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PROLOG „Sie ist so süß", sagte Amy Hallam und berührte sanft die Wange des Babys. Dann hob sie es aus der Wiege, nahm es auf den Arm und küsste es zärtlich. „Und ihre Mutter hat sie wirklich vor Tante Lucys Tür abgelegt? Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein!" „Das glaube ich gern", erwiderte ihr Mann Jake Hallam. „Und sie hat genau gewusst, dass Lucy sich um das Mädchen kümmern würde. Sie hat sogar einen Brief hinterlassen." Er reichte seiner Frau den Zettel und nahm ihr das Baby ab. Amy zuckte zusammen, als sie das Papier berührte. Sie konnte förmlich die Traurigkeit und die Angst spüren, die die Mutter dazu gebracht hatten, das Kind fortzugeben. Ihre Finger bebten, als sie das Schreiben entfaltete und zu lesen begann. Liebe Tante Lucy, bitte sorge für mein Baby, wie Du es damals für mich getan hast, denn ich habe niemanden, an den ich mich sonst wenden kann. Sie wurde am 26. September geboren und hat noch keinen Namen. Wenn ich nicht weiß, wie sie heißt, kann ich sie auch nicht verraten. Ich habe ihre Geburt nicht beim Standesamt gemeldet, offiziell ist sie also gar nicht auf der Welt - und das ist ihre einzige Hoffnung! Ich bitte Dich, nein, ich flehe Dich an, verrate den Behörden nichts, und versuche auch nicht, mich über Presse und Fernsehen zu finden. Das würde nur die Aufmerksamkeit auf das Baby lenken und es in Gefahr bringen. Das beigelegte Geld - ich weiß, es ist nicht sehr viel, aber mehr besitze ich nicht - ist für die erste Zeit gedacht, bis Du eine nette Familie gefunden hast, die sich um sie kümmern kann. Ich liebe sie, doch sie ist bei mir nicht sicher. K. Amy beobachtete ihren kleinen Sohn, der fröhlich im Zimmer herumkrabbelte, und hätte ihn am liebsten ganz fest an sich gedrückt. Doch stattdessen nahm sie nur schweigend Jakes Hand. „Was meinst du?" fragte ihr Ehemann schließlich. „Ist sie paranoid? Oder ist es ein typischer Fall von Gewalt in der Ehe?"
„Das kann ich dir nicht sagen", erwiderte Amy. „Ich weiß nur, dass sie panische Angst hat. Sieh dir doch nur ihre Schrift an! Egal, was für ein Problem die Frau hat, sie ist außer sich vor Furcht. Eigentlich sollte ihr ja klar sein, dass sie etwas Unmögliches verlangt. Wenn wir die Geburt nicht melden, brechen wir unzählige Gesetze, aber sie hat uns inständig gebeten, das Baby zu verstecken." „Was wir auch nicht lange können", sagte Jake stirnrunzelnd. „Natürlich nicht, aber ich bin nicht bereit, ein Risiko einzugehen. Was machen ein oder zwei Wochen schon aus?" „Das Jugendamt ist da sicher anderer Meinung." Amy nickte. „Da hast du natürlich Recht. Lass es uns trotzdem versuchen. Vielleicht finden wir die Mutter ja." „Sie ist wahrscheinlich schon über alle Berge." „Das glaube ich nicht", antwortete Amy und schüttelte den Kopf. „Sie ist bestimmt noch ganz in der Nähe, denn sie will sichergehen, dass ihr Baby in gute Hände kommt." „Wir wissen doch gar nicht, wie sie aussieht! Wie willst du sie da finden?" Amy runzelte die Stirn. „Sie hat Tante Lucy ihr ganzes Geld überlassen. Jetzt hat sie sicher Hunger und fühlt sich ganz elend. Wir sollten die Straßen nach ihr absuchen, Jake, und zwar jetzt gleich. Jede Minute zählt."
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1. KAPITEL „ Wären die Gründe doch nur so zahlreich wie die Brombeeren ." William Shakespeare
Es war heiß für Ende September. Am blauen Himmel stand kein Wölkchen, und es war beinahe windstill. Allein die Brombeeren wiesen darauf hin, dass der Sommer fast vorüber war. Leider waren die großen, in der Sonne glänzenden Früchte unerreichbar. Kay blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fächelte sich mit dem alten Strohhut Luft zu. Dann ging sie zurück zur Hecke und blickte sich suchend um. Vielleicht hatte sie ja noch welche übersehen! Sie versuchte dabei, nicht auf die beladenen Zweige der Brombeersträucher zu achten, die über die große Mauer gegenüber wuchsen und die sie, Kay, auch mit einem langen Gehstock nicht erreichen konnte. „Das muss reichen, Polly", sagte sie und wandte sich ab. „Haben wir denn wirklich genug?" fragte ihre Tochter und betrachtete skeptisch die geringe Ausbeute. „Mehr konnte ich nicht pflücken. Der Erntedankkuchen wird eben hauptsächlich aus Äpfeln bestehen." Polly gab sich damit nicht zufrieden. „Da drüben gibt es ganz viele Brombeeren!" sagte sie und zeigte auf das benachbarte Grundstück. „Ich weiß, Kleines, aber ich komme leider nicht an sie ran. „Warum gehst du nicht einfach durch das Tor? Es wohnt doch sowieso niemand da. Irgendjemand hat nämlich ein Zu-verkaufenSchild in den Garten gestellt." Wie einfach war das Leben doch, wenn man erst sechs Jahre alt war! Aber in einem hatte Polly Recht: Linden Lodge hatte schon leer gestanden, als sie, Kay, nach Upper Haughton gezogen war. Von ihrem Schlafzimmerfenster aus hatte sie einen guten Blick auf den wild wuchernden Garten, der sich hinter der hohen Mauer verbarg. Das Dach eines reich verzierten Gartenhauses war unter der 3
Last einer unbeschnittenen Clematis montana zusammengebrochen, die Rosen wuchsen in alle Himmelsrichtungen, und die Früchte der Obstbäume waren zu Boden gefallen und verfaulten im Gras. Trotz allem war es ein kleines Paradies, und es wartete wie im Märchen nur auf den oder die Richtige, damit es wieder zum Leben erweckt wurde. Allerdings braucht man dafür mehr als nur einen Kuss, dachte Kay und schüttelte den Kopf. „Immerhin sind die Brombeeren für das Erntedankfest", sagte Polly energisch und holte ihre Mutter in die Gegenwart zurück. „Jeder im Dorf gibt etwas." „Das stimmt, Kleines." Einmal im Jahr gab es in Upper Haughton eine große Feier, zu der alle Bewohner eingeladen waren. Eigentlich hatte ihre Tochter ja Recht! Es war wirklich eine Verschwendung, die schönen Früchte einfach so verkommen zu lassen! „Du könntest doch eine Nachricht in den Briefkasten werfen und dich bedanken", sagte Polly, die nicht bereit war, so schnell aufzugeben. „Bei wem denn?" fragte Kay lächelnd. „Bei den neuen Besitzern natürlich! Und ich male ein Bild von all den schönen Torten und werde es ihnen schenken, wenn sie einziehen. Komm mit!" Sie nahm Kays Hand und zog ihre Mutter zu dem kleinen Tor, von dem die grüne Farbe schon abblätterte. „Bestimmt ist es verschlossen", sagte Kay unsicher. Und obwohl sie wusste, dass sie das Richtige tat, klopfte ihr Herz heftig, als sie den Griff herunterdrückte. Zuerst klemmte das Tor, dann ging es quietschend auf. Eine Amsel zeterte aufgebracht und flog davon. Anscheinend hatten sie sie beim Würmersuchen aufgeschreckt. Kay zuckte zusammen und rechnete jeden Moment damit, dass eine wütende Stimme wissen wollte, was, zum Teufel, sie da eigentlich trieben! Aber sie hörte nur das Summen der Bienen, die Nektar in den farbenfrohen Blüten der Spätsommerblumen suchten. Blaue und rote Herbstastern wuchsen überall, und in den Ecken spross das Unkraut. Es tat Kay in der Seele weh, diesen Wildwuchs zu sehen. Irgendje4
mand hatte sich einmal viel Mühe mit dem Garten gegeben, und nun war alles den erbarmungslosen Launen der Natur überlassen. Trotzdem faszinierte der Anblick, und nichts in der Welt konnte Kay jetzt noch davon abhalten, das Tor ganz zu öffnen und sich genauer umzusehen. Patrick Ravenscar drehte den mit Schützhüllen überzogenen, gespenstisch wirkenden Möbeln den Rücken zu und blickte starr hinaus. Diesen Moment hatte er am meisten gefürchtet. Sechs lange Jahre hatte er eine Ausrede nach der anderen gefunden, um nicht zu Saras geliebtem Garten zurückkehren zu müssen. Aber es hatte alles nichts genutzt. Die Dämonen der Vergangenheit hatten ihn immer wieder eingeholt. Irgendwann war ihm dann bewusst geworden, dass es keinen Ort auf dieser Welt gab, an dem er vor seinem Schmerz sicher war. Als er das letzte Mal an diesem großen Fenster gestanden hatte, war es später Frühling gewesen. Die Knospen der Obstbäume hatten lila geschimmert und die eng gepflanzten gelben Tulpen ihre Blütenblätter auf dem Gras verstreut. Und Sara hatte so strahlend ausgesehen und sich auf das neue Leben gefreut, das sie geschaffen hatten. Zu der Zeit war es noch ihr Geheimnis gewesen, das sie behüten wollten, bis die ersten schwierigen Monate vorüber waren. Und er hatte diesen doppelten Verlust für immer in seinem Herz bewahrt. Nach Saras Tod war es zu spät gewesen, darüber zu sprechen, und die Verwandten und Freunde hatten genug unter dem Schmerz und der Trauer gelitten. Deshalb hatte er geschwiegen und versucht, mit der großen, alles erdrückenden Einsamkeit allein fertig zu werden. Ohne Saras grünen Daumen war der Garten in kurzer Zeit verwildert. Die Obstbäume waren schon lange nicht mehr zurückgeschnitten worden, das Unkraut wucherte überall, und die wenigen Blumen kämpften vergeblich um Licht. Patrick presste die Stirn an das kühle Fensterglas und schloss die Augen, um diesen traurigen Anblick nicht länger ertragen zu müssen. Doch auch das nutzte nichts. Sein Leben war zerstört genau wie Saras Garten. 5
Er hatte das Haus gekauft, weil seine Frau sich sofort in das Anwesen verliebt hatte. Besonders gut hatten ihr die von einer hohen Mauer umgebenen Grünanlagen gefallen. Ihre Kinder hatten dort einmal spielen sollen … unbeschwert und sicher. Sara hatte auch gleich begonnen, einen typisch englischen Garten anzulegen. Sie hatte unzählige heimische Blumen gepflanzt, um damit die Schmetterlinge und Bienen anzulocken. Auch jetzt noch glaubte Patrick, seine Frau dort draußen arbeiten zu sehen … gebeugt über die Rosensträucher, einen alten Strohhut auf dem Kopf, der ihre helle Haut vor der Sonne schützte. Nun ging sie weiter zu den Brombeersträuchern, die an der Mauer emporgewachsen waren. Sie zog die Äste herunter, und er beobachtete, wie sie den Kopf schüttelte, als könnte sie nicht verstehen, dass er ihren geliebten Garten so hatte verwildern lassen. „Sara …" flüsterte er und ballte die Hände zu Fäusten. Wenn sie sich doch nur einmal umdrehen und ihn ansehen würde … „Ist alles in Ordnung, Patrick?" fragte eine Männerstimme besorgt. Patrick blinzelte und wandte sich kurz um. Als er gleich darauf wieder aus dem Fenster blickte, war Sara verschwunden. „Patrick? Was ist los?" In den ersten Monaten war ihm Sara beinahe überall begegnet. Eine Frau mit langem blondem Haar in einer Menschenmenge, ein Lachen in einem Restaurant oder ein Kleid in ihrer Lieblingsfarbe hatten ihn schmerzlich an sie erinnert. Doch so real wie jetzt war es schon viele Jahre lang nicht mehr gewesen. „Nichts, Greg", erwiderte er traurig und wandte sich ab. Ihm war bewusst, dass sein Freund sich um ihn Sorgen machte. Das war nichts Neues für ihn. Genau diese mitleidigen Blicke hatten ihn nach Saras Tod dazu gebracht, Upper Haughton zu verlassen. Er hatte lange im Ausland gearbeitet, unter Fremden, die nichts von seinem Verlust ahnten. „Es geht mir gut." „Warum tust du dir das an?" fragte Greg und stellte die Einkaufstaschen auf den Tisch. „Du hättest alles ruhig mir überlassen können. Ich hätte die Sachen gepackt und so lange eingelagert, bis du sie abgeholt hättest." Er rang sich ein Lächeln ab. „Es dauert bestimmt 6
nicht lange, bis das Haus verkauft ist", sagte er dann aufmunternd. „In Upper Haughton kann man sogar einen Gartenschuppen an den Mann bringen. Linden Lodge ist wirklich eine gute Investition gewesen, Patrick." „Deswegen habe ich es nicht erworben, Greg. Es hat …" „Ich weiß", unterbrach sein Freund ihn schnell. „Es tut mir Leid, ich hätte dich nicht daran erinnern dürfen." Patrick zuckte die Schultern. Was sollte er darauf antworten? „Warum wohnst du nicht bei uns, bis alles geklärt ist?" „Nein, danke." Er merkte selbst, wie unhöflich er war, und bemühte sich, seine Schroffheit wieder gutzumachen. „Vielen Dank für das Angebot, Greg, aber ich habe hier noch einiges zu erledigen. Eigentlich hätte ich das schon längst tun müssen." Er blickte wieder aus dem Fenster, aber Sara war nicht mehr zu sehen. „Gut", antwortete Greg zögernd. „Brauchst du vielleicht Hilfe? Es muss ja kein Bekannter sein. Wenn du möchtest, frage ich die Agentur, ob sie jemanden schicken können. Es ist bestimmt leichter für dich, wenn die Person nicht… persönlich betroffen ist." Patrick atmete tief durch und versuchte, ruhig zu bleiben. Greg meinte es ja nur gut, aber Patrick wünschte, er würde endlich verschwinden. Warum sah er ihn eigentlich an, als würde er gleich den Verstand verlieren? Er wollte doch nur seine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Aber Greg war nicht nur sein Anwalt, sondern hatte auch als Trauzeuge in der Kirche neben ihm gestanden, als er Sara geschworen hatte, ihr treu zu sein, bis dass der Tod sie scheide. Damals waren ihm diese Worte bedeutungslos erschienen. Sara und er waren jung gewesen und hatten ihr Leben noch vor sich gehabt. „Ich danke dir", sagte Patrick schnell. Ihm war klar, dass sein Freund ihm nur helfen wollte, aber nicht wusste, wie. »Ich überlege es mir." Greg nickte und blickte sich um. „Wenn du mir doch nur Bescheid gegeben hättest! Hier sieht es furchtbar aus. Kein Wunder, wenn die Putzfrau nur einmal im Monat kommt! Das Geld hättest du dir wirklich sparen können." „Sie sollte auch nur nach dem Rechten sehen", erwiderte Patrick. 7
Er hatte sie gebeten, nichts anzurühren oder zu verändern. „Ich habe heißes und kaltes Wasser, Strom und ein Handy. Was will ich mehr?" „Wie sieht's mit einem Wagen aus?" „Ich brauche keinen." „Also gut", sagte Greg und schien immer noch unentschlossen, ob er seinen Freund einfach so allein lassen konnte. „Ich verschwinde dann." Wieder zögerte er. „Bist du dir wirklich sicher? Ich habe nur das Nötigste für dich eingekauft." „Mach dir keine Sorgen, ich werde schon nicht verhungern. Immerhin habe ich die letzten sechs Jahre auch überlebt." Greg wollte noch etwas sagen, ließ es dann jedoch. Er brauchte auch nichts zu sagen. Patrick war nicht entgangen, wie erschrocken der andere ihn angesehen hatte, als er ihn vom Flughafen abholte. Noch einmal blickte Patrick hinaus in den Garten, und sein Herz klopfte schneller. Da war sie wieder! Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, da die Krempe des Strohhuts es; verdeckte, aber sie sah aus wie Sara. Sie war groß, schlank, trug Jeans und ein verblichenes rotes T-Shirt … die Lieblingsfarbe seiner Frau. „Ich rufe dich morgen an", sagte Greg, der unschlüssig an der Tür stand. „Vielleicht überlegst du es dir ja noch einmal mit der Hilfe." „Keine Eile", erwiderte Patrick, mit den Gedanken noch ganz bei Sara. Dreh dich um, forderte er sie im Stillen auf ich bin hier… Plötzlich kam ein kleines Mädchen durch das hohe Gras gelaufen. Sie hielt einen aus Astern geflochtenen Kranz in den Händen, und Sara setzte ihn der Kleinen auf. Er war sicher, dass die beiden lachten. Wenn er doch nur das Gesicht der Frau erkennen könnte! „Keine Eile", sagte er noch einmal und hörte, wie Greg die Tür schloss. Patrick presste die Handflächen gegen das Glas und beobachtete Sara weiter. Sie küsste das Mädchen, zog dann eine Gartenschere aus der Tasche und begann, die dicken Äste der Brombeersträucher zurückzuschneiden. „Ich habe alle Zeit der Welt." Dann sah er, dass sie keine Handschuhe trug. Irgendwann einmal hatte er Sara welche gekauft, aber sie hatte sich geweigert, sie zu tragen, weil sie sie behinderten. 8
Plötzlich schnellte ein Ast zurück und traf ihre Hand. „Nein", stöhnte er, als er beobachtete, wie Sara das Blut abwischte. Die Geschehnisse wiederholten sich … „Bitte nicht!" flüsterte er verzweifelt und schloss die Augen. „Woher hast du diese wunderbaren Früchte?" fragte Amy Hallam, als sie die kleine Schüssel mit Brombeeren auf den Tisch stellte. „In unserem Garten wachsen so gut wie keine! Die Ziege frisst die Schösslinge weg, sobald sie aus dem Boden sprießen!" »Das kann ich mir denken", erwiderte Kay lächelnd. Sie wusch die Beeren und legte sie zu den anderen. „Ich danke dir trotzdem für deine Hilfe. Glaub mir, es war auch gar nicht so einfach, an diese Schätze zu kommen. Ich musste erst etwas Verbotenes tun!" Ihre Freundin lachte fröhlich. „Das glaube ich nicht, Kay! Du brichst keine Gesetze!" »Ich meine es ernst, Amy! Ich habe den Garten von Linden Lodge widerrechtlich betreten. Allerdings bin ich von einem Patenkind dazu angestiftet worden!" „Na und? Was ist schon dabei? Es wäre eher ein Verbrechen gewesen, diese herrlichen Früchte einfach so verfaulen zu lassen. Polly ist wirklich ein kluges Kind, und ich bin stolz, dass ich ihr etwas Eigeninitiative beigebracht habe." „Die Amsel, die dort ihr Revier hat, war damit gar nicht einverstanden." „Soll sie doch Würmer fressen!" „Außerdem habe ich den Riegel beschädigt, als ich versucht habe, das Tor zu schließen." „Unbefugtes Betreten und Vandalismus - das sind wirklich zwei schwerwiegende Verbrechen, Kay." Gespielt ernst drohte Amy ihrer Freundin mit dem Finger. „Dafür droht dir lebenslänglich!" „Hör auf, Amy!" Kay konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Wie wäre es mit einem Kaffee?" „Danke, gern. Soll ich Jake bitten, den Schaden zu beheben?" „Nein, das mache ich schon selbst. Ich habe das nötige Werkzeug im Schuppen." „Wie sieht es eigentlich dort aus?" fragte ihre Freundin neugierig. 9
„Im Schuppen?" fragte Kay lachend. „Möchtest du einen Blick hineinwerfen? Als meine Vermieterin ist es ja dein gutes Recht, aber es wäre besser gewesen, du hättest mir vorher Bescheid gesagt. Dann hätte ich ein bisschen aufgeräumt …" „Ich meine Linden Lodge", unterbrach Amy sie ungeduldig. Das hatte Kay natürlich genau gewusst, aber sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt darüber sprechen wollte. „Na ja, es ist alles verwildert", antwortete sie schließlich zögernd. „Als ich die Sträucher zurückgeschnitten habe, war Polly plötzlich verschwunden. Sie hatte sich nur eine Blumenkette geflochten, doch einen Augenblick lang habe ich geglaubt …" Sie beendete den Satz nicht, denn sie wollte nicht daran erinnert werden, was für einen Schrecken ihr das Ganze eingejagt hatte. Polly war wie vom Erdboden verschluckt gewesen, das Tor hatte offen gestanden, und sie, Kay, war tausend Tode gestorben… „Du hast also die Brombeersträucher zurückgeschnitten", stellte Amy fest und holte sie in die Gegenwart zurück. „Wie bitte? Ja, und das war auch bitter nötig. Sie haben nämlich das Spalierobst beinahe erdrückt - den armen Pfirsichbaum." Kay ging zum Herd und brühte den Kaffee auf. „Lach nicht, Amy!" „Das tue ich doch gar nicht." „Von wegen! Du hast nämlich keinen Grund dazu. Ich kann es eben nicht ertragen, wenn irgendetwas leiden muss", sagte Kay und holte zwei Becher aus dem Schrank. „Ich werde morgen einen Zettel in den Briefkasten von Linden Lodge werfen und danach den Riegel reparieren. Die Besitzer sollten wenigstens Bescheid wissen." „Worüber? Dass du die Brombeersträucher zurückgeschnitten hast, um das Spalierobst zu retten?" „Sehr witzig. Nein, ich will sie darüber informieren, dass ich Beeren gepflückt habe - für einen guten Zweck natürlich." „In Linden Lodge wohnen nur Geister, Kay." Ihre Freundin wandte sich um und sah sie verblüfft an. „Geister?" „Hast du es denn nicht gespürt?" fragte Amy. „Immer, wenn ich an dem Grundstück' vorbeigehe, läuft mir ein Schauder über den Rücken." 10
Kay schüttelte nur den Kopf. Amy hatte zu viel Fantasie! „Hast du eigentlich schon gehört, dass das Grundstück zum Verkauf steht?" fragte sie, um vom Thema abzulenken. „Ja", antwortete Amy, „der Makler hat das Schild am Freitag angebracht." „Hast du die Vorbesitzer gekannt?" „Die Ravenscars? Nicht besonders gut. Zu der Zeit wurde Mark geboren, und ich war noch dabei, mein Geschäft aufzubauen. Die beiden waren jünger als wir und noch nicht sehr lange verheiratet. Sara Ravenscar war eine sehr nette Frau, Kay. Sie hätte sicher nichts dagegen gehabt, dass du ihre Brombeeren pflückst." Amy schwieg einen Moment. „Ihr Tod ist ein großer Schock für uns alle gewesen." „Sie ist an Wundstarrkrampf gestorben, oder?" „Ja. Ich finde das wirklich unglaublich. In der heutigen Zeit sollte so etwas eigentlich ja nicht mehr vorkommen. Anscheinend sind ihre Eltern strikt gegen Impfungen gewesen, und sie konnte sich, wie alle begeisterten Gärtner, nicht an Handschuhe gewöhnen. Nach ihrem Tod ist Patrick ins Ausland gegangen, um für irgendeine Hilfsorganisation zu arbeiten." „Warum hat er das Haus eigentlich nie verkauft oder vermietet? Es steht jetzt schon so lange leer, und der neue Besitzer muss deshalb sehr viel Zeit und Geld investieren. Der Garten ist verwildert, und die Farbe an den Wänden blättert ab." „Vielleicht hat Patrick Ravenscar es einfach nicht übers Herz gebracht, Linden Lodge zu veräußern." „Na ja, wenigstens passiert jetzt etwas", sagte Kay nachdenklich. „Ich werde morgen die abgeschnittenen Äste einsammeln und dann das Tor reparieren. Vielleicht sollte ich den Makler anrufen und ihn fragen, ob ich den Garten auf Vordermann bringen soll. Jetzt, da die Sommerferien vorbei sind und Polly wieder zur Schule geht, kann ich auch mehr arbeiten." Amy nickte. „Das ist eine gute Idee. Aber denk daran, was mit Sara Ravenscar geschehen ist", sagte sie warnend, „und trag deine Handschuhe! Hast du die Kratzer auf deiner Hand gereinigt?" „Natürlich", erwiderte Kay und betrachtete die roten, hässlichen 11
Spuren, die der Brombeerzweig auf ihrer Haut hinterlassen hatte. „Außerdem bin ich geimpft." „Sehr gut." In diesem Moment kam Polly, mit einem Pyjama bekleidet, ins Zimmer gelaufen und begrüßte ihre Patentante fröhlich. Amy umarmte sie, hob sie hoch und wirbelte sie herum. Wenig später stellte sie sie wieder auf den Boden und sagte lächelnd: „Hallo, Kleines! Wie sieht's aus, hast du Lust, morgen mit uns ans Meer zu fahren? Mark kann es gar nicht erwarten, mit dir zu spielen. Vorausgesetzt natürlich, deine Mum kann dich entbehren." Polly zögerte und blickte Kay fragend an. „Eigentlich sollte ich ja beim Kuchenbacken helfen." „Ich komme schon allein klar", sagte Kay lächelnd. „Was ist mit dir, Amy? Werden dir vier Kinder nicht zu viel?" „Vier sind besser als drei! Jake beschäftigt George und James, und ich werde mit Mark und Polly eine Sandburg bauen." Auch wenn Amy es nicht offen aussprach, wusste Kay, was ihre Freundin meinte. Es war nicht gut, wenn Polly zu behütet aufwuchs. Sie musste mit Gleichaltrigen spielen. „Also gut", sagte Kay seufzend, „dann wünsche ich euch viel Spaß." „Hast du gesehen, wie viele Brombeeren wir gepflückt haben, Tante Amy?" fragte Polly aufgeregt. „Und ich habe mir einen Kranz aus Astern geflochten." „Wirklich?" „Ja! Komm mit, ich zeige ihn dir!" Sie nahm Amys Hand und zog ihre Tante zur Treppe. „Ich bin gleich zurück", sagte Amy lachend. „Kein Problem." Kay schüttete den Kaffee in eine Thermoskanne. „Lass dich aber nicht wieder überreden, ihr eine Geschichte zu erzählen. Du hast selbst Kinder, die du ins Bett bringen musst." „Stimmt, aber es sind Jungen. Sie machen sich nichts aus Märchen. Außerdem hat Jake heute Badezimmer- und Einschlafdienst, und ich denke nicht daran, ihm dabei zu helfen. Ich gehe erst wieder nach Hause, wenn er das Chaos beseitigt hat." Nur widerwillig aß Patrick sein Abendbrot. Die Suppe schmeckte nach nichts, aber das war er gewohnt. In den letzten sechs Jahren 12
hatte er nur dahinvegetiert, und es war ihm alles egal gewesen. Doch heute spürte er zum ersten Mal seit langer Zeit, wie seine Lebensgeister wieder erwachten. Er stand auf, ging durchs Haus und ließ die Hand über die Dinge gleiten, die Sara gehört hatten. Er öffnete den Schlafzimmerschrank und betrachtete lange ihre Kleidung. Schließlich zog er einen Schal heraus und presste ihn an seine Wange. Er duftete noch nach Saras Blumenparfüm, und Patrick schloss die Augen. Wie dumm war er doch gewesen! Er hätte gar nicht davonzulaufen brauchen, denn Sara war hier. Sie hatte die ganze Zeit auf ihn gewartet. Er ging nach unten, öffnete die Verandatüren und blickte wieder hinaus. Doch diesmal war Sara nicht zu sehen. Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf. Er zog einen Sessel he ran, warf die Abdeckung zu Boden und nahm auf dem weichen Polster Platz. Draußen war es noch warm, und die Luft duftete herrlich nach Rosen. Schweigend betrachtete er den verwilderten Garten und wünschte sich sehnlichst, Sara würde zu ihm kommen. Plötzlich hörte er ein Lachen und reagierte ganz anders als sonst. Es schmerzte ihn nicht und erinnerte ihn auch nicht an den Verlust, den er erlitten hatte. Er beugte sich vor und lauschte atemlos. Es wurde dunkel, am Himmel funkelten die ersten Sterne, und immer noch saß Patrick da und blickte hinaus in Saras Garten.
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2. KAPITEL „Es fiel eine glänzende Träne aus der Passionsblume am Gartentor.Dahinter kommt sie, mein Täubchen, meine Schöne, dahinter kommt sie, mein heben, mein Schicksal, hervor." Alfred Lord Tennyson Kay machte sich sofort an die Arbeit. Sie verabschiedete sich von Polly, packte ihre Geräte in die Schubkarre und betrat wenig später den Garten von Linden Lodge. Am Tag zuvor hatte sie sich nicht richtig verhalten, und sie wollte das so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Seitdem sie in Upper Haughton wohnte, hatte sie sich sehr zurückgehalten. Wenn nötig, half sie in der Dorfschule aus, beteiligte sich an Spendenaufrufen und allen Festen und arbeitete hart, um genug Geld für sich und ihre Tochter zu verdienen. Sie tanzte nicht aus der Reihe und achtete darauf, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Davon hatte sie nämlich genug gehabt, bevor Amy Hallam sie unter ihre Fittiche genommen und ihr das Häuschen vermietet hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, einfach Brombeeren zu stehlen? Was war nur in sie gefahren? Was hatte sie nur dazu bewogen? Sie stellte die Schubkarre ab und blickte sich forschend um. Ja, das war es gewesen - der Garten … er zog sie magisch an. Sie war immer schon neugierig gewesen und hatte wissen wollen, was sich hinter dieser hohen Mauer verbarg. Kay stieß das Tor auf und atmete tief durch. Es duftete so gut nach frischem Gras, Gamander und Baldrian. Die Hausamsel saß in einem großen Apfelbaum und unterbrach für einen Moment ihr Lied. Dann sang sie weiter, und Kay fühlte sich plötzlich nicht mehr fehl am Platz. Es kam ihr vor, als hätte man sie willkommen geheißen. Was für ein Unsinn! Als Erstes schnitt sie das Gras hinter dem Tor, damit es sich besser öffnen ließ. Dann reparierte sie den Riegel und ölte das Scharnier. Das zu tun war ihre nachbarliche Pflicht und nur ein kleines Danke-
schön für die leckeren Brombeeren! Wahrscheinlich aber war ihre ganze Arbeit sowieso umsonst. Der Käufer - und den würde es geben, denn Upper Haughton war ein begehrtes Wohngebiet, und es standen nur wenige Häuser zum Verkauf - würde das Tor sowieso herausreißen und es durch ein modernes ersetzen. Was wirklich schade war, denn das alte hatte Charme, auch wenn die Farbe schon abblätterte. Auch der wunderschöne Garten wird von den Veränderungen nicht verschont bleiben, dachte Kay traurig. Der neue Besitzer hatte sicher keine Lust, einen unendlichen Kampf zu führen gegen Unkraut, Schnecken, Mehltau und Braunfäule, die die Stockrosen nur zu gern befiel. Bestimmt würde er auch das halb verfallene Gartenhaus abreißen und vielleicht einen Swimmingpool bauen lassen. Kay legte die Ölkanne in die Schubkarre zurück und blickte sich um. Es war noch früh, und alles war ruhig an diesem Sonntagmorgen. Zerrissene Spinnweben glitzerten im Sonnenlicht, und die roten Beeren der Berberisthunbergii glänzten wie Blutstropfen. Die Äpfel an den Obstbäumen hätten eigentlich gepflückt werden müssen, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie zu Boden fielen, um zuerst den Vögeln, Igeln und Wespen und dann den Insekten und Mikroorganismen als Nahrung zu dienen. Langsam spazierte Kay die überwucherten Pfade entlang und betrachtete traurig die - nur für einen Gärtner ersichtlichen - Schätze, die verzweifelt ums Überleben kämpften. Wie gern hätte sie sie aus ihrer Notlage befreit! Doch wozu? Ohne regelmäßige Pflege wäre in kurzer Zeit alles wieder beim Alten. Deshalb war es dumm gewesen, die Sträucher zurückzuschneiden. Im Frühjahr würden sie nämlich umso stärker weiterwuchern, und sie, Kay, hatte dann sinnlos Zeit verschwendet, die sie für ihren eigenen Garten dringender benötigt hätte. Egal! Sie war hergekommen, um zu arbeiten. Energisch begann sie, die Zweige aufzusammeln und in ihre Schubkarre zu werfen. Patrick wachte auf und wusste zunächst nicht, wo er sich befand. Er war verspannt, und er fror, was nicht verwunderte, denn er hatte die ganze Nacht in dem Sessel verbracht. 15
Er fuhr sich durch das dunkle Haar, streckte sich und stand auf. Ein neuer Tag, dachte er verzagt, wie soll ich ihn bloß überstehen? Doch dann blickte er hinaus in den sonnendurchfluteten Garten. Einen Augenblick erschien er ihm wie ein magischer Ort. Als er dann noch Sara neben dem halb verfallenen Gartenhaus bei der Arbeit erblickte, wusste er, dass er es tatsächlich war: ein magischer Ort. Er eilte hinaus. Sein Schmerz und seine Einsamkeit waren mit einem Mal verschwunden. Jetzt zählte nur noch eins: Seine geliebte Sara war zurück. Sie kniete vor einem Brombeerstrauch, befreite ihn vom Unkraut und schnitt vorsichtig die Äste zurück. Patrick konnte es gar nicht erwarten, ihr zu helfen. Kay merkte zuerst gar nicht, dass sie nicht mehr allein war, denn der Strauch verlangte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie hörte zwar ein Rascheln, dachte aber an einen Vogel oder an ein Eichhörnchen. Als der Mann plötzlich neben ihr kniete, zuckte sie zusammen. „Sara …" flüsterte er. „Geh nicht …" Sie betrachtete ihn erschrocken. Seine Stimme bebte, und er sah furchtbar aus. Kay wusste sofort, wen sie vor sich hatte - ihren Nachbarn Patrick Ravenscar. Und er hielt sie für seine verstorbene Frau … Kein Wunder, denn sie kniete mit dem Rücken zur Sonne, und die breite Krempe des Strohhuts bedeckte teilweise ihr Gesicht. Der arme Mann, dachte sie traurig, was hat er durchgemacht! Und ihre Anwesenheit machte alles nur noch schlimmer. „Ich werde dich nie wieder allein lassen", flüsterte er. Kay wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Egal, was sie tat oder sagte, es würde ihn verletzen. Ehe sie sich's versah, hatte er begonnen, die Äste des Brombeerstrauches zu entwirren. Er wollte ihr helfen, und als er dabei zufällig ihre Hand berührte, war ihr, als hätte sie einen Stromschlag erhalten. Sie ließ das Taschenmesser fallen und wollte aufspringen. Doch er packte ihre Hand und hielt Kay zurück. Seine Finger waren schlank, sonnengebräunt und kräftig. Sanft ließ er sie über Kays Kratzer gleiten, die sie sich am Tag zuvor zugezogen hatte. „Du hast schon wieder keine Handschuhe an", sagte er aufgebracht. „Dabei 16
habe ich dich so oft gebeten, welche zu tragen." „Nein … Ja …" Oh, verdammt! Was sollte sie tun? Sich losreißen oder bleiben und ihm erklären, wer sie war? Patrick Ravenscar nahm ihr die Entscheidung ab. Er beugte sich vor und presste die Lippen auf ihre. Seit einer Ewigkeit hatte kein Mann sie mehr geküsst und schon gar nicht so zärtlich und sanft. So als wäre sie etwas sehr Kostbares, aber Zerbrechliches, das er zerstören würde, wenn er nicht Acht gab. Ihr Körper reagierte auf seine Liebkosung wie eine Primel, die sich nach einem harten Winter der Sonne öffnete. Oh, wie hatte sie, Kay, die Zärtlichkeit eines Mannes vermisst! Sie warf alle Vorbehalte über Bord und erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Ihr Hut fiel zu Boden, und sie ließ die Finger durch Patricks Haar gleiten. Er umfasste Kay und presste sie an sich, als wollte er eins mit ihr werden. Über ihnen begann die Amsel wieder zu singen, und Kay spürte Tränen auf ihren Wangen. Waren es seine oder ihre? Das Ganze kam ihr wie ein wunderbarer Tagtraum vor, und es dauerte lange, bis Patrick Ravenscar sich von ihr löste. Erst als sie wieder normal durchatmen konnte, kehrte auch die Wirklichkeit zurück. Er betrachtete ihr Gesicht, und es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Noch nie hatte sie solch einen Schmerz im Blick eines Menschen gesehen, und es brach ihr fast das Herz. Du meine Güte, was hatte sie sich bloß dabei gedacht! Der Kuss hatte alles nur noch viel schlimmer gemacht! "Mr. Ravenscar?" flüsterte sie verzagt. Sie fühlte sich furchtbar, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was er empfinden musste. „Ist alles in Ordnung, Patrick?" Sie waren sich zwar nie vorgestellt worden, doch für solche Formalitäten war es inzwischen zu spät. »Wer, zum Teufel, sind Sie?" fragte er schließlich verärgert, sprang auf und wich einige Schritte zurück. „Was haben Sie hier zu suchen?" Ja, was hatte sie erwartet? Vielen Dank für den Kuss, Madam, es war einfach himmlisch? »Ich bin Kay Lovell." Auch sie stand jetzt steif auf und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Es war sicher da Beste, so zu tun, als 17
wäre nichts geschehen. Der Kuss war wunderbar gewesen, doch die Konsequenzen daraus waren unabsehbar. Ihre Beine drohten ihr den Dienst zu versagen, und sie rief sich energisch zur Ordnung. Vielleicht hatte Küssen ja eine ähnliche Wirkung wie Alkohol… Wenn man es länger nicht getan hatte, verstärkte sich die Wirkung um ein Vielfaches! Sie wollte Patrick zur Begrüßung die Hand reichen, aber dazu war es jetzt zu spät. Stattdessen überlegte sie sich, wie sie ihm ihre Anwesenheit in seinem Garten erklären sollte. „Ich wollte nur …" Nein, das war nicht gut. Und ohnedies sinnlos. Ihn interessierte letztlich nur, warum sie nicht seine Frau war - und dafür gab es keine Erklärung, die ihn zufrieden stellen würde. „Ich bin Ihre Nachbarin", sagte sie schließlich leise. Er wich noch einen Schritt zurück, denn sein Irrtum wurde ihm immer stärker bewusst. Dann blickte er auf die zurückgeschnittenen Brombeersträucher. „Sie waren gestern schon einmal hier", sagte er vorwurfsvoll. Du meine Güte! Er hatte sie also schon am Tag zuvor gesehen. Was für ein Dilemma! „Das stimmt", erwiderte sie und blickte schuldbewusst zu Boden. „Und das Kind? Das kleine Mädchen?" Sie runzelte die Stirn. Wieso hatte er sie eigentlich für Sara gehalten? Soweit sie wusste, hatten die Ravenscars keine Kinder gehabt! „Wer ist das gewesen?" fragte er unnachgiebig. „Meine Tochter Polly. Wir haben Brombeeren gepflückt weil wir für das Erntedankfest mehrere Torten backen wollten. Sie ist heute übrigens mit den Hallams ans Meer gefahren. Sicher kennen Sie Jake und Amy Hallam. Ihr Jüngster nur wenige Monate älter als meine Polly, und die beiden sind die besten Freunde …" Erschrocken schwieg sie. Sie rede zu viel. „Es tut mir so Leid." „Schon gut", sagte er kurz angebunden. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie zu Hause sind …" „Hätten Sie geklingelt und mich um Erlaubnis gebeten?" unterbrach er sie spöttisch. „Warum sind Sie zurückgekommen? Um sicher zu sein, dass Sie auch keine Beere vergessen haben? Oder haben 18
Sie etwas anderes entdeckt, was Ihnen gefällt? Die Rosen vielleicht?" Kay errötete. „Nein", rief sie, „ich …" Ach, verdammt! Wenn er wirklich glaubte, dass sie seine geheiligten Pflanzen stehlen wollte, sollte er es doch! Sie würde ihn sowieso nicht vom Gegenteil überzeugen können. „Der Riegel am Tor war verrostet, und ich habe einen neuen angebracht. Der sollte jetzt halten. Und ich …" „Wird er Sie auch daran hindern, meinen Garten zu betreten?" Seine Stimme klang nicht länger sanft, sondern kalt. „Wenn Sie ihn hinter mir verschließen, schon", erwiderte sie ruhig, obwohl ihr Herz wie wild klopfte. „Ich müsste dann über die Mauer klettern." Sie rang sich ein Lächeln ab, doch er erwiderte es nicht. Auch gut, dachte sie. Er hatte allen Grund, wütend zu sein, denn sie hatte unbefugt sein Grundstück betreten und auch noch seine Brombeeren gestohlen. Kay zeigte auf die mit Ästen beladene Schubkarre. „Es ist alles erledigt. Ich muss jetzt los." Er betrachtete stirnrunzelnd die vielen Zweige, als wollte er sich vergewissern, dass sie nicht mit einigen seiner wertvollen Pflanzen das Weite suchte. »Warum haben Sie das getan?" fragte er schließlich. »Sie möchten wissen, weshalb ich den Riegel repariert habe?" Sagen Sie mir, warum Sie die Brombeersträucher zurückgeschnitten haben." »Sie haben dem Spalierobst kein Licht gelassen. Der Pfirsichbaum wäre recht bald eingegangen, wenn ich nichts unternommen hätte." Patrick antwortete nicht, und Kay nutzte die Gelegenheit, um ein bisschen Werbung für sich zu machen. Im schlimmsten Fall warf er sie hinaus, aber das hatte er ja sowieso vor. „Ich bin Gärtnerin und hätte morgen ohnedies Ihren Makler angerufen, um ihm meine Dienste anzubieten. Das Haus lässt sich bestimmt besser verkaufen, wenn das Grundstück gepflegt ist." „Sparen Sie sich die Mühe. Ich mag es so, wie es ist." Kalt, unnahbar und erdrückend - genau wie er! „Sie haben wahrscheinlich Recht", gab sie, wenn auch widerwillig, zu und hob ihren Hut auf. „Ich warte besser auf den neuen Besitzer. Wer weiß, was für Änderungen er plant." 19
„Vielleicht stellt er Sie ja ein." „Das bezweifle ich. Es würde Monate dauern, hier Ordnung zu schaffen. Wahrscheinlich wird er alles einebnen, teilweise betonieren und bereits ausgewachsene Bäume pflanzen lassen." Sie hatte gehofft, ihn durch ihre wütenden Worte aus seinem dumpfen Schmerz reißen zu können, doch sie merkte gleich, dass sie damit keinen Erfolg hatte. Patrick war in einem Albtraum gefangen, und solch einfache psychologische Tricks halfen bei ihm nicht. „Ich muss jetzt wirklich los", sagte sie schließlich, als er nicht reagierte. „Ich wohne übrigens im Old Cottage gegenüber. Wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie einfach vorbei." „Ich brauche nichts …" Er verstummte, und Kay ahnte, was er unausgesprochen ließ: „… von Ihnen." Da irrte er sich allerdings. Sie konnte eine zwischenmenschliche Beziehung zu ihm aufbauen und für ihn da sein - so wie Amy für sie in ihrer Not da gewesen war. Tage-, ja wochenlang hatte Amy sich um sie gekümmert und sich durch nichts abschrecken lassen. „Irgendwann einmal wird jemand dich brauchen", hatte Amy gesagt, „und dann sind wir quitt. Dann gib weiter, was du erhalten hast, egal, was es kosten mag. Du wirst schon merken, wenn es so weit ist." Unwillkürlich hatte Kay das Gefühl, als wäre jetzt dieser Moment gekommen. Aber sie war noch nicht bereit. Was sollte sie bloß tun? Wie sollte sie diesem Mann beistehen? „Ich könnte Ihnen eine Tasse Tee anbieten", sagte sie und hätte die Worte am liebsten gleich wieder zurückgenommen. Du meine Güte! Das klang so typisch Englisch! „Oder ein Frühstück? Die Eier sind von Hühnern, die ich selbst halte." Er antwortete nicht, reagierte so, als hätte er sie gar nicht gehört. Zum Teufel mit ihm! Es gab keinen Grund, unhöflich zu sein. „Wie wäre es mit einem Handtuch, um Ihre Füße abzutrocknen?" fragte sie ungeduldig. Allmählich verlor sie die Lust, überhaupt mit ihm zu reden. Er schien noch gar nicht bemerkt zu haben, dass er barfuss durchs taufrische Gras gelaufen und seine Hose bis zu den Knien durchnässt 20
war. Stirnrunzelnd blickte er an sich hinunter, wandte sich dann schweigend ab und ging zum Haus zurück. Kay beobachtete, wie er durch die Terrassentür verschwand, und schüttelte den Kopf. Nur Amy hätte diesem Mann helfen können, aber sie war mit Jake und den Kindern ans Meer gefahren. Jetzt lag es allein an ihr. Sie kannte ihre Grenzen und wusste genau, dass sie mit dieser Situation überfordert war. Es wäre sicher besser, wenn sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte, aber irgendwie brachte sie es nicht übers Herz. „Oh, verdammt!" flüsterte sie und folgte Patrick. An der Wohnzimmertür blieb sie stehen und blickte sich forschend um. Trotz der wunderhübschen Blumentapete und der farblich genau dazu passenden Vorhänge war die Atmosphäre bedrückend. Es war deutlich zu spüren, dass hier niemand wohnte. Das Haus war genauso vernachlässigt wie der Garten. Kay wäre gern von einem Raum in den nächsten gegangen und hätte die Fenster geöffnet. Genau wie draußen fehlten auch hier drinnen Wärme und Licht. Aber sie hielt sich zurück, denn sie hatte bereits genug Unheil angerichtet. Patrick Ravenscar war nicht zu sehen. Der abgedeckte Sessel deutete darauf hin, dass er die Nacht an der Terrassentür verbracht hatte, um Ausschau nach seiner geliebten Sara zu halten. Auf dem staubigen Boden entdeckte Kay nasse Fußabdrücke und folgte ihnen durch die Halle die Treppe hinauf. Im ersten Stock hörte sie das Geräusch von fließendem Wasser. Nahm er eine Dusche? Erst jetzt merkte Kay, dass sie den Atem angehalten hatte, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Sie ging hinunter in die Küche, wusch sich die Hände und setzte dann den Wasserkessel auf. In den Einkaufstüten auf dem Tisch fand sie neben Teebeuteln auch ein bereits angeschnittenes Brot und eine Tüte Milch. Sie schob einige Scheiben in den Toaster und durchsuchte dann so lange die Schränke, bis sie einen Teller und einen Becher gefunden hatte. Das Geschirr war verstaubt, und Kay wusch es erst einmal ab. Das Spülmittel schien schon älter zu sein, denn der Hersteller hatte vor einigen Jahren die Verpackung geändert. Wahrscheinlich hatte Sara 21
Ravenscar es als Letzte benutzt. Kay lief ein Schauder über den Rücken. Energisch rief sie sich zur Ordnung. Sie hatte sich noch nie vor Geistern gefürchtet. Was, zum Teufel, hatte er sich nur dabei gedacht? Er konnte doch unmöglich geglaubt haben, dass Sara im Garten auf ihn wartete! Die Frau hatte ihn sicher für verrückt gehalten, als er sie so leidenschaftlich geküsst hatte. Vielleicht war er es ja auch. Aber eins war klar: Sie hatte genau gewusst, wer er war und wen er vor. sich gesehen hatte. Warum hatte sie zugelassen, dass er sie in die Arme nahm und die Lippen auf ihre presste? Es war ihm vorgekommen, als wäre er aus einem unendlich währenden Albtraum aufgewacht. Plötzlich war er wieder ein Mann gewesen und hatte ein Verlangen verspürt, das ihm fast den Atem geraubt hatte. Er ballte die Hände zu Fäusten und schlug gegen die Kacheln. „Ich Idiot!" flüsterte er und schloss kurz die Augen. Würde er es denn nie einsehen? Es gab keine Hoffnung, nur tiefe Verzweiflung. Hätte er doch nur genauer hingesehen! Diese Frau ähnelte seiner geliebten Sara kaum. Er hatte sich selbst etwas vorgemacht. Diese Kay Lovell war größer und auch nicht so schlank wie Sara. Auch waren ihre Augen nicht blau, sondern braun und ihre Haare kürzer. Sie hatte Mitleid mit ihm gehabt und ihm nur deshalb gestattet, sie zu küssen. Er wusch sich energisch das Haar und putzte sich danach gründlich die Zähne. Aber es half alles nicht. Er wurde die Erinnerung an diese Frau - an ihre Berührung, an ihren Kuss - einfach nicht los. Er hatte Sara verraten, und mit diesem Verrat musste er jetzt leben. Schnell schlang er sich ein Handtuch um die Hüften und verließ das Badezimmer, um sein Gepäck zu holen, das immer noch in der Halle stand. Kay goss heißes Wasser über den Teebeutel und bestrich dann den Toast mit Butter. Als sie aufsah, stand Patrick Ravenscar an der Tür und beobachtete sie ausdruckslos. Er hatte geduscht, sein Haar war noch feucht und ungekämmt, und er war nur mit einem Handtuch bekleidet. 22
Kein Wunder, denn er hatte ja auch nicht damit gerechnet Gesellschaft zu haben. Er war sehr schlank, aber muskulös und Kay wandte rasch den Blick ab. „Sie sind ja immer noch da", sagte er anklagend. „Ha Greg Sie etwa geschickt?" „Greg?" fragte sie überrascht. „Wer soll das sein?" „Hat er Sie gebeten, auf mich aufzupassen?" „Nein." „Sie sind also nur eine neugierige Nervensäge." Was hatte sie erwartet? Dankbarkeit? War sie etwa dankbar gewesen, als Amy sie aufgelesen ihr ein Zuhause gegeben und sie mit Pollys Hilfe dazu gebracht hatte weiterzuleben? Nein! Damals wollte sie nur allein gelassen werden. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen gehabt und sich in der gleichen Situation befunden wie jetzt Patrick Ravenscar. Auch er wollte, dass sie verschwand, damit er ein für alle Mal vergessen konnte, dass er sie geküsst hatte. Nur deswegen war er so unhöflich, denn er hoffte, sie damit abschrecken zu können. Auch sie hatte damals diese Strategie verfolgt. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie undankbar sie gewesen war und wie sehr sie Amy damit verletzt haben musste. Doch ihre Freundin hatte sie durchschaut und nicht aufgegeben. Kay warf den Teebeutel in den Mülleimer, gab Milch in den Becher und reichte ihn Patrick. „Da Sie keinen Zucker im Haus haben, nehmen Sie wahrscheinlich auch keinen. Leider habe ich auch keine Marmelade für den Toast gefunden." „Können Sie nicht endlich aufhören, mich zu bemuttern?" fragte er ungehalten und dachte nicht daran, ihr den Becher abzunehmen. Sie zuckte die Schultern und stellte ihn auf den Tisch. „So ist das nun mal mit uns Weltverbesserern", sagte sie unbeeindruckt. „Ich werde Ihnen ein Glas meiner von mir höchstpersönlich eingekochten Marmelade vorbeibringen. Letztes Jahr habe ich sogar einen Preis damit gewonnen." „Meinen Glückwunsch, aber lassen Sie es lieber bleiben. Ich mag 23
dieses süße Zeug sowieso nicht." „Unsinn! Meine Erdbeermarmelade ist die beste in der ganzen Gegend. Ich benutze nur garantiert ungespritzte Früchte aus meinem eigenen Garten." „Was wollen Sie eigentlich?" fragte er kurz angebunden. „Nichts", erwiderte sie lächelnd. „Dann ist ja alles geklärt." Er stand auf, nahm den Becher und kippte den Tee in die Spüle. Kay atmete tief durch und war überrascht, wie verletzt sie sich fühlte. Doch das gehörte mit zum Spiel. Sie wusste es selbst am besten. „Sie trinken also lieber Kaffee?" fragte sie ruhig, bot ihm aber nicht an, welchen aufzubrühen. „Das werde ich mir merken. Jetzt muss ich wirklich gehen. Wenn Sie etwas brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden." Sie wandte sich um und ging schnell hinaus, bevor er noch handgreiflich wurde und sie höchstpersönlich aus dem Haus warf. Erst als sie das Tor hinter sich schloss, merkte sie, wie sehr ihre Hände bebten. Patrick nahm den Toast und warf ihn wütend in den Mülleimer. Dann ging er in die Halle, nahm seinen Koffer und trug ihn nach oben ins Schlafzimmer, in dem er und Sara ein wunderbares Jahr zusammen verbracht hatten. Er stellte ihn ab und blieb einen Moment lang reglos stehen. Am Abend zuvor hatte er überall den Duft von Saras Parfüm wahrgenommen, jetzt war er verschwunden. Jetzt roch es nur noch wie in einem Haus, das schon viel zu lange unbewohnt war. Entschlossen öffnete Patrick ein Fenster.
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3. KAPITEL „Lang lebe das Unkraut und die Wildnis." Gerard Manley Hopkins Patrick stand am Fenster und atmete tief die würzige Luft ein - den Duft nach Garten, frischem Gras, feuchter Erde -und blickte über die Mauer hinweg auf das malerische Dorf, das sich vor ihm erstreckte. In den vergangenen sechs Jahren hatte sich hier nichts verändert. Der Rasen, auf dem die Bewohner jedes Sommerwochenende Kricket spielten, bevor sie in den Pub gingen, um ihre Kräfte an der Dartscheibe zu messen, war wie sonst auch sorgfältig gemäht. Der von hohem Schilf umgebene Teich glitzerte in der Sonne, und die Äste der großen Weide hingen tief ins Wasser. Im Frühjahr gab es hier unzählige Kaulquappen, und auch Teichhühner nisteten gern in dieser Idylle. Selbst der Esel an der langen Leine war noch da und fraß zufrieden das nasse Gras. Wahrscheinlich war es sogar derselbe wie damals. Sara hatte es so gut in Upper Haughton gefallen. Es war ihr Paradies gewesen, und genau hier hatte sie eine Familie gründen wollen an einem sicheren Ort, an dem das Leben ganz ruhig verlief. Doch auch dieser Garten Eden hatte seine Schlange, und sie hatte hinterhältig und völlig unerwartet angegriffen. Danach war er, Patrick, vor seinem Schmerz davongelaufen. Alles hier erinnerte ihn an den Verlust, den er erlitten hatte. Doch nun war er wieder da, und er wusste, dass Sara sehr traurig über das verwilderte Grün gewesen wäre. Das machte alles noch viel schlimmer. In diesem Moment ging jemand auf der Straße vorbei, und Patrick blickte auf. Er war froh, von seinen trüben Gedanken abgelenkt zu werden. Es war Kay Lovell, und sie war auf dem Weg zum TanteEmma-Laden des Dorfes, in dem man neben Lebensmitteln auch Briefmarken und vieles andere erstehen konnte. Er beobachtete, wie sie stehen blieb und lächelnd eine Frau begrüßte, die ihr entgegenkam. Worüber die beiden sprachen, konnte er sich
denken. Linden Lodge stand seit Freitag zum Verkauf, und das war sicher das Thema im Dorf. Dank seiner neugierigen, Brombeeren stehlenden Nachbarin wussten wahrscheinlich auch alle Bewohner, dass er zurück war, allein im Haus wohnte und so langsam den Verstand verlor. Nach einer Weile ging Kay Lovell weiter, und Patrick betrachtete sie forschend. Wie habe ich sie eigentlich mit Sara verwechseln können? fragte er sich erstaunt. Die beiden Frauen hatten überhaupt nichts gemeinsam. Wahrscheinlich hatte ihm seine Fantasie einen Streich gespielt, oder er war einfach nur müde gewesen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Kay Lovell in seinem Garten gearbeitet hatte … genau wie Sara früher… Er wandte den Blick ab und betrachtete das von den Brombeerzweigen befreite Spalierobst. Sie hatte sogar das Unkraut gejätet und die Erde um die Sträucher geharkt. Verdammt! Wütend wandte er sich um, ging hinaus und lief die Treppe hinunter. Er eilte zum Tor und schob energisch den Riegel vor. Das hätte er sofort machen sollen! Jetzt lehnte er sich an die Mauer und schloss kurz die Augen. Er wollte niemanden um sich haben - schon gar nicht diese neugierige Weltverbesserin Kay Lovell! Sie sollte seinen Garten in Ruhe lassen. Niemand hatte das Recht, Saras Schmuckstück in diesem verwilderten Zustand zu sehen! Aufgebracht ging er auf das Zu-verkaufenSchild des Maklers zu und riss es heraus. Kay setzte sich aufs Sofa und begann, die Sonntagszeitung zu lesen. Besonders die Gartenseiten hatten es ihr angetan, und normalerweise nahm sie sich viel Zeit, diese in aller Ruhe zu studieren. Heute jedoch konnte sie einfach nicht stillsitzen. Auch gut! Dann machte sie sich eben an die Arbeit! Sie wollte noch die Kuchen für das Erntedankfest backen und einfrieren. Dann hatte sie wenigstens keine Zeit, an Patrick Ravenscar zu denken! Doch als sie sich die Hände gewaschen und die Waage herausgeholt hatte, erinnerte sie sich wieder an seinen leidenschaftlichen Kuss. Allerdings hatte dieser nicht ihr, sondern seiner Frau Sara gegolten. Trotzdem bebten ihre Hände, als sie das Mehl auf die Schale schütte26
te. Warum musste sie auch unbedingt Hobbypsychologin spielen? Es war doch klar, dass sie damit keinen Erfolg haben würde. Was hatte sie in zehn Minuten und mit einer Tasse Tee und einer Scheibe Toast schon ausrichten wollen. Sie war eben nicht wie ihre Freundin Amy Hallam, die die Menschen sofort durchschaute. Starr blickte Kay auf das Mehlhäufchen und versuchte, sich zu erinnern, was sie hier eigentlich tat. Richtig! Sie wollte einen Kuchen backen. „Er hat mir doch deutlich zu verstehen gegeben, dass mich nicht in seinem Garten haben will, stimmt's?" stellte sie laut fest. Mog, die auf einem Kissen döste, beachtete gar nicht, aber es war immer noch besser, mit der Katze zu sprechen, als Selbstgespräche zu führen. „Er hat mir zwar nicht direkt gesagt, dass ich mich zum Teufel scheren soll, aber das brauchte er auch nicht. Seine Taten sprechen für sich. Ich habe noch nie einen so unhöflichen Mann getroffen!" Die Katze öffnete ein Auge, seufzte dann leise und nickte wieder ein. „Du hättest dabei sein müssen, Mog, dann würdest du mich verstehen." Worüber beschwerte sie sich eigentlich? Er hatte doch nur ihren Tee in die Spüle geschüttet. Das war zwar unverschämt, aber er hatte sie nicht gebeten, ihm etwas zu trinken zu bringen. Und er wollte auch ihr Mitleid nicht. Sie hatte sich ihm aufgedrängt, und er hatte sie in Rekordzeit abgewiesen. Eigentlich hätte sie erleichtert sein sollen. Einen Moment lang hatte sie tatsächlich gedacht, sie könnte ihm helfen, doch er brauchte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Sie hatte ihre Grenzen überschritten und konnte froh sein, dass er es ihr so einfach gemacht hatte. »Ich habe sowieso Besseres zu tun", sagte sie laut und holte Butter und Schmalz aus dem Kühlschrank. Dann schnitt sie beides energisch in Stücke. „Ich bin eine allein erziehende Mutter und muss mich um meine Tochter und um meine Katze kümmern. Es gibt keinen Grund, alles noch komplizierter zu machen." was so nicht 27
stimmte, denn Polly war keine Belastung für sie sondern das Licht ihres Lebens. Aber es war schwierig genug, ein Kind großzuziehen, selbst wenn es in einer intakten Familie mit Vater und Mutter aufwuchs. Allein war es… Sie hielt inne und blickte starr auf ihr Werk. Was war nur los mit ihr? Ein Kuss, und schon fühlte sie sich einsam? Dazu hatte sie doch gar keine Zeit! „Ich bin nicht verheiratet, habe ein Kind und bin selbstständig. Nur leider wirft mein Geschäft so gut wie nichts ab", sagte sie zu Mog. Die Katze gähnte nur. „Außerdem arbeite ich noch halbtags im Dorfladen. Damit habe ich doch wirklich ausreichend zu tun, oder? Ich brauche keinen Patrick Ravenscar! Mein Leben ist auch schon so aufregend genug." Sie hob das Messer und zerteilte die restliche Butter. „Was seinen Garten angeht …" Mog schien zu spüren, dass Kay sie nicht in Ruhe schlafen lassen wollte. Sie sprang vom Kissen und schlich mit erhobenem Schwanz hinaus. „Danke schön! Du hättest mir wenigstens zuhören können, du undankbares Tier! Immerhin bekommst du von mir nur das beste Futter. Ab sofort gibt es für dich keine zusätzlichen Leckerbissen mehr!" Mog interessierte sich überhaupt nicht dafür, sondern ging hoheitsvoll den Gartenpfad entlang und blieb dann bei der auf beiden Seiten des Weges gepflanzten Katzenminze stehen. „Warte nur ab, ich reiße heute Nachmittag alles raus! rief Kay durch das offene Fenster. „Ich werde die Minze durch etwas Nützliches ersetzen, verlass dich darauf!" Die Katze ließ diese leere Drohung völlig kalt. „Zwiebeln oder Knoblauch, das kannst du dir aussuchen", sagte ihr Frauchen drohend. „Das wird dir noch Leid tun!" Genauso, wie es ihr Leid tun würde, wenn sie ihren eigenen Garten vernachlässigte, um Patrick Ravenscar zu helfen. Man konnte eben keinen Preis für die beste Erdbeermarmelade gewinnen, wenn man nicht viel Zeit in den Beeten verbrachte! Gut, sie hätte natürlich gern im Garten von Linden Lodge so richtig 28
aufgeräumt, doch sie hatte nun wirklich keine Lust, Kummertante bei Patrick Ravenscar zu spielen - worauf er ja auch offensichtlich keinen Wert legte! Und sie wusste selbst, wie aufreibend und aufwendig das war. Amy hatte Stunden damit verbracht, nein, Tage und Wochen, um ihr, Kay, zur Seite zu stehen. Auch jetzt noch brauchte sie nur zum Telefon zu greifen… Aber wozu das? Pollys Patentante kam sowieso fast jeden Tag vorbei - und fand dafür immer eine Ausrede. Es schien Kay beinahe, als wollte Amy sie nicht aus den Augen lassen. Nein, dachte sie energisch, das ist undankbar von mir. Amy wollte ihnen nur helfen. Sie, Kay, hatte auch sehr viele Schwierigkeiten zu bewältigen. Sie war allein erziehend und wohnte in einem kleinen Dorf, in dem Klatsch an der Tagesordnung war. Mit harter Arbeit hatte sie sich den Respekt der Bewohner verdient, und sie hatte nicht vor, plötzlich alles zu verlieren, was ihr lieb und teuer war. Schon gar nicht für einen verzweifelten, einsamen Witwer! Wenn sie ihn regelmäßig besuchte, wäre das sofort Tagesthema in der Schlange vor dem Postschalter - egal, wie edel ihre Motive auch sein mochten! Damit war das Thema Patrick Ravenscar für sie erledigt. Sie holte das Sieb aus dem Küchenschrank und bemerkte erst dann, dass sie die Rührschüssel vergessen hatte. Verdammt! Was war heute bloß mit ihr los? Normalerweise hatte sie alles unter Kontrolle und war sehr gut organisiert. Wie hatte ein einziger Kuss sie nur so aus der Fassung bringen können? Sie atmete tief durch. „Vergiss ihn", sagte sie diesmal laut zu sich, denn ihre Katze hörte auf diese Entfernung nur das Geräusch eines Dosenöffners. Patrick Ravenscar zu vergessen war wirklich das Beste, was sie tun konnte. Es gab nur sie und Polly, ein Mann hatte in ihrem Leben keinen Platz mehr. Das war allerdings leichter gesagt als getan, und es gelang ihr gerade noch rechtzeitig, die Rührschüssel aufzufangen, als diese ihr aus den bebenden Fingern glitt. Patrick hätte am liebsten seine Wut hinausgeschrien, doch was hät29
te das schon genutzt, verdammt noch mal? Es hätte ihn sowieso niemand gehört. Stattdessen warf er das Zu-verkaufen-Schild auf den Boden und ging zurück zu den Brombeersträuchern. Die Spalierobstbäume schienen förmlich aufgeblüht zu sein. Was für ein Unsinn! dachte er aufgebracht. Diese Frau ging ihm gewaltig auf die Nerven. Sie konnte einfach nicht hören! Warum ließ sie ihn und seinen Garten nicht endlich in Ruhe? Die Schubkarre und die "Geräte waren verschwunden. Gut, dann würde sie ja auch nicht mehr zurückkommen. Doch was war das? Neugierig bückte er sich und hob das Taschenmesser auf, das im Gras gelegen hatte. War das wieder einer ihrer Tricks? Jetzt hatte sie natürlich einen Grund, noch einmal an seiner Tür zu klingeln. Aber würde sie das tun? Wahrscheinlich nicht. Immerhin war er sehr unfreundlich zu ihr gewesen. Nein, das war noch untertrieben. Er hatte sich unmöglich benommen, aber das war in den letzten Jahren beinahe zu einer Gewohnheit geworden. Damit schreckte er die Leute ab, die ihm zu nahe kamen und ihm gefährlich werden konnten. Normalerweise hätte er sich bei Kay Lovell entschuldigen müssen, denn er hatte ihr mehr oder minder offen vorgeworfen, seine kostbaren Pflanzen gestohlen zu haben. Dabei hatte sie nur das von Sara so liebevoll gepflegte Spalierobst gerettet. Doch das war nicht einmal das Schlimmste gewesen! Er hatte diese Frau leidenschaftlich geküsst und konnte froh sein, wenn sie ihn nicht wegen sexueller Nötigung anzeigte. Es würde ihn bestimmt nicht retten, dass sie widerrechtlich seinen Garten betreten hatte. Glückwunsch, dachte er entnervt, ich habe mich wirklich zum Narren gemacht! Trotzdem hatte sie nicht entsetzt reagiert und schien auch nicht aufgebracht oder verwirrt gewesen zu sein. Nein, sie hatte sich um ihn gesorgt, ihm einen Tee gekocht und ihm sogar ein Glas hausgemachte Marmelade angeboten. Sie war genau die perfekte, mitfühlende Nachbarin, die man in diesem verschlafenen englischen Dorf erwarten konnte. 30
Gut, sie hatte die Brombeeren gepflückt, ohne ihn zu fragen, doch sie ließ es sich nicht nehmen, ihn dafür durch Gartenarbeit zu entschädigen - und er musste zugeben, dass die Sträucher und Obstbäume jetzt viel besser aussahen. Eigentlich hätte Kay Lovell sechzig und nicht fünfundzwanzig Jahre alt sein müssen, das hätte besser ins Bild gepasst. Wenn sie allerdings älter gewesen wäre, hätte er sie bestimmt nicht geküsst! Und sie hätte seine Liebkosung sicher auch nicht so leidenschaftlich erwidert. Das war ganz und gar unnachbarschaftlich gewesen! Genau wie der Gedanke, sie sofort in dem noch nassen Gras zu lieben! Dennoch glaubte er zu wissen, dass sie bestimmt sehr gern mit ihm eins geworden wäre. Und sein Körper reagierte sofort bei dieser atemberaubenden Vorstellung. Kay setzte die Schüssel vorsichtig auf dem Tisch ab, wusch sich dann die Hände und versuchte, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihr lag. Sie war doch kein Teenager mehr, und ein Kuss konnte sie nicht so leicht aus der Bahn werfen! Sorgfältig überprüfte sie noch einmal das abgewogene Mehl, richtete sich dann auf und versuchte, sich zu entspannen. Wenn es ihr an der nötigen Ruhe fehlte, würde der Kuchen ungenießbar werden. Verdammt! Sie hatte schon den Zucker vergessen! Als sie nach der Dose griff, riss sie mit dem Arm die Waage vom Tisch. Das Mehl wurde hochgeschleudert und fiel als weiße, alles bestäubende Wolke auf Kay nieder. „Oh, verdammt!" rief sie und versuchte hilflos, mit den Händen das Schlimmste abzuwehren. Doch vergeblich. Hustend lief sie in den Garten hinaus. Ihre Augen tränten, und sie wischte sich das Gesicht mit der Schürze ab. Dann blinzelte sie und wollte nicht glauben, wen sie da vor sich sah. Patrick Ravenscar stand an ihrer Pforte. Sein Anblick trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, ihr Puls raste - und das, obwohl ihr Nachbar inzwischen kein Handtuch mehr, sondern ausgeblichene Jeans und ein Polohemd trug. Kay wusste genau, wie gefährlich dieser Mann ihr sein konnte. 31
Weswegen sonst bebte sie am ganzen Körper? Einen Moment lang schwiegen sie und sahen sich nur an. „Ich wollte …" begann er. „Ich hatte einen kleinen …", unterbrach sie ihn, atmete tief durch und beendete den Satz, „… Unfall mit dem Mehl." „Darauf wäre ich nie gekommen." Sieh an, dachte sie erstaunt. Er war nicht nur unhöflich, sondern konnte auch sarkastisch sein! Großartig! „Was kann ich für Sie tun, Mr. Ravenscar? Möchten Sie mich nur besuchen, oder kommen Sie wegen meiner viel gerühmten Erdbeermarmelade?" fragte sie schließlich schroffer als beabsichtigt. „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen", erwiderte er. Kay war aber nicht bereit, es ihm so einfach zu machen. Immerhin hatte er sich unmöglich benommen und sie vor den Kopf gestoßen. Also schwieg sie und wartete, was er sonst noch zu sagen hatte. „Außerdem haben Sie etwas verloren." Er zog ein Taschenmesser hervor und hielt es hoch, damit sie es sehen konnte. „Es gehört doch Ihnen, oder?" Sie spürte, wie sie errötete. Vielleicht irrte sie sich ja, und es ähnelte nur ihrem? Schnell überprüfte sie die Tasche ihrer Cargohose, doch sie war leer. Verdammt! Auch das noch! Jetzt dachte er bestimmt, dass sie nur eine Ausrede gesucht hätte, um ihn wieder sehen zu können. Wahrscheinlich waren ihm auch schon unzählige Gründe dafür eingefallen. Eine allein erziehende Mutter auf der verzweifelten Jagd nach einem Mann. Oder eine nervige Nachbarin, die ihre Nase unaufgefordert in die Angelegenheiten anderer Leute steckte. Eine arbeitslose Gärtnerin, die händeringend einen Job suchte und alles dafür tun würde. „Darf ich?" fragte er höflich und zeigte auf die Pforte. Kay zuckte zusammen und war froh, dass er sie von ihren furchtbaren Gedanken ablenkte. „Natürlich", antwortete sie leise. Er öffnete das Tor, ging den Pfad entlang und blieb direkt vor Kay 32
stehen. „Es tut mir Leid", sagte er. „Was denn?" „Mein Verhalten heute Morgen. Ich weiß, dass Sie meine Pflanzen nicht stehlen wollten." Tatsächlich? Kay betrachtete ihn forschend. „Ich kann Ihr Misstrauen verstehen", antwortete sie dann. „Es gibt sicher nicht viele Leute, die beim Nachbarn freiwillig Unkraut jäten." Er blickte sie einen Moment lang schweigend an. „Ja, da haben Sie wohl Recht", erwiderte er schließlich. Der Mann hatte wirklich keinen Humor! Er hätte ja wenigstens lächeln können! Immerhin hatte sie ihm gerade großzügigerweise verziehen. „Ich möchte mich auch dafür entschuldigen, dass ich den Tee ausgegossen habe. Das war …" Anscheinend fehlten ihm die richtigen Worte, und Kay kam ihm nur zu gern zu Hilfe. „Mehr als dumm?" Seine Miene verfinsterte sich. „Kindisch vielleicht?" fügte Kay schnell hinzu. „Undankbar", erwiderte er und zuckte die Schultern. „Ich muss leider gestehen, dass ich den Toast auch weggeworfen habe." „Jetzt bin ich echt schockiert!" Sie schüttelte gespielt ernst den Kopf. Und plötzlich fiel ihr etwas ein. Was, wenn er eine Ausrede gesucht hatte, um sie, Kay, wieder zu sehen? Das ist doch reiner Unsinn, dachte sie, ich mache mich zur Närrin. Patrick Ravenscar wollte nur in Ruhe gelassen werden. „Ich dachte, Sie haben für eine Hilfsorganisation gearbeitet", sagte sie schließlich. „Dann wissen Sie sicher auch, dass es viele hungernde Menschen auf dieser Welt gibt." Sie betrachtete ihn forschend, doch sein Blick war ausdruckslos. Mr. Ravenscar schien nicht zu bemerken, dass sie ihn auf den Arm nahm. „Also gut", fuhr sie dann fort, „ich verzeihe Ihnen, aber nur dieses eine Mal. Sie sind gewissermaßen ja auch im Recht, denn Sie haben mich nicht gebeten, Tee für Sie zu kochen oder Ihnen etwas zu essen zu machen. Was soll's, gute Taten werden eben nicht immer geschätzt." Er schüttelte den Kopf. „Und wenn ich nun für ,Brot für die Welt' 33
spende? Würde das alles wieder gutmachen?" Ihr wurde sofort bewusst, dass er sich über sie lustig machte. „Gute Idee", fuhr sie schnell fort, „am besten wenden Sie sich an den Pfarrer. Er wird sich sehr freuen." „Kein Problem. Betrachten Sie es als erledigt." Plötzlich war er wieder ganz ernst. „Das ist aber noch nicht alles. Ich wollte mich …" „Lassen Sie's", unterbrach sie ihn. Er wollte sich für den Kuss entschuldigen, doch darauf konnte sie verzichten. Sie hatte auch ihren Stolz. „Das Ganze ist vergessen und vergeben." Sie nahm das Taschenmesser und verstaute es wieder. „Danke, dass Sie es zurückgebracht haben." „Was hätten Sie getan, um es zu holen? Hätten Sie sich wieder in meinen Garten geschlichen?" „Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie, Mr. Ravenscar! Der Riegel hält, das kann ich Ihnen versichern." „Sie hätten auch über die Mauer klettern können. Wenn ich nicht zu Hause gewesen wäre, zum Beispiel …" Dieser Mann war wirklich unmöglich! „Und hätten dabei, wie ich Sie kenne, bestimmt noch mehr Spalierobst vor dem sicheren Tod gerettet", fuhr er fort. Beinahe hätte Kay gelächelt. „Sie haben mich durchschaut. Ich widerstehe einer Versuchung nur höchst ungern." Sie wandte sich ab und ging in die Küche zurück. Mal sehen, ob er mir folgt, dachte sie. Als sie sich wenig später umdrehte, stand er an der Tür und blickte Kay nachdenklich an. „Was den Garten angeht …" sagte er leise. „Ja?" fragte sie, und ihr Herz klopfte schneller. Das hatte allerdings nicht unbedingt etwas mit dem Job zu tun, den er ihr vielleicht anbieten wollte. „Sie haben Recht, er ist wirklich in einem traurigen Zustand", fuhr Patrick fort. „Ich möchte, dass er wieder so hergerichtet wird, wie er früher einmal war." Er blickte aus dem Fenster und betrachtete lange Kays liebevoll gepflegten Garten. „Sie scheinen wirklich ein grünes Händchen zu haben", sagte er schließlich. Kay setzte den Wasserkessel auf und versuchte, sich ihr Interesse 34
nicht anmerken zu lassen. Endlich wieder einen gut bezahlten Job zu haben wäre so wunderbar! Aber war es wirklich klug, für diesen Mann zu arbeiten? Für ihre kleine Firma wäre es natürlich eine hervorragende Werbung. Bis jetzt liefen die Geschäfte nämlich nicht gerade gut. Kay hatte sich große Hoffnungen gemacht und war sicher gewesen, von den Gewinnen einen vernünftigen Lieferwagen erstehen und eine Hilfskraft einstellen zu können, doch dazu hatte das Geld bis jetzt nicht gereicht. Die Aufträge waren ausgeblieben, und deshalb hatte Kay auch die Halbtagsstelle im Dorfladen annehmen müssen. Außerdem konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als den vernachlässigten Garten hinter der hohen Mauer in Ordnung zu bringen und zu neuem Leben zu erwecken. Doch dabei ging es nicht nur um sie, sondern auch um Patrick Ravenscar. Er schien immer noch nicht über seinen Verlust hinweggekommen zu sein, und er würde auch nie loslassen können, solange er sie, Kay, in Saras Garten arbeiten sah. Wahrscheinlich hatte er sie nur eingestellt, weil sie seiner verstorbenen Frau äußerlich so ähnlich war. Dann konnte er weiter in seiner Fantasiewelt leben und sich vorstellen, Sara wäre irgendwie doch noch in seiner Nähe. Kay war eher eine Hobbypsychologin, doch selbst sie konnte erkennen, dass es Patrick Ravenscar nicht gut tun würde, wenn sie sich um seinen Garten kümmerte. „Um ehrlich zu sein", sagte sie schließlich, „ich suche tatsächlich Arbeit, wenn auch nur für einige Stunden am Tag. Ich an Ihrer Stelle würde sowieso nicht mehr viel Energie in den Garten stecken. In seinem jetzigen verwilderten Zustand schreckt er zwar potenzielle Käufer eher ab, aber das kann man schnell ändern. Ich habe so etwas schon öfter gemacht. Die Makler wenden sich immer gern an mich, weil ich zivile Stundensätze habe und zuverlässig bin." Wahrscheinlich dachte er jetzt, dass sie ihre Fähigkeiten völlig überschätzte, aber das war ihr egal. „Eine vollständige Wiederherstellung des Gartens ist etwas ganz anderes. Es handelt sich dabei um ein größeres Projekt, und dafür sollten Sie einen Landschaftsgärtner aus der Stadt beauftragen, und zwar eine große Firma mit vielen Ange35
stellten. Man wird Ihnen dort ein Festangebot machen, damit Sie schon im Voraus wissen, was finanziell auf Sie zukommt." Kay atmete tief durch, denn es würde ihr sehr Leid tun, den Auftrag zu verlieren, aber es war nur fair, dass sie Patrick Ravenscar alle Möglichkeiten aufzeigte. „Es wäre für Sie die beste Lösung, denn ich würde sehr lange dafür brauchen." „Was ja nicht so schlimm wäre, da Sie, wie Sie ja selbst sagen, zivile Stundensätze haben." Warum hatte sie das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen? „Ich fange gerade erst an", erwiderte sie. „Sobald ich mir einen Namen gemacht habe, kann ich auch mehr verlangen." Das war nur die halbe Wahrheit. Nachdem Kay nämlich ihren Stundensatz kalkuliert hatte inklusive der laufenden Geschäftskosten und des Gehalts für eine Aushilfe für die schweren Arbeiten -, war sie ziemlich geschockt gewesen. Das konnte sie nie von einem Kunden verlangen! „Wenn die Leute erst einmal wissen, wie wenig Sie verlangen, wird man Ihnen keinen vernünftigen Preis mehr zahlen", sagte Patrick und schüttelte den Kopf. „So etwas spricht sich schnell herum, und Sie werden dann immer für den Mindestlohn arbeiten müssen. Und Ihre ,netten' Makler berechnen ihren Klienten dann das Doppelte. Man wird Sie erst dann ernst nehmen, wenn Sie sich vernünftig verkaufen können." „Warum erzählen Sie mir das?" wollte Kay wissen. „Weil Geld für mich keine Rolle spielt - und Zeit übrigens auch nicht. Ich benötige jemanden, der sich gründlich um den Garten kümmert." „Und ich bin die Richtige dafür?" fragte sie ungläubig. „Woher wollen Sie das wissen?" Patrick schwieg, aber Kay konnte sich die Antwort schon denken. Nächstes Mal würde sie es sich zwei Mal überlegen, bevor sie Spalierobst vor dem Erstickungstod rettete! „Sie werden das Haus aber sowieso verkaufen, Mr. Ravenscar." Ihre Stimme klang ganz ruhig, aber in Wirklichkeit war Kay aufs Äußerste alarmiert. Er hatte gute Gründe für sein Angebot, und sie wusste nicht, ob sie es annehmen sollte oder nicht. Patrick Ravenscar 36
jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein. Warum eigentlich? dachte sie. Hatte sie Angst vor dem Job, vor der Verantwortung oder vor dem Mann? „Befürchten Sie, dass ich Ihnen wieder zu nahe treten könnte?" fragte er leise. „Ich versichere Ihnen, so etwas wird sich nicht wiederholen." „Nein, das ist es nicht!" Sie glaubte ihm sogar, denn er hatte Sara geküsst und nicht sie. Und genau deswegen war er mit einem männlichen Gärtner besser dran, denn dieser brach ihm nicht jedes Mal das Herz, wenn er ihn in Saras Garten arbeiten sah! „Ich habe schon vergessen, was heute Morgen geschehen ist, Mr. Ravenscar", antwortete sie und kreuzte die Finger hinter dem Rücken. Das war natürlich glattweg gelogen! Sie würde sich ihr Leben lang an diesen magischen Kuss erinnern. „Es ist nur so …", sie zögerte einen Moment, „… ich habe auch noch einen Teilzeitjob im Dorfladen, und die Arbeit in Ihrem Garten ist sehr zeitaufwendig. Und dann habe ich natürlich auch noch andere Kunden, die ich nicht im Stich lassen kann." „Ich verstehe", sagte er, und seine Miene verfinsterte sich. „Sie wollen mir also nicht helfen." „Das stimmt so nicht. Ich bin vielleicht nur nicht die Richtige für den Auftrag." „So wird das nie etwas mit Ihrer Selbstständigkeit", sagte er kühl. „Ich bin nur ehrlich. Sie sollten noch einmal darüber nachdenken." „Das habe ich schon. Sara hat so viel Zeit in diesem Garten verbracht. Sie hat ihn angelegt, Blumen gepflanzt und war begeistert von …" Er schwieg, und es kam Kay vor, als wäre er plötzlich ganz woanders. Doch dann bemerkte er, dass sie ihn anblickte, und riss sich zusammen. „Ich möchte nur einfach nicht, dass der Garten völlig zerstört wird. Wenn er wieder so aussieht wie früher, werden die neuen Besitzer ihn sicher so lassen. Dieses wunderbare Fleckchen Erde darf nicht eingeebnet und zubetoniert werden." Er hatte ihr also doch zugehört! Das hatte sie nun von ihren kleinen psychologischen Tricks! Freud hätte sich im Grab umgedreht! Patrick Ravenscar war nicht bereit loszulassen - ganz im Gegenteil. Er 37
wollte seiner Frau mit dem Garten ein Denkmal setzen. Das konnte doch nicht gut sein, oder? Aber eigentlich ging es sie, Kay, ja nichts an.
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4. KAPITEL „Mit Kletten, Schierling, Nesseln, Kuckucksblumen, Darnel und all dem anderen nutzlosen Unkraut…" William Shakespeare „Ich möchte nicht, dass jemand den Garten in diesem Zustand sieht", sagte Patrick Ravenscar energisch, so als hätte er Kays Gedanken gelesen. „Wie stellen Sie sich das vor?" fragte sie erstaunt. „Sie können dem potenziellen Käufer ja wohl kaum verbieten, aus dem Fenster zu blicken." „Ich werde morgen den Makler anrufen und das Angebot für das Haus vom Anzeigenmarkt nehmen, bis der Garten in gepflegtem Zustand ist. Wie lange das dauert, hängt ganz von Ihnen ab." „Oh nein! So war es nicht abgemacht!" „Wie viele Stunden in der Woche können Sie für mich arbeiten?" fragte er, ohne auf ihren Protest zu achten. Ein Nein wird er bestimmt nicht akzeptieren, dachte sie, wollte aber nichts unversucht lassen. Er sollte sich nachher nicht beschweren können. Was er verlangte, war beinahe unmöglich. „Maximal zehn Stunden. Morgens habe ich zu tun und kann Ihnen daher nur den Nachmittag anbieten. Zwei Stunden, und das fünf Mal in der Woche." „Nur zwei Stunden? Länger arbeiten Sie am Nachmittag nicht? Sie lieben es wohl eher ruhig, wie?" „Sie wollen mich doch engagieren! Glauben Sie etwa, ich sage Ja, wenn Sie besonders unhöflich zu mir sind?" Allmählich hatte Kay genug von seiner Unfreundlichkeit. Auch bei ihr gab es Grenzen, und die hatte Patrick Ravenscar so langsam überschritten. „Nur zu Ihrer Information: Ich gehe um halb vier nach Hause, weil meine Tochter Polly dann aus der Schule kommt." Das war einer der Gründe gewesen, warum sie sich selbstständig gemacht hatte. Sie wollte für ihre Tochter da sein. „Das ist übrigens nicht verhandelbar." In diesem Moment begann der Kessel auf dem Herd zu pfeifen, und
Kay nahm ihn vom Feuer. Sie atmete tief durch und versuchte, ruhig zu bleiben. Warum, zum Teufel, raste ihr Puls immer noch? Es war Zeit, das Ganze jetzt zu beenden. „Mehr kann ich Ihnen nicht anbieten, Mr. Ravenscar", sagte sie und wandte sich wieder um. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir diese interessante Arbeit angeboten haben. Aber Sie benötigen eine Ganztagskraft, wenn Sie Ihren Garten in absehbarer Zeit in einem vorzeigbaren Zustand haben wollen." „Ich weiß selbst am besten, was ich brauche, Miss Lovell", antwortete er, „und das sind Sie. Wenn Sie mir also nur zwei Stunden am Nachmittag widmen können, bin ich damit zufrieden. Fangen Sie erst einmal an, und dann unterhalten wir uns weiter. Ich werde Ihnen selbstverständlich den am Markt üblichen Stundensatz bezahlen. Wollen wir unsere Abmachung mit einem Händedruck besiegeln?" Es schien fast so, als wollte er Kay herausfordern. Ahnte er vielleicht, dass sie Angst vor ihm hatte? Unwillkürlich reichte sie ihm die Hand, doch diese war immer noch mit Mehl bedeckt. „Sie sollten Ihr Angebot noch einmal überschlafen", sagte Kay und wischte sich die Finger an ihrer Schürze ab. Vielleicht musste sie Patrick Ravenscar ja gar nicht berühren, denn dieser Mann machte sie mehr als nervös. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie den Job überhaupt annehmen sollte. Auch sie brauchte Zeit, um darüber nachzudenken. Vielleicht fiel ihr dann noch ein guter Grund ein, ihm abzusagen. „In der Zwischenzeit kann ich in meinem Terminplan nachsehen, welche Kunden ich für die nächsten Monate eingetragen habe." „Das können ja nicht sehr viele sein, wenn Sie als Halbtagskraft im Dorfladen beschäftigt sind", stellte er kühl fest. „Warum sind Sie bloß so unhöflich?" fragte sie aufgebracht. „Sie können wohl nicht anders, oder? Auch wenn es für Sie unvorstellbar ist: Es macht mir einfach Spaß, dort zu arbeiten." „Tatsächlich? Brechen Sie in Ihrer Freizeit auch in das Geschäft ein und füllen die Regale auf, ohne dafür bezahlt zu werden?" „Ich bin nicht bei Ihnen eingebrochen", erwiderte sie empört. „Das Tor war nicht verschlossen. Außerdem war der Riegel verrostet. Ich 40
habe ihn repariert und Ihnen damit sogar noch einen Gefallen getan!" „Schön. Sie können die Reparaturkosten auf Ihre erste Rechnung setzen." Kay war nicht bereit, sich von ihm noch länger provozieren zu lassen. Sie hatte ihm deutlich genug zu verstehen gegeben, dass sie nicht die Richtige für diesen Job war. Wenn er nicht auf sie hören wollte, war das sein Problem. Sie ging zur Küchenschublade, zog ein Blatt heraus, das sie mit ihrem alten Computer ausgedruckt hatte, und reichte es Patrick Ravenscar. „In der Zwischenzeit können Sie sich ja schon mit meinen allgemeinen Geschäftsbedingungen vertraut machen. Ich weise Sie noch einmal darauf hin, dass die Arbeiten sehr lange dauern werden. Es wird also eine stattliche Summe zusammenkommen, selbst wenn ich meinen geringsten Stundensatz zu Grunde lege." „Was unterstellen Sie mir da, Miss Lovell? Glauben Sie etwa, ich könnte Sie mir nicht leisten?" Er nahm den Zettel und steckte ihn ein. „Ich möchte nur nicht, dass Sie sich voreilig entscheiden, Mr. Ravenscar. Morgen habe ich bis dreizehn Uhr im Dorfladen zu tun und werde auf dem Rückweg bei Ihnen vorbeischauen. Dann können Sie mir sagen, ob Ihr Angebot noch besteht. Sie sind doch zu Hause, oder?" „Zu Hause?" fragte er und runzelte die Stirn. „Ach so … Es ist auch egal, ich werde das Tor offen lassen. Bringen Sie Ihre Utensilien mit, und fangen Sie gleich mit der Arbeit an." Er nickte ihr zu und ging hinaus, ohne auf ihre Antwort zu warten. Kay war noch nicht einmal dazu gekommen, ihn zu fragen, ob er einen Kaffee mit ihr trinken wollte. Und das war vielleicht auch gut so! Er hatte ihr ja deutlich zu verstehen gegeben, was er von ihren häuslichen Qualitäten hielt. Wenn sie für ihn arbeitete, mussten die Grenzen gut abgesteckt sein, sonst gab es ein einziges Durcheinander. Mr. Patrick Ravenscar und Miss Kay Lovell. Genau so! Ihr Nachbar schien zwar vergessen zu haben, wie schön das Leben sein konnte, doch Befehle erteilte er wie kein Zweiter! „Fangen Sie gleich mit der Arbeit an!" Natürlich, Sir! Ich verzichte gern auf mein 41
Mittagessen, Sir! So viel zum Thema Mitleid und ihrem Versuch, Amy Hallams Freundlichkeit an andere weiterzugeben! Sie hatte für Patrick Ravenscar da sein wollen … Was für ein Vorsatz! Sie reinigte die Arbeitsplatte, den Tisch und den Boden und kümmerte sich dann wieder um ihren Kuchen. Wenig später schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich nach draußen in den Garten. Ich werde den Auftrag nicht annehmen, dachte sie, als sie einen Schluck trank, mein Leben ist schon kompliziert genug. Und ganz so schlecht ging es ihr ja auch nicht. Gut, sie hätte sich mehr Kunden gewünscht, aber so etwas brauchte eben seine Zeit. Sie kümmerte sich schon um Mike und Willow Armstrongs Garten, wenngleich dort nicht sehr viel zu tun war. Sie musste nur gelegentlich Unkraut jäten und der Jahreszeit entsprechende Blumen pflanzen. Wahrscheinlich hatte Mr. Armstrong sie nur aus Mitleid beauftragt. Aber sie durfte nicht wählerisch sein, Hauptsache, sie hatte Arbeit. Auch die Hilliards, die im alten Pfarrhaus wohnten, beschäftigten Kay für einige Stunden in der Woche, und sie mähte für einige der alten Leute im Dorf regelmäßig den Rasen. Natürlich konnten diese sie nicht bezahlen, aber die Frauen strickten dafür immer etwas für Polly. Sie hatte schon mehr Wollmützen, als sie jemals in ihrem Leben tragen konnte. Vielleicht ließen sich ja die Kleidungsstücke in Maybridge auf dem Markt verkaufen… Nein! Das brachte doch alles nichts. Ich muss mich der Wahrheit stellen, dachte Kay verzagt. Zwei Stunden nachmittags, und das fünf Mal in der Woche! Dieser Job wäre ein wahrer Segen für ihre Finanzen. Mit dem Geld konnte sie Polly die Geburtstagsfeier im Dorfgemeinschaftshaus ausrichten und ihr auch das Fahrrad kaufen, das sie sich so sehnlichst wünschte. Was war schon dabei? Was störte sie eigentlich an Patrick Ravenscar? Erinnerte er sie vielleicht an all die Dinge, die sie so sehr vermisste und die eine junge Frau normalerweise als selbstverständlich ansah: Romantik, Liebe, Sex… Nein! Sie war schon lange erwachsen und konnte sehr gut darauf 42
verzichten. Natürlich wäre es einfacher gewesen, wenn ihr Nachbar sie nicht so leidenschaftlich geküsst hätte. Doch sie würde darüber hinwegkommen und Patrick Ravenscar vergessen … wie er, nur mit einem Handtuch bekleidet, dagestanden hatte … seine muskulöse, sonnengebräunte Brust … Das reichte! Sie wollte schon lange den Komposthaufen umgraben, und jetzt war der Zeitpunkt gekommen. „Er hat dich geküsst? Patrick Ravenscar hat dich wirklich geküsst?" fragte Amy Hallam erstaunt. Sie hatte Polly zurückgebracht und sich nur zu gern von Kay zum Tee einladen lassen. Das hatte dieser Gelegenheit gegeben, ihre Freundin auf den neusten Stand zu bringen. „Nicht mich", sagte sie jetzt, „er hat mich für seine Frau Sara gehalten. Ich war ein Geist, eine Vision." „Und du sollst sogar für ihn arbeiten? Du musst ja sehr überzeugend gewesen sein." Kay hatte den Eindruck, als wäre Amy nicht sehr glücklich darüber. „Wahrscheinlich war er nur erleichtert, dass ich ihn nicht mit der Forke aufgespießt habe!" erwiderte sie und hoffte, ihrer Freundin ein Lächeln entlocken zu können. Doch leider gelang ihr das nicht. „Vielleicht", sagte Amy kühl. „Warum hast du es denn nicht getan?" „Gute Frage. Das schien mir dann doch etwas zu gewalttätig. Außerdem war der Augenblick ja schnell vorbei." Das stimmte schon, aber es war einer dieser Augenblicke gewesen, die man sein Leben lang nicht mehr vergaß. „Ich kann mir schon vorstellen, warum er dir diesen Job angeboten hat", meinte Amy. Kay wünschte, sie hätte ihrer Freundin nichts erzählt, aber jetzt war es zu spät. Sie hatte so gehofft, dass Amy sie verstehen würde. „Was meinst du damit?" fragte sie unsicher. „Das liegt doch auf der Hand, Kay", erwiderte Amy seufzend. „Du willst den Job doch nicht etwa annehmen, oder?" Nein, das wollte sie nicht … oder vielleicht doch? Den ganzen Nachmittag hatte sie das Für und Wider abgewogen. Es hatte unzäh43
lige Argumente für Pro gegeben, doch Kay hatte sich schließlich für die Contra-Seite entschieden, und zwar aus dem gleichen Grund, den Amy jetzt auch anführen wollte. Trotzdem ärgerte Kay sich über ihre Freundin. In letzter Zeit hatte diese begonnen, sie massiv zu bevormunden. Sie war beinahe jeden Tag erschienen und hatte ihr unzählige ungebetene Ratschläge gegeben. Tu das, mach dies, denk an Polly … ganz besonders an Polly… Das war natürlich gut gemeint, aber allmählich wurde es lästig. „Er wird ein Nein nicht akzeptieren", sagte Kay. „Ich habe ihm versprochen, darüber nachzudenken, und ihn gebeten, das Gleiche zu tun." „Unsinn! Du lehnst natürlich ab", erwiderte Amy aufgebracht. Kay biss sich auf die Lippe. Sie wollte nicht unhöflich sein, denn sie hatte ihrer Freundin viel zu verdanken. „Das muss ich mir wirklich noch überlegen." „Was' soll das, Kay? Er ist ein attraktiver Mann, aber er braucht professionelle Hilfe." „Das weiß ich." Beinahe hätte sie mehr verlauten lassen, doch sie beherrschte sich gerade noch rechtzeitig. „Wie bitte?" fragte Amy kurz angebunden. „Nichts. Vergiss es." „Was meinst du damit?" So schnell gab ihre Freundin nicht auf. „Erinnerst du dich noch daran, was du mir damals gesagt hast? Eines Tages könne ich mich für deine Hilfe revanchieren. Ich würde jemanden treffen, der mich brauche." „Und das soll ausgerechnet Patrick Ravenscar sein?" „Ja." Amy betrachtete sie lange und nachdenklich. Schließlich sagte sie: „Du meine Güte, das muss ja ein Kuss gewesen sein!" Kay errötete. Ihre Freundin hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Den ganzen Tag hatte Kay genau darüber nachgedacht. Patrick Ravenscar hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie schon lange begraben hatte. Warum, zum Teufel, auch nicht? Das ging doch niemanden etwas an. Sie war eine gute Mutter, eine hilfsbereite Freundin und ein wertvolles Mitglied der Dorfgemeinschaft. Wieso sollte sie ihr Leben 44
lang für die Fehler büßen, die sie früher einmal begangen hatte? Das war einfach nicht fair! „Was soll das heißen, Amy?" wollte sie wütend wissen. „Soll ich meine Zeit nur noch damit verbringen, alten Leuten den Rasen zu mähen? Ist es das, was du für mich im Sinn hast?" Amy legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Es tut mir Leid, Kay, wenn ich dich verärgert habe. Du hast dich in den vergangenen Jahren sehr geändert und bist eine ganz neue Frau geworden. Das war eine großartige Leistung. Ich bin nur überrascht, dass du die Gefahr nicht siehst, die von diesem Mann ausgeht." „Was für eine Gefahr?" fragte Kay, doch ihr war nur zu bewusst, was ihre Freundin meinte. „Ich soll doch nur seinen Garten in Ordnung bringen." Amy schnitt ein Gesicht. „Das meinst du doch nicht ernst! Da steckt etwas ganz anderes dahinter, habe ich Recht?" „Was denn?" fragte Kay und bereute es sofort. Die ganze Situation geriet so langsam außer Kontrolle. Amy war ihre Freundin, ihr Mentor, aber jetzt hatten sie einen Streit, der ihre Beziehung für immer verändern konnte. „Es ist sechs Jahre her, Kay", sagte Amy leise. „Seitdem hast du keinen einzigen Mann angesehen. Du bist jung und vital, und plötzlich tritt ein attraktiver Mann in dein Leben und küsst dich leidenschaftlich. Da ist es doch nur natürlich, dass deine Hormone verrückt spielen. So ein Kuss würde sogar die vernünftigste Frau aus der Bahn werfen." „Und ich bin nicht vernünftig?" „Du bist im Moment etwas verwirrt…" „Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, Amy", unterbrach Kay ihre Freundin, „und ich kenne den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Ich habe immerhin …" Doch Amy ließ sie nicht ausreden. „Ich gebe dir einen guten Rat: Halte dich von diesem Mann fern. Er bringt dir nichts als Verdruss." Genau das war Kay auch klar. Ihr gesunder Menschenverstand warnte sie eindringlich davor, sich mit Patrick Ravenscar einzulassen, doch ihr Herz sprach eine andere Sprache. Sie wollte sich selbst 45
beweisen, dass sie nicht länger gefühlskalt war und Menschen in Not helfen konnte. Irgendjemand musste Patrick Ravenscar den Lebenswillen zurückgeben. „Er will mich wirklich nur als Gärtnerin beschäftigen", sagte sie schließlich energisch, „mehr steckt nicht dahinter." „Aber du glaubst, dass du ihn von seinem Schmerz heilen kannst." Niemand konnte Amy Hallam etwas vormachen! „Du hast das Gleiche für mich getan", erwiderte Kay leise. Amy beugte sich vor und küsste ihre Freundin auf die Wange. „Versuch dein Glück, Kay, und denk daran, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn es Schwierigkeiten gibt. Jetzt muss ich aber los." Polly schlief beinahe schon in der Badewanne ein, und Kay brauchte ihr noch nicht einmal eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Sie legte das kleine Mädchen ins Bett, deckte Polly fürsorglich zu und gab ihr einen Kuss. Doch sie ging noch nicht hinaus, sondern betrachtete ihre müde Tochter liebevoll. Sanft ließ sie die Finger über Pollys blondes Haar gleiten. Sie musste sich einfach vergewissern, dass ihr die Fantasie keinen Streich spielte und ihre Tochter wirklich bei ihr war. Was sie, Kay, getan hatte, war unverzeihlich gewesen. Sie war so dankbar dafür, dass man ihr eine zweite Chance gegeben hatte, und sie wusste genau, wem sie das zu verdanken hatte: Amy Hallam nämlich. Aber in diesem Moment fühlte sie sich zum ersten Mal selbst wie ein Kind, das keine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Sie fühlte sich bevormundet, und sie war nur zu höflich gewesen, um Amy gehörig die Meinung zu sagen. Kay ging zum Fenster und blickte hinaus in den verwilderten Garten von Linden Lodge. Vielleicht hatte Amy ja sogar Recht. Auf jeden Fall meinte sie es gut, aber Kay konnte es nicht länger ertragen. Sie wollte frei sein und nicht jedes Mal überlegen müssen, ob ihre Entscheidungen ihrer Freundin Amy Hallam auch gefielen. Es wurde Zeit, dass sie sich abnabelte und die Reise ins Unbekannte allein antrat. Immerhin konnte sie ja nicht ihr Leben lang auf die Großzügigkeit 46
der Hallams bauen. Sie wohnte schon in Amys altem Haus, nahm die Aufträge an, die ihre Freundin ihr vermittelte, und überließ ihr sogar ihre Tochter, wann immer Amy darum bat. Wann hatte das eigentlich angefangen? Wieso vertraute sie nicht mehr auf ihr eigenes Urteilsvermögen? Das ging jetzt schon viel zu lange so, deshalb war es notwendig, dass sie etwas daran änderte. Sie musste endlich lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Der Gedanke war zwar erschreckend, aber Kay war bereit, ein Risiko einzugehen. Plötzlich fielen ihr Amys Worte wieder ein: Das muss ja ein heißer Kuss gewesen sein. Ihre Freundin hatte damit wie immer tief ins Schwarze getroffen. Nur diesmal hatte Patrick Ravenscar eine Lawine losgetreten - und es war höchste Zeit dafür gewesen. „Woran denkst du gerade?" fragte Jake Hallam. Er lag im Bett und betrachtete seine Frau, die vor dem Spiegel saß und sich das Haar bürstete. „Wie bitte?" „Du bist so schweigsam, Darling. Was ist los?" „Patrick Ravenscar ist zurück", antwortete Amy und wandte sich ihrem Mann zu. „Er hat Kay gebeten, seinen Garten in Ordnung zu bringen." „Das ist doch eine gute Nachricht." „Das finde ich nicht, und wir haben uns deswegen beinahe gestritten." Jake kannte seine Frau gut genug und wusste, dass sie sich Sorgen machte. „Nur beinahe?" fragte er. „Ich bin mit der Tür ins Haus gefallen, und Kay hat sich ziemlich darüber aufgeregt." „Das passt überhaupt nicht zu euch. Normalerweise versteht ihr euch doch so gut." „Dieser Mann ist nicht gut für sie, Jake. Er wird ihr das Herz brechen", sagte Amy leise. „Patrick Ravenscar? Wie kommst du darauf?" „Natürlich nicht mit Absicht. Er trauert noch um seine Frau, und Kay glaubt, dass sie ihm helfen kann. Sie möchte sich damit für un47
sere Unterstützung revanchieren." „Vielleicht will sie sich damit nur etwas beweisen." Amy schüttelte den Kopf. „Das wird nicht gut gehen! Eine Frau kann einem Mann in so einer Situation nur auf eine Art und Weise beistehen. Er wird sie natürlich nicht abweisen und sich später erst selbst und dann sie für seine Schwäche hassen." „Erinnerst du dich noch daran, was die Leute gesagt haben, als wir Kay aufgenommen haben?" Sie nickte. „Dass wir dumm seien und sie es uns nicht danken würde … was sie übrigens auch nicht getan hat." Amy wischte sich eine Träne fort. „Es war nicht einfach Jake…" „Ich weiß, Darling." Er stand auf, nahm sie in die Arme und hielt sie fest. „Aber du hast dich nicht entmutigen lassen und es geschafft. Kay hat einen starken Willen, und es ist dir zu verdanken, dass sie ihr Leben geändert hat. Jetzt ist sie sogar bereit, anderen zu helfen. Eigentlich solltest du dich darüber freuen." Sie blickte zu ihm auf. „Ich soll also tatenlos daneben stehen und auf den großen Knall warten? Und danach darf ich dann wieder einmal die Scherben zusammenkehren?" „Komm ins Bett, Schatz", sagte Jake fürsorglich. „Es ist ein langer Tag gewesen, und du hast morgen einen wichtigen Geschäftstermin." Ungeduldig schüttelte sie den Kopf. „Du verstehst nicht, Jake. Was ist mit Polly? Sie wird darunter leiden." „Kay liebt ihre Tochter." „Aber …" „Es ist ihr Kind und ihre Verantwortung", unterbrach er sie energisch. „Nein …" „Doch, Amy." Als er sah, wie ihr wieder Tränen in die Augen stiegen, liebkoste er sanft ihre Wange. „Es tut mir Leid, Liebes. Ich weiß, wie gern du eine eigene Tochter gehabt hättest." „Ich habe drei wundervolle Jungs und dich natürlich." Sie rang sich ein Lächeln ab. „So ist das Schicksal eben. Man bekommt nicht alles, was man sich wünscht." Jake presste die Lippen auf ihre. „Das mag schon sein", sagte er 48
dann, „aber deswegen sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben. Eines Tages erfüllen sich unsere Träume vielleicht doch." Kay stand vor der in die hohe Mauer eingelassenen Pforte und zögerte lange. Was ist mit mir los? fragte sie sich erschrocken. Immerhin war sie offiziell eingeladen, nein, herbefohlen worden und hatte nicht vor, wieder heimlich Brombeeren zu stehlen. Und ihre Hormone spielten auch nicht verrückt, wie Amy vermutet hatte. Sie war hier, um Geld zu verdienen, Punkt und aus. Es handelte sich um einen gut bezahlten Job, und Kay konnte es sich nicht leisten, so eine Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Sie hatte am Abend zuvor ausgerechnet, was eine Party und ein neues Fahrrad für Polly kosteten, und das hatte den Ausschlag gegeben. Was war schon dabei? Sie würde nur im Garten arbeiten und mit etwas Glück den Hausherrn nur selten sehen. Es sei denn, Patrick Ravenscar hatte sich ihren Ratschlag zu Herzen genommen, noch einmal über sein Angebot nachgedacht und es sich anders überlegt. Was auch sehr vernünftig gewesen wäre! Vielleicht verhandelte er ja gerade mit einem Landschaftsgärtner in Maybridge. Oh, hoffentlich nicht! Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Dieser Auftrag war inzwischen so wichtig für sie geworden. Wieso hatte sie Patrick Ravenscar eigentlich diese Dummheit vorgeschlagen? Das war ja geradezu geschäftsschädigend! Sie wischte sich die Hände an ihrer Arbeitshose trocken und öffnete das Tor. Kay hatte fast erwartet, dass es verschlossen war, aber es ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Langsam betrat sie den Garten und blickte sich forschend um. Es war keine Spur von Patrick Ravenscar zu sehen. Nur das Zu-verkaufen-Schild lag achtlos hingeworfen auf der Erde. Er hatte es anscheinend ernst gemeint und das Immobilienangebot tatsächlich vom Markt genommen. Das war gut! Plötzlich spürte sie, wie enttäuscht sie über Patrick Ravenscars Abwesenheit war - was allerdings auch bedeutete, dass er es sich nicht anders überlegt hatte. Sie konnte also mit der Arbeit beginnen. „Ja", sagte sie laut, „auf geht's!" Als Erstes wollte sie einen Plan entwerfen. So schlenderte sie langsam durch den Garten und machte sich dabei Notizen. 49
Patrick beobachtete sie vom Wohnzimmerfenster aus. Sie hatte keine Geräte mitgebracht, hielt aber einen Spiralblock in der Hand und schien etwas zu skizzieren. Anscheinend war sie bereit, für ihn zu arbeiten, vorausgesetzt, sein Angebot hatte noch Bestand. Immerhin hatte Miss Lovell ihm ja geraten, noch eine Nacht darüber zu schlafen. Na ja, geschlafen hatte er nicht viel, sondern darüber nachgedacht, ob er nicht doch einen großen Fehler beging. Er wusste genau, dass sie die Richtige für diesen Job war, doch er fragte sich, ob er ihre Anwesenheit in seinem Garten ertragen konnte. Anscheinend ja. Im hellen Sonnenlicht gelang es ihm ohne Schwierigkeiten, Fantasie und Realität auseinander zu halten. Es war ihm sowieso ein Rätsel, weshalb er in ihr seine geliebte Sara gesehen hatte. Die beiden Frauen hatten überhaupt nichts gemeinsam. „Was tun Sie da, Miss Lovell?" Kay blickte von ihrem Notizbuch auf. Dieses Mal hatte Patrick sie nicht täuschen können, denn sie war sehr wachsam gewesen. „Da Sie mich gebeten haben, gleich mit der Arbeit anzufangen, habe ich Sie beim Wort genommen. Ich zeichne einen Grundriss des Gartens, mache mir dann eine Liste der Dinge, die erledigt werden müssen, und lege die Reihenfolge fest." Sie schwieg einen Moment. „Das erledige ich allerdings später auf meinem Computer", fügte sie hinzu, weil es professioneller klang. »Wozu braucht man denn dafür einen Computer? Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand. Als Erstes muss das Gras gemäht werden." Was sollte das? Wollte er sich etwa die ganze Zeit einmischen? „Der Rasenmäher steht übrigens im Schuppen", fuhr Patrick fort. Als ob sie das nicht wüsste! „Danke, ich habe ihn schon entdeckt." Er betrachtete sie spöttisch. „Dann sind Sie also auch dort eingebrochen?" fragte er kühl.
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5. KAPITEL „Die Jahreszeiten wechseln: Kaureif legt sich in den frischen Kelch der purpurroten Rose." William Shakespeare Kay betrachtete Patrick Ravenscar ausdruckslos, was ihr nicht gerade leicht fiel. Er war nämlich ein äußerst attraktiver Mann mit markanten Gesichtszügen und hatte verblüffende Ähnlichkeit mit einem bekannten Leinwandstar. Die Tatsache, dass er sehr schlank war und sein dunkles Haar einige weiße Strähnen aufwies, verstärkte die Faszination nur noch. „Das Schloss am Schuppen war kaputt, und ich wollte morgen ein neues anbringen. Übrigens würde ich empfehlen, die Sicherheitsvorkehrungen rund um Ihr Haus zu verbessern." „Was soll das heißen, Miss Lovell? Sie brechen in meinen Garten ein und verkaufen mir dann Schlösser?" „Das war nur ein guter Rat, Mr. Ravenscar", erwiderte sie ruhig. „Ich habe übrigens dafür gesorgt, dass Ihr Rasenmäher morgen abgeholt und einmal gründlich durchgecheckt wird. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern, ich werde die Männer hereinlassen. Dann werde ich auch das Schloss am Schuppen austauschen." "Sie arbeiten also morgen nicht im Dorfladen?" wollte er wissen. „Nur montags, donnerstags und freitags", antwortete sie. „Dann …" „Sie brauchen mir nicht zu danken", unterbrach Kay ihn schnell. „Das gehört zu meinen Aufgaben als Gärtnerin. Ich würde das Gleiche für Sie tun, wenn Sie sechs Jahre lang in einem dunklen, muffigen Schuppen dahinvegetiert hätten und mit Spinnweben und Staub überzogen wären." Sie zögerte kurz, denn mit diesen Worten verriet sie ihren ursprünglichen Plan. Staub ihn ab, öl ihn, dann funktioniert er wieder perfekt, dachte sie und verkniff sich ein Lächeln. Sie stellte sich vor, wie sie Patrick Ravenscar einölte… Oh nein, so einfach war es nicht, aber das war ihr schon vorher klar gewesen.
„Ich brauche den Rasenmäher im Augenblick sowieso nicht", sagte Kay, als das Schweigen unerträglich wurde, und zeigte auf das hohe Gras. „Ich werde Jim Bates anrufen. Er kann das Chaos mit seiner Sense beseitigen." „Wer ist Jim Bates?" „Unser Küster. Er kümmert sich auch um die Pflege des Kirchengeländes und ist ein wahrer Fachmann im Umgang mit der Sense." Sie, Kay, hatte panische Angst davor, sich die Füße abzuschneiden, und machte daher einen großen Bogen um das gefährliche Gerät. „Jim hilft mir manchmal aus. Ich werde ihn wohl bitten, auch Ihren Gemüsegarten umzugraben. Seine Arbeit stelle ich Ihnen dann in Rechnung … zum Selbstkostenpreis natürlich", fügte sie schnell hinzu, denn er sollte nicht denken, sie wolle sich bereichern. „Vielleicht könnten Sie ihm ja bei Gelegenheit ein Bier spendieren, wenn Sie ihn im Pub treffen. Das weiß er bestimmt sehr zu schätzen." Patrick blickte sie starr an. Nach einer kleinen Ewigkeit fragte er schließlich: „Ist das alles? Sind Sie fertig?" „Ja", antwortete sie und ließ sich von seinen unfreundlichen Worten nicht einschüchtern. „Was halten Sie davon, Mr. Ravenscar?" Er funkelte sie aufgebracht an. „Fragen Sie nicht so viel, sondern legen Sie einfach los." „In Ordnung." „Und Sie werden Mr. Bates zu einem Bier einladen. Setzen Sie es mir auf die Rechnung." „Aber …" Verdammt, dachte sie, das hat nicht geklappt. Sie hatte so gehofft, Patrick Ravenscar überreden zu können, in den Pub zu gehen. Es war nicht gut, wenn er die ganze Zeit nur um seine verstorbene Frau trauerte. Er musste mit anderen Menschen sprechen, lachen und wieder lernen zu leben. Aber bevor sie noch etwas erwidern konnte, hatte er sich umgedreht und ging zum Haus zurück. „Mr. Ravenscar …" rief sie. Da er nicht stehen blieb, folgte sie ihm ins Haus. Er stand vor dem großen Wohnzimmerfenster und blickte hinaus. „Mr. Ravenscar …" sagte sie noch einmal leise. „Was?" fragte er ungehalten und drehte sich um. Kay zuckte zusammen, als sie seinen finsteren Blick sah, und 52
wünschte sich, sie wäre im Garten geblieben. Doch dafür war es jetzt zu spät. „Hat Ihre Frau ein Tagebuch geführt?" brachte sie schließlich heraus. „Ein Tagebuch?" wiederholte er und betrachtete sie kalt. „Selbst wenn, würde ich es Ihnen nie geben. Es geht Sie nämlich nichts an." „Wie bitte? Oh nein! Sie haben mich falsch verstanden." Kay schüttelte den Kopf. „Ich meinte ein Gartentagebuch. Ich führe eins … na ja, eigentlich sogar zwei. Einmal für meinen Garten und ein zweites für meine Kunden. Dort notiere ich alles Wichtige: das Wetter, die Pflanzen, die Ernte, die erledigten Arbeiten und was ich noch zu tun habe. Zum Beispiel, wann die Obstbäume zurückgeschnitten werden müssen, die Aussaat stattzufinden hat und vieles andere mehr." Das wollte er wahrscheinlich gar nicht wissen. „Ich verstehe." „Also … hat sie ein Tagebuch geführt?" „Ist das wichtig?" fragte er leise. „Es würde mir sehr helfen, denn dann kann ich besser verstehen, was sie für ihren Garten geplant hat. In den letzten sechs Jahren ist viel zerstört worden. Ich möchte gern den vorherigen Zustand wieder herstellen." Sie zeigte auf die Beete mit den mehrjährigen Pflanzen. „Sehen Sie die Löcher?" „Nein." „Wirklich nicht?" fragte sie ungläubig. „Für mich scheint alles in Ordnung zu sein." „Aha." Er gehörte anscheinend zu den Männern, die eine Passionsblume nicht von einer Birke unterscheiden konnten. „Warum fangen Sie nicht endlich zu arbeiten an und hören auf, meine Zeit zu verschwenden?" fragte er kurz angebunden. „Es tut mir Leid. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie beschäftigt sind." Er sah, wie sie die Abdeckung betrachtete, die immer noch auf dem Boden lag. „Meine Putzfrau kommt nur alle vier Wochen." „Ich möchte mich ja nicht einmischen, aber reicht Ihnen das?" „Wollen Sie jetzt auch noch Staub wischen, Miss Lovell? Sind Sie sicher, dass Sie dafür auch noch Zeit haben? Meist stehen Sie doch nur herum und geben gute Ratschläge." 53
Sie biss sich auf die Lippe. Nein, so leicht konnte er sie nicht aus der Ruhe bringen. „Ich wollte Ihnen eigentlich Mrs. Dorothy Fuller vorschlagen. Sie ist zwar schon pensioniert, hilft aber gern aus, wenn Not am Mann ist." Sie zuckte die Schultern, als Patrick nicht antwortete. „Denken Sie in Ruhe darüber nach. Die Entscheidung liegt bei Ihnen." „War das alles?" „Ja. Nein! Eines noch. Wenn es kein Gartentagebuch gibt, hat Ihre Frau dann vielleicht einen Pflanzplan angelegt? Ich möchte nämlich nicht mit dem Graben beginnen und dabei unter Umständen wertvolle Knollen zerstören." Sein finsterer Blick verhieß nichts Gutes. Er schien kurz davor zu sein, ihr Haus- und Gartenverbot zu erteilen. Doch er hatte sich gut unter Kontrolle. „Kommen Sie mit", sagte er stattdessen. Er führte sie durch die Halle und öffnete dann die Tür zu einem Raum neben der Küche. „Das hier war Saras Reich. Sie hat sich dafür entschieden, weil man einen wunderschönen Ausblick in den Garten hat. Dabei ist das Arbeitszimmer im ersten Stock viel größer." Kay blickte sich forschend um. „Es ist wirklich ziemlich klein, doch es hat Charme." „Der Makler hat es damals das Butlerzimmer genannt, aber ich halte das für maßlos übertrieben. Er wollte das Ganze nämlich als Landsitz verkaufen und den Preis in die Höhe treiben." Kay betrat den Raum und betrachtete nachdenklich die vielen mit grünem Stoff überzogenen Küchenregale. Früher hatte dort vielleicht einmal teures Porzellan gestanden, jetzt reihten sich unzählige Kochbücher und Publikationen über Gartenbau und -pflege aneinander. In der Ecke stand ein kleiner Schreibtisch, auf dem ein Notizbuch, ein Füller und einige Buntstifte lagen. An der Pinnwand aus Kork hingen viele Postkarten und Ausschnitte aus Zeitungen, die sich mit den schönsten Gärten der Welt befassten. Auf dem Tisch entdeckte Kay ein gerahmtes Foto von Patrick. Er war darauf jünger und lächelte glücklich in die Kamera. Damals war die Welt für ihn noch in Ordnung gewesen. Das Zimmer sah aus, als wartete es nur auf die Hausfrau. Es kam 54
Kay beinah vor, als wäre Sara Ravenscar nur kurz weggegangen, um einen Tee zu kochen, und würde jede Minute zurückkommen. Kay wandte sich um, doch Patrick war an der Tür stehen geblieben und hatte anscheinend auch nicht vor, den kleinen Raum zu betreten. „Darf ich mich umsehen?" fragte sie schließlich. „Bitte …" Dieses eine Wort schien ihn unendlich viel Kraft gekostet zu haben. Kay nahm das Notizbuch und betrachtete es eingehend. Es war in kostbares rotes Tuch gehüllt, und Sara Ravenscars elegante Handschrift passte genau dazu. Als Kay die schweren, unlinierten Seiten umblätterte, stellte sie fest, dass die Hausherrin alle Geschehnisse im Garten bis ins letzte Detail aufgeführt hatte. So hatte sie von einem Igel berichtet und auch von Glockenblumen, die unerwartet im Obstgarten aufgetaucht waren. „Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?" fragte Patrick. Sie blickte erschrocken auf, denn sie hatte seine Anwesenheit völlig vergessen. „Ja, aber es muss noch andere Bücher geben. Dieses ist nur bis zur Hälfte ausgefüllt." „Versuchen Sie es in den Schubladen." Kay folgte seinem Rat, doch leider waren sie verschlossen. „Wo könnte der Schlüssel sein?" Sie sah sich suchend um. In diesem Moment ertönte ein lautes Piepen. Kay zog einen kleinen Wecker aus der Tasche und stellte ihn ab. „Es ist Viertel nach drei, ich muss los. Polly kommt in fünf Minuten aus der Schule." „Ja, ich weiß. Ihre Tochter hat Vorrang." „Das habe ich Ihnen gleich gesagt", erwiderte Kay. „Wenn Sie ein Problem damit haben …" „Das habe ich nicht. Lassen Sie die Kleine nicht warten. Ich hatte nur gehofft, Sie könnten länger bleiben, damit der Garten schneller fertig wird." „Ich hatte Sie bereits vorher darüber informiert …" „Natürlich. Gehen Sie ruhig. Ich werde in der Zwischenzeit nach dem Schlüssel suchen. Vielleicht sind die anderen Bücher in der Schublade versteckt." Er brachte Kay zur Tür. „Wenn Sie zu Hause für mich arbeiten sollten, notieren Sie sich die Stunden, damit Sie sie 55
mir in Rechnung stellen können." „Das geht schon in Ordnung, Mr. Ravenscar. Ich habe abends sowieso nichts zu tun." Sobald Polly im Bett war natürlich. „Es war nur ein gut gemeinter Ratschlag. All das sollten Sie in einem Standardvertrag festlegen, sonst ist Ihr Geschäft von vornherein zum Scheitern verurteilt. Fragen Sie die Hallams. Soweit ich weiß, sind die beiden mit großem Erfolg selbstständig, und sie werden Ihnen sicher gern einige Tipps geben." Kay konnte sich genau vorstellen, was Amy sagen würde. Vergiss Patrick Ravenscar! Mach dich nicht zum Narren … „Ich werde es mir zu Herzen nehmen", antwortete sie, „wenn Sie darüber nachdenken, Dorothy Fuller einzustellen." „Führen Sie auch noch eine Zeitarbeitsagentur, Miss Lovell? Oder bezahlen Ihnen die Dorfbewohner eine Prämie für jede vermittelte Stelle?" Kay ließ sich durch seine spöttischen Worte nicht aus der Fassung bringen. Sie betrachtete ihn lange und fragte dann: „Haben Sie vielleicht Interesse an selbst gestrickten Mützen oder Pullovern? Der nächste Winter kommt bestimmt, und ich kenne einige alte Damen, die sich gern ein Zubrot verdienen würden." „Ich dachte, Sie wollten Ihre Tochter abholen? Warum sind Sie dann noch hier? Ich lasse morgen die Pforte offen stehen, damit Sie die Rasenmäherleute hereinlassen können. Vergessen Sie aber bloß nicht, mir auch diese Zeit zu berechnen." „Dann kann ich Dorothy also zu Ihnen schicken, damit sie sich vorstellt?" „Auf Wiedersehen, Miss Lovell." „Bis morgen, Mr. Ravenscar." Sie nahm Saras Buch und ging hinaus. Am nächsten Tag führte Kay den Mitarbeiter der Rasenmäherfirma zum Schuppen. Wenig später lud der Mann den Aufsitzmäher in seinen Lieferwagen und fuhr davon. Kay blieb noch an der Pforte stehen und erwartete jeden Moment, dass Patrick neben ihr auftauchte. Doch dieser glänzte durch Abwesenheit. Was auch ganz gut war, denn sonst hätte er ihr ganz bestimmt wieder das Leben zur Hölle 56
gemacht. Trotzdem fiel es ihr schwer, nicht zum Haus hinüberzublicken. Irgendwie hoffte sie, dass Patrick vielleicht doch am Fenster stand. Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie brach ihren guten Vorsatz und war sehr enttäuscht, als sie feststellen musste, dass die Rollläden geschlossen waren. Anscheinend war Patrick endlich einmal ausgegangen. Das würde ihm bestimmt gut tun, denn er verbrachte die meiste Zeit allein in Linden Lodge und trauerte um seine Frau. Kay verließ den Garten und ging an der hohen Mauer vorbei bis zur Eingangstür des Hauses. Gleich darauf schob sie den Umschlag, den sie Patrick eigentlich schon am Tag zuvor hatte geben wollen, in den Briefkasten. Als sie sich abwandte, hielt ein Auto direkt vor ihr, und Kay betrachtete es überrascht. Der Wagen war der Traum eines jeden Mannes und eine todsichere Waffe, um Frauen zu verführen. Er war teuer, PS-stark und hatte Ledersitze. „Was haben Sie eben in meinen Briefkasten geworfen?" fragte Patrick Ravenscar misstrauisch, nachdem er ausgestiegen war und sich neben Kay gestellt hatte. „Haben Sie Ihre Meinung geändert? Wollen Sie den Job nun doch nicht?" Nur widerwillig lenkte sie den Blick von dem faszinierenden Auto ab. Ich bin doch kein Teenager mehr, ermahnte sie sich energisch und wandte sich dann ihrem neuen Arbeitgeber zu. Er trug eine elegante Kaschmirjacke, ein Leinenhemd und eine maßgeschneiderte Hose. Du meine Güte, er war wirklich ein atemberaubender Mann! „Wenn ich es mir anders überlegt hätte, wäre ich persönlich zu Ihnen gekommen", antwortete sie schließlich. „Natürlich", erwiderte er spöttisch. „Also gut, was war es dann? Ich kann die Spannung kaum noch ertragen. Haben Sie mich zum Erntedankfest eingeladen? Oder war es der gerade frisch aus der Druckpresse gekommene Gemeindebrief? Vielleicht handelt es sich ja auch um einen Zettel mit den neuesten Sonderangeboten des Dorfladens?" „Nichts dergleichen", sagte sie ruhig. „Ihr Rasenmäher ist gerade abgeholt worden, und ich wollte die Gelegenheit nutzen, Ihnen meinen Vertrag zuzustellen." 57
„Ihren Vertrag? Das ging aber schnell." „Warum auch nicht? Ich habe nicht unendlich Zeit, über spitzfindige Formulierungen nachzudenken. Sie haben übrigens ein schickes Auto. Es ist sehr …" „… schwarz?" fragte er und funkelte sie an. Ihr war klar, dass sie sich auf sehr dünnem Eis bewegte. „Sauber", erwiderte sie schnell. Beinahe hätte sie „sexy" gesagt und hatte das Gefühl, als wüsste Patrick Ravenscar das ganz genau. „Da ich einige Zeit bleiben werde, brauche ich ein passendes Transportmittel", sagte er schließlich. „Transportmittel nennen Sie das? Darunter verstehe ich einen Bus. Dieser Wagen ist reiner Luxus." „Fährt hier tatsächlich ein Bus?" fragte er kühl, und es war ihm anzumerken, dass er ihr am liebsten geraten hätte, ihre Nase nicht in seine Angelegenheiten zu stecken. Auch gut! „Aber selbstverständlich", erwiderte Kay ganz unbeeindruckt. „Drei Mal am Tag, und er ist fast immer pünktlich." „So oft? Wenn Sie mir das doch nur schon gestern verraten hätten!" Er holte den Umschlag aus dem Briefkasten, ging dann zur Haustür und öffnete sie. „Kommen Sie herein, Miss Lovell." Das klang eher nach Befehl als nach Bitte! Beinahe hätte sie ihm gesagt, dass er sich mit der Unterzeichnung noch Zeit lassen könne, doch Kay hielt sich rechtzeitig zurück. Patrick Ravenscar sollte Dorothy Fuller einstellen, denn er kam ohne sie nicht zurecht. Darum hatte sie, Kay, ihren Teil der Abmachung erfüllt und sich am Tag zuvor noch um einen Vertrag gekümmert. Zuerst hatte sie Amy anrufen und diese um Hilfe bitten wollen, es dann aber doch nicht getan. Kay war nämlich klar gewesen, dass ihre Freundin ihr nur wieder gut gemeinte Ratschläge erteilen würde, und die konnte sie im Moment nicht gebrauchen. Außerdem hatte sie sich fest vorgenommen, auf eigenen Füßen zu stehen. Da sie aber von Standardverträgen so viel verstand wie Patrick von der Gartenarbeit, hatte sie sich an den Sohn eines ihrer Kunden gewandt, der Rechtsanwalt war. Immerhin mähte sie seiner Mutter den Rasen, damit es ihm erspart blieb und er seine gut laufende Kanzlei 58
in London führen konnte. Das war doch bestimmt einige Minuten seiner kostbaren Zeit wert, oder? Er schien ähnlich zu denken und mailte ihr wenig später ein bereits vorgefertigtes Dokument, in das sie nur noch ihren Namen und die Preise einsetzen musste. Außerdem ging er mit ihr am Telefon die wichtigsten Details durch. Welche Rechte und Pflichten hatte sie? War sie ausreichend versichert? Warum hatte ihre Firma noch keinen Namen? Und was war mit einem Logo? Schließlich hatte er sich noch bereit erklärt herauszufinden, ob es vielleicht Fördergelder für Existenzgründer gab. Endlich einmal hatte jemand sie ernst genommen, und Kay hatte sich gleich besser gefühlt. Der Anwalt hatte ihr sogar angeboten, sie für das Rasenmähen zu bezahlen, doch Kay hatte abgelehnt. Vielleicht würde sie eines Tages noch einen Rechtsbeistand brauchen! Es war immer gut, Beziehungen zu haben. „Wie haben Sie das so schnell geschafft?" fragte Patrick, als er den Umschlag öffnete und den Vertrag herauszog. Erstaunt betrachtete er das Logo und den Firmennamen Daisy Roots. „Ich habe mir Ihren Ratschlag zu Herzen genommen", erwiderte sie stolz. Sie war fast die ganze Nacht aufgeblieben und hatte an dem Entwurf des Briefkopfs gearbeitet. „Sie hatten Recht, Mr. Ravenscar. Meine Firma ist zwar klein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich nicht hundertprozentig professionell bin. Ich muss nach vorn sehen und mich entwickeln, sonst brauche ich gar nicht weiterzumachen." Auch die Makler waren bestimmt leichter davon zu überzeugen, ihr einen vernünftigen Stundensatz zu zahlen, wenn sie nicht nur „Kay Lovell, die Gelegenheitsgärtnerin" war. Außerdem hatte es ihr viel Spaß gemacht, das Briefpapier, die Visitenkarten und ein aussagekräftiges Werbeblatt zu entwerfen, das sie heute Morgen bei allen Gärtnereien in der Gegend verteilt hatte. „Ich habe zwei Kopien gemacht", sagte sie jetzt. „Bitte unterschreiben Sie beide, und geben Sie mir eine zurück. Die andere ist für Sie." „Ist das alles?" fragte er spöttisch. „Haben Sie nicht das Wichtigste vergessen?" Als er sah, wie sie die Stirn runzelte, fuhr er fort: „Ich 59
will den Vertrag vorher lesen." Verdammt! Das war nicht gerade sehr professionell gewesen! „Selbstverständlich", antwortete sie schnell, „lassen Sie sich nur Zeit. Ich komme heute Nachmittag wieder und hole ihn ab … oder wann immer es Ihnen passt", fügte sie hinzu, denn sie wollte ihn nicht drängen. Sie hatte wirklich noch einiges zu lernen, wenn sie in diesem Geschäft überleben wollte! „So lange wird es nicht dauern", sagte er, als sie sich abwandte. „Wollen Sie nicht doch hereinkommen? Dann können wir es gleich erledigen. Oder haben Sie etwas anderes vor?" Ja, einen Berg Bügelwäsche fertig machen, dachte sie, der niemals kleiner zu werden scheint. Außerdem musste sie noch Pollys Geburtstagsparty planen. Da es eine Überraschung werden sollte, konnte sie es nur tun, wenn ihre Tochter in der Schule war. Aber das meinte Patrick Ravenscar bestimmt nicht. Er bezog sich sicher auf einen Job, der viel Geld einbrachte. „Sie dürfen mir auch eine Tasse Kaffee kochen, während ich das Dokument lese", sagte er großzügigerweise. „Wer könnte so ein Angebot ausschlagen", erwiderte sie. Na toll! Von wegen professionell! Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Patrick wollte nicht, dass Kay Lovell ging. Heute Morgen hatte er das Haus verlassen, um ihr nicht begegnen zu müssen. Es hatte lange gedauert, bis er den Grund dafür herausgefunden hatte. Er hatte es nicht getan, weil sie ihn an Sara erinnerte, sondern weil sie den Mann in ihm geweckt hatte. Als er zurückgekommen war und sie dort auf der Straße hatte stehen sehen - in unvorteilhafter, weiter Arbeitskleidung, mit Spinnweben aus dem Schuppen im Haar und ohne Make-up -, fing er an zu begreifen, was mit ihm los war. Miss Lovell war irgendwie erfrischend, und er hatte sie gern in seiner Nähe. Obwohl sie andauernd ins Fettnäpfchen trat, ließ sie sich nicht abschrecken. Sie zog sich nicht zurück, sondern machte eisern weiter … und das war selten heutzutage. Genau deswegen hatte er mit ihr in den letzten zwei Tagen länger gesprochen als mit irgendei60
ner anderen Person in den vergangenen sechs Jahren. „Vielleicht kann ich Sie ja überreden, wenn ich Ihnen verrate, dass ich Saras restliche Tagebücher gefunden habe", sagte er. Eins wusste er nämlich genau: Diesem Köder konnte Miss Lovell nicht widerstehen! „Ich habe auch ihren Plan für den Garten entdeckt." Es war ihm nicht leicht gefallen, die Papiere durchzusehen, aber er hatte sich überwunden. Natürlich musste er eines Tages die alten Rechnungen und Unterlagen, die immer noch auf Saras Schreibtisch lagen, vernichten, doch dazu war er noch nicht bereit. Und sein Plan funktionierte. Miss Lovell schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Wenn das so ist, Mr. Ravenscar", sagte sie, „haben Sie sich Ihren Kaffee redlich verdient." Patrick beobachtete, wie sie die Halle betrat und sich die Schuhe abstreifte. Sie hatte ein Loch in ihrem Strumpf, und er fragte sich plötzlich, wie es finanziell um sie und ihre Tochter bestellt sein mochte. War sie geschieden? Zahlte der Vater keine Alimente? Oder gab es doch jemanden in ihrem Leben, den er, Patrick, bis jetzt nur nicht kennen gelernt hatte? Nein, das glaubte er nicht, denn dazu hatte sie seinen Kuss zu leidenschaftlich erwidert. „Ihre Frau hat wirklich alles in ihrem Buch aufgezeichnet", sagte Kay jetzt. „Sie hat sogar ganz wundervolle Gedichte geschrieben, dadurch habe ich das Gefühl, sie genau zu kennen. Ich weiß, was sie sich für den Garten vorgenommen hat, und werde versuchen, ihre Wünsche zu erfüllen. Sie muss etwas ganz Besonderes gewesen sein, und ich verstehe, dass Sie sie sehr vermissen, Mr. Ravenscar." Sara vermissen? Er betrachtete Miss Lovell forschend. Irgendetwas hatte sich verändert. Einen Moment lang hatte er nicht mehr an seine verstorbene Frau gedacht. Woran lag das? Vielleicht daran, dass Kay Lovell beinahe so groß war wie er? Sie blickte ihm in die Augen und ließ sich nichts von ihm gefallen. Das machte sie wahrscheinlich so interessant und lenkte ihn von seiner Trauer ab. Doch das war Verrat an Sara… „Ich setze das Wasser für den Kaffee auf", erklärte er kurz angebunden. „Sie finden die anderen Bücher in ihrem. Arbeitszimmer." Er wandte sich ab und ging in die Küche. 61
Kay sah ihm erstaunt hinterher. Wieso war er so aufgebracht? Was hatte sie gesagt oder getan? Bei Patrick Ravenscar musste man anscheinend immer auf der Hut sein. Wann würde sie endlich lernen, ihre Meinung für sich zu behalten und sich nur in Dinge einzumischen, von denen sie auch etwas verstand - wie Unkrautjäten zum Beispiel. Sie betrat Saras Arbeitszimmer und blätterte die Notizbücher durch. In einem entdeckte sie einen Plan, den sie lange studierte. Er war wunderschön gezeichnet und koloriert, und Patricks Frau hatte die lateinischen Namen aller Pflanzen in Schönschrift notiert. Als Patrick wenig später hereinkam, bewunderte Kay die Arbeit noch immer. Als er den Becher auf den Schreibtisch stellte, zuckte Kay zusammen. „Du meine Güte! Ich habe den Kaffee ganz vergessen!" Er zuckte die Schultern und trank einen Schluck aus seinem Becher. „Das macht nichts", erwiderte er, „ich bin derjenige, der sich entschuldigen sollte." „Warum?" „Weil ich es immer noch nicht ertragen kann, wenn jemand von Sara spricht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich nicht viel Übung darin besitze, denn all meine Freunde hätten sich nach Saras Tod lieber die Zunge abgebissen, als ihren Namen zu erwähnen." Kay blickte Patrick über den Rand ihres Bechers an. „Wenn Sie schon immer so reizbar waren, kann ich das gut verstehen", sagte sie und wäre gleich darauf am liebsten im Boden versunken. Wieso überlegte sie sich nicht vorher, was sie sagte! Doch Patrick schien es ihr nicht übel zu nehmen. Er blickte nachdenklich in seinen Kaffee, als könnte er in den schwarzen Tiefen eine Antwort finden. Kay hoffte schon, dass er ihre Bemerkung überhört hätte, doch dann blickte Patrick auf. „Ich gebe ja zu, dass ich Ihnen gegenüber nicht besonders freundlich war, aber so war ich nicht immer. Außerdem wollten meine Freunde nicht über Sara reden. Sie sind die Erste, die mir dazu Gelegenheit gibt, doch irgendwie kann ich es nicht." „Es tut mir Leid, Mr. Ravenscar. Das Ganze muss sehr schwer für 62
Sie gewesen sein." „Sie haben es ja alle gut gemeint. Vielleicht hatten sie ja gehofft, ich würde Sara schneller vergessen, wenn sie mich nicht an meine Frau erinnerten." „Glauben Sie das wirklich?" fragte Kay überrascht. „Weswegen haben sie sonst so getan, als hätte es Sara nie gegeben?" Er zuckte die Schultern. „An guten Ratschlägen hat es nicht gemangelt: Ich sollte sie so schnell wie möglich vergessen und weiterleben." Er schnitt ein Gesicht. „Weiterleben! Das schien das Lieblingswort meiner Freunde gewesen zu sein." „Jeder Mensch geht anders mit seiner Trauer um", erwiderte Kay sanft. „Für Sie wäre es wichtig gewesen, über Ihre Frau zu sprechen und sich an die schönen Stunden zu erinnern, die Sie mit ihr verbracht haben. Fortzugehen war also genau das Falsche." "Weglaufen trifft es wohl eher", flüsterte er. »Wie Sie es nennen, ist egal", antwortete Kay energisch. »Nur eins sollte Ihnen klar sein: Eines Tages müssen Sie sich dem Problem stellen, und dann können Sie keinen Rückzieher mehr machen."
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6. KAPITEL „Blumen für dich: Lavendel, Minze, Bohnenkraut, Majoran." William Shakespeare Na großartig! dachte Kay, jetzt spiele ich schon wieder die Hobbypsychologin! Wahrscheinlich würde Patrick ihr jetzt gleich deutlich zu verstehen geben, was er von ihrer Einmischung hielt. Deshalb stellte sie den Kaffeebecher auf den Schreibtisch zurück und vertiefte sich wieder in Saras Gartenplan. „Als Erstes müssen Sie sich um das Gartenhaus kümmern", sagte sie, „so kann es nämlich nicht bleiben! Es hat früher sicher wundervoll ausgesehen, aber leider ist es schwer von Decrepitus befallen." „Wie bitte?" Ihre Worte rissen Patrick aus seinen traurigen Erinnerungen. „Was ist das, ein Pilz?" Plötzlich verstand er, worauf sie hinauswollte, und rang sich ein Lächeln ab. „Ach, Sie meinen Altersschwäche? Das war wohl wieder einer Ihrer Scherze, oder?" „So kann man es sehen", sagte sie und freute sich, dass sie ihn abgelenkt hatte. „Allerdings bin ich gerade dabei, mir die Witze abzugewöhnen. Zurzeit mache ich nur noch fünf am Tag." Sie betrachtete Patrick. Sein Lächeln war aufgesetzt, und sie spürte, wie verzweifelt er war. Am liebsten hätte sie die Arme um ihn gelegt und ihn getröstet. Wie gern hätte sie ihm versichert, dass alles in Ordnung kommen würde vielleicht nicht sofort, aber doch bald. Aber das kam natürlich nicht infrage. „Sie brauchen nicht zu lachen", fügte sie hinzu, „das erwarte ich gar nicht von Ihnen." „Dann bin ich ja beruhigt", erwiderte er, und plötzlich war das Lächeln echt. „Zurück zum Gartenhaus", sagte sie schnell und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. „Es steht wirklich kurz vor dem Verfall. Nur die Klematis hält es noch aufrecht. So, wie es aussieht, ist sie zu der Zeit gepflanzt worden, als das Haus errichtet worden ist."
„Ich erinnere mich noch gut daran", sagte Patrick nachdenklich. „Sara wollte die Klematis zurückschneiden, doch sie sollte erst einmal blühen …" Er schien wieder ganz in seinen Erinnerungen gefangen, und Kay versuchte, ihn in die Gegenwart zurückzuholen. „Ich kann sie von Pollys Schlafzimmerfenster aus sehen. Es ist eine wirklich faszinierende Pflanze." „Die ersten Blüten haben sich am Tag von Saras Beerdigung geöffnet." Kay atmete tief durch. Verdammt, dachte sie. „Wo ist Pollys Vater?" fragte Patrick plötzlich, und Kay zuckte zusammen. Er hatte sie damit völlig überrascht, und sie reagierte wie ein in die Enge getriebenes Tier - instinktiv und abwehrend. „Sie hat keinen." Warum hatte sie so abweisend reagiert? Lag es daran, dass schon lange niemand mehr etwas über den Verbleib von Pollys Vater hatte wissen wollen? Oder hatte er sie einfach nur auf dem falschen Fuß erwischt? Ihre kurz angebundenen Worte taten ihr jedenfalls Leid, und deshalb versuchte sie es noch einmal. „Ich … das heißt, er ist …" Patrick stellte den Becher auf den Tisch. „Was schlagen Sie denn vor?" „Wie bitte?" Was, zum Teufel, meinte er? Doch plötzlich verstand sie, was geschehen war. Er war so taktvoll gewesen und hatte das Thema gewechselt. Dafür war sie ihm dankbar, denn jetzt brauchte sie nicht ihre Gefühle offen zu legen. Allerdings war ihr Plan, Patrick zum Reden zu bringen, gescheitert. Ich bin ja wirklich eine gute Psychologin, dachte sie und seufzte leise, ich habe schon bei der ersten Gelegenheit versagt. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Wenn sie die richtigen Worte fand, würde er sich ihr doch noch anvertrauen. „Sie sind die Fachfrau", sagte er und zeigte ihr deutlich, dass er nicht länger über private Dinge sprechen wollte. „Also, was meinen Sie?" Kay versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Irgendwann einmal wür65
de sie ihren Fehler wieder gutmachen. In der Zwischenzeit blieb ihr allerdings nichts anderes übrig, als sich auf ihre Arbeit und seine Frage zu konzentrieren. Worüber hatten sie noch gesprochen? „Ach ja. Ich habe mir das Gartenhaus heute angesehen, als ich auf den Mann von der Rasenmäherfirma gewartet habe. Leider ist es nicht mehr zu reparieren- und auch die Klematis ist unwiderruflich verloren." Er schwieg, und Kay hätte sich am liebsten geohrfeigt. Sie hatte sich schon wieder wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten. „Ich könnte versuchen, sie zurückzuschneiden, wenn Sie es wünschen. Vielleicht erholt sich die Pflanze ja." „Für Sara war das kein Problem." „Sara hat ja auch nicht vorgehabt, das Gartenhaus abzureißen", erwiderte Kay ruhig und beließ es dabei. Es war seine Entscheidung. Egal, wie sie ausfiel, sie, Kay, würde ihr Bestes geben. Wieder schwieg er lange, doch dann schien er zu einem Entschluss gekommen zu sein. „Nein, lassen Sie uns alles dem Erdboden gleichmachen. Das Gartenhaus und die Rankgewächse. Sie können dann etwas anderes pflanzen … etwas ganz Besonderes." Ihr Herz begann, schneller zu klopfen. Sie hatte schon befürchtet, er würde sie hinauswerfen, weil sie ihm vorgeschlagen hatte, seine kostbare Klematis abzuhacken. „Also gut", sagte sie schnell, bevor er es sich noch anders überlegte, „ich werde im Internet einige Lieferanten heraussuchen und mir Kataloge schicken lassen. Sie können sich dann das Passende aussuchen." „Gibt es denn keinen Mann im Dorf, der in seiner Freizeit ein Gartenhaus bauen könnte?" Wie bitte? Sie sah ihn an. Wollte er sich über sie lustig machen? „Ich wusste gar nicht, dass Sie so ein Macho sind", antwortete Kay. „Es könnte ja auch sehr gut eine Frau sein … Aber vielleicht hätte ich da jemanden für Sie. Wenn ich nächstes Mal Mark Hilliards Rasen mähe, könnte ich ihn fragen, ob er Ihnen etwas entwirft. Seine Arbeiten haben schon viele Preise gewonnen." „Mark Hilliard? Der Architekt?" fragte Patrick überrascht. Kay nickte. „Er wohnt in der alten Pfarrei, gleich gegenüber vom 66
Park." „Das trifft sich gut. Beschäftigt er sich überhaupt mit solch einfachen Projekten?" „Nein, doch ich wette, er wird Ihnen einen faszinierenden Bau aus Glas und Stahl vorschlagen." Als Patrick sie erschrocken anblickte, schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. „Es war nur ein Scherz, Mr. Ravenscar. Aber Upper Haughton muss Ihnen nach all den Jahren im Ausland doch bestimmt seltsam vorkommen …" „Nein", unterbrach er sie schnell, „so ist es nicht. Wir sind hierher gezogen, weil wir nicht in der Großstadt wohnen wollten. Auf dem Dorf läuft das Leben in ganz anderen Bahnen. Die Menschen kümmern sich um ihre Nachbarn. Sie bieten einem zum Beispiel ein Glas selbst gemachte Erdbeermarmelade an … und das ganz ohne Hintergedanken." Kay schüttelte den Kopf. „So paradiesisch ist es auch wieder nicht. Wir lieben Klatsch und können sehr engstirnig sein." „Bitte zerstören Sie nicht all meine Illusionen!" Einen Moment lang schwiegen beide, und es war, als wollten sie etwas sagen, zu dem ihnen die Worte fehlten. „Würden Sie eine passende Kletterpflanze für mich aussuchen?" fragte Patrick schließlich. „Ich?" Kay war überrascht und gerührt zugleich, dass er sie mit dieser wichtigen Aufgabe betraute. Unwillkürlich legte sie die Hand über seine. „Vielen Dank." Als sie seinem Blick begegnete, zog sie rasch ihre Hand zurück. Ich bin ja so dumm, dachte sie, wen soll er denn sonst darum bitten? Immerhin war sie seine Gärtnerin! „Ich werde mich darum kümmern, Mr. Ravenscar, und Ihnen einige passende Gewächse vorschlagen. Sie können dann Ihre Wahl treffen." Sie schwieg einen Moment. „Vielleicht hat Ihre Frau sich schon etwas überlegt", sagte sie dann, „denn die Klematis ist schwer zu pflegen. Sie zurückzuschneiden bedeutet oft das Ende für die Pflanze. Sara hat nichts auf dem Plan vermerkt, aber ich glaube schon, dass sie darüber nachgedacht hat. Bestimmt hat sie sich Notizen gemacht. Darf ich die Bücher mit nach Hause nehmen, damit ich sie in Ruhe lesen kann?" Sie hielt es nicht länger in diesem kleinen Raum aus, brauchte Luft zum Atmen. „Oder 67
möchten Sie die Bücher vielleicht selbst durchsehen?" „Nein", antwortete er, und seine Stimme bebte leicht. Doch während er sich noch an seine verstorbene Frau erinnerte, dachte Kay an etwas ganz anderes, viel Irdischeres. Die kurze Berührung hatte sie elektrisiert, und sie fühlte sich in Patricks Nähe wie verwandelt … viel lebendiger … „Sie brauchen die Bücher dringender als ich", sagte Patrick schließlich. „Nehmen Sie sie mit, und vergessen Sie nicht, sich die Stunden aufzuschreiben." Seine Worte waren wie ein Eimer kaltes Wasser! „Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen. Ich habe mir bei einem Anwalt Rat geholt, und er hat mir bis in die letzte Einzelheit erklärt, was ich berechnen kann und was nicht. Er selbst verlangt ein unbeschreiblich hohes Honorar und lässt sich jede Minute und jeden Telefonanruf außerordentlich gut bezahlen." „Das können Sie sich leisten?" fragte Patrick erstaunt. „Wir haben das Ganze etwas vereinfacht. Kennen Sie das Sprichwort: Eine Hand wäscht die andere? Er hat mir eine halbe Stunde seiner Zeit geopfert, dafür mähe ich seiner Mutter den Rasen." „Dann werden Sie das bei seinen Honorarforderungen ja bis an Ihr Lebensende tun müssen!" „Ganz so schlimm ist es auch nicht", erwiderte sie lächelnd. „Ich habe es sowieso unentgeltlich gemacht, und er hat mir deshalb noch einen Gefallen geschuldet. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, ich rechne nach Stunden ab und nicht nach Minuten. Außerdem", fügte sie hinzu und zeigte auf die Bücher, „freue ich mich schon darauf, sie zu lesen. Es ist also keine Arbeit für mich." „Wir werden uns am Ende des Monats darüber unterhalten, wenn Sie Ihre erste Rechnung vorlegen. Hier ist übrigens der Vertrag, Miss Lovell", sagte er und zog das Dokument aus seiner Hemdtasche. „Ich habe ihn unterschrieben und ein Exemplar behalten." Plötzlich befanden sie sich wieder in sicherem Fahrwasser - und das war auch gut so. Kay legte die Vertragskopie auf den Plan und die Notizbücher, nahm dann die Unterlagen und ging zurück in die Halle. Dort wollte sie ihre Stiefel anziehen und blickte sich verzwei68
felt nach einer Ablage für ihre schwere Last um. „Geben Sie her", sagte Patrick, der ihr gefolgt war. Ihre Finger berührten sich unwillkürlich, als er ihr die Bücher aus der Hand nahm, und Kay hatte das Gefühl, als hätte ein Stromstoß sie durchzuckt. Sie beugte sich herunter, zog sich die Schuhe an und band betont langsam die Schnürsenkel zu. So konnte Patrick wenigstens nicht sehen, dass sie errötet war! „Bis heute Nachmittag", sagte sie mit bebender Stimme und nahm die Unterlagen wieder an sich. „Es sei denn, Sie sind ausgeflogen." Sie warf einen Blick auf den PS-starken, schnittigen Wagen und wandte sich dann wieder Patrick zu. „Ich werde da sein, Miss Lovell." „Wunderbar", erwiderte sie fröhlich, „dann kann ich ja gleich Mrs. Fuller mitbringen. Sie freut sich schon darauf, Ihnen zu helfen." Hatte er eben leise geflucht? Kay war sich nicht sicher, dachte aber nicht im Traum daran, ihn zu fragen. Kay wusste nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war. Sie war wie in einem Traum gefangen. Irgendjemand sprach sie auf der Straße an, aber sie hatte keine Ahnung, wer es gewesen war oder was er oder sie gesagt hatte. Plötzlich stand sie vor ihrem Tor, und erst dann gelang es ihr, wenigstens etwas Ordnung in ihre chaotischen Gedanken zu bringen. Wie hatte eine einfache Berührung sie so aus der Bahn werfen können? Patrick Ravenscar zu küssen war nicht so gefährlich gewesen! Ihre Finger schienen immer noch zu kribbeln, und sie ballte die Hand zur Faust und öffnete sie gleich wieder. Es war sinnlos! So einfach ließ sich dieses Gefühl nicht vertreiben! Amy hatte sie ja gewarnt. Sie spielte mit dem Feuer, und es war leicht, sich daran zu verbrennen. Warum hatte sie nicht auf ihre Freundin gehört? Amy hatte es doch nur gut gemeint. Sie wollte nicht, dass sie, Kay, verletzt wurde. Nun, noch war es nicht zu spät. Sie würde in Zukunft eben vorsichtiger sein. Keine Berührungen mehr … damit wäre auch das Kribbeln aus der Welt geschafft. 69
Plötzlich entdeckte sie den Korb, der unter ihrer Gartenbank stand. Schnell legte sie Sara Ravenscars Bücher hin und zog ihn hervor. Im Griff steckte ein Umschlag, doch Kay brauchte ihn nicht zu öffnen, sie wusste auch so, von wem die gute Gabe stammte. Es war ein Geschenkkorb mit Amy-Hallam-Aromatherapie-Produkten, die in der Firma ihrer Freundin hergestellt worden waren und unter diesem Namen in ganz Großbritannien verkauft wurden. Obwohl Amy montags immer nach London fuhr, hatte sie doch die Zeit gefunden, ihr, Kay, ein Friedensangebot zu machen. Kay öffnete den Umschlag und zog die Karte heraus. „Liebe Kay, vielleicht kannst Du diese Dinge ja gebrauchen. Viele Grüße, Amy", las sie laut vor. Sie blickte in den Korb und stellte fest, dass es sich nicht um die bereits hübsch verpackten, teuren Cremes und Seifen handelte, sondern um eher praktische ätherische Öle wie Bergamotte zur Linderung von Depressionen. Auch Kamille und Amys Lieblingsprodukt, Rosenöl zur Wahrung des seelischen Gleichgewichts, fehlten nicht. „Ich verstehe", sagte Kay lächelnd, „das ist der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl." Das war nicht nur ein Friedensangebot, sondern auch ein Hinweis, dass sie unorthodox denken musste, wollte sie Patrick Ravenscar wirklich helfen. Was hatte ihre Freundin sonst noch eingepackt? Lavendel. Diese Pflanze war gut für alles. Und Majoran. Kay runzelte die Stirn und versuchte, sich an das Buch über ätherische Öle zu erinnern, das Amy ihr vor einiger Zeit geschenkt hatte. Was war es noch gewesen? Das Kraut hatte etwas mit den alten Ägyptern zu tun, da war Kay sich vollkommen sicher. Sie hob die Bücher auf, nahm den Korb und ging ins Haus. Wenig später wusste sie Bescheid. Die alten Ägypter hatten es benutzt, um Leid zu lindern. Es roch nach Herbst und hatte sogar schon leichten Nachtfrost gegeben, was ein untrügliches Zeichen für das Herannahen des Winters war. Mit dieser Jahreszeit hatte Patrick allerdings keine Probleme. Nur der Frühling machte ihm zu schaffen - wenn die Natur zu neuem Leben erwachte. 70
Patrick spazierte über den Rasen und blieb vor dem Gartenhaus stehen. Kay Lovell hat Recht, dachte er. Von weitem sah es nicht so verfallen aus, doch wenn man davor stand, bot sich einem ein ganz anderes, sehr trauriges Bild. Die Klematis hatte sich erbarmungslos ihren Weg gebahnt und die Holzbalken auseinander gedrückt. Die Scheiben waren zerbrochen, das Dach war undicht. Als Folge davon hatte es hereingeregnet, und die gepolsterten Bambusrohrstühle und das Sofa waren mit einer grünen Schicht bedeckt. Wenn er, Patrick, damals nicht die Flucht ergriffen hätte, wäre es nie so weit gekommen. Doch jetzt war es zu spät, er konnte es nicht mehr ändern. Er wich einige Schritte zurück und betrachtete die deprimierenden Überreste von Saras Gartenhaus. Je eher es abgerissen wurde, desto besser! Bestimmt fand Miss Lovell jemanden, der das für ihn erledigen konnte. Und dann brauchte er noch Leute, die den Schutt abtransportierten. Wenn er so weitermachte, würde er bald das halbe Dorf beschäftigen! Er wandte sich um, als er hörte, wie die Gartenpforte geöffnet wurde, und blickte auf die Uhr. Für Miss Lovell war es eigentlich noch zu früh … Plötzlich fragte er sich, ob ein kleiner Riegel wirklich reichte, unerwünschte Besucher fern zu halten, vor allem wenn er, Patrick, ihn so gut wie nie vorlegte! Aber er hatte Glück, es war kein Einbrecher im Garten. Wenig später vernahm er Kay Lovells fröhliche Stimme, und sein Herz begann schneller zu klopfen. Rasch ging er um das Gartenhaus herum, um sie zu begrüßen. Doch als er entdeckte, dass sie nicht allein war, blieb er wie erstarrt stehen. „Sind Sie schon wieder da, Miss Lovell?" fragte er schließlich spöttisch und stellte befriedigt fest, dass sie errötete. „Sie sind ja schlimmer als Unkraut!" Doch Kay ließ sich von seiner Unhöflichkeit nicht abschrecken. „Ich wollte Sie nicht stören, Mr. Ravenscar", erwiderte sie, ohne auf seine höhnischen Worte einzugehen. „Nein?" Gestört hatte sie ihn schon, und zwar nicht nur heute. Seit seiner Rückkehr machte sie ihm das Leben schwer und trieb ihn beinahe in den Wahnsinn. „Aber es gibt Dinge, die man nicht aufschieben sollte", fuhr sie unbeeindruckt fort. „Außerdem war ich sicher, dass Sie mich gar nicht be71
merken würden. Sie sind ja so beschäftigt." Sie warf ihm einen kühlen Blick zu, und es war klar, dass sie genau das Gegenteil meinte. Patrick atmete tief durch und versuchte, ruhig zu bleiben. Diese Frau war eine Heimsuchung! Er hatte sehr wohl gearbeitet und alte, vergilbte Zeitungen aus Saras Arbeitszimmer im Reißwolf vernichtet. Allerdings hatte er sich nur zu gern von dieser für ihn unangenehmen Aufgabe ablenken lassen. Ich bin ein Feigling, dachte er, und würde am liebsten schon wieder davonlaufen! Aber es half nichts, auch diese Dinge mussten irgendwann einmal erledigt werden. „Das bin ich", antwortete er schließlich, „aber ich mache gerade Mittagspause. Etwas frische Luft tut mir gut."„Das glaube ich gern", erwiderte Kay, „es riecht etwas muffig im Haus, aber das wird sich ja bald ändern. Dorothy fängt heute Nachmittag um drei Uhr an. Seien Sie nett zu ihr, Mr. Ravenscar, und sie wird dafür sorgen, dass Ihr Haus wieder blitzt und blinkt." Doch Patrick dachte gar nicht daran, sich von Miss Lovell etwas vorschreiben zu lassen! Schnell lenkte er vom Thema ab und blickte in den großen Korb, den sie über dem Arm trug. „Was haben Sie denn da?" fragte er gespannt. „Kräuter." Kay zeigte auf einen der kleinen Töpfe. „Das hier ist Zitronenthymian und das", sie brach einen Stängel von der Pflanze ab, „Majoran." Sie zerrieb ein Blatt und ließ Patrick den Duft einatmen. Doch Patrick interessierte sich mehr für ihre schlanken Hände und ihre gepflegten Fingernägel. Er erinnerte sich wieder daran, wie sie ihn berührt hatte, um ihn zu trösten … und er wusste auch noch ganz genau, dass er etwas ganz anderes empfunden hatte. Plötzlich hätte er sie gern wieder in den Arm genommen und geküsst… „Er duftet ziemlich streng", sagte er schließlich heiser. „Keine Angst", erwiderte sie, schenkte ihm ein Lächeln und reichte ihm den Stängel, „ich stelle Ihnen dafür nichts in Rechnung, denn ich habe die Pflanzen aus meinem Garten. Betrachten Sie es als kleine Aufmerksamkeit unter Nachbarn." „Ich besitze aber keinen Kräutergarten, oder?" Achtlos steckte er den Majoranzweig in die Jackentasche, und Kay hätte am liebsten gejubelt, beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig. „Wenn ich Saras Plan richtig deute, müsste dort hinten in der Ecke einer sein", 72
sagte sie schnell. „Er ist wahrscheinlich nur völlig zugewuchert. Oder ist Sara nicht so weit gekommen?" „Keine Ahnung." Patrick zuckte die Schultern. „Der Garten war ihr Reich. Ich musste mich um mein Geschäft kümmern." Kay wartete, doch als er nicht weitersprach, nickte sie. „Das macht nichts. Ich habe sowieso andere Pläne für die Kräuter. Was halten Sie davon, wenn ich den Zitronenthymian zwischen die Steine auf der Terrasse pflanze, sobald ich das Unkraut dort gejätet habe? Er duftet so gut." Unwillkürlich hoffte er, dass sie für ihn noch ein Blatt zerreiben würde, doch sie tat es nicht. „Sind Sie nicht etwas voreilig?" fragte er dann. „Es sind doch noch so viele andere Dinge zu erledigen, bevor Sie pflanzen können." „Sagen Sie das nicht. Damit kann man gar nicht früh genug anfangen. Außerdem habe ich jemanden mitgebracht." Sie stellte den Korb auf die Veranda des Gartenhauses und wandte sich danach ihrem Begleiter zu. „Darf ich vorstellen? Das ist Patrick Ravenscar, unser Auftraggeber. Mr. Ravenscar, vielleicht kennen Sie ja Jim Bates schon. Er hat sich netterweise bereit erklärt, mich zu unterstützen." Patrick schüttelte dem Mann die Hand. „Ich erinnere mich dunkel", erwiderte er höflich. „Vielen Dank, dass Sie uns helfen. Werden Sie sich heute um das Gras kümmern?" Der Mann nickte und zeigte auf die große Sense, die er in der Hand hielt. „Es ist wirklich an der Zeit, dass es gemäht wird. Bald gibt es Regen, also fange ich besser gleich damit an." Er nickte ihnen zu und ging zum anderen Ende des Gartens. Patrick betrachtete erstaunt den wolkenlosen blauen Himmel. „Woher weiß er das? Es sieht aus, als bliebe uns der Sonnenschein noch lange erhalten." „Er hat an seiner Hintertür Seegras aufgehängt, das ist zuverlässiger als jeder Wetterbericht. Jim hat sich noch nie geirrt." Patrick blickte Kay an und wünschte sich im selben Moment, er hätte es nicht getan. Sofort erinnerte er sich nämlich wieder an ihre Berührung und daran, wie sein Körper darauf reagiert hatte - und nicht nur er, sondern auch sein Herz und seine Seele. Es war so, als 73
wäre die Sonne aufgegangen und hätte alles in ihr wärmendes Licht gehüllt. „Miss Lovell", sagte er und stellte erschrocken fest, dass seine Stimme bebte. Diese Frau hatte eine verheerende Wirkung auf ihn. Es ist der Kuss, dachte er, mehr nicht. Und der war ein Fehler gewesen … ein Irrtum, weil er Sara vor sich gesehen hatte. „Sie kennen doch jeden hier in Upper Hughton. Gibt es jemanden, der das Gartenhaus für mich abreißen könnte?" Kay blickte ihn schweigend an. „Es ist mir egal, ob es ein Mann oder eine Frau ist", fügte er hinzu. Dafür wurde er mit einem Lächeln belohnt, und er stellte fest, dass ihre Augen eine faszinierende Farbe hatten - ein wundervolles, tiefes Blau wie ein weiter Ozean. Kay antwortete immer noch nicht, sondern ging um das Gartenhaus herum und betrachtete lange die traurigen Überreste. Schließlich stellte sie sich wieder neben Patrick. „Ich bin erstaunt, wie gut das Fundament noch erhalten ist. In diesem Fall kommen wir ohne die Muskeln eines kräftigen Mannes nicht aus." „Dann ist das also nichts für eine Frau?" fragte Patrick zufrieden. Kay lächelte ihn erneut strahlend an, was ihm diesmal allerdings zu denken gab. Er hätte nicht damit gerechnet, dass sie es so leicht nehmen würde. „Richtig, Mr. Ravenscar", sagte sie fröhlich, „und ich weiß auch schon genau, wer dafür infrage kommt. Bleiben Sie bitte hier, ich bin gleich zurück."
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7. KAPITEL „Da ist der Rosmarin zum Gedenken; bete, Liebste, und vergiss nicht. Und da sind die Stiefmütterchen für die Gedanken." William Shakespeare „Miss Lovell … Kay …" Bevor er ihr noch sagen konnte, dass sie sich mit dem Abriss des Gartenhauses Zeit lassen sollte, war Kay schon hinter der hohen immergrünen Hecke verschwunden, die den Kräutergarten umgab. Wahrscheinlich holte sie jetzt einen muskelbepackten Dorfbewohner zu Hilfe, der Zeit ohne Ende hatte und ein Ventil brauchte, um sich abzureagieren. Zuerst war Patrick gar nicht begeistert, doch als er Kay gleich darauf zurückkommen sah, wünschte er, es wäre so gewesen. Sie hatte Spinnweben im Haar, einen Schmutzfleck auf der Wange und hielt einen gefährlich aussehenden Vorschlaghammer in den Händen. „Bitte schön", sagte sie, stellte den schweren Hammer auf den Boden und schob Patrick den Stiel zu. Patrick wäre in diesem Moment nur zu gern im Erdboden versunken. Warum verstand sie nicht, dass es schon schwer genug für ihn war, das Gartenhaus abreißen zu lassen? Und jetzt sollte er es auch noch selbst tun? Wie konnte sie das von ihm erwarten? Er betrachtete sie und erkannte, dass sie es tatsächlich ernst meinte. Plötzlich wünschte Patrick, er wäre nie nach Hause gekommen. Er hatte an den unwirtlichsten Orten dieser Welt gearbeitet - zum Beispiel unter der glühend heißen Sonne Afrikas, wo es nichts als Sand, Hitze und Fliegen gab, oder in mit Mücken verseuchten Sümpfen -, und dort hatte man ihn in Ruhe gelassen. Niemand hatte ihn daran erinnert, dass das Leben weiterging … egal, wie gefährlich die Aufträge auch gewesen waren, auf die sich Patrick nur zu gern eingelassen hatte. Kay Lovell jedoch schien Spaß daran zu haben, ihn zu einem neuen Leben zu zwingen … und das nicht gerade auf die feine Art. Der
Vorschlaghammer war dafür Beweis genug. „Passen Sie auf, dass Sie meine Geduld nicht überstrapazieren", sagte Patrick kühl. Sie betrachtete ihn ruhig. „Sie tragen ein teures Hemd", erwiderte sie schließlich, ohne auf seine Warnung zu achten. „Ich rate Ihnen, sich umzuziehen, bevor Sie anfangen. Es wäre schade um die schönen Sachen." Sie blickte auf die Uhr. „Oh, es ist schon ziemlich spät. Ich muss noch etwas erledigen. Sind Sie bitte so freundlich und tragen den Korb ins Haus, bevor Sie mit der Arbeit anfangen? Er ist zwar alt, aber ich hänge an ihm. Am besten stellen Sie ihn auf die Terrasse, denn dort ist es schön hell und warm. Die Kräuter mögen Sonne, und ich werde sie einpflanzen, sobald …" „Wir haben einen Vertrag abgeschlossen, Miss Lovell", unterbrach er sie aufgebracht. „Der Garten gehört in Ihren Verantwortungsbereich. Sie haben die Kräuter hergebracht, also kümmern Sie sich auch gefälligst um sie. Wozu bezahle ich Sie sonst?" Sie zuckte zusammen, aber er war viel zu wütend, um ein schlechtes Gewissen zu haben. Er stieß den Hammer um und wandte sich ab. „Machen Sie einfach weiter, und lassen Sie mich in Ruhe", sagte er. Dabei wusste er genau, dass er im Unrecht war - was ihn nur noch mehr ärgerte. Das war hart! Kay schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Patrick Ravenscars Worte hatten sie mehr getroffen, als sie zugeben wollte. Verdammt! Das ist ja völlig danebengegangen! Sie war noch nie eine gute Schauspielerin gewesen, doch der Schachzug mit dem Majoran war genau geplant gewesen. Sie hatte sehr lange dafür in ihrer Küche geprobt und war erst zufrieden gewesen, bis das Zerreiben und Hinhalten des Blattes ganz natürlich ausgesehen hatte - was es ja eigentlich auch war! Nur hatte ihre Hand nicht gebebt, als sie ihre Kunst an ihrer Katze ausprobiert hatte. Aber Mog hatte sie auch nicht so skeptisch angeblickt. Patrick traute ihr nicht, was die Sache nicht gerade einfacher machte. Doch das war jetzt egal. Er hatte den Duft der Pflanze eingeatmet 76
und den Zweig in der Hand gehalten. Damit hatte sie, Kay, ihren Plan ausgeführt. Sie hoffte nur, dass die alten Ägypter wussten, wovon sie sprachen. Sie hob den Vorschlaghammer auf und legte ihn auf die Terrasse des Gartenhauses, damit Jim Bates bei seiner Arbeit freie Bahn hatte. Sie konnte Patrick Ravenscars Gefühle gut nachvollziehen. Mit dem Gartenhaus waren viele schmerzliche, aber auch schöne Erinnerungen verbunden, und es würde Patrick auch so schon schwer genug fallen, jemanden mit dem Abriss zu beauftragen. Jetzt sollte er es sogar selbst tun … Kein Wunder, dass er wütend geworden War. Wenigstens hatte sie ihn aus seiner Lethargie gerissen. Das war immerhin ein Anfang. Patrick schloss die Terrassentür und lehnte sich dann dagegen. Sein Puls raste, und erschrocken stellte er fest, dass seine Hände bebten. Er fuhr sich durchs Haar und wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte. Es war ein Fehler gewesen, Kay Lovell zu engagieren. Ihm war, als hätte sie ihn verhext. Lag es vielleicht an dieser streng duftenden Pflanze … wie hieß sie gleich noch? Majoran? Seitdem war er nicht mehr er selbst. Verdammt! Er hätte sich nicht auf Miss Lovells Spielchen einlassen dürfen. Diese Frau trieb ihn noch in den Wahnsinn. In ihrer Gegenwart wurde er wütend, und das war ganz und gar nicht gut. Er hatte seine Emotionen bis jetzt immer unter Kontrolle gehabt, und daran sollte sich auch in Zukunft nichts ändern. Als er ein Geräusch hörte, drehte er sich um und blickte hinaus. Kay Lovell stand auf einer Trittleiter und schnitt die Rosensträucher zurück, die auf der Terrasse wild wucherten. Dabei konnte er ihre sonnengebräunte Haut sehen, denn das kurze T-Shirt war nach oben gerutscht. Schnell wandte er sich wieder ab und fluchte leise. Miss Kay Lovell machte ihn wütend, aber das war noch nicht alles. Sie weckte in ihm Gefühle, die er schon lange begraben hatte. „Warum arbeiten Sie heute nicht im Dorfladen?" fragte Patrick. Der Vorfall mit dem Vorschlaghammer war beinahe zwei Wochen her, doch Patrick hatte es immer noch nicht übers Herz gebracht, 77
auch nur in die Nähe des Gartenhauses zu kommen. Er hatte auch Kay ignoriert, doch davon ließ sich diese nicht abschrecken. Das Problem erledigte sich nicht von allein, deshalb wollte sie ihren Auftraggeber daran erinnern, dass noch Arbeit auf ihn wartete. Sie hatte in den vergangenen Tagen sorgfältig einen Stapel Prospekte zusammengestellt, und diesen schob sie jetzt in den Briefkasten von Linden Lodge. Vielleicht konnte sie Patrick ja so dazu bewegen, endlich zu handeln. Sie hatte die Anzeigen für die infrage kommenden Gartenhäuser markiert und wartete jetzt nur noch auf seine Entscheidung. Als sie sich abwandte und zu ihrem alten Lieferwagen zurückgehen wollte, ging die Tür auf. Kay seufzte leise und drehte sich langsam um. Eine Konfrontation hatte sie eigentlich vermeiden wollen schon deshalb, weil seine tiefe, wundervolle Stimme ihr Herz schneller klopfen ließ. Sie atmete tief durch und fragte ruhig: „Wie bitte?" „Es ist Freitag", antwortete Patrick. „Sie sind doch sonst immer an diesem Tag im Laden. Ich war heute Morgen schon dort, habe Sie aber nicht gesehen." „Richtig", erwiderte sie und war überrascht, dass er sich an ihre Arbeitszeiten erinnerte. Zwar hatte sie ihn einige Male beim Einkaufen entdeckt, aber da sie im Augenblick am Postschalter eingesetzt war und Patrick anscheinend keine Briefmarken brauchte, hatte sie auch nicht mit ihm gesprochen. „Ich musste meine Stunden reduzieren", sagte sie schließlich. „Wollten Sie etwas von mir? Sie hätten auch gern zu mir nach Hause kommen können." Oder ihr wenigstens Hallo sagen können, als er vor zwei Tagen Jim Bates im Pub das versprochene Bier ausgegeben hatte. Sie hatte mit Amy und Dorothy an einem Tisch gesessen und an einem Quiz teilgenommen. Als sie Patrick hereinkommen sah, hatte sie vor lauter Überraschung eine Frage verpasst. Wenig später war Patrick schon wieder verschwunden gewesen. „Gehen die Geschäfte so gut?" fragte er und holte Kay wieder in die Gegenwart zurück. „Ja. Das habe ich übrigens hauptsächlich Ihnen zu verdanken. Seien Sie mir nicht böse, Mr. Ravenscar, aber ich kann nicht länger bleiben. Ich muss noch zur Bank." Sie zeigte auf ihren alten Liefer78
wagen. „Wie Sie selbst sehen können, macht mein Transportmittel nicht mehr viel her. Wenn ich meine Kunden beeindrucken will, muss ich mir etwas Besseres anschaffen." Wobei sie hoffte, dass die Sachbearbeiterin der Bank ihr einen Geschäftskredit auf Grund des Vertrages mit Patrick Ravenscar bewilligen würde -aber das behielt sie für sich. „Ich habe Ihnen einige Prospekte in den Briefkasten geworfen, Mr. Ravenscar. Vielleicht können Sie sie ja einmal durchsehen und sich dann für ein Gartenhaus entscheiden. Wenn Sie noch Fragen haben, können wir heute Nachmittag darüber sprechen." „Warten Sie", sagte er, als sie sich abwandte und zu ihrem Wagen gehen wollte, „ich muss auch in die Stadt. Was halten Sie davon, wenn ich Sie mitnehme? Dann können wir uns ausgiebig unterhalten." „Ich weiß nicht …" „Ich bestehe darauf", unterbrach er sie und nahm sein Jackett vom Garderobenhaken. Dann streifte er es sich über und schloss die Tür. „Das ist nicht nötig …" Sie zuckte zusammen, als er ihren Arm nahm und sie, ohne zu zögern, zu seiner Garage führte. Seine Finger schienen sich durch das dünne Material ihres Mantels zu brennen. „Einen Moment, Mr. Ravenscar", sagte sie erschrocken und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, „ich muss noch meine Tasche holen … und meinen Finanzplan." Ehe sie sich's versah, war er zu ihrem Wagen gegangen und reichte ihr gleich darauf den Umschlag und die Tasche. Verzweifelt blickte sie sich um, doch niemand schien ihr zu Hilfe kommen zu wollen. „Das Auto ist nicht abgeschlossen", sagte sie verzagt, „der Schlüssel steckt noch in der Zündung." „Vielleicht haben Sie ja Glück, und jemand stiehlt diese Schrottkiste", erwiderte er unbeeindruckt. Wenig später öffnete er die Beifahrertür seines schicken schwarzen Sportwagens und half Kay beim Einsteigen. „Das wäre schade", antwortete sie und ließ sich in das weiche Polster sinken, „ich liebe mein Auto." Als Patrick sie skeptisch anblickte, schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. „Na ja, das ist vielleicht zu viel gesagt, aber ich brauche es. Es wird so schon schwer genug sein, 79
den Kredit zu bekommen. Wenn ich auch noch Geld für zwei neue Lieferwagen haben möchte, überspanne ich den Bogen bestimmt. Obwohl sie ja nicht neu sein müssten. Gebraucht reicht mir völlig. Außerdem ist das Auto gerade durch den TÜV gekommen." „Wieso zwei?" fragte er verwirrt. „Ich habe einen Dorfjungen namens Wayne eingestellt. Er wird für mich die Routineaufträge erledigen, und dazu braucht er einen fahrbaren Untersatz." „Können Sie sich auf ihn verlassen?" „Ich denke schon. Er hat letztes Jahr gemeinnützige Arbeit leisten und die Gartenanlagen pflegen müssen." „Na großartig!" sagte Patrick spöttisch. „Was hat er denn verbrochen?" „Nichts Weltbewegendes", erwiderte Kay schnell. Sie hatte Schlimmeres getan … „Wenn er zuverlässig arbeitet, werde ich versuchen, ihn zu einem Fortbildungskurs zu schicken. Dann bekommt er sein Leben bestimmt in den Griff." „Und wenn es nicht klappt?" Kay zuckte die Schultern. „Das wird sich zeigen. Auf jeden Fall hole ich ihn damit von der Straße." „Sie lieben die Gefahr, wie?" „Wayne ist harmlos, Mr. Ravenscar. Er ist nur leider vom Leben benachteiligt worden und braucht unbedingt eine zweite Chance." Schweigend nahm er auf dem Fahrersitz Platz und ließ den PSstarken Motor an. Kay warf Patrick einen verstohlenen Blick zu und wünschte, sie hätte es nicht getan. Dieser Mann war faszinierend und zog sie völlig in seinen Bann. Die letzten Tage hatte sie verzweifelt versucht, nicht an ihn zu denken … und an die leidenschaftlichen Gefühle, die er in ihr auslöste und die nichts mit ihrer Geschäftsbeziehung zu tun hatten. Doch jetzt fiel ihr. alles wieder ein: der wunderbare Kuss, sein nur von einem Handtuch verhüllter Körper und seine warme Haut, die sie nur zu gern wieder berührt hätte… Schnell blickte sie zur Seite und atmete tief durch. Hoffentlich merkte er nicht, wie es um sie bestellt war! „Wayne ist ein guter Junge", sagte sie, als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, „er braucht 80
nur etwas Hilfe." Patrick legte den Sicherheitsgurt an und fuhr los. „Wie ich hörte, haben die Hallams das Gleiche für Sie getan", sagte er ruhig. Kay zuckte zusammen. Woher wusste er das? Mit wem hatte er gesprochen? Leider war es jetzt zu spät zum Aussteigen. „Seit wann interessieren Sie sich für Dorfklatsch, Mr. Ravenscar?" fragte sie. „Das tue ich gar nicht, aber die Leute reden trotzdem." Sie runzelte die Stirn. „Dann haben Sie also mit Dorothy gesprochen." „Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Miss Lovell, dass Sie sie zu mir geschickt haben. Sie ist wirklich eine Perle", antwortete Patrick und ließ offen, ob die Haushälterin tatsächlich seine Informantin gewesen war. Es war Kay auch egal. Sie hatte nichts zu verheimlichen. Das ganze Dorf wusste Bescheid. Es war gut, dass Patrick Ravenscar es von Dorothy erfahren hatte, denn diese war ihre Freundin und hatte Verständnis für die Notlage, in der sich Kay befunden hatte. „Sie haben Glück gehabt, Mr. Ravenscar", sagte sie schließlich, „denn Dorothy arbeitet nur noch, wenn ihr die Stelle gefällt." „Eins ist mir aufgefallen. Sie scheint eine unbezähmbare Vorliebe für Dufttöpfe zu haben." Verdammt! Er hatte es also bemerkt! Dabei hatte sie so gehofft, ihm durch diese unorthodoxe Vorgehensweise helfen zu können. Daher hatte sie Dorothy gebeten, die Dufttöpfe aufzustellen, und sie vorher mit Bergamottöl zur Linderung von Depressionen getränkt. „Sie haben sie hoffentlich nicht weggeworfen, denn damit hätten Sie Dorothy aufs Tödlichste beleidigt." „Nein, das würde ich nie wagen. Nachher kündigt sie noch." Kay nickte. „Sie ist wirklich wunderbar. Staub hat bei ihr nicht die geringste Chance. Was ist mit Ihnen, Mr. Ravenscar? Haben Sie in der Zwischenzeit die Schränke ausgeräumt?" Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und wusste schon so, wie die Antwort lauten würde. Natürlich nicht. Er hatte es immer noch nicht übers Herz gebracht, Saras Sachen in die Altkleidersammlung zu geben. „Die Leute werden über kurz oder lang darüber reden." 81
„Das glaube ich nicht, denn Dorothy ist äußerst verschwiegen. Ich habe sie immer wieder gefragt, wer Pollys Vater ist, doch sie hat es mir nicht verraten. Aber Sie haben natürlich Recht, Miss Lovell. Ich kann nur nicht einfach alles in einen Plastiksack stecken und es einem Flohmarkthändler mitgeben: Die Leute werden die Sachen durchwühlen, auf den Boden fallen lassen und darauf herumtrampeln. Dieser Gedanke ist mir unerträglich." Er überholte einen Lastwagen und fuhr dann zügig weiter. „Für Sie mag das alles ja sehr einfach sein, aber für mich ist es das nicht." „Es tut mir Leid", flüsterte sie, „ich habe einen solchen Verlust noch nie erlitten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm es sein muss." „Zu welcher Bank möchten Sie?" fragte er kurz angebunden. Kay seufzte leise. Schon wieder hatte er das Thema gewechselt. Nun gut, sie hatte vorher gewusst, dass es nicht einfach sein würde, ihm zu helfen. Sie musste einfach Geduld haben und abwarten. Wenig später hielt er vor der Bank, stieg aus, öffnete die Beifahrertür und reichte Kay die Hand. Was soll ich tun? fragte sich Kay und zögerte kurz. Sie wusste genau, was geschehen würde, wenn sie Patrick wieder berührte … Doch es war auch nicht ganz einfach, von einem Sitz zu gleiten, der sich beinahe auf Gehweghöhe befand, und das auch noch mit hochhackigen Schuhen an den Füßen! Ehe sie sich's versah, hatte er ihre Hand genommen und Kay galant aus dem Sportwagen geholfen. Er schien geahnt zu haben, in welchem Dilemma sie sich befunden hatte -und das erinnerte sie wieder daran, dass er nicht immer ein trauernder Witwer gewesen war. „Wo wollen wir uns treffen?" fragte er, ohne sie loszulassen. Sie atmete tief durch und versuchte, die Fassung zu bewahren. So durfte sie nicht in der Bank erscheinen. Sie musste versuchen, sich zu konzentrieren, sonst konnte sie den Kredit gleich vergessen. Gut, sie war konzentriert, aber nicht auf die Verhandlungen mit der Sachbearbeiterin, sondern auf etwas ganz anderes. Vielleicht war es besser, wenn sie den Bus zurück nach Upper Haughton nahm. Sonst bekam sie vielleicht nie wieder einen klaren Kopf! 82
Nein, das wäre feige. Hier ging es nämlich nicht um sie, sondern um Patrick Ravenscar. Auf der Rückfahrt konnte sie ihn womöglich dazu bringen, über seine Gefühle zu sprechen. Außerdem würde er sich sowieso nicht davon abbringen lassen, sie abzuholen. „Im Zentrum für einheimische Künstler gleich um die Ecke gibt es ein kleines Cafe", sagte sie. „Kennen Sie es?" „Ja", erwiderte er und nickte. „Reicht Ihnen eine Stunde?" „Bestimmt. Ich benötige ja keinen Millionen-Pfund-Kredit." „Lassen Sie sich Zeit. Ich werde auf Sie warten." Er beugte sich vor, küsste Kay auf die Wange und ließ dann ihre Hand los. Seine Berührung wirkte elektrisierend, und er duftete so gut nach Leder und Zitrone. Kays Körper reagierte sofort, und ihr Puls begann zu rasen. Doch Patrick schien nichts zu bemerken, denn er wich einen Schritt zurück und sagte kurz angebunden: „Viel Glück, Miss Lovell." Bevor sie antworten konnte, hatte er sich schon abgewandt. Patrick beobachtete, wie sie durch die große Glastür der Bank ging. Heute sah Kay ganz anders aus als sonst. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, hatte ihr Haar hochgesteckt und ein dezentes Make-up aufgelegt. Außerdem trug sie hochhackige Schuhe. Sie sah einfach umwerfend aus! Das Einzige, was ihm nicht gefiel, war ihre Frisur. Er liebte es, wenn sie die Haare offen trug … wie sie es normalerweise auch tat. Als er sie vorhin auf die Wange geküsst und ihren wundervollen Duft eingeatmet hatte, wäre es beinahe mit seiner Selbstbeherrschung vorbei gewesen. Wie gern hätte er ihr die Nadeln aus dem Haar gezogen und die Hände durch die seidige Fülle gleiten lassen. Eigentlich war es egal, was Kay Lovell trug, ob sie sich schminkte oder nicht. Sie war auch verdammt sexy, wenn sie ihre Arbeitskleidung anhatte. Deshalb war er ihr in den letzten Tagen auch aus dem Weg gegangen - jedenfalls solange sie in seinem Garten Rosensträucher zurückgeschnitten und Kräuter gepflanzt hatte. Eine unwiderstehliche Kraft hatte ihn allerdings in den Dorfladen gezogen, und zwar genau an den Vormittagen, an denen Miss Lovell dort beschäftigt war. Warum, das wusste er selbst nicht, denn Doro83
thy erledigte eigentlich alle Einkäufe für ihn. Er war sogar in den Pub gegangen, natürlich nur, um Jim Bates sein verdientes Bier zu spendieren. Beinahe wäre er auch zum jährlichen Schulfest gegangen, doch er hatte den Direktor schon am Tag zuvor getroffen und ihm eine großzügige Spende für den geplanten Neubau versprochen. Aber als er an diesem Morgen Briefe aufgeben wollte und enttäuscht feststellte, dass Kay Lovell nicht am Schalter saß, wurde ihm bewusst, was mit ihm los war. Er konnte nicht aufhören, an diese Frau zu denken. Und deshalb hatte er ihr angeboten, sie in die Stadt zu fahren. Miss Lovell hatte ihm völlig den Kopf verdreht. Warum er dann plötzlich über Sara gesprochen hatte, war ihm jetzt noch ein Rätsel. Er hätte doch viel lieber über seine Gefühle zu Kay… „Sie sollten Ihren Wagen wegfahren, Sir", sagte die Politesse, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war, „sonst muss ich Ihnen leider einen Strafzettel ausstellen." Kay warf die Mappe auf den Tisch und nahm Patrick gegenüber Platz, bevor dieser aufstehen konnte. „Ich hätte heute Morgen lieber meinen Gemüsegarten umgraben sollen", sagte sie und schnitt ein Gesicht, „dann hätte ich die Zeit wenigstens nicht verschwendet." „Was möchten Sie? Tee oder Kaffee?" fragte Patrick und winkte dem Ober. Das war typisch Mann! Er hatte ihr sofort den Wind aus den Segeln genommen. „Kaffee bitte", antwortete sie, „und zwar mit Haselnusssirup. Außerdem hätte ich gern zwei große Stücke Schokoladentorte." Patrick blickte sie erstaunt an. „Wie bitte? Nur zwei, und die auch noch ganz ohne Schlagsahne?" Beinahe hätte Kay gelacht, obwohl sie immer noch wütend war. Die vergangene Stunde hatte sie mit einer Sachbearbeiterin verbracht, die überhaupt keinen Sinn für Humor hatte und der Meinung war, dass sie, Kay, völlig geschäftsuntüchtig sei. „Danke für den Tipp", sagte Kay gespielt ernst, „ich nehme natürlich eine doppelte Portion Sahne." „Das ist nicht Ihr Ernst." „Oh, doch! Oder haben Sie etwa Angst, mir könnte in Ihrem teuren 84
Wagen schlecht werden?" „Das weniger. Ich denke nur an Ihren Cholesterinspiegel." Kay schüttelte lächelnd den Kopf. „Keine Angst, ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser. Aber Sie haben natürlich Recht. Eine Tasse Kaffee genügt mir." Er schien nicht überzeugt zu sein. „Wirklich", fügte sie deshalb rasch hinzu. Patrick bestellte das Getränk beim Ober und wandte sich dann wieder an Kay. „Es ist also nicht gut gelaufen, stimmt's?" fragte er. „Das ist noch untertrieben. Dabei habe ich mir extra diesen unwahrscheinlich teuren Hosenanzug von Amy ausgeliehen. Aber die Sachbearbeiterin in der Bank war einfach nicht zu beeindrucken." „Ich finde, er steht Ihnen sehr gut." „Tatsächlich?" fragte sie erfreut. Damit war der Morgen ja beinahe gerettet! „Danke für das Kompliment, Mr. Ravenscar." „Also, was genau ist geschehen?" wollte er wissen. „Miss Harding war von meinem Finanzplan überhaupt nicht begeistert. Dabei habe ich mir tagelang darüber den Kopf zerbrochen. Das ist wirklich ungerecht!" „Kann ich ihn einmal sehen?" Sie zeigte auf die Mappe, die sie auf den Tisch geworfen hatte. „Bitte bedienen Sie sich. Es hat Miss Harding überhaupt nicht interessiert, dass ich lukrative Aufträge habe. Solange ich keine Sicherheiten wie ein eigenes Haus vorweisen kann, wird mir die Bank wohl auch keinen Kredit bewilligen. Immerhin könnte es ja sein, dass ich zu große Erwartungen habe … das hat mir die Dame jedenfalls zu verstehen gegeben." Patrick vertiefte sich in die Unterlagen. Wenig später blickte er auf und fragte: „Hat Miss Harding schon definitiv abgelehnt?" „Ich bitte Sie! Das würde sie mir doch nie ins Gesicht sagen! Sie wollte die Angelegenheit noch mit ihren Kollegen besprechen und mir so bald wie möglich Bescheid geben. Das ist doch ihr Standardspruch! Ich habe ihr gleich mitgeteilt, dass sie sich nicht mehr zu bemühen braucht." „Das war ein großer Fehler. Wahrscheinlich hat Miss Harding gar nicht die Möglichkeit, so etwas ohne die Zustimmung ihres Vorge85
setzen zu entscheiden. Sie hätten ihr etwas mehr Zeit lassen müssen, Miss Lovell." Kay stöhnte leise auf und barg das Gesicht in den Händen. „Es ist meine Schuld! Ich habe alles verdorben, oder?" „Lernen Sie daraus. Gehen Sie zu einer anderen Bank. Ich glaube an Sie. Ihr Geschäft hat Zukunft. In der Zwischenzeit kann Wayne nachmittags Ihren Lieferwagen benutzen. Sie brauchen ihn doch nicht, da Sie in meinem Garten arbeiten." Sie blickte ihn dankbar an. „Das ist schon mal ein Anfang. Wer weiß, vielleicht werde ich ja doch noch Millionärin, wenn ich es richtig anpacke." „Wollen Sie das denn werden?" fragte er erstaunt. Kay dachte einen Moment nach. „Eigentlich nicht. Ich möchte nur sorgenfrei leben. Aber Millionäre können das oft gar nicht, oder?" „Mag sein. Je mehr Vermögen man hat, desto schneller will man es vermehren." „Dann will ich auch nie so reich sein. Hauptsache, für Polly ist gesorgt", erwiderte sie nachdenklich. Patrick nickte. „Das ist sehr löblich. Sie sollten noch einmal Ihren Rechtsanwalt anrufen. Vielleicht kann er Fördergelder für Existenzgründer für Sie beantragen." „Das hat er mir schon angeboten, aber ich glaube nicht, dass so etwas für mich infrage kommt." „Warum denn nicht? Solange Ihre Geschäftsidee gut ist, wird man Ihnen die Gelder bewilligen." Kay lehnte sich zurück. „Sie scheinen sich ja sehr gut auszukennen, Mr. Ravenscar. Was haben Sie beruflich gemacht, bevor Sie anfingen, den Not leidenden Menschen dieser Welt zu helfen?" „Ich war Unternehmensberater." „Das erklärt so einiges", erwiderte sie. „Ich wette, das haben Sie schon gewusst", sagte er lächelnd. „Das herauszufinden ist nämlich ganz einfach. Sie brauchen nur meinen Namen im Internet zu suchen, und einen Mausklick später erscheint mein ganzer Lebenslauf auf Ihrem Bildschirm - Foto eingeschlossen." 86
Sie schüttelte den Kopf. „So etwas hätte ich nie getan. Ich spioniere niemandem hinterher." „Sie vielleicht nicht, aber andere. Oder wollen Sie mir etwa weismachen, dass man im Dorf nicht über mich redet? Was ist mit den Paketen, die ich bekomme? Werden sie nicht genau in Augenschein genommen?" Kay errötete. „Na ja, Sie sind schon ein Gesprächsthema. Die Leute fragen sich eben, was Sie tun werden, bleiben oder verkaufen." „Und was haben Sie diesen Leuten gesagt?" „Dass ich zu sehr mit Ihrem Garten beschäftigt bin und keine Zeit habe, mich mit Ihnen zu unterhalten. Sie haben sich in letzter Zeit ja auch nicht gerade oft blicken lassen. Ich glaube schon fast, dass Sie mir aus dem Weg gehen." „Nur, um Ihnen etwas Freiraum zu geben. Zu viel Kontrolle schadet." „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich weiß, warum Sie sich nicht haben sehen lassen. Sie hatten Angst, ich könnte Sie wieder wegen des Gartenhauses ansprechen." „Sagen Sie eigentlich immer, was Sie denken?" „Was ist daran falsch?" fragte sie ruhig. „Damit kann man viele Missverständnisse vermeiden." „Für Ihre Ehrlichkeit haben Sie sich eine Belohnung verdient, Miss Lovell. Sagen Sie mir, was Sie über mich wissen wollen, und ich werde Ihnen offen antworten."
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8. KAPITEL „Nun schwindet auch die letzte lange Spur aus Schnee. Um alle Blumenbeete sprießen lebhaft Quecken, und über dicken grauen Wurzelstöcken erblühen Veilchen jetzt in Frühlingsnäh'." Alfred Lord Tennyson „Erzählen Sie mir einfach von sich", sagte Kay und trank einen Schluck Kaffee. Sie wusste ganz genau, dass Patrick gerade eben wieder einmal das Thema gewechselt hatte, doch es sollte ihr recht sein. Über die Vergangenheit zu sprechen gehörte zum Heilungsprozess, und dazu brauchte man keinen Psychiater und auch keine Couch. Außerdem war sie neugierig zu erfahren, wer genau Patrick Ravenscar war und wie er sein bisheriges Leben verbracht hatte. „Als Student habe ich eine Software geschrieben." Patrick zuckte die Schultern. „Ich hatte nur wenig Geld und viele Schulden. Meine Eltern konnten mich nicht unterstützen, daher war ich ganz allein auf mich gestellt. Vielleicht können Sie sich ja vorstellen, wie das ist." Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern sprach gleich weiter. „Also habe ich dieses Programm für einige hundert Pfund an eine große Firma verkauft." Er seufzte leise auf. „Zuerst war ich auch sehr froh, denn mit dem Geld konnte ich einen Großteil meiner Schulden begleichen, doch es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, dass ich über den Tisch gezogen worden war. Ich habe dem Unternehmen nämlich sämtliche Rechte an der Software überschrieben, und zwar weltweit und für alle Zeiten. Erst zu spät habe ich herausgefunden, dass die Firma sich damit eine goldene Nase verdient hat." „Das ist ja furchtbar", antwortete Kay entsetzt. „Konnten Sie denn gar nichts dagegen unternehmen?" „Nein. Ich hatte den Vertrag ja freiwillig unterzeichnet, obwohl ich ihn nicht einmal richtig gelesen hatte. Damals zählte für mich nämlich nur der Scheck. Eine seriöse Firma hätte mir sicher geraten, einen Anwalt zu konsultieren, aber darauf hätte ich auch selbst kom-
men können." „Sie waren jung und unerfahren. Das Unternehmen hat Sie kaltblütig ausgenutzt." „Das stimmt wohl, aber ich habe daraus gelernt", erwiderte er. „Wenn man es genau nimmt, hat die Firma mir damit sogar einen Gefallen getan." Kay schüttelte den Kopf. „Ich finde es erstaunlich, wie ruhig Sie so etwas hinnehmen", sagte sie. „Es bleibt mir doch nichts anderes übrig, oder? Außerdem war ich nicht der einzige Student, der diese bittere Erfahrung machen musste. Da ich mein Leben sowieso nicht mit dem Schreiben von Computerprogrammen verbringen wollte, habe ich beschlossen, Unternehmensberater zu werden. Als ich den Abschluss machte, besaß ich schon eine eigene Firma, und die Geschäfte liefen gut." „Also haben Sie sich mit dem Feind verbündet", sagte Kay unbeeindruckt. „Nein, ich habe nur herausgefunden, wie ich ihn schlagen kann. Mein Unternehmen hat nur einem Zweck gedient: die Schwachen zu schützen. Ich habe Existenzgründern Gelder vermittelt, damit diese ihre Ideen nicht weit unter Wert an große Firmen verkaufen mussten, so wie ich es getan hatte. Wenn jemand dennoch zum Verkauf bereit war, habe ich die Verträge geprüft und dafür gesorgt, dass alles mit rechten Dingen zuging." Er lächelte versonnen. „Natürlich gibt es genug Leute, die so etwas tun. Man nennt sie Anwälte, aber sie sind viel zu teuer. Gerade junge Menschen können sich das nicht leisten. Deshalb habe ich das Risiko mitgetragen und als Honorar nur einen geringen Prozentsatz der zukünftigen Tantiemen gefordert. Die erste Zeit habe ich auf dem Fußboden in meinem Büro geschlafen, doch bald ist es aufwärts gegangen. Ein geringer Prozentsatz von Millionen von Pfund ist nicht wenig Geld." „Was haben Sie mit Ihrer Firma gemacht, als …" Kay beendete den Satz nicht, doch Patrick wusste auch so, was sie fragen wollte. „Als Sara starb und mir alles egal war?" Er zuckte die Schultern. „Das Unternehmen existiert immer noch, aber meine Gewinne kommen Wohltätigkeitsorganisationen zugute." 89
„Es ist Ihnen gar nicht egal", sagte Kay. „Sie wollen es nur nicht zugeben. Die Hilfsprogramme, für die Sie tätig waren, werden also von Ihrem Geld finanziert, stimmt's?" Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern sprach gleich weiter. „Aber das geht mich nichts an. Ich brauche keine Unterstützung, ich komme auch so klar." „Das weiß ich", erwiderte er. „Sie lassen sich so schnell nicht unterkriegen. Ihr Traum wird wahr werden, da bin ich mir sicher." „Genau." Na großartig, dachte sie, eigentlich wollte ich ihm ja helfen, und jetzt ist es genau umgekehrt. „Wenn ich mir etwas vorgenommen habe, bringe ich es auch zu Ende." „Es wird nicht leicht werden, Kay … ich darf doch Kay sagen?" Als sie nickte, fuhr er fort: „Aber Sie werden es schaffen." „Im Augenblick sieht es nicht so aus. Ich habe mich in der Bank wirklich unmöglich benommen", erwiderte sie und seufzte leise. Dann trank sie ihren Kaffee aus. „Jetzt habe ich mich genug bemitleidet. Lassen Sie uns nach Hause fahren, damit ich etwas Produktiveres anfangen kann." Den Komposthaufen umgraben zum Beispiel… „Sie gehen zu hart mit sich ins Gericht, Kay. Ich wollte Ihnen gerade vorschlagen, hier zu Mittag zu essen. Wir können uns dabei eine Strategie für Ihren nächsten Bankbesuch ausdenken." Patrick nahm die Speisekarte, schlug sie auf und las Kay die Tagesgerichte vor. „Das klingt alles sehr verlockend", sagte sie schließlich verlegen, „aber ich sollte nicht so viel essen. Immerhin muss ich heute Nachmittag ja noch in Ihrem Garten arbeiten. Wenn wir jetzt nicht fahren, schaffe ich …" Nein! dachte sie, so geht es nicht. Immerhin fühlte sie sich verpflichtet, ihm zu helfen. Eine gute Mahlzeit und eine entspannte Unterhaltung gehörten zur Therapie - das wusste sie aus Erfahrung. „Schaffen Sie was nicht?" fragte er. „Meine Arbeit", erwiderte sie schnell. „Welche Geschäftsfrau nimmt sich schon einfach den Nachmittag frei, nur weil ein Kunde sie zum Mittagessen eingeladen hat?" „Die Zeit ist nicht verschwendet, Kay. Ich kann Ihnen unzählige Tipps geben. Außerdem können Sie die versäumten Stunden ja am 90
Wochenende ableisten. Bringen Sie Polly mit. Ich werde mit Ihrer Tochter Asternkränze flechten, während Sie beim Unkrautjäten schwitzen." Lachend nickte Kay. „Also gut, Sie haben gewonnen. Aber ich stelle eine Bedingung." „Kommt nicht infrage. Ich habe Sie eingeladen und sogar die in unserem Vertrag festgelegten Arbeitszeiten geändert, damit Sie zusagen. Und jetzt wollen Sie mir auch noch eine Bedingung stellen?" „Sie haben Recht, Mr. Ravenscar", antwortete sie schnell, bevor er noch fragen konnte, wie die lautete. „Ich möchte aber trotzdem nur etwas ganz Leichtes bestellen. Ein Sandwich zum Beispiel." In diesem Moment kam der Ober an ihrem Tisch vorbei. In den Händen trug er einen Teller mit einem mit Schinken, Tomaten und Salat gefüllten Baguette und einer Portion Pommes frites als Beilage. Hungrig blickte Kay dem Mann hinterher, und Patrick lachte leise. „Das nennen Sie etwas Leichtes?" „Nun ja", meinte sie, „ich sollte mir wohl besser Nudeln bestellen." „Die nehme ich auch." Er winkte dem Ober und wandte sich dann wieder Kay zu. „Jetzt sind Sie dran." „Womit?" fragte sie erstaunt. „Erzählen Sie mir etwas über sich. An welchem Punkt hat sich Ihr Leben verändert, Kay?" Er zögerte einen Moment, sprach dann aber doch weiter. „Wo ist Pollys Vater?" „Warum wollen Sie das wissen?" fragte sie kurz angebunden. „Ich möchte Sie besser kennen lernen." Er beugte sich vor und nahm Kays Hand. Sanft liebkoste er ihren Ringfinger. „Waren Sie mit ihm verheiratet?" Kay schüttelte den Kopf und entzog ihm ihre Hand, um sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen - was eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, aber seine Berührung machte sie nervös. „Nein." Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln, doch leider tat Patrick diesmal genau das nicht. Stattdessen lehnte er sich schweigend zurück und wartete. Sie seufzte leise, und ihr wurde bewusst, dass sie ihm jetzt die Wahrheit sagen musste. Wenn sie ihm die traurige Geschichte erzähl91
te, half sie ihm vielleicht sogar, seine eigene Trauer zu überwinden. Allerdings ging sie damit ein großes Risiko ein. Was, wenn er kein Verständnis für ihre damalige Notlage hatte und sich entsetzt von ihr abwandte? Dann hatte sie diesen großartigen Mann für immer verloren … nie wieder würde er ihr dann sein, wenn auch seltenes, Lächeln schenken oder einen Scherz machen. Konnte sie damit leben? Als er ihr vorhin einen Kuss auf die Wange gegeben und ihr Glück gewünscht hatte, war sie sich wie im siebten Himmel vorgekommen. Es hatte zwar nicht lange gedauert, bis Miss Harding sie wieder in die grausame Wirklichkeit zurückgeholt hatte, doch sie, Kay, war noch nie in ihrem Leben so euphorisch gewesen. In diesem Moment hätte sie die Welt aus den Angeln heben können. Wahrscheinlich war es das Beste, die leidige Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und Patrick reinen Wein einzuschenken. „Wir waren nicht verheiratet", sagte sie leise, „denn wir sind damals noch zur Schule gegangen." Als er sie erstaunt anblickte, fügte sie hinzu: „Ich war achtzehn Jahre alt." Und das einzige Mädchen in ihrem Jahrgang, das noch unschuldig war. „Ich war im letzten Jahr und hatte Aussicht auf ein Stipendium an der Universität von Oxford. Dazu brauchte ich zwar exzellente Noten bei der Abschlussprüfung im Sommer, doch das war für mich kein Problem. Ich war eine sehr gute Schülerin und bei den Lehrern mehr als beliebt." Sie schnitt ein Gesicht. „Gibt es da nicht so ein Sprichwort? Hochmut kommt vor dem Fall?" „Wenn die Hormone verrückt spielen, ist Hopfen und Malz verloren", erwiderte Patrick ruhig. Kay hätte gern gewusst, was er dachte, aber seine Miene war ausdruckslos. „Das stimmt. Vor allem, wenn ein gut aussehender Junge einem den Hof macht." Sie nahm den Kaffeelöffel und drehte ihn nervös hin und her. Warum wechselte Patrick nicht das Thema? Er tat es doch sonst immer! „Wie heißt Pollys Vater?" fragte er und schien nicht zu merken, was in ihr vorging. 92
„Alexander", antwortete sie schließlich, „aber alle nannten ihn Sascha. Seine Großmutter war Russin." „Ich wette, er war ein Angeber." Erstaunt blickte Kay ihn an. Als sie seinem spöttischen Blick begegnete, lachte sie. „Sie haben ja keine Ahnung! Er war der wieder geborene Adonis!" „Solche Typen kenne ich", sagte Patrick finster. Sofort wurde sie wieder ernst. „Er war der Schwarm aller Mädchen, und es erstaunt mich, dass er mich überhaupt beachtet hat. Ich komme aus einer armen Familie und hatte den Platz in diesem exklusiven Internat nur durch ein Stipendium bekommen. Also musste ich immer mehr leisten als die anderen. Wer war ich denn schon? Ein Niemand ohne Geld, Titel oder Villa auf den Kanarischen Inseln." „Wie furchtbar." Patrick schien kein Mitleid mit ihr zu haben, und das machte sie wütend. „Furchtbar? Sie haben ja keine Ahnung! Meine Mutter hat mich nicht gewollt, und meinen Vater habe ich nie gekannt. Ich war in Heimen oder bei Pflegeeltern untergebracht. Mein einziges Plus war mein Gehirn." Sie lehnte sich zurück und legte den Löffel auf den Tisch. „Und das hat sich ausgeschaltet, als Sascha sich für mich zu interessieren begann." „Es tut mir Leid, Kay, dass ich Sie verspottet habe. Ich dachte …" Er schwieg einen Moment betroffen. „Sie müssen sehr einsam gewesen sein", sagte er dann mitfühlend. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie drängte sie verzweifelt zurück. „Ich gehörte eben nicht dazu, deshalb hatte Sascha auch leichtes Spiel mit mir. Woher sollte ich denn ahnen, dass er mit allen Mädchen des Jahrgangs geschlafen hat? Wir waren für ihn nur Trophäen. Alles war nur ein Spiel, dessen Regeln jedem bekannt waren, nur mir nicht. Ich dachte, er würde mich wirklich lieben. Als ich ihm von meiner Schwangerschaft erzählte, hat er sehr ungehalten reagiert. „Ich hätte mich niemals mit dir einlassen sollen“, hat er gesagt, ,denn du bist uninteressant und überhaupt nicht mein Typ. Sieh zu, dass du allein klarkommst. Wenn du so intelligent bist, wie alle behaupten, wirst du schon einen Weg finden, das Kind loszuwerden.'" 93
„Er hat also erwartet, dass Sie das Baby abtreiben", sagte Patrick und klang genauso entsetzt, wie Kay es damals gewesen war, als Sascha ihr diesen grausamen Vorschlag gemacht hatte. „Ich hatte nie erwartet, dass er ein liebender Vater sein würde, doch ich hatte gehofft, er würde sich wie ein Gentleman verhalten. Ich war ja so naiv!" „Sie können nichts dafür, die Schuld liegt bei dem Jungen. Wieso hat er kein Verhütungsmittel benutzt?" „Das Kondom war geplatzt, doch das schien ihn nicht besonders zu beunruhigen. Und ich war noch unschuldig und hatte von solchen Dingen keine Ahnung. Erst als mir morgens übel wurde, ist alles herausgekommen. Die Schulleiterin hat mich in ihr Büro zitiert und mir Vorhaltungen gemacht, weil ich sie nicht um die ,Pille für danach' gebeten hatte." „Das ist ja nicht zu fassen! Was war das denn für ein Internat?" „Man kann ihr nichts vorwerfen. Solche Dinge waren bei uns an der Tagesordnung. Sie hat die Angelegenheit eben nur ganz nüchtern gesehen." „Was ist dann geschehen?" wollte Patrick wissen. „Hat man Sie der Schule verwiesen?" „Nein. Die Direktorin hat mir einen Termin in einem Krankenhaus besorgt, damit die Abtreibung schnellstens vorgenommen werden konnte." „Na großartig!" „In ihren Augen war es das. Ich wurde nämlich nicht anders behandelt als die Mädchen, deren Eltern Unsummen dafür gezahlt haben, damit sie auf dieses Internat gehen konnten. Und das war sehr erstaunlich, denn immerhin war ich ja ein Kind aus einfachen Verhältnissen, das nur über ein Stipendium einen der begehrten Plätze bekommen hatte Sie hätte mich auch einfach auf die Straße setzen können." Sie schwieg und schloss einen Moment lang die Augen. Es war so schwer, darüber zu sprechen. „Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?" fragte sie schließlich mit bebender Stimme. Patrick war erschüttert. Er war eigentlich nur neugierig gewesen, wer Pollys Vater war und warum er Kay und seine Tochter im Stich 94
gelassen hatte. Ganz bestimmt hatte er nicht vorgehabt, Kay die ganze traurige Geschichte noch einmal durchleben zu lassen. Er erkannte genau, wie sehr sie auch jetzt noch unter diesem Trauma litt, und es tat ihm unendlich Leid, dass er überhaupt gefragt hatte. Am liebsten wäre er aufgestanden, zu ihr gegangen und hätte sie in die Arme genommen. Doch das kam nicht infrage, und so konnte er nur eins für sie tun: zur Bar gehen und das Glas Wasser holen. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Kay", sagte er wenig später, als sie dankbar einen Schluck von der kalten Flüssigkeit trank, „ich wollte Ihnen keinen Kummer bereiten." Es kam ihm beinahe vor, als hätte sie seine Worte nicht gehört, denn sie sprach einfach weiter. Oder vielleicht konnte sie auch nicht mehr aufhören, jetzt, da sie alles wieder von vorn durchlebte. „Ich konnte es einfach nicht", fuhr sie leise fort, „und da haben sie mich vor die Wahl gestellt: Abtreibung oder Koffer packen und die Schule verlassen." „Hat der Junge seine Strafe bekommen?" wollte Patrick wissen. „Nein. Es war wohl ganz normal, dass sich ein zukünftiger Earl und Erbe großer Ländereien einen Fehltritt leistete." Sie rang sich ein Lächeln ab. „Natürlich wurde seine Familie informiert, denn die Sache hätte ja auch ein gerichtliches Nachspiel haben können, wie zum Beispiel eine Klage auf Zahlung von Alimenten." Kay zuckte die Schultern. »Vielleicht haben sie ihm bessere Kondome besorgt." Patrick runzelte die Stirn, und Kay wusste genau, was er dachte. „Sie wundern sich bestimmt, warum ich mit dem Geld von Saschas Familie kein Leben in Luxus führe, sondern auf die Mildtätigkeit der Hallams angewiesen bin." Er nickte. „Sie hätten es für Polly tun können." „So einfach war es damals nicht. Man hatte mich in mein Zimmer eingeschlossen, aber ich habe trotzdem erfahren, dass der Earl höchstpersönlich angereist war, um mit der Schulleitung dieses leidige Problem aus der Welt zu schaffen. Ich hatte solche Angst, man könnte mich zwingen, mein Baby abtreiben zu lassen. Wenn es ein Junge gewesen wäre …" Sie beendete den Satz nicht, doch Patrick verstand auch so, worauf 95
sie hinauswollte. „Dann hätte er Anspruch auf das Erbe gehabt", sagte er. „Was haben Sie also getan?" „Ich bin davongelaufen." „Einfach so? Wohin?" „Darüber habe ich mir damals keine Gedanken gemacht." „Was war mit Ihrer Ausbildung? Wollten Sie denn nicht mehr nach Oxford?" „Als allein erziehende Mutter an der Universität? Das konnte ich mir damals nicht vorstellen. Vielleicht hätte ich es versuchen sollen, aber ich konnte einfach nicht klar denken. Was, wenn ich es nicht geschafft hätte? Dann wäre die Kleine im Heim oder bei Pflegeeltern aufgewachsen, und das durfte ich einfach nicht zulassen. Es sollte meiner Tochter einmal besser gehen als mir." Patrick legte die Hand auf ihre. Diese Geste tröstete Kay, und sie fand die Kraft weiterzusprechen. „Ich war danach als Aushilfe in einem Büro beschäftigt, doch es dauerte nicht lange, bis ich einen Anruf von einer Sozialarbeiterin bekam. Anscheinend hatte Saschas Familie nach mir gesucht und die Behörde informiert. Die Frau wollte wissen, wie ich mir die Zukunft mit einem Baby vorstellte. Ich hätte das Leben noch vor mir, hat sie gesagt und mir vorgeschlagen, das Kind adoptieren zu lassen. Das hat mich so erschreckt, dass ich wieder die Flucht ergriffen habe." Sie schnitt ein Gesicht. „Ich weiß, das war nicht sehr klug, aber ich habe damals keine andere Möglichkeit gesehen", fuhr sie dann fort. „Dieser Anruf hat mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich wurde paranoid und bildete mir ein, verfolgt zu werden. Hinter jedem Baum habe ich einen Kidnapper stehen sehen, und ich hatte furchtbare Angst, dass man mir das Baby gleich nach der Geburt wegnehmen und zur Adoption freigeben würde. Dann wäre meine Kleine für immer verloren gewesen, und ich hätte sie nie wieder gefunden." Kay blickte Patrick flehend an. „Das können Sie doch verstehen, oder? Ich habe mich nicht einmal mehr getraut zu arbeiten, und bald waren meine finanziellen Mittel erschöpft. Also habe ich auf der Straße geschlafen und gebettelt, um überleben zu können. 96
Heute weiß ich, wie dumm ich gewesen bin. Die Sozialarbeiterin wollte mir und meinem ungeborenen Kind doch nur helfen. Aber ich konnte einfach nicht mehr vernünftig denken." „Das ist in solch einer Situation doch ganz normal", sagte Patrick, der immer noch nicht fassen konnte, was Kay zugestoßen war. „Ich frage mich, ob Ihr Freund Sascha unter diesen Umständen so tapfer gewesen wäre wie Sie. Von allen verlassen und …" „Schwanger?" unterbrach sie ihn, und zum ersten Mal lächelte sie. „Dieser Gedanke heitert mich wirklich auf." „Das freut mich. Wie hat es Sie dann nach Upper Haughton verschlagen?" Kay blickte auf seine Hand, die immer noch auf ihrer lag. So war es eigentlich nicht geplant gewesen. Sie hatte ihm helfen wollen und nicht umgekehrt. „Als meine Wehen dann einsetzten, brachte ein Polizist mich ins Krankenhaus. Gleich darauf lag ich im Kreißsaal, und es dauerte nicht lange, bis Polly geboren war. Am nächsten Tag hörte ich zufällig, wie ein Mann die Stationsschwester nach einer jungen Frau namens Katie Lovell fragte." „Katie?" „Katherine, Katie, Kay. Je älter ich werde, desto kürzer ist auch mein Name. Auf jeden Fall habe ich nicht lange gezögert. Die Schwester hatte meine Kleidung in die Wäscherei gegeben, aber ich habe einfach Sachen und etwas Geld aus einem nicht abgeschlossenen Spind gestohlen. Ich wusste nicht, welcher Patientin das alles gehört hat, aber es war mir auch egal. Für mich gab es nur eins: mit Polly sofort zu verschwinden." Sie schauderte, als sie daran dachte, was sie getan hatte. „Wohin …" In diesem Moment brachte der Ober das Essen, und Patrick musste Kays Hand loslassen und sich in Geduld üben, bis der Mann serviert hatte. Dabei interessierten ihn die appetitlich duftenden Nudeln überhaupt nicht. „An wen haben Sie sich dann gewandt?" fragte er sofort, als sie wieder allein waren. „An Tante Lucy." Kay schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist keine 97
Verwandte, sie heißt einfach so. Sie kümmert sich aufopfernd um Pflegekinder, und ich habe eine Woche bei ihr gewohnt, bevor ich aufs Internat ging. Ohne sie hätte ich dort große Schwierigkeiten gehabt. Sie hat mit mir die neue Schuluniform gekauft, mich zum Friseur geschickt und mir beigebracht, welches Besteck man für welchen Hauptgang benutzt. Für mich war sie die letzte Hoffnung. Wenn ich es schaffen würde, ihr das Baby zu bringen, würde sie für Polly sorgen und vielleicht sogar Adoptiveltern für sie finden, dachte ich mir." Sie lachte leise. „Das ist schwer zu verstehen, oder? Plötzlich schien meine größte Angst die einzige Rettung zu sein. Ich musste Polly vor meinen Verfolgern verstecken." „Und was wollten Sie tun?" „Ich? Das war mir egal. Nur mein Kind zählte." Sie schwieg einen Moment und blickte Patrick in die Augen. „Glauben Sie mir, noch nie war mir eine Entscheidung so schwer gefallen. Aber ich hatte keine Wahl. Ich habe Polly vor Tante Lucys Tür abgelegt und eine Nachricht beigefügt, die ich mit ,K' unterzeichnet hatte. Ich wollte anonym bleiben, damit Polly geschützt blieb, egal, was auch immer geschehen mochte." „Ich finde Katherine übrigens viel schöner als Kay", sagte Patrick. „Der Name passt viel besser zu Ihnen, denn inzwischen sind Sie erwachsen und viel reifer geworden." Sie errötete, und Patrick fand es beeindruckend, dass sie sich über so ein einfaches Kompliment freute. „Wie ging es dann weiter?" fragte er. „Ich konnte nicht einfach fortgehen, denn ich hatte Angst, dass Tante Lucy vielleicht doch das Jugendamt informieren würde. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte man in allen Medien nach mir gesucht und meine Verfolger auf Pollys Spur gebracht. Also habe ich das Haus beobachtet, um herauszufinden, was mit meiner Tochter geschieht." Sie nahm die Gabel und schob gedankenverloren die Teigtaschen in der Sauce hin und her. „Und? Was hat Tante Lucy getan?" wollte Patrick gespannt wissen. „Sie hat meinem Wunsch entsprochen und Polly zu Amy und Jake Hallam gebracht. Damit hat sie eine Menge riskiert, und ich werde 98
ihr dafür immer dankbar sein. Jake war übrigens eins ihrer vielen Pflegekinder, aber das war zu der Zeit, als er noch sehr jung und nicht so brav war wie heute." Sie lachte leise. „Auch wenn Sie es nicht glauben, er war nicht immer der Liebling aller Schwiegermütter." „Und die Hallams haben Polly, ohne zu zögern, aufgenommen?" „Sie hatten schon drei Jungen, aber Amy wünschte sich noch ein Mädchen. Es war die beste Lösung für alle." „So einfach ist es leider nicht, Kay. Sie haben sich damit strafbar gemacht. Man kann nicht so ohne weiteres ein Kind adoptieren. Es gibt Formalitäten, Gesetze …" „Sie haben viel Geld", unterbrach sie ihn, „und Macht. Wer hätte es schon übers Herz gebracht, Polly aus diesem wunderschönen Haus zu holen? Sie von ihren Eltern zu trennen, die sie lieben und alles für sie tun würden? Es hätte ihr an nichts gefehlt." „Das mag ja sein, aber es ist trotzdem nicht legal." „Amy und Jake hätten es schon geschafft. Aber Amy ist eine Mutter, und sie hat genau gewusst, dass ich in Schwierigkeiten steckte." Eine Träne lief Kay die Wange hinunter, und sie wischte sie schnell fort. „Sie hat sich so sehr ein Mädchen gewünscht, trotzdem hat sie Polly nicht behalten. Stattdessen haben die Hallams mich gesucht und mir meine Tochter zurückgegeben. Damit haben sie mir das Leben gerettet." Die Gabel rutschte ihr aus den bebenden Fingern und fiel auf den Tisch. Unwillkürlich sprang Patrick auf, lief um den Tisch und zog Kay vom Stuhl hoch. Er nahm sie in die Arme und flüsterte ihr tröstende Worte ins Ohr. Als sie wenig später aufblickte, hatte sie sich trotz der Tränen in den Augen wieder unter Kontrolle. „Es tut mir Leid, Mr. Ravenscar", sagte sie leise, „aber ich kann jetzt nichts essen." „Das verstehe ich", erwiderte er und war sich bewusst, dass die anderen Gäste ihnen neugierige Blicke zuwarfen. „Lassen Sie uns nach Hause fahren. Ich bin kein guter Koch, aber eine Suppe aus der Dose werde ich noch hinbekommen." Er hielt Kay immer noch fest und hätte sie am liebsten nie wieder losgelassen. 99
Doch sie befreite sich aus seinem Griff. „Es geht schon, danke", sagte sie, als sie sein besorgtes Gesicht sah. Patrick bezahlte die Rechnung und folgte Kay dann hinaus auf den gepflasterten Hof. Wie gern hätte er wieder ihre Hand genommen, doch Kay schien entschlossen, Abstand zu ihm zu halten. „Sehen Sie das Geschäft dort hinten?" fragte sie und zeigte auf ein ganz in Gold und Schwarz gehaltenes Schaufenster, in dem exotische Duftöle, Seifen und Kerzen ausgestellt waren. „Das hier war Amys erster Laden. Jetzt ist sie mit ihren Produkten in fast jeder großen Stadt vertreten." „Vielleicht werden Sie ja genauso erfolgreich", erwiderte Patrick. „Ihre Geschäftsidee hat Zukunft, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Wenn Sie den Kredit bekommen und sich einen zweiten …" „Verdammt!" rief sie erschrocken. „Mein Wagen! Er steht immer noch vor Ihrem Haus, und der Schlüssel steckt! Wenn er gestohlen wird, bin ich erledigt. Wo haben Sie Ihr Auto geparkt?" „Warten Sie hier, ich hole es", antwortete er und schüttelte den Kopf, als Kay protestieren wollte. „Ich bin schneller als Sie, vor allem, weil Sie hochhackige Schuhe tragen." Als er den Schlüssel aus der Tasche zog, fiel etwas zu Boden, und Kay bückte sich, um es aufzuheben. „Warten Sie, Mr. Ravenscar! Sie haben …" Doch er hatte sich schon abgewandt und war mit großen Schritten davongegangen. Es war auch nicht so wichtig, denn es handelte sich um eine Pflanze mit zerdrückten Blättern. Nachdenklich atmete Kay den Duft ein. Es war Majoran… Trug er etwa immer noch das Kraut bei sich, das sie für ihn gepflückt hatte? Dafür konnte es natürlich unzählige Gründe geben. Er hatte den Zweig einfach in seine Jackentasche gesteckt und vergessen. Das war die einfachste Erklärung. Nur hatte er an jenem Tag eine andere Jacke getragen.
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9. KAPITEL „So können wir Honig vom Unkraut sammeln und den Teufel selbst zum Heiligen erklären." William Shakespeare Kays Lieferwagen stand vor Linden Lodge noch genau da, wo sie ihn wenige Stunden zuvor abgestellt hatte. Ich habe also Recht gehabt, dachte Patrick, wer sollte dieses alte Auto auch stehlen? Doch es wäre zu unhöflich gewesen, Kay an seine Worte zu erinnern, vor allem jetzt, da ihr Geschäft von einem Lieferwagen abhing. „Sie sollten ihn lieber abschließen, bevor Sie hereinkommen", sagte Patrick stattdessen. „Es ist nicht gut, das Schicksal zwei Mal herauszufordern." Kay schien zu zögern, und er wusste genau, was in ihr vorging. Sie suchte nach einer Ausrede, um sich verabschieden und nach Hause zurückkehren zu können. Das würde er nicht zulassen, denn er spürte, wie traurig und verwirrt sie immer noch war. Dagegen gab es nur ein Mittel: sich mit Arbeit abzulenken. „Ich möchte gern mit Ihnen die Prospekte durchsehen", fügte er schnell hinzu und verschloss die Wagentür. „Und da ich auf mein Mittagessen verzichtet habe, können Sie mir dann auch die Bedingung nennen, die Sie mir vorhin verschwiegen haben." Sie zuckte zusammen und errötete wieder. „Oh nein!" Anscheinend hatte sie gehofft, er hätte es vergessen. So leicht ließ er sie aber nicht davonkommen. „Aber ja!" Vorher war er nicht bereit, ihr den Schlüssel zurückzugeben. Einen Moment lang standen sie schweigend da, dann gab Kay nach. „Also gut. Es war sowieso nichts Weltbewegendes. Ich wollte Sie überreden, am Erntedankfest morgen Abend teilzunehmen." Sie lächelte ihn strahlend an, und Patrick war plötzlich klar, warum der Junge sie damals verführt hatte. Kay Lovell war verletzlich, unschuldig und trotz ihrer manchmal schonungslosen Offenheit anderen Menschen gegenüber sehr
schüchtern. Damit war sie eine nur schwer zu fangende Beute - aber Männer waren schon seit Urzeiten Jäger gewesen. „Natürlich nicht mit mir", fügte sie schnell hinzu, als sie seinen forschenden Blick bemerkte, „das ganze Dorf wird da sein." „Ich weiß." Genau das machte ihm ja Angst. Er wäre viel lieber mit Kay allein gewesen… „Wenn Sie nicht kommen, entgeht Ihnen meine Brombeertorte, und Sie ahnen ja gar nicht, was Sie dann verpassen!" „Unsere Brombeertorte, meinen Sie wohl." Wie du mir, so ich dir, dachte er und hätte beinahe gelächelt. „Also gut, unsere. Ein Grund mehr, weshalb Sie an dem Fest teilnehmen sollten." Nach außen hin wirkte sie selbstbewusst und ruhig, aber Patrick hatte sie durchschaut. Es war alles nur Fassade. Sobald Kay auf ein Hindernis stieß, zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück. Deshalb hielt er sich zurück und ließ nicht die Hand über ihre Wange gleiten, wie er es so gern getan hätte. Er wollte ganz bestimmt nicht, dass Kay erschrak und ihn aus ihrem Leben ausschloss. „Ich werde darüber nachdenken", sagte er schließlich. Er stellte sich vor, wie er eng neben ihr auf einer langen Holzbank saß und der Tisch vor ihnen mit leckeren Speisen, Wein, Bier und Fruchtsaft beladen war. Würde er nicht schwach werden, wenn sie ihn anblickte und ihn strahlend anlächelte? Er war doch kein Mönch! „Aber nur unter der Bedingung, dass Sie hereinkommen und etwas mit mir essen", sagte er schnell. „Und wenn Sie mir beim Aussuchen des neuen Gartenhauses helfen, unterstütze ich Sie bei Ihrem Finanzplan." Er nahm ihre Hand. „Abgemacht, Katherine?" „Ja, Mr. Ravenscar." „Sagen Sie Patrick." Sie zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. „Ja, Patrick, abgemacht." Eigentlich hätte sie sich nicht darauf einlassen sollen. Ihn Mr. Ravenscar zu nennen war sicherer gewesen … für beide Parteien. Sie hatte ihm helfen wollen, und das konnte sie nur, wenn sie sich nicht zu nahe standen. Doch wenn sie es genau überlegte, war das Ganze 102
sowieso nur ein Spiel … und es war gefährlich, wie alles, was sich zwischen Mann und Frau abspielte. Selbst wenn Patrick „Miss Lovell" zu ihr sagte, klang es zärtlich, verführerisch und konnte sie in große Schwierigkeiten bringen, wenn sie nicht aufpasste. Sie ließ es zu, dass er sie ins Haus führte und dabei ihre Hand hielt. Katherine, dachte sie, er hat Katherine gesagt. Noch nie hatte sie jemand mit ihrem vollen Namen angesprochen, und sie fühlte sich plötzlich so, als wäre sie etwas ganz Besonderes. Es gab einen Menschen, der sich um sie sorgte … zum ersten Mal in ihrem Leben. Eigentlich hatte sie Patrick Ravenscar beistehen wollen, aber so, wie es aussah, war es genau andersherum. Oder vielleicht unterstützten sie sich ja beide. „Was ist mit meiner Party, Mummy?" fragte Polly aufgeregt, als Kay am nächsten Morgen das kleine Gartentor öffnete und mit ihrer Tochter Patricks Grundstück betrat. „Welche Party meinst du?" Kay schob den Riegel vor und wandte sich dann Polly zu. „Du weißt schon", sagte diese schnell, „ich habe doch in zwei Wochen Geburtstag! Ich möchte gern im Dorfgemeinschaftshaus feiern, damit alle kommen können." „Darf ich auch dabei sein?" Kay blieb erstaunt stehen, als sie Patricks Stimme hörte. Er stand auf dem Gras und stach mit einem Spaten die Rasenkante ab. Diese Arbeit hatte sie eigentlich erledigen wollen, wenn es trocken war, aber nun war Patrick ihr zuvorgekommen. Wieder musste sie an den vergangenen Nachmittag denken. Patrick hatte ihnen Sandwiches zubereitet, danach hatten sie sich in die Gartenhausbroschüren vertieft. Dann hatte er Kay von den Orten erzählt, an denen er überall gewesen war, und anschaulich das gefährliche Leben in der Wüste und in den Sümpfen beschrieben. Es war erstaunlich, was ein Mensch ertragen konnte! Viel zu schnell war es Zeit für Kay gewesen, Polly von der Schule abzuholen. Jetzt blickte ihre Tochter Patrick unsicher an. „Ich weiß nicht", sagte sie, „ich wollte nur kleine Kinder einladen." „Du bist nicht klein", meinte er lächelnd. 103
Kay biss sich auf die Lippe. Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie er wohl mit Polly umgehen würde. Was hatte sie denn eigentlich erwartet? Er war ein guter Zuhörer und wusste genau, wann er schweigen und wann er das Thema wechseln musste. „Ich bin das größte Mädchen in unserer Klasse", sagte Polly und seufzte leise. „Mummy meint, ich schieße hoch wie Unkraut." „Tatsächlich? Welches denn? Gänseblümchen?" „Die sind doch nicht groß! Sieh mal…" Die Kleine bückte sich und begann, die weißen Blümchen zu pflücken, die überall auf dem Rasen sprossen. Kay nahm sich fest vor, etwas dagegen zu unternehmen. Perfekte Gärten sahen so eher nicht aus … fröhliche hingegen schon! „Da, bitte", fuhr Polly fort und reichte ihm den Strauß. „Sie sind ganz klein." „Wie wäre es mit Löwenzahn?" fragte er. Polly schüttelte den Kopf. „Was ist mit Disteln?" „Vielleicht…" Sie blickte Kay an. „Sind Disteln Unkraut, Mummy, oder wilde Blumen?" „Das hängt davon ab, wo sie wachsen", erwiderte Kay. „Ich muss jetzt arbeiten, Schätzchen. Kann ich dich bei Mr. Ravenscar lassen, damit ihr eure faszinierende Unterhaltung weiterführen könnt?" Skeptisch blickte die Kleine Patrick an und nickte dann. „Ist schon okay, Mummy. Kannst du einen Gänseblümchenkranz flechten, Mr. Ra…" Es gelang ihr nicht, seinen langen Namen auszusprechen. „Nenn mich Patrick." „Patrick? Ein Junge in meiner Klasse heißt so. Er ist echt unmöglich! Ich zeige dir jetzt mal, wie man einen Kranz macht." Sie blickte auf und wartete, bis sie Patricks ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. „Das geht so …" sagte sie dann. Kay beobachtete die beiden einen Moment unsicher. Patrick hatte sich zwar bereit erklärt, auf Polly aufzupassen, aber war er auch einverstanden, mit ihr zu spielen und dabei ihrem ununterbrochenen Geschnatter zuzuhören? „Lass es mich versuchen", sagte Patrick und begann geschickt, den Kranz zu flechten, „und du erzählst mir von deiner Party." 104
Es wurde ein wunderbarer, ruhiger Nachmittag. Kay hatte die Sonne im Rücken, und es gelang ihr, die Beete völlig vom Unkraut zu befreien. Die ganze Zeit lauschte sie Patricks ruhiger, tiefer Stimme und freute sich, dass er sich mit ihrer Tochter so gut verstand. „Feierabend!" rief er schließlich Kay zu. „Ich habe eine feine Tasse Tee für Sie. Sie haben übrigens hervorragende Arbeit geleistet." Lächelnd ging sie zu ihm, streifte sich die Gartenhandschuhe ab und nahm den Becher, den er ihr reichte.' „Danke, und Sie haben mir sehr geholfen, weil Sie die Rasenkante abgestochen haben." „Gern geschehen. Ich konnte mich ja schlecht auf die Terrasse setzen und Ihnen tatenlos zusehen. Außerdem hat es mir viel Spaß gemacht. Früher habe ich einfach nicht die Zeit dazu gefunden. Ich hatte immer zu viel zu tun." Es kam Kay vor, als hätte er sich plötzlich wieder in die Vergangenheit versetzt und würde zum ersten Mal erkennen, was er damals versäumt hatte. „Ich werde morgen den Rasen mähen", sagte sie schnell. „Danach werde ich ihn düngen und etwas gegen die vielen Gänseblümchen unternehmen." „Überlassen Sie das Mähen ruhig mir." Nachdenklich betrachtete er die große Grünfläche. „Eigentlich ist es schade um die schönen Blümchen. Sie geben dem Rasen erst das richtige Flair, oder?" „In Maßen, ja", erwiderte sie. „Sie denken doch nicht, dass ich Geld sparen will?" „Ich bitte Sie! Ich habe genug zu tun und freue mich über jede Hilfe. Außerdem hasse ich Rasenmähen!" Die Arbeit würde ihm gut tun. Er sah schon viel besser aus, nachdem er den Nachmittag in der Sonne verbracht hatte … er war viel entspannter, und sein Lächeln wirkte befreit. „Ich danke Ihnen, dass Sie auf Polly aufgepasst haben." „Sie ist ein wunderbares Mädchen mit viel Fantasie. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Puppen ein solch erfülltes Leben führen", sagte er und beobachtete lächelnd, wie die Kleine ihr Spielzeug einsammelte und mit den Puppen sprach, während sie sie in ihrer Tasche verstaute. „Sie haben Polly wirklich sehr gut erzogen, Katherine, und Sie können stolz auf sie sein." Er schien noch mehr sagen zu wollen, doch dann überlegte er es sich anders. „Sie hat mir all ihre Mitschü105
ler bis ins Kleinste beschrieben, und die Lehrer noch dazu." Kay lachte leise. „Wir haben mit den Lehrern einen Pakt geschlossen. Sie glauben nicht alles, was die Kinder über uns erzählen, und umgekehrt. Jetzt müssen wir aber los." „Ich habe Sie doch hoffentlich nicht von Ihren Vorbereitungen für das Erntedankfest abgehalten, oder?" „Nein." Kay begann, ihre Geräte zusammenzupacken. „Die Torten tauen schon auf, ich muss sie dann nur noch in den Ofen schieben. Und darf die Vanillesauce nicht vergessen." „Soll ich Ihnen beim Tragen der Torten helfen?" Hatte sie sich verhört? „Ich habe es mir überlegt", sagte er, „ich begleite Sie zum Fest." „Super! Ich freue mich sehr und bin für jede Hilfe dankbar. Kommen Sie doch um halb sechs zu mir." Kay hatte eigentlich nicht vorgehabt, sich besonders fein zu machen, denn auf dem Erntedankfest ging es nicht glanzvoll zu. Außerdem hatte sie sich bereit erklärt, beim Servieren zu helfen. Trotzdem benutzte sie das gute Duschgel, das Amy ihr geschenkt hatte - das mit den ätherischen, exotischen Ölen aus Rosen, Ylang-Ylang und Orangen. Sie lackierte sich auch sorgfältig die Fingernägel und verbrachte mehr Zeit als sonst vor dem Spiegel. Auch wenn sie die meiste Zeit eine Schürze tragen würde, entschied sie sich für eine Bauernbluse und einen farblich dazu passenden Rock anstelle der üblichen Jeans und dem T-Shirt. Schließlich betrachtete sie sich noch einmal im großen Garderobenspiegel - und erschrak. Ihr Haar fiel ihr wie ein Wasserfall über die Schultern, ihre langen Beine wurden durch die hochhackigen Sandaletten noch betont. Sie kam sich vor wie ein junges Mädchen beim ersten Rendezvous! Verdammt! dachte sie und stöhnte leise. Das war ja wohl viel zu offensichtlich! Das ganze Dorf würde Bescheid wissen, wenn sie so beim Fest auftauchte … und Patrick natürlich auch. Schnell lief sie zurück ins Schlafzimmer, streifte sich die Bluse ab und zog ein blaues T-Shirt über. Und warum hatte sie bloß diese aufreizend hohen Schuhe ausgewählt? Sie stellte sie in den Schrank zu106
rück und entschied sich stattdessen für flache Pumps. Dann steckte sie sich das Haar hoch und half danach Polly beim Anziehen. Wenig später klingelte es. „Kommen Sie herein", rief sie, „es ist offen." „Bin ich zu früh dran?" fragte Patrick und blieb an der Tür stehen. Oh, er sieht so gut aus, dachte sie und blickte schnell zur Seite. Polly lief inzwischen auf den Besucher zu und begrüßte ihn herzlich. „Hallo, Patrick. Die Puppen haben sich mit den Teddybären getroffen und beschlossen, dass du zu meiner Party kommen darfst." „Polly!" rief Kay und schnitt ein Gesicht, um ihre Verlegenheit zu verbergen. „Es tut mir Leid, Patrick." „Natürlich nur, wenn du möchtest", fuhr die Kleine fort, und ihr Blick war flehend. Erschrocken betrachtete Kay ihre Tochter. Mit dieser gefährlichen Wendung hatte sie nicht gerechnet. Patrick sehnte sich nach seiner verstorbenen Frau, und Polly wünschte sich einen Vater. Und was sie, Kay, anging … „Komm sofort her, Polly", sagte sie strenger als beabsichtigt, „ich muss noch dein Haar kämmen." „Soll ich schon etwas ins Dorfgemeinschaftshaus bringen?" fragte Patrick schnell. „Oh ja, danke. Sie können mit den abgedeckten Tabletts in der Küche anfangen. Seien Sie aber vorsichtig, die Schüsseln und Teller sind noch heiß. Dorothy und Jane Hilliard haben die Oberaufsicht und werden Ihnen zeigen, wo Sie die Sachen hinstellen können." „In Ordnung. Ich bin gleich zurück. Wir sprechen später über die Einladung, Polly", sagte Patrick und verschwand in der Küche. Kay wusste nicht, ob sie weinen oder jubeln sollte. „Lass uns mit deiner Frisur weitermachen, Schätzchen", sagte sie schließlich. Doch Polly ging erst aus dem Haus, nachdem Kay ihr den Gänseblümchenkranz aufgesetzt hatte, den Patrick für sie geflochten hatte. Während der ersten Stunden des Abends war Kay hin- und hergerissen. Zum einen wollte sie unbedingt Abstand zu Patrick halten, um sich und auch Polly zu schützen, denn sie hatte Angst, mehr von ihm zu verlangen, als er ihnen geben konnte. Zum anderen wollte sie ihm so nah wie möglich sein, um ihn vor den neugierigen Dorfbewohnern 107
abzuschirmen. Aber er kam auch ohne ihre Hilfe gut zurecht. Er erneuerte alte Bekanntschaften und unterhielt sich angeregt mit den Leuten. Nach einer Weile entspannte Kay sich. Sie hatte keinen Grund, sich um ihn Sorgen zu machen. Er war ein erwachsener Mann und hatte in den letzten Jahren an den ungastlichsten Orten gearbeitet. Er musste nicht beschützt werden - ganz im Gegenteil! Sie wünschte sich nur, dass er sie mehr beachtete, denn sie fühlte sich von ihm behandelt, als wäre sie Luft für ihn! „Ich habe dich schon überall gesucht, Kay. Die Kinder sind müde, und wir fahren jetzt nach Hause. Mark hat gefragt, ob Polly bei uns übernachten könnte." Kay seufzte leise. Sie war Amy den ganzen Abend aus dem Weg gegangen, doch sie hätte wissen müssen, dass sich ihre Freundin von so etwas nicht abschrecken ließ. Sie hatte sie gefunden, obwohl sie, Kay, sich die letzten zwei Stunden in der Küche versteckt und das Geschirr gespült hatte. „Bist du damit einverstanden?" wollte Amy wissen. Kay betrachtete sie überrascht. Normalerweise fragte ihre Freundin nicht lange, sondern tat einfach, was sie wollte. „Natürlich", sagte sie schließlich, „wenn sie euch nicht stört." „Unsinn. Polly ist ein so liebes Mädchen. Was machst du eigentlich hier, Kay?" Sie zeigte auf die Namensliste, die über der Spüle hing. „Du bist doch gar nicht zum Abwaschen eingeteilt." „Aber ich …" „Schluss damit! Du hast hart gearbeitet und ein Recht darauf, dich auch einmal zu amüsieren." „Das tue ich gerade." „Ach ja? Und was ist mit deinem gut aussehenden Begleiter? Jede Frau unter fünfzig macht ihm schöne Augen … mehr oder minder offen natürlich. Und du stehst hier in der Küche und kratzt die Essensreste von den Tellern." Amy schüttelte den Kopf. „Ich verstehe dich nicht, Kay." „Er kommt auch gut allein zurecht, Amy. Außerdem ist er gar nicht mein ,Begleiter'. Er hat mir nur geholfen, die Torten zu tragen. Falls 108
es dir nicht aufgefallen ist, er hat mich den ganzen Abend ignoriert." „Während du ihn wie ein liebeskranker Teenager angehimmelt hast. Ich habe doch Augen im Kopf, Kay." Ehe sie sich's versah, lag sie in Amys Armen. „Es tut mir so Leid, Amy", flüsterte sie, „ich hätte auf dich hören sollen. Du hast immer Recht." Amy strich ihr sanft übers Haar. „Bei dir habe ich mich nicht geirrt, und darauf bin ich stolz. Alle haben mich davor gewarnt, dich aufzunehmen - und sie haben sich getäuscht. Allerdings habe ich einen Fehler gemacht: Ich hätte dir viel mehr Freiraum geben sollen. Verzeih mir das bitte, Kay. Ich hätte Vertrauen zu dir haben müssen." „Es ist nichts passiert, Amy. Wir haben uns nur unterhalten." Kay wischte eine Träne fort und rang sich ein Lächeln ab. „Obwohl ich Patrick manchmal mit meiner Offenheit richtig auf die Nerven gegangen bin." „Genauso wie ich dir damals", sagte Amy zufrieden. „Manchmal hättest du mich bestimmt gern zum Teufel geschickt." Kay nickte. „Ich glaube, ihm ist es nicht anders ergangen. Doch ich wollte ihm unbedingt helfen. Es ist wie mit dem Unkraut. Wenn es erst einmal entfernt ist, können die Pflanzen wachsen." „Das ist ein guter Vergleich. Du hast bei Patrick Wunder gewirkt, Kay. Er scheint in den letzten Wochen ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Jake hat ihn kurz nach seiner Ankunft besucht und war entsetzt, wie schlecht er ausgesehen hat. Doch heute wirkt er wieder jung und dynamisch." „So schlecht nun wieder auch nicht." Kay dachte daran, wie schnell ihr Herz bei ihrem ersten Treffen mit Patrick geklopft hatte. „Ich habe ihn natürlich nie richtig glücklich gesehen. Seine Ehe mit Sara muss einfach perfekt gewesen sein." „Nichts ist perfekt." Amy schüttelte den Kopf. „Wenn wir alle mit unserem Los zufrieden wären, würden wir heute noch in Höhlen wohnen. Patrick Ravenscar musste nur daran erinnert werden, wie schön das Leben sein kann. Ich habe ihn heute beobachtet. Er hat dich kaum aus den Augen gelassen. Wenn du mich fragst, hat er seine Trauer fast überwunden." 109
„Ich muss aber auch an Polly denken." „Sie mag ihn, Kay, denn sie hat mir den halben Abend vorgeschwärmt, wie toll Patrick doch Gänseblümchenkränze flechten kann." „Ich habe Angst, Amy", sagte Kay leise. „Was, wenn er unsere Zuneigung nicht erwidert?" „Auch ich habe mir um euch Sorgen gemacht. Ich war mir sicher, dass er euch verletzen würde. Dabei kannst du sehr wohl auf euch aufpassen. Ich habe nur an mich gedacht, Kay, denn ich hätte es nicht ertragen, wenn du mit Polly fortgegangen wärst. Deshalb habe ich dich nicht von der Leine gelassen und dir auch keine Möglichkeit gegeben, dich zu entwickeln. Das tut mir sehr Leid." „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", erwiderte Kay. „Du hast guten Grund gehabt, so zu handeln. Immerhin bin ich mein halbes Leben davongelaufen. Erst als ich Patrick getroffen habe, wurde mir bewusst, dass ich es immer noch tue." „Dann hast du deine Lektion gelernt. Jetzt wird es Zeit, sie in die Tat umzusetzen. Und da dir das bestimmt schnell gelingen wird, habe ich etwas für dich. Ihr werdet es brauchen." Bevor Kay erkennen konnte, was sie da in der Hand hielt, hatte sich ihre Freundin schon abgewandt. Wenig später verabschiedete Kay sich von Polly und winkte ihr hinterher, als sie mit Amy und den Jungen davonfuhr. Am liebsten wäre sie auch nach Hause gegangen, aber das kam nicht infrage. Sie hatte sich vorgenommen, nie wieder fortzulaufen. Das war natürlich leichter gesagt als getan, denn sie hatte das Gefühl, als wüsste jeder, was sie so schnell in der Tasche hatte verschwinden lassen. Dabei konnte es doch niemand gesehen haben, oder? „Ich habe schon befürchtet, Sie hätten ohne mich das Fest verlassen", sagte Patrick, der plötzlich hinter ihr aufgetaucht war. Kay wirbelte herum. „Nein", antwortete sie schnell und hoffte, dass er nicht bemerkte, wie verlegen sie war, „das Würde ich nie tun. Ich habe mich nur von Polly verabschiedet. Sie schläft heute bei den Hallams. Wollen Sie nach Hause?" 110
„Nein. Ich warte immer noch darauf, dass Sie endlich Ihre Schürze abnehmen, damit ich Sie zum Tanzen auffordern kann." „Wie bitte?" Damit hatte sie nicht gerechnet. „Das müssen Sie nicht." „Soll das etwa ein Nein sein, Katherine?" Nachdenklich betrachtete sie die Gäste in der großen Halle. Sollten sie sich wirklich in aller Öffentlichkeit zeigen? Zu allem Überfluss spielte die Band gerade ein langsames Liebeslied, und die Paare tanzten eng umschlungen. Kay stellte sich vor, wie es wohl sein mochte, Patrick zu berühren und ihm so nahe zu sein. Wie schön wäre es doch, einmal im Leben nicht davonzulaufen, sondern stehen zu bleiben und sich in Patricks Arme zu schmiegen. „Eigentlich nicht", sagte sie schließlich, „ich habe nur noch nie getanzt." „Sind die Männer in Upper Haughton denn alle blind?" Sie errötete. „Ich war meistens in der Küche beschäftigt. Außerdem musste Polly immer früh ins Bett." „Heute nicht. Sie schläft bei den Hallams, und Sie haben frei. Seien Sie unbesorgt, Katherine, auch ich habe schon lange nicht mehr getanzt. Wir helfen uns einfach gegenseitig, einverstanden?" Er nahm ihre Hand und legte sie sich auf die Schulter. „Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, muss ich meinen Arm um Ihre Taille legen." Gesagt, getan. „Gut so?" fragte er dann. Kay bebte am ganzen Körper. „Ja …" flüsterte sie. „Kommen Sie ruhig etwas näher." Sie zögerte. „Muss das sein?" „Aber ja." Vorsichtig bewegte sie sich auf ihn zu … einen Zentimeter … noch einen… „Schon besser. Jetzt können wir beginnen." Da sie sich immer noch an der Tür befanden, machte Kay einen Schritt in den Raum. Patrick blieb jedoch stehen, und plötzlich lag sie in seinen Armen. „Ich bin der Mann", sagte Patrick lächelnd, „und ich führe." Er zog sie noch enger an sich und tanzte mit ihr durch die Halle bis hinaus auf die gepflasterte Terrasse, wo sie ungestört waren. „Hier ist es doch schon viel ruhiger", flüsterte er Kay ins 111
Ohr. Die Band spielte immer noch romantische Liebeslieder, und sie tanzten in der langsam hereinbrechenden Dämmerung, als hätten sie nie etwas anderes getan. Eng umschlungen bewegten sie sich im Rhythmus der Musik. Doch unvermittelt blieb Patrick stehen. „Die Torte hat übrigens hervorragend geschmeckt, Katherine." „Vielen Dank", erwiderte sie, und als sie weitertanzten, legte Kay ihre Wange an seine Schulter. Die Musik wurde leiser, und plötzlich befanden sie sich auf Gras und nicht mehr auf Stein. „Der Pfarrer hat mich übrigens gebeten, im Gemeindehaus einen Vortrag über meine Arbeit in den Entwicklungsländern zu halten. Vielleicht hätte ich ihm den Scheck für Brot für die Welt besser in den Briefkasten werfen sollen, als ihn ihm persönlich zu übergeben." Kay lächelte zufrieden. „Wenn Sie ihm eine größere Geldsumme zugesagt hätten, wären Sie vielleicht davongekommen." Wieder blieb er stehen und blickte sie gespielt entsetzt an. „Wieso denn? Das mache ich doch gern." Sie konnte in der Dunkelheit sein Gesicht kaum erkennen. „Das ist ein alter Trick von unserem Pfarrer. Ich hätte Sie warnen sollen, Patrick. Er gibt sich nicht mit dem kleinen Finger zufrieden, sondern nimmt immer gleich die ganze Hand." Wieder zog er sie an sich, und diesmal schmiegte sie sich, ohne zu zögern, an ihn. „Ich bin froh, dass Sie mich überredet haben, an dem Fest teilzunehmen", sagte er leise. „Das habe ich gar nicht getan." „Nein? Oh, Katherine …" Eine Weile blickte er sie einfach schweigend an. „Katherine …" „Ja?" „Nichts. Ich liebe nur den Klang Ihres Namens." Ehe sie sich's versah, hatte er sich vorgebeugt und die Lippen kurz auf ihre gepresst. „Katherine …" flüsterte er dann rau. „Ja", antwortete sie mit bebender Stimme. Er küsste sie wieder, und sie hatte das Gefühl, als versagten ihr die 112
Beine den Dienst. Sie selbst schien willenlos zu sein, und ihr war bewusst, dass dies nur der Anfang war. Sie konnte es nicht erwarten, ihre Begierde endlich zu stillen. Er schien zu ahnen, was in ihr vorging. Zärtlich ließ er di Finger über ihre Wange gleiten und presste die Lippen noch einmal auf ihre. Diesmal war der Kuss leidenschaftlich und fordernd, und für Kay gab es auf der Welt plötzlich nur noch diesen Mann und seine aufregenden Berührungen. Sanft erforschte er mit der Zunge das warme Innere ihres Mundes und steigerte damit ihr Verlangen noch mehr. Sie seufzte leise, schloss die Augen und gab sich ganz dem berauschenden Gefühl hin, das Patrick in ihr auslöste. Oh, wie lange hatte sie darauf gewartet! Sie war erwachsen geworden und wusste, was sie wollte. Nie wieder würde ein Mann sie mit falschen Komplimenten verführen können. Das hatte Patrick auch nicht vor. Nein, diesmal war alles ganz anders. Jetzt verstand sie endlich die Macht der atemberaubenden Leidenschaft, die eine normalerweise vernünftige Frau um den Verstand bringen konnte. Sie war bereit, alles zu riskieren, um den Mann lieben zu können, dem sie ihr Herz geschenkt hatte. „Ich habe den ganzen Abend auf diesen Augenblick gewartet", flüsterte er und zog eine Spur von heißen Küssen über ihren Hals. „Und ich mein ganzes Leben lang."
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10. KAPITEL „Bringt her die rosa und lila Akelein mit ihren zarten Blüten. Bringt mir zur Krönung Brot und Wein, die einstigen Geliebten. Streut mir den Weg mit Dichternarzissen, mit Seerosen, Primeln und Himmelsschlüsseln." Edmund Spenser Kay wachte am nächsten Morgen in ihrem großen Bett auf. Es war noch früh, und der Himmel hatte sich blutrot verfärbt. Der lange Altweibersommer schien sich seinem Ende zu nähern, und die ersten Windböen des Herbstes rüttelten an den Fensterläden. Kay lief ein Schauder über den Rücken. Es kam ihr vor wie ein schlechtes Omen. „Ist dir kalt?" fragte Patrick fürsorglich. Sie wandte sich ihm zu. Er hatte sich auf den Ellbogen gestützt und beobachtete sie lächelnd. Schnell zog sie die Decke hoch bis unters Kinn. „Nein …" „Tut es dir Leid?" „Auch nicht." Plötzlich waren ihr das Wetter und ihre Ängste egal. „Warum sollte es das?" Sie war auch nicht mehr schüchtern, sondern ließ die Hand über seine Wange gleiten. Sein Gesicht war kalt. Wie lange hatte er schon so dagelegen und sie betrachtet? „Du bist einfach umwerfend, weißt du das? Ich habe so etwas noch nie getan …" Sie lachte leise und sprach dann weiter. „Na ja, das ist so nicht richtig. Natürlich habe ich es schon getan, aber es war damals ganz anders." Sie war niemals neben Sascha eingeschlafen, und er hatte sie auch nicht angesehen, als wäre sie das Kostbarste auf der Welt. Es war nur um Sex gegangen, um mehr nicht. „Er hat mir nie gezeigt, wie schön Liebe sein kann …" Patrick beugte sich vor und presste die Lippen auf ihre. Sie waren kalt, und doch war der Kuss süß und verheißungsvoll. „Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du zu viel redest?" fragte er, als er nach einer kleinen Ewigkeit ihren Hals liebkoste.
„Nein …" Sie seufzte leise und schloss die Augen. „Jedenfalls nicht in letzter Zeit. Es passiert mir nur, wenn ich nervös bin." „Mache ich dich etwa nervös?" Sanft liebkoste er ihre Brustknospe. Kay stöhnte leise auf und biss sich auf die Lippe. „Nein …" flüsterte sie. Er lachte jungenhaft. „Das will ich auch hoffen." Er umschloss ihr Gesicht und blickte sie liebevoll an. „Ahnst du eigentlich, wie sehr du mich in den Wahnsinn getrieben hast, Katherine? Schon vom ersten Moment an wollte ich dich lieben. Ich hatte nur Angst, ich könnte vergessen haben, wie es funktioniert." „Da hast du dir umsonst Sorgen gemacht", erwiderte sie lächelnd. „Du weißt es noch genau." „Das ist dein Verdienst, Katherine Lovell. Du hast dafür gesorgt, dass es mir wieder eingefallen ist. Es war sozusagen eine Wunderheilung." Er beugte sich hinunter, küsste sie wieder und ließ die Lippen aufreizend langsam über ihren Körper gleiten, bis er endlich ihre empfindsamste Stelle erreicht hatte. Kay atmete tief durch und gab sich ganz den wunderbar befriedigenden Gefühlen hin, die sie durchfluteten. „Ich habe jemanden kennen gelernt, Sara", sagte Patrick leise zu dem gerahmten Foto, das auf dem Nachttisch in seinem Schlafzimmer stand. Er hatte die Schränke und Schubladen geöffnet, in denen sich ihre Kleidung befand, weil er glaubte, sich Sara dann näher zu fühlen. Vor einigen Wochen noch hatte er ihren Duft im ganzen Haus wahrgenommen. Jetzt war nichts mehr davon zu spüren. Überall war Staub gewischt worden, und Saras Sachen sahen plötzlich nur noch alt aus. Beinahe war es so, als hätte sie sie für immer abgelegt. Er nahm das Bild hoch und betrachtete es lange. „Ich werde dich nie vergessen, Darling. Das ist natürlich nichts Neues für dich, denn ich habe es dir oft genug gesagt. Aber das Leben geht weiter, und das hat Katherine mich gelehrt. Obwohl ich mich in sie verliebt habe, wirst du immer einen Platz in meinem Herzen besitzen. Wenn ich gestorben wäre, hätte ich auch nicht gewollt, dass du allein bleibst. Man kann ohne Liebe nicht existieren, Sara. Ich hoffe, du verstehst 115
das." Er zögerte und schien auf eine Antwort zu warten. Stattdessen hörte er, wie das Gartentor geöffnet wurde. Katherine kam also zur Arbeit. Lächelnd blickte er auf und konnte es kaum erwarten, sie wieder zu sehen. Auch sie sollte erkennen, dass er sein Leben von Grund auf geändert hatte. Der Neuanfang war gemacht, denn er hatte heute Morgen schon Saras Arbeitszimmer ausgeräumt. Jetzt blieb ihm nur noch eins zu tun… Patrick ist wirklich ein Gentleman, dachte Kay, als sie das Gartentor öffnete. Er hatte ihr Haus verlassen, bevor die Dorfbewohner auf den Beinen gewesen waren und Polly von Amy zurückgekommen war. Rechtzeitig zum Mittagessen hatte er wieder vor ihrer Tür gestanden und auch die Einladung zum Abendbrot nicht ausgeschlagen. Er hatte sich rührend um ihre Tochter gekümmert und ihr, Kay, zum Abschied nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben. „Wir sehen uns morgen Nachmittag", hatte er gesagt und Polly noch einmal zugewinkt. Das rechnete sie ihm besonders hoch an. Er war also nicht nur auf guten Sex aus, sondern schien auch ihre Gesellschaft zu schätzen. Sie lächelte zufrieden. Alles lief wie am Schnürchen. Patrick war ein guter Liebhaber und ein wundervoller Freund und Vater. Er war abends noch einmal vorbeigekommen, um Polly eine gute Nacht zu wünschen, und am nächsten Morgen besonders früh aufgestanden, um ihr vor der Schule noch Hallo sagen zu können. Kay hatte die ganze Zeit gute Laune gehabt, doch als sie jetzt Patricks Garten betrat, war sie mehr als nervös. Wie sollte sie sich Patrick gegenüber verhalten? Immerhin war er ihr Arbeitgeber und ihr Liebhaber! Sie hatte keine Erfahrung mit einer solchen Situation. Als sie den großen Stapel Holz auf dem Rasen entdeckte, blieb sie wie erstarrt stehen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, und sie wurde an den Morgen erinnert, als sie neben Patrick aufgewacht war und der Wind ums Haus geheult hatte. War auch das ein böses Vorzeichen? Gut, sie hatte Patrick ermuntert, Saras Sachen auszuräumen, und sogar Dorothy gebeten, ihn darauf anzusprechen. Doch er hatte sich 116
strikt geweigert. Warum der plötzliche Sinneswandel? Hatte es mit der Nacht zu tun, die sie in Patricks Armen verbracht hatte? Hoffentlich nicht, dachte sie, das kommt mir irgendwie nicht richtig vor. Er sollte es nicht für sie tun, sondern musste selbst davon überzeugt sein. Schnell blickte sie sich um, doch von Patrick war nichts zu sehen. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er im Garten auf sie warten würde. Vielleicht freute er sich ja gar nicht, sie zu sehen… Seufzend packte Kay ihre Geräte aus und machte sich an die Arbeit. Sich den Kopf zu zerbrechen brachte sie auch nicht weiter. Irgendwann würde Patrick schon auftauchen! Sie kniete gerade neben einem Beet und entfernte ein besonders hartnäckiges Unkraut, als jemand hinter ihr sagte: „Hallo, Katherine." Erschrocken ließ sie die Hacke fallen und blickte auf. „Verdammt! Du solltest dich nicht so anschleichen, Patrick!" „Entschuldige! Ich dachte, du würdest ins Haus kommen und mich kurz begrüßen, bevor du mit der Arbeit beginnst." „Ich wollte dich nicht stören. Es sieht so aus, als wärst du sehr beschäftigt." „Das bin ich auch. Aber kannst du das Unkraut für einen Moment vergessen? Ich brauche deine Hilfe." „Natürlich." Sie stand auf, und erst jetzt sah sie den Karton, den er in den Händen hielt. Der Deckel war nicht ganz geschlossen, und Kay konnte einen schwarzen Seidenschal ausmachen. Patrick bemerkte ihren skeptischen Blick. „Ich habe mir deinen Ratschlag zu Herzen genommen." „Ich verstehe", sagte sie besorgt. „Willst du das wirklich tun, Patrick?" „Es sind doch nur alte Sachen, Katherine. Wenn wir erst einmal verheiratet sind, kann ich doch wohl kaum erwarten, dass du in ein Haus voller trauriger Erinnerungen einziehst. Ich habe die Vergangenheit überwunden, und das werde ich dir beweisen." Verheiratet? Kay glaubte, sich verhört zu haben. Sie kannten sich doch kaum. Gut, sie hatten miteinander geschlafen, aber deshalb musste man sich doch nicht gleich das Jawort geben, oder? 117
Schweigend folgte sie ihm zu dem Holzstapel und beobachtete, wie er den Karton darauf stellte. Dann nahm er Papier, zündete es an und legte es unter die Bretter. Es dauerte nicht lange, bis der Stapel zu brennen begann. Kay biss sich auf die Lippe. Was sollte sie sagen? Das war doch alles verrückt! „Passt du bitte auf das Feuer auf?" fragte er. „Ich hole schon mal den nächsten Karton." „Kein Problem", erwiderte sie mit bebender Stimme. Der böige Wind fachte die Flammen weiter an, und Kay legte einige Male Holz nach. Am Ende war es nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Ab und zu zögerte Patrick und hielt nachdenklich ein Kleid oder ein Paar Schuhe in der Hand, dann warf er auch diese Sachen ins Feuer. Erst als er die letzte, kleine Kiste öffnete, verlor er die Fassung. Er stellte sie auf die Erde und kniete sich neben sie. „Was ist, Patrick?" fragte Kay überrascht. Er schüttelte nur den Kopf und schien ganz in der Vergangenheit gefangen zu sein. Kay beugte sich herunter und entdeckte einen weißen Teddybären. Sie legte Patrick tröstend die Hand auf die Schulter und wartete, bis er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. „Sara war schwanger, als sie starb", flüsterte er schließlich und hob das Stofftier hoch. „Sie war so wütend auf mich, weil ich den Bären gekauft hatte. ,Das bringt Unglück', hat sie gesagt. ,Wir fordern damit das Schicksal heraus …'" Er betrachtete das Spielzeug lange. „Nein", fuhr er dann fort, „so ist das Leben nicht. Es kommt einem nur manchmal so vor." Er stand auf und warf das Stofftier ins Feuer. Kay nahm seine Hand, während sie beobachteten, wie der Teddybär in Flammen aufging. „Ich wollte es allen erzählen", fuhr Patrick fort, „aber sie hat mich gebeten, die ersten drei Monate abzuwarten. Nach ihrem Tod war dann sowieso alles sinnlos geworden. Warum hätte ich den Schmerz ihrer Familie noch vergrößern sollen? Sie hatten schon genug durchgemacht." „Das verstehe ich." Kay wandte sich ihm zu und legte die Arme um 118
ihn. Lange standen sie schweigend da und hingen ihren Gedanken nach. Patrick fragte sich, warum das Schicksal so erbarmungslos zugeschlagen hatte. Und Katherine erinnerte sich daran, wie sie Patrick Ravenscar kennen gelernt hatte. Er hatte sie für Sara gehalten und wissen wollen, wer Polly sei. Jetzt war ihr klar, wen er gesehen hatte: den Geist seines toten Kindes. Sie hatte sich etwas vorgemacht. Patrick war nicht über den Verlust seiner Familie hinweggekommen. Er hatte sie nur durch eine andere ersetzt. Polly und sie waren nur der Platzhalter für seine verstorbene Frau und sein ungeborenes Kind. Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Wahrscheinlich weil ihre Hormone verrückt gespielt hatten. Was bei diesem gut aussehenden, charmanten Mann ja auch kein Wunder war! Deswegen war er jetzt auch bereit, Saras Sachen zu verbrennen. Er brauchte sie nicht mehr, denn er hatte seine Familie wieder gefunden. Sie hatte ihm nur helfen wollen und damit alles nur noch schlimmer gemacht. Unruhig blickte sie auf die Uhr. „Ich muss gehen", sagte sie dann schnell, „Polly kommt gleich aus der Schule." Kay hatte zwar noch mehr als eine Stunde Zeit, konnte es aber nicht länger ertragen, neben Patrick zu stehen und diesen Scheiterhaufen brennen zu sehen. „In Ordnung", sagte er, tief in Gedanken versunken. „Ich rufe dich später an." Sie befürchtete schon, dass er sie küssen würde, doch er drückte nur kurz ihre Hand. Kay rang sich ein Lächeln ab und verließ, ohne ihre Geräte einzupacken, fluchtartig den Garten. Eigentlich wollte Patrick sie gar nicht gehen lassen, denn er fürchtete, dass sie dann niemals wieder zurückkäme. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er genau. Saras Kleidung zu verbrennen hatte sicher damit zu tun. Gut, er hätte einen passenderen Zeitpunkt wählen können … bevor sie miteinander geschlafen hatten zum Beispiel. Doch nur so konnte er Katherine beweisen, dass er die Vergangenheit ein für alle Mal hinter 119
sich ließ und positiv in die Zukunft sah … eine Zukunft, die er mit ihr gemeinsam verbringen wollte. Aber plötzlich hatte Katherine sich von ihm zurückgezogen - nicht körperlich, sondern geistig, was viel schlimmer war. Sie hatte eine Ausrede gesucht, um ihn so schnell wie möglich zu verlassen. Warum nur? Starr blickte er in die langsam erlöschenden Flammen und überlegte, was er Verkehrtes getan oder gesagt hatte. Und plötzlich verstand er. Kay wäre am liebsten wieder davongelaufen. Es kam ihr vor, als wäre sie wieder achtzehn Jahre alt und stünde vor unlösbaren Problemen. Aber diesmal kam eine Flucht nicht infrage. Es musste eine andere Möglichkeit geben, das Chaos zu bereinigen, das sie angerichtet hatte. Wenn sie damals den Mut aufgebracht hätte, für sich und ihr ungeborenes Baby einzustehen, wäre es niemals so weit gekommen. Niemand hatte sie verletzen oder ihr das Kind wegnehmen wollen. Doch woher hätte sie das wissen sollen? Sie hatte nie in ihrem Leben erfahren, was Liebe bedeutete. Erst Amy hatte ihr gezeigt, was es hieß, geliebt zu werden. Diese Lektion hatte ihr ganzes Leben verändert, und dafür würde sie ihrer Freundin immer dankbar sein. Als Polly aus der Schule kam, umarmte Kay sie fest. Sie war zwar nicht in der Lage gewesen, Patrick zu helfen, aber er hatte sie etwas sehr Wertvolles gelehrt. Weglaufen brachte nichts, und auch Zeit heilte nicht alle Wunden, selbst wenn das Sprichwort anders lautete. Am Ende musste sich jeder seinen Ängsten stellen. Eines Tages wollte Polly sicher wissen, wer ihr Vater sei. Dann hatte sie ein Recht darauf, es zu erfahren. Patrick war es nicht, und es wurde Zeit, dass sie ihm dies begreiflich machte. Dazu musste sie einmal in ihrem Leben wirklich stark sein. Nein, sie würde nicht weglaufen, sondern die Geister der Vergangenheit vertreiben. Danach würde sie mit allem fertig werden, was die Gegenwart und die Zukunft für sie bereithielt. Während Polly ein lustiges Tierbild für ihr Klassenzimmer malte, erledigte Kay das Telefonat, das sie so lange vor sich hergeschoben 120
hatte. Die Schulsekretärin war noch derselbe Drachen wie vor sechs Jahren, und ihrer kühlen Stimme war deutlich anzumerken, wie wenig begeistert sie von Kays Anruf war. Auch gut, dachte Kay, denn dann brauchte sie sich nicht mit langen Erklärungen aufzuhalten. Zehn Minuten später klingelte das Telefon, und Kay hob sofort den Hörer ab. Allerdings meldete sich nicht die Schulleiterin, sondern Pollys Großvater. Schweigend hörte Kay dem alten Mann zu und rief dann wenig später ihre Tochter zu sich. „Polly, komm bitte her. Dein Granddad möchte mit dir sprechen." „Mein Granddad? Habe ich wirklich einen?" wollte ihre Tochter aufgeregt wissen, als sie aus ihrem Zimmer gelaufen kam. Sie riss Kay den Hörer aus der Hand. „Hallo! Kommst du auch zu meiner Geburtstagsparty?" Kay spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, doch sie drängte sie zurück. Als sie sich abwandte, sah sie Patrick an der Küchentür stehen. „Ich habe geklopft …" sagte er und blickte Polly starr an. „Sie spricht mit ihrem Großvater", erklärte Kay. „Dem Earl persönlich?" Kay nickte. „Er hat sich so gefreut, dass ich mich endlich gemeldet habe." Der alte Mann war damals nicht ins Internat gekommen, um sie zur Abtreibung zu überreden. Ganz im Gegenteil, er wollte sie mit auf sein Schloss nehmen und für sie und seine ungeborene Enkelin sorgen. Als ihre Flucht entdeckt worden war, hatte er Privatdetektive engagiert, um Kay zu finden. Er hatte sogar die Krankenhäuser überwachen lassen, als ihre Entbindung bevorstand… „Was ist mit Pollys Vater?" fragte Patrick leise. „Wie hat er reagiert?" Sie runzelte die Stirn. Wieso … Doch dann begriff sie. „Sascha ist letztes Jahr bei einem Unfall ums Leben gekommen." Sie blickte Polly an, die immer noch fröhlich mit ihrem Großvater sprach. Es war beinahe so, als wäre er schon immer Teil ihres Lebens gewesen. „Was für eine Verschwendung", sagte Kay bedauernd. „Wenn ich nicht so dumm gewesen wäre, hätte Polly ihren Vater noch kennen gelernt." 121
„Du solltest dir keine Vorwürfe machen, Katherine", erwiderte Patrick schnell. „Es ist nicht deine Schuld. Du hattest keine Wahl." Wie gern hätte er sie umarmt und sie getröstet, er wollte sie jedoch nicht drängen. Stattdessen wartete er, bis sie sich an den Küchentisch gesetzt hatte, folgte dann ihrem Beispiel und nahm ihre Hand. „Warum hast du ihn gerade jetzt angerufen?" fragte er neugierig. Er ahnte den Grund, aber er wollte die Antwort von ihr hören. „Ich musste mich endlich meinen Ängsten stellen. Es wurde Zeit, dass ich die Geister der Vergangenheit vertrieb. Das hätte ich schon viel früher tun sollen." „Mir geht es genauso. Was glaubst du, wie oft ich mir vorgeworfen habe, nicht eher nach Hause gekommen zu sein? Sara hat so viele Abende allein verbringen müssen." „Wir alle verschwenden Zeit, ohne darüber nachzudenken. Wenn wir doch bloß wüssten, wie viel Trauer und Leid …" Patrick ließ die Hand über ihre Wange gleiten. „Wir können aus unseren Fehlern lernen", unterbrach er Kay sanft. „Jede Minute ist so kostbar. Egal, ob man ein Millionen-Pfund-Geschäft abschließt oder mit einer Frau im Dunkeln auf der Terrasse tanzt. Die Stunden kommen nicht mehr zurück, und wir sollten sie genießen. Auf Glück gibt es keine Garantie. Man muss sich anstrengen, wenn man es halten will." Lange sah sie ihn schweigend an. „Wir sollten uns unterhalten, Patrick", flüsterte sie schließlich. „Das können wir auch noch später tun. Polly braucht dich jetzt, Katherine. Sie hat bestimmt unzählige Fragen, was ihre neue Familie angeht. Aber ich habe dir etwas mitgebracht." Er legte einen Umschlag auf den Tisch. „Es sind alte Fotos. Sieh sie dir bitte an, und dann reden wir." „Worüber?" „Über die Vergangenheit und die Zukunft." Er wäre am liebsten geblieben und hätte Katherine in die Arme genommen, doch sie brauchte Zeit, mit sich ins Reine zu kommen. Deshalb stand er auf und wandte sich ab. An der Küchentür blieb er noch einmal stehen. „Und über uns", fügte er hinzu und ging. 122
Warum bringt er mir Fotos mit? fragte sich Kay erstaunt und öffnete den Umschlag. Gleich darauf zog sie einige Hochglanzbilder heraus. „Mummy … Wo ist Patrick? Kommt er wieder?" fragte Polly und setzte sich ihrer Mutter gegenüber an den Tisch. Aber Kay hörte gar nicht zu. Fasziniert betrachtete sie die Schnappschüsse von Sara Ravenscar. Sie hatte immer geglaubt, Patricks Frau hätte sehr viel Ähnlichkeit mit ihr gehabt. Groß, blond … schicker angezogen natürlich, denn sie schien Seide und teure Schuhe geliebt zu haben … trotzdem hatte Sara doch bestimmt auch manchmal Schmutzflecken auf ihrer Arbeitskleidung gehabt. Gartenarbeit machte sich nun einmal nicht von allein! Jetzt wurde Kay bewusst, wie sehr sie sich geirrt hatte. „Was ist nun mit Patrick?" fragte Polly ungeduldig. „Wie bitte? Oh nein, Darling, er hat heute Abend schon etwas anderes vor." „Schade", sagte Polly enttäuscht. „Dann erzähl ich es ihm eben morgen." „Was denn?" „Das mit Großvater. Wer ist das da?" Sie zeigte auf die Fotos. „Sara, Patricks Frau." Sara Ravenscar war eine bildschöne Frau gewesen, die als Model hätte arbeiten können. Warum hatte Patrick ihr diese Bilder gegeben? Wollte er ihr damit eingestehen, dass er einen Fehler gemacht hatte? „Wo ist sie jetzt?" fragte Polly neugierig. „Im Himmel." „Wie Daddy?" Kay blickte auf und runzelte die Stirn. „Dann hat Granddad es dir also erzählt?" „Ja. Er will mir ein Foto von Daddy schicken. Dazu braucht er aber noch unsere Adresse." „Ist er etwa noch am Telefon?" fragte Kay erschrocken. Sie sprang auf, nahm den Hörer und entschuldigte sich bei dem alten Mann. Schnell gab sie ihm die gewünschten Informationen und verabschiedete sich von ihm. 123
Wenig später saß sie wieder am Tisch und betrachtete lange die Bilder von Sara Ravenscar. Patricks Frau war wirklich eine Schönheit gewesen. Ihr Haar glänzte wie Gold, ihre Haut war von der Sonne gebräunt und makellos. Die Beine waren lang und schlank, und sie wäre auch mit achtzig bestimmt noch attraktiv gewesen. Mit zwanzig hatte sie vermutlich allen Männern den Kopf verdreht. „Hat er wie Patrick ausgesehen?" fragte Polly. „Wer?" „Mein Daddy." „Nein, Liebes, er war blond wie du. Warum?" „Warum heiratest du dann Patrick, wenn er meinem Daddy nicht ähnelt?" Kay glaubte, sich verhört zu haben. „Wie kommst du darauf, dass ich ihn heiraten werde?" fragte sie erstaunt. „Meine Klassenkameraden haben darüber gesprochen. Amber Gregsons Mutter hat auf dem Erntedankfest gesehen, wie du ihn geküsst hast." Na großartig! dachte Kay erschrocken. „Vielleicht muss er aber auch gar nicht wie mein Daddy aussehen, denn Sara hat ja auch keine Ähnlichkeit mit dir, Mummy." „Das stimmt leider, Schätzchen." Kay stand auf und ging zum Telefon. Patrick nahm nach dem ersten Klingelzeichen den Hörer ab, so als hätte er bereits auf ihren Anruf gewartet. Er wollte etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor. „Wieso hast du mich für Sara gehalten?" fragte sie kurz angebunden. „Damals am ersten Morgen im Garten." „Es war eine Illusion … das Licht hat mir einen Streich gespielt, außerdem habe ich unter Jetlag gelitten. Vielleicht war es auch ein Wunder oder alles zusammen." „Mir gefällt die Wundertheorie am besten." „Mir auch. Allerdings spielt die Müdigkeit auch eine Rolle. Wäre ich ausgeschlafen gewesen, hätte ich mich nicht von einem roten TShirt und einem Strohhut in die Irre führen lassen." „Da ist etwas dran." „Dann hätte ich dich natürlich auch nie geküsst und folglich auch 124
nicht ins Haus gebeten, um mich zu entschuldigen. Außerdem wäre mir nie eingefallen, eine Miss Kay … Katie … Katherine Lovell als Gärtnerin einzustellen." „Bitte nur Katherine", sagte sie und lächelte erleichtert. „Nur Katherine ist zu wenig. ,Die einzigartige, wundervolle, begehrenswerte Katherine' ist viel besser." Plötzlich hatte Kay so eine Ahnung und wandte sich um. Patrick stand an der Küchentür, das Handy in der Hand. „Ich liebe dich, Katherine", sagte er leise, „bitte werde meine Frau." „Siehst du", unterbrach Polly ihn, „ich habe es gewusst, Mummy. Darf ich in der Kirche Blumen streuen?" Kay beachtete ihre Tochter nicht. „Nein", erwiderte sie, „ich kann dich nicht heiraten, Patrick." „Warum nicht?" fragte er enttäuscht. „Weil wir uns kaum kennen." „Und wenn schon. Wir gehören zusammen." „Du machst es dir zu einfach." Stirnrunzelnd sah er sie an. „Du willst dich doch nicht etwa mit mir streiten?" Kay schüttelte den Kopf, und Patrick machte einen Schritt auf sie zu. „Heirate mich, Katherine." „Ich kann nicht …", flüsterte sie, „… ich muss ein Geschäft führen und ein Kind großziehen. Und was willst du eigentlich mit deinem Leben anfangen? Ich möchte niemanden heiraten, der am nächsten Tag schon auf dem Weg in die Sahara ist oder es nicht erwarten kann, in den mit Schlangen bevölkerten Regenwald zu reisen. Nie wieder möchte ich nachts wach liegen und mir Sorgen machen müssen …" „Du würdest dir also um mich Sorgen machen", unterbrach er sie und ging einen Schritt auf sie zu. Sie atmete tief durch, denn ihr war bewusst, dass sie eben einen schweren Fehler begangen hatte. „Nicht nur um dich, Patrick." „Würdest du mich heiraten, um mich von jeder Gefahr fern zu halten?" fragte er und nutzte ihre Schwäche erbarmungslos aus. „Das ist nicht fair, Patrick!" 125
„Ich habe auch nicht vor, fair zu sein! Wenn sich mir eine Gelegenheit bietet, nutze ich sie. Also noch einmal: Du willst also nicht mit mir vor den Traualtar treten, weil wir uns noch nicht lange genug kennen, ich mich in lebensgefährliche Abenteuer stürzen könnte und du dann Angst um mich haben müsstest. Habe ich das richtig verstanden?" „So kann man es sagen." Sie biss sich auf die Lippe. Er wollte sie in eine Falle locken … „Was wäre, wenn ich dir verspreche, meine Reisen jüngeren Leuten zu überlassen und bei dir zu Hause zu bleiben? Ich könnte in eine sehr viel versprechende kleine Firma investieren und mich um Jugendliche kümmern, die im Leben bis jetzt noch nicht sehr viel Glück gehabt haben. Würde das deine Bedenken ausräumen?" „Willst du das wirklich tun?" fragte sie überrascht. „Es liegt an dir." „Das ist gemein. Dich zu heiraten ist eine Entscheidung, die ich nicht auf die leichte Schulter nehmen kann. Woher wollen wir überhaupt wissen, dass wir zusammenpassen?" Die Antwort auf diese Frage war klar … Sie hatte sich in Patrick Ravenscar verliebt, und zwar schon vom ersten Moment an. „Es ist noch zu früh", protestierte sie halbherzig. „Was willst du tun, Katherine? Wie wollen wir unsere Beziehung weiterführen? Soll ich mich jeden Morgen aus deinem Haus schleichen, nur damit die Dorfbewohner nichts mitbekommen? Dafür ist es sowieso schon zu spät, denn sie reden bereits über uns." Kay senkte den Blick. Was sollte sie darauf antworten? „Oder willst du bei mir einziehen? Ich kann auch gern bei dir wohnen, wenn du es möchtest", sagte er unnachgiebig. „Doch dann können wir auch gleich heiraten. Also, was ist?" Er stand jetzt direkt vor ihr und nahm ihre Hände. „Werde meine Frau, Katherine, ich bitte dich." Seine Stimme bebte, und in seinem Blick lag so viel Liebe, dass Kay einfach nicht Nein sagen konnte - und schließlich wünschte sie es sich ja auch mehr als alles andere auf der Welt. „Wann?" fragte sie deshalb nur. 126
„Sobald das neue Gartenhaus gebaut ist." „Aber das dauert noch Monate!" Er lachte jungenhaft. „Wir werden so schnell wie möglich einen Ring aussuchen, doch in der Zwischenzeit muss das hier reichen." Er zog eine kleine Schachtel aus seiner Tasche, öffnete sie und legte Kay eine Uhr um. „Sie wird uns daran erinnern, wie kurz das Leben ist. Wir dürfen keine Sekunde verschwenden." „Hier lang, Polly!" Selten hatte es eine fröhlichere Party im Dorfgemeinschaftshaus von Upper Haughton gegeben. Polly und ihre Freunde spielten ausgelassen mit unzähligen Luftballons, und Patrick und Jake Hallam feuerten sie begeistert an. „Männer scheinen nie erwachsen zu werden", meint Amy. „In ihnen steckt immer ein kleiner Junge." „Das ist doch gar nicht schlecht", erwiderte Kay lächelnd. „Wann verrätst du mir nun dein Geheimnis, Amy?' „Geheimnis?" fragte ihre Freundin gespielt erstaunt. „Du lächelst schon den ganzen Tag." „Ich bin eben ein fröhlicher Mensch. Und da ich schwanger bin, bin ich noch glücklicher als sonst." „Das ist ja wunderbar!" rief Kay und umarmte sie. „Diesmal wird es hoffentlich ein Mädchen!" Amy zuckte die Schultern. „Früher war mir das einmal wichtig, heute ist es mir egal." Sanft legte sie sich eine Hand auf den Bauch. „Wir haben so lange versucht …" In diesem Moment platzte einer der Ballons, und die Kinder jubelten laut. Plötzlich klopfte es. Alle schwiegen überrascht und drehten sich zur Tür um. Gleich darauf kam ein alter, vornehmer Herr herein. „Bin ich hier richtig auf Miss Polly Lovells Geburtstagsparty?" fragte er mit tiefer Stimme. Kay hatte ihn sofort erkannt, denn ihre Tochter war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Verblüfft beobachtete sie, wie Saschas Vater eine der Einladungen hochhielt, die sie mit ihrem neuen Computer ausgedruckt hatte. Diesen hatte sie Miss Harding zu verdanken, die ihr den Bankkredit doch noch ohne Auflagen bewilligt hatte. Polly hatte die Worte „Granddad" und „viele liebe Grüße von Pol127
ly" in Schönschrift in die leeren Felder eingesetzt. Doch wie hatte sie die Adresse… Erschrocken wandte Kay sich Patrick zu. Was hielt er davon, dass Pollys Großvater so einfach hier auftauchte? Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Patrick brach sofort das Eis. Er legte den Arm um Polly, die plötzlich ganz schüchtern geworden war, führte sie zu dem alten Herrn und begrüßte ihn herzlich. Damit war es selbstverständlich, dass Saschas Vater als Familienmitglied an der Feier teilnahm. Wenig später hatte Polly sich wieder gefangen und stellte ihrem Großvater ihren besten Freund Mark Hallam vor. Anschließend musste er ihre Geschenke bewundern, und schließlich überreichte er ihr ein Medaillon mit dem Bild ihres Vaters. Lächelnd nahm Patrick Kay in die Arme und küsste sie sanft auf die Wange. „Das ist doch gut gelaufen", flüsterte er ihr ins Ohr. „Lade ihn zu unserer Hochzeit ein, Katherine, und sorg dafür, dass er auch kommt." An einem wundervollen, verschneiten Januartag versammelte sich die Gemeinde von Upper Haughton in der kleinen Dorfkirche, um mitzuerleben, wie Katherine Susan Lovell und Patrick Matthew Ravenscar getraut wurden. Amy hatte die Rolle der Brautjungfer übernommen, und Polly durfte Blumen streuen. Das kleine Mädchen trug ein weißgelbes Kleid und hatte einen mit Heide- und Rosmarinzweigen gefüllten Korb in den Händen. Doch Kay - in einem cremefarbenen, bodenlangen Seidenkleid und mit einem Winterblumenkranz auf dem Haar - nahm nichts davon wahr. Sie hatte nur Augen für Patrick, der vor dem Altar auf sie wartete und sofort ihre Hand nahm, als sie neben ihm stand. Der Moment, in dem der Pfarrer sie zu Mann und Frau erklärte, war für Patrick ein Augenblick höchster Freude. Er war einsam durch das Leben gegangen, bis Katherine ihn gefunden hatte. Als sie spät am Abend allein auf der Terrasse standen und zu den Sternen aufblickten, sagte Kay: „Ich hätte nie geglaubt, dass man deinen Garten mit nur einem Kuss zum Leben erwecken kann. Jetzt 128
bin ich mir da nicht mehr so sicher." „Wenn er von Herzen kommt, geliebte Katherine", erwiderte Patrick leise, „kann ein Kuss Wunder bewirken." Und um alle Zweifel auszuschließen, küsste er sie noch einmal.
- ENDE -
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