mann, ein Kunstschreiner, verdiente vier Francs. Da indessen das Ehepaar drei Kinder hatte, konnte es kaum in Ehren sein Brot essen. Nie bin ich einer verläßlicheren Rechtschaffenheit begegnet als bei diesem Mann und dieser Frau. Als ich schon aus jener Stadtgegend weggezogen war, ist die Mutter Vaillant noch fünf Jahre lang zu meinem Namenstag gekommen, hat mich beglückwünscht und mir einen Blumenstrauß und Orangen gebracht, und dabei hat sie sich nie zehn Sous auf die hohe Kante legen können. Die Not hatte uns einander nahegebracht. Ich habe ihr nie mehr als zehn Francs geben können, und die habe ich mir oftmals für diese Gelegenheit leihen müssen. Das möge erklären, weshalb ich versprach, zu jener Hochzeitsfeier zu kommen; ich rechnete damit, mich in die Freude dieser armen Leute hineinducken zu können.
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Das Festessen und die Tanzerei, all das fand bei einem Weinhändler in der Rue de Charenton statt, im ersten Stock, in einem großen Zimmer, das von Lampen mit Weißblechreflektoren erhellt wurde; die Wände waren bis zur Tischhöhe mit einer schmutzigen Tapete beklebt, und an den Wänden entlang standen Holzbänke. In diesem Zimmer befanden sich achtzig Leute im Sonntagsstaat, geschmückt mit Blumensträußen und Bändern, alle angefeuert vom Geist der Courtille, mit entflammten Gesichtern, und sie tanzten, als stehe der Weltuntergang bevor. Die Brautleute küßten einander zur allgemeinen Freude; es wurde Hehe! und Haha! geschrien, was spaßig war, aber im Grunde weniger ungehörig als das schüchterne Äugeln wohlerzogener junger Mädchen. All diese Menschen bezeigten eine ungehobelte Freudigkeit, der förmlich etwas Ansteckendes innewohnte. Aber weder die Physiognomien dieser Gesellschaft noch die Hochzeit, noch irgend etwas aus diesem Kreis hat etwas mit meiner Geschichte zu tun. Behaltet lediglich das Bizarre des Rahmens. Stellt euch die gemeine, rotgetünchte Kneipe vor, schnuppert ihren Weindunst, vernehmt das Freudengeheul, bleibt in diesem Stadtteil, inmitten dieser Arbeiter, dieser alten Männer, dieser armen Frauen, die sich für eine Nacht der Freude hingaben! Die Tanzkapelle bestand aus drei Blinden aus Les Quinze-Vingts; der erste spielte Geige, der zweite Klarinette, der dritte die Schnabelflöte. Alle drei zusammen erhielten für diese Nacht sieben Francs. Für diesen Preis warteten sie natürlich weder mit Rossini noch mit Beethoven auf, sie spielten, was sie wollten und was sie konnten; keiner machte ihnen einen Vorwurf daraus, was von bezauberndem Takt zeugte! Ihre Musik griff das Trommelfell so brutal an, daß ich, nachdem ich die Versammlung flüchtig gemustert hatte, mir dies Blindentrio anschaute und sogleich nachsichtig gestimmt wurde, als ich ihre Uniform gewahrte. Diese Künstler saßen in einer Fensternische; um also ihre Gesichter genau anschauen zu können, mußte man ganz dicht zu ihnen hintreten: das tat ich nicht auf der Stelle; als ich jedoch zu ihnen ging, ich weiß nicht, wie es kam, da war alles ent–8–
schieden, die Hochzeitsgesellschaft und die Musik verschwanden, meine Neugier wurde in höchstem Maße angefacht, denn meine Seele ging in den Leib des Klarinettisten über. Der Geiger und der Schnabelflötenspieler hatten vulgäre Gesichter, die wohlbekannten Blindengesichter, angespannt, aufmerksam und ernst; das des Klarinettisten jedoch bot eins der Phänomene dar, die sogleich den Künstler und den Philosophen stutzig machen. Stellt euch vor, die Gipsmaske Dantes werde von rötlichem Lampenlicht übergossen, und es erhebe sich darüber ein Wald von silberweißem Haar. Der bittere, schmerzliche Ausdruck dieses prächtigen Kopfes wurde durch die Blindheit noch gesteigert, denn die toten Augen erhielten neues Leben durch den Geist; es ging von ihnen etwas wie ein loderndes Leuchten aus, das von einem einzigen, unablässigen Wunsch herrührte; er stand kraftvoll auf einer gewölbten Stirn geschrieben, die von Falten durchzogen war wie eine Wand von Rissen. Der Alte blies, wie es gerade kam, ohne dem Rhythmus oder der Melodie die geringste Beachtung zu schenken, seine Finger senkten oder hoben sich, sie betätigten die alten Klappen in mechanischer Gewohnheit, er genierte sich kein bißchen, das hervorzubringen, was Or-
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chestermusiker als Quietscher bezeichnen; die Tanzenden bemerkten das ebensowenig wie die beiden Kollegen meines Italieners; ich wollte nämlich, daß er Italiener sei, und er war auch Italiener. Es haftete diesem alten Homer etwas Großes und Despotisches an; er trug wohl eine zur Vergessenheit verdammte Odyssee in sich. Es handelte sich um eine so echte Größe, daß sie noch über seine tiefe Erniedrigung triumphierte, und um einen so ausgeprägten Despotismus, daß er die Armut beherrschte. Keine der heftigen Leidenschaften, die den Menschen zum Guten wie zum Bösen führen, die aus ihm einen Sträfling oder einen Helden machen, ermangelte diesem edel geschnittenen Gesicht, das fahlgelb war wie bei vielen Italienern, und beschattet von ergrauten Brauen; sie warfen ihre Schatten über tiefe Augenhöhlen, und es durchschauerte einen, wenn man meinte, das Licht des Denkens könne darin wiedererscheinen, gerade wie man fürchtet, aus dem Eingang einer Höhle könnten ein paar Räuber mit Fackeln und Dolchen hervorbrechen. Dieser Käfig aus Fleisch und Blut barg einen Löwen, einen Löwen, dessen Wut sich an Eisenstäben nutzlos erschöpft hatte. Die Feuersbrunst der Verzweiflung war zu Asche verloht, die Lava erkaltet; aber die Erdrisse, Verwüstungen, ein wenig Rauch zeugten von der Heftigkeit der Eruption, den Verheerungen durch das Feuer. Diese Vorstellungen, die der Anblick jenes Mannes erweckte, waren in meinem Innern so heiß, wie sie auf seinem Antlitz kalt waren. Nach jedem Kontertanz hängten Geiger und Schnabelflötenbläser, die sich ernstlich nur für Glas und Flasche interessierten, ihr Instrument an den Knopf ihres rötlichen Überrockes, streckten die Hand nach einem in der Fensternische stehenden kleinen Tisch aus, der ihnen als Kantine diente, und reichten dem Italiener jedesmal ein volles Glas; er selber konnte es sich nicht nehmen, da der Tisch hinter seinem Stuhl stand; jedesmal dankte der Klarinettist durch ein freundliches Nicken. Ihre Bewegungen vollzogen sich mit einer Exaktheit, die einen bei den Blinden aus Les Quinze-Vingts stets erstaunt und die glauben macht, sie könnten sehen. Ich trat zu den drei Blinden hin, weil ich sie belauschen wollte; doch als ich ganz dicht vor ihnen – 10 –
stand, witterten sie nach mir hin, merkten wohl, daß ich kein Arbeiter sei, und verhielten sich still. »Aus welcher Gegend stammen Sie eigentlich, Sie, der Klarinettist?« »Aus Venedig«, antwortete der Blinde mit einem leichten italienischen Akzent. »Sind Sie blind geboren worden, oder sind Sie erblindet durch...« »Durch einen unglücklichen Zufall«, antwortete er lebhaft; »durch einen gottverfluchten schwarzen Star.« »Venedig ist eine schöne Stadt, ich habe mich von je gesehnt, mal hinzufahren.« Die Züge des Alten belebten sich, seine Falten zuckten, er war heftig erschüttert. »Wenn ich mit Ihnen führe, würden Sie Ihre Zeit nicht vergeuden«, sagte er. »Reden Sie mit ihm nicht über Venedig«, sagte der Geiger zu mir, »sonst legt unser Doge los; hinzu kommt, daß er schon zwei Pullen im Bauch hat, der Fürst!« »Los, weiter, Papa Quietscher«, sagte der Flötist. Alle drei fingen wieder zu spielen an; aber während sie vier Kontertänze spielten, witterte der Venezianer zu mir hin; er ahnte wohl das sehr tiefe Interesse, daß ich ihm entgegenbrachte. Sein Gesicht verlor den kalten Ausdruck der Traurigkeit, irgendeine Hoffnung erhellte seine Züge und rann wie eine blaue Flamme durch seine Runzeln; er lächelte und wischte sich die Stirn ab, seine kühne, furchtbare Stirn; schließlich wurde er heiter wie jemand, der sein Stekkenpferd bestiegen hat. »Wie alt sind Sie eigentlich?« fragte ich ihn. »Zweiundachtzig! « »Und seit wann sind Sie blind?« – 11 –
»Es sind nun bald fünfzig Jahre«, antwortete er in einem Tonfall, der bezeugte, daß sein Kummer nicht nur mit dem Verlust des Augenlichts zusammenhing, sondern mit dem einer großen Macht, die er eingebüßt haben mußte. »Warum werden Sie ›der Doge‹ genannt?« fragte ich ihn. »Ach, nur um mich zu ärgern«, sagte er, »ich bin venezianischer Patrizier, hätte also wie jeder andere Doge werden können.« »Wie heißen Sie denn?« »Hier«, sagte er, »der alte Canet. Nur so hat mein Name in die amtlichen Register eingetragen werden können; aber auf Italienisch heiße ich Marco Facino Cane, Fürst von Varese.« »Wie? Sie stammen also von dem berühmten Condottiere Facino Cane ab, dessen Eroberungen an die Herzöge von Mailand gefallen sind?« »E vero«, sagte er. »Damals ist der Sohn des Cane nach Venedig geflohen, damit die Visconti ihn nicht umbrachten, und hat sich ins Goldene Buch eintragen lassen. Heute freilich gibt es weder einen Cane noch das Goldene Buch mehr.« Und er vollführte eine erschreckende Geste, aus der erloschener Patriotismus und Ekel vor allem Menschlichen sprach. »Aber wenn Sie venezianischer Senator waren, mußten Sie doch reich sein; wodurch sind Sie Ihres Vermögens verlustig gegangen?« Auf diese Frage hob er den Kopf zu mir hin, als wolle er mich in einer wahrhaft tragischen Aufwallung anschauen, und antwortete: »Durch Unglück!« Er dachte nicht mehr ans Trinken, er wies sogar durch eine Geste das Glas Wein zurück, das der alte Flötenspieler ihm in diesem Augenblick hinhielt; dann senkte der den Kopf. Das alles war nicht geeignet, meine Neugier zu dämpfen. Während des Kontertanzes, den diese drei Musikapparate jetzt spielten, musterte ich den alten venezianischen Nobile mit Gefühlen, wie sie einen Zwanzigjährigen – 12 –
verzehren. Ich sah Venedig und die Adria vor mir, ich sah es verwüstet in seinem verwüsteten Gesicht. Ich erging mich in der von ihren Bewohnern so heiß geliebten Stadt, ich schlenderte vom Rialto zum Canale Grande, von der Riva degli Schiavoni fuhr ich zum Lido, ich kehrte zum Dom zurück, der auf eine ganz besondere Weise ehrwürdig ist; ich beschaute die Fenster der Cà d'Oro, deren jedes andersgeartetes Zierwerk hat; ich betrachtete die alten, üppigen Marmorpaläste, kurzum: all die Wunder, mit denen der Kundige um so mehr sympathisiert, als er sie nach seinem Gefallen ausschmücken kann und seine Träume nicht durch den Anblick der Wirklichkeit des Poetischen berauben läßt. Ich malte mir den Lebenslauf dieses Abkömmlings des größten aller Condottieri aus und forschte nach den Spuren seines Unglücks und den Ursachen dieser tiefen physischen und moralischen Erniedrigung, die indessen die Funken von Größe und Adel, die in diesem Augenblick wieder aufgeglüht waren, noch schöner machte. Offenbar hegten wir die gleichen Gedanken, denn ich glaube, daß die Blindheit den intellektuellen Austausch sich rascher vollziehen läßt, weil sie der Aufmerksamkeit verwehrt, sich an die Außendinge zu heften. Der Beweis unserer beiderseitigen Sympathie ließ nicht auf sich warten. Facino Cane hörte auf zu blasen, stand auf, trat zu mir hin und sagte: »Wir wollen gehen!«, was auf mich wie ein elektrischer Schlag wirkte. Ich reichte ihm den Arm, und wir gingen weg. Als wir auf der Straße waren, sagte er: »Wollen Sie mich nach Venedig geleiten, mich hinführen, wollen Sie mir Glauben schenken? Dann sollen Sie reicher werden als die zehn reichsten Handelsfirmen in Amsterdam oder London, reicher als die Rothschilds, mit einem Wort: reich wie in ›Tausendundeine Nacht‹.« Ich meinte, der Mann sei wahnsinnig; allein in seiner Stimme bekundete sich eine Macht, der ich gehorchte. Ich ließ mich führen, und er brachte mich zu den Bastillegräben, als habe er Augen. An einer sehr abgelegenen Stelle, wo seither die Brücke gebaut worden ist, unter der der Saint-Martin-Kanal in die Seine mundet, setzte er sich auf einen Stein. Ich setzte mich auf einen andern dem – 13 –
alten Mann gegenüber, dessen weißes Haar im Mondlicht schimmerte wie Silberdraht. Die Stille, die kaum von dem zu uns dringenden gewitternden Lärm der Boulevards gestört wurde, und die Reinheit der Nacht trugen dazu bei, daß die Szene zu etwas wahrhaft Phantastischem gedieh. »Sie sprechen zu einem jungen Menschen von Millionen, und Sie glauben, er könne zaudern, tausend Übel zu erdulden, um sie einzuheimsen? Sie machen sich doch nicht etwa über mich lustig?« »Möge ich ohne Beichte sterben«, fuhr er mich an, »wenn das, was ich Ihnen sagen will, nicht wahr ist. Ich bin zwanzig gewesen, wie Sie es gegenwärtig sind, ich war reich, war schön, von Adel, und ich habe mit der ersten unter allen Torheiten begonnen, mit der Liebe. Ich habe geliebt, wie heute keiner mehr liebt, so, daß ich mich in einen Geldschrank sperren ließ, auf die Gefahr hin, erdolcht zu werden, und das alles, ohne daß mir anderes verheißen worden wäre als ein Kuß. Für sie zu sterben dünkte mich ein ganzes Leben. 1760 hatte ich mich in eine Vendramin verliebt, sie war achtzehn und mit einem Sagredo verheiratet, einem der reichsten Senatoren, einem Mann von dreißig Jahren und versessen auf seine Frau. Die, die ich liebte, und ich, wir waren unschuldig wie zwei Cherubine, als der Sposo uns bei einem Gespräch über die Liebe überraschte; ich war waffenlos, er fehlte mich, ich warf mich auf ihn, würgte ihn mit meinen beiden Händen und drehte ihm den Hals um wie einem Hähnchen. Ich wollte mit Bianca auf und davon, doch sie wollte mir nicht folgen. Da haben Sie die Frauen! Ich bin allein geflohen, bin verurteilt worden, meine Güter wurden zugunsten meiner Erben beschlagnahmt; aber ich hatte meine Diamanten mitgenommen, fünf zusammengerollte Bilder von Tizian und all mein Gold. Ich ging nach Mailand, wo niemand mir ein Haar krümmte: der Staat war an meinem Fall uninteressiert. Gestatten Sie eine kleine Bemerkung, ehe ich fortfahre«, sagte er nach einer Pause. »Ob nun die Einbildungen einer Frau auf das Kind, während sie es trägt oder wenn sie es empfängt, von Einfluß sind oder nicht: als gewiß bleibt bestehen, daß meine Mutter während ihrer Schwangerschaft eine Leidenschaft für – 14 –
Gold empfand. Ich nun aber hänge mit einer Manie am Gold, und deren Befriedigung ist für mein Leben so notwendig, daß ich in jeder Lage, darein ich geriet, immer Gold bei mir gehabt habe; in einem fort fingere ich an Gold herum, in meiner Jugend trug ich stets Schmuck und hatte immer zwei- oder dreihundert Dukaten bei mir.« Mit diesen Worten zog er zwei Dukaten aus der Tasche und zeigte sie mir. »Ich rieche das Gold. Obwohl ich blind bin, bleibe ich vor den Juwelierläden stehen. Diese Leidenschaft hat mir Unheil gebracht, ich bin zum Spieler geworden, um mit Gold spielen zu können. Ich war kein Gauner, wurde jedoch begaunert, und so kam es zu meinem Ruin. Als ich keinerlei Geldmittel mehr besaß, überkam mich ein wütender Drang, Bianca zu sehen; heimlich fuhr ich nach Venedig zurück, fand sie wieder, war sechs Monate glücklich; sie hielt mich versteckt und versorgte mich mit Nahrung.Hingerissen vermeinte ich, auf diese Weise mein Leben zu beenden. Der Proveditore umwarb sie; er witterte einen Rivalen, in Italien erschnuppert man so etwas: er spionierte uns nach, überraschte uns im Bett, der Feigling! Stellen Sie sich die Heftigkeit unseres Kampfes vor: ich brachte ihn nicht um, ich verwundete ihn schwer. Dies Abenteuer zerbrach mein Glück. Seit jenem Tage habe ich Bianca nie wiedergesehen. Ich habe große, lustvolle Freuden erlebt, ich war am Hof Ludwigs XV. unter den berühmtesten Frauen – aber bei keiner habe ich die köstlichen Eigenschaften, die Anmut, die Liebe meiner geliebten Venezianerin wiedergefunden. Der Proveditore hatte seine Dienstleute bei sich gehabt, sie gerufen, den Palazzo umzingeln lassen, sie waren eingedrungen; ich verteidigte mich, um unter Biancas Augen zu sterben; sie half mir, den Proveditore kaltzumachen. Ehedem hatte sie nicht mit mir fliehen wollen; doch nach diesen sechs Monaten des Glücks wollte sie mit mir zusammen sterben und bekam mehrere Degenstiche. Es wurde mir ein großer Mantel übergeworfen, ich wurde hineingerollt, in eine Gondel getragen und in einen unterirdischen Kerker, ein Brunnenloch, geworfen. Ich bin damals zweiundzwanzig gewesen, ich hielt den Stumpf meines Degens so fest, daß man, um – 15 –
ihn mir abzunehmen, mir die Faust hätte abhauen müssen. Ein seltsamer Zufall oder vielmehr die Eingebung eines Gedankens der Vorsicht ließ mich dieses Stück Eisen in einem Winkel verstecken, als könne ich mich seiner noch einmal bedienen. Ich wurde verbunden. Keine meiner Wunden war tödlich. Mit zweiundzwanzig übersteht man alles. Ich sollte enthauptet werden; da spielte ich den Kranken, um Zeit zu gewinnen. In der Annahme, mein Kerker sei in der Nähe des Kanals gelegen, heckte ich einen Fluchtplan aus: ich wollte die Mauer durchbohren und durch den Kanal schwimmen, auch auf die Gefahr hin, zu ertrinken. Auf folgende Erwägungen stützte sich meine Hoffnung. Jedesmal, wenn der Kerkermeister mir das Essen brachte, las ich an die Mauern geschriebene Hinweise: Palastseite, Kanalseite, Kellerseite, und schließlich gewahrte ich einen Plan, dessen Kompliziertheit mir einige Unruhe schuf; er war indessen durch den gegenwärtigen, unvollendeten Zustand des Dogenpalastes erklärbar. Mit dem Genie, das das Verlangen nach Wiedergewinn der Freiheit einem verleiht, gelang es mir, durch Abtasten der Oberfläche eines Steins eine arabische Inschrift zu enträtseln, durch die der Urheber dieses Werks seinen Nachfolgern kundtat, er habe in der un-
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tersten Schicht zwei Steine gelockert und elf Fuß tief in den Untergrund hinein weitergewühlt. Um sein Werk forzusetzen, mußten die Bruchstücke von Stein und Mörtel, die sich bei diesem Ausbruch ergaben, auf den ganzen Kerkerboden verteilt werden. Hätte die Anlage des Bauwerks, das nur eine Überwachung von außen her zu erfordern schien, die Wächter oder die Inquisitoren nicht ohnehin schon sicher gemacht, so hätte die Lage des Brunnenschachts, zu dem man auf ein paar Stufen hinabsteigt, es gleichwohl gestattet, den Boden nach und nach aufzuheben, ohne daß die Wärter es gemerkt hätten. Diese Riesenarbeit war dem Anschein nach überflüssig gewesen, wenigstens für den, der sie in Angriff genommen hatte, denn daß sie unvollendet geblieben war, verkündete den Tod des Unbekannten. Damit sein hingebungsvolles Tun nicht bis in alle Ewigkeit vergebens vollbracht sei, bedurfte es eines Gefangenen, der Arabisch konnte; ich nun aber hatte mich im Kloster der Armenier mit orientalischen Sprachen befaßt. Ein Satz auf der Hinterseite des Steins sagte vom Schicksal des Unglücklichen aus: er war als ein Opfer seiner unermeßlichen Reichtümer gestorben, die Venedig begehrt und deren es sich bemächtigt hatte. Es kostete mich einen Monat, bis ich zu einem Ergebnis gelangt war. Während ich grub und in den Minuten, da die Erschöpfung mich auslöschte, hörte ich den Klang des Goldes, sah ich Gold vor mir, war ich geblendet von Diamanten! Oh, hören Sie zu! Eines Nachts stieß mein stumpf gewordener Stahl auf Holz. Ich schärfte mein Degenende und bohrte in jenes Holz ein Loch. Um arbeiten zu können, mußte ich wie eine Schlange auf dem Bauch kriechen; ich habe mich, um wühlen zu können wie ein Maulwurf, nackt ausgezogen, die Hände vor mich hin gestreckt; als Stützpunkt diente mir der Stein. Zwei Tage, bevor ich vor meinen Richtern erscheinen sollte, wollte ich nachts einen letzten Versuch unternehmen; ich durchbohrte das Holz, und dahinter fand mein Eisen nirgends mehr Widerstand. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich die Augen an das Loch drückte! Ich hatte die Wandverschalung eines Kellerraums durchbohrt, in dem ein matter Lichtschein mich einen Haufen Gold sehen ließ. In jenem Keller befanden sich der Doge und ein Mitglied des Rats der Zehn; – 17 –
ihren Reden konnte ich entnehmen, daß sich dort der Geheimschatz der Republik befinde, die Stiftungen der Dogen, die Reserven aus der Beute, die ›der venezianische Denar‹ genannt werden, dort hinein floß ein gewisser Anteil der Kriegserträgnisse. Ich war gerettet! Als der Kerkermeister kam, schlug ich ihm vor, er solle mein Entweichen begünstigen, mit mir auf und davon gehen und alles mitnehmen, was wir an uns raffen könnten. Es gab kein Zaudern, er willigte ein. Ein Schiff nach der Levante lag unter Segel, alle Vorschriftsmaßregeln wurden getroffen, Bianca unterstützte die Maßnahmen, die ich meinem Helfershelfer diktierte. Damit kein Argwohn entstehe, sollte Bianca erst in Smyrna mit uns zusammentreffen. In einer Nacht wurde das Loch erweitert, und wir stiegen in das Gemach hinein, in dem Venedigs Geheimschatz lag. War das eine Nacht! Vier Tonnen voll Gold habe ich vor mir stehen sehen. In dem Gemach daneben lag Silber in zwei Haufen aufgeschichtet, so daß ein Weg dazwischen frei blieb, damit man durch den Raum hindurchgehen konnte, in dem die Geldstücke wie Böschungen etwa fünf Fuß hoch an den Mauern emporgeschichtet lagen. Ich glaubte, der Kerkermeister würde wahnsinnig werden; er sang, er hüpfte umher, er lachte, er trieb Narrenpossen im Gold; ich drohte ihm, ich würde ihn erwürgen, wenn er Zeit verliere oder Lärm mache. In seiner Freude sah er zunächst gar nicht einen Tisch, auf dem die Diamanten lagen. Behend stürzte ich mich darauf und stopfte mir meine Matrosenbluse und die Hosentaschen voll. Mein Gott! Nicht mal ein Drittel habe ich an mich nehmen können. Unter dem Tisch lagen Goldbarren. Ich brachte meinen Kameraden dahin, daß er so viele Säcke mit Gold fülle, wie wir tragen konnten; ich gab ihm zu bedenken, daß dies das einzige Mittel sei, im Ausland nicht entdeckt zu werden. »Perlen, Geschmeide, Diamanten würden uns nur verraten«, sagte ich. So groß auch unsere Habgier war, mehr als zweitausend Pfund Gold konnten wir nicht fortschaffen, und dazu war erforderlich, daß wir den Weg vom Gefängnis bis zur Gondel sechsmal zurücklegten. Der Wachtposten am Wassertor war durch ein Säckchen mit zehn Pfund Gold bestochen worden. Was die beiden Gondoliere betraf, so glaubten sie, der Republik einen Dienst zu erweisen. Als es hell – 18 –
wurde, liefen wir aus. Als wir auf hoher See waren, als ich an diese Nacht zurückdachte, als ich mich aller durchgemachten Aufregungen erinnerte, als ich mir den ungeheuren Schatz vergegenwärtigte, wo ich meiner Schätzung nach dreißig Millionen in Silber und zwanzig in Gold, mehrere Millionen in Diamanten, Perlen und Rubinen zurückgelassen hatte, vollzog sich etwas wie aufwallender Wahnwitz in mir. Ich hatte das Goldfieber. In Smyrna ließen wir uns an Land setzen und schifften uns sogleich nach Frankreich ein. Als wir an Bord des französischen Schiffes gegangen waren, hatte Gott die Gnade, mich meines Helfershelfers zu entledigen. In jenem Augenblick bedachte ich nicht die volle Tragweite dieser Missetat des Zufalls, über die ich mich sehr freute. Wir waren beide so erschöpft gewesen, daß wir kaum miteinander gesprochen und darauf gewartet hatten, in Sicherheit zu sein und dann nach Kräften genießen zu können. Was Wunder, daß sich dem armen Kerl alles im Kopf drehte. Sie werden noch hören, wie Gott mich gestraft hat. Ich glaubte mich erst sicher, als ich zwei Drittel meiner Diamanten in London und Amsterdam verkauft und meinen Goldstaub in Wertpapieren angelegt hatte. Fünf Jahre lang hielt ich mich in Madrid verborgen; dann bin ich 1770 unter falschem Namen nach Paris übergesiedelt und habe dort ein glänzendes Leben geführt. Bianca war gestorben. Mitten in meinen Wollüsten, als ich die Erträgnisse eines Vermögens von sechs Millionen genoß, wurde ich von Blindheit geschlagen. Ich bin überzeugt, daß dieses Leiden die Folge meines Aufenthalts im Kerker gewesen ist, meines Wühlens durch das Gestein, sofern meine Fähigkeit, Gold zu sehen, nicht den Sieg über meine Sehkraft davongetragen und mich zum Verlust des Augenlichts prädestiniert hat. Zu jener Zeit liebte ich eine Frau, von der ich annahm, ich könne mein Schicksal an das ihre binden; ich hatte ihr das Geheimnis meines Namens anvertraut, sie gehörte einer mächtigen Familie an, ich erhoffte mir alles von der Gunst, die Ludwig XV. mir gewährte, ich hatte all mein Vertrauen in jene Frau gesetzt, die die Freundin der Madame du Barry war, sie riet mir, einen berühmten Londoner Augenarzt zu konsultieren: doch nach ein paar Monaten des Aufenthalts in jener Stadt hat jene Frau mich im Hyde-Park stehenlassen; – 19 –
sie hatte mein ganzes Vermögen an sich gebracht und mich völlig mittellos gemacht; denn da ich meinen Namen geheimhalten mußte, der mich der Rache Venedigs preisgegeben hätte, konnte ich niemands Beistand anrufen, ich fürchtete Venedig. Mein Leiden wurde von Spitzeln ausgebeutet, die jene Frau mir nachschickte. Ich könnte Ihnen Abenteuer erzählen, die des Gil Blas würdig wären. Dann kam Ihre Revolution. Ich wurde gezwungen, in Les Quinze-Vingts einzutreten, wohin jene Kreatur mich überweisen ließ, nachdem sie mich zwei Jahre lang als Geisteskranken in Bicêtre hatte festsetzen lassen,ich habe sie nicht umbringen können; ich konnte ja nichts mehr sehen, und ich war zu arm, um mir einen Helfershelfer zu dingen. Wenn ich Benedetto Carpi, meinen Kerkermeister, ehe ich ihn verlor, nach der Lage meines Kerkers gefragt hätte, dann hätte ich auf den Schatz hinweisen und nach Venedig zurückkehren können, als Napoleon der Republik ein Ende gemacht hatte. Aber lassen Sie uns trotz meiner Blindheit nach Venedig reisen Ich kann das Gefängnistor wiederfinden, ich sehe Gold durch die Mauern hindurch, ich erwittere es unter den Fluten, in die es versenkt worden ist; denn die Geschehnisse, die Venedigs Macht gebrochen haben, sind solcherart, daß das Geheimnis des Schatzes sicherlich mit Vendramin zugrunde gegangen ist, dem Bruder Biancas, einem Dogen, der, wie ich hoffte, meinen Frieden mit dem Rat der Zehn angebahnt haben würde. Ich habe Eingaben an den Ersten Konsul gemacht, ich habe dem Kaiser von Österreich einen Vertrag vorgeschlagen, alle haben mich abgewiesen wie einen Irrsinnigen! Kommen Sie, lassen Sie uns nach Venedig reisen, wir brechen als Bettler auf und kehren als Millionäre zurück; wir kaufen meine Besitztümer wieder auf, und Sie sollen mein Erbe, sollen Fürst von Varese sein.«
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Bestürzt über dieses Geständnis, das in meiner Phantasie die Ausmaße einer Dichtung angenommen hatte, beim Anblick dieses weißhaarigen Kopfes und angesichts des dunklen Wassers der Bastillegräben, eines schlafenden Wassers wie das der Kanäle von Venedig, gab ich keine Antwort. Sicherlich glaubte Facino Cane, ich beurteilte ihn wie die andern, mit verachtendem Mitleid; er tat eine Geste, die der ganzen Philosophie der Verzweiflung Ausdruck gab. Vielleicht hatte seine Erzählung ihn in seine Tage des Glücks in Venedig zurückgetragen; er nahm seine Klarinette und blies schwermütig ein venezianisches Lied, eine Barkarole, bei deren Spielen er sein jugendliches Talent, sein Talent als liebender Patrizier, wiederfand. Es klang wie etwa das Super flumina Babylonis. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Falls ein paar späte Heimkehrer den Boulevard Bourdon entlanggegangen sind, sind sie sicherlich stehengeblieben und haben dem letzten Gebet des Verbannten gelauscht, der letzten Klage über einen verlorenen Namen, in die sich die Erinnerung an Bianca mischte. Doch nur zu bald gewann das Gold wieder die Oberhand, und die verhängnisvolle Leidenschaft brachte das Aufschimmern von Jugend zum Erlöschen. – 21 –
»Jenen Schatz«, sagte er zu mir, »sehe ich immerfort vor mir, im Wachen wie im Traum; ich gehe dazwischen umher, die Diamanten blitzen, ich bin nicht so blind, wie Sie glauben: Gold und Diamanten erhellen meine Nacht, die Nacht des letzten Facino Cane, denn mein Titel geht auf die Memmi über. Mein Gott! Die Bestrafung des Mörders hat beizeiten eingesetzt. Ave Maria...« Er murmelte mehrere Gebete; ich hörte ihm nicht zu. »Wir fahren nach Venedig«, rief ich, als er aufstand. »Also bin ich einem Menschen begegnet«, rief er, und sein Gesicht erglühte. Ich bot ihm den Arm und geleitete ihn; an der Pforte von Les Quinze-Vingts drückte er mir die Hand; es kamen gerade Hochzeitsgäste vorbei und grölten aus vollem Halse. »Fahren wir morgen los?« fragte der alte Mann. »Sobald wir einiges Geld beisammen haben.« »Aber wir können doch zu Fuß gehen, ich bettele um Almosen... Ich bin rüstig, und wenn man Gold vor sich sieht, wird man jung.« Facino Cane ist im Lauf des Winters gestorben, nach zwei Monaten des Hinsiechens. Der arme Mann hatte einen Lungenkatarrh.
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EL VERDUGO
V
om Kirchturm der kleinen Stadt Menda hatte es eben Mitternacht geschlagen. In diesem Augenblick lehnte ein junger französischer Offizier an der Brüstung einer langen Terrasse, die sich an den Gärten der Burg von Menda hinzog; er schien in tieferes Sinnen versunken zu sein, als es sonst mit der Sorglosigkeit des militärischen Lebens vereinbar ist; aber es muß auch gesagt werden, daß nie eine Stunde, eine Landschaft und eine Nacht mehr für die Nachdenklichkeit geschaffen war. Der schöne Himmel Spaniens breitete über seinem Kopfe eine azurene Kuppel. Das Funkeln der Sterne und das milde Licht des Mondes erhellten ein entzückendes Tal, das sich verlockend zu seinen Füßen entbreitete. Der Bataillonskommandeur, der sich gegen einen blühenden Orangenbaum stützte, erblickte hundert Fuß unter sich die Stadt Menda; sie schien sich vor den Nordwinden hinter den Felsen geflüchtet zu haben, auf dem die Burg erbaut war. Wenn er den Kopf wandte, sah er das Meer, dessen
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blinkendes Wasser die Landschaft mit einer breiten Silberleiste einrahmte. Die Burg war erleuchtet. Der fröhliche Tumult eines Balls, die Klänge des Orchesters, das Lachen einiger Offiziere und ihrer Tänzerinnen, all das scholl zu ihm hin, vermischt mit dem fernen Murmeln der Fluten. Die Kühle der Nacht verlieh seinem von der Hitze des Tages erschlafften Körper eine gewisse Kraft. Zudem waren die Gärten mit so duftenden Bäumen und so lieblichen Blumen bepflanzt, daß der junge Mann gleichsam in ein Bad von Duften getaucht dastand. Die Burg von Menda gehörte einem spanischen Granden; augenblicklich bewohnte er sie mit den Seinen. Während des ganzen Abends hatte die älteste der Töchter den Offizier interessiert und so voller Trauer angesehen, daß die Empfindung des Mitgefühls, der die Spanierin Ausdruck gab, gar wohl die grübelnde Versunkenheit des Franzosen zu erklären vermochte. Clara war schön; und obwohl sie drei Brüder und eine Schwester hatte, schien der Besitz des Marqués de Leganes doch beträchtlich genug zu sein, um in Victor Marchand den Glauben zu erwecken, das junge Mädchen werde eine reiche Mitgift erhalten. Aber wie konnte angenommen werden, daß der alte Herr, der mehr in seine Grandenwürde vernarrt war als irgendein Spanier, seine Tochter dem Sohn eines Pariser Krämers geben würde! Überdies waren die Franzosen verhaßt. Der Marqués stand bei dem General G..t..r, der die Provinz verwaltete, im Verdacht, daß er zugunsten Ferdinands VII. einen Aufstand vorbereite; deshalb war das von Victor Marchand befehligte Bataillon in der kleinen Stadt Menda einquartiert worden, damit die benachbarten Gebiete, die dem Marqués gehorchten, in Schach gehalten werden. Eine vor wenigen Tagen eingetroffene Depesche des Marschalls Ney ließ befürchten, daß die Engländer demnächst an der Küste landen würden; die Botschaft bezeichnete den Marqués als den Mann, der die Beziehungen zum Londoner Kabinett aufrechterhalte. Der junge Offizier war also ungeachtet des guten Empfangs, den dieser Spanier ihm und seinen Soldaten bereitet hatte, beständig auf der Hut. Als er auf eine Terrasse getreten war, von der aus er den Zustand der Stadt und der seiner Überwachung anvertrauten Gegend überprüft hatte, fragte er – 24 –
sich, wie er die Freundschaft zu deuten habe, die der Marqués ihm unablässig bezeigte, und wie die Ruhe des Landes mit den Besorgnissen seines Generals in Einklang zu bringen sei; aber seit einigen Minuten waren diese Gedanken durch ein Gefühl der Vorsicht und durch eine nur zu berechtigte Neugier aus dem Geist des jungen Majors verdrängt worden. Er hatte in der Stadt eine ziemlich große Menge von Lichtern wahrgenommen. Obwohl man das Fest des heiligen Jakob feierte, hatte er noch am Morgen befohlen, daß alle Feuer zu der durch seine Verordnung bestimmten Stunde gelöscht würden. Nur die Burg war von dieser Vorschrift ausgenommen. Wohl sah er hier und da auf den üblichen Posten die Bajonette seiner Soldaten blitzen; aber es herrschte feierliche Stille, und nichts ließ darauf schließen, daß die Spanier sich dem Rausch eines Festes hingegeben hätten. Nachdem er versucht hatte, sich die Übertretung, deren die Einwohner sich schuldig machten, zu erklären, dünkte ihn dieses Vergehen um so geheimnisvoller und unverständlicher, als er Offiziere in der Stadt gelassen hatte, die mit dem nächtlichen Polizeidienst und den Patrouillengängen beauftragt waren. Mit dem Ungestüm der Jugend eilte er zu einer Bresche, um schnell durch die Felsen hinabzuklettern und auf diese Weise rascher als auf dem gewöhnlichen Wege zu einem kleinen Posten zu gelangen, der nach der Burg zu am Eingang der Stadt stand. Ein leichtes Geräusch hielt ihn im Lauf zurück; er glaubte den Sand der Gartenwege unter dem leichten Schritt einer Frau knirschen zu hören. Er wandte den Kopf und sah nichts; doch seine Augen wurden abgelenkt von dem ungewöhnlichen Glanz des Ozeans. Plötzlich sah er dort ein so unheimliches Schauspiel, daß er vor Überraschung starr stehenblieb, denn er traute seinen Sinnen nicht. Die bleichenden Strahlen des Mondes ermöglichten es ihm, in ziemlich weiter Ferne Segel zu erkennen. Er fuhr zusammen und versuchte sich zu überreden, diese Vision beruhe auf einer optischen Täuschung, hervorgerufen durch die Willkür der Wellen und des Mondlichts. In diesem Augenblick sprach eine heisere Stimme den Namen des Offiziers aus, der nach der Bresche hinschaute und dort langsam den Kopf des Soldaten aufsteigen sah, von dem er sich hatte zur Burg hinaufbegleiten lassen. – 25 –
»Sind Sie es, Herr Major?« »Ja. Was gibt's?« fragte der junge Mann leise; etwas wie eine Ahnung trieb ihn zu vorsichtigem Handeln. »Die Halunken regen sich wie die Würmer, und ich möchte Ihnen schleunigst, wenn Sie erlauben, meine kleinen Beobachtungen melden.« »Rede!« erwiderte Victor Marchand. »Ich bin eben einem Mann aus der Burg nachgegangen, der mit einer Laterne in der Hand hierher schlich. Eine Laterne ist verdammt verdächtig! Ich glaube nicht, daß dieser Christenmensch das Verlangen hat, zu dieser Stunde geweihte Kerzen anzustecken... ›Die wollen uns fressen!‹ hab ich mir gesagt, und ich bin ihm auf den Fersen geblieben. Da hab ich denn auch drei Schritte von hier, Herr Major, auf einer Felsplatte einen Reisighaufen entdeckt...« Ein furchtbarer Schrei, der plötzlich von der Stadt heraufhallte, unterbrach den Soldaten. Jähe Helle beleuchtete den Major. Der arme – 26 –
Grenadier bekam eine Kugel in den Kopf und fiel. Ein Feuer aus Stroh und trocknem Holz loderte zehn Schritte vor dem jungen Mann empor wie eine Feuersbrunst. Im Ballsaal verstummten Musik und Lachen. Eine Totenstille, die nur von einem Stöhnen unterbrochen wurde, war plötzlich an Stelle des Festlärms und der Musik getreten. Auf der weißen Fläche des Ozeans hallte ein Kanonenschuß. Kalter Schweiß trat dem jungen Offizier auf die Stirn. Er war ohne Degen. Er begriff, daß seine Soldaten umgekommen waren und daß die Engländer landen würden. Er sah sich entehrt, wenn er am Leben blieb; er sah sich schon vor einem Kriegsgericht; dann maß er mit einem Blick die Tiefe des Tals und wollte sich hinunterstürzen, als Claras Hand die seine ergriff. »Fliehen Sie!« sagte sie; »meine Brüder folgen mir, sie wollen Sie umbringen. Unten am Felsen finden Sie Juanitos Pferd. Gehen Sie!« Sie drängte ihn vorwärts. Der junge Mann sah sie einen Augenblick bestürzt an, gleich darauf aber gehorchte er dem Selbsterhaltungstrieb, der den Menschen, selbst den stärksten, nie verläßt, und stürzte in der angegebenen Richtung durch den Park davon; er hastete durch Felsen dahin, die bisher nur die Ziegen aufgesucht hatten. Er hörte, wie Clara ihren Brüdern zurief, ihm zu folgen; er hörte die Schritte seiner Mörder; er hörte die Kugeln mehrerer Salven an seinen Ohren vorüberpfeifen, aber er erreichte das Tal, fand das Pferd, saß auf und verschwand mit der Geschwindigkeit des Blitzes. Innerhalb weniger Stunden erreichte der junge Offizier das Quartier des Generals G..t..r, den er mit seinem Stab bei der Tafel traf. »Ich bringe Ihnen meinen Kopf!« rief der Bataillonskommandeur, als er bleich und aufgelöst hereinkam. Er setzte sich und erzählte das grauenhafte Abenteuer. Furchtbares Schweigen folgte seinem Bericht. »Ich finde, Sie haben mehr Unglück gehabt als Schuld«, erwiderte endlich der furchtbare General. »Sie sind nicht verantwortlich für den Frevel der Spanier; und wenn nicht der Marschall eine andere Entscheidung fällt, spreche ich Sie frei.« – 27 –
Diese Worte gaben dem unglücklichen Offizier nur wenig Trost. »Wenn der Kaiser das erfährt!« rief er aus. »Dann wird er Sie erschießen lassen wollen«, sagte der General. »Nun, wir werden darüber nur noch reden«, fügte er in strengem Ton hinzu, »um eine Rache zu nehmen, die diesem Lande, wo man wie bei den Wilden Krieg führt, heilsamen Schrecken einjagen soll.« Eine Stunde darauf waren ein ganzes Regiment, eine Kavallerieabteilung und eine Batterie Artillerie auf dem Marsch. Der General und Victor marschierten an der Spitze dieser Kolonne. Die Soldaten, denen der Meuchelmord an ihren Kameraden bekanntgegeben worden war, waren von beispielloser Wut erfüllt. Die Strecke zwischen der Stadt Menda und dem Stabsquartier wurde mit an ein Wunder grenzender Schnelligkeit zurückgelegt. Unterwegs fand der General sämtliche Dörfer unter Waffen; all die elenden Flecken wurden umringt und ihre Bewohner dezimiert. Durch eine unerklärliche Schicksalsfügung waren die englischen Schiffe untätig draußen liegen geblieben, ohne weiter vorzurücken; erst später kam heraus, daß sie nur Artillerie an Bord hatten und schneller gesegelt waren als der Rest der Transportflotte. Daher konnte die Stadt Menda, die von den erwarteten Befreiern, wie das Auftauchen der englischen Segel sie zu versprechen schien, im Stich gelassen worden war, fast ohne einen Schwertstreich von den französischen Truppen eingeschlossen werden. Die angsterfüllten Einwohner erboten sich, auf Gnade und Ungnade zu kapitulieren. Aber aufopfernde Regungen sind nicht selten auf der Halbinsel; und da die Mörder der Franzosen voraussahen, daß Menda bei der bekannten Grausamkeit des Generals wahrscheinlich eingeäschert und die ganze Bevölkerung hingemetzelt werden würde, schlugen sie vor, sich dem General zu stellen. Er nahm das Angebot an, stellte jedoch die Bedingung, daß ihm die Bewohner des Schlosses vom letzten Diener bis zum Marqués ausgeliefert werden müßten. Bei Annahme dieser Kapitulation versprach der General, die übrige Einwohnerschaft zu begnadigen und seinen Soldaten die Plünderung und Einäscherung der Stadt zu verbieten. Dem Ort wurde eine riesige Kriegskontribu– 28 –
tion auferlegt, und die reichen Einwohner stellten sich als Geiseln, um die Zahlung zu verbürgen, die innerhalb von vierundzwanzig Stunden geleistet werden sollte. Der General ergriff alle Maßnahmen, die zur Sicherung seiner Truppen nötig waren, gab Befehle für die Verteidigung des umliegenden Landes und lehnte es ab, seine Soldaten in den Häusern einzuquartieren. Nachdem er sie ein Biwak hatte beziehen lassen, rückte er zur Burg hinauf und nahm sie mit Waffengewalt ein. Die Mitglieder der Familie de Leganes und die Bedienten wurden sorgfältig bewacht und gefesselt in dem Saal untergebracht, in dem der Ball stattgefunden hatte. Von den Fenstern dieses Raums aus konnte die Terrasse, die die Stadt beherrschte, leicht überblickt werden. Der Stab versammelte sich in einer anstoßenden Galerie, wo der General zunächst Kriegsrat über die Maßnahmen abhielt, die zu treffen waren, um eine Landung zu verhindern. Nachdem ein Adjutant an Marschall Ney abgeschickt und der Befehl erteilt worden war, die Batterien sollten an der Küste in Stellung gehen, beschäftigten der General und sein Stab sich mit den Gefangenen. Zweihundert Spanier, die die Einwohner ausgeliefert hatten, wurden sofort auf der Terrasse erschossen. Nach dieser militärischen Exekution befahl der General, so viele Galgen auf der Terrasse zu errichten, wie im Saal des Schlosses Leute vorhanden seien, und den Henker der Stadt heraufkommen zu lassen. Victor Marchand benutzte die Zeit, die bis zum Abendessen verstreichen mußte, um die Gefangenen aufzusuchen. Kurz danach trat er wieder vor den General. »Ich komme« sagte er mit bewegter Stimme, »um einen Gnadenbeweis zu erbitten!« »Ausgerechnet Sie!« sagte der General mit bitterer Ironie. »Ach!« erwiderte Victor, »ich bitte Sie um einen recht traurigen Gnadenbeweis. Als der Marqués sah, wie die Galgen errichtet wurden, hat er gehofft, Sie würden für seine Familie von dieser Art der Hinrichtung absehen; er bittet Sie, die Adligen köpfen zu lassen.« »Bewilligt«, sagte der General. – 29 –
»Sie erbitten ferner religiösen Beistand; und daß ihnen die Fesseln abgenommen werden; sie versprechen, keinen Fluchtversuch zu unternehmen.« »Einverstanden«, sagte der General; »aber Sie bürgen mir für sie.« »Der alte Herr bietet Ihnen ferner sein ganzes Vermögen, wenn Sie seinen jungen Sohn begnadigen.« »Sieh mal einer an!« erwiderte der Befehlshaber. »Sein Besitz gehört ohnehin schon dem König Joseph.« Er hielt inne. Seine Stirn zog sich unter einem verächtlichen Gedanken zusammen; dann sagte er: »Ich will seinen Wunsch noch übertreffen. Ich errate die Bedeutung seiner letzten Bitte. Gut, er möge sich das Fortdauern seines Namens erkaufen; aber ewig soll Spanien seines Verrats und seiner Hinrichtung gedenken. Ich lasse demjenigen seiner Söhne Leben und Vermögen, der das Amt des Henkers übernimmt. Jetzt gehen Sie und reden Sie mir nicht mehr davon.« Das Abendessen war serviert. Die Offiziere stillten an der Tafel einen Hunger, den die Anstrengung noch vermehrt hatte. Ein einziger von ihnen fehlte bei dem Festmahl: Victor Marchand. Nach langem Zögern trat er in den Saal, in dem die stolze Familie de Leganes in tiefer Niedergeschlagenheit weilte, und er warf einen traurigen Blick auf das Bild, das der gleiche Raum jetzt bot, in dem er vor zwei Tagen die Köpfe der beiden jungen Mädchen und der drei jungen Herren im Tanz hatte kreisen sehen; es durchschauerte ihn bei dem Gedanken, daß sie binnen kurzem herabrollen sollten, abgeschlagen vom Schwert des Henkers. An die vergoldeten Sessel gefesselt, saßen Vater und Mutter, die drei Söhne und die beiden Töchter völlig reglos da. Acht Diener standen, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Diese fünfzehn Menschen schauten einander ernst an; ihre Augen verrieten kaum, welche Empfindungen sie bewegten. Tiefe Schicksalsergebenheit und Bedauern über das Mißlingen ihres Unternehmens waren auf einigen Stirnen zu lesen. Starr dastehende Soldaten sahen zu ihnen hin und respektierten den Schmerz dieser grausamen Feinde. Eine Welle von Neugier lief über die Gesichter, – 30 –
als Victor erschien. Er gab Befehl, die Verurteilten von ihren Fesseln zu befreien, und löste eigenhändig die Stricke, die Clara an ihren Sessel banden. Sie lächelte traurig. Der Offizier konnte es sich nicht versagen, die Arme des Mädchens zu streifen, wobei er ihr schwarzes Haar und ihren geschmeidigen Wuchs bewunderte. Sie war eine echte Spanierin! Sie hatte den spanischen Teint, die spanischen Augen, lange, gewölbte Wimpern und eine Pupille, die schwärzer war als ein Rabenflügel.
»Ist es Ihnen gelungen?« fragte sie und blickte ihn mit jenem Todeslächeln an, dem noch etwas Jungmädchenhaftes innewohnt. Victor konnte ein Aufstöhnen nicht unterdrücken. Nacheinander sah er die drei Brüder und Clara an. Der eine, der älteste, war dreißig Jahre alt. Er war klein, ziemlich schlecht gewachsen, trug eine stolze, verächtliche Miene zur Schau und ermangelte dennoch in seiner Haltung nicht eines gewissen Adels; es schien, als sei ihm die Feinheit des Empfindens nicht ganz fremd, die einst die spanische Galanterie so berühmt gemacht hatte. Er hieß Juanito. Der zweite, Felipe, war etwa zwanzig; er ähnelte Clara. Der jüngste war acht Jahre alt. Ein Maler hätte in Manuels Zügen etwas von der römischen – 31 –
Standhaftigkeit wahrgenommen, die David den Kindern in seinen republikanischen Zeichnungen verliehen hat. Der alte Marqués hatte ein von weißem Haar bedecktes Haupt, das aus einem Gemälde des Murillo herausgetreten zu sein schien. Bei diesem Anblick schüttelte der junge Offizier den Kopf; er zweifelte daran, daß einer dieser Menschen das Angebot des Generals annehmen werde; trotzdem gewann er es über sich, es Clara anzuvertrauen. Die Spanierin erschauerte zunächst; doch unvermittelt wurde ihr Gesicht wieder ruhig, und sie kniete vor ihrem Vater nieder. »Oh!« sagte sie zu ihm, »lassen Sie Juanito schwören, daß er den Weisungen, die Sie ihm geben, treulich gehorcht; dann können wir zufrieden sein.« Die Marquesa zitterte vor Hoffnung; aber als sie sich zu ihrem Gatten hinübergeneigt und Claras grausige Mitteilung vernommen hatte, sank diese Mutter in Ohnmacht. Juanito durchschaute alles; er sprang auf wie ein Löwe im Käfig. Victor nahm es auf sich, die Soldaten fortzuschicken, nachdem er von dem Marqués das Versprechen vollkommener Unterwerfung erhalten hatte. Die Bedienten wurden hinausgeführt und dem Henker übergeben, der sie aufhing. Als die Familie nur noch Victor zum Wächter hatte, stand der alte Vater auf. »Juanito!« sagte er. Juanito antwortete nur durch eine Kopfbewegung, die einem Nein gleichkam. Er fiel in seinen Sessel zurück und sah seine Eltern mit trockenem, furchtbarem Auge an. Clara setzte sich ihm auf die Knie, legte ihm den Arm um den Hals, kußte ihn auf die Lider und sagte mit heiterer Miene: »Liebster Juanito, wenn du wüßtest, wie süß mir durch deine Hand der Tod sein wird! Ich brauche mich dann nicht der verhaßten Berührung durch die Hände eines Henkers zu fügen. Du wirst mich heilen von den Leiden, die meiner warteten, und... mein guter Juanito, du wolltest es nicht erleben, daß ich irgend jemandem angehörte, und also...«
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Ihre samtigen Augen warfen einen lodernden Blick auf Victor, als wolle sie in Juanitos Herzen dessen Abscheu gegen die Franzosen anstacheln. »Fasse Mut!« sagte sein Bruder Felipe, »sonst erlischt unser beinahe königliches Geschlecht.« Da stand Clara auf; die Gruppe, die sich um Juanito gebildet hatte, wich auseinander, und der mit gutem Recht rebellische Sohn sah den alten Vater vor sich stehen, der in feierlichem Tone rief: »Juanito, ich befehle es dir!« Als der junge Graf reglos sitzen blieb, warf sein Vater sich ihm zu Füßen. Unwillkürlich folgten Clara, Manuel und Felipe seinem Beispiel. Alle streckten die Hände entgegen dem, der die Familie vor dem Vergessen bewahren sollte; es war, als sprächen sie die Worte des Vaters mit: »Mein Sohn, sollte es dir an der spanischen Kraft und am echten Gefühl gebrechen? Willst du mich noch lange auf den Knien liegen lassen, und darfst du an dein Leben und deine Leiden denken? – Ist er mein Sohn, Senora?« fragte der alte Mann die Marquesa. »Er willigt ein!« rief die Mutter außer sich, als sie Juanito mit den Augenbrauen eine Bewegung machen sah, deren Sinn nur ihr bekannt war. Mariquita, die zweite Tochter, kniete und hielt mit ihren schwachen Armen die Mutter umschlungen; und da sie heiße Tränen weinte, trat ihr kleiner Bruder Manuel zu ihr hin und schalt sie. In diesem Augenblick kam der Schloßkaplan; er wurde sofort von der ganzen Familie umringt und zu Juanito geführt. Victor, der die Szene nicht mehr mitansehen konnte, gab Clara einen Wink und hastete davon, um bei dem General einen letzten Versuch zu unternehmen. Er fand ihn in bester Laune mitten beim Abendessen; er trank mit seinen Offizieren, die lustige Reden zu halten begannen. Eine Stunde später kamen hundert der vornehmsten Einwohner Mendas auf die Terrasse, um nach den Befehlen des Generals – 33 –
Zeugen der Hinrichtung der Familie Leganes zu sein. Es wurde ein Zug Soldaten aufgestellt, um die Spanier, die unter die Galgen treten mußten, an denen die Bedienten des Marqués hingen, in Schach zu halten. Die Köpfe jener Bürger berührten fast die Fuße der Märtyrer. Zwanzig Schritte vor ihnen erhob sich ein Block und glänzte ein Krummsäbel. Der Henker stand bereit für den Fall, daß Juanito sich weigern sollte. Bald hörten die Spanier mitten in der tiefsten Stille die Schritte mehrerer Personen, den Marschtritt eines Soldatenpiketts und das leichte Klirren ihrer Gewehre. Diese unterschiedlichen Geräusche mischten sich unter die fröhlichen Klänge vom Festmahl der Offiziere, wie unlängst noch die Tänze eines Balls die Rüstungen zu blutigem Verrat gedeckt hatten. Alle Augen wandten sich der Burg zu und erblickten die adlige Familie, die mit unglaublicher Ruhe herankam. Aller Stirnen waren ruhig und heiter. Nur einer stützte sich bleich und verstört auf den Priester, der diesem Manne, dem einzigen, der am Leben bleiben sollte, alle Tröstungen der Religion spendete. Der Henker begriff wie jedermann, daß Juanito auf einen Tag sein Amt übernommen hatte. Der alte Marqués und seine Gattin, Clara, Mariquita und ihre beiden Brüder knieten ein paar Schritte vor der Todesstätte nieder. Juanito wurde von dem Priester geführt. Als er bei dem Block ankam, faßte der Henker ihn beim Ärmel, nahm ihn beiseite und gab ihm vermutlich ein paar Anweisungen. Der Beichtvater stellte die Opfer so auf, daß sie die Hinrichtung nicht sehen konnten. Aber sie waren echte Spanier, die ohne Schwäche aufrecht stehen blieben. Clara trat als erste zu ihrem Bruder. »Juanito«, sagte sie, »habe Mitleid mit meinem geringen Mut! Beginne mit mir.« In diesem Augenblick erschollen eilige Männerschritte; Victor erschien auf dem Schauplatz. Clara kniete schon; ihr entblößter Hals rief nach dem Schwert. Der Offizier erbleichte, brachte aber die Kraft auf, herbeizueilen. »Der General schenkt dir das Leben, wenn du mich zum Manne nehmen willst«, sagte er leise. Die Spanierin warf einen Blick der Verachtung und des Stolzes auf den Offizier. »Komm, Juanito!« sagte sie mit tief klingender Stimme. – 34 –
Ihr Haupt rollte Victor vor die Füße. Die Marquesa de Leganos zuckte krampfhaft zusammen, als sie das Geräusch vernahm; das war das einzige Zeichen ihres Schmerzes. »Knie ich so gut, Juanito?« fragte der kleine Manuel den Bruder. »Ach, du weinst, Mariquita!« sagte Juanito zu seiner Schwester. »Ja!« erwiderte das junge Mädchen. »Ich muß an dich denken, mein armer Juanito; du wirst ohne uns recht unglücklich sein!« Gleich darauf erschien die hohe Gestalt des Marqués. Er warf einen Blick auf das Blut seiner Kinder, wandte sich zu den stummen, reglosen Zuschauern um, streckte die Hände nach Juanito aus und sagte mit kräftiger Stimme: »Spanier, ich gebe meinem Sohn meinen väterlichen Segen! Jetzt, Marqués, schlag furchtlos zu, du bist ohne Tadel!« Als aber Juanito seine Mutter, die der Beichtvater stützte, vortreten sah, rief er aus: »Sie hat mich genährt!« Seine Stimme entriß den Versammelten einen Schrei des Grauens. Der Lärm des Festes und das lustige Lachen der Offiziere verstummten bei diesem furchtbaren Ruf. Die Marquesa erkannte, daß Juanitos Mut erschöpft sei; mit einem einzigen Satz sprang sie über die Balustrade und zerschellte sich den Kopf an den Felsen. Ein Schrei der Bewunderung scholl auf. Juanito war ohnmächtig zusammengebrochen. »Herr General«, sagte ein halb betrunkener Offizier, »Marchand hat mir eben einiges von dieser Hinrichtung erzählt; ich wette, Sie haben sie nicht befohlen...« »Vergessen Sie, meine Herren«, rief General G..t..r, »daß in einem Monat fünfhundert französische Familien in Tränen schwimmen werden und daß wir in Spanien sind? Wollen Sie, daß wir unsere Knochen hier lassen?« Nach dieser Ansprache fand sich keiner mehr, nicht einmal ein Unterleutnant, der sein Glas zu leeren gewagt hätte. – 35 –
Trotz der Achtung, von der er umgeben ist, trotz des Titels El Verdugo (der Henker), den der König von Spanien dem Marqués de Leganes als Adelstitel verliehen hat, wird er vom Kummer verzehrt; er lebt einsam und zeigt sich selten. Von der Last seines bewunderungswürdigen Frevels niedergebeugt, scheint er voll Ungeduld darauf zu warten, daß ihm die Geburt eines zweiten Sohnes das Recht gibt, sich den Schatten zuzugesellen, die ihn unablässig begleiten.
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DIE ROTE HERBERGE
E
in Pariser Bankier (ich weiß nicht, in welchem Jahr es geschah), der sehr ausgedehnte Handelsbeziehungen zu Deutschland unterhielt, wollte einen jener lange Zeit hindurch ihm persönlich unbekannten Freunde festlich bewirten, wie die Geschäftsleute sie an diesem und jenem Handelsplatz durch Korrespondenz gewinnen. Jener Freund, der Chef eines recht bedeutenden Bankhauses in Nürnberg, ein gutmütiger, beleibter Deutscher, ein Mann von Geschmack und Bildung und vor allem ein wackerer Pfeifenraucher, hatte ein ansprechendes, breites Nürnberger Gesicht mit viereckiger, kahl gewordener Stirn, die mit ein paar spärlichen blonden Haaren geziert war. Er stellte den Typus des reinen, noblen Germanien dar, das so fruchtbar an ehrenhaften Charakteren ist, und dessen friedfertige Sitten sich nicht einmal nach sieben Invasionen je verleugnet haben. Der Fremdling lachte arglos, lauschte aufmerksam und trank bemerkenswert viel; er schien den Champagner ebenso zu schätzen wie die heimischen Johannisberger Weine. Er hieß Hermann wie fast alle Deutschen, die die Schriftsteller auftreten lassen. Als ein Mensch, der alles gründlich zu erledigen pflegt, saß er behäbig am Tisch des Bankiers, aß mit dem in ganz Europa so gerühmten urdeutschen Appetit und nahm von der Küche des großen Carême gründlich Abschied. Um seinen Gast zu ehren, hatte der Hausherr ein paar intime Freunde, Geld- oder Kaufleute, eingeladen, ferner mehrere liebenswürdige, hübsche Frauen, deren anmutiges Geplauder und ungezwungenes Gehaben im Einklang mit der germanischen Herzlichkeit standen. Wahrhaftig, wer, gleich mir, das Vergnügen gehabt hätte, diese fröhliche Gemeinschaft von Leuten sehen zu können, die ihre Kaufmannskrallen eingezogen hatten, um auf die Freuden des Daseins zu spekulieren, dem wäre es schwergefallen, die Wucherzinsen zu hassen oder die Konkurse zu verfluchen. Der Mensch kann nicht immer nur Böses tun. Daher kommt es sogar in der Gesellschaft von Piraten gelegentlich zu ein paar angenehmen Stunden, in denen man – 37 –
glaubt, man befinde sich nicht an Bord ihres unheimlichen Schiffs, sondern auf einer Schaukel.
»Ehe Monsieur Hermann uns verläßt, wird er uns hoffentlich noch eine deutsche Geschichte erzählen, die uns gehörig Angst macht.« Diese Worte wurden beim Nachtisch von einer jungen, blassen, blonden Dame gesprochen, die sicherlich die Erzählungen Hoffmanns und die Romane Walter Scotts gelesen hatte. Sie war die einzige Tochter des Bankiers, ein entzückendes Geschöpf, dessen Bildung im Gymnase ihren Abschluß erhielt und das in die dort gespielten Stücke vernarrt war. Zu dieser Stunde befanden sich die Gäste in jener glücklichen, aus Trägheit und Schweigen zusammengesetzten Stimmung, in die uns eine erlesene Mahlzeit versetzt, wenn wir den Fähigkeiten unserer Verdauung ein bißchen zuviel zugemutet haben. Jeder Gast hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, das Handgelenk leicht auf den Tischrand gestützt und spielte lässig mit der vergoldeten Klinge seines Messers. Wenn ein Abendessen in dieses Stadium des Abklingens geraten ist, mißhandeln manche Leute einen Birnenkern; andere rollen eine Brotkrume zwischen Daumen und Zeigefinger; Verliebte legen ungestalte – 38 –
Buchstaben aus Obstüberresten; Geizige zählen ihre Nüsse und reihen sie auf ihrem Teller auf, wie ein Regisseur hinten auf der Bühne seine Statisten aufstellt. Das sind kleine gastronomische Freuden, denen Brillat-Savarin, ein sonst so auf Vollständigkeit bedachter Autor, in seinem Buch nicht Rechnung getragen hat. Die Diener waren verschwunden. Das Dessert glich einer Schwadron nach dem Gefecht; es war völlig aus den Fugen geraten, ausgeplündert, verwüstet. Die Schüsseln irrten auf dem Tisch umher, trotz der Hartnäckigkeit, mit der die Hausherrin versuchte, sie wieder an Ort und Stelle zur rücken. Einige der Damen schauten die Schweizer Landschaften an, die symmetrisch an den grauen Wänden des Eßzimmers hingen. Doch keiner der Gäste war mißgestimmt. Uns ist niemand bekannt, der während der Verdauung eines guten Essens trübsinnig gewesen wäre. Man ist dann nur zu geneigt, in einer gewissen Ruhe zu verharren, eine Art Mitte zwischen der Sinniererei des Denkers und der Befriedigung der Wiederkäuer; man mußte sie die Melancholie der Feinschmeckerei nennen. Daher wandten die Gäste sich spontan dem guten Deutschen zu, entzückt, daß sie etwas Balladeskem lauschen konnten, auch wenn es uninteressant war. Während solch einer gesegneten Pause wirkt die Stimme eines Erzählers stets köstlich auf unsre erschlafften Sinne; sie begünstigt deren negatives Glück. Als ein auf Bilder Versessener bewunderte ich die von einem Lächeln erheiterten, von den Kerzen beleuchteten Gesichter, die das gute Essen purpurn gefärbt hatte; ihr verschiedenartiger Ausdruck erzeugte zwischen den Kandelabern, den Porzellankörbchen, den Früchten und dem Kristall hindurch pikante Effekte. Unvermittelt wurde meine Phantasie durch den Anblick des Tischgenossen gefesselt, der mir gegenüber saß. Es war ein mittelgroßer Mann, ziemlich dick, lachlustig, mit der Haftung und dem Gehaben eines Börsenmaklers; er schien nur mit recht mäßigen Geistesgaben ausgestattet zu sein, und bislang war er mir nicht aufgefallen; in diesem Augenblick jedoch schien es mir, als habe sein wohl durch ungünstige Beleuchtung verdunkeltes Gesicht einen völlig andern Ausdruck angenommen; es war erdfarben geworden, blaß violette Töne durchzogen es. Man hätte meinen können, es sei das leichen– 39 –
hafte Haupt eines Sterbenden. Er war reglos wie die in einem Diorama gemalten Gestalten; seine stumpfen Augen starrten auf die funkelnden Facetten eines Kristallstöpsels, aber schwerlich zählte er sie; er schien in eine phantastische Betrachtung der Zukunft oder der Vergangenheit versunken. Als ich dieses verdächtige Gesicht eine Weile gemustert hatte, ließ es mich denken: »Hat er Schmerzen? Hat er zuviel getrunken? Ist er durch die Baisse der Staatspapiere verarmt? Überlegt er, wie er seine Gläubiger übers Ohr hauen kann?« »Sehen Sie nur«, sagte ich zu der neben mir Sitzenden und wies sie auf das Gesicht des Unbekannten hin, »ist das nicht ein Bankrott, wie er leibt und lebt?« »Oh!« antwortete sie mir, »dann würde er heiterer dreinschauen.« Darauf schüttelte sie anmutig den Kopf und fügte hinzu: »Wenn der je Pleite machte, würde ich bis nach Peking laufen und es erzählen! Der hat eine Million in Grundbesitz. Er ist nämlich ein ehemaliger kaiserlicher Heereslieferant, übrigens ein gutartiger, ziemlich origineller Mensch. Er hat aus Spekulation zum zweitenmal geheiratet und lebt mit seiner Frau in glücklichster Ehe. Übrigens hat er eine hübsche Tochter, die er lange nicht hat anerkennen wollen; aber der Tod seines Sohns, der leider in einem Duell gefallen ist, hat ihn gezwungen, sie zu sich zu nehmen, weil er nämlich keine Kinder mehr bekommen konnte. Auf diese Weise ist das arme Mädchen plötzlich eine der reichsten Erbinnen von ganz Paris geworden. Der Verlust seines einzigen Sohnes hat diesen lieben Mann in einen Kummer gestürzt, der dann und wann zutage tritt.« In diesem Augenblick hob der Heereslieferant die Augen zu mir auf; sein Blick ließ mich zusammenzucken, so düster und gedankenvoll war er! Ganz sicher faßte dieser Blick in sich ein ganzes Leben zusammen. Doch plötzlich wurden seine Züge heiter; er ergriff den Kristallstöpsel, steckte ihn mit einer mechanischen Bewegung in eine gefüllte Wasserkaraffe, die vor seinem Teller stand, und wandte lächelnd den Kopf Monsieur Hermann zu. Dieser durch seine gastronomischen Genüsse beseligte Mann hatte sicherlich keine zwei Gedanken im Kopf und dachte an überhaupt nichts. Daher empfand – 40 –
ich irgendwie Scham darüber, mein divinatorisches Wissen in anima vili eines dicken Finanzmanns vergeudet zu haben. Während ich gänzlich umsonst phrenologische Beobachtungen machte, hatte der gute Deutsche sich die Nase mit einer Prise Tabak gefüllt und begann mit seiner Geschichte. Es würde mir arg schwerfallen, sie in den gleichen Wendungen wiederzugeben, mit seinen häufigen Unterbrechungen und wortreichen Abschweifungen. Daher habe ich sie auf meine Weise niedergeschrieben, dem Nürnberger die Fehler überlassen und mich dessen bemächtigt, was sie vielleicht an Poetischem und Interessantem enthält, und zwar mit der Treuherzigkeit von Schriftstellern, die vergessen, auf die Titelseiten ihrer Bücher drucken zu lassen: Übersetzt aus dem Deutschen.
Gedanke und Tat »Gegen Ende Vendémiaire des Jahres VII nach der Zeitrechnung der Republik, was nach der gegenwärtigen dem 20. Oktober 1799 entspricht, waren zwei junge, am Morgen von Bonn aufgebrochene Leute um Sonnenuntergang in der Nähe von Andernach angelangt; das ist eine kleine, am linken Rheinufer ein paar Meilen von Koblenz entfernt gelegene Stadt. Zu jener Zeit operierte die von General Augereau befehligte Armee vor den Augen der Österreicher, die das rechte Ufer des Stroms besetzt hielten. Das Stabsquartier der republikanischen Division war in Koblenz, und eine der zu Augereaus Korps gehörenden Halbbrigaden lag in Andernach in Quartier. Die beiden Reisenden waren Franzosen. Beim Anblick ihrer blauen, mit weiß abgesetzten Uniformen mit den roten Samtaufschlägen, ihrer Säbel und zumal ihrer mit grünem Wachstuch überzogenen Hüte mit dem dreifarbigen Federbusch würden sogar deutsche Bauern in ihnen Militärärzte erkannt haben, Männer von Wissen und Können und von Verdienst, zumeist beliebt, nicht nur im Heer, sondern auch in den von unsern Truppen besetzten Gebieten. Damals waren nämlich durch das unlängst erlassene Aushebungsgesetz, das auf den General Jourdan zurückging, zahlreiche Söhne aus guten Familien ih– 41 –
rer medizinischen Vorbereitungszeit entrissen worden; natürlich hatten sie lieber ihre fachlichen Studien auf dem Schlachtfeld fortgesetzt als zum Militärdienst gezwungen zu werden, der nicht eben im Einklang mit ihrer bisherigen Ausbildung und ihrer geruhsamen Zukunft stand. Als friedlich gesonnene, hilfsbereite Männer der Wissenschaft hatten diese jungen Menschen inmitten von so viel Unglück einiges Gute getan; sie standen im besten Einvernehmen mit den Gebildeten und Fachleuten der verschiedenen Gegenden, durch die die grausame Zivilisation der Republik hindurchzog. Die jungen Leute waren beide mit Militärpässen und zudem mit von Coste und Bernadette unterzeichneten Patenten als Feldunterärzte versehen und auf dem Weg zu der Halbbrigade, der sie zugeteilt worden waren. Beide gehörten mäßig begüterten Bürgerfamilien aus Beauvais an, Familien, in denen sanfte Sitten und provinzielle Ehrbarkeit weitergegeben wurden wie ein Teil des Erbes. Eine bei jungen Menschen leicht verständliche Neugier hatte sie bereits vor dem Zeitpunkt, da sie ihren Dienst anzutreten hatten, auf den Kriegsschauplatz geführt; mit der Postkutsche waren sie bis Straßburg gereist. Obgleich mütterliche Klugheit sie nur eine geringe Summe – 42 –
hatte mitnehmen lassen, hielten sie sich durch den Besitz von ein paar Louis für reich, denn diese stellten in einer Zeit, da die Assignaten den letzten Grad ihrer Entwertung erreicht hatten und das Gold einen hohen Kaufwert besaß, einen wahren Schatz dar. Die beiden Feldunterärzte waren höchstens zwanzig Jahre alt und genossen das Poetische ihrer Lage mit allem Enthusiasmus der Jugend. Als Künstler, Philosophen und Beobachter hatten sie von Straßburg bis Bonn das Kurfürstentum und die Ufer des Rheins besucht. Wenn wir eine wissenschaftliche Berufung haben, sind wir in jenem Alter wahrhaft vielseitige Wesen. Sogar in der Liebe oder auf Reisen muß ein Feldunterarzt bestrebt sein, die Rudimente seines Vermögens oder seines künftigen Ruhms fruchtbar anzulegen. So hatten sich denn die beiden jungen Leute der tiefen Bewunderung hingegeben, von der gebildete Menschen beim Anblick der Ufer des Rheins und der Landschaften Schwabens zwischen Mainz und Köln ergriffen werden; es war eine kraftvolle, üppige, mächtig bewegte Landschaft, reich an Erinnerungen an die Feudalzeit, prangend in Grün; aber überall hat sie die Auswirkungen von Eisen und Feuer bewahrt. Ludwig XIV. und Turenne haben diese entzückende Gegend gebrandschatzt. Hier und dort bezeugen Ruinen die Anmaßung oder vielleicht die Voraussicht des Versailler Königs, der die wunderbaren Burgen schleifen ließ, die ehedem einen Schmuck dieses Teils von Deutschland bildeten. Beim Erblicken dieses herrlichen, mit Wäldern bedeckten Landes, in dem das Malerische des Mittelalters im Übermaß vorhanden ist, freilich in Ruinen, begreift man den deutschen Genius, seine grüblerischen Träumereien und seine Mystik. Indessen hatte der Aufenthalt der beiden Freunde in Bonn gleichzeitig dem Vergnügen gedient und einen wissenschaftlichen Zweck gehabt. Das große Lazarett der gallo-batavischen Armee und der Heeresabteilung Augereau war im Palais des Kurfürsten untergebracht worden. Die frisch gebackenen Feldunterärzte hatten dort Kameraden besucht, Empfehlungsbriefe an ihre Vorgesetzten abgegeben und sich mit den ersten Eindrücken ihres Berufs vertraut gemacht. Und dort wie überall hatten sie einige der ausschließenden Vorurteile abgelegt, denen wir so lange Zeit hindurch zugunsten der Baudenkmäler und der – 43 –
Schönheiten unseres Geburtslandes treu zu bleiben pflegen. Der Anblick der Marmorsäulen, mit denen das kurfürstliche Palais geschmückt ist, überraschte sie; sie gingen umher und bewunderten das Grandiose der deutschen Bauten; mit jedem Schritt fanden sie neue Schätze aus Altertum und Gegenwart. Dann und wann führten die Wege, auf denen die beiden Freunde einherritten, als sie sich nach Andernach begaben, sie auf den Gipfel eines Granitbergs, der höher als die andern war. Von dort hatten sie durch eine Waldschneise oder einen Felsspalt einen Ausblick auf den Rhein, der von Sandsteinfelsen eingerahmt oder von kräftigem Pflanzenwuchs gesäumt war. Die Täler, die Pfade und die Bäume hauchten jenen Herbstduft aus, der zu träumerischem Sinnen verleitet; die Wipfel der Wälder begannen, sich zu vergolden und warme, braune Tönungen anzunehmen, Zeichen des Alterns; die Blätter fielen, aber der Himmel war nach wie vor von schönem Azur, und die trockenen Wege zeichneten sich wie gelbe Linien in der Landschaft ab, die jetzt von den schrägen Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet wurde. Etwa eine halbe Meile von Andernach entfernt ritten die beiden Freunde in tiefer Stille, wie wenn der Krieg dieses schöne Land nicht verheert hätte, und folgten einem Weg, der für die Ziegen durch die hohen, bläulichen Granitmauern gebahnt worden war, zwischen denen der Rhein brodelt. Bald stiegen sie einen der Abhänge der Schlucht hinab, in deren Tiefe eine kleine Stadt gelegen ist, sie hockt kokett am Flußufer und bietet den Schiffern einen hübschen Hafen dar. ›Deutschland ist ein recht schönes Land‹, rief einer der beiden jungen Leute aus, der Prosper Magnan hieß, als er die bemalten Häuser von Andernach erblickte; sie lagen aneinandergedrängt da wie Eier in einem Korb, und zwischen ihnen befanden sich Bäume, Gärten und Blumen. Dann bewunderte er eine Weile die spitzigen Dächer mit den vorspringenden Giebeln, die Holztreppen, die Galerien tausend friedlicher Behausungen und die Boote, die im Hafen auf den Wassern schwankten...« In dem Augenblick, da Monsieur Hermann den Namen Prosper Magnan erwähnte, hatte der Heereslieferant die Karaffe ergriffen, sich Wasser in sein Glas gegossen und es in einem Zug geleert. Diese Be– 44 –
wegung hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt; ich glaubte, in den Händen des Finanziers ein leichtes Zittern und auf seiner Stirn Feuchtigkeit wahrzunehmen. »Wie heißt eigentlich dieser frühere Heereslieferant?« fragte ich meine liebenswürdige Tischgenossin. »Taillefer« antwortete sie. »Fühlen Sie sich unpäßlich?« rief ich aus, als ich jene seltsame Persönlichkeit erbleichen sah. »Durchaus nicht«, sagte er und dankte mir mit einer höflichen Geste. »Ich lausche aufmerksam«, sprach er weiter und nickte den Gästen zu, die ihn alle gleichzeitig angeblickt hatten. »Den Namen des andern jungen Mannes«, sagte Monsieur Hermann, »habe ich vergessen. Lediglich aus dem mir von Prosper Magnan Mitgeteilten habe ich erfahren, daß sein Gefährte braunhaarig, ziemlich mager und lebenslustig war. Wenn Sie gestatten, werde ich ihn Wilhelm nennen, damit meine Geschichte beim Erzählen klarer wird.« – 45 –
Nachdem der gute Deutsche auf diese Weise ohne Rücksicht auf die Romantik und das Lokalkolorit den französischen Feldunterarzt mit einem germanischen Namen getauft hatte, nahm er seine Erzählung wieder auf. »Als die beiden jungen Leute in Andernach anlangten, war es bereits dunkel. In der Annahme, daß sie bei der Suche nach ihren Vorgesetzten, beim Sichausweisen und der Zuteilung einer Unterkunft in einer Stadt, die ohnehin schon stark mit Soldaten belegt war, viel Zeit verlieren würden, hatten sie beschlossen, ihre letzte Nacht der Freiheit in einer Herberge zu verbringen, die etwa hundert Schritte vor Andernach gelegen war; von der Höhe der Felsen aus hatten sie deren auffälligen, von den Glutstrahlen der untergehenden Sonne noch verschönten Anstrich bewundert. Jene Herberge war über und über rot getüncht und bewirkte einen reizvollen Effekt in der Landschaft, sei es, daß sie sich vom Gesamtbild der Stadt abhob, sei es, daß sie ihre breite, purpurne Wand dem Grün des unterschiedlichen Laubwerks entgegenstellte und ihre lebhafte Färbung den grauen Tönungen des Wassers. Jenes Haus dankte seinen Namen dem Schmuck seiner Außenseite; es war ihm wohl schon vor undenklichen Zeiten durch die Willkür seines Gründers zuteil geworden. Ein bei den verschiedenen Besitzern dieser Unterkunftsstätte, die bei den Rheinschiffern in gutem Ruf stand, recht begreiflicher merkantiler Aberglaube hatte ihr Äußeres sorglich bewahrt bleiben lassen. Als der Wirt der ›Roten Herberge‹ das Pferdegetrappel vernahm, erschien er auf der Türschwelle. ›Beim wahrhaftigen Gott‹, rief er, ›meine Herren, ein bißchen später, und Sie hätten bei Mutter Grün übernachten müssen, wie die meisten Ihrer Landsleute, die auf der andern Seite von Andernach biwakieren. Bei mir ist alles besetzt! Wenn Sie Wert darauf legen, in einem guten Bett zu schlafen, kann ich Ihnen nur noch mein eigenes Schlafzimmer anbieten. Und Ihren Pferden, denen will ich in einer Ecke des Hofs Streu hinschütten lassen. Mein Stall liegt heute voll von Christenmenschen. Die Herren kommen aus Frankreich?‹ fuhr er nach einer kleinen Pause fort. – ›Aus Bonn‹, rief Prosper, ›und wir haben seit heute früh nichts gegessen.‹ – ›Oh, was die Kost betrifft«, sagte der Wirt und nickte, ›so – 46 –
kommen die Leute aus zehn Meilen in der Runde, um sich in der »Roten Herberge« gütlich zu tun. Ein fürstliches Mahl sollen Sie haben, Rheinfisch! Das sagt alles.‹ Nachdem die Feldunterärzte ihre ermüdeten Pferde dem Gastwirt anvertraut hatten, der vergebens nach seinen Hausknechten rief; betraten sie die Gaststube der Herberge. Die dicken, weißlichen Rauchschwaden, die eine ansehnliche Schar von Rauchern ausgestoßen hatte, ließen sie zunächst nicht die Leute erkennen, mit denen sie beisammen sein sollten; doch als sie sich mit der auf Erfahrung beruhenden Geduld philosophischer Reisender, die erkannt haben, wie unnütz es ist, geräuschvoll aufzutreten, an einen Tisch gesetzt hatten, nahmen sie nach und nach durch den Tabaksqualm hindurch das unumgängliche Zubehör einer deutschen Gaststube wahr; den Ofen, die Standuhr, die Tische, die Bierkrüge, die langen Pfeifen; hier und dort wunderliche Gesichter, jüdische, deutsche; dann die rauhen Züge von Schiffern. Die Epauletten mehrerer französischer Offiziere funkelten im Dunst, und das Klirren von Sporen und Säbeln erklang ohne Unterlaß auf dem Fliesenboden. Die einen spielten Karten, andere stritten miteinander, schwiegen, aßen, tranken oder gingen auf und ab. Eine dicke
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kleine Frau mit schwarzer Samthaube, einem blausilbernen Mieder, einem Nähkissen, einem Schlüsselbund, einer silbernen Schnalle, das Haar zu Zöpfen geflochten, was alles die bezeichnenden Merkmale aller deutschen Gastwirtsfrauen sind (ihre Tracht wird übrigens auf einer Fülle von Kupferstichen so genau ausgetuscht dargestellt, daß sie allgemein zu bekannt ist, um geschildert werden zu brauchen), die Frau des Gastwirts also machte die beiden Freunde mit höchst bemerkenswerter Geschicklichkeit geduldig und ungeduldig. Unmerklich nahm der Lärm ab; die Reisenden zogen sich zurück und die Qualmwolke verflog. Als das Gedeck der Feldunterärzte aufgelegt wurde, als der klassische Rheinkarpfen auf dem Tisch erschien, schlug es elf, und die Gaststube war leer. Die Nachtstille ließ undeutlich das Geräusch vernehmen, das die Pferde beim Fressen oder Stampfen vollführten, sowie das Murmeln der Wasser des Rheins, und ferner die unbestimmten Geräusche, die sich in einem Wirtshaus regen, wenn alles zu Bett geht. Türen und Fenster wurden geöffnet und geschlossen, Stimmen brummten unverständliche Worte, und in den Zimmern erschollen ein paar fragende Rufe. In dieser Minute der Stille und des Rumorens lauschten die beiden Franzosen und der Gastwirt, der es sich angelegen sein ließ, ihnen Andernach, das Essen, seinen Rheinwein, die republikanische Armee und seine Frau zu rühmen, mit einem gewissen Interesse den rauhen Rufen einiger Schiffer und dem Geplätscher eines im Hafen anlegenden Bootes. Der Herbergsvater, der wohl mit den kehligen Rufen der Frachtschiffer vertraut war, ging hastig hinaus und kam bald wieder herein. Er brachte ein dickliches Männlein mit, dem zwei Schiffer folgten; sie trugen eine schwere Reisetasche und ein paar Ballen. Als sein Gepäck in der Gaststube verstaut worden war, nahm der kleine Mann eigenhändig seine Reisetasche und behielt sie bei sich, worauf er sich ohne alle Umstände an den Tisch der beiden Feldunterärzte setzte. – ›Schlaft in eurem Boot«, sagte er zu den Schiffern, ›das Gasthaus ist voll. Wenn man es sich richtig überlegt, dürfte das auch besser sein.‹ – ›Monsieur‹, sagte der Wirt zu dem neuen Ankömmling, ›dies ist alles, was mir an Essen übriggeblieben ist.‹ Damit zeigte er auf die für die beiden Franzosen aufgetragene – 48 –
Abendmahlzeit. ›Keine Brotrinde, keinen Knochen habe ich mehr.‹ – ›Und Sauerkraut?‹ – ›Nicht mal soviel, wie in den Fingerhut meiner Frau ginge! Wie ich die Ehre hatte, Ihnen zu sagen, können Sie keine andere Lagerstatt haben als den Stuhl, auf dem Sie sitzen, und kein Schlafzimmer als die Gaststube hier.‹ Bei diesen Worten warf das Männlein auf den Wirt, die Gaststube und die beiden Franzosen einen Blick, in dem sich gleichermaßen Argwohn und Schrecken malten. Hier muß ich Sie darauf hinweisen«, unterbrach sich Monsieur Hermann, »daß wir nie den wahren Namen jenes Unbekannten erfahren haben, noch was es mit ihm auf sich hatte; aus seinen Papieren ging lediglich hervor, daß er aus Aachen gekommen war; er hatte den Namen Walhenfer angenommen und besaß in der Gegend von Neuwied eine ziemlich bedeutende Stecknadelfabrik. Wie alle Fabrikanten jenes Landstrichs trug er einen Überrock aus derbem Tuch, eine Kniehose aus dunkelgrünem Samt, hohe Stiefel und einen breiten Ledergurt. Sein Gesicht war ganz rund, sein Benehmen freimütig und herzlich; aber es fiel ihm während jener Abendstunde sehr schwer, seine geheimen Befürchtungen oder vielleicht grausigen Besorgnisse gänzlich zu verhehlen. Der Gastwirt ist stets der Meinung gewesen, dieser deutsche Geschäftsmann habe sich auf der Flucht aus seinem Heimatland befunden. Später habe ich erfahren, seine Fabrik sei durch einen der Zufälle, die in Kriegszeiten unseligerweise so häufig sind, abgebrannt. Trotz seines im ganzen sorgenvollen Gesichtsausdrucks zeugten seine Züge von ungemeiner Gutmütigkeit. Er wirkte sympathisch und hatte einen auffällig breiten Hals, dessen helle Haut durch eine schwarze Halsbinde so sehr hervorgehoben wurde, daß Wilhelm im Scherz Prosper darauf hinwies...« An dieser Stelle trank Monsieur Taillefer ein Glas Wasser. »Zuvorkommend bot Prosper dem Fabrikanten an, ihrer beider Abendessen mit ihnen zu teilen, was Walhenfer ohne weiteres annahm, wie jemand, der sich imstande fühlt, eine solche Höflichkeit zu erwidern; er stellte seine Reisetasche auf den Fußboden, setzte die – 49 –
Füße darauf, nahm den Hut ab, nahm am Tisch Platz und entledigte sich seiner Handschuhe und zweier Pistolen, die er in seinem Leibgurt stecken hatte. Der Wirt hatte rasch ein weiteres Gedeck aufgelegt, und die drei Gäste begannen recht wacker, ihren Hunger zu stillen. Die Luft in der Gaststube war so warm, und es gab so viele Fragen, daß Prosper den Wirt bat, doch das Fenster zu öffnen, das nach dem Hoftor zu gelegen war, damit frische Luft hereinkomme. Jenes Fenster war durch eine Eisenstange versperrt, deren beide Enden in zwei Löchern der Umrahmung steckten. Um der größeren Sicherheit willen waren an jedem der Laden zwei Schraubenmuttern angebracht, in die zwei Schrauben gedreht werden konnten. Zufällig sah Prosper zu, wie der Wirt beim öffnen des Fensters verfuhr. Aber wenn ich nun schon von der Örtlichkeit spreche«, sagte Monsieur Hermann, »muß ich Ihnen auch beschreiben, wie das Innere der Herberge angelegt war; denn durch die genaue Kenntnis der Gegebenheiten wird diese Geschichte viel interessanter. Das Gastzimmer, in dem die drei Leute saßen, von denen ich Ihnen erzähle, hatte zwei Türen ins Freie. Die eine ging auf die Landstraße nach Andernach hinaus, die am Rhein entlangführt. Dort, also vor der Herberge, befand sich natürlich eine kleine Anlegestelle, wo das von dem Geschäftsmann für seine Reise gemietete Boot festgemacht hatte. Die andere Tür ging auf den Hof der Herberge hinaus. Jener Hof war von sehr hohen Mauern umgeben, und gegenwärtig stand er voll von Vieh und Pferden, da die Ställe sämtlich von Menschen belegt waren. Das große Einfahrtstor war so sorgfältig zugesperrt, daß der Wirt, damit dies schneller vonstatten ging, den Fabrikanten und die Schiffer durch die Gaststubentür hatte eintreten lassen, die ja auf die Landstraße ging. Nachdem er, Prosper Magnans Wunsch entsprechend, das Fenster geöffnet hatte, machte er sich daran, jene Tür zu verschließen; er schob die Eisenstangen in ihre Löcher und drehte die Schrauben ein. Das Schlafzimmer des Wirts, in dem die beiden Feldunterärzte übernachten sollten, stieß an die Gaststube und war nur durch eine ziemlich dünne Wand von der Küche abgetrennt, in der die Wirtin und ihr Mann aller Wahrscheinlichkeit nach die Nacht verbringen mußten. Die Magd war gerade hinausgegangen; sie wollte – 50 –
wohl ihr Lager in irgendeiner Futterkrippe, einem Speicherwinkel oder sonstwo suchen. Es ist ohne weiteres verständlich, daß die Gaststube, das Schlafzimmer des Wirts und die Küche irgendwie von dem übrigen Wirtshaus abgesondert lagen. Im Hof waren zwei große Hunde, deren lautes Gebell kundtat, daß es sich um hellhörige und sehr reizbare Wächter handelte. – ›Welche Stille und welch schöne Nacht!‹ sagte Wilhelm und blickte zum Himmel auf, als der Wirt mit dem Zusperren der Tür fertig war. Jetzt war das Plätschern der Wellen das einzige vernehmliche Geräusch. – ›Meine Herren‹, sagte der Geschäftsmann zu den beiden Franzosen, ›erlauben Sie mir, Sie zu ein paar Flaschen Wein einzuladen, zum Begießen unseres Karpfens. Wenn wir trinken, machen wir uns von der Mühsal des Tages frei. An Ihrem Aussehen und dem Zustand Ihrer Kleidung sehe ich, daß Sie, gleich mir, heute ein gehöriges Stück Weges hinter sich gebracht haben.‹ Die beiden Freunde nahmen an, und der Wirt verschwand durch die Küchentür, um in seinen Keller hinabzusteigen, der sicherlich unter diesem Teil des Hauses lag. Als fünf ehrwürdige Flaschen, die der Wirt gebracht hatte, auf dem Tisch standen, war seine Frau gerade mit dem Bedienen der Gäste fertig geworden. Sie warf auf die Gaststube und das Aufgetragene einen Hausfrauenblick; als sie sich dann gewiß war, alle Ansprüche der Reisenden befriedigt zu haben, ging sie wieder in die Küche. Die vier Zecher, denn der Wirt war zum Mittrinken aufgefordert worden, hörten nicht, daß sie sich schlafen legte; aber später, während der Schweigepausen, die das Geplauder der Trinkenden unterbrachen, ließen ein paar überdeutliche Schnarchlaute, die durch die hohl liegenden Bretter des Hängebodens, wo sie untergekrochen war, noch lauter dröhnten, die Freunde und zumal den Wirt lächeln. Gegen Mitternacht, als auf dem Tisch nur noch Zwieback, Käse, Dörrobst und der gute Wein standen, wurden die Trinkenden, und zumal die jungen Franzosen, mitteilsam. Sie sprachen von ihrer Heimat, ihrem Studium und vom Krieg. Schließlich wurde die Unterhaltung immer lebhafter. Prosper Magnan ließ dem geflüchteten Fabrikanten ein paar Tränen in die Augen treten, als er mit dem picardischen Freimut und der Harmlosigkeit eines guten, zärtlichen – 51 –
Naturells Vermutungen darüber anstellte, was wohl zu dieser Stunde, da er selbst sich am Ufer des Rheins befinde, seine Mutter tue. – ›Ich sehe sie vor mir‹, sagte er, ›wie sie ihr Abendgebet liest, ehe sie sich schlafen legt! Ganz sicher vergißt sie mich nicht; sie muß sich fragen: Wo jetzt wohl mein armer Prosper weilt? Aber wenn sie beim Spiel einer Nachbarin – vielleicht deiner Mutter?‹ fügte er hinzu und stieß Wilhelm mit dem Ellbogen an, ›ein paar Sous abgewonnen hat, legt sie sie sicherlich in den großen, roten, irdenen Topf, in dem sie die Summe spart, die sie braucht, um die dreißig Morgen zu kaufen, die mitten in ihrem kleinen Landbesitz Lescheville liegen. Die dreißig Morgen sind etwa sechzigtausend Francs wert. Es ist gutes Weideland. Ach, wenn ich sie eines Tages hätte, würde ich mein Leben lang in Lescheville wohnen, ohne allen Ehrgeiz! Wie oft hat mein Vater diese dreißig Morgen und den hübschen Bach haben wollen, der sich durch die Wiesen schlängelt! Aber er ist gestorben, ohne daß er sie hat kaufen können. Wie oft habe ich da gespielt!‹ – ›Monsieur Walhenfer, haben Sie nicht ebenfalls Ihr Hoc erat in votis?‹ fragte Wilhelm. – ›Ja, Monsieur, ja, aber mir war alles zuteil geworden, und jetzt...‹ Der Biedermann verfiel in Schweigen und sprach seinen Satz nicht zu Ende. – ›Ich‹, sagte der Wirt, dessen Gesicht sich leicht purpurn getönt hatte, ›habe letztes Jahr einen Rebberg gekauft, den ich mir seit zehn Jahren gewünscht hatte.‹ So plauderten sie wie Leute, denen der Wein die Zunge gelöst hat, und faßten füreinander die vergängliche Freundschaft, mit der wir auf Reisen nicht eben geizen, so daß, als schlafengegangen werden sollte, Wilhelm dem Fabrikanten sein Bett anbot. ›Sie können es um so eher annehmen‹, sagte er zu ihm, ›als ich ja mit Prosper zusammen schlafen kann. Es wäre bestimmt weder das erste noch das letzte Mal. Sie sind von uns der älteste; wir müssen das Alter ehren!‹ – ›Pah!‹ sagte der Wirt, ›im Bett meiner Frau sind mehrere Matratzen, legen Sie einfach eine auf die Erde.‹ Und damit schloß er das Fenster und machte den Lärm, der mit solcherlei Vorsichtsmaßnahmen verbunden ist. – ›Einverstanden‹, sagte der Fabrikant. ›Ich gestehe‹, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu und blickte die beiden Freunde an, ›daß ich es mir so gewünscht hatte. Meine beiden Schiffer kommen mir verdächtig vor. – 52 –
Für diese Nacht ist es mir nicht unrecht, mich in der Gesellschaft zweier wackerer, guter junger Leute zu befinden, zweier französischer Offiziere! Ich habe in meiner Reisetasche hunderttausend Francs in Gold und Diamanten.‹ Die freundliche Zurückhaltung, mit der dieses unkluge Geständnis von den beiden jungen Leuten entgegengenommen wurde, machte den guten Deutschen vollends sicher. Der Wirt half seinen Gästen beim Umbau eines der Betten. Als dann alles aufs beste geregelt worden war, wünschte er ihnen eine gute Nacht und legte sich schlafen. Der Fabrikant und die beiden Feldunterärzte scherzten über die Beschaffenheit ihrer Kopfkissen. Prosper legte seine Instrumententasche und die Wilhelms unter die Matratze, um sie zu erhöhen und das fehlende Keilkissen zu ersetzen; gleichzeitig schob Walhenfer aus einem Übermaß an Vorsicht seine Reisetasche unter das Kopfendes seines Bettes. – ›So schlafen wir beide auf unserm Hab und Gut: Sie auf Ihrem Golde, ich auf meinem Besteck! Bleibt nur zu wissen übrig, ob meine Instrumente mir einmal so viel Gold einbringenwerden, wie Sie verdient haben.‹ – ›Das können Sie hoffen‹, sagte der Fabrikant. ›Arbeit und Redlichkeit führen bei allen Dingen ans Ziel; aber Sie müssen Geduld haben.‹ Bald waren Walhenfer und Wilhelm eingeschlafen. Sei es, daß seine Lagerstatt zu hart war, sei es, daß seine übergroße Erschöpfung ein Grund war, daß er nicht einschlafen konnte, sei es, daß es von einer verhängnisvollen Seelenstimmung herrührte – Prosper Magnan blieb wach. Unmerklich nahmen seine Gedanken eine schlimme Richtung. Er dachte an nichts als an die hunderttausend Francs, auf denen der Fabrikant schlief. Für ihn waren hunderttausend Francs ein ungeheures Vermögen, das zum Greifen nahelag. Er begann, sie auf tausenderlei verschiedene Weisen zu verschwenden; er baute damit Luftschlösser, wie wir alle so beglückt in der Zeitspanne tun, die dem Einschlafen vorhergeht, in der Stunde, da die Wunschbilder verworren unserm Denkvermögen entsteigen und da oftmals in der Stille der Nacht der Gedanke magische Macht gewinnt. Er erfüllte die Wünsche seiner Mutter, er kaufte die dreißig Morgen Weideland, er heiratete eine Demoiselle aus Beauvais, um die zu werben die Ungleichheit von ihrer beider Vermögen – 53 –
sich gegenwärtig verbot. Er schuf sich mit jener Summe ein ganzes Leben voller Wonnen und sah sich glücklich, als Familienvater, reich, in seiner Provinz geachtet, vielleicht gar als Bürgermeister von Beauvais. Sein Hitzkopf glühte; er suchte nach Mitteln und Wegen, seine Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen. Er erträumte sich den Tod des Fabrikanten und sah dabei deutlich das Gold und die Diamanten vor sich. Seine Augen wurden davon geblendet. Sein Herz pochte heftig. Schon allein die Überlegung war wohl bereits ein Verbrechen. Diese Masse Goldes schlug ihn in Bann; er berauschte sich innerlich durch die Erwägung, die ein Mörder anstellt. Er fragte sich, ob dieser armselige Deutsche überhaupt zu leben brauche; er stellte sich vor, er habe nie existiert. Kurzum, er plante das Verbrechen so, daß ihm Straflosigkeit sicher war. Das andere Rheinufer hielten die Österreicher besetzt; unterhalb des Fensters waren ein Boot und Schiffer; er konnte diesem Mann den Hals abschneiden, ihn in den Rhein werden, mitsamt der Reisetasche durchs Fenster entkommen, den Schiffern Gold bieten, zu den Österreichern übergehen. Er ging sogar so weit, daß er den Grad von Geschicklichkeit in seine Berechnungen einbezog, die er sich bei der Handhabung seiner chirurgischen Instrumente erworben hatte, so daß er den Kopf seines Opfers vom Rumpf trennen konnte, ohne daß dieses einen einzigen Schrei ausstieß ...« Jetzt wischte Monsieur Taillefer sich die Stirn ab und trank abermals ein bißchen Wasser. »Prosper stand langsam und geräuschlos auf. Er war sich gewiß, niemanden aufgeweckt zu haben, kleidete sich an und ging in die Gaststube; dann schraubte er mit der fatalen Intelligenz, die der Mensch plötzlich in sich verspürt, mit der Macht des richtigen Tuns und des Willens, an der es den Gefangenen und den Verbrechern nie gebricht, wenn sie ihre Pläne durchführen, die Eisenstäbe los, zog sie, ohne das leiseste Geräusch zu machen, aus ihren Löchern, lehnte sie an die Wand und machte den Laden auf, wobei er auf die Angeln drückte, um ihr Knarren zu dämpfen. Da der Mond sein bleiches Licht über dieses Tun ergossen hatte, konnte Prosper schwach die – 54 –
Dinge in dem Zimmer erkennen, wo Wilhelm und Walhenfer schliefen. Da, so hat er mir erzählt, hat er einen Augenblick innegehalten. Sein Herzklopfen war so stark, so tief innerlich und so laut geworden, daß er schier entsetzt dagestanden hatte. Jetzt fürchtete er, er könne nicht mehr kaltblütig handeln; seine Hände zitterten; ihm war, als stehe er mit den Fußsohlen auf glühenden Kohlen. Aber die Durchführung seines Plans war bislang von so viel Glück begleitet gewesen, daß er in dieser Gunst des Schicksals eine Art Vorbestimmung erblickte. Er öffnete das Fenster, nahm sein Besteck und suchte darin das Instrument heraus, das zur Begehung seines Verbrechens am geeignetsten war. – ›Als ich an das Bett herangetreten war‹, hat er mir gesagt, ›habe ich mich ganz mechanisch Gott anbefohlen.‹ Gerade als er den Arm hob und alle seine Kraft zusammenraffte, vernahm er in seinem Innern etwas wie eine Stimme und glaubte einen Lichtschein wahrzunehmen. Er warf das Instrument auf sein Bett, lief in den andern Raum und stellte sich an das Fenster. Dort packte ihn der tiefste Abscheu vor sich selbst; da er aber dennoch fühlte, wie schwach seine Tugend sei, und da er fürchtete, abermals dem Bann zu erliegen, in dessen Klauen er sich befand, sprang er hastig auf die Landstraße hinaus und ging entlang dem Rhein auf und ab, wobei er sozusagen vor der Herberge Posten stand. Oftmals kam er bei seinem überhasteten Gang bis nach Andernach; oftmals führten ihn seine Schritte auch an den Abhang, den er hinabgeritten war, um zu der Herberge zu gelangen; aber die Stille der Nacht war so tief, er verließ sich so sehr auf die Wachhunde, daß er dann und wann das Fenster aus den Augen verlor, das er offengelassen hatte. Es war seine Absicht, müde zu werden und den Schlaf herbeizurufen. Doch als er so unter einem wolkenlosen Himmel einherschritt, bewundernd zu den schönen Sternen aufschaute und vielleicht auch durch die reine Nachtluft und das schwermütige Rauschen der Wasser stark innerlich angerührt wurde, versank er in eine Grübelei, die ihn nach und nach zu gesunden, moralischen Gedanken zurückführte. Schließlich vertrieb die Vernunft, völlig den Wahnwitz, der sich für kurze Zeit seiner bemächtigt hatte. Die Lehren seiner Erziehung, die religiösen Vor– 55 –
schriften und zumal, so hat er mir gesagt, die Erinnerungsbilder an das bescheidene Leben, das er bislang unter dem väterlichen Dach geführt hatte, triumphierten über seine bösen Gedanken. Als er nach einer langen, nachdenklichen Betrachtung, der er sich am Rheinufer, auf einen dicken Stein gestützt, überlassen hatte, wieder dem Haus zuging, da hätte er, so hat er mir gesagt, neben einer Milliarde in Gold nicht schlafen, sondern wachen können. Nun, da seine Redlichkeit stark und stolz aus diesem Kampf hervorgegangen war, warf er sich in einem Gefühl der Verzückung auf die Knie, dankte Gott und fühlte sich froh, leicht und zufrieden wie am Tag seiner Erstkommunion, als er sich der Engel würdig geglaubt, weil er den ganzen Tag hingebracht hatte, ohne in Worten, Taten und Gedanken zu sündigen. Er kam wieder in die Herberge, schloß das Fenster ohne Scheu, Geräusch zu machen, und legte sich sogleich zu Bett. Seine seelische und körperliche Ermattung gab ihn widerstandslos dem Schlaf preis. Kurz nachdem er den Kopf auf seine Matratze gelegt hatte, fiel er in jene erste, wunderliche Schläfrigkeit, die stets einem tiefen Schlaf vorangeht. Dann erschlaffen die Sinne, und allmählich entschwindet das Leben; die Gedanken sind unvollständig, und die letzten Zuckungen unserer Sinne gaukeln uns etwas wie Träume vor. – ›Wie drückend die Luft ist‹, sagte sich Prosper. ›Mir ist, als atmete ich feuchten Dampf ein.‹ Verschwommen erklärte er sich diese Wirkung der Atmosphäre durch den Unterschied, der zwischen der Temperatur im Zimmer und der reinen Landluft herrschen mußte. Bald jedoch vernahm er ein regelmäßig wiederkehrendes Geräusch; es ähnelte beinah dem, das niederfallende Wassertropfen verursachen. Einem panischen Schreck nachgebend, wollte er aufstehen und den Wirt rufen, den Fabrikanten oder Wilhelm wecken; doch da fiel ihm zu seinem Unglück die hölzerne Standuhr ein; und im Glauben, er vernehme die Bewegung des Pendels, schlief er in dieser undeutlichen, verworrenen Vorstellung ein ...« »Wünschen Sie Wasser, Monsieur Taillefer?« fragte der Hausherr, als er sah, wie der Bankier mechanisch nach der Karaffe langte. Sie war leer. – 56 –
Nach einer kleinen, durch die Bemerkung des Bankiers ausgelösten Pause fuhr Monsieur Hermann mit seiner Erzählung fort. »Am andern Morgen«, sagte er, »wurde Prosper Magnan durch lauten Lärm geweckt. Ihm war, als habe er gellende Schreie gehört, und er verspürte das heftige Zittern der Nerven, das uns befällt, wenn wir beim Erwachen in einem unangenehmen Gefühl verharren, das während des Schlafs eingesetzt hat. Es vollzieht sich dann in uns ein physiologischer Vorgang, ein Ruck (um mich dieses vulgären Ausdrucks zu bedienen), der noch nicht zur Genüge beobachtet worden ist, als daß man wissen könnte, ob er für die Wissenschaft der Beachtung würdige Phänomene enthält. Jenes schauerliche Angstgefühl, das vielleicht durch eine zu jähe Vereinigung unserer beiden Naturen hervorgerufen wird, die während des Schlafs fast immer getrennt sind, geht für gewöhnlich schnell vorüber; aber bei dem armen Feldunterarzt dauerte es an, es steigerte sich sogar plötzlich und verursachte ihm das entsetzlichste Haarsträuben, als er zwischen seiner Matratze und Walhenfers Bett eine Blutlache gewahrte. Der Kopf des armen Deutschen lag am Boden, der Körper war im Bett verblieben. Alles Blut war aus dem Hals geströmt. Als Prosper Magnan die noch offenen, starren Augen sah, als er das Blut sah, das seine Bettlaken und sogar seine Hände befleckt hatte, als er sein chirurgisches Instrument auf dem Bett erkannte, sank er in Ohnmacht und fiel in Walhenfers Blut. – ›Das war bereits‹, so hat er mir gesagt, ›eine Strafe für meine Gedanken.‹
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Als er wieder zu Bewußtsein kam, befand er sich in der Gaststube. Er saß auf einem Stuhl, umringt von französischen Soldaten und angesichts einer gespannten, neugierigen Menge. Stumpfsinnig blickte er einen republikanischen Offizier an, der die Aussagen einiger Zeugen anhörte und wohl ein Protokoll aufsetzte. Er erkannte den Wirt, dessen Frau, die beiden Schiffer und die Herbergsmagd. Das chirurgische Instrument, dessen sich der Mörder bedient hatte...« Hier hustete Monsieur Taillefer, zog sein Schnupftuch aus der Tasche, um sich die Nase zu putzen, und wischte sich die Stirn ab. Diese recht natürlichen Bewegungen wurden nur von mir bemerkt; alle Tischgäste hatten die Augen auf Monsieur Hermann gerichtet und lauschten mit einer Art Gier. Der Heereslieferant stützte den Ellbogen auf den Tisch, lehnte den Kopf in die Hand und blickte Hermann starr an. Fortan ließ er sich weder ein Anzeichen der Erschütterung noch das Interesse anmerken; aber seine Züge blieben gedankenschwer und erdfahl wie in dem Augenblick, da er mit dem Kristallstöpsel gespielt hatte.
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»Das chirurgische Instrument, dessen der Mörder sich bedient hatte, lag auf dem Tisch neben Prospers Besteck, Brieftasche und Papieren. Die Blicke der Anwesenden richteten sich abwechselnd auf diese Beweisstücke und auf den jungen Menschen, der dem Tod nahe schien und dessen erloschene Augen anmuteten, als sähen sie nichts. Der verworrene Lärm, der draußen vernehmlich war, zeugte vom Vorhandensein der Menge, die die Nachricht von dem Verbrechen vor die Herberge gelockt hatte, und vielleicht auch das Verlangen, den Mörder mit eigenen Augen zu sehen. Der Schritt der Wachtposten vor der Gaststube und das Aufstampfen ihrer Gewehre übertönten die gemurmelten Gespräche der Volksmenge; aber die Herberge war geschlossen, der Hof lag leer und stumm da. Prosper Magnan war außerstande, den Blick des protokollierenden Offiziers zu ertragen; da fühlte er, wie ein Mann ihm die Hand drückte, und er hob die Augen, um zu sehen, wer inmitten dieser feindseligen Menge sein Schützer sei. An der Uniform erkannte er den Stabsarzt der in Andernach einquartierten Halbbrigade. Der Blick dieses Mannes war so durchdringend, daß der arme junge Mensch darob erschauerte; er ließ den Kopf auf die Stuhllehne sinken. Ein Soldat ließ ihn Essig einatmen, und sogleich kam er wieder zu Bewußtsein. Dabei schienen seine verstörten Augen so sehr des Lebens und der Wahrnehmungsmöglichkeit zu entbehren, daß der Stabsarzt, nachdem er Prospers Puls gefühlt hatte, zu dem Offizier sagte: ›Herr Hauptmann, es ist unmöglich, diesen Mann jetzt zu verhören.‹ – ›Gut, dann führen Sie ihn ab‹, unterbrach der Hauptmann den Stabsarzt, zu einem Korporal gewendet, der hinter dem Feldunterarzt stand. – ›Verdammter Feigling‹, sagte der Soldat leise zu ihm, ›versuch doch wenigstens, dich vor diesen deutschen Hunden stramm aufzuführen, um die Ehre der Republik zu retten.‹ Dieser Zuruf weckte Prosper Magnan; er stand auf und tat ein paar Schritte; doch als die Tür sich auftat, als die Außenluft ihn traf und er die Menge hereindringen sah, verließen ihn die Kräfte, die Knie wurden ihm weich, er taumelte. – ›Dieser gottverfluchte Doktorlehrling verdient zweimal den Tod! Tritt gefaßt!‹ sagten die beiden Soldaten, die ihn mit den Armen stützten. ›O diese Memme! Diese Memme! Der ist es! Der ist es! Seht – 59 –
ihn nur! Seht ihn nur!‹ Diese Worte, so schien es ihm, wurden von einer einzigen Stimme gesprochen, der tobenden Stimme der Menge, die neben ihm her drängte, ihn beschimpfte und dabei mit jedem Schritt anschwoll. Während der Überführung von der Herberge zum Gefängnis waren der Lärm, den die Volksmasse und die Soldaten beim Marschieren machten, das Gebrodel der verschiedenen Unterhaltungen, der Anblick des Himmels und die frische Luft, Andernach und das Gekräusel der Wasser des Rheins Eindrücke, die die Seele des Feldunterarztes verschwommen, verworren und stumpf berührten wie alle Empfindungen, die er seit seinem Erwachen verspürt hatte. Bisweilen habe er geglaubt, hat er mir gesagt, er existiere gar nicht mehr. »Ich war damals im Gefängnis«, unterbrach sich Monsieur Hermann. »Als ein Enthusiast, wie man es mit zwanzig ist, hatte ich mein Vaterland verteidigen wollen und eine Freischärler-Kompanie befehligt, die ich in der Umgebung von Andernach aufgestellt hatte. Ein paar Tage zuvor war ich bei Nacht mitten in eine achthundert Mann starke französische Abteilung geraten. Wir waren höchstens zweihundert. Meine Späher hatten mich verkauft. Ich wurde ins Andernacher Gefängnis geworfen. Ich sollte erschossen werden, man wollte ein Exempel statuieren, das die Gegend einschüchterte. Die Franzosen sprachen auch von Repressalien; aber der Mord, für den die Republikaner an mir Rache nehmen wollten, war nicht im Kurfürstentum begangen worden. Mein Vater hatte einen Aufschub von drei Tagen erlangt, um den General Augereau um meine Begnadigung bitten zu können; er hat sie ihm gewährt. Ich sah also Prosper Magnan in dem Augenblick, da er ins Andernacher Gefängnis kam, und er flößte mir tiefstes Mitleid ein. Obwohl er bleich war, mitgenommen, mit Blut besudelt, waren das hervorstechende Merkmal seiner Züge eine Reinheit und Unschuld, die mich tief ergriff. Für mich sprach aus seinem langen, blonden Haar, aus seinen blauen Augen Deutschland. Er war das leibhaftige Abbild meines der Ohnmacht anheimfallenden Heimatlandes; er kam mir wie ein Opfer und nicht wie ein Mörder vor. Als er unter meinem Fenster vorbeiging, lächelte er, ich weiß nicht wem entgegen, das bittere, schwermütige – 60 –
Lächeln eines Geistesgestörten, der für einen Augenblick ein flüchtiges Aufleuchten der Vernunft wiederfindet. Dieses Lächeln war gewiß nicht das eines Mörders. Als der Kerkermeister zu mir kam, fragte ich ihn über seinen neuen Gefangenen aus. – ›Seit er in seiner Zelle ist, hat er nicht gesprochen. Er sitzt da, hat den Kopf zwischen die Hände gelegt und schläft oder denkt über seinen Fall nach. Wie die Franzosen sagen, soll er morgen seine Abrechnung bekommen und dann binnen vierundzwanzig Stunden erschossen werden.‹ Am Abend, während der kurzen Weile, die es mir vergönnt war, im Gefängnishof auf und ab zu gehen, blieb ich am Fenster des Gefangenen stehen. Wir sprachen miteinander; er erzählte mir auf naive Weise sein Abenteuer und beantwortete ziemlich genau meine verschiedenen Fragen. Nach diesem ersten Gespräch zweifelte ich nicht mehr an seiner Unschuld. Ich erbat und erhielt die Gunst, ein paar Stunden bei ihm zu bleiben. So sah ich ihn also abermals, und der arme Junge weihte mich ohne Umschweife in alle seine Gedanken ein. Zu gleicher Zeit hielt er sich für unschuldig und schuldig. Da er an die schreckliche Versuchung denken mußte, der zu widerstehen er die Kraft besessen hatte, fürchtete er, er habe im Schlaf, in – 61 –
einem Anfall von Nachtwandeln das Verbrechen begangen, das er sich wachend erträumt hatte. – ›Aber Ihr Gefährte?‹ fragte ich ihn. – ›Oh!« rief er feurig, ›Wilhelm ist außerstande ...‹ Er sprach den Satz nicht einmal zu Ende. Auf diese warmherzige, von Jugend und Tugend erfüllte Äußerung hin habe ich ihm die Hand gedrückt. – ›Als er aufwachte‹, fuhr er fort, ›muß er sicherlich einen furchtbaren Schrecken bekommen haben; da hat er wohl den Kopf verloren und ist davongelaufen.‹ – ›Ohne Sie zu wecken‹, sagte ich. ›Aber dann wird Ihre Verteidigung ja leicht sein; denn dann ist Walhenfers Reisetasche schwerlich ausgeraubt.‹ Plötzlich brach er in Tränen aus. – ›O ja, ich bin unschuldig!‹ rief er. ›Ich habe nicht gemordet. Jetzt fällt mir ein, was ich geträumt habe. Ich spielte mit meinen Schulkameraden Barlaufen. Ich habe doch diesem Fabrikanten nicht den Kopf abschneiden können, während ich träumte, ich liefe.‹ Trotz der Hoffnungsschimmer, die ihm dann und wann eine gewisse Beruhigung zuteil werden ließen, fühlte er sich stets von Gewissensbissen zernagt. Ganz bestimmt hatte er den Arm erhoben, um dem Fabrikanten den Kopf abzutrennen. Er ging mit sich ins Gericht, er fand, daß sein Herz nicht rein sei, nachdem er in Gedanken ein Verbrechen begangen habe. – ›Und dabei bin ich doch gut!‹ rief er aus. ›O meine arme Mutter! Vielleicht spielt sie in ihrem kleinen Wohnzimmer mit den Wandbespannungen in dieser Stunde mit ihren Nachbarinnen heiter Impérial. Wenn sie wußte, daß ich auch nur die Hand erhoben habe, um einen Menschen zu morden... oh, dann würde sie sterben! Und ich bin im Gefängnis, angeklagt, ein Verbrechen begangen zu haben. Jenen Mann habe ich nicht umgebracht, aber meiner Mutter werde ich ganz sicher den Tod geben!‹ Bei diesen Worten weinte er nicht; aber in einem kurzen, heftigen Wutanfall, der bei Hitzköpfen nichts Ungewöhnliches ist, rannte er auf die Mauer zu, und wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte, würde er sich daran den Schädel zerschmettert haben. – ›Warten Sie Ihr Urteil ab‹, sagte ich zu ihm. ›Sie werden freigesprochen, Sie sind unschuldig. Und Ihre Mutter...‹ – ›Meine Mutter‹, rief er ungestüm, ›wird dennoch von der Anklage gegen mich erfahren. In Kleinstädten ist das nun mal so, und dann wird die arme Frau deswegen vor Kum– 62 –
mer sterben. Außerdem bin ich nicht unschuldig. Wollen Sie die volle Wahrheit wissen? Ich fühle, daß ich die Jungfräulichkeit meines Gewissens verloren habe!‹ Nach diesem furchtbaren Ausspruch setzte er sich hin, kreuzte die Arme über der Brust, neigte den Kopf und starrte mit düsterer Miene zu Boden. In diesem Augenblick kam der Schließer und forderte mich auf, wieder in mein Gelaß zu gehen; es verdroß mich, meinen Gefährten in einer Minute verlassen zu müssen, da seine Niedergeschlagenheit mich so tief dünkte, und ich schloß ihn freundschaftlich in die Arme. – ›Fassen Sie sich in Geduld‹, sagte ich zu ihm, ›vielleicht geht alles gut. Wenn die Stimme eines anständigen Menschen Ihre Zweifel zum Verstummen zu bringen vermag, dann vernehmen Sie, daß ich Sie achte und gern habe. Nehmen Sie meine Freundschaft entgegen und ruhen Sie auf meinem Herzen, wenn Sie in Unfrieden mit dem Ihrigen sind.« Am andern Morgen gegen neun Uhr wurde der Feldunterarzt von einem Korporal und vier Füsilieren abgeholt. Als ich die Geräusche hörte, die die Soldaten machten, trat ich an mein Fenster. Beim Durchschreiten des Hofs richtete der junge Mensch die Augen auf mich. Nie werde ich diesen Blick vergessen; er war erfüllt von Gedanken, bangen Ahnungen, Schicksalsergebenheit und einer gewissen traurigen, melancholischen Anmut. Es war eine Art stummen, vernehmlichen Testamentes, durch das ein Freund sein verlorenes Leben seinem letzten Freund vermacht. Die Nacht mußte für ihn sehr hart und sehr einsam gewesen sein; doch vielleicht rührte auch die Blässe, von der sein Gesicht gezeichnet war, von einem Stoizismus her, den er aus einer neuen Selbstachtung geschöpft hatte. Vielleicht hatte er sich durch Gewissensbisse geläutert und glaubte, er könne seine Sünde durch seinen Schmerz und seine Schande abwaschen. Er ging festen Schrittes; und schon am frühen Morgen hatte er die Blutflecken beseitigt, mit denen er sich wider Willen besudelt hatte. – ›Unseligerweise habe ich meine Hände da hineingetaucht, während ich schlief; mein Schlaf ist nämlich stets sehr unruhig‹, hatte er mir am Abend zuvor gesagt, und seine Stimme hatte grauenhaft verzweifelt geklungen. Ich hatte gehört, er müsse vor einem Kriegsgericht erscheinen. Die Division sollte am übernächsten Tag vor– 63 –
rücken, und der Chef der Halbbrigade wollte Andernach nicht verlassen, ohne das Verbrechen an der Stätte abgeurteilt zu haben, wo es begangen worden war... Ich schwebte während der Zeit, die die Verhandlung dauerte, in Todesängsten. Endlich, gegen Mittag, wurde Prosper Magnan ins Gefängnis zurückgebracht. Ich machte gerade meinen gewohnten Spaziergang; er sah mich, kam auf mich zu und warf sich mir in die Arme. – ›Verloren!‹ sagte er. ›Ich bin hoffnungslos verloren! Hier gelte ich also für jedermann als ein Mörder.‹ Stolz hob er den Kopf. – ›Diese Ungerechtigkeit hat mir meine Unschuld völlig wiedergegeben. Mein Leben würde immer verdüstert gewesen sein, aber mein Tod ist makellos. Doch gibt es denn ein künftiges Leben?‹ In dieser unvermittelten Frage war das ganze achtzehnte Jahrhundert enthalten. Gedankenversunken stand er da. – ›Aber‹, fragte ich ihn, ›wie haben Sie denn geantwortet? Was sind Sie gefragt worden? Haben Sie nicht rückhaltlos über das Geschehene so ausgesagt, wie Sie es mir erzählt haben?‹ Eine Weile starrte er mich an; dann hat er mir nach dieser erschreckenden Pause mit fieberhaft hastigen Worten geantwortet: ›Zunächst haben sie mich gefragt: Haben Sie während der Nacht die Herberge verlassen? Ich habe geantwortet: Ja. – Auf welchem Weg? – Ich bin rot geworden und habe geantwortet: Durch das Fenster. – Dann haben Sie es also aufgemacht? – Ja, habe ich gesagt. – Dabei müssen Sie sehr behutsam vorgegangen sein. Der Gastwirt hat nichts gehört. – Ich habe wie betäubt dagestanden. Die Schiffer haben erklärt, sie hätten mich umhergehen sehen, bald auf Andernach, bald auf den Wald zu. Ich hätte, so haben sie ausgesagt, mehrere Gänge unternommen. Ich hätte wohl das Gold und die Diamanten vergraben. Die Reisetasche ist nämlich nicht wiedergefunden worden! Außerdem bin ich stets im Kampf mit meinem Gewissen gewesen. Wenn ich sprechen wollte, hat eine erbarmungslose Stimme mir zugerufen: Du hast das Verbrechen begehen wollen! – Alles war gegen mich, sogar ich selber...! Sie haben mich über meinen Kameraden befragt, und ich habe ihn rückhaltlos verteidigt. Da haben sie zu mir gesagt: Wir müssen einen Schuldigen unter Ihnen, Ihrem Kameraden, dem Gastwirt und seiner Frau finden! Heute morgen sind alle Türen und Fenster verschlossen – 64 –
vorgefunden worden. – Bei dieser Bemerkung‹, fuhr er fort, ›verschlug es mir die Sprache; ich war ohne Kraft und ohne Seele. Da ich meines Freundes sicherer war als meiner selbst, konnte ich ihn nicht beschuldigen. Ich habe begriffen, daß wir beide gleichermaßen als Komplicen des Mordes angesehen wurden, und daß ich als der Ungeschicktere galt! Ich habe das Verbrechen durch Nachtwandeln erklären und meinen Freund rechtfertigen wollen; da habe ich angefangen, irre zu reden. Ich bin verloren. In den Augen meiner Richter habe ich mein Urteil gelesen. Sie haben nur ungläubig gelächelt. Jetzt ist alles vorbei. Es gibt keine Ungewißheit mehr. Morgen werde ich erschossen. – Ich denke nicht mehr an mich‹, sprach er weiter, ›sondern an meine arme Mutter!‹ Er hielt inne, blickte zum Himmel auf und vergoß keine Träne. Seine Augen waren trocken und zuckten krampfhaft. – ›Frédéric!‹ – Ha, der andere hieß Frédéric, Frédéric! Ja, das ist sein richtiger Name«, rief Monsieur Hermann mit triumphierender Miene. Meine Tischgenossin stieß mich mit dem Fuß an, deutete auf Monsieur Taillefer und gab mir einen Wink. Der ehemalige Heereslieferant hatte lässig die Hand auf seine Augen gelegt; aber zwischen seinen Fingern hindurch glaubten wir in seinem Blick eine düstere Flamme zu sehen. »Na?« fragte sie mich leise. »Wenn er nun Frédéric hieße?« Ich antwortete ihr durch ein Blinzeln, das besagen sollte: »Still!« Hermann fuhr folgendermaßen fort: »›Frédéric!‹ rief der Feldunterarzt. ›Frédéric hat mich feige im Stich gelassen. Er hat wohl Angst gehabt. Vielleicht hat er sich in der Herberge versteckt, denn unsere Pferde haben am Morgen nach wie vor im Hof gestanden. – Welch unergründliches Geheimnis‹, fügte er nach einer Weile des Schweigens hinzu. ›Das Nachtwandeln, das Nachtwandeln! Ich habe davon in meinem ganzen Leben nur einen einzigen Anfall gehabt, und da war ich erst zehn Jahre alt. – Soll ich von dieser Erde weggehen‹, fuhr er fort und stampfte mit dem Fuß auf, ›und alles mitnehmen, was es an Freundschaft auf dieser Welt gibt? Soll ich denn zweimal sterben, im Zweifel an ein Brudertum, das mit fünf Jahren – 65 –
begann und auf der Schule und während des Studiums fortgedauert hat? Wo ist Frédéric?‹ Er schluchzte auf. Wir hängen also mehr an einem Gefühl als am Leben. – ›Lassen Sie uns hineingehen‹, sagte er, ›ich möchte lieber in meiner Zelle sein. Ich will nicht, daß man mich weinen sieht. Ich werde beherzt in den Tod gehen, aber ich kann nicht zur Unzeit den Helden spielen; ich gebe zu, daß es mir leid tut um mein junges, schönes Leben. Letzte Nacht habe ich nicht geschlafen; ich habe an Szenen aus meiner Kindheit denken müssen, und ich habe mich über jene Weidewiesen laufen sehen, an die mich zu erinnern vielleicht meinen Tod verursacht hat. – Ich hatte eine Zukunft!‹ unterbrach er sich. ›Zwölf Mann; ein Leutnant, der kommandiert: Gewehr auf! Legt an! Feuer! Ein Trommelwirbel; und die Schande! Das ist jetzt meine Zukunft. Oh, es gibt einen Gott, oder dies alles wäre allzu albern.‹ Er schloß mich in die Arme und drückte mich mit aller Kraft an sich. – ›Ach, Sie sind der letzte Mensch, dem ich mein Herz habe ausschütten können. Sie kommen frei! Sie sehen Ihre Mutter wieder! Ich weiß nicht, ob Sie reich sind oder arm; aber was liegt daran! Für mich bedeuten Sie die ganze Welt. Der Krieg wird nicht ewig dauern. Ja, wenn wieder Frieden ist, dann reisen Sie nach Beauvais. Falls meine Mutter die Unheilsnachricht von meinem Tod überlebt, werden Sie sie dort vorfinden. Sagen Sie ihr die Trostesworte: Er war unschuldig! – Sie wird Ihnen glauben‹, fuhr er fort. ›Ich will ihr schreiben; aber Sie sollen ihr meinen letzten Blick überbringen, Sie sollen ihr sagen, Sie seien der letzte Mensch, den ich umarmt hätte. Ach, wie lieb werden Sie ihr sein, der armen Frau! Sie, der Sie mein letzter Freund gewesen sind! – Hier‹, sagte er nach einem kurzen Schweigen, bei dem er dastand wie erdrückt von der Wucht der Erinnerungen, ›hier kenne ich weder die Vorgesetzten noch die Mannschaften, und ihnen allen flöße ich Abscheu ein. Ohne Sie würde meine Unschuld zwischen dem Himmel und mir bleiben.‹ Ich gelobte ihm, seinen letzten Willen getreulich zu erfüllen. Meine Worte und das Überströmen meines Herzens rührten ihn. Kurz danach kamen die Soldaten wieder und führten ihn abermals vor das Kriegsgericht. Er wurde zum Tode verurteilt. Ich kenne die Formalitäten nicht, die einem solchen Urteil erster Instanz folgen oder dabei – 66 –
befolgt werden müssen; ich weiß nicht, ob der junge Arzt sein Leben nach allen Regeln verteidigt hat; aber er war darauf gefaßt, am andern Morgen zur Hinrichtung zu gehen, und er verbrachte die Nacht damit, an seine Mutter zu schreiben. – ›Wir werden alle beide befreit‹, sagte er lächelnd zu mir, als ich ihn am nächsten Morgen aufsuchte. ›Ich habe gehört, daß der General Ihre Begnadigung unterzeichnet hat.‹ Ich schwieg, und ich blickte ihn an, um mir seine Züge fest einzuprägen. Da überzog ein Ausdruck des Ekels sein Gesicht, und er sagte zu mir: ›Ich bin jämmerlich feige gewesen! Die ganze Nacht hindurch habe ich diese Mauern um Gnade angefleht.‹ Und er deutete auf die Wände seiner Zelle. – ›Ja, ja‹, fuhr er fort, ›ich habe vor Verzweiflung geheult, ich habe aufbegehrt, ich habe den grausigsten seelischen Todeskampf erlitten. – Ich war ja allein! Jetzt denke ich daran, was die andern sagen werden... Der Mut ist ein Kostüm, das man sich anzieht. Ich muß auf anständige Weise in den Tod gehen... Daher...‹«
Zweierlei Urteil »Oh, hören Sie auf!« rief die junge Dame, die um diese Geschichte gebeten hatte, und unterbrach auf diese Weise jäh den Nürnberger. »Ich will in Ungewißheit bleiben und glauben, er sei gerettet worden. Erführe ich heute, daß er erschossen worden ist, so könnte ich diese Nacht nicht schlafen. Erzählen Sie mir morgen den Schluß.« Wir standen vom Tisch auf. Meine Dame nahm Monsieur Hermanns Arm und fragte ihn: »Nicht wahr, er ist erschossen worden?« »Ja. Ich war Zeuge der Hinrichtung.« »Wie?« fragte sie. »Sie haben es über sich bringen können...« »Er hatte es gewünscht, Madame. Es ist etwas Schauerliches, dem Leichenzug eines Lebenden zu folgen, eines Mannes, den man gern hat, eines Unschuldigen! Der arme junge Mensch hat mich unablässig
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angeblickt. Er schien nur noch in mir zu leben! Er wollte, so hat er gesagt, daß ich seiner Mutter seinen letzten Seufzer überbrächte.« »Haben Sie sie aufgesucht?« »Nach dem Frieden von Amiens reiste ich nach Frankreich, um der Mutter das schöne Wort: ›Er war unschuldig‹ zu überbringen. Frommen Sinnes hatte ich diese Pilgerfahrt auf mich genommen. Aber Madame Magnan war an der Schwindsucht gestorben. Nicht ohne tiefe Erschütterung verbrannte ich den Brief, dessen Überbringer ich war. Vielleicht werden Sie mich meiner deutschen Überschwenglichkeit wegen auslachen; aber ich erblicke ein Drama von erhabener Schwermut in dem ewigen Geheimnis, das diese zwischen zwei Gräbern ausgetauschten Abschiedsgrüße, von denen die gesamte Schöpfung nichts wußte, begraben sollte wie den mitten in der Wüste von einem Wanderer, den ein Löwe überfällt, ausgestoßenen Schrei.« »Und wenn man Sie einem der Männer gegenüberstellte, die sich in diesem Zimmer befinden, und Ihnen sagte: ›Dies ist der Mörder!‹ – wäre das nicht ebenfalls ein Drama?« fragte ich ihn. »Und was würden Sie dann tun?« Monsieur Hermann holte sich seinen Hut und ging. »Sie handeln wie ein junger Mensch, und sehr leichtfertig«, sagte meine Tischdame zu mir. »Sehen Sie sich Taillefer an! Da drüben sitzt er auf der Bergère, am Kamin; Mademoiselle Fanny reicht ihm eine Tasse Tee. Er lächelt. Könnte ein Mörder, den die Erzählung dieses Abenteuers hätte aufs Schafott bringen müssen, so viel Ruhe bezeigen? Wirkt er nicht wahrhaft patriarchalisch?«
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»Ja, aber fragen Sie ihn doch, ob er den Krieg in Deutschland mitgemacht habe«, rief ich. »Warum nicht?« Und mit der Keckheit, an der es die Frauen nie fehlen lassen, wenn ihnen ein Unternehmen lächelt oder wenn ihr Inneres von der Neugier beherrscht wird, trat meine Tischdame auf den Heereslieferanten zu. »Sind Sie mal in Deutschland gewesen?« fragte sie ihn. Fast hätte Taillefer seine Untertasse fallen lassen. »Ich, Madame? Nein, nie.« »Was redest du da, Taillefer?« entgegnete der Bankier. »Bist du beim Wagram-Feldzug nicht in der Proviantabteilung gewesen?« »Ja, richtig«, antwortete Monsieur Taillefer. »Das eine Mal bin ich dagewesen.«
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»Sie irren sich, er ist ein ganz harmloser Mensch«, sagte meine Tischdame, als sie zu mir zurückkam. »Warten Sie ab!« rief ich. »Noch ehe diese Abendgesellschaft zu Ende ist, werde ich den Mörder aus dem Schlamm jagen, in dem er sich versteckt.« Alle Tage vollzieht sich vor unsern Augen ein moralisches Phänomen von erstaunlicher Tiefe und ist dabei allzu einfach, um aufzufallen. Wenn in einem Salon zwei Männer einander begegnen, von denen der eine das Recht hat, den andern zu verachten oder zu hassen, sei es durch sein Wissen um eine intime, verborgene Tatsache, die ihn befleckt, sei es durch eine geheimgehaltene Veranlagung oder sogar um einer künftigen Rache willen, so erraten jene beiden Männer einander und spüren den Abgrund, der sie trennt oder trennen sollte. Unbewußt beobachten sie einander, befassen sie sich miteinander; ihre Blicke, ihre Gesten strömen eine unerklärliche Emanation der Gedanken aus; es waltet zwischen ihnen eine magnetische Kraft. Ich weiß nicht, was einander stärker anzieht, Rache oder Verbrechen, Haß oder Beleidigung. Gleich dem Priester, der die Hostie im Dabeisein des Bösen nicht weihen konnte, sind sie beide gehemmt und mißtrauisch; der eine ist höflich, der andere düster, welcher von beiden, das weiß ich nicht; der eine errötet oder erblaßt, der andere zittert. Oft ist der Rächer genauso feige wie das Opfer. Wenige Leute bringen den Mut auf, Unheil zu stiften, sogar ein notwendiges Unheil; und viele Menschen schweigen oder verzeihen aus Abscheu vor einem Skandal oder aus Scheu vor einem tragischen Ausgang. Diese wechselseitige Stoffaufnahme unserer Seelen und unserer Gefühle entfachte einen geheimnisvollen Kampf zwischen dem Heereslieferanten und mir. Seit der ersten Zwischenfrage, die ich während Monsieur Hermanns Erzählung an ihn gerichtet hatte, war er meinen Blicken ausgewichen. Vielleicht hat er auch diejenigen der übrigen Tischgenossen gemieden! Er plauderte mit der unerfahrenen Fanny, der Tochter des Bankiers; sicherlich empfand er, wie alle Verbrecher, das Bedürfnis, sich der Unschuld zu nähern, in der Hoffnung, bei ihr Ruhe zu finden. Obwohl ich fern von ihm stand, – 70 –
lauschte ich ihm, und mein durchdringender Blick bannte den seinen. Wenn er glaubte, unbemerkt zu mir hinsehen zu können, begegneten unsere Blicke einander, und sogleich senkten sich seine Lider. Erschöpft von dieser Marter beeilte Taillefer sich, ihr dadurch ein Ende zu machen, daß er sich an den Spieltisch setzte. Auch ich ging hin und wettete auf seinen Gegner, aber im Verlangen, mein Geld zu verlieren. Dieser Wunsch ging in Erfüllung. Ich nahm den Platz des ausscheidenden Spielers ein und saß nun Auge in Auge dem Mörder gegenüber... »Monsieur«, sagte ich zu ihm, während er mir Karten gab, »hätten Sie wohl die Güte, die Points auszugleichen?« Ziemlich hastig schob er seine Jetons von links nach rechts. Meine Tischdame war zu mir getreten; ich warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Sind Sie vielleicht«, wandte ich mich an den Heereslieferanten, » jener Monsieur Frédéric Taillef er, dessen Familie ich in Beauvais gut gekannt habe?« »Ja«, antwortete er. Er ließ seine Karten fallen, erbleichte, legte den Kopf auf die Hände, bat einen der auf ihn Wettenden, statt seiner zu spielen, und stand auf. »Es ist zu heiß hier«, rief er. »Ich fürchte ...« Er sprach nicht zu Ende. Sein Gesicht drückte plötzlich grausige Schmerzen aus, und er ging rasch hinaus. Der Hausherr begleitete Taillefer; er schien an dessen Zustand lebhaften Anteil zu nehmen. Meine Tischdame und ich blickten einander an, und ich sah, daß sich über ihre Züge bittere Traurigkeit gebreitet hatte. »Ist Ihr Verhalten sehr barmherzig?« fragte sie mich und führte mich in eine Fensternische, als ich, der verloren hatte, vom Spieltisch aufstand. »Möchten Sie die Macht haben, in allen Herzen lesen zu können? Warum lassen Sie nicht die menschliche und die göttliche – 71 –
Gerechtigkeit sich auswirken? Wenn wir auch der einen entschlüpfen, der andern entrinnen wir nie! Sind die Befugnisse eines Schwurgerichtspräsidenten etwas so Beneidenswertes? Sie haben beinahe das Amt eines Henkers ausgeübt.« »Erst haben Sie meine Neugier geteilt und angestachelt, und jetzt halten Sie mir eine Moralpredigt!« »Sie haben mich nachdenklich gemacht«, antwortete sie. »Dann also Friede den Schurken, Krieg den Unglücklichen; und das Gold sei Gott! Aber lassen wir das«, sprach ich lachend weiter. »Bitte beachten Sie doch die junge Dame, die eben hereinkommt.« »Ja, und?« »Ich habe sie vor drei Tagen auf dem Ball des neapolitanischen Gesandten gesehen und mich leidenschaftlich in sie verliebt. Sagen Sie mir doch gütigst, wie sie heißt. Niemand hat sie mir...« »Es ist Mademoiselle Victorine Taillefer.« Mir wurde schwarz vor Augen. »Ihre Stiefmutter«, sagte meine Tischdame, deren Stimme ich kaum vernahm, »hat sie erst kürzlich aus dem Kloster genommen, in dem reichlich spät ihre Bildung vervollkommnet worden ist. Ihr Vater hat sich lange gesträubt, sie anzuerkennen. Sie ist zum erstenmal hier. Sie ist sehr schön und sehr reich.« Diese Worte wurden von einem sardonischen Lächeln begleitet. In diesem Augenblick vernahmen wir heftige, aber gedämpfte Aufschreie. Sie schienen aus einer benachbarten Wohnung zu kommen und hallten matt durch die Gärten. »Ist das nicht Monsieur Taillefers Stimme?« rief ich aus. Wir konzentrierten unsere ganze Aufmerksamkeit auf diese Laute, und es drang ein schauerliches Ächzen und Stöhnen an unsere Ohren. Die Gattin des Bankiers kam eilends auf uns zu und schloß das Fenster. – 72 –
»Bitte lassen Sie uns alles Aufsehen vermeiden«, sagte sie zu uns. »Wenn Mademoiselle Taillefer ihren Vater hörte, könnte sie einen Nervenschock erleiden!« Der Bankier kam wieder in den Salon, suchte nach Victorine und flüsterte ihr etwas zu. Da stieß die junge Dame einen Schrei aus, stürzte zur Tür und verschwand. Dieser Vorfall löste große Aufregung aus. Die Spielpartien wurden abgebrochen. Jeder fragte den aus, neben dem er gerade stand. Das Stimmengemurmel schwoll an; es bildeten sich Gruppen. »Sollte Monsieur Taillefer etwa...«, fragte ich. »Selbstmord begangen haben?« fragte meine spottsüchtige Tischdame. »Dann würden Sie ihm vermutlich frohgemut nachtrauern!« »Aber was ist ihm denn zugestoßen?« »Der Ärmste«, antwortete die Hausherrin, »leidet an einer Krankheit, deren Name ich nicht behalten kann, obwohl Doktor Brousson ihn mir oft genug gesagt hat, und jetzt hat er gerade wieder einen Anfall.« »Welcher Art ist denn diese Krankheit?« fragte plötzlich ein Untersuchungsrichter. »Ach, es ist ein schreckliches Leiden, Monsieur«, antwortete sie. »Die Ärzte kennen kein Mittel dagegen. Anscheinend ist es mit unerträglichen Schmerzen verbunden. Eines Tages hat der unglückliche Taillefer während eines Besuchs auf meinem Landsitz einen Anfall gehabt; ich mußte zu einer meiner Nachbarinnen hinübergehen, damit ich ihn nicht hörte; er stößt entsetzliche Schreie aus, er will sich umbringen; seine Tochter muß ihn dann auf seinem Bett festbinden und ihm eine Zwangsjacke anziehen lassen. Der arme Mann behauptet, er habe Tiere im Kopf, die ihm das Gehirn zernagten, - es sind stechende Schmerzen, wie das Einschneiden einer Säge, wie ein Hinundherzerren im Innern jedes Nervs. Er hat so starke Kopfschmerzen, daß er nicht einmal die Brennkegel spürte, die ihm früher aufgelegt wurden, als Versuch, den Schmerz zu verteilen; aber Doktor Brousson, von dem er sich jetzt behandeln läßt, behauptet, es – 73 –
handele sich um eine Nervenüberreizung, eine Nervenentzündung, bei der Blutegel am Hals und Opium am Kopf angewendet werden müßten; und tatsächlich sind die Anfälle seltener geworden; sie treten nur noch alle Jahr auf, gegen Ende des Herbstes. Wenn Taillefer sie überstanden hat, sagt er immer wieder, er wolle lieber gerädert werden als noch einmal solche Schmerzen ertragen.« »Na, dann scheint er ja viel auszuhalten zu haben«, sagte ein Börsenmakler, der Schöngeist des Salons. »Oh!« fuhr sie fort, »letztes Jahr wäre er fast gestorben. Er war allein in seinem Landhaus, einer dringlichen Angelegenheit wegen; vielleicht weil keine Hilfe zur Hand war, hat er vierundzwanzig Stunden lang stocksteif dagelegen, wie tot. Nur durch ein sehr heißes Bad ist er gerettet worden.« »Dann ist es also eine Art Starrkrampf?« fragte der Börsenmakler. »Ich weiß es nicht«, entgegnete sie. »Seit beinahe dreißig Jahren macht ihm diese Krankheit zu schaffen, er hat sie sich im Heeresdienst zugezogen; ihm sei, sagt er, ein Holzsplitter in den Kopf gedrungen, als er in ein Boot gefallen sei; aber Brousson hofft, ihn zu heilen. Es wird behauptet, die Engländer hätten Mittel und Wege gefunden, diese Krankheit gefahrlos mit Blausäure zu bekämpfen.« Da hallte ein noch schrillerer Schrei als die andern durch das Haus und ließ uns vor Schrecken erstarren. »So habe ich ihn damals alle paar Augenblicke aufschreien hören«, fuhr die Bankiersgattin fort. »Es hat mich immer vom Stuhl auffahren lassen und mir an den Nerven gezerrt. Aber eins ist seltsam; obwohl der arme Taillefer unerhörte Schmerzen leidet, ist er nie ernstlich in Lebensgefahr. Während der Ruhepausen, die ihm die grausige Marter läßt (die Natur ist recht bizarr!), ißt und trinkt er wie sonst auch. Ein deutscher Arzt hat ihm gesagt, es sei eine Art Kopfgicht; das würde so ziemlich mit Broussons Meinung übereinstimmen.« – 74 –
Ich trat von der Gruppe weg, die sich um die Hausherrin gebildet hatte, und verließ mit Mademoiselle Taillefer, die ein Diener geholt hatte, das Haus... »O mein Gott, mein Gott! « rief sie schluchzend, »was hat mein Vater dem Himmel getan, daß er verdient hätte, so zu leiden ...? Er ist doch ein so guter Mensch!« Ich ging mit ihr die Treppe hinunter, und als ich ihr half, in den Wagen zu steigen, sah ich darin zusammengekrümmt ihren Vater sitzen. Mademoiselle Taillefer versuchte, das Ächzen und Stöhnen des Vaters dadurch zu dämpfen, daß sie ihm ein Taschentuch vor den Mund hielt; unglücklicherweise gewahrte er mich; sein Gesicht schien sich noch mehr zu verzerren, ein konvulsivischer Schrei zerspaltete die Luft, er warf mir einen entsetzlichen Blick zu, und der Wagen fuhr ab.
Dieses Essen, diese Abendgesellschaft übten einen qualvollen Einfluß auf mein Leben und meine Gefühle aus. Ich liebte Mademoiselle Taillefer, und vielleicht gerade, weil Ehre und Feingefühl mir verboten, mich verwandtschaftlich mit einem Mörder zu ver– 75 –
binden, ein so guter Vater und Gatte er auch sein mochte. Eine unglaubliche Schicksalsfügung zwang mich dazu, mich stets in Häusern einzufinden, von denen ich wußte, daß ich dort Victorine begegnen könnte. Oft, wenn ich mir selbst mein Ehrenwort gegeben hatte, darauf zu verzichten, sie zu sehen, befand ich mich abends wieder in ihrer Nähe. Meine Wonnen waren unermeßlich. Meine berechtigte Liebe, die von grillenhaften Gewissensnöten durchsetzt war, nahm die Farbe einer verbrecherischen Leidenschaft an. Ich verachtete mich, daß ich Taillefer grüßte, wenn er zufällig seine Tochter begleitete; aber ich grüßte ihn dennoch! Denn leider ist Victorine nicht nur ein hübsches Mädchen, sondern überdies gebildet, talentvoll, liebenswürdig, ohne die mindeste Engherzigkeit, ohne den leisesten Anhauch von Anmaßung. Sie plaudert zurückhaltend, und ihr Charakter besitzt Züge von melancholischer Anmut, denen niemand zu widerstehen vermöchte; sie liebt mich, oder sie läßt es mich wenigstens vermuten; sie hat ein gewisses Lächeln, mit dem sie nur mich bedenkt; und für mich wird ihre Stimme noch lieblicher. Oh, sie liebt mich! Aber sie vergöttert ihren Vater, sie rühmt mir seine Güte, seine Milde, seine erlesenen guten Eigenschaften. Diese Lobesworte sind ebenso viele Dolchstiche, die sie mir ins Herz stößt. Eines Tages bin ich fast zum Mitschuldigen an dem Verbrechen geworden, auf dem der Reichtum der Familie Taillefer beruht; ich habe um Victorines Hand anhalten wollen. Da bin ich geflohen, ich bin verreist, ich bin nach Deutschland gefahren, nach Andernach. Aber ich bin zurückgekehrt. Beim Wiedersehen war Victorine blaß; sie war abgemagert! Hätte ich sie gesund und frohgemut vorgefunden, so wäre ich mit heiler Haut davongekommen. Meine Leidenschaft ist mit ungeheurer Heftigkeit wieder aufgelodert. Aus Furcht, meine Skrupel könnten zur Monomanie entarten, beschloß ich, einen Hohen Rat reiner Gewissen einzuberufen, um einiges Licht auf dieses Problem hoher Moral und Philosophie zu werfen. Seit meiner Rückkehr war die Frage noch sehr viel komplizierter geworden. Vorgestern also habe ich diejenigen meiner Freunde zu mir gebeten, denen ich ein Höchstmaß an Rechtschaffenheit, an Takt und Ehrenhaftigkeit zuerkenne. Ich hatte zwei Engländer eingeladen, einen Gesandschaftsse– 76 –
kretär und einen Puritaner; einen ehemaligen Minister von allerbester politischer Reife; junge Leute, denen noch der Zauber der Unschuld anhaftete; einen bejahrten Priester, und ferner meinen ehemaligen Vormund, einen harmlosen Mann, der mir die schönste Vormundschaftsabrechnung geliefert hat, deren man sich im Justizpalast zu erinnern vermag; einen Advokaten, einen Notar, einen Richter, kurzum alle gesellschaftlichen Anschauungen, alle praktisch betätigten Tugenden. Wir haben mit einem guten Abendessen angefangen, mit guten Gesprächen, bei. denen es laut herging; dann, beim Nachtisch, habe ich ihnen unumwunden meine Geschichte erzählt, ohne den Namen meiner Erwählten zu erwähnen, und um gute Ratschläge gebeten. »Jetzt ratet mir, ihr Freunde«, habe ich abschließend gesagt. »Erörtert die Frage lange, als handele es sich um ein geplantes Gesetz. Es sollen Euch die Urne und die Billardkugelngebracht werden, und ihr sollt für oder gegen meine Heirat entscheiden, nach allen Regeln der geheimen Abstimmung!« Plötzlich herrschte tiefe Stille. Der Notar erklärte sich für unzuständig. »Es ist dabei ein Kontrakt aufzusetzen«, sagte er. Der Wein hatte meinen ehemaligen Vormund schweigsam gemacht; er mußte selber unter Vormundschaft gestellt werden, damit ihm auf dem Heimweg nichts zustieß. »Ich verstehe!« rief ich aus. »Seine Meinung nicht äußern, das heißt, mir nachdrücklich sagen, was ich zu tun habe.« Eine Bewegung durchschwoll die Gesellschaft. Ein Hausbesitzer, der einen Betrag für die Kinder und das Grabmal des General Foy gestiftet hatte, rief: »So wie die Tugend hat auch das Verbrechen Stufen.« »Schwätzer!« sagte der ehemalige Minister leise zu nur und stieß mich mit dem Ellbogen an. – 77 –
»Worin beruht eigentlich die Schwierigkeit?« fragte ein Herzog, dessen Vermögen aus Gütern besteht, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes den widerspenstigen Protestanten abgenommen worden waren. Der Advokat stand auf: »Vom Rechtsstandpunkt aus würde der uns unterbreitete Fall nicht die geringsten Schwierigkeiten bieten. Der Herzog hat recht!« rief die Stimme des Gesetzes. »Gibt es etwa keine Verjährung? Wo würden wir alle hinkommen, wenn Nachforschungen über den Ursprung der Vermögen angestellt würden? Dies hier ist eine Gewissensfrage. Wenn Sie die Sache unbedingt vor einen Richterstuhl bringen wollen, dann gehen Sie zum Beichtstuhl.« Das Fleisch gewordene Gesetzbuch verstummte, setzte sich und trank ein Glas Champagner. Der Mann, dem es oblag, das Evangelium auszudeuten, der gute Priester, erhob sich. »Gott hat uns alle als hinfällige Wesen erschaffen«, sagte er mit Festigkeit. »Wenn Sie die Erbin des Verbrechers lieben, dann heiraten Sie sie; aber begnügen Sie sich mit dem mütterlichen Erbteil und geben Sie das väterliche den Armen.« »Aber«, rief einer der erbarmungslosen Rechthaber, denen man so häufig in der Gesellschaft begegnet, »vielleicht hat der Vater eine reiche Heirat gemacht, nur weil er selber sich bereits bereichert hatte. Ist also nicht stets auch der geringste seiner Glückszufälle eine Frucht des Verbrechens gewesen?« »Daß wir darüber reden, ist an sich schon ein Urteil! Es gibt Dinge, über die man sich nicht auf Erörterungen einläßt«, rief mein ehemaliger Vormund; er glaubte wohl, durch einen Geistesblitz aus der Trunkenheit heraus den Versammelten ein Licht aufzustecken. »Ja!« sagte der Gesandschaftssekretär. »Ja!« rief der Priester. Die beiden Herren verstanden einander nicht. – 78 –
Ein Doktrinär, dem von hundertfünfundfünfzig Stimmen nur hundertfünfzig gefehlt hatten, um gewählt zu werden, stand auf. »Meine Herren, dieser phänomenale Fall von intellektueller Sonderart ist einer derjenigen, die auf das nachdrücklichste aus dem Normalzustand herausfallen, dem die Gesellschaft untersteht«, sagte er. »Also muß die Entscheidung, die wir zu treffen haben, etwas sein, das von unserem Gewissen unabhängig ist, eine plötzliche Eingebung, ein instruktives Urteil, eine flüchtige Nuance unseres intimen Verständnisses, beinahe etwas wie die Erleuchtungen, die das Gefühl der Vorliebe, der Neigung bilden. Wir wollen abstimmen.« »Ja, abstimmen!« riefen meine Gäste. Ich ließ jedem zwei Kugeln geben, die eine weiß, die andre rot. Die weiße, das Symbol der Jungfräulichkeit, sollte die Eheschließung in Acht und Bann tun; die rote Kugel sollte sie billigen. Meine Freunde waren siebzehn an der Zahl; die Neun bildete somit die absolute Mehrheit. Jeder steckte also seine Kugel in den enghalsigen Weidenkorb, in den die numerierten Kugeln kollern, wenn die Spieler ihre Plätze für eine Partie auslosen, und es regte sich in uns allen eine ziemlich heftige Neugier; denn diese geheime Abstimmung geläuterter Moral war etwas recht Originelles. Beim Zählen fand ich neun weiße Kugeln! Dieses Ergebnis überraschte mich nicht; ich ließ es mir einfallen, die jungen Leute meines Alters zu zählen, die sich unter meinen Richtern befanden. Diese Kasuisten waren neun an der Zahl; sie hatten alle denselben Gedanken gehabt. »Holla«, sagte ich mir, »es besteht also Einmütigkeit für die Heirat und Einmütigkeit, sie mir zu verbieten. Wie ziehe ich mich da aus der Verlegenheit?« »Wo wohnt der Schwiegervater?« fragte unbesonnenerweise einer meiner Schulkameraden, der weniger der Verstellung huldigte als die andern. »Den Schwiegervater gibt es nicht mehr«, rief ich. »Früher hat mein Gewissen deutlich genug gesprochen, so daß euer Urteil überflüssig – 79 –
gewesen wäre. Und wenn seine Stimme heute schwächer klingt, dann hat meine Feigheit folgenden Grund. Vor zwei Monaten habe ich diesen verführerischen Brief hier bekommen.« Ich entnahm meiner Brieftasche folgende Einladung und zeigte sie ihnen.
Sie werden um Ihre Teilnahme am Leichenbegängnis, am Totenamt und an der Bestattung von M. JEAN-FREDERIC TAILLEFER gebeten, dem Chef des Bankhauses Taillefer & Co., ehemaligem Heereslieferanten, zu seinen Lebzeiten Ritter der Ehrenlegion und vom Goldenen Sporn, Hauptmann der Ersten Grenadier-Kompanie der Zweiten Legion der Pariser Nationalgarde, entschlafen am 1. Mai in seinem Stadthaus Rue Joubert. Das Begräbnis findet statt auf dem... usw. Für die trauernden Hinterbliebenen... usw.
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»Was soll jetzt geschehen?« fuhr ich fort. »Ich will euch die Frage in aller Ausführlichkeit stellen. Es findet sich ganz bestimmt eine Blutlache auf dem Landbesitz der Mademoiselle Taillefer; die Hinterlassenschaft ihres Vaters ist ein wahres Hakeldama. Ich weiß es. Aber Prosper Magnan hat keine Erben hinterlassen, und die Familie des in Andernach ermordeten Stecknadelfabrikanten habe ich nicht ausfindig machen können. Wem müßte das Vermögen erstattet werden? Bin ich berechtigt, ein von mir zufällig erfahrenes Geheimnis zu verraten, die Mitgift des unschuldigen jungen Mädchens um einen abgeschnittenen Kopf zu erhöhen, ihr üble Träume zu verursachen, ihr eine schöne Illusion zu rauben, ihren Vater ein zweitesmal zu töten, indem ich sage: ›Alle Ihre Taler sind blutbefleckt?‹ Ich habe mir von einem alten Geistlichen das ›Handbuch der Gewissensfragen‹ geliehen und darin keine Lösung meiner Zweifel gefunden. Eine fromme Stiftung für das Seelenheil Prosper Magnans, Walhenfers und Taillefers machen? Wir leben mitten im neunzehnten Jahrhundert. Ein Altersheim bauen oder einen Tugendpreis stiften? Der Tugendpreis käme sicher an eine schlaue Kokotte. Und die meisten unserer Armenhäuser scheinen mir heutzutage Schutzstätten des – 81 –
Lasters geworden zu sein. Stellen außerdem dergleichen mehr oder weniger der Eitelkeit dienende Anlagen wirklich eine Wiedergutmachung dar? Und bin ich eine solche schuldig? Alsdann liebe ich, liebe leidenschaftlich. Meine Liebe ist mein Leben! Wenn ich ohne Begründung einem jungen Mädchen, das an Luxus gewöhnt ist, an Eleganz, an ein an Kunstgenüssen reiches Leben, einem jungen Mädchen, das es liebt, geruhsam in den ›Bouffons‹ Rossinis Musik anzuhören; wenn ich ihr also vorschlüge, sich um verblödeter Greise oder sogenannter Grindiger willen fünfzehnhunderttausend Francs zu berauben, dann würde sie mir lachend den Rücken kehren, oder ihre Gesellschaftsdame würde meinen, ich machte einen schlechten Scherz; wenn ich ihr im Überschwang der Liebe die Reize eines schlichten Lebens in meinem Häuschen am Ufer der Loire rühmte, wenn ich sie bäte, unserer Liebe ihr Pariser Leben aufzuopfern, so wäre das zunächst eine tugendhafte Lüge; alsdann aber würde ich dabei eine traurige Erfahrung machen und das Herz jenes jungen Mädchens verlieren, eines Mädchens, das eine Schwäche für Bälle hat und versessen auf Schmuck ist, und für den Augenblick auf mich. Irgendein schlanker, geschniegelter Offizier mit hübsch gedrehtem Schnurrbart, der Klavier spielt, für Lord Byron schwärmt und gut zu Pferde sitzt, würde sie mir ausspannen. Was soll ich tun? Ihr Herren, um des Himmels willen, ratet mir ...!« Der Ehrenmann, der Puritaner, der beinahe so aussah wie der Vater von Jeany Deans, jener, den ich bereits erwähnt habe und der bis jetzt kein Wort gesprochen hatte, zuckte die Achseln und sagte zu mir: »Du Rindvieh, warum hast du ihn gefragt, ob er aus Beauvais sei?«
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EIN DRAMA AM MEERESUFER Menschen haben fast alle einen Zirkel, mit dem die Zukunft J unge auszumessen sie sich gefallen; vereint ihr Wille sich mit der Kühnheit des Winkels, den sie öffnen, so gehört die Welt ihnen. Aber dieses Phänomen des geistig-seelischen Lebens ereignet sich nur in einem gewissen Lebensalter. Dieser Zeitabschnitt, der für alle Männer die Spanne zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig Jahren umfaßt, ist derjenige der großen Gedanken, das Alter der ersten intuitiven Eingebungen, weil er das Alter der weit ausgreifenden Wünsche ist, das Alter, in dem man an nichts zweifelt: wer Zweifel sagt, sagt Unfähigkeit. Nach diesem Alter, das so schnell vergeht wie eine Saatzeit, kommt dasjenige der Ausführung. Es gibt gewissermaßen zwei Jugendzeiten, die Jugend, in der man glaubt, und die Jugend, in der man tätig ist; oft vereinigen sie sich bei Menschen, die die Natur begünstigt hat und die dann, wie Cäsar, Newton und Bonaparte, die größten unter den großen Männern sind. Ich erwog, welcher Zeit ein Gedanke zu seiner Entwicklung bedarf; meinen Zirkel in der Hand stand ich auf einem Felsen, an die hundert Klafter über dem Meer, dessen Wogen zwischen den unter Wasser liegenden Klippen spielten, und maß meine Zukunft, indem ich sie mit Werken ausstattete wie ein Ingenieur, der auf kahlem Gelände Festungen und Schloßbauten absteckt. Das Meer war schön, ich hatte geschwommen und mich gerade wieder angekleidet; ich wartete auf Pauline, meinen Schutzengel, die in einem mit feinem Sand angefüllten Granitbecken badete, der hübschesten Badewanne, die die Natur für ihre Meernixen hätte entwerfen können. Wir befanden uns auf der äußersten Spitze von Le Croisic, einer reizenden Halbinsel der Bretagne; wir waren weit vom Hafen entfernt, an einer Stelle, die der Fiskus für so unzugänglich gehalten hat, daß der Zollwächter dort so gut wie niemals vorbeikommt. In den Lüften zu schwimmen, nachdem man im Meer geschwommen hat! Ach, wer hätte nicht in der Zukunft schwimmen mögen? Warum dachte ich – 83 –
überhaupt? Warum bricht ein Unglück herein? Wer weiß es? Die Gedanken fallen einem ins Herz oder ins Hirn, ohne uns vorher zu fragen. Keine Kurtisane war je wunderlicher oder gebieterischer, als es die intuitive Eingebung gegenüber den Künstlern ist; wenn sie naht, muß man sie bei den Haaren packen wie Fortuna. Ich hatte mich auf meinen Gedanken geschwungen wie Astolfo auf seinen Hippogryphen; so ritt ich durch die Welt und schaltete und waltete darin nach meinem Belieben. Als ich rings um mich her nach einem Vorzeichen für die kühnen Bauwerke suchte, die meine tolle Phantasie in Angriff zu nehmen mir riet, übertönte ein wohllautender Ruf, der Ruf einer Frau, die in der Stille der Einöde nach einem verlangt, der Ruf einer gerade dem Bad entstiegenen, neubelebten, fröhlichen Frau, das Rauschen der unablässig bewegten Wasserzungen, die das Hinundherfluten auf den Buchten der Küste abzeichnete. Beim Vernehmen dieses der Seele vergnügten Klanges vermeinte ich, zwischen den Felsen den Fuß eines Engels gesehen zu haben, der seine Fittiche entfaltete und mir zurief: »Es wird dir gelingen!« Strahlend und leichtfußig stieg ich hinab; ich stieg hinab und hüpfte dabei wie ein Stein, der auf einen Steilhang geworfen wird. Als sie mich erblickte, fragte sie mich: »Was hast du?« Ich gab keine Antwort; meine Augen wurden feucht. Tags zuvor hatte Pauline meine Leiden verstanden, wie sie jetzt meine Freuden mit der magischen Sensibilität einer Harfe verstand, die dem Wehen der Luft gehorcht. Welch schöne Augenblicke hat doch das menschliche Leben! Schweigend schritten wir den Strand entlang. Der Himmel war wolkenlos, das Meer ohne Falten; andere hätten darin lediglich zwei blaue Steppen übereinander gesehen; aber wir, die wir lauschten, ohne des Worts zu bedürfen, wir, die wir zwischen diesen beiden Flächen des Unendlichen die Illusionen spielen lassen konnten, von denen man sich in der Jugend nährt, wir drückten einander die Hand bei der geringsten Wandlung, die sich vollzog, sei es auf der Wasserfläche, sei es auf den Flächen der Luft; denn wir nahmen diese leichten Phänomene für die Übertragung von unser beider Gedanken ins Stoffliche. Wer hat nicht in den Freuden der Liebe den Augenblick unbegrenzter Lust genossen, da die Seele sich der Bande des Körpers entledigt zu haben und der – 84 –
Welt zurückerstattet worden zu sein scheint, der sie entstammt? Die Lust ist nicht unser einziger Führer in jene Bereiche. Gibt es nicht Stunden, da die Gefühle sich von sich aus ineinander verstricken und davonstürmen, wie oftmals zwei Kinder einander bei der Hand fassen und zu laufen beginnen, ohne zu wissen, warum? So schritten wir einher. Als die Dächer der Stadt am Horizont erschienen und dort eine graue Zeile zeichneten, begegneten wir einem armen Fischer, der nach Le Croisic zurückkehrte; er war barfüßig; seine Leinenhose war unten zerfetzt, durchlöchert, schlecht geflickt; außerdem trug er ein Hemd aus Segelleinen, schäbige Hosenträger aus Tuchstreifen und einen Lumpen als Rock. Dies Elend schmerzte uns, als sei es eine Dissonanz inmitten unserer Harmonie. Wir blickten einander an, um uns gegenseitig zu bedauern, daß wir in diesem Augenblick nicht die Macht besaßen, aus den Schätzen AbdulKassims zu schöpfen. Wir gewahrten einen prächtigen Hummer und eine Seespinne; sie waren an einer Schnur befestigt, die der Fischer in der rechten Hand schwenkte, während er in der ändern seine Fanggeräte hielt. Wir traten auf ihn zu, in der Absicht, ihm seinen Fang abzukaufen; der Gedanke dazu war uns beiden gekommen und hatte in einem Lächeln seinen Ausdruck gefunden, das ich durch einen leichten Druck des Arms beantwortete, den ich hielt und an mein Herz zog. Das ist eine der Nichtigkeiten, aus denen später die Erinnerung Dichtungen erschafft, wenn wir am Kaminfeuer an die Stunde zurückdenken, da dieses Nichts uns gerührt hat, an die Stätte, wo es geschah, und an die Spiegelung, deren Wirkungen noch nicht festgestellt worden sind, die sich aber oft auf die Dinge erstreckt, die in den Minuten um uns sind, da das Leben leicht ist, da unsere Herzen voll sind. Die schönsten Stätten sind nichts als das, wozu wir sie machen. Welcher Mensch, in dem ein wenig von einem Dichter steckt, hat in seinen Erinnerungen nicht eine Felsgruppe, die mehr Raum einnimmt als die berühmten Bilder von Landschaften, die man unter hohen Kosten aufgesucht hat! Bei diesen Felsen erheben sich stürmische Gedanken; dort findet sich ein ganzes, tätiges Leben; dort sind zunichte gewordene Ängste; dort sind die Strahlen der Hoff– 85 –
nung in die Seele hinabgeglitten. In diesem Augenblick hat die Sonne im Einklang mit jenen Liebes- oder Zukunftsgedanken auf die fahlroten Flanken jenes Felsens ein glühendes Leuchten geworfen; ein paar Gebirgsblumen lenkten den Blick auf sich; die Ruhe, die Stille machten die in Wirklichkeit düsteren Schrunde noch großartiger; nur durch den Träumer wurden sie farbig; jetzt waren sie schön mit ihrem dürftigen Pflanzenwuchs, ihren überlohten Kamillen, ihrem Venushaar mit den samtweichen Blättern. Verlängertes Fest, herrliches Schmuckwerk, glückliche Steigerung menschlicher Kräfte! Schon einmal hatte der Bieler See, von der Peters-Insel aus gesehen, so zu mir gesprochen; vielleicht wird der Felsen von Le Croisic die letzte dieser Freuden sein! Aber was soll dann aus Pauline werden?
»Sie haben also heute morgen einen schönen Fang gemacht, wackerer Mann?« fragte ich den Fischer. »Ja«, antwortete er, blieb stehen und wandte uns das dunkelbraune Gesicht der Leute zu, die stundenlang den Rückstrahlungen der Sonne auf dem Wasser ausgesetzt sind. – 86 –
Dies Gesicht zeugte von lauter Resignation, von der Geduld des Fischers und seinen sanften Sitten. Jener Mann hatte eine Stimme ohne Rauheit, gute Lippen, keinen Ehrgeiz, wohl aber irgend etwas Schwächliches und Dürftiges. Jede andere Physiognomie hätte uns mißfallen. »Wo wollen Sie das verkaufen?« »In der Stadt.« »Wieviel werden Sie für den Hummer bekommen?« »Fünfzehn Sous.« »Und für die Seespinne?« »Zwanzig Sous.« »Weshalb solch ein Preisunterschied zwischen dem Hummer und der Seespinne?« »Monsieur, die Seespinne (er sagte ›Seepinne‹) ist sehr viel feiner! Außerdem ist sie boshaft wie ein Affe; sie läßt sich nur ganz selten fangen.« »Wollen Sie uns beides für hundert Sous lassen?« fragte Pauline. Der Mann stand da wie versteinert. »Du sollst sie nicht haben!« sagte ich lachend. »Ich gebe dafür zehn Francs. Man muß für Gemüts Wallungen zu zahlen wissen, was sie wert sind.« »Gut!« antwortete sie, »ich bekomme sie dennoch! Ich gebe zehn Francs und zwei Sous.« »Zehn Sous.« »Zwölf Francs.« »Fünfzehn Francs.« »Fünfzehn Francs fünfzig Centimes«, sagte sie. – 87 –
»Hundert Francs.« »Hundertfünfzig. « Ich verbeugte mich. Wir waren damals nicht reich genug, um bei dieser Versteigerung das Gebot noch höher zu treiben. Unser armer Fischer wußte nicht, ob er sich über eine Mystifikation ärgern oder sich der Freude überlassen sollte; wir enthoben ihn der Mühe, indem wir ihm den Namen unserer Wirtin nannten und ihm auftrugen, den Hummer und die Seespinne zu ihr zu bringen. »Verdienen Sie, was Sie zum Leben brauchen?« fragte ich ihn, weil ich wissen wollte, welcher Ursache seine Bedürftigkeit zuzuschreiben sei. »Mit Not und Mühe, und unter Erleiden von mancherlei Elend«, sagte er. »Der Fang vom Meeresufer aus ist, wenn man weder Boot noch Netze hat und nur auf Fallen oder die Angel angewiesen ist, ein unsicheres Gewerbe. Sehen Sie, man muß warten, bis die Fische oder das Muschelzeug von selber kommen, während die großen Fischer sie auf offener See herausholen. Es ist so schwierig, sich auf diese
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Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, daß ich der einzige bin, der von der Küste aus fischt. Manchmal gehen ganze Tage hin, ohne daß ich etwas heimbringe. Damit ich was ergattere, muß schon eine Seespinne die Zeit verschlafen haben wie diese hier, oder ein Hummer muß so leichtsinnig gewesen sein, zwischen den Felsen liegen zu bleiben. Manchmal kommen nach der Flut Barben her; dann fasse ich sie.« »Na, wenn so eins zum andern kommt, wieviel verdienen Sie dann täglich?« »Elf bis zwölf Sous. Wäre ich allein, dann könnte ich damit schon auskommen; aber ich muß meinen Vater ernähren, und der gute Alte kann mir nicht helfen; er ist blind.« Bei diesem schlicht hingesprochenen Satz schauten Pauline und ich einander an, ohne ein Wort zu sagen. »Haben Sie eine Frau oder irgendeine kleine Freundin?« Er warf uns einen der kläglichsten Blicke zu, die ich je gesehen habe, als er antwortete: »Wenn ich eine Frau hätte, mußte ich doch meinen Vater im Stich lassen; ihn und außerdem noch eine Frau und Kinder könnte ich nicht ernähren.« »Naja, Sie armer Kerl, warum versuchen Sie nicht, dadurch mehr zu verdienen, daß Sie Salz zum Hafen tragen oder in den Salzteichen arbeiten?« »Ach, Monsieur, solch ein Gewerbe würde ich kein Vierteljahr lang ausüben. Dazu bin ich nicht kräftig genug, und wenn ich stürbe, mußte mein Vater betteln gehen. Ich brauche einen Beruf, der nichts verlangt, als ein bißchen Geschicklichkeit und sehr viel Geduld.« »Und wie können zwei Menschen von zwölf Sous den Tag leben?« »Ach, wir essen Buchweizenfladen und Entenmuscheln; die löse ich von den Felsen ab.« »Wie alt sind Sie eigentlich?« – 89 –
»Siebenunddreißig. « »Sind Sie je hier herausgekommen?« »Einmal bin ich in Guérande gewesen, zur Auslosung fürs Militär, und dann bin ich nach Savenay gegangen, um mich von ein paar Herren mustern zu lassen; die haben mich gemessen. Wenn ich einen Zoll größer gewesen wäre, dann hätte ich Soldat werden müssen. Dann wäre ich bei der ersten Anstrengung krepiert, und mein armer Vater würde heute betteln.« Ich habe viele Dramen ausgesonnen; Pauline war bei einem Leidenden, wie ich es bin, an große Gemütsbewegungen gewöhnt; aber wir hatten beide nie zuvor erschütterndere Worte als die jenes Fischers vernommen. Schweigend taten wir ein paar Schritte, wobei wir beide die stumme Tiefe dieses unbekannten Lebens ermaßen und den Adel dieser Aufopferung bewunderten, die von sich nichts wußte; die Kraft dieser Schwäche ließ uns staunen; diese sorglose Großherzigkeit machte uns klein. Ich sah dieses arme Menschenwesen ganz instinktiv an diesen Felsen geschmiedet wie einen Galeerensklaven an seine Kugel, von dort aus seit zwanzig Jahren nach Muscheln ausspähen, um seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, und bei seinem geduldigen Tun durch ein einziges Gefühl unterstützt werden. Wie viele Stunden wurden auf diese Weise an einem Fleckchen Strand hingebracht! Wie viele Hoffnungen wurden durch einen Regenguß, durch einen Witterungswechsel zunichte! Er hing am Rand einer Granittafel, den Arm ausgestreckt wie ein indischer Fakir, während sein Vater auf einem Schemel hockte und in Stille und Dunkelheit auf die gemeinsten aller Muscheln und auf Brot wartete, wenn das Meer es wollte. »Trinken Sie manchmal Wein?« fragte ich ihn. »Drei- oder viermal im Jahr.« »Nun, dann sollen Sie und Ihr Vater heute welchen trinken, und wir wollen Ihnen auch ein Weißbrot schicken.« »Sie sind sehr gütig, Monsieur.« – 90 –
»Wir spendieren Ihnen ein Abendessen, wenn Sie uns am Strand entlang bis Batz führen; da wollen wir uns den Turm ansehen, der das Hafenbecken und die Küste zwischen Batz und Le Croisic beherrscht.« »Mit Vergnügen«, sagte er. »Gehen Sie geradeaus weiter und folgen Sie dem Weg, auf dem wir sind; ich hole Sie ein, wenn ich mein Gerät und meinen Fang los bin.« Wir machten beide das gleiche Zeichen des Einverständnisses, und er ging freudig in Richtung auf die Stadt davon. Diese Begegnung hatte uns zwar in dem Seelenzustand belassen, in dem wir uns befunden hatten, aber sie hatte unsere Heiterkeit gedämpft. »Der arme Mann!« sagte Pauline in dem Tonfall, der der Anteilnahme einer Frau das Verletzende nimmt, das dem Mitleid innewohnen kann, »schämt man sich nicht, solches Elend zu sehen und dennoch glücklich zu sein?« »Nichts ist grausamer, als ohnmächtige Wünsche zu hegen«, antwortete ich. »Diese beiden armen Wesen, der Vater und der Sohn, werden genauso wenig davon erfahren, wie stark unser Mitgefühl war, wie die Welt ahnt, wie schön das Leben dieser beiden ist, da sie doch Schätze im Himmel sammeln.« »Dies arme Land!« sagte sie und zeigte mir ein von einer Trockenmauer umgebenes Feld; entlang der Mauer waren symmetrisch Kuhfladen hingelegt worden. »Ich habe mich erkundigt, was das denn sei. Eine Bäuerin, die sie gerade aufschichtete, hat mir geantwortet, sie mache Brennholz. Stell dir vor, Lieber, daß die armen Leute diese Fladen, wenn sie trocken sind, sammeln, sie aufstapeln und damit heizen. Im Winter werden sie verkauft wie Lohkäse. Ja, was meinst du, wieviel die bestbezahlte Näherin verdient? Den Tag fünf Sous«, sagte sie nach einer Pause. »Aber sie bekommt Essen.« »Sieh nur«, sagte ich zu ihr, »die Seewinde dörren alles aus oder werfen alles um; es gibt keine Bäume; die Reste ausgedienter Schiffe werden an die Reichen verkauft, denn die Transportkosten sind wohl – 91 –
zu hoch, als daß einer das Holz, daran die Bretagne so überreich ist, zu Heizzwecken verwenden könnte. Dieses Land ist nur für große Seelen schön, Leute ohne Herz würden hier nicht leben; es kann nur von Dichtern oder von Entenmuscheln bewohnt werden. Hat sich nicht das Salz auf diesem Felsen ablagern müssen, damit er besiedelt wurde? Auf der einen Seite das Meer; hier Sandflächen; darüber die Himmelsweite.« Wir hatten die Stadt bereits hinter uns gelassen und befanden uns in der Art Wüste, die Le Croisic von dem Flecken Batz trennt. Stell Dir, lieber Onkel, eine öde, mit dem schimmernden Sand bedeckte Fläche vor, wie er sich am Saum des Meeres findet. Hier und dort erheben ein paar Felsen ihre Häupter, und man könnte meinen, es handele sich um gigantische, in den Dünen lagernde Tiere. Entlang dem Meer tauchten ein paar Riffe auf, die vom Wasser umspielt wurden; sie wirkten wie große, weiße Rosen, die auf der flüssigen Fläche schwammen und sich am Gestade festgesetzt hatten. Beim Anblick dieser Savanne, die zur Rechten vom Ozean begrenzt, zur Linken von dem großen See gesäumt wurde, den der Einbruch des Meeres zwischen Le Croisic und den sandigen Höhen von Guérande bildet, an deren Fuß sich die von allem Pflanzenwuchs entblößten Salzteiche finden, sah ich Pauline an und fragte sie, ob sie den Mut und die Kraft verspüre, trotz der Sonnenhitze durch den Sand zu wandern. »Nur zu, ich habe Schnürstiefel an«, sagte sie und zeigte auf den Turm von Batz; er versperrte die Sicht durch seine riesige Baumasse, die dort wie eine Pyramide lag, aber eine spindelförmige, ausgezackte Pyramide, eine so poetisch geschmückte, daß sie der Phantasie erlaubte, in ihr die erste der Ruinen einer großen asiatischen Stadt zu erblicken. Wir taten ein paar Schritte und setzten uns dann auf einen Felsbrocken, der noch im Schatten lag; aber es war elf Uhr vormittags, und jener zu unseren Füßen endende Schatten schwand sehr rasch hin. »Wie schön diese Stille ist«, sagte sie zu mir, »und wie ihre Tiefe sich weitet durch die gleichmäßige Wiederkehr des Meeresrauschens an diesem Strand!« – 92 –
»Wenn du dein Augenmerk auf die drei unermeßlichen Weiten richten willst, die um uns sind, das Wasser, die Luft und die Sandflächen, und dabei ausschließlich dem sich wiederholenden Klang des Vorund Zurückflutens lauschen«, antwortete ich, »dann wirst du seine Sprache nicht ertragen; du wirst glauben, du gewahrtest darin einen Gedanken, der dich überwältigen müßte. Gestern, bei Sonnenuntergang, habe ich diese Empfindung gehabt; sie hat mich zerbrochen.« »Ach ja, laß uns sprechen«, sagte sie nach einer langen Pause. »Kein Redner flößt größere Furcht ein. Ich glaube die Ursache der Harmonien zu entdecken, die um uns sind«, fuhr sie fort. »Diese Landschaft, die nur drei scharf abgesetzte Farben hat, das schimmernde Gelb der Sandflächen, den Azur des Himmels und das einheitliche Grau des Meeres, ist groß, ohne ungebärdig zu sein; sie ist riesig, aber nicht leer; sie ist eintönig, ohne ermüdend zu wirken; sie hat nur drei Grundelemente und ist dennoch abwechslungsreich.« »Einzig die Frauen verstehen sich darauf, auf solcherlei Weise ihre Eindrücke wiederzugeben«, antwortete ich. »Du würdest einen Dichter zur Verzweiflung treiben, geliebte Seele, die ich so gut erraten habe!« »Die übermäßige Mittagshitze leiht diesen drei Ausdrucksformen des Unendlichen eine verzehrende Farbe«, entgegnete Pauline lachend. »Hier begreife ich die Dichtungen und die Leidenschaften des Orients.« »Und ich begreife deren Verzweiflung.« »Ja«, sagte sie. »Diese Düne ist ein erhabenes Kloster.« Wir vernahmen den eiligen Schritt unseres Führers; er hatte seine Sonntagskleider angezogen. Wir richteten ein paar bedeutungslose Worte an ihn; er glaubte wahrzunehmen, daß unsere Seelenstimmung sich geändert habe; und mit der Zurückhaltung, die die Armut verleiht, bewahrte er Schweigen. Obgleich wir einander dann und wann die Hand drückten, um uns der Gegenseitigkeit unserer Ge– 93 –
danken und Eindrücke zu versichern, schritten wir eine halbe Stunde schweigend weiter, sei es, daß die Hitze uns überwältigte, die sich inmitten der Sandflächen in flirrenden Wogen erhob, sei es, daß das schwierige Gehen unsere Aufmerksamkeit beanspruchte. Im Weiterwandern hielten wir einander an der Hand wie zwei Kinder; hätten wir einander untergehakt, so würden wir keine zwölf Schritte haben zurücklegen können. Der zu dem Marktflecken Batz führende Weg war nicht bezeichnet; ein Windstoß genügte zum Auslöschen der Spuren, die die Huftritte der Pferde oder die Felgen der Karrenräder hinterlassen hatten; doch das geübte Auge unseres Führers erkannte an ein paar Restchen Kuhkot, an ein paar Brocken Pferdemist eben jenen Weg, der sich bald zum Meer hinabsenkte, bald zu den Äckern hinaufführte, dem Gelände entsprechend, oder die Felsen umging. Um Mittag hatten wir erst den halben Weg hinter uns gebracht. »Dort unten wollen wir uns ausruhen«, sagte ich und wies auf ein Vorgebirge; es bestand aus Felsen, die hoch genug waren, um vermuten zu lassen, daß wir dort eine Grotte finden würden. Der Fischer, der der Richtung meines Fingers gefolgt war, schüttelte den Kopf, als er mich das äußern hörte, und sagte: »Alle, die von Batz nach Le Croisic gehen oder von Le Croisic nach Batz, machen einen Umweg, damit sie da nicht vorbeizulaufen brauchen.« Die Worte dieses Mannes waren mit gesenkter Stimme gesprochen worden und ließen ein Geheimnis mutmaßen. »Haust denn da ein Dieb, ein Mörder?« Unser Führer antwortete uns nur durch einen tiefen Atemzug, der unsere Neugier verdoppelte. »Ja, wenn wir dort vorbeigingen, würde uns dann etwas zustoßen?« »O nein.« »Gehen Sie mit uns da entlang?« »Nein.« – 94 –
»Wir wollen trotzdem hin, wenn Sie uns versichern, es sei für uns ungefährlich.« »Das möchte ich nicht behaupten«, antwortete der Fischer lebhaft. »Ich sage lediglich, daß der, der sich dort befindet, Ihnen nichts sagen und Ihnen nichts Böses antun wird. Ach, mein Gott, er wird sich nicht einmal vom Fleck rühren.« »Wer ist es denn?« »Ein Mann!« Niemals sind zwei Silben auf eine so tragische Weise ausgesprochen worden. Wir waren jetzt etwa zwanzig Schritte von jenem Riff entfernt, das vom Meer umspielt wurde; unser Führer schlug den Weg ein, der den Felsen umrundete; wir gingen geradeaus weiter; aber Pauline hatte meinen Arm genommen. Unser Führer schritt hastiger aus, damit er gleichzeitig mit uns an der Stelle anlange, wo die beiden Wege wieder ineinander mündeten. Er vermutete wohl, daß wir, wenn wir den Mann gesehen hätten, gleichfalls schneller gehen würden. Dieser Umstand fachte unsere Neugier an; sie wurde so heftig, daß unsere Herzen pochten, wie wenn wir ein bängliches Gefühl verspürt hätten. Trotz des heißen Tages und der Ermüdung durch das Gehen im Sand waren unsere Seelen noch in der unsäglichen Weichheit eines harmonischen Überschwangs befangen; sie waren erfüllt von jener reinen Lust, die sich schildern läßt, wenn man sie mit derjenigen vergleicht, die man empfindet, wenn man einer köstlichen Musik lauscht, etwa Mozarts »Andiamo mio ben«. Sind zwei reine Gefühle, die miteinander verschmelzen, nicht wie zwei schöne, singende Stimmen? Um die Bewegung richtig würdigen zu können, die uns überkommen hatte, mußte man den halb wollüstigen Zustand teilen, in den uns die Geschehnisse dieses Vormittags versetzt hatten. Man bewundere eine Zeitlang ein hübsch gefärbte Turteltaube, die sich nahe einer Quelle auf einen dünnen Zweig gesetzt hat, und man wird einen Schmerzensschrei ausstoßen, wenn man sieht, wie ein Turmfalke sich auf sie stürzt, ihr die stählernen Fänge bis ins Herz schlägt und sie mit der mörderischen Schnelligkeit von dannen – 95 –
trägt, die das Schießpulver der Kugel verleiht. Als wir einen Schritt auf die Fläche getan hatten, die sich vor der Grotte erstreckte, eine Art Esplanade hundert Fuß über dem Ozean, und gegen dessen Wüten verteidigt durch eine Kaskade steil abfallender Felsen, empfanden wir ein elektrisches Zucken, das dem Zusammenfahren recht ähnlich war, das durch ein plötzliches Geräusch mitten in der Nachtstille verursacht wird. Wir hatten einen Mann erblickt, der auf einem Granitblock saß und uns anstarrte. Sein Blick war wie das Mündungsfeuer einer Kanone; er kam aus zwei blutunterlaufenen Augen, und seine stoische Unbeweglichkeit ließ sich nur mit der unerschütterlichen Starrheit der Granitpfeiler vergleichen, die ihn umstanden. Seine Augen bewegten sich mit großer Langsamkeit, sein Körper verharrte in einer Reglosigkeit, als sei er versteinert; dann aber, als er uns jenen Blick zugeworfen, der uns so tief betroffen gemacht hatte, richtete er die Augen wieder auf die Weite des Ozeans und betrachtete ihn trotz der Lichtfülle, die er zurückstrahlte, und zwar so, wie es heißt, daß Adler in die Sonne blicken, ohne die Lider zu senken, und er schaute nicht wieder auf. Versuche, lieber Onkel, Dich einer jener alten Eichen zu erinnern, deren knotiger, am Vor-
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tage entästeter Stamm sich phantastisch an einem wenig begangenen Weg erhebt; dann hast Du ein wahres Bild jenes Mannes. Es waren zerstörte herkulische Formen, das Antlitz des olympischen Jupiter, aber zerrüttet vom Alter, von den rauhen Einwirkungen des Meers, von Seelenleid, von grober Nahrung, und wie geschwärzt von einem Blitzschlag. Als ich seine behaarten, harten Hände sah, gewahrte ich Sehnen, die Eisenadern glichen. Übrigens ließ alles an ihm auf eine kräftige Konstitution schließen. In einem Winkel der Grotte nahm ich eine ziemliche Menge Moos wahr, und auf einer plumpen Platte, die der Zufall im Granit gebildet hatte, ein rundes, angebrochenes Brot, das hinter einem Steingutkrug lag. Nie zuvor hatte meine Phantasie, wenn sie mich den Wüsteneien entgegentrug, wo die ersten Eremiten der Christenheit gelebt hatten, vor mir ein Antlitz von großartigerer Religiosität oder grausigerer Bußfertigkeit erstehen lassen, als es dasjenige dieses Mannes war. Du, der Du oftmals im Beichtstuhl gesessen hast, lieber Onkel, Du hast vielleicht niemals eine so schöne Gewissensnot gesehen; doch diese Gewissenquelle war ertrunken in den Wogen des Gebets, des beständigen Gebets einer stummen Verzweiflung. Dieser Fischer, dieser Seemann, dieser ungeschlachte Bretone wurde durch ein unbekanntes Gefühl zu etwas Erhabenem. Aber hatten diese Augen wohl geweint? Hatte diese Hand den Entwurf zu einer Statue zugeschlagen? Stand diese rauhe, von einer ungestümen Redlichkeit geprägte Stirn in Harmonie mit einem großen Herzen? Warum hauste dieser Mann im Granit? Warum war das Innere dieses Mannes von Granit? Wo war der Mensch, wo der Granit? Eine ganze Welt von Gedanken brach über uns herein. Wie unser Führer vermutet hatte, gingen wir schweigend und rasch weiter, und so sah er uns, die wir vom Entsetzen gepackt oder vom Staunen überwältigt waren, wieder; aber er machte die Richtigkeit seiner Voraussagen nicht gegen uns geltend. »Haben Sie ihn gesehen?« fragte er. »Wer ist dieser Mann?« fragte ich. »Er wird ›der Gelübde-Mann‹ genannt.« – 97 –
Du kannst Dir wohl die jähe Bewegung vorstellen, mit der unsere beiden Köpfe sich unserem Fischer zuwandten! Er war ein schlichter Mensch; er verstand unsere stumme Frage, und dann erzählte er uns in seiner Redeweise, deren volkstümliche Ausdrücke ich zu bewahren suche, das Folgende. »Madame, die Leute in Le Croisic und die in Batz glauben, dieser Mann habe sich etwas zuschulden kommen lassen, und er tue eine Buße, die ein berühmter Pfarrer ihm auferlegt habe. Zudem ist er zur Beichte gegangen, weit über Nantes hinaus. Andere glauben, Cambremer, so heißt er, sei mit einer bösen Krankheit behaftet, mit der er jeden anstecke, der durch seinen Dunstkreis geht. Daher überzeugen sich mehrere, ehe sie um seinen Felsen herumgehen, woher der Wind kommt! Wenn Nordwest weht«, sagte er und deutete nach Westen, »würden sie ihren Weg nicht fortsetzen, auch wenn es darum ginge, einen Splitter des heiligen Kreuzes zu holen; sie machen kehrt, sie haben Angst. Andere, die reichen Leute aus Le Croisic, sagen, Cambremer habe ein Gelübde getan, daher sein Name ›Gelübde-Mann‹. Er sitzt dort bei Tag und bei Nacht und geht nie weg. Dies Gerede hat einen Anschein von Berechtigung. Sehen Sie«, sagte er, wandte sich um und zeigte uns etwas, das uns nicht aufgefallen war, »er hat da links ein Holzkreuz errichtet, um anzukündigen, er habe sich dem Schutz Gottes, der heiligen Jungfrau und der Heiligen unterstellt. Er würde es nicht nötig gehabt haben, sich so zu heiligen, denn allein schon der Schrecken, den er jedermann einflößt, bringt es mit sich, daß er da in Sicherheit ist, als ob er von Soldaten bewacht würde. Seit er sich unter freiem Himmel eingeschlossen hat, hat er kein Wort mehr gesprochen; er nährt sich von Brot und Wasser; das bringt ihm jeden Morgen die Tochter seines Bruders, ein zwölfjähriges Kind, dem er sein Hab und Gut überlassen hat, ein reizendes Geschöpf, sanft wie ein Lamm, ein niedliches, ganz drolliges Mädelchen. Sie hat«, sagte er und zeigte seinen Daumen, »so große blaue Augen und darüber einen Haarschopf wie ein Cherubin. Wenn man sie fragt: ›Sag mal, Pérotte...‹ (das heißt bei uns soviel wie Pierette«, unterbrach er sich, »ihr Schutzheiliger ist Sankt Petrus, Cambremer heißt Pierre, er ist ihr Pate gewesen). ›Sag mal Pérotte‹«, fuhr er fort, – 98 –
»›was sagt dir denn dein Onkel?‹ – ›Überhaupt nichts sagt er‹, antwortet sie dann, ›nichts, gar nichts.‹ – ›Na ja, und was macht er mit dir?‹ – ›Sonntags küßt er mich auf die Stirn.‹ – ›Hast du denn keine Angst?‹ – ›Ach, Quatsch‹, hat sie gesagt, ›er ist doch mein Pate.‹ Er hat nicht gewollt, daß wer anders ihm sein Essen bringt. Pérotte behauptet, er lächele, wenn sie komme; aber das heißt soviel, wie daß ein Sonnenstrahl durch den Nebeldunst dringt, denn es wird gesagt, er sei düster und umwölkt wie von Nebel.« »Aber«, sagte ich zu ihm, »Sie reizen unsere Neugier, ohne sie zu stillen. Wissen Sie, was ihn dorthin geführt hat? Etwa Kummer, oder Reue, oder eine Marotte, ein Verbrechen, oder...« »Ach, Monsieur, nur noch mein Vater und ich wissen, was in Wahrheit dahintersteckt. Meine verstorbene Mutter stand im Dienst bei einem Herren vom Gericht, dem Cambremer alles gesagt hat, und zwar auf Geheiß eines Priesters, der ihm nur unter dieser Bedingung die Absolution gab; so sagen wenigstens die Leute am Hafen. Meine gute Mutter hat Cambremer belauscht, ohne es zu wollen, weil die Küche des Richters neben dem Wohnzimmer lag; da hat sie zugehört! Sie ist tot; der Richter, der ihn verhört hat, ist ebenfalls gestorben. Meine Mutter hat meinen Vater und mich versprechen lassen, nichts davon unter die Leute hier in der Gegend zu bringen; aber Ihnen kann ich ja sagen, daß an dem Abend, da meine Mutter es uns erzählte, sich mir das Haar auf dem Kopf gesträubt hat.« »Nun erzählen Sie es uns getrost, mein Bester, wir werden mit niemandem darüber sprechen.« Der Fischer musterte uns und fuhr dann fort: »Pierre Cambremer, den Sie da unten gesehen haben, ist der älteste der Cambremers; die sind, vom Vater auf den Sohn, immer Seeleute gewesen; das sagt schon ihr Name: Das Meer hat sich ihnen stets gebeugt. Der, den Sie gesehen haben, ist Bootsfischer geworden. Er hatte also Boote; er ging auf Sardinenfang, er hat aber auch Hochseefischerei betrieben, für die Händler. Er würde ein Schiff ausgerüstet und Kabeljau gefischt haben, wenn er seine Frau nicht so liebgehabt hätte; sie war – 99 –
eine schöne Frau, eine Brouin aus Guérande, ein Prachtmädchen, und gutherzig war sie obendrein. Sie hat Cambremer so geliebt, daß sie nie wollte, daß ihr Mann länger von ihr wegblieb, als zum Sardinenfang nötig war. Da unten haben sie gewohnt, sehen Sie!« sagte der Fischer und stieg auf eine Erhöhung, um uns eine kleine Insel in dem Miniatur-Mittelmeer zu zeigen, das sich zwischen den Dünen, auf denen wir einherschritten, und den Salzteichen von Guérande befand. »Sehen Sie das Haus da? Das hat ihm gehört. Jacquette Brouin und Cambremer haben nur ein Kind gehabt, einen Jungen, und den haben sie liebgehabt... wie... na ja!... wie man eben ein einziges Kind liebhat; reinweg vernarrt waren sie in ihn. Ihr kleiner Jacques hätte, mit Verlaub, was in den Kochtopf machen können, und sie hätten gemeint, es sei Zucker. Wie oft haben wir die beiden auf dem Jahrmarkt gesehen, wo sie ihm dann immer das schönste Spielzeug kauften! Das war pure Unvernunft, jedermann hat es ihnen gesagt. Als der kleine Cambremer merkte, daß ihm alles erlaubt war, da ist er boshaft und tückisch geworden. Wenn zu Vater Cambremer gesagt wurde: ›Beinah hätte Ihr Sohn den kleinen Soundso umgebracht!‹, dann lachte und antwortete er: ›Pah, der wird mal ein kühner Seemann! Der kommandiert noch mal die Flotten des Königs!« Ein anderer: ›Pierre Cambremer, wissen Sie, daß Ihr Junge der kleinen Pougaud ein Auge eingeschlagen hat?‹ – ›Er wird mal viel für die Mädchen übrig haben‹, sagte dann Pierre. Alles fand er gut und in Ordnung. Na, als der kleine Lümmel dann zehn Jahre alt war, verprügelte er, was ihm in den Weg kam, amüsierte sich damit, den Hühnern die Hälse abzuschneiden, den Schweinen den Bauch aufzuschlitzen, kurzum, er wälzte sich im Blut herum wie ein Steinmarder. – ›Der wird mal ein großartiger Soldat!‹ sagte Cambremer, ›er hat Gefallen an Blut.‹ Sehen Sie, ich habe das alles nicht vergessen«, sagte der Fischer. »Und Cambremer ebenfalls nicht«, fügte er nach einer Pause hinzu. »Mit fünfzehn oder sechzehn war Jacques Cambremer... was? Ein Hai. Er ging nach Guérande und amüsierte sich da, oder nach Savenay, wo er den Geck spielte. Der war mir der Rechte! Dann fing er an, seine Mutter zu beklauen; ihrem Mann was davon zu sagen, wagte sie nicht. Cambremer war ein – 100 –
rechtschaffener Mensch; er hätte es fertiggebracht, zwanzig Meilen weit zu laufen, bloß um jemandem zwei Sous zurückzugeben, die ihm auf eine Rechnung zuviel gezahlt worden waren. Kurz und gut, eines Tages wurde die Mutter vollständig ausgeplündert. Während sein Vater auf Fang war, schaffte der Sohn die Anrichte weg, das Geschirr, die Bettlaken, die Wäsche; nichts als die vier Wände hat er dagelassen, alles hatte er verschachert, um sich in Nantes gute Tage zu machen. Die arme Frau hat deswegen Tage und Nächte geweint. Sie mußte es dem Vater sagen, wenn er heimkam, und vor dem Vater hatte sie Angst, und zwar beileibe nicht um ihretwillen! Als Pierre Cambremer dann kam, als er sein Haus mit Möbeln ausgestattet vorfand, die seiner Frau geliehen worden waren, da hat er gefragt: ›Was soll das bedeuten?‹ Die arme Frau war mehr tot als lebendig; sie hat geantwortet: ›Wir sind bestohlen worden.‹ – ›Wo ist denn Jacques?‹ – ›Jacques, der treibt sich rum. Keiner hat gewußt, wo der Schlingel steckt.‹ – ›Er amüsiert sich zuviel!‹ sagte Pierre. Ein halbes Jahr danach erfuhr der arme Vater, daß in Nantes die Justiz hinter seinem Sohn her sei. Er geht zu Fuß hin, schneller als auf dem Wasserweg, bekommt seinen Sohn zu fassen und bringt ihn hierher. Er fragt ihn nicht: ›Was hast du ausgefressen?‹ Er sagt zu ihm: ›Wenn du dich nicht zwei Jahre lang bei deiner Mutter und mir anständig benimmst, auf Fang fährst und dich verhältst wie ein rechtschaffener Mensch, dann bekommst du es mit mir zu tun.‹ Der verrückte Bursche verläßt sich auf die Dummheit seiner Eltern und schneidet ihm ne Grimasse. Daraufhin hat Pierre dem Jacques eine Ohrfeige versetzt, daß er sechs Monate lang zu Bett hat liegen müssen. Die arme Mutter ist vor Kummer fast gestorben. Eines Nachts, als sie friedlich neben ihrem Mann schläft, hört sie ein Geräusch, steht auf und bekommt einen Messerstich in den Arm. Sie schreit auf, es wird nach Licht gesucht, Pierre Cambremer sieht, daß seine Frau verwundet ist; er glaubt, es sei ein Dieb gewesen, als ob es hierzulande Diebe gäbe, wo man furchtlos zehntausend Francs in Gold von Le Croisic nach Saint-Nazaire bringen könnte, ohne daß man je gefragt würde, was man da unterm Arm trage. Pierre sucht nach Jacques, aber er findet den Sohn nicht. Am Morgen hat das Scheusal die Stirn, – 101 –
wiederzukommen und zu behaupten, er sei in Batz gewesen. Muß ich Ihnen noch sagen, daß seine Mutter nicht wußte, wo sie ihr Geld verstecken sollte? Cambremer brachte seins immerzu Monsieur Dupotet nach Le Croisic. Die tollen Streiche ihres Sohnes hatten Hunderte von Talern, Hunderte von Francs, von Goldlouis verschlungen, sie waren gewissermaßen verarmt, und das war hart für Leute, die so an die zwölftausend Francs gehabt hatten, ihre kleine Insel inbegriffen. Kein Mensch weiß, was Cambremer in Nantes hat zahlen müssen, um seinen Sohn freizubekommen. Die Familie wurde vom Unglück heimgesucht. Cambremers Bruder hatte Pech gehabt und brauchte Hufe. Um ihn zu trösten, sagte Pierre zu ihm, Jacques und Pérotte (die Tochter des jüngeren Cambremer) sollten heiraten. Um ihm seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, beschäftigte er ihn beim Fang; denn Joseph Cambremer war jetzt darauf angewiesen, von seiner Hände Arbeit zu leben. Seine Frau war am Kindbettfieber gestorben; die Monate, da Pérotte eine Amme brauchte, mußten bezahlt werden. Pierre Cambremers Frau schuldete wegen der Kleinen verschiedenen Leuten hundert Francs für Wäsche und Sonstiges, und zwei oder drei Monatsgelder der langen Frelu, die ein Kind von Simon Gaudry und Pérotte mit genährt hatte. Die Cambremer hatte in die Wolle ihrer Matratze ein spanisches Goldstück eingenäht und einen Zettel ›Für Pérotte‹ beigelegt. Sie war sehr gebildet, sie konnte schreiben wie ein Gerichtsschreiber, und sie hatte ihrem Sohn das Lesen beigebracht, und eben das hat ihn dann zugrunde gerichtet. Niemand hat je erfahren, wie es geschehen ist, aber dieser Lump von Jacques hatte das Gold gewittert, es gestohlen und war zum Zechen nach Le Croisic gegangen. Der wackere Cambremer kehrte durch einen besonderen Umstand mit seinem Boot heim. Als er gelandet ist, sieht er einen Fetzen Papier wehen, hebt ihn auf und bringt ihn seiner Frau; sie fällt auf den Rücken, als sie ihre eigenen Schriftzüge wiedererkennt. Cambremer sagt nichts, geht nach Le Croisic und erfährt dort, daß sein Sohn beim Billardspielen ist; da läßt er die gute Frau, die das Café führt, herausbitten und sagt zu ihr: ›Ich hatte Jacques gesagt, er solle nicht ein gewisses Goldstück nehmen, wenn er Sie bezahle; geben Sie es mir wieder, ich warte hier an der Tür, Sie – 102 –
bekommen dafür blankes Silbergeld.‹ Die gute Frau hat ihm das Goldstück gebracht. Cambremer nimmt es, sagt: ›Gut!‹ und geht wieder heim. Die ganze Stadt hat es erfahren. Aber was nun kommt, das weiß nur ich allein, und die anderen haben bloß eine verschwommene Ahnung davon gehabt. Er sagt zu seiner Frau, sie solle ihrer beider Zimmer herrichten: das liegt unten; er macht Feuer im Kamin, steckt zwei Kerzen an, stellt zwei Stühle an die eine Seite der Feuerstelle und an die andere Seite einen Schemel. Dann sagt er zu seiner Frau, sie solle ihm seinen Hochzeitsanzug zurechtlegen und ihr Hochzeitskleid in Ordnung bringen. Er zieht sich um. Als er damit fertig ist, holt er seinen Bruder und sagt ihm, er solle vor dem Haus aufpassen und ihm Bescheid sagen, wenn er auf den beiden Strandstücken was höre, dem hier und dem drüben nach den Salzteichen von Guérande zu. Er geht wieder ins Haus, als er meint, seine Frau habe sich umgezogen, ladet sein Gewehr und versteckt es im Kaminwinkel. Jetzt kommt Jacques heim; er kommt spät; bis zehn Uhr hatte er getrunken und gespielt; er hatte sich zu der Landspitze von Carnouf übersetzen lassen. Sein Onkel hört ihn rufen, holt ihn am Salzteichstrand ab und setzt ihn über, ohne ein Wort zu sagen. Als Jacques ins Haus tritt, sagt sein Vater zu ihm: ›Setz dich da hin‹, und zeigt auf den Schemel. ›Du bist‹, sagte er, ›hier vor deinen Eltern, gegen die du dich versündigt hast und die über dich richten müssen.‹ Jacques fing an zu brüllen, weil Cambremers Gesicht auf eigentümliche Weise verzerrt war. Die Mutter saß steif wie eine Ruderstange da. ›Wenn du schreist, wenn du dich rührst, wenn du nicht starr wie ein Mastbaum auf deinem Schemel sitzen bleibst‹, sagte Pierre und zielte mit seinem Gewehr auf ihn, ›dann knalle ich dich ab wie einen Köter.‹ Der Sohn wurde stumm wie ein Fisch; die Mutter hat nichts gesagt. ›Da‹, sagte Pierre zu seinem Sohn, ›in dieses Stück Papier war das spanische Goldstück eingewickelt; das Goldstück war im Bett deiner Mutter; einzig und allein deine Mutter hat die Stelle gewußt, wo sie es eingenäht hatte; das Papier habe ich am Wasser gefunden, als ich hier an Land ging; du hast heute abend dies spanische Goldstück der alten Fleurant gegeben, und deine Mutter hat ihr Goldstück nicht mehr in ihrem Bett vorgefunden. Sag, wie das kommt.‹ Jacques – 103 –
hat gesagt, er habe das Goldstück seiner Mutter nicht weggenommen, jenes Stück habe er von Nantes her übrigbehalten. – ›Desto besser‹, sagt Pierre. ›Wie kannst du uns das beweisen?‹ – ›Ich habe es nun mal gehabt.‹ – ›Du hast es deiner Mutter also nicht weggenommen?‹ – ›Nein.‹ – ›Kannst du das bei deinem ewigen Leben beschwören?‹ Er wollte es beschwören; da hob seine Mutter die Augen zu ihm auf und sagte: ›Jacques, mein Kind, sei auf der Hut, schwöre nicht, wenn es nicht wahr ist; du kannst dich bessern, kannst bereuen; es ist noch Zeit.‹ Und dann hat sie geschluchzt. – ›Das sieht dir mal wieder ähnlich‹, sagt er zu ihr, ›du hast mich schon immer reinlegen wollen.‹ Cambremer ist erbleicht und hat gesagt: ›Was du da eben zu deiner Mutter gesagt hast, macht dein Schuldkonto noch größer. Aber zur Sache. Schwörst du?‹ – ›Ja.‹ – ›Sieh her‹, sagt er, ›war auf deinem Goldstück dies Kreuz, das der Sardinenhändler, von dem ich es habe, auf unserem eingeritzt hat?‹ Jacques ist plötzlich nüchtern geworden und hat geweint. – ›Schluß jetzt mit dem Geschwätz‹, hat Pierre gesagt. ›Ich will von alledem absehen, was du vorher getan hast; aber ich will nicht, daß ein Cambremer auf dem Marktplatz von Le Croisic zu Tode gebracht wird. Sprich deine Gebete, und zwar ein bißchen hoppla! Es kommt ein Priester, um dir die Beichte abzunehmen.‹ Die Mutter war hinausgegangen; sie hatte die Verurteilung ihres Sohnes nicht mit anhören wollen. Als sie draußen war, kam der Onkel Cambremer mit dem Pfarrer von Piriac; aber dem wollte Jacques nichts sagen. Er hatte es faustdick hinter den Ohren; er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, daß er ihn nicht ohne Beichte umbringen werde. ›Danke, entschuldigen Sie uns, Monsieur‹, sagte Cambremer zu dem Priester, als er merkte, daß Jacques dickköpfig blieb. ›Ich hatte meinem Sohn eine Lehre erteilen wollen;bitte schweigen Sie darüber. – Du‹, sagte er zu Jacques, ›wenn du dich nicht besserst, dann friß nur noch einmal was aus, und ich mache ohne Beichte ein Ende mit dir.‹ Er schickte ihn zu Bett. Der Junge glaubte ihm das und bildete sich ein, er könne sich mit seinem Vater wieder aussöhnen. Er schlief ein. Der Vater wachte. Als er merkte, daß der Sohn im tiefsten Schlaf lag, bedeckte er ihm den Mund mit Hanf, band ihn ihm mit einem Fetzen Segelleinen fest zu, – 104 –
und dann fesselte er ihm Hände und Füße. Er habe getobt, er habe blutige Tränen geweint, hat Cambremer dem Richter gesagt. Nichts zu machen! Die Mutter hat sich dem Vater zu Füßen geworfen. – ›Er ist gerichtet‹, hat der gesagt, ›du hilfst mir jetzt, ihn ins Boot zu tragen.‹ Sie hat sich geweigert. Da hat Cambremer ihn ganz allein hinausgetragen, ihn auf den Bootsboden geworfen, ihm einen Stein um den Hals gebunden, ist aus der Bucht herausgerudert, ins offene Meer, bis zur Höhe des Felsens, wo er jetzt ist.
Da hat denn die arme Mutter, die sich von ihrem Schwager hatte hinbringen lassen, gut um Gnade jammern können! Das hat soviel ausgemacht wie ein Steinwurf auf einen Wolf. Der Mond schien, sie hat gesehen, wie der Vater seinen Sohn ins Meer warf, diesen Sohn, den sie noch immer im Bauch trug, und da es windstill war, hat sie das Aufklatschen gehört, dann nichts mehr, keine Spur, keinen Strudel; die See ist eine gute Wächterin, das können Sie mir glauben! Als Cambremer hier an Land ging, um seine wimmernde Frau zum Schweigen zu bringen, fand er sie fast tot vor; es war den beiden Brüdern unmöglich, sie zu tragen; sie hat in das Boot gebracht werden müssen, in dem kurz zuvor der Sohn gelegen hatte, und sie – 105 –
haben sie nach Hause gerudert, durch die Durchfahrt bei Le Croisic. Na ja, die schöne Brouin, wie die Leute sie nannten, hat keine acht Tage mehr gelebt; im Sterben hat sie ihren Mann gebeten, das verdammte Boot zu verbrennen. Oh, das hat er getan. Er ist dann ganz durcheinander geraten; er hat nicht mehr gewußt, was er wollte; er hat beim Gehen geschlingert wie einer, der keinen Wein vertragen kann. Dann ist er zehn Tage lang weggereist, und als er wiederkam, da hat er sich da festgesetzt, wo Sie ihn gesehen haben; und seit er da ist, hat er kein einziges Wort mehr gesprochen.« Der Fischer hat nur kurze Zeit gebraucht, um uns diese Geschichte zu erzählen, und er hat sie uns noch schlichter erzählt, als ich sie hier niedergeschrieben habe. Die Leute aus dem Volk machen wenig Umstände, wenn sie etwas berichten; sie heben die Tatsache hervor, die auf sie gewirkt hat, und setzten sie so ins Wort um, wie sie sie empfinden. Seine Erzählung wirkte so bitter und schneidend wie ein Axthieb. »Ich will nicht nach Batz«, sagte Pauline, als wir am oberen Rand des Sees angelangt waren. Wir kehrten durch die Salzteiche nach Le Croisic zurück, durch das Labyrinth, durch das der Fischer uns geleitete; er war schweigsam wie wir geworden. Unser Seelenzustand hatte sich gewandelt. Wir waren beide in unselige Gedankengänge eingetaucht und trüb gestimmt durch dieses Drama, das die Erklärung für die jähe Vorahnung bildete, die wir beim Erblicken Cambremers empfunden hatten. Wir besaßen beide genug Welt- und Menschenkenntnis, um von diesem Leben zu dritt alles zu erraten, was unser Führer uns davon verschwiegen hatte. Das Unglück dieser drei Menschenwesen erschien uns nochmals vor Augen, als hätten wir es in den Bilderfolgen eines Dramas erlebt, das dieser Vater durch die Sühne seiner notwendigen Untat gekrönt hatte. Wir wagten nicht, zu dem Felsen hinüberzublicken, auf dem dieser vom Schicksal gezeichnete Mensch hauste, der einer ganzen Gegend Angst machte. Ein paar Wolken verhüllten den Himmel; am Horizont stiegen Dünste auf; wir wanderten inmitten der bitterlich düstersten Natur, die ich jemals angetroffen habe. Wir durchschritten eine – 106 –
Landschaft, die leidend und kränklich wirkte, an den Salzteichen vorbei, die man mit gutem Recht als die Skrofeln der Erde bezeichnen könnte. Der Boden ist dort in Vierecke von ungleichmäßiger Größe eingeteilt; alle werden durch mächtige Aufschüttungen aus grauem Erdboden eingezwängt; alle sind mit brackigem Wasser angefüllt, an dessen Oberfläche das Salz gelangt. Diese von Menschenhand geschaffenen Vertiefungen sind innen durch schmale Streifen unterteilt, auf denen Arbeiter entlanggehen; sie sind mit langen Harken ausgerüstet, mit denen sie die Salzlake abschäumen und das Salz, wenn es trocken genug zum Aufschichten ist, auf erhöhte runde Plattformen schaufeln, die in gewissen Abständen angebracht worden sind. Zwei Stunden lang schritten wir an diesem trübseligen Schachbrett entlang, auf dem das Salz durch seine Überfülle den Pflanzenwuchs erstickt, und auf dem wir hier und dort einige »Paludiers« wahrnahmen; so werden die genannt, die das Salz ernten. Diese Menschen oder vielmehr dieser Bretonenstamm trägt eine besondere Tracht, eine kurze weiße Jacke, ähnlich derjenigen der Bierbrauer. Sie heiraten untereinander. Es gibt kein Beispiel dafür, daß ein Mädchen aus diesem Stamm einen ändern Mann als einen Paludier geheiratet hätte. Der abstoßende Anblick dieses Sumpflarids, dessen Schlamm gleichmäßig abgeschabt wurde, und dieses grauen Erdbodens, der den Schrecken der bretonischen Flora bildet, harmonierte mit der Trauer unserer Seelen. Als wir an der Stelle anlangten, wo man über den Meeresarm setzt, der durch den Einbruch der Fluten in diese Vertiefung gebildet worden ist und der sicherlich dazu dient, die Salzteiche zu speisen, gewahrten wir voller Freude die spärliche Vegetation, die die Sandstreifen des Strandes ziert. Bei der Überfahrt sahen wir mitten im See die Insel liegen, auf der die Cambremers wohnen; wir wandten den Kopf ab. Bei der Ankunft in unserm Hotel fiel uns in einem niedrigen Raum ein Billard-Tisch auf, und als wir erfuhren, es sei der einzige öffentliche Billard-Tisch in Le Croisic, trafen wir während der Nacht unsere Vorbereitungen zur Abreise; am folgenden Tag waren wir in Guerande. Pauline war noch immer traurig, und ich verspürte bereits das Näherkommen der Flamme, die mir das Gehirn verbrennt. Ich – 107 –
wurde so grausam durch meine Bildvorstellungen von jenen drei Menschen gemartert, daß sie zu mir sagte: »Louis, schreib das nieder, dann wandelst du die Natur deines Fiebers.« Also habe ich Dir dieses Abenteuer aufgeschrieben, lieber Onkel; aber es hat mich bereits die Beruhigung einbüßen lassen, die ich meinen Bädern und unserm hiesigen Aufenthalt verdankte.
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EINE LEIDENSCHAFT IN DER WÜSTE
D
ies Schauspiel ist beängstigend!« rief sie aus, als wir Monsieur Martins Menagerie verließen. Sie hatte zugesehen, wie der verwegene Schausteller mit seiner Hyäne ›arbeitete‹, um im Plakatstil zu reden. »Durch welche Mittel«, fuhr sie fort, »kann er seine Tiere so gezähmt haben, daß er ihrer Zuneigung sicher genug ist, um...?« – »Diese Tatsache erscheint Ihnen als ein Problem«, unterbrach ich sie, »aber trotzdem ist sie etwas ganz Natürliches.« – »Oh!« rief sie aus und ließ ein ungläubiges Lächeln über ihre Lippen huschen. »Glauben Sie etwa, die Tiere seien aller Leidenschaften bar?« fragte ich. »Ich versichere Ihnen, daß wir ihnen alle Laster beibringen können, die wir unserer Zivilisation verdanken.« Sie schaute mich mit einem erstaunten Blick an. »Freilich«, fuhr ich fort, »muß ich gestehen, daß mir, als ich Monsieur Martin zum erstenmal sah, wie ihnen ein Ausruf der Überraschung entschlüpfte. Ich stand dicht neben einem ehemaligen Soldaten, dem das rechte Bein amputiert worden und der mit mir hineingegangen war. Sein Gesicht war mir aufgefallen. Er trug einen der unerschrockenen Köpfe, die mit dem Siegel des Krieges gestempelt sind und auf denen Napoleons Schlachten geschrieben stehen. Jener alte Soldat hatte vor allem etwas Offenes und Frohgemutes an sich, was mich immer für einen Menschen einnimmt. Er war zweifelsohne einer jener Haudegen, die nichts mehr überrascht, die noch in der letzten Grimasse eines Kameraden etwas finden, worüber sie lachen können, die ihn heiteren Herzens begraben oder ausplündern; die ungerührt auf die Kugeln lauschen; deren Überlegungen kurz sind und die sogar mit dem Teufel Brüderschaft trinken würden. Nachdem er den Besitzer der Menagerie in dem Augenblick, da er aus dem Käfig trat, aufmerksam gemustert hatte, zog er die Lippen zusammen, als wollte er durch diese bezeichnende Bewegung, wie überlegene Menschen sie sich erlauben, um sich von den Dummen zu unterscheiden, spöttische Geringschätzung ausdrücken. Und als – 109 –
ich laut Monsieur Martins Mut Bewunderung zollte, lächelte er und sagte mit wichtiger Miene, wobei er den Kopf zurückwarf: ›Kennen wir schon!‹ – ›Wieso: Kennen wir schon?‹ erwiderte ich; ›wenn Sie mir dies Geheimnis erklären wollten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.‹ Kurz darauf gingen wir, nachdem wir uns einander vorgestellt hatten, in das erstbeste Restaurant, das sich unseren Blicken bot, um zu Abend zu essen. Beim Dessert gab eine Flasche Champagner den Erinnerungen dieses seltsamen Soldaten ihre ganze Klarheit wieder. Er erzählte mir seine Geschichte, und ich erfuhr, daß er sein ›Kennen wir schon!‹ mit Recht ausgerufen hatte.« Als wir daheim bei ihr waren, quälte sie mich so lange, versprach sie mir so viel, daß ich mich schließlich bereit erklärte, den Bericht des Soldaten für sie niederzuschreiben. Am Tag darauf erhielt sie also folgende Episode einer Epopöe, der man den Titel ›Die Franzosen in Ägypten‹ geben könnte.
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Zur Zeit des Vorstoßes nach Oberägypten, den General Desaix unternahm, wurde ein provenzalischer Soldat, der den Maugrebinen in die Hände gefallen war, von diesen Arabern in die Wüste jenseits der Nilkatarakte verschleppt. Um zwischen sich und das französische Heer einen Abstand zu legen, der ihnen ihre Unbehelligtheit sicherte, drangen die Araber im Eilmarsch vor und machten erst in der Nacht halt. Sie kampierten um einen von Palmen umstandenen Brunnen, bei dem sie früher einige Lebensmittelvorräte vergraben hatten. Da sie nicht annahmen, daß ihrem Gefangenen der Gedanke an Flucht kommen könne, begnügten sie sich damit, ihm die Hände zu fesseln, und schliefen ein, nachdem sie ein paar Datteln gegessen und ihren Pferden Gerste gegeben hatten. Sobald nun der verwegene Provenzale sah, daß seine Feinde außerstande waren, ihn zu überwachen, bediente er sich seiner Zähne, um sich eines Säbels zu bemächtigen; den klemmte er sich zwischen die Knie, damit die Klinge festen Halt hatte, und durchschnitt die Stricke, die ihn des Gebrauchs seiner Hände beraubten, und bald war er frei. Sogleich nahm er sich einen Karabiner und einen Dolch, versah sich mit einem Vorrat an trockenen Datteln, mit einem kleinen Sack Gerste, mit Pulver und Kugeln; er gürtete sich den Säbel um, bestieg ein Pferd und machte sich schnell in der Richtung aus dem Staube, in der er das französische Heer vermutete. Voller Ungeduld, ein Biwak zu gewahren, spornte er den schon ermüdeten Renner so sehr an, daß das arme Tier mit zerfetzten Flanken verendete und den Franzosen mitten in der Wüste allein ließ. Nachdem der Soldat mit dem ganzen Mut eines entsprungenen Sträflings lange durch den Sand dahingewandert war, mußte er haltmachen; der Tag ging zur Neige. Trotz der Schönheit des Himmels in orientalischen Nächten besaß er nicht mehr die Kraft, seinen Weg fortzusetzen. Zum Glück hatte er eine Bodenwelle erreichen können, auf deren Höhe ein paar Palmen aufragten; er hatte ihre Zweige schon seit langem wahrgenommen, und in seinem Herzen waren die süßesten Hoffnungen erwacht. Er fühlte sich so erschöpft, daß er sich auf einem Granitfelsen niederlegte, der durch eine Laune der Natur wie ein Feldbett geformt war; dort schlief er ein, ohne daß er – 111 –
zuvor auch nur die geringsten Vorkehrungen zur Verteidigung während seines Schlummers getroffen hätte. Er hatte bereits sein Leben aufs Spiel gesetzt. Sein letzter Gedanke war sogar ein Bedauern. Er bereute, die Maugrebinen verlassen zu haben, deren unstetes Leben ihm als etwas Erfreuliches erschien, nun er fern von ihnen und jeder Hufe abgeschnitten war. Ihn weckte die Sonne, deren unerbittliche Strahlen senkrecht auf den Granit herabfielen und eine unerträgliche Hitze erzeugten. Nun war der Provenzale so ungeschickt gewesen, sich auf die entgegengesetzte Seite des Schattens zu legen, den die grünenden, majestätischen Wipfel der Palmen warfen... Er schaute zu diesen einsamen Bäumen hin und erbebte. Sie erinnerten ihn an die eleganten, von langen Blättern gekrönten Schäfte, die die sarazenischen Saufen der Kathedrale von Arles auszeichnen. Aber als er die Palmen gezählt hatte und einen Blick um sich warf, brach die grauenhafteste Verzweiflung über seine Seele herein. Er sah einen uferlosen Ozean. Der schwärzliche Wüstensand erstreckte sich unabsehbar nach allen Richtungen hin, und er funkelte wie eine Stahlklinge, die von grellem Licht getroffen wird. Der Soldat wußte nicht, ob es ein Eismeer sei oder eine Menge spiegelglatter Seen. In Wellen aufsteigender Feuerdunst wirbelte über dieser geschwungenen Erde empor. Der Himmel hatte einen orientalischen Glanz von trostloser Reinheit; er läßt nämlich der Phantasie nichts mehr zu wünschen übrig. Himmel und Erde standen in Flammen. Die Stille erschreckte durch ihre wilde, grausame Majestät. Das Unendliche, die Unermeßlichkeit drängten von allen Seiten her auf die Seele ein: Keine Wolke am Himmel, kein Windhauch in der Luft, keine Unebenheit auf der Fläche des Sandes, die dennoch in kleinen, winzigen Wogen aufwallte; ganz hinten schloß der Horizont wie auf hoher See bei schönem Wetter alles mit einer Lichtlinie ab, die dünn war wie eine Säbelschneide. Der Provenzale umschlag den Stamm einer der Palmen, als sei er der Leib eines Freundes; dann weinte er im Schutz des schmalen und scharfen Schattens, den der Baum auf den Granit zeichnete, und er setzte sich, blieb dort sitzen und sah mit unendlicher Trauer in die unerbittliche Szenerie hinaus, die sich seinen Blicken bot. Er schrie, als wolle er die Einsamkeit auf die Probe stellen. – 112 –
Seine Stimme, die sich in den Höhlungen der Bodenwelle verlor, schickte nur einen mageren Hall in die Ferne, der kein Echo weckte; das Echo erklang in seinem Herzen. Der Provenzale war zweiundzwanzig Jahre alt. Er lud seinen Karabiner. Dazu ist immer noch Zeit, sagte er sich und legte die erlösende Waffe wieder zu Boden. Während er abwechselnd in die schwarze Ferne und die blaue Himmelsweite blickte, träumte er von Frankreich. Voller Entzücken roch er die Gossen von Paris, er mußte an alle Städte denken, durch die er gekommen war, an die Gesichter seiner Kameraden und an die kleinsten Umstände seines Lebens. Schließlich zauberte ihm seine südländische Phantasie nur zu bald in den Spielen der Hitze, die über der ausgebreiteten Wüstenfläche wogte, die Steine seiner geliebten Provence vor. Da er alle Gefahren dieser grausamen Spiegelung fürchtete, stieg er den Hügel auf der Seite hinab, die jener, auf der er tags zuvor heraufgestiegen war, gegenüberlag. Seine Freude war groß, als er in den ungeheuren Granittrümmern, die die Basis des Hügels bildeten, eine von der Natur eingeschnittene Grotte fand. Die Reste einer Matte ließen erkennen, daß diese Zufluchtsstätte einmal bewohnt gewesen war. Dann entdeckte er in ein paar Schritten Entfernung Fahnen, an denen Datteln hingen, und sogleich erwachte in seinem Herzen der Instinkt, der uns ans Leben fesselt. Er hoffte, sich lange genug erhalten zu können, bis irgendein Maugrebinentrupp vorüberkomme; oder vielleicht würde er gar den fernen Donner der Kanonen hören! Denn gegenwärtig durchzog Bonaparte Ägypten. Dieser Gedanke belebte ihn; und so schlug denn der Franzose ein paar reife Datteltrauben herab, unter deren Last sich die Palmen zu beugen schienen, und als er dieses unverhoffte Manna kostete, wurde ihm klar, daß der Bewohner der Grotte die Palmen angepflanzt und gepflegt haben müsse. Das saftige, frische Fleisch der Früchte zeugte von der Betreuung der Palmen durch seinen Vorgänger. Der Provenzale durchlebte einen plötzlichen Übergang von düsterer Verzweiflung zu fast wahnsinniger Freude. Er stieg wieder auf den Hügel hinauf und verwandte den Rest des Tages dazu, eine der unfruchtbaren Palmen zu fällen, die ihm am Abend zuvor als Dach gedient hatten. Eine unklare Erinnerung gab ihm den Ge– 113 –
danken an die Tiere der Wüste ein; und da er voraussah, daß sie zur Tränke an die Quelle kommen würden, die unterhalb der Felsblöcke entsprang und sich im Sand verlor, so beschloß er, sich gegen ihre Besuche zu schützen, indem er vor dem Eingang seiner Einsiedelei eine Schranke anbrachte. Trotz seines Eifers, trotz der Kraft, die ihm die Furcht verlieh, während seines Schlummers zerrissen zu werden, gelang es ihm nicht, die Palme an diesem Tage in mehrere Stücke zu zerteilen; aber es gelang ihm wenigstens, sie zu fällen. Als gegen Abend dieser Fürst der Wüste stürzte, hallte der Lärm seines Falles in der Ferne wider, und es war, als stöhne die Einsamkeit auf; der Soldat fuhr zusammen, als habe er eine Stimme gehört, die ihm Unglück weissagte. Aber wie ein Erbe nicht lange um den Tod eines Verwandten trauert, so beraubte er bald den schönen Baum der breiten, langen grünen Blätter, die seinen poetischen Schmuck bilden, und er benutzte sie zur Ausbesserung der Matte, auf der er schlafen wollte. Von der Hitze und der Arbeit ermüdet, schlief er unter der roten Decke seiner feuchten Höhle ein. Mitten in der Nacht wurde sein Schlummer von einem merkwürdigen Geräusch gestört. Er richtete sich in sitzende Stellung auf, und die herrschende tiefe Stille ermöglichte ihm, das unterbrochene Geräusch eines Atmens zu vernehmen, dessen wilde Kraft keinem menschlichen Geschöpf angehören konnte. Tiefe Furcht, die das Dunkel, die Stille und die Gesichte des Erwachens noch steigerten, ließ sein Herz erstarren. Er spürte sogar kaum das schmerzhafte Sich-Zusammenziehen seiner Kopfhaut, als er mit den immer weiter sich öffnenden Pupillen seiner Augen im Dunkel zwei schwache gelbliche Lichter wahrnahm. Zunächst schrieb er diese Lichter irgendeinem Reflex seiner Augen zu; aber bald half ihm der Schimmer der Nacht, allmählich die Dinge zu unterscheiden, die sich in der Grotte befanden, und er gewahrte ein riesengroßes Tier, das wenige Schritte vor ihm lag. War es ein Löwe, ein Tiger oder ein Krokodil? Der Provenzale war nicht gebildet genug, um zu wissen, welcher Gattung sein Feind angehörte; aber seine Angst war um so überwältigender, als seine Unwissenheit ihm jedes nur erdenkliche Unglück zugleich vorspiegelte. Er durchlebte die grausame Folter, daß er dieses Atmen belauschte, jede Mo– 114 –
dulation vernahm, ohne daß ihm das geringste entging und ohne daß er es wagte, die geringste Bewegung zu machen. Ein Geruch, der ebenso stark war wie der, den die Füchse ausströmen, aber durchdringender, intensiver, erfüllte die Grotte; und als der Provenzale ihn mit der Nase eingesogen hatte, stieg seine Angst auf den Höhepunkt, denn er konnte nicht mehr am Dasein des furchtbaren Gefährten zweifeln, dessen Königshöhle ihm als Lagerstätte diente. Bald darauf erleuchtete der Widerschein des Mondes, der zum Horizont herniederglitt, die Grotte, so daß das gefleckte Fell eines Pantherweibchens unmerklich zu leuchten begann. Dieser ägyptische Löwe schlief, zusammengerollt wie ein großer Hund, wie der friedliche Inhaber einer prunkvollen Hundehütte am Eingang eines großen Stadtpalais; seine Augen, die nur einen Augenblick offen gewesen waren, hatten sich wieder geschlossen. Er lag mit dem Gesicht nach dem Franzosen zu. Tausend wirre Gedanken blitzten dem Gefangenen des Panthers durch den Kopf; erst wollte er das Tier mit einem Flintenschuß töten; aber er merkte, daß zwischen ihm und der Bestie nicht Raum genug zum Zielen sei: Der Lauf hätte über sie hinausgeragt. Und wenn sie erwachte? ... Der bloße Gedanke ließ ihn erstarren. Als er in der großen Stille sein Herz schlagen hörte, fluchte er dem starken Pochen, das der Blutandrang hervorrief; er fürchtete, den Schlummer zu stören, der ihm erlaubte, ein Mittel zur Rettung zu überlegen. Zweimal legte er die Hand an seinen Säbel, um seinem Feind den Kopf abzuschlagen; aber die Schwierigkeit, ein hartes, glattes Fell zu durchhauen, zwang ihn, auf diesen verwegenen Plan zu verzichten. »Ihn fehlen? Das wäre sicherer Tod«, dachte er. Da waren ihm die Möglichkeiten eines Kampfes lieber, und er beschloß, den Tag abzuwarten. Und der Tag ließ nicht lange auf sich warten. Jetzt konnte der Franzose den Panther genauer ansehen; sein Maul war blutig. »Er hat gut gefressen!« dachte er, ohne sich darum zu kümmern, ob das Festmahl etwa aus Menschenfleisch bestanden hatte; »er wird keinen Hunger haben, wenn er aufwacht.« Es war ein Weibchen. Der Pelz glänzte am Bauch und an den Schenkeln weiß. Mehrere kleine Flecke, die aussahen wie Samt, bildeten – 115 –
hübsche Spangen um die Tatzen. Der muskulöse Schweif war gleichfalls weiß, aber er schloß mit schwarzen Ringen ab. Das obere Haarkleid war gelb wie mattes Gold, glatt und weich, und es trug jene charakteristische Tüpfelung, die rosenförmig abgestuft ist und die den Panther von den anderen Raubkatzenarten unterscheidet.
Die ruhige, furchtbare Gastgeberin schnarchte in einer nicht minder anmutigen Stellung, als es die einer auf dem Kissen einer Ottomane ruhenden Katze ist. Ihre blutigen, sehnigen, wohlbewaffneten Tatzen ruhten vor ihrem Kopf, der darauf lag und in dem die spärlichen, starren Barthaare wie Silberfäden standen. Hätte sie in einem Käfig gelegen, so hätte der Provenzale sicherlich die Anmut dieser Bestie und die kräftigen Kontraste der lebhaften Färbung bewundert, die ihrem Kleid einen kaiserlichen Glanz verliehen; aber in diesem Augenblick fühlte er, wie sein Auge sich bei dem unheildrohenden Anblick trübte. Allein schon die Anwesenheit des schlafenden Panthers übte auf ihn die Wirkung aus, die nach der Sage die magnetischen Augen der Schlange auf die Nachtigall haben. Der Mut des Soldaten versagte schließlich für kurze Zeit angesichts dieser Gefahr, während er vor den Schlünden der Kanonen, die Kartätschen– 116 –
ladungen spien, ohne Zweifel begeistert vorgestürmt wäre. Doch schließlich dämmerte in seinem Geist ein unerschrockener Gedanke auf, so daß der kalte Schweiß, der ihm von der Stirn herabrann, schon an seinem Ursprungsort vertrocknete. Er handelte wie die Menschen, die, vom Unglück bis zum Äußersten getrieben, schließlich dem Tode trotzen, ja, sich sogar seinen Schlägen darbieten; und ohne daß er es sich klarmachte, erblickte er in diesem Abenteuer eine Tragödie, in der er seine Rolle bis zur letzten Szene ehrenhaft zu spielen beschloß. »Vorgestern hätten mich vielleicht die Araber getötet!« sagte er sich. Und indem er sich als einen Toten ansah, harrte er gefaßt und in unruhiger Neugier des Erwachens seiner Feindin. Als die Sonne aufging, öffnete das Pantherweibchen plötzlich die Augen; dünn reckte es heftig die Tatzen auseinander, als wolle es ihnen die Steifheit nehmen und die Starre vertreiben. Schließlich gähnte es und zeigte dabei die furchtbare Wehr seiner Zähne und die gegabelte Zunge, die hart war wie eine Reibe. »Die tut wie eine kleine Geliebte«, dachte der Franzose, als er sah, wie die Bestie sich wälzte und die sanftesten und kokettesten Bewegungen machte. Sie leckte sich das Blut ab, das ihre Tatzen und ihre Lefzen färbte, und mit wiederholten artigen Gesten kratzte sie sich den Kopf. »Schön ...! Mach ein bißchen Toilette ...!« sagte der Franzose bei sich selber, denn mit dem Mut kehrte ihm auch seine Heiterkeit zurück; »jetzt wollen wir einander guten Morgen sagen.« Und er ergriff den kleinen Dolch, den er den Arabern weggenommen hatte. In diesem Augenblick kehrte das Pantherweibchen dem Franzosen den Kopf zu und sah ihn fest an, ohne sich zu rühren. Vor der Starrheit ihrer metallischen Augen und vor deren unerträglicher Klarheit erbebte der Provenzale, zumal als die Bestie auf ihn zukam. Aber er sah sie mit einem liebkosenden Blick an, und indem er sie anblickte, als wolle er sie hypnotisieren, ließ er sie dicht an sich herankommen; dann strich er ihr mit einer Bewegung, so sanft, so liebevoll, als wolle er die hübscheste Frau streicheln, mit der Hand über den ganzen Körper hin, vom Kopf bis zum Schweif; und mit den Nägeln – 117 –
reizte er die geschmeidigen Wirbel, die den gelben Rücken des Panthers teilten. Wollüstig hob die Bestie den Schweif, ihre Augen umflorten sich; und als der Franzose diese berechnende Liebkosung zum drittenmal ausführte, ließ sie ein Schnurren vernehmen, ähnlich dem, durch das die Katzen ihr Wohlbehagen zu erkennen geben; aber dieses Schnurren kam aus einer so tiefen und gewaltigen Kehle, daß es in der Grotte widerhallte, gleich den letzten Baßtönen der Orgel in einer Kirche. Da der Provenzale die Bedeutung seiner Liebkosungen begriff, setzte er sie nur desto eifriger fort; er wollte diese gebieterische Kurtisane betäuben und einschläfern. Als er sicher zu sein glaubte, daß die Wildheit seiner launischen Gefährtin, die ihren Hunger zum Glück tags zuvor gestillt hatte, besänftigt war, stand er auf und wollte die Höhle verlassen. Das Pantherweibchen ließ ihn ruhig hinaus; aber als er den Hügel überschritt, sprang sie dem Soldaten mit der Leichtigkeit der Sperlinge, die von Zweig zu Zweig hüpfen, nach und rieb sich an seinen Beinen, wobei sie nach Katzenart den Rücken krümmte; dann sah sie ihren Gast mit Augen an, deren Glanz weniger unbeugsam geworden war, und stieß jenen wilden Schrei aus, den die Naturwissenschaftler mit dem Geräusch einer Säge vergleichen. »Sie ist anspruchsvoll!« rief der Franzose lächelnd. Er versuchte, mit ihren Ohren zu spielen, ihr den Bauch zu streicheln und ihr kräftig mit den Nägeln den Kopf zu kratzen. Und als er merkte, welchen Erfolg er damit hatte, kitzelte er ihr den Schädel mit der Spitze seines Dolches und lauerte auf den Augenblick, da er sie töten könne; aber die Härte der Knochen ließ ihn bei dem Gedanken erzittern, daß es ihm nicht gelingen könne. Die Sultanin der Wüste erkannte die Talente ihres Sklaven an; sie hob den Kopf, reckte ihm den Hals hin und tat ihre Berauschtheit durch die Ruhe ihrer Stellung kund. Dem Franzosen kam der Gedanke, daß er dieser wilden Prinzessin, um sie auf einen Schlag zu töten, den Dolch in die Kehle stoßen müsse; und er hob schon die Klinge, als sie sich plötzlich, ohne Zweifel befriedigt, anmutig zu seinen Fußen niederwarf; von Zeit zu Zeit blickte sie zu ihm auf, und trotz einer angeborenen Härte spiegelte sich in ihren Augen ein dunkles Wohlwollen. Der arme Provenzale lehnte sich an eine der Palmen und aß seine Datteln; – 118 –
aber abwechselnd ließ er forschend den Blick durch die Wüste streifen, um nach Rettern auszuschauen, und schaute zu seiner furchtbaren Gefährtin hin, um sich ihrer Ungewissen Gunst zu versichern. Das Pantherweibchen blickte jedesmal, wenn er einen Dattelkern wegwarf, auf die Stelle, wo er hinfiel, und dann zeigten ihre Augen den Ausdruck unsäglichen Mißtrauens. Sie überwachte den Franzosen mit kaufmännischer Vorsicht; aber diese Prüfung zeitigte ein für ihn günstiges Ergebnis, denn als er sein frugales Mahl beendet hatte, leckte sie ihm die Schuhe, von denen sie mit ihrer tauben, kräftigen Zunge wie durch ein Wunder sogar den Staub beseitigte, der sich in die Falten eingelagert hatte. »Aber wenn sie nun hungrig wird ...?« dachte der Provenzale. Trotz des Schauders, der ihn bei diesem Gedanken durchlief, begann der Soldat neugierig die Maße des Tieres abzuschätzen; es war sicherlich eins der schönsten Exemplare der Gattung; es maß in der Höhe drei Fuß und in der Länge vier, den Schweif nicht mitgerechnet. Diese gewaltige Waffe, die rund war wie ein Knüttel, maß ihrerseits beinahe drei Fuß. Der Kopf, der so groß war wie der einer Löwin, zeichnete sich durch eine seltene Feinheit des Ausdrucks aus; wohl herrschte in ihm die kalte Grausamkeit der Tiger vor, aber er hatte auch eine unbestimmte Ähnlichkeit mit der Physiognomie einer verschlagenen Frau. Das Gesicht dieser einsamen Königin schließlich verriet in diesem Augenblick eine Art Lustigkeit, ähnlich der des trunkenen Nero: Die Bestie hatte sich am Blut gesättigt und wollte spielen. Der Soldat versuchte hin und her zu gehen; der Panther ließ ihm seine Freiheit und begnügte sich damit, ihm mit den Augen zu folgen; er glich auf diese Weise weniger einem treuen Hund als einer großen Angorakatze, die alles beunruhigt, sogar die Bewegungen ihres Herrn. Als er sich umwandte, sah er hinter der Quelle die Reste seines Pferdes; bis dorthin hatte die Pantherin den Kadaver geschleppt. Zwei Drittel etwa waren verzehrt. Dieser Anblick beruhigte den Franzosen. Es war jetzt leicht, die Abwesenheit des Tieres zu erklären, sowie auch, daß es den Menschen während seines Schlummers geschont hatte. Dieser erste Glücksumstand ermutigte ihn, es auf die Zukunft ankommen zu lassen, und er erwog die wahnsinnige Hoff– 119 –
nung, den ganzen Tag hindurch mit dem Pantherweibchen friedlich zusammenzuleben, indem er kein Mittel versäumte, es zu zähmen und sich seine Gunst zu gewinnen. Er kehrte zu der Bestie zurück, und ihm wurde das unsägliche Glück zuteil, daß er sah, wie sie in einer fast unmerklichen Bewegung den Schweif hob. Da setzte er sich furchtlos neben sie, und sie begannen miteinander zu spielen; er faßte ihre Tatzen, ihre Schnauze, drehte ihr die Ohren, wälzte sie auf den Rücken und kratzte ihre heißen, seidigen Flanken kräftig. Sie ließ es geschehen; und als der Soldat versuchte, ihr den Pelz an den Tatzen zu glätten, zog sie sorgfältig die Krallen ein, die krumm waren wie Damaszenerklingen. Der Franzose, der mit einer Hand seinen Dolch festhielt, überlegte noch einmal, ob er ihn der allzu vertrauensseligen Bestie in den Leib bohren solle; aber er fürchtete, sie werde ihn in dem letzten Krampf, der sie schütteln mußte, sogleich erdrosseln. Und zudem vernahm er in seinem Herzen eine Stimme des Gewissens, die ihm zurief, ein harmloses Geschöpf zu schonen. Ihm war, als habe er in dieser grenzenlosen Wüste eine Freundin gefunden. Unwillkürlich dachte er an seine erste Geliebte, die er »Migarune« genannt hatte, und zwar aus Paradoxie; sie nämlich war von so wilder Eifersucht beherrscht gewesen, daß er während der ganzen Zeit von ihrer beider Leidenschaft das Messer zu fürchten gehabt hatte; es war ihm stets angedroht worden. Diese Erinnerung an seine Jugend gab ihm den Gedanken an den Versuch ein, das junge Pantherweibchen, dessen Behendigkeit, Anmut und Weichheit er jetzt mit weniger Angst bewunderte, an diesen Namen zu gewöhnen. Als der Tag zur Neige ging, hatte er sich mit seiner gefährlichen Lage ausgesöhnt, und er liebte seine Ängste fast. Und seine Gefährtin hatte sich schließlich schon daran gewöhnt, ihn anzuschauen, wenn er mit Falsettstimme »Migarune« rief. Beim Sonnenuntergang ließ sie wiederholt einen tiefen und melancholischen Schrei vernehmen. »Sie ist gut erzogen...!« dachte der lustige Soldat; »sie spricht ihr Gebet...!« Aber dieser unausgesprochene Scherz war ihm erst in den Sinn gekommen, als er erkannte, in welch friedlicher Haltung seine Kameradin verharrte. »Geh, kleine Blonde, du darfst dich zuerst schlafen – 120 –
legen«, sagte er, er zählte auf die Behendigkeit seiner Beine, um aufs schnellste davonzulaufen, wenn sie eingeschlafen wäre; er wollte sich für die Nacht ein anderes Lager suchen. Ungeduldig harrte der Soldat der Stunde zur Flucht; und als sie gekommen war, schritt er eilig in der Richtung auf den Nil davon. Kaum aber hatte er eine Viertelstunde im Sand zurückgelegt, da hörte er auch schon das Pantherweibchen hinter sich herspringen; von Zeit zu Zeit stieß es jenen Sägeschrei aus, der noch beängstigender war als das schwere Geräusch ihrer Sprünge. »Na ja«, sagte er sich, »sie hat Freundschaft mit mir geschlossen...! Vielleicht ist dieses junge Weibchen noch niemandem begegnet; es ist schmeichelhaft, ihre erste Liebe zu sein!« In diesem Augenblick geriet der Franzose in jenen für den Reisenden so gefährlichen Triebsand, aus dem sich zu befreien unmöglich ist. Als er sich gefangen fühlte, stieß er einen Schreckensschrei aus; das Pantherweibchen packte ihn mit den Zähnen am Kragen, sprang kräftig zurück und riß ihn wie durch Zauber aus dem Schlund heraus. »Ach, Migarune«, rief der Soldat und liebkoste sie begeistert, »jetzt steht es zwischen uns auf Leben und Tod ... Aber keine Dummheiten!« Und er kehrte um. Die Wüste war jetzt gleichsam bevölkert. Sie umschloß ein Wesen, mit dem der Franzose reden konnte und dessen Wildheit ihm gegenüber hingeschwunden war, ohne daß er sich die Motive diser unglaublichen Freundschaft zu erklären vermochte. So mächtig auch das Verlangen des Soldaten war, wach und auf der Hut zu bleiben, er schlief dennoch ein. Als er erwachte, erblickte er Migarune nicht mehr; er stieg auf den Hügel und sah in die Ferne, wie sie in Sprüngen herbeigelaufen kam; all diese Tiere springen, denn den einfachen Lauf macht ihnen die große Biegsamkeit ihrer Wirbelsäule unmöglich. Migarune kam mit blutigen Lefzen. Sie erhielt die nötigen Liebkosungen, die ihr Gefährte ihr zuteil werden ließ; und sie bezeigte sogar durch ein wiederholtes ernstes Schnurren, wie glücklich sie sei. Ihre äußerst weichen Augen ruhten noch milder als am Tage zuvor auf dem Provenzalen, der wie zu einem Haustier zu ihr sprach: – 121 –
»Ha, ha, Mademoiselle, Sie sind doch ein anständiges Mädchen, nicht wahr? Seh' sich einer das an! ... Sie lassen sich gern streicheln. Schämen Sie sich eigentlich gar nicht? Haben Sie etwa einen Araber gefressen...? Schön! Und dabei sind das Tiere wie Sie! Aber Franzosen dürfen Sie mir nicht verspeisen...! Dann hätte ich Sie nicht mehr lieb!« Sie spielte mit ihm, wie ein junger Hund mit seinem Herrn spielt; sie ließ sich abwechselnd auf den Rücken wälzen, schlagen und schmeicheln, und bisweilen trieb sie den Soldaten an, indem sie mit bittender Geste die Tatze auf ihn legte. Auf diese Weise vergingen ein paar Tage. Diese Gemeinschaft erlaubte dem Provenzalen, sich an den herrlichen Schönheiten der Wüste zu erfreuen. Von dem Augenblick an, da er Stunden der Furcht und der Ruhe, Zehrung und ein Geschöpf gefunden hatte, an das er denken konnte, bewegten Gegensätze seine Seele... Es war ein Leben voller Kontraste. Die Einsamkeit offenbarte ihm all ihre Geheimnisse, hüllte ihn ein in ihren Zauber. Er erlebte im Aufgang und Untergang der Sonne Schauspiele, wie sie der Welt unbekannt waren. Er konnte erschauern, wenn er über dem Kopf das leise Schwirren der Flügel eines Vogels vernahm – eines seltenen Gastes! – oder wenn er beobachtete, wie die Wolken sich ineinanderschoben – die wechselnden und farbenreichen Wanderer! Nachts beobachtete er die Lichtwirkungen des Mondes auf dem Sandmeer, in das der Samum Wogen warf, Wellungen und rasche Veränderungen. Er lebte mit der Helle des Ostens, er bewunderte ihren märchenhaften Prunk; und oft, wenn er das furchtbare Schauspiel eines Sturmes auf dieser Ebene erlebt hatte, darin der emporgewirbelte Sand roten, trockenen Dunst und todbringende Wolken verursachte, sah er die Nacht voll Entzücken nahen, denn dann senkte sich die wohltuende Kühle des Sternenlichts nieder. Er lauschte auf die unwirkliche Musik der Himmel. Und dann lehrte ihn die Einsamkeit, die Schätze des Traums zu entbreiten. Ganze Stunden brachte er damit zu, sich eines Nichts zu entsinnen, sein vergangenes Leben mit seinem gegenwärtigen zu vergleichen. Schließlich ergriff ihn eine Leidenschaft zu – 122 –
seinem Pantherweibchen; er brauchte etwas, das er lieben konnte. Sei es, daß sein Wille, der kraftvoll nach außen wirkte, den Charakter seiner Gefährtin geändart hatte, sei es, daß sie, dank der Kämpfe, die in diesen Wüsten stattfanden, reichliche Nahrung fand, jedenfalls schonte sie das Leben des Franzosen, der schließlich, als er sie so völlig gezähmt sah, jedes Mißtrauen fallenließ. Den größten Teil der Zeit verwandte er auf den Schlaf; aber wie eine Spinne in ihrem Gewebe mußte er dennoch wachen, um sich den Augenblick der Befreiung nicht entgehen zu lassen, falls jemand innerhalb seines Blickfeldes vorüberzog. Er hatte sein Hemd geopfert und eine Fahne daraus gemacht, die er oben an eine ihrer Blätter beraubte Palme hing. Die Not beriet ihn, und also fand er ein Mittel, sie mit Hilfe von Stäben aufzuspannen; es war ja möglich, daß der Wind sie in dem Augenblick, in dem der erwartete Wanderer in die Wüste spähte, gerade nicht aufblies. Mit dem Pantherweibchen vergnügte er sich in den langen Stunden, in denen die Hoffnung ihn verließ. Er hatte schließlich die verschiedenen Flexionen ihrer Stimme, den Ausdruck ihrer Blicke verstehen gelernt; er hatte die launischen Zuckungen all der Flecke studiert, die das Gold ihres Kleides würfelten. Migarune knurrte nicht einmal mehr, wenn er die Quaste in die Hand nahm, mit der ihr furchtbarer Schweif abschloß, um die schwarzen und weißen Ringe zu zählen, diesen anmutigen Schmuck, der in der Sonne schon von fern wie Geschmeide glänzte. Er fand sein Vergnügen daran, die vollen, feinen Linien ihres Umrisses zu betrachten, die Weiße ihres Bauches, die Anmut ihres Kopfes. Vor allem aber, wenn sie spielte, sah er sie wohlgefällig an; immer von neuem überraschten ihn die Behendigkeit und die Jugend ihrer Bewegungen. Er bewunderte ihre Geschmeidigkeit, wenn sie zu springen, zu klettern, zu gleiten, zu kriechen, sich anzuklammern, sich zu wälzen, sich hinzuschmiegen und sich überall herumzuwerfen begann. Wie gewaltig auch ihr Schwung, wie glatt der Granitfels war, so blieb sie doch bei dem Wort »Migarune« auf der Stelle stehen.
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Eines Tages schwebte bei grellem Sonnenschein ein ungeheurer Vogel in der Luft. Der Provenzale verließ sein Pantherweibchen, um diesen neuen Gast zu betrachten, aber nach einem Augenblick des Wartens knurrte die verlassene Sultanin dumpf. »Gott soll mich holen, ich glaube, sie ist eifersüchtig! « rief er, als er ihre wieder hart gewordenen Augen sah. »In diesen Leib ist die Seele Virginias gefahren, das steht fest...!« Der Adler verschwand in den Lüften, während der Soldat die gewölbte Kruppe des Pantherweibchens bewunderte. Es lag so viel Anmut und Jugend in ihrer Kontur! Sie war hübsch wie eine Frau. Der blonde Pelz ihres Kleides verschmolz in feinen Tönen mit dem matten Weiß, das die Schenkel auszeichnete. Das Licht, das die Sonne verschwenderisch herabgoß, ließ dieses lebendige Gold, diese braunen Flecken erglänzen, so daß sie unbestimmbare Reize erhielten. Der Provenzale und das Pantherweibchen schauten einander mit verständnisvoller Miene an. Die Kokette erbebte, als sie fühlte, wie ihr der Nagel ihres Freundes den Schädel kratzte; ihre Augen leuchteten auf wie zwei Blitze, und dann schloß sie sie kräftig. »Sie hat eine Seele«, sagte er, indem er gedankenvoll die Ruhe dieser Königin des Sandes anschaute, die golden war wie der Sand, weiß wie er, einsam und glühend wie er... »Nun«, sagte sie, »ich habe Ihre Verteidigungsrede der wilden Bestien gelesen; aber wie haben diese beiden Wesen, die so sehr dazu geschaffen waren, sich zu verstehen, geendet? « – »Ach, richtig! Sie haben geendet, wie alle großen Leidenschaften enden: durch ein Mißverständnis! Man glaubt auf der einen wie auf der anderen Seite an einen Verrat, aus Stolz läßt man es zu keiner Auseinandersetzung kommen, und man überwirft sich aus Eigensinn.« – »Bisweilen gar in den schönsten Augenblicken«, sagte sie; »ein Blick, ein Ausruf, das genügt... Nun los, schließen Sie die Geschichte ab.« »Das ist furchtbar schwierig; aber Sie werden verstehen, was der alte Brummbär mir schon anvertraut hatte, als er seine Flasche Champagner leerte und ausrief: ›Ich weiß nicht, was ich ihr getan hatte, aber sie drehte sich um, als sei sie wütend; und mit ihren scharfen Zähnen – 124 –
biß sie mich in den Schenkel, ganz sicher noch ziemlich leicht. Ich glaubte, sie wolle mich fressen, und bohrte ihr den Dolch in den Hals. Sie wälzte sich herum und stieß dabei einen Schrei aus, der mein Herz erstarren ließ; ich sah sie ohne Groll verenden. Um alles in der Welt, um mein Ehrenkreuz, das ich damals noch nicht besaß, hätte ich sie dem Leben zurückgeben mögen. Es war, als hätte ich wirklich einen Menschen ermordet. Und die Soldaten, die meine Fahne gesehen hatten und mir zu Hilfe kamen, fanden mich in Tränen...
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Nun‹, fuhr er nach einer Weile fort, ›ich habe inzwischen in Deutschland, Rußland und Frankreich im Felde gestanden; ich habe meinen Kadaver hübsch spazieren geführt, aber ich habe nichts gesehen, was der Wüste gleichkäme... Ach, ist das schön!‹ – ›Was haben Sie dort empfunden...?‹ fragte ich. ›Oh, das läßt sich nicht ausdrücken, junger Mann. Übrigens sehne ich mich nicht in einem fort nach meiner Palmengruppe und meinem Pantherweibchen zurück... Dazu muß ich trauriger Stimmung sein. In der Wüste, sehen Sie, da ist alles, und da ist nichts...‹ – ›Immerhin, erklären Sie mir...‹ – ›Na ja‹, sagte er und ließ sich in einer Bewegung der Ungeduld gehen, ›da ist Gott ohne die Menschen.«‹
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SARRASINE
I
ch war in eine jener tiefen Träumereien versunken, in die jedermann, sogar ein frivoler Mensch, mitten in den rauschendsten Festen verfällt. Die Uhr des Elysée-Bourbon hatte gerade Mitternacht geschlagen. Ich saß in einer Fensternische hinter den sich sanft bewegenden Falten eines Moirévorhangs, der mich verbarg, und konnte nach Belieben in den Park des Stadtpalais, in dem ich den Abend verbrachte, hinabschauen. Die nur unvollkommen beschneiten Bäume hoben sich schwach von dem graugetönten Hintergrund ab, den ein bewölkter, kaum vom Mond weißlich überhauchter Himmel bildete. In dieser phantastischen Atmosphäre ähnelten sie irgendwie nur notdürftig in ihre Leichentücher gehüllten Gespenstern: ein gigantisches Ebenbild des berühmten ›Totentanzes‹. Wenn ich
mich nach der anderen Seite wandte, konnte ich mich an dem Tanz der Lebenden erfreuen, an einem glänzenden Salon mit Wänden, an denen Gold und Silber glitzerten, an schimmernden Kronleuchtern – 127 –
mit strahlenden Kerzen! Dort wimmelten, schwangen und flatterten schmetterlinghaft die hübschesten Pariser Frauen, die reichsten, die mit den höchsten Titeln: glanzvoll, prunkend, mit blendendem Diamantengefunkel, Blumen auf dem Kopf, auf den Brüsten, im Haar, über die Kleider verteilt, oder in Gewinden zu ihren Füßen. Das leichte Lusterschauern, die wollüstigen Schritte ließen die Spitzen, die Seidenstickereien, den Musselin um ihre köstlichen Hüften kreisen. Hier und dort drangen allzu lebhafte Blicke durch, verdunkelten ihre Lichter, das Feuer der Diamanten und machten Herzen, die bereits glühten, noch heißer. Es waren auch schon bedeutungsvolle Kopfbewegungen zu den Liebhabern hin zu erspähen, und ablehnende Gebärden zu den Ehemännern. Ausrufe der Spieler bei jedem unvorhergesehenen Ergebnis, das Klingen des Geldes mischten sich in die Musik und das Gemurmel der Plaudernden. Um die ohnehin schon von allem, was die Welt an Verführerischem darzubieten hat, trunkene Menge vollends zu betäuben, wirkten Parfümdunst und ein allgemeiner Rausch sich auf die betörte Einbildungskraft aus. So hatte ich also zur Rechten das düstere, schweigende Bild des Todes, zu meiner Linken die dezenten Bacchanalien des Lebens: hier die kalte, trübsinnige, trauernde Natur; dort von Freude erfüllte Menschen. Ich, auf der Grenze dieser beiden so unterschiedlichen Anblicke, die, da sie sich tausendfach auf die mannigfachste Weise wiederholen, Paris zur amüsantesten Stadt der Welt und der am meisten philosophischen machen, ich bildete ein moralisches buntes Allerlei, halb Lust, halb Todestrauer. Mit dem linken Fuß schlug ich den Takt, den andern glaubte ich in einem Sarg zu haben. Tatsächlich war mein Bein eiskalt von der Zugluft, die einem die eine Körperhälfte gefrieren läßt, während die andere die feuchte Wärme des Salons verspürt; so etwas widerfährt einem bei einem Ball häufig. »Monsieur de Lanty ist wohl noch nicht lange Besitzer dieses Stadtpalais?« »Doch. Vor bald zehn Jahren hat der Marschall de Carigliano es ihm verkauft...« »Ach so!« – 128 –
»Die Leute müssen ein riesiges Vermögen haben!« »Ja, das muß der Fall sein.« »Was für ein Fest! Ein geradezu unverschämter Luxus.« »Halten Sie sie für ebenso reich wie Monsieur de Nucingen oder Monsieur de Gondreville?« »Aber sind Sie denn nicht im Bilde?« Ich streckte den Kopf vor und erkannte in den beiden Gesprächspartnern Angehörige der Clique von Neugierigen, die sich in Paris ausschließlich mit dem Warum?, dem Wieso?, Woher kommt er?, Was für Leute sind das?, Was ist los?, Was hat sie angestellt? befassen. Sie fingen jetzt an, leiser zu sprechen, und entfernten sich, um auf irgendeinem abseits stehenden Sofa ungestörter plaudern zu können. Niemals hatte sich für auf Geheimnisse Erpichte eine ertragreichere Mine aufgetan. Es wußte nämlich niemand, woher die Familie de Lanty gekommen war, noch aus welchem Handelszweig, welcher Plünderung, welcher Piraterie oder Erbschaft ihr Vermögen stammte, das auf mehrere Millionen geschätzt wurde. Sämtliche Mitglieder jener Familie sprachen Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch und Deutsch, und zwar so vollendet, daß zu vermuten stand, sie hätten sich längere Zeit unter diesen verschieden gearteten Völkern aufgehalten. Waren sie Zigeuner? Waren sie Seeräuber? »Und wenn es mit dem Teufel zuginge«, sagten junge Politiker, »ihre Empfänge sind wunderbar!« »Auch wenn der Graf de Lanty eine Kasbah ausgeplündert hätte, ich würde dennoch seine Tochter heiraten!« hatte ein Philosoph gerufen. Wer hätte auch Marianina nicht heiraten mögen, ein sechzehnjähriges Mädchen, dessen Schönheit die Märchenträume orientalischer Dichter hatte Wirklichkeit werden lassen? Wie die Sultanstochter in der Geschichte von der Wunderlampe hätte sie verschleiert bleiben müssen. Ihr Gesang ließ die unvollkommenen Talente der Malibran, der Sontag, der Fodor verblassen, bei denen das Vorherrschen einer – 129 –
Eigenheit stets die Vollkommenheit des Gesamts ausgeschlossen hat, während Marianina im gleichen Maß Reinheit des Tons, Sensibilität, Ausgewogenheit der Agogik und der Intonation, Seele und Technik, Korrektheit und Gefühl zu vereinigen wußte. Dieses Mädchen verkörperte die geheime Poesie, die das gemeinsame Band aller Künste ist, und die stets die flieht, die sie suchen. Marianina war sanft und bescheiden, gebildet und geistvoll und vermochte von niemandem überschattet zu werden, wenn nicht von ihrer Mutter. Seid ihr jemals Frauen begegnet, deren sprühende Schönheit den Attacken des Alters Trotz bietet und die mit sechsunddreißig Jahren noch begehrenswerter wirken, als sie es fünfzehn Jahre früher gewesen sind? Ihr Antlitz ist eine von Leidenschaft durchglühte Seele, es funkelt; jeder Zug darin schimmert von Intelligenz; jede Pore besitzt einen besonderen Glanz, zumal bei künstlichem Licht. Ihre verführerischen Augen locken, verweigern, sprechen oder schweigen; ihr Schreiten ist auf unschuldige Weise bewußt; ihre Stimme entfaltet die melodiösen Reichtümer der kokettesten süßen und zarten Tonfülle. Ihre sich auf Vergleiche gründenden Lobreden schmeicheln der Eigenliebe der Empfindlichsten. Eine Bewegung ihrer Brauen, ihr leisestes Augenspiel, ihre sich kräuselnde Lippe flößen denen einen Schrecken ein, die ihr Leben und ihr Glück von solcherlei Frauen abhängig machen. Ein in der Liebe unerfahrenes und dem gesprochenen Wort zugängliches Mädchen kann sich verführen lassen: aber für diese Art von Frauen muß ein Mann wie Jaucourt sich darauf verstehen, nicht aufzuschreien, wenn ihm beim Versuch, sich im Nebenzimmer zu verstecken, eine Zofe zwei Finger in einer Türspalte zerbricht. Diese mächtigen Sirenen lieben: heißt das nicht, sein Leben aufs Spiel setzen? Und eben deshalb lieben wir sie vielleicht so leidenschaftlich! So war die Gräfin de Lanty beschaffen. Filippo, Marianinas Bruder, besaß, wie seine Schwester, die wundervolle Schönheit der Gräfin. Um alles in einem Wort zu sagen: der junge Herr war ein lebendes Abbild des Antinous, nur von schlankerer Gestalt. Aber seine mageren, zarten Proportionen passen gut zur Jugend, wenn ein olivenfarbener Teint, kräftige Augenbrauen und – 130 –
das Feuer eines samtigen Auges für die Zukunft männliche Leidenschaften und großherzige Gedanken verheißen! Wenn Filippo in allen Mädchenherzen als ein Idealtyp verharrte, galt er auf gleiche Weise für die an ihn zurückdenkenden Mütter als die beste Partie Frankreichs. Schönheit, Vermögen, Geist und Anmut dieser beiden Kinder stammten einzig von ihrer Mutter her. Der Graf de Lanty war klein, häßlich und pockennarbig, düster wie ein Spanier, langweilig wie ein Bankier. Er galt übrigens als ein tiefsinniger Politiker, vielleicht, weil er nur selten lachte und in einem fort Metternich oder Wellington zitierte. Diese geheimnisvolle Familie besaß alles Anziehende einer Dichtung Lord Byrons, deren Schwierigkeiten von jedem der großen Welt angehörenden anders gedeutet wurde: von Strophe zu Strophe ein dunkler, erhabener Gesang. Die Zurückhaltung, die Monsieur und Madame de Lanty über ihren Ursprung, ihr früheres Leben und ihre Beziehungen zu den vier Weltteilen bewahrten, hätte in Paris nicht lange einen Gegenstand der Verwunderung gebildet. Vielleicht wird nirgendwo das Axiom Vespasians besser verstanden. Hier verraten die Taler, auch wenn sie mit Blut oder Schmutz befleckt sind, nichts und bedeuten alles. Wenn die gute Gesellschaft die Ziffer eures Vermögens kennt, werdet ihr unter die Summen, die der eurigen gleich sind, eingegliedert, und es fragt euch dann niemand nach Pergamenten, weil jeder weiß, wie wenig sie kosten. In einer Stadt, in der die sozialen Probleme nach algebraischen Gleichungen gelöst werden, haben die Abenteurer eben deswegen gute Möglichkeiten. Auch wenn die gute Gesellschaft annahm, jene Familie stamme von Zigeunern ab, war sie doch so reich, so anziehend, daß man ihr ihre kleinen Geheimnisse gut und gern verzeihen konnte. Leider jedoch bot die rätselhafte Geschichte des Hauses Lanty der Neugier unablässig Stoff, fast so wie die Romane der Anne Radcliffe. Leuten mit wachen Augen, solchen, die Wert darauf legen, zu erfahren, in welchem Geschäft man seine Kandelaber kauft, oder die einen nach dem Mietpreis fragen, wenn sie unsere Wohnung schön – 131 –
finden, war dann und wann bei Festen, Konzerten, Bällen und Empfängen, die die Gräfin veranstaltete, das Erscheinen einer befremdlichen Persönlichkeit aufgefallen. Es handelte sich um einen Mann. Das erstemal zeigte er sich in dem Stadtpalais gelegentlich eines Konzerts; anscheinend hatte Marianinas zauberhafte Stimme ihn in den Salon gelockt.
»Seit ein paar Augenblicken ist mir kalt«, sagte eine nahe der Tür sitzende Dame zu ihrer Nachbarin. Der Unbekannte, der neben jener Dame stehengeblieben war, ging weiter. »Wie sonderbar! Jetzt ist mir wieder warm«, sagte die Dame, als der Fremde sich entfernt hatte. »Und Sie halten mich vielleicht für närrisch, aber ich kann nicht umhin, zu glauben, daß mein Nachbar, der schwarzgekleidete Herr, der eben weggegangen ist, die Ursache meines Kältegefühls war.« Bald ließ die bei Leuten der guten Gesellschaft angeborene Übertreibungssucht die amüsantesten Ideen, die absonderlichsten Redereien, die lächerlichsten Geschichten über diese geheimnisvolle – 132 –
Persönlichkeit entstehen. Ohne geradezu ein Vampir, ein gespenstischer Leichenfresser, ein Homunkulus, eine Art Faust oder Robin Hood zu sein, hatte er, wie die Liebhaber des Phantastischen behaupten, von all diesen anthropomorphen Gestalten etwas an sich. Hin und wieder fanden sich Deutsche, die diesen geistvollen Ulk der Pariser bösen Zungen für bare Münze nahmen. Dabei war jener Fremde lediglich ein alter Mann. Mehrere unter den jungen Leuten, die es gewohnt sind, allmorgendlich mit ein paar eleganten Redensarten über die Zukunft Europas zu entscheiden, wollten in dem Unbekannten irgendeinen großen Verbrecher und den Besitzer unermeßlicher Reichtümer sehen. Romanschriftsteller erzählten das Leben des Greises und tischten wahrhaft merkwürdige Einzelheiten über die wüsten Taten auf, die er begangen haben sollte, als er im Dienst des Fürsten von Mysore gestanden habe. Bankiers, positiver eingestellte Leute, verbreiteten eine glaubhaftere Legende: »Pah!« sagten sie und zuckten in einer mitleidigen Bewegung die breiten Achseln, »der kleine Alte hat einen Genueser Kopf!« »Wenn es nicht indiskret ist, hätten Sie dann wohl die Güte, mir zu erklären, was Sie unter einem Genueser Kopf verstehen?« »Das ist jemand, an dessen Leben riesige Kapitalien gebunden sind und auf dessen guter Gesundheit sicherlich die Einkünfte dieser Familie beruhen.« Ich erinnere mich, bei Madame d'Espard einem Magnetiseur gelauscht zu haben, der mittels vollauf glaubwürdiger historischer Erwägungen bewies, daß dieser alte Mann, unter die Lupe genommen, kein anderer als der berüchtigte Balsamo, genannt Cagliostro, sei. Dieser moderne Alchimist behauptete, der sizilische Abenteurer sei dem Tode entschlüpft und belustige sich damit, für seine Enkelkinder Gold zu machen. Der Amtmann von Pfirt behauptete, er habe in dieser eigentümlichen Persönlichkeit den Grafen von SaintGermain wiedererkannt. Diese Abgeschmacktheiten, die in dem geistreichelnden Ton und mit der spöttischen Miene vorgebracht wurden, wie sie heutzutage für eine glaubenslose Gesellschaft bezeichnend sind, nährten vage Gerüchte über die Familie de Lanty. – 133 –
Schließlich rechtfertigten die Mitglieder jener Familie durch ein seltsames Zusammentreffen von Umständen die Mutmaßungen der Gesellschaft, weil sie nämlich ein recht mysteriöses Verhalten dem alten Mann gegenüber zur Schau trugen, dessen Leben sich irgendwie allen Nachforschungen entzog. Überschritt diese Persönlichkeit die Schwelle der Wohnung, die sie, wie vermutet wurde, im Palais Lanty bewohnte, so verursachte ihr Erscheinen in der Familie stets große Aufregung. Man hätte meinen können, es sei ein Ereignis von höchster Bedeutung. Einzig Filippo, Marianina, Madame de Lanty sowie ein alter Diener genossen den Vorzug, dem Unbekannten beim Gehen, beim Aufstehen und beim Sichsetzen behilflich zu sein. Sie alle überwachten seine geringsten Bewegungen. Es hatte den Anschein, als sei er ein verzaubertes Wesen, von dem das Glück, das Leben oder das Vermögen aller abhing. Geschah es aus Furcht oder aus Zuneigung? Die Gesellschaft konnte keinen Hinweis entdecken, der ihr zur Lösung dieses Problems hätte dienlich sein können. Monatelang blieb dieser Hausgeist in einem unbekannten Sanktuarium versteckt und kam daraus nur ganz plötzlich und flüchtig hervor, unerwartet, und erschien inmitten der Gesellschaftsräume wie die Feen alter Zeiten, die von ihren geflügelten Drachen herabstiegen, um die Festlichkeiten zu stören, zu denen sie nicht geladen worden waren. Dann konnten nur die geübtesten Beobachter die Beunruhigung ihrer Gastgeber wahrnehmen, die, was sie empfanden, mit eigenartiger Geschicklichkeit zu verbergen verstanden. Manchmal indessen warf die allzu naive Marianina, ohne die Quadrille zu unterbrechen, einen von Grauen erfüllten Blick auf den Alten, den sie inmitten der Gästegruppen beobachtete. Oder Filippo schob sich rasch durch die Menge und trat zu ihm, blieb zärtlich und aufmerksam bei ihm, als könne die Berührung mit Menschen oder der leiseste Hauch dies absonderliche Wesen zerbrechen. Die Gräfin versuchte, sich ihm zu nähern, ohne dabei den Anschein zu erwecken, sie gehe absichtlich zu ihm hin; sie nahm dann ein Gehaben und einen Gesichtsausdruck an, der ebensosehr von Dienstfertigkeit wie Zärtlichkeit, von Unterwürfigkeit wie Despotismus geprägt war, sprach ein paar Worte, denen der Alte sich – 134 –
fast immer fügte; er verschwand, von ihr geleitet, oder besser: weggeschleppt. Wenn Madame de Lanty nicht anwesend war, wandte der
Graf tausend Listen an, um an ihn heranzukommen; aber dann sah es aus, als könne der Graf sich nur schwer verständlich machen, und er behandelte den Alten, als sei er ein verzogenes Kind, dessen Launen die Mutter hinnimmt oder dessen Aufsässigkeit sie fürchtet. Als ein paar Taktlose sich herausgenommen hatten, den Grafen de Lanty unverblümt zu fragen, hatte es den Anschein gehabt, als sei der kalte, zurückhaltende Herr außerstande, die Fragen der Neugierigen zu verstehen. Daher trachtete nach so vielen Versuchen, die die Wachsamkeit aller Familienmitglieder zuschanden gemacht hatte, niemand mehr danach, ein so wohlbehütetes Geheimnis zu enthüllen. Die Salonspitzel, die Einfaltspinsel und Politiker waren schließlich – des Krieges satt – übereingekommen, sich nicht mehr mit diesem Geheimnis zu befassen. Aber trotzdem gab es vielleicht gerade jetzt in diesen strahlenden Salons Philosophen, die, während sie ein Eis, einen Sorbet nahmen – 135 –
oder ihr leeres Punschglas auf eine Konsole stellten, zueinander sagten: »Es würde mich nicht weiter wundern, wenn ich erführe, diese Leute seien Gauner. Dieser Alte, der sich verborgen hält und nur zur Tag- und Nachtgleiche oder zur Sonnenwende zum Vorschein kommt, sieht mir ganz nach einem Mörder aus...« »Oder nach einem Bankrotteur...« »Das ist beinah dasselbe. Einen Menschen um sein Vermögen bringen ist gelegentlich schlimmer als ihn umzubringen.« »Ich habe zwanzig Louis gesetzt; ich bekomme vierzig heraus.« »Du lieber Himmel, es liegen doch nur dreißig auf dem Tisch.« »Ha! Da können Sie sehen, was für eine gemischte Gesellschaft hier verkehrt. Nicht mal richtig spielen kann man hier.« »Stimmt. Aber jetzt haben wir schon seit bald einem halben Jahr den ›Geist‹ nicht mehr zu Gesicht bekommen. Glauben Sie, daß er ein lebendiges Wesen ist?« »Haha! Höchstens...« Diese letzten Worte waren ganz in meiner Nähe von Unbekannten gesprochen worden, die in dem Augenblick weggingen, da ich meine aus Schwarz und Weiß, Leben und Tod gemischten Betrachtungen in einem letzten Gedanken hatte zusammenfassen wollen. Meine tolle Phantasie sowie meine Augen schauten im gleichen Maß abwechselnd auf das festliche Treiben, das den höchsten Grad seines Glanzes erreicht hatte, und auf das düstere Bild der Parks. Ich weiß nicht, wie lange ich über diese beiden Seiten der menschlichen Medaille nachgegrübelt hatte; aber plötzlich wurde ich durch das unterdrückte Auflachen einer jungen Frau erweckt. Ich war sprachlos beim Gewahren des Bildes, das sich meinen Blicken darbot. Durch eine der seltensten Launen der Natur war der Halbtrauer tragende Gedanke, der sich in meinem Hirn getummelt hatte, daraus hervorgetreten, er stand vor mir, Gestalt geworden, lebendig, er war ihm entsprungen wie Minerva dem Haupt des Jupiter, groß und stark, er – 136 –
war zugleich hundert Jahre und zwanzig Jahre alt, lebendig und tot. Der kleine Greis war seinem Zimmer entschlüpft wie ein Geisteskranker seiner Zelle; sicherlich hatte er sich geschickt hinter einer Reihe von Leuten hindurchgeschlängelt, die andächtig Marianinas Stimme lauschten; sie beendete gerade die Kavatine aus ›Tankred‹. Er mutete an, als sei er der Versenkung entstiegen, durch irgendeinen Bühnenmechanismus emporgehoben. Unbeweglich und düster stand er eine Weile da und musterte das Fest, dessen Rauschen vielleicht an sein Ohr gedrungen war. Seine fast nachtwandlerische Versunkenheit hatte sich so sehr auf die Außendinge konzentriert, daß er sich inmitten der Gesellschaft befand, ohne sie wahrzunehmen. Ohne weitere Umstände war er neben einer der entzückendsten Pariser Frauen aufgetaucht, einer eleganten, jungen Tänzerin von köstlichen Körperformen und einem Gesicht, das jung und frisch war wie das eines Kindes, jung und rosig, und dabei so zart, so durchsichtig, daß ein Männerblick es zu durchdringen schien wie Sonnenstrahlen reines Glas. Da standen sie vor mir, die beiden, dicht nebeneinander, vereint und so eng, daß der Fremde das Tüllkleid, die Blumengewinde, das leicht gelockte Haar und die wehende Schärpe streifte. Ich hatte jene junge Dame auf dem Ball der Madame de Lanty geführt. Da sie zum erstenmal in dieses Haus gekommen war, verzieh ich ihr ihr unterdrücktes Auflachen; aber ich gab ihr rasch irgendeinen gebieterischen Wink, der sie stumm machte und ihr Respekt für den neben ihr Stehenden einflößte. Sie setzte sich zu mir. Der Alte wollte das liebreizende Geschöpf nicht verlassen, an das er sich eigensinnig und mit der stummen, anscheinend ursachlosen Beharrlichkeit angeschlossen hatte, deren sehr alte Leute fähig sind und die sie Kindern ähnlich macht. Um sich neben die junge Dame setzen zu können, mußte er sich einen Faltstuhl heranziehen. Seine spärlichsten Bewegungen waren durch die kalte Schwerfälligkeit, die stupide Unentschlossenheit gekennzeichnet, die für die Gesten eines Paralytikers typisch sind. Langsam, äußerst vorsichtig ließ er sich auf seinen Sitz nieder und brummelte dabei ein paar unverständliche Worte. Seine geborstene Stimme klang wie das Geräusch eines in einen Brunnen fallenden Steins. Die junge Dame drückte mir heftig – 137 –
die Hand, als suche sie Halt am Rand eines Abgrunds, und sie erbebte, als jener Mann, den sie anschaute, ihr zwei Augen ohne Glanz zuwandte, zwei seegrüne Augen, die sich nur mit unpoliertem Perlmutter vergleichen ließen. »Ich habe Angst«, flüsterte sie, sich zu mir neigend. »Sie können laut sprechen«, antwortete ich. »Er ist sehr schwerhörig.« »Kennen Sie ihn denn?« »Ja.« Da faßte sie hinreichend Mut, um eine Weile dieses Geschöpf zu betrachten, für das die menschliche Sprache keinen Namen hat, diese Form ohne Substanz, dieses Sein ohne Leben, oder Leben ohne Tatkraft. Sie stand im Bann der ängstlichen Neugier, die die Frauen dazu treibt, sich gefährliche Erregungen zu verschaffen, sich Tiger hinter Gittern anzuschauen, oder Boas, und dabei Grauen zu empfinden, daß sie von ihnen nur durch schwache Schranken getrennt sind. Obwohl der Rücken des kleinen Greises gekrümmt war wie der eines Tagelöhners, ließ sich ohne weiteres wahrnehmen, daß sein Wuchs einmal der übliche gewesen sein müsse. Seine übertriebene Magerkeit, die Zartheit seiner Glieder bewies, daß er stets schlank gewesen war. Er trug eine schwarzseidene Kniehose, die seine fleischlosen Schenkel umschlotterte und dabei Falten bildete wie ein gerafftes Segel. Ein Anatom hätte auf der Stelle die Symptome eines grausigen Muskelschwunds erkannt, wenn er die Beinchen erblickt hätte, die diesen befremdlichen Körper trugen. Es war, als lägen zwei Knochen kreuzweise auf einem Grab. Ein Gefühl tiefen Grauens vor diesem Mann überkam das Herz, wenn ein fatales Hinschauen einem die Merkmale enthüllte, die die Hinfälligkeit diesem Ungewissen Mechanismus aufgeprägt hatte. Der Unbekannte trug eine weiße, goldgestickte, altmodische Weste, und seine Wäsche war blendend weiß. Ein rötlichgelbes Jabot aus englischer Spitze, dessen Kostbarkeit den Neid einer Königin erregt hätte, bildete auf seiner Brust ein gelbes Gefältel; aber bei ihm mutete jenes Spitzengespinst eher wie ein Lumpen als wie ein Schmuck an. Mitten auf dem Jabot strahlte ein – 138 –
Diamant von unermeßlichem Wert wie die Sonne. Dieser altmodische Luxus, dieser nur an sich kostbare, geschmacklose Schatz hoben das Gesicht dieses bizarren Wesens noch mehr hervor. Der Rahmen war des Porträts würdig. Das dunkle Gesicht war winklig und ausgehöhlt in jedem Sinne. Das Kinn war hohl; die Schläfen waren hohl, die Augen saßen tief in gelblichen Höhlen. Infolge der unbeschreiblichen Magerkeit sprangen die Backenknochen vor und ließen auf jeder Wange Höhlungen entstehen. Diese mehr oder weniger vom Kerzenschein beleuchteten Buckel erzeugten seltsame Schatten und Glanzlichter, die vollends dazu beitrugen, aus diesem Gesicht das für das menschliche Antlitz Bezeichnende zu verbannen. Zudem hatten die Jahre die gelbe, dünne Haut dieses Gesichts so fest an die Knochen geklebt, daß sie überall eine Fülle von Falten oder Kreisen bildeten, wie die Wellen einer Wasserfläche, die durch einen von einem Jungen hineingeworfenen Stein aufgestört wird, oder sternförmig wie eine gesprungene Fensterscheibe, immer jedoch tief und aneinander gepreßt wie die Seiten am Schnitt eines Buches. Manche alte Männer bieten uns oftmals ein noch häßlicheres Bild dar; was hier indessen am meisten dazu beitrug, dem vor uns aufgetauchten Gespenst den Anschein eines künstlichen Gebildes zu verleihen, war das auf ihm glänzende Rot und Weiß. Die Brauen seiner Maske erhielten vom Kerzenlicht einen Glanz, der eine sehr sorgfältig durchgeführte Schminkarbeit erkennen ließ. Zum Glück für den traurig stimmenden Anblick von so viel Zerstörtem war sein leichenhafter Schädel unter einer blonden Perücke verborgen, deren unzählige Locken von einer ungewöhnlichen Eitelkeit zeugten. Übrigens wurde die weibliche Koketterie dieser phantasmagorischen Persönlichkeit ziemlich energisch durch die Goldringe betont, die ihm an den Ohrläppchen hingen, durch Ringe, deren wundervolle Steine an seinen knochenhaften Fingern schimmerten, sowie durch eine Uhrkette, die funkelte wie eine Brillantenschnur auf einem Frauenhals. Schließlich hatte dies an ein japanisches Götzenbild erinnernde Wesen auf seinen bläulichen Lippen ein erstarrtes, fest gewordenes Grinsen, ein unversöhnliches, höhnisches Grinsen wie das eines Totenkopfs. Stumm und reglos wie eine Statue saß er da und – 139 –
strömte den Moschusduft alter Kleider aus, die die Erben einer Herzogin beim Ordnen des Nachlasses aus den Schubfächern nehmen. Wenn der Alte die Augen auf die Festgäste richtete, hatte es den Anschein, als würden diese Kugeln, die außerstande waren, Licht zurückzustrahlen, mittels einer nicht wahrnehmbaren Maschinerie bewegt. Sah man neben diesem menschlichen Wrackstück nun aber eine junge Frau, deren Hals, Arme und Brustansatz nackt und weiß waren; deren üppige, in Schönheit erblühten Formen, deren über einer Alabasterstirn gefällig sich wellendes Haar Liebe einflößten, deren Augen kein Licht empfingen, sondern ausstrahlten, die von köstlicher Anmut und jung war, und deren duftige Locken, deren balsamischer Atem zu schwer, zu stark, zu mächtig für diesen Schatten zu sein schienen, diesen schon zu Staub gewordenen Mann, ja, dann hatte man Tod und Leben vor sich, meinen Gedanken, eine imaginäre Arabeske, eine Chimäre, zur Hälfte Abscheu erregend, durch den Oberleib auf göttliche Weise weiblich. Dabei gibt es solche Ehen in der großen Welt ziemlich häufig, sagte ich mir. »Er riecht nach Friedhof«, rief die junge Frau erschrocken und drängte sich an mich, als wolle sie sich meines Schutzes versichern; ihre stürmischen Bewegungen ließen erkennen, daß sie große Angst hatte. – »Ein grausiger Anblick ist das«, fuhr sie fort, »ich möchte nicht länger hierbleiben. Wenn ich ihn noch weiterhin anschaue, könnte ich glauben, der Tod sei gekommen und wolle mich holen. Ist er denn überhaupt lebendig?« Mit der Kühnheit, die die Frauen aus der Heftigkeit ihrer Begierden schöpfen, legte sie die Hand auf das Phänomen; aber aus ihren Poren brach kalter Schweiß, denn als sie den Alten berührte, hatte sie einen Aufschrei vernommen, der wie eine Schnarre klang. Die schrille Stimme, sofern es überhaupt eine Stimme war, entrang sich einer fast ausgetrockneten Kehle. Dem Aufschrei folgte sogleich ein konvulsivisches Kinderhüsteln von ganz besonderer Klangfarbe. Auf dieses Geräusch hin warfen Marianina, Filippo und Madame de Lanry uns Blicke zu, die wie Blitze waren. Die junge Frau hätte am liebsten auf – 140 –
dem Grund der Seine gelegen. Sie nahm meinen Arm und zog mich in ein Boudoir. Herren und Damen, jedermann machte uns Platz. Als wir am Ende der Empfangsräume angelangt waren, betraten wir ein kleines, halbkreisförmiges Kabinett. Meine Begleiterin warf sich auf einen Diwan, sie bebte vor Entsetzen, ohne daß sie wußte, wo sie sich befand. »Sie sind ja völlig außer sich«, sagte ich zu ihr. »Ja«, entgegnete sie nach einem kurzen Schweigen, währenddessen ich sie verwundert anschaute, »ist das etwa meine Schuld? Warum läßt Madame de Lanty Wiedergänger in ihrem Palais umherirren?« »Aber, aber«, antwortete ich, »Sie reden ja wie nicht klug. Sie halten einen kleinen, alten Mann für ein Gespenst.« »Schweigen Sie«, antwortete sie mit der imposanten, spöttischen Miene, die alle Frauen so vortrefflich aufzusetzen verstehen, wenn sie recht haben wollen. – »Wie hübsch dieses Boudoir ist!« rief ich und hielt Umschau. »Blauer Satin als Wandbespannung macht sich stets wunderbar. Wie kühl er wirkt! Ach, das schöne Bild!« fügte sie hinzu, stand auf und trat vor das prächtig gerahmte Gemälde hin. Wir verharrten eine Weile in der Betrachtung dieses Wunderwerks, das ein übernatürlicher Pinsel geschaffen zu haben schien. Das Bild stellte den auf einem Löwenfell hingelagerten Adonis dar. Die in der Mitte des Boudoirs hängende Lampe, eine Alabasterschale, beleuchtete das Bild mit einem sanften Schimmer, der es uns ermöglichte, alle Schönheiten der Malerei in uns aufzunehmen. »Gibt es wirklich ein Menschenwesen von solcher Vollkommenheit?« fragte sie mich, nachdem sie mit einem lieblichen Lächeln des Einverständnisses die erlesene Anmut der Konturen, die Haltung, die Tönung, das Haar, kurzum alles betrachtet hatte. »Er ist zu schön für einen Mann«, fuhr sie fort; sie hatte das Bild gemustert, als sei es eine Rivalin.
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Oh, wie verspürte ich jetzt das Aufwallen der Eifersucht, an die mich glauben zu lassen ein Dichter vergebens versucht hatte: die Eifersucht auf Kupferstiche, Gemälde, Statuen, in denen die Künstler die menschliche Schönheit übersteigern, auf Grund der Doktrin, die sie dazu treibt, alles zu idealisieren. »Es ist ein Porträt«, antwortete ich ihr. »Wir verdanken es dem Talent Viens. Aber dieser große Maler hat das Original nie gesehen, und Ihre Bewunderung dürfte sich mindern, wenn Sie erfahren, daß dieses Aktbild nach einer Frauenstatue gemalt worden ist.« »Aber wen stellt es dar?« Ich zögerte. »Ich will es wissen«, beharrte sie lebhaft. »Ich glaube«, sagte ich, »daß dieser Adonis einen... einen... einen Verwandten der Madame de Lanty darstellt.« Voller Schmerz sah ich, wie sie sich in die Betrachtung dieser Gestalt versenkte. Schweigend saß sie da, ich setzte mich neben sie und nahm ihre Hand, ohne daß sie sich dessen gewahr wurde! Vergessen um eines Bildnisses willen! In diesem Augenblick war in der Stille das leise Geräusch der Schritte einer Frau zu vernehmen, deren Kleid raschelte. Wir sahen die junge Marianina herzukommen, sie wirkte noch strahlender durch ihren unschuldigen Gesichtsausdruck als durch ihre Anmut und ihr jugendliches Kleid; sie ging langsam, und sie hielt mit mütterlicher Fürsorglichkeit und töchterlicher Besorgtheit das bekleidete Gespenst an der Hand, das uns aus dem Musiksalon hatte fliehen lassen; sie geleitete es und beobachtete mit einer Art Unruhe, wie es langsam die entkräfteten Füße setzte. Beide gelangten ziemlich mühselig an eine in der Wandbespannung verborgene Tür. Marianina klopfte behutsam an. Sogleich erschien, wie durch Magie, ein großer, dürrer Mann, eine Art Hausgeist. Ehe das junge Mädchen den Greis diesem geheimnisvollen Hüter anvertraute, küßte sie ehrerbietig diesen wandelnden Leichnam, und dieser keuschen Lieb– 142 –
kosung wohnte etwas von der anmutigen Schmeichelei inne, die das Geheimnis einiger bevorzugter Frauen ist. »Addio, addio!« sagte sie im reizendsten Tonfall ihrer jungen Stimme. Sie fügte der letzten Silbe sogar einen bewundernswürdig gut, aber leise ausgeführten Triller an; es war, als wolle sie das Überströmen ihres Herzens durch einen poetischen Ausdruck schildern. Als werde er plötzlich von irgendeiner Erinnerung heimgesucht, blieb der alte Mann auf der Schwelle des geheimen Gemachs stehen. In der tiefen Stille vernahmen wir jetzt einen schweren Seufzer seiner Brust entsteigen: er streifte den schönsten der Ringe, mit denen seine Skelettfinger beladen waren, ab und ließ ihn zwischen Marianinas Brüste gleiten. Die junge Närrin fing zu lachen an, zog den Ring wieder hervor, schob ihn über den Handschuh an einen Finger und ging eilends auf den Salon zu, aus dem gerade die Einleitungstakte eines Kontertanzes erklangen. Sie gewahrte uns. »Oh! Sie waren dabei?« fragte sie errötend. Nachdem sie uns angeschaut hatte, als wolle sie uns ausfragen, lief sie mit dem sorglosen Ungestüm ihres Alters auf ihren Tänzer zu. »Was bedeutet dies alles?« fragte mich meine junge Begleiterin. »Ist er ihr Mann? Ich glaube zu träumen. Wo bin ich?« »Sie!« antwortete ich, »Sie, die Sie außer sich sind; Sie, die Sie so gut die unmerklichsten Regungen verstehen, die Sie in einem Männerherzen das köstlichste der Gefühle erblühen zu lassen wissen, ohne es zum Welken zu bringen, ohne es gleich am ersten Tag zu knicken; Sie, die Sie Mitleid mit Herzensnöten haben, die Sie mit dem Geist einer Pariserin eine leidenschaftliche Seele vereinen, wie sie Italiens und Spaniens würdig wäre...« Sie merkte nur zu gut, daß meine Redeweise von bitterer Ironie durchtränkt war; und da, ohne den Anschein zu erwecken, als sei sie sich dessen bewußt, unterbrach sie mich und sagte: »Oh, Sie schaffen mich nach ihrem Gefallen um. Merkwürdige Tyrannei! Sie wollen, daß ich nicht ich bin.« – 143 –
»Gar nichts will ich!« rief ich, den ihre strenge Haltung erschreckte. »Stimmt es nicht wenigstens, daß Sie nur zu gern die Geschichte der mächtigen Leidenschaften erzählen hören möchten, die die entzückenden Frauen des Südens in unseren Herzen erstehen lassen?« »Doch. Ja, und?« »Gut, dann komme ich morgen abend gegen neun zu Ihnen und enthülle Ihnen das Geheimnis.« »Nein«, antwortete sie mit rebellischer Miene, »ich will es auf der Stelle erfahren.« »Sie haben mir noch nicht das Recht verliehen, Ihnen zu gehorchen, wenn Sie sagen: Ich will.« »Jetzt eben«, antwortete sie mit einer Koketterie, die einen zur Verzweiflung treiben konnte, »verspüre ich das lebhafteste Verlangen, das Geheimnis kennenzulernen. Vielleicht würde ich Ihnen morgen nicht zuhören...« Sie lächelte, und wir trennten uns; sie wie stets stolz und abweisend und ich in diesem Augenblick genauso lächerlich wie stets. Sie hatte die Kühnheit; mit einem jungen Adjutanten Walzer zu tanzen, und ich wechselte ab mit Wut, Schmollen, Bewunderung, Verliebtheit, Eifersucht. »Also morgen«, sagte sie um zwei Uhr morgens zu mir, als sie den Ball verließ. Ich gehe nicht hin, dachte ich, und ich lasse dich sitzen. Du bist vielleicht noch tausendmal launischer und wunderlicher... als meine Phantasie. Am folgenden Tage saßen wir beide in einem kleinen, eleganten Salon vor einem guten Kaminfeuer; sie auf einer Causeuse, ich auf Kissen beinahe zu ihren Füßen, meine Augen unter den ihrigen. Auf der Straße war es still. Die Lampe warf milden Schein. Es war ein für die Seele köstlicher Abend, einer der Augenblicke, die man nie wieder vergißt, eine der Stunden, die in Frieden und Verlangen hin– 144 –
gehen und deren Zauber später stets einen Gegenstand der Sehnsucht bildet, auch wenn man dann glücklicher ist. Wer vermag den lebhaften Eindruck der ersten dringlichen Bitten der Liebe auszulöschen? »Los jetzt«, sagte sie. »Ich höre zu.« »Ja, ich wage aber nicht, anzufangen. In dem Abenteuer kommen Stellen vor, die für den Erzähler gefährlich werden könnten. Wenn ich in Begeisterung gerate, gebieten Sie mir womöglich Schweigen.« »Fangen Sie doch an.« »Wie Sie wollen.« »Ernest-Jean Sarrasine war der einzige Sohn eines Sachwalters in der Franche-Comté«, begann ich nach einer Pause. »Sein Vater hatte verhältnismäßig ehrenhaft sechs- bis achttausend Francs Rente verdient, was als Vermögen eines Provinzanwalts damals als kolossal galt. Der alte Advokat Sarrasine hatte nur dies eine Kind und wollte bei dessen Erziehung nichts verabsäumen; er hoffte, aus ihm einen Richter zu machen und lange genug zu leben, um in seinen alten Tagen zu sehen, wie der Enkel des Matthieu Sarrasine, eines Bauern in der Gegend von Saint-Dié, auf dem Richterstuhl mit dem Lilienwappen saß und zum höchsten Ruhm der Juristerei während der Sitzung schlief; aber der Himmel enthielt dem Sachwalter diese Freude vor. Der junge Sarrasine, der beizeiten den Jesuiten anvertraut worden war, bekundete ein ungewöhnliches Ungestüm. Seine Kindheit war die eines Mannes von Talent. Er wollte nur lernen, wenn es ihm gerade paßte, rebellierte oft und blieb bisweilen ganze Stunden in wirre Grübeleien versunken; bald war er beschäftigt, seinen Kameraden bei ihren Spielen zuzuschauen, bald damit, sich die homerischen Helden vorzustellen. Wenn es ihm in den Sinn kam, sich zu zerstreuen, betrieb er seine Spiele mit außerordentlichem Eifer. Kam es zu einer Prügelei zwischen einem Kameraden und ihm, so endete der Kampf nur selten, ohne daß dabei Blut geflossen wäre. War er der Schwächere, so biß er. Er war abwechselnd tätig oder passiv, unbegabt oder allzu intelligent, und so machte sein bizarrer Charakter – 145 –
ihn bei seinen Lehrern genauso gefürchtet wie bei seinen Kameraden. Anstatt die Grundelemente des Griechischen zu lernen, zeichnete er den ehrwürdigen Pater, der ihnen eine Thukydidesstelle erklärte, skizzierte den Mathematiklehrer, den Studienaufseher, die Schuldiener, den Superior und beschmierte alle Wände mit ungestalten Entwürfen. Anstatt in der Kirche das Lob des Herrn zu singen, amüsierte er sich während des Gottesdienstes damit, an einer Bank herumzuschnitzeln; oder, wenn er ein Stück Holz gestohlen hatte, schnitzte er eine weibliche Heiligenfigur. Fehlte es ihm an Holz, Stein oder Stift, modellierte er, was ihm einfiel, aus Brotkrumen. Sei es, daß er die Gestalten der Bilder kopierte, die den Chor schmückten, sei es, daß er improvisierte: immer hinterließ er auf seinem Platz plumpe Skizzen, deren Liederlichkeit sogar die jüngsten Patres zur Verzweiflung brachte; böse Zungen behaupteten, die alten Jesuiten lächelten darüber. Kurzum, wenn der Chronik des Instituts Glauben geschenkt werden darf, wurde er hinausgeworfen, weil er am Karfreitag, als er wartete, bis er am Beichtstuhl an die Reihe komme, aus einem dicken Holzscheit eine Christusfigur geschnitzt hatte. Die Gottlosigkeit, die aus dieser Statue sprach, war allzu stark, als daß sie dem Künstler keine Züchtigung eingetragen hätte. Hatte er nicht die Frechheit gehabt, jene hinlängliche zynische Figur oben auf das Tabernakel zu stellen? Gegen den ihm drohenden väterlichen Fluch suchte Sarrasine eine Zuflucht in Paris. Da er die starke Willenskraft besaß, die keine Hindernisse kennt, gehorchte er den Befehlen seines Genius und trat in Bouchardons Atelier ein. Er arbeitete den ganzen Tag über; abends erbettelte er sich seinen Lebensunterhalt. Bouchardon war begeistert von den Fortschritten und der Intelligenz des jungen Künstlers; er erriet bald das Elend, in dem sein Schüler dahinlebte; er unterstützte ihn, gewann ihn lieb und behandelte ihn, als sei er sein Sohn. Als dann Sarrasines Genie sich in einem Werke offenbart hatte, in denen die künftige Begabung gegen den Überschwang der Jugend ankämpft, versuchte der großherzige Bouchardon, ihn wieder mit dem alten Sachwalter auszusöhnen. Vor der Autorität des berühmten Bildhauers schwand der väterliche Zorn hin. Ganz Besançon beglückwünschte sich, einen künftigen großen – 146 –
Mann zur Welt gebracht zu haben. Im ersten Augenblick der Ekstase, in die der geizige Provinzanwalt durch seine geschmeichelte Eitelkeit versetzt worden war, gab er ihm die Mittel, vorteilhaft ausgestattet in der Gesellschaft zu erscheinen. Die langen, mühseligen Studien, die die Bildhauerkunst erfordert, zähmten längere Zeit hindurch den ungestümen Charakter und das wilde Genie Sarrasines. Bouchardon ahnte, mit welcher Heftigkeit die Leidenschaften sich in dieser jungen Seele entfesseln würden, die vielleicht so gewaltsam gehärtet werden mußte wie die Michelangelos; und so erstickte er ihre Ungebardigkeit unter unaufhörlicher Arbeit. Es gelang ihm, Sarrasines ungemeinen künstlerischen Schwung dadurch in den richtigen Grenzen zu halten, daß er ihm zu arbeiten verbot und vorschlug, sich doch Ablenkungen zu verschaffen, wenn er merkte, daß der Schüler vom Wüten eines Gedankens fortgerissen wurde, oder er vertraute ihm in dem Augenblick, da er drauf und dran war, sich einem Leben in Saus und Braus hinzugeben, wichtige Arbeiten an. Bei dieser leidenschaftlichen Seele war Sanftmut stets die mächtigste aller Waffen, und der Meister erlangte nur dann die Oberherrschaft über seinen Schüler, wenn er ihn durch väterliche Güte zur Dankbarkeit aufreizte. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren wurde Sarrasine gezwungenermaßen dem heilsamen Einfluß entzogen, den Bouchardon auf seine Moral und seinen Lebenswandel ausgeübt hatte. Er erhielt den Lohn für die Mühsal, die sein Genie ihm bereitet hatte, indem er den Bildhauerpreis gewann, der vom Marquis de Marigny, dem Bruder der Madame de Pompadour, der so viel für die Künste getan hat, gestiftet worden ist. Diderot hat die Statue von Bouchardons Schüler als ein Meisterwerk gerühmt. Nicht ohne Schmerz ließ der Bildhauer des Königs den jungen Menschen, den er, seinen Grundsätzen entsprechend, in tiefer Unkenntnis über die Dinge des Lebens gelassen hatte, nach Italien ziehen. Sarrasine war sechs Jahre lang Bouchardons Tischgenosse gewesen. Als ein Fanatiker seiner Kunst, wie später Canova, war er ums Morgengrauen aufgestanden, ins Atelier gegangen, hatte es erst bei Dunkelwerden wieder verlassen und nur mit seiner Muse gelebt. War er einmal in die Comédie-Française gegangen, so nur, wenn sein Meister ihn mit– 147 –
genommen hatte. Bei Madame Goeffrin und in der großen Welt, in die Bouchardon ihn einzuführen versuchte, hatte er sich so beklommen gefühlt, daß er lieber allein geblieben war und die Genüsse dieser lasterhaften Zeit verschmäht hatte. Er hatte keine Geliebten gehabt außer der Bildhauerkunst und Clotilde, eine der Berühmtheiten der Oper. Und dabei war dieses Verhältnis nicht einmal von Dauer gewesen. Sarrasine war ziemlich häßlich, immer schlecht gekleidet und von Charakter so ungehemmt, so regellos in seinem Privatleben, daß die illustre Nymphe aus Furcht vor irgendeiner Katastrophe den Bildhauer nur zu bald der Liebe zur Kunst zurückerstattet hatte. Sophie Arnoud hat darüber ein Witzwort geprägt. Wie ich glaube, hat sie sich gewundert, daß ihre Kollegin über die Statuen hatte triumphieren können. 1758 brach Sarrasine nach Italien auf. Unterwegs entflammte sich seine glühende Phantasie unter einem kupferfarbenen Himmel und beim Erblicken der wundervollen Bauwerke, mit denen die Heimat der Künste besät ist. Er bewunderte die Statuen, die Fresken, die Gemälde; und erfüllt vom Verlangen, zu wetteifern, langte er in Rom an, gepackt von dem Wunsch, seinen Namen zwischen den Michelangelos und den Bouchardons zu schreiben. Deswegen teilte er denn auch während der ersten Tage seine Zeit zwischen seinen Arbeiten im Atelier und der Besichtigung der Kunstwerke, von denen Rom überquillt. Schon hatte er vierzehn Tage in der Ekstase verbracht, die alle jungen phantasiebegabten Menschen überkommt, wenn sie die Königin der Ruinenstädte erblicken, als er eines Abends ins Argentina-Theater ging, vor dem sich eine große Menschenmenge drängte. Er erkundigte sich nach der Ursache dieser Ansammlung, und die Leute antworteten ihm mit zwei Namen: ›Zambinella! Jommelli!‹ Er geht hinein und nimmt im Parterre Platz, eingezwängt zwischen zwei bemerkenswert dicken Abbati; allein es war ein recht guter Platz nahe der Bühne. Der Vorhang ging auf. Zum erstenmal in seinem Leben hörte er die Musik, deren Köstlichkeit ihm Monsieur Jean-Jacques Rousseau bei einer Abendgesellschaft des Barons de Holbach so beredt gepriesen hatte. – 148 –
Die Sinne des jungen Bildhauers wurden durch die wundervollen, singenden Harmonien Jommellis gewissermaßen eingeölt. Das angeborene Schmachtende der italienischen Stimmen, die sich gewandt miteinander vermählten, tauchte ihn in eine wonnige Hingerissenheit. Stumm und reglos saß er da und spürte nicht einmal, daß er von den beiden Priestern arg gedrückt wurde. Seine Seele ging in seine Ohren und Augen über. Mit allen seinen Poren glaubte er zu lauschen. Plötzlich begrüßte ein Beifallsklatschen, das den Theaterraum zum Einsturz zu bringen schien, das Auftreten der Primadonna. Kokett trat sie an die Rampe und begrüßte das Publikum mit unendlicher Anmut. Die Beleuchtung, der Enthusiasmus eines ganzen Volkes, das Bühnenbild, der Zauber ihrer Gewandung, die zu jener Zeit recht verführerisch war, verschworen sich zugunsten dieser Frau.
Sarrasine stieß Schreie des Entzückens aus. Er bewunderte in diesem Augenblick die ideale Schönheit, deren Vollkommenheit er bislang in der Natur immer nur hier und dort gesucht hatte, indem er von einem oftmals vulgären Modell die Rundungen eines vollendeten Beins gefordert hatte, von einem anderen die Konturen der Brüste; – 149 –
von dieser die weißen Schultern; von einem jungen Mädchen hatte er den Hals genommen, von jener Frau die Hände, und die glatten Knie von einem Kind, ohne jemals unter dem frostigen Pariser Himmel den reichen, lieblichen Schöpfungen des antiken Griechenland zu begegnen. Die Zambinella zeigte ihm vereinigt, lebendig und zart, die erlesenen Proportionen des weiblichen Körpers, die er so glühend gewünscht hatte und deren strengster und gleichzeitig leidenschaftlichster Richter der Bildhauer ist. Der Mund war ausdrucksvoll, die Augen verhießen Liebe, der Teint war von blendender Weiße. Und man füge diesen Einzelheiten, die einen Maler entzückt hätten, alle Wunder der Venusstatuen hinzu, die die Griechen verehrt und mit dem Meißel nachgestaltet haben. Der Künstler wurde es nicht müde, die unnachahmliche Anmut anzustaunen, mit der die Arme sich der Büste anfügten, die bezaubernde Rundung des Halses, die harmonischen Linien, die die Augenbrauen beschrieben, die Nase, das vollkommene Oval des Gesichts, die Reinheit der lebensvollen Konturen, die Wirkung der dichten, aufgebogenen Wimpern, in die die breiten, wollüstigen Lider ausliefen. Dies war mehr als eine Frau, es war ein Meisterwerk! Diese unverhoffte Schöpfung barg Liebe, die alle Männer entzücken mußte, und Schönheit, um einem Kritiker genugzutun. Sarrasine verschlang mit den Blicken die Statue Pygmalions, die für ihn von ihrem Sockel herabgestiegen war. Als die Zambinella sang, erhob sich eine delirierende Begeisterung. Den Künstler durchschauerte es; dann spürte er, wie in den Tiefen seines Innern, das wir mangels eines anderen Wortes das Herz nennen, ein Glutherd aufprasselte! Er klatschte nicht Beifall, er sagte nichts, er empfand ein Aufwallen des Wahnsinns, eine Art Raserei, die uns in jenem Alter durchtobt, wo dem Begehren etwas Erschreckendes und Höllisches innewohnt. Sarrasine wollte sich auf die Bühne hinaufschwingen und sich dieser Frau bemächtigen. Seine durch einen seelischen Druck, den zu erklären unmöglich ist, da solcherlei Phänomene sich in einer der menschlichen Beobachtung unzugänglichen Sphäre vollziehen, verhundertfachte Kraft strebte danach, sich mit schmerzlicher Heftigkeit zu äußern. Hätte man ihn jetzt gesehen, so würde man ihn für – 150 –
einen kalten, stumpfen Menschen gehalten haben. Ruhm, Können, Zukunft, Dasein, Lorbeerkränze, alles zerbröckelte. – Von ihr geliebt werden oder sterben, das war der Urteilsspruch, den Sarrasine über sich selber aussprach. Er war so völlig berauscht, daß er weder den Zuschauerraum noch die Zuschauer, noch die Darsteller mehr sah, noch die Musik hörte. Besser gesagt: es bestand zwischen ihm und der Zambinella kein Abstand mehr, er besaß sie, seine an ihr haftenden Augen hatten sich ihrer bemächtigt. Eine beinah diabolische Macht ließ ihn den Atemhauch jener Stimme spüren, ihn den balsamischen Puder ihres Haars wittern, die Halbflächen ihres Gesichts sehen, die blauen Adern darin zählen, die ihre seidige Haut schattierten. Und dann die Stimme in ihrer Jugendlichkeit und mit ihrem silbrigen Klang, die geschmeidig war wie ein Spinnwebfaden, dem der leiseste Windhauch eine Form gibt, den er auf- und abrollt, entfaltet und auflöst, diese Stimme drang so heftig in seine Seele ein, daß er sich mehrmals unwillkürliche Schreie entschlüpfen ließ, wie konvulsivische Verzückung sie einem entreißt, die den menschlichen Leidenschaften allzu selten gewährt ist. Bald mußte er das Theater verlassen. Fast weigerten seine zitternden Beine sich, ihn zu tragen. Er war niedergeschlagen, schwach wie ein Nervenkranker, der einen entsetzlichen Wutanfall hinter sich hat. Er hatte eine solche Lust durchlebt oder vielleicht auch so viel durchlitten, daß sein Leben verronnen war wie Wasser aus einer umgestoßenen Vase. Er verspürte eine Leere in sich, ein Ausgelöschtsein wie die Schwächezustände, die die Genesenden nach schwerer Krankheit zur Verzweiflung bringen. Eine unerklärliche Traurigkeit hatte sich seiner bemächtigt; er mußte sich auf die Stufen einer Kirche setzen. Dort lehnte er den Rücken an eine Säule und verlor sich in ein Grübeln, das wirr war wie ein Traum. Als er wieder in seiner Behausung angelangt war, befiel ihn ein Schaffensrausch, der uns das Vorhandensein neuer Elemente in unserm Dasein ankündigt. Er war im Bann des ersten Liebesfiebers, das ebenso viel Lust wie Qual enthält; er wollte seine Ungeduld und seine Geistesverwirrung dadurch bändigen, daß er Zambinella aus dem Gedächtnis zeichnete. So entstand gleichsam ein Niederschlag seiner Meditationen. Das eine Blatt zeigte die Zam– 151 –
binella in jener dem Anschein nach ruhigen, kühlen Haltung, die Raffael, Giorgione und alle großen Maler geschätzt haben. Auf einem anderen wandte sie beim Vollenden einer Koloratur zart den Kopf zur Seite und schien sich selbst zu lauschen. In allen Posen zeichnete Sarrasine seine Geliebte: unverhüllt, sitzend, stehend, liegend, keusch oder amourös; durch das Delirieren seiner Stifte verwirklichte er alle kapriziösen Einfälle, in denen die Phantasie sich ergeht, wenn wir inständig an eine Geliebte denken. Aber seine wütenden Gedanken gingen weiter als die Zeichnung. Er sah die Zambinella vor sich, er sprach mit ihr, er flehte sie an, erschöpfte mit ihr tausend Lebensjahre des Glücks, brachte sie in jede erdenkliche Lage und kostete gewissermaßen die Zukunft mit ihr aus.
Am anderen Tag ließ er durch seinen Diener für die ganze Spielzeit eine Loge unmittelbar neben der Bühne mieten. Wie alle jungen Menschen mit kraftvoller Seele übertrieb er die Schwierigkeiten seines Unterfangens und spendete seiner Leidenschaft als erste Labung das Glück, die Geliebte ungehindert bewundern zu können. Dies goldene Zeitalter der Liebe, darin wir unser eigenes Gefühl genießen und darin wir fast allein durch uns selber glücklich sind, sollte bei – 152 –
Sarrasine nicht lange dauern. Denn die Ereignisse überraschten ihn bereits, als er noch unter dem Zauberbann der zugleich naiven und wollüstigen frühlingshaften Halluzinationen stand. Etwa acht Tage lang durchlebte er ein ganzes Leben; morgens beschäftigte er sich mit dem Kneten des Tons, mittels dessen es ihm gelungen war, die Zambinella nachzugestalten trotz aller Umhüllungen, Röcke, Korsette und Seidenschleifen, die sie ihm entzogen hatten. Abends fand er sich beizeiten in seiner Loge ein; allein, auf einem Sofa liegend wie ein vom Opium berauschter Türke, erschuf er sich ein so fruchtbares, so überschwengliches Glück, wie er es sich nur wünschen konnte. Anfangs machte er sich stufenweise mit den allzu heftigen Erschütterungen vertraut, die der Gesang der Geliebten in ihm auslöste; dann zwang er seine Augen, sie anzuschauen, und schließlich konnte er sie betrachten, ohne das Ausbrechen der stumpfen Wut befürchten zu müssen, die ihn am ersten Tag durchlodert hatte. Indem seine Leidenschaft sich beschwichtigte, wurde sie tiefer. Übrigens litt der ungestüme Bildhauer es nicht, daß seine von Bildern bevölkerte und von Phantasien der Hoffnung geschmückte, von Glück erfüllte Einsamkeit durch seine Kameraden gestört wurde. Er liebte mit einer solchen Kraft und so naiv, daß er all die unschuldigen Zweifel auskosten mußte, von denen wir bestürmt werden, wenn wir zum erstenmal lieben. Als ihm klarzuwerden begann, daß er etwas unternehmen, sich bemühen, erfragen müsse, wo die Zambinella wohne, Herausbekommen, ob sie eine Mutter habe, einen Onkel, einen Vormund, eine Familie; als er schließlich Mittel und Wege überlegte, wie er zu ihr gelangen, mit ihr sprechen könne, fühlte er, wie sein Herz von so ehrgeizigen Vorstellungen schwoll, daß er diese Sorgen auf den nächsten Tag verschob, im gleichen Maß glücklich über seine körperlichen Leiden wie über die Freuden, die sein Geist ihm erschuf.« »Aber«, sagte Madame de Rochefide zu mir, »bislang habe ich noch nichts von Marianina und ihrem kleinen Alten zu sehen bekommen.« »Sie sehen nur ihn«, rief ich mit der Ungeduld eines Autors, der um einen Bühneneffekt gebracht worden ist. »Seit ein paar Tagen«, fuhr – 153 –
ich nach einer Pause fort, »hatte Sarrasine sich so getreulich in seiner Loge eingefunden, und seine Blicke hatten so viel Liebe ausgedrückt, daß seine Leidenschaft für die Stimme der Zambinella für ganz Paris das Tagesgespräch gebildet hätte, wenn dieses Abenteuer dort geschehen wäre; aber in Italien, Madame, ist jeder auf eigene Rechnung mit seinen Leidenschaften, seinen Herzensneigungen im Theater, und das schließt alle Bespitzelung durch Operngläser aus. Indessen konnte die Besessenheit des Bildhauers den Blicken der Sänger und Sängerinnen nicht lange entgehen. Eines Abends gewahrte der Franzose, daß in den Kulissen über ihn gelacht wurde. Schwerlich läßt sich vorstellen, zu welchen Maßlosigkeiten er sich hätte hinreißen lassen, wenn nicht gerade die Zambinella aufgetreten wäre. Sie warf Sarrasine einen der beredten Blicke zu, die oft weit mehr sagen, als die Frauen hatten sagen wollen. Jener Blick war vollauf eine Offenbarung. Sarrasine wurde geliebt! – Wenn es nur eine Laune ist, dachte er und beschuldigte seine Geliebte bereits allzu großen Eifers, dann kennt sie nicht die Herrschaft, der sie anheimfallen wird. Ihre Laune, das hoffe ich, muß andauern, solange ich lebe. – In diesem Augenblick ließen drei leise Schläge an die Tür seiner Loge den Künstler auffahren. Er öffnete. Geheimnisvoll kam eine alte Frau herein. – ›Junger Mann‹, sagte sie, ›wenn Sie glücklich sein wollen, dann bewahren Sie Vorsicht, hüllen Sie sich in einen Umhang, drücken Sie sich einen Schlapphut über die Augen, und dann finden Sie sich gegen zehn Uhr abends auf dem Corso vor dem Albergo Spagna ein.‹ – ›Ich komme hin‹, antwortete er und drückte der Duena zwei Louis in die rissige Hand. Er schlüpfte aus seiner Loge, nachdem er zuvor der Zambinella ein Zeichen des Einverständnisses gemacht hatte, die schamhaft die wollüstigen Lider senkte wie eine Frau, die glücklich ist, endlich verstanden worden zu sein. Dann eilte er heim, um seiner Kleidung alles Verführerische zuteil werden zu lassen, das er ihr leihen konnte. Beim Verlassen des Theaters hatte ihn ein Unbekannter am Arm festgehalten. – ›Seien Sie auf der Hut, Herr Franzose‹, hatte er ihm zugeraunt. ›Es geht um Leben und Tod. Der Kardinal Cicognara ist Zambinellas Protektor, und mit dem ist nicht zu spaßen.‹ Hätte ein böser Geist die Schlünde der Hölle zwi– 154 –
schen Sarrasine und der Zambinella aufklaffen lassen, er hätte sie in diesem Augenblick mit einem einzigen Satz übersprungen. Wie die Rosse der Unsterblichen, die Homer schildert, hätte die Liebe des Bildhauers in der Zeit eines Wimperzuckens unendliche Weiten durchmessen. – ›Und wenn mich beim Verlassen meines Hauses der Tod erwartete, ich würde nur noch schneller gehen‹, hatte er geantwortet. – ›Poverino!‹ hatte der Unbekannte gerufen und war verschwunden. Einem Verliebten von Gefahr sprechen, heißt das nicht, ihm Wonnen verkaufen? Nie zuvor hatte Sarrasines Diener seinen Herrn so sorgfältig Toilette machen sehen. Sein schönster Degen, ein Geschenk Bouchardons, die Schleife, die Clotilde ihm geschenkt hatte, sein mit Füttern besetzter Rock, seine Weste aus Silbergewebe, seine goldene Tabaksdose, seine kostbarsten Uhren: alles wurde aus den Schränken hervorgeholt, und er schmückte sich wie ein junges Mädchen, das vor ihrem ersten Geliebten einherwandeln soll. Zur vereinbarten Stunde, trunken vor Liebe und glühend vor Hoffnung, hastete Sarrasine, die Nase tief im Mantelkragen, nach dem ihm von der Alten angegebenen Treffpunkt. Die Duena erwartete ihn. – ›Sie haben sich Zeit gelassen!‹ sagte sie zu ihm. ›Kommen Sie.‹ Sie zog den Franzosen durch mehrere Gassen und hielt vor einem Palazzo inne, der recht ansehnlich aussah. Sie pochte. Die Tür tat sich auf. Die Alte führte Sarrasine durch ein Labyrinth von Treppen, Galerien und Gemächern, die nur vom Ungewissen Mondschein erhellt wurden, und gelangte bald an eine Tür, durch deren Spalten helles Licht drang und hinter der fröhlicher Lärm mehrerer Stimmen erscholl. Sarrasine stand plötzlich geblendet da, als er auf ein Kennwort der Alten hin in dieses geheimnisvolle Zimmer eingelassen wurde; er befand sich in einem ebenso glänzend erleuchteten wie prunkvoll möblierten Salon, in dessen Mitte ein üppig gedeckter Tisch mit wertvollen Flaschen und heiteren Karaffen mit geschliffenen Stöpseln stand, deren Facetten rötlich funkelten. Er erkannte die Sänger und Sängerinnen des Theaters und dazwischen entzückende Frauen, alle bereit, mit einem Künstlerfest anzufangen; sie schienen nur noch auf ihn gewartet zu haben. Sarrasine unterdrückte eine Geste des Unmuts und machte gute Miene. Er – 155 –
hatte sich ein unzulängliches Gemach erhofft, seine Geliebte bei einem Kohlenbecken, einen Eifersüchtigen in unmittelbarer Nähe, Tod und Liebe, leise ausgetauschte Geständnisse, Herz an Herz, gefährliche Küsse, und die Gesichter so nahe aneinander, daß das Haar der Zambinella seine von Begehren schwere, vor Glück glühende Stirn gestreift hätte. – ›Hoch lebe die Tollheit!‹ rief er. ›Signori e belle donne, Sie müssen mir gestatten, mich später zu revanchieren und Ihnen meine Dankbarkeit für die Art und Weise zu bezeigen, mit der Sie einen armen Bildhauer empfangen.‹ Er wurde recht herzlich von den meisten der Anwesenden begrüßt, die er vom Sehen kannte, und versuchte dann, sich der Bergère zu nähern, auf der die Zambinella lässig lag. Oh, wie schlug ihm das Herz, als er niedliche Füße erblickte; sie steckten in Pantoffeln, die, gestatten Sie mir, es auszusprechen, Madame, ehedem den Füßen der Frauen einen so koketten Reiz verliehen, daß ich nicht weiß, wie die Männer ihm haben widerstehen können. Die straff sitzenden weißen Strümpfe mit den grünen Zwickeln, die kurzen Röcke, die spitzen Pantoffeln mit den hohen Hacken aus der Zeit Ludwigs XV. haben vielleicht etwas dazu beigetragen, Europa und die Geistlichkeit ein wenig zu demoralisieren.« »Nur ein wenig?« fragte die Marquise. »Haben Sie denn nichts gelesen?« »Die Zambinella« fuhr ich lächelnd fort, »hatte herausfordernd die Beine übereinandergeschlagen und wippte mit dem oben liegenden spielerisch auf und ab; es war die Haltung einer Herzogin, und sie paßte gut zu ihrer kapriziösen, von einer gewissen einladenden Weichlichkeit erfüllten Schönheit. Sie hatte ihr Bühnenkostüm abgelegt und trug ein Mieder, in dem sich eine schlanke Taille abzeichnete; diese wurde durch einen seidenen, mit blauen Blumen bestickten Reifrock noch mehr betont. Ihre Brust, deren Köstlichkeit durch eine Spitze verhüllt wurde, was ein Übermaß an Koketterie war, schimmerte weiß. Sie war etwa so frisiert, wie Madame du Barry sich zu frisieren pflegte; obwohl ihr Gesicht mit einer breiten Haube überladen war, wirkte es unter dieser Frisur nur um so lieblicher, und – 156 –
der Puder stand ihr gut. Sie so zu sehen, hieß sie anbeten. Anmutig lächelte sie dem Bildhauer zu. Sarrasine war unzufrieden, daß er nur vor Zeugen mit ihr sprechen konnte; höflich setzte er sich zu ihr und unterhielt sich mit ihr über Musik, wobei er ihr an ein Wunder grenzendes Talent pries; aber seine Stimme zitterte vor Liebe, vor Furcht und Hoffnung. – ›Was befürchten Sie denn?‹ fragte ihn Vitagliani, der berühmteste Sänger der Truppe. ›Sehen Sie: Sie haben hier keinen einzigen Rivalen zu befürchten.‹ Der Tenor lächelte stumm vor sich hin. Dieses Lächeln wiederholte sich auf den Lippen aller Gäste, deren Aufmerksamkeit eine gewisse verhohlene Bosheit innewohnte; sie mußte einem Liebenden entgehen. Diese Offenkundigkeit war für Sarrasine wie ein Dolchstoß ins Herz. Obwohl ihm eine gewisse Charakterstärke eigen war, und wenngleich kein äußerer Umstand seine Liebe hätte beeinflussen können, hatte er vielleicht noch nicht zur Genüge bedacht, daß Zambinella beinahe eine Kurtisane war und daß er nicht gleichzeitig die reinen Wonnen, die die Liebe eines jungen Mädchens zu etwas so Köstlichem machen, und die stürmische Hingerissenheit werde genießen können, mit der eine Bühnenkünstlerin die Schätze ihrer Leidenschaft erkaufen läßt. Er sann nach und resignierte. Das Nachtmahl wurde aufgetragen. Sarrasine und die Zambinella nahmen ohne Förmlichkeit nebeneinander Platz. Die halbe Mahlzeit hindurch bewahrten die Künstler einige Zurückhaltung, und der Bildhauer konnte mit der Sängerin plaudern. Er erkannte, daß sie geistvoll und gewitzt war; aber sie war auch von überraschender Unwissenheit und bezeigte sich als schwach und abergläubisch. Die Weichlichkeit ihrer Glieder fand ihr Widerspiel in ihrer Urteilskraft. Als Vitagliani die erste Champagnerflasche entkorkte, las Sarrasine in den Augen der neben ihm Sitzenden eine ziemlich heftige Angst vor dem kleinen Knall, den das Entweichen des Gases hervorruft. Das unwillkürliche Zusammenzucken dieses weiblichen Organismus wurde von dem verliebten Künstler als ein Anzeichen äußerster Sensibilität gedeutet. Diese Schwächlichkeit bezauberte den Franzosen. Der Liebe eines Mannes wohnt so viel Verlangen zu schützen inne! – ›Sie können über meine Kraft verfügen wie über einen Schild!‹ Steht dieser Satz nicht im Hin– 157 –
tergrund aller Liebeserklärungen geschrieben? Sarrasine war viel zu sehr von Leidenschaft erfüllt, um der schönen Italienerin mit galanten Worten aufzuwarten; wie alle Liebenden war er bald ernst, bald übersprudelnd vor Heiterkeit oder in sich gekehrt. Obwohl er den Gästen zuzuhören schien, hörte er kein Wort von dem, was sie sagten, so sehr gab er sich der Freude hin, bei ihr zu sein, ihre Hand zu streifen, sie zu bedienen. Er schwamm in geheimen Wonnen. Trotz der Beredsamkeit einiger wechselseitiger Blicke erstaunte ihn die Zurückhaltung, deren sich die Zambinella ihm gegenüber befleißigte. Zwar hatte sie als erste damit angefangen, leise auf seinen Fuß zu treten und ihn mit der Durchtriebenheit einer leichtfertigen, amourösen Frau zu reizen, als sie dann aber Sarrasine eine kleine Begebenheit hatte erzählen hören, die für die außerordentliche Heftigkeit seines Charakters bezeichnend war, hatte sie sich plötzlich in die Schüchternheit eines jungen Mädchens gehüllt. Als das abendliche Fest zu einer Orgie wurde, fingen die vom Peralta und dem Pedroximenez angefeuerten Tischgenossen zu singen an. Es gab entzückende Duette, Volkslieder aus Kalabrien, spanische Seguedillen, neapolitanische Kanzonetten. In aller Augen, in der Musik, in den Herzen und Stimmen war Trunkenheit. Jäh brach eine bezaubernde Lebhaftigkeit aus, ein herzliches Gelöstsein, eine italienische Herzensoffenheit, von der sich keiner eine Vorstellung machen kann, der nur die Pariser Gesellschaften, die Londoner Routs oder die Wiener Empfänge kennt. Scherzreden und Liebeswort kreuzten sich wie Geschosse in einer Schlacht, zwischen Gelächter, Flüchen, Anrufungen der heiligen Jungfrau oder des Bambino. Einer legte sich auf ein Sofa und schlief ein. Ein junges Mädchen lauschte einer Liebeserklärung, ohne sich gewahr zu werden, daß sie Sherry auf das Tischtuch goß. Inmitten dieses Durcheinanders saß die Zambinella nachdenklich da, wie im Bann einer Angst. Sie lehnte es ab, zu trinken, aß indessen vielleicht ein bißchen zuviel; aber die Vorliebe für gutes Essen ist, wie es heißt, bei den Frauen etwas Reizvolles. Sarrasine bewunderte die Zurückhaltung seiner Geliebten und hing ernsten Gedanken über die Zukunft nach. – ›Sicherlich will sie geheiratet werden‹, sagte er sich. Dann malte er sich die Wonnen dieser Ehe aus. Sein ganzes – 158 –
Leben dünkte ihn nicht lang genug zum Ausschöpfen des Glücksborns, den er im Grund ihrer Seele gewahrte. Der neben ihm sitzende Vitagliani schenkte ihm so oft zu trinken ein, daß Sarrasine gegen drei Uhr morgens, ohne völlig betrunken zu sein, in sich nicht mehr die Kraft fand, gegen sein rasendes Begehren anzukämpfen. In einem Augenblick des Außersichseins hob er die Frau hoch und trug sie in eine Art Boudoir, das an den Salon stieß und dessen Tür er bereits mehr als einmal die Blicke zugewandt hatte. Die Italienerin war mit einem Dolch bewaffnet. – ›Wenn du mir nahekommst«, sagte sie, ›muß ich dir diese Waffe ins Herz tauchen. Laß mich! Du würdest mich verachten. Ich habe zu viel Achtung vor deinem Charakter gewonnen, um mich so preiszugeben. Ich will nicht des Gefühls verlustig gehen, das du mir entgegenbringst.‹ – ›Haha!‹ sagte Sarrasine, ›eine Leidenschaft anzufachen, um sie zu erlöschen, ist ein schlechtes Mittel. Bist du denn so verderbt und ist dein Herz so vergreist, daß du dich wie eine junge Kurtisane benimmst, die die Gefühle schärft, aus denen sie ein Geschäft macht?‹
›Aber heute ist doch Freitag‹, antwortete sie, entsetzt über die Heftigkeit des Franzosen. Sarrasine, der nicht fromm war, fing zu lachen – 159 –
an. Die Zambinella sprang auf wie ein junges Reh und entkam in den Festsaal. Als Sarrasine, der ihr nachgelaufen war, dort ebenfalls erschien, empfing ihn ein höllisches Gelächter. Er sah die Zambinella ohnmächtig auf einem Sofa liegen. Sie war bleich und wie erschöpft von der ungemeinen Anstrengung, die sie hinter sich gebracht hatte. Obwohl Sarrasine nur wenig Italienisch konnte, hörte er, wie seine Geliebte leise zu Vitagliani sagte: ›Er wird mich noch umbringen!‹ Diese seltsame Szene verwirrte den Bildhauer völlig. Er kam wieder zur Vernunft. Anfangs stand er starr da; dann fand er die Sprache wieder, setzte sich zu seiner Geliebten und beteuerte ihr, daß er sie achte. Er brachte die Kraft auf, seiner Leidenschaft anderen Ausdruck zu verleihen, und wartete jener Frau mit den exaltiertesten Redewendungen auf; um seine Liebe zu schildern, entbreitete er die Schätze magischer Beredsamkeit, der geschäftigen Mittlerin, der zu glauben die Frauen nur selten sich sträuben. Als das erste Morgengrauen die Gäste überraschte, schlug eine der Damen vor, man solle nach Frascati fahren. Alle begrüßten mit lebhaftem Beifall den Gedanken, den Tag in der Villa Ludovisi zu verbringen. Vitagliani ging hinunter und besorgte die Mietwagen. Sarrasine hatte das Glück, mit der Zambinella in einem Phaeton zu fahren. Als sie aus Rom heraus waren, erwachte plötzlich die Heiterkeit wieder, die eine Weile durch den Kampf unterdrückt worden war, den jeder dem Schlaf geliefert hatte. Sämtliche Herren wie Damen schienen an dieses sonderbare Leben gewöhnt zu sein, an beständige Lustbarkeiten, an die Hingerissenheit der Künstler, die aus dem Leben ein unaufhörliches Fest machen, bei dem ohne Hintergedanken gelacht wird. Die Gefährtin des Bildhauers war die einzige, die bedrückt wirkte. – ›Ist Ihnen nicht wohl?‹ fragte Sarrasine sie. ›Möchten Sie lieber heimfahren?‹ – ›Ich bin zu schwächlich, um all diesen Ausschweifungen standzuhalten‹, antwortete sie. ›Ich bedarf großer Schonung; aber wenn ich bei Ihnen bin, ist mir so wohl! Ohne Sie wäre ich nicht bei diesem Souper geblieben; eine durchwachte Nacht läßt mich all meine Frische einbüßen.‹ – ›Sie sind so zart!‹ entgegnete Sarrasine und betrachtete die lieblichen Züge dieses bezaubernden Geschöpfs. – ›Die Orgien verderben mir meine Stimme.‹ – ›Jetzt, wo – 160 –
wir allein sind‹, rief der Künstler, ›und wo Sie die Glut meiner Leidenschaft nicht mehr zu fürchten brauchen, müssen Sie mir sagen, daß Sie mich lieben.‹ – ›Warum?« erwiderte sie. ›Wozu wäre das nütze? Ich scheine Ihnen gefallen zu haben. Aber Sie sind Franzose, und Ihr Gefühl wird rasch vergehen. Ach, Sie würden mich nicht lieben, wie ich geliebt werden möchte.‹ – ›Wie denn?‹ – ›Ohne das Ziel der vulgären Leidenschaft, in aller Reinheit. Ich verabscheue die Männer vielleicht noch mehr, als ich die Frauen hasse. Ich muß mich in die Freundschaft flüchten. Die Welt ist für mich eine Wüste. Ich bin ein Geschöpf, das unter einem Fluch steht, dazu verdammt, das Glück zu verstehen, es zu fühlen, es zu begehren, und bin dabei, wie so viele andere, gezwungen zu erleben, wie es mich in jeder Stunde flieht. Denken Sie stets daran, Herr, daß ich Sie nicht hinters Licht geführt habe. Mich zu lieben, verbiete ich Ihnen. Ich könnte Ihnen ein treuer Freund sein, da ich Ihre Kraft und Ihren Charakter bewundere. Ich brauche einen Bruder, einen Schützer. Seien Sie das alles für mich, aber nicht mehr.‹ – ›Sie nicht lieben?‹ rief Sarrasine; ›aber, geliebter Engel, du bist doch mein Leben, mein Glück!‹ – ›Wenn ich ein einziges Wort sagte, würden Sie mich voller Abscheu zurückstoßen.‹ – ›Du Herzlose! Nichts vermöchte mich zu erschrecken. Sag mir, daß du mich meine Zukunft kosten würdest, daß ich in zwei Monaten sterben müßte, daß ich verdammt wäre, weil ich dich ein einziges Mal geküßt hätte.‹ Trotz des Sträubens der Zambinella, die sich diesem leidenschaftlichen Kuß entziehen wollte, umschlang er sie. – ›Sag mir, daß du ein böser Geist bist, daß ich dir mein Vermögen, meinen Namen, all meinen Ruhm opfern muß! Willst du, daß ich nicht mehr Bildhauer bin? Sprich!‹ – ›Wenn ich nun keine Frau wäre?‹ fragte die Zambinella scheu mit süßer, silbriger Stimme. – ›Nicht solche Scherze!‹ rief Sarrasine. ›Glaubst du, du könntest ein Künstlerauge täuschen?
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Habe ich nicht seit zehn Tagen all deine Vollkommenheiten verschlungen, ausgeforscht, bewundert? Nur eine Frau kann so runde, volle Arme haben, so elegante Konturen. Ach, du bist auf Komplimente erpicht!‹ – Sie lächelte traurig und flüsterte: ›Verhängnisvolle Schönheit!‹ Sie schaute zum Himmel auf. In diesem Augenblick hatte ihr Blick irgendeinen Ausdruck so heftigen, so lebhaften Entsetzens, daß Sarrasine deswegen erbebte. – ›Herr Franzose‹, fuhr sie fort, ›vergessen Sie auf ewig einen Augenblick des Wahnwitzes. Ich schätze Sie sehr; aber Liebe dürfen Sie von mir nicht erbitten; dieses Gefühl ist in meinem Herzen erstickt. Ich habe kein Herz!‹ rief sie schluchzend. ›Die Bühne, auf der Sie mich gesehen haben, das Beifallsklatschen, die Musik, der Ruhm, zu dem ich verdammt bin, das ist mein Leben, ein anderes habe ich nicht. In ein paar Stunden werden Sie mich nicht mehr mit denselben Augen anschauen, dann ist die Frau, die Sie lieben, tot.‹ Der Bildhauer antwortete nicht. Er war einer dumpfen Wut anheimgefallen, die ihm das Herz zusammenpreßte. Er vermochte nichts, als diese ungewöhnliche Frau mit entzündeten, brennenden Augen anzustarren. Die von Schwäche durchtränkte Stimme, die Haltung, das Benehmen, die Gesten der – 162 –
Zambinella, die durch Trauer, Melancholie und Mutlosigkeit gekennzeichnet waren, erweckten in seiner Seele alle Überschwenglichkeiten der Leidenschaft. Jedes Wort war ein Stachel gewesen. Sie waren in diesem Augenblick in Frascati angelangt. Als der Künstler den Arm um die Geliebte legte, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, spürte er, wie sie am ganzen Leibe bebte. ›Was ist Ihnen? Ich müßte an Ihnen sterben‹, rief er, als er sie erbleichen sah, ›wenn Sie den geringsten Schmerz empfänden, dessen Ursache ich wäre, auch ohne mein Verschulden.‹ – ›Eine Schlange!‹ sagte sie und zeigte auf eine Natter, die sich in einem Graben ringelte: ›Ich habe Angst vor diesen widerlichen Tieren.‹ Sarrasine zermalmte den Kopf der Natter mit einem Fußtritt. – ›Wie bringen Sie nur den Mut dazu auf?‹ fragte die Zambinella und betrachtete mit sichtlichem Entsetzen das tote Reptil. – ›Ja‹, sagte der Künstler lächelnd, ›wagen Sie jetzt immer noch zu behaupten, Sie seien keine Frau?‹ Sie gesellten sich wieder zu ihren Gefährten und ergingen sich in den Lusthainen der Villa Ludovisi, die zu jener Zeit dem Kardinal Cicognara gehörte. Der Morgen verrann allzu schnell für den verliebten Bildhauer, aber er war erfüllt von einer großen Zahl kleiner Zwischenfälle, die ihm die Koketterie, die Schwäche, die Ziererei dieser schlaffen, energielosen Seele enthüllten. Es war die Frau mit ihren plötzlichen Ängsten, ihren grundlosen Stimmungswechseln, ihren instinktiven Verstörtheiten, ihrem ursachlosen Wagemut, ihren Aufschneidereien und ihrer köstlichen Raffinesse in allem, was das Gefühl betraf. Es kam ein Augenblick, da die kleine Schar der frohgemuten Sänger, als sie sich in die Campagna hinausgewagt hatte, in der Ferne einige bis an die Zähne bewaffnete Männer erblickte, deren Tracht alles andere als beruhigend wirkte. Bei den Worten: ›Das sind Briganten‹ verdoppelte ein jeder seine Schritte, um in den Schutz der Umfassungsmauer der Kardinalsvilla zu gelangen. In diesem kritischen Augenblick erkannte Sarrasine aus der Blässe der Zambinella, daß sie nicht mehr die Kraft zum Gehen habe; da nahm er sie in die Arme und trug sie eine Zeitlang laufend. Als er an einem nahen Weinberg angelangt war, ließ er die Geliebte zu Boden gleiten. – 163 –
›Erklären Sie mir«, sagte er zu ihr, ›wie dieses Übermaß an Schwäche, das bei jeder anderen Frau abstoßend wirken und mir mißfallen und dessen geringstes Anzeichen hinreichen würde, meine Liebe zum Erlöschen zu bringen, mir bei Ihnen gefällt und mich bezaubert? – Ach, wie sehr liebe ich Sie!‹ fuhr er fort. ›Alle Ihre Fehler, Ihre Furchtsamkeit, Ihre kleinen Schwächen steigern nur noch auf mir unbekannte Weise die Anmut Ihrer Seele. Ich fühle: eine Sappho voller Tapferkeit und Energie und Leidenschaft würde mich abstoßen. O du zerbrechliches, süßes Geschöpf! Wie könntest du anders sein? Die Engelsstimme, diese köstliche, zarte Stimme wäre ein Widersinn, wenn sie einem anderen Körper als dem deinen entströmte.‹ – ›Ich kann Ihnen keine Hoffnungen machen‹, sagte sie. ›Reden Sie nicht länger so zu mir, denn sonst würden Sie ausgelacht werden. Ich kann Ihnen den Besuch des Theaters unmöglich verbieten; aber wenn Sie mich wirklich lieben oder wenn Sie klug und vernünftig sind, dann kommen Sie nicht mehr hin. Hören Sie auf mich, Herr‹, sagte sie mit ernster Stimme. – ›Oh, schweige!‹ sagte der berauschte Künstler. ›Die Hindernisse schüren nur noch die Liebe in meinem Herzen.‹ Die Zambinella verharrte in einer anmutsvollen, – 164 –
bescheidenen Haltung; aber sie schwieg jetzt, als habe ihr ein schrecklicher Gedanke Unheil offenbart. Als nach Rom zurückgekehrt werden mußte, stieg sie in eine viersitzige Berline und befahl dem Bildhauer mit einer grausam herrischen Miene, allein im Phaeton zurückzufahren. Unterwegs beschloß Sarrasine, die Zambinella zu entführen. Die ganze Nacht brachte er damit hin, einen ungereimten Plan nach dem anderen zu schmieden. Als die Nacht niedersank und er sich anschickte, sein Haus zu verlassen und ein paar Leute zu fragen, wo der von seiner Geliebten bewohnte Palazzo liege, begegnete er vor der Haustür einem seiner Kollegen. – ›Mein Lieber‹, sagte dieser zu ihm, ›unser Gesandter hat mich beauftragt, dich für heute abend zu ihm einzuladen. Er gibt ein herrliches Konzert, und wenn du hörst, daß Zambinella mitwirken wird ...‹ – ›Zambinella!‹ rief Sarrasine, der bei diesem Namen außer sich geriet, ›in Zambinella bin ich reinweg vernarrt!‹ – ›Da geht es dir wie allen andern auch‹, antwortete der Kollege. – ›Aber wenn ihr wahrhaft meine Freunde seid, du, Vien, Lautherbourg und Allegrain, dann leiht ihr mir euern Beistand für einen Handstreich nach der Festlichkeit‹, bat Sarrasine. – ›Es geht doch wohl nicht darum, einen Kardinal umzubringen, oder einen...‹ – ›Nein, nein‹, sagte Sarrasine, ›ich bitte euch um nichts, was anständige Menschen nicht tun könnten.‹ Innerhalb kurzer Zeit regelte der Bildhauer alles, wessen es für das Gelingen seines Vorhabens bedurfte. Als einer der letzten langte er bei dem Gesandten an, aber er kam in einem Reisewagen, vor den kräftige Pferde gespannt waren und der von einem der verwegensten vetturini Roms kutschiert wurde. Der Palazzo des Botschafters war voller Menschen, nicht ohne Mühe gelangte der Bildhauer, der allen Anwesenden unbekannt war, in den Salon, in dem Zambinella in diesem Augenblick sang. – ›Sicher geschieht es aus Rücksicht auf die Kardinale, die Bischöfe und Abbés, die hier sind«, fragte Sarrasine, ›daß sie als Mann gekleidet ist, einen Haarbeutel hinten am Kopf hängen hat und gekräuseltes Haar und einen Degen trägt?‹ – ›Sie? Welche sie denn?‹ fragte der alte Herr, an den Sarrasine sich gewandt hatte. – ›Die Zambinella.‹ – ›Die Zambinella?‹ entgegnete der römische Fürst. ›Belieben Sie zu scherzen? Woher kommen Sie? Hat je eine Frau auf – 165 –
einer der römischen Bühnen gestanden? Und wissen Sie denn nicht, von was für Kreaturen die Frauenrollen im Kirchenstaat gespielt werden? Ich, Monsieur, habe Zambinella seine Stimme verschafft. Ich habe dem Burschen alles bezahlt, sogar seinen Gesangslehrer. Na, und er hat mir so wenig Dankbarkeit für den ihm erstatteten Dienst bezeigt, daß er nie wieder den Fuß über meine Schwelle gesetzt hat. Und dabei: wenn er jetzt zu Gelde kommt, dankt er es ganz und gar mir.‹ Fürst Chigi hätte sicherlich noch lange reden können, aber Sarrasine hörte gar nicht mehr hin. Eine grausige Wahrheit hatte seine Seele durchdrungen. Er stand da wie vom Blitz getroffen, starr, die Augen auf den vorgeblichen Sänger gerichtet. Sein flammender Blick auf Zambinella übte eine magnetische Wirkung aus, denn der musico wandte schließlich mit einemmal die Augen Sarrasine zu, und da schwankte seine himmlische Stimme. Er bebte! Ein unwillkürliches Murmeln entrang sich der Zuhörerschaft, die an seinen Lippen gehangen hatte, und machte ihn noch verwirrter; er mußte sich setzen und seine Arie abbrechen. Der Kardinal Cicognara, der aus den Augenwinkeln erspäht hatte, welche Richtung der Blick seines Schützlings genommen, gewahrte den Franzosen; er neigte sich einem seiner geistlichen Gefolgsleute zu und schien nach dem Namen des Bildhauers zu fragen. Als er die gewünschte Antwort erhalten hatte, musterte er sehr aufmerksam den Künstler, gab einem Abbate Befehl, der eilends verschwand. Inzwischen hatte Zambinella sich erholt und begann von neuem das Stück, das er so eigenwillig abgebrochen hatte; aber er sang es schlecht, und trotz aller an ihn gerichteten Bitten weigerte er sich, etwas anderes zu singen. Es war das erstemal, daß er die launische Tyrannei bekundete, die ihn später nicht minder berühmt machte als sein Talent und sein riesiges Vermögen, das er, wie es hieß, in gleichem Maß seiner Stimme und seiner Schönheit verdankte. ›Es ist eine Frau‹, sagte Sarrasine, der sich allein glaubte. ›Dahinter steckt eine geheime Intrige. Der Kardinal Cicognara führt den Papst und ganz Rom hinters Licht!‹ Sofort verließ der Künstler den Salon, sammelte seine Freunde um sich und legte sie im Hof des Palazzo in den Hinterhalt. Als Zambinella sich versichert hatte, daß Sarrasine fortgegangen sei, – 166 –
schien er halbwegs seine Ruhe wiederzufinden. Nachdem er wie einer, der einen Feind sucht, durch die Säle geirrt war, verließ der musico gegen Mitternacht die Gesellschaft. In dem Augenblick, da er die Tür des Palazzo durchschritt, wurde er gewandt von Männern gepackt, die ihn mit einem Taschentuch knebelten und in den von Sarrasine gemieteten Wagen hoben. Vor Schrecken zu Eis erstarrt, blieb Zambinella in einer Ecke sitzen und wagte sich nicht zu regen. Er sah das furchteinflößende Gesicht des Künstlers vor sich, der in Todesschweigen verharrte. Die Fahrt war kurz. Der von Sarrasine entführte Zambinella befand sich bald in einem finsteren, kahlen Atelier. Der halbtote Sänger blieb auf einem Stuhl sitzen und wagte es nicht, eine Frauenstatue anzusehen, in der er die eigenen Züge erkannt hatte. Er brachte kein Wort hervor, aber seine Zähne klapperten. Er war ganz starr vor Angst. Sarrasine ging mit großen Schritten auf und ab. Plötzlich blieb er vor Zambinella stehen. – ›Sag mir die Wahrheit«, bat er mit dumpfer, veränderter Stimme. ›Bist du eine Frau? Der Kardinal Cicognara...« Zambinella fiel auf die Knie und antwortete nur dadurch, daß er den Kopf sinken ließ. – ›Ha, du bist eine Frau!‹ rief der Künstler außer sich, ›denn nicht einmal ein...‹ Er unterbrach sich. – ›Nein‹, fuhr er fort, ›auch so einer würde nicht so viel Niedrigkeit aufbringen.‹ – ›Oh, morden Sie mich nicht‹, rief Zambinella und zerschmolz in Tränen. ›Nur um meinen Kollegen gefällig zu sein, die einmal lachen wollten, habe ich eingewilligt, Sie zu täuschen.‹ – ›Lachen!‹ antwortete der Bildhauer mit einer Stimme von höllischem Klang. ›Lachen, lachen! Du hast es gewagt, mit der Leidenschaft eines Mannes dein Spiel zu treiben, ausgerechnet du?‹ – ›O Gnade!‹ entgegnete Zambinella. – ›Ich mußte dich umbringen!« schrie Sarrasine und zog mit einer jähen Bewegung den Degen. ›Aber‹, fuhr er mit kalter Verachtung fort, ›wenn ich mit einem Dolch in deinem Innern herumwühlte, würde ich dann ein Gefühl finden, das ich austilgen, eine Rache, die ich stillen könnte? Du bist ein Nichts. Wärst du ein Mann oder ein Weib, so würde ich dich umbringen! Aber...‹ Sarrasine tat eine Geste des Ekels, die ihn zwang, den Kopf abzuwenden, und da erblickte er die Statue. – ›Und das ist eine Sinnestäuschung!‹ schrie er auf. Dann wandte er sich Zambinella – 167 –
zu: ›Ein Frauenherz wäre für mich ein Asyl, eine Heimat. Hast du Schwestern, die dir ähneln? Nein. Dann also stirb! Doch nein, du sollst leben. Dir das Leben lassen, heißt das nicht, dich etwas Schlimmerem überantworten als dem Tod? Weder um mein Blut noch um mein Dasein jammere ich, sondern um meine Zukunft und die Schätze meines Herzens. Deine schwächliche Hand hat mein Glück umgestürzt. Welche Hoffnung könnte ich dir rauben für alle, die du zum Welken gebracht hast? Du hast mich bis zu dir hin erniedrigt. Lieben, geliebt werden! Das sind fortan sinnleere Worte für dich wie für mich. Unablässig werde ich beim Erblicken einer wirklichen Frau an diese imaginäre denken.‹ Mit einer verzweifelten Handbewegung deutete er auf die Statue. ›Immer werde ich eine himmlische Harpyie in der Erinnerung tragen, und sie wird ihre Klauen in meine Mannesgefühle schlagen und alle anderen Frauen mit einem Makel der Unvollkommenheit zeichnen. Du Scheusal, das kein Leben spenden kann, du hast mir die Erde von allen Frauen entvölkert!‹ Sarrasine setzte sich dem vor Angst schlotternden Sänger gegenüber. Zwei dicke Tränen entrannen seinen trockenen Augen, rollten seine männlichen Wangen hinab und fielen zu Boden: zwei Tränen der Wut, zwei bittere, brennende Tränen. – ›Keine Liebe mehr! Ich bin erstorben für alle Lust, für alle menschlichen Regungen.‹ Bei diesen Worten ergriff er einen Hammer und schleuderte ihn mit so übertriebener Wucht gegen die Statue, daß er sie verfehlte. Er vermeinte, das Denkmal seines Wahns zerstört zu haben, langte abermals nach seinem Degen und holte aus, um den Sänger zu töten. Zambinella stieß gellende Schreie aus. In diesem Augenblick kamen drei Männer herein, und plötzlich taumelte der von drei Stilettstichen durchbohrte Bildhauer. – ›Im Auftrag des Kardinals Cicognara‹, sagte einer der drei. – ›Eine gute Tat und eines Christen würdig‹, antwortete der Franzose und starb. Die drei düsteren Sendboten ließen Zambinella die Besorgnis seines Schutzherrn wissen, der vor der Tür in einem geschlossenen Wagen warte, um ihn mitzunehmen, sobald er befreit sei.«
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»Aber«, sagte Madame de Rochefide zu mir, »welche Beziehung besteht nun eigentlich zwischen dieser Geschichte und dem kleinen Alten, den wir bei den Lantys gesehen haben?« »Madame, der Kardinal Cicognara hat sich in den Besitz der Statue Zambinellas gesetzt und sie in Marmor ausführen lassen; sie befindet sich heute im Museum Albani. Erst 1791 hat die Familie Lanty sie wiederentdeckt und Vien gebeten, sie zu kopieren. Das Bildnis, das Ihnen Zambinella als Zwanzigjährigen gezeigt hat, kurz nachdem Sie ihn als Hundertjährigen gesehen hatten, hat später Girodet als Vorlage für seinen ›Endymion‹ gedient; Sie haben wohl bemerkt, daß der ›Adonis‹ dem gleichen Typus angehört.« »Aber dieser oder diese Zambinella?« »Ist niemand anders als Marianinas Großonkel. Es dürfte Ihnen jetzt wohl verständlich sein, welches Interesse Madame de Lanty daran hat, den Ursprung eines Vermögens geheimzuhalten, das herrührt von...« Genug! sagte sie und wehrte mir mit gebieterischer Gebärde. Eine Zeitlang bewahrten wir tiefstes Schweigen. »Nun?« frage ich schließlich. »Ach!« rief sie, stand auf und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Sie blickte mich an und sagte mit gewandelter Stimme: »Sie haben mir für lange Zeit Leben und Leidenschaften verekelt. Enden nicht, wie angesichts dieses Scheusals, alle menschlichen Gefühle in grausigen Enttäuschungen? Sind wir Mütter, so morden uns unsere Kinder entweder durch ihren schlimmen Lebenswandel oder durch ihre Herzenskälte. Sind wir Gattinnen, so werden wir betrogen. Sind wir Geliebte, so werden wir verlassen, verstoßen. Freundschaft! Gibt es die denn? Am liebsten würde ich morgen Nonne, wenn ich nicht inmitten der Stürme des Lebens ein unersteigbarer Fels zu bleiben verstünde. Wenn die Zukunft, an die der Christ glaubt, ebenfalls nur eine Illusion ist, so wird sie doch wenigstens erst nach dem Tode zerstört. Lassen Sie mich jetzt allein.« – 169 –
»O weh!« sagte ich. »Sie verstehen sich aufs Strafen.« »Sollte ich damit unrecht haben?« »Ja«, antwortete ich mit einer Art Mut. »Als Abschluß dieser Geschichte, die übrigens in Italien ziemlich bekannt ist, kann ich Ihnen einen hohen Begriff von den Fortschritten der heutigen Kultur geben. Man präpariert dort jene unglücklichen Geschöpfe nicht mehr.« »Paris«, sagte sie, »ist ein recht gastfreundlicher Boden; es nimmt alles auf, die auf Schande beruhenden und die blutbefleckten Vermögen. Verbrechen und Infamie haben hier ein Anrecht auf Asyl, einzig der Tugend werden keine Altäre gebaut. Ja, die reinen Seelen haben eine Heimat im Himmel! Niemand soll mich erkannt haben! Darauf bin ich stolz.« Und die Marquise verlor sich in tiefes Sinnen.
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DAS UNBEKANNTE MEISTERWERK
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egen Ende des Jahres 1612 ging an einem kalten Dezembermorgen ein junger Mann, dessen Kleidung sehr dürftig aussah, vor der Tür eines Hauses der Rue des Grands-Augustins zu Paris auf und ab. Nachdem er lange mit der Unentschlossenheit eines Liebhabers, der es nicht wagt, bei seiner ersten Geliebten, so zugänglich sie auch sei, einzutreten, auf jener Straße hin und her geschritten war, trat er schließlich über die Türschwelle und fragte, ob Meister Frans Porbus daheim sei. Auf die bejahende Antwort einer alten Frau, die damit beschäftigt war, einen Raum des Erdgeschosses zu fegen, stieg der junge Mann langsam die Stufen hinauf, wobei er gleich einem neugebackenen Höfling, der nicht weiß, wie der König ihn empfangen wird, auf jeder Stufe stehenblieb. Als er den oberen Absatz der Wendeltreppe erreicht hatte, machte er einen Augenblick halt, denn er schwankte, ob er den grotesken Klopfer ergreifen sollte, der die Tür des Ateliers schmückte, in dem jener Maler Heinrichs IV., der von Maria de Medici zu Rubens' Gunsten vernachlässigt worden war, sicherlich am Werk war. Der junge Mann durchlebte jene tiefe Empfindung, die das Herz der großen Künstler erzittern läßt, wenn sie, noch jung, mit ihrer heißen Liebe zur Kunst vor einen Mann von Genie oder vor ein Meisterwerk treten. Alle menschlichen Empfindungen kennen eine erste, von einer edlen Begeisterung erzeugte Blüte, die immer matter wird, bis das Glück nur noch eine Erinnerung ist und der Ruhm eine Lüge. Unter all diesen zerbrechlichen Empfindungen gleicht der Liebe keine so sehr wie die junge Leidenschaft eines Künstlers, der eben die köstliche Folter seines aus Glanz und Unglück gemischten Schicksals zu erfahren beginnt: jene Leidenschaft, die so voller Verwegenheit und Schüchternheit, voll unbestimmten Glaubens und unvermeidlicher Entmutigung ist. Dem, der nicht, arm am Beutel und reich im Glauben an sein Selbst, sein Herz pochen hörte, als er vor einen Meister trat – dem wird – 171 –
stets im Herzen eine Saite fehlen, irgendein Pinselstrich, eine Empfindung im Werk, ein gewisser poetischer Ausdruck. Wenn ein Prahlhans, der von sich selbst geschwollen ist, allzu früh an seine Zukunft glaubt, so wird er stets nur für die Dummköpfe zu einem Mann von Geist werden. In dieser Hinsicht schien der junge Unbekannte echte Begabung zu besitzen, wenn anders man das Talent nach jener ersten Schüchternheit messen darf, nach jener undefinierbaren Scham, die die Anwärter der Unsterblichkeit in der Übung ihrer Kunst abzulegen wissen, wie die Frauen die ihre in der Arena der Koketterie ablegen. Die Gewöhnung an den Triumph vermindert den Zweifel, und die Scham ist vielleicht nur solch ein Zweifel.
Niedergedrückt von Armut und erschreckt in diesem Augenblick ob seiner eigenen Verwegenheit, wäre der arme Neuling vielleicht doch nicht bei dem Maler eingetreten, dem wir das wunderbare Bildnis Heinrichs IV. verdanken, wenn ihm der Zufall nicht eine unerwartete Hilfe geschickt hätte. Ein Greis kam die Treppe herauf. An seiner stolzen Kleidung, an der Pracht der Spitzenkrause und der unbedingten Sicherheit seines Schrittes erriet der junge Mann in dieser Persönlichkeit einen Gönner oder Freund des Malers; er trat auf dem – 172 –
Treppenabsatz zurück, um ihm Platz zu machen, und schaute ihn neugierig an, weil er hoffte, in ihm die Gutmütigkeit eines Künstlers oder das hilfsbereite Wesen derer zu entdecken, die die Künste lieben; statt dessen aber nahm er in diesem Gesicht etwas Teuflisches und vor allem jenes gewisse Etwas wahr, das die Künstler anlockt. Man denke sich eine kahle, gewölbte, vorspringende Stirn, die jäh über einer zerdrückten und unter wie bei Rabelais oder Sokrates aufgeworfenen Nase zurückspringt; einen lachenden, runzligen Mund, ein kurzes, stolz vorstehendes Kinn, an dem ein spitz geschnittener grauer Bart hängt; seegrüne Augen, die, anscheinend vom Alter, trüb geworden sind, die aber durch den Kontrast des perlmuttrigen Weiß, in dem die Pupille schwimmt, bisweilen im Zorn oder in der Begeisterung magnetische Blicke schleudern müssen. Das Gesicht war übrigens durch die Erschlaffung des Alters und mehr noch durch jenes Denken, das die Seele wie den Leib in gleicher Weise furcht, merkwürdig welk geworden. Die Augen hatten keine Wimpern mehr, und kaum sah man über den vorspringenden Bögen einige Spuren der Brauen. Diesen Kopf setze man auf einen schmächtigen und schwächlichen Körper; man umgebe ihn mit einer blendendweißen Spitze, die gearbeitet ist wie eine Fischkelle; man werfe über das schwarze Wams eine goldene Kette, und man hat ein ungefähres Bild jener Persönlichkeit, der das schwache Licht der Treppe noch ein besonders phantastisches Aussehen verlieh. Man hätte meinen können, ein Gemälde Rembrandt wandle schweigend und rahmenlos durch die schwarze Luft, wie sie diesem großen Maler eigen ist. Der Greis warf einen scharfsinnigen Blick auf den jungen Mann, pochte dreimal an die Tür und sagte zu einem etwa vierzigjährigen kränklichen Mann, der ihm öffnete: »Guten Tag, Meister.« Porbus verneigte sich ehrfurchtsvoll; er ließ den jungen Mann mit eintreten, da er glaubte, er sei mit dem Greis gekommen; und er kümmerte sich um so weniger um ihn, als der Neuling ganz unter dem Bann des Zaubers stand, den alle geborenen Maler beim Anblick des ersten Ateliers empfinden müssen, das sie zu sehen bekom– 173 –
men und wo sich ihnen ein paar der äußerlichen Geheimnisse der Kunst offenbaren. Ein offenes Fensterdach beleuchtete das Atelier des Meisters Porbus. Das ganze Licht konzentrierte sich auf eine Leinwand, die auf der Staffelei lehnte und nur erst drei oder vier weiße Striche aufwies; es drang nicht bis in die schwarzen, tiefen Winkel des mächtigen Raumes hinein; aber ein paar verirrte Reflexe setzten in diesem roten Schatten Lichter auf die Silberketten am Bauch eines Reiterpanzers, der an der Wand hing, und sie zogen eine jähe Lichtfurche in das geschnitzte und polierte Gesims eines alten Schanktisches, der mit wunderlichem Geschirr beladen war, oder sie stachen leuchtende Punkte in das gekörnte Gewebe der alten Vorhänge aus Goldbrokat mit den großen, steifen Falten, die zu Modellzwecken hingeworfen waren. Muskelabgüsse, Fragmente und Torsen antiker Göttinnen, die durch den Kuß der Jahrhunderte eine liebevolle Politur empfangen hatten, lagen auf Tischchen und Konsolen. Zahllose Skizzen, Studien in dreifarbiger Kreide oder in Rötel oder Federzeichnungen bedeckten die Wände bis zur Decke hinauf. Farbkästen, Flaschen voll Öl und Essenzen und umgestoßene Schemel ließen nur einen engen Pfad frei, um bis zu der Aureole zu gelangen, die das hohe Glasfenster hereinwarf; ihre Strahlen fielen voll auf das blasse Gesicht des Meisters Porbus und auf den Elfenbeinschädel des sonderbaren Ankömmlings. Die Aufmerksamkeit des jungen Mannes richtete sich bald ausschließlich auf ein Bild, das schon zu jener Zeit der Unruhen und der Revolution berühmt geworden war und das einige jener Starrköpfe gern aufsuchten, denen man die Erhaltung des heiligen Feuers während der schlimmen Tage verdankt. Diese schöne Tafel stellte eine ›ägyptische Maria‹ dar, die sich anschickt, die Überfahrt im Boot zu bezahlen. Das Meisterwerk, das für Maria de Medici bestimmt war, war dann von ihr in den Tagen ihres Elends verkauft worden. »Deine Heilige gefällt mir«, sagte der Greis zu Porbus, »und ich würde sie zehn Goldtaler teurer bezahlen als die Königin; aber ihr ins Gehege kommen... verdammt!« »Ihr findet sie gut?« – 174 –
»Hö hö!« machte der Alte. »Gut? Ja und Nein. Deine brave Frau ist nicht übel, aber sie lebt nicht. Ihr meint immer, alles getan zu haben, wenn ihr das Gesicht richtig zeichnet und alles nach den Gesetzen der Anatomie an seinen Platz stellt! Ihr koloriert diesen Aufriß mit einem Fleischton, den ihr zuvor auf der Palette anrührt, sorgt dafür, daß eine Seite dunkler wird als die andere, und meint, weil ihr von Zeit zu Zeit ein nacktes Weib anguckt, das auf einem Tisch steht, ihr schriebet die Natur ab; ihr bildet euch ein, Maler zu sein und Gott sein Geheimnis entwendet zu haben!... Prost Mahlzeit! Um ein großer Dichter zu sein, genügt es nicht, daß man die Syntax von Grund aus kennt und keine Sprachschnitzer mehr macht. Sieh deine Heilige an, Porbus! Auf den ersten Blick scheint sie wundervoll; aber auf den zweiten Blick merkt man, daß sie hinten in die Leinwand geklebt ist und daß man ihren Körper nicht umgehen könnte; sie ist eine Silhouette, die nur eine Seite hat, sie ist ein ausgeschnittenes Scheinbild, etwas, das man nicht umdrehen und das seine Stellung nicht verändern kann. Ich fühle keine Luft zwischen diesem Arm und dem Feld auf dem Bild; Raum und Tiefe fehlen; und doch ist in der Perspektive alles richtig, und die Luftabstufung ist genau beachtet; aber trotz so löblicher Bemühung kann ich nicht glauben, daß dieser schöne Körper vom warmen Hauch des Lebens beseelt ist. Mir scheint, wenn ich die Hand an diesen Hals mit seiner festen Rundung lege, so würde ich ihn kalt finden wie Marmor! Nein, mein Freund, durch diese Elfenbeinhaut läuft kein Blut, kein Dasein schwellt mit seinem Purpurtau die Adern und Fibern, die sich unter der Bernsteindurchsichtigkeit der Schläfen und der Brust zum Netz verschlingen. Diese Stelle zuckt, aber die andere da ist reglos; Leben und Tod kämpfen in jeder Einzelheit; hier ist es eine Frau, da eine Statue, an einer anderen Stelle ein Leichnam. Deine Schöpfung ist unvollkommen. Du hast nur einen Teil deiner Seele in dein Lieblingswerk zu gießen verstanden. Die Fackel des Prometheus ist mehr als einmal in deinen Händen erloschen, und viele Stellen deines Bildes sind von der himmlischen Flamme unberührt geblieben.«
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»Aber weshalb, teurer Meister?« fragte Porbus den Greis ehrfurchtsvoll, während der junge Mann Mühe hatte, ein starkes Verlangen zu unterdrücken, das ihn drängte, den Tadler zu prügeln. »Ei! Ja!«, erwiderte der kleine Greis, »du hast unentschieden zwischen den beiden Methoden hin und her geschwankt, zwischen der Zeichnung und der Farbe, zwischen dem peinlich genauen Phlegma der alten deutschen Meister und der blendenden Glut, der glücklichen Fülle der italienischen Maler. Du hast zugleich Hans Holbein und Tizian nachahmen wollen, Albrecht Dürer und Paolo Veronese. Das war gewiß ein großartiger Ehrgeiz! Aber was ist daraus geworden? Du hast weder den strengen Reiz der Trockenheit noch die täuschende Magie des Clair-obscur gefunden. An dieser Stelle hat, einer geschmolzenen Bronze gleich, die ihre zu schwache Gußform durchbricht, die reiche, blonde Farbe Tizians die magere Kontur Albrecht Dürers, in die du sie gegossen hattest, gesprengt. Anderswo hat die Zeichnung Widerstand geleistet und die prunkvollen Wogen der venezianischen Palette zurückgedämmt. Deine Gestalt ist weder vollkommen gezeichnet noch vollkommen gemalt, und überall trägt sie die Spuren jener unseligen Unentschiedenheit. Wenn du dich nicht stark genug fühltest, um im Feuer deines Genies die beiden widerstreitenden Stile zu verschmelzen, so hättest du freimütig zwischen dem einen und dem anderen wählen müssen, um die Einheit zu erreichen, die eine der Bedingungen des Lebens vortäuscht. Du bist nur in den Maßen wahr; deine Konturen sind falsch, sie gehen nicht ineinander über und versprechen nach hinten nichts mehr. Hier steckt Wahrheit!« sagte der Greis, indem er auf die Brust der Heiligen zeigte. »Hier auch«, fuhr er fort, indem er die Stelle zeigte, wo auf dem Bilde die Schulter abschloß. »Aber da«, sagte er, indem er mitten auf den Hals deutete, »das ist alles falsch. Wir wollen keine Analyse vornehmen, das würde dich zur Verzweiflung bringen.« Der Greis setzte sich auf einen Schemel, nahm den Kopf in die Hände und blieb stumm. »Meister«, sagte Porbus, »und doch habe ich diesen Hals genau am Modell studiert; aber zu unserem Unglück gibt es Effekte, die in der – 176 –
Natur wahr sind und auf der Leinwand nicht mehr wahrscheinlich wirken...« »Es ist nicht die Aufgabe der Kunst, die Natur zu kopieren, sondern sie auszudrücken! Du bist kein gemeiner Abschreiber, sondern ein Dichter!« rief der Greis lebhaft, indem er Porbus durch eine despotische Geste unterbrach: »Was hätte ein Bildhauer dann noch für Arbeit zu leisten, er brauchte ja eine Frau bloß abzuformen! Ja, versuche doch, die Hand deiner Geliebten abzugießen, und stelle sie vor dich hin; du wirst nur einen grauenhaften Leichnam ohne jede Ähnlichkeit finden, und du bist gezwungen, auf die Suche nach dem Meißel des Mannes zu gehen, der dir, ohne sie genau zu kopieren, die Bewegung und das Leben darstellt. Wir müssen den Geist, die Seele, die Physiognomie der Dinge und der Menschen erfassen. Wirklichkeit! Effekte! Die sind nur das Drum und Dran des Lebens, nicht das Leben selber. Eine Hand, da ich nun einmal dieses Beispiel gewählt habe, hängt nicht nur am Körper; sie drückt einen Gedanken aus und setzt ihn fort; und den gilt es zu erfassen und wiederzugeben. Weder der Maler noch der Dichter, noch der Bildhauer dürfen die Wirkung von der Ursache trennen, denn unbesieglich steckt eins im anderen. Da liegt der wahre Kampf! Viele Maler triumphieren instinktiv, ohne dieses Problem der Kunst auch nur zu ahnen. Ihr zeichnet eine Frau, aber ihr seht sie nicht! Nicht auf diese Weise gelingt es, das Arkanum der Natur zu erzwingen. Deine Hand zeigt, ohne daß du daran denkst, das Modell, das du bei deinem Lehrer kopiert hast. Du steigst nicht in die Intimität der Form hinab, du verfolgst sie nicht mit Liebe und Beharrlichkeit in ihren Umwegen und auf ihrer Flucht. Die Schönheit ist etwas Strenges und Sprödes, das sich so nicht erreichen läßt; es gilt, ihre Stunden abzuwarten, sie zu belauern, sie zu bedrängen und sie eng zu umschlingen, um sie zur Übergabe zu zwingen. Die Form ist ein Proteus, unfaßbarer und fruchtbarer an Verwandlungsfähigkeit als der Proteus der Sage; erst nach langen Kämpfen kann man sie zwingen, sich unter ihrer wahren Erscheinung zu zeigen. Ihr begnügt euch mit der ersten Gestalt, die sie euch darbietet, oder höchstens mit der zweiten oder dritten; so handeln sieghafte Kämpfer nicht! Jene nie besiegten Maler lassen – 177 –
sich nicht durch ihre Finten täuschen, sie harren aus, bis die Natur gezwungen ist, sich ganz nackt und in ihrem wahren Geist zu offenbaren. So ist Raffael vorgegangen«, sagte der Greis, indem er seine schwarze Samtmütze abnahm, um seiner Achtung vor dem König der Kunst Ausdruck zu verleihen, »seine große Überlegenheit entspringt dem geheimen Sinn, der bei ihm die Form zerbrechen zu wollen scheint. Die Form ist in seinen Gestalten, was sie bei uns ist, ein Dolmetsch, der den Gedanken, den Empfindungen eine ungeheure Poesie mitteilt. Jede Gestalt ist eine Welt, ein Bildnis, dessen Modell in einer erhabenen Vision aufstieg, getönt vom Licht, gerufen von einer inneren Stimme, entkleidet von einem himmlischen Finger, der in der Vergangenheit eines ganzen Lebens die Quellen des Ausdrucks aufgezeigt hat. Ihr gebt euren Frauen ein schönes Gewand aus Fleisch, schöne Draperien aus Haar, aber wo bleibt das Blut, das die Ruhe oder die Leidenschaft erzeugt und das erst die einzelnen Effekte hervorbringt? Deine Heilige ist brünett; aber dies alles, mein armer Porbus, gehört zu einer Blondine! Eure Gestalten sind blasse, kolorierte Phantome, die ihr uns vor den Augen vorüberführt, und das nennt ihr Malerei und Kunst! Weil du etwas gemacht hast, was eher einer Frau als einem Haus ähnlich sieht, meinst du, ans Ziel gerührt zu haben, und stolz darauf, daß du nicht neben deine Gemälde zu schreiben brauchst: ›currus venustus‹ oder ›pulcher homo‹, wie es die alten Meister taten, meinst du schon, ein wunderbarer Künstler zu sein. Haha, ihr seid noch nicht am Ziel, meine wackeren Gefährten; ihr werdet noch viele Stifte verbrauchen, viele Stücke Leinwand füllen müssen, ehe ihr es erreicht! Sicherlich trägt eine Frau ihren Kopf so, sie hält ihren Rock auf diese Weise, ihre Augen erschlaffen und verschwimmen mit diesem Ausdruck resignierter Milde, der zitternde Schatten der Wimpern streicht so über ihre Wangen hin! So ist es, und es ist doch nicht so. Was fehlt? Ein Nichts, aber dieses Nichts ist alles. Ihr habt den Anschein des Lebens, aber ihr drückt nicht sein Zuviel aus, das über die Ufer tritt, jenes Irgendetwas, das vielleicht die Seele ist und das wolkig über der Hülle schwimmt; kurz, jene Blüte des Lebens, die Tizian und Raffael erhaschten. Wenn man von dem Extrem ausginge, das ihr mit – 178 –
knapper Not erreicht, so würde man vielleicht wundervolle Bilder schaffen; aber ihr werdet zu schnell müde. Der Pöbel bewundert, aber der wahre Kenner lächelt. O Mabuse, o mein Meister«, fügte die absonderliche Persönlichkeit hinzu, »du bist ein Dieb, du hast das Leben mitgenommen! – Bis auf das ist diese Leinwand mehr wert als die Malereien jenes großspurigen Angebers, des Rubens, mit seinen zinnoberbestreuten flämischen Fleischbergen, seinen Wogen roten Haars und seinem Farbenlärm. Doch bei ihm ist wenigstens Farbe, Empfindung und Zeichnung vorhanden, und das sind die drei wesentlichen Bestandteile der Kunst.« »Aber diese Heilige ist herrlich, guter Mann!« rief der Jüngling mit kräftiger Stimme; er war aus einer tiefen Träumerei erwacht. »Diese beiden Figuren, die Heilige und die des Bootsmannes, haben eine Feinheit der Erfindung, wie sie die italienischen Maler nicht kannten; ich kenne keinen, der die Unentschlossenheit des Bootsmanns hätte erfinden können.« »Gehört der Schlingel zu Euch?« fragte Porbus den Alten. »Ach, Meister, vergebt mir meine Kühnheit«, erwiderte der Neuling errötend, »ich bin ein Unbekannter, ein Farbenkleckser aus Instinkt, und ich bin erst seit kurzem in dieser Stadt, der Quelle alles Wissens.« »Ans Werk!« sagte Porbus und reichte ihm einen Rotstift und ein Blatt Papier hin. Der Unbekannte kopierte die Maria im Umriß. »Ei, ei!« rief der Alte; »wie heißt Ihr?« Der junge Mann schrieb unten an den Rand: »Nicolas Poussin. « »Gar nicht übel für einen Anfänger!« sagte die merkwürdige Persönlichkeit, die so wild einherredete. »Ich sehe, man kann in deiner Gegenwart vom Malen sprechen. Ich tadle dich nicht, wenn du Porbus' Heilige bewunderst. Sie ist für alle ein Meisterwerk, und nur die in die tiefsten Geheimnisse der Kunst Eingeweihten können entde– 179 –
cken, woran es bei ihr fehlt. Aber da du des Unterrichts würdig bist und ihn begreifen kannst, will ich dir zeigen, wie wenig nötig ist, um dieses Werk zu vollenden. Sei ganze Auge und Aufmerksamkeit, eine solche Gelegenheit zum Lernen wird sich für dich vielleicht nie wieder ergeben. – Deine Palette, Porbus!«
Porbus suchte Palette und Pinsel. Der kleine Greis schob mit einer Bewegung von krampfhafter Schroffheit seinen Ärmel hoch, steckte den Daumen in die mit allen Farben beladene und beblümte Palette, die Porbus ihm reichte, und riß ihm die Handvoll Pinsel in allen Größen mehr aus der Hand, als daß er sie nahm; sein spitzgeschnittener Bart zuckte plötzlich unter den bedrohlichen Anstrengungen, die den Stachel einer leidenschaftlich arbeitenden Phantasie verrieten. Während er den Pinsel mit Farbe belud, brummte er zwischen den Zähnen: »Die Farben sind gerade gut genug, um sie samt dem, der sie gemacht hat, zum Fenster hinauszuwerfen, so empörend roh und falsch sind sie! Wie soll man damit malen?« Dann tauchte er die Spitze des Pinsels mit fieberhafter Lebendigkeit in die verschiedenen Farbenkleckse, deren ganze Skala er zuweilen – 180 –
schneller durchlief, als ein Domorganist die Tonleiter seiner Orgel beim O Filii zu Ostern durcheilt. Porbus und Poussin standen zu beiden Seiten des Gemäldes, in das leidenschaftlichste Schauen versunken, reglos da. »Siehst du, junger Mann«, sagte der Greis, ohne sich umzudrehen, »siehst du, wie man mit drei oder vier Strichen und ein wenig bläulicher Lasur die Luft um den Kopf dieser armen Heiligen streichen läßt, die zuvor ersticken mußte, als sei sie in dieser toten Atmosphäre gefangen? Schau, wie diese Draperie jetzt flattert und wie man versteht, daß der Wind sie aufhebt! Vorher sah sie aus wie eine gestärkte Leinwand, die von Nadeln gehalten wurde. Merkst du, wie der satinierte Glanz, den ich auf die Brust lege, die fette Weichheit der Haut eines jungen Mädchens wiedergibt, und wie der aus Rotbraun und gebranntem Ocker gemischte Ton die graue Kälte dieses Schattens wärmt, wo das Blut gefror, statt zu kreisen? Junger Mann, junger Mann, was ich dir da zeige, das könnte dich kein Meister lehren. Nur Mabuse besaß das Geheimnis, den Gestalten Leben zu geben. Mabuse hat nur einen Schüler gehabt, und der bin ich. Ich habe keinen gefunden, und ich bin alt! Du hast Verstand genug, um den Rest zu erraten, nachdem ich dir so viel gezeigt habe.« Während er sprach, berührte der unheimliche Greis alle Teile des Bildes: Hier zwei Pinselstriche, dort ein einziger, aber stets so treffend, daß man hätte meinen können, das Ganze sei ein neues Bild, aber ein in Licht getauchtes. Er arbeitete mit so leidenschaftlichem Eifer, daß der Schweiß auf seiner kahlen Stirn perlte; es ging so rasch in kleinen, ungeduldigen, stoßweisen Bewegungen, daß es dem jungen Poussin schien, als stecke in dem Körper dieser wunderlichen Persönlichkeit ein Dämon, der durch seine Hände wirkte, indem er sie phantastisch wider den Willen des Menschen führte. Der übernatürliche Glanz der Augen, die Zuckungen, die wie ein Widerstand wirkten, gaben dieser Vorstellung einen Schein der Tatsächlichkeit, der eine junge Phantasie stark beeindrucken mußte. Dabei sprach der – 181 –
Greis: »Baff! baff! baff! So bestreicht man die Sache, junger Mann! Kommt, meine kleinen Strichelchen, macht mir diesen Eiston rot! Los! Klatsch! klatsch! klatsch!« sagte er, indem er die Partien aufwärmte, bei denen er von einem Mangel an Leben gesprochen hatte, indem er lediglich durch ein paar Farbkleckse die Unterschiede im Charakter zum Verschwinden brachte und die Einheit des Tons wiederherstellte, wie eine glühende Ägypterin sie verlangte.
»Siehst du, Junge, nur der letzte Pinselstrich zählt. Porbus hat hundert geführt, ich nur einen. Niemand weiß uns Dank für das, was daruntersteckt. Das merke dir.« Schließlich hielt der dämonische Mann inne, und indem er sich zu Porbus und Poussin umwandte, die vor Bewunderung stumm dastanden, sagte er zu ihnen: »Das kommt meiner ›Belle-Noiseuse‹ noch nicht gleich, aber unter ein solches Werk könnte man schon seinen Namen setzen. Ja, ich würde es signieren«, fügte er hinzu, indem er aufstand und einen Spiegel nahm, um es zu betrachten. »Jetzt wollen wir frühstücken«, sagte er; »kommt beide mit zu mir, ich habe geräucherten Schinken und guten Wein!... Ja, ja, trotz der unglückli– 182 –
chen Zeiten wollen wir vom Malen plaudern! Wir haben die Kraft... Hier haben wir ein Männlein«, fügte er hinzu, indem er Nicolas Poussin auf die Schulter klopfte, »das eine leichte Hand besitzt.« Und als er den armseligen Reiserock des Normannen bemerkte, zog er einen Lederbeutel aus dem Gürtel, wühlte darin herum, nahm zwei Goldstücke, zeigte sie ihm und sagte: »Ich kaufe dir deine Zeichnung ab.« »Nimm«, sagte Porbus zu Poussin, als er sah, wie dieser vor Scham erbebte und errötete, denn der junge Adept besaß den Hochmut des Armen; »nimm doch; der hat in seiner Geldkatze das Lösegeld für zwei Könige.« Sie stiegen zu dritt aus dem Atelier hinunter und gingen unter Kunstgesprächen bis zu einem schönen Holzhaus, das in der Nähe des Pont Saint-Michel lag und dessen Ornamente, dessen Klopfer, Fensterumrahrnungen und Arabesken Poussin in Staunen setzten. Der künftige Maler sah sich plötzlich in einem Raum des Erdgeschosses vor einem schönen Feuer sitzen, dicht bei einem Tisch, der mit appetitanregenden Gerichten beladen war, und obendrein vermöge eines unerhörten Glücks in Gesellschaft zweier großer, von Wohlwollen erfüllter Künstler. »Junger Mann«, sagte Porbus zu Poussin, als er sah, wie jener mit offenem Munde vor einem Gemälde stand, »dies Bild betrachte dir nicht zu genau, du würdest sonst in Verzweiflung geraten.« Es war der ›Adam‹, den Mabuse gemalt hatte, um aus dem Gefängnis herauszukommen, in dem ihn seine Gläubiger so lange festgehalten hatten. Wirklich zeigte die Gestalt eine solche Gewalt an Wirklichkeit, daß Nicolas Poussin in diesem Augenblick den wahren Sinn der wirren Worte zu erfassen begann, die der Greis gesprochen hatte. Dieser warf einen befriedigten Blick auf das Bild, doch ohne Begeisterung, so daß es war, als sage er: »Ich habe Besseres gemacht.« »Es steckt Leben darin«, sagte er, »mein armer Meister hat damit sich selber übertroffen; aber es fehlt noch ein wenig Wahrheit im Bild– 183 –
hintergrund. Der Mensch ist lebendig, er steht auf und wird gleich zu uns treten; aber die Luft, der Himmel und der Wind, das, was wir atmen, sehen und fühlen, das fehlt. Überdies ist es bloß ein Mensch! Der erste Mensch aber, der unmittelbar aus Gottes Händen hervorging, muß etwas Göttliches gehabt haben, und das fehlt dem da. Mabuse selber hat es voll Ärger gesagt, wenn er nicht betrunken war.« Poussin schaute mit unruhiger Neugier abwechselnd den Greis und Porbus an. Er näherte sich diesem, als wolle er ihn nach dem Namen ihres Gastgebers fragen; aber der Maler legte mit geheimnisvoller Miene den Finger auf die Lippen, und der Jüngling bewahrte trotz seinem lebhaften Interesse Schweigen. Er hoffte, daß ihm früher oder später irgendein Wort erlauben würde, den Namen seines Gastgebers zu erraten, dessen Reichtum und Talent hinlänglich durch die Ehrfurcht erwiesen waren, die Porbus ihm bezeigte, und erwiesen auch durch die Wunder, die in diesem Raum angehäuft waren. Poussin erblickte auf der dunklen Eichentäfelung ein prachtvolles Frauenbildnis und rief aus: »Was für ein schöner Giorgione!« »Nein«, erwiderte der Greis, »es ist eine meiner ersten Sudeleien...« »Tausend Wetter! Bin ich denn bei dem Gott der Malerei?« rief Poussin naiv aus. Der Greis lächelte wie ein Mann, der seit langem mit solchem Lobe vertraut ist. »Meister Frenhofer«, sagte Porbus, »könntet Ihr nicht für mich ein wenig von Eurem schönen Rheinwein kommen lassen?« »Zwei Fässer«, erwiderte der Greis; »eins, um mich für das Vergnügen erkenntlich zu zeigen, das ich heute morgen hatte, als ich deine hübsche Fischerin sah, und das andere als ein Geschenk der Freundschaft.« »Ach, wenn ich nicht immer leidend wäre«, sagte Porbus, »und wenn Ihr mir Eure ›Belle Noiseuse‹ zeigen wolltet, so könnte ich auch – 184 –
vielleicht noch ein Bild zustande bringen, das hoch und breit und tief wäre und in dem die Gestalten ihre natürliche Größe hätten.« »Mein Werk zeigen?« rief der Alte bewegt. »Nein, nein! Ich muß es noch vervollkommnen. Gestern gegen Abend glaubte ich, es sei fertig. Ihre Augen schienen mir feucht, ihr Fleisch war erregt. Die Haarsträhnen bewegten sich. Sie atmete! Obgleich ich das Mittel gefunden habe, auf einer flachen Leinwand das Relief und die Rundung der Natur zu verwirklichen, erkannte ich heute morgen im Tageslicht meinen Irrtum. Ach, ich habe, um dieses glorreiche Ziel zu erreichen, die großen Meister der Koloristik studiert; ich habe die Bilder Tizians, dieses Königs des Lichtes, Schicht für Schicht analysiert und abgehoben; ich habe meine Figur in einem klaren Ton mit einer weichen, fetten Farbschicht angelegt – denn der Schatten ist nur Nebensache, merke dir das, Kleiner. Dann habe ich mein Werk wieder vorgenommen, und mit Hilfe von Halbtönen und Lasuren, deren Transparenz ich allmählich verringerte, habe ich die kräftigsten Schatten und selbst das tiefste Schwarz erzielt; denn die Schatten der gewöhnlichen Maler sind von anderem Wesen als ihre hellen Töne; da ist Holz, Erz, was ihr wollt, nur kein Fleisch im Schatten. Man fühlt: Wenn ihre Figur die Stellung wechseln würde, so würden die Schattenteile nicht hell werden und kein Licht aufnehmen. Ich habe diesen Fehler vermieden, dem viele der Berühmtesten verfallen sind, und bei mir hebt sich das Weiß auch unter dem Düster des kräftigsten Schattens noch hervor! Ich habe nicht wie eine Menge Ignoranten, die sich einbilden, korrekt zu zeichnen, weil sie einen sorgfältig ausgefeilten Strich ziehen, trocken die Außenränder meiner Figur umrissen und jedes anatomische Detail unterstrichen, denn der menschliche Körper wird nie und nimmer von Linien umrahmt. Darin können die Bildhauer der Wahrheit näherkommen als wir. Die Natur besteht aus einer Reihenfolge von Rundungen, die ineinander übergehen. Streng gesprochen gibt es keine Zeichnung! Lacht nicht, junger Mann! So sonderbar Euch dieses Wort auch erscheinen mag, Ihr werdet eines Tages einsehen, daß es begründet ist. Die Linie ist nur das Mittel, durch das der Mensch sich über die Wirkung des Lichts auf die Dinge Rechenschaft ablegt; in der Natur jedoch gibt es – 185 –
keine Linien, da ist alles voll: Beim Modellieren zeichnet man, das heißt, man löst die Dinge aus dem, worin sie stecken; die Verteilung des Lichts allein gibt dem Körper Wahrscheinlichkeit! Daher habe ich auch keine festen Umrisse gegeben; ich habe über die Konturen eine Wolke von blonden und warmen Halbtönen gelegt, die bewirkt, daß man den Finger nie genau auf die Stelle legen könnte, wo die Konturen an den Hintergrund grenzen. Aus der Nähe scheint eine solche Arbeit flockig, und es sieht aus, als fehle die Präzision; aber in zwei Schritten Abstand wird alles fest, es wird greifbar und löst sich los; der Körper dreht sich, die Formen werden plastisch, man fühlt, wie die Luft um sie herumstreicht. Und doch bin ich noch nicht zufrieden, ich habe noch Zweifel. Vielleicht dürfte man überhaupt nicht einen einzelnen Strich zeichnen, und es wäre besser, eine Gestalt von der Mitte her in Angriff zu nehmen, indem man sich zunächst an die am stärksten beleuchteten, vorspringenden Stellen hält, um danach erst zu den dunkleren Teilen überzugehen. Geht nicht so die Sonne vor, die göttliche Malerin des Weltalls? O Natur, Natur, wer hat dich je auf deiner Flucht erhascht? Seht, zuviel Wissen gelangt ebenso wie Unwissenheit zur Negation. Ich zweifle an meinem Werk.« Der Greis macht eine Pause. Dann fuhr er fort: »Jetzt arbeite ich zehn Jahre daran, junger Mann; aber was sind zehn kurze Jahre, wenn es sich darum handelt, mit der Natur zu kämpfen? Wir wissen nicht, wie lange der Meister Pygmalion brauchte, um die einzige Statue zu meißeln, die sich je vom Fleck bewegt hat!« Er versank in tiefe Grübelei und blieb mit geschlossenen Augen sitzen, während er mechanisch mit seinem Messer spielte. »Jetzt ist er im Gespräch mit seinem Geist!« sagte Porbus ganz leise. Bei diesem Wort fühlte Nicolas Poussin den Drang einer unerklärlichen Künstlerneugier. Dieser aufmerksame und auch wieder stumpfsinnige Greis mit den weißen Augen, der für ihn mehr als ein Mensch geworden war, dünkte ihn ein phantastischer Genius, der in einer unbekannten Sphäre lebte. Er weckte in der Seele tausend wirre – 186 –
Gedanken. Das moralische Phänomen dieser Art von Zauber läßt sich so wenig definieren, wie man die Erregung erklären kann, die durch ein Lied ausgelöst wird, das dem Verbannten die Heimat ins Herz zurückruft. Die Verachtung, die dieser Greis für die schönsten Versuche der Kunst bekundete, sein Reichtum, sein Wesen, die Ehrfurcht, die Porbus ihm bezeigte, jenes so lange geheimgehaltene Werk, ein Werk der Geduld und zweifellos ein geniales Werk, wenn man nach dem Kopf der Jungfrau urteilen durfte, die der junge Poussin so unverhohlen bewundert hatte und die, selbst neben dem »Adam« des Mabuse noch immer schön, für das herrscherlich überlegene Schaffen eines Fürsten der Kunst zeugte: das alles ging bei diesem Greis über die Grenzen der menschlichen Natur hinaus. Was Nicolas Poussins reiche Phantasie an klaren und faßbaren Dingen zu erkennen vermochte, als er dieses übernatürliche Wesen vor sich sah, das war ein umfassendes Bild der Künstlernatur, jener närrischen Natur, der so viele Mächte anvertraut sind und die sie nur zu oft mißbraucht, indem sie die kühle Vernunft, die Bürger und sogar ein paar Liebhaber über viele steinige Straßen entführt, wo, für sie, nichts mehr vorhanden ist; während jenes in seinen Launen irrlichternde Mädchen mit den weißen Flügeln darin Epen, Schlösser und Kunstwerke entdeckt. Spöttische und gutmütige, fruchtbare und arme Natur! Auf diese Weise war der Greis für den Enthusiasten Poussin durch eine jähe Verwandlung der Kunst in sich zur Kunst mit ihren Geheimnissen, ihren Rasereien und Träumen geworden. »Ja, mein lieber Porbus«, fuhr Frenhofer fort, »es hat mir bis jetzt eins gefehlt, nämlich daß ich einer makellosen Frau begegnete, einem Körper, dessen Konturen von vollkommener Schönheit sind und dessen Inkarnat... Aber wo wäre sie im Leben zu finden«, unterbrach er sich selber, »jene unauffindbare Venus der Alten, die so oft gesucht wurde und von der wir kaum ein paar verstreute Einzelschönheiten antreffen? Oh, ein einziges Mal auf einen Augenblick die göttliche, ungeteilte Natur, kurzum: das Ideal zu sehen, dafür würde ich mein ganzes Vermögen hingeben... Ich würde dich in deinem Limbus suchen, himmlische Schönheit! Wie Orpheus würde ich in – 187 –
die Hölle der Kunst hinabsteigen, um ihr Leben daraus zurückzuholen.« »Wir können aufbrechen«, sagte Porbus zu Poussin, »er hört uns nicht mehr und sieht uns nicht mehr.« »Laßt uns in sein Atelier gehen«, schlug der staunende junge Mann vor. »Oh, der Alte hat den Eingang verriegelt. Seine Schätze werden zu gut bewacht, als daß wir zu ihnen gelangen könnten. Ich habe nicht erst Eure Meinung und Eure Laune abgewartet, um den Sturm auf das Geheimnis zu versuchen.« »Es liegt also ein Geheimnis vor?« »Ja«, sagte Porbus; »der alte Frenhofer ist der einzige Schüler, den Mabuse hat ausbilden wollen. Frenhofer wurde sein Freund, sein Retter, sein Vater und opferte den größeren Teil seiner Schätze, um den Leidenschaften des Meisters Mabuse genugzutun; dafür hat Mabuse ihm das Geheimnis des Reliefs überlassen, das Vermögen, den Figuren jenes außerordentliche Leben, jenes Blühen der Natur zu verleihen, das unsere ewige Verzweiflung ist; er aber besaß ihr Geheimnis bis zu einem Grade, daß er eines Tages, als er den geblümten Damast, mit dem er sich beim Einzuge Karls V. bekleiden sollte, verkauft und vertrunken hatte, seinen Herrn in einem Anzug aus Papier begleitete, das wie Damast bemalt war. Der besondere Glanz des Stoffes, den Mabuse trug, fiel dem Kaiser auf; und als er dem Gönner des alten Trunkenbolds ein Kompliment machen wollte, entdeckte er den Trug. Frenhofer ist ein Mensch, der leidenschaftlich in unserer Kunst aufgeht und der höher und weiter schaut als die anderen Maler. Er hat tief über die Farben und über die absolute Wahrheit der Linie nachgedacht; aber durch zuviel Suchen ist er dahin gelangt, jetzt selber an dem Ziel seiner Mühen zu zweifeln. In seinen Augenblicken der Verzweiflung behauptete er, die Zeichnung gebe es nicht, und man könne mit Strichen nur geometrische Figuren wiedergeben; das geht über die Wahrheit hinaus, denn mit Hilfe des Strichs und des Schwarz, das keine Farbe ist, kann man sehr wohl – 188 –
eine Gestalt hinstellen, was beweist, daß unsere Kunst wie die Natur aus unendlich vielen Elementen besteht: Die Zeichnung gibt ein Skelett, die Farbe ist das Leben; aber das Leben ohne das Skelett ist etwas noch Unvollkommeneres als das Skelett ohne das Leben. Kurz, es gibt etwas, das noch wahrer ist als all dies: daß nämlich Übung und Beobachtung für einen Maler alles sind; und wenn Vernunft und Poesie mit den Pinseln streiten, so gelangt man wie der gute Mann da, der ebensosehr ein Wahnsinniger wie ein Maler ist, zum Zweifel. Er ist ein wunderbarer Maler, aber er hatte das Unglück, reich geboren zu werden, denn das erlaubte ihm Abschweifungen; ahmt ihn nicht nach! Arbeitet! Maler dürfen nur mit dem Pinsel in der Hand nachdenken.« »Wir kommen doch noch hinein!« rief Poussin, er hörte Porbus nicht mehr zu und zweifelte an nichts mehr. Porbus lächelte dem Enthusiasmus des jungen Unbekannten zu und verließ ihn, indem er ihn zu weiteren Besuchen einlud. Nicolas Poussin kehrte langsamen Schrittes in die Rue de la Harpe zurück und ging, ohne es zu merken, an dem bescheidenen Mietshaus vorbei, in dem er wohnte. Als er mit unruhiger Hast in sein elendes Atelier hinaufstieg, gelangte er in ein Zimmer, das unter dem Ständerwerkdach gelegen war, jener naiven und leichten Bedeckung der Häuser des alten Paris. An dem einzigen dunklen Fenster dieses Raums saß ein junges Mädchen, das sich bei dem Knarren der Tür in einer Bewegung, wie die Liebe sie auslöst, jäh aufrichtete; sie hatte den Maler an der Art erkannt, wie er den Griff anfaßte. »Was ist dir?« fragte sie. »Ich... ich...«, rief er und rang vor Freude nach Atem, »ich habe mich als Maler gefühlt. Bisher hatte ich an mir gezweifelt, aber heute morgen habe ich an mich geglaubt! Aus mir kann ein großer Mann werden! Ach, Gillette, wir werden reich und glücklich! Es steckt Gold in diesen Pinseln...«
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Aber er verstummte plötzlich. Sein ernstes, kräftiges Gesicht verlor den freudigen Ausdruck, als er die Unermeßlichkeit seiner Hoffnungen mit der Geringfügigkeit seiner Hilfsmittel verglich. Die Wände waren mit einfachen Blättern bedeckt, auf denen Bleistiftskizzen zu sehen waren. Er besaß keine vier sauberen Leinwandstücke. Die Farben standen damals hoch im Preis, und der arme junge Mann sah seine Palette so gut wie leer. In all seinem Elend besaß er und fühlte er unglaublichen Herzensreichtum und die Überfülle eines verzehrenden Genies. Ein befreundeter Edelmann oder vielleicht sein eigenes Talent hatten ihn nach Paris geführt, und dort hatte er plötzlich eine Geliebte gefunden, eine jener edlen und großherzigen Seelen, die zu einem großen Manne kommen, um mit ihm zu leiden, die sich seine Schmerzen zu eigen machen und sich abmühen, seine Launen zu begreifen; stark im Elend und in der Liebe, wie andere beharrlich den Luxus ertragen und mit ihrer Empfindungslosigkeit zu prunken wagen. Das Lächeln, das über Gillettes Lippen huschte, vergoldete die Dachkammer und wetteiferte mit dem Glanz des Himmels. Die Sonne strahlte nicht immer; Gillette jedoch war stets da mit ihrer warmen Leidenschaftlichkeit, ihrem Glück hingegeben, ihrem Leiden, und ein Trost für das Genie, das, ehe es sich der Kunst bemächtigte, in der Liebe überschäumte. »Hör, Gillette, komm.« Das gehorsame, fröhliche Mädchen sprang dem Maler auf die Knie. Sie war ganz Anmut, ganz Schönheit, lieblich wie ein Frühling, geschmückt mit allen weiblichen Schätzen, und sie mit dem Glanz einer schönen Seele überhellend. »O Gott«, rief er, »ich wage es ihr nie zu sagen...« »Ein Geheimnis?« fragte sie. »Ich will es wissen!« Poussin blieb in Gedanken versunken. »Rede doch!« »Gillette... armes, geliebtes Herz!« – 190 –
»Oh, willst du etwas von mir?« »Ja.« »Wenn du willst, daß ich dir wieder wie neulich Modell stehe«, fuhr sie mit schmollender Miene fort, »dann willige ich keinesfalls ein, denn in solchen Augenblicken sagen mir deine Augen nichts mehr. Du denkst nicht mehr an mich, und dennoch siehst du mich an.« »Wäre es dir lieber, wenn ich eine andere Frau malte?« »Vielleicht«, sagte sie, »wenn sie recht häßlich wäre.« »Ja«, sagte Poussin in ernsthaftem Ton, »wenn es nun für meinen künftigen Ruhm, wenn es, um mich zum großen Maler zu machen, nötig wäre, daß du einem anderen Modell ständest?« »Du willst mich auf die Probe stellen«, erwiderte sie, »du weißt ganz genau, daß ich nicht hinginge.« Wie ein Mensch, der einer Freude oder einem Schmerz erliegt, wie seine Seele sie nicht zu ertragen vermögen, neigte Poussin den Kopf auf die Brust. »Höre«, sagte sie und zupfte ihn am Ärmel seines abgenutzten Wamses, »ich habe dir schon gesagt, Nick, ich würde mein Leben für dich geben; aber ich habe dir nie versprochen, daß ich, solange ich lebe, auf meine Liebe verzichten würde.« »Verzichten?« rief Poussin aus. »Wenn ich mich einem anderen so zeigte, würdest du mich nicht mehr lieben; und ich selber würde mir deiner unwürdig vorkommen. Deinen Launen zu gehorchen, ist das nicht etwas Natürliches und Einfaches? Wider Willen bin ich glücklich und sogar stolz darauf, deinen lieben Willen zu tun. Aber für einen anderen, pfui!«
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»Vergib, Gillette!« sagte der Maler und warf sich ihr zu Füßen. »Ich will lieber geliebt werden, als Ruhm erwerben. Für mich bist du schöner als Reichtum und Ehren. Da – wirf meine Pinsel weg und verbrenne meine Skizzen. Ich habe mich geirrt. Mein Beruf ist, dich zu Lieben. Ich bin kein Maler mehr, ich bin ein Liebender. Möge die Kunst mit all ihren Geheimnissen zugrunde gehen!« Sie bewunderte ihn, glücklich und bezaubert! Sie herrschte, sie fühlte instinktiv, daß um ihretwillen die Kunst vergessen war, daß sie ihr wie ein Körnchen Weihrauch zu Fußen geworfen wurde. »Und dabei ist es nur ein Greis«, begann Poussin von neuem. »Er kann in dir nur die Frau sehen. Du bist so vollkommen.« »Man muß wohl lieben!« rief sie, bereit, ihre Liebesbedenken zu opfern und so ihren Liebhaber für all die Opfer zu belohnen, die er ihr gebracht hatte. »Aber«, fügte sie hinzu, »das hieße mich zugrunde richten. Ach, mich für dich zugrunde richten... ja, das ist wohl schön! Aber du wirst mich vergessen. Oh, was für einen bösen Gedanken hast du da gehabt!« – 192 –
»Ich habe ihn gehabt und liebe dich dennoch«, sagte er, nicht ohne Zerknirschung; »aber bin ich denn ehrlos?« »Wollen wir Pater Hardouin fragen?« sagte sie. »O nein, es muß ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben.« »Ich will hingehen; aber sei du nicht dabei«, sagte sie. »Bleib an der Tür, mit deinem Dolch bewaffnet; wenn ich schreie, komm herein und erstich den Maler.« Poussin hatte nur noch seine Kunst im Sinn; er zog Gillette an die Brust. »Er liebt mich nicht mehr«, dachte Gillette, als sie allein war. Schon bereute sie ihren Entschluß. Aber bald fiel sie einem Grauen anheim, das grausamer war als ihre Reue; sie rang danach, einen furchtbaren Gedanken zu verjagen, der sich ihr im Herzen erhob. Sie glaubte den Maler schon weniger zu lieben, da sie argwöhnte, er sei weniger ehrenhaft als früher. II Drei Monate nach der Begegnung Poussins und Porbus' suchte der letztere den Meister Frenhofer auf. Der Greis war gerade in einer jener tiefen, spontanen Entmutigungen befangen, deren Ursache, wenn man den Mathematikern unter den Medizinern glauben will, in einer schlechten Verdauung, im Wind, der Wärme oder in einer Geschwulst des Unterleibes beruht, nach den Spiritualisten aber in der Unvollkommenheit unserer moralischen Natur beruht. Der wackere Mann hatte sich ganz einfach beim Vollenden seines geheimnisvollen Gemäldes überarbeitet. Er saß ermattet in einem ungeheuren Sessel aus geschnitztem Eichenholz, der mit schwarzem Leder bespannt war; und ohne seine melancholische Haltung aufzugeben, warf er den Blick eines Mannes, der sich in seinem Verdruß häuslich niedergelassen hat, auf Porbus. – 193 –
»Nun, Meister«, fragte Porbus, »war das Ultramarin, das Ihr in Brügge suchtet, schlecht? Habt Ihr unser neues Weiß nicht verrühren können? War Euer Öl verdorben, oder waren die Pinsel störrisch?« »Ach!« rief der Greis, »ich hatte für kurze Zeit geglaubt, mein Werk sei fertig; aber in ein paar Einzelheiten habe ich mich sicherlich getäuscht, und ich finde keine Ruhe, ehe ich meine Zweifel nicht geklärt habe. Ich will reisen, will in die Türkei, nach Griechenland und Asien, um dort ein Modell zu suchen und mein Bild mit allerlei Naturellen zu vergleichen... Vielleicht habe ich da oben«, fuhr er fort und ließ sich dabei ein Lächeln der Befriedigung entschlüpfen, »die Natur an sich. Bisweilen fürchte ich fast, ein Hauch könne mir diese Frau erwecken, so daß sie verschwände.« Plötzlich sprang er auf, als wolle er schon aufbrechen. »Oho!« erwiderte Porbus, »ich komme im rechten Augenblick, um Euch die Kosten und Anstrengungen der Reise zu ersparen.« »Wieso?« fragte Frenhofer erstaunt. »Der junge Poussin wird von einer Frau geliebt, deren unvergleichliche Schönheit ohne die leiseste Unvollkommenheit ist. Aber, lieber Meister, wenn er sich bereit erklärt, sie Euch zu leihen, so werdet Ihr uns wenigstens Euer Bild zeigen müssen.« Der Greis blieb reglos stehen, versunken in einen Zustand vollkommenen Stumpfsinns. »Wie!« rief er endlich schmerzlich aus, »mein Geschöpf, meine Gattin zeigen, den Schleier zerreißen, hinter dem ich mein Glück keusch geborgen hielt? Das wäre eine grauenhafte Prostitution! Jetzt lebe ich seit zehn Jahren mit dieser Frau; sie gehört mir, mir allein, sie liebt mich. Hat sie mir nicht bei jedem Pinselstrich zugelächelt, den ich an ihr tat? Sie hat eine Seele, eine Seele, mit der ich sie begabt habe. Sie würde erröten, wenn andere Augen als die meinen auf ihr ruhten. Sie zeigen! Wo ist der Gatte, der Liebhaber, der feil genug wäre, sein Weib zur Unehre zu führen? Wenn du ein Bild für den Hof malst, legst du nicht deine ganze Seele hinein, du verkaufst den – 194 –
Höflingen lediglich kolorierte Gliederpuppen. Mein Bild ist kein Bild; es ist eine Empfindung, eine Leidenschaft! Sie ist in meinem Atelier geboren und muß in ihm jungfräulich bleiben; sie kann es nur bekleidet verlassen. Die Poesie und die Frauen geben sich einzig ihren Liebhabern nackt! Besitzen wir das Modell Raffaels, die Angelica Ariosts, Dantes Béatrice? Nein! Wir sehen nur ihre Formen. Das Werk, das ich da oben hinter meinen Riegeln habe, ist eine Ausnahme in unserer Kunst; es ist kein Bild, es ist eine Frau! Eine Frau, mit der ich weine, lache, plaudere und denke. Soll ich plötzlich ein zehnjähriges Glück aufgeben, wie man einen Mantel abwirft; soll ich aufhören, Vater, Liebhaber, Gott zu sein? Diese Frau ist kein Geschöpf, sie ist eine Schöpfung. Laß deinen jungen Mann kommen; ich will ihm meine Schätze schenken, Gemälde von Correggio, Michelangelo, Tizian; ich will im Staub die Spur seiner Füße küssen; aber ihn zu meinem Nebenbuhler machen? Schmach und Schande. Ha, ha, ich bin noch mehr Liebhaber als Maler. Ja, ich werde die Kraft aufbringen, meine ›Belle Noiseuse‹ bei meinem letzten Atemzug zu verbrennen; aber den Blick eines Mannes, eines jungen Mannes, eines Malers auf ihr ruhen lassen? Nein, nein, ich würde den, der sie mit einem Blick besudelt hätte, am folgenden Tage umbringen! Ich würde dich augenblicklich ermorden, dich, meinen Freund, wenn du sie nicht auf den Knien begrüßtest. Willst du tatsächlich, daß ich mein Idol den kalten Blicken und den bornierten Kritiken der Dummköpfe preisgebe? Ach, die Liebe ist ein Geheimnis, Leben gibt es nur in der Tiefe der Herzen; und alles ist verloren, wenn ein Mann sagt, und wäre es auch zu seinem Freund: Das ist die, die ich liebe.« Der Greis schien wieder jung geworden zu sein; seine Augen hatten Glanz und Leben, seine blassen Wangen waren mit lebhaftem Rot getönt, und seine Hände bebten. Erstaunt ob der leidenschaftlichen Gewalt, mit der diese Worte gesprochen wurden, wußte Porbus nicht mehr, was er auf eine ebenso neue wie tiefe Empfindung erwidern solle. War Frenhofer bei klarem Verstand oder wahnsinnig? War er der Sklave einer Künstlerlaune, oder entsprangen die Gedanken, die er ausgesprochen hatte, jenem sonderbaren Fanatismus, der durch das lange Trächtiggehen mit einem großen Werk erzeugt wird? – 195 –
Konnte man jemals hoffen, mit dieser wunderlichen Leidenschaft zu einer Übereinkunft zu gelangen? Im Bann von solcherlei Gedanken fragte Porbus den Greis: »Aber hieße das nicht Frau gegen Frau geben? Liefert Poussin nicht Euren Blicken seine Geliebte aus?« »Welche Geliebte?« erwiderte Frenhofer. »Sie wird ihn früher oder später verraten. Die meine bleibt mir ewig treu.« »Nun«, versetzte Porbus, »reden wir nicht mehr davon. Aber ehe Ihr, und sei es in Asien, eine Frau findet, die so schön ist wie die, von der ich spreche, werdet Ihr vielleicht sterben, ohne Euer Bild vollendet zu haben.« »Oh, es ist fertig«, sagte Frenhofer; »wer es sähe, würde meinen, eine Frau unter Gardinen auf einem Samtbett liegen zu sehen. Neben ihr haucht ein Dreifuß Dufte aus. Du kämest in Versuchung, die Quasten der Schnüre anzufassen, an denen die Vorhänge befestigt sind, und du würdest meinen, die Brüste der Catherine Lescault, einer schönen Kurtisane, genannt ›La Belle Noiseuse‹, gäben die Bewegung ihres Atmens wieder. Freilich möchte ich sichergehen...« »So reist doch nach Asien!« erwiderte Porbus, da er ein Zögern in Frenhofers Blick las. Und er tat einige Schritte zur Tür hin. In diesem Augenblick waren Gillette und Nicolas Poussin vor Frenhofers Haus angelangt. Als das junge Mädchen eben eintreten wollte, ließ sie den Arm des Malers los und wich zurück, als ergreife sie eine jähe Ahnung. »Was soll ich hier?« fragte sie den Geliebten mit tiefer Stimme und sah ihn starr an. »Gillette, ich habe dir die Wahl gelassen und will dir in allem gehorchen. Du bist mein Gewissen und mein Ruhm. Komm mit zurück, ich werde vielleicht glücklicher, wenn du...« – 196 –
»Gehöre ich mir, wenn du so redest? O nein, ich bin nur ein Kind... Komm«, fügte sie, anscheinend mit großer Anstrengung, hinzu, »wenn unsere Liebe stirbt und ich eine lange Reue in mein Herz pflanze, wird dann nicht dein Ruhm der Preis für meinen Gehorsam gegenüber deinen Wünschen sein? Laß uns hineingehen; es heißt ein zweites Leben leben, wenn ich für immer als Erinnerung auf deiner Palette bleibe.« Als die beiden Liebenden die Tür des Hauses geöffnet hatten, trafen sie auf Porbus, der Gillette, deren Augen voll Tränen standen, ganz überrascht ob ihrer Schönheit, zitternd, wie sie war, ergriff und vor den Greis führte, wobei er sagte: »Seht, wiegt sie nicht alle Meisterwerke der Welt auf?« Frenhofer erbebte. Gillette stand in der naiven, schlichten Haltung einer unschuldigen, furchtsamen Georgierin da, die, von Räubern entführt, einem Sklavenhändler angeboten wird. Schamhafte Röte färbte ihr Gesicht, sie senkte die Augen, ihre Hände hingen an den Seiten nieder, die Kräfte schienen sie zu verlassen, und Tränen lehnten sich auf gegen die Gewalt, die ihrer Tugend angetan wurde. In diesem Augenblick verfluchte Poussin in Verzweiflung darüber, diese schöne Kostbarkeit aus seiner Kammer hervorgeholt zu haben, sich selber. Er war jetzt mehr Liebhaber als Künstler, und tausend Bedenken marterten ihm das Herz, als er das verjüngte Auge des Greises sah, der in seiner Malergewohnheit das Mädchen gleichsam entkleidete, indem er ihre geheimsten Formen erriet. Er verfiel der wilden Eifersucht wahrer Liebe. »Gillette, komm, wir gehen!« rief er. Bei diesem Klang, diesem Schrei hob seine Geliebte freudig die Augen, schaute ihn an und lief ihm in die Arme. »Ach, du liebst mich also?« fragte sie und brach in Tränen aus. Nachdem sie die Kraft aufgebracht hatte, ihre Leiden zu verschweigen, mangelte es ihr an derjenigen, ihr Glück zu verbergen. – 197 –
»Oh, laßt sie mir eine Weile«, sagte der alte Maler; »Ihr sollt sie mit meiner Catherine vergleichen. – Ja, ich bin dazu bereit.« Immer noch lag Liebe in diesem Ausruf Frenhofers. Er schien für seine Scheinfrau Koketterie zu entfalten und im voraus den Triumph zu genießen, den die Schönheit seiner Schöpfung über die eines wirklichen Mädchens davontragen würde. »Laßt ihn das nicht widerrufen!« rief Porbus und klopfte Poussin auf die Schulter. »Die Früchte der Liebe vergehen schnell, die der Kunst sind unsterblich.« »Führ ihn«, sagte Gillette und blickte Poussin und Porbus inständig an, »bin ich also keine Frau mehr?« Sie hob stolz den Kopf; aber nachdem sie einen funkelnden Blick auf Frenhofer geworfen hatte, gewahrte sie ihren Geliebten, der sich abermals das Bildnis ansah, das er jüngst für einen Giorgione gehalten hatte. – »Ach«, sagte sie, »laßt uns hinauf! Mich hat er so nie angesehen.« »Greis«, sagte Poussin, als ihn Gillettes Stimme aus seiner Versunkenheit weckte, »sieh diesen Degen; beim ersten Wort der Klage, in die dieses Mädchen ausbricht, stoß ich ihn dir ins Herz; ich lege Feuer an dein Haus, und niemand wird es verlassen! Verstehst du?« Nicolas Poussins Antlitz war finster, und was er sagte, klang furchtbar. Die Haltung und vor allem die Geste des jungen Malers beschwichtigten Gillette, die ihm beinahe verzieh, daß er sie der Malerei und seiner glorreichen Zukunft opferte. Porbus und Poussin standen an der Tür des Ateliers und sahen einander schweigend an. Wenn der Maler der »Ägyptischen Maria« sich zunächst ein paar Ausrufe erlaubte: »Ah, sie entkleidet sich, er sagt ihr, sie solle ins Licht treten! Er vergleicht sie!« so verstummte er bald vor Poussins Anblick, dessen Gesicht tief traurig war; und obwohl alte Maler jene vor der Kunst so kleinliche Bedenken nicht mehr kennen, so bewunderte er sie doch, da sie naiv und hübsch waren. Der junge Mann hielt die Hand auf dem Degenknauf und drückte das Ohr fast an die Tür. Beide glichen, wie sie da im Schatten standen, zwei Verschwörern, die des Augenblicks harrten, da ein Tyrann zu erstechen war. – 198 –
»Kommt, kommt!« sagte plötzlich der Greis, vor Glück strahlend, zu ihnen. »Mein Werk ist vollkommen; jetzt kann ich es voll Stolz zeigen. Nie werden Maler, Pinsel, Farben, Leinwand und Licht Catherine Lescault, der schönen Kurtisane, eine Nebenbuhlerin schaffen!« Voll lebhafter Neugier eilten Porbus und Poussin in ein weitläufiges, verstaubtes Atelier, wo alles in Unordnung war und in dem hier und dort an den Wänden Gemälde hingen. Sie blieben sofort vor einer halbnackten, lebensgroßen Frauenfigur stehen, da Bewunderung sie festbannte.
»Oh, kümmert euch nicht darum«, sagte Frenhofer, »das ist ein Bild, das ich hingepinselt habe, um eine Pose zu studieren; es taugt nichts. Hier hängen meine Irrtümer«, fuhr er fort und deutete auf herrliche Kompositionen, die ringsum an den Wänden hingen. Porbus und Poussin suchten, verblüfft ob der Geringschätzung für solche Werke, nach dem gepriesenen Bild, ohne es zu finden.
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»Da, da hängt es!« rief der Greis, dessen Haar ganz wirr war, während sein Gesicht in übernatürlicher Begeisterung flammte; seine Augen funkelten, er keuchte wie ein liebestrunkener Jüngling. »Ha, ha«, rief er, »so viel Vollkommenheit hattet ihr nicht erwartet! Ihr steht vor einer Frau, und ihr suchtet ein Bild. Dies Werk hat so viel Tiefe, die Luft ist so wahr, daß ihr sie von der Luft, die euch umgibt, nicht mehr unterscheiden könnt. Wo ist die Kunst? Verloren, verschwunden! Dies sind die Formen eines Mädchens an sich. Hab' ich die Farbe, das Leben der Linie, die den Körper zu umreißen scheint, nicht herrlich erfaßt? Bieten uns nicht die Dinge, die sich in der Atmosphäre befinden, dasselbe Phänomen dar wie die Fische im Wasser? Bewundert doch, wie sich die Konturen vom Hintergrund abheben! Ist es nicht, als könne man mit der Hand über diesen Rücken streichen? Sieben Jahre lang habe ich die Effekte der Paarung des Lichts und der Dinge studiert. Und flutet nicht Licht über dies Haar hin...? Ich glaube, sie atmet...! Diese Brust hier, seht ihr? Ach, wer möchte sie nicht auf den Knien anbeten? Das Fleisch zuckt. Gleich steht sie auf, wartet!« »Seht Ihr etwas?« fragte Poussin Porbus. »Nein, und Ihr?« »Nichts.« Die beiden Maler überließen den Greis seiner Ekstase und prüften, ob nicht das Licht, das senkrecht auf die Leinwand fiel, die er zeigte, sämtliche Effekte aufhob. Sie traten von rechts nach links und davor, bückten sich und standen wieder auf. »Ja, ja«, sagte Frenhofer, da er sich über den Zweck dieser genauen Prüfung täuschte, »es ist tatsächlich ein Gemälde! Seht doch, da ist der Rahmen, die Staffelei, hier sind meine Farben, meine Pinsel.« Und er ergriff einen Pinsel, den er ihnen mit naiver Bewegung zeigte. »Der alte Bursche macht sich über uns lustig«, sagte Poussin und trat nochmals vor das angebliche Gemälde. – »Ich sehe nur wirr ange– 200 –
häufte Farben, umrissen von einer Fülle wunderlicher Linien, die eine Mauer von Malerei auftürmen.« »Wir täuschen uns, seht doch...!« erwiderte Porbus. Und als sie sich näherten, entdeckten sie in einem Winkel des Bildes die Spitze eines nackten Fußes, die aus diesem Chaos von Farben, Tönen, unbestimmten Nuancen, diesem formlosen Nebel hervorlugte: es war ein wunderbarer, ein lebendiger Fuß! Sie standen vor Staunen versteinert vor diesem Fragment, das einer unglaublichen, langsamen, ständig fortschreitenden Vernichtung entgangen war. Der Fuß glich dem Torso irgendeiner Venus aus parischem Marmor, der sich inmitten der Trümmer einer eingeäscherten Stadt erhebt. »Es steckt eine Frau darunter!« rief Porbus und wies Poussin auf die Farbschichten hin, die der alte Maler nacheinander darübergelegt hatte, im Glauben, sein Bild dadurch zu vervollkommnen. Die beiden Künstler wandten sich spontan zu Frenhofer hin, da sie sich, wenn auch nur unklar, die Ekstase, in der er lebte, zu erklären begannen. »Er ist guten Glaubens«, sagte Porbus. »Ja, mein Freund«, erwiderte der Greis erwachend, »Glauben, Glauben braucht man in der Kunst; lange muß man mit seinem Werk leben, um eine solche Schöpfung hervorzubringen. Einige meiner Schatten haben mich viel Arbeit gekostet. Seht, da auf der Wange unter den Augen liegt ein leichter Halbschatten; wenn ihr den in der Natur bemerkt, dann ist es, als sei er nicht wiederzugeben. Nun, glaubt ihr, dieser Effekt habe mich nicht unerhörte Mühe gekostet? Aber, mein guter Porbus, sieh dir nur meine Arbeit aufmerksam an, dann wirst du verstehen, was ich dir über die Art, wie Modellierung und Konturen zu behandeln sind, sagte. Sieh das Glanzlicht auf der Brust, wie es mir da durch eine Reihe von Schichten und durch starke Aufhöhungen gelungen ist, das wirkliche Licht zu fangen und mit der leuchtenden Weiße der hellen Töne zu verbinden; und wie ich dagegen, indem ich die Plastik und das Korn des Farbauftrags – 201 –
verrieb, durch unablässiges Verweilen auf der Kontur meiner Figur, die im Halbton verschwimmt, sogar den Gedanken an Zeichnung und künstliche Mittel verbannen konnte, indem ich ihr Rundung und Anschein der Natur verlieh. Tretet näher heran, dann werdet ihr die Technik erkennen! Aus der Ferne verschwindet sie. Seht! Da ist sie ganz deutlich wahrzunehmen, glaube ich.« Und er zeigte mit dem Pinselstiel auf einen hellen Farbenklecks.
Porbus schlug dem Greis auf die Schulter, wandte sich zu Poussin um und sagte: »Wißt Ihr, daß wir in ihm einen großen Maler erblicken müssen?« »Er ist noch mehr Dichter als Maler«, erwiderte Poussin ernst. »Dort«, fuhr Porbus fort und tupfte auf das Gemälde, »endet unsere Kunst auf Erden.« »Und von dort aus wird sie sich in den Himmel verlieren«, sagte Poussin. »Wieviel Genüsse auf diesem Stück Leinwand!« rief Porbus. – 202 –
Der gedankenverlorene Greis hörte sie nicht und lächelte der nur in seiner Phantasie bestehenden Frau zu. »Aber früher oder später wird er merken, daß gar nichts auf seinem Bild ist!« rief Poussin. »Nichts auf meinem Bild?« fragte Frenhofer und blickte abwechselnd die beiden Maler und sein angebliches Gemälde an. »Was habt Ihr getan?« sagte Porbus leise zu Poussin. Der Greis griff kräftig nach dem Arm des jungen Mannes und sagte zu ihm: »Du siehst nichts, du Lümmel, du Kerl, du Lump, du Schandbube? Weshalb bist du dann heraufgekommen? – Mein guter Porbus«, fuhr er fort, indem er sich zu dem Maler umdrehte, »auch Ihr wollt Euch über mich lustig machen? Antwortet, ich bin Euer Freund, sagt, hab ich mein Bild verpfuscht?« Porbus wagte in seiner Unentschlossenheit nichts zu sagen, aber die Angst, die sich auf dem weißen Gesicht des Alten malte, war so grausam, daß er auf das Gemälde deutete und sagte: »Seht.« Frenhofer betrachtete einen Augenblick sein Bild und schwankte. »Nicht, nichts! Und zehn Jahre Arbeit!« Er setzte sich und schluchzte. »Ich bin also ein Narr, ein Wahnsinniger! Ich habe weder Talent noch Fähigkeiten! Ich bin nur noch ein reicher Mann, der, wenn er geht, nichts tut als zu gehen! Ich habe also nichts geschaffen!« Er musterte sein Bild durch seine Tränen hinduch; plötzlich aber stand er stolz auf, warf einen funkelnden Blick auf die beiden Maler und rief: »Beim Blut, beim Leichnam, beim Haupte Christi! Ihr seid nur eifersüchtig und wollt mich glauben machen, es sei verpfuscht, weil ihr es mir stehlen wollt! Ich aber sehe sie vor mir! Sie ist wunderschön!« In diesem Augenblick hörte Poussin Gillettes Weinen; sie stand vergessen in einem Winkel. – 203 –
»Was hast du, mein Engel?« fragte der Maler, der unvermittelt wieder zum Liebhaber geworden war. »Töte mich!« sagte sie. »Ich wäre ehrlos, wenn ich dich noch liebte, denn ich verachte dich. Ich bewundere dich, und mir graut vor dir! Ich liebe dich, und ich glaube, ich hasse dich schon!« Während Poussin auf Gillette hörte, deckte Frenhofer seine Catherine mit einem Stück grüner Serge zu, und zwar mit der ernsten Ruhe eines Juweliers, der seine Schubfächer schließt, weil er glaubt, es seien fingerfertige Diebe bei ihm. Er warf einen heimtückischen Blick voll Verachtung und Argwohn auf die beiden Maler, schob sie schweigend, aber mit krampfhafter Geschwindigkeit zur Tür des Ateliers hinaus und sagte zu ihnen auf der Schwelle seines Hauses: »Lebt wohl, ihr Freundchen!« Dieses Lebewohl ließ die beiden Maler zu Eis erstarren. Am folgenden Tage wollte der beunruhigte Porbus Frenhofer aufsuchen und erfuhr, daß er in der Nacht gestorben war, nachdem er zuvor seine Bilder verbrannt hatte.
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LEBWOHL
L
os, Abgeordneter der Mitte, vorwärts! Wir müssen im Eilschritt marschieren, wenn wir zugleich mit den anderen zu Tisch kommen wollen. Auf die Beine! Springen, Marquis! So, großartig! Sie laufen über die Furchen wie ein Hirsch!«
Diese Worte sprach ein Jäger, der friedlich am Rande des Waldes von L'Isle-Adam saß und seine Havanna zu Ende rauchte; er wartete auf seinen Gefährten, der wohl schon seit geraumer Zeit im Dickicht des Waldes umhergeirrt war. Neben ihm blickten vier japsende Hunde gleich ihm dem Mann entgegen, an den er seine Worte richtete. Um zu verstehen, wie spöttisch seine Anrede, die er von Zeit zu Zeit wiederholte, gemeint war, muß erwähnt werden, daß der hervorstehende Bauch des sich nahenden Jägers, eines dicken, untersetzten Mannes, eine wahrhaft beamtenhafte Wohlbeleibtheit zeigte. Es machte ihm denn auch weidlich Mühe, die Furchen eines großen, frisch gemähten Feldes zu durchqueren, dessen Stoppeln sein Vorwärtskommen beträchtlich erschwerten; um das Ganze noch unbehaglicher zu machen, sammelten die schrägen Sonnenstrahlen auf seiner Stirn dicke Schweißtropfen. Da er vor allem darauf bedacht sein mußte, sein Gleichgewicht zu bewahren, schwankte er bald nach vorn und bald nach hinten, so daß seine Bewegungen den Sprüngen eines stark hin und her gerüttelten Wagens glichen. Es war einer jener Septembertage, an denen unter äquatorialen Gluten die Trauben reifen. Die Atmosphäre kündete ein Gewitter an. Obgleich am Horizont noch ein paar große blaue Flächen die schweren, schwarzen Wolken trennten, zogen bereits mit erschreckender Geschwindigkeit gelbliche Gewitterwolken heran und spannten von Osten nach Westen einen leichten, graugetönten Vorhang. Da der Wind sich nur in den oberen Regionen der Luft bewegte, drückte die Atmosphäre unten die glühenden Ausdüstungen der Erde zusammen. Das Tal, durch – 205 –
das der Jäger kam, war von Hochwald umgeben, der es der Luft beraubte, und so herrschte darin die Temperatur eines Schmelzofens. Der Wald, der glühend und schweigsam dastand, schien zu dürsten. Die Vögel und Insekten waren verstummt, und die Wipfel der Bäume rührten sich kaum. Jeder also, der sich noch an den Sommer des Jahres 1819 erinnert, muß Mitleid haben mit dem Leiden des armen Beamten, der Blut und Wasser schwitzte, um zu seinem spöttischen Gefährten hinzugelangen. Während dieser seine Zigarre rauchte, hatte er nach dem Stand der Sonne berechnet, daß es etwa fünf Uhr nachmittags sein müsse. »Wo, zum Teufel, sind wir eigentlich?« fragte der dicke Jäger, wischte sich die Stirn ab und stützte sich seinem Gefährten gegenüber an einen Baumstamm, weil er nicht mehr die Kraft verspürte, den breiten Graben zu überspringen, der die beiden noch trennte. »Und danach fragst du mich?« antwortete lachend der andere, der an der Böschung im hohen, gelben Gras lag. Er warf den Rest seiner Zigarre in den Graben und rief: »Ich schwöre bei Sankt Hubertus, daß ich mich nicht wieder dabei ertappen lasse, wie ich mich mit einem Beamten in unbekannte Gegenden wage, und wäre er auch wie du, mein lieber d'Albon, ein alter Schulkamerad!« »Aber Philippe, verstehen Sie denn kein Französisch mehr? Sie haben Ihr bißchen Gehirn wohl in Sibirien gelassen?« erwiderte der Dicke und warf einen schmerzlich-komischen Blick auf den einsamen Wegweiser, der hundert Schritte weiterab stand. »Ich verstehe«, erwiderte Philippe, ergriff seine Flinte, sprang auf, war mit einem Satz im Feld und lief auf den Wegweiser zu. »Hierher, d'Albon, hierher! Halblinks!« rief er seinem Gefährten zu und zeigte ihm mit einer Handbewegung einen breiten, gepflasterten Weg. »Die Straße von Baillet nach L'Isle-Adam«, fuhr Philippe fort, »in dieser Richtung also müssen wir die nach Cassan finden, denn sie zweigt von der nach L'Isle-Adam ab.« »Ganz recht, Herr Oberst«, sagte Monsieur d'Albon und setzte sich die Mütze auf, mit der er sich Luft gefächelt hatte. – 206 –
»Also ohne Tritt marsch, ehrenwerter Herr Rat«, erwiderte Oberst Philippe und pfiff den Hunden, die ihm schon besser zu gehorchen schienen als dem Beamten, dem sie gehörten. »Wissen Sie eigentlich, Herr Marquis«, sagte der boshafte Offizier, »daß wir noch über zwei Stunden vor uns haben? Das Dorf, das wir da unten sehen, muß Baillet sein.« »Du großer Gott!« rief der Marquis d'Albon aus, »gehen Sie getrost nach Cassan, wenn Ihnen das Spaß macht, aber dann müssen Sie allein gehen; ich ziehe es vor, trotz des Gewitters hier auf das Pferd zu warten, das Sie mir vom Schloß aus herschicken werden. Sie haben mich hinters Licht geführt, Sucy. Wir hätten einen hübschen, kleinen Jagdausflug unternehmen und ohne uns von Cassan zu entfernen, die Felder durchstöbern sollen, die ich kenne. Ja, und statt daß wir unsern Spaß haben, haben Sie mich seit vier Uhr morgens wie einen Windhund umhergehetzt. Und zum Frühstück haben wir nichts gehabt als zwei Tassen Milch! Ach, wenn Sie je einen Prozeß bei unserem Gerichtshof führen sollten, werde ich dafür sorgen, daß Sie ihn verlieren, und wären Sie hundertmal im Recht.« Mutlos setzte sich der Jäger auf einen der Grenzsteine am Fuß des Wegweisers, warf seine Flinte und seine leere Jagdtasche zu Boden und seufzte tief. »Frankreich, das sind deine Volksvertreter!« rief lachend Oberst de Sucy. »Ach mein armer d'Albon, hätten Sie wie ich sechs Jahre im tiefsten Sibirien gesteckt...« Er beendete seinen Satz nicht und hob die Augen gen Himmel, als seien seine Leiden ein Geheimnis zwischen Gott und ihm. »Los, weiter!« fuhr er fort; »wenn Sie sitzen bleiben, sind Sie verloren.« »Nichts zu machen, Philippe! Alte Beamtengewohnheit! Ehrenwort, ich bin am Ende meiner Kräfte! Wenn ich wenigstens noch einen Hasen geschossen hätte!« Die beiden Jäger stellten einen seltenen Gegensatz dar. Der Beamte war zweiundvierzig Jahre alt und sah aus, als sei er noch nicht drei– 207 –
ßig, während der Oberst, der dreißig war, mindestens vierzig zu sein schien. Beide trugen die rote Rosette, das Abzeichen der Offiziere der Ehrenlegion. Unter der Mütze des Obersten stahlen sich ein paar Haarsträhnen hervor, weiß und schwarz, wie am Flügel einer Elster; die Schläfen des Justizbeamten zierten schöne blonde Locken. Der eine war hochgewachsen, dürr, schlank, nervig, und die Falten seines weißen Gesichts ließen auf verheerende Leidenschaften oder furchtbares Unglück schließen; das Gesicht des andern strahlte von Gesundheit, war jovial und eines Epikureers würdig. Beide waren stark von der Sonne verbrannt, und ihre langen Gamaschen aus gelblichem Leder trugen die Spuren aller Gräben und aller Moräste, die sie durchquert hatten. »Los«, rief Monsieur de Sucy, »weiter! Nach einer knappen Marschstunde sitzen wir in Cassan an einer guten Tafel.« »Sie können schwerlich je geliebt haben«, erwiderte der Rat mit einer jämmerlich komischen Miene. »Sie sind unerbittlich wie der Paragraph 304 des Strafgesetzbuchs.« Philippe de Sucy durchschauerte es heftig; seine Stirn zog sich in Falten, sein Gesicht wurde so finster, wie es der Himmel in diesem Augenblick war. Obwohl eine Erinnerung von grausiger Bitterkeit seine Züge verkrampfte, brach er nicht in Tränen aus. Wie alle kraftvollen Männer konnte er seine Empfindungen in der Tiefe des Herzens verschließen; und vielleicht hinderte ihn auch, wie es vielen, reinen Charakteren geschieht, die Scham, seine innere Not zu entschleiern, da kein menschliches Wort ihre Tiefe wiederzugeben vermag und man zugleich den Spott der andern fürchtet, die sie nicht verstehen wollen. Monsieur d'Albon war eine der feinfühligen Seelen, die fremde Leiden erahnen und lebhaft die Erschütterung nachempfinden, die sie wider Willen durch eine Ungeschicklichkeit hervorgerufen haben. Er achtete das Schweigen des Freundes, stand auf, vergaß seine Müdigkeit und folgte ihm schweigend, recht bekümmert, daß er an eine Wunde gerührt hatte, die wahrscheinlich noch nicht vernarbt war. – 208 –
»Eines Tages, mein Freund«, sagte Philippe, drückte ihm die Hand und dankte ihm durch einen herzzerreißenden Blick für seine stumme Reue, »eines Tages werde ich dir aus meinem Leben erzählen. Heute könnte ich es nicht.« Schweigend schritten sie weiter. Als der Schmerz des Obersten sich gelegt zu haben schien, spürte der Rat seine Müdigkeit von neuem, und mit dem Instinkt oder vielmehr dem Willen eines Erschöpften durchforschte sein Auge alle Tiefen des Waldes; er musterte die Baumwipfel, warf prüfende Blicke in die Wege und hoffte dabei stets, irgendeine Stätte zu finden, wo er um Gastfreundschaft bitten könnte. Als sie an einen Kreuzweg gelangten, glaubte er leichten Rauch wahrzunehmen, der sich zwischen den Bäumen erhob. Er blieb stehen, schaute aufmerksam hin und erkannte mitten in einer riesigen Baumgruppe die grünen, düsteren Zweige einiger Fichten. »EinHaus! Ein Haus!« rief er ebenso erfreut, wie ein Seemann ›Land! Land!‹ gerufen hätte. Dann eilte er rasch durch ziemlich dichtes Unterholz, und der Oberst, der in tiefes Sinnen versunken war, folgte ihm mechanisch. »Ich will lieber hier mit einer Omelette, hausgebackenem Brot und einem Stuhl fürlieb nehmen, als nach Cassan gehen, um dort Sofas, Trüffeln und Bordeauxwein vorzufinden!« Das war der Begeisterungsruf, der dem Rat beim Anblick einer Mauer entfuhr, deren weißliche Farbe sich in der Ferne von der braunen Masse der knorrigen Stämme der Waldbäume abhob. »Aha! Das sieht mir ganz nach einer ehemaligen Abtei aus!« rief der Marquis d'Albon noch, als er an ein altes, schwarzes Gitter kam, durch das er mitten in einem ziemlich weitläufigen Park einen Bau in dem Stil erblickte, der einstmals für Klosterbauten typisch gewesen war. »Wie diese Halunken von Mönchen sich darauf verstanden haben, die richtige Stelle auszuwählen!«
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Dieser neue Ausruf zeugte von der Überraschung des Beamten, als sich seinen Blicken eine poetische Einsiedelei darbot. Das Haus lag auf halber Höhe am Hang des Berges, dessen Gipfel das Dorf Nerville einnimmt. Die großen hundertjährigen Eichen des Waldes, der rings um diesen Bau einen riesigen Kreis beschrieb, machten ihn zu einer wahren Klausnerei. Das Hauptgebäude, das einst die Mönche beherbergt hatte, lag nach Süden zu. Der Park schien etwa vierzig Morgen groß zu sein. Um das Haus erstreckte sich eine grüne Wiese, die von mehreren klaren Bächen und scheinbar ohne künstliche Nachhilfe anmutig angelegten Wasserflächen auf geglückte Weise durchschnitten wurde. Hie und da erhoben sich grüne Bäume von gefälligen Formen und mannigfaltigem Laubwerk; und überdies verliehen geschickt eingefügte Grotten, mächtige Terrassen mit verfallenen Treppen und verrosteten Geländern dieser wilden Thebaïs ein besonderes Gepräge. Die Kunst hatte ihre Bauten zierlich mit den malerischsten Gebilden der Natur geeint. Es war, als müßten die menschlichen Leidenschaften am Fuß dieser großen Bäume ersterben, die dem Lärm der Welt den Eingang zu diesem Zufluchtsort wehrten, wie sie auch die Gluten der Sonne milderten. – 210 –
»Was für eine Verwahrlosung!« sagte sich Monsieur d'Albon, als er genießerisch den düstern Ausdruck in sich aufgenommen hatte, den die Ruinen dieser scheinbar von einem Fluch getroffenen Landschaft bekundeten. Das Ganze glich einem Unheilsort, den die Menschen mieden. Überall hatte der Efeu seine vielfach gewundenen Ranken und üppigen Blättermäntel aufgehängt. Braunes, grünliches, gelbes und rotes Moos ergoß seine romantischen Tönungen über die Bäume, die Bänke, die Dächer und Steine. Die wurmstichigen Fenster waren vom Regen angenagt, vom Wetter zerschunden; die Balkone waren niedergebrochen, die Terrassen verwüstet. Einige Fensterladen hingen nur noch in einer Angel. Die ausgerenkten Türen schienen keinem Angreifer mehr standhalten zu können. Die mit den leuchtenden Büschen der Mistel behangenen Äste der vernachlässigten Obstbäume reckten sich weithin, ohne eine Ernte zu geben. Hohes Gras wuchs auf den Wegen. Diese Trümmer brachten Wirkungen von hinreißender Poesie in das Bild und erfüllten die Seele des Beschauers mit träumerischen Gedanken. Ein Dichter wäre dort sitzengeblieben, versunken in eine lange Melancholie, und hätte diese harmonische Unordnung, diese Zerstörung, die nicht ohne Anmut war, bewundert. In diesem Augenblick brachen ein paar Sonnenstrahlen durch die Lücken der Wolken und beleuchteten die fast wilde Szenerie mit Lichtgarben in tausend Farben. Die braunen Ziegel glänzten auf, das Moos leuchtete, phantastische Schatten glitten über das Gras und unter den Bäumen hin; tote Farben erwachten, reizvolle Gegensätze stritten wider einander, und das Laubwerk hob sich scharf in der Helle ab. Plötzlich verschwand das Licht. Die Landschaft, die gesprochen zu haben schien, verstummte und wurde wieder düster oder vielmehr sanft wie die sanfteste Tönung einer herbstlichen Dämmerung. »Dies ist Dornröschens Schloß«, sagte sich der Rat; er betrachtete das Gebäude bereits nur noch mit den Augen des Eigentümers. »Wem mag das nur gehören? Er muß recht dumm sein, daß er einen so schönen Besitz nicht bewohnt.«
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Da stürzte eine Frau hinter einem Nußbaum hervor, der rechts von dem Gitter wuchs, und ohne das geringste Geräusch huschte sie schnell wie der Schatten einer Wolke an dem Rat vorüber; die Erscheinung ließ ihn vor Verdutztheit verstummen. »Na, d'Albon, was haben Sie?« fragte der Oberst. »Ich reibe mir die Augen, um herauszubekommen, ob ich schlafe oder wache«, erwiderte der Beamte und trat dicht an das Gitter heran; er wollte sehen, ob er das Phantom noch einmal zu Gesicht bekäme. »Wahrscheinlich ist sie unter dem Feigenbaum da«, sagte er und zeigte Philippe das Blattwerk eines Baums, der links vom Tor über die Mauer emporragte. »Wer denn, sie?« »Ja, kann ich das etwa wissen?« erwiderte d'Albon. »Eben hat sich dort drüben«, fügte er leise hinzu, »eine seltsame Frau erhoben; sie schien mir eher den Schatten anzugehören als der Welt der Lebenden. Sie wirkt so schlank, leicht und luftig, daß sie durchsichtig sein muß. Ihr Gesicht ist weiß wie Milch. Ihre Kleider, ihre Augen und ihr Haar sind schwarz. Sie hat mich angeschaut, als sie vorübereilte, und obwohl ich nicht furchtsam bin, ist mir vor ihrem starren, kalten Blick das Blut in den Adern erstarrt.« »Ist sie hübsch?« fragte Philippe. »Das weiß ich nicht; ich habe in ihrem Gesicht nur die Augen gesehen.« »Zum Teufel mit dem Abendessen in Cassan!« rief der Oberst; »wir bleiben hier. Mich verlangt wie ein Kind danach, in diese sonderbare Besitzung hineinzugelangen. Siehst du die rotgestrichenen Fensterrahmen und die roten Streifen auf den Tür- und Fensterleisten? Ist es nicht, als sei dies das Haus des Teufels? Vielleicht hat er die Erbschaft der Mönche angetreten. Los, hinter der schwarz-weißen Dame her! Komm!« rief Philippe in erkünstelter Lustigkeit. – 212 –
In diesem Augenblick hörten die beiden Jäger einen Schrei, nicht unähnlich dem, den eine in der Falle gefangene Maus ausstößt. Sie horchten. Das Laub einiger Büsche, die jemand streifte, raschelte durch die Stille wie das Murmeln einer bewegten Welle; aber obgleich sie lauschten, um noch ein paar weitere Laute zu erhaschen, blieb die Erde schweigsam und bewahrte das Geheimnis der Schritte jener Unbekannten, wenn sie überhaupt geschritten war. »Das ist doch sonderbar!« rief Philippe und folgte dem Verlauf der Parkmauer. Die beiden Freunde kamen bald an einen Waldweg, der nach dem Dorfe Chauvry führte. Als sie auf diesem Wege in der Richtung auf die Landstraße nach Paris zurückgegangen waren, standen sie vor einem großen Gittertor und erblickten nun die Hauptfassade des geheimnisvollen Wohnsitzes. Auf dieser Seite erreichte die Zerstörung ihren Gipfel. Ungeheure Risse durchkerbten die Mauern dreier Gebäude, die rechtwinklig zueinander erbaut worden waren. Trümmer von Ziegeln und Schiefer lagen zerbröckelt am Boden, und verwahrloste Dächer deuteten auf völlige Vernachlässigung. Früchte waren unter die Bäume gefallen und verfaulten, anstatt aufgesammelt zu werden. Auf den Grasplätzen weidete eine Kuh und trat die Blumenbeete nieder; eine Ziege naschte an den unreifen Trauben und Ranken an einer Reblaube. »Hier entspricht eins dem andern, und die Unordnung ist gewissermaßen organisiert«, sagte der Oberst und zog an der Kette einer Schelle. Aber die Glocke war ohne Klöppel. Die beiden Jäger hörten nur den merkwürdig scharfen Klang einer verrosteten Feder. Obwohl die kleine Tür in der Mauer neben dem Gittertor ganz verwittert war, widerstand sie jedem Druck. »Oho! All das kommt mir recht merkwürdig vor«, sagte Philippe zu seinem Gefährten. »Wenn ich nicht Justizbeamter wäre«, erwiderte d'Albon, »würde ich die schwarze Frau für eine Hexe halten.« Kaum hatte er das gesagt, als die Kuh an das Gitter kam und ihnen das warme Maul hinhielt, als triebe sie das Verlangen, menschliche – 213 –
Wesen zu sehen. Jetzt aber zog eine Frau, wenn man dem unbestimmbaren Wesen, das unter einer Strauchgruppe hervorkroch, diesen Namen geben kann, die Kuh an einem Strick zurück. Die Frau trug um den Kopf ein rotes Tuch gewickelt, unter dem ein paar blonde Haarsträhnen hervorlugten; sie waren dem Hanf auf einer Spindel ziemlich ähnlich. Ein Halstuch trug sie nicht. Ein grober, schwarz und grau gestreifter Wollunterrock, der um einige Zoll zu kurz war, ließ ihre Beine sehen. Man hätte meinen können, sie gehöre einem Stamm der Rothäute an, die Cooper berühmt gemacht hat; denn ihre nackten Beine, ihr Hals und ihre Arme schienen ziegelrot angemalt zu sein. Kein Strahl von Intelligenz belebte ihr flaches Gesicht. Ihre bläulichen Augen waren ohne Wärme und trüb. Ein paar spärliche weiße Haare vertraten die Stelle der Augenbrauen. Und schließlich war ihr Mund so geschnitten, daß die schlechtstehenden Zähne, die jedoch weiß waren wie die eines Hundes, daraus hervortraten. »Heda, Frau!« rief Monsieur de Sucy. Sie kam langsam ans Tor und sah die beiden Jäger mit stumpfsinniger Miene an; bei ihrem Anblick entschlüpfte ihr ein mühsames, gezwungenes Lächeln. »Wo sind wir? Was für ein Haus ist das da drüben? Wem gehört es? Wer sind Sie? Sind Sie von hier?« Auf diese Fragen und noch eine Menge anderer, die die beiden Freunde einer nach dem anderen an sie richteten, antwortete sie nur durch ein paar Kehllaute, die mehr von einem Tier als von einem menschlichen Wesen herzurühren schienen. »Merken Sie denn nicht, daß sie taubstumm ist?« fragte der Beamte. »Bons-Hommes!« rief die Bäuerin. »Ach ja, sie hat recht; es könnte sehr wohl das ehemalige Kloster der Bons-Hommes sein«, sagte d'Albon. Von neuem setzten die Fragen ein. Aber die Bäuerin wurde rot wie ein eigensinniges Kind, spielte mit ihrem Holzschuh, drehte den Strick der Kuh, die wieder zu weiden begann, sah sich die beiden Jäger an und musterte deren Kleidung bis in alle Einzelheiten; sie kläffte, grunzte, gluckste, aber brachte kein Wort mehr hervor. – 214 –
»Wie heißt du?« fragte Philippe und starrte sie an, als wollte er sie hypnotisieren. »Geneviève«, erwiderte sie mit einem blöden Auflachen.
»Bislang ist die Kuh das einzige vernünftige Wesen, dem wir begegnet sind«, rief der Beamte. »Ich will einen Schuß abfeuern, damit jemand kommt.« In dem Augenblick, als d'Albon nach seiner Waffe griff, hielt der Oberst ihn durch eine Geste zurück und deutete ihm mit dem Finger auf die Unbekannte, die ihre Neugier so sehr gereizt hatte. Die Frau schien in tiefes Sinnen versunken zu sein, und sie kam langsamen Schrittes auf einem ziemlich entfernten Weg einher, so daß die beiden Freunde Zeit hatten, sie eingehend zu betrachten. Sie trug ein Kleid aus verschlissenem schwarzem Satin. Ihr langes Haar fiel ihr in zahlreichen Wellen über die Stirn und um die Schultern; es reichte bis zur Taille hinab und diente ihr als Schal. Da sie offenbar an solche Ungepflegtheit gewöhnt war, strich sie sich das Haar nur sehr selten auf beiden Seiten von den Schläfen zurück; dann aber bewegte sie den Kopf mit einem einzigen jähen Ruck, um ihre Stirn oder ihre – 215 –
Augen von dem dichten Schleier zu befreien. Ihre Geste hatte übrigens wie die eines Tieres jene herrliche mechanische Sicherheit, deren Schnelle bei einer Frau als ein Wunder erscheinen konnte. Die beiden Jäger sahen sie zu ihrem Staunen auf den Ast eines Apfelbaumes springen und sich dort mit der Leichtigkeit eines Vogels festhalten. Sie langte nach den Früchten und aß sie. Dann ließ sie sich mit der anmutigen Geschmeidigkeit, die man bei den Eichhörnchen bestaunt, zu Boden fallen. Ihre Glieder waren so gelenkig, daß selbst ihre geringsten Bewegungen weder angestrengt noch mühsam wirkten. Sie spielte auf dem Rasen und wälzte sich, wie es ein Kind hätte tun können. Dann streckte sie plötzlich Füße und Hände von sich und blieb ausgestreckt im Gras liegen, mit der Schmiegsamkeit, der Anmut und der Natürlichkeit einer jungen Katze, die in der Sonne eingeschlafen ist. Der Donner hatte in der Ferne gegrollt; da warf sie sich jäh herum und erhob sich mit der wunderbaren Behendigkeit eines Hundes, der einen Fremden kommen hört, auf alle viere. In dieser absonderlichen Haltung teilte sich ihr schwarzes Haar plötzlich in zwei breite Strähnen, die zu beiden Seiten ihres Kopfes herabfielen und beiden Zuschauern dieser Szene erlaubten, ihre Schultern zu bewundern, deren weiße Haut leuchtete wie Gänseblümchen auf der Wiese, und einen Hals, dessen Vollkommenheit Schlüsse auf die übrigen Proportionen ihres Körpers gestattete. Sie ließ einen schmerzlichen Schrei ertönen und stellte sich auf die Füße. Ihre Bewegungen gingen so anmutig ineinander über, sie wurden so behend ausgeführt, daß sie kein Menschenwesen, sondern eine der Töchter der Luft zu sein schien, wie Ossians Dichtung sie feiern. Sie ging auf eine Wasserfläche zu, schüttelte leicht das eine Bein, um den Schuh abzuwerfen, und schien Freude daran zu haben, daß sie den alabasterweißen Fuß mit dem Wasser benetzte; sicherlich gefielen ihr die Wellen, die sie erzeugte und die edlen Steinen glichen. Dann kniete sie am Rande des Beckens nieder und vergnügte sich wie ein Kind damit, ihre langen Locken hineinzutauchen und sie schnell wieder zurückzuziehen, als wolle sie das Wasser, das sie aufgesogen hatten und das, von den Lichtstrahlen durchleuchtet, zwei – 216 –
Rosenkränzen aus Perlen glich, Tropfen für Tropfen niederrinnen sehen. »Die Frau ist geisteskrank!« rief der Rat. Ein heiserer Schrei erscholl; Geneviève hatte ihn ausgestoßen; er hallte wider und schien an die Unbekannte gerichtet zu sein, die sich rasch aufrichtete und sich das Haar aus dem Gesicht strich. In diesem Augenblick konnten der Oberst und d'Albon deutlich die Züge der Frau wahrnehmen; sie kam, als sie die beiden Freunde bemerkte, mit der Leichtigkeit eines Rehs in ein paar Sprüngen ans Gitter gelaufen. »Leb wohl!« sagte sie mit sanfter, wohllautender Stimme, aber ohne daß dieses Klingen, auf das die Jäger ungeduldig geharrt hatten, die geringste Empfindung oder den geringsten Gedanken andeutete. Monsieur d'Albon bewunderte ihre langen Wimpern, ihre dichten schwarzen Brauen, ihre Haut, die blendendweiß und ohne die leiseste Rötung war. Nur dünne blaue Adern durchzogen ihren weißen Teint. Als der Rat sich zu seinem Freund umwandte, um ihm zu sagen, wie ihn der Anblick dieser sonderbaren Frau erstaune, sah er ihn wie tot im Gras liegen. Monsieur d'Albon feuerte seine Flinte ab, um Leute herbeizurufen, und rief: »Zu Hilfe!«, wobei er den Obersten aufzurichten versuchte. Bei dem Knall des Schusses lief die Unbekannte, die starr stehengeblieben war, pfeilgeschwind davon; wie ein verwundetes Tier stieß sie Schreckensschreie aus und drehte sich mit allen Anzeichen tiefsten Entsetzens auf der Wiese im Kreise herum. Monsieur d'Albon hörte auf der Straße nach L'Isle-Adam eine Kalesche heranrollen und rief die Vorüberfahrenden um Beistand an, indem er mit dem Taschentuch winkte. Der Wagen bog sogleich nach ›Les Bons-Hommes‹ ein, und Monsieur d'Albon erkannte in den Darinsitzenden Monsieur und Madame de Granville, seine Nachbarn; sie beeilten sich, ihr Gefährt zu verlassen und es dem Beamten anzubieten. Madame de Granville hatte zufällig ein Riechsalzfläschchen bei sich; es wurde Monsieur de Sucy an die Nase gehalten. Als der Oberst die Augen aufschlug, richtete er sie auf die Wiese, wo die – 217 –
Unbekannte noch immer schreiend umherlief. Er tat einen unverständlichen Ausruf, der eine Empfindung des Grauens verriet; dann schloß er die Augen wieder und machte eine Bewegung, als bitte er den Freund, ihm diesen Anblick zu ersparen. Monsieur und Madame de Granville stellten dem Rat frei, über ihren Wagen zu verfügen; liebenswürdig sagten sie ihm, sie wollten ihren kleinen Ausflug nunmehr zu Fuß fortsetzen. »Wer ist denn die Dame?« fragte der Beamte und deutete auf die Unbekannte. »Es wird vermutet, daß sie aus Moulins kommt«, erwiderte Monsieur de Granville. »Sie heißt Gräfin de Vandières, und sie soll wahnsinnig sein, aber da sie erst seit zwei Monaten hier ist, könnte ich mich nicht für die Wahrheit dieses Geredes verbürgen.« Monsieur d'Albon dankte Monsieur und Madame de Granville und fuhr nach Cassan davon. »Sie ist es!« rief Philippe, als er wieder zu Bewußtsein gekommen war. »Wer denn?« fragte d'Albon. »Stéphanie... Ach, tot und am Leben, am Leben und wahnsinnig!... Ich glaubte, ich müsse sterben.« Der vorsichtige Beamte war sich über den Ernst der Krisis klar, der sein Freund verfallen war, und hütete sich, ihn zu fragen oder zu erregen. Ungeduldig verlangte ihn danach, zum Schloß zu gelangen, denn die Veränderung, die sich in den Zügen und in der ganzen Persönlichkeit des Obersten vollzog, ließ ihn befürchten, die Gräfin habe Philippe mit ihrer furchtbaren Krankheit angesteckt. Sobald der Wagen an dem nach L'Isle-Adam führenden Weg angekommen war, schickte d'Albon den Lakaien zum Arzt des Marktfleckens, so daß der Doktor in dem Augenblick, da der Oberst zu Bett gebracht worden war, auch schon an seinem Lager saß.
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»Wenn der Herr Oberst nicht so gut wie nüchtern gewesen wäre«, sagte der Chirurg, »so wäre er jetzt tot. Seine Erschöpfung hat ihn gerettet.« Nachdem er die ersten Vorsichtsmaßregeln, die zu treffen waren, angeordnet hatte, ging er hinaus, um mit eigener Hand einen beruhigenden Trank zu bereiten. Am folgenden Morgen ging es Monsieur de Sucy besser; der Arzt hatte selber bei ihm wachen wollen. »Ich muß Ihnen gestehen, Herr Marquis«, sagte der Doktor, »daß ich eine Verletzung des Gehirns befürchtet hatte. Monsieur de Sucy hat eine heftige Erschütterung durchgemacht; er ist ein leidenschaftlicher Mensch; bei ihm entscheidet der erste Schlag über alles. Morgen ist er vielleicht schon außer Gefahr.«
Der Arzt täuschte sich nicht, und am folgenden Tage erlaubte er dem Beamten, seinen Freund wiederzusehen. »Mein lieber d'Albon«, sagte Philippe und drückte ihm die Hand, »ich bitte dich um eine Gefälligkeit! Eile schleunigst nach ›Les BonsHommes‹; erkundige dich nach allem, was die Dame angeht, die wir – 219 –
dort gesehen haben, und komm schnell wieder; ich zähle die Minuten.« Monsieur d'Albon sprang auf ein Pferd und galoppierte bis zu der ehemaligen Abtei. Als er anlangte, gewahrte er vor dem Gittertor einen hochgewachsenen, hageren Mann mit einnehmenden Gesichtszügen, der des Beamten Frage, ob er dies verfallene Haus bewohne, bejahte. Monsieur d'Albon erzählte ihm, weshalb er komme. »Wie?« rief der Unbekannte. »Sie hätten also diesen verhängnisvollen Schuß abgefeuert? Beinahe hätten sie meine arme Kranke dadurch umgebracht!« »Aber ich habe doch in die Luft geschossen.« »Sie hätten der Frau Gräfin weniger Leid angetan, wenn Sie sie getroffen hätten.« »Nun, wir haben einander nichts vorzuwerfen; der Anblick Ihrer Gräfin hat meinen Freund, Monsieur de Sucy, fast getötet.« »Etwa den Baron Philippe de Sucy?« rief der Arzt und faltete die Hände. »Ist er in Rußland gewesen, beim Übergang über die Beresina?« »Ja«, erwiderte d'Albon; »er wurde von den Kosaken gefangengenommen und nach Sibirien verschleppt; vor etwa elf Monaten ist er heimgekehrt.«
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»Treten Sie näher«, sagte der Unbekannte und führte den Beamten in einen Salon im Erdgeschoß des Gebäudes; dort trug alles die Spuren willkürlicher Zerstörung. Kostbare Porzellanvasen lagen zerbrochen neben einer Uhr, deren Gehäuse verschont geblieben war. Die seidenen Vorhänge an den Fenstern waren zerfetzt, aber der doppelte Musselinvorhang war heil geblieben. »Sie sehen hier die Verwüstungen, die das reizende Geschöpf anrichtet, dem ich mich gewidmet habe«, sagte er beim Eintreten zu Monsieur d'Albon. »Sie ist meine Nichte. Trotz der Ohnmacht meiner Kunst hoffe ich, ihr eines Tages die Vernunft zurückzugeben, wenn ich eine Methode anwenden kann, die leider nur reichen Leuten erlaubt ist.« Dann erzählte er wie alle einsam Lebenden, die von einem wiederauflebenden Schmerz gequält werden, dem Beamten ausführlich das folgende Abenteuer; die Schilderung ist hier geordnet und von den zahlreichen Abschweifungen befreit worden, die Erzähler wie Hörer sich gestatteten.
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Als Marschall Victor sich gegen neun Uhr abends von den Höhen bei Studzianka zurückzog, die er am 28. November 1812 den ganzen Tag hindurch verteidigt hatte, ließ er dort etwa tausend Mann zurück, die Befehl hatten, diejenige der beiden Brücken über die Beresina, die noch standhielt, bis zum letzten Augenblick zu decken. Jene Nachhut hatte sich bei dem Versuch geopfert, eine erschreckend große Schar von Nachzüglern zu retten, die von der Kälte erstarrt waren und sich hartnäckig weigerten, den Troß des Heeres zu verlassen. Der Heroismus der großherzigen Truppe sollte vergebens sein. Die Soldaten, die in Massen am Ufer der Beresina zusammenströmten, fanden dort unglücklicherweise ungeheure Mengen von Wagen, Kisten und Geräten jeder Art vor, die das Heer hatte im Stich lassen müssen, als es während des 27. und 28. Novembers den Übergang vollzog. Als Erben unverhoffter Reichtümer bezogen diese vom Frost abgestumpften Unglücklichen die leeren Biwaks. Sie zerschlugen das Heeresmaterial, um sich Hütten zu bauen; sie machten mit allem, was ihnen in die Hände fiel, Feuer; sie zerlegten die Pferde, um sich satt zu essen, rissen Leinen und Planen von den Wagen, um sich zuzudecken, und schliefen dann, statt ihren Marsch fortzusetzen und während der Nacht in aller Ruhe die Beresina zu überschreiten, die eine unglaubliche Fügung der Armee schon so sehr hatte zum Verhängnis werden lassen. Die Abstumpfung der armen Soldaten kann nur verstehen, wer sich erinnert, wie er selbst durch diese ungeheuren Schneewüsten gezogen ist, ohne einen andern Trunk als den Schnee, ohne ein anderes Bett als den Schnee, ohne eine andere Aussicht als auf einen Horizont von Schnee und ohne andere Nahrung als den Schnee oder ein paar erfrorene Rüben, ein paar Handvoll Mehl und ein bißchen Pferdefleisch. Halbtot vor Hunger und Durst, Übermüdung und Schlafsucht, kamen diese Unglücklichen zu einem Ufer, an dem sie Holz, Feuer, Lebensmittel, unzählige aufgegebene Wagen, Zelte, kurz, eine ganze improvisierte Stadt vorfanden. Das Dorf Studzianka war völlig auseinander genommen, zerteilt und von den Höhen in die Ebene geschafft worden. So dolente und gefährdet diese Lagerstadt auch war, ihr Elend und ihre Gefahren zeigten doch diesen Leuten noch ein – 222 –
freundliches Lächeln, denn sie sahen nichts als die furchtbaren Wüsten Rußlands vor sich. Es war, mit einem Wort, ein ungeheures Spital, das nicht mehr als zwanzig Stunden Dauer vor sich hatte. Lebensmüdigkeit oder ein Gefühl unerwarteten Wohlseins machte die Scharen jedem andern Gedanken als dem der Ruhe unzugänglich. Obwohl die Artillerie des linken russischen Flügels unablässig in diese Masse hineinschoß, die sich wie ein großer, bald dunkel zusammengedrängter, bald flackernder Fleck auf dem Schnee abhob, schienen der erstarrten Menge die unermüdlichen Kugeln nicht mehr zu bedeuten als eine weitere Unbequemlichkeit. Sie wirkten wie ein Gewitter, dessen Blitze von allen verachtet wurden, weil sie nur hier und da Sterbende, Kranke oder vielleicht schon Tote treffen konnte. Unaufhörlich langten Gruppen von Nachzüglern an. Diese wandelnden Leichen verteilten sich sofort und gingen von Feuer zu Feuer, um einen Platz zu erbetteln, und da sie meistens abgewiesen wurden, fanden sie sich schließlich wieder zusammen, um die ihnen versagte Gastfreundschaft mit Gewalt zu erzwingen. Taub gegen die Stimmen der wenigen Offiziere, die ihnen für den folgenden Tag den Tod voraussagten, verschwendeten sie den Vorrat an Mut, der nötig gewesen wäre, um den Fluß zu überschreiten, daran, sich für eine einzige Nacht ein Asyl zu bauen und sich eine oftmals verhängnisvolle Mahlzeit zu bereiten. Der Tod, der ihrer harrte, schien ihnen kein Unglück mehr zu sein, wenn er ihnen nur eine Schlummerstunde ließ. Ein Unheil waren für sie nur noch der Hunger, der Durst und die Kälte. Als kein Holz, kein Feuer, keine Wagenplanken, kein Dach mehr zu finden waren, entspannen sich zwischen denen, die von allem entblößt neu eintrafen, und den Reichen, die einen Unterschlupf besaßen, grauenhafte Kämpfe. Die Schwächeren unterlagen. Schließlich kam der Augenblick, da ein paar von den Russen Gehetzte nur noch den Schnee als Lager fanden; sie legten sich nieder, um nicht wieder aufzustehen. Unmerklich wurde die Masse fast ausgelöschter Menschen so kompakt, so taub, so stumpf, oder vielleicht so glücklich, daß Marschall Victor, ihr heroischer Verteidiger, der unter Wittgenstein zwanzigtausend Russen aufgehalten hatte, gezwungen war, sich mit blanker Waffe durch diesen Men– 223 –
schenwald Bahn zu schaffen, damit die fünftausend Helden, die er dem Kaiser zuführte, die Beresina überschreiten konnten. Die Unglücklichen ließen sich eher tottreten, als daß sie sich rührten; und schweigend kamen sie um, ihren erloschenen Feuern zulächelnd, ohne an Frankreich zu denken... Erst um zehn Uhr abends befand sich der Herzog von Belluno auf der anderen Seite des Flusses. Ehe er die Brücken betrat, die nach Zembin führten, vertraute er Eblé, dem Retter all derer, die das Unheil an der Beresina überlebten, das Schicksal der Nachhut von Studzianka an. Etwa gegen Mitternacht verließ dieser große General, begleitet von einem tapferen Offizier, die kleine Hütte in der Nähe der Brücke, die er innehatte, und begann das Schauspiel zu betrachten, das jenes Lager zwischen der Beresina und der Straße von Borizow nach Studzianka bot. Die russischen Geschütze hatten ihr Feuer eingestellt; zahllose Biwakfeuer, die mitten in diesen Schneemengen erblaßten und kein Licht zu werfen schienen, beleuchteten hier und da Gestalten, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Da lagen etwa dreißigtausend Unglückliche aus sämtlichen Nationen, die Napoleon nach Rußland geworfen hatte, und verspielten mit brutaler Gleichgültigkeit ihr Leben. »Wir wollen all das retten«, sagte der General zu dem Offizier, »morgen früh stehen die Russen in Studzianka. In dem Augenblick, da sie kommen, müssen wir die Brücke niederbrennen; also Mut, mein Freund! Schlag dich durch bis zur Höhe; sag dem General Fournier, er werde kaum Zeit haben, seine Stellung zu räumen und diese Menschenanhäufung zu durchbrechen, um über die Brücke zu kommen. Wenn du siehst, daß er sich auf den Weg gemacht hat, dann schließ dich ihm an. Laß dir von ein paar kräftigen Leuten helfen und verbrenne du dann erbarmungslos die Zelte, die Wagen, die Kisten, die Fuhrwerke, alles! Jage die ganze Bande auf die Brücke! Zwinge, was noch zwei Beine hat, sich aufs andere Ufer zu flüchten. Das Niederbrennen ist jetzt unser letztes Hilfsmittel. Hätte Berthier mir gleich erlaubt, diesen verdammten Troß zu verbrennen, so hätte der Fluß niemanden verschlungen als meine armen Brückenpioniere, – 224 –
die fünfzig Helden, die die Armee gerettet haben und die in Vergessenheit geraten werden!« Der General legte die Hand an die Stirn und verstummte; er fühlte, daß Polen sein Grab werden und daß sich keine Stimme zugunsten dieser heldenhaften Leute erheben würde, die im Wasser gestanden hatten, im Wasser der Beresina, um die Brückenpfosten einzurammen. Ein einziger von ihnen lebt noch, oder genauer, er duldet unbekannt in einem Dorf. Der Adjutant trat ab. Kaum hatte der großherzige Offizier hundert Schritte in Richtung auf Studzianka zurückgelegt, als der General Eblé mehrere seiner leidenden Brückenpioniere weckte und sein Werk der Barmherzigkeit begann, indem er die bei der Brücke errichteten Zelte verbrannte und die darin liegenden Schläfer auf diese Weise zwang, die Beresina zu überschreiten. Der junge Adjutant war inzwischen nach mancherlei Mühsal bei dem einzigen Holzhaus angelangt, das in Studzianka noch stand. »Die Baracke da ist wohl recht voll, Kamerad?« fragte er einen Menschen, den er draußen davor sah. »Wenn Sie reinkommen, sind Sie ein wackerer alter Krieger«, erwiderte der Offizier, ohne sich umzudrehen und ohne aufzuhören, das Holz des Hauses mit dem Säbel zu bearbeiten. »Sind Sie es, Philippe?« fragte der Adjutant, da er am Klang der Stimme einen seiner Freunde erkannt hatte. »Ja... Ach so! Du, alter Junge«, erwiderte Monsieur de Sucy und blickte den Adjutanten an, der wie er selber erst dreiundzwanzig Jahre alt war. »Ich glaubte, du seiest auf der anderen Seite dieses verdammten Flusses. Bringst du uns Kuchen und Süßigkeiten zum Dessert? Du wirst gut aufgenommen werden«, fügte er hinzu und machte die Rinde des Holzes vollends los, die er seinem Pferd als Futter gab. »Ich suche euren Kommandeur, um ihm den Befehl des Generals Eblé zu überbringen, daß er auf Zembin abrücken soll. Ihr habt – 225 –
kaum noch Zeit, durch diese Kadavermasse hindurchzukommen; ich werde sie gleich ausräuchern, um ihnen Beine zu machen...« »Du machst einem ja beinah warm. Ich gerate bei deiner Nachricht in Schweiß. Ich muß zwei Freunde retten! Ach, ohne diese beiden Murmeltiere, alter Junge, wäre ich längst tot! Um ihretwillen sorge ich für mein Pferd; sonst hätte ich selber es verspeist. Sag mal, bitte, hast du nicht ein Stück Brot? Ich habe schon seit dreißig Stunden nichts mehr in den Magen bekommen, und ich habe wie ein Rasender gekämpft, um mir das bißchen Wärme und Mut zu bewahren, das mir geblieben ist.« »Armer Philippe, nichts! Nichts!... Aber ist euer General da drinnen?« »Versuche nicht, hineinzukommen. In dieser Scheune liegen unsere Verwundeten. Steig noch höher hinauf: Da siehst du dann rechts eine Art Schweinekoben; in dem liegt der General! Leb wohl, guter Kerl. Wenn wir je wieder auf einem Pariser Parkett Trénis tanzen...« Er vollendete seinen Satz nicht; der Nordwind pfiff in diesem Augenblick so hundsgemein, daß der Adjutant weiterschritt, um nicht zu erfrieren, und daß dem Major Philippe die Lippen erstarrten. Bald herrschte wieder Stille. Sie wurde nur von dem Stöhnen, das aus dem Hause drang, und von dem dumpfen Geräusch unterbrochen, das Monsieur de Sucys Pferd machte, als es vor Hunger und Wut die gefrorene Rinde der Bäume fraß, aus denen das Haus gebaut worden war. Der Major stieß den Degen wieder in die Scheide, langte hastig nach dem Zügel des kostbaren Tieres, das er hatte retten können, und riß es trotz seinem Widerstand von dem elenden Fraß weg, auf den es gierig zu sein schien. »Los, Bichette, los! Nur du, du schöne, kannst Stéphanie retten. Komm, später dürfen wir uns dann ausruhen und wahrscheinlich sterben.« In einen Pelz gehüllt, dem er seine Erhaltung und seine Energie verdankte, begann Philippe zu laufen, wobei er mit den Füßen auf den hart gefrorenen Schnee stampfte, um warm zu bleiben. Kaum aber – 226 –
hatte der Major fünfhundert Schritte hinter sich gebracht, als er dort, wo er am Morgen unter der Obhut eines alten Soldaten seinen Wagen zurückgelassen hatte, ein großes Feuer wahrnahm. Eine grauenhafte Unruhe überfiel ihn. Wie alle, die während dieser Flucht von einem machtvollen Gefühl beherrscht wurden, brachte er, um seinen Freunden Hilfe zu bringen, Kräfte auf, die er für die eigene Rettung nicht zusammengerafft hätte. Bald war er nur noch wenige Schritte von einer Geländefalte entfernt, in der er eine junge Frau, seine Kindheitsgefährtin und seinen teuersten Besitz, untergebracht hatte, damit sie in Deckung vor den Kugeln war. Wenige Schritte vor dem Wagen hatten sich etwa dreißig Nachzügler um ein ungeheures Feuer geschart, das sie unterhielten, indem sie Bretter, Kistendeckel, Räder und Wagenwände hineinwarfen. Jene Soldaten waren sicherlich die Letzten all der Ankömmlinge, die von der breiten Geländefurche unterhalb von Studzianka an bis zu dem verhängnisvollen Fluß gleichsam ein Meer von Köpfen, Feuern und Baracken bildeten, ein lebendiges Meer, das in fast unmerklichen Wogenbewegungen schwoll und aus dem ein dumpfes Brausen heraufklang, das bisweilen von schrecklichem Krachen durchbrochen wurde. Von Hunger und Verzweiflung getrieben, hatten die Unglücklichen den Wagen wahrscheinlich gewaltsam durchsucht. Der alte General und die junge Frau, die sie darin auf Lumpen liegend gefunden hatten, eingehüllt in Mäntel und Pelze, hockten in diesem Augenblick vor dem Feuer. Die eine Wagentür war zerbrochen. Sowie die Leute, die um das Feuer lagen, die Schritte des Pferdes und des Majors hörten, erhob sich unter ihnen ein Wutschrei, den der Hunger ihnen entriß. »Ein Pferd! Ein Pferd!« Die Stimmen verschmolzen zu einer einzigen Stimme. »Zurück! Obacht!« riefen ein paar Soldaten und zielten auf das Pferd. Philippe sprang vor seine Stute und rief: »Halunken! Ich werfe euch in euer Feuer. Da oben liegen tote Pferde, holt euch die!«
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»Ist das ein Witzbold, dieser Offizier! Eins, zwei, gehst du weg?« fragte ein riesiger Grenadier. »Nein? Na, schön, wie du willst.« Ein Frauenschrei übertönte den Knall. Philippe wurde zum Glück nicht getroffen; aber Bichette, die gestürzt war, rang mit dem Tode. Drei Mann sprangen hinzu und machten ihr vollends mit den Bajonetten den Garaus.
»Kannibalen! Laßt mir wenigstens die Decke und meine Pistolen«, rief Philippe außer sich. »Die Pistolen... gut«, erwiderte der Grenadier. »Die Decke... da liegt ein Infanterist, der seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hat und der in seiner elenden Jacke zittert: unser General...« Philippe schwieg, als er einen Mann erblickte, dessen Schuhwerk durchgetreten, dessen Hose an zehn Stellen durchlöchert war und der auf dem Kopf nur eine elende, reifbedeckte Polizeimütze trug. Er nahm schleunigst seine Pistolen an sich. Fünf Leute zogen die Stute zum Feuer und begannen sie so geschickt zu zerlegen, wie Pariser Schlächterburschen es nur je hätten tun können. Die Stücke – 228 –
wurden mit an ein Wunder grenzender Schnelligkeit herausgeschnitten und auf die Kohlen geworfen. Der Major trat zu der Frau, die den Schreckensschrei ausgestoßen, als sie ihn erkannt hatte. Sie saß reglos auf einem Wagenkissen und wärmte sich. Sie sah ihn schweigend an, ohne ihm zuzulächeln. Da gewahrte Philippe neben sich den Soldaten, dem er den Schutz des Wagens anvertraut hatte; der arme Kerl war verwundet. Von der Überzahl überwältigt, hatte er den Nachzüglern weichen müssen, als sie ihn angriffen; aber wie der Hund, der die Mahlzeit seines Herren bis zum letzten Augenblick verteidigt hat, hatte er seinen Anteil an der Beute genommen: Er hatte sich ein weißes Tuch als Mantel umgeschlungen. Gegenwärtig war er damit beschäftigt, ein Stück Fleisch von der Stute hin und her zu drehen, und der Major sah es seinem Gesicht an, mit welcher Freude er sein Festmahl rüstete. Der Graf de Vandières, der seit drei Tagen gleichsam in die Kindheit zurückgefallen war, ruhte neben seiner Frau auf einem Kissen und starrte mit unbewegten Augen in die Flammen, deren Wärme seine Erstarrung zu überwinden begann. Ihn hatten die Gefahr und die Ankunft Philippes sowenig erregt wie der Kampf, nach welchem sein Wagen geplündert worden war. Sucy langte zunächst nach der Hand der jungen Gräfin, als wollte er ihr ein Liebeszeichen geben oder ihr sagen, wie nahe es ihm gehe, sie so im äußersten Elend zu sehen; aber er verharrte neben ihr in Schweigen. Er saß auf einem Schneehaufen, der im Schmelzen zerrann; und auch er gab sich dem Glück hin, sich wärmen zu können; er vergaß die Gefahr, er vergaß alles. Sein Gesicht nahm unwillkürlich den Ausdruck einer fast stumpfsinnigen Freude an, und er wartete ungeduldig darauf, daß der Fetzen Pferdefleisch, der seinem Soldaten gegeben worden war, gar sei. Der Geruch des verkohlten Fleisches reizte seinen Hunger noch, und der Hunger brachte Herz, Mut und Liebe zum Schweigen. Ohne Zorn musterte er die Ergebnisse der Plünderung seines Wagens. All die Leute, die rings um das Feuer lagen, hatten sich in die Decken, die Kissen, die Pelze, die Röcke, die Männer- und Frauenkleider geteilt, die dem Grafen, der Gräfin und dem Major ge– 229 –
hörten. Philippe drehte sich um; er wollte sehen, ob er noch etwas aus dem Wagenkasten retten könne. Beim Licht der Flammen sah er das Gold, die Diamanten, das Tafelsilber; es lag umher, ohne daß jemand daran dachte, sich auch nur das geringste davon anzueignen. All diese vom Zufall um das Feuer gescharten Einzelwesen bewahrten ein Schweigen, das etwas Grauenhaftes hatte; sie taten nichts, als was sie zu ihrem Wohlsein für nötig hielten. Dies Elend wirkte grotesk. Die von der Kälte verzerrten Gesichter waren mit einer Schmutzschicht überzogen, in die die Tränen von den Augen an bis zum unteren Rande der Backen eine Furche geschnitten hatten, die von der Dicke dieser Maske zeugte. Die langen, schmutzigen Barte machten die Soldaten noch abstoßender. Die einen waren in Frauenschals gehüllt, die andern trugen Pferdeschabracken, kotige Decken, Lumpen voll schmelzenden Reifs. Einige hatten den einen Fuß in einem Stiefel, den andern in einem Schuh; kurzum, es fand sich kein einziger, dessen Kostüm nicht eine lächerliche Besonderheit aufgewiesen hätte. Trotz solcher die Heiterkeit anregenden Dinge blieben diese Menschen ernst und finster. Das Schweigen wurde nur durch das Knacken und Knallen des Holzes unterbrochen, durch das Zischen der Flamme, das ferne Summen des Lagers und die Säbelhiebe, die die Hungrigsten gegen Bichette führten, um die besten Stücke von ihr abzureißen. Ein paar Unglückliche, die noch erschöpfter waren als die andern, schliefen; und wenn einer von ihnen ins Feuer rollte, so holte ihn niemand heraus. Die strengen Logiker dachten, eben wenn er nicht tot sei, so würden ihn die Brandwunden schon veranlassen, sich an eine geeignete Stelle zu legen. Erwachte der Unglückliche im Feuer und kam er darin um, so hatte keiner mit ihm Mitleid. Ein paar Soldaten sahen einander an, als wollten sie ihre eigene Ungerührtheit durch die Gleichgültigkeit der andern rechtfertigen. Die junge Gräfin hatte zweimal einen solchen Anblick und blieb stumm. Als die verschiedenen, auf die Kohlen gelegten Stücke gar waren, stillten alle ihren Hunger mit jener Gier, die uns bei den Tieren so ekelhaft erscheint.
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»Dies ist das erstemal, daß dreißig Infanteristen auf ein Pferd kommen!« rief der Grenadier, der die Stute niedergestreckt hatte. Es war der einzige Scherz, der auf französischen Witz schließen ließ. Bald rollten sich die meisten der armen Soldaten in ihre Kleider, legten sich auf Bretter, auf alles, was sie vor der Berührung mit dem Schnee bewahren konnte, und schliefen ein, ohne sich um ein Morgen zu kümmern. Als der Major sich gewärmt und seinen Hunger gestillt hatte, machte ihm ein unwiderstehliches Schlafverlangen die Lider schwer. Während der kurzen Zeit, die er noch gegen den Schlummer ankämpfte, betrachtete er die junge Frau, die sich mit dem Gesicht zum Feuer gewandt hatte, um zu schlafen, und die ihre geschlossenen Augen und einen Teil ihrer Stirn sehen ließ. Sie war in einen gefütterten Pelz und einen dicken Dragonermantel gehüllt; ihr Kopf ruhte auf einem blutbefleckten Kopfkissen; ihre Astrachanmütze, die durch ein unter dem Kinn geknotetes Taschentuch festgehalten wurde, schützte ihr Gesicht, soweit es möglich war, vor der Kälte; die Füße hatte sie in den Mantel hineingezogen. So in sich zusammengerollt, glich sie tatsächlich einem Nichts. War sie die Letzte der Marketenderinnen? War sie die reizende Frau, der Ruhm eines Geliebten, die Königin der Pariser Bälle? Ach, sogar das Auge ihres treuesten Freundes gewahrte nichts Weibliches mehr in diesem Haufen von Wäsche und Lumpen. In einem Frauenherzen war die Liebe der Kälte erlegen. Durch die dichten Schleier, die die unwiderstehlichste Schlaftrunkenheit vor den Augen des Majors ausspannte, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punkte. Die Flammen des Feuers, die hingestreckten Gestalten, die furchtbare Kälte, die kaum drei Schritte hinter einer flüchtigen Hitze ihr heulendes Sausen vernehmen ließ, das alles war ein Traum. Ein Gedanke drängte sich Philippe auf und erschreckte ihn. »Wir müssen alle sterben, wenn ich einschlafe! Ich will nicht einschlafen!« sagte er sich. Aber er schlief dennoch ein. Als er eine Stunde geschlummert hatte, wurde Monsieur de Sucy von einem furchtbaren Lärm und einer Explosion geweckt. Das Bewußtsein seiner Pflicht, die Gefahr seiner Freundin fielen ihm aufs Herz. Er stieß – 231 –
einen Schrei aus, der einem Gebrüll glich. Nur er und sein Soldat waren aufgestanden. Sie sahen ein Feuermeer vor sich, aus dem sich im Dunkel der Nacht ein Menschgewirr abhob und das die Hütten und Zelte verzehrte; sie hörten Verzweiflungsschreie und Geheul; sie sahen Tausende entsetzter Gestalten mit wütenden Gesichtern. Mitten durch diese Hölle bahnte sich eine Soldatenkolonne zwischen zwei Leichenwällen einen Weg zur Brücke hinunter. »Unsere Nachhut geht zurück«, rief der Major, »jetzt ist keine Hoffnung mehr!« »Ich habe Ihren Wagen verschont, Philippe«, sagte eine Freundesstimme. Sucy wandte sich um und erkannte beim Licht der Flammen den jungen Adjutanten. »Ach, alles ist aus«, erwiderte der Major, »sie haben mein Pferd aufgegessen... Wie sollte ich übrigens diesen stumpfsinnigen General und seine Frau auf die Beine bringen?« »Nehmen Sie ein glühendes Scheit, Philippe, und drohen Sie ihnen!« »Der Gräfin drohen?« »Leben Sie wohl!« rief der Adjutant, »ich habe nur noch Zeit, über diesen Schicksalsfluß wegzukommen; ich muß es: Ich habe in Frankreich eine Mutter! Was für eine Nacht! Die Menschenmasse da will lieber auf dem Schnee bleiben, und die meisten der armen Kerle lassen sich eher verbrennen, als daß sie aufstehen. Es ist vier Uhr, Philippe! In zwei Stunden fangen die Russen an sich zu regen. Ich versichere Ihnen, Sie werden die Beresina bald voller Leichen sehen. Philippe, denken Sie an sich! Sie haben keine Pferde, Sie können die Gräfin nicht tragen; also los, kommen Sie mit!« sagte er und nahm ihn beim Arm. »Aber lieber Freund, Stéphanie im Stich lassen?« Der Major packte die Gräfin, stellte sie auf die Fuße, rüttelte sie mit der Rauheit eines Verzweifelten und zwang sie, aufzuwachen. Sie sah ihn mit starren, toten Augen an. – 232 –
»Wir müssen weiter, Stéphanie, oder wir kommen hier um!« Statt einer Antwort versuchte die Gräfin, sich niedergleiten zu lassen, um weiterzuschlafen. Der Adjutant ergriff ein glühendes Scheit und schwang es vor Stephanies Gesicht. »Auch gegen ihren Willen müssen wir sie retten!« rief Philippe, hob die Gräfin auf und trug sie in den Wagen. Als er zurückkehrte, bat er den Freund, ihm zu helfen. Sie nahmen gemeinsam den alten General, ohne zu wissen, ob er lebendig oder tot sei, und legten ihn neben seine Frau. Der Major wälzte mit dem Fuß ein paar der Soldaten herum, die am Boden lagen, nahm ihnen, was sie geraubt hatten, warf all die Lumpen über die beiden Gatten und legte ein paar gebratene Fleischfetzen seiner Stute in eine Ecke des Wagens. »Was haben Sie eigentlich vor?« fragte ihn der Adjutant. »Sie ziehen!« erwiderte der Major. »Sie sind ja wahnsinnig!« »Allerdings!« rief Philippe und schlug die Arme über der Brust zusammen. Er schien jäh von einem verzweifelten Gedanken gepackt worden zu sein. »Du«, sagte er und faßte seinen Soldaten an dem unverletzten Arm, »ich vertraue sie dir auf eine Stunde an! Bedenke, daß du eher sterben mußt, als irgend jemanden an den Wagen heranzulassen.« Der Major klaubte die Diamanten der Gräfin zusammen, nahm sie in die eine Hand, zog mit der andern den Säbel und begann wütend auf diejenigen Schlafer einzuschlagen, die er für die unerschrockensten hielt. Es gelang ihm, den riesigen Grenadier und noch zwei Leute zu wecken, deren Rangabzeichen zu erkennen unmöglich war. »Wir sind erledigt!« sprach er zu ihnen. »Ich weiß«, erwiderte der Grenadier, »aber das ist mir schnuppe.«
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»Na, wenn man schon verrecken muß, ist es da nicht besser, sein Leben für eine hübsche Frau zu verkaufen, auf die Möglichkeit hin, daß man Frankreich noch einmal wiedersieht?« »Ich will lieber schlafen«, sagte einer der Leute und wälzte sich im Schnee auf die andere Seite, »wenn du mich noch einmal störst, Major, dann pflanze ich dir mein Bajonett in den Wanst.« »Um was handelt es sich, Herr Major?« fragte der Grenadier. »Der Kerl da ist besoffen! Der ist ein Pariser; die wollen es nun mal behaglich haben.« »Dies hier soll dir gehören, mein wackerer Grenadier«, rief der Major und hielt ihm ein Diamantenhalsband hin, »wenn du mir folgen und wie ein Rasender kämpfen willst. Die Russen stehen zehn Minuten von hier, sie haben Bespannung; wir wollen auf ihre erste Batterie losgehen und uns zwei Pferde holen.« »Aber die Vorposten, Herr Major?« »Einer von uns dreien...«, sagte er zu dem Soldaten, dann unterbrach er sich und sah den Adjutanten an: »Sie kommen mit, Hippolyte, nicht wahr?« Hippolyte bejahte durch ein Nicken. »Einer von uns«, fuhr der Major fort, »nimmt den Posten auf sich. Übrigens schlafen sie vielleicht ebenfalls, diese verdammten Russen.« »Komm, Major, du bist ein großartiger Kerl! Aber du nimmst mich mit in deine Kutsche?« fragte der Grenadier. »Ja, wenn du da oben nicht deine Haut läßt. Sollte ich fallen, Hippolyte und du, Grenadier«, sagte der Major zu seinen beiden Gefährten, »versprecht ihr mir dann, daß ihr euch für die Rettung der Gräfin aufopfern wollt?« »Abgemacht«, sagte der Grenadier. Sie gingen auf die russischen Linien zu, auf die Batterien, die die Masse der Unglücklichen am Flußufer so grausam zerschmettert – 234 –
hatten. Ein paar Augenblicke nach ihrem Aufbruch hallte der Galopp zweier Pferde auf dem Schnee wider, und die erwachte Batterie feuerte Salven ab, die den Schläfern über die Köpfe hinweggingen; der Galopp der Pferde war so hastig, daß man das Geräusch für das von Schmieden hätte halten können, die ein Eisen hämmern. Der großherzige Adjutant war gefallen. Der athletische Grenadier war heil und gesund. Philippe hatte, als er seinen Freund verteidigte, einen Bajonettstich in die Schulter bekommen; nichtsdestoweniger klammerte er sich an die Mähne des Pferdes und nahm es so kräftig zwischen die Schenkel, daß das Tier wie in einen Schraubstock eingeklemmt war. »Gott sei gelobt!« rief der Major, als er seinen Soldaten dastehen und den Wagen noch an derselben Stelle sah. »Wenn Sie gerecht sind, Herr Major, so müssen Sie mir das Kreuz verschaffen. Wir haben doch ganz hübsch Schießgewehr und Säbel gespielt, was?« »Noch gar nichts haben wir geleistet! Spannen Sie die Pferde an; hier, nehmen Sie die Stricke.« »Die reichen nicht.« »Dann, Grenadier, machen Sie sich an die Schläfer da heran und nehmen Sie ihnen die Schals, die Wäsche weg ...« »Sieh mal einer an, der ist ja tot, der Witzbold!« rief der Grenadier, als er den ersten ausplünderte, der ihm in die Hände kam. »Nein, ist das komisch, die sind ja alle tot!« »Alle?« »Ja, alle! Anscheinend ist Pferdefleisch unverdaulich, wenn man es mit Schnee ißt.« Bei diesen Worten durchschauerte es Philippe. Die Kälte war noch stärker geworden. »Mein Gott, eine Frau verlieren, die ich schon zwanzigmal gerettet habe!« Der Major rüttelte die Gräfin und rief: »Stéphanie! Stéphanie!« Die junge Frau schlug die Augen auf. – 235 –
»Madame, wir sind gerettet!« »Gerettet!« wiederholte sie und sank zurück. Die Pferde wurden, so gut es eben ging, angespannt; der Major nahm den Säbel in die gesunde Hand, behielt die Zügel in der andern und stieg, mit den Pistolen bewaffnet, auf das eine Pferd, der Grenadier auf das andere. Den alten Soldaten, dem die Füße erfroren waren, hatte man quer in den Wagen geworfen, über den General und die Gräfin. Die Pferde wurden mit Säbelhieben angetrieben und rissen den Wagen mit einer Art Wut in die Ebene hinunter, wo den Major unzählige Schwierigkeiten erwarteten. Bald wurde es unmöglich, weiterzukommen, ohne daß schlafende Männer, Frauen, ja sogar Kinder überfahren wurden, die sich samt und sonders weigerten aufzustehen, als der Grenadier sie zu wecken versuchte. Vergebens suchte Monsieur de Sucy den Weg, den sich vor kurzem die Nachhut durch diese Menschenmasse gebahnt hatte; er war verschwunden, wie die Kielspur eines Schiffs im Meer verschwindet; der Wagen kam nur im Schritt weiter; unablässig wurde er von Soldaten angehalten, die die Pferde zu töten drohten. »Wollen Sie durch?« fragte der Grenadier. »Um den Preis meines Blutes! Ja, um den Preis der ganzen Welt!« erwiderte der Major. »Los! Keine Omelette ohne zerschlagene Eier.« Und der Gardegrenadier jagte die Pferde auf die Menschen los, so daß die Räder blutig wurden; warf Zelte um und zog eine doppelte Leichenfurche quer über dieses Kopffeld. Aber wir wollen gerecht sein und erwähnen, daß er nie unterließ, mit Donnerstimme zu rufen: »Obacht, ihr Aaszeug!« »Die armen Menschen!« rief der Major. »Bah, so oder durch die Kälte, so oder durch die Kanonen!« sagte Grenadier, trieb die Pferde an und spornte sie mit der Bajonettspitze. – 236 –
Eine Katastrophe, die ihnen schon eher hätte zustoßen müssen und vor der sie bisher ein wunderbarer Zufall bewahrt hatte, unterbrach plötzlich ihre Fahrt: Der Wagen schlug um. »Das hatte ich mir gedacht!« rief der unerschütterliche Grenadier. »Oho! Der Kamerad ist tot.« »Der arme Laurent!« sagte der Major. »Laurent? Stand der nicht bei den fünften Jägern?« – »Ja.« – »Dann ist er mein Vetter... Bah, lohnt sich nicht, dem Hundeleben, das man in diesen Zeiten führt, nachzutrauern.« Der Wagen ließ sich nicht wieder aufrichten, die Pferde ließen sich nicht ausspannen, ohne daß sie unendlich viel unwiederbringliche Zeit verloren hätten. Der Stoß war so heftig gewesen, daß die junge Gräfin, die die Erschütterung geweckt und ihrer Betäubung entrissen hatte, sich aus den Kleidungsstücken löste und aufstand. »Philippe, wo sind wir?« rief sie mit leiser Stimme und hielt Umschau. – 237 –
»Fünfhundert Schritte vor der Brücke. Wir wollen die Beresina überschreiten. Auf der andern Seite des Flusses, Stéphanie, quäle ich Sie nicht mehr; dann lasse ich Sie schlafen. Da sind wir in Sicherheit; wir kommen in aller Ruhe nach Wilna. Gebe Gott, daß Sie nie erfahren, was Ihr Leben gekostet hat!« »Bist du verwundet?« »Ganz unbedeutend.« Die Stunde der Katastrophe war angebrochen; die Kanonen der Russen verkündeten den Tag. Nachdem sie sich Studziankas bemächtigt hatten, beschossen sie die Ebene; und beim ersten Licht des Morgens sah der Major, wie sich auf den Höhen ihre Kolonnen bewegten und formierten. Ein Schreckensschrei brach in der Menge aus; sie war im Augenblick auf den Beinen. Instinktiv erkannten alle die Gefahr und drängten in Wellenbewegungen zur Brücke hin. Die Russen kamen rasch wie Steppenbrand heran. Männer, Frauen, Kinder, Pferde, alles drängte zur Brücke. Zum Glück waren der Major und die Gräfin noch ziemlich weit vom Fluß entfernt. General Eblé hatte eben an die Holzpfosten am andern Ufer Feuer gelegt. Trotz der all jenen erteilten Warnungen, die diese Rettungsplanke betraten, wollte niemand zurückweichen. Nicht nur, daß die Brücke unter dieser Menschenlast zusammenbrach, sondern überdies war der Druck der Menschenflut, die auf die verhängnisvolle Böschung zugedrängt wurde, so groß, daß eine Masse menschlicher Körper wie eine Lawine ins Wasser gestürzt wurde. Kein Schrei war zu vernehmen, nur etwas wie der dumpfe Lärm eines ungeheuren Steins, der ins Wasser fällt; dann war die Beresina mit Leichen bedeckt. Die Rückwärtsbewegung derer, die wieder nach der Ebene hin wichen, um diesem Tod zu entgehen, war so heftig und der Zusammenprall mit denen, die noch vorwärts drängten, so furchtbar, daß zahlreiche Menschen erdrückt wurden. Der Graf und die Gräfin de Vandières verdankten ihr Leben dem Wagen. Die Pferde, die eine Unzahl von Sterbenden zermalmt und zerstampft hatten, wurden nun ihrerseits zerstampft und zertreten – 238 –
unter den Füßen eines Wirbelwindes von Menschen, der über das Ufer hinbrauste. Der Major und der Grenadier fanden ihr Heil in ihrer Kraft: Sie töteten, um nicht getötet zu werden. Dieser Orkan von menschlichen Gesichtern, diese Fluten von Leibern, die die gleiche Bewegung hin und her schob, hatten zur Folge, daß das Ufer der Beresina einige Augenblicke lang leer blieb. Die Menge hatte sich zurück in die Ebene geworfen. Wenn sich noch einige Menschen oben von der Böschung in den Fluß warfen, so geschah es weniger in der Hoffnung, das andere Ufer zu erreichen, das für sie Frankreich bedeutete, als vielmehr, um den sibirischen Eiswüsten zu entrinnen. Die Verzweiflung wurde für einzelne beherzte Leute zum Rettungsmittel. Ein Offizier sprang von Eisscholle zu Eisscholle bis zum andern Ufer; ein Soldat konnte wunderbarerweise über einen Haufen aus Leichen und Eisschollen kriechen. Die ungeheure Menschenmasse begriff schließlich, daß die Russen nicht zwangzigtausend erstarrte, verstumpfte, waffenlose Menschen umbringen würden, die sich nicht einmal verteidigten; und nun warteten alle in furchtbarer Resignation ihr Schicksal ab. Der Major und sein Grenadier, der alte General und seine Frau verharrten wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo die Brücke gewesen war. Alle vier standen sie schweigend da, mit trocknen Augen, umringt von einer Leichenmasse. Ein paar noch ungeschwächte Soldaten, einige Offiziere, denen die Umstände ihre ganze Energie zurückgaben, scharten sich um sie. Die Gruppe umfaßte etwa fünfzig Menschen. In einer Entfernung von zweihundert Schritten gewahrte der Major die Trümmer der für die Fahrzeuge erbauten Brücke, die am vorigen Tage zusammengebrochen war. »Wir wollen ein Floß bauen!« rief er. Kaum war dies Wort gefallen, als auch schon die ganze Gruppe auf die Trümmer zueilte. Eine Menschenschar begann eiserne Klammern zusammenzuraffen, nach Brettern zu suchen, nach Stricken, kurz, nach allen für den Bau eines Floßes erforderlichen Materialien. Un– 239 –
gefähr zwanzig Soldaten und bewaffnete Offiziere bildeten eine Schutzwehr, die der Major befehligte und die die Arbeitenden verteidigen sollte gegen verzweifelte Angriffe, die etwa die Masse unternehmen konnte, wenn sie die Absicht erriet. Das Gefühl der Freiheit, das die Gefangenen belebt und sie Wunder verrichten läßt, ist nicht mit dem Gefühl zu vergleichen, das in diesem Augenblick die unglücklichen Franzosen zum Handeln trieb. »Die Russen kommen! Die Russen kommen!« riefen die Verteidiger den Arbeitenden zu. Und das Holz gab schrille Laute von sich, die Schwimmfläche wuchs in Breite, Höhe, Tiefe. Generale, Oberste, Soldaten, alle bogen sich unter der Last der Räder, der Eisen, Stricke, der Bretter; es war wahrhaftig ein Bild vom Bau der Arche Noah. Die junge Gräfin, die neben ihrem Gatten saß, sah dem Schauspiel zu und bedauerte, daß sie in keiner Weise bei der Arbeit helfen konnte; und dennoch half sie, Knoten zu schlingen, um die Vertauung fester zu machen. Endlich war das Floß fertig. Vierzig Mann ließen es ins Wasser gleiten, während etwa zehn Soldaten die Stricke faßten, die dazu dienen sollten, es an der Böschung festzuhalten. Kaum sahen die Erbauer ihr Wasserfahrzeug auf der Beresina schwimmen, so stürzten sie in entsetzlicher Selbstsucht vom Ufer her darauf. Der Major, der die Wut dieses ersten Ansturms fürchtete, hielt Stéphanie und den General an der Hand; aber er zitterte, als er das Floß schwarz von Menschen sah, die sich darauf drängten wie die Zuschauer im Parterre eines Theaters. »Ihr Barbaren!« rief er. »Ich habe euch den Gedanken an das Floß eingegeben, ich bin euer Retter, und ihr verweigert mir einen Platz?« Ein wirres Murren war die Antwort. Die Leute, die am Rande des Floßes standen und mit Stangen versehen waren, mit denen sie vom Ufer abstießen, schoben das Floß hinaus, um es durch die Eisschollen und Leichen hinüber zum anderen Ufer zu staken. »Hölle und Teufel! Ich jage euch ins Wasser, wenn ihr den Major und seine beiden Gefährten nicht mitnehmt«, rief der Grenadier, zog den – 240 –
Säbel und verhinderte die Abfahr, indem er trotz furchtbarer Schreie die Reihen zusammendrängte. »Ich falle!... Ich falle!« riefen seine Genossen. »Los! Weiter!« Der Major blickte mit trockenem Auge auf seine Geliebte, die in einer Regung nobler Schicksalsergebenheit die Blicke gen Himmel hob. »Mit dir gemeinsam sterben!« sagte sie. Im Verhalten der Leute auf dem Floß lag etwas Komisches. Obgleich sie ein fürchterliches Gebrüll ausstießen, wagte niemand, sich dem Grenadier zu widersetzen, denn sie standen so zusammengepfercht, daß es genügt hätte, einem einzigen einen Stoß zu versetzen, um alle umzuwerfen. In dieser Gefahr versuchte ein Hauptmann, sich des Soldaten zu entledigen; der aber bemerkte die feindliche Bewegung des Offiziers, packte ihn und stürzte ihn ins Wasser, wobei er rief: »Aha, du Ente! Saufen willst du? Weg mit dir! Jetzt haben wir zwei Plätze! Kommen Sie! Herr Major, werfen Sie uns Ihre kleine Frau hinüber, und kommen Sie! Lassen Sie den alten Knasterbart liegen, der verreckt ja morgen doch!« »Rasch, rasch!« rief eine Stimme, die aus hundet Kehlen kam. »Los, Herr Major! Sie schimpfen die andern, und sie haben recht!« Der Graf de Vandières entledigte sich seiner Lumpen und stand in seiner Generalsuniform da. »Wir müssen den Grafen retten!« sagte Philippe. Stéphanie drückte dem Freund die Hand, warf sich ihm an die Brust und umschlang ihn in einer grauenerweckenden Umarmung. »Leb wohl!« sagte sie. Sie hatten einander verstanden. Der Graf de Vandières fand seine Kräfte und seine Geistesgegenwart wieder, als es galt, auf das Floß zu springen; Stéphanie folgte ihm nach einem letzten Blick auf Philippe. – 241 –
»Herr Major, wollen Sie meinen Platz? Ich mache mir nichts aus dem Leben«, rief der Grenadier; »ich habe weder Frau noch Kind, noch Mutter »Ich vertraue sie dir an«, rief der Major und deutete auf den Grafen und seine Frau. »Keine Sorge, ich will sie behüten, wie meinen Augapfel.« Das Floß wurde mit solcher Gewalt auf das gegenüberliegende Ufer zugestoßen, daß bei der Erschütterung, mit der es ans Land stieß, alles wankte. Der Graf, der ganz am Rande stand, stürzte ins Wasser. In dem Augenblick, da er hineinfiel, schnitt ihm eine Eisscholle den Kopf ab und schleuderte ihn weg wie eine Kanonenkugel. »He, Herr Major!« schrie der Grenadier dem zurückgebliebenen Philippe zu. »Leb wohl!« rief eine Frauenstimme. Philippe de Sucy brach zusammen, erstarrt vor Grauen, überwältigt von der Kälte, dem Schmerz und der Ermattung.
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»Meine arme Nichte war irrsinnig geworden«, fügte der Arzt nach einer Weile des Schweigens hinzu. »Ach!« fuhr er fort und ergriff Monsieur d'Albons Hand. »Wie grauenhaft ist das Leben für die kleine Frau geworden, die so jung war und so zart! Nachdem sie, und das war ein unerhörtes Unglück, von jenem Gardegrenadier, einem gewissen Fleuriot, getrennt worden war, wurde sie zwei Jahre lang hinter der Armee hergeschleppt, als ein Spielzeug für einen Haufen von Schurken. Sie ging, wie mir gesagt worden ist, barfuß und schlecht gekleidet, und ganze Monate lang blieb sie ohne Pflege und ordentliche Ernährung; bald wurde sie in Krankenhäusern aufgenommen, bald wie ein Hund davongejagt. Gott allein kennt all das Unglück, das die Unselige dennoch überlebt hat. Sie lebte, mit andern Irren zusammen eingesperrt, in einer kleinen Stadt Deutschlands, während ihre Verwandten, die sie tot glaubten, sich hier ihre Erbschaft teilten. 1816 erkannte der Grenadier Fleuriot sie in einer Herberge in Straßburg; sie war in diese Stadt gelangt, nachdem sie aus ihrem Gefängnis entwichen war. Ein paar Bauern erzählten dem Grenadier, die Gräfin habe einen vollen Monat hindurch in einem Walde zugebracht; sie hatten eine Treibjagd veranstaltet, um sich ihrer zu bemächtigen, ohne daß es ihnen zunächst gelungen wäre. Ich weilte damals wenige Meilen von Straßburg entfernt. Als ich von einem wilden Mädchen erzählen hörte, kam mich das Verlangen an, mich mit diesem ungewöhnlichen Tatbestand zu befassen, der so viel Anlaß zu lächerlichen Märchen gab. Wie war mir, als ich die Gräfin erkannte! Fleuriot erzählte mir, was er von dieser jämmerlichen Geschichte wußte. Ich nahm den armen Kerl und meine Nichte mit in die Auvergne, wo er leider gestorben ist. Er hatte ein wenig Gewalt über Madame de Vandières. Er allein konnte es bei ihr durchsetzen, daß sie sich anzog. ›Leb wohl!‹ – das ist das einzige, was sie spricht; früher sagte sie es selten. Fleuriot hat versucht, ein paar Gedanken in ihr zu erwecken; aber es ist ihm fehlgeschlagen und er hat nichts erreicht, als daß sie dieses traurige Wort etwas häufiger aussprach. Der Grenadier verstand es, sie abzulenken und zu beschäftigen, indem er mit ihr spielte, und durch ihn hoffte ich... aber...« – 243 –
Stephanies Onkel verstummte eine Weile. »Hier«, fuhr er fort, »hat sie ein zweites Wesen gefunden, mit dem sie sich zu verstehen scheint. Es ist eine schwachsinnige Bäuerin, die trotz ihrer Häßlichkeit und Beschränktheit einen Maurer geliebt hat. Dieser Maurer sollte sie heiraten, weil sie ein paar Äcker besitzt. Die arme Geneviève war ein Jahr hindurch das glücklichste Geschöpf der Welt, sie putzte sich und ging sonntags mit Dallot zum Tanz; sie verstand sich auf die Liebe; es gab in ihrem Herzen und in ihrem Geist noch Raum für eine Empfindung. Aber Dallot hat sich die Sache anders überlegt; er hat ein junges Mädchen gefunden, das bei vollem Verstande ist und zwei Äcker mehr besitzt als Geneviève. Dallot ließ sie also sitzen. Das arme Geschöpf verlor das bißchen Verstand, das die Liebe in ihr entwickelt hatte, und sie kann jetzt nur noch Kühe hüten und Gras mähen. Meine Nichte und dies arme Mädchen sind gewissermaßen verbunden durch die unsichtbare Kette ihres gemeinsamen Schicksals und durch das Gefühl, das die Ursache ihres Wahnsinns ist. Da, sehen Sie!« sagte Stephanies Onkel und ließ den Marquis d'Albon ans Fenster treten. Wirklich sah der Beamte die hübsche Gräfin zwischen Genevièves Knien sitzen. Die Bäuerin, die einen übergroßen, beinernen Kamm in der Hand hielt, verwandte ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, Stéphanie, die alles geschehen ließ und erstickte Schreie ausstieß, die auf ein instinktiv empfundenes Lustgefühl deuteten, das lange, schwarze Haar zu entwirren. Es durchschauerte Monsieur d'Albon, als er die Hingegebenheit des Körpers und das tierische Sichgehenlassen der Gräfin gewahrte; es sprach daraus ein völliges Fehlen des Geistes. »Philippe! Philippe!« rief er aus. »Das vergangene Unglück ist noch nicht das schlimmste. – Bleibt denn keinerlei Hoffnung?« fragte er. Der bejahrte Arzt hob die Augen gen Himmel. »Leben Sie wohl«, sagte d'Albon und drückte dem alten Mann die Hand. »Mein Freund wartet auf mich; er wird Sie bald aufsuchen.« – 244 –
»Sie ist es also tatsächlich?« rief Sucy, als er die ersten Worte des Marquis vernommen hatte. »Ach, ich hatte noch daran gezweifelt!« fügte er hinzu, während seinen schwarzen Augen, deren Ausdruck für gewöhnlich streng war, ein paar Tränen entrollten. »Ja, es ist die Gräfin de Vandières«, erwiderte der Beamte. Der Oberst sprang auf und begann sich in aller Hast anzuziehen. »Aber Philippe«, fragte sein Freund erstaunt, »wirst du etwa wahnsinnig?« »Mir fehlt nichts mehr«, erwiderte der Oberst schlicht. »Diese Nachricht hat all meine Schmerzen beschwichtigt; und wie könnte von Leiden noch die Rede sein, wenn ich an Stéphanie denke? Ich will nach Bons-Hommes, will sie sehen, mit ihr sprechen, sie heilen. Sie ist frei: Jetzt soll uns das Glück noch einmal lächeln, oder es gäbe keine Vorsehung. Glaubst du denn, daß diese arme Frau meine Stimme hören könnte, ohne den Verstand zurückzugewinnen?« »Sie hat dich doch schon gesehen, ohne dich zu erkennen«, erwiderte der Beamte ruhig; da er die überspannte Hoffnung seines Freundes wahrnahm, suchte er ihm heilsame Zweifel einzuflößen. Der Oberst fuhr zusammen, aber er lächelte und machte eine ungläubige Geste. Niemand wagte, sich dem Vorhaben des Obersten zu widersetzen. Wenige Stunden danach war er bei dem Arzt und der Gräfin de Vandières in der alten Abtei. »Wo ist sie?« rief er bei seiner Ankunft. »Leise!« erwiderte Stephanies Onkel. »Sie schläft. Sehen Sie, dort ist sie.« Philippe sah die arme Geisteskranke in der Sonne auf einer Bank kauern. Ihr Kopf war gegen die glühende Luft geschützt durch den wirren Haarschwall über ihrem Gesicht; ihre Arme hingen anmutig bis zur Erde hinab; ihr Körper lag in reizvoller Haltung da, ähnlich der eines Rehs; die Beine hatte sie unverkrampft unter sich zusammengezogen; ihre Brust hob sich in gleichen Intervallen; ihre Ge– 245 –
sichtshaut wies jene Porzellanweiße auf, die wir im durchscheinenden Teint der Kinder so sehr bewundern. Geneviève saß reglos neben ihr und hielt in der Hand einen Zweig, den Stéphanie wohl im höchsten Wipfel einer Pappel abgebrochen hatte; die Schwachsinnige bewegte das Blattwerk leise über ihrer schlafenden Gefährtin hin und her, um die Fliegen zu verjagen und die Luft aufzufrischen. Die Bäuerin sah Monsieur Fanjat und den Oberst an. Dann wandte sie wie ein Tier, das seinen Herrn erkannt hat, den Kopf langsam wieder der Gräfin zu und überwachte sie, ohne das geringste Zeichen des Staunens oder des Verständnisses zu bekunden. Die Luft war brennend heiß; die Steinbank schien zu funkeln, und die Wiese sandte einen Ungewissen, wie Goldstaub über dem Gras tanzenden, wabernden Dunst zum Himmel. Aber Geneviève schien diese verzehrende Hitze nicht zu spüren. Der Oberst drückte die Hände des Arztes heftig in den seinen. Dem Offizier liefen die Tränen, die seinen Augen entrannen, die männlichen Wangen herab und fielen zu Stephanies Füßen ins Gras. »Seit zwei Jahren«, sagte der Onkel, »bricht mir tagtäglich das Herz. Bald wird es Ihnen gehen wie mir. Wenn Sie dann auch nicht mehr weinen, so werden Sie Ihren Schmerz dennoch spüren.« »Sie haben sich ihrer angenommen!« sagte der Oberst, dessen Augen ebensoviel Dankbarkeit wie Eifersucht ausdrückten. Die beiden Männer verstanden einander; und indem sie sich nochmals kräftig die Hände drückten, blieben sie stehen, versunken in die Betrachtung der wundervollen Ruhe, die der Schlummer über jenes reizende Geschöpf ausgoß. Von Zeit zu Zeit ließ Stéphanie einen Seufzer vernehmen; und bei diesen Seufzern, die alle Anzeichen sinnlichen Gefühls trugen, durchschauerte den unglücklichen Obersten ein Wohlgefühl. »Ach«, sagte Monsieur Fanjat leise, »täuschen Sie sich nicht, Herr Oberst, Sie sehen sie in diesem Augenblick in dem, was bei ihr volle Vernunft ist.« – 246 –
Alle jene, die ganze Stunden lang voller Entzücken dagestanden und ein zärtlich geliebtes Wesen, dessen Augen ihnen beim Erwachen zufächeln mußten, im Schlaf betrachtet haben, werden ohne Zweifel die süße, furchtbare Empfindung verstehen, die den Oberst bewegte. Für ihn war dieser Schlummer eine Illusion; das Erwachen mußte ein Tod sein, und zwar der grauenhafteste Tod. Plötzlich lief eine junge Ziege in ein paar Sätzen auf die Bank zu und beschnupperte Stephanie, die von dem Geräusch erwachte. Sie sprang leicht auf die Füße, ohne das launische Tier durch diese Bewegung zu erschrecken. Doch als sie Philippe sah, floh sie mit ihrer vierfüßigen Gefährtin bis zu einer Holunderhecke, dann stieß sie jenen leisen Schrei eines erschreckten Vogels aus, den der Oberst schon vom Gitter aus vernommen hatte, wo die Gräfin zum erstenmal vor Monsieur d'Albon erschienen war. Schließlich kletterte sie auf einen Bohnenbaum, setzte sich in die grüne Krone und begann den »Fremden« mit der Aufmerksamkeit der neugierigsten aller Nachtigallen des Waldes zu betrachten. »Leb wohl, leb wohl, leb wohl!« sagte sie, ohne daß die Seele diesem Wort den geringsten Gefühlston geliehen hätte. Es war die Unbeteiligtheit eines Vogels, der seine Weise flötete.
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»Sie erkennt mich nicht!« rief der Oberst verzweifelt. »Stéphanie, ich bin Philippe, dein Philippe!... Philippe!« Und der arme Offizier ging auf den Bohnenbaum zu; doch als er sich ihm bis auf drei Schritte genähert hatte, blickte die Gräfin ihn an, als wolle sie ihn herausfordern, wiewohl ihr Auge flüchtig einen Ausdruck von Furchtsamkeit zeigte; dann sprang sie mit einem einzigen Satz aus dem Bohnenbaum in eine Akazie, und von dort in eine nordische Fichte, in der sie sich mit unerhörter Leichtigkeit von Ast zu Ast schwang. »Klettern Sie ihr nicht nach«, sagte Monsieur Fanjat zu dem Oberst. »Sie würden dadurch eine Abneigung zwischen sich und ihr hervorrufen, die vielleicht unüberwindlich wäre. Ich will Ihnen helfen, sich ihr bekannt zu machen und sie zu zähmen. Setzen Sie sich mit mir auf die Bank dort. Wenn Sie die arme Irre nicht mehr beachten, werden Sie bald sehen, daß sie sich unmerklich nähert, um Sie zu mustern.« »Sie! Und mich nicht erkennen! Und mich fliehen!« wiederholte der Oberst und lehnte den Rücken gegen einen Baum, dessen Laub eine Gartenbank beschattete. Der Kopf sank ihm auf die Brust. Der Do– 248 –
ktor bewahrte Schweigen. Bald danach stieg die Gräfin leise aus ihrer Fichte herab, sie flatterte dabei wie ein Irrlicht und paßte sich bisweilen den Wellenbewegungen an, die der Wind den Bäumen mitteilte. Auf jedem Ast machte sie Halt, um nach dem Fremden hinzuspähen; aber als sie sah, daß er sich nicht bewegte, sprang sie schließlich ins Gras hinab, richtete sich auf und ging langsam über die Wiese auf ihn zu. Als sie sich an einen Baum lehnte, der etwa zehn Fuß von der Bank entfernt stand, sagte Monsieur Fanjat leise zum Oberst: »Nehmen Sie behutsam ein paar Stücke Zucker aus meiner Tasche und zeigen Sie sie ihr, dann wird sie kommen; ich verzichte gern zu Ihren Gunsten auf die Freude, ihr etwas zum Naschen zu geben. Durch den Zucker, den sie leidenschaftlich liebt, werden Sie sie daran gewöhnen, sich Ihnen zu nahen und Sie dann zu erkennen.« »Seit sie erwachsen war«, erwiderte Philippe traurig, »machte sie sich nichts mehr aus Süßigkeiten.« Als der Oberst das Stück Zucker, das er zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt, Stéphanie entgegenstreckte, stieß sie von neuem ihren wilden Schrei aus und eilte auf Philippe zu; dann blieb sie stehen, im Bann der instinktiven Furcht, die er ihr einflößte. Bald sah sie den Zucker an, bald wandte sie den Kopf wieder ab, wie jene unglückseligen Hunde, denen ihre Herren verbieten, etwas Eßbares zu berühren, bevor man die letzten Buchstaben des Alphabets, das man langsam aufgesagt, ausgesprochen hat. Schließlich triumphierte die animalische Leidenschaft über die Furcht: Stéphanie stürzte auf Philippe zu, streckte ängstlich die schöne braune Hand aus, um ihre Beute zu fassen, berührte die Finger des Geliebten, ergriff den Zucker und verschwand im Unterholz des Waldes. Diese schauerliche Szene nahm dem Obersten vollends den Mut, so daß er in Tränen ausbrach und ins Wohnzimmer hastete. »Brächte die Liebe weniger Kraft auf als die Freundschaft?« fragte Monsieur Fanjat. »Ich habe Hoffnung, Herr Baron. Meine Nichte war schon in einem weit jämmerlicheren Zustand, als der, in dem Sie sie jetzt sehen.« – 249 –
»Kann das sein?« rief Philippe. »Sie lief immer nackt herum«, erwiderte der Arzt. Der Oberst machte eine Gebärde des Grauens und erbleichte. Der Doktor glaubte in diesem Erbleichen ein paar ernsthafte Symptome wahrzunehmen; er fühlte ihm den Puls und erkannte, daß Philippe von einem heftigen Fieber befallen war. Es gelang ihm durch ernstliche Bitten, ihn ins Bett zu bringen; und er verabreichte ihm eine leichte Dosis Opium, um ihm einen ruhigen Schlaf zu verschaffen. Etwa acht Tage verstrichen; der Baron de Sucy hatte währenddessen oft mit Todesängsten ringen müssen; bald hatten denn auch seine Augen keine Tränen mehr. Sein oft hart mitgenommenes Innere konnte sich nicht an den Anblick gewöhnen, den der Irrsinn der Gräfin ihm darbot; aber er schloß sozusagen mit dieser grausamen Situation einen Vergleich und fand in seinem Schmerz Trost. Sein Heroismus kannte keine Grenzen. Er brachte den Mut auf, Stéphanie zu zähmen, indem er ihr Leckereien aussuchte; er reichte ihr diese Nahrung so behutsam, er lernte die bescheidenen Eroberungen, die er im Instinkt seiner Geliebten, diesem letzten Fetzen ihres Intellekts, machen wollte, so gut abzustufen, daß es ihm gelang, sie zutraulicher zu machen, als sie es je gewesen war. Jeden Morgen ging der Oberst in den Park hinunter; und wenn er die Gräfin lange gesucht hatte und nicht herausbekommen konnte, auf welchem Baum sie sich wiegte, noch in welchem Winkel sie sich hingekauert hatte, um mit einem Vogel zu spielen, oder auf welchem Dach sie hockte, dann pfiff er die bekannte Melodie »Portant pour la Syrie«, an die sich die Erinnerung einer Szene ihrer Liebe knüpfte; auf der Stelle kam sie dann behend wie ein junges Reh herbeigelaufen. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, den Oberst bei sich zu sehen, daß sie nicht mehr vor ihm erschrak; bald pflegte sie sich ihm aufs Knie zu setzen und ihren mageren, flinken Arm um ihn zu schlingen. In dieser allen Liebenden so teuren Haltung gab Philippe der leckermäuligen Gräfin langsam ein paar Süßigkeiten. Wenn sie sie alle verzehrt hatte, so geschah es oft, daß sie die Taschen ihres – 250 –
Freundes durchsuchte, und zwar mit Gesten, die die mechanische Geschwindigkeit der Bewegungen eines Affen hatten. Sobald sie ganz sicher war, daß er nichts mehr hatte, sah sie Philippe gedankenleer und ohne ihn zu erkennen, mit klaren Augen an; alsdann spielte sie mit ihm, sie versuchte, ihm die Stiefel auszuziehen, weil sie seinen Fuß sehen wollte, sie zerriß seine Handschuhe und setzt sich seinen Hut auf. Aber sie duldete es, daß er ihr mit der Hand durchs Haar strich, sie erlaubte ihm, sie in die Arme zu nehmen, und seine glühenden Küsse ließ sie ohne Lustempfindung über sich ergehen; schließlich sah sie ihn schweigend an, wenn er Tränen vergoß; zwar verstand sie die gepfiffene Melodie »Portant pour la Syrie«; aber es gelang ihm nicht, sie dahin zu bringen, daß sie ihren eigenen Namen Stéphanie aussprach. Philippe wurde in seinem grauenvollen Unterfangen aufrechterhalten durch eine Hoffnung, die ihn nie verließ. Wenn er die Gräfin an einem schönen Herbstmorgen friedlich unter einer vergilbten Pappel auf einer Bank sitzen sah, legte der arme Liebende sich ihr zu Fußen und blickte ihr so lange in die Augen, wie sie es dulden wollte; denn immer hoffte er, das ihnen entschlüpfende Aufleuchten werde wieder von Verstehen zeugen. Bisweilen gab er sich Illusionen hin: Er glaubte bemerkt zu haben, daß in den harten, starren Blicken etwas Neues vibrierte, daß sie weich und lebendig würden, und er rief: »Stéphanie, Stéphanie! Du hörst mich, du siehst mich!« Aber sie lauschte auf den Klang dieser Stimme wie auf ein Geräusch, wie auf das Sausen des Windes, der die Bäume bewegte, wie auf das Brüllen der Kuh, auf die sie kletterte; und der Oberst rang die Hände in Verzweiflung, in immer neuer Verzweiflung. Die Zeit und seine vergeblichen Versuche steigerten seinen Schmerz nur noch. Eines Abends, unter ruhigem Himmel, mitten im Schweigen und Frieden dieses ländlichen Zufluchtsortes sah der Arzt von weitem den Baron damit beschäftigt, eine Pistole zu laden. Der alte Mediziner durchschaute, daß Philippe keine Hoffnung mehr habe; er fühlte, wie ihm alles Blut zum Herzen strömte, und wenn er dem Schwindel widerstand, der sich seiner bemächtigen wollte, so nur, weil er seine Nichte lieber als Irre am Leben sehen wollte denn tot. Er eilte hin. – 251 –
»Was machen Sie da?« fragte er. »Die da ist für mich!« erwiderte der Oberst und deutete auf eine auf der Bank liegende geladene Pistole, »und die hier für sie!« fügte er hinzu, indem er den Ladestock in die Waffe hineinstieß, die er in der Hand hielt. Die Gräfin lag am Boden und spielte mit den Kugeln. »Dann wissen Sie also nicht«, erwiderte der Arzt mit einer Kälte, hinter der er sein Entsetzen verbarg, »daß sie heute nacht im Schlaf ›Philippe‹ gesagt hat?« »Sie hat meinen Namen gesagt!« rief der Baron und ließ die Pistole fallen, die Stéphanie sofort an sich raffte; er aber riß sie ihr aus der Hand, ergriff auch die, die auf der Bank lag, und lief davon. »Arme Kleine!« rief der Arzt, glücklich über den Erfolg, den sein Trug gehabt hatte. Er zog die Irre an seine Brust und sagte: »Er hätte dich umgebracht, der Egoist! Er will dir das Leben nehmen, weil er leidet. Er versteht es nicht, dich um deiner selbst willen zu lieben, mein Kind! Wir wollen ihm verzeihen, nicht wahr? Er ist von Sinnen, und du bist nur irrsinnig. Komm, Gott allein soll dich zu sich rufen. Wir halten dich für unglücklich, weil du an unserem Elend keinen Anteil mehr nimmst, wir Toren! Aber«, sagte er und zog sie auf seine Knie, »du bist glücklich, nichts quält dich; du lebst wie der Vogel, wie das Wild...« Sie stürzte sich auf eine junge Amsel, die umherhüpfte, stieß einen Freudenschrei aus, als sie sie fing, erwürgte sie, sah die kleine Leiche an und warf sie unter einen Baum; sie hatte sie schon vergessen. Am folgenden Tage kam der Oberst, sobald es dämmerte, in den Garten und suchte Stéphanie; er glaubte an sein Glück; da er sie nicht fand, pfiff er. Als seine Geliebte gekommen war, nahm er sie beim Arm; zum erstenmal gingen sie nebeneinander her und traten unter eine Gruppe gilbender Bäume, deren Blätter im Morgenwind herabsanken. Der Oberst setzte sich, und sie setzte sich ihm ohne sein Zutun auf den Schoß. Philippe zitterte vor Freude. »Mein – 252 –
Geliebtes«, sagte er und küßte der Gräfin glühend die Hände, »ich bin doch Philippe!« Neugierig sah sie ihn an. »Komm«, sprach er weiter und drückte sie an sich, »fühlst du mein Herz pochen? Es hat immer nur für dich geschlagen. Ich liebe dich nach wie vor. Philippe ist nicht tot, er ist hier, du sitzt auf seinem Knie. Du bist meine Stephanie, ich bin dein Philippe!« »Leb wohl«, sagte sie, »leb wohl.« Den Obersten durchschauerte es. Er glaubte zu spüren, daß seine Glut sich der Geliebten mitteilte; sein durchdringender Schrei, den die Hoffnung ihm entpreßte, die letzte Anstrengung einer unvergänglichen Liebe, einer wahnwitzigen Leidenschaft, mußte die Vernunft der Freundin wecken. »Ah, Stéphanie, wir werden noch einmal glücklich!« Ihrem Munde entschlüpfte ein Laut der Befriedigung, und in ihren Augen blitzte es wie vages Verständnis auf. »Sie erkennt mich! Stéphanie!« Der Oberst fühlte sein Herz schwellen, seine Wimpern feucht werden. Aber da sah er, wie die Gräfin ihm ein Stückchen Zucker zeigte, das sie gefunden hatte, als sie seine Taschen durchsuchte, während er sprach. Er hatte also jene Stufe der Vernunft, wie sie die Bosheit der Affen als Voraussetzung hat, für einen menschlichen Gedanken gehalten. Philippe verlor das Bewußtsein. Monsieur Fanjat fand die Gräfin auf dem Körper des Obersts sitzen. Sie knabberte an ihrem Stück Zucker herum und gab ihre Freude durch kleine Zierereien zu erkennen, die man bewundert hätte, wenn sie bei voller Vernunft im Scherz ihren Papageien oder ihr Kätzchen hätte nachahmen wollen. »Ach, lieber Freund«, sagte Philippe, als er wieder zu sich kam, »ich sterbe tagtäglich, in jedem Augenblick! Ich liebe allzu sehr! Ich würde alles ertragen, wenn sie in ihrem Irrsinn ein wenig Weiblichkeit bewahrt hätte. Aber sie immer zu sehen wie eine Wilde und sogar der Scham bar; sie zu sehen...« – 253 –
»Sie brauchten also einen Opernwahnsinn«, sagte der Doktor bitter. »Die Aufopferung Ihrer Liebe ist also Vorurteilen unterworfen? Nun, Herr Oberst, ich habe um Ihretwillen dem traurigen Glück entsagt, meine Nichte zu füttern; ich habe Ihnen die Freude abgetreten, mit ihr zu spielen; mir habe ich nur die lästigsten Aufgaben vorbehalten. Während Sie schlafen, wache ich bei ihr; ich... Gehen Sie, Herr Oberst, überlassen Sie sie sich selber. Verlassen Sie diese traurige Einsiedelei. Ich verstehe mich darauf, mit diesem lieben kleinen Geschöpf zu leben; ich verstehe ihren Wahnsinn, ich verfolge ihre Gesten, ich bin eingeweiht in ihre Geheimnisse. Eines Tages werden Sie mir dafür danken.« Der Oberst verließ Les Bons-Hommes, um nur noch einmal dorthin zurückzukehren. Der Doktor war entsetzt über die Wirkung, die er bei seinem Gast hervorgerufen hatte; er begann ihn ebenso gern zu haben wie seine Nichte. Wenn von den beiden Liebenden einer zu bemitleiden war, so war es sicherlich Philippe: Trug nicht er ganz allein die Bürde eines furchtbaren Leids? Der Arzt ließ Erkundigungen über den Oberst einziehen und erfuhr, daß der Unglückliche sich auf ein ihm gehöriges Landgut bei Saint-Germain zurückgezogen habe. Der Baron hatte aufgrund eines Traums einen Plan entworfen, wie er der Gräfin die Vernunft zurückgeben wollte. Ohne Wissen des Doktors verwandte er den Rest des Herbstes auf die Vorbereitungen zu diesem ungeheuerlichen Unternehmen. Durch seinen Park floß ein kleiner Bach und überschwemmte im Winter ein Sumpfgelände, das dem am rechten Ufer der Beresina glich. Das auf einem Hügel gelegene Dorf Chatou rahmte diese Schreckensszenerie etwa ein, wie Studzianka die Ebene der Beresina abgeschlossen, hatte. Der Oberst stellte Arbeiter an und ließ einen Kanal ausheben, der den räuberischen Fluß darstellen sollte, an dem das Kostbarste untergegangen war, was Frankreich besaß, Napoleon und seine Armee. Es gelang Philippe, dem seine Erinnerungen zu Hilfe kamen, in seinem Park ein Abbild des Ufers zu schaffen, an dem General Eblé seine Brücken erbaut hatte. Er errichtete Gerüste und brannte sie ab, so daß sie den geschwärzten, halb verkohlten Planken glichen, die auf beiden Seiten des Flusses den Nachzüglern Kunde davon gege– 254 –
ben hatten, daß ihnen der Weg nach Frankreich versperrt sei. Der Oberst ließ Trümmer herbeischaffen, ähnlich denen, deren sich seine Unglücksgenossen beim Bau des Floßes bedient hatten. Um die Täuschung, auf die er seine letzte Hoffnung setzte, vollkommen zu machen, verwüstete er seinen Park. Er bestellte zerfetzte Uniformen und Kostüme, um ein paar hundert Bauern damit zu bekleiden. Er errichtete Hütten, Zelte und Batteriestellungen und steckte alles in Brand. Kurzum, er vergaß nichts von alledem, was die grauenhafteste aller Szenerien wiedererstehen lassen konnte; und er erreichte sein Ziel. In den ersten Dezembertagen, als der Schnee die Erde mit einem dicken weißen Mantel bedeckt hatte, glaubte er die Beresina vor sich zu sehen. Dieses falsche Rußland war von so erschreckender Echtheit, daß mehrere seiner Waffengefährten den Schauplatz ihres einstigen Elends wiedererkannten. Monsieur de Sucy hütete das Geheimnis dieser tragischen Bühne, von der um diese Zeit in der Pariser Gesellschaft vielfach als von einer Narrheit gesprochen wurde.
Anfang Januar 1820 stieg der Oberst in einen Wagen, ähnlich dem, der Monsieur und Madame de Vandières von Moskau nach Studzianka gebracht hatte, und schlug die Richtung nach dem Walde von – 255 –
L'Isle-Adam ein. Die Pferde, die ihn zogen, glichen ebenfalls nahezu denen, die er unter Einsatz seines Lebens aus der russischen Kampflinie geholt hatte. Er selber trug dieselben schmutzigen und wunderlichen Kleider, die Waffen, die Kopfbedeckung wie am 29. November 1812. Er hatte sich sogar Bart und Haar wachsen lassen und sein Gesicht vernachlässigt, damit nichts an der schauerlichen Wirklichkeitstreue fehle. »Ich habe mir gedacht, was Sie vorhaben«, rief Monsieur Fanjat, als er den Obersten aus dem Wagen steigen sah. »Wenn Sie wollen, daß Ihr Plan gelingt, dann zeigen Sie sich nicht in diesem Aufzug. Heute abend gebe ich meiner Nichte ein wenig Opium, während sie schläft, wollen wir sie anziehen, wie sie bei Studzianka gekleidet war, und dann legen wir sie in den Wagen. Ich folge Ihnen in einer Berline.« Gegen zwei Uhr morgens wurde die junge Gräfin in den Wagen getragen, auf Kissen gelegt und in eine grobe Decke gehüllt. Ein paar Bauern leuchteten bei dieser sonderbaren Entführung. Plötzlich hallte ein gellender Schrei durch die Nachtstille. Philippe und der Arzt wandten sich um und erblickten Geneviève, die halbnackt aus dem niedern Zimmer herausgekommen war, in dem sie schlief. »Leb wohl, leb wohl, es ist aus! Leb wohl!« rief sie unter heißen Tränen. »Na, Geneviève, was hast du?« fragte Monsieur Fanjat. Geneviève schüttelte mit einer Geste der Verzweiflung den Kopf, reckte den Arm zum Himmel empor, sah den Wagen an, stieß einen langen Grollaut aus, gab sichtliche Zeichen tiefen Schreckens zu erkennen und kehrte wortlos ins Haus zurück. »Ein gutes Vorzeichen«, rief der Oberst. »Dies Mädchen bedauert, daß es keine Gefährtin mehr hat. Sie sieht vielleicht visionär, daß Stéphanie die Vernunft wiedererlangen wird. « »Gott gebe es!« erwiderte Monsieur Fanjat, dem dieser Zwischenfall Eindruck zu machen schien. Seit er sich mit dem Wahnsinn beschäftigt hatte, war er mehreren Beispielen des prophetischen Geistes und – 256 –
der Gabe des zweiten Gesichts begegnet, von denen gerade Geisteskranke einige Beweise geliefert haben und die sich nach den Berichten mehrerer Forschungsreisender bei wilden Stämmen finden. Wie der Oberst es berechnet hatte, überquerte Stéphanie gegen neun Uhr morgens die nachgeahmte Beresina-Ebene; geweckt wurde sie durch einen Böllerschuß, der etwa hundert Schritt vor der Stelle, wo die Szene sich abspielte, gelöst wurde. Es war ein Signal. Tausend Bauern stießen ein furchtbares Geschrei aus, ähnlich dem Hurrah der Verzweiflung, das die Russen schrecken sollte, als sich zwanzigtausend Nachzügler durch eigene Schuld dem Tode oder der Sklaverei ausgeliefert sahen. Bei diesem Schuß und diesem Schrei sprang die Gräfin aus dem Wagen und lief in rasender Angst über die Schneefläche, auf der sie die verbrannten Zelte sah, und unten das unglückselige Floß, das in eine gefrorene Beresina hinabgelassen wurde. Dort stand der Major Philippe und schwang den Degen gegen die Menge. Madame de Vandières stieß einen Schrei aus, der alle Herzen erstarren ließ, und stellte sich vor den erzitternden Oberst hin. Sie sammelte sich und blickte dieses seltsame Bild zunächst vage an. Während eines blitzschnellen Augenblicks huschte jene des Verstandes bare Helle durch ihre Augen, die wir im glänzenden Auge der Vögel bewundern. Dann strich sie sich mit der lebhaften Geste eines, der nachdenkt, mit der Hand über die Stirn, betrachtete diese lebendige Erinnerung, dieses vergangene Leben, das ihr vorgeführt wurde, wandte den Kopf ruckhaft Philippe zu – und erkannte ihn! Ein grauenhaftes Schweigen herrschte in der Menge. Der Oberst keuchte und wagte nicht zu reden; der Doktor weinte. Stephanies schönes Gesicht gewann ein wenig Farbe; von Tönung zu Tönung nahm sie schließlich wieder den Glanz eines in seiner Frische strahlenden jungen Mädchens an. Ein schönes Purpurrot überzog ihr Gesicht. Leben und Glück rückten, belebt von einer noch flackernden Intelligenz, wie ein Steppenbrand immer näher. Ein krampfhaftes Zittern durchrann sie von den Fußen bis zum Herzen. Dann fanden diese Erscheinungen, die in einem Augenblick hervorbrachen, ein gemeinsames Band: Stephanies Augen sprühten einen himmlischen Strahl, eine lebendige Flamme aus. Sie lebte, sie – 257 –
dachte! Sie erschauderte – vielleicht vor Angst! Gott selber löste diese tote Zunge zum zweitenmal und goß von neuem sein Feuer in diese erloschene Seele. Der menschliche Wille kam mit seinen elektrischen Strömen und belebte den Körper, den er so lange verlassen hatte. »Stéphanie!« rief der Oberst. »Oh, das ist Philippe!« sagte die arme Gräfin.
Sie stürzte sich in die bebenden Arme, die ihr der Oberst entgegenbreitete, und die Umschlingung der beiden Liebenden hatte für die Zuschauer etwas Erschreckendes. Stéphanie brach in Tränen aus. Plötzlich versiegten die Tropfen, sie lag in Todeszuckungen, als habe der Blitz sie getroffen, und sagte mir schwacher Stimme: »Leb wohl, Philippe! Ich liebe dich, leb wohl!« »Oh! Sie ist tot!« rief der Oberst und öffnete die Arme. Der alte Arzt fing den leblosen Körper seiner Nichte auf, nahm ihn wie ein junger Mann in die Arme, trug ihn davon und setzte sich mit ihm auf einen Holzstapel. Er sah die Gräfin an und legte ihr eine kraftlose, krampfhaft zitternde Hand aufs Herz. Das Herz schlug nicht mehr. – 258 –
»Es ist also wahr?« fragte er, indem er abwechselnd den starr dastehenden Obersten und Stephanies Gesicht ansah, das der Tod mit jener strahlenden Schönheit übergoß, der flüchtigen Aureole, dem Unterpfand vielleicht einer leuchtenden Zukunft. »Ja, sie ist tot.« »Ach, dies Lächeln!« rief Philippe. »Sehen Sie doch dies Lächeln! Kann es denn sein?« »Sie ist schon kalt«, antwortete Monsieur Fanjat. Monsieur de Sucy tat ein paar Schritte, um sich von diesem Anblick loszureißen; aber er hielt inne, pfiff die Melodie, auf die die Irre gehört hatte, und ging, als er seine Geliebte nicht herbeeilen sah, wie ein Trunkener mit schwankendem Schritt davon; er pfiff noch immer, aber er sah sich nicht mehr um. Der General Philippe de Sucy galt in der Gesellschaft als ein sehr liebeswürdiger und vor allem sehr frohgemuter Mann. Vor ein paar Tagen machte ihm eine Dame ein Kompliment über seine gute Laune und die Ausgeglichenheit seines Wesens. »Ach, Madame«, sagte er, »ich bezahle meine Späße teuer genug, wenn ich abends allein bin.« »Sind Sie denn jemals allein?« »Nein«, erwiderte er lächelnd. Wenn ein kundiger Beobachter der menschlichen Natur in diesem Augenblick Sucys Gesicht hätte sehen können, so hätte ihn zweifellos ein Schauder überronnen. »Weshalb heiraten Sie eigentlich nicht?« fragte jene Dame fort, die mehrere Töchter in einem Pensionat hatte. »Sie sind reich, Offizier von hohem Rang, aus altem Adel; Sie haben Talente, eine Zukunft, und alles lächelt Ihnen.« »Ja«, erwiderte er, »aber es ist ein Lächeln, das mich tötet.« – 259 –
Am folgenden Tage erfuhr die Dame zu ihrem Erstaunen, daß Monsieur de Sucy sich in der Nacht eine Kugel in den Kopf geschossen habe. Die große Welt unterhielt sich auf unterschiedliche Weise über dieses außerordentliche Ereignis, und jedermann suchte nach den Gründen. Je nach dem Geschmack des einzelnen Schwätzers wurden das Spiel, die Liebe, der Ehrgeiz und geheime Ausschweifungen als Erklärung für diese Katastrophe angeführt, die nur die Schlußszene eines 1812 begonnenen Dramas war. Einzig zwei Menschen, ein Justizbeamter und ein alter Arzt, wußten, daß der Graf de Sucy einer jener starken Menschen war, denen Gott die selige Kraft verleiht, jeden Tag als Sieger aus einem furchtbaren Kampf hervorzugehen, den sie einem unbekannten Ungeheuer liefern. Wenn Gott einen Augenblick die Hand von ihnen abzieht, so unterliegen sie.
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