Carole Adler
Wie ein Vogel so frei Deutsch von Mirjam Pressler
Ebook by »Atreju« and »Zerwas« (k-lesen)
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Carole Adler
Wie ein Vogel so frei Deutsch von Mirjam Pressler
Ebook by »Atreju« and »Zerwas« (k-lesen)
(Scan&Layout)
Cecilie Dressler Verlag Hamburg
Erstes Kapitel
C harlottes Stimme weckte Shari aus ihrem Tagtraum und warf sie fast vom Baum. »Was treibst du dort oben? Warum paßt du nicht auf deinen Bruder auf? Ich muß weg, also such ihn schleunigst, wenn du weißt, was für dich gut ist«, sagte Charlotte. Shari schaute hinunter in das Gesicht ihrer Mutter, das rot vor Ärger war. Am liebsten hätte sie sich auf einen höheren Ast zurückgezogen, aber es war zu riskant, Charlotte in einem solchen Augenblick herauszufordern. Statt dessen schwang Shari sich von ihrem Sitz in der Gabel zwischen dem Stamm und dem niedrigen Ast, der über den Hintergarten ragte. Sie landete außerhalb von Charlottes Reichweite. »Ein großes Mädchen wie du hängt in den Bäumen herum wie ein Affe. Du solltest dich schämen«, sagte Charlotte. »Also, wo ist Peter?« »Ich hol ihn«, sagte Shari und rannte los. Nur weg, bevor Charlotte noch einmal fragen konnte, wo er war, und Shari zugeben mußte, daß sie ihm erlaubt hatte, allein zu Mabels Laden zu gehen. Peter war sechs Jahre alt und gab sein Geld für Sachen aus, die Charlotte Blödsinn nannte, für Süßigkeiten und Spielkram aus dem Kaugummiautomaten. »Ich muß allein gehen«, hatte er Shari heute ernsthaft erklärt. »Jetzt bin ich alt genug. Ich kann jetzt allein gehen.« Shari konnte sein Bedürfnis nach Unabhängigkeit gut verstehen. Da Peter so viel jünger war als
seine Brüder, hatte er es schwer mit dem Großwerden. Außerdem wußte Shari, daß er sie heute nicht dabeihaben wollte, weil er vorhatte, ein Geburtstagsgeschenk für sie zu kaufen. Er hatte dafür gespart. Normalerweise vertraute er ihr seine Pläne an, bevor sie noch als Geheimnis bezeichnet werden konnten, aber diesmal hatte er ihr nichts verraten. »Du wirst schon sehen«, hatte er gesagt. »Ich bring dir was Schönes.« Sicher irgend etwas, das mit Vögeln zu tun hatte. Er wußte, wie gern sie Vögel hatte. Letztes Jahr, zu ihrem zwölften Geburtstag, hatte er ihr ein Huhn aus Kunststoff geschenkt, mit Plastikschnabel und Plastikbeinen. Nicht gerade ihr Traum von einem Vogel, aber sie hatte sich gefreut, weil das Geschenk von ihm kam. Er war ihr besonderer Bruder, ihr Partner. Jeder in ihrer Familie hatte einen Partner. Da waren ihre Mutter Charlotte und ihr Vater Zeke, dann Doug und Walter, die beiden Brüder, die gleich nach Shari geboren worden und jetzt zwölf und elf waren. Sie hatte keinen Partner gehabt, bis vor sechs Jahren Peter auf die Welt gekommen war. Shari lief auf dem Seitenstreifen der Schnellstraße zu Mabels Laden. Schon von weitem erkannte sie Peter. Er redete mit einem größeren Jungen, der eher in ihrem Alter war. Der Junge lehnte an der verwitterten Bretterwand von Mabels Laden und lächelte höhnisch. Wenn Peter doch bloß nicht wie ein schwanzwedelndes Hündchen mit allen Leuten befreundet sein wollte, dachte Shari ärgerlich. »Peter!« rief sie, aber er hörte sie nicht. Kein Wunder, Shari wurde immer wieder von ihren Lehrern aufgefordert, lauter zu sprechen, aber das konnte sie nicht. Leise zu sein, war ein Teil ihrer Schutzmauer. »Meine Schwester kann das«, hörte sie Peter sagen. »Sie könnte von diesem alten Dach leicht zum Schuppen rüberspringen.«
»Jede Wette«, sagte der fremde Junge spottend. »Selbst ein Junge würde Flügel brauchen, um so weit zu springen.« »Meine Schwester kann besser springen als jeder Junge. Sie kann auch auf Bäume klettern und sogar über ein Seil laufen.« »Ist das da deine Schwester?« fragte der Junge. Peter drehte sich um und entdeckte sie. Er grinste. »Shari, der Typ glaubt mir nicht. Sag du's ihm. Du kannst so weit springen, nicht?« »Weiß ich nicht.« Sie hatte keine Lust, diesem unangenehm aussehenden fremden Jungen irgend etwas zu beweisen, sie wollte nur Peter schnell nach Hause bringen, bevor Charlotte sich noch mehr über sie ärgerte. »Mama sucht dich, Peter.« »Ich wette, du kannst noch nicht mal bis ganz oben auf das steile Dach klettern, geschweige denn auf den Schuppen hinüberspringen«, sagte der Junge herausfordernd. »Zeig's ihm, Shari«, bettelte Peter. »Zeig ihm, daß du das leicht kannst. Bitte!« »Sie hat gesagt, ich soll dich holen. Sie will, daß du sofort heimkommst«, sagte Shari. »Es dauert doch nur eine Minute. Komm, zeig's ihm, Shari«, bettelte Peter. Fünf Minuten, dachte sie und merkte, daß es sie reizte. Sie kletterte und sprang für ihr Leben gern. Mit ihren Turnschuhen würde sie leicht auf das steile Schindeldach von Mabels Laden hinaufkommen, doch der Sprung auf das niedrigere, seitlich gelegene Schuppendach wäre schwierig. Sie würde einen Anlauf brauchen, um die eineinhalb bis zwei Meter Abstand zu schaffen. Während Shari nachdachte, sagte Peter: »Rate mal, wen der da besucht.« »Ich besuche meine Großtante«, sagte der Junge schnell, als wollte er sich gegen einen Vorwurf wehren. »Sie wohnt
dort hinten.« Er machte eine Kopfbewegung zur anderen Seite der Schnellstraße hinüber, auf der Tag und Nacht Lastwagen vorbeidonnerten. Dort stand in einer Mulde das heruntergekommene Haus der Entenfrau. Horden quakender weißer Enten bevölkerten den Teich hinterm Zaun. »Ich springe nach dem Mittagessen«, entschied Shari. »Da bin ich schon weg«, sagte der Junge. »Mein Vater und ich müssen nach Burlington. Aber ich hab mir gleich gedacht, daß du's nicht kannst. Man müßte schon Zirkuskünstler sein, um so weit zu springen.« »Shari könnte zum Zirkus gehen, wenn sie wollte«, behauptete Peter. »Ich kann's«, sagte sie plötzlich. Wenn ich springe, ist das vielleicht ein wenig wie Fliegen, dachte sie. Sie fing an, die Regenrinne hinaufzuklettern. Peter strahlte vor Stolz, als hätte sie seine Behauptung schon bewiesen. Kaum war sie oben auf dem Dach, hatte sie ihren Bruder vergessen. Dieser Moment gehörte ihr allein. Leichtfüßig lief sie zum Firstbalken und blieb dort einige Sekunden balancierend stehen. Tief atmete sie den Geruch nach Fichten und Wacholder ein, der von den Wäldern auf den umliegenden Hügeln zu ihr herüberwehte. Im Wind war schon der Sommer zu spüren. Von hier aus konnte sie den Weg zurückverfolgen, den sie gekommen war, bis hinauf zu ihrem winzigen Haus am Hang. Der riesige grüne Wipfel ihres Lieblingsbaums überragte das Dach, und der rostfarbene Punkt war Charlottes Auto, das Zeke herrichten wollte, aber immer noch nicht hergerichtet hatte, weil er dauernd mit dem Laster unterwegs war. Links hinter dem Ententeich stach die Spitze der Methodistenkirche durch das Grün der Umgebung. Wenn sie ein Vogel wäre, würde sie von diesem Dach, am Kirchturm vorbei, bis zum See fliegen, wo Zeke manchmal mit ihnen schwimmen
ging, wenn er im Sommer lange genug zu Hause war. Wenn sie nur ein Vogel wäre, wenn sie nur... »Also springst du jetzt oder willst du nur die Aussicht betrachten?« fragte der Junge und blinzelte zu ihr herauf. Der Abstand zum Schuppen war größer, als sie vom Boden aus geschätzt hatte. Das Dach war mit Teerpappe gedeckt, die von rostigen Nägeln verfärbt war. Sie bemerkte dunkle Flecken und fragte sich, wie stark das Schuppendach wohl sei. Wenn sie durchbrach, würde Charlotte darauf bestehen, daß sie den Schaden selbst bezahlte. Vielleicht würde sie noch fragen: »Bist du ein Mädchen oder ein Affe?« Wie sollte es Shari gelingen, Mabel eine Reparatur am Dach zu bezahlen, wenn sie noch nicht mal genug Geld für einen neuen Sittich sparen konnte, nachdem der Vogel, ein Geschenk ihres Vaters, im letzten Sommer weggeflogen war, als ihr Fenster offenstand? Shari zögerte, aber bevor sie es sich anders überlegen konnte, drängte Peter: »Spring, Shari!« Und von der Straße herüber kam Charlottes schrille Stimme, die ihren Namen rief. Shari konzentrierte sich, ging ein paar Schritte zurück, nahm einen vorsichtigen Anlauf und sprang ab. Sie flog über den freien Raum zwischen den Gebäuden, ihre Arme streckten sich dem Schuppen entgegen, und sie spürte die Freude, in der Luft zu schweben. In diesen Sekunden war sie ein Raubvogel, der hoch über den grünen Berghängen sich vom Wind tragen ließ, frei und vollkommen und schön. Mit den Handflächen zuerst stieß sie hart auf dem Dach auf. Sie machte einen Purzelbaum vorwärts, um ihren Schwung abzubremsen und landete schließlich auf dem Rücken. »Schau! Hast du das gesehen?« jubelte Peter. »Meine Schwester kann besser klettern und springen als jeder andere.« Sofort ließ Shari sich über den Dachrand gleiten und sprang
auf den Boden. »Los, Peter, wir müssen uns beeilen. Hörst du sie nicht?« Sie schnappte Peters Hand und fing an zu laufen, ohne den fremden Jungen zu beachten, der sie staunend bewunderte. Jetzt war es nur noch wichtig, bei Charlotte anzukommen, bevor sie explodierte. Peter versuchte mit Shari Schritt zu halten. Er umklammerte die Papprolle, die er in Mabels Laden gekauft hatte, und keuchte. Er war kein Läufer. Zeke sagte immer, am besten laufe sein Mund. »Jetzt haben wir's ihm gezeigt, was, dem haben wir's aber gezeigt«, sagte Peter zwischen schnaufenden Atemzügen, als sie an der Küchentür ihres Hauses angekommen waren. »Warum ist es dir so wichtig, was dieser Junge denkt? Er kann dir doch ganz egal sein.« »Ist er mir aber nicht. Das war so ein Angeber. Der war wie ein - wie ein großer, aufgeblasener Pingpongball. Aber wir haben's ihm jedenfalls gezeigt«, wiederholte Peter. Charlotte riß die Küchentür auf und stand vor ihnen. »Das hat aber lange gedauert! Ich war unten an der Straße, aber ich hab euch nicht gesehen. Wo habt ihr denn gesteckt?« Der Ärger entstellte ihr Gesicht, sie hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einer Schönheitskönigin. Zeke behauptete immer, sie konnte eine sein. »Ich glaube, ich habe die hübscheste Ehefrau in ganz Vermont«, sagte er oft, »und süß wie Vermonter Ahornsirup ist sie auch.« Shari fragte sich, ob er Charlotte immer noch so sehen würde, wenn er öfter mit ihr zu Hause wäre. Aber die Speditionsfirma, bei der er arbeitete, schickte ihn die meiste Zeit auf die Straße. Besonders in den Sommermonaten, wenn die landwirtschaftlichen Erzeugnisse geerntet und transportiert wurden. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich heute nachmittag zum
Friseur gehe. Meinst du, nur weil Betsy meine Freundin ist, wäre es egal, wann ich dort aufkreuze? Sie muß auch ihre Termine einhalten. Schließlich führt sie ein Geschäft. Sie tun mir schon den Gefallen, daß Marvin mich nach dem Mittagessen auf dem Rückweg zum Geschäft abholt. Aber dir ist es ja piepegal, was ich vorhabe. Und was hast du getrieben? Wieder in Bäumen herumgehangen, Fräulein Affenmädchen? Und verletzt hast du dich auch.« Shari schaute auf ihre Hände. Die rechte Hand blutete, vermutlich von einem Nagel im Schuppendach. »Ich hol ein Pflaster«, sagte sie. »Tu Jod drauf. Und du, Peter, iß schnell was, ich nehm dich mit. Du gehst heute zum Zahnarzt.« »Muß ich denn?« fragte Peter. Er war schnurstracks in die Küche gegangen und hatte die Milchflasche aus dem Kühlschrank genommen. Vorsichtig goß er sich ein Glas Milch ein. Shari konnte ihn durch die offenen Türen sehen, während sie ein Pflaster aus dem Arzneischrank im Badezimmer nahm. Vor dem Haus hupte ein Auto, zweimal, eine doppelte Aufforderung. Der Wagen konnte nicht in der Einfahrt parken, denn Peters gesamter Fuhrpark lag auf dem Asphalt verstreut, Kipplaster, Lastautos und Krane. Charlotte fluchte und lief zum Wohnzimmerfenster, um Marvin zuzuwinken. Dann kam sie zurück und sagte zu Peter: »Laß die Milch stehen, wir haben jetzt keine Zeit mehr. Nimm dir eine Banane, wir müssen gehen!« Zu Shari gewandt sagte sie: »Ich hab dir doch gesagt, daß du Peters Spielzeug aus der Einfahrt räumen sollst, oder? Warum kannst du nie tun, was ich dir sage? Eines Tages kommt noch jemand auf der Straße um, bloß weil er unsere Einfahrt nicht benutzen kann. Sieh zu, daß das Zeug weg ist, wenn ich wiederkomme. Und vergiß die Wäsche nicht.« Sie rannte hinaus, zerrte Peter mit sich und ließ die Tür weit offen-
stehen. Die Stille des leeren Hauses wirkte auf Shari beruhigend wie Balsam. Peter tat ihr leid. Da saß er nun eingeklemmt im Auto zwischen Charlotte und dem quasselnden Marvin, der zusammen mit seiner Schwester Betsy einen Friseurladen führte. Shari hoffte, Betsy oder irgend jemand würde Peter aus Mitleid etwas zu essen kaufen, denn bestimmt wurde er nicht satt von der Banane. Und wenn er hungrig war, fing er an zu quengeln. Sie trank das Glas Milch, das er stehengelassen hatte, und überlegte, ob sie sich ein Brot mit Dosenfleisch machen sollte oder lieber eins mit der üblichen Erdnußbutter. Beides reizte sie nicht. »Mager wie eine nasse Katze«, sagte Charlotte immer, wenn sie Shari mal nicht gerade mit einem Affen verglich. »In deinem Alter habe ich schon jahrelang einen Büstenhalter getragen.« Damit konnte sie Shari nicht treffen, denn Shari mochte ihren schlanken, wendigen Körper. In ihren Tagträumen war sie noch immer ein Indianermädchen im Wald, unsichtbar zwischen den schmalen Schilfrohrhalmen, die so lang und gerade waren wie ihre dunkelbraunen Haare. Auch im Klassenzimmer versuchte sie unsichtbar zu sein. Still und unbeweglich saß sie da und antwortete auf Fragen so leise, daß die Lehrer sie oft übersahen. Ihr Name war immer der letzte, den sie sich merkten, und Shari war das ganz recht. Sie ging nach vorne zur Haustür, um sich die Einfahrt anzusehen, die sie aufräumen sollte. Da, wo der Asphalt aufgerissen war, hatte Peter ein Loch in die Erde gegraben und wirklich ein heilloses Durcheinander angerichtet. Am liebsten hätte sie alles so stehen und liegen lassen. Dann hätte sie eine Stunde auf dem Berg ganz für sich allein gehabt. Sie würde gerne die Stelle untersuchen, wo das Wasser zwischen
den nackten Felsen hervorquoll, eiskalt auch am heißesten Sommertag. Oberhalb der Stelle gab es einen Felsvorsprung, auf den Peter nicht heraufkam. Dort könnte sie sitzen, die Beine baumeln lassen und die Welt unter sich betrachten, die aus dieser Entfernung so friedlich aussah. Aber es war sinnlos, daran zu denken. Charlotte war so schon wütend genug gewesen. Shari machte sich an die Arbeit. Sie stapelte Peters Lastautos in einen leeren Karton, den sie unter dem Dach des Abstellplatzes für das Auto gefunden hatte. Doug und Walter waren nicht zum Mittagessen erschienen. Wahrscheinlich hatten sie sich belegte Brote zu ihrem Gemüsestand an der Kreuzung mitgenommen, um nur ja keinen Kunden dadurch zu verpassen, daß sie zwischendurch zum Essen nach Hause radeln mußten. Sicher war das Dougs Idee gewesen. Er war so wild darauf, in diesem Sommer Geld zu verdienen, daß er sich nicht mal Zeit für Ballspiele nahm, die doch vorher sein ganzer Lebensinhalt gewesen waren. Und Walter war mit allem einverstanden, was Doug wollte, solange er ein Buch in der Tasche hatte und die meiste Zeit lesen durfte. Die Einfahrt sah gut aus, als Shari mit dem Aufräumen fertig war. Ihr war heiß geworden von der Arbeit in der Sonne, und sie kletterte in den Baum zu ihrer Astgabel, in der sie wie auf einem gutgeformten Stuhl saß. Auch Walter und Doug benutzten diese Stelle manchmal als Versteck und beschossen sie von oben mit ihren Erbsen- und Wasserpistolen. Aber hauptsächlich war das ihr Platz. Hier konnte sie entspannen, Sonne und Schatten spüren, den Singvögeln und dem Gezwitscher der Meisen zuhören. Sie erinnerte sich erst wieder an die Wäsche, als es zu spät war. Sie hörte das Zuschlagen der Autotür und Charlottes spitzes Lachen und erschrak. Nach dem Stand der Sonne zu
schließen, mußte es bereits später Nachmittag sein. »Shari, wo steckst du?« rief Charlotte. Ihre Haare lagen in steifen Wellen um ihr Gesicht, und sie würde das Haarspray tagelang nicht ausbürsten. Shari mochte Charlottes Haare am liebsten, wenn sie vom Regen naß in kleinen, krausen Locken das Gesicht umrahmten. Die Haare waren das einzige, was Shari gern von ihrer Mutter gehabt hätte. Sonst war sie zufrieden mit ihrem eigenen Gesicht. In der Küche entdeckte Shari die Papprolle, die Peter von Mabels Laden mitgebracht hatte, in einer Ecke, wo alle ihre schlammigen Schuhe abstellten. Shari hob die Rolle auf. »Das ist mein Geschenk für dich. Du hast es doch noch nicht angeschaut, oder?« sagte Peter, der hinter Charlotte hereintrottete. Charlotte ging ins Badezimmer, um ihre Haare im Spiegel zu betrachten. »Das ist für mich?« fragte Shari und tat so, als wäre sie sehr überrascht. »Ich hab doch gesagt, daß ich dir ein schönes Geschenk kaufe. Du kriegst es nur verspätet, weil ich erst jetzt genug Geld zusammen hatte. Es ist das Poster mit dem Vogel drauf.« »Meinst du das mit dem Raubvogel über dem Tal?« »Ja, das. Du hast mal gesagt, daß es dir gefällt.« »Es ist mein absolutes Lieblingsbild. Oh, Peter, ich kann's gar nicht fassen, daß du das für mich gekauft hast.« »Hab ich aber!« Peter strahlte und drängte sie, die Rolle aufzumachen. Je mehr Shari sich für das tolle Geschenk begeisterte, um so glücklicher sah Peter aus. Sie versicherte ihm, daß es ihr gar nichts ausmachte, es drei Wochen später zu bekommen. »Und was ist mit der Wäsche?« fragte Charlotte, die gerade aus dem Badezimmer kam. »Ich hab die Einfahrt aufgeräumt«, sagte Shari.
»Na und? Dafür hast du ungefähr zwei Minuten gebraucht...« »Eine Frau bei Betsy hat mir einen Krapfen gegeben«, unterbrach Peter. »Und ich mußte auch nicht zum Zahnarzt, weil an der Tür ein Schild hing, auf dem ›Geschlossen‹ stand. Und wir sind bei Walter und Doug vorbeigefahren. Mensch, die machen irre viel Geld. Sechs Autos haben an ihrem Stand gehalten.« »Ich bin ganz fertig«, sagte Charlotte, offensichtlich gelangweilt von diesem Gespräch. »Vielleicht mach ich vor dem Abendessen noch ein Nickerchen. Schau, daß Peter draußen bleibt, ja? Du kannst die Wäsche später machen.« Shari versuchte, nicht zu zeigen, wie froh sie war. Charlotte hatte ihr ein paar Sonnenstunden im Wald geschenkt! »Peter«, flüsterte sie, »wir hängen das Plakat heute abend auf. Jetzt gehen wir zum Bach und suchen Gold, okay?« »O prima«, sagte Peter und riß die Augen auf vor Freude. Gold suchen reizte ihn mehr, als nur so im Bach herumzuplanschen. Es war einer der Tricks von Shari, um das, was sie selbst gern tat, auch ihm schmackhaft zu machen. Sie holte schnell das Sieb aus der Küche. »Wenn Mama das sieht!« sagte Peter. »Dann haut sie dir wieder eine runter.« »Ich werde meinen unsichtbaren Schutzschild aufstellen.« »Aber das letztemal hat er nicht gewirkt. Ich mag nicht, wenn sie dich schlägt«, jammerte Peter. »Mach dir keine Sorgen, sie kann mir nicht weh tun.« Wenn sie das laut aussprach, glaubte Shari fast selbst daran. Hintereinanderher gingen sie den schmalen Pfad entlang, der zur Schlucht führte. Im Frühling rauschte dort wild der Bach über das herabgeschwemmte Geröll, doch jetzt, im Sommer, war er zahm. Zu dieser Stunde am späten Nachmittag lag der untere Teil der Schlucht bereits im Schatten der Abenddämmerung.
»Vielleicht sollten wir lieber morgen Gold waschen«, sagte Peter vorsichtig. »Komm, so dunkel ist es doch noch nicht«, sagte Shari. »Wir bleiben nur eine Stunde.« Er zuckte mit den Schultern. Vor einem Jahr hätte er noch zugegeben, daß er eigentlich Angst hatte, aber dafür war er jetzt zu groß. Inzwischen hatte er genug von Dougs Neckereien, er sei ja noch ein Baby. »Geh du nur voran, ich komm nach«, sagte er zu Shari. »Ich schaff das auch allein.« Das stimmte. Bergab rutschte er einfach auf dem Hosenboden. Bergauf hielt er sich irgendwo an Shari fest und ließ sich vom Felsen zur Baumwurzel und zum Busch führen. Ständig prüfte er ängstlich, wie hoch hinauf sie noch klettern mußten. Zurück schaute er nie, davon hatte Shari ihm abgeraten. Die letzten drei Meter bis zum Bachrand rutschte Peter auf seinem Hosenboden hinunter und landete im Schlamm. Shari nahm sich vor, seine Jeans nachher sauberzumachen, bevor sie ins Haus gingen. Charlotte fühlte sich persönlich angegriffen, wenn jemand Schmutz hereintrug. Letzte Woche, als Peter eine Schildkröte nach Hause gebracht und für ihre Kiste schlammiges Gras, Steine und Moos noch gleich dazu angeschleppt hatte, hatte Charlotte zugeschlagen, bevor Shari ausweichen konnte. Auf Befehl ihrer Mutter hatte sie die Schildkröte im Garten ausgesetzt. Während des ganzen Abendessens hatte Peter geweint und gejammert, bis Charlotte endlich nachgab und Shari hinausschickte, um das Tier zurückzuholen. Walter und Doug hatten ihr bei der Suche geholfen, aber die Schildkröte war verschwunden. Peter hatte sich in Schlaf geweint. »Behaupte bloß nicht, ich hätte nicht versucht, sie für dich wiederzukriegen«, sagte Charlotte am nächsten Morgen. »Vielleicht kaufe ich dir ein paar Goldfische dafür.« Das hatte sie
aber nicht getan. Charlotte mochte Tiere nicht. »Das war das letzte Tier in diesem Haus«, hatte Charlotte gesagt, nachdem Chirpy weggeflogen war. Sie hatte sich geärgert, weil Shari eine ganze Woche lang traurig am offenen Fenster gesessen und gehofft hatte, Chirpy würde zurückkommen. »Immer dieses Theater«, hatte Charlotte sich bei Zeke beklagt. »Keine Vögel mehr, und Hunde auch nicht.« Walter hatte dagegen protestiert. Seine Schuld sei es nicht gewesen, daß sein Schäferhundmischling Peter gebissen hatte. Auch dafür, daß der Hund unter die Räder gekommen war, als er auf die Straße und in ein Auto gelaufen war, konnte er nichts. »Keine Tiere mehr«, hatte Charlotte wiederholt, und Zeke hatte sie, wie gewöhnlich, unterstützt. »Ich bin ja meistens unterwegs«, sagte er zu Walter. »Und deine Mutter hat die Probleme am Hals, das mußt du verstehen. Sie fühlt sich schon mit euch überfordert.« Zeke hatte viel Verständnis für seine Frau. Einmal, als er dabei gewesen war, wie Charlotte auf Shari herumgehackt hatte, sagte er hinterher zu Shari: »Nimm's ihr nicht übel. Sie meint nicht mal die Hälfte von dem, was sie sagt. Es sind nur ihre Nerven.« Peter kauerte mit dem Sieb in der Hand am Bach. »Wir können das Gold doch behalten, wenn wir etwas finden, nicht?« »Klar«, sagte Shari. »Das hier ist unser Platz. Niemand außer uns kommt hierher. Was wir finden, gehört uns.« »Manchmal kommen aber Angler.« »Hierher nicht, nur an die Stelle unter der Brücke, auf der anderen Seite der Schnellstraße.« »Und es gibt wirklich Gold?« »Ich hab dir doch das Bild in dem Buch aus der Bücherei gezeigt, auf dem die Männer in Kalifornien nach Gold schürfen.
Da hat's genauso ausgesehen, oder?« »Ja, schon. Aber warum hat hier bisher niemand etwas gefunden?« »Weil niemand außer uns gesucht hat. Also los, halt dich ran!« Er machte sich an die Arbeit und wusch mit dem Sieb Erde aus dem Bachbett, während Shari einen braunen Vogel beobachtete, der im Unterholz verschwand. Sie fragte sich, was er dort suchte, Insekten, Samen, Nistmaterial. Jetzt sah sie ihn nicht mehr, konnte ihn aber noch rascheln hören. Das Wasser wirbelte um Felsen und Baumstümpfe und bildete scharfe kleine Rillen, bevor es sich über tieferen Tümpeln glättete. Eine Krähe flatterte über die Schlucht zur anderen Seite. War sie von ihnen aufgestört worden? Im letzten Frühjahr hatte Shari ein Nest mit Kardinalsvögeln entdeckt. Sie hatte beobachtet, wie sie ihre Jungen aufzogen, und hatte sogar gesehen, wie das letzte Junge zum ersten Flug startete. Als sie aber versuchte, das in einem Schulaufsatz zu beschreiben, wirkte es lange nicht mehr so aufregend. Die Freuden, die sie erlebte, ließen sich nur schwer mitteilen. Sie war gern allein. Wenn sie in der Schule wählen konnte, ob sie in der Gruppe arbeiten wollte oder für sich allein, zog sie es vor, allein zu bleiben. Dann war sie rasch fertig und konnte die restliche Zeit träumen oder sich zurücklehnen, als säße sie im Theater, und den anderen beim Flirten, Necken und Quälen zuschauen. Sie beobachtete interessiert, wie sie sich mit Papierbällchen beschossen und Zettel weitergaben, wollte selbst aber nicht hineingezogen werden. Ihre Klassenkameraden wußten zwar von ihr, daß sie schnell laufen konnte und eine gute Turnerin war, aber sonst wußten sie nichts. Sie kannten ihren Namen, und das war alles. Am liebsten wäre Shari ganz unbekannt geblieben.
In der dritten Klasse hatte sie eine Lehrerin gehabt, die entschlossen war, sie aus ihrer Schüchternheit herauszulocken. Die Lehrerin hatte ihr eine Sprechrolle in einem Theaterstück gegeben, das in der Schule aufgeführt werden sollte. Auf den Proben hatte Shari nur geflüstert, aber die Lehrerin bestand darauf, daß sie die Rolle spielte. Am Tag der Aufführung stand sie als gute Fee verkleidet auf der Bühne, ihre Eltern saßen unter den Zuschauern, und Shari brachte kein einziges Wort heraus. »Du hast uns aber schön blamiert. Wie eine Idiotin hast du dich vor der ganzen Schule aufgeführt!« schimpfte Charlotte hinterher. Zeke wollte Shari trösten. »So schlimm war es gar nicht, Kleines«, sagte er. »Du hast reizend ausgesehen in diesem Kostüm, und alle haben verstanden, um was es ging, auch ohne daß du was gesagt hast.« Er tätschelte ihre Schulter, aber das machte die Demütigung nicht geringer. Niemand in der Familie mochte das, was Shari gefiel. Niemand in der Familie war gern allein. Nicht einmal Zeke, der viele Stunden allein im Fahrerhaus seines Lasters zubrachte. Er sagte, er sei abhängig von seinem Funkgerät, nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern weil er den Kontakt zu den anderen Fahrern brauchte. Und bei Charlotte war es nicht viel anders. Wenn Betsy, Charlottes beste Freundin, mal keine Zeit hatte, lud Charlotte Lina ein. Hinter ihrem Rücken nannte sie sie »dieser langweilige Kartoffelsack«, aber trotzdem brauchte sie Lina, wenn sie Gesellschaft haben wollte. Wenn niemand zu Besuch kam und Zeke nicht zu Hause war, ging Charlotte zur gleichen Zeit wie die Kinder ins Bett. Sie ließ den Fernseher an, damit sie die ganze Nacht über menschliche Stimmen hörte. Die Wälder, die Shari so liebte, machten Charlotte angst.
Peter und Shari gingen langsam flußabwärts bis zum engsten Teil der Schlucht, wo immer noch das Räuberauto mit weit offenen Türen und eingedrücktem Vorderteil herumstand. Die Polizei hatte die jugendlichen Diebe verfolgt, bis sie mit dem Auto von der Straße abgekommen und über den kahlen Hang in die Schlucht gestürzt waren. Die Jugendlichen hatten Glück gehabt, daß sie mit dem Leben davongekommen waren. »Sag mir noch mal, was wir mit dem Gold anfangen wollen«, bat Peter. »Ich hab's dir doch schon erzählt«, sagte Shari, die lieber still gewesen und auf die Geräusche der Vögel, des Windes und des Wassers gehorcht hätte. »Zuerst melden wir unseren Fund an, bringen das Gold in einem großen Eimer zur Bank und machen ein Sparkonto auf. Dann leihen wir Zeke so viel Geld, daß er zu Hause bleiben und für sich und Charlotte ein kleines Geschäft kaufen kann, wo sie dann zusammen arbeiten.« »Und bekomme ich ein Fahrrad?« »Das beste Rad, das wir auftreiben können, und noch dazu die Cowboy-Stiefel, die du dir letztes Jahr zu Weihnachten gewünscht hast.« »Und ein Luftgewehr?« »Später vielleicht, du bist dazu noch viel zu jung.« »Und ganz viele Videospiele und einen eigenen Fernseher?« »Ja.« »Und du bekommst einen Vogel, Shari. So einen grünen wie Chirpy.« »Diesmal lieber einen blauen«, sagte sie. »Ich könnte ihn Starlight nennen. Oder vielleicht Blue Boy.« Ihre Stimme stockte bei der Erinnerung, die ihr immer noch weh tat. Sie betrachtete die Felsen und wünschte, sie würden sich in Gold verwandeln. Dann schluckte sie und sagte: »Ich werde mir auch ein Flugzeug kaufen, ein kleines, das ich alleine fliegen
kann.« Das war ihr neuester Traum, der ihre bisherige Sehnsucht verdrängt hatte, durch Zauberei in einen Vogel verwandelt zu werden. »Wirklich?« Peter klang beunruhigt. Sie hatte ihm bisher nichts davon erzählt. »Fändest du es nicht schön, wenn ich Pilotin würde?« fragte sie. »Ich will nicht, daß du von hier wegfliegst.« »Wie kommst du denn darauf?« »Bloß so.« »Ich laß dich nicht allein, Peter. Du brauchst keine Angst zu haben«, versprach sie. Er legte seine schmutzigen Hände um sie. Peter war der einzige außer Zeke, der sie überhaupt umarmte. Manchmal nahm Charlotte Peter auf den Schoß und schmuste mit ihm, aber Shari konnte sich nicht daran erinnern, wann sie und ihre Mutter sich zuletzt umarmt oder geküßt hatten. Um das zertrümmerte Auto zu erreichen, mußten sie den Bach oberhalb des Wasserfalls überqueren, der auch im Sommer noch kräftig rauschte. Ein Baumstamm, den man als Brücke benutzen konnte, lag über dem Bach. Aber wenn man ausrutschte, konnte man zwei Meter tiefer auf einem Felsen landen. Wie immer kniff Peter die Augen zu und weigerte sich hinüberzugehen. Wie immer lief Shari leichtfüßig hinüber und wieder zurück, um zu beweisen, wie einfach es war. Dann nahm sie seine kalten Hände und lockte ihn wie immer Zentimeter um Zentimeter über den Baumstamm. Sie bewegte sich auch rückwärts so sicher, als ginge sie auf ebener Erde. Als sie die andere Seite erreicht hatten, vergaß sie nicht, ihm zu sagen, wie tapfer er gewesen sei. »Es wird dunkel«, maulte er, »und ich hab Hunger.«
»Ja, später. Nur noch ein Stündchen!« bat sie. Sie hatte keine Lust, nach Hause zurückzugehen, wo Charlotte bald, eine Zigarette im Mundwinkel, neben dem Herd stehen und das Abendessen zubereiten würde. Sie hatten den Wasserfall hinter sich gelassen, und der Bach strömte wieder ruhig. Durch die Blätter fielen schräge Sonnenstrahlen. Shari verfolgte sie mit den Augen. Das Licht traf auf das Autowrack, das wie ein zerquetschtes Tier mit der Nase am Bachrand lag, und dort im Gewirr der Wasserpflanzen glänzte etwas. Shari ging näher und bückte sich danach. Es war ein großer Gegenstand aus Glas. Sie wusch ihn im Wasser sauber und beobachtete staunend, wie ein Schwan mit zurückgeschlagenen Flügeln und einem schlanken, gebogenen Hals zum Vorschein kam. »Peter, schau nur, was ich gefunden habe!« »Gold?« fragte er. »Fast.« Der Schwan lag in ihrer Handfläche, als gehörte er dahin. Sie zeigte ihn Peter. »Ist das ein Schatz?« »Ich glaub schon.« Sie legte den Schwan in seine geöffneten Hände. »Ist er nicht phantastisch, Peter?« »Nein«, antwortete er aufrichtig. »Es ist nur ein Glasvogel.« »Aber er ist schön«, sagte sie. »Und noch nicht mal angeschlagen oder zerkratzt.« Sie griff nach dem Schwan. »Ich glaube, er ist sehr wertvoll.« »Können wir ihn verkaufen und reich werden?« fragte Peter. »Ich möchte ihn lieber behalten«, sagte sie. Sie hielt ihn an ihre Backe und schloß die Augen. »Ich hab noch nie so etwas Schönes gehabt«, murmelte sie. Nicht der Stein mit den roten Körnchen, die vielleicht Granate waren, nicht die Schmetterlingsbrosche ohne Verschluß, die Peter gefunden
und ihr geschenkt hatte, nicht die Schwanzfeder des grünen Sittichs, der letzten Sommer in den Wäldern verschwunden war - nichts war so schön wie dieser anmutige Schwan. Peters Magen rumorte hörbar. »Ich bin am Verhungern«, klagte er. »Und es wird auch immer dunkler.« »Wir gehen gleich«, sagte sie schuldbewußt. Zum Mittagessen hatte er nicht viel bekommen. In der einen Hand hielt sie vorsichtig den Schwan, mit der anderen ergriff sie Peters Hand, und sie machten sich sofort auf den Heimweg.
Zweites Kapitel
Als Shari und Peter die halbdunkle Schlucht verließen, wurden
sie vom hellen Licht des Spätnachmittags geblendet. Erst als sie in ihrem eigenen Garten ankamen, der im Schatten lag und wo die Bäume wie schwarze Säulen aussahen, merkten sie wieder, daß es Abend geworden war. Peter, der inzwischen sehr hungrig war, konnte es kaum erwarten, ins Haus zu kommen. Nur ungeduldig ließ er es über sich ergehen, daß Shari den angetrockneten Schlamm von seinen Hosen klopfte. Während Peter dann losstürzte, als sie fertig war, hielt Shari sich zurück. Für sie war das hell erleuchtete Küchenfenster wie ein offenes Feuer, anziehend und bedrohlich zugleich. In der Einfahrt parkte ein Auto. Es gehörte Charlottes Freundin Lina. Wenn Linas Mann mit seinem Musterkoffer unterwegs war, kam sie oft auf einen »Sprung« vorbei. Und wenn Charlottes Bedürfnis nach Gesellschaft groß genug war, blieb Lina bis nach dem Abendessen. Sie saß meistens ruhig da und nickte verständnisvoll, während Charlotte wie ein Wasserfall redete. Was sie der massigen, kinderlosen Lina erzählte, war ein Aufguß alter Geschichten: wie sehr sie sich wünschte, Zeke würde mehr Geld verdienen, damit sie sich dies und das kaufen könnte, wie einsam sie sich fühlte, weil er ständig fort war, und was für ein Pech sie doch hatte, hier auf dem Land mit vier Kindern festzusitzen, die sie wahnsinnig machten. War Lina dann gegangen, beklagte sich Charlotte bei den Kindern, sie bekomme jedesmal Kopfweh, wenn sie diese Frau unterhalten müsse.
Aber hier, mitten in der Einöde, könne sie einfach nicht wählerisch sein, was Freunde angehe. Jetzt hörte Shari durchs offene Küchenfenster ihre Mutter schon wieder die Geschichte erzählen, daß sie eine Karriere in einem Modenhaus gewollt hatte und es bestimmt zur Einkäuferin gebracht hätte, wenn sie nicht statt dessen Zeke geheiratet hätte und schwanger geworden wäre. »Eins ist sicher, hier in der Gegend wäre so eine Karriere nicht möglich«, stimmte Lina zu. »Das kann man sagen. Und Zeke will sowieso nicht, daß ich arbeite. Erinnerst du dich noch, wie ich die Arbeit als Empfangsdame im Blue Hill Hotel angenommen habe und Zeke so böse auf mich wurde, daß ich kündigen mußte? Dabei war die Stelle nur für einen Sommer. Aber Zeke war so sauer, weil er dachte, der Eigentümer hätte ein Auge auf mich geworfen.« »Vielleicht hatte er das tatsächlich«, sagte Lina. »Du siehst ja wirklich nicht aus wie eine Mutter von vier Kindern.« »Nein, ich hab meine gute Figur behalten. Ich kann essen, was ich will, ich nehme nicht zu.« »Na ja, du brauchst es eben für deine Nerven. Nervöse Energie verbraucht viel Fett. Schau mich an! Kein einziger Nerv in meinem Körper. Alles, was ich in den Mund stecke, setzt sofort an.« Lina klopfte sich auf die fetten Schenkel, als wäre sie stolz darauf. »Ich wette, du ißt mehr, als du denkst, Lina.« Sie diskutierten ein paar Minuten über dieses Thema, dann fragte Charlotte: »Wo ist deine Schwester, Peter? Steckt sie irgendwo in einem Baum?« »Sie kommt gleich«, sagte Peter. »Ma, kann ich eine Dose Ravioli haben? Ich hab Hunger.« »Stör mich jetzt nicht. Siehst du nicht, daß ich mich gerade
mit Lina unterhalte? Geh fernsehen, bis deine Brüder nach Hause kommen... Also diese Shari! Die Leute sagen ja immer, es wäre gut, zuerst ein Mädchen zu bekommen, das sich dann später um die jüngeren Geschwister kümmern kann. Aber Shari macht in diesem Haus keinen Finger krumm, wenn ich ihr nicht hinterherlaufe.« »Paßt sie nicht die ganze Zeit auf ihren kleinen Bruder auf?« fragte Lina. »Das mußt du ihr doch anrechnen.« »Ihr anrechnen? Wieso? Es stört sie nicht, wenn er ihr wie ein kleiner Hund nachläuft. Wer sonst beachtet sie schon? Sie hat keine einzige Freundin in ihrem Alter. Ich frage dich, Lina, ist das normal ? Ein Mädchen in ihrem Alter und so schüchtern, daß sie nicht mal in der Schule den Mund aufkriegt.« »Aber sie ist doch ganz gut in der Schule, nicht wahr?« »Ja, natürlich. Gescheit ist sie schon. Alle meine Kinder sind gescheit.« »Das ist nicht gerade angenehm für dich, Charlotte«, sagte Lina. »Das heißt doch, du mußt damit rechnen, daß du ihnen mal eine College-Ausbildung bezahlen mußt.« »Wir können die Kinder nicht aufs College schicken, jedenfalls nicht von dem, was Zeke verdient«, sagte Charlotte. »Übrigens ist Walter der einzige, der gern in die Schule geht. Soll er doch sehen, daß er ein Stipendium bekommt, wenn er aufs College will. Ich wette, Doug vergeudet keine weiteren vier Jahre in einem Klassenzimmer, wenn er draußen arbeiten kann. Er hat vielleicht schon ein Vermögen gemacht, bevor er alt genug ist fürs College. Weißt du, was er vor ein paar Tagen zu mir gesagt hat? ›Ma‹, hat er gesagt, ›wenn ich reich bin, kauf ich dir sofort ein neues Auto.‹ Das hat er gesagt.« »Und Shari?« fragte Lina. »Shari? Sie heiratet bestimmt wie ich. Wenn nicht, wird sie
in einem Motel Zimmer putzen oder als Bedienung arbeiten.« »Sie könnte Lehrerin werden oder so was«, sagte Lina. »Shari? Ich lach mich kaputt. Sie kriegt Fremden gegenüber ja nicht mal die Zähne auseinander, wenn sie um Hilfe schreien müßte.« »Shari will Pilotin werden«, sagte Peter, um sie zu verteidigen. »Sie kauft sich ein Flugzeug und lernt fliegen.« »Fliegen? Wie kommt sie denn darauf?« fragte Charlotte scharf. Sie stockte einen Augenblick, dann sagte sie: »Jedenfalls muß man auf eine Schule gehen, wenn man Pilotin werden will, und dafür haben wir kein Geld. Shari muß arbeiten gehen, sobald sie mit der High School fertig ist.« »Wie steht's damit bei dir, Charlotte?« fragte Lina. »Du könntest dir doch einen Job suchen.« »Könnte ich? Und als was?« »Vielleicht als Verkäuferin im Einkaufszentrum.« »Natürlich. Die warten nur darauf, eine Hausfrau ohne Erfahrung einzustellen. Und überhaupt, wie soll ich das schaffen? Jeden Tag vierzig Minuten hin und zurück fahren, bei Eis und Schnee auf den Straßen, wenn mein Auto nicht zuverlässig läuft. Glaubst du etwa, ich hätte noch nicht an das Einkaufszentrum gedacht? Aber so lange wie mein Auto nicht ordentlich spurt, wird daraus nichts.« »Na ja, arbeiten ist ja auch nicht so toll. Wer steht schon gern jeden Morgen früh auf?« sagte Lina. »Also ich bin froh, daß ich mich morgens noch mal umdrehen und weiterschlafen kann, solange ich will.« »Das liegt daran, daß du faul bist, Lina. Ich bin nicht faul... Wo bleibt denn dieses Mädchen? Treibt sich wieder irgendwo im Wald herum!« Charlotte war verärgert. Wenn sie mit Lina zusammen war, wurde sie nach einer gewissen Zeit immer gereizt. »Dieses Mädchen ist nie da, wenn ich sie brauche.
Immer denkt sie nur an sich.« »Übrigens«, sagte Lina, »mir ist aufgefallen, wie sehr die Jungen Zeke ähnlich sehen, wie aus dem Gesicht geschnitten. Und Shari gleicht weder dir noch ihm. Das ist doch eigenartig.« »Sie schlägt nach Zekes Familie«, sagte Charlotte und fügte schnell hinzu: »Hör mal, wenn du nicht zum Abendessen bleibst, mache ich eben was für die Kinder. Die Jungen sind bestimmt ausgehungert, nach einem ganzen Tag am Stand.« Lina überhörte den Wink. Ihr gemütliches Naturell schien unempfindlich zu sein gegen Beleidigungen. »Kümmre dich bitte nicht um mich. Ich bleib einfach hier sitzen und schau dir beim Arbeiten zu. Es macht mir überhaupt nichts aus, anderen bei der Arbeit zuzuschauen.« »Mich macht es nervös, wenn mir jemand zuschaut«, sagte Charlotte. »Es war nett, daß du vorbeigekommen bist, Lina. Ich bring dich noch zum Auto.« Dem Kratzen eines Stuhls auf dem Linoleum folgten langsamere Geräusche. Lina erhob sich offenbar nur widerwillig. Als Charlotte sie zur Haustür hinausbegleitete, schlüpfte Shari in die Küche. Sie begann sofort, den Tisch zu decken, damit ihre Mutter ihr nichts vorwerfen konnte. Wenn Zeke nach Hause kam, mußte sie ihn fragen, ob man wirklich in eine Schule gehen mußte, wenn man Pilotin werden wollte. Sie hatte jedenfalls keine Lust, Zimmer zu putzen oder als Bedienung zu arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. »Bist du endlich da?« sagte Charlotte, als sie zurückkam. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?« »Draußen.« Die Küchentür sprang auf, und Doug und Walter stürmten herein. Doug ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. Er lag da wie ein Brett, den Kopf hinten angelehnt und die
Beine gerade ausgestreckt, genau wie Zeke immer saß. »Mann, bin ich erledigt. Wann gibt's was zu essen?« sagte er. Walter trank gierig aus dem Wasserhahn über der Spüle. »Ich hab noch nicht angefangen zu kochen, also mach mich nicht nervös«, antwortete Charlotte. »Wie wär's mit Ravioli?« »Nicht schon wieder, Ma«, sagte Doug. »Also mach mir bloß keine Vorschriften. Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich im Supermarkt einkaufe, wenn mein Wagen nicht fährt.« »Wir haben noch ein paar Tomaten und einen Kürbis, die wir nicht losgeworden sind. Sie sind nur ein bißchen angestoßen«, sagte Walter. »Haben wir kein Fleisch mehr für Hamburger?« Charlotte zuckte die Schultern und ging zum Kühlschrank. »Wie kommen wir denn zur Bank, damit wir unsere Einnahmen einzahlen können?« fragte Doug. »Ich werde Betsy oder Marvin fragen, ob sie euch hinfahren.« »Was ist mit Lina?« fragte Doug. »Lina! Diese Woche könnte ich es keine Stunde mehr mit dieser Frau aushalten. Außerdem möchte ich sie nicht um einen Gefallen bitten.« »Hallo, ihr zwei«, rief Peter fröhlich von der Wohnzimmertür herüber. »Habt ihr viel Gemüse verkauft?« »Der beste Tag der Woche, besser als letzten Samstag«, sagte Doug. »Meine Lieferanten mußten fast nichts zurücknehmen. Alles verkauft.« »Wenn du ein so großer, reicher Mann bist, könntest du uns eigentlich heute abend zum Essen einladen«, sagte Charlotte lächelnd. »Ich hab's dir doch schon erklärt, Ma«, sagte Doug. »Man muß Geld haben, um zu Geld zu kommen. Und ich hab eben kein Geld mehr, wenn ich es sofort ausgebe.«
»Geizkragen!« Aber während sie das sagte, schaute Charlotte bewundernd ihren kräftig gebauten Sohn an, der die braunen Augen und die breiten Backenknochen von Zeke hatte. Shari war mit Tischdecken fertig und stellte sich neben Peter, der am Türrahmen lehnte und dem Gespräch zuhörte. »Du hättest mehr Geld, wenn du aufhören würdest zu rauchen«, sagte Doug zu seiner Mutter. »Und wenn du dann das, was du sparst, bei mir investierst, würde ich es dir mit Zinsen zurückzahlen, und du hättest noch mehr Geld.« »Ich rauche nicht«, sagte Charlotte. »Ich ziehe nur ab und zu an einer Zigarette, wegen meiner Nerven.« »Du hast Zeke versprochen, daß du aufhörst«, erinnerte Walter sie. »Und wer sagt, daß ich es nicht tue? Wo bin ich denn? Von Spionen umgeben? Meine eigenen Kinder spionieren mir nach! Und nun wartet ihr bloß darauf, daß ihr eurem Daddy erzählen könnt, ich rauche wie ein Schlot.« »Wir sagen ihm nichts, wenn du uns hilfst, am Samstag zum Autorennen zu kommen«, meinte Doug. Zuerst wandte Charlotte ein, Doug und Walter seien noch zu jung, um so spät abends zum Rennen zu gehen. Doch dann erklärte Doug, daß er Limonade an Kinder verkaufen wollte. Das fand Charlotte verlockend, auch wenn es gegen die Rennvorschriften verstieß. Ihre grünen Augen wurden schmal, und über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. »Wie bin ich nur zu so einem schlauen Sohn gekommen? Ich wette, eines Tages bist du wirklich reich.« Peter mischte sich plötzlich in das Gespräch. »Shari und ich werden auch reich. Nämlich wenn wir in der Schlucht Gold finden.« Das brüllende Gelächter seiner Brüder und seiner Mutter wischte das Strahlen aus seinem Gesicht. »Jedenfalls haben wir dort schon was gefunden«, sagte er.
»Was habt ihr gefunden, einen Diamantring vielleicht?« spottete Doug. »Ach, nichts«, sagte Shari verzweifelt, weil sie die Gefahr sofort erkannte. »Aber du hast doch gesagt...« sagte Peter weinerlich. »Also zeigt um Himmels willen, was ihr gefunden habt!« Charlotte ließ ihr Feuerzeug aufklicken und zündete sich eine Zigarette an. Sie sog den Rauch ein, stieß sich vom Kühlschrank ab und setzte sich an den Tisch. »Du mußt es Mama zeigen, Shari«, sagte Peter. Er wollte in den Augen seiner Mutter unbedingt genauso gut dastehen wie seine Brüder. Shari fühlte sich in die Enge getrieben. Sie knüpfte das Halstuch ab, das sie an eine Schlaufe ihrer Jeans gebunden hatte, und holte den Kristallschwan daraus hervor. Sie hielt ihn ins Licht der Küchenlampe. Sein gebogener Hals und die Flügel glänzten wie fließendes Wasser in der Sonne. Sie legte ihn ihrer Mutter in die geöffnete Hand und wartete ängstlich. Hoffentlich hielt ihn Charlotte nicht für so wertvoll, daß sie ihn behalten wollte. Charlotte legte ihre Zigarette in den unförmigen Keramikaschenbecher ab, den Lina für sie getöpfert hatte, und drehte den Vogel im Licht. »Er ist hübsch«, verkündete sie. »Er könnte aus Kristall sein. Ich habe so was Ähnliches im Einkaufszentrum gesehen, in dem Laden für Geschenkartikel.« »Ist es ein Schatz?« fragte Peter hoffnungsvoll. »Wo habt ihr ihn gefunden?« wollte Charlotte wissen. »Im Bach, unterhalb der Brücke«, sagte Shari. »Du hast deinen kleinen Bruder mit hinunter in die Schlucht genommen? Bist du noch gescheit, ihn an einen so gefährlichen Ort zu schleppen?« fragte Charlotte. »Es ist nicht gefährlich«, sagte Shari.
»Und was machst du, wenn er abstürzt und sich den Hals bricht? Sagst du mir dann, daß es dir leid tut?« »Ich passe auf, daß er nicht fällt.« »Das rat ich dir... Ich kann einfach nicht glauben, daß dieses Ding einfach so im Bach gelegen hat«, sagte Charlotte. »Genau dort, wo das Räuberauto liegt«, versicherte Peter. »Aber es war nicht im Auto, es lag im Bach«, sagte Shari ergänzend. »So ist das also«, sagte Charlotte. »Es gehört zu den Sachen, die die Kerle geklaut haben. Dann gehört es der Frau, die allein auf dem Berg wohnt. Wie heißt sie noch? Die ist doch nicht von hier.« Shari zuckte mit den Schultern. Ihre Augen ließen den Schwan nicht los, den Charlotte zwischen ihren perlmuttlackierten Fingernägeln aufgespießt hielt. »Sie heißt Mrs. Wallace«, sagte Walter. Walter vergaß nichts. Er konnte die Handlung Dutzender Science-fiction-Bücher wiedergeben, genau wie die Namen der Hauptpersonen. »In der Zeitung stand, daß viele Sachen, die sie ihr gestohlen haben, nur Liebhaberwert besaßen. Sie hat überall auf der Welt, wo sie gewohnt hat, Sachen gesammelt«, sagte Charlotte nachdenklich. »Sie könnte es sich was kosten lassen, wenn sie dieses Ding zurückbekommt.« »Bitte«, sagte Shari, »kann ich meinen Schwan wiederhaben?« »Es ist nicht deiner«, fuhr Charlotte sie an. »Du weißt doch, daß man nichts behalten darf, das einem nicht gehört?« »Aber ich hab ihn gefunden.« »Hast du nicht gehört, was ich dir gerade erklärt habe? Also, du gehst morgen zu ihr hinauf und tust genau das, was ich dir sage. Du verrätst nicht, daß du den Schwan gefunden hast. Du beschreibst ihn nur und fragst, ob er ihr gehört und
ob sie einen Finderlohn zahlen würde. Du sagst, du könntest ihn für sie auftreiben, wenn es eine Belohnung gäbe.« Charlotte beobachtete Shari, die starr dastand und hilflos die Stuhllehne umklammerte. »Hörst du mir überhaupt zu?« »Bitte, Mutter«, flüsterte Shari. »Laß mich ihn behalten.« »Was würde Zeke sagen, wenn er erfährt, daß du etwas behalten willst, das dir nicht gehört? Ich schäme mich für dich!« »Das ist doch kein Stehlen, wenn man etwas findet und es behält«, wagte Shari einzuwenden. »Doch, wenn du nämlich weißt, wer der Eigentümer ist«, sagte Charlotte. »Hör zu, wenn sie dir eine Belohnung gibt, kannst du die Hälfte behalten. Bitte sie um fünf Dollar. Sag ihr, für fünf Dollar könntest du ihn zurückbringen. Klar?« Shari drehte sich plötzlich um und wandte ihrer Mutter den Rücken zu. Wenn doch nur Zeke zu Hause wäre! Mit dem könnte sie reden. Von Doug und Walter würde Charlotte nie verlangen, daß sie ihr die Hälfte von etwas gaben, was sie gefunden hatten. Warum verlangte sie es dann von Shari? Aber das war jetzt nicht so wichtig. An Charlottes Ungerechtigkeit war Shari gewöhnt. Es tat ihr nur weh, daß sie den Vogel wieder hergeben sollte. »Und wenn sie keine Belohnung bezahlen will, kannst du das Ding von mir aus behalten«, sagte Charlotte hinter ihrem Rücken. »Aber grad hast du doch gesagt, es gehört ihr.« »Na und? Hast du es etwa nicht gefunden? Du hast es doch nicht gestohlen, oder?« Charlottes plötzlicher Meinungsumschwung kam für Shari zu schnell. Wieder hatte Charlotte die Spielregeln so verändert, wie es ihr in den Kram paßte. Nun war sie voller Energie und
holte Sachen aus dem Kühlschrank. »Ich glaube, ich hab irgendwo noch etwas Hackfleisch«, sagte sie, »wenn es noch nicht schlecht geworden ist. Bring mir euer Gemüse, Walter. Los, Shari, rühr dich! Hilf mir das Abendessen machen.« Nach dem Abwasch machten es sich die anderen vor dem Fernseher bequem. Shari nahm den Schwan und stieg die Holztreppe hinauf in ihr Zimmer. Er glänzte nicht mehr, nachdem Charlotte ihn berührt hatte. Es war dieselbe Hand, die im letzten Sommer ihr Schlafzimmerfenster geöffnet hatte, eine Hand mit langen, spitzen Fingernägeln. Shari schob diesen Gedanken schnell weg, versteckte ihn mit den anderen heimlichen Gedanken im hintersten Winkel ihres Gehirns. Dieses Wissen war gefährlich, weil es Wut auslösen konnte. Und was sollte Shari mit der Wut anfangen? Es war besser, wenn sie all diese Knüffe und Ohrfeigen, all die rasierklingenscharfen Wörter, all die Ungerechtigkeiten versteckte und vergaß. Sie hätte ihrer Lehrerin in der siebten Klasse erzählen können, daß auf diese Art ihre Kindheit verschwunden war. Weg und verschlossen. Deshalb erinnerte Shari sich an kein Erlebnis, von dem sie im Tagebuch berichten konnte, das sie für die Schule führen sollte. »Das ist doch ganz leicht, Shari. Irgendwas wird dir doch einfallen aus der Zeit, als du klein warst. Jeder Mensch hat Erinnerungen.« So hatte ihre Lehrerin gesagt. »Aber ich nicht«, hatte Shari ehrlich geantwortet. Im nächsten Zeugnis hatte die Lehrerin unter »Verhalten« geschrieben: »Sharis Schüchternheit läßt sie sozial unreifer erscheinen als andere Mädchen ihres Alters. Sie muß lernen, auf andere zuzugehen und sich sowohl mündlich als auch schriftlich besser auszudrücken.« »Was ist denn das für ein Blödsinn?« hatte Charlotte gesagt, als sie das Zeugnis sah. Statt wütend auf Shari zu werden,
hatte sie die Lehrerin angerufen und sie gefragt: »Was meinen Sie mit sozial weniger reif? Shari braucht nicht wie eine Sechzehnjährige herumzuziehen, nur um dann schwanger zu werden wie andere Mädchen ihres Alters, deren Namen ich nennen könnte. Sie ist völlig in Ordnung. Warum sollte sie sich mit diesen Rumtreibern in der Schule abgeben?« Shari konnte sich an keine andere Gelegenheit erinnern, bei der Charlotte sie verteidigt hatte. Und sie hatte keine Ahnung, warum Charlotte es diesmal getan hatte. Aber ihre Mutter war ja schon immer launisch und unberechenbar gewesen. Sharis Zimmer war unterm Dach. Die Wände waren schräg. Unter der einen Schräge stand Sharis alte Kommode, unter der anderen ihr Bett. An der dritten Wand hatte Zeke eine Kleiderstange und Regalbretter angebracht. Shari heftete das Poster, das Peter ihr geschenkt hatte, neben die Tür, so daß sie es betrachten konnte, wenn sie im Bett lag. Es war ihr liebstes Geburtstagsgeschenk, das hatte sie Peter gesagt. Im letzten Jahr war ihr Lieblingsgeschenk der lebendige, grüngelbe Sittich gewesen, den Zeke ihr mitgebracht hatte. Den Käfig habe sie immer noch. Er stand leer auf dem Bord zwischen dem Spielzeug-Plattenspieler, der nicht funktionierte, und der Puppe mit dem riesigen Spitzenrock, die Zeke ihr vor Jahren von einer seiner weiten Fahrten mitgebracht hatte. Sie hatte Puppen nie besonders gemocht, aber alles, was Zeke ihr schenkte, war ein Zeichen seiner großen Zuneigung zu ihr, deshalb bedeuteten ihr alle seine Geschenke viel. Shari zog sich aus. Im Nachthemd setzte sie sich auf ihr Bett. Das Mondlicht fiel auf den Kristallschwan in ihren Händen. Morgen mußte sie ihn der Frau zurückgeben, der er gehörte - Mrs. Wallace. Shari versuchte sich einzureden, daß es ihr gar nichts ausmachte. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, sich gegen Schmerzen zu schützen, wenn ihre Mutter sie schlug. Doch seelische
Verletzungen waren schwerer zu ertragen. Sie mußte sich abhärten. Es war besser, nichts mehr zu fühlen. Das mußte sie üben. Und wenn sie sich später an den Schmerz erinnerte, wäre es lediglich ein weiterer Gedanke, der versteckt werden mußte. Vorsichtig stellte sie den Schwan auf dem Fensterbrett ab. Eine Weile betrachtete sie ihn noch, wie er im Mondlicht glänzte. Dann schlief sie ein und träumte, daß sie durch ihr Fenster hinausschwebte und ihren Kristallschwan festhielt, der mit ausgebreiteten Flügeln in langen, ruhigen Schlägen in die Nacht hinausflog. Sie fühlte, wie die Blätter ihres Baumes sie streiften, als sie emporschwebte. Immer höher stieg der Schwan, und dann konnte sie über sich die Sterne sehen. Der kühle Wind strich an ihr vorbei. Der Schwan war inzwischen riesig geworden, mächtiger als die Habichte, die stolz die Lüfte beherrschten, wenn sie über dem Tal schwebten. Die Lichter der Häuser funkelten unter ihr wie Edelsteine, und die Zwillingsdiamanten und -rubine, aufgereiht in einer geraden Linie, waren die Scheinwerfer und Rücklichter der Autos, die auf der Schnellstraße fuhren. Freude stieg in ihr auf. Sie flog, flog, flog. So wie sie es immer erträumt hatte. Im Kreis, auf und ab und wieder im Kreis flog sie in großen Bögen, wie damals auf dem Karussell auf dem Volksfest, zu dem Zeke sie mitgenommen hatte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, empfand sie noch ganz deutlich die Freude dieses Flugs, und sie fühlte sich wie neugeboren.
Drittes Kapitel
Kommt, Kinder!« rief Charlotte. »Das Frühstück ist fertig. Ich hab heute eine Überraschung für euch.« Shari setzte sich im Bett auf und fragte sich, weshalb wohl die Stimme ihrer Mutter so fröhlich klang. Vielleicht hatte Zeke angerufen und gesagt, er komme früher als erwartet nach Hause? Oder war es nur eine überraschende Einladung von Betsy ? Letzten Monat hatte Betsy die ganze Familie zum Heimtierzoo im Einkaufszentrum mitgenommen. So ein Ausflug wäre schön, aber noch schöner wäre es, wenn Zeke nach Hause käme. Shari nahm den Kristallschwan und betrachtete ihn. Heute mußte sie ihn Mrs. Wallace zurückbringen, wenn nicht irgendein Glücksfall eintrat. Wenn Zeke nach Hause käme, würde Charlotte den Vogel vielleicht vergessen. Oder vielleicht sagte Zeke, daß Shari ihn nicht hergeben mußte. Ob er auch meinte, sie müßte ihn zurückbringen, nur weil sie wußte, wem er gehörte? Vermutlich schon. Zumindest wäre das am ehrlichsten. Shari zog die abgeschnittenen Jeans von gestern wieder an, dazu ein T-Shirt, aus dem Walter herausgewachsen war. Vorn war ein Flamingo drauf. Es war zwar schon etwas schäbig, aber es hatte noch keine Löcher. »Was macht es denn aus, wenn ihr mal einen Tag euren Stand nicht aufhabt«, sagte Charlotte gerade zu Doug, als Shari die Küche betrat. Doug saß mürrisch am Tisch, während Charlotte Eier für ihn briet. »Wann haben wir schon Gelegenheit, mal zum Schwimmen mitzufahren? Du bist erst zwölf,
Kind. Mach dir doch ein schönes Leben!« Dougs Kinn in dem breiten Gesicht schob sich vor, aber er schwieg. »Ich möchte gern mit, Ma«, sagte Walter über sein Sandwich hinweg, aus dem Marmelade tropfte. »Aber meine kurze Hose ist kaputt, mit der kann ich nicht schwimmen gehen.« »Such dir was anderes zum Anziehen«, sagte Charlotte. »Ich hab wirklich nicht die Absicht, diese blöde Hose noch einmal zu flicken.« »Dann geh ich nicht mit.« Walter verschränkte die Arme vor der Brust und rückte vom Tisch zurück, als wollte er sich von seiner Familie entfernen. »Ich versteh euch einfach nicht«, sagte Charlotte. »Betsy lädt uns alle zum See ein, und ihr sitzt da und meckert rum. Hört zu, mir ist es egal, wenn ihr zu Hause bleibt. Dann geh ich eben ohne euch.« »Und was ist mit mir?« fragte Peter. »Ich war den ganzen Sommer noch nicht schwimmen.« »Ich möchte gern mit«, sagte Shari leise. »Also dann schnell, mach dich fertig«, sagte Charlotte. »Betsy ist in ein paar Minuten da, und wir müssen noch was zu essen vorbereiten, das wir mitnehmen können.« »Ich kann nicht ohne meine Hose gehen«, sagte Walter. In der letzten Zeit war er sich bewußt geworden, wie unförmig sein Körper war. Er bestand auch auf langen Haaren, die seine abstehenden Ohren verdecken sollten. Außerdem zog er nur noch bestimmte Kleidungsstücke an, die ihm seiner Meinung nach gut standen. »Du kannst meine kurze Hose haben«, bot Shari ihm an. »Die paßt dir bestimmt. Ich zieh dann zum Schwimmen meine alte an.« »Ich trag keine Mädchenhosen«, sagte er mit einem ent-
setzten Blick. »Die hat früher Doug gehört«, erinnerte Shari ihn. »Was zu trinken kaufen wir am See«, murmelte Charlotte, während sie Brot, Dosenfleisch, Senf, Erdnußbutter und Marmelade in die weiße Kühltasche packte, dazu ein Messer zum Brotschneiden und -schmieren. »Meine Lieferanten werden sauer sein, wenn sie das Gemüse bringen und ich nicht am Stand bin«, sagte Doug. »Nein, werden sie nicht. Laß ihnen einfach eine Nachricht da. Du kannst ihnen ja erzählen, deine Mutter hätte dich zum Mitgehen gezwungen. Damit müssen sie rechnen. Immerhin bist du noch ein Kind«, sagte Charlotte. Shari ließ das Toastbrot liegen, das sie sich gemacht hatte, und lief die Treppe hinauf. Sie wollte sich umziehen, damit sie Walter ihre Hose geben konnte. Sie war gern am See. Stundenlang konnte sie auf dem Floß in der Sonne liegen und den Wellen zuhören, die hohl gegen die Ölfässer schlugen, auf denen die Bretter angebracht waren. Als sie in die Küche zurückkam, nahm Walter schweigend die Hose entgegen und ging ins Badezimmer. An der Tür drehte er sich um. »Erzähl bloß keinem, daß es deine Hose ist«, sagte er. Walter konnte es nicht ertragen, wenn er gehänselt wurde. Shari erinnerte sich daran, wie Zeke ihn einmal wegen des Lesens aufgezogen hatte. Er hatte Walter vorm Fernseher, der auf volle Lautstärke gedreht war, in ein Buch vertieft gefunden. »Hast du auch schon gelernt, beim Radfahren zu lesen?« hatte Zeke gewitzelt. »Und weißt du, wie man im Dunkeln liest?« Walter war so verlegen gewesen, daß er sein Buch zugeklappt und einen ganzen Tag lang nicht mehr gelesen hatte. Shari wünschte, sie konnte sich wie er in Bücher flüchten. Wenn seine Augen über eine Seite glitten, bemerkte er nichts
mehr von dem, was um ihn herum vorging. »Was hast du von dem vielen Lesen?« hatte sie ihn gefragt, aber er konnte es ihr nicht erklären, ihm fehlten die Worte dafür. Genau wie sie nahm er viel in sich auf, ließ aber wenig heraus. Draußen ertönte die Hupe eines Autos. Das war Betsy. »Schließ die Küchentür ab«, rief Charlotte und rannte mit der Picknicktasche hinaus. Peter griff unauffällig nach Sharis Hand. »Dieses Jahr brauch ich meine Schwimmflügel nicht. Ich werde richtig schwimmen.« Shari hatte eine Idee. »Wart mal«, sagte sie. »Ich hol den Autoschlauch.« Sie lief zum Abstellplatz für das Auto, wo sie den Schlauch zuletzt gesehen hatte, fand ihn unter einem unordentlich zusammengewickelten Gartenschlauch und rannte damit zu Betsys Auto. Der Schlauch würde allen Spaß machen. Peter zappelte vor dem Auto herum, alle anderen saßen schon drin. Als Shari Betsys tolpatschigen schwarzen Neufundländer auf dem Rücksitz zwischen Doug und Walter entdeckte, verstand sie, was los war. »Okay, du kannst vorn bei mir sitzen, wenn du so ein Angsthase bist«, sagte Charlotte gerade zu Peter. »Ich steig nicht in das Auto, wenn der Hund sitzenbleibt«, winselte Peter. Seine Angst war so groß, daß Shari sie fast fühlen konnte. Seit er von Walters Schäferhund gebissen worden war, hatte er Angst vor großen Hunden. Im Auto müßte Peter vor dem unruhigen BoBo geschützt werden. Der Hund hatte erst Betsy, dann Charlotte angestupst, um auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt lag sein Kopf mit heraushängender Zunge auf der Rückenlehne des Vordersitzes. »Gut, Peter«, sagte Charlotte, ihre Stimme klang drohend. »Dann bleibst du eben zu Hause.«
Tränen liefen ihm übers Gesicht, aber er rührte sich nicht. »Shari, bleib du mit Peter hier«, sagte Charlotte. »Wozu sollten wir uns alle in diesem Auto zusammendrängen, wenn er partout nicht mitkommen will?« »So ist's richtig, Charlotte«, sagte Betsy. »Verwöhnte Bälger können wir auf unserm Ausflug nicht gebrauchen.« Sie ließ den Motor aufjaulen. Charlotte beugte sich aus dem offenen Seitenfenster und rief Shari zu: »Du kannst euch eine Dose Thunfisch oder sonstwas zum Mittagessen aufmachen. Und vergiß nicht, die Frau zu besuchen, wie ich es dir gesagt habe!« Dann fuhren sie los. Shari stand ganz still da. Gerade eben hatte sie sich noch gefreut, nun wurde sie enttäuscht. Es war nicht das erste Mal, daß ihr so etwas passierte, aber deshalb war sie doch nicht weniger traurig. Das Auto hinterließ Staubwolken auf der Straße. Peter weinte immer noch bitterlich, als der Staub sich gelegt hatte. »Komm, Peter«, sagte Shari und schluckte ihren Ärger hinunter. »Wir gehen in den Wald.« »Aber ich wollte doch mit zum See.« »Ich auch. Aber das geht nun mal nicht, und deshalb machen wir das Beste draus.« Sharis Entschlossenheit, sich nicht den Spaß verderben zu lassen, wurde erst erschüttert, als sie versuchte, ins Haus zu kommen, und es vorn und hinten verschlossen fand. Charlotte hatte den Schlüssel mitgenommen, und Sharis eigener Schlüssel lag oben auf ihrer Kommode. »Wie kriegen wir denn was zu essen?« fragte Peter. Diese Sorge bekümmerte ihn so sehr, daß er aufhörte zu weinen. Ein Tag ohne Essen war für ihn schlimmer als einmal nicht zum Schwimmen fahren zu können.
»Mach dir keine Sorgen. Mabel gibt uns schon noch ein paar Krapfen oder irgendwas anderes. Bezahlen können wir dann später. Außerdem hast du gerade gefrühstückt. Komm, wir gehen wieder Gold suchen. Und dann können wir uns an Mrs. Wallace heranschleichen und rausbekommen, ob sie nett ist.« »Weshalb willst du das wissen?« fragte Peter. »Ich geb ihr den Schwan nur zurück, wenn sie nett ist.« »Mama ist sauer auf dich, wenn du es nicht tust.« »Wir werden ja sehen«, sagte Shari, froh, daß es ihr gelungen war, ihn abzulenken. »Komm, es ist ein weiter Weg den Berg hinauf bis zu ihrem Haus.« Er warf noch einen sehnsüchtigen Blick die Straße entlang, aber Betsys Auto war längst verschwunden. Schließlich seufzte er tief und folgte Shari, die schon den Weg zur Schlucht eingeschlagen hatte. »Prima«, sagte sie über die Schulter, um ihn bei Laune zu halten. »Du bist schon ein richtig großer Junge.« Sie überquerten den Bach, aber bevor sie mit dem Goldwaschen anfingen, schlug Peter vor, zuerst Mrs. Wallace nachzuspionieren. »Wenn sie nett ist, gibt sie uns vielleicht was zu essen.« Shari lachte. »Seit wann werden Spione zum Essen eingeladen? Sie soll doch gar nicht wissen, daß wir sie beobachten.« »Wir werden ja sehen«, sagte Peter. Um zum Haus von Mrs. Wallace zu kommen, mußten sie erst die hintere Wand der Schlucht hochklettern. Von dort führte eine Landstraße am Berghang entlang. Ein Felsvorsprung ragte über den oberen Rand der Schlucht. Peter blieb stehen, als sie dort angelangt waren. »Da klettere ich nicht rauf«, sagte er. »Auf keinen Fall.« Er schaute ängstlich über die Schulter zurück, den steinigen
Abhang zum Bach hinunter, der weit weg zu sein schien. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte Shari. »Ich geh vor und schau, wo man sich festhalten kann.« »Nein«, beharrte Peter. »Ich kann das nicht. Ich fall bestimmt runter.« »Bleib ganz ruhig«, sagte sie. »Ich mach's dir vor. Ich hab dich doch noch nie fallen lassen, oder?« Er klammerte sich an einen knorrigen Busch. Sie kletterte den Felsen hinauf, tastete mit den Füßen nach Halt, hielt sich an freiliegenden Baumwurzeln fest, wo immer es ging. So gelangte sie über den Vorsprung. Oben angekommen, legte sie sich auf den Bauch und schaute über den Rand zu Peter hinunter. »Hast du gesehen, es ist nicht so schwer. Ich hol etwas, das ich dir runterlasse, damit du dich beim Klettern festhalten kannst.« »Ich kann nicht, Shari«, jammerte er. »Ich hab Angst.« »Willst du, daß ich wieder runterkomme, damit du dich an mir festhalten kannst?« »Ich kann nicht klettern.« »Doch, du kannst. Das einzige Problem ist, daß deine Muskeln noch nicht stark genug sind. Aber wenn du älter bist, kannst du es bestimmt genauso gut wie ich.« Er dachte mit kummervollem Gesicht nach, dann entschied er sich. Er holte tief Luft und sagte: »Hilf mir lieber beim Raufklettern, damit ich nicht runterfalle.« Er warf einen ängstlichen Blick nach unten auf den Bach, der zwischen den Bäumen über die Felsen rauschte. »Ich komm gleich wieder«, sagte Shari und suchte einen starken Ast, den sie hinunterreichen konnte. Zum Glück mußte sie nicht lange suchen. Diese Landstraße wurde so selten befahren, daß von den letzten Winterstürmen noch abgebrochene
Äste herumlagen. Peter packte den Ast, den sie ihm hinhielt, und klammerte sich mit beiden Händen todesmutig daran fest, während sie ihn hochzog. Er unterstützte sie sogar, indem er selbst mit den Füßen nach dem nächsten Tritt suchte, denn vermutlich hätte ihre Kraft allein doch nicht gereicht. »Siehst du«, jubelte sie, als er bei ihr angekommen war, »ich hab dir doch gesagt, daß es nicht so schwierig ist!« Sie umarmte ihn und sagte: »Hab ich nicht gesagt, daß du ein großer Junge wirst?« Er legte zärtlich die Arme um sie, wie er es oft tat, und sie war froh, daß er sich dafür noch nicht zu groß vorkam. Dann gingen sie im Schatten die Schotterstraße hinauf, bis sie an eine Abzweigung kamen, an der ein Schild »Privatweg« stand. Daneben stand auf einem Pfosten der Name Wallace. Zwei Fahrspuren mit einem grasbewachsenen Buckel in der Mitte führten hinein in einen verwilderten Wald. Shari und Peter folgten dem Weg. Der Wald öffnete sich, Wiesen, mit Brombeeren, Königskerzen und Goldruten bewachsen, lagen vor den beiden. »Was machen wir, wenn sie uns sieht?« fragte Peter. »Dann sagen wir, daß wir etwas suchen«, antwortete Shari und überlegte, was sie wohl suchen könnten. Sie war nicht gut im Ausredenerfinden. Und sie sprach nicht gern mit Erwachsenen. Die Scheu nahm ihr fast die Stimme, und oft rutschte ihr etwas heraus, das falsch klang. Dann rannte sie vor Verlegenheit weg. »Wir könnten einfach sagen, wir hätten uns verirrt«, schlug Peter vor. »Das ist eine gute Idee«, sagte Shari und drückte ihm dankbar die Hand. »Ich kann ja mit ihr reden«, bot Peter an, »ich rede gern
mit Leuten.« »Ja, das kannst du besser als ich«, meinte Shari zustimmend. Sie atmete tief den Geruch von Wacholder und würzigen Wiesenblumen ein. »Wie gut es hier riecht«, sagte sie. Aber das interessierte Peter nicht besonders. »Ist es noch weit?« fragte er. »Ich glaube nicht«, sagte Shari und hoffte seinetwegen, daß es stimmte. Hinter der nächsten Kurve des Sandwegs lag das Haus vor ihnen. Es war ein stabiles Holzhaus mit einem spitzen Dach. Wie ein Hexenhaus sah es aus. Vor der offenen Garage, die unter dem Haus in den Hang gebaut war, stand der Kombi von Mrs. Wallace. Shari zog Peter an der Hand. Sie mußten sich verstecken. Shari führte ihn von der Straße weg zu einem Gebüsch. Dahinter kauerten sie sich. Eine Gittertür fiel zu. Dort stand Mrs. Wallace. Shari hatte sie früher schon mal im Auto vorbeifahren sehen. Und einmal hatte sie sie in Mabels Laden getroffen. Sie war eine etwas plumpe Frau. Ihre ordentlichen weißen Haare lagen wie eine Kappe um ihr rundes, helles Gesicht mit den klaren grauen Augen. Sie wirkte gar nicht alt, dachte Shari. Der offene Blick der Frau gefiel ihr und auch ihre schlichte Kleidung. Jetzt trug sie Jeans und eine lockere Bluse mit hochgekrempelten Ärmeln. Aber am Aussehen der Leute konnte man nicht immer erkennen, wie sie in Wirklichkeit waren. Charlotte war hübsch, und Betsys Clownsmund sah lustig aus, aber beiden konnte man nicht trauen. Schwalben schossen aus ihren Nestern unterm Dach hervor und flogen über Mrs. Wallace hinweg. Zuerst dachte Shari, die Vogel wollten ihr Revier verteidigen. Dann erkannte sie an den verspielten Schleifen, die sie über den Rasen und wieder zurück zur Veranda, zu Mrs. Wallace, zogen, daß sie eine
Freundin begrüßten. Es sah aus, als tanzten sie in der Luft. Mrs. Wallace stieg plötzlich die Treppe hinunter, die zur Garage unter dem Haus führte, und verschwand. »Geht sie weg?« flüsterte Peter. »Weiß ich nicht.« »Siehst du was?« »Noch nicht. Komm, gehen wir ein Stück weiter, damit wir die Seite und den hinteren Garten sehen können. Aber leise, sonst kann sie uns hören.« Shari ließ Peter vorangehen. Er krabbelte unter die tiefhängenden Äste einer Rottanne, und Shari folgte ihm in die immergrüne Höhle. Mrs. Wallace wohnte erst seit zwei oder drei Jahren hier, aber das Grundstück gehörte ihr schon viel länger. Sie und ihr Mann hatten das Haus vor seinem Tod gebaut. Das wußte Shari, auch, daß Mabel ihre Freundin war, ihre einzige Bekannte am Ort. Denn Mrs. Wallace ging nicht in die Kirche und pflegte sonst keinen Umgang. »Wahrscheinlich meint sie, sie ist zu gut für uns Leute vom Land«, hatte sie Charlotte einmal sagen hören, als Lina laut überlegt hatte, warum Mrs. Wallace nicht in die Kirche ging. Sharis Eltern gingen aber auch nicht in die Kirche. »Sie ist eine Eigenbrötlerin«, hatte Lina gesagt. »Trotzdem benimmt sie sich irgendwie normal. Nicht verrückt oder sonstwie, meine ich.« Nach einer Weile kam Mrs. Wallace mit einer Tüte aus der Garage und ging ums Haus herum in den hinteren Teil des Gartens. »Komm«, flüsterte Peter, »wir wollen sehen, was sie macht.« Er kroch voran aus dem Schutz der Bäume und überquerte mutig das offene Gelände. Dann schlüpfte er zurück in den schützenden Wald. Shari folgte ihm zögernd und kauerte sich neben ihn. Von hier aus konnten sie genau sehen, was Mrs.
Wallace tat. Sie machte sich an einer Art Käfig zu schaffen. Zuerst glaubte Shari ihren Augen nicht zu trauen. Darin saß ein großer Vogel. Ihr Herz schlug schneller. Es war ein Vogel mit einem eckigen Kopf und krummem Schnabel. Vielleicht ein Habicht, dachte Shari. Aber bei genauerem Hinsehen entdeckte sie die schöne gesprenkelte Brust und erkannte an den rostfarbenen Rücken- und Schwanzfedern, daß es ein Sperber war. Mrs. Wallace streckte ihre Hand in den Käfig. Zum Schutz hatte sie einen ledernen Gartenhandschuh übergezogen. Sie warf etwas von der Größe einer Heuschrecke hinein, das der Sperber schnappte und schluckte. Er hob seine Flügel leicht an, als er sich auf seiner breiten Stange bewegte. Die Stange war ein alter Besenstiel, der rechts und links durch den Käfigdraht gesteckt war. Der Sperber hob und senkte den Schwanz immer wieder, als ob er sonst nicht das Gleichgewicht halten könnte, und Mrs. Wallace fuhr fort, den Inhalt einer Plastiktüte Stück für Stück in den Käfig zu werfen. »Das muß dir eine Weile genügen«, sagte sie zu dem Vogel. »Also, was meinst du, ist heute der große Tag da? Du kannst morgen zurückkommen und dir was zu essen holen, wenn es nötig ist.« Sie trat einen Schritt zur Seite und machte die Käfigtür weit auf. Der Sperber reckte den Kopf, hüpfte von der Stange auf den Boden und hüpfte weiter bis zur Türöffnung, breitete die Flügel weit aus und schwang sich ohne Zögern in die Luft. Mit wenigen Flügelschlägen hatte er den Garten überquert und verschwand im Wald. Mrs. Wallace schaute ihm nach und wartete, als müsse noch etwas geschehen. Peter schlug mit einer ungeduldigen Bewegung nach einer Mücke. Eine Minute verging. »Sieh mal«, flüsterte Shari. Der Sperber stieg aus dem Wald
auf. Schnell gewann er an Höhe und ließ sich von den Luftströmungen immer höher treiben. Ein schwarzer Schattenriß am hohen, blauen Himmel. Höher und höher kreiste er, bis er ihren Blicken entschwunden war. »Sie hat ihn freigelassen«, flüsterte Shari respektvoll. »Sie hat ihn geheilt und ihm dann die Freiheit zurückgegeben.« »Er wird nicht im Wald sterben wie Chirpy, nicht wahr?« fragte Peter. »Nein, er nicht. Er ist ein Sperber, Peter.« »Also was meinst du, ist sie nett?« »Ja, ich glaub sogar sehr.« »Willst du, daß ich sie jetzt anspreche?« »Das ist nicht nötig.« »Warum denn nicht?« Er kratzte seine Mückenstiche. Sie wußte, daß Peter sehr hungrig war, und beschloß, mit ihm zu Mabels Laden zu gehen und um etwas zu essen zu bitten. »Komm«, murmelte sie. »Wir müssen uns hier wegschleichen, ohne daß sie uns sieht.« »Aber du hast sie gar nicht wegen einer Belohnung gefragt.« »Das werde ich auch nicht tun.« »Willst du den Schwan behalten?« »Nein, ich leg ihn ihr morgen früh vor ihre Tür.« »Wie soll sie dann wissen, wem sie die Belohnung geben muß?« »Ich will keine Belohnung dafür, daß ich ihren Schwan gefunden habe.« Shari konnte es nicht genauer erklären, obwohl Peter sie verwirrt anschaute und immer wieder fragte, warum denn nicht. »Mama wird aber schimpfen«, warnte er sie. »Das ist mir egal. Außerdem kommt Zeke vielleicht morgen nach Hause, und dann vergißt sie's.« Auf dem Rückweg drehte sie sich noch einmal um. Mrs.
Wallace stand immer noch da, die Hände in die Seiten gestemmt, und schaute hinüber zur hohen Bergkette, die in ruhigen, grauen Wellen hinter den grünen Kämmen der näherliegenden Berge aufragte. Und Shari spürte, daß sie jemanden vor sich hatte, der dieselben Dinge liebte wie sie. Es war ein schönes Gefühl, das zu wissen. Jetzt war sie sicher, daß es richtig war, Mrs. Wallace den Kristallschwan zurückzugeben.
Viertes Kapitel
Denk bloß nicht, daß ich das vergesse, nur weil Zeke nach Hause kommt«, hatte Charlotte drohend gesagt, als sie entdeckte, was Shari mit dem Kristallschwan gemacht hatte. »Ich bring dir schon noch bei, daß du nicht tun und lassen kannst, was du gerade willst. Du meinst wohl, du brauchst nicht auf das zu hören, was ich dir sage? Aber wart's nur ab!« Diese vage Drohung tat Shari mehr weh, als wenn ihre Mutter sie zur Strafe geohrfeigt oder an ihren langen Haaren gezogen hätte, wie sie es manchmal tat. Diese Drohung weckte graue Bilder früherer Demütigungen. Da war die Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin gewesen, zu der Shari plötzlich nicht gehen durfte; die Puppe, die sie gegen ihren Willen mit ihren jüngeren Brüdern teilen mußte, die sie natürlich kaputt machten; das Kleid, das Charlotte zwei Nummern zu groß gekauft hatte und das Shari am ersten Schultag des letzten Jahres anziehen mußte. Shari traute sich nicht, den Keller zu verlassen. Charlotte hatte sie hinuntergeschickt, sie sollte die Wäsche sortieren und zusammenlegen. Das Wohnzimmer war so aufgeräumt, daß es fremd wirkte. Ohne die sonst herumliegenden Kleidungsstücke, Limonadedosen, Bücher und Spielsachen sah es nackt aus. An diesem Morgen hatte Charlotte allen Kindern Anweisung gegeben zu putzen und aufzuräumen. »Bringt ja nicht alles wieder durcheinander, bevor euer Vater nach Hause kommt. Und paßt auf, wenn ihr aufs Klo geht! Und daß mir
die Handtücher bis morgen sauber bleiben!« Charlotte hatte sich schon wieder eine neue Frisur mit vielen Locken machen lassen wie ein junges Mädchen. Und sie trug ein neues, tief ausgeschnittenes und eng anliegendes Kleid in Rosa. Ständig rannte sie in die Küche, wo sie für Zekes verspätete Geburtstagsfeier einen Apfelstrudel im Backofen hatte, und von der Küche wieder zum vorderen Fenster, um gemeinsam mit Peter Ausschau zu halten. An seinem ersten Tag zu Hause behandelte Charlotte Zeke immer wie einen Gast. Das war ein Spiel, bei dem alle gern mitmachten. Bis zu dem unvermeidlichen Augenblick, wenn Charlotte anfing, Zeke die Untaten aufzuzählen, die »seine« Kinder verbrochen hatten. Und was alles kaputtgegangen war und repariert werden mußte. Gewöhnlich versuchte Zeke, sie noch eine Weile hinzuhalten. »Also, Charlotte, überlaß das nur mir«, sagte er dann. »Beruhige dich, ich werd's schon machen.« Solange er zu Hause war, übernahm er die Verantwortung für die Erziehung, traf gerechte Urteile und verteilte milde Strafen. Solange er da war, war Charlotte besänftigt von den wohltuenden Geräuschen der Säge, des Hammers und der Axt. Sie war entspannt und gutmütig, mit Zeke sogar verspielt. Doch dann kam irgendwann ein Anruf, er müßte eine Ladung Apfel, Holz oder Beleuchtungskörper abholen und in Dubuque, Atlanta oder Chicago abliefern, wo bereits andere Waren auf ihren Transport in alle Himmelsrichtungen warteten. Manchmal war Zeke nur einige Tage weg, aber oft waren es Wochen. Shari konnte sich nicht mehr an die Zeit erinnern, als Zeke für eine Fleischverpackungsfirma in der Nähe gearbeitet hatte und jeden Abend nach Hause gekommen war. Damals war sie so alt wie Peter gewesen. Wenn Charlotte sehnsüchtig von
früher redete, sagte Zeke immer: »Fang doch nicht davon an, Schatz. Du weißt, daß wir dauernd knapp bei Kasse waren. Du hast mir ganz schön im Nacken gesessen.« »Nein, das stimmt nicht. Wie kannst du so was behaupten? Ich nörgle doch nie!« sagte Charlotte. Zeke lachte. »Ich wette, du würdest den ersten Preis der ganzen USA im Wett-Nörgeln gewinnen.« Er grinste, wenn sie explodierte, und schmeichelte ihr dann: »Mach dir nichts draus, du bist immer noch mein süßes Mädchen. Es ist alles in Ordnung. Ich weiß ja, du mußt es bei irgend jemandem rauslassen, und das bin eben ich. Ich will ja nur sagen, daß es uns jetzt besser geht. Und mehr Geld haben wir auch, oder nicht?« »Ja«, stimmte sie widerwillig zu, und damit war das Thema erledigt bis zum nächsten Mal. »Er ist da!« schrie Peter. Er sprang von seinem Aussichtsplatz, der Rückenlehne eines Sessels, und rannte zur Haustür. Aufregung lag in der Luft, und alle lachten. Walter und Doug, die Zeke an ihrem Stand aufgelesen hatte, beugten sich aus dem Fenster von der Fahrerkabine und winkten lachend. Das große Fahrerhaus mit den übergroßen Rädern sah ohne Anhänger verstümmelt aus. Zeke drückte auf seine lautstarke Hupe, so als ob er dem ganzen Tal seine Ankunft mitteilen wollte. Er parkte den Laster, sprang heraus, drückte Charlotte schwungvoll an sich und gab ihr einen langen Kuß. Peter sprang ungeduldig auf den breiten Rücken seines Vaters, während Zeke Charlotte in seinen Armen hin und her wiegte, als wollte er sie nie loslassen. Gegen seinen mächtigen Körper sah sie klein und mädchenhaft aus. »Freust du dich, daß du mich wiederhast? Freust du dich über deinen alten Mann?« fragte er sie grinsend. »Du großer alter Bär, du. Du hättest dich ruhig rasieren
können.« Aber er rasierte sich immer erst am Morgen nach seiner Ankunft. Das war eine Art Ritual für ihn, sich einen Vollbart wachsen zu lassen, solange er unterwegs war, und ihn erst zu Hause wieder abzurasieren. Nun nahm Zeke Peter mit einem Arm vom Rücken und hielt ihn wie ein Stück Fleisch, das abgewogen werden soll, in der Luft. »Du schaffst es schon noch, Kleiner. Bald bist du so groß wie deine Brüder.« »Was hast du mir mitgebracht?« fragte Peter. »Etwas zu essen?« Er bevorzugte eßbare Geschenke, Pekannüsse aus Georgia, Datteln und Feigen aus Kalifornien und Arizona, Früchtebrot aus den Südstaaten. Zeke brachte immer für jeden etwas mit. Zuletzt hatte er ihnen Mandelsteine aus der Wüste geschenkt, runde Steine, die innen vielleicht einen echten Kristallkern hatten. Shari hatte ihren Stein noch immer unversehrt in ihrem Zimmer liegen. Sie brachte es nicht über sich, die graue Schale zu zertrümmern. Ein andermal hatte Zeke ihr eine mit Glasperlen bestickte Indianerweste aus Rehleder mitgebracht, ein wunderbares Geschenk. Shari hatte überlegt, ob Zeke vielleicht wußte, daß sie gern eine Indianerin gewesen wäre. Bevor sie ihn jedoch danach fragen konnte, hatte Charlotte die Weste der Tochter einer Freundin geliehen, für eine Schulaufführung. Shari hatte sie nicht wieder zurückbekommen, obwohl sie ihre Schüchternheit überwunden und das Mädchen gebeten hatte, sie ihr wiederzugeben. »Du ruinierst ja mein neues Kleid«, quietschte Charlotte, als Zeke sie noch einmal an sich drückte. »Komm ins Haus, damit uns die Nachbarn nicht sehen. Dort ruiniere ich dein Kleid noch mehr«, sagte Zeke. Dann fiel ihm Shari ein. »Wo ist mein kleines Mädchen? Wo ist mein kleiner Schatz?« Shari stürzte aus der Eingangstür, fiel ihm in die Arme und
bekam einen Kuß. »Ich freu mich so, daß du zu Hause bist, Daddy«, sagte sie heiser. »Du, Dad«, sagte Doug, als er hinter Zeke ins Wohnzimmer kam, »am Wochenende ist ein Volksfest. Gehst du mit uns hin?« »Mal sehen. Erst muß ich mindestens eine Woche lang pennen und all den verlorenen Schlaf nachholen.« »Darf ich auch mit zum Volksfest, Daddy, bitte? Darf ich auch mitgehen?« bettelte Peter. »Wie lange bleibst du diesmal zu Hause?« fragte Charlotte, und bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Du hast meine neue Frisur gar nicht bemerkt. Gefällt sie dir?« »Sie ist schön. Du bist schön. Statt älter zu werden, wirst du immer hübscher.« Sie kicherte und lehnte sich an ihn. »Schmeichler! Freust du dich, daß du wieder bei mir bist nach so langer Zeit?« »Und ob ich mich freue«, sagte er und schnappte Peter mit beiden Armen. Er hielt ihn hoch und tat, als hörte er nicht, daß Peter schreiend verlangte, runtergelassen zu werden. »Na gut«, sagte er dann zu Charlotte. »Soll ich gleich abwaschen, oder gibst du mir zuerst ein Bier?« Er setzte Peter ab. »Ich lad dich in die Küche ein. Wir haben eine Überraschung für dich«, sagte sie. Besitzergreifend nahm sie seinen Arm und hängte sich bei ihm ein. »Hoffentlich bist du auch hungrig.« »Bin ich das nicht immer?« Mit seiner freien Hand tätschelte er Sharis Rücken, wie um ihr zu zeigen, daß er sie nicht vergessen hatte. Er ließ sich von seiner Frau in die Küche führen. Luftballons hingen von den Lampen, und der süße Zimtgeruch des Apfelstrudels erfüllte den Raum. Die kleinen Geschenke, die seine Kinder für ihn gebastelt oder gekauft hatten, lagen auf einem Haufen neben seinem Teller.
»Hier kommt die Überraschung. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« sagte Charlotte, und die Kinder gratulierten ihm auch. »Hab ich heute Geburtstag?« fragte Zeke. »Letzte Woche hattest du Geburtstag. Jetzt holen wir die Feier nach«, erklärte Doug geduldig. »Na, so was! Da bin ich ein ganzes Jahr älter geworden und hab es nicht mal bemerkt. Stell dir das vor!« Ohne daß er aufgefordert wurde, holte Doug für seinen Vater ein Bier und öffnete es. »Können Walt und ich auch eins haben, Paps?« »Ihr könnt einen Schluck von meinem trinken, weil wir feiern«, sagte Zeke und ließ sich mit einem übertriebenen Seufzer der Erleichterung auf seinen Stammplatz fallen. »Herrgott, ist das schön zu Hause«, sagte er. Peter drängte seinen Vater, er solle die Geschenke aufmachen, aber Zeke ließ sich Zeit. Er nahm die Päckchen in die Hand, roch daran, schüttelte sie und riet, was darin sein könnte, bis seine Familie vor lauter Spannung ganz wild darauf wurde, daß er sie öffnete. Obwohl doch alle genau wußten, was die einzelnen Päckchen enthielten. Charlotte hatte ihm eine neue Windjacke gekauft, weil er seine alte in irgendeiner Wirtschaft vergessen hatte. Walt und Doug hatten zusammengelegt und Munition für sein Jagdgewehr gekauft. Peter schenkte ihm eine Zigarre, obwohl Zeke gar nicht rauchte. Und in Sharis Päckchen waren weiche, selbstgemachte Schokokaramellen. »Süßigkeiten von meinem kleinen Mädchen?« sagte Zeke. »Was Besseres kann ich mir nicht vorstellen.« »Weißt du, was dein süßes kleines Mädchen angerichtet hat?« fragte Charlotte und durchbrach damit zum allerersten Mal die Verabredung, daß am ersten Tag nicht gestritten wurde. Die Geburtstagsfeier war zu Ende, ehe sie
angefangen hatte. »Weißt du, was sie angerichtet hat?« wiederholte Charlotte, ohne Shari anzuschauen, die bei diesem unerwarteten Wutausbruch ihrer Mutter zu zittern anfing. »Mußt du mir das wirklich jetzt erzählen?« fragte Zeke lasch und zeigte damit, daß er überhaupt nicht hören wollte, was Shari getan hatte. »Nur, damit du nicht zu nett zu dem hochnäsigen Gör bist. Sie ist sich zu fein, schnelles Geld zu machen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. Sie glaubt wohl, wir wären reich oder so etwas.« »Sie ist reich«, sagte Zeke. »Sie hat alles, was sie braucht, einschließlich einer liebevollen Familie, oder nicht?« »Ein bißchen Geld extra kann nie schaden«, meinte Charlotte. »Wie auch immer, warum verteidigst du sie, bevor du überhaupt gehört hast, was passiert ist?« »Und warum fängst du jetzt damit an, bevor ich die Gelegenheit hatte, mich zu entspannen und mich wieder an meine Familie zu gewöhnen? Oder brauchst du mich nur zu Hause, damit ich mir deine Klagen anhöre?« Sein Ärger bremste Charlotte schlagartig. Ihre Stimme klang dünn, als sie Zeke fragte: »Willst du dein Steak durchgebraten wie immer?« Nun war es an ihm, einzulenken. »Ach komm, laß uns doch nicht streiten, Charlotte«, bat er. »Wir wollen...« Sie funkelte ihn an. »Immer nur das, was du willst. Glaubst du etwa, es ist leicht, hier allein mit den Kindern Tag und Nacht, Woche um Woche? Meinst du, mir geht's so gut?« Zeke seufzte und trank sein Bierglas in zwei Schlucken leer. »Also gut«, sagte er zu seiner Tochter. »Wie hast du uns um ein Vermögen gebracht, Shari-Baby?« Tonlos erzählte sie es ihm. »Ich hab etwas gefunden, und Mama dachte, ich könnte eine Belohnung dafür bekommen,
aber ich habe es Mrs. Wallace zurückgegeben und nichts dafür verlangt. Mama hat gesagt, ich müßte es zurückgeben.« »Was war es?« »Ein Glasvogel. Er war wirklich schön.« »Er war aus Kristall. Ich hab einen ähnlichen im Geschenkladen gesehen, im Einkaufszentrum, er hat ein kleines Vermögen gekostet«, fügte Charlotte hinzu. »Und was hat Mrs. Wallace gesagt, als du ihn ihr zurückgegeben hast, Shari?« fragte Zeke, nachdem sie eine Weile schweigend ihre Steaks gegessen hatten. Shari senkte den Kopf. »Nichts. Ich hab ihn heute morgen vor ihre Tür gelegt und mich im Wald versteckt, bis sie herauskam.« »Warum hast du dort gewartet?« »Ich wollte ihr Gesicht sehen. Sie hat so glücklich ausgesehen, Daddy. Und ich hab gehört, wie sie sagte: ›Wie, um alles in der Welt, ist das wieder zurückgekommen?‹« »Aber du warst zu schüchtern, um mit ihr zu reden?« Shari zuckte mit den Schultern und widersprach ihm nicht. Es stimmte, ihre Schüchternheit hatte eine Rolle gespielt. Das war ein Teil der Wahrheit. Aber da war noch etwas. Sie hatte das Gefühl, daß der Schwan seinen Reiz verloren hätte, wenn sie für das Zurückgeben an die rechtmäßige Eigentümerin Geld verlangt hätte. Sie wünschte, sie könnte sich Zeke verständlich machen. »So ein Quatsch«, sagte Charlotte. »Sie wollte mich nur ärgern, das war alles. Egal, um was ich sie bitte, sie weigert sich, es zu tun. Du glaubst, sie wäre so lieb, aber du siehst nicht, wie sie ist, wenn du nicht da bist.« »Ich mach alles, was du mir sagst«, protestierte Shari. »Ich mach wirklich alles.« »Nun gut«, sagte Zeke. »Wenn es so weitergeht, ruf ich die
Spedition an und frag, ob sie nicht eine Fuhre für mich haben. Diese Zankerei ertrag ich nicht.« »Warum sagst du ihr dann nicht, sie soll den Mund halten?« zischte Charlotte. Sie lief rot an und sah nicht mehr schön aus. »Auf wessen Seite stehst du eigentlich? Auf meiner oder der von den Kindern? Überall im Land trinkst du Bier mit deinen Kumpeln, und dann kommst du nach Hause und stehst mir noch nicht mal bei! Du läßt mich hier allein mit den Kindern, die dauernd irgendwas anstellen und nicht gehorchen wollen. Meinst du, das ist lustig, allein an diesem Ort, in diesem Rattenloch?« Die Feier zu seiner Heimkehr endete, bevor sie überhaupt ein Stück Apfelstrudel gegessen hatten. Zeke versuchte, Charlotte zu beruhigen und ihr wieder gute Laune zu machen. Sie sei ein Schatz, sagte er, und natürlich verstehe er, wie schwer sie es habe, wenn er so lange weg sei. Sie sei eine wunderbare, tapfere Frau, und ob sie nicht endlich das Geschenk sehen wolle, das er ihr mitgebracht hatte. Ob sie nicht mit ihm hinaufgehen wolle? Die Kinder könnten den Abwasch machen. Er würde sie ja auch morgen noch sehen. Die beiden waren nicht wieder heruntergekommen. Doug schlief vor dem Fernseher ein, Walter vertiefte sich in ein Buch. Und Peter fragte ständig, wann sie endlich Apfelstrudel essen würden. »Das geht nicht, erst muß Zeke sein Stück essen«, sagte Shari und meinte schließlich, jetzt sei es für Peter Zeit, ins Bett zu gehen. Er schlief schon halb und quengelte, als sie ihn vor die Kloschüssel stellte und aufpaßte, daß er hinein und nicht an die Wand zielte. Dann überredete sie ihn, Gesicht und Hände zu waschen und die Zähne zu putzen. Sie brachte ihn ins Bett, deckte ihn zu, gab ihm einen Gutenachtkuß und ging in ihr Zimmer.
Das Quietschen der Bettfedern und Charlottes leises Lachen drangen durch die dünne Wand zu Shari herüber. Sie wußte aus Erfahrung, daß sich die Eltern bis zum nächsten Morgen versöhnt hatten. Als sie im Bett lag und auf die nächtlichen Geräusche von draußen lauschte, fragte sie sich, ob es Charlotte reichte, daß sie Zeke alles erzählt hatte, oder ob noch eine Strafe folgen würde, weil Shari keine Belohnung verlangt hatte. Bei Charlotte wußte man nie, Kleinigkeiten brachten sie in Wut, während sie über ernstere Sachen hinwegsehen konnte. Vielleicht hatte Zeke Zeit für die Kinder, wenn er Charlottes Auto repariert hatte und bevor sie ihn zur Sickergrube hinten im Garten schickte, die schon zu stinken anfing. Vielleicht nahm er sie alle mit zum Schwimmen im See oder zu dem Volksfest, von dem Doug erzählt hatte. Es war immer besser, wenn Zeke zu Hause war. Wahrscheinlich wäre er nicht böse auf Shari, und mit ein bißchen Glück hatte sie ihn vielleicht sogar einen Augenblick lang ganz für sich.
Fünftes Kapitel
Zwei Tage lang arbeitete Zeke an Charlottes Auto. Er ersetzte eine Zylinderkopfdichtung und stellte die Zündung neu ein, während Shari und Peter ständig dicht hinter ihm standen. Sie brachten ihm Lappen, mit denen er die öligen Motorteile abwischte, und Bier, um seinen Durst zu löschen. »Glaub ja nicht, daß ich mit dir fertig bin«, hatte Charlotte gedroht, aber Shari ließ sich dadurch nicht davon abhalten, Zekes Anwesenheit zu genießen, die kleinen Umarmungen oder die Art, wie er mit seinen öligen Fingerknöcheln gelegentlich ihren Rücken massierte. Einmal, als die Temperatur auf über dreißig Grad stieg und Zeke der Schweiß nur so runterlief, obwohl er im Schatten der Bäume arbeitete, richtete Shari den Gartenschlauch auf ihn. »Und ich?« fragte Peter prompt, und Zeke lachte, als Shari daraufhin beide naßspritzte. »Diesmal muß er aber laufen«, verkündete Zeke nach dieser Dusche zum fünftenmal. »Los, Peter, laß den Motor an!« Sie lachten, als der Motor hustend ansprang und weiterlief. »Hab ich's nicht gesagt«, rief Zeke glücklich. »Gebt mir Werkzeug und Zeit, und ich krieg jeden Karren hin!« »Warum machst du keine Werkstatt auf?« fragte Shari. »Dann könntest du die ganze Zeit bei uns zu Hause sein.« Sie wußte, daß er vor seiner Hochzeit in einer Werkstatt gearbeitet hatte. »Das wäre schön, aber um eine Werkstatt aufzubauen, braucht man Geld. Und selbst wenn ich für den Anfang genug
hätte, gäbe es noch immer keine Garantie, daß ich dann auch genug verdiene für uns alle.« Die Werkstatt, in der Zeke gearbeitet hatte, war schon vor langer Zeit geschlossen worden, weil sie nichts eingebracht hatte. »Wir könnten dir helfen«, sagte Peter eifrig. »Wir kosten dich nicht viel.« Zeke fuhr Peter über den Kopf und sagte: »Du und Shari, ihr seid bestimmt gute Helfer, aber trotzdem behalte ich lieber die Arbeit, die ich habe. Viele Männer in diesem Land wären froh, wenn sie meinen Job hätten.« »Zeke«, sagte Shari und griff nach seiner Hand, als sie auf das Haus zugingen, »was muß man machen, wenn man Pilot werden will? Jet-Pilot, meine ich.« »Pilot? Wer will das werden?« »Ich.« »Du?« Er blieb stehen und starrte sie an. »Wie kommst du auf die Idee, Shari? Wer hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?« Sie zuckte zusammen, weil sie die plötzliche Spannung in seiner Stimme spürte, und zog ihre Hand aus seiner, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, weshalb Zeke böse auf sie sein könnte. »Ich bin ganz allein auf die Idee gekommen. Ich würde gerne... Es ist eben das, was ich werden möchte, Daddy. Was ist denn dabei?« Einen Augenblick starrte Zeke sie an, als sähe er sie gar nicht. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf, als kehre er langsam in die Wirklichkeit zurück. »Ach, das mußt du verstehen, ich kannte mal einen, der war Pilot. Ich konnte den Kerl nicht leiden, und da ... Aber nun zu dir. Wenn du Pilot werden willst, kostet das eine Menge Geld. So viel haben wir einfach nicht. Schlag dir das lieber aus dem Kopf.« Sie betraten gerade das Haus und Zeke sagte leise zu Shari: »Merk dir eins, sag niemals ein Wort zu deiner Mutter, daß du Pilot werden willst. Klar?«
Shari nickte, ohne weiter zu fragen. Erst viel später erinnerte sie sich daran, daß Peter Charlotte bereits von ihrem Wunsch zu fliegen erzählt hatte. Sie fragte sich, wer der Mann sein mochte, den Zeke nicht leiden konnte. Hatte Charlotte ihn auch gekannt? Beim Abendessen verkündete Zeke: »Morgen fahren wir zum See und auf dem Rückweg vielleicht noch zum Volksfest. Doug, häng ein Schild an deinen Gemüsestand, daß du angeln gegangen bist. Keine Widerrede. Du bist bereits jetzt der reichste Zwölfjährige im ganzen Ort.« Am nächsten Morgen kam Shari in ihrem pfefferminz-rosa gestreiften Badeanzug die Treppe herunter. Zeke fand sie in diesem Badeanzug ganz besonders hübsch, das wußte sie. Charlotte sagte: »Du hast dich umsonst fertig gemacht. Du bleibst hier.« Shari blieb kurz vor dem Frühstückstisch stehen. »Warum denn?« »Hast du gedacht, du kommst so leicht davon? Ich hab dir doch gesagt, daß ich dir eine Lektion erteile, oder nicht?« sagte Charlotte. »Nächstes Mal tust du dann vielleicht, was ich dir sage.« Shari schaute zu ihrem Vater, der sich über seinen Teller mit Eiern beugte. »Daddy?« fragte sie. Er hob den Kopf, schaute sie schuldbewußt an und murmelte: »Das ist eine Sache zwischen dir und deiner Mutter, Shari. Sie hat das Sagen, wenn ich unterwegs bin. Wenn sie dich für das, was du getan hast, strafen will, kann ich mich nicht einmischen.« Wortlos ging Shari zurück in ihr Zimmer und warf sich auf ihr Bett. Vor Wut zerdrückte sie das Kopfkissen. Was hatte sie denn so Schreckliches getan? Nur weil sie keinen Finderlohn für den Kristallschwan verlangt hatte, nahm Charlotte ihr das
größte Vergnügen des Sommers. Das war so gemein, so ungerecht - das war einfach fies. Shari zitterte noch vor Enttäuschung, als sie das hustende Geräusch des Motors hörte, das in ein regelmäßiges Brummen überging. Sie waren fort. Plötzlich empfand Shari keinen Ärger mehr. Zeke hatte sie alleingelassen. Lustlos lag sie auf dem Bett, und die Stille des leeren Hauses hüllte sie ein. Im Baum vor ihrem Fenster zwitscherten Vögel. Nach einer Weile holte sie tief Luft und stand auf. Es war sinnlos, an einem Sommertag im Bett herumzuliegen. Und außerdem wollte sie nachsehen, ob nicht wenigstens Peter ein Zeichen für sie dagelassen hatte, wie leid es ihm tat, daß sie nicht mit durfte. Sie ging die Treppe hinunter. Nichts in der Küche, nichts im Wohnzimmer. Auf dem Hof nur Peters Planschbecken aus Plastik. Er war einfach abgefahren, ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden. Auch er hielt nicht zu ihr. Aber er war ja erst sechs. Was Zeke anging, so wußte sie, daß er Charlotte beschwichtigen mußte. Das kam letztlich auch ihr zugute. Wenn er früher für Shari Partei ergriffen hatte, hatte Charlotte es ihr doppelt zurückgezahlt, wenn er wieder unterwegs war. Und von Doug und Walter konnte sie nichts erwarten, sie interessierten sich nur für sich selber. »Schluß mit dem Grübeln«, sagte Shari laut. Sie wollte sich nicht den Rest des Tages mit dem Gefühl verderben, ungerecht behandelt worden zu sein. Es wäre dumm, wenn sie sich weiter bedauern würde, wo sie doch noch etwas aus diesem Tag machen konnte. Es gab ja noch den Wald. Ohne Peter, auf den sie sonst Rücksicht nehmen mußte, konnte sie jetzt herumklettern und neue Plätze entdecken. Plötzlich erinnerte ihr knurrender Magen sie daran, daß sie noch nicht gefrühstückt hatte. Das war das erste, was sie tun mußte, essen.
Weil es zu gefährlich war und weil sie die Knallerei haßte, ging sie während der herbstlichen Jagdsaison nicht weit in den Wald hinein. Außerhalb dieser Zeit traf sie fast nie jemanden auf ihren einsamen Streifzügen. Deshalb erschrak sie, als sie eine gedrungene Gestalt in Jeans und lockerem Hemd sah, hoch oben auf dem Berg, weit entfernt von jedem Weg. Shari versteckte sich hinter einem Baum, von wo aus sie alles beobachten konnte, ohne selber gesehen zu werden. Es war schwer zu sagen, ob die Person, die mit einem Fernglas den Himmel absuchte, ein Mann oder eine Frau war. Aber an der Kappe aus weißen Haaren erkannte sie Mrs. Wallace. Warum kletterte sie hier oben herum? fragte Shari sich. Kannte sie etwa auch den Felsvorsprung, den Shari Adlerthron nannte? Plötzlich sagte Mrs. Wallace: »Da ist er!« Als sie das Fernglas wieder an ihre Augen hob, kam Shari hinter dem Baum hervor und konnte hinunter ins Tal schauen. Ganz sicher, es war ein Adler. Er hatte sein Nest in einem kahlen Baum, der direkt aus der Felswand zu wachsen schien. Nun kreiste er weit oben in der Luft, schwebte auf seinen mächtigen, weit ausgebreiteten Flügeln. Shari beobachtete ihn ehrfürchtig. Sie hatte über Adler in einem Vogelbuch nachgelesen, das sie in der Bücherei bei den Nachschlagewerken gefunden hatte. An seiner Größe und den weit ausladenden, flachen, weit gefingerten Schwingen erkannte sie, daß es sich um einen Weißkopfadler handeln mußte. Am liebsten hätte Shari sofort mit Mrs. Wallace über den Adler gesprochen. Mrs. Wallace nahm eine Kamera hoch, die sie an einem Lederband um den Hals hängen hatte, und sagte laut: »Verdammt, das Licht ist nicht gut.« Sie ließ die Kamera sinken und stand einfach da und schaute. Das wäre für Shari der passende Augenblick zum Weglaufen gewesen, aber sie zögerte, und als Mrs. Wallace sich umdrehte,
entdeckte sie sie. »Großer Gott«, rief Mrs. Wallace aus. »Einen Moment lang habe ich tatsächlich gedacht, du wärst der Geist eines Indianers, der in sein altes Jagdgebiet zurückgekehrt ist. Was tust du denn hier oben, Kind?« »Klettern.« »Ganz allein?« »Ja.« »Nun, schön zu wissen, daß ich nicht die einzige bin, die verrückt genug ist, allein in den Bergen herumzulaufen. Hast du eben den Adler gesehen?« »Ja. Ich weiß, wo er sein Nest hat.« »Tatsächlich?« Mrs. Wallace war ehrlich beeindruckt. »Kannst du dir vorstellen, daß ich nur aus diesem Grund hier heraufgeklettert bin? Nur, um sein Nest zu fotografieren. Ich hab gedacht, meine Enkelinnen würden sich über ein solches Foto freuen. Natürlich hätte ich auch gern selbst ein Bild. Könntest du ihn etwa dazu bringen, herzukommen, um mir Modell zu stehen?« Shari lächelte. »Nein, aber ich könnte Ihnen zeigen, wo sein Nest ist.« »Das wäre prima. Aber kommt denn überhaupt eine übergewichtige, nicht besonders bewegliche ältere Person wie ich nah genug an das Nest heran?« Shari überlegte. »Nah genug, um es zu fotografieren.« »Führ mich hin«, sagte Mrs. Wallace entschlossen. »Wie heißt du eigentlich?« »Shari.« »Das ist ein hübscher Name. Ich bin Eve Wallace.« »Ich weiß.« »Tatsächlich?« Shari nickte. Aber sie war zu verlegen, um Mrs. Wallace zu erzählen, woher sie sie kannte.
»Ich vergesse immer wieder, daß alle Einheimischen mich kennen, auch wenn ich sie nicht kenne. Das ist neu für jemanden wie mich, der nicht daran gewöhnt ist, in einer kleinen Stadt zu wohnen. Du bist von hier, nicht wahr?« »Ja«, sagte Shari. Sie machte keine weiteren Angaben, und Mrs. Wallace bohrte auch nicht weiter. Shari ging voraus. Sie hielt für Mrs. Wallace die Zweige zur Seite und wählte den leichtesten Aufstieg zum Adlerthron. »Du kennst dich ja gut im Wald aus«, sagte Mrs. Wallace bewundernd, als sie eine Verschnaufpause einlegten. »Ich bin gern im Wald«, sagte Shari und zeigte auf den Baum, der einen Arm über das Tal ausstreckte. In einer Gabel zwischen den beiden dicksten Ästen war das Adlernest, aus Zweigen gebaut und groß wie eine Spülschüssel. »Dafür hast du was gut bei mir«, sagte Mrs. Wallace und fing sofort an zu fotografieren. »Mein Mann war früher der Familienfotograf. Das ist seine Kamera, viel zu kompliziert für eine Anfängerin wie mich. Aber ich lerne es schon noch.« Sie machte aus verschiedenen Blickwinkeln Aufnahmen, bevor sie die Kamera in ihrer Tasche verstaute. »Bist du auch eine Ornithologin, Shari?« »Wie bitte?« »Beobachtest du oft Vögel?« »O ja.« »Hast du irgendwelche interessanten Vögel entdeckt, außer diesem Adler?« »Ich kann mir ihre Namen nicht so gut merken«, sagte Shari. »Ich versuche immer, in einem Buch nachzuschlagen, wie die Vögel heißen, die ich gesehen habe. Aber manchmal hab ich die Kennzeichen längst vergessen, wenn ich dann in der Bücherei bin.« »Hast du denn keinen Vogelführer?«
»Nein.« »Hättest du gern einen? Ich hab einen übrig. Der Umschlag ist abgenützt, aber sonst ist das Buch noch gut zu gebrauchen. Ich möchte dir nämlich etwas schenken, weil du mir das Nest gezeigt hast.« »Das brauchen Sie aber nicht.« »Weißt du was? Ich bring das Buch zu Mabel in den Laden. Du kannst es dir dort ausleihen, es behalten oder zurückgeben, ganz wie du willst. Du kaufst doch auch bei Mabel ein, nicht wahr? Mabel ist eine Freundin von mir.« »Ich weiß.« Mrs. Wallace lachte. »Das ist nicht gerecht, daß du so viel von mir weißt und ich gar nichts von dir«, sagte sie. Diese Aufforderung, etwas über sich selbst zu erzählen, beunruhigte Shari. Sie schaute zu Boden. Mit Mrs. Wallace hatte sie jetzt schon mehr geredet als mit irgendeinem anderen Erwachsenen, den sie gerade erst kennengelernt hatte. »Weißt du was«, sagte Mrs. Wallace, »ich brauche eine Führerin, die mich hier herausbringt. Ich hab keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen muß, außer bergab.« »Kommen Sie mit«, sagte Shari. »Kannst du mich bis in die Nähe von Mabels Laden bringen? Dort hab ich mein Auto stehen. Mabel war es übrigens, die mir von dem Adler erzählt hat. Von meinem Haus aus kann ich dieses Tal nicht sehen.« Shari nickte und schlug eine andere Richtung ein, den Berg hinunter. Sie gingen auf die Ländereien der Bravermans zu. Die hatten bestimmt nichts dagegen, wenn zwei Eindringlinge ihre verwilderten Felder überquerten, und dieser Weg war am leichtesten zu gehen. »Wenn du irgendwann eine Empfehlung als Bergführerin haben möchtest, brauchst du nur mich zu fragen«, sagte Mrs.
Wallace, als sie aus dem Wald auf einen alten Feldweg hinaustraten. »Früher stand hier ein Haus«, sagte Shari, um von dem Kompliment abzulenken, das sie trotzdem gern gehört hatte. »Es hat den Bravermans gehört. Ihr Großvater hat hier gewohnt, aber das Haus ist vor fünf Jahren abgebrannt.« Im zähen Feldgras um sie herum erklang das anhaltende rauhe und monotone Zirpen der Riesenheuschrecken. »Da, schauen Sie!« Shari zeigte auf das Gebäude, dessen Dachstuhl verkohlt war. Die Eingangstür hing schief in den Angeln. Dahinter war eine steile Treppe zu sehen. »Muh«, machte eine Kuh klagend. »Muuuuh.« Drei blonde Köpfe tauchten plötzlich hinter einer Brombeerhecke auf. »Da brüllt sie wieder, Sue Ellen«, piepste eine schrille Stimme. »Sie muß hier irgendwo in der Nähe sein.« »Ob sie vielleicht im Haus ist?« fragte die Zwillingsschwester des ersten Mädchens. Sie waren acht Jahre alt und blond. »Die alte Kuh paßt doch nie im Leben durch die Tür«, sagte Sue Ellen. Dann stemmte sie ihre Hände in die Hüften und sah die steile Treppe hinauf. »Das kann doch nicht wahr sein! Seht euch mal an, wo die blöde Kuh gelandet ist!« Die drei Braverman-Mädchen hatten Shari und Mrs. Wallace nicht bemerkt, weil die Brombeerhecke sie verbarg. Und als Mrs. Wallace rief: »Braucht ihr Hilfe?«, duckte sich Shari. Sie war früher mit Sue Ellen befreundet gewesen, aber jetzt nicht mehr. Sie gingen in dieselbe Klasse. Sue Ellen war trotz ihrer weiblichen Formen erst dreizehn, genau wie Shari. Da Mrs. Wallace einfach auf das Haus und die drei Mädchen zuging, blieb Shari nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Sue Ellens Augen verengten sich, als sie Shari kommen sah. »Was machst du denn hier?« fragte Sue Ellen. »Shari will mich zur Straße zurückführen«, sagte Mrs. Wal-
lace. »Können wir euch helfen?« »Die dumme Kuh ist irgendwie die Treppe hinaufgelaufen, und jetzt weiß sie nicht, wie sie runterkommen soll.« Eine Weile betrachteten sie ratlos die Kuh, die zu ihnen herabschaute. Von Zeit zu Zeit machte sie ihr großes Maul auf und muhte ihre Hilflosigkeit heraus. Sie wirkte so komisch da oben auf der Treppe, daß Mrs. Wallace grinste. Shari mußte auch lächeln. »Das ist überhaupt nicht witzig«, sagte Sue Ellen scharf. »Das ist eine wertvolle Kuh. Und wenn sie sich ein Bein bricht, krieg ich die Schuld.« »Also los, der Kuh muß geholfen werden, nur wie?« Mrs. Wallace wurde wieder ernst. »Sie könnten meiner Mutter Bescheid sagen, damit sie entweder meinen Vater oder die Feuerwehr ruft.« Sue Ellens Ton war unfreundlich. »Ohne Hilfe bekommen wir die Kuh hier nicht raus.« »In Ordnung«, sagte Mrs. Wallace. »Shari, kennst du den Weg zu dem Haus?« »Natürlich kennt sie ihn«, sagte Sue Ellen. Shari drehte sich wortlos um, Mrs. Wallace folgte ihr. Der Platz war voller verrosteter Maschinen und Glasscherben. Der niedergetretene Stacheldrahtzaun zeigte, wo die Kuh ausgebrochen war. Als hinter ihnen das Brüllen des Tieres leiser wurde, fragte Mrs. Wallace: »Ist das Mädchen eine Freundin von dir, Shari?« »Nicht mehr«, antwortete Shari. Wieder bohrte Mrs. Wallace nicht nach. Sie überquerten die Weide, gingen vorbei an Wacholdersträuchern, auf den entfernt liegenden Bauernhof zu. Die Geschichte ist zu kompliziert, dachte Shari. Sie hatte keine Lust, sie Mrs. Wallace zu erzählen. Schon als junge Mädchen hatten sich Charlotte und Sue Ellens Mutter verfeindet.
»Dieses Weib ist eine Klatschtante, die ihre Nase überall hineinsteckt«, hatte Charlotte gesagt, als Shari zur Schule kam. »Schau zu, daß du mit ihrer Tochter nichts zu tun bekommst. Ich will sie in unserem Haus nicht sehen, und ich will auch nicht, daß du zu ihr gehst.« Aber eines Tages hatte Sue Ellen in der Pause zu ihr gesagt: »Hör mal, nur weil unsere Mütter sich nicht leiden können, muß das doch noch lange nicht heißen, daß wir keine Freundinnen sein können. Shari, wir wollen Freundinnen werden. Es braucht ja keiner außer uns zu wissen.« Shari gefiel die Idee, eine heimliche Freundschaft zu haben. Von da an war sie oft mit Sue Ellen zusammen. Oft trafen sie sich im Haus von Sue Ellens Großvater und spielten. Diese gestohlenen Stunden waren schön, und es war auch nicht so wichtig, daß Shari und Sue Ellen sich nicht für genau dieselben Dinge interessierten. Wenn sie Sue Ellen zuhörte, hatte Shari das Gefühl, an der großen Welt teilzuhaben, zu der Sue Ellen gehörte. Und sie war froh, daß sie eine Freundin hatte. In der dritten Klasse hatte Sue Ellen angefangen, sich für Kleider und Jungen zu interessieren. Sie erzählte gern ihren Traum vom Heiraten und Kinderkriegen und daß sie ein Himmelbett und einen Swimmingpool haben wollte. Dann hatte Sue Ellen eines Tages blaue Flecken auf Sharis Armen entdeckt. »Ich wette, das war Zeke«, hatte sie gesagt. Als Shari das entsetzt bestritt, sagte sie: »Dann also Charlotte. Es war doch deine Mutter, oder?« »Du darfst es niemand sagen«, bat Shari eindringlich. Und Sue Ellen versprach feierlich, daß kein Wort über ihre Lippen komme. Aber ein paar Tage später merkte Shari, daß es alle Mädchen in ihrer Klasse wußten. Sie spürte, wie hinter ihrem Rücken
getuschelt wurde, daß ihre Mutter sie geschlagen hatte. Eins war sicher, Sue Ellen war keine Freundin. Shari fing an, ihr aus dem Weg zu gehen. Sue Ellen tat so, als wäre es ihr egal. Sie hatte sich mit einem älteren Mädchen angefreundet, das neuerdings in der Nähe wohnte, also brauchte sie Shari sowieso nicht mehr. Aber das andere Mädchen war bald wieder weggezogen, und Sue Ellen versuchte, ihre frühere Freundschaft zu Shari wiederzubeleben. Als Shari sich ihr gegenüber kühl verhielt, wurden sie Feinde. Bis jetzt waren sie Feinde geblieben. Mrs. Wallace ging allein ins Haus, um Mrs. Braverman zu benachrichtigen. Shari wartete draußen. Dann machten sie sich wieder auf den Weg zur Straße. »Das war vielleicht ein komischer Anblick, was?« sagte Mrs. Wallace. »Schade, daß wir nicht sehen können, wie sie die Kuh wieder herunterholen.« »Ich möchte wissen, warum sie die Treppe hinaufgestiegen ist«, sagte Shari. »Vielleicht aus Neugier«, meinte Mrs. Wallace. »Eine Kuh?« »Wahrscheinlich nicht. Obwohl ich annehme, daß die meisten Tiere in irgendeiner Form neugierig sind. Na ja, jedenfalls verstehe ich, warum dieses Mädchen nicht deine Freundin ist. Sie ist so liebenswürdig wie die Dornen an einem Brombeerstrauch.« Shari lachte und widersprach nicht. Aber sie lehnte das Angebot von Mrs. Wallace ab, sie zu einer Limonade oder einem Eis einzuladen, als sie Mabels Laden erreichten. Sie sagte, sie müsse nach Hause, und das stimmte auch. »Also, Shari, du hast meinem Tag einen Sinn gegeben«, sagte Mrs. Wallace. »Ich werde Mabel das Vogelbuch für dich geben. Und wenn du mal bei mir in der Nähe bist, schaust
du hoffentlich bei mir herein.« Shari nickte, winkte und rannte davon. Sie war überzeugt, daß Mrs. Wallace das alles nur aus Höflichkeit gesagt hatte. Es wäre schön, sie zu besuchen, aber Shari glaubte nicht, daß sie es jemals tun würde. Von dem Ausflug brachte Peter Shari eine ungeöffnete Tüte Kartoffelchips und eine Tafel Schokolade mit. Für einen Jungen, der Essen so schätzte wie er, waren das Liebesgeschenke. Sie verzieh ihm sofort. »Ich hab mir auch einen schönen Tag gemacht«, erzählte sie ihm. »Ich bin zum Adlerthron hinaufgestiegen.« »Ohne mich?« fragte er, als sei sie diejenige, die ihn verlassen hatte. Am nächsten Tag regnete es, und Zeke fuhr mit ihnen nach Rutland, wo Charlotte neue Schulkleidung für sie kaufte. Während sie mit den Jungen Hemden aussuchte, ging Zeke mit Shari zur Mädchenabteilung. »Du darfst dir was wünschen, Schatz. Du suchst aus, und ich bezahle«, sagte er. Er wollte wiedergutmachen, daß sie gestern nicht mit zum See gedurft hatte, und sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Eigentlich war es ihr egal, was sie anhatte. Sie war damit zufrieden, daß Charlotte die Sachen für sie aussuchte. Mit Ausnahme des einen Kleides, das sie zwei Nummern zu groß gekauft hatte und in dem Shari sich so häßlich vorkam. »Sonst kauft Mutter immer die Sachen für mich«, sagte Shari und betrachtete die verwirrende Auswahl an Blusen, Hemden, Hosen, Kleidern und Röcken. Wo sollte sie da anfangen zu suchen? Sharis Reaktion verwirrte Zeke. »Ich möchte dir etwas ganz Besonderes kaufen«, drängte er. Shari drückte seine Hand. »Das einzige, was ich mir wirklich
wünsche, ist ein Vogel«, sagte sie. »Und ich weiß, daß du mir den nicht kaufen kannst.« »Ich könnte schon, Shari, aber wenn ich es täte, kriegte ich die größten Schwierigkeiten mit deiner Mutter, das weißt du doch. Aber paß auf, von meiner nächsten Fahrt bring ich dir etwas ganz Besonderes mit«, versprach er. Noch einmal so eine hübsche, mit Glasperlen bestickte Indianerweste wie die damals, die Charlotte weggegeben hatte? Aber jetzt würde Shari so etwas Ausgefallenes nicht mehr anziehen. Bestimmt nicht. Sie wollte auf keinen Fall durch ihr Aussehen auffallen. »Ich brauche nichts«, sagte sie. »Ist schon gut, Daddy.« »Du bist ein braves Mädchen«, sagte Zeke. »Das beste Mädchen, das sich ein Vater wünschen kann.« Dieses Kompliment war besser als irgend etwas, das er ihr hätte kaufen können. Den ganzen Nachmittag über war sie glücklich.
Sechstes Kapitel
Am Tag bevor Zeke weg mußte, kam er zum Mittagessen in die Küche und verkündete fröhlich: »Scheint, als würde Shari doch noch eine Belohnung dafür bekommen, daß sie der Frau ihr Eigentum zurückgebracht hat.« »Was meinst du damit?« fragte Charlotte. Sie schnitt gerade Sellerie für den Thunfischsalat. »Ich hab doch eben Zigaretten für dich geholt, und da sagte mir Mabel, Mrs. Wallace hätte eine Schachtel für Shari abgegeben.« »Hast du sie mitgebracht?« fragte Charlotte. »Nein, du kennst Mabel doch. Alles geht immer nach ihrem Kopf. Sie will, daß Shari ihr Geschenk selbst abholt.« »Kann ich mit dir gehen?« fragte Peter und leckte sich schnell seinen Milchbart ab. »Natürlich kannst du.« »Aber erst wird gegessen«, sagte Charlotte. Shari rätselte, wie Mrs. Wallace wohl herausgefunden hatte, wer ihr den Kristallschwan zurückgebracht hatte. Peter zappelte vor Aufregung, als sie endlich zum Laden gingen. »Hoffentlich ist es was zu essen«, sagte er. »Vielleicht Pralinen. Ich hab schon lange keine Pralinen mehr gegessen.« Shari lächelte. »Du kleiner Vielfraß.« Sie hielten sich an den Händen und schaukelten sie im Rhythmus ihrer Schritte, als sie die Straße entlanggingen. Die führte vorbei am Bauernhof der Homers, der roten Scheune und den Kühen, die weiter
entfernt auf den Hängen weideten. Kühe, die aussahen, als klebten sie an den Weiden fest. Danach kam ein Stück Wald, dann die viereckige weiße Kirche der Pfingstgemeinde, davor ein Schild, auf dem in schwarzer Schrift die Sonntagsgottesdienste angegeben waren. Auf dem Ententeich dahinter waren ausnahmsweise einmal keine Enten zu sehen. Sie waren wohl in vergitterten Kisten zum Markt transportiert worden. Dem Teich gegenüber befand sich Mabels Laden mit der Benzinpumpe und einer schiefen Holzveranda, auf der Kartons mit leeren Limonadedosen und eine Kiste Melonen standen. Links und rechts der Eingangstür lehnten zwei Tafeln, auf der einen stand, handgeschrieben, »Vermonter Käse«, auf der anderen, ebenfalls handgeschrieben, »Vermonter Honig«. Drinnen im Laden hatte Mabel offene Gläser mit Bonbons auf dem Tresen stehen. Je nachdem, wie sie gerade gelaunt war, verlangte sie fünf Cents für das Stück oder mehr. Manchmal verschenkte sie die Bonbons auch. Und im Winter schenkte sie Shari manchmal eine Tüte voll Sonnenblumenkerne, damit sie sie an die Vögel verfüttern konnte. Mabel mochte Kinder. Ihr lebhafter dreijähriger Enkel benützte die engen Gänge in dem kleinen Laden als Straßen für seine Lastautos. Unaufmerksame Kunden wurden dann von Mabel gewarnt, sich nicht überfahren zu lassen. »Da bist du ja!« rief Mabel, als Shari den dunklen, nach Käse riechenden Laden betrat. »Ich hab deinem Vater gesagt, er soll dich sofort herschicken. Schau, was heute morgen für dich abgegeben worden ist.« Ihre Stimme klang so aufgeregt, als wäre die Überraschung für sie selbst. Sie hielt Shari einen Karton mit Löchern hin. »Sei vorsichtig, wenn du hineinschaust. Sonst entwischt dir, was drin ist.« »Ein Vogel...« sagte Shari ungläubig. Selbst als sie eine Ecke des Deckels anhob und einen Blick in die Schachtel
warf, konnte sie es noch nicht glauben. »Ein blauer Sittich!« Die Freude überwältigte sie. »Ein hübscher kleiner Kerl, was?« Mabel beugte sich lächelnd über den Tresen. »Er ist wunderbar. Er ist blauer als blau. Er ist - wunderschön.« Mabel schnalzte mit dem Kaugummi. »Ganz hin vor Freude, wie ich es mir gedacht hab«, sagte sie selbstzufrieden. »Ich will ihn auch sehen«, forderte Peter. Shari hielt ihm die Schachtel vorsichtig hin, damit er hineinschauen konnte. »Woher hat Mrs. Wallace es gewußt?« fragte sie. »Daß du dir einen Vogel wünschst? Nun, sie hat mich gebeten herauszufinden, was dir Freude machen würde. Also habe ich Zeke gefragt, und der sagte, ein Vogel. Er meint, deine Mutter wäre bestimmt nicht begeistert, aber wenn er ein Geschenk sei, würde sie dir wahrscheinlich erlauben, daß du ihn behältst.« »Aber wie hat sie erfahren, daß ich es war, die ihr den Kristallschwan zurückgebracht hat?« fragte Shari. »Ach, durch deine Mutter. Irgendwann hat sie im Laden erzählt, daß du das Ding zurückgegeben hast und zu schüchtern warst, irgend etwas zu sagen. Sie meinte, dir stehe eine Belohnung zu, und ich hab's Eve erzählt.« Plötzlich begriff Shari, was passiert war. Charlotte habe ihr, ohne es zu wollen, einen Gefallen getan, und Zeke hatte die Gelegenheit für sie genützt. Diesmal war das Leben nicht ungerecht gewesen, nur sehr verwickelt. Der Vogel scharrte in der Schachtel. »Komm, gehen wir heim, damit er da raus kann«, sagte Peter. »Glaubst du, Mama erlaubt dir, daß du ihn behältst?« »Keine Ahnung«, sagte Shari. An eine andere Möglichkeit wollte sie nicht denken.
Mabel bestand darauf, ihren Laden zuzumachen und Shari, Peter und den Vogel heimzufahren, obwohl Shari ihr versicherte, es mache ihnen nichts aus, zu Fuß zu gehen. »Ich komm mit, falls eure Mutter wissen will, wer das Ganze eingefädelt hat. Bei eurer Mutter weiß man nie«, antwortete Mabel. Sie parkte ihr Auto in der Einfahrt und folgte Shari und Peter zur Küchentür. »Hallo«, rief sie. »Charlotte, komm, schau doch mal, was Mrs. Wallace Shari zur Belohnung geschenkt hat.« »Es ist ein Sittich, Mama«, sagte Peter. »Er ist blau mit einem weißen Kopf und einem schwarzen Ring um die Augen.« Charlotte stand in der Türöffnung, eine brennende Zigarette im Mund. Sie nahm einen Zug, starrte die Schachtel an und fragte: »Was für eine Belohnung ist denn das?« »Die passende Belohnung für ein Mädchen, das Vögel mag«, sagte Mabel. »Und wer hat Mrs. Wallace erzählt, daß Shari Vögel mag?« »Ich glaub, das war ich«, sagte Mabel nachdenklich. »Mir ist eingefallen, daß Shari letztes Jahr öfter mal Vogelfutter gekauft hat. Und hast du mir nicht selbst erzählt, wie traurig sie war, als ihr Vogel gestorben ist?« »Sie hat das Fenster offengelassen, und er ist ihr weggeflogen«, sagte Charlotte. »Ach so. Aber ich bin sicher, daß sie auf dieses Kerlchen besser aufpassen wird«, sagte Mabel unbekümmert. »Außerdem macht ein Vogel kaum Arbeit, und Shari ist inzwischen ein Jahr älter und klüger geworden.« Charlotte betrachtete stirnrunzelnd die Schachtel, sagte aber nichts. Mabel grinste und zwinkerte Shari zu. »Ich werde Eve Wallace erzählen, wie sehr du dich gefreut hast.« »Ich will mich selbst bei ihr bedanken«, sagte Shari.
»Das ist eine gute Idee. Soll ich dich morgen mitnehmen? Donnerstags nachmittags besuchen wir uns, wenn mein Charley für mich den Laden macht. Und morgen bin ich dran, zu ihr raufzufahren.« »Ich kann gut zu Fuß gehen. Aber danke für das Angebot, Mabel.« »Zu Fuß? Das sind doch so fünf, sechs Kilometer«, wandte Mabel ein. »Nicht, wie ich gehe. Ich kenne eine Abkürzung.« »Na ja, wie du willst.« Mabel erklärte Charlotte, Mrs. Wallace habe auch das Vogelfutter und den Vogelsand für ein Jahr im voraus bezahlt. »Ist das nicht nett von ihr?« »Hmmm.« Charlottes Augen verengten sich, als sie ein paarmal kurz und schnell an der Zigarette zog. Mabel stieg in ihr Auto und hupte zum Abschied. Dann waren sie allein, und Shari sah ihrer Mutter direkt ins Gesicht und sagte: »Vielen Dank.« »Wofür?« »Dafür, daß ich den Vogel nicht zurückgeben muß.« »Paß nur auf, daß er keinen Mist in deinem Zimmer macht«, sagte Charlotte ausweichend. »Und schau, daß diesmal das Fenster zubleibt.« Shari antwortete nicht. Sie fragte sich, ob Charlotte wirklich nicht mehr wußte, wer im letzten Sommer das Fenster geöffnet hatte. Peter machte Sharis Schlafzimmertür zu, und Shari vergewisserte sich, daß das Fliegengitter an ihrem Fenster fest verhakt war, bevor sie den Vogel in den alten Käfig setzte. Sie füllte die Wasser- und Futterschalen und legte den Käfig mit Papier aus, während der Sittich ängstlich in einer Ecke
kauerte. »Wie soll er heißen?« fragte Peter. »Blue Boy«, antwortete Shari, ohne zu zögern. »Ich hab gedacht, Zeke hätte Mabel erzählt, daß du einen Vogel möchtest«, sagte Peter, während sie warteten, daß Blue Boy sich an seine neue Umgebung gewöhnte. »Aber Mabel hat Mama was anderes erzählt. Mabel hat gesagt, daß sie es gewesen ist, die Mrs. Wallace gesagt hat, daß du ...« »Das ist doch egal«, sagte Shari. »Wenn ich Blue Boy nur behalten darf.« »Aber warum hat Mabel uns erzählt, es wäre Daddy gewesen, und Mama was anderes?« »Peter«, sagte Shari, »sprich nicht darüber, ja? Und wenn du mit Blue Boy spielen willst, paß auf, daß in meinem Zimmer weder Tür noch Fenster offen sind, damit er nicht rausfliegen kann.« »Das brauchst du mir doch nicht zu sagen«, meinte er. »Glaubst du, ich wär blöd oder was?« In diesem Moment sprang Blue Boy auf die Schaukel mitten im Käfig und pendelte sanft hin und her. Er duckte den Kopf und zwitscherte heiser. Dann begann er zu glucksen und zu kreischen, und Shari war hingerissen. Peter wurde es langweilig und er ließ Shari mit dem Vogel allein. Shari aber konnte sich den ganzen Nachmittag nicht losreißen. Sie sah zu, wie er zum erstenmal aus dem Wassernapf trank und die Samenkörner rund um den Freßnapf verstreute. Sie steckte einen Finger durch das Gitter, damit er sich daraufsetzen könnte. Er pickte nach ihr, aber nur sanft. Die Zeit verging wie im Flug, und plötzlich wurde sie von Charlotte gerufen, sie solle runterkommen und bei der Zubereitung des Abendessens helfen. Am nächsten Morgen traute sich Blue Boy bereits auf
Sharis Finger. Er krallte sich mit seinen drahtigen Klauen an ihr fest, und sie versprach ihm, eine Sepiaschale zu kaufen, an der er seinen Schnabel wetzen könnte. Immer wieder sagte sie seinen Namen und versicherte ihm, was für ein schöner, schöner Blue Boy er sei. »Na, freust du dich über deinen Vogel?« fragte Zeke, als sie die Treppe herunterkam, um sich von ihm zu verabschieden. »Ja«, sagte sie und küßte ihn auf seine frisch rasierten Backen. Der Anblick seiner gepackten Reisetaschen ließ einen Anflug von Verzweiflung in ihr aufkommen, wie immer, wenn er wieder wegfuhr. Charlotte klammerte sich an ihn und weinte, wie jedesmal. Doug und Walter waren schon zu ihrem Stand gegangen. »Komm bald wieder, Daddy, und bring mir diesmal Schokoladenkekse mit«, sagte Peter. Sie winkten ihm nach, als Zeke mit seinem abgekoppelten Fahrerhaus aus der Einfahrt in die Straße zurücksetzte, um seine nächste Ladung, diesmal bei einer Möbelfabrik, abzuholen. Charlotte trocknete ihre Tränen und ging zum Telefon, um Trost bei ihren Freundinnen zu suchen. »Ihr Kinder bleibt mir heute vom Hals«, sagte sie über die Schulter. Die Sonne brannte schon heiß, obwohl es noch früher Morgen war. Der Himmel war wolkenlos. »Ich geh zu Mrs. Wallace und bedank mich bei ihr«, sagte Shari zu Peter. »Willst du hier bei Mama bleiben oder mit mir kommen?« »Du hättest Mrs. Wallace anrufen und dich bei ihr bedanken sollen, schon als sie dir das Vogelbuch geschickt hat, hat Mama gesagt. Aber du hast es nicht getan«, sagte Peter. »Ruf sie doch jetzt an. Dann kannst du dich doppelt bedanken, und wir müssen nicht den ganzen Weg hinaufklettern.« »Wenn du nicht mitkommen willst, dann bleib eben zu
Hause«, sagte Shari. »Du hast doch keine Angst vorm Telefonieren, oder? Mama hat gesagt, du hättest Angst vorm Telefon.« »Ich telefoniere nicht gern«, gab Shari zu. »Warum nicht?« fragte Peter. »Mir macht das nichts aus.« Shari versuchte, es zu erklären. »Ich mag's einfach nicht. Am Telefon kannst du die Leute nicht sehen. Du hörst nur ihre Stimme aus einem Apparat... Jedenfalls solltest du Mrs. Wallace kennenlernen, Peter. Sie ist sehr nett.« »Du magst sie doch nur, weil sie Vögel mag.« »Mabel hat erzählt, daß sie selber Marmelade macht und sogar Brot backt«, sagte Shari, um ihn aus dem Haus zu locken. »Meinst du, sie gibt uns was davon ab?« Peters Stimme klang schon interessierter. »Ich weiß es nicht. Aber wehe, du blamierst mich und bettelst um irgend etwas.« »Das würde ich nie tun«, sagte Peter. »Ich bin doch kein Baby mehr.« Und dann machten sie sich auf den Weg, der ihnen diesmal kürzer vorkam als beim letztenmal. Mrs. Wallace war draußen in ihrem Gemüsegarten und jätete Unkraut. Sie hob den Kopf, als Shari hallo rief, und sagte: »Shari! Wie schön, daß du kommst. Ich hab gerade an dich gedacht.« »Das ist Peter, mein kleiner Bruder«, sagte Shari. »Und wie fühlst du dich nach dem langen Weg an diesem heißen Sommermorgen, Peter?« fragte Mrs. Wallace. »Durstig«, sagte Peter prompt. »Aber Peter!« sagte Shari scharf. »Ich hab nicht um was gebettelt, ich hab nur geantwortet«, sagte er. Mrs. Wallace lachte so sehr, daß ihr Tränen in die Augen traten. »Kommt ins Haus, wir machen eine Pause mit Eistee«,
sagte sie, als sie wieder reden konnte. »Es ist sowieso zu heiß, um die ganzen Beete zu jäten. Peter, wie wär's mit ein paar Butterkeksen und Limonade?« »Oh, prima«, antwortete er begeistert und blinzelte zu Shari hinüber, um zu sehen, ob sie ihn vielleicht wieder zurechtweisen würde. »Peter ißt sehr gern«, sagte Shari entschuldigend. »Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte Mrs. Wallace. »Ich hab auch was übrig für gutes Essen.« Sie führte die beiden in die Küche, die so hell war vom einfallenden Sonnenlicht, daß Einzelheiten nicht zu erkennen waren. Shari sah Pflanzen und Hängetöpfe und ein Bund Zwiebeln, das an einer Schnur am Dachbalken befestigt war. Eine Treppe mit einem Geländer aus naturbelassenem Holz führte an einer Seite des Raums nach oben. Neben der Treppe war eine rote Backsteinwand. Mrs. Wallace forderte Shari auf, die Zitronen auszupressen, und Peter sollte Kekse aus einem Glas auf einen Teller legen. »Ich bin gekommen, um mich zu bedanken«, sagte Shari. »Für den schönen Vogel und dafür, daß Sie mir das Vogelbuch geliehen haben.« »Es ist nicht geliehen«, sagte Mrs. Wallace. »Du kannst das Buch behalten. Und ich freu mich, daß dir der Vogel gefällt. Hoffentlich macht er dir so viel Freude, wie du mir gemacht hast, als du mir den Kristallschwan zurückgebracht hast. Er war eines der letzten Geschenke meines Mannes und ist mir besonders lieb.« Mrs. Wallace nahm sich einen Keks und bot Shari Eistee an. Shari fragte, ob sie statt dessen lieber Limonade haben konnte, wie Peter. »Die Limonade ist gut«, sagte Peter. »Besser als die aus der Dose.« »Peter, hast du Vögel auch so gern wie deine Schwester
und ich?« fragte Mrs. Wallace. »Nein, ich mag Lastautos lieber«, antwortete er. »Peter will Lastwagenfahrer werden wie unser Vater«, sagte Shari. »Oder vielleicht mache ich einen Stand mit Hamburgern auf«, meinte Peter. »Und ißt deine Hamburger alle selbst auf?« fragte Mrs. Wallace. »Nicht alle. Ein paar verkauf ich auch.« Mrs. Wallace lächelte. »Sag mal, Shari, hast du schon mal was davon gehört, daß man Vögel beringt?« »Hat das nicht was mit der Route der Zugvögel zu tun?« »Genau, durch das Beringen kann man feststellen, welche Flugroute die Zugvögel nehmen. Aber nicht das allein, man kann dadurch auch die Anzahl der verschiedenen Vogelarten feststellen und wie alt sie werden. Entlang der Zugvogelrouten gibt es Leute, die das Beringen übernehmen. Dafür braucht man eine Genehmigung der amerikanischen Fisch- und Wildtierbehörde, und ich möchte mich eigentlich gern darum bewerben. Aber ich bin nicht ganz sicher, ob ich es schaffe. Es ist doch viel Arbeit. Im Frühjahr und Herbst muß man Netze aufspannen, in denen sich die Vögel fangen. Vögeln, die noch nicht beringt sind, legt man einen kleinen Metallring ums Bein und läßt sie wieder frei. Über die anderen Vögel, die schon beringt sind, macht man genaue Aufzeichnungen. All diese Informationen werden in einem zentralen Computer gespeichert und für die Erhaltung der Vögel und ihres Lebensraums eingesetzt. Ein offizieller Vogelberinger trägt eine große Verantwortung, und wenn ich damit anfange, muß ich es auch weitermachen. Die Aufgabe reizt mich, aber, wie gesagt, ich bin nicht so sicher, ob ich es allein schaffe.« »Könnte ich Ihnen nicht helfen?« fragte Shari. »Ich meine,
wenn es irgendwas gibt, das ich tun kann...« »Ich hab gehofft, daß du das sagst.« Mrs. Wallace freute sich. »Ist das ein Job? Kriegt Shari dafür Geld?« fragte Peter. »Nun, ein Job ist es schon, Peter, aber ein ehrenamtlicher«, sagte Mrs. Wallace. »Und für ehrenamtliche Arbeit kriegt man nichts bezahlt. Obwohl ich Shari schon etwas...« »Nein«, unterbrach Shari. »Ich möchte kein Geld. Es würde mir Spaß machen, Ihnen zu helfen.« »Warum willst du arbeiten, wenn du dafür kein Geld kriegst?« fragte Peter. »Doug würde das nicht tun, und Mama sagt, es ist dumm, umsonst zu arbeiten, so wie sie es im Haushalt tut.« »Es stimmt nicht, daß Mama umsonst arbeitet. Alles, was sie tut, tut sie, um uns großzuziehen. Und Zeke liebt sie dafür.« »Eine komplizierte Geschichte«, sagte Mrs. Wallace. »Wir werden es wohl kaum mehr erleben, daß auch Hausfrauen und Mütter für ihre schwere Arbeit bezahlt bekommen.« »Aber Doug sagt, man braucht eine Menge Geld, wenn man gut leben will«, argumentierte Peter. Mrs. Wallace lächelte amüsiert. »Nun, die meisten Leute verbringen nicht ihre gesamte Zeit mit ehrenamtlicher Tätigkeit«, sagte sie. »Nur soviel ihrer Zeit, wie sie sich eben leisten können.« »Shari kann sich keine Zeit leisten. Sie kann sich nicht einmal leisten, in eine Schule zu gehen, um Pilot zu lernen«, sagte Peter. »Du willst Pilot werden, Shari?« fragte Mrs. Wallace. »Ich möchte schon, aber mein Vater hat gesagt, daß man eine Schule besuchen muß, und dafür braucht man Geld«, sagte Shari traurig. Mrs. Wallace dachte nach. »Sicher braucht man eine Ausbildung«, sagte sie. »Aber ich glaube, wenn du dich bei einer großen Fluggesellschaft bewirbst und angenommen wirst, kommst du auf eine Spezialschule und wirst ausgebildet,
wenn du körperlich und geistig für den Job geeignet bist.« »Und man muß nichts dafür bezahlen?« »Nein, ich glaube nicht. Wahrscheinlich mußt du dich für ein paar Jahre verpflichten, für diese Fluggesellschaft zu fliegen, als Ausgleich für deine Ausbildung.« »Also kann man Pilot werden, auch wenn man kein Geld hat?« unterbrach Shari sie begeistert. »Ich glaube schon«, sagte Mrs. Wallace. Shari strahlte über das ganze Gesicht. »Das hat sie nicht gewußt«, erklärte Peter Mrs. Wallace überflüssigerweise, und zu seiner Schwester sagte er feierlich: »Ich glaube, du kannst Mrs. Wallace ruhig helfen, die Vögel zu beringen, wenn du kein Geld verdienen mußt.« »Danke, Peter«, sagte sie. »Ich bin froh, daß du damit einverstanden bist.« Sie hatte ihn necken wollen, aber er nahm es ernst. »Ja, bin ich«, sagte er. »Nun gut, über das Vogelberingen reden wir noch, wenn ich weitere Einzelheiten erfahren habe und abschätzen kann, was auf uns zukommt«, sagte Mrs. Wallace. »Es wäre natürlich auch eine gute Gelegenheit, uns öfter zu sehen, Shari.« »Und mich auch?« fragte Peter. »Die Keksdose ist immer für dich offen, mein Freund«, versprach Mrs. Wallace feierlich. Shari lachte, und Peter sah sehr zufrieden aus. Nur wenige Tage später sagte Charlotte zu Shari, Mrs. Wallace habe angerufen. »Sie wollte mit dir über irgendein Vogelprojekt reden, das ihr gemeinsam vorhabt. Sie hat gesagt, sie habe jetzt mehr Informationen bekommen und wollte wissen, wieviel Zeit du noch hast, wenn die Schule anfängt. Ich hab ihr gleich gesagt,
du hättest überhaupt keine Zeit, um hinter Vögeln herzurennen. Du machst sowieso nur die Hälfte von dem, was du tun sollst.« »Bitte, Ma, ich möchte es so gern!« »Ja, wenn du deine Freizeit mit dieser Verrückten verbringen willst ...« »Sie ist nicht verrückt.« »Nein ? Für mich klingt so was ganz schön verrückt: Vögeln nachlaufen und ihnen Ringe an die Füße machen...« »Aber ich kann doch hingehen und mit ihr darüber reden, oder nicht?« »Wenn du bei dieser Hitze in der Gegend herumklettern willst, dann geh. Sieh nur zu, daß dein Bruder mir nicht in die Quere kommt. Wenn ich den Kühlschrank saubergemacht habe, muß ich noch einen ganzen Haufen Sachen stopfen, und Dougs Hosen müssen wieder mal ausgelassen werden.« Peter spielte draußen, und Shari fragte ihn, ob er mit zu Mrs. Wallace gehen wolle. »Es ist viel zu heiß, und der Weg ist so weit«, sagte Peter. »Ich möchte im Planschbecken mit meinen Lastautos Zementmischer spielen.« Heute war Shari froh, daß er nicht mitwollte. Sie beeilte sich fortzukommen, damit er seine Meinung nicht doch noch ändern konnte. Allein war sie schneller. Durch die Hitze duftete es im ganzen Wald nach frischen Blättern. Shari atmete den Duft tief ein, während sie im Schatten der Bäume den Weg zur kühlen, feuchten Schlucht hinunterlief. Sogar der Wasserfall hörte sich heute gedämpft und ruhig an. In Windeseile hatte Shari die steile Felswand erklommen, hangelte sich über den Felsvorsprung und war schon bald bei Mrs. Wallace. Außer Atem blieb sie an der Wiese stehen, plötzlich schüchtern beim Anblick der Frau, die auf der Treppe vor der Eingangstür saß und Erbsen pellte.
Der Kopf mit den ordentlichen weißen Haaren hob sich und die klugen Augen richteten sich auf Shari. »Da ist ja meine junge Freundin. Komm und setz dich zu mir in den Schatten, bis ich mit den Erbsen fertig bin.« »Darf ich helfen?« »Aber natürlich, Erbsen pellen ist eine stumpfsinnige Arbeit, wenn man sie allein tut.« Shari setzte sich neben Mrs. Wallace, nahm eine Schote, brach sie auf und ließ die Erbsen in ein Sieb fallen, das auf den Steinstufen zwischen Mrs. Wallace und ihr stand. Und plötzlich spürte sie, wie gern sie diese Frau hatte. Jetzt fühlte sie sich wohl und entspannt. »Ich weiß nicht, warum ich immer so viele Erbsen säe«, sagte Mrs. Wallace. »Ich kann sie nicht alle essen, und es wäre eine Schande, sie einfach kaputtgehen zu lassen. Tu mir doch den Gefallen und nimm ein paar mit nach Hause für deine Familie.« »O nein, vielen Dank«, antwortete Shari mit ihrer üblichen Zurückhaltung. Man nahm keine Geschenke von fremden Leuten an, wenn man nicht irgend etwas zurückgeben konnte. Das war, als würde man wohltätige Gaben annehmen. So hatten Charlotte und Zeke es ihr beigebracht. »Meine Mutter hat gesagt, Sie wollten mit mir über das Beringen der Vögel sprechen.« »Deine Mutter schien nicht sehr begeistert von unserem Projekt.« »Nein, ist sie auch nicht. Sie meint, ich sollte meine Zeit nicht mit Vögeln vergeuden.« »Meine Freundin Mabel würde ihr zustimmen. Mabel sagt, nur zwei so komische Vögel wie wir beide könnten mehr Freude am Gefieder als an den eigenen Artgenossen haben.« Mrs. Wallace grinste. »So ist Mabel nun mal. Sie hat Angst, ich
würde eine Einsiedlerin werden. Für dich sieht sie diese Gefahr vermutlich noch nicht, weil du viel jünger bist.« »Was gibt es an Einsiedlern auszusetzen?« fragte Shari. »Nichts. Ich hab einige gekannt, die mir genauso lieb oder noch lieber waren als andere Leute. Sie sind bloß nicht so gesellig.« »Ich hab Sie beobachtet, bevor ich Ihnen den Schwan zurückgegeben habe«, gestand Shari. »Ich hab gesehen, wie Sie den Sperber freigelassen haben.« »So?« »Das fand ich ganz toll«, sagte Shari. Die Augen von Mrs. Wallace leuchteten auf. »Wilden Tieren die Freiheit zurückzugeben, wenn sie wieder gesund sind, ist ein Akt des Respekts. Ich hatte diesen Sperber mit einem gebrochenen Flügel im Wald gefunden und hab ihn ein paar Wochen gefüttert, bis sein Flügel wieder heil war. Das ist alles. Sah er nicht wunderbar aus, als er ganz oben am Himmel seine Kreise zog, so als wollte er nie wieder zur Erde zurückkommen?« »Das schon, aber ich glaube, Blue Boy macht es nichts aus, daß er im Käfig sitzen muß.« »Wahrscheinlich nicht. Außerdem könnte so ein tropischer Vogel den Winter in unseren nördlichen Breiten nicht überleben, das ist ganz sicher.« »Ich hatte früher schon mal einen Sittich. Er ist letztes Jahr weggeflogen und nie wieder zurückgekommen. Das Fenster war offen, und ich nehme an...« Sie schluckte und ließ den Satz unvollendet. Es war verlockend, Mrs. Wallace alles zu erzählen. Sie hörte so aufmerksam zu, als sei ihr wichtig, was Shari zu sagen hatte. Shari hatte das Gefühl, daß nur Mrs. Wallace ihre verborgenen Geheimnisse verstehen konnte. Geheimnisse, die sie sogar vor sich selbst versteckte. Aber sie
wagte trotzdem nicht, sie vor Mrs. Wallace auszubreiten. »Ich wäre gern ein Vogel«, sagte Shari träumerisch. »Oder sonst irgend etwas, das fliegen kann. Dann könnte ich die Erde hinter mir zurücklassen wie ein Sperber.« »Ist die Erde denn nicht schön genug, um dich zu halten?« Shari zuckte mit den Schultern. »Sie ist schön. Aber manchmal möchte ich weg.« »Vor was genau möchtest du denn weg?« »Dem ganzen Kram eben«, sagte Shari und war erleichtert, daß Mrs. Wallace nicht nachbohrte. »Was deinen Wunsch angeht, ein Vogel zu sein...« Mrs. Wallace machte eine Pause und dachte darüber nach. »Darin unterscheiden wir uns. Die Flügel eines Vogels würden mir nur halb soviel Abenteuer bieten, wie ich durch meine Gedanken beim Lesen und Lernen erleben kann. Ein Vogel kann nur die sichtbare Welt erforschen, zumindest soweit wir wissen, aber unser Verstand kann hinreisen, wohin kein Tier jemals kommt, nämlich in die Vergangenheit und auch in die Zukunft.« Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Na, wie wär's mit einer Limonade, um diese ganze Philosophie hinunterzuspülen?« fragte sie. Nach der Limonade mußte Mrs. Wallace Shari das Goldamselnest zeigen, das wie ein kleiner, runder Postsack von einem Zweig des Kirschbaums hing. Dann erzählte sie ihr die Geschichte von den kleinen Zaunkönigen, die die größeren Spatzen aus dem Vogelhaus, dem Nistplatz der Zaunkönige, verscheucht hatten. »Die haben gewonnen, die Kleinen, nur durch die Stärke ihres Charakters«, sagte sie. Sie erzählte Shari auch von ihren Enkeln, Christine und Jackie, und daß Jackie in einem Fußballsommerlager war, weil sie hoffte, Profi zu werden, wenn sie erst einmal erwachsen sei. Und daß Chris in diesem Jahr einen Job als Kinderpflegerin
hatte. »Hoffentlich kommen sie mich im Herbst besuchen«, sagte Mrs. Wallace. »Sonst haben sie mich nämlich immer im Sommer besucht. Eigentlich fühle ich mich unter jungen Leuten viel wohler als mit Erwachsenen, Mabel ausgenommen.« »Ich hab meine Großeltern nie kennengelernt«, sagte Shari. »Sie sind bei einem Autounfall ganz in der Nähe von Mabels Laden ums Leben gekommen. Meine Mutter wurde dann von ihren Großeltern aufgezogen, aber die hab ich auch nicht kennengelernt. Sie sind nach Florida gezogen, als meine Mutter Zeke geheiratet hat, und dort sind sie auch gestorben. Ich weiß nicht, an was. Sie haben uns nicht einmal besucht. Meine Mutter hatte Streit mit ihnen oder so etwas.« »Vielleicht waren sie dagegen, daß sie Zeke heiratet.« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Alle haben Zeke gern.« »Und du natürlich auch. Es ist bestimmt schwer für dich, daß dein Vater immer unterwegs ist.« »Ja, ich vermisse ihn sehr.« »Deine Mutter vermißt ihn sicher auch. Sie ist noch sehr jung, dafür, daß sie schon vier Kinder hat.« »Ach, sie ist nicht mehr so jung, wie sie aussieht«, sagte Shari. »Sie ist einunddreißig.« Mrs. Wallace lachte und sagte: »Das ist sehr jung, Shari. Mabel hat mir erzählt, daß deine Mutter dich und deine beiden älteren Brüder bekommen hat, bevor sie zwanzig war.« »Ich weiß«, sagte Shari rasch. »Aber sicher hat sie uns so früh bekommen, weil sie es so gewollt hat.« Sie wurde rot und war verlegen, weil ihr das herausgerutscht war. »Viele Frauen machen sich keine Gedanken über die Familienplanung«, sagte Mrs. Wallace. »Wie auch immer, wenn deine Mutter nicht noch mehr Kinder bekommt, könnte sie sich einen Job suchen, dann würde sie vielleicht glücklicher.« »Sie kriegt keine Kinder mehr«, sagte Shari. Sie erinnerte
sich an die Wochen nach Peters Geburt. Damals hatte Charlotte Zeke hartnäckig zu einer Sterilisation überredet. »Aber ich glaube nicht, daß sie jemals arbeiten wird.« »Warum nicht?« »Sie erfindet immer neue Ausreden.« »Menschen können sich ändern, Shari.« »Schon möglich.« Aber sie konnte sich trotzdem nicht vorstellen, daß Charlotte sich je ändern würde. »Wie spät ist es jetzt?« Shari erschrak, als sie feststellte, daß sie schon drei Stunden von zu Hause weg war. »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie. »Peter war die ganze Zeit allein.« »Macht es dir überhaupt nichts aus, daß du so oft auf ihn aufpassen mußt?« fragte Mrs. Wallace. »Ob es mir was ausmacht? O nein! Peter ist mein Partner. Ich hab sonst niemanden.« Mrs. Wallace nickte, als hätte sie verstanden. Shari freute sich darüber, daß jemand sie so leicht verstand. Sie war schon fast außer Hörweite, als Mrs. Wallace rief: »Shari! Ich hab ganz vergessen, dir die Informationen über die Vogelberingung zu zeigen, die ich mit der Post bekommen habe.« »Ich komm bald wieder«, versprach Shari. »Vielleicht schon morgen.« Noch bevor sie über den Felsvorsprung über der Schlucht geklettert war, wünschte sie, sie hätte das nicht gesagt. Es war gefährlich, sich einer Sache zu sicher zu sein. Glück erwarten, das hieß Unglück heraufbeschwören. Und dann sah sie auf dem Grund der Schlucht das rote T-Shirt. Sie rutschte und glitt den steilen, steinigen Abhang hinunter und beugte sich über Peters regungslosen Körper. Er lag auf dem Rücken neben dem Bach.
»Peter?« Er bewegte sich nicht. »Peter?« Sie berührte ihn. Sein Körper war warm. Seine Augen waren geschlossen, und sein Gesicht war verschmiert von Blut und Dreck. Sie hatte gehört, daß man Menschen nach einem Sturz nicht bewegen durfte, das fiel ihr jetzt ein. Vorsichtig legte sie ihr Ohr an seine Brust und hielt die Luft an. Sein Herz schlug. Dann sprang sie auf und rannte über den Baumstamm, die Schlucht hinauf und nach Hause. Getrieben von Angst, rannte sie, so schnell sie konnte, um Hilfe zu holen.
Siebentes Kapitel
Durch Charlottes Wehklagen wurde das Unglück für Shari erst Wirklichkeit. »Peter liegt verletzt unten in der Schlucht!« hatte Shari gerufen. Jetzt drängte sie sich an ihrer schreienden Mutter vorbei zum Telefon. Für Notfälle hatte Zeke die Nummern von Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst an den Apparat geklebt. Sharis Finger waren durch die Aufregung so steif, daß sie kaum wählen konnte, aber schließlich kam sie durch. »Mein Bruder braucht Hilfe«, sagte sie und beschrieb mit knappen Worten, wo Peter abgestürzt war. Charlotte riß ihr den Hörer aus der Hand und schrie, verwirrt und durcheinander, in die Muschel, sie sollten sich beeilen. Als Shari wieder losrennen wollte, hielt Charlotte sie zurück. »Daß du es nicht wagst, das Haus zu verlassen! Du bleibst hier und wartest auf Doug und Walter. Ich kümmere mich um Peter.« »Aber du weißt doch nicht, wo er ist. Und ich weiß es.« »Ich hab gesagt, du bleibst hier«, sagte Charlotte. Jedes ihrer Worte war voller Haß, als sie hinzufügte: »Du tust jetzt einmal, was ich dir sage. Ich geh zu meinem Sohn. Dich nehm ich mir später vor.« Shari hörte, wie ihre Mutter den Wagen anließ. Wenn Charlotte an der Brücke, die hoch über die Schlucht führte, auf die Rettungsmannschaft wartete und sie von dort aus führte, würden sie viel zu weit entfernt von der Stelle, wo Peter lag,
in die Schlucht kommen. Sie würden ewig brauchen, um zu Peter zu gelangen, wenn sie durch Felsen und Gestrüpp mußten und sich nicht auskannten. Angenommen, Peter machte die Augen auf und war ganz allein! Shari konnte einfach nicht gehorchen. Sie konnte nicht untätig im Haus bleiben, wenn Peter sie vielleicht brauchte. Sie rannte zurück und nahm die Abkürzung, Als sie bei Peter ankam, war er noch immer bewußtlos. Sie horchte an seiner Brust, konnte aber nicht feststellen, ob er noch lebte oder nicht, da sie keuchte und ihr eigenes Blut so laut in ihren Ohren dröhnte, daß sie seinen Herzschlag nicht hören konnte. Blut sickerte aus seinem Haar. Sie legte die Arme um ihn. Er fühlte sich schrecklich kalt an. Sie küßte ihn und versuchte, ihn mit ihrem eigenen Körper zu wärmen. Einmal meinte sie, seine Augenlider hätten gezuckt, aber sie war sich nicht sicher. »Peter, wach auf. Peter, ich hab dich so lieb. Bitte wach auf«, bettelte sie. Sie saß auf dem feuchten, kalten Boden und zitterte. Sie wünschte, sie könnte Peter auf den Schoß nehmen, um ihn zu wärmen, aber sie hatte Angst, ihn zu bewegen. Ihr blieb nichts anderes übrig als zu warten. Sie weinte nicht. Sie hatte viel zuviel Angst, um zu weinen. Das Wasser plätscherte über die Felsen, und Vögel zwitscherten, während Shari unten in der Dämmerung der Schlucht saß und lauschte, bis sie die Stimmen der Rettungsmannschaft hörte. »Siehst du ihn irgendwo?« »Noch nicht.« »Meinst du, wir sind an der richtigen Stelle?« »Hier!« schrie Shari und sprang auf. »Er ist hier, hier, hier!« Das Echo nahm ihren Ruf auf. Aus dem Dickicht kam eine Antwort: »Gut! Wir hören dich.« Ein schmaler, großer Mann mit grauen Haaren und eine
kräftige junge Frau in Jeans tauchten am anderen Ufer auf. »Dort können Sie den Bach überqueren, über den Baumstamm«, rief Shari. Sie hörte die beiden fluchen und sich gegenseitig Mut zusprechen, als sie mit der Krankentrage herüberbalancierten. Dann waren sie da und nahmen die Sache in die Hand. Shari bekam Hoffnung. Sie würden sich um Peter kümmern. »Das Kind hat einen Schock«, sagte der Mann leise, während er Peter in eine Decke wickelte. »Gibt es einen einfacheren Weg zurück als den, den wir gekommen sind?« fragte die Frau. Gemeinsam mit dem Mann schnallte sie Peter auf der Trage fest. »Ich zeige Ihnen den Weg, kommen Sie«, sagte Shari und lief los. »Wäre einfacher gewesen, wir hätten diesen Weg gleich gewußt«, sagte der Mann, als Shari sie hinaufgeführt hatte. »Du kannst verdammt gut klettern, Mädchen, bist eine erstklassige Bergziege.« Tauben gurrten in den Bäumen, als sie in das Sonnenlicht des späten Nachmittags hinaustraten. Der Mann benutzte sein Funkgerät, um den Krankenwagen heranzurufen. Charlotte kam hinter dem Krankenwagen hergefahren und stieg auch ein, nachdem sie Peter hineingeschoben hatten. Mit heulenden Sirenen fuhr der Wagen los. Shari ging langsam nach Hause und machte sich Vorwürfe. Doug und Walter kamen kurze Zeit später heim und wollten wissen, was passiert war. Nachbarn haben ihnen gesagt, ihr Bruder sei umgekommen. »Er hat einen Schock«, sagte Shari. »Er wird bestimmt wieder gesund.« Sie wußte nicht, was Schock bedeutete, aber sie wußte, daß es etwas war, was Menschen überlebten, überstanden, etwas, das vorbeiging.
»Wo ist Ma?« fragte Doug. »Mit Peter im Krankenwagen mitgefahren.« »Machst du das Abendessen?« fragte Walter. »Nein«, sagte Shari. »Ihr könnt euch selber Brote schmieren, wenn ihr Hunger habt.« Sie war müde, und der Kopf tat ihr weh. Sie schleppte sich die Treppe hinauf in ihr Zimmer und wurde von Blue Boy begeistert begrüßt. Er klammerte sich an die Käfigstangen, bewegte den Kopf und zwitscherte aufgeregt. Sie beachtete ihn gar nicht und warf sich auf ihr Bett, geschüttelt von trockenen Schluchzern. Stunden später saß sie im Dunkeln am Fenster und lauschte den nächtlichen Geräuschen. Endlich hielt ein Auto vor dem Haus, und deutlich war Charlottes Stimme zu hören, die sich bei jemandem fürs Herbringen bedankte. Die Haustür fiel zu, Shari wurde ganz steif. Einen Moment lang dachte sie daran, sich ins Bett zu legen und zu tun, als ob sie schliefe. Doch sie wußte, daß es sinnlos war. Dem Zorn ihrer Mutter konnte sie auf diese Weise nicht entkommen. Sie wartete auf Charlottes Schritte auf der Treppe und hielt den Atem an, als ihre Mutter vor ihrem Zimmer stehenblieb. Shari fühlte sich zerrissen. Ein Teil von ihr war verängstigt und wollte sich verstecken, der andere Teil hielt an ihrem alten Schutzschild fest und sagte, nichts könne sie verletzen. Was immer Charlotte auch tat, es könne ihr Inneres nicht berühren. Doch zum erstenmal war Peter beteiligt, und das machte Shari verletzbar. Er hatte so still dort gelegen, Blut auf dem Gesicht und in den Haaren. Schon wenn sie daran dachte, wurde sie von Panik ergriffen. Die Tür ging auf. Shari schaute in das Gesicht ihrer Mutter, aber sie konnte nichts darin lesen. Es war müde und hart. Es war nicht mehr das hübsche Gesicht, das sie für Zeke hatte.
»Nun, fragst du nicht nach deinem Bruder?« sagte Charlotte. »Willst du nicht wissen, wie's ihm geht?« »Geht es ihm gut?« »Wie das, nach dem, was du ihm angetan hast?« »Ich hab ihm nichts getan!« »Du hast ihn zum Spielen mit in die Schlucht genommen, oder?« »Nein, heute nicht. Er ist allein hingegangen. Ich bin zu Mrs. Wallace gegangen, und er wollte nicht mit, er wollte lieber zu Hause spielen. Dann hat er es sich wahrscheinlich anders überlegt.« »Du hast ihn allein zu Hause gelassen?« »Du warst doch da!« »Ich hätte wissen müssen, daß ich mich nicht auf dich verlassen kann. Du bist schon immer ein verstocktes Kind gewesen. Selbst als du noch ganz klein warst, hast du mich nie angelächelt, mich nie umarmt, mir nie einen Kuß gegeben. Und sobald du laufen konntest, bist du vor mir davongerannt, nie zu mir, immer nur weg. Ich dachte, du hättest wenigstens für Peter etwas übrig, aber nicht mal um ihn kümmerst du dich. Du bist schuld, daß er in die Schlucht gestürzt ist. Und wenn er stirbt, hast du auch schuld, daß du es nur weißt.« Sie knallte Sharis Tür hinter sich zu und ging in ihr eigenes Zimmer nebenan. Shari kroch ins Bett und zog die Decke über den Kopf. In ihr war es kalt, eiskalt. Ihr wurde nicht warm. Sie spürte den Haß ihrer Mutter. Und doch war ihr im Augenblick eins wichtiger; Peter lebte. Morgen würde Shari ihn im Krankenhaus besuchen, egal was ihre Mutter sagte. Am nächsten Morgen kümmerte sich Shari erst um Blue Boy. Während sie seinen Käfig saubermachte, saß er auf ihrer
Schulter und plusterte seine Nackenfedern auf. Dabei trillerte und schimpfte er auf sie ein. Sie stellte ihm auf den Boden des sauberen Käfigs ein Gefäß mit Wasser für sein Bad. Er balancierte in der Käfigöffnung, während er offensichtlich noch überlegte, ob er baden sollte oder nicht. Sie zog sich sorgfältig an. Sie wollte älter aussehen, damit man sie im Krankenhaus ohne weiteres zu Peter ließ. Einen Rock besaß sie zwar nicht, aber sie hatte eine Bluse mit einem Muster aus kleinen rosa Rosenknospen und einem runden Kragen, die war bestimmt passend. Sie band ihre Haare mit einem rosa Band zusammen, das sie noch von einem Geburtstagspäckchen hatte. Ihre Turnschuhe waren dreckig, aber waschen konnte sie sie jetzt nicht, dazu hatte sie keine Zeit mehr. Geld. Nachdem irgend jemand das Glas geplündert hatte, in dem sie ihr Geld aufbewahrte, hatte sie angefangen, das Taschengeld, das sie gelegentlich von Zeke bekam, zu verstecken. Sie mußte einen Augenblick nachdenken, bevor ihr das letzte Versteck einfiel. Ein Umschlag, hinten an die Kommode geklebt. Sie zog die Kommodenschublade so leise wie möglich heraus. Der Umschlag war da, enthielt jedoch nur zwei Dollar. Das reichte nicht mal für die Busfahrt, aber sie konnte davon Süßigkeiten für Peter kaufen, wenn sie in der Stadt war. Bevor sie versuchte, per Anhalter zu fahren, wollte sie Mabel fragen, ob sie nicht irgend etwas in Richtung Stadt liefern mußte. Im Haus war es ganz ruhig, als Shari aus ihrem Zimmer schlich. Die anderen schliefen noch. Ihr Magen erinnerte sie daran, daß sie am Abend vorher nichts gegessen hatte. Das heißt, sie konnte sich noch nicht mal erinnern, ob sie gestern überhaupt zu Mittag gegessen hatte oder nicht. Es wäre besser, wenn sie etwas essen würde, bevor sie ging. Vielleicht sollte sie sich ein Brot mitnehmen, falls sie den ganzen Tag unter-
wegs wäre. Sie ließ einen Zettel auf dem Küchentisch liegen. »Ich bin bei Peter.« Sie unterschrieb nicht »mit lieben Grüßen«. Es gab keine Liebe, hatte nie welche gegeben nach dem, was Charlotte letzte Nacht gesagt hatte. Seit dem Augenblick ihrer Geburt hatte ihre Mutter sie gehaßt. Sie fragte sich, ob sie wirklich so gefühllos war, wie Charlotte behauptete. Tatsache war, daß ihr jetzt niemand etwas bedeutete außer Peter, und was sie fühlte, wenn sie an ihn dachte, war nackte, kalte Angst, nicht so etwas Warmes und Angenehmes wie Liebe. Selbst Zeke schien außerhalb ihrer Gefühle zu stehen. Shari wünschte, er wäre trotzdem hier. Er würde ihr nicht die Schuld an Peters Unfall zuschieben, und Charlotte wäre weniger gefährlich, wenn Zeke zu Hause wäre. In ihrer Hast ließ Shari das Glas mit Erdnußbutter fallen. Es ging nicht kaputt, rollte aber geräuschvoll über den Küchenfußboden. Als sie ihr Brot geschmiert hatte und sich auf den Weg machen wollte, sagte eine Stimme: »Du kleines, hinterhältiges Biest, wo willst du denn hin, so herausgeputzt, wie du bist?« »Ins Krankenhaus. Ich hab dir einen Zettel hingelegt«, sagte Shari schnell. Charlotte stand in ihrem durchsichtigen lavendelfarbenen Nachthemd in der Tür, ihr Gesicht sah verquollen aus. »Du gehst nirgends hin«, sagte sie, »Nach allem, was er dir zu verdanken hat, kommst du mir nicht mehr in seine Nähe. Ich hab denen im Krankenhaus gesagt, sie sollen dich nicht reinlassen.« Shari wußte im selben Augenblick, als ihre Mutter das sagte, daß sie log. »Ich werde es Zeke erzählen, wenn du mich nicht gehen läßt«, platzte Shari heraus. »Wie bitte?« Charlotte ging mit bösen Augen einen Schritt
auf Shari zu. »Was hast du gesagt? Was willst du tun?« Drohend kam sie noch einen Schritt näher. »Ich weiß, daß du mich nicht magst«, sagte Shari. »Aber Zeke liebt mich. Er wird auch das mit Peter verstehen.« Plötzlich schlug Charlotte zu. Shari taumelte gegen den Küchenschrank. Sie stöhnte, und ihre Hand griff automatisch nach ihrem Kopf. Als ihre Mutter sie erneut fest ins Gesicht schlug, fiel Shari zu Boden. Charlotte packte sie, riß sie hoch und umklammerte ihre Arme so fest, daß Shari ihr Gesicht nicht mehr schützen konnte. Aber Charlotte wollte sie nicht mehr schlagen. »Du glaubst, Zeke liebt dich?« zischte sie Shari ins Gesicht. »Weißt du, wie komisch das ist? Warum sollte er dich lieben, wo du noch nicht einmal sein eigenes Kind bist? Was glaubst du denn, warum du so ein dürres kleines Nichts geworden bist? Weil du genauso aussiehst wie dein richtiger Vater, darum! Der ist abgehauen, sowie er erfahren hat, daß ich ein Kind von ihm kriegte. Es war kein großer Verlust für mich. Mit dem war nicht viel los, das kann ich dir sagen! Und du bist genau wie er.« Sie schob Shari von sich weg. »So, und jetzt gehst du in dein Zimmer und bleibst dort, bis ich sage, daß du rauskommen kannst. Und wag das niemals wieder, mir zu drohen, daß du mich bei Zeke verraten willst. Wag das niemals wieder!« Charlotte schaute zu, wie Shari leicht wankend zur Treppe ging und beim Hinaufsteigen sich am Treppengeländer festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Shari kroch in ihr Zimmer, Blue Boy badete, und das Wasser spritzte nach allen Seiten. Er putzte seine Federn, streckte einen Flügel aus, kämmte ihn mit dem Schnabel und machte sich dann an die Reinigung des anderen Flügels. Sie beobachtete ihn eine Weile, doch dann legte sie sich aufs Bett. Der Kopf tat ihr weh. Sie war
im Fallen gegen den Kühlschrank gestoßen. Über der anschwellenden Beule waren ihre Haare blutverklebt. Die Backe brannte von Charlottes Schlag. Aber die körperlichen Schmerzen schienen nicht zu ihr zu gehören. Tief innen schmerzte die offene, brennende Wunde, die Charlotte ihr zugefügt hatte. Der Vater, dessen Liebe Sharis einziger Trost und ihre einzige Sicherheit in ihrem Leben gewesen war, dieser Vater existierte nicht mehr. Er war ihr genommen worden, so endgültig, als wäre er gestorben. Plötzlich fühlte sie sich sehr allein, nicht, weil sie allein sein wollte - das Unglück hatte angefangen mit ihrer Geburt. Sie war von einer Mutter geboren worden, die sie haßte, und den Vater hatte die Mutter ihr eben genommen. Ein so drückendes Gefühl von Einsamkeit überkam sie, daß jedes Denken unmöglich wurde und ihr die Luft nahm. Walter und Doug rührten sich, standen auf, gingen hinunter. Blue Boy saß selbstzufrieden auf seiner Schaukel in der Morgensonne, die auf seinen Käfig fiel. Das Stück Himmel in der oberen Ecke ihres Fensters versprach einen wunderschönen Sommertag. Noch immer lag Shari bewegungslos auf ihrem Bett, zu elend, um sich zu rühren. Langsam fing ihr Verstand wieder an zu arbeiten. Sie versuchte, über das Nächstliegende nachzudenken, das Problem, wie sie zu Peter kommen könnte. Nach einer Weile klopfte jemand an die Tür. »Wer ist da?« fragte sie. Die Tür ging auf, und Walter steckte seinen Kopf herein. »Sie ist ins Krankenhaus gefahren«, sagte er. »Sie hat gesagt, sie bleibt den ganzen Tag fort. Möchtest du was?« »Nein, danke.« Er wartete, dann sagte er: »Also, wenn du etwas brauchst, hol ich es, bevor Doug und ich zum Stand gehen... Ich könnte dir ein Buch leihen.« »Hat sie gesagt, wie es Peter geht?«
»Er hat eine Gehirnerschütterung.« Er blieb stehen, und sie lächelte ihn an, dankbar dafür, daß er so aufmerksam war und seine gewohnte Gleichgültigkeit ihr gegenüber vergaß. Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. »Also, wenn du nichts brauchst...« sagte er und wartete immer noch. »Nichts, danke.« Endlich ging er. In Sharis Kopf überstürzten sich die Gedanken. Wie könnte sie es schaffen, an Charlotte vorbei in Peters Krankenzimmer zu gelangen, um zu sehen, wie es ihm ging? Dann endlich könnte sie etwas klarer denken. Mabel! Mabel erfuhr immer alles. Shari konnte sie bitten, bei Charlotte anzurufen. Ihr würde Charlotte sagen, wie es Peter wirklich ging. Shari sprang auf, ging die Treppe hinunter und verließ das leere Haus. Sie lief die Straße hinunter, so sehr darauf konzentriert, zu Mabels Laden zu kommen, daß sie ihre Schmerzen vergaß. Der Laden war leer. Mabel saß auf der Veranda und las einen Western aus dem Regal für Taschenbücher. Ihre Lesebrille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, die Ohrringe baumelten, ihre langen Haare, die sich an der Stirn krausten, hatte sie zurückgebunden. »Was ist los, Shari? Du siehst völlig erledigt aus«, sagte Mabel und schaute über den Rand ihrer Brille. »Hast du gehört, was mit Peter passiert ist?« »Ja, sicher. Armer kleiner Kerl. Nanu, was ist mit deinem Gesicht los?« »Nichts«, sagte Shari. »Mabel, könntest du meine Mutter anrufen und fragen, wie es Peter geht?« »Deine Mutter? Wo ist sie? Ach, bin ich blöd, sie ist sicher im Krankenhaus.« »Ja«, sagte Shari. »Könntest du sie anrufen und sie fragen, wie es Peter geht? Ich meine, so als wolltest du es wissen. Sag ihr nicht, daß ich es möchte.«
»Warum nicht?« Mabel war verwirrt. Shari zuckte mit den Schultern, versuchte zu lächeln und senkte die Augen. »Weil sie wütend auf mich ist.« »Willst du damit sagen, daß sie dir Vorwürfe macht wegen Peters Unfall?« Shari nickte. »Das ist doch Unsinn. Du bist die beste große Schwester, die sich eine Mutter für ihren Jungen wünschen kann. Du kannst Peter doch nicht jede Minute im Auge behalten. Soll ich ihr das sagen?« »Nein, bitte sag ihr gar nichts von mir. Bitte! Ruf nur an und frag, wie es Peter geht.« Mabel streckte ihre knochigen Finger aus und berührte Sharis Backe. »Da hast du aber einen üblen Bluterguß. Du hättest dich besser nicht geprügelt. Und was ist da an deinem Kopf?« Shari wich zurück. »Ach nichts. Ich komm schon klar. Ruf doch bitte gleich an, Mabel.« »Klar doch, mach ich sofort. Komm rein. Möchtest du eine Limonade auf Kosten des Hauses?« Mabel ging zum Telefon hinten im Laden. Während sie wählte, stand Shari vor der Getränketruhe und betrachtete die Stapel bunter Limonadedosen und Flaschen. Plötzlich wurde ihr schwindlig. Shari hielt sich an der Truhe fest. »... also, wenn kein Telefon im Zimmer ist, könnten Sie dann Mrs. Lally bestellen, sie möge Mabel im Laden anrufen?« sagte Mabel ins Telefon. Einen Augenblick später legte sie auf. »Komm, setz dich ein bißchen mit mir nach draußen, Shari. Deine Mutter ruft wahrscheinlich zurück.« Shari fragte, ob sie statt der Limonade auch Milch haben könnte. »Aber sicher. Du siehst wirklich blaß aus, Kind. Nimm
noch einen Krapfen dazu. Die Packung ist schon geöffnet, ich wollte mich heute morgen selbst verwöhnen ... Shari? Geht's dir nicht gut?« Als Shari wieder zu sich kam, sagte Mabel, daß sie in Ohnmacht gefallen war. »Deine Mutter hat inzwischen angerufen. Ich habe ihr gesagt, daß es nur ganz wenige Schwestern gibt, die ihre kleinen Brüder so lieben wie du Peter. Ich glaube nicht, daß sie noch böse auf dich ist. Sie hat gesagt... Fühlst du dich jetzt besser? Ich hab mich fast zu Tode erschreckt, als du so einfach umgekippt bist... Hier, trink noch ein bißchen kalte Milch. Das kommt vom Schock, da geht einem das Blut aus dem Kopf. Ich bin selbst mal ohnmächtig geworden, kaum zu glauben, was, groß, wie ich bin? Und zwar beim Arzt, gerade, als der bei meinem Enkel eine Wunde vernähte. Mein Enkel blieb bei Bewußtsein, nur ich nicht.« Sie lachte über sich selbst. »Was hat sie über Peter gesagt?« fragte Shari müde. »Peter ist in Ordnung, ganz okay«, sagte Mabel. »Ein bißchen benommen von der Gehirnerschütterung, das ist alles.« »Aber er ist wach? Er ist nicht mehr bewußtlos?« »Also, das weiß ich nicht genau, ich glaub schon. Jedenfalls hat sie gesagt, du sollst heimgehen und auf sie warten. Sie ist zum Abendessen wieder da.« »Bringt sie Peter nicht mit?« »Noch nicht, Liebes. Aber mach dir keine Sorgen. Er hat einen Kopf so hart wie ein Fels, der kleine Kerl. Er wird wieder ganz gesund. Sieht aus, als hättest du selbst was auf den Kopf bekommen. Ist das gestern passiert? Als du in der Schlucht warst?« »Ich - weiß nicht«, sagte Shari. Mabel seufzte. »Manchmal«, sagte sie, »wenn Eltern Ärger haben, schlagen sie eben auch die Kinder. Mein Papa hat uns
früher auch ab und zu eine geklebt, so fest, daß unsere Ohren dröhnten. Und hinterher tat er, als wäre nichts passiert. Er hat es nicht böse gemeint, er wollte uns nur richtig und ordentlich erziehen. Die Großmutter von deiner Mama, die Charlotte aufgezogen hat, die hatte auch eine harte Hand. Sie war der Meinung, eine richtige Tracht Prügel könnte nie schaden. So war das früher.« »Ich muß nach Hause«, sagte Shari. »Wie war's, wenn ich dich hinbringe?« »Nein, danke. Ich kann zu Fuß gehen.« »Unsinn«, sagte Mabel. »Ich mach für ein paar Minuten den Laden zu und bring dich heim.« Sie gab Shari gar nicht erst die Möglichkeit zu protestieren, sondern drehte das Schild an der Tür auf »Geschlossen« und schloß die Tür ab. Sie führte Shari zum Auto, das vor dem Haus stand. »Du hast eine nette Familie«, sagte Mabel, als sie rückwärts aus der Einfahrt hinausfuhr. »Doug und Walter sind liebe, fleißige Jungen, und Zeke ist so ein verläßlicher Kerl, wie man ihn sich als Vater nur wünschen kann. Und deine Mama ist nur ein bißchen nervös. Sie ist eben zu oft mit euch vieren allein.« Shari hörte Mabels Worte, aber sie prallten von ihr ab, als redete Mabel von einer ganz anderen Familie. Der einzige, dem sie sich verbunden fühlte, war Peter. Die anderen waren von ihr abgeschnitten. Mehr als je zuvor stand sie draußen, abseits, allein. Als sie vor Sharis Haustür ankamen, lehnte sich Mabel zurück und schaute Shari von der Seite an. »Weißt du, deine Mutter war sehr brav, als sie klein war«, sagte Mabel. »Ihre Großmutter war stolz darauf, wie gut sie sich benahm, wie ordentlich und lieb sie war. Aber als sie dann zur High School kam, hat sie ganz schön nachgeholt. Sie hat geschwänzt und
sich rumgetrieben, und das hätte sie besser nicht tun sollen. Die Leute redeten damals nicht besonders nett über sie. Und dann hat sie Zeke geheiratet, noch bevor sie mit der Schule fertig war. Das hat den Leuten den Mund gestopft, denn alle hatten Zeke gern. Na ja, ich erzähl dir das alles, weil deine Mama vielleicht Angst hat, daß du zu wild wirst und es dann bereuen mußt, wie sie. Vielleicht ist sie deshalb manchmal streng mit dir.« Shari gab einen Ton von sich, der zwischen Lachen und Weinen lag. Mabel war so weit entfernt von der Wahrheit, daß es fast lustig war. »Danke fürs Herbringen«, sagte Shari und versuchte, die Tür aufzumachen. Mabel langte hinüber und öffnete sie. »Du fühlst dich immer noch wacklig?« »Es geht schon wieder«, sagte Shari automatisch. Sie versuchte zu lächeln, stieg aus dem Auto und ging zur Küchentür. Das Erdnußbutterbrot lag noch immer auf dem Boden. Sie hob es auf und warf es in den Mülleimer. Sie mußte bald etwas essen, auch wenn ihr im Moment noch übel war. Sie brauchte Kraft, wenn sie aus dem Haus gehen wollte, bevor Charlotte abends zurückkam. Sie hatte ihrer Mutter absichtlich getrotzt, nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Und durch Mabel wußte Charlotte nun alles. Was würde sie sich diesmal einfallen lassen, um Shari zu bestrafen? Ganz plötzlich erinnerte sie sich an die Hand mit den langen lackierten Fingernägeln, die die Jalousie von Sharis geöffnetem Fenster anhob. Shari war auf dem Baum gewesen und hatte erstaunt die Hand ihrer Mutter beobachtet. Bis sie Chirpy hinausfliegen sah. Sie war vom Baum gerutscht, war ihm bis in den Wald gefolgt, hatte seinen Namen gerufen, aber er kam nicht zurück. Und Charlotte würde nie zugeben, daß es ihre Schuld war. Sie erinnerte sich nicht einmal an das, was sie getan hatte. Und Zeke liebte Char-
lotte. Liebte er auch Charlottes Kind, oder hatte er die ganzen Jahre über nur aus Gutmütigkeit vorgegeben, Sharis Vater zu sein? Oder hatte Charlotte nicht einmal ihm ihr Geheimnis verraten?
Achtes Kapitel
Das Gewicht, das auf ihr lastete, als sie durch die Schlucht kletterte, kam nicht von dem Käfig, in dem Blue Boy sich mit Schnabel und Krallen an die Gitterstäbe klammerte und mit den Flügeln flatterte. Es war nicht einmal die Sorge um Peter. Der Kummer saß tiefer. Shari konzentrierte sich darauf, ihn wegzuschieben, zu verdrängen, damit es ihr nicht mehr weh tun könnte. Sie benutzte einen Trick, der normalerweise immer funktionierte. Sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf die bevorstehende Aufgabe. In diesem Fall auf die Überlegung, wie sie Mrs. Wallace dazu bringen könnte, Blue Boy für eine Weile bei sich aufzunehmen. Auch wenn diese Vogelfreundin dazu bereit war, würde sie doch wissen wollen, warum sie Shari den Gefallen tun sollte. Shari versuchte verzweifelt, eine Ausrede zu finden, aber sie hatte sich noch immer nichts zurechtgelegt, als sie bei Mrs. Wallace an die Tür klopfte. »Komm rein, Mabel«, rief Mrs. Wallace. »Nein, ich bin's.« Shari blieb zögernd auf der Schwelle stehen. Mrs. Wallace beugte sich gerade zum Backofen hinunter. Ein wunderbarer Geruch nach frischem Brot erfüllte die Küche. »Shari! Du kommst gerade zur rechten Zeit. Ich hatte Lust, Brot zu backen, und hoffte die ganze Zeit, irgend jemand würde kommen und es mit mir essen.« Mrs. Wallace richtete sich auf und stellte das heiße Blech mit dem dampfenden Brot auf den Tisch.
»Komm, setz dich«, sagte sie. »Warum hast du deinen Vogel mitgebracht?« Und dann, als sie Shari genauer betrachtete, fragte sie: »Was ist los?« Ihre grauen Augen verengten sich besorgt. »Ist dir was passiert?« »Nein«, sagte Shari. »Könnten Sie - wären Sie so nett, Blue Boy für eine Weile zu versorgen?« »Ihn versorgen? Wieso? Fährst du weg?« »Ja - nein... Ich weiß nicht. Aber mein kleiner Bruder liegt im Krankenhaus, und wenn... Ich hab jetzt einfach keine Zeit, mich um ihn zu kümmern, und ich dachte...« »Shari, wer hat dich geschlagen?« Shari schüttelte ihre Haare nach vorn und senkte den Kopf, um ihr Gesicht zu verbergen. »Niemand«, sagte sie. »Ich hab mich gestoßen. Es ist nichts.« »Nichts?« Mrs. Wallace hob Sharis Kinn und betrachtete ihre Backe, dann untersuchte sie sanft die Beule an Sharis Kopf. »Das muß behandelt werden. Setz dich hin. Während das Brot abkühlt, probiere ich meine Erste-Hilfe-Kenntnisse an dir aus.« Ihre Gelassenheit wirkte beruhigend auf Shari. »Ich hab nämlich einen Kurs mitgemacht«, fuhr Mrs. Wallace fort. »Ich dachte mir, wenn ich schon ganz allein auf dem Berg wohne, sollte ich wenigstens wissen, wie man Schnitte und Quetschungen behandelt.« Sie redete weiter, während sie in das Zimmer nebenan ging, um einen Erste-Hilfe-Kasten und Handtücher zu holen. Schnell kam sie zurück. Vorsichtig wusch sie das getrocknete Blut um die Beule herum mit warmem Wasser ab. »Tu ich dir weh?« fragte sie. »Nein«, sagte Shari. »Du bist eine Stoikerin.« »Was ist denn das?« »Das ist jemand, der Schmerzen gut aushält und dem Härte nichts ausmacht. So nannte man solche Leute im alten Griechen-
land. Sie waren dafür bekannt, daß sie harte Schläge ertragen konnten, ohne zu klagen. Warum hat dich deine Mutter geschlagen?« »Hat sie nicht.« »Ich hab gehört, was deinem kleinen Bruder passiert ist. Mabel hat mich heute morgen angerufen. Ist es passiert, während du gestern bei mir warst?« »Ja. Zuerst wollte er nicht mit, und dann ist er mir nachgegangen, aber allein schaffte er es nicht über den Felsvorsprung, da ist er abgestürzt«, sagte Shari. Sie merkte, daß ihre Stimme bei den letzten Worten immer höher wurde. »Aber dafür konntest du nichts.« »Charlotte erwartet von mir, daß ich auf ihn aufpasse.« »Ständig?« Shari zog die Schultern hoch. »Deine Mutter ist verantwortlich für Peter. Nur wenn du allein mit ihm bist, hast du die Verantwortung.« Zu ihrer eigenen Verblüffung platzte Shari heraus: »Aber sie haßt mich. Sie sagt, ich bin schuld. Und jetzt läßt sie mich noch nicht einmal zu ihm.« »Sicher hat deine Mutter einen Schock bekommen, als sie hörte, was passiert ist« , sagte Mrs. Wallace vorsichtig. »Aber trotzdem, du bist nicht verantwortlich für das, was dein Bruder tut, wenn er nicht bei dir ist.« »Ich hab ihm gesagt, er könnte genauso gut klettern wie ich, und ihm zugeredet, er würde es schaffen. Aber das stimmt nicht, und deshalb ist es passiert.« Shari zitterte. Ihr Kopf tat jetzt fürchterlich weh. »Aber eins verstehe ich immer noch nicht«, sagte Mrs. Wallace, »was hat das mit deinem Sittich zu tun?« »Weil meine Mutter wütend auf mich ist.« Mrs. Wallace stieß einen leisen Pfiff aus. »Aha«, sagte sie.
Sie hörten, wie ein Wagen über die Kiesauffahrt knirschte. »Ich habe Mabel zum Mittagessen eingeladen. Du bleibst auch, Shari. Es gibt selbstgemachtes Blaubeerkompott und guten Käse und Tomaten zum Dillbrot.« »Danke, aber...« Shari wollte höflich ablehnen, aber Mrs. Wallace unterbrach sie. »Bleib. Ich sorge für Blue Boy, so lange es nötig ist. Aber ich erwarte, daß du ihn oft besuchst. Einverstanden?« »Ja, danke«, sagte Shari. Sie fühlte sich schwach. Und es tat ihr sehr gut, in dieser gemütlichen Küche zu sitzen, umsorgt zu werden und etwas zu essen zu bekommen. »Schau mal an, wer da ist«, sagte Mabel. »Setz dich hin, Mabel«, sagte Mrs. Wallace. »Shari leistet uns heute beim Mittagessen Gesellschaft.« »Das ist ja toll. Ich sehe, du hast ein bißchen an ihr herumgedoktert.« »Ich spiele mit dem Gedanken, Sharis Mutter morgen einen Besuch abzustatten«, verkündete Mrs. Wallace. »Das solltest du lieber nicht tun«, sagte Mabel. »So was betrachtet man in der Gegend als Einmischung in die Angelegenheit anderer Leute.« »In manche Sachen muß man sich einfach einmischen.« »Neugierige Nachbarn werden hier nicht besonders geschätzt, Eve. Ich warne dich.« »Ich will Sharis Mutter nur einen höflichen Besuch abstatten.« »Du lebst jetzt schon einige Zeit hier und hast es vorher nie für nötig gehalten, Charlotte Lally zu besuchen. Was willst du ihr denn sagen, warum du vorbeikommst?« »Shari möchte, daß ich ihren Vogel versorge. Ich werde die Erlaubnis ihrer Mutter dafür einholen. Wie wäre das? Ich kann mich auch nach meinem Freund Peter erkundigen.« »Das ist gut, solange du nur nicht hineinstürmst und ihr
vorschreibst, wie sie ihre Kinder zu behandeln hat. Weißt du, eine Menge Leute finden nichts dabei, ihren Kindern mal einen Klaps zu geben, nur damit sie ihnen nicht über den Kopf wachsen. Mach doch aus einer Mücke keinen Elefanten.« »Wieso nimmst du an, ich würde das tun?« »Das seh ich doch an deinem Blick«, sagte Mabel. »Ich kenne dich jetzt lange genug, ich seh dir an, wann du auf die Barrikaden steigst.« »Sag mal, Mabel, wenn du sehen würdest, daß eine Mutter ihr Kind vor deinem Laden verprügelt, würdest du ruhig dabei zuschauen, oder würdest du dann nicht aufspringen und versuchen, sie davon abzuhalten?« »Sharis Eltern verprügeln sie nicht!« rief Mabel entsetzt aus. Sie wandte sich an Shari. »Oder tun sie das?« »Nein«, sagte Shari und leugnete damit, was sie sogar vor sich selbst nicht zugeben wollte. »Und wo kommt dann dieser handgroße Fleck auf ihrer Backe her? Und die Beule an ihrem Kopf?« »Shari?« Mabel suchte die Bestätigung, daß Mrs. Wallace unrecht hatte. »Ich hab mich gestoßen.« Shari schützte nicht nur Charlotte vor Schande, sondern auch ihre Brüder, ihren Vater und sich selbst. Tief in ihrem Innern hatte sie das Gefühl, sie müsse selbst an dem schuld sein, was ihr angetan wurde. »Na, siehst du?« sagte Mabel zu Mrs. Wallace. »Dieses Kind stammt aus einer ganz normalen Familie. Ich kenn ihre Mutter von klein an. Sie ist keine schlechte Frau. Vielleicht waren Charlottes Großeltern strenger zu ihr, als es ihr gutgetan hat, und haben sie zu sehr behütet. Dann bekam sie einen Mann, der dasselbe tat, bis er diesen Job als Fernfahrer kriegte. Jetzt ist sie mit vier Kindern allein, und das hat ihre Nerven zu sehr strapaziert.«
»Dann sollten gute Nachbarn ihre Hilfe anbieten, wenn es ihr zuviel wird«, sagte Mrs. Wallace rasch. »Hauptsache, du beschuldigst Charlotte nicht«, sagte Mabel. »Das würde auch Shari nichts nützen, weißt du. Wo könnte sie denn hingehen, wo es besser ist als bei ihr zu Hause?« »Zu mir, wenn sie will.« Diese Antwort ließ Mabel verstummen. Shari schaute Mrs. Wallace erstaunt an. »Ich könnte hier bleiben?« fragte sie. »Warum nicht?« sagte Mrs. Wallace bestimmt. »Ich habe zwei leere Betten oben in der Mansarde, die von meinen Enkelinnen selten benützt werden. Eine Menge Platz und viel Zeit.« Sie lächelte. »Das wäre eine Möglichkeit, mir deine Hilfe beim Vogelprojekt zu sichern, Shari.« »Oh, Mrs. Wallace!« Shari merkte, daß ihr Tränen in die Augen schossen. »Na, na«, sagte Mrs. Wallace. »Es ist ja nur ein Angebot. Überleg's dir mal auf alle Fälle. Und jetzt wollen wir essen.« Shari ging ins Badezimmer, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Als sie zurückkam, sprachen Mrs. Wallace und Mabel über das Vogelprojekt. Sie erörterten, wie das Nylonnetz, in dem sich die Vögel fangen sollten, aufzuspannen sei. Es mußte so gespannt werden, daß die Vögel sich nicht verletzten. »Es sind vier quadratische Segel, glaube ich, in die die Vögel hineinfliegen und in denen sie sich verfangen. Man muß ein paarmal am Tag hingehen und sie befreien. Den Metallring hat man in Sekunden angeknipst. Und wenn man sie freigelassen hat, notiert man es. Ich habe schon dabei zugeschaut, es aber noch nie selbst gemacht«, sagte Mrs. Wallace. Shari aß von dem knusprigen, zart duftenden Dillbrot. So gut hatte ihr Brot noch nie geschmeckt. Sie aß eine zweite Scheibe und dann eine dritte. Die Wärme in der Küche, die vom Herd kam, und das Schwindelgefühl in ihrem Kopf machten
sie schläfrig. »Du legst dich jetzt auf mein Bett und schläfst etwas«, sagte Mrs. Wallace. Sie brachte Shari in ein Zimmer mit lilafarbenen Wänden. Auf dem Bett lag eine mit Flieder bedruckte Tagesdecke. Daneben standen Regale mit verschiedenen Gegenständen: ein bemalter Fächer mit Spitzen; eine Tänzerin aus Porzellan; Muscheln, größer als die größten Kiefernzapfen; eine lustige, kegelförmige Puppe; eine silberne Kutsche. Der Kristallschwan war auch da. Vorsichtig fuhr Shari mit dem Finger an seinem schlanken, glatten Hals entlang. Mrs. Wallace beobachtete sie. »Du hast ihn sehr gern, nicht?« »Er hat so etwas Tröstliches.« Shari streckte sich auf dem Bett aus, und Mrs. Wallace breitete eine Wolldecke über sie. »Weißt du was? Er soll bei dir sein, solange du ihn brauchst. Du kannst ihn nachher mitnehmen.« Dann strich sie Shari noch einmal übers Haar und verließ das Zimmer. Shari schloß dankbar die Augen. Tatsächlich schlief sie bald ein. Sie träumte, sie stünde vor Peters Krankenhausbett und schaute über den fahrbaren Tisch in das blasse, runde Gesicht ihres Bruders. »Geht es dir wirklich gut?« fragte sie ihn. »Shari, wo warst du? Ich hab dich vermißt.« »Jetzt bin ich da. Du weißt doch, ich wäre bei dir, wenn ich könnte, Peter-Schatz.« Und dann nahm sie ihn in die Arme mit dem beruhigenden Gefühl, daß er bald wieder gesund sein würde. Als sie aufwachte, fühlte sie sich wie neugeboren. Sie stand auf und ging in die Küche. Mabel wollte gerade gehen und bot Shari an, sie mit dem Auto heimzubringen. »Ja, gern«, sagte Shari. Dann zögerte sie. Sie wollte Mrs. Wallace für all ihre Freundlichkeit danken, vor allem für das Angebot, bei ihr zu wohnen. Nur danke zu sagen reichte in
diesem Fall nicht. Daher machte Shari das einzige, was ihr einfiel. Sie legte ihre Arme um Mrs. Wallaces stämmige Figur und schmiegte sich an sie. »Schon gut«, sagte Mrs. Wallace und sah sehr zufrieden aus. »Ruf mich einfach an, wenn du mich brauchst.« »Haben Sie das wirklich so gemeint, daß ich den Kristallschwan behalten darf?« »Genau das habe ich gemeint«, sagte Mrs. Wallace. »Und mein Angebot, daß du hierbleiben darfst, habe ich auch ernst gemeint.« Sie holte den Schwan und wickelte ihn in ein Papierhandtuch, und Shari nahm ihn in die Hand. In ihren Augen war er sehr wertvoll, nicht nur, weil er schön war, sondern vor allem, weil er zeigte, daß Mrs. Wallace an sie glaubte.
Neuntes Kapitel
C harlotte war beim Abendessen gut gelaunt. »Der Arzt hat gesagt, Peter hätte zum Krüppel werden können«, erzählte sie, »oder einen Gehirnschaden davontragen, aber das sei zum Glück nicht passiert. Das ist nicht dein Verdienst, mein Fräulein. Wo warst du übrigens den ganzen Tag? Wieder im Wald?« »Ich habe Blue Boy zu Mrs. Wallace gebracht und ihn dort gelassen.« »Wieso?« Der scharfe Ton in Charlottes Stimme weckte Dougs Aufmerksamkeit, und sogar Walter schaute von seinem Buch hoch, das er beim Essen las. »Mir ist zur Zeit nicht danach, auf Blue Boy aufzupassen, nicht bis Peter wieder gesund ist«, sagte Shari und fügte hinzu: »Mrs. Wallace kommt vielleicht bei dir vorbei. Sie will fragen, ob es dir recht ist, wenn sie meinen Vogel behält.« »Bist du verrückt geworden? Was kümmert das mich, was sie mit ihm macht. Laß dir nur ja den Käfig bezahlen, wenn sie ihn behält.« Charlotte sah sie argwöhnisch an. »Hast du ihr irgendwas erzählt?« »Was?« »Zum Beispiel, wie sehr du deine Mutter haßt oder so was Ähnliches.« »Ich erzähle nichts herum«, sagte Shari. »Außerdem bist du doch diejenige, die mich haßt.« Sobald die Worte heraus waren, stand Shari auf und wich aus lauter Angst vor neuen
Schlägen zurück. »Setz dich wieder hin«, sagte Charlotte. »Ich tu dir doch nichts. Ich bin nur wütend, weil du nicht besser auf Peter aufgepaßt hast. Stell dich nicht an, als hättest du plötzlich Angst vor mir. Du hast in deinem ganzen Leben keine Angst vor mir gehabt.« »Ich will nicht geschlagen werden«, sagte Shari. »Ich schlage dich doch nicht. Hin und wieder ein Klaps, das ist doch kein Schlagen. Und fühlst du überhaupt was? Du hast nie was gefühlt. Selbst als du klein warst, hast du nicht geweint. Ich hab mich immer gefragt, ob du überhaupt ein Mensch bist, weil dir anscheinend nie etwas weh getan hat.« »Manchmal heult sie schon«, sagte Walter schnell. »Ich hab es gesehen.« »So?« Charlotte schaute zu ihm hin und wieder weg. »Nun, dann hast du mehr gesehen als ich«, sagte sie und fing an, das Geschirr abzuräumen. Shari hatte noch nicht fertiggegessen, aber sie nahm ihren Teller und trug ihn zur Spüle. »Ich bin für morgen zum Angeln eingeladen«, sagte Doug. »Willst du mich am Gemüsestand vertreten, Shari, zusammen mit Walter?« »Ja«, sagte sie und freute sich, daß er ihr vertraute. »Wir zahlen dir einen bestimmten Prozentsatz von dem, was wir einnehmen. Nicht viel. Sagen wir zehn Prozent? Vielleicht zwanzig, je nachdem, ob es ein guter Tag wird oder nicht.« »In Ordnung.« Shari hätte auch eingewilligt, die Arbeit umsonst zu machen. Aber sie dachte, sie könnte das Geld dazu verwenden, um etwas Schönes für Peter zu kaufen. »Ich bin mit allem einverstanden.«
Als sie allein in ihrem Zimmer war, stand sie einen Moment untätig da. Sie dachte daran, wie angenehm der morgige Tag sein würde im Schatten des Baums, wo die Jungen ihren Gemüsestand aufgestellt hatten. Walter würde lesen, wenn gerade keine Kunden da waren, und sie würde die vorbeifahrenden Autos beobachten, Wechselgeld herausgeben und den Mais und die Tomaten für die Kunden einpacken. Die Stunden würden rasch vorbeigehen, und es wäre wieder ein Tag näher an Peters Entlassung aus dem Krankenhaus und wieder ein Tag näher, daß Zeke heimkäme. Sie mußte Zeke fragen, und sollte sich herausstellen, daß sie Freundlichkeit für Liebe gehalten hatte, dann würde sich ihr ganzes Leben ändern. Sie setzte sich auf ihr Bett, nah ans Fenster, und lauschte den einlullenden Geräuschen der Nacht, dem Schrei eines Raubvogels, dem Zirpen und Schwirren der Insekten, dem Zischen eines vorbeirasenden Autos. Der Wind spielte leise mit den Blättern. Normalerweise beruhigten diese Geräusche sie, aber noch immer schmerzte in ihrer Brust etwas. Und der Schmerz dehnte sich so schnell aus, daß Shari Angst hatte, ihn nicht mehr bändigen zu können. Es waren Charlottes Worte, die weh taten. Sie hatte Angst herauszufinden, wer sie war. Vielleicht würde sie entdecken, daß sie wirklich ganz allein war und daß es niemanden mehr gab, der sie liebte und den sie lieben könnte. Walter und Shari kamen träge von ihrem Tag am Gemüsestand heim. Charlotte lag auf einer zusammenklappbaren Metalliege in der Einfahrt, rauchte und blätterte in einer Filmillustrierten aus Betsys Geschäft, die sie sich regelmäßig auslieh. »Deine Freundin ist hier gewesen«, sagte Charlotte zu Shari. »Sie scheint ja ganz begeistert von dir zu sein. Sie hat ein Brot
mitgebracht, das sie selbst gebacken hat. Sie sagt, ihr hättet so viel gemeinsam, du und sie, eure Begeisterung für Vögel und so weiter. Ich hab ihr gesagt, ich hätte nichts dagegen, wenn sie deinen Sittich eine Weile behält.« »Gut«, sagte Shari, erleichtert, daß Charlotte sich über den Besuch von Mrs. Wallace nicht geärgert hatte. »Sie hat mich eingeladen, mal bei ihr vorbeizuschauen«, fuhr Charlotte fort. »Ich hab ihr erklärt, daß ich mit meiner alten Klapperkiste die Schotterstraße zu ihrem Haus nicht schaffe. Ich hab ja schließlich keinen Allradantrieb wie sie... Sieht so aus, als wäre sie gern allein dort oben.« »Sie hat nichts dagegen, allein zu sein«, bestätigte Shari. »Genau wie du. Ihr paßt gut zueinander, du und diese komische alte Frau.« »Sie ist nicht komisch«, sagte Shari. »Häng nicht zuviel bei ihr rum, sonst bist du bald nicht mehr willkommen.« »Das wird nicht passieren.« Shari fühlte, wie der Ärger in ihr stieg, und dann platzte es aus ihr heraus: »Mrs. Wallace hat gesagt, ich könnte bei ihr wohnen, wenn ich will.« »Das hat sie wirklich gesagt?« Charlotte richtete sich halb auf. »Ja.« Charlottes Stimme wurde schrill. »Und du würdest da wirklich hinziehen?« »Vielleicht.« »Von dir hab ich auch nichts anderes erwartet. Uns aus heiterem Himmel verlassen, einfach so.« Charlotte schnippte mit den Fingern, um zu unterstreichen, was sie meinte. »So, als ob deine Familie dir nichts bedeutet.« »Willst du nicht warten, bis Peter aus dem Krankenhaus kommt?« fragte Walter.
»Ich weiß nicht«, sagte Shari. Sie fühlte sich stark. Charlottes Augen füllten sich mit Tränen. Sie war offenbar hin- und hergerissen zwischen Verletztsein und Wut. Die Wut gewann schließlich die Oberhand. »Wag ja nicht, zu dieser Frau zu gehen. Wir sind deine Familie, und du gehörst zu uns.« »Eben nicht«, sagte Shari. »Du hast selbst gesagt, daß ich zu niemandem hier gehöre, außer zu dir. Und du haßt mich.« Sie flog, flog über den Abgrund, erstaunt über ihren eigenen Mut. »Lauf, Shari!« rief Walter. Er war dabei, das unverkaufte Gemüse auf dem Autoabstellplatz unterzubringen. Charlotte war von der Liege hochgesprungen und kam, die Hand zum Schlag erhoben, auf Shari zu. Instinktiv rannte Shari in Richtung Wald. Erst wollte sie zu Mrs. Wallace laufen, doch dann fiel ihr ein, daß Charlotte sie dort zuerst suchen würde. Bergauf also. Shari rannte im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch auf den Adlerthron zu. Wie hatten diese Worte über ihre Lippen kommen können? Ihr ganzes Leben lang hatte sie geschwiegen, doch in letzter Zeit schienen die Worte von selbst aus ihr herauszusprudeln, sobald sie den Mund aufmachte. Shari verstand nicht, was in sie gefahren war. Ihre Selbstbeherrschung war bisher immer ihr größter Schutz gewesen. Ein paar Stunden später beobachtete sie von einem Felsvorsprung in der Nähe des Berggipfels aus, wie sich die Schatten über die Talsohle ausbreiteten. Am fahlen Abendhimmel zeigte sich ein einziger Stern. Die Dunkelheit stieg von der Erde auf zum Himmel. Und Shari saß unbeweglich da und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Zeke war nicht ihr richtiger Vater. Aber was noch schlimmer war - Peter war nicht ihr richtiger Bruder. Ihre einzige wirkliche Verwandte war Char-
lotte. Shari trauerte um die Familie, die sie verloren hatte. Stunde um Stunde trauerte sie, Stunde um Stunde, bis der Schmerz vergangen war. Schließlich tastete sie sich im Mondlicht bergab, zum einzigen Ort, wohin sie gehen konnte, um dem Zorn ihrer Mutter zu entfliehen. Kurz vor Mitternacht klopfte sie an die Tür von Mrs. Wallace. Mrs. Wallace öffnete. Unter einem Flanellmorgenrock trug sie ein Nachthemd. Ihr Gesicht war genauso frisch und ihre weißen Haare genauso ordentlich wie tagsüber. »Shari, was machst du denn hier mitten in der Nacht?« fragte sie. »Ich hab Licht bei Ihnen gesehen und dachte, Sie sind vielleicht noch wach.« »Bin ich auch. Komm rein. Ich lese gerade ein langweiliges Buch über Eisenbahnen. Und langweilige Bücher bringen mich entweder zum Einschlafen, oder sie liefern mir soviel neue Informationen, daß sich das Wachbleiben lohnt. Probier's doch mal selbst aus, Shari, wenn du schwer einschlafen kannst.« Ohne Shari zu fragen, ob sie Hunger habe, führte Mrs. Wallace sie zum Küchentisch und stellte Essen vor sie hin. »Nimm was von dem Huhn, ich mach inzwischen Milch heiß für einen Kakao. Oder magst du ihn lieber kalt?« »Wie es Ihnen am liebsten ist«, sagte Shari. »Also heiß... Die Polizei war heute abend hier.« Mrs. Wallace warf Shari einen Blick zu und fuhr fort: »Deine Mutter scheint sie geschickt zu haben. Ich denke, wir sollten deine Mutter anrufen und ihr sagen, daß es dir gutgeht.« »Sie haben gestern gesagt, ich könnte bei Ihnen bleiben. Haben Sie das ernst gemeint?« fragte Shari. »Ja. Aber du siehst doch ein, daß es nur geht, wenn deine Familie damit einverstanden ist.«
Shari mußte an Peter denken. Er würde aus dem Krankenhaus kommen und sie vermissen, wenn sie nicht da wäre. Auch wenn er nicht ihr richtiger Bruder war - er würde sie vermissen. Natürlich könnte sie immer noch mit ihm Zusammensein. Es sei denn, Charlotte würde ihm verbieten, sie wiederzusehen. »Meine Mutter ist wütend geworden, als ich ihr erzählt habe, daß Sie gesagt haben, ich könnte bei Ihnen wohnen«, sagte Shari. »Ich weiß«, antwortete Mrs. Wallace trocken. »Sie beschuldigte mich am Telefon, ich würde dich ihr abspenstig machen.« »Ich versteh wirklich nicht, warum sie so was sagt. Ich bin ihr doch sowieso egal«, sagte Shari. »Möchtest du nicht warten, bis dein Vater nach Hause kommt, und die Sache mit ihm besprechen?« fragte Mrs. Wallace. »Ich hab keinen Vater«, sagte Shari. Mrs. Wallace goß heiße Schokolade in einen Becher und gab ihn ihr. Dann goß sie sich selbst eine Tasse voll ein. Schließlich setzte sie sich hin. »Du sagst Sachen!« Eine Motte taumelte um das Licht der Lampe, die über ihnen hing. »Hat dir deine Mutter erzählt, daß du keinen Vater hast?« »Ja.« »Ist das der Grund, weshalb du heute abend weggelaufen bist?« »Kann schon sein. Ich nehm an, daß die ganze Sache deshalb passiert ist, weil es mich so verrückt gemacht hat, daß... Ich weiß nicht. Es ist so schrecklich, wenn man merkt, daß man nicht das ist, was man immer geglaubt hat. Mein ganzes Leben lang habe ich gedacht, Zeke sei mein Vater.« »Und du warst glücklich darüber?«
»Ja. Zeke ist großartig. Und er ist gut zu mir. Auch wenn er natürlich meine Mutter am meisten liebt.« »Und daß er nicht dein Vater ist, tut dir weh. Ich seh es dir an.« »Ja, es tut weh. Ganz schrecklich weh.« »Hat Charlotte dir gesagt, wer dein richtiger Vater ist?« »Nein. Ich hab auch nicht daran gedacht, sie zu fragen. Sie mochte ihn nicht sehr, nachdem... Sie sagte, er hat sie verlassen, als...« Shari sprach immer leiser. Ihre alte Gewohnheit, nicht über die Angelegenheiten ihrer Familie zu reden, brachte sie schließlich dazu, ganz zu schweigen. »Vielleicht mochte ihn deine Mutter nur deshalb nicht, weil er sie verlassen hat. Es könnte doch sein, daß du irgendwo in der Welt einen sehr netten Vater hast, Shari.« Shari schüttelte den Kopf. »Es ist mir egal. Auch wenn Zeke nicht mein Vater ist, brauche ich niemanden außer ihn.« »An deiner Stelle würde ich ihm das sagen.« »Ihm was sagen?« »Daß du ihn liebhast, natürlich. Wahrscheinlich liebt er dich genauso wie du ihn.« »Meinen Sie, er weiß, daß er nicht mein richtiger Vater ist?« »Was glaubst du denn?« Shari überlegte. »Ich könnte ihn fragen, wenn er zurückkommt. Dann, wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich und wohne bei Ihnen.« »Was sollte mir das ausmachen?« sagte Mrs. Wallace. »Es wäre eine Freude für mich. Du bist etwa so alt wie meine Enkeltöchter. Für mich wäre das, als hätte ich ein drittes Enkelkind bei mir.« Diese Worte berührten Shari, sie wußte nicht, was sie darauf sagen sollte. Aber Mrs. Wallace verstand sie auch ohne Worte. Sie drückte Sharis Hand. »Mach noch einen Besuch bei Blue
Boy, während ich deine Mutter anrufe und ihr sage, daß du bei mir bist.« »Mir wäre es lieber, wenn Sie die Polizei anrufen, damit die es ihr sagen«, meinte Shari. »Wie du willst.« Mrs. Wallace rief beim Polizeirevier an. Dort sagte man ihr, sie solle Shari bei sich behalten, ein Polizist würde sie abholen. Mrs. Wallace legte den Hörer auf und sagte: »Ich nehme an, du mußt heute nacht nach Hause, egal ob ich es will oder nicht.« Shari sah unglücklich aus. »Weißt du«, sagte Mrs. Wallace, »Mabel, meine gute Freundin Mabel glaubt, jede Mutter liebe ihr Kind, und die Pflicht des Kindes sei es, die Mutter zu lieben. Glaubst du, daß Mabel recht hat?« »Ich weiß nicht.« Das war eines der Themen, über die Shari lieber nicht nachdachte. Sie schaute Mrs. Wallace an, die geduldig auf eine Antwort wartete. Ihr zuliebe machte Shari einen Versuch. »Manchmal kann man jemanden einfach nicht lieben. Und ich glaube, manche Kinder sind auch nicht besonders liebenswert. Ich glaube... Ach, ich weiß nicht.« »Ich weiß es«, sagte Mrs. Wallace. »Ich habe Mütter kennengelernt, die ihre Kinder nicht lieben. Andere hacken auf einem Kind herum. Und es kommt vor, daß eine Mutter überhaupt nicht liebesfähig ist. Manchmal passen auch eine Mutter und ein Kind einfach nicht zusammen. Das Kind braucht gar nicht schlimm zu sein, die Mutter auch nicht. Sie kommen nur nicht miteinander aus.« »Ich hasse meine Mutter.« Sharis Stimme klang heiser. »Manchmal hasse ich sie wirklich.« Der Atem stockte ihr vor dem, was sie da gesagt hatte. Diesen Gedanken hatte sie bisher nie aufkommen lassen, hatte ihn immer unterdrückt und nie wahrhaben wollen. Das Äußerste
war die Vorstellung gewesen, daß Charlotte diejenige war, die haßte. Falls Mrs. Wallace schockiert war, zeigte sie es nicht. Sie sagte nur: »Wenn du älter und selbständig bist, wirst du deine Mutter vielleicht besser verstehen und ihr verzeihen.« »Nie«, sagte Shari. »Ich werde ihr nie verzeihen. Sie hat mir Zeke und Peter weggenommen.« »Shari, das kann sie doch gar nicht, dazu hat sie nicht die Macht.« Mrs. Wallace legte ihre Hand über Sharis Hand. Shari widersprach nicht, aber sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Als der Sheriff kam, müde und mit roten Augen, zeigte Mrs. Wallace Shari gerade die Gästebetten im Dachzimmer, wo ihre Enkelinnen gewöhnlich schliefen. Mrs. Wallace bot dem Sheriff eine Tasse Kaffee an, doch er lehnte höflich ab und sagte zu Shari: »Los, Mädchen. Deine arme Mutter kann erst schlafen, wenn sie ihre Kleine glücklich und wohlbehalten bei sich hat.« »Ich hoffe, die arme Mutter wird heute abend nicht die Nerven verlieren«, sagte Mrs. Wallace kühl, faßte Shari am Kinn und drehte es so ins Licht, daß der Sheriff ihre Backe mit dem Bluterguß sehen konnte. »Ich verstehe«, sagte der Sheriff. »Also, wenn etwas nicht in Ordnung ist, erwarte ich, daß mir jemand davon berichtet.« »Ich werde Ihnen berichten, sobald ich etwas höre«, sagte Mrs. Wallace. »Noch irgendwelche Probleme mit dem Heimgehen, junges Fräulein?« fragte der Sheriff und sah Shari prüfend an. »Alles in Ordnung.« »Sie ist ein tapferes Mädchen«, meinte Mrs. Wallace zum Sheriff. »Gut, gut. Ich werde die Frau wissen lassen, daß ihre Tochter
Freunde gefunden hat. Mehr als ein oder zwei solcher Hinweise sind in der Regel nicht nötig.« Mrs. Wallace umarmte Shari. »Mach's gut und laß von dir hören!« Shari stieg ins Auto, und der Sheriff fuhr ab. Sie konnte die rundliche Gestalt noch lange in dem erleuchteten Türviereck sehen. Als Shari aus dem Auto des Sheriffs stieg, erwartete Charlotte sie mit offenen Armen. Es war das erste Mal seit Jahren, daß Shari von ihrer Mutter umarmt wurde. »Na, dann ist im Augenblick ja alles in Ordnung. Und im Bedarfsfall werde ich wohl gerufen«, sagte der Sheriff. Es blieb offen, ob er zu Shari sprach oder zu Charlotte. »Zeke hat angerufen, und ich hab ihm gesagt, daß du verschwunden bist«, sagte Charlotte atemlos. »Er will so bald wie möglich kommen. Vielleicht schafft er es, vor morgen abend hier zu sein. Aber vorher haben wir zwei noch etwas zu besprechen.« Shari sah sie müde an. Charlotte schob sie die Treppe hinauf. »Morgen«, sagte sie. »Jetzt müssen wir schlafen.« Als Shari allein in ihrem Zimmer war, griff sie in den Stiefel, in dem sie den Kristallschwan versteckt hatte. Den Vogel in der Hand, streckte sie sich auf ihrem Bett aus und starrte vor sich hin. Bei Mrs. Wallace zu leben wäre zwar schön, hieße aber auch ein Leben ohne Peter. Es wäre schwierig, ihn zu sehen, und mit der Zeit würden sie einander vielleicht fremd werden. Sharis Sehnsucht, Peter jetzt zu sehen, genau in diesem Augenblick, war ungeheuer groß. Sie hatte Angst, ihn zu verlieren. Schon einmal hatte sie diese Angst gepackt, dort in der Schlucht, als sie dachte, er sei tot. Ihr war klar, daß sie Peter mehr brauchte als er sie. Er gehörte zu einer Familie. Doch sie war nur seine Halbschwester. Und die Halbschwester
von Doug und Walter. Mit Zeke war sie nicht einmal blutsverwandt. Ihr ganzes Leben lang hatte sie geglaubt, zu einer Familie zu gehören und wenigstens mit einem Bruder eng verbunden zu sein. Doch alles, was ihr jetzt blieb, war Charlotte. Sie umklammerte den Kristallschwan und versuchte, bei ihm Trost zu finden. Aber nichts linderte ihre Qualen, auch nicht die Tränen, die schließlich in ihr aufstiegen. Charlotte berührte sie an der Schulter, und Shari schlug die Augen auf. »Du hast verschlafen. Es ist fast Mittag. Noch nie hast du so lange geschlafen. Hast dich wohl gestern müde gemacht mit dem Herumrennen, was?« Vorsichtig schaute Shari ihre Mutter an. Charlotte strahlte und sah erwartungsvoll aus. Sie wirkte mädchenhaft in ihren Jeans und dem engen grünen T-Shirt, das genau die Farbe ihrer Augen hatte. »Zeke kommt«, sagte Shari. Plötzlich erinnerte sie sich. »Er müßte zum Abendessen hier sein. Dank dir und deinen Spinnereien. Warum bist du gestern weggelaufen?« Shari konnte keinerlei Zorn aus der Stimme ihrer Mutter heraushören. Wahrscheinlich war Charlotte einfach froh über einen Vorwand, Zeke bald zurückzuhaben. »Stimmt das, was du mir erzählt hast, daß er nicht mein Vater ist?« traute sich Shari zu fragen. Gleichzeitig kroch sie in die entfernteste Ecke ihres Bettes, setzte sich aufrecht hin und zog die Knie schützend vor die Brust. »Soll ich dir mehr darüber erzählen?« Charlottes Stimme klang auffallend freundlich. Ohne Sharis Antwort abzuwarten, hockte sie sich aufs Bett, zog die Knie an und umfaßte sie mit beiden Händen, so daß sie Shari wie ein Spiegelbild gegenübersaß. »Ich ging noch zur Schule«, fing Charlotte an. »Ich war
hübsch, und alle Jungen waren hinter mir her, aber dein Vater war der einzige, den ich wollte. Frag mich nicht, warum. Es war nichts Besonderes dran an ihm, er war nur ein kleiner, drahtiger, dunkelhaariger Kerl, kein schöner Fußballertyp, das kannst du mir glauben. Er gab Flugstunden auf dem Flugplatz und war viel älter als ich, aber ich ging mit ihm... Er ließ mich sitzen, als ich ihm sagte, daß ich ein Kind kriege. Rannte Hals über Kopf davon, obwohl er fünfundzwanzig war und ich noch ein Kind. Er liebe mich überhaupt nicht, sagte er.« Ihre Stimme wurde hart. »Seine ganze Liebe gehörte dem Fliegen. Später habe ich in der Zeitung gelesen, daß er tödlich verunglückt war. Nächtelang sah ich ihn im Traum vom Himmel fallen. Nicht, daß es mir was ausgemacht hätte. Um mich hatte er sich nicht gekümmert, warum sollte ich jetzt um ihn trauern? Jedenfalls, statt in die Modebranche zu gehen, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte, heiratete ich Zeke und bekam dich, und das ist es, was ich deinem Vater zu verdanken habe.« »Hast du Zeke geliebt?« »Als wir geheiratet haben, noch nicht. Er war schon lange in mich verliebt. Ich hab mich manchmal von ihm zum Flughafen hinausfahren lassen, und er hat mir ins Gewissen geredet, weil ich dauernd die Schule schwänzte. Ich hatte einen so chaotischen Stundenplan, daß ich einfach aus der Schule verschwinden konnte. Die Lehrer hatten keine Ahnung, weil sie selber nie wußten, in welchem Kurs ich hätte sein müssen. Wenn meine Großeltern das erfahren hätten, sie hätten mich umgebracht.« Shari rührte sich nicht, und Charlotte fuhr fort: »Sie wollten den armen Zeke umbringen, als wir durchbrannten. Sie glaubten, er wäre an allem schuld.« Charlottes Gesicht verzog sich bekümmert. »Sie waren stinksauer auf mich, klar. Und als sie dann nach Florida gezogen waren, ließen sie nichts mehr von
sich hören. Erst später kamen wir wieder in Kontakt, und sie wollten, daß ich sie besuche, aber wie hätte ich das schaffen sollen, mit drei kleinen Kindern? Ich hatte nie den Mut, ihnen zu sagen, daß ich nicht durch Zekes Schuld schwanger geworden bin. Niemand wußte das, nur Zeke und ich.« »Aber jedenfalls habt ihr euch wieder ausgesöhnt.« »So kann man es nennen. Sie vermachten mir ihr Geld, als sie starben, und davon konnten wir uns das Haus hier kaufen. Natürlich hätte ich lieber eine Wohnung in der Stadt, aber Zeke wollte nicht weg von hier.« Sie seufzte tief. »Ich hab dir doch gesagt, daß Mrs. Wallace mir angeboten hat, bei ihr zu wohnen«, sagte Shari. »Ja, und?« »Also, ich geh vielleicht.« »Das wundert mich nicht, daß du so was vorhast. Du bist imstande und blamierst uns, indem du zu einer Wildfremden ziehst. Als könnten wir nicht gut für dich sorgen.« »Ich will euch nicht blamieren. Es ist nur...« »Nimm bloß keine Rücksicht auf mich! Wer mich kennt, weiß Bescheid. Ich geb mir große Mühe, eine gute Mutter zu sein, obwohl es mir zum Hals raushängt. Mir kann keiner nachsagen, ich würde mich in Bars herumtreiben, wie manche Frauen, deren Männer nie zu Hause sind. Du bist diejenige, die schlecht dasteht, wenn du hier ausziehst, nicht ich.« »Ich kümmere mich nicht drum, was die Leute von mir denken«, sagte Shari ruhig. »Ja, das ist dein größter Fehler. Du kümmerst dich um niemand außer um dich selbst.« »Das ist nicht wahr«, widersprach Shari. Charlotte war aufgestanden und wollte aus dem Zimmer gehen. »Um wen kümmerst du dich denn?« fragte sie von der Tür. »Um Peter und Zeke. Und um Mrs. Wallace.« »Da gibt es jemanden, der dir eigentlich mehr bedeuten
sollte«, sagte Charlotte bitter und knallte die Tür hinter sich zu. Der Kristallschwan grub sich in Sharis Ellenbogen, als sie aufstand. Sie drückte ihn an ihr Gesicht, er fühlte sich kühl an. Dann steckte sie ihn zurück in den Stiefel. Während sie sich anzog, dachte sie darüber nach, was Charlotte ihr erzählt hatte. Daß ihr Vater Pilot gewesen war, schien für Shari ein Omen zu sein. Etwas hatte sie doch von ihm bekommen: seine Gewandtheit und seine Sehnsucht, schwerelos durch die Luft zu segeln. Sie war zum Fliegen geboren, und niemand konnte sie davon abhalten, Pilotin zu werden. Ihr würde es nicht so ergehen wie ihrer Mutter, die ihr Leben lang nicht erreicht hatte, was sie eigentlich wollte. Wenn Charlotte nicht so gehässig wäre, hätte Shari Mitleid mit ihr haben können. Doch so konnte sie ihr nicht verzeihen, auch wenn sie jetzt verstand, woher die Bitterkeit ihrer Mutter kam. Das plötzliche Spektakel eines zornigen blauen Eichelhähers vor ihrem Fenster erinnerte sie an Blue Boy. Wenn sie bei Mrs. Wallace wohnte, hatte sie ihn wieder. Doch dann würde ihr Peter fehlen. Wenn sie doch Peter nur mitnehmen könnte! Bevor sie Charlotte wütend machte, hätte sie fragen sollen, wann Peter heimkommen würde. Charlotte konnte ganz leicht verbieten, daß Shari ihn besuchte, und allein kam er nicht durch die Schlucht zu ihr. Und den langen Weg entlang der Schnellstraße konnte er genausowenig gehen, wenn niemand ihn im Auto mitnahm. Besser, sie sprach erst mit Zeke, bevor sie einen endgültigen Entschluß faßte. Als Shari aus dem Badezimmer kam, sah sie, wie Charlotte ihre Autoschlüssel aus der Handtasche holte und eine Schachtel Zigaretten aus der Schublade nahm. »Ich fahre ins Krankenhaus«, sagte sie. »Wie geht's Peter?«
»Gut. Es wird schon wieder.« »Kann ich mitkommen?« »Nein, du bleibst hier. Peter wird sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, daß er dich nicht mehr dauernd um sich hat, wenn du weggehst.« Charlotte wandte sich schnell ab und verließ das Haus. Shari wäre gern mit ihr gegangen. Aber sie wußte, wie sinnlos es war, Charlotte darum zu bitten, sie mitzunehmen. Sie horchte, wie sich das Motorengeräusch immer weiter entfernte. Es sah nach Regen aus. Schwere Wolken und fernes Donnergrollen kündeten Regen an. Shari überlegte, ob sie in den Wald laufen sollte, ließ es dann aber lieber bleiben. Um auf andere Gedanken zu kommen, beschloß sie, Schokoladenkekse zu backen. Gut, daß genügend Blockschokolade im Haus war für die Kekse, die Zeke besonders gern mochte. Vielleicht konnte sie ihm auch welche für Peter mitgeben. Ein gewaltiger Donner rollte draußen, und es wurde so dunkel, daß Shari in der Küche Licht anmachen mußte. Sie drehte sogar das Radio an, aber außer dem Sender mit Country- und Western-Musik, den ihre Mutter immer anhatte, fand sie nur eine Diskussion über die Alkoholgefährdung bei Jugendlichen. Da hörte sie schon lieber dem Donner zu. Als die Kekse im Ofen waren, tauchten die verscheuchten Gedanken wieder auf. Auch Aufräumen und das Frühstücksgeschirr spülen lenkten sie nicht ab. Die Gedanken verfolgten sie hartnäckig. So argwöhnisch sie Charlottes Launen gegenüber auch gewesen war, so war Charlotte doch »Mutter« gewesen. Zwar ungerecht und verletzend, aber immer »Mutter«. Die Sicherheit, die jedes Kind brauchte. Auf einmal war ein solcher Abstand zwischen ihnen, daß Shari Charlotte außerhalb ihrer Mutterrolle sah. Keine besonders nette Person, mit ihren Launen und ihrer verschlagenen Art zu lügen, wenn es ihr in den Kram
paßte. Sie besaß mehr Bösartigkeit als andere Erwachsene, mehr Haß, der aber nicht allein auf Shari gerichtet war. Charlotte haßte jeden, der ihr im Weg stand. Sogar Peter. Es gab Augenblicke, da überschüttete sie ihn mit Zärtlichkeit, aber meistens beachtete sie ihn nicht und war froh, wenn sie ihn der Aufsicht seiner Schwester überlassen konnte. Und Doug und Walter? Charlotte mochte sie, wenn sie aus dem Haus waren. Sie würdigte es, daß sie sich etwas Geld verdienten, im Winter die Einfahrt freischaufelten und im Sommer den Rasen in Ordnung hielten. Wenn sie sich jedoch im Haus herumtrieben und stritten, ging sie auch auf die beiden los, schrie sie an, sie sollten den Mund halten und ihr aus den Augen gehen. Charlotte saß am liebsten mit Betsy beim Kaffeetrinken und klagte darüber, wie schlecht sie es hatte. Wenn Betsy gegangen war, machte Charlotte jedoch Bemerkungen über sie, warum sie schon dreimal geschieden war und daß sie viel älter sei, als sie zugebe. Es gab niemanden, dem Charlotte irgendwie treu war, außer Zeke. Sie hatte sicher manche Enttäuschung erlebt, und wahrscheinlich war es auch ziemlich schwer, schon drei Kinder zu haben, wenn man noch nicht mal zwanzig war. Aber das alles war in Sharis Augen nicht eine so schwere Last, daß sie ihrer Mutter den Mangel an menschlicher Freundlichkeit hätte verzeihen können. Wenn das Problem nur gewesen wäre, daß Charlotte kein Kind gewollt hatte, hätte sie das Wissen, kein Wunschkind zu sein, vielleicht besser ertragen, so traurig das war. Viel mehr bedrückte sie das Gefühl, sie selbst sei daran schuld, daß ihre Mutter sie nicht liebte. Mrs. Wallace hatte gesagt, es läge nicht an ihr. Was für eine Erleichterung war es zu denken, daß sie nicht völlig unliebenswert war, wie Charlotte ihr immer vorwarf. Shari stand in der Türöffnung und beobachtete die trägen Regenströme, die die Erde in Schlamm verwandelten, so braun
wie ihre Schokoladenkekse. Der Regen trommelte auf das Dach, schlug gegen die Fensterscheiben und tropfte von den Blättern der Bäume. Der schwere grüne Duft des Sommers kämpfte gegen den süßen, warmen Schokoladengeruch aus der Küche. Die Tür fiel zu, und Charlotte betrat das Haus. Shari hörte die Stimmen von Walter und Doug. Charlotte mußte sie auf dem Rückweg am Stand abgeholt haben. »Bringt den ganzen Kram zum Abstellplatz und geht mit euren dreckigen Schuhen hintenherum«, sagte Charlotte zu ihnen. Sie selbst kam in die Küche. Ihre Augen wanderten zur Spüle. »Ich sehe, du hast dich entschieden, zur Abwechslung mal was Nützliches zu tun«, sagte sie. »Ich tu eine Menge nützlicher Dinge«, sagte Shari, »Ich paß zum Beispiel die ganze Zeit auf Peter auf.« Charlotte runzelte die Stirn. »Was hast du denn? Ich hab nicht behauptet, daß du irgendwas falsch gemacht hast«, sagte sie. »Hier. Ich war noch im Einkaufszentrum und hab dir eine neue Hose mitgebracht. Deine alte fällt ja schon auseinander. Hier...« Sie raschelte mit einer dünnen Papiertüte, einer von mehreren, die sie in der Hand hielt. »Probier mal, ob sie paßt.« »Warum hast du mir nicht früher gesagt, daß ich nicht Zekes Kind bin?« fragte Shari. Sie nahm die Tüte, ohne hineinzusehen. Diese Frage, die ganz hinten im Kopf gewartet hatte, platzte auf einmal heraus. »Kaust du immer noch daran herum? Gut, wenn du es unbedingt wissen mußt: Ich habe Zeke versprochen, daß ich es dir nie sage. Und wenn du mich nicht so wütend gemacht hättest...« »Ist Zeke böse, wenn ich ihm sage, daß ich's weiß?« Charlotte knallte die Tüten auf den Küchentisch und stellte sich angriffslustig vor sie hin. »Du willst mir drohen? Glaubst du, es interessiert mich, was du ihm erzählst? Zeke hat mir
noch nie etwas lange nachgetragen. Er ist immer noch verrückt nach mir, damit du es weißt, du kleines Biest.« »Ich habe dir nicht gedroht, sondern nur was gefragt«, sagte Shari. »Weil ich mit Zeke reden muß.« »Warum?« »Um herauszufinden...« - sie fand nicht die Worte für das, was sie sagen wollte - »... wo ich stehe.« Sie schaute ihre Mutter ruhig an. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich von Charlotte so unabhängig gefühlt. Wenn es nicht Sharis Fehler war, sondern Charlotte einfach einen schlechten Charakter hatte, dann schuldete Shari ihr nichts. Sie hatte keinen Grund mehr, ihre Mutter zu fürchten. Anspruch und Erwartung gab es nicht mehr zwischen ihnen. Das Band war zerrissen. Doug und Walter kamen triefend vor Nässe zur hinteren Tür hereingetrampelt. Sie zogen ihre dreckigen Turnschuhe aus und ließen sie auf die Matte neben der Tür fallen. »Mensch, heute war's fürchterlich!« stöhnte Doug und griff nach einem Handtuch. »Kaum jemand hat am Stand gehalten. Morgen bleiben wir daheim und machen es uns zur Abwechslung mal gemütlich.« »Ma, könntest du mich morgen zur Bücherei fahren?« fragte Walter. »Ich muß vier Bücher zurückgeben.« »Laß mich jetzt erst mal in Ruhe«, sagte Charlotte und machte den Kühlschrank auf. »Dein Vater kann jede Minute hier sein, und ich habe mir noch nichts fürs Abendessen überlegt.« »Fährt er gleich morgen wieder weg, wenn er sieht, daß Shari wieder heimgekommen ist?« fragte Walter. »Woher soll ich das wissen? Auf jeden Fall hat sie nicht vor, lange hier zu bleiben. Bin gespannt, was er dazu sagt, wenn er das hört.« Charlotte warf Shari einen bösen Blick zu und knallte einen Topf auf den Herd.
»Wieso? Wo willst du hin, Shari?« fragte Doug. »Vielleicht zieh ich zu Mrs. Wallace«, sagte Shari. »Aber ich weiß es noch nicht genau.« »Warum willst du das machen?« Doug sah sie erstaunt an. Shari zuckte mit den Schultern. »Darum«, sagte sie. »Kann einer von uns dann Sharis Zimmer haben? Kann ich es haben?« fragte Doug Charlotte. »Reg mich nicht auf mit so was. Frag deinen Vater.« Walter zog ein Taschenbuch aus seiner Hosentasche, setzte sich an den Küchentisch und fing an zu lesen. Shari war traurig, als sie sah, wie er sich in sein Buch vertiefte und nichts zu ihr sagte. Schließlich war er doch ihr Bruder. Dann fiel es ihr wieder ein. Nein, das war er nicht.
Zehntes Kapitel
Zeke war erst in der Nacht nach Hause gekommen, als Shari bereits im Bett lag. Aber am nächsten Morgen saß er schon am Küchentisch über seinen Frachtpapieren, als sie die Küche betrat. Sonst war noch niemand auf. Sie war so froh, ihn einmal ganz für sich zu haben, daß sie ihm die Arme um den Hals schlang und ihn drückte. Dann erst fiel ihr ein, daß er nicht ihr richtiger Vater war. Sie ließ ihn los und trat in einem plötzlichen Anflug von Scheu einen Schritt zurück. »Was ist los, Shari-Schatz? Hast ganz schön was durchgemacht in der letzten Zeit!« Er küßte sie und wollte sie auf seinen Schoß ziehen. Sie setzte sich statt dessen auf den Stuhl gegenüber und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Zeke, kommt Peter bald aus dem Krankenhaus?« »Hat dir das deine Mutter nicht gesagt? Wir holen ihn heute ab.« »Wie schön! Darf ich mitkommen?« »Klar.« Er nahm einen Schluck Kaffee aus seinem Becher und beobachtete sie. »Jedesmal wenn ich heimkomme, auch wenn ich nur einen Tag weg war, bist du größer und hübscher geworden.« »Ich bin nicht hübsch«, sagte Shari. »Natürlich bist du hübsch. So hübsch wie ein Eichhörnchen. Du bist zierlich, hübsch und flink.« Shari lächelte. »Vielen Dank.« Sie nahm sein Kompliment nicht ernst.
»Findest du Eichhörnchen etwa nicht hübsch?« Sie zuckte mit den Schultern. Sein breites Gesicht mit den üblichen Unterwegs-Bartstoppeln war ihr lieb und vertraut, aber sie zwang sich zu sagen: »Ich muß etwas Wichtiges mit dir besprechen, Zeke.« »Das denke ich mir. Charlotte hat gesagt, ihr wäre was über deinen Vater rausgerutscht.« Shari nickte und wurde rot. Sie fand es furchtbar, mit diesem Mann, den sie wie einen Vater liebte, über den Fremden zu sprechen, der ihr Vater war. Shari war nicht überrascht, daß Charlotte bereits gebeichtet hatte. Das war genau ihre Taktik: Shari zuvorzukommen, damit sie ihr nichts anhängen konnte. »Ein schöner Morgen nach dem vielen Regen«, sagte Zeke. »Wollen wir hinunter zur Schlucht gehen, wo Peter den Unfall hatte? Ich wollte die Stelle sowieso mal sehen.« »Es war nicht meine Schuld.« Shari meinte, das müsse sie Zeke sagen. »Peter hatte mir gesagt, daß er daheim bleiben wollte. Und Mutter war zu Hause. Ich bin also zu meiner Freundin, Mrs. Wallace, gegangen, und dann hat Peter wohl beschlossen, mir nachzugehen.« »Ich weiß, wie sehr du ihn liebst, Schatz. Und du paßt sehr gut auf ihn auf. Ich habe nie gedacht, daß es deine Schuld ist«, versicherte Zeke. Draußen hingen Millionen glitzernde Tautropfen an Grashalmen und Blättern. Die Luft roch stark nach Erde und Kiefernholz. Ein Geruch, den Shari allen Parfüms vorzog, die Zeke Charlotte je geschenkt hatte. Sie gingen durch den Wald, dessen Boden so mit Laub bedeckt war, daß er unter ihren Füßen federte. »Nun dann«, sagte Zeke, als sie nicht anfing zu reden. »Wie ist es? Da du nun weißt, daß ich nicht dein richtiger Vater bin,
liebst du mich trotzdem?« »Ich?« fragte sie, verärgert über die Frage, als sei sie es, die sich geändert hätte. »Ich liebe dich wie immer. Aber...« »Es gibt kein Aber, Shari.« Er nahm sie bei den Schultern und drehte sie zu sich, damit sie ihn ansah. »Du bist für mich auch immer noch dieselbe. Du warst mein kleines Mädchen seit dem Tag deiner Geburt. Von dem Augenblick, als du mich angeschaut und gelächelt hast, habe ich dich geliebt, und das hat sich nie geändert. Wenn die Leute mich fragen, wieviel Kinder ich habe, sage ich vier und denke nie, daß du für mich anders bist als deine Brüder. Obwohl die Tatsache, daß du ein Mädchen bist, dich schon zu etwas Besonderem macht. Verrate mich nicht bei den Jungs, aber ich habe Mädchen lieber!« Er lachte sie an. Sie drückte seine Hand fest. »Vielleicht ist es gut, daß Charlotte es dir gesagt hat, obwohl ich immer dagegen war. Ich weiß es nicht. Sie ist einfach nie darüber hinweggekommen, was er ihr angetan hat.« »Mein Vater?« »Der Mann, der sie schwängerte und dann verließ. Dein Vater, das bin ich«, sagte Zeke mit Nachdruck. »Ich habe dich großgezogen, vergiß das nicht.« »Das vergesse ich nie. Aber Zeke, wie war er denn? Du hast ihn doch gekannt, oder?« »Ja. Er liebte Flugzeuge, war ein kleiner Angeber und immer auf ein Risiko aus. Er starb, als er versuchte, den Rekord im freien Fall zu brechen, und öffnete seinen Fallschirm zu spät. Als Charlotte in der Zeitung las, daß er sich selbst getötet hatte, hörte sie auf, darauf zu hoffen, er könnte zu ihr zurückkommen, und sie heiratete mich. Ich denke, ich schulde ihm was dafür. Der Himmel weiß, wie lange sie gewartet hätte, wenn er sich nicht umgebracht hätte. Sie hat ganz schön an diesem Kerl
gehangen.« »Aber sie liebt dich doch sehr...« »Ja, jetzt schon. Aber am Anfang war die Liebe sehr einseitig. Erst als du geboren warst, hat sich das geändert. Aber auch vorher schon hielt ich mich für einen Glückspilz. Sie war das hübscheste Mädchen im Tal, liebenswert und lebenslustig. Sie wollte immer nach New York oder in eine andere große Stadt. Sie hätte mich sicher nie geheiratet, wenn sie nicht auf diesen Kunstflieger reingefallen wäre. Ist es nicht seltsam, wie das Leben so spielt, Shari?« »Ja«, stimmte sie ihm zu. Im Geist sah Shari ihn fallen, einen dünnen, drahtigen Mann, triumphierend in einem Hochgefühl. Sein Körper mußte sich so leicht wie der eines Vogels gefühlt haben, als würde ihn die Luft in Kissen hüllen, und er war stark genug, auf den Strömungen zu schweben, zu tauchen, hinabzustoßen und aufzusteigen. Wie ein Habicht, wie ein Adler, von allem befreit, nur fliegen. Diese Sekunden des Risikos müssen für ihn eine Lust gewesen sein, und am Tag, als er starb, war er bestimmt über alle Maßen glücklich gewesen. »Es hat mich irgendwie schockiert, als du mich gefragt hast, ob du Pilot werden konntest«, sagte Zeke. »Erinnerst du dich? Ich bat dich, deiner Mutter nichts davon zu sagen. Nun weißt du, warum. Ich hätte nie gedacht, daß sich so was vererben könnte.« »Vielleicht ist es nur ein Zufall«, sagte sie. »Vielleicht ist Fliegen aber auch ein Talent, das man erben kann wie Musikalität.« »Ich verstehe es jedenfalls nicht«, sagte Zeke. »Aber es ist mir auch egal, was du von ihm geerbt hast, solange klar ist, wer dein Vater ist.« »Das bist du«, sagte sie glücklich. »Genau.« Er grinste und kniff sie zärtlich in die Wange.
»Darauf bin ich auch ganz schön stolz.« Zeke war entsetzt, als er den Felsvorsprung auf der anderen Seite der Schlucht sah. »Du bist ganz allein da hinübergeklettert und hast deinen kleinen Bruder mitgezogen?« Er sah so ungläubig aus, daß sie sagte: »Es ist nicht so schwer. Schau, ich zeig's dir.« Leichtfüßig und sicher rannte sie über den Baumstamm, und dann hangelte sie sich von Fußtritt zu Handgriff, vorbei an Büschen und Felsen, bis hinauf zu dem überhängenden Vorsprung. »Komm zurück«, rief er. »Ich sterbe fast vor Angst.« »Es ist nicht so steil, wie es von unten aussieht«, versicherte sie ihm, als sie wieder neben ihm stand. »Und es ist der einzige Weg zu meiner Freundin. Über die Straße sind es etliche Kilometer.« »Du magst sie sehr, diese Frau. Wie kommt das?« fragte er. »So eben«, sagte Shari und zuckte mit den Schultern. Er wäre verletzt, wenn sie ihm sagen würde, daß Mrs. Wallace der erste Erwachsene war, von dem sie sich verstanden fühlte. »Ich nehme an, weil wir beide Vögel lieben, und sie bringt mir Sachen bei... Sie ist nett.« »Deine Mutter hat gesagt, daß du bei ihr leben willst.« »Mrs. Wallace hat es mir angeboten.« »Und du? Willst du?« »Ich würde dich und Peter vermissen.« Er drückte fest ihre Hand und sagte: »Es wäre wirklich schlimm für mich, wenn du weggingst, bevor du erwachsen bist. Das kommt noch früh genug.« Er fuhr mit den Fingern über ihre Wange. »Shari, du und deine Mutter... Mädchen in deinem Alter haben es oft nicht leicht, mit ihrer Mutter auszukommen.« »Sie haßt mich.« »Nein, das tut sie nicht. Sie ist sehr nervös und sehr gefühl-
voll, weißt du. Und sie hackt manchmal mehr auf dir herum als auf deinen Brüdern. Aber sie meint es nicht so.« »Mach dir keine Sorgen, du kannst nichts dafür«, sagte Shari. Sie wußte, er konnte Charlotte nur als seine Liebste sehen, die gute Frau, die zu Hause auf ihn wartete. Er liebte Charlotte blind, aber er liebte auch Shari. Sie gingen Hand in Hand durch den Wald nach Hause zurück. »Ich werde ein Kletterseil an diesen Felsvorsprung machen, damit du beim Raufsteigen was zum Festhalten hast. Ein gutes, dickes Seil mit Knoten«, sagte Zeke. »Aber laß Peter ja nicht alleine da hinaufsteigen.« »In Ordnung.« »Ich weiß noch, wo wir überall rumgeklettert sind als Kinder und was wir alles ausprobiert haben. Unsere Eltern hätte der Schlag getroffen, wenn sie auch nur die Hälfte davon gewußt hätten. Aber ein Kind kann sich leicht verletzen.« »Ich weiß«, sagte Shari. »Und du weißt auch, wieviel du und Peter mir bedeuten. Das weißt du doch jetzt, oder?« Er umarmte sie. Sie saß mit Walter und Doug auf dem Rücksitz des Autos. Sie setzten Walter an der Bücherei ab, und Zeke und Doug gingen in den Eisenwarenladen, während Shari mit Charlotte ins Krankenhaus ging. Peter saß auf der Bettkante, schon in Shorts, T-Shirt und Turnschuhen, fertig zum Ausgehen, und sah sehr klein aus. »Shari!« rief er. Sie trafen sich auf halbem Weg zwischen Tür und Bett und fielen sich in die Arme. »Mensch, hab ich dich vermißt«, beklagte er sich, genau wie sie es sich vorgestellt hatte. »Warum hast du mich nicht besucht?« »Weil ich nach dem, was sie getan hat, dagegen war«, sagte
Charlotte, als Shari nicht antwortete. »Hört mal zu, ihr beiden. Ich muß zum Büro runter und die Entlassungspapiere abholen. Shari, du paßt auf, daß er seine Sachen einpackt. Zeke will uns alle auf dem Heimweg zum Mittagessen einladen.« »Toll. Krieg ich Malzmilch? Und Pommes frites?« fragte Peter. »Vielleicht, mal sehen«, antwortete Charlotte und verschwand. Das andere Bett im Zimmer war durch einen Wandschirm verdeckt. »Er hat Schläuche in der Nase«, sagte Peter. »Er ist gestern operiert worden, glaub ich.« Dann flüsterte er Shari ins Ohr: »Ich glaube, er wird sterben.« »Nein«, sagte Shari. »Sie machen ihn wieder gesund, Peter. Er sieht wahrscheinlich nur so krank aus wegen der Operation.« »Hoffentlich«, sagte Peter, »Ich möchte nicht sterben, Shari.« »Nein, ich auch nicht.« »Und nie wieder klettere ich allein auf den Berg.« »Das ist gut, Peter. Ich geh mit dir.« »Vielleicht kann ich klettern, wenn ich größer bin. Aber nie so gut wie du.« »Doch, das lernst du noch.« »Nein, du kannst am allerbesten klettern.« »Also gut, dann kannst du am allerbesten reden.« »O ja, das kann ich wirklich gut. Die Schwestern haben mich Motormäulchen genannt. Hast du mich vermißt, Shari?« »Sehr.« »Kann Blue Boy schon sprechen?« »Weiß ich nicht. Ich habe ihn zu Mrs. Wallace gebracht. Sie paßt für mich auf ihn auf.« »Warum?« »Einfach weil ich dachte, er wäre zu Hause nicht sicher.« »Ist es denn zu Hause nicht sicher?«
»Ich glaube, es wird sicherer«, sagte sie. »Komm, schau mal, was du alles einpacken mußt.« Sie öffnete den kleinen Koffer, den Charlotte ihr gegeben hatte, und fing an, die paar Sachen aus Peters Nachttisch hineinzulegen. Dann kamen die glücklichsten Tage des Sommers. »Wenn ich jetzt sowieso daheim bin, betrachten wir diese Zeit einfach als Urlaub«, hatte Zeke gesagt. Sie fuhren zum See schwimmen, und an einem anderen Tag nahm Zeke sie mit auf ein Volksfest, wo Peter außer Rand und Band geriet, weil er beim BingoSpiel einen großen, ausgestopften Bären gewann. Shari fuhr dreimal hintereinander auf dem Kettenkarussell und war hingerissen von der Auto-Akrobatik im Stadion. Kurz bevor die Schule wieder anfing, nahm sie an einem Bodybuildingprogramm teil, das Doug belegt und aufgegeben hatte. Und als Peter sie fragte, was sie da mache, antwortete sie: »Mich in Form bringen für die Pilotenausbildung.« »Damit fängst du jetzt schon an?« »Ich muß soweit sein, wenn ich alt genug dafür bin.« Peter trainierte am ersten Tag mit ihr, obwohl er keine Liegestütze konnte und für die Sitzübung seine Ellenbogen zu Hilfe nehmen mußte. Beim Laufen auf der Stelle war er gut. Zeke machte der zweiten Übungsrunde ein frühes Ende, weil er Hilfe brauchte. Er wollte an einem Baum oberhalb des Felsvorsprungs über der Schlucht ein Kletterseil festmachen. Peter und Shari meldeten sich als freiwillige Helfer. »Hast du schon etwas mit Mrs. Wallace ausgemacht?« fragte Zeke unterwegs zu dem Baum. Zeke trug die Rolle mit dem Kletterseil, das in regelmäßigen Abständen Knoten hatte, an denen man sich leicht festhalten konnte. »Sie hat dir doch angeboten, bei ihr zu wohnen.« »Wenn dein Urlaub vorbei ist, besuche ich sie«, antwortete
Shari. »Und was wirst du ihr sagen?« »Ich weiß nicht.« »Es wäre ganz gut, wenn du dich entscheiden würdest. Ich bin sicher, Mrs. Wallace möchte es auch wissen, Shari.« Shari warf ihm einen überraschten Blick zu. »Wieso?« »Nun, sie ist vermutlich einsam und hofft, durch dich Gesellschaft zu bekommen.« »Das glaub ich nicht«, sagte Shari. »Ihr macht es nichts aus, allein zu sein. Mir auch nicht.« Er fuhr ihr durch die Haare und lächelte. »Du bist ein seltsames Kind«, sagte er. »Wenn ich nur wüßte, was in deinem Kopf vor sich geht. Ich sag dir die Wahrheit: Ich wäre sehr traurig, wenn du nicht zu Hause bist, wenn ich das nächste Mal heimkomme.« »Ich auch«, sagte Peter. »Ich geh nicht, wenn ich nicht muß.« Das war alles, was Shari ihnen sagen konnte. Charlotte war umgänglich gewesen, solange Zeke zu Hause war. Und sogar nach seiner Abfahrt behielt sie ihre schlechte Laune für sich und behandelte Shari mit vorsichtigem Respekt. Eines Morgens machte Shari ihre Übungen mitten im Wohnzimmer, während Peter für sie zählte, statt selbst mit zu üben. »Was machst du? Für die Olympiade trainieren?« fragte Charlotte. »Nein, ich will nur kräftiger werden«, sagte Shari. »Wozu?« »Weil ich Pilotin werden will.« »Du planst wirklich voraus, nicht wahr?« sagte Charlotte und fügte mürrisch hinzu: »Ich wünschte, ich hätte das auch getan, als ich noch ein Kind war.«
»Du könntest auch jetzt noch was tun«, sagte Shari. »Dir einen Job besorgen oder so. Ich könnte nach der Schule für dich auf Peter aufpassen.« Charlotte holte eine Zigarette aus der Packung, vergaß aber, die Zigarette anzuzünden. »Ich dachte, du wolltest uns verlassen.« »Wenn du mich brauchst, könnte ich bleiben. Mrs. Wallace möchte, daß ich ihr beim Beringen der Vögel helfe. Wenn ich Peter manchmal mitnehmen darf, müßte das klappen.« »Warum willst du unbedingt, daß ich einen Job finde?« fragte Charlotte. »Ich denke, es würde dir gefallen, wenn du mal rauskommst.« »Zeke ist bestimmt dagegen.« »Glaub ich nicht. Wenn er wüßte, daß es dich glücklicher macht.« »Ich werde darüber nachdenken«, sagte Charlotte. Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen und fügte hinzu: »Ich hab vergessen, dir zu sagen, daß Mrs. Wallace angerufen und gefragt hat, wie es dir und Peter geht.« »Danke. Ich besuche sie bald. Vielleicht sogar heute noch.« »Warum willst du eigentlich mit einer so alten Person befreundet sein?« »Ich mag sie.« »Ja? Das wundert mich. Vielleicht hat sie nur Mitleid mit dir, weil du ihr erzählt hast, daß ich dich schlage und schlecht behandle.« »Ich hab ihr nie so was erzählt.« »Nicht? Und warum hat sie dir dann angeboten, bei ihr zu wohnen?« »Weil...« Shari hörte mit ihren Übungen auf und versuchte sich zu erinnern, wie es gewesen war. Hatte sie Charlotte an Mrs. Wallace verraten? Schuldbewußt dachte Shari, daß es so gewesen sein könnte. »Normalerweise rede ich mit niemandem
über dich. Ich hab mich da nur gerade so schlecht gefühlt, weil Peter verunglückt war und weil du gesagt hast, ich wäre schuld. Und ich hatte Angst, du würdest dem Vogel was tun, wie im letzten Sommer Chirpy.« Charlotte atmete schwer. »Ich habe deinem Sittich nie was getan!« »Du hast das Fenster aufgemacht und ihn wegfliegen lassen. Ich hab dich gesehen.« Charlotte schwieg. Ihr Gesicht wurde rot, und sie sah aus, als würde sie gleich weinen. »Du bringst mich immer wieder dazu, daß ich mich schlecht fühle«, klagte sie. »Von Anfang an hast du deine Arme nach Zeke ausgestreckt und bist vor mir weggelaufen. Sowie du laufen konntest, bist du vor mir weggelaufen. Kein Wunder, daß ich manchmal wütend werde, das ist deine Schuld. Es liegt an dir.« »Ich kann nichts dafür, daß ich so bin, wie ich bin, Mama«, sagte Shari leise. »Doch, das kannst du«, antwortete Charlotte. »Wenn ich was dafür kann, kannst du auch was dafür.« Sie stand da und wischte ihre Tränen mit dem Handrücken weg. Dann sah sie Shari an, die sie beobachtete und zu verstehen versuchte, warum Charlotte weinte. »Du kannst deinen Vogel zurückholen«, sagte Charlotte. »Ich hab nicht vor, ihm was anzutun.« Nach dem Mittagessen holte Shari den Kristallschwan aus seinem Versteck im Stiefel, wickelte ihn in ein buntes Tuch und band ihn an eine Schlaufe ihrer Jeans. Sie sagte Peter, sie gehe zu Mrs. Wallace, und er fragte, ob er mitkommen könne. Charlotte telefonierte gerade aufgeregt mit Betsy, als Shari sie unterbrach, um ihr zu sagen, wohin Peter und sie gingen. Charlotte, eine Zigarette zwischen den Fingern, gab ein Zeichen, daß sie verstanden hatte, und winkte ihnen zum Ab-
schied. Sie schien guter Laune zu sein. »Wie gesagt«, redete sie auf Betsy ein, »ich könnte jeden Tag für ein paar Stunden kommen, wann immer ihr mich braucht. Ich könnte das Terminbuch und die Kasse führen, und... Sicher, warum nicht?« Die Augusthitze drückte schwer auf Peter und Shari, aber im Schatten des dichten Waldes wurde es kühler. »Wann gehen wir mal wieder Gold waschen?« fragte Peter. »Morgen, wenn du willst«, sagte sie. Diese Idee begeisterte sie nicht gerade, aber es waren nur noch wenige Tage bis zum Schulanfang. Dann, das war ihr klar, würde Peter nicht mehr so sehr von ihr abhängig sein, dann würde er sich mehr für seine eigenen Altersgenossen interessieren. Sie nahm sich vor, nach Schulbeginn zur Bücherei zu gehen und alles über das Fliegen nachzulesen und herauszufinden, welche Berufsaussichten sie als Pilotin hatte. Hoffentlich bekam Charlotte einen Job. Es wäre besser für Shari, wenn Charlotte eine Arbeit hätte. Dann käme sie öfter aus dem Haus und würde sich weniger langweilen. Und was Blue Boy anging, so hatte sie etwas versprochen. Shari grübelte noch über alles nach, als sie Mrs. Wallace auf der Brücke stehen sah, die über ihren Teich führte. Sie warf Brotkrümel ins Wasser. »Was für eine neue Überraschung, euch zu sehen«, rief sie ihnen zu. »Was machen Sie da?« fragte Peter. »Fische füttern. Schau!« Sie zeigte auf die orangefarbenen Schatten, die sich im Wasser bewegten. »Wahnsinn!« sagte Peter. »Haben Sie aber viele Fische. Darf ich sie füttern?« Sie gab ihm die Plastiktüte, die sie in der Hand hielt. »Herzlich willkommen«, sagte sie und wandte sich an Shari. »Es
sieht aus, als hätte sich dein kleiner Bruder gut erholt. Wie geht es dir?« »Gut«, sagte Shari. »Ich will einen Handel mit Ihnen machen. Ihren Kristallschwan gegen Blue Boy.« »Du möchtest ihn also zurückholen, ja? Glaubst du, daß er jetzt sicher ist?« »Ja. Es wird besser... Ich möchte Ihnen für Ihr Angebot danken. Aber ich habe beschlossen, zu Hause zu bleiben. Bei Zeke und Peter... Und bei meiner Mutter.« »Verstehst du dich jetzt besser mit deiner Mutter?« »Ich hoffe. Vielleicht«, sagte Shari. »Das sind ja gute Nachrichten. Und vergiß nicht, daß ich da bin, wenn du mich brauchen solltest.« »Oh, Sie werden mich oft sehen, wegen der Beringung«, sagte Shari und fügte hinzu: »Und auch, weil Sie meine beste Freundin sind, Mrs. Wallace.« Mrs. Wallace lachte und sagte: »Das ist eine Ehre. Ich habe nur wenige Freunde, die ich mehr bewundere als dich, Shari.« Das Kompliment gefiel Shari, aber es machte sie auch verlegen. Peter trödelte hinter ihnen her, als sie ins Haus gingen. Blue Boys Käfig hing in dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer. Der Sittich hüpfte sofort auf den Finger, den Shari ihm hinhielt. Dann senkte er den Kopf, zwinkerte mit den Augen und gab glucksende Laute von sich. »Er ist gern mit Menschen zusammen. Genau wie Peter und meine Mutter«, sagte Shari. »Manche gehen nur unter Leute, weil sie nicht wissen, was sie mit sich selbst anfangen sollen. Wir beide sind da ganz anders«, sagte Mrs. Wallace. »Und das ist ein Glück«, sagte Shari. »Ja wirklich, ich glaube, ich hab ziemlich viel Glück.« Mrs. Wallace nickte nachdenklich. »Vielleicht hast du recht.
Du hast die Kraft, frei in die Welt zu fliegen. Und das ist sicher eine Art Glück.« »Ja«, stimmte Shari zu. Sie streichelte vorsichtig mit einem Finger über den blaugefiederten Kopf, froh, daß ihre Freundin sie verstand. Dann lächelte sie, als würde ihr plötzlich bewußt, was es heißt, stark zu sein. Sie war frei. Ihre Ängste konnten sie nicht länger gefangen halten. Eines Tages würde sie, wie damals der Sperber, ihre Schwingen ausbreiten und in die Luft steigen.