Das neue Abenteuer 471 Willi Bredel
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Die Feinde des Berges
Willi Bredel
Die Feinde des Berges
Verla...
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Das neue Abenteuer 471 Willi Bredel
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Die Feinde des Berges
Willi Bredel
Die Feinde des Berges
Verlag Neues Leben Berlin
M it Illustration en v o n G ünther Lück
© Verlag Neues Leben, Berlin 1986 Lizenz Nr. 303(305/108/86) LSV 7603 Umschlag: Günther Lück Typografie: Walter Leipold Schrift: 9 Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 0001 00025
I Vor Morgengrauen eines Junitages 1793 donnerten vom Schloß in Caen die Kanonen, und die Glocken im Stadthausturm läuteten Sturm. Ein Trupp Männer zog durch die nachtstillen, einsamen Gassen ins Innere der Stadt, sechs Konventdeputierte aus Paris und Patrioten aus Lisieux und Évreux, insgesamt etwa dreißig. Der wachhabende Offizier am Stadttor war aufs Schloß geeilt und hatte die Kanonen schießen lassen. Die Sturm glocken zog ein junger Sansculotte, der dem Trupp vorausgelaufen war. Das Krachen der Kanonenschüsse, das Dröhnen der Glocken riß die Stadt mit einem Schlag aus dem Schlaf. Die Zeiten waren unruhig und voller Gefahren; der Alarm konnte nur neues Unheil bedeuten. Rückten die aufständischen Königstreuen der Vendée und Bretagne in die Nor mandie? War der Krieg ausgebrochen, den England seit längerem plante? War die republikanische Nordarmee abermals geschlagen? Drohte von dort Gefahr? In diesem schrecklichen Jahr drohten von überall Gefahren. Selbst die Natur schien sich mit den Königen Europas vereinigt zu haben, die junge Freiheit zu erwürgen. Während die Heere der fremden Despoten die Grenzen der Republik berannten, reaktionäre Priester im Innern des Landes Aufstände entfachten, verbrannte ein mörderisch heißer Sommer das Getreide auf den Feldern und ließ die Tiere in den Ställen krepieren: zum Krieg und Bürgerkrieg kam die Hungersnot. Und nun kündeten Ka nonen und Glocken den schwergeprüften Republikanern neue Gefahren an. Aus allen Winkeln und Gassen kamen Bürger gerannt, manche nur not dürftig bekleidet, der eine ohne Rock, der andere ohne Schuhe, doch Waf fen trugen alle in den Händen, wenn kein Gewehr, so doch eine Pike. Und alle folgten dem Ruf : Kaufmannsleute und Händler in der neuen Bürger tracht, lange Röcke, steife, hohe Hüte, Kniehosen und blauweißrote Schärpen — Handwerker und Arbeiter in Sansculottentracht, röhrenenge gestreifte Hosen bis zu den Knöcheln, bunte Tücher um die Stirn gewun den —Fischer und Matrosen in Hemd und Hose und über den Schultern an breiten Gurten lange Säbel und in dem Hemdeinschnitt, am bloßen Leib, große, plumpe Pistolen. Jean Clamain, ein Tischlermeister in einem Hinterhaus der Fischergasse am Hafenkai, streckte seinen verschlafenden, struppigen Kopf mit einem langen, an den Mundwinkeln herabhängenden Bart, aus dem Fenster und schrie: „He, Gustave ...! Gustave ...“, bis in einem der gegenüberliegen den Fenster ein längliches, verstört- dreinschauendes Gesicht erschien: Gustave Corot, Diener des Gemeinderats und Freund des Tischlers Cla main. Der Gemeinderatsdiener knöpfte mit fahrigen Händen seinen Amts rock zu, sein Gesicht drückte Furcht und Staunen aus. „Was soll denn das heißen ...? Sind die Engländer gelandet?“ rief der Tischler. „Ich ..., ich weiß doch auch nicht“, stotterte der Gefragte. „Wozu bist du denn im Gemeinderat?“ brummte der Tischler. „Dort ... !“ Gustave Corot zeigte hinunter. Clamains Nachbar, der weißhaarige Netzflicker Jacques Tarteaux, lief, in der einen Hand einen festen Knotenstock, in der ändern eine Pike, aus dem Haus, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Der Tischler stol3
perte durch die Kammer, schlüpfte in seine Sansculottenhose, trat in ein Paar zerfetzte, ausgetretene Tuchschuhe, ergriff ein Gewehr, das an einer Kommode lehnte, beinahe so groß wie er selber, und raste die steile Holz treppe hinunter. Der Gemeinderatsdiener hatte zwanzig Schritt Vor sprung;, der Tischler rannte hinter ihm drein. „Und du weißt gar nichts?“ schrie er keuchend. Der Gemeinderatsdiener sah betont wichtig vor sich hin und schwieg. „Was bist du für ein Staatsbeamter?“ knurrte der Tischler. „Wenn schon du dich überraschen läßt.“ Eine Weile eilten beide stumm mit schnellen Schritten vorwärts. „Gewiß Krieg“, begann der Tischler dann wieder. „Die englischen Seeräuber wollen uns aushungern und hinterher ausplün dern. Meinst du nicht?“ Der Gemeinderatsdiener antwortete immer noch nicht. Der Tischler hielt Selbstgespräche ... „Blödiane, seltene Dumm köpfe, regen sich auf, weil Louis Capet geköpft wurde, und haben selbst einen König um gebracht... Kein freies Volk ohne toten Tyrannen ... Und was geht es sie eigentlich an, tun, als ob sie auf uns aufpassen müßten. Schöner Zustand ... Könige sind nur im Sterben nützlich. Wer hat das noch gesagt, Gustave; Könige sind nur im Sterben nützlich ... Du?“ „Ich weiß es nicht“, kam die unwillige Antwort. „Nichts weißt du“, schimpfte der Tischler. „Was weißt du eigentlich ...? Du bist mir ein Beamter. Beamte der Republik haben zu wissen. Wart nur, dich werden sie noch davonjagen.“ Unentwegt dröhnte es, als hämmerten nicht zwei, sondern hundert Glocken und an allen Enden der Stadt zu gleich. Durch alle Gassen, in die das erste Dämmern des neuen Tages fiel, hasteten die Bürger. Man winkte sich zu. Namen wurden gerufen. Fragen schwirrten durch die Luft. Alle strebten nach dem Stadthaus. Dort belagerten bereits Hunderte Bürger den großen Aufgang. Natio nalgardisten drängten die Ungeduldigen zurück. Viele sahen zum Turm, von dem die Sturmglocken lärmten. Nach Pierre Rollin, dem Maire*, wurde gerufen. Jedoch das Glockengetöse übertönte alles. Umgeben von stadtfremden Männern, betrat der Maire der Stadt, der frühere Fischhändler Pierre Rollin, ein großer schwerer Mann, den lan gen, schmalen Balkon. Er trug, wie alle Tage, engsitzende Sansculottenho sen und eine kurzgeschnittene Handwerkerweste. In dieser Kleidung un terschied er sich sehr von den Fremden, die, wesentlich jünger als er, schlank, vornehm und sorgfältig gekleidet waren. Einige trugen sogar ge puderte Perücken. Verlegen, auch ein wenig wichtigtuerisch, zerrte der Maire an der dreifarbigen Schärpe, die seinen mächtigen Leib umspannte und unter der Weste hervorsah, er zog das Kinn ein, so daß sein fleischi ger Hals noch mehr Falten warf, und hob beide Hände. Er wollte Ruhe haben und sprechen. Die Menge wurde auch still, jedoch die Glocken schwiegen nicht, und der Maire sah in komischer Hilflosigkeit zum Turm hinauf. Als er dann vom Balkon herabschrie, verstanden ihn nur wenige. Sofort entstand neue Unruhe. Die Hintenstehenden fragten ihre Vorder leute. Rufe sprangen zum Balkon hoch. Ein ungeduldiger Heißsporn schoß eine Gewehrladung in die Luft. Der Maire wandte sich ratlos an die Fremden. Einer von diesen, Elie Guadet, ein früherer Advokat, schob den * Bürgermeister
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Maire beiseite. Bevor er zu sprechen begann, warf er einen langen, prüfen den Blick auf das versammelte Volk, strich gedankenversunken mit seiner hellen Hand über das weiße, spitzenverzierte Jabot; seidene Manschetten sahen aus den enganliegenden Ärmeln seines orangefarbenen Rocks her vor. Aus der Menge kamen Rufe: „Stutzer ...! Aristokrat ...!“ Doch als der fremde Deputierte zu sprechen anfing, verstummten die Rufe allmählich. Er sprach mit fester, entschlossener Stimme, und sein Organ, tief und von metallischem Klang, hatte faszinierende Kraft. Der Sinn seiner Worte aber blieb beim Lärm der nur langsam abklingenden Glocken den Ver sammelten unverständlich. Nach wenigen Sätzen trat der Sprecher zurück, um einem seiner Freunde Platz zu machen, dem Deputierten François Buzot, einem hoch gewachsenen, sehr schlanken Mann mit blonder Perücke und auffallend großen, dunkelumränderten Augen. Er sprach in singendem Tonfall Worte der Anklage, der Trauer, der Resignation, das Ganze ein eigenarti ges Gemisch von Radikalismus und Melancholie. Da inzwischen die Glocken nahezu ausgeklungen hatten, war von seiner Rede auf dem Platz einiges zu verstehen. Er sprach von der Nachwelt. Diese würde dereinst die an den Vertretern des Volkes verübten Verbrechen beurteilten und zweifelsohne verurteile,n. „Was denn für Verbrechen?“ schrie Jean Clamain, der seine Neugier nicht länger unterdrücken konnte. „Richtig, man wird nicht schlau !“ rief ein anderer. 5
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„Er soll die Verbrecher nennen!“ „Ruhe doch, Bürger, Ruhe! Man kann ja kein Wort verstehen!“ „Jeder radikale Klub in Paris hat mehr Gewalt als die vom ganzen Volk gewählten Vertreter des Konvents“, rief der Fremde vom Balkon. „Überall herrschen die Jakobiner. In den Armeen wie in den Ministerien, in den Departements wie in den Munizipalitäten. Man hört in Paris auf allen Plätzen und in allen Gassen nur sinnloses Geschrei. Paris ist die Kloake der Revolution geworden, und die Republik droht darin zu ersticken.“ Diese Worte blieben ohne Eindruck. Verwundert sahen die Bürger drein. Kein Krieg mit England? Kein neuer Sieg der Royalisten in der Vendée? Der redet von den Jakobinern in Paris. Wieder erklangen Rufe. Diesmal Protestrufe, Schimpfworte, Nun schob sich ein dritter der Fremden ans Balkongitter. Einen hohen, hellbraunen Hut, weiße Handschuhe trug er, volles, dunkelblondes, in der Mitte gescheiteltes Haar umrahmte sein ovales, gebräuntes Gesicht. Ein Raunen ging durch die Menge: Barbaroux ...! Barbaroux ...! Barbaroux ...! Der junge Deputierte aus Marseille, eine der bekanntesten Ge stalten des Konvents, der schönste Mann der Republik, wie gesagt und ge schrieben wurde. Charles Jean Barbaroux trug eine bis ans Kinn reichende Halsbinde und darüber eine lässig geknotete Krawatte von mattgelber Farbe. Die Aufschläge seiner cremefarbenen Weste lagen auf einem hellblauen Rock, den er geschlossen trug und der seine schlanke Figur wirksam hervorhob. Er streifte sich geziert die Handschuhe ab, sah lächelnd auf die Menge und ließ sich anstaunen. Nach den ersten Worten jedoch waren die Augen der Menge nicht mehr auf seine Kleider gerichtet, sondern auf sein Ge sicht. Er vermied Umschweife und ging geradewegs auf sein Ziel los. „Die Republik ist bedroht“, rief er, „Schurken sind am Werke, Frankreich zu grunde zu richten.“ Seine Stimme war Donnern und Drohen, Fluchen und Verfluchen, doch sie konnte auch seufzen, klagen, weinen, und sein har monisches, wohlgestaltetes Gesicht verzerrte sich dann in Grimassen. Wie derholt tat Barbaroux, als schnüre Ekel und Entsetzen ihm die Kehle zu, sprach er von den Jakobinern in Paris, jenen Radikalen vom Berg, die die Diktatur über Frankreich errichtet hatten. Er sprach von Maximilien Ro bespierre und nannte ihn einen kaltherzigen Mordbuben und trockenen Schleicher. Danton hieß er einen doppelzüngigen Verräter. Doch der in seiner Darstellung Wildeste und Unerträglichste, auf den er die ganze Ver antwortung für alles Unglück wälzte, war Marat. „Seit Marat Erster An kläger der Republik ist“, rief Barbaroux, „schwebt das Fallbeil über dem Haupt eines jeden Bürgers.“ „Tod Marat!“ schrie eine Stimme. Der Ruf wurde unter Beifallsklatschen wiederholt. „In den Todeskammern der Pariser Gefängnisse sitzt nicht nur die gewiß schuldbeladene, nichtsdestoweniger unglückliche Österreicherin, sondern auch die verdienstvolle, der Republik so völlig ergebene Madame Ro land“, rief Barbaroux vom Balkon herab. „Marat wütet wie ein neuer Ty rann in Paris. Seine Schutzgarde ist der Pöbel. Seine Residenz ein schmut ziger Keller. Sein Werkzeug der Gemeinderat von Paris. Und dieser er bärmliche Mensch“, Barbaroux steigerte seine Stimme effektvoll und wie derholte: „Und dieser erbärmliche Mensch war einstmals Wissenschaftler
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und Arzt. Das indessen möchte er vergessen machen, das empfindet er of fenbar als Schande. Sein Rock ist kotig, seine Hosen sind zerrissen, die Schuhe an den Füßen haben keine Schnallen, und alles nur, um dem Pö bel als arm, als seinesgleichen zu erscheinen. Er wäscht sich nicht, trägt schmutzige Tücher um die stets fettigen und ungekämmten Haare. Und wie in den unseligen Septembertagen des Vorjahres war er es wieder, der selbst die Sturmglocke zog. Diesmal wollte er die Köpfe aller Volksvertre ter, die seinem Wahnsinn entgegengetreten waren. Er war es, der, umge ben von seinen bewaffneten Horden, das Ächtungsdekret aufsetzte: er ent schied über Leben und Tod der Volksvertreter; er stellte die Liste der Geächteten auf und verlangte ihre Verhaftung und Hinrichtung. Es sind dies der Republik treueste Söhne, und auch Ihre Abgeordneten, Bürger von Caen und Évreux, befinden sich darunter. Hört die Namen der von M arat Geächteten und ermeßt die Größe des Unglücks, das dieser Un mensch über die Nation bringen will.“ Und Barbaroux, mit gespreizten Fingern seiner Rechten zwei Tränen wegtupfend, las unter großem Schweigen der Menge die Namen der vom Konvent geächteten Deputierten vor, die sich gegen den Berg ausgespro chen hatten. Es war eine lange Liste. Die ersten Namen wurden stillschweigend angehört, erst als Vergniauds Name fiel, rief jemand: „Rache!“ Bei Brissots Namen wiederholten sich die Racherufe, und dann erschollen sie, von Hunderten ausgestoßen, bei jedem Namen. Als Barbaroux endete und mit einer Gebärde des' Ab scheus und der Trauer das Blatt Papier dem Volke wies, hoben die Bürger auf dem Platz Gewehre und Piken und schrien: „Rache! Rache ... Schlagt M arat tot ...! Auf nach Paris ...! Auf die Guillotine mit den Volksfein den ...!“ Der Fleischermeister François Alard, ein wahrer Hüne, der seine Mit bürger um Haupteslänge überragte, bahnte sich einen Weg durch die Volksmenge nach dem Stadthauseingang. In seinen mächtigen Fäusten trug er die Trikolore; seit Anbeginn der Revolution war er Träger der Fahne. Als er auf dem Balkon erschien, jubelten ihm alle zu. Die Depu tierten küßten reihum die. Fahne, und Barbaroux, die Liste mit den Na men der Geächteten in d«r einen, das Fahnentuch der Republik in der an deren Hand, rief: „Bürger von Caen, schwört bei der heiligen Fahne der Republik, das euren Vertretern angetane Unrecht zu rächen.“ „Wir schwören es“, klang es tausendstimmig. Als die Abgeordneten ins Stadthaus traten, zerstreute sich die Menge. Der Tischler Jean Clämain jedoch stürzte nach dem Eingang des Stadt hauses. Hier hatte die ganze Zeit Gustave, der Gemeinderatsdiener, ge standen. „Gustave ..'.!“ schrie er. „Gustave ...!“ Der stand und wartete, bis der Freund die Stufen der Steintreppe er reicht hatte. Dann fragte er in amtlichem Tone: „Was gibt’s?“ Der Tischler preßte, da ihm beim Laufen der Atem ausgegangen war, beide Hände auf die Brust. Er fragte: „Gustave ... Was, was ist nun?“ Der Gemeinderatsdiener runzelte die Stirn. „Was ist eigentlich passiert?“ forschte der Tischler. Gustave Corot schüt telte ernst den Kopf und blickte wie bedauernd auf den Freund herab, der auf einer unteren Stufe stand. „Du hast es doch gehört“, sagte er ruhig. „Gehört ...? Jaja, gehört ... Aber verstanden habe ich gar nichts.“
„Du bist eben ein Esel“, antwortete der Gemeinderatsdiener grob und drehte sich um und ging ins Stadthaus. Er hatte Anweisung, einen Saal herzurichten; eine Konferenz sollte abgehalten werden. Während er sich zu schaffen machte, Stühle heranholte, Tische abräumte und zusammen rückte, horchte er auf die Gespräche um sich herum, denn auch er wußte immer noch nicht, was eigentlich vorgefallen war. Er vernahm, daß ein Aufstand geplant wurde. Frankreich gegen Paris. Mehr: Europa gegen Frankreich - gegen Paris, und er zitterte vor Aufregung, wie immer, wenn er von großen Ereignissen hörte.
Die Konferenz der aus Paris geflohenen Konventdeputierten mit den Ver tretern der Bürgerschaft von Caen begann feierlich; indes, schon nach den ersten Reden stießen die Meinungen recht unfeierlich aufeinander. Die Departements in den Aufstand gegen Paris zu führen, darüber bestand Ei nigkeit, doch die Frage der Führung dieses Unternehmens war umstritten, auch die der Verbündeten in diesem Kampf. Charles Jean Barbaroux sprach gegen ein Bündnis mit den monarchistischen Aufständischen in der Vendée und Bretagne; Guadet hingegen verlangte gerade diese Zu sammenarbeit mit den Royalisten und Chouans*. Armand Gensonné war * königstreue Aufständische in Maine und Bretagne
für straffste Zentralisierung des Aufstands und Verlegung des Sitzes der provisorischen Gegenregierung nach Lyon oder Marseille. François Buzot wiederum wollte von keiner zentralen Führung etwas wissen, sondern die Republik in kleine autonome Republiken aufteilen. Élié Guadet wollte den General Wimpffen ins Vertrauen ziehen und ihm die Bildung und mi litärische Führung der aufständischen Armee in Calvados übertragen. Barbaroux war aufs entschiedenste dagegen, weil Wimpffen die Republik haßte und in Verbindung mit den Royalisten stand. Waren schon die De putierten, die doch einer Partei angehörten und sämtlich geächtet waren, so unterschiedlicher Meinung, so kamen die Gemeindevertreter von Caen erst recht zu keiner einheitlichen Ansicht; einige wagten "sogar, vor einem Aufstand zu warnen und für einen Einigungsversuch mit Paris zu spre chen. Wenn sich die Republikaner untereinander zerfleischten, so meinten sie, würde einzig England den Vorteil haben, es würde Truppen landen, und dann wären bald die Koblenzer wieder die Herren. Der Deputierte Guadet aber schrie: „Die so sprechen, muß man sich gut merken, das sind versteckte Jakobiner.“ Danach unterblieben derartige Äußerungen. Am zweiten Konferenztag war man von einer einheitlichen Meinung entfernter als am ersten; am dritten Tag schien jede Einigung unmöglich. Zweiundzwanzig Deputierte der Gironde waren am 31. Mai vom Kon vent geächtet worden, alle, die sich gegen revolutionäre Maßnahmen ge wandt hatten, die angesichts der kritischen Situation unumgänglich ge worden waren; sechs waren nach Caen geflohen, die meisten der Girondi sten hielten sich noch in Paris verborgen. Auf Barbaroux’ Vorschlag wurde beschlossen, den Rat dieser Abgeordneten, vor allem den des Par teiführers Vergniaud, einzuholen. Maire Pierre Rollin erbot sich, einen zu verlässigen Boten ausfindig zu machen. Dann setzten sich Barbaroux, Guadet und Buzot zusammen, sie wollten versuchen, wenigstens unter sich eine Übereinkunft in den wichtigsten Fragen herbeizuführen. Während dieser Beratung trat Gustave an den De putierten Barbaroux heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Draußen ist eine Frau.“ ’ „Was für eine Frau?“ fragte erstaunt Barbaroux. Der Gemeinderatsdiener zuckte die Achsel. „Eine Frau, die Sie zu spre chen wünscht, Bürger Deputierter.“ „Sie soll warten“, rief Barbaroux. „Bis eine Antwort von Vergniaud kommt, kann schon alles verloren sein“, rief Guadet. „Es gilt, schnell zu handeln.“ „Wer ist denn gegen schnelles Handeln?“ fragte Barbaroux. „Du“, schrie Guadet. - „Was soll das heißen?“ - „Etwa nicht? Dann übertrage Wimpf fen den Oberbefehl.“ - „Wimpffen ist ein Royalist.“ - „Er ist ein General, also das, was wir brauchen.“ - „Ich bin gegen Wimpffen“, wiederholte Barbaroux. „Und für wen bist du?“ schrie Guadet. Barbaroux schwieg. Außer General Wimpffen gab es keinen alten Offizier in der Stadt, der fä hig war, eine Armee zu führen. Einen Nichtmilitär, aber tüchtigen Repu blikaner zum Oberbefehlshaber zu ernennen, das lehnten alle ab, das war Jakobinerart. „Ich will nachdenken“, antwortete Barbaroux. „Ich habe bereits nachgedacht“, erwiderte Guadet und lachte verächt lich. 9
Marie-Charlotte Corday d’Armont war ein Edelfräulein aus Saint-Saturnin. Die Revolution hatte ihre Familie auseinandergerissen: Zwei Brüder, stockroyalistisch, waren ins Ausland emigriert, ihr Vater lebte von einer kleinen Rente auf dem Lande, und sie, die sich den bürgerlich einfachen, unverdächtigen Namen Charlotte Corday gegeben hatte, wohnte in Caen bei einer Tante. Sie nannte sich Republikanerin, lebte sehr zurückgezogen und hielt sich der Straße fern - das heißt, bis zu jenem Oktobertag des Jahres 1792, an dem sie den Deputierten Barbaroux kennenlernte, einem Tag, der ihrem Leben zum Wendepunkt wurde. Barbaroux war damals zu einem Besuch in Caen eingetroffen und wurde mit großem Jubel empfangen, war doch gerade die Republik ausge rufen und der Feind an den Grenzen geschlagen. Die Girondisten hatten verbreitet, die Marseiller Freiwilligen hätten das Vaterland gerettet und die Preußen geschlagen. Barbaroux war Konventsdeputierter von Mar seille. So wurde er in allen Festreden „Retter des Vaterlandes“ genannt. In diesen Mann verliebte sich Charlotte Corday leidenschaftlich. Nichts vermochte sie mehr bei der Tante zu halten, überall war sie, wo sie ihn wußte. Sie suchte seine Nähe, war glücklich, wenn ihr Arm zufällig den seinen streifte, war selig, wenn er ihr zulächelte oder ein Wort an sie rich tete. Eines Tages saß sie ihm bei einem Bankett gegenüber; er war von be zaubernder Liebenswürdigkeit. Ihm zur Seite saß die fette Bürgermeisters frau, aber seine ganze Aufmerksamkeit galt ihr, Charlotte. Er fand ihren kleinen kecken Hut entzückend, fragte, ob die Stickereien an ihrem Kleid normannische Handarbeit seien, fragte, derweil ihre verlangenden Blicke an seinen Augen hingen, ob sie schon einmal verliebt gewesen sei. Nie zu vor meinte sie ähnlich schöne, in ihrem tiefen Dunkel so aufleuchtende Augen gesehen zu haben. Nie eine solche Stirn. Nie eine so klangvolle, so unmittelbar zum Herzen sprechende Stimme. Sie war wie verzaubert. Die Leidenschaft, die dieser Mann in ihr entfacht hatte, veränderte ihr ganzes Wesen. Aber eines Tages war der Deputierte Barbaroux nach Paris zurückge fahren. Sie hätte sich sagen müssen, daß dies einmal kommen mußte; doch sie hatte nie daran gedacht. Sie fühlte sich verlassen, wurde krank, verfiel in Grübeleien und mied wieder Menschen und Natur. Nun fand sie den Tod schön, wie sie vordem das Leben schön gefunden hatte. Nach vielen trostlos verbrachten Tagen, in denen die Sehnsucht nach dem geliebten Mann nur immer mächtiger geworden war, überwand sie die anerzogene Scham und schrieb ihm nach Paris. Nichts von ihrer Liebe, ihrer Sehnsucht, sie fragte nur, ob er nicht bald wieder nach Caen kommen würde. Er würde so bald wie nur möglich kommen, schrieb er, denn er habe die Caenerinnen in dankbarer Erinnerung und große Sehn sucht nach ihnen. War es verwunderlich, daß sie die „große Sehnsucht“ auf sich bezog, in der Meinung, er wage noch nicht offen von seinen Ge fühlen zu sprechen? Bald nach Barbaroux’ Besuch gab sich eine Sektion in der Stadt, in der die Girondisten stark vertreten waren, seinen Namen. Charlotte Corday erwirkte ihre Aufnahme in diese Sektion und nahm nun im Kreise der Re publikaner regsten Anteil an den politischen Geschehnissen, worüber sich vor allem ihre Tante nicht genug wundern konnte. 10
So vergingen viele Monate. Barbaroux kam nicht. Plötzlich aber hieß es, einige Pariser Deputierte seien in der Stadt, darunter Barbaroux. Char lotte Corday suchte das Kleid mit den gestickten Aufschlägen hervor, auch den kleinen schwarzen Hut, den sie im vorigen Herbst getragen hatte und von dem er gesagt hatte, daß er ihr gut zu Gesicht stehe. So angetan, machte sie sich auf den Weg, und zitternden Herzens stand sie nun im Stadthaus und blickte auf die Tür, die in das Zimmer führte, in dem Bar baroux sein sollte... Sie sah zwei Deputierte das Zimmer verlassen. Barbaroux war nicht da bei. Neue Unruhe überkam sie. Sie ging in kleinen Schritten auf und ab, ließ aber ihren Blick nicht von der halboffenen T ür... Und dann erschien der alte Diener und winkte ihr. Als sie zu Barbaroux ins Zimmer trat, blickte dieser verwundert auf; er hatte eine einfache Frau erwartet, die irgendein Anliegen hatte, statt des sen kam ein junges, vornehm gekleidetes Fräulein, wie er in ganz Caen keines vermutet hatte. Er fand auch, daß sie mehr den Frauen seiner südli chen Heimat glich als denen hier an der Nordküste; sie hatte dunkle Haare und strenge, scharfgeschnittene Gesichtszüge. Doch die Augen wa ren es, die ihrem Gesicht den ihm eigentümlichen Ausdruck .gaben, sie wa ren von einer merkwürdigen Unbeständigkeit in der Farbe und unstet, nicht fähig, anderen Blicken standzuhalten. Aber aufrecht hielt sich diese Frau, stolz, so daß Barbaroux sofort vermutete, eine Aristokratin vor sich zu haben. Auf seine höfliche Anrede lächelte sie verlegen und setzte sich, seiner Aufforderung folgend. „Sie sind aus Caen, Bürgerin?“ - „Ja“, antwortete sie leise, seinen Blicken ausweichend. Er wartete auf das, was sie vorzu bringen hatte. Da sie schwieg, fragte er: „Sie haben ein Anliegen, Bürge rin?“ —„Ja“, antwortete sie schwer. „Ich ..., ich wollte Sie begrüßen, Bür ger Barbaroux.“ - „Ich danke Ihnen sehr, Bürgerin. Sie sind Republikane rin?“ — „Ja - mein Vater war ein kleiner Landedelmann ...“ Sie brach plötzlich ab. Dann fragte sie: „Im vorigen Herbst, erinnern Sie sich nicht, saß ich Ihnen an der Festtafel gegenüber?“ - „Aber ja ..., ja, natürlich“, rief Barbaroux lebhaft und nickte, als erinnere er sich wirklich. Sie wurde rot und schlug die Augen nieder. Barbaroux betrachtete sie genauer und überlegte, wo er sie schon gesehen haben könnte. „Bleiben Sie jetzt in Caen?“ fragte sie leise. „Nein“, erwiderte er, „ich werde wohl nach Mar seille fahren. Dort ist mein Platz. Man ruft schon nach mir.“ Steif saß sie da. Verlegen und enttäuscht. Sie hatte sich dies Wiedersehen anders vor gestellt. „Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben“, sagte sie. „Richtig“, rief er, „das stimmt ja.“ Dabei konnte er sich beim besten Willen an kei nen Brief erinnern. Sie sah ihn prüfend an: sie fühlte die Unwahrheit. „Entschuldigen Sie, Bürgerin“, sagte Barbaroux, „aber ich habe Ihren N a men vergessen.“ - „Charlotte Corday“, antwortete sie. „Erinnern Sie sich denn gar nicht mehr?“ Barbaroux wurde diese Unterhaltung peinlich: er wußte nicht, was er mit dieser Frau anfangen sollte. In seiner Verlegenheit sprach er, als ob er sie ablenken öder sich entschuldigen wollte, über alles mögliche, über die Aufregungen der jetzigen Wochen, die schrecklichen Mai- und Junitage in Paris, seine Flucht, über die vor ihm stehenden Auf gaben. „Damals, liebe Bürgerin, im vorigen Herbst, das waren andere Zei ten. Glücklichere Zeiten ...“ - Sie saß da und schwieg und wagte nicht 11
mehr aufzublicken. Sie fühlte sich gedemütigt, erniedrigt, enttäuscht. Alle ihre Kraft brauchte sie, um nicht in Tränen auszubrechen. Er sprach und sprach, aber sie verstand den Sinn seiner Worte gar nicht. ,So jung ist er‘, dachte s ie ,,keine vierundzwanzig Jahre, ein Jahr älter als ich, und tut, als läge sein Leben hinter ihm? Warum können wir uns nicht lieben? Liebt er mich nicht, weil er eine andere lie b t...? Warum liebt er mich nicht ...T Er sagte: „Welch eine Zeit! Welch eine Zukunft?! Uns bleibt nichts als der Dolch des Cato, denn die Republikaner kapitulieren vor jedem Räuspern Marats.“ ' Dann entstand eine lange Pause, während der kein Wort fiel. Sie blickte vor sich nieder. Er legte seine Hand auf die ihre, die verloren auf dem Tisch lag. „Ich danke Ihnen, Bürgerin Charlotte“, sagte er, „ich danke Ih nen.“ Nun sah sie auf. „Ich liebe Sie sehr, Charles“, flüsterte sie. „Helfen Sie mir, daß ich Ihrer wert werde.“ Barbaroux erschrak. Dergleichen hatte er noch nicht erlebt. Dabei war gerade jetzt sein Kopf so voll mit anderen Dingen, daß er sich wirklich in kein Abenteuer einlassen konnte. Er über legte. „Sie wollen mir helfen, Bürgerin? Der allgemeinen Sache dienen?“ fragte er. „Ich wäre glücklich, wenn ich Ihnen helfen könnte. Oh, wie glücklich.“ Ihm war ein Einfall gekommen. „Es handelt sich um einen wichtigen Botengang“, erklärte er mit großem Eifer. „Ein Brief muß nach Paris gebracht werden. Ein wichtiger Brief, von dessen Überbringung sehr viel abhängt. Wenn S ie...“, er stockte, „wenn Sie, Charlotte, dazu bereit w ären ...“ Ihr Gesicht war wie versteinert, ihre Augen traurig und ver schleiert. Sie bemühte sich zu lächeln. Sie sagte: „Ich will ihnen gerne hel fen, gerne.“ Die Deputierten Guadet und Buzot kehrten ins Zimmer zurück. Sie ent schuldigten sich, daß sie stören müßten, es gäbe dringliche Entscheidun gen. Und sie überfielen Barbaroux erneut mit der noch ungeklärten Frage des militärischen Oberbefehls. „Also, Barbaroux, Buzot ist mit mir einig, wir müssen Wimpffen nehmen.“ „Ich bin dagegen. Wimpffen ist Monarchist.“ Guadet rang verzweifelt die Hände. „Fangen wir also wieder von vorne an.“ , „Uns bleibt keine andere Wahl“, warf Buzot ein, „ich habe alles hin und her überlegt. Unsere Truppen sind ohne militärische Führung. Und —ein so verstockter Monarchist ist Wimpffen gar nicht.“ Barbaroux überlegte. Einen schrägen Blick warf er auf die Caennerin, die noch am Tisch saß. „Also gut, einverstanden“, entschied er. „Aber man soll auf ihn achten.“ „Also endlich“, rief Guadet erfreut. „Und nun eine angenehme Nach richt. Die Konventskommissare Prieux und Romane sind in Bayeux ver haftet. Ich habe angeordnet, daß man sie herbringt.“ Barbaroux wandte sich an Charlotte Corday. „Bürgerin, kommen Sie bitte morgen in den Vormittagsstunden. Ich übergebe Ihnen dann den Brief, und wir können alles Weitere bereden.“ Sie erhob sich sofort. Nickte zum Einverständnis, reichte Barbaroux flüchtig die Hand und ging. „Alle Wetter, ein schönes Frauenzimmer“, rief Guadet. „Wiederkom men soll sie? Was habt ihr denn eigentlich miteinander geredet?“ Barbaroux antwortete nicht. 12
III
Barbaroux war nur mit halben Gedanken bei der Beratung, er dachte an die Frau, die ihn aufgesucht und ihm ihre Liebe gestanden hatte. Er war kleinen amourösen Abenteuern nie abgeneigt, doch war er viel zu eitel, viel zu ehrgeizig, viel zu sehr in sich selbst verliebt, um einer ernsten, ech ten Liebe fähig zu sein. Hier in Caen freilich verspürte er auch keinerlei Lust zu einem Abenteuer; jetzt ging es um wichtigere Dinge. Und er über legte, ob sie eine geeignete Botin sei. Anderntags wartete auf Charlotte Corday im Haus ihrer Tante ein Fremder, ein schlanjcer, aber durchaus'nicht mehr junger Mensch in ei nem einfachen dunklen Rock. Sein hageres, längliches Gesicht war von gelber Farbe und voller Falten; die müden Augen lagen tief in dunkle Gruben gebettet, und die Lippen waren blutleer und schlaff. Trotz der ein fachen Kleidung, die er trug, verrieten Haltung und Benehmen vornehm ste Herkunft. Als sie ins Zimmer trat, kam er ihr mit tänzelnden Schritten entgegen, verneigte sich und hob ihre Hand an seine welken Lippen. Sie betrachtete ihn schweigend mit abwartendem Blick. Mit vor Bewegung zit ternder Stimme flüsterte der Frem de: „Demoiselle, ich bin Ihnen unend lich dankbar.“ Bevor er ihr gegenüber in einem der verblichenen Tüchsessel Platz nahm, sprach er: „Ich bin Marquis de Puisaye, niemand weiß, daß ich mich hier aufhalte. Sie wissen es nun als erste.“ Er kniff die grauen Augen 13
zusammen und suchte ihren Blick hinter den dichten Wimpern. Sie war nicht erschrocken, nur erstaunt; den Namen dieses Mannes hatte sie oft gehört; sie wußte, daß einer der Führer der Aufständischen in der Vendée vor ihr saß. Da sie immer noch schwieg, begann der Marquis von neuem: „Sie sind aus dem altadeligen Geschlecht der d’Armont, nicht wahr? Ich kenne es gut, kenne auch Ihre Brüder, die in England sind. Und Sie fah ren nach Paris, nicht wahr ...? Wundern Sie sich nicht, ich weiß e s ... Viel leicht werden Sie schon morgen die Briefe von dem Deputierten Barbaroux erhalten ... Ich weiß alles ... Weiß auch, daß Sie wie ich der Mei nung sind, man müßte mehr tun als nur Briefe schreiben und befördern.“ Und während er dies sagte, ließ er seine’Augen nicht von ihr, und sie, die seinem starren Blick nicht standzuhalten vermochte, spürte eine merk würdige Macht von diesem Menschen auf sich übergehen. Daß dieser Mann von ihrer Unterredung wußte, das lähmte ihre Überlegung. Zaghaft, verwirrt und eigentlich gegen ihren Willen fragte sie: „Und was ..., was ..., Marquis, müßte man tun?“ Des Marquis Gesicht und Haltung blieben unbeweglich, doch seine lan gen, dünnen Finger nestelten an der Halskrause. Er übereilte sich nicht mit der AnWort. „Die Departements haben sich erhoben, die ausländischen Heere unsere Grenzen überschritten. Diesem allseitigen Anprall kann der nur noch aus dem Berg bestehende Konvent nicht standhalten. Immerhin kann er noch die edelsten Kräfte der Nation in seinen Untergang hineinreißen. Diese Jakobinerführer, das wissen wir ja zur Genüge, sind Fanatiker, die vor nichts zurückschrecken ... Was man tun m üßte...?“ Er wiederholte diese Frage, beantwortete sie aber immer noch nicht. „Halbheiten sind ein Ausdruck der Schwäche, in unserer Lage aber sind sie Verbrechen. Es fehlt den Männern der Gironde än Entschlossenheit. Den Jakobinern nicht. Und nicht um die Frage Monarchie oder Republik geht es, sondern um die Erhaltung der Nation, das heißt um den Sturz der Jakobiner... Was man tun m üßte...?“ Der Marquis beugte sich zu Charlotte Corday hin, und mit leiserer Stimme, die Augen starr auf sie gerichtet, fuhr er fort: „Man müßte dem Jakobinertum die Köpfe abschlagen, Robespierre tö ten, Marat töten und Danton und Collot d’Herbois, Saint-Just, Desmoulins, Couthon, alle, alle, nicht einen schonen. Das würde die Canaille läh men. Wie feige Hunde würde sich der Rest verkriechen. Wer zum Prügel greift, muß auch schlagen wollen. Wollen die Männer der Gironde schla gen? Können sie schlagen? Ich weiß nur, daß sie reden können...“ „Sie unterschätzen meine Freunde, Marquis“, stieß Charlotte Corday be bend hervor, erschrocken über die rücksichtslose Schärfe seiner Worte. „Gewiß, Marquis“, setzte sie noch hinzu, „Sie dürfen so reden. Ich kann Sie und das Volk der Vendée nur bewundern.“ „Aus Fontenay-le-Comte, wo wir einen herrlichen Sieg erfochten, bin ich hierher geeilt. Gelingt es, auch diesen Küstenstrich hier zum Aufstand zu bringen, ist Paris verloren; in weniger als vier Wochen stehen unsere Sol daten an der Seine.“ „Marquis, ich hoffe inbrünstig, Ihrp Worte gehen in Erfüllung.“ „Tragen Sie dazu bei, Demoiselle.“ „Was in meinen Kräften steht ... Ich bin ein Weib.“ 14
„Oh, Sie vermögen viel.“ Und wieder beugte er sich zu ihr hin und dämpfte seine Stimme. „Sie werden Briefe nach Paris bringen, wahr scheinlich dem Führer der Gironde, Vergniaud. Damit wir unsere M aß nahmen in der Vendée mit den Plänen der Gironde in Übereinsti'mmung bringen können, ist es wichtig, den Inhalt dieser Briefe zu kennen...“ Charlotte Corday war enttäuscht; Briefe, immer Briefe —dabei schwelte in ihrem Kopf eine vom Marquis entfachte haßerfüllte Mordgier. Marat töten ... Robespierre töten ... Das war noch etwas ... Statt dessen hieß der Marquis sie Briefe preisgeben... „Können wir mit Ihrer Hilfe rechnen?“ hörte sie die lauernde Stimme. „Marquis, ich verehre die Tugend und verabscheue die Jakobiner.“ Der Marquis de Puisaye erhob sich, griff hastig nach ihrer Hand und führte sie an seine Lippen. IV Es dauerte noch etliche Tage, bis Charlotte Corday reisen konnte. Die Briefe, die es zu befördern galt, kamen erst nach tagelangen Debatten zu stande. Barbaroux wich ihr aus; sie hatte ihn nur noch einmal kurz gese hen und auch nur durch einen Zufall. Sie jedoch liebte ihn, sie mochte sich sagen, was sie wollte. Zwar war das Leben noch trister und sie un glücklicher als je zuvor. In ihren Träumen sah sie sich oft auf dem Sterbe lager Abschied von ihm nehmen. Dann gestand sie ihm alles, und er, von ihren Gefühlen überwältigt, sank vor ihr nieder. Oder sie hatte eine unge wöhnlich heroische Tat vollbracht: das ganze Volk jubelte ihr zu; Staats männer und Generale verneigten sich vor ihr; sie aber reichte dem Gelieb ten die Hand und zog ihn zu sich herauf. Ach, es waren Träume, Wahn vorstellungen ... Kurz vor ihrer Abreise traf sie noch einmal mit dem Marquis zusam men. Er machte sich Kopien von Barbaroux’ Brief, und sie dachte nicht eine Sekunde daran, daß daraus für Barbaroux womöglich Ärgernisse ent stehen konnten. Der Marquis kämpfe auch gegen die Jakobiner. Das ge nügte ihr. Gegen diesen Feind schien ihr jeder und alles recht. Und das Wort, das der Marquis zum Abschied gesagt hatte, demütigte sie und er regte zugleich ihre Phantasie. „Schade“, hatte er zu ihr gesagt, „daß Sie nur eine Botin und keine Judith sin d ...“ Ihrer Tante hatte sie vorgelogen, eine krank gewordene Jugendfreundin in Courseulles am Meer besuchen zu wollen. Um sie in diesem Glauben zu erhalten, nahm sie nur wenig Gepäck mit. Aber nicht nur aus diesem Gründe. Sie wurde noch verschlossener, aber ihre Phantasie arbeitete noch fieberhafter, und ihre Träume wurden noch berauschender... Um jedes Aufsehen zu vermeiden, fuhr sie mit einem Bauernfuhrwerk nach Lisieux. Dort angekommen, nahm sie die Post nach Évreux und fuhr in kleinen Etappen weiter nach Paris, das sie am 12. Juli erreichte. Die Postkutsche hielt in der Rue des Vieux Augustins, einer stillen Gasse, in der sich eine Herberge befand. Sie suchte nicht lange, sondern nahm dort ein Kämmerchen. Als erstes schloß sie das kleine Fenster, denn ein penetranter Gestank stieg vom Hof herauf.,Paris !‘ dachte sie in ihrem Haß, fast zufrieden, daß dies ihr erster Eindruck war. Sie wusch sich, richtete ihre Kleidung ein wenig her und legte sich; die 15
Reise war doch recht anstrengend gewesen; A ber sie woHte noch nicht schlafen, nur ein wenig Kräfte sammeln. Als sie erwachte, war es stock dunkel. Erschrocken sprang sie auf, nestelte an ihren Kleidern und zog aufatmend Barbaroux’ Brief hervor. Dann verbarg sie ihn wieder, warf sich ein Wolltuch über die Schultern und verließ die Herberge. Es war späte/ Abend und in den Gassen nachtdunkel. Wenige matt leuchtende Öllampen dienten der Orientierung. Dennoch schritt sie aufs Geratewohl weiter; sie hatte versprochen, noch am Tage ihrer Ankunft den Brief zu befördern. Nie war sie bei Anbruch der Dunkelheit in Caen allein auf die Gasse gegangen, und Caen war eine friedliche Stadt, in der sie je den Winkel kannte; in dieser großen, unbekannten, ihr unheimlichen Stadt schritt sie furchtlos durch die Finsternis und wußte doch kaum, wo sie sich befand, noch weniger, wohin sie kommen würde. Aber in ihr lebte der Wahn, das Schicksal habe Großes mit ihr vor. Darüber hatte sie jede Furcht verloren. An einer erleuchteten Gassenkreuzung fragte sie einen Bürger, der auf sie zukam. Ja, die Rue de la Fraternité kannte er, und er wies ihr den Weg. Sie merkte nicht, daß er ihr verwundert nachsah; stumpf und apathisch schritt sie, wie von einem fremden Willen geführt, doch ohne Haß, einer Nachtwandlerin nicht unähnlich. Wiederholt trat sie in Schmutzlachen. Sie stolperte über Löcher im Pflaster, doch sie blickte nicht nach rechts, nicht nach links, sie ging und ging. Breitere Gassen öffneten sich ihr; die Häuser wurden größer, sahen ge pflegter aus. Jetzt suchte sie aufmerksam die Häuserfronten ab. Als sie das 16
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Messingschild des Barbiers Jacques Codeau entdeckte, wußte sie auch in der Dunkelheit genau den Weg. Dort war der schmale Durchgang, den sie suchte. Und sie durchschritt ihn, erreichte einen kleinen Hof, sah links ein einstöckiges Haus: Sie war angekommen. Zweimal klopfte sie langsam, hinterher dreimal kurz. Sofort wurde geöffnet. Außer dem Mann, der geöffnet hatte, war nur noch ein Mensch in dem Zimmer, in das sie geführt wurde. Sie fragte nach dem Bürger Duperret. Er war es, der sie hereingelassen. Ihm übergab sie den Brief. Der zweite Mann hatte sich bei ihrem Eintreten nicht gerührt. Sie hätte gern gewußt, wer das war. Auf dem runden Tisch mitten im Zimmer stand eine Öl lampe; sie erhellte nur spärlich den Raum. Und Duperret, der am Tisch stand und den Brief öffnete, verstellte ihr außerdem die Sicht. Dennoch sah sie, daß der andere einen unansehnlichen, zerrissenen Rock trug und daß das Haar ihm ungeordnet und wirr in Stirn und Schläfen hing. „Vergniaud, Vergniaud, ein Brief von Barbaroux! Die sechs sind glück lich in Caen!“ rief Duperret. Vergniaud? Charlotte Corday blickte auf Duperret, dann auf den, der Vergniaud sein sollte. Sie staunte. Das war der bekannte Deputierte, der große Redner des Konvents, der Führer der Gironde? Den hatte sie sich anders vorgestellt. Vergniaud bleib völlig ungerührt in seiner Ecke sitzen; er zeigte nicht die geringste Neugier zu erfahren, was Barbaroux geschrie ben hatte, aber er blickte jetzt auf die Botin und fragte: „Bürgerin, Sie kommen aus Caen?“ „Ja“, antwortete sie. „H ör nur“, rief Duperret wieder. „Sie haben sich zu einer Versammlung aller aufständischen Departements vereinigt... Haben auch schon ein Heer, einen G eneral... Und die Kommissare Prieux und Romme sind ver haftet. Hörst du?“ „Ja doch, ja “, antwortete Vergniaud wie gelangweilt. „Die Vendeer haben Angers und marschieren auf Nantes ... Nun, das wissen wir bereits. Aber auch Toulon und Marseille haben sich für den Aufstand erklärt. Und ganz Calvados ... Das erdrückt den Konvent, das ist gewiß. Vergniaud, Frankreich wird uns gehören ... Barbaroux geht nach Marseille.“ „Ist er schon gefahren?“ fragte Charlotte Corday schnell. „Allem Anschein nach ... Vergniaud, teurer Freund, kein Grund mehr zur Verzweiflung. Gute Nachrichten. Ausgezeichnete Nachrichten ... Du mußt aus Paris. Fahre nach Lyon, nach Marseille. Oder fahre mit der Bür gerin nach Caen. Du darfst nicht in Paris bleiben.“ Vergniaud verharrte in stoischer Ruhe; Charlotte Corday jedoch war bei den letzten Worten ein wenig zusammengeschreckt ... Caen ...? Ihr wurde plötzlich schwer ums Herz. Die niedrigen, sauberen Häuser mit ih ren leuchtendroten Dächern ... Die schmalen, krummen, vom frischen, herben Wind des Meeres sauber gefegten Winkel und Gassen. Der kleine Hafen. Das Schloß. Und die Tante ... Caen ..., würde sie es Wiederse h en ...? Duperret und Vergniaud stritten miteinander; Duperret stellte hitzige Fragen, und Vergniaud gab ironische Antworten. Charlotte .Corday, sin nend über Caen und über einen schrecklichen Vorsatz, der immer stärker in ihr wurde, vernahm nur Bruchstücke dieser Unterhaltung. Als Ver2
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gniaud jedoch plötzlich in lautes Gelächter ausbrach, horchte sie auf. „Ach, geh“, rief er Duperret zu, „die alte, einfältige Vorstellung. Mein Gott, bist du dumm. Indem wir den Baum pfropften, haben wir ihn getö tet: er war zu alt, Robespierre haut ihn um. Wir haben uns gründlich in der Zeit geirrt, wir haben geglaubt, wir seien in Rom, und wir waren in Pa ris.“ Vergniaud sprach weiter. Duperret, der nicht mehr widersprach, wärmte seinem Gast auf einem Ölbrenner eine Schale Tee und stellte Brot und ge kochtes Fleisch hin. Charlotte Corday nippte an dem heißen Getränk, hörte dabei aufmerk sam Vergniaud zu, diesem „seltsamen Republikaner, der in seiner Ecke saß, unbeweglich, wie gestorben, und mit geschlossenen Augen vor sich hin sprach: „Revolutionen sind wie jene Krisen, die in einer Nacht ein Menschenleben bleichen; sie lassen indessen die Völker schnell reifen. Das Blut in unsem Adern ist heiß genug, um den Boden der Republik zu befruchten. Nehmen wir die Zukunft mit uns nicht fort, und lassen wir dem Volk für den Tod, den es uns geben will, die H offnung...“ Wo sind die großen Menschen? Wo die kühnen Gedanken? Wo die he roischen Taten? An den Hohn des Marquis mußte Charlotte Corday den ken, als sie diesen müden Philosophen hörte, der mit seinem Tode koket tierte und der dem Volk die Hoffnung lassen wollte. .
V
Nein, nein, nein, sie wollte dem Volk die Hoffnung nehmen, es strafen, es tödlich treffen. Das Volk sollte demütiger werden und sich seinen Besten willig unterordnen. Demokratie durfte nicht die Herrschaft des Volkes sein, sondern die Herrschaft der Aufgeklärten, der Gebildeten. Sie war gar nicht Vergniauds Ansicht, konnte diese nicht einmal großmütig und edel nennen, sondern nur,i verderblich, sie stand voll und ganz zum Marquis und seinen wilden Jesusstreitern ... Man mußte dem Jakobinertum die Köpfe abschlagen... Inmitten eines Wirrsals enger, lichtloser Gassen im Zentrum der Stadt erhob sich vor ihr ein Palast mit Säulen, einem prunkvollen Portal und mächtigen, harmonisch gegliederten Flächen: das Palais d’Egalite, das frühere Palais Royal, dessen herzoglicher Besitzer ein Parteigänger der Ja kobiner geworden war. Wagen fuhren vor. Lärmende Gruppen von Sans culotten und Bürgern drängten hinein, Gassenjungen turnten an den Git tern zwischen den Säulen, jagten sich in dem mit geschliffenen Fliesen gepflasterten Vorhof. In Caen war von diesem Ort oft geredet worden. Von hier hatte nicht nur die Revolution ihren Anfang genommen, es war auch heute der Tummelplatz der Klubmitglieder der Radikalen. Robe spierre wurde oft im Cafe Foy dieses Gartens gesehen. Auch Danton. Sel ten jedoch Marat. Charlotte Corday betrat das Innere des Palastes durch einen Seitenein gang, sie wollte sich nicht der lauten Menge anschließen, die dem Garten, den Wasserspielen und den Bänken unter den Kastanien zustrebte, son dern nahm ihren Weg unter den langen Arkaden, die im Innern um den Palastgarten herumführten. Im Garten unter den Kastanien lärmten die 18
Menschen, lachten, sangen, tranken, hielten Reden. Irgendwo spielte Mu sik. Es war die Vorfreude auf das morgige Freiheitsfest der Republik, den vierten Jahrestag der Erstürmung der Bastille. Charlotte Corday betrach tete feindlich die fröhliche Menge. Gab es keine Unglücklichen? Kein Re volutionstribunal? Keine Guillotine? Das also war das Volk, das jubelte, wenn die Todeskarren durch die Gassen fuhren, das um die Guillotine tanzte, wenn die Köpfe fielen? Im Gehen warf sie Blicke in die Auslagen der Laden, sah Halsbänder, Ohrgehänge und Medaillen, Bücher und Malereien, kleine graue Kuchen, bunte, zum Teil grotesk geformte Flaschen mit wohlriechenden Wassern und in einer kleinen unscheinbaren Auslage Scheren, kunstvoll geschmie dete Pikenspitzen, Stilette und - Messer. Sie stockte. Über dem Eingang des Geschäfts las sie: Messerschmied. Das Blut begann ihr heftiger zu flie ßen, und zugleich kroch es ihr kalt in alle Glieder. Wieder ein Schicksals wink ...? Ihr Blick blieb an einem breiten Messer hängen. Sie zögerte noch. Erst ruhig werden; sie wollte erst vollkommen ruhig sein ... Langsa men Schrittes trat sie in den Laden. Der Schmied, ein schon bejahrter Mann mit runden, flinken und lebens frohen Augen in einem bartlosen, runzelvollen Gesicht, begrüßte sie wie eine alte Bekannte. Uber dem rußigen Hemd trug er einen Lederschurz und auf diesem eine große dreifarbige Kokarde. Er sprach vom lustigen Treiben im Garten, dem bevorstehenden Fest, auf dem er die Trikolore seiner Sektion tragen würde, und fragte sie, ohne sie freilich zur Antwort kommen zu lassen: „Was sagen Sie, Bürgerin, zu den neuen Beschlüssen des Gemeinderats? Nun muß künftig an jeder Haustür der Name des Ein wohners stehen. Ein vortrefflicher Einfall! Vortrefflich! Treiben sich doch immer noch Aristokraten und Pfaffen und andere Taugenichtse und Ver brecher in Paris herum ... Und die Höchstpreise für Getreide? Den Eng ländern soll nicht gelingen, uns auszuhungern. Der Gemeinderat w a ch t... Aber das mit den Namensschildern an den Türen ist großartig und wich tig, sehr wichtig ... Leider steht es in der Vendée schlecht. Diese H'undssöhne von Pfaffen und Aristokraten holen die Engländer an Land. Aber unsere Verfassung widerlegt ihre Lügen. Das ist eine Verfassung. Endlich ist das Volk Herr ... Wissen Sie, daß Marat die Generalmobilisierung ge fordert hat ...? „M arat?“ stieß Charlotte Corday unbedacht hervor. „Ja, M arat“, wiederholte der Messerschmied, und er sprach den Namen mit Ehrfurcht aus. „Der kann in die Zukunft blicken. Der sieht Gefahren, wenn für unsereins noch alles Nebel ist. Der kennt die Freunde des Vol kes so gut wie die Feinde. Alle hat er entlarvt, alle: Lafayette und Mira beau, Bailly und Dumouriez, und jetzt auch diese eitlen Schönsprecher von Girondisten ... Und er liebt das Volk. Mehr als Danton. So wie Maxi milien. Töten wollten sie ihn, diese elenden Königsschützer von Girondi sten. Aber wie er vorm Tribunal gesprochen hat. Einzigartig, wie wir ihn wieder in den Konvent zurücktrugen. Ich habe den Sessel mit getragen, auf dem er saß. Das war ein Tag! Marat ist unser Gewissen, unsere Seele, unser Herz und unser K o p f... Isnard aber, der Schuft, wollte Paris zerstö ren. Unser Paris ...“ Gern hätte Charlotte Corday die Rede des Alten unterbrochen, aber sie war unfähig, sie brachte kein Wort über die Lippen: unentwegt starrte sie 19
den Messerschmied an, der sich immer wieder ereiferte. „Ha, diese Brissotisten und Girondisten“, rief er und ballte die Faust, „die uns an die Kö nige verraten wollten. Dumouriez gehörte zu ihnen. Auch dieser ver fluchte Petion und dieser Geck Barbaroux. Jetzt wollen sie die Kaufleute im Süden gegen das Volk aufwiegeln, haben sich mit den Priestern und Aristokraten in der Vendee verbündet, wollen die Republik aufteilen und unter sich verteilen. Das sind Republikaner, pfui Teufel auch! Schöne Re publikaner wie etwa dieser Barnave. Hahaha! Verliebt sich in die Österrei cherin - küß die Hand, Majestät, und noch einen Buckel, noch tiefer, und natürlich Schnallenschuhe und Perücke wie ein Höfling. Schöne Re publikaner! Hahaha! Dabei ein Redner, dieser Mann, das floß nur so aus seinem Munde. Und wie radikal. Jaja, der Redner in ihm war radikal, der Mensch nicht ..." j „Was kostet das Messer dort, Bürger?“ Der Messerschmied überhörte die Frage und erzählte von gestern Guillotinierten. „Einer war dabei, ein witziger Bursche. Als er oben stand, sagte er: ,Dumm, daß ich sterbern muß, ich hätte gern gewußt, wie das weitergeht.4 Hahaha ...! Als ob das nicht jeder andere auch gern wüßte. Na, was blieb ihm übrig, er zuckte noch bedauernd mit den Schultern, und dann saß auch schon kein Kopf mehr drauf. Einer war dabei, der ...“ „Was kostet das Messer, Bürger?“ „Vierzig Sou, Bürgerin. Mit der Scheide. Ist zwar nur Pappe, aber immer hin, mit der Scheide ... Wissen Sie, daß hier vor der Tür ein Meuchelmord begangen wurde?“ Der Kundin Hand mit dem Messer fiel schwer auf den Ladentisch; ihre Augen weiteten sich und waren voll Entsetzen auf den Alten gerichtet. Zu ihrem Glück sah er in jenem Augenblick nicht auf sie, sondern kam ge schwind um den Verkaufstisch herum, öffnete die Tür und rief, indem er hinauszeigte: „Dort, sehen Sie, dort unter der großen Kastanie wurde Lepelletier er mordet. Auf einmal hörte ich Geschrei. Menschen rennen zusammen. Mir schwante gleich Unheil, also ich hinaus. Ach, da lag er schon, von Mes sern zerfetzt, und röchelte nur noch. Er war ein so guter Patriot; wenn er das Wort ergriff ...“ „Ich möchte das Messer kaufen“, rief Charlotte Corday laut. „Gewiß, Bürgerin, soll ich es einschlagen, warten Sie.“ Doch Charlotte Corday ergriff das Messer, verbarg es unter ihrem Um schlagtuch, warf die vierzig Sou auf den Tisch und lief, bevor der Schmied ein neues Wort über die Lippen bringen konnte, hinaus. VI
Nur fort von diesem Ort, fort von diesem geschwätzigen und in seiner Ge schwätzigkeit unheimlichen Alten. Erst als sie eine stille Seitengasse er reicht hatte, wurde sie ruhiger. Ihre Finger betasteten das gekaufte Mes ser, ein ungewöhnlich solid gearbeitetes Küchenmesser mit festem Holz griff. Eine neue Angst überkam sie: Sie könnte an der Ausführung ihres Vorhabens gehindert werden. Auch: daß sie zu spät käme. Und nun wollte sie es sofort ausführen. Auf der Stelle. Wie ein Rausch kam das Verlangen 20
über sie. Sie mußte sich zusammenreißen, um keinen Fehler zu begehen. Unsicher blickte sie um sich. Am Ende der Gasse lag ein Platz. Sie ging darauf zu. Es war ein besseres Wohnviertel, die Häuser sahen wohlhabend aus. Der kleine Platz war rund, strahlenförmig mündeten in ihn mehrere Gassen. Sie überlegte. Marats Adresse war ihr nicht bekannt. Ob der Fuhrmann sie wohl kannte? Sie beschloß, es zu versuchen, setzte sich in den Wagen und rief dem.Kutscher zu: „Fahren Sie mich zu Marat, dem Volksfreund.“ Keine Rückfrage des Kutschers, der auf den hageren Gaul einhieb und losfuhr. Das Fahren machte sie ruhiger. Auch nachdenklicher. Nein, kein Zu rück mehr, sprach sie zu sich. Sie fühlte sich vom Schicksal bestimmt, fühlte sich als Retterin und Rächerin; im Buch der Geschichte würde es stehen. Und an der Schwelle des Todes, vor dem sicheren Ende wollte sie Barbaroux mitteilen, wie sie ihn geliebt und was sie seinetwegen gelitten hatte. So war er also schon nach Marseille gefahren ... Vorsichtig entfernte sie unter ihrem Tuch die papierene Scheide, zer knüllte sie und ließ sie unversehens aus dem Wagen fallen. Sie fühlte den kalten Stahl an ihrer Brust ... Der Himmel war blau, die Sonne heiß wie an jedem Tag dieses Som mers, der im Volksmund den Beinamen Der Brennende bekommen hatte. Selbst die Steine der Häuser strahlten Hitze aus, und die Luft in den Gas sen flimmerte wie dunstiger Nebel und machte die Augen schmerzen. Die Einwohner waren aus ihren Wohnräumen geflüchtet. Nicht nur Stühle und Tische standen vor den Hauseingängen, selbst Betten; nicht nur ge gessen, gewaschen, gearbeitet würde auf den Gassen, auch geschlafen. Oft hatte der Kutscher seine liebe Not, zwischen all dem Hausrat, der die Gas sen verstopfte, sein Gefährt hindurchzubringen. Barbiere schnitten vor ih rer Ladentür Haare. Korbflechter hockten arbeitend am Rinnstein. Ein Uhrmacher, einen Tisch mit winzigen Uhrteilen und Werkzeugen vor sich, war von neugierigen Kindern umringt. Etwas weiter verbauten Schüsseln und Körbe die enge Straße bis zur Mitte, und eine dralle Frau mit nackten roten Armen hantierte vor einem Waschtrog. Dann kam das Gefährt an ei ner vielköpfigen Familie vorbei, die in einem Terrasseneingang bei der Mahlzeit saß. Gegenüber bekam ein Kind Hiebe; es schrie, daß man mei nen sollte, die ganze Gasse müßte zusammenlaufen. Indessen: Niemand kümmerte sich darum. Und durch das Hausgerät, um Tisch und Stühle strichen Katzen und schnupperten an Abfällen. Das war Paris. Das war das Volk. Charlotte Corday sah es mit Entsetzen und Verachtung, denn nicht nur ihr Herz, auch ihre Vernunft war vergiftet. Das Volk hatte die Bastille gestürmt, die Preußen bei Valmy geschlagen,/die ganze Mensch heit mit kühnem Ruck in ein neues fortschrittliches Zeitalter vorwärtsge rissen. Nichts davon sah die Caenerin. Haß macht blind und vergeßlich und kein Haß blinder als der aus Unverstand und Enttäuschung. Charlotte Corday atmete befreit, als der Wagen das Gassenknäuel ver ließ und über eine Brücke fuhr, zu deren Seiten kleine armselige Verkaufs häuser standen. Vor sich, am jenseitigen Seineufer, sah sie einen festungs artigen Bau aus grauem Sandstein mit wehrhaften runden Türmen. So sehr sie auch versucht war, den Fuhrmann zu fragen, was dies für ein Ge bäude sei, sie getraute sich nicht. Über eine zweite Brücke, einen Nebenarm der Seine, ging es. Links er 21
hob sich die düstere graue Notre-Dame-Kathedrale. Dann neues Gassen gewirr: Häuser, noch älter und hinfälliger, Gassen, noch winkliger und schmaler, noch dunkler, noch unsauberer als die bisher durchfahrenen; oft nahm der Wagen die ganze Breite zwischen den hohen, schmalen Häu sern ein. Dabei wimmelte es in den Gassen von Menschen ... ,In einem Keller wohnt er‘, dachte Charlotte Corday, und er könnte doch in einem Palast wohnen. Der Kutscher wendete sich um und sagte: „Wir sind angekömmen, hier wohnt der Volksfreund!“ VII Marat war krank, und die ganze Nachbarschaft nah und fern zeigte in rüh render Weise ihre Liebe und Anhänglichkeit. Die kleine Eline, die in den Hallen arbeitete, brachte täglich einige ausgesucht schöne Früchte, einen Teller voll mit dunkelroten Erdbeeren oder ein Körbchen Mirabellen, ei nige reife Pfirsische. Ein Gruß aus den Hallen, und der Volksfreund möge recht bald gesund werden. Ein Tischler aus dem Nachbarhaus hörte, dem Volksfreund könnten heiße Bäder helfen, und er erinnerte sich eines alten Erbstücks, einer kupfernen Wanne. Vier Männer schleppten sie in Marats Haus. Ein uraltes Mütterchen aus der Rue Saint-Jacques brachte einen le dernen Beutel mit Kräutern, die geheime Heilkraft haben sollten. Ge rüchte über die Krankheit des Volksfreundes liefen von Tür zu Tür, von Haus zu Haus, durch ganz Paris. Da kamen Arbeiterdelegationen aus den Werkstätten und von den Bauplätzen, aus den Sektionen entfernter Stadt teile, um sich Gewißheit zu verschaffen. Glücklich war, wer vom kranken Marat empfangen wurde. „Du darfst uns nicht verlassen“, sprach ein alter Bauarbeiter zu ihm. „Wenn du nicht mehr bist, wer soll dann die Verräter erkennen und entlarven, die nur auf den Augenblick warten, um wieder über uns herzufallen? Alle unsere Opfer, unsere Mühen wären vergeblich gewesen, all unsere Hoffnung wäre dahin.“ Das waren glückliche Stunden für Marat, es gab aber auch trübe, schlimme, in denen er seine Verzweiflung über die ihn betroffene Krank heit an der armen Catharina ausließ. Dann war die Tinte schlecht, das Es sen ungenießbar, die Drucker arbeiteten miserabel, der Bursche kam nicht mit den Korrekturen, nichts war gut, alles hatte sich verschworen, ihm die Arbeit und das Dasein zu erschweren. Manchmal gelang es der stillen, herzensguten Frau, den leidenden Freund zu beruhigen. Sie wußte, er fluchte mehr auf sich als auf andere, denn sie kannte seine Pläne, seine Hoffnungen, wußte, wie sehr er sich gehindert fühlte von diesem Aussatz, den er aus jenen verpesteten, mit faulen Schwämmen bedeckten Kellern hatte, in denen er zwei Jahre, verborgen vor den Nachstellungen der Volksfeinde, hatte leben müssen. Diese Jahre hatten auch seine Nerven zerrüttet. Nächtelang war er wach geblieben, jetzt litt er unter Schlaflosig keit, daß ihn die Verzweiflung ankam. Furchtbar rächte sich der Körper für die in den Jahren der Illegalität ertragenen Torturen. War Marat in seinen Qualen unausstehlich, die unglückliche Catharina händeringend in irgendeinen Winkel der Wohnung gekrochen - Gusman kam als Retter. Er kam, seit der Freund erkrankt war, jeden Tag. Und vor ihm beherrschte sich Marat; vor ihm ließ er sich nicht anmerken, wie er 22
litt, noch wie sehr seine kranken Nerven Gewalt über ihn bekommen konnten. Gusman, den Marat gut leiden konnte, hatte auch eine beson dere Art, abzulenken und aufzuheitern. Nie fragte er nach dem Zustand der Krankheit, tat, als ob er überhaupt nichts von einer Krankheit wüßte. Trat er ins Zimmer, begann er sogleich eine schnurrige Geschichte zu er zählen, einen interessanten Zwischenfall im Konvent, einen originellen Ausspruch eines Deputierten oder dergleichen. Und bald waren beide in politische Fragen vertieft; Gusman hatte ein besonderes Talent, die Pro bleme herauszufinden, mit denen Marat sich gerade plagte. Politisierend saßen sie oft viele Stunden beisammen, und Marat vergaß Schmerzen und Sorgen und alle Bitternisse. „Robespierre hat es jetzt mächtig mit der republikanischen Tugend“, er zählte Gusman an diesem Tage. „Durch die Tugend soll das Volk zur wahren Freiheit gelangen. Sie müsse in die Herzen aller Bürger einziehen, besonders in die der begüterten.“ „Ja, in die Herzen der Begüterten“, rief Marat. „Ein frommer Wunsch. Glaubt Maximilien wirklich, mit Moralgrundsätzen allein die Neigungen und Gewohnheiten, die Sitten und Leidenschaften der herrschenden Klasse zu ändern? Aber du siehst, auch Robespierre sieht sehr wohl die Grenzen der Freiheit, die uns die Revolution bisher gebracht. Ich kenne England, kenne die englischen Bürger; sie hassen den Adel der Geburt, in dessen: Der Adel des Geldsacks ist ihnen heilig. Und da soll die Anrufung der Tugend, soll die Moral helfen? Die Tugend der Armen liegt in ihren Piken, ihren Gewehren. Verstehen wir diese Tugend anzuwenden, ist die Wohlfahrt des Volkes gesichert.“ In große Decken gehüllt, saß Marat im Lehnstuhl. Auf dem Tisch neben ihm lagen Papiere und Notizen, Briefe, Journale und, zu einem anderen Stapel gehäuft, die Sitzungsprotokolle des Konvents, den Marat seit eini gen Wochen nicht mehr besuchen konnte. Das Zimmer selbst, nicht son derlich groß, war von puritanischer Einfachheit. Am Fenster stand, über dacht und mit Vorhängen umzogen, ein hohes, breites Bett. An der Wand gegenüber waren lange Regale angebracht, in denen aber nicht nur Bücher standen, sondern auch Schachteln, kleine seltsame Geräte, Flaschen und Phiolen, wie sie Mediziner und Naturwissenschaftler bei ihren Forschun gen benötigen. Sonst stand im Raum neben der Tür nur noch eine niedrige schwarze Truhe. Gusman, jung, kaum dreißigjährig, ein Mensch von nachdenklichem Wesen, aber mit offenem, freimütigem Gesichtsausdruck, hatte nichts als lange grobgestreifte Hosen und ein Leinenhemd an, das am Halse weit offen war; das Haar trug er, der Zeitmode entsprechend, in die Stirn gekämmt. „M arat“, sagte er, „Wir halten nicht übermäßig viel von der bürgerlichen Freiheit, gibt aber die neue Verfassung dem Volk nicht manches Recht? Hat nicht jeder Bürger ein Wahlrecht? Regieren nicht heute, wo die Jesui ten der Revolution, unsere Geldsackrepublikaner, am Boden liegen, die Sansculotten, der Berg? Und doch: Wuchert nicht unterirdisch, schwer greifbar und doch jedem spürbar, das Gesindel-der Spekulanten und Geldschneider, der Leutebetrüger munter fort? Du hast gewiß recht, da hilft kein Tugendgeschwätz. Aber schafft es die Guillotine allein? Wo ist der Weg? Wie heißt das Ziel?“ „Die Massen des Volkes haben das Joch des Adels gebrochen“, antwor 23
tete ihm Marat, der sinnend zugehört hatte, „sie werden auch das des Reichtums brechen. Die Mittellosen werden sich nur der Grundsätze der Freiheit und Gleichheit bedienen können, um den Reichen ihre Vorrechte und ihre erräuberten Reichtümer zu nehmen, so wie der dritte Stand es mit den Privilegien des Adels getan hat.“ „Ein Programm fehlt, Marat, eine Vorstellung vom Staat der Gerechtig keit und Freiheit, in dem auch die wirtschaftlichen Güter gerecht verteilt sind.“ Marat antwortete nicht; er sah vor sich hin. Auch Gusman schwieg. So entstanden merkwürdig stille Minuten zwischen den beiden Männern. Die Frage, die Marat dann stellte, galt Danton. „Und er verlangt neuerdings Achtung vor den Gesetzen?“ „Er rief, man müsse die Gesetze achten: die Selbstachtung erfordere es“, antwortete Gusman. „Es kommt auf die Gesetze an.“ „Saint-Just rief ihm auch zu: ,Die Gesetze der Revolution, nicht wahr?1“ „Die Danton am 2. September vortrefflich kannte und achtete ...“, sagte Marat lachend. „Aber er ist der Mann des Septembers nicht mehr; etliche von der Gironde standen ihm näher, als er zugibt.“ Unvermittelt kam M arat auf die alte, unbeantwortet gebliebene Frage zurück. „Es ist schon richtig, eine feste Vorstellung fehlt. Eine Republik wahrer Demokratie, ohne jedwede Vorrechte, weder des Besitzes noch des Verstandes ... Die großen Vermögen sind ein Hindernis für die Freiheit, vor allem auch der Besitz an Grund und Boden —und die unkontrollierte G üterproduktion... Glaube mir, ich frage mich oft und überlege, grüb l e ... Wer soll die gerechten Pläne verwirklichen? Robespierre sagt, die Tu gendhaften. Tugendhaft sind die Sansculotten, jene, die nichts besitzen. Paris ist sansculottisch; aber wir sind ein großes Land, was wollen die Pro vinzen, die kleinen Dörfer und die Bürger in den Städten, in Lyon, Mar seille, Nantes, Bordeaux?“ „Wer kann viel Schutt und Gerümpel wegräumen, all dies alte, längst be deutungslos gewordene Zeug, das wir immer noch mitschleppen und das uns den Blick verstellt, den Weg nicht sehen läßt.“ Gusman wurde unruhig, wollte antworten, suchte noch nach den richti gen Worten; Marat kam ihm zuvor. „Verstehe doch, ich meine die Überre ste der Aristokratie und die ganze buntscheckige Reaktion, jene wohlha benden Volksfeinde von Necker und Bailly bis zu Louvet und Buzot, von den Feuillants* bis zu den Girondisten. Die sind auch in Paris noch nicht vernichtet, wie so manche glauben. Sie sind noch da, verborgen, maskiert, und sie werden das Volk nicht schonen, wenn noch einmal der Augen blick für sie kommen sollte. Darum: kein Erbarmen! Friede den Hütten, Krieg den Palästen, das ist ein schönes Wort von Chamfort.“ Als Gusman nach diesem Gespräch Marat verließ, wußte er, die entscheidenste der Fragen berührt zu haben, doch die Ergebnisse, zu denen sie gekommen waren, befriedigten ihn nicht. In den Sektionen wurden die radikalen Theorien von Jacques Roux und Varlet viel diskutiert, aber sie betrafen Teilfragen und waren zudem recht verworren. ,Niemand kann über sich hinwegsehen', sagte sich der gescheite Gusman und setzte hinzu: ,Das aber gerade wäre heute nötig, um auf die Frage nach der Schaffung * Zentrum des Großbürgertums und des liberalen Adels (pol. Klub)
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einer allseitig gerechten und wahren Demokratie eine Antwort zu finden.1 M arat blieb, als der Freund ihn verlassen hatte, noch lange mit dieser Frage beschäftigt. Kein Zweifel: Die wirtschaftliche Entwicklung stand im Widerspruch zu den Ideen der Revolution. Der ärmste Sansculotte und der Werkstättenbesitzer, die wohlhabenden Aufkäufer und Händler, sie hatten die gleichen Rechte, und doch ipachte die Ungleichheit des Besit zes den einen frei, den anderen unfrei. Enteignung der Reichen und Dik tatur der Armen, ja, er hätte es längst gefordert. Aber Gusman hatte schon recht, eine klare Vorstellung fehlte zur Durchführung dieser Aufgabe; es fehlte die Erkenntnis von den Gesetzen der Entwicklung der bürgerlichen Wirtschaft; es fehlte eine revolutionäre Theorie ... Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit unter den Menschen - Marat kam an diesem Tage eine Ah nung an über die mögliche Länge des Weges bis dahin. Catharina trat ins Zimmer. Sie sagte, daß sie das Bad gerichtet habe. „Ich danke dir, liebe Freundin.“ VIII
Keinerlei Unruhe mehr war in Charlotte Corday, nur kalte Entschlossen heit. Nachdem sie den geforderten Fahrpreis gezahlt hatte, wartete sie, bis der Wagen davöngefahren war. Das Haus, in dem Marat wohnen sollte, war schmal und hoch und spitzgiebelig, ein Haus wie alle anderen. Bevor sie zum Klopfen kam, wurde geöffnet; eine kleine rundliche Frau mit Barthaaren auf der Oberlippe im runden roten Gesicht trat aus der Tür. „Wohnt hier der Bürger M arat?“ - „Jawohl!“ - „Ich möchte ihn spre chen.“ - „Der Volksfreund ist heute nicht zu sprechen.“ - „Es ist drin gend.“ —„Er ist beschäftigt.“ Wie ein Gardist stand die Frau vor der Tür, die Arme in die Hüften ge stemmt. Charlotte Corday sah starr auf sie herab. Das war immerhin erin unerwartetes Hindernis. „Ich bin von weit her gekommen. Ich bringe dem Volksfreund wichtige Nachrichten.“ - „Kommen Sie morgen ,in den Vormittagsstunden.“ „Das ist nicht möglich. Und der Volksfreund erwartet mich. Bitte, melden Sie mich.“ Das machte die Frau unentschlossen. Doch noch zögerte sie. Mißtrau isch schätzte sie die Fremde ab. Dann sagte sie kurz: „Warten Sie“, und ging ins Haus, die Tür hinter sich schließend. Charlotte Corday hatte gelogen, und nun fürchtete sie, sich verdächtig gemacht zu haben. Das Messer - es könnte sie verraten. ,Wie mich dies Weib gemustert hat! Bin ich ihr zu vornehm angezogen? Sie sah an sich herunter. Dunkles Leinenkleid. Ein wollnes Umschlagtuch. Schuhe von der gewöhnlichen Art. Vielleicht für dieses Weib schon Reichtum. Ihr fiel Vergniaud ein. Dessen schäbige Kleidung war natürlich nur Verklei d u n g ... Daß vor der Haustür Marats ein Weib Posten stand! Als die Frau nicht sogleich zurückkam, wuchs ihre Furcht. Eine. Sekunde dachte sie daran, zu fliehen, das verräterische Messer fortzuwerfen. Da öffnete sich die Tür wieder, die Frau erschien und rief erbost: „Ich sagte Ihnen ja, der Volksfreund ist nicht zu sprechen. Sie sollen morgen Ihre Mitteilung brin gen.“ Und die Tür schlug zu. 25
Im ersten Augenblick war Charlotte Corday mit diesem Bescheid sehr zufrieden. Sie ging langsam davon. Also morgen. Dann aber brach die alte Angst durch: Morgen könnte es zu spät oder es könnte eine stärkere Be wachung vorhanden sein. Standen doch sonst gewiß Nationalgardisten vorm Haus. Heute wäre also ein besonders günstiger Tag. Und ihr war, als raune ihr eine Stimme unaufhörlich zu: Heute ...! Heute ...! Heute ...! So kehrte sie plötzlich um und lief zurück; ihr war eingefallen, daß sie sich die Hausnummer nicht gemerkt hatte. Neben dem verschlossen Eingang stand eine große 30. Und die Gasse hieß Rue des Cordeliers. Was nun? Hinein mußte sie, aber wie? Sie hatte gedacht, im Hause Marats sei ein ständiges Kommen und Gehen. So hatte man erzählt. Auch daß er allen Unglücklichen helfe, Hilfesuchende nie abweise ... Sie wagte einen neuen Versuch. Auf ihr Klopfen erschien wieder die mißtrauische Frau, die mit schrä gem Blick ärgerlich auf die Fremde sah. „Gute Bürgerin, ich bin eine Unglückliche. Die Feinde der Republik ver folgen mich. Nur der Volksfreund kann mir helfen. Morgen kann alles schon zu spät sein. Retten Sie mich, helfen Sie mir. Ich muß den Volks freund sprechen.“ Die so demütig Angesprochene verzog keine Miene. Sie war im Begriff, die Tür zuzuwerfen, als Catharina hinzutrat. „Was gibt’s denn, Bürgerin Concierge?“ fragte sie. „Das ist die Bürgerin, die den Volksfreund sprechen will“, antwortete unwirsch die Concierge, die keinen Blick von der Fremden ließ. „Der Volksfreund ist krank, Bürgerin, kommen Sie morgen. Vielleicht empfängt er Sie.“ Das war freundlich gesagt. Doch die Tür wurde geschlossen; Charlotte Corday war abermals abgewiesen. Sie war ganz verzweifelt. Machte sie sich nicht vollends verdächtig, da sie so hartnäckig darauf bestand, Marat zu sprechen? Aber offenbar war er zu Hause. Kein Besuchstag - krank es wäre die denkbar günstigste Gelegenheit. Sie mußte zu ihm gelangen. Heute noch. Aber wie nur ...? Wie n u r...? Nicht weit befand sich ein kleines Wirtshaus. Sie ging hinein, immer noch unschlüssig. Sollte sie in ihre Herberge zurückkehren oder es ein drittes Mal versuchen? Da kam ihr ein neuer Gedanke: ihm zu schreiben. Wenn sie ihm schriebe, sie wüßte von Verschwörungen gegen die Repu blik? Marat war öffentlicher Ankläger, in diesem Fall konnte er sie schwer abweisen, auch dann nicht, wenn er krank im Bett liegen sollte. Und si cherlich wußte er bereits einiges von den Ereignissen in Caen. Wenn sie nun schriebe, sie komme aus Caen, eigens, ihm die dortigen Verschwörun gen zu denunzieren? Sogleich ließ sie sich Feder und Papier bringen ... „Teurer Volks freund“, schrieb sie, hielt dann aber inne und überlegte. Nein, keine fal schen Worte. Nichts durfte seinen Argwohn erregen. Sie schrieb: „Bürger Marat, Freund des Volkes, der Republik drohen Gefahren. Sechs der vom Konvent geächteten girondistischen Volksfeinde sind in Caen angekom men und haben die Stadt und ganz Calvados in Aufruhr gebracht. Schon sind aufständische Truppen im Anmarsch auf Paris. Ich komme aus Caen.» Ich kenne die Verräter. Als Republikanerin hielt ich es für meine Pflicht, Sie aufzusuchen, um Ihnen die Volksfeinde zu nennen, damit sie ihre ge 26
rechte Strafe erhalten. Bitte, empfangen Sie mich. Charlotte Corday.“ Sie las das Schreiben noch einmal aufmerksam durch, änderte aber nichts. Der Schankbursche des Wirts trug es in Marats Wohnung. Nun war sie neuer Zuversicht. Zugleich verfiel sie in Sinnen. Vielleicht lebte sie schon in wenigen Stunden nicht mehr. Und ihre Gedanken wanderten zu Barbaroux ... Ob er bereuen würde ...? Ob er sehr unglücklich sein wird ...? Ein Wort von ihm, und sie wäre nicht mehr von seiner Seite gewichen ... Ob er stolz auf sie sein würde, wenn er erfuhr, wessen sie fä hig gewesen war ...? Ob er aufrichtig um sie trauern wird ...? Dann mel deten sich auch Zweifel ... Würde es gelingen ...? War wirklich das Wich tigste getan, wenn Marat starb ...? Sie wunderte sich über diese Zweifel, aber sie kamen, sieiwußte nicht, wieso ... Eine gute Stunde war verstrichen, als sie sich zum drittenmal auf den Weg machte, entschlossen, sich diesmal nicht abweisen zu lassen. Tatsäch lich erschien die unvermeidliche Concierge. Charlotte Corday schob sie mit all ihrer Kraft, ohne ein Wort der Anrede zu verlieren, beiseite und drängte ins Haus, Wie erwartet, stimmte die Concierge ein wütendes Ge brüll an. Charolotte Corday schrie, so laut sie vermochte: „Ich muß den Volksfreuhd sprechen ... Ich muß den Volksfreund sprechen ...“ Auf den Lärm erschien Catharina. Aus einer offenen Tür rief eine Män nerstimme, Marats Freundin warf sich zwischen die Streitenden, be schwichtigte die Concierge und fragte Charlotte Corday, ob sie die Brief schreiberin sei, die aus Caen komme. Sie bejahte, und Catharina fuhr fort: „Der Volksfreund ist krank, er befindet sich im Bade. M acht es Ihnen was aus?“ Charlotte Corday trat in die' Wohnung, hinter ihr her schimpfte noch die Concierge, und Catherina bemühte sich, sie zu beruhigen. In einer kahlen, aber hellen und geräumigen, nur wenig tief liegenden Kammer saß M arat in einer hohen, kupfernen, vollkommen mit Decken zugedeck ten Wanne. Er saß aufrecht, ein breites, ungehobeltes Brett vor sich, auf dem viele Papiere lagen. Sein Oberkörper war nackt, um die Stirn hatte er ein Tuch geschlungen. „Verzeihung bitte, Bürgerin, aber treten Sie näher.“ „Ich komme aus Caen. Ich kann von Verrätereien berichten. In Caen be steht bereits eine Gegenregierung. Die Kommissare des Konvents sind verhaftet worden.“ Während Charlotte Corday dies herunterplapperte, betrachtete sie den Mann in der Wanne, der, den Kopf ein wenig zurückgelehnt, zu ihr aufsah und ihr zuhörte. Einen schmächtigen Körper hatte er; die Schulterkno chen standen hervor, die Rippen waren zu zählen. Seine Stimme fand sie eher angenehm als abstoßend, doch in den großen dunklen Augen Marats brannte eine unheimliche Glut. Zwei starke Falten zogen sich von den Na senflügeln zu den Mundwinkeln hin; die Gesichtshaut um die Augen war von vielen winzigen Falten durchzogen, und von der Nasenwurzel stießen zwei kurze, energische Furchen in die Stirn. Dieser Mann, bedeutend älter als die Deputierten, die nach Caen gekommen waren, war so ganz anders, als Charlotte Corday erwartet hatte. „Also in Caen?“ sagte Marat ruhig. „Nun gut, die Republik wird mit ih nen fertig werden. Und sie kennen die Verschwörer?“ „Ja!“ 27
M arat legte sich einen weißen Bogen zurecht, nahm die Feder und for derte sie auf, die Namen der Verräter zu nennen. „Ehe acht Tage verstri chen sind“, versprach er, „werden sie die Guillotine besteigen.“ Unentschlossenheit hatte sich Charlotte Cordays bemächtigt, sie sah immerfort auf den Mann in der Wanne, und ihr Vorhaben kam ihr plötz lich unsinnig und unmöglich vor. Sie wollte einen Menschen töten, den sie nie vorher gesehen hatte. Und dieser Mann lebte mit einer Frau, war krank, schrieb noch im Bade, sprach freundlich: war kein menschliches Ungeheuer, wie sie erwartet hatte. Das Wort „Guillotine“ riß sie aus die sen Überlegungen ... Nein, kein Zurück mehr ... Kein Zurück ... Mit ra schem Blick sah sie sich um. Ein niedriger Schemel stand neben der Wanne, mit einem kleinen Stapel Bücher darauf. An der kahlen Wand ne ben der Tür hingen Kleidungsstücke. Sonst nichts. Und die Tür war nur angelehnt. Bis zur Straße waren es keine zehn Schritte. Sie fühlte Marats Blick auf sich gerichtet, ging langsam auf ihn zu und begann: „G u ad et..., Buzot ..., Gensonne ...“ und hob, während Marat die Namen auf das Pa pier schrieb, die Hand in Brusthöhe und umklammerte den Messer knauf ... „Barbaroux Als sie diesen Namen von Marats Hand auf dem Papier stehen sah, riß sie das Messer hervor und stieß es mit wütender Wucht dem Ahnungslo sen bis an den Knauf in die Brust. Mit der gleichen jähen Bewegung, wie von einem heftigen Stoß zurückschnellend, riß sie es wieder heraus. „Herbei! Herbei ...! Ach, meine liebe Freundin ...!“ Marats Kopf sank nach diesen gellenden Hilferufen kraftlos zusammen. Blut rann aus einer breiten Wunde am nackten Körper und verfärbte das Wasser. Die Mörderin starrte auf den Sterbenden, unfähig, weiter auf ihn einzustechen, wie es ihre Absicht gewesen war. Sie spürte in sich die Kälte des Todes ... Das Messer entfiel ihrer Hand ... Es war geschehen ... Wo aber blieb die Befriedigung über die vollbrachte Tat ...? Sie spürte nur Kälte und nichts als Leere... Catharina Evrard stürzte herein, schrie auf und sank halb ohnmächtig an die Wand, wo die Kleider hingen. Charlotte Corday wurde von Angst gepackt. Fliehen! Fliehen ...! Schon hatte sie die Tür erreicht, als sie vor der Concierge zurückprallte ... Nachbarn kamen gelaufen. Sie wurde ins Zimmer zurückgestoßen. Nun fand sie sich ins Unvermeindliche. Sie schloß die Augen. Ihr ganzes Gefühl sollte in dieser Minute dem Gelieb ten gehören; sein Antlitz wollte sie sehen. Charles ..., Charles Jean Barba ro u x ... Die geliebten A ugen... Mein Freund, bist du nun stolz auf m ich ...? Tränen kamen ihr, aber da, die Augen verwandelten sich in an dere Augen, sie wurden klein und listig und bekamen eine starre Kälte ... das Gesicht wurde lang und hager, der Mund schmal, die Lippen blut leer... Nun hörte sie auch eine Stim m e..., die des Marquis: „Ich weiß al les ! Ich weiß alles...!“ Sie schrie leise auf, taumelte zurück, öffnete die Augen und sah einen Burschen auf sich eindringen, der einen Schemel über seinem Kopfe schwang. Verstört blickte sie um sich und sah die Concierge mit ver schränkten Armen in der Tür stehen und sie anstarren. Catharina Evrard wurde, von zwei Männern gestützt, an die Wanne ge führt - und nun sah auch Charlotte Corday wieder auf Marat, und sie sah, daß er noch lebte. Sein Mund bewegte sich. Jedoch kein Laut kam 28
heraus. Seine Augen waren groß und starr auf seine Freundin gerichtet. Sein Gesicht jedoch fand immer noch keine Ruhe. Der Körper war wie er starrt, die Hand aber tastete fahrig über die Papiere auf dem Holzbrett. Sie fand die Feder, fand das Schriftstück, und Marat setzte mit stark zitternde, zusehends schwächer werdender Hand seinen Namen darunter... Der junge Sansculotte, der die Mörderin mit dem Schemel niederschlagen wollte, nahm das Schriftstück an sich und legte die still gewordene Hand, die noch die Feder umkrampft hielt, behutsam wieder auf das Holzbrett. Niemand sagte etwas, man hörte nur Schluchzen und Weinen. Nationalgardisten traten ein und ergriffen Charlotte Corday. Einer rief laut, als er den toten Volksfreund sah: „Oh, das ist schlimmer als zehn ver lorene Schlachten.“ Die Mörderin sah ihn in einer Art Dankbarkeit an. Jetzt erst empfand sie eine gewisse Genugtuung. Man führte sie hinaus. In der Gasse vor dem Hause drängten sich die zusammengelaufenen Menschen. Fragen, Schreie, Klagerufe waren zu hö ren und wilde Verwünschungen. Man wies auf die Mörderin; Männer ho ben die Fäuste gegen sie; Weiber spien sie an. Die Soldaten hatten Mühe, sie ungefährdet durch die tobende Menge zu bringen. Einer, ein Großer, der die Mörderin am Arm gepackt hielt, schrie in das Wutgebrüll: „Halt, Bürger! Der republikanischen Gerechtigkeit darf man nicht vorgreifen. Ein guter Patriot darf die Guillotine nicht betrügen!“ Charlotte Corday wurde in einer nahe gelegenen Kirche in ein halbdunk les Steinverlies geworfen. Anderntags schaffte man sie in die Conciergerie, in jenes großes Gebäude am Seineufer mit den runden Türmen, an dem sie tags zuvor vorübergefahren war. IX
Als in Caen die Ermordung Marats bekannt wurde, war Barbaroux, aufs höchste erbittert, im Begriff, die Stadt zu verlassen. Was er befürchtet hatte, war eingetreten; die Führung des Aufstandes war,seinen und seiner Freunde Händen völlig entglitten und in die der Monarchisten übergegan gen. General Wimpffen hatte Soldaten des Marquis de Puisaye in die Auf standsarmee eingereiht und den Marquis zu seinem Unterführer ernannt. Schon flatterte neben der nur noch, ungern geduldeten Trikolore das weiße Lilienbanner. Guadet und Buzot waren in der Bretagne, Gensonne in Lyon, und Barbaroux fuhr nach Marseille. Der dortige Aufstand, so hoffte er, würde der Bewegung eine andere Richtung geben. Er wußte noch nicht, daß auch dort bereits die Royalisten die Führung des Aufstan des hatten. An die Caenerin, die als seine Botin nach Paris gefahren und dort Marat ermordet hatte, dachte er kaum. Er verurteilte diese Tat nicht, lobte sie aber auch nicht. Ihn beschäftigte Wichtigeres; es hieß nicht nur den Aufstand gegen Paris zu gewinnen, sondern auch die Führung dieses Aufstandes zurückzugewinnen. Dem General Wimpffen und dem Marquis de Puisaye hingegen kam der Mord an Marat durch die Caenerin sehr gelegen. Sie beschlosen, dies Ereignis zur Anfeuerüng der nicht sehr kampfbegeisteren Truppen auszu werten. Sämtliche wehrfähigen Männer der Stadt wurden auf den Platz vor dem Stadthaus zum Generalappell befohlen. 30
Wieder dröhnten die Lärmkanonen, läuteten die Sturmglocken, ver mischt mit dem kriegerischen Wirbel der Trommler, die vor dem Stadt haustor standen. Ein flinker Maler hatte ein überlebensgroßes Bild von der Mörderin des Volksfreundes gemalt: Charlotte Corday d’Armont, das blutige Messer in der Hand, den Blick himmelwärts gerichtet. Dieses Bild —„Die Jungfrau von Caen“ —hatte man unterhalb des Stadthausbalkons angebracht. Des Gemeinderatsdieners Gustave Arbeit. Er hatte es nur not gedrungen getan, wußte er doch aus allernächster Nähe, wohin der Auf stand der Girondisten geraten war. Dabei war er wie auch sein Freund, der Tischler Jean Clamain, für den Aufstand gewesen, solange sie der Meinung waren, den girondistischen Abgeordneten im Konvent sei Un recht geschehen. Seit aber die. alten Herren sich wieder vordrängten und sogar aristokratische Emigranten aus England zurückgereist waren, um am Aufstand teilzunehmen, war beider Begeisterung erkaltet. Von der Monarchie hatten sie nichts, von der Republik aber alles zu erwarten. Jean Clamain war, wie viele andere Bürger in Caen, zwangsausgehoben. Er stand mit auf dem Platz. Gustave, vorm Stadthauseingang, sah traurig auf ihn. Alle die M änner mußten in die Schlacht ziehen, gegen ihren Wil len, gegen die, die ihresgleichen, und für die, die ihre Feinde waren. Nein, das war kein guter Krieg, kein gerechter, und, wie er auch enden mochte, er konnte nicht gut enden. Was hatte der Gemeinderatsdiener in diesen aufgeregten Tagen nicht alles gesehen und gehört. Er war Zeuge davon ge wesen, wie Schritt für Schritt die Monarchisten die girondistischen Repu blikaner verdrängt hatten. Er hatte niederträchtige Intrigen gesehen, in de nen adlige Lumpen über leichtgläubige Republikaner triumphiert hatten. Gustave Corot war sehr traurig. Die Männer auf dem Platz ahnten man ches, doch sie wußten nicht das, was er w ußte... Jean trat an ihn heran. Er sah recht verändert aus. Mochte der Teufel wissen, woher er die Pumphosen hatte, die an seinen kurzen Beinen fast bis zu den Knöcheln reichten. Vielleicht gehörten sie zu dem grünen Uni formrock, den er trug. Doch waren beileibe nicht alle so gekleidet. Ob wohl klein von Wuchs, sah der Tischler mit dem langen herabhängenden Schnauzbart, in seinen weiten Hosen, seinem Militärrock mit dem breiten weißen Gürtel darüber, dem Gewehr über der Schulter furchteinflößend aus. „Gustave“, sagte er, „man sagt, wir rücken morgen schon aus.“ Gustave nickte, sah in aufseufzend an und antwortete: „Ich hab auch so was gehört.“ „Es gibt keinen in meiner Sektion, der nicht so denkt wie ich“, sagte der Tischler. „Ja“, stimmte der Gemeinderatsdiener zu, „das ist gut.“ - „Ich habe erzählt, was du mir von Wimpffen und dem Marquis erzählt hast.“ — „Du mußt sehr vorsichtig sein.“ - „In meiner Sektion gibt es nur Republi kaner.“ Die Freunde schwiegen eine Weile, jeder in seine tieftraurigen Ge danken versunken. Als die Trommeln des Generals Ankunft kündeten, legte Gustave seine Hand auf die Schulter des Freundes. „Jean“, sagte er, „schieß keine Republikaner tot.“ „Niemals“, rief der Tischler lebhaft, „niemals, Gustave!“ General Wimpffen stand zwischen dem Marquis de Puisaye und dem Maire Pierre Rollin auf dem Stadthausbalkon, bereit, eine Ansprache an die bewaffneten Bürger zu halten. Der Marquis hatte auf seinem hell 31
braunen Militärrock ein Jesusherzlein, wie es die Chouans in der Vendée trugen. Der Maire, der seine Sansculottenhosen ausgezogen und Knieho sen anhatte, trug einen blauen Rock'mit langen Schößen und eine lilafar bene Weste. Auch die dreifarbige Schärpe fehlte wie die Kokarde am Rock aufschlag. „Soldaten, Söhne Frankreichs“, begann der General vom Balkon herab seine Rede. „Ihr wißt, die Nation hat sich gegen ein verbrecherisches Häuflein Jakobiner in Paris erhoben. Noch üben sie in jener unglückli chen Stadt ihre Tyrannei aus, aber ihre Tage sind gezählt. Frankreich ver langt Rache für alle Frevel, die dort begangen wurden. Streckt Paris nicht die Waffen, wird man bald suchen müssen, wo es einmal gelegen hat. Bür ger von Caen, seid stolz auf eure Stadt, sie wird dereinst von der ganzen Nation als eine heilige verehrt werden. Sie wird es heute schon. Eure rein ste, tugendhafteste Jungfrau hat sich für ihr Land geopfert und es von ei nem der ärgsten Jakobiner befreit. Das muß ein Signal sein. Der Entschei dungskampf beginnt. Von allen Seiten rücken bewaffnete Armeen der Na tion gegen den Konvent, gegen Paris. Auch wir werden nicht länger säu men. Vorwärts denn, Soldaten! Unser ist der Sieg! Hurra! Hurra!“ Die Ansprache mißfiel den Soldaten, denn in ihr war weder von Bür gern noch von der Republik, noch von der Freiheit die Rede, und anstatt in das Hurra des Generals einzustimmen, begannen einige die Marseil laise zu singen. Bald sangen alle. Der Fleischer Alard, der auch eingezo gen war, hob die Trikolore mit gestreckten Armen hoch. Der Fahnenjun ker des Marquis de Puisaye neben ihm, der ein weißes Lilienbanner trug, wußte nicht, wie er sich in diesem Augenblick verhalten sollte, und hielt in seiner Ratlosigkeit das Banner während des Gesanges zu Boden gesenkt. Der General flüsterte dem Maire zu, gleich ihm ein paar anfeuemde Worte an die Bürger zu richten. Jedoch Pierre Rollin weigerte sich. Wohl war er ein Anhänger der Gironde, aber ein ergebener Republikaner und mit dem Lauf der Dinge unzufrieden. Er sang als einziger auf dem Balkon die Marseillaise. An dem Tage, an dem die Caener erfuhren, daß die Mörderin des Volksfreundes in Paris guillotiniert worden war, verließ die aufständische Armee die Stadt. „Komm bald zurück“, sagte der Gemeinderatsdiener beim Abschied zu seinem Freund Jean. „Das war doch alles nur ein Irrtum, den man so schnell wie nur möglich korrigieren muß.“ „Es wird nicht lange dauern“, erwiderte der Tischler. „Wir sind bald zu rück, ich und mein ganze Sektion.“ Und Jean Clamain hielt Wort. Beim ersten Zusammentreffen mit den republikanischen Truppen des Konvents lief er mit seiner Sektion über, ohne auch nur einen Schuß abgefeuert zu haben. Als die siegreichen Trup pen des Konvents in Caen einzogen, marschierte er mit seinen Kameraden an der Spitze. An seinem grünen Militärrock trug er stolz die Kokarde der Sieger, die dreifarbige mit dem Bildnis Marats. Gustave aber, der Gemeinderatsdiener, war ins Stadthaus geeilt, hatte das Bild der Mörderin vom Balkon gerissen und war dann, so schnell es seine steifen Glieder erlaubten, in den Turm gestiegen. Die Glocken klangen diesmal ernst und feierlich. Es war das erstemal, daß sie nicht Sturm, sondern Freude verkündeten.
Helmut Sakowski
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W ie ein Vogel im Schwarm lebt Käthe Lindner m itten unter den Leuten, zufrieden m it ihrer Tätigkeit als Raum pflegerin, zufrieden m it sich und der W elt. Doch eines Tages ist es vorbei dam it. Man hat ihr die Brille zerschla gen, sie erstattet Anzeige. Und nun beginnt eine tu rb u lente Geschichte, und „unversehens befindet man sich m itten unter Bewohnern einer Stadt, ,auf der Strecke zwischen Berlin und W arnem ünde', im Kreise einer Hausgem einschaft, deren Gemeinsamkeiten, Liebes und Ehegeschichten, Ränke und Streitereien, W ünsche, Pläne und Konflikte den Inhalt bestim m en. Sakowski fü h rt in das M ilieu von Reinemachefrau und Hausmei ster, Eisenwarenhändler, Maurer und einer aus alten Zei ten übriggebliebenen Generalswitwe. Einbezogen sind auch Intellektuelle in einer Villa, w eil Raumpflegerin Lindner dort fü r Sauberkeit sorgt und Maurerssohn Tim m die A rchitektentochter Gina liebt ... Ereignis fo lg t auf Ereignis. Vom Halbstarkenkrawall am Hauptbahnhof bis zur gestörten Liebesszene im G erüm pelschuppen auf dem H interhof steckt jeder A bschnitt voller Handlung". Sonntag, Berlin
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Entwurf für die Liebe . Der sensible Film student Christian, von seinem Freund Klaus gelegentlich „H ölderlin" genannt, fü h lt sich zu der hübschen Konstanze vom Jugendw erkhof hingezogen, „dem Ideal proletarischer Naivität in m ädchenhafter Form". Klaus, der stets dabei ist, sich fü r andere „Le bensentw ürfe" auszudenken, die Filmszenarien g le i chen, w ill auch fü r die keimende Liebe der beiden Schicksal spielen, was in Christian Gegenkräfte weckt.
Der Roman von MANFRED FREITAG/JOACHIM NESTLER
Der Entwurf oder Pfeifen habe ich nicht gelernt 284 Seiten ■ Ganzleinen, 8,80 M
fü h rt zurück in die fünfziger Jahre unseres Jahrhun derts. Damals begann sie, die Zeit der Entwürfe, die aufregend w ar und voller Gegensätze.
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