Forrest Carter
Wartet auf mich am Fusse des Berges
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Forrest Carter
Wartet auf mich am Fusse des Berges
Inhaltsangabe Wenn es Dir gelingt, ein Kilo Rauch in Deine Hand zu nehmen, es auf einer Waage zu wiegen und es in Deine Tasche zu stecken – dann verfügst Du über die Fähigkeit, Geronimo zu fangen. Geronimo – er war der letzte der großen Apachen-Häuptlinge, der letzte, der dem weißen Mann Furcht und Schrecken einjagte, ihm aber auch Achtung und Anerkennung abzwang. Seine Stammesbrüder nannten ihn ehrfurchtsvoll den ›menschlichen Tiger‹. Für seine Gegner, die weißen Eindringlinge, war er die Verkörperung der heimtückischen, bösen Rothaut. Er wurde von ihnen als starrköpfig angesehen – aber er hatte lediglich erkannt, daß sein Geist sterben würde, wenn sich sein Körper der Sklaverei beugte. Und sie schalten ihn hinterhältig – dabei reagierte er nur auf die Wortbrüche, welche die Regierungstruppen ihm gegenüber begingen. Geronimo, wie er uns in diesem nach unverfälschten Zeugnissen geschriebenen Roman entgegentritt, war weder ein gnadenloser Krieger noch ein wildgewordener Barbar, sondern ein talentierter, außergewöhnlicher Führer seines Volkes; ein Mensch, dem übernatürliche Kräfte zugeschrieben wurden, und ein einfühlsamer, furchtloser und feurig liebender Mann. Sein Name ist fester als der jedes anderen Indianers mit der Geschichte Amerikas verbunden, und um seine Person ranken sich Legenden. Nur Forrest Carter, selbst indianischer Abstammung und ausgezeichnet als ›Storyteller in Council to the Cherokkee Nations‹, konnte Leben und Taten des Geronimo so mitreißend und lebensecht schildern. In meisterhaftem Sprachstil und mit fesselnder Ausdruckskraft erzählt er die Wirklichkeit nach, gelingt ihm eine eindrucksvolle Menschenschilderung. ›Wartet auf mich am Fuße des Berges‹ sprengt die engen Grenzen der Abenteuerschilderung und der Geschichtsschreibung und wird zu einem menschlichen Drama, und zugleich zu einem der bittersten und schmachvollsten Kapitel in Amerikas sonst so stolzer Geschichte. Dieser Roman schlägt die unterschiedlichsten Leser in seinen Bann – denn er ist ein Western, ein Indianerbuch, ein historischer Roman, eine Abenteuererzählung und große, ergreifende Liebesgeschichte zugleich.
Übertragung aus dem Amerikanischen von Rudolf Röder Originaltitel: Watch for me on the Mountain Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln © 1978 by Cherokees Carter Corporation published by arrangement with Dell Publishing Co. Inc. Delacorte Press/Eleanor Frieda, New York © der deutschsprachigen Ausgabe 1979 by Hastia Verlag GmbH, Bayreuth Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Gäb' man die Hälfte aller Macht, Die in der Welt Entsetzen weckt – Die Hälfte allen Gelds, Das man in Lager, in Gerichte steckt, Dafür, des Menschen Geist dem Irrtum zu entwinden, Wär'n weder Arsenale, weder Forts zu finden. ›The Arsenal at Springfield‹ von Henry Wadsworth Longfellow
1 San-Carlos-Reservation: Camp der Apachen
D
ie Sonne schien durch den mageren Busch und warf die Schatten der Äste wie ein Tarnmuster auf den sitzenden Apachen. Der Busch trug kein Laub. Naiche, der Apache, lächelte verstohlen, denn er wußte Bescheid. Er hatte es nicht nötig, sich zu verstecken. Falls sie sich entschließen sollten, ihn umzubringen, würden sie es auch tun. Es war Gewohnheit der Apachen, so dazusitzen. Sandfliegen flitzten durch Wolken von Mücken und bissen ihn ins Gesicht und in die Hände. Doch er verscheuchte sie nicht! Er beobachtete einen Teil des Himmels, fern am Horizont, gegen Südwesten zu, seine Augen konzentrierten sich auf eine dunkle, sich nähernde Gruppe von Reitern. Er beobachtete ihr Vorrücken. Sie kamen nur langsam näher. Er schaute hinter sich und überblickte Wickiups, die nach Norden hin verstreut herumstanden. Sie waren in einem unregelmäßigen Muster aufgebaut und kauerten sich auf den nackten Uferbänken eines Baches. Dazwischen ragten verkrüppelte Cottenwood-Bäume auf, laublos, von der Sonne versengt und vom Wind zerzaust. Die Ufer des Baches, von der Natur für reißende Wassermassen geformt, waren weit voneinander entfernt, aber zwischen ihnen rann nur ein müdes Rinnsal. Salzhaltiges und bitteres Wasser. Nichts bewegte sich! Sie sind in den Wickiups, dachte Naiche, quälen sich durch die Mittagshitze hindurch und warten. Sein Blick richtete sich auf seine eigene Hütte. Er bildete sich ein, er könne seine Frau leise singen hören, während sie, auf dem Boden sitzend, das Baby wiegte und die Fliegen verscheuchte. Er war innerlich unzufrieden, weil er noch keine endgültige Entscheidung getroffen hatte. Er wußte, daß er sich entscheiden mußte. Der Ge1
fangene, den die Soldaten herbrachten, würde die Entscheidung erzwingen. Er wußte, daß er selbst nicht klug war. Er hatte das Leben niemals nüchtern genug betrachtet, um ein Entscheidungsmensch zu sein. Als sein Vater starb, hatte er seine Söhne gebeten, Frieden zu wahren. Sein älterer Bruder Taza hatte danach gehandelt; aber Taza war immerhin von seinem Vater für die spätere Häuptlingswürde erzogen worden. Naiche nicht. Sein Vater hatte keine Rivalität zwischen seinen Söhnen gewollt, und daher wurde Naiche nur zur Loyalität erzogen, um seinen Bruder, den Häuptling, zu unterstützen. Aber Taza war gestorben! Naiche wurde Häuptling der ChiricahuaApachen. Aber weder der Geist seines Vaters noch der Tazas waren zurückgekehrt, um ihn zu beraten. Naiche hatte um ihre Ratschläge gebetet, aber sie waren nicht gekommen. Er war allein. Er wandte sich zurück, um das Vorrücken der Reiter zu beobachten, verzerrt und tanzend in dem Hitzegeflimmer. Jetzt konnte er die Farben der Pferde und der Röcke der Reiter ausmachen. Die Röcke waren blau. Sie kamen aus der Richtung von Fort Thomas und der Agentur, wohin alle Apachen jeden Monat mußten, um ihre Rationen zu empfangen. Naiche führte sie am Ausgabetag an und ging mit ihnen durch die Wüste. Wenn einer der Apachen nicht hinging, erhielt er keine Ration. Einige der alten Leute humpelten zwanzig Meilen durch die Wüste, um ihre Rationen zu bekommen. Den Kranken mußte von anderen geholfen werden. Einige wurden getragen. Es konnte keine Entschuldigung geben, denn an diesem Tag wurden sie gezählt. Jeder Apache trug die metallene Blechmarke mit Markierungen um den Hals. Sogar die kleinen Kinder. Wenn sie ihre Ration empfingen, zählten die Blauröcke die Striche auf der Marke. Die Rationen waren immer gleich: eine Handvoll stockiges Mehl voller Maden, manchmal eine Scheibe Rindfleisch, zäh und halb verfault. Naiche fühlte die Bürde ihres Verhungerns und ihres Krankseins. Er hatte eine Aussprache mit den Blauröcken gesucht. 2
Sein Vater hatte immer gesagt: »Die Zeit, sich mit anderen zu beraten, ist bei zunehmendem Mond, gegen Vollmond zu.« Naiche wußte, daß dies der Wahrheit entsprach. Die Gefühle und Gedanken der Leute waren dann weniger engstirnig. Sie neigten mehr zum Geben. Es war die Zeit, in der der Kojote erfolgreicher bei der Jagd war, und auch der Puma. Gewissenhaft hatte er jeden Tag vermerkt, ehe der Mond zum Vollmond wurde. Er war früh aufgestanden und über die Ebene, vorbei an dem Gebäude der Agentur, nach Fort Thomas getrottet. Er ging immer durch das Tor von Fort Thomas in der Mittagshitze, wenn sich niemand draußen aufhielt. Er blieb auf dem Exerzierplatz stehen, bis er von den Blauröcken bemerkt wurde, und stets kam er dann näher, um die gleichen Worte zu sprechen: »Die alten Leute sterben. Die kleinen Kinder sterben. Wir stammen aus den Bergen, nicht aus der Wüste. Laßt uns in unsere eigenen Bergtäler gehen und selbst für unsere Nahrung sorgen. Bewacht uns dort.« Aber niemals verstand er ihre Antworten. Er kannte ein paar Worte der Weißaugen. Jedesmal verfluchten sie ihn und wiesen ihn ab. Manchmal feuerten die Blauröcke ihre Gewehre vor seine Füße ab und deuteten auf den Pfahl. Jedesmal, wenn er gegangen war, hatte er gehofft, man würde seine Worte hören. Der Pfahl stand auf dem Exerzierplatz. Auf seiner Spitze steckte der Schädel von Delshay, dem Häuptling der Tonto-Apachen. Naiche erinnerte sich daran, als sie ihn aufgedunsen und blutig aufgesteckt hatten. Die Schmeißfliegen hatten Eier in dem Kopf abgelegt, und die Würmer fraßen die Augen heraus. Vögel hatten sich um das verfaulte Fleisch gestritten. Jetzt war nur noch der grinsende Totenschädel von Delshay übrig. Naiche dachte an Delshay! Er hatte immer Angst gehabt. Wieviele Male hatte er mit seinem Volk kapituliert? Immer kapituliert. Und jedesmal jagte man ihm Angst ein. Soldaten, sogar Offiziere, pflegten als ›Sport‹ auf ihn zu schießen, wenn er in die Nähe des Forts kam. Dann rannte er in die Berge zurück. Von dort ließ er sie wis3
sen: er würde kapitulieren, aber er habe Angst. Dann schnitten sie ihm den Kopf ab. Nun hat er keine Angst mehr, dachte Naiche. Naiche schaute wieder in die Richtung, aus der die Soldaten kamen. Sie waren jetzt näher heran. Ihre Pferde mühten sich im Sand ab. Die Entscheidung mußte nun bald getroffen werden. Unsicher forschte er in seinem Gedächtnis nach Worten seines Vaters. Aber er konnte sich nur an das Ende der alten freien Lebensweise erinnern. An das Ende seines Vaters, als er alt und kampfesmüde war, sein Volk zerlumpt und auf der Flucht halb verhungert. Und wie sein Vater den Sterne-Häuptling der Blauröcke getroffen hatte. Der Sterne-Häuptling hätte gern die Kapitulation seines Vaters angenommen. Sie hätte für ihn hohen Ruhm bedeutet, denn Naiches Vater war ein großer Mann. Er hieß Cochise. Der Sterne-Häuptling hatte erklärt, er wolle Frieden. Cochise hatte geantwortet, auch er wolle Frieden, und gesagt: »Dann ist es also entschieden. Wir wollen in Cañada Alamosa leben, unserer alten Heimat, hier in diesem Tal unserer Berge. Wir wollen in diesem Tal Mais anbauen. Wir wollen friedlich sein. Darauf gebe ich mein Wort.« Der Sterne-Häuptling hatte den Kopf geschüttelt. »Dreihundert Mexikaner«, hatte er gesagt, »sind Bürger der Vereinigten Staaten geworden und besitzen nun Grund in Cañada Alamosa.« Cochise hatte dem Sterne-Häuptling widersprochen. »Dort ist Platz für alle. Laß uns weiter unten im Tal wohnen. Wir wollen auch Bürger der Vereinigten Staaten werden und Grund besitzen und nach eurer Art leben.« Der Sterne-Häuptling hatte Cochise lange angeblickt und dann geantwortet: »Ihr könnt nicht Bürger der Vereinigten Staaten werden. Ihr könnt kein Grundeigentum besitzen.« »Warum?« hatte Cochise gefragt. Der Sterne-Häuptling hatte die Achseln gezuckt. »Indianer sind keine Bürger. So steht es im Gesetz.« Cochise war zornig davongeritten. Ein Jahr lang waren sie unterwegs gewesen, aber zu viele waren dabei gestorben. Cochise hatte kapituliert und gesagt: »Es gibt keinen Platz für die Apachen. Es gibt 4
Platz für alle anderen. Aber es gibt keinen Platz für die Apachen.« Und dann hatte er gefragt: »Hat Gott die Apachen verlassen?« Und als dann binnen kurzer Zeit die Soldaten anrückten, um ihr letztes Versprechen zu brechen und die Apachen aus der Talreservation in das Lager in der Wüste zu verlegen, konnte Cochise nicht mitgehen, denn er lag im Sterben. Am Ende hatte er zu Gott gesprochen; seine Stimme klang schon weit entfernt, und seine Augen welkten und sahen die Berge nur verschwommen. »Der Apache trägt sein Leben auf den Fingernägeln. Der Apache wünscht jetzt, die Berge mögen auf ihn herabstürzen. Der Apache wünscht zu sterben.« Naiche stand auf und schaute zurück zu den Wickiups. Warten sie auch darauf – zu sterben? Die Soldaten waren nun nahe heran. Er trat hinter den Busch und beobachtete sie. Ein Dutzend Blauröcke. Sie lenkten ihre Pferde einem Wickiup zu, das abseits stand. Als sie schweigend vorbeiritten, schnupperten die Pferde und schnaubten durch die Nüstern, denn sie witterten Naiche, aber die Soldaten bemerkten es nicht. Jetzt konnte er auch den Mann sehen, den sie mit sich führten. Der Mann war stämmig und sehr kräftig gebaut. Beim Gehen zottelte er wie in Krämpfen dahin und hob dabei die Ketten an, die seinen Schritt kurz hielten. Er war barfüßig, und Fußeisen verbargen beim Gehen die vorgewölbten Fußknöchel. Seine Füße waren blutig; er war schmutzig. Exkremente waren an seinen Hosen hart geworden und getrocknet. Naiche wußte, daß er im Loch gewesen war. Seine Hände waren mit Ketten gefesselt, und die Soldaten führten ihn an einem Seil um seinen Hals. Sie kamen nahe an dem Busch vorbei, und Naiche blieb reglos stehen und blickte nicht auf die Soldaten, sondern nur auf den Mann. Buschiges Haar fiel dem Gefangenen über den gebeugten Nacken, aber als er vorbeikam, wandte er leicht das Gesicht. Seine Augen richteten sich voll auf die Naiches. Die Augen verrieten nichts von seinem gedemütigten Zustand in Ketten; sie blitzten schwarz und fanatisch zurück. Er sagte nichts. Er hieß Geronimo. 5
Die Soldaten hielten vor einem alten Wickiup an, dessen Seiten aus angelehnten Mesquitezweigen bestanden. Ein Blaurock saß ab. Er nahm die Ketten von den Händen des Gefangenen, streifte das Seil um den Hals ab und schlug ihn damit über die Hinterbacken. Der Blaurock sagte etwas, und die Soldaten lachten. Geronimo stand mit gebeugtem Kopf da und hielt die Handgelenke noch gekreuzt, als seien die Ketten noch da. Er heuchelt Unterwerfung, dachte Naiche, muß aber seine Augen vor den Soldaten verbergen. Die Soldaten rissen ihre Pferde herum und trabten davon, denn sie wollten die Wüste hinter sich bringen. Naiche beobachtete, wie sie nach Südwesten hin kleiner wurden. Sie hatten die Ketten um Geronimos Füße nicht abgenommen. Die Eisen waren über den Knöcheln miteinander verbunden. Er ging zuckend, halb schlurfend, und ließ sich, mit dem Rücken gegen die Wand des Wickiups, schwer auf den Boden nieder. Er streckte die Beine weit aus, raffte Sand zusammen und warf ihn über seine Füße. Wolken von Fliegen wirbelten in die Luft. Der Sand blieb hängen, überzog das Blut und deckte es gegen die Fliegen ab. Der Mann blickte nicht auf. Der Wind wirbelte Sandfontänen auf, ließ den spröden Busch und den Salbei rasseln und blies mit dünnem Wimmern durch die nackten Zweige der Cottenwood-Bäume. Kein Apache ließ sich sehen. Sie wußten, warum er hier war! Keine Armee konnte Geronimo gefangennehmen, das wußten sie. Keine Todesfurcht, keine Kampfesmüdigkeit konnte ihn zur Aufgabe bewegen. Er wurde niemals kriegsmüde. Seine Kapitulationen waren listige Täuschungen und dazu bestimmt, ihn mitten unter sie zu bringen – ihnen zuzurufen, die Treue zu bewahren. Er war ein Kriegsschamane. Selbst die großen Häuptlinge – Cochise, Juh, Mangas Coloradas (ehe ihm die Weißaugen den Kopf abschnitten und seinen Schädel in einem Trophäenkasten ausstellten) – hatten oft Geronimo ausgewählt, um sie auf den Kriegspfaden anzuführen. Krieg war heilig. So lange schon, daß sich die Urgroßväter nicht an die lange Folge von Urgroßvätern erinnern konnten, die Krieg 6
geführt hatten. Man erzählte sich, einst, in einer dunklen Vorzeit, hätte ihr Volk Mais in den Tälern angebaut und seine Nahrung selbst geerntet. Dann waren die Spanier gekommen. Sie hatten die Spanier als Freunde begrüßt, aber sie wurden gefangen und zu Sklaven gemacht, und daher flohen sie. Sie konnten nichts mehr anbauen und ernten. Die Spanier warteten auf sie, um sie zu töten, wenn der Mais in ihren Tälern reifte. Krieg aber ließ ihnen die Freiheit; bewahrte sie vor den tiefen Bergwerken, wo Peon-Indios aus dem Süden für die Spanier schufteten. Krieg verschonte sie auch vor der Peitsche der schwarzkuttigen Kirchenpriester. Krieg machte sie frei von den Soldaten, die Seuchen unter den Peon-Indios verbreiteten und sie umbrachten, ihre Frauen schändeten und töteten. Falls es sich wirklich so verhielt, daß ein Gott sie vor all dem bewahrte, dann würde der Gott geheiligt sein. Und das war der Krieg gewesen. Der Pfeil, die Lanze, der Bogen, das Messer – selbst die Nahrung auf dem Kriegspfad: alles kannte man unter einem geheiligten Namen. Aber nun, eingeschlossen zwischen den Mexikanern und Amerikanern, gejagt, auf dem Kriegspfad und in den Lagern sterbend, waren die Apachen verloren. Schließlich war Zweifel aufgekommen, ja sogar die Überzeugung, daß der Krieg ihnen nicht mehr die Freiheit erhalten konnte. Der Glaube erstarb. Wenn die Apachen Verträge schlossen, merkten sie, daß sie nach dem Gesetz nicht als Menschen galten. Sie konnten keine Bürger werden. Sie konnten kein Grundeigentum besitzen. Und als Tiere konnten sie nicht darum bitten, ihre Lager in die Täler der Berge zu legen, die sie liebten. Sie mußten in der Wüste bleiben. Dort konnten sie keinen Mais anbauen, keine Mescalknollen oder Piniennüsse sammeln und kein Mehl aus Yucca gewinnen. Die Rationen wurden bis an die Grenze des Verhungerns beschnitten und ließen sie schwach und kränklich werden und sterben. Das Camp in der Wüste war der Ort der Ausrottung. »Ausrottung«, sagte General Sherman, »ist die einzige Antwort. Je mehr wir die7
ses Jahr umbringen, desto weniger werden wir im nächsten töten müssen.« Shermans getreuer Apostel Sheridan sagte, als Echo seines Vorgesetzten, großmäulig: »Der einzige gute Indianer ist ein toter Indianer.« Jetzt folgten Geronimo nur noch die verzweifelten Getreuen. Es gab manche unter den Apachen, deren Gedanken die der physischen Welt überlegene Realität suchten, wie Menschen, die die Hinrichtung erwarten, verzweifeln und Leben im Geistigen suchen. Die meisten klammerten sich an die hoffnungslose materielle Welt, in der Hoffnung, ihre physische Existenz am Leben zu erhalten. Viele haßten Geronimo, weil er einen aussichtslosen Krieg fortsetzte, und sie gaben ihm die Schuld für all das Unheil, das über sie gekommen war. Der großartige Cochise hatte Kriege geführt, aber selbst er erkannte das Unvermeidliche und kapitulierte. Mangas Coloradas, geachtet und geehrt im gesamten Apachenland, hatte sich für den Frieden entschieden und ihn gesucht. Als ihm die Soldaten unter einer Waffenstillstandsflagge den Kopf abschnitten und ihn bluttriefend und wesenlos hochhielten, war dies die Warnung: Die Regierung der Soldaten erwartete für die Verlängerung ihres Lebens Dankbarkeit von den Apachen. Es konnte keine gleichberechtigte Zusammenkunft geben, um sich auf Frieden zu einigen. Ein Volk kommt nicht mit einem Gott zusammen, um Verträge auszuhandeln. Selbst der jugendliche und impulsive Victorio hatte es erkannt. Dreimal bemühte er sich darum, Frieden zu erreichen, und nach dreimaligem Verrat verkündete er, bis zum Tode zu kämpfen – und starb. So ging es Dutzenden der großen Häuptlinge. Alle waren dahin. Aber immer war Geronimo in den Schatten der Lagerfeuer, wenn er kurz in den Rancherias auftauchte, um Reden zu halten und Krieger anzuwerben, und dürstete nach Krieg; er unternahm Raubzüge, überfiel Mexikaner und Blauröcke und beschwor verheerende Vergeltung für die Apachen. Keine dringlichen Bitten führten ihn in Versuchung. Keine Argumente brachten ihn zur Vernunft. Und so entstand Haß gegen ihn. Auch Furcht und Bewunderung; über8
lebende Krieger erzählten Geschichten, wie Geronimo den Wind beschworen habe, damit er Sand hochblies, um sie vor verfolgenden Soldaten zu verbergen. Wie er ›sehen‹ konnte und ihnen von Ereignissen erzählte, die eintreten würden – und so war es gekommen. Einige hatten ihm nachspioniert, wie er allein in den Bergen zu seltsamen Gesängen tanzte, welche die Gans, die Geister der Berge, trieben, mit ihm zu tanzen; und sie hatten gesehen, wie er sich von den Seelenzerstörern reinigte. Er sei ein Kriegsschamane, sagten sie, und es gebe immer Faszination für das Unbekannte und auch Furcht. Naiche trat hinter dem Busch hervor und ging über das offene Gelände zu der Stelle, wo Geronimo saß. Als sein Schatten über die blutigen Füße fiel, blickte Geronimo auf. Das dunkle Loch, in dem sie ihn gefangengehalten hatten, hatte sein Gesicht gezeichnet und es entstellt. »Naiche.« Seine Begrüßung klang hohl und tonlos. »Ja«, sagte Naiche und setzte sich neben Geronimo, der immer noch Sand auf seine Füße warf. Naiche betrachtete die CottenwoodBäume längs des Baches. Die Höflichkeit forderte eine Spanne des Schweigens. Der Wind blies mit flötenartigen Tönen durch die Durchlässe in der Mauer der Mesquitesträucher. »Ehe ich kapitulierte«, bemerkte Geronimo leise, »habe ich den Mexikanern Rinder und Pferde weggenommen.« Er hörte auf, mit Sand zu werfen, und schaute nach Osten in den Himmel hinein. »Ich verkaufte die Rinder und Pferde an Texaner und brachte gute Gewehre und Munition mit. Ich habe alles im Süden versteckt.« Das war die Entscheidung. Naiche zögerte. »Die Ketten?« fragte er. Geronimo zuckte die Achseln. »Bring mir ein Stück Eisen. Die Ketten werden sich sprengen lassen.« Das Schweigen kehrte zu ihnen zurück. Nun war es Geronimo, der wartete. Weit entfernt, leise im Wind, schrie ein Kind und wimmerte. Naiche lauschte den Schreien, die in Schluchzen erstarben. 9
»Wir wollen gehen«, sagte Naiche. Geronimo schaute ihn scharf an. In weiter Ferne, hinter der Schwärze seiner Augen, erblickte Naiche ein Licht, das sich bewegte und tanzte. Ein Geist, sagten manche Apachen. Andere nannten dies die Flammen von Krieg und Tod. Flüchtig berührte Geronimo Naiches Arm. »Es ist gut, Bruder.« »Ja«, antwortete Naiche, »es ist gut.« Das Baby weinte wieder. Die Entscheidung war gefallen!
2
I
m Westen verschlang der niedrige Horizont die Sonne, die den Himmel rötete und die Wüste purpurn färbte. Feuer flackerten vor den Wickiups. Geronimo packte das schwere Eisenstück und bearbeitete das Spangenschloß der Fußeisen. Naiche hatte ihm das Eisenstück und einen Wasserbeutel gebracht. Geronimo hatte den Maiskuchen abgelehnt, denn er wußte, daß er für Naiche eine volle Tagesration bedeutete. Er hatte Naiches Aussehen bemerkt; obwohl er jung war, waren seine Muskeln dünn und kümmerlich. Naiche wurde vom Hunger ausgezehrt. Er gibt seine Rationen seiner Frau und seinem Baby, dachte Geronimo. Er machte eine Pause und betrachtete seinen eigenen Körper, nackt an den Stellen, von denen er die schmutzige Kleidung weggerissen und wo er sich gewaschen hatte. Trotz der Zeit im Loch war er hart. Das verdankte er den Monaten in der Sierra Madre: Wild und Yucca-Mehl, Shudock-Beeren, Mescal und mexikanisches Rindfleisch. Reines Wasser. Er knurrte, drehte das Eisen hin und her, und das Spangenschloß sprang auf. Er war frei. Es waren leichte Schritte. Er hörte sie und blieb reglos sitzen. Sie war, selbst für eine Apache, klein; ein Kattunrock flatterte im Wind wie ein Ballon um sie. Ihr Haar war streng aus einem ovalen Ge10
sicht zurückgestrichen und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Sie kniete nieder, ohne etwas zu sagen, legte ein langes Messer neben Geronimos Hand und stellte Stiefelmokassins an seine Seite. Über diese legte sie lange Lendentuchhosen, und schweigend fing sie an, die zerschundenen Knöchel zu versorgen. Sie benutzte zerstoßene Ocotillo-Wurzeln für die Wunden und verband sie mit Tuch. »Danke«, sagte Geronimo höflich. Sie knotete die Verbände zusammen und blickte nicht auf. »Ich heiße Zalah«, sagte sie und legte vor dem Wickiup Holz für ein Feuer zusammen. Es dämmerte bereits, und Geronimo beobachtete sie ausdruckslos, aber doch argwöhnisch. Die Blauröcke unterhielten viele Spione unter den Apachen, Menschen, die Informationen weitergeben würden, um Extrarationen für ihre Familien zu bekommen. Als sie von der Arbeit aufstand, pfiff sie, und ein kleiner Junge rannte aus der Dunkelheit heran; er trug einen glühenden Ast, den sie in das Holz legte. Eine Flamme flackerte auf, und der Junge wich schüchtern hinter sie in die Dunkelheit zurück. »Du hast eine Familie?« fragte Geronimo. Er riß das lange Messer aus der Scheide, wetzte es langsam an dem Leder, und strich die Klinge hin und her. »Ich – habe meinen Sohn – Sanza«, sagte sie zögernd und beobachtete, wie die Klinge an der Scheide hinauf- und hinunterglitt. »Mein Mann ist von den weißäugigen Räubern aus Tucson umgebracht worden, wo wir uns niedergelassen hatten. Mein kleines Mädchen ist gestorben – hier.« Er schaute sie nicht an, machte jedoch eine Pause mit dem Messerschärfen und suchte mit Sorgfalt ein Haar an seinem Kopf. Er riß es aus, ließ es in der Luft baumeln und hieb das Messer mit bösartig schnellem Schwung. Die Klinge schnitt das baumelnde Haar nicht durch. Er fuhr mit dem Schärfen fort. Nun sprach Zalah laut, als wolle sie seine Aufmerksamkeit von dem Messer ablenken. »Mein Sohn ist fast neun Jahre alt. Er ist fast ein Krieger. Einmal«, sagte sie so, als leiere sie vorbereitete Worte 11
herunter, »hat er die Soldaten überlistet. Als mein Baby im Sterben lag, rannte er über die Grenzen hinaus, grub Mescal-Wurzeln aus und brachte sie zurück und versteckte sie dann den ganzen Tag vor den Soldaten – und versuchte, mein Baby zu retten. Die Soldaten hätten ihn umgebracht. Er ist wirklich sehr tapfer.« Hastig griff sie hinter sich und zerrte den Jungen nach vorn. Der Feuerschein huschte über dürre Beine und Arme. Der kleine Magen wölbte sich aufgedunsen unter der Rippenhöhlung über der Lendenschurzhose. Der Junge schaute auf seine Füße und starrte sie an, als habe er sie noch nie gesehen. Geronimo ließ nicht erkennen, ob er den Jungen bemerkt hatte. Das Messer glitt auf dem Leder hin und her. Das Feuer prasselte. Ihre Stimme tönte jetzt hohl, tapfer und einstudiert, wie die eines Schulmädchens: »Ich weiß, wie man ein Gewehr abfeuert. Ich bin stark und kann wie ein Krieger kämpfen… Ich…« Ihre Stimme erstarb. Geronimo hörte auf, das Messer zu schleifen, und schaute sie über das Feuer hinweg an. »Der Junge ist kein Krieger«, sagte er ausdruckslos. Sanza wich vor den harten Augen zurück und verbarg sich hinter seiner Mutter. Aber Zalah hielt dem Blick Geronimos mutig stand. Sie strich sich das Haar zurecht, glättete ihr Gesicht mit den Händen und versuchte alle Stellen des Rocks glattzustreichen, an denen ihre nervösen Finger einen Riß fanden, um sie den Blicken zu entziehen. »Ich bin noch jung«, sagte sie. »Du hast … keine. Ich will … tun, was du willst.« Sie versuchte verschmitzt zu lächeln, aber ihr Kinn zitterte. Geronimo starrte sie an. »Ich werde dich nicht heiraten«, sagte er rauh. Zalah beugte den Kopf, und im nächsten Augenblick tönten flüsternd die Worte der Apachen-Verachtung über das Feuer herüber. »Ich werde dich nicht bitten, mich zu heiraten.« Geronimo hielt das Messer hoch, doch beobachtete sie dabei. Langsam hob sie den Kopf, und ihr Gesicht war feucht. »Ich weiß, daß du gehst«, sagte sie 12
schwach. »Ich – weiß … alle sagen, daß du nur kapituliert hast, um zurückzukommen und andere mitzunehmen. Ich … muß gehen. Ich muß meinen Sohn retten. Ich will, daß er am Leben bleibt.« »Er kann hier leben«, höhnte Geronimo. »Man wird ihm genug Futter geben, daß er am Leben bleibt.« »Nein«, flüsterte Zalah. »Ich möchte, daß er dort lebt, wo man ihm nicht befiehlt, wohin er gehen muß und was er tun muß … wo es keine Macht über ihn gibt…« »Du möchtest, daß er frei ist?« fragte Geronimo, und zum erstenmal klang in seiner Stimme Verständnis. »Ja«, antwortete sie, »daß er frei ist … in den Bergen.« Geronimo widmete sich wieder der Messerklinge. »Du kannst gehen«, sagte er beiläufig. Sanza, der Junge, spähte hinter seiner Mutter vor und blickte in das harte Gesicht, in dem im Feuerschein Licht und Schatten wechselten: die schreckliche Legende von Blut und Tod, der Mann, der von Freiheit sprach, während er sein Messer schärfte. Zalah ging auf Geronimo zu, aber er hob das Messer hoch und hielt sie auf. »Nein, du bist mir nichts schuldig, und daher werde ich auch nichts annehmen. Du wirst genug für die Freiheit bezahlen … vielleicht wirst du sterben.« Er hielt inne und schaute sie scharf an. »Aber da gibt es etwas, was du tun könntest.« »Ja?« fragte Zalah. »Du kannst heute nacht in jedes Wickiup gehen und allen sagen: Geronimo weiß, daß sie es wissen. Sag ihnen, daß Geronimo bereits Krieger in den Busch geschickt hat und daß jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, die aufs Fort zugehen, umgebracht werden.« »Ich werde es tun«, sagte Zalah. Wieder riß er sich ein Haar aus und hielt es in die Luft. Das Messer flitzte, wie eine Schlange, und funkelte im Feuerlicht. Diesmal blieb ein kurzes Stück Haar hängen. Geronimo knurrte. Er stand auf und ging in die Dunkelheit davon. Schüchtern rief ihm Zalah nach: »Wann … werden wir gehen?« »Ich weiß es nicht«, tönte es zurück. Geronimo war fort. 13
Er fand Naiche vor seinem eigenen Wickiup, wo er saß und wartete. Er ließ sich neben ihm nieder und fragte: »Gibt es ein paar Leute, denen du trauen kannst?« »Ein paar«, antwortete Naiche trocken. »Dann schick sie mit Bogen und Pfeilen in den Busch. Niemand darf die Nachricht nach Fort Thomas bringen.« Naiche huschte davon. Und während der Nacht besuchte Geronimo die Wickiups. Er kauerte sich neben der erlöschenden Asche von Chatos Feuer nieder und sagte nichts. Chato wußte, warum er hier war, und nach langer Pause sprach er erst. »Nein«, sagte er. Geronimo stand auf, schaute in die Glut der Asche, aber nicht auf Chato. »Wir gehen nach Süden, in die Sierra Madre. Willst du auf diese Art hier weiterleben?« »Nein«, erwiderte Chato, »ich will nicht auf diese Art weiterleben, aber ich bin auch kein Narr. Es gibt eben keine andere Möglichkeit.« Er starrte steinern vor sich hin, als Geronimo in der Dunkelheit verschwand. Loco stocherte in seinem Feuer. Geronimo hatte nichts gesagt; er war aufgetaucht und hatte sich ihm gegenüber hingehockt. Loco sagte ins Feuer hinein: »Die alte Art von Freiheit ist dahin, Geronimo. Es ist hoffnungslos.« Und als Geronimo sich erhob, stand Loco auf. »Andererseits«, sagte er sehnsüchtig, »wäre es schon gut, einmal die Berge wiederzusehen – für eine kleine Weile frei zu sein.« Dann plötzlich: »Ich werde mitgehen.« Und so erschien während der Nacht Geronimo in den Wickiups. Er hörte zu und sagte selbst wenig. Er beantwortete die Fragen nicht: wie kannst du hoffen, so weit vor den Pferden der Soldaten davonzulaufen … bis zur Sierra Madre? Die Sierra Madre ist weit fort; wie willst du am Leben bleiben, um dorthin zu kommen? Aber am Morgen gab es aufgeregte Gespräche in den Wickiups derjenigen, die mitgehen wollten. Sie sprachen von Pflanzen, die in den Bergen noch Früchte trugen: Yucca; dann würde es in den kühlen Gehölzen noch Piniennüsse geben; zwar war die Beerenzeit vor14
bei, aber sie würden aus Paloverde-Samen und Eicheln Mehl stoßen, gutes Mehl, und voller Leben. Einige erinnerten sich an Stellen, die sie kannten – wo in schattigen Canyons kühles Wasser von den Felsen rann. Dann begannen sie, karge Mehlrationen zu packen und die tsochs, die Schlingen, zu richten, in denen sie Babys trugen, damit sie selbst schneller laufen konnten. Männer fertigten rohe, kurze Bogen aus Cholla-Gerten und drehten als Sehnen Fasern von 'guilla. Sie nahmen Schilfrohr als Pfeile, schlitzten die Enden auf und banden spitze Steine vorsichtig dazwischen. Der Morgen erhob sich gleißend und heiß über dem östlichen Rand der Wüste. Gerüchte gingen um. Alte Geschichten über Geronimo wurden erzählt. Er sei nicht vertrauenswürdig. Sein Kriegspfad sei mit Toten seines eigenen Volkes übersät. Er sei oft von Tiswin betrunken. Naiche suchte ihn und fand ihn im Bachbett. Er musterte die Spitzen nackter Cottonwood-Zweige. Naiche wußte, daß er nach Vorzeichen Ausschau hielt. Vielleicht brauchte sogar Geronimo eine Rückversicherung. Eine Weile folgte ihm Naiche und riß die Zweige ab, die Geronimo gehalten hatte. An den Spitzen sah man die Narben abgefallener Blätter. Auf jeder Narbe war ein Gesicht. Einige der Gesichter lächelten, andere runzelten die Brauen, wieder andere waren grimmig. Andere Gesichter schauten geheimnisvoll und scheußlich drein. Geronimo setzte sich ans Bachufer und hielt sich den Kopf. »Morgen«, sagte Naiche, »ist wieder Abzähltag.« »Ja«, erwiderte Geronimo zustimmend. Er wollte nichts mehr sagen, sondern stand auf und ging davon. Er überquerte das Bachbett und verschwand im Busch. Um Mittag begann Wind zu wehen. Nach einem monotonen Stöhnen schwoll er an und heulte in Böen auf. Am frühen Nachmittag tauchten im Norden Sandwolken auf, die sich tausend Fuß hoch zum Himmel hoben. Der Wind steigerte sich zu Sturm. Die Sonne verdüsterte sich gelblich und verwandelte sich in eine blaßgrü15
ne Limone, in die man mit bloßen Augen schauen konnte. Der Horizont und der Himmel waren verschwunden. Geronimo tauchte vor dem Wickiup Naiches auf. »Sag ihnen, wir versammeln uns hier, wenn es dunkel ist. Dann brechen wir auf.« Er verschwand in dem wirbelnden Sand. Naiche würde sich immer an diesen Tag erinnern. Wie die Luft schon am Morgen drückend und schwer geworden war. Wie es im Mund nach Metall schmeckte. Wie sich anfangs die Büsche ohne Wind bewegt hatten. Sie versammelten sich im schummerigen Licht der Abenddämmerung, standen dicht beisammen und spähten durch den Sandsturm, um einen Freund zu erkennen. Viele, die versprochen hatten mitzugehen, kamen nicht; Sand, den der Wind in raschelnden Wellen dahintrieb, prasselte gegen die Wände der Wickiups und ließ sie drinnen verharren. Geronimo ging unter denen, die sich versammelt hatten, herum und trennte die Frauen von den Männern. Er stellte die Frauen in einer langen Zweierkolonne auf. Die junge Frau neben die alte; die Frau ohne Baby neben die Frau, die in ihrer Brustschlinge ein Baby mittrug. Die Frauen hatten die Gesichter mit Tuch bedeckt und legten nasse Lappen über die Köpfe der Babys. Hinter den Frauen stellte er in einer gleichen Zweierkolonne die Kinder auf. Das ältere neben das jüngere; den Knaben neben das Mädchen. Nach den Kindern teilte er die Krieger in eine Dreierkolonne ein, ein wenig lockerer als die der Frauen und Kinder. Die Krieger mußten ein Kind, das hinfiel, aufheben, den Müttern helfen, wenn sie strauchelten, und die alte Frau, die sich nachschleppte, stützen und tragen. Nach Apachensitte schleppten sie nichts mit außer den dringendsten Notwendigkeiten für ein Überleben: kleine Nahrungssäckchen und Wasserbeutel, Messer, und die Krieger ihre ungefügen Pfeile und Bogen. Das Zwielicht wurde stärker. Die Leute, die von ihren Wickiups zusehen konnten, sahen jetzt die Gestalten kaum mehr – eine lan16
ge Kolonne Menschen, die den Rücken gegen Wind und Sand vom Norden beugten, während die Kinder unsicher zwischen den Frauen und Kriegern standen und, sich gegenseitig an den Händen haltend, Zuversicht suchten. Geronimo war bitter enttäuscht: achtzehn Krieger, dreiundfünfzig Frauen und Kinder. Die meisten Frauen waren verwitwet und mühten sich verzweifelt, ihre Abkömmlinge zu retten – Babys und Kinder; Reste von Familien, die die Soldaten ausgelöscht hatten. Er fing an der Spitze der Kolonne an. Er packte Zalah und die Frau neben ihr an den Schultern und schrie ihnen ins Gesicht: »Wir werden leben in den Bergen! Sprecht nach!« Sein Gesicht war wild, und seine Augen hypnotisierten. Die Frauen schrien zurück: »Wir werden leben in den Bergen!« Langsam ging er so an der Kolonne entlang. Eine Alte, die schweigend in der Kolonne stand, packte Geronimo an der Kehle und schlug sie brutal, wieder und wieder, wobei er sie noch anbrüllte. Ein paar Krieger schoben sich auf ihn zu, doch wichen sie zurück, als die alte Frau auch zu schreien begann. Er stieß sie mit dem Gesicht dicht vor die Augen der Kinder, und als diese nur murmelten, schüttelte er sie und zwang sie, aus Leibeskräften zu brüllen. Als er dann die Krieger erreichte, sang und röhrte schon die ganze Kolonne: »Wir werden leben in den Bergen!« Er blieb vor den Kriegern stehen, fuchtelte wie ein Dirigent mit den Armen, hüpfte und sprang herum und peitschte die Luft mit seinen Armen. Unmerklich wandelte das Brüllen seine Klangfarbe; der Ton der Verzweiflung wich rhythmischer Harmonie, und in dieser Harmonie klang ein Unterton von Begeisterung mit. Durch den peitschenden Sand und pfeifenden Wind klang es wie eine Hymne, gesungen von Menschen, die noch kurz vorher von Zweifeln und Furcht überwältigt gewesen waren. Krieger begannen zu tanzen, überwältigt von der Macht; Kinder stampften im Takt mit den Füßen, die Tücher rutschten den Frauen von den Gesichtern. Sie spürten den Sand nicht mehr.
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Abrupt wirbelte Geronimo herum, lief zur Spitze der Kolonne, winkte mit dem Arm und führte sie in schnellem schlurfendem Trott nach Südwesten. Naiche, an der Spitze der Krieger, bemerkte die Richtung, in die Geronimo führte; fast direkt nach Fort Thomas und zu den Soldaten. Nur flüchtig kam ihm der Gedanke zu protestieren. Er war zu sehr von dem Gesang begeistert, ergriffen von dem blinden Glauben an das Unsagbare, das von Geronimo ausging. Die DragoonBerge lagen hinter Fort Thomas, und die Dragoons dehnten sich nach Süden der Sierra Madre zu. Jeder andere Weg hätte einen weiten Bogen um das Fort erfordert und Zeit gekostet, die sie sich nicht leisten konnten, und Anstrengungen, die nicht zu überleben waren. Geronimo wußte, daß der Sandsturm sie vor den Soldaten verbergen würde, und keiner stellte den Glauben in Frage, daß der Sandsturm lange genug dauern würde, um sie an dem Fort vorbeizuführen. Während sie liefen, verstummte der Gesang. Man brauchte seinen Atem für das Laufen. Aber Naiche erinnerte sich an das starke Gefühl. Die Worte tönten immer und immer wieder in seinen Sinnen: »Wir werden leben in den Bergen!« »Leben … Berge!« Die zwei Worte dröhnten in den bewußten Gedanken. Später erinnerte sich keiner mehr an diesen nächtlichen Lauf über die Ebene. Sie erinnerten sich an den Anfang; an die kurzen Pausen, in denen ihnen gestattet war, zu rasten, während Geronimo zwischen ihnen herumlief und sang: »Wir werden leben in den Bergen!« Sie erinnerten sich an das Ende. Mit dem Gesang hatte der Schamane Geronimo ihr bewußtes Denken auf die Berge gelenkt, wo es Leben gab – das war ihr Preis. Ihr bewußtes Denken, das sie wegen der taumelnden Schritte, der Entfernung, der Soldaten, dem Sturm geängstigt und geplagt hätte – es war ausgeschaltet. Der ermattete menschliche Körper wird durch das bewußte Denken zusammengehalten, und nachdem Geronimo sie gezwungen hatte, das Körperliche beiseite zu schieben, hatte er sie dazu bewegt, ihrem geistigen Denken zu gestatten, sie zusammenzuhalten. Und so nah18
men sie den Geist in sich auf und vollbrachten die unerklärliche ›übernatürliche‹ Anstrengung. Geronimo hatte die materielle Entfernung zwischen ihnen und den Bergen ausgeschaltet. Er hatte die Zeit, um sie zu erreichen, ausgeschaltet. Es gab keine Entfernung, keine Zeit – Illusionen des bewußten Denkens. Offiziere der Armee der Vereinigten Staaten würden später berichten, daß die verbleibenden Apachen in San Carlos logen; daß es für Menschen unmöglich gewesen sei, in der Zeit, die den Apachen verblieben war, aufzubrechen, und die Dragoons wirklich zu erreichen. Aber die Armeeoffiziere bedienten sich eines Maßstabs der Bemessung, der materiell war. Sie lebten, arbeiteten und kämpften innerhalb von Zeit und Entfernungen und kannten die Welt Geronimos nicht. Als sie den Gila River durchquerten, hätten sie leicht Fort Thomas sehen können, oder man hätte sie sehen können, wenn der Sandsturm sie nicht verborgen hätte. Zwischen den Ufern des Flusses war es ruhig, während der Wind darüber hinwegpeitschte. Der Staub sank erstickend dicht nieder. Nur kurz rasteten sie. Die Frauen machten Tücher im Fluß naß und wischten den Kindern und Babys die Gesichter ab. Geronimo wandte sich nun leicht nach Süden und führte sie über das jenseitige Ufer hinauf und zurück in den Sturm. Der Wind lag jetzt genau in ihrem Rücken und jagte sie weg von Fort Thomas. Niemand merkte es, als der Wind erstarb. Sie wurden nur gewahr, daß er nicht mehr stürmte, aber eine erstickende Staubwolke hinterlassen hatte, durch die sie liefen. Plötzlich liefen sie aus der Wolke heraus, atmeten keuchend die frische Luft und sahen die Sterne, Millionen von Lichtpünktchen, über ihnen. Nach einer Weile verblaßten die Lichter, und rötliche Streifen schossen aus dem Osten himmelwärts. Sie sahen die Berge. Die Dragoons hoben sich felsig gegen den Himmel ab. Geronimo steigerte das Tempo. Die Sonne stand schon hoch am wolkenlosen Himmel, als sie den Canyon erreichten. Sie rasteten und berührten einander, betroffen, 19
als ob sie gerade erst sich dessen bewußt würden, was sie zusammen vollbracht hatten. Die Krieger brachten eine alte Frau in den Schatten des Canyons. Sie hatten ihr beim Laufen geholfen. Die Frauen teilten Mehlkuchen und reichten die Wasserbeutel unter sich weiter. Geronimo stand abseits und schaute zurück gegen Fort Thomas. Naiche ging zu ihm hin, und sie suchten mit Naiches spanischem Fernglas den Horizont ab. »Jetzt wissen sie Bescheid«, knurrte Geronimo. »Von der Stelle an, wo der Wind aufhört, werden sie unseren Spuren folgen.« Der Canyon schnitt sich eng und mit Sand gefüllt in die Flanke des Berges. Senkrechte, glatte Felswände standen hundert Meter hoch über ihnen. Geronimo lief im Canyongrund voraus und wandte sich um, um sie weiterzuwinken. Jetzt fühlten sie die Erschöpfung, und jedesmal, wenn er anhielt, setzten sie sich schnell hin und ruhten sich im spärlichen Schatten der Ostwand aus. Um die Mittagszeit wandte sich der Canyon nach Westen. Es gab keinen Schatten. Die Luft war dick und stickig. Babys weinten, und die Kleider der Frauen klebten an ihren verschwitzten Körpern. Geronimo machte halt. Er gab Naiche ein Zeichen und begann, verborgene Tritte zu suchen und vorsichtig die Canyonwand emporzuklettern. Zwanzig Meter oberhalb des Canyongrundes fand er die kleine Höhle; er griff hinein, zog Gewehre und Patronengürtel heraus und warf sie zu Naiche hinunter. Zwanzig Gewehre. Die meisten Krieger kannten nur die Schwarzpulvermusketen. Geronimo sprang in den Canyon hinab und zeigte ihnen, wie die Gewehre funktionierten. Es waren Hinterlader, Erzeugnisse der US-Armee, Spencergewehre. Die Augen der Krieger wurden starr angesichts der Schnelligkeit des Ladevorgangs. Sie visierten längs der Läufe, fuhren mit den Händen über die glatten Griffe. Das hier waren die Gewehre der Blauröcke! Ein alter Krieger spürte die Macht des Gewehrs. Er hob es hoch, schwenkte es über seinem Kopf und brüllte den Kriegsschrei der Apachen, der im Canyon in Echos widerhallte. Alle Krieger schlossen 20
sich an und erzeugten mit den Echos ein Durcheinander von Schreien und Gesängen – außer Geronimo. Er stand da mit gesenktem Kopf, bis sie ihn schweigend stehen sahen und sich beruhigten. Der letzte Ton erstarb. Das Schweigen lag schwer in der Luft. Geronimo blickte den Canyon hinunter, woher sie gekommen waren. »Brüder«, tönte seine Stimme widerhallend, »die Pferde und Soldaten rükken gegen uns vor.« Er sprach langsam, damit das Echo das, was er sagte, nicht verzerren konnte. »Diese Berge sind nicht breiter als eine Schlange, die in der Wüste liegt. Die Berge enden im Süden … enden! Und von dort, wo sie enden, heißt es, einen vollen Tag lang Laufen durch die Wüste, ehe wir die Sierra Madre erreichen. Dieser Canyon« – er deutete vor sich hin zu dem engen sandigen Grund – »verläuft nach Westen. In kurzer Zeit kommen wir zu einer Stelle, wo wir ihn verlassen und nach Süden gehen müssen. Die Soldaten werden durch diesen Canyon kommen. Wenn sie sehen, daß unsere Spuren nach Süden zu den Bergen führen, werden sie zurück in die Ebene reiten, zurück zum Beginn des Canyons. Dann werden sie schnell, neben den Bergen, nach Süden reiten. Am Ende werden sie auf uns warten und uns in der Wüste töten, durch die wir laufen müssen, um die Sierra Madre zu erreichen.« Er machte eine Pause und schritt mit gesenktem Kopf vor ihnen auf und ab. Eine düstere Stimmung überkam die Schar. Frauen hielten ihre Babys fester, und Kinder drängten sich dicht an ihre Mütter. Die Krieger starrten auf ihre Füße, fingerten an den Gewehren herum und empfanden ihren Ausbruch Augenblicke zuvor als töricht. Geronimo blieb stehen und streckte die Arme aus, als wolle er die Wände des Canyons berühren. »Hier«, sagte er, »können die Wände erklettert werden. Wir brauchen je einen Krieger, der zum Rand jeder Wand emporklimmt. Wenn die Soldaten kommen, feuert nur einer der Krieger sein Gewehr ab. Er schießt damit viele Male vom oberen Rand der Wand.« Er machte mit dem Arm eine weit ausschwingende Geste. »Wenn die Soldaten diesen Krieger erreichen, muß er gegen sie kämpfen, bis … er dahin ist. Dann werden die Sol21
daten zurückgehen und wieder den Canyon hinunterreiten. Diesmal« – Geronimo deutete auf die gegenüberliegende Wand – »wird der zweite Krieger schießen, viele Male, und sie aufhalten. Sie müssen sich wieder zurückziehen zum Beginn des Canyons und oben, auf dem Rand der Wand dieses Kriegers, vorrücken. Er muß gegen sie kämpfen, bis … er dahin ist. Die Soldaten müssen gezwungen werden, zu warten, hier, lange, ehe sie unsere nach Süden führenden Spuren finden. Brüder…« Er unterbrach sich und wandte sein Gesicht zum Himmel, als bete er, ehe er sie wieder anblickte. »Brüder … es müssen zwei von euch sein, die keine Frau, keine Kinder haben.« Schweigen. Eine durch den Canyon streichende Brise bewegte das buschige Haar der Krieger unter den Stirnbändern. Ein Baby schrie und wurde von seiner Mutter beruhigt. Ein Raunen ging durch die Gruppe der Männer, als sich ein schlanker Krieger in ihrer Mitte erhob. Er hielt das Gewehr vor sich, quer über der Brust. »Meine Frau und Kinder sind von den Soldaten umgebracht worden«, sagte er. »Ich heiße Boto. Ich werde bleiben.« Niemand sagte etwas. Ein alter Krieger stand auf. Sein hirschledernes Stirnband bändigte buschiges weißes Haar, das ein verrunzeltes Gesicht einrahmte. »Ich heiße Tana.« Seine Stimme, die in altersbedingtem Zittern brach, war dünn. »Meine Frau ist alt. Wenn sie dabei sein könnte…« »Sie wird versorgt werden«, sagte Geronimo. Der alte Mann ging auf ihn zu; er hinkte. Er patschte gegen sein verkrümmtes Bein und lachte. »Hör mal! Ich muß jetzt nicht mehr wie ihr anderen davonrennen. Ich werd' mich auf der Canyonwand ausruhen.« Er lachte hohl und kam sich albern vor, weil sich niemand seinem Scherz anschloß. Geronimo umarmte ihn, und sie standen einen Augenblick umschlungen da. Boto folgte ihm, und auch er wurde von Geronimo umarmt. Niemand sprach; es gab auch nichts zu sagen. Geronimo ging ein Stückchen canyonabwärts nach Westen. Er winkte mit dem Arm vorwärts und verfiel gleich in den schlurfenden Trott. Erschöpft schlossen sich die Frauen ihm an, gefolgt von den 22
Kindern und Kriegern. Als sie liefen, löste sich eine alte Frau aus der Kolonne, blieb stehen und wartete, bis sie vorbei waren. Ihr weißes Haar fiel lang herab, fast bis zur Taille ihres Kleides, das ausgebleicht und zerrissen ihre winzige Gestalt einhüllte. Langsam begann sie zurückzugehen. Während die Apachen gegen Westen weitertrotteten, hörten sie das Anschwellen und Widerhallen des Gesangs im Canyon: »Nur die Berge leben ewig … nur die Felsen leben ewig…« Der Todesgesang! Geronimo blickte zurück. Boto und Tana standen in der Mitte des Canyons und sangen. Die alte Frau hielt Tanas Hand.
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D
ie Sonne neigte sich, ihre Lichtstrahlen veränderten sich, die durch die Dunstschicht sickerten und mit den Farben der Canyonwände spielten. Grüne Streifen in den Felsen schmolzen unmerklich zu Blau; rosarote Pastelltöne verdunkelten sich zu Rot, und das Gelb von Sandsteinen dehnte sich zerfließend aus, wie Farbe, die sich unter dem zarten Pinselstrich des Lichts mischt und wandelt. Tana und seine Frau Watashe saßen mit verschränkten Beinen am Canyonboden, mit dem Rücken an der Südwand des schmalen Schattens. Boto kehrte von einer Erkundung im Osten zurück, woher die Soldaten anrücken würden. Er setzte sich neben Watashe und legte sein Gewehr über die Knie. Aus seiner weiten Bluse holte er drei Hülsen hervor; er schob sich eine zwischen die Lippen und gab die zwei anderen höflich an Watashe und Tana weiter, riß ein Schwefelhölzchen an seinem Patronengürtel an und entzündete die drei Zigarillos. Sie sogen den Rauch ein, hielten ihn lange Zeit, ehe sie ihn wieder ausbliesen, und schwelgten in dem beruhigenden Genuß. Wa23
tashe und Tana hatten die Augen geschlossen, und Boto sah zu, wie sich die Farben der gegenüberliegenden Canyonseite veränderten. Er war ein Mann in der Blüte der Jahre; unter dem Stirnband war sein Gesicht fest und stark, und seine Beine ließen oberhalb der Mokassins sehnige Muskeln erkennen. »Tana?« Er sprach den alten Mann an, ohne ihn anzusehen. »Ja.« Tana öffnete die Augen nicht. »Du kennst die Soldaten besser. Du warst bei Nana und Victorio. Wann … meinst du … werden sie wohl kommen?« »Ich hab' schon nachgedacht«, sagte Tana. »Beim Zählen heute morgen wird es Chato ihnen gleich gesagt haben … ehe sie es selber merkten. Aber anfangs sind sie sicher verwirrt gewesen. Vielleicht haben sie gedacht, Geronimo wäre nach Ojo Caliente gegangen.« Tana sog Rauch aus dem Zigarillo. Boto überdachte die Antwort des alten Mannes. »Aber«, widersprach Boto, »Naiche sagte, daß Geronimo Chato gesagt hat, wir wollten in die Sierra Madre.« Tana lachte. »Ja, Geronimo ist listig. Er denkt zweimal … vielleicht dreimal nach. Er kennt Chato. Wenn es Chato den Soldaten erzählt, werden die es zuerst für wahr halten. Dann werden sie sich miteinander besprechen und sagen, daß Geronimo falsch sei. Sie werden sagen, Geronimo wüßte genau, daß es Chato verraten würde, und daher würde er nach Ojo Caliente statt zur Sierra Madre gehen. Dann werden sie noch weiter streiten, und schließlich werden sie in Kreisen immer wieder die Runden reiten … bis sie unsere Spuren finden. Ich meine« – Tana hielt inne und blickte schnell zur Sonne – »sie werden hier auftauchen, wenn die Sonne anfängt, rot zu werden. Das wird noch eine kleine Weile dauern.« Er dachte über das, was er gesagt hatte, nach und lachte leise. »Geronimo bringt sie dazu, wie ein Maultier statt wie der Adler zu denken.« Eine Brise huschte über den sandigen Boden. »Ich bin soweit gegangen, wie unsere Gewehre reichen«, sagte Boto und streichelte das 24
Gewehr. »Es gibt keine Stelle, keinen Felsblock, hinter dem sie sich verbergen können. Sie müssen weit zurückgehen, wenn wir schießen.« »Ja«, antwortete Lana. »Geronimo hat gut daran getan, diese Stelle auszusuchen.« Jetzt huschten schon leichte Schatten über die Farben der Canyonwand. Ein Klippenfalke segelte glatt den Fels hinab. Er hatte wohl eine leichte Abkühlung gefühlt, die die Einigung der Sonnenstrahlen hervorgerufen hatte, und kam nun aus der Ebene heraus, um nach Schlangen und Mäusen zu suchen, und bald würde er zwischen den Felsspalten herumstreifen. Er schoß vor ihnen herunter, kreischte, als er sie bemerkte, und segelte zum Rand des Canyons, um sie auszuspähen und zu mustern. Tana sagte: »Er hat die Wüste früh verlassen – zu früh. Vielleicht hat ihn etwas gedrängt, aufzubrechen.« Boto stand schon aufrecht da. »Ja. Der Falke ist gekommen, um uns zu rufen.« Watashe stand langsam und mühsam auf und stellte sich neben Boto und Tana. Boto deutete zur gegenüberliegenden Wand. »Ich nehme diese Seite, falls…«, fragend blickte er Tana an, »…du es für besser hältst, daß ich … zuerst gehe, Großvater?« Er verwendete die altmodische höfliche Anrede. »Ja, Enkel«, antwortete Tana, »deine Prüfung wird kommen, solange es noch hell ist. Du hast die Kräfte eines Wolfs und kannst dich schnell bewegen.« Er lachte und schlug gegen sein verkrümmtes Bein. »Watashe und ich können nicht so schnell sein. Aber in der Nacht, nachdem du … gegangen bist, können wir gut hören. Unsere Ohren werden uns in der Finsternis helfen, wie die der Kojoten.« Watashe berührte Botos Arm und ließ ihre Hand hinabgleiten, um seine starke Hand mit ihrer alten zu ergreifen. »Enkel«, sagte sie sanft, »als wir geboren wurden, entschlossen wir uns, unsere geistigen Körper in diese Körper zu legen und unsere Sinne zu prü25
fen und sie stärker zu machen – falls wir die Prüfungen gewinnen. Jetzt werden wir wiedergeboren werden, zurück in unsere geistigen Körper. Das ist gut, und wir werden beisammen sein.« Impulsiv drückte ihr Boto die Hand und schaute ihr in die alten wässerigen Augen. »Ja«, sagte er schüchtern, »das glaube ich. Als mich Geronimo umarmt hat, sagte er, er hätte die andere Seite gesehen, und sie wäre gut für die starken Geister, denn sie wären im Licht. Wir werden beisammen sein.« Er verließ sie und ging über den Canyongrund. Der Falke flatterte in die Höhe und segelte weiter canyonabwärts. Boto streckte die Hand aus, suchte nach dem ersten Griff in der Wand und drehte sich zu dem alten Paar um, das dort stand und ihn beobachtete. Er erinnerte sich an den jahrhundertealten Abschiedsgruß der Apachen, die ihres Todes sicher sind. »Ein guter Tag fürs Sterben!« rief er leise. Sie lächelten, weil er sich erinnerte, und antworteten ihm: »Ein guter Tag fürs Sterben!« Und im Echo des Canyons tönten die Worte weich, ein seufzender Hauch voll friedlicher Überzeugung, tröstender Gewißheit, daß es wahr sei. Tana riß sich einen Streifen aus seiner Bluse und band sich das Gewehr um den Hals. Er schob Watashe vor sich her, die Wand hinauf. Sie war leicht, und wäre er als erster gestiegen und hätten seine alten Beine nachgegeben, sie hätte ihn nicht halten können. Sie bewegte sich nur langsam, aber sicher, und glitt nicht aus. Auf halbem Weg nach oben fand sie ein Sandsteinband, das sich zur Spitze hinaufschlängelte, und preßte kräftig die Zehen ihrer Mokassins in die Kerbe. Tana folgte ihr und stemmte sich direkt hinter ihr über die Kante der Wand. Einen Augenblick blieben sie keuchend liegen. Tana schaute den Weg zurück, den sie gestiegen waren. Der Canyonboden lag tief unter ihnen, ein weißer Streifen schmalen Sandes zwischen den Wänden. Ihm gefielen die Blöcke und Felsen hier. Es war eine gute Stelle. Aber ihr Standplatz war nur eine schmale Leiste, denn fast unmittelbar stieg der Berg steil und schroffig weiter nach oben an. 26
Wenn die Soldaten kamen, um sie zu töten, lag dort die Stelle, wo sie sich verstecken und hinunterschießen würden. Sie mußten dicht am Rand des Canyons liegen. Jenseits des Canyons konnten sie Botos Kopf sehen. Er hatte sich an der Stelle, die er ausgesucht hatte, eingenistet, hinter zwei Felsblöcken. Tana und Watashe winkten und sahen, wie Boto die Hand als Antwort hob. Auch hinter Botos schmalem Felsband stieg der Berg mit schweren Felstrümmern an. Diese Blöcke warfen jetzt sich länger dehnende Schatten. Wo die Sonnenstrahlen sie trafen, waren sie rot. Tana stand auf, ging zwischen den Felsen umher und suchte die Stelle, die sie brauchten. Er fand sie ein Stückchen weiter canyonaufwärts, aber dicht am Rand. Ein großer Fels deckte sie gegen Sicht über den Canyon hinweg; vor ihnen bildeten zwei Felsen ein V, durch das sie den Weg einsehen konnten, auf dem die Soldaten vorrücken würden. Tana legte sich hin, und Watashe legte sich neben ihn. Die Felsen hielten immer noch ihre Hitze, aber die Luft kühlte sich ab, je tiefer die Sonne sank. Tana lag auf dem Bauch, das Gewehr vor sich. Watashe betrachtete das alte dunkle und furchige Gesicht. Eine Schlange raschelte in den Felsen und machte sich aus ihrer Nähe davon. »Tana«, flüsterte Watashe. Sie wußte, daß das Geräusch einer Stimme weit tönen konnte. »Ja«, sagte Tana, ohne den Blick vom Canyon zu wenden. »Erinnerst du dich an Ojo Caliente mit der Quelle und dem Pinienwäldchen?« »Ja.« »Wo unsere Kinder begraben sind?« »Ich erinnere mich«, sagte Tana. Watashe glättete ihren verschossenen Kattunärmel. »Wenn wir … gehen, dann kannst du zuerst gehen. Ich werde dir folgen. Wir werden Boto treffen. Wenn … wir getrennt werden – können wir uns dann dort treffen … bei den Kindern?« 27
Tana wendete den Blick vom Canyon ab und sah ihr in die Augen. Ein Lächeln kerbte die Furchen seines Gesichtes. »Ja, Watashe. Dort werden wir uns treffen. Ich werde mich daran erinnern und es in mein geistiges Denken eingraben. Wir werden uns dort treffen.« Er versicherte es ihr von neuem und legte seine Hand über ihre kleine. »Das werde ich auch tun«, sagte sie schlicht, blieb befriedigt neben ihm liegen und beobachtete den Weg, auf dem die Soldaten den Canyon herunterkommen würden. Die Schatten wurden länger und verengten den erhellten Sandstreifen des Canyongrundes. Sie fühlten das Herannahen. Es geschah, ehe ihre Ohren es hörten. Ein schwaches Pulsieren lag in der Luft. Ein Rhythmus, der langsam schlug. Watashe sah, wie Tana erstarrte, und auch sie fühlte mit ihren Sinnen die Erregung der Luft. Die Sonne stand hinter ihnen als roter Ball. Ihr Licht, das durch die Staubkörnchen sickerte, überzog sie und den Canyon mit rotem Dunst. Die Röte vertiefte sich. Jetzt erreichte ein Laut ihre Ohren. Unterdrückt und gedämpft im Sand, aber unheildrohend durch seine Tiefe. Das waren viele Pferde. Weit voraus, dort, wo der Canyon die Biegung machte, sah Watashe sie. Selbst mit ihren vom Alter wässerigen Augen konnte sie gehende Pferde erkennen. Sie kamen um die Biegung. Mehr und immer mehr von ihnen erschienen. Die Kolonne nahm kein Ende. Jetzt konnte sie Gestalten auf den Pferden ausmachen. Reiter kamen direkt auf sie zu, und die vordersten Pferde waren ausgeschwärmt und wurden nicht nebeneinander geritten wie Reitpferde der Soldaten. Es waren Indianer. »Scouts«, flüsterte Tana. »Papago … und einige … sind Apachen.« Watashe konnte sie jetzt erkennen. Die Papagos trugen das Haar kurz und hatten Hüte auf den Köpfen. Die Apachen trugen Stirnbänder, die ihr buschiges Haar zusammenhielten. Patronengürtel kreuzten sich über ihrer Brust. Sie ritten langsam und musterten den Sand. 28
Hinter ihnen kamen die Soldaten, jeweils drei nebeneinander. Watashe konnte sehen, daß die Sonne sich in roten Pünktchen auf dem Metall ihrer Gewehre spiegelte. Die Soldaten ritten zweihundert Meter hinter den Indianerscouts, weil sie einen Hinterhalt argwöhnten. Die dunkle Kolonne der Soldaten zog sich ihnen entgegen in die Länge und ritt durch die Schatten, die die Wände warfen. Immer noch kamen sie um die Biegung; mehr Soldaten, als Watashe jemals gesehen hatte. Die Scouts waren nun nahe heran. Einer von ihnen schaute hoch und musterte den Rand des Canyons: Watashe blickte beiseite; er würde es spüren, falls sie ihn scharf beobachtete. Der Scoutanführer war ein Papago. Er betrachtete den Boden; sein Hut beschattete sein Gesicht. Donnernd durchbrach ein Gewehrschuß die Stille. Sofort riß der Papago die Hände in die Höhe, und sein Hut flog weg. Sein Pferd fiel in Galopp, und tot stürzte er hintenüber. Ein Apache, der hinter ihm ritt, wirbelte sein Pferd herum. Ehe die Echos erstarben, krachte das Gewehr erneut, traf den Apachen zwischen die Schultern und warf ihn über den Hals des Pferdes. Das von dem Schuß erschreckte Pferd bäumte sich und schleuderte den Apachen in den Sand. Boto hatte mit seiner Prüfung begonnen. Rufe tönten von den Soldaten her. Über das Durcheinanderschreien hob sich laut der Befehl eines Offiziers ab. Sie wandten die Pferde und zogen sich den Canyon hinab zurück. Die Indianerscouts rissen die Pferde heftig herum und folgten den Soldaten. Ein Mann war vom Pferd gesprungen. Er hielt die Zügel fest und wich, rückwärtsgehend, an die Canyonwand zurück, fast direkt unter Tana und Watashe. Die Soldaten hatten ein Stück canyonabwärts diszipliniert angehalten. Sie schauten sich um und beobachteten den abgesessenen Scout. Der blickte um sich und musterte scharf die Kante des Canyons, von der die Schüsse hergekommen waren. Dann schrie er: »Jeh oooooooooooooooh!« und deutete zu Botos Versteck hinauf. 29
Während er noch auf ihn zeigte, stand Boto zwischen den Felsen auf und legte das Gewehr an. Der Schuß krachte, der Scout wurde gegen die Felswand geschleudert und starb, während er im Sand zusammensackte. Sein freigewordenes Pferd floh donnernd im Canyon nach Westen davon. Dem Krachen des Schusses folgten rollende Echos, die dem Pferd weiter und weiter nachhallten. Dann herrschte drückendes Schweigen. Jetzt sahen Watashe und Tana auch Boto. Er kletterte auf einen riesigen Felsblock an der Canyonkante. Als er die Spitze erreichte, konnten ihn die Soldaten sehen. Einen Augenblick stand er reglos und hob sich gegen den roten Ball der sinkenden Sonne ab. Sein Haar wurde vom Wind gepeitscht. Langsam hob er mit der Hand das Gewehr hoch über seinen Kopf. Während er so, daß es alle sehen konnten, das Gewehr schwenkte, kam tief aus seiner Kehle ein Ton, der wie aus weiter Ferne anschwoll und sich zu einem schrillen Kreischen steigerte: »Eeeeeeeeeeeiiiiiiiiaaaaaaaah!« Der Kriegsschrei der Apachen! Der Schrei hallte und entfachte ein wildes Echo zwischen den Felswänden. Die blaue Kolonne der Soldaten geriet, wie sich kräuselndes Wasser, in Bewegung. Boto senkte das Gewehr und wandte sein Gesicht himmelwärts, wie ein trauernder Wolf. »Haaaaaaaaaaooooooooooh!« Der Todesschrei. Die Apachenscouts würden ihn erkennen und es dem Häuptling der Blauröcke sagen. Um weiterreiten zu können, mußten sie den Apachen töten. Es gab keine andere Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen. Er würde kämpfen und sterben. Watashe erschauerte bei dem Schrei und sah Tanas Körper auf dem Boden beben. Die Soldaten stiegen ab und stellten sich mit Gewehren an die Felswand. Befehle wurden gerufen und tönten canyonaufwärts zu ihnen. Eine Gruppe Soldaten und Indianerscouts bestieg Pferde und jagte donnernd zurück nach Osten,; sie suchten nach einer Stelle, wo sie die Wand erklettern konnten. Watashe sah Boto von dem Felsblock herabgleiten, aber er verließ das Felsband nicht. Immerhin wechselte er den Standort und kam den Soldaten etwas näher. Er erhob sich über die Felsen; er 30
zielte mit dem Gewehr, schoß auf die Soldaten und jagte sie flüchtend weiter den Canyon zurück. Die widerhallenden Echos waren noch nicht erstorben, als er wieder feuerte und dann wieder. Tana wandte sich Watashe zu. »Boto handelt gut. Er hat den Frauen und Kindern, die Geronimo folgen, viele Schritte Vorsprung gegeben.« »Ja«, sagte Watashe, »ich kann sie laufen hören. Sie laufen in weiter Ferne. Boto schenkt ihnen viele Schritte dazu. Die Soldaten müssen warten.« Die Sonne schlüpfte hinter die Gebirgsklippen, setzte den Himmel in Flammen und drückte Schatten zwischen die Felsen. Langsam erlosch das Brennen des Himmels und ließ die Helligkeit schwinden. Der erste Stern wurde sichtbar und funkelte wachsam gegen Osten. Tana packte Watashes Hand. »Schau«, flüsterte er, »sie kommen.« Watashe strengte sich an, um die dunkler werdenden Felsen jenseits des Canyons zu beobachten. Dann sah sie zuerst eine Gestalt sich flüchtig abheben, ehe sie mit einem Felsblock verschmolz, dann eine zweite und noch eine. Sie rückten gegen Botos Versteck auf dem Felsband vor. Sie hatten einen Bogen geschlagen und kamen den Berghang herunter. Plötzlich krachte ein Gewehr, dann noch eines. Eine Gewehrsalve wurde abgegeben. Tana kicherte. »Sie suchen nach Boto, aber er wird ihnen nicht antworten und verraten, wo er liegt. Sie müssen näher heran und für die Entdeckung bezahlen.« Während Tana noch sprach, sprang ein Papagoscout auf einen Felsblock hinauf und schoß auf das Felsband hinunter. Sofort antwortete ihm Botos Gewehr. Der Scout brach zusammen, sein Gewehr polterte laut in der Stille, und er rollte von dem Felsen herunter. Ehe sein Körper liegen blieb, entfesselten die Gewehre ein betäubendes Krachen und schossen immer wieder dorthin, wo Botos Schuß aufgeblitzt war. Watashe und Tana sahen die Gestalt von dem Felsen am Band aufstehen. Es war Boto. Er taumelte, stolperte und fiel, gerade als die 31
Gewehrsalve wieder ertönte. Von der Stelle, wo er gefallen war, antwortete sein Gewehr. Wieder stand er auf. Diesmal schoß er, bevor ihn die Gewehrschüsse trafen und ihn im Fallen herumrissen. Jetzt trat Stille ein. Vorsichtig bewegten sich die Gestalten und bückten sich hinter Felsblöcke, während sie Boto näherkamen. Dann standen sie mutig über ihm. Von dort, wo Boto lag, krachte sein Gewehr, direkt auf eine der über ihm stehenden Gestalten gezielt. Einer von ihnen stürzte und glitt zwischen die Felsen. Diesmal schossen die Soldaten lang und andauernd ihre Gewehre auf die Stelle hin ab, wo er lag. Nach einer Weile huschten sie zurück in die Schatten und machten sich längs der Felsleiste nach Osten hin davon. »Boto ist gegangen«, flüsterte Watashe. »Ja.« Tana hob sein Gewehr, legte es zwischen die zwei Felsblöcke und zielte auf die Soldaten. Die letzte Dämmerung schwand und zog sich nach Westen zurück. Eine Woge von Sternen rollte aus dem Osten heran und warf silbernen Lichtschein über den Canyon. Der Sandboden unterhalb von Tana und Watashe schimmerte weiß. In weiter Ferne kläffte schrill und eintönig ein Kojote. Es widerhallte dumpf in den Bergen. Dann trat Stille ein. Tana zog Patronen aus dem Munitionsgürtel und legte sie neben seine Hand. Er sagte: »Sie kommen.« Aus dem Canyon gebar die Unruhe der Luft ein Flüstern, eine Unruhe, wie sie viele Körper in Bewegung hervorrufen; ein Ächzen von Leder – das gedämpfte Tappen von Pferdehufen im Sand. Diesmal hatten sich die Scouts verteilt, ritten dichter an der Canyonwand und hielten sich in den Schatten. Tana suchte sich jenseits des weißen Sandbodens den Anführer der Scouts aus. Er schoß. Mit dem Krachen des Gewehres stürzte der Scout hintenüber. Hastig arbeitete Tana am Schloß und schob eine neue Patrone ein. Die Scouts hatten die Pferde gewendet. Tana schoß, ein Pferd stürzte aufwiehernd zusammen. Wieder wurden Befehle gerufen.
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Tana begann, stetig auf die Soldaten zu schießen, und erfüllte den Canyon mit Echos auf Echos, bis es den Anschein hatte, als schösse mindestens ein Dutzend Gewehre. Das Lärmen von Pferden und Menschen entfernte sich. Wieder trat Schweigen ein. Tana setzte sich und lauschte nach Anzeichen von Leben. Es gab keine. Das Sternenlicht vertiefte die Runzeln in seinem Gesicht. Seine Augen glitzerten unter dem Stirnband. »Boto hat uns eine gute Nachtdeckung gegeben. Jetzt werden wir sie nützen.« Watashe nickte. Sie wußte, daß Tana ein großer Krieger war. Sein alter und ausgemergelter Körper trug an vielen Stellen Narben. Soldatengewehre hatten ein Bein verkrüppelt. Er war als Krieger bei Nana und bei Victorio gewesen. Er hatte gegen den Sterne-Häuptling Carleton und Grauwolf Crook von den Blauröcken gekämpft; gegen die Soldatenhäuptlinge von Mexiko, Terrazas und Trevino. Er würde die Finsternis nützen. Er stand auf und zog Watashe neben sich hoch. »Schau«, sagte er, öffnete das Gewehrschloß und schob eine Patrone ein. Er spannte das Schloß. Er ließ den Abzug langsam zurückgleiten und reichte ihr das Gewehr. »Jetzt mußt du folgendes tun. Nimm die Patrone heraus und schieb sie ins Gewehr zurück.« Watashe fingerte an dem Gewehr herum. Es gelang ihr, das zu tun, was er ihr eingeschärft hatte. Er nahm ihr das Gewehr ab und schlang sich den Munitionsgurt über die Schulter. »Ich will ihnen auf der Felsleiste entgegengehen. Du wirst mich schießen hören. Dann« – er deutete zum Berghang hinauf, der sich oberhalb von ihnen auftürmte – »renne ich da hinauf. Ich will vom Berghang auf sie schießen. Während sie dann den Hang unter Beschuß nehmen, komme ich zurück, hierher. Ich lasse dir das Gewehr zurück und steig' wieder den Berghang hinauf. Dann laß' ich mich von ihnen sehen … dort droben … aber es wird schon eine Weile dauern, ehe sie mich finden können. Damit« – er wandte sein Gesicht nachdenklich zu den Sternen empor – »werden wir sie zwingen, mehr Zeit zu vergeuden.« Watashe nickte. Er umarmte sie kurz, und sie legte den Kopf an seine Brust; ihr langes Haar schimmer33
te silbern im Mondschein. Dann ließ er sie los und ging hinkend zwischen den Felsblöcken davon. Watashe setzte sich und glättete das sich bauschende Kattunkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Sie hatte ihn immer geliebt, rückhaltlos, und fand sogar die kleinen Dinge liebenswert, die Schwächen und die Fehler. Sie waren eins geworden und über eine lange Zeit hinweg zusammengewachsen, und nun sollten sie gemeinsam diese kurze Zeitspanne miteinander teilen: Sie und Tana gaben den Frauen und Kindern weitere Schritte Vorsprung. Sie würde sich in den Felsen schnell bewegen müssen, sobald sie das Gewehr besaß. Sie stand auf, streifte das Kattunkleid über den Kopf und warf es zu Boden. Abgesehen von den Mokassins war sie nackt. Weit entfernt krachte auf der Felsleiste ein Schuß. Es war Tana. Dann wieder. Nun antwortete ein Stakkato von Gewehrfeuer. Wieder schoß das einzelne Gewehr. Diesmal näher. Als die Gewehre der Soldaten antworteten, konnte sie die Mündungsfeuer sehen. Tana stieg oberhalb von ihr den Berghang hinauf. Langes Schweigen. Ein Kojote kläffte, ihm antwortete ein anderer und wieder einer. Watashe dachte, diese dummen Papagos… Tana weiß, daß es keine Kojoten sind. Warum rufen sie nicht gleich einander zu? Sie kläffen, damit jeder weiß, wo der andere ist. Dann werden sie nicht aufeinander schießen. Wissend nickte sie im Mondlicht. Ein Kläffen würde von Tana stammen. Er würde auf ihr Spiel eingehen, und sie würden verwirrt werden und nicht auf ihn schießen. Ein Stein fiel klappernd über die Felsen. Es war in ihrer Nähe, und sie preßte sich dicht an den Felsblock. Vor ihr fiel ein Schatten über den Boden. Er wurde größer. Der Schattenwerfer kroch direkt über ihr den Fels hinauf. Weit hangaufwärts blitzte das Mündungsfeuer eines einzelnen Schusses. Der Schatten erhob sich und wurde steif. Watashe schaute hinauf, als der Papago kreischte, das Gleichgewicht verlor und geradewegs über die Canyonkante stürzte. 34
Tana hat mich bewacht, dachte Watashe, aber jetzt werden sie wissen, wo er steckt. Längs des Hanges krachten Gewehre, und ihre winzigen Mündungsblitze sprühten durch die Finsternis. Sie rückten gegen Tanas Versteck vor. Sie gab sich Mühe, zu lauschen, als die Gewehre schwiegen, aber sie konnte ihn nicht hören. Er schlüpfte durch die Felsen und stand vor ihr, streifte den Patronengurt von der Schulter und legte das Gewehr auf den Boden. Sie sagten nichts, als sich ihre Blicke trafen, und dann war er fort. Er lief gebückt und geduckt und zerrte schwer das verkrüppelte Bein nach, und als Watashe das Gewehr nahm, war es feucht von Blut. Jetzt würde er sich sehen lassen. Sie beobachtete den Berghang, der von den Schatten der Felsblöcke gesprenkelt war. Irgendwo krachte ein schwerer Stein auf, und Gewehre eröffneten eine Salve dorthin. Tana hatte den Stein geworfen. Dann sah sie ihn, weit von der Stelle entfernt, wo der Stein gefallen war. Er hatte sich klar sichtbar erhoben und stand im Hellen auf dem Felsblock. Plötzlich brach er zusammen; er schnellte seinen Körper von dem Felsen herunter, als die Gewehre auf ihn schossen. Sie haben ihn nicht erschossen, dachte Watashe. Er ist listiger als ein Kojote. Als die Gewehre diesmal geschossen hatten, waren sie in einem Halbkreis dicht beisammen und rückten noch vor. Als das letzte Krachen erstarb, begann das Kojotengekläffe von neuem. Sie stiegen hangaufwärts. Dann: »Haaaaaaaaaaaaaaaoooooooooooo!« Der klagende lange Schrei tönte gespenstisch durch die Stille. Es war Tana, und es war sein Todesschrei. Diesmal hörten die Gewehre nicht zu feuern auf, während die Mündungsblitze enger zusammenrückten und schließlich einen Kreis bildeten. Lange dröhnten und krachten die Schüsse und warfen Echos. Schweigen trat ein. Dann Schreie. Tana war gegangen. Watashe zog Patronen aus dem Gurt und steckte sie sich in den Mund. Der Patronengurt war schwer; sie würde nicht viele Kugeln 35
brauchen. Wartend kauerte sie sich nieder. Jetzt konnte sie sie hören, wie sie den Hang herunterkamen. Sie sprachen miteinander. Steine rollten und klapperten, als sie sich der Felsleiste näherten und direkt auf den kleinen Standplatz zukamen, wo sie kauerte. Nun konnte sie sie auch sehen: eine dunkle Gruppe von Männern. Sie trugen Hüte, die ihre Gesichter gegen das Licht der Sterne abschirmten. Mutig und zuversichtlich plauderten sie laut. Einer von ihnen lachte. Irgend etwas schleifte über den Boden und lockerte Steine; sie schleiften Tanas Leiche. Aus dem Schatten ihres Felsblocks sah Watashe sie nun deutlich, als sie auf die Felsleiste kamen. Zwei von ihnen hielten Tanas Füße und rollten ihn auf den Rücken, und der leblose Kopf hüpfte und sprang über die Steine. Dann standen sie in voller Sicht auf dem Felsband. Der größte von ihnen trat an die Kante, schaute den Canyon hinauf und wedelte im Sternenlicht mit den Armen – ein Zeichen für die Blauröcke, daß alles klar sei. Während er die Arme schwang, schrie er ihnen das Signal zu: »Hey-ooooooh!« Watashe hob das Gewehr bis zum Knie und visierte zwischen die Schulterblätter des rufenden Mannes. Sie schoß. Die Detonation des Gewehres dröhnte in ihren Ohren und machte sie taub, aber sie hörte, wie aus dem Rufen des Mannes sofort ein Schrei wurde. Er stürzte kopfüber in den Canyon hinein. Das wird den Blauröcken Bescheid geben, dachte Watashe. Der Canyon war nicht frei; sie konnten nicht passieren. Mit dem Krachen des Schusses löste sich die dunkle Gruppe von Männern unverzüglich auf und verschmolz mit den tieferen Schatten der Felsen. Sie ließen Tanas Leiche auf der Kante liegen. Watashe konnte sein den Sternen zugewandtes Gesicht sehen. Es herrschte tiefe Stille. Sie lud das Gewehr nach; sie schob die Patrone ein und achtete darauf, das Klicken des Schlosses zu dämpfen. Sie fühlte eine unendliche Ruhe. Ihre Hände waren sicher und gewandt. Hier auf der Felsleiste war die Luft ruhig, aber tief unter ihr im Canyon konnte sie Wind hören. Zuerst war sie beunruhigt, denn der Wind murmelte und rauschte, und sie dachte, es könnten Soldaten sein, die versuchten vorbeizukommen, aber es war nicht das 36
Geräusch von Pferden oder Männern, die im Sand laufen. Dann erkannte sie es. Es war ein Windhauch, der ihr das Geräusch der laufenden Frauen und Kinder zutrug. Sie liefen immer noch und folgten Geronimo. Sie lächelte verstohlen in der Finsternis der Felsen, und ein starkes Gefühl der Beruhigung überkam sie. Zu ihrer Rechten hörte sie leise einen Stein rollen, und mit dem angeborenen Instinkt eines Apachenkriegers zog sie sich eilig und lautlos zurück, um der Umzingelung zu entgehen; aber sie wollte die Felsleiste nicht verlassen. Sie konnte diese Leiste nicht aufgeben. Sie hielt inne, lauschte und verließ sich auf ihr Gehör. Etwas streifte leicht einen Felsen. Das Geräusch stammte von ihr selbst. Sie hob sich halb im Schatten eines riesigen Felsens und bog den Körper in einer unnatürlichen, grotesken Stellung nach vorn. In der täuschenden Mischung von Licht und Schatten suchten ihre Blicke nach den ebenmäßigen Umrissen eines menschlichen Körpers; anders als die grotesken Umrisse eines Felsvorsprunges. Sie wartete. Weit entfernt, im Canyon, schrie ein Blauröcke-Offizier. Sie konnte seine Worte nicht verstehen – Worte, die dumpfe und zornige Echos erzeugten. Watashe lächelte wieder. Der weißäugige Häuptling wurde ungeduldig. Als Antwort auf den Schrei wölbte sich rasch ein Schatten auf der Spitze eines Felsblocks; jemand war eifrig bemüht, dem Offizier zu gehorchen. Der Schatten wuchs und bewegte sich, der Scout kroch langsam vorwärts. Watashe legte die Wange gegen den Gewehrschaft und wartete geduldig, bis sich das verschwimmende Visier auf die Gestalt einrichtete. Das Visier schwankte und wackelte hin und her. Dann aber, im Zentrum des Schattens, zog sie den Hahn ab. Ein Flammenstoß griff nach dem Scout, keine zehn Meter von ihr entfernt, und mit dem dröhnenden Echo des Schusses erhob sich die Gestalt ein wenig, aber deutlich im Sternenlicht. Der Kopf schlug gegen den Felsen und ließ einen Hut wirbelnd über die Felsleiste und in den Canyon hineinfliegen. Die Gestalt zuckte zusammen, krümmte sich, röchelte und rollte von dem Felsen herunter. Der Körper des Scouts, der lockeres 37
Geröll vom Felshang löste, glitt geräuschvoll über die Leiste hinweg und verschwand außer Sicht über den Rand hinweg. Watashe lauschte, aber sie konnte den Aufschlag des Körpers auf dem Canyongrund nicht hören. Eine kleine Geröllawine klapperte dumpf und folgte dem Körper in den Canyon hinab. Sie wußte, daß sie die Männer beim Standortwechsel überrascht hatte. Hätten sie den Mündungsblitz gesehen, dann hätten sie geschossen. Aber sie wußten, daß ihre Einkreisung mißlungen war. Jetzt würden sie den Kreis erweitern und von hinten herankommen. Vorsichtig öffnete sie das Schloß und schob eine neue Patrone ein. Sie wußte, daß Tana neben ihr kauerte und sie beobachtete. Sie konnte seinen Körper sehen, fünfzig Meter vor ihr auf dem Felsband. »Schau, Tana… Boto…«, flüsterte sie sich zu. »Auch ich helfe. Alle diese großen Blauröcke können sich noch nicht bewegen…« Die Stille drückte so schwer, daß ihr eigenes Geflüster sie erschreckte. Schwach, weit entfernt im Canyon, so leise, daß es nur eine Erinnerung zu sein schien, konnte sie das leichte Rascheln des Windes hören, der ihr das Tappen von Schritten zutrug; Schritten der Frauen und Kinder, die hinter Geronimo liefen. Feinen Augenblick lauschte sie verträumt diesem Geräusch. Das Tappen erzeugte einen Rhythmus; der Wind trug eine Melodie. Es war ein Lied. Das Lied war schön und zuversichtlich. Ganz still schlich sich ein Gedanke in ihre Sinne: Diesmal werde ich keine Angst haben, wenn ich in den geistigen Körper hineingeboren werde, wie damals, als ich in den irdischen Körper hineingeboren wurde. Damals hab' ich mich gewehrt – dachte, hier geboren zu werden, hieße Tod. Aber so war es gar nicht; nur ein Besuch! Ich werde keine Angst haben. Sie schüttelte den Kopf, daß ihr das lange weiße Haar um die Schulter wehte. Sie mußte hier weg, aber wohin? Langsam, mühsam auf dem Geröll begann sie, zu Tana hinzukriechen. Vorsichtig nahm sie das Gewehr, legte es vor sich hin, arbeitete sich geräuschlos heran. Dicht zu ihrer Rechten, sehr nahe in den Felsen, entstand ein scheuerndes Geräusch. Es war ein Mokassin, der über Fels glitt. Sie hielt inne und wandte den Kopf dem Felsen zu, doch zu spät. Der Mann 38
stand über ihr und hatte das Gewehr schon angelegt. Er zog ab, und der Mündungsblitz strahlte zu ihr hinab. Sie fühlte den Aufschlag, aber sie empfand keinen Schmerz. Der Aufschlag riß sie taumelnd quer über die Felsleiste, und sie verlor das Gewehr. Außer sich vor Angst, krallte sie sich in das lockere Geröll, zuerst ihr Gewehr suchend und dann, als sie den Rand der Canyonkante gefährlich nahe herangleiten sah, um sich vor einem Fall in den Canyon zu bewahren. Der Mann sprang auf sie zu. Im Sternenlicht blitzte ein langes Messer. Als sie aufblickte, konnte sie, in ihrem Rücken, den Mann deutlich durch die Luft springen sehen. Sein Gesicht wurde von einem Hut beschattet, aber sie konnte die Zähne sehen, entblößt, weil er bei der Anstrengung die Lippen zurückgebogen hatte. Er stürzte sich mit gespreizten Armen und Beinen auf sie und stieß mit dem Messer zu. Sie spürte den Stich nicht, nur ein schwaches Tippen, als ob jemand sie mit einem Stock gepickt habe. Mit gespreizten Beinen stand er über ihr. Jetzt sah sie den Messergriff, der aus ihrer Brust ragte. Instinktiv riß sie den Fuß hoch, zwischen seine Beine. Ihr Kopf lag dicht an der Kante der Felsleiste. Mit einem fast mühelosen Stoß stemmte sie den Mann mit dem Fuß empor und nutzte dabei seinen eigenen Schwung aus, als er sich aufzurichten versuchte. Da sie mehr Kraft brauchte, stieß sie sich absichtlich zurück, so daß ihr Körper in die freie Luft über dem Canyon hinausschnellte. Der Scout keuchte vor Überraschung und brüllte auf, als er zusammen mit Watashe über die Kante des Canyons hinauswirbelte und durch die Luft hinabstürzte. Und das Geräusch hallte ihr beim Fall in die Ohren – das Geräusch der rennenden Frauen; deutlich konnte sie das Tappen kleiner Füße, der Kinder, hören. Sie lächelte, als sie im Windzug fiel. Major Morrow blickte von seinem Pferd aus zu Boden. Zwei zerschmetterte Gestalten lagen dicht nebeneinander auf dem Grund des Canyons. Die eine war sein Scout. Die andere eine kleine blutüberströmte ausgemergelte alte Frau. Ihr Haar breitete sich silberig 39
über dem Sand aus und paßte gar nicht zu dieser Szene aus Blut und Tod. Morrow seufzte. »Nach all den vielen Jahren sollten sie mich eigentlich nicht mehr überraschen können!« Neben ihm stimmte Captain Beyer zu: »Widerlich! Nackt wie ein Tier, bei Gott!« Morrow wies auf die dunkle Gruppe von Reitern hinter sich. »Rollt die Leichen lieber beiseite. Die Pferde werden vor dem Blut scheuen!« Eine schlanke Gestalt bewegte sich. »Ich nehme mich der Sache an, Major.« Der Mann war in Hirschleder gekleidet. Ein schmutziger Cowboyhut beschattete sein Gesicht. Während Morrow und Beyer zusahen, breitete er mit einer linkischen Geste eine Decke über Watashes Leiche. Dann kniete er neben ihr nieder und schob die Decke akkurat unter sie, ehe er sie in seinen Armen hochhob. Wortlos ging er an Morrow und Beyer vorbei, schritt den Canyon hinab und trug die winzige Leiche mit einer zarten Besorgtheit. Captain Beyer spuckte aus. »Ein toller Mann als Führer der Scouts, Major. Tom Horn ist mehr Apache als diese gottverdammten Apachen!« Morrow knurrte. »Zu diesem Schluß bin ich schon vor langer Zeit gekommen, Captain.« Die Geschichte wurde nach Fort Thomas und San Carlos berichtet. Alle Apachen kannten sie: wie den Frauen und Kindern zusätzliche Schritte Vorsprung gegeben wurden. Sie gaben ihnen keine Namen. Apachen geben toten Körpern keine Namen, denn diese Körper sind nicht mehr mit dem Geist identisch, der in ihnen war. Aber sie erinnern sich daran, daß es drei Krieger waren, die kämpften. Sie haben Watashe nicht vergessen. Der Ort heißt Canyon der Drei.
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ie drei hatten den Frauen und Kindern mehr zusätzliche Schritte Vorsprung gegeben, als zuerst zu erkennen war. Innerhalb von vier Stunden hatte Major Morrow zehn Scouts verloren. Da er seine Scouts für die abschließende Suche und den Kampf brauchte, wollte er keinen mehr verlieren. Und so ließ er seine Soldaten absteigen und sie und ihre Pferde an den Felswänden des Canyons rasten. Ohne Feuer zu machen, mit Wachen auf den Rändern des Canyons, wartete er auf das Tageslicht. In der Morgendämmerung setzte er den Marsch fort und ließ diesmal die Scouts auf den Felsbändern des Canyonrandes, weit vor seiner Kolonne, zu Fuß gehen. Es würde keinen Hinterhalt mehr geben, aber das Tempo war langsamer. Daher wurde es Mittag, bis seine Scouts Bericht erstatteten. Weiter voraus hatten die Spuren den nach Westen führenden Canyon verlassen und sich nach Süden gewendet. Sie waren den Spuren eine Stunde gefolgt, ehe sie zum Rapport zurückkehrten. Es konnte keinen Zweifel geben – Geronimo eilte nach Süden und führte seine Schar mitten durch die Dragoon-Berge. Ihr einzig mögliches Ziel konnte nur die Sierra Madre sein. Morrow ließ seine Kolonne wenden und legte ein scharfes Tempo zum Ausgang des Canyons vor. Von dort aus würden sie auf dem ebenen Talboden schnell reiten können, die Dragoon-Berge dicht daneben und mit guten Chancen, Geronimo an der Südspitze der Dragoons abzufangen. Vielleicht sogar, ihn hilflos auf der Wüstenstrecke zwischen den Dragoons und dem nördlichen Ende der Sierra Madre zu stellen. Major Morrow war ein Veteran aus den Kämpfen mit den Indianern. Er wußte, daß Apachenkrieger zu Fuß an einem Tag bis zu hundert Meilen schaffen konnten; jedoch mit Frauen, Babys und Kindern durch gebirgiges Gelände zu laufen – das war etwas anderes. 41
Am späten Nachmittag ritten sie aus dem Canyon in die Ebene. Morrow befahl, die verschwitzten Pferde mit Säcken abzureiben und ihnen Ruhe zu gönnen. Eine halbe Stunde lang pflegten die Soldaten ihre Pferde und schnürten Gepäck auf die Packtiere, das Rationen für drei Wochen enthielt; sie bereiteten ein schnelleres Tempo vor. Morrow befehligte Teile der neunten und zehnten Kavallerie, zu denen auch die Captains Beyer und Dawson gehörten, beides Veteranen. Außerdem hatte er Fort Thomas mit nahezu vierzig Indianerscouts verlassen, Papagos, Pimas und Apachenpolizisten aus der Reservation. Es war eine große und erfahrene Streitmacht. Als die Männer dann nur noch herumstanden, nachdem sie ihre Aufgaben erledigt hatten, gab er Befehl zum Aufsitzen. Mit Scouts an den Flanken marschierte er nach Süden und behielt so die Dragoons zu seiner Rechten. Das Tempo, das er vorgab, war ein schneller Galopp, der Staub aufwirbelte. Viermal schneller, als es ein Apache zu Fuß durchhalten konnte; selbst ein Krieger. Eine Stunde später überquerten sie die Postkutschenstraße der Butterfield-Linie, die sich nach Westen durch die Dragoons nach Tucson hinzog. Hier machte er eine kurze Pause und schickte einen Boten nach Osten, längs der Route durch Sulphur Springs und weiter bis zum Apache Pass und zu Fort Bowie, um General Crook über Geronimo und seine eigenen Manöver in Kenntnis zu setzen. Als der Sonnenuntergang rote Flammen über den zerklüfteten Gipfeln der Dragoons entzündete, befand sich Morrows Einheit weit südlich der Postkutschenlinie. Er ließ das Kommando neben einem brackigen Tümpel auf der Salzebene halten und befahl eine begrenzte Rast, damit man essen und sich um die Pferde kümmern konnte. Nachdem die Soldaten abgesattelt und ihre Pferde gefüttert hatten, setzten sie sich auf den Boden. Ab und zu standen sie wieder auf, um sich die Beine zu vertreten, während sie ihre kalten Rationen verzehrten. Morrow stieg ab, händigte die Zügel einer Ordonnanz aus und entfernte sich mit dem ihm eigentümlichen schleppenden Hinken vom Camp. Niemals hatte er irgend jemandem etwas von 42
seiner Liebe für die Naturschauspiele der Sonnenauf- und -Untergänge verraten. Seine Männer lagerten in dem purpurnen Dämmerungsschatten der Dragoons, und weit im Osten konnte er über das Tal hinweg die Chiricahua-Gipfel sehen, die dort, wo die Sonne sie noch beschien, wie Fackeln flammten. Vom Hinken abgesehen, war Morrows Auftreten von West Point geprägt. Die Armee war jetzt und schon immer sein Leben. Sein Haar war weiß unter der Krempe des Kavalleriehutes; er näherte sich dem Ende seiner Karriere. Jetzt neigte er zu langen Perioden schweigsamer Rückblicke, wie vielleicht jeder denkende Mann, wenn er das Ende einer Karriere … oder eines Lebens erreicht. Er hatte sich die zerschmetterte Hüfte und das Hinken in der ersten Schlacht bei Bull Run eingehandelt. Sein erster Tag in der ersten Schlacht des Krieges hatte ihm, Leutnant unter McDowells Kommando, alle ruhmreichen Kriegserwartungen erfüllt. Sie hatten die Flanke der Rebellen aufgerollt, ausgenommen hartnäckige Widerständler auf einem kleinen Hügel, die ein Rebellenführer namens Jackson befehligte, und waren vor Sonnenuntergang dieses ersten Tages siegessicher. Am nächsten Morgen hatten sie fest damit gerechnet, den Hügel zu überrennen, aber Jackson hielt ihn, hartnäckig und fanatisch. Dann rollte ein Dröhnen, zuerst weit entfernt, aber dann an Umfang und Intensität zunehmend, auf sie zu. Es war das Krachen von Gewehren, gemischt mit dem bodenerschütternden Trampeln Tausender laufender Männer. Das Trampeln der Füße kam näher, und Männer brüllten und kreischten wild. Plötzlich brach der Lärm über sie herein … es waren ihre eigenen Männer, die auf sie zurannten. Sie hatten die Gewehre weggeworfen und ergossen sich kopflos in seine Abteilungen. Hinter ihnen brachen graue Reiter aus dem Wald und schwangen Säbel; sie ritten mit tollkühner Verwegenheit und stießen so schauerliche Schreie aus, daß Morrow zum ersten Mal Angst verspürt hatte. Er hatte fasziniert, entsetzt und ungläubig zugesehen, als die grauen Reiter unter Führung von Jeb Stuart, eines rotbärtigen Riesen, heranpreschten. 43
In diesem Moment hatte eine Gewehrkugel seine Hüfte getroffen und ihn aus dem Sattel geworfen. Mit letzter Kraft hatte er sich an einem Steigbügel gehalten, während das Pferd mit der Menge raste und ihn mitschleifte. Als sich das Tier im Buschwerk verfangen hatte, hatte er sich mit übermenschlicher Anstrengung in den Sattel gestemmt, und das Pferd hatte sich den wild flüchtenden Männern angeschlossen. Undeutlich nur erinnerte er sich an die wilde Hysterie der Flucht; Wagen mit Maultieren, die sich im Geschirr verfangen hatten – Pferde, die stürzten – Männer, die andere Männer niedertrampelten, während sie wie ein Sturm über die verzierten Kutschen der Ladys mit hübschen Kleidern und der Männer in hohen Hüten hergefallen waren, die von Washington angereist waren, um den ›Sieg‹ zu beobachten. Es war ein Alptraum. Während der langen Monate in Hospitalbetten hatte er sich entehrt gefühlt. Das Gefühl der Angst fiel niemals mehr von ihm ab. Als er aus dem Hospital entlassen wurde, fragte er – und bat dann, ob er an die Südfront zurückkehren dürfe. Aber alle seine Anträge wurden zurückgewiesen. Er wurde in den Westen geschickt. Zuerst nach Fort Ridgely, wo die Flut der Weißen Minnesota überrannt hatte und die Santee-Sioux. Er hatte an Gefechten mit den Santee-Sioux und den Little Crow teilgenommen. Aber halbverhungerte Indianer mit Bogen und Pfeilen, die davonrannten, um ihre Frauen und Kinder zu beschützen, waren keine Jeb Stuarts. Er konnte den quälenden Zweifel nicht loswerden. Bei Kriegsende befand er sich in Denver und beteiligte sich an Operationen gegen die Arapaho und die Cheyenne. Am 4. Juli 1865 stand er an einer Straßenecke und beobachtete eine Siegesparade, in der mitzureiten er abgelehnt hatte. Colonel Chivingtons Truppen ritten hinter einer Militärkapelle, während Tausende die Straßen säumten und jubelten. Neben ihm hatte ein alter in Hirschleder und Mokassins gekleideter bärtiger Mann gestanden, der nach Whisky und Schmutz stank. Als die Musik vorbeidefiliert war, trank der Alte aus einer Flasche 44
und murmelte etwas, zuerst unverständlich, dann laut rufend, und fing an, auf die vorbeireitenden Soldaten und ihre Pferde zu deuten. »Schaut hin!« schrie er. »Seht euch die Frauenskalps an!« Er legte die Hände um den Mund und brüllte den Soldaten zu: »Frauenmörder! Babymörder!« Um ihn herum begann die Menge zu grollen, aber der alte Mann bemerkte es nicht oder er kümmerte sich nicht darum. Er stolperte ein Stück in die Straße hinaus und deutete auf einen Soldaten. »Schaut euch den Hut an! Er hat die Scham von Frauen getrocknet und sie sich an den Hut gebunden! Schaut doch alle ihre Hüte an! Zwischen den Schenkeln von Frauen rausgeschnitten, bei Gott! Schaut sie alle an! Alle!« Ein Soldat war wütend von seinem Pferd abgesprungen und hatte den alten Mann zu Boden geschlagen. Ehe die Menge sich um ihn schließen konnte, hatte sich der Alte mit einem triumphierenden Schrei des Hohns aufgerichtet. Und der Soldat lag am Boden; ein Messer ragte aus seiner Brust. Morrow war für die Staatsanwaltschaft bei der Gerichtsverhandlung gegen Daniel, es war der einzige Name, den der alte Mann dem Gericht angeben wollte, als Zeuge aufgetreten. Eine Verteidigung gab es nicht. Kein Verteidiger wollte Daniels Fall übernehmen. Als der Richter die Verteidigung aufgerufen hatte, ihre Ansicht darzulegen, war der Alte allein an dem Tisch in jener abgeteilten Sektion aufgestanden, die für den Gefangenen vorgesehen war, und hatte gesagt: »Richter, ich hab' keine Verteidigung. War zu besoffen, um mich an das Niederstechen dieses … Soldaten … zu erinnern.« Er hatte eine Pause eingelegt und sich kühl in dem randvollen stillen Gerichtssaal umgesehen, ehe er lachte. »Bedauere als einziges nur, Richter, daß ich mich nicht mehr an diese Genugtuung erinnern kann, aber bin stolz wie die Hölle, daß der Hurensohn tot ist.« Die Menge hatte tierisch laut aufgebrüllt und gedroht, und es dauerte lange, bis der Richter die Ruhe im Saal wiederherstellen konnte. Die Jury verließ ihre Geschworenenbank überhaupt nicht. Nach einem kurzen beratenden Flüstern erhob sich ihr Sprecher und verkündete den Schuldspruch und die Strafempfehlung: Tod durch Erhängen. 45
Daniel stand auf Befehl des Richters auf und ging mit einer überraschenden Anmut nach vorn, bis er vor dem Richter stand. »Haben Sie etwas zu sagen, ehe ich das Urteil verkünde?« »Nun, ja, Richter.« Daniel grinste, drehte sich um und überblickte den Gerichtssaal. Sein Blick fiel eine Sekunde lang auf Morrows Augen, und Morrow hatte den Schock des klaren Blaus gefühlt – und irgendwo hinter diesen Augen ein Blinzeln grimmigen, sardonischen Humors. Morrow war sich wie ein Kind beim Blick in diese Augen vorgekommen, ehe Daniel sie abwandte, über den Gerichtssaal hinweg, in dem alle verstummt waren und wie gebannt darauf warteten, Worte eines Todgeweihten zu hören. »Nun«, seine Stimme klang weich, fast musikalisch, »schätze, ich kann auch etwas abschweifen, weil's ja um meinen Hals geht.« Er machte eine Pause und atmete tief ein. »Zuerst mal, vorm Sterben hab' ich keine Angst nicht; wird ohnehin Zeit für mich abzukratzen. Bin zwar alt, hab' aber so manches gesehn, und ich weiß sicher, es gibt mal 'ne Abrechnung … es gibt immer 'ne Abrechnung. Dauert 'ne Weile – aber es gibt sie. Zur Hölle« – er deutete mit seinem hirschlederbekleideten Arm über die Menge hin – »wir sind hier doch alle Verbrecher. Ich, nun, ich bin nicht der einzige, aber ich steh' zu meinem Anteil. Als ich in den Westen kam, gab's überall Biber. Der Biber ist weg. Der Büffel ist weg. Ich hab' mitgeholfen, beide auszurotten. Die Indianer gehn dahin. Was von denen noch übrig ist, wird wie Maden in so 'ner Reservation leben.« Der Klang seiner Stimme veränderte sich, und es wurde fast ein Flüstern daraus. »Hab' eine Arapaho-Frau und ein Junges am Sand Creek gehabt. Da am Sand Creek, da hat's kaum Krieger gegeben – fast nur Frauen und Kinder, die diese Soldaten abgeschlachtet haben.« Ein tiefes Grollen rollte durch die Menge, und Daniel grinste breit. Fältchen in den Augenwinkeln verrieten seinen grimmigen Humor. »Jawohl, ist die Wahrheit, und ihr wißt's auch. Die Antilope verschwindet – die Bäume – sogar die Luft, bei Gott! Ich hab' ein Maultier bepackt, dreihundert Pfund auf so'n Langohr, und bin in die Minencamps gezogen, wo's Tag und Nacht um nichts anderes geht 46
als Geld und Huren und Whisky. Wo sie sich alle zusammenrotten und nichts tun außer zusammenrotten und andere bescheißen.« Der Alte hielt inne, schaute nachdenklich über die Köpfe der Menge hinweg und richtete seinen starren Blick auf eine Stelle über ihnen. »Wenn der letzte Baum gefällt ist – wenn der letzte Büffel verschwunden ist – wenn das letzte Goldnugget ausgescharrt worden ist und der letzte Indianer umgebracht – was wollt'n ihr dann noch tun! Was wollt'n ihr mit der großschnäuzigen Gier noch tun, die ihr in euch angesammelt habt? Daß ihr's euren Jungen weitergereicht habt? Was wollt'n ihr dann noch tun, frag' ich euch. Aber da gibt's dann nichts mehr, außer euch selbst!« Heiter und gelassen blickte er durch den Gerichtssaal. »Bin kein Bibelleser, aber irgendwann hab' ich's sagen hören: wenn ihr anfangt, die Gottesgesetze aus dem Gleichgewicht zu bringen, habt ihr euch selber den Samen für eure eigene Vernichtung eingepflanzt. Und darum« – er schlug sich auf die Brust, breitete die Arme weit aus und grinste – »fühl' ich gar nichts gegen euch, Verbrechergenossen! Gar nichts! So sicher, wie Gott den Mond raufgehängt hat, sitzt ihr alle, und eure Kindeskinder, mit mir im gleichen Boot.« Seine Stimme wurde leiser, und träumerisch blickte er zu einem Fenster hinaus. »Nein, tut mir nicht leid, abzukratzen. Wenn ich's mir überlege, ist ohnehin alles, worum ich mich gekümmert hab', dahin.« Jäh setzte er sich wieder. Morrow war aufgestanden und hatte den Gerichtssaal verlassen. Er hatte nicht auf den Spruch des Richters gewartet. Die Worte des Alten klangen offensichtlich unsinnig; über alles, wofür er sich eingesetzt hatte, den Fortschritt des Landes, seines Landes, hatte der alte Mann gelästert. Als er auf die Straße trat, stieß sein Fuß an eine Whiskyflasche, die neben der Tür lag. Er kickte sie wütend in die Gosse, wo sie aufprallte und gegen andere Flaschen krachte. Von Denver aus schickte man ihn nach Norden, um mitzuhelfen, Ordnung in Virginia City, Montana, zu schaffen. Red Cloud hatte den Bozeman Trail blockiert, und die Murphy-Wagen brachten keine Vorräte mehr in die Minencamps. Es gab Aufstände hung47
riger, verzweifelter Männer um Brot. Petroleum wurde die Gallone um zwanzig Dollar in Banknoten, um neun Dollar in Gold verkauft. Banknoten zu einem Dollar wurden für fünfundvierzig Cents in Gold verkauft. Eine Woche später traf er mit seinen Truppen ein (inzwischen war er Captain geworden); Hungeraufstände wüteten in der Stadt, und Mehl kostete sechs Dollar das Pfund. Als er und seine Soldaten einer wütenden Menge brüllender, fluchender Bergleute gegenüberstanden, erschien ihm das grinsende Gesicht des alten Daniel im Gerichtssaal. Was zum Teufel tut ihr überhaupt hier? Diese Frage huschte durch seine Gedanken. Er zuckte nur die Achseln. Sie sind hier, weil sie zu Geld kommen wollen; ich bin hier, weil ich Soldat bin, und ein verdammter Narr, wenn ich mich das überhaupt frage. Er war in Fort Cobb und stand zwischen den Offizieren hinter den Generälen Sherman und Sheridan, als der riesige Kiowa-Häuptling Satanta sich an sie wandte: »Ihr fällt unsere Bäume. Ihr schlachtet die Antilopen und die Büffel ab, und doch eßt ihr sie nicht, sondern laßt sie liegen, daß sie verwesen. Ihr grabt im Boden herum und werft euren Unrat in unsere Flüsse, die einst klar waren. Ihr brennt alles nieder. Was wollt ihr denn? Seid ihr verrückt?« Sherman hatte seinen Redeschwall und seine Fragen ignoriert. Der General, der niemals lächelte, antwortete lediglich mit Drohungen: Der Häuptling müsse sein Volk herbringen und auf dem von der Armee der Vereinigten Staaten bewachten Land bleiben. Sheridan hatte dem Häuptling vor die Füße gespuckt. Nach der Beförderung zum Major wurde Morrow versetzt, um von Fort Robinson aus mitzuhelfen, Shermans ›Brand‹-Befehl auszuführen. Als er und seine Abteilung in die Hochebenen hinauskamen, waren sie gezwungen, durch Tausende verwesender Büffelkadaver zu reiten. Man hatte den Tieren nur das Fell abgezogen, und der Gestank war unerträglich. Schmeißfliegen, die in dem madenzerfressenen Fleisch wimmelten, verdüsterten die Luft und griffen sogar die Pferde der Soldaten an. 48
Als sie die Büffeljäger, ergraute und whiskytrunkene Männer, erreicht hatten, gab Morrow ihnen den Befehl, sich von der großen Herde zurückzuziehen, die jenseits eines Hügelrückens weidete. »Wozu denn, zum Teufel?« fragte der bärtige Anführer kampflustig. »Wir zünden das Gras an«, hatte Morrow kalt geantwortet. »Verschwindet.« »Anzünden! Anzünden! Wozu, zum Teufel, zündet ihr das Gras an, Mann … ihr werdet alles verbrennen! Seid ihr verrückt?« Die Büffeljäger glaubten es nicht. Das Gesicht des alten Daniel erschien ihm wieder; nun lachte er dröhnend. Morrow hatte über die tausende verfaulender Fleischhügel geblickt, die die Büffeljäger hinterlassen hatten. »Ja«, hatte er sie angefaucht, »ich bin verrückt … Sherman ist verrückt … ihr seid verrückt! Die ganze verdammte Welt ist verrückt!« Sie hatten die Feuer angesteckt und alle zwanzig Meilen Wagenladungen Petroleum angezündet; und als die Flammen dreißig Fuß hoch aufloderten, hatte der Wind die Flammenwand gepackt und sie nach Westen gejagt, dahinrasend, dahinrasend über den Horizont und entschlossen, so schien es, die Welt zu verbrennen. Wo noch vor einem Augenblick saftiges Gras, Blumen, Vögel, Tiere gewesen waren, war die Erde jetzt schwarz, versengt, öde. Selbst seine Soldaten hatten die folgenschweren Befehle bezweifelt. »Es ist ganz einfach«, hatte es ihnen Morrow bitter erklärt. »Sherman sagt: ›Kein Gras bedeutet keine Büffel. Keine Büffel bedeutet keine Indianer.‹ Sehr einfach.« So war es. Und als jetzt die purpurnen Schatten der DragoonBerge länger über das Tal fielen, zuckte er die Achseln und schüttelte den Kopf, um Gedanken wegzuwischen, die in diesen Tagen häufiger kamen. Er dachte bitter, daß es seine Bestimmung zu sein scheine, die Vorhersagen des alten Daniel zu erfüllen. Die Apachen waren die letzten. Vielleicht war Geronimo der letzte von ihnen … der letzte Indianer. Ihm, Major James Morrow, schien es bestimmt zu sein, den Becher bis zur Neige zu leeren, wie immer sein Inhalt 49
auch schmecken mochte; und zwar mit dem letzten indianischen Kriegsführer, der nicht einmal den Rang eines Häuptlings hatte. In der zunehmenden Abenddämmerung schaute er auf die große Uhr, die er in seinem Rock bei sich trug. Noch fünfzehn Minuten Rast. Die Soldaten hatten sich auf dem Rücken ausgestreckt und genossen, so gut es ging, die Zeit, die sie nicht auf den Pferden verbringen mußten. Hundert Yards entfernt sah er seinen Führer der Scouts allein dasitzen, wie immer. Er beobachtete gleichfalls das Rot der Chiricahua-Gipfel, das sich nun abschwächte, wie Glut, die in der Asche des Feuers erstirbt. Mit einem Bowiemesser schnitt er Stücke getrockneten Rindfleisches ab, stopfte sie in den trockenen Mund und kaute sie in aller Ruhe. Morrow ging langsam auf ihn zu. Horns kühle und freche Mißachtung von Befehlen irritierte Morrow. Für diesen Ritt hatte Morrow Sieber gewünscht, aber Sieber war total betrunken gewesen, und er war daher gezwungen, Tom Horn zu nehmen. Horn war Anfang zwanzig, hatte einmal bei den Apachen gelebt und sprach ihre Sprache fließend. Morrow hielt dies für seinen einzigen qualifizierten Anspruch als Führer der Scouts. Er war ein Freund von Geronimo gewesen, und manche behaupteten, er sei es noch immer. Wie auch immer: Horn hatte sich mehrmals geweigert, sein ›Wort‹ zu brechen, und Armeeforderungen zurückgewiesen, er solle Zusammenkünfte mit Geronimo arrangieren. Seine Ablehnungen wurden begleitet von trockenen und lakonischen Feststellungen, daß er dem ›Wort‹ der Armee nicht traue. Offenbar empfand er gegenüber Geronimo solches Mißtrauen nicht. Horn ging niemals ohne seine tiefhängenden 44er-Colts. Gerüchte schrieben ihm einige erfolgreich überstandene Schießereien zu, was Morrow gar nicht gefiel. Er hatte für Revolvermänner nichts übrig. Aber in Morrows Kopf spukten andere, solidere Gründe für sein Mißtrauen gegenüber Horn. Erstens war Horn ein Mann aus Missouri mit jener besonderen Grenzermentalität, der es irgendwie an den Wertvorstellungen der 50
Zivilisation fehlte. Soweit Morrow wußte, empfand er keinen Respekt für irgendeine Institution zivilisierter Natur. Zweitens war sein Vater Kavallerist bei den Konföderierten gewesen, wie Horn laufend betonte. Obwohl Horn zweimal wegen Tapferkeit lobend erwähnt worden war, hatten Offiziere mit kühleren Köpfen, Morrow eingeschlossen, dafür gesorgt, daß die Empfehlungen nicht beachtet wurden. Als sich Morrow ihm näherte, tat Horn so, als bemerke er nichts. Er kaute ungerührt weiter und starrte zu den Chiricahua-Bergen. Absichtlich, dachte Morrow, und wurde sich erneut seiner Abneigung gegen den Mann bewußt; doch unterdrückte er dieses Gefühl und fragte ruhig: »Horn?« Horn schaute zwei volle Sekunden lang weiter zu den fernen Bergen, ehe er den Kopf wandte. »Major?« Er sprach Titel immer mit einem Unterton von Hohn aus, als seien Offiziere Joker, denen man Spieluniformen angezogen habe. Morrow riß sich zusammen und räusperte sich, um den Zorn zu unterdrücken, den dieser Mann in ihm anfachte. »Was halten Sie von unserer Lage?« Horn schaute unter der Hutkrempe hoch, und seine Augen blinzelten listig. Er stopfte sich ein Stück Fleisch in den Mund, ehe er antwortete: »Die Lage, in der wir stecken – richtig?« »Ganz gewiß«, erwiderte Morrow trocken. »Nun«, sagte Horn lässig und deutete mit dem Bowiemesser Richtung Apache Pass und Fort Bowie, »das bedeutet sicher das Ende für den alten Crook. Kein Zweifel. Dabei hat der alte Bastard in den letzten beiden Jahren versucht, sich von seiner lebenslangen kriminellen Vergangenheit zu lösen. Ist doch wirklich fast anständig geworden – hat besseres Essen für die Camps der Apachen verlangt und rumgelärmt, um das Tucson-Syndikat von Armeelieferanten zu hindern, einen Krieg vom Zaun zu brechen – lauter so Dinge. Jawohl« – Horn streckte die Arme und gähnte – »er hat sich wirklich verdammt geändert, um General zu bleiben. Das werden die Politiker und Profitmacher nicht schlucken.« Er schwenkte das Bo51
wiemesser und deutete mit ihm auf Morrow. »Sie können's ins Tagebuch reinschreiben, Major: Der alte ›Shit-Don't-Stink‹ wird Crook den Skalp abreißen. Denken Sie doch, wie Crook gesagt hat, der Friede würde die goldene Gans umbringen, die die goldenen Eier für diese Lieferanten in Tucson legt – nun, die haben mächtige Freunde in Washington – und ›Shit-Don't-Stink‹ ist einer von ihnen.« »Glaube ich auch«, sagte Morrow steif. Unnötig zu fragen, wer ›Shit-Don't-Stink‹ war. Morrow wußte es, Horn machte es eine besondere Freude, nach Art der Indianer seine eigenen Versionen blumiger Spitznamen zu verwenden, Er empfand totale Mißachtung für Custer und bestand darauf, von ihm als ›Harter Hintern‹ zu sprechen, wie auch der ursprünglich Custer von den Indianern verliehene Spitzname lautete. ›Shit-Don't-Stink‹ war Sheridan. Horn war stets sehr ins Detail gegangen, um den Spitznamen in den Saloons von Tombstone und Tucson zu erklären. Seine Geschichte rief stets Stürme von Gelächter bei seinen Säuferfreunden hervor. ›Shit-Don't-Stink‹, meinte Horn, wisse sehr gut, das seine Scheiße stinke, aber er wolle einen glauben machen, er selber sei mächtig davon überzeugt, daß sie nicht stinke. Der Grund, sagte Horn, sei der, daß ›Shit-Don't-Stink‹ sich in den ersten drei Kriegsjahren verborgen gehalten habe, ausgenommen dann, als er von der Südstaaten-Kavallerie überrumpelt wurde und den Hintern voll bekam. Aber 1864, als die Konföderierten keinen Pferdenachschub für ihre Kavallerie mehr hatten, kein Pulver und auch sonst nicht mehr viel oder nichts, seien ›Shit-Don'tStink‹ und ›Strike-a-Match‹ Sherman aufgetaucht, um Feuer zu legen. Wenn ›Strike-a-Match‹ die Nacht in einer Stadt verbringe, sei es – so Horn – besser, ihn abzulenken und alle Streichhölzer zu verstecken. »Der Hundesohn liebt es doch, Feuer anzuschauen…«, entfesselte immer brüllendes Gelächter. »Nachdem Sie mir«, sagte Morrow etwas säuerlich, »nun Ihre kultivierte Meinung von Washington dargelegt haben – würde es Ihnen dann wohl etwas ausmachen, auch Ihre Meinung darüber dar52
zulegen, was wir im gegenwärtigen Fall zu erwarten haben – vor allem im Fall Geronimo? Dafür nämlich bekommen Sie ja Ihren Sold!« »Ja, also«, sagte Horn freundlich. »Erstens mal: wie ich Ihnen schon früher sagte, passiert sicher nur eins, falls Sie Geronimo ins Bergland folgen – oder in einen Canyon. Sie werden fertiggemacht! Vielleicht jedesmal nur ein Stückchen – aber Sie werden fertiggemacht. Der alte Geronimo marschiert geradewegs, wie ein brünstiger Bock, zur Sierra Madre. Das heißt, falls er sich nicht entschließt, vorher in Tombstone abzusteigen und es nebenbei in Grund und Boden zu brennen. Wer, zum Teufel, weiß denn, was Geronimo so alles im Schilde führt? Es gibt keinen, der je mit ihm fertig geworden ist, Major, Crook mit eingeschlossen. Keinen! Ist nie gefangengenommen worden, und wird's niemals werden! Auch das können Sie ins Tagebuch reinschreiben. Ist ja 'ne Tatsache«, erklärte er bestimmt und abschließend. »Aber«, fügte er humorvoll hinzu, »wir könnten ein bißchen dichter an ihn rankommen. Und weil's uns nichts ausmacht, wieviele Indianerscouts umgebracht werden – es ist ja ohnehin die Hauptsache, Indianer umzubringen –, also, wenn wir Glück haben, könnten wir Geronimo ein paar Leute wegschießen. Das Beste, worauf wir hoffen können«, fügte er heiter hinzu. Morrow blickte auf seine Uhr und runzelte in der Dunkelheit die Stirn. Er merkte sich etwas in Gedanken vor; seine Augen schienen neuerdings nachzulassen. Aber er war froh, daß er ruhiger geworden war. So war es immer mit Horn, wenn es einem nur gelang, über die aufreizende Mißachtung des Mannes wegzukommen. Wie bitteres Bier! Morrow schaute auf die Uhr und wollte noch mehr dieser krausen Gedanken aus dem gesprächigen Scout hervorlocken. »Sagen Sie, Horn«, fragte er beiläufig, »da Sie doch so ein Bewunderer dieses blutrünstigen Aufrührers Geronimo sind: Warum schließen Sie sich eigentlich ihm nicht an?« Horn fühlte den Anflug von Feindseligkeit in der Stimme. Er schaute Morrow scharf an. Ein Glucksen stieg aus seiner Kehle auf und explodierte in Gelächter. Lächelnd antwortete er: »Nun, Major, er53
stens mal, da haben wir es … typisch Armee… Sie bringen das Geschirr schon durcheinander, ehe der Wagen überhaupt anfährt. Geronimo ist blutrünstig, das ist schon richtig; aber ein Aufrührer? Ein Aufrührer, Major« – der Ton seiner Stimme ahmte die eines Schulmeisters nach – »ist doch einer, der Treue bricht oder eine Sache verrät; nun, Sie können aber bestimmt den alten Geronimo dessen nicht beschuldigen, was auch immer die Zeitungen schreiben. Ihr Leute schreit immer ›Aufrührer‹, weil sich Geronimo von euch nicht eintrichtern läßt, ein zahmer Indianer für eure Sache zu werden. Und was ist eigentlich Ihre Sache … und meine Sache … und die Sache dieser Bergleute, die hier herum all das Silber und Kupfer rausgraben? Also, unsere Sache ist schlichter, simpler Diebstahl. Mit dem Unterschied, daß ich weiß, was ich bin. Sie und die U.S.-Armee, bei Gott, nennen das Ruhm. Nun« – Horn stand auf, schob das Messer in die Scheide und dehnte die Arme – »der Grund, warum Sie mich nicht Geronimo nachlaufen sehen, ist ganz einfach. Der Sold ist nicht so gut, und Geronimo ist ein Held. Jawohl« – er nahm den Hut vom Kopf und inspizierte nachdenklich die Krempe – »ein blutrünstiger Held. Er kämpft auch nicht um Geld oder Ruhm oder Beförderung, nicht einmal um Land. Das macht ihn zum Helden, Major, und wenn Sie mir 'nen Helden zeigen, obwohl alle andern meinen, er sei gerade das Gegenteil, dann will ich Ihnen eine Tragödie zeigen. Und« – er klatschte sich den Hut auf den Kopf – »Mama hat ihrem Jungen Tom eingeschärft, sich in keine Tragödien verwickeln zu lassen und aufgehängt zu werden; jedenfalls solange er noch so jung ist. Teufel, ich hab' noch nie den Elefanten gesehen und niemals die Eule gehört.« Morrow seufzte, wandte sich ab und ging weg. Er blieb wieder stehen und rief zu dem jungen Mann zurück, der den Rest des Dörrfleisches kaute und zu den Sternen emporstarrte: »Horn, glauben Sie, wir könnten ihn auf der Ebene erwischen?« Tom Horn wandte den Blick nicht von den Sternen ab. »Nur eins kann ich versprechen, Major, daß wir morgen früh zur Ebene kommen. Wenn Geronimo nicht fliegt, werden wir verdammt nahe dran 54
sein, sie einzukreisen. Verstehen Sie, ich hab' gesagt, wenn er nicht fliegt!« Morrow gab Befehl zum Aufsitzen, und als er sich in den Sattel schwang, konnte er Horn schnell in der Sprache der Apachen, Papago und Pima mit seinen Scouts reden hören. Seine einzige verdammte Qualifikation als Chefscout, dachte Morrow. Er vermutete, daß Horn unter seiner geschwätzigen Verbitterung seine Gefühle über den Verlust der Scouts im Canyon verbergen wollte. Morrow merkte sich in Gedanken vor, die Dauer von Horns Vertrag mit der Armee zu überprüfen. Er sollte verkürzt werden.
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G
eronimo war schon oft von den Soldaten gejagt worden. Als junger Krieger unter Mangas Coloradas, und nach dem Tod des alten Häuptlings unter Juh und Cochise begriff er, wie beharrlich sich die blauen Soldaten an eine Fährte hängen konnten. Aber während ein jäher Hinterhalt sie nicht aufhalten konnte, ließen große Verluste ihre Offiziere vorsichtig werden. In dieser Hinsicht verließ er sich sehr stark auf Botos, Tanas und Watashes Hinterhalt, um die Soldaten für eine Nacht im Canyon aufzuhalten. Während er seine Schar nach Verlassen des westwärts verlaufenden Canyons gegen Süden führte, passierten sie ein Piniengehölz, einen Höhenrücken und einen Arroyo, der nach Süden wies. Der Arroyo verlief mehrere Meilen weit durch einen niedrigen Bergrücken und fiel halsbrecherisch in einen tiefen Canyon ab. Die letzten hundert Meter des Arroyoabfalls in den Canyon bestanden aus einer steilen Geröllhalde. Frauen und Kinder stürzten, glitten die Halde hinab und klammerten sich aneinander. Der Canyon kam aus dem Osten, aber er bog nach Süden ab. Er war tief eingeschnitten mit überhängenden Kalkwänden, der Boden 55
war mit Lebenseichen und Pinien bewachsen. Durch die Mitte floß über Felsen frisches Quellwasser. Geronimo ließ sie hier rasten; die Frauen leerten das abgestandene Wasser aus den Beuteln und füllten aus der Quelle kaltes nach. In diesen Bergen war das Hauptlager Cochises gewesen. Von ihren Gipfeln aus konnten seine Krieger die ferne Weite der Ebenen nach allen Seiten einsehen – bis hin zum Apache Pass, durch den die Frachtwagen auf ihrem Weg über die Salzebenen zu den Dragoon-Bergen und weiter zu den Bergbaucamps und nach Tucson zogen. Geronimo hatte auf diesen Gipfeln mit Cochise gestanden; er wußte, wo Wasser vom Fels herabstürzte und wo sich nach Süden führende Fußpfade kreuzten. In diesen Canyon, den man später Cochise-Canyon nennen würde, führte er seine Schar, abwechselnd laufend und rastend, die Nacht hindurch, in der Major Morrow, aufgehalten durch die drei, auf die Morgendämmerung wartete. Während der Major nach Mitternacht des folgenden Tages noch seine Truppen über die Salzebenen hin weiterführte, kam Geronimo mit seinen Leuten über den letzten Hang der Dragoons herunter, hinaus in die Ebene. Im Süden konnte die Schar das Ziel sehen: die sich hochtürmenden Gipfel der Sierra Madre. Das Muttergebirge, vererbtes Refugium der Apachen, dehnte seine Kuppen und Hänge über eine Breite von hundert Meilen aus. Es erstreckte sich über tausend Meilen nach Mexiko hinein und barg endlose Pfade und versteckte heilige Stätten in seinen Schluchten. Geronimo benutzte Naiches Fernglas und beobachtete das Tal nach Norden hin, woher die verfolgenden Soldaten kommen würden. Er entdeckte im Sternenlicht keine Staubwolke und entschied sich, im Gehtempo die Ebene zu überqueren. Sie waren nun über fünfzig Stunden bei nur kurzen Ruhepausen unterwegs. Es gab eine Grenze, sogar für Apachen. Sie rasteten nun häufiger und gingen langsamer. Über die Hälfte der Krieger trug jetzt schon Kinder, die nicht mehr laufen konn56
ten. Aber die Nacht ist immer die beste Zeit, die gefährlich offenen Flächen der Ebenen zu durchqueren, und Geronimo wollte den größten Teil des offenen Geländes hinter sich haben, wenn die Helligkeit einsetzte. Im grauen Licht kurz vor der Morgendämmerung schauten sie zurück und erkannten Geronimos Klugheit, der sie die Nacht hindurch angetrieben hatte. Hinter ihnen stiegen Staubwolken auf, die sich rasch näherten. Die Kavallerie der Blauröcke. Jetzt bedurfte es keines Antreibens mehr. Sie begannen zu laufen. Jeder Mann und jede Frau trugen ein Kind. Sie spannten ihre letzten verbliebenen Kräfte an und starrten auf das nahe emporragende Muttergebirge – und rannten. Geronimo führte sie geradewegs zu einem Bergeichenwäldchen am Fuße der ersten Berghänge. Als sie unter die belaubten, schützenden Zweige kamen, ließ er sie anhalten. Angsterfüllte Frauen, die wußten, daß Soldaten Kinder so bedenkenlos wie Männer und Frauen umbrachten, versuchten weiterzurennen, preßten ihre Kinder an die Hüften oder führten sie an der Hand. Geronimo packte eine Frau, die ein Baby trug, schleuderte sie zu Boden und griff nach einer anderen. Zalah stellte sich den Frauen in den Weg. Allmählich legte sich ihre Hysterie. »Loco!« Geronimo winkte dem alten Kriegshäuptling zu. »Führ sie weiter. Sie müssen einzeln, eine hinter der andern, gehen, daß die Fährte schmal bleibt und wir sie, wenn wir folgen, verwischen können.« Er wies Loco auf einen kaum erkennbaren Pfad hin, der am Rande des Berges nach Süden führte. »Folg dem Pfad da. Wenn die Sonne über dir steht, siehst du einen großen Berg. Lauf auf diesen Berg zu. Hinter ihm wirst du Wasser finden. Warte dort auf uns.« Loco rief die Frauen und Kinder und führte sie im Gänsemarsch den Pfad entlang. »Es eilt nicht!« rief ihnen Geronimo beruhigend zu, aber angsterfüllt drängten sie weiter. Geronimo schickte ihnen drei Krieger nach. Mit noch einem Dutzend Krieger kehrte er zum Rande der Eichen zurück. Die Kolonne, in Zweierreihen, war nun deutlich zu erkennen. 57
Die Pferde gingen im Schritt. Major Morrow hatte sie hart angetrieben, um die Schar auf der Ebene einzuholen. Nachdem es ihm nicht gelungen war, wußte er, daß sich der Feldzug ins Gebirge ausdehnen würde. Für einen schnellen tödlichen Hieb war der richtige Augenblick vorbei. Jetzt galt nur noch Ausdauer; sie mußten ständigen Druck auf die Schar ausüben und ihr keine Ruhe gönnen. Geronimo plazierte die Krieger in einer langen Reihe. Jeder Mann stand neben einem Baum und blickte in die Ebene. Von dieser Stellung aus hatten die Krieger einen klaren Blick auf die über das flache Gelände heranrückende Kolonne. Geronimo wandte sich an Naiche: »An dir und mir, Bruder, liegt es jetzt: wir müssen hinaus und ihnen entgegentreten. Wenn wir schießen, dann auf Scouts, denn die werden uns in den Bergen gefährlich werden.« »Ich bin bereit«, sagte Naiche. Auf der Ebene vor ihnen wippten alte, verschrumpelte purpurne Blüten brusthoher Bohnenbüsche im Wind. Geduckt und mit Naiche ihm auf den Fersen, rannte Geronimo zwischen den Büschen vor, direkt den sich nähernden Reitern entgegen. Nie tauchten dabei ihre Köpfe über den Büschen auf; sie rannten zickzack, sanken in die Knie, rannten gebückt weiter durch verdorrende Sonnenblumen, Yuccas, Riesenkakteen. Die schwankenden, wippenden Bohnenbüsche verbargen alle ihre Bewegungen vor den Blicken der Soldaten und tarnten Geronimo und Naiche bei ihrem Anschleichen. So nahe! Nun konnten sie Sättel ächzen und Pferde schnauben hören. Immer noch rannte Geronimo; fünfundsiebzig Yards, fünfzig! Naiche konnte bereits den Schweiß im Gesicht eines Scouts sehen. Geronimo blieb stehen und kniete. »Jetzt!« flüsterte er und hob das Gewehr. Sie schossen gleichzeitig. Ein Scout glitt seitlich vom Pferd zu Boden; ein anderer wurde zurückgewirbelt. Noch ehe die Detonationen der Schüsse in der Luft verhallt waren, hatte sich Geronimo herumgeworfen, rannte, mit Naiche auf seinen Fersen, auf das Eichengehölz zu und wich dabei nach links und rechts aus. Seine katzenschnelle Reaktion war nur um eine hal58
be Sekunde schneller als die Major Morrows; Morrows Hand flog hoch, und er winkte die Soldaten zu einem Frontalangriff ihnen nach. Morrow schrie, rauhtönend im Wind: »Angriff! Angriff!« Zu seiner Linken brüllte eine Stimme: »Nein! Nein! Bleibt zurück!« Es war Tom Horn, aber das Gebrüll der Soldaten übertönte seine Schreie im Wind. Geronimo und Naiche mußten fast hundert Meter rennen, um die Deckung der Eichen zu erreichen. Zur Rechten und Linken von ihnen schwärmten Scouts aus, um ihren Fluchtweg abzuschneiden. Die Pferde, die an Tempo gewannen, donnerten mit schlagenden Hufen über den Boden. Sie holten schnell hinter den beiden auf. Soldaten begannen schon triumphierend zu brüllen und schossen dabei auf die zickzacklaufenden, sich duckenden Heckenschützen. Sandfontänen spritzten links, rechts, hinter ihnen auf … jetzt sogar vor ihnen. Die Falle schloß sich. Die zwei konnten die Eichen nicht mehr erreichen. Die Pferde stürmten ungestüm, mit gestreckten Hälsen, vor, als das vernichtende Gewehrfeuer aus den Bäumen heraus eröffnet wurde. Es war ein schnelles, gekonntes, diszipliniertes Feuer, das keine Pause kannte. Die Hälfte der Krieger zwischen den Bäumen schoß, während die andere Hälfte nachlud. Das Resultat war tödlich. Sofort wurden drei Scouts von ihren Pferden geschleudert; Captain Beyers Pferd stolperte und taumelte und warf Beyer vornüber ab. Ein Soldat schrie auf und stürzte rücklings vom Pferd. Zwei Pferde brachen schnaubend zusammen und rissen Scouts mit sich. Der Trompeter blies zum Rückzug, und Morrow jagte, fluchend und rufend, seine Männer aus der Schußweite der Gewehre zurück. Die Soldaten kämpften gegen die schweißbedeckten Pferde, erhitzt und erregt von dem Angriff. Morrow brachte sein eigenes Pferd in einer erstickenden Staubwolke neben Tom Horn zum Halten. »Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?« schrie er zornig. Horn blickte nicht auf. Er war abgestiegen und kniete neben einem Scout. Morrow glitt vom Pferd herunter, und Captain Dawson folgte seinem Beispiel. Sie sahen zu, wie Horn mühsam dem 59
auf dem Rücken liegenden Scout den blauen Rock auszog. Der Scout war ein Apache. Horn hatte endlich den blauen Rock heruntergestreift und ging zu seinem Pferd, wo er in den Satteltaschen herumsuchte; er kehrte mit einer kleinen Dose zurück. Er spuckte in die Dose, steckte den Finger hinein und kniete neben dem Scout nieder. Der Apache war bei Bewußtsein und beobachtete mit ruhigen Augen Horn, der den Finger herauszog und ihn über die Wangen des Apachen strich, wo er lange gelbe Streifen hinterließ. Die Streifen waren die Kennzeichen von Geronimos Kriegern. Blut lief aus dem Mund des Apachen. Er öffnete die Lippen und schloß sie wieder, aber sprechen konnte er nicht. Horn wischte das Blut ab. Er zog das lange Messer aus der Messerscheide des Scouts und versuchte, es ihm in die Hand zu drücken, aber die Hand konnte das Heft nicht festhalten, und daher legte er das Messer auf die magere Brust, die sich unregelmäßig hob und senkte. Der Blick des Apachen war jeder Bewegung gefolgt, und auf einmal überzog ein feierlicher Ernst die Schwärze der Augen, die Horn anschauten. Er hob ein wenig die Hand; Horn drückte sie, hielt sie kurz fest und legte sie auf das Messer. »In-gew«, sagte Horn sanft. »In Ordnung!« Er ergriff den blauen Soldatenrock, stand auf und hielt ihn dem Apachen vor die Augen; er zog sein eigenes Messer und schnitt langsam, feierlich den Rock in Fetzen, die er dem Mann vor die Füße warf. Die Augen blinzelten stummen Dank und wurden starr. Der Apache starb wortlos. Morrow, Dawson und ein halbes Dutzend Männer, die sich zusammengeschart hatten, sahen zu, wie Horn ihm die Augenlider herunterdrückte und aufstand. Dawson fragte mit rauher und lauter Stimme: »Was soll denn dieses dumme heidnische Zeug?« Horn grinste. »Nicht dumm, Captain. Ich habe allen meinen Scouts mein Wort gegeben, sollte ich sie verletzt und sterbend finden! Genauso, als wenn Sie einen Ihrer Priester oder Prediger da hätten. Sehen Sie« – Horn sprach jetzt mit keinem der Männer direkt, denn er hatte den Hut gelüftet, kratzte sich nachdenklich den Kopf und schaute nach Süden zu den Bergen – »Eure Armee und Eure Re60
gierung können diese Scouts bis zur Unterwerfung erpressen. Sie bekommen die zusätzlichen Rationen und leisten loyale Arbeit für Sie; Talo, der da am Boden, hatte eine Frau und drei Kinder, und die sind in Eurem Camp verhungert. Aber diese Leute sind anders als die Weißen… Ihr habt seine Seele nicht mitgekauft. Nein, das Messer da« – Horn setzte den Hut wieder auf und blickte hinab zu der dahingestreckten Gestalt – »das repräsentiert, was ihn frei gehalten hat … alle seine Leute seit Hunderten von Jahren … frei von beschissenen Politikern und Regierungen und Armeen. Ihr könntet auch sagen, ich hätte ihm eine Bibel auf die Brust gelegt, damit er sie sehen konnte. Er hätte sie festgehalten, wenn er gekonnt hätte.« Horn blickte entschlossen in die mageren Gesichter ringsum. »Ja«, sagte er nachdenklich, »ihr habt sein Denken und sein Wissen gekauft, aber niemals seine Seele. Seine Seele ist bei Geronimo.« Ein Soldat fluchte und spuckte den Indianer an. Morrow rief den Sanitätern, die etwas entfernt Captain Beyer versorgten, etwas zu, ehe er sich an Horn wandte. »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Horn«, sagte er steif. »Oh, jawohl.« Horn schaute ihn spöttisch an. »Haben Sie, Major! Nun, ich hab' wegen hier, wo ich jetzt bin, doch recht gehabt.« Er klopfte mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe. »Ich werd' bezahlt für Gehirnarbeit … das hab' ich versucht zu tun. Ich hab' geschrien, nicht anzugreifen, aber Sie haben es eben trotzdem getan!« Morrow kam dicht an den Scout heran. »Sagen Sie mir nicht, wie ich gegen Indianer kämpfen soll. Ich habe weiß Gott gegen Indianer gekämpft, als Sie noch in den Windeln lagen.« »Aber sicher, Major – haben Sie getan«, erwiderte Horn beruhigend, »keine Frage. Aber wenn Sie gegen Geronimo kämpfen, können Sie sich nicht nach Ihren Regeln richten. Es geht hier nach Geronimos Kampfregeln. Und eine, nebenbei, haben Sie gerade gebrochen, und die lautet«, fügte er leichthin hinzu, »greif niemals Geronimo an, wenn er gerade darauf wartet, dich angreifen zu lassen. Wenn ich mir's überlege«, meinte er nachdenklich, »greifen Sie ihn 61
auch nicht an, wenn er gar nicht versucht, Sie dazu zu bringen. Das wäre auch eine gute Regel.« Morrow wandte sich wütend von dem Chefscout ab und stelzte davon. Beyers Arm war gebrochen, und die Sanitäter schnitten ihm den Waffenrock auf und machten einen Gipsverband. Irgendwo weiter vorn stöhnte ein Verwundeter im Busch, an dem die Sanitäter arbeiteten. Die Sonne war gestiegen, es war heißer geworden. Mittag war vorbei. Morrow, jetzt zu Fuß und Horn dicht an seiner Seite, befahl den Männern, vorsichtig vorzurücken. Scouts schwärmten weit zu den Flanken aus. Nach fünfzig Schritten ließ Morrow das Eichengehölz mit Streufeuer bestreichen. Niemand erwiderte die Schüsse. Die Sonne hatte sich schon beträchtlich gegen Nachmittag geneigt, als Morrow und seine Soldaten endlich in das Gehölz eingedrungen waren. Sie fanden keinen Apachen, nur eine einzelne Mokassinfährte, die längs des Saums der Sierra Madre nach Süden führte.
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eronimo griff mit seinen kräftigen Beinen mühelos aus und rannte durch die Schatten des Nachmittags, die sich über diesen Ausläufer der Berge in die Länge dehnten. Hinter ihm, im Gänsemarsch, folgte ein Dutzend Krieger, durch Öl- und Maultierbüsche und unter dunklen Eichenholzbäumen, nach. Ihre Schritte erzeugten kein Geräusch. Nur der Wind aus dem Osten, der aus der öden Chihuahua-Ebene herüber wimmerte, wo flimmernde und tanzende Hitzeteufelchen die Sicht nahmen, so daß kein Horizont zu sehen war. 62
Sie rannten stetig weiter nach Süden unter dem Schatten des Mutterberges, der steil und zerklüftet aufragte, die Sonne hinter sich schob und sie schützte. Geronimo mäßigte das Tempo, ging langsamer und hielt dann in einem Mesquite-Dickicht an. Die sich um ihn sammelnden Krieger folgten seinem Blick östlich über die Prärie hin. Der Wind trieb aus dem flachen Gelände Hitze in die Kühle des Gebirgschattens, bog die spärlichen Büschel des Galletagrases und zauste die Salbeibüsche. Die Prärie lebte und tanzte im Wind und in der Hitze. Geronimo zeigte auf etwas. »Gosoda.« Naiche hob das Fernglas, um das zu bestätigen, was er nicht erkennen konnte. Durchs Fernglas erschien das Mexikanerdorf ganz deutlich: Adobehäuser, die sich auf die Ebene kauerten und aus deren Mitte sich der Turm einer Kathedrale erhob. Die Stadt war eingefaßt von einer niedrigen weißen Mauer, die ein Torbogen, der einzige Zugang, durchbrach. Naiche konnte sogar eine Wache auf der Mauer gehen sehen. Die Wache schien zu tanzen, aber Naiche wußte, daß dies von der Verzerrung durch das Glas und vom Hitzedunst herrührte, und er verließ sich nicht auf seine Augen. Winzige, strohgedeckte Adobehütten schmiegten sich dicht an die Außenseite der Dorfmauer, und in der Nähe beherbergte ein hochgebauter Korral Maultiere und Pferde. Naiche knurrte, als er den Korral sah; er gab das Fernglas den neben ihm stehenden Kriegern weiter. Allein ging Geronimo auf der Fährte zurück, auf der sie hergekommen waren. Er tauchte in den Schatten ein, blieb stehen, um zu lauschen, und ging weiter. Die Haft im ›Loch‹ und die Tage in San Carlos hatten seinen Sinn für das Fährtenaufspüren fast abgetötet. Als er durch die Eichen und Pinien der Dragoons rannte, hatte er ihn allmählich, ganz schwach, wieder gespürt; das Wiedererwachen der lebenswichtigen Sinne. Nun setzte er sich unter einen Wüsten-Hackberry, in vollem Laub, und beobachtete einen Wildvogel, der die gelben Beeren pickte. Er schloß die Augen und wollte nichts sehen und hören. 63
Hier existierte eine Gemeinschaft von Pflanzen, die sich stets zusammen verbreiteten. Vor einer Million Jahren waren sie im Süden aufgebrochen, hatten sich, als sie den Norden erreichten, angepaßt und ihre Wurzeln tiefer gesenkt, um mehr Feuchtigkeit zu gewinnen; sie verdünnten das Laubkleid, um weniger Feuchtigkeit, Ausdünstung abzugeben, und steigerten so ihre Überlebenskraft. Leise sang Geronimo. Keine Worte, sondern nur Laute, beruhigend und ausgeglichen. Der Rhythmus entwickelte sich lebhafter. Durchdringender Duft von den Blättern der Ölbüsche drang ihm in die Nase. Die Maultierbüsche wiegten ihre Zweige im Gleichklang mit dem Gesang. Langsam empfand es Geronimo, wie sich der Rhythmus beschleunigte. Hätte sich die Gefahr von hier entfernt, dann hätte sich der Rhythmus gedehnt und abgeschwächt. Jetzt aber fühlte er, ganz schwach, pochendes Klopfen der Erregung, und er wußte, daß die Soldaten noch nicht aufgegeben hatten. Sie rückten heran. Er stand auf, berührte flüchtig Bäume und Büsche und trottete den Weg, den er gekommen war, zurück. Seine Krieger warteten. »Bald werden sie hier sein«, sagte er, kehrte der Prärie den Rücken und wandte sich nach Westen, in die Berge. Die Kolonne der Krieger schloß sich ihm an. Mit ihrem stumpfen Messing fingen die Patronengürtel Licht aus den Schatten auf. Hier und da, längs der Kolonne, schlug ein zitternder Bogen gegen die Hüfte eines Kriegers, der noch den kurzen Apachenbogen über der Schulter mittrug. Die Schatten wurden dichter, während sie in die Vorhügel des Gebirges hineinliefen. Die Dämmerung setzte ein, und der Wind erstarb. Dann folgte die Dunkelheit. Noch immer liefen sie in die tiefere Finsternis zwischen den Graten der Berge hinein. Funkelnde Sterne warfen schwachen Lichtschimmer, als sie an den Flanken eines majestätischen Gipfels emporklommen. Piniendickichte schoben sich ins Licht der Sterne und warfen silbrige Streifen über den Boden. Ein Nachtfalke pfiff aufgeschreckt, und in weiter Ferne erweckte der Schrei eines Pumas hohle, einsame Echos. 64
Während sie stiegen, wurde ihr Atem schwerer. Nach Sternen, die mit ihnen westwärts wanderten, ließ sich eine Stunde schätzen, und dann zwei, als Geronimo unbeirrt einen schmalen Canyon fand und sie durch das Bergland führte. Er wurde langsamer und stieg im Schritt noch weiter bergabwärts in eine Rinne. Der Boden der Rinne strömte den warmen Geruch nach süßem Gras in einer Lichtung zwischen den Bergen aus. Wasser plätscherte über Steine. Nur Naiche und Geronimo gingen zum Bach, um zu trinken. Die Krieger streckten sich im Gras aus. Die Muskelreaktionen in ihren Beinen waren tot. Alle Ausdauer, sogar die Wachsamkeit, wurden von über siebzig Stunden Marsch ausgelöscht. Die Sichel des abnehmenden Mondes schob sich über den Gebirgspaß im Osten. Der Mond warf Streifen von Licht auf die Wiese und verdunkelte die Berge, aber keiner von ihnen suchte die Sicherheit des Schattens. Geronimo trat ins Wasser hinein und spritzte es über seinen Körper. »Hört, Brüder«, rief er leise, »das Wasser wird uns helfen, wenn wir uns selber helfen. Die Soldaten werden bald hierher kommen. Die Soldaten werden so müde sein wie wir auch. Das Wasser hier wird ihnen gefallen; diese Stelle. Hier werden sie bleiben.« Kein Krieger hob den Kopf. »Hört zu, Brüder«, sagte Geronimo laut und rauh. »Wir sind nur wenige. Wir sind Apachen. Wir müssen über das hinaus, was die Soldaten tun, durchhalten. Es ist ihre Art, uns zu jagen, bis wir fallen. Benetzt eure Füße im Wasser. Wir müssen von hier fort, jeder allein. Jeder auf einem anderen Weg, damit die Hunde von Scouts glauben, wir hätten Angst und uns zerstreut. Wenn ihr weit genug gelaufen seid, müßt ihr daran denken, zu den Felsen hinaufzusteigen und eure Spuren zu verwischen. Wenn ihr das getan habt, dann geht zurück nach Westen. Wir wollen uns an der Stelle wiedertreffen, wo wir Gosoda gesehen haben. Dann werden wir uns ausruhen.« Naiche kam vom Wasser und stellte sich neben Geronimo. »Steht auf!« rief Naiche. »Denkt an die Frauen und Kinder.« 65
Ahkochne, Vater von zwei Kindern, stand als erster auf. Er zerrte einen anderen Krieger taumelnd auf die Füße hoch. Einer nach dem andern gingen sie zum Bach. Einige setzten sich ins Wasser, aber bald planschten sie herum und spritzten sich gegenseitig an. Geronimo war mitten unter ihnen. Er schickte Ahkochne nach Süden; der Mann schlurfte in die Schatten davon – einen anderen Krieger nach Südwesten, einen dritten nach Westen. Als der letzte Krieger in den Schatten verschwand, berührte er Naiche am Arm. »Komm«, sagte er und wandte sich dem steilsten Berghang zu. Sie stemmten sich hinauf, griffen nach Büschen, Zedern und Felsvorsprüngen. Zweihundert Fuß oberhalb der Wiese schob Geronimo sein Gewehr auf ein Felsband, das über die Lichtung vorsprang. Mit Schwung zog er Naiche nach. Mit überkreuzten Beinen saßen sie dann auf dem vom Berg hinter ihnen beschatteten Felsband. Weit unten lag die Lichtung hell im Mondlicht. Der kleine Bach blitzte wie ein schmales Halsband und schimmerte, aber sie konnten ihn nicht hören. Über das Felsband wehte der Wind. Naiche döste ein und wurde einmal wach, als dicht in der Nähe eine Eule rief. Einen Augenblick beobachtete er Geronimo, der den Rücken gerade hielt und die Lichtung tief unten musterte. Er wachte wieder auf, als Geronimo sein Knie berührte, und wußte, daß er lange geschlafen hatte. Der Mond war nach Westen gezogen. Es war kälter. »Sie sind da«, flüsterte Geronimo. Naiche schaute hinab. Die Wiese war leer. Er beobachtete die Schatten; ein dunklerer Schatten bewegte sich, dann noch einer. Die Schatten des Berges, die die mondbeschienene Wiese umgaben, waren erfüllt von dunkleren, huschenden Geistern. »Hunde von Scouts«, zischte Geronimo. Scharf und jäh kläffte unter ihnen ein Kojote. Naiche lachte leise. »Klingt wie ein junger Hund.« Das Kläffen war ein Signal für andere. 66
Man hörte das Klappern von eisenbeschlagenen Hufen auf Steinen. Männer, die Pferde führten, traten in das klare Mondlicht der Wiese. Soldaten. Die Kolonne kam im Gänsemarsch über den Paß. Naiche pfiff atemlos: »Das sind viele!« Es war eine volle Schwadron der Kavallerie der Vereinigten Staaten, achtzig Männer. Packmaultiere folgten ihnen. Lederzeug ächzte und scheuerte, als die Pferde abgesattelt und ans Wasser gebracht wurden. Das Murmeln von Männerstimmen tönte schwach zu dem Felsband hinauf. Kochfeuer flackerten auf, und von den Feuern kamen Wachtposten mit geschulterten Gewehren und marschierten in die Bergschatten hinein. »Sieh, wie schwach die Männer sind!« bemerkte Geronimo ernüchtert, während sie beobachteten. »Wir ermüden sie, geben ihnen aber einen guten Rastplatz mit Wasser. Sie vergessen, warum sie hergekommen sind. Sie wollen schlafen und essen und das kalte Wasser trinken. Wie es die weißäugigen Soldaten den Apachen im Camp beizubringen versuchen«, meinte er nachdenklich und leise, »bis sie vergessen, daß sie frei sein müßten, und dankbar sind für das soldatenbewachte Camp, wo sie nur an genug zu essen und Wasser zu trinken denken. Wie leicht doch Menschen die Nahrung vergessen, die ihr geistiger Körper braucht, und zu Sklaven der Mächte gemacht werden, die ihre irdischen Körper nähren werden.« »Ja«, antwortete Naiche; es war ein überraschender Gedanke. Sein Blick erhaschte eine Bewegung, die sich am Berghang emporarbeitete. Er berührte Geronimo am Arm und zischte ihm ins Ohr: »Sieh, die Hunde von Scouts steigen sogar den Berg hinauf, um unsere Spuren zu suchen.« Geronimo beobachtete die Bewegung in der Finsternis, die Naiche ihm gezeigt hatte, und daneben eine andere, und noch eine. Winzig, unbemerkt – wie schwarze Würmer, die an dem noch schwärzeren Berghang emporkrochen. Die Bewegungen waren überall. Er stand auf und deutete hinab. »Sie kommen auch hierher.« Böse lächelnd blitzten seine weißen Zähne vor Naiche. »Komm, wir wollen ihnen ein Geschenk hinterlassen, damit sie, wenn sie es am Mor67
gen finden, glauben, wir seien noch am Berg. Das wird sie in Furcht versetzen.« Sie kletterten die senkrechte Kante hinter dem Felsband empor, fanden mit den Füßen Halt zwischen den Felsen und kauerten sich neben einer buschigen, verkrüppelten Zeder nieder. Die Zeder bewegte sich ruhelos im Wind und warf abwechselnd Schatten und Lichtstreifen über sie, so daß sich auch ihre Umrisse neben dem Baum ständig veränderten. Ein forschendes Auge konnte in den zerfließenden Konturen von Licht und Schatten, die Tausende von Formen erzeugten, eine Männergestalt nicht identifizieren. Irgendwo am Berghang unter ihnen wurde ein Falke aufgescheucht und schoß kreischend ins Mondlicht hinaus. Naiche fühlte, wie sich Geronimo verkrampfte. Ein kleiner Kiesel rollte und klapperte unter ihnen, nahe dem Felsband. Geronimo stand neben dem Baum auf. Er hatte das lange Messer gezogen. Es gab kein Geräusch mehr. Der Wind winselte um die Ecke des Felsbandes. Am Ende der Kante erhob sich ein Schatten. Er wuchs unmerklich an, wurde reglos und verschmolz mit dem Schatten des Felsens. Ein langer Augenblick verstrich. Der Schatten wurde größer. Er entwickelte sich zu einem Mann, der auf dem Felsband stand. Der Wind ließ das buschige Haar unter seinem Stirnband flattern. Er trug einen blauen Soldatenrock, kniete nieder und musterte das auseinandergetretene Geröll. Geronimo schnellte sich vor. Er traf den Knienden im Rücken und preßte ihn zu Boden, so daß ihm der Atem pfeifend entwich. Er hatte das Messer nicht gebraucht. Naiche sprang neben ihm aufs Felsband hinab, und als Geronimo aufstand, packte er den Mann und riß ihn in die Höhe. Es war ein Apache. Der blaue Waffenrock hing lose an seinem schmalen Körper. Die langen Ärmel waren von den Händen zurückgerollt. Er war jung. Naiche hielt ihm mühelos die Hände auf dem Rücken zusammen, so daß er Geronimo ansehen mußte. Der Mann wehrte sich nicht. »Marteen«, flüsterte Geronimo. 68
»Ja.« Der Scout starrte zu seinen Füßen hinab. »Warum?« fragte Geronimo. Marteen musterte seine Füße und hob nicht den Kopf. »Um zu essen«, sagte er. »Meine Frau … die Kinder.« Seine Stimme klang nicht flehend. Es war eine Feststellung, ohne Gemütsbewegung. »Die Apachen werden alle sterben.« Geronimo drehte das Heft des Messers, so daß die scharfe Spitze emporstand, und hielt die Waffe leicht vom Körper ab. Marteen hob den Kopf und schaute Geronimo in die Augen. »Wäre es … könnte ich … den blauen Rock ausziehen?« flüsterte er, im Wind eben noch hörbar. Geronimo nickte. Naiche ließ seine Arme los. Langsam knöpfte Marteen den Waffenrock auf und ließ ihn zu Boden fallen. Über seinen Lendenschurzhosen war er nackt, schwächlich, mager. Sein Blick wandte sich nicht von Geronimo ab. »Vergib mir, Usen«, sagte er, und seine Stimme summte wie leiser Gesang. »Nur die Berge leben ewig … nur die Steine leben ewig…« Geronimo warf sich geschmeidig gegen ihn; sein Arm stieß, blitzschnell wie eine Gewehrkugel, das Messer vor und versenkte es unter dem Brustknochen des Mannes. Marteen warf die Arme hoch, klammerte sich an Geronimos Hals und umarmte ihn; wie ein Kind barg er den Kopf an Geronimos Schulter. Schwankend standen beide da und hielten einander im Mondschein und im Wind fest; die untersetzte Gestalt, den Kopf gebeugt über dem mageren, wie ein Kind aussehenden Scout, der sich an seinen Hals klammerte. Naiches Blick trübte sich, als er sie beobachtete. Ein überwältigender, stechender Schmerz überkam ihn. Er fragte sich, ob es wegen Marteen, dem Verräter, sei? Oder wegen Geronimo? Oder wegen ihnen beiden? Sie ließen ihn auf der Felsleiste liegen und nahmen ihm Gewehr und Patronengürtel ab. Am Morgen würden ihn die Soldaten finden, und neben ihm den in Fetzen gerissenen blauen Waffenrock. Marteen würde zum Morgenstern emporstarren, unter dem Kopf 69
einen geglätteten Stein und in seiner Hand, die fest zur Faust geballt war, würden sie einen Stecken finden, der einen Apachenbogen darstellte. So deutlich wie der Segen irgendeines Priesters, der sich bemüht, den abtrünnigen Sohn zu retten und ihn zu seinem Glauben zurückzuführen. Sie verließen ihn und kletterten weiter empor, Geronimo und Naiche, nun in Eile gegen die Zeit. Weiter empor, an der Baumgrenze vorbei zu den Felsen, ehe sie sich auf dem Kamm nach Osten wandten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die schwankenden Kronen der Bäume verbargen ihre Flucht. Wenn sie ein Mann von der Wiese aus hätte beobachten können, hätte er im Mondlicht die stämmige Gestalt gesehen, die die größere beim Sprung von Fels zu Fels anführte. Die mächtigen Schultern sackten unnatürlich ein, und der Kopf war gebeugt. Aber die starken Füße trabten schwer. Sie rannten auf Gosoda zu.
7 Kommt, Krieger, wie die Adler frei! Zum Kampf kommt, wie die Adler! Ein Gesang der Chiricahua-Apachen
D
er Tag stirbt leicht, kuschelt anmutig sein Leben unter wohltuende Hüllen der Abenddämmerung und zaubert noch die ersten Sterne der Verheißung hervor, ehe er in den nächtlichen Tod versinkt. Aber der Tag, der auch hell ist und daher voll Leben, besitzt auch Kraft und Glauben an Wiedergeburt. Mensch und Tier, Baum und Busch schlafen in der Dämmerung zuversichtlich ein, wie sie es auch tun, wenn sich der Tod nähert, sobald sie einmal bereit sind, das Leben im Licht hinter sich zu lassen. Ganz ruhig 70
sind sie im Wissen von der Ewigkeit und bauen darauf, daß der Tod ein Durchgangstor zur Geburt in der Morgendämmerung ist. Das Leben ist ewig. Ganz anders verhält es sich, wenn die Nacht stirbt. Die Nacht zieht sich schnell, ohne Anmut zurück. Sie haßt das Leben, die Geburt der Morgendämmerung, und macht sich, ohne zu warten, davon. Es gibt eine kurze Zeitspanne, ehe das schwächste lichte Grau das Schwarz durchdringt, wenn die Sonne, fern im weiten Universum, die Sterne auslöscht. Doch dann hat ihr eigenes Licht die Erde noch nicht erreicht. Um diese Zeit, wenn die Nacht geht und die Morgendämmerung noch nicht angebrochen ist, ist die Finsternis am tiefsten. Das Nachtgefühl ist dahin. Das Tagesgefühl hat sich noch nicht eingestellt. Um diese Zeit kläfft kein Kojote, heult kein Wolf. Kein Baum raschelt, kein Vogel wird unruhig. Um diese Zeit sterben die Kränksten. Denn nach dem Gesetz kann es keinerlei Umdrehungen des Lebensrades ohne das Tor zum Tod geben. Das eine ohne das andere ist nicht möglich, und daher ist das Gefühl des nächtlichen Todes an sich ein Teil des Lebens. Wenn es dahin ist, gibt es auch kein Gefühl von Leben und Tod. Es ist die Vorhölle, wo sich Mensch, Pflanze und Tier am gedrücktesten fühlen. Und daher ist dies die Zeit, in der sich Apachen, auf allen Seiten von Feinden gejagt, zusammenfinden müssen. Der Feind besitzt nicht den Willen der Apachen; Feinde bleiben in der Vorhölle. Sie erschienen einzeln und tauchten dort aus der Schwärze auf, wo Geronimo und Naiche warteten. Jeder Krieger hatte zu der Stelle zurückgefunden, wo sie gestern jenseits der Chihuahua-Ebene Gosoda gesehen hatten. Jeder hatte in dem Schatten des Berges auf diesen Zeitpunkt gewartet. Jedes Geräusch ist dieser Zeitspanne zwischen Leben und Tod unangemessen und unfreundlich, und daher wehte Geronimos Flüstern leicht und flüchtig zu den Kriegern. »Wir werden auseinandergehen« – er deutete mit dem Arm zum Berghang – »und schlafen. Wenn die Sonne untergeht, wollen wir uns hier treffen.« 71
Und dann verschwanden sie; jeder suchte sich, fern vom anderen, seinen eigenen Busch oder Baum. Jetzt würden sie sich ausruhen, während die Sonne aufstieg und weiterwanderte und starb. Naiche, der Häuptling, übernahm die höchste Stelle oben am Hang als Sammelplatz bei Alarm. Am Fuße des Hanges, der Gefahr am nächsten, würde Geronimo, der Kriegsführer, diesen Alarm geben; daher begab er sich nicht weit von der schwachen Fährte bis an den Fuß des Berghanges, wo die Ebene gefährlich nahe heranreichte. Er durchschritt vorsichtig eine öde Fläche mit Indianerbirnen, kniete nieder und kroch unter die tiefen Zweige eines einzelnen MesquiteBusches, der nackt zwischen den Kakteen stand. Auf diesem ausgesetzten Stück Erde, ohne Deckung ringsum, eben dort, wo kein Mensch sich sonst zu verbergen suchen würde, schob Geronimo seinen Körper an den dünnen Stamm des Busches. Er legte sich das Gewehr unter den Arm und schlief ein, ehe die erste Helligkeit den Osten erreichte. Dem Alter nach stand er jetzt gut in den Fünfzigern, und die unruhigen Träume, die unaufhörlich seinen Schlaf bedrückten, wurden immer realer – wie Besuche in einer anderen Zeit. Tausendmal hatte er davon geträumt. Er stand in einem Karren, um ihn herum alles freundlich geschmückt. Pferde zogen den Karren durch eine große Stadt. Männer an der Straße hoben Metallinstrumente an die Lippen, bliesen hinein und erzeugten damit durchdringenden Lärm. Das Licht verließ ihn, und er war eingehüllt von sich bewegenden, formlosen Muskeln, die ihm Gefühle von Zufriedenheit und Sicherheit vermittelten. Er wollte diese Zufriedenheit nicht aufgeben, denn für ihn war sie das Leben; weggehen würde Tod bedeuten aber statt dessen wurde er geboren. Er erkannte die Augen, die ihn anblickten. Er kannte die Seele hinter diesen Augen von einem anderen Ort her. Als sie nun leise sang und in der seltsamen Sprache redete, erkannte er sie allmählich, diesmal als seine Mutter. Und so erging es ihm auch mit dem Mann, den er dann als seinen Vater erkannte. 72
Er schaukelte in der tshoch, der Schlinge, die zwischen CottonwoodÄsten aufgehängt war. Der Wind schob und stieß ihn, und er spielte. Die Sonne war warm und voller Leben. Bis er die Sprache lernte und sie sprechen konnte, hatte er die andere Zeit fast vergessen; nur kurz, dann und wann, redete er darüber. Sein Vater und seine Mutter lachten und nannten seine Worte kindliche Fantasie. Und daher hatte er dies alles beiseite geschoben. Als er fünf Jahre alt wurde, wußte er, wo auf der Erde er war; in den schönen Bergen nahe den Quellwassern des Gila River. Sein Vater und seine Mutter hatten ihn zu der Stelle seiner Geburt gebracht, ihn dort auf den Boden gelegt und in die vier Himmelsrichtungen gedreht: Mittelpunkt des Rades, das überall begrenzungslos war. Fast noch Baby, stand er mit den Spielperlen in der Hand vor seinem Vater. Sein Vater sagte: »Sieh, das sind deine Hände. Schau sie an! Sie sind deine Freunde. Auf sie mußt du dich verlassen. Deine Arme und deine Beine: sie sind deine Freunde. Atme tief und merk dir: auch dies ist ein Freund. Es wird die Zeit kommen, da werden diese da deine einzigen Freunde sein: diese und deine Augen. Dein Leben besteht aus Laufen… Laufen und Kampf gegen den Feind, damit deine Seele nicht von ihm versklavt wird.« Sein Vater hatte auf einen weitentfernten Berg gedeutet. »Lauf dorthin! Lauf dann wieder zurück! Lauf! Damit du's lernst, nicht zu ermüden, nicht hinzufallen! Denn müde zu werden oder hinzufallen, wenn der Feind dich jagt, bedeutet den Tod.« Er war gelaufen. Zuerst, als er den Wind spürte, erfüllte ihn eine starke Überschwenglichkeit, und er bewegte sich in dieser Lebenswildheit des Windes. Am Anfang war die Wildheit undiszipliniert, aber beim Laufen schärften sich seine Sinne. Er begann, das Pulsieren von Stimmungen zu empfinden, die manchmal von weicher Verspieltheit bis zu Unmut, Niedergeschlagenheit, Besorgnis, Alarm oder wildem Zorn reichten. All dem überließ er sich, wurde Teil aller Lebensgefühle, die im Wind spürbar waren. Und das bezweifelte er auch nicht, wie ein Baby das, was es sieht, nicht be73
zweifelt, sondern ganz natürlich das aufnimmt, was in die Sinne eindringt. Und wie mit dem kindlichen Sehen geschah es auch hier: seine Sinne waren anfangs undeutlich, aber bald entdeckte er die Gegenstände seiner Empfindungen. Die verkrüppelte Zeder, die unsicher zwischen den Felsen lebt – der Kaktus in der Wüste: diese Pflanzen besaßen scharfe, wache Sinne für das Überleben. Er fühlte sie und machte sich den Rhythmus ihrer Wahrnehmungen zunutze. Ihre Rhythmen bei Alarm waren schnell und heftig. Wenn er Ruhe wollte, suchte er den Mesquite auf, der neben dem Fluß wuchs, sicher in dessen Lebenskreis und versorgt mit Wasser und Schlamm. Der hatte einen lässigen, schlaffen Rhythmus. Er pflegte sich darunter zu legen, um sich zu entspannen, zu gähnen und sich an den schwachen Gefühlstakten, die um ihn herum pochten, zu erfreuen. Seine Eltern, die in der sanften Dämmerung der Berge vor ihrem Tipi saßen, beobachteten ihn unter dem Mesquite. Noch ehe er sechs Jahre alt war, nannten sie ihn Gokhlayeh: Einer-der-gähnt. Als er sieben wurde, war er der Geschickteste bei den Kinderspielen der Apachen. In langen Reihen standen sich die Kinder gegenüber und bewarfen sich mit Steinen. Während sie den Wurfgeschossen des Feindes auswichen, lernten sie schnell und behend zu werden. Sie schossen einfache Pfeile aufeinander, wichen aus und packten manchmal einen Pfeil mit den Händen in der Luft – und immer rannten sie. Er half Vater und Mutter in den Talfeldern unter den Bergen, wo sie Mais, Bohnen, Limonen und Kürbis anbauten. Oftmals konnten sie das, was sie gesät hatten, nicht ernten. Der Feind erschien, und sie wehrten sich, liefen … liefen immer, um sich zwischen den Bergen zu verstecken. Männer und Frauen, auf hohen Berggipfeln postiert, hielten nach dem Feind Ausschau; die Mexikaner! Die Mexikaner bedeuteten Tod. Am Abend saß sein Vater neben ihm und erzählte: »Achte immer auf den Feind. Wenn wir nicht gegen ihn kämpfen, wird er uns zu Sklaven machen und uns unter der Erde 74
arbeiten und nach seinem Metall schürfen lassen. Wenn wir nicht kämpfen, wird er uns zu Tieren ohne geistiges Leben machen – zu Tieren, die allmählich nur noch an Nahrung denken, um ihren irdischen Körper zu füttern – an Unterkunft für ihren irdischen Körper – an Medizin für ihren irdischen Körper. Nahrung für den geistigen Körper wird man vergessen. Der geistige Körper wird sterben; er muß Freiheit haben, um leben zu können. Kriegführen heißt Leben.« Gokhlayeh lauschte ernst, nickte mit seinem kindlichen Kopf und wußte, daß es wahr war. Sein rundes, pausbäckiges Kindergesicht wurde ernst, während er über diese Dinge nachdachte. Sein Vater erklärte ihm: »Maco war mein Vater, dein Großvater. Er war ein großer Krieger und Häuptling der Nedni-Apachen. Ich habe deine Mutter geheiratet, sie stammt von den Bedonkohe-Apachen, und daher habe ich meinen Anspruch auf die Häuptlingswürde aufgegeben, um ihr hierher zu folgen. Jetzt sind wir Bedonkohe-Apachen, aber keine Häuptlinge. Der Mann muß folgen, um bei der Frau zu sein. Der Mann ist der Pflanzer, wie Saat in Muttererde, aber manchmal stirbt er jäh im Krieg. Dann ist die Frau aber hier und erhält den Apachen das Leben. Das ist wichtig, denn die Apachen sind nicht zahlreich.« Sein Vater breitete die Hände aus. »Sieh, wir sind wie die einzelnen Finger: Bedonkohe, Nedni, Chihenne, Chiahen und viele andere. Wir sind auch Chiricahua-Apachen. Es gibt Tonto, Jicarilla, Mescalero, Mimbres und andere, aber alle sind wir Apachen. So müssen wir leben, in kleinen Scharen. Wenn eine Schar vom Feind vernichtet wird, können alle anderen noch leben. Aber im Krieg« – und er ballte die Hand zur Faust – »schließen wir uns zusammen.« Und so erfuhr Gokhlayeh mit der Zeit, wer er war, ein Teil des Volkes. Er sollte einmal auch Teil des Krieges sein. Und große Sehnsucht überkam ihn nach dem Tag, an dem er mit den Kriegern nach Süden ziehen würde, um den Feind zurückzuschlagen. Er jagte, verwegen reitend, den Büffel mit der Lanze, und mit Ponys trieben er und andere Knaben Truthähne aus den Bergrinnen in die Ebene hinaus. Sie hetzten die Truthähne, bis diese müde wurden, und dann 75
fegten sie zwischen ihnen herum und haschten sie vom Erdboden weg. Gokhlayeh entwickelte sich zum prächtigen Reiter und benutzte die schnellen Ponys, um sogar Kaninchen zu jagen, die er erlegte, indem er sie vom Pferderücken aus in voller Flucht mit einer Keule erschlug. Noch ehe er zwölf Jahre alt war, wurde ihm erlaubt, Rehe anzupirschen. Er hielt beim Kriechen Zweige vor sich und machte lange Pausen, um die Rehe nach Anzeichen des Erschreckens zu beobachten. Er legte sich flach auf den Boden und wartete, dann kroch er wieder meilenweit über die Prärie. Er lernte die qualvolle Geduld kennen, die man braucht, um ein Reh zu erlegen – oder den Feind. In den Jahren zwischen zehn und zwanzig durfte er auch schon Bären ausspüren. Als er einmal hoch in den Bergen um einen Fels kam, stand er von Angesicht zu Angesicht seinem ersten Grizzly gegenüber. Der Bär erhob sich; er überragte ihn hoch. In jenem unendlich kurzen Augenblick der Unschlüssigkeit des Bären – den nur der Adler bei der Schlange erkennt – warf sich Gokhlayeh nach vorn, zwischen die mächtigen Tatzen, und versenkte seine Lanze ins Herz des Bären. Er duckte sich unter den schmetternden Tatzenhieben durch und rannte davon, nur wenige Zoll vom Tod getrennt – bis der Grizzly stürzte. Mit der Zeit erkannte Gokhlayeh, daß ihm ein Instinkt angeboren war, den wenige überhaupt lernen konnten – jenen unendlich kurzen Moment der Unschlüssigkeit beim Bären, oder beim Feind, zu wittern und sofort und verwegen mit tödlicher Wildheit zuzuschlagen. Gokhlayehs Vater starb an einer Krankheit. Sie zogen ihm seine farbenprächtigste Kleidung an und malten gelbe Streifen unter seine Augen, damit er während seiner Reise den Blick zur Sonne nicht verlieren sollte. Die ganze Schar besang seine Taten als Krieger und brachte ihn, auf seinem besten Pferd, weit hinauf in einen Canyon. Dort betteten sie ihn in eine Höhle, mit Bogen und Pfeilen, Lanze und Kriegsmesser. Sie erschlugen das Pferd, zogen es neben ihn 76
und schlossen die Höhle. Dort würde er bleiben und auf die Reise warten, während die Pinien leise um ihn herum rauschten. Gokhlayeh wurde vor den Rat zitiert und in seine Pflichten und das Gesetz eingeführt. Ein Mann, der alt gewordene Vorfahren nicht unterstützt oder der die Kranken vernachlässigt oder sie mißhandelt oder der sich der Feigheit, der Faulheit oder der Untreue schuldig macht, wird aus der Schar ausgestoßen; Boten werden dann an alle Scharen der Apachen ausgesandt, so daß keine ihn aufnehmen wird. Gokhlayeh war aber noch kein Krieger, und daher konnte er weder heiraten noch die volle Bürde der Verantwortlichkeit vom Rat erhalten. Nach dem Tod seines Vaters verbrannten sie sein Tipi, in dem sie gewohnt hatten, und verschenkten alle Besitztümer seines Vaters; kein Apache durfte aus dem Tod eines Familienmitglieds Nutzen ziehen, wenn er nicht wollte, daß materielle Reichtümer seinen geistigen Körper schwächen. Er war ein pflichtbewußter Sohn und unterstützte seine verwitwete Mutter. Er half ihr, ein Tipi zu errichten, und stattete es mit Häuten und Fellen von Berglöwen, Bären und Rehen aus. Er sehnte sich danach, auf den Kriegspfad zu ziehen. Er hatte den Feind schon viele Male gesehen, und die Leichen von Männern, Frauen und Kindern, die der Feind getötet hatte. Im Alter von sechzehn Jahren war Gokhlayeh einen Meter siebzig groß, drahtig, mit kräftigen Schultern und Armen. Er konnte siebzig Meilen an einem Tag laufen und dabei einen halben Tag lang Wasser im Mund behalten, ehe er es schluckte. Der Wille der Apachen, diszipliniert zu leben und die physischen Bedürfnisse und Wünsche zu unterdrücken, hatte sich in Gokhlayeh stark entwickelt. Mit aufgesprungenen Lippen und einer vom Durst angeschwollenen Zunge an einem Wasserloch vorbeizulaufen, ohne an Trinken zu denken, wenn Trinken gefährlich war – in der flammenden Ofenhitze der Wüste zu liegen und nicht den Schatten von Bäumen oder Büschen zu suchen, falls dies den Raubzug gefährden mochte, und die Hitze nicht zu spüren – über jenen Zerreißpunkt der Ausdauer hin77
aus weiterzulaufen, an dem ein Mensch der Überzeugung weicht, daß ihn die schmerzenden Beine nicht mehr tragen werden – und trotzdem zu wissen, daß es die Beine doch noch schaffen werden: So war der ›unmenschliche‹ Wille der Apachen, der so stark in Gokhlayeh entwickelt war. Er besaß noch etwas mehr als nur den Willen. Sein Verstand war wie ein nackter Nerv, der alle Regungen ringsum witterte. Wie ein Volk der Einöde die Empfindungen anderer, ohne daß sie sprechen, wittern kann, so witterte Gokhlayeh seine Welt, dem Reh ebenbürtig, das den Kopf vom Gras aufwirft – ohne Geräusch, Geruch oder Sicht, nur weil die Witterung deutlich und hart, wie ein Donnerschlag, es erreicht. Mit siebzehn war er für den Krieg bereit. Mexikanische Truppen, die nach Norden vorstießen, zwangen die Schar der Bedonkohe, aus ihrer Rancheria zu flüchten und die meisten Wintervorräte im Stich zu lassen. Mangas Coloradas, bei allen Apachen und Mexikanern durch seine Geschicklichkeit und seine Weisheit in Kriegsdingen bekannt, war Häuptling der Bedonkohe. Er verfügte über Macht und über Ansehen bei vielen Scharen. Seine drei Töchter hatten Häuptlinge geheiratet; eine von ihnen war die Frau Cochises, des Häuptlings der Chokonen. Aber er bat keine dieser Scharen um Hilfe. Statt dessen führte er seine Schar nach Süden, in die Berggruppe der San Antuñez, tief ins Herz des feindlichen Landes hinein und nahe den mexikanischen Siedlungen in Sonora. Sein Ziel war es, Nahrung zu finden. Sie marschierten nur nachts, daß kein Scout sie sehen konnte, und liefen durch die Berge in langen parallelen Kolonnen, wie vorrückende Infanterie, so daß sie Verfolgern keine einzelne Fährte hinterließen. Keine der Frauen scheuerte Stoff an einem Busch; kein Kind ließ etwas fallen, was man finden konnte. Es gab keine Gespräche, kein Lachen. Sie liefen weiter und weiter nach Süden, wo der Feind am stärksten war und daher zuversichtlich, unachtsam und nachlässig. In einem tiefen Canyon bauten sie ihre Rancheria von Tipis auf und nährten sich von Piniennüssen. 78
Während der Raubzüge und im Krieg war das Ratsfeuer klein und winzig – es spendete das Licht der Heiligkeit für den Rat, verbarg es aber vor den Augen des Feindes. Das flackernde Feuer warf spielerisch Licht und Schatten über Mangas' Gesicht. Er stand über dem Feuer und schlang sich das hirschlederne Kriegsband um seinen mächtigen Kopf. Die mit gekreuzten Beinen vor ihm sitzenden Krieger sahen zu, und jeder, den Mangas' weisender Finger auswählte, stand auf und schlang sich das Kriegsband um den Kopf. Zwanzig Krieger standen, als Mangas die geduckte Gestalt sah, die hungrig am Rande des Feuerscheins kauerte. »Und du, Gokhlayeh, kannst mitgehen«, sagte Mangas. Kein Krieger machte von seinem Recht des Einspruchs Gebrauch, und auf diese Weise wurde Gokhlayeh in den Kriegspfad eingeführt. Sie brachen nachts auf und liefen, von Mangas geführt, im Gänsemarsch nach Süden. Als ›Lehrling‹ lief Gokhlayeh am Ende. Es war ihm nicht gestattet zu sprechen, ehe er angesprochen wurde, oder eine Stellung einzunehmen, die ihm nicht befohlen worden war. Sie waren ausgerüstet mit Bogen und Pfeilen, Lanzen und Kriegsmessern und trugen nur Lendenschurzhosen und Mokassins. Sie liefen zwei Tage und Nächte. Wenn sie dann und wann haltmachten, um kurz etwas zu schlafen, streiften sie die Lendenschurzhosen von ihren Leibern und benutzten sie als Decken, um die Kälte der Berge zu mildern. Die Sonne sank rot über der Ebene von Sonora, als sie am zweiten Tag aus den Bergen herauskamen. Fern auf der Prärie bezeichneten weiße Adobegebäude das Dorf Crassaves. Von abendlichen Kochfeuern stieg Rauch über den Häusern empor. Mangas ließ seine Krieger am Rande der Ebene anhalten, als die Glocke der Kathedrale leise murmelnd und in der Ode monoton läutete. Der rote Ball der Sonne berührte den fernen Horizont und schien den im Busch knienden Apachen ins Gesicht. Sie beobachteten eine Herde von Rindern und Pferden, die aus dem Weideland im Süden zu den Nachtkorrals von Crassaves getrieben wurden. Die Kühe brüllten, denn 79
sie witterten das Wasser. Sorgfältig zählte Mangas die Hirten. Es waren drei. Sie trugen Sombreros, lümmelten sich in die Sättel und ritten träge hinter der Herde. Mangas bestätigte seine Beobachtung, indem er fragend drei Finger hob, und Krieger, die ebenfalls drei Finger in die Luft streckten, antworteten ihm. Alle hatten sie nur drei gesehen. Jetzt inspizierte Mangas zum letztenmal den Horizont. Nichts regte sich. Im Dorf waren weder gesattelte Pferde noch Soldaten zu sehen. Er hielt den Kriegern eine offene Handfläche entgegen zum Zeichen, daß alles klar sei, und empfing die gleiche Geste als Antwort. Niemand erkannte eine Gefahr. Mangas war eben dabei, die Linie nach vorn, zu dem Vieh hin, zu winken, als vom Ende der Linie leises Pfeifen ertönte. Es war Gokhlayeh, der eine Faust hob. Sofort duckten sich Mangas und die Krieger hinter den Büschen. Zuerst entdeckte er nichts, aber kein Apache rückte vor, wenn eine Warnung gegeben worden ist. Und dann, fern am Horizont, fing sein Blick ein rötliches Blitzen auf. Sonne spiegelte sich auf Metall. Langsam kamen sie näher. Berittene Soldaten, zu zweit nebeneinander. Sie ritten aus der Sonne heraus, eine starke Streitmacht, auf das Dorf zu. Sie erreichten das Dorf, doch hielten sie nicht an, sondern trabten weiter, direkt auf Mangas' Schar zu. Mangas gab seinen Kriegern Zeichen, an den Berghang zurückzuweichen, und wartete. Und direkt gegen den Hang kamen sie heran. Jetzt konnte Mangas ihre bärtigen Gesichter erkennen. Vor ihnen ritt ein einzelner Soldat, der ein bunte Fahne trug und sie hoch in die Luft schwenkte. Säbel blitzten in der Sonne, und Lanzen mit eisernen Spitzen, mit dem Schaft fest im Steigbügel jedes Soldaten, wiesen himmelwärts und formierten sich zu einem Doppelzaun, der über den Köpfen der Reiter mitritt. Sie hielten am Fuß des Berghangs an, direkt unterhalb von Mangas und seinen Männern. Dann stiegen sie ab und entzündeten Campfeuer; es sollte ihr Nachtlager werden. Stumm bedeutete Mangas seinen Männern, zurückzuweichen, weiter den Berghang hinauf, und wies auf den Boden, was hieß, daß 80
sie hier bleiben würden. Mangas war bitter enttäuscht. Er konnte sich keine Schlacht mit den Soldaten leisten. Seine Schar benötigte jedoch verzweifelt Nahrung. Aber wie lange würden die Soldaten bleiben? Er wußte, daß sie tagelang lagern konnten. Seine Leute konnten sich auch lange Wartezeiten nicht leisten; sie mußten etwas zu essen bekommen. Er entschloß sich, die Nacht noch abzuwarten. Die Abenddämmerung wurde dichter; die Nacht brach finster an, ehe der Mond aufging. Brennende Fackeln näherten sich von Crassaves und hüpften über die Prärie auf die Soldaten zu. Weich und melancholisch drangen die Klänge spanischer Gitarren zu den schweigsamen, beobachtenden Apachen. Frauen lachten; sie hatten die Fackeln aus dem Dorf hergebracht. Von seinem Warteplatz, allein am Berghang, beobachtete Gokhlayeh das ferne Flackern der Feuer und lauschte auf die Klänge. Er hatte den Feind viele Male schon gesehen, aber nur, wenn er vor ihm davonrannte. Ungesehen von Mangas oder den Kriegern, schlich er sich den Hang hinab. An seinem Fuße konnte er deutlich die Feuer sehen, eine lange Kette flimmernden Lichtscheins. Das nächste Campfeuer war hundert Meter entfernt auf der Prärie, und er duckte sich, schlich an, wie er Rehe angeschlichen hatte. Als er dichter heran war, ließ er sich auf den Bauch nieder, arbeitete sich wie eine Schlange auf dem Sandboden weiter und hielt sich eng an Büsche und Mesquite. Dann lag er zehn Meter vom Campfeuer entfernt und beobachtete. Die Gitarren zirpten schnell, in schweren sinnlichen Rhythmen, und Frauen in farbigen Röcken tanzten um das Feuer herum. Gokhlayeh hatte diese Art Tanz noch nie gesehen. Die Frauen stampften mit den Füßen, schoben dabei nach ihnen greifende Hände fort, die ihre Brüste streichelten, und schwangen die Hände über den Kopf; sie wirbelten die Röcke und quälten die Soldaten durch den Anblick nackter Schenkel und Hüften. Eine vom Feuer weggeschleuderte Flasche landete dicht neben Gokhlayehs Gesicht. Sie lag glitzernd da und spiegelte das Feuer81
licht zurück. Ein Soldat und eine Frau trennten sich von dem Kreis und gingen fast direkt auf die Stelle zu, wo er im Sand lag. Der Soldat schob und zerrte die Frau, der das lange Haar ums Gesicht fiel. Sie widersprach schrill, und der Soldat lachte nur. Gokhlayeh zog sich hastig zurück, machte ihnen gerade noch den Weg frei, und sie kamen nur einen Meter von seinem Kopf entfernt vorbei. Die Wange dicht an den Boden gepreßt, hatte Gokhlayeh die trunkenen Gespräche ums Campfeuer gehört. Spanisch wurde von seinem Volk fließend gesprochen, und so verstand er viel von dem, was geredet wurde. Jetzt aber war er eingeschlossen zwischen dem Campfeuer und zwei ringenden Menschen, die nahebei stehengeblieben waren und miteinander rauften; der Soldat zerrte an den Kleidern der Frau. Wenige Meter neben ihm sanken sie zu Boden, und der Soldat wälzte sich auf die Frau. Die laut anschwellenden Schreie und die rhythmische Musik am Campfeuer verschluckten die Protestschreie der Frau. Gokhlayeh war gezwungen, seine Aufmerksamkeit vom Campfeuer dem Paar auf dem Boden zuzuwenden; er zog das Kriegsmesser aus der Scheide und schob es sich zwischen die Zähne. Der Soldat hatte die Hosen heruntergestreift und lag zwischen den Schenkeln der Frau. Gokhlayeh sah die weißen Hinterbacken sich heben und senken, und er hörte die Frau stöhnen; hinter ihm gab es keine Unterbrechung im Lärmen der Zecher ums Campfeuer. Das Gesicht des Soldaten war auf das der Frau gepreßt und Gokhlayeh abgewandt; das Gesicht der Frau jedoch war direkt ihm zugedreht. Er konnte ihre zu ihm starrenden Augen sehen, aber sie selbst sah nichts. Sie hob die Füße vom Boden und strampelte, wippte und schwenkte sie grotesk, und langsam klammerten sich die nackten Beine um den Rücken des Soldaten. Die Füße berührten, überkreuzten sich, und sie hielten den Soldaten fest. Ihre Augen wirkten glasig, geistesabwesend im Bann ihrer Lust – und Gokhlayeh wartete auf den Moment des Eingreifens. Der Soldat pumpte heftig und atemlos, aber die Frau konnte das Gesicht nicht von Gokhlayeh abwenden. Ihr Mund stand offen; sie 82
keuchte und stieß den Atem explosiv, gepreßt seufzend und stöhnend aus. Das Haar war ihr über Gesicht und Augen gefallen. Gokhlayeh wollte sich eben in Bewegung setzen – da hielt der Soldat inne. Er rollte sich von der Frau herunter, stand auf, streifte die Hosen hoch und machte sie fest. Die liegende Frau schaute zu dem Soldaten empor. Ihr Mund war offen, und ihre Beine zuckten noch immer krampfhaft. Sie sagte etwas; der Soldat lachte und trat ihr gegen den nackten Bauch. Dann drehte er sich um und stolperte trunken zurück zum Campfeuer. Gokhlayeh blieb wie erstarrt, an den Boden gepreßt, liegen, aber seine Zehen gruben sich schon tief in den Sand und waren für einen schnellen Sprung bereit. Die Frau setzte sich. Mit gespielter Sittsamkeit kämmte und glättete sie ihre langen schwarzen Locken, wobei ihre breiten runden Brüste nackt über der zerrissenen Bluse hüpften. Das Kleid war bis zu den Hüften abgestreift. Sie hob beim Kämmen den Kopf, und Gokhlayeh, der sie mit der Angespanntheit einer Katze beobachtete, sah ihren Blick nach unten wandern. Zuerst strich sie mit den Händen über ihre großen Brüste, streichelte die Kratzer, die der Soldat hinterlassen hatte, und drückte die steifen, vorstehenden Warzen. Dann senkte sich ihr Blick nach unten, wo das Kleid zusammengestreift war. Gokhlayeh hoffte, sie würde jetzt nicht weiter herumschauen, und wie der Soldat aufstehen und ans Feuer zurückkehren. Aber während ihr Blick zögernd die Schenkel musterte, kam es ihr ganz vage, als ob sie doch etwas gesehen … nein, eigentlich doch nicht gesehen habe, während der Soldat auf ihr lag. Ihr Blick heftete sich auf die Füße und begann langsam über das kurze Stück Boden zu Gokhlayeh zu wandern. Seine Muskeln spannten sich, und bis die Frau den Blick wieder gehoben hatte, war er schon gesprungen. Die Kraft der Beine, die darauf trainiert waren, im Tag siebzig Meilen zu laufen, einen Arroyo zu überspringen, dreißig Meilen rückwärts zu rennen – schoß ihn, wie von einem Katapult abgeschnellt, nach vorn – noch in der gleichen fast gestreckten Körperhaltung, ohne daß die Knie den Sand berührten – über das kurze Stück Boden hin zu der Frau. Ganz er83
faßte sie es nicht. Sie blickte auf und sah, dämonisch und schrecklich, das mit Farbe bemalte harte Gesicht und die von schwarzem buschigem Haar eingerahmten glitzernden Augen. Ihr Mund öffnete sich, aber die Hand packte sie um den Hals, riß ihr den Kopf zurück und brach die Halswirbel. Nur ihre Beine zuckten. Gokhlayeh blieb einen Augenblick neben der Frau liegen und beobachtete das Campfeuer, aber die Musik und das Grölen tönten immer noch laut und ohne Unterbrechungen weiter. Er griff über die Frau hinweg, packte einen ihrer Arme und rollte sie sich auf den Rücken, wie eine Schafshaut über den Rücken eines Wolfes. Langsam und mühselig robbte er über den Wüstenboden, seine Ohren angespannt auf die Geräusche des Campfeuers lauschend, denn jetzt konnte er die Soldaten nicht im Auge behalten. Eine Stunde lang arbeitete er sich derart weiter; der Kopf der Frau wippte grotesk neben seinem, ihre Beine lagen rittlings über seinen Hüften und schleiften hüpfend auf dem Wüstenboden nach. Im Schatten des Berges erhob er sich, schob sich die Frau über die Schulter und trottete in die Bäume. Mangas döste und hörte Gokhlayehs Annäherung nicht. Bei der Berührung setzte er sich rasch auf und sah den jungen Lehrling, der immer noch seine Bürde über der Schulter trug. Gokhlayeh schleuderte die Frau zu Boden. »Die Soldaten brechen morgen früh auf«, sagte er leise, »sie wollen vier Tage lang nach Norden marschieren. Im Dorf gibt es keine Soldaten … wenig Pferde.« Mangas betrachtete die im Busch hingestreckte tote Frau. »Woher weißt du das?« fragte er. »Ich war an ihren Feuern«, erwiderte Gokhlayeh gepreßt, ohne zu prahlen. »Die da« – er deutete auf die Frau – »ist eine Dirne der Soldaten. Sie hat mich gesehen, aber man wird sie nicht vermissen.« Er wandte sich schweigend ab und verschmolz mit den Schatten der Bäume. 84
Mangas beobachtete die zurückweichende Gestalt und empfand widerstreitende Gefühle. Die Information war äußerst wertvoll; nicht nur, daß die Soldaten aufbrechen würden, sondern auch für wie lange, und die Ausstattung des Dorfes mit Reitern und Soldaten. Aber er empfand auch Zorn darüber, daß ein Kriegerlehrling einen Vorstoß gewagt hatte, den nicht einmal ein erprobter Krieger ohne eingehende Beratung versucht hätte. Nach und nach drang ein Hauch von Verstehen in sein Denken ein. Gokhlayehs Benehmen verriet keine Arroganz, keine Prahlerei, und doch nahm er sich Autorität heraus, als stehe sie ihm zu. Er hatte die Truppen erspäht, während er, Mangas, und in hundert Raubzügen erprobte Krieger sie nicht gesehen hatten – daran dachte Mangas. Er versuchte, Argwohn zurückzudrängen, aber vergebens; nur ein aus der Vergangenheit zurückgekehrter Kriegsschamane würde so selbstsicher auftreten. Während seines und seines Vaters Leben hatte es einen solchen Mann nicht gegeben, aber man hatte sich Geschichten über Schamanen erzählt, die zum Führen und die zum Krieg geboren waren. Die zunehmende Gewißheit dieser Dinge im Denken des mächtigen und einflußreichen Mangas sollte eine starke Wirkung auf Gokhlayehs Schicksal ausüben. In der Morgendämmerung brachen die Soldaten das Camp ab, saßen auf und entfernten sich nach Norden. Die Campfrauen riefen ihnen nach und winkten. Und als die Soldaten im Norden klein und undeutlich wurden, schlenderten die Frauen nach Crassaves zurück. Noch ehe die nächste Nacht vorüber war, würden sie erfahren haben, wie dicht sie unter den Augen der Apachen gelagert hatten. Die Sonne ging auf, und Hirten brachten Rinder und Pferde aus dem Dorf und trieben sie auf das Gebirge zu. An seinem Rand lenkten sie die Herde nach Süden und ließen sie dann im Galletagras weiden, das längs eines trägen Baches wuchs. Noch immer ging Mangas mit seinen Kriegern nicht vor. Geduldig, wie Adler über einer Beute lauernd, warteten sie ab. Die Soldaten mußten noch weiter gegen Norden vorrücken, ehe die Krieger in 85
Aktion treten konnten. Die Ebenen dünsteten unter der Sonne, die den Mittagspunkt schon überschritten hatte, glühendheiß. Nichts bewegte sich außer den Rindern und Pferden, die in der Ferne weideten, und erst als sich die Sonne rötete und gegen den Horizont zu senkte, sammelte Mangas seine Männer. Kriechend arbeiteten sie sich über die Prärie vor. Sie verteilten sich über eine lange Linie, jeder Mann kauerte neben einem Busch, direkt an dem Weg, auf dem die Herde ins Dorf zurückkehren würde. Weit weg, in Crassaves, bellte ein Hund, und die Glocke der Kathedrale begann zum Sonnenuntergang zu läuten. Die Herde geriet in Bewegung. Da die Tiere den vertrauten Nachtkorrals des Dorfes zustrebten, brauchten sie keine Vorreiter, und die Vaqueros ritten daher im Staub hinterher. Es waren langgehörnte, von Natur aus argwöhnische spanische Rinder, aber die Bäuche voller Gras, und nach einem langen Tag in kräftiger Sonne trotteten sie nur dahin; ihre Sinne waren eingelullt und ohne Argwohn. Jeder Krieger duckte sich wie ein Stein hinter seinen Busch. Die Rinder kamen direkt auf sie zu, und auf einmal waren sie alle um die Apachen herum und trotteten zwischen ihnen weiter. Ein Räuspern, ein Kratzen mit dem Fuß, irgendeine Kopfbewegung – all so etwas würde die Rinder in die Flucht gejagt haben. Gokhlayeh befand sich am Ende der Linie, nahe dem Außenrand der Herde. Er starrte steinern auf die Hufe der Rinder, die an ihm vorbeitrotteten. Ein Langhornrind fegte durch den Salbeibusch, hinter dem sich Gokhlayeh verbarg – wie ein Stier, der sich der Fliegen erwehren will, seinen Kopf durch Zweige fegt. Die scharfe Hornspitze flitzte nur zollweit von seiner Kehle entfernt vorbei, riß aber eine schmale Wunde an seiner Schulter auf, doch er bewegte sich nicht. Erstickend erhob sich um die kauernden Krieger der Staub, und durch die Staubwolke konnte Gokhlayeh das Ende der Herde erkennen. »Vamos!« Der Schrei eines gereizten Vaquero erschreckte Gokhlayeh; der Mann war fast bei ihm, versteckt zwischen Staub und Rindern. Er hatte ein bärtiges Gesicht und trug einen breiten Sombrero. 86
Er ritt lässig, ein Gewehr quer über dem Sattel. Sein Pferd, ein schäbiges Pony, das so lustlos trottete wie die Rinder, näherte sich. Jetzt kam das Pferd dicht an Gokhlayeh vorbei. Er hielt das Messer flach zwischen den Zähnen fest; er glitt geschmeidig neben das Pferd, ja fast darunter – und dann sprang er und schnellte sich hinter den Reiter hinauf, und noch ehe er Sitz gefunden hatte oder das Pferd bocken konnte, flitzte die lange Messerklinge grausam über den Hals des Vaqueros; mit einem zischenden Laut durchschnitt sie das Fleisch. Gokhlayeh zügelte das Pferd nur ganz leicht, schleuderte den Reiter zu Boden, schnappte sich den Sombrero und drückte ihn auf seinen Kopf. Der ganze Zwischenfall hatte sich blitzschnell und stumm abgespielt. Und er erregte auch kaum ein leichtes Schwanken der ausgeglichenen Bewegungen von Herde wie Pferd, aber jeder der beobachtenden Krieger sah, was Gokhlayeh getan hatte. Krieger fuhren in die Höhe und rissen die beiden noch verbliebenen Reiter von den Pferden. Dann warfen die Krieger rohlederne Kinnzügel über die Herdenpferde, stiegen alle auf und lenkten langsam die Herde vom Dorf weg zu den Bergen hin. Sie taten alles ohne Hast, und innerhalb einer Stunde war Crassaves friedlich hinter ihnen, der Sicht entschwunden. Am Morgen würden die Dorfbewohner die Leichen der Vaqueros finden. Sie würden Boten den Soldaten Richtung Norden nachjagen; andere würden der Fährte der Herde folgen, bis sie in die Berge abbog. An dieser Stelle würden sie wieder umkehren, denn nur eine Armee konnte Apachen in die Berge hinein folgen.
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ie verhalten pochenden Schläge der esadadnes, der Kriegstrommeln, begrüßten die Beutemacher, als sie die Rinder in den schattigen Canyon der Rancheria trieben. Dann begann der Tanz, mit dem sie das Geschenk der Nahrung feierten und Usen ihre Dankbarkeit zeigten. Gokhlayeh und der Krieger Kahtala wurden auf der Fährte zurückgeschickt. Denn falls die Soldaten anrückten, mußten sie unter Beobachtung bleiben. Von einem einsamen Ansitz, hoch auf einer vorspringenden Kuppe, konnte Gokhlayeh die melodischen Gesänge der Feier und das Tanzen hören. Sie erwähnten seinen Namen und erzählten davon, wie er die Soldaten gesehen und die Beutemacher vor dem Tod bewahrt habe. Aber er hörte die Worte nicht. Er fühlte sich im Mondlicht unbehaglich, während er weit über die zerklüfteten Gipfel der Berge hinausspähte. Er fühlte, daß die Soldaten im Anmarsch waren. Er wußte es, aber er konnte sie weder sehen noch hören. Der Tanz währte die ganze Nacht, und am Morgen begannen die Leute, die Rinder zu schlachten und das Fleisch zu trocknen, um es dann wegen des leichteren Transports in Häute einzuschlagen. Gokhlayeh wurde nicht hinzugeholt, und daher blieb er auf der Kuppe. Er achtete darauf, sich nicht gegen den Himmel abzuheben, lag in voller Länge auf einem Felsblock und schaute nach Norden. Er sah der Sonne zu, wie sie aus verborgenen Tiefen unter den Gipfeln den Nebel davonjagte. Die Sonne stieg höher und erwärmte den felsigen Gipfel, auf dem er lag, aber er bewegte sich nicht. Er konnte das Brüllen der Rinder und, ganz schwach, das Murmeln der Gespräche hören. Mittag ging vorüber, und die Sonne neigte sich nach Westen. Träge versammelten sich Bussarde und zogen ihre Kreise höher und höher über der Rancheria, denn sie schwelgten schon in Vorfreude auf die 88
Überreste der Rinderschlächterei. Die Bussarde waren gefährlich, denn schon auf weite Ferne wiesen sie auf den Ort der Rancheria hin. Die Sonne sank nach Westen, um dort der Erdkante zu begegnen, und die erste kühle Brise Wind dämpfte die Wogen der Hitze. Weit entfernt, in den Bergen, stob eine Wolke von Punkten in die Luft. Sie zogen keine Kreise, sondern flogen westwärts, auf die Ebene zu. Krähen! Gokhlayeh legte einen Stein vor sich und machte für die Länge seines Schattens ein Zeichen auf den Fels. Jetzt beobachtete er angespannt; der Steinschatten fiel länger. Noch näher bei ihm als die Krähen, schoß plötzlich ein einzelner Punkt himmelwärts empor und segelte, in seiner Flucht einem Pfeil gleich, nach Westen davon. Ein heftig aufgeschreckter Falke. Gokhlayeh markierte, als er den Falken erblickte, die Länge des Schattens, die der Stein warf, und nun kannte er das zeitliche Tempo der vorrückenden Soldaten. Sorgfältig visierte er mit seinem Blick, Stück für Stück vorwärtshüpfend, zuerst eine direkt vor ihm liegende Stelle an, die für ihn die Entfernung von den Krähen zum Falken festlegte, dann weiterwandernd eine ähnliche Stelle, bis er schließlich den Punkt hatte, wo der Falke aufgestoben war. Er kalkulierte Entfernung und Zeit; die Soldaten, die unschwer der eingetretenen Rinderfährte folgten, würden noch vor Mitternacht in der Rancheria sein. Er schaute über die bewaldete Rinne hinweg und suchte den hohen nackten Fels, hinter dem, wie er wußte, Kahtala lag. Von ihm war nichts auszumachen. Er hatte die Annäherung der Soldaten nicht bemerkt. Gokhlayeh stemmte sich etwas hoch, bis er sich gegen die Sonne abhob, und pfiff so schrill wie ein Falke; das Pfeifen warf zwischen den Felsen Echos. Langsam tauchte Kahtalas Kopf über seinem Standplatz auf; er beobachtete ihn. Gokhlayeh streckte die Linke über den Kopf, ballte sie zur Faust und wies mit dem Ellbogen zur Rancheria: der Feind kommt! Mit übertriebener Gestik rieb er die offene Fläche der rechten Hand über seine Augen: sie werden nach Einbruch der Dunkelheit da sein! Dann hob er die offene Hand, geradeaus und himmelwärts, und verän89
derte langsam ihre Neigung, indem er die Hand gegen Osten hin einknickte: sie werden auf der Ostseite von Mitternacht ankommen … also vor Mitternacht! Kahtala stand auf und schwenkte die Arme weit. Er hatte verstanden. An ihm lag es nun, Mangas Bericht zu erstatten. Gokhlayeh streckte den kräftigen Körper aus und war froh, sich bewegen zu können, und ehe er sich wieder auf den Felsen legte, nahm er sehr beherrscht nur einen Mund voll Wasser aus dem Häutebeutel. Er wußte es, daß Kahtala das Camp erreichte; das Murmeln der Stimmen ebbte jäh in Schweigen ab. Dann wurden die Stimmen wieder lauter, und neue Geräusche kündeten von starker Aktivität. In seinem Rücken hörte er Kahtala auf die Kuppe kommen und setzte sich aufrecht. Kahtalas Kopf tauchte über dem Kuppenrand auf, und ächzend zog er sich zu Gokhlayeh hoch. Er war nicht mehr jung. Unter dem Hirschlederband war sein Gesicht gefurcht. Auf seiner nackten Brust verlief eine purpurrote Narbe nach unten, eine glatte Narbe, die genau den Weg eines geschwungenen mexikanischen Soldatensäbels während eines lange zurückliegenden Kampfes ums nackte Leben bezeichnete. Der Mexikaner hatte damals verloren. Kahtala setzte sich. »Wie hast du es gemerkt?« »Krähen! Haben keine Kreise gezogen! Ebensowenig wie später der Falke«, antwortete Gokhlayeh. Kahtala knurrte zustimmend. »Unsere Schar wird sich zerstreuen, und es wird keine Fährte geben. Alle wollen sich jenseits der Berge, auf der Chihuahua-Ebene, wieder treffen.« »Und dann?« fragte Gokhlayeh. »Mangas meinte, wir würden nach Norden ziehen. Wir…« Kahtala hielt inne. »Wir werden folgen, nachdem wir den Soldaten geholfen haben, das, wonach sie suchen, zu finden.« Er nahm zwei Stücke feuergeschwärzten Rindfleisches aus einem Beutel und reichte eines davon Gokhlayeh. Im Sitzen kauten sie nachdenklich das zähe Fleisch. Gokhlayeh hatte Hunger, und die Säfte des Fleisches taten dem ausgetrockneten Mund gut. Sie aßen schweigend. Der Rand der Erde und die Sonne berührten sich. Von dort, 90
wo man die Geräusche der Rancheria gehört hatte, drangen keine Stimmen mehr herauf. Kahtala stand auf. »Komm«, sagte er und glitt die Felsen hinunter. Gokhlayeh folgte ihm in den Canyon. Am Ort der Rancheria war nun nichts mehr. Selbst die Campfeuer waren mit Sand und Buschwerk zugedeckt worden. Rinder weideten längs der Ufer des kleinen Baches. An eine Pinie waren zwei Pferde gebunden. »Wir müssen diese Pferde reiten«, sagte Kahtala, »und das Vieh auf die Fährte treiben, auf der wir gekommen sind, um die Soldaten zu treffen.« Bis sie das Vieh zusammengejagt hatten, war es Abenddämmerung geworden. Sie trieben die Rinder durch den schmalen Arroyo auf ihrer damaligen Fährte zurück. Die Sterne erschienen eine Weile vor dem abnehmenden Mond. Die Schar hatte die Hälfte der eingefangenen Herde geschlachtet; nahezu hundert Rinder fingen jetzt an, protestierend zu brüllen, und das warf Echos weithin durch die Berge. Kahtala drängte sein Pferd dicht an Gokhlayehs heran. »Wir müssen sie schneller treiben. Die Soldaten werden sie bald hören.« Aber die Fährte führte auf einem Bergrücken aufwärts, und soviel sie sich auch mühen wollten, die Ponys gegen die Herde zu drängen: die Leittiere ließen sich nicht über einen Trott hinaus anspornen. Eine Stunde lang jagten sie die Rinder auf dem Kamm entlang, über einen kleinen Bergrücken und hinab in einen Canyon; dabei hielten sie die Tiere auf der gutgezeichneten Treibspur. Im Canyon gab es Gras, und die Rinder begannen zu weiden. »Wir müssen hier kampieren«, sagte Kahtala. »Soldaten kommen.« Gokhlayeh und Kahtala sammelten Holz und häuften es zu getrennten Stapeln auf dem Canyongrund auf. Während Kahtala die Häufchen anzündete, schnitt Gokhlayeh Tipipfosten und warf sie wahllos neben den Feuern hin. Die Flammen schossen hoch in die Luft und zeichneten schattige Streifen über die Canyonwände. Einen Augenblick blieben sie beobachtend und lauschend stehen. »Die Scouts«, sagte Gokhlayeh, »werden vor den Soldaten kommen. Wir werden sie nicht hören.« 91
»Ja«, erwiderte Kahtala. »Komm.« Sie schwangen sich auf die Pferde und ritten zwischen den Rindern auf und ab; dabei erzeugten sie viele Spuren, und dann erst verließen sie den Canyon und ritten nach Westen. Hinter ihnen strahlte der Schein der Campfeuer gegen den Himmel. Zwei Stunden ritten sie nach Westen, bis sie die Ebene von Sonora sichteten; dann wandten sie sich nordwärts. Als der Tag anbrach, lenkten sie die Pferde auf felsigen Boden, nahmen ihnen die Zügel ab und ließen sie frei. Zu Fuß liefen sie dann über die Berge in Richtung Chihuahua. Vor Mitternacht berichteten die Scouts dem mexikanischen comandante. Sie hatten die Rancheria der Apachen gefunden. Er ließ seine Truppen vorsichtig anrücken und hielt sie aus der Reichweite des Camps, bis seine Scouts die Fluchtspuren der Apachen untersucht hatten. Nur zwei Pferde, deren Fährte man leicht im Boden aufspürte, waren aus dem Camp nach Westen weggeritten worden. Nicht mehr. Der comandante schüttelte enttäuscht den Kopf, aber die Enttäuschung war ihm altbekannt und vertraut. Man wußte, daß die Apachen, einmal in den Bergen, von ihren Rancherias wie Vögel fliehen und keinerlei verfolgenswerte Spur hinterlassen würden. Der comandante bezweifelte niemals das, was er entdeckt hatte. Die Rancheria war das Ziel, das zu finden er sich in den Kopf gesetzt hatte, und da er sie aufgespürt hatte, suchte er nicht weiter. Das wußten die Apachen von diesen Männern und ihrem körperlichen Denken – und so gaben sie ihnen die Illusion dessen, wonach sie suchten. Obwohl die Apachen geschickt in vieler Hinsicht waren – zu überleben, in den Fährten der Ebenen und Berge, in den Taktiken von Krieg und Raubzug – so waren sie doch zuerst Meister der Illusion. Zwei Tage liefen Kahtala und Gokhlayeh durch die Berge. Beim Anblick der Chihuahua-Ebene lenkten sie nach Norden ein und stießen auf die Fährte ihrer Schar. Ein weiterer Tag brachte sie dann ins Camp. Mangas führte die Schar nach Hause. 92
Die Schar überquerte nachts die Wüste nördlich der Sierra Madre und erblickte östlich ihres Kurses ein Campfeuer. Scouts berichteten, es sei das Camp eines südlich ziehenden Maultierkonvois. Beim Anblick der sich nähernden Apachen flohen die Treiber und ließen ihre Maultiere im Stich. Dreißig Maultiere, die Zuckerhüte und Speck transportierten. Die Apachen warfen den Speck fort. Kein Apache ißt jemals Schwein oder Fisch, denn von beiden Tieren weiß man, daß sie Reptilien fressen. Was sie von den Zuckerhüten nicht selbst brauchen konnten, würden sie gegen Decken an die Navajos verkaufen. Sie fügten die dreißig Maultiere ihrer schon großen Pferderemuda hinzu und setzten den Marsch nach Norden in die Dragoon-Berge fort. Jetzt waren sie reich; Zuckerhüte zum Verbrauchen und zum Verkaufen, Rinder und Maultiere als Winterfleisch – und Pferde. Tief in den Dragoon-Bergen bauten sie ihre Rancheria auf. In der ersten Nacht der Niederlassung und des Feierns wurde Gokhlayeh vor den Rat zitiert. Mangas Coloradas saß in der Mitte der Krieger. Er schaute über das Ratsfeuer den jungen Mann an, der ungerührt vor ihm stand. Der junge Mann trug Lendenschurzhosen und Mokassins; sein Körper vibrierte in der Kraft seiner Beine und Schultern. Sein Gesicht mit dem eckigen Kinn war von schwarzem buschigem Haar eingerahmt; seine Lippen waren so dünn, daß sie wie eine Schnittnarbe aussahen. Die Augen blickten Mangas an; schwarz, brennend, vielleicht alte Augen, dachte Mangas, vielleicht Augen, die irgend etwas in der Vergangenheit oder in der Zukunft sahen. Gespenstisch. Mangas schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären, aber die Ahnung wollte nicht weichen, und er erinnerte sich an Gokhlayehs Tapferkeit während des Raubzuges. War er ein Kriegsschamane – ein geborener, nicht ein angelernter? Wiedergeboren von dem Großen Rad? Zuerst wurden Gokhlayeh die Verantwortungen eines Kriegers dargelegt: die Sicherheit des Volkes zu schützen; dafür einzustehen, daß alle seine Leute Nahrung bekamen und daß für die Kranken und 93
Alten gesorgt wurde; Mut, Ehre und Zuneigung bei der Ausübung dieser Pflichten selbst im Angesicht des Todes durch den Feind zu zeigen. Es gab viele und unterschiedliche Verantwortungen, aber alle wurzelten sie in der Kraft und Anwendung der einfachen geistigen Werte. Es gab nur wenige Rechte, die die Erfüllung dieser Verantwortungen begleiteten. Die Praxis der Apachen gestattete es keinem Politiker, dieses Verhältnis zu verändern, indem er sich von den Verantwortungen jener, die ihm Macht geben würde, entlastete. Die Logik und die Praxis waren daher fest geregelt. Wer Verantwortung ignorierte, verlor Rechte. Die sich daraus ergebende Beurteilung, schlecht oder wohlwollend, folgte dem Gesetz und war daher Gerechtigkeit. Die Gesellschaft der Apachen blieb stark. Gokhlayeh erhielt als Belohnung sechs Pferde. Auch bekam er das Recht, zu heiraten. Er war ein Krieger. Als er den Rat verließ – während das Pochen der esadadnes und die Gesänge hinter ihm dröhnten –, folgte er dem Quellwasser, das im Mondschein glitzerte. Die Geräusche der Rancheria blieben zurück. Vorne, in den Schatten der Bäume, sah er sie. Sie saß auf einem Stein und hielt die Füße ins Wasser. Alope. Sie blickte nicht auf, als er zu ihr kam, sondern beobachtete die Spiegelungen des Mondes im Wasser. Langes schwarzes Haar fiel ihr über das weiße Rehfellkleid, ihr bestes. Sie war schlank, ja zierlich – mit winzigen Brüsten und schmalen Hüften. Manche Frauen nannten sie zerbrechlich, aber sie konnte tüchtig arbeiten und war ihrem verwitweten Vater eine pflichtbewußte Tochter. Ihre Liebe, schöne Dinge zu schaffen, drückte sich in den Verzierungen ihrer pantoffelähnlichen Mokassins und ihres Kleides aus. Gokhlayeh setzte sich neben sie auf den Stein. Eine Weile blieben sie wortlos sitzen. Sie liebten einander schon lange, und zu sprechen bedeutete oft, sich in des anderen Gedanken und Gefühle einzudrängen. Wie viele Male hatten sie sich davongestohlen, um Sonnenauf- und -Untergänge zu beobachten – die Geburt und das Sterben des Lichtes – und gemeinsam diese zwei 94
großen Ereignisse allen Lebens zu erleben? Für beide war es nicht notwendig, einander zu sagen: »Ich liebe dich.« Worte, die nur zu oft gelogen sind. Der Apache brachte vielmehr Tätigsein zum Ausdruck. Wie kann Tätigsein lügen? Loyalität, Besorgtheit, Treue, Pflicht, Haß, Zorn und Liebe – Betätigungen sind die Wahrheit all dieser Gefühle, und daher lügen sie nicht. Gokhlayeh und Alope erfreuten sich an der Bereicherung durch solches Wissen. Kein Wirrwarr mißbrauchter Worte, kein oberflächlicher Witz oder verschlagene Wortklaubereien säten Zweifel in ihre Gefühle. Gokhlayeh sprach zuerst. »Es ist getan.« »Ja.« Sie schaute nicht vom Wasser auf. »Darf ich deinen Vater fragen?« Ihre winzige Hand kam, um seine zu halten, und sie schaute ihn an, und ihr Lächeln blitzte schüchtern. »Ja.« Sie erregte ihn stets durch ihre Berührung und durch ihr Lächeln, um so mehr, weil sie daran nie gedacht hatte. Früh am Morgen erschien Gokhlayeh vor dem Tipi Noposos. Er wußte, es würde keine Frage sein. Der Vater konnte seine Tochter nicht verweigern, die der Heirat zugestimmt hatte, es sei denn, er konnte einen Charakterfehler an dem jungen Mann entdecken. Der alte Noposo saß vor dem Tipi, um Gokhlayeh zu empfangen. Er fühlte sich zwischen Freude und Widerstreben hin- und hergerissen. Er freute sich, daß dieser neue Krieger, von dessen Tapferkeit die Leute bereits redeten, seine Tochter heiraten wollte. Immerhin war Gokhlayeh ja auch wirklich Sohn eines Häuptlings. Zugleich aber fühlte er Widerstreben, seine pflichtbewußte Tochter herzugeben, die Schönheit und Annehmlichkeit in sein Leben gebracht hatte. Noposo seufzte und schaute resigniert den jungen Mann an, der unbewegt vor ihm stand. »Ja?«
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»Ich habe Alope gefragt«, sagte Gokhlayeh höflich. »Sie hat zugestimmt. Wir möchten gern beisammen sein – unser beider Leben auf gemeinsamem Weg zu gehen.« Keine arroganten Worte von kriegerischer Macht oder Prahlerei wegen seiner Jagderfolge. Noposo war erfreut über die einfache Bescheidenheit des jungen Mannes. Trotzdem wünschte er die Tiefe seines Gefühls für seine Tochter zu prüfen. War er aufrichtig? Bewertete er sein Gefühl sehr hoch? Noposo wußte, daß der Rat Gokhlayeh mit sechs Pferden belohnt hatte, und so hob er bedächtig die Hand und spreizte die Finger weit: fünf. »Pferde«, sagte er ruhig, »keine Maultiere.« Es war die Vergütung für den Verlust seiner Tochter. Gokhlayeh kannte weder Zögern noch Einspruch. »Ich besitze sechs Pferde. Du kannst dir aus ihnen deine fünf aussuchen.« Gokhlayehs Gefühl war gut und wahrhaftig. Das war ihre Vermählung. Keine andere Zeremonie war notwendig. Gokhlayeh baute ein Tipi neben dem seiner Mutter. Alope brachte ihre Kleider, Rehfelle sowie verzierte Mokassins und hängte sie an die Wände des Tipis. Zuerst aber gingen sie fort. Ausgerüstet mit Büffelfellen, kletterten sie die Canyonwand hinauf. Auf einer Mesa hoch über der Rancheria breiteten sie die Decken unter einer Pinie aus. Hier, fern vom Lärm der Menschen, umgeben vom süßen Geruch der Pinien, weihten sie den aus der Vermählung zweier entstandenen Beginn eines einzigen Lebens; sie waren einer geistigen Ekstase ausgesetzt, die ihre physische Vereinigung überstrahlte. Vom Anfang an waren sie eins. Das Licht des Mondes versilberte den Canyon unter ihnen und sprenkelte Fünkchen auf weit entfernte Bergfelsen. Während sie im Schatten der Bäume auf den Büffelfellen lagen, schob Alope ihre kleine Hand in die Gokhlayehs. »Vielleicht«, flüsterte sie, »hast du, wenn du etwas findest, Angst, es zu verlieren? Ich habe Angst, Gokhlayeh. Wird unsere Zeit nur kurz sein?« 96
Gokhlayeh festigte den Griff seiner Hand um ihre. »Einmal«, sagte er bedächtig, »sagte mir mein Vater, ich solle zu einem Berg laufen. Ich bin drei Tage lang durch die Wüste gelaufen. Mein Mund war trocken und ausgedörrt und meine Zunge von Durst geschwollen. Da stieß ich auf eine Quelle frischen Wassers, das über Felsen in den Bergen herabsprudelte. Ich wollte mich in die Quelle stürzen und das Wasser trinken, nur damit mein Mund schnellstens das Gefühl des Durstes verliere. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe mich daneben hingelegt. Ich berührte mit meinen Lippen das Wasser und fühlte seine Kühle. Dann nahm ich einen kleinen Schluck Wasser, fühlte es in meinem Mund und in meinem Denken plätschern, und mein Geist empfand die Süße. Ich habe die Zeit nicht nachgemessen. Wie lange lag ich wohl dort? Ich weiß es nicht; vielleicht eine ganze Jahreszeit, vielleicht einen Augenblick – vielleicht zehn Jahreszeiten? Aber ich habe die Zeit nicht nachgemessen; dies wird immer in meinem Geist sein. Und«, sagte Gokhlayeh, »ich dachte mir, ein Mann könne auch neben dieser Quelle geboren sein und hier neben dieser Quelle sein Leben fristen, und sein Geist würde doch niemals das wissen, was meiner jetzt weiß. Vielleicht würde er seinen Geist dies niemals fühlen lassen, auch wenn er hundert Jahre neben dieser Quelle lebte.« Alope schlang den Arm um ihn. »Wollen wir das also tun, Gokhlayeh? Und es wird keine Zeit für uns geben?« »Es wird keine Zeit geben«, antwortete Gokhlayeh. Alopes Instinkt war richtig. Die Zeit würde nicht so lange währen, wie Menschen sie maßen. Aber es sollten die reichsten Jahre in Gokhlayehs und Alopes Leben werden, und auch innerhalb der kurzen Zeit, die Alope gegeben war. Im ersten Jahr wurde ein Sohn geboren, und innerhalb von vier Jahren noch zwei Töchter. Aber diese Jahre waren nicht ruhig. Mexikanische Soldaten drangen weiter nach Norden vor. Viermal in einem Jahr wurde die Schar von ihnen überrascht und zur Flucht gezwungen; sie verlor Krieger, Frauen und Kinder. Bei jeder Gele97
genheit zeichnete sich Gokhlayeh aus; er wehrte die Soldaten ab, während Frauen und Kinder entwichen. Er tötete mehr Feinde. Während dieser Jahre sahen die Apachen erstmals weiße AngloMänner. Sie trieben Stöcke in den Boden und visierten an ihnen entlang. Die Bedonkohe kamen auf die Ebenen, trafen die weißen Männer und gaben ihnen Wild und andere Nahrung. Die Weißen gaben den Apachen Hemden und Geld. Sie schüttelten sich die Hände und versprachen, wie Brüder zu sein; bald gingen die weißen Männer wieder fort, und den Bedonkohe tat es leid, sie ziehen zu sehen. Es gab nichts, wofür sie das Geld verwenden konnten, aber auf einem Streifzug nach Norden, um Handel zu treiben, sagten ihnen die Navajos, daß Geld sehr wertvoll sei. Gokhlayeh tauschte bei einem Navajo sein Geld gegen ein kleines Schmuckstück ein; es war ein winziges Reh, das witternd und wachsam den Kopf gehoben hatte. Es war ausgezeichnete Silberarbeit und erinnerte ihn an Alope. Alope schnitt Strähnen aus ihrem Haar und wand sie zu einem feinen Zopf. In der Mitte befestigte sie das Reh aus Silber und hängte sich den Zopf um den Hals. Sie nahm ihn niemals ab. Zuerst fanden es einige Frauen lächerlich, daß Gokhlayeh für Geld ein Schmuckstück eingehandelt habe; das Geld hätte ihm einige Decken einbringen können. Wenn sie aber Alopes geheimes Lächeln und ihre Liebe zu dem Reh aus Silber erkannten, lachten sie nicht mehr. Es war das letzte Geschenk, das Alope empfangen sollte. Wieder kamen weiße Männer. Diesmal kamen sie auf Pferden, in blauen Waffenröcken. Sie trugen Gewehre. Als Mangas und seine Schar sie besuchen wollten, schossen die Weißen mit Gewehren auf sie; sie töteten eine Frau, und die Bedonkohe flüchteten zurück in die Berge. Mangas entschloß sich, seine Leute nach Süden zu bringen. Dies würde den Weißen Zeit geben, wieder fortzugehen. Sie marschierten nur nachts, überquerten die Wüste bis zu den Vorbergen der Sierra Madre und schlossen mit einem Mexikanerdorf Frieden, das die Apachen Kaskiyeh nannten. Der Vertrag sollte ewig gelten. 98
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ie Sonne schien noch hell an diesem Frühlingsspätnachmittag. Der seichte Arroyo der Rancheria war von Geräuschen erfüllt. Kinder rannten planschend und schreiend in dem schmalen Bach herum. Sie hatten schon fast eine Woche in der Nähe von Kaskiyeh Camp bezogen, während die Männer Wildfleisch und Bärenfelle gegen Tuche, eiserne Gegenstände und Messer tauschten. Bald würden die Männer zum Abendessen heimkehren. Im Frühjahrsregen quakten die Frösche am Bach, und Bienen summten um frühgeöffnete Blüten herum. Alope blieb neben dem Kochtopf stehen. Ihr Blick folgte Tala, ihrem Sohn. Er hüpfte in den seichten Bach hinein. Er grätschte seine stämmigen Beine und spritzte das Wasser mit seinem breiten Hintern hoch auf. Leta, ihre vierjährige Tochter, versuchte, es dem älteren Bruder nachzumachen, und stolperte ihm nach. Das hoch aufspritzende Wasser übergoß sie mit silbernem Glanz. Alopes Schwiegermutter, die daneben stand, folgte Alopes Blick und lächelte. »Sie sind stark.« »Ja.« Alope lachte. »Fast zu stark für mich.« Die kleinste Tochter schaukelte in einer tshoch zwischen zwei Lebenseichen und spielte mit einer über ihr aufgehängten Perlenkette. Es war eine gute Zeit. Wenn Alope ihre Kinder betrachtete, war sie innerlich froh. Der Frühling allein war an all diesen Gefühlen nicht schuld. Sie fühlte sich ausgefüllt und zufrieden mit dieser Einigkeit, die ihre ganze Familie umschlang. Gokhlayeh liebte die Kinder so wie sie, ohne Zurückhaltung. Wenn er fort war, warteten sie auf seine Rückkehr und kreischten vor Freude, wenn er sie alle in die Arme riß und mit ihnen auf den Boden rollte. Selbst das Baby war schon soweit, die Schritte des Vaters zu erkennen, und quietschte vor Vergnügen, wenn er es hoch in die Luft warf und mit den Armen auffing; während Tala und Leta an seinen Beinen zerrten, um ihn wieder auf den Boden zurückzuziehen. Das Leben war gut. 99
Sie befanden sich im Frieden und würden nach Hause zurückkehren, sobald die Blauröcke abgerückt waren. Für die Rancheria waren keine Wachen notwendig. Ihr Vater Noposo war der einzige zurückgebliebene Mann, und er war geblieben, weil er nicht bis zum Dorf laufen wollte. Er saß eingedöst an einem Baum. Alope lächelte. Sie würde ihm zur Abendbrotzeit Essen bringen. Der alte Mann verließ sich immer noch auf sie. Sie beugte sich über ihren Kochtopf. Etwas stimmte nicht. Rasch blickte sie zu den Kindern; sie lachten noch und spritzten mit Wasser. Ihre Schwiegermutter war zur tshoch gegangen und sang leise dem Baby vor. Alope schaute den Arroyo hinab; die Frauen kochten, riefen einander zu und lachten. Kinder rannten herum und spielten. Aber das Gefühl wollte nicht weichen. Unruhig geworden, fühlte sie einen Druck in ihrem Hals schwellen. Die Frösche hatten zu quaken aufgehört. Zögernd ging sie einen Schritt auf Tala und Leta zu, die im Bach spielten. Sie blieb stehen und schaute sich wieder um. Dann sah sie sie. Sie standen in langer Reihe am oberen Rand des Arroyos. Soldaten! In ihren Händen trugen sie blanke Säbel. Einige hatten lange, mit scharfen Eisenspitzen versehene Lanzen. Es waren bärtige Männer, die grinsten, wie über einen Scherz, den sie gerade anstellen wollten. Die Reihe dehnte sich bis über die Frauen unterhalb von ihr aus. Langsam erstarben die Geräusche in dem Arroyo. Das Sprechen ebbte ab, aber einige Kinder, die noch nichts merkten, lachten und kreischten in der Stille. Der durch das Schweigen erwachte Noposo sprang hoch. Ein Soldat stürzte vor, bohrte eine Lanze durch den Leib des Alten und preßte ihn, der sich um die Lanze zusammenkrümmte, zu Boden. Die Tat löste wildes Geschrei aus, das die Luft erfüllte. Von den Soldaten her erscholl lautes Brüllen. Sie sprangen in den Arroyo hinein, mitten zwischen die kreischenden Frauen und Kinder. Alope rannte zum Bach. Ein Schlag warf sie zu Boden. Ein Soldat fiel über sie her und riß an ihrem Kleid. Sie wand sich, trat um sich und schlug auf ihn ein. Sie überraschte den Soldaten durch ihre 100
Kraft; sie bäumte sich unter ihm, trat ihn, so daß er über den Boden rollte, und rappelte sich auf Händen und Knien hoch; sie versuchte in der Staubwolke ihre Kinder ausfindig zu machen. Der Soldat fluchte und kroch ihr nach; er packte sie an einem Knöchel, riß sie, nun nackt, unter sich, drehte ihren Körper herum und schlug sie brutal ins Gesicht. Der Schlag betäubte sie beinahe. Wie durch einen Nebel schaute sie sich verzweifelt nach ihren Kindern um. Sie verteidigte sich nicht mehr, sondern versuchte nur, den Kopf und ihre Augen in alle Richtungen zu wenden und etwas zu sehen. Eine Frau taumelte an ihr vorbei, von einem Soldaten, der auf ihren Rücken sprang und sie niederdrückte, zu Boden geworfen. Ein junges Mädchen brach nackt neben ihr zusammen. Ihr wilder Blick nahm nichts mehr auf, ihr langes Haar streifte über den Boden, und ihr Kopf zuckte. Ihr Mund stand offen, und sie kreischte. Ein riesiger Mann lag auf ihr, zwischen ihren kindlichen Beinen, die in die Luft traten und stießen. Frauen und Kinder drängten sich in dem Durcheinander herum, rannten hierhin, um zu entkommen, und jagten zurück, von einzelnen Soldaten verfolgt. Sie sah ihre Schwiegermutter, die das Baby in den Armen trug, an ihr vorbeirennen. Eine Hand tauchte in ihrem Blickfeld auf und packte die alte Frau bei ihrem langen Haar; eine andere Hand schwang einen Säbel gegen ihren Rücken. Grotesk und unnatürlich knickte die alte Frau nach hinten um; der Rumpf war beinahe abgetrennt. Das Baby fiel weinend zu Boden. Alope versuchte nach dem Baby, ein paar Meter von ihr entfernt, zu greifen, aber sie konnte den Arm nicht freibekommen. Durch den Staub sah sie Tala vom Bach herüber rennen; seine stämmigen Beinchen hoben und senkten sich. Hinter ihm rannte Leta, stürzte zu Boden und stemmte sich wieder auf. Leta weinte und rieb sich mit den kleinen Fäusten die Augen. Tala rannte noch. Er weinte nicht. Sein kleines rundes Gesicht ließ eine starre Entschlossenheit erkennen; wie das von Gokhlayeh, dachte Alope verwirrt. Ein anderer Soldat tauchte in Alopes Blickfeld auf; er lief auf Tala zu. 101
Alope kreischte: »Lauf davon! Tala! Lauf davon!« Der Soldat holte erfahren und kraftvoll mit dem Säbel aus. Talas Kopf flog vom Körper. Aus dem Halsstumpf schoß das Blut in einer Fontäne in die Luft. Aber der stämmige Körper lief doch noch einen Schritt, ohne Kopf, auf die Mutter zu. Noch einen; die dicken Arme zuckten, und er fiel neben ihr hin. Alope fühlte den Soldaten weder auf noch ihn ihr, und auch nicht die Zähne, die sie in Brüste und Gesicht bissen. Staub hüllte Leta ein, die sie nicht mehr sehen konnte, aber sie konnte ihr Kreischen von dem anderer unterscheiden. Wieder versuchte sie nach dem Baby zu greifen; sie riß einen Arm frei und streckte ihn über den kurzen Zwischenraum zu dem Baby aus, das auf dem Boden wimmerte. Ein Soldat bückte sich und hob das Baby auf. Sie sah, wie er es fast zärtlich liebkoste. Sie hörte, daß das Wimmern des Babys nachließ – sah, wie es die kleinen Knopfäuglein in Verwunderung aufriß; es schnüffelte und schluckte die Schluchzer hinunter, die den kleinen dicken Körper beben ließen. Der Soldat rief einem anderen zu, und, hin und her rufend, machten sie eine Wette aus. Das Baby wurde hoch in die Luft geworfen. Der zweite Soldat hob die Lanze. Alope konnte die lange, scharfe und in der Sonne glitzernde Spitze sehen. Unter der Spitze flatterte ein roter Tuchfetzen. Ihre Augen wurden glasig, als sie beobachtete, wie die kurzen dicken Ärmchen, höher und höher in der Luft, um sich schlugen. Dann stürzte das Baby, und voller Angst riß es die kleinen schwarzen Knopfäuglein weit auf. Sein Mund war offen; der Wind und der hohe Fall raubten ihm den Atem. Schnell wie eine Schlange stieß die Lanzenspitze zu, dem fallenden Körper entgegen, durchbohrte den Magen und ragte steif und blutig aus dem Rücken heraus. Das Gesicht des Babys wurde starr vor Schreck und Entsetzen. Alope fühlte ihre Sinne schwinden. Sie sah nicht mehr, wie ihr Baby, von der Lanze aufgespießt, um sich schlug – auch Leta nicht, die über die Erde kroch, als sie ein Säbel aufschlitzte. Sie mühte sich ab, um Alope zu erreichen, und ihre Eingeweide schleiften über die 102
Steine. Sie fühlte auch nicht den anderen Soldaten, der über sie herfiel; nicht einmal das Messer, mit dem man ihr die kleinen Brüste abschnitt, die man ihr obszön in den Mund stopfte. Sie war gleichzeitig mit dem aufgespießten Baby gestorben. Eine Bewegung auf der Prärie fiel den Bedonkohe-Apachen auf, als sie von Kaskiyeh zurückkehrten. Es war eine sterbende Frau, die ihnen mit den Armen zuwinkte. Die Männer ließen ihre beim Handeln im Dorf erworbenen Waren fallen und rannten in den totenstillen Arroyo hinein. Da und dort tönten noch schwach Schreie von Verwundeten und Sterbenden, aber die meisten der verkrampften, blutigen Körper waren reglos. Aus den Bäumen ringsum tauchten die Frauen und Kinder auf, die entkommen waren. Langsam schwoll ihr Weinen und Klagen an und erfüllte im Zwielicht den Arroyo mit unheimlichen Tönen. Gokhlayeh sah zuerst seine hingestreckte Mutter; die alten Augen starrten himmelwärts. Das blutige, runde, fleischige Bündel neben ihr war sein Baby. Sein Blick folgte Letas blutiger Spur über die Steine dorthin, wo sie versucht hatte, nach dem Fuß der Mutter zu greifen. Alope! Neben ihr krümmte sich der kopflose Leib Talas, der die mütterliche Wärme gesucht und gefunden hatte. Alope hatte eine Hand nach dem Baby ausgestreckt. Das Baby war tot; Alope war tot. Alle waren sie dahin. Er taumelte zwischen den Leichen herum, ging immer wieder zu jeder hin, blickte zu ihnen hinab und taumelte ziellos im Kreis weiter; nur um erneut zurückzukehren. Er berührte sie nicht. Jetzt überwältigte ihn der Trieb zu zerstören und alles auszulöschen, was er nur finden konnte. Er zündete sein eigenes Tipi und das seiner Mutter an und warf alles ins Feuer; damit nährte er die Flammen und hielt sie am Brennen. Er fand Talas kleinen Bogen und die ausgestopfte Puppe von Leta. Er schleuderte beides in die knisternden Flammen, kroch auf Händen und Knien zwischen den Leichen umher und suchte. Dann fand er die Perlenkette, die unter dem Baby hervorsah, packte sie und riß an ihr. Die winzige, erstarrte Faust hielt sie umklammert. 103
Die meisten Leichen im Camp waren zusammengetragen, Feuer waren angezündet worden. Vorbeigehende Männer und Frauen beobachteten Gokhlayeh, wie er zwischen den Leichen seiner Angehörigen herumkroch. Dann hielt er inne, setzte sich und riß sich die Mokassins von den Füßen, die Alope angefertigt hatte; er warf sie ins Feuer. Er zerrte die Bluse, die er trug, herunter, riß an den Verzierungen, die Alope vorn angenäht hatte, und warf sie in die Flammen. Dann war er nackt, abgesehen von der Lendenschurzhose. Mit leerem Blick schaute er die Leute in seiner Nähe an, drehte sich um und ging weg. Er warf keinen Blick zurück auf seine Familie und versuchte auch nicht, sie zu begraben. Er ging weit den Arroyo hinunter, blieb neben dem Bach stehen und starrte ins Wasser. Das Wasser war leer. Die Dunkelheit war angebrochen, und hinter ihm erstarben die Feuer. Das Weinen und Wimmern war zu einem monotonen Jammern geworden, das durch die Luft mit seinen hoffnungslosen, klagenden Lauten tönte. Gokhlayeh konnte die Qual nicht mehr ertragen. Sein körperliches Denken schwand völlig und hinterließ ein Vakuum, das von etwas Überwältigenderem erfüllt war. Seine Macht* sprach zu ihm. »Gokhlayeh! Gokhlayeh!« Seine Macht rief ihn viermal beim Namen. Der Ruf erscholl so deutlich, daß er mit Worten erwiderte: »Ja, ich bin hier!« Seine Macht übertrug deutlich und scharf Worte in sein Denken! Es konnte kein Mißverständnis geben. »Du liebst tief, Gokhlayeh. Das ist gut. Das ist gut für deinen geistigen Körper, Gokhlayeh. Hier in dieser schattenhaften Welt, bevölkert von schattenhaften Körpern mit schattenhaftem Denken, benutzt von den wiederkehrenden geistigen Körpern, wenn sie versuchen, sich selbst zu stärken – hier ist es notwendig, daß du tief liebst und dich stärkst. Aber, Gokhlayeh, Beine werden stark, wenn man Berge erklimmt, und nicht wenn man sich von ihnen zurückzieht und sich im Schatten des Selbstmitleids ausruht. Dein geistiger Körper kann sich zu* Die Apachen glaubten, daß zu Menschen mit besonderer Bestimmung eine Macht sprach. Die erachtete man nicht als übernatürliches Phänomen. 104
rückziehen und schwächer werden – oder du kannst den Berg deiner Qual und deiner Hemmnisse erklimmen. Halte deinem geistigen Körper die Treue, Gokhlayeh, und keine Waffe kann den schattenhaften Körper zerstören, den du dir gewählt hast. Aber du wirst viel verlieren, und du wirst unter vielen Verlusten leiden, ehe du alt bist und dich des Körpers der Schattenwelt entledigst.« Hier, in dem vom Geruch nach Blut und von den Stimmen des Todes erfüllten Arroyo, wußte Gokhlayeh nun mit Sicherheit, daß es eine Bestimmung gebe. Noch war er sich nicht sicher, wie diese Bestimmung beschaffen sei oder wie sie erfüllt werden sollte; aber er wußte, sie existierte. Auch wußte er nicht, daß er stundenlang am Wasser stand, denn nur kurze Zeit schien vergangen, als Mangas ihn am Arm berührte und ihn dann zart an der Schulter packte, um ihn anzuschauen. Der große Häuptling hatte auch ein Kind verloren. »Gokhlayeh«, sagte er leise. »Ja.« Mangas schaute in die Augen, die seinem Blick begegneten, und diese Augen schienen ihm rot in der tiefen Schwärze. »Hier können wir nichts mehr tun, Gokhlayeh. Wir haben keine Waffen. Wir müssen uns nach Norden zurückziehen.« Er blickte hart in die Augen des anderen. »Verstehst du, Gokhlayeh?« »Ich verstehe.« Und danach, in der Nacht, brachen die Bedonkohe auf und wandten sich nach Norden. Weit hinter ihnen stolperte und wankte unsicher eine Gestalt, deren nackte Füße auf Steinen und an Büschen des Pfades eine Blutspur hinterließen. Das war Gokhlayeh. Einige Krieger erlegten Wild, aber er wollte nichts essen. Er schlief abseits des Camps und ging immer so weit hinter der Schar, daß Mangas oft einen Läufer zurückschickte, um sich zu vergewissern, daß er ihnen noch folgte. Gokhlayeh war mit seiner Familie in diesem Arroyo gestorben, und aus der Asche dieser Toten würde ein Feuer mit Flammen so entsetzlicher Gewalttätigkeit auflohen, daß man in Kaskiyeh tief trauern würde – in der Tat würden das bald alle Menschen im nördli105
chen Mexiko und im Südwesten der Vereinigten Staaten tun. Dieses Feuer würde wüten gegen die endgültige Auslöschung der Apachen und ihnen einen geheimen Pfad zu ihrer Rettung beleuchten.
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er Sommer ging dahin. Die roten Früchte des Erdbeerkaktus sprenkelten noch immer die Wüste, aber die tiefroten Blumen des Teufelskopfs waren verdorrt. Die Frauen der Bedonkohe hatten schon längst die Blüten des Guajacum, voller Honig, gepflückt, und der Yucca und die Glanzakazie hatten Samen ausgeworfen, die zu Mehl gestampft wurden. Es war kein leichter Sommer gewesen. Selbst für ein Volk, dessen jahrhundertelange Erinnerung das Wissen überlieferte, daß Krieg und Tod das Leben ihrer Art bedeuteten. Die Bedonkohe hatten fast ein Viertel ihrer Frauen und Kinder bei Kaskiyeh verloren. Viele Familien waren von dem Gemetzel betroffen worden; nur Gokhlayeh hatte alle verloren. Die Scharen der Nedni und Chokonen hatten Nahrungsmittel und Kleidung geschickt. Hüllen für die Tipis und Waffen waren auch von den Mimbres angekommen. Und wie es mit allen Dingen in dieser Welt geht: die Wunden verheilten mit der Zeit; die Routine des normalen Lebens wurde wieder aufgenommen – Gokhlayeh ausgenommen. Er schlug sein Tipi abseits auf, hoch auf der Kante des Canyons oberhalb der Rancheria. Er jagte, aß aber wenig und gab das meiste Fleisch seiner Beuten an Alte und Kranke. Diejenigen, die als erste im frühen Grau des Morgens aufstanden, sahen zuerst Gokhlayeh, wenn er im Gebet vor seinem spartanischen, spärlich ausgestatteten Tipi kniete. An den Abenden, in den Schatten der Abenddämmerung, sahen sie ihn wieder beten. 106
Mangas besuchte ihn oft und saß mit überkreuzten Beinen neben ihm vor dem Tipi. Und obwohl Gokhlayeh höflich war und leise sprach wie immer, antwortete er jetzt nur noch auf direkte Fragen von Mangas. Er widmete sich unaufhörlich der Arbeit vor seinem Tipi, mit Eisenstücken, die er zu Lanzen- und Pfeilspitzen formte und schärfte. Durch die tiefe Finsternis mancher Nächte waren in der Rancheria, aus weiter Ferne, von hoch in den Bergen, Gesänge zu hören, die dünn und unirdisch tönten – die Mütter veranlaßten, aufzustehen und die Decken fester über ihre Kinder zu ziehen, und Männer, sich eine Büffeldecke dichter um sich selbst und ihre Gefährtinnen zu wickeln. Die Gesänge hatten keine Harmonie mit der Erde, den Pflanzen, dem Wind; sie hatten mit dieser Erde nichts gemein. Diese Art Töne sickerten in den Geist ein und suchte Harmonie mit den Gans. Manchmal klangen die Töne tief und wild grollend im Wind; manchmal schwollen die Gesänge schrill und brüllend an und verebbten dann aus dem Brüllen in wimmerndes Stöhnen – so wie eine gemarterte Seele hoffnungslos weinen möchte. Ein Läufer der Tonto-Apachen kam mit einer Botschaft in die Rancheria; die blauröckigen Soldaten und die Weißaugen scharrten Metalle aus dem Erdboden; als Versuch, die Apachen mit einer Geste der Freundschaft zu entschädigen, hatten sie alle zu einem Fest eingeladen. Ratsfeuer flammten auf, die Bedonkohe versammelten sich, um Meinungen zu dieser Einladung vorzubringen und ihre Bedeutung zu besprechen. Die meisten waren für eine Annahme. Es würde dort Nahrung und Geschenke geben. Und außerdem würde eine Annahme den Blauröcken die Sicherheit geben, daß die Apachen, fair behandelt, ein friedfertiges Volk seien. Die Blauröcke waren nicht abgerückt; sie vermehrten sich sogar immer noch. So wäre es doch gut, einen Friedensvertrag mit ihnen zu schließen. Gokhlayeh trat vor das Ratsfeuer, und alle anderen waren still. »Wer hingeht, ist ein Narr!« sagte er rauh. »Beim Fest wird man keine Gewehre sehen, aber die Blauröcke sind nicht in friedlicher Absicht gekommen – sie führen den Tod mit! Ich sehe Apachen am Boden 107
liegen und sterben. Es gibt keinen Frieden!« Die Bedonkohe waren nicht hingegangen, und die Leute der Tonto, der Coyotero und der Mescalero, die mit den Blauröcken gefeiert hatten, hatten sich in Agonie auf dem Erdboden gewunden und waren gestorben. Das Essen war mit Strychnin versetzt gewesen. Hatte Gokhlayeh es gesehen? War er ein Schamane? Flüsternd wurden diese Fragen bei den Bedonkohe besprochen, und sie fügten der in Mangas' Gedanken wachsenden Überzeugung Gewicht hinzu. Die letzten Septembertage waren heiß, die Nächte in den Bergen kühl und frostig. In einem von der Rancheria entfernten Canyon spendete ein mächtiges Feuer Wärme und strahlte seinen flackernden Lichtschein hoch in die Finsternis empor. Dreihundert Krieger saßen auf den abfallenden Hängen des Canyons, auf Felsleisten und Steinen. Sie rauchten schweigend Zigarillos, während das Licht des Feuers über ihre ausdruckslosen Gesichter spielte, die die in ihnen pochende Erregung verbargen. Sie beobachteten und lauschten. Es war eine Zusammenkunft von drei Scharen – der Bedonkohes, der Nednis und der Chokonens – die alle später in der Geschichte als Chiricahua-Apachen bekannt werden sollten. Sie waren hier zu gemeinsamer Beratung zusammengetreten, um über die wachsende Dreistigkeit des mexikanischen Feindes, der seine Raubzüge tiefer in die Berge ausdehnte, und die wachsende Zahl der Blauröcke zu sprechen. In der Mitte saßen die drei Häuptlinge dieser Scharen neben dem Feuer. Mangas Coloradas, Häuptling der Bedonkohes, in der Mitte; zu seiner Linken ein mächtiger muskulöser Riese, der mit Mangas an Statur wetteiferte. Das war Whoa, ausgesprochen Who Huh, aber Juh genannt. Rechts von Mangas dann der geschmeidige große Häuptling der Chokonen mit der hohen Stirn und den ruhigen Augen. Das war Cochise. Die Häuptlinge lauschten den Kriegern, die einzeln herankamen, vor dem Feuer und den Häuptlingen stehen blieben und ihre Gedanken zur anstehenden Entscheidung äußerten. Blauröcke-Soldaten befanden sich überall um sie herum. Bergleute strömten in die Hügel und Canyons und holten Metall aus dem 108
Erdboden. Siedlungen der Weißaugen wuchsen wie durch Zauberei in allen Himmelsrichtungen empor, um mitzuhelfen, Nachschub für die mexikanischen Truppen zu liefern, die Raubzüge gegen die Apachen unternahmen. Zwei Stunden lang übte jeder Krieger, der es wünschte, sein Recht aus und äußerte sich vor dem Rat und den Häuptlingen. Als der letzte Sprecher wegging, stand Mangas auf und blickte um sich. »Ist noch einer unter euch, der nicht gesprochen hat und es gern tun möchte? Denkt daran, sprecht jetzt, damit alle erfahren, daß wir, was immer auch wir entscheiden, gebunden sind, diese Entscheidung zu tragen.« Aus dem Schatten des Canyons trat die untersetzte, mächtige Gestalt Gokhlayehs mitten in den Feuerschein. Er schaute Mangas und die Häuptlinge an. »Es gab eine Zeit, als wir noch wie die Panther waren und loszogen, um die mexikanischen Sklavenhalter zu schlagen und dann in unsere Camps zurückzukehren. Jetzt sind wir wie verwundete Wölfe, ohne Heim. Unsere Feinde sind überall um uns herum, und alle Hände wenden sich gegen die Apachen. Die Blauröcke haben schon Sklavencamps für uns, und viele unserer Brüder von den Mescaleros, Mimbres und Tontos liegen dort im Sterben. Sie haben Verträge geschlossen, um zu leben, aber sie sterben in Sklaverei. Einige haben heute nacht hier gesagt, daß sie Frieden schließen möchten. Wenn die Häuptlinge und der Rat sich entscheiden, daß es so geschehen soll, dann tötet mich auf der Stelle, hier, in diesem Canyon, denn ich werde keinen Vertrag halten. Ich will nicht Frieden schließen. Wollt ihr eure Leiber retten, indem ihr euren Geist und euer Leben umbringt? Tötet meinen Leib sofort, denn ich werde meinen Geist nicht dem Tod ausliefern! Ich bin ein Krieger! Ich sage: überlaßt es den Blauröcken, sich zu wundern und zu rätseln, was wir tun wollen. Ich sage, schlagt die Mexikaner, die vor uns sind, solange die Blauröcke hinter uns unsere Absichten nicht erraten können. Ich sage« – Gokhlayeh hob die Faust und schüttelte sie nach Süden zu – »ich sage, es ist Zeit für den Krieg! Den ganzen Sommer über haben wir getrauert, aber die Zeit des Trau109
erns ist vorbei. Treiben wir die Mexikaner zurück, wie es vor uns unsere Großväter taten. Ich werde keinen Mann betrauern, der fällt, und ich wünsche, daß mich auch keiner betrauert. Ich sage, tötet Kaskiyeh! Kaskiyeh, wo das Blut unserer Frauen und Kinder geflossen ist. Ich sage: Krieg!« Er blieb einen Augenblick stehen, starrte über das Feuer und ließ seinen Blick über die an den Canyonhängen stehenden Krieger schweifen, während das Wort ›Krieg‹ dahinrollte, Echos erzeugte, widerhallte und in der fernen Dunkelheit erstarb. Tief erregtes Murmeln pflanzte sich durch die Menge fort. Gokhlayeh aber drehte sich um und ging in den finsteren Canyon hinein. Langsam ebbte das Lärmen der grollenden Stimmen zum Flüstern und schließlich zu völligem Schweigen ab. Das Knistern und Bersten des Holzfeuers warf hohle, mißtönende Echos. Ein Krieger hatte jeder Entscheidung, für einen Vertrag oder Frieden, Trotz geboten, und im Schock des folgenden Schweigens setzte sich Mangas zwischen Juh und Cochise. Er schaute in die Flammen, sah noch einmal Gokhlayeh sprechen und fühlte noch das wilde Beben seiner Stimme. Cochise lehnte sich zu Mangas hinüber. »Ist das der Mann, der die Apachen bei dem Fest sterben sah? Der Mann von dem du mir berichtet hast – der seine ganze Familie verloren hat?« »Ja«, antwortete Mangas, »das ist der Mann.« Juh lächelte breit und durchbrach die Anspannung, und das Licht des Feuers spielte über die in bedeutungsvollem Lächeln entblößten Zähne. »Ich bin ffffür … ddd…ddiesen Mann!« Er stieß die Worte mit lauter Stimme hervor, gegen seine Sprechbehinderung ankämpfend. Juh kannte Gokhlayeh gut; sie waren Vettern, und Juh war für Krieg, für jeden Krieg und gegen jeden Feind. Cochise flüsterte Mangas etwas ins Ohr. Er hatte Verständnis für Gokhlayehs Ansichten. Er schätzte Verschlagenheit, durch die ein Vorgehen gegen die Blauröcke verschoben wurde, die ihnen nahe waren. Krieg gegen die Mexikaner war Tradition. Er schätzte Tradition. 110
Cochise war es, der Gokhlayeh vorschlug. Mangas und Juh stimmten zu. Vielleicht fühlte Cochise irgend etwas bei Gokhlayeh, das auch Mangas spürte. Vielleicht würdigte er allein das listige Denken dieses Mannes. Mangas stand auf, um die Entscheidung zu verkünden. Seine kräftige Stimme dröhnte in dem Schweigen: »Wir sagen dies: laßt uns alle gemeinsam gehen! Laßt uns einem einzigen Anführer folgen, der uns leiten soll! Laßt ihn uns auf dem Kriegspfad führen! Laßt ihn uns nach Kaskiyeh führen! Gokhlayeh – Kriegsführer der Chiricahuas!« Schreie zerrissen die Stille, und diese Schreie blindwütiger Hingabe ließen alle erschauern. Sofort erfüllte das tiefe, pochende Trommeln der esadadnes wieder den Canyon, zum Beginn des Kriegstanzes; es stimmte den Geist im Körper darauf ein, dem Kampf um Leben und Tod mit dem fanatischen Mut der Überzeugung zu begegnen – zu töten oder getötet zu werden. Oberhalb der großen Masse Krieger, die jetzt tanzten und sangen, saß Gokhlayeh mit verschränkten Beinen auf einem Felsband. Er beobachtete sie mit stoisch brütendem Gesichtsausdruck, und er empfand keine Überschwenglichkeit, sondern nur die Gewißheit, daß seine Bestimmung begonnen habe. Es ist bekannt, warum die Indianerfamilie im Gänsemarsch geht, der Mann voraus. Was voraus liegt, ist unbekannt und für die Familie daher möglicherweise gefährlich; so muß der Mann dem als erster entgegentreten. Aber man sieht nicht ein, warum die indianischen Krieger im Gänsemarsch laufen, außer echten Grenzern und Scouts. Es ist ganz klar: wenn vorn eine Gefahr entsteht, bieten viele Krieger als Ziel nur einen einzigen Mann; jedoch gibt es noch einen anderen Grund. Alle Spurenleser wissen, daß die Schrittweite eines normalen Menschen etwa einen Meter beträgt. Ein Krieger, der hinter seinem Vordermann läuft, braucht seinen Mokassin nicht unbedingt genau in den Fußeindruck seines Vorgängers zu setzen; sein Mokassin kann sich irgendwo in diesem Zwischenraum von einem Meter einprägen, wie auch der des Mannes hinter ihm. 111
Wenn ein Spurensucher eine solche Fährte kreuzt, kann er mit Sicherheit bis zu drei Krieger feststellen und daraus vielleicht bis zu sechs oder sieben erraten. Doch ist er darüber hinaus unfähig, mit Genauigkeit die Anzahl der Krieger zu schätzen, die wirklich gelaufen sind. Zwei Tage nach Gokhlayehs Ernennung zum Kriegsführer liefen sie im Gänsemarsch in die Abenddämmerung des späten Septembers hinaus. Sie nahmen keine Pferde mit. Ein Pferd muß während eines langen Marsches versorgt, getränkt und gefüttert werden. Ein Apache aber kann mit einem Mundvoll Wasser und einer Handvoll Piniennüsse hundert Meilen laufen; das kann ein Pferd nicht. Die mageren, abgehärteten Männer trugen Lendenschurzhosen, Stiefelmokassins und Stirnbänder, die das schwarze Haar festhielten. Sie waren mit Lanzen, Bogen und Pfeilen sowie Kriegsmessern bewaffnet, deren Scheiden gegen sehnige Schenkel schlugen. Sechs Meter vor ihnen lief die untersetzte, kraftvolle Gestalt ihres Anführers, geschmeidig, im langsamen Trott – und hinter ihm folgten die drei gefürchtetsten Apachenhäuptlinge des ganzen Südwestens: Mangas Coloradas, Juh und Cochise. Die lange Kolonne von Kriegern, die nach ihnen kam, dehnte sich eine Viertelmeile weit. Die Befehle des Anführers waren einfach: Tötet den Besitzer jeden Auges, das euch sieht! Schon zwei Apachen auf dem Kriegspfad verbreiten unter der Einwohnerschaft ganzer Siedlungen Entsetzen. Und erst dreihundert! Wenn man sie sah und von ihnen berichtete, würden zweihundert Meilen weit wütende Alarmbotschaften in alle Richtungen ausgeschickt werden. Sie liefen zuerst nach Südosten, bis die Lichter von Tucson in weiter Ferne zu ihrer Rechten flimmerten. An den Säumen der Dragoon-Berge warteten sie tagelang unter Bäumen, ehe sie an den Lichtern von Tucson vorbeiliefen. Hinaus in die leere Prärie, hinaus in die Finsternis, aus der die Campfeuer von Maultierzügen auf dem Weg zu den Bergbausiedlungen leuchteten. Die Treiber dieser Maultiergespanne waren in dieser Nacht gesegnet, denn der Anführer 112
schlug mit seinen Kriegern einen weiten Bogen, und daher entdeckten ihre Augen nichts, und die Treiber blieben am Leben. Beim Eindringen in die Sierra Madre schlugen sie nicht die vertrauten Pfade längs der Hänge an der Ebene ein, sondern benutzten die Kriegspfade im Innern, die schwieriger und weniger begangen waren. Sie marschierten nun tagsüber und rasteten in den Nächten, und am Abend des vierten Tages nach Erreichen der Sierra Madre führte sie Gokhlayeh von den Bergen hinunter. In weiter Ferne, vielleicht ein Dutzend Meilen, flimmerten und flackerten auf der Prärie nächtliche Fackeln im Wind. Unbeirrt hatte Gokhlayeh sie nach Kaskiyeh geführt. Manche schliefen unter den Bäumen. Die meisten saßen allein da und beobachteten die fernen Lichter. Jeder Krieger wußte, was der Morgen zu bedeuten hatte. Dies war kein Raubzug um Nahrung und Vorräte. Dies würde eine von Apachen provozierte Schlacht werden. Nur die Sieger würden das Schlachtfeld verlassen; die Verlierer würden bleiben. In der tödlichen Stille vor der Morgendämmerung rief Gokhlayeh sie um sich. Sie beteten zu Usen, nicht um Hilfe, sondern daß keinen Mann, lebend oder sterbend, sein Mut verlassen würde. Einige knieten beim Gebet nieder, andere standen und schauten zum Himmel und zu den Bergen empor. Gokhlayeh erläuterte, wie sie sich postieren mußten. Er redete leise und gelassen, als erkläre er eine Jagd auf Truthähne oder Kaninchen. Er hob die Arme und deutete ein U an. Die offene Seite des U, erklärte er, würde dem vergatterten Eingang von Kaskiyeh gegenüberliegen. Mangas würde einen Flügel des U unter sich haben, und Cochise den anderen. Auf der kurzen geschlossenen Seite des U, das sich bis zurück zu den Bergen erstreckte, würde Juh den Befehl führen. Und die Kette der Krieger, die das U ausformten, würde die Häuptlinge miteinander verbinden. Cochise trat vor. »Willst du damit sagen, daß die mexikanischen Soldaten in das U hineinkommen werden, mitten zwischen unsere Linien?« 113
»Ja«, antwortete Gokhlayeh. »Wie denn?« »Ich werde sie hineinführen«, sagte Gokhlayeh ruhig. Cochise sah Mangas und Juh nachdenklich an, und dann wandte er den Blick nach Kaskiyeh. Er sprach kein Wort mehr. Das Geheimnis, wie er die Soldaten hineinführen könne, gehörte Gokhlayeh allein. Sollte er es doch tun! Während das Grau vor der Morgendämmerung noch geisterhaft über der Prärie lag und die Umrisse von Kakteen und Büschen verwischte, rückten die Apachen in ihre Stellungen ein. Schweigsam, geduckt beim Laufen, nicht höher als Buschkronen, näherten sie sich Kaskiyeh. Nahe heran, begannen sie, nacheinander zu verschwinden, um ihre Plätze in den Stellungen einzunehmen. Ehe die Sonne aufging und ehe der erste Dorfhahn dünn und heiser in den Wind hinauskrähte, waren sie untergetaucht und hatten die Prärie so hinterlassen, wie sie sie zuerst erblickt hatten, leer und vom Wind durchweht. Die Glocken der Kathedrale ertönten, als sich die Sonne über einen klaren, roten, wolkenlosen Horizont hob. Und während sich die Sonne selbst aus dem Erdenstaub herausstemmte und ihr Rot zu einem gnadenlosen Weiß verwandelte, erwachte Kaskiyeh zu seinem letzten Tag im Leben.
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ine Stunde, ehe die Morgendämmerung über Kaskiyeh kam, hatte es sich in dem Dorf schon geregt. Denn es war ein festlicher, ein heiliger Tag. Die Glocken der Kathedrale tönten hinein in die Leere der Prärie. Bis dann die hohe Messe zu Ende war, hatten Händler ihre Stände auf der ungepflasterten Plaza aufgestellt, knöcheltief im Staub. 114
Vater Dominik ging zwischen ihnen herum; er bemerkte die Monotonie ihrer Verkaufswaren – Körbe und Beutel, aus dem Korbgras gewoben – Töpfereien mit Blumenmustern. Im Vorübergehen nickte er unaufhörlich den Mestizos zu; die Männer rissen sich die Hüte von den Köpfen, wenn er vorbeiging, und ihre Frauen versuchten sich in plumpen Knicksen. Er konnte durch seine Robe bereits die Hitze und den Schweiß spüren, der an seinen Beinen hinabrann. Er passierte Tischler, die das hölzerne Podium vollendeten, auf dem er thronen und dem Festakt Vorsitzen sollte, und wandte sich in eine enge, von Adobehäusern bestandene Straße. Sein Ziel war der Cárcel, das Gefängnis, ein einstöckiger Bau am Straßenende. Der Sergeant erwartete ihn; er sehnte sich danach, von den Gefangenen erlöst zu sein, damit er der Feier folgen könne. An diesem Tag hatte Vater Dominik die Macht, zu dispensieren. Der Sergeant, ein riesenhafter bärtiger Mann, stapfte dem Vater entgegen. »Buenos dias, Padre.« Er lächelte breit. »Buenos dias, Sargento«, erwiderte Vater Dominik und trat mit ihm in die Kühle des Schattens. Er war ein kleiner Mann, der um die Mitte schon recht schwer wurde, und er war durch das Gehen und die Hitze leicht ins Keuchen gekommen. »Wie viele?« fragte er den Sergeanten. »Fünfunddreißig.« Der Sergeant schaute Vater Dominik unbehaglich an und fügte hinzu: »Aber dreißig, Padre, sind Ihre Gefangenen.« Vater Dominik nickte gereizt; er wußte, wie viele er bestraft hatte. Alle waren Indios, wegen des gleichen Vergehens bestraft – sie hatten verabsäumt, die vorgeschriebenen Frontage für die Kirche auf ihren Ländereien und in der Silbermine abzuarbeiten, die ein Dutzend Meilen von Kaskiyeh entfernt am Fuße der Berge lag. »Ich erlasse ihnen die Strafen«, murmelte er, eine formelle Routinefloskel, die er in einer Art Singsang von sich gab. »Und die fünf?« »Militärisch, Padre.« Dann fügte der Sergeant hastig hinzu: »Aber alles nur kleinere Vergehen, Trunkenheit und Sachbeschädigung … 115
vielleicht ein wenig zuviel rapina in den Quartieren der Indiofrauen … kleine Dinge ohne Folgen.« »Dann sagen Sie Capitán Felipe, daß ich keinen Einwand gegen ihre Freilassung habe, falls er und der alcalde sich darauf einigen.« Er zuckte mit den schmalen Schultern und entfernte sich von dem erleichterten Sergeanten; dann wandte er sich um und rief zurück: »Und sagen Sie El Capitán, ich wünsche, daß man allen Indios gestattet … äh -- daß man sie auf die Plaza bringt, damit sie das Festspiel sehen können. Es ist notwendig für ihre Erziehung.« »Si, Padre«, rief ihm der Sergeant nach. Vater Dominik zog sich in seine kühle Kammer zurück. Immer fühlte er sich wegen des Konflikts der Machtbefugnisse zwischen der Kirche und dem Militär gereizt. In der Tat stand ihm das Recht zu, alle Bestrafungen für Vergehen, ob zivile, kirchliche oder militärische, zu erlassen. Doch in den letzten Jahren hatten die allmählichen Übergriffe des Militärs in den Machtbereich der Kirche den Weg für eifersüchtige Esel wie Capitán Felipe freigemacht, um sich in Machtpositionen einzuschleichen. Er grollte wegen der unaufhörlichen Spitzfindigkeiten und Diskussionen, die sich in der Folge zwischen ihm und dem Capitán ergaben, wobei sich dann immer noch der klägliche, fette alcalde als Bürgermeister einmischte, um das, was er ›zivile Autorität‹ zu nennen beliebte, zu repräsentieren. Vom Fenster seiner Kammer aus konnte er die hellen Fahnen über der Plaza flattern sehen, und von den Blumen, die sein Podium schmückten, strömte ein leichter Hauch herüber. Die Menge nahm zu und äußerte sich lauter, während sich die Peons mit den farbenprächtigen serapes und die Frauen in fransenbesetzten rebozos unter die Soldaten mischten. Da und dort sah man an Leuten von größerer Statur und Reichtum auch Kostüme des alten Spaniens. Eine Musikkapelle drängte sich durch die Menge, und das schrille Winseln einer Flöte übertönte die Trommeln und Gitarren. Die Musiker versuchten es mit flamencos und stachelten die Kinder an, die einander um die Plaza jagten. Dann mäßigte die Musik ihren 116
Rhythmus, und die Flöte setzte mit einer bedrückenden Weise von vergessenen Mooren ein. Er seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Nichts von diesen Extravaganzen berührte ihn. Vor zwanzig Jahren hatte er den heiligen Auftrag in Mexico City empfangen und war sehr begeistert nach Norden gereist. Aber die Begeisterung war schon längst geschwunden. Sicher, er hatte, mit mäßigem Erfolg, das kirchliche Eigentum verwaltet und pflichtbewußt die Kassen gefüllt, aber er fühlte, daß die Kirche geistig wenig an Herausforderung bot. Da die Indios keine Menschen mit ›Vernunft‹ waren, konnte er ihnen weder das heilige Abendmahl noch die Firmung erteilen. Er hatte einige getauft, um damit Sünden wegzuwaschen, aber sie waren immer noch verloren und ließen sich kaum innerhalb der Grenzen zivilisierten Handelns durch den Peitschenpfahl und die Fußblöcke neben der Kathedrale halten. Sogar innerhalb der kirchlichen Hierarchie gab es Zweifel und lebhafte Debatten darüber, ob die Indios wirklich Seelen besäßen. Vater Dominik war sicher, daß sie keine hatten. Er klatschte laut in die Hände, setzte sich an seinen Tisch und griff nach dem Weinglas, das ihm von der Dienstmagd gereicht wurde, die augenblicklich auftauchte. Ihre Hände zitterten, als sie ihm den Wein hinhielt, und sie verschüttete einige Tropfen auf den Tisch. Hastig wich sie zurück – ein kleines Indianermädchen mit langem schwarzem Haar und geschmeidigen Bewegungen. Vater Dominik fielen, ohne daß er etwas dazu bemerkte, ihre bebenden Hände auf. Er kannte den Grund für ihre Nervosität – und das locker schwingende weiße Kleid, das sie seit kurzem trug. Sie erwartete ein Kind. Man würde sie zu den Indianerquartieren zurückschicken müssen. Kein Kind eines Priesters konnte in der Wohnung eines Priesters geboren werden, denn das würde Schande heraufbeschwören. Er haßte immer die Szenen, obwohl die Mädchen niemals widersprachen; sie schauten stumm zu Boden oder weinten, ließen wie stumpfe Tiere die Köpfe hängen und hatten Angst davor, die Sicherheit der Kirche zu verlassen und zu den brutalen Soldaten zurückzukehren, die in den Indianerquartieren alles beherrschten. Man würde sie ersetzen 117
müssen. Und wenn er heute auf dem Podium saß, würde er sich eine aus den Indiofamilien aussuchen: jung und noch nicht von den bestialischen Soldaten mißbraucht. Vor seinem Fenster schwoll die Menge an; Schwarzpulver, das in winzigen Behältern eingelassen war, wurde zur Explosion gebracht. Man hörte Rufe, Singen, Gelächter. Ein Mädchen schrie auf. Vater Dominik wußte, daß er sich bald gezwungen sehen würde, die Plaza zu betreten, um das Fest zu beginnen; trotz seiner Bitte an Capitán Felipe betranken sich die Soldaten schon mit Pulque und Tequila. Bald würde sich auf der Plaza eine wüste Szene betrunkener, feiernder Soldaten und Mädchen bieten, die zu ängstlich waren, um sich ihnen zu widersetzen. Kaskiyeh war nun richtig überfüllt; Pilger waren von fünfzig Meilen entfernten Dörfern angereist, um bei den Feiern von Kaskiyehs Heiligentag mit dabei zu sein. Alle Städte und Dörfer Mexikos hatten einen Schutzheiligen, und heute war eben der Feiertag dessen von Kaskiyeh. Der Schutzheilige von Kaskiyeh war Saint Jerome – auf spanisch: Santo Geronimo. Er stand auf und ging durch den kühlen Flur. Er ordnete sein Gewand und trat hinaus auf die heiße Plaza. Er kam an Tischen vorbei, die man unter einer Lebenseiche aufgestellt hatte, beladen mit Truthahngerichten, die in Soßen aus Chili, Schokolade, Sesam und Gewürzen gekocht waren. Hier standen auch riesige Schalen mit atole, gewickelt um Schweine- und Hühnerfleisch und abgekocht in Maishülsen, um daraus tamale-Klöße zuzubereiten; dann schaumig geschlagene Zimtschokolade. Es war ein hohes Fest für die Peons. Während er majestätisch aufs Podium zuschritt, wurde die Menge ruhiger und teilte sich vor ihm. Vorn sah er Capitán Felipe, wie er unsicher, geputzt mit polierten Knöpfen und gewichsten Stiefeln, schwankte. Er war betrunken. Der Capitán verbeugte sich, als Vater Dominik vorbeiging, riß das Käppi vom Kopf und lächelte. Während er aufs Podium zu seinem thronartigen Stuhl hinaufstieg, folgte ihm der dicke alcalde einige Stufen hinauf, wobei er leise und winselnd vor sich hinmurmelte, er sei doch berechtigt dazu. Vater Dominiks knapper Blick der Mißbilligung hielt ihn zwar davon ab, das 118
Podium zu betreten; indessen weigerte sich der alcalde, den erzielten Stufengewinn aufzugeben, blieb mitten auf der Treppe stehen und behauptete diesen Platz; er verbeugte sich und lächelte der Menge zu. Schweigen senkte sich über die Plaza. Der Wind, der durch die Blätter der Lebenseiche rauschte, rief ein Rasseln wie von trokkenen Kastagnetten hervor. Es war der 30. September. Die Tore nach Kaskiyeh waren weit offen. Hier, in diesem wichtigen Zentrum von Bergwerken, Ranches und Farmen, gelegen an der direkten Route der nach Norden und Süden ziehenden Maultierkonvois, war von den Apachen wenig zu befürchten. Unter dem Kommando von Capitán Felipe waren zwei Schwadronen Kavallerie und zwei Kompanien Infanterie hier stationiert. Eine Streitmacht, die groß genug war, um einen lumpigen Haufen von Wilden abzuschrecken. Vater Dominik saß ruhig auf seinem Thron und überblickte die entblößten Köpfe der Männer und die mit Schals umschlungenen der Frauen und Mädchen. Trotz all seinem Ungemach gab er sich ganz diesen kurzen Augenblicken ungeteilter Aufmerksamkeit hin, in die der Capitán und der alcalde nicht eindringen konnten. Wochenlang hatte er mit den Mitwirkenden des Festspiels geübt. Sie sollten das Leben von Santo Geronimo neu in Szene setzen: wie der Heilige als Eremit aus der Wüste von Chalcis, in Antiochien, erschienen war, um sich zum Diener Gottes machen zu lassen. Das Podium lag den weiten Toren direkt gegenüber, wo der erste Spieler erscheinen würde, aus der Wüste, wie damals Santo Geronimo. Nun hob er die Hand, winkte und setzte damit die Trommeln in Aktion, die den Anfang verkündeten. Anfangs tönten die Trommeln gedämpft, dröhnten sanft, wurden lauter und erreichten einen donnernden Wirbel. In diesem Augenblick tauchte im Tor eine gedrungene, untersetzte Gestalt auf. Die Gestalt war voller Staub und ungekämmt; um den Kopf wand sich ein Hirschlederband und hielt buschiges Haar zurück, und über jeden Wangenknochen zog sich ein gelber Farbstreifen, der die harten, bösartigen Linien dieses Ge119
sichtes betonte. Er trug Stiefelmokassins, Lendenschurzhose und eine lockere rote Bluse. Er war ein Apache! Instinktiv wich die Menge von dem Tor zurück, und alarmiertes Grollen trieb über die Plaza. Aber den Apachen schien die Reaktion der Menge nicht zu rühren. Vater Dominik konnte seine Augen erkennen, Nadelspitzen konzentrierten Hasses – wie die Augen eines Tigers, den er einst in Madrid angekettet besichtigt hatte. Allerdings: der Apache war unbewaffnet und allein. Capitán Felipe, der diesen Augenblick wie ein Schicksalsgeschenk für seinen Auftritt vor der Menge ansah, schwankte in die Mitte der Plaza. In der Faust hielt er eine Tequilaflasche, wies mit ihr auf den Apachen und brüllte: »Hallo! Sieh da! Santo Geronimo!« Die erleichterte Menge brach in Gelächter aus. Der Capitán versuchte, die komische Farce noch weiterzutreiben. Er verbeugte sich zu dem Apachen hin und ließ unter dem gestutzten Schnurrbart grinsend die weißen Zähne blitzen. »Tritt ein, Geronimo!« Dann wandte er sich den lachenden Menschen zu und schrie: »Laßt uns Santo Geronimo willkommen heißen!« Die lachende, über den Scherz erheiterte Menge begann zu singen: »Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo!« Der Gesang nahm zu an Rhythmus und Lautstärke und schwoll laut an, als sich eine Brise erhob und die Töne über die Wüste hinwehte – zu den Ohren der Apachenkrieger, die draußen angespannt lagen und warteten, während ihr Führer bei den Feinden war. Innerlich raste Vater Dominik; voller Hinterlist verfälschte Capitán Felipe seine, Vater Dominiks, Mühen um das Festspiel in einen Witz – und behauptete zugleich den Mittelpunkt der Bühne vor der Menge; nach außen hin lächelte der Padre gütig. Bei der Heiterkeit der Menge konnte er nichts anderes tun. Neugierig beobachtete er den Apachen. Jetzt sah er, wie der Mann unter seine Bluse griff. In der Hand hielt er, als er sie wieder herauszog, einen kurzen Bogen und einen gefiederten Pfeil. Langsam und stetig hob er den Bogen und setzte den Pfeil ein. Während er die Sehne bis zu seinem Ohr zurückspannte, wurde die Menge schweigsamer und beobachtete fas120
ziniert eine schier unwirkliche Darbietung. Der Pfeil zischte durch die Luft und versenkte sich in Vater Dominiks Brust, vor dessen Augen im Wind die Federn am Schaft flatterten. Vater Dominik verlor sein Lächeln nicht. Er kippte, immer noch lächelnd, von seinem Thron herunter, prallte auf das Podium, und sein Körper wirbelte Staub auf, als er dem alcalden vor die Füße fiel. Die Sekunden des Schweigens lasteten über der gelähmten Menge auf der Plaza. Und in diesem Schweigen meldete sich der Apache. Er lächelte, nur ein dünnes Fletschen der Zähne im Gesicht, verbeugte sich spöttisch, Capitán Felipe nachäffend, und sagte liebenswürdig: »Adios!« So, als habe er höflich eine Tür geöffnet. Dann wandte er ihnen den Rücken zu und trottete mit leichten Schritten selbstbewußt zurück in die Wüste. Hinter ihm explodierte die ganze Plaza in einem tierischen Aufschrei der Wut. Ein Priester war vor ihren Augen ermordet worden! Soldaten trampelten Menschen nieder, als sie zu den Gewehren und Pferden rannten. Einige, die gar nicht versuchen wollten, sich mit Gewehren zu bewaffnen, rissen Säbel aus den Scheiden und stellten sich damit der drängenden Menge aus Frauen, Männern und Kindern entgegen, die dem Apachen nachrennen wollte. Capitán Felipe erwischte als erster sein Pferd, spornte das Tier rücksichtslos an, zog seinen Säbel und schwenkte ihn warnend der Menge zu. Dann gelang es ihm endlich, durch das Tor zu sprengen. Vor ihm rannten schon mit gezogenen Säbeln einige Soldaten zu Fuß. Sie hatten keine Aussicht, den Apachen zu erwischen, der vor ihnen floh und dessen mächtige, ausgreifende Beine an Boden gewannen. Capitán Felipe schlug sein Pferd mit dem Säbel. Der Mörder hatte nicht die geringste Chance, die ein volles Dutzend Meilen entfernten Berge zu erreichen. Er, der Capitán, würde derjenige sein, der ihn zuerst einholen und den Leuten von Kaskiyeh seinen Kopf bringen würde. Hinter dem Capitán ertönte das Dröhnen weiterer Pferdehufe; andere Männer, die versuchten, ihn um seine Beute zu betrügen, hiel121
ten kurz an und schossen mit ihren Gewehren, aber der Apache rannte derart unberechenbar im Zickzack davon, daß jede Schußfertigkeit scheitern mußte. Die untersetzte Gestalt bot ein unmögliches Ziel, wie sie über die dahinrollende Prärie hüpfte, nach links und nach rechts schwenkte, aber doch immer den Kurs gegen die Berge zu beibehielt. Der Mann war anfangs zweihundert Meter vor Capitán Felipe, aber als das Pferd in einen donnernden Galopp fiel, verkürzte sich der Zwischenraum sehr schnell. Jetzt waren es nur hundert Meter … jetzt fünfzig … und hinter Capitán Felipe strömten die letzten Soldaten aus Kaskiyehs Toren und schlossen sich der Jagd an. Fünfundzwanzig Meter – fünfzehn – und der Capitán beugte sich im Sattel vor und hielt den Säbel ausgestreckt, zum Hieb bereit. Plötzlich wirbelte der Apache in einem engen Halbkreis herum und stand ihm gegenüber! Er grinste den Capitán bösartig an. Neben ihm erhob sich ein Riese von Apache vom Wüstenboden. Der Schock der Wirklichkeit schoß Capitán Felipe wie eine Explosion durch den Kopf, aber schon war es zu spät. Der untersetzte Apache kreischte und sprang ihn an; ein langes Messer funkelte glitzernd in der Sonne. Es war das letzte, was Capitán Jose Ernesto Felipe jemals sehen sollte. Ein Kriegsschrei der Apachen war das letzte, was er hörte. Der Anführer hatte den kurzen Balken des tiefen U erreicht, und Juh, der Riese, war neben ihm aufgestanden. Als die letzten Soldaten durch die Dorftore in die Wüste hinauseilten, tauchten aus den Büschen zu beiden Seiten zwei große Apachen auf und rannten ihnen nach; und so, wie diese aufgetaucht waren, erschienen auf beiden Längsseiten des U weitere rennende Apachen. Die Soldaten waren zwischen ihnen eingekesselt; Mangas und Cochise hatten die offene Seite des U zu einem Kreis geschlossen. Die gesamte Bevölkerung Kaskiyehs drängte sich zu den Mauern, um so schnell wie möglich die Jagd auf den Apachen zu sehen – und dann, als sie Krieger in der Wüste auftauchen sah, zu beobachten, wie die Soldaten sie vernichteten. Anfangs wurden noch Schüsse abgegeben, aber das Feuern ließ allmählich nach. Ausschlagende Pfer122
de und kämpfende Männer wirbelten eine riesige Staubwolke auf, die die Szene einhüllte. Die Dörfler konnten nur wenig von dem erkennen, was passierte. Sie konnten Geschrei und Gekreisch hören, das Klirren von Messern gegen Säbel und das stumpfe Schlagen von parierenden Lanzen. Da und dort brach ein reiterloses Pferd mit hängenden Zügeln aus der Staubwolke. Die Geräusche änderten sich allmählich. Die Schreie und das Kreischen verstummten; das Scheppern von Eisen gegen Eisen wich gedämpftem, doch stetigem Klatschen – dem Aufprall von Eisen auf unnachgiebiges Fleisch oder Knochen. Langsam wie der Anbruch eines Sonnenaufgangs begann sich die Staubwolke zu setzen. Während die schrumpfende Wolke zuerst schattenhaft die Gestalten von Männern enthüllte und sie dann klarer zeigte, waren die Dörfler wie vor den Kopf geschlagen. Mit dem Absinken des Staubes hatte sich absolutes Schweigen über das Schlachtfeld gebreitet. Überall standen Apachen, wie nach dem Befehl ›Stillgestanden!‹. Zwischen ihnen lagen auf dem Erdboden verstümmelte, blutige und geköpfte Soldaten. Aus den Kadavern gefallener Pferde ragten steif Lanzen heraus. Die Apachen schauten alle zur Mitte des Schlachtfeldes. Unter den Augen der Dorfbewohner schritt der stämmige, kraftvolle Apache, der in ihrem Dorftor aufgetaucht war und ihren Priester ermordet hatte, langsam in die Mitte des Schlachtfeldes. Seine Bluse war ihm vom Leib gerissen worden. In der Hand hielt er einen Säbel, den er langsam hob und dessen Spitze er himmelwärts richtete. Blut rann ihm übers Gesicht und besudelte seine Brust und sogar seine Beine. Blutige Rinnsale tropften auch von der Klinge des Säbels, der nach oben wies, auf seine Hand und seinen Arm. Er wandte sich Kaskiyeh zu; noch immer hielt er den Säbel empor, bog nun den Kopf zurück, richtete sein Gesicht himmelwärts und schrie – es war ein fanatischer, wilder Schrei unfaßbaren Entsetzens. Dann, anfangs noch gedämpft durch diesen Schrei, erklangen leise Töne, die sich jedoch schriller an Stärke und Intensität entwickelten, 123
und allmählich wurden diese Töne auch verständlich. Die Apachen schwenkten blutige Messer und Lanzen, reckten sie hoch zum Himmel empor und sangen: »Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo!«
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er Kriegsführer Geronimo wurde geboren, als Kaskiyeh starb. Nur wenige Dorfbewohner entkamen diesem schrecklichsten Unheil, das die Mexikaner während ihrer langen Geschichte von Kriegen mit den Apachen erleiden mußten. Viele, die sich in der Kathedrale zusammengedrängt hatten, starben in den Flammen, als Geronimo die Häuptlinge und Krieger mit brennenden Fackeln in die Siedlung führte. Die zwei unmißverständlichen Fanale des Unheils auf der Prärie – schwarzer, geballter Rauch und Hunderte von kreiseziehenden Geiern – lockten aus allen Richtungen Soldaten an. Sie fanden die in den Adobeskeletten von Häusern und Mauern noch glühende Asche Kaskiyehs und vor den Toren ein Feld voller aufgedunsener Leichen, die einst Soldaten gewesen waren. Sie entdeckten auch die vom Schlachtfeld aus wie ein Pfeil gegen die hochragende Sierra Madre gerichtete schmale Gänsemarschfährte der Mokassins. Manche Apachen sagen, Geronimo habe keine Ahnung gehabt, und es sei ihm auch gleichgültig gewesen, daß Saint Jerome der Schutzheilige Kaskiyehs – oder daß der 30. September sein Feiertag gewesen sei. Andere hingegen, die von seinem Scharfsinn wußten und seiner fantastischen Befähigung, Situationen, die seinem Kulturkreis fremd waren, zu begreifen und zu analysieren, behaupteten, er habe davon gewußt. Während er in der Wüste lag und Kaskiyehs Plaza beobachtete, habe er seinen Theaterauftritt in Kenntnis des die Stadt bewegenden Ereignisses geplant. 124
Ob nun Zufall oder Plan: die Kunde davon verbreitete sich explosiv und im Nu über ganz Nordmexiko. Sein Auftauchen aus der Wüste genau im richtigen Moment von Santo Geronimos Auftritt, um den Heiligen selbst darzustellen – der kalte, bewußte Mord an dem Priester – die spöttische Verbeugung und das »Adios!« – das alles hatte den Beigeschmack des Übernatürlichen. Achtundvierzig Stunden nach Kaskiyehs Zerstörung hatten Soldaten, Maultiertreiber und Flüchtlinge aus dem Dorf die Kunde in Sonora, in ganz Chihuahua und sogar bis nach Durango im Süden verbreitet. Geronimo, der Schlächter von Kaskiyeh, hatte sich ohne jeden Zweifel als übler Heiliger erwiesen, der aus tiefen Niederungen aufgetaucht war. Das Handgeld für einen männlichen Apachenskalp betrug hundert Pesos (bald sollten es dreihundert werden), für einen weiblichen fünfzig Pesos und für den Skalp eines Kindes oder Babys fünfundzwanzig Pesos; doch unverzüglich wurde der Preis für Geronimos Kopf auf zweitausend Pesos, zwanzig Pferde und fünfzig Stück Vieh festgesetzt. Aber nur für den Kopf; weder Skalp noch die bloße Behauptung sollten anerkannt werden. Die Belohnung würde sich steigern; die Guerra con los Diablos, der Krieg mit den Teufeln (Apachen), wurde zur Guerra con Geronimo, Krieg mit Geronimo. Viele Jahre, ehe die Armee der Vereinigten Staaten den Namen ›Geronimo‹ kennenlernte, waren sein Ruf wie seine Niedertracht in Mexiko weithin bekannt. Vom Schlachtfeld trugen Geronimo und seine Männer fünfzehn gefallene Brüder fort, und tief in der Abgeschiedenheit der Sierra Madre wurden sie in versteckten Höhlen, wo kein Mexikaner die Leichen finden und sie verstümmeln konnte, bestattet. Dann traten sie kurz zusammen, zu den Sternen emporblickend, als Geronimo Usen anrief, er möge ihren Mut und ihre Sache durch ihre Wiederzulassung zum Großen Rad würdigen, und eilten nach Norden, durch die zerklüfteten Spitzen und Bergkämme, der Zuflucht in der Rancheria ihres Volkes entgegen. Sie rannten einer Angstwelle voraus, die sich hinter ihnen, schnell wie der Wind, ausbreitete. Sie legten nur kurze Pausen ein, schliefen nicht und erreichten den Nord125
ausläufer der Sierra Madre an einem Spätnachmittag; Geronimo, der verwegen voranrannte, jagte sie in der roten Glut eines vergehenden Tages über die Ebene. Sie rannten die Nacht hindurch, die Dragoon-Berge dicht östlich von ihnen, ehe sie nach Nordwesten, auf willkommenes zerklüftetes Gelände einschwenkten, das ihnen für den Tag Schutz bot. Am folgenden Tag drangen sie in die SantaCatalina-Berge ein; Geronimo verlangsamte das Tempo und brachte sie im langsamen Trab zu der großen versteckten Siedlung ihres nun vereinigten Volkes. Die Siegesfeier wurde durch die Trauer um die verlorenen Krieger gedämpft. Trotz eines Lebens voller Krieg und Tod sahen die Apachen den Tod eines einzelnen als Ereignis großen Kummers und tiefer Trauer an. Die Bande der Zuneigung innerhalb der Familien und einer Schar waren stark, und es war nicht ungewöhnlich, den Tod eines einzelnen viele Monate lang zu betrauern. Die Feuer des Sieges wurden als Feuer der Erinnerung an die Toten gefeiert. Geronimo saß mit dem vereinigten Rat und den Häuptlingen zusammen. Er setzte sich überzeugend für eine dauerhafte Verbindung der Scharen ein, für die Bildung einer einzigen Nation aus den dreien. Er drängte auf sofortigen, totalen Krieg gegen die Mexikaner. Doch war er kein Häuptling. Vielleicht wurden seine Argumente so wie die irgendeines Mannes aufgenommen, der in einem bestimmten Gebiet bewandert war und nun danach strebt, die Aktivität dieses Gebietes auszubauen und auf diese Weise seine eigene Position zu verbessern. Geronimos Fähigkeiten als Kriegsführer waren gesichert und wurden von vielen mit Scheu anerkannt. Aber seine Argumente hatten keinen Erfolg. Die Häuptlinge und die Räte beharrten darauf, auch andere Angelegenheiten als nur Krieg zu bedenken – die Sicherheit der Familien und die Wahrung der besten Lebensweise für ein Volk, dem sie verantwortlich waren. Als Geronimo erwiderte, er könne ›sehen‹, und es werde für alle Apachen kein Leben geben, falls man sich nicht für totalen Krieg entscheide, wurden sein Argumente zurückgewiesen. 126
Daher gingen, mit typischer Apachen-Unabhängigkeit, die Scharen ihrer getrennten Wege. Cochise führte sein Volk in die Berge von Dos Cabazos und in die Chiricahuas. Mangas Coloradas, der sich danach sehnte, in Warm Springs die verwandten Mimbres zu besuchen, trieb seine Schar über die Mogollons in die Black-Mountain-Berge. Und mit seinem Nedni-Volk wandte sich Juh nach Süden, mit der Verwegenheit, die ihm eigen war, zurück nach Mexiko, in dem es wie in einem Hornissennest summte. Doch sobald er die Sierra Madre erreichte, brachte er seine Leute in die verborgene heimische Festung an den Quellwassern des Yaqui River. Ehe Juh aufbrach, heiratete er Ishton, eine Lieblings-›Schwester‹ Geronimos, und die Bande zwischen Geronimo und seinem Vetter Juh wurden stärker. Geronimo folgte Mangas Coloradas, aber er merkte sich im Geist Juhs Standort; das Hauptquartier der Nednis, im Herzen des Feindes, faszinierte ihn. Die mündliche Überlieferung der Apachen berichtet wenig von Geronimos zweiter Frau. Sie hieß Nanatha, ein stilles und kräftiges Mädchen der Bedonkohes, das frohgemut das dunkelbrütende Wesen des Kriegsschamanen nicht beachtete. Ein Sohn wurde geboren, aber der Junge war noch ein kleines Kind, als nach Norden vordringende mexikanische Truppen die Bedonkohe überrannten und Kind und Mutter töteten. Die Weissagungen seiner Macht waren dabei, im Leben Geronimos zur Geltung zu kommen. In der Schlacht wurde er beinahe tödlich verwundet und rang wochenlang mit dem Tode. Er erholte sich wieder und schlug zurück. Da er von der Schar keine Unterstützung empfing, rekrutierte er einzelne Krieger, die ihm folgten. Mit zwanzig Kriegern wurde er in Fronteras erkannt. Aus der brennenden Stadt holte er Vorräte zusammen – Nahrung, Waffen, Bekleidung und Gerätschaften – die als Anreiz für die Krieger mitgeschleppt wurden. Wenn sie sich zu weiterem Handeln nicht durch seine Prophezeiungen von Versklavung und Tod anspornen lassen wollten, dann würden sie ihm vielleicht wegen der Kriegsbeute folgen. 127
Aber er hatte in Fronteras vier Männer verloren, und weniger Krieger verpflichteten sich neu. Mit einem Dutzend, das ihm auf den Fersen folgte, überfiel er Nacozari, und als die Indianersklaven über die Ebene in die Berge flohen, setzte er ihnen nach. Sie duckten sich am Erdboden unter den Bäumen, als er ihnen ernsthaft vorhielt, wie notwendig es für sie sei, sich seinem Kampf gegen die Mexikaner anzuschließen. Aber sie waren zu lange Sklaven gewesen und saßen hilflos da, zwar in Freiheit, aber wie Hühner, die immer noch im Käfig sind. Geronimo war einfach weggegangen. Da er Krieger brauchte, rekrutierte er in der Schar von Cochise und griff erst Janos und dann Arispe an; aber die Flut der Mexikaner nach Norden hielt an, angelockt durch die Siedlungen der Weißaugen. Diese Lockung bestand im reichen Gewinn durch den Transport von Lebensnotwendigkeiten für die Bergbaucamps, die Forts und die Städte. Maultierzüge, die solche Vorräte beförderten, wurden immer länger und zahlreicher; sie wurden von mexikanischen Truppen schwer bewacht. Trotz neuer Erzfunde und Ansiedlungen, die in den Big-BurroBergen und in der Santa-Rita-Kette aufblühten, bestand zwischen den Apachen und der Armee der Vereinigten Staaten Friedenszustand. Die California Road war mitten durch das Herz des Apachengebietes eröffnet worden, und Wagenzüge, Postkutschen und Truppen bewegten sich täglich auf dieser Straße. Sie wurden nicht belästigt. Cochise, Mangas und andere Häuptlinge hatten ihr Wort gegeben, friedfertig zu sein. Das Wort wurde gehalten. Apachen hatten sogar allmählich Anteil genommen an der neuen Zivilisation, die sich ihnen näherte und sie einschloß. Sie schnitten Holz für die Kutschenstationen und zogen sogar Futter für Maultiere und Pferde gegen Geld und Vorräte. Die Armee der Vereinigten Staaten hatte ein starkes System von Forts in Westtexas errichtet: die Forts McIntosh, Duncan und Camp Hudson am Rio Grande, zusammen mit Fort Inge und Camp Clark im Norden; nordwestlich des Pecos River Fort Lancaster, und Fort Stockton gerade im Südwesten davon. Fort Davis wurde im Her128
zen der Davis Mountains im Big Bend, den östlichen Gebieten der Mescaleros, erbaut. Westlich von Fort Davis lag Fort Quitman, und noch weiter im Westen, in El Paso, das größte Fort von allen, das wie ein Pfeil auf das Heimatland der Apachen gerichtet war, die rotierende Kraft, die die rollende Flut der Blauröcke in Bewegung setzte: Fort Bliss. Von Fort Bliss und El Paso zog sich die California Road nördlich entlang dem Rio Grande, wandte sich bei Dona Ana nach Westen und schwenkte tief nach Süden zwischen den Santa-Rita- und Big-Burro-Bergen ein; dann überquerte die Straße die weiten Flachländer nördlich einer Lordsburg genannten Siedlung und verlief durch den Doubtful Canyon der Guadelupe-Berge. Die Straße verließ den Canyon nach Westen und führte dann über das San-Simon-Tal und durch den Apache Pass der Chiricahua-Berge, um die Salzebenen von Sulphur Springs zu erreichen. Von diesem Tal aus ging die Straße durch die Dragoon-Berge und westlich von ihnen, nördlich von Tombstone, nach Tucson. Zwei Jahre, nachdem die Apachenhäuptlinge ihr Wort gegeben hatten, ritt Geronimo allein auf dieser Straße. Kein Weißer sah ihn, denn er benutzte nicht die von Wagen eingefahrenen Spuren, sondern hielt sich an Buschwerk und Hügel, ritt immer in gewisser Distanz und verhielt sich still, oft am hellichten Tag, während Weiße die Straße passierten. Er war beunruhigt angesichts der großen Mengen, die Tag für Tag hier entlangkamen. Sie nahmen gar kein Ende. Aus den Vorbergen der Santa Catalinas beobachtete er ein neues Fort direkt nördlich von Tucson: Fort Breckinridge. Als er dem Santa Cruz River nach Süden folgte, mußte er sich vor BlauröckePatrouillen des Camps Calabasas an der mexikanischen Grenze in einem Arroyo verbergen. Er wandte sich ostwärts, wurde von Soldaten, die aus Fort Buchanan kamen, überrascht und entkam, weil er vor einer Salve von Gewehrkugeln eiligst davonritt (der Friede wurde praktisch nur von Apachen gewahrt; allein angetroffene Indianer betrachtete man als ›Freiwild‹). Er schwenkte nördlich von Lordsburg ein, suchte Unterschlupf in den Big Burros und entdeckte 129
weitere Forts, von denen aus Blauröcke-Patrouillen ritten und kreuz und quer durch die Heimat der Apachen streiften. Fort McLabe, nördlich der California Road, befand sich in bequemer Reitdistanz von Silver City, wo man einen Metallfund gemacht hatte und weiße Bergleute nach reichem Erz schürften. Am Rio Grande lagen, von Süden nach Norden, die Forts Fillmore und Thorn, Craig und Conrad; östlich des Rio Grande dominierte ein riesiges Fort die Flachländer: Fort Stanton. Geronimos Ritt hatte einen Monat gedauert, und als er nun sein Pferd nach Westen lenkte, um die Black-Mountain-Kette zu überqueren, war er entsetzt, auch hier Blauröcke anzutreffen. Sie hatten Wohnungen und eine Basis, Camp Ojo Caliente genannt, im Herzen der Warm-Springs-Apachen. Von einem hohen Gipfel aus musterte er sie mit Hilfe des spanischen Fernglases den ganzen Tag. Mexikaner, Peonindianer und hier und da auch ein Apache schnitten gedörrte Adobebausteine und legten sie zu Mauern zusammen, die Gebäude bildeten. Die Soldaten um sie herum trugen Waffen und bewachten das Gelände. Ihr Benehmen war keinesfalls das von Männern mit friedlichen Absichten, sondern von Männern im Kriegszustand. Zweimal während des Nachmittags sah er Patrouillen in das Fort reiten und Bericht erstatten. In der Dunkelheit machte er sich davon und ritt entlang dem Alamosa River nach Norden. Bei seinem Ritt hielt er häufig an den Eingängen von Canyons an, die sich zu dem trägen Fluß hin öffneten. Jedesmal sog er in langen Atemzügen die Luft ein. Gegen Mitternacht witterte er am Eingang eines tiefklüftigen Canyons ein Zeichen – eine leichte, kaum fühlbare Wärme, die mit der trockenen, kühlen Bergluft dahinstrich. Er lenkte in den Canyon ein und ritt vorsichtig zwischen den hohen Felswänden. Zweihundert Meter im Canyon strömte ihm die Hitze menschlicher Körper wie aus einem Trichter entgegen, verstärkt noch durch den Geruch nach kochendem Essen, der durch die Luft zog. Er hielt an, bog den Kopf zurück und kläffte nach Art der Kojoten, fünfmal – einmal mehr 130
als die vier Male, die Kojoten höchstens kläffen – und sofort erhielt er auf die gleiche Art Antwort. Die Tipis waren weit zurückgesetzt in die Schatten der Klippen; sie umgaben eine kleine Quelle und eine grasige Wiese. Es war eine große Rancheria. Geronimo ließ die Zügel seines Pferdes auf dem Wiesengras schleifen und ging auf das Feuer zu, das, niedrig gehalten, vor einem großen Tipi brannte. Mit verschränkten Beinen setzte er sich vor das Feuer. Im nächsten Augenblick trat ein alter Apache aus dem Tipi. Sein Gesicht war verrunzelt, sein Haar weiß. Er hatte sich eine Decke um die Schultern gezogen und setzte sich, Geronimo gegenüber, ans Feuer, ohne sich dabei auf die Hände zu stützen. Der alte Mann hieß Cuchillo, Häuptling der Warm-Springs-Schar der Mimbres-Apachen. Noch eine Gestalt, ein jüngerer Mann, löste sich aus dem Schatten und setzte sich neben den Alten. Der jüngere Mann hatte sich seinen Namen auf dem Schlachtfeld gegen die mexikanischen Truppen gemacht. Einmal während eines verzweifelten Kampfes war er ins Schlachtfeld hineingerast und wie irr in dem Kugelhagel herumgerannt, nur um einen verwundeten Bruder auf die Schultern zu heben und ihn in Sicherheit zu schleppen. Die Mexikaner hatten ihn Loco (verrückt) genannt. Der Name war ihm geblieben. Hinter Cuchillo und Loco versammelten sich schweigend die Krieger; sie blieben im Schatten, um den Mann zu sehen, von dem sie alle gehört hatten: Geronimo. Über seine Person konnte es keinen Zweifel geben – der kräftige muskulöse Körper, der sich über der Lendenschurzhose dehnte, immer das Kriegsstirnband, und über dem schmalen Schlitz der Lippen, quer über die Wangenknochen, die Streifen aus gelber Farbe. Er ließ nicht erkennen, daß er die ihm gegenüberstehenden Krieger sah; statt dessen starrte er mit funkelnden Augen ins Feuer. Cuchillo brach dann das Schweigen, das die Höflichkeit gefordert hatte. »Wir freuen uns, dich hier zu haben, Geronimo.« 131
»Danke«, antwortete Geronimo höflich und schaute dem alten Häuptling in die Augen. »Ich bin durch viele Patrouillen von Blauröcken geritten, um hierher zu kommen.« Cuchillo lächelte. »Ja, hier gibt es eine ganze Menge, aber ich meine, vielleicht gibt es nicht mehr als nur diese. Hier ist Platz für alle.« Geronimo blickte dem Häuptling hart ins Gesicht. »Es gibt bei ihnen kein Ende, Cuchillo. Ihr Zustrom wird nicht aufhören.« Cuchillo lachte. »Für alles gibt es ein Ende, Geronimo. Jedenfalls sind sie unsere Freunde. Das haben sie gesagt. Sie sind nicht so wie die Mexikaner. Sie haben uns nicht angegriffen. Sie wollen uns nicht zu Sklaven machen.« Geronimo seufzte. Zum ersten Mal schaute er über den Häuptling hinweg zu dem Kreis der Krieger. Er sagte, als ob er sie direkt anspräche: »Die Blauröcke sind nicht unsere Freunde. Sie werden uns töten und uns zu Sklaven machen wie die Mexikaner, sobald genug von ihnen da sind, so daß sie sich stark fühlen.« Cuchillos Gesichtsausdruck wurde hart. Es zeugte von schlechten Manieren bei einem willkommen geheißenen Gast, mit einem Gastgeber zu streiten, aber die Unabhängigkeit der Apachen sprach ihm das Recht dafür zu. Cuchillos Stimme wurde rauher: »Das Wort ist gegeben worden, Geronimo – von mir, von den Häuptlingen der Coyoteros und der Mescaleros, Delshay von den Tontos, Mangas und Cochise. Das Wort wird gehalten. Das ist das Gesetz.« Geronimo erhob sich ungestüm und hastig. Er wandte sich seinem Pferd zu. »Du gehst wieder?« fragte Cuchillo, mehr um Geronimos Ungestüm zu betonen, als seinen Aufbruch zu hindern. »Ja«, sagte Geronimo. Loco stand auf, hielt die offene Handfläche hoch und rief Geronimo nach. »Frieden, Geronimo!« Geronimo hielt inne und wandte sich zu ihnen zurück. »Krieg«, sagte er trocken. »Krieg, Loco. Jedermann kann körperlich Frieden haben, wenn er dafür seine Seele verkauft. Frieden ist ein Zustand, Loco, aber kein Ende. Mit diesem Zustand können unsere Seelen 132
nur leben, wenn unsere Seelen und unser Denken frei sind. Es sei denn« – und seine Augen glühten rot zum Feuer hin – »du willst dir Frieden für deinen Körper erkaufen mit dem schlimmsten aller Kriege: mit dem Mord an deiner Seele.« Er drehte sich heftig um, sprang auf sein Pferd und schickte sich eben an, es fortzulenken, als ein junger Krieger vortrat und das Pferd am Kopf festhielt. Geronimo riß am Zügel, aber der junge Mann gab nicht nach und blickte zu ihm auf. »Glaubst du, daß es so viele Blauröcke sind, wie du gesagt hast?« Geronimo schaute hinab auf den jungen Mann und sah ein starkes Gesicht mit eckigen Kinnbacken und einer hohen Stirn. »Wie heißt du?« fragte er. »Man nennt mich Victorio«, antwortete der junge Mann. »Ja, Victorio, es gibt von ihnen mehr als Felsen, die du in den Bergen siehst – und«, fügte er verbittert hinzu und riß das Pferd von dem jungen Mann beiseite, »du wirst es noch erleben und sie als Sklave zählen … oder ehe du stirbst.« Dann ritt er schnell durch den Canyon davon. Innerhalb eines Jahres würde Cuchillo ›aus Versehen‹ getötet werden, als er freundlich grüßend einer Patrouille der U.S.-Armee zuwinkte. Sein Nachfolger Delgadito sollte kaum ein weiteres Jahr erleben. Während er nach einem Besuch bei seinen Blauröcke-›Freunden‹ vom Camp Ojo Caliente fortging, würde ihn ein Soldat der Armee nur so als ›Sport‹ in den Rücken schießen. Dann würde ein junger Kriegshäuptling zu Delgaditos Würde aufsteigen, und viele Menschen würden sterben. Sein Name war Victorio. Geronimo berichtete die Ergebnisse seines langen Spährittes an Mangas und Cochise, aber seine Argumente begegneten dem gleichen unbeirrbaren Unglauben, mit dem ihn Cuchillo abgewiesen hatte. Geronimo tauchte unter. Am Morgen seines Verschwindens fanden die Bedonkohe vor seinem kärglichen Tipi eine Reihe von Steinen, zusammengelegt in der Form eines Pfeils. Der Pfeil wies nach Süden. 133
Er war der meistgesuchte Mann in Mexiko. Jeder angegriffene Maultierkonvoi, jedes Dorf, jede Stadt und jeder Rancho, die des Viehs und der Pferde beraubt wurden, identifizierten den Anführer als Geronimo. Auf seinen ›Kopf‹ hatte man in einem Dutzend von Städten eine Belohnung ausgesetzt, aber die Belohnung war niemals ausgezahlt worden. Widersprüchliche Berichte über sein Auftauchen an zwei Orten zur gleichen Zeit halfen mit, den Beweis für seine übernatürliche Bösartigkeit zu erhärten. Trotzdem ritt Geronimo allein nach Mexiko – über die öden Ebenen südlich der Chiricahuas, tagsüber versteckt, nachts unterwegs, und hinein in die Sicherheit der Sierra Madre. Sein Ziel war Juhs Festung am Yaqui River. Der Yaqui River fließt gemächlich durch die dahinrollenden Ebenen von Sonora. Voller Treibsand zwischen weiten Ufern, nähert er sich dem Golf von Kalifornien, und seine ruhigen Wassermassen entladen ihre Last in den Golf. Sollte ein Reisender den Yaqui dorthin zurückverfolgen, wo er brausend den Westrand der Sierra Madre verläßt, würde er in einen Canyon gelangen, den die Millionen Jahre dauernde Aktivität des Flusses tief eingegraben hat. Weiter canyonaufwärts würde der Fluß, sobald man die Seitenbäche passiert hatte, schmaler werden, und sein über Felsen von den Höhen der Flußquelle herabstürzendes Wasser würde dann glitzernd klar sein. Der Canyon würde sich verengen, aber in seinen Tiefen würde es frisches, durch die Flußfeuchtigkeit grünes Gras geben, Pinien, Mesquite, Lebenseichen und wildaufschießende Büschel von Blumen, die Wärme an die kühlende Luft in dieser Hochebene abgaben. Fünfzig Meilen weiter ins Innere der Sierra Madre würde der Reisende dann die Quellwasser des Yaqui erreichen – seine Geburtsstätte mit kristallklaren Quellen, sehr hoch gelegen, aber tief in den Canyon eingebettet. Das war die Heimat der Nedni-Apachen. Geronimo steuerte die Heimat der Nednis nicht durch einen Ritt längs des Yaqui River an. Er ritt auf dem Grat der Sierra Madre und fand sie, seines Zieles sicher. Er wurde von Juh herzlich begrüßt. In Wirklichkeit war dies seine Heimat von alters her. Sein Großvater 134
war Häuptling dieser Schar gewesen, und man erinnerte sich an ihn als einen Führer von Ehre und starker Integrität. Die Tipis der Nednis standen verstreut unter Canyonbäumen, eine halbe Meile längs der Ufer des klaren Baches. Die Höhenlage bewirkte eine frostige Kühle, die belebend, aber nicht unbehaglich war. Es war eine idyllische Stätte, wo man leben konnte. Aber Juh war besorgt. In seiner stotternden Sprechweise breitete er vor Geronimo seine Besorgnisse aus. Ishton lag im Sterben. Die Geburt ihres Kindes war fällig, und sie war schon lange Zeit krank und lag in Wehen. Obwohl sie sich nicht beklagte, wußte Juh doch, daß sie schwer zu leiden hatte. Der riesige Mann war nie von ihrer Seite gewichen, benetzte zärtlich ihre Stirn mit feuchten Tüchern und hielt ihre Hand bei seinen rauhen, vergeblichen Versuchen, es ihr bequem zu machen. Juh liebte die ruhige, intelligente Ishton mit seinem ganzen Herzen. Er wußte, daß Geronimo tiefe Gefühle für seine ›Schwester‹ hegte. Vor dem Feuer des späten Abends ging er hin und her, während Geronimo in die Flammen blickte. Alle Zurückhaltung war geschwunden. Tränen rannen über seine Wangen, und seine starke Brust bebte, weil er schluchzte. Er blieb stehen und schaute zu seinem Vetter hinab, der mit verschränkten Beinen am Feuer saß. »Ich«, sagte er laut und riß sich zusammen, um sein Stottern zu bezwingen, »ich … bin ein einfacher Mann, Ge…Geronimo. Ich … verdiene … Ishton nicht. Keine Macht hat jemals mit mir gesprochen. Wenn ich … so eine Macht hätte, würde ich einen Tausch machen … alles gegen Ishton.« Er unterbrach seine mühsame Ansprache, ehe er seine Brust wieder wölbte. »Ich habe ge…gebetet, aber ich habe keine Macht.« Hilflos stand er vor dem Feuer und Geronimo und sah ergreifend aus, wie ein großer Bär, der gedemütigt und ohne Hoffnung auf Erfüllung bettelt. Geronimo stand auf und sah ihn an. »Ich gehe dort hinauf«, sagte er und deutete auf einen Gipfel, der sich hoch über die Baum135
grenze emporhob. »Wenn es Ishton gutgeht und das Baby geboren ist, laß mich holen.« Dann ging er fort, auf den Berg zu. Juh folgte ihm ein Stückchen und versuchte stotternd zu sprechen, aber dann, zu überwältigt von seinen Gefühlen, um es mit noch mehr Worten zu versuchen, beobachtete er schweigend, wie Geronimo verschwand. Dann drehte er sich um und rannte und stolperte in das Tipi, in dem Ishton lag. Er hatte volles Zutrauen zu Geronimos Macht, nahm sie in die Arme und erzählte ihr die guten Neuigkeiten. Geronimo stieg hinauf, über die Baumgrenze hinaus, ins Ödland, vom Wind gepeitscht, der die Steine und Felsblöcke bloßlegte. Die Luft war scharf und kalt. Am Gipfel des Berges, auf einem schmalen Plateau, begann Geronimo seine Gebete zu Usen und die Gespräche mit seiner Macht. Er hatte weder Essen noch Wasser mitgebracht, und er hatte auch keinen Schutz gegen den beißenden Wind. Vier Tage betete er und bettelte um die Zusicherung, daß Ishton am Leben bleiben würde. Unter ihm breitete sich eine starke Ruhe über der Rancheria der Nednis aus, und Juh verließ seinen Platz neben Ishton nicht. Am Morgen des vierten Tages gab Geronimos Macht Antwort und rief viermal seinen Namen: »Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo!« Auf den Knien, zum Himmel emporblickend, antwortete Geronimo: »Ich bin hier. Ich habe gerufen. Ich möchte darum bitten, daß Ishton am Leben bleibt. Daß sie, die ich liebe, nicht weggenommen wird. Laß sie am Leben, und ich werde um nichts mehr bitten.« Und seine Macht antwortete: »Du hast dich entschlossen, in die irdische Welt zurückzukehren und dich mit deinem geistigen Körper zum Kampf mit den Kräften der tiefen Niederungen zu stellen. Du hast dich entschlossen, Geronimo, deinen geistigen Körper zu stärken. Du kannst die Treue zu deinem Geist bewahren, oder du kannst schwach werden und deine Seele den tiefen Niederungen überlassen. Du sollst das Kind haben, damit es dich umsorgt, wenn dein irdischer Körper alt ist. Du sollst Ishton für kurze Zeit, zusammen mit Juh, behalten. Bitte um nichts mehr, Geronimo. Keine Waffe wird deinen 136
irdischen Körper töten. Bitte um nichts mehr. Du könntest nur deinen geistigen Körper töten.« Geronimo antwortete: »Ich will um nichts mehr bitten.« Als der Bote den Gipfel erklomm, den die sinkende Sonne des vierten Tages rötete, fand er Geronimo sitzend. Er war friedlich und beobachtete gelassen die Sonne, die hinter den Bergen sank. Der Bote berichtete, ein Sohn sei Ishton geboren worden; Mutter und Kind seien wohlauf. Geronimo antwortete: »Ich weiß es.« Geronimo blieb der unerschütterliche Glaube an die Prophezeiungen seiner Macht sein ganzes Leben lang. Man könnte sich über seine Gedanken wundern, als er den Berg hinabstieg. Gewiß war er wegen Ishton und wegen Juh glücklich; aber in seinem Innern wußte er mit Sicherheit, daß er nichts mehr von seiner Macht erwarten konnte, um die Nöte und Schläge seiner Bestimmung in der physischen Welt zu mildern. Juh jubelte. Er kam Geronimo entgegen und tanzte beinahe vor Erleichterung und Überschwenglichkeit. Er stemmte seinen Vetter hoch in die Luft, umschlang ihn mit seinen starken Armen wie ein Bär und befahl eine Feier. Die abgehärtete Ishton wurde aus dem Tipi herausgetragen und auf ein Lager von Zweigen und Häuten gebettet, damit sie die Feuer und das Feiern sehen könne. Sie war blaß, aber sie lächelte. Als Geronimo neben ihr niederkniete, breitete sie die Arme aus und zog ihn dicht an sich, im vollen Vertrauen darauf, daß er es war, der ihr Kind gerettet hatte. Als er sich von den Knien erhob, hielt sie ihm das Baby hin, und Geronimo nahm den Jungen in die Arme. Ishton sah zu, wie zärtlich er das Kind hielt. Sie wußte um Geronimos Zuneigung zu Kindern, und sie beobachtete, wie das harte Gesicht weicher wurde und wie die Wildheit aus den brennenden Augen wich. Geronimo hatte die meisten von denen, die er liebte, verloren. In dieser Nacht gab es einen Festschmaus; man tanzte, sang Lieder und Gesänge. Die Nednis nannten den Jungen Daklugie – eine Beschreibung seiner Geburt mit der Bedeutung: »Einer, der sich seinen Weg erkämpfte.« 137
Die Feier dauerte eine Woche, ein bedeutsames Ereignis in der Geschichte der Nednis. Nachdem Ishton wieder genesen war, zog die Schar gemächlich den Canyon des Yaqui hinunter. Sie verfolgte dabei zwei Ziele. Das eine war, ihr Basiscamp näher an die SonoraEbene zu verlegen, damit ihre Krieger Maultierzüge überfallen konnten, die nordwärts durch Nuri, Ures und Arispe zogen, um die Siedlung Tucson der Weißaugen, hoch im Norden, zu versorgen. Dies geschah auf Geronimos Drängen. Ihn peinigte die lebhafte Aktivität der Blauröcke im Norden. Das Wort, Frieden zu halten, das die Häuptlinge dort gegeben hatten, hinderte ihn, die Blauröcke direkt anzugreifen, und daher versuchte er, sie auf diese Weise zu schwächen. Juh stimmte zu. Das zweite Ziel bestand darin, näher an jene Berghänge heranzukommen, wo man Mescal sammeln und kochen konnte. Während sie den Ebenen zustrebten, durchstreiften Gruppen von Frauen und Kindern die Hänge auf der Suche nach den Pflanzen. Es war im Monat Juni, und der Mescal, eine große Agavenart mit dicken, fleischigen Blättern, die nach außen mörderische Dornen aufweisen, öffnet in diesem Monat Büschel roter Blumen an seinen Stengeln, so daß man die Pflanzen leicht entdecken kann. Die Frauen suchten nach größeren Flächen mit Mescalvorkommen und waren oft tagelang fort. Wenn sie eine passend große Fläche fanden, stemmten sie vier Fuß lange und an einem Ende abgeflachte Pinienstöcke gegen die Unterseite der Blätter. Mit Hilfe von Beilen oder Steinen hämmerten sie gegen die Enden der Stöcke, bis die Blätter weggerissen waren; erst dann konnten sie die riesigen weißen Kapseln, die manchmal einen Umfang von einem Meter hatten, herausholen. Wenn sie genügend Kapseln für eine Schar von der Stärke der Nednis, vielleicht eine Tonne schwer, gesammelt hatten, gruben sie einen einen Meter tiefen und etwa vier Meter langen Graben. Sie legten den Boden mit Steinen aus, machten darauf Feuer, um die Steine zu erhitzen, und sobald diese genügend heiß waren, stapelten sie die Kapseln in den Graben und bedeckten sie erst mit Gras und dann mit einer dicken Lage Erde. Vierundzwanzig Stunden lang koch138
te der Mescal in diesem wirkungsvollen Druckkocher. Sobald der Mescal gekocht war, lief eine Frau der Gruppe los und holte die Schar. Alle versammelten sich zur Öffnung der Grube. Noch warm, ist der Mescal ein schmackhafter Sirup, und das rief nach festlicher Würdigung. Was man nicht aß, breitete man auf dünnen Tüchern aus und trocknete es auf flachen Steinen. Diese Tücher wurden dann in kleine Vierecke zerschnitten, in denen man die Speise tragen konnte, die sich dann unbegrenzt halten würde. Sie stellte einen nahrhaften Verpflegungswert von großem Nutzen für die Apachen dar. In einem gemächlich verbrachten Monat des Reisens und Lagerns genossen die Nednis zwei große Mescal-Kochfeste. Als Frauen der Schar nun nach einer dritten ähnlich ergiebigen Stelle suchten, näherten sie sich sehr gefährlich dem Sichtkreis der Ebenen.
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rückende, schwere Wolken setzten sich an den Westhängen der Sierra Madre fest. Getrieben von den Winden Sonoras, waren sie von den großen Wassern jenseits davon hergekommen. Jetzt schieden die Wolken dichten Nebel aus, dessen Tropfen auf Felsen und Bäumen glitzerten. In der Tiefe des Yaqui-Canyons entzündeten die Nednis kleine Feuerchen vor ihren Tipis, um die feuchte Kälte von ihren Türen zu verjagen. Sie rechneten mit Regen und hatten daher schon in der vergangenen Nacht bedachtsam ihre Tipis vom Fluß auf höheres Gelände umgesetzt. Es war nun früher Morgen, noch zu früh, um die Entscheidung der Sonne erkennen zu können – ob die Wolken dünn genug waren, daß sie verjagt werden konnten, oder ob sie Regen bringen würden. Im Düster des Nebels und frühen Morgens hatten sich zwei Nedni-Mädchen von der Rancheria entfernt. Sie stiegen einen Pfad 139
in der Canyonwand empor und gingen gemächlich über die Berghänge. Die eine hieß Lucia und war vor einer Woche sechzehn Jahre alt geworden. Bei Vollmond war ihr die Feier der Mannbarkeit gewährt worden. Ihre Begleiterin hieß Mathla, ein achtzehnjähriges Mädchen, das als ihr Beistand mitgewirkt hatte. Das von ihnen angekündigte Ziel war es, eine neue Mescalanpflanzung zu finden, aber dies war nur ein Vorwand. In Wirklichkeit wollten sie Lucias neugewonnene Unabhängigkeit ausprobieren – miteinander plaudern, die Erregung der Feier abklingen lassen und wahrscheinlich Heiratsmöglichkeiten besprechen. Sie wurden von einem unwillkommenen Gefolgsmann begleitet; Lucias fünfjähriger Neffe Noshe trippelte entschlossen, etwas entfernt, ihnen nach. Zweimal war Lucia schon stehengeblieben, um ihn zu schelten und ihn, zwanzig Schritt hinter ihnen, zurückzuwinken. Sein einziges Zugeständnis an die Schelte und Vorhaltungen bestand darin, daß er unsicher den Daumen in den Mund steckte und während ihrer Tirade nachdenklich daran nuckelte, und seine knopfgleichen Äuglein betrachteten sie ungerührt. Mannbarkeitsfeiern bedeuteten Noshe recht wenig. Für ihn war Lucia, vom weisen Standpunkt seiner fünf Jahre aus, ganz einfach nur ein Mädchen; und zudem ein Mädchen, das er sein ganzes Leben lang schon kannte und das keinerlei Autorität ausübte, soweit er erkennen konnte. Und so folgte er den beiden auf seinen stämmigen Beinchen und kletterte entschlossen über Steine, über die die zwei Vorangehenden leicht hinwegschritten. Aber er war stark und fähig, nahe genug zu bleiben, um sie im Auge zu behalten. Einmal blieb er stehen, um einen roten Bergläufer zu beobachten, der über den Erdboden huschte; dann hielt er an, um eine Eidechse mit gefransten Zehen anzusehen, deren Schwanz hinter einem Stein hervorlugte. Er überlegte, ob er die Eidechse beim Schwanz packen sollte, aber das hatte er schon früher getan, und es gab daher für ihn bei Eidechsen nichts Neues zu erforschen. Entgegen dem Verdacht der Mädchen war er an dem, was sie besprachen, völlig 140
desinteressiert. Während sie in dem Nebeldunst weitergingen, plauderten sie über Jungen. Über Jungen und die stattgefundene Feier, wie alles angefangen hatte, als Juh das Singen aller Mitglieder der Schar dirigierte. Wie der Kriegsschamane Geronimo persönlich den Tanz geleitet hatte, bei dem sich alle die Hand gaben und in einem Kreis tanzten. Die Feier dauerte stundenlang, bis der Mond seinen Höchststand erreichte und den Abstieg begann. Dann zogen sich die älteren Leute zurück; die jungen unverheirateten Männer schlossen sich zu einem dichten Kreis zusammen, den ein weiterer Kreis aus Mädchen umgab. Das Pochen der esadadnes verstummte, und als Lucia dann als erste vortrat, um den jungen Mann zu wählen, mit dem sie tanzen wollte, erscholl im Mondlicht das einsame, dünne Klagen des Flageoletts. In ihrem Kostüm aus weißer Rehhaut, mit funkelnden Perlen, sah sie schön aus, und sie hatte sich den schüchternen jungen Mann ausgesucht, mit dem sie schon eine Weile lang bedeutsame Blicke getauscht hatte. Dann wählten alle anderen jungen Frauen ihre Partner, und der Tanz der Liebenden ging weiter und weiter, bis der Aufgang der Sonne den Mond erblassen ließ. Am Ende des Tanzes reichte jeder junge Mann seiner Partnerin ein Geschenk. Mathla war bereits für die Heirat versprochen, und daher gefiel sie sich, nicht ohne Mühe, in einer Miene der Überlegenheit gegenüber Lucias mädchenhafter Erregung; aber nicht lange. Allmählich gab sie nach; die zwei setzten sich auf einen Felsblock und plauderten miteinander. Lucias junger Mann hatte ihr ein wertvolles Geschenk, eine Navajodecke, verehrt, und sie war sicher, daß sich ihre Wege bald zu einem gemeinsamen vereinigen würden. Noshe, der sich in wachsamer Entfernung hielt, setzte sich auf einen Stein und überlegte gelangweilt und scharf nachdenkend, daß ihm dieser Ausflug nichts Neues oder Erregendes eingebracht hatte. Dann scharrte etwas unter dem Stein, und er kniete daneben nieder. Er preßte seine Wange an den Boden, stocherte mit einem Ast forschend unter den Stein und wurde auch belohnt, als eine Grashüpfermaus einen entsetzten Sprung ins Freie machte. Er wollte der 141
Maus schon nachrennen, schaute dorthin, wo die zwei Mädchen kicherten und schwätzten, und sah im Nebel die grauen Umrisse. Die grauen Umrisse standen im Kreis um die Mädchen herum, die noch nichts bemerkt hatten. Die Umrisse schoben sich langsam, vorsichtig auf die Mädchen zu. Noshe hätte gern warnend gerufen, aber die Umrisse waren den Mädchen nun schon zu nahe. Der Verstand eines fünfjährigen Apachen sagte ihm, daß Schweigen wohl am besten sei. Während er beobachtete, flitzten von den grauen Umrissen Lassos in die Luft, fielen den Mädchen über die Köpfe, um die Hälse, und beide wurden, nach Luft schnappend und wild um sich schlagend, von dem Felsblock heruntergerissen. Die grauen Umrisse, das wußte Noshe, waren der Feind. Rasch blickte er um sich. Man hatte ihn nicht gesehen. Überleben stand immer an erster Stelle. Mit dem runden Bauch dicht am Boden, kroch er zu einem großen Felsen, hielt sich am Rand fest und schob sich ganz unter eine Spalte. Dann beobachtete er weiter. Die grauen Umrisse hatten große Hüte auf den Köpfen und waren bärtig. Noshe sah sie gut, während sie die Mädchen packten, ihnen die Hände auf den Rücken banden und sie brutal an den Strikken um den Hals mitzerrten. Einige Feinde lachten; dann verschwanden sie mit den Mädchen und schleiften sie mit den Lassos den Hang hinab. Andere fingen an, sich in einem weiter sich dehnenden Kreis umzusehen. Zwei kamen direkt auf Noshe zu, und er preßte sich fest unter den Felsen. Die beiden unterhielten sich, aber Noshe konnte ihre Worte nicht verstehen. Sie blieben neben dem Felsblock stehen, und die Zehenkuppe eines Stiefels schob sich, keine zwei Zoll von Noshes Nase entfernt, unter den Fels. Der Stiefel war schwarz. Noshe hatte ein Messer bei sich, das an seiner Lendenschurzhose hing. Langsam zog er das Messer heraus und klemmte es zwischen seine kindlichen Zähne. Sollte der Stiefel ihn treten, würde er mit dem Messer zustechen. Er wartete und beobachtete den Stiefel mit stoischer Aufmerksamkeit. Dann schob sich der Stiefel von ihm weg, die Stimmen verklangen, und die Männer gingen mit schwerem Schritt den Berg hinunter. 142
Jetzt trat wieder Schweigen ein. Leichter Regen plätscherte leise auf den Fels und auf den Boden. Aber Noshe bewegte sich noch immer nicht. Er wußte, daß noch andere da sein konnten, und daher wartete er. Während der Morgen verstrich, hob sich der Nebel. Vorsichtig schob Noshe den Kopf unter dem Fels hervor. Jenseits der Lichtung konnte er einen rotschwänzigen Falken sehen, der sich fleißig an einem Pinienast das Gefieder putzte. Irgendwo hörte er Grunzen, wandte den Kopf zu dem Geräusch und sah ein weibliches Nabelschwein mit zwei Jungen. Sie gruben an einem Busch nach Wurzeln. Zuversichtlich glitt er unter dem Felsen vor und stand auf. Der Falke flog auf, und das Nabelschwein trottete mit den beiden Jungen fort. Er war allein. Sein Instinkt trieb ihn zuerst, der Fährte der Feinde zu folgen. Vielleicht konnte er sie töten. Er dachte eine Weile nach, setzte sich bequem gegen den Felsblock und wurde anderen Sinnes. Es waren viele Feinde, selbst für einen Apachen. Er würde Hilfe brauchen. Und daher begann er den mühsamen Rückzug über Steine und Felsen in den Canyon. Es war mittlerweile später Nachmittag geworden, als er im Bett des Canyons ankam, nachdem er vorsichtig den Abstieg bewerkstelligt hatte. Er wußte genau, wohin er gehen mußte. Er erschien vor Juhs Tipi und erzählte seine Geschichte. Er erzählte sie von neuem, nachdem Juh geschrien hatte, und der Kriegsschamane Geronimo auftauchte und Krieger sich zu sammeln begannen. Sie rissen Gewehre aus den Tipis und rannten los; Juh trug Noshe auf den Armen, und sie erreichten genau die Stelle an der Basis der Canyonwand, wo er den Pfad wies, dem er gefolgt war. Er hätte alles gern noch ein drittesmal erzählt, aber plötzlich ließ man ihn ganz unfeierlich an der Wand stehen, und seine Mutter riß ihn wieder in sein Dasein als kleines Kind zurück. Erst nach Mitternacht kehrten Juh, Geronimo und die Krieger zurück. Noshe war noch wach und kroch, ohne gesehen zu werden, in die dem Feuer nächsten Schatten. Sie trugen Gewehre und Munition zusammen. Sie waren der Fährte gefolgt, und die Fährte führte zur Siedlung Nuri. Noshe sah, wie Ishton Gegenstände aus ei143
ner Lagerhütte mit erbeuteten Vorräten vor die Krieger legte. Er beobachtete in den huschenden Schatten, die über den Kreis der lauschenden Gestalten fielen, das harte Gesicht Geronimos. Ishton sprach. Sie hatte einen Plan. Lucia war Juhs jüngere Schwester. Nuri lag in der Ebene auf einem Plateau, siebenhundert Meter hoch. Nahe den Vorbergen der Sierra Madre und direkt an der Frachtstraße, die von Norden nach Süden verlief. Nuri war mehr als eine Stadt; es war ein Fort. Colonel Luis Gomez, der dreihundert Soldaten befehligte, hatte eine große Verantwortung und daher auch viel Autorität. Ständig lösten sich Patrouillen in seiner Garnison ab, und Soldaten rückten nach Süden aus, um Frachtkolonnen in Empfang zu nehmen, die vom Norden kamen, und sie in die Einfriedung von Nuris zehn Fuß hohen Mauern in Sicherheit zu geleiten, ehe sie sie nach Norden, nach Ures, Arispe, weiter zur neuen Grenzstadt Nogales und schließlich nach Tucson eskortierten. Seit Jahren beförderten Maultier- und Ochsenkolonnen vielfältige Nachschubgüter für die Anglos im Norden: Zuckerhüte aus dem Inneren Mexikos, Schinken, Tuche, Bergbaugeräte und Mehl. Ein Ochse konnte leicht fünfzig Pfund Mehl auf dem Kopf tragen, während er mit dem Sattel auf seinem Rücken dreihundert Pfund Güter transportierte. Maultiere, die angemessen gefüttert und behandelt wurden, konnten bis zu dreihundert Pfund durch das zerklüftete Land tragen, in dem Berge, Ebenen und Wüsten zusammentrafen. Jetzt bestand für diese Güter kein Bedarf. Colonel Gomez hatte gehört, daß die Anglos die California Road eröffnet hatten und mit riesigen Frachtwagen von Texas, die ganze Strecke von San Antonio aus, Nachschub für die wachsende Bergbauindustrie des Territoriums von Arizona beförderten. Seit kurzem hatten sich die langen Frachtkolonnen von Maultieren und Ochsen aus Mexiko spezialisiert. Aus den gar nicht tiefen Bergwerken mit einhundertfünfzig Meter hohen Schächten im Süden wurde Zinnobererz gewonnen und dann erhitzt, um den Schwefel zu verflüchtigen. Aus ihm wurde Quecksilber gewonnen. Das Quecksilber wurde auf Maultieren 144
transportiert, denen man dreihundertpfündige Eisenflaschen beidseits über den Rücken gehängt hatte, in oft bis zu hundert Tieren zählenden und im Gänsemarsch ziehenden Kolonnen. Die Bergleute im Norden hatten großen Bedarf an Quecksilber. Diese Bergleute, die ihr Gold- oder Silbererz pulverfein stampften, mischten die pulverisierte Masse mit Wasser und gossen die Mischung über dünne Kupferplatten, die mit Quecksilber überzogen waren. Gold oder Silber band sich mit dem Quecksilber zu einem Amalgam, aus dem Erde und Steine ausgewaschen wurden. Setzte man dann die Kupferplatten intensiver Hitze aus, kochte Quecksilber und wurde zu Gas, während reines Gold oder Silber als Rückstand blieb. Aus diesem Grund konnte Quecksilber nicht wiederverwendet werden. Deshalb, und auch wegen dem fantastischen Anwachsen der Erzfunde, bestand heftiger Bedarf nach Quecksilber. Mit ihrem Quecksilberbedarf standen die Anglos nicht allein. Neue Silberminen, die längs der Vorberge von Mexikos Sierra Madre eingeschachtet wurden, hatten den ersten Zugriff zur Quecksilbererzeugung. Dies bewirkte eine weitere Verantwortung und Verärgerung von Colonel Gomez. Quecksilber erbrachte bei den Anglos höhere Preise, und es war seine Pflicht, jene Frachtfahrer anzuhalten und umzuleiten, die zugunsten der höheren Anglo-Bezahlung an den mexikanischen Silberminen vorbeiziehen wollten. Er befehligte vier Captains und acht Leutnants, und er hatte seine Männer auf kleine Patrouillen aufgeteilt, die ständig nach Osten und Westen streiften, um alle abzufangen, die mit ihrer Quecksilberfracht Nuri zu umgehen suchten; dazu kamen noch die regulären Eskortierungspatrouillen, die regelmäßig nach Norden und Süden erkundeten. Kürzlich war für Quecksilber eine neue Verwendung entdeckt worden. Mit Salpetersäure gemischt, wird es hochexplosiv, und seine Verwendung in den neuen Zündhütchen der Patronen hatte die Nachfrage weiter steigen lassen. Die Verantwortung lastete schwer auf Colonel Gomez. Darüber hinaus wurde er ständig von seinen Vorgesetzten bedrängt, ein weiteres gewinnbringendes Produkt für die mexikanischen Bergwerke zu liefern: Indiosklaven. 145
Diese Forderung war von bedeutenderer Wichtigkeit, denn sie betraf, neben anderen Dingen, die Karriere von Colonel Gomez. Drängende Forderungen aus dem Süden stammten von mächtigen Persönlichkeiten in der Nationalregierung, die mit einem Schnalzen ihrer Finger Colonel Gomez zu einem Peon degradieren konnten. Und die lokalen Wünsche zweier Silberbergwerke in unmittelbarer Nachbarschaft erforderten unbeirrbare Diplomatie und verwirrende Manipulationen. Eines der Bergwerke, Kirchenbesitz, wurde vom Priester Nuris verwaltet; das andere gehörte einer Vereinigung mächtiger Dons. Die gelassen gottesfürchtige Art des Priesters dämpfte nicht im geringsten die Ängste des Colonels vor seiner Macht. Nur ein Wort für die verwickelte politische Maschinerie der Kirche in Mexico City war nötig, um seine Karriere zu beenden … ja sogar sein Leben. Ebenso verhielt es sich mit den politisch mächtigen Dons. Und sie gewährten ihm keinerlei Fristen. Die Dons mit ihren aufgeblasenen Forderungen und der Priester mit seiner bedächtigen Beharrlichkeit drängten unaufhörlich nach mehr Indiosklaven. Die Sterblichkeitsrate der in den Bergwerken arbeitenden Indios war erschreckend; wie das Quecksilber wurden sie schnell verbraucht und erledigt. Aber im Gegensatz zum Quecksilber verminderte sich auf diesem Gebiet der Nachschub. Die durchschnittliche Lebensspanne eines in den Bergwerken arbeitenden Indianers betrug vier Jahre. Sie schleppten vierzehn bis sechzehn Stunden pro Tag Erzsäcke, die bis zu vierhundert Pfund wogen, über Pfostenleitern aus unterschiedlich tiefen Abbauebenen; manche von ihnen sahen niemals die Sonne. Die alarmierende Sterblichkeitsrate der Indianer überstieg das Geburtenwachstum. Die Kirche, die sich heftig bemühte, ihre Bergwerksbetriebe zu erhalten, hatte einen langfristigen Plan entwickelt, der offenbar ein Fehlschlag war. Die Kirche hatte befohlen, daß keine weiblichen Indios für Bergwerksarbeiten herangezogen werden sollten, und sie hatte sich für ein Wachstumsprogramm eingesetzt, das für einen Zeitraum von vier Jahren eine Geburtenziffer von vier Kindern pro männ146
lichem Indio vorsah. Aber die Indianer versagten bei diesem Fortpflanzungsprogramm; es gab nur wenige Geburten. Vielleicht, hatte Colonel Gomez dem Priester unterbreitet, waren die Arbeitsstunden etwas zu lang; wenn man möglicherweise den Arbeitstag auf, sagen wir, zwölf Stunden verkürzte … immerhin, ein Mann… Der Priester hatte die Achseln gezuckt und die Hände in hoffnungsloser Geste gehoben, aber er sicherte dem Colonel zu, er werde die Vorschläge höheren Orts zur Sprache bringen. Der ominöse Ton des Priesters, ›die Vorschläge zur Sprache zu bringen‹, erfüllte Colonel Gomez mit Besorgnis. Folglich hatte Colonel Gomez, nervös wegen seiner Karriere und seines Lebens, in den vergangenen sechs Monaten ein zweigleisiges Programm festgelegt, das dazu bestimmt war, die Nachfrage nach Indiosklaven zu befriedigen und seine Besorgnisse zu dämpfen. Er hatte mit der Anwerbung von Leuten begonnen, die man in militärischen Kreisen höflich als guerilleros, Irreguläre, bezeichnete. Unter dem Mantel der Halbgesetzlichkeit hatte Colonel Gomez Hunderte der bestia-Bandidos verpflichtet. Sie operierten ohne regulären Sold und waren mit Stücken und Fetzen von Uniformen bekleidet, wie sie der Colonel eben zur Verfügung stellen konnte. Angeblich unterstanden sie seiner Autorität; aber sie erstatteten ihm nur Bericht, wenn es ihnen gefiel, und dies geschah dann, wenn sie die Quelle ihrer Bezahlung einbrachten: gefangene Indios. Er hatte mit einem Kopfgeld von zweihundert Pesos pro männlichem oder weiblichem Indio begonnen, die ihm in Nuri zu übergeben seien. Aber der Preis für Indianer wurde bestimmt durch den Preis, den man für Apachenskalps bezahlte, und der Preis eines männlichen Apachenskalps war vor kurzem auf dreihundert Pesos angestiegen. Daher hatten die Irregulären mit dem Verkauf von Skalps begonnen, bei denen das ganze Haar nach Art der Apachen zurecht gerichtet war, so daß man nur schwer die Nationalität des ursprünglichen Eigentümers des Skalps bestimmen konnte. Colonel Gomez war daher gezwungen, den Preis auf dreihundertfünfundzwanzig Pesos pro Indianer zu erhöhen. Um die Bestialität seiner Irregulären 147
zu bändigen, hatte er Regeln verkündet: der männliche Indio mußte bei guter Gesundheit und arbeitsfähig sein. Eine Frau durfte nicht geschändet sein, oder wenn doch geschändet, mußten ihre weiblichen Organe unbeschädigt sein. Diese letztgenannte Regel war entscheidend für die zweite Möglichkeit in dem Programm des Colonels. Direkt hinter seinem Quartier am Westende von Nuris langer, steiniger Straße lag die Garnison der Soldaten. In der Mitte der Soldatenbehausungen erhob sich ein langes Adobegebäude, das in zwei Hälften unterteilt war. In einer Hälfte hielt man die männlichen Indios während ihres kurzen Aufenthalts; in der anderen wohnten die weiblichen Indios, die länger hierblieben. Die weiblichen Indios wurden von seinen Soldaten geschwängert. Der offensichtlich wachsende Erfolg seines Programms hatte den vorsichtigen Colonel zu stillem Frohlocken verführt. Die männlichen Indios, die ihn dreihundertfünfundzwanzig Pesos kosteten, verkaufte er dem Priester und den Dons für sechshundert, auf lokaler Basis. Diejenigen, die er nach Süden transportierte, erbrachten einen Erlös von tausend Pesos pro Kopf. Daher war er in der Lage, die lokalen Autoritäten zu befriedigen und doch für seine Armeevorgesetzten, sich selbst und seine Captains einen Gewinn zu erzielen. Er führte Protokoll über sein Programm und erließ sorgfältige Regeln. Alle männlichen Indios wurden medizinisch untersucht, gewaschen und in Sackleinen neu gekleidet. Keine Indiofrau durfte brutaler als notwendig war, behandelt werden, um sie zu zwingen, sich sexuellen Beziehungen hinzugeben – und das nur am Anfang, denn nach dem ersten oder zweiten Mal fügten sich die Frauen. Ihre Aufgabe war es, die Baracken und sein eigenes Quartier gründlich zu säubern, und man hielt sie fest, bis sie schwanger waren; dann erbrachten sie einen Preis wie die Männer, da der Käufer mit einer Niederkunft rechnete, die seinen Gewinn steigern mochte. Es war ein glänzendes, produktives Programm, das sowohl laufende wie langfristige Vorhaben befriedigte. Es war ein Programm, das sich in ganz 148
Mexiko ausbreitete und dessen Ergebnis eine starke Bevölkerung von Mestizen war – Mischblut. Nur Apachen waren ausgenommen. Am Tag nach Lucias und Mathlas Gefangennahme saß Colonel Gomez an seinem Schreibtisch, gegenüber dem offenen Fenster, durch das er die lange Straße und die vorderen Gatter von Nuri einsehen konnte. Er prüfte gerade den Bericht des diensthabenden Offiziers über die vergangene Nacht. Er war adrett gekleidet, seine Epauletten glänzten, wie es seiner Natur gemäß war; er nippte abwechselnd Wein aus einem langstieligen Glas, das seine indianische Konkubine auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, und paffte an einem schwarzen Zigarillo. Bei einer Eintragung runzelte er die Stirn, las sie sorgfältig durch und folgte den Worten mit seinem Finger. Der Eintrag stammte von dem Diensthabenden und betraf die Auszahlung von sechshundertfünfzig Pesos an Irreguläre im Austausch gegen zwei weibliche Indios. Nur der der Eintragung folgende Zusatz verursachte sein Stirnrunzeln. Der Zusatz lautete: Apachen. Er schloß das Wachbuch, legte es sorgfältig in den Schreibtisch, starrte zum Fenster hinaus und schnaubte: »Excremento!« Dieser Fluch wurde häufig in Mexiko im Zusammenhang mit den Apachen verwendet. Die Apachen weigerten sich, auf irgendeine zivilisierte Weise mit ihnen zu verhandeln. Da aber die Geschichte den Spaniern bewies, daß man alle Indianer vernünftigerweise unterwerfen und vielleicht sogar zivilisieren konnte, waren die Apachen ein schwer lösbares Rätsel. Wenn Spanier Apachen als Sklaven nahmen, revanchierten diese sich, indem sie Spanier zu Sklaven machten! Undenkbar! Als die mexikanischen Soldaten mit Lanzen gegen sie vorgingen, beschafften sich die Apachen Lanzen und verwendeten sie mit einfallsreicherer Grausamkeit als die Soldaten. Militärische Feldzüge gegen die Apachen führten nur zu langen vergeblichen Märschen, die nichts außer Vergeltungsangriffe gegen Dörfer und Städte einbrachten, an Scheußlichkeiten denen eines Attila gleich. Während die meisten besiegten Indios sich daran gewöhnten, das Christentum als ihr Heil anzusehen und die Kirche und ihre Autorität anzuerkennen, lästerten die Apachen über die Kir149
che, verbrannten Kathedralen, entweihten Altäre und das Kreuz und ermordeten Priester und andere Männer der Kirche mit unterschiedsloser Verwerflichkeit. Diese mörderischen Praktiken hatten ihnen auch einen Namen eingetragen: los Diablos – die Teufel. Als Sklaven waren sie widerspenstig und flüchteten bei der erstbesten Gelegenheit, und selbst wenn man sie in hartem Gewahrsam hielt, wurden sie zu selbstmörderischen Monomanen, sobald sie alkoholische Getränke zu sich nahmen und dann jedermann in ihrer Reichweite niedermetzelten. Colonel Gomez blinzelte gegen die heiße Sonne, deren Hitze immer stärker wurde und aus der steinigen Straße durch sein Fenster gedrückt wurde. Er wiederholte: »Diablos! Excremento!« Dann seufzte er resigniert, schob den Stuhl zurück und stand auf; er rückte das verzierte Käppi sorgfältig zurecht und schritt durch den kühlen Korridor, der zum Quartier seiner Truppe führte. Draußen erwiderte er den Gruß eines bärtigen Sergeanten, der ihm in einer respektvollen Entfernung von zwei Fuß zu den Unterkünften folgte. In der Mitte des Geländes waren kurze, feste Tische gegen die Wände der Indianerunterkünfte gestellt. Es gab sechs von diesen Tischen, und auf ihnen standen Käfige. Die aus dickem Zedernholz gefertigten Käfige waren klein, vier Fuß hoch, lang und breit. Es waren die ›Apachenkäfige‹, die man für die nicht gerade häufigen Gefangenen aus der Apachennation reserviert hatte. Ihre Bestimmung bestand darin, Gefangenen keinerlei freie Bewegung zu ermöglichen. Der Insasse konnte weder aufstehen noch sich hinlegen, sondern mußte sich mit angezogenen Beinen hinkauern. Colonel Gomez schaute durch die Stäbe Lucia an, deren Hände noch hinter dem Rücken gebunden waren. Ihr Kopf war ihr zwischen die Knie hinabgesunken. Sie versuchte gar nicht aufzublicken. Er trat an den Nachbarkäfig und inspizierte Mathla, in der gleichen Stellung. »Jung«, sagte er, ohne den Sergeanten anzusehen. »Si«, antwortete der Sergeant. Im Geist schätzte Colonel Gomez die beiden Figuren ab und legte sich seine Argumente für den im 150
Süden tätigen Händler zurecht, dem er die Apachen verkaufen mußte. Kein Käufer im Norden Mexikos würde Apachen erwerben. Wer so etwas tat, würde sich Vergeltung von einer der Scharen zuziehen; und außerdem waren sie ihrer Heimat so nahe, daß sie unweigerlich mit dem Gedanken an Flucht spielen würden. Apachen mußte man tausend Meilen weit, eingesperrt in Käfige, auf den carros – den Karren – in den Süden transportieren. Jeder solcherart verkaufte Apache mußte deutlich mit einem A auf der Schulter gebrandmarkt sein, damit jeder Käufer vor den möglichen Unannehmlichkeiten, die er sich einhandeln mochte, gewarnt war. Dies war ein gutes Gesetz, denn es hinderte skrupellose Händler daran, einen Apachen als gewöhnlichen, ergebenen Indio unterzuschieben. Colonel Gomez deutete auf die Käfige. »Raus mit ihnen, Sargento! Wollen wir sie mal genauer ansehen!« Und als der Sergeant vortrat, riet Gomez zur Vorsicht: »Denken Sie dran, es sind Apachen – geben Sie acht!« Der Sergeant grinste. Er entriegelte die Käfigtür, griff nach innen und packte einen großen Schopf von Lucias Haar. Mit einer geübten, kräftigen Drehung riß er sie durch die Tür und warf sie auf den Erdboden. Der Sergeant wußte, daß er weitgehende Freiheit besaß, soweit es brutale Behandlung von Apachen betraf. Lucia lag auf dem Rücken und blickte zu dem Colonel und Sergeanten empor. Ihre Kattunbluse und ihr Kattunrock waren zerfetzt, vorne der Länge nach aufgerissen. Die Kleidung war also offen und ließ kupferfarbene Haut und kleine schwellende Brüste mit reizenden Warzen erkennen. Auf ihrer linken Wange, wo ein Irregulärer sie geschlagen hatte, war ein häßlicher blauer Fleck. In ihren Augen konnten die über ihr stehenden Männer nichts lesen. Ein Schleier stoischer Ergebenheit hatte sich wie ein Vorhang über ihre schwarzen Pupillen gesenkt. Colonel Gomez trat dicht heran und stand fast direkt über Lucia. Er schickte sich gerade an, sich vorzubeugen und mit seiner Hand ihre Brüste zu streicheln, als der Sergeant brüllte: »Colonel!«, einen Satz nach vorn machte und Lucia in die Seite trat, so daß sie herumgerollt wurde. Colonel Gomez schnellte sich zurück, gerade 151
als Lucias Füße seine Hosenbeine streiften und seine Rippen, mit diesem bösartig gezielten Tritt, haarscharf verfehlten. Gomez blickte reuig auf sie hinab. »Eine Schande, daß so ein Leib einer Apache gehört! Daß wir so eine querida nach Süden bringen müssen … eine Schande!« »Si«, stimmte der Sergeant zu. Er sperrte die Tür in Mathlas Käfig auf, packte ihr Haar auf die gleiche Weise und schleuderte sie auf den Boden hin. Aber er lockerte seinen Griff nicht, sondern schleifte sie, bis sie neben Lucia lag. Ihr Mund war verschwollen und mit getrocknetem Blut verkrustet; der über ihr Gesicht verschmierte Schmutz hätte die Folge von Tränen sein können, aber der Colonel wußte, daß Apachen keine Gefühle kannten und daher auch nicht weinten. Er wandte sich an den Sergeanten. »Sargento, wenn Sie wollen, können Sie Hilfe holen. Ich möchte es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Sie müssen mañana für den Marsch nach Süden bereit sein.« »Nein, Colonel«, erwiderte der Sergeant hastig. »Wenn Sie gestatten, Colonel – damit werde ich fertig. Wir haben hier nur noch die Ablösungspatrouille, und die Männer schlafen … ja, die Mauerguardia … nicht nötig, sie vom Dienst abzurufen.« »All right«, antwortete Colonel Gomez frisch, »machen Sie sie fertig.« Der Sergeant war ein großer Mann. Er kniete zwischen den Mädchen nieder, packte jedes am Haarschopf, hob die Köpfe und schlang seine Arme um ihre Hälse. Und so, jedes Mädchen im würgenden Griff, stand er auf und zerrte beide zu dem Adobeschuppen hin. Colonel Gomez trat unter die Tür, um bei der Prozedur zuzusehen. Der kleine Raum besaß nur ein hochgelegenes Fenster, so daß sein Inneres im Zwielicht lag. Der Boden bestand aus Steinen, in einer Ecke befand sich eine Schmiedegrube mit Abzug durch einen steinernen Schornstein. Unter der niedrigen Decke hing, an beiden Enden von einer Kette gehalten, eine lange Stange; die um die Stange geschlungene Kette war an der Decke befestigt. Das einzige Einrichtungsstück war ein mit Wasser gefüllter großer hölzerner Zuber. 152
Der Sergeant trat ein und schleuderte die zwei Mädchen wie Kornsäcke vor sich auf den Boden hin. Er ging zur Schmiedegrube, wo er kräftig den Blasbalg bediente, bis die Holzkohle rot zu glühen begann. Dann wandte er sich um, holte aus einer Ecke einige eiserne Stäbe und schob sie mit den Kopfenden in die rote Glut. Nach einem kurzen, forschenden Blick auf den Colonel, der zustimmend nickte, sprang er gegen den ihm zugewandten Rücken Lucias und stieß mit beiden Knien zu, so daß ihr Atem keuchend entwich. Rasch holte er das Messer aus seinem Gürtel und zerschnitt die Handfesseln. Und ehe sie sich fassen konnte, rollte er sie schon auf den Rücken. Mit den Fesseln, die er gekonnt herumschwang, band er ihr die Hände vorn zusammen, stand auf und wiederholte die gewalttätige Operation auch mit Mathla. Danach erhob er sich, keuchend vor Anstrengung, das Käppi schief auf dem Kopf. Er schwitzte; Schweißtropfen rannen ihm aus dem Gesicht in den Bart. Wieder nickte Colonel Gomez. Der Sergeant war ein Veteran, der die Apachen kannte. Der Sergeant atmete durch, packte Lucia bei den gebundenen Händen, stemmte sie derart in die Höhe und umfaßte ihre Taille in einer bärengleichen Umarmung. Mit jähem Schwung rammte er sie gegen die Steinwand und stieß ihr gleichzeitig ein Knie in den Magen. Vor Schmerzen und Atemnot krümmte sie sich zusammen. Und während sie noch in dieser Pose verharrte, hob er mit der einen Hand die Stange aus der Kettenschlinge und mit der anderen Lucias gebundene Hände; er schob die Stange unter ihren Händen durch und steckte das Stangenende zurück in die Kettenschlinge. Ohne Gegenwehr hatte er sie aufgehängt, ihre Hände lagen um die Stange, ihre Füße berührten kaum den Boden. Er machte eine Pause und schielte zu dem Colonel. Colonel Gomez nickte. Er riß Mathla vom Boden hoch und wiederholte die Prozedur. Als er sie gegen die Wand rammte, entfuhr ihr ein kurzer Schrei, dann ein leises Wimmern, als er ihr die Hände über das andere Ende der Stange preßte. Colonel Gomez lächelte wissend. »Die da« – er trat vor und strich mit einer Hand über Mathlas vol153
le Brüste – »könnte man möglicherweise zu … äh … zu einer Dienerin abrichten.« Aber während er noch mit dem Sergeanten Mathla musterte, fiel sie wieder in die ausdruckslose, stoische Starre der Apachen zurück. Im Blickwinkel von Colonel Gomez fiel ein Schatten über den Boden. Gereizt wegen der Unterbrechung, wandte er sich um. »Si?« schrie er den Korporal beinahe an, der steif salutierend dastand. »Colonel?« Der Korporal war über die Wut des Colonels verblüfft. Immerhin brachte er doch eine gute Nachricht. »Si! Si!« schrie Colonel Gomez. »Der Mauer-Korporal berichtet, daß guerilleros aus dem Norden kommen, Colonel. Sie führen viele gefangene Indianer mit.« »Ah! Nun ja…« Gomez war durch die Neuigkeit besänftigt worden. »Viele? Haben Sie viele gesagt? Wie viele?« »Der Mauer-Korporal meinte, vielleicht so vierzig … vielleicht auch fünfzig, Colonel.« Gomez dachte einen Augenblick nach und befahl dem Korporal kurzangebunden: »Benachrichtigen Sie den alcalde. Bei so vielen wird er dabei sein wollen. Der Mauer-Korporal soll mit einer Rotte ausreiten. Er soll die guerilleros die Straße herunter eskortieren und vor mein Quartier bringen. Ich bin dann dort, um ihre Forderungen zu regeln und die Indios zu übernehmen.« »Si, Colonel.« Der Korporal eilte über den Platz davon. Colonel Gomez schickte sich schon an, ihm zu folgen; dann fiel ihm etwas ein, und er wandte sich zurück zur Tür. »Sie können hierbleiben, Sergeant, und weitermachen.« »Si, Colonel«, antwortete der Sergeant. Er wartete, bis der Rücken des Colonels durch die Tür gegangen war, und sah ihm nach, wie er durch die Hintertür seines Quartiers entschwand. Als sich der Sergeant danach von der Tür abwandte, hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. Nun trug er über dem Gesicht nicht mehr die Maske der Unterwürfigkeit. Er grinste, so daß die weißen Zähne aus dem Bart herausblitzten, und zog das Messer aus dem Gürtel. Jetzt beobachteten ihn die Mädchen mit erhobenen Köpfen; sie schau154
ten einander über den Zwischenraum von sechs Fuß an. Ihre Augen starrten glasig ausdruckslos, und sie schienen fast desinteressiert an dem, was er tat. Aber sie beobachteten. Mit übertriebener Gelassenheit schob er das Messer unter Mathlas Kleid und schlitzte es vorn und hinten auf, bis sie nackt dahing. Sein Atem ging keuchender, als er mit dem Aufschneiden von Lucias Kleidung fertig war. Dann trat er zurück, um seine Arbeit zu begutachten. Die Mädchen waren schlank, geschmeidig, Mathla etwas prallhüftiger. Mit ihren Füßen konnte keines der Mädchen sein Körpergewicht stützen, und ihre bronzefarbenen Körper streckten sich empor zu den gefesselten Händen; die Anspannung betonte die Kurven der Hüften, die in schmale Taillen und flache Bäuche übergingen. Die Anstrengung wölbte ihre Schenkel leicht rund, und die steifen Arme bogen die Schultern zurück und dehnten die Muskeln derart, daß die kleinen Brustknospen Lucias nach oben wiesen, die starken vollen Brüste Mathlas aber sich nach außen wölbten. Der Sergeant schöpfte einen Eimer Wasser aus dem Zuber, leerte ihn über Lucias Kopf und Körper und fing an, sie langsam mit Seife abzureiben. Dann setzte er den Eimer ab und verwendete beide Hände. Der Sergeant wollte Spaß an der Arbeit haben. Colonel Gomez stand aufmerksam am Fenster und blickte Nuris einzige holperige Straße hinab, gesäumt von Adobehäusern, die Läden, Cantinas und Cafés beherbergten. Er beobachtete das große Tor am fernen Ende der Straße. Da er befohlen hatte, die Irregulären durch die Straße ihm entgegen zu eskortieren, wußte er, daß es unpassend sein würde, wenn er nach draußen ginge und dort wartete. Sie mußten ihm ihre Aufwartung machen. Von Natur aus war er diszipliniert und beherrscht, aber sogar ihm fiel es schwer, seinen Jubel zu unterdrücken. Das war die größte Einzelbeute an gefangenen Indios, seitdem er seinen Feldzug eingeleitet hatte! Vierzig! Er begann im Geist zu berechnen; vierzig, selbst zu lokalen Preisen – und das würde dem Priester und den Dons zusagen – vielleicht ein Gewinn von elftausend Pesos – und wenn er sie im Sü155
den verkaufte, so an die siebenundzwanzigtausend Pesos. Vielleicht konnte er diesmal die Beute teilen, die eine Hälfte dem Priester und den Dons geben, die andere aber im Süden abstoßen. Er wurde ungeduldig, auch gegenüber sich selbst. Er beugte sich zum Fenster hinaus und schrie einer kleinen Rotte von Soldaten zu, die unter ihm steif in Habtachtstellung standen. »Corporal! Reporte!« Der Korporal löste sich von der Rotte, rannte und, einmal im Innern des Hauses, trottete keuchend, bis er vor Gomez stillstand. »Colonel?« Er salutierte. »Wie lange noch? Wo sind sie denn?« »Sie sind nahe, Colonel, sie…« Der Korporal konnte durch das Fenster die Straße sehen; er deutete. »Sehen Sie, Colonel! Da kommen sie!« Colonel Gomez stürzte ans Fenster. Soeben kamen die ersten Pferde durch das breite Tor und lenkten in Nuris Straße ein. Zwei Reiter führten die Prozession an. Hinter ihnen folgte, zu beiden Seiten der Gefangenen, die dazwischen zu Fuß gingen, je eine Kolonne von Reitern. Diese Irregulären waren typisch guerilleros: breite Sombreros beschatteten brutale, harte Gesichter. Ihre Uniformen bestanden aus Fetzen und Reststücken ausgeschiedener Uniformen, hier ein Waffenrock von der Armee, dort modisch lange Hosen – aber alle trugen überkreuz auf der Brust bandoleros mit Patronen, und alle hatten vor den Sätteln Gewehre liegen. Die Gewehre, bandoleros und Sombreros schienen die einzigen Merkmale gemeinsamer Ausrüstung zu sein. Es war eine ungewöhnlich starke Streitmacht; vielleicht zwanzig Reiter ritten im Gänsemarsch auf jeder Seite der Gefangenen. Das Dröhnen der Pferdehufe und das scharrende Schlurfen der Gefangenen erzeugte dumpfen Widerhall in der Straße. Auf beiden Seiten erschienen Menschen, die zusehen wollten. Ein paar Soldaten schlenderten von den Baracken her, um sich in die Menge zu mischen. Kaufleute traten vor ihre Läden, und Frauen und Kinder säumten die Straße. Während die Prozession schweigend vorrückte, wurden die Stimmen der Zuschauer etwas erregter. Colonel Go156
mez bemühte sich zwar, der Sache auf den Grund zu gehen, aber die beiden anführenden Reiter blockierten einen großen Teil seines Blickfeldes. Doch als sich nun, noch näher heran, die Kolonnen etwas auflockerten, konnte er die Gefangenen deutlicher sehen. Es waren Frauen! Apachen-Frauen! Daran bestand wohl kein Zweifel. Ihre langen, zerfetzten und beschmutzten Kattunkleider und die Haartracht identifizierten sie zweifelsfrei. Gomez sah Blut auf ihren Gesichtern – man hatte sie wohl erst zur Räson bringen müssen. Sie liefen mürrisch dahin und zerrten an den Stricken um ihren Hälsen, die zu den Sätteln der Reiter führten. Ihre Hände waren ihnen auf dem Rücken gefesselt. Gomez beobachtete, wie einer der guerilleros sein Pferd zu einer Gefangenen hinlenkte; er hob das Gewehr mit bösartigem, kurzem Schwung und schlug die Frau nieder. Jubel erhob sich in der Menge. »Por dios!« rief Gomez gedämpft. »Sie haben eine ganze Schar von diesen Mördern eingefangen! Eine ganze Schar!« Colonel Gomez lehnte sich vor und versuchte, die Zahl zu schätzen. Das Abzählen der Gefangenen erwies sich als schwierig, da die guerilleros-Reiter, die das Zerren der Gefangenen an den Halsseilen erboste, damit begonnen hatten, ihre Pferde zwischen die Gefangenen zu drängen und sie mit Gewehren und losen Stricken zu schlagen. Der Korporal sagte etwas, aber Gomez unterbrach ihn: »Sie haben die Männer offenbar umgelegt. Ich sehe keinen gefangenen Mann. Die bestia haben sie gegen das Kopfgeld skalpiert. Ich…« Wieder sprach der Korporal, leise, aber drängend und besorgt. »Ah?« Gomez fuhr zu ihm herum. »Was ist denn?« »Ich habe gesagt, Colonel…«, der Korporal zögerte, »…daß … na schön … die Pferde, die sie reiten … die hört man gar nicht – auf den Steinen … sie sind nicht beschlagen!« Gomez schaute den Korporal verständnislos an. Irgendwo in der fernen Tiefe seines Bewußtseins summte ein Warnsignal bei der Bemerkung des Korporals, aber das Signal kam nicht voll an. Er trat dicht ans Fenster und lehnte sich vor. Die Menge war angewachsen; die Leute standen zu vieren hintereinander an der Straße. Noch 157
mehr Soldaten waren herausgekommen. Jemand ließ einen langen Beifallsschrei ertönen, und die Menge nahm den Beifall auf und jubelte: »Bravo! Bravo soldados! Vivan los soldados de Mexico! Ein Hoch den Soldaten von Mexiko! Muerte a los Diablos! Tod den Teufeln!« Die Leute stampften im Takt zu ihrem Gesang und wirbelten Hüte in die Luft. Das war die größte jemals erlebte Anlieferung von Teufeln, die sie in schlaflosen Nächten in Angst, an atemlosen Tagen in Unruhe versetzt hatten. Die Erleichterung der Einwohner war wie eine Lawine aus Lärm. Colonel Gomez überkam eine Woge des Frohlockens, und plötzlich sah er seinen Plan in völlig neuem Licht: was als Programm zur Versorgung mit Sklaven begonnen hatte, mochte sich nun zu einem Feldzug entwickeln, der Nordmexiko von den teuflischen Apachen erlöste! Nahezu dreihundert Jahre lang hatten Generäle, Präsidenten … sogar Könige Fehlschläge erlitten! Der Name ›Gomez‹ würde laut durch die Parlamente der zivilisierten Welt hallen! Die guerilleros hatten haltgemacht. Hinter den zwei Führungsreitern bemerkte Gomez Unruhe unter den Gefangenen. Sie schienen sich, offenbar noch nicht ganz unterworfen, gegenseitig zu drängeln. Er beobachtete, wie die Gefangenen an ihren Kleidern herumfummelten, und dann glitten die Röcke zu Boden! Gomez' erste Reaktion war Ekel über diese Unzüchtigkeit; halb nackt, ganz offen sich vor die Bürger hinzustellen! Aber, seine Gedanken torkelten und machten Purzelbäume – ihre Hände waren doch gebunden! Wie konnten sie…? Er sah hin und fühlte sich benommen, wie in einem Traum in der hellen, sengenden Sonne. Neben den Beinen der Gefangenen hingen Gewehre! Alle Gefangenen hatten Gewehre unter ihren Röcken getragen! Colonel Gomez sah benommen und fragend zu den beiden berittenen Anführern hin, die, keine zwanzig Fuß entfernt, ihn anblickten. Der eine war ein riesiger Mann, der größte, den Gomez je gesehen hatte. Der andere war ein klotziger Soldat, der geduckt im Sattel ritt, den Sombrero nach vorn und unten gekippt. Gomez sah, wie der klotzige Soldat langsam den Kopf hob. Er schaute Gomez direkt an. Ein blitzendes Lächeln entblößte zwischen dünnen, geschlitzten Lippen wei158
ße Zähne. Über die Wangenknochen waren zwei helle Farbstreifen gemalt. Die Farbe war gelb. Colonel Gomez konnte aus seinem Gehirn nichts herauspressen. Er war erstarrt. Seine Lippen mühten sich ab mit dem Namen des gelbbemalten Soldaten … er kannte ihn nach einer Beschreibung, aber sein Denken wollte einfach nicht zulassen, daß er die Realität einer Unmöglichkeit erkenne. Das Singen der Menge tönte zwar noch laut, klang aber schon ab, als die Leute, die den Gefangenen näher waren, etwas ebenso Unwirkliches sahen wie Colonel Gomez. Nur in den hinteren Reihen der Menge wurde noch gesungen; es waren diejenigen, die nichts sehen konnten. Langsam hoben die weiblichen Gefangenen die Gewehre, drehten sich so, daß sie Rücken an Rücken standen, und zielten zu beiden Seiten in die Menge. Dann begannen sie zu schießen! Die erste Gewehrsalve krachte wie Donner zwischen den Gebäuden. Die Schüsse trafen zielsicher herumlungernde Soldaten, Frauen und Kinder. Einen Augenblick noch verharrten die Menschen wie Schafe, die auf das Abschlachten warten. In diesem Augenblick spornten die berittenen Irregulären ihre Pferde heftig an und führten schnelle Manöver aus, durch die das offene Tor Nuris blockiert wurde. Andere jagten ihre Pferde in Seitenstraßen hinein. Nuri wurde von völliger Panik überwältigt. Menschen heulten, wild und von Sinnen, auf und rempelten mit den Köpfen gegen die Wände von Häusern in ihrer blinden Flucht. Die ›Gefangenen‹ fielen über sie her, feuerten schnell und töteten unterschiedslos. Die beiden Anführer hatten die Gewehre hochgerissen und schnurgerade durch das Fenster auf Colonel Gomez und den Korporal geschossen. Der Korporal taumelte, griff mit den Händen nach Gomez und versuchte, sein schwindendes Gleichgewicht noch zu halten. Colonel Gomez fühlte den Schlag, der ihn gegen die Brust traf. Er schwankte und trat nach dem Korporal. Der Boden unter ihm kippte. Er rang noch mit seinem Denken, noch immer völlig wirr: alle waren sie Apachen! Die guerilleros waren Apachen! Er mühte sich um den Namen des Gesichts mit den gelben Streifen. Geronimo! 159
Er versuchte den Namen auszusprechen, spuckte Ströme von Blut aus und fiel gegen die Wand. Es war ein Trick! Die Unfairneß von all dem verletzte ihn tief. Blut quoll pulsierend aus seiner Brust und rann über seinen Waffenrock. Er starrte auf das Blut – Sauerei! Er würde eine saubere Uniform brauchen, ehe er hinausgehen konnte, um sich mit den guerilleros zu treffen und sie für die Indios zu bezahlen. Gedämpft drangen durch das Fenster die Schreie bis zu ihm – entsetzliche, hysterische Todesschreie. Manche wurden schnell erstickt; andere tönten hoffnungslos verebbend, wie das Weinen verlorener Seelen. Gewehrschüsse detonierten, und die Explosionen verteilten sich auf ein immer weiteres Gebiet. Die Teufel waren in den Häusern. Sie waren in der ganzen Stadt, überall um ihn herum. Ein sanftes Tappen kam in den Raum. Colonel Gomez, dessen Kopf sich drehte und schwankte, blickte hoch. Der klotzige Soldat stand vor ihm. Aber jetzt war er kein Soldat mehr. Er hatte den Hut weggeworfen, und ein Stirnband hielt sein Haar zusammen. Oberhalb der Taille war er nackt; seine schimmernden Muskeln wölbten sich unter Strömen von Schweiß und Blut. Unter den gelben Streifen quer über den Wangenknochen zeigte sich ein bösartiges Lächeln. Gomez konnte seine Blicke nicht konzentrieren, doch die Gestalt half ihm – sie tappte weich durch das Zimmer, kniete nieder, streckte eine Hand aus und hielt Gomez den Kopf hoch. Mit der anderen Hand hielt der Mann ein langes schmales Messer. Die Klinge war bereits voll Blut, das auf die Uniform des Colonels tropfte. Gomez schaute benommen in die wilden schwarzen Augen, die keine fünfzehn Zentimeter von seinen eigenen entfernt waren. Schließlich brachte er das Wort heraus – leise. »Geronimo.« »Si«, antwortete Geronimo ebenso leise. Er hielt Gomez das Messer vor die Augen. »Für deine Sünden, Colonnel.« Und mit einer raschen Drehung stieß er Gomez das Messer in den Hals. Colonel Gomez starb lautlos. 160
Lucia und Mathla hatten die Schüsse gehört und ihre Köpfe zur Tür gewandt, doch der Sergeant lächelte. »Celebracion!« Er hatte die Mädchen gewaschen, tätschelnd und streichelnd ihre Brüste liebkost und die üppigen Brüste Mathlas sogar gebissen. Nach dem Waschen hatte er Stricke von der Wand geholt; er hatte eine Schlinge um den linken Knöchel beider Mädchen gelegt, das linke Bein dann spreizend in die Höhe gezogen und das Strickende an die Stange gebunden. Mit der Zange in einer Hand, holte er ein Eisen aus der Glut und näherte sich Lucia. Der Eisenstab war ein Brandeisen, und das A glühte rot. Er zögerte ein wenig, da die Schüsse in der Ferne immer noch krachten, an Zahl zunahmen und von wildem Kreischen begleitet wurden. Dann zuckte er die Achseln. Lucia beobachtete ihn berechnend. Mit gespielter Sorglosigkeit ging er auf sie zu und knöpfte dabei auch seine Hose auf. Blitzschnell hob sie den freien rechten Fuß und stieß zu. Ebenso schnell schnellte sein Linke vor, erwischte ihr tretendes Bein an der Wade und zog es dicht an seine Hüfte. Er lachte. »ApachenPanther, äh? Du kriegst schon, was du brauchst.« Er schob sich zollweise an ihrem Bein entlang und strich mit seiner Hand bis zu ihrem Knie und dann zum Oberschenkel. Ihr linkes Bein war hilflos, denn es hing in der Luft. Nun war er dicht zwischen ihren Oberschenkeln und griff mit dem erhitzten Eisen um ihre linke Hüfte; er hielt das Eisen sechs Zoll von ihren Hinterbacken entfernt. Er schwitzte ausgiebig und keuchte. »Wenn das Eisen deinen Hintern ätzt, querida, wirst du dein Schätzchen für mich aufmachen … sehr schnell!« Er zog das Eisen zurück, aber er konnte nicht mehr gut sehen, weil das durch die Tür fallende Licht plötzlich abgeschnitten worden war. Er hielt inne, schaute zur Tür und blinzelte, mehr um des Mannes willen, der dort stand, als um seine Augen anzupassen. Es war der größte Mann, den der Sergeant jemals gesehen hatte; er füllte den Eingang völlig aus und beugte den riesigen Kopf und Nacken, um ins Innere zu spähen. Der Mann trug einen Sombrero, auf seiner Brust überkreuzten sich zwei bandoleros; ein guerillero! 161
»Vamos! Hinaus!« brüllte der Sergeant voller Wut den Riesen an; doch der Riese bewegte sich nicht. Er schaute den Sergeanten nicht einmal an. Er sprach mit dem Mädchen. Für den Sergeanten waren die Worte unverständlich. Die Brust des Riesen spannte sich, während er Worte hervorstieß: »Lucia bist du … Mathla … verletzt…?« Er sprach die Sprache der Apachen! Der Sergeant ließ das Eisen polternd auf den Boden fallen. Albern fing er an, seine Hose zuzuknöpfen. Er wich von dem Mädchen zurück. Lucia lächelte. »Nein, Juh, man hat uns nichts getan«, sagte sie gelassen. In der plötzlichen Stille kicherte Mathla. Das Kichern wuchs sich zu etwas hysterischem Gelächter aus. Lucia schloß sich an. Die Szene war wahnsinnig lächerlich; die nackten, von der Decke herunterhängenden Mädchen lachten jetzt schallend. Der Sergeant stand wie betäubt da und war nicht fähig, seinen Blick von dem Riesen abzuwenden. Juh hatte den Sergeanten noch immer nicht angeblickt. Er schaute die lachenden Mädchen an. Sein schroffes Gesicht verzog sich grinsend, und einen Augenblick lang stand er wie ein verlegener, zu großgewachsener Junge da. Aber plötzlich, als ob ihm auf einmal etwas einfiele, richtete er seinen Blick auf den Sergeanten. Das Grinsen schwand, und das Gelächter der Mädchen verebbte. Er griff mit einer Riesentatze an den Hut, riß ihn sich vom Kopf und warf ihn auf den Boden. Nun, ohne Hut, fiel sein Haar frei herunter und rahmte sein Gesicht unter dem Stirnband ein. Entsetzen überkam den Sergeanten. »Apache!« Ungläubig schrie er das Wort hinaus: »Apache!« Wild blickte er um sich. Es war unwirklich. Kein Krieger der Apachen konnte in Nuri eindringen! Es war ein Irrtum – ein Witz! Aber er wußte genau, es war kein Witz. Sein Gewehr hatte er außerhalb der Baracke abgestellt. Er zog das Messer. Er hielt es vor sich, zielte auf den Riesen, wich zurück und warf hastige Blicke zurück. Sollte er stolpern, war ihm der Tod sicher. Juh setzte ihm nach; er tappte mit der weichen, fließenden Bewegung eines Leichtgewichts. Der zurückweichende Sergeant schwenkte links, um einen weiten Bogen um Mathla zu schlagen. Juh, der ihm folgte, duckte sich und hielt die Arme weit vom Körper, wie 162
ein Ringer, der einen Griff anbringen will. Um die Taille trug er ein Pistolenhalfter und ein Messer, aber er traf keine Anstalten, nach den Waffen zu greifen. In der Ferne krachten Gewehrschüsse, die Explosionen mischten sich mit Schreien und Gekreisch zu dahinrollenden Echos; doch hier gab es nur das Geräusch, das die schweren Stiefel des Sergeanten verursachten, als sie am Steinboden entlangscheuerten, und das Atmen der beiden Männer. Juh drang nicht dichter auf den Mann ein; statt dessen gestattete er dem Sergeanten, langsam zurückzuweichen. Aber er folgte und behielt nur eine kurze Distanz zu ihm bei. Die Gewehrschüsse kamen nun näher, in das Gelände außerhalb des Raumes und bei den Soldatenbaracken. Plötzlich gab es eine Salve heftigen Feuerns, Schreie, Rufe – und das Durcheinander des Feuerns wich einzelnen, gelegentlichen Schüssen. Keiner der beiden Männer achtete auf das Krachen der Gewehre. Sie beobachteten gegenseitig ihre Augen. Der Sergeant stieß mit dem Rücken an die Wandecke. Hastig schaute er um sich; es gab nicht mehr Platz. Bedächtig tat Juh einen weiteren gleitenden Schritt auf ihn zu. Diese Bewegung weckte Verzweiflung in dem Sergeanten. Er schnellte sich vor, zielte mit dem Messer wie ein Fechter, direkt auf die Brust des Riesen. Die Brust wich nicht, aber von der Seite her kam eine riesige Hand, schneller als die des Sergeanten, zum Vorschein, griff aus und packte das Gelenk der Messerhand. Der Griff wurde fester. Der Sergeant schwang die linke Faust gegen das harte Gesicht und fühlte, wie das linke Handgelenk ebenso fest gepackt wurde. Klirrend fiel das Messer auf den Boden. Jetzt standen sie sich gegenüber; ihre Köpfe berührten sich fast. Der Sergeant war ein großer und kräftiger Mann, aber sein Kopf reichte Juh nur bis zur Brust. Langsam drückte ihm Juh die Hände nach oben, noch immer die Gelenke umfassend. Unter dem Bart wölbten sich, infolge der Anstrengung, starke Muskelstränge wie Bergkämme am Hals des Sergeanten; Schweiß troff in großen Tropfen von seinem Gesicht. Aber auch die Anspannung aller Kräfte in den mächtigen Schultern konnte das unerbittliche Pumpen seiner Arme, 163
hinauf und hinab, nicht aufhalten oder auch nur kurz unterbrechen. Der Sergeant riß den Mund auf; er kreischte in dem gleichen Augenblick, als seine Arme wie trockene Äste krachten. Juh gab ihn frei und schob sich einen Schritt zurück. Dann schossen die starken Hände gegeneinander und umschlossen den Kopf des Sergeanten von beiden Seiten, wie ein Schraubstock. Juh schob die Daumen in die Augen des Sergeanten und drückte zu. Die Augenbälle schnalzten heraus und spritzten winzige Schauer von Blut und Gallertmasse auf Juhs Brust. Der Sergeant brüllte wie ein Tier, als Juh ihn zu Boden warf, sich über ihn stellte und ihn fast nachdenklich betrachtete, während seine Arme, hilflos und unkontrollierbar, um sich schlugen und versuchten, sich an den blutigen Höhlen anzukrallen, wo einst die Augen gewesen waren. »Juh!« Von der Tür ertönte eine ruhige Stimme. Juh fuhr herum; es war Ishton. Sie trug ein Gewehr in der Hand und um die Taille einen Patronengürtel. Statt des Rockes hatte sie die Lendenschurzhose eines Kriegers angezogen. Juhs Blick wurde weicher. Das wilde Funkeln erlosch, und ein vernünftiger Ausdruck erschien wieder in seinen Augen. »Töte ihn, Juh«, sagte Ishton. »Töte ihn gleich!« Juh bückte sich, wickelte sich Haare des Sergeanten um die Hand, riß dann den Kopf des Mannes hoch und schwang blitzschnell die Rechte, wie ein Axt. Er hieb gegen den Hals des Sergeanten und brach ihn. Wortlos tappte er durch die Tür, hinaus ins Freie, und überließ die Mädchen Ishtons Sorge. Reihenweise lagen draußen die uniformierten toten Soldaten. Völlig kopflos waren sie aus den Baracken gestürzt und in vernichtendes Gewehrfeuer von den Hausdächern geraten. Verwirrt drängten sie herum, liefen erst hierhin und dann dorthin, und so waren sie wie in ausgerichteten Reihen auf dem Platz zusammengebrochen. Nur wenige Einwohner und Soldaten, die durch das Hintertor gerannt oder von Hausdächern aus über die Mauer gesprungen waren, hatten Nuri verlassen können. Sie identifizierten später Ishton als Anführerin der weiblichen Krieger, und auch Juh, den die Mexikaner 164
Capitán Juh nannten. Diese Teamarbeit von Mann und Frau als Guerillaführer der Apachen war schon in ganz Mexiko berüchtigt. Beider Erfolge bei der Planung und Praxis unorthodoxer Kriegführung würden später in Bücher Eingang finden, in denen man ihre Taktik studieren konnte. Auch Geronimo wurde in Nuri identifiziert. Deutlich hob er sich jetzt auf einem Hausdach über den Unterkünften ab; er leitete gerade schnelle Manöver auf der Plaza. Eine lange Kolonne von Maultieren und den besten Pferden, die Nuri zu bieten hatte, stand zwischen den Baracken, von den Korrals hergetrieben. Die Apachen arbeiteten schnell und schweigsam; sie beluden die Maultiere. Zuerst kamen als Ladung die Kriegswaffen des Feindes an die Reihe: Gewehre, Pistolen, Patronengürtel, Munitionskisten. Als nächstes dann Käse, Zucker, Mehl, Trockenfleisch und Obst, und zuletzt Tuchballen, Eisenwerkzeuge und -gerätschaften, Soldatenuniformen und Frauenkleidung. Geronimo teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der Überwachung der Tätigkeiten auf den Straßen und der Beobachtung des Horizonts mit dem Fernglas. Die Sonne senkte sich gegen Westen zum Rand der Ebene. Als das letzte Maultier beladen war, sprang er vom Dach herunter und bestieg sein Pferd. Das war das Zeichen, und alle Apachen, Männer und Frauen, bestiegen hinter ihm reihenweise die Pferde, die die lange Kolonne der Maultiere flankierten. Er hob schweigend den Arm, winkte und führte sie aus dem Barackengelände weg, vorbei an den Reihen toter Soldaten; wegen dem Geruch nach Blut und Tod scheuten und schnaubten die Pferde. Riesige schwarze Wolken von Schmeißfliegen hatten sich bereits an die Arbeit gemacht. Ihr Instinkt befahl ihnen, schnell zu handeln, zu fressen und die schnell ausgebrüteten Eier zu legen, aus denen Larven schlüpfen und so ihre Art fortpflanzen würden. Die Prozession zog die lange, steinige Straße von Nuri entlang, langsam und schlurfend. Die am Tage von der Sonne verjagten Wolken kehrten in der Kühle zurück und warfen Schatten über sie. Die Pferde suchten sich ihren Weg über und um die hingestreckten Leichen. Die Packmaultiere waren nicht so gut gesittet. Viele blicklo165
se Augen beobachteten sie. So saß eine Frau mit gespreizten Beinen unter einer Tür. Ihr Kopf ruhte bequem am Türrahmen. Langes schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern, und sie schien gemütlich einer Parade zuzusehen – nur ihre Augen waren tot. Viele lagen oder saßen wie ruhig entspannt da, während andere aus Fensteröffnungen hingen, durch die sie zu kriechen versucht hatten. Wo Gebäude aneinanderstießen und geschützte Ecken bildeten, lagen kleine Haufen von Leichen, als habe man sie hierher gekehrt, um sie später aufzusammeln. Wo immer sich die Menschen geduckt und sich voller Entsetzen zusammengekauert hatten, waren sie erschossen worden. Die kühle Abenddämmerung brachte Wind mit, der leise durch die Straße winselte und an den Kleidern der Toten zerrte und riß, als wolle er sie dazu drängen, doch aufzustehen und wieder lebendig zu werden. Um die Häuserecken wimmerte der Wind; er wehte pfeifend durch Spalten und Fensterhöhlungen. Diese Szene würde ganz Mexiko schockieren und den Staat Sonora in Wut versetzen. Die Prozession zog sich, einmal jenseits des Tores, auseinander, bildete dann einen Halbkreis und hielt Geronimo gegenüber an. Hier rief er Freiwillige auf, und als die Hälfte der Reiter ihre Pferde nach vorn lenkte, ritt er zwischen sie hinein und wählte, indem er ihnen die Hand auf die Schulter legte, nur drei aus. Diese drei drängten ihre Pferde neben Geronimo und sahen gemeinsam mit ihm zu, wie die Nednis mit geübter Präzision ihre Streitmacht in kleine Gruppen aufteilten. Jede dieser Gruppe bestand aus vier bis sechs Männern und Frauen. Diese Gruppen, die Maultiere mitführten, wandten sich der Sierra Madre zu. Fächerartig schwärmten sie von Nuri auseinander, jede Gruppe folgte ihrem besonderen Kurs. Sie würden dann etwaigen Verfolgern zwanzig schmale und schwierige Fährten hinterlassen; sie behielten ihre ursprüngliche Richtung drei Tage und Nächte über Gebirgsrücken, durch Canyons und längs felsiger Hänge bei, ehe sie begannen, sich auf der östlichen Seite der Sierra einem Treffen ihres ganzen Volkes zu nähern. Die Gruppe, die Ishton und Juh mit einschloß, brach als letzte auf. Sie ließen 166
die Pferde über das Plateau im Schritt gehen, drehten sich beide noch einmal um, und Ishton rief: »Wir werden an der Stelle auf dich warten. Wir werden warten.« Juh schwenkte zum Abschiedsgruß seinen Arm, und Geronimo und seine drei antworteten winkend. Dann waren sie verschwunden. Als alle fort waren, stiegen Geronimo und die drei ab. Sie schlüpften in Waffenröcke von Soldaten, schlangen sich kreuzweise bandoleros mit Patronen um die Brust und schnallten Pistolen um die Taille. Dann schoben sie sich die Haare unter die Sombreros und lachten kurz, mit ihrem grimmigen Humor, über des anderen Aussehen. Danach stiegen sie auf und schlossen dicht hinter Geronimo auf. Der Weg führte sie nach Norden. Die Abenddämmerung war dichter geworden. Hinter ihnen bellte ein Hund und heulte, außer sich und einsam, in der vom Tod überfallenen Stadt Nuri. Der Wind, der Sandfontänen aufwirbelte, bewegte den vom Kreuzbalken des Stadttores baumelnden Körper von Colonel Gomez hin und her. In den Erdboden zu seinen Füßen hatte man einen Eisenstab eingetrieben, dessen Brandzeichen nach oben, in Richtung des Hängenden, wies. Das Brandzeichen war ein A, das Eisen selbst ein Symbol, das die Apachen noch mehr haßten als die spanische Lanze.
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eneräle von Feldarmeen planen Manöver und die Logistik von Angriffen. Die erfolgreicheren studieren die Charaktere gegnerischer Generäle und verbringen viel Zeit mit Theorien über Reaktionen ihres Gegners auf ihre eigenen Handlungsweisen – und weiter, über Antwortaktionen, die sie damit in Gang setzen wollen. Buffs nennt es ›Todesschach‹, ein tödliches Spiel, das ›zivilisierte‹ Männer seit Jahrhunderten fasziniert hat. Gelegentlich müssen die Ge167
neräle das Anhalten von Aktionen planen, ja sogar Rückzüge, aber sie sind von dem doppelten Planen befreit, das den Guerillaführer so schwer belastet. Die Generäle haben es nicht nötig, schnelles Entweichen zu planen. Guerillaführer der Apachen verließen sich, für den Anfangserfolg ihres Angriffs, auf das Moment der Überraschung. Die Überraschung, oft noch verstärkt durch die Fähigkeit der Apachen zu Täuschungsmanövern, rief bei den Feinden zunächst Unbeweglichkeit und Verblüffung hervor. Unverzügliches Zuschlagen und gnadenlose Vernichtung machten aus der anfänglichen Unbeweglichkeit schnell Entsetzen. Entsetzen aber entwickelte Chaos und sinnloses Handeln, und das ließ jene geistige Erholung nicht zu, die für einen Gegenangriff mit überlegenen Streitkräften erforderlich ist, mit denen die Apachen zu überwältigen gewesen wären. Täuschung, Überraschung, Entsetzen – alles geistige Reaktionen, die die Waffen der Apachenguerillas waren. Stets waren sie in der Minderzahl, normalerweise kärglich bewaffnet und gezwungen, den Feind tief im eigenen Territorium zu treffen, weit entfernt von ihrer geliebten Zufluchtsstätte in der Sierra Madre. Infolgedessen war der Plan für späteres Entkommen von gleicher Bedeutung wie der Plan des Angriffs. Sobald die Schar der Nednis die Gefangennahme Lucias und Mathlas entdeckt hatte, war allen klar, daß sie rasch zuschlagen müßten, um die Mädchen zu retten. Gewöhnlich wurden männliche Apachengefangene von den Mexikanern umgebracht, aber Apachenfrauen verschleppte man ohne Aufschub weit nach Süden in die Sklaverei. Von dort entwichen nur wenige, um den langen Rückweg anzutreten. Zwar war Ishton die Urheberin des Angriffsplans für Nuri, und viel von der angewandten Taktik stammte von Juh, aber die überschauende Leitung von Angriff und Entkommen lag bei Geronimo. Unmittelbar nachdem Geronimo den Aufenthaltsort Lucias und Mathlas erfahren hatte, setzte er seine Vorbereitungen in Gang. Er schickte zwei Scouts mit Ferngläsern zu einem Bergvorsprung, von 168
dem aus man Nuri übersehen konnte. Die Männer, Frauen und Kinder, die nicht zur Angriffsstreitmacht gehörten, brachen das Camp ab und zerstreuten sich nach Südosten zu, längs des Hauptgrats der Sierra Madre, dem Treffen am Osthang des Gebirges entgegen, wo sie sich nach Nuri mit den Angreifern treffen wollten. Als dann die Angriffsstreitmacht den Yaqui-Canyon verließ, übermittelten die beiden Kriegerscouts Geronimo detaillierte Berichte über die Patrouillen der Soldaten – welche Richtungen sie einschlugen, ihre Stärke, die Zahl der sie begleitenden Packmaultiere – verräterische Hinweise auf die Strecke, die sie von der Stadt aus zurückzulegen planten. Der Angriff verlief erfolgreich, und kein Apache fiel. Doch selbst während der Kämpfe stand Geronimo auf dem Dach eines Hauses und studierte mit dem Fernglas die Route derjenigen, die auf Pferden entwischten. Denjenigen, die zu Fuß flüchteten, schenkte er keine Beachtung. Diese Fußgänger liefen vor Entsetzen von etwas davon, und daher hatte die Richtung, die sie einschlugen, nichts zu bedeuten. Die Leute zu Pferd aber, die sich sicherer fühlten, hatten ein Ziel: die nächstgelegene Konzentration von Soldaten. Die Reiter waren nach Norden geflohen. In diese Richtung führte Geronimo nun seine drei Reiter. Sie sollten einige hundert Soldaten, die geradewegs auf sie zusprengten, treffen, aufhalten und zersprengen. Die Schar der Nednis benötigte Zeit, um über die Sierra Madre hinweg zu entkommen. Geronimo und die drei anderen sollten ihnen diesen Weg verschaffen. Typisch für das Denken eines Apachen, zogen sie einen Fehlschlag beim Treffen mit einer zahlenmäßig weit überlegenen Streitmacht nicht in Betracht. Wenn ihr Volk je an so etwas gedacht hätte, dann hätten sie niemals fast dreihundert Jahre lang gegen solche Übermacht gegen die Sklaverei gekämpft. Dann war das Geronimo um den Hals hängende Fernglas nicht mehr von Nutzen; die Dunkelheit wurde intensiver. Der Wind beruhigte sich und erstarb. Hinter ihm ritten die drei im Gänsemarsch. Obwohl er sie scheinbar mehr oder weniger beiläufig ausgesucht hat169
te, verhielt es sich doch nicht so. Er kannte von jedem einzelnen genau den Charakter. Dicht hinter ihm ritt ein schlanker Krieger namens Fun (Spaß). Er hatte den Namen bei den Blauröcken im Norden bekommen, die ihn zum Opfer jenes besonderen sadistischen Vergnügens des weißen Mannes machten, das den Indianer, nach Vorstellungen in der Gesellschaft der Weißen, lächerlich erscheinen ließ. Fun, der glaubte, daß alles, was geschah, ehrlich gemeint sei, bemühte sich, den Weißaugen freundlich zu begegnen. Er trank mit den Soldaten und nahm ihre verschwenderischen Angebote für mehr Drinks an, befangen in jener ewigen indianischen Naivität, die keine hintergründigen Motive erkennen kann. Wenn die Soldaten ihn zum Tanzen verleiteten, dann tanzte er. Das schien sie glücklich zu machen, denn sie lachten. Auch Fun lachte. Als sie dann begannen, auf seine Füße zu schießen, war er trunken davongerannt in dem Versuch, den Schüssen zu entfliehen, alarmiert über diese plötzliche Feindseligkeit der Soldaten. Sie hatten ihn ›Funny‹ (spaßig) genannt, und dieser Name war verkürzt worden. Viele Soldaten sollten unter Funs Händen sterben. Sein Name sollte besonders auffallend in den Berichten der Armee der Vereinigten Staaten auftauchen. Er war lustig, ein Teufelskerl, aber zugleich war er auch ein sehr wachsamer, geschickter, tödlicher Krieger. Chokole ritt hinter Fun. Sie war eine hübsche Frau mit starkem Gesicht und geschmeidigem Körper. Schon über fünfzig, war sie den beiden Kindern ihrer Tochter eine gütige Großmutter. Vor fünfundzwanzig Jahren hatten die Mexikaner ihren Mann gefangen. Als ihn die Apachen dann in einem Graben nahe Honas fanden, atmete er noch. Man hatte ihm die Augen ausgestochen, Hautstreifen von seinem Körper abgezogen, die Genitalien abgeschnitten und sie ihm in den Mund gestopft. Seitdem hatte Chokole alle Heiratsanträge abgewiesen. Nuri war auch nicht ihre erste Teilnahme an einer Aktion gewesen, und es war auch nicht ihr erster Einsatz bei einer Rückzugsablenkung. Sie handhabte Waffen schnell, sicher und mit tödlicher Furchtlosigkeit; 170
in den Berichten der US-Armee führte man sie nicht, aber in Mexiko war sie dem Tode geweiht. Unter den weiblichen Kriegern stand sie nur Ishton nach. Ganz am Ende ritt der alte Nana. Er war verkrüppelt und vom Alter gefurcht. Von allen Apachenkindern sehr geliebt, war er ein freundlicher Großvater und erzählte endlose Geschichten und lachte mit ihnen über die Späße, die sie mit ihm trieben. Er schnitzte Spielzeug und fertigte Puppen. Weit über fünfzig Jahre lang – ehe einer der drei anderen geboren worden war – hatte er Spanier bekämpft und getötet. Er war enger Freund des jungen Victorio, wie Geronimo auch, und er war mit nach Süden gezogen, weil man im Norden das Wort für den Frieden gegeben hatte. Nana war ein Mann für den Krieg. Dreißig Jahre später würde man in den Büros der USArmee eine (für die Amerikaner) unglaubliche Geschichte zusammenfügen: wie dieser alte Mann, den sie als senil und verkrüppelt ignoriert hatten, Scharen von Apachenkriegern angeführt hatte, die in Arizona und New Mexiko Tausende von Quadratmeilen verwüstet hatten! Die Mexikaner kannten ihn gut und hatten viele Jahre lang einen hohen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt; den Preis würden sie aber niemals ausbezahlen müssen. Zwar klein an Zahl, besaß die Streitmacht Geronimos kämpferische Fähigkeiten, die absolute Kühle unter Feuer, jene für Guerillamethoden nötige Verwegenheit und eine unglaubliche Kraft zu töten eingeschlossen. Geronimo kannte genau die Stärke seiner Streitmacht, deren größte wohl darin bestand, daß es, wenn überhaupt, bei ihnen nur sehr wenige Schwächen gab. Der Plan, den er an Nuris Toren kurz umrissen hatte, war bei den dreien auf keinen Einwand gestoßen. Als sie nun in der Dunkelheit weiter nach Norden ritten und die Ohren für Geräusche von vor ihnen befindlichen Reitern spitzten, gab es nur eine einzige Schwäche bei dem Plan – niemand von ihnen kannte den Namen und daher den Charakter des Generals, der ihr Gegner sein würde. 171
In den meisten Fällen, in denen Apachen Armeegenerälen gegenübertraten, hatten ihre Namen nichts zu besagen; es war unnötig, ihren Charakter und ihre Denkweise zu kennen. Sie waren sich darin alle gleich: daß sie schwerfällige Feldmanöver, untauglich und unwirksam gegen die Apachen, anwendeten. Dieser General aber war aus anderem Holz geschnitzt. Als Indianerkämpfer bewertete man ihn ebenso wie General Luis Terazas und Colonel Joaquin Terazas. Vor zwanzig Jahren hatte man ihn nach Süden geschickt, um einen organisierten Aufstand der Zapotec-Indianer niederzuschlagen. Das hatte er wirkungsvoll und mit grausamer Härte getan. Kürzlich hatte man ihn mit Befehlsgewalt über alle militärischen Operationen nach Sonora berufen. Anders als die meisten Generäle achtete er die kämpferischen Qualitäten der Apachen und erkannte eine unorthodoxe Anwendung von Genie bei ihren Guerillaoperationen. Keine militärischen Bücher oder Regeln durften in seinem Denken Vorurteile festlegen. Als man ihn einmal fragte, ob er ein religiöser Mann sei, hatte er geantwortet: »Nur, wenn ich nicht in Nord-Mexiko bin.« »Warum das, General?« »Um religiös zu sein«, erwiderte er, »muß man einer Messe beiwohnen. Wenn man einer Messe beiwohnt, muß man seinen Kopf beugen. Aber in Nord-Mexiko bin ich mir gar nicht sicher: Der Priester, vor dem ich den Kopf beuge, könnte auch ein verkleideter Apache sein.« Er wußte viel, nicht alles, aber viel von den Apachen. Wichtiger noch: er war willens, mehr zu erfahren. Er besaß nur wenig Egoismus, sehr viel Intelligenz, und aus diesem Grunde war er ein gefährlicher Mann. Er hieß General Geronimo Trevino und befehligte in diesem Augenblick sechshundert vorzügliche Soldaten, die, keine zehn Meilen mehr entfernt, direkt auf Geronimos Truppe zuritten. Um den schmalen Maultierpfad von Ures nach Nuri zu bewältigen, ritten sie in Zweierreihen und zu einer langen Kolonne ausgedehnt. In der Mitte war die Kolonne geteilt; eine Viertelmei172
le trennte die dreihundert Soldaten der Spitze von den dreihundert, die dann folgten, ein vorsichtiger Tribut an die Bereitschaft der Apachen, jeder wie immer großen Streitmacht einen Hinterhalt zu legen. General Trevino hielt seine Kolonne gut in der Hand; er ließ über offene Flächen im Trab reiten und ging über scharfe Bergrücken und durch Arroyos zum Schritt über. Er hatte es eilig, denn er wußte, daß die Apachen Richtung Sierra Madre fliehen würden, aber Pferde mit gebrochenen Beinen würden ihm auch nichts helfen. Die Nacht war mondlos, und die tiefhängenden Wolken verbargen sogar die Sterne. Auf dem Rücken einer felszerklüfteten Erhebung hielt er plötzlich an. Neben ihm rief ein Colonel: »Alto! Halt!« – Und der Befehl wurde im nächtlichen Dunkel nach rückwärts weitergegeben. Pferde stampften ungeduldig, ließen das Geschirr klirren und das Lederzeug ächzen. Stabsoffiziere ritten von hinten zum General vor. Durch das Fernglas studierte er ein hell loderndes Feuer auf der Ebene, dreihundert Meter voraus. Das Feuer befand sich fast auf dem Trail und warf einen leuchtenden Lichtkreis. Innerhalb des Kreises saß ein einzelner Mann auf einem Pferd. Es war offenbar seine Absicht, sich sehen zu lassen, und er wartete auf diese Gelegenheit. Er trug einen großen Sombrero, einen Armeerock und überkreuzte bandoleros. Während der General und die Offiziere ihn beobachteten, schnaubte und scharrte sein Pferd, aber der Reiter hielt das Pferd innerhalb des Lichtkreises. »Guerillero … Irregulärer«, meinte der Colonel. General Trevino aber beobachtete die Szene noch immer. Er ließ die Linsen des Fernglases über das kleine Plateau wandern, aber jenseits des Lichtkreises konnte er wenig erkennen. Er richtete das Glas wieder auf den Mann und studierte ihn eine Weile. Dann wandte er sich an einen Offizier, stieß hastig Befehle hervor, und unverzüglich trieb der Offizier sein Pferd an und raste zur Nachhut. Der General hob noch einmal das Glas an die Augen und beobachtete den Reiter im Feuerlicht. »Acaso«, sagte er mild. »Vielleicht.« Irgend etwas an dem Mann dort hatte einen Alarm in sei173
nen Sinnen ausgelöst; vielleicht als das Pferd gescharrt hatte. Der Mann hatte sich zu mühelos mit dem Pferd bewegt, so als sei er selbst Teil des Tieres – so wie ein Apache ritt. Der General entspannte sich im Sattel. Er nahm eine lange schwarze Zigarre aus dem Uniformrock und schob sie nachdenklich zwischen die Zähne. Der Colonel beugte sich im Sattel vor und riß ein Streichholz an. Und General Trevino saß nur da und rauchte, während leises Protestgemurmel durch die Soldatenkolonne hinter ihm lief – und sagte nichts. Er wartete, bis der Bote, den er zur Nachhut geschickt hatte, seine Befehle übermittelt hatte. Fünf Minuten verstrichen; zehn. Dann hob der General die Hand. »Vamos!« Er führte die Kolonne den Hang hinab auf das Plateau. Als General Trevino in den Lichtkreis kam, bedeutete er dem Colonel, den Mann zu verhören, der jetzt die Soldaten mit gelassener Aufmerksamkeit beobachtete. Hinter Trevino löste sich die Kolonne in Gruppen auf und formierte sich dann, in einem vollendeten Manöver, zu einem Halbkreis um den Reiter und den Lichtschein. Trevino saß zehn Meter von dem Reiter entfernt zu Pferd, aber etwas seitlich gewandt, so daß er beobachten konnte, ohne seine Aufmerksamkeit aufs Sprechen zu konzentrieren. Das riesige Feuer begann zusammenzusinken, und der Lichtschein, der über den Reiter und sein Pferd fiel, begann schwächer zu werden. Er wirkte klein in der Mitte des sich füllenden Halbkreises aus Soldaten, die um ihn herumschwenkten; aber auf einmal drängte er sein Pferd nach vorn, in die Nähe des Colonels und der Offiziere. Es war Fun. Lächelnd entblößte er weiße Zähne und griff in einem linkischen Salut an den Sombrero. »Buenas noches, General!« meldete er sich freundlich. »Ich bin Colonel«, antwortete der Colonel scharf. Er empfand die Abneigung eines zivilisierten Offiziers gegen guerilleros. »Was wollen Sie?« »Si, Colonel.« Funs Blicke huschten über die Gruppe von Offizieren, die ihre Pferde seitlich abseits hielten. Sein Blick heftete sich 174
auf General Trevino. Der General sah die Augen; sie verrieten Verwegenheit und einen Anflug von Wildheit – vielleicht auch einen Hauch von Humor. Warum? Was sollte denn hier zu Humor Anlaß geben? Der General rutschte unbehaglich im Sattel und versuchte, durch den Lichtschein in die Finsternis zu spähen. »Nun.« Der Colonel sprach rauh. »Was gibt's denn?« Fun wandte seine Aufmerksamkeit dem Colonel zu. Offensichtlich hatte ihn die Gereiztheit des Colonels nicht entmutigt. »Mi capitán.« Fun stellte sich ein wenig im Sattel auf, hob das Gewehr und deutete nach Westen, wo der dunkle Schatten der Sierra Madre das Plateau überragte. »Mi capitán«, wiederholte er mit aufreizender Monotonie, »hat mich hierhergeschickt, um sie abzufangen. Wir haben dort drüben die Apachenschlächter von Nuri.« Wieder deutete Fun mit dem Gewehr zu den Bergen hin. »Sie sitzen in einem Canyon fest, Colonel. Wir brauchen Hilfe. Wir haben sie in der Falle … aber es sind sehr viele. Wir brauchen Hilfe.« Der Colonel blickte zu den Bergen und dann schnell über die Schulter zu General Trevino. Der General ließ sein Pferd auf den Mann zugehen; ein Dutzend Offiziere folgten. »Wer ist ihr capitán?« Trevino feuerte die Frage ab, ehe er das Pferd anhielt. Fun antwortete nicht zu schnell. Er lächelte, tippte wieder mit der Hand an den Sombrero und salutierte linkisch, bis ihm General Trevino ungeduldig Bescheid gab. »Mi capitán es Capitán Martinez, General«, sagte Fun heiter und fügte enthusiastisch hinzu: »Es un capitán bueno, General … si, bueno!« Trevino sog an der Zigarre und verengte im Rauch seine Augen, während er die Gesichtszüge des jungen Mannes beobachtete. Das Licht des Feuers wurde schwächer. »Sind Sie Indio?« fragte er plötzlich. »Si«, Fun lächelte breit, »indio.« »Von welchem Stamm?« Funs Blicke huschten über die Soldaten, die es sich auf den Pferden bequem machten. Er konnte sie nicht besonders gut sehen, aber er bemerkte den Papago-Scout. Fun sprach nicht Papago. 175
»Yaqui«, sagte er. General Trevino nickte einem Offizier an seiner Seite zu. Der Offizier riß das Pferd herum und trabte zwischen die Soldaten. Im nächsten Moment kam er zurück; an seiner Seite ritt ein mit einem mexikanischen Soldatenrock bekleideter schlanker Mann. Seine Beine waren nackt, und er trug Mokassins. Schwarzes Haar fiel ihm über die Schultern. Er war ein Yaqui-Scout. Fun sprach auch die Yaqui-Sprache nicht. Er wußte, daß er in einer Falle saß, blieb aber ungerührt, als der Yaqui sein Pferd herandrängte und Funs Bein berührte. Aufmerksam starrte er Fun in die Augen. Langsam dehnte sich sein Mund zu einem bösartigen Grinsen. »San-o-le-yeh.« Er sprach das Wort absichtlich abgehackt und drohend aus. Fun verstand ihn nicht, gab aber den Blick zurück, während sein eigenes Lächeln sich höhnisch verzog. Er antwortete dem Yaqui auf spanisch, leise und zischend. »Mir geht's gut, du Hund von einem Yaqui-Verräter!« Der Yaqui streckte die Hand aus und riß den Sombrero von Funs Kopf. Buschiges Haar fiel unter dem Sombrero herunter. Das Haar wurde von einem Stirnband gehalten. »Apache!« schrie der Yaqui. Es war sein letztes Wort. Aus der Finsternis des Plateaus krachte ein Gewehrschuß; der Yaqui wurde aus dem Sattel geschleudert. Fun schoß den Colonel in die Brust. Er wirbelte das Pferd, es am Zaum hochzerrend, herum und griff die Gruppe von Offizieren dicht vor ihm an. Noch ein Gewehr krachte, und noch eines, immer wieder. Neben Trevino schrie ein Offizier auf und griff im Sturz nach dem General. Fun spornte sein Pferd gegen die Finsternis am westlichen Ende des Plateaus. Bis er den Lichtschein verließ, hatten die Soldaten ihren Schock überwunden und schossen. Funs Pferd hustete und stürzte. Er schleuderte sich frei, prallte auf den Boden und rollte sich von den einschlagenden Kugeln fort, die Sand aufwirbelten. Auf dem Bauch liegend, tastete er um sich und fand das Gewehr, das er losgelassen hatte; er schaute zurück gegen das schwindende Feuerlicht. Die Soldaten griffen nicht an. Sie hatten sich aus dem Lichtschein zurückgezogen und waren verschwunden. 176
Fun kroch tiefer in die Finsternis hinein und sah die Pferde. Geronimo, Nana und Chokole standen dort und warteten auf ihn. »Hinter mich!« rief Geronimo, und sie schwangen sich auf die Pferde. Fun sprang an, glitt von hinten auf Geronimos Pferd und schlang Geronimo die Hände um die Taille. Im Galopp sprengten sie dem westlichen Ende des Plateaus und den Bergen dahinter zu. Plötzlich blitzten ihnen Hunderte von Flämmchen ins Gesicht, dicht voraus, begleitet von donnerndem Explosionsgeknall. Gewehre! Geronimos Pferd brach zusammen und schleuderte ihn und Fun herunter. Nanas Pferd stürzte unmittelbar danach, und Chokoles Pferd raste noch einen Galoppsprung an ihnen vorbei, ehe es aufschrie und sich stürzend herumwarf, so daß ihr Bein unter dem Pferdeleib begraben wurde. So plötzlich, wie das Gewehrfeuer eingesetzt hatte, erstarb es wieder. Schweigen trat ein. Chokole strich mit der Hand über das niedergepreßte Bein. Es hatte kein Gefühl, es war gebrochen. Sie hatte das Gewehr noch in der Hand und pochte mit dem Lauf leise auf den Boden. Geronimo kroch zu ihr, machte eine Handbewegung nach hinten und holte Nana und Fun. Die beiden stemmten und drückten den Kadaver etwas hoch, so daß Geronimo ihr Bein hervorzerren konnte. Zweihundert Meter von der Stelle entfernt, wo die Gewehrschüsse gefallen waren, flammte ein Feuer auf, dann ein weiteres und noch eines. Geronimo legte sich neben Chokole und wandte ihr dann den Rücken zu. Er gab ihr mit Zeichen zu verstehen, sich näher an ihn zu schieben und dann seine Schultern zu packen; jetzt rollte er sich auf den Bauch, in einer mühelosen Drehung, die ihn auf Hände und Knie hochbrachte, und nahm Chokole auf seinen Rücken. So begannen sie auf die Mitte des Plateaus zuzukriechen. Um die Ränder des Plateaus lohten Feuer auf. Nur in der Mitte war es völlig finster. Sie saßen in einem Kreis von Lichtern in einer Falle. Das Plateau war eine kleine Mesa, geformt wie eine runde Tischplatte, getragen von felsigen Hängen, die sich dem Rand zu neigten. Es war baumlos und flach. General Trevino hatte seine Truppen von einem Angriff auf Fun abgehalten. Er wußte, daß er die 177
Apachen im Griff hatte; der Bote, den er zu den dreihundert Soldaten der Nachhut geschickt hatte, hatte Befehle überbracht, die Mesa vom Westen her einzukreisen und einzuschließen. Jetzt wurden auf seine Anweisung große Buschfeuer dicht beisammen angezündet, und nun war die Mesa von einem regelmäßigen Ring lodernder Flammen eingeschlossen. Überall dort, wohin der Lichtschein reichte, war es auf der kleinen Mesa taghell. Die Buschfeuer wurden verstärkt und ließen so das Licht weiter nach innen hineinsickern, als ob Wasser an dem kleinen finsteren Kreis in der Mitte nage. General Trevino konnte nicht feststellen, wie viele Apachen er hier in der Falle hatte. Von der Streitmacht der sechshundert Soldaten ordneten die Captains des Generals zweihundert ab, um die Feuer am Brennen zu halten, und wenn auch ihre heftigsten Bemühungen nicht ausreichten, um Licht in den kleinen dunklen Kreis der Mitte hineinsickern zu lassen, waren sie alle sicher, daß kein Apache vor dem Morgen entkommen konnte. Die Mesa wies weder Vegetation noch Felsen als Deckungsmöglichkeiten auf – nicht einen Kieselstein. Ihre Oberfläche bestand aus Sand. Geronimo ließ sich auf den Bauch sinken, rollte sich vorsichtig herum und legte Chokole mit dem Rücken zum Boden hin. Er hatte den äußeren Rand der Dunkelheit erreicht und schaute nicht zu den lodernden Flammen hin; statt dessen konzentrierte er sich auf Chokole und tastete mit den Händen ihr Bein ab. Er knurrte, als er die Schwellung fand, wo der Knochen, splitterig und verdreht, im Fleisch gebrochen war. Er befahl Nana und Fun, Chokole an den Schultern zu halten, und zog an ihrem Bein. Mit einem Schnappen fügte sich der Knochen zusammen. Schweiß rann Chokole übers Gesicht und tropfte von ihren verkrampften Wangen und Kinn. Sie gab keinen Laut von sich, als Geronimo die ledernen bandoleros von seiner Brust abnahm. Er zerrte die Patronen aus ihren Schlingen, band ihr das kräftige Leder ums Bein, lehnte sich dann zum ersten Mal etwas zurück und schaute zu den großen Feuern hin. Fun kroch dicht neben ihn. »Geronimo!« »Ja.« 178
»Ich hab' einen Papago bei ihnen gesehen … den Yaqui hab' ich nicht gesehen … wenn ich vielleicht gesagt hätte, ich wär ein Pima…« Geronimo schaute den jungen Mann an und lächelte ein wenig in der Finsternis. »Sie hätten sicher auch einen Pima dabeigehabt. Der General ist es, Fun, nicht du, der uns in diese Lage gebracht hat. Der General ist sehr schlau. Ich hab's mir nicht richtig überlegt. Chokole hat den Yaqui rechtzeitig niedergeschossen.« Chokole hatte sich auf die Ellbogen hochgestemmt und blickte zu den Feuern hin. »Jeder Zeitpunkt«, sagte sie schwach lächelnd, »ist gut genug, um einen Yaqui zu erschießen, der für die Mexikaner arbeitet.« Der alte Nana saß mit überkreuzten Beinen neben ihr. Er hantierte am Schloß seines Gewehres und blies den Sand heraus, der den Mechanismus blockierte. »Nun«, bemerkte er trocken, »vielleicht bringen wir die Mexikaner nicht dazu, uns nach Norden zu folgen, aber für unseren Plan will ich eines sagen: er klappt. Die ganze mexikanische Armee kampiert mit uns die Nacht über.« Fun schaute sein eigenes Gewehr an, drückte eine Patrone in die Kammer und spannte das Schloß. »Vielleicht«, sagte er, »wenn wir eine Stelle, zu den Feuern hin, angreifen würden … vielleicht … könnten wir dann…« »Nein«, antwortete Geronimo, »es ist zu hell. Sie können uns sehen, wenn wir uns nur drei Meter von hier entfernen.« »Am Morgen«, sagte Fun, »werden sie uns sehen … sehr leicht.« »Ja«, sagte Geronimo mit nachdenklicher Miene. »Ja, am Morgen werden sie uns hier sehen … falls wir noch hier sind.« »Vielleicht hast du deine in der Tasche dabei«, knurrte Nana, »aber ich hab' vergessen, meine Flügel mitzunehmen.« Die Feuer knisterten laut, während die Soldaten Buschwerk hineinwarfen, so daß Funken hoch in die Luft über der Mesa gewirbelt wurden. Aus der Ferne, gedämpft und leise, entwickelte sich ein neues Geräusch. Es schwoll an, wurde kräftiger, hörte sich wie ein starker Chor an, der das Knistern des Feuers übertönte. Die Soldaten sangen! Sie sangen alle, sechshundert Stimmen, die in der stil179
len Luft widerhallten. Dann fielen Trommelschläge und Blechtrompeten in den Chorgesang ein, barbarisch schön; in der Melodie schwang ein dunkler Unterton drohenden Verderbens mit. Abgesehen von seiner Schönheit, drückte dieses Lied ein Gefühl von Grausamkeit aus, das die Nerven zucken und einen empfinden ließ, daß man hier einen Ausbruch niederträchtigster menschlicher Mordlust, enthemmt und zügellos, miterlebte. »Das ist der Dequela – das Kein-Pardon-Lied, das Todeslied«, sagte Nana lauschend. »Hab' ich schon mal gehört.« »Ich hab' gar nicht gewußt«, bemerkte Fun leichthin, »daß die Mexikaner ein Todeslied haben.« Der alte Nana lachte. »Es geht ja nicht um ihren Tod. Um unseren! Davon singen sie. Sie sagen mit ihrem Lied, daß sie uns kein Pardon geben wollen. Wir können also nicht kapitulieren. Sie wollen uns mitleidlos umbringen. Sie werden uns mit den Lanzen spießen und so langsam wie möglich töten – aber sie werden töten!« Geronimo spuckte aus. »Das haben wir schon gewußt. Sie sind dumm, wenn sie ihr Lied für Apachen vergeuden.« Chokole rollte sich herum und packte ihr Gewehr. Es mußte gesäubert werden. Sie tätschelte den Schaft. »Für einige«, sagte sie, »wird es ihr eigenes Todeslied, wenn sie am Morgen kommen.« »Ja«, wiederholte Fun, »für einige.« Er war immer noch ärgerlich, weil er sich als Yaqui ausgegeben hatte. Allerdings, so beruhigte er sich, sprach er ja auch nicht die Sprache der Pimas. Geronimo war inzwischen zum vordersten Rand der Dunkelheit gekrochen. Dort saß er, mit dem Rücken zu den anderen, mit überkreuzten Beinen, und schaute über die Feuer hinweg. Er blickte zum Himmel empor. General Trevino schrieb es in seine Notizen für seinen Bericht. Sein Umzinglungsmanöver hatte die Apachen gefangen. Soldaten arbeiteten mit Buschwerk und hielten die Feuer am Lodern. Sie sangen den Dequela, der ihre Feinde an den Tod am Morgen erinnerte. Die Luft fühlte sich schwer an. Es gab keinen Wind, nicht einmal eine leichte Brise. Irgendwann während des Gesangs der Soldaten 180
entwickelte sich ein neuer Ton, weit entfernt, hohl, dünn und wimmernd über dem tiefen Chor der Soldaten. Eine Weile bemerkten die Männer nichts. General Trevino merkte, daß er eine Zeit lang geglaubt habe, er habe sich den Ton nur eingebildet… Aber als der Ton weiter klang und anschwoll, wurden die Stimmen der Soldaten schwächer und erstarben, bis sie nur noch das Knistern und Lodern der Flammen – und das dünne Wimmern – hörten. Die Luft, bemerkte General Trevino, wurde drückend, drohend, düster. In dieser Nacht schrieb General Trevino Gedanken über die Wirkung des Windes in sein Tagebuch. Nana, Chokole und Fun berichteten, wie es dazu kam. Das dünne hohle Wimmern, das zu den Ohren Trevinos und der Soldaten drang, stammte von Geronimo. Zuerst blickte er nach Süden, saß mit überschlagenen Beinen da und legte ruhig die Arme vor sich hin. Er fing mit einem einzigen Ton als Gesang an. Dann drehte er sich nach Westen und setzte den Gesang fort, dann nach Norden und Osten. Der Ton schwoll höher an, und als seine Schwingungen die obere Schwelle der Fähigkeiten eines menschlichen Ohrs erreichten, sie zu registrieren, brachen sie sich wie Stakkatorhythmen; die Töne glitten unter jene Schwelle, unter der ein menschliches Ohr nicht mehr hören kann, und verwandelten sich in Erschütterungen der Luft, zuerst pochend und dann pulsierend, rhythmisch und harmonisch. Dies war Geronimos Lebensgesang, eine drängende Bitte um Leben, in der Sprache des Maultierbusches, der Pinie, des Kaktus. Chokole, Nana und Fun, die im finstersten Teil des Kreises lagen, fühlten, wie die Erschütterungen kräftiger wurden. Später berichtete Fun: Während er dalag und lauschte, hätten sich die Haare auf seinem Kopf gesträubt. Chokole und der alte Nana sagten, ihre Haut habe vibriert, und ein heftiges Gefühl habe sie überkommen, eine Vorahnung. Und dann, während die Feuer die Mesa erhellten, sahen sie den ersten winzigen Staubwirbel. Er schraubte sich empor, vor einem Feuer, und tanzte. Regellos, nach einem unordentlichen Muster, wan181
derte er über die Mesa, traf mit einem anderen größeren Wirbel zusammen, und diese wirbelnden Staubstürme trafen aufeinander und sammelten voneinander Kraft. Plötzlich wehten winzige Wirbel vom Boden empor, vereinten sich, sammelten Kraft, bis aus Dutzenden dieser Wirbel, die tanzten und ineinander übergingen, stärkere wurden. Chokole, Nana und Fun bedeckten ihre Gesichter. Sie konnten die Feuer nicht mehr sehen, auch nicht Geronimo, der nur wenige Fuß von ihnen entfernt saß. Sie fühlten seine Hand, die jeden von ihnen berührte; dann schob er seinen Körper dicht an Chokole heran, zerrte sie auf den Rücken und begann, gegen den Sturm zu kriechen. Nana berührte beim Kriechen Chokoles Bein, und Fun dahinter berührte Nanas Bein. Keiner von ihnen konnte etwas sehen. Chokole wußte, wann sie den Rand der Mesa erreichten, denn Geronimos Rücken kippte beim Kriechen abwärts. Von der Mesa herunter, bemerkte sie undeutliche Silhouetten; manche, dachte sie, mochten Soldaten sein, aber sicher war sie sich nicht. Die Umrisse waren niedrig und gerundet, und sie hätten Felsen sein können oder Soldaten, die ihre Gesichter gegen den Wind und Sand schützten. Lange Zeit ging es abwärts; als es ebener wurde, tauchten geisterhaft Umrisse von Büschen und Bäumen auf, die der Wind peitschte. Chokole witterte die Pferde, ehe sie zu ihnen kamen – eine lange, an einem einzigen Seil gesicherte Reihe von Pferden. Geronimo ließ sie auf dem Boden abrollen, hob sie empor und schwang sie auf den spanischen Sattel eines starken Rotschimmels. Geronimo, Nana und Fun suchten sich dann sorgfältig auch Pferde aus, stiegen auf und wandten sich der Sierra Madre zu; Chokole ritt in der Mitte der Pferdegruppe. Der Wind, der in ihrem Rücken blies, trieb sie an und wehte Unkraut und entwurzeltes Buschwerk an ihnen vorbei, während sie die Pferde im Schritt gehen ließen. Es ging aufwärts, der Boden stieg langsam an, dann wurde das Gelände steiler. Die Pferde mühten sich beim Klettern um einen Halt ihrer Hufe, bis sie die Plateaus er182
reichten, und gingen dann leicht bis zur nächsten Kammerhebung des Gebirges. Hinter und unter ihnen konnten sie den Sturm des Windes hören, der durch Arroyos heulte und pfiff und über ebene Strecken hinwegpeitschte. Hier oben war die Luft ruhig und still. Als die ersten hellen Streifen der Morgendämmerung den weiten und bläulich sich verfärbenden Himmel über den Ebenen von Sonora unter ihnen berührten, befanden sie sich in einer Höhe von tausend Metern in der Sierra Madre, auf dem Vorsprung eines schmalen Berges. Geronimo ließ die Pferde anhalten, schaute mit dem Fernglas nach unten und knurrte zufrieden. Als er das Glas den anderen weitergab, grinste er. Dort unten konnten sie Rotten berittener Soldaten nach Pferden jagen sehen, die sich im Sturm losgerissen hatten. Die Luft war ruhig, klar und wunderbar frisch. Die Sonne strahlte funkelnd auf die winzige Mesa, wo sie in der vorigen Nacht in der Falle gewesen waren; im Umkreis der Mesa bezeichneten winzige Rauchwölkchen die Stellen, wo die Feuer gebrannt hatten und dann im Sturm verlöscht waren. Drei Tage lang ritten sie über und durch den Kammrücken der Sierra Madre, immer nach Südosten. Fast gemächlich, erlaubten sie den Pferden, das Tempo zu bestimmen, an den Hängen prächtiger Berge empor, über die Kämme ihrer Grate, in die Mulden von Gebirgsnischen, in denen es schnellfließendes Wasser und reichen Bewuchs mit Bäumen und Wildblumen gab. Hoch auf dem Gipfel einer felsigen Kuppe machten sie am Morgen des vierten Tages ein Feuer, zogen von einem Pferderücken die Decke herunter und dämpften das Feuer kurz ab, damit dann ein dichter Rauchball in den Himmel steigen konnte. Durchs Fernglas schauten sie nach Süden. Innerhalb einer Stunde wurden sie belohnt. Von einem hohen, schmalen Gipfel tief im Süden, stieg lässig ein Rauchball empor. Sie nahmen ihren Ritt wieder auf und begegneten am Nachmittag einer Begrüßungsgruppe der Nednis. Juh, über das Wiedersehen freudig erregt, war Anführer dieser Reiter. Er hatte Wasserbeutel mitgebracht, die aber nicht mit Wasser, sondern mit Tiswin gefüllt waren. Er reichte die Beutel bei Geronimos Leuten herum und nahm selbst reich183
liche Schlucke; Chokole aber wollte er nicht weiterreiten lassen. Während sie aus einem der Beutel trank, schnitzten seine Männer Schienen für ihr Bein und machten eine zwischen zwei Pferden schwingende Trageschlinge. In dieser Stimmung ritten sie weiter zur Rancheria der Nednis auf einer Mesa mit einer sprudelnden Quelle, im Schatten eines Bergrückens. Die Feier dauerte die ganze Nacht und den nächsten Tag hindurch an. Am Abend des zweiten Tages wurde Geronimo aufgefordert, über die Erlebnisse seiner kleinen Reitergruppe zu berichten. Er befand sich nicht unter den Feiernden. Juh fand ihn am Rand der Mesa. Er lag flach auf einem hohen Felsen und beobachtete den Marsch eines sich dahinwindenden Maultierkonvois, der nach Norden über die Ebene von Chihuahua zog. Das Entsetzen und die Schmach von Nuri hatten ganz Sonora mit wahnwitzigem Rachedurst entflammt. Truppen wurden zu schlagkräftigen Abteilungen organisiert. Ein Teil dieser Truppen wurde anderswo zurückgezogen, sogar aus Chihuahua. Und daher beobachtete Geronimo, berechnete und plante.
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reignisse weit im Norden sollten Geronimos Pläne eines Feldzugs gegen Chihuahua ändern. Häuptling Josecito von den Mescalero-Apachen war mit einer Gruppe bedeutender Führer seines Volkes den weiten Weg nach Santa Fé für die Sache des Friedens gereist. Dort berichtete er den Behörden der Regierung der Vereinigten Staaten, daß seine Leute sich nur um ihre Ernten kümmerten und den Frieden wahrten. Er und seine Führer verlangten sogar, die Vereinigten Staaten sollten ein Fort in der Mitte seines Gebietes errichten, um seine Leute vor skrupellosen Weißen zu schützen. 184
Häuptling Josecito hatte keine Ahnung von den mörderischen Absichten der Regierung. Dies wurde bündig von Washingtons Agenten des Indianerbüros, E. A. Graves, bestätigt, der schrieb: »Daß diese Rasse für eine schnelle und endgültige Auslöschung bestimmt ist, scheint keinem Zweifel zu unterliegen … alles, was man von einer aufgeklärten und christlichen Regierung wie der unsrigen erwarten kann, besteht darin, den Weg ihres endgültigen Abgangs aus dem Zustand menschlicher Existenz vorzubereiten und zu glätten.« Josecitos Bitten wurden von der Armee der Vereinigten Staaten belohnt, indem sie sein Volk umzingelte und es von den White Mountains in die Reservation von Bosque Redondo trieb. Hier, auf diesen trostlosen ebenen Flächen, gab es keine Bäume und nicht einmal Büsche, um ein Wickiup zu bauen. Die Mescaleros gruben Löcher in den Boden und lebten wie Präriehunde in der glühenden Wüstenhitze, die über vierzig Grad anstieg. Hier würden keine Ernten gedeihen. Die Rationen des Indianerbüros, von Washington zugemessen, wurden bis zur Grenze des Verhungerns beschnitten. Schwärme von bissigen Sandfliegen und Moskitos quälten die Mescaleros. Viele starben. Als Josecito gegen diese Behandlung protestierte, wurde er ermordet. Einige Jahre zuvor hatte General Carleton, der das Department von New Mexiko befehligte, die Absicht der Armee der Vereinigten Staaten mit einem Befehl an seine Untergebenen klargestellt: »Tötet alle Indianermänner, wo ihr sie nur antrefft. Sollten sie versuchen, um Frieden zu bitten, dann sagt ihnen, daß wir geschickt wurden, um sie für ihre Verrätereien und Verbrechen zu bestrafen; daß wir keine Befugnis haben, Frieden zu schließen.« Dieser Befehl war durch ein ›Gentlemen's Agreement‹ dahingehend erweitert worden, inoffiziell auch das Töten indianischer Frauen und Kinder zu autorisieren. Vor diesem Hintergrund regierungsamtlicher Billigung völliger Auslöschung könnte man Leutnant George Bascoms Anmaßung ver185
stehen. Abgesehen von gelegentlichen Überfällen auf Ranches oder Bergbaucamps durch marodierende Apachenbanden, hatte im allgemeinen Frieden geherrscht, und die Apachen hatten sich fast passiv dem Unvermeidlichen gebeugt. Im allgemeinen war die Armee der Vereinigten Staaten auf wenig Widerstand bei diesen Indianern gestoßen und hatte die Apachen nicht anders als gewöhnliche Diebe behandelt. Durch sein Vorgehen sollte Leutnant Bascom diesen Eindruck ändern. Die Regierung der Vereinigten Staaten sollte die kämpferischen Fähigkeiten der Apachen durch einen Krieg erkennen, der teurer an Leben, Geld und Material werden sollte als alle Indianerkriege in der bisherigen Geschichte. Als Bascom an Cochise Nachricht sandte, sich mit ihm zu einer Konferenz am Apache Pass zu treffen, sah Cochise darin keinen Grund für Alarm. Er hatte sein Wort gehalten. Es herrschte Frieden trotz der wachsenden Zahl von Forts und der zunehmenden Flut weißer Männer ins Land der Apachen. Er besuchte oft die Postkutschenstation am Apache Pass; er kannte die Weißen dort, und viele seiner Leute sorgten für Holzvorrat und Nachschub an Maultieren und Pferden für die Station. Er nahm einen Bruder, zwei Neffen, eine Frau und ein Kind mit zu der Konferenz. Er trug keine Waffen, außer dem Messer, das er immer bei sich hatte. Cochise bemerkte die große Zahl von Soldaten um Bascoms Zelt, und als er eintrat und sich setzte, schien Bascom zornig. Anfangs hatte Cochise geglaubt, der Leutnant scherze, als er Cochise beschuldigte, einen Halbblutjungen* von einer nahegelegenen Ranch geraubt zu haben. Cochise lachte. Als er jedoch sah, daß Bascom wütend wurde, erklärte er, von dem Jungen nichts zu wissen, er wolle aber nachforschen; möglicherweise sei der Junge bei den * Der Junge, halb Ire, halb Mexikaner war in Wirklichkeit nach einer Tracht Prügel von seinem betrunkenem Stiefvater durchgebrannt. Eine Schar Apachen hatte ihn mitgenommen. Später wurde er unter dem Namen Mickey Free bekannt; er wurde Scout und Übersetzer für die Armee der Vereinigten Staaten, und er wurde von den Apachen sehr gehaßt. 186
Coyotero-Apachen, und wenn ja, werde er, Cochise, verhandeln, um ihn zurückzubringen. Da hatte Bascom brüllend Cochises Angebot abgelehnt und verkündet, er werde den Häuptling als Geisel behalten, bis der Junge zurück sei, und befahl den Soldaten, ihn zu verhaften. Jetzt sprang Cochise auf die Füße. Er riß das Messer heraus, schlitzte das Zelt auf und entkam in einem Hagel von Gewehrfeuer. Obwohl zweimal verwundet, reagierte Cochise schnell. Er raste zurück in die Berge, kehrte mit einer Schar Krieger zurück und nahm drei Weiße von der Postkutschenstation gefangen. Weitere Krieger schlossen sich ihm an, und er versammelte sie am späten Nachmittag auf der Prärie in Sichtweite von Bascom und den Soldaten. Mitten in der Prärie hob Cochise die weiße Flagge des Waffenstillstands empor, mit ihm zwei Krieger und eine der Geiseln, ein Weißer namens Warren. Bascom sah die Flagge und ging mit zwei Offizieren, aber ohne Geisel, hinüber. Als sie sich unter der Flagge trafen, beteuerte Cochise unter Protest erneut seine Unschuld hinsichtlich des Jungen und wiederholte sein Angebot, Krieger auszuschicken, um ihn aufzuspüren und seine Rückgabe zu regeln. Aber dafür mußte Bascom seine Geiseln freilassen, worauf Cochise die seinen freigeben würde; sie sollten sich zum Austausch in der Mitte des Feldes treffen. Doch Bascom weigerte sich, bestand darauf, der Junge müsse zuerst zurückgegeben werden, und wiederholte die Beschuldigung, daß Cochise den Jungen gekidnappt habe. Verärgert stellte Cochise Bascom vor die Wahl, entweder die Geiseln freizulassen, oder er, Cochise, würde seine eigenen Geiseln töten. Bascom blieb bei seiner Weigerung. Nach dem Bericht der anwesenden Offiziere meldete sich der weiße Gefangene Cochises, Warren: »Hören Sie mal, Leutnant, ich kenne Cochise. Er hält sein Wort. Er hat den Jungen nicht. Er wird uns umbringen. Machen Sie schon, und verhandeln Sie mit ihm. Er wird den Jungen für Sie beschaffen.« Bascom erwiderte: »Nein. Ich will den Jungen haben, ehe ich meine Geiseln freigebe.« 187
»Um Gottes willen, Mann! Er wird uns töten. Sind Sie denn verrückt? Bitte … um Himmels willen … um Jesus willen … wir alle werden bei der Suche nach dem Jungen mithelfen.« »Nein.« Wütend zog sich Cochise mit der Geisel zu seinen Kriegern zurück. Während Leutnant Bascom und seine Soldaten zusahen, pfählte Cochise die drei Weißen mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf der Prärie an, in voller Sicht. Dann stellte Cochise seine Krieger in genügendem Abstand von den Gefangenen in einer Reihe auf, hob seine Lanze und bot Bascom zum letztenmal an, die Geiseln zu retten. Die drei an den Erdboden gepfählten Männer brüllten und flehten Bascom an, aber der Leutnant schüttelte ablehnend den Kopf. Cochise und seine Männer trieben ihre Pferde scharf an und galoppierten über die drei kreischenden Gefangenen hinweg. Sie hinterließen stumme Körper, durchbohrt von spanischen Lanzen, die sacht im Wind schwankten. Sofort befahl Bascom seinen Männern, drei seiner Geiseln herzuholen, und in Sichtweite von Cochise hängte er den Bruder des Häuptlings und seine zwei Neffen an einem Kreuzbalken des Maultiercorrals auf. Später wurden dann Dos-teh-seh und ein Junge aus Fort Buchanan freigelassen. Es war als Entgegenkommen gedacht, kam aber zu spät. Das, was die Weißen die Cochise-Kriege nennen sollten, hatte begonnen. Dos-teh-seh war Cochises Frau, die Tochter von Mangas Coloradas. Der Junge hieß Naiche. Einzelne Reiter auf schnellen Pferden verließen in dieser Nacht Cochises Schar. Sie ritten nach Norden und Osten und – am bedeutungsvollsten – nach Süden, in die Sierra Madre. Die Reiter trugen nur eine Botschaft bei sich: die Blauröcke hatten ihr Wort gebrochen. Geronimo und Juh kamen nach Norden, begleitet von hundert Kriegern der Nednis. Dreißig Tage, nachdem Cochises Reiter ihre Botschaften ausgetragen hatten, erreichte S.D. Jones Fort Bowie und den Apache Pass kurz nach Mittag – eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, 188
daß sein Wagenzug in der Morgendämmerung westlich des San Simon River aufgebrochen war, der das San-Simon-Tal zwischen dem Doubtful Canyon in der Steins-Peak-Bergkette und dem Apache Pass in den Chiricahua-Bergen teilt. Aber andererseits war S.D. Jones als Frachtfahrer kein Grünhorn. Er war ein großer, plumper Mann, der ständig einen Klumpen Blätter-Burley im Mund hatte, Cheffrachtfahrer und Subkontraktor im Frachtgeschäft. Den weiten Weg von San Antonio her hatte er seine Wagen geführt – monströse Vehikel, die in jedem ihrer zwanzig Kasten achttausend Pfund transportierten und von sechs Maultiergespannen gezogen wurden. S.D. wurde ›Flucher-Jones‹ genannt, eine bedeutsame Anerkennung seines ordinären und einfallsreichen Vokabulariums im Gewerbe der Maultiertreiber, bei denen Profanität zu einer hohen Kunst entwickelt wurde. Er hatte einen Vertrag mit Beam & Company in Tucson, für die er bei einem Satz von einem Cent pro Pfund und hundert Meilen Transporte durchführte. Was Beam & Company von der Armee der Vereinigten Staaten bekamen, deren Forts sie versorgten, war ihre eigene Angelegenheit. Das Geschäft ging gut. Immer mehr Forts schossen in den Territorien von New Mexiko und Arizona in die Höhe, die größte Konzentration von militärischen Niederlassungen in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Einige der jüngsten, die schon eingerichteten in New Mexiko nicht mitgezählt, waren: Fort Bayard bei Silver City, Fort Cummings nahe Deming, Fort McRae nördlich von Hatch am Rio Grande, Camp Ojo Caliente westlich von Fort Craig; Fort Seldon nördlich von Dona Ana, Fort Stanton am Rio Bonito im Lincoln County, Fort Sumner am Pecos, Fort Webster am Santa Rita und Fort West am Gila River. In Arizona gehörten zu den neuen Forts: Fort Apache am Ostarm des White River, Fort Bowie am Apache Pass, Camp Grant am San Pedro, Fort Crittenden nahe Fort Buchanan, Fort Goodwin nahe Fort Thomas, Fort Huachuca bei den Huachuca-Bergen und dem San Pedro, Fort Lowell in Tucson, Fort McDowell an der Vereinigung des Verde mit dem Salt River, Fort Verde östlich von Prescott am Verde und Fort Whipple in Prescott. 189
Fort drängte sich an Fort, manche standen fast in Sichtweite voneinander. Patrouillen der Armee begegneten sich bei ihren kürzeren Streifen, und ihre Bereiche überschnitten sich gegenseitig in einer wahrlich totalen Überwachung des ganzen Territoriums. Die Soldaten in den Forts mußten genährt, gekleidet, bewaffnet, mit Getränken und Dirnen versorgt werden. Tucson war eine Säufersiedlung, von viertausend Herumtreibern, Profitgeiern, Kaufleuten, Whiskyhändlern, Spielern, Dirnen, Kupplern und mehr Armeekontraktoren pro Quadratmeter als auf irgendeinem anderen Fleck der Erde. Der ›Apachenkrieg‹ hatte begonnen. Wenn ein Neuling in einem Studpoker zu fünf Karten eine Sechs hielt und dann ohne Zeugen einfach niedergeschossen wurde, erschienen in den Zeitungen Balkenüberschriften über ein neues Apachenmassaker. Das war gut fürs Geschäft. Drüben im Osten erschauerten die Bürger in selbstgerechtem Entsetzen über die blutigen, unmenschlichen Apachen und stimmten Washingtons dröhnenden Politikern ernst zu, es seien größere Aufwendungen, mehr Forts und mehr Soldaten nötig, um das Leben für Christenmenschen bei der ›Besiedelung‹ des Westens lebenswert zu machen. Ein angemessener Betrag dieser Aufwendungen, der in die Hände des Kontraktorenrings von Tucson floß, fand über Bestechungen den Weg zurück in die Taschen der Politiker, würzte ihre Reden mit Donnergetöse und stärkte die Politik des Ausrottens aller Apachen. Reichtümer strömten in solchem Überfluß zu, daß sogar in die elenden Hütten von Tombstone, südlich von Tucson, Leben kam. Tombstone, weit entfernt von der California Road, fühlte sich auch verpflichtet, seinen Anteil an der Goldflut mit bestimmten Verlockungen an sich zu ziehen, da Soldaten im Urlaub ihren Sold meist für Whisky und Huren ausgaben. Dadurch lockte Tombstone den Revolverhelden Wyatt Earp und seine Brüder und andere berühmtberüchtigte ›Helden‹ des Westens an, die man später in Geschichten, Liedern und Filmen glorifizieren sollte. 190
S.D. Flucher-Jones kümmerte sich keinen Deut darum. Er war dabei, seinen Schnitt zu machen; Hund frißt Hund, und Schwache können nur an der schwächsten Zitze saugen. Er hatte in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Apachen gesehen, einen elenden, schmutzigen Dieb, der sich um die Hintertüren der Saloons in El Paso herumtrieb, die seltsamsten Dinge erledigte und stahl, was er nur konnte, um sich Whisky zu kaufen. S.D. konnte einfach nicht begreifen, was für ein blödes Theater man da anstellte. Auf die Apachen losgehen, das hatte er selber gesehen, hatte eigentlich nicht besonders viel mit einem Krieg zu tun; es war eher so, als ob jemand Eselskot in Maultierpisse herumrührte, um Gestank zu machen. S.D. stand voll und ganz hinter all dem, solange man die elendigen Bastarde nicht zu schnell um die Ecke brachte. Das wäre schlecht fürs Geschäft gewesen. S.D. klatschte mit seiner Treiberpeitsche auf die hölzerne Bartheke und erregte keinerlei Aufmerksamkeit bei dem halben Dutzend Soldaten, die an einem Tisch tranken. Frachtleute waren eine laute, gewöhnliche und notwendige Belästigung. Der Barkeeper antwortete auf die Bestellung: »Sieben Dollar die Flasche«, und als S.D. nickte, stellte er die Flasche vor ihn hin, dazu ein unglaublich schmutziges Glas. S.D. klaubte Geld mit dem Daumen heraus, goß ein halbes Glas voll, hob das Glas hoch und verkündete philosophisch: »Pisse auf euch alle!« Dann stürzte er den Drink hinunter. Seine Kopfhaut spannte sich, seine Lippen stülpten sich auf, so heftig wirkte der Schock; er drehte sich nachdenklich um und beobachtete durch die Tür seine Treiber jenseits der Straße, als sie gerade Maultierwärter anwiesen, zweihundertvierzig Maultiere auszuschirren und sie zu versorgen. Die Treiber beeilten sich mit der Arbeit, voller Begierde, endlich auch an die Bar zu kommen. Zwei waren Anglos, siebzehn Mexikaner. S.D. lenkte den Führungswagen selbst; das sparte ihm Geld. Hier gab es einen Zwischenaufenthalt, denn eine Armeepatrouille war dazu bestimmt, ihn am Morgen durch den Apache Pass zu eskortieren. Den ganzen Weg von El Paso her hatte er Eskorten gehabt. Von Fort Bliss hatte man ihn bis Mesilla geleitet, wo ihn eine 191
Patrouille aus Fort Thorn bis zum Mimbres River übernahm; dort hatte ihn eine Patrouille aus Fort McLane über die flachen Ebenen unterhalb der Burro-Berge, durch den Doubtful-Canyon und das San Simon-Tal zum Apache Pass gebracht. S.D.'s Ziel war Tucson; achtzehn Wagen hatten Mehl, Speck, Whisky, Trockengüter und Zukker geladen, aber zwei waren mit Spencer-Hinterladern, dazu für jedes Gewehr tausend Schuß Munition, vollgestopft. Die Armee bewachte ihre Gewehre sehr gut. Er beobachtete immer noch das Treiben jenseits der Straße, goß sich ein zweites halbes Glas Whisky ein und informierte den Barkeeper beiläufig: »Sag dem unverschämten, blutsaugenden Kuppler, der die Bullenpisse da auf Flaschen gezogen hat, er soll sich einen etwas älteren Büffelbullen suchen. Das Zeug da«, sagte er und hob das Glas, um es gleich leeren zu können, »ist nicht länger als achtundvierzig Stunden aus dem Sack des Bullen raus und in dem Faß da.« Er setzte an, schluckte zweimal und leerte das Glas. Der Barkeeper, der solche Komplimente gewohnt war, zuckte die Achseln. »Vierzig Prozent«, erklärte er erfahren zur Entschuldigung, »direkt von San Antone.« Jenseits der Straße war S.D. etwas aufgefallen. Er schlenderte zur Tür. Ein mexikanischer Jugendlicher, der Sackleinwand, Sandalen und einen großen Sombrero trug, bummelte an der Reihe der Wagen entlang und spähte wie absichtslos unter die Planen. »Hey!« brüllte S.D. »Hey, du – Mex! Laß deine schmierigen, arschwischenden Hände von den Wagen!« Der Jugendliche schlenderte weiter; offenbar hörte er es nicht, oder er verstand kein Englisch, denn er wanderte an der Wagenreihe weiter und schaute in jeden Wagen hinein. S.D. beobachtete ihn einen Augenblick mit der Empörung eines Besitzers, ehe ihn der Drang nach einem neuen Drink zurückholte. Er merkte sich whiskyumnebelt im Geist vor, nachts eine Wache zu den Wagen stellen zu lassen. Als er später mit einem seiner Treiber vor dem Saloon stand, sah er den Jugendlichen wieder. Die Sonne war untergegangen, und in 192
der Abenddämmerung trieb er mühsam ein altersschwaches Maultier nach Westen durch den Apache Pass. Das erinnerte S.D. daran, eine Wache aufzustellen. »Die gottverdammten diebischen Greasers«, sagte er zu dem mexikanischen Treiber, der neben ihm stand und sich nicht an der Bemerkung stieß, da er kein Dieb und daher logischerweise auch kein Greaser war. »Si«, stimmte er zu. »Der ist nicht nur taub«, bemerkte S.D. entrüstet, »der ist auch verrückt, weil er nachts allein rausreitet.« »Si, es loco!« S.D. irrte sich in dreierlei Hinsicht. Der Reiter war nicht taub, er war auch nicht verrückt, und er war kein Mexikaner. Es war Naiche. Damit beging S.D. Flucher-Jones einen tödlichen Irrtum. In der kühlen Frische vor der Morgendämmerung schwangen sich dreißig von Leutnant J.W. Davis befehligte Soldaten steif und widerstrebend in die Sättel und ritten nach Westen durch den Apache Pass. Hinter ihnen nahm S.D. einen ausgiebigen, immunisierenden Schluck aus seiner Flasche und betäubte damit den Schmerz von der Nacht zuvor. Er wechselte die Zügel in die linke Hand, rollte die Peitsche aus und ließ sie knallend und klatschend über die Köpfe der Maultiere pfeifen, die vor ihm angespannt waren. Hinter ihm knallten weitere Peitschen, und die riesigen Räder der zwanzig Wagen begannen sich langsam und knirschend zu drehen, den Soldaten nach, aus dem Apache Pass hinaus. Wo die Straße den Pass hinter sich läßt, fällt sie steil ab, und S.D. schob den rechten Fuß in die Lederschlinge, die vom Bremspfahl herunterhing. Er stieß mit dem Fuß zu und unterstützte den Tritt, indem er mit der Rechten den Pfahl herunterriß, und brachte die hinteren Bremsklötze in Berührung mit den Hinterrädern. Zwanzig Wagen kreischten wie böse Geister, während sie den Hang hinabrollten. S.D. griff wieder in die Zügel, so daß die Maultiere das ganze Gewicht ihrer Hinterhand gegen die ›Arschbremsen‹ stemmten, was ihnen die Kraft gab, sich im Geschirr nach rückwärts zu 193
legen und mitzuhelfen, den Wagen zu bremsen. Das war harte Arbeit. Gegen Mittvormittag waren S.D. und seine Treiber froh, als sie die Prärie vor sich sahen. Die Prärie war zwar monoton, aber die Arbeit war dort leicht. Die Soldaten trieben sich recht unmilitärisch auf ihren langsam trottenden Pferden eine halbe Meile vor den Wagen herum. Sie befanden sich vor dem Camp der ersten Nacht, zehn Meilen tief im Sulphur-Springs-Tal. In der folgenden Nacht kampierten sie in Sulphur Springs, wo die Dragoon-Berge gegen Westen hin aufragten. Als sie die Dragoons am frühen Nachmittag erreichten, setzte sich S.D. dafür ein, durchzufahren, aber Leutnant Davis wollte nichts davon hören. »Wir werden trocken kampieren und morgen durch die Dragoons ziehen.« »Bei Tante Minnies Esel«, sagte S.D. vernünftig genug, »wir haben noch vier Stunden Tageslicht. Was sollen wir denn tun, rumhocken und in den Nasen bohren?« »Sie können rumhocken und bohren, wo Sie wollen«, sagte Davis kurzangebunden. »Sie stehen unter meiner Verantwortung, und hier sind wir genau in der Mitte von Cochises Land. Wir brechen morgen früh auf.« Der Leutnant gestattete kein Feuer und stellte Wachen auf, die durch den Wagenzug patrouillierten und im Wechsel ihrer Runden die Zurufsignale während der ganzen Nacht erwiderten. In der Morgendämmerung brachen sie auf und zogen ächzend und langsam durch den schmalen Paß, der sich in Schlangenlinien zwischen hohen Gipfeln und Canyonwänden hindurchwand. Jetzt ritten die Soldaten neben den Wagen, die Gewehre aus den Gewehrtaschen und quer über die Sättel gelegt. Sie beobachteten die Höhen. Einige Soldaten hatten schon gegen Apachen gekämpft. Sie wußten: falls ein Angriff erfolgte, würde es keine Warnung geben. Genau um Mittag sichteten sie durch den letzten der Canyons die Wüste und hatten nach einer Stunde die Berge hinter sich. Leutnant Davis ließ den Wagenzug anhalten. Er lenkte sein Pferd dicht 194
an S.D.'s Wagen, hob das Fernglas und suchte den Horizont ab. Zwischen dieser Stelle und Tucson lagen fünfundsiebzig Meilen Wüstenprärie; es gab keine Berge, nicht einmal einen Hügel, hinter dem sich ein Apache verbergen konnte, und nicht viel Vegetation außer Salbei und Kakteen. Die Wüste pumpte Ofenhitze in die Luft, und das Licht der Sonne war grell und blendete. S.D. schwitzte. Der Leutnant beobachtete angestrengt das Gelände. »Well«, sagte er mürrisch und wischte sich die Schweißtropfen aus dem Gesicht, »sehen Sie vielleicht Pferdewagen oder einen Zirkus oder nackte Weiber?« Davis senkte das Fernglas. »Ich sehe keine Apachen. Aber ich sehe auch die Patrouille aus Fort Lowell nicht.« Davis war nicht der Mann, der S.D.'s säuerlichen Humor zu würdigen vermochte. Er runzelte die Stirn und dachte angestrengt über sein Problem nach. Sein Problem waren die Befehle. Seine Befehle lauteten, den Wagenzug an den Dragoon-Bergen vorbei zu eskortieren und dann auf eine aus Fort Lowell ausrückende Patrouille zu treffen. Er hatte keine Instruktionen erhalten, was zu tun sei, falls ihm die Patrouille aus Fort Lowell nicht begegnete. Leutnant Davis gehörte mit Haut und Haaren der Armee, und daher bedachte er das Problem auf eine der Armee akzeptable Weise. Dann löste er sein Problem. »Hören Sie«, sagte er brüsk, »meine Patrouille wird hier an den Bergen kampieren. Dann schicke ich Beobachtungsposten dorthin« – er deutete auf einen hohen, welligen Kamm voraus – »und von dort aus werden wir Sie im Auge haben, bis die Fort-Lowell-Patrouille Ihnen begegnet. Wir können Sie den ganzen Nachmittag beobachten. Sollte Ihnen die Patrouille aber nicht entgegenkommen, dann können wir Sie bis zum Nachtcamp einholen.« »Paßt mir.« S.D. tätschelte das Gewehr, das neben seinem Bein stand. »Davon gibt es noch neunzehn mehr, dazu neunzehn Treiber hinter mir, und zwanzig Treiber mit zwanzig Spencer-Gewehren können weder von Apachen noch anderen Leuten, die sich Flau195
sen in den Kopf gesetzt haben, einfach über den Haufen gerannt werden.« S.D. Flucher-Jones ließ die Peitsche knallen und fuhr mit den Wagen an den Soldaten vorbei, der Wüste und seinem Schicksal entgegen. Leutnant Davis ließ seine Soldaten zurück in den kärglichen Schatten einer Bergkuppe reiten. Über eine Stunde lang konnten er und seine herumlungernden Soldaten in den tänzelnden Hitzeschleiern die Wagen mit bloßem Auge erkennen, während sie langsam über die Prärie dahinrollten. Dann schickte Davis zwei Beobachter auf den Kamm über ihnen mit dem Befehl, ein Mann solle ständig mit dem Fernglas den Wagenzug im Auge behalten. Dies wurde auch getan, und nach zwei Stunden stetiger Beobachtung sahen sie, wie die Patrouille aus Fort Lowell die Wagen traf. Als pflichtbewußter Offizier stieg Leutnant Davis selber auf den Kamm hinauf und machte die Patrouille aus; dann aber trieb er seine Männer im hastigen Galopp durch die Dragoon-Berge zurück. Er hatte andere drängende Pflichten; seine Mission hier war beendet. Später kam es dann so, daß Leutnant Davis die beiden Soldaten, die die Patrouille mit ihm gesehen hatten, als seine Zeugen aufrief. Denn er und die ganze Armee standen Kopf. Leutnant Davis sah nämlich nicht, was er meinte zu sehen. Es war ganz einleuchtend. Er und seine zwei Zeugen waren einer Täuschung erlegen. Man schloß die Möglichkeit nicht aus, daß als Soldaten gekleidete Apachen den Wagenzug übernommen haben könnten, aber Davis und Untersuchungsoffiziere der Armee waren sich einig, daß bei genauer Beobachtung S.D. Jones und wenigstens ein paar seiner Treiber es durchschaut haben würden, und dann wäre etwas passiert. Aber während Davis und seine zwei Zeugen sorgfältig die Routinebegegnung der Patrouille mit den Wagen beobachtet hatten, war nichts Auffälliges zu sehen gewesen. Zunächst wurde der Vorfall als Fall der ›verschwindenden Wagen‹ protokolliert, geriet aber bald im wütenden Aufflackern des Krie196
ges in Vergessenheit. Der Fall war als ungelöst zum Staubfänger in den Akten der Armee bestimmt. Für die Apachen gab es in diesem Fall kein Geheimnis. Als Naiche auf dem altersschwachen Maultier den Apache Pass verlassen hatte, ritt er nicht weit. Innerhalb einer Stunde war er von der Straße in einen rauhen Arroyo abgebogen, wo ein Krieger mit zwei schnellen Pferden schon wartete. Die beiden ritten schnell und sprengten über das Sulphur-Springs-Tal hinweg in die DragoonBerge hinein. In den versteckten Winkeln eines besonders wilden Gebiets des ›Cochise Canyon‹ hielten sich dreihundert Apachenkrieger, gut verborgen in der Finsternis der Lebenseichen und Pinien, auf. In der Mitte flackerte ein kleines Feuer, um das die Männer saßen, denen Naiche Bericht erstattete. Alle zusammen hatten leicht an die tausend wagemutiger Guerillaangriffe geführt. Mehr als ein halbes Jahrhundert Guerillakrieg gegen die Mexikaner lag in der Erinnerung des alten Mangas Coloradas – volle vierzig Jahre hatten sowohl Cochise wie auch der strahlende Juh erlebt –, und da war auch Geronimo, der Kriegsschamane. Die Jahre seiner ausgedehnten Kriegszüge, die er aus Liebe und Sorge für alle Apachen unternommen hatte, hatten ihn zu einem Meister aller Geländeformen gemacht; und dies alles, zusammen mit der detaillierten Kenntnis der Gewohnheiten der Feinde, hatte ihn zu einem furchtbaren Strategen und Kriegsgeneral entwickelt. Nach Naiches Information war das Ziel des Wagenzuges Tucson. Geronimos Kenntnisse über die Armeepatrouillen und ihre routinemäßige Höchstentfernung von den Forts machten es ihm recht leicht, ungefähr jene Stelle zu erraten, wo Leutnant Davis' Patrouille umkehren würde. Auch war es einfach zu ermitteln, daß die dem Wagenzug entgegenkommende Patrouille aus Fort Lowell bei Tucson kommen würde. Um die Zeit, als Leutnant Davis' und S.D.'s Wagenzug aus den Dragoon-Bergen herauskamen und während Davis mit seinem Fernglas die Prärie absuchte, hatten die vier Generäle der Apachen ihre Aktion bereits begonnen. 197
Mangas Coloradas und Juh waren am Tag zuvor mit über zweihundert Kriegern aufgebrochen und westlich in Richtung Tucson gelaufen. Sie waren nur mit Bogen und Pfeilen und einigen wenigen glattgezogenen Vorderladermusketen ausgerüstet. Vierzig Meilen östlich von Tucson überfielen sie auf der California Road in der Morgendämmerung das Camp der fünfzig Soldaten, der Patrouille aus Fort Lowell. Mangas und Juh benötigten weniger als fünfzig Krieger für den Überfall. Die Hauptmasse ihrer Streitmacht wartete weiter nördlich in den Vorbergen der Santa-Catalina-Berge. Sie machten keinen Versuch, es zu einem Gefecht kommen zu lassen, als sie aus dem Grau des frühen Morgens durch das Camp fegten, auf die Soldaten schossen und sich nach Norden zurückzogen. Als der Befehlshaber der Patrouille zögerte, ob er ihnen folgen sollte, gruppierten sie sich von neuem und schlugen wieder zu. Die mit Hinterladern ausgerüstete Patrouille nahm die Verfolgung auf und ließ sich dabei in ein fortlaufendes Feuergefecht zu Pferde ein, das sich über fünfundzwanzig Meilen bis zum Saum der Santa Catalinas hinzog. Hier geriet die Patrouille in eine Falle; ihr wurde der Rückweg abgeschnitten. Einige Soldaten verloren das Leben, als sie sich den Weg zurück nach Fort Lowell freikämpfen wollten. Während das geschah, eilte Cochise auf der California Road nach Westen, um den Wagenzug abzuwarten und zu treffen. Mit ihm ritten dreißig Krieger, ausgerüstet mit Vorderladergewehren. Sie trugen Fetzen und Teile von Armeeuniformen, blaue Röcke und Hüte. Und das war die ›Patrouille‹, die Leutnant Davis gesehen hatte. Zwölf Stunden ehe Cochise seinen Ritt begann, war Geronimo in die gleiche Richtung aufgebrochen. Er hatte zwanzig Krieger bei sich. Sie ritten nicht, sondern waren zu Fuß und trugen außer den an ihren Taillen befestigten Messern keine Waffen. Geronimo war der Schöpfer dieses Täuschungsmanövers. S.D. Jones machte sich keine Sorgen, als er Leutnant Davis hinter sich ließ. Er hatte den Treibern mitgeteilt, sie sollten den weiten Horizont ringsum scharf beobachten. Es waren alles erprobte 198
Frachtfahrer, zäh und gut mit einem Spencer-Gewehr vertraut. S.D. wußte auch, daß in seinem Rücken Leutnant Davis beobachtete – und daß vor ihm die Patrouille aus Fort Lowell kommen würde. Ringsum aber machte der weitgedehnte, glatte Wüstenboden einen Überraschungsangriff im Grunde genommen unmöglich. S.D. konnte seine Gedanken auf Angenehmeres konzentrieren – wie auf das Abklappern der Saloons in Tucson in der kommenden Woche oder auf die Dirne mit den gebleichten Haaren, mit der er bekannt war, für dreißig Bucks pro Nacht. S.D. schmatzte mit den Lippen, nahm wieder einen Schluck aus der Flasche und trieb die Maultiere an. So verstrich eine Stunde – dann eine zweite. Die Sonne war tiefer gesunken und schien S.D. ins Gesicht. Er zog sich den weichkrempigen Hut etwas weiter in die Stirn. Es war heiß, heißer als der Leib einer aufgedonnerten Dirne nach harter Nachtarbeit. Aber es gab keinen Wind. S.D. hatte Zeiten erlebt, da er viel um den peitschenden, stechenden Sand gegeben hätte, der sich mit dem Wüstenwind erhob. Allerdings mußte kürzlich hier ein Sandsturm getobt haben, denn beim Fahren bemerkte S.D. Hügelchen aus Sand, die um Salbeibüsche zu Häufchen zusammengeweht worden waren. Die Salbeibüsche hatten den Wind abgefangen und den Sand etwas verwehen lassen. Und nicht lange, ehe es mit seiner Fahrt zu Ende war, bemerkte er sogar, daß es ein höllischer Sandsturm gewesen sein mußte. Dicht neben der Straße zu beiden Seiten, lagen größere Hügel, hier und da um Salbeibüsche gehäuft. Selbst wenn S.D. diese Aufhäufungen an der Straße und die Salbeibüsche, stets auf der Spitze größerer Haufen, wie Grabsteine, eingehender untersucht hätte, hätte er doch die Köpfe nicht gesehen, die sich hinter dem Salbei verbargen. Selbst wenn S.D. ein altes Sprichwort der Apachen gekannt hätte – »Törichte Menschen schauen weit aus, wenn sie Freude suchen … und nahenden Tod – und beide sind ihnen doch so nahe« – hätte er trotzdem diese Köpfe nicht entdeckt. Denn wer, zum Teufel, hält denn im Salbeibusch Ausschau nach Köpfen, nach Köpfen ohne 199
Leiber? Und so lenkte S.D. Jones gemächlich seine Wagen an den Aufhäufungen vorbei. Als der letzte Wagen das erste Hügelchen passierte, das S.D. Jones gesehen hatte, wuchs wie durch ein Wunder eine stämmige Gestalt aus dem Sand empor, glitt zwei Schritte vor und schlüpfte von hinten in den Wagen hinein. Es war Geronimo. Auf der anderen Seite der Straße stand eine zweite Gestalt auf und folgte der ersten hinein in den Wagen. Geronimo, ein langes Messer flach zwischen den Zähnen, kroch über das Frachtgut, bis er sich hinter dem vorn sitzenden Treiber duckte. Schnell und lautlos flitzte das Messer unter das Kinn des Treibers. Ohne einen Laut zu geben, wurde er mit halb durchschnittenem Hals rücklings in den Wagen hineingezerrt. Naiche, die zweite Gestalt, bemächtigte sich der Zügel, kletterte auf den Sitz des Treibers, und die Maultiere gingen stetig weiter. Geronimo sprang zwischen die Maultiergespanne, arbeitete sich längs der in Spur angeketteten Doppelbäume durch das Geschirr vor, und suchte sich einen Weg durch die ganze Länge des Gespanns. Dann sprang er auf den Boden, trottete vor den Leitmaultieren her und bestieg den zweiten Wagen. Während er unter die Plane kroch, stand aus einem Sandhaufen neben der Straße wieder ein Krieger auf und sprang hinter ihm hinein. Der zweite Treiber wurde auf die gleiche unhörbare und wirksame Weise ausgeschaltet. Mit lautloser, tödlicher Konzentration arbeitete sich Geronimo durch den Zug der Wagen vor. Neunzehn Wagen! Auf einer Strecke von zwei Meilen waren neunzehn Männer gestorben; jedesmal kam ein neuer Krieger dazu, um die Zügel des toten Treibers aufzunehmen. Als Geronimo dann von hinten in S.D.'s Wagen einstieg, bot er einen Entsetzen erregenden Anblick. Das Blut aus den zerschnittenen Halsarterien von neunzehn Männern, über seine Stirn verspritzt, rann in kleinen Rinnsalen über die gelben Streifen unter seinen Augen. Sein Gesicht, seine nackte Brust und seine Arme waren mit Blut besudelt, vermischt mit Schweiß, der die Farbe aufhellte und einen süßlichen Geruch nach Tod ausströmte. 200
Vielleicht war es dieser Geruch, der S.D. zuerst veranlaßte, sich umzudrehen, oder vielleicht griff er auch nur nach seiner Flasche. Jedenfalls erspähte er aus dem Augenwinkel einen gleitenden Schatten unter der Plane hinter ihm. Er drehte sich ganz herum und sah das Grauen schweigend und schnell auf sich zuhuschen, das Messer flach zwischen Zähnen, die weiß zwischen den blutigen zurückgestülpten Lippen schimmerten. Die schwarzen Augen glänzten hungrig wie die eines Tieres, grimmig und mordlustig. S.D. war für den Bruchteil einer Sekunde gelähmt. Aber nur für einen Bruchteil. Er versuchte, sich von seinem Sitz zu erheben, und er hätte gebrüllt, aber kein Laut drang aus seinem Hals. Während er aufstand, würgten ihn die eigenen angespannten Halsmuskeln; er taumelte von seinem Sitz weg, stürzte vom Wagen, und das riesige Rad erwischte ihn am Oberschenkel und zerquetschte ihm das Bein. Das war das letzte, was er wahrnahm. Suchpatrouillen aus Fort Lowell fanden S.D. am folgenden Tag, noch am Leben. Er hatte um sich geschlagen; dadurch hatte sich das zerschmetterte Bein immer wieder von neuem mit Staub überzogen, das Blut kam zum Stocken, und dies verhinderte, daß er sich zu Tode geblutet hatte. Er war der einzige lebende Zeuge für den fehlenden Wagenzug. Soldaten waren der Fährte gefolgt, die von der Straße nach Süden abbog, aber die Fährten waren nach wenigen Meilen verschwunden. Der Wind und möglicherweise auch Buschzweige, die die berittenen Apachen nachschleiften, hatten bald alle Spuren der Wagenräder ausgelöscht. S.D. plapperte zusammenhanglos von dem ›Apachen mit den gelben Streifen‹, konnte aber nicht mehr zu der Lösung des Geheimnisses beitragen. Soweit man feststellen kann, betätigte er sich nie mehr als Frachtfahrer, sondern trieb sich eine Weile in Tucson herum, wo er immer und immer wieder von seinem Schreckenserlebnis bei dem Geheimnis um den Wagenzug erzählte. Die Welt drehte sich weiter und profitierte in keinem meßbaren Ausmaß an S.D.'s weiterer Existenz. Er verschmolz mit Tucsons Strandgut und verschwand für immer aus der Geschichte des Südwestens. Aber die201
jenigen, die den ›Apachen mit den gelben Streifen‹ identifizierten, wurden immer zahlreicher. Für die Chiricahua-Apachen war der Raub des Wagenzuges wie eine Bonanza – nicht nur wegen der Lebensmittel, die dringend benötigt wurden, sondern auch wegen der Waffen. Moderne SpencerGewehre und Munition erhöhten für viele reitende Krieger die Feuerkraft. Die Vorräte der Wagen wurden in den südlichsten Zipfel der Dragoon-Berge transportiert und auf Patrouillen aufgeteilt, die sie in die Guadeloupes, in die Chiricahua-Berge und nach Norden zu den Burro-Bergen brachten. Getreu ihrer Guerillaerfahrung seit Jahrhunderten, teilten sich die Apachen in kleinere Scharen auf, die sich über das Herz eines bevölkerten feindlichen Landes zerstreuten. Denn in einer großen Gruppe vereint zu bleiben – klein im Vergleich zu dem an Stärke wachsenden Feind – bedeutete, die feindlichen Kräfte konzentriert auf sich zu ziehen, und damit unmittelbares Unheil. Diese kleinen Scharen wurden mit großer Wirkung im Krieg längs der California Road eingesetzt. Als die Armee dann Truppenpatrouillen längs der Straße so dicht zusammenlegte, daß sie sich jeweils innerhalb von Schußentfernung befanden, überfielen die Apachen Versorgungswege, auf denen Vorräte zu den Forts gebracht wurden. Während man Red Cloud, dem großen Häuptling der Oglala-Sioux, verdientermaßen militärischen Ruhm wegen seines Feldzuges gegen Fort Kearney und der Aufgabe des Forts zubilligte, gestand man den Generälen der Apachen solches Ansehen nicht zu. Und doch zwang ihr wirksamer Einsatz kleiner Scharen und tödlicher Schläge die Armee der Vereinigten Staaten, Fort Thorn nahe Hatch, Fort McLane nahe Santa Rita, Camp Mason am Santa Cruz River, Fort Tularosa nahe Reserve in New Mexiko, Fort Barrett nahe Sacaton in Arizona, Camp Grant in Arizona, nahe dem San Pedro River, Camp Calabasas nahe Nogales, Fort Conrad südlich von Socorro und Fort Fillmore nahe Mesilla aufzugeben. ›Offiziell‹ verließ die Armee der Vereinigten Staaten diese Forts, weil sie ›nicht mehr wirksam‹ seien, womit zwar die Wahrheit, aber nicht der eigentliche Grund gesagt wird. 202
Der heroische Überlebenskampf der Apachen, eines Volkes ohne politische Macht, finanziellen Einfluß und Freunde in der Presse, fehlt in den Seiten der Geschichte. Und doch ist dieses Ringen eines kleinen Volkes, das sich den Versuchen zweier mächtiger Regierungen, es zu versklaven und auszulöschen, widersetzte, ohne Beispiel in der Geschichte.
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A
ls die Truppen der Vereinigten Staaten von der California Road in einem Versuch, Raubzüge ins offene Land zu unterbinden, zurückgenommen wurden, sperrten die Apachenscharen praktisch diese Straße für alle Emigrantentrecks, die nach Kalifornien zogen, für die Nachschubkolonnen und für die Butterfield-Postkutschenlinie. Tom Jeffords war Superintendent dieser Linie. Er hatte erlebt, daß in weniger als einem Jahr vierzehn seiner Postwagenfahrer und unzählige Passagiere getötet und die meisten seiner Postkutschen zwischen dem Mimbres River und Tucson verbrannt worden waren. Er selbst war zweimal verwundet worden. Er war fast nicht mehr im Geschäft, und seine Bitten bedeuteten für eine hilflose Armee gar nichts. Jeffords war ein entschlossener Mann, der seine Aufgaben ernst nahm und ungewöhnliche Anstrengungen unternahm, um seine Pflicht zu erfüllen. Er konnte die Sprache der Apachen ziemlich fließend sprechen, da er während der Jahre des Friedens mit vielen Apachen in enge Berührung gekommen war. Eines Morgens traf er jäh eine Entscheidung. Als er einen ›friedlichen‹ Apachen, den er kannte, am Apache Pass bei den Corrals herumlungern sah, ging er zu ihm hin, hielt ihm eine Handvoll Geld hin und sagte: »Ich möchte, daß du mich zu Cochise führst.« Der Apache schaute ihn lange aufmerksam an. 203
Jeffords war verrückt. Einige Jahre lang hatte kein Weißer Cochises Gesicht zu sehen bekommen und war am Leben geblieben, um davon zu berichten. Der Apache zuckte die Achseln; alle Weißen waren verrückt. Er nahm das Geld und führte Tom Jeffords aus dem Apache Pass den Dragoon-Bergen entgegen. Hinter dem Paß wandten sie sich nach Südwesten und überquerten das Sulphur-SpringsTal, wobei sie zweimal Nachtlager bezogen. Während sie so mit verschränkten Beinen an ihrem Campfeuer saßen, boten sie einen seltsamen Anblick – ein Apache und ein rotbärtiger Anglo, begleitet nur von zwei Pferden und einem Tragmaultier, und das mitten in einem Krieg, in dem weder Apachen noch Weiße im Freien kampierten – im besonderen nicht gemeinsam. Am dritten Tag des Rittes kamen sie weit südlich der California Road in die zerklüfteten Dragoons. Unmittelbar erreichten sie felsiges Gelände mit Steilhängen, welche die Pferde strapazierten, so daß sie absteigen und die Tiere führen mußten. Je weiter sie vorankamen, um so höher stiegen die Berge empor, in einem Gewirr von Kuppen, Canyons und jähen Abstürzen, die oft völlig unerwartet bis zu dreihundert Meter abfielen. Am späten Nachmittag ritten sie im engen Grund eines tiefen Canyons dahin, als hoch über ihnen ein Schuß krachte. Der Apache versuchte nicht, sich zu verbergen. Er hob sich stehend als Silhouette ab, das Gewehr gegen den Himmel gerichtet. Der Schuß war nur ein Signal gewesen. Nach einem Augenblick ertönte in weiter Ferne ein zweiter Schuß. Das Signal wurde weitergegeben. Der Führer hatte sein Pferd angehalten. »Ich gehe nur so weit mit«, verkündete er. »Wo ist Cochise?« fragte Jeffords. Der Führer zuckte die Achseln. »Hier ist der Ort. Ich weiß nicht genau, wo er sich aufhält, aber« – er wies mit dem Kopf zu dem Späher hinauf – »die werden schon dafür sorgen, daß du keinen Kummer hast, um ihn zu finden.« Und damit trottete der Führer auf seinem Pferd den Canyon zurück und wandte sich im Sattel, um Jeffords mit einer ominösen Endgültigkeit »Adios« zuzurufen. 204
Tom Jeffords nahm sich angesichts seines drohenden Todes die Zeit, sich eine lange Zigarre anzuzünden; dann zuckte er die breiten Schultern und ritt weiter. Der Canyon wand sich hin und her und wurde enger, so daß gerade noch ein einzelnes Pferd zwischen den hohen Felswänden gehen konnte. Jeffords, gegen die Sonne geschützt, ritt in einer Art Dämmerung, obwohl der Himmel hoch droben licht und blau war. Plötzlich mündete der Pfad in einen breiteren abgeschlossenen Canyon mit Pinienbäumen. Irgendwo hörte er Wasser fließen. Es war eine große Rancheria. Viele Tipis standen zwischen den Bäumen verstreut. Langsam ritt er zwischen ihnen hindurch. Auf einer Lichtung vor ihm hatten sich Apachenkrieger versammelt. Frauen und Kinder kamen unter den Bäumen hervor auf die Ansammlung zu. Die Krieger trugen Gewehre, und ihre Gesichter waren bemalt. Ehe Jeffords sie erreichte, schwang er sich von seinem Pferd. Er händigte die Zügel einer überraschten Frau aus, die in der Nähe stand, schnallte seinen Pistolengürtel auf und gab ihn ihr gleichfalls. Dann ging er geradewegs auf die Krieger zu. Sie wichen beiseite, als er herankam, und machten eine Gasse frei, die zu einem großen Tipi führte. Ein großer Apache stand mit verschränkten Armen davor. Jeffords blieb stehen, schaute ihn an und sprach in der Apachensprache: »Bist du Cochise?« Der große Apache musterte ihn eine Weile ohne Antwort. Seine Augen wirkten ruhig und intelligent, aber innerlich war Cochise über das Erscheinen des weißen Mannes schockiert. Er antwortete: »Ich bin Cochise.« Später berichtete Tom Jeffords in seiner langsamen, gedehnten Sprechweise davon. »Ich hab' Cochise erklärt, wer ich bin. Ich hab' ihm gesagt, daß es mein Job wäre, die Postkutschenlinie in Betrieb zu halten, und ich wäre gerade dabei, meinen Job zu verlieren. Ich hab' ihm gesagt, ich empfände keinerlei Haß gegen die Apachen und führte auch keinen Krieg mit ihnen. Ich hab' gesagt, ich wollte ihnen weder das Land stehlen noch Unruhe stiften. Hab' ihm gesagt, 205
ich würde es zu schätzen wissen, wenn er meine Postkutschen durchs Apachenland passieren ließe, ohne sie anzugreifen.« Cochise würdigte den Mut und die Ehrlichkeit von Tom Jeffords. Die beiden begründeten eine Freundschaft, die bis zu Cochises Tod dauern sollte. Bei ihrer ersten Begegnung verabredeten sie einen Pakt, in dem Cochise sein Wort gab, daß keine Butterfield-Postkutsche belästigt werden würde. Dieses Wort wurde für immer von allen Apachen gehalten. Tom Jeffords brachte Cochise und den Apachen keine Geschenke. Er bot auch keine Belohnungen an. Für die Apachen erwuchsen daraus in keiner Hinsicht materielle Vorteile. Diese Vereinbarung führte zu vielen merkwürdigen Schauspielen: ButterfieldPostkutschen rollten unbelästigt über die California Road, manchmal in direkter Sichtweite von Apachenkriegern, die sich mit Soldaten Scharmützel lieferten oder Nachschubkonvois angriffen. Kein von einem Apachen abgeschossener Pfeil, keine Kugel sollte jemals wieder einen Fahrer oder Passagier der Butterfield-Linie verletzen. Cochise war von einem Weißen ohne Arglist oder sonstige Motive um etwas gebeten worden. Die Annalen weisen nach, daß die Apachen bei jeder Gelegenheit, bei der sie so behandelt wurden, mit Ehrlichkeit und Fairneß antworteten. Betrüblicherweise blieb die Bilanz der U.S.-Armee hinter jener der Apachen weit zurück. Der berühmte Bergläufer Joseph Reddeford Walker führte einmal eine Gruppe von Goldsuchern nach Westen. Während er mit seiner Gruppe bei den alten aufgegebenen Bauten von Fort McLane kampierte, forderte ihn ein mexikanischer Treiber auf, mit ihm durchs Apachenterritorium zu ziehen. Der Treiber hatte Angst. Wenige Meilen entfernt lagerte eine große Schar von Apachen am Mimbres River. Er hatte die mächtige Gestalt am Lagerfeuer der Schar erkannt. Das war Mangas Coloradas, der berühmte Häuptling. Walker und seine Männer schmiedeten einen Plan. Vor ihnen lag eine Strecke von fast zweihundert Meilen voller feindseliger Apachen. Falls sie Mangas Coloradas ergreifen und ihn während ihrer Reise durch sein Land als Geisel festhalten konnten, dann würde 206
sie, wie sie wußten, kein Apache angreifen. Sobald sie das Land hinter sich gelassen hätten, beabsichtigten sie, Mangas freizulassen. Sie führten ihren Plan sofort aus und schickten drei Männer mit einer Waffenstillstandsflagge in Mangas' Camp. (Zweifellos trauten weiße Männer und Armeeoffiziere der Ehre von ›verräterischen‹ Apachen.) Die drei Männer kehrten mit dem Bericht zurück, der alte Häuptling wolle ihr Angebot, sich zu treffen und Frieden zu schließen, überlegen. Er würde dann am Morgen mit ihnen reden. Die drei erzählten auch von einem ›böse dreinsehenden Krieger, der neben Mangas saß‹. Die Wangen dieses Kriegers waren mit gelben Streifen bemalt. Nachdem die drei Männer fort waren, setzte Geronimo Mangas heftig zu und sagte ihm, die Weißen seien verräterisch und man könne ihnen nicht trauen. Zwei ebenfalls anwesende Häuptlinge schlossen sich Geronimos Bitte an Mangas, nicht hinzugehen, an. Es waren Victorio und Loco, die neuen Häuptlinge der Warm-SpringsSchar seit Delgaditos Tod. Mangas aber ließ sich nicht überreden. Schon seit 1846 hatte Mangas den Frieden mit den Anglos gesucht. In jenem Jahr wandte er sich an die Militärbehörden der Vereinigten Staaten und erklärte dort, sein Volk habe Generationen gegen die Versklavung durch die Spanier gekämpft. Er bot an, sich mit den Vereinigten Staaten im Krieg gegen Mexiko zu verbünden. Die Militärbehörden lehnten jedoch ab. Texanische Viehtreiber, die viele Jahre lang Rinder nach Westen durch die Apacheria getrieben hatten, hinterließen in ihren Tagebüchern Notizen über Begegnungen mit dem riesigen Häuptling namens Mangas Coloradas. Denn während die Treiber ihre Rinder nach Westen in Richtung Kalifornien trieben, wurden sie unweigerlich von Mangas abgefangen, manchmal mit hundert Kriegern. Jedesmal hatte er ihnen höflich die Dienste der Apachen angeboten, um den Treibern Wasserstellen zu zeigen und ihnen beim Durchzug durchs Apachenland behilflich zu sein. Dies nahmen die Treiber stets an, und in ihren Tagebüchern findet man viele Lobsprüche auf die schwere Arbeit und die vielseitige Hilfsbereitschaft seitens Man207
gas und seiner Krieger. Und niemals berichteten die Treiber am Ende eines Viehtriebs, daß nur ein Rind gestohlen worden sei, denn der Häuptling und seine Reiter warteten höflich ab, bis die Treiber einige Stück Vieh als Bezahlung für die Arbeit ausgesondert hatten, wofür die Treiber dann ein liebenswürdiges »Gracias!« erhielten. Mangas näherte sich nun dem Alter von achtzig Jahren. Er war immer noch ein großer Krieger und konnte im Reiten und Schießen mit den besten seiner Männer mithalten. Er strebte einen ehrbaren Frieden mit den Anglos an; vielleicht wußte er von der hoffnungslosen Übermacht, der sein Volk gegenüberstand, eingepreßt auf zwei Fronten zwischen den Regierungen der Vereinigten Staaten und Mexikos. Früh am folgenden Morgen stieg er unbewaffnet auf sein Pferd. Er trug eine Waffenstillstandsflagge und ritt auf das aufgegebene Fort zu. Was er nicht wußte war folgendes: in der vorangegangenen Nacht war Brigadegeneral Joseph Rodman West mit zweihundert Soldaten eingetroffen. West hatte unter Carleton gedient und war ein fanatischer Befürworter der Ausrottung aller Indianer. Die Männer von Walkers Gruppe berichteten ihm, was sich zugetragen hatte. Als Mangas ins Camp einritt, befahl West, ihn zu ergreifen und zu fesseln. Der Häuptling versuchte, mit West zu sprechen, aber er wurde in einen Raum eines verlassenen Hauses geworfen und dort den ganzen Tag festgehalten. In dieser Nacht hörten Walkers Männer, wie West mit seinen Soldaten redete. Er hatte Mangas von dem Haus zu einem Campfeuer schleifen lassen. Seine letzten Befehle an seine Männer, ehe er sich zurückzog, lauteten: »Sie haben verstanden! Morgen früh möchte ich ihn tot haben.« Walkers Gruppe beobachtete aus der Dunkelheit die Soldaten um das Campfeuer; zwischen ihnen lag der alte Häuptling. Die Soldaten fingen an, ihre Bajonette zu erhitzen. Sobald ein Bajonett rot glühte, stand der Soldat vom Feuer auf, ging dorthin, wo Mangas lag, und piekte ihn mit der rotglühenden Spitze. Einige Soldaten brannten dem alten Mann die Füße, andere den Bauch, die Rippen und auch den Rücken, wenn Mangas sich auf dem Boden verrenkte und 208
umdrehte. Die ganze Nacht folterten sie den Mann, der auf dem Boden lag. Mangas schrie nicht, sondern versuchte nur, sie davon abzubringen; er sprach spanisch. (Er konnte nicht englisch sprechen.) Vor der Morgendämmerung kamen dann zwei Soldaten auf Mangas zu, hoben die Gewehre an die Schultern und schossen wiederholt in den Körper hinein. Mangas Coloradas war tot. Als West erschien, ließ er Mangas den Kopf abtrennen. Ein Armeearzt holte das Gehirn heraus, schabte das Fleisch ab und kochte den Schädel in einem Topf Wasser. Er maß die Hirnschale und stellte fest, sie sei so groß oder noch größer als die von Daniel Webster. Der Schädel wurde nach Washington geschickt und dort lange für Massen ›zivilisierter‹ Oststaatenbewohner ausgestellt, ehe er dem Smithsonian Institut überstellt wurde. In General Wests offiziellem Bericht über den Vorfall heißt es so: »Verwickelte Apachen nahe dem alten Fort McLane in ein Scharmützel und tötete einige Feinde, ehe sie flüchteten. Ergriff ihren Häuptling Mangas Coloradas, der bei einem Fluchtversuch getötet wurde. Keine Verluste.« An jenem Tag hatte General West keine Verluste, aber dies würde sich bald ändern. Er hatte den verehrtesten aller Apachenhäuptlinge ermordet; noch schlimmer, er hatte den Mann ermordet, der für Geronimo seit seiner Kindheit ein Idol gewesen war. Als Mangas am folgenden Tag von der vermeintlichen Aussprache nicht zurückkehrte, schlichen sich Geronimo und einige Krieger dicht an das alte Fort heran. Aus einem Versteck beobachteten sie, wie sich Soldaten des kopflosen Leichnams von Mangas entledigten, indem sie ihn in einen Graben warfen. Hilflos sahen sie den ganzen Tag über zu, während Krähen und Bussarde an dem aufgedunsenen Körper herumpickten und -zerrten. In der Nacht bargen sie die Überbleibsel. Die Bedonkohe- und Mimbrekrieger waren aufgebracht. Victorio schlug einen sofortigen Angriff auf die Soldaten vor. Aber Geronimo, stets kühl und abwägend, brachte ihn davon ab. Statt dessen schick209
te er Scouts aus, um während der Nacht die Bewegungen der Soldaten zu beobachten. Geronimo schmiedete Pläne. Captain Weldon tarnte seine Erbitterung hinter einer strikt militärischen Fassade. Er hatte nichts für General West übrig. Noch mehr, er haßte diesen Mann. Nicht wegen Wests Haltung gegenüber den Indianern – in diesem Punkt stimmte ihm Weldon zu; aber Wests übereifriges, kleinkariertes Auftreten erfüllte Weldon mit tiefer Abneigung gegen seinen Vorgesetzten, besonders gegen seine Angewohnheit, Befehle in Form endloser Belehrungen zu erteilen, in der Absicht, damit seine unendliche Weisheit und überlegene militärische Denkweise klarzumachen. Als das erste Grau der Morgendämmerung über Fort MacLanes alten Baulichkeiten lag, stand er still, während West vor ihm hin und her schritt und wie ein Napoleon die Hände hinter dem Rücken verschränkte. Er verbreitete sich über das, was möglicherweise eine entscheidende, bevorstehende Schlacht werden konnte. Hinter Weldon waren dreißig halbwache Soldaten aufgesessen und hielten Pferde in Zaum, die stampften und in der scharfen morgendlichen Kühle Wölkchen kondensierter Luft ausschnaubten. Weldon seufzte und hätte beinahe selbst geschnaubt. General West blieb stehen und blinzelte Weldon argwöhnisch zu. Er war ständig scharf darauf, jeden Anflug von Gereiztheit oder Ungeduld bei seinen unterstellten Offizieren zu finden, was er dann als ›Insubordination‹ bezeichnete. Der General schien, stehengeblieben, eine taktische Entscheidung getroffen zu haben, die auf tiefgründigen Überlegungen basierte, für seine unterstellten Offiziere unfaßbar. In Wirklichkeit hatte er vom Feuer her den Frühstücksduft gerochen. »Also«, sagte West, ohne Weldon anzusehen, sondern schien, wie immer, in weite Ferne zu blicken. Dann sah er aus wie vom Schicksal erleuchtet, wie ein Mann, der zukünftige Geschichte entscheidet. »Also«, wiederholte er, »der Siedlertreck, der um eine Eskorte gebeten hat, verließ gestern Dona Ana.« »Ja, Sir«, antwortete Captain Weldon, obwohl es gar keine Frage gewesen war. 210
»Hmmm. Ja. Die Leute müßten am gleichen Tag noch den Rio Grande überschritten haben. Bis Sie sie erreichen – sie kommen hierher – werden sie fünfundzwanzig Meilen bewältigt haben. Ich breche nach Westen auf. Sie sollten uns noch in dieser Woche am Apache Pass treffen.« »Totaler Blödsinn.« Aber Captain Weldon sprach es nicht aus. Er dachte es nur. Es würde wenigstens zwei Wochen in Anspruch nehmen. Statt dessen sagte er: »Ja, Sir.« »Also«, sagte West, verschränkte die Arme und sah Weldon an. Er war nicht so groß wie der Captain, aber er weigerte sich, hinaufzusehen, und so sprach er den obersten Knopf an Weldons Waffenrock an. »Denken Sie dran, Captain, ich bin für Sie verantwortlich. Sie sind für meine Männer verantwortlich. Halten Sie Ihre Soldaten von den Bergen, von jeder natürlichen Geländeformation fern, die den feigen Apachen Gelegenheit verschaffen könnte, Sie zu überraschen und niederzumachen.« »Ja, Sir.« »Apachen« – West starrte wieder in die Ferne, und sein Tonfall wurde philosophisch grübelnd – »werden eine wohlbewaffnete – äh – Streitmacht nicht angreifen, wie klein sie auch sei, falls die Soldaten nur aufmerksam sind und jedes Gelände vermeiden, das den Feiglingen Deckung bietet.« »Ja, Sir.« General West drehte sich um und ging auf das Feuer zu. Captain Weldon ließ sich indessen keine Falle stellen. Er blieb stillgestanden stehen. Auf halbem Weg zum Feuer wirbelte West herum. Die Falle war mißglückt. Er runzelte die Stirn. Majestätisch hob und winkelte er den Arm ab und salutierte wie bei einer Parade in West Point. Captain Weldon salutierte ebenfalls, um sich an Majestät nicht übertreffen zu lassen. »Abtreten«, sagte West streng und zog sich zum Frühstück zurück. Der Captain war ein verschlagener, insolenter Bursche, den bloßzustellen West unabänderlich entschlossen war. Aber während er sein Frühstück verzehrte, waren seine Gedanken schon am Apache Pass 211
und jenseits davon. Nicht so sehr am Paß, denn sein endgültiges Ziel war Tucson, wo die Bürger und die Zeitungen sein Eintreffen schätzten und ihn willkommen heißen würden, wenn er mit seinen Truppen paradierte. Captain Weldon ritt mit seinen Männern nach Südosten. Er war ein erfahrener und fähiger Offizier, und nach kurzer Zeit hatte er seinen Ärger über West runtergeschluckt und seine Gedanken dem naheliegenden Problem zugewendet – den Apachen. Als er den Mimbres River überquerte, schickte er zwei Scouts nach Norden, um das Camp der Apachen zu überprüfen, von dem der alte Häuptling aufgebrochen war, um sich ›gefangennehmen‹ zu lassen. Als er zwei Stunden später genau nach Osten einschwenkte, berichteten die Scouts, die Apachen hätten das Camp abgebrochen und ihre Fährten führten nach Norden in die Berge. Weldon knurrte befriedigt: Gut, daß die Fährten nicht südöstlich verliefen, aber bei Apachen bedeutete die Tatsache, daß die Spuren nach Norden wiesen, gar nichts. Sie konnten überall sein. Er handelte vorsichtig. Er veränderte leicht seinen Kurs und lenkte seine Soldaten weiter nach Süden, weg von den Felskuppen, mit denen die Black Mountains sich in die Prärie verliefen. Er behielt die Berge gute fünf Meilen entfernt zu seiner Linken, aber atmete doch leicht auf, als die Bergkette hinter ihm verschwand und er vor sich eine offene Prärie mit spärlichem Salbei und Kakteen auf allen Seiten hatte. Zwei Stunden nach Mittag schaute Captain Weldon durch sein Fernglas nach vorne, ein wenig vorzeitig, von dem Gefühl getrieben, den Siedlertreck bald zu entdecken. Trotz der trockenen Luft waren er und seine Soldaten schweißnaß. Eine Schicht Alkalistaub, den die Pferdehufe aufwirbelten, hatte ihre Uniformen und ihre Hüte überzogen. Während einer seiner regelmäßigen Blicke durchs Fernglas machte er sie aus – nicht den Treck, sondern ein Gruppe von Pferden, die aus dem Nordwesten herankamen und deren Kurs möglicherweise den seinen kreuzen würde. Er deutete, und der zu seiner Lin212
ken, etwas hinter ihm reitende Sergeant hob sein eigenes Fernglas. Nach einer Weile ritt der Sergeant neben ihn. »Pferdeherde«, sagte er beiläufig. »Drei mexikanische Treiber sind dabei. Sie wollen sich von uns eine kleine freie Eskorte erschleichen.« Weldon musterte die Herde von neuem. Die Pferde trotteten und kamen näher heran, vielleicht fünfzig oder noch mehr. Er konnte die Reiter mit den breiten Sombreros sehen, an jeder Flanke einer und ein dritter hinten. Sie winkten gelegentlich schlaff, um die Pferde anzutreiben. Wahrscheinlich trieben sie nach Fort Bliss, wo sie mit den Armeeaufkäufern feilschen würden. Die nächste halbe Stunde hielt sich die Herde links von Weldon und näherte sich nur langsam. Mittlerweile waren sie ein Teil der Landschaft geworden, ein akzeptierter Teil, identifiziert, im militärischen Denken eingeordnet und in das passende Fach abgelegt. Weldon überprüfte sie beiläufig jedesmal, wenn er den Horizont absuchte, um ihn frei von Apachen zu finden, und in der Hoffnung, den Treck zu sichten. Bei der letzten Überprüfung wurde er zornig. Die Mexikaner hatten ihre Herde zum Galopp angetrieben; sie wirbelte Staub auf und, noch schlimmer, hielt einen Kurs, der Weldon entweder zwingen würde, seine Soldaten langsamer reiten zu lassen oder sie zur Eile anzufeuern, um sie vor einer Kollision mit der Herde zu bewahren. Wegen der Hitze entschloß er sich, das Tempo zu verlangsamen (eine vorherzusehende und zugleich fatale Entscheidung) und lehnte sich auf dem Pferderücken leicht zurück. In diesem Augenblick schwenkte die mexikanische Herde leicht ein und direkt auf seine Truppe zu. »Gottverdammt!« Weldon wandte sich an den Sergeanten. »Diese verfluchten verrückten Mexikaner…« Der Sergeant reagierte nicht ohne Humor. »Die tragen diese breiten Hüte«, sagte er, »damit sie Schatten machen können … das Licht scheint ihnen durch die Köpfe. Die haben ihr ganzes Hirn nur im Hintern!« Als Weldon wieder vom Sergeanten zu der Pferdeherde sah, fühlte er plötzlich Angst. Die Pferde kamen nämlich in vollem Tempo 213
daher und donnerten, in einer wilden Attacke, über die Prärie! Er und die Soldaten hinter ihm wedelten mit den Hüten und brüllten, um die Pferde beiseite zu lenken. Weldon trieb seinem eigenen Pferd die Sporen ein. Die Herde traf mit ungebändigter Gewalt auf die Soldatenkolonne, riß Pferde zu Boden, warf Reiter aus den Sätteln und wirbelte Soldaten in wüstem Durcheinander herum. Und von irgendwoher innerhalb der Staubwolke ertönten scharfe Detonationen. Gewehrschüsse! Captain Weldon spürte einen schweren Schlag im Rücken. Sein Gesichtsausdruck verriet Überraschung, Unglauben. Er war angeschossen worden. Sein Hut segelte davon, er stürzte aus dem Sattel und war tot. Captain Wilton Weldon, der erste seiner Klasse in West Point, der so hervorragend Marlborough, Napoleon und Wellington studiert hatte, hatte soeben innerhalb von fünfzehn Minuten sein gesamtes Kommando durch Geronimo verloren. Die Apachen hatten das Reiten von alten Feinden gelernt, den Komantschen, jenen großartigen Reitern der Prärien, die in jedem Herbst auf dem Weg nach Mexiko durchs Land der Apachen gefegt waren. Nun kamen sie zwar nicht mehr, aber die Apachen hatten sie nicht vergessen. Vom Hals jedes Pferdes baumelte eine kurze Schlinge herunter. Eine zweite Schlinge war um Rücken und Bauch des Pferdes gelegt. Der Apache hängte sich auf eine Pferdeseite, der Länge nach, stützte sich mit einem Ellbogen in die Halsschlinge und stemmte eine Ferse in die Bauchschlinge. So schien sein Pferd, von der anderen Seite gesehen, reiterlos zu sein, aber mit einem Schnellen des agilen Körpers konnte ein Apache im Zeitraum eines Augenzwinkerns rittlings auf dem Pferd sitzen, falls er sich nicht entschloß, in der genannten hängenden Position zu bleiben und unter dem Pferdehals hindurchzuschießen. Geronimo erfand diese Reitertaktik nicht, aber er war in ihr sehr bewandert. Das unerwartete Auftauchen der mexikanischen Treiber, ihr langes Bummeln parallel zu den Soldaten, mit dem sie sich dem Denken der Soldaten als bekannte Größe, als eine dazugehörende Belanglosigkeit einprägten: dieses Manöver hatte Geronimo ersonnen! 214
Ein Korporal und zwei Soldaten entkamen, und sie ritten ihre Pferde bis Mesilla am Rio Grande zu Tode. Dort erzählten sie ihre Geschichte – von dem blitzschnellen Angriff aus dem Nichts – und mit ihrem Bericht wurde wieder einmal der ›Krieger mit den gelben Streifen quer übers Gesicht‹ der U.S.-Armee in Erinnerung gebracht. Eine starke Patrouille aus Fort Bliss fand die Leichen von Weldons Kommando über zwei Meilen längs der Fährte verstreut. Sie waren nackt und blähten sich in der Sonne auf, der Uniformen und Waffen beraubt. Jede Leiche war kopflos. An jenem Tage ritten Victorio, Loco, Juh, der Krieger Fun und insgesamt fünfzig Krieger mit Geronimo. Naiche war nicht dabei. Vor zwei Wochen hatte Geronimo den jungen Mann beauftragt, an einem bestimmten Ort zu beobachten und Informationen zu sammeln. Naiche war an jenem Tag zweihundert Meilen nordwestlich von Geronimos Angriff. Er war allein.
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C
amp Goodwin sah nicht wie ein furchterregender Außenposten aus. Ursprünglich war er als Basis für Armeepatrouillen vorgesehen, um deren Säuberungsaktionen in den Gila Mountains und den umliegenden Gegenden von Apachen zu unterstützen. Es gab keine Umfriedung des Camps. Die nackten, häßlichen Adobewände der Baulichkeiten dienten als Mauern, in der Form eines eckigen U, so daß ein geräumiger Paradeplatz in der Mitte blieb, der sich vorn gegen den Gila River zu, eine halbe Meile westlich, öffnete. Gute fünf Meilen hinter dem Camp ragten die hohen Gila Mountains auf. Westlich des Flusses, an dem Camp Goodwin lag, gab es nichts außer Wüste. Wie ein Ozean, endlos, leicht wogend, bedeckt mit 215
Salbeibüschen, Kakteen und mageren Ocotillos, die beim Sonnenuntergang jeden Tag schmale Schattensilhouetten warfen. Diese Weite schien leer zu sein, war es aber nicht. Da gab es den Wind. Durch die Kaktusdornen, die dem Wind entgegenstanden, pfiff der Wind schrill, winselnd, und darunter raschelten die Salbeiblätter in tiefem Alt, klapperten die Sandkörner wie Kastagnetten. Gelegentlich schnellte ein Kaninchen von einem kümmerlichen Versteck zu einem anderen, nicht ohne vorher das Gelände nach einer Schlange abgesucht zu haben. Manchmal allerdings handelte es sorglos und starb, wie das in der Wüste eben so zugeht. Ein einsamer Falke überflog ein weites Gebiet; Leben, und daher Nahrung, war hier karg und weit verstreut. In der Dämmerung pfiffen die Kaktuszaunkönige in der Sicherheit ihrer dornigen Nester. Aber für das unerfahrene Auge war die Prärie leer und ohne jede anmutige Unterbrechung durch symmetrische Konturen von Hügeln und Felsen; daher konnte sich kein Mensch in ihr verbergen, und sie benötigte daher wenig Überwachung. Und daher lag Naiche gerade hier und beobachtete Camp Goodwin. Er befand sich annähernd eine Meile westlich des Gila und direkt vor der Öffnung von Camp Goodwins U. Dies war notwendig, denn er mußte die Stärke der Patrouillen und die Zeiten ihres Eintreffens und Aufbruchs genau feststellen. Vor ihm lagen kleine Hölzchen. Jede Patrouille, die er beobachtete, wurde durch eines dieser Hölzchen dargestellt. Er beobachtete die Neigung der Sonne bei Ankunft oder Aufbruch jeder Patrouille und kannte daher bald ihre Routine. Er legte die Hölzchen nebeneinander, und jedes repräsentierte eine Patrouille. Für den Bericht über diese Bewegungen würde er jedes Hölzchen ansehen, und dann würde er, begabt mit einem fantastischen Gedächtnis für Details, wie es ein Volk ohne Schriftsprache entwickelt hatte, präzise die Stärke jeder Patrouille, die Zeiten des Aufbruchs und des Zurückkommens, die Wegrichtung und die Dauer der Abwesenheit vom Camp wiedergeben. Er war nahezu zwei Wochen hier gewesen. Er lag inmitten eines flachen Dickichts von Stachelfeigen, 216
wohin kein Reiter vordringen konnte, unter einem kleinen verkrüppelten Salbeibusch. An seinem Wasserbeutel hatte er nur sparsam genippt. Das Wasser war fast zu Ende. Er hatte vor zwei Tagen das letzte Stück des sonnengetrockneten Wildfleisches gegessen. Als jetzt die Sonne sank und die Kuppen der Gila Mountains rot färbte, rieb Naiche Staub über die Linsen des Fernglases – stets eine notwendige Vorsichtsmaßnahme, auch wenn er nicht in die Richtung der Sonne schaute – stützte sich auf die Ellbogen – er lag flach am Boden – und richtete das Glas auf eine bestimmte Kuppe in den Bergen. Er hatte dies jeden Abend zur gleichen Zeit getan. An der Stelle, die er beobachtete, wuchs ein alleinstehender Pinienbaum. Die Pinie war hoch und hatte erst zwanzig Fuß über dem Boden Zweige. Die Belaubung war mager, das bewies Mangel an Wasser und Nahrung an den Wurzeln. Nahe dem Wipfel des Baumes gab es eine kleine Verdichtung von Zweigen. Auf diese Stelle konzentrierte Naiche seine Aufmerksamkeit. Diesmal wurde er belohnt. In den Zweigen befand sich das große, aus Ästen gefertigte Nest eines Falken. Gestern um diese Zeit war es noch nicht dort gewesen. Kein Falke ist so dumm, sein Nest derart schnell zu bauen. Das Nest an dem Baum war jenes Zeichen, von dem Geronimo mit ihm gesprochen hatte. Eine Trompete, die Zapfenstreich blies, tönte von Camp Goodwin herüber. Naiche beobachtete, während die Töne einzeln und langgezogen über den Fluß hallten. Die Blauröcke holten ihr Tuch ein. Abergläubische Weißaugen – Naiche lächelte. Er hatte ihnen zugesehen, wie sie das Tuch jeden Morgen aufzogen und es am Abend wieder herunterholten. Sie hatten in der Nacht zu dem Tuch kein Zutrauen. Einige Männer wurden benötigt, um das Tuch einzuholen, und Naiche genoß die Beobachtung dieses Rituals – sie falteten das Tuch zusammen und marschierten, steif und förmlich, über den Paradeplatz. Jetzt begannen auch Lichter in den Baulichkeiten aufzuleuchten. Er wartete und heftete seinen Blick auf einen Kaktus, der fünfzig Fuß von ihm entfernt stand. Als der Kaktus undeutlich wurde und im verdämmernden Licht verschwamm, stand er auf, über217
prüfte die Wüste ringsum und trottete auf Camp Goodwin zu. Wenige Yards vom Fluß entfernt, legte er sich flach hin, gewöhnte seine Ohren an die neuen Geräusche und kroch dann erst zum Flußufer und in den Fluß hinein. Auf der anderen Seite schob er sich die Uferböschung hinauf und lauschte wieder, ehe er aufstand und mit mühelosen Schritten an Camp Goodwin vorbei und in die dahinterliegenden Berge trottete. Bis die Dunkelheit so tief geworden war, daß die winzigsten Sterne auftauchen konnten, eigentümliche und flimmernde Lichter am weiten gewölbten Himmel, saß Naiche auf der Bergkuppe und lehnte sich mit dem Rücken an die Pinie. Er beobachtete die Lichter, die von Camp Goodwin weit unten im Westen heraufblinzelten. Die Wüste gab nun ihre Hitze ab, und eine kühlende Brise strich über die flache Erhebung, auf der Naiche saß. Er lauschte angestrengt, aber er hörte den Schritt nicht, sondern fühlte nur die Berührung von Geronimos Hand auf seiner Schulter. Geronimo hatte fünfzehn Krieger bei sich. Nach der Vernichtung von Captain Weldons Abteilung waren Victorio, Loco und ihre Krieger nach Norden geeilt, um ihre Leute aus einer exponierten Rancheria wegzuholen. Sie wußten, daß von der Armee rasche und rachsüchtige Vergeltung folgen würde. Juh war mit einer kleinen Gruppe aufgebrochen, um Cochise zu warnen, der im Westen Raubzüge unternahm. Aber der Krieger Fun war noch bei Geronimo. Sie versammelten sich, saßen mit verschränkten Beinen in einem engen Kreis, und Naiche nahm seine Hölzchen auf und erzählte ohne Pause die Geschichte von Camp Goodwins Patrouillen. Geronimo hatte sich für besondere Einzelheiten der Ankunft und des Aufbruchs vom Camp, nachmittags und abends, interessiert. Naiche war sich sicher, den Grund dafür zu kennen. Wenn es die Umstände erlaubten, zog es Geronimo vor, seine Täuschungsmanöver für den Feind in der Dämmerung des Abends zu inszenieren. Als er mit der Bitte um Krieger zu Cochises Rancheria gekommen war, hatte er Naiche eine Lektion gegeben. In der Dämmerung hatte er ein Zeichen in den Boden geritzt und Naiche gebeten, sich 218
auf diese Stelle zu stellen. Dann deutete er auf einen Felsen, hundert Yards entfernt, und sagte: »Ich habe etwas auf den Felsen gelegt. Schau genau hin, Naiche, und sag mir, was du siehst.« Naiche zog die Augenlider zusammen und heftete seinen scharfen Blick auf den Felsen. Er beobachtete den Gegenstand sehr lange und versuchte, seine Einzelheiten zu identifizieren. »Ich sehe«, sagte Naiche unsicher, »ein Stück Seil. Es biegt sich ein wenig. Nicht viel. Es könnte eine tote Schlange sein, oder es ist vielleicht nur ein Schatten. Vielleicht hast du überhaupt nichts auf den Felsen gelegt.« Geronimo lächelte und sagte nichts dazu. Früh am folgenden Morgen, im Grau der Morgendämmerung, weckte er Naiche, führte ihn zu der gleichen Stelle und sagte: »Sag mir, was du siehst, Naiche.« Naiche schaute hin. »Ich sehe einen Ast. Er ist so lang wie mein Arm und so dick wie mein Finger. An dem Ast ist ein Knoten.« »Ja.« Geronimo lachte. »Du hast recht. Es ist der gleiche Ast, der gestern abend auf dem Felsen lag. Der Ast, der ein Stück Seil … die Schlange … der Schatten war.« Naiche schaute Geronimo zweifelnd an. »Bist du sicher?« »Ja. Ich bin mir sicher. Ich habe ihn dort hingelegt. Du hast heute morgen die gleiche Menge an Licht wie gestern in der Abenddämmerung. Aber es ist nicht die gleiche Art von Licht. Licht ist Leben. Wenn es am Morgen geboren wird, ist es so, wie Jugend in die Schattenwelt kommt, um mit den physischen Schatten umzugehen. Das Licht muß die physischen Dinge deutlich sehen. Wenn das Licht aber alt ist, ist es wie ein alter Mensch, der sich bereit macht, in die Schattenwelt abzutreten. Dann sind die physischen Dinge nicht mehr wichtig. Und daher verschwimmt das Licht, der Blick, und ist nicht deutlich. Es bedeutet für die Alten jetzt nichts mehr. Wenn die Alten ihr geistiges Denken gekräftigt haben, richten sie ihren Blick nach innen, und die geistigen Dinge werden scharf und deutlich, denn das ist ja die Welt, in die sie gehen. Wenn sie aber ihr 219
geistiges Denken nicht gestärkt haben« – Geronimo zuckte die Achseln – »dann sind sie auch dort verloren…« Und während Naiche nun seine Informationen über die Patrouillen berichtete, rechnete er damit, daß ihn Geronimo ausführlicher wegen des Nachmittags und Abends befragen würde. Camp Goodwin unterhielt zwei bedeutendere Patrouillen für alle drei Tage wechselnde Streifzüge durch ihr Land. Die eine, die nach Norden ritt, hielt sich zwanzig Meilen weit links von den Gila-Bergen, schwenkte dann in einem Halbkreis nach Westen gegen die neue Unteragentur von San Carlos ein und kehrte längs des Gila zur Heimatbasis in Camp Goodwin zurück. Die andere Patrouille wandte sich nach Süden und hielt sich rechts von den Gila Mountains. Dort, wo sich der Gila und Blue River zum San Simon River vereinigen, überquerte sie den Fluß und folgte dem San Simon nach Süden; dann wandte sie sich in einem Halbkreis nach Westen und gegen Fort Grant und kehrte nordwärts über die Prärie nach Camp Goodwin zurück. Es waren große Patrouillen mit je fünfzig Soldaten. Und während die eine ihren dreitägigen Streifzug unternahm, befand sich die andere zum Schutze des Camps im Quartier. Naiche wußte durch die Richtung, in die jede Patrouille ritt, und durch jene, aus der sie zurückkehrte, fast genau, wo jede gewesen war. Wie alle Apachen dieses Gebietes, kannte er die Landschaft und nach dem gemessenen Tempo der Pferde rechnete er leicht die Entfernung aus. Während Naiche berichtete, legte Geronimo eine Landkarte in den Staub. Die Landkarte zeigte Camp Goodwin und das Gebiet im Norden. Die Nordpatrouille war in Camp Goodwin am nächsten Abend zur Rückkehr fällig. Captain Bartlett befehligte diese Nordpatrouille. Es war eine monotone Pflicht, durch ein leeres Land aus Staub, Wind, Hitze und Insekten zu reiten. Die letzten Apachen, die er und seine Patrouille vor einem Monat gesehen hatten, waren eine buntzusammengewürfelte Bande von Bettlern gewesen, die an den Berghängen im Boden herumgewühlt hatten. Er hatte sie mit seiner Patrouille gejagt, aber die Leute, meist Frauen und Kinder, rannten in die tie220
fen Canyons davon. Nach einer oberflächlichen Suche war er umgekehrt. Heute, am dritten Tag seiner Streife, ritt er zurück nach Camp Goodwin; tatsächlich konnte er im Südosten schon eine schwache Rauchsäule erkennen, wo das Camp sein würde. Die Soldaten, die hinter ihm ritten, waren staub- und schweißbedeckt. Das letzte Stück der Sonnenscheibe glitt dem Horizont zu. Sofortige Abkühlung und Verdichtung der Luft brachte der Nachtwind. Leutnant Fairly ritt neben Captain Bartlett, im Sattel zusammengesunken, mit einem dreitägigen Stoppelbart unter dem gezwirbelten Longhorn-Schnurrbart, den er zur Schau trug. Bartlett hatte bei einer Gelegenheit in leicht abschätzigem Ton mit dem Leutnant über den Schnurrbart gesprochen. Er war würdelos und verkörperte einen Stil, der nur allzugut mit Bergleuten, Cowboys und Saloongesindel gleichgesetzt wurde. Bartlett selbst trug eine fast exakte Kopie von Custers modifiziertem Van-Dyke-Schnurrbart – flott, dachte Bartlett, aber von der Würde der Befehlsgewalt geprägt. Leutnant Fairly hatte seine andeutenden Bemerkungen ignoriert, entweder aus Unverschämtheit oder aus Dummheit; wahrscheinlich Dummheit, überlegte Bartlett. Bartlett befand sich schon fünf Jahre im Apachenland. Zwölf Jahre war er schon Captain, und unter dem Kavalleriehut war sein Haar weiß. Er hoffte auf die Beförderung zum Major vor seiner Pensionierung, und aus diesem Grund hatte er um Dienst in der Apacheria nachgesucht. Das laute Geschrei in den Zeitungen und die politischen Interessen am Krieg überzeugten ihn, daß man dort dienen mußte, um befördert zu werden. Wie die meisten Offiziere war auch Captain Bartlett ein fanatischer Apachentöter. Eine Tötung konnte als ›Scharmützel‹ bezeichnet werden, und wenn sich der Apache widersetzte oder gar zurückschoß, konnte man von einer ›Schlacht‹ berichten. Die Glieder der Befehlshaberkette, bis hinauf zur Spitze, überboten sich gegenseitig, um im insgeheimen Einverständnis mit allen Offizieren Berichte zu verherrlichen. Wie es auch bei der Ehre unter Dieben ist – alle profitieren von der Beute: Beförderungen, höhere Mittel vom Kongreß, mehr Dienstverpflichtungen und da221
her auch mehr Macht, erfolgreiches Lobbystehen, um Bezahlungen, Zueignungen und Pensionen zu steigern, Ruhm in den Augen der Öffentlichkeit – in der Ausdrucksweise der Armee: ›um die Stellung des Soldaten zu kräftigen‹. Das war ein Spiel, bei dem jeder mitmachte. Jeder profitierte. Die Zeitungen hatten so etwas gern. Aber Captain Bartlett, mutlos geworden durch die monotone Routine und irgendwie auch enttäuscht durch den Mangel an Gelegenheiten, Apachen zu töten, hatte trotzdem alle Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er war erpicht darauf, einen Indianer zu sichten … irgendeinen Indianer, vorzugsweise eine Gruppe von Indianern. Folgerichtig waren es er und Leutnant Fairly, die die Schüsse hörten. Leutnant Fairly teilte Bartletts Ehrgeiz und hob im gleichen Augenblick wie Bartlett die Hand. Als sie ihre Pferde anhielten, wurden sie beinahe von den erschöpften, lustlosen Pferden der Soldaten hinter ihnen überrannt, die ohne Hoffnung und ohne Ehrgeiz dienten. »Gottverdammt!« schrie Bartlett den Sergeanten an, dessen Pferd gegen sein eigenes gestoßen war. »Halt!« »Halt!« wurde durch die Kolonne zurückgerufen. »Ich hörte Schüsse!« schrie Leutnant Fairly, damit alle es hören sollten. Er war stets wachsam. Es gab eine schwache Möglichkeit, daß es Indianer waren, und in diesem Falle hatte der ›Bericht‹ bereits begonnen. Sein Name mußte gebührend erwähnt werden. »Fairly, Oberleutnant, berichtete wachsam, daß er Schüsse hörte.« Captain Bartlett aber ließ sich nicht ausmanövrieren. »Ich hörte die gottverdammten Schüsse, und deshalb habe ich Halt befohlen.« »Ich gab auch ein Zeichen, Sir, ich glaube, gleichzeitig.« Fairly war schlau und bereit, das ›Halt‹ mit Bartlett zu teilen. Damit wurde Bartletts Anspruch auf das ›Halt‹ zur Hälfte gestohlen, während Fairly der einzige ›Eigentümer‹ der laut gerufenen Warnung vor Schüssen blieb. Daher war er auch nicht im geringsten durch Bartletts unmilitärisches »Maul halten!« außer Fassung geraten, sondern lehnte sich eher behaglich im Sattel zurück. Der Sergeant, ein großgewachsener Trunkenbold mit rotem Gesicht, blickte über den Him222
mel hin. Er hatte nichts gehört und war darüber hinaus völlig davon überzeugt, daß es keine Schüsse gegeben habe. Er war an fantastische ›Zeichen‹ gewöhnt, die Offiziere gesehen und gehört haben wollten, und daher konzentrierte er seine Gedanken fest auf die Flasche, die er in der Unterkunft versteckt hatte. Das alles war eine Frage verstandesmäßiger Disziplin. Die Sonne spendete am Horizont immer noch schwachen Lichtschein. Doch war schon ein dünner Schatten über die Landschaft gezogen, der sich verdichten würde – der Beginn der Dämmerung. Die rasch sinkende Temperatur förderte einen stetig zunehmenden Wind. Der Wind blies vom Westen, über die öde Prärie hinweg. Diesmal hörte die ganze Patrouille die Schüsse. Sie fielen in Abständen, abgemessen – einer – zwei – drei – das universale Notsignal der Wildnis. Die in weiter Ferne abgegebenen Schüsse tönten im Wind nicht lauter als schwaches Krachen. Bartlett hob das Fernglas. Drei, vielleicht vier Meilen entfernt, wo die Prärie dem ersterbenden Schein der Sonne entgegenwogte, sah er den Soldaten, der auf einem nervösen, sich aufbäumenden Pferd saß. Er hatte ebenfalls sein Fernglas angesetzt, und als Bartlett weiter hinsah, winkte er hektisch. »Soldat in Not!« brüllte Bartlett, diesmal als erster, während Fairly noch die Landschaft absuchte, und mit einiger Befriedigung erkannte er den Fairlys Gesicht plötzlich zeichnenden schmollenden Ausdruck. Jetzt aber handelte Captain Bartlett. Er riß, mit einiger Schwierigkeit, den Säbel aus der Scheide, hieb in die Luft, wobei er nur knapp den Kopf des sich duckenden Sergeanten verfehlte, und brüllte: »Folgt mir! Galopp!« Mit flatternden Rockschößen trieb er sein Pferd durch Salbei und Kakteen auf die Gestalt am Horizont zu. Unmittelbar danach riß Leutnant Fairly den eigenen Säbel heraus, versenkte mit einem verzweifelten Stoß die Sporen in die Flanken seines Pferdes und ritt wie der Blitz schon neben Bartlett vor. Er spornte das Tier schärfer an und passierte den Captain; Bartlett fluchte und bearbeitete sein eigenes Pferd, um mehr Leistung herauszu223
holen. Die Krempen ihrer Hüte bogen sich im Wind, als sie im harten Galopp auf die einsame, einige Meilen entfernte Gestalt zujagten. Der Sergeant und die Soldaten galoppierten ihnen nach. Der Sergeant verstand etwas von Pferden. Nach einer Meile waren Bartletts und Fairlys Pferde erledigt, keuchten und schnaubten; sie fingen zu stolpern an, und zuerst Fairly und dann Bartlett etwas triumphierend, denn er zügelte sein Pferd erst dann, als sein Kopf an dem von Fairlys Pferd vorbei war – mäßigten das Tempo ihrer Pferde zu einem knochenschüttelnden Trab. Der Sergeant und die Soldaten holten auf. Am Ende einer Meile des Trabens trieb Bartlett sein Pferd erneut zum Galopp an, Fairly immer noch neben sich. Die Dämmerung war dichter geworden, so daß Salbeibüsche unerwartet auftauchten und die Pferde zwangen, einen Haken zu schlagen, um Boden unter den Hufen zu behalten. Zweimal wurde Bartlett fast aus dem Sattel gehoben, aber er weigerte sich, seinen Säbel in die Scheide zu schieben, um sich besser im Sattel zu halten. Fairly wollte seinen Säbel auch nicht zurückschieben. Kakteen, die höher ragten und sich abhoben, konnte man leichter ausweichen. Der in Not geratene Soldat war über eine Bodenwelle der Prärie hinweg verschwunden. Captain Bartlett war der erste, der sie erblickte, nahe der Stelle, wo der berittene Soldat gehalten hatte. Eine Reihe von Soldaten zu Fuß! Und diese Soldaten schienen vor Bartlett und seinen Männern gegen die Prärieerhebung davonzurennen. Dicht an Bartletts Ohr brüllte Leutnant Fairly: »Infanterielinie direkt voraus!« Ehe Fairly den Warnschrei ganz hervorgestoßen hatte, hatte ihn Captain Bartlett schon wiederholt. Sein Gebrüll war bedeutend lauter und setzte sich besser im Wind durch als die etwas brüchige Stimme des Leutnants. Er fühlte Befriedigung, weil er jeden Anspruch Fairlys zerschmettert hatte, als erster gebrüllt zu haben. Außerdem ließ er den Befehl folgen: »Rechts und links ausschwärmen! Hoooo!« Die Kolonne, die immer noch galoppierte, teilte sich, und zu beiden Seiten Bartletts schwärmte eine Reihe Soldaten aus. Aber jetzt fiel dem Captain ein rätselhafter Umstand auf; in dem verschwimmenden Licht schienen die Infanteristen zwar vor ihm zu rennen, 224
aber sie bewegten sich nicht! Seine eigenen berittenen Soldaten näherten sich ihnen nun schnell. Beunruhigt, blieb ihm nur mehr wenig Zeit, um zu brüllen: »Reitet durch die Infanterie!«, ehe er und seine Reiter durch die Linie der Fußsoldaten preschten. Noch fünfzig Meter ließ Bartlett seine Reiter galoppieren. Vor ihm war nichts; verschwommene Umrisse von Salbeibüschen, verstreute Steinhaufen, Kakteen. Er riß das Pferd herum und bellte: »Halt!« Er drehte sich um, wandte den Rücken dem Wind zu, der stark und stetig blies, und konnte immer noch die Reihe der Fußsoldaten sehen. Sie schienen, als er hinblickte, auf ihn zuzurennen, aber sie kamen nicht von der Stelle! Er konnte sie sehen, die Gestalten waren tatsächlich in Bewegung, auf ihn zu, aber sie bewegten sich nur und schienen doch nicht näher zu kommen. Bartlett schaute nach links und rechts an der Reihe seiner Soldaten entlang. Sie saßen so im Sattel wie er und starrten auf die Infanteristen. Neben ihm sagte der Sergeant: »Was zum Teufel!« Es war sein gewohnter Beitrag absoluter Nichtigkeit. Captain Bartlett ließ sein Pferd langsam auf die Gestalten zugehen, und die Reiter zu beiden Seiten hielten widerstrebend Schritt mit ihm. Bei der Annäherung spürte Bartlett wirklich, daß sich das Haar auf seinem Kopf sträubte, und eine Gänsehaut überzog seinen Körper. In seinem Rücken wurde der Wind stärker, und die Infanterie vor ihm schien noch schneller zu rennen, aber sie näherte sich ihm nicht. Abgesehen von dem leisen Stöhnen des Windes und dem sanften Tappen der Pferdehufe herrschte Schweigen. Jetzt aber, als Bartlett und seine Männer näher kamen, konnten sie einen anderen Ton hören, leise und fern, von der Reihe der Infanteristen – es war ein leichtes Tappen wie das vieler Füße, die rannten. Bartlett blickte düster zu ihnen hin. Rannten diese stupiden Bastarde etwa auf der Stelle? Eine absurde, verrückte Ahnung kam ihm in den Sinn. Exerzieren sie vielleicht gar hier in der Finsternis auf der Prärie, bei Gott? Er schrie: »Infanteristen! Wer führt den Befehl?« Er erhielt keine Antwort, aber das Tappen wurde lauter. Die Pferde kamen nun näher heran, begannen zu schnauben und scheuten vor 225
dem Geräusch und dem Anblick der Gestalten in dem verzerrenden Abendlicht. Das Tappen war jetzt noch lauter. Bartletts Gedanken arbeiteten schon halb hysterisch. Was tun diese Hurensöhne eigentlich – tanzen sie? Vielleicht waren sie alle wirklich irr geworden … durch die Hitze … in diesem Fall konnten sie sogar gefährlich sein. Noch näher heran, identifizierte Bartlett das tappende Geräusch – es stammte nicht von rennenden Füßen, sondern von Waffenröcken, die im Wind flatterten. Diese törichten Hurensöhne hatten die Waffenröcke aufgeknüpft; Bartlett konnte jetzt die Rockschösse im Wind flattern und wippen sehen. Leutnant Fairly war der Mann, der des Rätsels Lösung erriet. Halb erstaunt, halb triumphierend brüllte er: »Aber – das sind ja Kakteen und Büsche – mit Waffenröcken und Hüten darüber!« Er verkündete es noch einmal und rief die Entdeckung die Reihe entlang. Bartlett war zu erleichtert, um Fairlys Priorität bei dieser Entdeckung zu mißbilligen. Er war nahe daran gewesen, entweder durch die Reihe der Infanteristen hindurchzusprengen oder vor ihr zu flüchten. Die Reiter rückten jetzt dicht heran. In einer langen Reihe standen ihnen Kakteengestalten gegenüber; die auf Kaktusstämme gestülpten Hüte flappten und wippten im Wind. Waffenröcke waren sorgsam über Kakteen gezogen, die Ärmel bedeckten Kakteenzweige. Der Wind, der gegen die Hüte und Waffenröcke wehte, hatte den Gestalten das Aussehen laufender Figuren verliehen. Trotzdem war es ein unheimlicher, geisterhafter Anblick, unerklärbar – so stark, daß Bartletts Soldaten darin keinerlei Spur von Humor erkennen konnten und schweigend auf ihren Pferden saßen, während sie die Reihe der flatternden Waffenröcke und wackelnden Hüte ansahen. Der übernatürliche Akzent wurde noch verstärkt durch das tiefe Stöhnen des Windes in den Büschen; der Wind wehte kleine Sandwirbel umher, die über die Salbeibüsche wie trockene Knochen klapperten. Die ohrenbetäubende Detonation von Gewehrfeuer ließ Bartlett fast in die Luft springen. Das Feuer kam von hinten. Ein Soldat stürzte steif von seinem Pferd, und ein Pferd bäumte sich hoch auf und 226
schleuderte einen schlaffen Reiter aus dem Sattel. Bartlett spürte ein heißes Brennen an seinem linken Arm entlangschürfen. Er war verwundet! Eine kurze Pause trat ein, dann folgte wieder das geballte Gewehrfeuer. Die Schüsse fielen hinter ihnen – zwischen den Felsen in der Ferne. Bartlett riß sich wieder zusammen. Das war ein Gefecht! Er trieb sein Pferd direkt durch die uniformierten Kakteen, weg von dem Gewehrfeuer, fünfzig Meter weit, ehe er das Pferd zum Halten brachte. Er bellte den Soldaten zu: »Sergeant, lassen Sie absitzen … liegende Schußposition! Schicken Sie fünf Männer nach hinten, um die Pferde zu halten!« Der Sergeant, der sich niedergeworfen hatte und kaum den Kopf hob, schrie den Befehl weiter. Blitzschnell folgten die Soldaten dem Beispiel des Sergeanten, legten sich auf den Bauch und schoben die Gewehre vor. Nur Bartlett blieb stehen und Fairly schwankte neben ihm. Bartlett hatte bei dem ersten erschreckten Hüpfer im Sattel seinen Hut verloren. Sein Haar wehte im Wind. Jetzt hob er den Säbel und deutete in die Richtung, aus der das Gewehrfeuer gekommen war. »Männer!« schrie er gegen den Wind. »Ich habe vor, diese Linie gegen jeden Angriff zu halten! Es gibt keinen Rückzug! Um keinen verdammten Zoll!« Jetzt fühlte er sich besser. Er war kein Feigling, und mit den Füßen stand er auf festem Boden. Er hatte soeben eine tapfere, ja sogar heroische Erklärung abgegeben. Das sollte Fairly erst einmal im Bericht leugnen! Natürlich hatten die Apachen nicht die Absicht anzugreifen. Sie verhielten sich stumm und unternahmen nichts. Bartlett fühlte sich verwirrt. Er hatte seine Männer gefechtsbereit; warum griffen die mörderischen Schurken nicht an? Fairly trat dicht neben ihn. »Sir, ich stelle fest, daß Sie verwundet sind … äh … vielleicht handlungsunfähig. Ich stehe zu Ihren Diensten, um das Kommando zu übernehmen.« Seine Stimme klang besorgt und mitfühlend. Für einen Sekundenbruchteil empfand Bartlett eine Anwandlung unnatürlicher Freundlichkeit gegenüber Fairly – ein treuer Ge227
folgsmann, der bereit war, in die Bresche zu treten, um seinem Herrn zu dienen. Aber Bartlett war aus massiverem Holz geschnitzt, wozu als Krönung noch ein stahlharter Wille kam. Sicher, er war verwundet, vielleicht sogar schwer. Er stand einer Armee von Wilden gegenüber, aber er kam wieder zu klarem Verstand und erkannte das hinterlistige Motiv hinter Fairlys scheinbarer Treue. Er funkelte den Leutnant an. Obwohl sein Gesicht keine zehn Zentimeter von dem des untergebenen Offiziers entfernt war, drückte er sich laut und heftig aus: »Leutnant, solange ich fähig bin, zu stehen, werde ich kämpfen! Solange ich atmen und den Säbel halten kann, führe ich den Befehl!« Bartlett war angenehm schockiert über seine eigene Ausdrucksweise. Es war ihm einfach so herausgefahren … er war sicher, es nirgends gelesen zu haben. Wenn ein Befehlshaber an der Schwelle zum Tod steht, spricht vielleicht eine Seele aus ihm! Er atmete schwer und beugte sich zu dem Leutnant hin. Sein linker Arm hing schlaff herab; er setzte die Säbelspitze auf dem Boden auf und sackte merklich zusammen, wobei er den Säbel als Stütze gebrauchte. Der Leutnant fühlte sich genötigt, vorzutreten und ihn zu halten. Blut durchtränkte den Ärmel um Bartletts Oberarm. An der Stelle, wo die Kugel den Ärmel aufgerissen hatte, fetzte Fairly den Stoff herunter. Dann traf er eine hämische Feststellung. »Sir! Die Haut ist nur geritzt! Es ist nur eine schmale Furche über dem Arm!« Bartlett schüttelte ihn erbittert ab. »Weg mit ihnen!« Er mußte etwas unternehmen, und zwar schnell. Er stellte sich vor die Reihe der liegenden Soldaten und brüllte mit erschreckender Plötzlichkeit: »Feuer!« Völlig überrumpelt, brauchten die Soldaten eine volle Minute, um mit dem Feuern zu beginnen; die ganze Reihe entlang krachten und pufften die Gewehre. Jetzt aber antworteten ihnen, aus den zweihundert Meter entfernten Felsen, die Gewehre der Apachen. Captain Bartlett fühlte einen Anhauch von Stolz. Dies hier, bei Gott, war nicht bloß ein Scharmützel, dies war eine Schlacht! Kein Befehlshaber, der in ein Gefecht dieser Größenordnung verwickelt wurde, konnte ignoriert werden. Seine Absicht war es jetzt, den Zu228
sammenstoß auszuweiten, seine Heftigkeit zu verstärken und damit auch seine Bedeutung. Er schaute um sich und stellte fest, daß die nicht in West Point geschulten Indianer – wie voraussehbar – ihr Manöver mit einem fatalen Fehler durchgeführt hatten – sie hatten ihn nicht eingeschlossen! Sein Rücken war offen. Er holte Leutnant Fairly zu sich und befahl ihm brüsk, einen Reiter nach Camp Goodwin zu schicken. Ein schnelles Pferd konnte die Strecke in dreißig Minuten schaffen, und der Bote konnte innerhalb einer Stunde mit allen im Camp weilenden Soldaten zurückkehren. Törichterweise hatten ihn die Apachen in der Nähe des Camps und der Verstärkungen angegriffen! Der Bote galoppierte davon, und die Apachen unternahmen keinen Versuch, ihn aufzuhalten, ein weiteres Zeichen ihrer unterentwickelten Intelligenz. Statt dessen fuhren sie mit einem sporadischen, zusammenhanglosen Feuern fort, durch das Bartletts Männer auf ihrer Präriebodenwelle festgenagelt waren. Binnen einer Stunde war die volle Streitmacht aus Camp Goodwin im Gefecht. Mit steigender Befriedigung und Begeisterung bemerkte Captain Bartlett, daß der Feind begann, immer weiter gegen Westen zurückzuweichen. Er drückte nach, erzielte Geländegewinn und hielt das Erreichte. Captain Jeremiah H. Bartlett ging dem Sieg entgegen! In Camp Goodwin war es jetzt still. Laternen, die noch im Speisesaal brannten, warfen Vierecke aus gelbem Licht über den Paradeplatz. Die Soldaten waren bei dem Befehl hastig aufgesessen und hinter Captain Simpson aus dem Camp geprescht, dem keine zehn Meilen im Westen tobenden Gefecht zu. Zurückgelassen hatte man einen Korporal und eine Rotte von sechs Mann. Sie standen auf einem Dach, an einem Längsbalken des U, und blickten über die Prärie hin, von wo sie ein gelegentlich schwaches Aufblitzen des Gewehrfeuers belohnte. Hinter ihnen, auf der Rückseite des Camps, glitten vier Gestalten schweigend von einem Dach auf den Boden hinab. Sie trugen Soldatenwaffenröcke und Kavalleristenhüte. Ihre Beine waren nackt. Sie hatten nur Lendenschurzhosen an. Geronimo, Naiche, 229
Fun und Kaywahla huschten wie Schatten durch die Baulichkeiten. Sie fanden das Gesuchte. Es war ein klobiges, kleines, fensterloses Adobehaus. Sie drangen ein, und Geronimo knurrte vor Freude. Gewehre standen schimmernd und reihenweise in wohlgeordneten Ständern. Darunter standen aneinandergerückt Kisten mit Gewehrmunition. Während Fun und Kaywahla damit begannen, die Gewehre aus den Regalen zu nehmen, liefen Geronimo und Naiche über den Paradeplatz zur Remuda. Geronimo pfiff leise durch die Zähne, um die Tiere zu beruhigen, und sie wählten vier kräftige Kavalleriepferde aus und zäumten sie. Aber sie legten ihnen keine Sättel auf. Im benachbarten Maultierkorral banden sie Halteriemen um die Köpfe von acht starken Armeemaultieren, holten Packausrüstungen von den Korralbalken herunter und sattelten die Maultiere. Dann führten sie kühn die Pferde und Maultiere über den offenen Platz zum Munitionshaus hinüber. Fun und Kaywahla schoben die Gewehre in Säcke. Fun strahlte glücklich. »Hier sind genug Gewehre und Kugeln, um alle zu töten!« »Ja«, bemerkte Geronimo trocken, »und wir werden sie gebrauchen, während du herumstehst und dich glücklich fühlst.« Fun lachte. »Ich bin jetzt in der Armee. Wenn so ein Blaurock daherkommt, greife ich an meinen Hut, mache das Zauberzeichen, und er wird an seinen Hut fassen, und dann sind wir Freunde.« Eine halbe Stunde lang luden sie Gewehre in Säcke, trugen sie durch die Tür und schnallten sie auf die Rücken der Packmaultiere. Danach wurden die Munitionskisten, unhandlich und schwer, auf die Packsättel gebunden. Sie konnten aber nicht alle Gewehre mitnehmen. Geronimo befahl Einhalt, als das letzte Maultier beladen war. Sie stiegen auf und ritten, die Maultiere führend, über den Paradeplatz und durch die Öffnung des U. Der Korporal, der sie vorbeireiten sah, rannte zum anderen Ende des Hausdaches. »Hey!« brüllte er. »Wohin wollt ihr Burschen denn?« Die Reiter, die die Maultiere führten, blickten nicht auf, als sie unter ihm vorbeiritten und sich entfernten, ausgenommen ein schlanker, lässig reitender Gemeiner. Der Gemeine schaute nach oben und 230
ließ in einem breiten Lächeln seine weißen Zähne blitzen. Er hob die Hand zu seinem Hut und winkelte sie gekonnt zum Paradesalut für den Korporal ab. Während der Korporal sich das ansah, salutierte der Soldat wieder – und wieder … und noch einmal, bis er in der Finsternis verschwand. »Witzbold!« brüllte der Korporal. Fun war enttäuscht; der Blaurock wollte einfach das Zauberzeichen nicht erwidern.
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eneralmajor George Crook war in die Apacheria zurückgekehrt. Er war schon früher hier gewesen und hatte enttäuschende vier Jahre Apachenkrieg hinter sich. Crook besaß weder die politischen Ambitionen von Custer und Sherman, noch Sheridans übertriebene Ruhmsucht. Er war ein aufrichtiger Mann, der es gewöhnlich ›so sagte, wie es halt einmal war‹. An dem Tag, an dem Lee bei Appomattox kapitulierte, überfiel ein konföderierter Kavalleriegeneral namens Thomas Lafayette Rosser die Mitte von Crooks Verband. Crook berichtete kurz und bündig über sein eigenes Unheil: »…sah mich zum Rückzug vor überwältigenden Feindkräften gezwungen.« Keine Entschuldigungen. Custer, den man heranholte, um Rosser entgegenzutreten, und der in die Flucht gejagt wurde, verfaßte einen umfangreichen Bericht, in dem er sich selbst reinwusch. Militärberichte, die nach dem Krieg auftauchten, ›vergaßen‹ Crooks Ehrlichkeit und Offenheit zu erwähnen. Demgegenüber war Sheridan seiner Sache schlecht gewachsen. Als er von Hampton bei Trevillian's gründlich geschlagen und in die Flucht getrieben worden war, floh er über zwei Flüsse und berichtete dann Grant: »Fand Hampton mit der ganzen Rebellenkavallerie bei Trevillian's und schlug 231
ihn; aber Breckenridges Infanteriedivision kam zu seinem Ersatz, und da ich fast keine Munition mehr hatte, schien es mir am besten, zurückzukehren.« Rosser hatte eine faire Einschätzung von Crook, aber von Sheridan sagte er: »…ein beschränkter Mann. Sein Verstand arbeitet zu langsam für die schnellen Manöver der Kavallerie. Der ganze Dampf von den Yankee-Siegen, nachdem der Süden dem Aushungern und dem Mangel an Waffen nachgegeben hatte, ist wie das Geschrei des sprichwörtlichen Esels über dem hingestreckten Körper des kranken und sterbenden Löwen.« Rosser mußte es eigentlich wissen. Er überwand Sheridan, und das vergaß ›Little Phil‹ niemals. Als sich dann der ›Dampf‹ im Licht der Berichte verflüchtigte, die nach dem Krieg freigegeben wurden, wandte Sheridan seine Energie den Indianern zu; Indianer schrieben keine Kriegsberichte. Crook war ebenso vorsichtig wie jeder Berufssoldat seiner Zunft, aber er war kein Lügner und besaß nur eine irritierende Gewohnheit, soweit es um Sheridan ging. Falls er bei einem Gegner eine bewundernswerte Eigenschaft entdeckte, dann sprach er sich darüber aus. Von einer konföderierten Operation 1865 sagte er: »Ich halte sie für die großartigste Heldentat des Krieges.« Er besaß InsideKenntnisse: er war das Opfer. In einer kalten Nacht am 21. Februar 1865 schlief General Crook in einem Hotel von Cumberland in Maryland, umgeben von zehntausend Unionssoldaten unter seinem Befehl. Um Mitternacht weckte ihn ein Mann mit einem höflichen Südstaatenakzent und informierte ihn, er sei verhaftet. Dreißig konföderierte Rangers waren durch seine Armee hindurchgeschlüpft, um ihn und General Benjamin Kelly zu fangen, der sein Hauptquartier im gleichen Hotel hatte. In benachbarten Zimmern schliefen auch General Rutherford B. Hayes und Major William McKinley, aber die Rangers hielten sie für zu unwichtig, um sie mitzunehmen. Als die Konföderierten ihre Gefangenen nach Süden durch die Yankee-Linien brachten, bemerkte Crook: »Ich könnte das Ganze eigentlich auch genießen.« Er und seine Häscher legten umjubelt den ganzen Weg nach 232
Richmond zurück, wobei Crook in die Scherze über seine Lage mit einstimmte. General Kelly aber hatte in dieser Situation keinen Humor. Sofort nach dem Krieg zeigte Crook, daß er weiterhin nicht nachtragend war. Als er eine Miß Mary Dailey heiratete, war ihr Bruder James Dailey Trauzeuge. James Dailey aber war einer der konföderierten Rangers, die ihn seinerzeit gekidnappt hatten. Sechs Jahre lang vor seiner Rückkehr nach Arizona und zu den Apachen hatte General Crook ein Kommando im Department Platte. Genau eine Woche, ehe Custers politische Träume zusammen mit ihm selbst am Little Big Horn starben, hatte sich Crook mit Crazy Horse am Rosebud River geschlagen. Er hatte sich zurückgezogen, nachdem ihm der Kriegshäuptling der Sioux schwere Verluste zugefügt hatte. In seinem Bericht über die Schlacht gab er Crazy Horse, was ihm gebührte. Nach dem Custer-Debakel forderten die Nation und die Armee der Vereinigten Staaten Rache. Als Crooks Kavallerie über das Camp der friedfertigen Reservationsindianer von American Horse hinwegfegte, fühlte er sich ›übel‹ beim Anblick der hingeschlachteten Frauen und Kinder. Die Kavallerie war bei der Wahl ihrer Ziele nicht zimperlich vorgegangen. Als die letzten Cheyenne unter Führung von Dull Knife und Little Wolf ihre unglückliche Flucht in eine Heimat begannen, die sie niemals wiedersehen würden, war George Crook der General, der den Befehl erhielt, sie zu verfolgen und einzufangen. Blutspuren von den Cheyenne machten die Verfolgung leicht, und die Meilen wurden nach den erfrorenen Leichen der alten und jungen Indianer gemessen, die wie hölzerne Markzeichen im Schnee lagen. Diese Erfahrung übte eine tiefe Wirkung auf Crook aus. Danach bemühte er sich, den heimatlosen Poncaindianern zu helfen, und gewährte Häuptling Standing Bear bei seiner gerichtlichen Petition, als legale ›Person‹ bezeichnet zu werden, offene Unterstützung. Dafür handelte sich Crook zusätzlich das Mißfallen von Sherman und Sheridan ein. 233
Nach Whipple Barracks in Arizona zurückgekehrt, besaß er eine tiefere Einsicht unter seinem rauhbeinigen militärischen Äußeren. Die Apachen fanden ihn zäh, einen beharrlichen und mitleidlosen Kämpfer (sie nannten ihn Nantan Lupan, Häuptling Grauer Wolf), aber sie erfuhren auch, daß sie seinem Wort trauen konnten. Sein Gefühl für Fairneß trieb ihn dazu, den Unternehmerring von Tucson anzuzeigen. Das steigerte keinesfalls seine Beliebtheit bei den Politikern und ihrem Freund Sheridan. General Crook, der Washingtons ominöse Rauchsignale mißachtete, die ihm durch eine immer feindlichere Presse übermittelt wurden, konzentrierte sich auf seine Pläne, den Frieden im Südwesten zu sichern. Er eröffnete Verhandlungen mit mexikanischen Militärbehörden, um die alten Animositäten gegen Yankees zu begraben und sich mit ihnen für eine vollständige Durchkämmung der Apachenzufluchtsstätten in der Sierra Madre zu koordinieren. Er hatte nichts übrig für schwerfällige Wagen und stellte Maultierpackkolonnen in dem zerklüfteten Terrain auf, womit er taktische Methoden einführte, die erst im Zweiten Weltkrieg in Asien angewendet werden und ihm die verspätete Anerkennung der Militärhistoriker als Spitzenkämpfer gegen Indianer eintragen sollten, den die Armee der Vereinigten Staaten je hervorgebracht hatte. Er schockierte das militärische Establishment, indem er den Feind anheuerte – Apachen-Scouts. Crook hielt die Apachen-Scouts für ›erfinderische Spurenleser … zäh und ohnegleichen in den Bergen‹. Einmal eingestellt, so berichtete er, bewahrten sie ihm gegenüber eine ›unfehlbare, ja rührende Loyalität‹. Zusätzlich brachte er einige der berühmtesten Grenzer des Westens mit, darunter Al Sieber. Sieber war es auch, der Crook mit dem jungen Tom Horn bekannt machte, und obwohl die meisten Stabsoffiziere den unmilitärischen, kecken jungen Mann ablehnten, wurde ihre Abneigung doch ein wenig durch Horns Beweise von Mut bei verschiedenen Gelegenheiten gemildert. Er verbrachte lange Sitzungen mit dem jungen Mann und diskutierte mit ihm über die Apachen. Durch Horn begann Crook die Apachen von innen her zu begreifen – ihr Denken, ihre 234
Sitten, ihre Kultur und ihre Religion. Crook wollte wissen, was dieses Rätsel so wirkungsvoll machte, was es eigentlich war, das die kleine Schar eines Volkes durch die kriegerischen Jahrhunderte mit den Spaniern erhalten – ja sogar angetrieben hatte. Bei seinem ersten dienstlichen Aufenthalt in der Apacheria hatte Crook die Apachen einfach als ›wild‹ abgefertigt. Dafür hatte er mit den gewohnten Niederlagen bezahlt. Diesmal untersuchte er die Unwägbarkeiten eines unwägbaren Volkes mit der Sicherheit eines Wundarztes. Tom Horn war eine Quelle von Informationen. Höflich fragte Crook Tom Horn niemals nach seinem persönlichen Leben oder nach den hartnäckigen Gerüchten, nach denen Horn mit Geronimo bei Überfällen auf Mexikaner ›geritten‹ sei. Mit Hilfe seines Systems, Einblicke ins Leben seines Gegners zu erhalten, die verstärkte Zusammenarbeit mit dem mexikanischen Militär zu gewinnen und eine kreative militärische Taktik zu ersinnen, verringerte Crook die Apachengefahr. Gegenüber den feindseligen Apachen stützte sich Crook nur auf die Regeln des Berufssoldaten, seine Pflicht zu tun. Er empfand ihnen gegenüber keinen ausgeprägten Haß, mit einer Ausnahme: Geronimo. Gegenüber dem Kriegsschamanen hegte er eine nachhaltige Feindschaft. Darin hatte er die totale Unterstützung anderer Armeeoffiziere. Nach dem Tod von Mangas Coloradas hatte sich die Schar der Bedonkohes Cochise angeschlossen; es war eine einzige Schar geworden, die man als Chiricahuas kannte. Zu ihnen war auch Geronimo gestoßen. Er hatte wieder geheiratet, diesmal ein Mädchen namens Chee-hash-kish, die die Apachen als ›sehr hübsch‹ beschrieben. Sie hatte ihm zwei Kinder geboren, einen Jungen namens Chappo und eine Tochter mit Namen Tozey. Der alt und müde werdende Cochise wurde hart bedrängt, um nicht nur den Bedonkohe, sondern auch den Überlebenden der Gilaund Tonto-Apachen Zuflucht zu gewähren, deren Reihen durch Crooks Armee dezimiert worden waren. Cochise war dann sogar bis Santa Fé für die Sache des Friedens gereist, und ein Jahr lang 235
hatte er keinen Angriff nördlich der internationalen Grenze geführt oder befohlen. Indessen konnte ohne einen Vertrag, der das ›Wort‹ bestätigte, niemand den unermüdlichen Geronimo im Zaume halten. Während dieser Zeit wurde er als ein capitán Cochises bekannt, und er rekrutierte mit seiner gewohnten Energie Krieger aus allen Scharen der Apachen. Er fiel die Blauröcke an, wie der Hai den Wal anfällt, schlug zu und verschwand. Bemühungen, Geronimo aufzuspüren, wurden von einem Offizier als ›ebenso nutzlos wie die Jagd auf ein Reh mit einer Blechmusik‹ bezeichnet. Die Chiricahuas aber bekamen die Schuld zugeschoben. Der Arizona Citizen schrieb: Die für die Chiricahua-Apachen nötige Art der Kriegführung besteht in einem unaufhörlichen, mitleidlosen, hoffnungslosen und unterschiedslosen Krieg, der Männer, Frauen und Kinder auslöscht, bis überall die Täler, Bergkämme, Felsgipfel und Schlupfwinkel den angenehmen Weihrauch verfaulender und verrottender Chiricahua-Apachen hoch in den Himmel aufsteigen lassen. General Crook war wütend über Geronimos fortgesetzte Angriffe und höhnische Botschaften. Einmal sichtete ihn eine reguläre Armeepatrouille mit einer Abordnung von Apachen-Scouts, während sie durch den Doubtful Canyon zogen. Er stand hoch auf einem Felsband, in voller Sicht, winkte ihnen zu und brüllte: »Mit Schüssen könnt ihr mich nicht fangen!« Daraufhin nahm Crook nochmals hundert Apachen-Scouts in die Lohnlisten auf, rief alle Offiziere und Soldaten, insgesamt fünftausend, zusammen und bereitete sich vor, einen größeren Feldzug gegen einen einzelnen Mann zu starten. Befehle aus Washington hielten ihn zurück. Das Indianerbüro hatte wesentlich andere Pläne, deren Ziel es war, die Macht des Büros auf Kosten der Armee zu verstärken. San Carlos stand unter der Verwaltung des Büros und sollte, nach der Ausdrucksweise des Büros selbst, in ein ›Camp zur Konzentration aller Apachen‹ ausgebaut werden. Ein Konzentrationscamp. Das Büro wußte genau, daß auch die geschicktesten Lügner der Regierung die 236
Platitüden nicht erfinden konnte, die man brauchte, um Apachen zum Aufsuchen dieses unwirtlichen und abstoßenden Lagers zu veranlassen. Und gerade darin lag der Plan. Friedensbeauftragte des Büros traten an einzelne Apachenscharen heran und boten an, Reservationen zu errichten, in denen jede Schar ›für immer‹ in einem Gebiet nach ihrem Geschmack leben könnte. Sobald sich dann solche Scharen niedergelassen hatten und jede ihre eigene Reservation bebaute und auch ihre Waffen abgeliefert waren – dann und erst dann würde die Armee der Vereinigten Staaten in Aktion treten, sie ›fangen‹ und sie nach San Carlos umsiedeln. Auf diese Weise wurden die Warm-Springs-Apachen und die Coyoteros angesiedelt. Die Mescaleros, die in Bosque Redondo jämmerlich dahinvegetierten, erhielten kein solches Angebot. Sie stellten keine Bedrohung dar. Das Hauptproblem betraf die Chiricahuas. Das Büro wählte einen Mann als Unterhändler aus, um sich Cochise zu nähern, der in Sachen bürokratischer Verräterei ebenso naiv wie die Apachen war. General Oliver Otis Howard wurde jedoch nur ein Teil des ›Reservation-für-immer‹-Planes mitgeteilt. San Carlos wurde nicht erwähnt. Howard war ein hervorragender Soldat bei Gettysburg gewesen und hatte bei Fair Oaks einen Arm verloren. Er stammte aus Vermont und war ein tiefreligiöser Mann. Seine Offizierskameraden, Crook eingeschlossen, der seine Frömmigkeit als heuchlerisch empfand, mochten ihn überhaupt nicht, aber er brachte den Indianern viel Verständnis entgegen. General Howard versicherte sich der Unterstützung Victorios bei der Fühlungnahme mit Cochise, und er brachte Tom Jeffords und einen Neffen Cochises namens Chee dazu, ihn zu begleiten. Die drei ritten zwischen den sich auftürmenden Gipfeln, die Cochises Festung schützten, in die Dragoon-Berge. Howard hatte nur einen kurzen Besuch eingeplant, aber er hatte keine Ahnung von den demokratischen Spielregeln der Apachen. Cochise informierte ihn, er brauche Zeit, um seine capitanes zu verständigen, damit alle kommen und sich an den Verhandlungen beteiligen könnten, denn sonst würden sie sich dadurch nicht ge237
bunden fühlen. Howard war zum Bleiben bereit. Sein Besuch dauerte fast zwei Wochen. Später schrieb er, er sei ›angenehm und erfreulich überrascht‹. Er fand in den Apachen ein freundliches, gastliches Volk, das ihn warm aufnahm. Enthusiastisch schloß er sich ihnen beim Gebet an, voller Zuversicht in seinem frommen alten Herzen, daß die Gebete ›die gleichen … zu dem gleichen Gott‹ seien. Er aß mit ihren Familien, saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden und lachte dröhnend über humorvolle Geschichten; indianischen Humor empfand er als ›erfrischend‹. Der General, der seine West-Point-Würde vergaß, spielte mit den Kindern und wurde zum Liebling der Rancheria. Er brachte dem jungen Naiche bei, seinen Namen zu schreiben. General Howard gewann sogar das Herz des härtesten Kriegs-Capitans. In seinen alten Tagen sollte Geronimo in Erinnerung an ihn sagen:. »…er hielt uns gegenüber immer sein Wort und behandelte uns wie Brüder. Mit ihm hätten wir für immer in Frieden leben können. Wenn es in der Armee der Vereinigten Staaten überhaupt einen reinen, ehrlichen weißen Mann gibt, dann ist dieser Mann General Howard.« Howard trug den Chiricahuas eigene Ideen über den Ort vor, an dem die Chiricahuas leben sollten. Er hörte Cochise zu und fand, er sei ›ein intelligenter Mann mit bedächtiger Ruhe und vernünftigen Manieren‹. Zum ersten und letzten Mal ließ ein indianischer Häuptling innerhalb einer vernünftigen Diskussion einen General der U.S.-Armee anderen Sinnes werden. So wurde ein Vertrag geschlossen, in dem die Gedanken Cochises verkörpert waren. Die Reservation würde die Dragoon- und Chiricahua-Berge und das Sulphur-Springs-Tal umfassen. Dies war das Stammland der CochiseSchar, und der Vertrag wurde von ihnen sehr gut geheißen. Als Vertragsbeitrag für sich selbst und seine capitanes verbürgte sich Cochise, die Straßen zu bewachen, die California Road eingeschlossen, und auch alle Siedlungen des Gebietes. 238
Geronimo gefiel diese Übereinkunft, und er hatte volles Zutrauen zu General Howard, aber gegenüber den Mächten hinter dem General blieb er mißtrauisch. Zwei Jahre lang wurde der Vertrag von beiden Seiten gehalten. Während dieser Zeitspanne unternahm Geronimo keine Raubzüge nördlich der Grenze. Allerdings setzte er seine Raubzüge gegen seine alten mexikanischen Feinde fort. Die mexikanische Regierung wandte sich an die Behörden der Vereinigten Staaten und verlangte Verschärfung des die Apachen begünstigenden Vertrags. Das ›für immer‹ fand ein Ende. Cochise lag im Sterben, als sie erschienen, um ihm mitzuteilen, daß seine Leute nach San Carlos umgesiedelt würden. Er leistete keinen Widerstand. Cochise hatte mehr als die Freiheit aufgegeben; er hatte jeder Hoffnung für die Apachen entsagt. Sein ausgezehrter Körper verlor seine frühere großartige Kraft. Er rief seine beiden Söhne Taza und Naiche und nahm ihnen das Versprechen ab, daß sie den Frieden bewahren würden. Dann verlangte er nach seinem alten Freund Tom Jeffords. Jeffords war beunruhigt, als er Cochises Verfassung erkannte. Als er sich anschickte, aus Fort Bowie medizinische Hilfe kommen zu lassen, fragte Cochise: »Glaubst du, daß du mich lebend wiedersehen wirst?« Jeffords wollte seinen alten Freund nicht anlügen. »Nein, das glaube ich nicht. Was meinst du?« »Ich werde morgen früh um zehn Uhr sterben«, antwortete Cochise. »Es ist mir im Kopf zwar noch nicht ganz klar, aber ich glaube, wir werden uns wieder begegnen, irgendwo dort oben.« Bis Jeffords dann mit einem Wundarzt aus dem Fort zurückgekehrt war, war Cochise bereits tot. Zwischen Jeffords' Aufbruch und seinem Tod bat Cochise, man sollte ihn aus dem Talboden, der Sonne entgegen, in die Höhe tragen. Eine lange Prozession brachte ihn hinauf zwischen die Gipfel der Dragoons; sie legten ihn auf einem Plateau nieder, den Blick nach Westen. Zuerst knieten seine Familienmitglieder und seine capitanes neben ihm nieder, um sich zu verabschieden. Geronimo war der letzte. Als er aufstand und fortging, 239
tönte der dünne Todesgesang Cochises zu den versammelten Apachen. Cochise hatte seine irdischen Pflichten und Abschiedsgrüße hinter sich gebracht. Er begann seine Reise. Geronimo sagte niemals etwas über diese letzte Unterredung mit Cochise, aber die anwesenden Apachen waren sicher, daß Cochise nicht versucht habe, Geronimo ein Friedensversprechen abzuringen. Als Geronimo neben Cochise aufstand und wegging, fiel der Schein der sinkenden Sonne auf seine harten Wangenknochen. Sie waren gelb bemalt. Die Blauröcke hatten ihr Wort gebrochen. Während die Apachen in jener Nacht das Dahinscheiden eines großen Häuptlings betrauerten, schlich sich Geronimo aus der Chiricahua-Schar und vor den anrückenden Soldaten davon. Er wurde begleitet von seiner Familie, seinem Vetter Juh und einer Handvoll Nednikrieger. Sie überquerten nachts die California Road und überfielen einen kampierten Wagentreck. Nur die Frauen und Kinder entkamen in einem von schnellen Pferden gezogenen Wagen. Hastig luden die Krieger die Güter des Trecks auf Maultiere und verschwanden nach Norden in den Dos-Cabezos-Bergen oberhalb des Apache Passes. Während die Soldaten der Vereinigten Staaten wie üblich vergeblich nach Geronimo suchten, führte er seine Schar über das San-Simon-Tal, durch die Gila-Berge und in die White Mountains hinein. Dort hieß ihn sein Freund Victorio willkommen, aber die meisten der Warm-Springs-Schar waren unruhig. Denn Vergeltungsschläge pflegten Geronimo zu folgen. Er hatte seine Antwort auf den Verrat des Büros erteilt, aber er hatte nur noch wenige Gefolgsleute. Geronimos düstere Zukunft zog keinesfalls viele Männer an, die bereit waren, sie mit ihm zu teilen.
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ohn Phillip Clum hatte bezüglich Geronimos genaue Pläne. Clum war Agent des Indianerbüros als Verwalter von San Carlos, und im Vergleich der Art, wie Indianeragenten vorgingen, stellte er einen Sonderfall dar. Er war ehrlich. Indem er gutes Rindfleisch und Qualitätsgüter von den Unternehmern forderte und auch erhielt, gelang es ihm, ein System fairer Rationenverteilung in San Carlos einzuführen, das für Indianerreservate eine Besonderheit war. Noch jung und energisch, war er ein erfolgreicher Organisator, der schon bewiesen hatte, wie man Indianer richtig behandeln kann. Er wies die Militärbehörden in ihre Schranken – allerdings nur für kurze Zeit. Er setzte Apachen als Polizisten ein, führte Indianergerichte mit Apachenvorstehern als Richter ein und erlaubte den Apachen, ihre eigenen Leute für Verletzungen seiner Regeln zu bestrafen. Clum entdeckte, daß seine Fairneß gegenüber den Apachen in überwiegendem Maße durch feste Loyalität belohnt wurde. Aber jetzt hatte er die Coyoteros, deren ›Für-immer‹-Vertrag beendet worden war, die Überlebenden der Gilas, die Tontos, die Bedonkohes, die Chiricahuas und eine Anzahl Nednis mit den Chiricahuas zusammengetrieben und in San Carlos versammelt. Sein nächster Zug galt den Warm-Springs-Apachen und Victorio. Clum hatte sich von seinen Schützlingen nicht distanziert. Er sprach fließend ihre Sprache, und er brachte endlose Stunden damit zu, die Apachen in San Carlos auszuhorchen, um die ›Unruhestifter‹ der Apacheria ausfindig zu machen. Es gab aber nur einen. Die Geschichten klangen fantastisch, aber auch wahr. Der ›Krieger mit den gelben Streifen‹ wurde mit monotoner Regelmäßigkeit als die Seele und der führende Kopf im Krieg der Apachen gegen die Vereinigten Staaten identifiziert. Clum war besessen von der Lösung für alle Apachenräubereien: Geronimo aufzuhängen! Durch seine Apachenpolizei hatte Clum auch einen höchst wirksamen Spionagedienst eingerichtet. Binnen kurzem wußte er, daß 241
Geronimo bei der Warm-Springs-Schar lagerte, und Clum hatte Befehle aus Washington in der Hand, die Warm-Springs-Apachen nach San Carlos zu überführen. Ihr Vertrag ›für immer‹ war zu Ende. Daß sie Geronimo Unterschlupf gewährten, war eine hinreichende Entschuldigung, aber zuerst würde sich Clum doch irgendwie des listigen Kriegsschamanen versichern müssen. Clum schickte eine Delegation von Apachen zu ihm. Ihre Botschaft war freundlich. Clum wünschte einfach, sich zu unterhalten, eine Beratung. Geronimo stimmte zu, aber er verhielt sich vorsichtig. Geronimo, den die Vorhersagen seiner Macht immer quälten, fürchtete um seine Familie. Er überredete Juh, mit seinen Kriegern seine Familie in die Festung der Nednis in der Sierra Madre zu bringen, und am folgenden Morgen ritt er unter einer Waffenstillstandsfahne zu dem vereinbarten Treffpunkt bei der Ojo-Caliente-Agentur, begleitet von nur sieben Kriegern. Unverzüglich wurden er und seine Männer von hundert bewaffneten Apachenpolizisten umzingelt. Rückendeckung durch U.S.-Kavallerie, von Clum herbeigeholt, befand sich auf dem Weg. Geronimo war ›eingefangen‹ worden, aber nur durch Hinterlist. Es würde das letzte Mal sein. Geronimo und seine Gefolgsleute wurden in Ketten gelegt; ein Schmied schweißte Eisenbänder um ihre Fußknöchel zusammen, und man brachte die Gefangenen in eine Zelle der Agentur. Jetzt überließ Clum die Geschichten über Geronimo der Presse. Die Militärbehörden kannten sie bereits, aber sie hatten Diskretion für die bessere Seite der Verlegenheit erachtet. Jetzt hörte es die Öffentlichkeit. Es war sensationell. Balkenüberschriften erschienen überall in den Vereinigten Staaten: ›GERONIMO, DER MENSCHLICHE TIGER‹, ›GERONIMO – RENEGAT UND MÖRDER‹, ›GERONIMO, DER VERRÜCKTE MÖRDER‹. Geronimo war am Ende. Kongreßabgeordnete, die den Wutschrei der Öffentlichkeit hörten, überboten sich in Marathondenunziationen. Zeitungen kosteten die Sensation bis zur Neige aus. ›Schwarzhändiger Meuchelmörder‹ wechselte sich mit ›Rothändiger Meuchelmörder‹ ab. ›Kaltherziger Hund‹ schien aus einem seltsamen 242
Grund Lieblingsausdruck zu sein. Ein unternehmungslustiger Zeitungsreporter führte einen neuen Ton von Entsetzen ein, um das Tempo einer schon wie ein Lynchmob wütenden Menge zu steigern. Er berichtete, nach verläßlichen Quellen, Geronimo sei dafür bekannt, ›oft Teile seiner Opfer gegessen zu haben‹. Warum nur Teile, oder auch welche Teile – der Reporter weigerte sich, dies zu erklären. Selbst in der Zelle lastete man Geronimo Todesfälle an. Die Verwaltung von Städten und Territorien, das Justizministerium und die Armee der Vereinigten Staaten wetteiferten um das Recht, Geronimo aufzuhängen. Der ›bluttriefende Renegat‹ ging in Geschichtsbücher ein, und jene Politiker oder Generäle, die die Falltür des Henkers aufschnellen ließen, würden in den Rang von Unsterblichkeit erhoben werden. Der unterirdische Kampf war bösartig. Einer nach dem anderen von Geronimos sieben Begleitern wurde, frei von Ketten, aus San Carlos entlassen. Geronimo bekam Einzelhaft, wo er im Halbdunkel undurchdringliche Blicke den Folterknechten zurückgab, die sich drängten, um durch das einzige hochliegende Fenster einen Blick auf ihn zu erhaschen. Mehrmals pro Woche informierte man ihn, ›seine Zeit‹ sei abgelaufen. Er sagte nichts. Geronimo hatte sich mit seiner Macht beraten. Jetzt wartete er ab. General George Crook verhandelte auf eigene Faust. Der Sturm um die Person desjenigen, der die Ehre haben sollte, Geronimo aufzuhängen, wütete ganz offen in der Presse. Doch blieb Crook die Wirkung auf die paar tausend umherstreifenden Apachen in den paar tausend Quadratmeilen, für die er verantwortlich war, verborgen. Das machte ihn nervös. Er ließ sich aber nichts anmerken. Hier, in seinem Büro, gab er sich entspannt. Er hatte den Waffenrock aufgeknöpft und den Stuhl zurückgekippt; auf dem Schreibtisch legte er einen Stiefel über den anderen, kaute Burley-Tabak und traf in regelmäßigen Abständen, geräuschvoll und genau, einen zehn Fuß entfernten Spucknapf. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf 243
und musterte mit schläfrigem Blick die Decke. Major Morrow saß steif und aufrecht in einem Eckstuhl. Mein Gott! dachte Morrow. Ein Generalmajor! Fortwährend ermutigt er diesen unverschämten Esel, sich unhöflicher zu benehmen! Der unhöfliche Esel hatte sich Crook gegenüber in einen Stuhl hineingeflegelt. Es war Tom Horn; er schnitt mit einem Bowiemesser Stücke von einem Streifen Trockenfleisch herunter und schob sich die Scheiben geräuschvoll und regelmäßig in den Mund. Die beiden sahen mehr wie verrufene Saloonherumtreiber aus als wie ein Generalmajor, der einen Untergebenen befragt. Crook sprach: »…und Sie sagen also, Horn, daß Geronimos Erhängung … keine überzeugende Wirkung auf die Apachen haben würde?« Horn kaute nachdenklich, ehe er antwortete: »Also, nein, General, das hab' ich nicht gesagt. Ich hab' gesagt, sie sind zum Teil dafür und zum Teil dagegen, gleichzeitig! So etwas wie erschreckt, daß er aufgehängt werden soll … sie würden vielleicht aufatmen, wenn's so wäre. Wissen Sie, General« – Horn deutete nachdrücklich mit dem Bowiemesser auf Crook – »es ist vielleicht so ähnlich wie damals, als sie den Jesus erwischten … die Leute dort, die wollten es… Jesus war auch so 'ne Art Unruhestifter und alles … aber gleichzeitig haben die auch mächtig Angst davor gehabt.« Horns Vergleich der Kreuzigung Jesu mit der Erhängung Geronimos veranlaßte Major Morrow, ihn ungläubig anzustarren. Crook schien indessen diesen Vergleich durchaus zu akzeptieren. Er wandte kaum den Kopf und ließ den Spucknapf scheppern, ehe er antwortete. »Sie sagen, daß Geronimo ein religiöses Gewissen hat? Was für eine Religion hat er denn?« »Die Religion der Apachen natürlich, General.« »Natürlich«, sagte Crook trocken. »Was ist das?« Horn kicherte. »Haben Sie eine Woche Zeit zum Zuhören?«
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»Kürzen Sie's auf eine Stunde.« Crook zog sein eigenes Messer aus dem Gürtel, schnitt sich sorgfältig einen Klumpen Burley ab und schob ihn in den Mund. Er fläzte sich tiefer in den Stuhl hinein. Horn seufzte. »Also, die Apachen glauben, wenn man die hohen Gesetze achtet, dann stärkt man damit seinen geistigen Körper. Jedesmal wenn man auf das Rad kommt … das heißt, wiedergeboren wird in einem materiellen Körper auf der Erde, dann führt man diese hohen Gesetze gegen die niedrigen Gesetze durch, nach denen die materielle Welt abläuft. Wenn man nun seinen geistigen Körper kräftigt, dann ist jedesmal, wenn man stirbt – oder aus dieser materiellen Welt von dannen geht –, der geistige Körper stärker … falls man alles richtig getan hat … die Treue gehalten hat, zum Beispiel … und man erhebt sich zu höheren und höheren Ebenen. Natürlich, die höchste Ebene ist die, wo man so stark ist, daß man gar nicht mehr zurückkommen braucht. Man wird ›gerettet‹ – sozusagen. Und das« – Horn schob eine Fleischscheibe in den Mund – »also das ist mehr oder weniger so, wie's Jesus getan hat … man wird mal wiedergeboren … einfach wörtlich: wiedergeboren, und der Weg ist schwer … und das hat Er auch gesagt. Das ist ein hartes Bündel von Regeln, durch die man sich retten kann.« Crook hatte das Messer nicht zurückgesteckt; er reinigte sich jetzt damit die Fingernägel. »Nicht sehr verschieden von der Religion der Weißen, vielleicht die Reinkarnation ausgenommen.« »Nee«, sagte Horn zustimmend, »nicht sehr … abgesehen davon, daß es die Apachen nicht wie Reinkarnation ansehen. Hab' Sie mal verkünden hören, General, daß die Indianer kein Gefühl für den Wert der Zeit hätten…« Crook nickte. »Korrekt – absolut keines.« Horn ging über Crooks Unterbrechung einfach hinweg. »…aber das stimmt nicht. Sehen Sie, für den Apachen ist Zeit etwas Ewiges, was weiter und weiter geht, mit seinem geistigen Körper… Wofür er gar kein Gefühl hat, ist das materielle Messen der Zeit – mit den verdammten Uhren und Kalendern und dergleichen, und er macht sich überhaupt keinen Deut aus all dem materiellen Getue, 245
mit dem wir uns selber messen… Scheiße, so denkt er sich's. Alles Materielle wird früher oder später sterben, verrotten.« »Korrekt.« Crook nickte. »Jetzt noch ein Unterschied«, sagte Horn. »Weiße sind verrückt danach, sich Büros einzurichten, um alles zu verwalten und zu versuchen, es sich leichter zu machen … die Religion eingeschlossen, damit sie sie für ihre Zwecke auslegen können. Und so können sie jeden Sonntag in ihre Bürokirche rennen, ›Jesus‹ plärren, ihren Dummkopf mit Wasser besprengen, und sie sind gerettet! Das macht es schon höllisch viel leichter, als nach Art der Apachen … und der Weiße kann dann wieder an's materielle Zeugs ran und Regierungen und andere Verwaltungs-Scheiße einrichten. Also« – Horn breitete abschließend beide Hände aus – »Sie sehen, da gibt's wohl einen Unterschied.« »Ja«, sagte Crook, »das sehe ich schon ein, aber ohne Bibel ist der Apache…« »Oh, der hat schon 'ne Bibel«, unterbrach ihn Horn. »Jawohl – eine ganz lange mit so rund hundert Geschichten – sozusagen.« Crook schob sein Messer wieder zurück. »Lassen Sie mal eine hören … eine von diesen Geschichten.« Horn runzelte die Stirn. »Also – dabei müßten Sie verstehen, daß alles in den Geschichten mit Regierungsversklavung und so zu tun hat – dagegen kämpfen die Apachen ja schon seit dreihundert Jahren. Da hätten wir mal die von der Schlange … die war ein ganz bösartiger Hurensohn! Sie hat all diese niedrigen Gesetze vertreten, von denen das niedrigste ist, daß sie eine gottverdammte Gier nach Macht über alles hat. Jetzt geht diese Schlange also zum Adler. Sie sagt zu ihm: ›Schau her, du fliegst jeden Tag herum, um Fressen zu suchen, aber es gibt keine Garantie, daß du es auch bekommst. Wahrscheinlich wird's bald alle werden, aber vertrau dich nur mal mir an, anstatt dir selber, und Usen – so heißt Gott – und ich wollen dir gutes Fressen garantieren, wenn ich die Sache in die Hand nehme.‹ Verstehen Sie«, erklärte Horn, »diese Schlange da praktiziert ein niedriges Gesetz: sie impft dem Adler Angst ein und tötet seinen Glau246
ben an sich selber und seinen Geist. Dann sagt die Schlange: ›Schau dir mal da den Kojoten an, der kann hundertmal schneller als du rennen, und das ist doch nicht richtig. Laß du mich die Macht über die Dinge haben, und ich werd's so richten, daß er nicht schneller als du rennen kann.‹ Verstehen Sie … hier benutzt die Schlange das niedrige Gesetz des Neides … und so weiter … bis der Adler der Schlange Macht über sich selbst überläßt. Die Schlange spricht mit dem Kojoten genauso, nur daß sie hier Neid auf die Flugfähigkeit des Adlers erweckt, und verspricht, den Adler auf dem Boden zu halten wie den Kojoten. Die Geschichte schließt dann damit, daß dem Kojoten und dem Adler Füße und Schwingen gebunden werden. Sie kratzen im Boden herum und säen Mais für die Schlange und richten ihr ganzes Interesse auf materielle Sicherheit und Dinge und haben ihren Glauben und ihre Ehre und auch ihren Mut vergessen … all die hoben Gesetze. Dann kommt ein Apache vorbei und erklärt ihnen die Lage, und, um's kurz zu machen, befreit die beiden. Sie laufen wieder frei herum und verlassen sich auf ihren eigenen Geist und ihren Glauben. Und deshalb«, sagte Horn mit Befriedigung, »sehen sie immer die Schlange sich unter einem Stein verstecken, jedesmal wenn sie einen Adler oder einen Kojoten sieht … oder einen Apachen, womit es wohl mehr oder weniger erwiesen ist.« Crook nahm die Stiefel vom Schreibtisch und wandte sich Horn zu. »Wen stellt also die Schlange dar?« »Also, wie ich's gesagt hab'… die Regierung, oder die gottverdammten Politiker, die sie aufgestellt haben.« »Dann« – Crook lächelte – »rate ich mal wie Apachen: die Schlange bin ich.« »Nein…«, erwiderte Horn nachdenklich, »nicht für die meisten; aber wir unterhalten uns doch über die reine Religion. Geronimo ist ein Purist, und für ihn sind Sie die Schlange. Verstehen Sie, General, für Geronimo hat es nichts zu bedeuten, wie fair Sie sind. Er sagt, Sie haben keinerlei Recht, ihn zu nähren, gleichgültig, wie gut 247
diese Nahrung sein mag. Sie haben auch kein Recht, ihm Unterkunft zu geben oder ihn zu kleiden. Er sagt, Sie stehlen ihm den Glauben, wenn Sie so was tun. Sie schwächen und stehlen ihm den geistigen Körper. Und das ist es ja, was die Regierung nicht begreift, warum sie alle Geronimo einen Renegaten nennen: weil er nicht kriechen will, wie ein guter Hund, für eine Handvoll Fressen. Geronimo glaubt, daß dieses Reservationscamp eine Idee der niedrigen Macht ist – daß das, was daraus wird, zurückschlagen wird. Diese Idee können Sie jetzt nicht mehr aus der Welt schaffen, sie wird zurückschlagen und die Leute quälen – und trotzdem mehr und mehr Leute ins Camp bringen.« »Was denkt Geronimo nach Ihrer Meinung gerade jetzt?« fragte Crook. »Der alte Geronimo«, sagte Horn mit Betonung, »sitzt in dieser Zelle und ist ruhig. Er weiß, daß er seinem Glauben treu gewesen ist. Er wartet ab, um zu erleben, ob sich die niedrigen Gesetze ineinander verstricken und ihn freilassen. Wenn nicht« – Horn zuckte die Achseln – »er hat es trotzdem geschafft. Er hat keine Angst, die Reise anzutreten.« »Und die Frauen und Kinder, die er getötet hat?« fragte Crook beiläufig. »Also, General«, sagte Horn, »das ist schon arg übertrieben worden, aber die, die er umgebracht hat … es war für das Überleben des eigenen Volkes. Er hat doch auf seinem eigenen Land für das Recht seines Volkes gekämpft, frei zu leben. Er ist auch nicht in Chicago gewesen und hat nicht versucht, sich über jemand anderen aufzuschwingen, und«, sagte Horn, »ich frage mich, welche Entschuldigung die Armee für die Tötung von Indianerfrauen und kindern gefunden hat.« Crook stand unvermittelt auf. Er schaute Tom Horn nicht an, sondern trat ans Fenster und starrte hinaus auf den Paradeplatz. In der Ecke tickte laut die große Uhr. Ohne sich umzuwenden, sagte Crook weich: »Sie können gehen, Horn.« 248
»Jawohl, Sir, General, Major.« Horn verließ das Zimmer und schloß ruhig hinter sich die Tür. Major Morrow stand auf und betrachtete Crooks Rücken. Er räusperte sich, aber der General ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte. Morrow war entschlossen gewesen, General George Crook als anständigen Mann zu achten, und obwohl dies nicht seine Art war, sprudelte er nun seine Empörung heraus: »Er ist ein unverschämter Esel, Sir, dieser Horn. Sollte in Eisen gelegt werden. Falls Sie mir gestatten würden, Sir…« Crook drehte sich um und lächelte. »Nein, nein, Major. Er ist ein aufgeweckter junger Mann. Ich ermutige ihn, wie Sie wissen. Schlucke das Bittere mit dem Süßen…« Er ging zum Schreibtisch, öffnete eine Schublade und entnahm ihr eine Flasche Whisky und zwei Gläser. Morrow trat vor. »Gestatten Sie, General.« Er achtete darauf, den Whisky sparsam einzugießen. »Hier!« Crook nahm ihm die Flasche ab und goß die Gläser halb voll. Er ließ die Flasche entkorkt stehen, nahm sein Glas, ging zum Fenster und schaute hinaus. Morrow wartete, bis Crook seinen Whisky getrunken hatte, ehe er seinen eigenen nahm. Er setzte das Glas auf dem Schreibtisch ab. »General, ich würde Horn gern einen Verweis erteilen. Ich könnte…« »Nein.« Crook wandte sich nicht um. »Ich habe nicht an Horn gedacht, Major. Ich habe an dieses gottverdammte Büro in Washington gedacht, – an San Carlos, – an Schlangen. Ich hoffe« – er seufzte, blickte aber immer noch aus dem Fenster, »daß das wirklich das letzte ist.« Das Schweigen war drückend. Major Morrow konnte nicht entscheiden, ob sich der General mit dem Ausdruck ›letzte‹ auf das Büro bezog, oder auf San Carlos, oder auf Schlangen. Er fühlte sich verwirrt und hatte den Eindruck, er dringe in private Gedanken ein. »Ich habe Pflichten, General. Falls Sie…« »Sie können gehen, Major«, sagte Crook. Er drehte sich nicht um, als Morrow das Zimmer verließ. Es war aufreizend, selbst für einen 249
ergebenen Untergebenen wie Major Morrow – diese Neigung General Crooks, sich beide Seiten anzuhören.
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och während Crook und Horn sich unterhielten, erreichten gute Neuigkeiten die Armee. Juh war tot. Nachdem er Geronimos Familie in seinem Hauptquartier in der Sierra Madre zurückgelassen hatte, war er mit seinen Kriegern nach Norden zurückgezogen. Bei Galeana hatte er zwei Schwadronen mexikanischer Kavallerie angegriffen und vernichtet. Als dann Juh und seine zwei ältesten Söhne während der Rückkehr von einer ›Friedenskonferenz‹ in Casa Grande ein Stück weit hinter den restlichen Kriegern ritten, stürzte Juh plötzlich vom Pferd in einen seichten Fluß, wahrscheinlich infolge einer Herzattacke. Seine beiden Söhne konnten seinen riesigen Körper nicht aus dem Fluß zerren. Er atmete noch, und während der eine seinen Kopf übers Wasser emporhielt, raste der andere davon und holte die Krieger zurück. Aber es war ein nutzloses Unternehmen, Juh war gestorben und wurde an den Ufern des Flusses beigesetzt. Die Krieger wußten nicht, daß ihnen eine starke Streitmacht von Mexikanern folgte, und die Verzögerung, die Juhs Tod verursachte, erlaubte es den Mexikanern, die Nednikriegerschar zu umzingeln und praktisch auszulöschen. Es gab nur wenige Überlebende. Juhs Söhne Delzhinne und Daklegon wurden von den Mexikanern gefangengenommen und hingerichtet. Der letzte jenes großen Triumvirats, dem auch Mangas Coloradas und Cochise angehört hatten, war gegangen. Sein Hinscheiden löste Feierlichkeiten in Chihuahua und Sonora aus und erfüllte das Militär der Vereinigten Staaten mit Optimismus. Die Regierung konnte ihre Kriege mit den Apachen nach Dekaden zählen, die Mexi250
kaner nach Jahrhunderten. Nachdem jetzt aber die meisten Apachen in San Carlos festgehalten wurden, die Nednikrieger gefallen waren, Juh gestorben war und Geronimo in Ketten lag und auf den Henker wartete, konnten beide Regierungen schon die Sonne bei den Apachen untergehen sehen. Aber war es wirklich so? John Clum hatte an dem Schlangentrank genippt. Wie Salzwasser löschte er den Durst nicht, sondern fachte ihn an. Jetzt sprach er schon von ›meinen Apachen‹. Clum wollte noch mehr. Er schickte ein Eiltelegramm nach Washington: »Falls Ihre Regierung bereit ist, mein Gehalt ausreichend zu erhöhen und zwei weitere Kompanien Indianerpolizei für mich auszurüsten, erkläre ich mich freiwillig bereit, mich aller Apachen in Arizona anzunehmen, und dann können die Soldaten abgezogen werden.« Das Telegramm löste eine Explosion aus. Das Oberkommando der Armee war indigniert. Das bedeutete einen Einbruch in seinen Amtsbereich. Die Drohung von Truppenzurückziehungen alarmierte die Händler in Tucson – keine Truppen, kein Geld mehr. Kaufleute des Territoriums hielten dringende Zusammenkünfte ab und traten mit politischen Freunden in Washington in Verbindung. Wie durch Zauberei wurde John Clum durch die Presse über Nacht von einem Helden in einen Schurken verwandelt. Mitleidlos von den Zeitungen an den Pranger gestellt, gab er eilig auf. Für die Öffentlichkeit hatte er noch einen abschließenden Rat auf Lager: »Sie sollten Geronimo lieber hängen … und das rasch!« Die Öffentlichkeit machte einen Versuch. Ein Lynchmob, so schien es, würde das wohl tun müssen. Der ganze Südwesten war ein einziges Durcheinander. Gier, Eifersucht, Kämpfe um Macht und Ruhm, und noch ein halbes Dutzend weitere niedrige Gesetze wurden herangezogen, um es ohne Hemmnisse durchzuführen. Henry Lyman Hart erschien auf der Szene. Er war als Nachfolger für John Clum in San Carlos ernannt worden. Henry wandte das bürokratische Schmiersystem an. Von hundert Stück Rindern, die für San Carlos gekauft wurden, wurden nur fünfzig abgeliefert, und die Gewinne wurden unter der ›Bruderschaft‹ verteilt. Knapp 251
bemessene Güter von minderer Qualität wurden nach vollem Gewicht und um Spitzenpreise gekauft. Die Wogen glätteten sich wieder, abgesehen von dem Ringen um Geronimo. Bei diesem Thema bewies Mr. Hart seine Weisheit in der Kunst, aufgewühltes Wasser zu glätten. Er ging zum Schein auf die Klagen der Apachen über das Hungerregime ein, nahm Geronimo die Ketten ab und versicherte der Öffentlichkeit, der ›Renegat‹ werde, solange er auf den Henker warte, unter aufmerksamer Überwachung in San Carlos stehen. Es war ein bürokratischer Meisterstreich. Geronimo kam in ein Camp, das sich seit Harts Verwaltung verändert hatte. Die Rationen waren knapp und bestanden hauptsächlich aus Weizen- und Grobmehl, in dem Maden herumkrochen, ranzigem und verfaultem Rindfleisch, und sogar Schweinefleisch, das die Apachen verabscheuten und wegwarfen. Die Pocken grassierten unter den Lagerinsassen, und die Regierung ließ keine Impfungen zu. Geronimo war wie ein Panther, den man zwischen kaum domestizierte und unzufriedene Wildkatzen geworfen hatte. Er wanderte von Campfeuer zu Campfeuer und predigte Treue und Glauben mit der ganzen Intensität seines Schamanentums. San Carlos explodierte wie eine Bombe. Victorio flüchtete mit achtzig Kriegern nach Norden. Er wandte sich nach Osten und Süden und rekrutierte zweihundert Mescalerokrieger. Mordend und brennend zog er auf die Grenze zu. Der alte Nana, der stets kampfbereit war, ritt mit ihm. Kleine Scharen flitzten in alle Richtungen, wie Geschosse, die von einem sich drehenden Rad geschleudert werden. Die Scharen wurden geführt von Mangas, dem Sohn von Mangas Coloradas, Chihuahua, einem berüchtigten Raubzugführer, und Benito. Einige Stunden, ehe diese Scharen aus San Carlos ausbrachen, hatte Geronimo an einem Campfeuer gesessen und hatte gegessen – vor einigen Zeugen, die später die Szene beschreiben sollten. Sie alle wußten, daß seine Familie dreihundert Meilen entfernt in der Sierra Madre war. Kein Bote war eingetroffen, um ihm Nachricht zu bringen, aber plötzlich hatte er sein Essen hingestellt, war aufgestan252
den und hatte gesagt: »Meine Familie wird bedroht. Meine Familie braucht mich. Ich muß mich beeilen.« Er hatte Bogen und Pfeile aufgehoben und war in die Dunkelheit entwichen. Er hatte etwas ›gesehen‹. Nach dem Aufbruch schnitt er in einer Baumgabel die Telegrafendrähte auseinander und band die Enden mit Rohleder so zusammen, daß sie nicht herunterhängen konnten. Die Schnittstelle war schwer zu finden, und daher dauerte es lange, bis die Nachricht von seinem Entkommen die naheliegende Bergbausiedlung Globe und das Militär erreichte. Aber dann gebärdete sich die Armee wütend. Dem Büro war es also gelungen, den Apachenkrieg mit einem Schlag zu eskalieren. Der Funke hieß Geronimo. Zeitungen schrien auf: ›GERONIMO ENTKOMMEN‹, ›MENSCHLICHER TIGER WIEDER FREI‹. Der Südwesten igelte sich ein. Historiker schätzen die Territorialmilizen, Vigilantenkomitees und Armeepatrouillen auf zehntausend bewaffnete und berittene Männer, die kreuz und quer durch die Prärien und Gebirge des Südwestens ritten und ihn suchten. Wie gewöhnlich aber war Geronimo verschwunden. Er überquerte, ohne daß man ihn sah, das San-Simon-Tal und drang in die Chiricahua-Berge ein. Aber in dem Schutz der Berge wollte er nicht bleiben; er mußte sich beeilen, und so verließ er die Chiricahuas wieder, um einen schnelleren Weg nach Süden ausfindig zu machen. Im Sulphur Springs Valley stahl er in der StephensRanch ein Pferd, wobei auch ein Schafhirte ums Leben kam, und ritt zwischen dieser Stelle und dem an die Sierra Madre angrenzenden San-Bernardino-Fluß das Pferd zu Tode. Als das Pferd zu Boden stürzte, sprang Geronimo ab und rannte über die Grenze nach Mexiko. Er kam in ein Mexiko, das sich verändert hatte. Seine Vision am Campfeuer hatte ihn nicht getrogen. Die Berge waren noch die gleichen; die weite, dahinrollende Prärie, der unaufhörliche Wind, alle Ewigkeitszeichen der Apachenzeit waren geblieben und würden immer bleiben. Aber die Schattenzeit der Schattenregierung der Menschen änderte sich. Hier in Mexiko war der Schatten, wie auch im Norden, tiefer, dunkler und länger. 253
Das Jahr 1877 hatte diese Veränderung bewirkt. Zu diesem Zeitpunkt war Mexiko erst etwas mehr als fünfzig Jahre Republik. In diesen fünfzig Jahren hatte das Amt des Präsidenten siebzigmal gewechselt. Die Regierung des Staates Chihuahua war von zweiundachtzig verschiedenen Verwaltungen besetzt gewesen. Jede Verwaltung wurde durch Gewehrkugeln gewählt: Revolutionen, Morde, Erschießungskommandos. Der mexikanische Schrei der Hilflosigkeit, ›Ay, Chihuahua!‹ leitete sich nicht von der öden Prärie des Staates ab. Das Jahr 1877 war ›das Jahr des gelben Maises‹ mit einer Dürre, während der es keinen Tropfen Regen gab. Mais stand zwei Zentimeter hoch, aber nicht höher. Rinder rannten über die Prärie, verrückt nach Wasser, zu Tode. Am Fuße der menschlichen Pyramide starben Tausende Peons. Das Jahr 1877 führte Porfirio Diaz zur Macht in Mexico City, und die Wirkungen seiner ordnenden Eisenfaust begannen auch Chihuahua zu erreichen. Am Anfang sah alles hoffnungslos aus. Scharen von bandidos besetzten und ›besteuerten‹ ganze Städte, übernahmen oft selbst die Macht und betrieben reiche Silberminen über eine beträchtliche Zeitspanne hinweg – Routinepraxis im Staate Chihuahua. Ranchos stellten eigene Privatarmeen zum Schutz auf (und um sich Revolutionen anzuschließen). Don Porfirio aber verwandelte eine schwache Hoffnung in eine Realität. Bis 1880 war es getan. Die Ordnung war ins Land gekommen. Seine Methoden waren direkt und einfach; er organisierte die bandidos zur Landpolizei, den gefürchteten Rurales. Er steckte sie in blitzende, silberverzierte Uniformen, gab ihnen Belohnungssold und bewaffnete sie mit dem ley fuga, dem ›Gesetz der Flucht‹. Jedermann, den die Rurales verhafteten, konnte ›auf der Flucht‹ erschossen werden. Offensichtlich tat das auch jeder, den sie verhafteten, und erlitt mit hoher Sicherheit dieses Schicksal. Die Pistola-Gerechtigkeit war eingetroffen, und es gab keinen Bedarf mehr für Gerichte, Geschworene oder Richter. Als Bundesgenosse von Diaz kam General Luis Terazas als Gouverneur von Chihuahua zur Macht. Der General war kein Politiker. Die politischen Dons hatten ihn nie zum Narren gehalten. Sie hat254
ten gegen den verhaßten Yaqui im Norden gehöhnt, um ihre eigene Wirkungslosigkeit gegenüber den bandidos und den Apachen an ihrer Hausschwelle zu tarnen. Laßt den Yaqui in Ruhe! Das bandidoProblem war gelöst! Nur noch ein Hindernis lag zwischen Chihuahua und einem Frieden, der weite Landstriche für Farmen und Ranchen öffnen würde. Mit der Befreiung vom Terror würde dieser Friede Reichtum bringen. Das Hindernis waren die Apachen. Dieses Hindernis zu beseitigen war das aufrichtige Ziel von General Terazas, und für die Lösung benannte er seinen Vetter, Colonel Joaquin Terazas. Joaquin, bereits bekannt als erfolgreicher Apachenkämpfer, war es bestimmt, als größter Mexikaner in der Kunst des Umbringens von Apachen anerkannt zu werden. Noch als Geronimo vor dem Campfeuer in San Carlos stand, hatten Joaquins Tarahumara-Indianer-Scouts die Schlupfwinkel von den letzten Resten der Nednischar ausgespürt. Der verwegene Lauf des Kriegsschamanen würde zu spät sein.
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hokole beobachtete den Sonnenaufgang. Das langsam aufziehende, indirekte Licht sprühte hoch zum Himmel empor, über die Berge der Sierra Madre hinweg, die die Nednis vor den Chihuahua-Ebenen abschirmten. Als der Rand der Sonnenscheibe über den höchsten Gipfel spähte, ergoß sich die Lichtfülle abwärts und erzeugte unruhige Bewegungen tief unterhalb von Chokole, im Yaqui-Canyon. Sie lag nahe dem Hochrand des Canyons auf einem breiten Felsband, fast zweihundert Meter über der Nedni-Rancheria. Frühstücksfeuer wurden angezündet. Ganz schwach drang der Ruf eines Kindes, in den sich Gelächter mischte, aus dem Canyongrund zu ihr hinauf. Wenn sie über das Felsband blickte, konnte sie winzige Gestalten sehen, die in den eisigen Wassern des Yaqui 255
River spielten; der Fluß wand sich dünn und klar im schützenden Canyon abwärts. Sie erlaubte sich jedoch nur einen Blick in den Canyon; sie hatte anderes zu beobachten. Chokole bewachte den östlichen Zugang zum Nednihauptquartier. Für den Feind waren die hohen Canyonwände unbesteigbar. Von der Canyonkante, hundert Meter abwärts, bestanden die Wände aus reinem glattem Fels. Kein Feind konnte über diese Glätte absteigen und am Leben bleiben. Die übrigen siebzig Meter bildeten den Hang hinab zum Canyonboden und waren dicht mit Fichten, Blautannen und Lebenseichen bewaldet, die gegen Blicke über die Ränder des Canyons ein gutes Versteck bildeten. Außerdem war der Feind niemals so tief in die Sierra Madre eingedrungen; hier gab es zu viele zerklüftete, unpassierbare Gipfel und Schluchten. Selbst trotz dieser Absicherungen war man in der Nedni-Rancheria besorgt. Juh hatte, als er Geronimos Familie herbrachte, von der Gefangensetzung des Kriegsschamanen im Norden berichtet. Bei seinem Aufbruch hatte er alle einigermaßen fähigen Krieger mitgenommen, in der Absicht, im Süden und auch im Norden der Grenze zuzuschlagen und in San Carlos mit Kriegsbeute einzudringen, mit der er eine Revolte anzetteln und Geronimo befreien konnte. Juh war nun schon lange Zeit fort, und kein Bote brachte Nachrichten. Ishton befehligte in der Nednischar zwanzig alte Männer, hundertfünfzig Frauen und nahezu dreihundert Kinder. Chokole hatte sich das Felsband als idealen Beobachtungspunkt ausgesucht, weniger als zwanzig Meter unterhalb der Canyonkante. Mit dem Gewehr und dem spanischen Fernglas hatte sie sich einen halben Tag abgemüht, um bis zu dieser prekären Höhe hinaufzuklettern. Sie hatte bereits die Nacht hier verbracht und würde noch einen Tag und eine Nacht bleiben, ehe man sie ablöste. Von dieser Stelle aus konnte sie das Land oberhalb und jenseits des gegenüberliegenden Canyonrandes sehen, zerbrochen und zerklüftet von Felsen, und spärlich mit Kakteen besetzt. Wenige Pinien ragten verkrüppelt aus den Felsen, vom Widerstand gegen starke Winde verkrümmt. Die Sonne wischte über die Wand des Canyons. Ihr 256
frühes Licht verwandelte narbige Flächen und Windaushöhlungen in wohlgebildete Tempel und altertümliche Gesichter. Das Licht verbreitete sich über funkelnde Felsschichten und dämpfte ihre Farben zu einem tiefen Lavendel. Dunkelrote Flecken blühten hell auf, ehe sie zu Rosa bleich verblaßten. Eine gelbe Sandsteinschicht, vermischt mit einem leuchtenden Blau darunter, wurde vom Lichtschein seegrün überzogen. Widerstrebend wandte Chokole das Fernglas von der Wand ab. Sie musterte den Canyon im Osten, wo er eine Meile lang gerade verlief, ehe er sich außer Sicht wand. Der Boden des Canyons war dicht mit Bäumen bestanden. Der Yaqui River war fast verborgen; man sah sein Blitzen nur durch Öffnungen zwischen den Baumkronen. Ein vorsichtiger Feind konnte unter diesen Bäumen vorrücken, ohne daß Chokole ihn ausmachen konnte. Das wußte sie und beobachtete deshalb die Vögel. Eine halbe Meile entfernt segelte ein Klippenfalke friedlich über den Canyon hinweg, um sich an den Felsen der Wand niederzulassen. Sein Flug veranlaßte eine Mauerschwalbe, wie ein purpurroter Blitz durch eine grüne Tannenkrone zu flitzen. Irgendwo weit oben im Canyon gurrte traurig eine Morgentaube; das Gurren warf lange Echos. Chokole, die flach auf dem Bauch lag, richtete das Glas weiter canyonaufwärts, auf der Suche nach der Taube, und dann über eine offene, grasige Wiese zwischen den Bäumen. Sie setzte das Glas wieder ab. Ein Reh war auf der Wiese, trank und hob wieder den Kopf aus dem Wasser. Lichtpünktchen sprenkelten die Unterseite seines lohfarbenen Fells und schimmerten im Sonnenschein. Ängstlich berührte es mit dem Mund das Wasser; es nippte kaum, ehe es wieder den Kopf hochwarf. Die großen Ohren zuckten, und das Tier wandte den Kopf nach Osten. Wachsam. Und dann schoß es wie durch Zauber in die Bäume, aus Chokoles Blickfeld hinaus. Wahrscheinlich eine Gebirgskatze, die sich nach einer Frühmorgenbeute umsieht. Aber Chokole gefiel es doch nicht, wie sich das Reh verhalten hatte. Es hatte die Nüstern nicht in den Wind gehoben, sondern die Ohren eingesetzt. Katzen erzeugen auf der Jagd 257
keinen Laut. Chokole hielt das Fernglas auf die Lichtung gerichtet. Eine Drossel schoß aus dem Gras zu den Bäumen empor. Chokole fühlte eine wachsende Besorgnis, als sich die Lichtung von allem Leben leerte. Sie beobachtete. Die Männer kamen zwischen den Bäumen hervor und machten auf der Lichtung keine Pause, sondern gingen weiter. Sie trugen graue Uniformen, und auf ihren Schultern funkelten silberne Verzierungen. Zuerst meinte Chokole, es seien nur wenige, aber es war nur die erste Rotte gewesen. Kaum war diese zwischen den Bäumen untergetaucht, als sich die Lichtung wieder mit Soldaten füllte. Diesmal hörte der Strom der Männer nicht auf. Sie trugen Gewehre und liefen, ohne Vorsicht walten zu lassen. Das bedeutete, daß Scouts, näher an Chokole heran, sich bereits vergewissert hatten, daß kein Hinterhalt gelegt war. Ihr erster Impuls war es, aufzustehen, das Gewehr abzufeuern und das Camp zu warnen, aber dann überlegte sie es sich doch anders. Die Soldaten waren immerhin noch eine Meile entfernt. Die Scouts würden ihr näher sein, und wenn sie jetzt schösse, würden die Scouts das Camp überfallen. Es sei denn, sie könnte jemanden töten und sie dadurch in Furcht versetzen. Sie legte das Glas ab, hob das Gewehr und heftete ihren Blick auf die Bäume. Sie suchte mit den Augen nicht herum, sondern richtete sie auf einen Punkt in der Mitte des Canyons und wartete. Der Canyon wurde dadurch für sie wie zu einem reglosen Bild auf Leinwand; jede Bewegung mußte das Bildhafte stören. Sie schrak zusammen. Blitzartig waren braune Formen überall zwischen den Bäumen – schweigend, flitzend und flüchtig, so daß sie nicht sicher sein konnte, eine Bewegung bemerkt zu haben. Chokole suchte sich einen braunen Blitz aus, der von rechts hinter dem Stamm einer Lebenseiche verschwand, zweihundert Meter voraus. Sie zielte mit dem Gewehr nicht auf die Eiche. Die Bewegung war rechts gewesen, und wenn sie hinter dem Baum hervorkam, würde sie sich nach links wenden. Daher zielte sie wenige Zentimeter neben den Baum. Es blitzte braun auf, und sie zog ab. Die Bewegung erstarrte, mitten in der Luft verharrend, und wurde zu einem Mann, zu einem nack258
ten Mann. Er riß beide Arme hoch in die Luft und brach zusammen. Der Canyon wimmelte von Tarahumara-Indianer-Scouts! Chokole legte den Patronengürtel vor sich hin, lud nach und zielte auf die Bewegungen. Ihr erster Schuß hatte durch den Canyon gedröhnt und zwischen den Wänden Echos erzeugt. Undeutlich hörte sie Rufe und Schreie, aber sie nahm sich keine Zeit, über das Felsband zu spähen. Sie verfolgte eine erneute Bewegung, schoß und sah einen Indianer stürzen. Noch einen. Die flitzenden Bewegungen drängten sich nun dicht zusammen, und sie kroch zum Abbruch des Felsbandes und konzentrierte ihr Feuer nach unten, gegen die Indianer. Die Tarahumaras waren schnell, aber Chokole war eine seit langem erfahrene Schützin. Das Vorrücken der Tarahumaras wurde allmählich langsamer. Chokole veränderte ihre Stellung und stemmte sich auf ein Knie, so daß sie in steilerem Winkel abwärts feuern konnte. Aber dadurch hob sie sich von dem Fels ab. Zwanzig Meter vor ihr sprang ein Indianer aus dichtem Tannengehölz auf eine zehn Fuß entfernte Eiche zu. Ihr schneller Schuß warf ihn strampelnd zu Boden. Jetzt krachten andere Gewehre und dröhnten durch den Canyon. Weit im Westen hörte sie knatterndes Gewehrfeuer. Man war also von beiden Enden in den Canyon eingedrungen! Sie hörte den Schuß nicht. Der Aufprall schleuderte sie aus ihrer knienden Stellung rückwärts. Lichtfünkchen blitzten vor ihren Augen, und tief unten hörte sie Geschrei, aber sie konnte nichts sehen. Die Finsternis zerrte an ihren Augen; sie versuchte, sich dagegen zu wehren, sie zurückzuschieben, aufzustehen. Sie verlor. Schwärze setzte ihrem Wehren ein Ende. Als sie erwachte, war es Morgen. Sie lag am Felsband auf dem Rükken. Ihr Kopf war auf einen Stein aufgestützt, und sie konnte den Canyon sehen, der sich tief unter ihr dahindehnte. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Der gleiche Klippenfalke segelte über den Canyon und ließ sich auf dem gleichen Felsvorsprung nieder. Sie hörte keinen Laut. Vögel erkannte sie an blitzartigen Bewegungen und Farbtupfen in den Bäumen. Chokole fühlte die Erinnerung zurückkehren. Sie wollte aufstehen, aber als ihr Geist ihrem Körper befahl, sich 259
zu bewegen, passierte gar nichts. Sie schaute sich um. Ihre Arme waren ausgestreckt, nach außen gebreitet, aber sie waren wie von ihr getrennte Gegenstände. Sie konnte sie nicht fühlen. Sie konnte den Kopf nur ganz schwach von einer Seite zur anderen wenden, aber sie konnte ihn nicht von dem Stein hochheben. Der Blick ihrer Augen wanderte über das Felsband. Als sie erstmals hier auf diesem Ausguck eingetroffen war, hatte sie die bullenhörnige Pflanze untersucht, die aus dem Fels wuchs. Sie erinnerte sich an ein Lieblingsspiel, das sie in der Kindheit mit dieser Pflanze gespielt hatte. Ameisen lebten in den riesigen hohlen Dornen der Pflanze, und man brauchte nur ein Blatt oder den Stengel anzurühren, und schon pflegten die Ameisen herauszustürzen, um die Pflanze zu verteidigen. Sie hatte mit ihren Spielgefährtinnen endlose Stunden damit verbracht, die Pflanzen anzufassen und die kleinen, zum Angriff vorschießenden Armeen zu beobachten. Als sie hier zum Wachtdienst eingetroffen war, standen die drei Stengel der gehörnten Pflanze fast nackt da; sie hatten noch nicht geblüht. Jetzt aber waren die Stengel von Blüten umkleidet: dicke, gelbe Kerzen voller Farbe! Wie lange hatte sie wohl in der Finsternis gelegen? Zwei Tage? Vielleicht drei. Ihre Sinne versuchten mühsam sich zu erinnern, wie lange eine bullenhörnige Pflanze brauchte, um aufzublühen. Während sie die Pflanze beobachtete, konnte sie auch die Ameisen sehen. Sie waren durch ihre Gegenwart gestört worden. Ihre Augen folgten einer dünnen, kriechenden Kolonne. Sie wandte den Kopf; die Fährte führte über das Felsband und in ihre Hand. Als sie die Ameisen erkannte, befahl ihr der Instinkt, es wenigstens zu versuchen: die Hand wegzureißen. Doch erlebte sie wieder einen Schock, als die Hand nicht reagierte. Die Hand war ein großer Ball, der sich unter wimmelnden Ameisen zu verkrümmen und zu verdrehen schien. Chokole verengte ihren Blick und beobachtete die Hand. Fast unmerklich bewegte sich die Hand! Die Ameisen zerrten, schoben, trugen die Hand über den Boden. Sobald sie entdeckten, daß sie die Hand nicht stärker bewegen konnten, wür260
den sie, das wußte Chokole, nachforschen – und sie würden den Arm entlang hinaufkriechen. Sie wandte den Blick von den Ameisen. Sie schaute nach unten, über ihren Körper, und glaubte zuerst, ein Stein sei ihr auf die Brust gelegt worden. Sie musterte ihn. Er war feucht, fast schwarz; ein Klumpen Blut, das hervorgeschossen war und sich beim Gerinnen zu einer weichen, kompakten Erhebung geformt hatte. Unterhalb sah sie zwei Holzstücke, die gespreizt aus ihrer Lendenschurzhose herausragten. Ihr erster Blick identifizierte sie als Holzstücke, aber Chokole war auf vielen Schlachtfeldern gewesen, und sie wußte Bescheid. Diese Holzstücke waren ihre Beine. Kein Blut war mehr durch sie pulsiert. Unter der Haut verfaulte das Fleisch. Wo das Fleisch schwärte, faulig, aufschwellend, würde es die Haut zerreißen, die nun schwarz war, und der weiße Auswurf aus den Rissen würde aussehen wie Rinde, durch die schon Saft birst und die sich noch immer an einem Stamm anklammert. Chokole wußte nun Bescheid; sie lag im Sterben. Mittags kam die Fliege. Das Summen ihrer Schwingen tönte wie tiefer Alt in der stillen Luft. Sie schlug nur einen Kreis und landete auf der blutkrustigen Erhebung, auf Chokoles Brust. Zehn Zentimeter von ihren Augen entfernt, starrte die Fliege sie an – große pustelige Bälle, die auf ihrem Kopf rotierten. Ihr Körper war grün, glatt und metallisch. Die Fliege tauchte ihre Füße ins Blut. Chokole schürzte die Lippen und blies heftig auf die Fliege, aber diese preßte die Flügel so dicht an den Körper, daß sie sich nicht bewegte. Sie kauerte sich dichter an den blutigen Hügel und hielt sich mit den behaarten Füßen fest. Schließlich vollgesogen, hob sie sich träge in die Luft und flog von dem Felsband davon. Das ist der Scout gewesen, dachte Chokole. Wird ihnen sagen, daß ich hier liege. Sie versuchte, den Kopf nach hinten zu biegen; sie wollte ihn benutzen, um sich über das Band hinauszureißen. Falls sie den Rand erreichen konnte, würde sie zweihundert Meter tief fallen. Aber ihr Kopf wollte sich nicht auf dem Stein bewegen lassen. Sie hörte sie kommen, ihre Flügel zirpten einen leisen Akkord unterhalb der Fels261
leiste. Sie kreisten um sie, während sie sie sehen konnte, eine lange endlose Kette von Fliegen. Sie ließen sich grünlich und haarig auf dem Bluthügel nieder und drängten sich, miteinander kämpfend, herum. Der Zustrom von unten her hielt an; sie bedeckten ihre Beine, fraßen und legten Eier für die Maden, die sich entwickeln würden. Chokole blies immer und immer wieder auf sie, bis sie ganz erschöpft war. Sie ließen sich beim Fressen nicht vertreiben. Ihr Blick wurde verschwommen und schwächer; dann belebte er sich wieder. Alles schien heller zu sein; klar. Ein Mann war auf dem Felsband. Er saß auf einem Stein. Chokole war ganz sicher, er sei ein Feind, ehe er sprach. Seine Stimme klang sanft und musikalisch, und er sprach sehr gut ihre Sprache. »Ich habe deinen starken Geist bewundert, Chokole.« Er lächelte und beugte sich vor, um etwas Sand aufzuheben. Er warf den Sand gegen die Fliegen. »Es ist nicht leicht«, flüsterte Chokole. Aus ihrer Kehle wollte kein Laut dringen. »Noooo«, sagte der Mann überlegend, »es ist nie leicht, den Geist stark zu machen. Der Weg ist schwer. Die meisten Menschen wählen den leichten Weg, und daher sind ihre geistigen Körper schlapp und schwach. Jeder kann seine Wahl treffen, wie du weißt.« »Ich glaube es«, sagte Chokole. Sie blies eine große Fliege an, die auf ihr Kinn vorrückte. Der Mann warf etwas Sand gegen die Fliege, und sie flog summend davon. »Danke«, flüsterte Chokole höflich. »Nicht der Rede wert«, sagte der Mann heiter, »aber ich sollte mich nicht lange aufhalten. Ich möchte dir gern etwas zeigen, wenn du mit mir gehen möchtest.« »Ich würde gerne mitgehen«, sagte Chokole, »fast überallhin, aber wie du siehst, kann ich mich nicht bewegen.« »Doch, du kannst dich bewegen.« Der Mann lächelte und stand auf. »Komm mit mir.« Chokole stand ohne die geringste Mühe auf. Sie schaute um sich. Ihr von den Fliegen bedeckter Körper lag noch immer auf dem Fels262
band. Sie folgte dem Mann die Canyonwand hinauf. Es war leichtes Gehen. Vom Canyonrand aus gingen sie nach Süden. Wie Apachen. Chokole merkte sich während des Weitergehens ihre Umgebung genau, denn das würde für eine erfolgreiche Flucht später nützlich sein. Sie gingen auf den Baumwipfeln, und wo Berge ihren Weg sperrten, traten sie einfach über sie hinweg. Nun erhoben sich überall um sie herum Berge. Sie drängten sich durcheinander und wiesen keine Bäume auf. Das Terrain stieg an, rauh, und es gab kein Leben mehr. Vorne erblickte Chokole vier Berggipfel. Sie stiegen aus einer Basis auf, die höher war als die sie umringenden Berge, und sie sahen aus wie Tischbeine, die den Himmel stützten, denn sie verschwanden in den Wolken. Auf den Gipfeln lag jetzt Schnee. Der Mann führte sie an die Flanke eines der Gipfel. Sie setzten sich hin. »Bist du müde?« fragte der Mann freundlich. »Nein«, antwortete Chokole. »Du hast einen starken Geist«, sagte der Mann bewundernd. »Schau.« Er deutete mit dem Finger nach unten, zwischen die vier Gipfel. Chokole schnappte nach Luft. Dreitausend Meter tief lag eine weite, eingesunkene Mulde, die von den hohen, miteinander verbundenen Fundamenten der Gipfel eingeschlossen war. Der Boden dieser Mulde war grün und schimmerte wie ein riesiger Smaragd. »Komm«, sagte der Mann. Sie stiegen tief in die Mulde hinunter. Hier war es warm, und Chokole stand in saftigem Gras, das ihr bis über die Knie reichte. Auf einer Seite der Mulde rauschte ein kräftiger Wasserlauf, der sich durch die Mulde wand und die andere Seite erreichte. Dort verschwand er in dem mächtigen Gebirgsstock. Das Wasser war klar und funkelte. Chokole konnte die Sandkörner im Grunde des Bettes zählen. Ein großes Rudel Rehe, die aus dem Wasser tranken, achtete nicht auf Chokole und den Mann. Chokole folgte ihm, sie gingen neben dem Wasserlauf. Sie versuchte, die Rehe zu zählen, aber es waren zu viele. Abseits der grasigen Wie263
sen waren viele Gehölze; die Bäume standen mit ihren weiten Laubbaldachinen rings um die Mulde. Chokole und der Mann setzten sich unter die Bäume. Droben, in den Zweigen, blitzten Farbflecke auf; Vögel zwitscherten und spielten. Irgendwo auf den Wiesen sang hoch und musikalisch eine Feldlerche, in deren Gesang andere einfielen. Der Mann ahmte pfeifend die Feldlerche nach, und ein halbes Dutzend Pfiffe antworteten ihm. Er lachte und deutete weit den Wasserlauf hinab. »Siehst du dort die Herde von weißen Tieren?« Chokole nickte. »Das sind Bergziegen. Möglicherweise« – er blickte abschätzend die hohen, glatten Felswände der Mulde hinauf – »könnten sie herausklettern … aber« – er zuckte die Achseln – »dafür gäbe es keinen Grund. Hier haben sie viel. Und alles, was sie finden könnten, sofern sie die Bergkämme erreichten, wären Felsen. Oder« – er deutete weit hinein in das ausgedehnte Grasland, wo Schwärme von Wachteln aus dem Gras aufstiegen, herumflatterten und sich wieder niederließen, um zu fressen – »oder … sie könnten schon hinausfliegen, aber wenn sie einmal dort oben die hohen Winde erreicht haben, werden sie zurückkehren.« »Hast du diesen Ort geschaffen?« fragte Chokole argwöhnisch. Der Mann kicherte. »Nein. Vor langem, wie man auf der Erde die Zeit mißt … sogar ehe ich die Erde in einem Schattenkörper besucht habe … ist Hitze aus dem Innern der Erde hochgequollen. Nachdem die Hitze ein paar tausend Meter hochgestemmt hatte, widerstanden schwere Felslagen unter der Mulde der Hitze, aber um sie herum war das Gestein schwächer und stieg weiter hoch.« Der Mann deutete auf die schneebedeckten Gipfel, die in die Wolken ragten. »Die Berge selber hatten vier schwache Stellen gehabt, und dort sind sie noch höher geschoben worden. Nooo«, sagte er sinnend, »ich habe das nicht geschaffen; aber ich helfe bei den Gesetzen mit, die es geschaffen haben.« »Ein Apache«, sagte Chokole nachdenklich, »würde diesen Ort niemals verlassen.« »Nein. Das glaube ich auch nicht«, sagte der Mann. 264
»Aber«, sagte Chokole und blickte an der hohen Wand hinauf, »ich glaube nicht, daß ein Apache hier eindringen könnte.« Der Mann folgte ihrem Blick rund um die Mulde. »Nun, da könnte es doch einen Weg geben«, sagte er hoffnungsvoll. »Folge mir.« Am Fuße der Wand ging er zwischen zwei riesige Felsblöcke, und als Chokole ihm folgte, sah sie einen Pfad, der längs der Wandseite hinaufführte. Der Pfad war breit genug für zwei Menschen, und Chokole ging neben dem Mann. Der Pfad wand sich um Felsvorsprünge in der Wand und erreichte, manchmal steil, manchmal fast eben, die Hochfläche. Aber dort oben blockierte ein hochgetürmter Kamm aus Felsen und Erdreich den Pfad. »Siehst du« – der Mann deutete zu der mächtigen Sperre hinauf – »daher sind die Tiere in der Mulde gefangen. Ein Teil des Berges ist abgeglitten und hat den Weg versperrt.« Er trat auf den Kamm des dreihundert Meter hohen Bergsturzes. Chokole folgte ihm. Hier oben wehte der Wind kalt, und vereinzelte Schneeflocken wirbelten um sie herum. »Was meinst du?« fragte der Mann. »Apachen könnten es schaffen«, sagte Chokole etwas stolz, »wenn sie wüßten, wo diese Stelle liegt, diese genaue Stelle.« »Ja«, stimmte der Mann zu, »ich glaube, sie könnten es.« Er nahm Chokoles Hand. »Wir werden gehen müssen.« Sie schaute sehnsüchtig in die Mulde hinein; doch erlaubte sie ihm, sie an der Hand zu führen. Sie gingen zum Yaqui-Canyon zurück. Der Mann setzte sich auf einen Stein, von dem aus man den Canyon überblickte. Chokole setzte sich neben ihn. Unter ihr konnte sie das Felsband sehen und darauf ihren Körper. Aber es war schwer, die Umrisse des Körpers zu erkennen; nur der Kopf, der auf dem Stein lag, war klar. Der übrige Körper schien sich zu verrenken und sich in wellenartiger Bewegung zu heben und zu senken. Die Illusion der Bewegung ihres Körpers wurde verursacht von den Bewegungen der großen Fliegenschwärme, die an ihm fraßen, und vom Kriechen der unter ih265
nen wimmelnden weißen Maden. Chokole erschauerte und blickte beiseite. »Ekelhaft«, bemerkte der Mann. Er nahm einen Kiesel, warf ihn, im Bogen ausholend, über den Canyon, und drüben fiel er, außer Sicht, herunter. »Wie ich schon vorher meinte«, sagte er beiläufig, »hast du einen starken geistigen Körper. Du hast den machthungrigen Gottregierungen widerstanden, die dich zwingen wollten, sie zu verehren, weil sie deinen materiellen Körper nähren und versorgen. Du hast die hohen Gesetze der Treue in deinem Geist bewahrt … aber« – er runzelte die Stirn – »ich habe mich gefragt, ob du deine Kämpfe alle für dieses Ziel geführt hast … oder vielleicht ein wenig auch aus Rache.« Chokole errötete und blickte auf ihre Füße. »Einige schon…«, sagte sie zögernd, »aber bestimmt keinen für das niedrige Gesetz des Ruhms, oder, die Tötung meines Mannes…« »Ich verstehe«, sagte der Mann, »aber Rache ist ein niedriges Gefühl und schwächt die Seele.« »Aber wie sollen sie denn bestraft werden?« fragte Chokole. »Hat nichts zu bedeuten«, sagte der Mann. »Die niedrigen Gesetze, nach denen sie handeln, rücken ihre Geister auf niedrigere Ebenen, und sie müssen daher in Schattenkörpern auf der Erde wiedergeboren werden. Sie sind ihre eigenen Abkömmlinge und ernten daher nur das, was sie gesät haben. Wie sie sagen, wiederholt sich die Geschichte der Erde selbst, immer und immer wieder. Manche leisten in ihren folgenden Leben Widerstand, manche tun das nicht. Das ist die Wahl, die man hat.« »Ich wünschte«, sagte Chokole demütig, »ich hätte mich der Versuchung nach Rache widersetzt.« »Ja«, sagte der Mann, »das wünscht im allgemeinen jeder, so bald er den Schattenkörper verlassen hat und sieht, wie schwach sein geistiger Körper ist. Einst – ich mußte es nicht tun – einst kam ich freiwillig zurück, in einen schattenhaften Körper, um zu zeigen, daß der Krieg zwischen den niedrigen und den hohen Gesetzen stets im 266
Innern eines Menschen ausgetragen wird. Ich habe sogar einem Büro ihrer Gottregierung erlaubt, meinen Schattenkörper zu Tode zu bringen – sehr schmerzhaft –, um zu beweisen, daß der geistige Körper triumphieren kann, wenn man nur allen Versuchungen der niedrigen Gesetze widersteht. Aber … meistens ist es falsch interpretiert worden. Sie haben gerne Macht, wie du weißt … verwalten Rituale mit zauberhaften, leichten Gaukeleien, von denen sie behaupten, daß sie einen auf das hohe Plateau hinaufbringen. Aber immer geht es nur um die Wahl.« »Wenn ich noch einmal die Wahl treffen könnte«, sagte Chokole, »würde ich sie nutzen.« »Nun…«, sagte der Mann sinnend. »Ich wäre nicht so schnell damit bei der Hand, wenn man nicht weiß, was es ist. Verstehst du, ich hab' mir Sorgen gemacht um die Kinder, drunten in dem Canyon … einige haben es überlebt, weißt du.« »Wirklich?« Chokole war überrascht. »Ja«, sagte der Mann. »Ich habe schon immer eine Schwäche für Kinder gehabt – die Geister, die zurückgekehrt sind und gerade ihre Schattenleben beginnen. Sie könnten in das hohe Tal, das wir gesehen haben, gebracht werden.« »Ja«, sagte Chokole eifrig, »sie würden frei sein, und…« Sie runzelte die Stirn. »Wer aber kann sie dorthin bringen?« »Nun…«, sagte der Mann, »Juh ist aus seinem Schattenkörper gegangen und kann nicht kommen. Aber«, fügte er nachdenklich hinzu, »Geronimo ist entwischt und auf dem Weg hierher.« Chokole stand in ihrer Erregung auf und fiel beinahe in den Canyon hinab. »Dann wird Geronimo bald hier sein. Geronimo liebt Kinder. Er wird es tun.« »Ja«, sagte der Mann zustimmend. »Geronimo könnte es tun … wenn er wüßte, wo das hohe Tal liegt…« »Wer wird es ihm denn sagen?« fragte Chokole. »Das ist deine Wahl«, sagte der Mann und deutete auf das Felsband hinab. 267
Chokole wandte ihren Blick von ihrem Körper auf der Felsleiste ab. Sie fühlte sich übel. Dann fragte sie hoffnungsvoll: »Aber selbst, wenn ich bleibe und es Geronimo sage, wird er Rache an dem Feind nehmen wollen. Er könnte Rache nehmen, anstatt die Kinder in das hohe Tal zu führen.« »Das«, sagte der Mann, »ist Geronimos Wahl, nicht deine oder meine.« Chokole schloß die Augen. »Ich möchte die Kinder retten … wenn dies der einzige Weg ist…« Sie versuchte die Augen zu öffnen. Ihre Lider waren schwer. Sie waren mit Ameisen beladen. Sie blinzelte heftig, erschütterte damit die Ameisen und ließ sie herunterfallen. Tränen, die aufquollen, hielten die tastenden Münder der Ameisen von ihren Augenbällen fern. Der feine, beharrliche Ton war überall um sie herum. Tausende winziger Tiere, die fraßen und herumkrochen, erzeugten ein ekliges, unruhiges eintöniges Geräusch, über dem das metallische Schwirren der Fliegenschwingen summte. Mit ihrem ganzen Apachenwillen wehrte sie sich gegen das Gift, das ihren Hals schwellen ließ. Rauschend fegte Luft über das Felsband, und Chokole sah, wie Bussarde landeten. Sie plumpsten herab, auf festem Boden unbeholfen. Sie richteten sich auf, streckten die Hälse und drehten die kahlen Köpfe, um sie zu inspizieren. Unter ihren riesigen Schnäbeln hing verschrumpelte Haut, schwammig und schuppig. Es waren vier, und sie hoben und senkten die Flügel, während sie sich linkisch hopsend und stelzend näherten. Chokole wollte gerade die Augen schließen, als schnell ein Schatten über das Felsband huschte. Der Schatten alarmierte die Bussarde. Sie stolperten hüpfend und hopsend, flügelschlagend davon. Chokole sah von dem Schatten auf. Es war ein großer Adler. Er neigte sich, wandte sich gegen den Wind und flog zurück. Diesmal streckte er die Füße mit den Krallen aus, bremste sich gegen die Luft ab und landete dicht neben Chokole. Sie sah, wie er den Kopf drehte und sie anblickte. Er kratzte im Sand, der auf dem Fels lag. Chokole blinzelte mit den Augenlidern. Es war Geronimo. 268
Er kniete nieder und warf Sand auf ihren Körper. Der Schweiß glitzerte auf seiner nackten Brust und auf den Armen. Etwas Sand traf sie ins Gesicht. Sie versuchte, ihm zuzurufen, aber mehr Sand fiel auf sie und erstickte sie fast. Er begrub sie! Sie blinzelte rasch mit den Augenlidern, aber er hatte den Kopf gebeugt, während er mehr Sand aufscharrte und über sie warf. Eine riesige Wolke von Fliegen stieg in die Luft empor. Verzweifelt schürzte sie die Lippen und blies schwächlich Luft zwischen ihnen durch. Sie pfiff! Es war dünn und ganz schwach, aber sie sah, wie sein Kopf emporzuckte; die funkelnden schwarzen Augen trafen ihren Blick. Dann war er neben ihr, kniete und wusch ihr das Gesicht mit Wasser aus einem Wasserbeutel. Er versuchte, Wasser zwischen ihren Zähnen in den Mund zu gießen, aber sie spuckte es aus, denn sie fürchtete, sie würde ersticken. Sein Gesicht war dem ihren nahe, und nun bettelte sie ihn mit den Augen an und bewegte die Lippen. Er beugte sich tiefer herab. Sie flüsterte: »Kannst du mich hören, Geronimo?« »Ja«, sagte er ihr sanft ins Ohr, »ich höre dich.« »Alle Apachen müssen nicht sterben … wie Cochise gemeint hat. Gott hat die Apachen nicht vergessen, Geronimo. Kannst du hören?« »Ich höre, Chokole.« Ihr Verstand versuchte, die Gedanken zu ordnen. Es fiel ihr schwer, Worte zu formen. »Die Kinder, Geronimo. Da leben immer noch Kinder. Bring sie zu der Stelle, Geronimo.« »Zu welcher Stelle?« »Ja … es gibt eine Stelle … hör zu, Geronimo.« Und nach Art der Apachen begann Chokole bei dem Felsband und beschrieb den Weg nach Süden – jeden Berg und Arroyo, das Aufsteigen, die im Himmel verschwindenden Gipfel. Sie beschrieb die hohe Barriere, über die der Weg in das Tal führte. Sie erzählte von dem hohen Tal, alles, was sie wußte: von dem Wasserlauf, den Rehen, den Bäumen … aber ihr Geflüster wurde immer schwächer. Sie hielt inne und wollte Bestätigung haben. Das Flüstern war fast erstorben. Jetzt tönte 269
es nur noch wie ein Hauch. Chokole strengte sich an, um ihre geschwollene Zunge, ihre Lippen zu zwingen, die Worte zu formen. »Geronimo?« »Ja.« »Sag mir, daß du die Kinder … hinbringst?« Er hob den Kopf und schaute auf sie, auf ihr anschwellendes Gesicht, auf ihre Augen, die zu Schlitzen geworden waren. Zwischen den Schlitzen im Fleisch waren ihre Augen hell und stark. Er sagte nichts. Mit großer Mühe atmete sie tief ein. Schließlich brachte sie ein krächzendes Flüstern, überraschend stark, heraus. »Dein Wort, Geronimo, gib mir dein Wort!« Sein Blick wurde weicher. »Ich gebe dir mein Wort, Chokole. Ich werde die Kinder dorthin bringen.« Die große, sich purpurn verfärbende Masse Fleisch, die Chokoles Gesicht war, spaltete sich unmerklich. Sie versuchte zu lächeln. Sie blickte weg von Geronimo, in die Höhe, wo das letzte Rot der Sonne eine dahinsegelnde Wolke färbte. Ihr Geflüster tönte dünn: »O Ha Le! O Ha Le!« Und die starke Lebenskraft schwand schnell aus Chokoles Augen. Sie hatte die Reise angetreten und den Schattenkörper zurückgelassen, in dem sie ihre Seele gestärkt hatte.
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eronimo begrub ihre Leiche im Sand. Als die Dämmerung aus dem tieferen Dunkel des Canyons heraufkroch, arbeitete er sich mühselig durch die Wand hinunter. Die Bussarde hatten ihn zu der Felsleiste geführt. Er war inmitten der Nedni-Rancheria gewesen und hatte nach Lebenszeichen gesucht, als er sie sah. Er hatte keine Spur Leben gefunden. 270
Über eine Meile weit lagen an den Ufern des Yaqui River die Leichen von Frauen und Kindern und wenigen alten Männern, überall verstreut, wie sie eben auf der Flucht gefallen waren. Alle hatte man skalpiert. Viele waren verstümmelt, gliedlose Haufen Fleisches. Er hatte Ishton gefunden. Sie hatte immer noch ein Gewehr unter sich liegen. Dicht daneben lagen zwei ihrer jungen Töchter. Aber er hatte weder Chee-hash-kish noch Chappo oder Tozey gefunden. Er war sicher, sie seien hier, aber zu viele waren unkenntlich. Der Canyon war schwarz von schwirrenden Fliegen. Gereizt durch den Gestank der Leichen, hatten sie sich auch auf ihn gestürzt, und er hatte sie mit einem Baumzweig abgewehrt. Große Schwärme von Bussarden, entweder frech oder zu vollgefressen, um zu fliehen, hopsten unwillig aus seinem Weg. Es war ihm übel geworden; er hatte sich am Ufer des Yaqui hingeworfen und sich Wasser ins Gesicht gespritzt. Er sah ein Kind, das ein Fels aufgehalten hatte, aufgedunsen im Wasser. Er meinte Chappo zu erkennen, aber sicher konnte er nicht sein. Aber in ihm lebte eine Sicherheit, daß die Prophezeiung seiner Macht erneut erfüllt worden sei. Als er jetzt durch die Felswand hinuntergestiegen war, verließ er die Rancheria und wandte sich im Canyon nach Osten. Hier war die Luft rein und frisch. Nach dem betäubenden Schock fühlte er nun die Wut aufsteigen, während er neben dem Fluß stand. Er überprüfte seine Waffen. Er hatte ein Gewehr und einen Patronengürtel aufgehoben. Noch immer besaß er Bogen und Pfeile. Noch im verschwommenen Lichtschein der Sterne begann er die Fährte der Feinde zu suchen. Dann erinnerte er sich – an sein Wort! Er blieb stehen und dachte darüber nach. Er zweifelte nicht daran, daß Chokole eine Erleuchtung aus der geistigen Welt empfangen hatte. Dies war zwar kein außergewöhnliches Geschehnis bei den willensstarken Apachen, aber er zweifelte daran, daß es Überlebende gebe. Er würde es überprüfen; er hatte sein Wort gegeben. Er brach eine Patrone auf und schüttete das Pulver auf den Boden. Er kniete nieder, legte Äste über das Pulver, schlug zwei Steine aneinander und zündete so einen Funken in dem Stapel. Flam271
men schossen empor, und er nährte sie mit stärkeren Zweigen, bis er schließlich trockene Baumstämme zulegte, so daß ein riesiges Feuer entstand, das den Canyon erhellte. Er suchte vier Pfeile aus, band trockenes Gras um ihre Spitzen, und dann tauchte er einen Pfeil in die Flammen und schoß ihn gerade in die Höhe. Gegen den Luftwiderstand flackerte der brennende Pfeil und warf rötliches helles Glühen gegen den Himmel. Als der Pfeil auf dem Höhepunkt seines Flugweges stillhielt, schossen die Flammen nach außen, ein nächtliches Feuerspiel, ehe der Pfeil wieder in den Canyon zurückstürzte. Er wartete ab und merkte sich das Weiterwandern eines Sterns über dem Canyonrand. Eine halbe Stunde später schoß er wieder einen flammenden Pfeil hoch. Auf diese Weise verschoß er die vier Pfeile. Danach stand er neben dem Feuer, machte die Flammen stärker und ließ sie höher lodern. Stunden verstrichen. Er stand mit dem Rücken zum Feuerschein, als er Licht sah – viele winzige Lichter, die unter den Bäumen reflektierten. Diese Lichter waren Augen. Er brüllte: »Geronimo! Geronimo!« Und sie kamen. Eine Frau und einige Kinder stürmten auf ihn zu. Sie packte ihn an den Armen und weinte: »Alle sind tot! Alle sind tot!« Geronimo stieß sie einfach beiseite, rannte auf die Kinder zu, kniete nieder und suchte nach Chappo und Tozey. Jenseits des Flusses tauchten zwei Frauen auf. Eine trug ein Baby, und ein paar Kinder drängten sich um die beiden. Sie traten ins Wasser, und Geronimo rannte ihnen entgegen, wobei er in seiner Erregung das Wasser hoch aufspritzte. Er holte sie ans Feuer. Weitere Kinder kamen hinter den Bäumen hervor, und er rannte zwischen sie und suchte. Ein alter Mann humpelte in den Lichtkreis, und Geronimo packte ihn bei den Schultern. »Hast du Chee-hash-kish gesehen? Hast du meine Kinder gesehen … meine Kinder Chappo und Tozey?« Der alte Mann schaute Geronimo benommen an. Sein Gesicht war blutig, und ein Arm war schlaff. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ich weiß es nicht.« 272
Er hinkte weiter und setzte sich ans Feuer zwischen die Frauen und Kinder, die der Schock stumm gemacht hatte. Einige wiegten ihren Körper hin und her und stöhnten. Geronimo ging zu jedem von ihnen, aber sie starrten ihn ausdruckslos an und hörten seine Fragen nicht. Er entfernte sich von der kleinen Gruppe. Im Herzen war er sich nun sicher. Seine Familie war tot. Er schaute leeren Blicks den Canyon hinauf, als ihm die Bewegung auffiel. Bei der Annäherung wurde sie zu einer kleinen Gestalt, die sich resolut mit einem zerfetzten Mokassin abmühte und ihn nachschleifte. Es war Chappo. Sein hirschledernes Hemd war zerfetzt, aber er näherte sich unbeirrt und zerrte eine untersetzte Gestalt mit – Tozey. Geronimos Herzschlag setzte aus. Sein Hals war wie zugeschnürt, und er wollte am liebsten losrennen und sie in die Arme schließen, doch tat er es nicht. Statt dessen blieb er abwartend am Feuer stehen. Als Chappo ihn erblickte, änderte er die Richtung, kam heran und hielt drei Fuß vor Geronimo. Er verkündete: »Ich hab' nicht geweint, Vater. Tozey hat geweint. Ich hab' mich um sie gekümmert. Ich hab' ihr gesagt, sie soll nicht weinen, aber sie hat geweint.« Tozey steckte einen Daumen in den Mund. Ihr Gesicht war vom Schmutz des Staubes und der Tränen beschmiert. Selbst jetzt mühte sie sich eifrig, ihren Mut zu beweisen. Unterdrückte Schluchzer würgten sie im Hals, und ihre Brust hob und senkte sich heftig bei der Anstrengung. Sie schaute, ein bißchen beschämt, zu ihrem Vater auf, der im Lichtschein über ihr aufragte. Ihre runden schwarzen Augen waren feucht, aber mit winziger Stimme, zwischen schnaubenden Atemzügen, sagte sie verteidigend: »Ich hab' nicht viel geweint, Vater. Chappo hat beinah geweint.« Geronimo konnte nicht sprechen. Er kniete nieder und hielt die beiden mit den Armen fest. Dann fragte er Chappo, ob er Chee-hashkish gesehen habe. »Ich hab' mit Tozey im Wasser gespielt, als der Feind gekommen ist«, sagte Chappo. »Ich hab' Mutter nicht gesehen.« Der Feind war plötzlich gekommen und von beiden Enden des Canyons in die Rancheria eingebrochen. Chappo erzählte, wie er 273
mit einer Geistesgegenwart, die über seine Jahre hinausging, sich mit Tozey unter dem Flußufer versteckt habe. Als der Kampf beendet war, rannten die Feinde flußaufwärts und -abwärts und suchten nach weiteren Opfern. Chappo hatte Tozey mit dem Kopf unters Wasser getaucht und sich selbst hineingeduckt, als feindliche Scouts fast über ihnen gestanden waren. Er und Tozey waren die ganze Nacht und fast den ganzen folgenden Tag im Wasser geblieben, bis er die Krähen und Bussarde im Canyon hörte. Dann hatte er Tozey aus dem Fluß zwischen die Bäume gebracht, und sie hatten sich niedergekauert in der Hoffnung, andere zu sehen. Da, verkündete Chappo, war es gewesen, als Tozey geweint hatte, obwohl er ihr versichert habe, er werde für sie sorgen und jeden Feind töten, der sie angreife. Chappo redete unaufhörlich und lief Geronimo nach, der Holz ans Feuer schleifte. Tozey tappte neben ihm mit und weigerte sich, seine Hand loszulassen, obwohl Chappo ihr zweimal mit Nachdruck einredete, sie müsse die Hand loslassen. Mit dem Daumen im Mund hatte sie stoisch Chappos anklagenden Bemerkungen über ihr Weinen zugehört. Die Wärme des Feuers und die Gegenwart des Kriegsschamanen erfüllten die Frauen und Kinder mit einem Gefühl der Sicherheit und gaben ihnen Schlaf. Fast eine Woche hatten sie sich voller Entsetzen verborgen. Jetzt, dicht am Feuer, schliefen die Kinder, eng aneinander und um die Frauen geschmiegt, die sie sich ausgesucht hatten – Ersatz für eine verlorene Mutter. Geronimo schleifte mehr Holz zum Feuer und setzte sich etwas abseits der Flammen hin. Chappo und Tozey standen vor ihm. Chappo erzählte: »…und so, Vater, habe ich Tozey gesagt, daß du kommen würdest. Ich sagte ihr, daß Mutter entkommen wäre, und ich weiß, es ist so, ich hab' gesagt…« Geronimo zerrte Tozey neben sich nieder und löste Chappos Hand aus ihrem festen Griff. Er legte ihren Kopf auf seinen Schoß, und sie fiel sofort in Schlaf, wobei sie einen seiner Daumen festhielt. Chappo erzählte: »Ich glaube, Mutter ist nach Norden entkommen, sie hat eine andere Schar gefunden, ich bin sicher. Wenn ich 274
mich nicht um Tozey hätte kümmern müssen, Vater, hätte ich mit dem Feind gekämpft, wie du … aber ich hab' nicht geweint.« Geronimo griff nach dem Jungen, zog ihn neben sich und legte seinen Kopf in seinen Schoß. Er glättete das zerfetzte Hirschlederhemd des Jungen, das Stacheln und Dornen im Rücken und an den Armen aufgerissen hatten. »Manchmal, Chappo«, sagte Geronimo weich, »habe ich geweint.« Chappo schwieg und vergrub sein Gesicht in Geronimos Schoß. Und während Geronimo das Feuer beobachtete, das hoch und knisternd loderte, fühlte er das Beben der Zuckungen in dem kleinen Körper unter seiner Hand. Das Schluchzen war in seinem Schoß erstorben. Geronimo sang: »O Ha Le … unsere Schattenkörper kommen und gehen. Aber wir sind zusammen … wir haben die Treue gehalten… O Ha Le… O Ha Le.« Obwohl es ein leiser Gesang war, war er musikalisch und erfüllte den Canyon mit neuer Zuversicht wie der erste süße Anhauch eines warmen Windes nach einem rauhen Winter. Die Gesichter der Schlafenden, in denen sich das Feuerlicht spiegelte, entspannten sich und lösten sich aus ihrer Verkrampfung. Geronimo fühlte, wie der Körper unter seiner Hand sich beruhigte. Chappo schlief und kuschelte sein Gesicht tiefer in Geronimos Schoß. Auch Tozey gab ihren eisernen Griff um seinen Daumen frei. Geronimo allein blieb wach in dem Canyon und sang. Er sah zu, wie die Flammen zusammensanken. Er hatte die Wahl getroffen. Er würde sie alle in das hohe Tal führen. Dann baute er das Feuer gegen die Kälte der grauen Morgendämmerung hoch auf. Der Nebel hatte sich dick und glitzernd auf den Felswänden des Canyons niedergeschlagen; es tropfte von den Bäumen. Geronimo zählte die Schlafenden: dreiundfünfzig Kinder, ein Dutzend Frauen, ein alter Mann. Er weckte sie auf, indem er »Haaaa-eeeee!« schrie, ging zwischen ihnen herum und organisierte sie für den Marsch in das hohe Tal. Den alten Mann schickte er 275
im Canyon nach Osten, zusammen mit den ältesten Kindern, um streunende Maultiere und Pferde zu suchen. Die Frauen führte er selbst zurück in die Nedni Rancheria, zu den Toten, um Vorräte zu retten. Sie waren furchtsam, scheuten vor den Toten zurück, aber er drängte sie weiter. Sie arbeiteten schnell, ungehindert von den Fliegen, die in der Morgenkühle noch träge waren. Sie sammelten Maissäcke, Trockenfleisch in Häuten aufbewahrt, Kochutensilien, Mehl… Geronimo ließ sie die Vorräte in Abständen zurück zum Campfeuer tragen. Noch ehe es Mitte des Vormittags war, befahl er innezuhalten, und am Campfeuer überwachte er das Verladen und Verschnüren der Vorräte und Ausrüstung auf dem Rücken zweier Pferde und eines halben Dutzend Maultiere, die die Kinder und der Alte zusammengetrieben hatten. Um Mittag waren sie unterwegs; sie stellten dem großen Kriegsschamanen keine Frage. Geronimo hatte keine Pause, weder für Fragen noch für Trauer, bewilligt. Und so führte er sie aus dem Canyon hinaus, auf dem Weg, den ihm Chokole flüsternd beschrieben hatte, nach Süden, längs hoher Kämme, immer höher ansteigend. Am Abend des vierten Tages waren sie nahe der Baumgrenze, und am Morgen des fünften hatten sie sie passiert und stiegen steil empor, gegen die hohen Winde und Schneeschauer. Am Abend des fünften Tages campierten sie kalt, ohne Feuer, nur in Decken gewickelt, aber Geronimo hatte die vier Gipfel gesehen, die in die Wolken hineinragten und deren schneebedeckte Flanken den roten Glanz des Sonnenuntergangs zurückgeworfen hatten. Er weckte sie um Mitternacht, denn er war in Sorge, die Gipfel zu erreichen. In der Tageslicht fast gleichkommenden Helligkeit eines Vollmondes arbeiteten sie sich über gefrorenen Boden hinauf; ihr Atem kam keuchend in der dünnen Luft. Die Helligkeit färbte den Osten rötlich, als er sie zu dem Fundament der hohen Felsbarriere brachte, genau so, wie Chokole es ihm beschrieben hatte. Der Wind war noch nicht gekommen, und in der ruhigen Luft schwebten die Dampfwölkchen ihres Atems über ihnen. Selbst die Maultiere und Pferde waren erschöpft und ließen 276
die Köpfe hängen. Es gab keinen Widerspruch, als Geronimo ihnen befahl, hier zu bleiben; er erkletterte über große Granitplatten die Barriere zu ihrem Kamm. Die ersten strahlenden Lichtbündel der Sonne schossen in das Tal. Zwei Meilen tief unter ihm spiegelte das Wasser funkelnd kristallene Lichtpunkte, und das vom Tau nasse grüne Tal glitzerte und wogte schimmernd in der Sonne. Geronimo hob das Fernglas und betrachtete ein großes Rudel Rehe, das auf den Wiesen graste, und etwas weiter entfernt die Ziegenherde, die im Wasserlauf trank. Kürzlich war aus den hochtreibenden Wolken Schnee gefallen, und in der Wärme des Tales hatte er sich in Regen verwandelt. Das Ergebnis war ein wahrer Ausbruch von farbenprächtigen Wildblumen, längs des Wassers und über die Wiesen gesprenkelt. Geronimo wandte das Gesicht dem klaren blauen Himmel über ihm zu. Er dankte Chokole für dieses Geschenk, und Usen, der sie hierher geführt hatte. Neben ihm meldete sich eine schwache Stimme: »Vater, ich will Tozey beibringen, im Wasser zu schwimmen. Wird lange brauchen, alle Bäume zu erklettern … aber ich werde sie erklettern.« Chappos Lippen waren bläulich in dem kalten Wind, aber er entdeckte das Rehrudel, deutete dorthin und lenkte Geronimos Aufmerksamkeit auf die dichten Wachtelschwärme, die in den Wiesen mit den Flügeln schlugen. Geronimo blickte zurück zu der Barriere und rief den Leuten zu, die Vorräte über die Felsen heranzubringen. Tozey, die mühsam emporklomm, hatte schon halbwegs den Kamm erreicht. Einige Frauen standen sprachlos da, als sie das Tal erblickten. Einige weinten. Sie schulterten ihre Lasten, kletterten die Barriere hinab, und die Kinder liefen rufend und erregt jauchzend voraus. Die Echos ihrer Schreie wurden schwächer, während sie in die grüne Wärme des Tales eintauchten. Als letzter kam der alte Mann über die Felsen; Geronimo half ihm seine Bürde zu tragen. »Ja«, antwortete Geronimo, »dieser Schatz stammt von Usen. Chokole hat ihn gekauft, für ihn bezahlt und ihn uns gegeben.« »Das werden wir nicht vergessen«, sagte der Alte. »Wir werden uns daran erinnern.« 277
Er wandte sich ab und lief, trotz seiner Last halb trottend, den Pfad hinab. Tozey trug einen kleinen Sack, den sie sich über die Schulter geworfen hatte. Geronimo kniete sich hin und schob die Last so zurecht, daß sie leichter tragen konnte. Chappo stolperte ein wenig unter einer beträchtlichen, in Kuhhäute eingewickelten Bürde. Der schwerfällige Buckel seiner Last zwang ihn, den Kopf zu beugen und von unten heraufzuspähen. »Bist du bereit, Vater?« fragte er ein wenig ungeduldig. »Ich gehe nicht mit«, sagte Geronimo. »Warum?« Chappos Stimme klang beunruhigt. Geronimo schaute beiseite, ins Tal hinein. »Es ist nicht meine Bestimmung. Ich kann nicht mitgehen. Wenn ich hier bliebe, würde der Feind nach mir suchen und das Tal vernichten.« »Wir würden den Feind töten, Vater«, wandte Chappo ein. »Ich weiß, wir könnten es. – Schau, ich bin stark.« Als er sich aufrichtete, um seine Kraft zu zeigen, wäre er fast nach hinten umgekippt. »Nein«, sagte Geronimo. »Ich kann nicht bleiben, aber ich werde oft kommen und euch von hier oben beobachten. Manchmal werde ich euch ein Zeichen geben. Ihr könnt mich sehen, wenn ihr heraufschaut.« Tozey schnüffelte und zwinkerte so, daß die Augen beinahe geschlossen waren. Ihre Brust hob und senkte sich, und sie schob einen Daumen in den Mund. Chappo balancierte vorsichtig seine Last aus und nahm sie an der Hand. »So, jetzt müßt ihr gehen«, sagte Geronimo. »Ja«, sagte Chappo, »wir müssen gehen.« Er führte Tozey ein kurzes Stück auf dem Pfad hinab, ehe er sich umdrehte. »Wir werden zu dem Berg hinaufschauen, Vater«, rief er. »Wir werden nach dir Ausschau halten.« »Ich werde kommen«, antwortete Geronimo. Noch einmal, ehe sie um eine Biegung des Pfades verschwanden, schaute Tozey zurück, ängstlich und hastig, und dann waren die beiden weg. 278
Geronimo beobachtete lange Zeit den Pfad, auf dem sie verschwunden waren. Dann erklomm er entschlossen die hohe Barriere und bestieg auf der anderen Seite das beste der Pferde. Das andere und die Maultiere führte er mit und stieg durch die kalten Winde bergab; an der Baumgrenze ließ er alle Tiere außer dem Reitpferd frei. Und dann, mehr und mehr an Höhe aufgebend, eilte er nach Norden. Um seine Brust hatte er Patronen-bandoleros geschlungen, und über dem Sattel hielt er ein Gewehr.
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eronimo hatte das Chokole gegebene Wort gehalten, aber indem er diese Wahl getroffen hatte, hatte er seinen Entschluß nur aufgeschoben, die Mörder von Chee-hash-kish aufzuspüren und zu töten. Weit im Norden, in einem Canyon der Dragoon-Berge, hatte er Gewehre und Munition versteckt. Jetzt brauchte er Krieger, und er setzte zu einer Suche an, die sich über zweitausend Quadratmeilen der Apacheria erstrecken sollte. Der Südwesten war geschäftig. Wo einst Dörfer gestanden hatten, waren jetzt Städte – Globe, Safford, Silver City, Lordsburg. Tucson gewann durch die neue Eisenbahn an Bedeutung, und viele der alten Minencamps entwickelten sich zu Geschäftszentren. Die Wagenzüge waren von der alten California Road verschwunden. Frachtgut kam per Eisenbahn, und die Leute reisten mit Personenzügen der Southern Pacific von El Paso aus über die ebenen Prärien durch Lordsburg und Station Bowie. In Willcox, nahe den ChiricahuaBergen, stiegen sie aus, um in Restaurants zu essen, sich mit Schrekkensgeschichten von den Apachen erquicken und wieder beruhigen zu lassen – die Apachen waren fort. Mit den letzten Apachen war der amerikanische Indianer von der Bühne abgetreten. Sitting Bull trat zum letzten Mal auf Schaubühnen in New York City auf. Der 279
Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hatte erklärt, die Indianer seien Fremde. Im Osten gab es bereits elektrisches Licht und Telefon. In Tucson fand man einen Drugstore; es gab Bürgerversammlungen, eine Abstinenzlergesellschaft der Damen, sogar Touristen. Für Geronimo hatte der materielle Vormarsch der Schattenzeit nichts zu bedeuten. Nichts hatte sich verändert. Die Berge standen dort, wo sie immer sein würden, die Canyons, die Quellen, die Kakteen und die Felsen. Die Ewigen waren anwesend an den ihnen gemäßen Orten. Und daher war er ein Mensch aus einer anderen Zeit, als ob die Natur seine Existenz beeinflußt und ihn hier zurückgelassen habe in einem Krieg der Geistigen Zeit gegen den Vormarsch der materiellen Götter des Menschen. Eine bei McIntosh Springs lagernde Armeepatrouille berichtete, ihn entdeckt zu haben, als er in der Dämmerung um ihr Camp streifte. Sie verfolgte ihn und wurde mit zwei verwundeten Soldaten, einem getöteten Pferd und, am Ende, einer leeren Prärie belohnt. Instandsetzungstrupps der Eisenbahn telegrafierten nach Tucson: »Geronimo gesichtet. Überquerte Gleise südlich Santa Catalinas. Bewaffnet. Beritten. Richtung Norden.« Niemand zweifelte daran, daß es Geronimo gewesen sei. Er war der einzige bewaffnete und berittene Indianer in den Vereinigten Staaten von Amerika. Der letzte Krieger. Man weiß, daß er Bosque Redondo besuchte, in der Nacht zwischen den Campfeuern herumhuschte und nach Kriegern suchte. Und hier, in Bosque Redondo, wurde ihm die Nachricht von den Witwen zugeflüstert: Victorio hatte zweihundert ihrer Männer für seinen ›Krieg bis zum Tode‹ rekrutiert. Bei Tres Castillos in Mexiko war er in eine Falle von Colonel Joaquin Terazas geraten. Er wurde mit seinen Kriegern und vielen Frauen und Kindern erschlagen. Joaquin und seine siegreiche Armee waren bei einer Parade durch die Avenida Juarez in Chihuahua City gezogen und hatten die Skalps vorgeführt, für die sie Belohnungen von über fünfzigtausend Dol280
lar erhielten. Benito hatte sich den Blauröcken ergeben. Chihuahua. Alle hatten sich ergeben. Es gab keine Krieger. In der Nacht verschwand diese Schar der Mescaleros. Armeeprotokolle berichten von ihrem ›spurlosen‹ Verschwinden.* Das ›Sichten‹ Geronimos wurde üblich. Bürger von Santa Rita identifizierten ihn positiv in der Nähe ihrer Stadt, zur gleichen Zeit, als Clifton, nahezu hundert Meilen entfernt, durch eine ähnliche Identifizierung alarmiert wurde. Vielleicht hat man ihn gesehen. Er wanderte wie ein Gespenst durch alle die alten Gebirgsverstecke, über die Grate von Cochises Dragoon-Bergen, und er folgte leeren Canyons, in denen er mit Mangas Coloradas geritten war. Geronimo entwickelte während seiner Ritte einen Plan. Ihn erfüllten weder Cochises Hoffnungslosigkeit noch Mangas Coloradas' unheilverkündende Gefühle der Niederlage. Sein Ziel war das eines Kriegsschamanen: Krieg zu führen zur Verteidigung der Ewigen, und dabei konnte es keine Niederlage geben. Er würde sich Krieger rekrutieren, mittels einer so verwegenen, so gefahrvollen Methode, daß kein Weißauge seine Motive ahnen konnte. Er würde sie unter den Insassen von San Carlos rekrutieren. Aber um das zu tun, mußte er erneut die Drohung der Henkerschlinge auf sich nehmen. Er mußte selbst zum Gefangenen werden! Er hatte seine Macht befragt und war zuversichtlich, daß er Krieger bekommen werde. Einmal aus dem Bannkreis von San Carlos, würde er sie mit den in dem Canyon versteckten Gewehren bewaffnen und die Pferde-Remuda von Gosoda überfallen. Von dort aus würde er gegen Joaquin Terazas zuschlagen und ihn vernichten, den Mann, der, davon war er überzeugt, Anführer des Massakers im Yaqui-Canyon gewesen war. Und danach? Er würde sie dann zurück in den Norden gegen die Blauröcke führen und die
* Mescalero-Historiker moderner Zeiten schreiben von dieser Schar, ›sie sei vom Angesicht der Erde verschwunden‹ und man habe sie nie wiedergesehen. Von Geronimo wird behauptet, er habe einige Gruppen und sogar einzelne Personen in das hohe Tal eskortiert. 281
Apachen – alle – aus dem Camp befreien. Er lenkte sein Pferd nach Westen und näherte sich den Grenzen von San Carlos. Man hatte Lahte erlaubt, sich erst spät in San Carlos zu melden. Seine alte Frau war krank und im Sterben gelegen, als die Blauröcke seine kleine Schar ins Camp eskortierten. Er selbst war auch alt, zu alt, um Krieg zu führen; und so hatten sie ihm die Erlaubnis gegeben, in diesem Canyon zu bleiben und mit ihr auf die Reise zu warten. Das Warten war nun vorüber. Sie war gegangen. Heute hatte er sie begraben und blieb in der Nacht an seinem Campfeuer, um ihr zuzusingen, sie möge doch warten. Es würde nur kurze Zeit dauern, bis er zu ihr käme. Die Dunkelheit hatte sich schnell über den Canyon gesenkt. Als sie dichter wurde, fühlte er sich seiner Frau näher. Sie war in der Nähe. Und daher hatte er das kleine Feuer entzündet, um ihr den Weg zu zeigen, und saß mit überkreuzten Beinen und gesenktem Kopf da, während er mit seiner alten brüchigen Stimme sang. Zwischen den Beinen hielt er eine esadadne und trommelte mit den Händen. Der tiefe, hohle Rhythmus hallte in Echos durch den Canyon und belebte die Finsternis. Jetzt konnte er das Leben fühlen. Eine Anwesenheit. Langsam hob er den Kopf. Dicht über den flackernden Flammen glitzerten schwarze Augen, die ihn über das Feuer hinweg beobachteten. Über den Augen ein Stirnband; unter ihnen gelbe Streifen. Die Augen hielten wie hypnotisch seinen Blick fest. Der Geist des Kriegsschamanen hatte seinen Gesang beantwortet! Lahte fuhr fort, auf die Kriegstrommel zu schlagen. Er hatte Angst, damit aufzuhören. Dem Geist des Kriegsschamanen könnte es mißfallen. Das Dröhnen der Trommel und das Knistern des Feuers waren die einzigen Laute. Lahte brach unter der Anspannung zusammen. »Ich hab' dir nie etwas angetan, Geronimo.« Seine Stimme krächzte, schwächlich über dem Trommeln. »Ich hab' nie den Mexikanern oder den Blauröcken gegen unser Volk geholfen. Ich bin ein Krieger gewesen, aber jetzt bin ich für den Kampf zu alt.« Seine Augen 282
füllten sich mit Wasser, blinzelten aber nicht, von Geronimos Starren festgehalten. Plötzlich sprach der Kriegsschamane. »Gehst du nach San Carlos?« »Ja. Am Morgen – aber nur, weil ich nirgend anderswo hingehen kann. Es gibt keine Apachen mehr … in den Bergen.« Er beobachtete die Augen des Kriegsschamanen ängstlich in der Stille. Er hatte die Wahrheit gesagt und wurde von der nächsten Frage überrascht. »Kennst du Tom Horn?« »Ja, ich kenne ihn.« »Dann sag Horn folgendes: Ich möchte Nantan Lupan hier, in diesem Canyon, morgens, von heute an in vier Tagen, treffen. Ich möchte ihn in Frieden treffen.« »Ich will es sagen«, versprach Lahte. Der Kriegsschamane tauchte in der Finsternis unter. Nach kurzer Zeit hörte Lahte ein Pferd über Steine gehen. Er stand vom Campfeuer auf und ging nach Norden. Er wollte nicht auf den Morgen warten. Geronimo war am Leben. Geister brauchen keine Pferde. Und daher kam General Crook in den Skeleton-Canyon, dem viel daran lag, Geronimo, die explosivste und dauerhafteste Bedrohung des Friedens in der Geschichte der Vereinigten Staaten, in Gewahrsam zu nehmen. Er war allzu besorgt. »Ich möchte nichts mehr von Aufhängen hören«, sagte Geronimo. »Ich möchte von allem aus der Vergangenheit reingewaschen sein.« »Ich kann Geschwätz nicht verhindern«, antwortete Crook. »Aber du wirst Gefangener der Armee sein. Kriegsgefangener. Man wird dich nicht hängen. Du kannst auch deine Leute sehen.« »Dann«, sagte Geronimo, »kapituliere ich. Einst habe ich mich so frei wie der Wind bewegen können. Jetzt kapituliere ich. Tu mit mir, was du willst. Das ist alles.« Hätte Crook die wörtlich zu nehmende Logik der Indianer begriffen, dann hätte er sich Geronimos Wort geben lassen, daß er für immer den Frieden wahren werde. Er begriff es aber nicht, und da283
her fragte er auch nicht danach. Ganz anders als der Weiße, duldet der Indianer keinerlei Unterstellungen, Interpretationen oder unterschwellige Doppelbedeutungen, für einen Scherz – oder für einen Vertrag. Sag nur das, was du meinst, und meine nur das, was du sagst. Nicht mehr! Ganz Indianer, prägte sich Geronimo sorgfältig die exakten, wörtlichen Ausdrücke ein, mit denen man sich einigte. Gewöhnlich wurde der Indianer Opfer solcher Verträge. Diesmal war es General Crook. Als Geronimo sagte: »Ich kapituliere. Das ist alles«, meinte er wörtlich: »Das ist alles, was ich tue, sonst nichts.« Dieses Mißverständnis sollte Crook dazu bringen, Geronimo später verbittert als ›verräterisch – vertrauensunwürdig‹ zu bezeichnen. Um den Sturm von Forderungen nach einer öffentlichen Erhängung austoben zu lassen, wurde Geronimo zunächst in Einzelhaft und in Eisen gelegt. Als der Sturm nachließ, eskortierte man ihn nach San Carlos, an jenem Tag, an dem Naiche ihn hinter dem spröden Busch beobachtet hatte. Als sich Geronimo dann in San Carlos zwischen den Campfeuern bewegen konnte, war er bitter enttäuscht worden. Das Leben nach den hohen Gesetzen war aus dem Denken der Apachen ausradiert worden. Das Interesse des Volkes, geleitet von Verwaltern der Regierung, galt Verpflegung, Kleidung, Unterkunft, medizinischer Versorgung. Wie groß oder klein diese Almosen waren, hing davon ab, ob ein Verwalter ›gut‹ oder ›böse‹ war. Die hohen Gesetze, die nötig waren, um den Geist eines freien Volkes zu erhalten, wurden durch die materielle Freigebigkeit des Herrn vernichtet. Geronimo, der tief religiös war, konnte erkennen, wie es einer Sklavenmentalität gelang, den Geist eines Volkes zu morden, was im Laufe von drei Jahrhunderten spanischen Lanzen nicht gelungen war. Er war erschüttert und zweifelte sogar an denen, die ihn durch den Sandsturm, an Fort Thomas vorbei und durch die Dragoons, in die Sierra Madre begleiteten. Da er unsicher war, hatte er sich geweigert, seine Pläne für Krieg preiszugeben. Er fürchtete, dann würden sie nicht mitkommen, und so redete er mit ihnen nur über die 284
Freiheit in der Sierra Madre, über die Rhythmen und Gebräuche des alten Lebens, das sie liebten. Er hinterließ eine neue sensationelle Zeitungsüberschrift: ›GERONIMO ENTWICHEN!‹ Er hinterließ auch General George Crook in tiefer Sorge, jedoch Sheridan voller Freude über diese Gelegenheit, den General loszuwerden. Als sich nun die Sonne den hohen Gipfeln der Sierra Madre zuneigte, erwachte Geronimo unter dem Mesquite, unter dem er den Morgen über geschlafen hatte. Er hatte die Vibrationen mehr gefühlt als gehört. Als er jetzt lauschte, hörte er nichts. Hinter ihm, wo Naiche und die Krieger schliefen, lag der Berghang im Schatten. Irgendwo im Norden krächzte dreimal eine aufgescheuchte Krähe. Er bewegte sich nicht, sondern beobachtete die Bäume, die unten den Pfad nach Norden säumten. Farbflecke huschten zwischen ihnen vorbei. Die Flecke waren blau.
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raue Helligkeit überzog den Himmel über den Bergen. Zwei seiner Scouts hatten ihm von einem hohen Felsband zugerufen, und Tom Horn half ihnen, die Leiche Marteens herunterzubringen. Horn trug ihn an den Frühstücksfeuern vorbei, die in die Finsternis hinein flackerten, und legte den mageren Körper vor Major Morrow nieder. »Geronimo«, sagte er ruhig. Morrow schüttete den Rest des Kaffees ins Campfeuer. »Verdammt!« »Major« – Horns Stimme klang definitiv – »die Scouts haben genug davon. Nach vierzig Jahren, bei Gott – jeder sollte genug haben. Es gibt kein sterbliches Wesen, das in der Lage ist, Geronimo 285
zu fangen. Er steckt in den Bergen, und er hat seine Krieger verstreut. Marteen hier« – Horn blickte hinab zu dem toten Scout – »der ist Geronimos Botschaft – ruft nicht nach mir, ich werde euch rufen.« »Das weiß ich.« Morrow stand auf und fügte bitter hinzu: »All das weiß ich.« Er schleuderte den Blechbecher auf den Boden. »Ich möchte mal Gedanken hören, nicht nur spitze Bemerkungen.« Er blickte ins Feuer. »General Crook wird in diesem Augenblick kassiert.« Horn seufzte. »Es ist mir eigentlich verhaßt, daß dem alten Crook so was passiert. Ich hab' auch über manches nachgedacht. Nach den einzelnen Fährten, von denen die Scouts berichtet haben, scheint's so, als ob Geronimo ein Dutzend Krieger bei sich hat, und das heißt, er hat all die Frauen und Kinder irgendwo hinter sich gelassen, in einem Versteck.« »Wo?« fragte Morrow. »Weiß ich nicht«, erwiderte Horn, »aber meine Scouts können sie finden. Mal angenommen, wir rücken von hier ab, Major. Sie verlegen Soldaten und Camp hinaus auf die Prärie, in voller Sicht. Mich lassen Sie die Apachen-Scouts losschicken, um sie auszuspüren. Die meisten meiner Scouts sind mit den Kriegern und ihren Familien verwandt. Lassen Sie die Sache durchsprechen. Diese Frauen haben nur vor einem Angst. Sie wollen es nicht riskieren, daß ihre Kinder bei einem Kampf getötet werden.« Morrow trat nachdenklich ans Feuer. »Und wenn wir die Frauen und Kinder haben?« »Nun«, sagte Horn, »ein Apachen-Krieger hat, obwohl Kämpfer, eine Schwäche. Er kann's nicht ertragen, von seiner Familie getrennt zu sein. Deswegen nimmt er auch immer seine Familie bei einem Ausbruch aus der Reservation mit.« »Und Geronimo?« fragte Morrow drängend. »Die einzige Macht«, sagte Horn mit Betonung, »stärker als die Geronimos über diese Krieger, das sind ihre Familien. Wenn sie ka286
pitulieren, um bei ihren Familien zu sein, lassen sie damit Geronimo allein dasitzen. Vielleicht kann ich mit ihm reden.« Major Morrow musterte das Feuer eine lange Minute. Er drehte sich um und rief Captain Dawson zu, der etwas entfernt von ihm war. »Aufsatteln!« »Wir versuchen es also, Major?« fragte Horn. Morrow schnallte Pistole und Säbel um. »Was können wir denn sonst noch tun, Mister Horn?« »Wir könnten heimgehen und die ganze gottverdammte Sache vergessen. Ich bin dabei, es wie der alte Crook zu betrachten. Sie könnten sagen, von einem höheren Gesichtspunkt aus. Hier stehen wir auf Gottes kleiner grüner Erde und jagen Indianer in diesen mexikanischen Bergen herum, und wenn wir sie kriegen, dann bringen wir sie zurück, und dann sitzen wir alle herum und schauen einander an. Verdammt, wenn ich nur wüßte, was wir damit beweisen wollen.« Morrow schwang sich in den Sattel. Er gab keinen Kommentar ab. Manchmal ergab das, was Horn sagte, einen Sinn, manchmal… Er hob die Hand, befahl mit einem Winken Abmarsch für die Soldaten und schlug ein kräftiges Tempo an. Während er die Soldaten aus den Bergen hinein in die Ebene führte, trennten sich Tom Horn und seine Apachen-Scouts, um der Fährte nach hinten durch die Bäume zu folgen. Morrow ließ gerade seine Männer absitzen; er befahl eine Gepäck- und Pferdeinspektion, als ein Sergeant rief: »Signale!« Auf einem Gipfel der hundert Meilen entfernten Guadelupe-Berge blitzte es in einer von Crooks Heliografenstationen hell und funkelnd auf; Sonnenlicht wurde dort reflektiert. Morrows Signalmannschaft stellte schon den Dreifuß auf und blitzte binnen kurzem eine Antwort zurück. Morrow stand hinter dem Sergeanten, der die Botschaft in Druckbuchstaben auf einen Zettel malte: MAJOR MORROW – SIE KÖNNEN SICH ZURÜCKZIEHEN FALLS ERGEBNISSE NEGATIV SCHEINEN – MELDEN SIE SICH FORT BOWIE – MEXIKANISCHE REGIERUNG EIN287
VERSTANDEN ABSTELLUNG VON TRUPPEN FÜR DURCHSUCHUNG UND DURCHKÄMMUNG MADRE VOM SÜDEN – VEREINIGUNG MIT U.S. VORSTOSS VOM NORDEN NACH GERONIMO – VERSTÄRKUNGEN FORT BOWIE UNTER GENERAL MILES ERWARTET – BIN DES KOMMANDOS DIESES DEPARTMENTS ENTHOBEN – MELDUNG – GENERAL CROOK Morrow fummelte mit dem Zettel und Bleistift herum, die ihm der Sergeant hinhielt. Etwas außer einem Fehlschlag mußte berichtet werden. Die Signalmannschaft wartete. Er kritzelte: MUSS MELDUNG IN FORT BOWIE AUFSCHIEBEN – AUSSICHTEN SIND GÜNSTIG Er zögerte und runzelte die Stirn. Er sollte mehr sagen – etwas, das in Crooks Protokolle eingehen würde. Er fügte hinzu. GLÜCKWÜNSCHE – VOLLENDUNG IHRER ARBEIT MIT MEXIKANISCHER REGIERUNG – ALLES GUTE FÜR NEUES KOMMANDO – MAJOR MORROW Er händigte die Nachricht dem Sergeanten aus und humpelte beiseite. Es war das beste, was er tun konnte. Wie auch immer, Crook und nicht Miles sollte den Lohn für die mexikanische Übereinkunft erhalten. Er kannte Miles als einen ehrgeizigen Brigadier, der unbedingt Generalmajor werden wollte, ein ruhmgieriger Bursche, der die meisten seiner blumenreichen Kommuniques an die Zeitungen sandte. Während der Morgen dahinstrich, war er unruhig, schaute häufig auf seine Uhr und ging etwas abseits von den Soldaten herum, die nun auf dem Boden herumlungerten und ihre Pferde hielten. Die steigende Hitze verbesserte ihre Laune nicht. Morrow begann sich langsam wie ein Narr vorzukommen. Dieser Plan Horns konnte durchaus wieder so eine gedankenlose Idee sein. Der unverantwortliche Narr schlief wahrscheinlich irgendwo unter den Bäumen. Um Mittag wurden die Rationen ausgegeben, aber Morrow hielt sich abseits des Camps und schritt auf und ab. Die Sonne passierte ih288
ren Zenit und senkte sich gegen Mittnachmittag. Morrow blieb stehen und schaute zu dem Berg hinüber. Er hatte eine schwere Entscheidung getroffen und war nun eben dabei, sich abzuwenden und seinen Soldaten Aufsitzen zu befehlen, als die beiden Gestalten aus den Bäumen kamen und auf ihn über die Prärie zugingen. Es war Tom Horn. Bei ihm befand sich Loco. Horn sprach in der Sprache der Apachen, und der alte Häuptling antwortete und nickte zustimmend. Horn lächelte, als sie vor Morrow stehenblieben. »Loco hier wäre bereit.« In kumpelhafter Geste legte er den Arm um Locos Schultern. »Was sagt er?« fragte Morrow steif; er fühlte sich zugleich erleichtert und verärgert. »Er sagt, er hätte niemandem was antun wollen. Überhaupt nicht.« Loco grinste dümmlich und schaute hinab zu seinen Füßen. »Er sagt, er wollte nur eine kleine Weile frei sein. In den Bergen sein. Nur eine kleine Weile. Er sagt, er hätte keinen Krieg geführt. Loco wird zurückgehen – so sagt er.« »Wo sind die übrigen?« unterbrach ihn Morrow. Horn nickte gegen die Bäume hin. »Dort hinten. Sie fürchten sich vor den Soldaten. Wir haben nicht alle bekommen. Einige Frauen und Kinder sind in die Berge entschlüpft, aber wir haben alle Kriegerfamilien beisammen, die Frauen, Schwestern, Mütter. Wir haben auch ihre Kinder. Sie sind in keiner guten Verfassung.« Morrow prüfte den Sonnenstand; schräge Schatten fielen über die Berge. »Was schlagen Sie vor?« »Also, die Frauen meinen, Geronimo wäre nicht weit. Er hat versprochen, schnell zurückzukommen. Ich hab' mir gedacht, ich schicke sie mit den Scouts auf dem Weg weiter. Die Scouts sind einverstanden und wollen mit ihnen gehen und keine Gewehre tragen. Sie werden die Krieger aufmuntern.« »In Ordnung«, sagte Morrow, »aber Loco bleibt hier.« Horn wandte sich an Loco, der antwortete und sich sofort hinsetzte. »Er wird bleiben« – Horn deutete auf den alten Häuptling – »aber er möchte hier sitzen bleiben, und nicht nahe den Solda289
ten. Wir kommen dann direkt wieder zurück.« Horn ging über die Prärie davon, zwischen die Bäume hinein. Geronimo schlüpfte lautlos unter dem Mesquite hervor. Er beugte sich tief, hielt sein Gewehr fest und raste bergaufwärts. Auf halber Höhe ließ er den schrillen Pfiff eines Jagdfalken durch den Busch tönen, blieb in der Deckung der Bäume stehen und pfiff noch einmal. Sofort umringten ihn seine Krieger. Unterhalb von ihnen kamen die Scouts auf dem Pfad aus der Dekkung der Bäume. Frauen und Kinder begleiteten sie. Die Frauen riefen und wedelten mit den Armen. Fun war der erste, der seine Frau erkannte. Er schrie und winkte, und die Frauen winkten zurück. Sie kamen näher an den Berg heran. »Tötet die Scouts!« befahl Geronimo rauh. Die Krieger schauten um sich. Manche hoben ein wenig das Gewehr, aber sie schauten Naiche an und nicht Geronimo. »Nein«, sagte Naiche gelassen. Als Geronimo den Befehl wiederholte, schüttelte Naiche den Kopf. »Nein, Geronimo. Ich will feststellen, was sie wollen. Unsere Familien sind dabei.« Langsam stieg er den Berghang hinab. Fun folgte ihm, dann schloß sich Ahkochne an, und schließlich kamen die übrigen nach. Geronimo blieb allein stehen. Die Frauen und Kinder drängten sich um die Krieger, redeten aufgeregt und gestikulierten. Naiche kam dann wieder den Hang herauf. Er stand unbehaglich da, groß und mager neben der gedrungenen Gestalt des Kriegsschamanen. »Wir müssen zurückkehren, Geronimo. Die Scouts sagen, der kleine Blauröcke-Häuptling hat bessere Rationen versprochen, bessere Bedingungen. Sie haben unsere Familien. Wir müssen zurückkehren. Kommst du mit?« Geronimos Augen, die Naiches Blick begegneten, funkelten. »Ich gehe nicht mit.« Naiche ließ den Blick zu Boden schweifen. »Ich muß gehen.« Er ging auf die Seite, blieb stehen und erinnerte sich an etwas. »Tom Horn schickt eine Nachricht. Heute nacht wird er allein auf der Prärie sein. Er gibt dafür sein Wort. Er möchte reden.« Naiche warte290
te, aber Geronimo antwortete nicht, und so ging er fort und den Berghang hinab. Geronimo beobachtete sie durchs Fernglas, während sie auf dem Pfad zurückgingen. Als sie verschwunden waren, folgte er ihnen und sah sie in der Dämmerung nach Norden, in Richtung San Carlos, dahinwandern. Die Soldaten begleiteten sie. Die Nacht brach herein. Ein Campfeuer flackerte klein auf der Prärie. Geronimo schlüpfte vorsichtig durch den Busch und näherte sich dem Feuer, bis er Tom Horn erkannte. Horns Pferd stand gesattelt hinter ihm, die Zügel schleifend, und er saß mit verschränkten Beinen am Feuer und rauchte einen Zigarillo. Geronimo trat offen vor und setzte sich. Keiner der Männer sagte etwas zur Begrüßung. Horn warf eine Buschkrone ins Feuer, das höher loderte. Er schob weitere Buschzweige gegen das Feuer zu, als er endlich sprach. »Sie holen jetzt viele tausend weitere Soldaten her, um nach dir zu suchen, Geronimo.« »Laß sie nur kommen.« Geronimo schaute über die Flammen auf Horn. »Es wird ihnen nicht guttun.« »Du hast keine Krieger mehr.« »Ich beschaffe mir schon Krieger.« »Ich habe dich nie angelogen.« Tom Horn schaute über das Feuer hinweg Geronimo scharf an. »Ich will dich auch jetzt nicht anlügen. Ich weiß, daß sie dich nicht fangen können. Ich bitte dich auch nicht, zu kapitulieren. Ich möchte dir die Wahrheit sagen. Die Blauröcke haben einen neuen Vertrag mit den Mexikanern. Die Blauröcke werden im Norden der Sierra Madre anfangen und jeden Canyon, jeden Felsen nach dir absuchen. Die Mexikaner wollen im Süden beginnen. Sie werden die ganze Sierra Madre durchkämmen, bis sie dich finden und in der Mitte zusammenkommen.« Geronimo lächelte. »Sie können mich niemals finden … sie…« Er runzelte nachdenklich die Stirn. Horn beobachtete sein Gesicht. »Wenn es da irgend … irgend etwas gibt, was sie nach deinem Wunsch nicht finden sollen, Geronimo … sie werden es finden!« 291
Geronimo blickte ins Feuer. Lange Zeit starrte er in die niedriger brennenden Flammen. Schatten huschten über sein Gesicht und verdunkelten die gelben Farbstreifen. Als er dann sprach, tönte seine Stimme wie aus weiter Ferne, und seine Sprechweise war langsam: »Sag Nantan Lupan, daß ich mich am Tag nach dem Vollmond ergeben werde. Sag ihm, ich werde an dem Fluß nördlich der Madre warten. Sag ihm, darauf gebe ich mein Wort, und deshalb schickt keine Truppen – oder die Mexikaner.« Er stand mühelos und schnell auf. Horn erhob sich und blickte ihn an. »Nantan Lupan ist fort. Der Blauröcke-Häuptling wird Big-Wind-Double-Mouth* sein. Er nennt sich selbst Miles.« »Dann sag es Big-Wind-Double-Mouth«, sagte Geronimo. »Werd' ich tun«, antwortete Horn. »Aber wenn du kapitulierst, Geronimo, dann wird das eine große Feder für Miles bedeuten. Du kannst Bedingungen herausschinden. Tu das lieber, sonst wird er dich hängen lassen. Verstehst du mich?« »Ich verstehe dich«, sagte Geronimo. »Ich werde dich wiedersehen – am Fluß.« »Nein«, erwiderte Horn ruhig, »ich werde nicht dort sein. Ich werde nicht mitkommen. Ich werde dich nie wiedersehen. Niemals.« Sie schauten einander über das ersterbende Feuer hinweg an. Ein Kojote bellte einsam auf der Prärie, und er bekam keine Antwort. Geronimo streckte die Hand aus, und Tom Horn ergriff sie. »Ich verstehe«, sagte Geronimo. »Danke, Tom Horn.« Er lockerte seinen Griff. »Leb wohl.« Er drehte sich schnell um und war verschwunden. »Leb wohl«, sagte Horn sanft in die Finsternis hinein. Aber Tom Horn brach nicht sofort auf. Statt dessen saß er neben dem verglühenden Feuer und starrte in die Glut. Nach einer Weile entzündete er mit einem glühenden Ast einen Zigarillo und * Big-Wind-Double-Mouth: wörtlich Prahlende Doppelzunge (Anmerkung des Übersetzers). 292
rauchte. Eine Stunde verstrich. Die Glut erstarb, aber Horn tat weder etwas, um das Feuer nachzulegen noch aufzubrechen. Plötzlich schoß von der Bergspitze ein funkelndes Licht himmelwärts. In hoher Höhe hielt das Licht inne, flammte auf und fiel dann, wie Blei, nach unten, dem Berg zu, ein roter Streifen, wie ein Meteor, ein stürzender Stein oder ein Pfeil. Als sei dies das Signal gewesen, auf das er wartete, schwang sich Tom Horn auf sein Pferd. Er ritt nach Norden.
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ajor Morrow befahl seinen berittenen Soldaten, die Frauen und Kinder mit ihren Männern zu umzingeln. Mit den Armen gestikulierend und wedelnd, erklärte er in gebrochenen Apachenausdrücken den Scouts, was er wollte. Er wollte, daß sich die Gefangenen zu einer langen Linie auseinanderzogen. Zusammengedrängt könnten sie, plötzlich erschreckt, vielleicht ausbrechen wie Rinder. Soldaten auf beiden Längsseiten und dicht in der Nachhut, führte Morrow sie in gemächlichem Tempo in der Dämmerung nach Norden. Die Berge, aufragend und in Versuchung führend, waren noch zu nahe. Er mußte sie nach Norden weitergehen lassen, bis sie fern von den Bergen waren. Er wunderte sich, daß sie, hinter ihm, kein Geräusch beim Gehen durch die Nacht erzeugten. Die Männer trugen Babys auf den Armen, und die Frauen führten die kleinen Kinder. Um Mitternacht befahl er eine Rast, aber er hielt die Soldaten in der Nähe und schickte die Apachen-Scouts unter die Indianer, um mit ihnen zu reden. Sie erhoben keinen Widerspruch, als der Marsch wiederaufgenommen wurde. In der Morgendämmerung befahl er Halt und ließ Rationen verteilen; sie saßen schweigend am Boden. Seine Soldaten saßen dösend in den Sätteln, völlig erschöpft, und 293
er wunderte sich über die Ausdauer dieser wilden Leute, dieser Frauen und Kinder, die ohne Rast oder Schlaf über Prärien und Gebirge geflüchtet waren. Während er in der zunehmenden Helligkeit zwischen ihnen herumging, erschütterte ihn ihr bejammernswerter Zustand. Ihre Kleidung hing in Fetzen herunter. Er dehnte die Rast aus, und als die Sonne aufging, befahl er seiner Signalmannschaft, eine Botschaft auszusenden: HABE GEFANGENE – GEHUNFÄHIG – BRAUCHE FÜNF WAGEN Um die Mitte des Vormittags, auf dem Marsch nach Norden, waren die Staubwolken der ihnen entgegenfahrenden Wagen sichtbar. Und so brachte Major Morrow sie zurück nach San Carlos, zurück in die Hitze und in die ziellose Existenz, zu den Fliegen und dem bitteren Wasser, wovon sie so töricht geflohen und Geronimo gefolgt waren. Auf seinem Schreibtisch im Hauptquartier Fort Thomas fand er einen versiegelten Brief. Er öffnete ihn und las: Major Morrow: Meine Anerkennung für Ihre hingebungsvolle Dienstleistung bei Erfüllung einer Aufgabe, die uns beiden zugeteilt wurde und die bestenfalls widerwärtig gewesen ist. Ich hoffe, daß wir uns wieder begegnen und dann bessere Zeiten und glücklichere Umstände teilen werden. General George Crook Er las den Brief noch einmal. Crook hatte sich richtig ausgedrückt – bestenfalls widerwärtig. Möglicherweise schlimmstenfalls eine Tragödie, aber er wußte nicht, was er dafür tun konnte. Captain Dawson schaute zur Tür herein. »Major, Tom Horn ist hier.« »Gut!« Morrow stand auf. »Schicken Sie ihn herein.« »Ich…« – Dawson zögerte – »ich glaube nicht, daß er hereinkommen wird.« 294
Morrow eilte zur Tür. Tom Horn verschnürte gerade einen Regenumhang hinter seinem Sattel. Er sang. Betrunken. »Horn!« sagte Morrow streng. Tom Horn drehte sich um. Er stieß sich den breitkrempigen Hut aus der Stirn und grinste Morrow wie eine Eule an. »Wie geht's'n, Major? Hab'n Sie Ihre verdammten Orden poliert un' Ihr'n Hosenboden für Big-Wind-Double-Mouth gebürstet?« »Sie sind betrunken!« sagte Morrow vorwurfsvoll. »Nee.« Horn wackelte mit dem Kopf. »Bin nicht betrunken, aber werd' bald betrunk'ner sein als'n Apache von Schädel-Rülps-Saft, hab' vor, in Tucson betrunken zu werden … ich…« »Was ist mit Geronimo?« »Geronimo?« »Ja, mit Geronimo!« schrie Morrow. Horn grinste. »Machen Sie sich seinetwegen Sorgen, Major?« Er deutete mit unsicherem Finger auf Morrow. »Jessir, die Militärs machen sich um den alten Mann Sorgen. Das ganze Militärblech zwischen Washington und Frisco, was da rumstolziert mit den Schwertern und mal hierhin und mal dorthin schlägt und die West-PointHintern wie Hähne hinten rausreckt! Der alte Krieger hat sie gezüchtigt … ich sag's, gezüchtigt auf ihre Paradehintern, vierzig Jahre lang, Major. Hör'n Sie's? Vierzig Jahre…« Horn fummelte an seinen Satteltaschen herum. Er zog eine Flasche heraus, setzte sie an und trank. Dann wischte er sich den Mund ab und schob, mit der Sorgfalt eines Betrunkenen, die Flasche wieder zurück. »Hab die Armee verlassen, Major, und daher können Sie mich nicht als besoffen melden. Bin raus, bei Gott!« Er dachte über diese Tatsache eine Weile nach, starrte Morrow an, und sagte dann: »Geronimo wird am Tag nach dem Vollmond bei Sonnenuntergang kapitulieren, an dem Fluß.« »Woher wissen Sie denn, daß er kapitulieren wird?« Horn versuchte erfolglos, seinen Stiefel in den Steigbügel zu schieben. Er hielt inne und wirbelte zu Morrow herum. »Weil er sein Wort 295
gegeben hat, Sie gottverdammter Einfaltspinsel! Sein Wort! So was kann die verdammte Armeeverwaltung nicht begreifen, weil sie so was nicht kennt!« Er drehte sich für einen neuerlichen Versuch, aufzusteigen, um. Diesmal hatte er Glück und schwang sich in den Sattel. Morrow trat vor und hielt das Pferd am Kopf fest. »Bleiben Sie denn nicht bis zur Kapitulation? Das wird doch eine tolle Nachricht für die ganze Nation sein.« Horns Blick wurde fester. Er schaute Morrow nicht an; statt dessen blickte er zu dem heißen und blauen Himmel empor. »Einst, Major«, sagte er langsam, »mag's ja Spaß gemacht haben, Adler zu fangen – damals, als es noch eine Menge Adler gab und wir verdammte Narren war'n. Es gibt keine mehr, Major, sie sind alle dahin. Und den letzten werd'n Sie, wie ich sagte, dort unten am Fluß finden. Es macht wirklich kein'n Spaß mehr. Ich bleib' nicht. Adios!« Er riß mit einem Ruck den Kopf des Pferdes aus Morrows Griff, wirbelte es straff und hart herum und trieb es schnell durch das Tor. Er schaute nicht zurück. Morrow runzelte die Stirn und beobachtete, wie er in dem Hitzedunst undeutlicher wurde. Die Neuigkeiten würden Feiern nach sich ziehen. Er hatte einen Anteil daran. Er sollte auch etwas Triumph spüren. Er schüttelte den Kopf und hinkte ins Büro zurück; vielleicht hatte er sich zu lange mit General Crook verbunden. Als er an Captain Dawson vorbeiging, bat er, man solle ihm eine Ordonnanz für einen Botendienst schicken, und an seinem Schreibtisch schrieb er seinen Bericht in Form eines Telegramms und gab den Zeitpunkt und das Datum von Geronimos versprochener Kapitulation an. Im Stil Crooks enthielt er sich jeder Prahlerei und jedes Urteils. Tom Horn ließ er volle Gerechtigkeit widerfahren. Er war fertig, als die Ordonnanz erschien. »Ich will, daß dies an General Miles in Fort Bowie geschickt wird.« Er händigte der Ordonnanz das Telegramm aus und sagte: »Noch einen Augenblick.« Er nahm den Bericht wieder an sich. 296
Lange Zeit, während die Ordonnanz stillgestanden und vergessen dastand, schaute er durchs Fenster auf den Paradeplatz von Fort Thomas, wo der Pfahl stand, auf dessen Spitze Delshays weißer, in der Sonne grinsender Schädel steckte. Er wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu, nahm den Federhalter und schrieb langsam in Druckschrift: ÜBERGEBE MEIN KOMMANDO AN CAPTAIN DAWSON – REICHE MEINEN RÜCKTRITT MIT SOFORTIGER WIRKUNG EIN Er unterschrieb mit seinem Namen. Falls er sich beeilte, konnte er noch den Abendzug von Tucson nach dem Osten erreichen.
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om Horn hatte den ersten der brennenden Pfeile gesehen. Sie funkelten in der Nacht, flammten auf, erloschen mit beharrlicher Regelmäßigkeit, aber sie flogen und flogen. Unter ihnen brannte auf dem Berg ein mächtiges Feuer. Zwei Stunden verstrichen, bis sie kamen. Zalah führte sie an, als sie aus der Finsternis auftauchten; sie hielt Sanza an der Hand. Sie blieben am Rand des Lichtscheins stehen, und Zalah ging dann ans Feuer und schaute in die Flammen. Sie konnte Geronimo, der abgesetzt in der Dunkelheit stand, nicht sehen, aber sie wußte, daß er da war. Ihr Haar hatte sich aus dem Stirnband gelöst, fiel lose um ihr Gesicht und auf ihre Schultern, und ihr Gesicht, vom Unterholz zerkratzt, blutete. Sanzas dürre Beine zitterten, und er fiel neben dem Feuer zu Boden. »Ich wußte, daß du nicht mit den Soldaten gehen würdest.« Zalah sprach ins Feuer hinein. »Nein, ich wollte nicht mitgehen.« Geronimo trat aus der Finsternis, um mehr Holz auf die Flammen zu werfen. Das flackernde Licht beleuchtete die Frauen und Kinder. Ihre Kleider waren abgerissen, 297
von Bäumen und Büschen zerfetzt. Viele waren barfüßig, Reste von Mokassins hingen an ihren geschwollenen Füßen. Einige Frauen trugen Babys in Brustschlingen. Er zählte sie nicht. Es waren zu viele, und die unruhigen Schatten verbargen sie teilweise. Er wußte, alle waren hier – die Witwen mit ihren Kindern, die darauf bestanden hatten, ihn aus San Carlos zu begleiten. Sie waren keine Krieger. Er sprach laut, damit alle ihn hören konnten. »Ich hatte die Absicht, Krieg zu führen, mit den Kriegern. Die Krieger sind fort. Ich habe eine Wahl getroffen. Um das zu tun, was ich gewählt habe, bleibt mir nicht viel Zeit, aber ich will euch zu einem Ort führen, wo ihr und die Kinder frei leben könnt. Wenn ihr mir folgen wollt, wird es ein harter Weg werden, aber wenn wir den Ort erreichen, werdet ihr sehen, daß er gut ist.« Niemand sagte etwas. Nach einer langen Zeit ging Geronimo langsam um das Feuer herum. Er kniete nieder, hob Sanza vom Boden auf und hielt ihn in den Armen. Er schaute sich in dem Kreis der Frauen und Kinder um und ging in die Finsternis hinein. Es gab kein Zögern. Sie folgten ihm. Und so führte Geronimo sie zu dem hohen Tal, über die Berge und weit hinauf jenseits der Baumgrenze. Unterwegs jagte er Wild und gab ihnen zu essen und half den Kindern. Aber, allein in den Nächten, wurde er von Träumen voller Entsetzen und angstvollen Schreckens gequält. Obwohl er während seiner Einzelhaft, in Ketten geschlagen, äußerlich Ruhe bewahrt hatte, war dieses Erlebnis erschreckend gewesen. Im Camp der letzten Nacht unter den Bäumen am Ende des öden Aufstiegs, entfernte er sich vom Lager. Er betete zu Usen und bat, seine Macht möge mit ihm sprechen. Er konnte sehen – Visionen der Gefängnisse, in die er gehen würde, weit von diesen Bergen entfernt. Er betete, um seinen Geist zu stärken. Eine Vision von Chappo und Tozey überkam ihn. Sie waren auch da, mit ihm, im Gefängnis. Er sah sie sterben, und er stand an ihren Gräbern. Er hatte niemals an seinen Visionen gezweifelt, und jetzt fand sein Geist, 298
der diese unüberwindliche Qual erlitt, die getroffene Wahl fast zu schwer auszuführen. Er saß allein am Rand der Baumgrenze und schaute hinauf zu der Kette felsiger Erhebungen, die in die Ferne zu den vier Gipfeln hinführte. Seine Macht sprach zu ihm und rief viermal: »Geronimo! Geronimo! Geronimo! Geronimo!« »Ich bin hier«, sagte er. »Ich bitte nicht für mich selbst. Ich will die Gefängnisse ertragen, damit das hohe Tal leben kann. Ich will es lernen, Chappo und Tozey nicht zu lieben, wenn du sie nicht wegnehmen willst. Laß ihre Schattenkörper leben.« Und seine Macht sprach: »Du kannst nicht um die eine oder andere Wahl handeln. Du mußt die Wahl treffen. Du mußt den Preis bezahlen, wie Chokole bezahlt hat. Du kannst frei in der Schattenwelt leben und die Liebe zu deinen selbstsüchtigen Besitztümern beibehalten, und dann wird das hohe Tal sterben. Oder du kannst selbstlos lieben wie Chokole. Das ist die Wahl. Der Weg ist schwer. Bitte um nichts mehr!« Vor der Morgendämmerung führte er sie durch eisigen Wind und Schneeflocken quer durch die Felsen, an den Gipfeln empor. Als sie nachmittags die Barriere erreichten, half er den Frauen, die Babys und Kinder über die felsige Höhe hinwegzutragen. Als die letzten angsterfüllt den Pfad hinabeilten, um in das sonnige Tal dort unten zu kommen, stand er auf der Barriere und legte Sanza Zalah in die Arme. Der Junge lächelte geschwächt zu Geronimo empor, als sie ihn gegen die Kälte fest in die Arme nahm. »Hier wird er stark werden, Geronimo.« Sie sprach in den Wind hinein. »Sein Geist wird hier nicht sterben.« »Nein«, sagte Geronimo, »sein Geist wird nicht sterben.« Ein Windstoß wehte ihr das Haar ins Gesicht, und sie schob es zurück. Schneeflocken wirbelten über sie hinweg. »Ich habe Saat dabei«, sagte sie und schaute hungrig ins Tal hinab. »Viele Saat, die hier wachsen wird.« Sie zögerte, denn sie fühlte, daß Geronimo nicht ins Tal mitgehen würde. »Sie werden Saat brauchen«, sagte er. 299
»Kommst du mit?« »Nein, ich kann nicht mit euch gehen.« Er schaute beiseite. »Wir werden an dich denken«, sagte Zalah schlicht. Scheu berührte sie seinen Arm und suchte sich dann ihren Weg die Barriere hinunter. Am Grund ging sie weiter und schaute zurück zu Geronimos Gestalt, die undeutlich in den Schneeflocken stand. Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, begann sie zu laufen, Sanza in den Armen, um eiligst die anderen einzuholen. Durch das Fernglas musterte er das Tal. Kinder planschten in dem Wasserlauf. Er glaubte, Chappo und Tozey zu sehen, aber sicher konnte er nicht sein. Wickiups standen unter den Bäumen, und weit unten in den Wiesen sah er ein beackertes Feld. Er knurrte befriedigt. Das Feld würde Mais tragen, vielleicht Limonen und Bohnen und Kürbisse. So, wie es gewesen war, einst vor langer Zeit. Er verließ die Barriere, nahm den Weg zurück, die öden Hänge hinab, und lagerte unterhalb der Baumgrenze in einem warmen Tannengehölz. Er richtete sich ein Feuer, setzte sich mit überkreuzten Beinen davor und sang die alten Lieder, die ihn zu den Erinnerungen an seine Kindheit zurückbrachten. Die Visionen kehrten zurück. Er sah Chappo und Tozey am Feuer stehen. Chappo hielt Tozey an der Hand, und sie schaute aus ihren runden Augen Geronimo feierlich an. Chappo redete. »Wir haben ein Ratsfeuer in den Wäldern des Tals gemacht, Vater; Tozey und ich. Wir haben zu Usen gebetet, wie du es uns gesagt hast. Meine Macht hat mit mir gesprochen und gesagt, wir müßten aufbrechen und mit dir gehen. Du bist allein. Und daher sind wir gekommen. Tozey hat gesagt, daß ihre Macht mit ihr gesprochen und ihr das gleiche gesagt hat, Vater; aber ich glaube, sie ist zu jung, um eine Macht zu haben, ich glaube…« Tozey unterbrach ihn. »Meine Macht hat mit mir gesprochen.« »Ihr müßt umkehren«, sagte Geronimo. »Ihr könnt nicht mit mir gehen.« 300
»Nein, Vater«, sagte Chappo beharrlich. »Wir können nicht umkehren. Du bist unsere Familie, und daher müssen wir bei dir sein.« »Wir können nicht umkehren«, sagte Tozey. »Ich liebe euch nicht mehr«, sagte Geronimo. »Ich hasse euch, euch beide, ich…« Tozey schob den Daumen in den Mund. Von ihren Augen zogen sich Fältchen über ihre Fuchsnase. Ihre Brust hob sich. Die beiden Gestalten wurden durch Tränen undeutlich und verschwammen vor Geronimo. Er stürmte ums Feuer herum und schloß sie in die Arme. Sie waren keine Visionen. Es gab Zeit. Der Mond war noch nicht voll. Sie wanderten durch die Berge, Richtung Norden. Einmal hatte er Alope von den Quellen erzählt, an denen er, das Wasser kostend, trank, und damals hatte es keine Zeit gegeben. Und so verließen sie nun die Schattenzeit. Am frühen Morgen folgten sie Bienen, die in einer geraden Linie vom Wasser davonschwirrten, unter Bäumen auf den Höhen, deren rote und gelbliche Blätter sich dem Sonnenlicht zuwandten, in sanften Mulden, die Büschel wilder Blumen des Spätsommers bedeckten. Sie fanden den hohlen Stamm, der den Bienenstock beherbergte. Chappo und Tozey setzten sich zusammen und beobachteten die Bienen, wie sie in dem hohlen Stamm arbeiteten, aber sie störten sie nicht. Sie fanden einen steilen Abhang, der mit Piniennadeln bedeckt war, und verbrachten einen goldenen Nachmittag, indem sie den Hang hinunterrutschten und dann wieder hinaufkletterten, um von neuem zu rutschen. Chappo der Kecke, Tozey auf ihrem runden kleinen Hintern, beide kreischten, während sie sich überschlugen und rollten, und Geronimo rutschte und lachte und kreischte mit ihnen. Sie kamen dem Norden immer näher. Nachts beobachtete Geronimo den Mond. Am letzten Morgen ließen sie früh ihre Beine in einem klaren Bach baumeln und erstarrten wie Statuen, als sie ein Reh beobachteten, das sehr nahe bei ihnen zur Tränke kam. Tozey nieste, und das Reh 301
machte einen Luftsprung, und lachend und purzelnd rollten sie am Ufer herum. Chappo fiel ins Wasser. Unter den schrägen Sonnenstrahlen des Spätnachmittags begannen sie den Abstieg von dem Berg. Unter sich konnten sie den Fluß auf der Prärie sehen. Geronimo hielt an, um sein Gewehr und den Patronengürtel unter einem Fels zu verstecken. Chappo legte sein Messer daneben. »Ich möchte nicht, daß sie meinen«, sagte Chappo, »ich würde nicht auch mein Wort halten.« Tozey ließ den Stock dort, den sie trug. Geronimo nahm sie in die Arme. Er führte Chappo an der Hand. Sie kamen ans Flußufer, als die Sonne roten Dunst über das Wasser und die Prärie dahinter breitete. »Wir sind keine Krieger mehr, nicht wahr, Vater?« Chappo versuchte, die Besorgnis nicht in seiner Stimme anklingen zu lassen. »Doch«, sagte Geronimo, »wir sind Krieger. Du und Tozey und ich. Es gibt verschiedene Arten von Kriegern.« Aus dem Norden näherte sich rasch eine Staubwolke. Sie konnten die Blauröcke erkennen. Tozey steckte einen Daumen in den Mund. Die Schattenzeit war der 4. September 1886.
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Epilog
C
happo und Tozey starben als Gefangene. Chappo ist auf dem National-Friedhof in Mobile, Alabama, beerdigt; Tozey in Fort Sill, Oklahoma. Tom Horn hatte recht gehabt. General Nelson Miles kam nicht sofort an den Fluß. Er schickte Soldaten. Tagelang verständigte er sich mit ihnen, während sie mit Geronimo kampierten. Miles fürchtete Geronimos Ruf – daß er vielleicht entweichen könnte und dadurch Miles' Karriere schaden würde. In einer seiner Botschaften an seine Offiziere deutete Miles an, sie könnten die Sache vereinfachen und Geronimo ermorden. Aber die Offiziere weigerten sich. Schließlich erschien Big-Wind-Double-Mouth persönlich, eifrig bestrebt, angemessene Kapitulationsbedingungen und Versprechungen auszuhandeln. Indessen berichtete er aber, er habe Geronimo nach einem ›langen und gefährlichen‹ Feldzug ›gefangengenommen‹, und unverzüglich wurde er zum Helden der Zeitungen. General Miles' Kommando hat niemals einen einzigen feindseligen Apachen getötet oder gefangengenommen. Präsident Grover Cleveland, der die Geschichte der ›Gefangennahme‹ glaubte, befahl, Geronimo zu hängen, aber ehrliche Offiziere, die bei der Kapitulation zugegen gewesen waren, enthüllten die Bedingungen. Cleveland war wütend, aber er nahm den Befehl zum Erhängen zurück. Alle San-Carlos-Apachen wurden mit Geronimo und seinen Kindern weggeschafft. Der Zug, der sie durch die Wüste fuhr, war versiegelt, seine Fenster waren vernagelt, bei Temperaturen von über vierzig Grad. Ihre Hunde, die dem Zug nachsetzten, starben auf der Prärie. Die Apachen wurden in Gefängnisse in Fort Marion und Fort Pikkens, Florida, und in Mount Vernon Barracks, Alabama, gebracht. In den feuchten Sumpflandschaften starb dort ein Drittel von ihnen. Das Büro von Washington mischte sich ein und holte die Kin303
der ab, um sie in Carlisle, Pennsylvania, zu ›erziehen‹. Viele rührende Szenen spielten sich ab, als Apachenmütter ohne Erfolg versuchten, ihre Babys und Kinder vor den Bürokraten zu verstecken. Fast die Hälfte der Kinder starb. Die Cherokees in North Carolina, die von ihrer mißlichen Lage erfuhren, boten an, ihre mageren Besitztümer mit den Apachen zu teilen. Ihre alten Feinde, die Komantschen und Kiowas, gerührt von dieser unmenschlichen Existenz, erboten sich, sie aufzunehmen und ihr Land mit ihnen zu teilen. Dies geschah schließlich, und die Apachen wurden nach Fort Sill in Oklahoma gebracht. Viele Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen kann man General George Crook zuschreiben, der den größten Teil seines restlichen Lebens damit verbrachte, den Apachen zu helfen. Bei diesen Bemühungen wurde er von John Clum und anderen verantwortungsbewußten weißen Männern und Frauen unterstützt. Crook vermehrte damit ausgiebig die Liste seiner Feinde im Washingtoner Büro. Er starb am 21. März 1890 an einem Herzanfall. Er erlebte die Verlegung der Apachen nach Oklahoma nicht mehr. Kurz vor seinem Tode führte er im Kongreß eine Attacke mit dem Ziel, das Büro daran zu hindern, die Apachenkinder ihren Eltern wegzunehmen. Von Carlisle in Pennsylvania sagte er: »Ein Ort, der sich, aus welchem Grund auch immer, so todbringend für sie erweist… Apachen lieben ihre Kinder und Verwandten, und sie leben erfüllt von Furcht, daß man ihnen ihre Kinder wegnimmt und in eine ferne Schule schickt.« In der Reservation in Oklahoma wurden den Apachen Farmen zugewiesen. Hier überraschten sie die Militärverwaltung durch ihren Fleiß und ihre Hingabe an schwere Arbeit. Ihre Farmen blühten, und ihre Rinderherden erachtete man als die besten in Oklahoma. In ihrer Familienliebe errichteten die meisten von ihnen stabile Heimstätten. Doch immer sehnten sie sich danach, in ihren geliebten Südwesten zurückzukehren. Erst am 4. April 1913 wurde den mei304
sten gestattet, in die Mescalero-Reservation in Mescalero, New Mexiko, umzusiedeln. Wenige blieben in Oklahoma. Durch all das blieb der energische und wachsame Geronimo hartnäckig unbelehrbar. Armeeoffiziere haßten ihn. Er hänselte sie oft: »Ihr erwischt mich niemals, daß ich schieße!« Die meisten der noch folgenden Frauen und Kinder Geronimos starben in Gefangenschaft. Es gelang ihm, eine seiner Frauen zu retten, indem er sich im Gefängnis von ihr scheiden ließ; sie ging mit ihren zwei Kindern nach New Mexiko zurück. Von diesen beiden Kindern, Robert und Lenna, stammen die einzigen Abkömmlinge Geronimos ab, die heute in Mescalero, New Mexiko, leben. Geronimo lernte schnell das wirtschaftliche System des weißen Mannes. Er war ein harter Arbeiter, ging sparsam mit seinem Geld um und erwies sich als listig bei Verhandlungen. Aber er war nicht geizig. Wenn er Briefe an Apachen diktierte, schloß er stets mit: »Sag mir, wenn du Not leidest. Ich habe Geld und kann dir etwas schikken.« Und das tat er auch. Er liebte sein Volk selbstlos. Er wurde bei Weltausstellungen und in Wild-West-Shows vorgeführt; manchmal trug er Handschellen, und immer war er von Wächtern begleitet. Hunderttausende strömten herbei, um den ›menschlichen Tiger‹ zu besichtigen. Geronimo ist der einzige bekanntgewordene Gefangene, der an den Einsetzungsfeierlichkeiten eines Staatsoberhauptes teilnahm. Auf Befehl von Präsident Theodore Roosevelt ritt er auf einem Pferd, von Wachen umgeben, in Roosevelts Amtsantrittsparade mit. Er löste eine Sensation aus. Als man ihn ins Weiße Haus brachte, um den Präsidenten zu sehen, hatte er keinerlei Scheu. Er verlangte von Teddy Roosevelt, die Apachen sollten in ihre Heimat im Südwesten zurückgeschickt werden. Als der Präsident antwortete, er könne dies nicht tun, drehte sich Geronimo einfach um und ging fort. Tom Horn ritt an jenem Tag aus Fort Thomas nach Westen. Er tauchte 1888 bei einem Rodeo in Globe, Arizona, auf, wo er einige Preise gewann. Später gewann er die Weltmeisterschaft für Einfangen und Binden eines Stiers. Kurze Zeit arbeitete er für die Pin305
kerton-Agentur. Einmal verhaftete er einen berüchtigten Revolverhelden namens Pegleg Watson. Watson hatte sich in einer Hütte verschanzt, und nachdem Horn ihm zugerufen hatte, er komme, um ihn zu holen, ging er über einen freien Hof – mit ›Kaltblütigkeit‹, wie es in den Berichten heißt – trat die Tür auf und verhaftete den Banditen. Später erschien Horn in einem Pinkerton-Büro und gab seinen Amtsstern zurück. »Ihr habt eine gute Mannschaft«, sagte er, »aber ich hab' nicht den Magen dafür.« Horn wurde wegen Tapferkeit im spanisch-amerikanischen Krieg ausgezeichnet. Er wanderte nach Norden, vermietete seine Revolver an Rinderleute in Wyoming und räucherte die Rinderdiebe im Hole-in-the-Wall aus. Einmal betrunken in Cheyenne, prahlte er mit der Tötung eines Schafhirten aus dem Hinterhalt. Gesetzesbeamte verhafteten ihn. Er wurde zum Tode verurteilt, aber man bot ihm das Leben an, falls er die Identität seiner Auftraggeber preisgebe. Horn weigerte sich. Am 20. November 1903 wurde er in Cheyenne gehenkt. Als er die Stufen zum Galgen hinaufschritt, sang er: Das Leben: eine Eisenbahn der Berge! Wenn sich der Lokführer gut schlägt, Kann er erfolgreich sein auf seinem Wege, Bis man ihn in die Grube legt. Achte auf Tunnels, Kurven, Hügel, Und schwanke und versage nicht; Halt deine Hände auf der Drossel, Den Blick stets auf das Gleis gericht'. Tom Horn hatte seine Hand auf der Drossel gehalten. Loco starb in Fort Sill im Jahre 1905. Seine letzten Worte lauteten: »Ich fühle, daß ich kein Land mehr habe.« Nana starb 1896; er hatte nichts von dem angenommen, was der weiße Mann ihm bot. Völlig unbelehrbar. Seine letzten Worte: »Ich kann die Berge sehen.«
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Naiche wurde ein alter Mann; mit seiner Frau Ha-o-zinne richtete er sich ein festes Heim ein. Drei ihrer Kinder starben, aber drei überlebten. Das jüngste lebt noch heute in Mescalero, New Mexiko. Fun, der aufwallende, sorglose Geist, verfiel in tiefe Depressionen in der Gefangenschaft in Florida. Seine zwei Kinder wurden von der Regierung nach Carlisle weggebracht. Dort starben die Kinder, und als diese Nachricht eintraf, tötete Fun seine Frau und sich selbst – wahrscheinlich hatten sie es so vereinbart, aber es gab keinen Beweis, außer dem, daß man sie entseelt auf ihrem Bett fand. Geronimo starb am 17. Februar 1909 in Fort Sill. Als er starb, weilte bei ihm der Sohn Ishtons und Juhs, Asa Daklugie, dessen Geburt er durch das Verhandeln mit seiner Macht auf dem Berggipfel gerettet hatte. Vor seinem Tode bat er darum, man möge sein Lieblingspferd satteln und an einem bestimmten Baum anbinden. Er sagte, er werde das Pferd holen, drei Tage, nachdem er aus seinem Schattenkörper fortgegangen sei. Aber den Wunsch erfüllte man nicht. Das Pferd war nicht zur Stelle. Geronimo wurde in Fort Sill begraben. Viele Apachen behaupten, er habe sich von dort entfernt. Manche meinen, er habe sich ins hohe Tal begeben. Asa Daklugie heiratete eine Tochter von Chihuahua namens Ramona. Er erbte die starken Charaktere von Juh und Ishton, seinen Eltern, und er und seine Frau gründeten ein beispielhaftes Heim. Er entwickelte sich zu einem Führer unter den Apachen, als er nach New Mexiko zurückkehrte. Auch er hat Nachkommen. 1913 berichtete Pancho Villa General Hugh Scott, er wisse von ›wilden‹ Apachen in der Sierra Madre. Der letzte Überfall von Apachen auf ein mexikanisches Dorf, von dem berichtet wurde, ereignete sich 1934. Die Apachen kamen aus der Sierra Madre. San Carlos siechte dahin, es besteht zwar immer noch, ist aber kein Konzentrationscamp mehr. Die ›niedrige‹ Saat Gesetze, die San Carlos entstehen ließ, ging nicht zugrunde. Sie schlummerte viele 307
Jahre in Washington. Eine Generation ging dahin; eine andere und dann noch eine. Büros begannen aus der Saat aufzusprießen. Die Abkömmlinge sind angekommen. Während der Todesgesang der Apachen den Tod und seine Unvermeidbarkeit anerkennt, mutet es bemerkenswert an, daß dies bei Geronimos Todesgesang nicht so war. Seine letzten Worte – er sang sie auf dem Totenbett: O Ha Le O Ha Le Ich warte auf die Wendung! Manche Apachen haben niemals kapituliert. Nicht einmal vor dem Tod.
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Zeittafel ca. 1829 1835 1846 1848 1855 ca. 1858
1861 1862 1862/3 1863 1864 1865
Geronimo geboren. Mangas Coloradas beginnt einen nahezu dreißigjährigen Krieg zwischen Apachen und Mexikanern. Im amerikanisch-mexikanischen Krieg sucht Mangas durch eine Begegnung mit General Kearney modus vivendi für Apachen und ›Anglos‹. Im Frieden von Guadelupe Hidalgo tritt Mexiko alle Nordprovinzen an die USA ab: Texas, New Mexiko, Arizona u.a. Häuptling Cochise gewährt Amerikanern Durchzugsrecht durch die Apacheria und Errichtung einer Poststation am Apache Pass. Vernichtung von Geronimos Familie; in anschließenden Kriegs- und Raubzügen werden u.a. die Städte Fronteras, Nacozari, Janos und Arispe angegriffen und teilweise zerstört. Auf die Skalps von Apachen setzen die Mexikaner hohe Preise aus. Überfall auf Cochise am Apache Pass durch Lt. Bascom; Beginn des ›Cochise-Krieges‹. General Carleton zieht aus Kalifornien ins Territorium Arizona und legt die neue Politik der Ausrottung fest. Die Mescalero-Apachen (New Mexiko) werden nach langen Kämpfen in die Reservation Bosque Redondo getrieben. Mangas Coloradas wird ermordet. General Carleton vereinbart mit Mexiko die Erlaubnis für Grenzüberschreitungen während der Verfolgung von Apachen. Victorio und Nana lehnen Bosque Redondo ab; General Carleton wird abberufen. 309
1871 1872
1873 1874 1875 1877 1879 1880
1881/2 1882
1883
1884 1885
General Crook übernimmt Oberbefehl; erster Vertrag mit Cochise. General Howard gesteht Cochise und den nunmehr zu den Chiricahuas vereinigten Apachen-Scharen eigene Reservation zu; wegen Vertragsbruchs zieht Cochise jedoch bald wieder in die Berge zurück. Tonto- und Coyotero-Apachen in die Reservation White Mountains/San Carlos. Cochise stirbt; Chiricahua-Scharen gehen nach San Carlos. General Crook wird abberufen. Reservation der Chiricahuas endgültig aufgelöst; Victorio geht nach San Carlos. Victorio bricht aus. Bei Tres Castillos, knapp südlich der mexikanischen Grenze, werden Victorio und seine Schar, von US-Truppen gejagt, von Mexikanern unter General Terazas niedergemacht. Nana rekrutiert Krieger und führt Kriegs- und Raubzüge durch; Geronimo, Juh und andere entkommen aus dem Chiricahua-Gebiet zur Sierra Madre. Rückkehr der Chiricahuas nach San Carlos; erneuter Ausbruch und, nach siegreichem Gefecht gegen US-Truppen, Vernichtung durch Mexikaner südlich der Grenze. General Crook wird erneut Oberbefehlshaber; Aufstellung der Truppe der Apachen-Scouts. Häuptling Loco flieht aus San Carlos. Neue Vereinbarung mit Mexiko über Grenzüberschreitungen zur Apachen-Verfolgung; Crook dringt tief in die Sierra Madre ein. Juh stirbt. Chiricahuas kehren nach San Carlos zurück. Geronimo geht nach San Carlos. Geronimo flieht mit Nana und anderen aus der Reservation (Unterbrechung der Telegrafenleitung). In der 310
1886
1894 1909
Sierra Madre drücken mexikanische Truppen von Süden gegen die Apachen-Schlupfwinkel. Am 22. März Treffen Crooks mit Geronimo; kurz danach fliehen Geronimo und Naiche. General Crook wird abberufen; am 12. April übernimmt General Miles (Big-Wind-Double-Mouth) das Kommando. In der Sierra Madre werden Kapitulationsverhandlungen aufgenommen. Am 4. September kapituliert Geronimo mit den Resten seiner Schar im Skeleton Canyon knapp nördlich der mexikanischen Grenze. Geronimo, seine Leute und dazu die meisten Insassen der San-Carlos-Reservation einschließlich vieler Apachen-Scouts werden nach Florida in die Gefangenschaft transportiert. Verlegung der Apachen nach Fort Sill, Oklahoma. Tod Geronimos.
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