ab 9J.
D I E K L E I NE N T RO M P E T E R B Ü CH E R Als ich so jung war wie der junge Mann von nebenan, sagt Anton S...
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ab 9J.
D I E K L E I NE N T RO M P E T E R B Ü CH E R Als ich so jung war wie der junge Mann von nebenan, sagt Anton Seidel, gab es Dampflokomotiven und Pferdekutschen, und es gab Autos und Motorräder mit sehr schweren Motoren, die hoppelten mit viel Getöse übers Stuckerpflaster… Anton Seidel erinnert sich, und er erzählt von einem Motor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte und dessen Erfindung den Fabrikanten Herrn Rassmussen zu einem nimmersatten Hai werden ließ, der schließlich selbst geschluckt wurde. Als es ihn und andere Haie endlich nicht mehr gab, konnten Seidel und seine Freunde etwas ganz Neues beginnen.
D E R KI NDE RB UC HVE RL AG B E RL I N
Dieses Buch enthält eine Anzahl
MZ-GESCHICHTEN wie sie der verdienstvolle Anton Seidel aus seinen Erinnerungen erzählt,
beginnend mit einer Fahrt ohne Geld in einem Auto für Millionäre, endend mit dem Sieg eines Außenseiters im Motorradrennen auf der Insel Ceylon im Indischen Ozean,
aufgeschrieben für alle Freunde flinker Motore von Helga und Hansgeorg Meyer und illustriert von Heinz Handschick
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
6. Auflage 1984 © DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN – DDR 1972 Lizenz-Nr. 304-270/488/84 – (170) Satz: INTERDRUCK Graphischer Großbetrieb Leipzig 111/1 Druck: Messedruck Leipzig Buchbinderische Verarbeitung: LVZ-Druckerei „Hermann Duncker“ Leipzig LSV 7521 Für Leser von 9 Jahren an Bestell-Nr. 628 915 3 00240
Da meint nun der junge Mann von nebenan, er kennt sein Motorrad! Er fährt eine MZ. Jeden Nachmittag, kaum daß er von der Arbeit gekommen ist, hockt er sich vor sie hin und bemuttelt sie und betuttelt sie, von oben und von unten, von innen und von außen, mit Schaumreiniger und Schwamm, mit Wasserschlauch und Trockenlappen, rückt jedem Teilchen zu Leibe, zieht die Schrauben und Muttern nach, sprüht Öl, damit nichts rosten kann, prüft das Licht und das Signal, und dann setzt er sich den Sturzhelm auf, tritt den Kickstarter, schwingt sich in den Sattel, läßt den Motor aufbrüllen, dreht eine Proberunde – und beginnt neu: Schwamm, Trockenlappen, Schraubenschlüssel. Die Kinder stehen um ihn und staunen. Sie bewundern das Motorrad, und sie bewundern ihn. Ich weiß, wovon sie träumen: Wenn wir mal achtzehn sind, dann kaufen wir uns auch so eine Maschine, dann muß er uns zeigen, wie man mit ihr umgeht, denn keiner weiß soviel von der MZ wie er. Zu mir gucken sie nicht her. Ich bin ein alter Mann, sitze auf meiner Bank, schaue zu und sage mir: Gar nichts weiß er. Mag sein, daß er alle ihre Teile kennt, jedes Schräubchen seines Motorrads. Was ist das schon! Die MZ kennt er noch lange nicht. Aber ich kenne sie. Ich kenne sie durch und durch. Ich weiß alles von ihr.
Wie Hugo Ruppe und ich dem Herrn Rasmussen einen Motor bauten, wie wir einem Chefredakteur den Teppich beschmutzten und wie wir vor die Tür gesetzt wurden. Als ich so jung war wie der junge Mann von nebenan, gab es Dampflokomotiven, Fahrräder und Pferdekutschen, und es gab Autos und Motorräder mit sehr schweren Motoren, die hoppelten mit schrecklich viel Getöse übers Stukkerpflaster. An die MZ war noch nicht zu denken. Mein Chef hieß Hugo Ruppe. Er besaß das modernste Auto von ganz Europa. An dem Auto hingen wir beide, er und ich, mit noch viel größerer Liebe als der junge Mann von nebenan an seiner MZ. Wir hatten es selbst gebaut. Eines Tages setzten wir uns in dieses Auto und fuhren ins Erzgebirge. Die Leute am Straßenrand in den Städten und Dörfern guckten uns nach. Sicherlich dachten sie, wir wären Millionäre und drum könnten wir uns das Auto leisten, und in dem Koffer, der mit Lederriemen aufs Heck geschnallt war, steckten Speck und Schinken. In dem Koffer steckten aber nur zerlöcherte Socken und eine Papprolle mit technischen Zeichnungen. Die Fahrt ging über eine steile kurvenreiche Straße, hinunter in die alte Stadt Zschopau, vorüber an einer prächtigen Burg und auf einer steinernen Brücke über ein wildes Bergwasser, den Zschopaufluß, dann an einem bewaldeten Hang entlang und schließlich in eine versteckte romantische Schlucht.
In diese Schlucht gezwängt, zwischen hohen Fichten, stand eine kleine Fabrik. Wir stiegen aus. Hugo Ruppe öffnete den Koffer, klemmte die Zeichnungsrolle unter den Arm und sagte: „Nun drück die Daumen, Seidel!“ Ich heiße Seidel, Anton Seidel, Motorenschlosser. Es war überflüssig, daß er mich bat, die Daumen zu drücken. Das tat ich schon die ganze Zeit. Die Fabrik in der Schlucht gehörte Herrn Jörgen Skafte Rasmussen, einem Mann aus Dänemark. Vor diesen Mann traten wir hin. Er sah genau so aus, wie ich mir Männer aus Dänemark immer vorgestellt hatte: groß, vierschrötig, blond, kantiges Gesicht, eine Seefahrergestalt. Herr Jörgen Skafte Rasmussen war allerdings nur ein einziges Mal zur See gefahren, eine Stunde lang auf einem Fährschiff von Dänemark nach Deutschland, mit sehr viel Geld im Gepäck, so daß er studieren und diese Fabrik hier kaufen konnte. Er war ein schlauer Mann. Er verstand es, aus Geld noch mehr Geld zu machen. Aber das ahnte ich damals noch nicht. Ich stand in Herrn Rasmussens Büro, hörte auf Hugo Ruppes Worte, blickte gespannt mal auf Herrn Rasmussen, mal auf den Schäferhund zu seinen Füßen, der so kluge braune Augen hatte, und mal auf die technischen Zeichnungen, die Hugo Ruppe aufgerollt hielt und dem Herrn Rasmussen erläuterte. Was wird der reiche Mann zu Hugo Ruppes Idee sagen? Herr Rasmussen sagte zunächst gar nichts. Eine so herrliche Idee, eine so tolle Erfindung, und Hugo
Ruppe und ich hatten doch keinen Pfennig mehr in der Tasche, aber Herr Rasmussen saß da mit unbewegtem Gesicht und kraulte seinem Schäferhund den Hals. Dabei wußten wir beide: Er steckte zu dieser Zeit selbst tief in der Tinte. Er hatte die vier Kriegsjahre bis 1918 in seiner Fabrik Dampfautos bauen und Granaten drehen lassen. Nun war der Krieg zu Ende und verloren. Nun durfte er nicht mehr mit Granaten handeln, und kein Mensch fragte mehr nach seinen Dampfautos, diesen verrückten Zwischendingern, halb Lokomotive, halb Automobil, nach denen er seine Fabrik benannt hatte: DKW – DAMPFKRAFT-WAGEN. Nun saß er da mit seiner Fabrik und wußte nichts mit ihr anzufangen. Und Hugo Ruppe hatte die tolle Erfindung und kein Geld und keine Maschinen. Im Vertrauen, wenn er ein Geschäftsmann gewesen wäre wie Herr Rasmussen, dann hätte Hugo Ruppe Geld haben können wie Heu. Er war aber kein Geschäftsmann. Er war ein Knobler. In seinem Schädel fand nur die Technik Platz. Er vergaß Essen und Trinken und Schlaf über seinen technischen Tüfteleien. Er war in Großvater Ruppes Fabrik aufgewachsen. Schon als Dreikäsehoch guckte er zu, wie die Ingenieure und die Arbeiter immer neue und immer schönere Landmaschinen bauten. Andere Knirpse spielten mit Kasperpuppen, er spielte mit Technik. So wurde aus dem kleinen Hugo ein großer Ingenieur. Aber der große Ingenieur Hugo Ruppe hatte einen Fehler. Kaum hatte er etwas Neues erfunden, so gab er keine Ruhe,
bis die neue Erfindung gebaut wurde, und während die Arbeiter noch bauten, stand schon die nächste Erfindung auf seinem Zeichenblatt, die war noch viel besser. Da mußten die Arbeiter neu beginnen. Wenn dann die neue Erfindung halbfertig in der Werkstatt stand, kam Hugo Ruppe herbeigelaufen und fuchtelte mit den Armen. „Alles anhalten! Wir bauen das ganz anders!“ Das ging so lange, bis es seinem Großvater, seinem Vater und seinen Brüdern zu bunt wurde. Sie kauften ihm eine eigene Fabrik und sagten: „Nun mach damit, was du willst.“ Das tat er denn auch. Er baute die herrlichsten Autos. Autos für Millionäre. Die Herzöge, die Grafen, die Minister, die Fabrikbesitzer, die Bankherren waren entzückt. Nur kriegten sie es bald heraus: Das Auto, das Hugo Ruppe morgen liefern wird, ist noch viel vollkommener als das von heute, und das von übermorgen wird wieder vollkommener sein als das von morgen – also warten wir lieber ein Weilchen und kaufen dann das Allerneueste. Hugo Ruppe machte kein Geschäft. Sein Geld wurde knapp. Die Arbeiter liefen ihm davon, nur ich blieb an seiner Seite. Dann kam auch noch der Krieg. Zur Fahrt über die Schlachtfelder taugten seine eleganten Autos nicht, dafür taugten nur Pferdewagen, Panzerwagen und die verrückten DKW-Dampfautos des Herrn Rasmussen aus Zschopau. Nun besaß Hugo Ruppe nichts mehr. Gar nichts außer dem letzten Auto und der tollen Idee auf dem Zeichenblatt.
„Ein Zweitakter, Herr Rasmussen! Ein Zweitaktmotor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat! Klein und handlich, so klein, daß er in jedes Spielzeugregal paßt, und dabei so leistungsstark, daß er wirkliche Arbeit verrichten kann! Ein Motor als Spielgerät! Die Kinder können mit ihm der Mutter in der Küche helfen. Ein Motor, der den Fleischwolf dreht, der die Kaffeemühle antreibt! Ein paar Handgriffe, und der Motor treibt sogar ein Fahrrad! Ihre Fabrik, verehrter Herr Rasmussen, heißt DKW – DAMPFKRAFT-WAGEN, doch die Zeit der Dampfmaschine ist vorbei. Herr Rasmussen“, und er rollte die Zeichnung zusammen und reichte sie ihm über den Tisch, „ich bringe Ihnen hier ein anderes DKW: DES KNABEN WUNSCH!“ Ich preßte meine Daumen. Was in Herrn Rasmussens kantigem Schädel vorging, war in seinem Gesicht nicht zu lesen. Er schien nachzudenken. Endlich hörte er auf, seinen schönen Hund zu kraulen, sagte bedächtig: „Nun ja.“ Er nahm die Rolle, und dann schob er sie dem Hugo Ruppe wieder hin. „Ich kann Sie das ja mal versuchen lassen. Ich weise Ihnen eine Werkstatt zu. Wenn das Maschinchen was taugt, führen Sie es den Zeitungen vor, und dann werden wir weitersehen.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ein gewaltiger Stein. Für mich gab es gar keinen Zweifel: Ein Maschinchen von Hugo Ruppe mußte etwas taugen. „Noch was?“ Herr Rasmussen stand auf. Hugo Ruppe druckste. „Also was noch?“ Er getraute sich nicht zu sagen, daß wir kein Geld hatten,
um etwas zu essen zu kaufen. Drum tat ich den Mund auf und sagte es und war sehr verlegen dabei. Aber Herr Rasmussen lachte nur, blätterte ein paar Scheine auf den Tisch und ließ Hugo Ruppe eine Quittung unterschreiben. Wir waren glücklich. Wir fühlten uns wie zu Hause in der kleinen Werkstatt mit all den Schraubstöcken, Bohrern, Sägen und dem Schmiedefeuer. Es roch so vertraut nach heißem Öl. Es kringelten sich wieder die blanken Metallspäne unterm Drehstahl. Ringsum war das altgewohnte Klappern und Scheppern und Klirren und Quietschen und Poltern. Wir waren in unserem Element. Aus einem Gußeisenblock wuchs das Motorgehäuse. Aus einer gußeisernen Scheibe drehte ich das Schwungrad. Ruppe schmiedete den Zylinder. Zu zweit schliffen wir den Kolben. Solch eine Arbeit muß man monatelang geübt haben. Da kommt es auf das Hundertstel eines Millimeters an. Wir arbeiteten vom Morgengrauen bis in die Nacht. Wir vergaßen, uns zu rasieren. Ein Mädchen aus der Fabrik, das uns den Kaffee brachte, so ein erzgebirgischer Frechdachs von fünfzehn Jahren, sagte zu mir: „Ihr seht aus wie zwei aus dem Urwald.“ Ich rief: „Jawohl! Wir sind zwei Forscher im Urwald, und du bist das Äffchen auf dem Baum!“ Nach einer Woche mischte Hugo Ruppe aus Benzin und Öl den Treibstoff. Er füllte den Tank und warf das Schwungrad an. Der kleine Motor fauchte, knatterte, spuckte Qualm,
kam auf Touren. „Hurra!“ brüllte ich und sprang wie ein Verrückter durch die Werkstatt. Ich riß die Türen und Fenster auf, damit es alle hörten, wie unser Motor lief. Und als ich mich nach Hugo Ruppe umdrehte, dem Erfinder – was sah ich? Er hockte neben dem knatternden, wirbelnden, bebenden Motor, hatte einen Bogen Papier auf den Knien und entwarf die ersten Verbesserungen. Schon jetzt leistete der kleine Motor fast soviel wie ein ausgewachsenes Pferd. Wenn wir die Verbesserungen anbrachten, mußte er soviel schaffen wie ein Pferd und ein Pony im Gespann! Herr Rasmussen verzog nicht das Gesicht, als er den Motor arbeiten sah. Er ließ unser Auto volltanken, daß es bis nach Berlin und wieder zurück reichte, trug uns eine Empfehlung auf an den Herrn Chefredakteur Rehling von der Fachzeitung „Der Motor“ und schickte uns auf die Reise. Zwei Tage später traten wir in Berlin in Herrn Chefredakteur Rehlings Zeitungsbüro. Hugo Ruppe mit den Zeichnungen und ich mit dem Kistchen, worin unser kleiner Motor steckte. Gelassen hörte sich Herr Chefredakteur Rehling die Empfehlung des Herrn Rasmussen an. Als er aber erfuhr, daß wir ihm ein Spielzeug vorführen wollten, DKW – DES KNABEN WUNSCH, etwas völlig Neues, einen Motor für Kinder, morgen womöglich schon ein Motor fürs Fahrrad, da wurde er grob. „Ein Narr, der Rasmussen!“ rief er. „Dampfautomobile! Kinderspielzeug! Wir sind kein Witzblatt und keine Kinderzeitung!“
Er machte wahrhaftig Miene, uns hinauszuweisen. Drum setzte ich rasch das Kistchen auf seinen Schreibtisch, klappte es auf, schraubte DES KNABEN WUNSCH an der Tischkante fest, goß hastig Benzin und Öl in den Tank, warf das Schwungrad an. „Meine Herren!“ rief Herr Chefredakteur Rehling. Mehr konnte er nicht rufen, denn ein Getöse hub an, ein ohrenbetäubendes Knattern. Eine Wolke von blauschwarzem Qualm stieg auf, wälzte sich über den Tisch, verdunkelte in Sekundenschnelle das Zimmer. Ich sah noch die Sekretärin schreckensbleich hereinstürzen und hörte Herrn Rehling keuchen: „Auf – hö – ren!“ Dann wurde es selbst mir zuviel. Der Qualm biß mir in Nase und Lungen. Ich preßte mir einen Putzlappen vor die Lippen, tastete mich durchs Zimmer, glitt in einer Pfütze aus, die vorher nicht dagewesen war, öffnete die Fenster. Irgend etwas war schiefgegangen. Unten vorm Haus stauten sich Leute. Jemand schrie: „Feuerwehr! Es brennt!“ Da verstummte der Höllenspektakel. Der Qualm legte sich. Am Schreibtisch lehnte röchelnd Herr Rehling, und neben ihm, vor unserem kleinen Ungetüm, mitten in der Pfütze aus Öl und Benzin, die sich über den Teppich breitete, stand mit blanken Augen Hugo Ruppe. „Ist das ein Maschinchen? Ist das ein Motor? Nun stellen Sie sich DES KNABEN WUNSCH als Fahrradantrieb vor! Nicht wahr, Sie werden darüber schreiben! Ein Zweitakter,
Sie haben es am Geräusch erkannt!“ „Hinaus!“ keuchte Herr Rehling. Da bemerkte Hugo Ruppe die Pfütze, in der er stand, und sagte rasch: „Einige kleine Verbesserungen habe ich bereits vorüberlegt.“ „Hinaus, Mann, oder ich vergesse mich!“ Wir hockten uns aufs Trittbrett des Autos und ließen die Köpfe hängen. Wir meinten, nun sei alles aus. Wenn wir jetzt zu Herrn Rasmussen zurückkehren, der uns soviel Geld geliehen hat, dann wird er sagen: Jaaa, wenn dem Herrn Chefredakteur Rehling der Motor nicht gefällt, dann taugt er nichts, dann kann ich ihn auch nicht bauen! Und er wird sein Geld wiederhaben wollen, und weil wir keins mehr besitzen, wird er Hugo Ruppes letztes Auto nehmen. Uns war schlimm zumute.
Wie ein kleines Wunder einen großen Auflauf bewirkte, wie sich Herr Rasmussen mit einem Haifisch verglich und wieso Hugo Ruppe lieber heute als morgen davonging. Wir kehrten mit hängenden Köpfen nach Zschopau zurück. Noch einmal streichelten wir abschiednehmend die kantigen Kotflügel unseres Autos und die Karbidlampen an der Kühlerhaube. Mutlos traten wir vor Herrn Rasmussen und seinen freundlichen Hund. Herr Rasmussen jedoch schnippte bloß mit den Fingern. „Ach was! Ein Zeitungsschmierer, der Rehling! Der wird sich noch einmal die Finger danach lecken, über meinen Motor zu schreiben!“ Hugo Ruppe sollte weiterknobeln und den Motor verbessern, vom Spielzeugmotor zum Fahrradmotor. Wir durften wieder rackern nach Herzenslust, vom Morgen bis tief in die Nacht. Wieder nannte uns das Mädchen aus der Fabrik, wenn es uns den Kaffee brachte, verwilderte Entdecker, und wir bohrten und feilten und probierten, bis unser Motor aufs Fahrrad paßte, so daß man fahren konnte, ohne zu treten. Ein halbes Jahr nach unserem Besuch in der Redaktion der Fachzeitung „Der Motor“, zur Zeit der Leipziger Messe 1920, war es, als habe der Herr Chefredakteur Rehling seinen Zorn auf Hugo Ruppe, auf mich, auf DES KNABEN WUNSCH und den breiten Fleck in seinem Teppich völlig vergessen. Ich kann mir vorstellen, wie er mitten auf diesem Fleck stand und seiner Sekretärin einen Zeitungsartikel diktierte.
„Am zweiten Tag der Leipziger Messe nahm die Polizei auf der Petersstraße den Motorenschlosser A. Seidel fest, einen Mitarbeiter des bekannten Ingenieurs H. Ruppe aus der Zschopauer Motorenfabrik J. S. Rasmussen. Seidel hatte ohne eigenes Verschulden einen unerlaubten Auflauf verursacht. In der Annahme, es handele sich um eine Kundgebung hungernder Arbeiter, griff berittene Polizei ein und zerstreute die Menge.“ Es war wirklich keine Demonstration. Ich saß auf einem Fahrrad, hinter mir auf dem Gepäckständer knatterte unser Motor. Ein Lederriemen übertrug seine Kraft auf das Hinterrad. Ich fuhr, ohne zu treten, und immer mehr Leute liefen herbei, bestaunten das Wunderrad und wollten alles von mir wissen: Wie schnell ich fahren kann, wie weit ich komme, wie teuer solch ein Motor ist und wie teuer das Benzin. Bis die Polizisten angeritten kamen, eine Menge Leute verhafteten, mich und das Wunderrad abführten und uns alle wieder freilassen mußten. Denn eine MesseNeuheit vorzuführen, war ja nicht verboten. Herr Chefredakteur Rehling berichtete in seiner Zeitung darüber in allen Einzelheiten und lobte unseren Fahrradmotor über den grünen Klee. Von DKW – DES KNABEN WUNSCH hatte er keine Zeile geschrieben. Über den Fahrradmotor DKW – DAS KLEINE WUNDER schrieb er einen langen Artikel. So kam es, daß Herr Rasmussen von der Leipziger Messe einen ganzen Koffer voller Bestellungen nach Hause trug. Fünfundzwanzigtausend Fahrradmotore DKW wollten die Fahrradfabriken von ihm kaufen, fünfundzwanzigtausend
Motore, und zwar in kürzester Frist! Da mußte ich die Zschopauer Arbeiter, die bisher nichts als Dampfmaschinen und Dampfautos gebaut und Granaten gedreht hatten, in die neue, soviel verzwicktere Arbeit einweisen. Ich eilte von einer Maschine zur anderen. Den ganzen Tag hieß es nur immer: „Seidel, hierher!“ – „Seidel, zu mir!“ Zweitaktmotore bauen ist wirklich eine große Kunst. Sie fordert viel Geschick. Für meinen Arbeiterlohn mietete ich mir ein Dachstübchen. Hugo Ruppe nahm sich für sein Ingenieursgehalt eine teure Wohnung. Aber ich habe seine Wohnung niemals zu sehen gekriegt. Ich glaube, er hat nicht mal die Sonntage darin verbracht. Wenn ich ihn treffen wollte, dann fand ich ihn in der Werkstatt. Dort knobelte er an neuartigen Zweiradfahrzeugen, die waren mit unserem Motor ausgerüstet und viel robuster als ein gewöhnliches Fahrrad. Die hielten ein hohes Tempo aus. Die hatten auch schon eine ganz vorzügliche Federung. Leichtkrafträder, so nannte Hugo Ruppe diese Fahrzeuge. Manchmal fragte ich mich: Warum läßt Herr Rasmussen die Leichtkrafträder nicht bauen? Es ist doch jammerschade um die neue Erfindung! Hugo Ruppe knobelt und tüftelt, und dann stehen all die schönen Erfindungen nutzlos in der Ecke! Hugo Ruppe fragte nicht. Er fragte nicht einmal nach den fünfundzwanzigtausend Fahrradmotoren, die nebenan in den Fabrikhallen gebaut und verpackt und an die Fahrradfabriken geliefert wurden. Eines Tages kam ein Güterwaggon voller Motore aus den
Fahrradfabriken zurück. „Herr Ruppe!“ rief ich. „Da muß was passiert sein!“ Ich hatte schon mancherlei reden hören. Die Fahrräder brechen auf der Landstraße zusammen bei der schnellen Fahrt mit unserem Motor. Die gewöhnlichen Fahrradrahmen und die gewöhnlichen Felgen sind zu schwach. Ein Motorfahrrad muß stark gebaut sein, so stark wie die Leichtkrafträder in Hugo Ruppes Werkstatt. „Herr Ruppe, die Arbeiter sagen, ein paar Fahrradfabriken haben schließen müssen, alles wegen der Unfälle! Herr Ruppe, der Mäthengruber, der lange Schlosser mit dem schwarzen Wuschelkopf, der behauptet, Rasmussen haut die Fahrradfabrikanten mit Absicht übers Ohr!“ Da endlich hob er den Kopf von seiner Knobelei. Ich sah, daß seine Augen weit wurden, als ob er erwachte. Plötzlich ertönte hinter meinem Rücken eine ärgerliche Stimme. „Kümmern Sie sich um Ihre Arbeit, Seidel, nicht um mein Geschäft!“ Herr Rasmussen. Neben ihm hechelte sein Schäferhund. Hugo Ruppe stemmte sich hoch. „Ist das wahr, was Seidel mir berichtet? Wenn ja, Herr Rasmussen, warum haben Sie den Fahrradfabriken noch nicht mein Leichtkraftrad angeboten?“ Lächelnd wiegte Herr Rasmussen den Kopf. „Reden Sie doch!“ rief Hugo Ruppe. „Wenn es wahr ist…“ Herr Rasmussen hörte auf zu lächeln. „Der Mäthengruber, der das behauptet, ist ein Meckerer und Stänkerer, den
tu ich nächstens hinaus.“ Er wendete sich zu mir. „Sie sind noch sehr jung, Seidel. Sie sollten sich freuen, nicht in der Haut eines Fabrikanten zu stecken. Sie kriegen Ihren guten Lohn und zerbrechen sich nicht den Kopf darüber, wie ich meine Geschäfte abwickle.“ Er klappte seine lederne Zigarrentasche auf und bot uns daraus an. Es waren sehr gute Havanna mit bunten Bauchbinden. „Unter Fabrikanten“, so fuhr er fort, „geht es nicht fein zu. Die Großen schlucken die Kleinen, die Starken besiegen die Schwachen. Man muß ein Hai sein, um da bestehen zu können. Ja, wirklich“, sagte er, „die Fahrräder brechen mitsamt den Motoren zusammen. Bleiben Sie sitzen, Ruppe! Nicht aufregen! Die Fahrradfabriken mußten schließen. Heute vormittag habe ich sie alle gekauft. Es hat mich eine schöne Stange Geld gekostet. Immerhin billiger, als wenn ich sie hätte neu bauen lassen.“ Irgend etwas gefiel mir nicht an den freundlichen Reden des Herrn Rasmussen. Und wenn er meinte, diese Nachricht könne Hugo Ruppe ruhig stimmen, dann kannte er ihn schlecht. Der drückte zornig die teure Zigarre auf dem Werktisch aus. „Ihre schmutzigen Geschäfte interessieren mich nicht! Ich will wissen, wann Sie mein Leichtkraftrad bauen! Sie treiben Schindluder mit meinen Erfindungen! Sie haben gewußt, daß es Unfälle gibt. Aber Sie haben weiterproduzieren lassen, um Ihre Geschäftsfreunde zu schädigen, bis Sie sie schlucken können! Sie haben es zu Unfällen kommen lassen, jawohl, Sie! Es brauchte keine Unfälle zu geben, wenn die Leute das Leichtkraftrad kaufen könnten!“ So laut sprach er und so empört, daß Herr Rasmussen ku-
gelrunde Augen kriegte. Sein Schäferhund hörte auf zu hecheln und kroch geduckt zu mir, damit ich ihm den Hals kraulte. Selbst ich hielt den Atem an, denn ich hatte Hugo Ruppe nur selten erregt gesehen, aber niemals in so hellem Zorn wie jetzt. „Herr Ruppe, erlauben Sie…“ „Schweigen Sie! Ich schlage mir die Nächte um die Ohren, da kommt solch ein Hai wie Sie und zieht mit meinen Erfindungen auf Raub aus!“ Er war außer sich. Er brüllte dem Herrn Rasmussen ins Gesicht: „Halsabschneider! Ein Halsabschneider sind Sie!“ „Muß ich mir das sagen lassen…“ „Mein letztes Wort: Halsabschneider!“ „Ruppe! Sie sind entlassen! Auf der Stelle gehen Sie aus meiner Fabrik!“ „Mit Vergnügen! Mit dem allergrößten Vergnügen!“ Noch am Abend fuhr er davon und kam nie zurück.
Wie sich Herr Rasmussen eine goldene Nase wachsen ließ und wie ihm der Mäthengruber ankündigte: Der nächste, der hier fliegt, sind Sie! Ein paar Wochen lang hatte ich den Bauch voller Groll auf Herrn Rasmussen. Am liebsten wäre ich meinem Hugo Ruppe hinterhergelaufen, fort aus der Fabrik, um irgendwo anders zusammen mit ihm neu zu beginnen. Nach einer Weile aber war mein Ärger verraucht. Damals wußte ich nicht, wieso. Heute weiß ich es. Ich hatte mich längst in die lustigen Augen des Mädchens verguckt, das uns den Kaffee brachte und uns wild gewordene Entdecker nannte. Außerdem verdiente ich gut. Herr Rasmussen ließ Maurer kommen, die bauten ihm neue Werkhallen. Auf schweren Lastautos rollten neue Maschinen heran. Wir mußten sie montieren und einrichten. Herr Rasmussen verhandelte mit der Eisenbahn, bis sie den Zschopauer Bahnhof vergrößerte und neue Waggons bereitstellte, immer mehr Waggons. Auf diesen Waggons fuhren nun Hugo Ruppes Leichtkrafträder in alle Welt. Jawohl, jetzt, als Hugo Ruppe abgereist war, ließ Herr Rasmussen die Leichtkrafträder bauen. Nicht weil ihn das Gewissen peinigte. Nein, er hatte Hugo Ruppes Erfindung geschluckt, er hatte die Fahrradfabriken geschluckt, er schluckte auch Schraubenfabriken, Blechpressereien, Gießereien, Stanzereien, Sattlereien, Speichenfabriken, ich weiß nicht, was er sonst noch alles schluckte. Niemand außer ihm konnte sich nun eine goldene Nase
wachsen lassen durch Hugo Ruppes Erfindung. So war die Zeit gekommen, das Leichtkraftrad zu bauen. Ich weiß noch, wie sich eines Tages ein kleiner Mann aus einem Erzgebirgsstädtchen bei ihm meldete. Der kleine Mann besaß eine schöne Reparaturwerkstatt für Fahrräder, doch er klagte: „Herr Rasmussen, den Leuten ist es bequemer, ihre Fahrräder selbst zu reparieren und das Geld zu sparen. Lassen Sie mich in meiner Werkstatt Ihre neuen Motorräder verkaufen, daß ich ein paar Mark verdiene.“ Herr Rasmussen war einverstanden. Wenn der kleine Mann am Verkauf eines Motorrads ein paar Mark verdiente, dann gewann er selbst ein paar Zehnmarkscheine, denn er war ja der Fabrikbesitzer. Der kleine Mann durfte sich auf ein funkelneues Leichtkraftrad setzen. Ich sagte ihm: „Antreten – den Gashebel leicht anziehen…“ Schon fuhr das Rad mit ihm auf und davon. So schnell fuhr es davon, daß der Pförtner, der ihm das Tor öffnete, kaum beiseite springen konnte, da war er schon hinaus. Ich schrie ihm nach: „Mann, nehmen Sie das Gas weg!“ Er hat mich nicht gehört. Er hätte auch gar nicht gewußt, wie er das anstellen sollte: Gas wegnehmen. Wenn man auf einem Rad sitzt, und das Rad fährt davon, so klammert man sich mit beiden Händen fest, damit man oben bleibt bei der sausenden Fahrt und lenken kann. Wer kommt auf die Idee, den Gashebel zurückzudrücken!
Auch der kleine Mann kam nicht darauf. Er fuhr und fuhr. Der Angstschweiß rann ihm übers Gesicht und verdunstete im Fahrtwind. Er fuhr durchs ganze Erzgebirge und hatte keine Freude daran. Er fuhr, bis der Treibstoff alle war. Den Rest der Strecke ging er zu Fuß. Wir hielten uns die Bäuche vor Lachen, als er das Rad wieder in den Fabrikhof schob. Sogar Herrn Rasmussens Schäferhund lachte, daß ihm die Zunge zur Schnauze heraushing. Da mußte auch der kleine Mann lachen. Herr Rasmussen schluckte die Werkstatt. Im Fenster hing nun das Zeichen DKW. Der kleine Mann war genauso ein Arbeiter wie ich. Damals war eine schlimme Zeit im Erzgebirge. Viele Menschen hatten keine Arbeit. Aber bei DKW in Zschopau konnte man ein gutes Stück Geld verdienen. Darum drängelten sich die Arbeiter zu Herrn Rasmussen. Der ließ die geschicktesten von ihnen aussuchen und ausbilden. Jeden Tag ging er mit seinem Schäferhund durch die Hallen, grüßte nach links und nach rechts, fragte mal den, mal jenen: „Zu Hause alles gesund? Wie lernen die Kinder? Gedeihen die Kaninchen?“ Wie ein freundlicher Nachbar sprach er mit uns und bot uns Zigarren aus seinem Ledertäschchen an, obwohl er doch unser Chef war, ein Fabrikbesitzer, einer der reichsten Männer Deutschlands. Deswegen konnte ich damals nicht verstehen, wieso manche Arbeiter ihn einen Ausbeuter nannten, einen ganz abgefeimten Kapitalisten, der aus unserem Fleiß und unserem Schweiß harte Taler preßt.
Vor allem Mäthengruber redete so, der lange Schlosser, der mit dem schwarzen Wuschelkopf. Ein guter Facharbeiter. Was Mäthengruber anpackte, das paßte und saß. Aber sein Mundwerk! Was er über Hugo Ruppe sagte, war die reine Wahrheit. „Dein Ruppe, der hat sich auspressen lassen wie eine Zitrone. Dann war die Zitrone leer, schwupp, schmeißt ihn der Alte hinaus. Was braucht er den Ruppe, er hat ja Ruppes Erfindung!“ Was er aber über unsere Löhne sagte und über Herrn Rasmussen als Mensch und Nachbarn, das konnte und konnte ich nicht billigen. „Mäthengruber, wir müßten betteln gehn wie die Strumpfwirker im Gebirge, wenn wir unseren Rasmussen nicht hätten!“ Unseren Rasmussen – so habe ich ihn wirklich genannt. Darauf er: „Hast du’s denn schon mal versucht ohne ihn? Versuch es mal! In Rußland…“ „Ach, hör auf!“ rief ich da, denn ich wußte, was er sagen wollte. Immer kam er uns mit seinem Rußland, mit seinen Sowjets, mit ihrer Revolution und mit seiner Politik. Dabei, wenn ich Rußland hörte, dann sah ich immer die Zeitungsbilder von hungernden Bäuerlein in Bastschuhen und wußte überhaupt nicht, was er damit beweisen wollte. Wir lebten doch wirklich nicht schlecht bei DKW. Ich zählte dem Mäthengruber auf, was Herr Rasmussen für uns schon getan hatte. Gleich neben dem Werk wuchs eine lustige Wohnsiedlung, Häuschen mit Gärten an einem sonnigen Hang. Wer treu zu Herrn Rasmussen hielt, wer fleißig
war und kein freches Mundwerk hatte, der durfte sich solch ein Häuschen mieten. „Schafskopf!“ rief Mäthengruber. „Der Alte macht sich reich an deiner Arbeit und dann auch noch an deiner Miete. Eines Tages wachst du auf wie Hugo Ruppe, da fliegst du nicht bloß aus der Arbeit, da fliegst du auch noch aus der Wohnung!“ An allem fand er was auszusetzen. Zum Beispiel sparte ich auf ein eigenes Motorrad. Wir bauten jetzt auch schwerere Maschinen. Die neuen Ingenieure züchteten Hugo Ruppes Motor zu immer stärkerer Leistung heran, geradeso wie ein Gärtner die winzige Walderdbeere zu großen saftigen Früchten heranzüchtet. Ich träumte davon, auf einer schweren DKW zu sitzen, mein Mädel auf dem Sozius, und quer durch ganz Europa zu brausen. Man konnte im Werk ein Motorrad billiger kaufen als beim Motorradhändler. „Schlafmütze!“ rief Mäthengruber. „Ja, meinst du denn, der Alte schenkt dir auch nur einen einzigen Groschen? Hat man je so eine Schlafmütze gesehen wie den Seidel!“ Kein Wunder, daß Herr Rasmussen den Mäthengruber loswerden wollte. Er wünschte jedes Wort zu wissen, das Mäthengruber sprach. Er fragte auch mich. Da mußte ich schwindeln. „Ach, Herr Rasmussen, mit mir redet der ja bloß über das Motorrad, auf das ich spare.“ Denn daß er den Mäthengruber hinauswarf, wollte ich nicht. Der war uns mitsamt seinem großen Mundwerk im Grunde ganz nützlich. Wenn nämlich im Laden das Brot teurer wurde, dann
mußte ja jemand zu Herrn Rasmussen gehn und für uns alle mehr Lohn verlangen. Das mußte ein Mann sein, dem die Stimme nicht wackelte vor lauter Angst. Oder wenn ein Arbeiter an seiner Maschine verunglückte, dann mußte einer im Namen aller Kollegen von Herrn Rasmussen verlangen: erstens braucht unser verunglückter Kollege eine Entschädigung, zweitens muß die Maschine umgebaut werden, sonst verunglückt morgen der nächste. Oder wenn Herr Rasmussen den Arbeiter Soundso entlassen wollte, der plötzlich nur noch halb soviel schaffte wie vorher. Dann mußte jemand hingehen: Der Kollege Soundso hat schwere Sorgen zu Hause, ihm ist die Frau gestorben, nun steht er allein mit seinen vier Kindern, das drückt ihn nieder. Wenn Sie den Kollegen Soundso entlassen, legen wir alle die Arbeit nieder. Mäthengruber war unser Betriebsrat. Wir hatten ihn gewählt. Einen Betriebsrat durften die Fabrikbesitzer nicht so ohne weiteres auf die Straße setzen. Dennoch – keine Gelegenheit ließ Herr Rasmussen aus, um Mäthengruber abzuschütteln. Kurz vor Weihnachten befahl er zum Beispiel, alle Maschinen anzuhalten, und verkündete, im Winter kauften die Leute leider keine Motorräder. Drum sei er gezwungen, die Hälfte der Arbeiter zu entlassen. Als dann das neue Jahr begann, stellte er nur diejenigen Arbeiter wieder ein, die ihm bequem waren. Keinen von Mäthengrubers Genossen. Erst recht nicht den Mäthengruber selbst. Doch kaum liefen die Maschinen wieder auf vollen Tou-
ren, da kam unser Mäthengruber anspaziert, schwenkte ein dickes Bündel Papier mit vielen Stempeln, verlangte Ersatz für den verlorenen Arbeitslohn, und Herr Rasmussen mußte zahlen. Denn Mäthengruber war zur Gewerkschaft gegangen. Die Gewerkschaft verklagte Herrn Rasmussen vor Gericht. Die Richter blätterten in ihren Gesetzen und sprachen ihr Urteil: Jawohl, DKW durfte den gewählten Betriebsrat nicht hinauswerfen. Die Entlassung ist ungesetzlich. Dem Betriebsrat muß der Lohn nachgezahlt werden, auch darf er weiterarbeiten. Ich hatte ja längst aufgehört, mit Mäthengruber über Herrn Rasmussen zu streiten. Doch manchmal, wenn er uns mit seinem Rußland kam, wo sie jetzt so große Staudämme bauten und sogar schon eigene Autos, warnte ich ihn. „Obacht, Mäthengruber, du wirst politisch! Politik ist euch Betriebsräten ausdrücklich verboten!“ Er hörte nicht auf mich. Er trieb die Sache auf die Spitze. Damals, so um das Jahr 1930, hetzten die Regierungen von Frankreich, Amerika, England und Deutschland wie wild gegen Mäthengrubers Sowjetland. Sie hatten schon immer gehetzt und sogar einen Krieg gewagt und sich arg die Finger verbrannt. Jetzt wollten sie es ein zweites Mal versuchen. Eines Morgens fanden wir bedruckte Zettel an unseren Maschinen. „Arbeiter von DKW! Die Kapitalisten wollen den Krieg gegen die Sowjetunion! Laßt den Krieg nicht zu! Versam-
melt euch zur Frühstückspause im Hof! Es spricht Betriebsrat Mäthengruber!“ Oje! dachte ich. Jetzt betreibt er Politik. Jetzt bricht er sich das Genick. Wirklich liefen wir alle zur Frühstückspause auf den Hof. Wir standen Kopf an Kopf. Die keinen Platz fanden, lehnten sich aus den Fenstern. Aber kein Mäthengruber kam. Manche flüsterten, die Polizei habe ihn geholt. Manche wußten: Herr Rasmussen hatte ihn zu einer Unterredung rufen lassen. Plötzlich vernahmen wir seine Stimme. Sie erscholl überlaut aus Herrn Rasmussens Bürofenster. Wir sahen nicht, was dort oben vorging, aber wir hörten unseren Mäthengruber reden, und es war eine derartige Dreistigkeit, eine so unglaubliche Drohung, die er dem mächtigen Besitzer des DKW-Werks in das Gesicht rief, daß uns schier die Luft wegblieb und daß wir uns an den Kopf griffen. Mäthengruber, Menschenskind! „Also fristlos entlassen! Fristlos wollen Sie mich entlassen! Herr Rasmussen, Sie meinen, Sie sitzen auf einem hohen Pferd, ja? Sie meinen, Sie haben uns alle in der Tasche, ja? Herr Rasmussen, ich werde Ihnen mal was flüstern: Der nächste, Herr Rasmussen, der nächste, der hier fliegt – sind Sie!“
Wie Herr Rasmussen wahrhaftig den Hut nehmen mußte, wie Mäthengruber verschwand, wie ich mir ein Motorrad kaufte und wohin ich damit fuhr. Mäthengrubers Worte klangen uns noch monatelang im Ohr. Die meisten hielten sie für einen Witz. Selbst Herr Rasmussen lachte nur, wenn er sie wiederholte. „Na, sehen Sie, Seidel, ich bin noch immer nicht geflogen!“ Er war ja auch auf dem Gipfel seines Ruhms. In der ganzen Welt schlossen die Fabriken. Überall in der Welt herrschte die Arbeitslosigkeit, außer in Mäthengrubers Sowjetland. Auch wir bei DKW bangten um unsere Arbeit und unseren Lohn. Ich wollte endlich mein Mädchen heiraten und aus dem Dachkämmerchen in eine richtige Wohnung ziehen. Es sah ja auch ganz danach aus, als wollte die große Arbeitslosigkeit einen Bogen um DKW schlagen. Sogar in dieser Notzeit ließ Herr Rasmussen eine neue Maschinenhalle bauen, modern, von den besten Architekten. Und als zwei der mächtigsten Autofabriken Deutschlands, HORCH in Zwickau und WANDERER in Chemnitz, ihre Tore schlossen, ging er zu seiner Bank, borgte sich zu seinen Millionen noch ein paar andere Millionen und kaufte beide Werke. Da atmete ich auf. Ich nahm mein Mädel, ging zum Standesamt, und wir machten Hochzeit.
Ein paar Tage später fiel mir auf, daß Herr Rasmussen seinen täglichen Rundgang vergessen hatte. Ich fragte mich, ob er krank geworden sei. In der Mittagspause saß ich auf einer Kiste am Tor in der Sonne, da rollten vier große schwarze Personenautos heran. Aus jedem Auto stiegen vier Herren in schwarzen Anzügen mit schwarzen Hüten und weißen Handschuhen, und die Chauffeure in schwarzen Uniformen mit goldenen Schnüren hielten ihnen die Türen auf. Die schwarzen Herren schritten zu Herrn Rasmussens Büro. Auch am Nachmittag kriegten wir weder Herrn Rasmussen noch seinen Schäferhund zu sehen. Statt dessen schritten die viermal vier schwarzen Herren durch die Hallen, jeder mit einem Notizbuch und einem Füllfederhalter in der Hand. Einer von ihnen blieb an meiner Maschine stehen, schrieb ihre Nummer auf. Ich sagte zu dem Herrn: „Guten Tag!“ Er gab keine Antwort. Ich sagte: „Ich bin der Seidel-Anton.“ Ich sagte auch: „Das Stück, das ich hier eingespannt habe, das gehört zur Bremstrommel.“ Ich wollte ihm die technische Zeichnung zeigen. Ich fragte ihn: „Sie sind wohl der neue Ingenieur?“ Der Herr guckte quer durch mich hindurch, als ob ich gar nicht auf der Welt wäre, und ging weiter und schrieb die Nummer der nächsten Maschine auf. Am Abend fuhren sie wieder ab. Beim Tor stand Herr Rasmussen, grau im Gesicht, mit hängenden Schultern, und
wirkte überhaupt nicht mehr wie ein Seefahrer. Der Schäferhund hatte den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und schmiegte sich ängstlich an seinen Herrn. Eine Woche darauf verschwand vom Tor das Schild DKW J.S. RASMUSSEN. Ein neues wurde angeschraubt. AUTO-UNION DKW. Die Bankherren, von denen sich Herr Rasmussen die Millionen geborgt hatte, um HORCH in Zwickau und WANDERER in Chemnitz schlucken zu können, hatten Herrn Rasmussen samt allen seinen Fabriken und Werkstätten und Zweigstellen und Verkaufskontoren mit einem gewaltigen Schluck verschlungen. Jetzt war er nur noch ein kleiner Direktor, ein Angestellter, fast so etwas wie früher Hugo Ruppe. Was bei DKW in Zschopau geschah, das bestimmten jetzt die Bankherren von AUTO-UNION, und er hatte zu gehorchen. Ein paar Monate später schickten sie ihm einen Brief. Er mußte den Hut nehmen und gehen, genau so, wie einmal Hugo Ruppe hatte gehen müssen und Mäthengruber und all die Arbeiter, die unbequem gewesen waren. Ich kratzte mich am Kopf. „Ich möchte wissen“, sagte ich zu meiner Frau, „woher der Mäthengruber das gewußt hat. Ist er ein Hellseher?“ An einem schönen Frühlingstag spazierten wir am Zschopaufluß und schoben den Kinderwagen, in dem unser Sohnemann zappelte, da trafen wir den Mäthengruber. Er lachte auf meine Frage. „Das weiß man eben! Knöpf deine Augen auf, dann siehst du so was voraus! Die großen Fische fressen die kleinen,
die noch größeren fressen die großen, so geht das immerfort. Jetzt ist die Auto-Union der größte Fisch. Verlaß dich drauf, sie sperrt schon das Maul auf und guckt nach dem nächsten Happen.“ Ich fragte ihn, was das für ein Happen sein sollte. Da blieb ja kaum noch etwas im ganzen deutschen Land. Statt zu antworten, guckte mich Mäthengruber erst einmal schief an. Dann beugte er sich vor und sprach leise und sehr eindringlich. „Mann, riechst du denn nichts? Spürst du denn nichts? Siehst du denn nichts? Seidel, ich sag dir nur: Knöpf die Augen auf! Wenn solche wie du nicht endlich den Schlaf aus den Augen reiben, dann wird es uns allen verdammt dreckig ergehen!“ Er tippte sich an seine Mütze und ging davon. Wir guckten uns verblüfft an, meine Frau und ich. Wieso sollte es uns dreckig ergehen? Wieso denn dreckig? Er hatte mich unruhig gemacht. Tatsächlich bemühte ich mich jetzt, die Augen offenzuhalten. In Deutschland herrschten Adolf Hitler und die Männer in braunen Uniformen. Im Werk kommandierten die Direktoren wie Offiziere beim Militär. Es gab auch keinen Betriebsrat mehr. Manchmal gingen Generale vom Heer durchs Werk. Sie bestellten viele Beiwagenmaschinen, die einen grauen Anstrich erhielten und von Soldaten abgeholt wurden. Ich hätte ganz gern noch einmal mit Mäthengruber gesprochen. Ich hätte ihn gefragt: Jetzt sag mir, ob du etwa einen Krieg befürchtest. Sag mir das! Hitler schwört doch Stein und Bein, er will, daß es uns besser geht. Doch Mäthengruber war verschwunden. Wenn ich seine
Freunde nach ihm fragte, dann wichen sie einer Antwort aus. Schließlich verschwanden auch seine Freunde, einer nach dem anderen. Immer wenn ich im Frühling mit meiner Frau und dem Sohn an der Zschopau spazierenging, und alles war bunt, der Himmel blau, die Vögel zwitscherten, und der Junge, der schon laufen konnte, warf Steinchen in den Fluß, dann war ich froh, dann rief ich mir übermütig zu: Diesmal hat sich der Mäthengruber geirrt! Es schien mir sogar, als ginge es uns jetzt besser. Im ganzen Land war kein Mann mehr arbeitslos. Alle Fabrikschornsteine rauchten. Breite Autostraßen führten von einer Grenze zur anderen. Es gab neue Schiffe und viele Flugzeuge. Ich verdiente ein gutes Geld. Meine Frau hielt die Pfennige beisammen. Und eines Morgens saß ich zum ersten Mal auf meinem eigenen Motorrad. Ein früher Morgen nach einer warmen Sommernacht. Ich wollte mit einem weiten, weiten Umweg durch die Felder und über die Berge, die kurvigen Straßen hinauf und hinunter, zur Arbeit fahren. Ich wollte das alles so richtig genießen: den Fahrtwind, die würzige Waldluft, den satten Geruch der frisch umgepflügten Äcker, die Sonne, die hinter den Bergen heraufsteigt. So um vier Uhr schob ich an und rollte los, in den anbrechenden Tag hinein. Über den Feldern lag der Frühnebel. Ich fuhr vor der Sonne her, hatte die Straße für mich allein. In den Dörfern schirrten die Bauern ihre Pferde. Die ganze Welt war so schön, daß ich jedem, den ich überholte, einen
guten Morgen zurief. Ich fuhr bis hinauf zum Kamm des Gebirges und dann auf steilen Straßen wieder hinunter. Ich überholte Lastkraftwagen, beladen mit Milchkannen, überholte Fuhrwerke mit Schottergestein für die Bahn. Ich war so beschwingt, daß ich mit meiner Maschine hätte tanzen mögen. Wirklich, ich fing an zu singen. Lieder fielen mir ein, die ich seit meiner Schulzeit nicht mehr gesungen hatte. Im Frühtau zu Berge, Nun ade du mein lieb Heimatland. Ich sang, denn ich war nicht mehr bloß der kleine Motorradbauer, nein, ich, Anton Seidel, Motorenschlosser, fuhr meine eigene Maschine! Und alles wird ja gut gehen. Wir werden weitersparen. Ich werde einen Beiwagen montieren. Dann sitzt mein Sohn im Beiwagen, die Frau sitzt auf dem Sozius, und wir fahren an die Elbe und steigen auf die Bastei! So fuhr ich und träumte und sang. Und als ich am Werktor die Fahnen sah, meinte ich in meiner Träumerei, die wären für mich gehißt. Dann sah ich: Da standen so viele meiner Kollegen mit ihren Motorrädern. Sie standen in einer großen Gruppe beisammen, mehr als hundert. Sie waren so unruhig, so fahrig in ihren Bewegungen. Keiner lachte. Keiner witzelte. Ich schob mein Motorrad dazu. Die Unruhe ergriff auch mich. Wieso die Fahnen? Wieso die Versammlung? Es war der Morgen des 1. September 1939. Ein Mann in brauner Uniform trat ins Tor. Er hob den Arm zum Hitlergruß. „Männer!“ so rief er uns zu. „Dies ist ein stolzer Tag! Auf euren Maschinen werdet ihr das Zeichen der Auto-Union und die Flagge des Deutschen Rei-
ches über den ganzen Erdball tragen. Ihr meldet euch mit euren Maschinen beim Wehrkreiskommando. Ihr seid die ersten, die fürs Deutsche Reich ins Feld fahren!“ Es war Krieg. Ich konnte bloß denken: Mensch, Mäthengruber!
Wie mich meine Frau mit meinem Sohn verwechselte, wie Mäthengruber beschloß, aus nichts etwas völlig Neues zu machen, und wie ein blecherner Ziegenbock den Schluckauf kriegte. Ich will nichts vom Krieg erzählen. So viele Menschen mußten sterben. Für die schlechteste Sache von der Welt hatten uns Hitler und die Bankherren und Besitzer der großen Werke in den Krieg geschickt. Die Haie wollten schlucken und schlingen. Wohin die deutschen Armeen kamen, dort raubten und schlangen die Haie, was sich nur rauben und verschlingen ließ. Den Armeen hinterher fuhren in schwarzen Anzügen und mit schneeweißen Handschuhen die Direktoren der AUTO-UNION, die Direktoren der IG-FARBEN, die Direktoren von KRUPP, von AEG und all die anderen mächtigen Industriellen und ließen ihre Firmenzeichen an die Tore der eroberten Fabriken schlagen. Da haben sich die Völker verbündet. Die Haie mußten fliehen vor den Schlägen der sowjetischen Armeen, vor den Harpunen der Partisanen in Frankreich, in Norwegen, in Polen, in Jugoslawien, in der Slowakei, in all den eroberten Ländern. So viele Städte verbrannten. Hunger und Leid trug der Krieg über die Welt. Als ich zurückkam, sah ich: Bis in meine Stadt zwischen den Bergen hatte der Krieg seine Bomben und Granaten
geschickt. Verbrannte Eisenbahnwaggons am Bahnhof, zerstörte Häuser. Langsam waren meine Schritte. Mich quälte die Angst. Was, wenn mein Haus nicht mehr steht? Wie soll ich meine Frau und meinen Sohn wiederfinden? Aber mit einem Mal atmete ich frei, und dann lief ich und rannte. Da waren die Fenster meiner Wohnung. Sie standen weit offen, als riefen sie mir zu: Komm, komm heim! Ich polterte die Treppe hoch, stieß die Tür auf. Da stand meine Frau am Abwaschbecken, mit dem Rükken zu mir. Ich wollte ihr eine liebe Begrüßung zurufen, da sagte sie, ohne sich nach mir umzudrehen: „Bist ja schon zurück. Hast du Brot mitgebracht?“ Was für ein merkwürdiger Empfang! Sie sprach weiter. „Kein Brot, natürlich! Hast ja nichts im Kopf als dein Motorrad! Also flink, mein Großer, spring zum Bäcker!“ Ich war so verdutzt, daß ich sogleich nach dem Einkaufsnetz griff. Es hing noch am selben Haken wie vor dem Krieg. Warum dachte sie, ich hätte noch immer nichts im Kopf als mein Motorrad? Mein Motorrad lag zerschossen auf einem Schlachtfeld. Unten in der Haustür begegnete mir ein junger Mann, der trug in der einen Hand einen verrosteten Zahnkranz, in der anderen einen Lötkolben und um den Hals ein paar Meter Draht. Der junge Mann kam mir bekannt vor, ich wußte nur nicht, woher. Später hat er mir gesagt, ich sei auch ihm bekannt vorgekommen. Er grüßte mich, ich hielt ihm die
Tür auf. Ich ging die Straße zum Bäcker hinunter, da rief es hinter mir: „Anton, mein Anton!“ Und meine Frau stürzte herbei, noch immer in der Abwaschschürze, und hinter ihr her rannte der junge Mann mit dem Zahnkranz, dem Lötkolben und dem Draht. „Mein Anton!“ rief meine Frau. „Da hab ich gemeint, der Junge kommt heim und hat wieder kein Brot eingekauft, dabei ist es mein eigener Mann!“ Und: „Vati!“ rief der junge Mann, und sie lachten und weinten zugleich, und selbst mir rollten die Tränen in den grauen Stoppelbart. Wir umarmten uns und küßten uns, alle Leute guckten zu. So war ich wieder zu Hause. Mit nichts auf der Haut als ein paar Lumpen und allerlei Narben vom Krieg. Und ohne Motorrad. Am nächsten Morgen ging ich zum Werk. Alles war mir fremd und vertraut zugleich. Dieselbe Schlucht, dieselben dichten schwarzgrünen Fichten, dieselben aneinandergeschachtelten Gebäude und doch nicht das Werk, in dem ich zwanzig Jahre lang ein und aus gegangen war. Ich kam in den Hof. Meine Schritte hallten. Und plötzlich wußte ich, wieso mir alles derart fremd erschien. Noch nie hatte ich hier meine Schritte hallen hören. Immer war das Singen der Maschinen um mich gewesen, das Rollen der Karren, das Rufen, Schimpfen und Lachen meiner vielen hundert Kollegen. Ich sah: Die Fenster waren blind vom Staub. Gras wuchs aus den Rissen im Beton. Moos wucherte am Gemäuer.
Ich wollte umkehren, da kam mir ein Mann entgegen, eine lange hagere Gestalt mit schneeweißem Wuschelhaar. Ein alter Mann also. Er schritt aber aus wie ein junger Bursche. Er schritt geradenwegs auf mich zu, und als er vor mir stand, breitete er die Arme aus. „Ich werd verrückt, der Seidel ist wieder da!“ „Menschenskind, Mäthengruber! Wo hast du gesteckt in all den Jahren!“ Er faßte mich um, schob mich zum Verwaltungshaus, holte einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete und ging mir voran bis in das Büro, in dem früher einmal Herr Rasmussen gesessen hatte. Er rückte mir einen Sessel hin. Er fühlte sich heimisch hier. „Mensch, Mäthengruber, erzähle!“ Er machte nicht viele Worte. Die Nazis hatten ihn eingesperrt, ihn wie viele tausend andere. Sie wollten ihm das Denken und das Lachen austreiben. Es ist ihnen gründlich mißlungen. Noch an dem Tag, als ihn die sowjetischen Truppen aus dem Zuchthaus befreiten, kam er hierher ins Werk, und mit ihm kamen zwei Sowjetsoldaten mit Maschinenpistolen. Da hockten die Herren Auto-Union-Direktoren vor den Panzerschränken und stopften sich die Reisekoffer voll mit kostbaren technischen Zeichnungen. „Hoppla!“ hat Mäthengruber gerufen. „Das lassen Sie alles hier, das ist jetzt unser!“ „Seidel, alles, was du siehst, ist jetzt unser.“ Er wies weit in die Runde. „Seidel, was denkst du, was wir daraus ma-
chen!“ Als wir aber durch die Maschinensäle gingen, war es weniger als nichts, was ich sah und was unser sein sollte. Der Krieg hatte die Werkhallen leer gefegt. Keine Presse, keine Fräse, keine Bohrmaschine, keine Schleifmaschine, kein Montageband. Nichts als graue verstaubte Wände, Spinnweben und blinde Fensterscheiben. Doch Mäthengruber sprach träumerisch: „Alles das gehört jetzt uns. Daraus machen wir was vollkommen Neues!“ Er zeigte hierhin und dahin, als ob durch den leeren Saal ein Montageband glitt, und beschrieb mir in allen Farben die blitzenden Motorräder, die er bauen wollte, leichte und schwere, schwarze, weiße, rote, gelbe, grüne. Jedem Telegrammboten von der Post wollte er ein Motorrad bauen. Bis nach Afrika wollte er Motorräder liefern. „Seidel“, fragte er, „was ziehst du für ein Gesicht?“ Mürrisch gab ich zur Antwort: „Ich hab mir die Träumerei abgewöhnt.“ Woraus wollte er denn seine Traumräder bauen? Auf welchen Maschinen? „Seidel, hör zu! Jetzt, wo das alles unser ist, können wir es uns leisten zu träumen. Aus der Träumerei machen wir uns einen Plan, und nach dem Plan wird gearbeitet. Ganz hart gearbeitet. Maschinen, sagst du. Klar, Maschinen müssen her. Wir graben sie uns aus dem Schutt, der vom Krieg geblieben ist.“ Ich fragte, noch immer mürrisch: „Mit knurrendem Magen?“
„Mit knurrendem Magen, ja. Er wird schon zu verdauen kriegen. Erst müssen wir säen, dann kann das Korn wachsen, dann können wir es ernten, dreschen, mahlen, zu Brot verbacken und aufessen. – Klar?“ Also fingen wir an. Es gab eine Menge Kollegen, die schimpften und wetterten, während wir in all den Nachbarstädten im Schutt der zerstörten Fabriken nach Maschinen wühlten. Sie sagten, das sei schlimmer als beim alten Rasmussen. Vom alten Rasmussen hätten sie wenigstens mal eine Zigarre gekriegt. Der Mäthengruber beschaffte nicht mal Zigaretten, um den Hunger zu betäuben. Mit Brechstangen und Spitzhacken lösten wir die Maschinen aus den Betonfundamenten. Mit schweren Schraubenschlüsseln zerlegten wir sie in ihre Teile. Wir kratzten den Rost herunter, prüften jedes Stück. Was gar nicht mehr tauglich schien, drehten wir noch hundertmal herum, bevor wir es in den Schrott warfen. Und dann bauten wir neue Maschinen. Wir hielten den Atem an wie Kinder unterm Weihnachtsbaum, wenn wir den Hebel herumwarfen. Jetzt surrt der Motor. Die Welle dreht sich. Die Fräse setzt an, sie greift ins Werkstück – millimetergenau. Unsere Maschine! Wir haben sie mit unseren eigenen Händen gebaut! Die erste half uns, die zweite zu bauen. Auf der ersten und der zweiten bauten wir die dritte. Auf den drei ersten Maschinen die vierte. Ich erwischte mich selbst wieder beim Träumen. Genau wie Mäthengruber sah ich in der Halle schon das Montage-
band gleiten, und ich sah Telegrammboten auf blitzenden neuen Motorrädern durch neugebaute Städte fahren. Abends war ich wie zerschlagen von der harten Arbeit. Dann kramte ich im Küchenschrank nach dem Brot und nach dem Mehlpamps, der die Butter ersetzte, und wurde fuchsteufelswild, weil alles alle war. Mein Sohn, dieser Nichtsnutz, hatte vergessen, zum Bäcker zu gehen! Es war ein Kreuz mit ihm. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht steckte er mit seinen Freunden zusammen. Der eine, der dicke Siggi, war schon über zwanzig Jahre alt, ein gescheiter Ingenieur. Der andere, der kleine Salli, sah aus wie dreizehn, dabei hatte er längst ausgelernt. Die drei hielten zusammen wie die Kletten. Sie hatten sich gesucht und gefunden. Genau wie wir anderen, genau wie meine Frau, wie Mäthengruber, wie ich und alle packten sie zu beim Ausgraben der alten Maschinen und beim Herrichten der neuen. Doch immer wenn ich nach ihnen rief – wo fand ich sie? Über dem ausgebrannten Wrack irgendeines alten Motorrads. Da lösten sie geschickt den Zylinderkopf und klopften ihn ab und betasteten ihn, ob er heil geblieben war, und zerlegten den Lenker und stopften sich die Hosentaschen voll mit Schrauben, Muttern und Federn. Es war, als scherten sie sich den Deibel um Mäthengrubers und meine Pläne. Manchmal meinte ich, jetzt hätte ich einen Grund, sie zu loben. Da hatten wir im Werk eine Schleifmaschine montiert. Sie summte und zischte, ein Funkenstrahl stob unter der wirbelnden Schleifscheibe hervor. Mein Sohn, der dik-
ke Ingenieur Siggi und der kleine Salli hängten die Köpfe über ein Werkstück. Es sah aus, als ließen sie sich von der Schleifscheibe die Nasenspitzen polieren. Ich glaubte, das Stück sei für die neuen Maschinen bestimmt. Da spannten sie es aus, maßen es mit der Schiebelehre, und mein Sohn steckte es ein. „Was soll das?“ fragte ich erstaunt. „Das ist für unseren Hirsch“, sagte er mir zur Antwort. Für ihren Hirsch! Die Jungen hatten es sich in den Kopf gesetzt, unter der Leitung dieses dicken Siggi ein eigenes Motorrad zu bauen, ein Geländerad, einen „Schnellen Hirsch“. Wo sie gingen und standen, morgens, mittags, abends und bis in die Nacht hinein, verfolgte sie ihr Schneller Hirsch. Kein Brot im Schrank, kein Holz am Herd, ein Loch im Bauch, aber im Kopf den Schnellen Hirsch. Sie hatten sich unsere Küche als Werkstatt hergerichtet. Das Spülbecken starrte vor Rostwasser. Am Küchentisch saß ein Schraubstock. In der Thermosflasche war Petroleum. Der Steintopf, in dem ich vor dem Krieg meine Gurken eingelegt hatte, war ihr Behälter für Putzwolle! Feierabends rannten sie als erste durchs Werktor, schwangen sich auf ihre Fahrräder und verschwanden in den Wäldern. Jemand hatte ihnen gesagt, in einem Schützenloch steckte ein zerschossenes Motorrad. Sie brauchten kein Schnupftuch für die Nase, keine Hose für den Hintern, keine Seife für den Hals, nein, sie brauchten einen Kolben und eine Handvoll Speichen für den Schnellen Hirsch!
Ich schimpfte mit meiner Frau. „Warum du das duldest! Warum wirfst du sie nicht aus der Küche!“ Sie gab mir seelenruhig zur Antwort: „Warst du anders? Ich habe dir und deinem Hugo Ruppe den Kaffee vor die Nase gesetzt, ihr habt ihn nicht angerührt. Ihr saht aus wie die Räuber, so wirr die Haare und unrasiert. Was regst du dich jetzt auf? Junge Leute sind nicht anders.“ Eine Weile war ich still. Dann packte mich der Ärger erneut, weil sie ihr Kugellagerfett in meinen Rasiernapf geschmiert hatten. „Nun guck dir das an! Für ihren Schnellen Hirsch! Für diesen albernen blechernen Ziegenbock! Sollen sie doch erst das Korn säen, dann kann es wachsen, dann können sie es allemal mähen, dreschen, mahlen und Brot draus backen!“ „Tun sie das nicht?“ fragte meine Frau. „Laß dir nur von Mäthengruber sagen, wie er über sie denkt!“ Das sollte ich bald darauf erfahren. An einem Sonntagmorgen schoben sie ihren Schnellen Hirsch hinaus auf die Straße, und vorm Haus wartete kein anderer als Mäthengruber. Sie hatten ihn wahrhaftig zum Start eingeladen. Ein verrückter Anblick: ein Motorrad, aus hundertundnochmehr Motorradtrümmern zusammengebastelt und mit Ofenlack und Silberbronze angestrichen! Der Sattel quietschte, als sie den kleinen Salli draufsetzten. Der kleine Salli gab Gas. Es erhob sich ein Getöse, gerade so wie damals in Herrn Rehlings Zeitungsbüro, und genausoviel Qualm und Ruß quoll aus dem Auspuff. Der blecherne Ziegenbock hoppelte davon. Mein Sohn, der dicke
Siggi, Mäthengruber und ich rannten nebenher. Wir brauchten gar nicht weit zu rennen, nur fünfzig Meter. Der Motor kriegte den Husten, den Schluckauf, und schon blieb der Ziegenbock stehen. Ich wollte schallend loslachen. Doch mit einem Mal, als ich die Jungen so todtraurig um ihr Motorrad hocken sah, regte sich ein seltsames Mitgefühl in mir. Gerade so einen Anblick wie sie mußten damals Hugo Ruppe und ich vor Herrn Rehlings Haus geboten haben, als wir auf dem Trittbrett unseres Millionärsautos hockten, das Kistchen mit DES KNABEN WUNSCH im Schoß, und grübelten, was nun werden sollte. Soviel Ausdauer, soviel Fleiß, soviel Mühe hatten sie in ihren Ziegenbock gesteckt, diesen armen Schnellen Hirsch. Und alles umsonst. „Hör mal, Seidel!“ Mäthengruber stieß mich leise an. „Du hast von uns allen die größte Erfahrung. Nimm dir deinen Sohn und den Salli und den dicken Ingenieur, den Siggi, und mach mit ihnen genauso eine Werkstatt auf wie damals mit deinem Hugo Ruppe!“
Wie wir den Traum vom Schnellen Hirsch erfüllten und wie ich den dicken Siggi verlor. „Ich habe so ein Gefühl“, sagte Mäthengruber noch, „als ob wir uns über kurz oder lang sehr gründlich mit den drei Jungen befassen müssen.“ Ich ahnte nicht, was er im Schilde führte. Nebenan im Werk gingen meine Kollegen daran, die ersten neuen Motorräder zu montieren. Sie waren alle froh und strahlten wie neue Pfennige, als das Motorrad mit der Nummer 1 zum Tor hinausrollte. Sie winkten ihm mit ihren Mützen hinterher und wünschten ihm Glück auf den Weg. Ich hätte mich so gern mitgefreut, denn in diesem Motorrad steckte ja auch meine Arbeit. Statt dessen hockte ich mit den drei Jungen um die Maschine Nummer 2, die schon zur Abfahrt bereitstand, und knurrte unzufrieden. Mein Sohn mäkelte: „Nicht wendig genug.“ Der kleine Salli: „Mit der kriege ich kein Tempo.“ Der dicke Siggi, der Ingenieur: „Unmodern. Fünfzehn Jahre hinter der Zeit zurück. Zu schwer. Benzinfresser.“ Und ich: „Zu teuer.“ Dann standen wir auf, alle zugleich, und urteilten wie aus einem Mund: „Da muß was ganz anderes her, was völlig Neues!“ Die Motorräder rollten vom Band, eines nach dem anderen. Allerorten wurden sie so nötig gebraucht wie die Luft zum Atmen. Es hätten hundertmal, tausendmal mehr sein müs-
sen, um nur die dringendsten Wünsche zu erfüllen. Allein auf dem Land: die Tierärzte, die Hebammen, die Gemeindeschwestern brauchten Motorräder. Die Post, die Feuerwehr, die Volkspolizei telegrafierte: Schickt uns Motorräder! Die drei Jungen und ich aber steckten in unserer Werkstatt, verformten Blech, sägten, bohrten, feilten, schweißten, löteten und waren unzufrieden mit uns und mit dem ganzen Werk. Wir wollten der Zeit um wenigstens fünf Jahre vorauseilen. Am Fenster stand Siggis Reißbrett. Angezweckt war eine Zeichnung, die zeigte ein völlig neues, wendiges, flinkes Motorrad, das jeden noch so steilen Berg erklimmt, auf dem man über Stock und Stein, durch Bäche und Gräben, quer durch die Wälder, durch Morast und lockeren Sand fahren kann wie auf einer glatten Betonstraße. Ein wirklicher Schneller Hirsch. Jetzt verfolgte er auch mich bis in die Träume. Jawohl, ich, Anton Seidel, war wie zu Hugo Ruppes Zeiten vom Forscherfieber gepackt. Ich vergaß ganz und gar die dreißig Jahre, die ich älter war als der dicke Siggi, der kleine Salli und mein Sohn. Ich knobelte mit ihnen und baute und probierte aus und fluchte wie ein Rollkutscher, wenn der erste Versuch mißlang, wenn der zweite fehlschlug und wenn uns auch der dritte und vierte bewies: Von der Zeichnung da auf dem Reißbrett am Fenster bis zum fertigen Motorrad auf der Chaussee ist es ein weiter und mühsamer Weg. In jedem von uns steckte ein Stück Hugo Ruppe. Siggi, stupsnäsig, breitschultrig und groß, setzte auf jeden miß-
lungenen Versuch ein Dutzend neuer Ideen. Er hantierte mit dem Rechenschieber, wühlte in seinen technischen Tabellen, kriegte vor Aufregung rote Ohren. Wir rissen ihm die Zeichnungen aus der Hand, fingen an zu bauen. Ungeduldig trat der kleine Salli von einem Fuß auf den anderen, weil er es nicht erwarten konnte, auf der Traummaschine zu fahren. Wenn mein Sohn und ich dem neuesten Teil noch den letzten Feilstrich gaben, löste Salli es schon aus dem Schraubstock und fing an zu montieren. Derweile saß Siggi massig und brütend am Fenster, murmelte vor sich hin, zog Striche, schüttelte den Kopf und sprach: „Das wird nichts. Aber jetzt, jetzt hab ich was vollkommen anderes!“ Unser Knobeleifer steckte jeden an. Mäthengruber schickte uns die Lehrlinge. Die sperrten Augen, Mund und Nasenlöcher auf, damit ihnen nichts entging. Wir gaben ihnen Arbeit, und dann wurden wir sie nicht mehr los, sie wollten sich sämtliche Beine ausreißen für unseren Schnellen Hirsch. Kollegen steckten die Nasen herein, sagten, sie wollten nur mal schnüffeln, und dann halfen sie uns mit Rat, Handschlag und mit allen ihren Erfahrungen. Mäthengruber kam. Jeden Tag kam er, las die Zeichnungen, hatte stets etwas zu kritisieren, stritt mit dem dicken Siggi herum und mit mir, weil es ihm nicht schnell genug ging. Wenn er aber draußen war, auf dem Hof, dann lobte er uns vor all den anderen Kollegen und versicherte: „Mit Seidels drei Jungen müssen wir uns noch sehr gründlich befassen!“
Es war ein Motorradrennen quer durchs Erzgebirge angesetzt. Wir schafften wie besessen. Wir machten die Nacht zum Tage und schickten nur den kleinen Salli heim, damit er seine acht Stunden schlief. Er sollte für uns an den Start gehen. Zum Rennen braucht man ruhige Nerven. Zwei Wochen vor dem Rennen stand unser Schneller Hirsch fertig auf dem Hof. Am Tank trug er ein neues Firmenzeichen: MZ. Motorradwerk Zschopau, DDR. Salli schob an und sprang auf. Hell begann der Motor zu singen, brüllte los, und Salli flog davon wie ein Pfeil. Zehn Tage lang prüfte er den Schnellen Hirsch auf Herz und Nieren. Er jagte ihn Berge hinauf und über Sturzäcker, durch Bäche und die Autobahnen entlang. Nachmittags schob er ihn verdreckt und zerbeult in die Werkstatt, damit wir ihn auseinandernahmen, und ging schlafen. Wir aber prüften jedes Teil und jede Schraubenwindung. Der dicke Siggi ließ uns keine Ruhe, bis wir auch den kleinsten Kratzer untersucht hatten. Dann ließen wir Salli und den Schnellen Hirsch in die Startliste einschreiben und gingen, um uns die Rennstrecke anzusehen. Ein wildes Gelände. Da waren steile Hohlwege, Halden von Geröll, Schlammlöcher, glatter Fels, eine Schanze und sogar eine steinerne Treppe, die man hinunterfahren mußte. Wir gingen die Strecke ab, das Herz schlug mir bis in den Hals, und ich drückte die Daumen. Es hatten sich viele erfahrene Rennhasen zum Start gemeldet, alle mit bewährten Geländemaschinen. Sie spra-
chen anerkennend von unserem Schnellen Hirsch. Nur wenn sie den kleinen Salli sahen, verzogen sie den Mund. Einer fragte, als er Salli im Sattel sitzen sah: „Ks-ks-ks, wo will denn das große Motorrad mit dem kleinen Bubi hin?“ Gleich darauf verging ihm der Spott, denn Salli gab Gas und schoß davon. Der Schnelle Hirsch fügte sich der leisesten Bewegung seiner Hände, seiner Arme, seines Körpers. Hinauf den Hang, hinunter durchs Geröll und Sprung über die Schanze, drei, vier Meter durch die Luft und sicher aufgesetzt und weiter! Der Wald hallte vom Donner der Motoren und roch nach verbranntem Benzin. Die Fahrer jagten an uns vorbei. Steine spritzten auf, schlugen scheppernd an die Motorgehäuse. Ein paar Schritte vor uns nahm plötzlich der Rennfahrer, der unseren Salli verspottet hatte, das Gas weg und sprang mit einem Fluch aus dem Sattel. Über seinen Motor rann in hellen Strömen der Treibstoff. Gleich neben ihm hielt auch Salli an und fragte freundlich: „Darf ich Ihnen behilflich sein?“ Der Rennfahrer aber in seinem Ärger über die böse Panne sagte barsch, er solle sich zum Teufel scheren und schob seine Maschine von der Strecke. Plötzlich zog der dicke Siggi uns beiseite. Mit scharfem Blick hatte er die Ursache dieser Panne erkannt. Von aufspritzenden Steinen war die Benzinleitung zerrissen worden. Solch ein Mißgeschick durfte unserem Salli nicht passieren. Schon war in Siggis Kopf eine neue Idee entstanden. Er zeichnete sie in den Sand. Wenig später saßen wir
in Mäthengrubers Auto, jagten hinunter ins Werk, bauten über Nacht für den Schnellen Hirsch einen Steinschlagschutz, fuhren wieder hinauf an die Strecke und montierten ihn. Das war die Nacht vor dem Rennen. Während Siggi und mein Junge mit dem Schweißbrenner arbeiteten, sagte Mäthengruber leise und nachdenklich zu mir: „Wenn ich die drei jungen Leute sehe, kriege ich ein schlechtes Gewissen. Mir wird ganz unheimlich.“ Verwundert wollte ich fragen, wieso, da wiederholte er, was er so oft in diesen Monaten gesagt hatte: „Wir müssen uns mit ihnen befassen, sehr, sehr gründlich. Die müssen weg, Seidel. Das geht so nicht weiter, die müssen hinaus!“ Hinaus? Hinaus aus dem Werk? Ja, wieso denn? „Gleich morgen nach dem Rennen schickst du mir als ersten den Ingenieur, den Siggi!“ Ich fand keine Ruhe. Meine Frau kochte mir Baldriantee. Sie wollte mich beschwichtigen. Sie meinte, der Mäthengruber habe gewiß nichts Schlechtes im Sinn. Sie regte mich nur auf mit ihrem Gerede. Er will den Siggi hinauswerfen! Die Jungen werden ihm unheimlich! Er hat ein schlechtes Gewissen, wenn er sie sieht! Mir war das ganze schöne Rennen verdorben. Nicht auf die Strecke schaute ich am nächsten Morgen, nicht nach dem Schnellen Hirsch, nicht nach unserem Salli. Nur für meinen Siggi hatte ich Augen. Ich weiß bis heute nicht, ob wir in diesem Rennen den fünften, den siebenten oder den zwölften Platz erkämpft haben. Ich hielt mich dicht an Siggis Seite und schwor mir, ihn nie allein zu lassen.
Nein, er durfte nicht ohne mich zu Mäthengruber gehen! Nein, ich ließ mir den Siggi nicht von der Seite reißen! Mit ihm zusammen trat ich ins Büro. Laut und bestimmt erklärte ich: „Mäthengruber, den schiebst du nicht hinaus! Den Siggi nicht und keinen von meinen Jungen, solange ich da bin! Daß du’s dir merkst!“ Auf dem Schreibtisch lag ein Bogen Papier. Mäthengruber winkte uns herbei, wir sollten lesen, was da geschrieben stand. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. „… wird von seinen Kollegen aus dem volkseigenen Motorradwerk Zschopau zum Studium der technischen Wissenschaften delegiert.“ Ich mußte sehr tief atmen. Neben mir atmete noch einer sehr tief, das war Siggi. Er hatte vor Aufregung rote Ohren. Ich ermahnte ihn. „Aber daß du gleich danach wiederkommst!“ Und auch Mäthengruber sagte: „Hierher kommst du zurück, Siggi, als Gelehrter, hierher ins Werk. Klar?“ Und dann reichte er mir seinen Füllfederhalter, damit ich das Blatt Papier unterschrieb.
Wie Salli es lernte, Gold nach Hause zu bringen, wie Mäthengruber einen Elefanten schlachten wollte und wie wir uns vor der Fernsehkamera in die Haare kriegten. Als nächsten holte mir Mäthengruber den Salli weg und als letzten meinen Sohn. Ich sage es offen: Ich war sehr betrübt darüber. Wir hatten uns so gut aufeinander eingespielt. Wir waren ein Kollektiv. Wenn ein Kollektiv auseinandergehen muß, dann tut es jedem weh, der dazugehört hat. Was half’s! Auf die beiden wartete eine neue Aufgabe. Ich sah es ein: Niemand eignete sich so gut dafür wie meine beiden Jungen. Das Motorradwerk gründete ein Rennkollektiv. Für das Rennkollektiv wurden die besten jungen Fahrer und die besten jungen Monteure gebraucht. Sowie Salli und wir unseren Schnellen Hirsch auf Herz und Nieren geprüft hatten, so prüften Salli, mein Sohn und ihre neuen Kameraden nun all die neuen Maschinen. Sie fuhren mit ihnen zu den größten Wettkämpfen in ferne Länder, zu all den großen Rennen in Nord und Süd, in Ost und West. Ich ließ mir dafür von Mäthengruber die Lehrlinge anvertrauen. Für große Rennen, heute hier, morgen dort, übermorgen woanders, war ich zu alt. Doch um die Monteure, die Dreher, die Fräser, die Schleifer, die Fachleute von morgen zu lehren, wie man Motorräder baut, war ich noch immer jung genug. Mein Herz allerdings gehörte nach wie vor meinen Jungen. Alles, was sie erlebten, erlebte auch ich. Trugen sie ein Rennen bei uns im Erzgebirge aus, dann fuhr ich schon
am Abend vorher hin. Dann suchte ich mir den besten Platz an der Strecke, wickelte mich in eine Wolldecke und wich die ganze Nacht nicht vom Fleck, damit mir kein anderer meinen Platz streitig machte. Liefen die Rennen aber irgendwo weit in der Welt, dann hockte ich vorm Radio. Zuerst war es der kleine quäkende Vorkriegskasten. Dann kauften wir uns einen prächtigen Großsuper. Dann aber kam das Fernsehen auf, und ich saß stundenlang vor der Flimmerscheibe, damit mir ja nichts entging. Anfangs hat unser Salli tüchtig Lehrgeld zahlen müssen. Zum Beispiel in der Tschechoslowakei. Da kam genau zur Mittagspause eine Handvoll Junger Pioniere, um ihm ein Halstuch zu schenken und ihn zu fotografieren und Autogramme zu kriegen. Unser Salli war viel zu freundlich, als daß er es übers Herz gebracht hätte, sie fortzuschicken. Die kurze Mittagspause verging, er hatte keinen Bissen im Magen, als er wieder zum Start gerufen wurde. Prompt trat er seine Maschine zu früh an. Prompt gaben ihm die Kampfrichter fünf Strafpunkte. Das war ein viel zu teuer bezahltes Pionierhalstuch! Oder ein andermal. Ein Rennfahrer muß ja an die winzigsten Kleinigkeiten denken, selbst an das Gummiband der Schutzbrille. Salli stand am Start. Noch fünf Sekunden. Noch vier Sekunden. Noch drei Sekunden. Plötzlich schrie er laut auf: „Meine Brille!“ Da hatte sich das Band gelöst, die Brille war ihm vom Sturzhelm gerutscht. Von allen Seiten warfen ihm die Zuschauer, die Kampfrichter, die Zeitungsleute, die rennfreien Kameraden ihre Schutzbrillen zu, ein wahrer Brillenregen. Er fing sich eine, schob an und fuhr los.
Er wurde klüger, wurde reicher an Erfahrung. Einmal in den Österreichischen Alpen ging es ums Gold. Die Mannschaft der DDR hatte alle Aussicht auf den Sieg, da streifte ein Fahrer Sallis Maschine. Salli fühlte einen heftigen Schmerz im Fuß. Aus dem zerrissenen Stiefel troff Blut. Weiter! rief er sich zu, preßte die Zähne zusammen und fuhr und fuhr. Am Posten der Zeitkontrolle ließ er sich verbinden. Die Wunde sah bös aus. Er konnte nur noch mit dem Hacken schalten. Fast hundert Kilometer lagen noch vor ihm bis zum Tagesziel. Als am Abend das Rennen unterbrochen wurde und die Fahrer unter die Dusche und ins Bett gingen, humpelte er zum Sportarzt. Der sagte: „Dös kann i net machen, dös muß operürt werden!“, steckte ihn ins Sanitätsauto und ließ ihn ins Krankenhaus fahren. Im Krankenhaus aber empfing man unseren Salli mit einer merkwürdigen Frage. „Ham’S denn a Göld?“ Salli verstand nicht. Sie mußten es ihm zweimal, dreimal, viermal erklären. Wirklich, es gibt Länder auf dieser Welt, da wird von kranken Leuten Geld verlangt, wenn sie geheilt werden wollen. Die DDR hatte Geld. Sie hatte nicht bloß Geld. Viel, sehr viel hatten wir in den letzten Jahren geschafft. Wir hatten Butter auf dem Brot und schöne Kleider anzuziehen, und der Schutt war verschwunden, neue Wohnviertel wuchsen in unseren Städten, in Zschopau so wie überall in unserer Republik. Es fuhren nicht bloß die Tierärzte und die Hebammen, die Post, die Feuerwehr und die Volkspolizei auf
neuen Motorrädern, nein, die jungen Leute brausten übers Wochenende auf ihrer MZ in die Sächsische Schweiz und in den Harz, mit ihren Mädchen auf dem Sozius, genau so, wie ich es mir einst erträumt hatte. „Ham’S denn a Göld?“ O ja! Also flickten die Ärzte Sallis Fuß zusammen, umwickelten sein Bein bis unters Knie und verordneten zum Schluß: „Aus’m Rennen da werd nix.“ Und er hatte doch keinen einzigen Strafpunkt, und die Mannschaft mußte doch vollzählig ans Ziel kommen, und es war doch nur noch dieser eine Renntag mit der Bergprüfung durchzustehen! Er lag die halbe Nacht wach vor Ärger und vor Schmerzen. Als der Arzt am Morgen nachschauen kam, war Salli verschwunden. Er stritt sich mit den Kampfrichtern herum. Die bestanden hartnäckig auf ihren Vorschriften: Die Fahrer müssen festes Schuhwerk tragen. Sein dick verbundener Fuß paßte in keinen Lederstiefel. Schließlich ließ er sich ein Messer reichen, zerschnitt einen Gummistiefel, stieg hinein, umwickelte ihn mit Lenkerband, humpelte mit seiner Maschine zum Start. Er hielt durch. Die Mannschaft der DDR holte sich die Goldmedaille. Es gab allerlei Leute, denen mißfielen diese Siege. Denen wurde unwohl, wenn Männer wie Salli auf dem Siegerpodest standen und den Lorbeerkranz umgehängt kriegten
und wenn sich die Fotoreporter und Kameraleute um unsere MZ drängten. Einmal machte sich ein freundlicher Herr an Salli heran, lud ihn zu Kaffee und Kognak ein. Der freundliche Herr lobte Sallis Fahrweise, seinen Fleiß, seine Opferbereitschaft. Er lobte auch Sallis Monteur, meinen Sohn. Aufmerksam und höflich hörte Salli ihm zu. Der freundliche Herr bestellte neuen Kaffee und neuen Kognak und gab sich als Fachmann zu erkennen. Er verstand tatsächlich sehr viel von Motoren und vom Geländesport. Er redete und redete, ließ neuen Kaffee und neuen Kognak einschenken, da legte Salli die Hand auf sein Glas. „Was wollen Sie von mir?“ „Ganz einfach. Ich brauche Sie. Ich brauche Sie samt Ihren reichen Erfahrungen. Ich biete Ihnen soviel Geld, wie Sie verlangen. Nennen Sie eine beliebige Summe.“ Und der freundliche Herr legte ein Bankscheckbuch auf den Tisch und schob es vor Salti hin. Unser Salli war klug. Er schaltete. Er sah: Der Mann da vor ihm war ein Hai. Ein Hai von Herrn Rasmussens Schlag. Ein Hai vom Schlag der Direktoren der AUTOUNION. Sie lebten noch, die Haie. Sie hatten sich nach Westen zurückgezogen und machten sich dort groß und breit und lauerten auf Gelegenheiten zum Schlucken und Schlingen. Wenn es ihnen möglich wäre, würden sie die ganze DDR verschlingen. Haifische sind so, auch wenn sie als freundliche Herren auftreten.
Salli sprach kein Wort mehr. Er stand auf, winkte dem Ober, bezahlte seinen Kaffee und seinen Kognak und ging. Den Herrn hat er auch niemals wiedergesehen. Es war kein Wunder, daß die großen Haie unruhig wurden. In der ganzen Welt machte die MZ von sich reden. Die MZ schickte sich an, zum besten Motorrad der Welt zu werden. Das sollte sich bei den Six-Days beweisen. Zu den Six-Days, zur Sechstagefahrt, treffen sich in jedem Jahr die berühmtesten Geländefahrer mit den stärksten Motorrädern aus allen Ländern. Sechs Tage lang kämpfen die Mannschaften auf einer Strecke von anderthalbtausend Kilometern um die Trophy, den Siegespreis des Internationalen Motorradsport-Verbands, und um eine kostbare silberne Vase, die ein berühmter Künstler vor mehr als zweihundert Jahren für den König von England geschmiedet hat. Als unsere Mannschaft zu den Six-Days reiste, fieberten wir alle im Werk. Mäthengruber rief beim Abschied mit bewegter Stimme: „Jungs, wenn ihr uns die Trophy und die Silbervase bringt, dann schlachte ich für euch einen Elefanten!“ Dann jagten wir ihnen Telegramme hinterher, ein Daumendrück-Telegramm nach dem anderen. Der Betriebsfunk drehte alle Lautsprecher auf volle Stärke, und meine Lehrlinge hängten sich die Kofferradios um den Hals, um ja keinen einzigen Sportbericht zu verpassen. Der erste Tag des Rennens. Keine unserer Maschinen versagte, keiner unserer Fahrer holte einen Strafpunkt. Der zweite Tag. Die westdeutsche BMW, die japanische
HONDA, JAWA aus der CSSR, AUGUSTA aus Italien, viele bewährte Motorräder wetteiferten mit unserer MZ. Noch hielten unsere Fahrer die Spitze. Salli war ihr Kapitän. Wir schickten ihm ein neues Telegramm: „Sag es allen, sie sollen die Ohren steifhalten!“ Der dritte Tag. Der vierte Tag. Der fünfte. Die Italiener schieden aus, die Westdeutschen kassierten eine lange Reihe von Strafpunkten. Unsere Jungen fuhren, als wäre der knietiefe Morast das glatte Band einer Autobahn. Am sechsten Tag unterbrach der Betriebsfunk seine Übertragungen. Wir hielten den Atem an. Aus den Lautsprechern drang Mäthengrubers Stimme. Sie war seltsam rauh. Zuerst ein Räuspern, dann: „Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen…“ Nun rede doch, Mäthengruber, wir sind ja auf das Schlimmste gefaßt! „Ich verlese euch ein Telegramm von unserer Mannschaft. Das Telegramm hat folgenden Wortlaut: Motorradwerke Zschopau, DDR. Haltet Elefanten bereit. Salli, Kapitän. – Ich bitte den Kollegen Seidel zu mir.“ Als ich die Tür zu seinem Büro aufstieß, telefonierte er mit dem Berliner Tierpark. Er beschwor den Direktor, uns wenigstens den kleinsten seiner Elefanten abzulassen. Zwecklos. Die Tierparkleute zeigten kein Verständnis für unsere Not. Mäthengruber rief die Zoos in Leipzig und in Dresden an, telefonierte mit Prag und mit Warschau, und schließlich rief er fast verzweifelt: „Wenn hier in fünf Minuten kein Elefant steht, dann fahr ich nach Indien und fang uns einen!“
Er brauchte nicht nach Indien zu fahren. Ich hatte eine Idee. Ich fuhr nach Sonneberg zu den Puppenmachern. Aus Plüsch und Holzwolle bauten sie uns einen wunderschönen Spielzeugelefanten, mannshoch, daß man auf ihm reiten konnte. Als unsere Mannschaft mit der Trophy und der silbernen Vase von den Six-Days heimkehrte, stand dieser Elefant im Tor. Im Hof dichtgedrängt, Kopf an Kopf, warteten die Arbeiter, die Lehrlinge, die Techniker, die Kollegen aus den Konstruktionsbüros und aus der Verwaltung und der Küche und die Kinder aus den Patenschulen und den Kindergärten. Solch einen Trubel hatte keiner von uns je zuvor erlebt. Alles schob und drängte in den Speisesaal, dort wollten wir unseren Sieg feiern. Unseren Sieg, denn wir alle waren Sieger, unser Doktor der Technik, der dicke Siggi, genauso wie Salli, Mäthengruber genauso wie mein Sohn, ich genauso wie meine Frau und wie meine Lehrlinge. Vor allem meine Lehrlinge spreizten sich. Man konnte meinen, sie hätten die Six-Days ganz allein gewonnen. Sie rempelten sich, sie stiegen auf die Tische, es war ihnen egal, und es war ja auch alles erlaubt. Sie klatschten und brüllten sich heiser, als unsere Mannschaft die schlammverkrusteten Siegermaschinen auf die Bühne schob. Es war ein Tohuwabohu im Saal, ein derartiger Jubel, daß niemand hören konnte, welchen Marsch unsere Blaskapelle spielte.
Am Abend trafen sich die Helden der Six-Days und die Ehrengäste im Klub. Der Fernsehfunk wollte filmen. Umständlich bauten die Kameraleute ihr Gerät und ihre Scheinwerfer auf. Ein prächtiger Rosenstrauß, den die Kinder unserem Salli überreicht hatten, aus Dankbarkeit für den Elefanten, den sie behalten durften, stand mitten auf dem Tisch und sollte das Fernsehbild schmücken. Die Scheinwerfer flammten auf, die Kamera schwenkte über die Festversammlung. Plötzlich sah ich und glaubte meinen Augen nicht zu trauen: genau bei dem Rosenstrauß stritten sich welche! Um den Rosenstrauß saßen Salli, mein Sohn, unser dicker gelehrter Doktor Siggi und noch etliche andere und hatten die Köpfe zusammengesteckt, fuchtelten mit den Armen und stritten. Streit zur Siegesfeier! Streit vor Millionen Fernsehzuschauern! Das konnte ich nicht dulden. Sofort eilte ich hin, prallte gegen Mäthengruber, den der Streit gleichfalls in Harnisch gebracht hatte, und beide holten wir tief Luft, um Ruhe und Frieden zu schaffen – da hörten wir den gelehrten Siggi ausrufen: „Anders machen wir das, ganz anders! Gebt mal die Serviette da, ich zeichne euch das auf!“ Und Siggi holte einen Bleistiftstummel aus der Jackentasche seines Abendanzugs und malte in dicken Strichen einen Motor auf die weiße Serviette. Ein guter Motor, das sah man auf den ersten Blick. Ein Motor, der wird uns zu den nächsten Six-Days den nächsten Sieg bringen. Vorausgesetzt allerdings… „Zeigt mal
her, laßt mich mal“, sagte ich und beugte mich über Salli und meinen Sohn. Ich nahm dem Siggi den Bleistiftstummel weg und korrigierte die Zeichnung. „Die Zylinderrippen weiter auseinander, Siggi!“ Und Mäthengruber mischte sich ein. „Den Zylinderkopf breiter! Seidel, gib mal den Stift!“ Wir stritten mit. Es ging hin und her. Wir kritzelten Ziffern und Zeichen und Formeln auf die Serviette, schoben den Rosenstrauß beiseite, zogen die Jacken aus, krempelten die Ärmel hoch, weil wir ins Schwitzen gerieten. Bis jemand „danke!“ sagte und die Scheinwerfer erloschen. Wir hatten ganz und gar vergessen, daß uns der Fernsehfunk filmte. All die vielen Millionen Fernsehzuschauer haben mit ansehen müssen, wie wir unseren Sieg mit einem Streit um die neue Technik feierten.
Wie mein Sohn Salem aleikum! sagen lernte, wie er viele bunte Ansichtskarten schickte, wie er in den Verdacht geriet, die Sonne habe ihm geschadet, und wie Mäthengruber sagte: Ich habe es im voraus gewußt! Manchmal war ich unzufrieden mit meinem Sohn. Der ließ sich zu Hause nicht mehr blicken. Er hatte eine Lehrerin geheiratet und sich ein eigenes Nest eingerichtet, und nun schien es, als habe er uns vergessen. Wir ließen uns die Enkelkinder kommen. Wir fragten: „Wo steckt denn der Vati? Was macht die Mutti?“ „Och, Papa muß ja soviel lernen! Och, wie der lernen muß! Mutti hört ihm die vielen fremden Wörter ab!“ „Was für Wörter? Was für fremde Wörter?“ Da sagten unsere Enkelkinder: „Salem aleikum, Good evening, ladies and gentlemen!“ Mit diesen Wörtern wußte ich nichts anzufangen. Es war so, und es blieb so, und er ließ sich bei uns nicht mehr sehen, bei seinen eigenen Eltern. Ein Jahr lang, zwei Jahre lang. Ein anderer Monteur betreute unseren Salli während der Rennen. Mein Sohn steckte in irgendwelchen Schulstuben und büffelte seine verrückten fremden Wörter. Eines Tages aber stand er vor unserer Tür, mit einem Koffer in der Hand, und tat, als wäre nichts gewesen. „Wundert euch bitte nicht, wenn ich jetzt eine Weile nicht komme, ich schicke euch in den nächsten Monaten allerlei bunte Ansichtskarten. Ich verreise.“ Er habe es sehr eilig.
Sein Flugzeug stehe schon bereit. So konnte ich mir nur nach und nach zusammenreimen, was er in diesen beiden Jahren gelernt hatte, was die fremden Wörter bedeuteten und was das für eine Reise war. In allen Ländern der Welt werden Motorräder gebraucht. Überall leben Freunde des Motorsports. Überall lasen und hörten und sahen sie, was zu den Six-Days geschah, und überall horchten sie auf, sobald von der MZ die Rede war. Sie fragten ihre Motorradhändler nach der MZ. Die Motorradhändler schickten Briefe in die DDR: Sehr verehrter Herr Minister! Wir ersuchen Sie freundlichst, mit dem nächsten Schiff soundso viele Motorräder der bekannten Marke MZ in unser Land zu schicken. Nun fuhren Zschopauer Motorräder im hohen Norden und im heißen Süden, im fernen Osten und im fernen Westen und auf allen Straßen Europas. Mein Sohn hatte fremde Sprachen erlernt. Er fuhr unseren Motorrädern hinterher, um zu sehen, wie sie sich in all den Ländern bewährten. Im heißen Süden brennt die Sonne. Schadet sie dem Motor? Es fällt viel Regen. Schadet er dem Stahl? Oder in der nordischen Tundra: Meilenweit führt durch die Sümpfe ein Knüppeldamm statt einer Straße. Ist die Federung stark genug? Einmal in Guinea in einem Urwaldstädtchen begegnete er einem Mann aus Togo. Dieser Mann saß auf einer MZ und erzählte, er wolle nur mal fix nach Timbuktu im Maliland zur Hochzeit seiner Schwester, drum habe er sich die Maschine gekauft. Mein Sohn rechnete im Kopf: Von Togo bis hierher sind es ein-
tausendsechshundert Kilometer Urwaldpfad. Der Mann hat Flüsse durchwatet, mußte mit der Maschine durch Schluchten fahren und über gestürzte Baumriesen steigen, alles in heißer, tropfnasser Tropenluft. Wie mag die MZ nun innen aussehen? „Salem aleikum“, sagte mein Sohn zu dem Mann aus Togo, „Guten Tag!“ und fragte ihn, ob er ihm erlaube, die Maschine mal fix auseinanderzunehmen. Der Mann war sehr in Eile und rang die Hände, als er nach einer Viertelstunde seine schöne MZ in alle ihre Teile zerlegt fand. Mein Sohn aber nahm ein Stück nach dem anderen her, untersuchte es und staunte und schrieb in sein Buch: „Kein Schaden. Kein Schaden. Kein Schaden…“ Nur ein einziges Mal, als ihm aus dem Lenker ein wenig Rostwasser entgegenrann, mußte er schreiben: „Leichter Rostschaden.“ Eine Stunde danach saß der Mann aus Togo wieder im Sattel. Mein Sohn reichte ihm die Hand. Der Mann aus Togo aber fragte: „Wozu das alles? Die MZ ist doch gut. Solch ein langer Aufenthalt!“ Dann nahm er die nächsten eintausendzweihundert Kilometer unter die Räder. Oder ein andermal. In Bagdad, der Stadt des Aladin mit der Wunderlampe, wohnte ein Lehrer, den grüßten nicht nur die Schüler, sondern auch alle Erwachsenen mit größter Ehrfurcht. Dieser Lehrer war soeben vom Grab des Propheten Mohammed zurückgekehrt. Wer am Grab des Propheten gewesen ist, darf vor seinen Namen den Ehrentitel Hadschi setzen. Hadschi Ahmed, so hieß der Lehrer, war die ganze Strek-
ke von Bagdad bis zu Mohammeds Grab in Mekka und wieder zurück auf seiner MZ gefahren, dreitausend Kilometer durch die Wüste. Trinkwasser, Mundvorräte, ein Zelt zum Schlafen, Petroleumkocher und Benzinkanister hatte er auf den Sozius geschnallt. Nun stand Hadschi Ahmeds Maschine wieder im Schuppen. Zu zweit untersuchten sie den Motor und alle Lager, alle beweglichen Teile, Hadschi Ahmed und mein Sohn. Staubfeiner Wüstensand rann ihnen entgegen. Mein Sohn fragte: „Ist irgend etwas Besonderes vorgefallen unterwegs?“ Er meinte, Hadschi Ahmed müsse steckengeblieben sein oder dann und wann habe sich der Motor an dem Staubsand verschluckt. Nur von einem einzigen besonderen Vorfall wußte Hadschi Ahmed zu berichten, und auch der war keine Panne. In einer Oase, einem fruchtbaren Fleckchen mitten in der Wüste, lebten einige hundert Bauern, die wußten erst seit seiner Reise, was für ein Ding ein Motorrad ist. Sie kannten Kamele, Pferde, Autos, auch Panzerwagen und Flugzeuge. Das erste Motorrad, das sie zu sehen kriegten, war Hadschi Ahmeds MZ. Mein Sohn schickte uns Briefe und Ansichtskarten aus Asien und Südamerika, aus Kanada und von der Insel Kuba, von den Inseln im Stillen Ozean und aus dem Land der Känguruhs Australien. Einmal aber kam eine Karte aus Sri Lanka, dem Inselland im Indischen Meer. Als wir diese Karte lasen, meinten wir, nun flunkere er uns etwas vor. Selbst Mäthengruber, der an diesem Abend bei uns zu
Gast war, schüttelte traurig den Kopf. „Dein Sohn ist ein guter Junge, Seidel, ein zuverlässiger Mann. Vielleicht hat ihm die Tropensonne geschadet.“ Auf dieser Karte standen nur die wenigen Worte: „Liebe Eltern! Hiermit grüße ich Euch als Ehrenmitglied des Automobilklubs von Sri Lanka. Euer Sohn“ Ehrenmitglied! Ich hielt meinen Sohn ganz einfach für übergeschnappt. Wir saßen noch um den Tisch und fragten uns, ob wir ihn schleunigst nach Hause rufen sollten, da klingelte es an unserer Tür. Es klingelte Sturm. Draußen stand der gelehrte Siggi, unser Doktor. Er schwenkte ein Bündel Zeitungen. Wir konnten sie nicht lesen, denn sie waren englisch und französisch gedruckt, aber die Bilder auf den Sportseiten und die Buchstaben MZ in den fetten Überschriften verstanden wir auch ohne Siggis Hilfe. Von all den Bildern auf den Zeitungsseiten lachte uns mein Sohn auf einer MZ entgegen, um den Hals einen Siegerkranz mit langen bunten Schleifen. Folgendes war geschehen: Als. mein Sohn nach Colombo kam, der Hauptstadt dieser Inselrepublik, sah er in allen Schaufenstern große Plakate, die riefen zu einem Motorradrennen. Er fragte den Besitzer des größten Motorradsalons, ob unsere MZ zu diesem Rennen starten werde. Der wußte davon nichts. Also fuhr mein Sohn zum Automobilklub. Dort lagen schon die Startlisten aus. Die Männer vom Klub hoben bedauernd die Schultern. „Wir sind untröstlich,
Mister Seidel, es haben sich viele berühmte Rennfahrer mit den besten Maschinen gemeldet, japanische HONDA, die ZÜNDAPP und die BMW aus der BRD, die tschechische JAWA, PANNONIA aus Ungarn, alle werden starten. Die MZ ist nicht gemeldet.“ Das darf nicht sein! dachte mein Sohn. Ein internationales Rennen ohne uns! Kurz entschlossen sagte er: „Ich melde eine MZ.“ Die Männer vom Klub waren erfreut. „Sehr gut! Sie sind Rennfahrer, nicht wahr?“ „Nein, bisher nicht. Es wird mein erstes Rennen sein.“ Erstaunt hoben sie die Brauen. „Aber Sie haben eine Rennmaschine?“ „Morgen werde ich eine haben.“ Er wußte genau, es gab in ganz Ceylon bis zu diesem Tage noch keine einzige renntüchtige MZ-Geländemaschine. Bis zum Start blieben ihm nur sechzehn Stunden. Er wählte in dem Motorradsalon eine ganz gewöhnliche Straßen-MZ aus. Der Besitzer gab ihm einen gescheiten jungen Schlosser an die Seite. Sie schoben die Maschine in einen Schuppen. In dem Schuppen begann es zu poltern und zu klirren. Es zischte der Schweißbrenner, es fluchte in deutsch und singhalesisch. Elektrobohrer surrten. Blech schepperte unterm Hammer. Die Nacht war dunkel und warm, hinter den verhängten Fenstern blieb es hell und war es heiß. Die Kampfrichter, gute Fachleute, sahen auf den ersten Blick, daß ihnen mein Sohn keine Geländemaschine vor-
führte, sondern eine umgebaute Straßenmaschine. Sie sahen aber auch, wie stark sie war, und sie sagten ihm ehrlich: „Sie werden hart kämpfen müssen, Mister Seidel. Wir wünschen Ihnen Erfolg!“ Der Starter gab das Zeichen. Blauer Rauch stieg auf. Vier, fünf Maschinen fuhren auf und davon. Eine von ihnen war die MZ mit Seidel, DDR. Die anderen setzten ihnen nach. Hinauf ging das Rennen in Sri Lankas Berge. Nur einmal wagte mein Sohn einen Blick nach hinten. Da wehte eine schier endlose Staubfahne. Unter Sonnenschirmen standen entlang der Straße die Zeitnehmer mit ihren Stoppuhren. Bauern in weißen Umhängen winkten ihm zu. Er fuhr und fuhr. Es ging an Reisfeldern und Teegärten entlang, durch dunkelgrüne Dschungel. Es wurde Mittag. Er trank einen Schluck, aß einen Bissen, tankte nach, fuhr weiter. Es wurde Nachmittag, und es wurde Abend. Zuverlässig wie sein eigenes Herz arbeitete der Motor, und er fühlte froh: So zuverlässig arbeiten wir zu Hause in unserem Werk: der alte Mäthengruber, der gelehrte Siggi, Salli, alle Leute von MZ! Die Nacht brach herein. Vor ihm funkelten die Lichter der Stadt. Als er die Betonstraße zum Ziel unter den Reifen spürte, fiel ihm etwas auf. Er fuhr allein. Wo waren die anderen Rennkameraden? Er konnte es nicht fassen. Er sah die Menschenmenge am Ziel winken und hörte sie jubeln.
Dann stand er auf dem Podest. Sie hängten ihm die Goldmedaille und den Lorbeerkranz um den Hals. Sie ernannten ihn feierlich zum Ehrenmitglied ihres Automobilklubs. Es flammten die Blitzlichter der Zeitungsfotografen. Wir zu Hause saßen um den Tisch, sahen die Bilder, ließen uns die Zeitungsberichte übersetzen, wieder und wieder, bis unser gelehrter Siggi ungeduldig rief: „Nun kennt ihr sie doch aber auswendig!“ Meine Frau tupfte sich die Tränen von den runzligen Wangen und sagte: „Wenn ich dran denke, was ihm hätte passieren können! Immer habe ich ihn ermahnt, fahr nicht zu schnell, du bist nicht der Salli!“ Ich aber nickte dem alten Mäthengruber zu, und der alte Mäthengruber nickte mir zu, und wir dachten alle beide an das gleiche. Wir dachten an Hugo Ruppe, an Rasmussens schönen Schäferhund, an die Versammlung zur Frühstückspause, die nicht hat stattfinden dürfen, an den Frühlingssonntag im Zschopautal, an die leeren Hallen und die drei Jungen, an den ersten Schnellen Hirsch und den zweiten. „Ich hab’s ja immer gewußt.“ Mäthengruber nickte zufrieden vor sich hin. „Ich hab dir das im voraus gesagt, Seidel: Jetzt, wo alles unser ist, jetzt machen wir was völlig Neues draus.“