Nr. 422
Auf Dykoor wartet der Tod Atlan und Thalia auf der Welt des Grauens von Peter Terrid
Als Atlantis-Pthor, der ...
49 downloads
705 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 422
Auf Dykoor wartet der Tod Atlan und Thalia auf der Welt des Grauens von Peter Terrid
Als Atlantis-Pthor, der durch die Dimensionen fliegende Kontinent, die Peripherie der Schwarzen Galaxis erreicht – also den Ausgangsort all der Schrecken, die der Dimensionsfahrstuhl in unbekanntem Auftrag über viele Sternenvölker gebracht hat –, ergreift Atlan, der neue Herrscher von Atlantis, die Flucht nach vorn. Nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zu kommen werden, fliegt er zusammen mit Thalia, der Odinstochter, die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an und erreicht das sogenannte Marantroner-Revier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wird. Dort beginnt für Atlan und seine Gefährtin eine Serie von Abenteuern, die allesamt voller tödlicher Gefahren sind. Die ersten Stationen ihres Weges sind unter anderem Enderleins Tiegel, der Schrottplanet, Xudon, der Marktplanet, und Gooderspall, die Welt der Insektoiden. Inzwischen sind der Arkonide und Thalia wiederum in die Gewalt der Scuddamo ren geraten. Die Häscher des Chirmor Flog bringen ihre Gefangenen zu einem Pla neten, auf dem Versuche mit den beiden angestellt werden sollen. Der Planet heißt Dykoor – und AUF DYKOOR WARTET DER TOD …
Auf Dykoor wartet der Tod
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide macht sich Selbstvorwürfe.
Thalia - Die Odinstochter am Ende ihres Weges.
Yärling - Kommandant der Station auf Dykoor.
Verkonder - Ein Wahrheitsspürer.
1. Sie lassen mir meine Ruhe. Ich verlange nicht mehr. Ruhe ist alles, wonach mir der Sinn steht. Ich will nur meine Ruhe haben. Ruhe vor meinen Wärtern, Ruhe vor meinen Gedanken, Ruhe vor mir selbst, vor meinen Erinnerungen. Es ist das Gedächtnis, das mich quält, die gnadenlose exakte Erinne rung, die kein Gefühl kennt, aber um so stär ker Gefühle heraufbeschwört. Erinnerungen. Das Wort ist gleichsam die Nabe, um die sich meine Gedanken drehen, die Gedanken, die nicht aufhören, mich zu quälen. Es ist nicht Rücksichtnahme, die dazu führt, daß sie mich in Ruhe lassen. Sie kennen keine Rücksicht, wenn es um ihre Interessen geht. Sie kennen nur die Ziele, die sie verfolgen, sie kalkulieren die Opfer, die andere bringen müssen, damit die Ziele erreicht werden können. Ich bin eines dieser Opfer. Noch le be ich, aber wie lange noch? Daß sie mich in Ruhe lassen, ist eine Folge der Tatsache, daß sie mich nicht brauchen. Jedenfalls nicht jetzt, in diesem Augenblick. Ich stehe auf und gehe zu der Wand meines Gefängnisses, in dem das Fenster eingelassen ist, ein schmales Rechteck, hinter dem die Sonne gleißt. Der Staub in der Zelle läßt die Strah len erkennen, die Gitter zeichneten sich schwarz im Leuchtfeld des Fensters ab. Das elektrische Licht ist ausgeschaltet. Der Ex trasinn schweigt. Keine Impulse. Er hat nichts zu sagen. Trotzdem erinnere ich mich, und das Erinnern ruft Schmerz hervor. Erin nern ruft, wenn man es gründlich betreibt, immer Schmerz hervor. Jede Erinnerung ist die neuaufgelegte Trennung von etwas, was anschließend vergangen ist. Nichts davon kommt zurück. Nicht der Gesang der Vögel, nicht das Pfeifen eines Rohrstocks, mit dem
man geprügelt wurde, nicht der bellende Be fehlston des ersten militärischen Vorgesetz ten, nicht die zärtliche … Weg mit dem Ge danken. Nur nicht erinnern. Ich konzentriere mich auf etwas anderes. Woran habe ich gerade gedacht? Vogel stimmen? Klänge, Töne, Musik. Musik fällt mir ein. Ich dränge auch das zurück. Ich kann aber nicht aufhören zu denken, nicht solange ich bei Bewußtsein bin. Ich kann aber jetzt nicht schlafen, also muß ich den ken. Und jeder Gedanke schafft neue Qual. Ist das alles neu für mich? Habe ich mich nicht früher – Heiliges Arkon, wie lange ist früher her? – schon mit Erinnerungen ge quält? Wie oft schon hat dieses wundervolle Präzisionsinstrument Gedächtnis, das mir in Sekundenschnelle jede Seite eines Lexikons mit photographischer Exaktheit vorführen kann, wie oft schon hat mich dieses Ge dächtnis mit Erinnerungen gequält? Wie oft schon habe ich spüren müssen, was es heißt, Aktivatorträger zu sein? Wie oft schon habe ich die andere Seite dieser so hell glänzenden Medaille gesehen und zu spüren bekommen? Mein Leben zählt nach Jahrtausenden. Es sammelt sich viel an in Jahrtausenden, eige nes Schicksal, fremdes Schicksal, Glück – ein wenig. Arbeit und Mühsal und Enttäu schung – eine unüberschaubare Menge. Trauer – mehr als ein Mensch ertragen könnte. Ist es die große Gnade der Schöpfung, daß sie den Menschen tötet, bevor er unter der Last seiner Erinnerung zusammenbricht? Ist es die Gnade des Alters, die mir verwehrt geblieben ist, sich nicht mehr richtig erin nern zu müssen? Ich altere nicht. Ich trage einen Zellakti vator, ein Geschenk einer unvorstellbaren Macht.
4
Peter Terrid
»He, Alter, wo bist du jetzt?« Meine Stimme krächzte. Jetzt könnte ich ihn brauchen, den Weisen von Wanderer. Er könnte mir Antwort geben auf Fragen, die in mir hämmern und bohren und Schmerz be reiten, der erst aufhören wird, wenn ich auf gehört habe zu denken. Oder zu leben. »Warum ich, Alter? Warum ausgerechnet ich?« Was habe ich verbrochen, daß ich mit Un sterblichkeit geschlagen bin?
* Als der Bote verkündete, daß der Zielpla net erreicht sei, erhob sich Verkonder von seinem Lager. Er entließ den Boten mit einer Handbewegung, dann stand Verkonder auf, wusch sich und kleidete sich an. Er tat dies mit sorgfältigen Bewegungen, als praktiziere er ein geheimes Ritual. In Wirklichkeit nutzte er diese Zeit dazu aus, seine Gedanken zu ordnen. Für ein We sen von Verkonders Stellung war es heraus ragend wichtig, seine Gedanken geordnet zu haben. Man konnte dann keine unangeneh men Überraschungen erleben. Verkonder haßte Überraschungen. Das stete Gleichmaß seines Lebens war ihm lie ber – eine der übelsten Überraschungen, die er zu gewärtigen hatte, wenn er nicht alles und jedes gedanklich in den Griff bekom men hatte, war der Zorn Chirmor Flogs, der jäh über jeden unaufmerksamen Diener her einbrechen konnte. Eine detonierende Atom bombe war in ihrer Wirkung nicht tödlicher als ein Wutausbruch des Chirmor Flog. Ver konder war zeitlebens bestrebt gewesen, sol che Entladungen auf andere Personen zu richten und nach Möglichkeit von sich selbst abzuhalten. Bis zu diesem Zeitpunkt war er mit sich und seiner Arbeit zufrieden gewesen. Mehr verlangte Verkonder nicht. Er wollte nur leben. Und das war viel im Bannkreis eines Chirmor Flog. Nachdem er Kleidung und Gedanken ge ordnet hatte, verließ Verkonder seine Kabi-
ne. Er hatte sehr wohl bemerkt, daß die Räu me früher vom Kommandanten des Kurier schiffs bewohnt worden waren. Man hatte sie für den Havaren geräumt. Verkonder fand daran nichts außergewöhnlich, er war daran gewöhnt, daß auch hochgestellte Scuddamoren-Kommandanten ihn mit Re spekt, ja Ehrfurcht behandelten. Jede andere Reaktion hätte Verkonder dem Schiffskom mandanten sehr übelgenommen. Der Kommandant des Scuddamoren schiffs grüßte Verkonder respektvoll. »Wie heißt diese Welt?« Der Kommandant beging die Unvorsich tigkeit, mit einer Gegenfrage zu antworten. »Ihr kennt Euer Reiseziel nicht?« Verkonder bedachte ihn mit einem ver weisenden Blick. Der Scuddamore machte eine Demutsgeste, die Verkonder leidlich besänftigte. »Der Planet heißt Dykoor«, erklärte der Kommandant hastig. »Wir unterhalten dort einen Stützpunkt.« Verkonder sagte nichts. Es war Sache des Scuddamoren-Kommandanten, ihm die Zu sammenhänge zu schildern. Verkonder wuß te einstweilen nicht genau, was man von ihm wollte. Er kannte allerdings seine Spezialbe gabung, und daraus ergab sich das ungefähre Einsatzgebiet fast von selbst. Der Havare bildete einen seltsamen Anblick in der Zen trale eines Schiffes, das ansonsten nur mit Scuddamoren bemannt war. Während die Scuddamoren hinter ihren schwärzlichen Schattenschilden verschwammen, war die hagere gelbhäutige Gestalt des Havaren auch unter der Kleidung deutlich erkennbar. »Sehr viel weiß ich über Dykoor nicht«, gab der Kommandant zu. »Es ist eine sehr heiße Welt, und sehr feucht dazu. Die Luft wird schwül sein.« Verkonder rührte sich nicht. Schwüle Luft behagte ihm zwar nicht, aber er überging solche Mißhelligkeiten in dem Bewußtsein, daß ein Mißerfolg ihm entschieden mehr Mißbehagen eintragen würde. Wortlos verfolgte Verkonder den Lande
Auf Dykoor wartet der Tod anflug. Der Kommandant wußte in seinem Nacken den Havaren, von dessen Macht und Einfluß er keine Vorstellung hatte. Dement sprechend nervös war der Scuddamore bei der Landung. Er beherrschte sich aber mu stergültig, obendrein nahm ihm der ausge zeichnete Lotse – ein Bite – den größten Teil der Arbeit ab. Verkonder wartete geduldig, bis das Ku rierschiff fest auf dem Boden stand. Der Kommandant war sichtlich erleichtert, eine so saubere Landung hingelegt zu haben, in des fiel es Verkonder nicht ein, ihn dafür zu loben. Verkonder war sich seiner Person bewußt, und er kannte auch seinen Wert für Chirmor Flog und das Marantroner-Revier. Dennoch war er über die Kopfstärke der Abordnung verblüfft, die ihn auf dem Landefeld erwar tete. Der erste Kontakt mit der planetaren At mosphäre traf Verkonder wie ein Schlag. Die Luft war bis an die Sättigungsgrenze mit Wasser gesättigt, und nach wenigen Me tern Fußmarsch war Verkonders Kleidung schweißdurchtränkt. Der Havare machte in den feuchten Kleidern keinen guten Ein druck, und er beschloß, bei passender Gele genheit Revanche für diese Rücksichtslosig keit zu nehmen. Ein Dutzend Scuddamoren erwartete den Havaren am Rande des Landefelds. Ein Fahrzeug stand mit laufendem Motor bereit. Verkonder trat auf die Gruppe zu und blieb stehen. »Mein Name ist Verkonder. Ich wurde gerufen?« Einer der Scuddamoren machte eine beja hende Geste. »Die Lage ist kritisch, Verkonder«, sagte der Anführer der Scuddamoren. »Wir brau chen dringend die Hilfe eines erstklassigen Fachmanns.« »Ich bin gekommen«, antwortete Verkon der schlicht. Er wurde aufgefordert, in dem Fahrzeug Platz zu nehmen. Verkonder folgte der Ein ladung um so lieber, als das Fahrzeug im In
5 nern klimatisiert war. »Wir haben Gefangene, Verkonder«, sprudelte einer der Scuddamoren hervor. »Überaus wichtige Gefangene. Von Pthor!« Verkonder hatte davon gehört, hütete sich aber, das zu erkennen zu geben. »Mein Name ist Yärling«, stellte sich der Kommandant der Abordnung vor. Verkonder zuckte mit keinem Muskel. Er kannte den Namen. Yärling war der Kom mandant des Mittleren Forts von Breister kähl-Fehr, der nur durch viel Glück der Ka tastrophe entgangen war, die das Mittlere Fort zerstört hatte. Die Panne Yärlings hatte sich bereits herumgesprochen. Es war ein kleines Wunder, daß der Scuddamore noch nicht für seine Fehler zur Rechenschaft ge zogen worden war. »Ich nehme an, daß die Ereignisse von Breisterkähl-Fehr hinlänglich bekannt sind«, setzte Yärling seinen Vortrag fort. Das Fahr zeug setzte sich sanft in Bewegung. »Wir konnten zwei Diebe, ein männliches und ein weibliches Wesen, stellen, die sich in den Besitz der letzten Ärgetzo-Lieferung gesetzt haben.« Diesmal konnte Verkonder eine Geste der Überraschung nicht unterdrücken. Das war allerdings eine besonders kitzlige Angele genheit. Kein Wunder, daß die Station auf Dykoor in heller Aufregung war. Der Weg zur Station führte über eine schnurgerade Straße. Rechts und links waren Sümpfe zu sehen, grünlich schillernd und ab und zu Blasen werfend. Verkonder konnte sehen, daß einige dieser Blasen keineswegs platz ten, wenn sie die Oberfläche des Sumpfes erreichten. Vielmehr stiegen sie weiter in die Höhe, ein sehr merkwürdiger Vorgang. Yär ling sah die Verwunderung des Gastes und bemühte sich, das Phänomen zu erklären. »Die Sommerhitze treibt diese Blasen aus den Sümpfen. Manchmal gibt es sogar Rie senblasen von einem Meter und mehr Durchmesser. Die Blasen werden Vrusvar ther genannt.« Verkonder reagierte nicht auf die Erklä rung. Yärling setzte seinen Vortrag fort.
6 »Irgendwie scheint das Phänomen mit der Gravitation zusammenzuhängen. Wenn nämlich Apsolan Dykoor besonders nahe kommt, können diese Blasen zu einer wah ren Landplage werden.« Noch immer verhielt sich Verkonder ru hig. Er konnte sehen, daß sich im Innern einer Blase etwas regte. Die Hohlkugel aus grünli chem Material war gerade transparent ge nug, um ein unförmiges Etwas zu enthüllen, das im Innern des Vrusvarthers zuckte. »Apsolan ist übrigens der Mond von Dy koor. Man kann ihn dort vorn sehen.« Verkonder fand das Geschwätz seines Nachbar wohltuend, es lenkte ihn von seiner Langeweile ab. »Und diese seltsamen Gebilde im Innern der Vrusvarther werden Kirnets genannt.« Jetzt wurde die Sache doch etwas zu weit schweifig. Wenn Verkonder seinen Neben mann nicht stoppte, würde der ihm noch einen kompletten Abriß der Fauna und Flora dieses planetengroßen Sumpfloches liefern. Daran war Verkonder nicht interessiert. Er wollte endlich wissen, weshalb man ihn nach Dykoor bestellt hatte. »Ist das der Grund für mein Hiersein?« fragte er. Yärling zuckte zusammen, als habe ihn der Schlag getroffen. Verkonder stellte fest, daß der Scuddamore sein Geschwätz dazu gebraucht hatte, sich selbst von peinlichen Gedanken abzulenken – kein sehr gutes Zei chen für den Zustand der Führung auf Dyko or. »Wer ist hier Kommandant?« »Ich«, antwortete Yärling rasch. »Wir sind am Ziel.« Interessiert verfolgte Verkonder, wie das Schott geöffnet wurde. Die Dicke der metal lenen Tür und die Höhe der Befestigungs mauer gaben Verkonder einen ersten Hin weis auf den Zustand der Station. Sehr bedeutend war der Stützpunkt nicht. Er war größtenteils aus Material erbaut wor den, das der Planet selbst lieferte. Während das Schott aus massivem Stahl bestand –
Peter Terrid fünf Zentimeter dick, also vergleichsweise dünn –, war die Mauer aus Ziegeln hochge zogen worden. Sie bestanden aus gepreßtem und getrocknetem Schlamm, der mit Kunst stoffen gehärtet und witterungsfest gemacht worden war. Nun, Schlamm gab es auf Dy koor ja genug. »Worauf steht die Station? Fels?« »Sie schwimmt«, wußte Yärling zu be richten. »Zwar ist ein sehr großer Teil des umgebenden Landes fest genug, einen er wachsenen Scuddamoren zu tragen, aber das reicht natürlich nicht aus, um eine solche Station zu halten. Fels findet sich erst in ei nigen hundert Metern Tiefe.« Verkonder rührte keine Miene, obwohl er sich im stillen über den Ausdruck »erwachsen« im Zusammenhang mit Scud damoren amüsierte. Glaubte Yärling etwa, ausgerechnet ihn, Verkonder, darüber täu schen zu können, wie Scuddamoren entste hen? Oder handelte es sich bei dem Wort um eine Fehlleistung? Empfand Yärling das Ge heimnis der Scuddamoren-Entstehung als peinlich? Verkonder hätte das herausfinden können, aber dazu hätte er sich konzentrieren müs sen. Es gab Wichtigeres zu tun. Verkonder beschloß aber, auch den Kommandanten der Station einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen – unsichere Kantonisten wurden im Marantroner-Revier nicht gebraucht. »Wollt ihr euch erst von der Strapaze der Reise erholen, Verkonder?« Der Havare machte spontan eine vernei nende Geste. Er hatte an Bord des Kurier schiffs lange genug geschlafen, um völlig ausgeruht zu sein. »Ich möchte die Gefangenen sehen«, ent schied er. Yärling machte eine Geste, die der Hava re nicht verstand, dann setzte sich der Kom mandant in Bewegung und verließ das Fahr zeug. Zusammen verließen der Havare und der Scuddamore die Eingangshalle der Stati on. Verkonder sah für einen Augenblick nach oben.
Auf Dykoor wartet der Tod Die Kuppel über der Halle wies einige Löcher auf, und in diesem Augenblick fielen dem Havaren zwei Fahrzeuge auf, die bis zur Unkenntlichkeit zerstört in einem Win kel der Halle lagen. Verkonder machte eine fragende Geste. »Kirnets«, erklärte Yärling knapp. »Wir hatten eine regelrechte Invasion dieser Vie cher.« Wenn die seltsamen Gebilde solche Zer störungen zustande brachten, war mit ihnen nicht zu spaßen. Verkonder griff an seinen Waffengurt und überprüfte die Ladung. Er tat dies so, daß Yärling es sehen mußte. Der Kommandant der Station sollte wissen, daß Verkonder seinen Fähigkeiten nicht traute. »Die Angelegenheit ist eilig«, erklärte Yärling unterwegs. »Ihr mögt das daran er sehen, daß man euch zur Lösung des Pro blems hergeschickt hat.« Verkonder stellte amüsiert fest, daß der Scuddamore versuchte, ihn mit kleinen Psy chotricks einzulullen. Mochte er – auf die sem Gebiet war ein Verkonder nicht zu schlagen. Yärling blieb vor einer Tür stehen und drückte einen Knopf. Der Kontrollbild schirm in der Türfüllung flammte auf. »Das ist der Gefangene Atlan!« erklärte der Scuddamore.
7 Auf der anderen Seite: Warum nicht es sen? Hilft es, wenn ich hungere? Ich schlage mit der Stirn vor die kühle Wand der Zelle. Bin ich noch bei Sinnen? Ich denke Ge danken, die so verworren sind wie das zer knäuelte Netz eines Fischers. Bin ich über geschnappt, daß ich darüber nachdenke und mir das Hirn zermartere – ob ich essen soll oder nicht? Bin ich verrückt geworden? Wundern würde es mich nicht. Es hat etli che gegeben in der nach Jahrtausenden zäh lenden Geschichte Arkons, die den Verstand verloren hatten – darunter nicht wenige in hohen und höchsten Staatsämtern. Sie lassen mich in Ruhe, und ich bin ih nen dankbar dafür. Ich weiß aber, daß sie mich beobachten. Über der Tür ist eine kleine Kamera befe stigt. Den Bildschirm dazu habe ich auf der anderen Seite der Tür gesehen, als man mich hier einsperrte. Sie können mich sehen, und sie können mich hören. Was versprechen sie sich davon? Was wollen sie noch von mir? Meinen Zellaktivator? Sie können ihn haben. Säße er nicht in meiner Brust, ich hätte ihn ihnen längst vor die Füße geworfen. Ich will ihn nicht mehr.
2. Ich sehe ihn noch vor mir, den Dicken. Er schwitzte fürchterlich, und das nicht nur, weil es so heiß gewesen war in der Arena. Er hatte geschwitzt, weil er in meiner rech ten Hand ein blankgeschliffenes Schwert sah, und weil sein eigenes Schwert in Stücke gesprungen auf dem blutdurchtränkten Sand der Arena lag. Er hatte geschwitzt, weil er Angst hatte vor meinem Schwert, vor dem Tod, der ihm sicher war … Warum kreisen alle meine Gedanken um den Tod? Es ist Abend geworden. Man hat mir neues Essen hingestellt. Warum soll ich essen? Wozu noch!
* »Interessant«, sagte Verkonder. Er sah einen zweibeinigen Säuger mit weißen Haaren und roten Augen. Der Säu ger war in eng anliegende Kleidung gehüllt, ein sehr seltsames Kleidungsstück, wie Ver konder fand. Aber Kleidung war – auch im Marantroner-Revier – zum Teil Ge schmackssache und Traditionen unterwor fen. »Er verweigert die Nahrung«, erklärte Yärling. Aus der Formulierung, die Yärling ge wählt hatte, folgerte Verkonder, daß es sich bei Atlan um den männlichen Gefangenen
8 handeln mußte. »Gründe?« erkundigte sich Verkonder. »Wir wissen keinen«, sagte Yärling. »Wir haben eine starke Verhaltensänderung bei dem Gefangenen feststellen können. Er war früher wesentlich aktiver und selbstbewuß ter.« »Eine Schockwirkung wäre denkbar«, überlegte Verkonder. Der Säuger verfügte unter anderem über zwei Handlungsglieder, von denen er aber zum Zeitpunkt der Beob achtung keinen Gebrauch machte. »Öffne die Tür!« herrschte Verkonder den Subalternen an, der die beiden begleitet hat te. Der Scuddamore wartete trotz des be fehlsgewohnten Tonfalls des Havaren, bis Yärling ihn mit einer Geste bedeutete, der Aufforderung nachzukommen. Verkonder fand diese Haltung richtig. Die Posten durf ten sich nicht einfach jedem Beliebigen un terwerfen, der sie mit Autorität ansprach. Gemeinsam betraten die beiden die Zelle. Der Häftling rührte sich nicht von der Stelle. Er hatte sich auf die Pritsche gelegt und starrte mit geöffneten Augen an die Decke, wo nicht das geringste zu sehen war. »Ich möchte mit dem Gefangenen allein sprechen«, gab Verkonder bekannt. Yärling gab einen Laut von sich, den Ver konder als Äußerung des Widerspruchs in terpretierte. Der Havare dachte aber nicht daran, sei nen Wunsch zu wiederholen oder ihm in ir gendeiner Form Nachdruck zu verleihen. Verkonder blieb einfach stehen und wartete. Nach kurzer Zeit gab sich der Scuddamo re geschlagen. Mit einem unwilligen Brum men verließ er die Zelle. Verkonder blieb unmittelbar neben der Tür stehen. Der Säuger sah kurz zu ihm auf, bewegte dann mit einem kleinen Ruck die Gelenke der Handlungsglieder ein Stück in die Höhe und ließ sie wieder sinken. Danach rührte er sich nicht mehr, sondern legte sich wieder zurück. Er hatte sich nur für eine knappe Sekunde aufgerichtet, um den Hava ren ansehen zu können.
Peter Terrid »Mein Name ist Verkonder«, sagte der Havare in der Sprache des Marantroner-Re viers. Verkonder nahm an, daß der Gefangene diese Sprache verstand. Atlan aber reagierte nicht auf die Vorstellung. Verkonder verstummte. Es gab andere Mittel, herauszubekom men, was ein Lebewesen dachte und emp fand. Man konnte solche Lebewesen mit Psychopharmaka traktieren, danach wurden sie in der Regel ganz außerordentlich ge sprächig. Das Verfahren hatte allerdings zwei entscheidende Nachteile. Zum einen war nicht sichergestellt, ob der solcherart Befragte nicht an der Droge starb; sie war schließlich nicht speziell für seinen Metabo lismus entworfen worden. Das andere Hemmnis bestand darin, daß man nie genau wissen konnte, ob das, was der Gefangene nach der Injektion von sich gab, tatsächlich die objektive Wahrheit war. Es war durchaus möglich, daß Lebewesen Lügen, die für den Erhalt ihrer Gesamtper sönlichkeit lebenswichtig waren, nicht mehr als solche akzeptierten, sondern in der Psy che derart ummodelten, daß sie zu persön lich als wahr empfundenen Aussagen gerie ten. So hätte beispielsweise Verkonder selbst unter dem Einfluß eines Wahrheitsser ums zugegeben, seine »Kunden« gefoltert zu haben. Er hatte sie nur wirkungsvoll befragt – das änderte nichts am objektiven Sachver halt, wohl aber an der Bewertung, die in dem Wort Folter eingeschlossen war. Man konnte, auch das war ein gängiges Verfahren im Marantroner-Revier, den Ge fangenen mit Schmerzen zum Reden brin gen. Aber auch in diesem Fall konnte man nie sicher sein, daß der solcherart Behandel te auch tatsächlich die Wahrheit sagte. Es gab Lebewesen, die aus unerklärlichen Be weggründen bis zu ihrem qualvollen Ende logen, um ihre seltsamen Ziele durchsetzen zu können. Gerade unter Säugern war diese Geisteshaltung weit verbreitet und hatte Verdruß und Ärger für alle Beteiligten nach sich gezogen.
Auf Dykoor wartet der Tod Man konnte versuchen, den Gefangenen zu überlisten, ihn mit Suggestiv und Fang fragen derart zu umgarnen, daß er früher oder später die Wahrheit sagte. Das aber setzte voraus, daß der Verhörführer wenig stens näherungsweise die Richtung kannte, in der er zu fragen hatte. Im Fall des Säugers Atlan fiel diese Taktik weg. Daß er sich nicht allein in einen hoffnungslosen Kampf mit dem Neffen des Dunklen Oheim gestürzt hatte, war selbstverständlich. Das Gegenteil hätte den elementaren Naturgesetzen wider sprochen; kein Lebewesen suchte den Tod, wenn es ihn irgendwie vermeiden konnte. Denkbar wäre gewesen, daß irgendeine an dere, fremde Macht hinter den Aktionen des Gefangenen stand. Es gab aber, niemand wußte das besser als Verkonder, keine frem de Macht weit und breit. Verkonder machte sich an die Arbeit. Er war bei Verhören aller Art die letzte Trumpfkarte, die unfehlbar stach. Verkonder wußte das, er bezog sein Selbstwertgefühl aus dieser Tatsache. Sie erklärte auch die einzigartige Stellung des Havaren im Ma rantroner-Revier. Verkonder war, jedenfalls bezeichnete er selbst sich so, Wahrheitsspürer. Er konnte auf geheimnisvolle Weise herausbekommen, ob jemand log oder nicht, wenn er etwas sagte. Ja, Verkonder konnte sogar noch mehr. Er konnte sogar wahre von unwahren Gedan ken unterscheiden. Die besondere Gabe des Wahrheitsspürers versagte selbst in den Fällen nicht, in denen das zu befragende Individuum sich selbst belog – und das kam nicht selten vor. Verkonder mußte sich, um sein Talent entfalten zu können, nicht einmal mit dem Verhörsubjekt unterhalten. Es genügte, daß sich Verkonder konzentrierte und mit dem Unterbewußtsein des Verhörten Kontakt aufnahm. Dort erfuhr der Wahrheitsfinder meist sehr rasch, was für Gedanken und Be weggründe ein Verhörsubjekt wirklich er füllten. Und es hatte bislang noch niemanden ge
9 geben, auf den Verkonder seine Kunst ange wandt hatte, der diesem ganz besonderen Verhör hatte widerstehen können. Verkonder fand mit unfehlbarer Sicher heit die Schwachstellen im Charakter seines Gegenübers heraus, die verwundbaren Punk te, Eitelkeiten, Schwächen und Ängste. Da mochte der Häftling sich für einen Helden halten – Verkonder fand heraus, daß er den Tod in der Schlacht weniger fürchtete als das Hohngelächter seiner Freunde. Und nach dieser Taktik setzte Verkonder dann sein Verhör fort. Verkonder war in der Lage, tief im Unter bewußtsein liegende Motive zu erkennen, und er nutzte diese Kenntnisse hemmungs los und ohne Gnade aus. Es war ein seltsa mes Phänomen, daß viele Lebewesen gewis se Dinge – Lächerlichkeit beispielsweise – mehr fürchteten als den Tod. Wußte Ver konder erst, an welchem Zipfel des Unterbe wußtseins der Gefangene zu packen war, hatte der keine Chance mehr. Er wurde, ja nach Lage des Falles, ver höhnt und verspottet – oder mit Loben und Ehren eingelullt. Dabei war Verkonder in der Lage, während dieser Psychomanöver die Taktik seiner Verhöre nach Belieben zu steuern – er orientierte sich gleichsam am inneren Schmerzensgeheul seiner Kunden, um mit immer größerer Präzision in offenen Wunden zu wühlen. Verkonder machte sich an die Arbeit. Er mußte sich auf die Psyche des Gefan genen einstellen. Atlan war ihm dabei wenig behilflich. Verkonder wäre es lieber gewesen, hätte er den Gefangenen zu irgendeinem klaren Ge fühlsausbruch verleiten können. Verkonder war nämlich in der Lage, aus Mimik und Gestik mit nahezu unfehlbarer Sicherheit auf den Gefühlszustand seines Kunden einzuge hen. In diesem Fall war er nicht in der Lage, diesen bequemen Weg zu beschreiten. Er mußte sich auf andere, kompliziertere Me thoden besinnen. In gewisser Weise fand Verkonder den
10 schwierigeren Weg interessanter. Er hatte seit langem keinen Kunden mehr gehabt, der seiner Sonderbehandlung einen länger dau ernden Widerstand hätte entgegensetzen können. In der Mehrzahl der praktischen Fälle war Verkonder in der Lage, binnen weniger Stunden die Seele eines Kunden bis in die letzten Winkel auszuleuchten. In diesem Fall aber … Bereits nach wenigen Augenblicken der Konzentration spürte Verkonder, wie er sich auf Atlan zubewegte – geistig gleichsam. Er tastete, sehr behutsam natürlich, nach dem Bewußtsein des Gefangenen. Verkonder mußte dabei ein wenig auf der Hut sein. Er hatte Fälle erlebt, in denen er in einem Stru del widerwärtiger Gedanken fast unterge gangen wäre. Es war auch für Verkonder nicht ganz leicht, die Sturzflut abstoßender Gedanken zu ertragen, mit denen viele sei ner Kunden herumliefen. Es gab Lebewesen, die in ihren geheimsten Gedanken einen Vorrat an Niedertracht mit sich herumtru gen, daß soviel Schlechtigkeit selbst Ver konder zu schaffen machte. Ganz behutsam fingerte Verkonder nach dem Bewußtsein des Gefangenen. Eine erste verblüffende Tatsache wartete auf Verkonder. Der Gefan gene schien gar kein Bewußtsein zu haben – ein Ding der Unmöglichkeit, wie Verkonder wußte. Hatte man etwa die Frechheit gehabt, ihn mit einem Roboter zu foppen? Dann fand Verkonder das Bewußtsein des Säugers namens Atlan. Es hatte sich gleichsam konzentriert. Die Gedanken des Gefangenen schweiften nicht haltlos umher, wie Verkonder das meist er lebte – sie hatten sich auf einen Punkt kon zentriert, waren gesammelt und geballt. Kein Wunder, daß Verkonder dieses Be wußtsein nicht sofort hatte finden können. Es war klar, daß es nicht leicht sein wür de, in ein so konzentriertes Gedankengefüge einzuschleichen. Schon jetzt wußte Verkonder, daß er es mit einem harten Brocken zu tun hatte. Verkonder hatte lange Zeit keinen würdi gen Gegner mehr gehabt. Er begann sich auf
Peter Terrid dieses Verhör zu freuen. Natürlich würde er siegen, das stand schon von vorneherein fest. Irgendwann würde auch Atlan zusammenbrechen, jam mern und schreien und um Gnade winseln. Es war nur eine Frage des Zeitpunkts. Dann aber mußte Verkonder eine zweite, sehr unangenehme Tatsache verkraften. Er kam an den Verstand des Fremden nicht heran. Auf sehr seltsame Art und Wei se war der Geist des Fremden blockiert, und Verkonders sicherer Instinkt sagte ihm, daß er diese Blockade so ohne weiteres nicht würde brechen können. Der Fremde war, so formulierte es Ver konder, psychisch so stabil wie niemand sonst, den Verkonder getroffen hatte. Der Wahrheitsspürer hatte allerdings das sichere Empfinden, das diese mentale Stabilität des Säugers durch irgendeine Manipulation her vorgerufen worden war. Wenn es noch eines Beweises bedurft hät te, daß Atlan ein hochwichtiger Gefangener war, dann war er nunmehr erbracht. Verkonder überlegte kurz. Gewalt? Wahrscheinlich würde auch eine frontale Attacke nicht viel nützen, weit eher konnte sie Verkonder schaden. Verkonder unternahm einen weiteren Ver such. Er wollte wenigstens herausfinden, welcher Art die Gedanken waren, die Atlan in diesem Augenblick bewegten. Sie waren in höchstem Maß konzentriert. Der gesamte Geist des Gefangenen beschäftigte sich also mit nur einem Problem. Was konnte das sein? Flucht? Angst? Haß? Verkonder versuchte, wenigstens die Grobstruktur zu erfassen. Der Versuch schlug jämmerlich fehl. Das einzige, was Verkonder herausfand, war die Tatsache, daß der Verstand des Ge fangenen angeschlagen war. Selbst inner halb der Toleranzgrenzen, die Verkonder für gewöhnlich zog, war einigermaßen zu se hen, daß Atlan nahe daran war, seine Gedan ken außer Kontrolle zu verlieren. Verkonder wußte, was das hieß. Es war
Auf Dykoor wartet der Tod dies die einzige Möglichkeit, seine Bemü hungen zu unterlaufen. Es kam immer wieder vor, daß einer, der von Verkonder verhört wurde, schlichtweg den Verstand verlor und irre wurde. Das half Verkonder zwar bei der Arbeit – es gab kei nen Widerstand mehr; aber es machte ihm die Arbeit unmöglich. Aus dem Brei von Gedankenfetzen, die keinerlei Zusammen hang mehr hatten, ließ sich kein plausibler Gedanke mehr isolieren. Es wäre dem Ver such gleichgekommen, aus einem Riesen haufen von Buchstaben einen vernünftigen Satz zu formen – angesichts der Riesenzahl von Buchstaben wären viele Sätze dabei her ausgekommen, aber niemand, nicht einmal Verkonder, hätte sagen können, ob dieser Satz im ursprünglichen Text enthalten war. Verkonder wußte jetzt, daß er nicht viel Zeit hatte. Er mußte etwas tun, um den völlig verwirrten Geist seines Gegenübers zu stabi lisieren – so seltsam sich das auch anhören mochte bei einem Lebewesen, das ganz of fenkundig künstlich mentalstabilisiert wor den war. Verkonder stand auf. »Ich werde wiederkommen«, sagte er ru hig. Der Gefangene gab keine Antwort. Ver konder klopfte an die Tür der Zelle. »Öffnen!« befahl er. Der Scuddamore vor der Zellentür ließ die Verschlüsse aufsprin gen. Hinter Verkonder krachte die Tür wie der ins Schloß. »Kennst du den Gefangenen?« fragte Ver konder den Scuddamoren. »Seit ein paar Umdrehungen«, antwortete der Scuddamore. Er nahm Haltung an. »War Atlan früher ähnlich?« Der Scuddamore machte eine Geste der Hilflosigkeit. Sich in die Gemütsverfassung seiner Gefangenen hineinzuversetzen, war noch nie von ihm verlangt worden. »Ich meine, war er früher beweglicher? Hat er gesprochen? Gesungen, oder andere Laute von sich gegeben?« »Er hat ab und zu geredet, früher. Er spricht übrigens unsere Sprache, obwohl er seltsam aussieht.« Der Scuddamore war ziemlich be
11 schränkt, stellte Verkonder fest. »Und seit wann ist Atlan so schweig sam?« »Gestern«, sagte der Scuddamore. »Als wir ihn wieder erwischt haben.« »Er war also ausgebrochen?« Der Scuddamore machte eine Geste der Verlegenheit. »Vielleicht befragt ihr dazu besser den Kommandanten«, sagte der Posten zögernd. Verkonder stellte in einem raschen Vor stoß fest, daß der Posten Angst vor ihm hat te. Nun, das war nicht verwunderlich. Ver konder war diese Reaktion gewohnt. »Führe mich zum Kommandanten«, be fahl Verkonder. Der Scuddamore marschierte voran. Verkonder überlegte sein weiteres Vorge hen, während er hinter dem Wachtposten herschritt. Daß der Gefangene mentalstabilisiert war, stellte für Verkonder eine sehr üble Überra schung dar. Sie konnte sein gesamtes Kon zept zum Scheitern bringen. Es wäre dies der erste Fall gewesen, daß Verkonder einen Auftrag nicht ausgeführt hätte, der ihm zugewiesen worden war. Das war, von der Blamage einmal abgesehen, sehr ärgerlich. Mißerfolge, gleichgültig wel cher Art, wurden von Chirmor Flog nicht gerne gesehen. Verkonder sah sich mit der für ihn unan genehmen Tatsache konfrontiert, daß dieser Säuger Atlan für ihn zum Schicksalsfall werden konnte. Es sah so aus, als sollte die ser Fall nicht nur für den Kommandanten der Station auf Dykoor der letzte Fall wer den, sondern auch für Verkonder. Zum erstenmal in seiner langen Karriere als Wahrheitsspürer sah sich Verkonder mit der Tatsache konfrontiert, daß er würde kämpfen müssen – um sein Leben. Während er hinter dem Scuddamoren her zum Büro des Stationskommandanten schritt, nahm sich Verkonder vor, diesen Kampf zu gewinnen. Und es war ihm dabei gleichgültig, wer in diesem Kampf alles auf der Strecke blieb – solange er nicht dabei
12
Peter Terrid
war. Der Posten blieb vor der Tür zu Yärlings Amtsraum stehen. Ohne den Summer zu be tätigen, trat Verkonder ein. »Wir müssen miteinander reden«, sagte Verkonder hart. Er setzte sich und sah den Scuddamoren-Kommandanten an. »Macht er Schwierigkeiten?« Verkonder wehrte mit einer Geste ab. »Ich will wissen, was passiert ist«, sagte er. »Ganz genau will ich wissen, was sich zu getragen hat. Von Anfang an.« Yärling machte eine Geste der Ratlosig keit. »Wie Ihr wollt«, sagte er dann. »Von An fang an …«
3. Der seltsame Geselle, der mich besucht hat, ist wieder verschwunden. Ich erkenne den Typus wieder. Ein Hava re. Ich habe schon einmal einen Havaren kennengelernt. Aislander, den Universalred ner. Damals … Nein, befehle ich mir. Kein Gedanke an damals. Damals ist vergessen, damals hat nie existiert. Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Ge genwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu beste hen. Der Satz stammt von Augustinus, dem. Kirchenlehrer der römischkatholischen Kir che. Ist er richtig, hat die Vergangenheit auf gehört zu bestehen? Theologischphiloso phisch vielleicht. In meinen Gedanken, in der Wirklichkeit dieses Augenblicks nicht. Ich lebe aus der Vergangenheit. Das. Ich, die Person, die ich bin, ist nur denkbar, weil sie Vergangenes bewahrt und für die Zu kunft gespeichert hat. Ohne dieses gespei cherte Wissen könnte ich in einer Sekunde nicht sagen, wer ich bin, was ich bin, wo ich bin, warum … Immer wieder kehren die Gedanken zum gleichen Punkt zurück, zur Frage, die ich vermeiden will. Warum, wofür, weshalb … Die Frage nach dem Sinn.
Hat es, Ironie in sich selbst, Sinn, nach dem Sinn zu fragen? Ich muß mich ablenken, sonst verliere ich den Verstand. Ich muß mich mit irgend et was beschäftigen, das außerhalb des Pro blemkreises liegt, mit dem ich mich nicht beschäftigen will. Dieser Havare, was hat er gewollt? Wie Aislander ist er nicht. Hat er dafür andere Fähigkeiten und Eigenschaften? Ich kann es mir ausrechnen, daß Chirmor Flog, der Neffe des Dunklen Oheims, tobt und meinen Kopf haben will. Nein, er bleibt aus, der spöttische Impuls des Extrasinns. Natürlich will Chirmor Flog nicht meinen Kopf. Er wäre ohne Wert für den Herrscher des Marantroner-Reviers. Hat er eigentlich für mich noch einen Wert? Chirmor Flog hat andere Sorgen, und des halb braucht er mich. Ein verwegener Gedanke durchzuckt mich. Soll ich ihm einen Streich spielen, diesem grausamen Tyrannen, der Organ schiffe mit lebenden Galionsfiguren be mannt? Ich brauche nur aufzustehen und mich umzusehen. Es gibt immer Möglichkeiten, wenn man will. Es genügt ein Strick dazu, ja es soll sogar Leute gegeben haben, die sich selbst erwürgt haben. Wo ein Wille ist … Ich stehe auf. Ich beginne mit der Suche. Endlich ist mein Kopf wieder klar, endlich weiß ich, was ich tun muß. Ich werde den Scuddamoren einen Streich spielen. Ich werde mich umbringen. Sie werden toben vor Wut, wenn sie mich hier baumeln sehen werden. Es wird ein Mordsspaß werden, wenn sie hereinkommen und wollen mich holen, und ich bin tot.
* »Schneller!« herrschte Yärling den Pilo ten des Beiboots an. »Beschleunige!« »Wir würden den Treffpunkt verpassen, Kommandant«, wagte der Scuddamore ein
Auf Dykoor wartet der Tod zuwenden. »Wir werden früher da sein, also los, schneller!« Der Pilot des Beiboots beschleunigte das Fahrzeug. Es gab Fenster in dem Boot. Yär ling konnte auf der einen Seite Dykoor se hen, unter dichten Regenwolken verborgen, auf der anderen Seite Apsolan, tief über Dy koor im Raum hängend. Yärling wußte, daß Apsolan und Dykoor bald eine Konjunktion haben würden, dann gab es wahrscheinlich wieder viel Ärger mit den Kirnets. Yärling dachte nur selten an die Wesen. Er hatte an dere, größere Sorgen. »Wann soll das Schiff eintreffen?« fragte Yärling zum wiederholten Mal. »Es soll in zehn Minuten in eine Parkbahn um Dykoor einschwenken«, erklärte der Pi lot zögernd. »Wenn wir weiter beschleuni gen, Kommandant, werden wir über die Bahn hinausgetragen.« »Ach, mach, was du willst!« rief Yärling wütend. »Hauptsache, ich bin bald an Bord der OPIER!« Der Pilot verzögerte wieder. Yärling starrte verdrossen in das Schwarz des Weltraums. Irgendwo dort draußen lebte der Neffe des Dunklen Oheim auf Säggallo. Yärling war dem Neffen Chirmor Flog untertänig, und er hatte sich schwerer Ver gehen schuldig gemacht. Yärling erinnerte sich nur mit Wut und Haß an die Ereignisse der letzten Zeit, an das Auftreten dieser bei den Vagabunden und Diebe. Es war schon schlimm genug, was die beiden hatten an richten können. Nun, Yärling hatte in sei nem Bereich ein paar Köpfe rollen lassen, und damit wäre die Sache wieder behoben gewesen. Zum Leidwesen des Kommandan ten von Breisterkähl-Fehr aber hatten sich die für ihn peinlichen Vorkommnisse nicht zur Gänze geheimhalten lassen. Etwas war durchgesickert und bis zu Chirmor Flog ge langt – und das, obwohl Yärling sich große Mühe gegeben hatte, dieses Durchsickern zu vermeiden. Wer war der Verräter gewesen?
13
* »Zum ersten«, sagte der Verkonder an dieser Stelle von Yärlings Bericht, den Ver konder dank seiner besonderen Fähigkeiten wahrheitsgemäß aufnehmen konnte, als Yär ling ihn erzählte, »wäre Verrat nicht nötig gewesen. Wenn es ausgerechnet bei der Lie ferung von Ärgetzos Schwierigkeiten gibt, spricht sich so etwas von selbst herum.« »Das habe ich mir gedacht«, knurrte Yär ling. »Die Informationen des Neffen wurden außerdem ergänzt«, setzte Verkonder seine Erläuterungen fort, »durch den Bericht des Scuddamoren-Kommandanten Atzbäll, der auf Pthor gelandet ist und von der Existenz und dem Verschwinden der beiden Personen berichtet hat. Ich habe vor kurzem davon er fahren, sehe aber erst jetzt den Zusammen hang. Indessen, fahrt fort …«
* »Das Schiff kommt in Sicht, Komman dant!« »Wo?« Yärling beugte sich nach vorne und schielte über die Schulter des Piloten hinweg auf die Bildschirme. Auf einem der Schirme war ein leuchtender Punkt zu erkennen, der rasch näher kam. »Die OPIER!« meldete der Pilot. »Sie ha ben das Kodesignal abgestrahlt.« »Sie sollen mich an Bord nehmen«, be fahl Yärling finster. »Ich will endlich diesen …« Er unterbrach sich. Es war wirklich nicht nötig, daß aus seinem Gerede der Pilot ir gendwelche Rückschlüsse zog. Womöglich hätte der Mann gar das Gerücht verbreiten können, Yärling sei nervös wegen der Ge fangenen. Der Punkt kam näher und war nach eini ger Zeit auch mit bloßem Auge zu erkennen. Yärlings Pilot flog, wie der Kommandant widerwillig anerkannte, ein tadelloses An
14 passungsmanöver. Das Beiboot wurde ein geschleust, und Yärling brauchte nur die Ka bine zu verlassen, um an Bord der OPIER den Schiffskommandanten aufsuchen zu können. Der Kommandant der OPIER hieß Waquant und wußte, mit wem er es im Fall Yärlings zu tun hatte. Yärling wartete in der Zentrale mit fieber hafter Ungeduld darauf, daß die beiden Ge fangenen herbeigebracht wurden. Er war gespannt, ob es sich auch tatsäch lich um die beiden Schurken handelte, die die Ärgetzos gestohlen hatten, denen die Zerstörung des Mittleren Forts zuzuschrei ben war und die für Yärlings Klemme ver antwortlich waren. Allein dafür hatten sie ein Schicksal verdient, wie es sich Yärling gar nicht grausam genug ausmalen konnte. »Da sind die beiden«, sagte Waquant. »Ich habe sie auf dem Planeten Garnverc aufgelesen.« »Tatsächlich«, sagte Yärling mit boshaf ter Freude. »Es sind meine besonderen Freunde Atlan und Thalia. Willkommen.« Er hatte das Vergnügen, sehen zu können, wie der weibliche Gefangene erbleichte und der männliche immerhin zusammenzuckte. »Yärling!« stieß Atlan hervor. »Der Kom mandant des Mittleren Forts!« »Richtig!« bestätigte Yärling. Am lieb sten hätte er die beiden an Ort und Stelle exekutieren lassen, aber er unterdrückte die sen Wunsch. Noch brauchte er sie lebend. »Ihr werdet dafür büßen«, sagte Yärling mit kaum verständlicher Stimme. »Aber vor her werdet ihr uns noch einiges zu erklären haben!« »Was?« »Das werdet ihr auf Dykoor erfahren«, sagte Yärling. Er wandte sich an Waquant. »Ich kann die beiden haben?« »Sie sind offiziell überstellt«, antwortete der Kommandant der OPIER. »Wollt ihr sie gleich mitnehmen, oder sollen wir sie auf Dykoor absetzen?« »Führt sie an Bord meines Bootes«, sagte Yärling. Er machte eine Geste zu Waquant,
Peter Terrid die etwas Ähnliches wie Dank ausdrücken sollte. »Ich werde euch berichten, was ich mit ihnen gemacht habe.« Yärling verabschiedete sich und ging zu rück in sein Beiboot. Die beiden Gefange nen saßen auf den hinteren Sitzbänken. Wenn Yärling den Gesichtsausdruck der beiden richtig interpretierte, dann drückten ihre Mienen ungebrochenes Selbstvertrauen aus. Yärling kam zu der Einsicht, daß er sich bei dieser Diagnose wohl geirrt hatte. Wer sein Gefangener war, hatte mit Sicherheit kein Selbstvertrauen mehr. »Wollt ihr nicht lieber gleich verraten, was ihr mit den Ärgetzos gemacht habt?« »Ärgetzos?« fragte Atlan scheinheilig. Yärling machte eine Drohgebärde. »Die Kügelchen in der Kiste, die ihr ge stohlen habt«, knurrte Yärling. Der Pilot hat te unterdessen das Beiboot von der OPIER gelöst und schlug einen Kurs ein, der das Boot zur Station auf Dykoor zurückführen mußte. »Wir haben nichts mit diesen Ärgetzos zu schaffen«, erklärte Atlan. »Wir wissen nicht einmal, wozu diese Dinger eigentlich die nen.« Yärling war fest davon überzeugt, daß At lan log. »Sie erhalten Chirmor Flog, dem Neffen des Dunklen Oheims, die jugendliche Kraft und Frische. Ihr wißt jetzt, was für einen Wert die Ärgetzos darstellen, und wenn ihr eure Tage in Frieden beschließen wollt, dann werdet ihr verraten, was ihr mit den Ärgetzos gemacht habt.« Atlan begann ein Geräusch auszustoßen, das Yärling auf den ersten Blick nicht zu identifizieren vermochte. Dann aber sagte ihm sein Verstand, daß der Gefangene of fenbar stark erheitert war. »Wenn der Neffe des Dunklen Oheims Probleme hat, daß er solcher Mittel bedarf …«, kicherte Atlan. »Schweig!« herrschte Yärling den Gefan genen an. »Und wage es nicht, Chirmor Flog zu verspotten.« »Pah!« machte Atlan. Was sich dieser Ge
Auf Dykoor wartet der Tod fangene an Frechheiten herausnahm, über stieg alles, was Yärling jemals erlebt hatte. Wußte diese Kreatur nicht, mit wem sie es zu tun hatte? »Was ist mit den Ärgetzos«, fragte Thalia, die entschieden ruhiger wirkte als ihr Nach bar. »Entfalten sie nicht mehr ihre Wir kung?« Yärling schwieg einen Augenblick lang. Er war sich sehr wohl des Umstands bewußt, daß in diesem Augenblick er derjenige war, der Fragen beantwortete. Das war alles an dere als beruhigend für den Scuddamoren, aber er entschloß sich, auf die Frage der Ge fangenen zu antworten. »Sie haben nicht die Wirkung, die von ih nen erwartet und gewünscht wird!« Yärling formulierte vorsichtig. Vielleicht gaben die Gefangenen durch ihre Antwort zu erkennen, daß sie die geheime Wirkung der Ärgetzos kannten – in diesem Fall war ihnen die Manipulation nachgewiesen. »Oh weh«, sagte Atlan. »Jetzt kann ich mir vorstellen, welche Gefahr im Raume schwebt.« Der Pilot des Beiboots schwenkte auf den Landekurs ein. »Die Lebenskräfte des hohen Herren las sen nach«, amüsierte sich Atlan. »Vor allem ganz gewisse Lebenskraft, nicht wahr. Ich kann mir gut vorstellen, daß der edle Herr auf Säggallo tobt und schäumt. Wahrschein lich sind sogar ein paar Köpfe in Gefahr zu rollen. Nicht wahr, Yärling, dein Schädel ist auch bedroht?« Das Gespräch nahm eine Wendung, die Yärling um jeden Preis verhindern mußte. Es ging nicht an, daß der Pilot Einzelheiten dieser für Yärling peinlichen Unterhaltung ausplauderte. Es hätte Yärlings Ruf ruiniert. »Schweigt!« brüllte Yärling seine Gefan genen an. »Und du, Bursche …« Der Pilot gab mit einer Geste zu erken nen, daß er sich ganz und gar auf den Lande anflug konzentrierte. Die Geste drückte auch aus, daß der Pilot, von dienstlichen Oblie genheiten abgesehen, blind, taub und stumm war. Der Mann wußte, was er tat – war er
15 nicht verschwiegen, würde Yärling ihn bin nen kurzem zum Schweigen bringen. »Um auf die bewußte Angelegenheit zu rückzukommen«, ergriff Atlan das Wort. »Wir haben tatsächlich nichts mit den Ärget zos gemacht. Sie sind rein zufällig in unse ren Besitz gekommen.« »Das glaube, wer will«, antwortete Yär ling. »Ich nicht.« »Wir schwören …«, rief Thalia. »Was heißt schwören«, fragte Yärling zu rück. »Es ist die äußerste Form der Beteue rung«, antwortete der Gefangene Atlan. »Wir schwören, bei allem, was uns heilig ist, daß wir …« »Mir ist nichts heilig«, antwortete Yärling trocken. »Also ist eure Beteuerung für mich ohne Wert. Außerdem kann man auch Falsches beteuern.« »Es ist dies bei uns nicht üblich«, antwor tete Thalia. Yärling glaubte, in ihrer Stimme einen gereizten Unterton heraushören zu können. »Wir schwören, daß wir die Ärgetzos nicht manipuliert haben«, beteuerte Atlan. »Was hätten wir davon?« Raffiniert, dachte Yärling. Er antwortet so, daß ich ihm eine seiner Fragen beant worten soll. Dabei war sich Yärling der Tat sache gewiß, daß die beiden logen. Selbst verständlich hatten sie die Ärgetzos manipu liert, anders ließen sich die Wirkungen der veränderten Ärgetzos kaum erklären. »Ihr wollt Chirmor Flog töten«, sagte Yärling. Er wußte, was für eine Beschuldigung er aussprach. Einen Anschlag, gleichgültig welcher Art, gegen den Neffen des Dunklen Oheims auch nur zu erwägen, war das größ te denkbare Verbrechen im Marantroner-Re vier. »Und ihr wißt«, setzte Yärling seinen Vorstoß fort, »was euch für dieses Verbre chen erwartet.« »Wir wissen es«, sagte Thalia. »Ewige Sklaverei als Puppe eines Meisterträumers.« Yärling grunzte vor Vergnügen. »Mehr fürchtet ihr nicht?« rief er.
16 Yärling wußte bereits, daß ein plötzliches Erbleichen bei diesen Geschöpfen, meist auf die Gesichtshaut konzentriert, eine unwill kürliche, nicht willensbestimmte Reaktion war – und zwar eine Reaktion, die auf große Furcht schließen ließ. Wenn das stimmte, hatte Yärling seinen beiden Gefangenen einen heftigen Schock versetzt. Es tat dem Scuddamoren gut, zu wissen, daß er dazu in der Lage war. Das pe netrante Selbstbewußtsein dieser Kreaturen ging ihm schon geraume Zeit gegen den Strich. »Wir wissen ja nicht einmal, wie die Är getzos wirken. Wie sollten wir ihre Wir kungsweise daher überhaupt ändern kön nen?« Yärling antwortete nicht auf diesen durch sichtigen Versuch, ihn auszuhorchen. Der Pilot hatte unterdessen eine muster gültige Landung in der Nähe des Stütz punkts fertiggebracht. Die Gefangenen wur den aus dem Beiboot geladen und in einen Gleiter verfrachtet, der wenig später mit ho her Geschwindigkeit über das Sumpfgebiet hinweg zur Station fuhr. »Es sieht hier ähnlich aus wie auf Brei sterkähl-Fehr«, stellte Atlan fest. Die Bemerkung stimmte. Auch das Mitt lere Fort, das einmal unter Yärlings Kom mando gestanden hatte, war von einem aus gedehnten Sumpfgebiet umgeben gewesen. Und obwohl dieses Mittlere Fort unter Yär lings Führung zu einem Machtinstrument der ersten Größenordnung ausgebaut worden war, hatten es die beiden Verbrecher ge schafft, sich aus der Gefangenschaft der Meisterträumer abzusetzen – mitsamt den Ärgetzos. Was bezweckte Atlan mit der Bemerkung, wollte er Yärling ärgern? Der Scuddamore war wütend genug, ihn zu reizen, war völlig überflüssig. »Wir müssen ein wenig aufpassen«, sagte der Pilot. »Die Vrusvarther sind in diesem Jahr besonders groß und zahlreich.« Er deutete auf eine große Blase, die in der Nähe des Stationseingangs in der Luft
Peter Terrid schwebte. Yärling zog seine Waffe und gab einen Schuß ab. Die Blase platzte und gab ihren Inhalt frei, ein halb transparentes We sen, einer riesigen Amöbe vergleichbar. Das Wesen fiel auf den Boden, rutschte die Schräge der Rampe hinauf und versank dann im Sumpf. Von der Stelle, an der das Wesen aufge schlagen war, stiegen feine Rauchfäden in die Höhe. »Was ist das?« fragte Thalia. »Kirnets«, knurrte Yärling. »Sie ent wickeln eine ätzende Körperflüssigkeit. Ihr könnt die Spuren an der Station sehen. Wenn ihr nicht endlich die Wahrheit sagt, werde ich euch mit ein paar Kirnets tanzen lassen.« Yärling fand den Witz vorzüglich. Die beiden Gefangenen und der Pilot schwiegen. »Wohin werden wir gebracht?« wollte At lan wissen. Yärling sah nicht ein, warum er die beiden nicht ein wenig vorab ängstigen sollte. »Wir haben hier ein paar Wissenschaftler zusammengezogen«, gab er bekannt. »Sie experimentieren bereits mit den von euch veränderten Ärgetzos. Und ihr werdet diese Experimente bald erleben können – am eige nen Leib!« Ein Scuddamoren-Kommando erwartete den Transport in der Eingangshalle. Die Ge fangenen wurden übernommen und in das Innere der Station geführt. Yärling war mit sich zufrieden. Er hatte die beiden Gefangenen wieder einfangen können, und er war sicher, daß er in ein paar Stunden auch wußte, was die bei den Verbrecher mit den Ärgetzos veranstal tet hatten. Und wußte er dies erst, konnte er die Ärgetzos gewiß wieder in ihren früheren Zustand versetzen und damit den Zorn des Chirmor Flog von sich ablenken. Daß es ei ne Möglichkeit gab, die Wirkung der lebens erhaltenden Ärgetzos zu beeinträchtigen, war eine Erkenntnis neueren Datums, die man schwerlich Yärling allein anlasten konnte. Vielmehr mußte es ihm zu Ruhm gereichen, diese neue Gefahr für den Neffen
Auf Dykoor wartet der Tod des Dunklen Oheims frühzeitig erkannt und ebenso rasch und umsichtig gelöst zu haben. Eine Sirene gellte durch die Station. Yärling kannte das Geräusch. Es verhieß Unheil. Es bedeutete: Vrusvarther-Alarm.
4. Ich habe das Gefühl, daß sich etwas Ent scheidendes anbahnt. Sie haben mit mir noch etwas vor. Sie haben mir nämlich das Leben gerettet. Eine merkwürdige Vorstellung. Ausgerech net die Scuddamoren mit dem Bluthund Yärling an der Spitze, dazu der dürre Hava re. Wenn sie nicht gekommen wären, ich weiß nicht, was ich angestellt hätte. In diesem Augenblick ist mein Verstand leidlich klar. Ich weiß, was ich sage und denke. Ich werde – vorläufig – keine »Dummheiten« mehr machen. Zum einen fehlt mir – vorläufig – dazu die Lust, zum anderen die Mittel. Sie haben meine Zelle gründlich auf alles untersucht, mit dem man sich umbringen könnte – und sie haben alles entfernt. Geblieben ist nur ein Plastiksack, gefüllt mit einem weichen Material. Und in der Ecke steht eine leere Plastikflasche mit ei nem Sauger daran. Ich könnte mir natürlich den Plastiksack über den Kopf stülpen. Früher oder später würde in diesem kleinen Raum die Kohlen dioxidkonzentration den kritischen Wert übersteigen. Ich wäre nicht der erste, der solchermaßen stürbe – viele Kinder sind beim Spiel in über den Kopf gezogenen Pla stik-Einkaufstüten erstickt. Aber sie überwachen mich, und es er scheint mir sinnlos, ihnen ein Schauspiel zu liefern. Ich werde mitspielen, was die Scuddamo ren vorschreiben. Irgendwann werden sie mich dann umbringen, und sei es nur, um Futterkosten zu sparen. Dann wird dies alles ein Ende haben.
17 Denn auf das Ende warte ich, verzweifelt, hoffend. Dieser Planet ist meine Endstation. Ich weiß es. Der Extrasinn hat sich seit Ewigkeiten nicht mehr bei mir gemeldet. Ist er – seltsa mer Gedanke, zumal in dieser Formulierung – defekt? Wie dem auch sei es gibt keine In formationen mehr, kommentiert nichts mehr. Das Zusatzorgan, einst erworben durch die ARK SUMMIA, ist stumm. Es scheint Dinge zu geben, die selbst für einen Extra sinn zuviel sind. Ich nehme an, daß der Havare bald wie derkommen wird. Ich habe bemerkt, daß er versucht, mich auszuhorchen. Nun, soll er. Erfahren wird er ebensowenig wie sein heimtückischer Chef, der Scuddamore Yärling. Ich habe nichts zu sagen, und selbst wenn ich die Informatio nen hätte, die sich diese beiden so sehnlichst wünschen, ich würde sie ihnen nicht geben. Woher kommt plötzlich dieser Stolz? Ich weiß es nicht. Ich weiß in diesem Augen blick überhaupt nichts mehr. Mein Gehirn scheint leergefegt – bis auf einen Bezirk, den ich nicht aufsuchen möchte. Und indem ich dies denke, bin ich schon wieder hinein geraten. Jeder Gedankenweg, so absonder lich er auch sein mag, landet unwillkürlich in diesem Bereich meiner Erinnerungen. Er innerungen. Das Wort ist der Schlüssel zu meinem Zustand. Ich darf mich nicht erin nern. Man müßte das Denken völlig abschal ten können, durchfährt es mich. Dann brauchte man sich auch nicht zu erinnern … beispielsweise an unsere Ankunft auf Dyko or. Und an die Stunden danach.
* Ich wußte sofort, daß dies unsere Chance war. Egal, was sich draußen abspielte. Wenn es etwas gab, das so gefährlich war, daß die Scuddamoren davor Angst hatten – dann war dieses Etwas zwangsläufig unser Ver bündeter.
18 »Aufgepaßt!« flüsterte ich Thalia zu. Die Odinstocher antwortete mit den Au gen. Ihr Blick war eindeutig. Sie hatte mich verstanden. Unsere Fesselung war nicht besonders gut. Die Scuddamoren hatten sich offenbar mehr darauf verlassen, daß sie uns im Zwei felsfall mit einem gezielten Schuß jederzeit treffen konnten. Es waren zwölf, sechs vor und sechs hin ter uns, und dazu der Chef des widerlichen Haufens – Yärling. Wäre dieser Zug mei nem Charakter nicht zuwider gewesen, ich hätte Yärling inbrünstig gehaßt. So aber lauerte ich lediglich auf eine Chance, uns zu befreien. Das Geheul der Sirenen wurde stärker. »Es sind bei dieser Konjunktion unglaub lich viele Vrusvarther entstanden«, rief einer der Wachtposten. »Und die Kirnets darin sind so groß wie nie zuvor!« Ich sah mich um. Wo war der Weg in die Freiheit? Ich ver suchte mich unauffällig in Thalias Nähe zu bewegen. Unsere Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden, vielleicht schafften wir es, die Knoten zu lösen. Ich spürte Thalias Finger an meinen Handgelenken. Bewundernswerte Thalia, schön, klug, zuverlässig – und überragend tapfer. Sie hatte meine Taktik sofort durch schaut. Irgendwo klirrte Glas, schepperte Metall. »Die Kirnets sind durchgebrochen«, gellte ein Schrei. »Sie sind in der Eingangshalle!« Die Posten reagierten sofort. Sie wandten sich um und richteten ihre langläufigen Waffen in den Gang, aus dem wir gerade gekommen waren. Aus dieser Richtung gellten immer wieder Schreie. Den Bewegungen der Scuddamoren glaubte ich anmerken zu können, daß sie echte Angst hatten. Gab es also doch etwas, das die Schattenschilde dieser seltsamen Le bewesen knacken konnte? Ich spürte, daß meine Hände nahezu frei waren. Das Spiel wurde nun umgekehrt. Die Reihe war an mir, Thalias Fesselung zu lö-
Peter Terrid sen. Wir drückten uns gegen die Wand, um unser Tun möglichst unsichtbar zu machen. Die Scuddamoren eröffneten das Feuer. Wir hörten das Zischen der Schüsse, den Donner der zusammenprallenden Luftmas sen nach dem Blitz des Schusses. Wieder er tönte Geschrei. »Bringt die Gefangenen fort«, bestimmte Yärling und deutete auf uns. »Ihr vier, vor wärts!« Gehorsam richteten vier der Scuddamoren ihre Waffen auf uns. Gegen dieses Argu ment ließ sich nichts machen. Ein Schuß aus einer solchen Waffe war fast lichtschnell und unwiderruflich, wir hätten keine Chance gehabt. »Bringt sie tiefer hinab«, bestimmte Yär ling. Wir waren kaum hundert Meter weit ge laufen, als unser Vormarsch ins Stocken kam. Eine Weggabelung war erreicht, über dem Schnittpunkt wölbte sich eine Glassitkuppel. Über dieser Kuppel erkannten wir gegen das Licht der Sonne mindestens ein Dutzend der Blasen, die Vrusvarther genannt wurden. »Vorwärts!« drängte Yärling. »Los, macht schon.« Wir machten ein paar Schritte, standen unmittelbar unter der Kuppel. Über uns zuckte und zappelte eine organische Masse auf der Fläche der Kuppel, und von unten aus war zu sehen, wie sich der Kirnet durch das Glassit ätzte. Dann war das Tier – war es eines? – durch. Es stürzte herab und begrub einen der Scuddamoren unter sich. Ein wahnwitziges Kreischen war zu hören, dann verschwand die Kontur des Scudddamoren und wurde von der Amöbe gleichsam aufgelöst. Unsere Wachen wichen zurück. »Schießt!« rief Yärling. Auch er suchte erst einmal eine sichere Deckung. Im Feuer der Scuddamoren verging der Kirnet. Darunter wurde ein Häufchen grauer Asche sichtbar –, das war alles, was von dem Scuddamoren übriggeblieben war.
Auf Dykoor wartet der Tod Ich sah, wie Thalia schluckte. »Ein schreckliches Ende«, sagte sie flü sternd. Die Scuddamoren brachten ihre Waffen in Anschlag und eröffneten das Feuer auf die Kirnets, die durch die halbzerstörte Kuppel in das Innere der Station eindrangen. Sie vergingen, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Aber dort, wo ihre Reste auf den Boden prallten, brannte die kaustische Säure ihrer Körper tiefe Löcher in den Bo den, schmolz Metall zusammen und ließ einen ätzenden Qualm aufsteigen, der nach kurzer Zeit den Gang erfüllte und kaum zu ertragen war. Ich sah, wie ein zentnerschwe res Kirnetstück auf eine Scuddamorenwaffe fiel. Die Säure zerfraß das schützende Metall, das Magazin der Waffe ging hoch. Der Kir net blähte sich sterbend auf und platzte. Eine riesige Zahl kleinerer Fetzen des Amöben leibs flog durch den Raum. Die Wand sah Sekunden danach aus wie von Einschlägen übersät. Zwei Scuddamoren, die uns mit ih ren Leibern deckten, brachen schreiend zu sammen und rollten in ihren Krämpfen ge nau in die Absturzstellen weiterer Kirnets. Die Amöben bereiteten den Leiden der Scuddamoren ein rasches Ende. »Die Viecher werden von Jahr zu Jahr in telligenter!« schrie ein Scuddamore. »Sie greifen nicht mehr die Tore oder einfach die Mauern an, jetzt konzentrieren sie sich auf die Kuppel.« Yärling stand in sicherer Deckung. Der Scuddamore war ein Feigling. Schon auf Breisterkähl-Fehr hatte er sich frühzeitig in Sicherheit gebracht. Hinter uns wurde ebenfalls Kampflärm laut. Offenbar wurde ausgerechnet unser Streckenabschnitt von den Kirnets in die Zange genommen. Unsere Chance …? »Wenn sie einen Fluchtversuch unterneh men«, sagte Yärling plötzlich zu seinen Un tergebenen, »dann schießt nach Möglichkeit nur auf die Füße. Wir brauchen sie lebend. Aber bevor ihr sie entkommen laßt, tötet sie
19 lieber.« Er machte in seinem Schattenschild eine Bewegung. »Wir müssen durchbrechen«, bestimmte Yärling. »Gebt uns Feuerschutz!« Er selbst stellte sich hinter uns auf und drückte mir den Lauf einer kurzen Energie waffe in den Rücken. »Vorwärts!« bestimmte er. Ich sah nach oben. Noch immer hing ein halbes Dutzend Vrusvarther über der Kup pel, die zu zwei Dritteln bereits zerstört war. Es gab keine andere Wahl, wir mußten durch. Ich rannte los, machte ein zwei Sätze, sprang über die zuckenden Reste eines Kir nets hinweg, über einen toten Scuddamoren und erreichte die andere Seite der Wegkreu zung. Eine halbe Sekunde später kam Thalia bei mir an, ihr auf den Fersen folgte Yärling. Er stieß einen Laut aus, den man annä hernd als meckerndes Gelächter umschrei ben konnte. »Hattet ihr geglaubt, mir entwischen zu können?« höhnte er. Ich reagierte nicht. Noch waren nicht all unsere Hoffnungen verflogen. Es mußte noch Möglichkeiten geben – es gab immer Möglichkeiten. Zehn Jahrtausende Erfah rung hatten mich das gelehrt. Nur wer sich nie aufgab, erreichte letztlich sein Ziel. »Vorwärts!« rief Yärling. »Bewegt euch!« Wir setzten einen Fuß vor den anderen. Eilig hatten wir es nicht, auch wenn Yärling hinter uns mit einer Waffe in der Hand ging. Ich wußte allerdings: provozieren durfte man den Scuddamoren nicht. Er würde nicht zögern, mit der Waffe auf unsere Arme oder Beine zu schießen, um seinen Befehlen den nötigen Nachdruck zu verleihen. Yärling war, was solche Dinge betraf, von absoluter Rücksichtslosigkeit. Mitgefühl war für den Scuddamoren ein Fremdwort, zu dem ihm jeder Bezug fehlte. Vielleicht war soviel Schlechtigkeit nur bei künstlichen Wesen möglich. Selbst in dem skrupellosesten organischen Wesen
20 war, so hatte ich erfahren, ein Rest von An stand vorhanden. Ich jedenfalls hatte noch niemanden getroffen, der durch und durch böse gewesen wäre, der nicht zumindest von sich selbst einigermaßen gut dachte. Yärling aber war durch und durch schlecht. Er kannte überhaupt keine Skrupel. Wir gingen langsam den Korridor entlang. Hinter uns wurde wieder Schreien laut. Yär ling rührte sich nicht. Es waren Scuddamo ren, die dort starben, aber das kümmerte den Kommandanten nicht. Mochten die Scuddamoren auch einem grauenvollen Prozeß der Metamorphose ihre Entstehung verdanken, sie waren, wenn auch konstruierte Geschöpfe, Lebewesen, und die gellenden Schreie hinter uns verrie ten, daß sie genauso ungern starben wie an dere Wesen. Aber Yärling war für solche Empfindungen nicht zugänglich. Er hatte uns Dinge prophezeit, die noch schlimmer sein sollten als die Sklaverei am langen Draht eines Meisterträumers. Was mochte das sein? Gingen wir diesem Schick sal entgegen? Der Kampfeslärm wurde geringer. Daran und an der Neigung des Bodens merkte ich, daß wir in die Tiefe stiegen. Yärling dirigierte uns mit seiner Waffe, und er war nicht dumm genug, sich nahe ge nug an uns heranzuwagen, daß wir ihn hät ten entwaffnen können. Vor einem stählernen Schott blieben wir stehen. Yärling betätigte einen Hebel, das Schott öffnete sich. Wir traten in einen großen Raum, dessen Bestimmung unschwer zu er raten war. Die perfekte Sauberkeit, die blit zenden Instrumente, die großen Lampen – hier residierten die Wissenschaftler, von de nen Yärling gesprochen hatte. »Vorwärts«, sagte Yärling. Wir machten zwei Schritte, dann waren wir in dem Labor. Yärling folgte uns, ein Druck auf einen Knopf, das Schott schloß sich wieder. Das Labor war rund und wurde durch La borschränke und Wandschirme in verschie-
Peter Terrid dene Abteilungen unterteilt. Aus verschiede nen Richtungen näherten sich Scuddamoren, insgesamt mehr als zwanzig. »Ein respektables Aufgebot«, spottete ich, obwohl mir der Humor weitgehend vergan gen war. Was wollte diese akademische Horde von uns. Was stand uns bevor? »Sind das die Gesuchten?« fragte einer der Scuddamoren. Ich versuchte mir Aura und Stimme des Betreffenden zu merken. Vielleicht … alles, was ich machte, lief auf ein solches Vielleicht hinaus. »Sie sind es«, sagte Yärling. »Setzt euch dorthin!« Er deutete auf zwei Sessel aus Metallroh ren und Leder, versehen mit Rücken und Armlehnen – und mit stählernen Klammern. Die beiden Sessel waren so aufgebaut wor den, daß sie mit den Rücken aneinanderstie ßen. Yärling stieß mich vorwärts. Ich wurde an einem der Sessel festgeschnallt. Der Stahl der Klammern schnitt ins Fleisch. In dem Raum hing ein Geruch nach Desinfektions mitteln. Die Atmosphäre war bedrückend. Angst stieg in mir auf, und vom Extrasinn kam ein undeutlicher Impuls, wie eine Ah nung von etwas Schrecklichem. Zu spät. An Flucht war nicht zu denken. Ich konnte kein Glied mehr rühren. Ich spürte hinter mir, daß auch Thalia festgeschnallt wurde. »Keine Sorge, Odinstochter«, sagte ich halblaut. »Wir werden auch das überste hen.« Ich sprach Pthora, und seltsamerweise ließ mich Yärling gewähren. »Was wird man von uns wollen?« fragte Thalia. Ich hörte aus ihrer Stimme Besorgnis heraus, aber einstweilen keine spürbare Angst. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was mit den Po tenzmitteln dieses Neffen geschehen sein soll. Wahrscheinlich handelt es sich ohnehin nur um Placebos, um Scheinpräparate.« »Hoffentlich hast du recht«, murmelte
Auf Dykoor wartet der Tod Thalia. Die Scuddamoren-Wissenschaftler hatten – ich fand keinen passenderen Ausdruck – sich zusammengerottet und beredeten leise, was sie unternehmen sollten. In einem Be hälter in der Nähe erkannte ich die Kiste wieder, die früher in unserem Besitz gewe sen war, gefüllt mit den Ärgetzos, die Chirmor Flog so dringend brauchte, um sei ne Manneskraft zu erhalten. »Wir werden die Wirkung der Ärgetzos an euch testen«, sagte der Chefwissenschaft ler. »Wenn es also etwas zu erklären gibt, dann sagt es jetzt, bevor es zu spät ist.« Ich wußte nicht, was ich hätte erklären sollen. Wir hatten diese seltsamen Kügel chen in unseren Besitz gebracht, wir hatten sie an Yärling verloren und wieder zurück gewonnen, aber wir hatten nichts damit ge macht, nicht das geringste. »Gebt mir eine Minute Zeit«, bat ich. Ich wollte nichts unversucht lassen. Viel leicht hatten wir doch etwas angerichtet, oh ne es zu wissen. Ich fragte in einem drängenden Impuls den Extrasinn, überprüfte unsere Handlun gen – aber da war nichts, was die Wirkungs losigkeit der Ärgetzos hätte erklären können. »Ich habe mein Gedächtnis geprüft, mir fällt nichts ein«, sagte ich wahrheitsgemäß. Yärling stieß einen Laut der Wut aus. »Gebt ihm eines der Ärgetzos, und dann, Schurke, wirst du spüren, was du angerichtet hast!« Seine Stimme troff von Haß. Einer der Wissenschaftler kam langsam auf mich zu. Er hielt in einer Metallzange ei nes der Ärgetzos. Ich konnte mich eines leisen Gefühls der Bangigkeit nicht erwehren. Die Scuddamo ren vollführten nicht ohne Grund ein solches Ritual. War am Ende doch … Ich fand keine Antwort auf die Frage. Ich war guten Gewis sens, also öffnete ich beizeiten den Mund. Das Kügelchen fiel aus der haltenden Zange in meinen Mund. Ein ziemlich großes Dragee, aber kein Hindernis für mich – ich hatte es immerhin schon fertiggebracht, mei
21 nen Zellaktivator hinunterzuwürgen, um ihn vor allzu gierigen Fingern in Sicherheit zu bringen. Das Ärgetzo rutschte spürbar meinen Sch lund hinunter und landete in meinem Ma gen, auch das war deutlich zu spüren. »Und?« sagte ich. »Was nun?« Ich spielte nur den Selbstbewußten. In Wirklichkeit horchte ich in mich hinein, wie es kein Hypochonder besser fertigbringen konnte. Grund zu echter Besorgnis hatte ich nicht. Gegen Gift war ich durch den Zellak tivator gefeit, ich hatte das bereits einmal an einem Gift ausprobieren dürfen, das von ei nem wahren Hexenmeister ausgebrütet wor den war. Aber auch der Sud des Schurken Iratio Hondro hatte mich und die anderen Aktivatorträger nicht umbringen können. Die Ärgetzos bestanden aus lebendem Material – war dieses Material infiziert wor den? Bakterien, Viren, Pilze – es gab da die vielfältigsten Wirkungen. »Buuhh!« machte ich. Yärling machte allen Ernstes einen Satz zurück, und auch die anderen Scuddamoren sahen zu, daß sie sich aus meiner Nähe ent fernten. »Wie soll die Wirkung denn aussehen?« fragte ich. »Was hätten die Herrschaften denn gerne?« Ich war unglaublich erleichtert. Ich spürte nicht die geringste Verände rung in meinem Wohlbefinden. Wenn mir nicht zumute war wie anderen Männern in meinem Alter, dann lag das daran, daß ich Gefangener der Scuddamoren war. Anson sten aber ging es mir körperlich gut, und mein Verstand funktionierte tadellos. Wäre mir übel geworden oder dergleichen, hätte ich mich geäußert. So aber spürte ich nicht die geringste Wirkung. Die logische Schlußfolgerung: das Zeug war wirkungslos. Vielleicht hatte sich die potenzsteigernde Wirkung während der di versen Transporte verflüchtigt. »Wir versuchen auch die Frau«, sagte ei ner der Wissenschaftler. »Vielleicht sind die beiden Spezies unterschiedlich aufgebaut.«
22
Peter Terrid
»Keine Sorge«, flüsterte ich Thalia zu. »Ich spüre nicht die geringste Wirkung.« »Hoffentlich«, flüsterte Thalia. Ich roch den Duft ihres Haares. Einer der Scuddamo ren näherte sich ihr, und wieder schleppte er das Ärgetzo, als handle es sich um hochkon zentriertes Plutonium. Ich konnte nicht se hen, was hinter meinem Rücken vorging, aber aus den Bewegungen folgerte ich, daß Thalia das Ärgetzo schluckte. Eine Zeitlang geschah nichts. Die Scuddamoren hatten sich auf der anderen Seite der Halle gesam melt, ich konnte sie nicht sehen. »Aha!« sagte Yärling. »Also doch.« Mein Herzschlag setzte aus.
5. Es kommt wieder. Es läßt mir keine Ruhe, martert und quält mich, setzt mir ohne Pause zu. Die Bilder steigen auf, aus Urgründen, und ich kann sie nicht zurückdrängen. Wenn ich es versuche, zerlegen sie sich in Einzel aufnahmen, die mit größerer Genauigkeit wirken. Und der Extrasinn kann mir nicht helfen. »Vergiß!« Das war alles, was ich von dem Zusatzor gan zu hören bekommen hatte. Ich war in diesem Augenblick erleichtert gewesen, daß es den Extrasinn überhaupt noch gab. Ich hatte auch eingesehen, daß der knappe Rat schlag richtig war. Aber ich war unfähig, ihn zu befolgen. Vergessen, wenn das so leicht wäre. Ich versuche nichts anderes, seit ich in dieser Zelle sitze. Ich kämpfe mit den be scheidenen Waffen meines Geistes, ich kämpfe verzweifelt, aber es hilft nichts. Ein Augenblick, an dem ich mich nicht darauf konzentrieren kann, nicht zu denken – und schon sind sie wieder da, die Bilder, die Eindrücke, die Erinnerungen. Es kann nicht mehr lange dauern. Ich werde mich nicht umbringen. Die Mühe brauche ich mir nicht zu ma chen.
Ich habe einen einfacheren, bequemeren Weg gefunden, einen, den ich nicht erst mühsam suchen muß. Er wird sich ganz von selbst finden, des sen bin ich sicher. Früher oder später werde ich den Ver stand verlieren, ich werde Stimmen hören und mit der Luft reden, ich werde unvermit telt weinen und lachen, ich werde die Freun de um mich herum haben, von Scuddamoren wird keine Rede mehr sein, ich werde glück lich sein – glücklich und irrsinnig. Ich merke es schon jetzt, daß ich den Be zug zur Realität verliere. Mir gegenüber hockt wieder der Havare. Er beäugt mich. Mag er. Wahrscheinlich wird er gar nicht begreifen, was vorgegangen ist, wenn ich erst den Verstand verloren haben werde. Es muß schön sein in dieser Welt, in der nur die eigene Einbildung existiert. Dort gibt es keine Feinde, zumindest keine, die man nicht besiegen könnte, dort gibt es weder Tod noch Krankheit noch Leiden. Nur mich und meine Gedanken. Ich merke, während ich dies denke, daß ich den rechten Weg schon gefunden habe. Ich brauche nur so weiterzumachen, dies zu denken und mich darauf zu konzentrieren, dann werde ich bald das Wunderland er reicht haben. Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind wir wieder beisammen. Die alte Schar, die Freunde: Perry, und Bully, und Fartuloon und Gucky und all die anderen. Und natürlich Thalia. Tod Häßlichkeit Alter Leiden Irrsinn Abscheu THALIA.
* Yärling war zufrieden.
Das Experiment war geglückt. Zumindest
Auf Dykoor wartet der Tod war der Erfolg eingetreten, den Yärling er hofft hatte. »Bindet Atlan los«, sagte Yärling. Während zwei Scuddamoren den Befehl ausführten, beobachtete Yärling Thalia. Der weibliche Säuger saß in sich zusammenge fallen auf dem Sessel. Seine Brust hob und senkte sich stoßweise, dazu quollen aus den Sehorganen Tropfen einer Flüssigkeit. In der Kehle produzierte der Säuger seltsame Lau te. »Thalia!« Atlans Schrei gellte durch die Halle, wur de vom Echo zurückgeworfen, vervielfältig te sich. Der Chefmediziner trat zu Yärling. »Es ist genau der gleiche Effekt wie bei Chirmor Flog«, stellte der Mediziner fest. »Der Alterungsprozeß wird keineswegs aufgehoben. Er wird vielmehr verstärkt.« Yärling hatte Mühe, diese Information zu verdauen. Erst jetzt begriff er, was er durch sein Verhalten für eine Katastrophe herauf beschworen hatte. Natürlich hatte Yärling gewußt, daß die Ärgetzos der letzten Lieferung nicht ein wandfrei gewirkt hatten. Yärling hatte auch gewußt, daß Chirmor Flog auf den steten Zugriff zu diesen Ärgetzos angewiesen war. Aber Yärling hatte bislang angenommen, ein Ausbleiben der Ärgetzos hätte lediglich zur Folge, daß Chirmor Flogs Alterungspro zeß eben nicht gestoppt wurde, sondern wei terlief. Aber das … »Die Symptome sind ganz eindeutig«, sagte der Mediziner. »Heda, räumt Atlan weg. Gebt ihm eine Betäubungsspritze.« Er ging auf die Gefangene zu. »Sehen Sie her, Yärling, das Haar, es ist grau geworden. Typischer Pigmentverlust. Die Haut ist fleckig geworden, außerdem wirft sie Falten. Sie können es – haltet die Gefangene während der Demonstration fest – Sie können es besonders gut am Halsan satz sehen, hier! Die Haut hat ihre Elastizität verloren. Und sehen Sie hier, die Zähne. Man braucht nur ein bißchen daran zu zie hen, und sie lösen sich aus ihrer Veranke
23 rung.« »Und diese Laute? Und das Wasser?« »Hat in diesem Zusammenhang nichts zu sagen«, erklärte der Wissenschaftler. »Wahrscheinlich unbedeutende Nebenwir kungen des rapiden Degenerationsprozesses. Ich schätze, daß dieses Individuum ungefähr achtzig bis neunzig Prozent seiner natürli chen Lebenserwartung innerhalb der letzten Minuten durchlebt hat.« »Ist das Gehirn mitbetroffen?« wollte Yärling wissen. »Schwer zu sagen«, antwortete der Medi ziner. »Man müßte das Individuum fragen, aber das dürfte zur Zeit unmöglich sein. Ich nehme an, daß die Gefangene unter einem gewissen Schock steht.« »Und bei Chirmor Flog sind ähnliche Wirkungen aufgetreten?« Der Mediziner machte eine Geste der Rat losigkeit. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Die Infor mationen von Säggallo sind spärlich, wie Sie sich leicht denken können, Komman dant. Wenn sich herumsprechen sollte, daß der Neffe des Dunklen Oheims über Nacht …« Yärling machte eine Geste der Zustim mung. Er konnte sich sehr wohl die politi schen Konsequenzen ausmalen. Zum einen würde der alternde Chirmor Flog vor seinem Ende in seiner Wut wahrscheinlich mehr Köpfe rollen lassen als während seiner gan zen Regierungszeit – und dabei stand Yär lings Kopf auf dieser Liste sicher obenan. Des weiteren mußte, auch das eine logi sche Folgeerscheinung, der Kampf um die Nachfolge des Chirmor Flog entbrennen. Insgeheim überlegte Yärling bereits, wer auf der Liste der denkbaren Kandidaten stand und wer von diesen Bewerbern der aus sichtsreichste war. Vielleicht hatte Yärling eine Chance, wenn er sich frühzeitig auf die Seite des zukünftigen Gewinners schlug und sich die Ärgetzo-Panne als raffinierten An schlag zugunsten seines neuen Herrn gut schreiben ließ. »Es ist natürlich denkbar«, setzte der Me
24 diziner seine Überlegungen fort, »daß Chirmor Flog aus Gründen der Vorsicht die Ärgetzos verkosten läßt. In diesem Fall wäre er selbst von den Auswirkungen zwar nicht betroffen, wohl aber informiert. Das dürfte für denjenigen, der diese Panne auf dem Ge wissen hat, auf das gleiche hinauslaufen. Und natürlich ist zu berücksichtigen, daß Chirmor Flog, wenn nicht unter der Fehl funktion der Ärgetzos, zumindest doch unter deren Entzug zu leiden haben wird.« »Machen Sie sich keine Hoffnungen«, warnte Yärling den Chefwissenschaftler. »Wenn es zum Schlimmsten kommt, wird der Neffe nicht nur mich, sondern alle töten lassen, die von diesem Geheimnis etwas wissen und nicht in der Lage waren, ihm zu helfen. Wir alle hier auf Dykoor haben nur dann eine Chance, wenn wir den Fehler schnellstmöglich wieder ausbügeln – an dernfalls …« Yärling brauchte nicht weiterzusprechen. Der Chefmediziner machte eine Geste, die zeigte, daß er die Mahnung des Komman danten sehr gut verstanden hatte. »Schafft die Gefangene fort. Und bringt Atlan wieder her.« Zwei Scuddamoren nahmen Thalia, die kaum mehr gehen konnte, und schleppten sie aus dem Raum. Atlan war wieder bei Bewußtsein, als er in den Raum geführt wurde. Allerdings stand er noch immer unter der Wirkung des Beruhigungsmittels. Er sah stumpf und teil nahmslos aus. »Du hast gesehen, was mit deiner Gefähr tin geschehen ist, Atlan«, sagte Yärling. »Ich habe«, sagte der Gefangene dumpf. Yärling konnte sehen, daß er die Greifwerk zeuge verkrampfte. »Ihr werdet das büßen«, knurrte Atlan. »Ihr werdet mir dafür bezahlen.« Yärling ließ den Gefangenen eine Zeit lang reden. Zuerst sprach Atlan Garva-Gu va, dann fiel er in ein anderes Idiom, das Yärling als Pthora kannte, zum Schluß ver fiel er in eine Sprache, die Yärling bereits einmal von ihm gehört hatte, damals im
Peter Terrid Mittleren Fort. Der Scuddamoren-Kommandant wartete, bis sich der Gefangene wieder beruhigt hat te. Vielleicht war er auch nur außer Atem, jedenfalls redete er nicht mehr, sondern pro duzierte nur noch Augenwasser. »Deine Gefährtin ist plötzlich abrupt geal tert«, sagte Yärling. »Ich möchte jetzt wis sen, aus welchem Grund dieser Effekt bei dir ausgeblieben ist.« »Ich weiß es nicht«, schrie der Gefange ne. »Findet es selbst heraus.« Yärling wandte sich an den Mediziner. »Atlan ist merkwürdig erregt, und das trotz der Beruhigungsspritze. Wie erklären Sie sich das?« Der Mediziner machte eine Geste der Rat losigkeit. »Wahrscheinlich eine kumulative Wir kung der beiden Medikamente. Die exakte Änderung der Ärgetzos kennen wir ja nicht – vielleicht ergibt sich der Erregungszustand des Gefangenen aus dem Zusammenwirken beider Drogen.« »Wird das die weitere Forschung hin dern?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete der Wissenschaftler. »Der Gemütszustand des Krankengutes ist hier nicht von Interesse. Problematisch ist vordringlich die rein phy sische Veränderung durch die Ärgetzos.« »Dann machen Sie weiter«, bestimmte Yärling. »Ich werde zusehen. Und noch et was – ich fürchte, daß Chirmor Flog es eilig hat.« »Das ist uns bekannt«, gab der Wissen schaftler schroff zurück. »Wir tun, was in unseren Kräften steht.« Er gab einigen Laborbediensteten ein Zei chen. »Fesselt ihn wieder an den Untersu chungsstuhl.« Der Erregungszustand des Probanden hat te sich etwas gemildert, stellte Yärling fest. Die Affekte des Gefangenen schwankten zur Zeit zwischen unangebrachter Aggressivität und unerklärlicher Schwermut. Yärling frag te sich einen Augenblick lang, ob das viel
Auf Dykoor wartet der Tod leicht mit dem Alterungsprozeß des anderen Gefangenen etwas zu tun hatte, kam dann aber zu dem Schluß, daß ein solches Verhal ten absolut unsinnig gewesen wäre. Der Ge fangene konnte sich – theoretisch – jederzeit eine neue Gefährtin suchen, und angesichts der erkennbaren Lebensgefahr für ihn selbst war es naheliegend, daß er an den Erhalt sei ner eigenen Haut dachte. Yärling beschloß, das Problem vielleicht später zu klären. Atlan war unterdessen wieder an den Ses sel gefesselt worden. Er hatte sich nicht ge wehrt, vielleicht aus Schwäche, vielleicht aus Einsicht. Auch das ließ sich später er mitteln. Interessiert sah Yärling zu, wie die Medi ziner den Körper des Probanden an ihre Ge räte anschlossen. Der Gefangene gab zwi schendurch seltsame Laute von sich – bei spielsweise, als man ihm eine Kanüle in den linken Oberschenkel stieß –, ansonsten ver hielt er sich ruhig. »Wie wollen Sie vorgehen«, fragte Yär ling. »Wir werden zunächst einmal die Grob daten sammeln, Puls, Blutdruck und derglei chen Parameter. Dann werden wir ihm ein weiteres Ärgetzo einflößen und die Verän derung messen.« »Tun Sie das!« bestimmte Yärling. Er sah zu, wie dem Gefangenen ein weite res Ärgetzo verabreicht wurde. Yärling konnte sich erinnern, daß er selbst einmal gewünscht hatte, diese seltsamen Präparate einnehmen zu dürfen. Nun sah er diesen Vorgang in anderem Licht. »Nun?« Der Mediziner gestikulierte hilflos. »Sehen Sie selbst, Kommandant«, sagte er. Yärling trat an eines der Instrumente und betrachtete einigermaßen verständnislos die Linien, die ein Schreiber darauf gemalt hat te. »Sehen Sie hier, diese Linie. Das Lebewe sen hat einen ziemlich hohen Puls, der sich aber überhaupt nicht verändert hat. Auch die elektrische Leitfähigkeit seiner Haut hat sich
25 fast nicht verändert.« »Was heißt fast nicht? Der Begriff ist zu ungenau!« »Die Veränderungen liegen im Rahmen der üblichen Toleranzen, sind also nicht si gnifikant.« Yärling verstand dies noch weniger, frag te aber nicht nach. »Vielleicht sollte man das Blut untersu chen«, schlug er vor. »Das wird bereits gemacht«, erklärte der Wissenschaftler. »Wir haben dem Proban den einen Liter Blut abgezapft, für Untersu chungszwecke.« »Und die Ergebnisse?« »Die Werte sind erfaßt und registriert. Wir werden sie mit den Standardwerten ähn licher Spezies vergleichen. Außerdem haben wir ja noch das zweite Exemplar, zu Ver gleichszwecken. Können wir sie nötigenfalls opfern, Kommandant?« Yärling überlegte nicht lange. Der Effekt, daß die Gefangene rapide ge altert war, bestätigte, daß die Ärgetzos nicht mehr wirkten, im Gegenteil, ihre Wirkung war ins Gegenteil umgeschlagen. Den Be weis dafür hatte Thalia geliefert. Zu mehr war sie nach Yärlings Ansicht nicht zu ge brauchen. »Wenn nötig«, sagte er ruhig, »dann ha ben Sie mein Einverständnis!« »Laßt eure Finger von Thalia!« schrie der Gefesselte. »Ihr …« Seine Stimme schnappte über, dann sank er in sich zusammen. »Was ist passiert?« fragte Yärling. »Haben die Ärgetzos gewirkt?« »Unwahrscheinlich«, sagte der Wissen schaftler verwirrt. »Aber vielleicht haben wir ihm etwas viel Blut abgezapft. Man weiß bei diesen Wesen nie, was sie aushal ten können. Bereitet eine Transfusion vor, Plasmaersatz vom Säugertyp.« »Was sagen Ihre Kurven?« »Keine Veränderungen.« Yärling machte eine unwillige Geste. »Ich möchte nicht hören, daß sich nichts verändert hat – ich will hören, daß sich et
26 was getan hat.« »Man könnte versuchen …«, murmelte der Mediziner. »Reden Sie!« herrschte ihn Yärling an. »Man könnte ihm mehrere Ärgetzos ge ben«, sagte der Mediziner. »Es ist natürlich ein Risiko dabei.« »Welches?« »Wir wissen nicht, ob nicht vielleicht eine gewisse Resistenz dem Wirkstoff der Ärget zos gegenüber vorliegt. Es ist möglich, daß die funktionsverkehrten Ärgetzos ab einer gewissen Menge zu wirken beginnen – dann aber so, daß uns der Proband tot vom Stuhl fällt. Das wäre ärgerlich.« Yärling machte eine verdrießliche Geste. An dieses Dilemma hatte er nicht gedacht. Wenn diese Kreatur Atlan tatsächlich starb, bevor sie sich als nützlich erwiesen hatte und das Geheimnis der verdorbenen Ärget zos bekannt war, saß Yärling in der Klem me. Der Weg zur Lösung des Rätsels führte ohne jeden Zweifel über Atlan, und so ergab sich die befremdliche Situation, daß nieman dem auf Dykoor mehr an Atlans Leben gele gen war als ausgerechnet dem Scuddamo ren-Kommandanten. »Versuchen Sie es«, sagte Yärling schließlich. »Aber steigern Sie die Dosis langsam.« »Das versteht sich von selbst«, sagte der Wissenschaftler empört. »Gebt ihm zwei Är getzos auf einmal.« »Übrigens, ist die Wirkung umkehrbar? Würde Thalia wieder verjüngt werden, wenn sie ein echtes Ärgetzo bekäme?« Der Mediziner verneinte. »Keinesfalls«, sagte er entschieden. »Und jetzt wollen wir sehen, was sich tut.« Der Schreiber zeigte die gleichen Werte wie zuvor. »Gebt ihm vier«, entschied Yärling eine Stunde später – ohne Erfolg. Fünf, acht. »Das gibt es nicht«, stöhnte der Mediziner auf. »Zwanzig Ärgetzos innerhalb weniger Stunden, und es zeigt sich keine Wirkung, Unglaublich.« »Vielleicht erfolgt die Wirkung nur sehr
Peter Terrid langsam und mit großer Verzögerung«, mut maßte Yärling, der von Stunde zu Stunde nervöser wurde. »Kann man den Alterungs prozeß eigentlich überhaupt messen?« »In gewisser Weise ja«, bestätigte der Wissenschaftler. »Es gibt da, auch bei die sen niederen Säugern, gewisse Kriterien. Die Haare, die Zähne, die Kalkablagerun gen, vor allem die Zellstrukturen.« »Untersuchen Sie ihn darauf!« befahl Yärling. Wieder wurde dem Probanden ein wenig Blut abgezapft. Außerdem schnitt man ein Stück Gewebe aus seiner Haut. »Wirken die Ärgetzos eigentlich unmittel bar auf die Zellen?« wollte Yärling wissen. Der Wissenschaftler zeigte sich einmal mehr ratlos. »Das Problem ist«, sagte er zögernd, »daß wir eigentlich gar nichts über die Ärgetzos wissen. Es ist schließlich eines der größten Geheimnisse des ganzen Reviers. Wir wis sen nicht, wie sie arbeiten, wir wissen nicht, warum sie so wirken, wie sie wirken – und nun müssen wir obendrein noch herausfin den, warum sie aus ebenso unerfindlichen Gründen eine gegenteilige Wirkung zeigen.« »Soll das eine Kritik sein?« »Natürlich nicht«, verwahrte sich der Chefwissenschaftler. »Warum stellten Sie die Frage?« »Wir könnten den Prozeß abkürzen und außerdem das Leben des Mannes erhalten, wenn wir ein paar Ärgetzos in einer Blutpro be lösten.« Der Wissenschaftler stand starr. »Das ist eine hervorragende Idee«, rief er aus. »Wir machen den Versuch.« Yärling sah zu, wie eine Mensur mit Blut geholt wurde. Der Proband saß derweil reg los, dumpf brütend, auf seinem Sessel. Ein Ärgetzo wurde geholt und in die Flüssigkeit fallen gelassen. Eine Sekunde später verfärbte sich das Gemisch. »Unter ein Mikroskop damit!« rief der Wissenschaftler. Wenig später erschien das Bild der Vergrößerung auf einem Bild
Auf Dykoor wartet der Tod schirm. »Tot«, kommentierte Yärling. Der An blick war eindeutig, auch ohne wissenschaft liche Vorkenntnisse. Die Zellen waren blitz artig gealtert und gestorben. »Ich verstehe das nicht«, murmelte der Mediziner ein ums andere Mal. »Hier funk tionieren die Ärgetzos, und vorher nicht? Wieso, warum?« Yärling war gewohnt, logisch zu denken. Wenn Zellen eines Lebewesens nicht alter ten, solange sie am Körper festsaßen, wohl aber, wenn sie von diesem Körper entfernt wurden, dann gab es an diesem Körper eine Besonderheit. »Zieht ihn aus und legt ihn unter einen Durchleuchter«, befahl Yärling. Widerstandslos ließ sich der Gefangene den Anzug, den er trug – ein seltsames Klei dungsstück, fand Yärling –, ausziehen und unter den Durchleuchter legen. »Aha!« sagte Yärling nach kurzem Su chen zufrieden. Des Rätsels Lösung war gefunden. Der Gefangene trug in seinem Körper einen eiförmigen Metallgegenstand, der sich auf dem Bildschirm deutlich abzeichnete. Metallteile aber, zumal solche, die ansonsten keine Verbindung zum Körper hatten, hatten im Brustkorb eines Säugetiers nichts zu su chen. Yärling stieß einen Laut des Triumphs aus. »Schneidet ihn auf und holt das Ding her aus!« bestimmte er.
6. Wer bist du? Atlan, und du? Verkonder. Ich bin ein Havare. Ich erinnere mich. Was willst du, Verkon der? Helfen, Atlan. Dir und deinem Freund, Partner, Symbionten. Woher weißt du …? Ich habe es gespürt. Du bist nicht iden tisch mit dem Wesen, dessen Körper du be
27 nutzt. Das stimmt. Ich bin ihm verbunden, ge höre zu ihm. Er ist … Ja? Die Beziehung läßt sich in Worten nicht ausdrücken. Du willst helfen? Ja. Ich spüre, daß dein Partner, so könn te man ihn nennen, in Schwierigkeiten ist. Er verhält sich seltsam. Ist das verwunderlich? Er ist Gefange ner. Auch dein Gefangener, Verkonder. Ich gehöre nicht zu ihnen, Atlan. Oder soll ich dich anders nennen? Nenne mich Atlan. Ich höre, Verkonder. Ich habe den Eindruck, daß der Geist deines Partners verwirrt ist. Ich will helfen. Kann ich helfen? Möglich, Verkonder. Er hat schlimme Dinge erlebt Sie haben seinen Geist ver wirrt. Was kann ich tun, Atlan? Ich weiß es selbst nicht, Verkonder. Was quält deinen Partner? Erinnerungen. Dann erzähle, berichte. Sage mir, was das für Erinnerungen sind. Vielleicht hilft das. Ich werde es versuchen, Verkonder. Höre …
* Sie hatten also mein Geheimnis entdeckt. Sie hatten den Zellaktivator gefunden, der sich beim Betreten des Dimensionsfahr stuhls Atlantis in meine Brust gesenkt hatte. Es war natürlich der Wirkung des lebens erhaltenden Gerätes zu verdanken, daß mir nicht das gleiche grauenvolle Schicksal wie Thalia beschieden war. Ich war jung geblie ben. Sie aber war gealtert, schwach, hinfällig, welk geworden. Binnen weniger Minuten von einer strahlend schönen jungen Frau zu einer Greisin gealtert. Und was das Schlimmste war – sie war, wenn ich den Sachverhalt richtig interpretierte, nur kör perlich gealtert. Ihr Hirn war noch das der
28 jungen Odinstochter, mit allen Gefühlen und Empfindungen. Ich hatte dergleichen erlebt, oftmals er lebt. Kein Aktivatorträger kam um diese Au genblicke herum. Immer wieder spielten sich diese Schicksale ab. Man lernt einen Mann oder eine Frau ken nen. Man gefällt sich, man befreundet sich. Vielleicht entsteht Liebe, vielleicht Partner schaft. Tage vergehen, glückliche Tage. Wo chen streichen dahin, friedliche Wochen. Monate gemeinsamer Abenteuer. Die Mona te summieren sich, werden zu Jahren. Und auch die Jahre häufen sich. Sie hinterlassen Spuren. Innere, wie bei mir, aber auch äußere. Runzeln, Falten, aus fallende Haare, welke Haut. Die Gebrechen des Alters waren von jeher mannigfaltig. Zuerst übersieht man das alles. Alle Akti vatorträger tun das. Sie sehen nicht die er sten grauen Haare, sie versuchen nicht, sich zu diesem Zeitpunkt leise davonzumachen. In dieser Zeit könnten sie sich noch dav onstehlen. Sie könnten ihrem Partner eine Chance geben. Noch hat er die Möglichkeit, sich einen neuen Partner zu suchen, einen, der im gleichen Alter steht, der langsam al tert, der dem Tode gemächlich entgegen geht. Von diesem Zeitpunkt an – und wie oft haben wir Unsterblichen ihn verpaßt im Lauf der Jahrtausende – leben sich die Part ner auseinander. Im buchstäblichen Sinn des Wortes. Das Leben geht auseinander. Die Differenz wird immer größer, und sie auszu füllen immer schwieriger. Es sind sehr oft die gleichen Abläufe, und sie signalisieren, was die Stunde geschlagen hat. Die Partnerin müht sich, ihr Aussehen zu verbessern. Sie merkt, daß sie älter wird, und sie versucht, den Kampf aufzunehmen. Es gibt viele Hilfsmittel gegen das Alter. Man kann es überschminken, wegschminken kann man es nicht. Und irgendwann kommt der Tag, wo die stärkste Schminke nichts mehr nützt, wo
Peter Terrid selbst der konsequent betriebene Selbstbe trug beim Blick in den Spiegel haltlos zu sammenbricht. Sie sind grauenvoll, diese Tage. Sie sind der Preis für die Unsterblichkeit. Ein Teil des Preises muß von dem bezahlt werden, der nicht selbst unsterblich ist. Den anderen Teil – welcher ist größer? – zahlt der Unsterbliche. Er sieht die Partnerin leiden, und wenn er ein Gefühl hat, dann lei det er selbst. Ein männlicher Aktivatorträger hat die Qual der Wahl. Er kann die letzten Jahre im Leben der Partnerin an ihrer Seite verbringen, treu und fürsorglich; dann muß er als gesunder und junger Mann sehr viel Verzicht leisten. Oder er macht sich davon. Dann muß er, wenn er ehrlich ist, mit dem Vorwurf der ei genen Schäbigkeit leben. Auch das ist nicht leicht. Weiblichen Aktivatorträgern geht es kein Stückchen besser. Der Vorgang ist so grauenvoll, daß Un sterbliche ihm nach Möglichkeit aus dem Weg gehen. Nur keine Liebesbeziehung, in die man sich verrennen kann, lautet das oberste Gebot. Wir tappen dennoch immer wieder in die Falle. Und immer wieder kommt dieser Augen blick, vor dem wir allesamt Angst haben. Der Tag, von dem an der Blick in den Spie gel zum Alptraum wird. In der Regel zieht sich der Prozeß in die Länge. Hier hatte ich ihn innerhalb weniger Mi nuten erlebt. Arme Thalia. Was mochte sie gedacht haben, allein in ihrer Zelle. Ich konnte ihr nicht helfen. Die Scuddamoren hatten mich mit Medi kamenten vollgepumpt. Sie hatten mir fast einen Liter Blut abgezapft, sie hatten mir – einfach so – ein Stück Haut herunterge schält. Meine Schmerzensäußerungen stör ten sie nicht. Ich war halb benommen von den Medika menten. Ich war außerdem wie gelähmt von dem, was sich vor kurzer Zeit zugetragen hatte. Meine Gedanken waren verwirrt. Im
Auf Dykoor wartet der Tod mer wieder versuchte ich mir eine Möglich keit auszudenken, wie Thalia zu helfen war. Vielleicht, wenn sie frische, unverdorbene Ärgetzos bekam … Vielleicht, wenn ich ihr meinen Zellaktivator lieh … Vielleicht … »Schneidet ihn auf und holt das Ding her aus«, hatte Yärling vor wenigen Augen blicken gesagt. Ich lag festgebunden auf einem Operati onstisch. Über mir hing der Aufnahmeteil des Durchleuchters, er wurde zur Seite ge schoben. Ein Scuddamore mit einem Skal pell beugte sich über mich. Das blitzende Metall des Operationsmessers sah seltsam aus, wenn es in der Schattenhand eines Scuddamoren stak. »Halt!« rief ich. »Nicht schneiden.« Ich konnte kein Glied rühren. Das Messer senkte sich auf mich herab, hielt dann aber inne. Die Aura des Scuddamoren-Kom mandaten Yärling beugte sich über mich. »Warum sollen wir nicht schneiden?« fragte er. Selbst durch die Verzerrungen sei ner Stimme hindurch war zu erkennen, daß sie von Hohn förmlich troff. »Ihr wollt das Gerät haben?« »Allerdings«, bestätigte Yärling böse. »Und wir werden es bekommen.« »Das werdet ihr nicht«, prophezeite ich. »Das Gerät ist unmittelbar mit meinem Kör per verbunden. Es wird explodieren, wenn man es entfernt.« Einen Augenblick lang war es ruhig, dann spürte ich einen bohrenden Schmerz in der Magengrube. Yärling hatte mir wutentbrannt einen Schlag versetzt. »Ist das wahr?« fragte er, seine Stimme war undeutlich vor Wut. Ich mußte bluffen. »Versucht es«, forderte ich ihn heraus. »Kann das stimmen?« fragte Yärling, et was ruhiger. »Das kann ich so genau nicht sagen«, ant wortete der Mediziner: Hatte das, was dieses Wesen berufsmäßig betrieb, überhaupt noch etwas mit Medizin zu tun, mit Heilkunde? Nach meinem Emp
29 finden nicht. Yärling stieß einen Laut der Wut aus. Ich wußte: Am liebsten hätte er mir eigen händig und ohne Betäubung den Leib aufge schnitten, um an den Zellaktivator heran kommen zu können. Das Gerät war für den Scuddamoren wahrscheinlich so lebens wichtig wie für mich. Nur mit Hilfe des Ak tivators war das arg gefährdete Leben seines Herrn und Meisters zu verlängern – und da mit auch seine eigene grausame Existenz. »Was sollen wir tun, Kommandant?« fragte der Wissenschaftler. »Ich weiß es nicht«, antwortete Yärling. »Hat jemand einen Vorschlag?« »Vielleicht …«, sagte ein mir unsichtba rer Sprecher vorsichtig. »Ich habe gehört, daß es Spezialisten gibt …« »Augenblick«, sagte Yärling. »Der Ge fangene braucht nicht alles zu hören, was gesagt wird.« Mein Gesichtskreis wurde leer. Die Scud damoren zogen ab und überließen mich mir selbst und meiner Verzweiflung. Ich versuchte mich zu rühren, aber die Fesselung war perfekt. Aus eigener Kraft kam ich von dem Operationstisch nicht her unter. Ich konnte im Augenblick ohnehin sehr wenig aus eigener Kraft tun. Ich mußte an Thalia denken. Was mochte sie auszuhalten haben in ihrer Zelle? Ich konnte ermessen, was ich litt, beim Gedanken an sie. Nicht ermessen konnte ich, welche Qualen Thalia auszuhalten hatte. Wenn ich versuchte mir vorzustellen, daß ich binnen weniger Stunden rapide alterte … Ich war diesem Tod schon einige Male nahe gewesen. Des öfteren hatte ich den Zel laktivator herunterschlucken müssen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Einmal hatte ein Anti ihn mir gestohlen, und ich hatte das Gerät erst im buchstäblich letzten Augen blick zurückbekommen. Teilweise waren diese Notlagen mit der von Thalia vergleichbar gewesen. Wenn ich das Gerät endgültig verlor, war ich zweiund siebzig Stunden später mit Sicherheit ein to ter Mann, eher früher.
30 Aber es gab ein Mittel gegen dieses Ende, den Zellaktivator. Was aber konnte ich tun, um Thalias entsetzliches Schicksal zu wen den? Half der Zellaktivator? Konnte er sie wieder auf ihr ursprüngliches Alter zurück bringen? Ich horchte. Nichts rührte sich. Die Scud damoren beratschlagten mein Schicksal, und ich war nicht in der Lage, mich zu wehren. Ich fror. Der Raum war nicht geheizt. Auf dem Boden neben dem Operations tisch lag der Anzug, das Goldene Vlies. Er hatte mir mehr als einmal das Leben geret tet. Wenn ich … Müßige Spekulation, kommentierte der Logiksektor trocken. Was sollte ich anderes tun als spekulie ren? Warten, darauf, daß etwas geschah. Mit mir, mit Thalia. Irgend etwas, wahrschein lich etwas Grauenvolles. Ich weigerte mich tief im Innern, daran zu glauben, daß dieses planetengroße Morast loch die Endstation sein sollte. So leicht gab ich mich nicht geschlagen. Was hatte der Scuddamore gerufen? Die Kirnets wurden von Jahr zu Jahr in telligenter? Konnte ich mich mit diesen We sen, die sogar den schier unüberwindlichen Scuddamoren Angst und Entsetzen einflö ßten, verbünden? Dazu müßte ich erst einmal aus dieser Fe stung heraus und von diesem kalten Operati onstisch herunter. »Ich werde eine entsprechende Botschaft absenden«, hörte ich einen Scuddamoren sa gen. Die Scuddamoren kehrten in den Operati onssaal zurück, in ihr Labor des Grauens. »Was machen wir unterdessen mit ihm?« »Schafft ihn fort«, hörte ich Yärling sa gen. »Wenn er zu fliehen versucht, zer schießt ihm die Beine. Wer seinen Oberkör per trifft, stirbt.« Das waren Worte, die ich in diesem Au genblick gerne hörte. Beine waren nämlich erheblich schwieriger zu treffen als Rümpfe, und manch einer, der auf Beine gezielt hatte, hatte sein Opfer tödlich am Oberkörper ge-
Peter Terrid troffen. Angesichts der Todesdrohung, die Yärling zweifellos sofort wahrmachen wür de, mußten die Scuddamoren dreimal über legen, bevor sie auf mich feuerten. Das gab mir, wenn die Flucht gelang, eine größere Chance. Meine Fesseln wurden gelöst. Ich durfte von dem Operationstisch herunterklettern und in meine Kleidung schlüpfen. Merkwür dig, daß sie mir den Anzug ließen; in einer Tasche steckte, wie ich zufällig beim Anzie hen spürte, auch noch die Große Plejade. Vier Wachen nahmen mich in die Mitte. An sofortige Flucht war nicht zu denken. Die Scuddamoren hatten ihre entsicherten Waffen aus kurzer Entfernung auf meine Beine gerichtet. Ganz ohne Wirkung waren die Ärgetzos nicht geblieben, vielleicht lag es aber auch am Blutverlust. Ich war verwirrt, merkte kaum, wohin mich meine Wachen führten. Ab und zu knickten meine Beine ein, und nur mit Mühe verhinderte ich, daß ich um fiel und liegenblieb. Obendrein gellten wie der Sirenen durch die Station, deren Lärm an meinen Nerven zerrte. Ich war den Scudda moren fast schon dankbar, als sich hinter mir eine stählerne Tür schloß und den Lärm ab riegelte. Ich lehnte mich gegen die Tür und schnappte erst einmal nach Luft. Meine Au gen mußten sich an das Halbdunkel in der Zelle gewöhnen. Dann entdeckte ich die Ge stalt, die zusammengesunken auf der Prit sche hockte.
* »Thalia!« Ich ging auf sie zu. Sie saß auf der Prit sche, hatte die Hände vors Gesicht geschla gen und rührte sich nicht. »Wir werden auch das überstehen«, ver suchte ich sie zu trösten. »Ich bin sicher, daß wir deinen Zustand mit dem Zellaktivator wieder beheben können.« Thalia sah auf. Ihr Gesicht war hager geworden, die Mus keln schlaff, die Wangen faltig. Ihre Haare
Auf Dykoor wartet der Tod waren von strähnigem Grau, die Hände, ihre schlanken Finger, bestanden praktisch nur noch aus Haut und dürren Knochen. Die Haut war fleckig. »Glaubst …« Sie sprach nicht weiter. Auch ihre Stimme war die einer Greisin. Ich sah, wie sie zu sammenzuckte, sich verkrampfte. Sie weinte nicht mehr. Sie beherrschte sich. Der eiserne Wille der Odinstochter war noch nicht ver schwunden. Sie riß sich zusammen, versuch te nicht zu klagen und zu jammern. Aber ich konnte sehen, daß sie litt. Ich nahm sie in die Arme. Sie weinte still und lautlos. Ich konnte unter der Kleidung ihre Knochen fühlen. Thalia war ausgemer gelt wie ein Skelett. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. »Glaubst du wirklich«, fragte sie dann mit brüchiger, zittriger Stimme, »daß wir dies jemals wiedergutmachen können?« Ich log nicht gerne, aber ich log. Man konnte es Zweckoptimismus nennen, man konnte es einen Versuch nennen, sich selbst und andere zu täuschen. Es war Lüge, aber sie half vielleicht. »Mit Sicherheit«, sagte ich. »Wir werden uns frische Ärgetzos besorgen und die wer den, zusammen mit dem Zellaktivator dafür sorgen, daß du bald wieder aussiehst wie normal.« Sie glaubt dir kein Wort, sagte der Extra sinn. Schweig! dachte ich zurück und über schüttete innerlich das Zusatzorgan mit dem Haß, den ich aufgespeichert hatte. Schweig, oder lasse dich desaktivieren! Nichts konnte ich in diesem Augenblick weniger gebrauchen als die klugen Kom mentare dieses geschwätzigen Organs. Ich wollte nicht logisch denken, ich wollte in diesem Augenblick nicht mein photographi sches Gedächtnis einsetzen. Ich wollte mit Thalia allein sein. »Und wenn nicht?« Thalias Frage war klar, eindeutig und lo gisch zwingend. Ein vernünftiger Mensch mußte so fragen. Ein vernünftiger Mensch
31 hätte darauf keine Antwort gegeben. »Damit werden wir uns befassen, wenn der Augenblick gekommen ist«, sagte ich und bemühte mich, möglichst viel Energie in meine Stimme zu legen. Ob ich sie mit dieser gespielten Zuversicht beruhigen konnte? Andere vielleicht, Thalia mit Si cherheit nicht. Ihre Atemzüge wurden ruhiger. Vielleicht nahm sie meine Lügen gierig auf, vielleicht versuchte sie, sich selbst zu belügen. Ich wußte aus Erfahrung, daß kein Täuschungsmanöver so dumm und durch schaubar war, daß man damit nicht minde stens sich selbst betrügen konnte. Ich ging auf das Spiel ein. Es war Wahn sinn, doppelt gefährlich, weil ich dieses schauerliche Spiel schon kannte, zehnfach bedrohlich, weil wir uns in unserer lebens gefährlichen Lage nicht konsequenter Selbsttäuschung hingeben durften – ich machte das Spiel dennoch mit. Mochten draußen auch Tausende von Scuddamoren stehen, mochten ätzende Amöben die Station belagern – wenn es Thalia half, log ich mit, täuschte ich mich selbst. Sie setzte sich etwas gerader auf, aber so, daß ich ihr Gesicht möglichst nicht zu sehen bekam. »Wir haben eine gute Chance«, redete ich uns ein. »Wenn ich Yärling …« »Sprich diesen Namen nicht aus …«, bat Thalia mit erstickter Stimme. »Sie wollen offenbar einen Spezialisten holen«, erklärte ich hastig. »Sie sind hinter meinem Zellaktivator her, weil …« Ich schloß die Augen und preßte die Zäh ne aufeinander. »… weil die Ärgetzos bei mir nicht ge wirkt haben«, hatte ich sagen wollen. Mit jedem Satz quälte ich die Frau, ohne es zu wollen, gedankenlos, aber mit der gleichen grausamen Schärfe, als hätte ich es vorsätz lich getan. »Ich habe ihnen erzählt, daß das Gerät ex plodiert, wenn es aus meinem Körper ent fernt wird.«
32 »Das war ein guter Einfall«, sagte Thalia leise. Eine dürre Hand strich mir über das Haar. Ja, es war ein famoser Einfall. Er rettete mir das Leben und die Jugend. Er verhalf mir dazu, daß ich in aller Jugendfrische zu schauen konnte, wie Thalia dahinsiechte. Ein guter Trick, den ich mir da hatte einfal len lassen. Und wie tröstlich für Thalia, daß sie wußte, daß ich mein Leben gerettet hatte, wenn auch nur vorläufig. »Sie werden auf jeden Fall ein paar Tage brauchen, bis sie den Spezialisten herge bracht haben.« »Dann bleibt uns noch etwas Zeit«, mur melte Thalia undeutlich. Etwas fiel mit einem leisen Geräusch auf den Boden. Ich wollte mich danach bücken, aber Thalia hielt mich fest. »Laß nur«, sagte sie leise. »Es ist nur ein Zahn. Sie sitzen nicht mehr so fest, weißt du.« Das Grauen stieg an meinem Rücken hoch. Woher nahm diese Frau die unglaubli che Selbstbeherrschung? War es der eiserne, unerbittliche Wille, nicht schwach und hilf los erscheinen zu wollen? Oder steckte Resi gnation dahinter? Ich wußte es nicht. Ich war hilflos, ent setzlich hilflos in diesem Augenblick. Ich konnte nichts tun, was Thalia das Le ben erleichtert hätte. Was noch schlimmer war: wenn ich etwas zur Rettung meines ei genen Lebens tun wollte, dann mußte das bald geschehen. Wenn ich mit Gegenmaßnahmen wartete, bis der Spezialist angekommen war, hatte ich verspielt. Einem Fachmann konnte ich nicht einreden, der Aktivator würde explo dieren. Der weitere Verlauf der Aktion war nach dieser Demaskierung klar – man würde den Aktivator entfernen, ich würde sterben, Tha lia würde vermutlich umgebracht, und Yär ling, dieser Schurke, konnte mit dem erbeu teten Aktivator nach Säggallo fliegen und ihn seinem dunklen Herren bringen. Daß der Aktivator bei jedem anderen au-
Peter Terrid ßer mir bei längerem Gebrauch kontraindi ziert war, daß er Chirmor Flog eine explosi ve Zellwucherung und schließlich einen schrecklichen Tod bescheren würde, konnte mich nicht trösten. »Was willst du unternehmen?« fragte Thalia. »Wenn du etwas tun willst, um dein … unser Leben zu retten, dann mußt du es jetzt tun.« Ihr Verstand war nicht gealtert. Sie hatte nachgedacht, und sie war zu den gleichen Schlußfolgerungen gekommen wie ich. »Du hilfst mir?« fragte ich. Im Dämmerlicht der Zelle sah ich sie nicken. »Ja, ich werde es versuchen«, sagte sie. Ich sah sie lächeln, und plötzlich – Sin nestäuschung – sah sie wieder jung und schön aus. Den Körper dieser Frau hatte Yärling fast zugrunde gerichtet, den Geist nicht. Inner lich war Thalia, was sie immer gewesen war, klug, energisch, charaktervoll – und schön.
7. Der Plan war gefaßt. Wie ihn in die Tat umsetzen? Ich stand auf und ging zum Fenster. Dort war, ich hatte damit gerechnet, kein Ent kommen möglich. Das Fenster bestand aus handspannendickem Glassit oder dem Scud damoren-Gegenstück zu diesem Material. Obendrein waren Metallstäbe in das Glassit eingelassen. Ich mußte mich auf die Pritsche stellen, um hinausschauen zu können. Sehr viel konnte ich nicht sehen, aber es genügte mir. Wir befanden uns am Rande der Station. Draußen war Sumpf, aber in der Nähe stan den Bäume. Wenn der Boden Bäume trug, dann wahrscheinlich auch Menschen. »Ich schlage folgenden Weg vor«, sagte ich zu Thalia. »Wir versuchen, uns ins Freie abzusetzen. Dort werden wir dann unseren Tod in den Sümpfen vortäuschen. Wenn die Scuddamoren sich von unserem Verschwin
Auf Dykoor wartet der Tod den überzeugt haben, werden wir versuchen, uns zum Raumhafen durchzuschlagen und dort ein Raumschiff zu stehlen.« »Glaubst du, daß das so einfach sein wird?« fragte Thalia. Mit keinem Wort ging sie darauf ein, daß sie vielleicht den körper lichen Strapazen dieses Ausbruchs nicht ge wachsen war. Ich lächelte und zog die Große Plejade aus der Tasche. »Sie waren so dumm, mir das hier zu be lassen«, sagte ich triumphierend. »Damit können wir den Lotsen eines Organschiffs überreden, uns zu helfen.« »Wie du meinst«, sagte Thalia. Ich mußte aufpassen. Die Stimmungslage der Frau schwankte. Verwunderlich war das nicht, aber ich mußte mit Überraschungen rechnen. Thalia stand unter schwerem Schock, das machte ihre Reaktionen nicht vorhersehbar. Ich untersuchte die Zelle, während Thalia auf der Pritsche lag. Ich wollte sie schonen, so weit das überhaupt möglich war. Vorsichtig klopfte ich die Wände ab. Dieser Raum wurde belüftet, die Luft mußte also einen Zutritt haben. Und wo viel Luft hereinkam, kam vielleicht ein ge schmeidiger Mann wieder heraus. Oben drein konnte sich als für uns günstig erwei sen, daß dieser Raum nicht als Gefängnis für Wesen unserer Art gedacht war. Ich brauchte fast eine Stunde, dann hatte ich herausgefunden, wo der Belüftungs strang verlief – und wie dick er war. Einmal mehr stellte ich fest, daß wir Glück hatten – ich durfte dabei allerdings keinen Blick auf Thalia werfen, die inzwischen eingeschlafen war. Die Wände unseres Gefängnisses bestan den aus Metall, wie praktisch alles in dieser künstlichen Station, die gleichsam auf dem Sumpf schwamm. Im Fall der Wände hatte man einfach metallene Platten miteinander verklebt. Diese Klebstellen knacken zu wol len, war ein Ding der Unmöglichkeit. Kleb stellen, ich wußte das aus Erfahrung, bra chen nie. Alles andere mochte zerstört wer
33 den, aber niemals eine sorgfältig geklebte Stelle. Ich hatte aber feststellen können, daß die Wände nicht sehr dick waren. Mit vereinten Kräften … nein, das ging nicht. Thalia war so hinfällig, daß an körper liche Anstrengungen nicht zu denken war. Das Arbeiten mußte ich allein besorgen. Ich warf mich probeweise gegen eine der Platten. Es gab einen dumpfen Ton, der nachschwang und Thalia weckte. »Was ist passiert«, rief sie und richtete sich auf. Ein Stöhnen folgte. Sie hatte den gedanklichen Befehl »Aufstehen« gegeben, der von seinen Impul sen her für andere Muskeln gedacht waren als die, die sie nun hatte. Der Körper kam mit den Gedanken nicht mehr mit. Vielleicht hatte sie im Schlaf auch vergessen, was mit ihr geschehen war, und mußte jetzt neu den Schock des plötzlichen Alterns erleben. »Ich habe, glaube ich, eine Schwachstelle gefunden«, antwortete ich. Wieder warf ich mich gegen die Platte. Das Metall gab nach. Ein weiterer Anlauf, etwas knackte. Thalia stand langsam auf und kam näher. In der Wand hatte sich eine Ausbuchtung gebildet, die ich in immer neuen Anläufen vertiefte. »Geh zur Tür und horche«, forderte ich Thalia auf. Sie kam der Aufforderung nach, mit lang samen, schleppenden Bewegungen, die an zusehen eine Qual und auszuführen noch schrecklicher war. »Alles ruhig«, flüsterte sie. Ich verstärkte meine Bemühungen. Nach dem zwanzigsten oder dreißigsten Anlauf brach das Metall. Meine Schulter fühlte sich an, als sei sie ebenfalls geborsten. Ich zerrte und riß an den Blechen. Dahin ter lag ein Hohlraum, durch den Luft geweht wurde. Er war gerade groß genug, daß wir darin klettern konnten. Ich wollte den Eingang gerade mit Gewalt freimachen, als ich über uns einen dumpfen Aufprall zu hören glaubte. Ich sah nach
34 oben, fand aber keine Erklärung für das Ge räusch. »Atlan, das Fenster!« Ich sah nach dem Fenster und erschrak heftig. Genau auf unserem Fenster hatte sich ein riesiger Kirnet breitgemacht und war da mit beschäftigt, das Glassit aufzulösen. Was das bedeutete, war auf den ersten Blick klar. Das fremde Lebewesen wollte in die Station eindringen, und es schien genü gend Intelligenz zu haben, um diesen Plan auch in die Tat umsetzen zu können. Ich konnte sehen, wie die Amöbe ätzende Kör persäfte produzierte, die das Glassit mit er schreckender Geschwindigkeit auflösten. Das hieß aber auch, daß wir die keines wegs sehr geräumige Zelle mit einem säure produzierenden Lebewesen teilen mußten, dessen weitere Absichten unbekannt waren. Was wollten die Kirnets in der Festung? Er nährten sie sich von den Lebewesen, die sie überfielen? »Was sollen wir tun?« fragte Thalia. Wir hatten uns in die Nähe der Tür geflüchtet; sie war der Ort der Zelle, der von dem Fen ster am weitesten entfernt war. Thalia bebte unmerklich. Ich hielt das für ein sehr gutes Zeichen, es bewies mir, daß in der Odins tochter genügend Lebensmut und Überle benswille schlummerten. »Wir müssen abwarten«, sagte ich. »Mehr können wir nicht tun.« Der unheimliche Vorgang lief völlig laut los ab. Wir sahen nur die Rauchflächen, die aufstiegen, und das Wallen des Glassits, wenn es mit der Körpersäure in Berührung kam. Diese Säure war das ätzendste Materi al, das ich je zu Gesicht bekommen hatte. Wenn der Kirnet uns in Ruhe lassen woll te, hatte er dazu genügend Platz. Wollte er uns aber angreifen, wurde es in der Zelle eng. Ausweichen konnten wir nicht, und bis ein Scuddamorenposten gekommen wäre … Ruhig, mahnte der Logiksektor. Der Kir net wird euch nicht angreifen! Hoffentlich stimmte die Information, dachte ich. Dazu schwieg der Logiksektor. Dann war der Durchbruch geschafft.
Peter Terrid Verflüssigtes Glassit tropfte von der Decke auf die Pritsche und brannte sich so fort durch. Das Loch in der Decke wurde größer. Der Kirnet bildete ein Pseudopodi um aus und ließ es in die Zelle hinabbau meln. »Wir müssen die Nerven behalten«, flü sterte ich in Thalias Ohr. »Wenn wir uns nicht rühren, wird er nicht angreifen.« »Vielleicht«, sagte Thalia zweifelnd. Langsam floß der Kirnet in die Zelle. Ich stellte fest, daß er die furchtbare Säure ganz nach Belieben produzieren konnte. Von dem Material des Bodens stieg keinerlei Rauch auf. Der Kirnet blieb auf dem Boden liegen und rührte sich nicht. Derweil war ein Art genosse damit beschäftigt, das Loch im Fen ster zu vergrößern. Die beiden Kirnets versammelten sich vor uns, aber sie griffen uns nicht an. Statt des sen verschmolzen sie zu einem besonders großen Kirnet, dem sich wenig später ein dritter hinzugesellte. Die grünliche, halbtransparente Gallert masse vor uns wurde immer größer, denn immer mehr Kirnets drangen durch unser Fenster ein. Dann, als die gefährlichen Körper uns be drohlich nahe gekommen waren, kam Bewe gung in die Massen. Die Kirnets flossen wieder auseinander. Sie nahmen einen Weg, den ich ihnen gebahnt hatte – sie verschwan den in den Lüftungsschächten. Nach kurzer Zeit war unsere Zelle leer. »Los jetzt!« flüsterte ich. Ich hastete zum Fenster hinüber. Nur ganz kurz tippte ich mit dem Finger gegen einen Rand, in der Erwartung, dort Spuren der fürchterlichen Säure zu finden. Ich hatte Glück, es gab keine Spuren. Sehr behutsam tastete ich den ganzen Rand ab, dann die Oberfläche der völlig zerstörten Glassit scheibe, von der nur noch ein paar unregel mäßig geformte Splitter übriggeblieben wa ren. Auch dort gab es keine Säurespuren. »Ich helfe dir!« Mit kräftigem Schwung beförderte ich Thalia in die Höhe. Sie war entsetzlich leicht
Auf Dykoor wartet der Tod geworden, fast hätte ich zuviel Kraft aufge wandt. Thalia brauchte meine Hilfe, aus ei genen Kräften hätte sie das Dach nicht er reicht. Dann war die Reihe an mir. Ich mußte al lein zurechtkommen. Ich sprang hoch, be kam die Kanten des Loches zu fassen und zog mich daran hoch. Es war eine abenteuer liche Turnerei, aber nach einigem Hin und Her hatte ich das Dach erreicht. Es war Abend in diesem Teil der Planetenland schaft. Dieser Umstand konnte unsere Flucht begünstigen, aber auch hindern. Ich deutete auf das Land. Sumpf, Morast, Schlamm – es kam alles auf das Gleiche heraus: auf ein Gelände, in dem zu marschieren schwer, mitunter lebensgefährlich sein würde. »Willst du, Thalia?« Jetzt, im Licht der untergehenden Sonne, waren die verheerenden Folgen der Droge mit erschreckender Deutlichkeit zu erken nen. Thalia war entsetzlich gealtert; sie war eine Greisin geworden, die von ihrer körper lichen Beschaffenheit her mit einem Fuß im offenen Grab stand. Sie war eine schöne alte Frau, aber das änderte nichts an der Grund aussage, daß sie gealtert war. Und ich wußte auch, daß sie und ich in ähnlichen Begriffen dachten. »Wir haben wohl keine Alternative dazu, nicht wahr?« Wenigstens hatte ihr Verstand nicht gelit ten. Und ich hatte auch noch nicht die Hoff nung aufgegeben, ihren Zustand mit Hilfe des Zellaktivators ändern zu können. Dieses entsetzliche abrupte Altern war unnatürlich, ein Kunstprodukt, also mußte man es mit künstlichen Mitteln auch wieder umkehren können. Ich wußte aus Erfahrung, daß es viele mögliche Dinge gab, die meist für un ausführbar gehalten wurden. Das beste Bei spiel dafür war mein Zellaktivator, der seit mehr als zehn Jahrtausenden störungsfrei seine Aufgabe erfüllte und mich am Leben hielt. »Der Raumhafen liegt im Norden der Sta tion«, erinnerte ich mich. »Also werden wir zunächst einmal eine andere Richtung ein
35 schlagen.« »Warte einen Augenblick«, forderte mich Thalia auf. »Sieh nur!« Ein Vrusvarther näherte sich uns, eine Blase mit einem Durchmesser von fast zwei Metern. Sie war leer. Vielleicht hatte sie ih ren Inhalt bereits freigegeben, vielleicht war sie gerade erst entstanden. Die Blase schwebte langsam auf uns zu. »Wenn sie die Kirnets tragen können, wa rum nicht auch uns?« »Bravo, Thalia!« rief ich spontan. Die Idee war, wenn sie funktionierte, vor züglich. Ich stand auf dem Dach der Station auf und versuchte die Blase zu greifen. Beim dritten Zufassen gelang der Versuch. Ich sah Thalia an. »Die Sache kann auch danebengehen«, sagte ich, einen Augenblick lang zweifelnd. »Versuch es!« Ich versuchte, in den Vrusvarther hinein zukommen, und der Versuch gelang. Ich spürte, wie etwas Kaltes, Glitschiges über meinen Körper strich, dann stand ich im In nern der Blase. Es war ein befremdliches Phänomen, und ich wußte auch nicht, wie man es hätte erklären können. Ich war durch eine Wand hindurchgegan gen, die gleichzeitig stabil und undurch dringlich genug war, um mich zu tragen. »Komm, Thalia!« Thalia zögerte. Was hatte sie vor? »Komm, sonst treibt der Vrusvarther ab!« Thalia machte einige schwache Schritte. Ich half ihr, und nach kurzer Zeit stand sie ebenfalls im Innern des Vrusvarthers. Es war angenehm warm im Innern der Blase, in der ein schwacher Fäulnisgeruch zu spüren war. Sauerstoff gab es, wie ich bald feststel len konnte, genug. Ich hielt Thalia fest, als sich der Vrusvar ther in Bewegung zu setzen begann. Der Himmel allein mochte wissen, wie der Vrusvarther beschaffen war. Organe wa ren nicht zu erkennen, von Antriebselemen ten fehlte jede Spur, es gab keine Möglich keit, dieses absonderliche Gefährt zu steu ern.
36 Da es obendrein mit atembarer Luft ge füllt war, hätte es eigentlich niemals aufstei gen dürfen, schon gar nicht, wenn zwei Menschen an Bord waren. Der Vrusvarther scherte sich nicht um solche Dinge. Er hob ab und flog los. Sehr bald merkte ich, daß man dieses selt same Gefährt überhaupt nicht steuern konn te. Nicht einmal der Vrusvarther selbst war in der Lage, seinen Kurs zu bestimmen. Vielleicht konnten es die Kirnets – im Abf liegen sahen wir, daß einige Hundertschaf ten dieser seltsamen Amöben die Station der Scuddamoren belagerten. Der Wind trieb uns sacht über das Land. »Hoffentlich öffnet sich die Blase nicht unversehens«, murmelte Thalia. Diese Angst konnte ich ihr nachempfin den. Unter uns dehnte sich das größte zusam menhängende Sumpfland, das ich je gesehen hatte. Praktisch war der ganze Planet ein einziges riesenhaftes Schlammloch übelster Sorte. Auf der Erde gab es nur noch wenige der artige Feuchtgebiete, wie Ökologen dieses Biotop nannten. Feuchtgebiete waren nutz lose Flächen, und Land war stets kostbar ge wesen. Von jeher hatten sich die Machtha ber auf Terra darum bemüht, Feuchtgebiete trockenzulegen, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Gaius Julius Caesar hatte versucht, die Pontinischen Sümpfe in der Nähe Roms auszutrocknen, vergeblich. Erst sehr viel später war es gelungen, sol che Gebiete urbar zu machen, zum Nutzen der Menschen und zum Schaden der natürli chen Vielfalt des Lebens – und das lief letzt endlich darauf hinaus, daß der Mensch seine Behausung, die Welt, in der er lebte, kahl und nüchtern werden ließ. Der Sumpf unter uns wimmelte von Le ben. Amphibien, Kriechtiere, Vögel fanden hier reichlich Nahrung, genügend Brutstät ten – und die Tiere waren sicher vor ihrem mit weitem Abstand größten Feind: der Überheblichkeit einer intelligenten Spezies, die sich anmaßte, solche Lebensräume zum
Peter Terrid eigenen, kurzfristigen Vorteil zu zerstören. Das war die eine Seite dieses Problems. Die andere bekamen wir zu spüren, wenn unser Vrusvarther die Lust verlor. Er schwebte gemächlich zehn Meter über dem Land, und wenn er sich öffnete und uns entließ, waren wir einen Herzschlag später im Morast verschwunden. Kein sehr schöner Tod, aber wann und unter welchen Umstän den war der Tod schön, zumal für den Be troffenen? Ich sah, daß Thalia ab und zu schluckte. »Kein sehr schönes Gelände«, sagte ich. »Aber der Vrusvarther hält, keine Sorge.« »Man erstickt, wenn man dort hineinfällt, nicht wahr?« »Ich nehme es an«, sagte ich. »Mir fällt eine Geschichte ein«, murmelte Thalia. »Es soll Sippen geben und Stämme, die Verbrecher in solchen Sümpfen versen ken, bei lebendigem Leib.« »Ich kenne solche Geschichten«, antwor tete ich. »Auf meiner Heimatwelt gab es ein Volk, das diesem Brauch frönte.« Hoppla, was hatte ich denn da gesagt? Terra meine Heimat? War ich denn nicht Arkonide? Oder hatten die zehn Jahrtausen de Menschheitsgeschichte mich derart um gemodelt, daß ich mich selbst mehr als Ter raner denn als Arkonsprößling ansah? »Die Germanen warfen Verbrecher in Moore«, erinnerte ich mich. »Ehebrecher und andere.« »Woher weiß man das? Nur Erzählun gen?« Wenn Thalia zum Plaudern aufgelegt war, sollte es mir recht sein. Ich wollte sie von trüben Gedanken abbringen. Ob dazu dieser Ritus sehr geeignet war, erschien mir zwei felhaft, aber es war Thalia, die das Thema angeschnitten hatte. »Man hat sogenannte Moorleichen gefun den, Tote, die tausend und mehr Jahre im Moor gelegen hatten. Sie waren vollkom men erhalten.« »Nicht verwest?« Ich schüttelte den Kopf. »Es gibt gewisse komplizierte Säuren in
Auf Dykoor wartet der Tod solchen Mooren, sogenannte Huminsäuren. Diese Säuren sorgen dafür, daß der Körper durch und durch gegerbt wird und daher nicht verfallen kann. Die Toten sind zwar recht merkwürdig verfärbt, aber sie sind in allen Einzelheiten erhalten. Es gibt da den berühmten Mann von Tollund, die am be sten erhaltene Moorleiche, die man je gefun den hat. Der Mann ist vermutlich hingerich tet worden.« »Ein schrecklicher Brauch«, murmelte Thalia. Sie schmiegte sich an mich. »Du hast mir viel zuwenig von deinen Leuten er zählt, Atlan.« »Es gab Wichtigeres zu tun«, erinnerte ich sie. »Und außerdem werden wir später genügend Zeit dazu haben.« »Du hast recht«, sagte sie. »Wir haben viel Zeit.« Sie sah an mir vorbei auf den Sumpf. Die Sonne ging unter, und ihr rötliches Licht gab der Landschaft einen bedrohli chen, gespenstischen Ausdruck. Die Schat ten waren lang geworden, und im Gegen licht wirkten die Konturen doppelt hart und bedrohlich. Der Sumpf gluckerte gefährlich, wir konnten die Geräusche bis in unsere Blase hinein hören. In einer seltsamen, un heimlichen Farbe schillerte die tückische Oberfläche. Wir konnten von Glück sagen, daß wir in einem Vrusvarther geborgen wa ren. Zu Fuß kam man in diesem Gelände, wenn überhaupt, nur sehr mühsam vorwärts. Wahrscheinlich hätten wir pro Tag besten falls zwei oder drei Kilometer zurücklegen können. Unter diesen Umständen war eine Flucht aussichtslos – die Scuddamoren in ih ren Gleitfahrzeugen konnten uns mühelos finden. Worauf es bei einem Ausbruch an kam, war, zu erreichen, daß das Gebiet rie sengroß wurde, in dem nach den Flüchtigen gefahndet werden mußte. Je weiter sich der Flüchtling von seinem Gefängnis entfernte, um so mehr Land mußte nach ihm abgesucht werden. Ich drehte mich um. Von der Station war nichts mehr zu sehen. Sie lag bereits einige Kilometer hinter uns.
37 Gut so, dann hatten die Scuddamoren we nigstens etwas zu tun. Dazu kam wahr scheinlich noch eine handfeste Vrusvarthe rInvasion und ein Heer von ätzenden Kir nets, die den Scuddamoren zu schaffen ma chen konnten. Es begann zu dämmern. Thalia war an meiner Seite eingeschlafen, gewiegt von den sanften Bewegungen des Vrusvarthers. Wären die anderen Bedingun gen nicht gewesen, es wäre ein wundervoller Ausflug in eine rätselhafte, gefährliche aber auch schöne Naturlandschaft gewesen. So aber saß uns der Tod im Nacken. Er breitete sich unter uns aus, in Gestalt zähen Schlamms. Er lag hinter uns in Gestalt der Scuddamoren, vor uns in Form von schwer bewaffneten Raumschiffen. Er saß an meiner Seite, in der Gestalt der Odinstochter, die leise atmete. Ich sah sie an. Die Wirkung des Ärgetzos hatte in gewis ser Weise aufgehört. Der Alterungsprozeß lief jetzt nicht mehr beschleunigt ab. In den letzten Stunden hatte sich Thalias Äußeres praktisch nicht mehr verändert. War das ein gutes Zeichen? Ja, vielleicht ließ die Wirkung der schänd lichen Droge im Lauf der Zeit nach. Viel leicht war dies nur ein Anfall, der wieder vorüberging, wenn man nur genügend Zeit hatte. Vielleicht bedurfte es nicht einmal des Zellaktivators, um Thalia verjüngen zu kön nen.
8. Irgend etwas stimmt nicht. Schon wieder ist dieser Verkonder in der Zelle. Schon wieder sitzt er einfach da und rührt sich nicht. Ich habe geschlafen in dieser Nacht. Ob ich geträumt habe, weiß ich nicht mehr. Den Extrasinn zu befragen, habe ich keine Lust, und unaufgefordert meldet er sich nicht – vorläufig. Ich habe lange geschlafen. Meine Körper kräfte haben sich regeneriert. Ob mir das
38 hilft? Will ich überhaupt Hilfe? Meine Gedanken kreisen um Thalia, die junge, schöne, kluge und charaktervolle Thalia … … die alte, unansehnliche, kluge und cha raktervolle Thalia. Ich kann mich nicht mehr an dieses Gesicht erinnern. Mein Gedächtnis weigert sich, mir dieses Bild vorzuführen. Jedesmal, wenn ich mich zu erinnern versu che, wenn ich mir Thalia vorzustellen versu che, wird das Bild gleichsam unscharf. Es verschwindet, und ein anderes Bild taucht vor meinen Augen auf. Ein Bild, das ich nie gesehen habe, so seltsam das auch klingen mag. Es zeigt eine junge Frau, eine Frau, die ich in diesem jugendlichen Alter niemals ge sehen habe, weil ich auf der Flucht war – vor dem Mörder meines Vaters, dem dama ligen Imperator des Arkon-Imperiums, Or banaschol. Die Frau war meine Mutter. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen mir mein Hirn dieses Bild liefert. Ich weiß nur, daß es sich weigert, mir mit einer Erinne rung an Thalia zu helfen. Bereits jetzt wird die Erinnerung verklärt. Wird sie den Zu sammenprall mit der Realität, der unaus weichlich bevorsteht, verkraften können? Es gibt zu viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Mir gegenüber sitzt ein hagerer Havare, der mich ansieht und schweigt, als ob er nichts Besseres zu tun hätte. Was haben sie mit mir vor? Worauf warten und lauern sie? Dieser Havare sieht befremdlich aus. Er scheint mir ein ausgemachtes Schlitzohr zu sein. Man könnte sich fast mit ihm anfreun den, wüßte man nicht, auf welcher Seite er steht. Er hilft den Scuddamoren bei der Ar beit. Bei welcher, weiß ich nicht zu sagen. Ich habe gegessen, und der Havare hat mir dabei interessiert zugesehen. Will er wissen, warum ich plötzlich wieder esse, warum ich mich nicht länger dagegen sträube, zu le ben? Ich habe nicht einmal mehr die Kraft, mich gegen den Hunger zu wehren. Ich habe nicht die Kraft, diesem ganzen schaurigen
Peter Terrid Theater ein Ende zu bereiten. Ich esse, und ich schlafe, mein Herz schlägt gleichmäßig und ruhig, kein Grund zur Aufregung. Das Leben geht weiter. Es fragt sich nur, ob das, was da weiter geht, ein Leben ist.
* Als der Morgen heraufzog, erwachte ich. Wider Willen war ich eingeschlafen, und im ersten Augenblick des Erwachens er schrak ich heftig. Nein, ich hatte nicht geträumt. Ich hockte in einer grünlichen Blase, konnte auf ein grünliches Land heruntersehen, und neben mir … … auch dieser Traum war nicht verflo gen. Ich hatte nicht geträumt. Neben mir saß die alternde Thalia und schlief. Sie hatte im Schlaf einen Zahn verloren. Die Wangen wirkten eingefallen. Das Gesicht hatte einen harten, fast bösen Zug bekommen. Ich rührte Thalia sanft an. Sie erschrak, wachte auf, sah mich und lächelte. Dies Lächeln war das alte, vertraute Lä cheln. Es ließ ihr Alter vergessen, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Es ließ die Hoffnung wieder keimen, gab ihr neuen Auftrieb. »Wo sind wir?« fragte Thalia. Sie richtete sich langsam auf. »Ich weiß es nicht«, mußte ich zugeben. »Ich bin ebenfalls eingeschlafen, und ich ha be nicht die leiseste Ahnung, wohin wir ge trieben worden sind. Ich weiß nur, daß drau ßen heller Tag ist.« »Wie schön. Kann uns der Vrusvarther ir gendwo absetzen? Ich möchte mir das Land ansehen.« Die seltsame Blase reagierte sofort. Sie sank langsam in die Tiefe, dann spürten wir, wie sie den Boden berührte. Wie beim Be treten der Blase wurden wir von einer kalten glitschigen Masse gestreift, danach saßen wir im Freien. Der Vrusvarther stieg über unseren Köpfen langsam in die Höhe und trieb davon.
Auf Dykoor wartet der Tod »Vielen Dank!« rief ich ihm hinterher. Es war eine seltsame Reaktion, aber ich fühlte mich gleichsam dazu verpflichtet. Ich hatte das Gefühl, daß diese eigentümliche Blase auf geheimnisvolle Weise lebte und uns ver stand. Sie hatte uns geholfen, warum also sollte ich mich nicht bei ihr bedanken? Wieder lächelte Thalia. »Es ist schön hier«, sagte sie. Es war möglich, daß sie so empfand. Mir ging die Landschaft wider den Strich. Um uns herum war Sumpf, auf dem ein Meer kleiner weißer Blüten trieb, Schnee flocken vergleichbar. Wir saßen auf wei chem, duftenden Moos, und ein zehn Meter hoher Baum gab uns Schatten. Die Sonne stand halbhoch, und in der Luft produzierten sich Vögel. Ich empfand diese Komposition als eher kitschig, Thalia schien sie zu gefal len. Sie lehnte sich gegen den Stamm des Baumes und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. »Die Wärme tut gut«, sagte sie. Ich sah sie an. »Thalia«, sagte ich mit Nachdruck. »Du solltest dich nicht in diese Rolle hineinstei gern. Du solltest vielmehr nachdenken und deine Kräfte dafür sammeln, diesem Zustand ein Ende zu bereiten.« Sie sah zu mir auf. Wieder dieses Lä cheln. »Ich steigere mich in nichts hinein«, sagte sie langsam. »Ich bin eine alte Frau, Atlan. Und ich glaube nicht, daß sich daran etwas ändern lassen wird.« »Unsinn!« rief ich heftig. »Es gibt Dut zende von Möglichkeiten. Ich habe hin und her überlegt, und mir sind viele Auswege eingefallen.« »Auswege, Atlan?« Sie machte mich wütend. »Möglichkeiten, diesem Zustand abzuhel fen. Es gibt die Ärgetzos, ich meine die rich tigen Ärgetzos. Es gibt meinen Zellaktiva tor. Wenn wir dies alles hinter uns gebracht haben, werde ich dir den Aktivator leihen, bis sich dein Körper zurückgebildet hat zur alten Form. Und es ist auch durchaus denk
39 bar, daß sich der Körper von sich aus erholt und die Alterung rückgängig macht.« Sie lächelte. »Und wenn nicht, Atlan? Wenn ich eine alte Frau bleibe, hast du dafür auch … Aus wege?« Ich ballte die Fäuste. »Was versprichst du dir davon, mich zu reizen und nervös zu machen. Wir haben wichtigere Dinge zu tun, als uns zu strei ten.« »Streiten wir?« Ich begriff Thalia nicht. Was sollte diese Diskussion, die uns nicht einen Schritt wei terbrachte? Wenn wir nicht schnellstens von Dykoor verschwanden, war unser Schicksal besiegelt. Auch das von Thalia – wenn Yär ling hinter das Geheimnis der verwandelten Ärgetzos gekommen war, wenn er meinen Zellaktivator besaß, dann waren weder ich noch Thalia für ihn noch von irgendeinem Wert. Und über das, was ein Wesen vom Schlage des Scuddamoren-Kommandanten Yärling mit zwei Wertlosen machen würde, brauchte man sich keinen Illusionen hinzu geben. Wir standen dem Tode vielleicht nä her als jemals zuvor, und da konnten wir uns beim besten Willen keine müßige Diskussi on leisten. »Was sollen wir tun? Willst du hierblei ben und warten, auf ein Wunder vielleicht?« Thalia sah hinaus über den Sumpf, auf dessen Oberfläche weiß die Blüten schim merten. »Auf ein Wunder?« sagte sie leise. »Warum nicht auf das, was nicht als Wunder angesehen wird, weil es jeden betrifft. Wa rum nicht einfach warten, bis passiert, was immer und überall und jedem und jederzeit passiert.« Hatte sie in den wenigen Stunden allen Lebensmut verloren? Ich sah sie an. Nein, sie war in den letzten Stunden nicht weiter gealtert, und die Art, in der sie formulierte, machte mir klar, daß sie im vollen Besitz ih res Verstandes war. Aber wenn sie denken konnte, warum begriff sie mich dann nicht? Warum zögerte sie?
40
Peter Terrid
»Spitzfindigkeiten«, sagte ich. »Haarspaltereien, die uns nicht weiterbrin gen.« »Haarspaltereien?« Thalia griff sich an den Kopf, packte zu und zeigte mir dann ihre Hand. Ein großes Büschel grauer Haare quoll zwischen den Fingern hervor. Warum nur quälte sie mich und sich? Sage ihr, daß du sie liebst. Kurz, knapp, klar und verständlich, bar je der Emotion – ein Impuls des Extrasinns. Einen Augenblick lang zögerte ich. »Thalia«, sagte ich dann drängend. »Ich liebe dich, und du weißt das. Warum quälst du dich und mich? Wenn du hier sitzen bleibst und dem angeblich unvermeidlichen Ende entgegenphilosophierst, wird aus die ser Liebe nicht mehr viel werden als ein doppeltes Begräbnis. Willst du die Chance, die wir noch haben, einfach verschenken?« »Haben wir noch Chancen?« Darauf gab es nur eine brutale, herzlose Antwort. Ich brauchte sie nicht zu geben. Ich hätte es auch nicht gekonnt. Thalias wacher Ver stand hatte die Antwort längst gefunden. »Ich weiß«, sagte sie plötzlich, und über raschend gewann ihre Stimme wieder an Kraft. »Selbst wenn ich keine Chance mehr habe, du hast sie allemal. Und du würdest bei mir bleiben, wenn ich nicht weiter könn te?« »Ich glaube nicht, daß ich dir diese Frage ernsthaft beantworten muß«, sagte ich. Thalia stand auf, machte zwei Schritte auf mich zu. Ich nahm sie in die Arme, küßte sie. Thalias Gesicht zeigte ein Lächeln, als sie sich von mir löste. »Gehen wir«, sagte sie.
* Ich mußte mich ganz und gar dem Extra sinn überlassen. Nur dieses Zusatzorgan konnte wissen, wohin wir uns in der Nacht bewegt hatten.
Es wies uns in eine bestimmte Richtung. Dort sollte das Landefeld für die Organ schiffe der Scuddamoren liegen. Wir machten uns auf den Weg. Es war ein Marsch der Qual, angefüllt mit Rückschlägen und Enttäuschungen. Wir kamen nicht einmal annäherungswei se so schnell voran, wie ich mir das ge wünscht hatte. Das lag keineswegs an Tha lia, die ihre Kräfte in einem Maß mobilisier te, das mir fast unbegreiflich war. Ich ver mutete mit steigender Hoffnung, daß die Wirkung der fehlfunktionierenden Ärgetzos langsam abklang. Was uns am meisten hin derte, war das Gelände. Jeder Schritt wollte überlegt werden, mußte genauestens geprüft werden, bevor wir ihn machen konnten. Ein Schritt vom Pfade ab führte ins sichere Ver derben. Einmal, Thalia sah glücklicherweise in eine andere Richtung, sah ich, wie ein größeres Tier einen Fehltritt machte. Im Bruchteil einer Sekunde hatte der grüne Mo rast das sich heftig sträubende Tier erfaßt und hinabgezogen, und keine Spur verriet, daß dort eine Kreatur gestorben war. Daß ich Thalia ab und zu tragen mußte, hatte wenig mit ihren Kräften zu tun, es war ganz einfach ein Gebot der Notwendigkeit. Wir kamen an diesem Tag knapp zehn Ki lometer weit, dann mußten wir rasten. Die Nacht verlief ohne Störungen, auch ohne Diskussionen, zu meiner großen Erleichte rung. Am nächsten Morgen war ich mir fast schon sicher – Thalias Aussehen hatte sich, ich war felsenfest davon überzeugt, ent schieden gebessert. Irrtum! sagte der Logiksektor knapp. Selbsttäuschung! Mit einem mörderischen Impuls brachte ich das Zusatzorgan zum Schweigen. Ich wollte in dieser Lage keine kalte, neutrale nüchterne Logik. Ich wollte fühlen, vor al lem hoffen, glauben, wünschen. Ich brauchte Optimismus, keine bösen Wahrheiten, son dern angenehme Lügen. Ich war während des Marsches nicht fä hig, gründlich nachzudenken, dafür hatte ich zu viel zu tun.
Auf Dykoor wartet der Tod Wir hatten praktisch keinerlei Werkzeug zur Verfügung, von Waffen ganz zu schwei gen. Ich bastelte aus Knüppeln, die ich fand, eine Waffe, eine Art Dreschflegel, der sehr wohl dazu geeignet schien, Köpfe einzudre schen. Genau dazu war das Ding auch gedacht. Ich war nicht in der Verfassung, auf irgend jemand Rücksicht zu nehmen, Thalia und mich selbst ausgenommen. Die Zeit brannte mir auf den Nägeln, jede Stunde war ent setzlich kostbar und zerrann mir unter den Fingern. Weg von Dykoor, der Welt des Grauens, weg von Yärling, dem grausamen Scuddamoren, weg von der bedrohlichen, finsteren Ausstrahlung, die sich durch das ganze System zog. Nur weg von hier, das war der Gedanke, der mich beherrschte bis zur letzten Muskelfaser, und ich war nicht gewillt, mich von diesem Ziel abbringen zu lassen – wer es wagte, sich mir in den Weg zu stellen, hatte die Folgen zu tragen. Ich hätte ihn gnadenlos niedergemacht. Es war Abend, als wir unser Ziel erreich ten. »Siehst du!« sagte ich zu Thalia. »Ein Or ganschiff landet.« Wir sahen die Spur, die das Schiff im Landeanflug hervorrief. Der Platz, an dem das Schiff niederging, lag in unserer Nähe. Es waren höchstens noch zwei oder drei Ki lometer. »Schaffen wir die Strecke heute noch?« Ich lächelte Thalia zu. »Sicher!« sagte ich zuversichtlich. »Wirst du durchhalten?« »Mich kann man nicht umbringen«, sagte Thalia. Ich sah zwar, daß ihre Mundwinkel bei diesen Worten zuckten, aber ich achtete nicht darauf. »Wenn wir unsere Kräfte anstrengen, ha ben wir es bald geschafft.« Ich ging voran. Die Scuddamoren waren nicht dumm. Sie hatten sich für Station und Landefeld die beiden Stellen der Oberfläche dieses Sumpf lochs ausgesucht, die die größten zusam
41 menhängenden Landflächen aufzuweisen hatten. In der Nähe dieser beiden Bezirke kamen wir daher leichter vorwärts als an an derer Stelle. Leicht vorwärtskommen – das hieß in die sem Fall, daß der Schlamm und Morast uns nur bis zur Gürtellinie bedeckte und nicht, wie an anderen Stellen, bis zu den Achseln reichte. An besonders günstigen Stellen konnten wir sogar gehen. Wir brauchten dazu nur die Beine aus dem zähen Schlick zu ziehen, es mit Kraft ein Stück vorwärts zu bewegen und dann zuzusehen, wie es am neuen Standort einsackte. Danach wurde dieser Vorgang mit dem anderen Bein wiederholt. An solchen Stellen mußte ich Thalia tra gen, selbst bei Anspannung aller Kräfte wä re sie nicht in der Lage gewesen, diese kör perliche Belastung zu verkraften. Teilweise konnten wir in der trüben Brühe schwim men, so dünn war sie. Dabei mußten wir al lerdings aufpassen, daß wir nichts von der Algensuppe schluckten. Sie schmeckte nicht nur widerlich, sie stank auch entsetzlich. Man hätte in diesem Morast ohnmächtig werden können. Auf diese mühselige, kräf tezehrende Weise arbeiteten wir uns an das Landefeld heran. Wir erreichten es am spä ten Abend. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, den Stahl des Feldes unter dem Kör per spüren zu können, hartes, unnachgiebi ges Metall. Zum erstenmal hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen. Auf dem Feld standen zwei große und zwei kleine Schiffe. Ich kannte mich in der Typologie der Scuddamoren-Schiffe nicht aus, wußte daher auch nicht, welches Schiff für unsere Zwecke am besten geeignet war. »Welches Schiff würdest du wählen?« fragte ich Thalia. Der Mond stand über Dykoor. Apsolan war sein Name. Er war voll und groß, und er hing so dicht über dem Land, daß man glau ben konnte, ihn mit Händen greifen zu kön nen. Zudem hatte er eine leichte rötliche Einfärbung. Beides zusammen ergab eine Stimmung finsterer Drohung, die über Dy
42 koor lag. Man konnte fast glauben, der Mond wolle auf diese Welt herabstürzen, so nahe stand er Dykoor. Im Licht dieses Mondes sah ich, daß Tha lia mit den Schultern zuckte. Im Licht dieses Mondes sah ich, daß Tha lia dem Zusammenbruch nahe war. Die Fal ten und Runzeln ihres Gesichts waren tiefer geworden, vielleicht ein Zeichen des Alte rungsprozesses, eher aber Ausdruck der An strengungen, die Thalia hinter sich gebracht hatte. Eine Wolke schob sich vor Apsolan, und die Wirkung war verblüffend – es war, als hätte jemand einen Weichzeichner vor die Leuchte des Mondes gehalten. In diesem diffusen Streulicht sah Thalia plötzlich wie der aus, wie ich sie seit langem kannte. Jung – und schön, von rätselhafter, geheimnisvol ler Schönheit. Ich sagte ihr das. Sie lächelte, und das verstärkte den Eindruck. Auf dem Landefeld wurde es plötzlich le bendig. Ich erkannte auch sehr bald den Grund für die Aufregung. Eine Gruppe von Vrusvarthern war lang sam und lautlos herangesegelt und hatte plötzlich eine halbe Tausendschaft Kirnets ausgespien, die mit Verbissenheit auf die Schiffe und deren Besatzungen losgingen. Nach ein paar Sekunden war die Schlacht in vollem Gang. Das hieß, es war mehr ein Schlachten als eine Schlacht. Die Kirnets hatten wenig Chancen. Die Scuddamoren hatten offenbar mit diesem Großangriff gerechnet. Ihre Ka noniere waren vorbereitet, und wäre nicht die Gefahr gewesen, daß sich die Organ schiffe gegenseitig trafen, so wäre die Inva sion binnen weniger Augenblick beendet ge wesen. Die Kirnets waren tatsächlich nicht so dumm, wie man aus ihren urtümlichen Kör pern hätte schließen mögen. Sie hatten die günstigsten Angriffswinkel errechnet, und aus diesen Positionen heraus griffen sie an. Ich sah, wie eines der Gallertenwesen auf die Haut eines Organschiffs fiel und sich
Peter Terrid dort festfraß. Ein Zucken und Wallen ging durch den ganzen Schiffskörper, die Kano nen ruderten fast hilflos in ihren Halterun gen. Dann aber fiel, seltsam anzuschauen, der Kirnet von der Hülle ab, verfärbte sich, platzte auf und starb. Der Wind wehte auf mich zu, trug mir den Geruch dieses Kirnets zu – einen intensiven Geruch nach Verwe sung und Tod. Und dann sah ich etwas anderes. Thalia stand auf. Sie war knapp zehn Me ter von mir entfernt. Ich sah, wie sie lächel te, ihr unverwechselbares Lächeln. Ich konnte nicht hören, was sie sagte, der Kampflärm war zu laut. Aber ich las, nach einer entsetzlich langen Pause der Verständnislosigkeit, was ihre Lippen formten: »Leb wohl!« »Thalia!« Ich konnte in diesem Augenblick nur schreien. Meine Glieder waren wie gelähmt. Sie setzte sich in Bewegung, sie rannte, mitten hinein in das Chaos. »Thalia!« Sie rannte weiter, immer weiter. »Thalia!« Ich schreie, was meine Lungen hergeben. Ich beginne zu laufen, hinter ihr her. »Thalia!« Zu spät. Sie ist zu weit voraus. Irgend et was gibt ihr Kraft. Sie rennt genau auf das Getümmel zu. »Thalia!« Sie strauchelt, fällt, steht wieder auf. Sie rennt, als ob sie den Teufel in ihrem Nacken wüßte. Ich laufe hinter ihr her, schwanke. Ich erreiche sie nicht. Sie hat den Zeitpunkt genau gewählt. »Thalia!« Ich bleibe stehen. Es hat keinen Sinn. Nur meine Stimme kann sie jetzt noch erreichen. Und dann … Ein riesiger Kirnet. Sie läuft genau auf ihn zu. Mit Bedacht. Genau auf ihn zu. In ihn hinein. »Thalia!«
Auf Dykoor wartet der Tod Meine Stimme bricht. Der Mond geht aus. Es wird schwarz.
9. Ich begreife. Jetzt endlich begreife ich. Ich finde eine Erklärung, eine zweite. Für Thalias Tod. Für den Mord, den ich an ihr begangen habe. Das Gespräch in der Blase, im Innern des Vrusvarthers. Ihre Erkundigung nach den Moorleichen. Sie hatte schon damals sterben wollen. Aber meine Erzählung hatte sie davon abge halten. Sie wollte nicht im Moor sterben. Sie wollte nicht, daß man – ich, irgendwer – ihren Leichnam fand, vielleicht erst nach Jahrtausenden. Sie wollte nicht, daß irgend jemand, ich eingeschlossen, sie fand. Im Moor, erhalten, konserviert. Daß jemand sie so zu Gesicht bekam. Alt, verbraucht, häßlich. Daran kann ich nichts ändern. Ich messe mir die Torheit dieser Unterhaltung nicht als Schuld zu. Aber etwas anderes geht zu meinen La sten. Immer, unwiderruflich. Nicht wieder gutzumachen. Ich werde es nie vergessen. Ein Fehler. Eine kleine, unwichtige Panne. Eine win zige Unaufmerksamkeit. Ich habe es nicht bemerkt. Wohl aber Thalia. Es ist eine Winzigkeit gewesen, aber un geheuer bedeutsam. Wir küßten uns. Auf der Lichtung im Sumpf, dort, wo der Vrusvarther uns abge setzt hatte. Ich erinnere mich an diesen Kuß. Thalia muß sich auch erinnert haben, bes ser als ich, gründlicher als ich. Sie hat ihre Konsequenzen daraus gezogen. Dieser Augenblick steht mir genau vor Augen, auch ohne Extrasinn. Ich küßte sie. Aber nicht, wie ein Mann seine Braut, sei ne Freundin küßt, wie man eine Frau küßt, die man liebt, die man begehrt.
43 Dieser Kuß war freundschaftlich, aber nicht leidenschaftlich. Der Kuß eines Sohnes an seine Mutter, nicht der eines Mannes an seine Geliebte. Thalia hat das gespürt. Sie muß in diesem Augenblick gewußt haben, daß ich sie auch im Herzen als alte Frau ansah. Sie hat das nicht verkraftet. Ich habe Thalia getötet. Ich allein. Ich bin ein Mörder. Diese Frau war einzigartig. Wundervoll, nicht nur in den Tagen ihrer Jugend, ihrer Schönheit. Wundervoll auch, als sie ein grausames Schicksal ertragen mußte; wun dervoll auch, als sie erkennen mußte, daß der Mann an ihrer Seite sich von der alten Frau zu lösen begann. Sie wollte, daß ich sie als junge und schö ne Frau in Erinnerung behalte. Darum ist sie genau in den Kirnet hinein gelaufen. Sie hat den grauenvollen Tod in der Säure der Kirnets vorgezogen. Er löschte sie aus, ganz und gar, unwiederbringlich. Nur die Erinnerung wird bleiben. Und die Qual. Das peinigende Bewußtsein, diese Frau getötet zu haben, ermordet zu haben. Ich finde kein anderes Wort. Sie muß die stillschweigende Zurückwei sung gespürt haben, die dieser Kuß ausge drückt hat. Ich konnte viele täuschen, auch mich selbst – aber niemals den sicheren In stinkt dieser Frau. Thalia ist tot. Warum lebe ich noch? Und wozu?
* »Wir haben ihn in der Nähe des Raumha fens aufgegriffen«, beendete Yärling seinen Bericht. »Seine Gefährtin konnte bislang nicht gefunden werden, von ihr fehlt jede Spur. Wahrscheinlich wird sie inzwischen an Altersschwäche gestorben sein.« Verkonder machte eine Geste der Zustim mung. Er begriff nun, was den Gefangenen bedrückte und belastete. Er hatte den Tod
44 seiner Gefährtin nicht verwunden. Verkonder war sich sicher, da helfen zu können. Er hatte inzwischen viel über Atlan erfah ren. Sein Kontakt zu Atlans geheimnisvol lem Partner war gut. Er mußte zwar jedes mal mühsam hergestellt werden, und die Dialoge waren für gewöhnlich sehr kurz und knapp, aber ein Wesen von der Einfühlsam keit eines Verkonder konnte auch mit diesen wenigen Daten eine Menge anfangen. Verkonder wußte inzwischen etwas, das er – aus gutem Grund – Yärling nicht be richtet hatte. Er kannte inzwischen neue Daten über Arbeitsweise und Funktion des geheimnis vollen Geräts in der Brust des Gefangenen. »Übrigens, Yärling – der Gefangene hat nichts mit der Veränderung der Ärgetzos zu tun. Ich dachte, daß diese Information für Sie von Wert ist.« Verkonder genoß den Augenblick der Verblüffung. »Was denn, ja …« Yärling war hochgradig erregt. Verkonder verstand das. Die knappe Information, daß Atlan an der Fehlfunktion der Ärgetzos keine Schuld trug, mußte den Scuddamoren in tiefste Ver zweiflung stürzen. Sie besagte unter ande rem, daß Yärling bei der Suche nach dem Fehler die ganze Zeit über einen völlig falschen Weg eingeschlagen hatte. Er war fest davon überzeugt gewesen, daß Atlan und Thalia für das Versagen der Ärgetzos zuständig waren, so fest, daß er andere Spu ren gar nicht erst untersucht hatte. Der Zu sammenhang war doch absolut eindeutig ge wesen: diese Schurken stehlen die Ärgetzos, verlieren die Beute wieder, und die Ärgetzos funktionieren nicht wie gewünscht. Schluß folgerung: die Diebe haben die Ärgetzos verändert. Eine einfache klare Sache. »Darf ich Ihnen einen Rat geben, Yär ling?« Der Scuddamore machte eine schwache Geste. »Chirmor Flog wird toben, wenn er davon
Peter Terrid hört. Sie wissen, daß Ihr Leben keinen Tag mehr dauern wird, wenn diese Nachricht Säggallo erreicht. Angesichts des Zornes von Chirmor Flog möchte ich Ihnen empfeh len, den Henkern des Neffen die Arbeit ab zunehmen – es wäre auch für Sie leichter.« Verkonder machte eine höfliche Geste und verließ den Raum. Er wußte, daß Yär ling praktisch schon so gut wie tot war – ob er sich nun selbst tötete, oder ob ihn Chirm or Flogs Rache traf, war im Endergebnis gleich. Niemals würde der Neffe des Dunklen Oheims einen Untertan leben las sen, der sich solche Fehler hatte zuschulden kommen lassen. Verkonder war sicher, daß er Yärling niemals wiedersehen würde. Seltsamerweise stimmte ihn diese Er kenntnis froh. Der Havare mochte den Scud damoren nicht. Ein Wesen von Verkonders Art, dazu geschaffen, sich in fremde Gedan ken hineinzufühlen, mußte ein Wesen vom Schlage des Scuddamoren verabscheuen, dessen Gedanken erfüllt waren von Bosheit, Niedertracht und Schurkerei. Und – ganz nebenbei – außerdem war Yärlings Tod für Verkonder auch deswegen angenehm, weil Verkonder damit einen Mit wisser ausgeschaltet hatte. Der Havare wußte nämlich, was das klei ne eiförmige Gerät in der Brust des Gefan genen tat – es erhielt Atlan das Leben. Nicht nur, daß es ihn vor dem Wirkstoff der Ärgetzos schützte und auch vor anderen Giften. Das Gerät hielt Atlan nicht nur jung und jugendfrisch. Es verlängerte auch sein Leben ins Unermeßliche. Verkonder hatte die befremdliche, ja be stürzende Erkenntnis gewonnen, daß es sich bei dem Gefangenen Atlan um einen poten tiell Unsterblichen handelte. Diese Information war für Verkonder des halb von besonderem Interesse, weil er sich ein unsterbliches Wesen in einer solchen La ge einfach nicht vorstellen konnte. Wäre er selbst unsterblich gewesen, Verkonder hätte sich nicht mehr ins Freie gewagt. Wozu die Unsterblichkeit aufs Spiel setzen? Daß sich Atlan mit nur einem Gefährten in den Be
Auf Dykoor wartet der Tod reich der Schwarzen Galaxis gewagt hatte, war eigentlich ein Unding. Der Gefangene mußte doch wissen, daß er allein hier nichts ausrichten konnte, wie auch immer seine Pläne beschaffen sein mochten. Es war ab surd anzunehmen, ein Mann könne sich ge gen eine Galaxis wenden. Schon an der Macht des Neffen war Atlan nun gescheitert, und Verkonder fand es schon befremdlich genug, daß er es bis hierher geschafft hatte. Wo waren die Truppen, die Schiffe, über die Atlan gebieten mußte, wie es einem Un sterblichen zukam? Verkonder wußte es nicht, und in diesem Punkt hatte er der Aus sage des Partners von Atlan auch keinen Glauben geschenkt. Gleichviel, der seltsame Mann war gefan gen und mit ihm auch der kostbare Zellakti vator. Verkonder hätte es längst geschafft, sich in den Besitz des Geräts zu setzen, auch auf die Gefahr hin, den Zorn des Neffen auf sein Haupt zu laden. Dieser Preis war es wert, daß man seinen Kopf riskierte – der bei ei nem Untertanen des Neffen ohnehin stets sehr locker auf den Schultern zu sitzen pflegte. Verkonder hatte den Gedanken durch dacht, ihn hin und her gewendet, alle nur denkbaren Möglichkeiten überprüft. Er hatte ihn schließlich fallengelassen, weil er her ausgefunden hatte, daß jenes seltsame Un sterblichkeitsgerät auf nicht minder seltsame Art mit dem Körper des Gefangenen syn chronisiert worden war. Wie so etwas funk tionieren konnte, war Verkonder ein Rätsel. Er hatte aber begriffen, eine für ihn sehr schmerzliche Einsicht, daß der Fall nicht da durch zu lösen war, daß man dem Gefange nen das Gerät herausoperieren ließ und ihn danach »auf der Flucht« erschoß. Die Aus sage von Atlans Partner war da klar und deutlich – wer sich unbefugt in den Besitz des Aktivators setzte, mußte mit ähnlich un erfreulichen Wirkungen rechnen, wie sie auch die fehlfunktionierenden Ärgetzos her vorriefen. Und Verkonder verkannte nicht die feine Ironie, die gerade darin lag, daß der
45 Dieb der Unsterblichkeit und der ewigen Ju gend gleichsam zur Strafe für seinen Dieb stahl vor der Zeit alterte und starb. Verkonder hatte keine Lust auf einen vor zeitigen Tod, also half es nichts, wenn er At lan tötete und ausplünderte. Es mußte einen anderen Weg geben. Verkonder suchte den Gefangenen in sei ner Zelle auf. Atlan saß, wie immer, auf der Pritsche und brütete vor sich hin. Verkonder meinte aber gespürt zu haben, daß sich der verwirrte Geist des Gefangenen langsam zu beruhigen begann. Die Schockwirkungen, hervorgeru fen durch den Tod der Gefährtin, klangen langsam ab. Verkonder beschloß, dem Gefangenen einen kleinen Stoß zu geben, zur Aufmunte rung. »Es wird dich interessieren zu erfahren, daß Yärling tot ist. Oder doch zumindest bald sein wird.« Aus der spontanen Reaktion schloß der Havare, daß er mit dieser Neuigkeit Atlan zwar überrascht, nicht aber aufgeheitert hat te. Diese Pthorer waren seltsame Wesen – da meldete man ihm den Tod seines erbittert sten Feindes, und der Mann freute sich nicht einmal, wie man erwarten durfte. Verkonder setzte sich wieder auf seinen Platz. Das alte Spiel konnte wieder begin nen. Verkonder hielt sich nicht lange mit dem Gedanken auf, daß er dank dieses seltsamen Kommunikationsverfahrens beinahe ebenso sehr Bewohner dieser Zelle war wie der ei gentliche Gefangene. Verkonder kam gleich zur Sache. Er nahm Kontakt auf mit dem Partner oder Symbionten des Gefangenen. Dieser Partner schien ihm der eigentliche Teil der Persönlichkeit zu sein. Sobald der Kontakt hergestellt war, gab Verkonder die Nachricht von Yärlings Tod an seinen Gesprächspartner weiter. Der Partner schien sich zu freuen, aber genau konnte Verkonder das nicht feststel len.
46
Peter Terrid
Damit ist dein Freund vorläufig gerettet, Atlan. Wieso vorläufig? Man wird ihn wahrscheinlich dennoch töten. Warum? Um an seinen Aktivator zu kommen. Der nützt niemandem außer ihm. Wer ihn längere Zeit trägt, wird sterben. Vielleicht ist diese Information falsch. Sie ist wahr. Man wird sie überprüfen wollen. Das würde meinen Partner töten. Das weiß man, aber man kümmert sich nicht darum. Was wird passieren, wenn man deinem Partner das Gerät wegnimmt, ohne ihn zu töten? Er wird schnell altern und sterben. Vielleicht wird man aus Grausamkeit ihm dann das Gerät zurückgeben, damit er als alter Mann unsterblich sein kann. Das wäre grausam. Was heißt grausam? Es wäre für gewisse Leute ein Scherz, nicht mehr. Was für Leute? Chirmor Flog, beispielsweise. Er wird Atlan in jedem Fall töten lassen. Warum? Aus Neid. Er wird den Gedanken nicht ertragen können, daß er vielleicht bald ster ben muß, ein anderer aber unsterblich ist. Und wenn er den Aktivator nicht haben kann, dann soll ihn keiner haben. Das ist die Haltung eines kranken Hirns. Mag sein, daß Chirmor Flog krank ist. Kann das Gerät auch Krankheiten heilen? Ja. Auch bei Fremden, nur kurzfristig ange wandt? Ja, wenn Atlan den Aktivator verleiht, kann er damit Kranke heilen. Würde er das tun? Vermutlich. Ich danke dir. Ich lasse wieder von mir hören, Atlan. Ich erwarte dich, Verkonder.
*
Verkonder war mit sich und seiner Arbeit außerordentlich zufrieden. Er verließ die Zelle und ging auf schnell stem Weg in die Funkabteilung der Scudda morenStation. Er kam gerade rechtzeitig, um anhören zu können, wie der Funker die Nachricht von der Selbsttötung des Kommandanten Yär ling weitergab. Der Scuddamore hatte also den Ratschlag des Havaren befolgt, viel leicht sogar zu seinem Vorteil. Verkonder jedenfalls hätte in Yärlings Lage nicht an ders gehandelt. Verkonder formulierte seinen Bericht. Er mußte dies sehr sorgfältig tun. Von dem Bericht hing eine Menge ab, nicht nur für Chirmor Flog, sondern auch und vor al lem anderen für Verkonder selbst. Wenn man nämlich den Gefangenen At lan dazu überreden konnte, seinen Aktivator stundenweise herzuleihen, dann ließ sich das Problem der defekten Ärgetzos auf elegante Weise lösen. Zunächst einmal vorläufig, bis zum Ein treffen einer neuen Ladung Ärgetzos. Es würde Chirmor Flog sicherlich freuen zu hö ren, daß man seinen Leiden – wie immer die aussehen mochten – mit Hilfe des Zellakti vators ein Ende bereiten konnte. Und für später, wenn die Fehlfunktion ab geklungen war, ließen sich andere Lösungen denken. Vielleicht war es möglich, den Akti vator in ein Stück Fleisch des Gefangenen gleichsam einzupacken und dieses Bündel auf Chirmor Flog zu transplantieren. Dann war der Aktivator von der Sorte Fleisch um geben, die er brauchte, und Chirmor Flog kam in den Genuß der lebenserhaltenden Wirkung. Das Problem, den Gefangenen zu überre den, bei diesem Handel mitzumachen, er schien Verkonder als leicht lösbar. Es gab da gewisse Formen der Überredung, die einfach unwiderstehlich waren. Und Chirmor Flog hatte Mitarbeiter, die diese Form der Über redungskunst in Perfektion beherrschten, gleichsam einen Beruf daraus gemacht hat ten.
Auf Dykoor wartet der Tod
47
Das Ärgetzo-Problem war daher, nach Ver konders Absicht, so gut wie gelöst. In seiner Botschaft an den Neffen des Dunklen Oheims sagte Verkonder das nicht. Er deutete nur sehr vorsichtig die Möglich keiten an, die nach seiner Auffassung gege ben waren. Denn Verkonder, der Havare und Wahr heitsspürer, hatte eigene Geschäfte im Sinn. Er wußte sehr wohl, daß Atlan und sein Symbiont zusammengehörten. Er hatte auch herausgefunden, daß Atlan sich weitgehend von den Impulsen seines Partners lenken ließ. Verkonder traute sich zu, seinerseits diesen Symbionten oder was immer das auch sein mochte, zu kontrollieren und zu steuern. Auf diese Weise hatte man Atlan in der Hand – und damit auch den Zellaktiva tor. Verkonder ließ die Botschaft nach Säg gallo abstrahlen. Er blieb im Funkraum, um die Antwort sofort hören zu können. Er war gespannt, was Chirmor Flog ihm mitzuteilen hatte. Ungeahnte Möglichkeiten standen für den Havaren offen. Als Lenker und Beeinflusser des Gefangenen war Verkonder von heraus ragender Wichtigkeit für den Neffen. Dazu
kam, daß er den Fall der Ärgetzos fast schon gelöst hatte. Chirmor Flog war dem Havaren verpflichtet. Nun machte sich Verkonder keinerlei Illu sionen, was die Dankbarkeit des Neffen be traf. Aber er konnte doch damit rechnen, ei ne besonders üppige Belohnung zu bekom men. Ja, unter Berücksichtigung aller Um stände war sogar daran zu denken, daß Chirmor Flog den Havaren in den Kreis sei ner engsten Mitarbeiter und Berater berief. Von einer solchen Karriere hatte Verkon der geträumt. Jetzt schien sie zum Greifen nah. »Ein Funkspruch«, sagte einer der Scud damoren. Er übergab Verkonder die Ab schrift. An Verkonder auf Dykoor, las der Havare. Schicken umgehend Spezialschiff. Ver konder und Atlan werden abgeholt. Ende. Verkonder strahlte. Ein Spezialschiff des Neffen, wenn das kein gutes Zeichen war. Verkonder konnte mit sich zufrieden sein. Der Anfang war gemacht.
ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 423 von König von Atlantis mit: Der Zellaktivator von Hans Kneifel