CLARK DARLTON
So grün wie Eden
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CLARK DARLTON
So grün wie Eden
VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550
RASTATT
2
CLARK DAHLTON Taschenbuch erscheint alle zwei Monate im Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt Copyright © 1984 by Walter Ernsting Copyright © 1986 by Verlag Arthur Moewig GmbH Originalausgabe Titelbild: Nikolai Lutohin Redaktion: Günter M. Schelwokat Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin Verkaufspreis inklusive gesetzliche Mehrwertsteuer Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300, A5081 Anif Einzel Nachbestellungen sind zu richten an: PV PUBLIC VERLAG GmbH, Postfach 510331,7500 Karlsruhe 51 Lieferung erfolgt bei Vorkasse + DM 3,50 Porto und Verpackungsanteil auf Postscheckkonto 852 34751 Karlsruhe oder per Nachnahme zum Verkaufspreis plus Porto und Verpackungsanteil. AbonnementBestellungen sind zu richten an:
PABEL VERLAG GmbH, Postfach 1780,7550 Rastatt
Lieferung erfolgt zum Verkaufspreis plus ortsüblicher Zustellgebühr
Printed in Germany
März 1986 ISBN 3811833111
Scanned by Spittel1 3
Einleitung Als am 14. Mai 1995 das Undenkbare geschah und sich die menschliche Zivilisation bis zu einem gewissen Grad selbst vernichtete, geschah dies nicht durch Interkontinentalraketen mit atomaren Sprengköpfen, wie man seit Jahrzehnten nicht ohne Grund angenommen und befürchtet hatte, sondern durch eine neue Waffe ebenfalls durch Raketen ins Ziel getragen -, die beide Seiten besaßen, ohne daß es einer vom anderen wußte. Jeder der Kontrahenten hielt sich für den Überlegeneren. Man nannte die Waffe den STRAHLENDEN TOD. Dörfer, Städte und andere Einrichtungen wurden nicht zerstört, aber nur wenige Menschen kamen mit dem Leben davon und begannen von vorn. Sie spürten die in ihren unterirdischen Bunkern wie die Ratten hausenden Verantwortlichen auf - hüben wie drüben - und zogen sie zur Rechenschaft. Kaum einer von ihnen überlebte das Gericht dieser Tage. Aber so verzweifelt und intensiv die neu Beginnenden auch suchten und forschten, es gelang ihnen nicht, die geheimen Lagerstätten der schrecklichen Waffen zu finden, die ihre Heimatwelt beinahe zur leblosen Wüste gemacht hatte. Jene, die die Verstecke vielleicht gekannt hatten, waren tot. Und auch jene Männer und Frauen, die einst die Dörfer Jackville und Cornertown wiederaufgebaut und vereinigt hatten, lebten längst nicht mehr. Ihre Nachkommen jedoch hatten das Werk ihrer Eltern und Großeltern fortgeführt, so wie es auch in Europa, Asien und den anderen Kontinenten geschehen war. Eine neue Zivilisation war entstanden, aber sie wurde bewußt in Grenzen gehalten. Der Natur wurde mehr Spielraum gelassen, schon weil die Erde stark unterbevölkert war. Die Städte strahlten längst nicht mehr, aber sie blieben zum größten Teil unbewohnt. Das Leben aus der Asche hatte sich auf das freie Land zurückgezogen. Und das Land wurde wieder grün und fruchtbar - grüner, als es je gewesen war. Selbst die Wüsten bedeckten sich mit Vegetation, obwohl es nicht mehr regnete als früher, und einst mühsam am Leben gehaltene Wälder wurden erneut zu undurchdringlichen Dschungelgebieten. Aber noch immer gab es Männer und Frauen, die das Grauenhafte nicht vergessen konnten und wollten, was vor mehr als zwei Generationen geschehen war. Heute schreiben wir das Jahr 2065 - siebzig Jahre nach dem Untergang der technischen Zivilisation . . . 4
1.
Claire Buchanan, die Enkelin von Gibson Kemp und Mary Buchanan, der Tochter des damaligen Bürgermeisters von Jackville, kehrte nach ihrer Unterredung mit Dr. Sam Roberts ein wenig bedrückt in ihr bescheidenes Heim zurück. Seit dem Tod ihres Mannes lebte sie dort allein, und im Gedenken an ihre Eltern und ihre schon fast zur Legende gewordenen Großeltern hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen... Sie sei kerngesund, hatte der Arzt versichert, auch wenn ihre Ehe kinderlos geblieben war. Dann jedoch war er gleich zum eigentlichen Thema ihres Besuchs gekommen: »Gerald Zimmermann macht mir Sorgen, Glaire, genau wie er dir und auch vielen anderen von uns Sorgen bereitet. Er hat das unruhige Blut seines Vaters in den Adern, und der wiederum erbte es von Robert Zirnmermann, der - wie wir alle wissen - Ende 1999 von einer Expedition nach Kanada nicht zurückkehrte.« »Du führst jetzt die Chronik unserer Stadt«, deutete Claire eine Frage an. »Darin findet sich nicht viel über die damaligen Ereignisse. Papier war knapp. Plünderer und jeder Art von Technik überdrüssige Banden zerstörten die teils nützlichen und teils überflüssigen zivilisatorischen Einrichtungen - und das passierte in aller Welt. Ein paar private Funkstationen konnten gerettet werden, sonst wären wir total isoliert.« Immerhin hatte Claire erfahren können, daß Robert Zimmermann damals in Begleitung einiger Freunde aufgebrochen war, um die geheimen Lagerstätten des »Strahlenden Todes« zu finden, die er weiter im Norden vermutete. Seitdem hatte man nie wieder von ihm und seinen Begleitern gehört. »Vielleicht gibt es diese Lager überhaupt nicht«, hatte Claire zu dem Arzt gesagt, aber keine Antwort darauf erhalten. Sie setzte sich in den Sessel vor dem Kamin, warf ein Stück Holz in die noch glühende Asche und lehnte sich bequem zurück. Sie mochte den nur um ein Jahr älteren Gerald Zimmermann, dessen Vater fast zur gleichen Zeit gestorben war wie ihr Mann. Die gemeinsame Trauer hatte sie zu Freunden werden lassen. Und nun, nach mehr als sechzig Jahren seit dem Verschwinden seines Großvaters, wollte er den Spuren des Verschollenen folgen. Ein unsinniges Vorhaben, davon war Claire überzeugt. Nach sechs Jahrzehnten konnte es keine Spuren mehr geben. Gerald Zimmermann dachte anders darüber, denn sein Vater hatte ihm Unterlagen hinterlassen, die selbst der Arzt Sam Roberts nicht 5
kannte. Es war der schriftliche Bericht seines Großvaters, den dieser vor seinem Aufbruch 1999 versiegelt seinem Sohn übergeben hatte, und zwar mit der strengen Auflage, ihn erst nach seinem Tod zu öffnen und zu lesen. Geralds Vater hatte nie an Roberts Tod geglaubt, also blieb das Siegel ungebrochen - bis Gerald die Unterlagen erbte. Als er die Aufzeichnungen seines Großvaters gelesen hatte, mußte er erkennen, daß die Wahnsinnigen von damals, die den Tod über die Welt geschickt hatten, den nachfolgenden Generationen etwas hinterlassen hatten, dessen wahre Natur auch Robert Zimmermann nicht hatte enträtseln können. Aber allein die vagen Andeutungen genügten, um in Gerald den Entschluß reifen zu lassen, das Geheimnis zu lüften und die Menschheit vor einer neuen Katastrophe zu bewahren - falls die Vermutungen seines Großvaters überhaupt eine Grundlage besaßen. Seine Absichten stießen auf wenig Gegenliebe. Es sei doch alles in bester Ordnung, wurde ihm entgegengehalten. Die Ernten wurden mit jedem Jahr besser, selbst ohne den nicht mehr verwendeten Kunstdünger, die Völker der Welt - das, was von ihnen übriggeblieben war - lebten in Frieden miteinander, und außer einem internationalen Ordnungsdienst und der Bürgerwehr gab es keine Soldaten und keine Armeen mehr. Damals, 1995, waren die plötzlich führerlos gewordenen Flugzeuge abgestürzt, und die Kriegsschiffe mit ihren toten Besatzungen irgendwo aufgelaufen oder gesunken. »Wir haben ein grünes Paradies«, hatte Sam Roberts ihm entgegengehalten, »wie es sich unsere Vorfahren einst gewünscht haben. Und wenn die älte Waffe wirklich noch existiert, so lagert sie tief unter der Erde, und da sollte sie auch bleiben. Begraben und tot und ganz sicher ungefährlich, solange sie niemand findet.« »Robert Zimmermann hinterließ ein Vermächtnis ...« „... das ich nicht kenne, Gerald. Gib den Gedanken auf, Gerald, nach den Lagerstätten zu suchen. Was willst du tun, wenn du sie wirklich findest? Wie willst du sie, die Waffe, unschädlich machen? Wie, frage ich dich? Du erweckst sie höchstens zu neuem Leben.« Sicher, Sam Roberts hatte recht, aber er kannte ja auch Robert Zimmermanns Aufzeichnungen nicht, und Gerald wagte es nicht, sie ihm zu zeigen. Jetzt noch nicht. Und dafür gab es viele Gründe. Die Aufzeichnungen Robert Zimmermanns Ende des Jahres 1999 Irgend jemand wird das hier von mir in Jackville Niedergeschriebene einst lesen - mein Sohn vielleicht, wenn ich tot bin, vielleicht auch sein 6
Sohn, sollte er je einen haben. Oder seine Tochter, meine Enkelin. Eigentlich war es meine Absicht, die Entdeckung, die ich gemacht habe, und die Vermutungen, die daraus resultieren, für mich zu behalten und mit ins Grab zu nehmen, aber tief in meinem Unterbewußtsein regt sich unaufhörlich der Gedanke, daß auch Vermutungen und Spekulationen, und mögen sie auch noch so phantastisch und unglaublich erscheinen, sich in furchtbare Realitäten verwandeln könnten. Nicht von heute auf morgen in diesem Fall, oh nein! Wäre es an dem, so müßte ich schon heute, im Jahre 1999, die Karten offen auf den Tisch legen, ob ich nun wollte oder nicht. Doch selbst eine mehr als nur vage Vermutung der vielleicht drohenden Gefahr würde unsere kleine Gemeinschaft, die gerade erst wieder zu leben beginnt, zutiefst schockieren und ihren Willen zum Wiederaufbau einer neuen Welt lähmen. Das, und nur das allein ist der Grund, warum ich heute noch schweigen muß, und ich bitte dich, Sohn oder Enkel, das zu verstehen und mir zu verzeihen. In wenigen Tagen werde ich in Begleitung vom Brendon, Gibson Kemp und Eppstein zu meiner zweiten Expedition aufbrechen, die uns weiter nach Norden führen soll. Wir hatten Funkverbindung mit einigen Gruppen dort, die den unsinnigen Krieg überlebten, genauso wie wir. Mit diesen Gruppen werden wir Kontakt aufnehmen. Ich kann nur hoffen, daß mir dieser Ausflug nach Norden die endgültige Antwort auf alle meine Fragen geben wird, die mich seit einem Jahr fast unerträglich belasten und quälen. Denn vor einem Jahr fanden Will McHary, Jim Grant und ich das, wonach wir suchten. Doch ich will der Reihe nach berichten. 26. September 1998: Heute brachen wir auf. Wir wußten, daß der Winter vor der Tür stand, aber unsere Ungewißheit gab uns weder Zeit noch Ruhe, länger zu warten. Wir mußten endlich jemanden finden, der uns mehr über den »Strahlenden Tod« verraten konnte - oder wollte. Wir hatten schon viel zu lange damit gewartet. Zuerst nahmen wir die Straße nach Westen und bogen dann nordwärts ab. Wir hatten den Jeep ausgerüstet, einen der wenigen, die noch intakt waren. Wir beluden ihn mit Lebensmitteln, meist Konserven, von denen wir mehr als' genug in General Hamiltons Bunkerversteck gefunden hatten, banden Reservekanister mit Benzin an die Seiten und versorgten uns mit Waffen, denn noch immer streiften raubende, plündernde und mordende Banden durch das Land. 7
Da wir Ansiedlungen möglichst vermeiden wollten, mußten wir immer wieder die ohnehin schlechte und mit Unkraut bedeckte Straße verlassen und die Dörfer durch unwegsames Gelände umfahren. Obwohl das unserer eigentlichen Absicht, Menschen zu finden, widersprach, hielten wir das für richtig. Denn jene, die wir suchten, wohnten kaum in diesen Ansiedlungen, höchstens als harmlose Bürger getarnt, die ein neues Leben beginnen wollten. Am fünften Tag unserer Fahrt, am 30. September, sichteten wir von einer Anhöhe aus ein einsames Gehöft, eine Farm. Rauch aus dem Schornstein verriet Leben. Und gegen die Bewohner einer Farm konnten wir, sollte es notwendig sein, uns besser verteidigen als gegen ein ganzes Dorf. Wir hofften, daß unsere Bedenken überflüssig sein würden. Kurz entschlossen nahmen wir Kurs auf die weiträumig angelegten Gebäude. In den Koppeln grasten Pferde, und das Getreide auf den Feldern war überreif zur Ernte. Wir waren noch knapp hundert Meter von dem Hauptgebäude entfernt, als in dessen Tür ein Mann erschien - in der Hand ein Gewehr. Will McHarry stellte den Motor ab, während ich langsam ausstieg und auf den Mann, dessen Alter schwer abzuschätzen war, zuging. Ich hatte die Maschinenpistole im Jeep gelassen, aber in der Hosentasche meine kleine Pistole mitgenommen — für den Notfall. Der Mann blickte mir entgegen, den Lauf seines Gewehrs nach unten gerichtet. Erst als ich noch ein Dutzend Schritte von ihm entfernt war, hob er es langsam an, und ich blickte in die Mündung. »Bleiben Sie dort stehen, Fremder. Was wollen Sie hier in dieser Gegend?« Sein Gesicht drückte Mißtrauen aus, aber keine Furcht. Es war ein gutes Gesicht, das erkannte ich sofort, und ich habe mich nur selten getäuscht. »Wir kommen aus Jackville und wollen nach Norden. Vielleicht können Sie uns mit einigen Auskünften dienen, außerdem wären wir für frisches Wasser dankbar.« »Jackville. . .? Ich habe davon gehört. Gute Leute dort, und mit den Banditen habt ihr bestens aufgeräumt. Seid willkommen in meinem Haus. Meine Frau und meine Tochter sind drinnen.« Ich winkte zurück zum Jeep, der sich bald darauf in Bewegung setzte und dicht bei uns hielt. Will stellte den Motor ab und stieg mit Jim aus. Sie reichten dem Mann die Hand. Wir nannten ihm unsere Namen. »Nun kommt schon mit«, antwortete er nur und ging voran. »Hier klaut euch niemand den Wagen. Ruhige Gegend.« Er nickte in Richtung der älteren und jüngeren Frau, die in der Küche beim 8
Fenster standen. »Meine Frau und meine Tochter.« Im Gegensatz zu uns nannte er keine Namen, und vielleicht hatte er auch seine Gründe dafür. Wir fragten ihn nicht. Als wir rund um den Tisch saßen und die Frauen ein einfaches Mahl auftrugen, betrachtete er uns mit forschenden Blicken, die mehr als bloße Neugier verrieten. Will ging zum Jeep und holte ein paar Dosen Bier als Gastgeschenk. Der Mann nahm einen großen Schluck. Sicher hatte er schon lange kein Bier mehr gesehen. Erneut blickte er mich an. »Was wollt ihr hier in dieser Gegend und weiter nördlich? Da gibt es nur die kahlen Hügel und kaum Ansiedlungen oder Farmen. Ihr trefft höchstens auf herumstreifende Nichtstuer, denen die Zukunft nichts mehr bedeutet. Meist sind sie bewaffnet und gefährlich.« »Wir können uns wehren«, beruhigte ich ihn. Dann kam ich auf seine ursprüngliche Frage zurück. »Wir suchen Menschen, die vielleicht etwas über die Lagerstätten dieses verdammten Zeugs wissen, das uns beinahe alle ausgelöscht hätte: Es befindet sich nicht in den Raketenbunkern, die wir fanden und durchsuchten. Es muß gesondert woanders gelagert worden sein.« Der Mann nickte langsam. Er schien kaum überrascht zu sein. Wieder sah er uns lange und der Reihe nach an, ehe er sagte: »Wenn ihr nicht aus Jackville kommen würdet, könntet ihr von mir kein einziges Wort erfahren. Aber ich kenne James Buchanan von früher, er würde kein Gelichter in seiner Stadt dulden.« Er machte eine kurze Pause und trank sein Bier aus. Mit Nachdruck stellte er die leere Dose auf den Tisch zurück. »Der ,Strahlende Tod' ist nichts anderes als eine klare Flüssigkeit, die wie Wasser aussieht — so wurde wenigstens behauptet. Sie befindet sich in Behältern, die wie Granaten aussehen und daher auch jederzeit im Kopf einer Rakete eingesetzt werden können. Wenn der Kopf über dem Ziel detoniert, beginnt es dort zu regnen, aber die Tropfen lösen sich noch während des Falls in ein tödlich wirkendes Gas auf — oder wie immer man es nennen will.« »Gift also?« »Nicht im üblichen Sinn, soweit ich informiert bin. Ein Bruder von mir war Chemiker, er könnte euch mehr darüber sagen, aber ich weiß nicht, wo er ist oder überhaupt noch lebt. Wahrscheinlich wurde er getötet. Er war an der Entwicklung des Teufelszeugs beteiligt, sprach aber niemals darüber.« »Aber wenn er doch wußte . . .« »Niemand wußte es. Die einzelnen Entwicklungslabors arbeiteten unabhängig voneinander, keines hatte Kontakt mit dem anderen. Die Produkte, die sie herstellten, waren jedes für sich absolut harmlos. Sie wurden verschickt und erst an einem geheimen Ort vermischt. Diese 9
Mischung war es wohl, die uns den Untergang bescherte.« Ich muß zugeben, daß mich das Wissen des Mannes mehr erschreckte als überraschte. Auch die Gesichter Jim Grants und Will McHarys zeigten Betroffenheit. Woher hatte der Mann, der seinen Namen nicht nannte, sein Wissen? Ich entschloß mich zu einer direkten Frage: »Woher wissen Sie das alles? Nur von Ihrem Bruder, der angeblich verschwunden ist?« Er schüttelte den Kopf. »Von ihm erfuhr ich nur, daß sie ein Pflanzenschutzmittel herstellen, wenn auch in einer bis dahin unbekannten Zusammensetzung. Nein, mein Wissen stammt von einem Fremden, der hier eines Tages auftauchte, total abgerissen in einer ihm nicht passenden Zivilkleidung. Er war schwer verwundet. Angeblich hatte man ihn überfallen und angeschossen. Er spürte sein Ende nahen und entschloß sich zu einer Art Beichte, bevor er starb. Er gehörte zu den leitenden Männern im Hauptwerk, dort also, wo die endgültige Zusammensetzung der einzelnen Lieferungen stattfand.« Ich starrte den Mann an. Will und Jim hielten die Luft an. Der Mann lächelte müde. »Ich kann Ihnen verraten, wo es sich befindet, aber das wird Ihnen auch nicht weiterhelfen. Aber vielleicht gibt es dort Hinweise, wo das verdammte Zeug endgültig bis zum Einsatz gelagert worden ist.« »Jede Spur, aber auch jede, hilft uns weiter«, ermunterte ich ihn. Er nickte seiner Frau und seiner Tochter zu, die wortlos das Geschirr zusammenräumten, um es draußen beim Brunnen zu spülen, dann erst stand er auf, ging zu einem wackeligen Regal und holte ein Buch daraus hervor. Er kehrte zum Tisch zurück, setzte sich und schlug das Buch auf, in dessen Mitte eine weiträumige Landkarte verborgen war. Er breitete sie aus und deutete auf eine Stelle südlich der Berge. »Hier liegt unsere Farm.« Sein Zeigefinger wanderte weiter nach Norden. »Das hier sind die Berge, kaum hundert Kilometer entfernt und damals größtenteils von der Regierung zwangsevakuiert. In einem der Täler, kaum zu verfehlen, liegt das Hauptwerk.« Er zögerte wieder einen Augenblick, dann stieß sein Finger erneut hinab auf die Karte. »Dies hier müßte es sein!« »Würden Sie uns die Karte überlassen?« fragte ich ohne viel Hoffnung, aber er nickte zustimmend. »Ich brauche sie bestimmt nicht mehr, außerdem würde ich meine Familie nicht allein lassen. Nehmen Sie die Karte, sie gehört jetzt Ihnen. Und sollten Sie jemals nach Jackville zurückkehren, so grüßen Sie Buchanan von mir.« 10
»Wir kennen ja nicht einmal Ihren Namen«, unternahm ich einen letzten Versuch. Er lächelte und sah zum Fenster hinaus. Die beiden Frauen waren mit ihrer Arbeit fertig und kehrten zum Haus zurück. »Sagen Sie ihm nur, der Einsame Wolf ließe ihn grüßen. Das genügt.« Erst jetzt wurde mir klar, daß der Mann von seiner Abstammung her ein Indianer war, einer jener Menschen also, deren Heimat man nun endgültig zerstört hatte. 1. Oktober 1998 Wir blieben über Nacht, schliefen aber draußen im Freien, wie wir es gewohnt waren. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich mild, erst gegen Morgen machte sich der Oktober durch einen kühlen Wind von Westen her bemerkbar. Wir erhielten ein gutes Frühstück, bedankten und verabschiedeten uns mit dem Versprechen, auf der Rückfahrt — wenn möglich — wieder vorbeizukommen. »Wenn Sie dort in der Hexenküche noch einen lebenden Menschen antreffen, der mit der Sache zu tun hat«, rief uns der Mann hinterher, als Will den Jeep startete, »dann bringen Sie ihn um!« Ich drehte mich um und rief zurück: »Erst dann, wenn er geredet hat!« Dann fuhren wir los. Ich hatte die Karte vor mir auf den Knien liegen. Sie war eine unschätzbare Hilfe, denn so ließen sich eventuell bewohnte Ansiedlungen rechtzeitig erkennen und umfahren. Die Berge rückten näher. Bis zum Abend konnten wir sie erreichen. In mir war eine seltsame Unruhe. Ich bin stets ein friedfertiger Mensch gewesen, dem jede Gewalttätigkeit zuwider war, aber die Unerbittlichkeit des Lebens nach dem großen Krieg, der eigentlich gar keiner gewesen war, hatte mich verändert, und ich hatte seither viele Menschen töten müssen — oder sie hätten mich getötet. Selbst Jim Grant, der friedlichste Mensch der Welt, konnte jetzt besser mit der Waffe umgehen als jeder andere. Seine Skrupel, töten zu müssen, um selbst am Leben zu bleiben, waren verschwunden. Und Will McHary, Schotte oder Ire von seiner, Abstammung her, schoß in gewissen Situationen lieber zuerst und stellte dann die Fragen. Bei einem unserer Umwege gerieten wir in einen Hinterhalt. Wir hielten notgedrungen an einer ziemlich unübersichtlichen Stelle, um Benzin nachzufüllen, als ohne jede Vorwarnung ein paar Schüsse fielen. Die Männer hinter den Gewehren waren zu unserem Glück 11
miserable Schützen, für sie allerdings war es Pech. Außerdem besaßen wir die besseren automatischen Waffen. Das Gefecht war nur von kurzer Dauer, und von den sieben Banditen blieb nur einer lange genug am Leben, um einige Fragen beantworten zu können. Sie hausten in einer verfallenen Hütte am Waldrand und überfielen die in der Nähe liegenden Dörfer oder Reisende, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. An Arbeit dachte keiner von ihnen, geschweige denn an den Wiederaufbau einer neuen Welt. Sie hatten den Tod verdient, so hart das klingen mag, und sicher waren jene, die ihren Raubzügen zum Opfer gefallen waren, kaum zu zählen. Der Eingang zu dem von unserem Informanten bezeichneten Tal war dank der Karte leicht zu finden. Es führten sogar Bahngeleise hinein, die allerdings derart von Gras und Unkraut überwuchert waren, daß wir eigentlich nur durch Zufall darüber stolperten. Wir fuhren solange, bis der schmale Zugang eine Biegung machte und der Blick auf einen weiten Talkessel frei wurde. Will fuhr den Jeep in eine Felsennische, dann tarnten wir ihn mit den reichlich vorhandenen grünen Zweigen von Büschen und Bäumen. Jeder von uns nahm eine Pistole in der Tasche mit. In den Hosenbund schoben wir zwei volle Ersatzmagazine für unsere Schnellfeuergewehre, die wir offen in den Händen trugen. Damit ließ sich schon ein Feuerzauber anfangen, wenn es sein mußte. Aber vielleicht lebte auch niemand mehr hier. In dem Tal gab es reichlich Pflanzenwuchs, so daß wir uns der Deckung wegen keine Sorgen zu machen brauchten. Wir folgten den Bahngeleisen, die in gerader Linie auf die flachen Gebäude zuführten. Die Vegetation war üppiger, als es hier zu erwarten gewesen wäre. Der Boden war steinig und trocken, und dennoch wucherte das Unkraut wie in den Tropen. Immerhin bot es Schutz. »Sie haben also das verdammte Zeug mit der Bahn hierher transportiert«, stellte Jim fest, als er über eine Schwelle stolperte. »Und die fertige Giftmischung dann von hier zu den Lagerstätten«, folgerte Will ebenso logisch. »Wir brauchen also nur den Schienen aus dem Tal hinaus zu folgen, um diese zu finden.« Das allerdings war absolut unlogisch, wie Jim ihm sofort klarmachte: »Schienenstränge haben die Eigenschaft, sich mit Hilfe von Weichen zu verzweigen, in sämtliche Richtungen und vielleicht hundertmal auf hundert Kilometer. Und wenn du einer folgst, stehst du plötzlich abermals vor einer Abzweigung. Nee, so einfach wird es nicht sein, da die richtigen zu finden.« »Seid mal ruhig!« warnte ich die beiden leise und duckte mich. »Ich meine, da vorn eine Bewegung gesehen zu haben, leider nur sehr vage. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Ein größeres Tier 12
vielleicht.« »Oder ein Mensch«, flüsterte Jim und überprüfte den Sicherungshebel seiner Waffe. Ich schüttelte warnend den Kopf. »Wenn dort wirklich noch jemand lebt, so brauchen wir ihn lebendig. Tot nützt er uns nichts. Seid also vorsichtig und knallt nicht einfach drauflos, wenn ihr jemanden seht. Also weiter, aber immer in Deckung bleiben.« Geduckt folgten wir erneut der Schiene. Sie machte jetzt einen leichten Bogen und führte dann in gerader Linie auf das mittlere der Gruppe von Gebäuden zu, das gut ein Stockwerk höher war als die anderen. Im Gegensatz zu diesen anderen hatte es auch keine sichtbaren Fenster. Es schien damit weder als Bürohaus noch als Unterkunft gedient zu haben. »Wo hast du denn was gesehen?« fragte Jim. »Rechts vom Hauptgebäude, bei dem flachen Langbau. Aber wie gesagt - ich kann mich auch getäuscht haben.« »Na schön, wenn dem so ist, schlage ich vor, daß wir uns trennen. Folgt ihr beide weiter den Schienen, ich werde mich auf Umwegen an den Flachbau heranschleichen. Wenn da wirklich jemand ist, finde ich ihn auch. Wenn ich euch brauche, jage ich drei Schüsse in den Himmel. Alles klar? « »Sei vorsichtig«, warnte ich noch. Jim verschwand rechts von uns zwischen den Büschen. Bereits Sekunden später war er auch nicht mehr zu hören. Will und ich näherten uns weiter dem Bau, in dem die Schienen verschwanden. Nun konnten wir auch das große und hohe Doppeltor erkennen, das in der Mitte einen Spalt offen stand. Wir würden also kaum Schwierigkeiten haben, den Schienen zu folgen und in das Innere des Betonklotzes einzudringen. Die Vegetation reichte bis ans Tor, war aber nicht mehr so hoch und dicht. Kein Wunder, denn es mußte sich hier durch die Betonschicht hindurcharbeiten, mit der man den natürlichen Boden bedeckt hatte. Wieder einmal erhielt ich Gelegenheit, den ungeheuren Lebenswillen der Pflanzen zu bewundern, für die es kein Hindernis auf dem Weg zum Licht zu geben schien. Bevor wir die letzten Meter zurücklegten, warf ich einen Blick nach rechts, konnte aber keine Spur von Jim entdecken. Dann waren wir mit ein paar Sätzen beim Tor und zwängten uns mit vorgehaltenen Waffen in den Raum, der dahinter lag. Es war eine riesige Halle, und das einzige Licht erhielt sie von einem großen Fenster in der hochliegenden Decke. Nur so konnten wir feststellen, daß die Schienen am anderen Ende der Halle unter einem 13
Gebilde endeten, das an einen überdimensionalen Trichter erinnerte. Von diesem aus führten ein halbes Dutzend armdicke Leitungen hinab in den Boden, demnach mußte sich die eigentliche Mischanlage unter der Halle und damit auch unter der Erde befinden. Wo aber war der Weg nach unten? Wir durchsuchten die ganze Halle, in der Maschinenanlagen und mir unbekannte technische Einrichtungen standen, konnten jedoch nichts finden, was einem Abstieg auch nur geähnelt hätte. Er mußte gut getarnt sein oder sich woanders befinden - vielleicht aus Gründen der Sicherheit. In diesem Augenblick vernahmen wir drei in schneller Folge abgegebene Schüsse, die zweifellos aus Jims Waffe stammten. Jim hatte, wie vereinbart, das flache Gebäude, das einem verlängerten Bungalow glich, unter dem Schutz der Vegetation umgangen und sich dann von der anderen Seite her vorsichtig genähert, ohne ein Zeichen von Leben zu bemerken, was allerdings nichts zu bedeuten hatte. Der Gesuchte, wenn es ihn überhaupt gab, konnte sich überall verborgen halten. Jim entdeckte einen offenen Seiteneingang, den er ohne lange zu zögern betrat, nachdem er die Waffe entsichert hatte. Der Mittelgang mit den vielen Türen an beiden Seiten irritierte ihn zuerst, da aber die meisten Türen weit offen standen, fiel ihm das Durchsuchen der dahinterliegenden Räume nicht schwer. Er fand nichts, was auf die Anwesenheit von Menschen schließen ließ. Die Zimmer waren alle nach dem gleichen Schema eingerichtet. Tische, Stühle und Aktenschränke - also Büros. In einigen standen auch Computer, stumm und schon lange außer Betrieb. Jim verließ den Bau durch den Ausgang am anderen Ende des Ganges — und sah den Gesuchten. Er stand in der Tür des benachbarten Bungalows und starrte mit vor Schreck aufgerissenen Augen auf die Waffe in Jims Hand, deren Lauf auf ihn gerichtet war. Er riß die Arme hoch. »Tun Sie mir nichts«, rief er mit schriller, panikerfüllter Stimme. »Ich bin unbewaffnet.« Jim ließ das Gewehr sinken. »Dann kommen Sie her, aber langsam.« Der Mann war mindestens fünfzig Jahre alt, vielleicht älter, sah jedoch wohlgenährt und gut gekleidet aus. Wie sich später herausstellte, hatte er hier keine Not gelitten, denn die Vorratsmagazine waren gut gefüllt gewesen - trotz einiger Überfälle durch Plünderer, die ihn in seinem Versteck jedoch nicht gefunden hatten. Jim tastete den Mann nach Waffen ab, dann feuerte er die drei 14
vereinbarten Schüsse ab, um uns herbeizurufen. Meine erste Frage lautete: »Sind Sie allein hier?« Als er das bejahte, fuhr ich fort: »Wer sind Sie und was tun Sie hier? Sie können ruhig sprechen, denn ich versichere Ihnen, daß wir keine Plünderer sind, sondern aus einer Ansiedlung stammen, deren Einwohner bemüht sind, eine neue und friedlichere Welt aufzubauen. Sie haben also nichts zu befürchten.« Der Mann beruhigte sich in der Tat und hörte auf vor Angst zu zittern. Er faßte Vertrauen zu uns und atmete erleichtert auf. Wir saßen draußen im Freien auf einer kleinen Lichtung dicht neben den Schienen, nicht weit vom Hauptgebäude entfernt. Will war stehengeblieben und ließ die Umgebung nicht aus den Augen. Der Mann begann zögernd zu berichten. Ich will es mit meinen eigenen Worten wiedergeben: Er hieß, so behauptete er wenigstens, Louis Fermont und wurde vor fünfzehn Jahren als Transportbegleiter bei einer staatlichen Firma eingestellt, Einer Firma, so betonte er, die ein Pflanzenschutzmittel herstellte. Seine Aufgabe war es gewesen, in unregelmäßigen Abständen Züge mit zwei oder höchstens drei Tankwagen von hier aus zu einer mitten in der Wüste gelegenen Sammelstelle zu geleiten, wo das Produkt, wie es hieß, endgültig »aufbereitet« wurde. Von dort aus erfolgte dann erst die letzte Aufteilung und Versendung zu den eigentlichen Lagerstätten, die auch er nicht kannte - bis auf eine. »Bis auf eine?« fragte ich, hellhörig geworden. »Ein Mann fiel aus, und ich mußte für ihn einspringen. Wir hatten doch damals alle noch keine Ahnung, worum es wirklich ging. Wir ahnten es erst, als wir - von der Sammelstelle kommend - unsere Fracht entluden. Es waren Granaten - wenigstens sahen die Dinger so aus. Pflanzenschutzmittel in Form von Granaten - das gab uns zu denken. Aber es war zu spät.« »Wollen Sie uns helfen, Louis, das Sammellager in der Wüste und das andere Endlager zu finden?« Er blickte uns der Reihe nach an, nicht mehr ängstlich oder voller Zweifel, sondern wie von einer schweren Last befreit. Dann nickte er. »Natürlich helfe ich Ihnen. Ich bin lange genug allein gewesen. Abgesehen von den unliebsamen Besuchern, die gelegentlich hier auftauchten.« »Haben Sie eine Waffe?« »Ich habe hier keine gefunden, konnte mich aber immer so verstecken, daß mich niemand fand. Heute allerdings . . .«, er nickte Jim zu, „. . . wurde ich überrascht.« »Wir haben noch eine Ersatzwaffe im Jeep. Wann fahren wir los?« Louis Fermont erhob sich spontan. 15
»Von mir aus sofort - sobald ich meine Sachen geholt habe.« »Ihre Sachen?« Er lächelte — zum erstenmal übrigens. »Was glauben Sie, was die Bonzen hier alles in ihren Magazinen gelagert hatten? Ich möchte wenigstens ein paar Flaschen Champagner und Cognac holen, damit wir auf das Gelingen unserer Expedition anstoßen können. Und ich meine, das lächerliche Sie sollten wir auch vergessen.« »Also gut«, sagte Will und grinste, während er sich die Lippen leckte. »Dann geh und hole das Gesöff. Jim wird dir gern dabei helfen, denn außer Bier haben wir nichts dabei.« »Bringt auch noch ein paar Konserven mit«, rief ich ihnen nach. Will setzte sich neben mich, das Gewehr zwischen den Knien. »Du bist sicher, daß wir uns auf ihn verlassen können? Auf Louis, meine ich.« Ich nickte. »Ganz sicher, Will. Er war nur ein kleines und unbedeutendes Rädchen im Getriebe dieser riesigen unübersichtlichen Maschinerie, die sich Regierung, Staat oder wie auch immer nannte, deren Opfer er und wir alle wurden. Seltsam ist nur, daß es fast auf der ganzen Welt zur selben Zeit passierte, so als hätte es eine Absprache gegeben, irgendeine Verbindung, von der niemand etwas ahnte.« »Nein!« widersprach Will überzeugt. »Es war ein Zufall,. ein ganz verdammter Zufall!« »Oder«, vermutete ich ein wenig unsicher, »ein genauso verdammter Fehler, ein Versehen, eine durchgebrannte Sicherung, eine gebrochene Zuleitung, ein verrückt gewordener Computer - irgend etwas in dieser Richtung.« Will nickte zwar, aber es war keine Zustimmung. »Was auch immer, Robert, hinter allem stand immer der Mensch, und er allein ist schuld.« Wir schwiegen, denn drüben bei den Gebäuden erschienen Jim und Louis, beide mit offensichtlich schweren Säcken auf ihren Schultern. Der Champagner schmeckte herrlich. Er war sogar kühl... Ich muß zugeben, daß wir den Aufbruch auf den nächsten Tag verschoben, auf den 2. Oktober also, denn nach unserer kleinen Feier hatten wir alle einen ziemlich schweren Kopf. Außerdem war das Fahren bei Nacht zu riskant. Man hätte das Scheinwerferlicht meilenweit sehen können und Plünderer nur eingeladen, uns zu überfallen. Der Tag versprach warm und sonnig zu werden. Heute steuerte ich den Jeep und überließ den anderen Orientierung und Wache. Ersteres war nicht schwierig, denn vorerst brauchten wir nur den 16
Schienen zu folgen. Das einzige Problem war die an manchen Stellen fast undurchdringliche Vegetation, aber der Jeep meisterte auch die dichtesten Büsche und legte kleine Bäumchen um wie ein Panzer. Louis hockte neben mir, immer noch ein wenig benommen von der plötzlichen Veränderung seines bisherigen Daseins, aber eifrig bei der Sache. »Bis auf das eine Mal sind wir immer nur dieselbe Strecke gefahren. Meist durch einsame und unbewohnte Gegenden. Ich schätze, daß wir die Äbzweigung in etwa fünfzig Kilometer erreichen. Eine Weiche, das ist alles. Man muß sie mit der Hand umstellen. War übrigens der einzige Ort, an dem der Zug anhalten durfte.« Um ganz sicher zu sein, fragte ich noch einmal: »Unser Ziel ist also jenes Werk, in dem das fertiggemischte Produkt in die . . . nun, in die Behälter gefüllt wurde?« »Richtig! Und von dort aus wurde es dann in die Lagerstätten verteilt. Sie sind es, die wir finden müssen.« »Zumindest eine kennst du ja, Louis.« Er nickte, langsam und fast bedächtig. »Die finde ich im Schlaf.« Gegen Mittag erreichten wir die Abzweigung. Der bisherige Schienenstrang führte geradeaus weiter. Ein ganz normaler Weichenhebel gab die Abzweigung nach links frei. Ohne anzuhalten fuhren wir weiter, jetzt nach Norden. Das Gelände wurde unübersichtlicher und gebirgiger. Oft mußte ich mit dem Jeep auf den Schienen fahren, um nicht in einer Schlucht steckenzubleiben. Als es anfing zu dunkeln, fanden wir auf einem Plateau mitten zwischen den Büschen einen halbwegs sicheren Lagerplatz. Wir machten kein Feuer. Will und Jim teilten sich die Wache. Der nächste Vormittag - es war der 3. Oktober - brachte uns hinab in die Ebene und damit in die Wüste. Sie bot einen merkwürdigen und ungewöhnlichen Anblick. Wo früher nur fast weißer Sand und Wanderdünen gewesen waren, gab es jetzt grüne Streifen, die fast parallel verliefen und sich am Horizont zu treffen schienen. Eigentlich ein erfreulicher Anblick, aber ich begann mich zu fragen, wie das möglich sein konnte. Vielleicht hatte es hier geregnet, bedingt durch Veränderungen in der Atmosphäre. In Jackville zumindest hatte es in den vergangenen vier Jahren auch nicht mehr geregnet wie in den Jahren zuvor. Arn Nachmittag stand Louis plötzlich auf und deutete über die Windschutzscheibe hinweg nach vorn. »Da ist es!« Und dann, als wir näher kamen, korrigierte er sich: »Da war es! Es ist zerstört worden.« 17
Wir sahen es selbst, Es mußte eine gewaltige Explosion gewesen sein, die das sogenannte »Aufbereitungswerk« vernichtet hatte. Wir würden wohl niemals erfahren, ob diese Explosion durch die Verantwortlichen der Anlage oder durch eine Rakete des Feindes verursacht worden war. Wir fuhren durch das hier mannshoch wachsende Gras auf den Trümmerhaufen zu, ohne weiter auf die Schienen achten zu müssen. »Nicht wieder zu erkennen«, murmelte Louis ratlos. »Vielleicht finden wir Hinweise unter der Erde. Dort nämlich wurden die Behälter gelagert, bis sie weiter transportiert wurden.« Der Jeep durchbrach mühelos die zerfetzten Sperrgitter, rollte über die Trümmer der zerstörten Gebäude hinweg, bis ich schließlich anhielt. Ich warf Louis einen fragenden Blick zu. »Und nun?« Er zuckte die Schultern. »Irgendwo unter uns«, sagte er lediglich. Wir wanderten bis zum Abend durch das Ruinenfeld, ohne das zu finden, was wir suchten. Auch hier wucherte Vegetation jeder Art und verwandelte die Trümmerhügel in grüne Halden. Von einem Eingang, der hinab in die unterirdische Anlage führte, gab es keine Spur. Als es dunkelte, gaben wir auf. Resignierend sagte Louis, als wir mitten in den Ruinen am kleinen Lagerfeuer hockten: »Hoffentlich ist das nicht auch bei den Lagerstätten passiert, besonders nicht bei jener, die ich kenne.« »Wir werden ja sehen«, antwortete ich einsilbig, während sich tief in meinem Unterbewußtsein wieder der vage Verdacht regte, der keine erkennbaren Formen annehmen wollte. Am 4. Oktober fuhren wir den gleichen Weg über das Gebirge zurück, übernachteten bei der Weiche und setzten dann die Fahrt am 5. Oktober fort, wobei wir dem ursprünglichen Schienenstrang folgten. Jetzt kannte sich Louis recht gut aus, obwohl er die Strecke nur einmal abgefahren hatte. Es gab immer wieder Weichen und Abzweigungen, aber die Schienenstränge führten, wie er behauptete, praktisch ins Nichts. Sie endeten irgendwo in einem Gebäude, das keinen Zweck erfüllte und innen leer war. »Es ist nicht mehr weit«, versicherte er uns immer wieder, wenn wir ungeduldig wurden. »Wir können das Lager am frühen Nachmittag erreichen. Wenn nichts dazwischenkommt«, fügte er noch hinzu. Es kam aber etwas dazwischen, jedoch erfolgte der Überfall so stümperhaft und unorganisiert, daß wir damit in weniger als zehn Minuten fertig wurden. Sie waren etwa ein Dutzend und tauchten hinter den Hügeln auf Pferden auf. Ohne Wamung eröffneten sie das Feuer auf uns. Will, 18
der heute am Steuer saß, lenkte den Jeep geistesgegenwärtig in eine Senke, während Jim, Louis und ich absprangen und in Deckung gingen. Mein Versuch, die Banditen von ihrem Vorhaben abzuhalten, mißlang. Sie schossen wie die Verrückten und kamen schnell näher. Ich nickte den anderen zu, entsicherte meine Schnellfeuerwaffe und erwiderte das wilde Feuer der Angreifer, allerdings mit mehr Erfolg als diese. Meine drei Begleiter folgten meinem Beispiel, und schließlich waren es nur noch zwei von der Bande, die in rasender Flucht hinter den Hügeln verschwanden, von denen sie gekommen waren. Das Leben in einer neuen und fast menschenleeren Welt war hart und grausam, so paradox sich das auch anhören mag. Wer es aufgab, sich gegen die Angriffe und Überfälle von Banditen zu verteidigen, wurde allzu schnell ihr Opfer. Louis hatte sich während des Überfalls erstaunlich gut gehalten. Er mußte seine Erfahrungen gemacht haben, sonst hätte er auch nicht so lange überleben können. Will saß schon wieder hinter dem Steuer. »Na, was ist los mit euch? Wollt ihr hier übernachten?« Ich warf einen Blick hinüber zu den getöteten Banditen. »Die haben sicher nichts dabei, was wertvoll für uns sein könnte, allerdings könnten wir in Jackville noch ein paar Pferde gebrauchen.« »Können wir ja in den Jeep packen«, feixte Jim und kletterte in den Beifahrersitz. Ich nahm mit Louis hinten zwischen Kartons und prall gefüllten Säcken Platz. Die Schienen verschwanden vor uns in einem Wald. Louis sagte: »Das ist es! Nun haben wir es wirklich nicht mehr weit.« Die Fahrt durch den total verwilderten Wald glich einem Alptraum. Von den Geleisen war kaum noch etwas zu sehen, aber Will lenkte den Jeep rücksichtslos über vertrocknete Äste und kleine Bäume, die zwischen den Schwellen herauswuchsen. »Nach der nächsten Biegung müßten wir da sein«, hoffte Louis zuversichtlich. »Ich erinnere mich genau. Ein hoher Zaun müßte dann kommen, mit einem Tor und einem Kontrollbunker. Wird aber wohl heute niemand mehr kontrollieren, schätze ich.« Der Zaun kam in Sicht - eine grüne Pflanzenmauer, ebenso zugewachsen wie der kleine Bunker neben dem herausgerissenen Tor. Wir fuhren einfach hindurch und befanden uns innerhalb der ehemaligen Absperrung auf dem Lagergelände. Die Gebäude ständen noch, aber Efeu und andere Kletterpflanzen bedeckten sie fast völlig. Auch hier hatte die Natur Besitz von dem ergriffen, was die Menschen übriggelassen hatten. »Da drüben!« sagte Louis. »Da drüben muß die Rampe sein, wo abgeladen wurde.« 19
Will folgte den Schienen, bis uns der Prellbock stoppte. Rechts war die Betonrampe, ebenfalls überwuchert. Soweit sich das feststellen ließ, hatte diesen Ort seit Jahren niemand mehr betreten. Vielleicht war es der Urwald, der ihn so hermetisch von der Außenwelt abschloß. Trotzdem ließen wir unsere Waffen nicht aus den Händen, als wir ausstiegen und die Rampe betraten. Das Tor zu dem anschließenden Lagergebäude stand weit offen. Vorsichtig betraten wir es. Undeutlich waren noch Förderbänder und Aufzüge zu erkennen — Aufzüge, die nach unten führten. »Unter uns muß sich das eigentliche Lager befinden«, sprach Louis das aus, was wir dachten. Die Aufzüge waren außer Betrieb. Es gab keine Energie mehr. Jim holte eine Lampe, ein Seil und den Geigerzähler aus dem Jeep. Wir nahmen gleich den ersten Aufzug und brachen den Boden der Transportkabine auf. Der Schacht darunter mochte zehn Meter tief sein. Das Seil wurde befestigt, dann hing ich mir das Gewehr um die Schulter und glitt langsam hinab in das Unbekannte. Noch während die anderen folgten, sah ich mich um. Ich stand in einer riesigen Halle, in der reihenweise stählerne Regale standen, und in ihren ausgesparten Fächern lagen sie, wohlgeordnet und wie Soldaten auf dem Exerzierplatz: die granatenförmigen »Behälter« mit dem flüssigen »Strahlenden Tod«. »Mein Gott!« stöhnte Jim, als er neben mir war. Mehr brachte er nicht heraus. »Gib mir mal den Geigerzähler«, forderte ich Will auf. Er gab ihn mir, aber ich konnte keine Spur von Radioaktivität feststellen. Das Ergebnis beruhigte mich keineswegs. Der »Strahlende Tod« hatte nichts mit normaler Radioaktivität zu tun, sondern mit etwas, das niemand von uns kannte - und das vielleicht noch gefährlicher war. Mit dem Geigerzähler jedenfalls war es nicht zu messen. Ich gab Will das Gerät zurück und nahm wieder die Lampe, um die Granaten näher zu untersuchen. Das Material war Metall und schien noch intakt zu sein. Nur an einer einzigen Granate bemerkte ich einen feinen Riß. Unwillkürlich wich ich zurück. »Noch zehn oder zwanzig Jahre, vielleicht mehr oder weniger, und der Tod kann erneut zuschlagen«, sagte ich zu den anderen. »Wie sollen wir jemals alle Lagerstätten finden? Wie überhaupt läßt sich das Zeug unschädlich machen?« »Das wissen nur jene, die es erfanden«, befürchtete Jim düster. »Und wenn von denen noch einer lebt, hat er sich dorthin verkrochen, wo ihn niemand findet. Was sollen wir tun, Robert?« 20
Ich wußte, daß wir nichts tun konnten, überhaupt nichts. Selbst wenn wir in der Lage gewesen wären, sämtliche Lagerstätten zu finden und die Granaten im Meer zu versenken, wäre das Problem nicht gelöst, ganz im Gegenteil: wir hätten es nur noch verschlimmert, denn das Meer hätte den Tod an die Gestade aller Kontinente getragen. Früher oder später hätte auch das Salzwasser die Metallbehälter aufgelöst. Unwillkürlich mußte ich an den Bruder des Mannes denken, der sich Einsamer Wolf nannte, an den Chemiker, der allerdings nur eine Komponente des tödlichen Gemischs kannte. Wenn wir ihn fänden, würde er uns helfen können? Ratlos standen wir nun da in dem riesigen Lagerraum, dessen Inhalt allein genügte, den Rest der Menschheit für alle Zeiten auszulöschen. Der »Strahlende Tod« war grausamer und schlimmer als die Atombombe, so wie die Atombombe schlimmer war als die Musketen des Mittelalters. Niemand hatte an eine derartige Steigerung des Schreckens geglaubt, aber der Erfindungsgeist perverser menschlicher Gehirne schien keine Grenzen zu kennen. »Was sollen wir tun?« wiederholte Jim seine Frage. Ich schüttelte den Kopf. »Nichts, Jim, gar nichts! Wir können nichts tun! Wir können nur zurück nach Jackville und warten.« . »Dann war alles umsonst?« Jims Stimme verriet Enttäuschung und Entsetzen. »Aber etwas müssen wir doch tun!« Ich zuckte hilflos die Schultern und sah hinüber zu dem Schacht, durch den wir hierher gekommen waren. »Gehen wir«, sagte ich nur. Der Rest ist schnell erzählt. Wir verließen das Lager und traten die Rückfahrt an, nachdem wir im Wald übernachtet hatten. Es war der 6. Oktober, als wir das Kaninchen sahen. Wenigstens dachten wir, es sei ein Kaninchen, bis Louis uns aufklärte: »Es gab sie haufenweise im Mischwerk. Nachttiere. Kaninchen hoppeln, das da drüben hoppelt aber nicht. Es ist eine Ratte.« Ich blickte ihn erschrocken an. »Eine Ratte so groß wie ein kleiner Hase? Bist du sicher?« »Und die Mäuse im Mischwerk waren so groß wie Ratten«, fügte Louis hinzu. Da begann ich zu ahnen, was in anderen Teilen unseres Kontinents und auf der ganzen Welt geschah: Mutationen, hervorgerufen durch die Reste des Giftzeugs, das nach einer gewissen Zeit zwar die tödliche Wirkung verlor, dafür aber eine Gegenveränderung erzeugte. Die große Frage war nur: geschah das gleiche auch, wenn sich die verhängnisvolle Mischung noch in den Granaten befand? 21
Daher also auch der ungewöhnlich starke Pflanzenwuchs, der sich in der Nähe jener Orte bemerkbar machte, die mit der Herstellung und Lagerung zu tun hatten. Um es kurz zu machen: wir erreichten am 15. Oktober Jackville, und
ich berichtete in der Zeitung ausführlich über unsere Expedition, ohne allerdings meine Vermutungen, unsere Zukunft betreffend, zum Ausdruck zu bringen. Jim, Will und Louis hatte ich zum absoluten Schweigen verpflichtet, auf sie konnte ich mich verlassen. Ich wollte nicht den Optimismus unserer Gemeinschaft und den Willen der Menschen zum Wiederaufbau durch düstere Zukunftsaussichten schwächen. Du aber, mein Sohn oder Enkel, der du dies liest, sollst die ganze Wahrheit erf ahren - wenn ich einst tot bin. Die Zeit zum Handeln ist jetzt noch nicht gekommen. Anfang November fuhr ich noch einmal ohne Begleitung los, um den Einsamen Wolf zu besuchen. Er war nicht allein. Er hatte Besuch - seinen Bruder, den Chemiker. Man hatte ihn weiter oben im Norden aufgespürt, und er war geflohen. Es dauerte eine Weile, bis ich sein Vertrauen gewann, dann konnte ich mich endlich eingehend mit ihm unterhalten. Leider wußte er auch nicht viel mehr als Louis. Er kannte nur die Zusammensetzung seiner Komponente, die vielleicht nur ein Zehntel des Endprodukts ausmachte, aber seine Befürchtungen deckten sich mit den meinen. »Die tödliche Sofortwirkung hat sich verloren, das stimmt. Dafür ist etwas anderes an ihre Stelle getreten, nämlich ein ungehemmtes Wachstum der Pflanzenwelt. Auch die Fauna wird betroffen sein. Wie der Mensch reagiert, weiß ich nicht, man wird es erst in einigen Generationen erfahren.« »Und die Lagerstätten?« drängte ich ihn. »Läßt sich das Zeug denn nicht unschädlich machen, neutralisieren vielleicht?« »Ich weiß es nicht, wirklich nicht!« »Was wissen Sie überhaupt?« fragte ich, allmählich die Geduld verlierend. Er starrte eine Weile vor sich hin, ehe er antwortete: »Wir hörten damals nur Gerüchte, aber Sie wissen ja selbst, wie das mit Gerüchten ist. Ein Körnchen Wahrheit ist meistens dabei. Nachprüfen ließ sich nichts.« Ich zwang ihn, mehr zu sagen, und fand heraus, daß sich der staatliche Konzern, in dem der »Strahlende Tod« entwickelt worden war, in Kanada befand, irgendwo in den Bergen um Golden in den 22
Rocky Mountains. Er selbst war nie dort gewesen. »Es waren nur Gerüchte«, erinnerte er mich. »Aber wenn es irgendwo Entwicklungspläne und Aufzeichnungen gibt, dann dort, wo das Gemisch erfunden wurde - wahrscheinlich also in Kanada.« Kanada! Ein weiter Weg durch jetzt unbekanntes Gebiet und auf fremden Straßen, an deren Rändern Gefahren lauerten. Aber ich war entschlossen, das Risiko auf mich zu nehmen. Ich erklärte es dem Chemiker, der Brendon hieß, und schloß: »Und Sie werden mit mir kommen, und wenn ich Sie mit dem Gewehr dazu zwingen müßte. Wir werden dem Gerücht nachgehen und die Wahrheit herausfinden. Und nun überlegen Sie genau, ob Ihnen nicht doch noch etwas einfällt, das nützlich für uns sein könnte.« Ich ließ ihm Zeit und unterhielt mich noch ein wenig mit dem Einsamen Wolf. Nebenan in der Küche hantierten seine Frau und seine Tochter mit dem Geschirr. Es würde bald etwas zu essen geben. »Es hieß damals, das Rezept für die Endmischung sei gestohlen worden, von Agenten anderer Mächte. Das würde erklären, warum es gleichzeitig von beiden Seiten eingesetzt wurde — vielleicht waren es auch mehr als nur zwei Seiten, wer weiß das schon noch?« »Der Krieg war so verrückt wie jeder Krieg verrückt ist«, sagte ich. »Glauben Sie, daß die Erfinder - vielleicht in Kanada - noch am Leben sind?« »Wenn überhaupt, dann in der Brutstätte, deren Standort niemand von uns kannte. Also Kanada -vielleicht.« »Bitte, Brendon, denken Sie scharf nach! Versuchen Sie sich zu erinnern, was Sie noch so . . . nun ja, an Gerüchten vernommen haben. Es ist ungemein wichtig, glauben Sie mir.« Er sah mich kurz an, dann stützte er das Kinn in seine Hände. Schließlich blickte er wieder auf. »Auf meiner Flucht traf ich auf einen Mann, von dem ich annehme, daß er bei dem ganzen Projekt eine leitende Stelle bekleidet hatte, jedenfalls schien er wesentlich mehr zu wissen als ich. Es gelang mir, sein Vertrauen zu gewinnen, als ich ihm klarmachte, daß wir, wenn auch in entferntem Sinn, Kollegen waren. Die Brutstätte, bleiben wir mal bei der Bezeichnung, kannte er angeblich nicht, er verriet mir jedoch, daß selbst die Endmischung in den Granaten - auch diese Bezeichnung dürfte nicht ganz richtig sein - unschädlich war, sonst wären die Transporte unter anderen Sicherheitsmaßnahmen vorgenommen worden. Das Metall der Granaten selbst enthielt eine Substanz, die bei der Detonation frei wurde und sich mit der in ihr befindlichen Flüssigkeit vermischte.« 23
Das war ein völlig neuer Aspekt. Ich konnte ihn nur verblüfft anstarren. Er nickte. Ohne daß ich ihn auffordern mußte, fuhr er fort: »Da die Granaten mit Raketen und gesonderten Sprengsätzen ins Ziel getragen wurden, wo die Explosion und damit die allerletzte Vermischung stattfand, dürfen wir eigentlich annehmen, daß die Lagerstätten selbst absolut ungefährlich sind. Die wirklich letzte Komponente, nämlich die das Metall zerfetzende Detonation, fehlt.« »Und die Mutationen?« »Eine kaum beabsichtigte Nebenwirkung, aber auch das ist nur eine Vermutung.« Ob Nebenwirkung oder nicht, Mutationen jeder Art waren mir unheimlich. Dabei war das jetzt alles erst der Anfang, vier Jahre nach der Katastrophe. Wie würde die Welt in vierzig oder hundert Jahren aussehen? Und das Wichtigste und Entscheidende: Konnte eine lange Lagerzeit nicht den gleichen Effekt auf das Metall der Granaten haben wie eine Explosion? Brendon schien meine Gedanken erraten zu haben. »Der Mann, den ich traf und den ich kurz' darauf aus den Augen verlor, äußerte die Vermutung, daß der unbekannte Stoff, eine Art Legierung, die dem Metall beigefügt wurde, mit der Zeit frei werden und sich mit der Flüssigkeit vermischen könnte. Sollte sich bis dahin die ursprünglich geplante Wirkung nicht verloren haben, brauchen wir uns um das endgültige Ende der Welt keine Sorgen mehr zu machen.« Ich dachte an die Granate, die ich im Lager gesehen hatte, die mit dem feinen Riß in der sonst blanken Oberfläche. Aber dann wurde mir klar, daß ein Riß noch lange keine Auflösung bedeuten mußte. Die Flüssigkeit verflüchtigte sich vielleicht beim Nachlassen des Drucks, unter dem sie stand, und entwich langsam in Form von Gas - und dieses Gas schlug sich draußen nieder und bewirkte den anormalen Pflanzenwuchs und die ersten Mutationen. »Wir werden so bald wie möglich aufbrechen«, sagte ich.! Es dauerte jedoch noch mehr als ein Jahr, bis es soweit war. Vermehrte Überfälle immer besser organisierter Banden, teils mit modernsten Waffen ausgerüstet, die sie in den Arsenalen gefunden hatten, erforderten die ständige Abwehrbereitschaft jedes einzelnen von uns. Dann aber, etwa Mitte des Jahres 1999, ließen die Überfälle nach. Durch gelegentliche Funksprüche erfuhren wir, daß sich der Widerstand anderer Ansiedlungen und Gemeinschaften ebenfalls besser organisiert hatte und daß viele der Banden, die meist in unbewohnten Gebieten ihre Schlupfwinkel besaßen, aus diesen nicht mehr zurückgekehrt waren, als habe der Erdboden sie verschluckt. 24
Gab es dort Gefahren, von denen wir nichts wußten — oder höchstens ahnten? Ich drängte jetzt energisch zum Aufbruch. Es ist November geworden. Gibson Kemp und Eppstein haben den Geländewagen für den Winter ausgerüstet. Wir sind startbereit. Auch Brendon, der sich gut in unsere Gemeinschaft eingelebt hat, kann es kaum erwarten. Morgen brechen wir auf. Ich bin fertig mit meinem Bericht, und wir wissen nicht, was wir finden werden. Aber ich bin sicher, daß wir bei unserer Rückkehr mehr wissen werden als heute - falls wir jemals zurückkehren. Diese Ungewißheit, ob wir es schaffen, hat mich dazu veranlaßt, diesen Bericht zu schreiben, der leider noch keine endgültige Antwort darstellt. Wie Brendon mir versichert, besteht noch keine akute Gefahr was den »Strahlenden Tod« selbst betrifft, der kritische Zeitpunkt läge noch etliche Jahrzehnte in der Zukunft. Aber die andere Gefahr ist akut! Dort, wo keine Menschen leben, und in der Umgebung der Lagerstätten haben Vegetation und einige Tierarten bereits ihr Erbe angetreten. Ich bin fertig. Janet und ich werden den Abend zusammen und allein verbringen. Von den anderen habe ich mich schon verabschiedet, da wir noch vor Sonnenaufgang starten wollen. Möge das Glück auf unserer Seite sein und mögen wir jene finden, die uns die Antworten auf alle unsere Fragen geben können. Mit der Waffe in der Hand werden wir sie dazu zwingen, und Gott möge uns vergeben, wenn wir sie töten müssen . . .
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2.
Robert Zimmermann hatte November 1999 den Bericht unterschrieben und die Namen der drei anderen Expeditionsteilnehmer hinzugefügt: Gibson Kemp, Eppstein und Brendon. Man hat nie mehr wieder von ihnen etwas gehört. Gerald Zimmermann blieb an diesem Abend noch lange bei Claire Buchanan, und dann, nach langer Diskussion, sagte sie energisch: »Du mußt Sam den Bericht lesen lassen, Gerald, unbedingt! Wie soll sonst jemand deinen Entschluß begreifen, den Spuren deines verschollenen Großvaters folgen zu wollen, falls du überhaupt welche findest nach sechseinhalb Jahrzehnten? Aber . . .«, sie legte ihre Hände auf die seinen und sah ihn an, „... aber du wirst doch nicht ernsthaft daran denken, diesen Ort in Kanada aufzusuchen, nur äuf eine bloße Vermutung hin . . .?« »Ich werde es wohl tun müssen, Claire, denn dieser Bericht ist nichts anderes als ein Vermächtnis. Und wenn mein Großvater recht hatte mit seinen Vermutungen und Befürchtungen, leben wir gerade jetzt in der Zeit, für die der Ausbruch der Katastrophe vorausgesagt wurde. Ein gutes halbes Jahrhundert...« »Aber das ist doch alles Unsinn! Was ist denn bisher schon passiert? Sicher, in den verlassenen Gebieten breitet sich die Vegetation aus, aber das ist doch nicht ungewöhnlich. Schön, die im Bericht erwähnten Ratten sind größer geworden, einige Insektenarten auch, aber sie haben sich nicht bedrohlich vermehrt und . . .« »Richtig!« fiel Gerald ihr ins Wort. »Sie haben sich nicht sonderlich vermehrt! Ist dir vielleicht auch schon aufgefallen, daß die Bevölkerung von Jackville sich ebenfalls kaum vermehrt hat und daß immer weniger Kinder geboren werden? Hast du darüber schon mal nachgedacht, Claire?« Verwirrt suchte sie nach einer Erklärung. »Vielleicht wollen die Leute keine Kinder mehr, wenigstens nicht so viele wie früher.« »Dann frage mal Sam Roberts, Claire. Er wird dir bestätigen, daß immer mehr Frauen zu ihm kommen, weil sie gern Kinder hätten, aber keine bekommen. Sie sind unfruchtbar geworden, nicht alle, aber ich schätze mehr als achtzig Prozent. Bei den Männern liegt die Prozentzahl etwas niedriger. Meinst du wirklich, daß sei noch ein Zufall?« »Und wenn es kein Zufall ist, was willst du dagegen tun?« Er grinste, fast ein wenig spitzbübisch. 26
»Wenn ich zurück bin, Claire, werden wir heiraten, und dann werden wir ja sehen, ob meine Befürchtung stimmt oder nicht.« Sie lief rot an. »Aber Gerald, das Trauerjahr ist ja kaum vorbei.« »Bis ich zurückkomme, ist es zweimal vorbei.« Zum zweiten Mal an diesem Abend legte sie die Hände auf die seinen. »Und wann . . . wann ist es soweit?« »Wann ich aufbreche, meinst du?« Als sie nickte, fuhr er fört: »Keine Ahnung, die Vorbereitungen benötigen Zeit. Ich werde James und John fragen, ob sie mich begleiten wollen. Sie sind zuverlässig und mit uns befreundet.« Er sann eine Weile schweigend vor sich hin, so als müsse er eine Entscheidung treffen, was er dann auch tat. »Du hast recht, Claire, ich muß Sam den Bericht meines Großvaters lesen lassen, auch James und John werden ihn lesen. Aber sie werden über den wahren Grund der Expedition ebenso schweigen müssen wie du. Es gäbe sonst eine Panik.« Sie nickte. »James Townshend und John Ewert sind gute Männer. Wenn sie mit dir gehen, bin ich etwas beruhigter.« Sie stand auf. »Ich mache uns noch eine Tasse Tee.« Erst spät in der Nacht kehrte Gerald in seine eigene Wohnung zurück. Morgen würde er mit den Freunden reden. Die Verbindung zu anderen Ansiedlungen mit einem Funkgerät war mehr als locker. Ab und zu wurden Informationen ausgetauscht oder Warnungen vor Überfällen durchgegeben, das war aber auch schon alles. Die einzelnen Gemeinschaften lebten unabhängig voneinander, gegenseitige Besuche oder Tauschgeschäfte gab es nur selten. So war es nicht nur in Amerika. Auf der ganzen Welt, auf allen Kontinenten, von denen keiner dem »Strahlenden Tod« entkommen war, spielte sich das Leben in ähnlicher Form ab. Es gab immer noch ein paar Flugzeuge und Schiffe, aber es wurden keine neuen mehr gebaut. Wozu auch? Öl wurde keins mehr gefördert, keine Raffinerie arbeitete noch, und die immer noch hier und da vorhandenen Treibstofflager reichten für den geringen Bedarf der letzten und immer wieder reparierten Fahrzeuge aus. Es war ein einfaches und primitives — und natürliches Leben, das der Rest der Menschheit führte, und sie war damit zufrieden. Jene Orte, an denen sich die neuen Gemeinschaften gebildet hatten, konnten von der überall vordringenden Vegetation freigehalten werden, wenn dafür auch größte Anstrengungen notwendig waren, aber auf den vom Unkraut freigehaltenen Anbauflächen konnten 27
Ernten erzielt werden, die jene von früher um das Doppelte und Dreifache übertrafen. Es gab keinen Hunger. Dafür jedoch gab es kaum noch Fleisch. Pferde, Kühe, Schweine und anderes Nutzvieh wurde mit jedem Jahr rarer, weil sich die Tiere kaum vermehrten. Geschlachtet wurde nur in äußersten Notfällen, und schließlich wurde Fleischgenuß in den meisten Teilen der Welt verboten — solange zumindest, bis eine merkbare Aufstockung des Viehbestands erfolgte. Mit den Hühnern war es ähnlich. Zwar legten sie Eier in gewohnter Menge, aber selten nur schlüpften Küken aus. Das gebratene Huhn gehörte der Vergangenheit an, wenn man von jenen Exemplaren absah, die man röstete, weil sie keine Eier mehr produzierten. Überfälle gab es jetzt weniger, und wenn, dann wurden sie von den betroffenen Gemeinschaften mit erbitterter Entschlossenheit abgeschlagen. Die Welt begann sich von dem Schock des letzten Krieges zu erholen. Gerald Zimmermann hatte Doc Sam Roberts den Testamentbericht vorgelegt und dann auf eine Reaktion gewartet. Sam hatte sich mit dem Lesen Zeit gelassen und dann bedächtig genickt. »Da gibt es kaum eine andere Wahl, Gerald. Du mußt das Vermächtnis deines Großvaters erfüllen. Er wollte es so. Und ich meine, es ist lebenswichtig, daß wir alle die Wahrheit erfahren, wie immer sie auch aussehen mag. Ich selbst verstehe nicht viel von Chemie, schon gar nicht, wenn es sich um chemische Kampfstoffe handelt. Und das war der »Strahlende Tod« ja wohl zweifelsfrei. Allerdings bin ich jetzt davon überzeugt, daß er nicht nur tötete, sondern daß die Zusammensetzung nach einer bestimmten Zeitspanne einer Veränderung unterworfen wurde, die etwas völlig anderes als den Tod verursacht. Wahrscheinlich haben das selbst jene nicht gewußt, die den Stoff entwickelten. Du mußt die Formel der Zusammensetzung finden, Gerald! Nur dann haben wir eine Chance, etwas dagegen zu unternehmen. Lehrbücher sind noch genügend in unserer Bibliothek vorhanden.« »Hoffentlich nützen sie uns was.« Sam schob den Bericht über den Tisch zurück. »Wozu haben wir unsere Schule mit dem kleinen chemischen Labor? Wozu haben wir Peter Helling, den Chemielehrer? Hat er zwar nur bei sich zu Hause studiert, aber ich glaube schon, daß er eine Menge von dieser Materie kennt.« Gerald verstaute den Bericht in der Rocktasche. »Ich habe also dein Einverständnis. Packe Medikamente zusammen. Wir werden sicher welche gebrauchen können. Auch Verbandszeug. 28
Wir werden in einer Woche starten.« »Wir ...? Wer kommt noch mit dir?« Gerald lächelte. »Ich dachte an James Townshend, dessen Vater mit dem Flugzeug von England kam und hier blieb, weil er heiratete. Und natürlich an John Ewert, dessen Großvater ebenfalls aus England zu uns stieß. Sie sind Freunde von mir. Ich bin gespannt, was sie sagen, wenn sie die Neuigkeit erfahren.« Sam lächelte zurück. »Wie ich die beiden kenne, sind sie mit Feuer und Flamme dabei. Dann also viel Glück - schon jetzt im voraus.« Doc Sam behielt recht. Als James und John den Bericht gelesen hatten und Geralds Vorschlag vernahmen, sagten sie sofort zu. »Vielleicht finden wir auf dem Weg ein Flugzeug, das noch fliegt«, hoffte der vierzigjährige James begeistert. »In dieser Hinsicht trete ich gern in die Fußstapfen meines Vaters. Er hat mir alles, was zur Fliegerei notwendig ist, in der alten Mühle beigebracht, mit der sie damals den Ozean überquerten und hier, eine Bruchlandung machten. Leider fliegt die Kiste nicht mehr.« »Und ich«, gestand John Ewert ohne Verlegenheit, »bin zwar nicht so ein berühmter Schauspieler wie mein Großvater Jack, dafür verstehe ich aber etwas von Physik. Und gut schießen kann ich auch!« »Das wird vielleicht auch nötig sein«, nahm Gerald das Einverständnis zur Teilnahme an der geplanten Expedition freudig entgegen. »In einer Woche brechen wir auf. Wir nehmen den großen Jeep, das Geländefahrzeug. Hat eine Menge Platz darin. Außerdem ist er in Ordnung und läßt uns kaum im Stich.« »In einer Woche also«, meinte James und klopfte sich begeistert auf die Schenkel. »Ich kann es kaum erwarten.« »Und ich«, sagte John, »werde mir noch einige Informationen von Peter Helling holen. Man kann nie wissen.« In zuversichtlicher Stimmung verabschiedeten sie sich. Auch diesen Abend verbrachte Gerald zusammen mit Claire, die immer noch gehofft hatte, er würde seine Pläne aufgeben. Sie war eine tapfere Frau und ließ sich ihre Sorge und Enttäuschung nicht anmerken, als sie seine feste Entschlossenheit erkannte. Halb Jackville hatte sich versammelt, als der Gelände-Jeep von James auf den kleinen Platz im Zentrum der kleinen Stadt gelenkt wurde. Neben ihm hatte Gerald Platz genommen, während John hinten zwischen der Ausrüstung saß, deren Hauptteil allerdings im Laderaum untergebracht worden war. Die Waffen lagen griffbereit zwischen den Sitzen. 29
Bis auf die vier genannten Ausnahmen hatten die Bewohner von Jackville keine Ahnung von dem Testament Robert Zimmermanns, dessen Name jeder kannte. Schließlich war er einer der Gründer dieser Ansiedlung gewesen, damals, nach der großen Katastrophe. Somit war es selbstverständlich, daß man seinem Enkel den nötigen Respekt entgegenbrachte und ihm sowie seinen beiden Begleitern Glück wünschte und seine Erklärung, man wolle Kontakt mit anderen Menschen suchen, vollen Glauben schenkte. Und Gerald hatte nicht einmal zu lügen brauchen, denn sie suchten ja tatsächlich Menschen Menschen, die etwas wußten. Nach einer Ehrenrunde lenkte James den Jeep aus der Stadt hinaus auf die Straße, die nach Norden führte. Etwa zweihundert Kilometer in dieser Richtung lebte ebenfalls eine kleine Gemeinschaft, Nachkommen jener, die damals überlebt hatten. »Wir haben mehrmals Funkkontakt mit ihnen gehabt«, plauderte John und stützte sich an den festgezurrten Kisten ab, denn die Straße bestand zum größten Teil nur noch aus Schlaglöchern. »Ganz vernünftige Leute dort. Leider hatten sie vor zwei oder drei Jahrzehnten ziemliches Pech.« »Wieso? Was ist passiert?« fragte Gerald. »Sie wurden überfallen, hatten eine Menge Tote, konnten aber dann den Rest der Bande vertreiben. Die jedoch hatte das einzige Treibstofflager bei ihrer Flucht in Brand gesteckt. Es explodierte und zerstörte die drei dort abgestellten Autos völlig.« Gerald schüttelte den Kopf. »So vernünftig, wie du behauptest, scheinen sie also doch nicht gewesen zu sein.« »Denen von heute kannst du deshalb doch keinen Vorwurf machen, die meisten waren damals noch Kinder«, verteidigte John die Bewohner von Rocktown, so hieß der Ort. »Fahr nicht so schnell, James, sonst haben wir bald einen Achsenbruch.« »Nicht mit dem Karren!« knurrte James und mogelte sich geschickt an den Schlaglöchern vorbei, wenn es gerade möglich war. So ganz unrecht hatte er nicht mit seiner Behauptung, denn das ständig immer wieder reparierte und mit Metallverstärkungen versehene Fahrzeug war mit Sicherheit robuster als jedes andere, das damals aus der Fabrik rollte. Es war auch schwerer, allein schon wegen der gepanzerten Reservetanks. Der Sprit reichte für gut anderthalbtausend Kilometer, wenn man die schlechten Straßen und Fahrten durchs Gelände einkalkulierte. Gegen Abend erreichten sie ohne Zwischenfall Rocktown, eine Ansiedlung mit schätzungsweise dreihundert Menschen. Gerald ließ James in einiger Entfernung anhalten. Er stieg aus und schwenkte ein 30
weißes Handtuch, damit es keine Verwechslungen gab. Ein einziges Funkgerät war Rocktown verblieben, und auf diesem Weg hatte man ihr Kommen angekündigt. Es würde also kaum Probleme geben. Es dauerte fast drei Minuten, ehe am Rand der Siedlung eine Bewegung zu erkennen war. Ein Mann erschien dort und winkte Gerald zu. Er trug ein Gewehr in der anderen Hand, hielt aber den Lauf nach unten. Gerald nickte seinen Freunden zu und ging dem Mann von Rocktown entgegen. Das weiße Tuch behielt er in der Hand. Als er sich ihm bis auf wenige Meter genähert hatte, blieb er stehen. »Wir kommen aus Jackville. Sie wissen Bescheid?« Der Mann nickte und lächelte. »Sie wurden uns angekündigt - aber lassen wir das unüblich gewordene Sie. Seid uns willkommen. Ich weiß zwar nicht, ob wir euch helfen können. Viel hat man uns nicht verraten können.« »Können meine Freunde nachkommen?« »Natürlich, wenn sie nicht im Wagen da draußen übernachten wollen.« »Danke, aber das Schlafen im Wagen und im Freien werden wir uns ohnehin noch angewöhnen müssen.« Er drehte sich um und winkte zurück. Der Jeep setzte sich sofort in Bewegung und hielt dann an. James stellte den Motor ab und stieg aus. John folgte ihm. Der Mann aus Rocktown hieß Olaf Brandström und war Vorsitzender des Gemeinderats. Noch vor der großen Katastrophe waren seine Großeltern von Norwegen eingewandert und hatten sich hier angesiedelt. Gerald und seine Begleiter stellten sich ebenfalls vor, doch bevor sie auf den Zweck ihres Besuches zu sprechen kamen, winkte Olaf ab. »Hat Zeit bis später, Freunde. Wir wissen, daß ihr jemand sucht, wenigstens sagte man das in Jackville. Der Funk war rein zufällig eingeschaltet und auf Empfang, weil es genügend Wind für den Strom gab. Ihr seid auf der Suche nach jemand - mehr haben sie uns nicht gesagt. Hoffentlich sucht ihr diesen Jemand nicht gerade bei uns.« »Nein, das wäre unwahrscheinlich«, lächelte Gerald. Olaf Brandström war sichtlich beruhigt. »Dann kommt mit, man wartet schon auf den seltenen Besuch. Ihr bleibt doch bis morgen?« »Gern«, stimmte Gerald zu. »Wird ja auch schon dunkel.« Der Jeep wurde einfach auf der Straße abgestellt, denn so etwas wie Diebstahl gab es in Rocktown nicht. Dann saßen die drei Freunde in der großen Stube eines gemütlich eingerichteten Gasthauses - dem 31
einzigen von Rocktown - an einem langen Holztisch. Etwa vier Dutzend Männer und Frauen betrachteten sie voller Neugier, stellten aber noch keine Fragen. Zuerst wurde gegessen. Dann erst, bei einem Glas selbstgebrauten Bieres, kam eine Unterhaltung auf. Sie beschränkte sich anfangs auf allgemeine Themen, die das Leben in den beiden Siedlungen betrafen, dann fragte Gerald schließlich: »Ich weiß nicht, ob hier eine Dorfchronik geführt wird, in der die Ereignisse der letzten Jahrzehnte niedergeschrieben wurden.« Er sah, daß Olaf nickte. »Wenn ja, dann müßte man in ihr auch den Namen meines Großvaters finden, denn als er vor sechsundsechzig Jahren nach Norden aufbrach, kam er mit Sicherheit hier vorbei.« »Vielleicht hat er sich in unser Besucherbuch eingetragen«, rief jemand vom anderen Ende des Tisches. »Möglich«, räumte Olaf ein. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber den Namen Zimmermann habe ich schon mal irgendwo gehört oder gelesen - früher, meine ich. Käthe, sei so gut und hole das Buch. Bring auch gleich die Chronik mit.« Eine ältere Frau erhob sich und verließ den Raum. Gerald befriedigte inzwischen die erklärliche Neugier ihrer Gastgeber und erzählte von der Expedition seines Großvaters und ein wenig über ihren Zweck. Er schloß: »Er und seine drei Begleiter sind damals spurlos verschwunden und niemals zurückgekehrt. Wir wollen herausfinden, was geschehen ist.« »Das ist alles eine sehr lange Zeit her, da kann es keine Spuren mehr geben«, erklärte Olaf. Käthe kam mit zwei Aktendeckeln zurück und gab sie Olaf. Der blätterte in ihnen und schlug dann bei dem dünneren die letzten Seiten auf. Gerald wartete geduldig. Er wollte nichts überstürzen. Dann sah er, daß sich die Miene des Norwegers aufhellte. Sein Finger stieß auf das vor ihm liegende Blatt hinab, als wolle er es aufspießen. »Tatsächlich! Sie waren hier!« Nun hielt Gerald es nicht mehr länger aus. Er streckte die Hand über den Tisch, und Olaf schob ihm das »Buch« bereitwillig entgegen. Gerald erkannte die typische steile Schrift seines Großvaters auf den ersten Blick. Atemlose Stille herrschte in der Gaststube, als er laut vorlas: »Erreichten heute die Siedlung Kocktown, unsere erste Station, und bedanken uns für die erwiesene Gastfreundschaft. Unser Weg führt uns weiter nach Norden, und wir hoffen, immer auf so ehrliche Menschen zu treffen wie hier. Nochmals vielen Dank. Gezeichnet: 32
Robert Zimmermann, auch im Namen meiner Begleiter Brendon, Eppstein und Kemp. November im Jahre fünf nach dem Ende der Welt.« November 1999 also. Gerald blickte auf und begegnete den fragendem Augen Olafs. Eine kleine Erklärung würde er ihm und den anderen wohl schuldig sein. »Er war hier, das wissen wir nun, aber leider hinterließ er keinen Hinweis über den Zweck der Expedition. Nach Norden also! Irgendwo im Norden gab es etwas, das er finden wollte.« »Der Norden ist weit und groß«, sagte Olaf nachdenklich. »Die nächste Siedlung in nördlicher Richtung dürfte ungefähr vierhundert Kilometer entfernt sein. Ich hoffe, ihr habt genügend Benzin, denn bei uns gibt es keinen Tropfen mehr seit dem Überfall. Wir benötigen auch keins, davon abgesehen.« »Die vierhundert Kilometer schaffen wir leicht mit unseren Vorräten. Wie heißt übrigens die Siedlung?« »Manchmal haben wir Funkkontakt mit ihr. Nennt sich Heidelberg komischer Name, nicht wahr?« »Eine deutsche Stadt hieß so«, erinnerte ihn Gerald. »Einer meiner Vorfahren studierte dort«, warf John ein. »Dann werden wir in Heidelberg wohl auf deutsche Siedler beziehungsweise deren Nachkommen treffen.« »Das ist anzunehmen«, sagte Gerald und unterdrückte ein Gähnen, aber Olaf hatte es trotzdem bemerkt. »Ihr werdet nach der langen Fahrt müde sein. Wir haben Zimmer hier im Gasthaus.« »Keine Umstände«, bat Gerald. »Entweder Zimmer hier im Gasthaus«, rief Olaf mit dröhnender Stimme, »oder wir jagen euch aus der Stadt!« »Unter solchen Umständen«, spielte Gerald den Eingeschüchterten, »ziehen wir es natürlich vor, dein Angebot dankend anzunehmen.« Beide lachten, aber es dauerte doch noch gute zwei Stunden, bis sie endlich in den Betten lagen. Es gab zuviele Fragen, und das Bier war gut. Am zweiten Tag schafften sie auch wieder zweihundert Kilometer, aber dann lag vor ihnen ein Gebirgszug. Die bisher gut erhaltene Straße endete in einem Geröllhaufen. »Da war wohl mal der Paß«, vermutete James. »Wir hätten Olaf fragen sollen, ob man das Gebirge umfahren kann.« »Der weiß das ebensowenig wie wir«, war sich Gerald sicher. »Entweder versuchen wir es, indem wir einfach weiterfahren und hoffen, die Straße wiederzufinden, oder wir weichen nach Osten oder Westen aus, bis wir einen Übergang finden.« 33
»Das kann aber Tage dauern«, befürchtete John. »Kämen wir überhaupt durch das Geröll hindurch, James?« »Ich denke schon. Ist zwar eine Menge von da oben heruntergekommen, und das ausgerechnet auf die Straße - hm, merkwürdig.« Gerald warf ihm einen prüfenden Blick zu, dann nahm er sein Gewehr, überprüfte das Magazin und stieg aus. Er ging zu dem Haufen Steine, die die Straße sperrten, und betrachtete sie aufmerksam und nachdenklich. Er kletterte sogar ein Stück hinauf, um zu sehen, was dahinter war. Dann kehrte er zum Jeep zurück. »Eine von Menschen errichtete Barriere«, teilte er ihnen das Ergebnis seiner Untersuchung mit. »Jemand, der oben in den Bergen haust, legt keinen Wert auf Gesellschaft. Für einen einzelnen Mann war das wohl zuviel Arbeit. Es könnten also mehrere sein, die sich da oben verstecken. Banditen?« »Dann gäbe es hier unten sicher eine Wache«, gab James zu bedenken. »Wozu denn? Wer kommt denn schon hier vorbei?« »Wir, zum Beispiel.« Er war ebenfalls ausgestiegen und inspizierte die sehr natürlich wirkende Straßensperre. Dann drehte er sich um und sagte: »Ganz klarer Fall. Die vordere Schicht ist von Hand gelegt worden, sehr geschickt, aber doch zu erkennen. Dahinter liegt alles völlig anders und durcheinander. Und dort oben, knapp hundert Meter von hier entfernt, ist die Straße wieder frei. Wir könnten es also bis da schaffen, und dann geht alles von alleine.« »Aber die vordere Schicht muß weg?« vergewisserte sich Gerald. »Ja, das bleibt uns nicht erspart.« »Hoffentlich lohnt sich die Mühe«, maulte John, dem nicht gerade nach Schwerarbeit zumute war. »Bewegung tut uns nach der Fahrerei ganz gut«, gab Gerald das Zeichen zum Beginn der Räumarbeit. Als es dunkelte, hatten sie einen schmalen Durchgang zum natürlichen Geröll freigelegt. James startete den Jeep und fuhr langsam los. Gerald und John gingen hinterher und schoben, wenn es nötig wurde. Zweimal blieb James stecken, und sie mußten die Hindernisse beiseite räumen, aber dann, als es schon finster wurde, erreichten sie die Straße, die steil bergan führte. »Wir übernachten gleich hier«, schlug Gerald vor und deutete auf eine Nische in dem Felsen, der links fast senkrecht aufsteilte. »Ist im Notfall gut zu verteidigen.« Auf einem kleinen Feuer wärmten sie einige Konserven auf, die in Rockville hergestellt wurden, und krochen dann in ihre Schlafsäcke 34
bis auf John, den man zur ersten Wache verdonnert hatte. Der nächte Tag brachte eine Überraschung. Obwohl die Straße, eigentlich wohl mehr ein Fahrweg, ziemlich steil nach oben führte, kamen sie gut voran. Der Gebirgszug mochte vielleicht achthundert Meter hoch sein, von der Ebene aus gerechnet. Als sie die Paßhöhe erreichten, sahen sie das Haus. James hielt sofort an und schaltete den Motor ab. Gerald nahm das Fernglas, blieb aber sitzen. Die beiden anderen legten ihre Waffen griffbereit neben sich. Gerald setzte das Glas wieder ab. »Auf dem Feld hinter dem Blockhaus ist ein Hang. Dort arbeitet ein älterer Mann, soweit sich das beurteilen läßt. Dürftige Vegetation hier. Merkwürdig, nicht wahr? Vor dem Haus ist ein Brunnen. Eine Frau holt gerade Wasser. Sieht alles sehr friedlich aus.« »Weiter rechts ist eine Wiese«, sagte James, der gute Augen hatte. »Ich kann zwei Kinder erkennen, dazu ein halbes Dutzend Kühe, zwei Pferde und einige Schafe oder Ziegen. Hier scheint sich jemand sein eigenes Paradies geschaffen zu haben, unabhängig vom Rest der Welt.« »Und die Geröllsperre?« fragte John und blieb skeptisch. »Vielleicht wollen sie allein bleiben«, meinte Gerald und stieg aus. »Bleibt hier und seid wachsam. Ich gehe mal hin. Wenn ich winke, könnt ihr beruhigt nachkommen. Ansonsten seht ihr ja, was passiert.« Außer seiner kleinen Pistole in der Hosentasche nahm er keine Waffe mit. Mit bedächtigen Schritten überquerte er eine magere Wiese und näherte sich dem Brunnen. Die Frau holte gerade mit der Seilwinde einen zweiten Eimer mit Wasser aus der Tiefe, als sie plötzlich den Fremden bemerkte. Erschrocken ließ sie das Seil los, und der volle Eimer sauste zurück in den Schacht. Dann rannte sie ins Haus und kam Sekunden später mit einem Gewehr in der Hand wieder zum Vorschein. »Stehenbleiben!« rief sie. Ihre schrille Stimme verriet Angst. Der Mann auf dem Feld hörte sie auch. Er behielt den Spaten in der Hand und kam herbeigelaufen, blieb aber stehen, als er sah, daß Gerald nicht bewaffnet war oder die Frau bedrohte. »Wer sind Sie und was wollen Sie hier? Wie sind Sie überhaupt durch die Sperre gekommen?« »Sie ist nicht unüberwindbar, und zu Fuß kann da jeder hinüber. Aber keine Sorge, wir möchten nur ein paar Auskünfte, dann fahren wir weiter. Weiter nach Norden«, fügte Gerald noch hinzu. Der Mann, er mochte an die sechzig Jahre alt sein, kam näher und stützte sich auf seinen Spaten. Er sah hinüber zu der Frau. 35
»Nelly, du kannst weiter Wasser holen.« Und zu Gerald gewandt: »Sie sehen ehrlich aus, Fremder. Und was ist mit den beiden drüben im Wagen?« »Meine Freunde, und genauso ehrlich.« Er gab das verabredete Zeichen. James und John kamen herbei, die Waffen in der Hand. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Gerald schnell, während er sich und seine Freunde vorstellte. Der alte Mann nickte. «,Ich bin Ferdi Mayer, und das da ist meine Frau Nelly. Wir haben zwei Kinder und leben allein hier.« Er deutete zum Haus. »Setzen wir uns auf die Bank, das ist bequemer.« Gerald berichtete ihm vom Zweck der Expedition und stellte ein paar Fragen. Der Mann sann lange vor sich hin, ehe er langsam und stockend zu sprechen begann. »Mein Vater, er ist schon lange tot, erzählte oft von den vier Fremden, die eines Tages hier erschienen. Das war, bevor ich geboren wurde und meine Mutter starb. Meine Eltern hatten sich gleich nach der Katastrophe hierher zurückgezogen. Freunde aus Heidelberg, nördlich von hier, halfen ihm beim Bau der Hütte und den beiden Sperrmauern, aber es gab trotzdem mehrmals Überfälle durch Banden. Später blieben sie aus.« Er machte eine Pause, als er in seinen Erinnerungen suchte. Gerald, James und John warteten geduldig. Nelly brachte ein Stück kaltes Fleisch und einen Krug kühles Brunnenwasser. Dann begann Ferdi Mayer wieder zu reden: »Die vier Fremden, so erzählte mir mein Vater - die Namen habe ich vergessen - wollten nach Norden, sehr weit nach Norden. Sie sind bestimmt auch durch Heidelberg gekommen - wenigstens drei von ihnen.« »Wieso nur drei?« horchte Gerald auf. Ferdi Mayer seufzte. »Während sie hier waren, griff eine Bande von Räubern und Mördern das Haus an. Mein Vater und die vier Fremden wehrten sich erbittert und töteten fast die Hälfte der Banditen. Der Rest floh und kehrte nie mehr zurück. Leider fand auch einer der vier Fremden den Tod. Er ist der einzige, dessen Namen erhalten blieb.« Gerald war unwillkürlich aufgesprungen, setzte sich aber dann langsam wieder hin. »Wie war der Name?« Nun erhob sich der alte Mann. »Kommt mit, ich zeige euch das Grab. Es liegt neben dem meiner Eltern.« Er führte sie an dem kleinen Garten vorbei zu dem Hang, der mit 36
Büschen bewachsen war. Drei flach gewordene Grabhügel, eingerahmt von Steinen, wären in der Wildnis kaum noch aufgefallen, wenn nicht die Holzkreuze gewesen wären. Regen und Wind hatten die Inschriften fast unleserlich gemacht, aber der Name auf dem linken Kreuz ließ keine Mißverständnisse aufkommen. BRENDON stand da, sonst nichts, auch kein Datum. Die Expedition Robert Zimmermann hatte hier ihreh wichtigsten Mann, den Chemiker, verloren. »Ja, das war einer der Männer, deren Spuren wir folgen«, sagte Gerald schließlich und wandte sich ab. »Es ist noch früh am Tag, wir werden weiterfahren.« Auf dem Weg zum Haus sagte der alte Mayer noch: »Heidelberg wurde von deutschen Auswanderern gegründet, lange vor dem Krieg. Es leben gute Menschen dort. Manchmal kommt der eine oder andere hierher, um uns zu besuchen. Die Straße nach Heidelberg führt durch einen Wald, früher soll dort nur Wüste gewesen sein. Ich wäre froh, wenn bei mir das Gemüse so gut wachsen würde wie in Heidelberg.« Sie füllten ihre Wasservorräte nach und verabschiedeten sich herzlich von den einsamen Siedlern. Die Straße führte nun steil bergab, und schon von weitem war die grüne Ebene zu erkennen, die sich bis zum Horizont erstreckte. »Ob es da unten auch eine Lagerstätte gab?« wunderte sich John. »Sieht ganz so aus«, erwiderte Gerald wortkarg. »Aber das ist nicht das, was wir suchen.« Bald war der Fahrweg von den wild wuchernden Gräsern und Büschen kaum noch zu unterscheiden, aber James' scharfe Augen entdeckten immer wieder Reste von Reifenspuren oder Pferdehufen. Und dann begann der Wald. Nun konnte von einer Straße oder auch nur einem Weg keine Rede mehr sein. Die wenigen Spuren, die sie fanden, führten kreuz und quer durch das Unterholz, immer dort, wo die Bäume nicht zu dicht standen. Soweit es möglich war, hielten sie sich trotz des ständigen Richtungswechsels nach Norden, in der Hoffnung, früher oder später wieder auf die Straße zu treffen, die nach Heidelberg führte. Immerhin schafften sie an die hundert Kilometer, ehe sie die anbrechende Dunkelheit zwang, auf einer kleinen Lichtung zu übernachten. Der Wald wurde lichter und die Bäume niedriger und unansehnlicher. Schließlich kam auch die Straße wieder zum Vorschein, wenn auch zum größten Teil mit Gras bedeckt. James konnte wieder aufs Gaspedal treten, und bald tauchten weit vor ihnen die Umrisse einer größeren Siedlung auf. 37
Heidelberg hatte doppelt so viele Einwohner wie Rocktown und war über Funk durch Olaf Bergström informiert worden. Ohne Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, lenkte James den Jeep gerädewegs in die Ansiedlung hinein und hielt auf dem Dorfplatz an, auf dem sich etwa hundert Männer und Frauen versammelt hatten. Gerald stieg aus und ging auf den Mann zu, der sich aus der Menge löste und ihm entgegenkam. »Willkommen in Heidelberg, Herr Zimmermann - nehme ich an. Ich bin Dieter Wagner, der Bürgermeister.« »Danke - aber lassen wir das ,Herr' und ,Sie' gleich fort. Hat Olaf Bergström dich unterrichtet?« »Die Unterlagen liegen zur Einsicht bereit.« »Deutscher Ordnungssinn«, lobte Gerald ohne jede Ironie. »Vielleicht können wir dann heute noch weiter.« »Kommt nicht in Frage, das Nachtquartier ist vorbereitet. Sie werden, wenn die alten Aufzeichnungen richtig sind, im gleichen Raum schlafen wie dereinst die drei Männer, deren Spuren Sie folgen - oh, Verzeihung, deren Spuren ihr folgt.« »Der eine war mein Großvater.« Wagner nickte und lächelte. »Ja, ich weiß. Und die beiden anderen hießen Eppstein und Kemp.« ! Gerald, James und John mußten noch ein paar Dutzend Fragen der auf dem Platz Versammelten beantworten, die gern wissen wollten, was sich in Rocktown und Jackville tat, dann konnte Wagner seine Gäste endlich in die Bürgenneisterei entführen. In einem Raum mit großen Fenstern, die genügend Licht durchließen, stand ein schwerer Tisch aus Holz, und auf ihm lag ein Buch, so dick wie eine Bibel und so groß wie ein Atlas. »Unsere Chronik«, erklärte Wagner nicht ohne Stolz. »Mein Vater begann sie wenige Wochen nach der Katastrophe. Er glaubte an eine zweite und wollte — wenn es abermals Überlebende gab — diese von dem, was geschehen war, informieren. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, daß Robert Zimmermann damals einen längeren Bericht hineinschrieb.« Gerald spürte die Erregung, die Besitz von ihm ergriff. »Dürfen wir ihn lesen?« »Da liegt das Buch«, gab Wagner lächelnd seine Zustimmung. »Im Raum nebenan könnt ihr später schlafen. Für Essen und Trinken ist gesorgt. Ich lasse euch jetzt allein. Ihr sollt in aller Ruhe lesen, was Robert Zimmermann damals plante - und warum.« Er grüßte freundlich, ehe er den Raum verließ. Gerald, James und John setzten sich an den Tisch. Ersterer schlug 38
das Buch auf. Die Daten der verschiedenen Eintragungen waren säuberlich aufgeführt und begannen Ende 1995. Gerald überschlug.die Seiten, bis er das Ende von 1999 erreichte und auf den ersten Blick die Schrift seines Großvaters erkannte. »Den Anfang kennen wir ja«, sagte er, während sein Zeigefinger über die Zeilen wanderte. »Beginnen wir hier in Heidelberg. Ich werde es euch am besten gleich vorlesen ...« Heute sind wir den vierten Tag in Heidelberg und wir haben es der Gastfreundschaft der Bevölkerung zu verdanken, daß mir Bürgermeister Heinrich Wagner die Gelegenheit gibt, die Ereignisse seit unserer Abreise von Jackville niederzuschreiben. Der Tod unseres Freundes Brendon bei der Hütte August Mayers hat uns schwer getroffen, nicht nur, weil wir mit ihm unseren Spezialisten, den Chemiker, verloren. Zum Glück gab er uns vorher noch viele Tips und Hinweise, die wir vielleicht verwerten können, wenn wir das gefunden haben, was wir suchen. Nach dem Studium einiger Karten und Atlanten wissen wir mit Sicherheit, daß wir uns irrten. Wir glaubten, die Stadt Golden liege in Kanada - was ja auch stimmt. Das Golden jedoch, das wir suchen, liegt nordwestlich von hier in den amerikanischen Rocky Mountains. Keine fünfhundert Kilometer entfernt. Somit haben wir unser Ziel bald erreicht - jene Stätte, ari der man den »Strahlenden Tod« entwickelte. Nur wenn wir die Formeln finden, läßt sich die letzte und gefährlichste Komponente der Teufelsmischung unschädlich machen. Was übrigbleibt, ist dann nichts anderes als ein harmloses Pflanzenschutzmittel, das jede Art von Bakterien und andere Schädlinge genetisch beeinflußt und so die Nachkommenschaft verhindert. Ein wenig dieser schnell sich verflüchtigenden Flüssigkeit sickerte bereits aus den Lagerstätten und verwandelte Steppen und Wüsten in Grünflächen und beginnende Wälder. Aber wir müssen jene finden, die den tödlichen Metallzusatz entwickelten, zumindest ihre Aufzeichnungen. Sie sind die Schuldigen! Eppstein hat da eine andere Meinung. Er sagt, und vielleicht hat er recht, daß alle schuld sind - wir allel Wir haben es zugelassen. Ich halte ihm entgegen, daß kaum jemand wußte, was sich da in Wirklichkeit zusammenbraute, aber sein Gegenargument lautet: Wenn etwas geheim ist, streng geheim, dazu in noch geheimeren Labors, dann ist es kaum für den Frieden gedacht. Niemand schöpfte Verdacht oder tat etwas dagegen. Ich wiederum mußte ihn fragen: Was hätte man denn tun können, wenn man nichts wußte? Protestieren vielleicht? Er meint und ist überzeugt davon, daß schon beim leisesten Verdacht hätte protestiert werden müssen, und zwar nicht des bloßen 39
Protestierens willen, wie es meist geschah und daher unglaubwürdig wurde, sondern gezielt, mit echten Argumenten - und vor allen Dingen: Protest gegen alle beteiligten Parteien und Staaten, nicht immer nur gegen die eigenen Institutionen. Kemp stimmt ihm zu, und auch ich beginne zu glauben, daß er recht hat. Wie auch immer, morgen brechen wir erneut auf. Sprit haben wir noch genug, und es sind ja auch nur fünfhundert Kilometer bis Golden. Die Informationen, die wir von Wagner erhielten, sind spärlich. Es muß sich demnach um eine längst verlassene Ansiedlung ehemaliger Goldsucher handeln, um eine Art Geisterstadt. Das ideale Versteck für die Leute, die wir suchen. Hiermit möchten wir den Bewohnern von Heidelberg für ihre freundschaftliche Aufnahme danken und ihnen und auch uns Glück wünschen. Gezeichnet: Robert Zimmermann, Eppstein, Kemp. Gerald schob das Buch in die Mitte des Tisches, nachdem er es fast behutsam zugeklappt hatte. »Nun wissen wir eine Menge mehr. Stellt euch nur vor, wir hätten Heidelberg umfahren und hätten Golden in Kanada gesucht! Ein paar tausend Kilometer! Nun sind es nur noch fünfhundert.« James runzelte die Stirn, dann sagte er nachdenklich: »Zwischen hier und diesem sagenhaften Golden muß es etwas geben, das deinem Großvater, Kemp und Eppstein zum Verderben wurde, sonst wären sie ja nach Jackville zurückgekehrt.« »Oder in Golden selbst«, räumte Gerald ein. »Vielleicht haben sie ihr Ziel erreicht, eben dieses Golden, und dort erfüllte sich ihr Schicksal. Vergiß nicht, daß jene, die für alles verantwortlich waren, damals noch lebten - möglicherweise in Golden.« »Liegt in einer ziemlich gottverlassenen Gegend«, vermutete John. »Und mit Sicherheit unverdächtig und harmlos wirkend«, gab James ihm recht. Gerald sagte mit einer Ruhe, die fast unnatürlich war: »Wir werden Golden finden. Immerhin ist es auf der Karte als Geisterstadt eingezeichnet - auf einer Karte, die älter als siebzig Jahre ist. Aber wer hat damals schon eine Geisterstadt aufgesucht, in der es weder ein Steakhouse noch Coca Cola gab ...« Den Rest des Tages verbrachten sie im »Hotel Heidelberg«, wo es tatsächlich noch einen guten Wein gab - Wein, der in den nahen Südhügeln wie Unkraut wuchs.
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3.
Das Problem war, daß es einst mehrere Straßen gegeben hatte, die in Richtung Golden führten, den Ort jedoch nicht berührten, sondern weit vorbeigingen. Nur eine einzige, ein alter Fahrweg für Kutschen, zweigte irgendwo ab und endete in Golden. Die Frage war nun, welche der Straßen Robert Zimmermann damals gewählt hatte. Hier wußte auch Dieter Wagner keinen Rat, wenn seine Vermutung auch logisch klang: »Nur eine einzige Straße geht von uns aus in nördliche Richtung, dann verzweigt sie sich sowohl nach Westen wie nach Osten. Dein Großvater hat sicher die nach Westen genommen, aber die hatte auch viele Kreuzungen und Abzweigungen. Das Vernünftigste scheint mir zu sein, jene Straßen zu nehmen, die die kürzeste Strecke zu der Abzweigung nach Golden bildet.« »Gibt es zwischen hier und dieser Geisterstadt Siedlungen?« fragte Gerald. »Ihr habt doch sicher Erkundigungsfahrten unternommen.'' »Keine, soweit wir wissen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Niemandsland, abgesehen von dort vielleicht noch existierenden Banden. Wenn es sie gibt, so verhalten sie sich ruhig, nachdem sie uns einmal überfallen haben. Wir haben ihnen einen höchst unfreundlichen Empfang bereitet und sie ziemlich dezimiert.« »Wie können sie denn im Niemandsland überleben. Was gibt es dort schon?« Wagner zuckte die Schultern. »Wovon leben, wenn nicht von Überfällen? Nun, es kann ja sein, daß sie sich eines Besseren besonnen haben und arbeiten. Ackerbau und Viehzucht, wie es so schön heißt.« »Der Mensch soll Vernunft angenommen haben? Das klingt ja fast wie ein Märchen.« »Vielleicht hat ihn die Not dazu gezwungen«, erwiderte Wagner sarkastisch. »Wir werden ihnen begegnen, davon bin ich überzeugt - und dann sehen wir ja, wie es damit aussieht. Funkverbindung in der Richtung nach Norden habt ihr nicht?« »Nein, keine.« Funkgeräte waren rarer als Autos, und nicht mehr lange, dann würden auch diese ganz verschwinden. Noch gab es genügend Ersatzteile, die man aus den Wracks ausbaute, aber auch das ging einmal zu Ende, ganz abgesehen von dem noch vorhandenen Treibstoff. Vielleicht würde man wieder mit Holzgas fahren müssen. »Tut mir leid«, sagte Wagner nach einer Weile, »daß wir euch nicht 41
mehr als zweihundert Liter Sprit geben können, aber zusammen mit euren eigenen Vorräten dürfte das für Golden und zurück reichen.« »Es reicht bestimmt«, versicherte James und kletterte hinter das Steuer. »Danke für alles.« Der Abschied war kurz und herzlich, ähnlich wie in Rocktown, dann fuhren sie los. Die Straße nach Norden war anfangs ganz ordentlich und von der Vegetation freigehalten, aber auch nur bis dahin, wo die Felder rechts und links aufhörten. »Ende der Autobahn«, knurrte James und begann wieder mit der gewohnten Slalomfahrt um Schlaglöcher und umgestürzte Bäume. Nach drei Stunden Fahrt entdeckten sie nur durch einen Zufall eine Abzweigung nach rechts. Sie verschwand bereits nach wenigen Metern in undurchdringlichem Gestrüpp. Gerald warf einen Blick auf die von Wagner korrigierte alte Karte. »Weiter geradeaus, James. Nach fünfzig Kilometer müßte eine Abzweigung nach Westen kommen, aber sie führt nicht nach Golden. Können wir ignorieren.« »Kann ich mal die Karte haben?« fragte John. Gerald reichte sie ihm nach hinten. John studierte sie fast fünf Minuten lang, dann gab er das Ergebnis seiner Überlegungen bekannt: »Die dritte Abzweigung nach Westen dürfte es sein, war wohl mal eine der vielen Nebenstraßen. Geht später nach Norden, wenn auch nicht direkt bis Golden, das am Fuß der Berge liegen dürfte. Bei der Abzweigung hat Wagner ein Haus eingezeichnet, war sicher ein Dorf oder sowas.« »Das werden wir ja morgen sehen«, sagte James. »Heute schaffen wir es nicht mehr bis dorthin. Dürften an die dreihundert Kilometer sein.« »Wäre mir lieber, wir würden es umfahren«, deutete John seine Bedenken an. »Wagner sprach von Banditen.« »Wenn möglich, tun wir das auch«, beruhigte ihn Gerald. Hundert Kilometer nach Heidelberg fanden sie die erste Abzweigung nach links, also nach Westen. Es mußte eine Hauptverkehrsstraße gewesen sein, denn der Betonbelag war teilweise noch erhalten und ließ die einstige Breite der Fahrbahn erkennen. Ein paar Ruinen standen zu beiden Seiten. Sie waren nicht bewohnt. Brandspuren verrieten, daß hier nicht alles friedlich verlaufen war. Wahrscheinlich hatten die letzten Einwohner ihre Häuser verlassen und woanders eine neue Heimat gefunden - falls sie mit dem Leben davongekommen waren. Nach kurzer Rast fuhren sie weiter. Die Bäume wurden kleiner und 42
mehr verkrüppelt. James fuhr sie einfach um, wenn sie ihm im Weg standen. Immerhin legten sie an diesem Tag fast zweihundertfünfzig Kilorneter zurück und fanden etwa fünfzig Kilometer vor der Abzweigung nach Golden einen sicheren Lagerplatz für die Nacht. Vorsichtshalber verzichteten sie auf das übliche Lagerfeuer und aßen kalt. John hätte beinahe ein Kaninchen geschossen, ließ es dann aber sein, weil sich das Tier in der typischen Art einer Ratte fortbewegte. Die Nacht war sternenklar, und am anderen Morgen weckte sie strahlender Sonnenschein. Es würde ein warmer und und trockener Tag werden, was für diesen Teil des Landes ohnehin normal war. »Noch fünfzig Kilometer«, sagte James, »dann sollten wir sehr vorsichtig sein.« Die Straße führte fast unmerklich bergan. Rechts und links gab es mehr Geröll als Vegetation, und die Fahrbahn selbst war streckenweise völlig frei. Und dann, kurz vor Mittag, sahen sie von einer Kuppe aus die Siedlung vor sich liegen. James hielt und schaltete den Motor aus. Gerald nahm das Glas und richtete es auf das Dorf. Er schätzte etwa zwei Dutzend Häuser, die meist zwischen Bäumen und Büschen standen und ungepflegt wirkten. Einmal nur entdeckte er einen Mann, der die Straße überquerte und in einem der Häuser verschwand. Er trug ein Gewehr. Gerald setzte das Glas ab. »Sieht nicht gerade sehr vertrauenerweckend aus, aber die Straße führt mitten hindurch. Unsere Abzweigung liegt einen halben Kilometer hinter dem Dorf, der Karte nach zu urteilen. Umfahren können wir es kaum, ohne daß wir gesehen werden.« »Wir können es immerhin versuchen«, schlug James vor. »Wenn wir hier links abbiegen und uns dann nördlich halten, stoßen wir zwangsläufig früher oder später auf die Straße nach Golden. Das Gelände ist unübersichtlich, wir könnten also Glück haben.« »Na schön, versuchen wir es. Halten wir aber besser die Waffen bereit. Ich habe kein gutes Gefühl.« Von der Siedlung aus konnte man sie sehen, falls jemand zufällig in ihre Richtung blickte, aber bis auf den einen Mann mit dem Gewehr war niemand zu entdecken gewesen. Gerald kam der Gedanke, daß es vielleicht falsch gewesen war, den Ort zu meiden. Vielleicht wußte dort jemand mehr, als die Chronik von Heidelberg zu berichten hatte. Auf der anderen Seite machten die verkommenen Häuser nicht den Eindruck, als wohnten darin Menschen, die sich um die Vergangenheit groß kümmerten. »Hat Wagner auf der Karte etwas über den Ort eingetragen?« fragte John. 43
»Du hast sie dir schon einmal angesehen«, knurrte Gerald ungehalten und reichte sie nach hinten. »Vielleicht findest du es beim vierten Mal heraus.« »Man kann ja schließlich nicht alles behalten«, gab John, ebenfalls gereizt, zurück. Er warf einen Blick auf die Karte. »Ja, Wagner hat den ursprünglichen Namen durchgestrichen und einen neuen daneben geschrieben. Stronghold. Sonst keine Angaben, außer einem großen Ausrufezeichen.« »Das könnte ,Vorsicht!' bedeuten«, vermutete James und wich einem größeren Baum aus, der nicht den Eindruck machte, als würde er sich von einem Jeep umlegen lassen. »Aber das Kaff ist bereits außer Sicht.« »Biegen wir ab nach Norden«, riet Gerald. »Das Gelände sieht günstig aus. Felsblöcke und Buschwerk.« »Schafft der Jeep spielend. Diese Nebenstraße kann ja nicht mehr weit sein.« »Knappe zwei Kilometer«, schätzte Gerald nach einem Blick auf die Karte. Das Gelände wurde unübersichtlicher, hauptsächlich durch Bodenwellen und flache Hügel. Trotz des steinigen Untergrunds war die Vegetation wieder dichter geworden, blieb jedoch niedrig und leicht zu überfahren. Der Ort Stronghold jedenfalls kam nicht wieder in Sicht. Und dann, als sie die Kuppe eines mit Büschen bewachsenen Hügels erreichten, sahen sie weit vor sich Telegraphenstangen. Die meisten waren abgebrochen oder umgekippt. Der Draht war verschwunden. Nur einige der Stangen standen noch da, die Gerippe einer vergangenen Zivilisation. James hielt an. »Das muß die Straße nach Golden sein«, sagte er, ohne den Motor abzustellen. Ehe Gerald etwas erwidern konnte, drang aus den nahen Büschen eine rauh und heiser klingende Stimme, gleichzeitig wurde der Lauf eines Gewehrs sichtbar, das auf sie gerichtet war. Die Stimme sagte: »Ganz recht, das ist die Straße nach Golden. Und nun rührt euch keinen Millimeter von der Stelle, wenn ihr weiterleben wollt. Es sind zwanzig Gewehre auf euch gerichtet, und alle sind scharf geladen.« James sah einige Läufe und wagte es nicht einmal, den Motor abzustellen. Es war Jerry Eppstein, der über die Straße ging und den Jeep in südwestlicher Richtung auf der alten Hauptstraße entdeckte. Er ließ sich jedoch nichts anmerken und verschwand in seinem Laden, mit dem er die Bevölkerung von Stronghold mit allem Notwendigen versorgte, was zum Überleben notwendig war. Dazu gehörte auch das 44
selbstgebraute Bier und der selbstgebrannte Fusel. Irgendwo hatte er die Rezepte gefunden. In seiner an den Laden grenzenden Pub fand er vier Männer vor, die sich einen genehmigten, während ihre Frauen nebenan im Laden damit beschäftigt waren, sich von seiner Frau Fiona bedienen zu lassen. Geld gab es nicht mehr. Abgerechnet wurde mit Arbeit und Tauschgeschäften. »Ein Fahrzeug, drüben auf der alten Straße, die nach Norden geht. Aber sie haben angehalten. Ich glaube, sie wollen versuchen, auf die Seitenstraße zu gelangen, um Stronghold zu umfahren. Wollen wir uns die Leutchen nicht mal ansehen? Ich meine so wie früher.« Ein alter Mann, der im Augenblick der Katastrophe noch ein Kind gewesen sein mußte, hob die Hand. Das war das übliche Zeichen, wenn sich jemand zu Wort meldete. Jerry nickte ihm zu. »Nicht wie früher«, bat der Alte mit brüchig klingender Stimme. »Ich dachte, das wäre endlich vorbei.« »Natürlich nicht ganz so wie früher«, beruhigte ihn Jerry. »Hast du aber eben noch gesagt«, beharrte der alte Mann. »Nur am Anfang, damit sie nicht gleich schießen oder abhauen. Dann reden wir mit ihnen. Sie haben bestimmt etwas zum Tauschen dabei.« Der Alte nickte. »Aber nicht wieder das sinnlose Morden wie früher«, wiederholte er seine Bitte. Die drei anderen Männer waren sofort dabei. »Dann müssen wir uns aber beeilen«, riet einer und leerte sein Glas. Mit Wucht stellte er es zurück auf die primitive Holztheke. »Wenn sie abkürzen wollen, müssen sie durch das Buschgelände«, vermutete Jerry nicht zu Unrecht. »Das kostet sie eine Menge Zeit. Wir nehmen einfach die Straße, dann sind wir vor ihnen da.« »Waffen?« fragte ein anderer. »Na klar, wir wissen ja nicht, was sie dabei haben. Sie müssen einen Schreck bekommen, dann läßt sich leichter mit ihnen reden.« Sie sagten den Frauen Bescheid und gingen, um die anderen Männer des Dorfes zu holen. Jerry Eppstein war im Grunde genommen kein schlechter Kerl, wenn seine Vergangenheit auch nicht gerade gewaltlos verlaufen war. Ganz im Gegenteil. Jahrelang war er der Anführer von Banden gewesen, die raubten und plünderten und auch vor einem Mord nicht zurückschreckten, wenn sie freiwillig nicht das bekamen, was sie haben wollten. Dann aber kam die Zeit, in der sich Gemeinschaften von Menschen 45
bildeten, die sich entschlossen hatten, neu zu beginnen. Sie leisteten bei Überfällen erbitterten und gut organisierten Widerstand und machten in ihrer Verzweiflung nur selten Gefangene. Die Banden zogen sich in die Wildnis oder verlassene Dörfer zurück. So auch Jerry Eppstein und jene, die von seiner Bande überlebt hatten. Dazu gehörten auch die Frauen. Sie waren es in erster Linie gewesen, die die Männer zur Vernunft brachten und sie zwangen, ein einigermaßen anständiges und geregeltes Leben zu führen. Ein Leben, das sie alle ernähren konnte, mehr brauchte man nicht. Das war nicht immer so einfach gewesen, denn die Uberfälle und eine Existenz ohne Arbeit steckte ihnen noch im Blut. Aber das neue System funktionierte. Und so wurde aus dem ehemaligen Stronghold, dem Versteck, die jetzige Ansiedlung, ein friedlicher, aber total isolierter Ort. In alten Rundbehältern und Fässern bewahrten sie den kostbaren Treibstoff für ihre verbliebenen Fahrzeuge auf. Noch ein paar Jahre, dann war auch der selbst bei sparsamen Verbrauch zu Ende. Vielleicht hauchten aber auch schon vorher die drei Autos ihr verrostetes Leben aus. Darauf wurden sogar im Pub Wetten abgeschlossen. Sie besaßen einen leichten Lastwagen, einen Dreitonner. Mit ihm fuhren sie los, ganze zwanzig Mann, um den Jeep zu »überfallen«. Sie bogen auf die verwachsene Goldenstraße ab, die sie niemals interessiert hatte, bis sie eine Stelle fanden, an der man einen guten Blick nach Süden hatte, ohne selbst zu früh entdeckt werden zu können. Schon von weitem sahen sie den Jeep, der sich mühsam nach Norden, genau in ihre Richtung, durch das Gestrüpp kämpfte. »Wie ich gesagt häbe«, meinte einer der Männer. »Die wollen weiter nach Norden, oder, wenn sie links abbiegen, in Richtung dieser verdammten Geisterstadt, in der die Geister noch leben und sogar über modernste Waffen verfügen.« Jerry gönnte ihm einen verächtlichen Blick. »Das ist schon lange her, und es waren auch keine Geister, sondern ein paar Verrückte, die sich dort versteckten. Vielleicht hatten sie den selben Beruf wie wir und konnten nicht damit aufhören. Wir haben nie versucht, nach Golden zu fahren. Wäre die reinste Benzinverschwendung gewesen.« Langsam kam der Jeep näher. Er fuhr direkt auf ihr Versteck zu. Hastig verteilten sie sich. Sie hielten ihre Gewehre bereit, wenn sie auch kaum noch über Munition verfügten. Im Ernstfall würde es nicht gut für sie aussehen. Der Jeep hielt an, der Motor wurde nicht abgestellt. »Das muß die Straße nach Golden sein«, sagte der Mann, der am Steuer saß. 46
Das Gewehr auf ihn gerichtet bestätigte Jerry rauh: »Ganz recht, das ist die Straße nach Golden. Und nun rührt euch keinen Millimeter von der Stelle, wenn ihr weiterleben wollt.« Er sah, daß seine Männer den Jeep von allen Seiten in der Zange hatten. Die drei Insassen schienen bereit zu sein, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Er kam aus seinem Versteck, das Gewehr schußbereit. Er verließ sich auf seine Leute, denn er hatte nur fünf Schuß Munition dabei. Neben dem Jeep blieb er stehen. »Langsam aussteigen! Und daß mir keiner von euch eine der Knarren anrührt, die ihr da bei euch habt. Keine Sorge, es wird euch nichts geschehen, wenn ihr vernünftig seid. Wir wollen nur mit euch reden. Du zuerst!« Er deutete auf James. »Und stell den Motor ab.« Gerald und John stiegen ebenfalls aus. »Was wollt ihr von uns?« fragte Gerald. Jerry musterte ihn. »Bist wohl der Boß«, erkundigte er sich dann sachkundig. »Ihr wollt zu dieser Geisterstadt, das ist ganz offensichtlich, denn die kleine Straße führt nur dorthin. Dazwischen ist nichts. Warum also nach Golden? Das würde uns interessieren.« »Können wir nicht darüber reden, ohne ständig mit Gewehren bedroht zu werden«, schlug Gerald vor, der zu ahnen begann, daß sie es nicht mit gewöhnlichen Banditen zu tun hatten. Jerry nickte. »Von mir aus gern, aber dann nimmt einer von uns den Jeep. Ihr kommt mit uns im Lastwagen.« »Einverstanden. Wir stellen unseren guten Willen gern unter Beweis. Ich heiße übrigens Gerald Zimmermann, und das hier ist James Townshend und John Ewert.« »Ich bin Jerry Eppstein. Das genügt fürs erste.« Gerald zuckte nicht einmal zusammen, so gut hatte er sich in der Gewalt. Im Testament seines Großvaters hatte der Name Eppstein gestanden. Er, Kemp und Brendon hatten Robert Zimmermann damals begleitet. Gab es da einen Zusammenhang? Er mußte es herausfinden. Während der kurzen Fahrt nach Stronghold hatte er Gelegenheit, sich seine »Gastgeber« genauer anzusehen. Sie machten ohne Ausnahme einen rauhen Eindruck, ungehobelt vielleicht, aber nicht unbedingt schlecht. Möglicherweise ließ sich wirklich mit ihnen reden. Was sie allerdings von ihm und seinen beiden Begleitern wollten, wenn sie nicht an Beraubung dachten, blieb weiterhin ein Rätsel. Reguläre Banditen konnten sie kaum sein. Die hätten gleich zu Anfang kurzen Prozeß mit ihnen gemacht. 47
Der Name Eppstein gab ihm erneut zu denken. Es war ein seltener Name. Konnte dieser Jerry tatsächlich ein Verwandter jenes Eppstein sein, der damals zusammen mit Robert Zimmermann und Kemp spurlos verschwand? Gab es hier endlich die bisher vergeblich gesuchte heiße Spur? Die Männer sprachen nicht viel, und das Gerüttele hörte auf, als der Lastwagen endlich Stronghold erreichte und anhielt. Der Motor begann zu stottern und lief noch ein paar Sekunden trotz ausgeschalteter Zündung weiter. Der Jeep hielt dich hinter der fehlenden Ladeklappe. Jerry erschien vom Führerhaus des Lastwagens her. »Endstation! Alles aussteigen!« Frauen kamen aus den Häusern, blieben aber in einiger Entfernung abwartend stehen. Neugierig beobachteten sie, was passierte. Gerald kletterte als erster von der Ladefläche. Er sah sich um. Aus der Ferne hatte er die Häuser ja schon studieren können, aber aus unmittelbarer Nähe wirkten sie noch verfallener. Immerhin waren sie noch bewohnbar, denn hier regnete es nur äußerst selten. »Hinein in unsere gute Stube!« befahl Jerry und deutete auf den Eingang des Ladens. »In unserer Pub können wir uns in Ruhe unterhalten.« Fast alle folgten der fast freundlich klingenden Einladung, nur ein paar Männer blieben bei dem Jeep zurück, um ihn zu bewachen. »So«, sagte Jerry Eppstein, als sie an dem langen und einzigen Tisch der Gaststube saßen, »und nun erzählt mal, woher ihr kommt und was ihr hier oder in Golden eigentlich wollt.« Gerald hatte sich inzwischen dazu durchgerungen, aus dem Zweck ihrer Expedition kein Geheimnis zu machen und wahrheitsgemäß zu berichten. Ausschlaggebend für seinen Entschluß war Jerrys Familienname. Er erzählte von dem Testament seines Großvaters und der tödlichen Gefahr, die immer noch von den alten und inzwischen längst vergessenen Lagerbeständen ausging. »Wir hoffen, in Golden eine Antwort zu finden, wie diese Gefahr ein für allemal aus der Welt zu schaffen ist - eine Gefahr, die uns alle bedroht.« »Ausgerechnet in Golden?« wunderte sich Jerry verblüfft, schwieg aber, als Gerald mit dem Finger auf ihn deutete und sagte: »Einer der Begleiter meines Großvaters hieß Eppstein, Jerry. Ist das nicht merkwürdig?« Mit Befriedigung stellte er fest, daß Jerry ihn mit weit aufgerissenen Augen fassungslos anstarrte. Auch die anderen Männer waren überrascht. Niemand achtete darauf, daß sich nebenan der Laden mit 48
Frauen füllte, denen plötzlich eingefallen zu sein schien, daß noch einige Dinge für den Haushalt fehlten. Fiona, Jerrys Frau, bediente sie, heute jedoch sehr unaufmerksam. Schließlich erholte sich Jerry. »Das ist allerdings mehr als nur merkwürdig. Ich habe meinen Vater nie gekannt, es könnte aber dieser Eppstein gewesen sein, der Name ist ja nicht gerade alltäglich. Meine Mutter können wir nicht mehr fragen. Sie starb, als ich noch ein Kind war.« »Sind mein Großvater mit Gibson Kemp und Eppstein durch diesen Ort gekommen - damals?« Jerry zuckte die Schultern. »Das weiß niemand. Wir leben erst seit etwa dreißig Jahren hier. 'Vorher waren wir. . . nun, eigentlich überall mal. Also gut, bleiben wir bei der Wahrheit: Wir lebten von Überfällen, aber das ist schon lange vorbei.« »Und warum habt ihr uns überfallen?« »lst ja kein richtiger Überfall«, entschuldigte sich Jerry. »Wir waren nur vorsichtig. Es treiben sich vereinzelt immer noch Banditen in der Gegend herum, meist weiter westlich.« Gerald studierte sein Gesicht. Dann fragte er: »Ist das wirklich der einzige Grund, uns hierher zu bringen?« »Nicht ganz«, mischte sich einer der Männer ein. »Wir hoffen, mit euch ein Geschäft machen zu können.« »Ein Geschäft?« »Ihr habt sicher Dinge dabei, die uns fehlen. Und wir wiederum könnten euch dafür .. . .« »Was wir dabei haben, benötigen wir selbst«, unterbrach ihn Gerald und versuchte, nicht unhöflich zu klingen. »Tut uns ehrlich leid.« Jerry sagte, wobei er einen kurzen Blick zur offenen Ladentür warf, in der vier oder fünf Frauen sich drängten: »Wir hätten früher nicht lange gefragt, sondern uns genommen, was wir brauchen, aber die Zeiten haben sich geändert. Trotzdem würde ich an eurer Stelle doch mal nachsehen, was ihr entbehren könnt. Wir geben euch Sprit dafür, die Autos machen es ohnehin nicht mehr lange.« James warf ein: »Treibstoff können wir noch gut gebrauchen.« »Na also! Das ist doch schon eine geschäftliche Grundlage«, freute sich Jerry und grinste. Sie waren sich überraschend schnell handelseinig. Die Leute von Stronghold bekamen ein als Reserve gedachtes Schnellfeuergewehr und genügend Munition, dafür erhielten Gerald und seine Freunde zweihundert Liter Benzin. 49
Dann mahnte Gerald zum Aufbruch. Er wollte nicht unbedingt in Stronghold übernachten, aber dann fiel ihm plötzlich noch etwas ein: »Jerry, gibt es hier im Ort noch jemand, der mit deiner Mutter befreundet war, ich meine so gut befreundet, daß sie ihm vielleicht etwas über deinen Vater erzählt haben könnte?« Sie standen bereits draußen vor dem Laden beim Jeep. Jerrys Frau hatte die Frage gehört und kam heraus. »Die alte Calligan vielleicht«, sagte sie zögernd. »Die beiden steckten oft zusammen und hatten so ihre Geheimnisse.« Gerald wandte sich ihr zu. »Wie alt ist denn die Dame?« Einige lachten, aber Fiona blieb ernst. »Das weiß sie wahrscheinlich selbst nicht mehr. Ich würde sie auf über achtzig schätzen.« »Ob ich sie sehen kann?« »Sehen sicher, aber sie redet kaum mit jemandem. Wenn Sie es aber trotzdem versuchen möchten ...« Jerry nahm seinen Arm, fast ein wenig zu vertraulich. Er schien selbst neugierig geworden zu sein. »Komm mit, ich zeige dir, wo die Alte haust. Kriege aber keinen Schreck, wenn du die Bude siehst. Sie bekommt von uns allen, was sie zum Leben braucht, denn arbeiten kann sie nicht mehr.« Gerald war von der Einstellung der ehemaligen Banditen überrascht, ließ sich aber nichts anmerken. In einer Zeit wie dieser war die nachbarliche Hilfe innerhalb einer Gemeinschaft selbstverständlich. James und John blieben beim Jeep zurück, damit niemand der Einwohner von Stronghold auf dumme Gedanken kam und sich selbst bediente. In der Tat hauste die alte Calligan in einer halb eingefallenen Steinhütte inmitten eines unbeschreiblichen Durcheinanders. Neugierig blickte sie den Besuchern entgegen, dann blieben ihre immer noch erstaunlich klaren Augen auf Gerald haften. »Ein Fremder, sieh mal einer an!« Gerald stellte sich höflich vor und blieb stehen, während Jerry sich auf einem wackeligen Stuhl niederließ. Er ärgerte sich, daß er nicht schon längst selbst auf die Idee gekommen war, die Calligan nach seinem unbekannten Vater zu fragen. »Ja, auf der Durchreise«, bestätigte Gerald. »Ich will Sie nicht lange belästigen, Mrs. Calligan, aber Sie sind der einzige Mensch, der mir vielleicht weiterhelfen kann.« Kurz berichtete er, worum es ging, und erst zum Schluß stellte er die Frage nach seinem Großvater und dessen Begleitern. Die Alte dachte lange Zeit nach, ehe sie sich zu seiner Antwort aufraffte: 50
»Lieber Himmel, ich war damals vielleicht gerade fünfzehn Jahre alt, als ich Jerrys Mutter kennenlernte. Wir wohnten bei unseren Eltern in einem Dorf, irgendwo westlich oder südlich von hier - ich habe den Namen vergessen. Dann mußten wir fort, weil alles brannte und viele starben. Gute Menschen nahmen uns auf, und eines Tages kam ein Mann in unsere Siedlung - es gibt sie heute bestimmt nicht mehr. Er war verwundet und krank. Jerrys Mutter pflegte ihn. Er blieb ein Jahr bei ihr, ehe er starb. Danach erst wurde Jerry geboren. Der Mann hieß Eppstein, darum wurde Jerry auch so genannt.« Jerry schlug sich auf die Schenkel. »Warum hat denn rneine Mutter nie darüber gesprochen? Ich habe sie hundertmal nach meinem Vater gefragt.« »Ich weiß es nicht, ich mußte ihr versprechen, niemals etwas zu verraten.« »Warum denn nur?« »Ich glaube, deine Mutter hielt deinen Vater für einen jener Männer, die von Raub und Mord lebten.« Gerald sah, daß die alte Frau erschöpft war und kaum noch sprechen konnte. Schnell fragte er: »Hat Eppstein niemals die Namen Zimmermann oder Kemp erwähnt? Versuchen Sie sich zu erinnern, bitte! Es ist wichtig für mich.« Mrs. Calligan suchte verzweifelt in ihren Erinnerungen, man sah es ihr deutlich an. Sie gab sich ehrliche Mühe, doch dann schüttelte sie den Kopf, zögernd und unsicher. »Ich weiß es nicht mehr, aber es könnte schon sein. Ich habe ihn auch ein bißchen gepflegt, diesen Eppstein. Da hat er viel geredet, von Tod und Verderben, auch von zwei Freunden, die er im Stich gelassen hatte, als die Gefahr zu groß wurde. Aber die Namen - nein, ich bin mir da nicht sicher. Ich habe es vergessen.« Er war auf der richtigen Spur, darüber war sich Gerald klar. Die beiden Freunde Eppsteins konnten nur sein Großvater und Kemp gewesen sein. Aber warum sollte Eppstein sie verlassen haben? Einer bloßen Gefahr wegen? Er wandte sich an Jerry: »Wie alt bist du jetzt, Jerry?« Der sah nicht gerade geistreich aus, als er antwortete: »Wie alt. . .? So an die fünfzig, glaube ich. Können auch ein paar Jahre mehr sein. Warum?« »Nur so, Jerry.« Eppstein war also erst zehn oder fünfzehn Jahre nach dem Aufbruch von Jackville wieder aufgetaucht, aber warum war er dann nicht in die heimatliche Siedlung zurückgekehrt? War er wirklich so krank gewesen, wie die alte Calligan behauptete? 51
»Und nun laßt mich in Frieden«, unterbrach die Alte seine fruchtlosen Überlegungen. »Wir gehen ja schon«, beruhigte Jerry sie und zog Gerald mit sich. »So ein Luder! Hat mir nie etwas davon erzählt.« »Vielleicht hast du sie auch nie gefragt. Du bist also mit ziemlicher Sicherheit der Sohn« eines Mannes, der mit meinem Großvater befreundet war. Ein seltsamer Zufall.« »Zufall oder nicht, jedenfalls mußte Eppstein seine Freunde im Stich gelassen haben, als sie sich in Gefahr befanden. Ich sollte mich für ihn schämen.« Gerald klopfte ihm auf die Schultern. »Es waren schlimme Zeiten damals, und wir wissen nicht, was wirklich geschah.« Und wir werden es vielleicht auch niemals erfahren, fügte er in Gedanken hinzu.
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4.
Die Straße nach Golden war als solche kaum noch zu erkennen. James hatte alle Mühe, nicht mit dem Jeep irgendwo mitten in der Gestrüppwildnis unwiderruflich steckenzubleiben. Immer wieder wurde er gezwungen umzukehren, um lichtere Stellen oder gar Spuren des alten Fahrwegs zu finden. Oft legten sie Hunderte von Metern im Rückwärtsgang zurück. »Gut, daß wir die zusätzlichen zweihundert Liter Sprit haben«, sagte er, als sie eine kurze Rast einschoben. John füllte Wasser nach. Der Motor war heiß geworden. Es war bereits später Nachmittag, und es würde bald dunkel werden. Stronghold lag knapp dreißig Kilometer hinter ihnen. Jerry Eppstein hatte unbedingt mitkommen wollen, aber zum Glück war da noch seine Frau gewesen, deren drohende Miene nichts Gutes verhieß. Gerald mußte ihm jedoch versprechen, auf dem Rückweg vorbeizukommen, falls er mehr über die damaligen Geschehnisse erfuhr, soweit sie seinen Vater betrafen. Um sie herum war Vogelgezwitscher. Eine große Echse huschte über die Lichtung, und in der Ferne heulte ein Schakal. Fingerlange Ameisen krochen flink den handbreiten Pfad entlang, den sie auf dem Weg zu ihrem Bau angelegt hatten. Ein ständiges Summen erfüllte die Luft; ganz in der Nähe mußte sich ein Bienenvolk niedergelassen haben. Aus der ehemaligen toten Wüste war ein grünes und lebendiges Paradies geworden. »Obwohl es doch kaum Wasser hier gibt«, wunderte sich John und schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich begreife das nicht.« »Da bist du nicht allein«, gab Gerald zu. »James, wir müssen weiter. Ein paar Kilometer schaffen wir noch.« Sie verbrachten die Nacht auf der Kuppe eines dicht bewaldeten Hügels oberhalb des wiedergefundenen Fahrwegs. Von der Anwesenheit menschlichen Lebens hatten sie während der ganzen Fahrt nichts bemerkt. Sie schienen allein in diesem Teil der Welt zu sein. Als der Morgen graute, begann es leicht zu nieseln. Der Himmel hatte sich bezogen, aber weit im Westen wurde er schon wieder blau. »Hier hat es früher nie geregnet, oder nur sehr selten«, sagte John, als sie hinab zum Weg rollten und dabei den gestern eingefahrenen Doppelpfad benutzten. »Die Natur ist durcheinandergeraten.« »Sie ist wieder normal geworden«, widersprach ihm Gerald. »Der Mensch greift nicht mehr ein.« 53
Sie sprachen nicht viel an diesem Tag, aber mittags, als die Sonne wieder vom wolkenlosen Himmel herabbrannte, hielt James plötzlich mit einem Fluch an und rief: »Wer löst mich freiwillig ab? Mir tun die Augen' schon weh von dem ewigen Suchen nach dem verdammten Weg. Ich wäre jetzt richtig dankbar für ein Stück Sandwüste.« Gerald übernahm das Steuer. »Vielleicht wird es bald besser, wenn wir ins Gebirge kommen. Da wächst das Grünzeug nicht so gut.« Ungefähr fünfzig Kilometer vor Golden begann es zu dunkeln. Es wurde Zeit, einen günstigen Lagerplatz zu finden. Sie waren gut vorangekommen, seit es stetig ein wenig bergauf ging. Selbst der ehemalige Kutschenweg war wieder zu erkennen. Die Grasschicht war nur dünn. Wenn es in Golden wirklich technische Anlagen oder so was gab, mußten Material, Lebensmittel und die Menschen auf dem Luftweg dorthin transportiert worden sein - es sei denn, es war eine größere Straße aus anderer Richtung angelegt worden, von Norden her vielleicht. Der Wald zu beiden Seiten war niedriger geworden. Links quälte sich ein klares Rinnsal durch das selbst gegrabene Bett, um weiter unten in der Ebene zu versickern. Weit vorn in Fahrtrichtung wurde der Horizont durch einen langen Gebirgszug begrenzt, der auch auf der Karte eingezeichnet war. Irgendwo an seinem Fuß lag Golden - oder das, was von Golden übriggeblieben war. Wer mochte wohl damals, vor mehr als siebzig oder achtzig Jahren auf den Gedanken gekommen sein, das geheimste Giftlabor der Welt ausgerechnet in einer gottverlassenen Goldgräberstadt unterzubringen? Ein Genie? Oder ein Wahnsinniger? Der Unterschied war manchmal gering. Der Jeep verließ den Fahrweg und hielt hundert Meter weiter links zwischen den Büschen gut getarnt an. Der kleine Bach bot eine willkommene Gelegenheit zum Waschen, außerdem konnten sie ihren Wasservorrat ergänzen. »Feuer?« erkundigte sich Gerald einsilbig. Es war, als spüre er die Nähe seines toten Großvaters. James nickte nur, sammelte trockene Äste und hatte bald ein rauchloses Feuerchen in Gang gebracht. John hatte in dem kleinen Bach mit der Hand einige Forellen gefangen. »Weiß der Teufel, wie die hierher gelangen«, murmelte er, als er sie fachmännisch ausnahm. Sie schmeckten vorzüglich. »Eine Blasphemie, es auch nur zu denken«, deutete John dann ein Problem an, mit dem er sich lange beschäftigt haben mußte. »Aber ich 54
muß es immer und immer wieder denken.« James warf ihm einen fragenden Blick zu. »Wovon redest du eigentlich?« John schleuderte die Gräten ins nächste Gebüsch. »Von der Welt, wie sie jetzt ist. Gegen die Welt, wie sie vor und unmittelbar nach der großen Katastrophe existierte, muß sie das reinste Paradies sein. Es ist paradox und verrückt, aber zuerst mußte sich die Menschheit nahezu ausrotten, um die Erde wieder bewohnbar zu machen.« Gerald sah ihn an. Zögernd fast nickte er. »Ein ketzerischer Gedanke und sicher nicht jedermanns Geschmack, John. Außerdem wissen wir nicht, wie es jenseits der Ozeane aussieht. Die sporadischen Funkverbindungen verraten nicht viel. Aber vielleicht hast du nicht so ganz unrecht.« »Ihr seid alle beide ein bißchen übergeschnappt«, wies James die absurd klingende Theorie Johns zurück. »Allerdings«, fügte er dann unsicher hinzu, »wenn ich mich so an das erinnere, was mir mein Vater erzählte, der damals alles miterlebte ...« Er schwieg und stocherte geistesabwesend in der Glut herum. Wenig später lagen sie in ihren Schlafsäcken, jeder mit seinen eigenen Gedanken und auch Befürchtungen beschäftigt. Unverändert wie vor siebzig Jahren standen die Sterne am Himmel. Nur war er damals nicht so klar gewesen. Es war gegen Mittag am anderen Tag, als sie zum erstenmal Golden erblickten. James hielt an und stellte den Motor ab. Stumm saßen sie da, ohne auszusteigen. Sie versuchten, eine Spur menschlichen Lebens in den verf allenen Holzruinen zu entdecken, die in einer Entfernung von etwa vier Kilometern unmittelbar am Fuß des Gebirgshangs lagen. Die Vegetation war erstaunlich karg hier, aber es gab auch kaum Erde, in der Wurzeln hätten Fuß fassen können. Das Bachgerinnsel war breiter geworden. Es schien direkt aus Golden zu kommen. Die alten Goldsucher hatten schon gewußt, wo das edle Metall zu finden war, nämlich in den Bächen oder Flüssen, die aus den Bergen kamen. Gerald setzte das Glas ab. »Nichts zu sehen, nicht einmal die Reste eines Zauns, so wie bei den Lagerstätten, die mein Großvater beschrieb. Hat Jerry Eppstein in Stronghold nicht behauptet, hier gäbe es Banditen? Wenn ja, dann möchte ich wissen, wovon sie leben - wenn nicht von Raubzügen.« »Er war sich keineswegs sieher«, nahm James den ehemaligen Bandenführer in Schutz. »Er sprach nur von Vermutungen.« »Jedenfalls sollten wir verdammt vorsichtig sein«, riet John. Gerald überprüfte den nun deutlich sichtbaren Fahrweg, der sich um 55
die vereinzelten Hügel herumschlängelte und dann direkt nach Golden führte. »Dürfte im Dunkeln auch ohne Licht nicht zu verfehlen sein.« James sah ihn überrascht an. »Du meinst, wir sollten nachts hineinfahren? Finde ich aber nicht gut, Gerald. Den Motor hört man meilenweit, und in der Dunkelheit ist ein Hinterhalt kaum rechtzeitig zu bemerken - erst dann, wenn es zu spät ist.« Gerald überlegte, dann nickte er. »Du hast recht, James. Schalte den Motor ein. Wir fahren nach Golden. Legt die Waffen bereit und die Magazine. Sollte man uns wirklich angreifen, gibt es ein Feuerwerk, wie die Brüder es noch nie erlebt haben.« »Bist ja ganz schön scharf heute«, gab sich John überrascht. »Bin ich ja gar nicht gewohnt.« Gerald verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Ich glaube, es ist deshalb, weil hier wahrscheinlich mein Großvater starb.« »Und ich kann mir nicht vorstellen, Gerald, daß die Leute, die hier vielleicht leben, etwas damit zu tun haben.« Gerald gab keine Antwort. James schaltete die Zündung ein. Die ersten zwei Kilometer fuhren sie in normalem Tempo, soweit die »Straße« das zuließ, dann mußte der Geländegang eingelegt werden. Senken und regelrechte Risse im Gestein machten ein schnelles Fahren unmöglich. James fluchte schon wieder und meinte, es sei genauso, als wären hier Stollen oder ein ganzes Bergwerk eingebrochen. Gerald sah ihn nicht an. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der langsam näherrückenden Geisterstadt, als er sagte: »Vielleicht ist es genau das.« Der ehemalige Fahrweg für die Kutschen wurde breiter, als er die ersten zusammengebrochenen Häuser erreichte, in denen man jedoch zur Not immer noch Schutz vor Unwetter fand. Die Schilder waren zwar verschwunden, aber man konnte erraten, daß die hölzernen Ruinen einstmals Geschäfte, Wohnhäuser oder auch Saloons gewesen waren. Weiter oben am Berghang waren noch die rechteckigen oder auch runden Eingänge zu den Stollen zu erkennen, die mühsam mit Hacke und Schaufel in den Berg getrieben worden waren. Mit schußbereiten Waffen fuhren sie einmal durch Golden und dann wieder zurück, ohne auch nur einen Menschen zu sehen. Es konnte kaum noch ein Zweifel daran bestehen, 'daß hier niemand mehr lebte außer allerlei Getier, das bei ihrem Erscheinen rasch verschwand. James hielt an. 56
»Und was nun?« fragte er. Gerald sicherte sein Schnellfeuergewehr. »Stell den Motor ab, wir machen einen Spaziergang. Wenn mein Großvater wirklich dieses Golden meinte, müssen wir eine Spur von dem finden, was er suchte. Ein solches Labor, eine noch so geheime Forschungsund Entwicklungsstätte kann nicht einmal in zweihundert Jahren spurlos vom Erdboden verschwinden.« »Und wenn sie darunter oder im Berg gelegen hat?« deutete John an und stieg aus. Die Waffe hielt er locker in der herabhängenden Hand. Gerald folgte ihm, dann James. »Die Geisterstadt war eine perfekte Tarnung.« Gerald setzte sich als erster in Bewegung. »Wir werden finden, was wir suchen, und wenn wir in sämtliche Stollen kriechen müssen.« Bevor sie sich jedoch um die Stollen kümmerten, durchsuchten sie die Häuser, eins nach dem anderen. Einer von ihnen blieb dabei stets draußen auf der Straße, damit jemand, der sich vielleicht doch noch hier versteckt hielt, keine Gelegenheit erhielt, den Standort zu wechseln. Es gab Anzeichen dafür, daß in Golden noch vor nicht allzu langer Zeit Menschen gehaust hatten. Zwar waren die Reste in weggeworfenen Konservendosen bereits verschimmelt, aber viel länger als zwei oder drei Jahre war es kaum her, daß man sie geöffnet hatte. Nachdem sie Golden gründlich durchgekämmt hatten, ruhten sie sich auf den Holzstufen der letzten Hütte aus. Der Bach, der aus den Bergen kam, floß ganz in der Nähe vorbei. »Wir werden Tage benötigen, bis wir herausfinden, was hier einmal vorging«, verriet James eine gewisse Hoffnungslosigkeit. »Und wenn wir Wochen brauchen«, hielt Gerald ihm entschlossen entgegen, »wir geben nicht so schnell auf.« John deutete hinauf zum Berg. »Wenn wir uns die Stollen vornehmen, dann der Reihe nach. Muß einer als Wache draußen bleiben?« Gerald schien sich nicht sicher zu sein. »Es wird vielleicht überflüssig sein, denn außer uns ist kein Mensch mehr hier. Es kommt auch darauf an, in welchem Zustand sich die Stollen befinden. Wenn Einsturzgefahr besteht, wäre es leichtsinnig von uns, gemeinsam hineinzugehen. Dann muß einer von uns draußen bleiben, um den anderen helfen zu können.« »Spaten haben wir ja dabei«, seufzte John, stand auf und ging zum Bach, trank und erfrischte sich. Das Wasser war so kühl, als käme es gerade aus der Erde. Später holten sie Lampen, einige Stangen Dynamit und Werkzeuge 57
aus dem Jeep. Da der Boden fast nur aus Fels bestand, waren die alten ausgetretenen Pfade noch gut zu erkennen. Vegetation gab es kaum. Es war warm, und bald brach ihnen der Schweiß aus allen Poren. »In den Minen wird es kühler sein«, sprach Gerald seinen Freunden Mut zu. »Außerdem läßt die Hitze schon nach.« Sie erreichten den ersten Stolleneingang. Er war durch kräftige Holzbalken abgestützt, die wie ein Wunder gute zweihundert Jahre überdauert hatten. Wenn es im Innern des Stollens auch so aussah, hatten sie Glück. »Ich gehe vor«, erbot sich Gerald und übergab John sein Gewehr, um dafür Spaten und einige Dynamitstangen zu nehmen. »James, du kommst nach, wenn du mich rufen hörst.« Gebückt betrat er den Stollen, ohne eine Entgegnung abzuwarten. Schon nach wenigen Metern mußte er die Lampe einschalten. Auch hier hatte die Abstützung gehalten. Einige Felsbrocken hatten sich aus der Decke gelöst und waren in den Gang gestürzt. Sie ließen sich leicht umgehen. Nach fünfzig Metern rief er James. Der kam sofort. Ein Blick genügte. »Aus!« sagte er nur. Gerald nickte und studierte das herabgestürzte Gestein, das den Stollen versperrte. Niemand konnte auch nur ahnen, wie dick die so gebildete Schuttmauer war. Fünf Meter? Oder fünfzig? »Es hat wenig Sinn, wenn wir hier zu graben beginnen. Vielleicht war es hier im Berg feuchter als draußen. Das Holz verfaulte schneller und trug die Belastung nicht mehr.« James stimmte ihm zu: »Untersuchen wir den nächsten Stollen. Vielleicht gibt es auch Querverbindungen.« Das würde ihre Chancen natürlich erheblich verbessern und ihnen eine Menge Arbeit ersparen. Enttäuscht, aber nicht ganz ohne Hoffnung, traten sie den Rückweg zum Ausgang des Stollens an. Die echte Enttäuschung kam erst später. Bis zum Anbruch der Dämmerung hatten sie zehn Stollen untersucht, und alle endeten nach zwanzig bis fünfzig Meter vor einer Einsturzstelle. Es sah fast nach Absicht aus. Sie hatten den Jeep vor einem ehemaligen Saloon geparkt und hockten auf wackeligen Stühlen an einem ebenso wackeligen Tisch. »Das mit den Minen«, sagte James bedächtig, »gibt mir zu denken. Wenn mich nicht alles täuscht, sind die Stollen nicht erst gestern oder vor ein paar Jahren eingestürzt. Außerdem sind sie offensichtlich eingestürzt worden.« »Den Eindruck habe ich auch«, gab Gerald zu. 58
»Diese ganzen alten Minen dienten nur zur Tarnung. Ein Ablenkungsmanöver, wenn du so willst. Es gab niemals einen Zaun um Golden. Jeder konnte die Geisterstadt betreten, ohne daran gehindert zu werden. Und doch befand sich hier eine TopSecretAnlage. Die logische Erklärung dürfte sein: sie lag unter Golden.« James starrte ihn voller Zweifel an. »Willst du damit sagen, daß im Geheimlabor gearbeitet wurde, während sich gleichzeitig hier oben die Touristen herumtrieben?« »Viele kamen nicht hierher, das wissen wir ja, ein paar Einzelgänger vielleicht, und die sahen nichts. Wir brauchen jetzt nur noch den Eingang zu finden, einen Schacht etwa, der nach unten führt.« John hieb mit der Faust auf die Tischplatte, die der ungewohnten Belastung zum Glück standhielt. »In einem der Häuser also! Darauf haben wir natürlich bei der ersten Durchsuchung nicht geachtet.« »Diesmal werden wir darauf achten, und zwar sehr genau. Aber erst morgen, heute ist es zu spät. Es wird schon dunkel.« Sie verbrachten die Nacht im Saloon. Eine Wache einzuteilen war überflüssig, denn in Golden gab es nicht einmal mehr Geister. »Und achtet mir vor allen Dingen auf getarnte Falltüren, die in einen Keller führen«, mahnte Gerald am anderen Morgen. »Etwas in dieser Richtung könnte sehr gut der Eingang oder auch Abstieg in die alte Forschungsstätte sein.« Sie begannen mit ihrer Suche im ersten Haus auf der linken Straßenseite, die verfallene Hütte, die sie schon kannten. Der Boden bestand aus Fels. Nichts deutete darauf hin, daß sich darunter ein Hohlraum befand. »Hier bestimmt nicht«, erklärte John, der den Boden systematisch mit einem Hammer abklopfte. »Ich würde eher auf ein größeres Gebäude tippen, ein Saloon oder so was.« »Das, was wir suchen«, meinte James, »kann überall sein, selbst in der verrottetsten Bude.« Mittags wurde es unerträglich heiß. Neben dem Bach machten sie Siesta. »Sauarbeit!« schimpfte John und goß sich einen Eimer Wasser über den erhitzten Oberkörper. »Dachte, in den Häusern wäre es kühler.« »Die Vorräte werden allmählich knapp«, rückte James heraus, der für die Verpflegung verantwortlich war. »Wir werden sparsamer damit umgehen müssen.« »Noch sind wir nicht am Verhungern«, schwächte Gerald das Problem ab. »Vielleicht finden wir auch noch irgendwo Konserven. Bis jetzt haben wir ja auch nicht darauf geachtet und kaum in einen 59
Schrank gesehen, geschweige in einen Keller.« »Konserven . . .?« dehnte John ungläubig. »Nach so langer Zeit? Das soll wohl ein Witz sein.« »Konserven«, betonte Gerald, »die von den letzten Bewohnern stammen. Und die sind erst vor wenigen Jahren fortgegangen. Außerdem vergißt du, daß schon Ende des vergangenen Jahrhunderts Konserven hergestellt wurden, die sich garantiert achtzig bis neunzig Jahre halten sollten. Man findet noch heute welche, und sie sind gut.« »Wir suchen das Labor«, erinnerte sie James und erhob sich. »Ich schlage vor, daß wir weitermachen.« Sie begannen dort, wo sie aufgehört hatten. Nichts. Das nächste Gebäude war ein größeres und relativ gut erhalten. Die verwaschene Schrift auf dem Holzschild verriet, daß es eine Bank gewesen war. »Hm«, gab Gerald von sich, als er die nur noch in einer verrosteten Angel hängende Tür mit einem Fußtritt beseitigte. Dahinter lag ein großer Raum, den sie am Tag ihrer Ankunft nur oberflächlich nach Menschen durchsucht hatten. Von den ehemaligen Schaltern war nicht mehr viel übrig, und der Holzboden war mit Glassplittern übersät. In der Ecke stand ein Stahltresor, dem die Zeit nichts hatte anhaben können. Nicht einmal Rost hatte er angesetzt. »Ob da noch Moneten drin sind?« fragte John hoffnungsvoll, obwohl Geld keinen Wert mehr besaß. »Sieh doch nach, wenn du die Kombination kennst«, riet James spöttisch und begann den Boden abzuklopfen. Die Bank war nicht unterkellert, wenigstens nicht hier im Schalterraum. Im dahinter liegenden Büro allerdings klang es hohl. »Hier ist etwas drunter«, erregte sich James und begann sorgfältig zu suchen, bis er endlich die feinen Ritzen entdeckte, die ein Quadrat bildeten. »Wir haben es gefunden!« jubelte er. »Nicht so voreilig«, blieb Gerald skeptisch und kam zu ihm »Und wie können wir die Klappe öffnen?« James holte den Meißel aus der Tasche und fuhr damit die Ritzen entlang, bis er auf Widerstand stieß. Mit einem kräftigen Ruck konnte er die Holzplatte anheben und die darunter verborgene öffnung freilegen. Steinerne Stufen führten knapp drei Meter hinab. Gerald leuchtete mit der Lampe in die Tiefe. Ein kleiner Raum wurde erkennbar, noch gut erhaltene Regale und mehrere Kisten. Gerald stieg vorsichtig als erster hinab, dicht gefolgt von dem aufgeregten James. Aber so sehr sie auch suchten und die Wände 60
abklopften — es gab keine Geheimtür und damit auch keinen zweiten Raum. James öffnete eine der Kisten mit Hammer und Meißel. Sie enthielt Nägel und Schrauben. In der zweiten befand sich Werkzeug. Wahrscheinlich hatte die Bank mit einem Hardwarestore zusammengearbeitet oder Waren gepfändet. Die restlichen Kisten waren leer. Enttäuscht kehrten sie nach oben zurück. Sie fanden den fluchenden John beim Tresor. Noch immer bemühte er sich, die Kombination des erstaunlich modern wirkenden Schlosses herauszufinden. »Nun laß doch den Blödsinn!« riet James wütend. »Wir müssen noch das obere Stockwerk durchsuchen.« John drehte sich nicht einmal um. »Das könnt ihr euch sparen, Freunde. Wenn das Geheimlabor unter Golden liegt, was wir ja annehmen, kann der Eingang dazu niemals in einem oberen Stockwerk sein. Helft mir lieber, den Tresor zu knacken. Ich habe da so eine recht merkwürdige Ahnung.« James schüttelte den Kopf. »Du vertrödelst nur wertvolle Zeit, John. Was immer auch in dem Tresor liegen mag, es interessiert uns nicht.« Jetzt drehte John sich um. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst, als er sagte: »Es sollte uns aber ungemein interessieren, was hinter dem Tresor ist.« Sie begriffen sofort, worauf er anspielte und starrten ihn überrascht an. Dann rief James: »Wartet, ich hole Dynamit!« Er war auf der Straße, ehe jemand etwas sagen konnte. Der Tresor mußte damals so ziemlich das modernste Modell gewesen sein, jedenfalls stammte er nicht aus der Pionierzeit des 19. Jahrhunderts. Das war der erste konkrete Hinweis, den Gerald registrierte. Der zweite war die Tatsache, daß es sich in Verbindung mit dem elektrisch gesteuerten Schloß um ein sehr ungewöhnliches Modell handelte, das keineswegs in die Bank einer verlassenen Goldgräberstand paßte. Er mochte fast zwei Meter breit und anderthalb tief sein. »Der Eingang«, murmelte John fast ehrfürchtig, »und ich habe ihn gefunden.« »Ich glaube, das hast du wirklich«, gestand ihm Gerald zu. »Ich hoffe nur, daß wir ihn auch öffnen können.« »Mit dem Zeug hier kein Problem«, rief James von der Tür her und wedelte mit den Dynamitstangen. »Wir müssen nur herausfinden, wo wir die Dinger am wirkungsvollsten anbringen. Ich habe nämlich noch 61
nie einen Tresor aufgesprengt.« Gerald richtete sich wieder auf. »Hier unten vielleicht, wo die Angeln sein könnten. Versuchen können wir es ja.« Es kostete sie einige Mühe, die Stangen zu befestigen, bis Gerald auf die Idee kam, sie mit Steinen und Felsbrocken derart zu barrikadieren, daß die Wucht der Explosion nur in Richtung Tresortür wirken konnte. Es war eine mühevolle Arbeit, aber sie war nicht zu vermeiden. Steine lagen auf der Straße in genügender Menge herum, aber sie besaßen nicht soviel Sprengstoff, um mehr als zwei oder drei Versuche anstellen zu können. Schließlich hatten sie es geschafft. James wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wehe dir, John, wenn in dem verdammten Ding nur Geldscheine liegen!« John grinste zuversichtlich. »Es ist der gesuchte Eingang!« versicherte er überzeugt. »Und nun mach schon weiter! Ich platze vor Ungeduld.« »Wir sind fertig. Es wird gut sein, wenn wir uns nach draußen verziehen. Los, haut schon ab! Den Rest erledige ich hier allein.« Das Ende einer Zündschnur ragte aus den aufgeschichteten Steinen hervor. James wartete, bis Gerald und John den Eaum verlassen hatten, dann bückte er sich und hielt die Flamme seines Feuerzeugs an die Lunte, bis diese sprühend zu zischen begann. Er rannte auf die Straße, als sei der Teufel hinter ihm her. Kaum war er bei den Freunden angelangt, die hinter einem vertrockneten und halb zusammengebrochenen Brunnentrog Deckung gesucht hatten, als die Detonation erfolgte. Sie war so gewaltig, daß die halbe Vorderfront der alten Bank weggesprengt wurde. Kein gutes Zeichen, sagte sich Gerald enttäuscht. Die Wucht der Explosion ging in die falsche Richtung. Seine Befürchtung bewahrheitete sich, aber immerhin war doch eine kleine Ecke der Tresortür herausgesprengt worden. Die so entstandene Lücke war allerdings nicht groß genug, um einen Blick in das Innere zu gestatten. »Bestens!« zeigte sich James befriedigt. »Nun schieben wir ein paar Stangen in die Lücke hinein und schichten die Steine wieder auf. Ich wette, daß uns die halbe Tür entgegenkommt.« Erneut machten sie sich an die Arbeit, nachdem James das restliche Dynamit plaziert hatte. »Diesmal funktioniert es«, sagte er voller Zuversicht. »Und nun raus auf die Straße!« 62
Die kurz darauf folgende Explosion riß die restliche Vorderfront ein und nahm dem darüber liegenden Stockwerk die Stütze. Holzbalken und mürbe gewordene Ziegel stürzten auf die Straße und in den Schalterraum. Sie bedeckten die aus Halterung und Schloß gesprengte Tresortür. Der Tresor selbst gähnte weit offen. Sie arbeiteten sich über die Trümmer der Bank hinweg und starrten in das Innere dessen, was wie ein Tresor ausgesehen hatte. Ein leerer Raum, fast zwei mal anderthalb Meter groß — und ohne Boden. Gerald beugte sich vor und leuchtete in die Tiefe. »Ein Schacht«, sagte er dann, und er versuchte, Fassung zu bewahren. »Kann ein Aufzug gewesen sein, aber der funktioniert bestimmt nicht mehr.« »Und wie sollen wir da hinunter?« fragte John. »Wie tief ist der Schacht denn?« »Zehn Meter schätze ich, mit unserem Seil also leicht zu schaffen.« »Ich kann es noch immer nicht fassen, es ist alles so unglaublich und verrückt. Was nehmen wir außer den Lampen noch mit? Waffen werden wir wohl kaum benötigen.« »Die Pistolen. Als Ersatz für Dynamit.« Es begann bereits zu dunkeln, aber keiner von ihnen hätte jetzt schlafen können. Außerdem spielte es keine Rolle, ob sie die unterirdische Anlage tagsüber oder nachts aufsuchten. Da unten war es immer dunkel. James hatte das Seil aus dem Jeep geholt und Knoten hineingearbeitet, um das Klettern zu erleichtern. Er befestigte das eine Ende an der Seitenwand des »Tresors«, in der ein Loch entständen war. »Wer geht zuerst?« erkundigte er sich und trat zurück. Gerald deutete auf John. »Diese Ehre gebührt dem Entdecker. Dann ich. Du übernimmst die Nachhut.« John klemmte die eingeschaltete Lampe zwischen die Zähne und ließ sich dann langsam in die Tiefe gleiten. Unter sich sah er den metallisch schimmernden Boden des Schachtes, der sich bald als Plattform entpuppte. Als er darauf stand, hielt er das Seilende fest und rief nach oben: »Du kannst kommen, Gerald. Keine Gefahr.« Schließlich standen sie alle drei neben der nur wenige Zentimeter dicken Plattform und sahen sich um. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß dieser »Keller« unter keinen Umständen zu jener Zeit entstanden war, die man damals die Pionierzeit des Westens genannt hatte. Diese unterirdische Anlage war mit modernsten Mitteln angelegt 63
worden, das war schon jetzt klar zu erkennen, obwohl sie sie erst gerade betreten hatten. Der Gang mochte fünf Meter breit sein und führte in beide Richtungen. Die Lampen waren nicht stark genug und reichten nicht weit. »Nehmen wir zuerst die linke Seite«, schlug Gerald vor. »Wir bleiben in jedem Fall zusammen, halten aber immer einen gewissen Abstand, damit wir uns gegenseitig helfen können, falls es verborgene Sperren oder so was geben sollte.« »Hoffentlich bekommt Golden in der Zwischenzeit keinen Besucher, der auf die Idee gerät, das Seil hinaufzuziehen. Dann säßen wir aber schön in der Tinte«, sagte John. Gerald zuckte nur mit der Schulter und ging langsam in den linken Gang hinein, der in gerader Linie in das Gebirge hineinführte. Die anderen folgten ihm, und sie hielten jeweils fünf Meter Abstand. Immer wieder sahen sie hinauf zu der fugenlosen und leicht gewölbten Decke, als erwarteten sie jeden Augenblick von dort das plötzliche Herabsausen eines Gitters oder einer Sperrwand. Aber nichts dergleichen geschah. Die Luft war ein wenig stickig, aber ein kaum spürbarer Zug verriet, daß irgendwo verborgene Verbindungen zur Oberfläche vorhanden sein mußten. Aber wenn es Ventilatoren oder Ähnliches gegeben hatte, so funktionierten sie nicht mehr. »Wie konnten sie den Gang nur anlegen, ohne daß es jemand bemerkte?« wunderte sich James, der hinter Gerald ging. »Dazu gehörten Maschinen und Energieerzeuger. Der Schacht, durch den wir kamen, ist zu klein dafür.« »Wir werden schon eine Erklärung finden«, vertröstete ihn Gerald. Er blieb stehen und leuchtete nach vorn. »Da ist eine Tür, aber sie scheint nicht verschlossen zu sein.« Sie näherten sich ihr mit aller Vorsicht. Es war eine Stahltür, die einen Spalt offen stand. Mit weißer Schrift stand auf einem roten Metallschild: EINTRITT NUR MIT SONDERGENEHMIGUNG GESTATTET. »Die haben wir ja«, knurrte Gerald und untersuchte das Schloß. »Es ist aufgebrochen worden, so als sei schon jemand vor uns hier gewesen.« »Dein Großvater und seine Begleiter«, murmelte John, der als Nachhut zuletzt durch die öffnung schritt und die Fortsetzung des Ganges betrat. Nach ungefähr zwei Dutzend Schritten zweigten rechts und links schmalere Gänge ab, die bereits nach wenigen Metern in dunklen Räumen endeten. Einst mußten sie hell erleuchtet gewesen sein, wie 64
die erloschenen Neonröhren unter der Decke verrieten. Beide Räume waren identisch eingerichtet. Tische, Schränke und Stühle, alles aus Leichtmetall und unzerstörbar. »Könnten Wachstuben gewesen sein«, vermutete Gerald nach der oberflächlichen Inspektion. Sie kehrten zum Hauptgang zurück, der weiter hinein in das Gebirge führte. Über ihren Köpfen lastete nun eine Gesteinsschicht von vielleicht hundert Metern Dicke - ein unvorstellbares Gewicht. Der Gang mündete in einer runden Halle. Ringsum befanden sich türlose Öffnungen, hinter denen Räume sein mußten. »Ab hier waren keine Sicherheitsmaßnahmen mehr notwendig«, überlegte Gerald. »Wer bis hierher kam, damals, mußte absolut .sauber' sein. Ich glaube, wir sind am Ziel.« »Hoffentlich halten die Batterien solange«, befürchtete John. »Lange genug«, hoffte Gerald und wandte sich rechts der ersten öffnung zu. In ihr blieb er stehen und leuchtete in den dahinter liegenden Raum hinein. »Eine Art Büro muß das gewesen sein.« »Schade nur«, beschwerte sich James sarkastisch, »daß die hübsche Empfangsdame fehlt.« Außer Aktenschränken und einer Gegensprechanlage fanden sie keine weiteren Hinweise. Der zweite Raum war dagegen schon wesentlich interessanter. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um die Nachrichtenzentrale. Unter einer Reihe von Bildschirmen nahm die Funkanlage die ganze Wand ein. Sie war mit Computern und Aufzeichnungsgeräten aller Art verbunden. Von hier aus wurde also der Kontakt mit den Kommandostellen - irgendwo in Amerika hergestellt. Gerald tippte auf einen massiven Kasten mit der lapidaren Aufschrift: ARIEL. »Die Antenne, wahrscheinlich von hier aus zu bedienen. Ich nehme an, sie befindet sich auf einer unzugänglichen Bergspitze hoch über uns und konnte nach Belieben ein oder ausgefahren werden. Die haben aber auch an alles gedacht.« »Und doch scheint sich noch während der Entwicklungsphase ein Agent eingeschlichen zu haben, sonst wäre alles vielleicht ganz anders gekommen«, spekulierte James. »Vielleicht.« Das war alles, was Gerald dazu meinte. John machte sich an der Funkanlage zu schaffen, tippte völlig sinnlos Frequenzen in die Speicher und spielte mit den Videoaufzeichnungen herum. Die Geräte gaben kein Lebenszeichen von sich, denn es gab keine Energie. »Es muß doch eine Art Generator hier unten geben«, entschuldigte er sein zweckloses Unterfangen, »der unter Umständen automatisch 65
anspringt, wenn man hier den richtigen Dreh findet.« »Gehen wir weiter«, schlug Gerald vor. »Hier nicht«, ging James auf die Bemerkung von John ein. »Dafür dürfte es eine extra Zentrale gegeben haben, von der aus alles gesteuert wurde. Die finden wir auch noch, und dann kannst du weiter experimentieren. Wäre schön, wenn wir mehr Licht hätten.« Dann fanden sie das Labor. Es ähnelte nicht jenen Laboratorien, wie sie sie aus Büchern und Schilderungen kannten. Es gab weder Reagenzröhrchen, Retorten oder Bunsenbrenner und was sonst noch in einem ordentlichen Labor vorhanden sein mußte, wenn die althergebrachte Meinung stimmen sollte. Aber es gab einen Schmelzofen mit automatisch bedienbaren Tiegeln und mehreren Mischvorrichtungen. In den Regalen an den Wänden ruhten handliche Metallbarren. Lücken deuteten darauf hin, daß fast die Hälfte von ihnen fehlte, also wahrscheinlich verarbeitet worden war. Wozu, blieb vorerst nur Vermutung. Aber nicht lange. John, der den großen Raum wahllos durchstöberte, rief plötzlich aufgeregt: »Kommt mal her! Das ist doch eine Gießform, wenn ich mich nicht völlig irre. Hier haben sie die verdammten Granaten hergestellt, mit denen das Zeug verschossen wurde.« Gerald nickte, als er Johns Entdeckung betrachtete. »Zumindest die ersten Versuchsexemplare«, schränkte er ein. »Und die richtige Mischung des flüssigen Metalls wurde hier zusammengestellt, nachdem die Formel nebenan im Labor entwickelt worden war. Hier also entstand der Strahlende Tod!« »In seiner letzten Phase«, fügte James hinzu, befriedigt und geschockt zugleich. »Ob dein Großvater auch hier gewesen ist?« Gerald sah auf. »Vielleicht ist er nicht so weit gekommen«, befürchtete er düster. James starrte auf die Barren, die in unterschiedlichen Farben schimmerten. »Einer davon ist es, der die letzte und tödliche Komponente darstellt - aber welcher? Die Barren bestehen aus sämtlichen metallischen Elementen, die es auf der Erde gibt, und das sind eine ganze Menge. Dort stehen auch Bleibehälter. Sie enthalten wahrscheinlich radioaktiv strahlende Barren.« »Man müßte von jeder Sorte einen Barren mitnehmen«, schlug John vor. James bedachte ihn mit einem fast mitleidigen Blick. »Das würde uns in keiner Weise weiterhelfen, selbst wenn wir sie alle identifizieren könnten. Wenn schon, dann müßten wir eine der fertigen 66
Granaten, zumindest die Hülle, analysieren können. Und das eben können wir nicht, da uns die Kenntnisse und die Mittel fehlen.« »Wir sind also keinen Schritt weitergekommen«, faßte James resigniert zusammen. »Eigentlich nicht«, gab Gerald zu, »aber sollen wir deshalb aufgeben? Irgendwo müssen Aufzeichnungen sein, und die suchen wir.« »Ein schöner Mist ist das alles«, fluchte John, setzte sich auf eine Kiste und löschte die Lampe, um Strom zu sparen. »Da sind wir nun an der lange gesuchten Quelle angelangt und können nicht daraus trinken.« »Feiner Vergleich«, spöttelte James. »Und was nun?« »Weitersuchen!« sagte Gerald mit der Entschlossenheit des Fanatikers. »Ich will auf keinen Fall ohne ein greifbares Resultat zurück nach Jackville.« James seufzte. »Gehen wir«, schlug er vor und trat John sachte gegen die ausgestreckten Beine. Der nächste Raum brachte eine weitere Überraschung, allerdings eine erfreuliche. Er war ein riesiges Vorratslager, in dem Konserven aller Art und bis zur Decke aufgestapelte Kisten lagerten. Obwohl große Lücken vorhanden waren, hätten sich ein Dutzend Menschen hier noch jahrelang ernähren können. Selbst Trinkwasser in Dosen, alkoholische Getränke und Fruchtsäfte mit Vitaminen fehlten nicht. »Champagner!« jubelte John, der eine der Kisten aufgebrochen hatte. »Wer hat Durst und stößt mit mir an?« Keiner protestierte, und da James noch eine Kiste mit passenden Batterien gefunden hatte, feierten sie ihr kleines Fest bei entsprechender Beleuchtung. Noch ahnten sie nicht, daß es sich bei ihrem Fest um eine makabre Art von Leichenschmaus handeln sollte. . . Die restlichen Räume der Halle, die den linken Gang begrenzten, enthielten eine unübersichtliche Menge schriftlicher und akustisch aufgezeichneter Berichte oder wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse, die man schon vor langer Zeit aus ihren Fächern und Behältern herausgerissen und verstreut haben mußte. Hier war eine systematische Nachforschung unmöglich gemacht worden. »Wenn das jene Leute waren, die hier gearbeitet haben, warum wurde dann das Material nicht wirklich total vernichtet?« stellte James die logische Frage. Gerald schürzte die Lippen. »Sieht so aus, als seien nicht sie es gewesen, die das Durcheinander 67
verursachten, sondern andere. Aber, wer? Auf jeden Fall hat hier jemand etwas gesucht - und vielleicht auch gefunden. Es hat wenig Sinn, wenn wir versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Außerdem verstehen wir nicht genügend von der Materie, mit der sich diese Teufel befaßt haben.« Sie gingen den langen Weg durch den linken Gang zurück und überzeugten sich davon, daß der Strick noch immer unverändert im Schacht auf sie wartete. Auch die Tür, die den rechten Gang einst absperrte, war gewaltsam aufgebrochen worden. Auch hier gab es die beiden Wachräume und dann den weiten Weg bis zur Rundhalle. Gerald schätzte, daß sie mehr als fünfhundert Meter von Golden entfernt tief unter der einstigen Wüste lag, denn der Gang hatte langsam, aber stetig nach unten geführt. Der Höhenunterschied, so rechnete er überschlägig, würde etwa hundert Meter betragen. Sie fanden als erstes die Energieanlage. Eine Bleitür, die Aufschriften trug, verriet eindeutig, daß hinter ihr ein kleiner Atomreaktor aktiv gewesen war. Man hatte ihn abgeschaltet, denn er spendete keine Energie mehr. Sie verzichteten darauf, den Versuch zu unternehmen, die Bleitür zu öffnen. Damit wurde auch eine genauere Untersuchung der elektronischen Schaltzentrale überflüssig, die für die Verteilung des erzeugten Stroms gesorgt hatte. »Wie haben die das nur unbemerkt unter die Erde geschafft?« wunderte sich James erneut. »Keine Absperrungen auf der Oberfläche, und durch den Schacht in der Bank kann das ganze Zeug auch nicht transportiert worden sein. Ich stehe da vor einem Rätsel.« »Da bist du nicht allein«, sagte Gerald und ging weiter. Etwas länger hielten sie sich in einem Raum auf, der wohl Besprechungen gedient haben mochte. Ein langer ovaler Tisch stand in seiner Mitte, umgeben von bequemen Sesseln - alles aus einem unzerstörbaren Plastikmaterial, das die Jahrzehnte ohne Schaden überstanden hatte. Auch hier gab es Spuren von Menschen, die noch nach der großen Katastrophe unter Golden gelebt hatten. Leere Konservendosen waren achtlos in die Ecken geworfen worden, ohne daß ein Hinweis zu finden war, wann sie geöffnet worden waren. »Kann sein«, grübelte Gerald vor sich hin, »daß in diesem Raum der Strahlende Tod geboren wurde - zumindest aber gezeugt.« »Und ich möchte wissen«, meinte James, »woher die relativ frische Luft kommt, die wir hier unten atmen, hundert Meter unter der Erde.« Niemand antwortete ihm. Sie durchsuchten noch weitere Räume und gelangten schließlich zur zweiten Tür der Rundhalle. Sie bestand aus Teakholz, nicht aus Blei, 68
und sie war nur angelehnt und besaß auch kein Schloß. Dahinter lag ein schmaler Gang, von dem rechts und links weitere Türen abzweigten. Hinter diesen Türen lagen die Unterkünfte der einstigen Besatzung der Anlage. Es waren kleine aber zweckmäßig eingerichtete Apartments: Wohnschlafzimmer mit Bad und Toilette, einige sogar mit einem Doppelbett. »Schlecht zu sagen, wann hier jemand zum letztenmal geschlafen hat«, stellte John fest und deutete auf ein zerwühltes Bett. Gerald lauschte auf ein Geräusch, dann durchquerte er das Zimmer und betrat das Bad. Die Wanne war bis zum Rand gefüllt und lief über. Aus dem Hahn tropfte Wasser, und der Überlauf schien verstopft zu sein. Er kehrte zu den anderen zurück. »Da hat jemand vergessen, das Wasser abzustellen -weiß der Teufel, wie lange das schon her ist.« Sie schätzten, daß es mehr als dreißig Apartments waren, hinzu kam noch ein größerer Gemeinschaftsraum, wohl eine Art Kantine mit Bar und Videoschirm, der einen großen Teil der Wand einnahm. Das Vorführgerät war mit einem schweren Gegenstand zertrümmert worden. »Den Rest können wir uns sparen«, schlug James vor, verließ den Raum und setzte sich ih Richtung Rundhalle in Bewegung, aber Gerald hielt ihn zurück: »Wir haben noch nicht alle Apartments durchsucht.« James blieb stehen. »Wozu das? Sehen doch alle gleich aus.« »Trotzdem! Wenn wir schon mal hier unten sind, wollen wir keine Unterlassungssünden begehen. Ich weiß selbst nicht, was wir noch finden könnten, aber ich will wenigstens wissen, daß wir nichts übersehen haben.« »Und ich«, sagte John entschlossen, »möchte auch nichts übersehen. Ich will mir unter allen Umständen noch einmal das eigentliche Labor ansehen. Ein wenig von Physik verstehe ich ja, vielleicht finde ich was. Wir waren ja bisher ziemlich oberflächlich.« »Kannst du haben«, versprach Gerald und nahm sich das nächste Apartment vor. »Nehmt das gegenüber, dann sind wir schneller fertig.« Er stieß die Tür auf, um einen flüchtigen Blick in den Raum dahinter zu werfen. Da stockte ihm das Blut in den Adern. Auf dem breiten Einzelbett lag ein menschliches Skelett. In der gleichen Sekunde fast hörte er von der anderen Seite des Ganges einen Aufschrei. Es war James. 69
»Gerald! Komm schnell her! Ich habe einen Toten gefunden - aber nur die Knochen, ein Skelett!« John kam aus dem Nachbarapartment gestürzt, erschrocken und blaß. Gerald sah nur kurz nach hinten, um sich dann wieder seinem eigenen Fund zu widmen, denn etwas anderes als das Skelett hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Neben dem Bett, auf dem Nachttisch, lag ein Bündel beschriebener Papierbögen, sorgfältig durch einen Barren beschwert, obwohl das überflüssig sein mochte. Vorsichtig, als wolle er die Ruhe des Toten nicht stören, näherte er sich dem kleinen Tisch und beugte sich hinab. Die Batterie seiner Lampe mußte erneuert werden, sie leuchtete nur noch schwach, trotzdem erkannte er die Schrift sofort. Es war dieselbe Handschrift wie jene im Testament seines verschollenen Großvaters Robert Zimmermann. Seine Knie zitterten, als er sich wieder aufrichtete und dem Skelett einen scheuen Blick zuwarf. Er hatte endlich den Vater seines Vaters gefunden.
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5.
Robert Zimmermanns Tagebuch, beendet im Jahre 2020 Wer immer auch meine Aufzeichnungen finden mag, er möge sie nach Jackville bringen, jener kleinen Ansiedlung etwa tausend Kilometer südöstlich von hier. Es ist meine letzte Bitte, bevor ich sterbe. Wir — das sind Gibson Kemp, Brendon, Eppstein und ich — sind im Jahr 1999 von dort aufgebrochen, um das Rätsel des Strahlenden Todes zu lösen und die Gefahr zu beseitigen, die noch heute von ihm ausgeht, falls ein Verrückter erneut das Geheimnis lüftet. Brendon fand unterwegs den Tod und wurde begraben. Kemp, Eppstein und ich gaben nicht auf und fanden schließlich den Weg nach Golden, der alten Geisterstadt. Einige Familien hatten sich hier niedergelassen, wollten aber nicht für immer bleiben, denn sie wußten, daß es spukte. Die Seelen der Toten, so sagten sie, fänden keine Ruhe. Meine Freunde und ich dachten bald anders darüber, und als eines Nachts zwei junge Frauen spurlos verschwanden und wir Hinweise auf eine gewaltsame Entführung fanden, begannen wir intensiver zu suchen. Jene Tips, die wir unterwegs erhalten hatten, deuteten darauf hin, daß sich unter Golden das befand, was wir suchten, und das Verschwinden der Frauen bewies uns, daß die Verbrecher in dem Entwicklungslabor unter Golden noch lebten. Einer von uns war nachts immer wach und hielt sich in den dunklen Straßen auf. Früher oder später, so nahmen wir an, würde sich wieder einer der Verborgenen an die Oberfläche wagen, und dann brauchten wir ihm nur heimlich zu folgen, um den Eingang zu finden. Zwei Wochen lang geschah nichts, aber dann, ich hatte den Wachdienst für diese Nacht übernommen, geschah das, worauf wir gewartet hatten. Um Mißverständnissen vorzubeugen, bestand für Golden allgemeines Ausgehverbot während der Nacht. Wenn sich also jemand nachts auf der Straße sehen ließ, konnte es keiner von uns oder den Familien sein. Ich sah die beiden Schatten an den Häusern vorbeischleichen. Es war nicht schwierig, sie im Auge zu behalten, denn sie schienen völlig arglos zu sein und ließen keine besondere Vorsicht walten. Undeutlich konnte ich erkennen, daß sie bewaffnet waren. Ich fragte mich, was sie suchten, wenn nicht wieder Frauen oder Mädchen. Auf Lebensmittel schienen sie keinen Wert zu legen, die gab es in ihrem Versteck wohl noch mehr als genug. Frauen jedoch schienen knapp zu sein. 71
Die meisten Häuser ignorierten sie, und wenn sie eins betraten, dann immer nur einer von ihnen. Der andere blieb auf der Straße und wartete. Ich begann mich zu wundern, warum sie sich nicht mit offener Gewalt das holten, was sie haben wollten. Schließlich, etwa nach einer Stunde, traten sie ohne Erfolg den Rückweg an. Wenn Kemp und Eppstein jetzt bei mir gewesen wären, hätten wir unser Ziel schneller erreicht, so aber blieb mir nichts anderes übrig, als den beiden zu folgen, bis sie im Bankgebäude verschwanden. Der Tresor dort! Jetzt fiel es mir wieder ein. Natürlich, der Tresor mußte der Eingang sein, den wir vergeblich gesucht hatten. Ich blieb draußen stehen und sah durchs Fenster, wie sie eine Kombination einstellten, die schwere Tür öffneten, den Raum dahinter betraten, nachdem sie die Kombination wieder verstellt hatten, und dann die Tür hinter sich zuzogen. Das Geräusch des absackenden Lifts war kaum zu vernehmen, dann herrschte wieder absolute Stille. Ich kehrte zu Kemp und Eppstein zurück, um ihnen meine Entdeckung mitzuteilen. Zufällig verließen auch am nächsten Tag die Famlien Golden, und wir waren allein. Von nun an schliefen wir hinter den Schaltern der Bank. Und warteten, die Waffen schußbereit neben uns. »Wie machen wir es?« hatte Eppstein gefragt. Darüber hatte ich lange nachgedacht. Wir konnten die Kerle überwältigen, wenn sie aus dem Tresor kamen, aber dann würden wir kaum jemals die Kombination erfahren, die ja auch von der Innenseite der Tür her wirksam sein mußte. Es würde also sicherer sein, zu warten, bis sie zurückkehrten, die Kombination einstellten - und dann blitzschnell handeln. Kemp und Eppstein stimmten meinem Plan zu. Wir wußten alle drei nicht, daß wir etwas vergessen hatten. In der dritten Nacht, die wir in der Bank verbrachten, weckte mich ein Geräusch. Ich richtete mich auf und konnte den vom Mond beschienenen Tresor gut erkennen. Das Geräusch hörte auf. Dann öffnete sich die Tür. Ein Mann erschien, hantierte kurz an der Innenseite der Tür, kam heraus und drückte sie wieder zu. Ich wagte kaum zu atmen, als er den Schalterraum durchquerte und auf die Straße hinausging. Nun, niemand brauchte ihm zu folgen, denn er würde bald zurückkehren, weil er nicht mehr fand, was er vielleicht suchte. Immerhin weckte ich nun Eppstein und Kemp, und wir bereiteten uns vor, den Mann im richtigen Augenblick zu überraschen nicht zu früh und nicht zu spät. Eine einzige Sekunde konnte alles verderben. Nach zwei Stunden schien der Mann überzeugt zu sein, daß die 72
Leute die Stadt verlassen hatten. Er kam zurück. Wir hockten sprungbereit hinter den Schaltern, unsere Waffen für alle Fälle durchgeladen und entsichert. Ahnungslos näherte sich unser Opfer dem Tresor und begann an den beiden Rädern zu drehen, wobei kein Geräusch zu hören war. Langsam zog er die schwere Metalltür auf. Kemp war mit einem Satz über der Schaltertheke, dessen Glaswand er vorher beseitigt hatte. Er packte den völlig Überraschten und zog ihn in die Mitte des Raumes. Kemp hockte sich auf ihn, hielt ihm den Mund zu und entriß ihm den Revolver. »Ganz ruhig bleiben, sonst bist du erledigt«, warnte er ihn. »Wir brauchen dich nicht mehr, vergiß das nicht. Aber wenn du vernünftig bist, bleibst du am Leben.« Der Überwältigte rollte mit den Augen vor Todesangst, dann versuchte er zu nicken. Kemp nahm die Hand von seinem Mund. Eppstein war inzwischen zur Tresortür gegangen und merkte sich die Kombination. Die Buchstaben ergaben das Wort TITAN, und die Zahl lautete 1987. »Da kommt ihr nie wieder 'raus«, sagte der Gefangene, und in seiner Stimme war Spott. Er begann sich von seinem Schock zu erholen erstaunlich schnell, wie mir schien. »Außerdem ist der Zutritt für Unbefugte verboten.« Kemp verpaßte ihm eine Ohrfeige. »Auch für die letzten Überlebenden einer Katastrophe, die ihr verschuldet habt? Wißt ihr überhaupt, wie uns zumute ist? Ja, glaubst du denn wirklich, daß so ein Verbot noch Gültigkeit hat? Du mußt verrückt sein, wahnsinnig, wie ihr alle da unten!« »Wir taten nur unsere Pflicht.« Er bekam die zweite Ohrfeige, diesmal etwas kräftiger. Ich schielte hinüber zum Tresor. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß dort abermals jemand erschien, die Lage zu schnell durchschaute und die Tür schloß, ehe wir etwas dagegen unternehmen konnten. Aber wir kannten ja die Kombination. Kemp stellte noch einige Fragen, erhielt aber trotz wiederholter Ohrfeigen keine Antwort mehr. Aus dem Keller des Bankbüros holten wir Stricke, dann fesselten und knebelten wir den Mann derart, daß er sich unmöglich selbst befreien konnte, und legten ihn in den Keller. Vielleicht fand ihn dort jemand. Wir waren plötzlich frei von allen Skrupeln. Die Plattform im Lift war einfach zu bedienen. Vorsichtig zogen wir die Tresortür zu, ließen sie aber nicht ins Schloß gleiten. An ihrer Innenseite war eine identische Kombinationsvorrichtung angebracht. 73
Langsam glitten wir in die Tiefe, etwa zehn Meter schätzte ich. Unsere Schnellfeuergewehre lagen entsichert in der Armbeuge. Wir waren entschlossen, von nun an jede Rücksicht fallenzulassen. Als wir den Lift verließen und den Wachkorridor betraten, ging alles so blitzschnell und überraschend, daß uns kaum Zeit blieb, zwei oder drei Atemzüge zu tun. Ich erhielt einen starken elektrischen Schlag, der mich fast augenblicklich lähmte. Das Gewehr polterte auf den Boden und entlud sich. Kemp und Eppstein sackten hilflos in sich zusammen. An Gegenwehr war nicht zu denken. Von beiden Seiten kamen sie auf uns zu, in Uniform und mit grimmigen Gesichtern. In ihren Händen waren pistolenähnliche Waffen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Grob stellten sie uns auf die Füße. Sie stellten keine Fragen, stießen uns in den linken Gang und brachten uns in einen dürftig eingerichteten Raum ohne Tür. Aber zwei von ihnen blieben dort stehen, die Waffen auf uns gerichtet. Der dritte Uniformierte sagte barsch: »Ihr werdet einiges zu erklären haben, und wenn wir nicht manches über das erfahren möchten, was draußen vor sich geht, wäret ihr bereits tot. Und nun wartet. Ihr werdet bald Gelegenheit zum Reden erhalten. Ein Fluchtversuch wäre zwecklos, aber das wißt ihr ja wohl selbst.« Ich nickte nur und setzte mich auf die Holzpritsche. Auch Kemp und Eppstein nahmen Platz. Stumm starrten wir unsere beiden Wächter an. Im Magen hatte ich plötzlich ein verdammt flaues Gefühl. Sie führten uns später durch den langen Korridor zurück in einen größeren Raum. An dem langen Tisch saßen etwa ein Dutzend Männer, einige von ihnen in Uniform, die meisten in Zivil. Am Kopfende des Tisches hatte ein älterer Mann Platz genommen, sein Haar war fast weiß. Er strahlte Autorität aus und betrachtete uns mit finsteren Blicken. Wir blieben stehen, hinter uns die Wächter. Ich will versuchen, das Verhör aus der Erinnerung ziemlich. wortgetreu wiederzugeben. »Mein Name ist Weisenberg«, begann der Zivilist am Kopfende. »Dr. Weisenberg, Leiter des Projekts. Was haben Sie hier zu suchen?« Kemp wartete nicht, bis ich antwortete. »Was wir knapp fünf Jahre nach dem verdammten Krieg hier suchen, wollen Sie wissen?« brüllte er den Wissenschaftler an. »Wir suchen die Schuldigen, Sie!« Zu meinem Erstaunen geschah nichts. Weisenberg nickte nur. »Verständlich, und sehr menschlich. Ihre Namen?« Wir nannten sie ihm, und er fuhr fort: »Dies hier war das Entwicklungslabor für ein 74
Pflanzenwuchsmittel, wie sie es in vielen anderen Ländem auch gab. Im Jahr 1989 jedoch fand jemand heraus, daß eine Mischung, die man dem Endprodukt beifügte, aus dieser nützlichen Mixtur eine tödliche Chemikalie machte. Aus dem Pflanzenwuchsmittel wurde der' Strahlende Tod.« »Warum«, fragte ich, »wurde dieses Labor unterirdisch angelegt, wenn nur ein harmloses Pflanzenmittel produziert werden sollte?« Weisenberg lächelte hintergründig. »Das geschah erst 1989 unter größter Geheimhaltung. Denn die Militärs . . .«, er warf den Männern in Uniform einen schrägen und nicht gerade freundlichen Blick zu, „. . . waren naturgemäß mehr an der neuen Waffe als an dem Mittel interessiert. Hinzu kam die strikte Anweisung der damaligen Regierung. Klar genug ausgedrückt, Zimmermann?« »Sehr klar«, gab ich zu. »Das Militär war also stärker als die Regierung. Keine Entschuldigung für uns.« »In aller Welt geschah etwa das gleiche«, machte Weisenberg ihn aufmerksam. »Wir konnten nicht tatenlos zusehen.« »Ich weiß: das Gleichgewicht mußte erhalten werden, so wie zuvor das atomare Gleichgewicht stabil bleiben mußte.« In meiner Stimme war Bitterkeit, als ich fortfuhr: »Das Resultat dieses irrsinnigen Standpunkts ist ja nun bekannt.« »Richtig«, gestand er. »Es funktionierte nicht.« Kemp wurde ungeduldig. »Wir haben einige Lagerstätten des verdammten Zeugs gefunden, auch Sammelstellen für den Abtransport. Wir suchen die verhängnisvolle Komponente. Dann bietet sich vielleicht endlich die Gelegenheit, diesen tödlichen Dreck unschädlich zu machen, der heute noch den jämmerlichen Rest der Menschheit bedroht.« Einer der Uniformierten schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie werden unverschämt und vergessen, daß Sie unser Gefangener sind und diese Anlage nie mehr verlassen werden. Oder glauben Sie vielleicht, wir lassen uns draußen lynchen?« »Das könnte leicht passieren«, stritt Kemp diese Möglichkeit nicht ab. »Aber noch steht nicht fest, ob wir von Ihnen gelyncht werden.« »Davon ist keine Rede«, mischte sich Weisenberg nun wieder ein. »General Wales deutete lediglich an, daß Sie uns weiterhin Gesellschaft leisten werden - freiwillig oder nicht.« Damit war es heraus. Ich protestierte: »Dr. Weisenberg, wir wollen nichts anderes als die letzte Komponente, um die restlichen Lagerbestände unschädlich zu 75
machen. Wir wissen, daß es möglich ist. Sie haben unser Wort, daß wir niemandem Ihren Aufenthaltsort verraten werden.« Abermals lächelte der Wissenschaftler, ein wenig mitleidig, wie mir schien. »Auf Ihr Wort, so ernst es gemeint sein mag, können wir uns nicht verlassen. Und dann möchte ich Ihnen noch etwas verraten, was Sie bestimmt beruhigen wird: Die von Ihnen gesuchte Komponente ist ein metallisches Element und wird den . . . den Behältern bei ihrer Herstellung beigefügt. Die spätere Vermischung erst resultiert im Strahlenden Tod. Es ist jedoch so, daß diese Beimischung nach einem Zeitraum zwischen fünfzig und achtzig Jahren unwirksam wird. Was übrigbleibt, ist das ursprüngliche Pflanzenwuchsmittel. Es wirkt schon vorher zu einem geringen Bruchteil, aber nach dem eben angegebenen Zeitpunkt wird sich die Oberfläche der Erde in ein grünes Paradies verwandeln. Ganz ohne unser Hinzutun. Nun, was sagen Sie jetzt?« »Wir werden es kaum erleben«, hielt ich ihm verbittert entgegen. »Aber jene, die nach uns kommen«, gab er ungerührt zurück. Mir war klar, daß seine Beruhigungspille rein theoretischer Natur war, denn eine Praxis gab es nicht. Unsere Enkel, die würden das »grüne Wunder« vielleicht erleben, aber auch das war nicht sicher. Für die jetzt Überlebenden war Weisenbergs Behauptung so gut wie wertlos. Deshalb wiederholte ich meine Forderung: »Wir benötigen die Formel der Metallegierung, aus der die Granaten hergestellt wurden - und die Methode, die Komponente zu neutralisieren. Wenn wir Erfolg haben, können Sie beruhigt Ihren Bunker verlassen. Es wird Ihnen nichts geschehen.« »Der Kerl ist wahnsinnig!« polterte General Wales empört. »Wir sollten auf der Stelle Schluß mit diesen drei Verrückten machen.« »Niemand macht hier Schluß!« sagte Weisenberg ruhig. »Nicht, solange ich hier als Chef der Entwicklung gelte.« »Die Entwicklung ist abgeschlossen«, machte der General ihn aufmerksam. »Und Chef der Sicherheit bin ich, wie Sie sich erinnern werden. Es wird also das geschehen, was ich anordne.« Weisenberg sah Kemp, Eppstein und mich an, als er dem General antwortete: »Wir werden ja sehen ...« Die Wachen packten uns und brachten uns in einen abschließbaren Raum am Ende des anderen Korridors. Es ist das Apartment, in dem ich dieses niederschreibe. Unsere Chancen standen nicht gut, das war uns klar. Das Militär unter dem Kommando des Generals war bewaffnet und zahlenmäßig den paar Wissenschaftlern überlegen. Dr. Weisenberg, so schuldig er 76
auch sein mochte, blieb unsere einzige Hoffnung, aber er war praktisch außer Gefecht gesetzt worden. »Hätten wir nur unsere Knarren!« jammerte Eppstein verzweifelt. »Gegen die Übermacht würden sie uns kaum helfen«, hielt Kemp ihm entgegen. »Aber sie würden beruhigend wirken.« Mir wurde klar, daß wir lebendig hier nicht mehr herauskamen. Wir wußten zuviel. Und wer da draußen in den Siedlungen würde achtzig Jahre warten wollen, bis die Gefahr vorüber war? Keiner! Auf der anderen Seite: konnte Weisenberg sich nicht irren? Er hatte nur von der Theorie gesprochen. Sie brachten uns Konserven und Trinkbares. Kein Wort wurde dabei gesprochen und keine Frage beantwortet. Es schien, als benötige man Zeit, um über unser Schicksal zu entscheiden. Viel zuviel Zeit, wie sich herausstellen sollte. Aus Tagen wurden Wochen, ohne daß etwas geschah. Einmal versuchten wir in unserer Verzweiflung einen Ausbruch, der jedoch mißlang. Eppstein trug eine Schußverletzung davon, die jedoch harmlos war und bald verheilte. Mir fiel auf, daß er seit dieser Zeit verschlossener wurde und kaum noch mit uns sprach. Er begann mir Sorgen zu machen. Damals schrieb ich noch nicht an meinem Tagebuch, ich kann die Zeit also nur abschätzen. Es mußte bereits das Jahr 2000 sein, das neue Jahrtausend. Was außerhalb unseres Gefängnisses geschieht, wissen wir nicht. In Jackville wird man sich Sorgen um uns machen, aber eines Tages wird man unsere Spuren suchen, sie verfolgen und vielleicht - uns finden. Wenn wir dann noch leben. Gestern holten sie mich zum Verhör, aber es kam nicht viel dabei heraus. Weisenberg war ebenfalls anwesend, aber er machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Ich wiederholte meine alte Forderung, die barsch von Wales abgelehnt wurde. Er ließ mich in unser Apartment zurückbringen. Kemp war der nächste. Er war fünf Minuten später wieder da und schüttelte nur den Kopf, als er sich auf sein Bett legte und die Augen schloß. Dann holten sie Eppstein. Und Eppstein kehrte nicht zurück. Erst viel später erfuhren wir, was geschehen war, aber ich will nicht vorgreifen. Kemp hatte begonnen, einen Kalender zu führen, denn man hatte uns die Uhren gelassen. Ich bin sicher, daß das Datum nur ungefähr stimmte, aber welche Rolle spielte das noch? Man ließ uns in Ruhe. Wales hatte wohl seinen Entschluß, uns zu eliminieren, aufgegeben. Er ließ uns aber auch nicht verhungern oder 77
verdursten. War das ein menschlicher Zug seines Wesens, oder wollte er einfach nur unsere Qualen verlängern? Wir haben es nie erfahren. Es muß so Mitte des Jahres 2001 gewesen sein, als General Wales persönlich in unserem Apartment erschien, von zwei bewaffneten Soldaten begleitet. Während diese in der Tür stehenblieben, setzte er sich auf einen der vorhandenen Stühle. Kemp und ich blieben ausgestreckt auf unseren Betten liegen. »Es ist soweit«, begann er, aber in seiner Stimme war kein drohender Unterton. »Wir werden die Forschungsstätte verlassen. Unsere ausgeschickten Leute kehrten mit guten Nachrichten zurück. Das Land draußen ist so gut wie leer, und wir werden leicht eine unbewohnte Stadt finden, in der wir uns niederlassen können. Mit den Banden werden wir schon fertig, falls sie uns angreifen sollten. Wenn wir hier unten bleiben, würde die Elite unseres Volkes aussterben, da es zu wenig Frauen gibt. Eppstein hat sich entschieden, mit uns zu kommen. Ihnen, Zimmermann und Kemp, wird die gleiche Chance geboten, sobald Sie den Eid abgelegt haben. Sie haben einen Tag Zeit, sich zu entscheiden.« Er wollte aufstehen, aber ich hielt ihn zurück. »Moment, General der Elite unseres Volkes.« Er sah mich wütend an, blieb jedoch sitzen. »Ich wüßte nicht, für wen oder was ich einen Eid leisten sollte. Und zweitens: was geschieht, wenn wir uns weigern?« Er lächelte zynisch. »Nichts weiter, Zimmermann. Wir sind doch keine Unmenschen. Sie werden hier bleiben, ganz ohne Bewachung — mal von Weisenberg abgesehen, der ebenfalls auf die Freiheit draußen verzichten möchte, obwohl er sich innerlich danach sehnt. Aber wahrscheinlich gebietet ihm sein schlechtes Gewissen, hier zu bleiben. Er nämlich war es, der den Strahlenden Tod endgültig entwickelte.« »Sie verurteilen uns also, bis zu unserem Lebensende hier unten zu bleiben?« »Vorräte sind genügend vorhanden, andere Dinge auch. Und Sie sind sicher vor Überfällen, denn niemand wird den Tresoreingang knacken können. Wozu auch? Man wird Geld darin vermuten, und das hat keinen Wert mehr. Bücher und Filme finden Sie in den entsprechenden Räumen. Sie werden einen wunderbar ausgeglichenen Lebensabend verbringen dürfen. Fast möchte ich Sie beneiden.« Er stand endgültig auf. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Ich werde wieder abschließen, damit wir ungestört die Anlage verlassen können. Weisenberg wird Sie später herauslassen.« Die Tür schloß sich, ehe ich etwas sagen konnte. 78
Kemp und ich sahen uns nur stumm an. Das Urteil war gefällt. Weisenberg kam zwei Stunden später. Er öffnete die Tür und kam ohne jede Furcht zu uns herein. Er deutete auf Eppsteins leeres Bett. »Darf ich mich setzen?« Ich nickte. Er setzte sich. Gerade gut sah er nicht aus, ganz im Gegenteil. Ich hatte den Eindruck, daß man ihm arg zugesetzt, aber am Leben gelassen hatte. Immerhin hatte er sich offen gegen die Militärs gestellt, was ich ihm hoch anrechnete. Sicher würde ich bald mehr erfahren. »Die anderen sind fort«, sagte ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Er nickte, ein wenig hilflos, wie mir schien. So ganz begriff ich das nicht, denn wir waren durchaus nicht dazu verurteilt, den Rest unseres Lebens hier unten zu verbringen. Kemp und ich kannten die Kombination des Tresors. »Ja, sie sind fortgegangen«, begann er endlich. »Und ich kann nur hoffen, daß sie nie mehr zurückkehren. Obwohl wir dann dazu verurteilt sind, den Rest unseres Lebens hier unten zu verbringen.« Ich versuchte, zuversichtlich zu bleiben. »Das glaube ich nicht, Dr. Weisenberg. Wir werden einen Weg in die Freiheit finden.« Wenn er überrascht war, so ließ er sich das nicht anmerken. »Hinter dem Reaktorraum, der uns die Energie liefert, führt ein zehn Meter breiter Korridor etwa zwei Kilometer in die Wüste hinaus. Er steigt allmählich an, bis etwa fünf Meter unter die Oberfläche. Von dort aus gelangte alles Material, das Sie hier vorfinden, in die Anlage. Man hat diese Möglichkeit jedoch später mit einer vier Meter dicken Betonschicht für alle Zeiten verschlossen. Darüber liegt, wie überall, die Wüste. Diese vier Meter werden wir mit keinen Mitteln durchbrechen können. Geben Sie also Ihre Hoffnungen auf, damit Sie später nicht zu enttäuscht sein werden.« Diesmal brachte ich sogar ein Lächeln zustande. »Aber Weisenberg, haben Sie denn den regulären Zugang vergessen, den Tresor?« Er schüttelte den Kopf. »Den habe ich natürlich nicht vergessen, Zimmermann. Aber der nützt uns nichts. Ich kenne die Kombination nicht. Und die Außenkombination nützt uns überhaupt nichts.« Ich horchte auf. Der Schock kam Sekunden später. »Außenkombination. . .?« dehnte ich starr vor beginnendem Entsetzen. »Wollen Sie damit sagen, daß es eine abweichende Innenkombination gibt? Eine andere?« 79
»Leider ja«, bedauerte er. »Die äußere kenne ich natürlich, die innere aber nicht. TITAN 1987 ist nur für den Einlaß bestimmt, aber wenn jemand von uns die Anlage verließ, mußten wir uns beim Einstellen der Kombination umdrehen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ein unerlaubtes Verlassen verhinderte.« In mir brach die ganze Welt der Hoffnung zusammen. Es konnte Jahre dauern, bis wir die Millionen Möglichkeiten der Kombinationen durchprobiert hatten. Zu den Zahlen kamen schließlich noch die Buchstaben. Nein, es war unmöglich. »So also ist das«, brachte ich hervor, während Kemp wortlos vor sich hin starrte, die Augen halb geschlossen. Und ganz langsam begann ich zu begreifen, welches Schicksal uns bevorstand. Es war der Augenblick, an dem ich mich entschloß, dieses Tagebuch zu schreiben. Weisenberg zeigte uns alles, was wir zum Überleben benötigten - die Vorratslager, die ohne Energie funktionierenden Luftschächte (viel zu eng, um als Fluchtwege in Betracht gezogen werden zu können), Bücher und Videoanlagen. Selbst ein Waffen und Munitionslager gab es noch, halb ausgeräumt, aber immer noch recht eindrucksvoll. Im Labor erklärte er uns, wie die Granathüllen hergestellt wurden, obwohl dies hier nur eine Experimentieranstalt gewesen war. Wo die Fertigungsstätten lagen, wußte er angeblich nicht, es spielte nun auch keine Rolle mehr. »Ich habe nie gewußt, worum es eigentlich ging, trotzdem fühle ich mich schuldig«, gestand er eines Tages. Ich nickte. »So erging es vielen Wissenschaftlern und Forschern, die in dem Glauben, der Menschheit Nützliches zu geben, in Wirklichkeit ihren Untergang nur beschleunigten. Es ist schwer, hier zwischen Schuld und Unschuld zu unterscheiden. Der Rest der Menschheit jedenfalls hat sich entschlossen, dieses Risiko zu vermeiden. Der sogenannte Fortschritt ist zum Stillstand gekommen - von mir aus nennen Sie es Stagnation.« »Stagnation bedeutet Rückschritt«, hielt er mir entgegen. »Meinetwegen, Weisenberg, aber Stagnation bedeutet auch, ein neues Unheil zu vermeiden. Vor dem Krieg wurden die Ansprüche immer höher geschraubt, und früher oder später mußte dieser verfluchte Wohlstandsturm zusammenbrechen.« »Ein interessanter Vergleich«, murmelte Weisenberg. Ich wechselte das Thema: »Diese Beimischung im Metall der Granathülse, die Ursache allen Übels — läßt sie sich so behandeln, daß sie unwirksam wird?« 80
»Die Zeit behandelt sie, neutralisiert sie und damit die Wirkung, Zimmermann. Wir können nichts tun. Und da keine dieser Granaten mehr explodiert, besteht auch keine Gefahr mehr.« »Und wenn jemand draußen ein Lager findet, oder wenn die Hülsen undicht werden — was geschieht dann?« Weisenberg lächelte müde. »Nichts, mein Freund, gar nichts — außer daß die Wüsten plötzlich grün werden und vielleicht bei niederen Lebewesen Mutationen auftreten. Menschen werden keinen Schaden erleiden, solange sich das bei einer Explosion schmelzende Metall nicht mit der Flüssigkeit innerhalb der Granate vermischt.« »Es wird keine Explosionen mehr geben?« »Kaum. Die Abschußrampen wurden zerstört.« Nach diesem und späteren Gesprächen mit Weisenberg wurde ich nach und nach ruhiger und gelassener. Auch wenn ich nie mehr nach Jackville zurückkehrte, würde das für die Menschen dort keinen Unterschied machen. Mein Sohn würde vielleicht eines Tages meinen Bericht lesen, oder seine Kinder, wenn diese alt genug geworden waren. Vielleicht würden sie auch versuchen, meiner Spur zu folgen, aber sie würden mich niemals hier finden. Trotzdem habe ich dies alles niedergeschrieben, denn selbst in einer völlig aussichtslosen Situation trägt jeder Mensch einen Funken Hoffnung mit sich herum. Im Jahr 2009 starb Weisenberg einen friedlichen Tod. Begraben konnten wir ihn nicht, also legten wir ihn in einem der Apartments zur letzten Ruhe. Vier Jahre später, 2013 bemerkte ich bei Kemp die ersten Anzeichen von Klaustrophobie. Von Tag zu Tag wirkte er niedergeschlagener und hoffnungsloser. Stundenlang war er verschwunden, bis ich herausfand, daß er mit dem Lift nach oben gefahren war und versuchte, die Öffnungskombination zu finden - ein aussichtsloses Unterfangen. Im Jahr 2018 verübte Kemp Selbstmord. Von nun an war ich allein, und die ersten Wochen waren nicht leicht für mich. Ich saß halbe Tage oder Nächte im Videoraum und bemerkte kaum, was sich vor mir auf der großen Projektionswand abspielte. Es interessierte mich auch nicht. Trotzdem tat ich es. Einmal hörte ich Geräusche, so als hämmere jemand mit einem schweren Gegenstand gegen die Tür des Tresors, aber sie verstummten, ehe ich den Lift in Betrieb nehmen und nach oben fahren konnte. Mein Versuch, mich bemerkbar zu machen, schlug fehl. Es waren Menschen in Golden angekommen, und vielleicht blieben sie auch, aber auch sie würden mich nicht finden. Nicht so schnell 81
wenigstens. Aber die Hoffnung, daß es doch geschehen könnte, hielt mich am Leben. Vor einem halben Jahr begann das Licht zu flackern, um dann zu erlöschen. Der Atomreaktor, wahrscheinlich auf eine Überprüfung programmiert, hatte sich abgeschaltet. Ich war ohne Energie, aber es gab genug Lampen und Batterien. Wasser kam direkt aus dem Berg und sammelte sich in einem Tank. Es war stets frisch. Es dauerte Wochen, bis ich mich an die neuen Umstände gewöhnt hatte. Meist lag ich hier im Bett und las oder schrieb. Aber ich bin sehr gealtert und ich spüre, daß ich nicht mehr lange zu leben habe. Meine Aufgabe ist erfüllt, und ich weiß, daß den überlebenden Menschen keine Gefahr mehr droht. Ich weiß nicht, was aus General Wales und den anderen geworden ist, aber das ist jetzt auch egal. Ich hasse sie nicht mehr. Mich bedrückt nur die Tatsache, daß ich den Menschen draußen nicht mehr sagen kann, daß ihnen keine Gefahr mehr droht und daß sie ohne Furcht in die Zukunft blicken können. Du, der du vielleicht diese Zeilen lesen wirst, sage es ihnen. Ich werde schwächer, von Tag zu Tag. Ich werde aufhören zu schreiben, denn es gibt nichts mehr zu sagen. Im Apartment auf der anderen Seite liegt Kemp, mein Freund. Und in einem anderen ruht Weisenberg, der - ohne es vielleicht zu wollen - unserer Welt ein neues Gesicht gab, nachdem sie die Hölle erlebte. Wenn Weisenberg recht behält, und ich bin nun überzeugt, daß er sich nicht irrt, wird das Leben auf der Erde einfach, aber voller Frieden sein. Und sie wird wieder grün werden, diese Erde, so grün wie einst der Garten Eden gewesen sein muß. Robert Zimmermann, irgendwann im Jahr 2020
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6.
Gerald Zimmermann schichtete die losen Blätter und ordnete sie fast geistesabwesend. James Townshend und John Ewert hatten ihn nicht ein einziges Mal unterbrochen, während er vorlas. Fragend sahen sie ihn an, als erwarteten sie eine Antwort von ihm, die er ihnen nicht gegen konnte. Schließlich sagte James: »Ich glaube, damit wäre unsere Aufgabe gelöst. Wir können zurück nach Jackville. Wir haben den letzten Willen deines Großvaters erfüllt.« Gerald blickte auf, dann nickte er. »Ich glaube, du hast recht. Die Zeit der Ungewißheit ist vorüber. Wir brauchen keine Angst mehr zu haben. Der Strahlende Tod wurde durch die Zeit in das Grüne Leben verwandelt.« Er schob die Papiere in die Brusttasche, dann nahm er den Barren auf, mit dem sie beschwert worden waren. »Den nehmen wir mit - als Andenken.« Er ahnte, woraus der Barren bestand, und daß er das war, was er auch gesucht hatte, aber er schwieg. »Ja, gehen wir. Hier ist nichts mehr zu tun.« Gerald erhob sich. »Wir werden Sprengstoff mitnehmen und den Tresoreingang mit den Trümmern der Bank verschließen, wir werden den ganzen Schacht mit Material füllen, damit die Toten hier unten ihre Ruhe haben. Niemand wird nach ihnen oder nach der Anlage suchen - und wenn, dann vergebens. Ich werde die entsprechenden Stellen in dem hier . . .«, er klopfte gegen die Brusttasche, ». . . unleserlich machen.« Schweigend nahmen sie ihre Waffen und verließen den Raum nach einem letzten Blick auf das, was von Robert Zimmermann übriggeblieben war. Erst als sie sich dem Lift im Wachkorridor näherten, hörten sie die Schüsse. Sie blieben stehen, dicht neben dem Eingang zum Lift. Kein Zweifel, in den Trümmern der Bank oder auf der Straße davor war eine wilde Schießerei im Gang. Vielleicht waren zwei Banden zum gleichen Zeitpunkt auf die Idee gekommen, Golden einen Besuch abzustatten ein Zufall, wie er kaum verrückter sein konnte. »Es ist noch nicht zu Ende«, murmelte James freudlos. »Ohne den Jeep sind wir erledigt«, sagte Gerald. »Egal, wer sich da oben herumschlägt, wir müssen hinauf. Ich kann nur einzelne Gewehrschüsse unterscheiden, also dürften wir ihnen zumindest waffentechnisch überlegen sein.« »Hört das denn niemals auf?« fragte John fast verzweifelt. »Müssen 83
sich die letzten Menschen denn immer noch gegenseitig umbringen.« »Solange ihre Natur sich nicht radikal ändert, hört es nicht auf«, bedauerte Gerald nicht ohne einen bitteren Unterton. »Gehen wir.« Er sah vorsichtig um die Ecke zum Liftschacht, und als er sich wieder den anderen zuwandte, war sein Gesicht bleich geworden. »Sie haben das Seil hochgezogen«, flüsterte er entsetzt. »Zehn Meter glatter Schacht. . . wie sollen wir das schaffen?« James und John waren genauso erschrocken. »Verdammt! Da sitzen wir schön in der Falle«, fluchte James. »Nicht lange«, beruhigte ihn Gerald, der sich wieder gefaßt hatte. »Aber wir müssen warten, bis oben wieder Ruhe herrscht. In einem der Lagerräume habe ich Rollen mit Tau oder Seilen gesehen. Wir sitzen hier nicht unbedingt fest. Fragt sich nur, ob einer von uns geschickt genug ist, den an das Ende eines Seils befestigten Barren zehn Meter hoch zu werfen, und dann auch noch so, daß er sich oben zwischen den Trümmern verklemmt.« »Ob das genügt, unser Gewicht zu tragen?« zweifelte James. Gerald zuckte die Schultern und übergab ihm seine Waffe. »Wartet hier und laßt den Liftschacht nicht aus den Augen. Könnte ja sein, daß jemand auf die Idee kommt, herabzuklettern.« John grinste. »Mit Hilfe unseres Seils, das sie hochgezogen haben — wäre doch die einfachste Lösung. Jedenfalls wissen sie, daß jemand hier unten ist.« »Und dann tauchte eine andere Bande auf, und sie haben nun ihre Sorgen, wobei sie den Tresor vielleicht vergessen«, befürchtete James. Gerald kehrte mit einer Rolle dünnen Nylonseils zurück. Sorgfältig begann er damit, den Barren zu befestigen, bis er nicht mehr aus dem Gewirr der Knoten und Schlingen rutschen konnte. Er wog ihn prüfend in der Hand. »Hat ein hübsches Gewicht. Es wird sehr schwierig sein.« James nahm ihm den Barren ab. Er schüttelte den Kopf. »Das schaffen wir niemals, zumal der Schacht ziemlich eng ist und man nicht richtig ausholen kann. Es wird vernünftiger sein, aus Kisten und anderen Dingen eine Treppe zu bauen. Fünf Meter würden genügen.« »Großartige Idee!« lobte Gerald, sichtlich erleichtert. »Fangen wir gleich damit an.« Im Liftschacht war ein schabendes Geräusch. Erst jetzt fiel ihnen auf, daß oben keine Schüsse mehr fielen. Gerald warf einen Blick in den Schacht und sah das baumelnde Seilende mit den Knoten. Jemand kletterte zu ihnen herab. 84
»In den Wachraum!« flüsterte er den anderen zu. Sie konnten den ganzen Korridor und den Lifteingang aus der Deckung heraus gut übersehen. Gespannt warteten sie, und ihre Waffen waren bereit, als ein Mann mit vorgestrecktem Gewehr aus dem Schacht trat und sich vorsichtig nach allen Seiten umsah. Er war einfach gekleidet und trug sogar einen breitrandigen Hut. Kein Bart bedeckte sein Gesicht, so daß er gut zu erkennen war. Er machte einent gespannten, aber keinen schlechten Eindruck. Gerald hatte nicht das Gefühl, es mit einem gewöhnlichen Banditen zu tun zu haben. Trotzdem blieb er vorsichtig. »Jetzt!« flüsterte er seinen Freunden zu. »Ehe die anderen nachkommen ...« Sie sprangen gleichzeitig aus ihrer Deckung, die Waffen auf den Fremden gerichtet, der erschrocken herumfuhr und sofort erkannte, daß er keine Chance gegen drei Gegner hatte. Langsam ließ er den Lauf seines Gewehrs sinken. »Schon gut, schon gut«, sagte er heiser. »Reden wir lieber, es wurde schon genug geschossen und getötet.« »Wir haben nicht die Absicht, Sie zu töten«, eröffnete ihm Gerald mit ruhiger Stimme. »Wir wollen nur hier heraus, mehr nicht.« »Euer Seil also, und draußen der Jeep, der gehört auch euch?« »Richtig! Und was ist mit Ihnen? Wir hörten Schüsse.« »Wurden überfallen. Mörderbande verfluchte! Wir haben die Hälfte von ihnen erledigt, der Rest ist geflohen. Mit Pferden.« »Und Sie?« »Auch Pferde, deshalb wunderten wir uns über den Jeep. Wir kommen aus Brixtown, drei Reitstunden von hier in den Bergen. Wollten uns Golden mal ansehen. Hörten so allerlei Gerüchte. Scheinen ja zu stimmen. Übrigens können Sie mich Dutchman nennen, das tun alle.« Kurz entschlossen reichte Gerald ihm die Hand. Er nannte seinen Namen und die seiner Freunde. In kurzen Worten berichtete er, was er und sie hier gefunden hatten, und Dutchman meinte daraufhin: »Uns interessieren nur Werkzeuge und Lebensmittel. Beides ist bei uns ziemlich knapp. Ihr habt doch nichts dagegen . . .?« »Keineswegs, Dutchman. Wir brauchen weiter nichts als unseren Jeep. Wir wollen nach Hause.« »Niemand wird euch aufhalten«, versprach Dutchman. »Aber klettern wir nach oben, ehe da jemand vor Neugier platzt. Keine Sorge, es sind gute Menschen, die in Brixtown leben.« Er kletterte voran, und sie folgten ihm mit umgehängten Waffen. Dutchman rief nach oben, wo undeutlich ein paar Gesichter zu 85
erkennen waren: »Alles in Ordnung, Leute. Ich bringe Freunde mit - und laßt die Finger von dem Jeep. Paßt lieber auf, daß die Banditen nicht zurückkommen.« »Haben Wachen aufgestellt, Dutchman. Keine Sorge.« Hilfreiche Hände streckten sich ihnen entgegen, Hände mit Schwielen, die von schwerer Arbeit zeugten. Jetzt hielten sie Gewehre, die Läufe nach unten. Über die Trümmer der Bank hinweg erreichten Gerald und seine Begleiter die Straße. Mit einem schnellen Blick zählte er vier Tote, die vor den Hauseingängen lagen. Zwei Männer bewachten ein gutes Dutzend Pferde ohne Sättel. Dutchman gab eine kurze Erklärung ab, Hände wurden geschüttelt, und dann berichtete Gerald erneut, was sich unter Golden befand oder besser: einst befunden hatte. Er wiederholte seine Bitte, die er Dutchman gegenüber bereits geäußert hatte. »Ist doch selbstverständlich«, erwiderte einer der Männer. »Wir werden lediglich die Vorratslager ausräumen, und dann sorgen wir dafür, daß niemand mehr nach unten kann.« Gerald sah hinauf in den Himmel. »Es beginnt zu dämmern, wir werden heute nacht hier bleiben. Wir können euch helfen.« Dutchman schüttelte den Kopf. »Ihr seht ganz so aus, als könntet ihr Schlaf gebrauchen, wir schaffen es schon allein. Haut euch aufs Ohr, wir teilen Wachen ein. Nur wenn geschossen wird, wäre es nett von euch, wenn ihr mitballern würdet. Sind hartnäckige und brutale Burschen, die uns da an den Kragen wollten.« James, der zum Jeep gegangen war, kehrte zurück. »Alles in Ordnung, Gerald. Der Sprit reicht leicht bis Stronghold.« »Wenn wir Jerry Eppstein Geschenke mitbringen, wird er uns wieder mit Treibstoff versorgen. Ein paar Kisten Konserven etwa.« Inzwischen waren Dutchman und einige Männer im Tresorschacht verschwunden. Andere hatten zerbeulte Eimer organisiert, an die sie Seile befestigten. Vor der Bank auf der Straße loderte ein Feuer - Holz gab es mehr als genug. Rund um die Stadt patrouillierten Wachtposten. Direkt neben dem Jeep, den James rangiert hatte, stand eine gut erhaltene Hütte mit einem einzigen Raum. Gerald, James und John breiteten ihre Decken aus, und bald waren sie trotz des Lärms draußen vor der Bank eingeschlafen. Die Männer von Brixtown waren von der unverhofften Beute so begeistert, daß sie die ganze Nacht durcharbeiteten. Bald stapelten 86
sich auf der Straße die Kisten mit Lebensmitteln, Getränken und auch Waffen. Einer hatte in einem verfallenen Schuppen einen alten Wagen aufgestöbert und ihn soweit instand gesetzt, daß er von vier oder sechs Pferden gezogen werden konnte. Damit sollten die Schätze in die Siedlung transportiert werden. Als Gerald am anderen Morgen die Straße betrat, begegnete er zwar übermüdeten, aber fröhlichen Gesichtern. Einige der Märmer schwankten verdächtig, aber mit Sicherheit nicht vor Übermüdung. Dutchman kam ihm freudestrahlend entgegen. »Und da sitzen wir seit Jahrzehnten in Brixtown und haben kaum genug zu essen, während hier alles im Überfluß vorhanden war. Wir werden Tage benötigen, um alles wegzuschaffen. Mann, sind wir froh, daß ihr den Eingang gefunden habt. Auf die Idee wären wir nie gekommen.« »Eines Tages werden wir euch in Brixtown besuchen. Du kannst mir die Lage auf unserer Karte einzeichnen. Auf der anderen Seite seid ihr jederzeit in Jackville willkommen. Eine lange Reise mit dem Pferd, aber das hat es in der guten alten Zeit ja auch schon gegeben.« »Wollt ihr heute schon abfahren?« »Ja, wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren. Die Leute sollen erfahren, daß der Strahlende Tod gestorben ist. Sie haben lange genug Angst gehabt.« »Schön, dann nehmt euch von den Vorräten mit, was ihr schleppen könnt. Eigentlich gehört ja der ganze Kram euch.« »Ihr werdet es dringender benötigen. Jackville leidet keine Not. Und bald wird auch bei euch in den Bergen alles wachsen, was ihr haben wollt. Saatgut müßt ihr euch in anderen Siedlungen besorgen - ihr habt ja nun genug zum Eintauschen.« Der Abschied war herzlich, so wie unter Freunden, die sich schon seit Jahren kannten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die es immer geben würde, begannen die Menschen umzudenken. Sie rückten trotz geographischer Entfernungen näher zusammen, und die alte Wahrheit, daß Freundschaften um so besser hielten, je seltener man sich sah, bestätigte sich damit. Die Fahrt nach Stronghold verlief ohne Zwischenfall. Von den Banditen, die Golden überfallen hatten, bemerkten sie nichts. Trotzdem waren sie froh, als sie von den Hügeln weit unten die Häuser von Stronghold sahen, schon deshalb, weil der Treibstofftank fast leer war. Über Stronghold und Heidelberg gelangten sie nach Rocktown. Als sie die Siedlung in Richtung Jackville verlassen hatten und Rocktown außer Sicht war, sagte Gerald: 87
»Halt mal an, James. John, die Karte, bitte.« »Wieso? Geht immer geradeaus nach Hause.« Gerald schüttelte den Kopf. »Wir werden einen kleinen Umweg machen, Sprit haben wir wieder genug. Ihr erinnert euch an den Bericht meines Großvaters. Irgendwo rechts von hier, im Westen also, muß das große Lager sein. Er hat den Weg genau beschrieben. Wir brauchen nur den Schienen zu folgen, falls wir sie finden. Die Abzweigung nach Norden.« »Du bist verrückt«, äußerte James ernste Besorgnis. »Was willst du denn in dem alten Lager?« »Es sind inzwischen fast siebzig Jahre vergangen. Wir müssen mit Sicherheit feststellen, ob die Informationen stimmen, die mein Großvater in Golden erhielt. Wir müssen wissen, ob der Strahlende Tod wirklich unschädlich geworden ist. Sonst war die ganze Expedition sinnlos. Wir können nicht so dicht vor dem Ziel aufgeben.« »Und wie«, fragte John, indem er die Karte vorreichte, »willst du das feststellen?« »Durch Versuche.« Sie nahmen die erste Abzweigung nach Westen, die mehr einem Feldweg ähnelte, der durch üppige Wiesen führte. Weiter im Norden hatte sich der Wald ausgebreitet und begrenzte den Horizont. Immer wieder studierte Gerald die Karte und trug jede Richtungsänderung ein. Er war fest davon überzeugt, früher oder später auf Schienenstränge zu stoßen. Einige waren sogar auf der Karte angedeutet. Am dritten Tag nahmen sie eine unbedeutende Steigung und erreichten ein Plateau. John mußte auf einen Baum klettern, um sich nach allen Seiten umsehen zu können. Er deutete in nordwestliche Richtung und rief: »Alles Büsche und meterhohes Gras, aber wenn mich nicht alles täuscht, ist da eine gerade verlaufende Linie, so als sei da früher mal eine Straße gewesen. Total überwachsen und nur aus dieser Höhe zu erkennen. Macht weiter nördlich einen sanften Bogen. Ist kaum natürlichen Ursprungs.« Gerald machte wieder Eintragungen auf der Karte, um später die Richtung zu finden. »Könnte eine ehemalige Bahnlinie sein«, murmelte er und wartete, bis John im Jeep saß. »Fahr weiter, James. Immer Nordwest.« Die ehemalige Straße gab es längst nicht mehr, sie hatten sie verloren. Aber das spielte nun auch keine Rolle mehr. Der Jeep schien unverwüstlich zu sein und nahm fast alle Hindernisse ohne jede Schwierigkeit. Nur größeren Bäumen und Felsbrocken wich James aus. 88
Sie fuhren quer durch die Grassteppe. Gerald verfolgte ihren Kurs auf der Karte. Büsche und Bäume wurden häufiger, und dann glaubte auch James weiter vorn eine gewisse Regelmäßigkeit im Gelände zu bemerken, die kaum in diese Wildnis paßte. Nach weiteren fünf Minuten hielten sie vor einem quer verlaufenden Damm an, den vor langer Zeit Menschen aufgeschüttet hatten. Die Bahnlinie? Gerald kletterte aus dem Jeep und kämpfte sich durch das Gestrüpp den Damm hinauf. Er bückte sich, und dann rief er: »Schienen! Wir haben sie gefunden. Sind fast völlig mit Sand, Erde und Gras bedeckt. Ich glaube, wir können sie als Straße benützen.« Mit dem Geländegang schaffte es James, den Hang emporzuklettern. »Es müßte die Hauptabzweigung sein, die zum Lager führt«, blieb Gerald optimistisch. »Versuchen wir es.« Nach zwei Stunden Holperfahrt hielten sie an und übernachteten an einer Stelle, wo der Damm breiter wurde und früher einmal eine Ausweichstelle gewesen war. So weit der Blick auch reichte, war die Welt grün. Gegen Mittag des folgenden Tages wurde der Damm niedriger und die Vegetation dichter. Weiter vorn zeichnete sich ein richtiger Urwald ab. »Das ist es!« sagte Gerald. »Genau wie mein Großvater es beschrieben hat. Die Schienen führen mitten hinein.« »Kann Zufall sein«, blieb James skeptisch. »Wir werden ja sehen«, meinte Gerald und drängte zum Weiterfahren. Dann ging es nur noch schrittweise voran. Immer wieder zwangen umgestürzte Baumriesen James zu Umwegen, und mehr als einmal verloren sie die Geleise und mußten lange suchen, um sie wiederzufinden. Sie waren die einzige Markierung, die sie zum Ziel führen konnte. Und sie erreichten es, noch bevor es völlig dunkel wurde. Der ehemalige Zaun war nur noch zu erraten, das Wachhaus völlig verfallen. Aber das langgestreckte Gebäude mit der Rampe stand noch. Es war nur durch seine Form zu erkennen, denn die Kletterpflanzen bedeckten es völlig. Selbst in der Halle drangen Pflanzen durch von Wurzeln geschaffene Ritzen. James fuhr den Jeep in die große Halle hinein und hielt an. Das Motorengeräusch erstarb. Ein paar Vögel flogen aufgescheucht hinaus in die beginnende Nacht. »Ich glaube«, schlug John vor, »wir warten bis morgen. Einen besseren Übernachtungsplatz finden wir ohnehin nicht.« »Einverstanden.« Gerald stieg aus und streckte sich. »Bin auch ganz 89
steif von dem langen Sitzen. Vor Überraschungen sind wir hier ja wohl sicher.« Sie fuhren den Jeep in eine Ecke der Halle und verzehrten kalte Konserven. Dazu tranken sie eine Flasche Wein, die sie in Golden gefunden hatten. Durch einige Lücken im Dach fielen Sonnenstrahlen, als James den Jeep fünf Meter vor dem leeren Liftschacht festkeilte und die Seilwinde ausfuhr. An ihr ließ sich Gerald als erster in die zehn Meter tiefe Lagerhalle hinab. John folgte, während James beim Wagen blieb, um die Winde zu bedienen. Genau wie Robert Zimmermann es beschrieben hatte, lagen die wohl einen Meter langen »Granaten« in den stählernen Regalen. Ein Dutzend, überschlug Gerald schnell, wiesen Sprünge auf. Die Flüssigkeit war ausgeronnen — und vielleicht verdunstet. Sogar mit Sicherheit verdunstet, denn woher sonst sollte die üppige Vegetation stammen, die sich über das ehemals nahezu unfruchtbare Gebiet ausgebreitet hatte. Das Gas, wenn man es so bezeichnen wollte, hatte sich mit dem seltenen Regen niedergeschlagen und das Land in eine grüne Wildnis verwandelt. »Also stimmt es doch!« Gerald schritt die langen Reihen der Regale ab und kehrte zu John zurück. »Zwei Möglichkeiten: die verhängnisvolle letzte Komponente verliert mit der Zeit ihre tödliche Wirksamkeit, oder ohne die zuvor erfolgte Explosion bleibt sie einfach harmlos. Aber wie auch immer, von nun an können wir alle Wüsten der Welt, wenn wir das wollten, in grüne Paradiese verwandeln. Abgesehen davon, daß die Menschheit stark reduziert wurde, wird sie künftig im Überfluß leben. Auch - oder gerade weil ein Geburtenrückgang zu beobachten ist, doch das ist nicht weiter tragisch. Ich glaube, auch das wird sich wieder normalisieren, besonders beim Nutzvieh. Weiden gibt es ja nun genug. John, an die Arbeit! Wir nehmen zwei der Behälter mit nach Jackville. In einem Jahr wissen wir, ob Robert Zimmermann recht hatte.« »Du willst tatsächlich . . .?« »Was denn sonst? Einer muß ja den Anfang machen.« Stumm nickte John sein Einverständnis. Sie befestigten einen der Behälter am Ende des Zugseils und hörten in seinem Innern die Flüssigkeit gluckern. Eine Flüssigkeit, die der Welt vor siebzig Jahren den Tod gebracht hatte und die ihr nun zu neuem Leben verhelfen sollte - welche Ironie des Schicksals! James ließ die Winde vorsichtig anlaufen, konnte aber nicht verhindern, daß der Behälter mehrmals gegen die Betonwände des Liftschachts stieß. Der Klang verriet, daß die Metallhülle der ehemaligen Granaten ziemlich dünn sein mußte. 90
Nach einer Stunde waren die beiden Zylinder gut im Jeep verstaut und festgezurrt. John saß neben ihnen, und obwohl er grinste, verriet seine Miene Unbehagen. »Es kann losgehen«, sagte er nur. »Aber umfahre Hindernisse oder Löcher, damit wir nicht so durchgerüttelt werden.« »Es kann überhaupt nichts passieren«, beruhigte ihn Gerald und nickte James zu. »Ziemlich genau im Südosten liegt Jackville. Worauf warten wir noch?« Sie fuhren los und folgten ihrer eigenen Spur, die der Jeep am Tag zuvor durch die grüne Wildnis gezogen hatte. Nur wenige Tage später, und sie hätten sie nicht mehr gefunden. Die Bewohner von Jackville bereiteten ihnen einen großartigen Empfang, und als Gerald Zimmermann steifbeinig aus dem Jeep kletterte und zur Begrüßung beide Hände in die Höhe reckte, fiel ihm Claire Buchanan um den Hals, küßte ihn und flüsterte in sein Ohr: »Du hattest recht - es ist mehr als ein Trauerjahr vergangen.« Mehr zu sagen war nicht mehr möglich, denn jeder wollte den Heimgekehrten die Hände drücken und hören, wie es »draußen in der Welt« aussah. Sam Roberts verschaffte sich schließlich mit lauter Stimme Ruhe. »Nun seid vernünftig, Leute!« rief er, nachdem er in den Jeep gestiegen war und sich ausgerechnet auf die beiden Flüssigkeitszylinder gestellt hatte, um besser gesehen zu werden. »Wir treffen uns alle in zwei Stunden im neuen Gemeindesaal. Es genügt, wenn unsere drei Abenteurer ihre Geschichte einmal erzählen.« Einige murrten, aber dann verlief sich die Menge. Peter Helling blieb stehen und betrachtete nachdenklich die beiden Zylinder, nachdem Sarn Roberts aus dem Jeep geklettert war. Er stieß Gerald an. »Sag mal, Gerald - sind das vielleicht. . .?« »Ja, das sind sie, Peter. Und das, was in ihnen ist, wird uns zu drei Ernten im Jahr verhelfen. Bin gespannt, ob du das Zeug analysieren kannst.« John Ewert wühlte inzwischen in den Kartons herum, die sie in Golden aufgeladen hatten. Endlich hatte er gefunden, was er suchte. Er wog es mit einem hintergründigen Lächeln in den Händen, ehe er es Sam Roberts gab. »Ein Geschenk für' dich, Sam. Ich helfe dir beim Aufbau. Unser alter Sender gibt sowieso bald den Geist auf, abgesehen davon, daß wir zu wenig Strom haben. In einem zweiten Karton habe ich Dauerbatterien mitgebracht, die geben mehr her als unser Windrad.« »Ein Funkgerät?« vergewisserte sich Sam und drückte den Karton an sich. John nickte. 91
»Und was für eins! Las in einem Fachbuch darüber. Gehört zu den letzten Entwicklungen damals. Bald werden wir wissen, wie es in der restlichen Welt aussieht. Wir werden den anderen sagen können, was wir entdeckt haben.« »Ich bekam kürzlich für ein paar Sekunden die Russen herein, aber sie konnten mich nicht empfangen«, murmelte Sam Roberts. »Wir sehen uns in zwei Stunden. Ich muß das Ding hier untersuchen.« Mit Sender und Batterien beladen, ging er mit schnellen Schritten davon, ohne eine Antwort abzuwarten. John warf den anderen einen um Entschuldigung bittenden Blick zu und folgte ihm. James lachte. »Nun wird bald alle Welt wissen, daß Jackville existiert und es uns gut geht. Ich kann nur hoffen, daß die restlichen Banditen, wo immer sie auch sein mögen, keine Funkgeräte haben. Sonst haben wir sie auf dem Hals.« »Sollen Sie nur kommen«, sagte Claire Buchanan energisch und deutete auf den neu errichteten Kirchturm, in dessen Glockengehäuse deutlich Schießscharten zu erkennen waren. »Ich glaube, es gibt keine plündernden Banden mehr - wenigstens nicht in unserer Gegend«, beruhigte sie Gerald. Er wandte sich an Peter Helling: »Wir bringen die beiden Behälter am besten zu dir ins Labor. Aber warte mit Experimenten, bis wir alles theoretisch geklärt haben.« Quer über die Straße kam John Ewert gerannt und rief schon von weitem: »Es klappt! Wir haben mit Leuten in Europa und Australien gesprochen. Überall gibt es Siedlungen. Es ist phantastisch! Sogar Brixtown hat sich gemeldet. Sie haben die restlichen Banditen aufgestöbert und sie vor die Wahl gestellt, künftig friedlich bei ihnen zu leben — oder liquidiert zu werden.« »Nun reg dich wieder ab«, riet Gerald. »Ich bin nicht ganz so begeistert wie du von der Technik, die uns bisher nur Unglück gebracht hat, aber zum Glück haben wir es ja nur mit den kläglichen Überbleibseln dieses sogenannten Fortschritts zu tun. Bis die alle und verbraucht sind, werden wir ohne sie auskommen - besser als jemals zuvor.« »Laden wir ab und lassen die Leute nicht länger warten«, schlug James vor und setzte sich hinter das Steuer des Jeeps. »Wohin damit?« »In das Gemeinschaftsvorratslager«, befahl Claire, »wohin denn wohl sonst. . .?« Als Arzt hatte Dr. Sarri Roberts nicht viel zu tun in Jackville, und die meiste Zeit verbrachte er in seiner Praxis, in der auch das neue 92
Funkgerät untergebracht war. Allmählich, nach vielen Tagen und Nächten, rundete sich das Bild ab. Die Menschheit hatte in der Tat überlebt, aber von dem, was sie einst den »technischen Fortschritt« genannt hatte, war nicht viel übriggeblieben. Viele der größeren Städte waren abgebrannt und nie wieder aufgebaut worden, in den anderen vegetierten noch immer Banditen und Plünderer, aber ihre Tage waren gezählt, denn auch die letzten haltbaren Vorräte gingen zu Ende. Sie wagten es schon lange nicht mehr, die wehrhaften Siedlungen im weiten Land anzugreifen, und allmählich wurden die Ruinen von der vordringenden Vegetation überwuchert und glichen bald nur noch bewaldeten Hügeln, unter denen in künstlichen Höhlen Menschen wie Tiere hausten - und starben. Australien war zu einer immergrünen Prärie geworden, denn der Wind hatte die einst tödliche sich in Gas verwandelnde Flüssigkeit um den ganzen Erdball getragen und war, vermischt mit dem Regen, so selten er auch an manchen Stellen fiel, in die Erde gedrungen. Ein einziges Samenkorn genügte oft, eine Wüste innerhalb von Jahren in riesige Grünflächen zu verwandeln. In Asien gab es vier Ernten im Jahr - zumindest dort, wo Menschen arbeiteten und sich bemühten, ihre Felder von dem ebenso wuchernden Unkraut freizuhalten. Der Hunger vergangener Generationen war zu einer fernen Sage geworden. Afrika wurde von riesigen Urwäldern bedeckt, und auf den grünen Prärien tauchten Herden von Tieren auf, die vor siebzig Jahren als fast ausgerottet galten. Die schwarzen Menschen lebten frei und ungebunden in ihren Siedlungen oder zogen als Nomaden mit reichen Viehbeständen durch ihr neues Paradies. Vom Atlantik bis zum Ural zog sich der grüne Teppich dahin, nur durch die wieder sauberen und fischreichen Ströme getrennt. Hier hatte man die positive Eigenschaft des ehemaligen »Strahlenden Todes« schon zehn Jahre früher entdeckt und genutzt. Aber die Städte waren leer geblieben und lagen wie Pyramiden der Mayas und Inkas unter dichten Dschungeln verborgen. Die Gesamtbevölkerung Europas mochte wieder annähernd fünf Millionen betragen. Kanada war so gut wie entvölkert worden. Von dort empfing Sam Roberts nur spärliche Nachrichten. Es gab Überlebende, die sich zu fast isolierten Gemeinschaften in der grünen Wildnis zusammengeschlossen hatten. Die Frage, warum gerade Kanada so hart getroffen worden war, wurde nie befriedigend beantwortet. Helling machte den Wind dafür verantwortlich, der für den hohen Norden aus der falschen Richtung kam. 93
In Südamerika hatte der amazonische Regenwald wieder die Herrschaft übernommen. Niemand hätte zu sagen vermocht, wieviele der in ihm lebenden Indios, die damalige Katastrophe überstanden hatten, aber wahrscheinlich war, daß es heute mehr von ihnen gab als jemals zuvor. Ihre alten Prophezeiungen schienen sich erfüllt zu haben. Der Urwald dehnte sich unaufhörlich weiter nach Süden aus. Nordamerika selbst, einst die USA, war zu einem Land der Farmer und Siedler geworden, die langsam und vorsichtig wieder Kontakt miteinander aufnahmen. Drei Ernten im Jahr sicherten das Überleben. Die Autos starben aus, und Pferdewagen kamen wieder in Mode. Auf den unübersehbaren fruchtbaren Weiden grasten die Herden, und in den Bergen konnten die nun wieder freien Indianer ihre ersten Büffel jagen. Die vom Holocaust verschonten Schwarzen waren in den Süden gewandert, obwohl sich der früher so verhängnisvolle Unterschied zwischen den menschlichen Rassen im Nichts verloren hatte. Die Hautfarbe hatte ihre ehemals so wichtige Rolle ausgespielt. Sam Roberts schaltete das Gerät aus, als Peter Helling die Praxis betrat. Gerald Zimmermann folgte ihm, an der Hand Claire. »Ich habe das Zeug endlich hundertprozentig analysieren können«, hielt Helling es nicht mehr länger aus. »Es enthält Stoffe, die jede Arbeit des pflanzlichen Chlorophylls tatkräftig unterstützen - und noch eine Menge mehr. Die metallische Komponente, die den Tod brachte, ist wirkungslos geworden. Ich habe die Mischung, die uns wohl allen das Überleben gesichert hat, ‚Greenlife' getauft. Irgendwelche Einwände?« »Greenlife . . .«, murmelte Claire mit strahlenden Augen, »es hätte dir kein besserer Name dafür einfallen können, Peter.« »Und nun, Sam«, sagte Helling weiter, »kannst du der ganzen Welt, falls sie es noch nicht weiß, das große Geheimnis mitteilen. Nimm ihr zumindest die heimliche Angst vor einer neuen Katastrophe.« »Niemand hat noch Angst. Es ist zu lange her.« »Aber niemand soll vergessen, was einst geschah!« mahnte Gerald. Sam Roberts Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen, als er langsam und bedächtig sagte: »Wir, die Nachkommen der Überlebenden, verdanken unsere Existenz lediglich dem Umstand, daß den Wissenschaftlern und Militärs von damals keine Zeit mehr blieb, ihre teuflische Erfindung ausreifen zu lassen. Hätten sie gewußt, was einmal aus ihrer Giftmischung werden könnte, hätten sie nicht gezögert, eine weitere Komponente hinzuzufügen - und zwar eine für alle Zeiten tödliche. Wir haben einfach Glück gehabt, das ist alles. Ich frage euch aber: Was geschah eigentlich mit dem riesigen Arsenal der Atomwaffen, die in allen Teilen 94
der Welt gelagert wurden? Was wurde aus ihnen? Wo sind sie geblieben?« Gerald Zimmermann hatte eine steile Falte auf der Stirn, aber seine Stimme verriet Zuversicht und Überzeugung: »Der Großteil, so berichten die Chroniken von Heidelberg und Rocktown, wurde verschrottet oder in die Sonne geschossen, während man bereits an der neuen Waffe arbeitete. Ich nehme an, es gibt noch unterirdische Silos, aber die findet heute niemand mehr. Urwälder und undurchdringliche Buschwildnis haben sie längst überwuchert. Um sie und um das, was in ihnen ist, brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen.« »Ich hoffe, du hast recht«, blieb Sam skeptisch. »Und noch etwas: wenn durch ,Greenlife' und durch unachtsame Anwendung die Natur außer Kontrolle gerät, kann das, was wir heute als Segen bezeichnen, genausogut das Verderben künftiger Generationen sein. Die grün wuchernde Wildnis könnte unkontrollierbar werden und uns alle regelrecht unter sich begraben.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, mischte Peter Helling sich ein. »In einem solchen Fall müßte man ein Gegenmittel entwickeln, eine Art Unkrautvernichtungs ...« Er schwieg plötzlich, erschrocken über das, was er da angedeutet hatte. Gerald nickte ihm zu. »Gut, daß du es nicht ausgesprochen hast. Der ganze Kreislauf würde erneut beginnen - und in zwei oder drei Generationen wären wir wieder dort, wo wir vor knapp hundert Jahren waren. Nein, ,Greenlife' sollte überhaupt nicht absichtlich eingesetzt werden. Wir wissen, daß allein das allmählich und glücklicherweise nach unterschiedlichen Zeiträumen auftretende Undichtwerden der Zylinder genügt, doppelte und dreifache Ernten zu erzielen. Niemand muß da nachhelfen, und dort, wo Land benötigt wird, muß eben auf natürliche Weise gerodet werden. Das bedeutet zwar Arbeit, ist aber risikofrei. Das, Sam Roberts, solltest du deinen Gesprächspartnern in aller Welt eindringlich klarmachen.« Der Arzt nickte zustimmend. »Ich werde es jedenfalls versuchen.« »Gut!« Gerald Zimmermann verabschiedete sich ein wenig hastig, und als er davonging, in Richtung des Hauses, in dem Claire Buchanan lebte, lächelten sie nachsichtig. Morgen sollten die beiden getraut werden.
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Nekrolog Ziemlich genau hundert Jahre später landete an der Küste Nordamerikas ein dreimastiger Segler, primitiv und plump gebaut, aber er hatte die Stürme der langen Überfahrt von Europa gut überstanden. Die dreißig Abenteurer hatten den vom Urwald überwucherten und fast menschenleeren Kontinent verlassen, um in den Weiten Amerikas, das sie nun neu entdeckten, eine neue Heimat zu finden. Aber was sie fanden, war ebenfalls Urwald, undurchdringlicher Dschungel und Bäume, die bis in den Himmel zu wachsen schienen. »Im Innern kann es anders aussehen«, entschied der Anführer der Expedition. »Auf keinen Fall werden wir zurückkehren. Die Chancen des Überlebens sind in diesem Land größer.« Und sie stießen in das Innere des Landes vor, immer in Richtung Westen. Ihre Gegner waren nicht allein die ungezügelte Natur, die außer Kontrolle geratene Flora, sondern auch Schwärme von Insekten, Rudel großer Ratten und noch größere Raubtiere. Und doch erreichten fünf von diesen dreißig Männern eines Tages einen überwucherten Hügel, der ihnen wie eine rettende Insel im Ozean der Bäume erschien. Verwitterte Holzreste und Steintrümmer verrieten, daß hier einst ein Dorf gewesen war. Europa hatte Jackville gefunden - oder das, was von Jackville übriggeblieben war. Erschöpft, verzweifelt und sich der Tatsache bewußt, daß es kein Weiterkommen und auch keine Rückkehr mehr für sie gab, beschlossen sie, den Rest ihrer Tage hier zu verbringen. Mit Pfeil und Bogen konnten sie sich Fleisch beschaffen, und in den verwilderten Gärten fand sich mitten zwischen dem überhand nehmenden Unkraut immer noch Eßbares. Und dann entdeckte einer der Männer die Baumhütte am Rand der Lichtung, auf der einst Jackville gestanden hatte. Er kletterte hinauf und fand die eng beschriebenen Blätter, schon vergilbt, aber noch teilweise lesbar. Sie enthüllten, was geschehen war. Markus Zimmermann wurde im Jahre 2080 als Sohn der Eheleute Gerald und Claire Zimmermann geboren. Jackville war eine Lichtung inmitten des Waldes, der immer weiter vordrang und die Felder immer kleiner werden ließ. Längst war der einzige Sender ausgefallen, nur der Empfänger funktionierte noch, wenn auch unregelmäßig. So erfuhren die Bewohner von Jackville, daß die befürchtete »Vegetationsexplosion« nun doch in aller Welt stattgefunden hatte. Die Zylinder mit Greenlife waren zur gleichen Zeit undicht geworden das war die einzige Erklärung. 96
Dann kamen die Ameisen, gefolgt von den Ratten und anderem Getier, das kaum noch Gegner hatte. Man erschlug sie zu Tausenden und ließ die Ameisen in Feuergräben laufen, aber man fand keine Zeit mehr, den Wald aufzuhalten. Das Ende war abzusehen. Einige Männer und Frauen verließen Jackville. Man hörte nie mehr wieder etwas von ihnen. Markus' Mutter starb 2098 an einer Infektion, zwei Jahre später Gerald Zimmermann, sein Vater. Noch weitere zwanzig Jahre kämpften die letzten Bewohner von Jackville ums nackte Überleben. Es war ein aussichtsloser Kampf. Kinder wurden keine mehr geboren, und die Älteren starben einer nach derh anderen. Markus wurde zum Einsiedler. Hoch oben im Wipfel des großen Baumes, der alle anderen überragte, baute er sich eine primitive Hütte. Hier überlebte er zwanzig Jahre. Einige der Bäume trugen Früchte, von denen er sich ernährte, nur selten kletterte er hinab, um in einem Kanister seinen Wasservorrat zu erneuern. Diese Exkursionen wurden immer gefährlicher. Nun tauchten auch größere Raubtiere auf, die wiederum die Ratten dezimierten. Wie durch ein Wunder verschwanden sogar die Ameisen. Im Jahr 2140 etwa, so genau wußte es Markus Zimmermann nicht, aber er glaubte, nun sechzig Jahre alt zu sein, spürte er die zunehmende Schwäche und wußte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Er begann mit seinen Aufzeichnungen. Er beendete sie, noch ehe er den Baum zum letztenmal hinabkletterte und mitten in den überwucherten und menschenleeren Ruinen den Tod erwartete, der in der Gestalt eines riesigen Bärens kam. Der Anführer der fünf Europäer legte die Blätter zur Seite. »Das hier also war Jackville, und so wie hier war es überall. Wir werden hier bleiben. So, wie wir es beschlossen haben. Vielleicht sind wir die letzten Menschen in diesem Land, wir werden es wohl nie erfahren. Aber wir werden auch nicht aufgeben, diese winzige Insel gegen die vordringende Natur zu verteidigen. Wir werden Bäume fällen und einen Wall bauen. Dahinter heben wir Gräben aus, die wir mit trockenem Reisig füllen, falls die Ameisen zurückkommen. Und wir werden aus den Trümmern der alten Siedlung ein festes Steinhaus bauen, in dem wir nachts schlafen können. Los, an die Arbeit, Freunde!« Sie waren nicht die einzigen Uberlebenden, die der Natur zu trotzen versuchten, die sich die Erde zurückerobert hatte. In vielen Teilen der 97
Welt bildeten sich die letzten Bastionen des einstigen Homo sapiens, aber es schien so gut wie sicher zu sein, daß die Menschheit nur dann überleben würde, wenn sie es verstand, sich anzupassen, wenn sie wieder mit der Natur leben würde, und nicht gegen sie. Der Mensch war gezwungen, wieder von vorn zu beginnen. Und Markus Zimmermann hatte den Weg gewiesen, als er sich den großen Baum zum Freund machte. ENDE
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